GREGORY BENFORD
ARTEFAKT
Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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GREGORY BENFORD
ARTEFAKT
Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4363
Titel der amerikanischen Originalausgabe
ARTIFACT Deutsche Übersetzung
von Walter Brumm
Das Umschlagbild schuf Klaus Holitzka
nach dem amerikanischen Original von Dan Gonzales
Die Karten und Zeichnungen im Text fertigte Christine Göbel an
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1985 by Abbenford Associates
Copyright © 1987 der deutschen Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1986
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-31366-6
Für Eloise Nelson Benford
Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. WILLIAM FAULKNER
Prolog Griechenland etwa 1425 v. Chr.
Sie begruben den großen König, als das Scharlachrot im Westen verblich. In der Grabkammer legten die heiligen Männer den eingeölten und gewachsten Leichnam auf sein hölzernes Ruhebett. Die Prozession derer, die das Totengeleit gegeben hatten, verharrte wartend. Ein Falke kreiste am dunkelnden Himmel, flatterte auf der Stelle und stieß auf die Beute herab. Das Dorf in der Talsenke war ein regelloses Durcheinander brauner Hütten. Leute standen auf den Gassen und bestaunten den Fackelzug, der in Kehren den Hang hin aufzog. Im Innern der Grabkammer verschlossen die Priester und ihre Helfer den schmucklos be hauenen Stein hinter der Innenwand der Grabkammer. Es war ein übernatürliches Ding, das summte und einen immerwährenden unheimlichen Lichtschein durch das Bern
steinornament dringen ließ. Der Wohnsitz ei nes Gottes oder eines dämonischen Ungeheu ers. Einige aus dem Gefolge hatten die Meinung geäußert, es solle im Ort aufbewahrt und ver ehrt, nicht aber mit dem König begraben wer den. Doch der König hatte befohlen, daß es in seine Grabstätte gebracht werde. Um sein Volk vor dem fleckigen, fiebernden Tod zu bewah ren, hatte er gesagt. Ein hohler, unverständlicher Ruf drang aus dem Innern, gefolgt von heftiger Bewegung. Männer kamen aus der hohen Türöffnung ge stürzt, die Augen aufgerissen, den Mund ver zerrt. »Tod vom Stein!« rief eine Stimme. Unzusammenhängende Schreie waren die Antwort. »Verschließt die Grabkammer!« rief ein Priester laut vom Eingang. Die schwere eichene Tür wurde zugeschlagen. »Nein! Mein Sohn ist noch drinnen!« »Zu spät!« erwiderte der Priester. »Laßt zu rück, die der Stein zu Boden gestreckt hat!« »Mein Sohn! Du kannst ihn nicht…« »Versiegelt die Tür!« Die dicken Riegel wurden vorgeschoben, die Türritzen mit Pech verschmiert. Dann fingen
die Arbeitstrupps damit an, den langen, kor ridorartigen Zugang zum Kuppelgrab mit Sand und Geröll zuzuschütten. Diese abschließende Arbeit war geplant, aber nun schaufelten sie wie rasend, angetrieben von panischem Schrecken. Der Priester und sein Gefolge eilten wild bli ckend und gestikulierend den Hang hinab und riefen der verstörten Gemeinde zu, was ge schehen war: »Die Werkleute setzten die Deckplatte ein, als es geschah. Sie arbeiteten rasch, versahen die Platte mit Mörtel und setzten sie ein. Aber etwas…« Der Priester schnappte nach Luft. »Es ist zum Besten. Sie sind jetzt alle von uns gegangen. Das Volk ist sicher, wie unser König es wollte.« Die Arbeiter oben am Hang füllten den Zu gangsweg mit dem Aushub, den sie bei seiner Anlage zu beiden Seiten angehäuft hatten. Bald würde er ganz eingeebnet sein und der Hang des Höhenrückens, unter dem sich das Kup pelgrab verbarg, unberührt scheinen. »Nein! Bitte! Ich flehe euch an, öffnet für ei nen Augenblick nur! Ich werde…« Erschöpfung zeichnete das weise Gesicht des Priesters. »Der Stein ist in die Unterwelt zu rückgekehrt, wo der König ihn fand. Wir müs sen ihn dort lassen. Er wird den Menschen
keinen Schaden mehr zufügen.«
ERSTER
TEIL
1 Tief im Innern der Grabkammer war das Mo torengeräusch des näherkommenden Fahr zeugs nur schwach zu hören. »Das wird Kontos sein«, sagte George und legte den Greifzirkel aus der Hand. »Hört sich aber nicht nach seinem Wagen an.« Aber Claire drückte vorsichtshalber auf die Speichertaste des Eingabegeräts für ihr Computerinventar. »Wer sonst würde hier herauskommen? Die ser Schwachsinnige von der Gewerkschaft?« »Möglich.« »Kann ich mir nicht denken. Ich wette, es ist Kontos.« »Warte einen Augenblick!« Claire schaltete das Inventurprogramm aus. Sie verglich die letzten Katalognummern von Keramikscherben mit dem Ausdruck, ein mühsames Geschäft. Das Feldinventar war ein Wunderding – ein zylindrisches Magazin mit Mikrodisketten, das in den tragbaren Date nanschluß eingesetzt werden konnte. Knapp von der Größe eines Wasserglases, enthielt es die archäologischen Daten von sechs Monaten Arbeit. Sie wischte sich die Hände ab und ging hinaus
auf die Schwelle des hohen steinernen Ein gangs, wo die Vormittagssonne schien. Jeder Tag war jetzt ein wenig kühler als der voraus gegangene, und sie dachte in Liebe der grünen Lauben entlang den Ufern des Charles River, des stillen, glasigen Wassers und des frischen Rotes der Backsteinmauern. Sie war der Far ben Griechenlands überdrüssig, so klar und durchsichtig sie auch sein mochten. Landein wärts spießten junge Zypressen den blassen Herbsthimmel auf. Der Hitzedunst des Som mers war gewichen, und sie konnte die fernen Schluchten ausmachen, die das Bergland zer rissen und zur Ägäis hin abfielen. Trockene Bachbetten schlängelten sich in knochenblei chen Windungen am Grund jeder Schlucht da hin und schimmerten wie abgestreifte Schlan genhäute. Hoch oben kreiste ein Bussard ohne einen Flügelschlag in der Thermik über der Küste. Claire beschirmte die Augen gegen das grelle Licht und überlegte, wie unbedeutend das enge kleine Tal von dort oben aussehen mußte – gelbbraune Hügel, ausgedörrt von der Sonne und den Winden, ein graues Schachbrettmus ter, wo die griechisch-amerikanische Ausgra bung im Gange war, die braungrauen, staubi gen und ausgefahrenen Zufahrtswege, alles
eingegrenzt von einem weiten Blick über die stahlblaue See. Oder vielleicht glitt der Bus sard mit absoluter Gleichgültigkeit über solche Zeichen menschlicher Tätigkeit hin, gerade so wie damals, als die längst eingefallenen Stein mauern pulsierendes Leben beherbergt hatten. Die Begleitgeräusche menschlichen Strebens würden sich von dort oben wie bloßes Hinter grundgeräusch ausnehmen, verglichen mit dem leisen Piepsen und Rascheln der Beute. Der Bussard legte sich auf die Seite und zog einen engeren, absinkenden Kreis, konzen triert auf das Wesentliche. Sie gingen den steinigen Weg hinunter. Meh rere hundert Meter entfernt, wo die ungeteerte Straße das Lager erreichte, bremste geräusch voll ein Jeep. Eine gelbbraune Staubwolke hüllte ihn ein. »Sieh an«, sagte sie. »Hat sich einen schmu cken kleinen Jeep zugelegt.« »Sehr modebewußt, der Oberst.« Als sie sich dem Lager näherten, hörten sie schnelles, aufgeregtes Reden. Am Tonfall er kannte sie Dr. Alexander Kontos, den griechi schen Kodirektor der Ausgrabung, ehe sie ihn neben dem Jeep stehen sah. Er sprach zornig auf eine wettergegerbte braune Gestalt ein – den Verwalter des Lagers, der den Wort
schwall ohne Wimpernzucken über sich erge hen ließ. Kontos blickte nicht zu Claire und George auf, als sie die Kehren des Weges zu den wenigen verbliebenen Zelten des Lagers herabkamen und auf den Jeep zugingen. Claire war es un möglich, den Schwall von umgangssprachli chen Wendungen und Jargon zu verstehen, der Kontos über die Lippen ging, aber es schien sich darum zu handeln, daß er den Verwalter für die Abwesenheit der Arbeiter verantwortlich machte. Sein Gegenüber zuckte bloß die Achseln und erklärte, daß die Männer entweder an den sich ausbreitenden politi schen Versammlungen und Demonstrationen teilnähmen oder sich fürchteten, für die Ame rikaner zu arbeiten, weil sie mit der Mißbilli gung ihrer Freunde rechnen müßten. Kontos schlug mit der flachen Hand auf den Jeep. »Sorgen Sie dafür, daß die Leute zu rückkommen!« rief er auf griechisch. Dann sah er Claire, und seine Miene wie seine Hal tung wandelten sich von einem Augenblick zum nächsten. »Ah! Die wunderschöne Claire. Ich hoffe, die Abwesenheit dieser unwissenden Bauern hat Sie nicht beunruhigt.« »Nicht im mindesten. Wir hatten nicht mehr
viel zu tun, als…« »Ausgezeichnet. In Athen bereitet sich Großes vor, und ich werde nicht viel Zeit für diese Ausgrabung erübrigen können. Es ist gut, daß die Arbeiten weit fortgeschritten sind.« »Was geht in Athen vor?« fragte George. Kontos’ Miene wurde wieder etwas unfreund licher, als er sich zu George wandte und das kräftige Kinn vorschob. »Nichts, was Sie billi gen würden, des bin ich sicher.« George zeigte ein schiefes Lächeln. »Vielleicht nicht.« »Die Zeiten der Zwietracht und Zerrissenheit haben ein Ende. Die Parteien der Mitte sind auf unsere Seite getreten.« »Wohin wird das führen? Zu einem Einpar teienstaat?« »Zum wahren Sozialismus.« »Und die anderen Parteien?« »Sie werden mit der Zeit folgen.« Kontos trug eine maßgeschneiderte Armeeuniform, die seine dicken Oberarmmuskeln und die breite, kräftig gewölbte Brust gut zur Geltung brachte. Seine mit schimmernder Goldlitze verzierte Schirmmütze saß auf einer schwarzglänzenden Haarmähne. Das lange, schmale Gesicht wurde durch die Unterbre chung eines buschigen Schnurrbarts vor Ha
gerkeit bewahrt. Seine Sonnenbräune ver steckte das feine Geflecht von Fältchen um die Augen, das sein Alter – Mitte vierzig, vermute te Claire – besser verriet als alles andere. George nickte mit nüchterner Miene. »Kein Zweifel.« »Darum muß ich meinen Aufenthalt hier bei Ihnen abbrechen.« Er wandte sich zu Claire, und seine Miene hellte sich wieder auf. »Es wird traurig sein. Abschied zu nehmen. Sehr traurig.« Claire sagte: »Aber es gibt noch einiges zu tun!« »Ich werde die Arbeiter zurückholen. Diese Eidechse…« – er zeigte mit dem Daumen zum Verwalter – »wird aufhören, in der Sonne zu liegen. Er wird ins Dorf gehen und die Leute zusammentrommeln.« »Es sind noch chemische Analysen vorzu nehmen, Bodenuntersuchungen, die restliche Inventarisierung…« »Oichi, oichi.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Das erledigen wir in Athen.« »Wer soll das übernehmen? Labortechniker der Hochschule oder des Ministeriums? Diese Leute kennen den Grabungsort nicht, wissen nicht alles richtig zu deuten.« Claire stemmte trotzig die Hände in die Hüften.
»Sie werden Instruktionen schreiben, wo dies nötig sein sollte.« »Es gibt immer Merkmale, die den Uneinge weihten zu Irrtümern verleiten, Proben, die individuell behandelt werden müssen. Es gibt keinen Ersatz für die Anschauung…« »Ihr Griechisch ist ausgezeichnet«, versi cherte ihr Kontos auf griechisch und lächelte. »Man wird verstehen.« »Hören Sie«, warf George ein, »die Boden analyse ist im Plan, Sie können selbst nachse hen.« »Der Grabungsplan ist jetzt eine sekundäre Überlegung.« »Es war vereinbart«, sagte Claire. »Und wir haben noch annähernd einen Monat Zeit.« »Oichi!« Kontos kniff die Augen zusammen, und Claire sah, daß die von den schweren Li dern ausgehenden Krähenfüße, die fast bis an seine Ohren reichten, von diesem Ausdruck herrührten. »Dieser Grabungsplan ist kein Vertrag«, sagte er mit einiger Schärfe. »Er kann abgeändert werden.« »Die Bodenuntersuchung ist…«, fing Claire an. »Ich persönlich habe dafür nie viel übrig ge habt. An Grabungsstätten wie dieser erbringen sie selten etwas.«
»Nun, das mag richtig sein«, sagte George, »aber hier gibt es vieles, was Sie nicht…« »Ich kann nicht verstehen, Alexandros, wa rum wir es auf einmal so eilig haben sollten?« Claire unterbrach Georges mit erhobener Stimme vorgebrachten Einwand in einem Versuch, die Diskussion in Grenzen zu halten. Zum Beispiel half es immer, wenn sie ihn mit seinem vollen Vornamen anredete; Griechen waren da ganz merkwürdig. Kontos lehnte sich gegen den Jeep und nahm wieder Notiz vom Verwalter, den er mit einer Handbewegung entließ. »Wir versuchen – wie sagen Sie? – von solchen Dingen kein Aufhe bens zu machen.« »Von welchen Dingen? Archäologie?« »Nein, nein. Von gemeinsamen Unterneh mungen.« George nickte verdrießlich. »Verstehe. Also setzt das Ministerium die Franzosen unten in Kreta und die Deutschen oben im Norden ge nauso unter Druck?« Kontos schenkte ihm einen undurchdringli chen Blick. »Nicht genauso.« »Dann gilt diese Politik speziell uns Ameri kanern?« sagte Claire. »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber darauf läuft es hinaus!« sagte George
hitzig. »Das Ministerium hat ein tilegraphima, ein Kabel an die Universität Boston gesandt…« »Was?« Claire wich unwillkürlich zurück. »Darin wird versucht, diese Ausgrabung so rasch wie möglich zum Abschluß zu bringen.« »Ich frage mich, wer das Ministerium dazu veranlaßt hat«, sagte George sarkastisch. Kontos errötete, aber nicht vor Verlegenheit, wie Claire sah, sondern vor Zorn. »Entschei dungen werden gemeinsam getroffen.« »Gewiß. Wer entschied, daß Sie mit einem Jeep zurückkommen würden?« fragte George. »Er wurde mir zur Verfügung gestellt. Ich bin Offizier des Heeres und habe Anspruch da rauf.« »Interessant, wie man das ganze Personal des Ministeriums in Uniformen steckt.« »Unsere Gesellschaft mobilisiert ihre Kräfte. Sie verleiht jedem Bürger ein Bewußtsein der Pflicht und Ehre seines Dienstes.« Kontos stand hochaufgerichtet und konfron tierte George in einer Haltung bewußter Her ausforderung – die Arme vor der Brust ver schränkt, das Kinn emporgereckt, um Georges Vorteil von fünf Zentimetern Körperlänge auszugleichen. Claire beschloß einzugreifen und die beiden, die einander mit wachsender
Feindseligkeit anstarrten, abzulenken. Mit ei nem munteren Lächeln sagte sie: »George, sei so gut und sperr die Tür zur Grabkammer zu! Ich lasse sie nicht gern so offen, wenn niemand in der Nähe ist.« George schaute sie verständnislos an, noch ganz auf sein Hin und Her mit Kontos fixiert. »Ah… zusperren?« »Ja, richtig. Ich möchte dem Oberst etwas von diesen Tonwaren zeigen.« George sagte nichts. Während die gespannte Stille noch andauerte, begann ein Vogel ir gendwo im nahen Oleanderdickicht aus voller Kehle zu singen. Claire warf George einen Blick zu, und endlich verstand er und schluck te. »Ich habe den Eindruck, daß wir hier hin ausgeworfen werden«, sagte er bitter, dann stapfte er davon. Auf dem Weg hinauf blickte er gelegentlich über die Schulter zu ihnen zu rück. Kontos’ Ärger schien verflogen. Er schüttelte bedauernd den Kopf und murmelte: »Dieser Mann ist ein Hitzkopf.« »Sie waren auch nicht gerade ein Ausbund von Mäßigung.« Er seufzte tief. »Ich werde unter Druck ge setzt. Sie verstehen, Sie sprechen unsere
Sprache, das muß Kenntnisse unserer Denkart mit sich bringen. Kommen Sie!« Er winkte ihr, und sie gingen ins Lager. »Dieses Kabel ist notwendig, um – wie sagt man? In der Diplo matie heißt es – um ein Zeichen zu setzen.« »Aber wem? Sie können es uns hier an Ort und Stelle sagen.« »Den Leuten, die Sie regieren, Claire, auch wenn Sie es nicht wissen mögen.« »Die Universität Boston ›regiert‹ mich nicht, Alexandros.« »Nein, nein. Ihre Regierung. Die Hintermän ner.« »Eine kleine gemeinsame Ausgrabung…« »Man wird das Zeichen verstehen. Die Dip lomatie arbeitet mit subtilen Mitteln, meine Liebe.« So subtil wie du? dachte Claire höhnisch, ließ sich aber nichts anmerken. Sie erreichten das Zelt, wo die Tonscherben sortiert wurden. Er schlug die Zeltplane am Eingang zurück und ließ ihr mit galanter Ge bärde den Vortritt. Sie zogen den Kopf ein und kamen in das gelbliche, von stickiger Hitze er füllte Dämmerlicht des Zeltes. »Mögen Sie ge kühlten Tee?« fragte Claire und öffnete den kleinen Kühlschrank. Er nickte. »Ich hoffe, Sie verstehen, daß es
sich nicht um eine Politik handelt, die ich ge macht habe.« »Sie waren daran beteiligt.« Er hob die Schultern. »Ich versichere Ihnen, ich wünsche Ihnen nichts Schlechtes.« »Gewiß«, sagte Claire sarkastisch, bevor ihr einfiel, daß mit dieser Reaktionsweise nichts zu gewinnen war, wie George bewiesen hatte. »Wahrhaftig, wie könnte ich? Nicht einer so reizenden, wunderschönen Frau! Das wäre unmöglich für einen Mann, für einen Grie chen.« »Und alle Nichtgriechen sind Barbaren, wie?« sagte Claire. Sie schenkte den Tee ein und setzte sich an einen Sortiertisch. Tonscherben waren nach Größe, Rundung, Glanz, Farbe und Zeichnung auf der Tischplatte angeordnet. Ihr Blick schweifte wie von selbst über die Stücke hin und suchte nach Gemeinsamkeiten und zusammenpassenden Bruchkanten. Die Ver gangenheit war ein Puzzlespiel, bei dem man niemals alle Stücke hatte. Kontos lächelte breit; diese Verlagerung des Gesprächsthemas gefiel ihm. »Was mich be trifft, ich denke nicht wie Aristoteles. Meine ausländischen Kollegen stehen mir sehr na he.« Er bekräftigte die Worte, indem er sich an die Brust schlug.
»Aber nicht so nahe, daß Sie sich beim Minis terium für uns eingesetzt hätten.« Er breitete mit vielsagender Gebärde die Hände aus. »Ein bloßer Mensch kann das Un mögliche nicht bewirken.« »Wie…« – beinahe hätte sie schlimm gesagt – »ist es wirklich in Athen?« »Die Entwicklung schreitet rasch voran. Wir haben jetzt wirklich Fortschritte gemacht.« »Diese Demonstrationen…« »Viele davon sind für uns. Einige wenige ge gen uns. Aber auch jene, die heute noch auf der anderen Seite stehen, werden lernen.« »Wer wird sie lehren?« »Die Polizei, falls nötig. Sie können nicht die Straßen in Besitz nehmen und sie zu einem Forum für ihre reaktionären Stimmen ma chen.« »Die Demonstranten vor unserer Botschaft waren keine ›Reaktionäre‹, glaube ich.« »Ja, das war bedauerlich. Aber verständlich. Die Menschen sind erbittert.« »Die Tore eindrücken, Fenster zerschlagen – das Verbrennen des Sternenbanners ist heut zutage ein weltweit beliebtes Spektakel. Wa rum hat Ihre Polizei diese Dinge nicht verhin dert?« »Die Polizei kann nicht überall in der nötigen
Stärke präsent sein.« »Weil sie zu beschäftigt ist, reaktionäre Schädel einzuschlagen?« »Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Und die Ausschreitungen gegen Ihre Botschaft werden sich nicht wiederholen. Wir sind ein zivilisiertes Land.« »Warum fangen wir dann nicht damit an, daß wir uns an unsere Vereinbarung halten?« Kontos seufzte theatralisch und schlürfte seinen Tee. »Sie müssen verstehen, daß ich nur eine Stimme habe. Gleichviel… vielleicht könnte ich etwas tun.« »Gut.« »Nur wegen unserer persönlichen Beziehung, verstehen Sie. Sie sind eine reizende Frau, und die Arbeit mit Ihnen an dieser Ausgrabung hat mir sehr viel Freude gemacht. Die Reibungen mit Leuten wie George und den anderen Ame rikanern – nun, die sind nicht wie Sie. Sie können nicht über ihren kleinen Horizont hinwegsehen, erfassen nicht das Bild einer sich verändernden Welt.« »Daran ist etwas Wahres«, sagte Claire höf lich. Jahrelange Erfahrung im Mittelmeer raum hatte sie auf die nach links tendierende Entwicklung in Griechenland vorbereitet. Die amerikanische Presse malte das Schreckens
gespenst eines »sozialistischen Unterleibs«, der sich von Spanien bis Griechenland er streckte. Italien hatte eine sozialistische Re gierung, deren Wirken von den Amerikanern »kosmetischer Marxismus« genannt wurde, duldete aber seine NATO-Basen. In Griechen land war die Rhetorik schärfer, drohender. Die Automatisierung der europäischen Industrie hatte viele griechische Gastarbeiter heimge schickt, wo sie zu einem Faktor der Unzufrie denheit und Unruhe wurden und nach durch greifenden sozialen Verbesserungen verlangten. Die Parteien der Mitte hatten ih nen wenig zu bieten. Der von den Vereinigten Staaten unterstützte – manche sagten, be herrschte – Weltwährungsfonds, von der chronischen internationalen Schuldenkrise voll in Anspruch genommen, zeigte keine Nei gung, einer linksgerichteten griechischen Re gierung unter die Arme zu greifen. Von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemein schaft hatten die meisten mit eigenen Rezes sionsproblemen zu kämpfen und konnten Griechenland nur in geringem Maße Hilfe leisten. Die einzige Macht im nördlichen Mit telmeerraum, die als politisch und militärisch zuverlässiger Vasall der Vereinigten Staaten gelten konnte, war die Türkei, deren Verhält
nis zu ihrem NATO-Verbündeten Griechenland noch immer denkbar schlecht war. Claire hatte miterlebt, wie die Griechen Koalitionsregie rungen gebildet und Parteienschacher getrie ben hatten; sie kümmerte sich wenig um kon ventionelle Politik, und Kontos’ Nachricht bestätigte nur, was sie längst erwartet hatte. »Sie sind in diesem Sommer der einzige Lichtblick gewesen. Sie sind eine Dame, eine Wissenschaftlerin, und es ist mir eine Freude gewesen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« Claire fühlte sich immer ein wenig unbehag lich, wenn sie auf plumpe Komplimente ant worten mußte. »Ah, danke, aber…« »Unsere Freundschaft ist das einzige Ele ment, das ich vermissen werde, wenn die Grabungsstätte diese Woche geschlossen wird.« »Diese Woche?« »Gewiß. Das sagte ich eben dem Lagerver walter.« »Unmöglich.« »Aber notwendig. Es gibt Kräfte in unserer Regierung, die diese Sache nur zu gern als Vorwand benutzen würden, um einen Zwi schenfall zu inszenieren.« Auf Claires ungläubigen Blick nickte er mit bekümmerter Miene. »Es ist leider so.«
»Dies ist ein international vereinbartes For schungsvorhaben, wir haben alle Papiere, wir haben jedes Recht…« »Sie haben es auch zur denkbar größten Un beliebtheit in den umliegenden Dörfern ge bracht.« »Wer sagt das? Wieso?« »Sie sind Amerikaner. Die Bevölkerung kriti siert, daß Sie sich als Herrenmenschen be nehmen, nicht wie Gäste.« »Vor ein paar Tagen war ich in Nauplia. Die Verkäufer in den Läden waren genauso freundlich wie sonst.« »O ja, die. Sie hängen von Ihrem Geld ab.« »Alexandros! Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß die Dorfbewohner ringsum den Übertreibungen dieser Fanatiker in Athen Glauben schenken? Sie sind…« »Sie kennen die Seelen dieser Menschen nicht, Claire. Sie sind stolz, und es erbittert sie, was Jahre der Unterdrückung in diesem Land angerichtet…« »Ich glaube es nicht.« Er sagte ruhig: »Ihre Arbeiter sind gegangen, nicht wahr?« »Und wer hat sie dazu angestiftet?« »Dazu bedurfte es keiner Anstiftung, Claire. Es gibt seit längerem örtliche Unruhen, Unzu
friedenheit unter den Arbeitern…« »Wenn dies zuträfe, so wäre es Ihre Pflicht, die Ausgrabungsstätte zu beschützen.« Kontos lächelte. »So ist es. Ich werde hier ei ne Wache postieren. Und Sie werden nach Athen zurückkehren.« »Aber meine Arbeit ist hier!« »Sie können die Laboruntersuchungen in Athen überwachen. George mag dableiben und abschließen, was getan werden muß.« »Diese Regelung gefällt mir nicht. Wir müs sen erst die Arbeit beenden, es gibt eine Gra bung hinter der Wand des Kuppelgrabes…« »Ich mache Ihnen dieses Angebot als Freund, nicht als Unterhändler«, sagte Kontos und legte die Hände vor sich auf dem Tisch inei nander. »Um das Ministerium zur Billigung selbst dieser Regelung zu bewegen, werde ich meinen ganzen Einfluß auf bestimmte Leute geltend machen müssen.« Daß Kontos Einfluß hatte, wußte sie. Er hatte mit der Tauchexpedition nach den marmornen Parthenon-Skulpturen internationales Anse hen erworben. Die berühmten Plastiken im British Museum stellten tatsächlich die zweite Schiffsladung dar, die Lord Elgin nach England gesandt hatte; die erste war auf See verloren gegangen. Kontos und mehrere seiner Lands
leute hatten eine Menge Geld gesammelt, tech nisches Gerät und Tauchspezialisten eingesetzt und die unschätzbaren marmornen Kunst werke geborgen, die nun Glanzstücke des Athener Museums waren. Was Kontos sagte, war seither in der kleinen Welt der griechi schen Archäologie Gesetz. »Hören Sie, Alexandros…« »Nein, sprechen Sie nicht so!« Er stand auf, ging um den Tisch und blieb neben einer von Claires teilweise zusammengesetzten Schale stehen. Sein Blick ruhte nur flüchtig auf den Scherben, obwohl sie wußte, daß er seine Dis sertation über archäologische Routinearbeit wie diese geschrieben hatte. Aber das lag jetzt weit hinter ihm. Sie witterte seinen Geruch, eine Mischung von Schweiß und herbem Duftwasser. »Sehen Sie, ich habe gefunden…« »Soviel Geschäftliches, nein, nein«, sagte er mit breitem Lächeln. »Ich möchte nicht, daß unser Umgang miteinander so… so formell ist, Claire. Wir sind besondere Freunde, wir kön nen uns verständigen.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Kollegen, natürlich. Aber auch mehr als Kollegen.« Claire saß still, noch im Zweifel, ob sie ihn recht verstanden hatte.
»Es wird mich Einfluß und Zeit kosten«, fuhr er in gewinnendem Ton fort. »Es ist nicht leicht, wissen Sie, etwas zu erreichen.« »Ich würde gewiß zu schätzen wissen, wenn Sie etwas tun könnten.« »Ich hoffte, Sie würden nach Athen kommen, wo wir einander… äh… besser kennenlernen könnten.« »Ich denke, wir wissen bereits genug.« Er drückte ihre Schulter. »Claire, diese Dinge erfordern Zeit.« »Was für Dinge?« Sie blickte prüfend auf. Er stand hinter ihrer Schulter, und das machte es schwierig, ihn ins Auge zu fassen. Eine schlaue Taktik, dachte sie. Es wäre viel einfacher für sie, den Kopf zu neigen und schüchtern auf seine Avancen einzugehen, indem sie ihre Wange auf seine Hand legte. »Ganz unter uns…« »Ganz unter uns, ja: Es gibt hier nichts, was über kollegiale Höflichkeit hinausginge!« un terbrach sie ihn scharf. Sie entzog sich seiner knetenden Hand, stand rasch auf und trat von ihm zurück. »Ich glaube das nicht«, sagte er heiter, »und Sie auch nicht.« »Also wissen Sie jetzt, was ich denke? ›Die kleine ungebildete Amerikanerin, kennt sich in
ihren eigenen Gefühlen nicht aus, braucht eine feste Hand, ein wenig Unterweisung in der Kunst der Betörung?‹« Sie schnaufte gering schätzig. Aber er trat unbeeindruckt näher, setzte die imponierende Massigkeit seiner Schultern un ter dem frisch gebügelten Uniformtuch ein, vertrieb ihren sarkastischen Ausbruch mit ei nem abwehrenden Wedeln der Hand, ein kühl herablassendes Lächeln um die Mundwinkel. Sie schnitt eine Grimasse und sagte mit for cierter Lautstärke: »Vielleicht braucht sie bloß einen ordentlichen griechischen Schwanz?« Dies hatte die gewünschte Wirkung. Er ver hielt, sein Mund zuckte in gekränkter Gereizt heit. »Das ist… beleidigend.« »Richtig.« »Ihr Verständnis ist…« »Ich verstehe vollkommen.« »Sie sind ganz und gar…« »Wissen Sie, was Sie gerade versucht haben?« »Ich denke schon. Aber ich bin nicht so si cher, daß Sie es wissen.« »Sie sind bereit, uns mehr Zeit zu geben, wenn ich nach Athen komme«, sagte sie und faßte ihn scharf ins Auge. »Ich möchte wetten, Sie haben dort bereits ein kleines Hotelzimmer reserviert, nicht wahr? Nicht weit vom Minis
terium, aber unauffällig? Leicht während der langen Mittagspause erreichbar. Oder geeignet als Zwischenstation auf dem abendlichen Heimweg zur Ehefrau.« Seine Züge versteinerten. »Ich habe recht, nicht wahr?« »Sie sind ein Kind.« »Vielleicht, nach Ihrer Definition«, sagte sie rasch, fühlte aber, daß ihr der Wind aus den Segeln genommen war. Hatte sie die Situation falsch verstanden? Nein… aber schon kriti sierte sie ihre Reaktion als zu hart, zu beleidi gend. »Ich bot Ihnen einen Kompromiß an, eine Vereinbarung zwischen Gelehrten. Ich kann nichts dafür, wenn meine persönlichen Emp findungen hineinspielen.« »Die werden Sie heraushalten müssen«, sagte sie kühl. Er breitete die Hände in einer südländischen Geste der Selbstbescheidung aus. »Ich kann mich nicht zerteilen.« »Nun, da ist nichts zu machen, ist das klar?« »Sie werden nicht…« »Ich werde nicht Ihre kleine Gespielin, nur um für diese Grabung ein paar Wochen mehr herauszuholen.« Sein Gesicht lief rot an. »Sie sind ein kaltes
Frauenzimmer!« »Kalt, sagen Sie? Haben Sie schon daran ge dacht, daß es an Ihrer Technik liegen könnte?« Er bebte vor Zorn, und auf einmal spürte sie die komprimierte Gewalt des Mannes, und er kannte, daß sie zu weit gegangen war. Er trat auf sie zu, die Fäuste geballt. Sie wich zurück, dann kam ihr ein Gedanke, sie trat an den Tisch und hob einen Tonkrug auf. Er war fast komplett, sorgfältig gekittet. Sie hielt ihn in einer Hand. »Wenn Sie näherkommen, lasse ich ihn fal len.« »Sie…« Er fluchte auf griechisch. Kontos war noch immer Archäologe, obwohl er die meiste Zeit dieser Grabung mit politi schen Spielen in Athen verbracht hatte. Die frühen Jahre seiner Berufslaufbahn, die er mit dem mühseligen Zusammensetzen von Ton scherben verbracht hatte, bedeuteten ihm noch immer etwas. Das hoffte sie jedenfalls. Ein langer Augenblick verging. Dann verän derte sich etwas in seinen Augen. »Lassen Sie Ihre Hände von dem Erbe meines Vaterlandes!« sagte er steif. »Erbe?« Sie unterdrückte ein Lachen. Die Stimmungsumschwünge des Mannes waren
unglaublich. »Sie sind hier, weil wir unsere Zustimmung gegeben haben.« »Das ist richtig.« »Und ich werde Ihre… Ihre Beleidigungen nicht dulden.« Er spuckte in den Staub. »Alexandras…« Er zog die Zeltplane mit einem Ruck beiseite und ging hinaus, ohne sich umzusehen.
2 Kurz vor Mittag fanden sie etwas Seltsames. Claire war mit Aufräumungsarbeiten be schäftigt und bemerkte George Schmitt nicht, der den staubigen Pfad herangetrottet kam, bis er rief: »He! Ich habe die Platte draußen!« Sie blickte auf, ungläubiges Staunen in den braunen Augen. »Draußen? Ich dachte, du wolltest den Mörtel untersuchen.« »Habe ich getan. Er ist nur ein paar Finger dick, ebenso wie die Platte.« Kopfschüttelnd verließ sie den Schatten des wellblechgedeckten Sortierschuppens. »Du
solltest nachsehen, ob der zentrale Stein sich von den anderen unterscheidet, nicht? Es war keine Rede davon, ihn aus dem Mauerwerk zu lösen.« »Ja, aber es war einfacher als wir dachten.« »Mit dem Entfernen dieses Steins könnte die ganze Grabkuppel einstürzen.« Er lachte. Sein blondes Haar schimmerte im schräg einfallenden Sonnenlicht des klaren Morgens. »Ich habe das Loch gut abgestützt. Mit Brecheisen, Stahl und Holz. Es war nicht allzu schwierig – der Stein erwies sich als eine Platte von nur fünf Zentimetern Stärke.« Claire schnitt ein Gesicht. »Komm mit!« sagte sie knapp. Sie hätte es besser wissen sollen, als ihn die Arbeit allein tun zu lassen. Und wenn sie da nach urteilte, wie er vor ein paar Monaten die Oberschwelle des Eingangs abgestützt hatte, wäre es ein Wunder, wenn seine Stütze halten würde. Die einheimischen Arbeiter hatten die Abstützung damals von Grund auf neu auf bauen müssen. Wären die verdammten Grie chen nicht in diesen Streik getreten, hätte sie George niemals eine solch knifflige Aufgabe anvertraut. Schließlich war er Archäologe und nicht Maurer oder Statiker. Sie hegte den starken Verdacht, daß Kontos
die Leute vorsätzlich von der Ausgrabungs stätte fernhielt. Er war in tiefer Verärgerung nach Athen zurückgekehrt, und wahrschein lich beeinflußte er die Gewerkschaftsleitungen der benachbarten Städte. Andererseits waren Streiks in letzter Zeit so häufig, daß man sich daran gewöhnte, ihren Auswirkungen durch Improvisation zu entge hen. Dieser Streik war ein Proteststreik mit dem Ziel, die Archäologen zur Einstellung weiterer Arbeiter zu zwingen, statt die Be schäftigten Überstunden machen zu lassen. Für Claire war es eine eigentümliche Art von Solidarität; die Forderungen amerikanischer Gewerkschaften beschränkten sich gewöhnlich auf Lohnerhöhungen. Sie gingen den ausgetretenen Pfad um die Flanke des Hügels. Jeder Schritt wirbelte Staub auf. Eine einsame Zypresse hielt sich gegen die Ungunst der Verhältnisse, ein schwarzgrünes Fanal im struppigen, ausge dörrten Busch. Claire mochte den frischen, würzigen Duft, und aus Gewohnheit richtete sie ihren Blick zu den entfernten Höhen, wo Baumreihen den Horizont belebten. Bis zum Beginn der Herbstregen würde das Land sich nicht von der sengenden Trockenheit des ge rade zu Ende gegangenen Sommers erholen
können. Eine willkommene Brise wehte; sie trug ein Gewisper leiser Brandungsgeräusche von der anderen Seite des Hügels herüber, wo das Land in steilen Kliffs zur Ägäis abfiel. Nun, da die meisten Expeditionsmitglieder heimgekehrt waren, schien die Gegend verlas sen. Claire vermißte die Stütze des Gemein schaftsgefühls, die lockere, kollegiale Organi sation der Vermesser, Feldarchäologen, Fundauswerter, Vorarbeiter und Hilfskräfte. Jetzt waren die sandfarbenen Zelte leer, die gesammelten Früchte der sommerlichen Ar beiten erwarteten ihre Reise nach Athen. Vom Lager ging man nur fünf Minuten zum Eingang der Grabkammer. Auf dem anstei genden Weg gewannen sie bald einen Blick auf die ausgegrabene alte Siedlung wo die Saison über der größte Teil der Arbeit geleistet wor den war. Obwohl die freigelegten Mauerreste und eingestürzten Bauwerke zahlreiche Töp ferscherben und Gebrauchsgegenstände erge ben hatten, war wenig davon eigentümlich. Das Verständnis des mykenischen Griechen land hatte durch diesen heißen, konfliktgela denen Sommer keine wesentlichen Impulse erfahren. Immerhin legte das Tholos-Kuppelgrab über der Siedlung den Schluß nahe, daß die Gegend zur damaligen
Zeit von politischer Bedeutung und vielleicht sogar wohlhabend gewesen war, regiert von einem Herrscher, den man eines aufwendigen Begräbnisses würdig erachtet hatte. Das Kup pelgrab mochte sogar diese letzten Untersu chungen am Ende der Feldexploration recht fertigen. Das war wenigstens ihre Hoffnung. Sie hatte ihren Forschungsauftrag von der Universität Boston um ein Semester verlän gern lassen, um die Grabungsstätte zu schlie ßen und ihre eigenen Projekte zu beenden. Bisher hatte sich ihre sorgfältig kalkulierte Investition von Zeit und Arbeitsaufwand nicht ausgezahlt. Ein paar Schritte vor ihrem Helfer mar schierte sie zwischen den massiven Kalkstein quadern durch den freigelegten Zugang. Ihre Bewegungen waren rasch und energisch, und bei jedem Schritt hörte man den derben, kha kifarbenen Stoff ihrer Hosenbeine aneinanderstreifen. Mit achtundzwanzig hatte sie an sieben größeren Ausgrabungen in Grie chenland und der Türkei teilgenommen und die Arbeit hatte sie sehnig und muskulös ge macht. Die Wände des langen, ungedeckten Korri dors stiegen zu beiden Seiten an und bildeten einen Einschnitt in den Hang, der bis zum ho
hen, rechteckigen Eingang der Grabkammer führte. Sie traten unter dem mächtigen Tür sturz durch und sahen sich unvermittelt in tiefem Halbdunkel. Ihre Schritte hallten unter dem falschen Gewölbe des Kuppelgrabes. Claire blieb bei einigem herumliegenden Werkzeug stehen. »Dieser Raum ist wirklich armselig.« Vorsichtig bewegte sie sich weiter. »Gott, was für ein Gewurstel.« »Es wird halten«, sagte George trotzig. Er schlug mit der flachen Hand gegen eine der Verstrebungen. Die aus der Wand entfernte Steinplatte baumelte in einer aus knarrenden Seilen geknoteten Halterung. Sie sah, daß er sich seiner Aufgabe auf die einfachste Art und Weise entledigt hatte, ohne die Platte seitlich zu sichern. Der wichtigste Teil aber war die Abstützung der entstandenen Wandöffnung. Das schien in Ordnung zu sein. Er hatte mit den Standard-Stahlstreben gearbeitet und sie fest eingekeilt, damit sie das Gewicht trugen. Sie beugte sich zur Steinplatte. Drei konzentrische Kreise waren in die der Grabkammer zugekehrte Oberfläche gemei ßelt. Dies hatte von Anfang an ihre Neugier erregt. An den Rändern waren da und dort Kratzspuren zu sehen, die nach ihrem Urteil wahrscheinlich nicht von Bedeutung waren.
Sie besah die andere Seite. Grauer Mörtel haf tete an den Kanten, zerbröckelte zwischen den Fingern. Die Rückseite der Platte war leer, uninteressant. »Zu dumm«, sagte sie. »Ja.« George brachte eine Handlaterne und kauerte bei ihr nieder. »Aber sieh mal durch die Öffnung!« Sie drehte sich unbeholfen in dem engen Raum zwischen der Platte und der Innenwand des Kuppelgrabes, bückte sich und spähte in die große Öffnung. Ein bernsteinfarbener, matt schimmernder Zapfen wies zu ihr heraus. Er war irgendwie auf schwarzem Gestein be festigt. Ihr Stockte der Atem. »Was…?« »Eine Pracht, wie? Wir dachten, die Platte könnte auf beiden Seiten bearbeitet sein, aber wer hätte gedacht, sie würden etwas dahinter einmauern?« »Mykenische Gräber hatten keine Hohlräume in den Wänden…« fing sie an und verstummte. Soviel für die konventionelle Weisheit. »Sieh nur, wie symmetrisch es ist!« sagte George liebevoll. »Vollkommen. Nur, ein voll kommenes Was?«
»Ich habe nie Vergleichbares gesehen.« »Ein Ornament, das ist gewiß.« »Aber kein Loch darin, soweit ich sehen kann, also konnten sie es nicht um den Hals getragen haben.« »Richtig. Dafür ist es sowieso zu lang – muß mindestens zehn Zentimeter sein. Ich frage mich, wie es befestigt ist.« Er streckte den Arm durch die Öffnung und berührte das Gestein um die Basis des Zapfens. »Scheint in den Stein eingelassen zu sein. Ja, siehst du? An der Basis hört die Verdickung des Zapfens auf; dort hat man ihn in den dunklen Kalkstein eingesetzt.« »Ein ziemlich seltenes Material, vor allem hier. Komisch, daß sie es verborgen haben.« »Ja, man sollte meinen, sie würden es zur Schau stellen. Ich bin wirklich froh, daß ich nicht den Zapfen traf, als ich die Stahlstreben einsetzte.« Wahrscheinlich war es seine Art zu sagen, daß ihm bewußt war, welches Glück er gehabt hatte. Ganz allein, im Kampf mit Gewichten, die er kaum handhaben konnte, auf gut Glück Verstrebungen hineinschlagen… Sie schüttelte den Kopf.
George drückte ihr die Lampe in die Hand. »Leuchte mal!« Er zwängte sich in den engen Raum zwischen der hängenden Steinplatte und der Wandöff nung. Der Lichtschein zeigte, daß das schwarze Gestein die Öffnung nicht ganz ausfüllte. Er ließ auf einer Seite fünf Zentimeter und auf der anderen noch etwas mehr Raum. Oben und unten gab es keine Abstände. Claire sagte: »Sieht so aus, als wären die Quader oben und unten auch nur Steinplat ten.« »Aber sieh dir die Seiten an! Einen halben Meter dick, mindestens.« »Um das Gewicht der Kuppel zu beiden Seiten dieser dünneren Einsätze aufzufangen«, meinte Claire. Sie berührte die dunkle Ober fläche. Sie war ein wenig uneben, vielleicht mit der gleichen routinierten Effizienz behauen, die ein Steinmetz auf Pflastersteine wenden mochte. »Große Meißelspuren«, murmelte sie. »Ja, man sollte meinen, daß jemand, der ei nen Kunstgegenstand anfertigt, feinere Arbeit leisten würde. Es sieht schlampig aus.« »Gib mir die Lichtröhre, sei so gut! Vielleicht können wir hinter dieses Ding sehen.« Er kroch zurück und nahm die Handlampe mit. Im Halbdunkel glaubte Claire ein goldenes
Glimmen in dem Zapfen zu sehen, als enthielte er winzige reflektierende Einschlüsse. Un reinheiten, vielleicht. George murmelte hinter ihr, hantierte mit dem Licht, dessen tanzende Schatten die Lichterscheinungen anwachsen und verblassen ließ. Wahrscheinlich Bernstein, dachte sie. Feine Arbeit, älter als 3500 Jahre. Die Jahre ihrer Ausbildung hatten ihre Fähigkeit zu ehrfürch tigem Staunen nicht verkümmern lassen. Der Zapfen war ungefähr so lang wie ihre Hand und mündete gleichmäßig und glatt in einer gerundeten Spitze. Als sie den Stein be rührte und die Hand auf seine Oberfläche leg te, überkam sie ein leises Unbehagen, ein pri ckelndes Gefühl, und sie zog die Hand zurück. »Hier.« George reichte ihr die Lichtröhre. Sie war bei dieser Ausgrabung seine Vorgesetzte. Obwohl die Archäologen gewöhnlich kein gro ßes Aufhebens um die Hackordnung machten, hatte Claire nun, da die großen Namen die Ausgrabungsstätte verlassen hatten, das Recht auf die erste Inspektion. Das war bisher noch nie der Fall gewesen, und sie war erfüllt von aufgeregter Erwartung. Es war ein Glück, daß Kontos nach Athen zurückgefahren war. Sie schob die dünne, flexible Kunststoffröhre in die Mauerlücke rechts neben dem schwar
zen Kalkstein. Die Röhre enthielt neben der Optik eine dünne Entladungslampe und trug am Ende einen um 45 Grad zur Längsachse geneigten Planspiegel mit einem Objektiv, durch welches man um Ecken sehen konnte. George schaltete die Handlampe aus. Claire setzte das Okular ans Auge, drehte die Licht röhre und sah eine rauhe Oberfläche. Langsam drehte sie die Röhre seitwärts. »Erde und Felsgeröll. Ursprünglicher Boden.« George kauerte neben ihr, während sie die Inspektion fortsetzte. »Der Hohlraum endet rechts nach ungefähr zehn Zentimetern. Nein, warte – da ist ein kleines Loch. Sieht wie Wassererosion aus.« »Kannst du nicht hinter diesen schwarzen Kalkstein sehen?« »Ich versuche es. Die Perspektive ist ungüns tig… vielleicht kann ich die Röhre noch ein Stück hineinschieben.« In der Dunkelheit wirkten die beiden kau ernden Gestalten geisterhaft. Licht drang aus der schmalen Öffnung und warf riesige Schat ten, die bei jeder Bewegung über die ge krümmten Wände des Kuppelgrabens taumel ten, um sich in der tintigen Schwärze höher oben zu verlieren. »So. Wenn ich es jetzt noch in die richtige Po
sition drehen kann…« Ihre etwas gepreßte Stimme hallte von den Wänden wider, die dem Klang eine beinahe metallische Note verliehen. »Der Stein endet. Markierungen kann ich aus dieser Perspektive nicht erkennen. Jedenfalls hat er eine flache Rückseite.« »Ist etwas dahinter?« »Offener Hohlraum.« »Wie groß?« »Nicht zu erkennen.« »Dann muß er wenigstens einen halben Meter oder mehr haben.« »Wahrscheinlich Wassererosion. Hier, sieh selbst!« Als George das Auge am Okular hatte, drehte er die Röhre hierhin und dorthin und pfiff lei se durch die Zähne. »Ein ziemlich großer Block. Er scheint rückseitig freizuliegen.« Er studierte ihn noch eine kleine Weile, dann richtete er sich auf. Claire erwiderte sein Lä cheln. »Entschieden seltsam, Watson«, sagte sie. »Ein guter Fund, nicht?« »Kein mykenisches Grab hat eine falsche Wand wie dieses. Von diesem Bernsteinzapfen ganz zu schweigen. Eine echte Erstentde ckung.«
3 Auch am nächsten Tag ließen die griechischen Arbeiter sich nicht blicken. Das wäre ein ernstes Problem gewesen, wenn es sich während der eigentlichen Ausgra bungsarbeiten ereignet hätte. Nun, nach Ab schluß der Grabungen, war es nur lästig. Nie mand hatte weitere wichtige Funde erwartet, sonst wäre Direktor Hampton an Ort und Stel le geblieben und hätte einen der Assistenten nach Boston zurückfliegen und dort seine Vorlesungen übernehmen lassen, da das Se mester inzwischen begonnen hatte. Claire war ursprünglich nur geblieben, um ihre Analyse der aufgefundenen Töpferwaren zu beenden. Als dienstälteste amerikanische Wissenschaftlerin mußte sie mit den Griechen zusammen die, Inventur fertigstellen, die Verpackung und den Versand der Fundstücke überwachen und das Grab verschließen, um es vor Vandalismus zu schützen. Sie und George waren als einzige, die zu Aus grabungsarbeiten qualifiziert waren, im Lager zurückgeblieben. Ursprünglich hatte Kontos diese letzte Phase leiten sollen, doch hatte er seit Ende Juni die meiste Zeit in Athen ver bracht. Durch seine Abwesenheit waren die
Amerikaner weitgehend auf sich selbst gestellt, sah man von dem Verwalter des Lagers und einer Frau aus dem Dorf ab, die im Küchenzelt ihres Amtes waltete. Claire räumte widerwillig ein, daß Georges Verstrebungen in der Wand des Kuppelgrabes wahrscheinlich ausreichten. Dennoch ver stärkten sie seinen Rahmen in der Öffnung und untersuchten die herausgenommene Steinplatte. Bis auf die sorgfältig eingemeißelten kon zentrischen Kreise war sie ohne Besonderheit, doch stellten diese Kreise das einzige Schmuckwerk im gesamten Innern des Kup pelgrabes dar. Auch hier waren Meißelspuren an den Rändern zu erkennen, und der Mörtel war teilweise abgefallen. George trug die Überlegung vor, daß diese Zeichen möglicher weise auf mißlungene Bemühungen von Grabräubern zurückgingen, die Platte herauszu ziehen. Im ersten Jahrhundert nach dem Begräbnis mußte der Mörtel hart und zäh ge nug gewesen sein, um mehr oder weniger flüchtigen Anstrengungen zu widerstehen.
Mykenische Gräber waren nüchtern und schmucklos, Bauwerke eines Volkes, das nie mals Überfluß gekannt hatte. Sie waren Wei terentwicklungen der seit dem dritten vor christlichen Jahrtausend auf Kreta und den Kykladen beheimateten Tholosgräber, kreis runden Grabkammern mit Mauergewölben oder Holzdecken. Die Griechen der mykenischen Zeit errichte ten sie, indem sie die Baugrube mit Steinqua dern kreisförmig auskleideten, wobei jede La ge ein wenig über die darunterliegende vorragte, so daß schließlich eine Kuppel ent stand, die entweder ganz in den Hang einge bettet war oder über ihn hinausragte. Die Kuppelgräber wurden gewöhnlich mit Erdhü geln bedeckt, die im Laufe der Zeit mit dem umgebenden Hügelgelände verschmolzen und die Auffindung der Gräber erschwerten. Wäh rend der Blütezeit der mykenischen Kultur, welche aus Gründen, die bis heute unbekannt und Gegenstand vieler Vermutungen und Dis kussionen sind, unvermittelt zu einem Zent rum von Macht und Reichtum wurde, gewan nen die Kuppelgräber immer größere Dimensionen und erhielten einen Zugang (Dromos) in Gestalt eines oben offenen Korri
dors, der den Grabhügel anschnitt und in Ein zelfällen Längen bis zu dreißig Metern und darüber aufwies. Diese Zugänge blieben wäh rend der Regierungszeit der jeweiligen Dynas tie möglicherweise offen, weil das Kuppelgrab für aufeinanderfolgende Begräbnisse wieder holt benutzt wurde. Die in den Stein gemeißelten Ringe hatten Claire ursprünglich zu der Vermutung geführt, daß sie einen in die Wand eingelassenen Be gräbnisplatz markierten. Der Gedanke war ihr selbst nicht recht geheuer gewesen, weil die mykenischen Griechen ihre Schachtgräber gewöhnlich offen in der Grabkammer angelegt hatten. Es bestand keine Verwandtschaft mit den schlauen Bemühungen der ägyptischen Pyramidenerbauer, die tote Stollen, Fallen, falsche Begräbniskammern und andere Täu schungsmittel anwendeten, um Grabräuber irrezuführen. Die Herren der mykenischen Welt erwarteten nicht, daß jemand sich jemals an ihren Gräbern vergreifen werde. Claire fand dieses Zeichen argloser Unschuld rei zend. Dieses vor langer Zeit untergegangene Volk hatte mit einer wuchtigen Einfachheit gebaut und seine unterirdischen Kuppeln mit einer Genauigkeit und Massivität berechnet und errichtet, der in den meisten Fällen nicht
einmal 3500 Jahre Verwitterung, Wasserero sion und Erdbeben etwas hatten anhaben können. Die schwache Stelle eines Kuppelgrabes war gewöhnlich der Scheitelpunkt der Kuppel. Wenn dieser brüchig wurde und einstürzte, entstand ein Loch, das ein vorbeiziehender Hirte früher oder später bemerkte. So kam es, daß die meisten der bekannten Gräber ausge raubt wurden, lange bevor es eine neuzeitliche Archäologie gab. Dieses Grab war ein typischer Fall, obwohl es eine ungewöhnlich reiche Ausbeute ergeben hatte. Ein Bewohner der nahen Kleinstadt Salandi hatte das Ministerium für Altertümer und Restauration angerufen und von einem Loch berichtet, das in einem Hügel über der Küste und ungefähr zehn Kilometer außerhalb der Stadt entdeckt worden sei. Er habe in ei nem Cafe davon gehört. Grabräuber waren schon vor langer Zeit da gewesen. Kuppelgräber waren in mykenischer Zeit den Königen und adligen Herren vorbe halten geblieben, und die darauf folgenden Generationen hatten es noch gewußt; wenige waren ungeöffnet geblieben. Hier hatten die Grabräuber Urnen und Schachtgräber aufge brochen und den größten Teil der Beigaben
verstreut und zerschlagen. Es war kein Goldschmuck übriggeblieben, keine Wertgegen stände, nichts, was sich rasch zu Geld machen ließ. Reisende erinnerten sich vor allem solcher Wertgegenstände wie der berühmten Gold maske des Agamemmnon, die von Schliemann irrtümlich so gedeutet worden war, als er sie im Gräberkreis des Palastes von Mykene ent deckte. Sie war herrlich, ein prachtvolles Stück, und verriet viel über das Leben der Herrscher jener Zeiten. Archäologen aber sind gleichermaßen an Fundstücken interessiert, die Einblick in das Alltagsleben gewähren, und in dieser Hinsicht war das Grab eine gute Fundstelle. Die pflichtschuldigen Diener der toten Herren hatten ihnen als Grabbeigaben Werkzeuge, Siegelsteine, Dolche, bronzene Kurzschwerter, Gebrauchsgegenstände, Keramikgefäße, Spiegel, Kämme, Sandalen auf die lange Reise mitgegeben – alles, was sie be nötigen würden, um im Jenseits einen Haus halt zu gründen. Die Gebeine der Bestatteten waren achtlos durcheinandergeworfen worden, als die Grabräuber auf der Suche nach Schmuck und Juwelen die zerfallenden Gewänder ausei nandergerissen hatten. Die sterblichen Über
reste wurden zu gleichen Teilen den Laborato rien in Athen und an der Universität Boston übergeben, wo sie eingehenderer Untersu chung harrten. Die Gebeine gehörten zu meh reren Skeletten, die alle auf der selben Ebene gefunden worden waren. Dies konnte bedeu ten, daß die mykenischen Herren dieses Ortes das Grab mehrere Generationen hindurch verwendet hatten, oder daß mehrere Fami lienmitglieder gleichzeitig dort bestattet wor den waren, oder sogar, daß Schäfer nach dem Einsturz des Schlußsteines durch das Loch ge fallen und hier unten elend umgekommen worden waren. Kleinere Gegenstände – Keramikscherben, kleine Teile von Schmuckstücken, Amethystperlen – fand man begraben unter den herabgefallenen Steinen und den Haufen nachgerutschter, mit Geröll vermischter Erde. Die Plünderer hatten sich augenscheinlich nicht die Mühe gemacht, alles gründlich aus zuräumen. Rußstreifen an den Wänden spra chen von jahrhundertelangem Gebrauch als Notunterkunft in Unwettern, wahrscheinlich durch Hirten. Die Verwitterung erweiterte allmählich das Loch in der Kuppel, Erde wurde hereingespült, Staub setzte sich ab. Die Rußstreifen begannen mehrere Fuß über dem ur
sprünglichen Boden, stumme Zeugnisse, daß die Feuer auf dem angesammelten Schutt von Jahrhunderten angezündet worden waren. Die interessantesten Fundstücke hatte Kontos meist schon kurz nach ihrer Entdeckung ein packen lassen und nach Athen geschafft. Den Grabungsteilnehmern der Universität Boston war dabei nur wenig Zeit geblieben, die besten Stücke zu studieren, und spätere Versuche, sie während des Reinigungsprozesses und der eingehenden Untersuchung in den Laborato rien in Athen zu sehen, waren gewöhnlich an technischen Schwierigkeiten gescheitert. Im vergangenen Jahr hatte die linksgerichtete griechische Regierung verlangt, daß Ausgra bungen nicht länger wie bisher unter der ver antwortlichen Leitung des Amerikanischen In stituts für klassische Studien stehen dürften, sondern nur noch in gleichberechtigter Ko operation mit den Landesbehörden durchge führt würden. Kontos wurde Kodirektor mit Vetorecht. Wegen dieser und anderer Fragen war es vom Frühsommer an zu Reibungen mit Kontos gekommen, die im Lager der Ausgrä ber zu einer gespannten Atmosphäre geführt hatten. »Darum möchte ich mir alles genau ansehen,
so bald als irgend möglich«, sagte Claire am nächsten Tag zu George. »Nur wegen Kontos? Ich weiß, er ist schwierig im Umgang, aber hier haben wir eine Beson derheit und müssen vorsichtig sein, sonst…« »Wenn wir uns nicht beeilen, wird die Zeit knapp.« »Nun, sobald Kontos dieses Ding zu Gesicht bekommt, wird er uns gewiß noch den ganzen Monat bleiben lassen.« Claire hatte George nicht von ihrem Zusam menstoß mit Kontos im Zelt der Töpferwaren gesagt. Kontos war in schwelendem Zorn weg gefahren, was für die Zukunft nichts Gutes erwarten ließ. »Vergiß nicht, daß unsere Gra bungserlaubnis zurückgezogen worden ist!« »Bloß eine Formalität.« »Ha! Wir haben noch eine Woche, mehr nicht. Kontos wird sich auf die Vorschriften berufen, darauf kannst du dich verlassen.« »Du übertreibst. Es ist wahr, daß wir nicht gut miteinander ausgekommen sind, aber er ist ein Wissenschaftler, um Gottes willen…« »Und ein Oberst in ihrer tatendurstigen neu en Miliz.« »Und? Die Regierung teilt zur Zeit Titel und Ränge mit vollen Händen aus. Komische Be freiungspolitiker.«
»Hör zu, ich habe hier die Leitung.« Claire stand auf und musterte ihn mit einem finste ren Blick. Sie erinnerte sich, daß es ein nützli ches Manöver war, vor dem sitzenden Gegen spieler zu stehen und ihn zu sich aufblicken zu lassen. Der Schein der Morgensonne schuf im Innern des Zeltes ein diffuses gelbliches Licht, das den Staub auf den umherstehenden Kisten mit Keramikscherben überdeutlich hervorhob. »Laß uns den oberen und den unteren Block aus der Wand ziehen, damit wir an unser Fundstück herankommen können. Jetzt gleich.« George erwiderte verdrießlich ihren Blick, dann zuckte er die Achseln. Claire verspürte eine Anwandlung von Triumphgefühl, ließ es sich aber nicht anmerken. »Es wäre einfacher, wenn wir auf die Arbeiter warteten«, sagte er mißmutig. »Wenn sie kommen. – Zur Zeit sind sie scharf auf Politik, nicht auf mühsame Arbeit.« »Steht was in der heutigen Zeitung?« »Immer das gleiche. Japan und Brasilien ha ben die griechische Handelsschiffahrt durch Schutzbestimmungen behindert. Athen be hauptet, daß eine Verschwörung des interna tionalen Kapitals dahinterstecke.« Claire hielt sich über internationale Angelegenheiten auf
dem laufenden, doch tat sie es mehr aus Pflichtgefühl denn aus Neigung. Die Anstren gungen zur Förderung ihrer beruflichen Lauf bahn nahmen genug Energie in Anspruch. »Klar. Wer will schon, daß die Kommunisten Geschäfte machen? Nachrichten von drüben?« »Der Präsident hat die Vereinten Nationen benachrichtigt, daß wir uns in drei Jahren ganz aus der Weltorganisation zurückziehen werden.« »Wirklich? Ich habe nicht geglaubt, daß es soweit kommen würde.« »Die Vereinten Nationen haben die Wahl, ih re Satzung unseren Wünschen anzupassen, oder ihren Sitz von New York ins Ausland zu verlegen.« »Ein starkes Stück.« »Und dieser Volksentscheid in Kalifornien ist durchgekommen – sie werden es in zwei Staa ten aufteilen.« »Verrückt! Alles wegen der Wasserrechte?« »Die Ökoleute gegen die Großverbraucher: Städte und Farmer.« »Und wir finden die Griechen aufsässig.« »Du hättest den Blick sehen sollen, den der Ladenbesitzer mir dabei zuwarf, als ich hin einging und die Zeitung kaufte.« »Das kann man verstehen. Eine gutausse
hende alleinstehende Frau in einer Kleinstadt. Da wird er nicht der einzige gewesen sein.« Sie schüttelte unwillig den Kopf und igno rierte wie gewöhnlich das Kompliment. »Es war nicht solch ein Blick. Er war feindselig.« »Ach so. Trotzdem, zur Abstützung der Wand brauche ich Hilfe, es ist…« »Ich werde dir helfen. Komm mit!« Sie entfernten zuerst den unteren Steinqua der. Es war die weniger gefährliche Operation, da er augenscheinlich keine tragende Funktion im Gesamtverbund hatte. Sie zogen ihn müh sam aus der Wand und legten den unteren Teil des schwarzen Felsblocks frei. In die Basis war eine einzelne gerade Linie gemeißelt. »Komisch«, sagte George. »Eine Bedeutung ist darin nicht zu erkennen.« »Vielleicht handelt es sich bloß um eine Mar kierung, daß diese Seite unten ist.« »Kann sein. Nicht jedes Zeichen muß bedeut sam sein.« Er kauerte nieder und untersuchte die eingekerbte Linie im Licht seiner Hand lampe. »Am Grund der Meißelspuren ist ein hellfarbener Staub zu erkennen.« »Vielleicht ist es alte Farbe? Aber das her auszufinden, überlassen wir der chemischen Analyse.«
»Ja. Was nun?« George wollte offenbar, daß die Verantwor tung allein auf sie fiel. Nun, es war ihm nicht zu verdenken. Also: »Laß uns den oberen Quader herausnehmen!« »Wie? Die ganze Wand könnte nachgeben und uns unter sich begraben.« Sie schürzte die Lippen und überlegte. »Wir müssen die Öffnung durch einen Rahmen aus Streben sichern, der oben eine Steinlage über unserem Quader ansetzt. Dann ist dieser ent lastet und kann mit einem Flaschenzug her ausgezogen werden.« George seufzte. »Um die Streben oben anzu setzen, muß die höhere Steinlage angebohrt und mit Stahlwinkeln abgefangen werden. Wenn wir warteten, bis wir mehr Hilfe be kommen, würde es bestimmt sicherer sein.« »Und später. Vielleicht zu spät. Fangen wir an!« Als der Steinquader Stunden später aus dem Mauerverbund herausgelöst war und in seiner Halterung aus Ketten und Seilen hing, stockte beiden der Atem. »Das ist Linearschrift!« rief George. »Auf Stein!« Claire starrte die drei freigeleg ten Zeilen mit Schriftsymbolen an. Die Zeichen
waren mit dem Meißel in den Stein gehauen. »Niemand hat jemals mykenisch-kretische Li nearschrift anders als auf Tontafeln gefun den.« »Und sieh dir die eingemeißelten Zeichen an! Wie sie das Licht reflektieren.« Claire duckte sich unter dem hängenden Steinquader und zog die Lampe näher. »In den Meißelspuren ist wieder dieser hellfarbene Staub. Er hat noch ein feuchtes, glänzendes Aussehen.« Nachdem der obere Quader entfernt war, kam die volle Größe des Kalksteinblocks erst gebührend zur Geltung. Er hatte eine Kantenlänge von mehr als einem Meter. Ein muffiger Geruch drang aus der Öffnung, der Geruch feuchter Erde, die seit Jahrtausenden nicht mit offener Luft in Berührung gekommen war. Claire rümpfte die Nase. Sie verband diesen schweren, moderigen Geruch immer mit ei nem Grab in Messenien, an dessen Öffnung sie teilgenommen hatte. Nach zweitausend Jahren hatten den Gebeinen des Toten noch faserige, vertrocknete Reste von Fleisch angehaftet. Die Berührung mit der feuchten und warmen Luft hatte bereits nach kurzer Zeit einen Geruch entstehen lassen, der sie vertrieben hatte. Der Grabungsleiter hatte ihr Überempfindlichkeit
vorgeworfen, aber hinterher hatte sie ihre Kleider verbrannt. Hier war es nicht annähernd so schlimm. Der Geruch rührte von organischen Bodenbe standsteilen her, die nun an der Luftzirkulati on teilnehmen konnten. Sie ermahnte sich, daß hinter den Blöcken der Wand kein Toter bestattet liegen konnte. Der Modergeruch würde sich nach einer Weile verflüchtigen. »Das – diese Schrift.« »Muß Linear B sein. Du kennst sie, nicht?« Claire runzelte die Stirn. »Die Zeichen ja, aber ich kann sie nicht lesen.« Niemand hatte jemals Linear B auf etwas an deres als Tontafeln geschrieben gesehen, die für Abrechnungen verwendet wurden. Die ägäische Bronzezeit war in ihrem Schriftge brauch nicht über die Aufzeichnung von In ventarlisten und Geschäftsvorgängen hinaus gelangt, wie sie schon früher in Syrien und Mesopotamien entwickelt worden war. Die Schreiber auf Kreta und der Peloponnes hiel ten geschäftliche Transaktionen, Warenvorrä te und ihre Verteilung auf ungebrannten Ton tafeln fest. Da gab es Listen von Schöpfkellen, Kochtöpfen, Badewannen, Tischen mit einge legten Elfenbeinverzierungen, Fußschemeln aus Ebenholz, von Dienern, Waffen, Streitwa
gen und vielen anderen Dingen. Auf Regalen in den Archivräumen der Paläste verwahrt, blie ben die Tontafeln der Nachwelt nur durch Zu fall erhalten. Sie wurden nach der Beschrif tung nicht gebrannt und nach dem Gebrauch weggeworfen. Nur die Feuersbrünste bei der Zerstörung der Paläste hatten die Tafeln hart gebrannt und so erhalten, die zur Zeit jener kriegerischen Umwälzungen, die den Unter gang der mykischen Kultur bedeuteten, gerade vorhanden gewesen waren. Claire erinnerte sich aus Büchern und Muse en an diese Tontafeln, auf denen in dünn ein geritzten Zeichen die Mengen von Getreide, Schafen, Rindern und Weinkrügen angegeben gewesen waren. Solche Zeichen hier in einem Grab zu finden, in Stein gemeißelt, war be merkenswert. Sie hätte hocherfreut sein sol len. Aber etwas… »Das ist nicht Linear B«, sagte sie. George wandte sich ungläubig zur Öffnung und betrachtete mit ihr die Zeichen. »Ich habe mich nicht viel damit beschäftigt, aber ich glaube verschiedene Elemente wiederzuer kennen.« »Schau genauer hin! Es gibt zwar Ähnlichkei ten, aber sie könnten von der verschiedenarti gen Technik herrühren, denn hier mußte in
Stein gemeißelt werden, was sonst in weichen Ton geritzt wurde.« »Aber in der mykenischen Welt wurde Linear B gebraucht.« »Das stimmt.« Sie legte die Finger an den Mund und überlegte, dann bemerkte sie, daß ihre Hände voll von Staub und Erde waren. Sie erschauerte, spuckte aus, schüttelte sich. »Äh!« »Ja, ziemlich eng und modrig hier drinnen, wie?« »Du könntest ein paar Aufnahmen machen, George. Ich… ich geh’ hinunter ins Lager und schlage es nach.« Sie eilte aus der Grabkammer hinaus durch den Dromos, der über zwanzig Meter lang war. Tief atmete sie die reine Luft, die ihr einen Hauch vom würzigen Duft der Zypresse zu trug. Auf dem Weg zum Lager begrüßte sie den willkommenen Anblick von Stechpalmen und dichten, buschigen Zerreichen mit dicken Ei cheln in großen Fruchtbechern. Sie hatte sich schon oft vorgenommen, die mediterrane Pflanzenwelt besser kennenzulernen, war aber nie dazu gekommen; die meisten Sträucher der Macchien waren ihr unbekannt. Im Au genblick aber beschäftigten sie andere Fragen. Zehn Minuten später hatte sie die Antwort.
»Nun, du hattest halb recht«, rief sie, als sie unter dem mächtigen Türsturz hindurch in die hallende Grabkammer trat. George löste einen weiteren Blitz aus und sah sich nach ihr um. »Welche Hälfte?« »Es ist natürlich linear. Aber nicht B. Es ist A.« Er starrte sie skeptisch an. »Kann nicht sein.« »Es ist aber so. Ich habe acht Zeichen vergli chen.« Sie hielt ihm das mitgebrachte Buch hin. »Vergleiche selbst!« »Es kann einfach nicht sein«, murmelte er, nahm aber das Buch und hielt die darin abge bildeten Tontafeln ins Licht. Selbst ein wenig verwirrt, sah sie zu, wie sein blonder Kopf sich bald über das aufgeschlagene Buch beugte, bald die Zeichen im Stein betrachtete. »Nun… ich sehe, was du meinst. Aber… aber wie kommt das hierher?« Claire zwängte sich neben ihm in die Mauer öffnung und streckte die Hand aus, um die gemeißelten Zeichen zu befühlen. Als ihre Hand sie berührte, ging ein leises Prickeln durch ihren Arm, und wieder fing sie den schweren, moderigen Geruch auf und zog sich mit einem Gefühl des Unbehagens zurück. »Ein Mitbringsel aus Kreta, vielleicht«, sagte sie nachdenklich. »Oder ein kretischer Stein
metz hat den Block hier an Ort und Stelle be hauen und die Inschrift angebracht.« Linear A war die Transkription der unbekannten, vor indogermanischen Sprache des minoischen Kreta. »Das ist Pech. Linear B wurde Anfang der fünfziger Jahre entziffert. Aber das konnte nur gelingen, weil Linear B die bekannte Sprache der mykenischen Griechen war, die nach 1400 v. hr. Kreta eroberten. Die Frage ist, wann wird jemand Linear A entziffern?« Sie schüttelte den Kopf, vertieft in die rätsel haften Schriftzeichen. Die Farb- oder Lehm reste in den Vertiefungen der Meißelhiebe verlangten nach einer Analyse. Die aber war nach Lage der Dinge nur in Athen möglich. Al so mußte Kontos eingeweiht werden… »Wahr scheinlich nie.« »Es gibt Computer, Spezialprogramme für die vergleichende Sprachwissenschaft.« »Du brauchst einen Bezug. Etwas, das dir er laubt, eine Verbindung herzustellen.« Claire versuchte sich auf Vorlesungen zu besinnen, die sie vor sechs oder sieben Jahren gehört hatte. Wie Alice Kober zeigte, daß es in den Silbenendungen von Worten in der Linear B Veränderungen gab, was bewies, daß es sich um eine flektierte Sprache handelte. Wie M.
Ventris und J. Chadwick nach Übereinstim mungen in den Vokalen suchten und neue Ta felfunde in Pylos ihre Vermutungen bestätig ten, daß Linear B die Sprache der Griechen um 1200 v. hr. war. Von da an war es relativ ein fach gewesen, die zahlreichen Begriffs- und rund achtzig Silbenzeichen zu entziffern. Gleichwohl schien es gewagt, den mykenischen Griechen die Urheberschaft an dieser Schrift zuzuschreiben, denn vieles sprach dafür, daß die minoischen Kreter durch die Entwicklung der viel älteren Linear A die entscheidende Vorarbeit geleistet hatten. Genaueres war nicht bekannt. »Wir haben so wenig Informa tion über Linear A, daß mit dem vorhandenen Material kaum weiterzukommen ist. Bisher sind rund dreihundert Tontafeln oder Frag mente mit Linear A gefunden worden. Und kein Mensch weiß, wie das minoische Kretisch klang und welcher Sprachfamilie es angehör te.« »Vielleicht wird diese Inschrift Aufschlüsse ergeben.« George verlängerte das Stativ und bereitete die Kamera für Nahaufnahmen vor. »Dies ist die einzige bekannte Steininschrift in Linear A«, sagte Claire. »Vielleicht ist es eine Art Sarkophag.« George schwitzte, und Tropfen rannen unbemerkt
über sein staubiges Gesicht. Seine Jeans und das Arbeitshemd waren blaß vom feinen Staub. »Mag sein. Aber mit dieser merkwürdigen Dekoration aus Bernstein? Und die Mykener kannten zwar in den Fels gehauene Schacht gräber, aber keine Sarkophage. Und selbst wenn sie Sarkophage kannten und wir bloß noch keine gefunden haben sollten – warum verstecken sie sie hinter einer Mauer?« George blickte sie über die Schulter an. »Das könnte die Antwort sein: sie haben ihn ver steckt.« »Vor wem? Dem toten König?« »Warum nicht? Aus irgendeinem Grund wurde einer außerhalb des Kuppelgrabes be stattet, aber die Wand auf der Innenseite mar kiert. Würde das keinen Sinn ergeben? Früher begrub man Selbstmörder und Ungetaufte au ßerhalb der Friedhofsmauern.« »Richtig, doch sollten wir mit der Verallge meinerung solcher Bräuche vorsichtig sein. Zunächst müssen wir Messungen machen, Tests. Besonders von diesem hellen Material in den Meißelspuren.« »Am Felsblock selbst scheint nichts von be sonderem Interesse zu sein. Einfacher alter Kalkstein, geschwärzt von Wasser.« Claire machte sich daran, im Umkreis der
Maueröffnung für ihre Geräte Platz zu schaf fen. »Es scheint so. Bei Vaphio liegen die Rui nen eines alten Landhauses, von dem nur noch ein paar Halbwände aus Kalksteinquadern stehen. Schafhirten benützten das alte Ge mäuer ein paar tausend Jahre lang als Pferch, und durch die Reibung der Wolle an den Wänden wurde der Kalkstein geglättet und glänzte wie Marmor. Es gab einheimische Ge schichten, die besagten, es handle sich um die letzten Überreste eines prächtigen Marmor palastes. Die Ausgrabungsmannschaft, die das Gebäude freilegte, verbrachte ein Jahr mit Untersuchungen, bis sie darauf kam.« »Meinst du, daß wir eine Metallanalyse vor nehmen sollten?« »Allerdings. Ich möchte wissen, was in diesen Meißelspuren ist.« »Oberst Dr. Kontos wird dir nicht viel Zeit für deine I-Tüpfelchen geben«, sagte er ironisch. »Er wird das Ding in eine Lattenkiste stecken, und in einer Woche ist es in Athen. Vollge stempelt mit seinem Namen.« Claire hob den Kopf. »Hörst du was?« »Wie? Nein. Paß auf, da sollten wir uns kei nen Illusionen hingeben. Kontos wird die Bergung selbst übernehmen. Schließlich ist er scharf darauf, Generaldirektor für Altertümer
und Restaurierungen zu werden.« »Kontos ist ein guter Wissenschaftler«, sagte sie mit nachdenklicher Miene. »Zwar hat er eine Schwäche dafür, in dieser Uniform umherzustolzieren, aber…« »Der Mann ist ein Verrückter!« »Er ist bloß ein Patriot. Er hat sich von der Entwicklung der letzten Monate mitreißen lassen. Ich kann seine Argumente auch ver stehen. Er setzt sich einfach für sein Vaterland ein. Ich bin überzeugt, daß er uns zusätzliche Zeit einräumen wird, wenn ich ihm von diesem Fund berichte.« George zog die Brauen hoch. »He, das hört sich wie dieser Jeep an…« Sie fuhr herum. »Ach nein! Er kann nicht schon heute zurück sein!« »Jetzt hast du Gelegenheit, dem Oberst mit Vernunft beizukommen.« Georges undiplomatischer Sarkasmus war nur geeignet, Kontos in Rage zu bringen. Sie mußte die beiden auseinanderhalten. »Bleib hier und arbeite weiter!« »Ich möchte mir dies nicht entgehen lassen.«
»Nein! Wenn ich draußen bin, schließt du die hölzerne Tür. Diplomatie ist nicht deine Stär ke. Ich will ihn nicht hier oben haben.« George zuckte die Achseln. »Glaubst du, daß du mit ihm fertig werden kannst?« »Selbstverständlich«, sagte sie unsicher.
4 Kontos kommandierte Arbeiter herum, die er offenbar mitgebracht hatte. Sie luden Latten verschläge auf einen grauen Nis san-Lastwagen. »Was geht vor?« fragte sie. »Ich hole unsere Ausrüstung ab. Auch die restlichen Artefakte.« »Wieso? Wir haben Wochen…« »Nein. Ich habe mit anderen gesprochen, wir sind übereingekommen: Sie können nicht da rauf zählen, daß Ihnen die volle Zeit zugestan den wird.« Er schenkte ihr ein humorloses Lächeln, dann ließ er sie stehen und mar schierte zum Zelt, wo die Keramik aufbewahrt wurde.
Claire eilte ihm nach. »Wie lange?« »Ich habe zwei Wochen für Sie herausgeholt.« »Zwei…« »Maximal.« Kontos schlug die Zeltplane am Eingang zur Seite und schritt in die dumpfe Wärme des In nern. Ein Teil der Keramikfunde war bereits verpackt; er markierte die Kisten für die Ar beiter mit einem breiten Filzschreiber, dann marschierte er, noch immer lächelnd, rasch durch die Gänge zwischen Arbeitstischen und Regalen. Offensichtlich bereitete es ihm Ver gnügen, daß sie ihm wie eine Bittstellerin nachlief. Claire biß die Zähne zusammen. »Das können Sie nicht tun!« »Meine Regierung tut es, nicht ich.« »Sie werden den Beziehungen zwischen uns schaden, sie werden…« »In dieser Welt gibt es noch andere Gelehrte. Andere Quellen für Ihr kostbares Geld.« »Das ist es nicht! Wir haben…« »Unsere arabischen Verbündeten haben es begrüßt, daß wir die Zionisten ausgewiesen haben. Schon heute geben sie uns das Öl billi ger als Ihnen. Vielleicht werden wir bald auch etwas mehr Hilfe zur Entdeckung unserer ei genen Geschichte erhalten. Ich bin sehr zuver sichtlich.«
»Alexandros, es muß eine Möglichkeit geben, zu einer Lösung zu finden.« Er hielt inne, den Filzschreiber in der Luft. »So? Meinen Sie?« »Wir brauchen Zeit. Wir haben etwas gefun den; es gibt wichtige Aspekte…« »Wir Griechen werden uns ihrer annehmen.« »Rufen Sie Hampton an! Er wird…« »Das wäre zwecklos. Dies ist zwischen uns beiden.« »Uns?« Er trat auf sie zu. Sein Lächeln war um ein Geringes wärmer. »Wir hatten ein Mißver ständnis, vielleicht.« »Wenn Sie das meinen«, sagte sie, ein wenig verwirrt, »dann hoffe ich, daß ein Gelehrter von Ihrem Ruf…« Er kam noch einen Schritt näher und umfaßte ihren Oberarm. »Es ist noch nicht zu spät.« Seine andere Hand legte sich auf ihre Brust und knetete sie. Es war so unerwartet, daß sie erstarrte. Sie war unfähig zu glauben, daß dies so abrupt geschehen konnte. Dann keuchte sie vor Schreck, denn er zog sie fest an sich, und sie bekam seinen unvermischten schweißigen Körpergeruch in die Nase. Sie spürte, wie er sein halb erigiertes Glied gegen ihren Bauch preßte.
»Sie… nein!« Sie wand sich an ihm. Seine großen Hände hielten ihre Arme fest, und er sagte, das Ge sicht kaum eine Handbreit von ihrem entfernt: »Wir hatten ein Mißverständnis. Das läßt sich bereinigen.« »Nein!« »Sie lassen keine Möglichkeit.« »Nein, nicht auf diese Weise.« Sie riß sich los und stieß schmerzhaft gegen einen Tisch. Scherben fielen zu Boden. »Wie dann?« fragte er. »Niemals!« Er reckte die Schultern. »Ich habe es ein zweites Mal mit Ihnen versucht. Ich hätte mir die Mühe ersparen sollen.« »Verdammt richtig!« Noch keuchend, wischte sie sich Schweiß von der Stirn. Sie war staubig, erhitzt und fassungslos. »Wir sind keine Kinder, Sie und ich.« »Nun, ich jedenfalls nicht.« Seine Backenmuskeln ballten sich zusammen. »Sehr gut. Ich verstehe. Selbst wenn Sie es nicht tun.« Er blickte umher, und seine Uni form spannte sich über dem gewölbten Brust korb. »Sie werden die Ausgrabungsstätte in nerhalb einer Woche, von heute an gerechnet, vollständig räumen.«
»Innerhalb einer Woche?«
»Das ist amtlich.«
»Schweinekerl!«
»Haben Sie verstanden?«
»Und ob ich verstanden habe!«
»Ich erwarte das gesamte Material sachge mäß sortiert und in bezeichnete Kisten ver packt.« »Gewiß.« »Sie fügen der Sendung einen vollständigen Katalog bei, ferner Kopien Ihrer Aufzeich nungen.« »Ja.« »Alles zu meinen Händen.« »Ich werde tun, was ich kann.« Er lächelte streng. »Das mag nicht ausrei chen.« »Es wird Ihnen ausreichen müssen«, sagte sie trotzig. »Wir werden sehen.« George starrte sie ungläubig an. »Was sagtest du?« »Nun gut, vielleicht wurde ich ärgerlich.« »Vielleicht? ›Diplomatie ist nicht deine starke Seite‹, sagtest du.« »Er beleidigte mich! Betastete mich in unver schämter…«
»Er verspürte das Bedürfnis, seine Beherr schung des Englischen zu ergänzen?« »Ihr seid alle gleich!« fuhr sie auf. »Nur im Dunkeln. Aber sag mal, will er uns wirklich auf dieser einwöchigen Frist festna geln?« Sie nickte, plötzlich betrübt. »Ich fürchte, so ist es.« »Ach du lieber Gott.« »Wäre ich nicht so wütend geworden…« »Na, so solltest du nicht denken. Wenn dieser schmierige Kerl sich unter Ausnutzung seiner Position an dich herangemacht hat, hast du richtig gehandelt.« Sie lächelte wieder. »Hat der ein Gesicht ge macht! Er ist nicht gewohnt, daß seine Schoß tierchen ihn in die Hand beißen.« Claire hatte zugesehen, wie Kontos in den Jeep gestiegen und mit aufbrüllendem Motor davongejagt war, daß eine brodelnde gelb braune Staubfahne zurückblieb. Dann war sie den Hügel hinauf zum Grab gegangen. George ging beim Eingang auf und ab und ließ den Kopf hängen. »In der Zeit können wir nicht viel tun. Nicht annähernd genug.« »Wäre dies eine gewöhnliche Ausgrabung, könnten wir nächstes Jahr…« Sie brach ab und beobachtete den Himmel. Es war ein windiger,
trockener Tag, und von Zeit zu Zeit trug eine auffrischende Brise das Rauschen entfernter Brandung herüber. Mit einem Bewußtsein neuer Gewißheit sagte sie: »Ein nächstes Jahr wird es hier nicht geben.« George wiegte den Kopf. »Nun, es war bloß ein Zwischenfall. Und er ist nur einer unter mehreren, die dazu etwas zu sagen haben.« »Darauf können wir nicht zählen.« George hakte die Daumen in die Gesäßta schen seiner Jeans und stieß nach einem Stein. »Allein das Abbrechen des Lagers wird einen guten Teil der Woche in Anspruch nehmen.« »Du kannst dafür mit den Arbeitern rechnen. Bevor Kontos wegfuhr, instruierte er den Verwalter entsprechend.« »Schön, das ist besser als nichts. Aber was soll mit diesem Ding dort werden, es wird Monate dauern…« »Eine vorläufige Untersuchung ließe sich durchführen. Du kannst den seitlichen Spalt verbreitern, durchkriechen und sehen, ob es hinter dem Block noch etwas gibt. Den Boden dort sieben und nach Gegenständen oder Spu ren untersuchen.« »Ja, sicher, aber wozu? Wenn Kontos diese Ausgrabung versiegelt, wird er uns nicht zu rückkommen lassen und den Ruhm selbst
einheimsen. Die Laboruntersuchungen, Zeit, nach anderen Artefakten zu suchen – er ver fügt über alles.« »Mit einer Ausnahme. Er weiß nichts davon.« George starrte sie an. »Was? Du hast ihm nichts davon gesagt?« »Ich kam nicht dazu. Er brachte das Gespräch ziemlich rasch zu dem Punkt, wo er einen neuen Versuch machen konnte. Und von da an übernahm der Macho in ihm die Regie. Ich konnte mich überhaupt nicht zur Sache äu ßern.« »Aha.« »Teil meiner Taktik. Ich dachte, daß ich ihn herumkriegen könnte, sobald er wüßte, daß wir etwas Wichtiges gefunden haben, und daß er uns daraufhin mehr Zeit geben würde.« »Es hätte klappen können.« Sie seufzte. »Ja. Aber ich kam nicht dazu, die Taktik zu erproben.« »Der Verwalter weiß etwas. Er wird es den Arbeitern erzählen, und bald wird Kontos da von erfahren.« »Ja, aber er weiß nur, daß wir etwas gefunden haben, nicht was es ist.« »Das ist gut. Ich kann ihn beiseite nehmen und ihm sagen, er solle den Arbeitern gegen über nichts verlauten lassen, weil Dr. Kontos
die Sache nicht publik machen wolle.« »Nein, genau das Gegenteil. Sag dem Verwal ter, der Oberst wolle die Arbeit hier rasch vo rantreiben, weil wir bald schließen.« »Richtig. Dann wird jeder annehmen, daß Kontos Bescheid weiß.« »Das könnte uns ein paar Tage Frist geben…« Claire starrte nachdenklich und mißmutig hinüber zum benachbarten Höhenzug, dessen Kamm sich scharf vom Himmel abhob. »Aber nichts ist mir so verhaßt wie der Gedanke, daß wir ihm nächste Woche das ganze verdammte Ding übergeben müssen.« »Ja, er wird den wichtigsten Fund der ganzen Grabung auf dem Präsentierteller bekommen, damit er ihn seinen Laborlakaien übergeben und den eigenen Ruhm mehren kann.« »Und in Anbetracht seiner Stimmung und der politischen Lage…« »Natürlich. Er wird den Fund selbst veröf fentlichen.« »Es sei denn, wir tun etwas.« Claire machte plötzlich kehrt und ging den Zugangskorridor hinaus. »Aber was?« »Wir besorgen Spezialgeräte. Legen ein paar Nachtschichten ein. Machen vielleicht etwas Druck durch die Universität.«
»Wie?« rief George ihr nach. »Ich fliege nach Boston. Nehme Fotos, mein Grabungstagebuch mit und bin in zwei Tagen zurück.« »Und ich soll hier alles allein machen?« »Ja. Laß die Arbeiter das Lager abbrechen! Du – du gräbst einfach weiter!«
ZWEITER
TEIL
1 John Bishop fand es unnatürlich, einen Schirm zu tragen. Bostoner hatten ihm gesagt, dies sei der erste Schlechtwettereinbruch einer langen Reihe von Regenschauern, die in der nun anbrechenden Jahreszeit bevorstünden, also hatte er sich einen stabilen Schutz ge kauft, dessen Spannautomatik sich mit alar mierender Energie aus seiner Hand entlud. Der Umfang des Schirms schien unnötig für den leichten grauen Nieselregen, der die Luft diesig machte und den Backsteinhäusern der Commonwealth Avenue einen surrealistischen Glanz verlieh. Er bog nach rechts in die Mas sachusetts Avenue und rümpfte die Nase über den penetranten Geruch von Pommes frites, Bratwürsten und tagealtem billigem Fett, der in Wolken aus der Reihe von Imbißstuben und Schnellrestaurants, in denen sich die Studen ten drängten, über den rissigen Asphalt heraustrieb. Er verlagerte seine Aufmerksamkeit auf die jungen Frauen, die durch die Beacon Street zur Universität Boston gingen. Wie er selbst, schleppten auch sie schwere Aktentaschen. Es war eine Gewohnheit, die er im ersten Semes ter an der Rice-Universität angenommen hatte,
vielleicht in unbewußter Gleichsetzung kör perlicher Anstrengung mit produktiver Arbeit. Eine langbeinige Frau, die ihre Jeans in schwarze halblange Stiefel gesteckt hatte, er weckte sein Interesse. Er hatte immer eine Schwäche für große Frauen und die ihnen eigene, elegant schwin gende Gangart gehabt. Er war knapp einen Meter achtzig groß, hatte sich aber nicht ge scheut, mit Frauen auszugehen, die volle zehn Zentimeter länger als er gewesen waren. Ein Freund hatte ihn einmal mit der Anschuldi gung betroffen gemacht, daß dies in Wahrheit keine natürliche Vorliebe sei, sondern eine Strategie, die auf der bekannten Tatsache be ruhe, daß es langwüchsigen Frauen an Vereh rern mangele und sie somit fügsamer seien. Die Erklärung hatte etwas Einleuchtendes, dachte John, da er ziemlich unauffällig aussah, mit wenig bemerkenswertem braunem Haar und blaugrauen Augen. Vielleicht hätten seine athletischen Fähigkeiten, die in der Oberschu le ihren Gipfelpunkt erreicht hatten und seit dem einen stetigen Niedergang erlebten, zu seinen Gunsten gesprochen, wenn er sich mehr für gesellschaftlich ergiebige Betätigun gen interessiert hätte, statt allein durch Parks zu traben oder gelegentlich an Wochenenden
auf einer Stadiontribüne zu sitzen und dem Gerangel der Footballspieler zuzusehen. Aber nein, der Vorwurf des Freundes ging an der Sache vorbei; er mochte sie einfach groß, so lange sie Haltung bewahrten und nicht in ei nem vergeblichen Versuch, kleiner zu er scheinen, die Schultern hängen ließen. Es schien ihm offensichtlich, daß keine Frau gut aussehen konnte, wenn sie sich bemühte, et was zu sein, was sie nicht war. Der Berufsverkehr der Pendler auf dem Storrow Drive war in vollem Gange und erfüll te die Luft mit ungeduldigen Hupkonzerten, als gelte es, sich auf den beginnenden Arbeits tag einzustimmen. Er überquerte die Schnell straße auf der Harvard Bridge – so benannt, dachte er ironisch, weil sie direkt in die Mitte des MIT stieß. Die Brücke war ein niedriges, häßliches Ding, das den Charles River mit spartanischer Nüchternheit überwand. Unten auf dem Fluß beugte und streckte sich eine Rudermannschaft in ihrem pfeilschnellen schmalen Boot, das ein schnurgerades Kiel wasser durch die ölige Fläche zog. John erin nerte sich, in einer Informationsschrift gele sen zu haben, daß »Personen, die unbeabsichtigt in den Charles River fallen, gut beraten sind, ihre Tetanusimpfung auffrischen
zu lassen«. Das Kielwasser der Ruderer löste sich in einem jähen, böigen Regenguß auf. Sie gaben auf und steuerten ihr Fahrzeug zum MIT-Bootshaus. John zog die Schultern ein, hielt den Schirm dicht über den Kopf und überlegte, daß es wahrscheinlich eine schlech te Idee gewesen sei, seinen Wagen zu verkau fen, als er Berkeley verlassen hatte. Vorbei fahrende Wagen bespritzten ihn für seine Untreue zu ihrer Art reichlich mit Pfützenwasser, als er den Rest des Weges mit Schirm und Aktentasche zu traben versuchte. Die betongraue Phalanx des MIT war kahl, efeulos und imposant. Die schwarzgerahmten Fenster der älteren Gebäude zogen den Blick aufwärts. Das Hauptgebäude belohnte diesen vertikalen Drang mit einer nüchternen, be krönenden Kuppel, die von einem römischen Vorbild kopiert war. Jeder Granitsims pro klamierte wortkarg selbstverständliche Prin zipien und bereitete im Unterbewußtsein ein geschüchterter Passanten den Boden für die Erkenntnis, daß Wissenschaft nicht etwa ein Wust trockener Formeln und unverständlicher Regeln war, sondern das kunstvolle Werk le bendiger Menschen. Die Namen Aristoteles, Newton und Darwin waren in großen Block buchstaben eingemeißelt, und in geringerer
Größe die Namen der Maxwells und Boyles und Lobaschewskis, die Gleichungen zur Welt gebracht, Elemente gefunden oder Rätsel ge löst hatten. Eine hochmütige Werbung: Wir schaffen die Männer, sie schaffen die Gesetze. (Dabei erschien tatsächlich kein einziger MIT-Absolvent in der Liste der Gesetzgeber.) Nahebei erhoben sich graue Steinmassen über mächtigen, kannelierten Säulen, deren Gie belfeld die Inschrift MASSACHUSETTS INSTITUTE OF TECHNOLOGY trug und den Eindruck eines weltlichen Tempels der Hoch technologie vermittelte. Im Zweiten Weltkrieg hatte man auf dem Campus Flakbatterien auf gestellt, obwohl sie an den Kriegsfronten nicht immer zahlreich genug zur Verfügung gestan den hatten. John schüttelte den Schirm aus und stapfte in die stickige Wärme des Pratt Building. Die Unbekümmertheit der Studenten hier gefiel ihm besonders. Unweit von seinem Arbeits zimmer hing ein religiöses Flugblatt am Schwarzen Brett, dessen Überschrift feierlich proklamierte: ES GIBT DINGE, DIE ZU WISSEN DEM MENSCHEN NICHT BESTIMMT IST. Darunter hatte jemand über die Druck spalten gekritzelt: Ja? Nenne ein paar! John gefiel diese Einstellung: Karten auf den Tisch
oder Mund halten. Es war erfrischend, nach den höflich aufmerksamen, langweiligen Stu denten, die er vor seiner Promotion als Lehr beauftragter an der Rice-Universität unter richtet hatte. Er ließ seinen Regenmantel an einem alten hölzernen Kleiderständer tropfen und öffnete sein Fenster ein wenig. Er arbeitete gern mit dem böigen Rauschen des Regens im Hinter grund, einem willkürlichen Element, welches bezeugte, daß draußen ein vielfältiges, chaoti sches Leben seinen Gang nahm, während er sich in seine Gleichungen vergrub. Er blickte von der Arbeit auf, als rasch und kurz an seine Tür geklopft wurde. »Herein!« Die Frau öffnete und kam drei Schritte ins Zimmer, blickte umher und sah ihn stirnrun zelnd an. »Dr. Sprangle sagte, ich sollte mit jemandem von der Metallurgischen Abteilung sprechen. Ich bin Claire Anderson.« Sie streckte ihm die Hand hin, und John Bis hop kam hinter seinem Schreibtisch hervor, sie zu schütteln. Bei diesem Manöver hätte er beinahe den vollen Papierkorb umgestoßen, weil er den Blick nicht von ihrem Gesicht wenden konnte. Ihre Erscheinung hatte ihn wie ein körperlicher Schlag getroffen. Sie war
keine schöne Frau, aber der kantige Schnitt ihres Gesichts fesselte ihn. Die Strenge ihres Kinns wurde im letzten Moment von einer be sänftigenden Rundung ausgeglichen, die von der Kälte noch ein wenig gerötet war und seine Aufmerksamkeit über die Flächen ihrer Wan gen aufwärts zu den hohen feinen Brauenbogen lenkte, die gleich Bollwerken die blitzenden blauen Augen beschützten. Und ja, sie war groß. Sie ließ ihren Blick durch das Büro schweifen und nur kurz auf seinem mit Arbeit überhäuf ten Schreibtisch ruhen; ihre vollen Lippen verzogen sich in einem fast geringschätzigen Lächeln. »Ich bin von der Archäologischen Fakultät, drüben an der Universität Boston.« Der Händedruck war fest und geschäftsmäßig. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich rauche?« »Nein«, log er. Sie wandte sich mit einer Bewegung, die ihren roten Rock zum Schwingen brachte, zum Fenster und setzte sich auf das breite eichene Fensterbrett. »Ich versuche fachmännische Hilfe zu bekommen. Man sagte mir, Watkins sei der Mann in Ihrer Abteilung, der gewöhn lich die metallurgischen Probleme behandelt, die aus dem Rahmen fallen.« »Ja?« John hatte vor Jahren schon die Ent
deckung gemacht, daß eine einfache Zustim mung, verbunden mit fragendem Tonfall, un weigerlich weitere Informationen erbrachte, ohne daß er selbst irgend etwas zur Sache sa gen mußte. »Ja, ich habe ein solches Problem. Ich brau che jemanden, der die geeigneten Geräte zur Materialuntersuchung nach Griechenland bringt, mir bei ihrem Gebrauch hilft und die Verantwortung trägt, daß alles wieder zu Wat kins zurückkommt, wenn ich fertig bin.« »Watkins ist in…« »China, ich weiß. Auf Urlaub.« Sie paffte energisch an ihrer Zigarette, hatte im Nu einen Zentimeter Asche daran, und klopfte mit dem Fuß nervös auf das abgenutzte Ahornparkett. Er rümpfte die Nase, als ihm der Rauch um den Kopf zog. »Ah… ich bin wahrscheinlich nicht die am besten geeignete Person, um…« »Sehen Sie, es ist eine einfache Arbeit. Ich brauche bloß jemand, der sich auf Metallurgie versteht. Von der archäologischen Seite brau chen Sie nichts zu verstehen, darum kann ich mich kümmern.« »Trotzdem, ich…« »MIT verlangt, daß ein qualifiziertes Mitglied der Fakultät mit der Ausrüstung reist und die
se bedient. Ich weiß das auch. Ich bin bereit, all Ihre Ausgaben zu übernehmen. Unser For schungsbudget wird das verkraften. Überlegen Sie, es ist eine kostenlose Reise nach Grie chenland! Aber Sie müssen die Reise sofort antreten können.« Sie unterstrich dies mit ei nem weiteren tiefen Zug an ihrer Zigarette. Sie stieß eine große blaue Rauchwolke aus und klopfte die Asche aus seinem halbgeöffneten Fenster. »Nun, ja.« John rang mit widerstreitenden Empfindungen und tarnte dies, indem er ihr einen Aschenbecher anbot. »Nein danke«, sagte sie und lächelte. »Dieser ist noch nicht voll.« »Griechenland? Welcher Teil?« »Die Peloponnes, unweit von Mykene.« Er nickte. »Noch nie dort gewesen?« »Nein. Ich hatte immer den Wunsch.« »Mykene, das sind die Ruinen eines alten Pa lastes. Er war einst eines der Zentren dessen, was wir die mykenische Kultur nennen. Die Griechen der mykenischen Kultur wurden reich und mächtig, und es gibt Anzeichen da für, daß sie nach etwa 1400 v. hr. zur beherr schenden Macht in der Region aufstiegen.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf den
Schreibtisch und legte das Kinn in die Hände, und während er vorgab, in Gedanken versun ken zu sein, versuchte er beiläufig, die Umrisse ihrer Beine unter dem Rock zu verfolgen. »Unsere Ausgrabung liegt ungefähr vierzig Kilometer von Mykene entfernt, an der Küste des Argolischen Golfes. Sie ist…« »Am Meer? Wie ist das Tauchen dort?« Sie sah ihn verdutzt an. »Ich… ich weiß nicht.« »Das Wasser wird um diese Jahreszeit noch warm sein, nehme ich an?« »O ja, Sie… tauchen?« Er nickte nachdrücklich. »Ich lernte es unten in Texas. Dort gab es nicht viel zu sehen, aber es machte eine Menge Spaß.« »Ich bin überzeugt, daß es unweit der Aus grabungsstelle ausgezeichnete Gelegenheiten gibt«, sagte sie mit Wärme. »Wir sind nahe an der Küste, und es ist eine felsige Steilküste. Matthews von der Brown-Universität hat ar chäologische Tauchexpeditionen vor Spetsai gemacht, einer Insel in der Nähe.« Seine verstohlene Inspektion ihrer Körperumrisse war beendet, und das Ergebnis gefiel ihm. Sie war schlank wie ein Fisch, doch mit einer reifenden Anschwellung der Hüften, die eine üppige Wildnis versprach. Frauen, die ihn
interessierten, kamen ihm immer so vor: als unbekanntes Territorium, reich und versöhn lich, vielgestaltig wie ein Kontinent. »Klingt gut«, war alles, was er sagen konnte. Sie schnippte den Zigarettenstummel aus dem Fenster. »Die einzige Bedingung ist, Sie müssen morgen abreisen.« »Morgen?« Das riß ihn aus seinen Betrach tungen. »Das ist un…« »Ich werde alles im Flugzeug erklären. Die Plätze sind bereits gebucht. Hier.« Sie angelte in ihrer Handtasche und hielt ihm eine TWA-Flugkarte hin. »Sie vergeuden keine Zeit«, sagte er aner kennend. »Nein. Habe ich nie getan.« Sie stand auf. »Können Sie kommen?« »Nun…« Seine Gedanken wirbelten zwischen ungezählten Einzelheiten, hoben sich über sie, sanken herab. »Ja. Ich gehöre zum For schungspersonal, also brauche ich mich nicht wegen Vorlesungen zu sorgen.« Sie lächelte. »Das dachte ich mir. Ich sah es auf dem Wegweiser. Sie waren das erste auf geführte Mitglied, das nicht zum Lehrkörper der Fakultät gehört. Da der Lehrkörper aus schied, dachte ich mir, der Nächst-Dienstälteste sei die geeignete Wahl.«
Er lächelte. »Ich nehme es als eine glückliche Fügung, daß Sie das Aufstellungsschema nicht bemerkt haben: das Forschungspersonal ist allein nach den Zimmernummern aufgeführt.« »Oh.« Die vollen Lippen kräuselten sich in einem selbstironischen Lächeln. »Sagen Sie mal, ist die politische Situation dort drüben nicht ziemlich unsicher?« Er hatte irgendwo gelesen, daß die Griechen der Sow jetunion eine Art Handelsabkommen mit der Meistbegünstigungsklausel anbieten wollten. Vor mehreren Jahren hatten sie sich bereits geweigert, die Stationierungsverträge für die amerikanischen Luftwaffen- und Marine stützpunkte zu verlängern, und natürlich gab es Spekulationen, daß die Sowjets dort viel leicht einziehen und einen guten Preis für das Vorrecht zahlen würden. Unterdessen ver suchten die Vereinigten Staaten, ihre Trup penstärke in Europa aus wirtschaftlichen Gründen abzubauen, was von ihren rezessi onsgeplagten NATO-Verbündeten mit ge mischten Gefühlen betrachtet wurde. Der Verlust der griechischen Stützpunkte bedeu tete eine ernste Schwächung der amerikani schen Politik im Mittelmeerraum und im Na hen Osten. Dort arbeitete die Zeit eindeutig gegen Israel, den Hauptverbündeten der USA,
der sich einer erstarkenden und zur Einigkeit drängenden arabischen Welt gegenübersah. Dies alles vermittelte das Bild einer Super macht, die in Schwierigkeiten geraten war. Be siegte und Vasallen haben nichts lieber, als ih re frühere Sieger-Vormacht auf dem Rückzug zu sehen. Amerikaner im Ausland bekamen den in Jahren aufgestauten Groll nun zu spü ren. Sie zuckte beiläufig die Achseln. »Es ist ein Auf und Ab. Und wie ich sagte, es wird nur ein paar Tage in Anspruch nehmen.« Sie ging zur Tür. »Warten Sie – was soll ich mitbringen? Und um Watkins’ Ausrüstung mitzunehmen, werde ich…« »Was werden Sie tun müssen? Packen Sie die Sachen einfach ein und bringen Sie alles zum Gepäckschalter der TWA.« Er zögerte. Dann, um seine Verwirrung zu tarnen, nickte er und dröhnte: »Kein Problem. Sie haben recht.« Sie musterte ihn zweifelnd. »Gut. Übrigens brauchen Sie sich nicht mit allzuviel persönli chem Gepäck zu belasten. In Griechenland ist es noch ziemlich warm. Ach ja, und hier.« Sie warf ihm ein Päckchen zu. »Medizin?« fragte er nach einem Blick auf das eng be
druckte Etikett. »Es ist dieses neue mikrobiotische Zeug. Nehmen Sie eine Kapsel pro Tag. Es lebt in ih ren Gedärmen und verzehrt die Dysenterieerreger.« »So?« John hielt nichts von der Idee, an sei nem Körper herumzupfuschen. Selbst bei Krankheiten und Sportverletzungen hatte er sich standhaft geweigert, Pillen zu nehmen. »Keine Nebenwirkungen, seien Sie unbe sorgt«, sagte Claire mit distanzierter Erheite rung. »Vertrauen Sie der Wissenschaft!« »Ich dachte, das Hauptargument der Wissen schaft sei, daß man sich nicht mit Vertrauen allein zu begnügen brauche«, sagte John. Sie schmunzelte. »Seien Sie ruhig wählerisch, aber nehmen Sie die Dinger.« »Gut.« »Dann sehen wir uns am TWA-Abflugschalter. Seien Sie zeitig dort.« »In Ordnung«, sagte er in einem Ton, von dem er hoffte, daß er sich zuversichtlich an höre. Er öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, aber sie war schon draußen, ohne sich zu verabschieden. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen, blies die Wangen auf und pustete den Atem aus. Im Büro war jetzt der schale Gestank von Zigarettenrauch, den er haßte.
Aber das war ein kleiner Preis, den er für ein Gespräch mit solch einer herrlichen Frau gern zahlte. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert, nicht seit Ann. Eine derart berau schende, aufrüttelnde Bewegung mußte wei terverfolgt werden. Geringere Aspekte – seine eigenen Vorhaben, ihr lästiges Rauchen – mußten zurücktreten. Er würde Sprangle sagen müssen, daß er ei nen Kurzurlaub nehmen wolle. Glücklicher weise stand in den nächsten Wochen nichts Entscheidendes bevor. Er war noch nicht lange genug in Boston, um Verpflichtungen anzu häufen. Aber er mußte Watkins’ Meß- und Prüfgeräte ausfindig und sich mit ihrem Ge brauch vertraut machen. Er sammelte seine Papiere ein und ordnete sie. Die Berechnungen schienen auf einmal wie etwas, was er vor Wochen geschrieben hatte. »Hier im Norden«, murmelte er bei sich, »geht alles schnell.«
2 Die ganze Geschichte bekam er erst zu hören, als sie von Athen zur Ausgrabungsstätte fuh ren. Der TWA-Flug nach Paris war ausgebucht gewesen; der Dollarkurs stand wieder hoch, und Touristen ergossen sich nach Frankreich, obwohl die Feriensaison längst vorüber war. Er hatte eine stattliche Summe für Übergepäck zahlen müssen, um alle Geräte an Bord zu bringen. Und Claire war es nicht gelungen, zwei Sitze nebeneinander zu bekommen. Auf dem Flug von Paris nach Athen hatte sie geschlafen, während er über Watkins’ Geräte nachgelesen hatte. Nun blinzelte er schläfrig in die Helligkeit des sonnigen Tages und ver suchte die vorbeigleitenden Landschaften in sich aufzunehmen, während Claire ihm einen kurzen Abriß der bisherigen Ereignisse gab. Sie schweifte häufig vom eigentlichen Thema ab und erweiterte es gnadenlos um alle mögli chen Einzelheiten und Nebensächlichkeiten, wobei sie sich unbekümmert archäologischer Fachausdrücke bediente und offenbar an nahm, daß er weit mehr wußte, als es tatsäch lich der Fall war. »Den ganzen Sommer haben wir Schwierig keiten mit Kontos gehabt. In allem. Angefan
gen von politischen Diskussionen bis zu Mei nungsunterschieden über die Organisation der Sammlungskästen und die Verpackung, also ist es nicht überraschend, daß es nun – oh, sehen Sie dort? Diese Insel mit einem Buckel drau ßen in der Bucht? Das ist Salamis. Dort ver nichtete Themistokles die persische Flotte und rettete Athen.« Die Außenbezirke Athens schienen eine nicht endenwollende Reihe von Zementfabriken zu sein. Ein Stück weiter standen die grauen Be tongehäuse zweistöckiger Häuser wie die ab genagten Knochen eines mechanischen Unge heuers in der trostlosen Wüstenei von Schuppen, Bauhöfen, Werkstätten, qualmen den Industriebetrieben und Autofriedhöfen. Die Erdgeschosse waren teilweise bewohnt, mit Blumen und Fernsehantennen bestückt, während darüber die skeletthaften Verspre chungen künftigen Reichtums aufragten. Sie sausten westwärts, die glitzernde Bucht zur Linken, und überquerten den Durchstich des Kanals von Korinth. Sie hielt an, und beide aßen dreieckiges Gebäck mit Honig und Nüs sen, während John auf die Brücke hinausging und den geometrisch präzise durch den anste henden Fels geschnittenen Kanaldurchstich bewunderte. »Als die Deutschen im Zweiten
Weltkrieg die Peloponnes räumten, verstopf ten sie den Kanal mit Eisenbahnwaggons, Lastwagen, allem, was sie finden konnten.« »Nette Kerlchen. Wie lange dauerte das Aus räumen?« »Jahre. Es frischte den zweitausendjährigen Groll gegen die Barbaren, die Ausländer, wie der auf.« »Einschließlich der Amerikaner?« Sie seufzte. Ein Schlepper zog einen Frachter in die Mündung des Kanals, mehr als einen Kilometer entfernt. »Es sieht so aus. Fahren wir weiter!« Genauso war sie am Flughafen von Athen ge wesen, hatte einen Mietwagen beschafft, wäh rend er die acht Tragkisten mit Watkins Aus rüstung übernommen und aufgestapelt hatte, dazu sein Handgepäck mit der Taucheraus rüstung. Die Sachen füllten Kofferraum und Rücksitze des kleinen Wagens. Er hoffte, daß sich Zeit und Gelegenheit bieten würden, noch einmal Watkins’ Bedienungsanleitungen zu lesen, ehe sie die erste Testreihe von ihm ver langte. Von Korinth aus fuhren sie südwärts die Küste entlang. Die Halbinsel der Peloponnes ist eine vierfingrige Hand, die südwärts ins Mittelmeer greift. Sie fuhren den östlichsten
Finger entlang, über Straßen, die zusehends schmaler und staubiger wurden. Hinter einem Karren, der mit dicken grünen Trauben voll beladen war, mußten sie auf Schrittempo ver langsamen. Claire fluchte verhalten und über holte das Fahrzeug, kurz bevor ein alter Last wagen wild hupend aus der Gegenrichtung heranbrauste. »Allmächtiger Gott!« Sie lachte. »Ich dachte, solche Flüche gäbe es nur in Filmen.« »Es war ein Gebet. Fahren Sie langsamer, um Himmels willen! Dieses Ding liegt seit mehr als dreitausend Jahren dort, da werden einige Minuten keinen Unterschied machen.« »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Kontos war fuchsteufelswild; er könnte uns zwingen, vorzeitig zu schließen. Vielleicht weiß er, daß ich in Boston war.« »Wie?« »Noch bevor ich Griechenland verließ, rief er Hampton an, den Vize-Direktor an der Univer sität Boston. Ich weiß nicht, was er ihm erzählt hat, aber als ich mich bei Hampton meldete, war er höflich, anständig und frostig. Nein, bedaure, zusätzliche Hilfe? Nicht um diese Zeit, wo die Vorlesungen begonnen haben. Er hielt mir einen Vortrag über den sparsamen
Umgang mit Budgetgeldern und grämte sich wegen meiner zusätzlichen Flugreise. Er er wähnte die vorzeitige Schließung der Ausgra bungsstätte und sagte, ich müsse etwas getan haben, was Dr. Kontos herausgefordert oder gar beleidigt habe, er könne sich nicht vorstel len, was es gewesen sein könnte, aber ob ich nicht auch dächte, daß wir die Dinge einfach liegenlassen und uns zurückziehen sollten, wenn das Ministerium es wünschte. Alles sehr ernst und gewichtig, mit tiefsinnigem Paffen an der Pfeife, einem Ausdruck wie ein be kümmerter Jagdhund, und so weiter.« »Was haben Sie gesagt?« »Ich sagte ihm, ich würde es überdenken und am nächsten Tag noch einmal zu ihm kom men.« Sie lächelte selbstzufrieden und steuer te den Wagen durch enge Kurven, während die Straße sich in gelbbraunes Hügelland empor wand. »Heute?« »Richtig. Er könnte mir die Gelder sperren, wenn er wollte. Also kaufte ich gleich nach meinem Besuch bei ihm unsere Flugkarten durch das Universitätsbüro, belastete das Konto unseres Ausgabenbudgets und hob ei nen großen Reisevorschuß ab.« »Und er wartet immer noch, daß Sie bei ihm
aufkreuzen?« Sie lachte. »Ja. Sehen Sie, dadurch gewann ich einen Tag Vorsprung. Als nächstes ging ich hinüber zum MIT, um einen von Watkins’ Ge folgsleuten zu rekrutieren.« »Und ich dachte, es sei mein Charme gewe sen.« »Ich beschloß Ihre fehlenden Gliedmaßen und Geburtsfehler zu übersehen. Als Hampton mir sagte, er werde keinen unserer Leute, die sich auf Metallurgie verstünden, für den Zweck freigeben, wußte ich, daß es…« »Zeit war, das Weite zu suchen.« »Richtig. Ich hoffe nur, daß Hampton nach meinem Besuch nicht Kontos angerufen hat. Er soll nichts von meiner Abwesenheit wis sen.« Sie schnippte mit den Fingern und wich einem Esel aus. »Verdammt! Ich hätte vom Flughafen Boston anrufen und mich krank melden sollen, sagen, ich hätte die Grippe und wollte die Besprechung ein paar Tage ver schieben. Das hätte den alten Hampton hinge halten.« »Ein hoher moralischer Standard ist das Fundament unserer Gesellschaft«, erwiderte er in einem abgehackten, schalkhaften Ton. »Was war das?« »Kennedy-Akzent.«
»Gut, daß Sie es mir gesagt haben. Ich dachte schon, sie hätten plötzlich was mit der Zunge.« »Woher stammt Ihrer?« »Mein was?« »Ihr Akzent.« »Ich habe keinen Akzent.« »Ha. Ich dachte, vielleicht Englisch.« »Ich bin in der Marlborough Street aufge wachsen.« »Das ist der Originalakzent von Snob Hill?« Sie lächelte und warf ihm einen Seitenblick zu. »Ganz gleich, wie faszinierend ich bin«, sagte er nüchtern, »wenden Sie Ihren Blick nicht von der Straße. Nicht bei dieser Geschwindigkeit.« »Die Kennedys sprechen, was mein Vater Englosch nannte. Das ist das Englisch von Leuten, die aus einer Gegend stammen, wo man Gulasch ißt. Er starb in dem Glauben, daß Irish Stew eine Bastardform des Gulasch sei.« »Originell.« Die Landstraße führte in scharfen Kehren und Windungen über gefaltete Kämme, dann ging es wieder abwärts, und in der Ferne glänzte die Ägäis. Der Ausgrabungsort befand sich in zerklüftetem, bergigem Gelände, das steil zur See hin abfiel, und war nur über eine ausgefahrene staubige Schotterstraße er
reichbar. Mit verlangsamter Fahrt rumpelten sie südwärts, und der Ford schlingerte und schwankte durch Schlaglöcher und Spurrin nen, daß John sich festhalten mußte. Sie um fuhren eine felsige Anhöhe, und John seufzte in angenehmer Überraschung. In einem engen Tal erstreckte sich ein Wald von Olivenbäu men, silbrig schimmernd wie die Oberfläche eines Flusses, und sogar die strömende Bewe gung war darin, denn der Seewind bewegte die Äste, und das silbrige Graugrün der Blätter schimmerte wie Gischt, wenn die Windstöße wie Brandungswellen durch das Tal fuhren. »Schön«, sagte er. »Ja. Ich liebe Griechenland. Es ist mein be vorzugter Grabungsort.« »Wo sonst haben Sie gearbeitet?« »Im Irak, in Ägypten und der Türkei. Jeden Sommer seit meinem zweiten Studienjahr.« »Es gefällt Ihnen wirklich.« »Selbstverständlich.« Sie blickte ihn verwun dert an. »Viel besser als das ganze Jahr in ei nem Laboratorium zu sitzen.« »Riskieren Sie nicht einen Rückschlag in Ih rer Laufbahn«, sagte er, »wenn Sie so sorglos mit Reisegeldern umgehen und Ihrem Vorge setzten Schnippchen schlagen?« Sie schürzte die Lippen und schwieg eine
Weile. »Vielleicht. Aber ich will verdammt sein, wenn ich mich von ihm herumschubsen lasse.« »Und Kontos?« »Das gleiche gilt für ihn und – na, für alle Männer«, sagte sie mit einer Grimasse und ei nem weiteren Seitenblick.
3 George kam zum Wagen, noch ehe die Staubwolke der Ankunft sich gelegt hatte. John sah das Lager als eine schäbige Ansammlung von Zelten, mit Arbeitern in Blue Jeans und verschwitzten Hemden, die Kisten und Lat tenverschläge auf wartende Kleinlastwagen verluden. Bevor er sich George zuwandte, ließ er seinen Blick durch das Tal schweifen und hatte bald die Ausgrabungsstätte entdeckt. Sie bestand, wie erwartet, aus niedrigen bleichen Mauerresten, braunen Erdhaufen und einer Anzahl rechteckiger Eintiefungen unter einem
Gitternetz aus Markierungsstangen. Der Ort schien in keiner Weise außergewöhnlich, und John vermochte sich nur mit Mühe vorzustel len, daß er Geheimnisse aus vergangenen Jahrtausenden bergen könnte. Er suchte den gelbbraun verbrannten Busch an den Hängen zur Linken ab und fand den Eingang zum Kuppelgrab, einen offenen, von Mauern flankierten Korridor, der in den Hang einschnitt. Dies war etwas völlig anderes. Selbst aus der Entfernung verhießen die ein drucksvollen Abmessungen nicht nur einen Weg in eine Grabkammer, sondern den Ein gang zu einer unergründlichen Welt ferner Vergangenheit. Er schnupperte, als die frische Brise ihm willkommenen Salzgeruch von der See zutrug. Als Junge hatte er einmal mit seiner Mutter eine Fahrt nach Atlanta unternommen und war dort sehr beeindruckt gewesen, als sie ihm Gebäude gezeigt hatte, die für amerikanische Verhältnisse wirklich alt gewesen waren, näm lich über hundert Jahre.
George musterte den Neuankömmling ein wenig höhnisch, wie es schien, als sie einander vorgestellt wurden, dann aber wurde er von Claires Bericht über die Ereignisse in Boston mitgerissen, und seine verdüsterte Miene ver riet nur zu deutlich, was er von der Politik des Fachbereichs und Prof. Hampton dachte. »Verdammt typisch«, war sein Urteil. »Wenn Hampton ihn zurückruft, bleiben uns vielleicht nur ein oder zwei Tage, bis Kontos hier auftaucht«, sagte Claire. »Wir können keine Wunder wirken.« George gestikulierte zu den Arbeitern, die das Lager abbrachen. »Hier gibt es noch einiges zu tun.« »Er kann sie nicht gut am Packen hindern«, sagte John. »Nein, das nicht, aber er wird es beschleuni gen«, antwortete Claire. »Und er kann uns im Nacken sitzen. So daß wir keine Zeit für Un tersuchungen erübrigen können.« »Wenn er mich hier sieht…« »Das ist eine Überlegung wert, ja. Wir werden heimlich bei Nacht in der Grabkammer arbei ten, nachdem die Arbeiter Feierabend gemacht haben.« »Warum?« fragte John. »Wenn Kontos einen Schnüffler unter ihnen hat, wird der Mann nichts Ungewöhnliches
sehen.« »Ist Archäologie immer so?« George und Claire sahen einander an. »Nein«, sagte Claire kleinlaut. »Diese Situation ist uns aus dem Griff geraten. Manchmal denke ich…« Sie brach ab, gab sich einen Ruck. »Lassen wir das! Jedenfalls werden wir uns nicht von ei nem Schwein in einer maßgeschneiderten Uniform herumschubsen lassen.« George seufzte. »Die Reise scheint dich nicht friedlicher gestimmt zu haben.« »Nein, ganz im Gegenteil. Gibt es daran etwas auszusetzen?« Er trat zurück und hielt beide Hände in ko mischer Verzweiflung hoch. »He, keinen Streit! Ich hatte nur auf ein Wiedererwachen deines berühmten diplomatischen Talents ge hofft, das ist alles.« »Wozu?« »Nun…« Er hakte die Daumen in die Gesäß taschen und betrachtete den Staub. »Ich hatte gehofft, diese Sache zwischen dir und Kontos würde vorübergehen. Dann könnten wir hier vielleicht mehr Zeit bekommen. Nur eine klei ne Atempause…« »Ausgeschlossen. Kontos wird nicht nachge ben.« »Wir brauchen die Zeit. Ich habe mehr ge
funden. Bin hinter diesen Block gekrochen und habe mich umgesehen.« Claires Schwungkraft schien sich plötzlich aufzulösen. Sie seufzte. »Wirklich? Was ist dort?« »Allerhand. Komm mit.« Sie mußten das eiserne Tor am Dromoseingang aufsperren und zurückziehen. George hielt es verschlossen, solange die Ar beiter in der Nähe waren. Die massive hölzer ne Tür, die das Kuppelgrab selbst verschloß, stand offen. Für John war das Eintreten ein jäher Übergang von einem sonnenheißen Tal, wo Vögel zwitscherten und Zikaden schrillten, in eine düstere Welt kühler, dumpfiger Gra besstille. Die mächtige Kuppel war oben mit einer Holzkonstruktion verschlossen, die das Eindringen von Regenwasser verhindern und weiteren Einstürzen vorbeugen sollte, aber sie vermochte das lastende Gefühl der über ihnen konvergierenden, einschließenden Gesteins massen nicht lindern. Hier hatte die Ge schichte ein fühlbares, brütendes Gewicht. Als Claire die neuen Abstützungen sah, die George angebracht hatte, machte sie ein be denkliches Gesicht, bevor sie sich darunterwagte. »Sieht wie eine Brücke aus, die jemand zusammengesetzt hat, dem der Bau
plan abhanden gekommen ist.« »Unsinn. Es hält, verlaß dich darauf! Ich habe die oberen Lagen zusätzlich abgestützt. Der ganze Quadrant ist durch ineinander ver schränkte Stützen abgesichert.« »Und das alles hast du allein gemacht?« George schüttelte den Kopf. »Mußte zwei Ar beiter einsetzen. Aber vorher deckte ich den Block und das Loch mit Planen ab. Sagte den beiden, die Abstützungen seien nötig, um si cher zu gehen, daß die Kuppel während unse rer Abwesenheit in diesem Winter nicht ein stürzt.« Die Planen waren noch an Ort und Stelle. Claire stieg durch die Abstützungen und machte ein Seil los. Auf der rechten Seite der Öffnung hatte George einen Quader vorgezogen und genug Raum geschaffen, daß man durchkriechen konnte. Claire nahm eine Taschenlampe auf und richtete sie auf das Loch. John folgte ihr vorsichtig durch das Rah menwerk der Träger. In seinen Augen nahm sich der schwarze Block ziemlich gewöhnlich aus, abgesehen von dem wundersamen Bern steinzapfen und den eingemeißelten Schrift zeichen. Claire hatte ihm unterwegs eine bei nahe lyrische Beschreibung davon gegeben,
eine der wenigen Ausnahmen von ihrer sonst vorherrschenden spröden Nüchternheit. »Nicht viel Raum hier drinnen«, rief sie. »Das kann man sagen«, sagte George. »Zwei Tage lang war ich halb drinnen und halb draußen, während ich die Erde wegscharrte.« Man sah es ihm an. John hatte sich schon gewundert, warum der Overall des Mannes vom Hals bis zu den Stiefeln so schmutzig war. Claire grunzte. »Viel gefunden?« »Überhaupt nichts.« »Wie tief hinunter?« »Ich habe einen halben Meter weggenom men.« »Dann kann man also hineingehen?« »Klar.« John sah zu, wie sie sich durch die Öffnung wand. Ein gedämpftes »Hüh!« drang heraus. Er erwartete, daß George als nächster folgen würde, aber nach einem Augenblick rief sie: »John, kommen Sie!« Er bückte sich, zog den Kopf ein und manö vrierte seinen steifen Körper durch die Eng stelle auf den kalten harten Boden dahinter. Claires Taschenlampe erhellte die Mitte der unregelmäßigen Höhlenkammer, die von et was Schwarzem in der Wand gegenüber be herrscht wurde. Es dauerte eine kleine Weile,
bis John merkte, daß dieser tintige Flecken ein Loch war. Er kroch vorsichtig näher. Aus der Öffnung wehte ein modriger, salziger Geruch herauf. Ein Grab? Dann vernahm er ein ent ferntes, rauschendes Gurgeln. Ein ferner Wi derhall von Seewasser und Brandung. »Was ist das? Ein Teil der Grabkammer?« Claire ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Wände wandern. »Nein, ich glaube, es ist natürlich. Sehen Sie hinauf!« Über ihnen war eine graubraune Schicht hartgebackener Erde, die in Brusthöhe auf ei ner härteren Gesteinsschicht lagerte. Sand stein, vermutete John. Aus diesem Gestein be stand die gesamte untere Hälfte der Höhlung und die Wandungen des Loches. »Wahrscheinlich gruben die Mykener die Grabkammer aus, bis sie auf diesen Sandstein stießen«, sagte Claire. »Da hörten sie auf und bauten die Quaderwand des Kuppelgrabes unmittelbar daran. Aber wo wir sind, muß Lehm oder Erde gewesen sein.« »Sie gruben die Erde aus?« »Nein… nein, das sind Erosionsmerkmale. George?« Sie beugte sich zur Öffnung, und gleich darauf steckte er den Kopf durch die Zugangsöffnung. »Du fragst dich, wohin das Loch führt,
stimmt’s?« sagte er. »Ich weiß es auch nicht. Ich habe ein Seil hinuntergelassen und bin ungefähr drei Meter hinabgeklettert. Keine Bearbeitungsspuren an den Wänden. Wie du sagtest, es sieht nach Wassererosion aus.« John spähte hinunter. »Von der See?« »Sicherlich nicht«, sagte George. »Bis zum Meeresspiegel sind es sechzig oder siebzig Me ter. Mindestens. Keine noch so stürmische Brandung könnte ihre Wellen bis hier herauf schicken.« Claire nickte und zeigte hinauf zu der fest zu sammengebackenen Erde. »Das Wasser kam von oben. Regen, Sickerwasser.« »Es muß viel Wasser gewesen sein«, konterte George, »um soviel Gestein abzutragen.« »Die Kliffs sind weicher Kalkstein; die Bran dungserosion hat viel davon abgetragen. Die ser Sandstein hier…« Sie streckte die Hand aus und rieb daran. Die Oberfläche zerbröckelte in Sandkörner. »In Griechenland fällt eine Menge Regen – die Niederschlagsmenge ist höher als man glaubt für ein trockenes Klima. Alles ruht auf Kalkstein. Im Laufe der Jahrtausende hat die Wassererosion riesige Karsthöhlen ent stehen lassen. Sie durchlöchern den Unter grund wie einen Schweizer Käse. Weil die Menschen das Land entwaldet haben, wird das
Regenwasser nicht im Boden festgehalten, sondern sickert durch und verliert sich in den unterirdischen Höhlen und Wasserläufen des Karstes. Die Oberfläche trocknet rasch aus, und die Landwirtschaft leidet unter Wasser mangel. Diesen Vorgang können wir hier be obachten.« »Vielleicht wußten die Erbauer das«, sagte George. »Das ist nicht wahrscheinlich. Vergiß nicht, daß sie vor 3500 Jahren lebten. Damals muß es hier noch viel natürlichen Wald gegeben haben, der günstigere Klimabedingungen schuf und einen ausgeglichenen Wasserhaus halt bewirkte. Die Aushöhlung reichte viel leicht kaum tiefer als bis hierher.« »In Mykene legten sie die Stadtmauern so an, daß sie unterirdische Quellen umschlossen. Dann schlugen sie einen zwanzig Meter tiefen Brunnenschacht, um an eine zu allen Jahres zeiten verläßliche Wasserversorgung zu kom men.« »Ja, aber die Leute hier lebten Hunderte von Metern entfernt hangabwärts. Wir sind fast auf der Kammhöhe. Hier oben kann niemals genug Wasser zusammengeflossen sein, um eine größere Siedlung zu versorgen. Und eine Verbindung durch ein Grab – alles was recht
ist.« John sagte: »Sie glauben also, die Leute da mals hätten diese Höhle nur als einen geeig neten Ort benutzt, um den Block hier unterzu bringen.« Seine Handbewegung lenkte ihre Aufmerk samkeit auf den Steinblock. Er war würfelför mig, und seine rückwärtige Hälfte ruhte auf einer Steinplatte. Die Rückseite trug keine In schrift, keine Dekoration irgendwelcher Art. In der Mitte der Rückseite war ein Fleck gelb lichen Materials, das eine etwa handtellergro ße Fläche bedeckte. John stand gebeugt, um nicht mit dem Kopf gegen die überhängende Höhlenwand zu sto ßen, und war sich mit Unbehagen des gähnen den Loches bewußt, das nur ein paar Schritte entfernt war. Er berührte den Steinblock mit einem Finger. »Ich frage mich, was das ist.« »Nicht anfassen!« Die Akustik der Höhle ver stärkte Claires Ruf so sehr, daß John erschro cken zurückzuckte. »Warum, zum Teufel, nicht?« fragte er ge reizt. »Es könnten Zeichen daran sein, sogar Fin gerabdrücke«, sagte Claire schnell, aber mit gedämpfter Stimme. »Das sieht nach einem gewöhnlichen Stein
block aus, und sonst gibt es hier nichts als Ge röll und Erde, weiß Gott was. Nichts Besonde res.« »Wir wissen nicht, was ›besonders‹ ist, bis wir es analysieren«, sagte sie. George war zu ihnen hereingekrochen und stand auf. Der Platz reichte kaum für drei, oh ne daß man zu nahe an die Öffnung gedrängt wurde. John schob sich sicherheitshalber in eine Sandsteinnische. »Das scheinen Inkrustationen zu sein«, sagte George und richtete den Kegel seiner Hand lampe auf die gelbliche Masse. »Ich habe den Block bereits auf Fingerabdrücke und derglei chen untersucht. Nichts. Das Zeug sieht schwefelhaltig aus. Riech mal daran!« Claire bückte sich und schnupperte. »Salzig.« »Klar. Feuchtigkeit vom Salzwasser ist so lange durch diesen Höhlengang gezogen, daß man sich nicht zu wundern braucht. Diese Sei te des Blocks ist mit Salz überzogen – hier.« Der Lichtkegel zeigte winzige glitzernde Kris talle in der rauhen Oberfläche. Claire nickte. »Du hast wahrscheinlich recht. Wir können es wegwischen und sehen, ob wir darunter vielleicht etwas finden.« George seufzte. Sein Vorrat an Überraschun gen war erschöpft. »Ich dachte, ich hätte wirk
lich etwas gefunden, als ich das erste Mal durchkroch. Eine verborgene Schatzkammer, unentdeckt von den Grabräubern, etwas von der Art.« »Es gibt noch das Loch hier unten, nicht wahr?« sagte John. »Ja, ich werde es mir ansehen, glaube aber, daß es nur ein natürlicher Wasserlauf ist, der irgendwo in den Ozean mündet.« John kauerte bei der Öffnung nieder. Die Seiten waren von der Wassererosion geglättet und schimmerten feucht. Keine einladende Oberfläche, da sie kaum Halt für Griffe bot. An den Seiten waren schwärzliche Streifen, die den Blick steil abwärts lenkten. Sie schienen wie Ruß, doch erinnerte er sich, daß ablaufen des Regenwasser aus höheren Schichten ge löste Mineralien mit sich führen und ältere, unterliegende Schichten verfärben kann. Viel leicht war das hier geschehen. Es war sowieso nicht sein Gebiet. Nichts von all dem fiel in sein Fach, sagte er sich kläglich. Und er hatte hier herumgestochert und Fragen gestellt und unter diesen Leuten, die wirklich wußten, was sie taten, eine Pose von Sachverstand hervor gekehrt… Er stand auf. Die anderen beiden sprachen über etwas, dem er nicht folgen konnte. Er war
wenigstens einen Schritt vom Rand des Loches entfernt, aber er konnte sich nicht davon ab wenden, denn es gähnte dort im Halbdunkel zu seinen Füßen und wartete auf einen Fehltritt oder daß jemand ihn anstieß. Nein, sagte er sich, seine Nervosität war gänzlich unange bracht; sie mußte mit der Atmosphäre dieses Ortes zu tun haben, schließlich war es ein Grab, und es herrschte ein feuchter, modriger Geruch, weil dieser Teil niemals Gelegenheit gehabt hatte, wie das eigentliche Kuppelgrab auszutrocknen: dies war der echte Geruch des Alters. Er wischte sich die Stirn und zwang sich zu regelmäßigem Atmen. Die Lichtkegel der Lampen glitten über die Höhlendecke, wo Spalten und Vertiefungen das Licht ver schluckten, schufen eine seltsam indirekte Dunkelheit, die auf seine Schläfen zu drücken, die Luft zu verdichten und den feuchten Mo dergeruch dieses engen, ungelüfteten Ortes zu verstärken schien… »Es ist… äh… drückend hier drin.« Claire wandte den Kopf und blickte im trü ben, reflektierten Widerschein der Wände zu ihm her. Sein Gesicht fühlte sich erhitzt an. War es ihm anzusehen? »Ich möchte draußen die Geräte aufbauen«, sagte er mit rauher Stimme. »Helfen Sie mir
mit den Koffern, George?«
4 John nahm das Mikroskop von den Linear A-Zeilen zurück. »Es ist tatsächlich Metall in diesen Kerben.« »Meißelspuren«, korrigierte Claire automa tisch. »Silber? Es sieht wie Silber aus.« »Sehen Sie selbst!« Er wies mit einer Vernei gung auf das Stativ mit dem imponierenden Mikroskop. Um den schwarzen Zylinder war eine Scheibe mit Linsen und Punktlichtlampen gruppiert. Sie spähte durch das Okular. »Was sehe ich?« »Korrosionsprodukte, würde ich sagen. Oxi de. Allerdings nicht sehr viel Korrosion, das ist wohl ein glücklicher Zufall.« »Sind diese grünlichen Flecken Bronze?« »Vielleicht. Eine Silber-Kupferlegierung würde auch so aussehen.« »Und diese rötlichen Adern?« »Rost.« »Was ist das unterliegende Metall?«
»Das ist im Moment schwierig zu sagen. Es könnten mehrere sein. Das Metall mit dem höchsten Elektrodenpotential korrodiert als erstes. Das schützt die anderen Metalle ge wöhnlich vor der Zersetzung, bis das erste aufgebraucht ist. Wenn Sie hier Eisen, Silber und Stahl haben…« »Dies war späte Bronzezeit.« »Ach so. Nun, nur als Beispiel: das Eisen würde zuerst zersetzt. Es würde eine Rost schicht bilden, aber das Silber…« »Ich sehe etwas Glänzendes.« »Gewiß, weil es in der Tiefe der Kerbe – ich meine, der Meißelspur nicht viel Oxidation gibt.« Claire hob den Kopf vom Okular und be trachtete nachdenklich den Bernsteinzapfen. »Ich frage mich, warum… He!« »Was?« »In dem Bernstein – da war eben ein blauer Lichtblitz.« »Eine Reflexion, vermutlich.« »Nein, es war wirklich hell.« Er hatte vorher etwas Ähnliches gesehen. »Etwas Glimmer im Bernstein. Wenn der Lampenschein im richtigen Winkel einfällt, wirkt er wie ein Prisma…« »Aber es war so hell«, beharrte sie.
»In einem düsteren Loch wie diesem sind die Augen sehr empfindlich.« »Hmm. Nun, zuerst geht es mir um die Ana lyse der Metallspuren. Der Bernstein kann warten.« Er versuchte sich an weitere Einzelheiten aus Caleys Analyse von historischen Metallen zu erinnern. Vieles davon war lediglich fachmän nischer gesunder Menschenverstand, aber manches von der Oxidationschemie war kom pliziert. Er entsann sich, als Junge über Sher lock Holmes gelesen zu haben, wie er eine Monographie über hundert verschiedene Ar ten von Zigarettenasche geschrieben hatte und wie man sie identifizierte. Damals war es ihm abwegig vorgekommen; nun begann er sich seine Gedanken zu machen. Vielleicht würde zusätzliches Gerät helfen. Im dritten Geräte koffer war noch etwas… »Können Sie den Metallgehalt nicht an Ort und Stelle studieren? Es ist wichtig.« Er zuckte die Achseln. »Ich werde eine Boh rung machen müssen.« Sie wandte den Kopf. »Nein. Nicht in die Schrift.« »Ich verstehe, daß Sie nichts beschädigen wollen. Aber ich glaube, ich kann ein millime tertiefes Loch bohren und diesen Film von
Unreinheiten durchschneiden.« Besser gesagt, er könnte, wenn er genug Zeit gehabt hätte, das Handbuch zu lesen. Es war von einer wunderschönen Ausführlichkeit; Watkins hatte für wohlmeinende Idioten ge schrieben, die daran gehindert werden muß ten, bei der Feldarbeit Proben zu beschädigen, und doch brauchbare Resultate erzielen soll ten. Für Leute wie ihn, mit anderen Worten. Zweifellos aber hatte selbst ein gewissenhafter Wissenschaftler wie Watkins nicht mit seiner Ebene von Ignoranz gerechnet. Sie fragte zweifelnd: »Welche Technik werden Sie gebrauchen?« »Nun, Röntgenfluoreszenz scheidet aus«, sagte er vorsichtig. »Sie erfordert zuviel Raum. Dann gibt es die elektronische Mikropro ben-Untersuchung. Die wäre geeignet, und das Gerät habe ich in einem der Koffer, aber die Proben sind so winzig – ein paar Mikron im Durchmesser –, daß die Untersuchung sich nur für homogene Stoffe eignet; sie wird uns nichts über die durchschnittliche Zusammen setzung sagen.« Er behielt sie im Auge, wäh rend er sprach, und es schien ihr einzuleuch ten. »Ich würde sagen, daß wir es mit der Neutronen-Aktivationsanalyse versuchen soll ten. Sie verursacht keine bleibenden Beschä
digungen.« Es war auch die einzige, deren Anleitungen er ganz verstehen konnte. Bis vor kurzem war die Neutronen-Aktivation eine Technik gewesen, die nur zugänglich war, wenn man einen Kernreaktor als Neutronenquelle verfügbar hatte. Watkins hatte mit anderen ein tragbares Gerät für die Feldarbeit entwickelt, und dazu ein Handbuch geschrieben, das einfach genug für Geologen und Archäologen war, die mit der neuen Methode keine Erfahrung hatten. Das Gerät war nicht viel mehr als ein schwarzer Kasten, der mit Batteriestrom als Energie quelle gespeist wurde. Die Quelle schoß Neut ronen hinein, und Gammastrahlen kamen zu rück. Ein kleiner Computer analysierte das Spektrum der Gammastrahlen. Von der Höhe der Spitzen und ihrer Stellung im Energie spektrum sollte es möglich sein, auf die vor handenen Metalle zu schließen. So las es sich jedenfalls im Handbuch, das er fleißig im Flugzeug gelesen hatte, statt zu schlafen. Dafür mußte er jetzt zahlen: er gähnte. Seine einzige Hoffnung lag in der Re duzierung der Schritte auf mechanische Handhabungen. Er kannte sich ein wenig mit Elektronik aus und konnte das als Tarnung benutzen.
Sie grübelte. Er bewunderte die Art und Wei se, wie sie einen Zeigefinger an die Wange leg te und die Lippen schürzte, so daß sie noch voller wurden. Sie wechselte das Standbein, und die Bewegung schien sie leichter und auf wunderbare Weise noch schlanker zu machen, sobald sie die Ebene ihrer Hüften verkantete. »Gut. Tun Sie es!« Seine Aufmerksamkeit kehrte zurück zum vorliegenden Problem. »Jetzt?« »Gewiß.« Sie stemmte die Hände in die Hüf ten. »Wir haben nur noch Tage, vielleicht Stunden. Ich kann helfen.« Er nickte. Sein vom Flug durcheinanderge brachtes inneres Zeitempfinden und der Schlafentzug hatten eine Benommenheit hin terlassen, als sehe er alles durch eine dicke Scheibe staubigen Glases. Er hätte auch Geor ges Hilfe brauchen können – wie die meisten Akademiker war er der Meinung, daß Männer, die mit den Händen arbeiteten, und zu diesen gehörten für ihn auch Archäologen, ein besse res Verständnis von technischen, elektrischen und mechanischen Dingen haben würden. Aber George sagte, er verstehe nichts von me tallurgischer Analyse, geschweige denn von Elektronik, und für ihn sei die Arbeit mit Erde, Töpferscherben und Gesteinsfragmenten das
Gegebene. Außerdem brauchten sie ihn drau ßen im Lager, wo er die Arbeiter abzulenken hatte, die mit dem Verladen bald fertig sein würden. In der kühlen, halbdunklen Grabkammer packten sie aus und setzten zusammen, und die metallischen Geräusche hallten von den Wänden und der Kuppel wider und gaben je dem Klang eine verlängerte Gegenwart. Er ließ sich Zeit, denn er befürchtete, Fehler zu ma chen, und hoffte bei der Arbeit seine Müdigkeit zu überwinden. Es war schwierig, das Gerät zwischen den Steinblöcken aus der Wand, die noch in ihren Seilen hingen, an Ort und Stelle zu manövrieren. John stieß gegen einen und fragte, hauptsächlich, um einen Vorwand für eine Unterbrechung zu haben: »Woher kommt der?« Claire blickte auf. »Das ist die Steinplatte, die vor dem Bernsteinzapfen in die Wand einge lassen war. Sehen Sie die Markierung?« »Ein religiöses Symbol?« »Wir wissen es nicht. An den Wänden waren auch Bronzefiguren befestigt, jedenfalls sehen wir es so, weil sie unter dem Schutt begraben waren, als wir sie fanden.« Er betrachtete die Steinpatte, berührte sie vorsichtig. »Darf ich?«
Sie lächelte. »Natürlich. Es tut mir leid, daß ich Sie gestern angefahren habe.« »Schon gut. Wie kommt es, daß sie begraben waren?« »Die Bronzen? Von Grabräubern herunterge rissen und für wertlos gehalten. Es kann auch durch ein Erdbeben geschehen sein, oder durch Achtlosigkeit bei späteren Begräbnis sen.« Er runzelte die Stirn. »Sie entweihten die Gräber ihrer eigenen Vorfahren?« Sie lächelte wieder. »Tun wir etwas anderes? Wie viele Familiengräber werden schon in der nächsten oder übernächsten Generation auf gelassen? Hier wie in vielen anderen Kulturen war es Sitte, den Verstorbenen Grabbeigaben für die Reise ins Jenseits mitzugeben – Werk zeuge und Waffen, Nahrung und Kleider. Aber sobald das Fleisch verwest war, glaubten sie die Reise abgeschlossen. Die Toten brauchten dann die Grabbeigaben nicht mehr. Die meis ten dieser Kuppelgräber waren Familiengrab stätten herrschender Dynastien. Bei einem neuen Begräbnis nahmen sie die alten Gebeine aus ihren Schachtgräbern und warfen sie bei seite, um Platz für den Neuankömmling zu schaffen. Das vermuten wir jedenfalls, weil wir überall und auf verschiedenen Ebenen Gebei
ne verstreut gefunden haben. Andererseits ist es möglich, daß die Grabräuber dafür verant wortlich waren.« »Die Geschenke wurden also bei den Toten zurückgelassen, so daß diese sie… gebrauchen konnten?« Er fand das Thema ein wenig be klemmend. »Ja, die Nahrungsmittel meistens in Gefä ßen.« »Wie kommt es dann, daß sie Dinge versteck ten?« »Das taten sie nicht. Die Grabräuber hatten allem Anschein nach keine Mühe, zu finden, was sie suchten. Es sei denn, es war unter Erde begraben, die als Aushub bei der Anlage neuer Gräber anfiel und manchmal nicht hinausge schafft wurde.« »Warum haben sie dann diesen Block ver steckt?« Er zeigte zu dem Kalksteinklotz, der noch immer an seinem Platz außerhalb der Quaderwand ruhte. »Das weiß ich nicht.« »Und warum meißelten sie dann Schriftzüge hinein, wenn niemand es sehen sollte?« Claire starrte den schwärzlichen Kalksteinklotz an und sagte: »Das ist einer der Punkte, die mich auch beschäftigen.« Er strich mit der Hand über die in ihren Sei
len hängende Steinplatte und fühlte die klei nen Kerben an den Schmalseiten, wo ein seit Jahrtausenden toter Handwerker Splitter ab geschlagen hatte, um die überraschend ge nauen Winkel und Kanten zu formen. »Außen eine Art Zeichnung, die etwas besagen muß… aber kein Grab hinter dieser Platte, nur ein Steinklotz mit einer gemeißelten Inschrift. Und diese Dekoration, dieser Zapfen. Ko misch…« Er bückte sich, um die Platte genauer in Augenschein zu nehmen, während Claire ein Bündel Elektrokabel auf eine ausgebreitete Decke legte. Er bestand auf einer systemati schen Anordnung der Teile, bevor sie mit dem Zusammenbau begannen. »Wie datieren Sie die Ebenen?« fragte er. »Was?« Sie hatte nicht zugehört und seine Frage völlig verpaßt. »Wie datieren Sie die verschiedenen Begräb nisse, die verschiedenen Ebenen…« »Ach ja, durch die Analyse der beigegebenen Keramik. Wir kennen die Stilformen und wie sie sich entwickelten. Und wenn Holzreste vorhanden sind, können wir sie an Hand der C 14-Methode datieren.« »Richtig.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Kante der Steinplatte. »Und dieses bröck lige Zeug?«
»Mörtel.« »Und diese Spuren hier?« »Ich weiß nicht. Jemand hat den äußeren Mörtel weggehackt. Sie sind alle nahe der Kante.« »Ich finde, sie sehen wie Kratzer aus, nicht wie Meißelspuren.« »Ja, das denke ich auch.« »Als ob jemand ein Messer oder was verwen det hätte.« »Mmm?« Sie blickte nicht von der Arbeit auf. »Man sollte meinen, daß jemand, der eine ernsthafte Arbeit verrichtet, das richtige Werkzeug verwenden würde.« »Schon im Altertum wurden Leute gedrängt und leisteten schlampige Arbeit.« »An Gräbern? Nun – vielleicht. Soviel für die guten alten Zeiten. Trotzdem, mit einem Mes ser…« Er untersuchte die scheinbar willkürli chen Kratzer im Licht einer Taschenlampe. »Vielleicht verwendete der Betreffende eines von den Messern, die hier bei den Toten zu rückgelassen wurden.« »Grabräuber bringen gewöhnlich ihr eigenes Werkzeug mit.« »Ein Messer taugt nicht für diese Art Arbeit.« Er stand auf. »Gibt es eine Möglichkeit, den Zeitpunkt, als dieser Klotz hinter die Wand
gesetzt wurde, zu datieren?« »George fand Anzeichen dafür, daß es ziem lich spät erfolgte. Wir wissen aus Schmuck funden in der obersten Schicht, daß der letzte hier Bestattete eine bedeutende und reiche Persönlichkeit war.« »Der letzte seines Geschlechts, wie? Also hat man diese Steinplatte und den Klotz dahinter vielleicht gleichzeitig mit ihm hier herge bracht.« »Oder mit ihr.« »Freilich. Oder mit ihr.« Er rieb sich das Kinn. »Es könnte sogar ein Kleinkönig gewesen sein.« »Ja? Erzählen Sie!« Zerstreut stieß er mit der Stiefelspitze in die festgetretene Erde. »Es gab ein ungewöhnliches Zeremoniell. An manchen Stätten gibt es unbedeutende und ungewisse Hinweise, daß Diener des Königs mit ihm begraben wurden. Es ist ein strittiger Punkt.« Das riß ihn aus seinen Gedanken. »Wirklich? Homers Helden sollen solche Wilden gewesen sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Eine andere Kultur. Wohlgemerkt, es ist keineswegs gesichert, daß sie es taten, und wenn es sich so verhielt, dann
ging es wahrscheinlich auf orientalische Vor bilder zurück, denn es war keine Eigenheit der frühen Griechen. Sie bauten diese schönen Kragsteinkuppeln, als Ihre und meine Vorfah ren noch Mastodonten jagten.« »Ich dachte, Mastodonten seien schon vor zehntausend Jahren ausgestorben.« Er grins te; dies war eine der wenigen Tatsachen, an der er sich aus der Schulzeit erinnerte. Sie lächelte gegen ihren Willen. »Ich sehe, ich werde auf jedes Wort achtgeben müssen. Aber wenn Sie indianische Vorfahren haben, könnte ich dennoch recht haben.« »Jeder Südstaatler hat ein bißchen Indianer blut in den Adern.« »In Amerika wurden die letzten Mastodonten vor ein paar tausend Jahren von Indianern ausgerottet. Aber um wieder zur Sache zu kommen: sehen Sie diese dreieckige Öffnung über dem Türsturz? Sie nahm das Gewicht der darüber lastenden Quader auf und leitete es seitwärts um die Tür. Fortgeschrittene Statik. Und draußen errichteten sie eine Fassade aus bemaltem Mauerwerk, schön herausgemeißelt.« »Sie meinen wirklich, die Leute hätten mit diesem König ein paar Diener begraben?« »Nun… vielleicht.«
Er dachte nach, versuchte sich in jene ferne Zeit zurückzuversetzen und die verwitterten Steine frisch gestrichen und geschmückt zu sehen, Zeugen eines pomphaften Rituals. »Großer Gott – wenn ich mir das vorstelle! Hier drinnen gefangen sein…« »Nach dem letzten Begräbnis füllten sie den Dromos mit Erde und Geröll, schütteten die ganze Anlage zu, nach den Anzeichen, die wir finden konnten. Ungewöhnlich. Sie wußten, daß sie hier drinnen niemand mehr begraben würden. Dieser König, oder wer immer er war, muß eine besondere Persönlichkeit gewesen sein. Ein Held, ein Gesetzgeber, ein Eroberer. Agamemmnon kennen wir durch Homer, aber dieser König könnte genauso wichtig gewesen sein.« »Ja. Und seine Diener, wenn es wahr ist, daß sie mit ihm gehen mußten. Gefangen hier drin, ohne Licht – und wenn man ein Feuer macht, um zu sehen, würde es den Sauerstoff auf brauchen. Aber das werden sie nicht gewußt haben. Etwas Holz oder Kleider anzünden, das wäre einfach. Hatten sie damals schon Ker zen?« »Öllampen. Wir haben hier allerdings keine gefunden.« Er stand da und blickte umher, aufwärts in
die düstere Höhe der Kuppel. »Ich frage mich, wie es gewesen sein mag. Hier drin zu stecken und zu wissen, daß nun die letzten Stunden angebrochen sind…« »Nun, sollte sich hier so etwas abgespielt ha ben, so muß man sich vergegenwärtigen, daß die Betreffenden ihrem König in dem festen Glauben an ein Weiterleben in einer anderen Welt in den Tod folgten, und daß sie womög lich unter Drogen gesetzt worden waren.« »Sicherlich. Das leuchtet ein. Aber wie be rauscht kann einer sein, wenn er weiß, was ihm bevorsteht?« Claire wandte sich wieder der Arbeit zu. »Spekulationen machen Spaß, aber dies ist ei lig und…« »Aber Sie müssen auch etwas erklären«, sagte er hartnäckig. »Diese Kratzspuren.« »Grabräuber.« »Vielleicht Grabräuber. Mir scheint aber, daß jeder Plünderer, der etwas auf sich hält, weiter an diesem Mörtel herumhacken würde, um zu sehen, was hinter dem Stein ist. Dem einzigen markierten Stein in der ganzen Grabkammer.« »Gewiß, ja, es kann alles mögliche geschehen sein…« »Das ist das Rätsel.« Er fuhr mit dem Finger die Kreismuster nach, und seine Müdigkeit
war wie weggeblasen. »Angenommen, ein Diener wacht auf. Benebelt vom Rausch oder von Drogen. Begreift, wo er ist, weiß, daß ihm nicht viel Zeit bleibt. Er würde doch versu chen, sich einen Weg ins Freie zu bahnen, meinen Sie nicht?« »Vielleicht. Aber der Dromos war mit Erde und Geröll gefüllt. Er hätte sich durch vier oder fünf Meter aufwärtsgraben müssen…« »Durch frisch eingefülltes Material? Das meiste wäre gleich zur Öffnung hereingerutscht, sobald er die Tür aufgebracht hätte.« »Es war ein versiegeltes Grab. Sie hätten mehrere Quader aus der Türöffnung ziehen und sich dann ins Freie hinaufgraben müs sen.« Er breitete die Hände aus. »Würden Sie es nicht wenigstens versuchen?« »Ich schon. Aber ich glaube nicht an ein Wei terleben in einem Jenseits, und mir hat man nicht die ehrenhafte Vorstellung eines rituel len Opfers eingeprägt. Wie ich sagte, die Leute dachten anders.« Er hob die Hände mit einer Miene gespielter Ernsthaftigkeit. »Entschuldigen Sie, Sie haben völlig recht, ferne Kultur und all diese gebil deten, großzügigen Überlegungen. Hinter
wäldler wie ich sind eben nicht imstande, das in Betracht zu ziehen.« Sie lächelte knapp. »Das haben Sie gesagt, nicht ich.« »Trotzdem, wenn wir die Theorie der Grab räuber einmal außer acht lassen, kommen wir zu der Folgerung, daß jemand hinauszukom men versuchte.« »Gut. Weiter!« Er antwortete mit einer übertriebenen Ver beugung, doch als er sich wieder aufgerichtet hatte, führte er die Fingerspitzen wieder über die Linien der Kratzspuren entlang den äuße ren Kanten der Steinplatte. Mit schräggehal tener Taschenlampe zeigte er, wo eine Spitze tiefer gebohrt hatte, abgeglitten war und gleich daneben wieder nachgebohrt hatte. »Nachläs sige Arbeit. Waren ähnliche Spuren auch am Eingang?« »Da müßte ich in den Aufzeichnungen nach sehen. In diesem frühen Stadium der Ausgra bung war Rowland beteiligt, mein Vorgänger hier. Aber… – nein, ich glaube es nicht.« »Gut. Dann ist die Frage, warum einer an dieser Platte herumhackt, wenn er hinaus will?« »Um zu dem natürlichen Höhlengang zu ge langen, den wir gefunden haben.«
»Aber Sie und George sagten, der Höhlengang sei noch nicht dagewesen, als das Grab erbaut wurde. Andernfalls hätten sie niemals so nahe daran gebaut.« »Nun… vielleicht.« »Kommen Sie, folgen Sie meiner Prämisse! Die Diener, arme Leute, die in völliger Fins ternis gefangen sind, wissen, daß ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Warum Versuchten sie also diese Platte zu entfernen?« »Das Wasser?« Er schlug mit der flachen Hand auf den Stein. »Jedenfalls wollten sie etwas. Und was ist hin ter der Platte? Nichts außer diesem Steinklotz.«
5 Am selben Abend machte Claire eine weitere wichtige Entdeckung. John war nach einem hastigen Abendessen zum Grab zurückgekehrt, wo er noch eine oder zwei Stunden arbeiten wollte, bevor der Schlaf sein Recht verlangte. Claire half ihm, wo sie konnte, aber er überre
dete sie, ihn seiner Elektronik zu überlassen. Sie machte eine Anzahl Aufnahmen von dem Raum hinter dem Kalksteinwürfel, dann ging sie unruhig unter der Grabkuppel auf und ab. »Seien Sie so gut, Claire, und setzen Sie sich irgendwo hin!« sagte John nervös. »Ich denke gerade daran, daß wir den Klotz noch nicht bewegt haben.« »Er ist zu schwer.« »Nicht, wenn Sie und George helfen. Ich würde mir gern die linke Seite vornehmen und sehen, ob es Markierungen gibt.« »Gute Idee«, sagte John erleichtert. Sie brauchte eine Stunde, um Schutzpolster anzubringen und die richtigen Ansatzpunkte für die Hebel zu kennzeichnen. Dann stemm ten die Männer sich langsam in die Hebelarme und konnten den Block grunzend vor An strengung eine Handbreit seitwärts bewegen. »Keine Markierungen«, sagte Claire ent täuscht, nachdem sie mit der Taschenlampe in die Lücke geleuchtet hatte. »Nur Staub – nein, Moment!« Nach einer weiteren halben Stunde des Mes sens und Fotografierens zog sie das Ding her aus. Es war ein quadratisches Elfenbeinplätt chen, dünn und mit einer Kantenlänge von kaum fünf Zentimetern. Die Oberfläche zeigte
eine schwache, in Jahrtausenden verblaßte Zeichnung oder Markierung. »Anscheinend wurden diese Linien übermalt, um die Wirkung zu verstärken – da kann man noch rötliche Spuren sehen«, sagte Claire. George stimmte ihr zu. Das Elfenbeinplättchen hatte aufrecht im Staub gestanden. »Es muß an die Seite des Blocks geklebt oder geheftet ge wesen und später herabgefallen sein«, sagte er.
»Ein Schmuck? Was zeigt es?« fragte John. Claire legte es vorsichtig in eine saubere Pro benschale aus Kunststoff. »Nicht viel. Es ist so schwach. Eine figürliche Zeichnung oder der gleichen kann es nicht sein – zu unregelmä ßig.«
»Vielleicht ist es zu sehr verblaßt«, sagte John. Ein Gähnen überwältigte ihn. »Ich werde es morgen reinigen und versu chen, den Kontrast zu verstärken«, meinte Claire. »Selbst wenn wir die Linien nicht bes ser hervorheben können, bleibt es doch ein bedeutsamer Fund.« »Wieso?« »Elfenbein war in Mykene selten. Der Um stand, daß es als Schmuck dieses Artefakts verwendet wurde, bedeutet, daß der hier Be stattete sehr wichtig war.« »Ein König?« »Wahrscheinlich.« »Und der Block war auch wichtig«, fügte George hinzu. Schläfrig fragte John: »Warum haben Sie ihn dann versteckt?« Am nächsten Vormittag, als George und John ein paar Quader bewegten, um Raum für die Geräte zu schaffen, erregte anschwellendes Motorengeräusch ihre Aufmerksamkeit. George wandte den Kopf und hielt lauschend inne. »Verdammt!« murmelte er. »Wir hätten am Plan festhalten und letzte Nacht durchar beiten sollen.« »Schauen Sie, ich war vollkommen übermü det. Und dazu…« John sah George aufspringen
und zum Eingang des Kuppelgrabes laufen. »Oh – das ist er, wie?« »Ja. Bleiben Sie, wo Sie sind!« George winkte ihn zurück. »Ich gehe hinunter und erkläre ihm, daß Sie ein Tourist sind, ein Freund von Claire.« »Wollen Sie ihn hierherbringen?« »Nein, nein, das fehlte noch… Verhalten Sie sich ruhig!« George ging in gemächlichem Schritt den Zugang hinaus und zum Lager hinunter. John setzte die Arbeit an der Metallanalyse fort. Er hatte in die Seite des Kalksteinblocks gebohrt. Es war nicht einfach gewesen, und der winzige Bohrer hatte im Stein gesummt wie eine gefangene Biene. Er bemerkte nicht ohne Stolz, daß das Loch sauber und fachmän nisch aussah. Nun mußte er die schwarzen Kästen dreifach überprüfen. Sie nahmen in dem engen Raum um den Block viel Platz ein. Mit Georges Hilfe hatte er die schweren Quader aus dem Weg geschafft, was ihm Zeit gab, seine Unvertrautheit mit dem Schaltschema zu tar nen. Die Anschlüsse sahen jetzt gut aus. Er schaltete die Geräte ein und sah sich von ei nem befriedigenden, nicht beunruhigenden Summen belohnt. Es würde ein Weilchen dau
ern, bis sie angewärmt wären. Er las wieder im Handbuch nach und wartete. Nicht lange, und die Neugierde überwand sei ne Vorsicht. Was, zum Teufel! Seit Stunden hatte er sich sozusagen auf Zehenspitzen durch die Prozedur bewegt; er brauchte eine Pause. Er verließ die Grabkammer, schloß die große hölzerne Tür und schlug den Pfad zum Lager ein. Schon von weitem sah er einen nur etwa mit telgroßen, aber athletisch gebauten Mann zu George sprechen. Während er redete, machte er rasche, ungeduldige Gesten zu den Arbei tern, die ihre Kleinlastwagen beluden. Es schien nicht gerade Übereinstimmung zu herrschen. Der Mann sprach griechisch und so laut, daß seine Stimme weit trug, und John konnte sehen, daß die Arbeiter ihm zuhörten, während sie sich geschäftig gaben. Er kam zwischen den letzten noch stehenden Zelten ins Lager und überlegte, ob er in einen Streit hineinlaufen solle, dessen Hintergründe er nicht verstand. Er befand sich hier ohnedies auf unsicherem Boden, außerhalb seines Ge bietes… Plötzlich erschien Claire im Eingang von ei nem der Zelte. Schweißperlen standen ihr auf Stirn und Oberlippe. Hatte sie auf ihn gewar
tet? »Warten Sie, bevor sie mit Kontos sprechen«, sagte sie mit seltsam gepreßter Stimme. »Nun, wenn es Ihnen lieber ist; ich bin so wieso nicht scharf darauf.« »Nein, hören Sie zu! Er hat mich noch nicht gesehen, und ich möchte ihm nicht in die Que re kommen. Ich glaube auch nicht, daß er Sie vom Grab kommen sah. Tun Sie einfach so, als wären Sie von einem Spaziergang zur Küste hinunter zurückgekehrt.« »Was? Sie…« »Und dann sagen Sie ihm, daß wir heute nachmittag wegfahren, Mykene besichtigen wollen.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« »Sie können nicht im Grab arbeiten, solange er hier ist. Und ich möchte nicht gezwungen sein, Kontos etwas… etwas zu sagen, solange keine Notwendigkeit besteht.« »Meine Güte, Sie sind ja ganz aufgeregt!« Er klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Hatte keine Ahnung, daß er Sie so sehr stört.« »Es ist… – nicht er allein. Ich habe ihm nichts von dem Block erzählt.« »So?« »Und ich werde es auch nicht tun.« Er zog die Brauen hoch.
»Sie wissen nicht, wie es war«, sagte sie hef tig. »Ich habe gute Gründe.« »Wie lange, glauben Sie, können Sie das ma chen, bevor er darauf kommt?« »Lang genug, um wenigstens unsere Neu gierde zu befriedigen. Glauben Sie mir, Kontos würde das Ding mit Beschlag belegen und alles Verdienst an der Entdeckung für sich bean spruchen.« »Nun, trotzdem…« »Lassen Sie die guten Ratschläge, ja?!« sagte sie ungeduldig. »Ich weiß genau, was ich tue. Und nun gehen Sie und sprechen Sie mit ihm! Aber denken Sie daran, Sie wissen nichts!« »Wie könnte ich es vergessen? Es ist wahr.« Er lächelte und schlenderte weiter. Dr. Alexandros Kontos erinnerte John an ei nen guten Rugbyspieler – breitschultrig, mus kulös, doch weder zu groß noch zu schwer, mit einer gesammelten Energie, die von berech nender Intelligenz im Zaum gehalten wurde. John war groß und breit genug, um von der Körpergröße eines anderen Mannes nicht be eindruckt zu sein. In der High School hatte er Verteidiger gespielt und war bald darauf ge kommen, daß Schnelligkeit mehr bewirkte als Masse. Er war gut im Zuspielen gewesen, ein schneller Läufer, und in seinem letzten Schul
jahr hatte die Mannschaft, der er angehörte, die Stadtmeisterschaft errungen. Je mehr aber die gegnerischen Mannschaften seine Gefähr lichkeit erkannt hatten, desto wachsamer wa ren sie geworden, und nachdem er ein gutes Dutzend Male von schweren Abwehrspielern mit voller Wucht gerammt worden war, hatte er genug vom Spielen gehabt. Das waren Er fahrungen, die man nicht vergaß. Wenn man nach einem Mitspieler Ausschau hält, dem man das Ei zuspielen kann, ist es nicht immer möglich, schon auf das Zweizentnertier gefaßt zu sein, das im Begriff ist, einen in den Dreck zu schmettern. Wenn man zurückzuckt, geht das Zuspiel daneben. Solange man im Ballbe sitz ist, muß man von der absoluten Überzeu gung der eigenen Unsterblichkeit durchdrun gen sein. Als John gemerkt hatte, daß diese Überzeugung zerbrochen war, hatte er gewußt, daß er als Spieler nichts mehr wert sein würde, und aufgegeben. Kontos strotzte vor selbstsicherer, harter Unerbittlichkeit. Er hätte einen guten Ab wehrspieler abgegeben. John war auf der Hut, während er näher ging. Einen Mann wie Kontos zu täuschen, erfor derte Geschick; er hoffte, Claire hatte nicht vor, es längere Zeit durchzuhalten.
George machte sie bekannt. Kontos zeigte augenblicklich eine unbewegliche Miene, die nichts preisgab. Auch sein Händedruck war neutral. »Ich fürchte, Sie kommen ein wenig spät; alles geht gerade zu Ende.« »Ach, das macht nichts. Ich wollte hauptsäch lich die Landschaft sehen, nicht bloß alte Ge beine.« Zu seinen Gunsten muß gesagt sein, daß Kontos über den sanften Stich lächelte. »Wir Griechen haben in unserer Erde mehr ›Gebei ne‹ als sonst jemand. Vielleicht werden Sie ei nen Blick in das Museum in Athen werfen, nachdem Sie sich an unseren schönen Land schaften gesättigt haben. Es ist lohnend selbst für den, der nur das Vergnügen sucht. An un serem Land ist mehr als Sonne und Wein und Strände, wissen Sie.« Die gutgeölte Stimme hielt genau das richtige Gleichgewicht zwi schen Herzlichkeit und Herablassung. Und während er sprach, musterte er Johns Kleider, die Hände, das Gesicht und machte sich ein Bild von ihm. »Ja, das werde ich sicherlich tun. Wollte nur Claire einen kleinen Besuch abstatten, wäh rend ich hier bin.« »Sind Sie schon lange genug im Land, um an dere Orte auf der Peloponnes zu besuchen?«
»Nein… bin gerade erst eingetroffen«, sagte John und nutzte die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers, um zu denken. »Ich hatte ge dacht, Claire könnte mir dies und das zeigen.« »Ja?« Höfliches Interesse.
»Wir wollten gerade nach Mykene.«
»Sehr gut. Ein herrlicher Ort, eine unserer ältesten Kulturstätten.« Er blickte umher. »Ist sie…« »Sie zieht sich um.« »Ich verstehe. Und ihre nächste Station?« »Ich dachte, daß ich vielleicht die Ägäis be suchen und etwas tauchen werde.« »Ausgezeichnet. Die Kykladen, also?« »Ich denke.« Kontos verlor sichtlich das Interesse an wei teren Sondierungen und wandte sich an Geor ge. »Vielleicht sollten Sie auch einen Urlaub einplanen, wie?« »Was meinen Sie?« »Auf Ihrer Rückreise in die Vereinigten Staa ten könnten Sie irgendwo haltmachen. Viel leicht ist im Forschungsbudget noch etwas Geld übrig.« »Ist das Ihre Vorstellung von Bestechung?« Zu Johns Überraschung nahm Kontos keinen Anstoß daran, was ein bezeichnendes Licht auf die Atmosphäre innerhalb des Ausgrabungs
teams warf. Kontos begnügte sich mit einem ironischen Lächeln und sagte: »Eine unglück liche Bezeichnung. Bevor Mr. Bishop erschien, äußerten Sie den Wunsch, länger zu bleiben. Ich mache nur auf die Möglichkeit aufmerk sam, daß Sie solche Tage an einem geeignete ren Ort unter entspannteren äußeren Um ständen zubringen könnten.« »Hören Sie auf!« sagte George verdrießlich. »Ich will keinen Urlaub. Ich will diese Arbeit beenden.« »Sie wird zur rechten Zeit zu Ende geführt werden.« Kontos’ Ton war plötzlich kalt. »Einstweilen werden Sie abreisen.« »Nun…« »Nein! Ich wünsche, daß Sie alle abreisen! Innerhalb von zwei Tagen!« »Das ist verrückt«, sagte George. »Ich fürchte, die Situation rechtfertigt es.« »Welche Situation?« Kontos zuckte die Achseln. »Ich tue mein Bestes, aber wer kann für den guten Willen dieser Arbeiter garantieren? Die Erbitterung über die letzten Maßnahmen Ihrer Regierung ist so groß, daß sie als Reaktion darauf zu al lem imstande sind.« »Diese Kerle? Hören Sie schon auf!« »Was Sie denken, ist belanglos. Sie werden
den Anweisungen des gastgebenden Direktors folgen.« »Ihre Erklärung gefällt mir nicht. Ich halte sie für vorgeschoben.« »Ich habe es überhaupt nicht nötig, Ihnen gegenüber Erklärungen abzugeben. Aber ich bin jetzt höflich. Können Sie ebenso höflich sein?« George biß sich auf die Lippe. Kontos stemmte die Hände in die Hüften. »Haben Sie mich verstanden?« »Ja. Aber das sind zwei ungestörte Tage, rich tig? Ich möchte nichts, was die Arbeit verlang samen würde.« Kontos lächelte. Sein Schnurrbart schim merte im Sonnenlicht. »Selbstverständlich können Sie arbeiten – solange die Verpa ckungs- und Aufräumungsarbeiten rechtzeitig beendet werden. Und ich werde wiederkom men, um die Materialien, die Inventarlisten für das Museum und alles andere zu überprü fen. Ich persönlich.« »Na, großartig«, sagte George grimmig.
6 Als sie nach Nauplia fuhren, sagte John zu Claire: »Ich dachte, wir wollten zu diesen Pa lastruinen fahren, nach Mykene.« Sie lächelte. »Das war die erstbeste plausible Erklärung, die mir einfiel. Für Ruinen wird uns später noch genug Zeit bleiben.« »Also nicht Mykene?« »Ich dachte, Sie wollten tauchen. Und Ihre Ausrüstung ist noch im Kofferraum.« »Sie sagten mir, ich solle sie drinlassen. Sie meinten, sie könnte sonst gestohlen werden.« Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, und ihre Wangen zeigten Grübchen. »Ich hatte Pläne.« »Und die sind?« »Sie werden sehen.« Er schmunzelte; sie war nicht so spitzfindig, wie sie dachte. Sie bogen in die Hauptstraße, die sich die Küste des Argolischen Golfes hinaufwand. Claire kommentierte Land und Leute mit der mühelosen Beredsamkeit, die aus langjähriger Faszination erwächst. Ihr Haar wehte im Fahrtwind, und ihre Augen blitzten. Hier wies die Küste zahlreiche sandige Buch ten auf, die im Altertum ideale Ankerplätze
geboten hatten. Im Norden erhoben sich zer klüftete Bergketten, die zum Meer hin allmäh lich in niedrigere Höhen übergingen und die Ebene von Argos mit steinigen Hügeln um rahmten. Dies war die felsige Bühne für die großartigen Mythen von Perseus, dem Grün der Mykenes, die Aufgaben des Herakles, für den Trojanischen Krieg, der von hier seinen Ausgang genommen hatte. Aus diesen unge zählten sandigen Buchten waren die »Tausend Schiffe« gekommen, angelockt von Helenas Schönheit und den Reichtümern Trojas. Agamemmnon führte die Achäer in ihren schwarzen Schiffen über die Ägäis zur Küste Kleinasiens, um Jahre später siegreich zu rückzukehren und von seiner Frau und ihrem Liebhaber ermordet zu werden. Dieses Land war getränkt vom Blut tausender Schlachten, Verrätereien, Opfer. Sein Boden war karg und arm an Eisen, zwei Umstände, die den Blick der Bewohner schon im Altertum auf die See gerichtet hatten. Auch hatten sie sich auf die Herstellung bemerkenswert schöner Keramik aus gelbem und hellrotem Ton verstanden. Dies waren ihre Kennzeichen: wagemutige Seefahrt auf schlanken, flachbodigen Schiffen, mit denen sie die schönen Keramikwaren, Olivenöl und ihren dunklen, herben Wein be
förderten – ein Volk, das von Kleinasien über Kreta bis Ägypten bekannt war. Mit Claires gewohnter Geschwindigkeit brausten sie nach Nauplia hinein, daß ein paar auf der Straße träumende, schmutzige Ziegen erschreckt davonstoben. »Warum sind die Hinterbeine auf einer Seite mit den Vorderbeinen zusammengebunden?« fragte er, als ihre Staubwolke die eilig davonhumpelnden Tiere verhüllte. »Es hindert sie daran, ins Bergland hinaufzu klettern. Sie können die Beine nicht hoch ge nug heben. Das ist einfacher, als Zäune zu er richten.« Er nickte. Sein Mathematikerauge wußte eine sowohl vernünftige wie elegante Lösung zu würdigen. Der Hammelbraten zum Mittagessen war reichlich und gut mit Fett marmoriert. Cafes und Andenkenläden für Touristen säumten die Straße am Kai. John hatte weißen gekochten Fisch, der in leicht gewürztem Öl serviert wurde. Die Tunke aus Sauermilch und Knob lauch war so scharf, daß er schnaufte. »Ein Teil der einheimischen Kultur«, sagte sie und lachte. »Wie diese Postkarten?« Er zeigte. In einem Ständer mit gewöhnlichen An
sichtskarten steckte eine Anzahl Karten mit Karikaturen, die auf den ersten Blick den Bil dern klassischer griechischer Vasenmalerei ähnelten. Herakles leistete die vierte der Ar beiten, die ihm vom König Eurystheus aufer legt worden waren, und brachte einen riesigen gefangenen Eber vor den König und seine Frauen. Auf den ersten Blick gute Wiederga ben in Schwarz auf rotem Grund, so charakte ristisch, daß man die moderne Hinzufügung geschwollener Genitalien und lüsterner Blicke zunächst übersehen konnte. »Ach, die«, sagte Claire geringschätzig. »Einheimische Pornographie?« »Einfach schlechter Geschmack. Manche Touristen kaufen eben alles. Insbesondere Amerikaner.« »Ihre Bostoner Zurückhaltung kommt zum Vorschein.« »Ganz und gar nicht. Für schlechten Ge schmack gibt es keine Entschuldigung.« »Und wie steht es mit dem eigentlichen The ma?« »Pornographie? Ich mag Bohnen, aber nicht jemanden, der sagt: ›Wenn ich Bohnen esse, nehme ich drei oder vier und zerdrücke sie zwischen den Zähnen, dann verreibe ich sie mit der Zunge am Gaumen, bis sie eine
gleichmäßige, gut durchspeichelte Masse sind…‹ Verstehen Sie?« Er lachte. »Sie haben recht.« Nach der Mahlzeit schlenderten sie den Kai entlang. John mit seiner Taucherausrüstung, die er aus dem Kofferraum genommen hatte. Zu seiner Überraschung gab es ein Spezialge schäft, das ganze Ausrüstungen, aber auch Sauerstoffbehälter verlieh. Er ließ sich zwei Flaschen geben, überprüfte sie mit seinem ei genen Regulator und ging hinaus zu den Boo ten. Dutzende lagen im Hafen, meistens Fischkutter mit Netzen. Die Männer flickten ihre Netze, saßen beisammen und schwatzten oder beschäftigten sich mit Reparaturarbeiten. Er betrachtete eine kleine vorgelagerte Insel, die alte Befestigungswerke trug, während Claire mit dem Eigner eines roten Motorboots aus Fiberglas verhandelte. Die grauen Qua dermauern beherrschten den Hafen; über ih nen ragte ein hoher eckiger Turm und ein halbkreisförmiges Fort empor. »Eindrucks voll«, sagte er zu Claire. Sie wandte den Kopf. »Die Venezianer erbau ten die Festung, als sie Griechenland in Besitz hatten. Sie konnten den Hafen schließen, in dem sie eine ungefähr achthundert Meter lan ge Kette über die Bucht spannten. Nach Grie
chenlands Unabhängigkeit wurde die Festung von der Regierung als Hinrichtungsort ver wendet.« »Bezaubernd.« »Konsenspolitik ist im Mittelmeerraum nicht die Regel«, sagte sie leichthin. »Nun kommen Sie. Ich habe diesen Kerl so weit herunterge handelt, wie ich kann, ohne meine Kleider zu zerreißen.« »Dann machen Sie noch weiter! Vergessen Sie nicht, ich muß innerhalb des Budgets bleiben.« Sie machte ein Gesicht. »Da werden Sie sich schon mehr anstrengen müssen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein.« Das rote Motorboot schnitt ein weißes V über die azurblaue Fläche des Golfs. Die Halbinsel Hermionis, auf deren Höhe ihre Grabungs stätte lag, diente als Wellenbrecher für den Golf und hielt die sanften Mittelmeerwellen fern. Jedesmal, wenn Claire dem Bootseigner Anweisungen gab, biß der dunkel gebrannte Mann auf seine immerwährende Zigarette und gab dem Steuer einen Ruck, selbst wenn keine Kurskorrektur nötig war. »Griechische Ma cho-Tradition«, bemerkte Claire. »Sie lassen sich nicht gern von einer Frau herumkommandieren?«
»Wer tut das schon gern?« sagte Claire mit einem Seitenblick. Er brummte nur. »Aber das Geld nehmen sie«, sagte sie. Sie hielten südöstlichen Kurs, vorüber an kahlen kleinen Felsinseln. Salzige Gischtspritzer näßten Claires weiße Bluse. Sie zog sie aus, und es zeigte sich, daß sie einen Badeanzug darunter trug. John zog im Heck den Taucheranzug über und bewunderte sie verstohlen. Sie war schlank und in einer Weise proportioniert, die man, dachte er bei sich, in künstlerischen Kreisen als bewundernswerte Beschränkung bezeichnet hätte. Als sie an einem zerklüfteten, felsigen Uferstreifen verlangsamten, spähte er über Bord und hielt nach Seetang und sandigen Stellen Ausschau, irgendeinem Zeichen, das gute Tauchplätze verriet. »Würden Sie heute abend gern Fisch essen?« »Das ist mir gleich«, sagte sie. »Jedenfalls sind wir nicht deshalb herausgefahren.« »So?« Es verwunderte ihn nicht. »Erkennen Sie die?« Sie zeigte zu den nahen Kliffs. »Nein.« »Unser Ausgrabungsort ist ganz in der Nähe,
hinter diesem Hügel.« »Und Sie möchten, daß ich…« »Richtig.« Er ließ sich über Bord in das warme Salzwas ser gleiten. Die Sicht war ausgezeichnet. Er schwamm abwärts zum Schlickboden. Zwi schen inselartigem Wasserpflanzenbewuchs und Felsblöcken ruhten große Fische, und eine überraschende. Zahl seltsam geformter, mit Seemuscheln besetzter Auswüchse übersäte den Meeresboden. Er vermutete, daß es Trümmer alter Schiffswracks waren. Alles, was von Jahrtausenden der Katastrophen, Plünderungen und tapferen, blutigen Aben teuern geblieben war. Die ruhig das Wasser durchkreuzenden Schulen kleiner und größerer Fische schienen keine Furcht vor ihm zu haben, keine Erfah rung mit Menschen. Er fühlte sich beinahe schuldig, so einfach war es, drei große, elfen beinfarbene Flossenträger mit der Harpune zu erlegen. Er brachte sie hinauf zum Boot, und Claire rief: »Haben Sie Zeichen davon gese hen?« Er schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es näher am Ufer!« Er unterdrückte seine Gereiztheit über ihre Zielbewußtheit, nickte und tauchte wieder.
Der Schlick machte sandigem Boden Platz, als er sich dem Ufer näherte. Wasserpflanzen hatten sich auf unterseeischen Felsen festge setzt. Ein rostiger Schaft wie eine Lastwagen achse fesselte kurze Zeit seine Aufmerksam keit, und er versuchte sich vorzustellen, wie das Ding hierher gelangt sein konnte, dann setzte er seine langsame, systematische Suche fort. Er fühlte sich natürlich und frei, während er mühelos durch das klare Wasser glitt, das wie ein Bad war, verglichen mit den meisten Tauchunternehmungen, die er erlebt hatte. Daß er den Atem durch eine enge Röhre drü cken mußte, schien irgendwie nicht beengend, weit weniger jedenfalls als das klaustrophobi sche Gefühl, das sich in engen Räumen ein stellte, wie vor einigen Tagen in der kleinen Höhle neben der Mauer des Kuppelgrabes. Unter Wasser war alles anders – er konnte sich in alle Richtungen bewegen, durch Ströme goldenen Sonnenscheins dahingleiten. Es war wie Fliegen. Die meisten Leute fürchteten sich unter Wasser, aber er war seit seinem zweiten Lebensjahr Schwimmer und hatte den Ozean immer mit Ferien und Freiheit und zeitlosem Vergnügen in Verbindung gebracht. Hätte er in einem Schwimmbecken wie dem düsteren, gechlorten, freudlosen vom MIT schwimmen
gelernt… Dort! Zwei parallel verlaufende Gesteinsrü cken. Er war im schrägen Winkel auf sie gestoßen. Sie erhoben sich kaum einen Meter aus dem Sand des Meeresgrundes und umschlossen ein Durcheinander von Felstrümmern. Er folgte den Kämmen seewärts. Sie verliefen gerade, parallel wie Eisenbahnschienen und verengten sich kaum merklich. Er folgte ihnen mehr als fünfzig Meter weit, bis sie unter einer Schlickdecke verschwanden. Er schwamm zurück. Die Felsbrocken zwischen beiden Kämmen waren relativ groß, wirkten auf sein ungeübtes Auge jedoch nicht ungewöhnlich. Er nahm einen kleineren an sich und steckte ihn in seinen Ju tefischsack. Ein Schwarm grauer Stäubchen blitzte silbrig auf und verblaßte wieder zu Grau, schwebte in sicherer Entfernung und beobachtete ihn aus tausenden Augen. Die Fische wahrten immer einen genauen Sicherheitsabstand, und als er sich wieder näherte, machte der große Schwarm mit blinkenden Leibern kehrt und floh, um sich am Rand seines Gesichtsfelds wieder zu formieren. Die Präzision ihrer gleichzeitigen Manöver war ein Wunder. In solch scheinbar gewöhnlichen Dingen schien
die Mathematik auf die beiläufigste und zu gleich eleganteste Weise verwirklicht. Wie be stimmte die Natur die gleichzeitigen abrupten Manöver von tausenden kleiner Individuen, wie regelte sie ihren Zusammenhalt in den Strömungen, mit welchem Maß bestimmte sie den Augenblick, da er ihnen zu nahe kam? Das war, was ihn zur Mathematik gezogen hatte. Nicht weil es eine abstrakte, theoretische Wis senschaft war, sondern weil er darin eine Sonde zu ungesehenen tieferen Wirklichkeiten sah. Die Leute sagten, Mathematiker seien weltfremd, und verbreiteten sich darüber, daß Einstein sich beim Einkaufen mit dem Klein geld verrechnete. Unsinn. Es war ihm einfach gleichgültig. Ihn beschäftigte das Subtile, die Schönheit der mathematischen Logik. Er schwamm auf den Schatten des Kliffs zu. Die Gesteinsrücken verliefen noch immer ge rade, und nun begannen sie sich aus dem san digen Boden zu erheben; stufenweise ge schichtet, verrieten sie die Lage und Neigung alter Sedimente. Er blickte auf. Er war noch immer wenigstens sieben Meter unter der Oberfläche. Er glitt in den Schatten des Kliffs. Hier war die Klarheit gedämpft, und Algen und Seetang klammerten sich in jeden Spalt, grün und rötlich und zimt
farben wedelten sie schläfrig in der Strömung und verhüllten die zerbrochenen Konturen der steinernen Röhre. Der Winkel der beiden Gesteinsgrate wurde steiler, als John sich den Felsbastionen des Kliffs näherte. Hier war die Erosion stärker, wahrscheinlich durch die Einwirkung der Brandungswellen. Durch das regelmäßige Gurgeln und Blubbern seiner ausgeatmeten Blasen vernahm er jetzt das dumpfe Murmeln von Turbulenzen über sich. Im Dämmerlicht verlor er die Gesteinskämme aus den Augen. Inzwischen war er unter überhängendem Fels, und die Riffel des gebrochenen Lichts verän derten die Wahrnehmung. Schatten waren hier tiefer, der glattgeschliffene Fels steiler und höher. Er schwamm aufwärts, in Dunkel heit. Eine Höhle. Ein vom Wasser gebildeter Durchlaß, der aufwärts in den massiven Fels des Kliffs führte. Er erinnerte sich, wie er ne ben dem Block in der engen kleinen Höhle ge standen hatte, einen halben Schritt vom Rand der dunklen Öffnung entfernt. Dort hatte man das ferne Rauschen von Wasser gehört. Also ging dieser Kanal durch das Gestein der Landzunge aufwärts und hatte Verbindung mit jener Höhle.
John hakte seine Lampe los und schaltete sie ein. Die Höhlenwände waren glatt und im gelblichen Licht ohne besondere Merkmale. Er schwamm langsam weiter aufwärts. Steilheit und Winkel des Durchlasses blieben unverän dert. Claire meinte, daß abfließendes Regen wasser von oben in den 3500 Jahren, seit die Mykener das Kuppelgrab ihres Königs versie gelt hatten, allmählich diesen unterirdischen Höhlengang ausgewaschen hatte. Vielleicht eine interessante Entdeckung für Geologen, obwohl er wußte, daß unterirdische Höhlen systeme im Kalk eher die Regel als die Aus nahme waren. Etwas streifte seine Schulter, und er warf sich herum. Das Herz schlug ihm im Halse. Ein Strang Seetang. Die Brandungstätigkeit war hier in der Abgeschlossenheit nur schwach, aber jedesmal, wenn ein plötzlicher Strö mungsschwall ihn weiter die Höhle hinauftrug, versteifte er sich unwillkürlich und suchte Halt, um nicht zu weit hineingetragen zu wer den. Seine Sauerstoffbehälter schlugen gegen moosigen Stein. Der Lampenschein zeigte nicht mehr als ein glattes, ziemlich rundes Loch voraus, das in unregelmäßigen Windun gen aufwärts führte. Tintige kalte Strömungen
kamen aus finsteren Winkeln. Er beschloß umzukehren. Für diesmal hatte er genug er kundet. Claire sprang auf, als er neben dem Boot die Oberfläche durchbrach. »Mein Gott! Sie waren so lange aus – was ist geschehen?« »Ich habe ein Abflußloch gefunden.« Der Bootseigner half ihm an Bord. Er befreite sich von den Schultergurten der Sauerstofffla schen. »Sind Sie sicher?« »Ganz gewiß. Ich weiß, was Sie denken – daß es ein Tunnel war, ausgehöhlt von den Erbau ern des Grabes.« »Ah, ja.« »Also, wenn es so war, müssen sie Leute ge wesen sein, die von der Arbeit nicht genug kriegen konnten. Der ausgewaschene Höhlen gang setzt sich zum Meeresboden hin fort, man kann ihn unter Wasser ungefähr hundert Schritte weit verfolgen. Der Durchmesser be trägt stellenweise kaum einen Meter. Sieht wie ein zusammengefallenes Rohr aus. Zuletzt verschwindet es im Schlick.« »Verstehe. Dann ist es wahrscheinlich zu eng, um von Menschen ausgehöhlt zu sein.« »Sie sind scharf auf einen großen Fund, wie?« Sie schien gekränkt, ihre dunklen Brauen zo
gen sich zusammen. »Ich überprüfe jede Mög lichkeit. Archäologie…« »Ich weiß, Sie sagten es schon – ist die Wis senschaft endloser Details.« »Es bestand immerhin die Chance…« »Passen Sie auf«, unterbrach er sie ungedul dig, »dieses Sickerloch muß entstanden sein, lange bevor Menschen diese Gegend besiedel ten. Es führt weit in den Golf hinaus. Die See hat den größten Teil davon nach und nach weggespült und zum Einsturz gebracht…« »Ja, Sie haben sicherlich recht. Bei Anabalos gibt es auch eine unterirdische Strömungs röhre, die vor der Küste in die See hinausführt. Es muß viele von den Dingern geben… Was ist das?« »Ein Muster vom eingestürzten Gestein.« »Ah.« Das Geschenk eines schleimigen, nas sen Brockens schien sie zu erfreuen. Sie be fühlte ihn vorsichtig. »Nächstes Mal werde ich es mit Rosen versu chen.« Sie lachte. »Sie sind ein sonderbarer Mensch. Und – ich danke Ihnen. Daß Sie dies getan ha ben.« »Ich konnte nicht gut zulassen, daß dieser Kontos Sie den ganzen Tag grob anfährt.« Sie nickte. »Ich hasse ihn«, sagte sie nüch
tern. Als sie am Kai anlegten, spielte eine Musik kapelle am Hafen. »Welch ein Empfang!« sagte John, als er den Blick über die Menge schweifen ließ. Es däm merte bereits, und am Himmel zogen Wolken auf. »Gilt nicht uns, das kann ich Ihnen versi chern«, sagte Claire. »Sehen Sie diese Schilder und Transparente?« »Politik?« »Ja. Mal sehen – Nationalsozialistische Ar beiterpartei.« »Ist das diejenige, für die Kontos sich so be geistert?« Sie nickte. Die Musik brach ab, und ein Lautsprecher dröhnte über den Kai. Auf einer Plattform stand ein Mann hinter dem Rednerpult, umringt von einer Menschen menge, und die Menge antwortete in einem aufbrandenden Chor, der wie ein dumpfes Echo seiner Stimme klang. Er rief ein paar Sätze, und wieder antwortete das Volk, kräfti ger diesmal. So ging es mehrere Minuten lang weiter, und der Redner schien sich mehr und mehr in Erregung hineinzusteigern. Vor den weißgetünchten kleinen Cafes entlang der Ha fenstraße saßen alte Männer, nippten von ih
ren Gläsern und verfolgten das Spektakel mit ausdruckslosen Mienen. John bemerkte, daß die Menge überwiegend aus jungen Leuten in Jeans bestand. Er hörte das Wort »Amerika« in Sätzen, deren Betonung sich steigerte und mit einem Ausruf endete. Immer wieder rissen Zuhörer die Arme hoch und schüttelten die Fäuste. Sie schienen die anderen mitzureißen. »Worum geht es?« »Die Rückgabe früher ins Ausland geschaffter Kunstwerke, Luftwaffenstützpunkte, den Oli venpreis.« Mehrere Leute in ihrer Nähe hörten sie eng lisch sprechen, wandten die Köpfe und starr ten sie an. »Ich schlage vor, daß wir etwas essen«, sagte John, die Taucherausrüstung auf der Schulter. »Griechen essen nicht so früh zu Abend.« »Wie? Ich kann in diesem Lärm kaum hö ren…« »Ich möchte wissen, worauf er hinauswill.« Die donnernde Rede verstummte. Sie waren mehr als hundert Meter von der Rednertribü ne entfernt. Die Uferstraße füllte sich mit Männern in ausbeulten Arbeitskleidern. Meh rere Armeeoffiziere erstiegen die Plattform und winkten in die Menge. Einer von ihnen ergriff das Wort.
Die tiefe, leidenschaftliche Stimme dröhnte über den Hafen hin und wurde von den schadhaften Stuckfassaden der Gebäude ver zerrt zurückgeworfen. Die Zuhörer brüllten ihre Zustimmung. Die Stimmen klangen heiser und zornig. John bemerkte, daß die Männer noch immer herübersahen, andere anstießen und sprachen. »Dann wollen wir wenigstens etwas trinken.« »Wie? Etwas von nationaler Einheit und Würde.« Einer der Männer machte eine Kopfbewegung zu Claire und machte eine schmunzelnde Be merkung zu seinen Freunden. John faßte ihn ins Auge, und der Mann schob kriegerisch das Kinn vor. »Ich muß etwas essen.« »Zu viele politische Parteien, sagt er.« Mittlerweile war ein gutes Dutzend Leute auf sie aufmerksam geworden und achtete nicht mehr auf den Redner. Ihre Mienen und ihre Haltung verhießen nichts Gutes. Er warf seine Taucherausrüstung grunzend auf die andere Schulter und stieß Claire an. »Kommen Sie!« »Nein, ich möchte…« »Kommen Sie!« Er faßte sie beim Ellbogen und steuerte sie fort. Einer der Männer folgte
ihnen. John blickte finster zu ihm zurück, und Claire wachte endlich auf und erkannte die Lage. Sie gingen eilig davon. Der Mann blieb nach einigen Schritten stehen und gab sich mit einer obszönen Geste zufrieden. »Dieser Westentaschenhitler versteht es, die Leute mitzureißen.« »Das kann man sagen. Komisch, auf den Fremdenverkehrsplakaten habe ich nichts da von gesehen.« »Ich habe nie Leute so erregt gesehen. Die waren wirklich zornig auf uns.« »Die gerechtfertigte Erbitterung der Unter drückten«, sagte John, bemüht, Kontos’ Ak zent zu imitieren. Claire lachte. »Dieses Cafe ist geöffnet – set zen wir uns hinein.« John ließ die Last mit einem Seufzer der Er leichterung von der Schulter gleiten. Sein blondes Haar war wirr und verklebt, und sein ganzer Körper juckte von dem Salz, das noch an seiner Haut haftete. Trotz allem, es war aufregend gewesen, exotisch. Wie Claire selbst, dachte er, als sie Retsina bestellten. Sie war, ohne sich dessen bewußt zu sein, eine ty pische Bostonerin. Er beobachtete sie, als sie dem Wirt die harpunierten Fische zeigte und ihn in fließendem Griechisch fragte, ob er sie
zubereiten könne. Der Mann schien das An sinnen nicht ungewöhnlich zu finden. Sie las die Karte und stellte dem Wirt Fragen, ohne ihn anzusehen, mit einer ungezwungenen Selbstverständlichkeit, die keinen Augenblick in Erwägung zog, John die Dinge in die Hand nehmen zu lassen. Das gefiel ihm. Es war eine Sache, sich augenblicklich von einer Frau an gezogen zu fühlen, eine ganz andere aber, ihre Unabhängigkeit zu schätzen, die Art und Wei se, wie sie keine Notiz davon nahm, was er von ihr dachte, so oder so. Sie war tatsächlich eine moderne Frau – nicht aggressiv, aber auch nicht unterwürfig. Eine selbstbewußte Abson derung, keine Spur von Anlehnungsbedürfnis. Weit entfernt von den Mädchen des Südens, mit denen er gegangen war und die ihn gela ngweilt hatten. Ihre Lippen schürzten sich, als sie ihre Wahl überdachte und mit dem Zeigefinger am Rand der Speisekarte entlangfuhr, blind gegen die träge sinnliche Unterströmung in der Bewe gung. Ja, das war es, was seine Aufmerksam keit fesselte: ihre Zurückhaltung. Das Ver sprechen von Tiefen, die man nicht einfach erraten konnte, wenn man sie in einem Bade anzug sah. »War es eines von Ihren Jugendhobbies?«
»Was?« »Tauchen.« »Ach so. Nein, das einzige Hobby, das ich als Heranwachsender hatte, war Amateurgynäko logie.« Sie lachte ein wenig und warf ihm einen wachsam-distanzierten Blick zu. »Mit diesen sorglos und heiter aussehenden Südstaaten mädchen?« »Unter der Krinoline sind sie nicht so ver schieden«, sagte er. Sie schwieg, und ihr Blick verriet deutlich, daß sie seine Flapsigkeit mißbilligte. Er ver zichtete darauf, ihr von seinen kurzen Aben teuern in Berkeley zu erzählen und über die kalifornischen Frauen zu sprechen. Verallge meinerungen waren sowieso unsinnig. Er hat te ein paar unglückliche Affären und ein paar von der guten, aber zum Scheitern verurteilten Art hinter sich, und sie wahrscheinlich auch. Es war schwierig und meist unergiebig, aus der erbarmungslosen Analyse einer gescheiterten Beziehung tröstende Lektionen zu destillieren. Und was noch schlimmer war, es war schwie rig, irgend etwas Intelligentes zu sagen. Er wechselte das Thema und fragte munter: »Was haben Sie für uns bestellt?« »Ein Nebengericht von Calamari. Das ist Tin
tenfisch. Konnten Sie etwas von meinem Griechisch verstehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin zweisprachig in Englisch und Rechnen.« »Wenn Sie aufpassen, werden Sie sich rasch ein paar Brocken aneignen.« »Weiter als ich jetzt bin, werde ich es schwer lich bringen.« »Man sollte meinen, Sie würden wenigstens Spanisch oder was lernen, da unten in…« »Georgia.« »Ach ja. Ich stelle mir immer vor, daß es nahe bei Miami liegt, und mit all den Kubanern, die es dort gibt…« Sie brach ein Stück von einer Stange Weißbrot und biß in die knusprige Rinde. »Ist während des Bürgerkriegs nicht irgend etwas in Georgia passiert?« »Sie beziehen sich auf den Sezessionskrieg?« sagte er gedehnt. »Großer Gott, davon habe ich nie gehört.« »Ein Begriff, den mein Vater stets gebrauch te.« »Sheridans Vormarsch, das war es.« »Sie meinen Shermans Plünderungszug.« »Ja, mag sein. Er gewann eine große Schlacht vor Atlanta, war es nicht so?« »Brannte eine Menge Häuser nieder und ver nichtete die Ernte, wenn Sie das meinen«, sag
te er scharf. Sie hob die Brauen. »Mein Gott. Sie empfin den es noch immer schmerzlich, wie?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Verlierer vergessen nicht so rasch wie Gewinner.« »Das ist wahr. In Boston spricht kein Mensch davon. Ich glaube, mein Urgroßvater kaufte sich vom Militärdienst frei.« »Ja, für die Yankees war es bloß eine kleine Unterbrechung zwischen der Unabhängigkeit und Kennedy.« »Bürgerkrieg«, murmelte Claire. »Ich frage mich, ob es hier dazu kommen wird.« »Diese Versammlung, meinen Sie?« Er blickte zurück zum Kai, wo inzwischen die Straßenla ternen brannten und der Lautsprecher ver stummt war. »Es gab da allerhand Jargon, den ich nicht verstehen konnte, aber der Redner schien die Bevölkerung aufzurufen, daß sie sich der ›obstruktionistischen‹ politischen Gruppen entledigen solle.« »So?« »Ja. Und vor allem gelte es, sich diesen Mann vom Hals zu schaffen, der… der…« »Mit uns zusammengearbeitet hat, meinen Sie?« »Ja. Die Art und Weise, wie der Redner über
den Mann hergezogen ist… nun, ich habe in Griechenland nie ein solches Maß an öffentli cher Unhöflichkeit erlebt.« »Es liegt wohl in der Natur der Dinge, daß im Laufe einer politischen Auseinandersetzung der Ton schärfer wird. Aber wozu die ganze Aufregung?« »Die Wirtschaft liegt darnieder. Da ist es im mer verlockend, einem ausländischen Sün denbock die Schuld zu geben.« »Mit anderen Worten: uns.« »So sieht es aus. Es scheint so, daß Kontos in vielen politischen Fragen die Situation richtig beurteilt. Na, er war auch immer ein scharf sinniger Archäologe.« »Also, recht oder unrecht, er ist und bleibt ein Ekel.« »Es ist nicht so, als ob wir schuldlos wären…« Er zuckte die Achseln. »Wer ist es?« Der Kellner kam mit Wein. John schenkte ein. Er war an Claire viel mehr interessiert als an Politik. Da empfahl es sich, das Gespräch in erfreulichere Bahnen zu lenken. »Wissen Sie«, fing er an, »je weiter man herumkommt, desto mehr gleicht eines dem anderen. Griechenland erinnert mich in vie lem an Mexiko. Die gleiche schrille Musik im Radio, die gleiche kahle Schmucklosigkeit der
Häuser, elektrische Birnen ohne Lampen schirme, der gleiche Geruch von ranzigem Olivenöl und Knoblauch, der gleiche… awk!« Sie lachte. »Der gefürchtete Retsina schlägt wieder zu!«
7 Als sie zur Ausgrabung zurückkamen, waren Kontos und seine Leute gerade angekommen. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in ihren Wagen. »Wo sind Sie gewesen?« »Herumgefahren«, sagte John. »Die Gegend angesehen.« »Der aufsichtführende Beamte in Mykene hat keine Besucher gesehen, auf die Ihre Be schreibung zutraf.« Claire öffnete den Schlag und sagte ruhig: »Wir waren in Nauplia. Als John das Wasser sah, wollte er einen kleinen Tauchausflug ein legen. Danach war es zu spät, um noch nach Mykene zu fahren.« »Ich halte es nicht für klug, irgendwohin zu
fahren, wo Sie nicht erwartet werden«, sagte Kontos. »Was bedeutet ›erwarten‹?« fragte John. »Ich rief den Aufsichtsbeamten an, daß er ei ne besondere Führung für Sie machen sollte.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte John. Sie gingen den dunklen Weg zum Lager hinunter. »Vielleicht haben Sie in Nauplia meine Rede gehört?« »Das waren Sie?« platzte Claire heraus. »Ich bin auch Parteifunktionär. Es war not wendig, eine vereinigte Front zur Schau zu stellen, die Armee und das Volk. Ich war mit meinen Offizierskollegen aus der Stadt dort.« Die Erinnerung entlockte ihm ein warmes Lä cheln. »Ein großer Abend für unser Land. Ich berichtete von der freudigen Aufbruchsstim mung in Athen.« »Jedenfalls haben Sie die Leute mächtig in Fahrt gebracht«, sagte Claire kühl. »Sie sind es nicht gewohnt, ein Land geeint zu sehen? Kommen Sie, trinken Sie ein Glas Tee.« Er führte sie zu einem Tisch vor einem Zelt nahebei. Vier Soldaten begleiteten sie. »Wer sind diese Leute?« fragte Claire. »Helfer«, sagte Kontos beiläufig. »Ich brau che Unterstützung bei der schwierigen Aufga be, politische Verbindungen mit der Landbe
völkerung herzustellen.« Er zeigte zu zwei ab gestellten Limousinen. »Ich hoffe, daß auch ich für das Kultusministerium einen Beitrag zur Mobilisierung unserer Gesellschaft leisten kann.« Während er mit einem Spirituskocher und einem Topf hantierte, schilderte Claire, mit welch feindseligen Blicken sie in Nauplia ge mustert worden waren. »Was können Sie erwarten? Sie sind offen sichtlich Ausländer, Amerikaner. Die Men schen hier sind arm, sie sind erbittert. Die wichtigsten Exportgüter der Landwirtschaft dieser Gegend sind Orangen und Aprikosen, die hauptsächlich an die Sowjetunion geliefert wurden. Aber die Russen schränken jetzt ihre Einkäufe ein.« »Und?« »Es kann sein, daß dies nicht geschehen wird, wenn wir das Verhältnis zu Ihnen und zur NATO in Zukunft weniger eng gestalten.« »Den Russen geht es zur Zeit selbst nicht glänzend«, sagte John. »Sie haben keine Devi sen. Es ist klug von Ihnen, das zu einem Ver handlungsvorteil zu machen.« Kontos Backenmuskeln gerieten in Bewe gung. »Wir sind nicht so kindisch, zu glauben, daß die Welt so einfach ist.«
»So?« fragte John mit aufreizender Milde. Kontos’ Miene verfinsterte sich, doch ehe er etwas sagen konnte, fuhr John fort: »Ihre Stimme wurde von den Lautsprechern so ver zerrt, daß ich sie nicht erkannte. Was war das mit den Marmorplastiken?« »Es handelt sich um wertvolle Bildwerke von unserer Akropolis. In Athen sind diejenigen, die ich retten konnte.« »Ah. Ich habe mich in Athen nicht aufgehal ten.« »Um die anderen zu sehen, müssen Sie nach London gehen. Die Engländer brachten sie 1803 an sich, vor unserer Unabhängigkeit von den Türken. Wir verlangen seit langem ihre Rückgabe, doch nun tun wir es mit größerem Nachdruck als bisher. Notfalls sind wir bereit, bis zum Abbruch der diplomatischen Bezie hungen mit den Briten zu gehen.« »Ist es nicht ein wenig spät?« fragte Claire. »Schließlich nahmen die Engländer sie in ihre Obhut, als sich niemand um die Akropolis und ihre Kunstschätze kümmerte und alles zu ver fallen drohte.« »Sie sind unser Eigentum. Lord Elgin, der sie seinerzeit raubte, fragte niemand um die Er laubnis.« »Die Türken ließen den Parthenon verkom
men, die Venezianer beschossen ihn, und die Briten bargen Marmorstatuen daraus. Ist das nicht ein Verdienst?« »Es mag damals verdienstvoll gewesen sein, zumindest für die Kunst«, erwiderte Kontos. »Aber als Gegenleistung haben die Briten diese Plastiken seit bald zweihundert Jahren in ih rem Besitz gehabt. Nun wollen sie sie nicht hergeben, obwohl seit langem auch in Grie chenland alle Voraussetzungen für eine sach gemäße Unterbringung gegeben sind. Es han delt sich einfach darum, daß die Engländer ihre leichte Beute von damals als ihr Eigentum betrachten und nicht herausgeben wollen. Für uns aber sind diese Marmorplastiken ein Symbol. Ein Symbol für ausländische Ausbeu tung und Bedrückung. Wenn wir Griechen zu sammenstehen und unser Recht verlangen, werden wir uns Gehör verschaffen.« »Das glaube ich«, bemerkte John. »Sie haben nicht gerade viel getan, um die Leute zu beru higen.« Kontos schenkte Tee ein und reichte Zucker. »Das politische Bewußtsein unserer Bürger ist gewachsen. Sie haben begriffen, daß es dem Land nicht nützt, wenn die Amerikaner hier Fabriken bauen, ihre billige Arbeitskraft aus beuten und die Umwelt belasten, während die
Profite in die USA transferiert werden.« »Wohin sollten die Profite gehen?« »An unsere Regierung. An unser Volk.« »Die beiden sind nicht zwangsläufig iden tisch.« »Bald werden sie es sein. Bald.« »Warum haben Sie die Fabriken nicht selbst gebaut, wenn Sie die Gewinne daraus wollen?« »Heute würden wir so verfahren. Aber die Banken verfügen über das große Kapital. Die Banken, die Sie beherrschen.« »Ich bestimmt nicht«, sagte John, um die Spannung abzubauen. Er blickte zu Claire, aber sie hielt sich heraus. »Ich verstehe«, sagte Kontos. »Sie sind auch ein Opfer. Sie haben Ihr Leben einem techni schen Gebiet gewidmet, ja? Nur um die Entde ckung zu machen, daß in der realen Welt nicht die Techniker und Naturwissenschaftler herr schen, habe ich recht?« »Wer herrscht?« »Die Banken, selbstverständlich. Das Groß kapital.« »Kommen Sie!« »Ihre Filme, Ihr Fernsehen zeigen es nicht, verhüllen die Wahrheit, befinden sie sich doch im Besitz des Großkapitals. Aber wir wissen es. In Ihrem Land halten die Rüstungsindustriel
len nach Kriegen Ausschau und versuchen im Verein mit der CIA und dem Pentagon Kon flikte anzuzetteln, um den Waffenexport zu fördern, während die Wanderarbeiter in Kali fornien und anderswo sich keine neuen Schu he leisten können.« »Wo ich herkomme, macht das Barfußlaufen Spaß. Früher bin ich den ganzen Sommer bar fuß gelaufen.« Kontos bedachte John mit einem Blick erns ter Mißbilligung. »Ich spaße nicht, wissen Sie. Die Menschenmenge, die Sie heute abend in Nauplia sahen, war zornig über die Arroganz Ihres Landes.« »Sollen sie doch alle Fabriken zurückkaufen, die wir hier haben.« »Wieso? Kaufen, was sie mit ihrer Arbeit erst geschaffen haben, was auf unserem Boden steht?« »Wegnehmen ist einfacher, wie?« Kontos schlug mit der Faust auf den Tisch. »Unsere Menschen haben ein Vielfaches des Preises entrichtet! Mit ihrem Schweiß! Mit ih rer Armut, die den Fabrikbesitzern erst die hohen Profite ermöglicht hat!« Claire schaltete sich ein und sagte sanft: »Was sagten Sie in Nauplia über Obstruktionisten?« »Daß es keine geben sollte. Daß wir einen
Einparteienstaat brauchen.« »Die Opposition eliminieren, meinen Sie?« fragte John. »Wie?« »Wir müssen für die Dauer der gegenwärti gen Schwierigkeiten das Parlament auflösen.« »Ich dachte«, sagte John ironisch, »dies sei der Geburtsort der Demokratie?« Kontos lächelte kalt. »Wir werden genau wie die Vereinigten Staaten sein. Nur werden wir aufrichtiger sein.« »Wir haben zwei Parteien.« »Nein, die haben Sie nicht. Sie haben nur die Partei der Banken, der Geldleute und der In dustrie, und sie haben sich einfach zwei politi sche Aushängeschilder zugelegt, damit der Schein gewahrt bleibt und die Wähler glauben, sie hätten mitzubestimmen.« John ging mit einer abwehrenden Handbe wegung darüber hinweg. »Ich weiß, daß Sie hier in Griechenland harte Zeiten haben, aber mit dem Aufhetzen dieses pöbelhaften Gesin dels…« Kontos ergriff ohne Warnung Johns Hand und schlug sie auf die Tischplatte. »Sie werden über dieses ›Gesindel‹ nicht hinweggehen, wenn es Männer hat, die das Wort erheben können!« John war erschrocken über den Ausbruch
von Jähzorn. Er versuchte den Arm zurückzu ziehen und strengte sich an, daß die Muskeln knotig hervortraten. Kontos preßte die Hand nur noch flacher auf die Tischplatte, als ob sie sich im Endstadium eines Wettbewerbs im Armdrücken befänden. Er stand lächelnd über den Tisch gebeugt und sah zu, wie der Ameri kaner ein rotes Gesicht bekam und vor An strengung grunzte. »Strengen Sie sich mehr an«, sagte er keuchend. Unter Aufbietung aller Kräfte unternahm John einen Befreiungsversuch und hob den Arm dreißig Zentimeter von der Tischplatte. Weiter kam er nicht, dann zwang Kontos die Hand wieder abwärts und drückte sie auf das rauhe Holz. John konnte sich nicht befreien. »Verdammt, lassen Sie los!« »Selbstverständlich«, sagte Kontos ruhig und ließ ihn los. »Ich habe Ihnen gezeigt, was für ein Gefühl es ist, machtlos zu sein. Sehen Sie?« Wieder zeigte er das kalte Lächeln. »Was, zum Teufel…?« »Eine Illustration, Mr. Bishop, der Stimmung in meinem Land.« John ballte die Fäuste. »Am liebsten würde ich Ihnen…« »Ja?« Claire schaltete sich ein, indem sie John beim
Arm nahm. »Hören Sie auf, alle beide! Das ist albern.« John wandte unwillig den Kopf. »Ich werde nicht zulassen…« »Lassen Sie gut sein! Glauben Sie mir, er ist es nicht wert.« »Ich fürchte mich nicht vor einem…« »John, ich bitte Sie! Kommen Sie mit!« Sie zog an seinem Ärmel. »Nun…« Er trat einen Schritt zurück, und Kontos folgte seinem Beispiel. »Verdammt feine Gastfreundschaft haben Sie hier, Kon tos«, rief John. Kontos, noch immer lächelnd, legte in ironi scher Ehrenbezeigung die Hand an den Schirm seiner Mütze. Noch Stunden später konnte Johns sich nicht beruhigen. Es erbitterte ihn zusätzlich, daß er bei Nacht zum Grab hinaufschleichen mußte. »Ich sage immer noch, daß ich dem Kerl eine hätte knallen sollen.« »Was nur bewirkt hätte, daß wir aus dem Land gejagt worden wären.« »Und? Besser als…« »Sie sind hier als mein Gast. Ich bezahle Ih nen die Reisekosten, also tun Sie, was ich…« »Verdammt noch mal, Frau, dieser Mann läßt
Sie sowieso nicht viel länger bleiben.« Gereizt wandte er sich wieder seinen Oszilloskopspuren zu. Sie hatten schon zwei mal darüber gestritten, und er wußte, wohin es führte – zu dem Eingeständnis, daß er einge schüchtert worden war; er im entscheidenden Augenblick erkannt hatte, daß seine eigene Wut nichts gegen den Zorn war, der in Kontos brannte. So hatten ihn, als er gezögert hatte, Claires Worte erreichen können, und sein gottlob noch nicht im Adrenalin untergegan gener Verstand hatte sie so verstanden, daß er nichts in Gefahr bringen sollte. Nur darum hatte er klein beigegeben. Eine wahrscheinlich vernünftige Entschei dung. Aber die Gründe gefielen ihm nicht, und der Gesichtsverlust war wie ein Stachel in sei nem Fleisch. »Ursprünglich«, sagte Claire beschwichti gend, »hielt ich es für eine kluge Taktik von Ihnen, Kontos gleich in eine politische Diskus sion zu verstricken, bevor er eine Gelegenheit fand, sich nach Ihrem Tauchunternehmen zu erkundigen.« Er notierte Zahlen und nickte. »Gewiß. Groß artig. Dafür mußte ich es mir von diesem Scheißkerl zeigen lassen.« Sie hockten vor den Instrumenten, und eine
einsame Lampe warf scharfe Schatten auf die Vorderseite des Steinblocks. Sie waren eine Stunde zuvor, kurz nach Mitternacht, aufge standen. Im Lager hatte sich nichts geregt, und sie waren leise hinausgeschlüpft und ohne Ta schenlampen den vertrauten Pfad zum Grab hinaufgestiegen. Claire hatte einen der beiden Schlüssel zum Vorhängeschloß. Die Tür war aus frischen Holzplanken gezimmert und knarrte schrecklich, als sie geöffnet wurde. Claire wollte sichergehen, daß seine Messun gen bis zum Morgen abgeschlossen wären, falls sie keine weitere Gelegenheit bekämen, das Grab aufzusuchen. Während er die langwierige Routinearbeit der Analysen und dreifachen Überprüfungen durchführte, nagelte sie eine stabile Packkiste zusammen, die den Kalk steinblock aufnehmen sollte. Als George ihn am Vortag mit Hilfe seines Systems von Seilen und Flaschenzügen em porgehoben hatte, waren sie alle von seiner Masse beeindruckt gewesen. Claire hatte im mer wieder die Kantenlängen nachgemessen, erstaunt, daß sie mit 94,6 Zentimetern auf je der Seite, mit kaum fünf Millimetern Abwei chung irgendwo, so genau waren. Nun lag der Klotz auf dem vorbereiteten Packmaterial als Unterlage, und seine gedrungene schwärzliche
Masse hätte in keiner Weise auffallend ge wirkt, wäre nicht der feingearbeitete Bern steinzapfen an der Vorderseite gewesen. »Ich hoffe nur, sie hören unten im Lager un ser Gehämmer nicht«, sagte John. »Die Tür schluckt das meiste davon, glaube ich.« »Dieses Herumschleichen gefällt mir nicht.« »Bleiben Sie noch eine Weile dabei. Ich möchte nicht, daß Kontos von diesem Stück erfährt, bis ich Gelegenheit habe, Ihre Resul tate zu sehen und zu überdenken.« »Er wird den Klotz in einer Woche oder so in Athen sehen, sobald sie ihn dort auspacken.« »Vielleicht nicht. Ich vermute, daß er zu sehr von seiner politischen Karriere in Anspruch genommen wird.« »Wunschdenken. Jeder, der diese Kiste auf macht, oder den Bericht sorgfältig liest…« »Er ist noch nicht im Grabungskatalog.« »Wieso?« »Ich warte damit bis zum letzten Augen blick.« »Ich muß sagen, Sie haben diese Sache ziem lich zielstrebig vorbereitet.« »Den ganzen Sommer hindurch hat Kontos anzügliche Bemerkungen gemacht und ver sucht, kleine tête-à-têtes mit mir zu arrangie
ren. Damit nicht genug, übertrug er mir die langweiligsten, am wenigsten erfolgverspre chenden Arbeiten. Ich werde es ihm heimzah len.« Und sie schlug den nächsten Nagel so heftig ein, daß John zusammenschrak. »He, nicht so laut!« »Oh. Tut mir leid. Gibt es schon Ergebnisse?« »Zu viele, das ist das Problem.« Er zeigte auf die Kurve des Oszilloskops, eine gelbe, von schmalen, steilen Ausschlägen unterbrochene Linie. »Dutzende von kleinen Emissionsspit zen. Jedes verdammte Element, das im Buch steht.« »Metalle?« »Jede Menge. Kupfer, Zinn, Zink, Indium…« »Eine Legierung?« »Wenn es eine ist, dann ist sie verdammt raf finiert.« »Die alten Griechen wußten ziemlich viel über Metallurgie. Vielleicht erinnern Sie sich, wie Homer in der Odyssee das Abenteuer mit dem Riesen Polyphem schildert, den Odysseus und seine Gefährten betrunken machen? Dann blenden sie ihn, um aus der Höhle, wo er sie gefangenhält, zu entkommen. Homer ge braucht da einen interessanten Vergleich: Der im Feuer erhitzte Knüppel aus frischem Oli venholz dringt in das Auge des schlafenden
Riesen, und dieses zischt, wie wenn ein kluger Schmied die Holzaxt aus der Esse in den küh lenden Trog wirft und härtet.« »Ah, ein hübscher Vergleich«, sagte John un behaglich. »Aber wir können daraus ersehen, daß ein Schmied, der ein bearbeitetes Eisenstück in Wasser abfrischt, um es zu härten, für Homer schon eine vertraute Erfahrung ist.« John sagte nichts, weil er nicht zugeben woll te, daß er nie etwas von Homer gelesen hatte. In den Naturwissenschaften hatte man keine Zeit, viel zu lesen, und wissenschaftliche Prosa war so gedrängt und kondensiert, daß die Le segeschwindigkeit im Laufe der Jahre absank. Er konnte sich erinnern, daß er in Georgia während eines verregneten Nachmittags zwei Taschenbücher gelesen hatte; jetzt verbrachte er eine Woche mit der Lektüre eines Romans von mittlerem Umfang – vorausgesetzt, er kam überhaupt zum Lesen. »Nun ja, Verbindungen, gut«, sagte er, »aber im Innern von Kalkstein?« Claire hatte die Kiste bis auf die Abdeckung fertig. »Dann ist es eben ein erzreicher Stein. Dunkler Kalkstein kann aus Meeressedimen ten im Mündungsgebiet von Flüssen stammen, die dort ihre Fracht an ausgewaschenen Mi
neralien absetzten.« »Ich weiß nicht. Es gibt Anzeichen, daß sie geschmolzen waren. Man bekommt ein cha rakteristisches dendritisches Muster, wenn gegossene Legierungen abkühlen. Die Veräs telungen entstehen durch die unterschiedliche Erstarrung verschiedener Komponenten.« »Kommen Sie, das kann nicht gegossen sein, nicht in den Meißelspuren.« »Natürlich nicht.« »Was können Sie aus all diesen Daten noch entnehmen?« Er tastete einen Speicherbefehl. »Nichts. Ich habe alles auf Diskette. Wir werden es zu Hause im MIT analysieren müssen.« »Gut. Nun helfen Sie mir mit dem Deckel.« Er sah, daß sie den Block mit Kreuzver schnürungen und Styroporpolstern gegen Stöße gesichert hatte. »Ja, sowohl gegen Stöße als auch gegen Tölpel«, sagte sie. »Sie würden sich wundern, wie manche von diesen…« »Hören Sie was?« Sie erstarrten. Stille. »Vorwärts!« flüsterte sie. Gemeinsam brachten sie den schweren höl zernen Deckel an. Das Bernsteinhorn war gut gepolstert; John überprüfte es ein letztes Mal. Die reflektierenden Punkte tief im Innern wa
ren orangefarbene Stäubchen, die im schwa chen Lampenschein luftig und leicht zu schweben schienen. Es hatte den Anschein, als sei das goldene und rubinrote Gefunkel nicht durch seine Lampe ausgelöst, sondern durch eine momentan aufleuchtende innere Glut. Die Strahlung kam nur ungleichmäßig, wie eine Wärmeausstrahlung im Inneren. John beweg te sich ein wenig und verlor den richtigen Ge sichtswinkel; nun erschien der Zapfen stumpf, passiv. Ein schöner Effekt. »Er ist verdammt hübsch, muß man sagen.« »Mmh.« »Ich wette, sie werden den Block gleich aus stellen.« »Wahrscheinlich.« »Und Kontos wird einen Wutanfall kriegen, wenn er ihn sieht.« »Zu dumm, daß ich nicht dabei sein kann. Ich gäbe was darum, sein Gesicht zu sehen.« »Er wird mächtig Stunk machen.« »Lassen wir ihm die Freude! Er wird wissen, daß er die Entdeckung nicht für sich selbst beanspruchen kann.« »Richtig. Aber er wird das Fundstück haben und vorzeigen können.« »Und ich werde meinen Anteil am wissen schaftlichen Verdienst haben«, sagte Claire
beim Anziehen der Holzschrauben. »Ich hätte in jedem Fall Anspruch darauf, als Entdecke rin genannt zu werden. Aber auf diese Art und Weise kann er mich nicht beiseite schieben.« Sie drehte den großen Schraubenzieher mit beiden Händen und ächzte vor Anstrengung. »Hier, lassen Sie mich das tun.« Er konnte noch immer nicht mit ansehen, daß eine Frau sich mit einem Werkzeug abmühte, während ein Mann untätig dabeistand. »Also wird jeder in gleichem Maße Anteil am Verdienst haben, nicht wahr? Kontos wird sich den Ruhm nicht allein an die Fahne heften können.« »Schon die Vorstellung, unsere Namen zu sammen in einem wissenschaftlichen Fundbe richt zu sehen, ist mir zuviel Kontakt. Ich…« Die Eingangstür ging knarrend auf. Dr. Kontos stand in der Türöffnung, einge rahmt von den massiven Steinblöcken. Seine Augen glitzerten vor Erregung, ein höhnisches Lächeln spielte um seine Lippen. Mehrere Soldaten drängten sich hinter ihm. »Eine kleine Party?«
8 Die graue Militärlimousine überholte schlin gernd einen langsamen Lastwagen, daß Claire und John auf den Rücksitzen hin und herge worfen wurden. »Paß auf da vorn, verdammt noch mal!« rief John durch den Motorenlärm. Der Soldat zu seiner Rechten ließ ihn nicht aus dem Auge. Der Fahrer trat wieder aufs Gaspedal, und sie brausten weiter. Oberst Kontos wandte sich auf dem Beifah rersitz um und musterte John mit kaltem Blick. »Sie haben Angst?« »Dummheit macht mir immer Angst«, sagte John. Kontos’ Augen wurden schmal. »Es ist noch nicht zu spät, um Sie zum Hauptquartier zu bringen. Ein paar Tage in der Zelle würden Ihnen gut tun.« Sie rasten die Schnellstraße zum Athener Flughafen entlang. Zur Rechten schimmerte die Insel Salamis wie unbehauener Marmor in der Juwelenfassung der See. Salamis, wo die Griechen die Eindringlinge besiegten. Obwohl er sie erst vor ein paar Tagen gesehen hatte, schien es ihm, als sei seither eine lange Zeit vergangen.
»Sie würden unsere Botschaft verständigen müssen«, sagte Claire. »Das würde ich tun. Aber ich könnte Sie des sen ungeachtet alle zwei Tage in ein anderes Gefängnis verlegen lassen. Sehr schwierig, mit solchen Leuten Verbindung aufzunehmen.« »Typisch«, knurrte John. Kontos ignorierte das. »Außerdem hat Ihr Botschafter zur Zeit andere Sorgen. Wir haben heute morgen eine Regierungserklärung über unseren bevorstehenden Austritt aus der NATO abgegeben.« »Eine überwältigende Dummheit«, sagte Claire. »Glauben Sie, wir würden mit unseren Aus beutern in einem Bündnis bleiben?« »An uns brauchen Sie dabei nicht zu denken, aber was ist mit den Türken?« »Mit denen werden wir schon zurechtkom men«, sagte Kontos steif. Claire seufzte. »Immer derselbe alte Groll, bis zurück zu Agamemmnons Zeiten.« »Sie wollen sich zur Fürsprecherin interna tionaler Zusammenarbeit machen?« Kontos lachte rauh. »Eine sogenannte Wissenschaftle rin, die ihre Forschungsresultate verbirgt und ohne Zustimmung des Direktors Grabungen durchführt…«
»Dr. Hampton hat zugestimmt! Er gab mir grünes Licht, bevor er abreiste.« »Mit dem Augenblick seiner Abreise wurde ich leitender Direktor der Ausgrabung. Ganz abgesehen davon bin ich nach dem Vertrag der erste Direktor, weil ich Grieche bin und die Ausgrabung auf unserem Boden stattfindet. Sie wissen dies alles recht gut.« »Sollte ich Sie um Erlaubnis bitten, wenn ich damit rechnen mußte, daß Sie mich als erstes in Ihr Zelt einladen würden, um die Angele genheit zu besprechen?« »Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit sagen wollen«, erwiderte Kontos unbeeindruckt. Er blickte zu John. »Aber ich weiß, wie mit soge nannten Wissenschaftlern zu verfahren ist, die gegen internationale Vereinbarungen versto ßen. Sie werden Griechenland verlassen – für immer, seien Sie dessen versichert!« Claire erbleichte. »Sie können solch eine Sa che doch nicht zu einer internationalen Affäre aufblasen…« »Eine kluge Frau hält den Mund. Sie beweisen nur, daß es Ihnen an Vernunft fehlt.« »Hören Sie auf«, sagte John. »Diese persön lichen…« »Ruhe jetzt!« sagte Kontos drohend, »oder Sie holen sich wieder einen blutigen Kopf!«
John biß die Zähne zusammen und war drauf und dran, etwas zwischen ihnen hervorzusto ßen, als der Wagen ruckartig die Fahrspur wechselte und ihn gegen Claire warf. Der Sol dat zu seiner Rechten hielt sich am Türgriff fest. Der Wagen schoß in die Abzweigung zum Flughafen. John war froh über die Unterbre chung. Eine neuerliche Konfrontation mit Kontos würde ihm das gleiche eintragen wie letztes Mal; darin hatte Kontos verdammt recht. Vor dem internationalen Flughafen, einem anonymen Kasten aus Stahl und Glas, kamen sie mit quietschenden Bremsen zum Stillstand. Zwei Soldaten, die am Haupteingang Wache hielten, nahmen Haltung an und brachten ihre Maschinenpistolen in Präsentiergriff. John half Claire hinaus. Unmittelbar hinter ihnen hielt eine zweite Limousine und entließ George sowie ihr gemeinsames Gepäck. John ging hinüber, um sich zu vergewissern, daß seine Taucherausrüstung dabei war. »Ihre Flugkarte«, sagte Kontos in Befehlston. John bückte sich, hob die Tasche mit der Tau cherausrüstung auf die Schulter und sagte: »Wozu? Ich nehme ein Schiff in die Ägäis.« »Ich habe meine Meinung über Sie geändert. Ich glaube nicht mehr daran, daß Sie mit die
ser Sache nichts zu schaffen hatten. Darum er kläre ich Sie zur persona non grata.« »Das können Sie nicht machen, Freundchen, ganz gleich, wer Sie sind. Das ist ein diploma tischer Akt, und Sie sind bloß irgendein kleiner Militärheini mit einem Deckel auf dem Kopf.« Mitten im Satz sah er Kontos kaum merklich zu jemandem hinter ihm blicken, aber es war zu spät. Hände ergriffen seine Arme. Vielleicht hätte er den Soldaten hinter sich abschütteln können, aber er war mit dem Gepäck beladen. Kontos ohrfeigte ihn fachmännisch rechts und links. John warf sich zur Seite, versuchte den Mann in seinem Rücken abzuschütteln, und Kontos schlug wieder zu – mit einem schallenden Rückhandschlag ins Gesicht, der voll auf die Nase traf. Für einen Augenblick brachte der Schmerz die Welt in einen Zustand unnatürlicher Klar heit. Dann schoß ihm das Wasser in die Augen, und er spürte, wie ihm das Blut aus der Nase über Mund und Kinn floß. Er sagte nichts; das hätte Kontos nur zusätzliche Befriedigung verschafft. Griechische Stimmen plapperten aufgeregt durcheinander. Kontos machte mit knarren der Stimme eine Bemerkung zu seinen Solda ten.
John zwinkerte. Claire kam aus der zu hellen Umgebung geschwommen, ein Taschentuch in der Hand. Es wurde größer, eine weiße Wolke, die sein Gesicht umschloß. Er wollte sich um wenden, aber die Hände hielten ihn noch im mer fest. Claire fluchte auf griechisch, und Kontos antwortete ihr. Sie gab die Bemühun gen mit dem Taschentuch auf, wandte sich um und schrie Kontos an. Die Soldaten grinsten. Den Amerikaner ohrfeigen, das war gut, end lich die richtige Außenpolitik in Aktion. Und ihm einen auf die Nase geben, ja, das war noch besser. John sah ihnen an, daß sie Kontos am liebsten nacheifern würden. Nun starrten sie alle Claire an, und John, der die Tränen aus den Augen gezwinkert hatte, sah den gefährlichen Ausdruck in ihre Augen kommen. Noch besser wäre es, eine eingebil dete Amerikanerin zu ohrfeigen. Ja, ein Ver gnügen. Er sah, wie gern sie es tun würden, wie ihre Blicke von Kontos zu Claire und zu rück zuckten, wie die Augen in den schwitzen den Gesichtern glänzten und warteten, daß Kontos es dieser amerikanischen Ziege zeigen würde. »Schon gut, Claire«, ächzte er. »Lassen Sie es sein!« Sie wandte den Kopf. »Er kann nicht einfach
– es ist empörend, daß…« »Lassen Sie es gut sein!« Kontos gab John einen halb versöhnlichen Blick und entließ ihn mit einer Handbewegung aus den Händen des Soldaten. »Ich kann nicht erlauben, daß diese Uniform entehrt wird. Selbst Sie sollten das verstehen.« Eine weitere beiläufige Handbewegung. »Geleiten Sie diese drei ins Abfertigungsgebäude!« Hände stießen ihn vorwärts. Er stolperte, ließ seine Reisetasche fallen und hob sie in der Erwartung auf, einen Tritt ins Hinterteil zu bekommen. Nicht so schlimm wie letztes Mal, dachte er bei sich. Vielleicht gewöhne ich mich noch daran. Kontos hatte einen gewaltigen Wutanfall be kommen, nachdem er sie entdeckt hatte. Die Abstützungen waren noch an Ort und Stelle, also hatte er augenblicklich bemerkt, daß ei nige Quader entfernt worden waren, daß sie etwas gefunden und ihn nicht verständigt hat ten. John hatte erwartet, daß er sofort die Kis te würde aufmachen lassen, aber Kontos ach tete kaum darauf, sondern zog es vor, die Abstützung zu untersuchen und Johns halb eingepackte Ausrüstung mit Fußtritten zu be denken, wobei er laut auf griechisch schimpf te. John stieß ihn von den Geräten fort, worauf
die Soldaten ihn festnahmen. Einen von ihnen hatte er zu Boden geworfen, aber die anderen stießen ihn an die Wand und hielten ihn dort fest. Kontos versetzte ihm einen Faustschlag in den Magen und einen zweiten ins Gesicht. Johns Lippe platzte auf, und das Blut besudelte sein Hemd. Dann ließ Kontos von ihm ab und fing wieder an zu toben. Claire hatte versucht zu erklären, um die fa tale Situation im bestmöglichen Licht erschei nen zu lassen, aber Kontos wollte nichts davon wissen. Sobald er sich hinreichend beruhigt hatte, nachzudenken und Entschlüsse zu fas sen, versteifte er sich auf die Idee, George und Claire des Landes zu verweisen. Die Behaup tung, John habe Claire bloß ausgeholfen und sich da und dort nützlich gemacht, weil sie ihn gebeten habe, bei der beschleunigten Abwick lung mit Hand anzulegen, und daß Claire nur versucht habe, alle Arbeiten zu der von Kontos gesetzten Frist abzuschließen, ließ er nicht gelten. Doch konnte er nicht beweisen, daß John sich in irgendeiner Weise schuldig ge macht hatte, und mußte sich damit zufrieden geben, ihn von der Ausgrabungsstätte zu wei sen. Kontos war nicht der Mann, mit dem sich verhandeln ließ – jedenfalls nicht, wenn er in
Offiziersuniform an der Spitze eines Trupps bewaffneter Soldaten kam. John packte die MIT-Ausrüstung zusammen, während Claire ihre Habseligkeiten zusammensuchte. Kontos erlaubte ihr nicht einmal, in das Kuppelgrab zurückzukehren, und auf halbem Weg zum Flughafen merkte sie, daß sie mehrere von ih ren Notizbüchern mit Grabungsaufzeichnun gen dort zurückgelassen hatte. Kontos ließ sie zu den wartenden Limousinen abführen, und sie brausten davon. Die Schlie ßung des Lagers und der Ausgrabung blieb Kontos überlassen. Er telefonierte voraus und beschaffte ihnen mit Hilfe seines Ranges Plätze für einen Flug am nächsten Morgen. Claire und George waren für TWA gebucht, von Athen über Paris nach Boston. John sollte nach Kreta fliegen. George brachte ein paar Papiertaschentücher zum Vorschein und stillte Johns Nasenbluten, während sie in der Schlange vor dem TWA-Schalter warteten. Die Leute glotzten. In der Halle waren viele Uniformen zu sehen, aber die Soldaten und Polizisten beachteten sie nicht sonderlich. Statt dessen standen sie meist in kleinen Gruppen beisammen und diskutierten angeregt. Claire sagte, was ihr geeignet schien, aber
John spürte den bebenden Zorn hinter ihrem Mitgefühl. Kontos stand am TWA-Schalter und verlangte lautstark eine zusätzliche Flugkarte für John. Der Schalter war belagert von hun derten Fluggästen. Viele warteten offenbar schon seit Stunden, waren halb verzweifelt und erhoben ein lautes Stimmengewirr von Fragen und Protesten, aber Kontos’ Uniform verschaffte ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der Angestellten. George hatte nicht viel gesagt und getan. Er schien eingeschüchtert von den Soldaten, be obachtete sie aus den Augenwinkeln und be eilte sich zu tun, was sie ihm mit Gesten und Fingerzeigen und knappen Befehlen bedeute ten. Sie hießen ihn hinausgehen und das ge samte Gepäck hereintragen, und dann mußte er es zur Zollüberprüfung und Gewichtskon trolle schaffen. Kontos schien seinen Spaß da ran zu haben und schnippte mit den Fingern, daß George sich beeile. John behielt seine zwei Taschen bei sich. Er wollte nicht, daß jemand seine Taucheraus rüstung herumwarf, und er befürchtete, daß jemand die Taschen stehlen würde, selbst nachdem sie als Reisegepäck aufgegeben wä ren. Kontos kam mit drei Flugkarten. »Ihre Ma
schine geht in einer Stunde. Ich werde die Soldaten vor dem Warteraum für Abreisende Posten beziehen lassen. Kommen Sie nicht ins Abfertigungsgebäude zurück!« »Warum plötzlich so förmlich, Oberst?« fragte Claire in bitterem Spott. »Möchten Sie mich nicht auch schlagen?« »Solange Sie diese Uniform nicht beleidigen, besteht kein Anlaß dazu«, erwiderte Kontos steif. Vielleicht befürchtete er, daß er sich über nommen haben könnte, dachte John. Selbst politisch einflußreiche Leute können sich nicht alles erlauben. »Oh, es käme mir nie in den Sinn, die Uni form zu beleidigen. Allenfalls das Würstchen, das sich darin versteckt.« Kontos funkelte sie an. »Drängen Sie mich nicht zum Äußersten!« Die Stimme war fast tonlos und eigentümlich ruhig. John erkannte die Zeichen einer kaum noch gezügelten Wut. Kontos verhielt sich klug, doch kostete es ihn große Überwindung. John beschloß die Konfrontation zu beenden. »Was ist geschehen?« fragte er, sich zwischen die beiden schiebend. »Warum sind hier so viele Armeeangehörige?« Er wies zu den Gruppen der diskutierenden Militärs.
»Das Parlament ist aufgelöst«, sagte Kontos. »Unsere Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt.« »Ausnahme…?« Während Kontos zu ihm hersah, machte John durch verstohlene Gesten zu Claire deutlich, daß sie endlich still sein solle. »Wir können mit einigen reaktionären Ele menten nicht zu einem annehmbaren Kom promiß gelangen, darum suspendieren wir die normalen politischen Verfahrensweisen, bis es uns gelungen ist, innerhalb der gesamten Ge sellschaft ein… äh… solidarisches Bewußtsein zu erzeugen.« Die Worte kamen heraus wie eine Presseverlautbarung. »Verstehe.« »Nun – ich fahre zurück in die Stadt. Große Ereignisse bereiten sich vor. Ich werde meine Zeit nicht mit Ihnen vergeuden.« Kontos schnaubte, machte mit militärischer Zackig keit auf einem Absatz kehrt und marschierte davon. Claire seufzte. »Wenn man es sich vorstellt, daß dieser Mann ein guter Archäologe war…« »Na und? Er wird es noch sein. Die Menschen sind in ihrem Verhalten nicht konsequent.« Sie schaute ihn ein wenig trübe an, und er sah zu seiner Bestürzung, daß sie den Tränen nahe
war. Der Firnis zäher Härte war nur so dick und nicht mehr. Er nahm sie beim Arm. »Kommen Sie, wir warten auf unseren Flug. Vielleicht können wir ein kleines Frühstück auftreiben.« Er nickte George zu, und sie reihten sich in die Schlange der Wartenden vor der Paßkon trolle ein, sahen mit benommener Gleichgül tigkeit zu, wie ein verschlafener Abfertigungs beamter die Seiten stempelte, ohne hineinzusehen. Die Spannung ließ jetzt nach, und sie waren übermüdet und verbittert von den Auseinandersetzungen, dem erzwungenen Kofferpacken, der langen Fahrt durch Dun kelheit und Morgengrauen. Kontos hatte sie bei jeder Verzögerung angetrieben und her umkommandiert, sie ihrer Würde als Wissen schaftler beraubt und Claire so verwirrt, daß sie Aufzeichnungen zurückgelassen hatte. Vor allem aber wurmte John – und wahrscheinlich auch Claire –, daß er seine Position ausgenutzt hatte, sie zu demütigen. Freundlich sagte er zu Claire: »Es hat keinen Sinn, sich hier in einen politischen Aufruhr zu verstricken. Vielleicht ist es gut, daß wir aus dem Land kommen.« Sie schnupfte und nickte. »Anscheinend wollten viele Leute mit diesem Flug weg.«
»Nach alledem wird es gut sein, wieder nach Hause zu kommen.« »Ja.« Sie saßen schweigend im Warteraum. George ging hinaus und brachte Kaffee und ein paar sonderbare Dreiecke aus Nüssen und Sesam, zusammengehalten von Honig. John schlang zwei hinunter und fühlte sich besser. Claire aß mechanisch, den Blick niedergeschlagen. Er wußte, was sie dachte, aber es gab nichts, was er sagen konnte, um diese Dämonen zu ver treiben. Sie kehrte geschlagen in die Heimat zurück. Kontos würde ein großes Aufhebens von dieser Geschichte machen und Hampton von der Universität Boston erzählen, wie sie ihn hin tergangen hatte. Das würde ihrem wissen schaftlichen Ruf den Rest geben. Es war durchaus möglich, daß sie dadurch für immer von der archäologischen Arbeit in Griechen land, die ihre Spezialität war, ausgeschlossen würde. Er lehnte sich zurück und wünschte, er hätte etwas zu lesen. Nun, er hatte, unten in seiner Reisetasche. Aber irgendwie brachte er nicht die Energie auf, ein Buch auszugraben. Er schloß die Augen und versuchte sich zu ent spannen. Vielleicht konnte er im Flugzeug
schlafen. Nein, nicht vielleicht, ganz sicher. Claire schüttelte seinen Arm. »Wachen Sie auf!« sagte sie. »Ich brauche Kleingeld.« »Ist die Toilettenbenutzung hier nicht kos tenlos?« Er suchte in seinen Taschen. »Nein, es ist für ein Telefongespräch.« »Wen wollen Sie anrufen?« »Olympic Airways.« Er gab ihr eine Handvoll Münzen. »Warum?« »Praxis.« »Was?« »Warten Sie ab!«
DRITTER
TEIL
1 Claire kritzelte Flugnummer und Zeit auf die Rückseite ihres TWA-Umschlags mit den Flugkarten. Sie biß ärgerlich auf das Bleistift ende und hängte ein. Es würde sehr knapp sein. Sie hatte zuviel Zeit mißmutig und niedergeschlagen im War teraum verbracht und einstudiert, was sie zu Hampton sagen würde, wie sie beschreiben könnte, was geschehen war, wie sie das Beste aus einer Sache machen könnte, die, ganz gleich, wie man sie drehte und wendete, eine totale Niederlage war. Zeit, die sie mit anderen Überlegungen hätte verbringen sollen, wäh rend die Minuten bis zum Abflug verstrichen. Die Griechen des klassischen Zeitalters spra chen vom passenden Gleichgewicht zwischen dem Denken, theoria, und dem Handeln, pra xis. Aber sie hatte weder das eine noch das andere getan. Sie hatte sich geärgert und gesorgt, ohne ei nen Schritt weiterzukommen, und ihr ruhelo ser Blick war dabei durch den überfüllten Warteraum geschweift – und plötzlich war sie auf die große Routenkarte der Olympic Air ways an der Wand aufmerksam geworden. Wie elektrisiert hatte sie die Karte angestarrt, denn
ihr war eine Idee gekommen. Plötzlich war ihr die viereckige kleine Elfenbeinplatte eingefal len, ihre undeutlichen Zeichen, und sie wünschte, sie hätte wenigstens eine Skizze da von gemacht, um zu vergleichen. Und ebenso plötzlich hatte sie gewußt, daß sie dieser Idee nachgehen mußte. Sie konnte jetzt nicht auf geben. Der Rest war einfach gewesen. Sie brauchte eine Möglichkeit, in Griechenland zu bleiben. Das zu erreichen, gab es nur eine erfolgver sprechende Methode. Sie kaute weiter am Bleistiftende, bis sie zu einem Entschluß kam. Ein Mann, der nervös an einer Zigarette paffte, fing ihren Blick auf und lächelte. Sie blickte finster zurück. Er schaute beleidigt drein. Als sie zu George und John zurückging, sagte eine monotone Stimme ihren Flug an. John betastete vorsichtig seine Nase und die ge schwollenen Lippen. »Kommen Sie, stellen wir uns an«, sagte sie, nahm ihre leichte Reisetasche und überlegte fieberhaft. »Laß die anderen zuerst zur Tür hinaus«, meinte George. »Es wird ein langer Flug, und wir kommen noch rechtzeitig an Bord.« »Nun mach schon!«
»Wozu die Eile!« George stand auf. John schloß sich ihm an. »Nein, warte!« sagte sie plötzlich. Der War teraum war voller Menschen, und viele dräng ten bereits zum Ausgang. Sie nahm George beiseite und flüsterte: »Paß auf, George. Wenn ich dir zunicke, spielst du krank!« »Wozu?« John warf ihr einen fragenden Blick zu. »Ich habe eine gute Idee«, sagte sie. »Bitte tue es! Wir können hier nicht reden.« George reihte sich murrend vor ihnen ein. Sie schoben sich in der Schlange vorwärts. Claire hätte ihnen ihre Idee verraten, aber es gab zu viele Ohren ringsum. Ein Angestellter der Luftlinie kontrollierte am Ausgang die Flugkarten. Claire sah sich um und bemerkte zwei von Kontos’ Soldaten, die jenseits der Glaswand standen und sie beo bachteten. Sie schienen nicht sehr aufmerk sam, aber sie waren noch da. George voran, gingen sie hinaus auf das Flug feld. Die große Düsenmaschine wartete unge fähr hundert Meter entfernt. Die frische salzi ge Luft war befreiend nach dem schalen Zigarettengestank im Warteraum. Claire war tete bis zum letzten möglichen Augenblick, bis ungefähr ein Dutzend Passagiere hinter ihnen
war. George setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Gangway und blickte zu ihr zurück. Sie nickte. George zuckte wie unter einem Schlag zu sammen, ließ seine Tasche fallen und preßte die Hände an seine rechte Seite. Seine Knie knickten ein, er fiel glaubhaft stöhnend vorn über. »Ach du lieber Gott!« schrie Claire. »George! Ist es wieder das gleiche wie vorher?« »Ja… ja«, schnaufte er. »Nur… schlimmer.« Passagiere drängten sich hinter ihnen. Ein amerikanischer Angestellter der Luftlinie drängte sich durch und kniete neben George, der das Gesicht verzerrte und stöhnte. »Er hat das vorher schon einmal gehabt«, er klärte Claire. »Wir hatten gehofft, wir könnten ihn nach Boston zurückbringen, aber…« »Was hat er?« fragte der andere. »Nun, es sind kolikartige Anfälle, wir wissen es nicht genau, aber er hat furchtbare Schmerzen.« Claire plapperte weiter, während George mühsam schnaufte. »George, du kannst nicht fliegen, das sagte ich dir schon im Hotel, du mußt einfach hier zu einem Arzt, ganz gleich, wie sehr du nach Haus zu Dr. Oberman möchtest, es hilft nun mal nichts, du mußt jetzt behandelt werden! Meinen Sie nicht
auch?« Und sie blickte den TWA-Angestellten flehentlich an. Der Mann biß sich auf die Lippe und sagte: »Nun, ich denke… äh… ich werde einen Kran kenwagen rufen und…« »Nein, nein«, sagte Claire schnell, »keinen Krankenwagen, ich weiß, welche Preise die Krankenhäuser hier von Ausländern verlan gen. Sagen Sie uns einfach, wo hier die Erste Hilfe-Station ist, bitte!« Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Meine Dame, er kann nicht gehen, und unser Grund satz ist…« »Doch, doch… es geht schon«, ächzte George. Er faßte nach dem Geländer der Gangway und zog sich daran hoch. »Sehen Sie?« Er tat einen unsicheren Schritt. »Mach dir nichts vor«, sagte Claire. »Du bist nicht in der Verfassung…« »Ach, laß nur!« schnaufte George. »Wo ist die Erste Hilfe?« Der Angestellte blickte zum Abfertigungsge bäude hinüber. »Sind Sie sicher, daß Sie es schaffen können?« »Ja«, sagte George. »Führen Sie uns einfach hin, und stützen Sie mich ein wenig! Sie… äh… mein Gott – sie hat recht, ich sollte lieber auf diesen Flug verzichten.«
»Geben Sie unsere Plätze jemand anders«, sagte Claire. Der Stau der Passagiere hinter ihnen blo ckierte nun jede Sicht von den Warteräumen, so daß Claire nicht sehen konnte, ob die Sol daten noch da waren. Sie überquerten die Fläche aus Teerbeton, und George, der immer noch eine Hand an den Bauch preßte und eine gekrümmte Haltung bewahrte, ging so rasch, daß der TWA-Angestellte kaum dazu kam, ihn zu stützen. Statt dessen erklärte er die Grund sätze seiner Firma in bezug auf stornierte Bu chungen und über die Schwierigkeiten, einen anderen Flug zu buchen. Wie Claire erwartet und gehofft hatte, führte der Angestellte sie durch die Tür mit der Aufschrift NUR FÜR FLIEGENDES PERSONAL. Drinnen blickte sie rasch umher. Keine Soldaten. »Könnten Sie uns zu einem Ihrer Transport wagen bringen?« fragte sie. Sie taten es. Fluggesellschaften vermeiden nach Möglichkeit jede Verstrickung in medizi nische Probleme ihrer Passagiere und ziehen es vor, jegliche Schwierigkeiten einer Erste Hilfe-Station im Flughafen zu überlassen und sich nicht weiter darum zu kümmern. Der halb offene Flughafentransporter beförderte sie eine schmale Zufahrt entlang und draußen
über die Hauptstraße. Ein zweiter TWA-Angestellter hatte sich zu ihnen gesellt und erläuterte nachdrücklich, die Gesellschaft könne nicht garantieren, daß das Reisegepäck nicht nach Paris geflogen würde, da der Flug bereits abgerufen sei und der Start unmittel bar bevorstehe. Claire nickte und blickte starr geradeaus. Sie erinnerte sich von irgendwo, daß die Leute leichter auf einen aufmerksam wurden, wenn man in ihre Richtung blickte, also heuchelte sie Gleichgültigkeit gegenüber den Gruppen uniformierter Männer auf der Straße. In der Erste Hilfe-Station simulierte George widersprüchliche Symptome. Der diensttuen de Arzt knetete ihm den Leib, kam mit Fieber thermometer und Stethoskop und versuchte eine Augendiagnose. John und Claire bestan den darauf, bei dem Patienten zu bleiben. Als die Krankenschwester mit seiner Urinprobe hinausgegangen war, schmunzelte George und sagte: »Na, wie habe ich das gemacht?« »Großartig«, sagte Claire. »Aber wir sind sie noch nicht los. Ich habe vorhin die Olympic Airways angerufen und zwei Plätze für einen Flug buchen können, der in fünfundfünfzig Minuten nach Kreta startet. Das waren die letzten zwei Sitze in der Maschine. George, du
hast eine Buchung für den nächsten Flug.« John nickte. »Auf diese Weise wird man uns drei nicht zusammen sehen.« »Daran hatte ich nicht gedacht, aber Sie ha ben recht. Gut.« »Sag mal, was soll das alles?« fragte George stirnrunzelnd. »Ich habe bis jetzt mitgemacht, aber, was zum Teufel, hast du vor?« »Wir brauchen uns solch eine Behandlung nicht gefallen zu lassen. Ich werde Griechen land nicht verlassen, bis ich Gerechtigkeit be komme.« Sie blickte wild entschlossen zu den beiden Männern. »Für uns alle!« John hatte bis dahin nichts gesagt. Nun räus perte er sich. »Also, ich habe es nicht gerade gern, mich verprügeln zu lassen, aber Claire – Sie müssen uns schon sagen, was Sie eigentlich vorhaben.« »Ich werde… ich möchte zurück zur Ausgra bungsstätte und meine Aufzeichnungen holen. Vorhin im Warteraum ist mir etwas in den Sinn gekommen. Da war doch dieses Elfen beinplättchen, nicht wahr? Die Zeichnung da rauf könnte eine Karte sein.« »Gewiß, ja, wir sprachen über diese Möglich keit«, sagte George. »Ich nahm sie nicht ernst, weil es aus dem mykenischen Zeitalter keine bekannten Karten
gibt. Doch als ich die Übersichtskarte der Olympic Airways an der Wand des Warte raums sah, wurde mir klar, daß ich unbewußt angenommen hatte, die große Landmasse müsse oben, im Norden sein, wenn es sich um eine primitive Darstellung von Mykene und der Argolis handle. Daß Norden oben ist, ist aber nur eine heute gebräuchliche Darstel lungsweise. Nach allem, an was ich mich erin nere, ähnelt die größte eingezeichnete Linie auf dem Elfenbeinplättchen ungefähr einem Teil Griechenlands. Aber nicht des Festlandes, sondern Kretas. Demnach wäre die große Masse identisch mit der Küste Kretas, und die kleinere Darstellung eine Insel. Vielleicht Santorin oder Melos.« George grunzte skeptisch. »Aber ich brauche meine Aufzeichnungen, um eine wirklich haltbare These zu machen.« John fragte: »Und Sie meinen, ein gelehrter Artikel sei dieses Risiko und alles wert?« »Ja, das meine ich. Aber vor allem möchte ich es Kontos irgendwie heimzahlen. Ich werde von Kreta ein Telegramm nach Hause schi cken. Professor Hampton muß erfahren, was geschehen ist. Ich bin überzeugt, daß Kontos ihm die Ohren vollsabbern wird…« »Sie hätten Hampton nach unserer Ankunft
in Boston einen Vortrag halten können«, sagte John. Ihre Augen blitzten. »Ja, und mit leeren Händen, ohne irgendwelche Resultate, ohne etwas vorzeigen zu können…« »Nun, das war nur eine Feststellung«, erwi derte John. »Ich verstehe, daß Sie versuchen, Ihren wissenschaftlichen Ruf zu retten, nach dem Kontos Ihnen auf die Schliche gekommen ist. Was mich angeht, ich bin bereit, nach Kre ta zu gehen, wenn Sie das wollen. Schließlich bin ich auf Urlaub.« George nickte. »Kontos hat keine offiziellen Maßnahmen gegen uns eingeleitet. Noch nicht. Ich meine, daß uns nicht viel passieren kann, wenn es uns gelingt, ihm und seinen Soldaten aus dem Weg zu gehen.« Claire atmete auf. Sie sah, daß in George et was von dem zu Streichen aufgelegten Schul jungen wachgeworden war, etwas, das ihr zu statten kam. Für ihn, der während der Ausgrabungen ihr unterstellt war und keine Verantwortung für ihre Handlungsweise trug, konnte dies ein Streich sein, ein bißchen Räu ber und Gendarm, besser als in ein winterli ches Boston und die Universitätsroutine zu rückzukehren. »Gut. George, du bleibst hier, erholst dich in
ungefähr einer Stunde und gehst über die Straßen zur Abfertigungshalle für Inlandsflü ge. Das ist der Eingang links. Hier…« – sie gab ihm ein Bündel Banknoten –, »damit kannst du dir eine Flugkarte kaufen. Nach der Lan dung auf Kreta gehst du zum Hauptplatz in Heraklion. Dort werden wir dich erwarten.« »In Ordnung.« »Bis dahin werde ich Zeit gehabt haben, mit Hampton zu telefonieren. Er kann bei Kontos intervenieren. Ich möchte die Erlaubnis er wirken, zur Ausgrabungsstätte zurückzukeh ren, dafür zu sorgen, daß alles fachmännisch abgeschlossen wird, und meine Aufzeichnun gen zu holen.« »Hampton könnte Kontos veranlassen, sie nach Boston zu schicken.« Wieder blitzten ihre Augen zornig auf. »Da mit er davon einbehält, was ihm gefällt? Ich will nicht, daß er meine Aufzeichnungen durchwühlt!« John schüttelte zweifelnd den Kopf. »Und Sie glauben, Kontos werde uns nicht suchen las sen? Er wird davon hören und…« »Sind Sie bereit, dieses Risiko zu tragen?« Langes Stillschweigen. John wich ihrem Blick aus. Sie wußte, daß er an die Prügel dachte, die er bezogen hatte, und es war ihr verhaßt, ihm
in dieser Form die Pistole auf die Brust zu set zen, aber sie hatte keine Zeit. Seine Haltung straffte sich ein wenig. »Ich denke schon, ja.« »Dann ist alles in Ordnung«, sagte sie mun ter. »Ich werde zuerst hinübergehen.« »Warum nicht zusammen?« »Sie werden nach einer Gruppe Ausschau halten. Und ich kann mich besser herausre den, weil ich griechisch kann.« John gefiel das nicht besonders, aber er wil ligte ein, in zehn Minuten zu folgen. Sie verließ die Erste Hilfe-Station. Es fiel ihr nicht schwer, wie eine müde, besorgte Reisende auszusehen, denn genauso war ihr zumute. Als sie mitten auf der Straße war, kamen zwei Jeeps wild hupend auf sie zugerast. Sie sprang aus dem Weg, die Wagen brausten vorbei, jeder mit drei Mann besetzt, die sie nicht beachteten. Vor dem Abfertigungsgebäude kurvten sie mit pfeifenden Reifen und blockierten den Eingang zur Abfertigungshalle für internationale Flüge. Die Soldaten sprangen heraus und überprüf ten ihre Maschinenpistolen. Claire hatte ihre Tasche abgestellt, um das Geschehen zu be obachten. Soldaten kamen auf die Neuan kömmlinge zu und überschütteten sie mit Fragen. Claire nahm ihr Gepäck auf und be
merkte, daß fast alle Passanten in Sichtweite das Weite gesucht hatten und die Straße fast menschenleer war. Sie war auffällig. Sie eilte zum Eingang für Inlandsflüge. In der Halle war es ruhig. Während einer Krisensituation in der Hauptstadt schien nie mand interessiert, in die Provinzen zu fliegen. Sie ging zum Schalter, sprach griechisch, be kam ihre zwei Flugkarten und ließ sie für den Flug eintragen. Niemand schenkte ihr besondere Beachtung. Als sie sich vom Schalter umwandte, stand plötzlich ein Soldat vor ihr. »Wohin fliegen Sie denn, meine Dame?« fragte er auf griechisch. Er war hager und drahtig, und seine dunklen Augen musterten sie prüfend. Sie hatte im ersten Augenblick den Atem angehalten und unvernünftig an Flucht gedacht. Aber wohin? »Ich…? Kreta.« »Sie haben eine Buchung für diesen Flug?« »Ja. Ich bin im Urlaub und…« »Dann würde ich es als eine große Gefälligkeit betrachten, wenn Sie dies mitnehmen könn ten.« Er zog einen Brief aus der Brusttasche und reichte ihn ihr. »Bitte stecken Sie ihn am Flughafen in den Briefkasten. Er wird dann am nächsten Tag in Heraklion zugestellt.«
Die Erleichterung war so groß, daß ihre Knie wankten. »Aber… aber warum geben Sie ihn nicht hier auf?« Die dunklen Augen blickten sie forschend an. »Die Post von Athen wird Heraklion erst mor gen oder übermorgen erreichen«, sagte er. »Zur Zeit bestehen… politische Spannungen. Da kann es bei der Post länger dauern. Dieser Brief ist für meine Angehörigen…« »Und Sie befürchten…« »Ich kann Sie nur bitten, es zu tun; ich werde Sie für die Mühe bezahlen, wenn Sie…« »Nein, natürlich werde ich ihn mitnehmen und einwerfen. Aber glauben Sie wirklich…« Er ließ sie nicht ausreden, sondern bedankte sich überschwenglich und eilte davon, als sei es ihm unangenehm, im Gespräch mit einer Ausländerin gesehen zu werden. Als John einige Minuten später in die Halle kam, meldete er, daß die Halle für internatio nale Flüge von Soldaten abgesperrt sei, die alle Reisenden sorgfältig überprüften. Die Ein schienenbahn von Athen schien wie gewöhn lich ausgefallen zu sein, und die Reisenden trafen in überladenen Bussen ein und stauten sich vor dem Eingang. »Typisch«, sagte er. »Maschinenpistolen und Sturmgewehre, als ob jemand fliehen würde, indem er einen Überfall
auf den Flughafen durchführte.« »Geben Sie sich unbekümmert, und niemand wird Sie beachten. Wir sind bloß Touristen.« »Bei diesen Sicherheitsvorkehrungen werden sie uns erwischen.« »Nicht unbedingt. Außerhalb von Athen geht es viel ruhiger zu.« »Wie in Nauplia?« »Schon recht. Ich habe eben einen optimisti schen Zug.« »Dies alles, nur um an die Aufzeichnungen zu kommen?« »Sie repräsentieren die Arbeit von Monaten. Ich kann meinen Teil des Projekts ohne sie nicht beenden. Und auf Kreta kann ich viel leicht einen Hinweis auf dieses Elfenbein plättchen finden. Archäologie besteht zu einem guten Teil daraus, daß Assoziationen zwischen Gegenständen gemacht werden, und jede Ent deckung eröffnet mögliche Verbindungen zu Dingen, die wir bereits haben. Manchmal braucht man bloß durch ein Museum oder über eine Ausgrabungsstätte zu wandern, und es werden einem die Augen geöffnet.« Er seufzte. Sie verstummte; seine Skepsis weckte in ihr selbst unwillkommene Überlegungen. Aber es war jetzt zu spät. Praxis.
Sie legte ihm mit aufmunterndem Lächeln die Hand auf die Schulter. »Ich bin ganz sicher, daß ein Anruf bei Hampton alles ins Lot brin gen wird«, sagte sie munter, obwohl sie selbst kein Wort davon glaubte.
2 John lehnte sich zufrieden zurück. Eine Mahlzeit von knoblauchbeladenem Souvlaki, ein voller Teller mit öligem Moussaka und eine Flasche herben Rotweins hatten zusammen gewirkt, um ihn mit der Welt zu versöhnen und alles in einen angenehmen und wohlwol lenden Glanz zu tauchen. Er saß im warmen Schein der Herbstsonne, die ihm durch silbri ge Olivenblätter zublinzelte, und vom Meer wehte frische, reine Luft herein. Dies also war die legendäre Luft Griechenlands. Er prostete ihr mit einem zweiten Glas Metaxa zu. Die Mü digkeit war von ihm gewichen, aber er fühlte, daß sie im Hintergrund lauerte, bereit, ihn mit Schlaf zu überwältigen, wenn er sie heraus forderte.
Claire kam aus dem Hotel jenseits des kleinen Parks, blickte in beide Richtungen – immer eine gute Idee in dem Bienenschwarmverkehr Heraklions – und schritt herüber. Ihr schlan ker, in seiner Kraft gesammelter Körper hatte einen ausladenden Hüftschwung, eine unbe wußte Sinnlichkeit der Gangart, die über me chanische Notwendigkeit hinausging und des strengen Schnitts ihrer roten Bluse und der grauen langen Hose spottete. Die unvermeid lichen Müßiggänger auf den Bänken, arbeitslos und unrasiert, verfolgten ihren Weg wie rotie rende Radarschirme. »Sie haben Verehrer.« »Was? Ach, die. So ist es immer.« »Ein Berufsrisiko bei der Arbeit im Mittel meerraum?« »Sie wissen nicht viel über Bostoner Iren, nicht wahr?« Er lächelte. »Wie ist es gegangen?« »Ich habe zwei Einzelzimmer bekommen. Und Boston angerufen.« Er richtete sich auf. Es war leicht zu sehen, daß sie sich ärgerte. »Ich bekam gleich Verbindung, wahrschein lich über die neue Satellitenverbindung.« Sie trank von ihrem Metaxa: »Und?«
»Hampton… war nicht kooperativ. Er hatte noch nichts von Kontos gehört, Gott sei Dank, überging aber, was ich ihm erzählte. Er sagte, wenn ich Kontos erzürnt hätte, werde er, Hampton, das schon ausbügeln.« »Sagten Sie nicht, daß…« Ihre Augenbrauen gingen hoch. »Ich konnte ihm nicht alles erzählen. Gebrauchen Sie Ihren Kopf! Es würde nur schaden, wen Kontos hör te, daß ich dieses Artefakt für wichtig halte.« »Oder daß Sie selbst zur Ausgrabungsstätte zurückkehren und Ihre Aufzeichnungen holen wollen.« »Genau. Ich schilderte Hampton, wie Kontos mit seinen Militärgorillas kam und Ihnen übel mitspielte und eine Menge von unseren Auf zeichnungen konfiszierte – okay, eine Abtö nung der Wahrheit, das gebe ich zu –, und uns ohne amtliche Autorität des Landes verwies. Hampton schnalzte mit der Zunge und sagte mir, es gebe politische Unruhen, das sei ja be kannt, und ich solle alles seinen großen, tüch tigen Händen überlassen.« Sie zog eine Gri masse. »Er wird sofort Kontos anrufen.« »Vielleicht nicht. Ich sagte, daß ich aus Paris anriefe und ein paar Tage Urlaub wolle. Dann bat ich ihn, irgendwelche Reaktionen zurück
zustellen, bis ich nach Boston käme und ihm in allen Einzelheiten schildern könne, was ge schehen sei. Hampton schreibt gern lange, ge dankenvolle Briefe, die er in Fachkreisen zir kulieren läßt – ›Ein Forum schaffen‹, nennt er das. Und ich glaube, daß er damit auch dieser Sache beikommen möchte.« »Vielleicht ist das der beste Weg.« »Nein, es ist bloß eine Methode, es… mich unter den Teppich zu kehren. Hampton und Kontos werden diese Sache durch das Netz werk ihrer Alter-Knabe-Kumpanei ventilieren, bis ich mich bei der Arbeit in irgendeinem sy rischen Lehmdorf wiederfinde, während sie die mykenischen Ausgrabungen weiterfüh ren.« »Nun… vielleicht sollten Sie nicht allzuviel Gewicht auf diese Aufzeichnungen legen.« »Unsinn! Bedenken Sie, zu den Aufzeichnun gen gehören auch Ihre Daten, die ich in meine Unterlagen aufnehmen wollte. Hätte ich Zeit gehabt, sie zu kopieren und Ihnen zurückzu geben, würden Sie sie jetzt haben.« »Trotzdem…« »Nach diesen Spektrallinien, die Sie gefunden haben? Sie sagten selbst, daß Sie auf eine Art Legierung, oder zumindest auf ein ungewöhn liches mineralisches Konglomerat hindeuten.
Hinzu kommt die Tatsache, daß der Block ein zigartig ist, ein Relikt, wie niemand es je in ei ner Grabstätte gefunden hat. Wer weiß, was es zu bedeuten hat, versteckt wie es ist? Nächstes Jahr können wir die Höhle dahinter ausgra ben, den unterirdischen Wasserlauf erfor schen, vielleicht Dinge finden, die sie hinun tergeworfen haben, und ich will dabei sein!« Ihre Augen funkelten. Er holte tief Luft. Der Augenblick der Wahr heit war gekommen. »Ich wollte damit sagen, daß meine Ergebnisse vorläufig sind und… äh… falsch sein könnten.« Sie sah ihn verblüfft an. »Aber warum? Sie waren sorgfältig, ich habe Sie beobachtet.« »Ja, aber… nun, es ist nicht mein Gebiet.« »Metallurgie des Altertums hat zweifellos ih re Besonderheiten, aber Sie…« »Die Sache ist die, daß ich kein Metallurge bin.« Sie sperrte den Mund auf. »Was?« »Ich hatte Ausrüstungen, wie wir sie verwen deten, vordem nie gesehen.« »Was sind Sie dann?« »Mathematiker.« Sie starrte ihn ungläubig an. »Ich… ich arbeite an einem neuen mathema tischen Modell von Unreinheiten in Metallen.
Anwendungen der Gruppentheorie.« »Ihr Büro…« »Sie hatten Platz, also steckten sie mich dort hinein. Ich rede mit den Metallurgen, versteht sich, aber ansonsten…« »Sie haben mich belogen!« »So kann man es nicht nennen. Ich sagte nie, daß ich auf diesem Gebiet gut wäre, Sie werden sich erinnern.« »Ich hatte selbstverständlich angenommen, Sie seien… Sie seien…« »Ich weiß, und ich bitte um Entschuldigung. Ich dachte, es würde ein Spaß sein, wissen Sie, eine Art Urlaub.« »Also waren Sie auf die kostenlose Reise aus!« Sie knallte ihr Brandyglas so heftig auf den Tisch, daß es zerbrach. Sie achtete nicht darauf. »Wirklich nicht. Hauptsächlich waren Sie der Beweggrund.« »Ich?« »Ich… äh… ich fühlte mich vom ersten Au genblick zu Ihnen hingezogen.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich weiß, das klingt einfältig. Ich glaube, ich… ich ließ mich einfach von meinen Gefühlen mitreißen.« Zu seiner Überraschung legte sich ihre Erre gung. »Und so beschlossen Sie, einfach die
Rolle des Metallurgen zu spielen?« »Ja. Die Ausrüstung konnte ich als Angehöri ger der Fakultät gegen Unterschrift leicht be kommen. Dann suchte ich in der Bibliothek zusammen, was ich an Nachschlagebüchern finden konnte. Die las ich auf dem Flug.« »Das alles…« Sie sah ihn an, als wäre er ein Fremder. »Meinetwegen?« In diesem ›Meinetwegen?‹ sah er eine mo mentane Blöße in ihrer blendenden Rüstung. Hegte sie, ehrgeizig, unermüdlich und selbst sicher in ihrem Berufsleben, womöglich Zwei fel an ihren weiblichen Qualitäten? Er mußte da etwas tun. Irgendwie. »Ich tat, was ich konnte«, sagte er kläglich. »Ich verstehe ein bißchen von Elektronik, habe selbst einmal Stereokomponenten gebaut, aber ich… ich kann nicht garantieren, daß die Ar beit akkurat ist. Ich weiß, Sie sind enttäuscht, aber ich möchte, daß Sie auch wissen, daß… nun…« – er blickte ihr direkt in die Augen – »ich es nicht bin. Es war der Mühe wert.« »Zum Teufel!« sagte sie gereizt, »Sie hätten mich einfach um eine Verabredung bitten können.« »Ich wollte Sie nicht so vorbeigleiten lassen. Ich ließ mich in meinem Handeln einfach, nun, vom Herzen leiten.«
»Sie sind mir ein kalter, analytischer Mathe matiker!« »Ich hätte es zugeben sollen, als ich zur Aus grabung kam und sah, was für eine Arbeit es war, mehr als ich erwartet hatte. Aber dann hätten Sie niemanden als Hilfe gehabt. Wäre ich nicht solch eine Memme gewesen…« »Me… – was?« »Memme. Feigling.« Das erweichte sie sichtlich. »Nein, das ist nicht… Sie haben sich angestrengt. Ohne Ihre Hilfe wäre ich nicht so weit gekommen.« »Es tut mir leid. Aber ich würde es wieder tun. Es hat sich gelohnt.« Sie schlug den Blick nieder, entdeckte plötz lich den verschütteten Metaxa und begann ihn mit der Serviette aufzutupfen, ohne John an zusehen. Nach einer kleinen Weile lachte sie ein wenig, schüttelte den Kopf und blickte von der Seite zu ihm hin. »Wissen Sie, ich habe auch… anders… für Sie empfunden.« Er blickte sie in ungläubigem Staunen an. »Oh, das ist ja…« Sofort war wieder eine gewisse Reserve in ih ren Zügen, und sie befeuchtete sich die Lippen. »Vielleicht ist es so, weil wir vieles gemeinsam haben. Es ist Ihnen doch klar, nicht wahr, daß wir beide gemeine, lügnerische Halunken
sind?« Er hörte Frauen nicht gern so reden, doch mußte er ihr zustimmen. George brachte schlechte Nachrichten. Das Militär war offenbar wieder einmal dabei, die Macht zu übernehmen. Durch die verworrene allgemeine Lage war es zu einer Verspätung seines Fluges gekommen. Am Flughafen von Athen waren Truppentransporte eingetroffen, und alle Passagiere wurden kontrolliert, sogar die Fluggäste der Inlandsrouten. George war nur durchgekommen, weil das Hauptaugen merk der Kontrolleure auf die Passagiere der ankommenden Flüge gerichtet war, wahr scheinlich wegen Befürchtungen, daß die Op position Kräfte nach Athen ziehen und einen Gegenputsch versuchen könnte. George hatte mehrere Festnahmen beobachtet. Dies alles ließ erkennen, daß eine Rückkehr über Athen wenig aussichtsreich war. Dennoch beharrte Claire auf ihrem Vorhaben; sie müsse zu den Ausgrabungen zurückkehren und ihre Aufzeichnungen bergen. Sie konnten versuchen, eine Privatmaschine zu chartern. Aber die Flughäfen wurden streng überwacht – George hatte die Ankunft von Po lizeiverstärkungen am Flugplatz von Heraklion
gesehen, als er sein Gepäck abgeholt hatte. Damit blieb nur der Seeweg. Die beste und billigste Art und Weise würde eine Kreuzfahrt nordwärts an Bord eines der regulären Tou ristenschiffe sein. Und da Kontos sie an Hand der Passagierliste der Luftlinie nach Kreta verfolgen konnte, taten sie gut daran, rasch von Heraklion fortzukommen. Dies war nicht sofort möglich. Die Behörden hatten nie auf gehört, den Fremdenverkehr zu fördern, weil er von jeher eine wesentliche Deviseneinnah mequelle war. Alle Plätze auf den nächsten nach Norden auslaufenden Schiffen waren ausgebucht. Indem sie einen Schiffskarten verkäufer bestach, gelang es Claire, zwei Plätze an Bord eines Schiffes zu bekommen, das am nächsten Morgen nach Santorin auslaufen sollte. Einen Platz gab es schon für eine Ab fahrt an diesem Nachmittag. Wenn sie sich trennten, würden sie weniger auffällig sein. George zog es vor, die Einzel karte zu nehmen, statt zu warten. Claire und John wollten am nächsten Morgen folgen und George im Hotel Atlantean auf Santorin tref fen. Einstweilen war es klug, so unauffällig touris tisch wie möglich auszusehen. Polizeistreifen patrouillierten in den Straßen und ließen sich
Ausweise zeigen, behelligten aber keine offen sichtlichen Ausländer. George ging, sein Schiff zu erreichen. Er war guter Dinge; das Aben teuer machte ihm Spaß. John versuchte sich entspannt zu geben, aber die Gruppen von Polizei- und Armeeuniformen an jeder größeren Kreuzung verursachten ihm Unbehagen. Angenommen, Kontos hatte er fahren, daß sie nicht an Bord der TWA-Maschine gegangen waren? Sicherlich ließe sich daraus eine Anklage wegen Versto ßes gegen diese oder jene Bestimmung kon struieren, und im gegenwärtigen Klima war eine Verurteilung nicht auszuschließen. Sie schlenderten über den Wochenmarkt, widerstanden aber den schmeichelhaften Worten der Verkäufer. Claire kaufte etwas Safran – eine absolut exzentrische Idee, wie er fand, da sie nur die Kleider hatte, die sie trug, dazu etwas Unterwäsche, zwei Taschenbücher und ein paar Toilettenartikel. Sie führte ihn durch enge Straßen, in denen sich hupende Wagen und aufdringliche Ver käufer drängten, in die gewölbte Stille des Museums. »Sehen Sie sich um«, sagte sie. »Die Fresken sind im Obergeschoß. Ich werde in zwischen mit meiner Kreditkarte Bargeld ho len und ein paar Notwendigkeiten besorgen.
Und ein Telegramm an die TWA schicken, daß sie unser Gepäck in Boston aufbewahren sol len.« John konzentrierte sich bewußt auf die aus gestellten Altertümer und verdrängte die stau big, unordentliche Außenwelt. Die eleganten Formen der Vasen und Schalen sagten ihm besonders zu. Einige hatten mit Juwelen besetzte Handgriffe. Die meisten Kunstgegenstände wie Gemmen und Halsket ten erinnerten ihn an die mykenischen Kunstwerke, die Claire ihm gezeigt hatte, und so war er nicht überrascht, aus dem Muse umsführer zu erfahren, daß die Spätphase der minoischen Kultur unter dem Einfluß der my kenischen Herrschaft gestanden hatte. Das goldene Zeitalter der minoischen Kultur lag zwischen 2000 und etwa 1550 v. hr. Nach der Eroberung durch die indogermanischen mykenischen Griechen erlebte sie, nun auf Knossos beschränkt, noch einmal eine späte Blüte. Diese relativ kurze Epoche endete um 1425 v. hr. in einer die ganze Insel heimsu chenden Katastrophe, die von späteren Ge schichtsschreibern als »alles verschlingende Erdbeben und Flutwellen« geschildert wurde. Ein vorzüglich gearbeiteter goldener Anhänger faszinierte John. Zwei Bienen krümmten sich
zueinander und bildeten die Kreisform des Anhängers, der deutlich zeigte, wie sie Pollen in einer Bienenwabe speicherten. Die kleinen Tierkörper schienen erfüllt von zweckbe stimmtem, innerem Leben, und er spürte plötzlich die Realität dieser Vergangenheit, die Millionen von ringenden, sich abmühenden, schönheitsliebenden Menschen, die eine erste europäische Hochkultur geschaffen hatten, die als eine unsichtbare Gegenwart bis heute in diesen eleganten Gegenständen fortlebte. Er hatte die Vergangenheit oft als eine rohe, pri mitive Zeit angesehen, aber hier in diesen ge schmackvollen, künstlerisch wie handwerklich hochstehenden Erzeugnissen fand er einen stummen, überwältigenden Gegenbeweis. Er wanderte zwischen den Fundstücken umher, die vom Untergang der großen Paläste künde ten, verkohlten Holzstücken und Getreidekör nern, Resten von Mobiliar, und atmete in ei nem Sinne den Hauch der Geschichte. »Sieht wie eine kalifornische Modetorheit aus, nicht?« Er erschrak, als er Claires Stimme hinter sich hörte. Er hatte die Statue einer Schlangengöt tin betrachtet, die mit ausgestreckten Armen stand, sich windende Schlangen in den Hän den, während andere sich um ihre Arme und
ihren Körper und sogar um den Kopfschmuck ringelten. Ein enges Mieder über einem langen weiten Schürzenrock ließ die Brüste frei. »Einige Themen bleiben ewig aktuell«, sagte er. »Man vermutet, daß zu kultischen Zwecken Schlangen in Tonröhren – denen dort – gehal ten und mit Milch ernährt wurden.« Als er sie verwundert anschaute, fügte sie hinzu: »Es ist sehr gut möglich, daß Schlangen in der Göt terverehrung eine Rolle spielten, aber ich glaube, man hielt Schlangen zu medizinischen Zwecken. Ihr Gift kann für manche Leiden als Heilmittel Verwendung gefunden haben.« Sie führte ihn durch Räume mit Keramik. »Gebrannter Ton überdauert alles.« »Selbst moderne Materialien?« »Sicherlich. Unsere Toilettenschüsseln wer den in zehntausend Jahren noch brauchbar sein. Oh, sehen Sie nur!« Die blaue Freskomalerei zeigte einen im Ga lopp angreifenden Stier mit drohend gesenk tem Kopf. Eine Frau hatte ihn bei den langen, gebogenen Hörnern gepackt. Ein brauner Mann, der Schmuck trug, vollführte einen Sal to über den Rücken des Stieres. Hinter dem Tier war eine Frau gerade auf den Füßen ge landet, die Arme noch von ihrem Überschlag
angehoben. Die drei Phasen des »Todes sprungs«. Die Darstellung war lebendig und lebensnah, die Komposition vibrierte von Energie. »Das machten die tatsächlich«, bemerkte Claire. »Es war ein Sport.« »Keine religiösen Zusammenhänge?« »Nun, das ist ohne schriftliche Überlieferun gen schwer zu beurteilen. Diese Ereignisse könnten in Zusammenhang mit dem Mythos des legendären Helden Theseus stehen, der mit anderen jungen Männern und Frauen von Athen hierhergeschickt wurde um dem Minotauros geopfert zu werden. Wir wissen wenig über die Religion der alten Minoer, aber es gibt Anhaltspunkte dafür, daß sie im Matri archat lebten und von den Priesterinnen der Mondgöttin regiert wurden. Bis die eindrin genden mykenischen Griechen mit der Erobe rung Kretas das Patriarchat durchsetzten.« »Und wir halten es für eine große Sache, wenn sich einer mit einem roten Tuch vor solch einen Stier hinstellt.« Sie lächelte. »Tun Sie den Matadoren nicht unrecht. Jeder versucht das Risiko zu verrin gern, wenn er kann. Angeblich hat man bei Ausgrabungen Stierschädel gefunden, bei de nen die Spitzen der Hörner abgesägt waren.«
»Das findet man auch bei Viehhaltern, wenn sie einen Stier im Stall halten, wissen Sie. Es verhindert, daß sie die Wände beschädigen oder Menschen und andere Tiere verletzen. Leider geht man heutzutage immer mehr dazu über, die Rinder überhaupt zu enthornen. Eine Form von Verstümmelung, die Folge der Mas sentierhaltung ist.« »Tatsächlich? Woher wissen Sie das alles?« »Ackerbau und Viehzucht liegen den Leuten aus Georgia im Blut. Was stellte der Minotauros eigentlich dar?« »Dem Mythos nach war er halb Mensch, halb Stier. Der Meeresgott Poseidon gab dem König von Kreta, Minos, einen Stier, daß er ihn op fern sollte. Statt dessen behielt Minos ihn, und seine Frau verliebte sich in ihn.« »Sie haben recht, es war wie in Kalifornien.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Nein, Po seidon brachte sie dazu.« »Ich glaube, ich habe davon gehört.« »Sie bekam ein Kind von dem Stier – den Minotauros. Minos sperrte ihn in ein Laby rinth. Später, nachdem sein Sohn in einem Krieg von den Athenern getötet worden war, verlangte Minos, daß sie ihm als Tribut junge Leute als Opfergaben schickten. Die warf er dem Minotauros zum Fraß vor.«
»Ein netter Mensch. Das ist der Punkt, wo Theseus ins Spiel kommt, nicht wahr?« »Richtig. Er war eines der Opfer. Allerdings hatte er sich bewaffnet und tötete den Minotauros. Er fand den Weg zurück aus dem Labyrinth, weil er einen Faden abgewickelt hatte, der ihm den Weg wies.« »Wie tötete er den Minotauros?« »Das wissen wir nicht. Er scheint bereits Übung gehabt zu haben – die Legende sagt, er habe vorher den feuerschnaubenden Stier von Marathon erschlagen.« »Zwei Stiere? Und wo war das Labyrinth?« »Ich werde es Ihnen zeigen.« Knossos lag eine kurze Taxifahrt außerhalb der Stadt, fern von den allgegenwärtigen Poli zeiuniformen. Unterwegs wurden sie von ei nem Armeeposten kontrolliert. »Was machen wir, wenn sie unsere Pässe se hen wollen?« fragte John. »Die sind im Hotel.« »Dann werden wir das sagen.« Ein Uniformierter blickte in den Wagen, sah, daß sie Touristen waren und winkte sie durch. »Sehen Sie?« sagte Claire. »In der Provinz geht alles viel weniger hektisch zu.« Sie zeigte auf einen Esel, der im Schatten einer Stechpalme neben den Resten einer Mauer graste, unbe
eindruckt von dem Fliegenschwarm, der ihn wie eine Wolke umgab. »Wozu soll die Verkehrskontrolle dann gut sein?« »Wahrscheinlich hat sie psychologische Gründe. Ich könnte mir denken, daß die Kreter von der neuen Einparteienherrschaft nicht sonderlich begeistert sein werden.« »Ich wollte, wir wären schon in Santorin. Wenn ich mir vorstelle, daß wir mit unseren vollen Namen auf der Passagierliste in Athen stehen, wird mir mulmig.« »Unser Schiff geht erst morgen früh um acht.« In dem weitläufigen Ruinengelände von Knossos begann John jedoch zu bedauern, daß er Kreta so bald verlassen mußte. Die ausge grabenen Ruinen des ausgedehnten, teilweise rekonstruierten Palastes umfingen einen mit ihrer durchsonnten Stille, mit den vielfach verwinkelten Räumen, die sich auf immer neue Innenhöfe und Plätze öffneten, mit dem Duft von Wacholder und Pinien und dem un aufhörlichen Singsang der Zikaden. Eidechsen huschten über die weißen Mauerreste, und hoch am Himmel kreisten Raubvögel und lie ßen ihre hellen Rufe ertönen. »Schwer zu glauben, daß dies ein Labyrinth
war.« »Dies ist nur der ausgegrabene Teil. Der Pa lastkomplex umfaßte fünfzehnhundert Räu me.« »Deswegen glauben die Historiker, daß er von den Griechen zum Gegenstand einer Legende gemacht wurde?« »Nun, er war ohne Zweifel das komplizier teste Bauwerk, das ein Grieche je gesehen hat te. Und Minos ist die dynastische Bezeichnung für die Reihe der Heiligen Könige von Knossos. Sie waren sozusagen die Prinzgemahle der herrschenden Hohenpriesterin der Mondgöt tin und wurden ursprünglich nach einjähriger Herrschaft der Göttin geopfert. Später durften sie am Leben bleiben, und man opferte an ih rer Statt Tiere.« »Und diese Leute hielten sozusagen zum Vergnügen einen menschenfressenden, feuer schnaubenden Stier im Haus?« »Es ist eine Legende, keine gesicherte Über lieferung, und hat im Laufe des Altertums si cherlich allerlei Veränderungen und Aus schmückungen erfahren.« »Dieses Labyrinth war der eigentliche Pa last?« »Vermutlich. Man legte im Felsgestein Schachtgräber an, aber sie waren weder groß
noch aufwendig. Die späten Gräber gleichen denen der mykenischen Griechen und sind ein Indiz für die Eroberung der Insel durch die Mykener.« Sie stiegen breite Treppen hinab, gingen zwi schen dicken, rotbraunen Säulen. Die Minoer, erzählte sie ihm, waren eine kleinwüchsige, schwarzhaarige Rasse. »Sie wurde von den Mykenern unterworfen?« »Ja, nach der zweiten Zerstörung dieses Pa lastes.« »Aber ich dachte, die Athener seien die grie chische Großmacht gewesen.« »Ach nein, das war sehr viel später. Zu dieser frühen Zeit war Athen ein unbedeutendes Pro vinznest. Platon, Perikles – die lebten erst tausend Jahre nach dieser Zeit.« »Aber Kreta lag offenbar im Konflikt mit den Athenern, und war es nicht der Athener Theseus, der den Minotauros tötete?« »Nun, man muß sich klarmachen, daß die Geschichte von den Überlebenden geschrieben wird, das heißt, gewöhnlich von den Siegern. Die Geschichte vom Minotauros geht sicherlich auf eine mykenische Überlieferung zurück, nicht auf eine athenische. Die Athener über nahmen einfach die bestehende Legende.« »Junge, kein Wunder, daß Henry Ford sagte,
Geschichte sei Quatsch.« »Wer einer Kulturnation angehören will, muß sich auch zur Geschichte bekennen«, er widerte sie ein wenig gereizt. »Im übrigen ist es nicht wichtig, ob es Griechen aus Attika oder Mykene waren. Ein namenloser Held vom Festland kam hierher. Vielleicht war er ein berühmter Athlet, der den Todessalto über den anstürmenden Stier besonders gut beherrsch te. Oder er war Spezialist im Erlegen gefürch teter Ungeheuer. Zu Haus wurden seine Aben teuer zu einer beliebten Geschichte, die von einer Generation zur anderen weitergegeben und ausgeschmückt wurde. Homer gebrauchte solche Überlieferungen.« »Also ist der ganze Homer eine Sammlung von Märchengeschichten oder Übertreibun gen?« »So könnte man sagen, das ist natürlich noch längst nicht alles. Zum einen enthalten Ho mers Werke einen Kern historischer Wahr heit, wie zumindest im Fall der Ilias erwiesen ist. Zum anderen sind sie die ersten Zeugnisse schriftlich niedergelegter Überlieferung im abendländischen Kulturkreis, und schon da durch von unschätzbarem Wert. Und schließ lich – und das verdient am meisten Bewunde rung – sind sie vollendete Dichtung von
höchster Vollkommenheit, das Vermächtnis eines Genies.« »Oh.« Sie gingen zwischen Treppen und Säulen stümpfen und dachten über die Botschaft in den stummen Steinen nach. Claire schien un ruhig. »Sagen Sie mal, beobachten uns die Polizisten dort drüben?« Claire schrak zusammen, blickte umher. »Was? Wo?« Er schmunzelte. »Na, eben schauten sie noch herüber. Sie sind nicht so ruhig, wie Sie sich den Anschein geben.« Sie warf ihm einen unfreundlichen Seiten blick zu. »Natürlich bin ich auch nervös. Fah ren wir zurück in die Stadt!« Am Nachmittag ging er noch einmal ins Mu seum, angezogen von seiner Atmosphäre. Selbst die Eintrittskarten waren ungewöhn lich, bedruckt mit Strichzeichnungen von Ge lehrten und Staatsmännern des Altertums und Zitaten aus großen Werken der Vergangenheit. In den Glasvitrinen lagen die stummen Jahr tausende dem Auge dargeboten. Wie nie zuvor fühlte er vor dem Abgrund der Zeit das un wiederbringlich Verlorene, die vergessenen
großen Werke und Taten zu Staub gewordener Menschen. Aus einer der Vitrinen blickte ihn ein Stier kopf aus schwarzem Speckstein über die Jahr tausende hinweg an. Seine glänzenden Seemuschel-Nüstern waren zornig gebläht, und Augen aus Bergkristall und Jaspis betrachte ten ihn unheilvoll. Der erklärende Text lautete: Rhyton aus dem Palast von Knossos. Das Fell ist durch Einschnitte geschickt imitiert. Der Stil und das verwendete Werkzeug legen einen Ursprung kurz vor der endgültigen Katastro phe nahe. Bei Homer finden sich Hinweise, daß Opferstiere vergoldete Hörner trugen. Die Hörner dieses Fundstücks sind nicht gefunden worden, waren aber wahrscheinlich aus ver goldetem Holz wie jene des berühmten Rhyton ähnlichen Typs, der in den Königsgräbern von Mykene gefunden wurde. Der feindselige steinerne Blick schien ihm zu folgen, als er sich um den Stierkopf herumbe wegte und die Ausführung bewunderte. Die in der Neuzeit hinzugefügten hölzernen Hörner waren kunstvoll geschwungen und mit Gold farbe bestrichen. Sie glänzten im kühlen Licht des Museums, und er stellte sich vor, wie er im Geruch von Staub und Schweiß mit pochen dem Herzen dastand, und wie der mächtige
Stier im Geschrei der Menge mit polternden Hufen angriff, die gekrümmten spitzen Hörner zum Aufwärtsstoß gesenkt und schimmernd im Sonnenschein, Tod in den rollenden Augen; wie seine Arme sich spannten, um blitzschnell mit beiden Händen die Hörner zu packen, sich mit dem Hochwerfen des massigen Schädels emporzuschwingen und im Salto über den Rücken des Stiers hinwegzufliegen. Lange bewunderte er den Kopf, geistesabwe send auf der Unterlippe kauend, und dachte, daß er ihn an etwas erinnere, doch konnte er sich nicht besinnen, was es war.
3 Als die Attika aus dem Hafen von Heraklion lief, machte Claire ihn auf eine mit Farb sprühdosen auf den grauen Beton der Pier gemalte Aufschrift aufmerksam: YANKEE GO HOME. »Ein alter Hut«, grunzte John. »Aber es ist ihnen ernst.« »Ja. Ich dachte schon, dieser Kerl im Hotel
würde uns unser schmutziges Ausbeutergeld gleich wieder ins Gesicht werfen.« »Er war ziemlich unhöflich, nicht?« »War das der Grund, daß Sie ihm erzählten, wir wollten unseren Mietwagen abholen?« Sie nickte. »Wenn die Polizei nachprüfen kommt, wird sie zuerst alle Autovermieter fragen und Zeit verlieren.« »Das dachte ich mir. Ich nehme solche Zei chen von Feindseligkeit sowieso nicht persön lich.« Er lehnte bequem an der Reling, ließ sich das Haar von der weichen Brise zausen und betrachtete die vorbeifahrenden Fischerboote. »Sie sind auf mich nicht anwendbar.« »Warum nicht?« Er sagte im gedehnten Tonfall des Südens: »Ich bin kein Yankee.« Sie mußte lachen. Er legte so großen Wert darauf, sich von ihrer Herkunft aus Neueng land zu distanzieren, doch geschah es stets mit einer Portion Selbstironie. Als wüßte er, daß er einer rasch dahinschwindenden Tradition und ihrer Vergangenheit verhaftet war. Vielleicht war es dieses Bewußtsein, das ihm erlaubte, sich so leicht zu entspannen; sie beneidete ihn darum. Am vergangenen Abend hatte sie über die Geschehnisse geplappert und Überlegun gen angestellt, was sie tun könnten, hatte ihre
eigenen Ängste und Sorgen in einem Sturzbach von Sätzen Luft gemacht, die alle mit ›wenn‹ und ›angenommen‹ und ›vielleicht‹ angefan gen hatten. Er hatte aufmerksam zugehört, aber wenig zum Gespräch beigetragen, beinahe so, als wollte er nur auf sie eingehen. Sie hatte ihn und George und sich selbst in diese Sache hineingeritten, und nun bekam sie Bedenken. John schien sich nichts daraus zu machen. Er hörte sich einfach die Möglichkeiten an, um die sie sich sorgte, und nickte, als ob er ähnli che Gedankengänge hätte, aber nicht darüber zu sprechen brauchte. Ein seltsamer Mann. Die griechische Sonne löste den Morgendunst auf, die gleiche harte Helligkeit, die schon im Altertum auf diesen Küsten gelegen hatte und nun von neuem ihre Fähigkeit bewies, alles zu erwärmen und zu überstrahlen. Sie ging hin ein, um gesüßten Kaffee und ein Brötchen mit Honig zu bekommen. Das Schiff war voll von Deutschen, die alle aufgeregt diskutierten und mit Zeitungen wedelten. John fragte sie, ob sie verstehe, was sie sagten. Sie las die Schlagzeilen der griechischen Zei tungen. »Es ist ein neues Zensurgesetz in Kraft getreten. Einstweilen werden nur Verlautba rungen der Regierung abgedruckt. Mmm… Die Grenzen sind für alle geschlossen, ausgenom
men Touristen. Der Geld- und Kapitalverkehr mit dem Ausland unterliegt ab sofort strengen Kontrollen.« »Das übliche. Die Banken geschlossen?« »Ja, einstweilen. Ich bin froh, daß ich mein Geld gestern abgehoben habe.« »Was sagen die Deutschen dazu?« »Ich spreche nicht deutsch.« »Sie, das Sprachgenie?« »Ich bin wirklich nicht so gut. Ich kann deutsch gut genug lesen, um archäologische Veröffentlichungen zu verfolgen, aber das ist alles. Wenn ich in ein anderes Land als Grie chenland gehe, verbringe ich den Monat vor her damit, daß ich mich mit den Grundzügen der Sprache und des Vokabulars vertraut ma che. Ich lerne die Gegenwartsform von ein paar Verben – sein, haben, und so weiter. Dann versuche ich jemand aufzutreiben, der die Sprache kennt, und übe ein paar Abende praktische Verständigung. Es ist nicht allzu schwierig. Was das Deutsche betrifft, so be schloß ich allerdings, mich mit der Kenntnis des Lesens zu begnügen, als ich entdeckte, daß das Wort Mädchen im Neutrum steht – das Mädchen.« »Und?« »Nur durch Heirat könnte ich einen weibli
chen Artikel bekommen, die Frau. Das sagte mir genug über die deutsche Mentalität.« »Du meine Güte!« Sie hatte es schon mehreren Männern er zählt, aber keiner von ihnen hatte sich wie John einfach zurückgelehnt, die Hände im Nacken verschränkt und gegähnt. Die anderen – ernste, scharfsinnige Cambridge-Typen – hatten sofort Verständnis und Unterstützung bezeugt. Nach diesem Lackmustest hatten sie jedoch alle entweder das Interesse verloren oder sie in dieser oder jener Weise abgewie sen. Sie war nie darauf gekommen, ob der Grund dieses Verhaltens an ihr oder an ihnen lag, doch war sie im Laufe der Zeit dahin ge langt, daß sie Männern mißtraute, die sofort bereitwillig ihre Position unterstützten und nach Hinweisen Ausschau zu halten schienen, welche Haltung sie einnehmen sollten, um ihre Billigung zu gewinnen. Johns Gleichgültigkeit – oder war es gar keine? – ließ sie im Zweifel. Zwei Stunden später sahen sie die roten Arme von Santorin langsam aus der See empor kommen, um die Attika zu umarmen. Schich ten grauer Asche, rötlicher Lava und weißli chen Bimssteins streiften die hohen Kliffs. Claire lehnte an der Reling und nahm die un
glaublich intensiven Blautöne des Wassers in sich auf. Durch den türkisfarbenen Schimmer kam ein Fischerboot mit rauhen Planken und einem bauchigen weißen Segel, dessen Bug in einer reinen, stolzen Kurve über sein geriffeltes Spiegelbild im Wasser dahinglitt. Sein Kapitän rief Befehle in einem rauhen, durchdringen den Bellen, das so alt wie die Seefahrt sein mußte. Das Schiff glitt nahe der felsigen Erhebung von Nea Kaimeni vorüber, die in der Mitte der Bucht lag. Schwacher Schwefelgeruch kitzelte Claires Nase. Pechschwarze Lavablöcke lagen durcheinandergeworfen am Ufer, verstockt und drohend, die eckigen Flächen und Kanten vom Wellenschlag ungeformt. »Ist das der Vulkan?« fragte John. »Ja, der aktive. Die letzte große Eruption war 1956. Danach verließ die Hälfte der Bevölke rung die Insel.« »Wie leben sie dort?« Er beobachtete mit zu sammengekniffenen Augen das öde, felsige Land hoch über der Bucht. »Vulkanische Asche ergibt fruchtbaren Bo den. Und der Bimsstein wird exportiert. Sehen Sie diese Anlegebrücken, die ins Meer hinaus führen? Dort werden Frachter mit dem Zeug
beladen.« Er wandte sich wieder dem zurückbleibenden niedrigen Profil von Nea Kaimeni zu. »Das sieht nicht gerade nach einem gefährlichen Vulkan aus. Wie groß ist der offene Krater?« »Wir können später mit einem Motorboot hinüberfahren und ihn besichtigen. Aber wenn Sie die Caldera des ganzen Vulkans meinen – dies ist sie.« »Nein, ich meine…« Dann verstand er. »Diese Bucht ist die Caldera?« Sie nickte. »Die Explosion von 1426 v. hr. jag te die Hälfte der Insel in die Luft. Das Datum läßt sich an Hand von Ablagerungsschichten, Fundstücken aus Holz und anderen Merkma len errechnen, so zum Beispiel an den Wachs tumsringen kalifornischer Grannenkiefern, die in der Höhenwüste der Gebirge viertau send Jahre überdauert haben. Sie zeigten in jenem Jahr verringertes Wachstum. Die vom Ausbruch in die Atmosphäre geschleuderten Staubmassen verringerten die Sonnenein strahlung auf der gesamten Nordhalbkugel der Erde und verursachten einen kalten Sommer.« »Dies alles… in Stücke geblasen?« »Der alte Name für die ganze Insel bedeutete ›rund‹. Die Eruption riß mehr als die Hälfte der Insel fort. Jetzt ist sie sichelförmig.«
»Mein Gott, der Durchmesser beträgt acht oder zehn Kilometer, mit Leichtigkeit.« »Es muß wie eine Wasserstoffbombe gewesen sein«, sagte sie. »Deshalb wollte ich hierher. Erinnern Sie sich an das Elfenbeinplättchen?« »O ja. Sie meinen, es könnte eine Landkarte darstellen.« »Wenn wir die Zeichnung verkehrt herum betrachten, dann stellt die große Landmasse unten Kreta dar. Santorin ist die einzige grö ßere Insel im Norden, also stellt die rundliche Form weiter oben wahrscheinlich diese Insel dar.« »Nach dem, an was ich mich erinnere, schei nen die Entfernungen nicht zu stimmen.« »Das ist gut möglich; im Altertum kannte man keine genauen Vermessungsmethoden und berechnete die Entfernungen auf dem Meer nach Segelzeit, die von den vorherrschenden Winden abhängt. Im linken oberen Teil des Plättchens waren weitere, undeutliche Mar kierungen zu erkennen, die möglicherweise mit anderen Inseln übereinstimmen; die Lage ist ungefähr richtig. Sollte es sich tatsächlich um eine kartenähnliche Darstellung handeln, dann ist ihr sicherlich bedeutsamstes Merk mal, daß Santorin annähernd rund einge zeichnet ist.«
»Ich verstehe.« John blickte sinnend über die weite, azurblaue Bucht. »Sie stammt also aus der Zeit, bevor der Vulkan diese Insel auseinandersprengte.« »Sehen Sie jetzt, warum ich entschlossen bin, dieser Sache weiter nachzugehen? Die Kata strophe von Santorin hat mit großer Wahr scheinlichkeit zu der Legende des versunkenen Atlantis gehört, wohl auch zu manchen Mythen der frühen Griechen, zu allem.« John nickte und entfaltete die Übersichtskar te von Santorin, die er vor der Abreise gekauft hatte. »Eine verdammt interessante Aufzeich nung, wenn es eine ist«, sagte er respektvoll. Das Schiff ankerte unweit von den Kliffs. Die Deutschen drängten sich am Fallreep, grimmig entschlossen, unter den ersten zu sein, die in die kleinen Fährboote stiegen. Claire hatte das allgemeine Gedränge schon miterlebt und blieb bis zum letzten Boot an Deck. Sobald sie den Boden der Insel betraten, wanderten sie hinter dem Touristenschwarm den Kai entlang und hinauf zur Eselstation. Die Tiere trugen ihre menschlichen Lasten bemerkenswert rasch und sicher die Kehren des gepflasterten Weges hinauf, in Bewegung gehalten von schreienden und Schläge austeilenden Trei bern. Wenn ihre Riemen auf den dichten, ver
filzten Fellen der Tiere landeten, erhoben sich Staubwolken daraus. John stieß seinem Esel automatisch die Fersen in den Leib, überholte die lachenden und fröhlich rufenden Deut schen und handelte sich einen fins ter-vorwurfsvollen Blick von einem Fremden führer ein. Thira, eine verschachtelte kleine Stadt aus weiß und blau getünchten Würfelhäusern, be krönte das Kliff. Andenkenläden säumten die gewundenen Gassen. Terrassen und Höfe wa ren so angelegt, daß die ständigen böigen Winde in enge Gassen abgelenkt und gedämpft wurden. Lange, mit Blütendolden behangene Zweige blauer Glyzinien schmückten Tore und Fassaden, blühende Winden überrankten Mauern und vereinten Nachbarhäuser. Schar lachrote Geranien lugten aus Fensteröffnun gen und Mauernischen. Claire hatte in dieser Insel immer die Ver körperung des griechischen Geistes gesehen. Die getünchten Häuser öffneten ihre Höfe dem durchbohrenden Sonnenlicht, offen aber un nachgiebig. Jedes der verschachtelten Häuser fügte der Herausforderung, die Thira über die schimmernde Bucht hinweg Nea Kaimeni zu schleuderte, etwas hinzu. Menschen waren wieder auf die Lavainsel zurückgekehrt und
hausten unerschrocken auf dem alten Schlachtfeld, wo Gott Vulkanos einmal ge wonnen hatte und zweifellos wieder gewinnen würde. Die Griechen waren immer zurückge kehrt, geschlagen aber unvermindert, ein schönes, aufragendes Testament zu machen, das in der ewigen Sonnenglut funkelte. Das Hotel Atlantean war ein mit Baikonen besetzter Klotz, so nahe am Rand des Kliffs, daß es sich vorwärts zu neigen und den Ab grund mit seiner Kühnheit in Versuchung zu führen schien. Claire und John luden ihre Reisetaschen im Foyer ab, und verhandelten wegen Zimmern. Ja, es waren noch ein paar frei. (Hotelangestellte ließen immer durchbli cken, daß man froh sein sollte, überhaupt noch etwas zu bekommen.) Nein, keins mit Aussicht auf, die Bucht. (Es sei denn, Sie wünschten mehr zu zahlen…?) Nun, wenn nur für einen Tag, ließ sich vielleicht etwas finden. (Die Sai son war vorbei, und sie standen wahrschein lich leer.) Der Mann an der Rezeption rümpfte die Nase, als sie verlangte, die Zimmer vorher zu sehen. Sie waren untadelig sauber, und der Blick vom Balkon mit seinem Eisengeländer war herrlich. Während der Angestellte mit John in dessen Zimmer war und ihm die Aussicht er
klärte, eilte sie den Korridor entlang zu dem Schild mit der Aufschrift NOTAUSGANG. Es gab eine Hintertreppe. Sie kehrte zurück und begeisterte sich gleichfalls für die Aussicht, um der Touristenrolle gerecht zu werden. John gab dem Mann ein Trinkgeld. Claire händigte ihm die Pässe aus und bat um baldige Rückga be, damit sie in den Geschäften Reiseschecks einlösen könnten. Der Mann nickte knapp und ging. Anscheinend hatte ihn überrascht, daß ein amerikanisches Paar, das zusammen reis te, nicht auch zusammen schlief. »Nicht gerade der liebenswürdigste Typ, wie?« »Vielleicht hat die Touristensaison diese Leute erschöpft. Gewöhnlich sind die Griechen höfliche und aufmerksame Gastgeber. Ich lie be dieses Land, aber in den letzten paar Jah ren…« Sie schüttelte den Kopf. »Warum fragten Sie ihn nicht nach George?« Sie setzte sich auf das mit frisch gestärktem Leinen bezogene Bett. »Ich möchte nicht, daß wir drei in seinem Gedächtnis miteinander in Verbindung gebracht werden. Sollte Kontos eine Suchmeldung oder einen Haftbefehl oder was auch immer aussenden, wird er uns darin als eine Gruppe von drei Personen beschrei ben.«
Er lächelte wissend. Sie hatte längst erkannt, daß er die Hoffnung hegte, sie habe ihre Ab spaltung von George aus romantischen Grün den vollzogen, und ermutigte sie mit einem spröden Lächeln, ohne etwas zu sagen. John war attraktiv, ja, aber sie hatte andere Sorgen. Immerhin war es gut, John abzulenken, damit er sich nicht um den Ernst ihrer Lage sorgte. Sie hatte keine klare Vorstellung, wie sie zum Grab zurückkehren konnte, war aber ent schlossen, die Männer daran zu hindern, ein fach aufzugeben und in die Staaten zurückzu kehren. Vielleicht war es kaltherzig, aber sie steckte jetzt in diesem Unternehmen, und lie ber wollte sie verdammt sein als aufgeben. »Und Sie sprachen nur englisch mit dem An gestellten, um wie eine Touristin zu wirken…« Es klopfte. »Die Pässe, nehme ich an«, sagte John und forderte zum Eintreten auf. George kam herein. Er sah hager und braungebrannt aus. »Du hast es geschafft!« Claire umarmte ihn, selbst überrascht über ihre Wiedersehens freude. »Ja. Dein Westentaschen-James Bond.« Er grinste und schüttelte John die Hand. »Gab es Schwierigkeiten?« George schüttelte den Kopf. »Kein bißchen.
Ich nahm das Schiff, mietete mich hier ein, be sichtigte die Insel. Für morgen habe ich Plätze auf einem Rundfahrtschiff reserviert, das nach Norden fährt.« Claire nickte. »Großartig. So rasch wird Kon tos einem Zickzackkurs wie diesem nicht fol gen können.« »Das darf man annehmen«, sagte John. Er reckte sich und gähnte, schien völlig unbesorgt und strahlte eine träge Selbstsicherheit aus. »Ich habe Hunger«, sagte er. »Gehen wir etwas essen!« Nach einem Abendessen mit Tintenfisch, grünem Pfeffer, gewürzten Würstchen, gebra tenen Zucchini, Reis mit Pinienkernen und zwei Flaschen eines feurigen einheimischen Rotweins, der den passenden Namen Lava trug, blieben sie noch müßig im Restaurant sitzen. Zwei amerikanische Mädchen kamen herein und setzten sich an einen Tisch bei der Tür. Abgesehen davon, daß sie die übliche Uniform aus schäbigen Jeans und schwer beschreibbaren Blusen bemerkte, schenkte Claire ihnen keine Aufmerksamkeit, bis eine plötzlich seitwärts vom Stuhl fiel und schwer auf den Boden schlug. Der Restaurantbesitzer kam herbeigeeilt, brachte eine in Wasser ge
tauchte Serviette und drückte sie dem gefalle nen Mädchen an Kehle und Stirn. »He, machen Sie kein solches Aufhebens da von«, sagte ihre Gefährtin. »Ich meine, es ist ihre eigene Schuld, wissen Sie. Ich sage ihr dauernd, he, warte mit deinem Schuß, bis du was gegessen hast.« Sie blickte auf der Suche nach Unterstützung umher, und ihr Blick blieb an Claire hängen. »Habe ich recht? Mein Gott!« Sie sahen zu, wie das andere Mädchen zu sich kam, etwas murmelte und, gestützt vom Res taurantbesitzer, auf den Stuhl zurückkroch. Kaffee erschien, und das Mädchen trank ihn in einem Zug aus. »Ich fange an, etwas mehr Mitgefühl für un seren Hotelangestellten zu empfinden«, sagte John. »Mehr Munition für Kontos und seinesglei chen«, erwiderte Claire. »Die Mißachtung ein heimischer Sitten und Moralvorstellungen drängt die Griechen nur noch mehr in eine po litische Richtung, die ihre mediterranen ori entalischen oder orthodoxen Wertvorstellun gen spiegelt: Patriarchalisch, zentralistisch, dogmatisch.« »So fällt es ihnen in harten Zeiten leichter, sich für autoritäre Bewegungen zu entschei
den, weil sie etwas von der alten Religion an sich haben?« fragte John. »Das kann gut sein. Kontos sieht nicht gerade wie ein Thomas Jefferson aus.« »Nun hört schon auf, ihr zwei!« sagte George. »Ihr deprimiert mich.« Sie schlenderten ins Abendlicht hinaus. Am Rande der Stadt hing ein Balkon über das Kliff, stummes Zeugnis der Eruption und Bergstürze von 1956. Claire sog die frische, salzige Luft tief in die Lungen. Hermes, der Gott der Kauf leute und Diebe, war mit ihnen. Auf dem Rückweg zum Hotel nahmen sie den gewundenen Pfad, der dem Kliff folgte. John konnte nicht genug tun, die umfassende Aus sicht zu bewundern, und sagte: »Dies also war Atlantis, wie?« »Nun, das wäre Sonntagsbeila gen-Archäologie. Sicherlich war dies auch At lantis, aber nur gemeinsam mit Kreta kann man diesen Begriff gebrauchen. Kreta und Santorin waren offenbar eine kulturelle Ein heit. Die Ägypter brachten es irgendwie durch einander. Sie erzählten den Griechen tausend Jahre später, daß eine große Inselkultur durch eine Explosion vernichtet wurde und in den Wellen untergegangen sei. Nun, Kretas Kultur ging damals tatsächlich unter. Die Insel wurde
mit Staub- und Aschenregen überhäuft, erlitt Erdbeben und wurde von gewaltigen Flutwel len verwüstet. Das war der Ursprung der Le gende.« »Aber Kreta ist hundertfünfzig Kilometer von hier«, sagte John. George machte eine Armbewegung zur Bucht. »Hat nichts zu sagen. Frage mich, wie viele Wasserstoffbomben nötig wären, um solch ei ne Wirkung zu erzielen?« »Ich habe es ausgerechnet«, erwiderte John. »Mindestens ein halbes Dutzend der großen Hundert-Megatonnen-Bomben.« Er wandte sich zu Claire. »Wenn es auf einmal geschehen ist. Aber Sie sagten, der Palast von Knossos sei zweimal zerstört worden.« »Das erste Mal offenbar durch ein Vorbeben«, sagte Claire. »Dieses Beben muß mehrere Jahre vor der großen Eruption gewe sen sein, ähnlich wie es in Pompeji vor dem berühmten Ausbruch des Vesuv geschah. Man hatte den Palast bereits wieder aufgebaut, als Santorin explodierte. Das war die größte Kata strophe in der Menschheitsgeschichte.« Und, dachte sie bei sich, als eine seltsame Art von Entschädigung ließ sie eine schöne Insel zurück. Die anderen Kykladen waren Teil der Kalksteinketten, die durch Euböa, Attika und
die Peloponnes südostwärts verliefen und zwischen ihren Höhen zur See hin offene Täler schufen, die den alten Griechen gute Häfen lieferten und ihren Blick südwärts nach Kreta lenkten. Die Geologie förderte die geschichtli che Entwicklung. Santorin war ein jüngeres Element, das in diese Welt emporgedrungen war, eine vulkanische Intrusion. Sie wandte sich ab und folgte dem steilen Weg hinab nach Thira und zum Hotel. Ihr Blick suchte ihr Zimmer, zählte die Stockwerke und identifizierte es durch das filigranartige Bal kongeländer aus Schmiedeeisen. Am nächsten Tag war noch Zeit genug, das Museum aufzu suchen und nach Verbindungen mit dem El fenbeinplättchen zu suchen. Einstweilen war sie müde von den Anspannungen der letzten Tage. Sie brauchte ein wenig Ruhe und Ablen kung, eine stille Stunde im frühen Sonnenun tergang, ein erholsames Nickerchen, bis es Zeit wäre zu einem weiteren Spaziergang, einem Einkaufsbummel, einer späten Mahlzeit der wunderbar zubereiteten Meeresfrüchte… Ein Mann in dunklem Anzug trat auf ihren Balkon hinaus. Er schien auf die Bucht hinauszublicken. Claire blieb wie angewurzelt stehen, hielt nach Deckung Ausschau. Es gab keine.
»Umkehren!« sagte sie in unterdrückter Pa nik. Die beiden blieben stehen und starrten sie an. »Den Weg entlang! Vorwärts!« Johns Augen weiteten sich, als er an ihr vor bei zum Hotel sah. Ohne ein Wort machte er kehrt, und George folgte. »George, geh du voran!« sagte sie. »Es muß aussehen, als ob wir nicht zusammengehör ten.« George eilte schon voraus. »Trägt die Polizei nicht Uniform?« fragte John. »Nicht immer. Wie bei uns gibt es auch hier Sicherheitsabteilungen, die in Zivil gehen.« Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder die Höhe erreichten und auf der ande ren Seite außer Sicht vom Hotel kamen. Hinter einem ausgedörrten Strauch spähte sie zurück. Ihr Balkon war leer. Nun, wenn der Mann sie erkannt hatte, waren sie erledigt; es gab kein Versteck. »Es könnte der Hotelangestellte oder ein an derer Bediensteter gewesen sein«, meinte George. »Darauf können wir uns nicht verlassen«, sagte John. »Wenn sie uns suchen, ist Thira jedenfalls zu klein, um darin Unterschlupf zu finden«, sagte George.
»Besser als im Freien zu stehen«, entschied Claire. »Kommt mit!« Bei der ersten Wegkreuzung wandten sie sich landeinwärts. Es war grotesk, wie sie hier durch die Bilderbuchlandschaft wanderten und diskutierten, wie sie der Polizei entgehen könnten. Unwirklich. Sie beschleunigten ihren Schritt und beobachteten wachsam alle Ein heimischen, die irgendwo in ihren Gesichts kreis kamen. »Ich habe unsere Pässe abgeholt, als wir zum Essen gingen«, sagte John. »George hatte sei nen schon. Wir könnten einfach zum Flugplatz gehen und auf die erstbeste Maschine war ten…« George schüttelte den Kopf. »Dieser Flugplatz ist eine ganz kleine, einfache Anlage. Wir würden auffallen, und die Polizei würde uns sofort schnappen. Außerdem glaube ich nicht, daß vor unserem Schiff ein anderes auslaufen wird.« »Und das werden sie im Auge behalten«, fügte Claire hinzu. John sagte: »Dann laßt uns die Attika zurück nach Kreta nehmen.« Claire schüttelte den Kopf. »Die werden sie genauso überwachen.« »Dann sitzen wir in der Falle«, sagte George.
John überlegte. »Nicht, wenn wir ein Boot mieten können.« »Um selbst zu segeln?« fragte George. »Ich kann das nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Claire. »Ich könnte, glaube ich. Jedenfalls bis zur nächsten Insel«, fügte John hinzu. »Dies ist eine gefährliche Jahreszeit für Se gelfahrten«, sagte Claire, die sich nun erin nerte, in einer Geschichte des ägäischen Han delsverkehrs darüber gelesen zu haben. »Unverläßliche, wechselnde Winde, ich glaube, man nennt sie Meltemi.« »Gut, dann bleibt Schwimmen«, sagte John. »Ich überdachte nur alle Möglichkeiten«, entgegnete Claire spröde. »Wo können wir ein Boot bekommen, einen Fischkutter oder was?« fragte George. »Nicht hier in Thira«, sagte John. »Ein Poli zist, der unten auf der Pier steht, würde uns fünfzehn Minuten lang vom Ort herunter kommen sehen.« »Richtig«, sagte Claire. »Wir müssen über die Insel gehen.« Sie hatten einen Bogen geschla gen und kamen von Osten in die weißgetünch ten Gassen Thiras. »Vielleicht kann ich ein Ta xi finden.« »Augenblick!« sagte John. »Angenommen,
wir schaffen es bis zur nächsten Insel. Was dann?« »Von dort suchen wir eine Überfahrt nach Kreta zu finden und nehmen einen Flug nach Ägypten«, sagte George. »Und sollen am Ende für all dies Hin und Her nichts vorzuzeigen haben?« sagte Claire auf gebracht. »Also gut«, erklärte John. »Es gibt nur eine Möglichkeit – . auf dem Seeweg. Zurück zur Peloponnes.« Claire nickte. »Und dann?« »Dann müssen wir Griechenland verlassen. Sie werden uns an jedem Flughafen, auf jedem Passagierschiff und an jedem Grenzübergang schnappen. Also müssen wir segeln.« Sie blieben unwillkürlich stehen und sahen einander an. »Hör mal«, sagte George, »allmählich gerät diese Sache außer Kontrolle.« »Hast du eine bessere Idee?« fragte Claire. »Nein.« »Ich möchte euch nicht erschrecken«, sagte Claire, »aber ich habe noch ein Erfordernis. Ich will meine Aufzeichnungen.« »Die in der Reisetasche?« fragte John. »Richtig.« »Wie willst du ungesehen ins Hotel kom
men?« fragte George. »Ich werde meine Aufzeichnungen nicht hier lassen.« »Hör mal, du läufst denen in die Arme…« »Ich weiß«, sagte Claire. »Ihr zwei bleibt hier. Ich werde es machen.« John zögerte. »Nun, nicht so schnell. Viel leicht kann ich helfen.« »Gut! Suchen wir ein Telefon.« »Sie haben eine Idee?« John schien über rascht. »Gewiß.« Sie steuerte ein Restaurant an. George und John gingen zur Theke und be stellten Bier, während sie das Hotel anrief. Der Angestellte im Empfang meldete sich. »Hallo? Hier ist Miß Anderson, die Amerikanerin. Zimmer 308. Ich hatte ein Taxi bestellt, das uns dort um diese Zeit abholen sollte.« »Ja?« Die Stimme klang interessiert.
»Es sollte uns zu der Ortschaft im Norden fahren. Nach Oia, so heißt sie, glaube ich.« »Ja?« »Nun, wir werden uns verspäten. Wir haben hier im Hotel Delphi Freunde getroffen und sitzen beisammen, und ich glaube nicht, daß wir heute noch Zeit haben werden, nach Oia zu fahren. Könnten Sie dem Taxifahrer das bitte ausrichten, wenn er kommt?«
»Selbstverständlich, ja.« Claire bedankte sich und plapperte noch ein wenig, und während sie sprach, hörte sie ihn auf griechisch flüstern: »Ja, das ist sie.« Sie bedankte sich noch einmal und hängte lä chelnd ein. Vorsichtig näherten sie sich dem Hotel durch eine gewundene enge Gasse zwischen weißge kalkten Häusern. »Das ist zu riskant«, sagte George. »Dann bleiben Sie hier«, sagte John. »Wenn wir nicht zurückkommen, dann versuchen Sie Ihr Glück einfach mit dem Schiff.« Claire sah, wie die beiden einander beäugten. George erkannte die Herausforderung, schüt telte jedoch den Kopf. »Ich finde einfach nicht, daß dies eine gute Idee ist.« »Gut«, sagte John. »Warten Sie hier!« »Nein, Moment!« sagte Claire vermittelnd. »George, warte, bis wir hinter dem Hotel sind. Siehst du die Terrasse auf der linken Seite? Von dort werde ich dir ein Zeichen geben. Dann rufst du das Hotel an und verwickelst den Empfangsangestellten in ein Gespräch. Das wird ein nützliches Ablenkungsmanöver sein.« George war froh über diesen Ausweg. »Klar, kann ich machen.«
Es dauerte nicht lange. Sie und John erreich ten ungesehen den rückwärtigen Eingang zum Hotel, wo sie nur eine alte Frau trafen, die ih nen eine Halskette aus Obsidianperlen zu ver kaufen suchte. Im Erdgeschoßkorridor war niemand. »Ich gehe zuerst hinauf«, sagte John. »Nein, ich will nicht hier unten bleiben.« »Ich sagte nicht, daß Sie es sollten.« Er warf ihr einen forschenden Blick zu. »Ich dachte nur, sie würden rascher aufmerksam, wenn sie Sie zuerst sehen, das ist alles.« Claire folgte ihm. Das Herz schlug ihr im Halse, und sie atmete rascher als die steile, gewundene Treppe rechtfertigte. Eine pri ckelnde Stille herrschte, und in der Luft lag noch der ölige Essensgeruch vom Mittag. Sie trat vorsichtig mit den Zehen auf, bemüht, je des unnötige Geräusch zu vermeiden. Gleich zeitig horchte sie auf die Geräusche von Schritten in den Korridoren. Dann vernahm sie eine entfernte Stimme, die in gereiztem Ton mit Unterbrechungen sprach. Der Hotelangestellte, der mit George telefo nierte. Der Korridor, der zu ihren Räumen führte, war leer. John winkte ihr, und sie eilten über den Läufer zu ihren Zimmern und öffneten.
Nichts. Kein Zeichen von fremder Anwesen heit. Für einen Augenblick war Claire über zeugt, daß es ein alberner Irrtum sei, daß der Mann auf dem Balkon ein harmloser Hotelan gestellter gewesen sein müsse. Schon dabei, eine Bluse in die Reisetasche zu stecken, hielt sie inne und dachte daran, John mit ihrer neuen Einsicht bekannt zu machen, dann aber sah sie den Zigarettenstummel im Aschenbe cher. Ein rascher Blick sagte ihr, daß es eine einheimische Zigarette der Marke ENOE war, die bis auf einen zentimeterlangen Rest aufge raucht worden war. Kein Hotelangestellter würde solch ein auffallendes Zeugnis seines Eindringens hinterlassen. Sekunden später hatten sie ihre und Georges Reisetaschen beisammen und eilten die Hin tertreppe hinab, erhitzt und stolz auf ihren Erfolg. Als sie in einem Bogen zu Georges Standplatz zurückkehrten, hatte er bereits ein Taxi aufge trieben. Claire war nervös, spähte in alle Richtungen und John riß die Tür des Taxis auf und schob sie hinein. Sie nahmen die einzige Straße zur Ostküste der Insel und drängten den Fahrer zur Eile. Das kleine Dorf Perissa verfügte über einen kurzen Kai aus verwittertem Beton und
Bruchsteinmauerwerk. Wo er begann, stand ein einsamer Schuppen, und der Mann dort antwortete verschlafen auf ihre Fragen und ließ sich Zeit, bis er aufstand. Ob es jemanden gebe, der eine längere Fahrt mit ihnen machen könne, mehrere Tage, viel leicht nordwärts zu den anderen Inseln? Der Mann war im Zweifel. Vielleicht der Fischkut ter draußen am Ende der Pier. Der Eigentü mer, ein Fischer, sei an Bord; es könnte sein, daß er so etwas tun würde. Aber das Boot sei natürlich nur klein, nicht für so viele Leute. Nicht für Amerikaner, die Komfort gewohnt seien und von allem nur das Beste wollten, ja? Sie versicherte ihm, daß sie trotzdem interes siert seien. Der Mann setzte sich wieder und griff von neuem nach der Zeitung. Die Über schriften enthielten Anklagen gegen die USA. Sie gingen den Kai entlang zu dem bezeich neten Fischkutter, der die Netze zum Trocknen hochgezogen hatte. Es war ein gewöhnlicher Fischkutter, dessen Name, Skorpio, durch Entfärbung und abgeblätterte Farbe halb aus gelöscht war. Eine rostige Winsch und ein He bebaum brauchten Schmiere. Der Kutter lag mit dem Heck an blauen und gelben Diagonal streifen, die auf den Beton gemalt waren. John zeigte darauf. »Wenn sie hier die übli
chen Hafenmarkierungen verwenden, bedeu ten diese Streifen, daß der Liegeplatz für fremde Boote reserviert ist. Muß ein Fischer von einer anderen Insel sein.« »Südlich von hier gibt es keine Inseln von Bedeutung. Er muß also aus dem Norden sein.« »Gut«, sagte George. »Aber ehe wir an Bord gehen, müssen wir uns klar sein, was wir wol len. Wir haben Bargeld; ich schlage vor, wir zeigen ihm davon. Je eher wir auslaufen, desto besser.« »Er wird aber Vorräte brauchen.« »Wir können ihm helfen, welche an Bord zu bringen.« »Die Polizei wird nicht wissen, daß wir hier her gekommen sind. Wir haben etwas Zeit.« »Nein, haben wir nicht. Wenn sie vom Delphi zurückkommen und unsere Räume überprü fen, werden sie sehen, daß unser Gepäck fehlt. Ein Anruf bei diesem Mann im Schuppen dort, und wir sind geliefert.« »Oh.« Sie zog die Stirn in Falten. Es ging alles so schnell. Was als ein Abenteuer begonnen hatte, als eine lange Nase, die sie Kontos ge dreht hatte, verstrickte sie immer tiefer und ließ ihr keine Zeit zum nachdenken. Noch vor einem Tag hatte sie leichtfertig angenommen,
daß, sollten sie gefaßt werden, die Polizei sich ganz gewiß damit begnügen würde, sie des Landes zu verweisen. Aber inzwischen gab es neue Gesetze und Beschränkungen, und sie hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, eine Zeitung zu lesen und zu überlegen, was die neuen Bestimmungen in ihrem konkreten Fall bedeuteten. Konnte man sie eines ernsten Vergehens beschuldigen? Kontos wußte, daß sie noch im Lande waren, er hatte die Polizei aufmerksam gemacht. Was würde er tun, wenn sie zu ihm gebracht würden? Claire hatte gedacht, sie seien mit etwas da vongekommen; nun sah sie, daß es erst los ging.
4 Nach Mitternacht bekam man ein Gefühl für die verschiedenen Dichten, sogar für die ver schiedenen Farben der Dunkelheit. John stand auf dem Heck der Skorpio und spürte die murmelnde Dunkelheit der leben den See ringsum. Einige hundert Schritte ent
fernt ragte die schwarze Masse des Kliffs und warf ein leises Echo klatschender Wellen und schläfrig rauschender Brandung zurück. Am Himmel waren dichte Wolken aufgezogen und schienen der tintigen Finsternis eine eigen tümliche Stille mitzuteilen. Unter dieser Decke markierte ein schwach erkennbarer Schaumstreifen den Saum, wo die Wellen sich an den Blöcken des schmalen, aschgrauen Uferstrei fens der Brandungsplatte brachen. Sie würden ein wenig weiter rechts landen, wo ein Pfad zum körnigen Sand hinabführte. Er hatte die Stelle am Nachmittag zuvor durch den Feldstecher des Kapitäns studiert und sich zu erinnern versucht, wo das Lager und der Ausgrabungsplatz auf der anderen Seite der Anhöhe lagen. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, nur wenige hundert Schritte vom Grabungsort vor Anker zu liegen, aber sicher in dem Wissen, daß niemand der See auf der anderen Seite des felsigen Rückens Aufmerk samkeit schenken würde. Das jedenfalls dach ten sie. Als sie die Küste der Peloponnes erreicht hatten, war der Kapitän, ein wortkarger Mann namens Ankaras, darauf verfallen, mehr Geld zu verlangen. Das Bordradio hatte von atmo sphärischen Störungen überlagerte Nachrich
ten von weiteren Maßnahmen der Regierung gebracht. Ausländer wurden höflich aber ent schieden aufgefordert, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Ausnahmen waren zugelassen, doch die Absicht war klar. Die Re gierung hatte ihren Austritt aus der NATO formell bekanntgegeben und ratifiziert; dies mit der Begründung, die Politik des Bündnis ses werde allein von den Vereinigten Staaten bestimmt, sei gegen Friedensbemühungen ge richtet und bereite den Krieg vor. Die bereits bestehenden Beschränkungen im Zahlungs verkehr mit dem Ausland waren weiter ver schärft worden. Auf der internationalen Ebene war es zu weiteren Grenzstreitigkeiten in Süd ostasien gekommen, in der Sowjetunion stand eine weitere Mißernte bevor, und die Verei nigten Staaten hatten ihr neues Weltraumla bor in Betrieb genommen. Claire hatte Kapitän Ankaras überzeugt, daß sie bloß Individualtouristen seien, die das wahre Griechenland kennenlernen wollten, ein paar Tage ungewöhnlicher Erfahrung, ei nen Geschmack davon, wie die Einheimischen wirklich lebten. John war nicht ganz sicher, daß Kapitän Ankaros ihren ernsten Erklärun gen Glauben schenkte, aber er nahm das Geld, das sie ihm gaben, und hatte sich sogar bereit
erklärt, sie um die Peloponnes und weiter nach Italien zu fahren. Am Vortag hatten sie eine überzeugende Schau von Badevergnügen im Argolischen Golf über die Bühne gebracht, und er und George waren zu einer kleinen Wande rung auf der Insel Spetsai an Land gegangen. Claire hatte darauf bestanden, wenigstens ei nen vollen Tag touristischen Aktivitäten zu widmen und so in Kapitän Ankaros’ Bewußt sein den Eindruck zu festigen, er habe es mit ein paar ziemlich exzentrisch Reisenden zu tun, die ihren Urlaub nicht auf den ausgetre tenen Pfaden des üblichen Fremdenverkehrs verbringen, sondern auf dieser Kreuzfahrt durch wenig befahrene Gewässer die frische Luft, die Stille und den milden Sonnenschein des Spätherbstes genießen wollten. Ohne ein besonderes Ziel anzugeben, hatten sie ihn gedrängt, tiefer in den Golf einzulaufen, hatten die kathedralenhaften Kliffs und den Verlauf der Höhenzüge beobachtet, bis sie sich darin einig waren, daß sie sich unterhalb des Kuppelgrabes befanden. Dann wurde gemein sam zu Abend gegessen. Kapitän Ankaros hatte Fisch zubereitet, den sie tagsüber gefangen hatten, Gemüse, das sie in Spetsai gekauft hat ten, zusammen mit drei Flaschen Wein. John rülpste vernehmlich und hoffte, der
schlafende Kapitän fühlte sich nicht gestört. Noch ehe die zweite Flasche geleert war, hatte der Fischer zu singen begonnen, und seine drei Passagiere hatten unauffällig dafür gesorgt, daß er von dem kräftigen Roten viel mehr be kam als sie, und lange mit ihnen aufblieb. John setzte sich ungern mit auch nur leicht bene beltem Kopf mitten in stockfinsterer Nacht in ein kleines Beiboot, um an Land zu rudern, aber es war notwendig. Sie hatten alle drei Stunden voll angekleidet geschlafen und sich dann zum Heck des Fischkutters begeben. John und George schliefen sowieso auf Deck, vor und hinter dem Lukendeckel, weil unter Deck nur Raum für zwei war. Kapitän Ankaros hatte seine Koje in der Kajüte des Vorschiffs, und Claire genoß die Zurückgezogenheit der daran anschließenden kleinen Kabine auf Backbord. Sie hatten die fischig riechende, unsaubere Enge des Kutters während der drei Tage, die sie gebraucht hatten, um hierher zu kommen, wohl oder übel ertragen. Der Gedanke an vier oder fünf weitere Tage und Nächte, die sie in gleicher Weise würden verbringen müssen, ehe sie Italien erreichten, war nicht ermuti gend. John war froh über diese Gelegenheit, an Land zu gehen und etwas zu tun, was sie dem
Ende dieser ganzen Angelegenheit näher brin gen konnte. Es hatte als ein toller Streich angefangen, aber drei Tage und zwei Nächte auf See mit den anderen hatten ihn davon geheilt. George hatte sich den ganzen ersten Tag übergeben und den Rest der Fahrt entweder krank auf dem Deck liegend oder wehklagend verbracht. Claire hatte, nachdem sie in der ersten Stunde nach dem Auslaufen von Santorin von heftiger Übelkeit befallen worden war, den Rest der Fahrt in stoischer Geduld ertragen. Wenn die beiden erklärt hatten, daß sie nicht segeln könnten, hatten sie nicht zuviel gesagt. Sie konnten den Bugspriet nicht vom Hauptmast unterscheiden. Und drei Tage auf See – selbst einer so sanften See wie der Ägäis – hatten sie beide überzeugt, daß sie nie, nie irgend etwas mit der Seefahrt zu tun haben wollten. George murmelte ihm zu: »Warum warten wir noch?« »Daß der Wind mehr nach vorn dreht. Ich möchte, daß er unsere Geräusche von ihm fortträgt.« Das traf zu, aber er wollte sich auch an die Nacht gewöhnen, ein Gefühl dafür bekommen und sehen, ob das Wetter umschlug. Es wäre genau das rechte, wenn sie eine kabbelige,
hoch auflaufende See bekämen, die sie an den trümmerübersäten Strand setzte. Nächtliche Operationen waren immer riskant, und noch schwieriger wurde es, wenn sie mit einem Mi nimum von Geräuschen durchgeführt werden sollten. Er bedauerte bereits, daß er auf Claires Beharren, dem Kapitän nichts zu erzählen, eingegangen war. Gewiß, er hatte keinen plau siblen Grund für ihren nächtlichen Landaus flug finden können, doch als er nun die an schwellende Macht der dunklen See fühlte, waren die Konsequenzen eines Fehlschlags re aler, die Risiken bei weitem größer als ihre ru higen, vernünftigen Diskussionen jemals zu gaben. Seine sonnigen Segelwochenenden vor Galveston waren eine lächerlich unzulängliche Vorbereitung für dies. Er seufzte, versuchte die Nachwirkungen der reichhaltigen Mahlzeit und des Weines abzu schütteln und zog das Beiboot näher heran. Claire und George standen als schattenhafte Umrisse neben ihm und warteten. »Sie steigen zuerst ein. Ich halte das Boot an der Leine.« Sie kletterten vorsichtig über Bord und schafften es, nicht gegen die hölzerne Bord wand zu poltern. John stieg zuletzt ein und stieß das Boot gleichzeitig ab. Er suchte im Dunkeln nach den Riemen, setzte sich auf die
Ruderbank und nahm Kurs auf das Kliff. Während er ruderte, prägte er sich die Positi onslampen der Skorpio für später ein. Da die Ruderdollen quietschten, nahmen er und George je ein Ruder und paddelten. Obwohl die Entfernung nicht groß war, schien es viel Zeit und Mühe zu kosten, bis sie das Ufer erreichten. Sie navigierten nach dem leisen Brandungsrauschen und dem schwach sichtbaren Weiß der Gischt an vorgelagerten Felsblöcken. Eine schräg auflaufende Welle drehte das Boot seitwärts, und die nächste traf es breitseits; einen Augenblick dachte John, sie würden kentern. Aber dann konnten sie den Bug wieder landwärts drehen, und plötz lich glitten sie, von einem Wellenkamm getra gen, schnell vorwärts und abwärts, den Gischtkamm der Brandungswelle im Rücken, und gleich darauf lief der Kiel auf Grund. Zur Linken erhob sich ein schwarzer Keil. »Aussteigen!« John sprang in das überra schend warme Wasser und zog das Boot am Bug vorwärts, als die nächste Brandungswelle auslief und den Bootskörper hob. Die anderen platschten neben ihm durchs Wasser und zo gen. Mit dem nächsten Wasserschwall beför derten sie das Boot auf den steilen Strandstreifen aus faustgroßem Geröll. John sicherte
es vorn und achtern mit Seilen, die er um grö ßere Felsbrocken knotete. Als er fertig war, hatte George die Ausrüstung geschultert und den Uferstreifen erkundet. Rasch fanden sie den kaum erkennbaren Pfad. Langsam arbeiteten sie sich in der Dunkelheit aufwärts, still bis auf geflüsterte Warnungen: »Vorsicht, Loch!« oder »Achtung Stufe!«. George schaltete die Taschenlampe nur ein, um den weiteren Verlauf des Pfades festzu stellen. »Achtung, lose Steine!« Ihre Hauptsorge galt dem Lostreten des lockeren Gerölls. Sie erreichten die Höhe und kauerten hinter einer Deckung nieder. Ein paar nackte Glüh birnen beleuchteten das Lager. Nichts regte sich. »Sieht so aus, als wären sie gerade gegan gen«, sagte George. »Kontos hat noch nicht genug Zeit gehabt, zurückzukommen und das Lager abzubre chen«, flüsterte Claire. »Vielleicht«, sagte John. »Ich wette, seine Leute sind noch hier. Der Ausgrabungsplatz ist nicht gegen Vandalismus gesichert.« Claires Flüstern wurde zu einem alarmierten Zischeln. »Glauben Sie, daß jemand Wache hält?« »Wahrscheinlich. Das sind Soldaten, keine
Wissenschaftler.« »Was sollen wir tun?« Der Gedanke an einen Wachtposten hatte offenbar nicht Eingang in ihre Überlegungen gefunden. »Wir arbeiten uns zum Kamm und folgen ihm auf der anderen Seite bis zur Grabkammer. Dort überqueren wir ihn und steigen direkt zum Dromos ab. Aber Vorsicht! Niemand darf Steine lostreten.« Die See lag in Dunkelheit gehüllt unter ihnen, als sie durch steile Erosionsschluchten auf stiegen. John blickte auf die Uhr. Erst fünfzehn Minuten waren vergangen, seit sie von der Skorpio abgelegt hatten. Es kam ihm wie eine Stunde vor. Auf dem Höhenrücken kamen sie rasch vo ran, aber der Abstieg zum Kuppelgrab war mühsam und schwierig, da jedes unnötige Ge räusch vermieden werden mußte. Der trübe Lichtschein vom Lager half ein wenig; von ih rem Standort konnten sie den ganzen Hang überblicken, und John war ziemlich sicher, daß niemand zwischen den Zelten stand oder ging. Sie erreichten den Zugangsweg und suchten eilig die Deckung des Dromos. Die große höl zerne Tür war durch ein Vorhängeschloß ge sichert.
»Wenigstens haben sie daran gedacht«, sagte Claire und zog ihren Schlüssel hervor. Die Tür knarrte und quietschte unmöglich laut. Ehe sie die Handlampe, die George vom Schiff mitgebracht hatte, einschalteten, zogen sie die Tür wieder zu. Dann leuchtete er um her. »Sie haben nichts angerührt!« sagte Claire aufgeregt. Die langen, tanzenden Schatten be einträchtigten Johns Erinnerung, aber alles schien an Ort und Stelle zu sein, selbst die Planen, mit denen George die Wandöffnung verhängt hatte. Sie eilte zu den aufgestapelten Kisten mit Material. »Meine Aufzeichnungen und Proben sind in dieser hier. Der verdammte Kontos! Wollte mich nicht mehr hier hineinlassen! Hilf mir, George!« Er öffnete eine kleine Kiste mit Hammer und Schraubenzieher, während George sich im Kuppelgrab umsah. Irgendwie hatte sich etwas verändert. Im blassen Lampenschein wirkte das Kragsteingewölbe bedrohlich, wie Hände, die sich um ihn schlossen. Wieder drängte sich die unwillkommene Vorstellung in das Be wußtsein, gefangen in dieser Höhle zu sitzen, betrunken oder unter Drogen, aber mit dem Wissen, daß außerhalb der massiven Tür Sand
und Geröll fünf Meter hoch lagen, daß die Luft immer schlechter wurde, und verräuchert vom Qualm der Öllampe… »Da sind sie!« sagte Claire und nahm mehrere Notizbücher heraus. »Ah, die Aufzeichnungen könnte ich auch noch mitnehmen…« Sie bündelte alles zusammen und stand auf. Alle drei strahlten einander an – bis John die Plane vor der Maueröffnung lüftete. »Der Würfel – er ist fort.« Claire fuhr herum. »Was?« Die Stelle an der Wand, wo die Packkiste ge standen hatte, war leer. »Also hat er das Ding als erstes nach Athen transportiert.« »Komisch, warum nur diesen einen Gegen stand?« murmelte George nachdenklich. »Man sollte meinen, auf dem Lastwagen wäre noch Platz genug für das übrige Zeug gewesen.« Er deutete mit einer Handbewegung zu den an deren Kisten. »Halten wir uns nicht länger auf!« sagte John. »Nur einen Augenblick…« George ging zu seinem Flaschenzug und untersuchte die Be festigung der Seile. »Das hier sieht nicht so aus, wie ich es zurückgelassen hatte. Bei mir waren die Seilenden anders befestigt.« Er zog ein Ende heraus. »He, Claire, bring die Lampe herüber, ja?«
Er spähte durch die Maueröffnung. »Nanu! Es ist hier drinnen.« Sie drängten sich zu ihm hinein. Die Kiste mit dem Kalksteinklotz stand wieder außerhalb der Mauer, in der Höhle, wo sie ihn gefunden hatten. »Warum mag Kontos das getan haben?« fragte John. Claire schürzte die Lippen. »Um ihn aus der Inventurliste der Expedition herauszuhalten?« »Wozu?« »Dann könnte er nächstes Jahr wieder her kommen, den Klotz ›finden‹ und die Entde ckung für sich selbst beanspruchen.« »Sich den Umstand zunutze machen, daß Sie den Fund verschwiegen haben, meinen Sie?« sagte John. Sie warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. »Ja, so ungefähr. Wahrscheinlich hat Kontos bemerkt, daß der Block in der Inventurliste unter ›Verschiedenes‹ aufgeführt ist.« »Er hat ihn nicht ausgepackt«, sagte George. »Also kann er nicht wissen, was in der Kiste ist.« »Richtig«, sagte John. »Vielleicht hat er alles, was unter ›Verschiedenes‹ aufgelistet ist, zur genaueren Prüfung zurückgestellt.« Claire stemmte die Hände in die Hüften und
blickte zu den Packkisten. »Das würde ich ihm ohne weiteres zutrauen. Verdammt!« »Es würde ihm ein leichtes sein«, meinte George. »Angenommen, er schickt ein paar Leute herauf, die sich nicht auskennen, und sagt ihnen, daß sie alles fortschaffen sollen, was in der Grabkammer steht, aber nicht das mit Planen verhängte Zeug bei der Wand. Und nächstes Jahr…« John nickte. »So könnte es gewesen sein.« »Ich werde ihm einen Strich durch die Rech nung machen!« sagte Claire heftig. »Wenn diese Kiste in Athen auftaucht, kann er sie nicht verstecken. Seine Kollegen werden sie sehen.« George zog die Brauen hoch. »Wie?« Auch John begriff, was sie wollte. »Wir haben keine Zeit.« Heftig wandte sie sich zu ihm. »Kontos be werkstelligte es offensichtlich mit Georges Flaschenzug. Wie lang würde es dauern – zehn Minuten?« »Selbst wenn wir die Kiste wieder zu den an deren stellten, wäre damit nicht gesagt, daß Kontos sie nicht abfangen würde…« »Ach, Unsinn! Komm, George!« Sie fing an, ungeduldig mit den Seilen zu hantieren. »Also«, fing George an, »ich weiß nicht, ob…«
»Will keiner von euch helfen? Gut, dann tue ich es allein. Geh schon! Sie auch, John!« »Nur keine Aufregung.« John resignierte, zog einen Flaschenzug in Position. »Machen wir es schnell.« George sah sofort, wie Kontos die Kiste auf gehängt hatte: vier Ränder waren mit Schrau benhaken versehen. »Er muß die Kiste mit ei ner der hölzernen Rampen durch das Loch geschoben haben. Da, mit der wird es gehen. Wir kehren den Prozeß einfach um.« Während sie die Seile und Flaschenzüge anordnete, blickte John auf die Uhr. Wieder waren fünfzehn Minuten vergangen. Bis zum Morgengrauen war noch viel Zeit. Die Ebbe dauerte an, also bestand keine Gefahr, daß das Boot von der Flut erfaßt und gegen die Felsen gedrückt wurde. »Ich werde durchkriechen und die Seile durch die Haken fädeln«, sagte George. John brachte die Rampe in Position und reichte die Seile durch. Trotz des Gewichts der Kiste mit dem Kalksteinblock stand zu erwarten, daß die ehrwürdigen mechanischen Prinzipien die Umsetzung rasch und problemlos gestalten würden. »Fertig!« rief George. »Nun die vorderen zwei Haken anheben, wie ich gezeigt habe.« Claire
löste die Sperren, und John hielt die Seile. Die Kiste wurde vorn angehoben. John schob das Ende der Rampe darunter. Indem sie vor wärtszogen, konnten sie die Last über die Rampe bewegen. John nahm das Zugseil und legte sich ins Zeug. »Recht so!« rief George. »Noch ein bißchen mehr!« John und Claire zogen miteinander. Die Kiste schwankte ein wenig. »Das Seil hat sich irgendwo verhakt«, sagte George. »Spannung halten! Ich werde nachse hen, was es ist.« Er kniete neben der Kiste nieder und han tierte mit den Seilen. »Ein paar Gesteinsbro cken, müssen aus dem Boden gerissen sein…« Plötzlich verlagerte sich die Kiste seitwärts. Die gespannten Seile kippten sie weiter zu rück. In einer schrecklichen Zeitlupenbewe gung kippte sie rückwärts, kam auf Georges linkes Bein herab, ehe er es in Sicherheit bringen konnte, und schwankte heftig zur Sei te. Dann krachte sie gegen die Höhlenwand. George schrie. Die Kiste torkelte. Holz platzte auf. Die Höhlenwand hatte ihren Schwung nur umgelenkt, aber nicht absorbiert, und nun polterte sie auf dem unebenen Boden rück wärts und in das offene Loch.
John hörte sie einmal, zweimal aufprallen; Holz splitterte. Die Lampe war George aus der Hand gefallen, und John schien es, daß ihr Lichtschein in einem wilden Tanz über die Wände fuhr und von überall gleichzeitig zu kommen schien. Lautes Dröhnen, wie Kano nenschüsse. Ein Rattern, als ob etwas weit un ter ihnen durch einen Schacht fiele. Ein Sum men, das bald verstummte, ein entferntes Aufklatschen. Dann Stille.
5 Claire richtete den Lichtkegel auf Georges entblößtes Bein. »Es wird dunkler.« Behutsam strich sie mit den Fingern über den zitternden Wadenmuskel. »Vielleicht ist es bloß eine Quetschung, aber…« »Kommt mir… eher wie ein… Bruch vor«, schnaufte George. Claire nickte. Ihr Herzschlag pochte dumpf in den Schläfen. »Fühltest du etwas brechen?« »Ich weiß nicht… vielleicht. Es war nur eine Sekunde auf mir, aber es schmerzte höllisch.«
»Wie schlimm ist der Schmerz jetzt?« fragte John. George versuchte das Bein zu bewegen. »Ah! Es schmerzt, aber nicht… richtig scharf.« Claire nahm seinen Knöchel und zog behut sam daran. »Wie ist das?« »Nicht schlimm. Ich meine, keine Verände rung.« »Das könnte bedeuten, daß es kein schwerer Bruch ist. Vielleicht nur ein Haarriß. Und ein massiver Bluterguß mit Muskelquetschung.« »Ich wälzte mich fort, als das Ding auf mich viel.« »Ein Glück, daß Sie nicht mit hinuntergeris sen wurden«, sagte John. »Ja…« George blickte ohne Vorwurf zu ihnen auf. »Das haben wir fein hingekriegt, wie?« »Ich…« Claire zögerte. »Ich weiß nicht, was schiefging. Vielleicht zog ich zu lange und zu fest am Seil, oder was.« »Wenn schon, dann wir beide«, sagte John. Sie winkte ab. »Wie auch immer, es war mei ne Idee, und ich übernehme die Verantwor tung.« »Und nun… liegt es unten, wie? Muß in tau send Stücke zersprungen sein.« »Es hörte sich fürchterlich an«, gab Claire zu. »Ich hörte das Splittern von Holz.«
»Ich werde nachsehen.« John bewegte sich vorsichtig zum Rand des Loches und leuchtete hinunter. »In einer Spalte tief unten sind ein paar Bretter hängen geblieben. Kratzspuren an den Wänden.« »Ich glaube, ich möchte es lieber nicht se hen«, sagte Claire. Die Ernüchterung überkam sie mit einer Art Übelkeit. Ein unschätzbarer Gegenstand aus der Vergangenheit, ruiniert und verloren durch ihre ehrgeizigen Spiel chen. Es war, als hätte man ihr einen Guß kal ten Wassers über den Kopf gegeben, und die Erkenntnis, daß sie egozentrisch, unfachmän nisch, leichtsinnig, selbstgerecht, achtlos ge wesen war, bedrückte sie. »Da wird es nicht mehr viel zu sehen geben«, sagte John und gab ihr die Lampe. Er wandte sich halb zur Seite, dann blickte er stirnrun zelnd in die dunkle Öffnung. »Bis zur Seehöhe müssen es an die hundert Meter sein, aber…« »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Claire. »Wir müssen George in ein Krankenhaus bringen.« George hob den Kopf. »Ach nein. Ich meine, wir können es mit dem Kutter nach Italien schaffen, nicht wahr? Ich habe kein Verlangen, in ein griechisches Krankenhaus zu kommen und anschließend ins Gefängnis.«
»Sie brauchen ärztliche Hilfe«, sagte John. »Sehen Sie, so schlecht bin ich nicht dran. Ich sage, wir verschwinden schleunigst von hier.« John sagte: »Sie können nicht gehen.« »Wer sagt das? Sie können mich stützen. Helfen Sie mir auf!« Claire stützte George, als John ihn vorsichtig emporzog, daß er sich auf seine Schulter stüt zen konnte. George wurde aschfahl, aber er hielt sich. »Sehen Sie? Ich kann sogar einen Schritt tun.« »Nein, lassen Sie das lieber…« George wankte vorwärts und trat unsicher auf seinen linken Fuß. »Da! Sehen Sie?« »Hast du sehr starke Schmerzen?« fragte Claire. »Nein… eigentlich nicht. Es scheint haupt sächlich der Wadenmuskel zu sein.« »Nun, vielleicht nur eine Muskelquetschung und vielleicht ein angebrochener Knochen«, sagte John zögernd. »Trotzdem sollte man es nicht verharmlosen.« Claire überlegte. »Wir könnten dich nach Nauplia bringen, George. Sind wir erst an Bord des Kutters, ist es eine kurze Fahrt. Dort kön nen sie dich wahrscheinlich innerhalb einer oder zwei Stunden verarzten, wenn es nichts
Ernstes ist. Dann können wir wieder auslau fen.« »Gut«, sagte John. »Aber wir werden darauf achten müssen…« »Pst!« zischte Claire. Ein Knarren. »Die Tür!« Claire bückte sich und schaltete die Handlampe aus. Völlige Dunkelheit hüllte sie ein. Die Planen waren von der Öffnung zurückge schlagen. Jeder konnte direkt hereinsehen. Sie tastete sich ganz vorsichtig zur Maueröffnung. Da. Nun, wenn sie sich richtig erinnerte… Eine rauhe Oberfläche, dann glattes, kaltes Metall. Darüber mußte irgendwo die Plane sein. Sie streckte die Hand aus und fühlte. Eine Männerstimme. Die Tür schwang auf. Schwacher Lichtschein von einer Taschen lampe zeigte ihr, daß sie in die falsche Rich tung gefühlt hatte. Sie faßte die Plane und zog sie über die Öffnung herab. Dann kauerte sie nieder und spähte in die Richtung, aus der das Knarren und ein an wachsendes Gemurmel männlicher Stimmen kamen. Ein dumpfer Schlag. Das mußte die Tür ge wesen sein, die gegen die Wand zurückschlug. Ein Lichtkegel tastete durch die Grabkam
mer. Eine undeutliche Stimme sagte auf grie chisch: »Siehst du? Nichts.« »Hätte ja sein können.« »Du hast vergessen zuzusperren, sage ich dir.« »Ich erinnere mich richtig. Ich habe ja auch die Tür geschlossen, nicht wahr?« »Als der Oberst wegfuhr, hattest du es eilig, zum Essen ins Lager zu kommen. Du wirst es vergessen haben.« Der Lichtschein verging. »Du hast dieses Geräusch vorhin selbst ge hört.« »Die Wellen, eine große, das ist alles.« Wieder knarrte es, ein Schlag von Holz auf Metall, und die Tür war geschlossen. Einen Augenblick herrschte völlige Stille. Sie lauschte angestrengt. Als John hinter ihr seufzte, schien es erschreckend laut. »Soweit Räuber und Gendarm.« Sie schaltete die Lampe ein. Der enge Höh lenraum wurde lebendige Realität. »Was?« »Sie hörten den Absturz der Kiste.« »Ja«, sagte George, »laut genug war es. Was mag dieses Dröhnen gewesen sein?« »Das Artefakt, als es in Schutt verwandelt wurde«, sagte John verdrießlich.
Claire biß sich auf die Lippe. Er hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit recht. Und nur weil sie eine letzte Karte hatte ausspielen und Kontos übertrumpfen wollen. Johns Miene zeigte wenig Mitgefühl. »Das war schnell, wie Sie die Plane herunter gezogen haben«, bemerkte er. »Nicht, daß es etwas nützen könnte. Wir werden jetzt gegen die Tür schlagen und versuchen müssen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.« Sie starrte ihn stirnrunzelnd an. »Warum?« »Weil sie uns eingesperrt haben.« Er hatte recht. Auf eine demütigende, erbit ternde Weise recht. Sie stieß gegen die massi ven Planken der Tür. Von draußen kam der Widerstand des Vorhängeschlosses. Es ließ der Tür einen Spielraum von kaum einem Zenti meter. Sie sackte gegen die Wand, dann setzte sie sich auf den Boden. Also blieb ihr nichts übrig, als sich zu ergeben, all die schrecklichen Fra gen und Beschuldigungen über sich ergehen zu lassen, die sie sich in diesen letzten Tagen im mer wieder quälend vorgestellt hatte. Kontos, und wahrscheinlich Männer, die viel schlim mer waren als er. Die Regierung würde den Vorfall hochspielen und zum Instrument ihrer
Propaganda machen: Ausländer, die Ver schwörungen zum Diebstahl von Kunstwerken anzettelten und heimlich herumschlichen, die Griechen um ihr nationales Erbe zu bringen. Sie war müde. Das Schlimmste war, daß sie die Verantwortung für Georges Beinverletzung trug. Alles war so planmäßig abgelaufen, trotz der strapaziösen drei Tage an Bord der Skorpio, und nun war dieses aufregende Ma növer plötzlich in Verletzung und Verlust um geschlagen. Wenn es nur eine Möglichkeit zu entkommen gäbe… »Wir müssen etwas tun können«, sagte sie ohne echte Hoffnung. »Ich habe den Schlüssel hier. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt…« »Scharniere und Beschläge sind an der Au ßenseite.« Sie seufzte. »Wenn wir Werkzeuge nähmen und außen um den Rahmen arbeiteten…« »Ohne soviel Lärm zu machen, daß die Wa chen zurückkommen?« Sie blickte an den dicken Planken auf und nickte schließlich. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber es ist eine Chance. Unsere einzige.« John trat zu George, der am Boden saß und ihnen die Lampe hielt. »Darf ich mal?« Er stieg durch die Öffnung. George saß an die Wand gelehnt, das verletzte Bein auf einer zusam
mengelegten Plane, und nickte stumm. Claire rang mit ihren stürmisch widerstrei tenden Gefühlen, aber gleichzeitig durchdrang sie eine lähmende Schwäche und Hoffnungslo sigkeit. Sie könnte John überreden, daß er den Spalt zwischen Tür und Rahmen verbreiterte, bis sie die Hand durchstrecken und von außen aufsperren konnten, aber da sie kein Messer bei sich hatten, würde es ein langwieriger und geräuschvoller Prozeß sein. Sie fröstelte. Vor sechs Tagen hatte sie noch hier gearbeitet, vor sich die Aussicht auf baldige Heimkehr, hatte auf dem hohen Roß gesessen, stolz auf ein Bündel von Forschungsergebnissen. Und nun? Wieder überlief es sie. John ließ von der Untersuchung der Tür ab und wandte sich zu ihr um. »Claire? Helfen Sie mir mit den Seilen. Vielleicht gibt es einen an deren Ausweg.«
6 Das erste Schwindelgefühl stellte sich ein, als er das Seil umfaßte. Die Arbeitshandschuhe
halfen es festzuhalten, und er hatte es im Ab seilsitz unter dem linken Oberschenkel durch und von vorn über die Schulter und den Rü cken hinabgeführt, da er aber keine Übung hatte, war ihm mehr als unbehaglich zumute. Es war nicht so sehr der steil abfallende, aus gewaschene Höhlengang, der ihn störte; die Perspektive verengte den Durchlaß, aber im Schein der Lampe, die Claire in den Händen hielt, um ihm zu leuchten, konnte er sehen, wie die Röhre sich ungefähr zehn Meter unter ihm seitwärts krümmte und zugleich verengte. Er schnitt eine Grimasse und verdrängte die besorgten Gedanken. Er wollte nichts riskie ren, nur einen Blick hinab tun. Einen Augen blick lang, als der Lichtkegel der Lampe zufäl lig den richtigen Winkel gehabt hatte, glaubte er tief unten im Loch einen blauen Licht schimmer gesehen zu haben. Es mußte das Licht des frühen Morgens sein, durch Meer wasser gefiltert und durch Brechung aufwärts gelenkt. Solch schwaches Licht würde rasch absorbiert werden; wenn er es also von oben sehen konnte, mußte es bedeuten, daß am Grund des Höhlenganges sehr wenig Wasser war. Bei seinem Tauchunternehmen hatte er den Eingang auf wenigstens vier Meter unter der Oberfläche geschätzt, wahrscheinlich war
es aber mehr. Gab es größere Unterschiede durch Ebbe und Flut? Er glaubte sich zu erin nern, daß der mittelmeerische Tidenhub ge ring war. Es war alles Mutmaßung. Die einzige Mög lichkeit zur Überprüfung war, sich durch den Höhlengang abzuseilen und Gewißheit zu ver schaffen, und wenn es möglich war, hinauszutauchen, würde er es tun. »Sollte es zu riskant werden, kommen Sie lieber wieder herauf«, sagte Claire ängstlich. »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte John mit einer Unbekümmertheit, die er nicht fühlte. »Wo haben Sie den Schlüssel?« Er klopfte auf seine zugeknöpfte Brusttasche und seilte sich weiter ab, die Füße gegen das Gestein gestemmt. Er zog Georges Taschen lampe aus dem Hosenbund und schaltete sie ein. Ihr Schein war matt, verglichen mit dem der Handlampe. Claire las seine Gedanken. »Sie glauben nicht, daß Sie mit dieser Lampe…?« »Nein, ich würde sie gern nehmen, habe aber keine Hand frei.« Er merkte, daß er redete, um den weiteren Abstieg aufzuschieben. Und auf einmal wurde ihm klar, daß er nicht entschieden hatte, ob er
es wirklich tun wollte. Die Idee war ihm durch den Kopf gegangen, und er hatte darüber ge redet, und dann hatten sie die Seile zusam mengeknotet und festgemacht, und nun war er hier im steilen Höhlenschlund, ohne die Sache wirklich durchdacht zu haben. Zuerst hatte Claire nichts davon wissen wol len; nach allem, was geschehen war, wünschte sie keine weiteren Risiken. Gleichwohl hatte er bemerkt, daß mit der Idee ein neuer Hoff nungsfunke auf sie übergesprungen war, und so hatte er auf seinem Plan bestanden, teils, weil die Idee ihn tatsächlich reizte, vor allem aber, weil er selbst angesichts dessen, was schon geschehen war, kühn und wagemutig aussehen konnte. Wie die meisten Männer, die ein ruhiges, nachdenkliches Leben führen, enthielt echte Aktion eine exotische Würze, in deren Genuß sie selten kamen. Wie hatte sie es genannt? Ja, Praxis. Er hatte sogar auf seine bergsteigerische Erfahrung hingewiesen, obwohl er tatsächlich nur an ei nem Wochenendkurs teilgenommen und ein wenig in den steinigen Hügeln von Texas herumgekrabbelt war. So war er in gewisser Weise bestürzt gewesen, als Claires Miene sich von einem maskenhaften Skeptizismus zu vor sichtiger, hoffnungsvoller Neugierde und dann
zu freudiger Zustimmung gewandelt hatte, obwohl sie bemüht gewesen war, sich die Er leichterung nicht anmerken zu lassen. So war er ein Opfer seiner Aufschneiderei und Ge fallsucht geworden. Und der gleiche Impuls, in ihren Augen gut auszusehen, bewog ihn nun zum soundsovielten Mal, seinen Sitz in der Abseilschlinge zu überprüfen und darin her umzurutschen. Doch war er außerstande, sie anzusehen und zu sagen, daß er diese Idee doch nicht für so großartig und erfolgverspre chend hielt, besten Dank, gnädige Frau. »Ich bin in den Grotten entlang der Küste von Amalfi gewesen«, sagte Claire. »Das Licht dort war viel heller als hier.« »Vorhin kam es mir auch stärker vor. Wahr scheinlich ziehen Wolken auf.« »Ja, das könnte es sein.« Weiteres Hinhalten. Nun, genug davon. »Sie bleiben oben am Flaschenzug und geben das Seil aus, verstanden? Dreimal ruckartig ziehen bedeutet, daß ich hinauf will.« Sie nickte, den Mund halb geöffnet, sagte aber nichts. Er grinste und warf ihr eine Kußhand zu. Für einen Augenblick erstarrte ihre Miene, dann stahl sich ein Lächeln in ihre angespann ten Züge, und sie erwiderte die Geste andeu tungsweise.
»Ich werde darauf zurückkommen.« Er winkte George zu, der herangehumpelt war, und ließ sich weiter hinab. Die ersten fünf oder sechs Meter waren ein fach. Er hielt das Seil über und unter sich und ließ es durch die Sitzschlinge und über seine Schulter laufen, während er sich mit den Fü ßen am feuchtglänzenden Gestein abstützte. Der Höhlengang war durch die Handlampe noch hell von oben beleuchtet. Das Gestein strömte einen halb salzigen, halb moderigen Geruch aus. Bei der ersten Windung achtete er darauf, daß das Seil sich nicht verhängen konnte, und hielt sich rechts. Der Schacht verengte sich, aber nicht beängstigend. Er kam überall be quem durch, doch war seine Nervosität so groß, daß sein Herzschlag sich sofort be schleunigte, als er sich mit dem Rücken gegen den nassen Stein stieß. Unterhalb der Krümmung war der Licht schein von oben gedämpft und gelblich. Er hatte die Taschenlampe eingeschaltet in den Hosenbund gesteckt, und ihr Lichtschein half. Er passierte zwei zersplitterte Bretter der Kiste, die sich in einer Spalte verfangen hatten. Tiefe Kratzspuren in der Wand lenkten seinen Blick abwärts. Mittlerweile hatten seine Augen
sich an das Zwielicht gewöhnt, und er konnte weiter unten eine weitere Krümmung ausma chen, eine Verzweigung in mehrere Abflüsse. Der Verlauf des Höhlengangs war hier weniger steil, und eine wulstige Felsbank bildete eine Art Plattform. Auf ihr lagen weitere Bretter und etwas Packmaterial. Zwei Bretter hingen noch zusammen, andere waren zersplittert und in einen Seitengang geschleudert, der links hinabführte. Ober ihm schrammte das Seil jetzt über das rauhe Gestein der Felsbank, und er beobach tete die Stelle besorgt, hoffte jedoch, daß die Feuchtigkeit ein Durchscheuern verhindern würde. Er beruhigte sich mit der Überlegung, daß es ein starkes Seil sei, das sich nicht rasch abnutzen würde. Darauf ließ er sich weiter hinab und landete auf einem wasserüberronnenen Sims. »Absatz hier!« rief er hinauf, damit Claire sich nicht beunruhigte, wenn sein Gewicht plötzlich aus dem Seil verschwand. Er setzte sich auf den naßkalten Fels, der so schlüpfrig war, daß er dem Fuß keinen sicheren Halt ge ben konnte. Der Hauptkamin fiel schräg nach unten ab, eingezwängt zwischen Gesteinsbil dungen, die wie Tropfstein aussahen. Er zog die Taschenlampe aus dem Hosenbund und
kroch über klammes, schlüpfriges Gestein zum Seitengang. Ein scharfer, fast beißender Ge ruch erfüllte das steil abstürzende Loch. Einige Holzsplitter waren in diese Richtung geflogen, aber er vermutete, daß die Kiste den geraderen Weg hinab genommen hatte, und schaltete die Taschenlampe aus. War das ein blauer Lichtschein in dem Sei tenkamin? Er wartete, bis die Lichtreflexe vom Schein der Taschenlampe verblaßt waren. Ja, das war wirklich, keine Einbildung. Aber schwach. Zu schwach, soviel war klar, um von oben gesehen zu werden. Andererseits war dieser Seitengang vielleicht der Weg ins Freie. Wieder leuchtete er hinein. Dieser Seitengang war nicht so naß und grau wie der Hauptkamin. Das Gestein war bräun lich, und scharfkantige Ecken verhinderten Einblick in die ganze Länge. Eine Spur von Wärme wehte ihn an. Eine Brise aus diesem Nebenloch? Schwer zu sagen. Und dieser säuerlich-beißende Geruch in der Luft, wie von Feuerstein, von etwas Verbrann tem. Die Sinne konnten einem hier unten Streiche spielen. Er kroch zurück auf den Sims. Hier gab es kein loses Gestein, was mit der Theorie des unterirdischen Abflusses übereinstimmte. Das abfließende Regenwasser
von Jahrtausenden hatte alles ausgeräumt und einen unterirdischen Bachlauf eingeschnitten. Dies war zweifellos nicht von Menschen ge macht; nirgendwo hatte er Spuren von Bear beitung gesehen, noch irgendwelches Werk zeug, das hereingefallen oder liegengeblieben war. Von dem Sims aus untersuchte er den Steil abfall des Hauptschachtes. Vier oder fünf Me ter unter ihm bog er in einer verdrehten Win dung nach links. Er schaltete die Taschenlampe aus und wartete, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Noch bei der Suche!« rief er hinauf. »In Ordnung!« erklang Claires hoher, hal lender Ruf von weit oben. Dort unten war Helligkeit. Ein deutliches, blaß elfenbeinfarbenes Leuchten, das von den nassen Wänden reflektiert wurde. Er lauschte nach Brandungsgeräuschen. Nichts. Absolute, vollkommene Stille. Aber war dieses schwache Licht stärker als jenes, das er in dem seitlichen Gang gesehen hatte? Obwohl es augenscheinlich zwei Wege hinab gab, mochten sie nicht begehbar sein. Es schien am besten, sich nach der größeren Helligkeit zu richten. Dieser war entweder nä her oder besser begehbar, oder beides.
Er versuchte die zwei undeutlichen Hellig keiten zu vergleichen und einen Entschluß zu fassen. Schwer zu sagen. Die feuchte Luft machte ihn husten. Zum Teufel damit! Der direkte Weg sah gut genug aus, und die seitliche Abzweigung hatte ihm von Anfang an nicht recht gefallen. Zu viele scharfe Kanten und Kriechstellen. Sich dort hineinzuzwängen, wenn hier ein ver gleichsweise weiter Schacht offen lag – nein, dies war der richtige Weg. Er ließ sich über den Rand und langsam wei ter abwärts. Wie der Köder am Ende einer Angelschnur, dachte er. Unter ihm schwang das Seil in der dunklen Röhre und schlug mit leisem Klatschen an den Fels. Die Biegung war enger, als er gedacht hatte. Er mußte sich zu sammenkauern und seitwärts durchschlüpfen. Glitschige Nässe erleichterte das Durchkom men. Die Luft roch wie nach fauligem Seetang. Sein abwärtstastender Fuß blieb an etwas hängen. Sein Atem ging plötzlich keuchend, als er mit dem Fuß unter sich umherfühlte, und plötzlich überwältigte ihn die Erkenntnis sei ner Lage – eingezwängt zwischen zwei ab schüssigen Platten lastenden Felsgesteins, unmöglich verkantet, ausgekühlt, die Hände vom Halten des Seils schmerzend, in feuchter
Dunkelheit, nur durch ein Seil mit der Welt des Lichts und der Luft verbunden… Nein, solche Gedanken führten zu nichts. Er mußte weiter. Vorsichtig ließ er sich tiefergleiten. Der rech te Fuß geriet in eine enge Spalte, während der linke abrutschte und im leeren Raum baumel te, aber es gab Raum zum Manövrieren, wenn der Fels auch von allen Seiten heranzudrängen schien, als wollte er mit seinem Gewicht und seiner Masse jeden Fluchtweg blockieren. Er befreite seinen Fuß und glitt über einen feuchtkalten Felswulst, baumelte unter einem Überhang, bis er nach wenigen Metern wieder Fels unter den Füßen fühlte. Die Röhre führte nun weniger steil abwärts. Mehr graue Felswülste glitten vorüber. Die Luft wurde unangenehm feucht und klamm. Es war ein wahrer Abstieg in die Unterwelt. Nun aber zeigte sich Helligkeit unter ihm. Er ließ sich weiter hinab. Licht durchdrang den unteren Teil des Höhlengangs, der hier beina he eben verlief. Vorsichtig bewegte er sich die schräge, schlüpfrige Bahn entlang. Nach un gefähr dreißig Schritten stieß er auf ein wie von innen trübe erhelltes azurblaues Wasser, eingerahmt von einem Streifen aus Geröll. Die tintigen Schatten großer Blöcke und ausgewa
schener Gesteinswülste bildeten die Wände. Holzsplitter am Strandstreifen und lange Kratzer am nassen Gestein darüber markier ten den Weg der Kiste. Er ließ sich über die letzte Stufe hinab, und seine Füße knirschten auf Geröll. Das Wasser, von außen in leiser Bewegung gehalten, leckte an den Steinen. Wie tief mochte es sein? Er könnte ein kurzes Stück tauchen und die Situation erkunden. Er legte beide Hände an den Mund und rief: »Ich bin unten!« Eine helle, unverständliche Antwort. Er ließ das Seil los. Seine Arme schmerzten und prickelten, die Schultern waren schmerz haft verkrampft. Er stieg ins Wasser. Nach der Kälte im Höh lengang war es warm, beinahe angenehm. Er watete den steilen Geröllhang hinein, holte ei nige Male tief Luft, um Sauerstoff zu spei chern, dann tauchte er. Das Gurgeln war laut in seinen Ohren. Er schwamm abwärts, auf einen Bereich leicht bewegter, matter Lichtreflexe zu. Klumpige Steinmassen glitten mit entnervender Lang samkeit vorüber. Er kämpfte sich durch den felsigen Schlund hinab, während sich in seiner Brust eine Enge
und Spannung bemerkbar machte, die nur be deuten konnte, daß er wenig Luft übrig hatte. Sollte er umkehren? Nein, es sah so nahe aus, so leicht… Er schwamm jetzt so schnell er nur konnte, denn das Brennen kam in seine Kehle, das verrückte Verlangen, den Mund zu öffnen und einzuatmen. Sein Blick fiel auf etwas Bräunli ches unter ihm. Und auf einmal war das Licht heller, der Felsenschlund öffnete sich, und er war draußen frei. Über ihm tanzten schim mernde Spiegel. Er öffnete den Mund, ließ Blasen hinaus, stieß sich aufwärts. Mit einem rauhen Keuchen durchbrach er die Oberflä che. Es war noch nicht ganz Morgen. Der Osthim mel verfärbte sich von Rot zu Orange. John blickte über die See hinaus. Wie lang würde er brauchen, um an Land zu kommen, den Hügel hinaufzusteigen? Er hielt Ausschau nach ei nem Aufstieg durch das steile Felsgelände der Kliffs, und ihm fiel das Ding unter Wasser ein. Er holte Luft und tauchte, und ja, da war es – die Kiste. Eine Seite war glatt abgerissen, die Ecken zersplittert, doch sonst schien sie intakt. Die offene Seite war die rückwärtige. Das be deutete, daß die Vorderseite mit der Line ar-A-Schrift und dem Zapfen, noch durch das
Packmaterial geschützt war. Er tauchte wieder auf und schwamm zum Ufer.
7 Das jähe Rütteln an der Tür erschreckte sie. Sie stand beim offenen Loch, bereit, Rufe zu beantworten oder am Seil zu ziehen. Aber seit wenigstens zehn Minuten hatte es kein Le benszeichen von John gegeben. »Verdammt!« flüsterte George. »Hier, hilf mir da hinein.« »Diese Männer?« Es schnürte ihr die Kehle zu. »Das müssen sie sein«, meinte George. Claire eilte zu George und half ihm auf. Mehr Gerüttel, ein metallischer Klang. Knarren. Sie zog den humpelnden George zur Öffnung, so schnell sie konnte. Mattes Tages licht drang in die Grabkammer. Die Tür schwang weit auf. »Presto!« Sie starrte mit schreckgeweiteten Augen zur
Türöffnung. Dort stand John. »Sie… sie…« »Richtig… ich«, schnaufte er. Er wankte her ein und drückte die Tür zu. »Was haben Sie gefunden, wie sind Sie…« »Es wird rasch hell draußen. Wir müssen fort!« »Nun, ich…« Verwirrt blickte sie umher, sah ihre Sachen, nahm sie an sich. George lehnte aufrecht an seinen Abstützungen. »Ich kann hinken, wenn Sie mir die Schulter zum Fest halten geben«, sagte er. »Mann, das war schnell.« John nickte, außer Atem. »Im Lager ist noch alles ruhig.« »Verschnaufen Sie, ich werde hier aufräu men«, sagte Claire und stürzte zur Öffnung, um das Seil über den Flaschenzug einzuholen. »Keine Zeit. Ist sowieso unwichtig«, sagte John. »Wir können tarnen…« »Hören Sie schon auf!« sagte er scharf. »Die Kiste ist weg, liegt in acht Metern Wassertiefe. Die werden auf jeden Fall merken, daß wir hier waren.« »Ich… ja, das kann sein.« »Also los!« sagte John, trat zu George und stützte ihn. »Den Hang hinauf und über die Höhe, wie wir gekommen sind. Wir müssen
schnell außer Sicht kommen. George, ich wer de zählen, damit wir Gleichschritt halten.« Claire spähte hinunter; das Lager lag still und wie verlassen. Sie stieg den steilen Hang hin auf, zog sich an Gestrüpp und Oleandersträu chern aufwärts, und die ganze Zeit war sie überzeugt, daß jeden Augenblick Rufe hinter ihnen laut werden müßten. Schüsse, rennende Schritte im Geröll. Sie erreichte die Höhe und brachte sich hin ter dem Kamm in Sicherheit, dann kroch sie zurück und spähte hinüber. Auch die beiden Männer erreichten wankend und vor An strengung keuchend den Bergrücken, und noch immer schlief das Lager. Unglaublich, nach all ihren düsteren Gedanken aus dieser Grabkammer befreit zu sein. Ihre Aufzeich nungen bei sich zu haben und im Morgenrot unter dem weiten Himmel zu stehen, zu ihren Füßen die friedlich vor Anker liegende Skorpio. Alle Umrisse zeichneten sich in der klaren Luft ungewöhnlich scharf und präzise ab. John und George überwanden die Höhe und machten keuchend halt. Sie faßte John beim Kragen und küßte ihn wortlos. Ein überrasch ter Ausdruck ging über seine Züge, er zog eine Grimasse, dann überblickte er den Hang und
suchte die Wegspur hinunter zu ihrem Boot. »Weiter!« Sie ruderten hinaus zur Skorpio, als ihr wie der einfiel, was er gesagt hatte. »Sie – du hast die Kiste gesehen?« George saß im Bootsheck, und auf ihrer Seite mußte sie mit dem langen Ruder paddelnd alle Kräfte aufbieten, um mitzuhalten. »Wie? Ja, gewiß. Sieht ziemlich gut aus, zieht man den Absturz in Betracht.« Er überblickte den Steilhang hinter ihnen. »Dieses Ding am Heck der Skorpio, ist das nicht eine Winde?« »Was? Ja, eine Art Winsch. Wird gebraucht, um die Schleppnetze einzuholen.« »Wieviel kann sie heben?« »Ich weiß nicht – o nein – ich weiß, was du denkst.« »Wir können das Ding nicht einfach da unten liegen lassen.« »Mit der ganzen griechischen Armee im Na cken?« »Wenn sie jetzt nachsehen, werden sie nichts als einen Fischkutter bei der Arbeit sehen.« »Vergiß es!« George sagte: »Hör mal, meinst du nicht, daß wir allmählich genug…« Zwischen ihren Paddeleinsätzen schnaufte
Claire: »Verdammt, ich werde nicht zulassen… daß ein einzigartiges Artefakt… am Meeres grund zerstört wird.« »Was die Wachen betrifft, so könntest du recht haben«, sagte John nachdenklich. »Ich habe die Tür wieder zugesperrt, so daß von außen nichts darauf hindeutet, daß wir dort waren. Aber ich kann mit dieser Winsch nicht umgehen, und wir können das auf keinen Fall ohne Wissen des Kapitäns tun.« »Wir werden ihm sagen, wir seien früh auf gewacht, mit dem Boot hinausgefahren und hätten unter Wasser etwas entdeckt, das wir bergen wollen.« John schnaubte. »Sehr einleuchtend.« »Viel glaubhafter als die Wahrheit!« »Und Georges Bein?« »Er glitt aus, als er ins Boot steigen wollte.« George ächzte. »Auch das noch.« Claire beobachtete John von der Seite, wäh rend sie das Ruder durchs Wasser zog. Sie sah, daß er müde war; die Energie, die seine tri umphale Rückkehr begleitet hatte, hatte sich verflüchtigt. Vielleicht war es zuviel verlangt, dem Berg der Dankesschulden, den sie aufge häuft hatte, eine weitere hinzuzufügen. Leise näherten sie sich dem Kutter. An Bord regte sich nichts.
»Ich kann es nicht glauben«, murmelte Geor ge. Darauf aber kam ein zugleich erheiterter und resignierter Ausdruck in Johns Züge. »Ich schon«, sagte er.
VIERTER
TEIL
1 John Bishop zog den Gürtel um seinen Mantel zu, als er, aus dem Pratt-Gebäude kommend, in gelbes Sonnenlicht blinzelte, das vom dün nen Schnee reflektiert wurde. Cambridge ge ruhte nicht, auf seinen Gehwegen Schnee zu räumen, aber eine Armee von Studenten hatte ihn bereits zu Matsch getrampelt. Die Kälte des Spätnachmittags verhieß grimmigen Nacht frost. Er schnüffelte die Luft. Das automatische System der Wettervorhersage, das jeder An gehörige des MIT sich früher oder später an eignete, kündigte. Wetterumschwung und vielleicht sogar ein Gewitter an. Ein süßlicher Geruch bedeutete, daß der Wind von einer nahen Zuckerwarenfabrik im Süden herüber wehte, was warmes Wetter und weniger dick bäuchige Wolken versprach. Stank es von Le ver Brothers im Nordwesten herüber, so drohten finstere Tage und weitere Schneefälle und Kälte aus Kanada. Die Examen näherten sich dem Ende. John hatte bei den Einführungskursen in theoreti scher Physik geholfen und war erfüllt von ru heloser Müdigkeit. Die Beurteilung einer end losen Reihe von mechanischen und
rechnerischen Problemen betäubt den Geist, verlangt aber Wachsamkeit für den geringsten Fehler, manchmal nur ein falsches Vorzeichen, das signalisiert, wo ein geplagter Student in die Irre gegangen war. Professoren beklagten die Examen allenthalben als eine archaische Technik, ein Fossil, das an einklassige Dorf schulen und das Aufsagen der Hauptstädte al ler Bundesstaaten erinnerte. Regelmäßige Fortschritte und täglicher Fleiß bedeuteten in ihren Augen mehr als eine Stunde, die damit verbracht wurde, das in Monaten Gelernte auf ein paar Blättern Papier zu komprimieren. Viel vernünftiger, auf die notwendige Arbeit zu Hause hinzuweisen, auf die regelmäßige Teil nahme an Vorlesungen und Seminaren und auf die Beachtung professoraler Urteile. Be dauerlicherweise sorgten die hohen Studen tenzahlen und das Verlangen der Gesellschaft nach halbwegs objektiven Maßstäben für den ungefährdeten Fortbestand des überkomme nen Systems. Keine dieser Einsichten hinderte die Profes soren jedoch daran, Examen zu ersinnen, die schlaflose Büffelei, Koffeinabhängigkeit und Verzweiflung verursachten. Alte Examensaufgaben füllten dicke Ordner in Studentenver bindungen und -Wohnheimen; es gab sogar
Dossiers über die Vorlieben jedes Professors. Das Vorhandensein dieses Materials stellte für jeden Universitätslehrer eine Herausforde rung dar, galt es doch Probleme zu finden, die jeden Studenten ins Schwitzen brachten, sich zugleich aber als rechtschaffen, klar und in Beziehung zu einem zentralen, gründlich er örterten Thema stehend verteidigen ließ. Am begehrtesten waren Aufgabenstellungen, die den Unvorsichtigen an einem voraussagbaren Punkt zum Straucheln verleiteten, was die spätere Korrektur erleichterte, weil man nur noch diese entscheidenden Wendungen zu überprüfen brauchte, den Fehler ankreiden und weitergehen konnte. John zog den Schal – für ihn noch immer ein fremdartiges Kleidungsstück, an dessen Ge brauch er sich nicht gewöhnen konnte – zu recht und betrachtete die erschöpften Gesich ter der Studenten, die aus dem Gebäude kamen. Es lag eine gewisse Befriedigung darin, an diesem alten akademischen Ritual teilge nommen zu haben, und zwar zum ersten Mal aus der vorteilhaften Perspektive eines Rich ters. Er wußte, daß die Kinos und Spielsalons an diesem Abend gerammelt voll sein würden, denn alle suchten Ablenkung oder Vergessen. Mehrere tausend benommene und müde junge
Männer und Frauen, so sagte er sich, waren sicherlich ein Zeichen dafür, daß die Examen gut vorbereitet und ihrem Zweck gerecht ge worden waren. Nun, genug der müßigen Überlegungen. Er war verabredet und hatte es eilig. So ließ er sich vom Strom der abgestumpften, mißmuti gen Studenten durch die Massachusetts Ave nue mitnehmen. Sein Büro war im Zentrum für Materialforschung und -prüfung, das in einer verwirrenden Ansammlung von Gebäu den untergebracht war. Diese trugen die Na men vermögender Amerikaner, die sie durch Stiftungen und Geldspenden ins Leben gerufen hatten – Sloan, Guggenheim, Pierce, Bush, Eastman: Namen, welche die Wissenschaft, die Universität und das Selbst ehrten. Er hätte seinen Weg durch diese labyrinthischen Kor ridore gefunden, die gesäumt waren von Aus stellungsvitrinen mit geologischen Proben, geheimnisvollen Instrumenten, Darstellungen berühmter Experimente, Bildern bedeutender Wissenschaftler. Er zog es vor, draußen an den ehrwürdigen roten Ziegelbauten vorbeizuge hen und die Vassar Street zu dem wenig ein drucksvollen grauen Beton und Metall der neueren Laboratorien zu überqueren. Hier, in einer Abteilung des Gebäudes Nr. 42, hatte er
einen geeigneten Raum zur Untersuchung des Artefakts bekommen. Der nüchterne Eingang und die kahlen, kalten Stockwerke waren praktisch leer. Die Einrich tungen zur Materialprüfung von Festkörpern waren in geräumigere, modernere Baulichkei ten nach Albany verlegt worden. Die Mate rialprüfungsanstalt verfügte aber noch über diese Abteilung, da Territorium, das einmal im Besitz ist, im Universitätsleben wie in der Au ßenpolitik niemals ohne einen Kampf oder ein Gegengeschäft aufgegeben wird. John hatte eine Benutzungserlaubnis erwirkt, dazu das Vorrecht, verfügbare Einrichtungen zur Durchführung von Experimenten zu benutzen. Da es nur wenige Archäologen gab, die ihren Grabungen das ganze Jahr hindurch nachgin gen, war das diagnostische Gerät im Winter halbjahr gewöhnlich unbenutzt, und er hatte alles, was ihm brauchbar erschien, hierher schaffen lassen. Er stand, die Hände in den Manteltaschen, und beobachtete, wie eine Laufkatze auf ihrer Spur unter der Decke dahinschnurrte. Eine kleine Weile verging, ehe er bemerkte, daß die Männer am anderen En de des Raumes dieselben waren, die er erst am Morgen bei dem Lastwagen gesehen hatte, der das Artefakt vom Hafen gebracht hatte, und
daß darum der Gegenstand, der unter der Laufkatze am Haken hing, die in eine Plane gehüllte Kiste selbst war. In diesem weiten, kahlen Raum schien sie kleiner als er sich erinnerte. Er hegte keinerlei Bedenken, daß das Ding für die dicken Stahl kabel zuviel wiegen könnte, aber irgend etwas störte ihn. Ja, das war es – der Winkel. Die Kiste hing nicht senkrecht herab. Er hielt ei nen Finger vertikal vor sich und peilte das Ka bel an. Es wich um etwa zehn Grad von der Senkrechten ab. Er zog die Stirn in Falten und zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war der T-Haken zum Aufhängen der Kiste nicht ganz zentrisch angebracht, dachte er, oder das Ar tefakt lag einseitig verrutscht in der etwas zu großen Kiste. Immerhin hätten die Leute für eine bessere Ausrichtung sorgen sollen; schließlich war es ein wertvolles Stück. Claire hatte das Artefakt in Italien neu ver packen lassen. Ein Mann zog die Plane ab; das helle Holz sah eigenartig frisch aus. Die Lauf katze ließ ihre Last langsam herab. Bunte Luftfrachtaufkleber hafteten an den stabilen Kistenbrettern. Die Männer nickten ihm zu und machten sich daran, die Kiste mit Brech stangen zu öffnen. »Wo ist das Zubehör?« rief Claires Stimme
hinter ihm. Er wandte sich um und merkte verspätet, daß die Leute nicht ihm zugenickt hatten. »Wir bringen es herüber, sobald wir hier fer tig sind«, antwortete der Vormann. Über einer rüschenbesetzten rosa Bluse trug sie ein marineblaues Kostüm im konserva tiv-zeitlosen Schnitt der karrierebewußten Frau. Strenges Äußeres, weibliches Versteck spiel darunter. Ihm gefiel es. »Die haben eine Ewigkeit gebraucht, das Ding hierher zu schaffen«, sagte Claire zu ihm, ohne den Blick von den Arbeitern zu wenden. »Krochen durch jede Nebenstraße, die man sich denken kann.« »Wissen die Leute damit umzugehen?« Er sah, wie sie das Packmaterial herunterrissen. Einer ließ eine Brechstange auf den Stein fal len, und es gab ein lautes, metallisches Ge räusch. »Es ist ziemlich widerstandsfähig, denke ich; schließlich überlebte es ziemlich unbeschädigt diesen schrecklichen Absturz. Abgesehen von gelegentlichen Lageveränderungen werden wir hier Feinarbeit leisten. Darum werde ich mich schon kümmern.« »Allein?« Sie lächelte rätselvoll. »Soweit wie möglich.«
»Hast du Watkins in China angerufen?« »Ja. Es dauerte die üblichen drei Stunden, bis die Verbindung hergestellt war – ich schwöre, daß jemand mithörte, der Spanner hustete so gar –, aber ich kam durch. Watkins gab mir Blankovollmacht, die Einrichtung zu benutzen, solange sie nicht den geheiligten Boden des MIT verläßt.« »Und Sprangle? Er ist Abteilungsleiter und könnte dich daran hindern, die teuren Geräte zu gebrauchen, wenn er meint, du würdest sie vielleicht falsch behandeln.« »Er hat die Verantwortung Watkins zuge schoben.« »Bravo. Wie hast du es gemacht?« Wieder das rätselhafte Lächeln. Sie wußte, daß sie charmant sein konnte, wenn sie wollte, das konnte er sehen, aber die merkwürdig verschlossene Art und Weise, wie sie von die ser Gabe Gebrauch machte, verwunderte ihn. Andere Frauen würden verschwenderisch da mit umgehen, das hatte er oft genug beobach tet. Claire aber wahrte nach außen eine kühle Zurückhaltung, vielleicht in der Erkenntnis, daß das Dahinschmelzen solch einer Fassade für Männer interessanter war als dauernde Wärme. »Ich mußte ein Zugeständnis machen«,
räumte sie ein. »Wem? Sprangle?« »Ja. Anscheinend hat er eine Schwäche für Archäologie. Er möchte über meine Resultate auf dem laufenden gehalten werden. Vielleicht sieht er darin eine günstige Gelegenheit, die Tüchtigkeit seiner Leute zu testen.« »Und vielleicht etwas mehr Unterstützung von seinem Dekan zu bekommen?« »Da hast du richtig in den Teeblättern gele sen.« Sie hatte den Blick nicht ein einziges Mal von der Arbeit am Artefakt abgewandt. Nun trat sie näher. »Ist etwas?« Die dicke Auspolsterung war entfernt, der goldene Zapfen lag frei. »Nein, nichts. Der Zapfen… er erinnert mich an was.« »Woran?« »Etwas, das ich irgendwo schon gesehen ha be…« Sie zuckte die Achseln. »Es wird mir schon wieder einfallen.« Sie schlugen einen Bogen um die Arbeiter. Der Kalksteinblock stand jetzt frei. Es war eine große Überraschung für John gewesen, wie wenig Schaden der Sturz durch den Höhlen schacht in die See angerichtet hatte. Die Kiste war natürlich demoliert worden, der rückwär tige Teil völlig weggerissen. Es war eine müh
same, schweißtreibende Arbeit gewesen, das Ding an Bord zu hieven. Er hatte wiederholt tauchen und drei Kabel an den Seiten der ver bliebenen Holzverschalung befestigen müssen, ungewiß, ob die Halterung ausreichen würde. Sie hatte ihren Zweck jedoch erfüllt, und es war ihnen mit Hilfe der Winsch gelungen, den Block sicher an Deck zu bringen. Claire hatte sich sorgfältig über die bloßliegenden Teile des Blocks hergemacht und erstaunlich wenig Be schädigungen gefunden: ein paar Kratzer und Absplitterungen an unwichtigen Stellen, und der angesammelte harte Lehm an der Rück seite war verschwunden. »Was willst du als erstes untersuchen?« frag te John. »Den Metallgehalt besser bestimmen. Materi alanalyse. Und ich möchte diesen Zapfen röntgen.« »Was ist mit diesem Elfenbeinplättchen?« Sie seufzte. »Das hat Kontos. Ich hatte es se parat verpackt.« »Zu dumm.« »Ich habe eine Anzahl Fotos.« Die Männer räumten das Packmaterial weg und traten zurück, um ihr Werk zu bewun dern. »In Ordnung, Dr. Anderson?« Claire nickte und dankte ihnen.
Der dunkle Kalksteinblock schien das Licht einzusaugen. Auf der Rückseite, wo der hart getrocknete Lehm gewesen war, sah John ein kleines Loch. Es war mit einem gelbbraunen Zeug gefüllt. Er bückte sich näher. »Was ist das?« Claire machte ein erstauntes Gesicht. Sie kauerte nieder, streckte einen Finger aus und berührte das Loch. »Es war noch mit einem zähen Ton oder was bedeckt, als die Italiener den Block einpackten. Das muß auf dem Transportweg abgegangen sein. Dies hier… hmm.« »Was kann es sein?« »Eine Art Stöpsel, denke ich. George und ich gaben acht, daß der festgebackene Lehm an der Rückwand unverändert blieb, weil wir be fürchteten, beim Abkratzen etwas darunter beschädigen zu können. Komisch, nicht wahr? Ein kleines Loch, nicht mehr als einen Zenti meter im Durchmesser, gefüllt mit einem har ten Material.« Sie klopfte mit dem Fingernagel dagegen. »Was halten die Sachverständigen für das mykenische Griechenland an der Universität Boston davon?« Claire stand unvermittelt auf und blickte zu den Männern, die ihr Werkzeug wegräumten.
»Laßt uns feiern!« sagte sie munter. »Warst du schon mal im Ritz?« »Nein. Gibt es eins in Boston?« Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck gespielten Entsetzens. »Es gibt Einrichtungen, auf die keine Großstadt verzichten kann. Das Ritz Carlton wird noch da sein, wenn alles, was wir kennen, zu Staub geworden ist.« Ihr Alfa Romeo brummte zornig über den Charles River und stürzte sich ohne zu zögern in den trägen Strom des frühen Abendver kehrs. Sie fuhr die Boylston Street hinunter und vermied Aufenthalte durch das einfache Manöver von Fahrspurwechseln, wenn nötig zwei Spuren auf einmal. Autohupen schmet terten in ihrem Kielwasser. Sie passierten in schneller Fahrt die leere Pracht des Prudential Centers und verlangsamten erst, als sie einen berittenen Polizisten gewahrte. Vor der öffent lichen Leihbücherei hielt sie an. »Hattest du Schwierigkeiten mit Hampton, als…« »Ich hasse diesen neuen Anbau der Biblio thek. Wußtest du, daß eine alte Frau dort in einen der Seitenkorridore ging, weil sie dach te, er führe zu den Toiletten, und eingeschlos sen wurde? Sie hatte nicht die Kraft, die Tür
aufzustoßen, so schlecht ist der Bau entwor fen. Und man kann kein Fenster öffnen.« »Wie lange war sie dort drinnen?« »Zwei Wochen, vermutet man.« »Du meinst…« »Richtig. Sie starb. An Wasserentzug, hieß es im Obduktionsbefund.« Der Springbrunnen auf dem Copley Square schleuderte fröhlich seinen kristallinen Tribut in die kalte Luft, unbeachtet vom trübsinnigen Gemurmel des Verkehrs. Zwei riesige vergol dete Löwen bewachten den Eingang zum Cop ley Plaza Hotel. Claire hielt hoffnungsvoll nach den geparkten WagenAusschau, beseelt von dem sichtbaren Willen, daß jemand dort die Scheinwerfer aufblinken lassen und damit seine bevorstehende Abfahrt ankündigen würde. Die braunen Spitztürme der Trinity Church waren regennaß und spiegelten die Schwärme von Autoscheinwerfern, und die Flanke des Hancock-Turms, einen Block wei ter, gab diesem Bild ein wäßriges Echo. Schließlich suchte sie Zuflucht in der Tiefga rage unter dem Gemeindeplatz. Beim Ausstei gen sagte John: »Du hast ein Strafmandat an der Windschutzscheibe.« »Oh.« Sie zog daran. Es war mit einer dünnen Schnur am Scheibenwischer befestigt. »Sieh
dir das an!« sagte sie mit gemäßigter Bewun derung. »Sie haben eine kleine Schlinge daran gemacht, damit es nicht davonweht, wenn man losfährt. Gute Idee.« Als sie die Tiefgarage ver ließen, legte sie das Strafmandat sorgsam in einen öffentlichen Abfallbehälter und lachte über den Blick, den er ihr zuwarf. Es hatte angefangen zu regnen, und der Platz leerte sich. Tropfen trieben im kalten Wind, drohten zu Eis zu gefrieren und schufen mit ihren Reflexen helle Lichthöfe um die Stra ßenbeleuchtungen. Der Verkehr klang ge dämpft, wie aus weiter Ferne. Derselbe Ver kehrspolizist kam auf seinem wachsamen, muskulösen Fuchs mit hellem Hufschlag auf sie zu. Sein gelber Regenumhang spiegelte das Lichterchaos der Stadt, aber nicht der Beamte, sondern Claire und er selbst erschienen John als eine Insel, ein fester Halt in der Erschei nungen Flucht. »Spätabends«, murmelte Claire, »wenn nie mand unterwegs ist, kann man sich vorstellen, wie Emerson und Thoreau mit ihren Zylindern hier durchgehen und über Dichtung diskutie ren.« Sie überquerten die Arlington Street und er stiegen die Stufen zum Ritz. Seltsamerweise kam es John nicht mondän vor. Die Gasträume
und die Bar waren konservativer Neuengland-Stil, herausgeputzt mit Versatzstücken aus dem Chinahandel, so daß Lackschränk chen und chinesische Tapeten sich mit Litho graphien der alten Newbury Street vermisch ten. Weder Filigran noch Schnörkel, weder Chrom noch Kristall. Im offenen Kamin loder ten gelbe Flammen, und unweit davon fanden sie Plätze auf einem buckeligen Sofa. Während sie auf ihre Martinis warteten, machte sie ihn auf die alten Lehnsessel und den preiselbeerfarbenen Teppichboden aufmerk sam und erzählte ihm, daß das Hotel einen Angestellten allein damit beschäftige, die Goldfarbe am Mobiliar zu erneuern. »Und nun, da du überzeugt bist, daß dies eine furchterregende Zitadelle der Privilegierten ist, kann ich dir verraten, daß der Gewerk schaftsführer Cesar Chavez hier abzusteigen pflegte, wenn er in die Stadt kam, proletari sche Leidenschaften aufzurühren.« Er lächelte unbestimmt. Sie zeigte eine leb hafte, mädchenhafte Freude, wenn sie ihm Bostoner Eigentümlichkeiten zeigte, und in solchen Augenblicken fiel die ernsthafte Kar rierefrau von ihr ab. Seit ihrer Rückkehr wa ren sie viel zusammengewesen, und er hatte hier auf ihrem Heimatboden eine Verände
rung ihrer Stimmungen festgestellt. Bisher wurde er aus den Signalen, die sie ihm gab, noch nicht ganz schlau. Es gab Augenblicke, da sie sich plötzlich verschloß und ganz die zuge knöpfte Bostoner Dame wurde, und dann, kurze Zeit später, zeigte sie sich wieder offen und unbefangen. Vielleicht waren es die an haltenden Sorgen, die sie bedrückten? »Glaubst du, daß Oberst Kontos hier abstei gen wird? Obwohl er sich als ein Mann des Volkes begreift?« Sie seufzte. »Ich sehe, du beginnst dich an meine Ausflüchte zu gewöhnen.« »Nicht, daß sie unliebenswürdig wären.« Sie schlug die Beine übereinander, und eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen. Er bewunderte die vernünftigen Schuhe, die der erfreulichen Schwellung ihrer Wade unter dem Nylon nicht abträglich waren. Er wartete ihre Antwort ab und gab sich Spekulationen über die Frage hin, warum sie nicht diese schrecklichen Strumpfhosen trug, sondern statt dessen richtige Strümpfe mit Strumpf gürtel bevorzugte. Die Wahrscheinlichkeit da für betrug heutzutage ein Prozent, vermutete er. Wie gewöhnlich. Seltsam, wie beharrlich manche Objekte männlicher Phantasie noch überdauerten, lange nachdem ihr praktischer
Gebrauch überflüssig geworden war. Sogar in Boston… »Ich glaube, ich sollte es offen sagen. Ich habe Hampton nichts von dem Artefakt gesagt.« Trotz seiner Überraschung hob er nur ein wenig die Brauen. In Reaktion auf ihre Ver haltensweisen begann er auf den Kunstgriff des Herunterspielens zu kommen. »Er hat mir gestern den Kopf gewaschen, und heute früh wieder.« »Kein Kuß auf die Wange anläßlich der Rückkehr der Heldin?« Er signalisierte dem Kellner um weitere Martinis. Der Kellner gab zu verstehen, daß sie bereits gemixt würden. John begriff, daß Claire hier offenbar zur Stammkundschaft gehörte. Das Feuer knister te kräftig, und er wandte sich zur Seite, um der Wärmestrahlung eine größere Fläche darzu bieten. Selbst im Ritz zog es. »Kontos hat einen langen Brief geschickt und meine Verbrechen aufgelistet.« »Und Hampton nimmt es ihm ab?« »Selbstverständlich!« Sie schnaubte. »Warum nicht?« »Hampton sprach ein ernstes Wort mit dir, daß man zu den Vertretern eines Gastlandes höflich sein müsse, und so weiter. Dann be strittest du die Vorwürfe.«
»So ähnlich.« Die Getränke kamen, und sie tat einen kräftigen Zug. »Und du gedachtest den Schaden möglichst gering zu halten, indem du die Frage des feh lenden Artefakts einfach übergingst.« »Richtig. Die Zollformulare werden an die Abteilung an der Universität Boston adressiert sein. Aber sie werden zuerst zu mir kommen, weil ich meinen Namen über die Anschrift schrieb. Also wird Hampton nicht gleich er fahren, daß wir etwas mitgebracht haben.« »Er glaubt, wir hätten auf Kontos’ Geheiß fügsam den angewiesenen Flug genommen? Er weiß nicht, daß wir nach Kreta entschlüpft sind und was noch kam?« »Ich sah Kontos’ Brief. Er behandelt nur Er eignisse bis zu unserem Abflug von Athen.« »Aber er muß wissen, daß wir unten auf den Inseln waren.« »Was wir auf Santorin sahen, war eine Schleppnetzfahndung. Er wußte, daß wir Athen nicht mit dieser TWA-Maschine verlas sen hatten und auf Santorin waren, aber er weiß bis heute nicht, was wir danach taten.« »Er wird das Artefakt vermissen.« »Aber er kann nicht behaupten, daß wir es genommen haben. Vergiß nicht, er versteckte es. Wenn es nicht bei den übrigen Ausgra
bungsergebnissen ist, und auch nicht im Kuppengrab, wie will er erklären, daß wir es haben?« Er betrachtete sie. Da war noch etwas, etwas, das sie nicht erwähnt hatte. Sie war unruhig. »Früher oder später wird er es herausfinden und uns festnageln. Laß ihn. Einstweilen hast du das Artefakt sicher hier im MIT und kannst es untersuchen.« Sie blickte ins Feuer, schüttelte geistesabwe send und zerstreut den Kopf. Er sah den gel ben Widerschein der Flammen über die Flä chen ihres Gesichts zucken, ohne die Schatten ganz daraus zu vertreiben. »Du kennst dich auf diesem Gebiet nicht aus. Was ich getan habe, ist… – es war verrückt. Ich habe einen einzig artigen Kunstgegenstand gestohlen!« »Er hatte dich stark provoziert.« »Das ist keine Entschuldigung! Ich war ein fach so… so überreizt, daß ich mein Berufs ethos, den Respekt vor der Vergangenheit, einfach vergessen konnte.« »Und wie steht’s mit dem Respekt vor ande ren Menschen? Kontos zeigte nicht sonderlich viel davon.« Ihr Ausdruck hatte zwischen Verdruß und ratloser Verwirrung über ihr eigenes Handeln geschwankt. Nun versank er in eine geistes
abwesende Traurigkeit. Sie starrte noch im mer in das knackende Kaminfeuer, die Augen abwesend und von einem düsteren Blau. »Nein, ich verstehe, was du sagst - ich empfand selbst so. Das erklärt mein Handeln. Aber nun ist die Vernunft zurückgekehrt und ich sehe keinen Ausweg.« »Woraus?« »Aus meiner Lage. Früher oder später werde ich mich dem Unvermeidlichen stellen müs sen.« »Was wird geschehen?« »In griechischer Archäologie werde ich erle digt sein. Wahrscheinlich im ganzen Fach.« »Keine Chance, die Stellung zu behalten?« »Selbstverständlich nicht.« »Andere Wege werden dir offenstehen.« »Heute bin ich ein Hühnchen. Morgen werde ich Federn sein.« »Aber es muß nicht gleich sein, oder?« »Nicht unbedingt. Ich möchte das Artefakt wirklich noch etwas genauer untersuchen, Bi bliotheksarbeit darüber leisten und versuchen, Verbindungen mit anderen Grabungen zu fin den.« »Gut. Wir werden daran festhalten. Solange Sprangle nicht mit Hampton zusammentrifft und die Geschichte beim Mittagessen oder
sonstwo erzählt, bist du sicher.« Ihr Blick glitt von ihm fort. »Nun…« »Komm schon!« Er beugte sich vor zur Glut des Kaminfeuers, machte eine aufmunternde Bewegung. Er mochte ihre Spannkraft und Vi talität; es schmerzte ihn, sie so niedergeschla gen zu sehen. »In Anbetracht des Sic transit gloria mundi hältst du dich doch ganz gut.« Sie lächelte grimmig. »Hampton will die An gelegenheit zum Gegenstand einer Ausschuß sitzung machen. Darin soll die Frage meines Verbleibs als Dozentin an der Universität Bos ton erörtert werden.« Das ließ ihm die Luft heraus; er sank zurück. »Oh!« Also war es schlimmer, als er gedacht hatte. »Und er will dich als Zeugen aufrufen. Er be kam deinen Namen von Kontos.« Einen Augenblick lang herrschte Stille, un terbrochen nur vom Knacken der Holzkloben im Feuer. John trank sein Glas leer und hätte gern mehr gehabt. »Gut, dann werde ich die Geschichte bis zum Flughafen von Athen bei behalten. Dann werde ich sagen, daß wir nach Italien geflogen sind.« »Aber…« »Gut, ich weiß, es ist unethisch, zu lügen. Aber vielleicht können wir einen Weg finden,
uns zu verantworten und doch nicht alles preiszugeben.« »Mmmh.« »Was ist mit George?« »Der Druck liegt auf mir, nicht auf ihm, weil er mir zumindest nominell nachgeordnet war. Außerdem ist er zur Columbia-Universität ausgerissen. Er sollte ab Januar für ein Jahr dorthin gehen, als Lehrbeauftragter für die Behandlung und Konservierung von Fundstü cken. Nach unserer Rückkehr sah er, wie sich dieser Sturm zusammenzog, und erreichte ei ne Vorverlegung des Termins.« »Tapferer Bursche.« »Sieh mal, es ist nicht sein Kampf. Er war für die Grabung nicht verantwortlich. Ich traf die fraglichen Entscheidungen.« Wieder beugte er sich zu ihr, versuchte ihre Stimmung zu heben. »Wenn wir es geschickt genug machen, kommen wir da schon durch. Wäre doch gelacht.« Ihre Stimmung blieb unverändert. »Das frage ich mich.« »Ganz bestimmt. Wir müssen uns bloß etwas ausdenken, unsere Taktik planen, das ist al les.« »Dann denk schnell!« »Wieso?«
»Der Ausschuß tritt morgen zusammen.« Er lehnte sich zurück und blies die Backen auf. »Oh!«
2 Als John am nächsten Morgen ins Gebäude Nr. 42 kam, fand er eine Gruppe Techniker an der Arbeit um den Kalksteinblock. Ihr Leiter war Abe Sprangle, ein vierschrötiger Mann mit gelichtetem Haar, den John aus der Metallurgiegruppe ziemlich gut kannte. Er hatte Geschicklichkeit, Sachverstand und gutmütige Verwaltungsfähigkeiten in die Fa kultät gebracht, als MIT ihn vor zehn Jahren aus Dänemark geholt hatte. Sprangle hatte das Artefakt bereits auf eine Arbeitsplattform he ben lassen. Hier konnte es langsam vor den Mündungen mehrerer ringsum aufgestellter Detektoren gedreht werden. »Schon angefangen?« fragte John. Sprangle strahlte glücklich. »Ich wollte zu vorläufigen Daten kommen. Ein aufregendes Objekt, finden Sie nicht?«
»Allerdings«, sagte John im gedehnten Ton fall seiner Heimat. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß dies ein wirksames Mittel sei, sich von den verderblichen, selbstgerechten Ge wißheiten nördlicher Kultur, als deren Gip felpunkt Boston sich noch immer betrachtete, zu distanzieren. »Ich hatte höllische Schwie rigkeiten damit. Gut möglich, daß all meine Messungen falsch waren – schließlich bin ich kein Fachmann. Also seien Sie auf der Hut! Das ist ein Röntgendetektor, nicht?« John zeigte zu einer Gruppe miteinander verbundener tragbarer Kästen, deren Zentral einheit ein rohrförmiges Gerät war. »Ja, aber etwas stimmt nicht damit. Wir ha ben es jetzt seit einer Stunde in Betrieb, um Röntgenfluoreszenzmessungen zu machen. Aber wir haben ein Störgeräusch in dem Ding; wahrscheinlich eine Fehlfunktion.« »Sie versuchen eine Ablesung von diesem kleinen Loch zu bekommen, das ich gebohrt habe? Ich dachte, es sei zu klein.« »Nicht für gute Geräte, glaube ich. Wohlge merkt, ich bin bloß ein interessierter Amateur, was Archäologie betrifft, aber mit meinen Di agnosen kenne ich mich aus. Kann natürlich heute noch nichts beweisen. Sehen Sie diese große Ablesung, die Fred verzeichnet?«
Er zeigte auf eine Nadel, die eine gleichmäßi ge Zählung von Röntgeneinheiten auswies und von Zeit zu Zeit kleine Ausschläge nach oben und unten machte. Ein hagerer Techniker blickte kläglich aus einem Gewirr von Kabeln am Fuß des Geräts. »Eine Fehlfunktion, ganz sicher«, erklärte er. John versuchte kenntnisreich auszusehen. Er bückte sich, um festzustellen, wohin der Lauf des Detektors wies. Es war die Rückseite des Artefakts, nahe der Mitte. »Wonach suchen Sie?« fragte er. »Wir ermitteln, welche Metalle in dem Block sind. Ihre Bohrung können wir für Tiefenun tersuchungen gut gebrauchen.« »Und dieses Geräusch?« »Das muß irgendein Fehler in der Elektronik sein. Fred wird schon darauf kommen.« Aber Fred schüttelte den Kopf. »An den Ver bindungen kann es nicht liegen.« Er seufzte. »Das Gerät arbeitete einwandfrei, bevor wir es hier aufstellten. Vielleicht etwas in der Ener giezufuhr…« Er öffnete einen Schrank und be gann die zahllosen Anschlüsse zu untersuchen. John sagte: »Der Gedanke ist, daß Sie das Rohr an den Block setzen und ihm eine Dosis Röntgenstrahlen verabfolgen. Dann schalten Sie das Gerät aus und stellen fest, ob die im
Gestein eingeschlossenen Metallatome eigene Strahlung emittieren – richtig?« »Ja, ja«, murmelte Sprangle zerstreut. »Aber wir haben die Quelle noch nicht eingeschaltet. Es gibt also keine Fluoreszenz festzustellen. Dennoch zeigt unser Meßgerät Ausschläge.« »Na, viel Glück!« Er wollte die Vorderseite sehen, doch ließen ihm die aufgebauten Geräte wenig Raum. Er zwängte sich zum Sockel des Artefakts durch, eingeengt von Kabeln und In strumenten, und ein wenig unbehaglich ange sichts so viel Maschinerie, deren Funktion er nicht verstand. Er wußte, daß es alles ziemlich einfach und leicht verständlich war, sobald es jemand sorgfältig erklärte. Er kannte sich auf dem Ge biet der Physik einigermaßen aus, hatte es an der Rice-Universität als Nebenfach belegt. Doch für ihn war Physik im besten Fall eine ideale Welt sauberer Lösungen, Folgerungs ketten, mathematischer Folgerichtigkeiten. Wie die meisten Mathematiker war er Plato niker, ein Anhänger des Glaubens, daß die sichtbare Welt ein unvollkommener Ausdruck der unterliegenden kristallinen Ordnung sei, eines mathematischen Plans; hätte man ihn jedoch darauf angesprochen, so würde er jedes derartige Etikett entrüstet zurückgewiesen
haben, da er wußte, daß es als unzulässig ver einfachend galt. Seine Instinkte jedoch waren eine andere Sache. Er bückte sich und betrachtete das Artefakt. In der hellen Beleuchtung schien jedes Detail bedeutsamer, voller versteckter Hinweise. Die Handlampe hatte Schatten auf eine Seite ge worfen, während sie eine andere erhellt hatte, und nun, in der gleichmäßigen Ausleuchtung, wirkte die Widersinnigkeit des Bernsteinzap fens um so erstaunlicher. Er legte Hand an die drehbare Plattform des Sockels und drehte den Block gegen den Widerstand des Gewichts ein wenig weiter, um besser sehen zu können. »He! Was soll das?« rief Fred hinter seinen Instrumenten. John hörte Sprangle antworten, ehe er selbst etwas sagen konnte: »Nichts. Ich habe Ei chungen überprüft.« Fred sagte: »Nun, etwas hat das Geräusch unterbrochen.« Sprangle hob den Kopf. »John, sind Sie auf die Verkabelung gestiegen, oder was?« John stand auf. »Nein, ich glaube nicht – Au genblick. Ich habe den Klotz ein wenig ge dreht.« »Ja? Nun, das sollten Sie nicht tun, solange die Messung läuft, doch andererseits sollte es
nichts ausmachen. Fred, werfen Sie einen Blick auf die Amperemeter.« »In Ordnung. Ich dachte, vielleicht…« »Abe, Fred, achten Sie auf die Ablesungen!« sagte John, und behutsam drehte er die Platt form in die Stellung zurück, die sie zuvor ge habt hatte. »Das Geräusch ist wieder da«, sagte Fred. »Was haben Sie gemacht, John?« »Ich habe das Artefakt in die Stellung zu rückgedreht, die es vorher eingenommen hat te.« Sprangle kam zu John herum. »Sehen Sie?« John drehte die Plattform ein kleines Stück. »Geräusch fällt ab«, sagte Fred. Sprangle murmelte: »Ein Signal ohne… ver dammt! Das Ding ist ja radioaktiv!« »Ich… ich habe nie daran gedacht, das zu überprüfen«, sagte John. »Nun, gewiß – wer würde es tun? Fred, an dieser Rückseite muß eine heiße Stelle sein. Was wir aufnehmen, sind Röntgenstrahlen, die aus dem Klotz kommen – bei Gott!« Sie versammelten sich um den Detektor und drehten die Sockelplattform langsam vor und zurück. Die Masse des Blocks erforderte einen gleichmäßigen, kräftigen Druck, und John ge riet bald ins Schwitzen. »Da!« rief Fred. »Ma
ximale Intensität.« »Der Detektor zeigt genau auf diesen Stöpsel in der Rückseite des Würfels«, sagte Sprangle. »Es muß Pechblende darin sein.« »Pechblende?« »Ein schwarzes, glänzendes Mineral, ein Oxid. Enthält Uran oder Radium. Ein natürli cher Röntgenstrahler.« »Und davon ist was in dem Stöpsel?« »Wahrscheinlich. Vielleicht hat man es als Färbemittel verwendet, was weiß ich.« Die beiden standen auf, Sprangle grunzend und mit gerötetem Gesicht. John bemerkte, daß Sprangles Bauch, gut versteckt unter einer Wollweste, selbst bei dieser geringen An strengung kugelig hervortrat. Der Professor schnaufte. »Ich denke mir, Dr. Anderson wird das faszinierend finden, aber für uns ist es ungünstig.« »Warum?« »Wir werden Sorge tragen müssen, daß diese Pechblende unsere Messungen nicht ver fälscht. Sie sendet das Hundert-, vielleicht Tausendfache dessen aus, was unser Prüfgerät an Röntgeneinheiten ausstrahlt.« »Drehen Sie doch einfach den Klotz um. Er wird den Detektor abschirmen.« Sprangles Miene hellte sich auf. »Natürlich.
Er ist massives Gestein, das wird zur Abschir mung reichen.« Zu Fred gewandt sagte er: »Achten Sie auf die Emission, während wir den Block drehen! Und geben Sie mir die inte grierten Ablesungen!« Langsam drehten die beiden den Block, wäh rend Fred die Werte nannte. Die Rate der Strahlungsintensität fiel um über dreihundert, als sie den Block um neunzig Grad gedreht hatten, was der Mitte der benachbarten Sei tenfläche entsprach. Sie blieb niedrig, bis die Frontseite in Sicht kam. Darauf begann sie wieder anzusteigen. »Hier stimmt was nicht«, sagte Sprangle irri tiert. »Die Ablesungswerte sollten weiter sin ken.« »Noch einmal zurück!« sagte John. »Vorsich tig – jetzt!« Der Röntgendetektor war genau auf die Frontseite des Artefakts ausgerichtet, unmittelbar vor dem Bernsteinzapfen. »Wie ist die Ablesung?« »Nicht hoch.« »Also?« fragte Sprangle. »Also enthält der Zapfen keine Pechblende. Der Lauf zeigt direkt darauf, und wir bekom men nicht viel. Drehen wir den Klotz jetzt herum und sehen wir genau die Achse des Zapfens entlang.«
Sie brachten den Block in Position. »Jede Menge Ablesungen«, rief Fred. »So hoch wie von der anderen Seite.« »Dann ist die Quelle im Innern des Würfels«, sagte Sprangle schnaufend. »Das werden wir analysieren müssen. Sehr interessant. Wissen Sie, Claire Anderson wird höchst überrascht sein, wenn sie davon erfährt. Wird sie heute kommen?« John lächelte grimmig. »Sie bereitet sich auf eine Untersuchung vor«, sagte er. Die bescheidenen Backsteingebäude der Uni versität Boston liegen an der Commonwealth Avenue, aber die besten Büros sind auf der Rückseite, wo der Charles River sich zu einem schiefergrauen, glatten Kanal verengt. An die sem wolkigen Wintertag nahmen sich seine unbewegten Wasser in Johns Augen sehr wie die asphaltierten ehemaligen Weidewege aus, die von den Bostonern ›Straßen‹ genannt wurden. Er überquerte den Fluß auf der Universitäts brücke und fand den Seminarraum am Ende eines mit glatten Terrazzoplatten belegten Korridors und klopfte. Ein stattlicher Mann öffnete, lächelte freundlich und sagte: »Sie müssen Dr. Bishop sein. Ich bin Donald
Hampton, wir sprachen am Telefon. Ich war eben dabei, ein paar Bemerkungen zum Aus schuß zu machen.« John ließ sich bekanntmachen, dann wies Hampton ihm einen Platz am Ende des Tisches zu. Anwesend waren zwei weitere Archäolo gen, die Professoren Aiken und McCauley, aber Hampton schien die beherrschende Ge stalt zu sein. Er erklärte John, daß Claire auf Ersuchen des Ausschusses bereits gegangen sei; er ziehe es vor, Johns Version der Ereig nisse ohne ihre »möglicherweise einschüch ternde Gegenwart« vor dem Ausschuß zu hö ren. Darauf gab Hampton einen Überblick über die Geschichte dieser Ausgrabung, so wohl den Ausschußmitgliedern als auch John zuliebe, und verbreitete sich ausführlich über die Verhandlungen und Umstände, die zu ei ner Vereinbarung der Amerikanischen Schule für Klassische Studien mit den griechischen Behörden geführt hatten. Offenbar hatten amerikanische Archäologen ihre Ausgrabun gen gewöhnlich unter eigener Regie durchge führt, doch hatte die politische Entwicklung der vergangenen Jahre bewirkt, daß alle aus ländischen Ausgräber einen griechischen Co-Direktor akzeptieren mußten – in diesem Fall Kontos. Hampton umschrieb seine eige
nen Bemühungen um die Überwindung aller aus dieser Veränderung entstehenden Mißhel ligkeiten mit der Wendung »für Dr. Kontos ein übriges tun«, was anscheinend bedeutete, daß er mit Kontos ziemlich intensiven gesellschaft lichen Umgang pflegte, ihn Personal auswäh len und an den üblichen akademischen Vor teilen teilhaben ließ, die sich aus seiner Stellung ergaben. Als Hampton zur eigentlichen Grabungsge schichte überging, die Aufdeckung der myke nischen Stadt schilderte, Bemerkungen über das Leben der Griechen zu jener Zeit machte und die Erforschung des Kuppelgrabes er wähnte, wurde deutlich, daß Claire von Anfang an Kontos’ Unwillen erregt hatte, obwohl die ser Punkt nicht dokumentiert wurde. John er fuhr zu seiner Überraschung, daß das Haupt augenmerk der Grabungsexpedition der Stadt gegolten hatte, und daß das Grab, sobald es sich als leer erwiesen hatte, Claire und George zugewiesen worden war, weil es nicht sehr vielversprechend ausgesehen hatte und die beiden die jüngsten wissenschaftlichen Teil nehmer gewesen waren. Hampton sagte wenig davon direkt, und John merkte bald, daß dies auch der Stil der anderen war: weitschweifig, indirekt, mit häufigem Gebrauch ausländi
scher Begriffe, die wie Pfeffer in ein fades Ge richt gestreut wurden. Er entsann sich, daß Claire ihm erzählt hatte, Archäologen seien mehr Humanisten als Naturwissenschaftler – geschichtskundig, beschlagen in Literatur und Mythologie, die zur Deutung herangezogen werden konnten, und dazu versierte Kunst historiker, zumindest auf ihrem jeweiligen Forschungsgebiet. In diesem Fach hatte sich der alte Brauch gehalten, daß jeder Wissen schaftler stets in seiner Muttersprache veröf fentlichte, eine Gewohnheit, die in den Natur wissenschaften der Übermacht des Englischen hatte weichen müssen. Dies bedeutete, daß ein Archäologe Französisch, Englisch, Deutsch und eine oder zwei regionale Sprachen wie Griechisch oder Arabisch beherrschen mußte, um sich auf dem laufenden zu halten. Der Seminarraum paßte dazu. Er hatte dunk le Holzböden und polierte Messinglampen. Die Stühle waren bequem und gepolstert, mit di cken holzgeschnitzten Armlehnen, von einer Art, wie er sie außerhalb von Antiquitätenge schäften selten gesehen hatte. Zu dieser Ein richtung stand der in einer Ecke aufgebaute hochmoderne Projektor in einem seltsamen Mißverhältnis. »Sie mögen aus alledem ersehen, Dr. Bishop,
daß wir zur Klärung des Sachverhalts gern Ih re Ansicht der Ereignisse hören würden, die zu Ihrer… äh… Entlassung von der Grabungsstät te führten.« Hampton lächelte einnehmend, zog eine abgenutzte Pfeife hervor und machte sich daran, sie zu stopfen. Er trug ein Tweedjackett mit ledernen Flecken an den Ellbogen, eine Weste und einen konservativen Schlips. Die beiden anderen waren ähnlich be kleidet, ein Umstand, der in Boston nieman dem auffiel. Johns überwiegend auf jüngere Mathematiker und Physiker seiner Generation beschränkte Erfahrung hatte ihn jedoch zu der irrigen Erwartung verleitet, offene Hemdkrä gen und ausgeweitete Pullover anzutreffen. Er hüstelte und begann seine Geschichte. Es war natürlich eine Fiktion im Sinne des Wortes. Er und Claire hatten sie bei einer lan gen Serie von Martinis ausgearbeitet. Gleich wohl enthielt sein Garn keine ausgesprochene Erfindung, nur Auslassungen und Vereinfa chungen. Er beschrieb die Durchführung von Materialuntersuchungen an verschiedenen Gegenständen, was er tatsächlich getan hatte, ohne jedoch zu erwähnen, daß die anderen nur zum Aufwärmen gewesen waren, Tests an Tei len der Ausrüstung, und daß der Würfel sein einziges Versuchsobjekt gewesen war. Dies
deckte sich mit Claires Aussagen, die den Würfel überhaupt nicht erwähnt hatte, und zum Ausgleich hob er dann die politischen Differenzen, Kontos’ Zudringlichkeit gegen über Claire und seine Auseinandersetzung mit ihm an jenem letzten Abend hervor. Hampton sagte: »Sie behaupten also, von Ih rer Seite…« »Wir führten in letzter Minute noch ein paar Tests aus und packten zusammen. Wir waren überzeugt, daß er uns am nächsten Morgen des Platzes verweisen würde, und Claire – sie nimmt es mit der Ordnung sehr genau, wie Sie wissen – wollte sicher gehen…« »Aber sicherlich müssen Sie vermutet haben, daß Dr. Kontos, in einem Zustand der Erre gung über die… äh… Beleidigungen, die Sie seinem Empfinden nach gegen sein Land, sei ne Regierung ausgestoßen hatten, sehr emp findlich auf den geringsten Fehltritt Ihrerseits reagieren würde. Nicht wahr?« »Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Unter schied machte«, antwortete John. »Ich denke mir, daß er auf der Lauer lag.« »Einen Vorwand suchte?« fragte Prof. Aiken. »Richtig. Er wollte uns hinaus haben, weil wir Amerikaner waren, nicht weil Claire Obstruk tion getrieben hätte.«
Zwei steile Furchen erschienen zwischen Hamptons Brauen, während er nachdenklich an seiner Pfeife paffte und die Luft mit blauem Rauch erfüllte. »Dennoch darf nicht übersehen werden, daß Dr. Anderson weit in die Ferne schweifte, um Hilfe zu suchen, nämlich hier her zu Ihnen, ohne die in Athen verfügbaren Einrichtungen zu benutzen, oder auch nur da rum zu ersuchen. Das läßt kaum auf eine… äh… kooperative Haltung schließen.« »Sie war sowieso hierher zurückgekehrt, um Ihnen Bericht zu erstatten.« »Dazu allein wäre ihre Reise kaum erforder lich gewesen.« Er blickte auf die Uhr. »Nun, sie dachte es jedenfalls. Kontos saß ihr im Genick, wissen Sie.« Hampton wedelte mit der Pfeife, wie um die Nichtigkeit dieser letzten Bemerkung deutlich zu machen. Schon in ihrem kurzen Telefonge spräch hatte er nicht gut auf Johns flüchtige Erwähnung von Kontos’ Zudringlichkeit rea giert, und John vermutete, daß er diesen Punkt zu übergehen versuchte. Das deutete darauf hin, daß Claire, als sie vorher hier zum Verhör erschienen war, diese Karte wahrscheinlich überreizt hatte. John versuchte sich darüber klarzuwerden, ob er auf dem Punkt beharren solle, als an etwas, was John für einen zur üb
rigen Einrichtung passenden Fernsehschrank gehalten hatte, ein rauher Summton erklang. »Ah, das wird unser anderer… äh… Zeuge sein.« Hampton erhob sich und beschäftigte sich an dem Fernsehschrank. Er stellte ein Rundum mikrophon auf den Tisch und schaltete Lam pen ein, die ihn beleuchteten. John bemerkte jetzt, daß aus dem Schrank ein Kameraobjektiv auf sie gerichtet war. Wieder kam der Summ ton, bevor er etwas fragen konnte, und Hamp ton rief: »Können Sie mich hören, Alexand ras?« Der Bildschirm füllte sich mit einer qualitativ hervorragenden Wiedergabe von Kontos, der ihnen zulächelte. Er trug Zivilkleidung, und John entnahm seinen Augenbewegungen, daß er ihren Seminarraum überblickte. »Hallo!« erwiderte Kontos. »Ich bin erfreut, Sie wie derzusehen, Donald. Und Dr. Aiken, Dr. McCauley.« Begrüßendes Kopfnicken. Dann sah er John. »Aha. Ich hoffe, Dr. Bishop, Sie haben die Wahrheit gesagt.« John lächelte kalt. »Selbstverständlich. Nicht, daß es Ihnen viel helfen wird.« Kontos schmunzelte. »Ich denke, Sie sehen selbst, meine Herren, daß dieser Mann gegen mich eingenommen ist.«
»Wenn man ins Gesicht geschlagen wird, ist das bisweilen die Folge«, sagte John milde. Kontos zeigte leichte Gereiztheit. »Ich wurde provoziert, wie ich Donald bereits erklärt ha be«, sagte er mit einem Blick zu den Aus schußmitgliedern. Hampton hob eine Hand. »Wir sollten diese unnötigen Zusammenstöße wirklich vermei den, meine Herren. Sie vernebeln bloß die ei gentliche Streitfrage. Lassen Sie mich Dr. Kontos Fragen stellen, Fragen, die geeignet sind, die Tatsachen zu erhellen…« – er funkel te John an »- und persönliche Auseinander setzungen zu vermeiden.« Während Hampton seinen griechischen Ge sprächspartner mit gezielten Fragen durch ei ne offensichtlich eingeübte Zeugenaussage führte, verflog Johns Selbstsicherheit. Schon der Umstand, daß er Kontos durch eine Di rektschaltung ins Verhör einbezogen hatte, war ein unvorhergesehener und beunruhi gender Umstand gewesen, und nun untermi nierte Hampton Claires Position mit Sugges tivfragen nach ihrer Beliebtheit bei den übrigen Teilnehmern an der Grabung, über ihre notorische Ungeduld mit allen, die nicht mit ihr übereinstimmten, ihrer Müdigkeit und Überreiztheit am Ende eines langen, unge
wöhnlich heißen Sommers… Alles schien da rauf abgestellt, Kontos’ Position zu stärken. Soviel hatten er und Claire erwartet. Die schwierigen Fragen lagen noch vor ihnen. Als Kontos von einer »nicht autorisierten Ausgra bung« zu sprechen begann, beugte er sich aufmerksam vor. »Und ohne mich oder die anderen am Gra bungsort Anwesenden in irgendeiner Form davon zu unterrichten, setzten sie und George Schmitt diese heimliche Grabung fort und ent fernten Teile der Wand. Sie konsultierten niemand wegen der möglichen strukturellen Gefahren für das Kuppelgrab.« »Sie waren ja die meiste Zeit nicht da«, sagte John. »Und wenn Sie am Grabungsort anwe send waren, sorgten Sie sich um Ihre politi schen Versammlungen und Palastrevolutio nen.« »Bitte enthalten Sie sich Ihrer Kommentare!« fuhr Hampton ihn an. Kontos sprach weiter, als ob nichts geschehen wäre. »Sie fanden einige Gegenstände, wovon ich Ihnen später Meldung machen werde, Do nald. Dr. Anderson versuchte dies alles ge heimzuhalten, indem sie auf eigene Faust und ohne mich zu konsultieren Dr. Bishop zur Ausgrabungsstätte brachte. Soviel ist offen
sichtlich.« John ließ sich nichts anmerken, aber er machte sich Sorgen. Kontos hatte eine Position des geringsten Risikos eingenommen und spielte überhaupt nicht auf das Artefakt an. Jeder Schritt seiner Argumentation war ent weder durch Tatsachen belegt oder wahr scheinlich. Vor einem Ausschuß wie diesem war der Ausgang sicher. Die Frage war nur, wie weit er gehen würde. »Glücklicherweise entdeckte ich dies recht zeitig. Ich gebe zu, daß es in der so entstande nen Situation zu dem unglücklichen Zwi schenfall mit Dr. Bishop kam. Ich bin ein patriotischer Mann, ich lasse mein Vaterland nicht beleidigen. Aber das tut nichts zur Sache. Es beweist nicht, daß ich Dr. Anderson in ir gendeiner Form bedrängte. Dies alles sind Vorwände, die ins Spiel gebracht werden, um die Tatsache zu verbergen, daß sie und Bishop einen neuen Fund vor mir verbargen.« Nun kommt es, dachte John. Aber Kontos’ strenger Ausdruck entspannte sich. »Diesmal war uns das Glück hold. Sie zerstörten nichts mit ihrer Unfähigkeit. Der Fund ist geringfügig, aber interessant. Ein paar einfache Schmuckstücke, ein Elfenbein plättchen.« Er zuckte die Achseln.
John fragte sich, warum Kontos die Sache mit dem Block bemäntelte. Hampton nickte. »Ich bin froh, das zu hören. Gleichwohl ändert es nichts an der prinzipiel len Seite.« Zustimmendes Nicken von den bei den anderen. »Der Fund kam, glaube ich, aus einer Be obachtung, die Sie selbst im August machten«, fuhr Kontos im entspannten Plauderton fort. »Sie sprachen damals zu mir und den übrigen Teilnehmern an der Grabung von den Markie rungen an einem bestimmten Steinquader in der Wand der Grabkammer. Es war beim Abendessen, vielleicht erinnern Sie sich?« Hampton paffte an seiner Pfeife und schien zu nicken. »Das war die Stelle, wo der Fund gemacht wurde. Sie hatten kaum aufgedeckt, was tat sächlich dahinter lag, kann ich Ihnen heute sagen. Ich selbst ging der Sache weiter nach.« »Ich nehme an, Sie fanden ein hübsches objet d’art?« unterbrach ihn Hampton. »Ja.« Die Ausschußmitglieder merkten auf und murmelten interessiert. John versuchte der Taktik auf die Spur zu kommen, die Kontos verfolgte. »Abgesehen von diesem Verfahren«, sagte
Hampton mit Wärme, »würde ich wirklich gern über die Entdeckung diskutieren, wenn Ihre Ergebnisse vorliegen. Worum handelt es sich?« »Um einen Würfel. Sehr seltsam, er hatte seinen Platz hinter der Wand. Und ganz ei gentümlich geschmückt.« Kontos formte mit seinen Händen einen Zapfen. »Ich werde bald Fotografien und eine Beschreibung liefern.« John begriff plötzlich, daß Kontos noch nicht wieder am Grabungsort gewesen war. Er wuß te nicht, daß der Block verschwunden war. Er hatte noch immer vor, ihn zu seiner Entde ckung zu machen und nach Athen zu bringen, um dort Aufnahmen zu machen und eine Be schreibung anzufertigen. Nun war der Block nicht mehr an Ort und Stelle, und die Aufzeichnungen darüber auch nicht. Kontos würde einige von ihnen unter dem zurückgebliebenen Material finden, aber nicht genug. Claire hatte das meiste gerettet. Hampton strahlte in die Kamera. »Faszinie rend. Warum, meinen Sie, war es außerhalb der Grabkammer versteckt?« »Ein Todesornament, es ist schwierig, gleich darauf zu kommen. Ich weiß, daß Sie mit Ih rem besonderen Interesse an religiösen Arte fakten hier vieles finden werden, mögliche
Verbindungen mit Ihrer früheren Arbeit über die Gräber. Vielleicht kommen Sie nach Weihnachten? Ich kann es Ihnen zeigen.« »Danke, Alexandros, das würde ich sehr gern tun.« »Vielleicht können wir unsere Kräfte in der Bewegung zur Rückerstattung der restlichen Marmorskulpturen vereinen? Im Frühling werde ich eine neue Resolution einbringen. Mit amerikanischer Unterstützung…« »Ich habe gewiß Verständnis für Ihr Anlie gen«, sagte Hampton, »aber wir sollten diese Sache zum Abschluß bringen.« »Augenblick«, sagte John. »Ich wollte ihn fragen, wem das Verdienst an der Entdeckung des Würfels zufallen soll.« »Wieso? Dr. Kontos selbstverständlich«, sag te Hampton. »Sie hörten ihn feststellen, daß er den Gegenstand hinter der Mauer der Grab kammer fand.« »Ich bin der Meinung, daß Claire daran teil haben sollte.« »Sie sind ein Amateur in diesen Dingen«, sagte Kontos in ruhigem Ton. »Ihre Auffassung ist ohne Belang.« »Nun, ich weiß, wie Sie alle herumkomman diert haben…« »Kommen Sie!« sagte Hampton.
»Und ich werde mich nicht scheuen, es jedem zu erzählen, der zuhören will.« Kontos’ Backenmuskeln traten hervor. »Sie würden gut daran tun, Ihre Zunge im Zaum zu halten. Oder ich werde mich persönlich mit Ihnen befassen.« »Dr. Bishop!« rief Hampton. »Das ist genug!« »Jederzeit, Kontos. Ich würde mich liebend gern einmal mit ihnen auseinandersetzen, wenn ich nicht von Ihren Handlangern festge halten werde.« »Still! Sagen Sie nichts mehr.« Hampton hob John die Hand entgegen und wedelte abweh rend. Darauf wandte er sich zu den Professo ren Aiken und McCauley. »Haben Sie weitere Fragen?« Sie hatten keine. Kontos verabschiedete sich, der Bildschirm erlosch, und auf einmal schien der Raum winzig, nicht mehr mit der anderen Seite des Planeten verbunden. »Ich hoffe«, sagte John, »Sie erkennen, daß Claire jeden Fußbreit ihres Weges gegen die sen Mann ankämpfen mußte, um zu den Re sultaten zu kommen, die sie hat.« Hamptons Lächeln hatte wenig von seiner früheren Wärme. John begriff, daß der Mann ein vollendeter Schauspieler war. Ohne Zwei fel glaubte er nach den höchsten moralischen
Prinzipien zu handeln. »Ich danke Ihnen, Dr. Bishop, für Ihre Zeit.« Als er durch die Commonwealth Avenue nach Haus ging, fing es an zu schneien.
3 Claire kam in einer Weise in die Abteilung, die John schon früher aufgefallen war. Es war, als ob das Haus ihr gehörte und sie es durchschlenderte, um zu sehen, was die Mieter machten. Es war erheiternd und zugleich fes selnd, sie so herankommen zu sehen, gekleidet in einen maßgeschneiderten zimtfarbenen einteiligen Anzug unter einem schwarzen Mantel, mit grauen Handschuhen und schwarzen Stiefeln, einen geschlossenen blauen Schirm in einer Hand herumwirbelnd. Der Regen des vergangenen Abends war zu Schnee geworden, und sie hatte sich darauf eingestellt. Ihre Miene hellte sich auf, als sie ihn zwi schen den Geräten stehen sah. Er bemerkte, daß sie ein sorgfältiges Make-up trug: Lid
schatten und Lidstriche, Wangenrouge und Lippenstift von einem verwegenen Beina he-Purpur. Ihr Haar war kunstvoll aufgesteckt. Zur Feier von irgend etwas? Er rief: »Ist Champagner angebracht?« »Vielleicht zum Essen. Ich bin in der Höhle des Löwen gewesen und hier, die Geschichte zu erzählen.« »Heute früh? Die verlieren keine Zeit.« »Sie taten oberpriesterlich und strichen sich die Bärte und beschlossen, einen Eintrag in meine Personalakte zu machen, der ihre ›Un zufriedenheit mit meiner Handhabung der Si tuation‹, wie sie es nannten, zum Ausdruck bringt. Mit Begründung.« Ihr Lächeln war halb schelmisch, halb schon diebisch; es paßte zu der tanzenden Erregtheit in ihren Augen. Sie war Lichtjahre entfernt von der Frau im Ritz. »Nicht schlecht.« »Ich hatte viel Schlimmeres befürchtet«, sag te sie ernst. »Aber dieser Eintrag wird deinem beruflichen Ansehen schaden.« »Das nehme ich an. Aber nicht annähernd so sehr wie in dem Fall, daß sie erfahren, was wirklich vorgefallen ist.« Er sagte so sanft wie möglich: »Du hättest damit herausrücken können.«
»Um das Stück augenblicklich zu verlieren?« sagte sie leidenschaftlich. »Nein danke.« »Was hast du gewonnen?« »Zeit.« Er machte eine Handbewegung zum Kalk steinblock. »Zeit, um daran zu arbeiten?« »Ja, und um nachzudenken. Wie geht es vo ran? Diese Röntgenuntersuchungen, die du gestern abend am Telefon beschrieben hast…« »Überholt. Abe hat mehr gefunden. Er hat es mir gerade erzählt.« Bei der Erwähnung seines Namens ließ Abe Sprangle seine elektronischen Instrumente stehen und kam mit einem erwartungsvollen Lächeln herüber. Claire begrüßte ihn mit herz licher Kollegialität und hörte aufmerksam seiner Zusammenfassung des Problems zu. »Eine vernünftige Folgerung, glaube ich, daß Pechblende die Quelle der Röntgenstrahlen war. Archäologisch wahrscheinlich, meine ich. Finden Sie nicht?« Als Claire nickte, fuhr er fort: »Aber Pech blende kann es nicht sein. Ich habe das Rönt genspektrum gemessen. Pechblende paßt nicht hinein. Also haben Fred und ich den Gamma strahlendetektor hervorgezogen.« Claire sah ihn ungläubig an. »Gammastrah len?«
»In der Tat. Und sie nehmen an Intensität zu.« »Nichts, kein Isotop, gibt starke Hochener giestrahlung ab. Sie müssen eine falsche Ein stellung am Detektor haben.« Sprangle lächelte wieder. Seine Geschichte machte ihm Spaß. »Das dachte ich auch. Aber das Röntgenspektrum war verdächtig. Es wa ren keine Linien, wie Uran oder Radium. Ich bekomme alle Energien daraus – von weichen Röntgenstrahlen bis hinauf zu harten, fast übergangslos. Es besteht nicht die entfernteste Möglichkeit, daß Pechblende solch eine Emis sion ergeben könnte.« »Dann ist es kein einzelnes Isotop«, warf John ein. »Es muß eine Mischung verschiede ner radioaktiver Minerale darin sein.« Claire schüttelte den Kopf. »Unwahrschein lich. Vergessen wir nicht, daß jemand dieses Ding gemacht hat. Wie sollten diese Leute ra dioaktive Erze ausgewählt haben, wenn sie nicht einmal wußten, daß solche Dinge über haupt existieren?« Abe spielte seinen nächsten Trumpf aus. »Sie können aufhören, sich darum zu sorgen, was hätte sein können. Denn ich habe das Gamma strahlenspektrum gemessen. Es ist auch glatt. Ohne Linien.«
Niemand sagte etwas. Claire schüttelte wieder den Kopf, diesmal so energisch, daß sich in ih rem Nacken ein paar Strähnen des sorgsam aufgesteckten Haares lösten. »So sehr ich Ihre Tüchtigkeit und Ihren Sachverstand respek tiere, Abe, das kann ich nicht glauben.« »Natürlich überprüfen wir es. Fred ist dabei, eine andere Anordnung von Detektoren auf zubauen, die ich mir von Kembersons Gruppe ausgeliehen habe.« John sagte: »Angenommen, die Messungen erweisen sich als richtig. Was hätte es zu be deuten?« Abe Sprangles freudige Stimmung ließ ein wenig nach. »Das ist das Problem. Ich kenne nichts, was ein so hohes Energiespektrum ergibt.« »Dann muß es falsch sein«, sagte Claire ener gisch. Aber es war nicht falsch. Die zweite, mit besonderer Sorgfalt kalib rierte Messung ergab identische Resultate. Der Ausfluß von Strahlung aus dem Block war noch nicht gefährlich, aber er zeigte keine der Spektrallinien, die natürliche Emissionen von Atomen kennzeichneten. Die Überprüfung und Einstellung erforderten zwei Tage ermüdender
Sorgfalt. »Sehen Sie, wie relativ homogen dieses Spektrum ist«, sagte Abe kritisch. »Vielleicht besteht es aus vielen Linien, die einander überlappen?« »Das bedeutet, daß im Innern entweder viele radioaktive Isotopen sind, oder…« John ver stummte grübelnd. Abe lächelte. »Oder wir haben einen dummen Fehler gemacht.« »Und die Strahlung«, fragte Claire, »dringt nur durch zwei Stellen ins Freie – den Zapfen und das Loch gegenüber?« »So ist es. Die Quelle liegt tief im Innern des Steinblocks.« Abe dachte darüber nach. »Ich vermute, sie begruben etwas in der Mitte des Würfels.« John nickte. »Aber was?« »Moment«, sagte Claire. »Ich weiß, wir sind alle neugierig, aber wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Wir brauchen chemische Analysen des Gesteins, des Bernsteins in die sem Zapfen und von dem Material, das das Loch in der Rückseite verstopft.« »Ich habe bereits mit Dunnsen vom Fachbe reich Chemie das Nötige vereinbart«, sagte Abe nachsichtig. »Er hat Erfahrung, hat mit Wat kins und Hampton an diesem Zinn und Zink
aus Italien gearbeitet.« »Wir müssen darauf bedacht sein, daß dem Artefakt minimaler Schaden zugefügt wird.« Abe nickte energisch. »Wir können alles mit passiven Mitteln machen. Keine Beschädigun gen.« Claire nickte. »Gut. Erst wenn wir diese Er gebnisse haben, werden wir in der Lage sein, etwas Vernünftiges zu sagen.« Intelligenz ist relativ. Sie hat ihre Vorurteile und ihre toten Winkel. John wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß zwei Zitadellen der Intelligenz, die er gut kannte – die Ri ce-Universität, wo er sich lange abgemüht und seine akademischen Sporen verdient hatte, und das Massachusetts Institue of Technology, das er zu einem wichtigen Sprungbrett seiner Berufslaufbahn zu machen hoffte –, von der Gesellschaft hauptsächlich als Fabriken ange sehen wurden, die eine bestimmte Art von in telligenten Kobolden erzeugten, welche in der Lage waren, Maschinen zu verdrahten, Lö sungen zu titrieren, Chips zu programmieren und die Räder der Industrie anzutreiben. In ähnlicher Weise war Claire niemals einer Situation begegnet, wo eine sorgfältig ausge führte Reihe intelligent ausgedachter Versuche die Zahl der Möglichkeiten nicht reduzierte,
bis nur eine übrig blieb, und die geheimnisvol le, aus einer alten Grabung geborgene Sub stanz sich als eine seltene Legierung, eine Spur von Zerfallsprodukten oder ein ungewöhnlich zusammengesetztes Amalgam verschiedener Stoffe erwies. Abe Sprangle war ähnlich vor eingenommen. Er hatte sich nie zuvor in einer Situation befunden, wo die aktive, emittieren de Substanz unerreichbar war, so daß er sie nicht einmal sehen konnte. »Diese Zusammensetzungsanalyse ergibt keinen Sinn«, meinte er frustriert. Dunnsen hatte sein Fachwissen aufgeboten und eine detaillierte Liste der Elemente zusammenge stellt, die der Zapfen enthielt. Diese chemische Betrachtungsweise war in einer graphischen Darstellung von Verbindungen und Elementen ausgeführt, alle festgestellt durch verschiede ne diagnostische Methoden, welche die Fähig keit der Materie prüften, Licht von einer be stimmten Frequenz zu brechen, zurückzuwerfen oder zu absorbieren. »Dieses Zeug ist verdammt komisch.« »Lassen Sie sehen!« Claire studierte die mit Kurven in Scharlachrot, Blau und Gelb be deckten Blätter. Die Gipfel und Täler stellten unterschiedliche Mengen jedes vorhandenen Elements dar und glichen gezackten, vielfar
bigen Zähnen. »Aktinium, Boron, Kalzium – lieber Himmel, das hat nichts mit Bernstein zu tun.« »Was ist Bernstein tatsächlich?« fragte John. »Baumharz, fossiles Baumharz«, erklärte Claire zerstreut. »Das Harz tropft zu Boden, sammelt sich dort an, und im Laufe der Zeit entweichen die flüchtigen Elemente, bis ein festes Material zurückbleibt.« »Dann besteht Bernstein hauptsächlich aus Wasserstoff und Kohlenstoff, nicht wahr?« fragte John. Er hatte Chemie immer langweilig und unmöglich zu behalten gefunden. Es schien alles so verworren und kompliziert. Als angehender Student hatte er gern erklärt, daß das Fach trivial sei, weil es bloß die ermüden den Auswirkungen der Quantenmechanik dar stelle, einer bereits verstandenen mathemati schen Disziplin, aber in komplizierten und uninteressanten Fällen. Der Umstand, daß diese Fälle von enormem praktischem Nutzen sein konnten, änderte in seiner jugendlichen Unbedingtheit nichts an der grundsätzlichen Situation; der Gegenstand war bloß eine Form von übelriechendem Ingenieurwesen. »Größtenteils, ja«, antwortete Abe. »Man kann es an Hand der Knötchen, Blasen und Einschlüsse identifizieren, und dieser Zap
fen…« – er kauerte nieder und schaute ihn prüfend an – »glänzt tatsächlich, als enthielte er Einschlüsse und Unregelmäßigkeiten.« Claire schlug mit dem Handrücken auf die Blätter. »Aber hier steht, daß er allerlei Metal le enthält.« »Dann kann es kein Bernstein sein«, erklärte Abe. »Warum nicht?« sagte John. »Bernstein mit vielen Verunreinigungen.« Abe furchte die Stirn, nahm Claire die Blätter aus der Hand und studierte sie. »Ist das mög lich?« »Wir haben solch einen Fall einmal in der Türkei untersucht«, warf Claire ein. »Das Baumharz müßte sich im Boden mit verschie denen Mineralen vermischen… Ich stelle mir vor, daß so etwas geschehen könnte.« Sie glät tete ihren olivfarbenen Rock mit gespreizten Händen und lehnte sich zurück. Sie hatten ein kleines Büro gleich neben der Halle mit Be schlag belegt, wo sie einen Datenanschluß hat ten. Der Schreibtisch war bedeckt mit Compu terausdrucken, Kaffeetassen, Laborberichten und Literatur über Mineralogie. In einiger Entfernung tuckerte die unvermeidliche Va kuumpumpe. »Alles, was ich über die Ablage rung von Mineralen weiß, spricht allerdings
nicht dafür. Einschlüsse von Stoffen wie Eisen, gut. Das kommt bisweilen vor und verändert die Farbe. Dieses Material im Zapfen sieht wie der übliche gelbe Bernstein aus, mit Nuancen von Orange und Rot. Eisen, vielleicht. Aber ei ne ganze Auswahl von Elementen?« »Vielleicht betrachten wir es falsch«, meinte John. »Der Versuch, eine einleuchtende Er klärung dafür zu finden, wie diese Vielfalt von Mineralen in Bernstein gekommen sein könn te…« »Sie müssen gründlich hineingemischt sein«, sagte Abe. »Gewiß. Aber dieser Zapfen befindet sich seit fünfunddreißig Jahrhunderten nahe der Strahlungsquelle.« Sie überlegten schweigend. Dann sagte Claire zweifelnd: »Die Röntgenstrahlen?« »Nein, nur die Gammastrahlen könnten das bewirken«, erklärte John. »Sie könnten Um bildungen verursachen.« Abe lächelte tadelnd. »Nun, dazu wäre eine enorme Stärke der Gammastrahlung erforder lich. Weit mehr als jetzt herauskommt.« »Was immer darin ist, es mußte eine Aus wirkung auf den Zapfen haben.« Abe schüttelte den Kopf. »Ich könnte es Ihnen durchrechnen, aber ich sage Ihnen gleich, daß
die Stärke nicht ausreichen wird, um Eisen in Kalzium und Sauerstoff und so weiter aufzu spalten.« John zuckte die Achseln. »Bloß eine Idee. Aber haben Sie eine bessere?« Abe seufzte. »Nicht aus dem Handgelenk. Meinetwegen mache ich Ihnen diese Berech nung, aber es wird sich nichts ändern.« Er wandte sich zur Dateneingabe und fing an. Claire betrachtete noch immer die Blätter mit den Kurven. »Wir haben uns wegen des Zap fens Gedanken gemacht, aber sieh dir das an, John – die Analyse des Stöpsels auf der Rück seite!« Die blauen und karmesinroten Spitzen waren schwierig zu interpretieren. »Ich sehe«, sagte John. »Diese Kurven sehen anders aus als die des Zapfen, aber was ist daraus zu schließen?« »Ich würde sagen, daß die Zusammensetzung mehr gewöhnlichem Gestein gleicht. Silikate, mit schwerem Material.« »Die gleiche Zusammensetzung wie der Rest des Würfels – der Kalkstein?« »Nein. Aber nicht weit davon entfernt.« »Vielleicht haben sie die Rückseite mit ge wöhnlichem Gesteinsmaterial verstopft, einer Art Mörtel. Warum nicht? Niemand sollte sich die Seite ansehen.«
Claire lächelte. »Und wer sollte sich die Frontseite ansehen?« »Richtig, das wissen wir nicht. Aber wenn sie gewöhnliches Gesteinsmaterial verwendeten und es die letzten paar tausend Jahre in un mittelbarer Nachbarschaft einer Strahlungs quelle war, wie würde es dann aussehen?« »Nun, hier sind ein paar Kurven…« Sie zog eine Grimasse. »Vielleicht Unreinheiten vom Beschuß durch die radioaktive Quelle im In nern. Aber der Kalkstein ist ganz und gar nicht durchsetzt mit diesen schwereren Elementen. Ich habe das Gestein selbst untersucht. Warum ist der Kalkstein dann so gewöhnlich?« John breitete die Hände aus, als ob seine Er klärung die natürlichste von der Welt sei, ge radezu unausweichlich. »Er ist zu dick. Nur entlang der Achse, beim Zapfen und dem Stöpsel, ist das Innere lediglich durch eine dünne Schicht von uns getrennt.« Claire schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sieh mal, hier handelt es sich um ein Artefakt. Es muß aus einem Kulturkreis kommen, den wir bereits kennen, der Methoden kannte, die wir im Detail studiert haben, mit einer Geschichte, die wir in Mythologie, Geschichte einfügen können – es gibt die verschiedensten Möglich keiten der Prüfung und Gegenprüfung. Dieses
Ding muß eine Kontinuität mit dem haben, was wir über die mykenischen Griechen wis sen. Es kann nicht einfach ein… ein vagabun dierendes Objekt sein, ohne Verbindungen zu irgend etwas anderem.« »Es sei denn, wir sehen die Verbindungen nicht.« Sie seufzte. »Dies ist so… so kompliziert. Es gefällt mir nicht. Ich beginne mich zu fragen, ob es ein Schwindel sein könnte, ein Schaber nack?« John erschrak. »Was? Wie könnte es?« »Wenn, sagen wir, Kontos es dort hingesetzt hätte, mit dem Wissen, daß wir… nein, das ist verrückt.« »Allerdings«, sagte er kritisch. Er blickte for schend in ihr ernstes, nachdenkliches Gesicht. Sie war offensichtlich beunruhigt über die Ge genströmungen von Loyalitäten, hin- und her gerissen zwischen dem Grundsatz der Aufrich tigkeit, den die Wissenschaft verlangt, und den Impulsen, die sie in diese Lage geführt hatten. Nun erwies sich das Artefakt selbst als ein Rätsel, dessen Verzweigungen noch nicht zu übersehen waren. Abe schlug mit der flachen Hand auf den Tisch neben der Dateneingabe und verkünde te: »Da haben wir’s! Die gegenwärtige Gam
mastrahlung könnte ein solches Maß an Um wandlung nicht verursacht haben.« Sie dachten darüber nach. »Nun ja«, meinte John schließlich, »die Quelle wird wahrschein lich abnehmende Intensität haben, nicht wahr? Um wieviel stärker könnte sie vor 3500 Jahren gewesen sein?« Abe tastete ein paar Befehle ins Programm. Das MIT-Rechensystem war algebraisch in teraktiv, was bedeutete, daß es eine einfache Frage annehmen, in eine Gleichung umsetzen und diese Gleichung innerhalb eines gegebe nen Bereichs von Möglichkeiten lösen konnte. Die Antwort kam nur Sekunden später. »Die Quelle hätte um das Dreimillionenfache stär ker gewesen sein müssen. Wie könnte eine Quelle aus verschiedenen Isotopen dazu im stande sein?« Abe wandte sich um und lächelte breit. Ihm machte das Rätsel offenbar Spaß. »Eine ziemlich hohe Größenordnung«, räumte John ein. »Ja«, sagte Claire. »Aber hat jemand eine an dere Idee?« Sie schauten einander an. Das Telefon läutete. Claire nahm ab. »Wie? Oh, ja – in Ordnung, ich warte.« Sie blickte stirnrunzelnd zu John.
»Ich habe diese Nummer in unserem Fachbe reich hinterlassen, aber ich dachte nicht…« Sie brach ab und lauschte. Dann nickte sie, sagte »Ja« und legte auf. Bestürzt blickte sie zu den beiden Männern. »Es war Hamptons Sekretärin. Er will mich sofort sprechen. Sie sagte, er habe gerade ei nen Anruf von Kontos bekommen.«
4 Prof. Hampton war hinter einem furchtein flößenden eichenen Schreibtisch verbarrika diert, der zu den schweren Bücherregalen hinter ihm paßte. Vor den langen Reihen wis senschaftlicher Fachzeitschriften und sorgsam geordneter Buchrücken bot sein Tweedanzug und der seidenartige rote Schlips einen far benfrohen Kontrast. Eingezwängt zwischen den Bücherregalen, wie um deutlich zu ma chen, daß der Bewohner dieses Büros au cou rant sei, war eines der neuen 3D-Gemälde, das es zuwege brachte, gleichzeitig wie eine Vase mit grellfarbenen Frühlingsblumen und die
besonders schlimmen Folgen einer Explosion in einer Glasfabrik auszusehen. Nachdem Claire sich gesetzt hatte, stützte Hampton die Ellbogen auf die Schreibtisch platte, legte die Fingerspitzen zusammen und blickte konzentriert durch sie hindurch, als liege dort die Lösung eines kniffligen Prob lems. Claire fragte sich, ob diese Methode wo möglich bezwecke, daß sie das Gespräch be ginnen würde. Es gab so viele kleine Spielchen dieser Art, daß sie nie genau wußte, was bei läufig oder zufällig und was berechnet war. Sie beschloß abzuwarten und umfaßte instinktiv die gepolsterten Armlehnen ihres Stuhls. Nach einer vollen Minute, als das Stillschweigen sich schier unerträglich hinzog und ihre Nerven zu zermürben begann, seufzte er und ergriff das Wort. »Vor weniger als einer Stunde erhielt ich ei nen zutiefst beunruhigenden Anruf von Dr. Kontos. Er war äußerst erregt.« »Ja?« Sie gab sich erwartungsvoll, unschuldig interessiert. »Er hat das große Artefakt verloren.« In ihrem Magen zog sich etwas zusammen. »Verloren?« »Offenbar untersuchte er es am Fundort, da er befürchtete, der Transport könne den… äh…
empfindlichen Verzierungen Schaden zufügen. Anscheinend handelt es sich um ein sehr schönes Stück.« Hampton sagte es traurig, mit einer Andeutung von Zögern. »Natürlich war die Ausgrabungsstätte be wacht. Doch als Alexandros von seinen Pflich ten in Athen zurückkehrte, war das Stück fort.« »Diebe?« »Die Tür war noch verschlossen.« »Dann muß es die Wachmannschaft gewesen sein.« »Selbstverständlich werden die Leute… äh… vernommen.« »Erstaunlich, daß diese Leute glauben, sie könnten solch einen Gegenstand auf dem Schwarzen Markt verkaufen. Sie sollten wis sen, daß jeder seriöse Käufer erkennen würde, daß es gestohlen ist.« Hampton nickte bekümmert. »Ja, ja, so ist es immer, nicht wahr? In ihrer primitiven Ge winnsucht begreifen sie es nie.« Er legte wie der die Fingerspitzen zusammen und wandte sich sinnend dem blassen Licht zu, das zum Fenster hereinströmte, durch das sie unter drolligen Wattewolken Rudermannschaften sah, die sich den grauen Charles River auf wärts mühten. »Tst, tst.«
»Eine schreckliche Sache«, sagte sie, um et was zu sagen. »In der Tat. Dr. Kontos sagte wenig über et waige Bemühungen zur Wiedergewinnung. Ich bin jedoch sicher, daß ein Mann mit seinen Verbindungen zu Polizei und… äh… Militär in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten haben wird. Er fragte jedoch nach Ihren Aufzeich nungen.« »Viele davon sind in den Kisten, die er sich aneignete und nach Athen brachte«, sagte sie scharf. »Ah. Ja, er sagte, daß einige vorhanden sei en… Aber die Mehrzahl davon scheint… äh… in Ihrem Besitz zu sein.« »Es sind meine Aufzeichnungen. George und ich entdeckten schließlich das Stück.« »Sie wissen, daß die Entdeckung als juristisch anwendbarer Begriff auf Gemeinschaftsgra bungen nicht anwendbar ist«, sagte er mißbil ligend und bedachte sie über die Fingerspitzen hinweg, die sich rhythmisch voneinander ent fernten und wieder berührten, mit einem ernsten Blick. »Kontos verdient keine Kooperation. Er wollte die ganze Gruppe um das Verdienst da ran bringen.« »Wie kommen Sie darauf? Ich versichere Ih
nen, das wäre nicht geschehen. Die raison d’être unserer Expedition war die Festigung der griechisch-amerikanischen Beziehungen. Für Alexandros steht ebensoviel auf dem Spiel wie…« »Natürlich wird er nehmen, was wir anbieten. Aber dann wird er dieses Artefakt als allein seine Entdeckung reklamieren.« »Ich habe mein Konzept unseres Berichts vorbereitet, und wenn Ihre Resultate mit ein geschlossen sind, wird es ein solides Stück Ar beit sein. Dieses Objekt, so faszinierend es sein mag, ist nicht derart bedeutsam. Wie Sie wis sen, ist es die langsame Anhäufung von Einzel stücken, von Daten und Beobachtungen, die unseren Beruf…« »Hängt dieses Urteil nicht davon ab, als was der Gegenstand sich erweist?« Hampton schien durch ihre Unterbrechung aus dem Konzept gebracht. »Nun… äh… selbstverständlich. Ich glaube jedoch nicht, daß wir das gesamte Gebäude unserer Inter pretation einer Neubewertung unterziehen müssen, nur weil ein Artefakt womöglich Ei nordnungsschwierigkeiten bereitet. Es könnte leicht eine Anomalie sein, ein Import aus Kreta oder einer anderen Gegend.« »Trotzdem, ich…«
»Claire, Sie müssen Ihre Aufzeichnungen über diesen Gegenstand Dr. Kontos überge ben«, sagte Hampton eindringlich, als habe er sich von einem Augenblick zum anderen zu einer Veränderung der Taktik entschlossen. Der nachdenkliche, distanzierte Professor war verschwunden. Er beugte sich über den Schreibtisch. »Unverzüglich.« »Das werde ich nicht tun. Sie gehören nicht ihm.« »Er wird den Gegenstand bergen und an schließend den entsprechenden Abschnitt un serer Veröffentlichung schreiben. Dazu wird er Ihre Information brauchen.« »Das war der Grund seines Anrufs?« »Nicht allein das, nein. Aber ich versicherte ihm unserer rückhaltlosen Unterstützung.« »Meine Antwort bleibt nein.« Hampton schien bestürzt. »Sie können sich nicht weigern.« »O doch, ich kann.« »Dies widerspricht allem, was wir vereinbar ten, als wir die gemeinsame Expedition unter nahmen.« »Ich brauche meine Aufzeichnungen.« »Ich zweifle daran. Ich zweifle wirklich da ran. Sie sind lediglich bestrebt, Dr. Kontos’ Arbeit zu behindern. Ich muß Sie noch einmal
ersuchen…« »Nein.« »Sie bringen Ihre… äh… berufliche Position hier in Gefahr, Claire. Wenn Sie…« Sie stand auf. »Berufliche Position? Ha! Mein Vater pflegte zu sagen: du mußt in der Lage sein, einen Chirurgen, der einen Luftröhren schnitt macht, von einem Halsabschneider zu unterscheiden. Nun, das kann ich.« Sie schwang ihren Schirm in einem weiten Bogen, dem beinahe ein Bücherstapel auf dem großen eichenen Schreibtisch zum Opfer ge fallen wäre, und marschierte hinaus. Ihre Stiefelabsätze knallten zornig auf die knar renden Dielenbretter. Sie hielt sich recht gut, bis sie ihre Wohnung erreichte. Dort begannen ihr die Hände zu zit tern, und ein Durcheinander von Zorn und Enttäuschung und Ich-hätte-sagen-sollen ging ihr wie ein Mühlrad im Kopf um. Sie schenkte sich einen Sherry ein, dann noch einen. Hampton steckte so tief in akademischer Ehrbarkeit, daß ihm gar nicht in den Sinn ge kommen war, sie könnte so zügellos, so schreiend irrational gewesen sein, ein Artefakt zu stehlen. Das war der einzige Faktor, der den Augenblick der Vergeltung verzögerte.
Möglicherweise glaubte Kontos tatsächlich, daß die Wachen den Würfel hatten ver schwinden lassen. In diesem Fall brauchte er ihre Aufzeichnungen, um einen vorläufigen Fundbericht zusammenzuschreiben, seine Priorität herzustellen und somit Zeit zu ge winnen, bis er dem Artefakt auf die Spur kommen könnte. Es bestand keine Möglichkeit, daß diese Fik tion lange aufrechterhalten werden konnte. Sie zündete eine Zigarette an und schaltete das Radio an. Eine nasale Stimme winselte, daß ihre Zuckerpuppe fortgelaufen sei, daß sie nicht wisse, was sie dazu sagen solle, sie könne sich nur hinsetzen und weinen, vielleicht wür de sie nun sterben müssen. Claire schnitt ein ärgerliches Gesicht. Sie hatte gedacht, daß Cole Porter nicht nur tot sei, sondern vergessen. Das Sherryglas war leer, und sie füllte es auf. Auf dem Rückweg von der Hausbar bemerkte sie, daß sie ihre Zigarette fast aufgeraucht hat te, und drückte den Stummel aus. Als sie zur nächsten griff, hielt sie ein. Dieses Verhal tensmuster war ihr nur zu gut bekannt. Allein, voller Sorgen, bedrückt von den Ereignissen des Tages und der Ausweglosigkeit ihrer Lage, konnte sie nur zu leicht in einen Zyklus der Abhängigkeit geraten. Sie wollte sich nicht ei
nem Abend neurotischer Ängste aussetzen und griff zum Telefon. »Weißt du, wo Locke Ober ist?« fragte sie, als John sich nach dem dritten Läuten im Labo ratorium meldete. Sie hatte gewußt, daß er dort sein würde, obwohl es sechs Uhr vorbei war. »Ja, ich glaube schon.« »Dann treffen wir uns dort um sieben. Ich muß mich wiederherstellen.« Eine Stunde später saßen sie an einem klei nen runden Tisch im ersten Stock und tranken Whisky Soda. Der Oberkellner hatte sich be wegen lassen, ihnen auch ohne Reservierung einen Tisch zu geben, aber nicht durch Johns beharrliches Drängen, sondern vielmehr – zu ihrer Überraschung –, weil er Claire erkannte. »Das zeigt wieder einmal, daß es seine Vorteile hat, Vorfahren zu haben, die seit einem oder zwei Jahrhunderten regelmäßig hierher ka men«, bemerkte sie. »Hm. Hübsches Lokal«, räumte John ein. »Ich mag den Spinat mit Rahm hier.« Sie blickte im Raum umher, der sich rasch mit Gästen füllte. »Touristen und Untermenschen kommen ins Obergeschoß, wo es ein bißchen moderner ist. Bis in die Siebzigerjahre ließen sie Frauen überhaupt nicht ein, glaube ich. Die
Kellner sind höflich, aber gewöhnlich auch taub.« Als wäre es das Stichwort gewesen, kam ein gebrechlich aussehender Mann herangeschlurft und nahm ihre Bestellung an. Claire ließ einen liebevollen Blick über die Speisekarte schweifen. »Hummer frisch vom Boot in Portland, daran erinnere ich mich noch, als ich mit meinem Großvater hier war.« »Ein alter Seebär?« »Nein, ein Bankier. Er und meine Großmutter sind das älteste Ehepaar in Vermont; letztes Jahr gab es einen Zeitungsartikel über sie. Mein Großvater erzählte dem Reporter seinen Lieblingswitz: ›Warum kaufen die Leute im mer noch Shampoo, wenn sie richtigen Po ha ben können?‹ Er ist eine Art Original gewor den.« »Ich habe schlechtere Witze gehört.« Sie bestellten Meeresfrüchte und einen kali fornischen Wein, von dem Claire nie gehört hatte. Sie sagte: »Mir gefällt es hier. Es ist so – nun – ermutigend. Die schweren Vorhänge, sogar der etwas muffige Geruch. Meine Fami lie kommt hierher, wenn alle in der Stadt sind. Sie sind alle so alt, ich möchte wetten, sie er innern sich noch an die Zeit, als Pferde droschken einen hierher brachten.«
»Deshalb Archäologie?« »Wie? – Ach, ich verstehe. Voreingenom menheit für die Vergangenheit.« Sie starrte verstimmt in die Kerzenflamme. »Ja, viel leicht…« »Nun, da wir sitzen und bestellt haben, kannst du mir die schlechte Nachricht erzäh len.« Sie tat es und schloß mit den Worten: »Also hat Kontos entdeckt, daß der Block fehlt, aber es ist ihm nicht klar, wie sein Verschwinden bewerkstelligt wurde.« »Oder von wem. Aber er verdächtigt uns, würde ich sagen.« »So sehe ich es auch.« »Was kann er tun? Ich meine, bis Hampton herausbringt, daß wir das Ding haben.« »Ich dachte, wir würden mehr Zeit haben.« »Ich nicht«, erwiderte er. »Kontos fackelt nicht lange.« »Dann müssen wir uns beeilen.« »Abe arbeitet angestrengt daran, und ich verbringe praktisch meine ganze Zeit drüben. Nicht, daß ich viel tun könnte. Im Grunde bin ich eine Art Handlanger.« »Obwohl ich Semesterferien habe, habe ich Verpflichtungen an der Universität. Dummer weise willigte ich ein, während meines Urlaubs
als Beraterin für Studentinnen zu arbeiten.« »Was für Rat gibst du denen?« »Akademisch, persönlich, was sie bedrückt. Es ist ziemlich entmutigend. Erinnert mich an einen anderen Standardwitz meines Großva ters. Wie nennt man einen Studienberater an einer Frauenuniversität?« Er zuckte die Achseln. Sie sagte mit einem ironischen Blick: »Ge burtshelfer. Darin steckt mehr Wahrheit, als ich je zugegeben hätte, bevor ich mich damit befaßte. Bei vielen dreht es sich um diese Din ge.« »Was rätst du Ihnen?« »Daß sie Kapitäne ihres eigenen Geschicks sein sollen.« »Tiefsinnig. Wer soll die Mannschaft sein?« Sie lächelte gegen ihren Willen. »Gut, eine schlechte Metapher. Jedenfalls muß ich diese Beratung machen, und es geht zu Lasten mei ner Archäologie. Ich habe noch meinen Teil an unserer Veröffentlichung zu schreiben. Seit einer Woche schickt Hampton mir deswegen Notizen.« »Der Block ist Teil dieser Veröffentlichung, nicht?« Er brach ein Stück französisches Weißbrot auseinander, das noch dampfte, und begann gedankenvoll zu kauen.
»Nein, ich lasse das Artefakt aus. Ich meine, was kann ich schreiben, ohne zu viel zu verra ten?« »Wenn du es ganz übergehst, machst du Hampton nur stutzig. Er wird sich fragen, ob etwas vielleicht nicht stimmt.« »Meinst du?« »Ich glaube es. Unter dieser akademischen Würde und Gespreiztheit steckt ein schlauer Taktiker.« »Ich weiß nie, wie ich diese Dinge spielen soll.« »Ich bin überzeugt, daß Hampton bereits ei nen Verdacht hegt.« »Kann er etwas Schlimmes tun? Kann er mich eines Verbrechens beschuldigen, mich fest nehmen lassen?« Das Winseln war in ihre Stimme gekommen, ohne daß sie es bemerkte; sie trank ihr Glas halb leer. »Weswegen?« »Weil ich ein einzigartiges Fundstück aus Griechenland gestohlen habe.« »Dich dafür zur Verantwortung zu ziehen, ist Sache der Griechen. Und die haben zur Zeit anderes zu tun.« »Wie meinst du?« »Heute früh steht im Globe, daß Griechen land die diplomatischen Beziehungen zur
Türkei abgebrochen hat.« »Nein! Die Türken sind ihnen zahlenmäßig haushoch überlegen – das ist dumm!« Er nickte. »Sehr. Aber es bedeutet auch, daß Kontos Wutanfälle kriegen und sich auf den Kopf stellen kann, ohne daß es viel bewirken wird. Seine Regierung hat andere, größere Sorgen.« »Wenn Kontos die hiesigen Behörden be nachrichtigen und einen internationalen Haftbefehl erwirken würde, könnten sie mich festnehmen, nicht wahr?« »Nun, so etwas wird es nicht geben«, sagte er beschwichtigend. »Unsere Regierung legt in solchen Fällen ihre eigenen Maßstäbe an.« Er langte über den Tisch und legte seine Hand auf die ihre. Sie bemerkte, daß sie, ohne es zu se hen, ihr Brot neben den Teller in Stücke geris sen hatte. Der jähe Zustrom von Blut in ihr Ge sicht war noch entnervender. »Ich… bist du sicher?« »Ja.« »Ich… wir sind in dieser Sache beide verant wortlich. Wenn Kontos… es… macht dir nichts aus?« Er zuckte betont gleichgültig die Achseln. »Nein.« »Macho.«
»Verdammt richtig.« Er grinste. Sie besah seine gefalteten Hände und erin nerte sich, wie sie auf einem Tischtuch in Nauplia geruht hatten – breite Finger, betonte Knöchel, dicke Nägel mit einem seidigen Glanz. Kräftige, doch nicht ungepflegte Hände, die sie an die Hände von Arbeitern erinnerten, aber ohne Schwielen und ohne abgerissene, geschwärzte Fingernägel. Hände, die sich ru hig und beiläufig bewegten, um ein Weinglas zu nehmen, oder ein Stück Brot – nervöses Herumtasten schien ihnen ebenso fremd wie das Zittern innerer Konflikte. Im Kerzenschein schienen sie groß, und ihre Bewegungen hat ten die natürliche Zweckbestimmtheit unab hängiger Geschöpfe. Ihr wurde bewußt, daß sie auf seine Hände starrte. Sie fühlte eine Wärme, die sie von in nen her erfüllte, und glaubte, sie komme vom Wein und der Entspannung nach dem Tag. Das Murmeln neu eintreffender Gäste, der Klang von Tafelsilber und Porzellan – sie überließ sich dem angenehmen Gefühl dieses zeitlosen Luxus. Vor dem Hauptgericht entschuldigte sie sich und ging zur Damentoilette. Als sie zu rückkehrte, folgte Johns Blick dem Schwung ihrer Hüften, und sie sah, daß er die unter ih rem engen blauen Rock sich abzeichnenden
Strumpfhalter bemerkt hatte. Männer fanden sie immer erotisch, erinnerte sie sich, viel besser als die praktischen Strumpfhosen. Sei nem Gesichtsausdruck konnte sie entnehmen, daß er in der Benutzung eines Strumpfgürtels durch sie eine Provokation sah. Die unmittel bare und automatische Reaktion war eine strenge Spannung in ihrem Gesicht, aber etwas veranlaßte sie, den Ausdruck zu unterdrücken und die Andeutung eines Lächelns an den Mundwinkeln zupfen zu lassen. Ihre Ent scheidung für altmodische Strumpfwaren hat te viel mehr mit einer Neigung zu Hefepilzin fektionen zu tun, aber sie ließ ihn denken, was er wollte. Sie schlenderten die Tremont Street hinab und nahmen den schmalen Fußweg am Ufer des Charles River. Ein vollbusiges Mädchen trabte vorbei, angetan mit einem Polohemd, das den Aufdruck HÄNDE WEG trug. Norma lerweise hätte Claire eine solche Schaustellung mit einem herabgezogenen Mundwinkel quit tiert, an diesem Abend aber unterdrückte sie ein Schmunzeln. Brandy wärmte sie gegen den kalten Wind, der böig vom Fluß her wehte, und sie nahm Johns Arm, ohne zu überlegen. »Du bist in dieser ganzen Angelegenheit so
viel selbstsicherer als ich«, sagte sie leise. »Hat keinen Sinn, sich zu sorgen.« »Aber warum bleibst du dabei? Archäologie hatte dich früher nie besonders interessiert, du sagtest mir das am Anfang.« Er zog die Brauen hoch und blickte zu den entfernten Lichtern des MIT hinüber. »Mein Interesse daran wurde geweckt. Aber… tat sächlich warst du es.« »Wirklich? Ich?« Sie wunderte sich über den geschmeichelten Ton in ihrer Stimme und ta delte sich wegen solch offensichtlicher Koket terie. Dann aber mußte sie daran denken, daß sie mit diesem Fundstück weit mehr riskierte; sicherlich konnte sie sich hier ein kleines schelmisches Spiel leisten. Sie dachte an seine Hände, die nun an den Seiten herabhingen, als er sich ihr zu wandte. Sie atmete eine perlwei ße Wolke aus, und es war, als breche etwas unbekümmert aus ihr hervor, etwas, das sie bisher wirksam blockiert hatte. Er war ein ragender dunkler Umriß vor den Lichtern der Stadt, scheinbar größer als sie ihn erinnerte. »Sie sind hypnotisch, meine Dame.« »Also habe ich die Archäologie für dich mit Leben erfüllt?« spottete sie. »Deine Stirnlap pen angeregt?« »Eher ein bißchen weiter unten.«
Ehe sie sich’s versah, hatte er sie in die Arme genommen. Ein Instinkt in ihr reagierte ab wehrend, aber seine Hände waren fest an ih ren Armen, die ruhigen, großen Hände, und sie blickte in sein Gesicht und versuchte in der Dunkelheit seinen Ausdruck zu lesen. »Dann bist du also kein absoluter Gehirn mensch?« Sie behielt den leichten Ton bei. Vorübergleitende Autoscheinwerfer auf dem Storrow Drive ließen Streulicht über seine Zü ge gleiten, und sie sah ein erheitertes, beinahe ironisches Lächeln um seinen Mund, aber die Augen waren ernst und dunkel. »Nein. Aber ich weiß, wie man angelt.« »Angelt?« »Meistens ist es bloß ein Warten.« »Bis etwas an der Leine zupft?« »Nein. Ein Warten auf den kräftigen Biß.« »Und nun holst du mich ein?« Er lächelte nur. »Du arroganter Soundso!« »Das sind deine Worte.« Er küßte sie langsam, damit sie viel Zeit zum Denken habe, zum Akzeptieren. Es dauerte ei ne gute Weile, und als es vorbei war, fühlte sie seine Hände auf den Armen durch den Mantel, obwohl er sie nicht drückte, sie tatsächlich kaum berührte. Als sie in sein Gesicht blickte,
merkte sie, daß die Hände zu ihm paßten, ein wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit waren. Sie hatte Angst, etwas zu sagen, und wünschte sich, der Augenblick werde andauern. Eine kalte Bö biß ihr ins Gesicht, spielte mit ihrem sorgfältig zurechtgemachten Haar, und plötz lich klapperten ihre Zähne. »Wir werden dich unter Dach und Fach brin gen müssen.« »Ich… ja.« »Wo wohnst du eigentlich?« »Ich dachte schon, du würdest nie danach fragen.«
5 »Es ist richtig, lassen Sie es sich gesagt sein!« sagte Abe Sprangle trotzig. John schüttelte den Kopf. »Ich sage nicht, daß Sie einen Fehler machen, wohlgemerkt. Aber dieses Bild ergibt einfach keinen Sinn.« Er wies mit dem Finger auf das Röntgenbild, von dem eine harte Kopie auf Papier vorlag. Abe war auf eine andere Methode zur Untersu
chung des Würfels gekommen. Er behandelte die emittierten Röntgenstrahlen, als ob sie gewöhnliches licht wären, und belichtete da mit einen Film. Nach einigen Stunden Belich tungszeit entstand ein geisterhaftes Bild, ge bildet aus einem Gesprenkel von Punkten. »Sie ergeben ein Viereck, sehen Sie?« Abe fuhr den diffusen Umriß nach. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie diese Röntgen strahlen nicht aus einer anderen Quelle emp fangen haben? Ich meine, eine viereckige An ordnung von radioaktiven Elementen…« Seine Stimme verlor sich in Zweifeln. »Nicht bloß ein Viereck. Sehen Sie die An ordnung der Punkte im Inneren des Vierecks? Außerhalb sind überhaupt keine.« John nickte. »Also ist es… was?« »Ein hohler Würfel, würde ich sagen. Die Seiten enthalten radioaktive Stoffe. Wir bli cken entlang der Achse des Hohlwürfels, also sehen wir die gesamte Radioaktivität von den Seiten.« »Nun gut… aber was ist das?« Abe runzelte die Stirn. »Das? Ich weiß es nicht.« Exakt im Mittelpunkt des Vierecks war ein dunkler Punkt, weitaus intensiver als der Ne bel von Punkten darum.
»Ist das etwas im Mittelpunkt Ihres Hohl würfels?« »Sieht so aus. Die Unschärfe des Bildes rührt von Überbelichtung her.« »Ein Hohlwürfel in diesem Gesteinsblock?« fragte John ungläubig. »Das schließe ich aus den Röntgenstrahlen.« »Und die Größe dieser… äh… Aushöhlung?« »Ungefähr zwei Zentimeter Kantenlänge.« »Was? Das ist…« »Ich weiß, sehr klein. Aber das ist…« »Was die Röntgenstrahlen sagen, ich weiß.« »Es gibt Erklärungen«, verteidigte sich Abe. »Man könnte sich Verschiedenes vorstellen. Ein im Inneren verborgenes Schmuckstück? Ein Werkstück?« »Ich weiß nicht…« John rieb sich das Kinn. »Wir können Claire fragen.« »Ich weiß, was sie sagen wird.« »Was?« »Lächerlich! Es muß ein Irrtum sein.« Claire befingerte den Abzug von der Röntgenauf nahme. »Die mykenischen Griechen haben solche Objekte nie gemacht. Die Würfelform war sehr selten bei ihnen.« »Ich habe es ein Dutzend Male überprüft«, erklärte Abe.
»Es kann nicht sein.« »Wenn Sie damit andeuten wollen, daß meine Arbeit…«
»Sehen Sie«, sagte John eilig und trat zwi
schen sie, »niemand will so etwas andeuten. Aber wir müssen dieses Ding verstehen, ohne es auseinanderzureißen. Richtig?« »Selbstverständlich«, sagte Claire ungedul dig. »Ich sage nur, daß es einen Irrtum syste matischer Art geben muß, der uns falsche Re sultate erbringt… irgendwie.« Sie brach ab und biß sich auf die Unterlippe. John sah, daß sie mit ihrem Latein am Ende war, unfähig vorzuschlagen, was zu tun sei, unfähig auch, den Punkt anzugeben, wo Abe fehlgegangen sein mußte, dennoch nicht be reit, seine Ergebnisse zu akzeptieren. Archäo logen behandelten physikalische Diagnostik oft als neumodische, möglicherweise trügerische Hinzufügungen zu ihrer eigentlichen Wissen schaft. Sie waren geneigt und trainiert, ein neues Fundstück in das allgemeine Bild der Gesellschaft, aus der es stammte, zu integrie ren. Ein einzelner Gegenstand war oft nicht repräsentativ; spätere Besitzer konnten ihn zweckentfremdet, beschädigt, verändert oder Hunderte von Kilometern von seinem Ur sprungsort entfernt haben. Gleichwohl muß ten einzelne Wesenszüge sich in den Gesamt zusammenhang der Gesellschaft, aus der er hervorgegangen war, einfügen; ein einfacher Wetzstein sah verschieden aus, je nachdem, ob
er aus einer Kultur von Wildbeutern, Acker bauern oder frühen Stadtbewohnern stammte. »Dieser Punkt in der Mitte«, sagte John, um die Aufmerksamkeit abzulenken. »Sie sagten, Ihr erstes Bild sei wegen Überbelichtung un scharf geworden.« »Ja, also machte ich eine neue Aufnahme mit kürzerer Belichtungszeit. Hier!« In der Mitte des Blattes war ein Punkt zu se hen. »Das ist es?« »Ja. Die zentrale Quelle ist noch immer nicht klar erkennbar.« »Welcher Größe entspricht dies?« fragte Claire. »Einem Drittel Millimeter, schätze ich«, sagte Abe steif, als mache er sich auf einen neuen Ausbruch brüsker Ungläubigkeit gefaßt. Aber diesmal schüttelte sie nur den Kopf. Abe sagte: »Um die Fachsprache zu gebrauchen, wir sind bis auf ein Pixel herunter. Wir können nicht genauer sehen. Folglich kann ich nicht garantieren, daß die tatsächliche Quelle nicht noch kleiner ist. Eine genauere Auflösung ist einfach nicht möglich.« »Ausgeschlossen«, erklärte Claire. »Aber wahr«, versetzte Abe.
Damit hatte es für den größten Teil einer Woche sein Bewenden. Abe Sprangle setzte seine Messungen fort, nahm weitere Röntgen bilder auf, versuchte verschiedene Techniken der Isotopenanalyse, rief Fachkollegen von Harvard und Cornell und Brown herüber, um gemeinsam mit ihnen die Ergebnisse zu über denken. Die Ergebnisse änderten sich nicht. Unter dem stetigen Druck des bekräftigenden Datenmaterials mußte Claire zurückstecken und hörte auf, bei jedem neuen Ergebnis un gläubig die Nase zu rümpfen. Abe schlug eine tiefere Bohrung in den Kalk steinblock vor. Die Idee mißfiel Claire, doch hatten die übereinstimmenden Resultate sie unsicher gemacht. Sie stimmte einer drei Zen timeter tiefen Bohrung nahe dem Rand einer Seitenfläche zu. Abe rief einen Spezialisten namens LeBailly von der Brown-Universität herbei. Jede neue Person, die das Artefakt sah, bedeutete eine Erhöhung des Risikos, denn es war unvermeidlich, daß die Leute redeten. Aber Claire hatte eine halbwegs plausible Ge schichte erfunden, um diese neuen Forscher zur Geheimhaltung zu vergattern. Es war eine kunstvolle Umgestaltung dessen, was tatsäch lich geschehen war, mit besonderer Betonung von Kontos’ persönlichen, politischen und
wissenschaftlichen Motiven. Ohne es aus drücklich zu sagen, implizierte die Geschichte, daß sie das Artefakt durch »Beziehungen« aus Griechenland herausgebracht hätten, und daß alle darüber schwiegen, um die Helfer und Gewährsleute angesichts der sich ständig ver schlechternden politischen Lage in Griechen land nicht in Gefahr zu bringen. Diese Fabel sorgte einstweilen für Stillschweigen, aber John und Claire wußten recht gut, daß sie spä ter, wenn die Gastforscher nichts weiter hör ten und anfingen, Fragen zu stellen, um so größere Schwierigkeiten heraufbeschwören würde. Dies alles ereignete sich vor einem Hinter grund anderer Forschungsinteressen, die nicht vernachlässigt werden durften. Claire hatte ihren Bericht fertigzustellen, und dazu kam eine Unzahl kleinerer Arbeiten, wie sie in einer Fakultät ständig anfallen. John war in ein langwieriges Programm von Berechnungen verstrickt, von denen viele bisweilen schwie rig, meistenteils aber geradlinig waren und nur Zeit und Geduld und eine gewisse Hartnä ckigkeit erforderten. Abe, der als ordentlicher Professor mehr Bewegungsfreiheit hatte, konnte sich jeden Tag mehrere Stunden lang mit der Verfeinerung seiner diagnostischen
Methoden beschäftigen. Einzelheiten und auf tretende Probleme mit der Elektronik und Da tenverarbeitung delegierte er an Techniker und Assistenten, die er je nach Bedarf von an deren Projekten abziehen konnte. Nicht, daß alles nur Arbeit gewesen wäre. John führte Claire mehrmals zu feinen Abendessen in teure Restaurants aus und de monstrierte die Fähigkeit, haarsträubende Rechnungen ohne sichtbare Wirkung zu be zahlen. Das war nicht leicht. Sein Gehalt war bescheiden, und ihn gelüstete noch immer nach einem Ersatz für sein Auto, das inzwi schen zu einem liebevoll erinnerten Luxus ge worden war. Wenn er in Claires Alfa Romeo durch Boston sauste, wurde ihm der Verlust nur noch stärker bewußt. Es machte ihm nichts aus, daß sie aus Gründen ihres Selbst gefühls das Lenkrad nicht aus der Hand geben wollte, aber ihr unbewußter Leichtsinn war in einer Stadt enger, überfüllter Straßen entner vend. Dann gingen sie in stillschweigender Über einkunft zu einfacheren, billigeren Zer streuungen über – Fischrestaurants von spar tanischer, mit Küchengerüchen geschwängerter Atmosphäre und unhöflichen Kellnern; sie besuchten Sinfoniekonzerte; sie
spazierten die mit Ziegelsteinen gepflasterten Bürgersteige um die Garden und Brattle Street in Cambridge entlang, wo graue, klassizisti sche Häuser aus dem achtzehnten Jahrhun dert wie steife Anstandsdamen auf sie herab sahen. Er entdeckte, daß ihm Opern nichts sagten. Sie zeigte eine entsprechende Abnei gung gegen die volkstümliche Musik, wie sie im Süden und Westen der Staaten beliebt war – wenigstens in der Form, die in dem einzigen Club geboten wurde, der sich in Boston und Umgebung dieser Musik widmete; zu seiner Verteidigung behauptete er, daß diese verwäs serte Version ganz und gar nicht den weichen, authentischen Klängen gleiche, die man im Süden höre. Aber wohin sie auch gingen, frü her oder später fand das Gespräch zu dem Kalksteinblock, der in der Abteilung für Mate rialprüfung im Gebäude Nr. 42 ruhte. »Ich kann nicht an Abes Messungen der Ele menthäufigkeit glauben«, sagte Claire eines Abends, als sie in einem ungarischen Lokal, dem Cafe Budapest, beim Kaffee saßen. Claire hatte sich erbötig gemacht, ihn auf ihre Kosten in die verschnörkelten, etwas muffigen Keller lokale am Copley Square zu führen, weil sie meinte, er habe eine Erweiterung seiner gast ronomischen Erfahrungen nötig. Gegen die
Idee, daß sie zahlte, hatte er nicht einen einzi gen Einwand gemurmelt. Hätte er es getan, so wäre ein Vortrag darüber, wieviel mehr sie verdiene als er, die Folge gewesen. Wissen schaftliche Assistenten an der Universität Boston verdienten um einiges besser als am MIT. Und abgesehen davon, war er nie der Meinung gewesen, daß der Mann die gesell schaftliche Bürde allein zu tragen habe. Er war ein Mann, der dem Wandel in der Rolle der Geschlechter, wie er sich gegen Ende des Jahrhunderts immer deutlicher abzeichnete, angepaßt war. Sie waren beide zugegen gewesen, als Abe ei ne volle Woche Arbeit an der Tiefenbohrung zu Ende geführt hatte. LeBailly, der Fachmann von der Brown-Universität, hatte ein übermä ßiges Interesse an dem Würfel gezeigt und seine Werkzeuge, die John mehr wie die In strumente eines Juweliers vorkamen, wider willig und mit dem offen geäußerten Wunsch eingepackt, er könne mehr tun. Abe hatte verschiedene chemische und phy sikalische Analysen der im Gestein vorhande nen Elemente durchgeführt und zu diesem Zweck Proben aus der Tiefe der Drei-Zentimeter-Bohrung verwendet, um die Gefahr von Oberflächenkontamination zu
vermeiden. Die Proben aus dem Inneren zeig ten gegenüber dem Oberflächengestein das Hundertfache an schweren Elementen. »Das ist äußerst unwahrscheinlich«, sagte Claire heftig. »Abe hat die Ergebnisse von zwei Spezialisten überprüfen lassen«, sagte John. »Aber wie kann es sein? Das ist Kalkstein, ein Sediment, das vor vielen Millionen Jahren in einem Ozean abgelagert wurde. Wie kann in bloßen drei Zentimetern ein so großer Unter schied in der Zusammensetzung und Häufig keit schwerer Elemente entstehen?« »Ein ungewöhnliches Muster.« »Ich habe mit Geologen an der Universität Boston gesprochen. Sie haben niemals von et was Vergleichbarem gehört.« John rührte in seinem Kaffee und sah ihn in der Tasse kreisen. »Es gibt eine mögliche Er klärung…« »Welche? Der Block ist gewachsener Fels, das wissen wir. Kein Mensch aus jener Epoche hätte ihn aushöhlen und anderes Gestein hin eintun können.« »Angenommen, die schweren Elemente rüh ren vom Beschuß durch die zentrale Quelle von Radioaktivität her?« Das gab ihr zu denken. John lehnte sich zu
rück und beobachtete ihre Reaktion; es machte ihm Spaß, ihre Bostoner Zurückhaltung aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bisher hatte er keinen Grund gesehen, seine schon vor Wo chen geäußerte Vermutung, daß die zentrale Quelle von Gamma- und Röntgenstrahlen vor wenigen tausend Jahren noch erheblich stär ker gewesen sein könnte, aufzugeben. Sicher lich nahm sich die Idee auf den ersten Blick unwahrscheinlich aus, doch war auch alles andere an dem Artefakt unwahrscheinlich, wenn man es mit anderen archäologischen Funden verglich. Und seine Vermutung würde erklären, warum der Bernsteinzapfen eine so ungewöhnliche Vielfalt von Elementen ent hielt. Zu irgendeiner Zeit in ferner Vergan genheit war eine enorm starke Strahlung vom Kern ausgegangen, hatte den Zapfen, den Stopfen auf der Rückseite und den ganzen Ge steinsblock durchdrungen. »Ich… ich gebe zu, daß es die Analyse der Bohrungsproben erklären würde…« Sie kon zentrierte sich in unbewußter Lieblichkeit, und er bewunderte das Spiel der Emotionen in ih ren Zügen. Die Unterlippe war in ungläubiger Skepsis vorgeschoben, ein Nasenflügel gebläht. Eine Augenbraue wölbte sich in vorläufiger, widerstrebender Akzeptanz. »Und die Kon
zentration in dem Zapfen…« Sie hatte den Zu sammenhang rasch erkannt. »Aber das würde einen gewaltigen Strahlungsausbruch voraus setzen.« »Allerdings.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Die Geschichte erinnert mich an das Turiner Grabtuch.« Auf seinen verwunderten Blick fügte sie hin zu: »Ein Stück Stoff, das auf irgendeine Weise Gestalt und Gesichtszüge des toten Christus bewahrt hat. Es war jahrzehntelang ein Streit fall unter den Gelehrten. Religiös orientierte Leute glaubten, es liefere den unumstößlichen Beweis für die Überlieferung der Bibel. Das Problem bestand darin, zu erklären, wie der Abdruck in den Stoff gelangen und dort gleichsam fotografisch fixiert werden konnte.« »Du meinst, um ein Wunder zu erklären, be durfte es eines zweiten Wunders.« »Ja. Ich halte es für richtiger, nach einer we niger komplizierten Erklärung Ausschau zu halten. Aber welche andere Erklärung gibt es in unserem Fall?« »Die Archäologie erinnert mich an eine De tektivgeschichte, in der es nur Indizienbeweise gibt, und nicht einmal eine klare Vorstellung von der Art des Verbrechens.« Sie nickte nachdenklich. »Du weißt, was Abe
will, nicht wahr?« »Ich kann es mir denken.« »Aber eine Bohrung durch diesen Stopfen in der Rückseite… das würde die Zerstörung möglicherweise wesentlichen Materials be deuten.« »Dieses Zeug ist bloß Gestein, eine Art Mör tel. Du hast die Analyse gesehen.« »Trotzdem, es gefällt mir nicht… ich hatte nie Entscheidungen dieser Art zu treffen.« Ein et was kläglicher Ton kam in ihre Stimme. »Ich hätte das Fundstück von Anfang an nicht an mich bringen und entführen dürfen, und wenn ich es nun auch noch zerschneiden und durchbohren lasse…« »Du hast das Ding genommen, um es zu un tersuchen. Nun hat es sich als ein Rätsel er wiesen, nicht bloß als eine Art Idol oder was immer. Jedenfalls gibt es jetzt kein Zurück mehr.« »Ich… irgendwie kommt mir verrückt vor, was wir in Griechenland machten.« »Daß du so denkst, ist nur natürlich. Boston ist dein innerer Halt. Du bist eine sehr traditi onelle Frau.« »Ja, ich weiß«, sagte sie. »Bis hin zu den Strümpfen.« Sein Mund verzog sich in der Andeutung lüs
terner Begehrlichkeit. »Zugegeben, und mit Vergnügen.« Er wurde ernst und signalisierte nach einer zweiten Tasse Kaffee. »Aber es gibt zwei Clai res – die eine, die mit Bostoner Strenge und Korrektheit imprägniert ist und jetzt hier sitzt, und die geheime Claire. Die ich in Griechen land kennenlernte, die frei war von ihren Verwandten, der Universität und den Freun den und der Last der Traditionen dieser Ge gend.« Er machte eine alles umschließende Geste, welche die Balkendecke, die Vertäfelung aus dem neunzehnten Jahrhundert und das gepolsterte Mobiliar des Cafes einschloß. »Die letztere Claire war bereit, sich mit Kontos zu messen, der Polizei ein Schnippchen zu schla gen und das Fundstück zu entführen. Aber hier, eingebettet in die alte Umgebung mit ih ren gewohnten Regeln und Prinzipien, kom men die Zweifel auf und nehmen überhand. Der Beruf, die Hierarchie der Universität, die lieben alten Großeltern, die Verwandten und Bekannten – sie alle würden entgeistert sein, wenn sie davon erführen.« Er schaute sie an und sagte: »Ist es nicht so?« Zu seiner Verblüffung sah er ein verräteri sches nasses Glänzen in ihren Augen. »J-ja. Ungefähr so. Ich habe mich nie als… als eine
zwiespältige Persönlichkeit…« Sie brach ab und warf ihm ein klägliches Lächeln zu. »Nun, ich könnte mich irren…« »Nein, du hast recht.« »Ich kenne dich noch nicht lange…« »Ich sehe ein, daß ich von außen diesen Ein druck erwecke, und…« »Ich wollte nicht… äh… indiskret sein.« »Nein, nein, du bist es nicht. Ich möchte, daß du offen darüber sprichst.« Wie in stummer Erklärung öffnete sie die Hände. »Von dieser Claire Nummer zwei würde ich gern mehr sehen«, sagte er und lächelte. Ein Ausdruck echten Bedauerns kam in ihre Züge. »Ich auch.« »Man sieht den Unterschied, wenn du ins Labor kommst. Unter dem Druck der Um stände wird die spröde, zurückhaltende Bos tonerin mitgerissen und entpuppt sich als die se entschiedene, lebhafte Frau, die sich von niemand etwas vormachen läßt.« Sie lächelte vage und langte über das gestärk te weiße Tischtuch, um seine Hand zu ergrei fen und fest zu drücken. »Ich… niemand hat sich je soviel aus mir gemacht, die zwei Seiten zu sehen.« »Du bist eine Meisterin der Verstellung.« Er drückte ihre beiden Hände zwischen den sei
nen. Das Händehalten bedeutete ihr mehr als jeder anderen Frau, die er gekannt hatte. Er vermochte nicht zu sagen, ob es ein romanti sches Symbol für sie war oder etwas Tieferes. Nicht, daß die Antwort wichtig gewesen wäre. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, sagte sie, und um ihren Mund war noch immer der Ausdruck von Unsicherheit und Verletzlichkeit. Dies brachte ihn auf den Gedanken, was sie wahrscheinlich von Hampton und den anderen zu erwarten hatte. Nun, da er besser verstand, wie in der Archäologie gearbeitet wurde, wurde ihm klar, wieviel sie auf sich genommen hatte. Seine Kehle zog sich zusammen. Er drückte ihr beide Hände.
6 »Komm schon, steh auf!« Er ächzte. »Hab Erbarmen mit den Toten.« »Man braucht bloß ein bißchen auszugehen, und schon wollen sie den ganzen Tag im Heu faulenzen.« »Ein bißchen ausgehen? Ich erinnere mich
genau, daß es zwei Uhr war.« »Du warst natürlich obenauf, wie ich mich erinnere.« »Ein Zugeständnis an deine Verfassung. Du hättest nicht soviel Chablis trinken sollen.« »Das war es? Ich dachte mir doch, daß es besser schmeckte als das Bostoner Wasser.« »Vorwärts jetzt! Ich mache uns Hafergrütze.« »Soll das verlockend sein?« Sie zog die Decke weg und setzte ihn der küh len Luft aus. »Ah! Schon recht, ich gebe auf! Wo sind mei ne Sachen?« »Du bist wirklich ein Primitiver. Nimm zuerst eine Dusche!« »Richtig, ich erinnere mich, im Fremdenfüh rer über Boston davon gelesen zu haben. Wenn man nicht duscht, wissen die Eingeborenen gleich, daß man ein Ungeheuer ist.« Sie lächelte. »Wir haben bereits einen Dr. Jekyll und Mr. Hyde, wie du weißt.« »Ein großartiger Hüftendreher, dieser Mr. Hyde.« Das Handtuch traf ihn am Kinn. »Reinige dich, Schänder!« Als sie mit Tomatensaft zurückkehrte, saß er, geduscht und abgetrocknet, aber noch unbe kleidet, über eine Nummer der Vogue gebeugt.
Eine Katze rieb sich an seinen Knöcheln. »Vor dem Essen zieht man sich etwas an«, sagte sie mit gespielter Prüderie. »Ich suchte etwas in meiner Größe.« Er we delte mit der Modezeitschrift. »Ich denke da ran, Transvestit zu werden.« »Meine Mutter schenkte mir ein Abonne ment, als ich fünfzehn war.« »Meine Mutter gab mir eine Gouvernante.« Sie zog ein Gesicht. »Davon merkt man nicht viel. Leute, die keine rechte Kinderstube hat ten, wollen einem immer von ihrem ersten Mal erzählen.« Er küßte sie. »Morgen, Mr. Hyde. Du kleidest dich um eine Größenordnung besser als hier zu sehen.« Er warf die Vogue beiseite. Während er den Saft trank, brachte sie ihm einen Bademantel aus gelbem Frotteestoff. »Paßt für alle Geschlechter«, sagte sie, legte ihn um seine Schultern und rieb ihm den Na cken. »Interessant, nicht wahr«, sagte er und gähn te herzhaft, »daß Frauenzeitschriften immer voller Bilder von Frauen sind, und Herren zeitschriften…« »Ja, auch voller Bilder von Frauen. Eine tiefe Kluft zwischen den Geschlechtern. Die Meta physik unserer Unterdrückung.« Sie lächelte.
»Vielleicht solltest du eine Dissertation darü ber schreiben.« »Zu dumm, daß aus Mykene keine Play boy-Hefte erhalten sind. Wir könnten – wie heißt es im wissenschaftlichen Jargon? – ver gleichen und gegenüberstellen. Wahrschein lich wäre es die Nationale Stiftung für ver brauchte Ideen ein Forschungsstipendium wert!« Sie runzelte die Stirn, und er bedauerte so fort, es gesagt zu haben. Es ließ alle Konflikte Wiederaufleben, die seit dem Abend zuvor in Vergessenheit geraten waren; ihre Miene um wölkte sich, und ihre klaren Augen nahmen einen in sich gekehrten Ausdruck an. Dann ermunterte sie sich mit erkennbarer Anstren gung, beugte sich über ihn und küßte ihn mit entschlossener Leidenschaftlichkeit. »Wie wär’s, wenn du dir deine Hafergrütze verdie nen würdest?« Die Anordnung von Elektronik und Sensoren um den Kalksteinblock war lückenloser und verwirrender denn je. John hatte sich niemals ganz an die Tatsache gewöhnen können, daß naturwissenschaftliche Arbeit in der Praxis selten ordentlich und übersichtlich war. Seine Sensibilität als Mathematiker empfand ein
unordentliches Arbeitsumfeld als störend für die geistige Disziplin, die notwendig war, um eine Idee zu fassen, eine Überprüfungsmetho de zu ersinnen und eine saubere Gegenprobe durchzuführen. Doch war nicht zu leugnen, daß Physiker aus solchem Chaos Ordnung und Klarheit gewannen. Abe Sprangle saß inmitten des Gewirrs und diskutierte eine neue Anordnung, als John zu ihm kam. »Nun, was gibt es?« »Ihre Steuergelder am Werk«, erwiderte Abe verdrießlich. »Sieht wie ein neuer Detektor für Gamma strahlen aus«, sagte John, froh, daß er mitt lerweile manche Dinge identifizieren konnte. »So ist es. Ich dachte, daß mit dem alten viel leicht etwas nicht in Ordnung sei.« »Warum?« »Ich bekomme mehr Ablesungen von diesem Stöpsel in der Rückseite.« »Und war der alte Detektor…« »Nein, das ist das Problem!« sagte Abe ärger lich. »Die Gammastrahlung hat tatsächlich zu genommen.« »Sind Sie sicher?« »Ja, ein Irrtum ist ausgeschlossen.« »Wenn die Gammastrahlung zunimmt«, sagte
John diplomatisch, »dann…« »Es kann nicht sein, verstehen Sie? Jede na türliche Quelle nimmt ab, nicht zu, das ist of fensichtlich.« »Vielleicht war etwas im Wege? Ich meine etwas, das die Gammastrahlung vorher teil weise blockierte? Wir haben den Würfel ge dreht – könnte das nicht innen einen Ge steinsbrocken gelöst haben, oder was?« Abe schaute niedergeschlagen drein; sein ge rötetes Gesicht wirkte so abgehärmt, daß die fleischigen Wangen herabzuhängen schienen. »Alles ist denkbar. Aber wie wollen Sie es überprüfen? Wenn sich etwas gelockert oder verlagert hat, können wir die Bewegung viel leicht rückgängig machen.« »Achten Sie auf die Ablesung! Ich werde den Würfel drehen.« Er kauerte nieder, stemmte die Schulter ge gen den Block und schob mit seinem vollen Gewicht an. So konnte er ihn zentimeterweise kontrolliert bewegen. Als er die Gesteinsober fläche berührte, ging eine seltsame Wahrneh mung durch seine Hände, ein Gefühl, das er schon in der Grabkammer bemerkt hatte. Dort hatte er es der Umgebung und seiner Nervosi tät zugeschrieben, aber hier war das Gefühl deutlicher, ein leises Zupfen an seinen Fin
gern, als sie den rauhen Stein anfaßten. Grun zend bewegte er den Klotz vor und zurück und hörte immer dann auf, wenn der Stöpsel vom Sensor erfaßt wurde. Nach einer halben Stun de dieser Prozedur schüttelte Abe den Kopf. »Immer noch das gleiche, fürchte ich.« »Wie ist die Ablesung vom Zapfen?« »Wie vorher. Sie hat niemals die Zunahme registriert, die wir auf der anderen Seite ha ben.« John stellte die Arbeit ein und richtete sich schnaufend auf. »Vielleicht wird der Stöpsel dünner? Daß er dadurch mehr Strahlung durchläßt, meine ich.« »Wie sollte er dünner werden?« »Weiß ich nicht.« »Vielleicht ist keine Theorie, wissen Sie, es ist bloß vielleicht.« John ignorierte die herablassende Bemer kung. »Der Stein fühlt sich ein bißchen ko misch an, wenn man ihn dreht.« »Er ist schwer«, meinte Abe und wandte sich wieder seiner Elektronik zu. Ein Techniker arbeitete nahebei an einem Steuerpult, das mit Gerät aller Art beladen war und ein Summen von sich gab. Die antiquierte Heizungsanlage der Abteilung kam kaum gegen eine feuchte Kälte an, die so unbarmherzig war wie der Gott
der Puritaner. Von der Vassar Street draußen drang ein gereiztes Hupkonzert herein. Etwas ging ihm durch den Sinn, und er wollte es nicht in Vergessenheit geraten lassen. »Haben Sie schon nach Magnetismus ge sucht?« Abe blickte auf. »Nein. In Kalkstein gibt es keinen.« »Aber in dem, was darin ist?« »Unwahrscheinlich. Die Quelle ist klein.« »Wie fange ich es an?« Abe seufzte verdrießlich. »Erkundigen Sie sich im Lager der Metallurgischen Abteilung. Ich nehme an, daß man dort ein Meßgerät hat. Sonst müßten Sie im Fachbereich Geologie fragen, dort werden solche Geräte für die Feldarbeit gebraucht.« Wie jede scheinbar unbedeutende Erledi gung, nahm auch diese viel mehr Zeit in An spruch, als sie sollte. Im Lager gab es eine Nummer und eine Karteikarte für das Gerät, aber dieses lag nicht in seinem Fach. Instru mente und eigenartig geformte Apparate wa ren in jedem verfügbaren Winkel gestapelt, ein weiteres Symptom einer großen Universität, die ihre physikalischen Grenzen zu sprengen drohte. John gewann einen Techniker, der ihm bei der Suche half, und nach einer Stunde fand
er das kleine, flache Gehäuse, nicht viel größer als ein gutes Maniküreetui. Die Einweisung in seine Funktion nahm eine weitere halbe Stun de in Anspruch, und es ging bereits auf Mittag zu, als er die erste Messung machen konnte. Indem er die Ablesung zunächst in einiger Entfernung vom Artefakt machte, bekam er den richtigen Wert für das Magnetfeld der Er de, ein halbes Gauß. Die Anzeigenadel begann bedeutsam zu zittern, als er sich dem Block näherte. »Annähernd zwei Gauß«, rief er aus. »Was?« Abe hatte seine Rückkehr nicht be merkt. »Der Würfel hat ein starkes Magnetfeld.« »Das glaube ich nicht.« »Wetten wir?« Abe ignorierte die Herausforderung und wiederholte jeden Schritt der Messung. »Viel leicht ist was mit der Batterie nicht in Ord nung«, murmelte er und wiederholte die Pro zedur. Das Resultat blieb das gleiche. Die nächsten zwei Stunden blieb Abe schweigsam, während sie Stärke und Richtung des Magnetfelds aufzeichneten. Auch John sagte nichts. Schließlich bemerkte Abe beiläu fig: »Ich glaube, es ist ein vierpoliges Feld.« »Was? Kein zweipoliges?« Eine magnetische
Quelle im Würfel würde ein Muster gezeigt haben, das dem der Erde ähnlich war. Die Feldlinien würden vom einen Pol ausgehen und schleifenartig zum anderen verlaufen. Ein vierpoliges Feld war ein kompliziertes Gebilde von Schleifenlinien, als ob an jedem Kompaß punkt ein Pol wäre. »Das Muster ist unverkennbar«, sagte Abe beinahe traurig. »Wenn zwei magnetische Quellen im Inneren wären, die jeweils verschieden orientiert…« »Ja, das könnte den Effekt erzeugen. Trotz dem ist es seltsam.« »Vielleicht gibt es getrennte Magneteisen kerne.« Abe starrte stumm auf die Skizze, die er vom Magnetfeld angefertigt hatte. »Ein weiteres… sonderbares Merkmal. Es gefällt mir nicht.« »Es bedeutet lediglich, daß wir auf etwas Wichtiges gestoßen sind.« »Aber ich begreife es nicht. Warum sollten die mykenischen Griechen solch ein Ding ma chen? Wie konnten sie es? Es muß im Innern außerordentlich kompliziert sein.« »Jedenfalls machten sie es.« Abe schüttelte beunruhigt den Kopf. Claire war ebenso aufgeregt. Noch am selben Nachmittag befragte sie ihn ausführlich,
sprach mit Abe in seinem Büro und wollte auch dann nicht vom Thema lassen, als sie am Abend zu einem Empfang in die Cambrid ge-Universität fuhren. Ihre und Abes Einwän de verblüfften John; sie ärgerten sich über je de Messung und Entdeckung, welche geeignet war, die Besonderheit des Artefakts hervorzu heben, während sein Interesse dadurch nur vermehrt wurde. Ihre Reaktion schien der Einstellung des Archäologen zu entspringen, die bestrebt war, ein lückenloses Bild zu er halten. Ein nicht klassifizierbares Objekt mit ungewissen Verbindungen zum bekannten Bild der mykenischen Kultur war wenig geeig net, die Kenntnis jener Zeit zu vervollständi gen. Es konnte das Werk eines verschrobenen Menschen sein, oder eines einsamen Genies, oder es konnte aus einer ganz anderen Gegend stammen. John meinte, daß man mit der Auf findung solcher Objekte rechnen sollte, aber die anderen betrachteten es einfach als Pech. Der Empfang fand in einem weitläufigen Zie gelbau statt, der in einer schattigen Seiten straße nahe der Harvard-Universität versteckt lag. Lautsprecher, die in allen Räumen ange bracht waren, berieselten die Teilnehmer mit Mozart. Einer der örtlichen Radiosender ver anstaltete eine Woche »musikalischer Orgien«,
in der jeder Tag einem einzigen Komponisten oder einer Gruppe gewidmet war – Mozart, Wagner, den Beatles, Beethoven, Dylan –, wodurch jedenfalls gesichert wurde, daß selbst ein begeisterter Fan endlich zur Sättigung ge langte. In seiner eigenen zerstreuten Stimmung kam die Erwartung, daß ein Abendempfang im Universitätsmilieu anregende, originelle Ge spräche mit sich bringen werde, ungefähr der Hoffnung gleich, daß das Telefonbuch sich wie ein Roman lese. Claire verließ ihn und wan derte in andere Kreise ab, und irgendwie geriet John in eine Gruppe von Literaturwissen schaftlern. Das Heucheln höflichen Interesses fiel ihm schwerer als jede andere gesellschaft liche Pflicht, ausgenommen das Erinnern von Namen, so daß er sich unter dem Vorwand, sein Glas auffüllen zu müssen, wieder entfern te und umherirrte, bis er ein paar Mathemati ker und Physiker fand. Er kannte einige von ihnen und kam in ein Gespräch über eine sei ner Nebeninteressen, die Quantentheorie der Schwerkraft. Unter den Fakultätsmitgliedern von Harvard und Cambridge gab es immer ei ne etwas hochmütige Haltung, eine Einstel lung, nach der das MIT »diese Technikerschule unten am Fluß« war, um die Worte eines um
die Jahrhundertwende veröffentlichten Füh rers zu gebrauchen. Zur Vergeltung betrachte ten die MIT-Wissenschaftler Harvard als eine altmodische, liberale Kunstschule, die alle Mühe hatte, auf dem laufenden zu bleiben. Zwar war es lange Her, seit ein Har vard-Professor des achtzehnten Jahrhunderts auf seinem vertraglichen Recht bestanden hatte, eine Kuh auf der Gemeindewiese von Cambridge zu weiden und sie bei schlechtem Wetter in seinem Wohnquartier zu halten, doch betrachtete sich Harvard immer noch als kreativer, exzentrischer und vor allem vor nehmer als das MIT und seine mürrischen grauen Langweiler. Man hielt auf stilvolle In dividualität. Sidney Coleman, ein berühmter Teilchenphysiker, hatte eine so verschobene persönliche Tageseinteilung, daß er auf das Ersuchen, um zehn Uhr vormittags ein Semi nar zu halten, geantwortet haben sollte: »Tut mir leid, so lange kann ich nicht aufbleiben.« Sergio Zaninetti, ein führender theoretischer Physiker, hatte vollen Anteil an dem Postulat innerlicher Harvard-Überlegenheit, die er nichtverbal durch beredtes italienisches Ach selzucken, gehobene Brauen, Herabziehen der Mundwinkel und Blicke überlegener Skepsis vermittelte.
»Sie haben Ihre frühere Arbeit über Vielfache aufgegeben?« fragte Zaninetti ungläubig. »Ich interessierte mich für Probleme der Festkörperphysik, simultane Integralglei chungen…« »Aber Ihre Arbeit war doch wichtig!« »Diese auch«, verteidigte sich John. »Sie hätten bei der reinen, der schönen Arbeit bleiben sollen«, verkündete Zaninetti und zog energisch an einer Nazionali, die er sich eigens aus Italien schicken ließ. Er war untersetzt, mit einer gewölbten Brust und dichten blon den Haarbüscheln, die um seinen Hals aus dem Hemdkragen drängten. Sein schmales, blasses Gesicht, das im Persönlichkeitsprofil einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift als »künstlerisch« bezeichnet worden war, kam nie zur Ruhe. Als John erwiderte, daß er sein Wissen erweitern wolle, verzog Zaninetti ver drießlich den Mund und blaffte: »Ein junger Mann muß sich konzentrieren. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!« Darauf hielt er John einen fünfminütigen Vortrag über die Pflicht des Mathematikers – des Liebhabers des Reinen, des Idealen, des Ewigen –, seine besten Jahre der reinen, nicht angewandten Wissenschaft zu widmen. John zuckte die Achseln und ertrug Zaninettis
nachdrückliche, anklagende Stimme. Es traf zu, daß Mathematik ebenso wie die Musik schon in jungen Jahren betrieben werden mußte. Die Fähigkeit, mit abstrakten Begriffen zu spielen und neue Wendungen zu finden, tief in Einheiten zu sehen, die nur im Geist be standen – dies verlor sich rasch und ließ ein anwachsendes Inventar von Kenntnissen und Geschicklichkeiten zurück, aber weniger von der sprühenden Experimentierfreude, die sich einst so mühelos einstellte. John wußte dies so gut wie jeder Mathematiker, aber er kannte auch eine quälende Neugierde gegenüber an gewandter Mathematik und, in letzter Zeit, auch der Physik. Im Leben jedes jungen Wis senschaftlers kam eine Zeit, da sich die be drückende Gewißheit einstellte, daß er nicht der nächste Einstein war, daß er wahrschein lich nicht einmal den Nobelpreis oder auch nur einen der geringeren Preise erringen, niemals eine aufsehenerregende neue Wahrheit ent decken oder eine fundamentale Einsicht in die Zusammenhänge des Universums enthüllen würde. Mit dieser deprimierenden Erkenntnis ging jedoch eine ausgleichende Freiheit einher. Selbst wenn man seiner Nase folgte und daran arbeitete, was einem am meisten Freude be reitete, blieb einem die großartige Gelegenheit,
den Finger am Puls der Welt zu haben. John hatte jenen Wendepunkt der Selbsterkenntnis schon vor Jahren hinter sich gebracht, hatte sich an einem Wochenende gründlich und sys tematisch betrunken, und begann sich nun über Zaninettis arroganten Vortrag zu ärgern. Eine Beantwortung hätte bloß mehr vom gleichen nach sich gezogen. Statt dessen ver stärkte er seinen Südstaatenakzent und mach te ein paar kleine Scherze, wobei er sich auf den langgezogenen, gerundeten Tonfall zur Auflockerung der Situation verließ. Es war ein praktisches Manöver unter diesen Leuten, die unausweichlich zu der Annahme gelangten, der Besitzer solch eines Akzents sei sicherlich ein wenig dickköpfig. Er schlüpfte davon, um sich etwas zu trinken zu besorgen und traf Claire. »Du bist dabei, deine gesellschaftlichen Kletterhaken höher einzuschlagen?« forschte sie ironisch. »Du meinst ihn? Das läuft eher auf einen Maulwurfshaufen hinaus.« »Ich sah dich mit ihm reden und fand es am klügsten, auf Distanz zu bleiben.« Auf seinen fragenden Blick erläuterte sie: »Das ist der berühmte Zaninetti, der Frauenheld, nicht?« »Für mich ist er bloß ein brillanter theoreti scher Physiker. Ich wußte nicht, daß sein
Ruhm bis zur Universität Boston und der Ar chäologischen Fakultät gedrungen ist.« »Oh, er ist ein Wunder. Letztes Jahr gab es eine Schmähschrift, eine Parodie der Schluß examen. Eine Frage lautete: ›Unangenehm, tierisch und kurz‹, Thomas Hobbes berühmter Ausspruch, bezeichnet a) Das Leben des Menschen im Naturzustand; b) Sergio Zaninetti; c) Sex mit Sergio Zaninetti.« John merkte sich die Geschichte für einen Brief an seine Eltern und fühlte sich etwas besser. Inzwischen hatte sich eingestellt, was er die Cocktail Party-Instabilität nannte. Er hatte bemerkt, daß das Stimmengewirr im Raum sich im Quadrat zu der Zahl der darin Anwesenden erhöhte, da jedes neue laute Paar die anderen zwang, ihre Lautstärke zu erhö hen, um sich Gehör zu verschaffen. Eine Sät tigung war nur möglich, wenn der Lärm Leute aus dem Raum vertrieb. Er wollte dies abwar ten und schlug Claires Einladung, ein paar Ar chäologen kennenzulernen, aus, um auf einen Balkon hinauszutreten. Er überblickte eine Straße, die, abgesehen von den überall par kenden Wagen, aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert hätte sein können. Er liebte dieses Gefühl, mühelos in die Ver
gangenheit zurückzugleiten. In Texas gab es nichts dergleichen, und obwohl Georgia zu den ursprünglichen dreizehn Staaten gehört hatte, gab es wenige Gebäude, die etwas davon zeig ten. Das Stimmengewirr hinter ihm war wie eine Gewalt, die gegen die Glastüren in seinem Rücken drängte. Seine Gedanken wandten sich wieder dem Artefakt zu – es war in diesen Ta gen nie weit entfernt vom Vordergrund seines Bewußtseins, wo es wie ein geisterhaftes We sen schwebte, und er überließ sich dem Ver dacht, der in ihm entstanden war. Das Ding würde sich niemals in die Geschichte der my kenischen Griechen einfügen, es sei denn, Abes Messungen wären völlig falsch. Der Vor fall mit den Magnetfeldern hatte eine zentrale Tatsache unterstrichen: sie konnten anneh men, daß nichts an dem Stück alltäglich war. Er würde Abe überreden müssen, alle denk baren physikalischen Eigenschaften zu über prüfen. Die Tür hinter ihm ging klickend auf, und Claire sagte: »Ich dachte mir doch, daß ich dich hinausschlüpfen sah.« »Ich wollte nachdenken«, sagte er, ans Ge länder gelehnt. »Gegen das Stimmengewirr dort drinnen kommt nicht einmal Mozart an.« »Ich sprach mit einem Feldarchäologen, der
dieses Jahr Gastvorlesungen in Harvard hält. Er fragte mich nach unserem Artefakt.« »Was?« »Er sagt, er habe es von jemandem an der Brown-Universität gehört.« Er richtete sich auf. »LeBailly schwatzt.« »Ja.« Ihre Züge waren nervös und verkniffen. Claire Nummer Eins. »Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis Hampton davon Wind bekommt?« »Gar nicht lange.« Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
7 Am nächsten Morgen war die Atmosphäre gespannt. Alle waren gefaßt auf den bevorste henden Sturm und arbeiteten rasch und ange strengt, um noch möglichst viele Messungen vom Würfel zu machen. John hatte anderwei tige Verpflichtungen, versprach aber, am Nachmittag wiederzukommen.
Claire trank Kaffee, paffte an einer Zigarette und überlegte Strategien für den Umgang mit Hampton. Wie sie die unvermeidliche Enthül lung handhabte, würde entscheidend sein. Die Kumpanei der »Alten Knaben« war in der Ar chäologie noch durchaus intakt und arbeitsfä hig, und trotz der langsamen Fortschritte, die Frauen seit Mitte der Siebzigerjahre gemacht hatten, veränderten sich die oberen Etagen der Universitätshierarchie naturgemäß am lang samsten. Sie hatte nie besonderes Geschick in der Behandlung von Männern alten Stils ge habt. Berufliche Gleichberechtigung würde erst dann möglich sein, wenn Frauen wie sie – vergleichsweise arglos, ein wenig reizbar, un willig (oder, wie sie kläglich einräumen mußte, unfähig), sexuell getönte Strategien zum be ruflichen Weiterkommen einzusetzen – eine Laufbahn verfolgen konnten, ohne neurotisch und abwehrend zu werden. Vor drei Jahren, mit fünfundzwanzig, hatte sie sich einer verkürzten Psychoanalyse un terzogen und ihre Chancen für ein konventio nelles Leben mehr oder weniger abgeschrie ben. Sie hatte gewiß kein großes Verlangen nach Kindern, obwohl es noch Augenblicke gab, die ein Gefühl wehmütigen Nachsinnens oder sogar der Depression auslösen konnten.
Ein melancholisches Lied im Radio oder ein Herzenserguß auf cremefarbenem Papier von einer sicher verheirateten alten Studienfreun din konnte so etwas bewirken. Es war nicht fair, leider… Es war insbesondere nicht fair, daß sie, wenn sie sich auf eine Konfrontation mit Hampton vorbereiten sollte, in verschwommene Träu mereien über ihr Leben abdriften konnte. Sie gab auf, drückte die Zigarette aus und ging, Abe ihre Hilfe anzubieten. Sie hatte schon mit ihm gesprochen und ent hüllt, daß sie das Artefakt ohne amtliche Er laubnis und die nötigen Papiere aus Griechen land herausgeschmuggelt hatte, aber das schien ihn wenig zu bekümmern. Zu ihrer Überraschung hatte er solche Formalitäten als Papierkram abgetan und sich wieder an seine Instrumente gesetzt. Er hatte eine neue Methode zur Erforschung des Innern vom Kalksteinblock ersonnen. Da zu gehörte eine unabhängige Quelle von Gammastrahlen, die Abe durch den Stöpsel projizieren konnte. Seine Hoffnung war, daß einige der Gammastrahlen von den dichten Teilen des Kerns absorbiert würden. Der Rest würde durch die weniger dichten Teile passie ren und aus dem Bernsteinzapfen austreten.
Diese konnte er messen und somit ein proji ziertes Bild des Innern aufbauen. Es verlief wie erwartet, doch war das gewon nene Bild fleckig und unscharf. Es zeigte das selbe Viereck, das sie vorher durch die Unter suchung der emittierten Gammastrahlen gesehen hatten. Auch der zentrale Punkt blieb. Dies bedeutete, daß die Quelle kompakt war, was nicht überraschte. Die Frage war, wie dicht? Abe versuchte es zu ermitteln, indem er die Energie der Gammastrahlen erhöhte. Je stärker die Strahlen, desto besser konnten sie durchdringen. Abe und sie arbeiteten den Vormittag durch, wobei Claire einfach den Anweisungen inmit ten des Gewirrs von Kabeln und summenden Apparaten folgte. Die viereckige Formation verschwamm, als Abe die Energie erhöhte. Sie ließen sich das Mittagessen von einem ita lienischen Lokal an der Ecke Albany und Cross Street bringen. Abe verstärkte die Energie wieder, dann ein weiteres Mal, und zuletzt bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit des Ge räts. Der zentrale Punkt blieb unverändert. »Das ist eine mörderische Energiemenge, die wir dort hineingeschossen haben«, sagte er kopfschüttelnd. »Aber das Zentrum absorbiert sie.«
»Verrät uns das nicht, wie groß es ist?« fragte Claire. »Wenn wir ein geometrisches Modell hätten, sicherlich«, erwiderte er. »Aber sehen Sie, wie die Größe des Punktes niemals variiert? Ein scharfes Profil. Ich würde sagen, man kann daraus schließen, daß wir auf einen Stab bli cken, und zwar vom Ende her. Nach der ein gesetzten Energiemenge…« Er kritzelte Zahlen auf einen Block. »Angenommen, der Stab wäre aus Magnetei sen«, sagte Claire. »Das würde Johns Magnet feld erklären helfen.« »Eisen… mal sehen…« Abe überprüfte seine Zahlen, schüttelte den Kopf. Claire wartete neben dem Bildschirm, wo der Punkt schwamm, eine blaue Ziffer in einem grünen Kreis. Der Kreis war das Abbild der Gammastrahlen, die von jenseits des Würfels durch den Stöpsel in der Rückseite kamen. Der Kalksteinblock, der die Gammaemission völlig absorbierte, bildete ein blaues einschließendes Feld um den Kreis. Wieder kam ihr die Seltsamkeit dieser Fusion zu Bewußtsein, die Vergewaltigung eines ural ten Gegenstands durch modernste Technolo gie. Solche Geräte, weit entfernt von den Tech niken, die von den Archäologen alten Stils
noch gelehrt wurden, entwickelten sich mehr und mehr zur Hauptquelle der Veränderungen auf dem Gebiet – es schien abzusehen, daß sie tatsächlich einmal bedeutsamer werden konn ten als die neuen Theorien über Wanderungs bewegungen oder gesellschaftliche Organisa tion. In Ägypten hatte man mit Hilfe eines komplizierten Netzes akustischer Detektoren die Echos von Schallwellen aufgezeichnet und Gräber gefunden, die so tief angelegt waren, daß sie den Grabräubern von Jahrtausenden verborgen geblieben waren. In China war der bruchstückhafte Rest eines alten Manuskripts an einem Wochenende durch die Computer analyse der Milliarden von möglichen Kombi nationen restauriert worden, eine Arbeit, die früher volle fünf Jahre in Anspruch genom men hätte. Wieder schüttelte Abe den Kopf. »Etwas stimmt nicht. Nach der Berechnung würde man eine Magneteisenstange von über zwei Meter Länge benötigen. Das ist…« »Unmöglich«, vollendete Claire seinen Satz. »Der Würfel selbst ist kleiner.« Abe seufzte. »Ich werde alles noch einmal durchprüfen müssen. Irgendwo scheint die Kalibrierung nicht zu stimmen.« »Könnte der Mittelpunkt aus etwas sein, was
Gammastrahlen viel besser als Eisen absor biert?« »Ich sehe nicht, was es sein sollte. Man würde dafür etwas wirklich Dichtes benötigen.« »Wie Gestein?« »Aus Gestein kann man keinen Stab machen. Er würde brechen.« »Was wäre besser geeignet?« »Nichts, was plausibel klingt. Dieser Stab oder was immer es ist, muß auch ein Gamma strahlensender sein. Wir haben die Ausstrah lung ja festgestellt. Ein so starker Sender, daß ich in diesem kleinen Punkt keine Einzelheiten erkennen kann.« »Und wir müssen auch Johns Magnetfelder erklären.« »Mit diesem ›Stab‹?« Abe lachte mißmutig. »Waren die mykenischen Griechen in der La ge, solch einen Stab zu machen?« Claire schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht denken.« »Dann können wir aus diesem Ding nicht schlau werden. Wir müssen hineingehen.« Claire biß die Zähne zusammen. »Noch nicht.« »Dieses Ding ist… ist unmöglich! Wir können erst verstehen…« »He da!« rief Johns aufgeregte Stimme, und
er kam durch die Halle getrabt. »Abe! Ich sah gerade Hampton in Ihrem Büro, der sich nach Ihnen erkundigte!« Er sah Claire. »Sieht so aus, als solltest du recht behalten.« Claire biß sich auf die Unterlippe und fühlte das wohlbekannte schmerzhafte Zusammen ziehen in der Magengegend, das Absinken in eine Wolke wortloser düsterer Furcht. »Ich nehme an, Ihnen allen ist der Ernst die ser Entwicklung klar«, sagte Donald Hampton feierlich. Er stand vor dem Kalksteinblock, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und be trachtete das Artefakt. Sein dreiteiliger Anzug aus blauem Wollkammgarn war bespritzt von dem plötzlichen Regensturm, der wie ein trie fender Schwamm über Boston gekommen war. Sein Gesicht war rot von der Kälte draußen, und er schnaufte, daß der Knoten seines ka rierten Schlipses auf und nieder ging. Nach Johns Warnung waren nur wenige Minuten vergangen, bis er erschienen war. Sein finste rer und mißtrauischer Blick wanderte über die betretenen Gesichter zu dem Wirrwarr der di agnostischen Geräte und ihrer Verkabelungen. »Dies ist ein unglaublicher Verstoß gegen elementare Grundsätze unseres Berufs. Ich
kann die Motive von Dr. Bishop und Dr. Sprangle vielleicht verstehen, aber Sie, Claire, eine ausgebildete Archäologin…!« »Sie haben nicht gehört, was dazu führte«, sagte John. »Es war ja auch überflüssig, mich zu unter richten.« Hampton warf ihm einen düsteren Blick zu. »Professor Kontos hatte recht, was Sie betrifft, das ist alles, was ich im Moment wissen muß. Und wenn ich daran denke, wie Sie unsere Ausschußmitglieder täuschten, da saßen und logen…« »Ich habe nie gelogen«, sagte John aufbegeh rend. »Es ist nicht meine Schuld, wenn Sie nicht die richtigen Fragen stellen.« Hampton schnaubte. »Sie sind also der Mei nung, Diebstahl sei erlaubt, wenn er unent deckt bleibt?« »Wir holten es von dort zurück, wo Kontos es versteckt hatte«, sagte John. »Ich bin überzeugt, daß Professor Kontos nicht daran dachte, etwas zu tun, was…« »Er steckte den Block wieder in das Loch, wo wir ihn herausgeholt hatten, weil er vermeiden wollte, daß er mit dem übrigen Material nach Athen geschafft würde«, sagte John. »Er wollte ihn als seine eigene Entdeckung reklamieren.« »Eine recht phantastische Geschichte«, sagte
Hampton wegwerfend. »Wie könnte er? Sie und Claire hatten Beweise, Aufnahmen.« »Nur weil Claire noch einmal zur Grabungs stätte zurückkehrte, um ihre Aufzeichnungen zu holen. Während wir dort waren, in der Grabkammer, sahen wir, was Kontos versuch te.« »Ich nehme Ihnen solch eine abenteuerliche, ad hoc zusammengestoppelte Geschichte ein fach nicht ab. Wenn Sie wahr wäre, warum haben Sie während der Anhörung durch unse ren Ausschuß nichts davon gesagt?« »Sie hätten es nicht geglaubt«, sagte Claire. Hampton starrte erst sie, dann John, dann Abe an. »Sie sollten sich einer derartigen Täu schung alle miteinander schämen. Ihre Unfä higkeit, Ihre Position zu vertreten, unter streicht Ihre Doppelzüngigkeit. Abe, besonders Sie sollten wissen, daß dies alles untergräbt, wofür unser gemeinsames Programm steht.« »Moment! Ich habe nur Forschungsarbeit ge leistet. Ich fragte nicht nach den Einzelheiten, wie das Ding hierher kam. Das interessiert mich nicht.« Hamptons Antlitz rötete sich noch mehr. »Was Sie Einzelheiten nennen, betrifft den Diebstahl griechischen Nationaleigentums.« »Nach allem, was ich hörte«, versetzte Abe
ruhig, »gab es mildernde Umstände.« »Ich fürchte, Sie verstehen nichts von den in ternationalen Grundsätzen des Respekts vor der Vergangenheit einer Nation und ihrem Erbe…« »Ich bin Wissenschaftler«, verteidigte sich Abe. »Ich habe etwas zu erforschen, also tue ich es. Und das ist ein unglaubliches Fund stück, Donald.« Hampton rümpfte die Nase. Claire bemerkte, daß er seit seiner Ankunft den Würfel noch nicht genau in Augenschein genommen hatte; er sah ihn als eine Schachfigur in einem grö ßeren Spiel. Seine Neugierde als Archäologe war verkümmert. »Daß es ungewöhnlich ist, kann ich sehen«, erklärte Hampton. »Ein schönes Stück Bernstein, ja. Feine Arbeit. Aber die genaue Natur des Fundstücks tut hier nichts zur Sache; wir haben es hier mit Prinzi pien zu tun.« Claire hatte seit seinem Auftreten absichtlich wenig gesagt. Nun murmelte sie: »Ich wünsche eine Anhörung, um mich zu verteidigen.« Hampton lachte kurz und hart auf. »Die sol len Sie bekommen. Seien Sie versichert, junge Dame. Einstweilen…« Er wandte sich zu Abe. »Ich wünsche, daß dieses Artefakt unverzüg lich in die Obhut der Universität Boston über
geben wird. Wir werden seine Rückführung nach Griechenland vorbereiten.« »Erst wenn ich damit fertig bin.« »Sie haben kein Recht…« »Es ist ein Stück, das eingehende Untersu chung verlangt. Es wurde von einer Angehöri gen Ihrer eigenen Fakultät hierher gebracht.« »Illegal!« »Mein Standpunkt ist der, daß Ihre inneren Streitigkeiten nichts mit der Zusammenarbeit des MIT und der Universität Boston in archä ologischer Physik zu tun haben. Nichts.« »Ich werde die Auslieferung durch die Polizei erzwingen lassen.« Abe hob die weißen Brauen. »Kommen Sie, Donald! Die Polizei möchte bestimmt nicht in solche Dinge hineingezogen werden.« »Das werden wir sehen.« »Nein, werden wir nicht. Das werden unsere Universitätsverwaltungen miteinander aus kämpfen müssen. Sie wissen, Donald, wieviel Zeit das erfordert.« Abe steckte die Hände in die Taschen und lä chelte Hampton an. Claire hatte den sanftmü tigen Professor nie in dieser Art gesehen, und auf einmal verstand sie, wie er seine Abteilung mit so lockerer Hand führen konnte. Er war einfach nicht einzuschüchtern, schon gar nicht
durch Drohungen. »Sie sind unvernünftig.« »Dieser Gegenstand hat Eigenschaften, die in keinem Zusammenhang damit stehen, was wir vom mykenischen Griechenland wissen, Do nald. Ich kann Ihnen Gammastrahlen und an dere Daten zeigen, die nach einer Erklärung verlangen.« »Sie erwarten von mir, daß ich mein Fach wissen dazu hergebe?« »Wir dachten, Sie würden…« »Ich kann nicht glauben, daß Sie diese Hal tung einnehmen, um eine Frau zu verteidigen, die gelogen und gestohlen hat…« »Sie nennen sie eine Lügnerin?« fragte John drohend und trat auf Hampton zu. Claires Au gen weiteten sich. Hampton starrte John ungläubig an. »Sie wollen mich bedrohen?« John hob die Hand und stieß mit dem Zeige finger gegen Hamptons Schlipsknoten. »Und ob!« »Das ist unglaublich!« Abe trat vor. »Ich denke, Sie sollten jetzt lie ber gehen, Donald. Diese Meinungsverschie denheit wird von der Verwaltung geregelt.« Hampton sah völlig verblüfft aus. »Aber Sie befinden sich im Unrecht! Ich wiederhole es,
auch wenn es dem jungen Mann dort nicht paßt, diese Frau hat gelogen und gestohlen, und Sie helfen ihr, das gestohlene Gut zu ver bergen…« »Nun gehen Sie schon, Donald.« Hamptons Miene verfinsterte sich. »Sie be finden sich im Irrtum, wenn Sie meinen, Sie könnten sich einfach hinter Ihrer Universität verstecken. Ihre Aktivitäten können einer ge richtlichen Untersuchung nicht standhalten. Dies ist eine internationale Angelegenheit.« »Gehen Sie, Donald!« »Ja, das werde ich tun. Aber sobald ich mein Büro erreiche, werde ich die zuständigen Be hörden in Athen und hier verständigen. Ich habe Professor Kontos die letzten Tage nicht gesprochen, aber ich weiß, daß er entsetzt sein wird. Und er wird es nicht bei verbalen Pro testen bewenden lassen, verlassen Sie sich da rauf!« Er durchbohrte jeden von ihnen nacheinan der mit einem bitterbösen Blick, als wollte er sich ihre Züge einprägen, dann machte er kehrt und stapfte hinaus. Claire setzte sich. Unter ihrem blauen Anzug schwitzte sie stark, doch ihre Stirn fühlte sich kühl an. Sie versuchte zu überlegen. »Es ist vorbei«, sagte John ihr ins Ohr, dann
bückte er sich und küßte ihre Wange. »Komm schon, werde nicht wieder Claire Nummer Eins.« Sie brachte ein klägliches Lächeln zustande. »Ich habe soviel daran gedacht… es nun end lich geschehen zu sehen…« »Ich weiß.« »Er war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte, und er wird Kontos anrufen, mich ent lassen und womöglich Anzeige erstatten…« »Vergiß ihn! Abe hat es genau richtig ge macht.« Claire blickte auf. Abe starrte mit undurch dringlicher Miene das Artefakt an. Sie sagte: »Sie wußten, wie Sie sich zu verhalten hatten.« Abe lächelte. »Ich hatte schon vor zwei Wo chen erraten, was geschehen war. Die Art und Weise, wie Sie diese Angelegenheit handhab ten, hatte von Anfang an etwas Ungewöhnli ches, wissen Sie. Wenn ein Gegenstand von der Universität Boston herüberkommt, gehört meistens ein Stapel Papiere dazu. Das war hier nicht der Fall.« »Wir hatten nur die Zollpapiere«, sagte John. »Keine Möglichkeit, innerhalb von ein paar Tagen alles zu beschaffen.« Abe hob die Schultern. »Also sorgte ich für meine Verteidigung vor. Wohlgemerkt…« –
seine Augen wurden schmal - »ich habe mich nur wegen der ungewöhnlichen Natur dieses Fundstücks darauf eingelassen. Ich billige keineswegs die Art und Weise, wie Sie es an sich gebracht haben.« Claire nickte stumm. Ein Gefühl von Freude und Erleichterung regte sich in ihr. Das Schlimmste war geschehen, und insgesamt gesehen, war es nicht schlimm. Claire Num mer Eins hatte sich geirrt. »Sie werden eine Menge Zeit allein dafür brauchen, sich zu verteidigen«, sagte Claire. »Er wird einen Höllenlärm veranstalten.« »Nicht bevor wir unsere Arbeit getan haben«, sagte Abe zufrieden und nickte zum steinernen Würfel. »Wir müssen jetzt hineinbohren. Das ist die einzige Möglichkeit, eine Antwort auf unsere Fragen zu bekommen.« Er sagte es so einfach und selbstverständlich, daß Claire nicht gleich Gegenargumente vor bringen konnte. Und sie sah, daß er ihnen in diesem Spiel einen Zug voraus gewesen war und seinen Vorteil arrangiert hatte: MITs Schutz war die Gegenleistung für eine Chance, in das Artefakt zu bohren. Sie seufzte. Es war unvermeidlich.
8 Am späten Nachmittag öffneten sie den Stöp sel. Im Inventar des Instituts für Materialprü fung gab es eine hinreichend gute Bohraus rüstung, also schlug Claire ihren Einsatz vor. Die bessere Alternative wäre ein Anruf bei LeBailly an der Brown-Universität gewesen, der zwar ein großes Mundwerk hatte, aber in diesem Teil des Landes der beste Mann war. Doch würde LeBailly sich Zeit lassen, und Claire wollte ohnedies nichts von ihm wissen, weil sie ihn jetzt als den Mann sah, der die Nachricht Hampton zugetragen hatte. Abe hatte eine Verabredung, die er nicht ab sägen konnte, und wollte die MIT-Verwaltung erreichen, ehe Hampton dort sein konnte. Widerwillig überließ er die Bohrung John, der sich mittlerweile die grundlegenden Kennt nisse angeeignet hatte; aber er hinterließ ge naue Anweisungen, daß er gerufen werden wollte, sobald sich irgendwelche Ergebnisse zeigten. John begann mit einem Vier-Millimeter-Bohrer und fing den feinen Gesteinsstaub für spätere Untersuchungen auf. Die Anordnung des Bohrgeräts gestattete eine einfache Einstellung von Höhe und Win
kel und hielt den Bohrer, der von einem kräf tigen Stahlrahmen getragen wurde, in vibrati onsfreier Befestigung. John arbeitete mit äu ßerster Sorgfalt, bestrebt, jede Strahlungsgefahr zu vermeiden. Ein vier Mil limeter großes Loch würde das Einführen ei nes Leuchtkörpers mit optischer Sonde ge statten, und mit Hilfe einer Computerverstärkung sollte es möglich sein, einen zutreffenden Eindruck vom Innern des Blocks zu bekommen. Die Technologie wurde mit jedem Jahr besser, und MIT hatte die bes te. Der Stöpsel in der Rückwand war nach allem äußeren Anschein aus vulkanischem Basalt. Dies war an sich merkwürdig, da die mykeni schen Griechen solches Gestein sonst kaum bearbeitet hatten. Der Stöpsel paßte so genau in sein Loch, daß er praktisch nahtlos darin saß, als sei er mit großer Geschicklichkeit ko nisch zurechtgeschliffen worden. Doch waren an seiner Stirnseite keine Bearbeitungsspuren zu erkennen. John ließ den schnurrenden Bohrer allmäh lich tiefer vordringen und gab acht, daß der Bohrstaub in den Auffangbehälter fiel. Nach jedem halben Zentimeter hielt er den Bohrer an und füllte den gewonnenen Staub in einen
Plastikbeutel. Es war ermüdend, ihm zuzuse hen, und Claire fand über das Beschriften und Verschließen der Beutel kaum etwas, womit sie sich beschäftigen konnte. Die Nachmittags stunden veränderten das Licht, das von den großen schmutzigen Fenstern hoch oben in die Halle fiel, zu bläulichen Schatten. Der Bohrer fraß sich mit einem hohen, schrillen Kratzen, das ihr auf die Nerven ging, in den Stein. Und der Stein war hart, was das Vordringen müh selig machte. John hatte das Loch annähernd sechs Zentimeter tief gebohrt und zog das Bohrstück heraus, um es auszuwechseln, als er innehielt, den Kopf zur Seite neigte und lauschte. »Hörst du was?« »Nein. Ist der Bohrer abgenutzt?« John zog ihn ganz heraus. »Hörst du das?« Claire beugte sich näher. Ein winziges hohes Pfeifen, beinahe wie der Ton, den ein Fernse her macht, wenn der Knopf der Lautstärkere gelung zugedreht ist. »Was ist das?« John blickte umher. »Ein Gerät irgendwo?« Claire zog den Kopf zurück, dann beugte sie sich wieder zum Stöpsel. »Nein, beim Loch ist es lauter.« Vorsichtig deckte John das Bohrloch mit ei nem Stück Papier ab. »Großer Gott!«
»Was?« »Es saugt das Papier an.« »Was meinst du? Wie…« »Da drin scheint ein Vakuum zu sein.« Sie saß schweigend, dann raffte sie sich auf. »Hier, laß mich mal!« Er nahm das Papier weg, und das dünne hohe Pfeifen fing wieder an. »Es… es muß eine Art Blase im Kalkstein sein, die ich angebohrt habe«, sagte John. »Jeden falls verdammt ungewöhnlich.« »Ich wußte nicht, daß es so etwas bei Kalk stein gibt. Es stimmt, daß magmatische Tie fengesteine Gasblasen enthalten, die nach späterer Kondensation ein Vakuum hinterlas sen. Aber das ist meines Wissens nur bei Erup tivgesteinen der Fall.« Claire, die sich nahe zum Bohrloch gebeugt hatte, spürte einen feinen Luftzug an ihrem Haar und erkannte plötzlich, daß er zum Arte fakt hin wehte, in das Loch hinein. »Deck es zu!« rief sie. John arretierte den Bohrer und griff nach ei nem Stück flachen Aluminiums, das er vorbe reitet hatte. Dieses schob er seitlich über das Bohrloch und deckte es zu. Das dünne Pfeifen ließ nach, aber nicht ganz. Das Aluminium paßte nicht genau auf die unebene Oberfläche
des angebohrten Stöpsels. »Was… was in aller Welt…«, murmelte John. »Das ist keine Höhlung. Die müßte sich doch längst gefüllt haben.« »Um das zu bewirken, müßte drinnen eine Pumpe sein.« Sie starrten einander sprachlos an. Ohne Be ziehung zur Sache – ihre Aufmerksamkeit versuchte diese neue unmögliche Tatsache zu verdrängen – bemerkte Claire das Tuckern ei ner Diffusionspumpe in einem entfernten Winkel der Halle, das sich mit dem gleichmä ßigen Plätschern von Regen an den hohen Fenstern vermischte. Wieder zog von der See her ein Gewitter auf, und grelle Blitzentladun gen warfen Schattenbilder strömender Was serrinnsale in den Raum herab. Der Donner grollte wie ein im Käfig alt gewordener Löwe. »Es… es kann nicht sein«, sagte sie. »Aber es ist.« Das gedämpfte, feine Pfeifen dauerte an und entnervte sie. »Können wir das Loch nicht besser verschließen? Warte, ich weiß. Warum steckst du nicht die Lichtsonde hinein?« Er nickte. »Richtig.« Sie half ihm die dünne, silbrig-flexible Röhre in ihre Befestigungen und den Vorschubme chanismus einzusetzen. Sie war verbunden mit
einer Anordnung optischer Ableseinstrumente, die sich in der Arbeitszone um den Würfel drängten. Als John das Alumi nium von der Öffnung zog, hatte das Pfeifen einen rauhen Unterton und schien anzu schwellen und den Raum mit seinem irratio nalen, unmöglichen Ton zu erfüllen. John schob rasch die Lichtsonde hinein, die mit ei nem anorganischen Schmiermittel bedeckt war. Dies ergab einen dichten Verschluß und schnitt das schreckliche hohle Pfeifen ab. Die Lichtsonde lieferte ein trübes, bläulichweißes Bild. »Ist das eine Seite des Vierecks da drin?« »Du läßt deine Phantasie mit dir durchgehen. Ich sehe nur Wolken, vielleicht zur Mitte hin etwas mehr Helligkeit.« »Wir sollten Licht sehen, das durch den Zap fen dringt. Warum ist es bläulichweiß?« Er musterte die Ablesungen. »Vielleicht ist die Farbeinstellung nicht richtig gewählt. Aber was mich stört, ist das Vakuum. Dieses Ding könnte gefährlich sein. Ja, ich glaube, wir sollten Abe anrufen.« Sprangle traf eine halbe Stunde später ein, sichtlich aufgeregt, konnte aber an den Ein stellungen für Tönung und Farbe nichts Feh lerhaftes entdecken. Er weigerte sich, ihre Ge
schichte zu glauben, bis John die Lichtsonde aus dem Bohrloch zog und das unheimliche hohle Pfeifen wieder hörbar wurde. Sie saßen und starrten bestürzt auf das wol kige Bild, das die Sonde aufgenommen und auf einen Bildschirm übertragen hatte, diskutier ten die letzte Entwicklung mit nachdenklich gedämpften Stimmen. Es war einfach nicht zu verstehen, daß im Innern eines altertümlichen Fundstücks ein Vakuum sein sollte, und Abe warf widerwillig die Frage auf, ob es sich etwa um einen vorsätzlichen Scherz handle. Könnte jemand das Stück hingestellt haben, vielleicht um das gemeinsame griechisch-amerikanische Ausgrabungsprojekt der Lächerlichkeit preis zugeben? Wer könnte daraus Nutzen ziehen? Warum soviel Arbeit? Und wie hatte man es gemacht? Niemand glaubte an die Theorie eines Scher zes. Aber niemand hatte Besseres anzubieten. Die Situation schien stabil; die Versiegelung war dicht. Abe wollte Zeit, um seine Diagnose sorgfältig durchzurechnen, und Claire und John waren müde und nervös, zermürbt zuerst durch Hampton und nun dies. Sie kamen überein, am nächsten Morgen wieder zusam menzutreffen. Als Claire mit John das Gebäude verließ, fiel
ihr auf, daß er ungewöhnlich schweigsam war. Unter Claires hochgewölbtem gelbem Schirm – John hatte seinen vergessen – eilten sie durch Regenböen zu ihrem Alfa Romeo. Auch wäh rend des Abendessens in einem Hummerres taurant sprach er wenig, und als sie später seine Wohnung verließ, gab er ihr einen feier lichen, aber zerstreuten Kuß. Offensichtlich ging ihm eine Überlegung durch den Sinn, aber er wollte nicht darüber reden. Am nächsten Morgen war Abe erschöpft und mißmutig. Er hatte den größten Teil der Nacht gearbeitet und keine Irrtümer gefunden. Die Resultate der Diagnose waren gültig. Es gab jedoch ein paar merkwürdige neue Hinweise. Die Gammastrahlung hatte sich bis zum Gefahrenpunkt verstärkt. »Es hat den Anschein, daß der Stöpsel einen guten Teil der Strahlung aus dem Kern absor bierte«, murmelte Abe. »Nun können wir ihn klarer sehen. Er ist unverändert – ein Viereck, mit dem hellen Zentrum.« Claire klopfte an den Videobildschirm, wo bläulichweiße, unscharfe Linien ein Quadrat bildeten. »Dies ist das Bild, das die Gamma strahlen ergeben?« Abe schüttelte den Kopf. »Das ist das Bild der
Lichtsonde. Im Laufe der Nacht hat es sich allmählich aufgeklärt.« »Dann hat sie das gleiche Bild wie die Gam mastrahlen ergeben!« »Richtig.« »Übereinstimmende Ergebnisse.« »Ja«, sagte John, »wir haben hier eine unge wöhnlich starke Strahlungsquelle vor uns.« »Daß etwas mit zwei Zentimetern Durchmes ser soviel Energie im Bereich der Gamma strahlen aussendet – unglaublich«, sagte Abe. Claire hatte den Eindruck, daß er seine Spannkraft verloren und durch die unerklär lichen Tatsachen wie betäubt sei. Nicht daß sie selbst sehr viel anders empfand. Sie hatte nur länger geschlafen. »Um das zu bewirken«, fing Abe wieder an, »müssen radioaktive Isotope…« »Nicht Isotope«, sagte John. Er stand von ei nem Laborhocker auf und reckte sich. Claire sah Müdigkeitsfalten um seine Augen und vermutete, daß er lange aufgeblieben war und nachgedacht hatte. »Es ist überhaupt keine ra dioaktive Anomalie. Ich glaube, wir sehen hier ein Gebilde aus sehr heißer, sehr dichter Ma terie.« »Heißer?« fragte Claire. »Das erklärt die starke Röntgen- und Gam
mastrahlenemission. Dort drinnen muß etwas sein, was heißer ist als die Oberfläche der Sonne.« Abe blinzelte ihn irritiert an. »Ausgeschlos sen. Das ist doch Unsinn! Es würde durch schmelzen.« »Ich weiß nicht«, räumte John ein, »aber die Strahlung reicht nicht aus, um den Würfel stark zu erhitzen – das habe ich letzte Nacht ausgerechnet. Und wir fühlen die hohe Tem peratur nicht, weil wir vom Zentrum isoliert sind.« »Wie?« fragte Claire. »Es ist nur eine Armes länge entfernt.« John breitete die Hände aus. »Zwischen uns ist ein starkes Vakuum. Das zieht die Luft hin ein, wenn wir den Stöpsel öffnen.« Sie saßen lange da, schwiegen und dachten darüber nach. Claire konnte keinen Einwand finden, außer dem mittlerweile vertrauten, daß die Idee unmöglich sei, absurd. »Aber…«, fing sie unsicher an, »etwas, was in einem mykenischen Artefakt verschlossen ist, in einem Grab…« »Das ist der eigentliche Punkt, nehme ich an. Niemand weiß, wie man so etwas machen kann, dies da drin. Niemand.« Abe zog die Mundwinkel herab. »Sie schlagen
vor, daß wir unsere Schwierigkeiten dadurch auflösen, indem wir dieses Objekt irgendeinem übermenschlichen Ursprung zuschreiben? Besuchern aus dem Weltraum, vielleicht?« »Dieser Däniken-Unsinn?« sagte Claire ge ringschätzig. »Also wirklich, John, wir…« John lächelte. »Ja, daran dachte ich auch. Nicht völlig verrückt, aber ich glaube es nicht. Wenn wir es nicht erklären können, bedeutet das nicht, daß es irgendein Stück Abfall ist, das von einem vorbeifliegenden Überwesen hin ausgeworfen wurde.« »Was dann?« fragte Abe. »Wir müssen die Idee aufgeben, daß wir es hier mit einem Artefakt zu tun haben. Das hat nichts mehr mit Archäologie zu tun. Wir stu dieren hier Physik.« Claire wußte nicht, was sie sagen sollte. »Von Physik wie dieser habe ich noch nie gehört.« John grinste, müde aber seltsam fröhlich, und seine Augen glänzten. »Ich auch nicht. Aber ich kann Vermutungen anstellen. Ich glaube, was wir hier haben, ist – eine Singula rität.«
FÜNFTER
TEIL
1 Die bedeutsamste Lektion moderner Ein steinscher Physik war der Umstand, daß Raum sich pathologisch verhalten konnte. Vor Einstein war die Welt ein Raum von Bil lardkugeln, unbarmherzig voraussagbarer Bahnen und heiterer Gewißheit. Kein Physiker kann sich heutzutage ohne einen Schauer von Erregung des Augenblicks entsinnen, als er diese wüstenhafte Newtonsche Landschaft verließ und in eine Welt eintrat, die an Lewis Carroll gemahnte, wo die Zeit eine vierte Di mension war, der Raum sich schwindelerre gend krümmte, und Wissenschaftler sich in aller Aufrichtigkeit fröhlich über die einfachs ten Fragen, was wo und wann geschah, streiten konnten. Einstein verband den Raum mit der Materie, die er enthielt, und gab der Physik eine Tiefe und ein Geheimnis zurück, das sie verloren hatte. Indem er das Universum zu einem Partner in der Konstruktion seiner eigenen Geometrie machte, räumte Einstein die Möglichkeit ein, daß es Fallgruben, Sackgassen und phantasti sche Stellen enthielt. Sobald er gezeigt hatte, daß die Materie die Raumzeit krümmen konn te, ergab sich die Möglichkeit, daß die Krüm
mung grenzenlos sein könnte, unendlich. Ein Partikel, das sich durch solch eine Region der Raumzeit bewegte, mußte jenseits einen Punkt finden, über den es nicht hinaus konnte, eine Stelle, wo seine eigene Existenz endete – eine Singularität. »Gut«, sagte Claire, »Singularität ist ein an deres Wort für Schwarzes Loch, richtig?« »Beinahe«, antwortete John. »Es könnte an dere Formen von Singularität geben, aber die eine, von der jedermann weiß, ist das Schwar ze Loch.« »Aber Schwarze Löcher sind Sterne. Oder waren es.« »Richtig. Ich denke, wir haben hier etwas, was wie ein Schwarzes Loch ist, nicht iden tisch.« »Es gibt Strahlung ab. Schwarze Löcher tun das nicht – deshalb sind sie schwarz.« »Nicht doch. Ein Loch zieht Materie an, die in einer Art Spirale hineinfällt. Nehmen wir an, es handle sich um eine Staubwolke oder was immer, die im Anziehungsbereich eines Schwarzen Loches kreist. Hier, ich kann es skizzieren. Teile der Staubmassen werden nä hergezogen. Das ergibt eine diskusförmige Scheibe von Materie, die immer rascher um den Anziehungspunkt kreist. Die Abflachung
zu einer Scheibe geschieht durch einfache Reibung. Dadurch verliert die Materie Energie und wird noch näher herangezogen. In der Nähe des Loches erfährt sie eine starke Ver dichtung und beginnt sich noch mehr an den benachbarten Materieteilchen zu reiben. So erhitzt sie sich durch Reibung. Unmittelbar bevor das Loch sie schluckt, sendet diese er hitzte Materie Wärme und Röntgenstrahlen und so weiter.« »Also sind Schwarze Löcher nicht schwarz«, sagte Claire zweifelnd. »Nicht wenn es in der Nachbarschaft Materie zu schlucken gibt. Der beste Beweis dafür ist die Kernregion der Galaxis, wo es massenhaft Sterne aufzuzehren gibt. Diese Skizze könnte zeigen, wie es dort aussieht. Schwarze Löcher, wirklich große, schlucken Sterne und geben enorme Mengen Strahlung ab. Sie sind auffal lend hell. Das ist wahrscheinlich, was man un ter Quasaren versteht.« Claire runzelte die Stirn. Sie rang mit der ausgefallenen Idee. »Gut, ich verstehe nichts von Quasaren. Aber dieses Ding, das wir hier haben, ist klein.« »Richtig. Es gibt keine Grenze für die Größe eines Schwarzen Lochs. Sie können winzig sein. Kleine leben nicht lang, aber es ist mög
lich, daß eines gebildet wird und nun dasitzt und fleißig versucht, seine Umgebung in sich hineinzuziehen.« »Und eins soll in dem Würfel drin sitzen?« »Es könnte sein. Wie willst du sonst die Strahlung erklären?« Claire zog ein Gesicht, weil ihr die Schlußfol gerung nicht gefiel. »Aber es ist… es ist ver rückt.« »Allerdings«, sagte John amüsiert. Abe lauschte ihrem Gespräch mit offenem Unglauben. Sie alle hatten Verpflichtungen anderswo, und der Tag neigte sich dem Ende zu, und so ging John, erleichtert und froh, daß er seine Bombe hatte platzen lassen. Was er den anderen nicht erzählt hatte, war der Um stand, daß er über die Physik Schwarzer Lö cher nur unvollkommen im Bilde war und Zeit brauchte, etwas darüber zu lesen. Er arbeitete die nächste Nacht durch und er schien am Morgen übernächtig und mit gerö teten Augen in der Halle. »Sie wollen was messen?« Abe verzog den Mund in einer geringschätzigen Grimasse. »Die Schwerkraft. Gibt es hier ein Gerät?« Sie mußten das Gravimeter vom geologischen Fachbereich aus einem anderen Gebäude ho
len. Es wurde auf der Suche nach möglichen Ölvorkommen zur Untersuchung von Verwer fungen und Massenverschiebungen verwendet. Die Ölsuche hatte zu einer enormen Verfeine rung der Technik geführt, und so konnte John den größten Teil der Arbeit selbst durchfüh ren. Abe war nicht interessiert, seine Zeit mit einem solch wenig erfolgversprechenden Un ternehmen zu verbringen, und beschäftigte sich mit seinen eigenen Messungen. Er hatte noch keine Erklärung für den Inhalt des Wür fels, tat Johns Vorschlag vom vergangenen Tag jedoch als Wunschtraum ab. Die Idee der ra dioaktiven Anomalie sagte ihm noch immer zu, doch war das nicht nachlassende Vakuum ein Umstand, den zu ignorieren er einstweilen vorzog. John hatte Verständnis für seine Skep sis. Abe war mit zu vielen phantastischen Ideen auf einmal konfrontiert worden. Er brauchte Zeit, sie zu verdauen. Das Gerät, das John in der Halle herummanövrierte, war eine spindeldürre Angelegenheit aus Stäben und Spulen, und be saß die Fähigkeit, Abweichungen sowohl in der Stärke als auch in der Richtung der lokalen Schwerkraft mit einer Genauigkeit von eins zu einer Million zu messen. John arbeitete lang sam damit, weil ihm das Gerät unvertraut war
und seine Übermüdung ihn träge machte, doch blieb er beharrlich bei der Sache. Am Vormit tag kam Claire, um zu helfen. Nach dem Mit tagessen gewannen sie ihr erstes größeres Er gebnis. Aus einer Distanz von fünf Metern gab es eine winzige Abweichung zum Würfel. Ging man näher heran, so nahm die Ablenkung rasch zu. Claire konnte wegen der langen Balancier stange am Rahmen das kurze Ende des Detek tors nicht näher als zwei Zentimeter an den Block heranbringen, aber schon dort war die Wirkung enorm – nahezu ein Prozent der Schwerkraft. »Das erklärt«, sagte Claire, »dieses komische Gefühl, wenn du mit der Hand über die Ober fläche streichst.« »Ja… ich habe es auch bemerkt.« John starrte angestrengt auf die Skala des Gravimeters. Er hatte das Gerät auf der anderen Seite des Würfels aufgestellt. »Was gibt es?« »Die Skala. Hier gibt sie eine andere Able sung.« »Du meinst, die Beschleunigung ist von der anderen Seite verschieden?« »Scheint so. Sie ist nur ungefähr halb so stark.«
»Ich dachte, die Schwerkraft sei in allen Richtungen dieselbe.« »Ja. Wir nennen es sphärische Symmetrie.« »Aber diese Schwerkraft vom Würfel ist es nicht?« »Anscheinend nicht. Und sie ist so stark…« »Nur ein Prozent der Erdschwere, das ist nicht so viel.« »Um die örtliche Schwerkraft auch nur um ein Prozent zu verändern, brauchst du… – laß mal sehen.« Er stand bei den röhrenförmigen Anordnungen des Gravimeters, sorgsam be dacht, nicht die Balancierstangen zu berühren, und rechnete im Kopf. »Dazu brauchtest du ungefähr zwei Kubikkilometer Fels.« »Deine Idee… von einer Singularität…« »Ein ganzer Berg! Das kommt nahe an die Masse heran, die ein Schwarzes Loch brauchen würde, um vom Anbeginn des Universums zu überleben.« »Du glaubst, dies könnte eins sein?« Er schüttelte den Kopf. »Wo ist die Masse? Die Masse, die derjenigen eines ganzen Berges gleichkommt! Mit diesem Gewicht würde das Ding durch den Boden fallen, als ob der Beton aus Spinnweben wäre.« »Du hast den Würfel wieder gewogen?« Er nickte. »Angenommen, es ist ein ziemlich
großes Loch da drin, dann wiegt die Singulari tät vielleicht fünfzig, hundert Kilo.« Er stand eine Weile in Gedanken verloren. Schließlich fragte sie: »Willst du noch etwas anderes messen?« »Wie? O ja, gewiß. Ich möchte feststellen, wie diese Beschleunigung aus anderen Winkeln aussieht. Eine dreidimensionale Karte davon machen.« »Dann kann ich das hier abbauen…« Sie machte sich daran, den Gravimeter zwischen den Kabeln und elektronischen Meßinstru menten herauszubugsieren. »Claire?« Sie blickte auf, vor Konzentration schwitzend und auf die Unterlippe beißend, eine Haarlo cke in der Stirn. Er lächelte und sagte: »Nur weil etwas verrückt ist, bedeutet es nicht, daß es falsch sein muß.«
2 Der Kampf zwischen den Verwaltungen der Universität Boston und des MIT war kurz, er bittert und wurde auf höchster Ebene geführt. Die Universität Boston hatte seit den ruhm
reichen Tagen ihres Präsidenten Silber nichts von ihrer kämpferischen Selbstbehauptung eingebüßt, und das MIT war ohnedies ge wohnt, seine Interessen zu wahren. Sein Prä sident kam in die Halle und nahm das Artefakt in Augenschein. Abe schilderte, daß seine phy sikalischen Eigenschaften nicht mit seinem Ursprung in Einklang zu bringen seien. Claire und John waren anwesend, hielten sich aber auf Abes Rat hin im Hintergrund. Verschiede ne Dekane und andere kamen ins Spiel, Teile einer von Abe, der all seine Dankesschulden eintrieb, organisierten Blockadebewegung. Abe nahm den Standpunkt ein, daß das Arte fakt aufgehört habe, ein allein archäologischer Gegenstand zu sein, und nun in erster Linie wegen seiner physikalischen Eigenschaften interessant sei. Er erklärte dem Präsidenten, daß der Würfel eine radioaktive Anomalie be herberge, eine ungewöhnliche Konzentration, die sich bislang jeder Analyse entziehe. Dies alles traf zu, änderte aber nichts an der juristischen Sachlage. Abe behauptete, daß das Erscheinen der physikalischen Eigenschaften in dem Artefakt zufällig sein müsse. Die Ein richtungen, die zu ihrem Studium erforderlich seien, stünden am MIT weit vollständiger zur Verfügung als an der Universität Boston. Dem
Präsidenten mißfiel der Anschein, man wolle das Stück in arroganter Selbstherrlichkeit ei ner Schwesterinstitution vorenthalten, begriff aber den wissenschaftlichen Aspekt. Er stimmte zu, dem Präsidenten der Universität Boston eine kurze Studienperiode am MIT vorzuschlagen, worauf der Gegenstand der Universität Boston übergeben und anschlie ßend nach Griechenland zurückgebracht wer den sollte. Er trug dies Hampton und den füh renden Köpfen an der Universität Boston vor. Alle stimmten darin überein, daß die Angele genheit im höchsten Maße peinlich sei und auf beide Hochschulen kein gutes Licht werfe. Die Konsequenzen für Claire waren wahrschein lich ziemlich bitter, aber das war eine Sache, die geregelt werden konnte, wenn das Artefakt wieder in griechischen Händen wäre. Es wäre begrüßenswert, wenn man in der Angelegen heit bis zum Rücktransport Stillschweigen be wahren könnte. Damit hatte es bis zum nächsten Morgen sein Bewenden. Claire kam ohne zu klopfen in Johns Büro. Er war mit seiner Arbeit für den Fachbereich Me tallurgie im Rückstand und versuchte eine Lösung für ein besonders schwieriges Grenz wertproblem zu finden, dem er mit kompli
zierten Integralgleichungen beizukommen suchte. Wenn er für diese Woche etwas Kon kretes vorzuzeigen hätte, würde er sich be rechtigt fühlen, den Rest seiner Zeit auf das Problem der Singularität zu verwenden, das mühsame und langwierige Arbeit mit sich brachte. »Sieh dir das an!« sagte Claire in scharfem Ton, als sei er für alles verantwortlich, was in der Nummer des Boston Globe stand, die sie ihm auf den Schreibtisch warf. »Gibt es schlechtes Wetter?« fragte John ge lassen. Es war eine stehende Redensart zwi schen ihnen; für ihn war immer schlechtes Wetter im Anzug. »Hampton ist an die Öffentlichkeit gegan gen.« »Was? Aber Abe sagte…« »Stillschweigendes Übereinkommen, ha.« »Dieser Saukerl!« »Du sagst es.« Der Artikel im Globe war ein Interview mit Hampton, das dieser allem Anschein nach ge geben hatte, bevor das Abkommen zwischen den Universitäten geschlossen worden war. Darin beschrieb er das Artefakt als »ein kost bares Relikt aus den Nebeln im Morgengrauen europäischer Kultur«, und beklagte MITs
»Komplizenschaft mit dem Diebstahl eines solch einzigartigen Gegenstandes aus seinem Ursprungsland«. Er ließ durchblicken, daß die ganze Sache MITs Idee gewesen sei, und daß Claire, die nur einmal erwähnt wurde, von je mandem dort, der »in gewissenloser Weise den Mittäter, einen Dr. Bishop, unterstützte, angeführt worden sei«. Die griechische Regie rung werde diese Vorgangsweise als einen Af front betrachten, meinte Hampton, »und er würde nicht überrascht sein, wenn diese An gelegenheit sogar Auswirkungen auf diploma tischer Ebene hätte, insbesondere angesichts der Meinungsverschiedenheiten mit dem Bri tish Museum wegen der Rückgabe der restli chen Parthenon-Plastiken«. John hob die Brauen. »Nebel im Morgen grauen europäischer Kultur? Blumige Spra che, nicht?« »Es könnte die Vereinbarung über den Hau fen werfen«, sagte Claire mit Entschiedenheit. Sie zündete eine Zigarette an und warf das Streichholz aus dem Fenster. »Abe kann das wahrscheinlich beilegen.« »Siehst du nicht?« Sie paffte wütend. »Hampton gab dieses Interview vor der Ab machung, und dann konnte er es nicht mehr rückgängig machen. Denk daran, was er noch
getan haben muß!« Er furchte die Stirn. Claire hatte erst vergan gene Woche einen Anlauf genommen, das Rauchen aufzugeben, aber die dunkelbraune Zigarette mit dem goldenen Mundstück sah nicht wie ein Impulskauf aus. Wahrscheinlich hatte sie sie irgendwo weggelegt. Ihr etwas zerknitterter blaugrüner Hosenanzug ließ im Sitz die sonstige Perfektion vermissen, und sie atmete angestrengt. »Wie bist du hergekommen?« »Zu Fuß. Ich war so wütend!« Drei Kilometer in der Kälte zu gehen, sah Claire nicht ähnlich. »Noch einmal: ich glaube, Abe und der Präsident werden das schon hin biegen…« »Aber begreifst du denn nicht? Hampton muß Kontos angerufen und ihm alles gesagt haben, bevor die Übereinkunft erzielt wurde.« »Das will er mit dem Hinweis auf die diplo matische Ebene andeuten?« »So sehe ich es.« »Das sind Nebenwirkungen.« »Was?« »Ich wußte, daß wir Nebenwirkungen be kommen würden, sobald wir den Deckel lüfte ten. Abe mußte den Dekan einweihen, was zwangsläufig bedeutete, daß andere Leute an
fangen, sich einzumischen.« Er erzählte ihr von dem halben Dutzend Fa kultätsmitgliedern, die in die Halle gekommen waren, und von den anderen, die mehr über die Anomalie erfahren wollten. Damit nicht genug, war die Neuigkeit inzwischen nach Harvard gedrungen, und Sergio Zaninetti hatte sich interessiert gezeigt. »Ist das schlimm?« fragte Claire verwirrt. »Nun, besser als ein Stoß ins Gesicht mit ei nem Spazierstock, nehme ich an.« Er fühlte sich zwischen zwei wissenschaftli chen Betrachtungsweisen hin und her geris sen. Auf der einen Seite führte die Verbreitung von Ergebnissen und Ideen zu größerer Pro duktivität und gegenseitiger Befruchtung. Be sonders Mathematik und Physik wirkten oft verstärkend aufeinander. Dies traf nirgendwo mehr zu als in der Gravitationstheorie. Die meisten bedeutenden Ergebnisse der letzten Jahrzehnte waren von Leuten erbracht wor den, die ursprünglich als Mathematiker aus gebildet gewesen waren. Diesem idealistischen Modell von der wis senschaftlichen Arbeitsweise stand der einfa che Umstand des Eigennutzes entgegen. John verstand viel von der differentialen Geometrie von Vielfachen, und von ähnlichen Techniken,
aber er hatte nicht die Sicherheit der Annähe rungsmethode, mit der ein Theoretiker wie Zaninetti herangehen konnte. Je mehr Zeit er hatte, um allein zu arbeiten, desto besser. »Nun, meinst du nicht, daß diese Rivalität weniger wichtig ist, verglichen damit, daß wir im Globe gegeißelt werden und ich wahr scheinlich meine Stellung verliere?« »Klar«, sagte John, aber etwas in ihm zog sich schmerzlich zusammen. Claires Mutter hatte keine Zweifel. Sie hatten sich eine Woche zuvor für diesen Abend zum Essen verabredet, und trotz Johns Bemühun gen, sich zu drücken, besuchten sie Mrs. An derson in ihrem Haus Commonwealth Avenue 242. Es war ein schmalbrüstiges Stadthaus aus Backsteinen, mit breiten Erkerfenstern, die orangefarbenen Lichtschein in die schrägen Bahnen windgepeitschten Regens hinauslie ßen. »Brrr!« Johns Zähne klapperten, als sie sich, gegen den Wind gebeugt, dem Haus näherten. »Dieses Zeug ist kaum ein Grad über dem Ge frierpunkt.« »Ach, ihr verweichlichten Südstaatentypen wißt einfach nicht den Wechsel der Jahreszei ten zu schätzen.«
Mrs. Anderson drückte rasch die Tür ins Schloß, nachdem sie sie eingelassen hatte und führte sie durch die kleine Diele, wo sie ihre Mäntel aufhängten. Sie war eine kleine, freundlich lächelnde Frau, in einer altmodi schen Art und Weise gutgekleidet, behängt mit einer Menge altem Schmuck, der einmal viel Geld gekostet haben mußte. Sie sprach mit ei nem stärkeren Akzent als Claire, und in Johns Ohren nahm es sich beinahe wie Englisch aus, doch mit einem ländlichen Unterton platter New-Hampshire-Konsonanten. »Ich hoffe, Sie werden solches Wetter über leben, Mr. Bishop«, sagte sie. »Vielleicht möchten Sie etwas zum Wiederherstellen?« Dies bedeutete nicht den erwarteten Sherry, sondern einen wärmenden Brandy. Wenigs tens war Mrs. Anderson eine Realistin, soweit es ihr Klima anging. Sie führte sie von der kleinen, verzierten Hausbar durch einen bo genförmig ausgeschnittenen Durchgang in ein geräumiges, mit Teppichen ausgelegtes Wohn zimmer, dessen Decke dicke Eichenbalken durchzogen. Aus zwei Wandlautsprechern klimperte leise Cembalomusik von Vivaldi. Al les stand voll von Antiquitäten, und auch die Sessel bezeugten ihr Alter, indem sie sich als etwas zu klein für Johns Gestalt erwiesen.
Mrs. Anderson war heiter, beinahe flatter haft. Dabei bemühte sie sich augenscheinlich sorgfältig darum, einen gelassenen Gesichts ausdruck zu zeigen. Ihre gerunzelte Haut sah gesund aus und ließ auf lange, erfrischende Spaziergänge im Freien schließen. Er erinner te sich der alten Weisheit, daß die Mutter einer Frau ein guter Hinweis darauf ist, wie sie al tern wird, und bemerkte, daß sie kräftig war, mit einem gesunden Muskeltonus, der ihren Bewegungen federnde Spannkraft verlieh. Dann schämte er sich ein wenig seiner kalt-analytischen Betrachtungsweise. Trotz dem war es eigentlich nur fair, betrachtete sie ihn doch genauso kritisch, nämlich als – das Wort schien hier in Boston passend – einen Freier um ihre Tochter. »Sie kommen aus Atlanta, Mr. Bishop?« »John. Nein, Athens, Georgia – das ist eine Stadt mittlerer Größe.« »Und wie kommt es, daß Sie in Boston sind?« Es wurde alles mit Freundlichkeit und An stand gesagt, aber um ihren Mund blieb ein konzentrierter, kritischer Zug. Er breitete sei ne Biographie aus. Frühes Interesse an der Mathematik. Die Entscheidung, entgegen den Vorstellungen seines Vaters, eines Ingenieurs, nicht an die Technische Hochschule von Geor
gia zu gehen, sondern an die Rice-Universität in Houston. Nein, mit dem Raumfahrtpro gramm habe er nichts zu tun gehabt. Nach dem Bakkalaureat weiteres Studium und Promoti on. Frühes Interesse an kombinatorischer Geometrie, mit späterer Anwendung auf Teil chenphysik. Ein knappes Jahr in Berkeley. Gegenwärtig wissenschaftlicher Assistent am MIT, beschäftigt mit interessanten Grenz wertproblemen. Dies fügte er hinzu, weil es den üblichen Fragen vorbeugte. Nichts brachte neugierige Leute wirksamer zum Schweigen als unverständlicher Fachjargon. »Nun, das ist sehr eindrucksvoll«, sagte Mrs. Anderson mit Herzlichkeit. Er wußte, daß er ihr nicht gegeben hatte, was sie wirklich wollte – ein Gefühl für die Familie, die ihn hervorge bracht hatte –, aber tatsächlich wußte er nicht, wie er das anfangen sollte. Er konnte ihr von einer Seite seiner Familie erzählen, die noch immer in klassischen alten Häusern in und um Charleston lebte. Dort waren die Rasenflächen makellos, und neben den Eingängen standen noch die hundert Jahre alten Statuen von Ne gerjungen, die den Hausbewohnern und ihren Gästen einst als Aufstiegshilfen gedient hatten, wenn sie ausritten; inzwischen hatte man ihre Gesichter gleichmacherisch weiß gestrichen,
die Hände aber vergeßlicherweise schwarz ge lassen. Oder er könnte genausogut die Ver wandten mütterlicherseits erwähnen, die, wenn sie mit Schnupfen auf dem Feld arbeite ten, sich abwechselnd ein Nasenloch mit dem Daumen zuhielten und das andere ausbliesen. Er beschloß, diese Stückchen Lokalkolorit auszulassen. Zum Abendessen gab es Roastbeef, Kürbis gemüse, Reis und einen anständigen Bor deaux. Nicht bemerkenswert, aber durch und durch Bostoner Art. Es wurde viel von Onkel Alex und dem Grundbesitz in New Hampshire gesprochen. Erst bei einer erlesenen Nach speise aus überbackenem Eis sagte Mrs. An derson: »Ich fand den Artikel im Globe sehr bedauerlich«, und blickte ihn erwartungsvoll an. »Vielleicht ist Prof. Hampton zu weit gegan gen«, sagte John diplomatisch. »Aber solch eine Sache in der Presse breitzu treten…« »Wie wir in meiner Heimat sagen, ich be zweifle, daß Hampton Graupen von Haferflo cken unterscheiden kann.« Mrs. Anderson runzelte die Stirn und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Nun, ich hoffe wirklich, daß Claires Name in Zukunft
herausgehalten werden kann.« »Ich werde mein möglichstes tun«, sagte er. »Mutter, du brauchst nicht für mich aufzu passen.« »Ich habe nur gefragt.« »John ist nicht für mich verantwortlich.« »Ich fragte nur, um eine andere Meinung zu hören, Kind. Im übrigen geht es auch um den guten Namen der Familie.« Und sie bedachte ihre Tochter mit einem strengen Blick. »Ich werde mit Hampton auf meine Weise fertig.« Darauf zog John die Brauen hoch, denn er wußte, daß sie keinen Geheimplan hatte. »Alles wegen eines Steinbrockens aus irgend einem Grab. Ich kann nicht verstehen, daß man wegen einer so unbedeutenden Sache un seren Namen in der Öffentlichkeit angreift.« Claire nickte in scheinbarem Verständnis, sagte aber nichts. Es war klar, daß Claires na mentliche Nennung in dem Artikel des Globe für Mrs. Anderson eine Schande war, die sich nur mit einer Verhaftung durch die Polizei vergleichen ließ. Der Augenblick leitete über zum Stadium des Brandy und der Zigaretten, doch nur Claire rauchte. Mrs. Anderson tat ihre Meinungen über das Bostoner Sinfonieorchester und den
gegenwärtigen Präsidenten kund, die in kei nem Fall sonderlich günstig ausfielen. Die Nachrichten vom Austritt Griechenlands aus der NATO, der Ausweisung verschiedener Diplomaten durch die Athener Regierung un ter dem Vorwurf der Spionage, und geheim nisvoller türkischer Flottenmanöver gingen durch Mrs. Andersons Aufmerksamkeit, wur den mit einem Stirnrunzeln und einem mißbil ligenden Schnalzen abgetan und verschwan den aus dem Gespräch. John versuchte sich an einer Taktik der Schadensbegrenzung und vertrat keinen Standpunkt, ehe er den ihrigen erraten hatte. Diese Methode erwies sich als vorteilhaft, aber auch als ermüdend. Als sie gingen, hatte der Regen aufgehört, und auf dem Weg durch die Commonwealth Ave nue glänzte jede nasse Oberfläche im gelbli chen Widerschein der Autoscheinwerfer. Die Grünanlagen in der Mitte der Straße waren düster und kahl, die Bäume entlaubt, die Sträucher struppige schwarze Zweige. Ein Po lizist jagte einen Obdachlosen auf, der unter einer Plastikplane auf einer der Bänke schlief, und brachte es fertig, gleichzeitig entschieden und höflich zu sein. »Sie hat ziemlich viel gebohrt«, sagte John in neutralem Ton.
»Ach, das ist so ihre Art.« »Ich wußte nicht, daß ich eine Meinung wür de abgeben müssen.« Claire lachte. »Das tut mir leid.« »Sie würde dich gern von den Titelseiten fernhalten, nehme ich an.« Claire machte eine klägliche Grimasse. »Ty pisch für die Bostoner Art. Es gibt ein Zitat von Faulkner über die Schriftstellerei, aber es ist hier anwendbar. Er sagte, die ›Ode auf eine griechische Vase‹ sei mehr wert als jede Menge alter Damen.« »Ach ja. Und so brauchen wir uns, archäolo gisch gesprochen, nur vorzustellen, wieviel die Vase selbst wert ist.« »Genau.«
3 »Dio mio!« sagte Sergio Zaninetti. »Sind Sie sicher?« Als John kam, näherte sich Zaninettis Besuch in der Halle bereits seinem Ende. Abe war von dem berühmten Theoretiker offensichtlich
bezaubert. »Ich habe es viele Male überprüft«, sagte er liebenswürdig, mit stummem Stolz. »Aber dies ist von größter Bedeutung!« »Darum gehen wir langsam und behutsam vor«, sagte Abe. Sie wurden auf John aufmerksam, der sich den Weg durch die überall sich schlängelnden Kabel suchte. Zaninetti würdigte ihn einer freundlichen Begrüßung und schüttelte ihm die Hand. »Neulich sagten Sie mir nichts da von, daß Sie solch ein Ding haben.« »Nun ja, es ist alles ein großes Geheimnis«, sagte John beiläufig. »Ein erstaunliches Geheimnis, in toto. Sie mögen nicht wissen, was es ist, aber dieser Punkt im Zentrum – könnten Sie mir das noch einmal zeigen, Abraham?« Abe beeilte sich, ein paar Schalter zu bedie nen, und gleich darauf hatten sie die optische Darstellung auf dem größten Bildschirm. »Über Nacht hat es sich ein wenig aufgeklärt.« John betrachtete das Bild und verglich es mit seiner Erinnerung. Das Viereck war ein wenig schärfer, und es gab Spuren wie Strähnen, die von den Rändern nach innen führten. Fleckige und ungleichmäßige Lichtspuren, vielleicht entlang den Diagonalen. »Sie sagen, daß Sie den Punkt im Zentrum
nicht auflösen können?« fragte Zaninetti. »Kleiner als ein Millimeter, soweit ich es sa gen kann.« »Selbst beim Einsatz von Gammastrahlen?« »Ja. Ich kann unter den gegebenen Bedin gungen keine bessere Auflösung erreichen.« »Harte Strahlung, ein Bild wie dieses…« Zaninetti gestikulierte ausholend zu dem Würfel, der unter den Anordnungen der Prüf instrumente beinahe verschwunden war. »Es ist schwierig, sich das vorzustellen.« »Wir brauchen es uns auch nicht vorzustel len«, sagte John etwas vorlaut. »Es ist da.« Ein kurzer orangefarbener Blitz erschien in der oberen rechten Ecke des Bildschirms. Ei nen Augenblick später war der Lichtfleck ver blaßt und verschwunden. »He! Was?« sagte Zaninetti. »Ein Gammastrahl, der in der Lichtsonde zerfällt«, sagte Abe. »Er hinterläßt eine Spur von energieschwachen Photonen, wenn einige der ionisierten Atome sich wieder verbinden.« »Ich erinnere mich nicht«, sagte John, »so etwas vorher gesehen zu haben.« Abe hob die Schultern. »Die kommen alle paar Stunden. Die Gammastrahlung nimmt ein wenig zu, glaube ich.« Zaninetti spähte zu der Stelle, wo die Licht
sonde hineinging. Sie war jetzt von einem Kragen umgeben, der ein ringförmiges Druck siegel an Ort und Stelle festhielt. Er wandte sich zu John. »Ich denke, Ihre Idee könnte richtig sein.« »Welche Idee?« »Daß es eine Singularität ist.« Also hatte Abe die Katze aus dem Sack gelas sen. Verdammt! Zaninetti lächelte sparsam. »Abraham er zählte mir von Ihren Gravimetermessungen. Sie glauben, daß sie richtig sind?« »Soweit ich feststellen kann«, sagte John wi derwillig. »Dann werden Sie auf dem richtigen Kurs sein. Ist pazzo, finden Sie nicht?« Und er ver setzte John einen spielerischen Schlag auf den Oberarm. »Verrückt!« John mußte grinsen. »Wahrscheinlich.« »Ich denke, es verdient ernste, sehr ernste Untersuchungen.« »Es gibt noch viel zu tun.« »Etwas im Gestein, nicht? Gefangen in diesem bearbeiteten Block. Zufällige Entdeckung. Er innert an die Quark-Geschichte Ende der Sieb ziger Jahre, erinnern Sie sich?« »Die Suche nach minimal geladenen Parti keln?«
»Si. Die Leute suchten in verschiedenen Ma terialien, hofften, solche Partikel könnten dort in den Kernen festgehalten sein. Kein Erfolg, aber eine Idee, die vielleicht weitere Nachfor schungen rechtfertigte. Wie hier.« John blickte zum Würfel. Er schien jetzt klei ner, machtlos, eingezwängt in den Schraub stock eines modernen Laboratoriums. Er er innerte sich, wie er die Gegenwart in der Höhle neben dem Grab empfunden hatte, groß und im Schatten aufragend, geschichtsträchtig, ein Ding aus uralten Zeiten, aus denen nur noch Legenden in die Gegenwart herüberdrangen. Er schüttelte sich. Teil dieser Empfindung war der seltsame Wechsel in der örtlichen Schwere an der Oberfläche des Steins. Die Hände spürten es, wenn man den Fels befühl te, und der Geist konnte einem in einem spuk haften Ort wie jener Höhle Streiche spielen. »Ja, wenn dieses Ding in den Fels geraten ist, muß es mit enormer Energie hineingetrieben worden sein, einem kosmischen Strahl oder was, denke ich.« »Ich sehe«, sagte Zaninetti und tippte mit dem Zeigefinger an seine volle Unterlippe. »Durchbohrte den Boden und kam in diesem Block zur Ruhe.« Ohne seine durchdringende Konzentration hätte er wie ein schlauer Gast
wirt ausgesehen, der die Tische überblickte. Die schmalen Augen und der schiefgezogene Mund verrieten die Intensität seiner Überle gungen. »Dann höhlte er eine Kammer aus.« »Um ein Vakuum zu erzeugen, richtig. Das war der Gedanke, der mich überzeugte.« »Um soviel Strahlung abzugeben, muß die… die Singularität etwas – den Stein – in Energie umwandeln, und zwar mit einem hohen Wir kungsgrad.« John entsann sich, daß Schwarze Löcher auf diese Weise hochwirksam waren. Sie konnten die angezogene Materie mit einer Restmas senenergie von mc2 aufnehmen und bis zu ei nem Viertel davon in Hitze und Strahlung umwandeln, die dem Loch entwichen und von außen sichtbar waren. Das war das Paradigma, das die enorm hellen Emissionen der Quasare erklärte. Astrophysiker vermuteten, daß riesi ge Schwarze Löcher in der Mitte mancher jun ger Galaxien waren, Sterne und kosmischen Staub anzogen und Partikelstrahlen ausspien. Aber das hatte wenig gemein mit der Behaup tung, daß jede Form von raumzeitlicher Sin gularität das gleiche vermöchte. Abes Daten ließen den Schluß zu, daß es sich hier so ver hielt. Das theoretische Problem bestand darin, Lösungen zu finden, die alle Merkmale dieses
Objekts beschrieben und dennoch gestatteten, daß Energieextraktion vorkam. John sah, daß Zaninetti dies bereits erraten hatte. Der Mann dachte schnell. »Sie werden bald veröffentlichen?« John war verdutzt. Dann verneigte er sich zu Abe. »Das hängt von dem Mann mit den Daten ab«, sagte er höflich. »Ich möchte absolut sicher sein«, sagte Abe. »Aber selbstverständlich«, erwiderte Zaninetti. »Ich achte Ihre Vorsicht.« »Die interessante Frage ist, wo man veröf fentlichen soll?« sagte John. Zaninetti und Abe runzelten die Stirn. »Ich meine«, fuhr John fort, »handelt es sich hier um ein physikalisches Problem? Oder sollten wir uns mit der archäologischen Rolle des Würfels befassen? Dabei wird Claire mitreden wollen.« Abe sagte: »Nun, ich weiß, was Sie denken, aber das spaltet sich in zwei Probleme, nicht wahr.« Es war keine Frage. »Diese Sache hat eine archäologische Seite«, sagte John. »Wir können mit dem Ding nicht nach Belieben experimentieren.« »Natürlich werden wir den Würfel nicht zer stören«, sagte Abe. Er lächelte Zaninetti an. »Schließlich schirmt uns das Gestein gegen die
Gammastrahlen ab.« »Gewiß, aber Sie müssen mit der Universität Boston und den anderen verhandeln.« »Keine Sorge«, erwiderte Abe mit Überzeu gung. »Sobald allgemein bekannt ist, was wir hier haben, wird es seitens der Universität Boston keine weiteren Schwierigkeiten geben. Heute früh habe ich wieder mit dem Präsiden ten gesprochen, und glauben Sie mir, er steht auf unserer Seite. Vorbehaltlos.« John nickte. Abe war auf den bürokratischen Ebenen ein fähiger Stratege. Vielleicht sollte er die Politik einfach vergessen und sich auf seine Mathematik konzentrieren. Zaninetti hatte die Möglichkeit sofort gesehen. Tatsächlich, dachte er plötzlich, hatte Zaninetti vielleicht sogar die stillschweigenden Folgerungen gewittert, die sich aus dem Da tenmaterial ergaben, an dem er arbeitete. Er konnte nicht annehmen, daß es Zaninetti ein fach entgangen sei. Die Dinge waren jetzt in Bewegung geraten. Zu schnell. Er verließ die Halle und ging geradewegs zu seinem Büro, ohne zu Mittag zu essen. Es gab mathematische Wege, denen er folgen mußte, sich gabelnde und verzweigende Möglichkei
ten, durch die er nur mit Geduld und Intuition finden konnte. Zaninetti hatte ihn jovial be handelt und ein paar Scherze gemacht, hatte tatsächlich seinem Ruf als mitteilsamer und bisweilen überschwenglicher Mensch Ehre gemacht und Abe im Handumdrehen für sich gewonnen. Zaninettis frühe Laufbahn hatte sich auf dem Gebiet der Elementarteilchen physik abgespielt, wo er das Geschick erlernt hatte, wortkargen Experimentatoren und la konischen Assistenten benötigtes Datenmate rial abzuringen. Eine Studie der Nationalen Wissenschaftsstiftung hatte einmal gezeigt, daß theoretische Physiker die verbal Ge schicktesten der gesamten naturwissenschaft lichen Gemeinde waren, und man hatte daraus die Folgerung gezogen, daß dies in irgendeiner Weise ihre mathematischen Fähigkeiten über lappe. Mathematiker waren eher gut in Musik, aber – so wurde in der Studie argumentiert – die theoretische Physik war eine Art Mittel ding, bedurfte mathematischer Geschicklich keit und physikalischer Intuition. Vielleicht korrelierten diese mit Wortgewandtheit, mutmaßten die Autoren des Berichts. Die Stu die hatte freilich nicht die Möglichkeit in Er wägung gezogen, daß gute Redner erfolgrei cher waren, weil sie es leichter hatten, Gegner
für sich zu gewinnen und benötigte Informa tion zu erhalten. John wußte genug, um sich eine Weile von allem Gerede und aller Spekulation fernzuhal ten. Er brauchte Zeit, um auf einen leeren Schreibblock zu starren und allmählich zu se hen, wohin die verworren scheinenden Impli kationen der Gleichungen führten, auf der Suche nach gültigen Mustern, die hinter der komprimierten, täuschend einfachen Nieder schrift lagen. Die Gleichungen der Physik wa ren nicht in der Form kompliziert; tatsächlich waren sie verlockend einfach; ihre komplexe Natur verbarg sich in der geheimnisvollen No tierung. Die Mandarine der Physik waren jene, die nach den grundlegenden Gesetzen suchten, eine Suche, die sie nach innen zu dem sehr Kleinen oder nach außen zur gewaltigen Kos mologie führte. Die wirkliche Lösung der Gleichungen in ihren Myriaden von Anwen dungen war ein Problem, das der Masse der Mathematiker und Physiker zu lösen blieb. Obgleich die grundlegenden Gleichungen zur Beschreibung der Sonne, um ein Beispiel zu nennen, seit einem Jahrhundert bekannt wa ren – Mexwells vier Beziehungen, plus Newtonsche Mechanik –, waren die magneti
schen Bogen, die heftigen Ausbrüche und Stürme an der Sonnenoberfläche noch immer kaum verstanden. Im Zusammenhang mit dem Würfel gab es zwei entscheidende Fakten. Erstens wog er nur ungefähr eine Tonne. Mit so wenig Masse war sein eigenes Schwerefeld sehr, sehr gering. Aber der zweite Umstand – die vierpoligen Schlingen des Schwerefelds – schien dem zu widersprechen. Wie konnte so wenig Masse in ihrem Umkreis ein starkes, kompliziertes Feld erzeugen? Das war der entscheidende Hinweis, dachte John und kratzte sich abwesend die Oberlippe – diese täuschend schwache Anziehungskraft, wenn man mit der Hand über den Stein strich. In der menschlichen Erfahrung war Schwere immer einfach. Sterne und Planeten waren sphärisch. Das Sonnensystem und die Milch straße waren Scheiben, aber das lag daran, daß ihre Rotationsbewegung das Zusammenfallen zu einer großen runden Masse verhinderte. In allen Himmelskörpern verdichtete eine sphä risch wirkende Kraft die Materie. Das Artefakt verhielt sich nicht so lehrbuch fromm. Es bewies, daß ein Partikel kompli zierte Schwerefelder erzeugen konnte. In der Sprache des Mathematikers bedeutete dies,
daß in den grundlegenden Gleichungen nicht sphärische Lösungen lauern mußten. Während der letzten Tage, seit er die zweite Tatsache entdeckt hatte, war John mit Ein steins klassischen Gleichungen für die Schwerkraft beschäftigt gewesen. Alle Welt hatte immer sphärische Lösungen – Sterne, Scheiben – für diese Gleichungen als selbst verständlich angesehen. Selbst das Universum als ganzes wurde sphärisch und symmetrisch gesehen. Weil es die bequeme Lösung war, dachte John. Wenn man nicht von sphärischer Sym metrie ausging, waren die Einsteinschen Glei chungen ein Durcheinander. Er schrieb die allgemeinere Form aus, eine, die Einstein nie untersucht hatte. Lange starrte er auf das be schriebene Blatt, hörte kaum die entfernte Stimme von jemand, der draußen im Korridor vorbeiging. Hier gab es Möglichkeiten… Um ein verzerrtes Feld zu erhalten, mußte man Lösungen finden, welche die Raumzeit wie eine stehende Welle verformten. Die Ana logie, die ihn dazu führte, waren die großen, langsam sich bewegenden Anschwellungen von Wassermassen, die manchmal in Kanälen und Flüssen beobachtet werden. Er hatte eine sol che Flutwelle einmal in einem kleinen Flußlauf
nahe der Golfküste gesehen, kurz vor einem Unwetter. Es war eine unheimliche Anschwel lung von Wasser, die an der Oberfläche des Flüßchens landeinwärts gewandert war. Er war damals vierzehn gewesen, und der Anblick hatte ihn aufs Höchste beunruhigt, da ihm ir gendwie etwas Bösartiges eigen schien. Seit dem hatte er solche Naturerscheinungen stu diert; sie wurden ›Solitone‹ genannt. Anders als gewöhnliche, winderzeugte Wellen hatten sie nur Kämme, keine Täler. Er hatte einige Soliton-ähnliche Lösungen für Einsteins Gleichungen gefunden, aber sie hat ten beunruhigende Eigenschaften. Als er sie nun betrachtete, fühlte er wieder das Unbeha gen der Jugendjahre, ein leises Prickeln der Nackenhaut beim Anblick von etwas aller Er fahrung völlig Entgegengesetztem. Die Solitone benötigten bestimmte mathema tische Formen, um überhaupt eine stabile Lö sung zu haben. Dies legte den Gedanken nahe, daß eine andere Kraft ins Spiel gekommen war, ein Feld, das in einem extrem kleinen Be reich auftrat. Allein würden Solitone sehr wie gewöhnliche, winzige Schwarze Löcher ausse hen. Sie brauchten sich nicht wie Wassersolitone zu bewegen. Sie konnten still stehen.
Aber zwei Schwarze Löcher zusammen wür den einander augenblicklich anziehen, ver schmelzen und ein etwas größeres Schwarzes Loch von einem Gewicht bilden, das wenigs tens so groß war wie das eines Berges. Das war offensichtlich nicht, was im Mittelpunkt des Würfels war, sonst wäre niemand imstande gewesen, ihn von der Stelle zu bewegen. Plötzlich sah er den Ausweg. Die neue Kraft löste dieses Rätsel. Anders als die Schwerkraft, war sie abstoßend. Sie hin derte die Schwarzen Löcher daran, eine ge meinsame Schwere auszubilden, indem sie sie getrennt hielt und keine Verschmelzung zu ließ. Es war eine sehr eigentümliche Kraft. In der Sprache des Mathematikers war sie vom nicht-Abelschen Typ, ähnlich den Kräften, die subnukleare Partikel wie Quarks regulierten. Die einzigen sichtbaren Lösungen waren nicht die punktförmigen Singularitäten, die der ge wöhnlichen Feldtheorie vertraut waren. Sie waren etwas Fremdartiges, mehr wie Win dungen in der Raumzeit als Punkte. In der Partikelphysik war es üblich, Lösungen mit Quantenzahlen zu etikettieren und diesen Zahlen Namen zu geben, wie »Farbe« und »Zauber«. Gute Terminologie war selten;
heutzutage gebrauchte man sogar »Stil« und »Substanz«, um obskure mathematische As pekte zu beschreiben. John beschloß diese neue Kraft »Mode« zu etikettieren, nur um ei ne Spur von ironischem Zweifel zu injizieren. Es war schließlich denkbar, daß dies alles durchaus falsch war. Die Partikel, die er Einsteins Gleichungen abgerungen hatte, waren massiv, aber die Ab stoßungskraft zwischen ihnen kompensierte diese Masse beinahe vollkommen. Fein. Tat sächlich könnte er genausogut die Konfigura tion von zwei benachbarten Löchern nehmen und sie ein Partikel nennen, da das alles war, was existieren konnte. Er beschloß, sie Ver zerrungen zu nennen. Verzerrungen in der Raumzeit. Er hatte bis zum Spätnachmittag gearbeitet, unbeweglich auf seinem altmodischen, ge polsterten Drehsessel aus Walnußholz. Schließlich stand er auf, reckte die steifen Glieder und blickte zum Fenster hinaus, wo die Schatten ineinander flossen und zum ersten Mal hörte er das Brausen des Verkehrs vom Memorial Drive. Er hatte etwas, aber er wußte nicht, was es bedeutete. Oder ob es zufrieden stellend beschrieb, was in Abe Sprangles Halle stand.
Er begann auf und ab zu gehen. Er wußte, daß er für diesen Tag verbraucht war; niemand konnte einen ermüdeten Verstand zwingen, anstrengende höhere Mathematik zu treiben. Der Verstand verlor einfach seine Schärfe, seine Fähigkeit, logische Ketten zu überblicken und eine Möglichkeit nach der anderen zu durchdenken. Als an seine Tür geklopft wurde, erschrak er, war aber nicht ärgerlich über die Unterbrechung. Claire kam mit dem gleichen Elan hereinmarschiert, den sie bei ihrer ersten Be gegnung gezeigt hatte. Sie trug ein konservativ geschnittenes, aber modisch rostbraunes Kos tüm, aus dem eine rüschenbesetzte, eierscha lenfarbene Bluse hervorsah. Ihr Nagellack paßte zur Farbe des Lippenstifts, und sie be wegte sich, als ob sie eine Million Dollar wert wäre. Er hatte das Bild vor Augen, wie sie da mals bei ihrem ersten Besuch auf ihn zuge kommen war, und es überraschte ihn, als er sich vergegenwärtigte, daß es erst vor ein paar Monaten gewesen war. Es kam ihm wie eine halbe Lebenszeit vor. »Alles aufgeräumt«, bemerkte sie fröhlich. »Ah, ja«, murmelte er mit schwerer Zunge. Sie strahlte und setzte sich auf die Schreib tischkante. »Gewöhnlich hast du hier ein wüs
tes Durcheinander.« »Ich habe gerechnet. Ich sorge immer für Ordnung in meinen Papieren, wenn sie etwas bedeuten könnten.« Er lehnte sich gegen das Bücherregal und sah zu, wie sie eine der dun kelbraunen Zigaretten mit dem goldenen Mundstück anzündete. Sie kleidete sich immer gut, aber er erkannte die Zeichen von Unsi cherheit; innere Gewißheit war umgekehrt proportional zur Menge des Make-up. »Was gibt es?« Sie verzog das Gesicht. »Hampton hat eine Akte über mich angelegt.« »Um dich wegen Fehlverhaltens entlassen zu können?« »Wenn er mich nicht vorher strecken und vierteilen lassen kann.« »Die Universitätsverwaltung wird sehen, daß er voreingenommen ist.« »Und? Sie sind auf seiner Seite. Einer von ih nen nannte mich heute einen Affront der Uni versität.« »Komm her!« Sie kam, fast widerwillig. Sie umarmten sich, und John schloß die Augen, ließ die Ermüdung des Nachmittags heraus und atmete den Duft ihres Haares. Es waren nicht die Augenblicke, wenn er den Puls in den Schläfen pochen hörte, die ihm am besten ge
fielen, sondern Augenblicke wie dieser, wenn sie so kostbar und tief schien, daß er niemals ihr innerstes Wesen vermeinte ergründen zu können. Allmählich kam eine nachgiebige Weichheit in sie, und sie schmiegte sich an ihn. Der lange Augenblick zog sich hin, dann küß ten sie einander und lösten sich. Sie drückte ihre Zigarette aus. »Wenn ich nur wüßte, was ich tun sollte«, sagte sie unbestimmt. »Gegenstoß.« »Wie?« »Hampton ist an die Öffentlichkeit gegangen, hat im Globe alles ausgebreitet. Du tust das gleiche.« »Ich soll sie anrufen und bitten, mich zu in terviewen?« Er schnalzte mißbilligend. Nördliche intel lektuelle Steifheit. »Du mußt machen, daß sie zu dir kommen. Das pflegte General Lee im mer so zu halten.« »Gettysburg war ein Versehen?« »Eine geniale Strategie, die scheiterte.« »Wie soll ich sie dazu bringen, daß sie ge schnüffelt kommen?« »Du hältst einen Vortrag. Mit Dias vom Arte fakt.« »An der Universität? Das würden sie verhin
dern.« »Wäre anderswo nicht besser? Mehr im Blickfeld der Öffentlichkeit?« »Mal überlegen… Wie wär’s mit dem Muse um?« »Wo ist das?« »Du bist nie im Museum gewesen?« »Ich bin ein Fachidiot, vergiß das nicht. Ein ungebildeter, antihumanistischer Wissen schaftler.« »Ach ja, aus dem Land der Philister. Ich hatte es vergessen.« Sie schritt mit erneuerter Ener gie im Büro auf und ab. Er bemerkte mit Ge nugtuung, daß das rostbraune Kostüm ziem lich anliegend geschnitten war. »Das könnte klappen, weißt du… Das Museum veranstaltet gelegentlich öffentliche Vorträge. Aber wieviel sollte ich sagen?« »Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.« »Wirklich?« »Ja, du solltest mit allem herauskommen.« »Abe Sprangle könnte Einwände erheben.« »Wir werden mit ihm reden.« »Vieles davon ist seine Arbeit; die Veröffent lichung muß er sich vorbehalten.« »Nicht die archäologischen Aspekte.« »Ich weiß nicht. Ich habe nie so für die Öf
fentlichkeit gespielt.« »Wird Zeit, daß du es lernst.«
4 Als Claire das Bostoner Kunstmuseum ver ließ, verlangsamte sie ihre Schritte und lauschte dem harten Klang ihrer hohen Absät ze auf dem Stein. Kurz vor dem Ausgang folgte sie einer Regung, bog nach links und schlen derte durch die ägyptische Abteilung. Sie war nicht bemerkenswert, aber in diesem Augen blick hatte sie ein Bedürfnis nach ihrer beru higenden Gewißheit, ihrer Solidität, ihrer stummen Feststellung, daß die Vergangenheit andauerte, noch gegenwärtig war, noch etwas bedeutete. Das Gespräch mit dem Museumsdirektor war erstaunlich günstig verlaufen. Er war hager und beherrscht, und zuerst hatte er so leise gesprochen, daß sie sich gefragt hatte, ob er Selbstgespräche führte oder sie meinte. Schon nach wenigen Minuten hatte sie gespürt, daß er sie anziehend fand, und es war ihr schwer
gefallen, diesen Vorteil nicht auszunutzen und alles auf der kühl professionellen Ebene zu halten. Seit ihren Jugendjahren war ihr be wußt, daß sie keine schöne Frau war, und so hatte sie daran gearbeitet, auffallend zu sein. Sie hatte sich für das marineblaue Kostüm mit dem roten Halstuch und den passenden Handschuhen entschieden, und das war in diesem Sinne hilfreich gewesen, das war nicht zu leugnen. Trotzdem haßte sie Charlotte Brontes Bemerkung, daß sie all ihr Talent ge geben hätte, um schön zu sein. Das verurteilte eine Frau dazu, immer anderer Leute Spiel zu spielen – und, wenn die Schönheit verging, schließlich zu verlieren. MODELL EINER PROZESSION VON OPFERGABENTRÄGERN. GEFUNDEN MIT DEN SÄRGEN DES DJEHUTI-NEKHT UND SEINER FRAU IN DER GRABKAMMER VON DEIR EL BERSHEH. Hölzerne Figuren, die Vorräte für das Leben nach dem Tode trugen. Im Grab waren echte Vorräte und Werkzeuge gewesen. Djehuti-Nekht hatte, wie alle seine Zeitgenos sen, von seinem Leben eine gerade Linie zur Ewigkeit angenommen, und so hatten seine
Hinterbliebenen darauf geachtet, ihm nützli che Gegenstände mitzugeben. Aber welcher moderne Mensch, auch wenn er völlig gläubig war, würde Gegenstände mit sich ins Grab nehmen, die nur schön waren? Nein, das Äquivalent des zwanzigsten Jahrhunderts würde Kartons mit Konserven einlagern, Ge wehre, vielleicht einen elektrischen Generator. Dies rührte sie immer wieder an – die uner gründliche Kluft zwischen dem Denken des Gegenwartsmenschen und der Art, wie die Al ten gedacht hatten. Sie waren wirklich fremd, nicht bloß unschuldige Landbebauer mit ei nem albernen Jenseitsglauben. Sie lebten, und ihr Eingehen auf ihre Welt war tief. Und, fügte sie in Gedanken hinzu, hoffen wir, sie irrten sich in der Frage des Lebens nach dem Tode, denn ein beträchtlicher Teil ihrer Habselig keiten hatte nicht in jene Nachwelt gefunden, sondern war nutzlos in Museen gelandet. Sie wanderte in die griechische Abteilung, wo sie den schwachen, aber beständigen Duft ih res geliebten Altertums atmete. Selbst hier, unter Glas und geschmackvoll beleuchtet, blieb die Fremdartigkeit. Die attischen Wasserkrüge aus der Zeit um 500 v. hr. waren großartig, in sich selbst ruhende Kunstwerke. Auf einem füllten weiße Frauen in schwarzen Gewändern
ähnliche Krüge an einem dorischen Brunnen haus. Wasser ergoß sich aus tönernen Tierköpfen; die Griechen brachten die Bewegun gen der natürlichen Welt gewohnheitsmäßig mit Tieren in Verbindung. Hinter jeder Natur gewalt war eine Persönlichkeit, ein Tier oder ein Mensch, oder auch ein Zwitterwesen. In dem breiten Rand des Kruges, dem geschwun genen Handgriff, dem bauchigen Körper war eine subtile Sinnlichkeit. Der Krug hatte mehr als zweitausend Jahre in der Erde überdauert. Sie ging zum Höhepunkt der Sammlung, einer minoischen Schlangen göttin. Eine kleine Elfenbeinfrau mit einem nachdenklichen und abwesenden Gesichts ausdruck, die in jeder Hand eine Schlange hielt. Sie hatte 3500 Jahre lang im Staub von Knossos gelegen, und mit ihrer Ausgrabung war ihr Untergang besiegelt. Wer konnte glauben, daß sie weitere 3500 Jahre in Boston überleben würde? Hier war sie allen Zufällig keiten ausgesetzt. Ein einstürzendes Dach, ein Brand, Krieg. Claire und andere wie sie zer störten die Zeugen der Vergangenheit in dem Maße, wie sie sie der Vergessenheit entrissen, indem sie sie aus der sicheren Erde gruben und in den rauhen, gefahrvollen Lärm des Le bens zurückbrachten.
Sie runzelte die Stirn. Solche skeptischen Gedanken über ihren Beruf waren ihr neu. Si cherlich waren Fachkollegen wie Kontos und Hampton geeignet, Zynismus wachzurufen, aber sie waren glücklicherweise wenige. Oder nahmen sie sich nur in den Augen einer ehr geizigen Frau, die sich im entscheidenden Sta dium ihrer akademischen Laufbahn befand und nach einer Professur strebte, so unange nehm aus? Vielleicht welkte in diesem Dampfkochtopf jeder ein wenig dahin. Im Hinausgehen kam sie an dem berühmten Torso des Königs Haker vorbei – die Hände an den Seiten geballt, muskulös, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, voll Willenskraft und Macht. Und kopflos, dachte sie ironisch; in vielen ihrer Phantasien kam ein gesichtsloser Mann mit einem ähnlichen Körper vor. Nun bemerkte sie jedoch häufig noch während des Traumes, daß es John war. Er hatte eine ruhi ge, verschlossene Kraft in sich. Die geballten, nicht mitteilsamen Hände waren das Gegenteil seiner ruhigen, breiten, sicheren. Sie gab sich einen Ruck und ging. Die anderen Vitrinen streifte sie nur mit einem Blick. Der Direktor war genau das Gegenstück zu John – einnehmend, lebhaft, bleistiftdünner Schnurrbart, so substantiell wie ein Schmet
terling, voll von wirklich! wunderbar! aber natürlich! Seine Augen hatten hinter den gro ßen Brillengläsern geglänzt, und Claire hatte ihm angesehen, wie sein beweglicher Geist die aufregende Möglichkeit einer Erstpräsentation erwogen hatte, mit prachtvoller Pressebe richterstattung, anschließender Kontroverse und vielleicht einer Fernsehübertragung als Zuckerguß. Sie hatte auf diese Vermutung rea giert, indem sie sich noch seriöser gegeben und die »Notwendigkeit« hervorgehoben hatte, die »Streitfrage an die Öffentlichkeit zu brin gen« und, selbstverständlich, das Artefakt selbst auszustellen, das ein bedeutendes Kunstwerk sei. Es war einfach gewesen. Sie war ein wenig bestürzt über die Entdeckung, daß selbst hier, in einer ihrer Lieblingsinstitu tionen, Bedeutung und Publizität heillos mit einander verzahnt waren. Langsam fuhr sie den Fenway Drive die Küste der Back Bay entlang. Johns Voraussage hin sichtlich der Reaktion des Museumsdirektors war beunruhigend genau gewesen. Der Direk tor hatte für Sonntagabend einen öffentlichen Vortrag angesetzt. Bis dahin war nicht viel Zeit für Werbung, aber die Größe des Publikums war auch ohne Bedeutung; wichtig war, daß ein Berichterstatter des Globe anwesend sein
würde, und vielleicht jemand von der lokalen Fernsehstation. Jetzt war Freitagnachmittag, und sie mußte Diapositive vorbereiten und ih re Argumente formulieren. Wie die meisten Leute, fürchtete sie Auftritte an der Öffent lichkeit. Sie überlegte, ob die Jahre der Lehr tätigkeit auch ihr jene Unerschütterlichkeit verleihen würden, die andere Professoren wie ein Dienstabzeichen trugen. Dann fiel ihr mit einem jähen schmerzlichen Zusammenziehen des Magens ein, daß sie wahrscheinlich über haupt keine Vorlesungen halten würde; dies war das Ende. Sie mochte hoffen, irgendwann einmal anderswo eine Professur zu erhalten, aber Boston bliebe ihr mit größter Wahr scheinlichkeit verschlossen. Hampton hatte genug Gewicht, das zu verhindern. Boston verlassen… Vielleicht hatte John recht mit seinen Claires Eins und Zwei, und daß sie hier eingeengt sei. Doch sie liebte ihre Hei matstadt. Trotz der Kälte kurbelte sie das Fenster herunter und steckte den Ellbogen hinaus. Zwei Jungen rutschten in der hellen, klaren Luft auf plattgedrückten Wellpappkar tons das tote Gras am Rande der Marsch hin unter. Boston. Voll von scheinbaren Widersprüchen – je reicher man war, desto fadenscheiniger
die Kleider; man ging immer über den Hügel zur Arbeit in die Stadt und ließ Taxis unbeach tet; die Teilnahme an Sinfoniekonzerten war ein geheiligter Brauch wie der Kirchgang, und in der Kirche kam man sich vor wie in der ge setzgebenden Versammlung des Staates; die Kriegsauszeichnungen und Klubmitglied schaften eines Mannes zählten weit mehr als ein Bankkonto oder seine akademischen Würden. Nichts brauchte ausdrücklich festge stellt zu werden; alles war bekannt. Sie fragte sich, wie es außerhalb Bostons sein würde. Johns Heimweh nach dem Süden ließ darauf schließen, daß die Leute dort ähnlich waren, der Vergangenheit verhaftet. Vielleicht würde es nicht so schlimm sein, anderswo zu leben. Auf einmal merkte sie, daß der Gedanke sich ungebeten in ihre Überlegungen gestohlen hatte: John als Die Zukunft. Erschrocken trat sie auf die Bremse. Hinter ihr dröhnte eine Hupe. Bremsen kreischten. Jemand brauste fluchend vorbei. Sie war sogar erfreut und erleichtert gewe sen, als ihre Mutter am Tag nach dem gemein samen Abendessen angerufen und vorsichtig hatte durchblicken lassen, daß sie an John nichts auszusetzen hatte. Fünf Jahre früher hätte Claire das als einen Schlag gegen ihn be
trachtet. Sie schüttelte den Kopf. Nein, daran sollte sie nicht denken. Nicht jetzt. Der Betonboden schien die Wärme nach un ten abzuleiten und Kälte auszustrahlen, die sie an den Beinen fühlte, als sie mit klappernden Absätzen durch die Halle kam, deren kahle graue Wände das Echo ihrer Schritte zurück warfen. John saß auf einem Hocker und starrte den Block an. Abe beschäftigte sich mißmutig mit seinen elektronischen Geräten. »Wer ist ge storben?« fragte sie. »Meine Hypothese«, antwortete John. »Daß es sich um eine Singularität handelt?« »Nein, nicht das. Aber ich dachte, die Situa tion sei statisch, und das ist sie nicht.« Sie beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, die Füße züchtig beisammen, und spähte zum Kabel der Lichtsonde, wo es in den Stöpsel eindrang. »Was ist passiert?« »Abe kann Klümpchen sehen, winzige Körner von Röntgenstrahlen aussendendem Material. Sie fallen entlang diesen Diagonalen in den Kern.« Sie richtete sich auf, alarmiert. »Der Würfel fällt in sich zusammen?«
»Nein, keine Sorge, wir sprechen über wenige Gramm von Materie. Oder Zehntelgramm. Es handelt sich um Materie, die von der Schwer kraft der Singularität angezogen wird und langsam nach innen drängt.« »Wie langsam?« fragte sie argwöhnisch. »Das ist der interessante Teil. Abe hat diese Körnchen jetzt seit zwei Tagen beobachtet, und sie haben sich ungefähr vier Millimeter be wegt.« »Was? Das ist nichts!« »So kann man sagen«, meinte er. »Kennst du etwas, was in Zeitlupe niedersinkt?« »Federn.« »Ja. Was noch?« »Ahhh…« Seine Augen blitzten. »Ich gebe dir einen Hinweis. Relativistische Effekte.« »Was?« »Genau. Dieses Ding ist eine Wühlkiste der theoretischen Physik. Wir sehen Materie, durch Reibung aufgeheizt, in die Singularität stürzen. Aber sie ist so tief im potentiellen Schacht, daß sie uns verlangsamt erscheint.« Sie sagte vorsichtig: »Du meinst, wie in dem Gedankenexperiment, wo ein Zwilling mit ei ner Rakete davonfliegt, und wenn er zurück kehrt, ist er jünger als der andere Zwilling, der
daheimgeblieben ist? Weil er sich so schnell durch den Raum bewegt hat?« »Das ist spezielle Relativität, und dies ist all gemeine Relativität, Krümmung der Raumzeit – aber ja, im Grunde besteht eine Analogie.« Abe kam gemächlich herüber. »Wie lange dauert es, bis die Materie den zentralen Punkt erreicht?« Johns beiläufige Selbstsicherheit schwand. »Monate, würde ich sagen, wenn die betref fenden Partikel von der inneren Oberfläche des Würfels fallen.« »Das könnten wir testen. Lassen wir etwas hineinfallen.« »Sicher, das können wir machen. Warum nicht?« »Haben wir das nicht schon getan?« sagte Claire. Die beiden schauten sie an. »Als John das Loch bohrte. Das Vakuum muß etwas von dem Bohrstaub angezogen haben.« Abe schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Wann war das, genau?« »Ungefähr vier Uhr nachmittags«, sagte John und machte eine Kopfbewegung. »Ich habe es in unser Arbeitsjournal eingetragen.« »Gut. Es erklärt jedoch nicht diese Zunahme der Gammastrahlung.« Claire war nicht auf dem laufenden. »Welche
Zunahme?« Abe steckte die Hände in die Taschen seines Laborkittels. »Die Energie der Gammastrah lung ist seit Tagen im Wachsen begriffen. Zu erst glaubte ich an einen Irrtum, daß es viel leicht bloß eine Fluktuation sei. Aber nein, es ist tatsächlich so. Wir bauen einen Strahlen schutz auf.« »Das sind die Gammastrahlen, die durch die Stöpsel herauskommen, nicht?« fragte John. Als Abe nickte, sagte er: »Könnte es an dem Gestein liegen, das wir mit der Bohrung her ausgeholt haben?« Abe schüttelte den Kopf. »Nein, die Zunahme ist gleichmäßig, nicht sprunghaft. Meine Idee war, daß sie vielleicht vom Staub herrührt, der in die Singularität gezogen wird, wie wir sag ten. Dabei erwärmt er sich, gibt Strahlung ab, wir sehen sie.« »Aber die Einfallszeit ist lang, mindestens Wochen…« »Vielleicht stimmt Ihre Berechnung nicht.« »So falsch kann sie nicht sein«, erwiderte John gereizt. Claire spürte, daß die beiden schon früher aneinander geraten sein mußten. Wahrschein lich zehrten die Ungewißheiten ihrer Situation an ihren Nerven. Es war nicht einfach, mit ei
nem Rätsel zu leben und zu arbeiten, das im mer schwieriger wurde, je mehr man darüber erfuhr. So war es mit der Forschung bestellt. Aber niemals so schlimm, dachte sie, niemals so lang, ohne daß sich der Nebel ein wenig lichtete. Und sie hatte ihre eigenen Fragen. Warum hatten die Alten den Würfel gehauen? Wie kam die Singularität hinein? Hatten sie den Block einfach so entdeckt? Und warum hatten sie den Bernsteinzapfen angebracht? Hatte es ri tuelle Gründe? Oder war es eine Art Orakel, das sie in den Lichterscheinungen des Bern steins zu sehen glaubten? »Übrigens«, sagte sie, »ich habe die Analyse des Bohrstaubs mitgebracht.« Sie suchte das Papier aus ihrer großen ledernen Handtasche. »Das Labor fand darin verkohltes pflanzliches Material. Ansonsten ist es bloß Gestein, das erhitzt worden ist, so daß die Schichtung der Sedimentation verlorengegangen ist. Der ein zige interessante Punkt ist, daß das pflanzliche Material neueren Ursprungs ist.« »Man hat es mit der Radiokarbonmethode datiert?« fragte Abe. Claire nickte. »Was heißt ›neueren Ursprungs‹?« fragte John und stand vom Hocker auf.
»Für Archäologen, innerhalb des letzten Jahrhunderts. Könnte gestern gewesen sein, soweit die Chemiker es beurteilen können.« »Also hat jemand mit dem Würfel hantiert«, sagte Abe verdrießlich. »Das kompliziert die Sache…« »Warum jemand?« Claires Miene hellte sich plötzlich auf. »Könnte es nicht diese – diese Singularität getan haben?« »Ich sehe keinen Grund für die Annahme…«, fing Abe an. »Ja! Das wäre möglich!« unterbrach ihn John. »Vielleicht geschah es, als wir den Wür fel… äh… fallen ließen. Das könnte die Singu larität ein wenig verlagert haben, nicht wahr?« »Daß sie heiße Materie ausstieß?« fragte Claire. »Ja, und etwas vom umgebenden Gestein ab sorbierte«, fuhr John fort. »Dieses Gestein fiel dem Zentrum entgegen und brauchte so lange, um an den Kern heranzukommen, wegen der Zeitdilatation.« »Verformte Raumzeit«, sagte Claire. »Oder verformte Phantasie.« »Nein, es paßt«, beharrte John. »Etwas schoß hinaus – glatt zur Rückwand des Würfels hin aus!« Abe furchte die Stirn. »Und soll dabei das Ge
stein geschmolzen haben?« »Genau. Vielleicht verbrannte es Pollen oder Moos oder sonst etwas in der Höhle. Ver mischte es alles miteinander. Dann kühlte das Gestein ab. Wir sehen den Rückstand als die sen Stöpsel.« »Der in seiner Zusammensetzung aus diesem Grund vom umgebenden Kalkstein abweicht?« spekulierte Claire. »Sie stellen detaillierte Fragen nach etwas, wovon Sie nichts verstehen«, brummte Abe. »Mehr können wir nicht tun«, versetzte Claire scharf. »Wenn Sie mich fragen, Sie gehen in rein spekulativer Art Einzelheiten nach, während das eigentliche Geheimnis außerhalb unserer Möglichkeiten bleibt«, fuhr Abe hartnäckig fort. »Ich habe noch einmal mit Zaninetti ge sprochen; er ist der Meinung, wir sollten eine interdisziplinäre Forschungsgruppe bilden und mit dieser Hilfe…« Von der anderen Seite der Halle drang eine laute und sofort kenntliche Stimme herüber: »Dort!« Claire wandte sich um und sah Oberst Ale xandros Kontos durch den Raum geschritten kommen, das Gesicht zornig gerötet. Ihr stockte vor Verblüffung der Atem, und gleich
zeitig zog sich ihre Kehle zusammen. Kontos war in Begleitung dreier Männer und einer Frau. Alle fünf trugen griechische Mili täruniformen. Claire sah mit einem Blick, daß sie alle im Unteroffiziersrang standen, ausge nommen natürlich Kontos, der, seit sie ihn zu letzt gesehen hatte, eine zusätzliche Goldlitze an der Offiziersschirmmütze hatte. Die vier hielten sich einen Schritt hinter ihm, und alle marschierten schnurstracks auf das Artefakt zu. Am Rande ihres Blickfelds sah sie John nach rechts treten, als wollte er den Würfel beschützen. Abe stand in verständnislosem Staunen. »Siehe da, die kleinen Diebe«, sagte Kontos, als er herankam. »Sehr geschäftig bei der Ar beit, wie?« John hob die Hand. »Nicht mehr.« Kontos machte halt. »Sie haben einen grie chischen Nationalschatz. Ich verlange ihn zu rück.« Die vier hinter ihm machten gleichfalls halt und sahen sich um, als wollten sie die Situati on einschätzen. Claire bemerkte erleichtert, daß sie unbewaffnet waren. »Abe, rufen Sie 4999«, sagte John. Abe sagte: »Was? Sind die…? Ist dies…?« »Ja. Machen Sie schon!«
Abe eilte in das kleine Büro. Niemand hielt ihn zurück. Claire vermutete, daß 4999 die Nummer der Campuspolizei sein müsse. Kontos trat vor. »Gehen Sie aus dem Weg!« »Nein.« »Sie könnten verletzt werden.« »Ich bin entsetzt.« »Sie wünschen wieder Prügel zu beziehen?« fragte Kontos in eisiger Beiläufigkeit. »Nur eine Revanche.« »In einem Laboratorium«, sagte Kontos ver ächtlich. »Keine Sorge, genug Platz, wo Sie hinfallen können.« Kontos biß die Kiefer zusammen. Claire spürte eine knisternde Spannung zwischen den beiden. John schien Kontos absichtlich herauszufordern. Sie begriff, daß er damit Zeit gewinnen wollte, aber das wußten die Ein dringlinge sicherlich auch, und einstweilen provozierte er sie. Vielleicht verlangte sein Stolz, daß er sich so benahm. Claire stand wie gelähmt. Schließlich trat sie einen halben Schritt vor, blieb aber wieder stehen. »Ich sehe, Sie haben Hilfe mitgebracht«, sagte John und hakte die Daumen hinter den Gürtel. Er gab sich betont zwanglos. Es schien Claire eine seltsame Strategie, herausfordernd zu
reden und dabei alle Zeichen von Entspannung zu zeigen. Die Frau bei Kontos deutete mit einem Kopf nicken auf John und sagte auf griechisch: »Er ist ein Wichser.« Sie war sehnig und hielt sich beinahe wie ein Mann, geistesgegenwärtig und wachsam. Ihr schwarzes Haar war zurückge kämmt und zu einem einzigen dicken Zopf ge flochten. Kontos zeigte mit dem Daumen zu ihr, ohne John aus den Augen zu lassen. »Unteroffizier Petrakos gefällt Ihre Haltung noch weniger als mir. Und sie ist eine energische Frau.« »Was tut sie für das Ministerium für Natio nale Kunstschätze und Altertümer? Wände eintreten?« »Sie hat weniger Geduld als ich.« Claire sah, daß Kontos anfing, Gefallen an der Konfronta tion zu finden. »Kontos, wir behalten das Ding wenigstens noch ein paar Tage. Hampton hat sich damit einverstanden erklärt.« »Das werden wir sehen. Vergessen Sie nicht, daß eine Regierung ein großes Ding ist, und daß Sie ein kleines Ding sind.« »Das Orakel von Delphi ist nichts gegen Sie.« »Und Sie sind ein dummer Junge«, sagte Kontos zornig.
»Ihre Wächter hier…«, fing Abe an. »Sie sind Assistenten, diplomatisches Perso nal. Wir sind gekommen…« »Diplomaten in Uniform?« sagte John sar kastisch. »Viele staatliche Funktionen werden jetzt von Angehörigen des Militärs ausgefüllt. Aber ich bin nicht gekommen, einem Dieb Erklärungen abzugeben.« Er trat wieder vor, den Block zu betrachten. John vertrat ihm den Weg. Sie waren noch eineinhalb Meter auseinander. »Warum haben Sie den Fund nicht Hampton gemeldet?« »Welchen Fund? Er war fort.« »Das wußten Sie nicht. Sie versteckten ihn.« »Sie lügen.« »Wünschen Sie, daß ich es Ihrem Ministeri um erkläre?« »Das ist Zeitverschwendung.« Er stieß mit dem Zeigefinger in die Richtung des Blocks. »Ich möchte das Fundstück ansehen.« »Sie wollen es mitnehmen.« »Nein. Meine Aufgabe ist, festzustellen, ob es intakt ist. Ob Sie den Block beschädigt haben.« »Wir haben ihn nicht beschädigt.« »Wenn Sie haben, wird es noch ernstere Konsequenzen nach sich ziehen.« »Woran haben Sie gedacht?«
»Wir werden Sie ins Gefängnis werfen.« »Dazu würden Sie unsere Auslieferung be wirken müssen.« »Das werden wir!« »Die Vereinigten Staaten liefern keinen Staatsbürger an eine ausländische Regierung aus, schon gar nicht an Ihr Zinnsoldatenre gime.« Claire hielt den Atem an. Sie fühlte, daß John zu weit gegangen war. Kontos trat auf ihn zu und versetzte John ei nen Faustschlag auf die Brust. Er sah nicht besonders kraftvoll aus, aber John wankte rückwärts, dann drehte er sich seitwärts und nahm Kontos’ zweiten Schlag grunzend von der Seite. Kontos ließ nicht locker, war beweg lich und schnell auf den Beinen, und John hatte Glück, daß er den nächsten Schlag mit dem Unterarm parieren konnte. Kontos trieb ihn zurück. Die übrigen Griechen standen in wachsamer Bereitschaft. Als Claire dazwischentreten und die Kämpfenden trennen wollte, vertrat ihr Unteroffizier Petrakos den Weg mit einer gut turalen Warnung. Kontos traf Johns Backenknochen mit einer Geraden, John zuckte zurück und versuchte in Abwehrposition zu gehen, aber Kontos drängte
ihn weiter zurück. John gelang eine Finte mit der Linken, worauf er eine rechte Gerade in Kontos Mitte schlug, bemüht, aus der Drehung heraus sein ganzes Gewicht hinter den Schlag zu legen. Kontos blieb stehen. Seine Augen glitzerten. Der Schlag schien ihn überhaupt nicht beein druckt zu haben. John war offensichtlich in der Defensive. Kontos schlug wieder zu, daß John zurück taumelte, folgte mit zwei Haken in die Rippen. John keuchte. Schnaufend holte er zu einem Schwinger aus, der Kontos’ Schulter kaum streifte. »He! Aufhören!« Die Campuspolizei. Sie kamen, ein Dutzend stark, in die Halle geschwärmt, trennten die Kämpfenden und drängten die Griechen von Claire und John ab. Claire hatte die anderen Griechen während des Kampfes kaum beachtet, und es schien, daß sie einfach abgewartet und zugesehen hatten, überzeugt, daß Kontos die Oberhand behalten würde. Nun versuchte die Campuspo lizei festzustellen, was geschehen war. Kontos erklärte lautstark, er sei provoziert worden, und pochte auf diplomatische Immunität. Abe beschuldigte ihn, den Streit angefangen zu ha
ben. John stand schnaufend und rieb sich die Rippen. Claire sagte: »Dr. Kontos, wir werden das Ar tefakt zurückgeben und alle Untersuchungs ergebnisse teilen.« Er durchbohrte sie mit einem Blick seiner glitzernden Augen. »Dafür ist es zu spät. Wir werden das haben, ja – und mehr! Von Ihnen!« Seine kalte Wildheit machte ihr Angst. »Aber Sie brauchen nicht…« »Wir verlangen Gerechtigkeit und werden sie uns verschaffen!« Ihr Anblick schien den Zorn erneut anzuheizen; sein Gesicht rötete sich, die Nasenflügel waren gebläht. »Und kein Amerikaner wird je wieder an einer Ausgra bung in Griechenland teilnehmen.« »Das ist zuviel…« »Nie mehr«, sagte er rauh. »Sehen Sie…« Kontos ließ sie stehen, wandte sich zum Lei ter der Campuspolizei und sagte: »Ich erhebe eine diplomatische Beschwerde. Gegen diesen Mann – diesen unreifen Menschen – und Ihre Universität.« »Welcher Unsinn«, sagte John verdrießlich. Kontos blickte ihn an, und sein Mund verzog sich zu einem wissenden, überlegenen Lä cheln. »Wir sind noch nicht fertig, Sie und
ich.«
5 Johns Brustkorb schmerzte. Der Arzt sagte, die Rippen seien nicht gebrochen, nur geprellt. Dennoch fühlte er sich lausig – geschlagen, frustriert. Der nächste Tag war Samstag, und bevor er in der verabredeten Arbeitssitzung mit Abe und Zaninetti zusammentraf, unter nahm er einen Spaziergang. Die frische Kälte trug dazu bei, daß seine kleinlaute Verärge rung sich allmählich auflöste. Kontos war schnell. Er kämpfte gut. Und er schien sie immer zu überraschen. Er wußte, wie er ihnen eine Menge Verdruß bereiten konnte. John hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er dem Mann Einhalt gebieten könnte. Und wie er es früher schon so viele Male ge tan hatte, wenn er sich Probleme der wirkli chen Welt gegenübersah, vergrub er sich in theoretischer Physik. John sah sofort, daß Zaninetti einen unglaub lich raschen, zupackenden Verstand hatte. Er
hatte die Bedeutung der beiden wichtigsten Tatsachen – des vergleichsweise geringen Ge wichts des Würfels und seines komplizierten Schwerefelds – augenblicklich begriffen. Al lerdings hatte er sich auf die Aspekte der Partikelphysik konzentriert, statt von der klas sischen Relativität auszugehen, wie John es getan hatte. »Warum das?« verlangte Zaninetti zu wissen. Sein Unterrichtsstil war kampflustig, verlangte stets, daß die Studenten oder Diskussionsteil nehmer sich erklärten, brachte sie immer wieder mit Leichtigkeit aus dem Gleichge wicht, wenn sie versuchten, seinen finsterblickenden Skeptizismus zu beschwich tigen. »Der Hinweis ist die Vierpoligkeit, ja? Fangen wir von da an, halten wir nach Partikelsymmetrien Ausschau. Dann gilt es nur noch, die richtige Gruppentheorie zu wäh len, und wir haben es!« Er schloß mit einer opernhaften Gebärde des Triumphs.
John zog sich auf eine distanzierte und bei läufige Diskussionsstrategie zurück. Andern falls hätte er den Mann überschreien müssen, und das wäre nicht einfach. »Wir können die Symmetrien unmittelbar aus den klassischen
Gleichungen der Schwerkraft gewinnen.« »Dann haben Sie das Partikelspektrum be rechnet?« fragte Zaninetti halb spöttisch, halb ungläubig. »Nun, ich kann die Massen nicht ermitteln, nein, aber…« »Dann ist es nichts! Die Masse: wir müssen eine Masse bekommen, die klein ist.« »Gewiß, kleiner als ein Berg. Aber ich denke, meine Lösung…« »Auf die Weise finden Sie nicht einmal eine Krähe in einer Schüssel voll Milch!« »Ich habe das vierpolige Feld ausgerechnet«, sagte John kühn. Augenblicklich ließ Zaninetti die Über spanntheit fallen. »Welche Symmetrie? Es ist nicht einfach, aus solch geringer Schwere komplizierte Felder zu erklären.« Sie begannen die Wandtafel in Johns Büro mit Gleichungen zu füllen. Zaninetti erkannte rasch die Nützlichkeit des Gebrauchs solitonischer Lösungen. Innerhalb einer Stunde hatten sie einander überzeugt, daß die Annäherungsweise des jeweils anderen nicht falsch, sondern nur verschieden war. John hatte mit dem Gedanken an winzige Schwarze Löcher angefangen, während Zaninetti von Partikeln in einer ebenen, ungekrümmten
Raumzeit ausgegangen und mit Hilfe des wei ten Bereichs mathematischer Techniken, die er beherrschte, zu größeren Massen überge gangen war. In einem Sinne war die Verschmelzung dieser Gesichtspunkte unvermeidlich. Zaninettis quantenmechanischer Ansatz beruhte darauf, daß er Partikel als wellenartig betrachtete. Die charakteristische Wellenlänge eines Partikels stand in Beziehung zu seiner Triebkraft, und sehr hochenergetische Partikel hatten sehr kurze Wellenlängen. John wiederum hatte mit dem notwendigen Radius eines Schwarzen Loches begonnen, dem Schwarzschildradius. Für ein Schwarzes Loch von der Masse eines Berges war der Schwarzschildradius unsichtbar klein. Nie mand würde jemals ein solch kleines Objekt direkt sehen; man konnte nur Materie be obachten, die hineinfiel und sich erhitzte, und die entstehende Strahlung messen. Wenn die Wellenlänge eines Partikels kürzer wurde als der Schwarzschildradius, ver schmolzen die Disziplinen von Gravitation und Teilchenphysik. Die minimale Masse, wo dies geschah, hatte kaum das Tausendstel eines Sandkornes. Gleichwohl war dies nach den Begriffen der fundamentalen Teilchenphysik
unglaublich riesig, ein Millionenfaches vom Gewicht eines Uran-Atomkerns. Der entscheidende Punkt war, daß Annähe rungsweisen, die zu Zwecken der Gravitation entwickelt worden waren, mit jenen ver schmolzen, die zur Beschreibung winziger Teilchen dienten. John bezeichnete seine Lö sungen als »Verzerrungen« mit einer zusätzli chen Kraft aus der »Mode« genannten Quan tenzahl. Zaninetti arbeitete mit dem Teilchenjargon und anderen mathematischen Methoden. Sie bedienten sich verschiedener Sprachen, gelangten aber zum selben Schluß. »Es ist immer noch komisch«, sagte Zaninetti nachdenklich. »Kubische Verzerrung der Raumzeit. Uh!« Er grunzte ästhetische Mißbil ligung. »Jede Materie, die hineinfällt, muß entlang den Rändern dieser kubischen Faltung wan dern.« Zaninetti verfiel in finsteres Grübeln. »Und Sprangle sieht das? Die kubische Struktur er scheint Sprangle wie ein Quadrat, weil er sie entlang einer Symmetrieachse sieht?« »Richtig. Wenn die Verzerrungen Strömun gen tragen, würde es auch das mehrpolige Magnetfeld erklären, das ich festgestellt habe.« »Mmmh.« Zaninetti schien nicht überzeugt.
»Was stört Sie daran?« John legte die Kreide aus der Hand und erwartete den Ansturm. Zaninettis Art war, leise zu sprechen, dann ei nen explosiven Einwand hervorzubringen und mit schnellen Kreidestrichen durch die sauber geschriebenen Gleichungen seines Gegners zu fahren, bis sie vollständig unlesbar waren. »Diese Stelle gefällt mir nicht«, sagte Zaninetti ohne Umschweife und zeigte auf eine Gleichung, welche die Kräfte zwischen Johns »Verzerrungen« darstellte. »Warum nicht? Es besteht eine Anziehung zwischen ihnen.« »Es ist wie mit den Quarks, sehen Sie? Im Laboratorium sind Quarks immer von dieser Kraft zusammengebunden.« »Gewiß, aber diese Kraft hier ist nicht so stark.« »Si, das ist eine Hilfe. Aber was hält diese Verzerrungen, diese Singularitäten getrennt?« »Ich weiß es nicht.« »Ich denke, wir haben hier nur einen Teil der Lösung.« »Das Ding in dem Würfel paßt zu diesem Modell einer Verzerrung«, sagte John gedul dig, überzeugt, daß er darin recht hatte. »Sie sind schlau, wie?« Zaninettis Blick wan derte von den verschlungenen Gleichungen zu
John. »Aber Sie mißachten die Tatsache, daß diese Verzerrungen einander anziehen sollten, was diese hübschen kubischen Formeln, die Sie gefunden haben, ungültig macht.« »Sagen wir, ich habe sie einstweilen zurück gestellt.« »Meine Mathematik zeigt, daß sie mitge nommen werden müssen.« »Nun gut. Aber ich denke, das ist bloß eine Alternative.« »Etwas ist an Ihrer seltsamen Verzerrung anders. Das Ding in dem Würfel sollte nicht so sein, wie es ist. Es sollte, mit einer anderen Verzerrung gepaart, etwas anderes ergeben, etwas, das stabiler ist als dies.« »Vielleicht eine andere Kraft, die interve niert? Die Verzerrungen auseinanderhält.« Zu Johns Überraschung ging Zaninetti darauf nicht zum Angriff über. Statt dessen skizzierte er mit gelber Kreide eilig ein paar unverständ liche Symbole. »Vielleicht, vielleicht. Nur ein Idiot ißt jede Beere, die an den Sträuchern wächst. Man muß sorgfältig von der Mathema tik ausgehen. Viele Lösungen sehen gut aus… aber die Natur will sie nicht.« Er hielt inne, starrte nachdenklich auf seine Zeichnung. »Sie sollten einander anziehen, sollten einander heiraten. Quarks existieren nicht isoliert. Uns
fehlt hier etwas. Was? Ein Rätsel.« Zaninetti folgte noch immer den Lebensge wohnheiten seiner Heimat, und so ging er um halb zwei zu einem großen Mittagessen mit Pasta, Hauptgericht und Wein, mit einem an schließenden Verdauungsschläfchen. John arbeitete unterdessen weiter, knabberte tu gendhaft an Nüssen und spanischen Orangen, die Claire zu absurd hohen Preisen in einem von den Bostoner Eingeweihten frequentierten Feinkostladen in der Newbury Street zu kaufen pflegte. Der Punkt, der ihm Kopfzerbrechen bereitete, war auch Zaninetti aufgefallen. Angenommen, diese neue Anziehungskraft, die, wie die Glei chungen besagten, in einem wirklichen mik roskopischen Maßstab wirkte, verhüllte wirk lich die Massen der kleinen Schwarzen Löcher. Das System erreichte einen Gleichgewichtszu stand, indem es eine gewaltige potentielle An ziehungskraft voraussetzte und davon eine nahezu gleich hohe abstoßende Kraft abzog. Wie, wenn sie außer Kontrolle gerieten? Wie zerbrechlich war die Balance? Ein kleines Un gleichgewicht, und das Partikel könnte seine stabile kubische Raumzeitformation verlieren. Wenn nur ein kleiner Teil seiner Bergesmasse vernichtet würde, müßte es zu einer unglaub
lichen Explosion kommen. Weit schlimmer als die einer Wasserstoffbombe. Im Augenblick war die Singularität im Mit telpunkt des Steinwürfels, anscheinend zu frieden, in dem Vakuum der Aushöhlung zu schweben. Dort hielt sie sich, gehalten von ir gendwelchen Restkräften, deren Ursprung vielleicht magnetisch war. Sie mußte seit Jahrtausenden dort verweilt haben, ohne aus zubrechen. Dann hatte der Sturz durch den unterirdischen Höhlengang die Dinge aus dem Lot gebracht. John vermutete, daß das Stabilitätsproblem gegenwärtig der wichtigste Aspekt war. Er machte sich Sorgen wegen Abes stetig anstei genden Ablesungen von Gammastrahlung. Bedeutete es einen Anstieg der Aktivität, bis diese vielleicht ausreichte, das Gleichgewicht der Kräfte im Innern zu zerstören? Oder wur de das Gestein des Blocks aufgezehrt? Ihm kam der Gedanke, daß die Gammastrahlen die Lichtsonde zerstören könnten. Das wiederum könnte zum Aufbrechen der Versiegelung füh ren. Am Spätnachmittag war er der Berechungen müde und beschloß trotz der Kälte einen Dau erlauf den Storrow Drive entlang zu machen. Er rief Abe an, verriet ihm seine Besorgnisse
wegen der Lichtsonde, und versprach, am nächsten Vormittag, Sonntag, ins Labor zu kommen. Ohne irgendein Gefühl von Erwar tung zog er sich um. Körperertüchtigung in der eisigen Umklammerung des Winters war eine Willensanstrengung, eine Stärkung des mora lischen Charakters. Die Muskeln spannten und streckten sich unwillig, und der Schweiß ver dunstete, hinterließ einen prickelnden salzigen Überzug. Er lief unter dem starren Blick der Panoramafenster der Beacon Street den Fluß entlang. Der Himmel war kobaltblau, und sein Atem machte große Wolken, als er die schwarzgeteerten Pfade der Esplanade entlangtrabte, die Augen glasig, im Kopf ziellos durcheinandertreibende mathematische For meln. So gern er mit Zaninetti arbeitete, er war auf der Hut. Ein bedeutender und bekannter Wis senschaftler wie er konnte sich eines Gegen standes bemächtigen, indem er bessere ma thematische Techniken einsetzte oder einfach indem er ihn sich zu eigen machte, darüber redete und veröffentlichte und weiteren Ver zweigungen nachging. Ein solcher Mann konnte sich einladen lassen, in einer wichtigen Konferenz darüber zu sprechen und die eigene Annäherungsweise hervorheben. Er konnte
das erste Buch über das Thema herausgeben; Bücher werden immer unter dem Namen des Herausgebers eingeordnet, so daß die eigent lichen Autoren der verschiedenen Beiträge in den Schatten gestellt wurden. Die frühen Tage der Theorie der Schwarzen Löcher hatten sol che Manöver gesehen. Lacer, der als erster elektrodynamische Methoden zur Energie messung Schwarzer Löcher vorgeschlagen hatte, hatte sich unversehens im Abseits wie dergefunden, als ein Mitbewerber das Thema aufgenommen, seine überlegenen Fähigkeiten in der Behandlung von Grenzwertproblemen genutzt, seine Verbindungen in der astrophy sikalischen Gemeinde eingesetzt hatte und einfach mehr gereist und mit Reden hervorge treten war. Obwohl John für Sergio Zaninetti manches übrig hatte, würde er achtgeben müssen, daß er sich und seine Arbeit neben dem prominenten Italiener behauptete. Zum Abendessen traf er mit Claire zusam men. Ihr auf den kommenden Tag angesetzter Vortrag warf seine Schatten voraus, und sie war nervös. Sie hatte den ganzen Tag in der Universitätsbibliothek von Harvard daran ge arbeitet, weil sie ihrer Universität mißtraute. Die Bibliothek war außerhalb der Examens zeiten, wenn die Studenten sie plötzlich wie
derentdeckten, ziemlich leer. Das Museum hatte Wert darauf gelegt, daß der Würfel selbst zur Schau gestellt werde, doch hatte Abe diese Möglichkeit ausgeschlos sen. Dies hatte lange Telefonate mit sich ge bracht und endlich zu einem Kompromiß ge führt: Claire würde ein paar Diapositive vom Würfel in seinem gegenwärtigen Zustand zei gen, obwohl er größtenteils von Abes diagnos tischen Geräten eingekreist war. »Ich werde am Morgen ein paar Aufnahmen machen«, sagte Claire, zurückgelehnt in einem Korbsessel ihres Wohnzimmers. »Das gibt dem Museum Zeit, die Dias zu entwickeln und zu rahmen. Du könntest mich begleiten, ja? Ich werde mit der Beleuchtung Hilfe brauchen.« »Klar.« »Danke. Gott, was für ein Tag!« Sie drückte ihre letzte Zigarette aus und blickte sehnsüch tig auf den Stummel. »Es gibt soviel, was in dem Vortrag untergebracht werden muß. Ich habe keine Ahnung, welche Bedeutung die ku bische Form hat. Und diese metallischen Reste am Grund der Meißelspuren – ich glaube, sie rühren von Farbresten her, die sich dort hiel ten, und die von der Gammastrahlung aus dem Innern des Würfels chemisch verändert wur den. Aber ich bin nicht sicher, und zu einer
chemischen Analyse sind wir noch nicht ge kommen. Sollte ich den Punkt in den Vortrag aufnehmen?« »Ich würde es ruhig tun. Du brauchst dich ja nicht auf eine bestimmte Erklärung festzule gen, weißt du.« Sie nickte und seufzte. »Außerdem erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter.« »Mmh?« machte John diplomatisch. »Sie las eine Zeitungsnotiz über den Vortrag. Sie will hinkommen.« »Gut. Du wirst sie überrumpeln, und die Stadt wird dir zu Füßen liegen.« Sie verzog das Gesicht. »Oder an die Kehle springen. Ich fürchte, Kontos wird erschei nen.« »Das ist möglich. Am Montag wird er sowieso diplomatische Schritte einleiten.« »Ich bin überzeugt, daß er die Rückkehr er wirken kann.« »Damit werden wir uns später auseinander setzen.« Es war nicht nötig, daß sie darüber brütete. »Was macht es aus, wenn Kontos zu deinem Vortrag kommt?« »Er kann im Zuschauerraum aufspringen und mich anklagen. Eine Szene machen. Das wäre erst etwas für die Zeitungen, und er weiß das.« »Dann mußt du diesen Museumsdirektor
veranlassen, daß er Kontos nicht einläßt. Oder ihn bewachen läßt.« »Warum nicht einen Killer auf ihn ansetzen? Ihm die Beine brechen?« Sie lächelte matt und blickte in die Flammen ihres Kaminfeuers. Es knisterte lebhaft. »Ich glaube, das macht mir mehr Sorgen als Kon tos, weißt du? Vor meiner Mutter eine schlechte Figur zu machen.« »Du wirst hinreißend sein.« »Wie würde es dir gefallen, wenn deine Mut ter zu einem Vortrag von dir käme?« »Sie würde nach zehn Minuten nicht mehr zuhören und einen Liebesroman aus der Handtasche ziehen.« Claire schmunzelte. »Ist das die Art, wie die Frauen im Süden mit Unannehmlichkeiten fertig werden? Flucht in die Phantasie?« »Sie haben auch ihre starken Seiten«, sagte John zurückhaltend. »Wie etwa?« In ihren Ton kam eine Spur von Schärfe. »Weniger Konflikte wegen – wie sagt man doch gleich? – des traditionellen Rollenbil des.« »Warum hast du nicht eine mit heraufge bracht, daß sie dich hier warmhält?« »Niedrige Langweiligkeitsschwelle.«
»Ich verstehe. Aber ich sehe dich gut auf Abendgesellschaften, wo du mit Frauen über ihre Kinder redest, was ja im aufgeweckten, auf Wettbewerb eingestellten Cambridge nicht die gängige Praxis ist.« »Ach, Unsinn!« »Du ziehst halsstarrige nördliche Frauen vor?« Er lächelte ironisch. »Feuer und Eis. Auffal lende Kombination.« Später, als sie in ihrem bitterkalten Schlaf zimmer zu Bett gingen, sagte Claire: »Mach das Licht aus!« Er tastete sich zwischen den zerbrechlichen Antiquitäten, die unter einem kräftigen, männlichen Zugriff zu zerfallen drohten, durch das Zimmer. Ihr Arbeitszimmer war spartanisch, aber das Schlafzimmer hatte ge kräuselte blaue Gardinen, geblümte Tapeten, üppige Kissen und sogar eine gelbe Plüschgi raffe. Er erreichte das Bett, die Haut prickelnd von der Kälte, und kniete momentan in der Dunkelheit, um sich zurechtzufinden. Sie sagte: »Hier ist ein Trick, den diese ach-Unsinn-Mädchen bestimmt nicht kennen«, und er fühlte sich von einem warmen Kreis umschlossen, der sich um seine Schultern schlang und in köstliche Wärme zog.
»Ach, Unsinn!« sagte er.
6 Die Sonntagsstille in den Straßen, die John nur während geschäftiger Wochentage kannte, war seltsam beunruhigend. Sie ließen den Wagen auf einem kleinen, mit Ketten einge grenzten Parkplatz und gingen drei Häuser weit die Vassar Street hinunter. Wolken ver hüllten die Sonne, und vom Charles River blies ein schneidender Wind herauf. Die Stille schien um sie zu schweben, ein unsichtbares Stoßpolster gegen das Summen der Stadt jen seits. Sie nahmen eine Abkürzung zwischen zwei anonymen Gebäuden, und John sperrte mit dem Schlüssel, den Abe ihm überlassen hatte, einen Seiteneingang des Gebäudes 42 auf. Sie gingen einen kurzen Korridor mit kleinen Büroräumen entlang und um eine Ecke zur Halle. John mußte die Seitentür auf sperren. Er drückte die Tür auf und trat vor Claire ein. Fünf Meter vor ihm stand Unteroffizier
Petrakos und blickte sie an. John blieb wie vom Donner gerührt stehen. Claire, die nichts sehen konnte, prallte auf ihn. Sein Blick ging an der Frau vorbei und nahm eine in Unbeweglichkeit erstarrte Szene wahr… Zwei Männer in Blue Jeans waren ge rade dabei, den Würfel mit Hilfe der Laufkatze in seine Kiste zu manövrieren. Kontos hielt das Kabel mit der Steuerung und starrte erschro cken herüber. Ein weiterer Mann arbeitete am anderen Ende der Halle, wo die Bahn der Laufkatze endete, am Schloß der großen verti kalen Hubtür. Alle trugen Blue Jeans und ein fache billige Hemden, und hatten die Jeans in ihre Militärstiefel gesteckt. Sie waren natürlich dieselben, die am Freitag dagewesen waren und sich ein Bild von den örtlichen Verhält nissen gemacht hatten. Kontos fluchte. Unteroffizier Petrakos preßte die Lippen zusammen und nahm wie eine Ge stalt aus einem Film Verteidigungshaltung an – die Füße rechtwinklig zueinander in einer Art T-Stellung, und die Arme zu einem weite ren T gewinkelt, den linken hoch und horizon tal, den rechten darunter und vertikal, mit of fenen Händen. John sah, daß diese Hände dick und schwielig waren. Keiner rührte sich. Der Würfel hing an seinen
Ketten, umgeben von der Polsterung, beinahe schon in der Kiste verschwunden. John faßte sich und sagte in die Stille: »Sie hätten es auch mit Diplomatie zurückgewinnen können.« Kontos sagte: »Von Ihrem System? Es würde uns berauben. Vorwände erfinden. Wie die Engländer mit den Parthenon-Skulpturen.« »Die Zeiten haben sich geändert.« »Sie selbst haben es gestohlen – Sie und die ses Weib!« »Gerettet trifft die Sache besser.« Unteroffizier Petrakos machte ein leise zi schendes Geräusch, als sie den Atem durch die zu einer dünnen, blutleeren Linie zusammen gepreßten Lippen stieß. Claire trat zur Seite, sprachlos. Kontos streif te sie mit einem Blick. »Ich dachte, Amerika ner gingen um diese Zeit zur Kirche. Oder schliefen ihren Rausch aus.« John öffnete den Mund, etwas zu erwidern, und Unteroffizier Petrakos trat zwei rasche, präzise Schritte vor und versetzte ihm einen geschickten Tritt in die Hoden. Er hatte noch nie mit einer Frau gekämpft, war seit seiner Schulzeit nicht einmal in etwas Ernstes verwickelt gewesen, und sie über raschte ihn vollständig. Eine Welle jäher Übelkeit schoß aufwärts durch seinen Leib,
und der nachfolgende Schmerz, so betäubend er war, stieß ihn in eine blitzartige Bewußtheit seiner Lage. Er hatte ein fast unwiderstehli ches Verlangen, sich zu krümmen und den Teil von ihm zu umklammern, der ihn jetzt mit taumelnder, elender Qual und bodenloser Schwäche erfüllte. Er war beim Rugbyspiel dreimal in dieser Weise getroffen worden. Das Schlimmste war die Gemeinsamkeit von ste chendem Schmerz und schwächerer Übelkeit, verbunden mit der schrecklichen Furcht, die wie ein Blitz über einen schwarzen Himmel zuckte und einen krümmte, wieder zum klei nen Jungen machte. Er beugte sich vornüber und wußte, daß Un teroffizier Petrakos ihm noch übler mitspielen würde, wenn er nichts unternahm. Er hatte es in ihren Augen gesehen, dem entschlossenen Mund – Erwartung, Bereitschaft für etwas, was ihr Spaß machen würde. Er spürte, daß sie ihn schlagen, wahrschein lich mit Handkantenschlägen bearbeiten wür de, wenn er sich aufrichtete. Sein linker Fuß war vorgestellt, um sein Zusammenbrechen abzufangen. Er zog den rechten Fuß nach und blieb gebeugt, den Kopf unten, bis er sein Gleichgewicht und etwas Vorwärtsbewegung hatte. Dann kam er mit einer schnellen Bewe
gung hoch, sah Petrakos nahe, zu nahe vor sich, wie sie mit zufriedenem Ausdruck auf ihn blickte. Seine linke Hand faßte ihre Schulter, stieß sie seitwärts, und ihr Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an. Ehe sie reagieren konnte, hatte er die Rechte nachgezogen und versetzte ihr einen betäu benden Kinnhaken, der allerdings sein Ziel ein wenig verfehlte, so daß er abglitt und sie nicht mit voller Wucht traf. Sie hatte die Rechte zu einem Handkantenschlag auf seine Halsseite gehoben, er erkannte die Gefahr im letzten Augenblick, verlagerte sein Gewicht etwas schwerfällig nach links und versuchte wie je mand auszusehen, der das Gleichgewicht ver loren hat. Dann kam sein rechter Haken hoch und über ihre Abwehr und landete massiv an ihrer Kinnlade. Sie fiel rücklings auf den Be tonboden und schlug mit dem Kopf auf. John richtete sich auf und fühlte, wie der Schmerz einer Flutwelle gleich über ihn kam. Vergeblich suchte er seine Gedanken davon loszulösen, um einen klaren Kopf zu bekom men. Unteroffizier Petrakos war betäubt, aber nicht bewußtlos; immerhin würde sie in der nahen Zukunft nicht herumspringen. Er frei lich auch nicht. Sie hatte die vernichtendste Eröffnung gebraucht, die es gegen einen Mann
gibt, aber dann hatte sie die Wirkung beo bachtet, statt gleich reinen Tisch zu machen. Bei vielen Männern hätte es gewirkt, aber nicht bei einem Abwehrspieler, der nur zu oft von zweihundertfünfzigpfündigen Gegnern gerempelt und zu Boden gestoßen worden war, selbst wenn er nur zweitklassig und nicht ein mal ein Anfeuerungsgeschrei von den Zu schauern des eigenen Colleges wert gewesen war. Es war ihm klar, daß es noch eine Menge zu tun gab, aber als es ihm gelang, sich wieder auf das Geschehen zu konzentrieren, kam Kontos mit einer automatischen Pistole in der Rechten durch die Halle. John lehnte sich gegen die Wand, die Arme auf der Brust, atmete tief und versuchte das Nachlassen des Schmerzes durch Willenskraft zu beschleunigen. Claire sagte etwas zu ihm und schrie Kontos an. Dann sprang sie auf ihn zu, ohne die Pistole zu beachten. Jähe Angst krampfte John das Herz zusammen. Sein Blick ruhte wie gebannt auf der Pistole. Kontos ließ die Mündung sin ken, holte mit der anderen Hand aus und gab Claire eine harte Ohrfeige mit der Rückhand. Sie quiekte zornig und überrascht und tau melte zurück. Kontos fluchte und schlug noch einmal zu. Statt zurückzuweichen, sprang sie
wieder auf ihn zu und schlug ihm auf die Nase. Ein Mann packte sie von hinten bei den Armen und riß sie zurück. Kontos wandte sich zur Seite, den Kopf vorgebeugt und eine Hand un ter der Nase, um die Blutstropfen aufzufangen. Aber mit der anderen brachte er die Pistole in Anschlag, und sein Gesicht war rot. Er fluchte auf griechisch. Sein Blick war kalt, die Lippen zusammengepreßt. Die Pistole ziel te auf Claires Herz. »Kontos! Wir geben auf!« rief John. Kontos hielt inne, schien sich zu besinnen. Er wischte sich die Nase, zog eine Grimasse und ließ die Waffe sinken. Claire zappelte und wand sich in den Händen des Mannes, der ihre Oberarme wie mit Schraubzwingen hielt. »Sie…« »Claire, laß es sein!« sagte John. Sie schnauften alle, starrten einander mit blassen Gesichtern an, waren sich dessen be wußt, was um ein Haar geschehen wäre. John holte tief Atem. Seine Knie zitterten. Nun, in Ordnung, dachte er. Das Spiel war aus, keine Verlängerung. Kleinere Verletzungen, ein wenig aufgerüttelt. Einfach atmen und ab warten. »Das ist albern«, sagte John mit Bitterkeit. Er
und Claire waren in dem kleinen Büroraum, wo der Datenanschluß stand, auf zwei Stühle gefesselt. Kontos hatte Unteroffizier Petrakos damit beauftragt, sie zu binden, und die Frau hatte die Knoten mit offensichtlichem Ver gnügen festgezogen. »Kontos, damit kommen Sie nicht durch!« rief Claire. Durch die Glaswand konnten sie den Würfel sehen, wie er, in seiner Kiste vernagelt, auf die Ladefläche eines blauen Ford-Kleinlasters herabgesenkt wurde. Es hatte die Griechen weniger als zehn Minuten gekostet, zu ent scheiden, wie sie mit Claire und John verfah ren sollten, die Kiste versandfertig zu machen, die Stahltür am Ende der Halle zu heben und ihr Fahrzeug rückwärts hereinzusteuern. Sie arbeiteten reibungslos und mit einem Mini mum an Worten zusammen. John mußte ihre Tüchtigkeit bewundern; die gesamte Operation würde, die Unterbrechung mit eingerechnet, weniger als eine Stunde erfordern. Kontos kam ins Büro, überprüfte Unteroffi zier ›Petrakos‹ Arbeit und nickte anerken nend. »Ich nehme an, daß man Sie bald entde cken wird«, sagte er. »Aber nicht zu bald. Bis dahin werden wir abgeflogen sein.« »Sie werden das Ding nie durch den Zoll
bringen«, sagte Claire. Kontos schnupfte. »Bloß Papierkram. Ich habe auch die Aufzeichnungen hier aus dem Laboratorium an mich genommen. Sie werden mich bei Prof. Sprangle dafür entschuldigen. Er trägt keine Schuld an diesen Dingen, aber er muß darunter leiden.« »Hören Sie«, sagte John, »all dieses Räu ber-und-Gendarm-Spielen ist gut und schön, aber es handelt sich nicht mehr um Archäolo gie, Kontos, es ist wichtiger. Dieses…« »Unser nationales Erbe zählt zum größten und bedeutendsten, was es auf der Welt gibt. Wir werden für seine Erhaltung kämpfen.« »Sie reden wie eine Presseveröffentlichung. Ich…« »Sie sind derjenige, der vor der Presse Er klärungen abgeben wird. Es wird unfreundli che Fragen geben.« Nun, da er gehandelt hatte, gab Kontos sich wieder würdevoll, obwohl ein wiederkehrendes kaum merkliches Lächeln verriet, daß er seine Freude an der Situation hatte. »Dieser Würfel ist auch aus physikalischen Gründen wichtig«, sagte John. »Sie sollten wissen, daß er gefährlich werden könnte.« »Nur für Leute, die ihn stehlen«, sagte Kontos mit seinem sparsamen Lächeln.
»Wie Sie?« »Wir holen zurück, was unser ist. Auf aus drücklichen Befehl unserer Regierung.« »Wenn wir mit den Messungen fertig sind…« »Das war eine offensichtliche Taktik, eine sehr durchsichtige. Sie würden warten und er klären und eine Million Gründe für weitere Verzögerungen finden.« »Donald Hampton muß Ihnen erklärt ha ben…«, fing Claire an. »Daß wir warten müssen, ja. Donald ist ein vertrauenswürdiger Mann. Aber für die ame rikanische Regierung gibt es zahlreiche Grün de, ein solch schönes und seltenes Stück zu behalten. Sie beleidigt uns dadurch, daß sie es uns vorenthält, und man kann sich denken, daß sie aus der Rückgabe noch etwas wird herausholen wollen, nicht wahr?« Seine Augen glitzerten. »Aber nicht jetzt.« »In diesem Würfel«, erklärte John, »ist et was, was wir nicht verstehen. Ich glaube, es könnte eine… eine neue Art von Partikel sein, potentiell instabil. Es sendet bereits eine Men ge Röntgen- und Gammastrahlen aus und hat sich den Weg durch das Gestein gefressen – warten Sie, die Lichtsonde. Haben Sie die herausgezogen?« »Den flexiblen Schlauch? Ja.«
Claire sagte: »Dann haben Sie es gehört. Das Vakuum.« »Einer meiner Leute hat den Schlauch ent fernt. Ich hörte nichts. Wo Sie eine Probe ent nahmen, ist offenbar ein Siegel.« »Das ist der selbstversiegelnde Verschluß, den Abe um die Lichtsonde gelegt hat«, sagte John. »Er wird das Loch ausfüllen. Aber es gibt eine gefährliche Strahlung…« Kontos blickte ungeduldig auf die Armband uhr und nickte Unteroffizier Petrakos zu. »Of fensichtlich hat sie Ihnen nicht geschadet. Wir werden dieses Ding in Athen untersuchen. Wenn es für die Physik von Interesse sein soll te, um so besser. Am Freitag bemerkte Hamp ton mir gegenüber, daß dieser Fund uns be rühmt machen könnte. Da ist er in Griechenland jedenfalls besser aufgehoben.« Er ging. Kontos schloß die Bürotür hinter sich, um ihre Rufe zu dämpfen. Und sie riefen ihm bei de nach, als er durch die Halle marschierte und umherblickte, ob er in Verbindung mit dem Würfel etwas übersehen haben könnte. Durch die Glaswand sahen sie den Lieferwagen hinausfahren und die Männer rasch das Stahltor herunterlassen, so daß es mit lautem Krachen am Boden aufschlug. Einen Augen
blick später hörten sie rasch schwächer wer dendes Motorengeräusch. Dann trat Stille ein. »Scheiße«, murmelte John. »Ich kann nicht glauben, daß er dazu imstan de…« »Nun, er hat es getan. Die Frage ist: Was tun wir?« »Erinnerst du dich an Freitag, wie er so un berechenbar war? Ihr zwei gerietet wieder an einander, aber die ganze Zeit sahen seine Leu te sich um und überlegten, wie sie zurückkommen und einbrechen könnten…« »Ich wiederhole: Was tun wir?« »Versuchen, diese Stühle zum Schreibtisch zu rücken? Das Telefon herunterstoßen? Mit der Zunge die Polizeinummer wählen?« Claire schnaubte. »Wir können nur hoffen, daß Abe frühzeitig kommen wird«, sagte John. Er versuchte die Hände zu bewegen, aber Unteroffizier Petrakos hatte sie ebenso fachmännisch wie rachsüchtig fest mit einer Nylonschnur ge bunden. »Gut möglich«, sagte Claire. »Die Polizei könnte diesen blauen Lieferwagen ausfindig machen.« »Um so leichter, als ich das Nummernschild gesehen habe«, sagte John. »Es spiegelte sich
in der Edelstahlverkleidung des Spektrometers – siehst du es da drüben?« »Wunderbar! Ihr Flug kann nicht sofort ab gehen. Der Versand so schwerer Luftfrachtgü ter erfordert eine Menge Papierkram, selbst wenn sie manches vorbereitet haben. Ein An ruf bei Logan…« »Was macht deine Zunge?« »Gute Frage. Ich kann nicht mal diesen ver dammten Stuhl bewegen.« John seufzte. Seine Hoden schmerzten ihn noch immer, und auch die Übelkeit war noch nicht ganz gewichen. Er konnte die Füße nicht genug bewegen, um den Stuhl fortzuschieben. Alle Lösungen, die Kinodetektiven aus mißli chen Lagen halfen, schienen hier unbrauch bar. Vielleicht würde ein Wachmann auf seiner Runde in die Halle kommen, aber Sonntags waren die Rundgänge wahrscheinlich redu ziert. Kontos hatte unzweifelhaft auch das herausgefunden. Er hatte Möglichkeiten. »Ein Gutes hat die Sache«, sagte John. »Was könnte an dieser Geschichte gut sein?« »Du brauchst nicht mehr nervös zu sein. Kontos wird heute abend nicht zu deinem Vortrag kommen.«
7 Mr. Carmody aus Washington war ein gutge kleideter Mann. Sein dichtes braunes Haar war kurzgeschnitten, und seine Schuhe blitz ten von frischer schwarzer Schuhcreme. Er saß bequem an seinem Schreibtisch, doch sorgsam darauf bedacht, die Bügelfalten seines grauen Zweireihers nicht zu verderben. An seinem Kleiderhaken sah Claire einen eleganten Hut nach der letzten Mode über einem rostfarbe nen Wintermantel. Sie waren im achten Stockwerk des JFK-Bundesgebäudes zwischen der Cambridge und der Congress Street. An Wochenenden schien die Heizung ausgeschaltet zu sein. Clai re fröstelte. Mr. Carmody hatte das Büro an scheinend mit einem zweiminütigen Telefon gespräch in Besitz genommen. Als ein Zeugnis seiner Macht war es eindrucksvoll. Ein dicker Teppich, braune Vorhänge zu pastellfarbenen Wänden, sogar eine Couch. Er hatte ihnen ge rade erklärt, wie beunruhigt das Außenminis terium über diese Geschichte sei, weshalb er den ersten Flug von Washington genommen habe. »Es schien mir eine unbedeutende Sache zu sein, bis Dr. Zaninetti zu einigen Persönlich
keiten der Regierung sprach«, sagte Carmody. Er rieb sich die Hände aneinander, als wüsche er sie. Im Gegensatz zu seiner makellosen Kleidung war sein Gesicht pockennarbig und derb, ein Kieselstein in einer Goldfassung. »Das hat er getan?« Claire war überrascht. »Er muß gleich zum Telefon gestürzt sein«, sagte John. »Dr. Zaninetti hat eine Theorie, nach der die ser Gegenstand, der gestohlene Gegenstand, gefährlich sein kann.« Carmody wartete auf ihr bestätigendes Kopfnicken. Statt dessen sagte John ungestüm: »Es ist nicht seine Theorie, aber er mag recht haben. Ich habe über das Problem viel nachgedacht und gerechnet, mehr als Zaninetti, und bin auch der Meinung, daß die Singularität im Zentrum des Würfels sich wahrscheinlich im Zustand eines höchst prekären Gleichgewichts befindet.« Claire seufzte. Sie wußte, was als nächstes kam. Carmody stellte die erwarteten Fragen nach Singularitäten, und John antwortete – wie groß? (unendlich klein); Gewicht? (ein paar Hundert Kilogramm, nicht mehr); ge bundene Energie? (Megatonnen von TNT); warum blieb sie solange im Würfel? (festge halten von Magnetfeldern, die das Eisen im
Innern des Würfels erzeugte). Carmody fragte, wie die alten Griechen auf das Ding gestoßen sein könnten, und Claire sagte, daß es ein Geräusch gemacht oder eine Lichterscheinung gegeben habe, als ein Stück Stein in die Singularität fiel. Sie wies darauf hin, daß der Bernsteinzapfen durchscheinend war; vielleicht seien sie von den gelegentlichen Lichtausbrüchen im Innern eingeschüchtert gewesen. Es gebe noch keine definitiven Ant worten. Die Diskussion kehrte zur Frage der gebun denen Energie zurück. Als John sich bemühte, die vorläufige Natur seiner Berechnungen zu erläutern, dachte Claire voraus zum bevorste henden Abend. Der Vortrag würde einen dra matischen Abschluß bekommen, nämlich die Bekanntmachung, daß der Würfel geraubt worden war. Und seltsamerweise hatten die Aufregungen des Tages bewirkt, daß ihre Ner vosität angesichts der zu haltenden Rede ver schwunden war. Sie hatte ihre Dias und sah jetzt nicht einmal die Notwendigkeit, etwas einzuüben. Wenn es darum ging, eine wissen schaftliche Entwicklung oder Erkenntnis all gemein darzustellen, war es immer entschei dend, die schmale Meerenge zwischen der Scylla fachlicher Herablassung und der Cha
rybdis eines verwirrten Publikums zu segeln. Vielleicht könnte sie sich eher einen Irrtum auf der Seite strenger Wissenschaftlichkeit er lauben, wenn sie nur die dramatischen Akzen te hervorhob, die das menschliche Interesse fesselten. Abe hatte sie nach ungefähr anderthalb Stunden entdeckt. Die ersten Polizisten, die an Ort und Stelle eintrafen, waren zwei stierna ckige Bilderbuchtypen mit einem Streifenwa gen. Sie untersuchten das Stahltor nach Hin weisen, als hätten sie nie zuvor eins gesehen, dann standen sie herum und machten gela ngweilte Gesichter. Ein Kriminalbeamter er schien, und auch er war nicht sonderlich auf geregt. Immerhin hatte er den Flughafen angerufen, wo jedoch nichts von einem großen Gegenstand bekannt war, der nach Griechen land verfrachtet werden sollte. Sie verspra chen die Sendungen nach anderen Zielorten zu überprüfen. Einstweilen war die Flughafenpo lizei alarmiert, und so weiter. Darüber hinaus war die Polizei nicht über mäßig besorgt. Verglichen mit einem Wo chenende voller Verkehrsunfälle, Einbrüche, Diebstähle, Gewalttätigkeiten und einem Mordanschlag in Somerville war der Verlust eines alten Felsbrockens nicht eben von dem
Stoff, der den Pulsschlag beschleunigte. Claire hatte Hampton angerufen, der ange messen schockiert gewesen war. Er bekannte, keine Kenntnis von Kontos’ wahren Plänen zu haben, und betonte, daß er, Hampton, die Notwendigkeit, die physikalischen Messungen am MIT noch eine Woche lang fortzusetzen, deutlich gemacht habe. Hampton hatte sich sodann ausführlich über Kontos’ untadeligen Ruf als Wissenschaftler verbreitet und daß es ein schreckliches Mißverständnis gewesen sein müsse, das den Mann zu dieser Handlungs weise gezwungen hatte. Nur Zaninetti war über die Neuigkeit in Er regung geraten und hatte gehandelt, indem er seine guten Verbindungen zur Nationalen Akademie und wahrscheinlich zu anderen Stellen genutzt hatte. Zaninetti bemühte sich gegenwärtig, die Bostoner Polizei zu mehr Ak tion zu bewegen. »Mr. Carmody«, unterbrach sie Johns sorg fältig formulierte physikalische Erklärungen, »Sie sind vom Außenministerium?« »Nein, aber ich erhielt meine Information von dort. Bis heute wurde diese Angelegenheit dort als eine diplomatische… äh… Schwierig keit behandelt.« »Wen oder was repräsentieren Sie dann?«
Carmody lächelte entwaffnend. »Sagen wir, daß ich ein allgemeiner Trouble Shooter bin. Ich beurteile Situationen, wenn die größeren Behörden etwas länger benötigen, um geeig nete Leute auf das Problem anzusetzen.« »Also glaubt jemand, dies könnte gefährlich sein«, sagte Claire. »Wenn Dr. Zaninetti und Dr. Bishop die Sa che richtig beurteilen, dann ist diese… äh… Singularität so etwas wie eine potentielle Bombe, nicht wahr?« »Und die Griechen sind damit außer Landes gekommen.« Carmody schüttelte den Kopf. »Nicht durch einen Flughafen im weiteren Umkreis. Viel leicht mit einer Privatmaschine, obwohl ich nicht verstehe, wie sie den Gegenstand hätten durch den Zoll bringen können.« »Kontos kann die Papiere gefälscht haben«, sagte sie. »Ich habe es auch schon einmal ge tan.« Darauf hob Carmody die Brauen und muster te sie einen Augenblick, sagte aber nichts. Dann spitzte er die Lippen und murmelte: »Den Lieferwagen haben wir immerhin aus findig gemacht.« »Wo?« fragte Claire. »Auf einer Straße, die zum Flughafen führt.«
»Sie müssen das Ding auf dem Luftwege hinausgeschafft haben.« »Aber die Luftfrachtabteilung sagt…« »Was ist mit Privatmaschinen?« »Die müssen genauso durch den Zoll. Nie mand hat eine Spur von den Griechen gesehen, oder von einer solchen Luftfrachtsendung.« »Lassen Sie noch einmal nachprüfen«, sagte Claire kühn. »Hm. – Nun, es deutet auch darauf hin, daß ihnen ziemlich gleich war, ob der Lieferwagen bald gefunden würde oder nicht. Nach allem, was Kontos zu Ihnen über den Abtransport sagte, muß ihm klar gewesen sein, daß wir zu erst den Flughafen überprüfen würden.« »Sie glauben also«, sagte John, »daß die Griechen fest damit rechneten, über alle Berge zu sein, wenn der Lieferwagen gefunden wür de.« »Ja. Ein Geheimnis. Sie fuhren zum Flugha fen, flogen aber nicht ab.« »Nein«, sagte Claire, »der Lieferwagen blieb dort stehen, wo wir ihn vermuten würden.« Carmody saugte an seinen Zähnen. »Und sie schafften den Gegenstand anderswo hin?« »Ja«, sagte John. »Irgendwohin. Wem gehört der Lieferwagen?« »Hertz.«
John machte ein finsteres Gesicht. »Wenn sie den Würfel auf einen anderen Wagen umgela den haben…« »Ist das nicht ziemlich umständlich, wenn man auf der Flucht ist?« »Diese Leute haben ihre Aktion sorgfältig vorbereitet. Sie haben überall in Ihrem Labor Wanzen angebracht. Meine Leute haben bis jetzt ein halbes Dutzend gefunden.« »Was?« sagte John. »Um uns zu belauschen?« »Richtig. Sie müssen mitgehört haben, was Sie und Dr. Sprangle besprachen. Natürlich nahmen sie an, daß Sie nicht am Sonntagvor mittag zur Arbeit kommen würden.« »Verdammt!« sagte Claire. »Dieser Streit…« »Was?« John schaute sie verdutzt an. »Ach so, ja. Während Kontos und ich aneinanderge rieten, brachten seine Leute die Abhörwanzen an.« »Ich dachte mir doch, daß etwas Sonderbares daran war, wie es geschah«, sagte Claire. »Er schien so verdammt selbstzufrieden.« »Na und? Das ist er immer«, erwiderte John. »Je nachdem, wieviel Sie im Laboratorium miteinander besprachen«, sagte Carmody, »kennt Kontos Ihre Vorstellungen von der Singularität. Daß sie eine Waffe sein könnte.« Er betrachtete sie aufmerksam, als erwarte er
eine Reaktion. »Waffe? Derartige Begriffe habe ich nie ge braucht«, sagte John. »Gut. Der Gedanke kam Prof. Zaninetti.« »Sehen Sie, wir wissen nicht genug, um uns überhaupt vorzustellen, wie solch eine Singu larität als Waffe gebraucht werden könnte«, sagte John. »Es ist alles Spekulation.« »Kontos hat echte Profis bei sich. Geheim dienstleute. Und wir haben geholfen, sie aus zubilden, stelle ich mir vor. Früher oder später werden sie darauf kommen.« »Selbst wenn sie es schaffen«, meinte John, »ist es ein großer Sprung…« Carmody klopfte ungeduldig auf den Schreib tisch. »Die Sowjets sind bestrebt, die Griechen auf ihre Seite zu ziehen und im Mittelmeer raum Fuß zu fassen. Solche Informationen könnten ihnen unter den gegenwärtigen Ver hältnissen leicht zugespielt werden. Das kön nen wir nicht erlauben.« »Ich dachte, wenn beide Seiten ihre Truppen in Europa verringerten, würde es besser aus sehen«, sagte Claire. Carmody wedelte abwehrend mit der Hand. »Was sie an einer Stelle geben, nehmen sie anderswo«, sagte er. »Die Frage ist«, sagte John mit einem Anflug
von Ungeduld, »wo steckt der Würfel? Können Ihre Leute Kontos nicht auf die Spur kom men?« Carmody lächelte vage. »Wir kommen nicht weiter.« »Es muß etwas Einfacheres geben«, sagte Claire. »Ich meine, vielleicht hat Kontos seine Pläne geändert, nachdem wir ihn überrasch ten. Er mußte damit rechnen, daß wir das Nummernschild des Lieferwagens sehen wür den.« »Oder daß jemand anders aufmerksam ge worden sein könnte, als sie wegfuhren«, stimmte Carmody zu. »Es ist zu verwirrend«, meinte Claire. »Und nicht unsere eigentliche Funktion«, sagte Carmody. »Die Polizei versteht sich bes ser auf solche Dinge, obwohl es sich natürlich nicht um den üblichen Einbruchdiebstahl handelt.« »Wir sollten uns die anderen Möglichkeiten, das Ding außer Landes zu schaffen, genauer ansehen«, warf John ein. »Auf der Straße nach Kanada?« fragte Carmody. »Die Polizei wird routinemäßig…« »Nein, auf dem Seewege. Einfach damit weg fahren, wie wir es vorgemacht haben.« »Hmm. Das scheint mir eine langsame Me
thode für jemand, der vor der Polizei davon läuft.« »Kontos hat ungewöhnliche Hilfsmittel. Zum Beispiel griechische Frachter, die im Hafen liegen.« John sah auf seine Armbanduhr. »Claire, ich glaube, es wird Zeit für dich.« »Wofür?« Sie erzählten ihm von dem Vortrag. Carmody winkte kurz ab. »Nein, das können Sie nicht machen.« »Warum nicht?« »Sie sind nicht die einzigen Wissenschaftler auf der Welt. Kontos mag als Archäologe die Implikationen nicht erkennen, aber anderen werden sie nicht entgehen. Was in diesem Ding steckt, kann von enormer Tragweite sein, und wir wissen nicht, wo es ist. Wenn es instabil ist, und in Boston oder überall sein könnte – verstehen Sie?« Claire konnte es verstehen, was bedauerlich war. Sie hatte darauf gezählt, daß ihr Vortrag ein erster Schritt zur Rückgewinnung ihres wissenschaftlichen Rufes sein würde, oder wenigstens die Flut der Gerüchte und Klatsch geschichten, die durch jeden archäologischen Fachbereich des Landes, wenn nicht der Welt brandete, würde eindämmen können. Sie versuchte dies zu erklären, aber Carmody
wollte davon nichts wissen. »Sie müssen be greifen, daß Ihr Interesse und die archäologi schen Aspekte sekundär sind.« Carmody saug te wieder an den Zähnen, eine Gewohnheit, die ihr allmählich auf die Nerven ging. »Nationale Sicherheitsinteressen verlangen, daß Sie nicht darüber sprechen. Schließlich werden wir es wahrscheinlich zurückgewinnen, vielleicht schon in ein paar Tagen. Dann…« – er strahlte – »dann können Sie alles erzählen. Ist das zu viel verlangt?« Ja, dachte sie und biß die Zähne zusammen. Aber es schien keinen anderen Ausweg zu ge ben. An einem einzigen Tag hatte sie ihr Arte fakt und die Gelegenheit zu einer öffentlichen Stellungnahme verloren.
8 Wenigstens ging es seinen geprellten Rippen besser, dachte John etwas kläglich, als er am nächsten Morgen, einem klaren und sonnigen Montag, den Charles River überquerte. Alle hatten die besondere Erniedrigung vergessen,
die darin lag, daß Kontos ihn nicht nur ge schlagen, sondern es nur zum Vorwand für das Anbringen von Abhörwanzen getan hatte. Die ser Umstand wurmte ihn am meisten. Er verdrängte den Gedanken. An diesem Morgen hatte er eine Stunde lang Anrufe von Freunden erhalten, die Gerüchte vernommen hatten. Dann hatte Abe angerufen und gesagt, daß Zaninetti eine Zusammenkunft im Labor wünsche, damit sie sich für den Bericht aufei nander abstimmten. Offenbar sollte dieser nicht nur Carmody als Entscheidungshilfe dienen, sondern auch seinen Herren in der Regierung, um dann unausweichlich der Pres se zugespielt zu werden. Hampton hatte seine Zustimmung bereits gegeben. John verstän digte Claire und ging. Am Eingang des MIT sah er eine Menschen menge. Sie stand bis auf den Memorial Drive heraus. Ein Übertragungswagen des Fernse hens zollte ihr die Aufmerksamkeit und den Respekt, die heutzutage automatisch jedem Menschenauflauf mit einem Anliegen zuteil werden. Einen Augenblick befürchtete er, die Neuigkeit sei irgendwie an die Öffentlichkeit gedrungen, doch als er die Harvard Bridge überquerte, konnte er sehen, daß die Trans parente und Spruchbänder das Wort
NUKLEAR trugen, in den meisten Fällen rot mit orangefarbener Schattierung, um vielleicht Strahlung anzudeuten. Als er sich durch die Menge arbeitete, die Sprechchöre angestimmt hatte, kam eine Frau mit einem großen Plakat und einem Bündel Informationsschriften auf ihn zu. Die Auf schrift lautete: NUKLEARMEDIZIN = NUKLEARENERGIE = NUKLEARKRIEG Sie sagte: »Bitte, lesen Sie! Schließen Sie sich uns an!« »Ist das Ihre unheilige Familie?« erwiderte er und ging weiter. Einige Wochen zuvor hatte er die Examens arbeit eines Studenten über die Geschichte der Wissenschaft in diesem Jahrhundert gelesen und manches daran überraschend gefunden. In den 20er und 30er Jahren hatte man Ra dioaktivität vielfach als Heilmittel betrachtet. Radium wurde zum Schlagwort geschäftstüch tiger Unternehmer. Radium konnte nicht nur Krebspatienten heilen, sondern wurde – in ge ringen Dosen – sogar als ein gesundes Anre gungsmittel angepriesen. Kurorte warben stolz mit der natürlichen Radioaktivität ihrer Quel
len, und manche legten sich gar den Namen »Radiumbad« zu. Man konnte Radium in Form von Kapseln, Tabletten, Kompressen, Bade salzen, Einreibungen, Inhalationen, Injektio nen oder Zäpfchen zu sich nehmen. Man konnte radiumhaltige Pralinen essen und sich anschließend die Zähne mit radiumhaltiger Zahnpasta putzen. Die Hersteller behaupteten, daß ihre zweifelhaften Elixiere gegen Tuber kulose, Rachitis, Tumore, Kahlköpfigkeit und nachlassende Manneskraft helfen würden. Inzwischen hatte die Menschheit schmerzhaft dazulernen müssen, und das Pendel schlug weit nach der anderen Seite aus. Die Furcht vor monströsen staatlichen Atomprogrammen einte Maschinenstürmer und Pazifisten, Um weltschützer und Landwirte, ängstliche Libe rale und Anarchisten im Kampf gegen die teuf lischen Windmühlen der Staatsgewalt. John schüttelte den Kopf. Es war in einer Weise traurig, weil die wahren Torheiten des Zeital ters anderswo lagen. Für ihn war es Wahn sinn, kostbares Erdöl in Motoren und Heizan lagen zu verbrennen; er verglich es mit der Herstellung von Kleiderbügeln aus Platin. Das sichtbare Schrumpfen der Ölvorräte machte zusehends deutlich, daß Erdöl als Grundstoff für zahlreiche Produkte und als Schmiermittel
bei hohen Temperaturen nutzbringender ver wendet werden konnte, zumal es an guten Er satzstoffen mangelte. Aber das führte auf eine andere Ebene. Er seufzte, als er sich vorzustel len versuchte, was diese Leute sagen würden, wenn sie von der Singularität erführen. Auf dem Weg zu Abes Labor lief er einem zweiten Kamerateam in die Arme. Es wartete ungeduldig draußen, und ein Mann in einer Lederjacke schlug gegen die Stahltür. Sie sa hen ihn kommen und wandten sich ihm zu, um Fragen zu stellen, aber John hatte seinen Schlüssel für die Seitentür schon in der Hand und schlüpfte hinein, ehe sie ihn erreichten. Der erste, auf den er drinnen stieß, war Do nald Hampton. »Ich möchte Ihnen sagen, wie schockiert ich über all dieses Aufhebens bin.« »Haben Sie diese Fernsehleute hergebracht?« konterte John. »Wo denken Sie hin? Aber nach Miß Andersons Anruf mußte ich den Präsidenten unserer Universität verständigen, und ich vermute, daß er…« »Großartig. Wissen die Fernsehleute etwas über die physikalischen Aspekte?« »Ich kann nur sagen, was ich unserem Präsi denten mitteilte. Ich mußte ihm natürlich er läutern, warum das Artefakt nicht sofort zu
rückgegeben wurde, und in dem Zusammen hang wiederholte ich einiges von dem, was Prof. Sprangle gesagt hatte.« »Noch besser.« Claire war mit Abe im Gespräch. John for derte Hampton auf, hinauszugehen und die Fernsehleute mit Informationen über Archäo logie und den bedauerlichen Diebstahl abzu speisen, da es durch die Sorglosigkeit seines Präsidenten hergelockt worden sei. Die ande ren waren um den leeren Fleck versammelt, wo Abes Meßgeräte in einem Kreis auf einen Gegenstand warteten, der nicht da war. Als er zu ihr kam, sagte Claire: »Ah, du bist ihn losgeworden. Erspart mir die Mühe, ihm die Augen auszukratzen.« »Okay, ja, aber du solltest deine Lage nicht noch verschlimmern. Selbst wenn er einen Irrtum begangen haben…« »Ausgeschlossen. Irren ist menschlich.« »Vor allem müssen wir versuchen, den Deckel auf dem Topf zu halten und die allmächtigen Medien nicht zu alarmieren.« Claire fragte: »Was macht dein Unterkiefer? Er sieht furchtbar aus.« John befühlte ihn vorsichtig. »Ist über Nacht steif geworden«, sagte er mit zusammengebis senen Zähnen, um die Bewegung zu verrin
gern. »Das nächste zu einem Harvard-Akzent, was ich je erreichen werde.« Claire lächelte zärtlich. Abe hob die weißen Brauen, unwillig über die Unterbrechung, und fuhr fort: »Auf keinen Fall Presse und Fernse hen! Diese Kerle haben meine Aufzeichnun gen. Wenn ich über ihre Rückgabe verhandeln kann, bevor diese Geschichte von den Medien breitgetreten wird, ist die Chance, sie tatsäch lich wiederzubekommen, sicherlich besser. Außerdem sollten wir die griechische Regie rung informieren, wenn der Würfel so gefähr lich ist, wie Sie und Zaninetti sagen.« Sie stimmten alle zu. »Ich habe auch die Meßgeräte für Röntgen- und Gammastrahlen überprüft«, sagte Abe. »Das ist Teil der Ge schichte. Sie registrierten ein gleichmäßiges Ansteigen der Strahlungsenergie bis zum Schluß.« »Auf allen Zählern?« fragte John. »Nein, die hier drüben zeigen ungefähr das Dreifache der Durchschnittswerte.« Abe trat zu fünf Zählern, die einen Quadranten ab deckten. Die Taschen seines Fischgrätjacketts waren bauchig von elektrischen Instrumenten, die er in Gedanken eingesteckt und vergessen hatte. »Der Zapfen wies in diese Richtung, wie Sie sich erinnern werden.«
»Ja…«, sagte Claire. »Wir waren mit den Emissionen von der anderen Seite beschäftigt, und es mag sein, daß wir die Seite mit dem Zapfen ein wenig vernachlässigten.« John studierte die Ablesungen an jedem De tektor und runzelte die Stirn. Das Maximum war entlang der Zapfenachse gemessen wor den, was an sich nicht überraschend war: hier gab es weniger Gestein, die Emission zu absor bieren. Aber warum war die stärkste Strahlung entlang dem Zapfen, statt beim Stöpsel? »Die Singularität gibt ihre Strahlung vorzugsweise in eine Richtung ab«, sagte er. »Bedeutet das, daß sie von einer Seite mehr Materie einsaugt als von der anderen?« »Ich fürchte, ja. Vielleicht nagt sie jetzt den Fels an der Innenseite an.« »Trotz des Umstandes«, sagte Abe, »daß der Staub von der Bohrung im Stöpsel von der entgegengesetzten Seite kam?« »Richtig.« »Du meinst, die… die Singularität würde zu nehmend instabil?« sagte Claire. »Ja.« Es war nur eine Hypothese, keine Ge wißheit, aber er kam auf keine andere Inter pretation. »Das sollten wir unserem Mr. Carmody sa gen«, sagte Claire.
»Ja.« Carmody wußte es bereits. Er traf nur Augen blicke später ein und befaßte sich sofort mit dem Fernsehteam. »Man kann nicht sagen, daß Sie sich lange mit denen abgeben mußten«, sagte John, als Carmody zurückkam. »Kein Problem. Meine Leute haben sich da rum gekümmert«, sagte Carmody. Er trug ei nen Trenchcoat und zog ihn nicht aus, als wol le er gleich weiter. Am geknöpften Kragen zeigte sich ein gesetzter roter Schlipsknoten. Er nahm nicht einmal seinen Hut ab. »Was haben Ihre Leute denen vom Fernsehen gesagt?« »Was wirkt«, sagte Carmody, womit der Punkt abgeschlossen war. John machte ihn mit Abe und dann mit Hampton bekannt, der von den anderen Ab stand hielt, aber auch nicht gehen wollte; of fenbar sah er, daß staatliche Organe eingegrif fen hatten, aber er wußte nichts Genaueres, und von ihnen sagte es ihm keiner. Abe erläuterte die Daten und die sich daraus ergebenden Folgerungen. Er drückte sich in der üblichen vorsichtigen Art des Wissen schaftlers aus und garnierte seine Sätze mit
Wendungen wie »scheint wahrscheinlich« und »Arbeitshypothese« und »vielleicht«. Carmody war jedoch kein Mann, der Ungewißheiten schätzte. Er hörte mit zunehmend verfinster ter Miene zu und fragte dann: »Die höchsten Ablesungen sind dort, im Nordosten. Bedeutet das etwas?« Sie versicherten ihm, daß es nichts bedeute. »Sie glauben, dieses Ding, diese Singularität, könnte aus dem Gesteinsblock hervorbre chen?« John bejahte. Es hatte keinen Sinn, übervor sichtig zu sein. »Ich sprach heute früh mit Professor Zaninetti. Er schätzt die minimale Masse der ›freien Konfiguration‹, wie er es nennt, auf das Äquivalent eines Hun dert-Megatonnen-Gefechtskopfes. Stimmen Sie dem zu?« »Ja.« Das war eine wahrscheinliche Größe. Alles hing jedoch davon ab, wie die Kompo nenten sich trennten, und wie wirkungsvoll sie ihre Massenenergie in andere Formen um setzten, aber das alles wollte Carmody nicht hören. »In Ordnung«, sagte Carmody, als habe er ei ne Entscheidung getroffen. »Gibt es hier ein sicheres Telefon?«
Als John ihn hilflos ansah, sagte er: »Macht nichts, ich kann im Wagen eine Verbindung durchstellen. Kommen Sie!« Er winkte ihnen zu. »Wohin?« »Zum Hafen. Wir haben dort unten einen Hinweis auf Kontos.« Erst als sie anhielten, die Gebühr für den Callahan-Tunnel zu bezahlen, merkte John, daß sie nicht zum Bostoner Hafen fuhren. Carmody telefonierte noch immer auf dem Vordersitz der Limousine, abgetrennt von ei ner dicken gläsernen Trennscheibe. Unter dem Armaturenbrett war eine eindrucksvolle Sammlung von Kommunikationsgeräten in stalliert, und der Lincoln Continental hatte ei ne besondere schwerfällige Solidität an sich, was auf ein ungewöhnlich hohes Gewicht schließen ließ. Auch konnten sie die unver meidlichen Schlaglöcher und Unebenheiten der Bostoner Straßen kaum fühlen, was auf zusätzliche Stoßdämpfer hindeutete. Sie kamen im Osten der Stadt heraus, eine Meile südlich des Flughafens, und bogen sofort nach rechts in die Maverick Street ein, vorbei an dreistöckigen Häusern, die trotz ihres Al ters gut instandgehalten waren. Bald bogen sie
nach Süden ab und kamen in ein Gebiet mode riger Lagerhäuser, Tankstellen und schäbiger Speiselokale. Nach ein paar Blocks verlang samte der Fahrer und ließ den nachfolgenden Wagen, einen identischen Zwilling dessen, da rin sie saßen, aufholen. Dann bog er links ab und hielt an einem langen Kai. Die Luft roch salzig, und Lastwagen rumpelten vorbei. Carmody stieg aus, ohne sich umzusehen, ob jemand folgte. Er schritt geradewegs auf ein Backsteingebäude mit dem Schild STAUEREI BRECKENRIDGE zu. Aus dem nächsten Wagen kamen mehrere Männer in langen Mänteln. Sie blieben im Umkreis der Wagen auf der Pier stehen und sahen sich um. Während der Fahrt hatten die drei Akademiker isoliert im Fond von Carmodys Limousine gesessen und wuß ten nichts von dem, was geschah. Da niemand sie zurückhielt, gingen sie ins Haus. Das Kontor wurde beherrscht von einem breiten, mit Papieren bestreuten Tresen. Da hinter stand ein Ire in einem Overall, der inte ressiert, aber verwirrt dreinschaute. Carmody sprach mit einem hageren Mann in einem wei ten Wintermantel, der nicht recht paßte. John fragte sich, ob der Mann am Ende eine Ma schinenpistole darunter versteckt haben könnte. Carmody wandte sich um, als hätte er
sie jetzt erst bemerkt, und winkte Claire mit dem Finger. »Dr. Anderson, werfen Sie mal einen Blick auf diese Schrift!« Der Hagere hielt ihr ein Rechnungsbuch hin. »Ist Ihnen diese Handschrift bekannt?« Claire beugte sich darüber. »Ja, ich glaube schon. Diese t’s und a’s habe ich öfter gesehen. Kontos machte seine Eintragungen zwar in griechischer Schrift, aber die Schreibweise dieser Buchstaben ist gleich. Ich mußte seine Schrift immer für die Inventur entziffern.« Carmody schien zufrieden. Claire sagte: »Das ist eine Empfangsbescheinigung für Liegege bühren. Hatten sie ein Schiff hier?« Der Ire hinter der Theke sagte: »Ja, ein ram poniertes altes Bugsierboot. Nichts Besonde res. In Griechenland registriert.« »Wann ist es ausgelaufen?« fragte Carmody. »Da steht es, im Buch. Sonntagmittag.« »Haben sie was an Bord genommen?« fragte Carmody. »Etwas, ja. Eine Kiste.« »Ohne Ausklarierung beim Hafenmeister?« »Müssen sie gemacht haben, die Papiere wa ren in Ordnung.« »Haben sie die Kiste auf Deck gelassen?« »Nein, unter Deck.« »Natürlich wollten sie die Kiste außer Sicht
bringen«, sagte Claire. »Sie verluden sie hier, dann fuhren sie den Lieferwagen zurück zum Flughafen, wo wir ihn finden sollten.« »Also sind sie entwischt«, sagte John. »Nein«, erwiderte Carmody, schon auf dem Weg hinaus. »Das Boot ist vor Castle Island untergegangen. Dadurch haben wir den Weg hierher gefunden.« Bostons innerer Hafen bietet keinen liebli chen Anblick, schon gar nicht an einem kalten Wintertag. Castle Island ist ein Stückchen Land, das im Süden vorgelagert ist und die Mündung markiert. Südlich davon liegt der City Point Beach, wo Leute, denen es zuviel Mühe bedeutet, nach Süden bis Quincy zu fah ren, ihre Picknicks veranstalten. An diesem Tag lagen die öden, von Felspartien unterbro chenen Sandflächen des Halbmondstrandes verlassen, bis auf vier Männer in Taucheran zügen, die gerade an Land gekommen waren. John fragte sich, warum jemand an einem Tag wie diesem tauchen sollte, bis Carmody aus dem Lincoln stieg und zu den Männern hinun terging. Während der Rückfahrt nach Boston und dann durch die Summer Street nach Osten hatte Carmody unaufhörlich telefoniert. Am
Broadway war der Verkehr weniger dicht, und sie kamen gut voran. Als Carmody den Hörer in seine Klemme gesteckt hatte, starrte er ge radeaus, ohne daran zu denken, den drei Pas sagieren im Fond irgendwelche Auskünfte zu geben. John begann sich wie ein Gefangener vorzukommen, der zum Polizeipräsidium ge bracht wird. Wieder folgten sie Carmody, diesmal mit fünf Männern aus dem anderen Wagen, die alle den gleichen Eindruck machten: kräftig, uner schütterlich, wachsam. Vor der Küste tuckerte eine Barkasse langsam nordwärts. In ihrem Heck standen zwei weitere Taucher. »Ist dir gestern auch aufgefallen«, sagte Clai re, »daß Carmody nicht ausdrücklich sagte, woher er kommt?« »Freilich sagte er es«, erwiderte John. »Er erwähnte das Außenministerium. Allerdings sagte er nicht, daß er dazu gehöre.« »Wer sind diese Männer, vom FBI?« »Das fällt nicht in seinen Aufgabenbereich.« »CIA?« »Vielleicht, doch die kümmern sich nicht viel um interne Angelegenheiten wie diese.« »Aber wer dann?« Nun näherten sie sich den Tauchern, die Bruchstücke untersuchten. Weitere Trümmer waren von der Brandung an
den Strand gespült worden und rollten in den auslaufenden Wellen hin und her. Die Taucher drehten und wendeten ein Stück gestrichener Schiffsbeplankung. Die Spanten sahen an ei nem Ende verbrannt aus. »Sieht wie verkohlt aus«, sagte Carmody zu einem der Taucher. »Achtern ist ein großes Leck, gerade unter der Luke«, sagte der Taucher. Auf seinem Taucheranzug war der Name AR-DITTI ge stempelt. »Und das hat zum Sinken geführt?« fragte Carmody. »Sieht so aus.« »Aber dann muß Feuer an Bord gewesen sein.« »Nicht viel, wie es aussieht. Diese Beplankung ist jedenfalls verbrannt, aber sonst sieht man keine besonderen Schäden.« »Das Feuer hat das Loch gebrannt?« »Schwer zu sagen. Es sieht komisch aus, nicht wie ein typisches Wrack. Das heißt, keine grö ßeren Schäden außer diesem einen Loch, wie ich sagte.« »Ist es schwierig, hinunterzukommen?« »Nein, der Kahn liegt in zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Metern Tiefe. Aber das Was ser ist trübe.« Arditti verzog das Gesicht. Nach
der Farbe der Brandungswellen und dem Ge ruch zu urteilen, der vom Wasser herüber wehte, vermutete John, daß es mehr als trübe war. »Eine Spur von der Kiste?« »Nein.« »Tote?« »Bisher keine gefunden. Aber die Tidenströ mungen werden sie inzwischen verfrachtet haben.« »Untersuchen Sie das Boot gründlich!« »Ja, Sir.« »Und suchen Sie den Umkreis nach der Kiste ab. Aber Vorsicht vor der Strahlung! Fordern Sie Verstärkungen an. Ich werde diesen Be reich von der Hafenwache abriegeln lassen.« »Jawohl, Sir.« Ardittis Haltung war militärisch und res pektvoll. Er stellte keine Fragen, sprach bloß zu seinen Leuten. Sie schnallten sich die Tauchgeräte wieder auf den Rücken. Carmody wandte sich zu den drei Akademi kern um. »Wir haben einen Bericht von der Hafenwache. Soweit sich feststellen läßt, hat dort niemand den Untergang des Bugsierboo tes gesehen. Es war Sonntag, niemand in der Nähe, aber trotzdem muß es rasch unterge gangen sein, sonst wäre die Havarie nicht un
bemerkt geblieben. Ein Zivilist oben am Castle Rock meldete den Untergang. Die Hafenwache trug diese Meldung in ihre Liste ein, einer un serer Leute sah es, rief mich an. Ich schickte Taucher hinaus. Die Hafenleute wären von selbst darauf gekommen, wenn es ein Fahr zeug gewesen wäre, das als vermißt gemeldet würde, aber wahrscheinlich nicht heute. Die Taucher identifizierten an Bord die Quittung der Firma Breckenridge; sie war in das Log buch eingelegt.« »Ein Kapitän nimmt sein Logbuch immer mit sich, nicht wahr?« bemerkte Abe. »Nicht dieser. Wahrscheinlich hatte er es zu eilig. Wenn der Rumpf solch ein Loch be kommt, sackt das Schiff unter einem weg, und man schwimmt, ehe man weiß, wie einem ge schieht.« »Glauben Sie, daß die Leute ertrunken sind?« fragte John. »Nein, das Wrack liegt nur vierhundert Meter vom Ufer entfernt. Die Strecke konnten sie auch im kalten Wasser schaffen.« »Hat der Zivilist, der den Schiffbruch melde te, Überlebende gesehen?« »Nein. Aber er sagte, die Sicht sei behindert gewesen. Vielleicht ging die Besatzung schon etwas eher über Bord.«
»Wo steckt sie dann?« »Wahrscheinlich dort, wo sie hinwollten. Ein griechischer Frachter, die Pyramos, lag um diese Zeit zufällig draußen vor Nantasket.« »Aber ihr Boot war gesunken.« Carmody hob die Schultern. »Sie konnten ein anderes mieten. Sie haben Kreditkarten, fal sche Ausweise – Kontos machte bei Breckenridge davon Gebrauch.« »Oder sie könnten anderswohin gehen.« Carmody schüttelte den Kopf. Sein pocken narbiges Gesicht war rot von der kalten See luft, als ob er schwitzte. Seine Augen verrieten innere Erregung, doch sprach er in der ge messenen, unerschütterlichen Art und Weise, die Claire schon am Vortag aufgefallen war. »Warum nicht?« fragte sie. »Die Pyramos ist gestern gegen Abend aus gelaufen. Wir haben die Position durch einen Satelliten überprüfen lassen. Er hält Südost kurs und ist schon ein gutes Stück draußen im Atlantik.« »Sie haben keine Gewißheit, daß die Leute an Bord sind«, sagte John. »Wir überprüfen derzeit die Bootsvermieter. Die Namen ihrer Kreditkarten werden auf tauchen.« »Kann die Marine sie nicht aufbringen?«
fragte Abe. »Es sind Diebe!« Carmody zuckte die Achseln. »Ein fremdes Schiff auf hoher See aufbringen? Wäre gegen das Internationale Seerecht.« »Wozu die Mühe?« sagte Claire und wandte sich zur Bucht. »Sie haben das Artefakt dort draußen zurückgelassen.«
9 Claire starrte auf das schmutziggraue Wasser des inneren Hafens hinab. Sie erinnerte sich, daß bei einem Schiffsuntergang immer gemel det wurde, Suchflugzeuge oder Hubschrauber hielten nach einer Öllache Ausschau. Nun, das war hier kein Problem; die ganze Bucht schien unter einem dünnen, bläulichschillernden Öl film zu liegen. Darin schwammen Plastikfla schen von Orangeade, Waschmitteln, Packma terial, tote Fische, braunes, mit Wasser vollgesogenes Treibholz, rostige Kanister – sogar etwas wie eine bleiche Schlangenhaut, die sie schließlich mit einem angeekelten Schaudern erkannte.
Sie kehrte dem Anblick den Rücken und lehnte sich an die Reling. Sie waren an Bord eines großen, flachbodigen Fahrprahms, auf dessen Deck sich Taucher- und Schleppaus rüstungen stapelten. Männer arbeiteten zwi schen dem Gerät. Der Hafen war für normale Transporte abgesperrt, und gelegentlich knat terte ein von Presse oder Fernseher gemieteter Hubschrauber über sie hin, nur um durch Leuchtsignale abgewiesen zu werden. Im Um kreis mehrerer Meilen suchten Motorboote, Barkassen und Kutter aller Typen in einem regelmäßigen Muster die graue Wasserfläche ab. Taucher kamen herauf, machten ihre Mel dungen und tauchten wieder. Eine träge Dü nung hielt den Prahm in langsamer Bewegung. Es war Nachmittag, und ein schneidender landseitiger Wind machte Claires Augen trä nen. Sie zog die Daunenjacke, die einer von Carmodys Leuten ihr gegeben hatte, enger um sich. Sie war gerade eben ausreichend. Sergio Zaninetti kam über das Deck gewankt, obwohl es nicht schlingerte. Er sah elend aus. »Hoffentlich finden sie es bald«, stieß er zwi schen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie werden Ihre Seebeine schon noch be kommen«, erwiderte sie. »Niemals. Ich fliege immer, nie auf dem See
weg.« »Sie suchen die ganze Bucht ab, es wird Zeit erfordern.« »Als Carmody mich anrief, kam ich ohne Überlegung. Nach einer Stunde bin ich er schöpft. Wie geht dieses Sprichwort über die Seekrankheit? Zuerst fürchtet man, zu ster ben, dann fürchtet man, nicht zu sterben?« »Ja. Was passiert, wenn wir es finden?« frag te Claire, den Kopf gegen den scharfen Wind geneigt. »Carmody glaubt eine Möglichkeit zu wissen. Er sagt, die Taucher schließen die Öffnung mit einer besonderen plastischen Substanz.« »Und wenn die Singularität aus dem Block entwichen ist?« Er hob die Schultern. »Dann wird man ver suchen, sie in irgendeiner Weise einzufangen.« »Das Problem scheint Sie nicht sonderlich zu beunruhigen.« »Doch, doch, es ist nur die Übelkeit.« Er brachte ein dünnes, gequältes Lächeln zuwege. »Diese Dinge sind jenseits meines Faches. Ich kalkuliere die Feldtheorie, die möglichen Bin dungszustände, das ist alles.« Eine Gruppe von Männern machte einen Fischkutter für die Suche klar. Die Winsch senkte ein Grundschleppnetz auf das Heck des
Kutters herab. Ein Schiffsdiesel blubberte. »Was ist das für eine Schwierigkeit, die Sie und John haben?« »Ein Detail, denke ich, aber lästig. Wir be kommen Lösungen, die diese kubische Merk würdigkeit an sich haben. Sie ergibt sich nur, wenn das Partikel eine Art verborgener Masse besitzt. Die neue Kraft, die wir haben, gleicht die Masse aus. Gut. Das steht in Übereinstim mung mit dem Umstand, daß der Würfel kein hohes Gewicht hatte. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon, auf der Ebene dessen, was John die laienhafte Annäherung nennt. Die Schwerkraft zieht beide Teile an, aber diese neue Kraft, Mode oder was immer genannt, hält sie auseinander.« »Ja, gut. Das ist das Bild, das man aus einer ungefähren Berechnung gewinnt. Ich bin in ei nigen dieser mathematischen Kniffe jedoch etwas schneller und bin mit einer besseren Feldtheorie weitergekommen, einer, die nicht soviel Gefuchtel enthält.« »Gefuchtel?« »Wenn wir sprechen, statt zu rechnen. Die Italiener sollen besonders gut darin sein, si?« Er gestikulierte dramatisch und grinste trotz seiner Blässe. Claire erkannte, daß er sich be mühte, galant und unterhaltend zu sein; sie
lächelte zurück, um ihm zu helfen, seine Übel keit zu vergessen. »Ich verstehe.« »Die Mathematik zeigt, daß Johns ›Verzer rungen‹ paarweise auftreten. Aber sie ziehen einander an und sollten einen Klumpen bil den.« Er schlug die Hände zusammen. »Das ist die Schwierigkeit.« »Könnte das Ding in dem Würfel nicht der Klumpen sein?« »Vielleicht, aber ich weiß nicht, von welcher Art die stabilen Eigenschaften sind. Wie kom men die Verzerrungen zusammen? Es ist Energie gespeichert, die also frei werden muß.« »Sie meinen, die Singularität im Würfel sei allein?« »Das ist in Johns erster Arbeit gut beschrie ben. Diese Lösung, die er gefunden hat, scheint in Ordnung zu sein. Aber warum ist solch ein Partikel frei? Es sollte sein Gegenstück fin den.« »Vielleicht wird es daran gehindert?« »Ah, Sie haben diese Idee von John. Ja, es mag sein, daß eine andere Art von Kraft die Vereinigung dieser Teile verhindert. Dennoch muß ich sagen, daß ich eine solch komische Kraft nicht finden kann. Etwas stimmt da
nicht.« Claire war beunruhigt. »Dann kann es eine potentielle Bombe sein? Sie sagten Carmody so etwas.« »Si, das glaube ich. Es ist schwierig zu sehen, wie zwei von diesen Verzerrungen eine stabile Bindung eingehen könnten. Sie müssen Ener gie abgeben, wenn sie zusammenkommen.« »Aber eine von ihnen steckte Jahrtausende sicher in diesem Würfel.« Zaninetti schürzte die Lippen. »Eben das kann ich nicht verstehen. Es gibt hier soviele Ungewißheiten…« Hinter ihr sagte Johns Stimme: »Wissen schaft ist nicht Gewißheit, Sergio, sondern nur Wahrscheinlichkeit.« Er war von einem Gespräch mit Carmody in der schmierigen Kajüte des Prahms zurückge kehrt. Er trug eine Seemannsjacke von einem der Besatzungsmitglieder, und sie war ein we nig überrascht, daß er darin ganz natürlich aussah, als habe er sein Leben mit all diesen anderen verbracht. »Er sagt, deine ersten Lö sungen seien… äh…« »Irreführend«, sagte John freundlich. »Ich glaube aber noch immer, daß wir hier einen Zugriff auf die grundlegenden Eigenschaften haben. Schließlich habe ich die Dynamik so
konstruiert, daß sie mit den Eigenschaften dieses Artefakts übereinstimmt. Ich habe ihm sein Gesetz gegeben.« Die Diskussion schien Zaninetti zu beleben; wahrscheinlich war sie eine wirksame Ablen kung von seinem Elend. »Sie können nicht mit der Kraft dazwischen argumentieren! Capisce? Die Kraft ist unabhängig von der Entfernung zwischen beiden Zentren, also können enorme Energien gespeichert werden. Die Vereinigung beider Zentren müßte mit einem gewaltigen Knall erfolgen.« »Kommen Sie, hier auf dem offenen Deck kann man nicht Mathematik treiben«, sagte Claire mit Entschiedenheit. »Besorgen wir uns Kaffee!« Dieser Vorschlag ließ Zaninetti erbleichen. Claire bemerkte, daß John wider Willen über die mißliche Lage seines Kollegen lächeln mußte. Sie waren Freunde, aber immer auf der Suche nach einem Vorteil. Eine immerwäh rende Rivalitätsmaschine. Der Kaffee, ausgegeben in einer hastig aufge bauten Behelfsküche am Bug, war schwarz und bitter. John tat drei Päckchen Zucker in seinen und umwanderte das Deck. Zaninetti saß auf einem wackligen Stuhl und blickte verlangend nach Westen, wo Boston und das sichere Fest
land lagen. Nach einer Weile schloß er die Au gen. »Gerade ist ein Taucher mit Trümmern her aufgekommen«, sagte John, als er wiederkam, in der Rechten den Kunststoffbecher mit Kaf fee, die Linke in der Tasche seiner Seemanns jacke. »Es sieht komisch aus – angesengt.« »Unter Wasser verbrannt?« »Richtig. Als ob es erhitzt worden wäre aber nicht Feuer gefangen hätte.« »Wo war es?« »Am Grund verstreut. Altes, vollgesogenes Holz, nicht von Kontos’ Boot.« »Also bewegt sich der Würfel dort unten um her.« »Carmody geht davon aus, daß das Artefakt ein Loch durch seine Kiste und dann durch den Rumpf brannte. In kürzester Zeit.« »Dann könnten die Strömungen…« »Es ist ausgeschlossen, daß sie einen so schweren Gegenstand bewegen könnten.« »Dann müßte der Würfel irgendwo in der Nähe des Wracks sein.« »Gewiß. Nur ist er es nicht.« »Was bewegt ihn?« »Keine Ahnung.« Er blickte hinaus zu den suchenden Kuttern, die ihre Schleppnetze zo gen.
»Ich frage mich, ob er in der Bucht bleiben wird.« »Sicherlich. Einstweilen.« Sie gingen zu einer Gruppe von Männern, die sich mit Schleppnetzen abmühten. Einige ge hörten zur Hafenwache; es war Carmody ge lungen, innerhalb von Minuten das gesamte Personal zu mobilisieren. Es waren kräftig aussehende Männer, die unverdrossen an der Arbeit waren. Bis auf die Zurufe von Fragen oder Anweisungen verhielten sich die Arbeits trupps bemerkenswert still und ernst. Claire beschirmte die Augen gegen die schräg einfal lenden Sonnenstrahlen und blinzelte zur Ka jüte des Prahms. Dort waren einige Männer der anderen Art versammelt, die meisten in dreiteiligen Nadelstreifenanzügen und Män teln, mit glänzend geputzten Schuhen und ausdruckslosen, wachsamen Gesichtern. Arditti, noch in seiner Taucherausrüstung, kam auf John zu und sagte: »Östlich von hier haben wir ein bißchen was gefunden.« »Was?« »Komische Strömungen, wie Sie sagten.« Auf Claires verständnislosen Blick sagte John: »Carmody fragte mich nach Kennzei chen oder Merkmalen, nach denen man Aus schau halten sollte, und ich sagte, sie sollten
auf Unregelmäßigkeiten im Strömungsverhal ten des Wassers achten.« »Warum hat er mich nicht gefragt?« sagte Claire. John hob die Schultern. »Es ist eng in der Kajüte. Er…« »Strömungen? Wieviel Wasser kann durch ein Loch von sechs oder sieben Zentimetern Durchmesser?« fragte sie streng. »Vielleicht genug.« »Wäre es nicht besser, nach radioaktiven Spuren zu suchen?« »Auch das tun wir«, sagte Arditti. »Und?« »Auch davon gibt es Spuren, ja.« »Gut.« Besänftigt ging sie mit ihnen zur Ka jüte mitschiffs, wo Carmody zu den Männern in Nadelstreifenanzügen sprach. »… eine Gruppe von sechs Tauchern ausrei chend sein, während wir einen Greifer in Posi tion bringen. Jeder von den Leuten trägt einen Geigerzähler und gibt alle zwei Minuten eine Ablesung durch. Ich möchte keine unnötigen Strahlenrisiken. Vorwärts!« Die Männer gingen auseinander; einige kehr ten zurück zu einem transportablen Sender, der auf der Achterplattform des Prahms in stalliert worden war. Claire fand ihre Schnel
ligkeit und Gewißheit entnervend; als ob man ihnen in der Ausbildung jedes Zögern wegtrai niert hätte. Abe stand bei Carmody, und als er Claire sah, sagte er: »Haben Sie gehört? Man hat Kontos’ Unterschrift bei einem Motorbootverleih un ten beim Columbus Park entdeckt. Nur zwei Kilometer südlich vom Strand.« »Also hat er sich an Land retten können«, sagte Claire. »Ja, und vier weitere, sagte der Verleiher. Er war fuchsteufelswild, weil sie ihm das Boot nicht zurückgebracht haben.« Claire blickte zum Ufer hin. Polizei hatte die Kais abgesperrt, und sie sah Streifenwagen mit ihren kreisenden Lichtern alle Zufahrten blo ckieren. Carmody sah hier draußen im Sonnenschein älter aus, das pockennarbige Gesicht wie Per gament, und Claire erinnerte sich an ein be kanntes Zitat: Ab fünfzig ist jeder für sein Ge sicht selbst verantwortlich. Unvermittelt fragte sie: »Wen repräsentieren Sie, Mr. Carmody?« Er blickte säuerlich zurück zu ihr und John und Abe, die in einer Gruppe beisammenstan den. Er steckte die Hände tief in die Mantelta schen, saugte eine Weile an den Zähnen und sagte dann unwirsch: »Nationale Sicherheits
agentur.« »Sie kümmern sich um Notfälle?« »Schlimme, ja.« »Wem machen Sie Meldung?« fragte John. »Dem Nationalen Sicherheitsberater.« »Und er?« »Dem Präsidenten.« »Ich wunderte mich schon, warum alle hier so herumspringen«, sagte Claire. »Nicht bloß hier«, versetzte Carmody ein we nig herablassend. »Ich habe mit Thorne vom Caltech und Sherman von Berkeley telefoniert. Sie stimmten Ihren Ergebnissen zu, jedenfalls im Prinzip, sagten sie.« »Wie haben sie es so schnell herausgefun den?« fragte John. »Ich ließ von Zaninetti eine Zusammenfas sung schreiben. Die haben wir gestern abend ausgesendet.« »Um uns zu überprüfen.« »Selbstverständlich. Unglücklicherweise sind die Leute, die wir fragen wollten, nicht alle amerikanische Staatsbürger. Ich durfte ihnen nicht alles sagen. Also mußten wir uns haupt sächlich nach Ihren Schätzungen richten.« Ein Hubschrauber knatterte über den Prahm hinweg, wie um ein Beispiel zu geben, welche Kräfte Carmody aufbieten konnte. »Thorne
sagte etwas über die Energievoraussetzungen dieser Singularität«, fuhr Carmody fort. »Er sah keinen Zusammenhang mit kosmischen Strahlen, wie Sie andeuteten, Dr. Bishop.« »Nun, die benötigte Energiemenge ist gewal tig, das ist richtig. Deshalb sind sie gefährlich – wenn die Kräfte einen natürlichen Ausgleich suchen, kann es fatale Folgen haben. Sie wer den sicherlich nicht häufig entstehen.« »Wie viele wird es geben?« John zuckte die Achseln. »Dies ist die erste Singularität, die jemals entdeckt worden ist. Es kann nicht viele geben, oder wir wären früher schon auf eine gestoßen. Aber wenn wir an nehmen, daß die Erde von einem energierei chen Partikel getroffen wird, so könnte es sehr tief eindringen; möglicherweise gibt es tief im Erdinneren mehr davon. Sie würden nicht notwendigerweise zur Oberfläche wandern.« Carmody verzog den Mund zu einer halb skeptischen, halb besorgten Grimasse. »Sie meinen, diese könnte aus der Tiefe emporge drungen sein?« »Also, das würde ich für abwegig halten«, warf Claire ein. »Vergessen wir nicht, daß es im Innern eines alten Artefakts war. Die my kenischen Griechen bearbeiteten den Kalk steinblock, in dem die Singularität steckte.«
»Aber vorher?« »Irgendwo müssen die Griechen sie gefunden haben«, meinte John. »Vielleicht in einem Steinbruch. Claire meint, der Umstand, daß es ein würfelförmiger Block sei, könne kein Zu fall sein. Das optische Erscheinungsbild ist ku bisch. Vielleicht bohrten die alten Griechen hinein, sahen etwas Helles, Strahlendes darin und bearbeiteten das Artefakt als eine Art Be hälter.« Claire sah ihre Chance. »Darum ist die mög lichst unversehrte Erhaltung des Steinarte fakts notwendig. Wir müssen seine Geschichte verstehen. Man kann das nicht vom physikali schen Aspekt abkoppeln.« Zu ihrer Überraschung schien Carmody den Gesichtspunkt zu akzeptieren. »Dr. Sprangle hier meint, die Singularität könne noch immer im Inneren des Gesteinsblocks sein.« »Ja, das meine ich«, bekräftigte Abe. »Ver gessen wir nicht, daß diese Singularität sich langsam herausfraß. Kontos kann sie durch unvorsichtigen Umgang mit dem Block ange stoßen und das prekäre Gleichgewicht gestört haben.« »Wobei Ihre Versiegelung durchbrannte?« sagte John. »Das ist eine Vermutung«, sagte Abe.
Carmody blickte mißmutig über das Wasser hinaus. »Rote Boje!« rief jemand. Einen knappen Kilometer entfernt tanzte ein roter Ball auf dem Wasser. »Sie haben das Ding«, sagte Carmody. »Ziemlich weit östlich«, bemerkte John. »Es muß sich wenigstens drei Kilometer vom Wrack entfernt haben.« Carmody eilte davon. Arditti stand bei der Sendeanlage und lauschte über Kopfhörer den Gesprächen der Taucher. Als er fertig war, ging Claire hinüber und sagte: »Ist es, was wir suchen?« »Ja, es ist die Kiste.« »Sie können es sehen?« »Einer unserer Leute kam nahe heran. Sagt, es strahle einen starken blauen Lichtschein aus.« »Der Würfel?« fragte Claire. »Das wird wahrscheinlich gedrosselte Strah lung sein«, sagte Abe. »Von Gammastrahlen?« fragte John. »Sie werden im Wasser ziemlich rasch auf gehalten.« »Dann ist der Würfel noch in der Kiste?« fragte Claire. Arditti nickte. »Offenbar ist die Verpackung
ziemlich stabil. Das Ding schleppt die Kiste mit sich.« »Wie eine Schnecke ihr Haus«, sagte Claire. »So ungefähr.« Arditti war ein nüchterner, unumwundener Mann, dem diese Jagd offen sichtlich gefiel. Seine Leute behandelten ihn mit Respekt. »Sie fanden das Ding, indem sie einer Furche am Grund folgten. Eine gerade Linie, sagten sie.« John merkte auf. »In welche Richtung?« »Das sagten sie nicht. Aber ich muß gehen.« Arditti ließ sie stehen. Claire spürte die gestei gerte Geschäftigkeit ringsum. Sie war die ein zige Frau an Bord, und die prickelnde Erre gung auf Deck hatte etwas spezifisch Maskulines an sich. Carmody schien die allgemeine Erleichterung nicht zu teilen. »Wird es in die Luft fliegen?« John schüttelte den Kopf. »Nein, ich sehe keinen Grund. Aber was die Taucher wahrge nommen haben, ist harte Strahlung, die Gei gerzähler werden es ihnen gezeigt haben. Hof fentlich sind sie vorsichtig.« Er begann zu erklären, daß das einströmende Wasser die Singularität wahrscheinlich daran hinderte, durch das enge Loch, das sie geöffnet hatte, zu entweichen. Es gab der Singularität auch eine kräftige neue Treibstoffinjektion für seinen
zentralen »Motor« – was möglicherweise dras tische Folgen haben konnte. Claire hoffte, er habe recht mit seiner Annahme, daß sie im Würfel bleiben werde. Der Prahm drehte sich langsam vor den Wind und hielt auf die Stelle zu, wo nun drei rote Plastikbojen trieben. Motorboote umringten die Stelle, schaukelnd in den kurzen Wellen, die der stürmisch auffrischende Wind vor sich hertrieb. Taucher sprangen aus den Booten und formierten sich zu Gruppen. Von allen Seiten kamen die Suchfahrzeuge zusammen, und aus der Sendeanlage auf der Heckplatt form drang ein quäkendes Durcheinander von Funksprechverkehr. Eine Tauchergruppe ma növrierte Transportbehälter mit Materialien zur bezeichneten Stelle, löste die Auftriebs körper und versank mit ihren Lasten in der Tiefe. »Das sind die Flicken, mit denen sie das Loch verschließen wollen«, sagte John. Zaninetti, durch die Zuspitzung der Ereignis se aus der Teilnahmslosigkeit seiner See krankheit gerissen, lehnte matt bei ihnen an der Reling. »Die Taucher sollten sich nicht länger als unbedingt erforderlich in der Nähe aufhalten«, sagte er zu Carmody. »Selbst Was ser kann auf zu kurze Distanz die
Partikelstrahlung nicht bremsen.« Minuten vergingen. Claire atmete die salzig schmeckende Luft und lauschte dem Gequäke des Funksprechverkehrs. Die Meldungen der Taucher waren unverständlich wie die Ant worten, aber sie spürte die wachsende Span nung. Die Taucher konnten sich unten im kaffeefarbenen Hafenwasser nur durch Zurufe verständigen. Der Prahm drehte sich, bis der Bug von der Fundstelle abgewandt war, und alles strömte zum Achterdeck und spähte über Bord, versuchte zu verstehen, was die Taucher taten. Von Zeit zu Zeit kam einer an die Ober fläche und tauchte wieder hinab, aber Claire schien alles ziemlich chaotisch. Plötzlich rief der Mann an der Sendeanlage: »Es hält! Sie haben es!« und überall wurden Hochrufe laut. Es herrschte ein Eifer, der sie an die Rugbyspiele von Collegemannschaften gemahnte, wo sie sich trotz ihrer festen Über zeugung, daß solche Spiele im Grunde sinnlos waren, zu Beifall hatte hinreißen lassen. »Alles nach vorn zum Bug!« dröhnte Carmodys Stimme aus dem Bordlautsprecher. Sie folgten der Aufforderung, und als Claire bei der Kajüte wartete, sah sie den Grund. Das dicke Stahlkabel lief bereits über die Trommel und senkte die Greifer am Heck des Prahms
ins Wasser. Taucher gingen mit hinunter. Aus der Sendeanlage erklang wieder unverständ liches Gebabbel, das sich zu heiseren Ausrufen steigerte. Der Dieselmotor unter Deck begann zu rat tern. »Ist festgemacht!« rief eine Stimme. »Sie haben ihn am Haken!« Wieder klang Beifall auf. Das Kabel straffte sich, spritzte Wasser in die Luft. Der Dieselmotor dröhnte angestrengt, die Winsch drehte sich und wickelte das Kabel auf. An Deck wurde es still; alles starrte wie ge bannt nach achtern. Carmody gab den Motorbooten und Kuttern Befehl, sich aus dem Umkreis zu entfernen. Die Boote nahmen Fahrt auf. Die Taucher, die sie aufgenommen hatten, standen schweigend und blickten zurück. Arditti kam zu Carmody und machte Mel dung: »Wir haben einen Mann mit einer Überdosis.« »Schlimm?« Arditti nickte. »Kam zu nahe. Fühlt sich un wohl.« »Da ist nicht viel zu machen, aber er muß so fort ins Krankenhaus.« Es dauerte Minuten, bis das Bergungsgut die ölige Oberfläche durchbrach. Kabelschlingen
und Haken hielten den Klotz auf allen Seiten, und Claire konnte sehen, daß die Kiste teil weise noch vorhanden war. Eine Seite war vollständig bedeckt mit dem weißlichen Mate rial des Flickens, der auf die anderen Seiten überlappte. Die Kiste war aufgebrochen, hielt aber noch zusammen und schützte offenbar den größten Teil des Artefakts. Es war zu hof fen, daß ein großer Teil des Würfels erhalten geblieben war. Nun kam die Last von der Wasseroberfläche frei. Die Männer an Deck standen schweigend. Der Würfel sah ziemlich ungefährlich aus, wie er triefend in der Luft baumelte, ein wenig eindrucksvolles Etwas aus schlammigem, durchnäßtem Holz. Dann sagte John etwas, wiederholte es mit erhobener Stimme, und Claire fragte sich, was so dramatisch sein könne. Die Kiste hing si cher am Kabel – aber nein, sie hing nicht ge rade herab. Sie beschrieb einen Winkel gegen die Vertikale. »O Dio!« rief Sergio Zaninetti. »Ich sagte es Ihnen! Bloß haben wir nicht berechnet…« »Die Separation!« fiel John ein. »Die beiden Komponenten müssen nicht beisammen sein. Es ist ein gebundener Zustand zwischen ihnen, aber was ist die bindende Länge?«
»Wovon redest du?« fragte Claire. »Siehst du das? Es hängt nicht gerade herun ter, weil etwas anderes eine Kraft darauf aus übt.« »Und es seitwärts zieht, meinst du?« John strahlte. »Ja! Die Mathematik ist richtig. Es müssen zwei Komponenten sein, die anei nander gebunden sind. Nur nicht so nahe, das ist alles.« »Und?« »Es muß eine zweite Singularität geben.«
10 Die Rotorblätter des Hubschraubers schnat terten und ließen kein Gespräch zu. Leicht hob er vom breiten Vordeck des Prahms ab, und Claire blickte hinab in die blassen, aufwärts gewandten Gesichter. Die Leute waren mitschiffs zusammengedrängt, in gehörigem Abstand von der Stelle, wo die Kiste auf dem Achterdeck ruhte. Arbeiter sicherten sie mit Kabeln und bedeckten sie mit einer Plane. Man sah, daß sie sich hüteten, in die Nähe des Fli
ckens zu kommen, den die Taucher angebracht hatten. »Wir hätten Abe mitnehmen sollen«, rief Claire. Carmody schüttelte den Kopf. »Dr. Sprangle ist am besten qualifiziert, die Untersuchung der physikalischen Eigenschaften durchzu führen.« »Wann werden diese Meßgeräte eintreffen?« fragte sie. Carmody blickte auf seine Armbanduhr. Das war ein kompliziertes Ding mit mehreren gleichzeitigen Ablesungen und einem Plan überwachungsprogramm, dessen roter Punkt blinkte, was bedeuten mochte, daß er sich für einen Termin verspätet hatte; er achtete nicht darauf. »Die Sachen werden gerade verladen«, erklärte er, dann erst spähte er aus dem Plexiglasfenster und zeigte hinab. »Dort.« Claire sah mehrere Lastwagen an einer lan gen Pier stehen. Streifenwagen der Polizei sperrten nach wie vor die Zufahrtsstraßen zum Hafen, wo sich Schaulustige eingefunden hat ten. Aus den Lastwagen wurden mit Gabel staplern große Pakete entladen und auf das Deck eines langen Prahms gebracht. Alles schien in großer Eile vor sich zu gehen, und die Pakete wurden offenbar nach einem vorge
schriebenen Muster auf dem Deck placiert. Außerdem stand ein langer weißer Wohnan hänger auf der Pier, doch zeigte sich bei nähe rem Hinsehen, daß er weder Türen noch Fenster an den Seiten hatte. »Fahrbares Labor und wissenschaftliche Auf klärungsgruppe«, sagte Carmody beiläufig. Als ob er jeden Tag eine zu sehen bekäme, dachte Claire. Aber vielleicht war es so. »Wie weit werden Sie das Ding befördern?« rief John durch den Motorenlärm. »Fünfzig Kilometer. Minimum.« »Halten Sie das für sicher?« »Das müssen Sie sagen«, entgegnete Carmody ruhig. »Sie und Zaninetti berechneten diese Bindeenergie. Das ergab den Radius des Feu erballs, sollte das Ding losgehen – richtig?« John nickte, und Claire fröstelte plötzlich angesichts dieser selbstverständlichen Hin nahme dessen, womit sie zu tun hatten. »Das setzt aber die Umwandlung der gesam ten Masse in Energie voraus«, sagte Zaninetti beschwichtigend, als er ihren besorgten Aus druck sah. »Wahrscheinlich ist es viel weni ger.« Der Prahm mit dem Artefakt lief bereits aus der Hafenmündung. Seine Bugwelle schnitt ein V durch die kabbelige See. Als der Hub
schrauber sich nordwärts entfernte, war der kleine Punkt, der die Plane über der Kiste sein mußte, kaum noch zu erkennen.
Sie flogen gerade ins Herz der Stadt, über den Verkehrsstauungen des Spätnachmittags. Die New Atlantic Avenue glich einem einzigen Parkplatz. Claire war nie in einem Hub schrauber über Boston geflogen, und die Ge legenheit, das gesamte Stadtgebiet vom waldi gen Newton im Westen bis zum Siedlungsbrei von Lynn im Norden zu überblicken, nahm ih re ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die wenigen Hügel schienen sich wie stachlige Tiere über das geordnete, langweilige Schach brettmuster der Straßen und Häuserblocks zu erheben. Plötzlich erschien unter ihnen der Landeplatz auf dem Dach des JFK-Gebäudes. Zwei be waffnete Wächter geleiteten sie hinunter zu Carmodys Büro. Die Korridore, durch die sie kamen, waren menschenleer; entweder war dies ein exklusiver Bereich, oder jemand hatte ihn räumen lassen. Die zweite Möglichkeit schien Claire wahrscheinlicher, als sie sah, daß im Büro weiteres Kommunikationsgerät auf gebaut worden war, darunter ein Datenan schluß und Projektor mit übergroßem Bild schirm. Wo am Tag zuvor Stühle gestanden
hatten, bildeten jetzt zwei zusammenpassende Sofas eine Sitzecke. Sie waren von einem an genehmen Braun, und auf dem Tisch stand ei ne Vase mit frischen Chrysanthemen. Zwi schen den Kommunikationsgeräten hingen geschmackvolle Drucke von »modernen« Abs trakten, die inzwischen von der Postmoderne überholt waren, überwiegend in gedämpften eisblauen Tönen. Jemand war offensichtlich bestrebt gewesen, Carmody bei seiner Rück kehr zu beeindrucken. Die Bemühung blieb jedoch unbemerkt, denn Carmody marschierte ins Büro, ohne den Neuerungen auch nur ei nen Blick zu schenken. Der Durchgang zum Vorzimmer war offen, und dort saßen mehrere Männer in dunklen Anzügen an offenbar neu installierten Daten anschlüssen. Einige sprachen mit gedämpfter Stimme in Mikrophone. Niemand machte sich die Mühe, sie mit den Ankömmlingen be kanntzumachen. Leute kamen herein und stellten Carmody Fragen, die er rasch, kühl und lakonisch beantwortete. Der große Bild schirm zeigte eine Aufnahme, und Claire benö tigte eine Weile, bis sie erkannte, daß die Wir bel Wolkenformationen vor dem einförmig dunklen Hintergrund der See waren. In der Mitte, halb verhüllt von grauen Wolkenfetzen,
war ein länglicher Punkt: ein Schiff. »Die Pyramos«, sagte Carmody. »Sie ist vor mehreren Stunden auf Südkurs gegangen. Wir vermuten, daß sie Bermuda ansteuern wird. Das ist der nächste Hafen außerhalb den Staa ten.« »Warum fahren sie nicht nach Griechen land?« fragte John. »Sie werden die Nachrichten verfolgen. Vor ungefähr sechs Stunden haben die Türken ei nige griechische Kriegsschiffe angegriffen. Es wird einen Krieg geben.« »Mein Gott«, sagte Claire. »Wie dumm!« »Nicht, daß es für uns wichtig wäre«, be merkte Carmody. »Kontos ist nicht mehr von Bedeutung. Verglichen damit, was der Würfel anrichten könnte, ist selbst der grie chisch-türkische Konflikt nicht viel.« »Die nächste Runde in einer dreitausendjäh rigen Auseinandersetzung«, sagte Claire ver drießlich. »Eine neue Generation von Agamemmnons.« »Was ich von Ihnen möchte«, sagte Carmody und nickte John und Sergio zu, »ist eine klare Beschreibung von diesem, diesem zweiten Ob jekt. Und wo es ist.« »Es ist wie ein Quark«, sagte Sergio ernst. »Nur kann die bindende Distanz sehr, sehr
groß sein.« »Wie groß?« Zaninetti hob die Hände in ausdrucksvoller Gebärde. »In der Teilchenphysik sprechen wir gewöhnlich von einem Atom, das ist bereits groß. Aber hier haben wir es offensichtlich mit einem anderen Maßstab zu tun.« »Also?« »Das will sagen«, erläuterte John, »daß Quarks – die elektrisch geladenen Teilchen – im Prinzip unabhängig sind, nur sehen wir sie nie isoliert. Das liegt daran, daß sie einander mit einer Kraft anziehen, die von ihrer Tren nung unabhängig ist. Versucht man demnach, sie auseinanderzuziehen, würde man mehr und mehr Energie einsetzen müssen. Man kann zwei von ihnen nicht weiter als eine win zige, zu vernachlässigende Entfernung ausei nanderziehen. Das bedeutet, daß sie uns stets als größere Teilchen erscheinen, zwei zusam mengeballte Quarks.« »Ich kann dem nicht folgen«, sagte Carmody mit einer Spur von Ungeduld. »Nun, es ist alles ein wenig bizarr«, gab John zu. »Sehen Sie, die Mathematik sagt, daß die ses Paar von Singularitäten von der gleichen Kraft zusammengehalten werden sollte. Einer Kraft, die nicht nachläßt, wenn man beide Tei
le auseinanderzieht.« »Wie diese Quarks.« »Richtig. Wir zerbrechen uns den Kopf darü ber, wie es möglich ist, daß wir eine einzige Singularität sehen können. Warum ist ihr Partner, ihr…« »Zwilling?« sagte Claire. »Gut, nennen wir es den Zwilling. Wir fragten uns, warum der Zwilling nicht zu der Singula rität hingezogen wird, so daß sie sich in einer neuen Art von gebundenem Zustand vereini gen. Das könnte ein stabiler Zustand sein, das beweisen unsere Berechnungen.« »Woher wissen Sie, daß das Ding in dem Würfel nicht schon zu zweit ist?« »Die kubischen Felder sind das Kennzeichen einer Singularität«, sagte Zaninetti. »Zwei er geben ein anderes Feld. Es könnte sogar sphä risch sein.« »Vielleicht waren beide vorher zu zweit in dem Würfel«, spekulierte Claire. »Bevor was geschah?« fragte Carmody. »Bevor wir… äh… den Block bewegten.« »Bevor Sie ihn verpackten und verschifften?« »Es gab einen Unfall«, sagte Claire taktvoll. »Der Block fiel durch einen Felskamin, wobei die Kiste aufplatzte.« »Und dabei könnte die zweite Singularität von
der ersten losgerissen worden sein?« »Möglicherweise«, antwortete Sergio. »Un sere Mathematik zeigt, daß die Kraft zwischen den Zwillingen konstant ist. Also ermöglicht der Winkel, den der Würfel zur Vertikalen be schreibt, eine direkte Messung der Kraft. Hier…« Er ging zu einer Tafel an einer Seiten wand, nahm gelbe Kreide auf und begann eine Skizze aufzuzeichnen. »Hier in Boston wirken zwei Kräfte auf den Würfel ein. Die eine ist die Schwerkraft, sie weist vertikal abwärts. Die andere ist die Anziehungskraft des Zwillings, die in einem Winkel zur Schwerkraft wirkt und direkt zu diesem weist.«
»Wie ist der Winkel?« »Ich weiß nicht, wo der Zwilling ist, also ist dieser Winkel unbekannt«, antwortete Zaninetti. »Befindet sich der Zwilling genau auf der anderen Seite der Erde, so wirkt seine Anziehungskraft genau vertikal und verstärkt die Schwerkraft. Aber wir wissen, daß der Würfel ungefähr um zehn Grad von der Verti kalen abgewichen ist. Daraus folgt, daß der Zwilling nicht unter uns ist, in China oder ir gendwo dort, sondern anderswo.« »Irgendwo nordöstlich von hier. Das war die Richtung der Abweichung«, sagte John. »Sie haben es bemerkt? Gut! Dann zeichne ich den Zwilling hier ein, an einem Punkt auf der Kreisbahn, die um die Erde geht.« »Ein großer Kreis«, sagte Claire. »Si. Die Anziehungskraft des Zwillings zieht unseren Würfel seitwärts. Sagen wir, der Zwil ling ist sehr nahe, so würde seine Anziehungs kraft annähernd parallel zur Erdoberfläche verlaufen. Horizontal. Darum können wir aus dem Umstand, daß die Abweichung von der Vertikalen ungefähr zehn Grad betrug, erken nen, daß die seitlich wirkende Anziehungskraft
ungefähr ein Zehntel der normalen Schwer kraft ausmacht.« »Nicht sehr viel«, sagte Carmody. »Richtig, für subatomare Partikel ist es nichts«, sagte Zaninetti. »Die Theorie besagt, daß sie schwach sein sollte, aber wie schwach, ist schwer zu sagen. John und ich, wir sorgen uns die ganze Zeit darum, was diese Zwillinge daran hindert, zueinander zu finden. Wir dachten, daß es vielleicht eine Anpassung an die Kraft gibt, eine Abschirmung. Aber die richtige Antwort ist, daß wir dumm waren und daß die Kraft nicht blockiert wird. Sie ist schwach, und der Zwilling ist eben weit ent fernt.« »Wie weit?« fragte Carmody. »Kilometer, Tausende von Kilometern, das können wir nicht sagen. Wir haben nur den Winkel.« Ein Mann kam herein und flüsterte Carmody etwas zu. »Okay«, sagte dieser, und gleich da rauf füllte ein Bild vom Deck des Prahms, den sie kurz zuvor verlassen hatten, den großen Bildschirm. Im Vordergrund stand Arditti. »Ich wollte Ihnen dies zeigen, Sir«, dröhnte Ardittis Stimme aus den Lautsprechern in ’den Ecken des Büros. Der andere Mann verringerte die Lautstärke. Arditti hielt eine Karte hoch,
und Claire sah, daß es eine Seekarte vom Bos toner Hafen war. In diese Seekarte waren gro ße rote X-Markierungen eingetragen, die in einer Linie von Castle Island bis zur Hafenein fahrt verliefen. »Ich ließ unsere Taucher den Weg der Kiste am Meeresgrund verfolgen. Die Spur verläuft schnurgerade, wie Sie sehen.« »Radioaktivität in der Spur?« »Ja, es ist eine Art Furche, die das Ding ge schnitten hat. Wühlt sich tiefer in den Schlamm, je weiter man hinauskommt.« »In welche Richtung bewegte es sich?« Arditti drehte die Karte und vergewisserte sich. »Ich würde sagen, ungefähr dreißig Grad Nordost.« Carmody nickte. »Der einzige Grund, daß wir das Ding finden konnten, war, daß es anfing, eine Menge Ra dioaktivität auszuspucken. Gegen Ende der Bahn muß es verlangsamt haben. War beinahe im Schlamm vergraben.« »Wühlte sich tiefer«, murmelte John. »Was?« »Es grub sich ein, bewegte sich zu seinem Zwilling. Sehen Sie die Zeichnung: die Anzie hungskraft zieht es seitwärts und abwärts.« Carmodys Augen wurden groß. Er wandte sich zu der unauffällig in einem Bücherregal
montierten Videokamera und fragte Arditti: »Können Sie diese Wandtafel sehen?« »Nein, Sir, ich habe hier kein Bildschirmge rät. Aber ich kann eins holen lassen…« »Ist nicht so wichtig. Können Ihre Taucher mir sagen, welchen Winkel das Ding im Ver hältnis zur Erdoberfläche machte? Dazu müs sen sie die Tiefe der Furche messen, die es vor Castle Island machte, und dann bei der Stelle, wo die Bergung stattfand. Aber die Meerestiefe muß möglichst genau mit einbezogen werden.« »Jawohl, Sir.« Carmody schaltete den Bildschirm aus und blickte auf seine Uhr. »Noch eine Stunde, bis der Prahm sich der Sicherheitszone nähert.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hätten wir es an einen Hubschrauber hängen sollen.« »Aber wohin damit?« fragte Claire. »Jeder Landeplatz würde in Gefahr sein.« »Ja, aber der Prahm befördert es nach Osten, zu seinem Zwilling, richtig?« sagte Carmody. »Richtig, aber dieser Zwilling könnte weit entfernt…« »Und er könnte direkt unter dem Prahm sein. Wir wissen nicht genug.« »Ich glaube nicht, daß diese Tiefenmessungen Ihnen viel sagen werden«, wandte John ein. »Der Würfel sank einmal durch sein Gewicht
in den weichen Schlamm ein; zum anderen wurde er von diesem Schlamm gehemmt. Das ergibt keinen sauberen Winkel, wie er im Dia gramm zu sehen ist.« Zaninetti grunzte zustimmend. »Zu schmutzig da unten.« »Sehen Sie«, sagte Carmody mit deutlicher Ungeduld, »dies alles ist sowieso hypothetisch, aber warum sollte mich dieser Zwilling über haupt kümmern?« »Weil beide Singularitäten zur Vereinigung streben«, sagte John. »Sie werden in Bewe gung bleiben, bis sie einander finden.« »Dann sollten wir den Würfel einfach mar schieren lassen«, sagte Carmody. »Nein, ich würde sagen, nicht«, antwortete John. »Es wäre zu gefährlich. Nun, da ich die Theorie zu verstehen glaube, kann ich sagen, daß unsere Ängste unangebracht waren. Das Ding wird nicht einfach explodieren, weil es ein einfaches Partikel und kein Konglomerat ist, wie ich es zuerst dachte. Aber wenn es sei nem Zwilling begegnet – nun, ich weiß nicht.« »Ich erwarte, daß die Wiedervereinigung eine Menge Energie freisetzen wird«, sagte Zaninetti. »Was ist eine Menge?« beharrte Carmody. »Denken Sie an die Energie, die das Ding be
reits gespeichert hat«, sagte Zaninetti. »So lange der Stöpsel offen war, strömte Materie in das Vakuum, wurde angesaugt und der Masse hinzugefügt – Luft, Wasser, was in den Anzie hungsbereich geriet. Es muß wie das Aufziehen einer Feder gewesen sein. Solange die Zwillin ge getrennt sind, muß man gegen ihre Kraft arbeiten.« »Aber Sie sagten, die Kraft sei gering.« »Ja, gering, aber die Entfernung! Von hier nach Griechenland ist wieviel?« Er blickte zu Claire. »Neuntausend Kilometer«, sagte sie. »Gut. Stellen Sie sich einen Felsblock vor, der soviel wiegt wie ein Mensch, und schießen Sie ihn neuntausend Kilometer in den Raum hin aus, ausgehend von der Oberfläche eines Pla neten, der ungefähr ein Zehntel der Schwere hat, die die Erde ausübt. Dann lassen Sie ihn fallen – neuntausend Kilometer – peng!« »Ich sehe«, sagte Carmody. »Eine Menge Energie.« »Sie mißverstehen«, sagte Zaninetti kopf schüttelnd. »Das ist nichts, verglichen mit der Energie, die freigesetzt werden kann, wenn zwei von diesen Singularitäten kollidieren. Dann kann ein Teil ihrer Masse in Energie umgewandelt werden. Vorsichtig zusammen
geführt, gut – sie gehen einen gebundenen Zu stand ein. Aber wenn eine gegen die andere knallt…« »Verstehe.« Claire stand auf und trat zum Bücherregal. Darauf standen säuberlich geordnet allerlei Fach- und Nachschlagewerke. Sie fand einen großen Atlas und blätterte darin. Er enthielt eine Karte des Atlantischen Beckens, die sie betrachtete, während die Männer über die Energieausbeute stritten, die frei werden könnte, wenn die beiden Singularitäten ei nander mit hoher Geschwindigkeit trafen. Etwas, was Arditti gesagt hatte, beschäftigte sie. Sie zog einen Bleistift aus der Handtasche und legte die Kante eines Wörterbuchs als Li neal auf die Karte des Atlantik. Von Boston ausgehend, drehte sie die Kante des Wörter buchs um ungefähr dreißig Grad und zog eine gerade Linie über das Atlantische Becken. Die Linie führte aufwärts durch Neufundland und über den Ozean. Im weiteren Verlauf schnitt sie Frankreich nahe Bordeaux und führte dann, wegen der Erdkrümmung südostwärts. Sie querte die Stiefelspitze Italiens und er reichte südlich von Athen die Ägäis. Ein selt sames Frösteln überlief sie. »Es paßt alles«, sagte sie.
Carmody merkte auf. »Was paßt?« Sie zeigte ihm den Atlas. »Obwohl Mykene ziemlich genau östlich von hier liegt, braucht eine Kraft, die zwischen beiden Objekten wirkt, der Erdkrümmung nicht zu folgen. Sie schneidet sie an, etwa so. Ich legte Ardittis Angabe von einem Dreißig-Grad-Winkel zu grunde und zog eine Linie, das ist alles.« »Und sie führt durch Griechenland.« »Ja.« Es war ein unbedeutendes geographi sches Detail, doch war sie froh, es entdeckt zu haben, während die Männer einander so viel energiereiche Mathematik um die Ohren schlugen. »Also war meine Idee richtig. Das Gegenstück ist in Griechenland.« »War in Griechenland«, sagte John. »Seit wir den Würfel entführten, ist es in Bewegung, möchte ich wetten. Angezogen von seinem Zwilling hier.« »Wo ist es dann?« fragte Carmody. »Irgendwo entlang dieser Linie«, sagte Claire und fuhr sie mit lackiertem Fingernagel nach. »Im Erdinnern.« »Es saugt alles in sich hinein«, erklärte Zaninetti. »Gestein, Wasser, Erde – alles. So arbeitet es sich vorwärts.« »Es bohrt ein Loch, sozusagen?« »So muß es sein«, sagte John. »Das Ding im
Würfel wird es genauso machen.« »Warum ist es dann überhaupt drinnen?« fragte Carmody. »Ich vermute, daß es dort eine Art zeitweili gen Gleichgewichtszustand gebildet hat«, sagte John. »Seine Magnetfelder waren stark genug, um es drinnen in einem Schwebezustand zu halten; das habe ich vor ein paar Tagen ausge rechnet.« »Aber jetzt geht es hinaus«, sagte Carmody. »Bei der Verladung und dem Schiffsunter gang wird es herumgestoßen worden sein, das half wahrscheinlich.« »Und das Einströmen von Wasser hielt es nach dem Untergang im Würfel fest«, fügte Zaninetti hinzu. »Und was hält es jetzt zurück?« fragte Carmody. Claire sah, worauf er hinaus wollte. »Der Fli cken. Aber die Singularität wird sich durch fressen und freikommen.« Carmody nickte einem seiner Helfer zu. »Ge ben Sie mir den Prahm!« Augenblicke später erfüllte Abe Sprangles Stimme, blechern und von fern, den Raum. Claire war immer wieder verblüfft, wie rasch Carmodys Mitarbeiter begriffen, was er wollte, und augenblicklich die komplizierten Kom
munikationswege öffneten. Im übrigen ver hielten sie sich still, verfolgten aber die Dis kussion. Sie hatte das unheimliche Gefühl, daß sie genau für dieses Ereignis ausgebildet wor den seien, oder sich wenigstens mit erstaunli cher Schnelligkeit Notsituationen anzupassen verstanden. Während Carmody sich von Abe unterrichten ließ, blickte sie zu John. Er starr te nachdenklich und besorgt auf die Landkarte mit dem Bleistiftstrich. »Ja, ich bekomme mehr Gammastrahlen aus dem Flicken«, bestätigte Abe. »Überwachen Sie die Strahlungsintensität«, sagte Carmody. »Verlassen Sie, wenn nötig, das Schiff…« »Nein, Moment«, unterbrach ihn John. »Er soll den Würfel drehen.« »Wie?« »So, daß der Flicken nach Südwesten weist. Das wird die Singularität abziehen und auf die entgegengesetzte Wand konzentrieren und so die Gefahr vermindern.« Carmodys Miene hellte sich auf. »Haben Sie gehört?« sagte er zu Abe. »Ja, aber ich verstehe nicht…« »Tun Sie es einfach!« sagte Carmody munter. »Meine Leute hören mit, geben Sie ihnen die Anweisungen.« »Noch besser würde es sein, wenn Sie den
Würfel langsam rotierten«, ergänzte John. »Das wird die Singularität veranlassen, ver schiedene Stellen an der Innenseite des Wür fels zu bearbeiten. So wird sie länger brau chen, ins Freie auszubrechen.« Carmody sprach zu den Männern an Bord des Prahms und diskutierte die Möglichkeiten, den Würfel zu bewegen. Er gab Anweisung, daß al le Besatzungsmitglieder, die nicht unmittelbar am Würfel arbeiteten, sich möglichst von ihm fernhalten sollten. Die meisten Leute waren bereits mit den Kuttern und Motorbooten nach Boston zurückgeschickt worden, und es waren nur noch zehn Mann an Bord. »Das wird uns helfen, Zeit zu gewinnen, wenn Sie recht haben«, sagte Carmody und lehnte sich in seinen Ledersessel zurück. »Aber wie viel?« »Schwer zu sagen«, gab John zu. »Ich beginne zu denken, daß es am klügsten sein könnte, das Ding einfach über Bord zu werfen«, sagte Carmody. »Dann kann es sich in die Erde hineingraben und sich zu seinem Zwilling auf den Weg machen.« »Und wenn ihm das nicht gelingt?« sagte Zaninetti. »Warum sollte es ihm nicht gelingen?« »Es ist keine starke Kraft, von der wir hier
sprechen. Wie ich sagte, die Berechnungen zeigen deutlich, daß es der Kraft gleicht, die den Quarks eigen ist – gleichbleibend, aber schwach. Viele Dinge wirken stärker.« »Welche?« »Magmatische Strömungen«, sagte Zaninetti. »Unter der Erdkruste finden starke Strö mungsbewegungen glutflüssigen Magmas statt. Sie bewirken den Vorgang der Plattentektonik, die Verschiebung der Kontinente. Geriete die Singularität in diese Zone, so würde sie wahr scheinlich von den magmatischen Strömungen mitgenommen werden, aufwärts, abwärts, überallhin.« »Zurück an die Oberfläche?« fragte Carmody. »Früher oder später einmal, sicherlich. Die Konvektionszellen der magmatischen Tiefen strömungen lassen ständig heißes Material aus dem Erdinneren emporsteigen und entlang den mittelozeanischen Rücken am Meeres grund austreten. Es ist denkbar, daß die Sin gularität ihr Gegenstück niemals finden wird.« »Sahen Sie oder der andere, mit dem Sie in Griechenland waren, damals etwas Unge wöhnliches?« fragte Carmody. »Etwas, was ei ne zweite Singularität hätte sein können?« »Nein. In diesem unterirdischen Höhlengang war es finster. Aus einem Seitengang sah ich
schwachen Lichtschein, aber ich dachte, es sei bloß ein zweiter Weg hinab zum Wasser.« »Aber Sie sind der Meinung, daß die zweite Singularität bei der Gelegenheit aus dem Würfel geschleudert wurde oder ausbrach?« John zuckte die Achseln. »Es ist die einzige Erklärung, die mir einleuchtet. Das Ding machte eine Menge Lärm. Ich dachte, es sei die Kiste, als sie hinunterpolterte.« »Dieser Stöpsel an der Rückseite des Würfels, erinnerst du dich?« sagte Claire. »Der Stöpsel aus Gestein war mit Lehm verklebt. Aber als ich das Gestein untersuchte, war es amorph. Ich hielt es für Basalt. Das könnte geschmol zener Kalkstein gewesen sein, der nach dem Entweichen des Zwillings erhärtete.« »Dann wäre die Singularität entlang einer der Symmetrieachsen ausgetreten«, meinte John. »Gewiß, das ist der leichteste Weg hinaus. Also durchdrang sie die Mitte der Rückwand – viel leicht, weil die Kiste rückwärts fiel, nicht? Sie fiel auf die Rückseite und stieß die Singularität hinaus. Vielleicht…« Carmody wedelte mit den Händen. »Genug von vielleicht dies, vielleicht das! Ich möchte zu Professor Zaninettis Bemerkung zurück kehren. Sie sind der Meinung, daß diese Sin gularitäten durch ihr Graben große Schwie
rigkeiten verursachen könnten?« »Si. Im ungünstigsten Fall könnten sie bei spielsweise neue vulkanische Schlote öffnen, um nur ein Beispiel zu nennen. Wenn…« Einer der Mitarbeiter kam zu Carmody und flüsterte ihm etwas zu. Carmody runzelte die Stirn, nickte. »Ich hörte gerade von dem Taucher in Ardittis Mannschaft. Er erwischte eine tödli che Strahlungsdosis.« Darauf blieb es lange still. Was eine abstrakte Diskussion gewesen war, gewann unversehens eine reale, menschliche Dimension. Schließ lich ergriff Carmody das Wort und sagte mit Entschiedenheit: »Dies soll uns eine Mahnung sein, daß wir sehr sorgfältig überlegen müs sen, wie wir weitere Exkursionen dieser ver dammten Dinger verhindern können. Was schlagen Sie vor?« Zaninetti schürzte die Lippen, zog die Brauen düster zusammen. »Gäbe es eine Gewißheit, daß die Zwillinge tief in der Erde sicher zu sammenkommen werden, so wäre das die bes te Lösung. Aber wenn schon der Sturz durch ein Loch beide Komponenten auseinanderrei ßen kann, dann würde ich mir Sorgen machen. Sie werden frei bleiben, und imstande, an die Oberfläche zu kommen.«
»Gut. Was tun wir?« Carmody machte ein Ge sicht, als ging ausnahmsweise auch ihm alles viel zu schnell. »Gibt es eine andere Wahl?« sagte Claire ru hig. »Wir müssen den Schaden, den wir ange richtet haben, wiedergutmachen und ein fried liches Zusammentreffen der Zwillinge arrangieren.«
SECHSTER
TEIL
1 Die Spätherbstnacht hüllte das Schiff in Ne bel. John Bishop stand auf dem hallenden Stahldeck des Begleitschiffes und spähte vo raus in die trübe Dunkelheit, um ein Zeichen von Land zu entdecken. Die Argolische Halb insel lag nur eine oder zwei Seemeilen nörd lich, und bald mußten sie die Insel Spetsai passieren. Er dachte daran, wie er mit George auf diesem öden Eiland umhergewandert war, um den Kapitän der Skorpio zu überzeugen, daß sie bloß Touristen seien. Es schien Jahre her zu sein, doch waren es nur etwas mehr als drei Monate. Und damals wie jetzt beschäftig ten ihn die bevorstehenden Ereignisse. Salzige Frische stieg ihm in die Nase, als er sich über die Reling beugte. Das gedrosselte Grollen der Schiffsdiesel vibrierte durch seine Stiefelsohlen. Er war allein an Deck; Arditti und Carmody und die anderen waren unten, tranken Kaffee und beobachteten die Situation über die Monitore. John hatte das Gefühl, schon so aufgeregt genug zu sein, und wollte seinem Blut kein Koffein zumuten. Es war na türlich viel zu spät für andersgeartete Überle gungen, aber er hatte sie trotzdem. Die letzten neun Tage waren ein verwirren
des, sich überstürzendes Durcheinander von Ideen, Spekulationen und stetig sich einen genden Möglichkeiten gewesen. Carmody war allem Anschein nach imstande, jede Dienst leistung zu bekommen, jede technische Hilfe, bis hinauf zur Ebene des Nobelpreises, indem er sie einfach anforderte. Daß solche Männer in der Regierung existierten, war John neu, doch wurde bei näherer Überlegung klar, daß es unvermeidlich war. Moderne Krisen, in de nen nicht selten gefährliche Technologien eine Rolle spielten, verlangten eine rasche Über sicht und das gleichzeitige Erfassen vieler As pekte. Jemand mußte wissen, wie man Eifer süchteleien zwischen Ministerien und nachgeordneten Behörden überwand, Spuren verfolgte, den wahren Gehalt aus selbstver herrlichenden Darstellungen filterte, fach übergreifende Zusammenarbeit organisierte und alle Beteiligten auf das jeweils anstehende Problem konzentrierte. Der entscheidende Durchbruch war gekom men, als sie die Größe eines Tunnels berech neten, der von einer Singularität durch ge wachsenen Fels gebohrt würde. Das winzige Schwarze Loch erhitzte das Gestein, bis es nach innen floß und der Masse des Loches hinzugefügt wurde. So saugte es einen kleinen
Teil des erhitzten Gesteins auf und ließ den Rest hinter sich zurück. Durch diese Erhitzung entstand starker Druck, der das geschmolzene Gestein in benachbarte Risse und Spalten zwang. Somit entstand hinter der Singularität eine etwa armdicke Röhre mit glasigen Wän den. Selbst in größeren Tiefen würde die Last des anstehenden Gesteins einen so entstande nen Tunnel nicht gleich wieder schließen. Wo immer die zweite Singularität sich jetzt befand, sie mußte von der geographischen Position des Kuppelgrabes eine gerade Linie geschnitten haben. Aber wohin? Die Beantwortung dieser Frage erforderte nicht die eleganten Taschenspieler tricks theoretischer Physik, sondern vielmehr den zeittypischen Wirrwarr komplizierter, mühsamer und langweiliger Teiloperationen. Mit dem Aufkommen immer neuer, halb in telligenter Computergenerationen war auch eine neue Art von Intellektuellen entstanden. Carmody rief eine Anzahl von diesen zusam men, daß sie eine auf Berechnungen beruhen de Schätzung der Position des Zwillings mach ten. Diese Leute kannten kein Fachgebiet genauer, aber sie waren geübt in der Kunst, Spezialisten die richtigen Fragen zu stellen und verstanden sich auf die Integration von
Wissen, ohne es in allen Verästelungen zu be herrschen. Da ihnen enorme Computerkapa zitäten zu Gebote standen, wurde zur ent scheidenden Frage, wie das jeweilige Programm ausgearbeitet und wie die Fragen formuliert werden mußten. Sie übersetzten den Fachjargon, die Syntax, die Vorurteile und den Stil vieler Disziplinen in ihre Programme, so daß die Computer die ermüdende numeri sche Arbeit ausführen konnten, die zu be stimmten Antworten führte. Diese Fachleute für Korrelationen nahmen sich des Problems an und brachten schlechte Nachrichten. Der Zwilling befand sich wahrscheinlich un ter Frankreich und bewegte sich mit einer Ge schwindigkeit von ungefähr drei Kilometern am Tag. Die einfachste Art und Weise zur Wiederver einigung der beiden Singularitäten wäre die Versenkung des Würfels in einen Bergwerks schacht irgendwo in Südfrankreich, wo die beiden sich dann finden könnten. Die Mög lichkeit wurde in einer detaillierten numeri schen Simulation durchgerechnet, doch zeigte sich, daß sie nicht erfolgversprechend war. Das Aufsteigen der zweiten Singularität aus dem Mantel könnte nachdrängendem Magma einen Weg zur Oberfläche öffnen, und was
beide Komponenten dort bis zur erhofften unspektakulären Wiedervereinigung tun wür den, blieb der Spekulation überlassen. Mit Si cherheit würden sie tödliche Gammastrahlung aussenden. Carmody war ein Feind jeder Ungewißheit. Insbesondere mißfielen ihm ungelöste Prob leme. Darum hatte er eine kühne Lösung ge sucht, etwas, das die zweite Singularität in ei ner berechenbaren Art und Weise zur Oberfläche bringen würde, wo sich mit ihr fer tig werden ließ. John fröstelte in seinem schwarzen Tau cheranzug. Der mediterrane Winter brachte schneidend kalte Nordwinde, die den Wellen kämmen Schaumkronen aufsetzten. Die Böen pfiffen vom Land her um die Schiffsaufbauten und zausten ihm das Haar mit eiskalten Fin gern. Das Meer versprach willkommene Wär me. Er verließ die fliegende Brücke und tappte im Dunkeln um das Signalfall. Über ihm kreisten unaufhörlich die Antennen und suchten den Horizont ab. Die Positionslampen waren gelöscht, das Schiff verdunkelt. Die USS Watson rollte schwerfällig in den kurzen, hochgehenden Seen. Sie war ein Spezialschiff der Sechsten
Flotte und offiziell ein Teil der Einsatzgruppe 32. Das ganze Schiff war von oben bis unten vollgestopft mit elektronischen Abhörgeräten, Ultrakurzwellen, Radar, Sonar und Infrarot systemen. Seine Aufgabe war die Raumüber wachung im Umkreis von Hunderten von Seemeilen und das Abhören land- und seege stützter feindlicher Sender, sowie die verfol gende Ortung feindlicher See- und Luftstreit kräfte, bevor sie in den Aktionsbereich der US-Schiffe kamen. Achtern gab es einen Hub schrauberlandeplatz, und vor der Brücke be fand sich eine Abschußrampe für Flugab wehrraketen. Jeder konzertierte Angriff würde mit Sicherheit zum Sinken des Schiffes führen, doch sollte es dazu normalerweise nicht kom men. Der Flugzeugträger Eisenhower bewegte sich knapp hundert Seemeilen östlich. Er hatte startbereite Düsenmaschinen in Katapulten auf dem Flugdeck, die im Bedarfsfall jederzeit starten und innerhalb von Minuten an Ort und Stelle sein konnten. Vorsichtig tastete John sich den Weg über Niedergänge zurück. Das Wetter war für ihr Vorhaben ausgezeichnet, mit einer dicken Wolkendecke und einer schmalen Mondsichel darüber. Er hoffte, daß es dabei bleiben würde. Ehe er mittschiffs unter Deck ging, hob er noch
einmal witternd die Nase in die salzige, etwas nach Seetang riechende Brise, um zu sehen, ob sie auf West gedreht hatte, wie die Meteorolo gen prophezeit hatten. Aber das war noch nicht der Fall. Das rote Licht über der Operationszentrale war die einzige Beleuchtung im Korridor; man achtete streng darauf, jeden vom Land sicht baren Lichtschein durch momentan geöffnete Luken oder Türen zu vermeiden. John schritt durch den Vorraum in die Zentrale mit ihren Bildschirmen und Konsolen. Carmody saß dort über seine Aufzeichnungen gebeugt. Techniker an den Arbeitsplätzen murmelten in Kehl kopfmikrophone und verfolgten die Darstel lungen auf ihren Bildschirmen, wo verschie denfarbige Punkte in langsamer Bewegung zu erkennen waren. Die Überwachung war auf den nördlichen Sektor über der Argolischen Halbinsel konzentriert. John betrachtete eine Übersichtskarte der westlichen Ägäis, auf die alle wahrgenommenen Bewegungen fremder Schiffe und Flugzeuge mit ihren jeweiligen Po sitionen kontinuierlich übertragen wurden. Es gab nur wenige blaue Punkte zu sehen, die griechische Flugzeuge kennzeichneten. Viel leicht waren es militärische Patrouillenflüge, vielleicht sogar Privatmaschinen. Die Front
war schließlich weit entfernt, und das zivile Leben mußte weitergehen. Eine zweite Über sichtskarte zeigte Infrarot-Satellitenbilder. Er konnte mit den unregelmäßigen Klecksen grüner, orangefarbener und rötlicher Töne nicht viel anfangen. Städte hoben sich schar lachrot ab, aber das Auswerten der übrigen Merkmale war etwas für Sachverständige. Er ließ sich neben Carmody auf einen freien Sitz fallen. »Ein letzter Segen?« fragte er. »Gehen Sie und tun Sie Ihre Arbeit!« »Keine Sorge. Sehen Sie zu, daß das Boot rechtzeitig zur Stelle ist.« »Es ist kein Boot, sondern ein Schlauchboot.« »Hauptsache, es ist leise.« »Das wird es sein. Nicht, daß es darauf ankä me. Der Hubschrauber wird bis dahin alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.« John warf einen Blick auf die Skizze, die Carmody auf einer Klemmtafel befestigt hatte. Es war dieselbe, die er vor zwei Tagen in Bos ton zur Verdeutlichung des Planes gezeichnet hatte. »Glauben Sie noch daran?« fragte er. Carmody zuckte die Achseln. »Genug, um et was griechischen Grundbesitz zu riskieren.« »Und einige Menschenleben«, sagte John.
»Ja.« Carmody war ganz unbesorgt. Er hatte solche und wahrscheinlich schlimmere Opera tionen früher schon durchgeführt. Die Zeichnung sah harmlos aus. Die zweite Singularität hatte ihren engen kleinen Tunnel Hunderte von Kilometern vorangetrieben und war jetzt tief unter Europa. Wahrscheinlich hatte sie bereits winzige Spannungen und Be wegungen im Untergrund erzeugt, die womög lich als Auslöser vorhandener Spannungen wirkten und an der Oberfläche als Erdbeben wirksam würden. Sie kroch unter der Erde dahin und saugte unersättlich geschmolzenes Gestein ein. Eine Merkwürdigkeit, die in Computersimulationen aufgetaucht war, klärte eine entscheidende Frage: Warum sie nicht durch Kruste und Mantel zum Erdkern absank wie durch Butter. Sie war sehr viel dichter als Felsgestein, mithin müßte sie nach aller Logik sinken. Es war kennzeichnend für die Vielseitigkeit der Com puterspezialisten, daß sie eine Erklärung fan den, ehe Abe und John das Problem bemerkt hatten. Materie fiel entlang den Diagonalen ihres ku bischen Schwerefelds in die Singularität. Ein Teil wurde verschluckt, der Rest des ge schmolzenen Gesteins als umgewandelte
Energie abgestrahlt. Dazu kam die gleichmä ßige Schwerkraft der Erde. Die Verbindung der beiden Schwerefelder führte zu einer un gleichmäßigen Abstrahlung nach unten. Diese und die gleichmäßige Anziehung der anderen Singularität erzeugten einen Gegendruck auf wärts, der die Singularität wie ein Luftkissen boot polsterte und ein Absinken verhinderte. Die gegensätzlich wirkenden Kräfte trugen aber auch zu der Ungewißheit bei, ob die bei den einander anziehenden Singularitäten an gesichts der gegenwirkenden Kräfte jemals wieder zusammenfinden würden. »Ich würde mich viel besser fühlen, wenn die numerischen Simulationen ein klareres Bild ergäben«, sagte Carmody verdrießlich. »Na, die Leute hatten nur ein paar Tage Zeit.« »Und ein paar Millionen Dollar. Für solch ei ne Rechnung erwarte ich klare Antworten.« »Alle Simulationen zeigten, daß der Zwilling durch seinen eigenen Tunnel zurückkehrt.« »Ja. Aber wie schnell?« »Einige sagen einen Tag, andere sagen eine Woche.« Carmody schüttelte den Kopf. »Zuviel Spiel raum.« »Wenn Sie Gewißheit wollen…« »Ich weiß, soll ich denen noch eine Woche
geben. Bis sie alle Massegradienten mit einbe ziehen können, und die Erdrotation, und Im ponderabilien der Teilchenphysik – Ich habe die Einkaufsliste.« Die Lösung war nicht elegant. Die beste Mög lichkeit, die zweite Singularität aus den Tiefen der Erdkruste zu holen war ihre Rückkehr durch den Tunnel, den sie bereits geschmolzen hatte. Berechnungen und Simulationen zeig ten, daß eine Umkehr der Anziehungskraft den Zwilling auf dieser Spur halten würde, weil sie den Weg des geringsten Widerstandes dar stellte. Um den unterirdischen Zwilling zur Rückkehr auf seiner Spur zu bewegen, mußte das Gegenstück wieder in Griechenland sein. Umfangreiche Computerprogramme unter suchten, wie die Singularität auf Windungen des Tunnels, auf Einstürze oder Magmaflüsse reagieren würde, und die Lösungen ergaben allesamt, daß sie sich entlang ihrer Bahn zu rück zum mykenischen Grab arbeiten würde. Die Ankunftszeit wurde allerdings uneinheit lich beurteilt, weil niemand sagen konnte, in welchem Umfang der Tunnel dem Druck und den Bewegungen im Untergrund standgehal ten hatte. Eine Mehrheit glaubte, daß die Singularität Frankreich erreicht hatte. Eine Minderheit
glaubte, sie könne den griechischen Raum noch nicht verlassen haben. Sie stritten um Feinheiten der Physik Schwarzer Löcher, und Carmody betrachtete ihre Argumente als tal mudisches Gezänk. Gleichwohl konnte die Minderheit eine starke praktische Wahrscheinlichkeit ins Feld führen. Sie stellte sich vor, daß die Singularität sich langsam durch Fels graben würde und sich wahrscheinlich nur ein paar Hundert Kilome ter entfernt habe. Das wiederum bedeutete, daß die Singularität dort im Untergrund keine Gelegenheit gehabt haben konnte, sich in ei nem vergeblichen Versuch, ihre Schwester am Himmel zu erreichen, aufwärts zu arbeiten. Die Mehrheit hatte mit diesem Umstand er hebliche Schwierigkeiten. Während die Dü senmaschine flog, könnte die unterirdische Singularität aus ihrem gebohrten Kanal ge lenkt werden. Um dies zu vermeiden, hatten sie eine komplizierte Flugroute errechnet, die mit Höchstgeschwindigkeit zurückgelegt wer den sollte, um die Abweichung des Zwillings gering zu halten. Carmody hatte sich für die Meinung der Mehrheit entschieden, obwohl ihn diese Diffe renzen unter Sachverständigen ärgerten und beunruhigten. Zu John hatte er bemerkt:
»Schließlich sind es Wissenschaftler, man er wartet, daß sie sich mit diesem Zeug ausken nen!« Und der Unterton von Entrüstung war un überhörbar gewesen. Die Lösung war riskant. Sie umfaßte die Rückführung des Würfels in die Nachbarschaft des Kuppelgrabes, so daß seine Anziehungs kraft die zweite Singularität entlang dem zuvor geschmolzenen Weg zurückziehen würde. Dann konnten beide Singularitäten wieder zusammenkommen. Der Zwilling würde ver mutlich wie der Blitz aus seinem Tunnel ge saust kommen, weil er auf freier Bahn keinen Widerstand hätte. Wenn die zwei aber in ho her Geschwindigkeit zusammenträfen, konnte es zu einer gewaltigen Verschmelzung kom men, bei der viele Megatonnen Energie freige setzt würden. Um das zu vermeiden, mußte jemand den Würfel vom Zwilling fernhalten. Überraschenderweise schien dies nicht allzu schwierig. John und Zaninetti hatten bewiesen – soweit dies auf Papier möglich war –, daß die Anzie hungskraft zwischen den Singularitäten un abhängig von ihrer Trennung war. Mithin würde das gleiche Zehntel der Erdschwere versuchen, beide Komponenten zusammenzu
ziehen, gleichgültig, wo sie sich befanden. Aber ein Zehntel der Erdschwere würde nicht aus reichen, um eine Singularität in die Luft em porzuheben, nicht, wenn die volle Schwerkraft sie herabzog. Also konnte die unterirdische Singularität nicht vom Boden abheben. Sie konnte wie ein Maulwurf graben, aber nicht wie ein Adler fliegen. Sie aus dem Grab zu ziehen, erforderte ledig lich, daß der Würfel verlockend nahe in der Luft gehalten wurde, während der Zwilling ruhelos darunter kreiste und verausgabte, was er während seiner Reise durch den Tunnel an Energie gesammelt hatte. Carmody schmunzelte. »Und hier dachte ich, die Wissenschaft sei exakt, könne Gewißheit vermitteln. Zum Teufel, sie ist genauso schlecht wie unsere verdammte Außenpolitik.« »Die auch nicht funktioniert.« »Das können Sie zweimal sagen. Wissen Sie, als der Präsident dieses Vorgehen billigte, ließ das Außenministerium bei den Griechen vor fühlen. Erkundigte sich nach den Möglichkei ten einer Verständigung über dieses Ding, Kooperation…« »Was?« »Regen Sie sich nicht auf. Die diplomatischen Fühler haben nichts von unserem Vorhaben
verraten.« »Wenn die Griechen argwöhnen…« »Wir haben die Sache ganz unbestimmt ge halten.« »Trotzdem…« »Wir wollten bloß sehen, was sie sagen wür den. Und natürlich unseren Hintern diploma tisch bedecken, sollte dieses Vorhaben ir gendwie platzen.« »Wird es bekannt werden? Wenn wir vorsich tig sind…« »Ganz bestimmt. Solch ein Ding läßt sich heutzutage nicht geheimhalten.« »Was werden die Griechen sagen?« »Sie werden ihre gewohnten Vorwürfe wie derholen. Uns der Nutznießerschaft am türki schen Krieg bezichtigen, der imperialistischen Selbstherrlichkeit, die das Völkerrecht mit Füßen tritt – das übliche.« »Wozu dann die Mühe solcher diplomatischer Vorstöße?« »Das Außenministerium möchte sagen kön nen, wir hätten es zuerst auf diplomatischem Wege versucht und seien zurückgewiesen worden. Die Europäer werden sowieso ein großes Aufhebens davon machen, aber die Aufmerksamkeitsspanne ist heutzutage so kurz, daß die Medien nach zwei, drei Tagen auf
andere Ereignisse übergehen werden, ganz gleich, was geschieht. Das Außenministerium sorgt sich jedoch wegen Japan und China – die sind wichtig. Es geht um das Panpazifische Handelsabkommen, das jetzt unterschriftsreif gemacht werden soll; man möchte Störungen vermeiden.« »Hat Athen etwas über Kontos gesagt?« »Nein, er trat nicht als Unterzeichner der Antwort oder anders in Erscheinung. Schließ lich gehört er nicht dem Außenministerium an.« »Oder vielleicht…« »Wir wissen, daß er zurückgekehrt ist. Zwei Stunden nachdem die Pyramos in Bermuda anlangte, buchte er einen Flug der British Airways. Flog über Heathrow nach Athen.« »Wenn er nur ein Bruchstück dessen mitbe kommt, was vorgeht…« »Gewiß, er vermutet, dieses Ding könnte eine Waffe sein.« Carmody runzelte die Stirn und saugte an seinen Zähnen. »Und es könnte als Waffe gebraucht werden.« »Das war der Punkt, der in der Sondersitzung des Pentagon den Ausschlag gab. Ein Grund mehr, daß diese Dinger, wenn sie schon hoch gehen sollten, dies außerhalb der Vereinigten Staaten passiert. Kontos wollte den Würfel ja
wiederhaben. Okay, hier ist er – genau wie er es verlangte.« »Zuerst wollen wir den Würfel nicht mehr hergeben, dann schieben wir ihn den Griechen wie eine heiße Kartoffel zu.« Carmody lächelte. »Aber wir sind die einzi gen, die wissen, daß sie heiß ist.« »Kontos weiß genug, um die Russen dafür zu interessieren.« Carmody schüttelte den Kopf. »Seine Regie rung hat keine Zeit, auf ihn zu hören. Schließ lich scheiterte sein Vorhaben. Er verlor sein Boot, seine Beute, alles. Und sie haben einen Krieg am Hals.« Dies war tatsächlich die beste Tarnung für das Manöver der Watson. Offiziell kreuzte sie als Teil der Einsatzgruppe 32 in der südlichen Ägäis, um die Kämpfe im Norden zu beobach ten. Die Griechen behaupteten sich auf See und in der Luft. Sie hatten Vorstöße der Tür ken in die Ägäis zunichte gemacht, wobei al lerdings viele Schiffe und Flugzeuge in einem großen Kampf vor der Insel Chios verlorenge gangen waren. Die türkischen Verluste sollten noch beträchtlich höher sein, hauptsächlich weil die Griechen über besser ausgebildete Pi loten verfügten, aber die Türken waren zah lenmäßig überlegen.
Der entscheidende Punkt war, wer die Herr schaft über die offene See gewann. Gelang es den Türken, die griechische Marine zu zer schlagen, konnten sie ungehindert amphibi sche Landungsschiffe über die Ägäis schicken und eine Invasion Mittelgriechenlands durch führen, was vermutlich eine rasche Entschei dung des Krieges zu ihren Gunsten bewirken würde. Vermochten die Griechen sich aber auf See zu behaupten, so bestand angesichts der Wahrscheinlichkeit eines langen und verlust reichen Abnutzungskrieges die Möglichkeit eines Waffenstillstands auf der Basis des Sta tus quo. Weit im Norden, wo beide Länder eine ge meinsame Grenze in Thrakien hatten, entwi ckelten sich bereits Landschlachten, doch er wartete man, daß die Griechen im hügeligen Terrain ostwärts der Halbinsel Chalkidike ih ren schmalen Landstreifen auch gegen eine starke türkische Übermacht würden halten können. Unterdessen bemühten sich Diplomaten um einen Waffenstillstand. Die Türkei verlangte den Beistand ihrer NATO-Verbündeten. Gerüchte wollten von sowjetischen Waffen lieferungen an Athen wissen, wobei es sich vor allem um neuartige Flugabwehrraketen han
deln sollte. Die griechische Regierung erbat offen Unterstützung vom sozialistischen Lager, womit nur der Warschauer Pakt gemeint sein konnte. Carmody zeigte zu der großen Übersichtskar te, die ein Gesprenkel gruppierter Punkte über der nördlichen Ägäis zeigte. »Die Türken sind heute nacht aktiv. Das wird die Griechen be schäftigen.« »Ja«, sagte John unbehaglich. »Für eine Wei le.«
2 Als Claire nach ihrem Nickerchen in die Mes se der Watson kam, zeigte der Fernseher die Übertragung eines amerikanischen Pro gramms. Nicht die Nachrichten, nicht einmal ein Baseball- oder Footballspiel, wie sie von den Seeleuten erwartet hätte, die bequem herumsaßen, Kaffee tranken und das Pro gramm verfolgten. Sie mußte zugeben, daß die klischeehaften Vorstellungen über Seeleute, die sie bisher
akzeptiert hatte, zumindest im Fall dieser Männer irrig gewesen waren. Sie waren be weglich, intelligent und diszipliniert, ohne starr zu sein. Selbst jetzt wahrten sie bei allen schlauen Blicken, die sie ihr aus den Augen winkeln zuwarfen, eine geziemende Zurück haltung. Sie war sich sehr wohl bewußt, daß die Besatzungsmitglieder seit mehr als einem Monat keine Frau aus der Nähe gesehen hat ten. Es war wie ein gleichförmiger Unterton an Bord, eine Sache der Körpersprache und zu langer Blicke, nichts, wogegen sie Einwände hätte erheben können, und von seiten der Männer vielleicht nicht einmal bewußt. Aber es war da. Immerhin hielten sie es zurück, so gewissenhaft und ordentlich wie ihre gebügel ten blauen Uniformen. Das Fernsehen zeigte einen Informationsfilm über Mikrobiologie, in dem DNS-Moleküle sich wie bunte, tanzende Schlangen unter einem wachsamen Elektronenmikroskop ringelten. Die Begleitmusik hörte sich wie ein elektro nisch verfremdetes barockes Cembalo an. Die Stimme des Kommentators erklärte den ein zigartigen Stellenwert, den die Ionen von Phosphorverbindungen in unserer Biologie einnahmen, glaubte darin Ordnungen zu er kennen, die er auf Ideen des 15. Jahrhunderts
vom Uhrenbau und Planetenbahnen zurück führte, die er wiederum mit der Entwicklung der bürgerlichen Freiheiten in der modernen Welt verband. Die Musik ging zu Beethoven über. Darwin trat auf, dann modernistische Drucke, die den Lebensüberdruß illustrierten, und dann wurde über Prädestination und Freud gesprochen. Die heitere, die saubere Wissenschaft. Das sollte offenbar die Botschaft dieses sonderba ren Potpourris von Wissenschaftswerbung sein. Daß man solche Reklame überhaupt nötig zu haben meinte, ließ den Schluß zu, daß der Fortschrittsglaube auch in den Kreisen seiner Verfechter brüchig wurde. Jedenfalls hatte das alles nichts mit dem Herumkriechen in einer Höhle zu tun, oder mit der Suche nach einem Etwas, das tödliche Gammastrahlen aussen dete. Damit natürlich nichts. Sie nahm einen Plastikbecher des schrecklichen Kaffees in die Hand und ging auf Deck. Die Nachtkälte vermochte ihrer dicken Jacke nichts anzuhaben. Sie ging langsam nach ach tern, plump und tapsig in den schweren Stie feln, die sie von der Marine bekommen hatte. Radarantennen verschiedener Formen und Größen rotierten unaufhörlich über ihr, ge räuschlose Begleitung zum ewigen Vibrieren
der Maschinen und dem Rauschen des Was sers am Schiffsrumpf. George Schmitt überwachte die Arbeit auf dem Hubschrauberdeck. Arbeitstrupps warte ten und betankten die beiden Maschinen, während andere das große würfelförmige Ob jekt festmachten. Sie dachte an das steinerne Artefakt unter all den Schichten von Metall und speziellen Dämm- und Kunststoffen. Der schmutzigweiße Verschlag, der es nun beher bergte, war von Materialexperten zusammen gesetzt worden, weil man die Singularität im Inneren des Blocks so lange wie möglich darin festhalten wollte. Eine besondere Gruppe von vier Mann mit tragbaren Meßinstrumenten überwachte den Würfel ständig. Während Claire zusah, unternahmen sie einen weiteren Rundgang und hielten dabei ihre Instrumente gegen die Seiten. Soweit hatte es keine Schwierigkeiten gege ben. Dennoch war sie in der Nähe des Würfels nervös. Der lange Flug von Boston an Bord ei ner Transportmaschine der Luftwaffe war ihr ein Alptraum gewesen, bis John zufällig er wähnte, daß das Artefakt nicht an Bord war. Es wurde separat in einer Maschine mit redu zierter Besatzung befördert. Sie hatte angenommen, daß ihre Gruppe und
Carmodys Spezialisten die Operation allein durchführen würden. Doch als sie auf einem NATO-Luftstützpunkt in Italien landeten, ka men weitere Männer an Bord, und es gab Be gleitmaschinen, und allmählich ging ihr auf, wie groß dieses Unternehmen aufgezogen worden war. Und wie ernst man die Berech nungen einiger Physiker und Mathematiker nahm. Es war aufschlußreich für das Maß, in dem der Sicherheits- und der militärische Be reich von den Physikern abhingen, die seit 1945 die Mandarine der Wissenschaft waren. Vor drei Tagen hatte sie an einer Sitzung teil genommen und einer detaillierten Studie über die möglichen Folgen einer Wiedervereinigung der beiden Singularitäten tief im Erdinneren gelauscht. Diese Studie war notwendig gewor den, weil einige einflußreiche Persönlichkeiten sich dafür ausgesprochen hatten, die beiden einfach unter dem Atlantik zusammentreffen zu lassen, wo die Auswirkungen minimal sein würden. Wenn aber, so erklärten die Verfasser der Studie, nur einhundert Kilo der vereinten Masse in Energie umgewandelt würden, so könnte dies schwere Erdbeben im Bereich des Atlantik erzeugen, gefolgt von Flutwellen, die beide atlantischen Küsten verheeren würden. Die geduldige, vernünftige Art und Weise, wie
die Verfasser ihre Gleichungen und graphi schen Darstellungen erläuterten, hatte etwas niederdrückend Überzeugendes gehabt. Vor allem war Claire betroffen von der leiden schaftslosen systematischen Weise, wie sie weitreichende Schlußfolgerungen zogen und vertraten. In der Archäologie wurde jedes kleinste Fundstück auf seine mögliche Bedeu tung untersucht. Die Forscher wußten, daß sie es mit menschlichen Hervorbringungen zu tun hatten, geformt von Regungen und Bedürfnis sen, die sich im Laufe der Jahrtausende ver mutlich wenig geändert hatten. Es gab ermu tigend menschliche Maßstäbe. Eine unerwartete Wendung konnte einen nicht plötzlich an den Rand eines Abgrundes stoßen, wo man in hallende, kalte, unmenschliche Perspektiven hinabstarrte. Der Unterschied war so enorm, daß man kaum geneigt war, beide Gebiete gleichermaßen als Wissenschaf ten anzusehen. »Lampenfieber?« fragte eine Stimme neben ihr. George Schmitt lehnte entspannt an der Reling. Er schien immer unbesorgt und gelas sen, ob er am Grab oder in Boston oder auch hier arbeitete. Es mußte ein Geschenk des Himmels sein, dachte sie. »Nein, ich gehe nur die Möglichkeiten
durch«, antwortete sie. Als die ganzen Ausmaße des Vorhabens klar wurden, hatte sie vorgeschlagen, George bei zuziehen. Nur er und sie kannten das Grab gründlich, und er allein hatte eine gute Vor stellung von der strukturellen Festigkeit der Wände. Niemand wußte, was geschehen wür de, und es bestand ein erhebliches Risiko, daß der Schauplatz der Wiedervereinigung Scha den davontragen würde, und Claire fühlte sich für das Kuppelgrab verantwortlich. Zuerst hatte sie verlangt, hineinzugehen und die Leu te zu beaufsichtigen, um allfällige Beschädi gungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Carmody hatte das ausgeschlossen, bis Arditti und andere argumentiert hatten, daß es nütz lich wäre, jemand dabeizuhaben, der das Grab und seine Umgebung kannte. Der Plan ver langte ein Minimum von zwei Hubschraubern, und sie hatte vorgeschlagen, daß George mit dem ersten und sie mit dem zweiten fliegen sollte. Zu ihrer Überraschung war George einver standen gewesen. Zwei Agenten hatten ihn nach Boston gebracht. Da sie ihn gut kannte, entging ihr nicht, daß er unter seiner beiläufi gen, kühlen Art aufgeregt war, und daß die Atmosphäre von Geheimhaltung und Macht
ihn faszinierte. Carmodys Leute waren prak tisch denkende Männer von vielseitiger Tüch tigkeit, und die Beschäftigungen, denen sie nachgingen, mußte für einen jungen Archäo logen, der seine Tage an der Colum bia-Universität mit der Reinigung, Einordnung und Katalogisierung alter Fundstücke zu brachte, eine willkommene Abwechslung sein. Claire war auf die Teilnahme an dem Unter nehmen geradezu versessen gewesen. Die stärkste Opposition war von John gekommen, der sie überhaupt nicht an dem Vorhaben hat te beteiligen wollen. Aber sie ließ sich von niemand beiseitestoßen. Sobald John das be griffen hatte, war er zu widerwilliger Neutrali tät übergegangen. Dann hatte sie mit Carmody fertig werden müssen. Seine altmodische für sorgliche Beunruhigung war bloß ein weiterer müder Vorwand, eine Frau aus der Sache her auszuhalten; sie sah das sofort, und schließlich gelang es ihr, seine vorgeblichen Bedenken zu zerstreuen. Sie war mit dabei. Nicht im ersten Hubschrauber, nein, aber sobald die Verhält nisse sich beruhigt hätten, würde sie ins Grab gehen, um zu retten, war übrig war. Sie schul dete es ihrem Beruf und sich selbst. »Daß es dazu kommen würde, hätten wir uns nicht träumen lassen, wie?« sagte George.
Seine Finger trommelten auf die Reling. »Archäologie, das Fach mit Zukunft.« »Obwohl es sich mit der Vergangenheit be faßt.« »Darüber zerbreche ich mir den Kopf«, sagte sie. Die Männer brachten Kabel an dem Ver schlag an, der das Artefakt enthielt. Die Kabel führten zu einer Winde am Bauch des ersten Hubschraubers. »Was der Würfel bedeutet?« »Ja. Kubisches Artefakt, kubische Singulari tät. Kann kaum zufällig sein.« »Die Hersteller behauten den Fels, daß er von außen wie das Ding im Innern aussehen sollte. Wäre das eine Möglichkeit?« Sie blickte ihn überrascht an. »Ja, aber wa rum? Welche Beziehung hatte das Ding zu dem oder denen, die in dem Kuppelgrab bestattet wurden?« »Vielleicht war der Tote der Entdecker.« »Und wo sollte er es entdeckt haben?« »Was weiß ich? Er könnte es ausgegraben haben. Aus einem Steinbruch.« »Könige arbeiten nicht in Steinbrüchen, und Steinbrucharbeiter haben keine vornehmen Gräber.« »Vielleicht war es eine Kriegsbeute. Das El fenbeinplättchen mit der Ritzzeichnung könn
te ein Hinweis darauf sein.« Wieder blickte sie überrascht zu ihm auf. Seit Wochen hatte sie daran nicht gedacht. Die primitive Skizze auf Elfenbein, die Kreta und Santorin zeigte. Kontos mußte sie inzwischen gefunden haben, unter den Ausgrabungsge genständen, die nach Athen geschafft worden waren. »Gewiß. Aber die Erbauer des Grabes müssen gewußt haben, daß die Singularität gefährlich war. Ich frage mich, wie sie darauf gekommen sind.« Auf einmal kam ihr eine Erleuchtung. »Die Meißelspuren an der Vorderseite! Erinnerst du dich? Sie könnten davon herrühren, daß je mand versuchte, die Singularität herauszube kommen.« Er schaute skeptisch. »Wer?« »Grabräuber?« »Das Ding sieht nicht wie etwas aus, was ei nen Grabräuber reizen könnte. Ganz abgese hen von seinem Gewicht.« »Oder Johns Idee. Daß, wenn Diener mit dem toten König eingemauert wurden, sie versucht haben könnten, sich zu befreien.« »Es gibt praktisch keinen Hinweis, daß wel che begraben wurden, dachte ich. Außerdem war das bei den mykenischen Griechen nicht
üblich, soweit wir unterrichtet sind.« »Richtig. Aber nur angenommen, es sei so gewesen. Sie konnten sich nicht beim Eingang hinausgraben, der mit Erdreich und Geröll zugeschüttet war; das wußten sie. Also waren sie verzweifelt. Arbeiteten im Dunkeln. Sicher lich hatten sie gehört, daß das Ding in dem Würfel, was es auch sein mochte, Licht von sich gab.« »Demnach hätten sie versucht, an dieses Licht heranzukommen?« »Ja! Es kann durch Gestein bohren, nicht wahr?« »Komm schon, Claire! Damals müssen noch beide Singularitäten beisammen und inaktiv gewesen sein. Woher hätten sie wissen sollen, daß eine abgetrennte Singularität sich durch den Felsen bohren würde?« Doch sie ließ sich von ihrer Idee nicht ab bringen. »Es paßt alles. Die Diener wußten, was im Würfel war. Alle müssen es gewußt haben.« »Vielleicht. Aber sie kamen nie hinter den ersten Block. Der Mörtel war intakt.« »Ja. Nicht genug Zeit. Vielleicht dachten sie, sie könnten die Singularität aus dem Fels be freien? Sahen eine Gottheit darin, die ihnen Hilfe bringen könnte?«
George beobachtete die Arbeiten der dunklen Gestalten unter den zwei bananenförmigen Rümpfen der Hubschrauber. »Du gehst nicht logisch vor«, sagte er. »Wenn die eingeschlos senen Bediensteten – angenommen, es habe sie gegeben – das Innere des Kuppelgrabes nicht verlassen haben, können sie nicht an den Würfel herangekommen sein, der jenseits der Mauer lag. Folglich können sie die Meißelspuren am Würfel nicht verursacht ha ben. Diese müssen bereits vorher entstanden sein, ehe der Würfel an seinen Platz gebracht wurde. Aber ich fürchte, wir werden mit die sen Spekulationen nicht weiterkommen, so lange wir keine neuen Hinweise auf den Zweck des Würfels und seines Inhalts finden.« »Wenn wir hier fertig sind, wird vielleicht nicht mehr viel vom Grab übrig sein.« »Das werden wir sehen. Dazu sind wir schließlich hier, nicht wahr? Die archäologi schen Interessen zu wahren.« »Und dann zu verschwinden«, sagte Johns Stimme hinter ihnen. Claire wandte sich um und sah, daß er ganz in einem schwarzen Tauchanzug steckte und in unpassenden blauen Turnschuhen etwas un beholfen dastand. Eine wortlose, nervöse Er regung sprang zwischen ihnen über, George
aber schien vom Anblick des Tauchanzuges ernüchtert und sah auf die Uhr. »Ah, wird all mählich Zeit, nicht?« »In fünf Minuten. Wenn das Schiff verlang samt, gehen wir über Bord.« Claire blickte forschend in Johns Gesicht, konnte aber keine Gemütsbewegung erkennen. Er überspielte seine Nervosität mit Locke rungsübungen. »Die Muskeln müssen warm gehalten werden.« George lächelte. »Lassen Sie sich nicht stö ren!« »Sie fliegen mit Maschine A, wie?« sagte John grunzend zwischen seinen Streckübungen. »Ja. Wir kundschaften das Grab aus.« John nickte, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und zog die Ellbogen rhythmisch zurück, wobei er den ganzen Körper spannte und auf die Zehenspitzen hob. Es erinnerte Claire an die Aufwärmübungen vor einem Spiel. Sie glaubte genau zu wissen, was er dachte. Er war hinter ihrem Rücken zu Carmody gegan gen und hatte etwas mit ihm ausgehandelt. Sie sollte mit Maschine B fliegen – nicht A, die den Würfel trug. George sollte als Erster zum Grab vordringen. John tat zu ihrem Schutz, was er konnte. Sie hatten wegen ihrer
»dickschädeligen Störrigkeit«, wie er es nann te, bereits dreimal Krach gehabt, aber sie hatte sich durchgesetzt. Sie nahm an der Aktion teil, und dafür sah sie ihm diese unbedeutende und eher liebvolle Täuschung kommentarlos nach. »Ich dachte daran, Zaninetti eine Nachricht zu schicken«, sagte John. »Carmody hat völlige Funkstille angeordnet«, sagte George. »Das Telegramm kann hinausgehen, sobald wir fertig sind. Oder, noch besser, dann kann ich es stornieren.« »Ich folge dir nicht«, sagte Claire. John grinste. »Es gab einmal einen großen Mathematiker namens Hilbert, der nach Ber lin telegraphierte, er habe eines der hervorra gendsten ungelösten Probleme der Mathema tik bewiesen, die sogenannte Riemannsche Vermutung. Sie hat mit den Wurzeln einer be kannten Funktion zu tun. Er schickte das Te legramm nach Berlin und kündigte an, daß er kommen und einen Vortrag halten wolle. Die Fachwelt geriet in Aufregung. Hilbert kam und hielt seinen Vortrag und sagte nichts über das Problem. Hinterher kam jemand zu ihm und fragte, was ist mit der Riemannschen Vermu tung, wie lautet die Lösung? Und Hilbert sagte, er habe keine. Er war das erste Mal mit dem
Flugzeug geflogen und ziemlich nervös, und hatte das Telegramm für den Fall geschickt, daß er bei einem Absturz ums Leben käme.« George lächelte. »Auch ein Weg, sich einen Platz in den Büchern zu sichern.« »Wie mit dem berühmten verlorengegange nen Bishopschen Beweis der Riemannschen Vermutung, wie?« sagte Claire. »Du hast es erfaßt«, sagte John mit Heiter keit. Er hob die Hände und zuckte die Achseln. Zusammen gingen sie weiter und überließen George seinen Pflichten. »Fünf Minuten?« fragte sie halblaut. »Ja.« »Ich sehe noch immer nicht ein, warum es so schnell gehen muß. Es hat nur ein paar Tage zum Nachdenken gegeben, zum…« »Es ist dieser Krieg. Er liefert eine perfekte Ablenkung. Und sollte je etwas schiefgehen, so werden die Leute es als irgendein türkisches Unternehmen abschreiben, das gescheitert ist.« »Davon sagte Carmody nichts.« »Brauchte er auch nicht. Es ist offenkundig.« »Aber du mußt zugeben, daß, wenn wir noch eine Woche Zeit gehabt hätten…« »Inzwischen hätte der Geist aus seiner Fla sche dort entweichen können«, sagte er mit
einer Daumenbewegung zum Hubschrauber landeplatz. »Und wir hätten alle Hände voll zu tun, ihn wieder hineinzubringen.« Sie stimmte widerwillig zu. »Ich sehe noch immer nicht, warum einer mathematischen Kuriosität soviel Aufmerksamkeit geschenkt wird.« Nachrichten von einer ebenso wichtigen Entdeckung auf dem Gebiet der Archäologie, überlegte sie, würden eine Figur wie Carmody – wenn überhaupt – allenfalls nach einem oder zwei Jahrzehnten erreicht haben. »Es ist viel mehr. Die mathematischen Be rechnungen legen den Schluß nahe, daß solch energiereiche Partikel von hoher Masse nütz lich sein können. Kompakte Energiespeiche rung. Eine vielseitige Strahlungsquelle. Könnte man solch ein Ding unter Kontrolle bringen, so wäre es möglich, das ganze Erdinnere zu er forschen.« »Wie?« »Wenn du zwei Singularitäten hast, könntest du die zweite genau gegenüber von der ersten auf der anderen Seite der Erde placieren. An Ort und Stelle verankern oder was. Dann wür de die gegenseitige Anziehungskraft die andere Singularität durch den Mittelpunkt der Erde herüberziehen. Die Messung der Durchgangszeit und die Rate ihrer Vorwärtsbewegung
würde Aufschluß über die Dichteverhältnisse und die materielle Zusammensetzung von Mantel und Kern geben. Zumindest könnte man damit auf kostensparende Weise Tief bohrungen durchführen.« »Oder Bomben bauen.« Er nickte. »Das auch.« »Dann ist klar, welche Anwendung im Vor dergrund stehen wird. Deshalb hält Carmody uns von der Presse fern.« »Gewiß. Das wird eine Weile klappen. Aber auch er weiß, daß es nicht lange dauern kann. Die wissenschaftlichen Aspekte sind zu inte ressant. Vielleicht könnte er dich und mich zum Stillschweigen vergattern, aber Zaninetti ist eine zu bedeutende Figur, als daß er ihm einen Maulkorb verpassen könnte.« »Tröstlich.« »Ja.« Sie waren ein Stück zum Vorschiff gegangen, und nun hörten sie das Rauschen der Bugwelle hinter sich. Die Schaumstreifen schienen ei nen schwachen phosphoreszierenden Schein zu haben. Die Watson lief mit halber Fahrt. Ihre Schlingerbewegungen waren träge wie die Dünung. Claire lehnte sich an ihn. »Zwei Mi nuten«, sagte sie. »Worüber reden wir?« »Liebe und Tod.«
»Wessen?« »Unsere.« »Darf ich zwischen beiden wählen?« Er küßte sie. »Tust du mir einen Gefallen?« »Sicher, Matrose. Willst du es gleich hier auf Deck? Ich glaube, es ist dunkel genug.« »Geh nicht in den Hubschrauber.« Sie schaute ihn an und sah ein verletzliches, offenes Gesicht, und sie bereute, daß sie so frivol mit ihm gewesen war. Aber es war zu spät, und beide wußten sie es. »Ich… du mußt verstehen, daß ich eine Ver pflichtung habe.« »Ich weiß. Ich bin nicht einverstanden, aber ich weiß.« »Ich… ich muß.« »Soviel zum Tod. Halten wir uns an die Lie be!« Er legte die Arme um sie. »Ist dies, was es damit auf sich hat?« »Gewiß. Natürlich muß es nach den Regeln des unterkühlten guten Geschmacks gesche hen.« Er küßte sie. »Wir in Boston lassen uns Zeit.« Er lächelte zu ihr hinab. »Du versteckst dich bloß dahinter.« Sie sagte nachdenklich: »Das ist wahr.« Er küßte sie wieder. »He!« rief Ardittis Stimme vom Achterschiff.
»Bishop! Wollen Sie eine Einladungskarte?«
3 Die Watson hatte ein Fallreep heruntergelas sen. An seinem unteren Ende glitt eine Platt form einen knappen Meter über dem leise rauschenden Wasser dahin. Gischt benetzte das Profilstahlblech der Stufen. John tappte in der Dunkelheit vorsichtig hinab, die Hand am Geländer. Sein Herz pochte bereits aufgeregt. Mit einem Minimum an Worten legte er seine Tauchausrüstung an, zuletzt den großen Druckluftzylinder, dessen Anzeigegerät auf voll stand. Der Inhalt reichte eine gute Stunde. Wenn alles planmäßig verlief, würde er nicht einmal die Hälfte davon benötigen. Arditti reichte ihm das Bedarfsventil. Er schraubte es an und überprüfte es zweimal. Arditti nickte zufrieden, wollte sich abwenden und zögerte. »Haben Sie den Situationsbericht gesehen?«
»Carmody sagte, es gebe nichts von Bedeu tung.« Wieder zögerte Arditti einen Augenblick lang. »Ja…« John merkte auf. In der herrschenden Dun kelheit konnte er die Miene des anderen nicht erkennen. »Was gibt es?« »Wir haben einen Bericht von einem Ver messungsschiff oben an der Küste. Danach sind auf der Küstenstraße von Norden Mili tärfahrzeuge unterwegs.« »In welche Richtung fuhren sie?« »Nach Süden, wie es schien.« »Wie weit entfernt?« »Dreißig Kilometer. Aber der Bericht ist in zwischen eine Stunde alt.« »Die Griechen stehen im Krieg. Da muß es viele Truppenbewegungen geben.« »Richtig.« Arditti zuckte die Achseln. »Viele.« Zu Ardittis Gruppe gehörten außer John drei Mann. Die anderen waren ihm nur Namen, schlanke, kräftige Gestalten, die den größten Teil ihrer Zeit bei Kartenspielen und Kaffee in der Messe verbracht hatten. Sie schienen an allem, was nicht ihre Mission betraf, völlig desinteressiert zu sein. Einer von ihnen half John die Traggurte auf den Schultern zurechtrücken. Er saß auf der
Plattform, zurückgelehnt gegen den Druck luftzylinder, und schaute in das schwarz vor beigurgelnde Wasser. Arditti nahm eine letzte Überprüfung vor. Tauchermesser, Maske, Lampe, Tiefenmesser, bleibeschwerter Gürtel, Druckmesser. Arditti hatte außerdem mehrere Leuchtkugeln bei sich, um die Höhle zu erhel len. Jedes Gruppenmitglied trug ein anderes Bestandteil des Ortungs- und Kommunikati onsgerätes. Die schweren Teile sollten mit dem Schlauchboot transportiert werden. John war sich mit Unbehagen bewußt, daß diese Männer Berufstaucher waren, Spezialis ten, die bei Nacht und in trüben Gewässern in große Tiefen getaucht waren, denen nichts fremd war, was der Beruf mit sich brachte. Er war ein Wochenend-Sporttaucher. Sein größ tes Erlebnis hatte er unten vor Cozumel ge habt, als er auf fünfzig Meter Distanz einen Hai gesehen hatte. Der Hai hatte ihn vollständig ignoriert, war aber nahe genug gewesen, daß John das Gesicht mit diesem seltsam fixierten, fanatischen Ausdruck deutlich hatte sehen können. Noch immer überlief es ihn kalt, wenn er daran zurückdachte. »Zwei Minuten«, rief Arditti mit halblauter Stimme. Über ihnen ragte die schwarze Bord wand der Watson und löschte jeden Licht
schimmer aus, den der Himmel durchlassen mochte. Es sah so aus, als lockerte sich die Wolkendecke allmählich auf; im Osten lag ein diffuser silbriger Dunst, der offenbar vom Mondlicht herrührte, das die Wolken zu durchdringen suchte. Keine günstige Entwick lung. John schob die Maske auf die Stirn, steckte das Gummimundstück zwischen die Zähne und öffnete das Ventil. Luft zischte, und er tat einen leichten Atemzug. Gut. Die Watson drosselte ihre Maschinen, was die Vibration in der Plattform des Fallreeps unter ihm vorübergehend verstärkte. Gischtspritzer trafen ihn. Sie sollten auf Signal alle gemeinsam von der Plattform tauchen, um sich nicht zu verlieren. John rückte näher an die Kante. Der Zylinder saß ihm wie ein massiver Parasit auf dem Rü cken. Wieder prüfte er die Luft. Ardittis Gruppe ging zuerst an Land. Der Plan sah vor, daß die Watson verlangsamte, sobald sie in gleiche Höhe mit der Grabungsstätte käme, die Taucher auf der Backbordseite ab setzte, wo man sie von der Küste aus nicht se hen konnte, worauf sie wieder Fahrt aufneh men und mehrere Meilen westwärts laufen sollte, bevor sie wendete. Bei der Rückkehr
sollte sie das Schlauchboot und drei Männer absetzen, auch in der Nähe der Grabungsstät te. Der Schlauchboottransport hatte sich nach einer Signalboje zu richten, die Ardittis Tau cher am Eingang des Unterwassertunnels an bringen sollten. Diese Boje war ein Infrarot sender, dem unbewaffneten Auge unsichtbar. An Ort und Stelle angelangt, würden zwei Mann das mitgebrachte Material mit steuer baren Preßluft-Trägergeräten hinunterbrin gen. Johns Hauptaufgabe war die Auffindung des Unterwassereingangs zum Höhlenschacht. Arditti hatte argumentiert, daß seine Gruppe ihn rasch genug ausfindig machen würde, wenn sie nach Johns unbestimmter Beschrei bung vorgingen, doch hatte Carmody daran gezweifelt. Daraufhin hatte Arditti vorge schlagen, sie sollten ein paar Taucher bei Tag in einem Fischerboot an Ort und Stelle brin gen, um die Markierungsboje zu setzen. Carmody hatte jedoch befürchtet, daß dies wahrscheinlich Wachen an der Küste auf merksam machen und womöglich die ganze Mission gefährden würde. Also war Johns Pfadfinderdienst nötig. Arditti betrachtete seine Fähigkeiten mit
Skepsis und hatte ihn in dem im Unterdeck gelegenen Schwimmbecken der Watson un nachgiebig trainiert. Wenn John schon mit kommen mußte, konnte er nach Ardittis Auf fassung auch eine Nebenaufgabe übernehmen. Sie zeigten ihm den Einsatz der treibenden Antenne und drillten ihn erbarmungslos. Es war eine geringfügige Aufgabe, die John au ßerhalb der Unterwasserkaverne hielt, wäh rend die anderen hineinschwammen. Sobald er die wenigen einfachen Handgriffe an der Antenne ausgeführt hätte, brauchte er nur auf das Schlauchboot zu warten, um dann bei des sen Entladung zu helfen. Sobald die Ausrüstung jedoch entladen wäre, sollten er und der dritte Mann des Transport kommandos mit dem Schlauchboot zur Wat son zurückfahren, die mit gedrosselter Fahrt auf ihrem Kurs weiterlaufen würde. Das bereits beladene Schlauchboot, ein nied riges, flachbodiges Ding mit aufgeblasenen, zigarrenförmigen Gummiwülsten und einem Außenbordmotor, nahm den größten Teil der Fallreepplattform ein. Seine Besatzung wartete in Bereitschaft. »Zählung beginnt!« rief Arditti. John zog sich die Maske übers Gesicht. Luft für eine Stunde. Er überlegte, wie hoch sein
Sauerstoffverbrauch pro Minute war. Irgend wie war er, ein Mathematiker, nie darauf ge kommen, es zu berechnen. Jemand rief von oben herab, ein knappes Signal. Arditti zählte von fünf rückwärts. John biß die Zähne ins Gummimundstück und at mete die Preßluft durch das Ventil. Er war ein Amateur, diese Leute waren Profis. Er arbei tete mit Kreide an der Tafel, und sie… Auf einmal bemerkte er, daß die anderen be waffnet waren; sie hatten kompakte Maschi nenpistolen an die Körper geschnallt. Ihm hatten sie keine gegeben. »Null!« Er verspürte einen jähen Stich sehr realer Furcht und saß wie gelähmt; seine Beine ver sagten ihren Dienst. Jemand stieß ihn von hinten. Er hatte gerade noch Zeit, Empörung zu empfinden, bevor er ins Wasser plumpste. Er hielt sich die Maske mit beiden Händen vors Gesicht, wie die Tauchlehrer es immer forderten. Eingehüllt in eine Wolke von Luft blasen, sank er blind und schwerelos abwärts. In der absoluten Schwärze verriet ihm die Schwere nichts über Orientierung. Er drehte sich um die Achse, hielt Ausschau. Da, ein rötliches Licht. Plötzlich glitt ein
Schatten davor, etwas wedelte… Eine Gestalt winkte ihm, gestikulierte. Ein Finger zeigte. Folgen ja. Er richtete den Körper aus und schwamm auf das trübrote Licht zu. Dabei ließ er seine mit Schwimmflossen bewehrten Beine die Arbeit tun. Ardittis Handlampe war von einem gedämpf ten Rot, um eine Entdeckung vom Ufer her zu vermeiden. Die Gruppe erwartete ihn, eine Traube undeutlicher Umrisse, deren Masken ihm ausdruckslos zugewandt waren Arditti hatte sich irgendwie orientiert und zeigte die Richtung zum Ufer. Sie schwammen los. John mußte sich anstrengen, um mitzuhalten. Ein Mann blieb immer hinter ihm; sie wollten ihn nicht aus den Augen lassen. Sein Herzschlag pochte unnatürlich laut in den wassergefüllten Ohren. Er saugte am Be darfsventil. Kurze, flache Atemzüge, ja. So war es richtig. Sich Zeit lassen. Die Luft in der Lunge behalten und allen Sauerstoff heraus holen, bevor man sie ausatmete. Wenn er ausatmete, sprudelten die Blasen aufwärts und verloren sich in alles einhüllen der Dunkelheit. Ringsum tintiges Nichts. Unter ihnen wogten träge Algen, wie eine undeutli che Vision einer schwelenden, rötlichen Hel
ligkeit. Ardittis Licht war das Zentralgestirn dieses Westentaschenuniversums. Sie folgten ihm gehorsam. Winzige silbrige Fische schwebten in einem geordneten Schwarm, standen still, ungestört von den vorbeischwimmenden schwarzen Riesen. Er wandte den Kopf, um die Fische zu be obachten, und prallte auf den Vordermann, der haltgemacht hatte. Es war nur ein leichter, vom Wasser gedämpfter Aufprall, aber er riß ihn aus seiner Unaufmerksamkeit. Arditti wies nach unten und richtete das rötliche Licht dorthin. Grünlicher Schlamm machte sandigem, ge riffeltem Grund Platz. Sie näherten sich dem Ufer. John versuchte, sich an besonderen Merkmalen zu orientieren, die Richtung zu be stimmen. Die alles durchdringende Finsternis verzerrte Formen und Perspektiven, wenn der schwache Lichtschein über sie hintastete. Die anderen Taucher traten Wasser und blickten ihn durch ihre Glasscheiben an. Nun los, führ uns hin! Tu das Deinige! John nickte und blickte umher. War dieser felsige Buckel vertraut? Er vermochte es nicht zu sagen. Schließlich waren seither Monate vergangen.
Er gab den Versuch, die Richtung herauszu finden, schließlich auf. Besser, er schwamm auf das Ufer zu und versuchte sich dort nach dem Augenschein zu orientieren. Er zeigte einen felsigen Ausläufer entlang, und Arditti wandte sich dorthin; sein roter Lichtschein warf infernalische Schatten. Alle schwammen über den Felsrücken und über eine See aus wogenden Grasalgen. Am Grund drückte sich ein Seestern an einen Stein. Arditti schwenkte den Lichtkegel voraus und ließ das meiste vom Licht im Dunkeln sich zer streuen, damit es nicht vom Grund reflektier te. Das reduzierte die Helligkeit, die jemand von den Uferhöhen sehen konnte. John beobachtete das undeutlich erkennbare Terrain. Der Druck auf seine Ohren und die Gehörlosigkeit nahmen zu, als er tiefer tauch te, um genauer nachzusehen. Aber das Zischen der Preßluft, als er auf das Bedarfsventil biß, war so laut, daß es in seinem Schädel dröhnte. Er hob Daumen und Zeigefinger an die Maske, drückte die Nase zu und blies die Ohren frei. Das gurgelnde Rauschen der Blasen hörte sich an wie aufplatzendes Popcorn. Sie glitten über eine bucklige Region aus Felstrümmern und Meeresalgen hin. Der Lichtkegel tastete über dunkle Höhlungen und
enthüllte fette gelbe Fische, deren Mäuler wie in plötzlichem Schrecken gespitzt waren. Vo raus wurde der Algenbewuchs dichter, und John begann sich zu fragen, ob er letztes Mal etwas dergleichen gesehen habe. Hielt er überhaupt auf das Ufer zu? Was, wenn… Ein niedriger Gesteinsrücken, beinahe gera de. Und jenseits davon noch einer. Sie waren wie Mauerruinen, die zwei Meter voneinander entfernt aus dem Treibsand rag ten. Er kam beinahe im rechten Winkel auf sie zu, und als er ihren Verlauf nach links und rechts zu überblicken versuchte, verlor er sie schon nach einem Dutzend Metern in der Schwärze aus den Augen. Die Überreste des unterirdischen Wasserlau fes. Desselben Wasserlaufes, der hinter der Grabkammer die Höhle ausgespült hatte, den abwärts führenden Gang, der ihr Ziel war. John spürte einen Strom von Erleichterung. Die anderen brauchten nicht lange, um seine Gesten zu verstehen. Ihre Gesichter schienen unbeweglich hinter den Glasscheiben, aber ih re Köpfe folgten den Felsformationen am san digen Boden. Arditti nickte und bedeutete ih nen, in einer Reihe hintereinander zu schwimmen. Dann wendete er mit einer fach männischen Bewegung seiner Schwimmflos
sen und folgte den beiden unterbrochenen, ruinenhaften Gesteinskämmen. Nun, da John die Breite der parallel verlaufenden Felsen als Vergleichsmaßstab hatte, wurde ihm erst recht deutlich, daß ihr Gesichtsfeld im schwachen Schein von Ardittis Lampe sehr begrenzt war; er konnte kaum mehr als zehn Meter betragen. Es war ein großes Glück gewesen, daß er auf die Steinreste gestoßen war. Sie hätten hier draußen geradesogut eine Stunde umherschwimmen und vergeblich suchen können. Er zog den linken Arm vorwärts, bis er die Hand weiß und groß vor der Scheibe hatte, die wasserdichte Uhr unnatürlich groß am Hand gelenk. Nur sieben Minuten waren vergangen, seit jemand ihn von der Plattform des Fall reeps gestoßen hatte. Wahrscheinlich Arditti. Er hörte ein knisterndes Geräusch und blickte auf. Hoch über ihm waren dünne Reihen von Brandungswellen zu erkennen. Sie näherten sich dem Ufer. Der Grund stieg ziemlich steil an, während sie der Felsformation folgten. Die Brandungsge räusche wurden lauter. Dann sahen sie voraus braune Felsbollwerke. Hoch oben zwischen ihnen, ein düsterer, schwärzlicher Spalt. Er schwamm neben Arditti hinauf in die En
ge. Seeanemonen sprenkelten die Flanken der massigen Felsen. Er zeigte nach oben, und Arditti ließ den Lichtkegel seiner Lampe über eine aufwärtsgekrümmte Höhle wandern. Der Zugang schien frei, aber für John hatte die Öffnung nichts von dem, was sein Gedächtnis bewahrt hatte. Er vermutete, daß das rote Licht die Perspektiven verzerrte. Arditti nickte, signalisierte den beiden ande ren und machte eine stoßende Bewegung zu John. Dieser paddelte rückwärts, und die an deren zwängten sich vorbei. Er war fertig. Er hatte den Zugang gefunden. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Ende der Pflicht des Mathematikers. Er brauchte nur noch die Kommunikationskabel zur Oberflä che zu bringen. Der letzte Mann löste die Sperren an einer Kabeltrommel auf seinem Rücken. Er zog die Enden von drei dünnen schwarzen Leitungs kabeln aus den Klemmen, reichte sie John, winkte und schwamm den anderen nach. Die Kabel rollten von der rotierenden Trommel ab, während er sich mit kräftigen Stößen der Schwimmflossen den wassergefüllten Höh lengang hinaufbewegte. Blasen stiegen auf, blieben an der Felsdecke hängen oder rollten daran weiter. Ardittis roter Lichtschein, schon
weit oben in der Röhre, wurde schwächer. Zeit, daß er sich aufmachte. Er machte kehrt, schwamm hinaus und ließ sich treiben. Arditti hatte ihn angewiesen, die Taschenlampe an seinem Gürtel nicht zu ge brauchen, sobald er an die Oberfläche käme. Gut. Der nächste Schritt war der schwierigste, und er brauchte das Licht, also tat er es am besten hier unten. Er schaltete die Lampe ein – rotes Licht, natürlich – und ließ es auf den Sand hinabscheinen. Er war weit genug unter den prallen Felswülsten, um einer Entdeckung zu entgehen. Die Nationale Sicherheitsagentur gab sich nicht mit zweitklassigem Gerät zufrieden. Die wasserdichte, wachsige Packung auf seinem Rücken war hervorragend durchdacht und verarbeitet. Er schnallte sie mühsam los, wo bei er sorgfältig jeden Handgriff so ausführte, wie Arditti ihn eingeübt hatte. Seine Schwimmflossen berührten mit den Spitzen den Grund. Die Kabelverbindungen paßten auf Anhieb genau in ihre Fassungen. Gut. Die fünf Betäti gungs- und Einstellschalter waren groß und leicht zu drehen. Er stellte Frequenz und Energie ein, hatte sich die Zahlen gut einge prägt. Noch keine Sendung, sah er an dem
winzigen Monitor, einer Flüssigkristallanzeige in Hellgelb. Nun der Auftriebskörper. Er entfaltete den gewebeverstärkten Kunststoffbeutel und zog die rote Lasche daran. Mit einem zischenden Rauschen füllte er sich mit Luft. John mußte schnell zugreifen, um zu verhindern, daß ihm die Packung aus den Händen gezogen wurde. Der Auftriebskörper und seine Stabilisie rungsflossen glichen einem fetten grellen Fisch, der sich einer ziemlich ungenießbar aussehenden Beute bemächtigt hatte. Er ließ sich vom Auftriebskörper emportragen und steuerte mit kräftigen Bein bewegungen vom Ufer weg. Er zog den pyra midenförmigen Anker und seine Rolle aus Kunststoffschnur aus dem unteren Abteil des Auftriebskörpers. Alles war großartig durch dacht, praktisch und widerstandsfähig. Er ließ den Anker fallen und die Schnur durch die Finger gleiten, bis er fühlte, daß der Zug auf hörte. Der Anker sicherte den Auftriebskörper und seine Fracht gegen Stromversetzungen. Nun war nur noch ein Schritt zu tun. Er durchbrach die Oberfläche und schaltete seine Lampe aus. Es war stockfinster. Nach dem Ge fühl ertastete er den Antennenstab am oberen Ende der Packung, die nun, vom Auftriebs
körper gehalten, auf dem leicht bewegten Wasser trieb. Er zog die Antenne heraus und fühlte den leichten Widerstand jedes telesko pischen Teilstücks. Eine klug ersonnene kleine Antenne, imstande, die Watson über eine Ent fernung von zehn Seemeilen zu erreichen. Auf der treibenden Antenne war ein Infra rot-Lichtsignal. Wenn alles planmäßig verlief, würde die Be satzung des Schlauchbootes schon jetzt mit ih rem Suchgerät danach Ausschau halten. John konnte den rotierenden Knopf an der Spitze kaum erkennen, aber er war schwarz wie alles andere, und das war beruhigend. Keine Emis sion in sichtbarem Spektrum. Nichts, was ei nen Wachtposten oben am Hang aufmerksam machen würde. Er ging noch einmal jeden Schritt der Arbeit durch. Eine Welle platschte gegen die Glas scheibe seiner Maske. Etwas war noch zu tun, ehe er einschaltete… Ach ja. Er hatte vergessen, das System auf seine Betriebsfertigkeit zu testen. Es war jetzt schwieriger, weil er im unruhigen Wasser trieb und die Antenne ein gutes Stück in die Luft hinausragte. Vorsichtig faßte er den Rand des Auftriebskörpers. Wo war die kleine Ar maturentafel mit den Knöpfen und Anzeigen?
Er schob die Maske auf die Stirn, um besser zu sehen, ließ aber das Bedarfsventil zwischen den Zähnen. Da. Er sah jetzt ein wenig besser, denn im Osten sickerte diffuses Mondlicht durch die auflockernden Wolken. Hinter ihm ragte das Steilufer schwarz in den Himmel. Die Einstel lungen stimmten, die Antenne war funktions bereit. Wenn Arditti die Kabel an sein Gerät angeschlossen hatte, sollte die Übertragung funktionieren, sollte ein Signal zur Watson durchkommen und die ganze Aktion auslösen. Er drückte den Knopf MELDUNG an der Seite der Instrumentenpackung. Sofort leuchteten drei gelbe Zahlen auf und zeigten an, daß ge sendet wurde. Er war erleichtert. Es war ge schafft. Die endlosen Übungsstunden hatten sich ausgezahlt. Die Leute unten im Felsenloch waren bereits fertig, hatten ihr Obertragungsgerät ange schlossen. Dies war das Signal an die Watson, daß die Hubschrauber starten konnten. Sie würden die Grabanlage erkunden und über prüfen, ob die Kommunikationsverbindung Höhle – Watson – Hubschrauber im Ernstfall funktionierte. Carmody hatte darauf bestan den, daß jeder Schritt systematisch überprüft würde.
John spähte in die Dunkelheit hinaus. Kein Zeichen von einem Schlauchboot. Er blickte auf die Armbanduhr und nickte. Mindestens noch zehn Minuten, ehe er mit dem Eintreffen der zweiten Gruppe rechnen konnte. Nach ih rer Ankunft konnten sie die großen Strah lungs- und akustischen Detektoren aufbauen. Sobald eine Anzahl von ihnen in den unteren Bereichen des Höhlensystems verteilt wäre, würden die Leute an Bord des Hubschraubers eine ungefähr zutreffende Vorstellung davon haben, wann und von wo sich die zweite Sin gularität näherte. Und bis dahin würde Ardittis Mannschaft wieder draußen und in Sicherheit sein. John paddelte vom Auftriebskörper und der Antenne fort. Die gelben Zahlen erloschen, wie es vorgesehen war. Aus zwei Metern Entfer nung konnte er kaum die Umrisse der Antenne ausmachen. Niemand würde sie vom Steilufer sehen. Er bekam eine Welle ins Gesicht und zog die Maske wieder über. Tatsächlich war der Auf enthalt an der Oberfläche sinnlos. Zwar konn te er seinen Luftvorrat strecken, indem er hier oben Wasser trat, aber auf der anderen Seite könnte das Schlauchboot ihn bei der Ankunft in der Dunkelheit überfahren. Er tauchte und
sank tiefer in die schwarze Stille. Die Dunkel heit war geradezu erholsam. Einmal war er vor Cozumel bei Nacht tauchen gewesen, und nach der ersten spukhaften Stunde hatte es ihm Spaß gemacht. Dies war nicht schlimmer, wenn er auch kein Licht einschalten durfte. Träge ließ er sich auf den Grund sinken. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, das siebe nundzwanzig Minuten vergangen waren. Sein Luftvorrat war weniger als zur Hälfte aufge braucht. Inzwischen mußte Arditti den kleinen Geigerzähler angeschlossen haben, den er mit sich führte, und seine Helfer würden Kabel durch den Höhlengang aufwärts ziehen. Er fragte sich, ob das Seil, an dem er sich herun tergelassen hatte, noch an Ort und Stelle sein mochte. Verhielt es sich so, würde es den Leu ten gute Dienste als Aufstiegshilfe tun und ih nen die Möglichkeit geben, einige der Detek toren, die das Schlauchboot bringen sollte, weiter oben im Kamin zu installieren. Aber das war nicht sein Problem. Sollten sich die Spezialisten damit abgeben. Sie hatten… Ein heller, orangefarbener Lichtschein er hellte den Meeresboden. Felsen, bleicher Sand, die wulstigen braunen Bastionen, auf denen die Steilküste ruhte, alles wurde ringsum jähe Wirklichkeit, unvermittelt wie im Licht eines
Blitzschlages. Nach einer Sekunde erlosch das Licht, und er sah gelbe und rote Kreise vor den Augen. So bald sie sich aufgelöst hatten, wandte er sich in die Richtung, aus der die Lichterscheinung gekommen war. Eine Leuchtkugel. Arditti hatte im Inneren der Höhle eine Leuchtkugel abgefeuert und der Schein war bis hierher gedrungen. Sie mußten sich darüber klar gewesen sein, daß der Lichtschein durch den Zugang unter Was ser hinausdringen würde, und hatten es in Kauf genommen. Er hoffte, daß kein Wacht posten auf dem Steilufer in diese Richtung ge blickt hatte. Er wartete. Die Strömungen waren hier im Brandungsbereich stärker und füllten seine Ohren mit glucksenden, rieselnden Geräu schen. Er atmete langsam, mit einem leisen metallischen Pfeifen des Ventils. Andererseits war es vielleicht ein Signal ge wesen. Sie konnten in Schwierigkeiten geraten sein und brauchten Hilfe. Um nicht völlig untätig zu bleiben, schwamm er wieder hinauf. Die Ankerschnur des Auf triebskörpers rieb an seinem Arm. Er kam an die Oberfläche und trat Wasser. Die Antenne kam schwankend in Sicht, er zog den Auf
triebskörper näher und drückte auf MELDUNG. Die Funktionen waren in Ordnung, die Kabel noch eingesteckt. Aber es lief keine Sendung. Er starrte auf das leere Feld der Flüssigkris tallanzeige und wünschte, es käme endlich mit seinen Zahlen. Aber das Feld blieb schwarz. Es konnte eine ganz gewöhnliche Ursache haben. Vielleicht hatten sie ihre Geräte vorü bergehend ausgeschaltet, weil sie mit dem An bringen des Geigerzählers beschäftigt waren. Oder eines der Kabel war in der Höhle aus seinem Steckkontakt gerutscht. Etwas der gleichen. Oder etwas Ernstes. Vielleicht war die ver dammte Singularität schon angekommen? Nun, er hatte Befehl, auf den Transport zu warten. Sollten die Spezialisten sich der Sache annehmen. Sie wurden dafür bezahlt. Und be kamen wahrscheinlich viel höhere Gehälter als ein angehender Dozent am MIT. Das war eine einleuchtende Überlegung, aber es konnte noch zehn, fünfzehn Minuten dau ern, bis das Schlauchboot käme. Andererseits… Arditti hätte nicht ohne Grund eine Leucht kugel geschossen und die Kommunikation un
terbrochen. Er wußte, daß John hier draußen wartete. Es mußte ein Signal gewesen sein, ein Hilferuf. Wieder tauchte er. Mit Hilfe des roten Licht kegels seiner Lampe fand er den Eingang. Er würde hineingehen, feststellen, was geschehen war, und den Männern im Schlauchboot Mel dung machen. Nur soviel. Nicht mehr.
4 Claire saß fröstelnd zusammengekauert vor dem Funkgerät in der Hubschrau ber-Funkleitstelle der Watson. Es schien ihr nicht möglich, die Kälte aus den Knochen zu bekommen, obwohl sie nahe bei dem nach heißem Metall riechenden Heizkörper stand. Und trotz dicker Lederhandschuhe waren ihre Fingerspitzen gefühllos. Von der Funkleitstelle konnte man auf das Hubschrauberflugdeck und die beiden Ma schinen hinabsehen. Die Besatzungen waren bereits an Bord und wärmten die Motoren auf. Sie konnten in dem Augenblick starten, da die
Funkverbindung mit der ersten Gruppe herge stellt wäre. Während sie wartete, betrachtete sie die auf dem Kartentisch ausgebreitete Seekarte der Gegend. Sie zeigte den Küstenverlauf, Wassertiefen und unterseeische Erhebungen, alles in verschiedenen Farben. Sie erinnerte sich, daß sie vor Monaten eine beträchtlich einfachere Karte studiert und ausgemessen hatte, wo John auf die Reste des unterseeischen Höh lenabflusses gestoßen war. Sie hatte die Lage in eine Seekarte eingetragen… Auf einmal kam ihr zu Bewußtsein, daß sie erst vor ein paar Tagen ähnliches gesehen hat te. Ja, Arditti. Er war zum JFK-Gebäude ge kommen und hatte in eine Seekarte des Bos toner Hafens die Bahn eingezeichnet, die der Würfel in den schlammigen Grund gegraben hatte. Inmitten der gerundeten Konturen von Wasser und Land hatte es ausgesprochen künstlich ausgesehen, gerade wie ein Telegra phenmast. Dennoch verhielt es sich gerade umgekehrt – der Hafen war Menschenwerk, und der Würfel folgte einem Naturgesetz. Sie wünschte, sie hätte in diesen letzten Mi nuten einen Gesprächspartner. Sie vermißte John, konnte nicht aufhören, sich um ihn zu sorgen. Sergio Zaninetti würde in einem Au
genblick wie diesem ein guter Gesprächspart ner sein; er hatte ein natürliches Mitgefühl. Der Scherz, den man sich an der Har vard-Universität mit ihm erlaubt hatte, tat ihm unrecht; er war ein feinfühliger, höflicher Mensch. Aber Zaninetti hatte sich geweigert, an diesem Unternehmen teilzuhaben. Nicht aus Mangel an Interesse oder Mut, sondern wegen seiner Seekrankheit. George kam hereingetrampelt, das Gesicht rot von der Kälte. »Wie lange wird es noch dauern?« »Signal kann jeden Augenblick kommen«, sagte der Funkoffizier in barschem Ton. »Be halten Sie die Hose an.« Der Mann schätzte keine streunenden Zivilisten in seinem Terri torium, soviel war klar. »Und wenn sie die Öffnung nicht finden?« fragte George. »Kommen wir morgen wieder«, sagte der an dere und beendete das Gespräch. Claire lehnte sich gegen eine stählerne Ver strebung. Alles hier war dick mit grauer Farbe bedeckt und strömte einen schwachen Email legeruch aus. Die Schiffsdiesel liefen auf lang samster Stufe und hielten das Schiff am Wind, um für den Start voraussagbare Bedingungen zu schaffen. Noch immer zeigten die großen
Plexiglasfenster nur Nachtschwärze; das ganze Schiff war verdunkelt. Die Tür ging auf, und Hale kam herein. Er war der Pilot des zweiten Hubschraubers, mit dem Claire fliegen sollte, ein drahtiger Mann mit schnellen Bewegungen und scharfen Au gen. Er trug einen gutsitzenden blauen Overall, und von der Mütze bis zu den glänzenden schwarzen Stiefeln war alles an ihm merkwür dig anonym; er trug weder Rangabzeichen noch irgendwelche identifizierenden Merk male. Claire entnahm daraus, daß er von der Nationalen Sicherheitsagentur war. »Ich hätte Sie gern auf Ihren Plätzen«, sagte er. Claire konnte keinerlei Anzeichen von Nervosität oder innerer Anspannung an ihm entdecken. »Mir ist kalt«, sagte sie. »Wir wollen so bald wie möglich starten«, sagte Hale geduldig. »Anordnung von Carmody?« »Selbstverständlich. Ihm liegt daran, dieses große Ding so frühzeitig wie möglich von Bord zu schaffen.« »Die zweite Singularität wird erst in Stunden erwartet«, sagte Claire. »Wir wollen, daß alles rechtzeitig an Ort und Stelle und überprüft ist. Es könnte notwendig
werden, daß wir den Schauplatz neutralisieren müssen, wissen Sie.« Hale lächelte. »Die Wachtposten töten, meinen Sie?« sagte Claire. »He, nur keine Aufregung!« sagte George be schwichtigend. »Der Mann tut bloß seine Pflicht.« Hale nickte, noch immer lächelnd, und sagte in freundlichem Ton: »Nur wenn sie auf uns schießen, Dr. Anderson. Die Satellitenaufklä rung zeigt, daß bei Sonnenuntergang niemand bei der Grabungsstätte war. Wahrscheinlich werden wir keine Schwierigkeiten bekom men.« »Glaube ich auch nicht«, sagte George. »Was wir hier tun, ist wichtiger als zu Hause im Ar beitszimmer zu sitzen und Tonscherben zu sortieren.« »Das ist nicht der strittige Punkt«, sagte Clai re spröde. Die maskuline Begeisterung, von der das ganze Schiff durchdrungen war, ging ihr gegen den Strich. Kontos würde dies alles amerikanischen Imperialismus nennen, aber für sie stank es nach primitivem Imponierge habe und Muskelprotzerei. »Was wir hier haben, ist ein nuklearer Sprengsatz, Madam. In Situationen wie dieser geht Carmody kein unnötiges Risiko ein.«
»Ist das sein üblicher Stil? Er hat wirklich rasch gehandelt.« Wieder zupfte das Lächeln an Hales Mund winkeln. »Ja, daß er lange fackelt, kann man ihm nicht nachsagen. Er geht gleich an die Kehle. Deshalb ist er da, wo er ist.« »Das kann ich mir denken«, sagte Claire mit betontem Sarkasmus, doch schien sie Hale damit nicht zu beeindrucken. Wahrscheinlich kannte er verbale Gesten dieser Art von Zivi listen und hatte gelernt, sie gewähren zu las sen. Und warum nicht? Sie murrten und nör gelten, aber dann ordneten sie sich doch ein. »Da!« sagte der Funkoffizier. »Ich bekomme Daten von der ersten Gruppe.« Der Bildschirm zeigte farbige Muster, dann eine graphische Darstellung. »Sieht wie eine Ablesung der normalen Hin tergrundstrahlung aus.« »Nun aber los!« sagte Hale energisch. Claire und George stiegen über die hohe Schwelle der Stahltür und eilten im kalten Wind zum Hubschrauberdeck. Bevor sie sich trennten, um ihre Maschinen zu besteigen, wünschte sie George Glück. »Danke gleichfalls.« George grinste ihr freu dig zu. »Da wird es zu Hause an der Universität etwas zu erzählen geben, wie?«
Claire dachte: Ja, wenn die NSA die Schwei gepflicht aufhebt. Das mag ungefähr zu der Zeit sein, wenn wir Rentenbezieher sind. Be vor sie es ihm sagen konnte, hatte sie ihn in der Dunkelheit aus den Augen verloren. Das Flugdeck wimmelte von Aktivität, dunkle Gestalten eilten hierhin und dorthin, das an schwellende Brüllen und Pfeifen der Motoren vermischte sich mit gedämpften Rufen, dem harten Aufklatschen gelöster Stahlkabel. Sie eilte mit eingezogenem Kopf um das Heck ih res Hubschraubers, wie Hale es ihr einge schärft hatte, dann den Rumpf entlang und die Stufen hinauf durch die Stahlschiebetür und in die Kabine. Der Hubschrauber hatte einen amphibischen Rumpf und war im Innern überraschend geräumig. Hale schnallte sich bereits an. Der Rest der Kabine war vollgestopft mit elektronischen Ausrüstungen. Zwei Männer in grünen Uni formen saßen auf Klappsitzen und hatten bös artig aussehende Waffen über die Knie gelegt. Lange, gebogene Magazine entragten den Schäften, was offensichtlich bedeutete, daß sie eine Menge Munition zu verschießen hatten. Sie hatte dergleichen in Filmen gesehen, sich bis zu diesem Augenblick aber niemals Ge danken gemacht, wie sie funktionierten. Was
das anging, so wußte sie nicht, was an automa tischen Waffen automatisch war. Feuerten sie nicht alle, wenn man den Abzug drückte? Die Männer nickten ihr zu und sagten nichts. Die Flugdeckbeleuchtung flammte auf. Wei tere Vorsichtsmaßnahmen waren unnötig; das Dröhnen der auf Touren gebrachten schweren Motoren war kilometerweit zu hören, und je der am Ufer konnte daran erkennen, daß et was im Gange war. Der erste Hubschrauber startete. Mit einem brüllenden Geknatter, das überlagert war von einem hohen Pfeifen, hob er ab und nahm die schlaffen Taue seiner Last auf. Als sie sich strafften, gab der Pilot Vollgas, und der weiße Verschlag hob sich vom Deck, baumelte ein wenig, kam zur Ruhe. Er sah nicht anders aus als jede andere Fracht, beinahe wie ein belie biger Behälter. Kein Durchschmelzen an den Seiten, keine weißglühenden Funken. Carmody hatte Physiker aufgetrieben, die in kürzester Zeit eine Sicherheitsvorrichtung er sonnen und aufgebaut hatten. Allem Anschein nach waren die starken Magnetfelder der Sin gularität geeignet, sie in einem inaktiven Zu stand zu halten. Von dieser Überlegung aus gehend, hatten die Physiker einen Satz von Elektromagneten um den Würfel angebracht,
deren Wirkung nach ihren Berechnungen ausreichen sollte, die Singularität von den Wänden ihres Hohlraums fernzuhalten. Abe Sprangle hatte die Meinung vertreten, daß das Eisen im Gestein des Würfels eine Art magnetischer Falle dieser Art abgegeben hatte, und vielleicht hatte er recht. Etwas hatte be wirkt, daß die beiden Singularitäten 3500 Jahre oder länger friedlich im Innern des Würfels geblieben waren. Und wenn niemand sie einen hundert Meter tiefen Höhlenschacht hinabgeworfen hätte, dachte sie kläglich, wür den sie noch heute an Ort und Stelle sein. Selbst damals würde der hinausgeschleuderte Zwilling wahrscheinlich den Weg zurück zu seinem Bruder im Würfel gefunden haben, wenn sie und John ihn am Meeresboden lie gengelassen hätten. Die entwichene Singulari tät mußte in eine der vielen seitlichen Spalten gestürzt sein. Selbst wenn sie damals davon gewußt hätten, wäre nicht genug Zeit gewesen, dem verlorengegangenen Zwilling nachzufor schen, ehe sie den Würfel bargen. Und seitdem war ihnen die einsame Singularität hartnäckig gefolgt, hatte sich blindlings durch alles ge fressen, was ihr den Weg versperrte. Der Umstand, daß sie und George und John nichts vom wandernden Zwilling bemerkt hat
ten, ließ den Schluß zu, daß er sich nicht rasch durch gewachsenen Fels brannte oder schmolz. Jedenfalls nicht, wenn er eine nied rige Ausgangsgeschwindigkeit hatte. Aber nun mochte es sein, daß er durch seinen selbstge machten Tunnel zurückgesaust käme, und niemand wußte, wie energiereich er sein wür de. Der weiße Verschlag hob sich in die Nacht, gehalten von vier starken Kabeln. Darüber konnte Claire ein Gesicht durch die großen Fenster in den Schiebetüren sehen. Wahr scheinlich George, der versuchte, die kostbare Fracht unter dem Bauch des Hubschraubers zu erspähen. Sie bemerkte, daß die Maschinen keine Identifikation trugen. Der Motorenlärm ringsum ging in eine höhere, nahezu unerträg liche Tonlage über, und sie fühlte, wie die Ma schine abhob. Wamp wamp wamp drangen die Vibrationen von unten durch ihre Stiefel, und die Watson schwenkte unten weg, ein grauer Splitter in der tintigen See. Der erste Hubschrauber war ungefähr an derthalb Kilometer voraus und flog westwärts. Die Positionslichter waren aus, aber Claire konnte den schwarzen Punkt vor der zuneh menden Helligkeit des durch die Wolkendecke sickernden Mondlichts sehen. Der Abstand
verringerte sich, weil der erste Hubschrauber den Verschlag beförderte. Oben lichteten sich die Wolken. Ein kalter Wind, der den frischen Duft des Landes mit sich führte, blies zum of fenen Fenster herein. Sie wollte es schließen, doch hatte Hale es absichtlich offengelassen, vielleicht, um bessere Sicht zu haben. Sie ver suchte die Küste auszumachen, konnte aber keinen der dunklen Bergumrisse wiederer kennen. Aus der Luft sah das Land schwarz und fast konturenlos aus. Sie überholten den ersten Hubschrauber und übernahmen wie geplant die Führung. Während er die Maschine steuerte, blieb Hale über die Kopfhörer und das Kehlkopfmikro phon in seinem Helm in ständigem Kontakt mit der Watson. Wiederholt murmelte er Antworten oder Fragen, aber der Motorenlärm war so laut, daß Claire nichts verstehen konn te. Einmal wandte er den Kopf und rief ihr durch das Brüllen des Motors zu: »Unterbro chen!« »Was?« »Funkverbindung mit der Höhle. War intakt. Datenanschluß zeigte normale Radioaktivität, dann plötzlich nichts mehr.« »Vielleicht ein Irrtum? Herausgezogener Stecker?«
Hale machte ein bedenkliches Gesicht. »Viel leicht.« Er wandte sich wieder nach vorn und murmelte in sein Mikrophon. Claire sah die dunkle Küste vorübergleiten. Die Landschaft im Norden zeigte keine Lichter. In dieser Gegend gab es wenige Dörfer, und keins verschwendete Elektrizität auf eine nächtliche Beleuchtung der Gassen. Wenn sie auf Nordkurs gingen, mußte Nauplia in Sicht kommen; der Winkel wäre ungefähr richtig, und sie waren hoch genug. Die beiden bewaff neten Männer saßen regungslos und hielten ihre Sturmgewehre. Nur ihre Augen schienen lebendig. Der Hubschrauber legte sich auf die Seite und ging in einem weiten Bogen auf Nordkurs. Das Ziel lag nun gerade voraus. Sie kamen über das Tal herein, westlich des Kuppelgrabes. Der erste Hubschrauber folgte jetzt. Sie spähte nach Westen hinüber, wo Nauplias ferner Lichterglanz die Silhouette einer zer knitterten Hügelkette heraushob. Dann brannte direkt unter ihnen ein orangefarbener Funken. Sie sah ihn nur momentan durch die Fahrgestellstreben, so hell, daß auf ihrer Netzhaut ein Nachflimmern blieb, als die Dre hung vollendet war und die Erscheinung au ßerhalb ihres Gesichtsfelds geriet. Ein Lager
feuer? Sie dachte, daß sie es melden sollte, und wandte sich zu Hale, aber auch er mußte es bemerkt haben, denn sie sah, daß seine Lippen sich bewegten und er in sein Kehlkopfmikro phon sprach. »Keine Frage, die Verbindung ist unterbro chen«, sagte er. »Watson bestätigt. Kein Kon takt.« »Sollten wir dann nicht…« »Wir sind bereits festgelegt. Wer dort unten ist, hat uns gehört.« Sie überflogen die Grabungsstätte. Claire er kannte die Umrisse des Höhenzuges, wo das Kuppelgrab lag, doch war es unmöglich, das Grab selbst zu erkennen. Sie gingen tiefer, um die Umgebung genauer zu beobachten. »Aber was nützt uns dies, wenn wir die Able sungen aus der Höhle nicht bekommen? Wir werden nie wissen, wann…« Durch das Pfeifen der Turbine hörten sie et was wie Kieselsteine, die auf ein Blechdach prasseln. »Wir können es nicht einfach absa gen«, sagte Hale. »Übrigens, das ist Gewehr feuer.« Das prasselnde Geräusch hörte vorüberge hend auf, setzte wieder ein. Durch das offene Fenster hörte sie ein Knattern, und in einer abstrakten Art und Weise wurde ihr bewußt,
daß jemand auf sie feuerte. Hale zog die Maschine nach rechts. Von vorn kam ein schweres, dumpfes Schlagen, und sie vermutete, daß es eine eigene größere Waffe sein müsse, die das Feuer erwiderte. Alles schien sich quälend in die Länge zu ziehen. Absurderweise kam ihr die Angriffsszene aus einem alten Film in den Sinn, Apocalypse Now hatte er geheißen, und sie wünschte, sie könne vorn neben dem Piloten sitzen und sehen, was vorging. Kahle Bäume huschten unter ihnen vorbei, im schwachen Licht nur schemenhaft erkennbar. Sie brausten durch das kleine Tal, wo sie Monate mit Ausgrabungen verbracht hatte. Von den Seiten kamen Lichtblitze. Sie zwinkerte, aber das Nachflimmern auf der Netzhaut wiederholte sich. Obwohl sie alles wie in Zeitlupe erlebte, ging tatsächlich alles so rasch vor sich, daß sie kei ne Zeit hatte, sich zu ängstigen. Wieder glitten Bäume vorüber, dann erhob sich zur Rechten ein vertrauter Abhang. »Wir sind klar«, rief Hale, »aber die anderen können nicht so schnell wenden. Sie bekom men Maschinengewehrfeuer vom Lager.« Während er sprach, legte er die Maschine in eine Rechtskurve und zog sie über das Tal hinaus zur See. Der Boden vibrierte unter ih
ren Füßen. Hale lauschte mit gerunzelter Stirn irgend welchen Meldungen von der Watson oder dem anderen Hubschrauber, dann wandte er den Kopf und sagte in ermutigendem Ton zu Clai re: »Dieser Feuerzauber kann uns nicht viel anhaben, solange er von leichten Maschinen gewehren und Handfeuerwaffen kommt. Diese Maschinen sind gepanzert. Doppelte Hüllen, dazwischen ein neuartiges Fibermaterial. Kei ne große Gefahr, es sei denn…« Er brach ab und lauschte. Claire wandte sich auf ihrem Sitz, um in das Tal hinabzusehen und bekam endlich den ers ten Hubschrauber ins Gesichtsfeld, der einen knappen Kilometer hinter ihnen war. Er flog langsam, und der weiße Behälter baumelte wie ein geschwollenes Ei unter seinem Bauch. Aufblitzendes Mündungsfeuer vom Lager, und Leuchtspurmunition knüpfte ein kurzle biges Netz von Lichterketten um den Hub schrauber. Claire war überrascht, wie laut das ratternde Geräusch jetzt zu hören war. Mitt lerweile feuerte mindestens ein halbes Dut zend Waffen, und das Feuer hielt ohne Unter brechung an. Ein Maschinengewehr feuerte vom Hügel, aus der Nähe des Grabes. Auch vom Hubschrauber gingen Lichtblitze aus, die
auf das Lager hinabstießen. Das Feuer wurde erwidert. Auf einmal kam ein sehr lautes Rrrrppp vom Lager. Der andere Hubschrauber schwankte sichtlich, verlor Höhe, schmierte nach links ab. »Verdammte Scheiße!« rief Hale ins Mikro phon. »Treffer von SMG. Offenbar Trieb werksausfall.« Er zog den Hubschrauber in einer scharfen Kurve herum und flog zurück. Claire verlor den anderen Hubschrauber aus den Augen. »Ist mir gleich«, rief Hale in sein Mikrophon. »Nehme Lager unter Feuer. Muß SMG aus schalten!« Die dumpfen Schläge von oben begannen aufs neue. Claire begriff, daß es so rasche Feuer stöße waren, daß sie nicht als eine Anzahl von Schüssen zu unterscheiden waren. Hale hatte offenbar Verbindung mit dem an deren Hubschrauber, denn er rief: »Versucht über die Hügel zu kommen, außer Reichwei te.« Er lauschte. Claire hörte ein unregelmäßiges, schleifendes Geräusch. Es wurde höher, ging in ein Winseln über. »Sie gehen hinunter«, sagte Hale mit tonloser Stimme.
Kaum hatte er das letzte Wort gesagt, da er hellte ein gelblichweißer Lichtblitz die Nacht vor dem Fenster. Es folgte ein dumpfes Kra chen, dann eine vernichtende Explosion. Der Lichtschein verblaßte, erhellte aber weiterhin das Innere der Kabine mit einem geisterhaften Widerschein, der die starren, entsetzten Ge sichter sekundenlang bloßstellte.
5 John wand sich aufwärts, die Lampe in der vorgestreckten Hand, Schultern und Beine immer wieder den Fels streifend. Der Zylinder auf seinem Rücken schlug hell gegen die been gende Höhlenwände. Er hatte sie nicht so eng in Erinnerung. Könnte das Gestein sich verlagert haben? Nein, das war einfältig. Zuvor war er zum Licht hinabgetaucht, hatte nicht darüber nachge dacht, wie eng die Passage war. Und er hatte kein Sauerstoffgerät auf dem Rücken getragen. Die Felsen schienen unmöglich nahe heranzu drängen, von einem nichts Gutes verheißenden
Rot, als wollten sie ihn zurückhalten. Es war kaum vorstellbar, daß die Kiste mit dem Wür fel hier hinuntergefallen sein sollte. Er überwand einen vorstehenden Felsknol len, und mit diesem Manöver hätte er um ein Haar alles verloren. Seine Maske kratzte am Stein, Wasser trübte seine Sicht und drang ihm in die Nase. Er riß instinktiv den Kopf zurück und schlug ihn gegen den Felsen. Jähe pani sche Furcht erfüllte ihn. Salz brannte ihm in den Augen. Er vergaß, daß es auf seine Nase nicht ankam, weil er durch den Mund atmete. Er sog ein, und die Nasenlöcher füllten sich. Er zog an der Maske, schwamm automatisch aufwärts zur Oberfläche und stieß schmerzhaft gegen Fels. Es gab keine Oberfläche, nur Ge stein ringsherum, keinen Weg hinauf an die Luft. Dies war eine lange Röhre, die zu einem Grab führte, es war alles ein Grab, ein Ort für die Toten. Laß das Einatmen durch die Nase, sagte er sich. Hör auf! Komm zu dir! Der Gedanke brachte ihn zur Besinnung, und er folgte der alten Regel, daß man warten soll, bis die Panik nachläßt. Gräber, Tod, für immer im Stein begraben – nein, vergiß das! Geh Schritt für Schritt vor! Das verschwommene Bild durch die mit
Wasser vollgelaufene Maske sagte ihm nichts. Er zählte bis fünf und begann eine alte Übung. Zurücklehnen. Die Oberkante der Maske ge gen die Stirn pressen. Den unteren Teil nach außen biegen. Durch den Mund Luft aus dem Bedarfsventil atmen. Dann den Atem durch die Nase ausstoßen. Er tat es mit aller Kraft, bis nichts mehr in ihm war. Die Sicht wurde klarer, obwohl die neuerliche Berührung mit Luft das Brennen in seinen Augen verstärkte. Blasen stiegen empor, und er, schwerer ge worden, sank abwärts. Er biß aufs Bedarfsven til und fand das frische Einströmen der Luft beruhigend. So unglaublich es scheinen mochte, seine Maske war klar. Er hatte es er reicht und war stolz. Jeder Taucher wußte, daß man innerhalb weniger Augenblicke sterben konnte, und er hatte diese Gefahr bestanden, ohne die Nerven zu verlieren. Er war doch nicht so schlecht. Die Glasscheibe vor seinem Gesicht war am oberen Rand beschlagen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Wegen einer Geringfügigkeit brauchte er das Manöver nicht zu wiederholen. Er dachte an nichts als so rasch wie möglich wieder ins Freie zu kommen. Einen Blick in die Höhle werfen, dann umkehren. Und eingekeilt
wie er war, war es leichter, weiterzuschwimmen, als eine Wendung zu bewerkstelligen. Er überwand den Felsknollen und ließ sich langsam aufwärtstreiben. Um die Panik zu überwinden, hatte er sich nach Belieben atmen lassen, nun aber war es Zeit, zum gleichmäßi gen kurzen Saugen am Bedarfsventil zurück zukehren, die halbe Lunge voll Luft anzuhal ten, solange es sich angenehm anfühlte, jedes Sauerstoffmolekül daraus zu ziehen, bevor er die Blasen hinausließ. Der rote Lichtkegel stieß in undurchdringli che Finsternis. Das Wasser hier war schmut zig, erfüllt von einem Dunst schwebender Par tikel. Eine Wendung nach links. Ja, an die erinner te er sich. Die Wände klafften weiter ausei nander, ließen ihn mit Leichtigkeit durchgleiten. Oben und ein kleines Stück vo raus lag der Kiesstrand. Suchend schwenkte er den Lichtkegel herum. Dann sah er aus dem trüben Dunkel eine Ge stalt auftauchen. Der Schwimmer war von ihm abgewandt, die Füße steckten in dem schwar zen wärmenden Material, das Taucher wie So cken in ihren Schwimmflossen trugen. Er hatte gelernt, Formation zu halten, solange er in ei
ner Gruppe schwamm, also führte der Anblick eines anderen voraus ihn automatisch zu der Annahme, der Mann sei mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Schwebestoffe im Wasser absor bierten das Licht, und er konnte nur die Beine sehen. Langsam schwamm er näher, um sich zu vergewissern, als er auf einmal merkte, daß die Beine sich nicht bewegten. Er war noch auf seine Atmung konzentriert, und das verlangsamte seine Reaktionen auf äußere Ereignisse. Er war auf gleicher Höhe mit den Füßen des Mannes, bevor ihm die Wahrheit dämmerte. Nun konnte er schlaff hängende weiße Hände sehen. Vom Taucher gürtel fehlte Ausrüstung. Er schwamm längsseits. Am Rücken des Tau cheranzugs war kein Kommunikationsgerät. Vor allem aber fehlte der Preßluftzylinder. Keine Maske. Arme und Beine lagen in einem Zustand völliger Entspannung im Wasser. Und in der Brust gähnte ein großes Loch, aus dem schwarze Fäden ins Wasser hingen und sich auflösten. Das Haar wogte langsam wie Algenbewuchs. Der Körper war abgewandt, das Gesicht nach unten, und John brauchte einen langen Au genblick, bis er das Profil wiedererkannte. Es war Arditti.
Johns Schwimmbewegungen brachten den Körper in sanfte Bewegung, die vorquellenden Augen starrten geradeaus. John berührte den Körper, und er drehte sich herum und starrte ihn aus den leblosen Augen an, den Mund halbgeöffnet, als wolle der Tote ihm eine Frage stellen. Als John die schwarzen Fasern aus Ardittis Brust sich im Wasser auflösen sah, wurde ihm klar, was den trüben Dunst im Wasser verur sacht hatte. Er biß auf das Ventil, um ein überwältigendes Gefühl von Übelkeit zurück zudrängen. Ardittis Augen glotzten, und aus dem halbof fenen Mund quoll eine Blase. Sie stieg auf wie eine Frage: Warum? und zerplatzte an der Oberfläche. Ja, warum. Jemand hatte Arditti erschossen, nachdem er den größten Teil seiner Taucher ausrüstung abgelegt hatte. Er konnte nicht weit gewesen sein, denn er war ins Wasser zu rückgefallen. Oder geworfen worden. Das erklärte die Leuchtkugel. Jemand hatte sie als ein Signal für John abgeschossen, oder um die Höhle zu beleuchten und Ziele sichtbar zu machen. Was immer der Fall war, dies lag außerhalb seiner Spielklasse. Er hatte keine Waffe,
nichts. Höchste Zeit, wieder hinauszu schwimmen und die Transportgruppe zu war nen. Sollten sie sich die Köpfe zerbrechen, was zu tun sei. Wahrscheinlich bedeutete es das Scheitern des ganzen Unternehmens. Die Griechen mußten in der Höhle sein, was be deutete, daß sie auch oben im Lager sein muß ten… Claire! Die Hubschrauber waren bereits ge startet. Sie würden zum Lager fliegen und auf Funksignale warten, die nicht kamen, weil das Gerät in der Höhle unbemannt war. Also würden sie oben kreisen, dem Feuer vom Boden ausgesetzt. Und Claire saß in einer der Maschinen. Er mußte Nachricht geben. Er stieß sich in dem engen Raum ab und streifte Arditti. Der rote Lichtkegel durchschnitt eine schwebende Wolke aus gerinnendem Blut. Nach dem Wendemanöver drückte er sich mit raschen Paddelbewegungen der Schwimm flossen tiefer. Der Höhlengang schien breiter als er ihn beim Aufstieg gefunden hatte. Die Biegung bei dem Felsknollen kam, und trotz seiner Eile manövrierte er sorgsam hindurch, um nicht noch einmal eine verschobene Maske und plötzlich einströmendes Wasser zu ris kieren. Es wäre unangenehm schwierig, die
Maske in dieser Position, mit dem Kopf nach unten, vom Wasser zu befreien. Der Nebel des Blutes lichtete sich, blieb zu rück. Er war dem Ausgang am Meeresboden nahe, als unversehens ein greller blauer Licht schein aufflammte. Er war voraus, am Mee resboden. Die Lichterscheinung zog langsam von links nach rechts, und gleißende Lichtstrahlen gin gen wie Speichen davon aus, um sich im Was ser zu verlieren. Einen Augenblick lang dachte er, es sei die Transportgruppe, die eine Unterwasserfackel gezündet habe, um den Weg zu suchen oder nach ihm Ausschau zu halten, aber als er sah, daß es im Umkreis des Lichtpunktes nichts gab, keine Gestalt, die die Fackel hielt, wußte er, was das spuckende, sprühende grelle Licht war.
6 Der Widerschein der Explosion verlor rasch an Helligkeit. »Der Treibstoff ist hochgegan gen«, sagte Hale mit dumpfer Stimme. »Sie
brennen.« In Claire krampfte sich etwas zusammen. Sie beendeten das Wendemanöver, und Claire sah einen gelben Scheiterhaufen in die Dunkelheit emporlodern. George. »Funkverbindung weg«, fuhr Hale fort. »Aber vielleicht sind ein paar von ihnen durchge kommen. Sehen wir nach!« Sie stiegen über den langen Höhenrücken und ließen das Gewehrfeuer vorübergehend hinter sich. Claire konnte jetzt sehen, daß der erste Hubschrauber ungefähr dreihundert Meter westlich des Kuppelgrabes abgestürzt war, nahe dem Fuß des Hügels. Er brannte lichterloh; beißende schwarze Wolken brodel ten zum Nachthimmel hinauf. Sie schlugen einen Bogen über die Küste hinaus, und der Schauplatz des Geschehens kam außer Sicht. Sie blickte hinab und sah ei nen orangefarbenen Schimmer. Er kräuselte sich, wurde undeutlich, kam wieder als ein in tensiv leuchtender orangefarbener Punkt zum Vorschein. Sie schloß die Augen, dachte, es sei eine optische Täuschung, ein Nachflimmern auf ihrer Netzhaut, sah aber nichts. Als sie wieder hinschaute, schien das Licht seinen Ort verändert zu haben. Vielleicht das Positions
licht eines Schiffes? Das Schlauchboot, das John zur Watson zurückbringen sollte? Nein, das sollte ohne Licht fahren. Wieder überflogen sie die Küste, hielten diesmal von Westen her auf das Lager zu. Abermals dröhnten kurze, dumpfe Schläge von oben. Claire sah es im Lager aufblitzen, aber das antwortende Feuer schien nachgelassen zu haben. Vielleicht hatte der Bordschütze oben das schwere Maschinengewehr getroffen, denn sie hörte es nicht mehr. Lärm, Verwirrung. Auf einmal brüllte Hale wieder in sein Mikrophon. Die Männer in der Kabine entsicherten ihre Waffen. Der Hub schrauber stieß abwärts und hielt direkt auf das Lager zu. Ein schweres, dumpfes Häm mern von der Schnellfeuerkanone über ihnen. Sie setzten hart auf. »Hier bleiben!« befahl Hale. Als ob es der Anweisung bedurft hätte, sie an Bord zurückzuhalten. Hale stieß die Stahltür mit einem Klappern und metallischen Schlagen zurück, und die Bewaffneten sprangen hinaus. Sie hatten den Hang vor sich, so daß der Hubschrauber sie gegen Feuer aus dem Lager deckte. Von der brennenden Maschine wehte heiße, rauchige Luft herüber. Claire sah die Männer zum brennenden Wrack laufen, dessen Skelett in
geschwärzten Verstrebungen und verbogenem Aluminiumblech aus den Flammen ragte. Ringsum verstreut lagen Trümmer und schwärzliche Klumpen. Hale lief auf den Erst besten zu, stieß ihn mit dem Fuß an, schüttelte den Kopf. Einer dieser verkohlten Klumpen mußte George sein. Und als die Männer um das Wrack liefen und die Klumpen von den Flam men fortzogen, wurde ihr klar, daß niemand den Absturz überlebt hatte. Die Geräusche schienen sich zu verlieren, unwichtig zu werden. Sie dachte daran, wie sie George vor nicht einer halben Stunde an Bord der Watson gesehen hatte, selbstsicher, über zeugt vom Erfolg des abenteuerlichen Unter nehmens. Was mochte er gedacht haben, als der Feuer zauber angefangen hatte? Durch das Wamp wamp wamp der Rotoren hörte sie peitschendes Gewehrfeuer. Es wurde Zeit, daß sie von hier verschwanden… Der Würfel. Sie sprang auf, lief zur anderen Seite der Kabine und überblickte suchend das vom Feuerschein erhellte Terrain. Dort, fünf zig Meter entfernt. Die Verpackung schien in takt, ein schmutzigweißer Block, in Kabel ver strickt, der unten am Talrand lag.
Sie stieß das Schiebefenster auf und rief Hale, doch er hörte nichts. Die Männer waren noch mit der Bergung der Toten beschäftigt. Das Feuer flackerte jetzt niedriger, nachdem es al les Brennbare verzehrt hatte. Hale brüllte den Leuten etwas zu, und sie rannten geduckt zu rück zur Maschine. »Nichts zu machen«, sagte er, als er in die Kabine sprang. »Sie starben beim Aufprall.« Er setzte sich an seinen Platz, stülpte den Helm über und schilderte die Situation. Die übrige Besatzung kam schnaufend an Bord und stieß die Tür zu. Claire war wie betäubt, abgelöst vom Geschehen. Sie versuchte die Benommenheit abzuschütteln, aber es war verlockend, das Hämmern der Kanone über ihr zu ignorieren, vor dem ausgebrannten Wrack am Hang die Augen zu verschließen. Carmody und der Nationale Sicherheitsrat waren so selbstsicher gewesen. Sie hatten da rauf gezählt, daß der Türkische Krieg Kontos ablenken würde, hatten sich auf Heimlichkeit, Schnelligkeit und – nicht zuletzt – auf eine Theorie verlassen. Auf Berechnungen, die, wenn sie verstand, was sie gesehen hatte, ernstlich falsch waren. Hybris. Sie mochten keine Fragen, wenn sie keine einfachen Antworten dafür hatten. Sie
glaubten so fest an ihre Methode, daß sie aus unleugbaren Risiken Gewißheit heraufbe schworen. »He!« rief Hale zu ihr. »Setzen Sie sich an Ih ren Platz und schnallen Sie sich an!« Sie bemerkte, daß sie an der Tür stand und in ihrer Benommenheit zum Fenster hinaus schaute. Hale beendete sein Gespräch mit dem Funkoffizier der Watson. »Die Marine schickt zwei Jagdbomber«, sagte er. »Die Kiste«, sagte sie, wieder zu sich kom mend. »Wir müssen sie wieder in die Luft bringen.« »Ja, ja, ich überlege gerade. Wir warten, bis das Feuer ausgebrannt ist und die Jagdbomber dieses Lager erledigen – sie werfen Napalm –, dann werden wir uns daran machen. Ich den ke, wir montieren die Halterung für diese Ka bel vom Wrack ab und machen sie bei uns fest.« »Ist das schnell zu machen?« »Kein Problem. Zehn, vielleicht zwanzig Mi nuten.« »Dann sollten Sie wissen, was ich glaube ge sehen zu haben.« Sie erzählte es ihm. Er machte schmale Augen. »Vielleicht können wir dann nicht warten, bis die Jagdbomber
kommen und denen da unten den Rest geben.« »Bis sie kommen, sollten wir von der Kiste Abstand halten.« »Gut. Das Gewehrfeuer ist nicht so schlimm, weil auf diese Distanz kein sicheres Zielen möglich ist, aber es gibt nichts, was die Brüder daran hindern könnte, uns auf den Pelz zu rü cken.« Wieder kamen Feuerstöße von der Bordka none. »Vielleicht unser Bordschütze«, sagte Claire. »Glauben Sie, daß hier viele Griechen sind?« Eines der Argumente, die sie vorgebracht hatte, um ihre Teilnahme an dem Unterneh men zu rechtfertigen, war ihre Beherrschung des Griechischen gewesen. Nun merkte sie, daß ihre zungenfertige Begründung sich in ei ner höchst unerfreulichen Art und Weise als triftig erweisen könnte. Er spuckte mit Bedacht auf den Boden. »Könnte sein.« »Wir müssen dieses Ding in die Luft brin gen.« »Ja. Ich werde Ihre Beobachtung melden…« Er hatte die Funkverbindung kaum herge stellt, als er innehielt. Aus der Richtung des Lagers kam wieder das laute Rrrrppp. »Verdammt! Wieder dieses Satansding. Sie
müssen es in Ordnung gebracht haben.« Drei Geschosse schlugen in den Rumpf des Hubschraubers, jeder wie ein Hammerschlag auf Holz. Claire zuckte zusammen. Von oben antwortete ein weiterer Feuerstoß. Hale schaute verwirrt drein. Sie war froh zu wissen, daß für ihn auch alles ein bißchen zu schnell ging. Zwei weitere Treffer knallten in den Rumpf, diesmal beim Heck. »Mein Gott, damit kommen die glatt durch die Wand«, sagte Hale verwundert. »Das ist Kaliber fünfzehn Millimeter. Wir sind ein hübsch großes Ziel.« »Dann müssen wir hinaus«, sagte sie. Weitere Geschosse trafen den Hubschrauber, der unter den Einschlägen ein wenig schwankte. Die Männer sprangen hinaus, gin gen in Deckung und erwiderten das Feuer mit ratternden Feuerstößen. Hale sagte etwas in sein Mikrophon – die Worte gingen im Gefechtslärm unter – und nickte. »In Ordnung. Das machen wir.« Er nahm den Helm ab und wandte sich um. »Was tun wir?« »Gehen den Hang hinauf zum Kamm und se hen nach, ob dieses Ding da draußen ist.« »Sie glauben mir nicht?«
»Nicht ich, das ist Carmody. Wir müssen wis sen, was vorgeht.« »Nun…« »Noch etwas. Carmody will, daß Sie aus der Nähe des Hubschraubers wegkommen. Das Wrack ist fast ausgebrannt, und jeden Augen blick können wir es mit griechischer Infanterie zu tun bekommen. Carmody sagt, ich soll Sie in Sicherheit bringen, hinter den Höhenzug, be vor diese Singularität hier ankommt. Ihre Be obachtung überprüfen. Dort lasse ich Sie in einem Versteck zurück. Dann werden wir die sen Verschlag festmachen und starten.« »Ich soll einfach in die Dunkelheit hinaus laufen?« »Ich gehe mit Ihnen.« Ein weiterer Feuerstoß brachte den Hub schrauber zum Schaukeln. Das wilde Geratter der Schüsse machte es schwierig, ihn zu ver stehen, obwohl er nahe bei ihr stand. »Wir werden den dritten Hubschrauber nachkom men lassen, der wird Sie finden und aufneh men. Bis dahin werden wir diese Kerle erledigt haben.« Claire starrte ihn an. Inmitten dieses Getöses war er immer noch überzeugt, daß ihr Vorha ben gelingen könnte. Hale lächelte. »Besser als hier im Feuer zu
sitzen, glauben Sie mir!« »Aber ich…« »Befehl von Carmody, verstehen Sie?« sagte Hale, und in seine Stimme kam eine Schärfe. »Sehen Sie, meine Dame, ich habe zu tun.« Sie nickte stumm und blickte zur offenen Tür hinaus. Oben gab der Kanonier einen weiteren Feuerstoß ab. Sie bemerkte, daß die anderen Männer zum Hubschrauber zurückgekommen waren und in der Deckung des Rumpfes kau erten. Sie kletterte mit Hale hinunter und kroch zu den anderen. Ein hohes Pfeifen kam aus den Wolken, dann ein tiefes, hohles Brül len. »Da ist die Marine«, sagte Hale und grinste. »Halten Sie sich bereit, ja? Ich gehe mit Ihnen, und diese Männer geben uns Feuerschutz. Wir laufen den Hang hinauf, durch die kleine Rin ne dort, sehen Sie? Wo es dunkel ist.« »In Ordnung.« Das pfeifende Kreischen ging in ein Heulen über, als die Jagdbomber auf das Tal herab stießen. Plötzlich sah sie einen mehrere Kilo meter entfernt aus der aufreißenden Wolken decke kommen, schwarz vor dem dunklen Silbergrau. Er sauste in reißendem Gleitflug wie ein Mauersegler durch das Tal. Claire ver lor die Maschine aus den Augen, als sie hinter
dem Rumpf des Hubschraubers verschwand, dann flammte jenseits davon eine gelbe Sonne auf, und mit einem tiefen Rumpeln stieg ein Feuerball wie von brüniertem Gold in die Nacht auf. Sie stand geblendet und wie er starrt. »He! Los jetzt!« Hale faßte sie beim Arm, und sie stolperte ihm wie betäubt nach. Es ging gerade den Hang hinauf, zuerst im Laufschritt, dann durch das lose Geröll am Boden einer Rinne, die bald steiler wurde, so daß sie sich an Sträuchern festhielten und weiterzogen. Die ganze Zeit wollte sie sich nach dem gelben Flammeninferno umsehen, aber sie wagte es nicht; selbst in Stiefeln war es schwierig, zwischen Geröll und anstehendem Gestein brauchbare Tritte zu finden, und sie mußte sich abmühen, um mit Hale Schritt zu halten. Ihre Schatten streckten sich vor ihnen aus, die überlang verzerrten Arme schwangen in riesigen Bogen. Obwohl er geduckt blieb, bewegte sich Hale schnell und gewandt wie ei ne Gemse durch das steinige Gelände; wäh rend Claire immer wieder abrutschte und Steine lostrat, die mit verräterischem Gerassel durch die Rinne abgingen, war von ihm fast nichts zu hören. Allmählich ging das Licht in Orangerot über. Das Napalm war nahezu ver
brannt. Sie hörte keine Schüsse mehr, kein Gewehr feuer. Schnaufend folgte sie Hales undeutli cher Gestalt bergauf. Wieder glitt sie im losen Geröll aus und schrammte sich im Fallen das Gesicht. Der trockene, würzige Duft des medi terranen Buschwalds füllte ihre Nase, und dann wehte ein anderer Geruch vom Tal her auf, wie Feuerzeugbenzin. Napalmdämpfe, mutmaßte sie, während sie sich aufwärtsmüh te. Die Rinne verengte sich weiter oben zu einem steilen, schroffen Einschnitt. Sie blickte zurück und sah Männer bei den ausgebrannten Resten des ersten Hubschraubers. Offenbar versuch ten sie bereits, die Haltekabel loszumachen. Ein Stück weiter rechts lag das brennende Lager. Ringsum hatte der Buschwald Feuer gefangen, und graue Rauchwolken hingen über einem wachsenden orangefarbenen Kreis. »In Ordnung, hier ist es richtig«, rief Hale mit gedämpfter Stimme zu ihr zurück. Er hatte in einer Senke knapp unter dem Kamm des Höhenzuges haltgemacht. Sie schätzte ihre Entfernung vom Hubschrauber auf dreihun dert Meter. Nur noch vereinzelte Brandherde waren von der Feuersbrunst übrig geblieben und reichten kaum aus, das Tal zu erhellen.
Während sie den Rest des Weges hinaufklet terte, bemerkte sie zu ihrer Verblüffung, daß sie sich an das Steigen gewöhnt hatte und kaum außer Atem war. Sie kletterten über eine Felsbank und blickten vom Kamm hinab zum Ufer. Ein trüber blauer Lichtschein breitete sich wie ein Fächer von der Basis des steilen Kliffs seewärts aus und erhellte das unruhige Wasser von unten. Die sonst nachtschwarze See ver mochte das tiefe Leuchten nicht zu ersticken. Wie ein lebendes Wesen dort unten, dachte sie. Wie ein urzeitlicher Gott. Sie überblickte den Horizont. Wo war die Watson? Seemeilen entfernt, wahrscheinlich, und ohne Positionslichter. »Sieht so aus, als hätten Sie recht«, flüsterte Hale. »Und John ist irgendwo da unten.« »Was? Wer?« »Ist die Verbindung mit den Männern in der Höhle wiederhergestellt worden?« »Ah, solange ich an Bord war und Verbindung hatte, nicht.« »Dann muß etwas…« Sie konnte nicht weitersprechen. Die geisterhafte Lichter scheinung schien auf unheimliche Weise seit wärts zu gleiten, als suche sie einen Weg in die
Felsen des Kliffs. Dann kam ihr eine Erleuchtung. Die Lichter scheinung bewegt sich viel zu langsam. Die Berechnungen waren irgendwie fehler haft. Die Singularität war frühzeitig zurückge kehrt, doch statt mit hoher Geschwindigkeit zurückzusausen und wie ein Blitz in die Kliffs einzuschlagen, kroch das Ding am Meeresbo den dahin. Wie lang war es schon dort? Kehrte es auf seiner früheren Bahn zurück? Alles, was sie angenommen hatten, mochte falsch sein. Hale sprach in ein tragbares Funkgerät und machte Carmody Meldung. Dann brach er ab und winkte ihr. »Sie bleiben hier, wo Sie sind! Die Marine hat unter diesen Bastarden aufge räumt, also wird es nicht mehr lange dauern, bis wir den Behälter am Haken haben. Fünf zehn Minuten, rechne ich. Dann werde ich ei nen Mann zu Ihnen heraufschicken, daß er Sie abholt, oder der dritte Hubschrauber wird hier sein. Carmody sagt, Sie sollen sich auf keinen Fall in Gefahr begeben.« »Großartig.« »Kommen Sie mit zur Mulde, hier oben sind Sie zu leicht zu sehen!« Sie krabbelten über die Felsbank hinab, und
Hale ließ sie in der Mulde zurück. Als er fünf zig Meter abgestiegen war, hielt er die Hand hoch und winkte. »So ist’s recht. Bleiben Sie in Deckung!« Er stieg weiter ab, die Maschinenpistole in der Armbeuge, alle Aufmerksamkeit auf den Weg konzentriert. Er hatte ungefähr die Hälfte der Strecke zum Hubschrauber hinter sich ge bracht, als ein kurzes Brrrrrpp die Nacht durchschnitt, und Hale vornüberfiel. Er kam auf dem abschüssigen Gelände ins Rollen und kollerte ein gutes Stück über Felsen und Ge röll, bevor er im Gebüsch verschwand. Claire machte sich so klein wie möglich. Das furchtbare Geräusch war von links gekommen, von Westen her. Angestrengt spähte sie hinab zu den Sträuchern, wo Hale liegen mußte, aber nichts regte sich dort. Vielleicht kroch er durch das Gestrüpp weiter. Auch die Männer bei dem Hubschrauber hatten den Feuerstoß gehört und liefen auseinander, um Deckung zu suchen. Sie begannen nervös und ziellos um sich zu schießen. Aus der Dunkelheit kam kei ne Antwort. Sie kauerte in ihrer Mulde und versuchte ei nen klaren Gedanken zu fassen. Hale verwun det, vielleicht tot. Die Mannschaft unten in Verwirrung, erwartete einen Angriff. Vielleicht
gab es noch einen, der sich bemühte, die Kabel loszumachen, und die übrigen feuerten in die Gegend, um ihn zu decken. Sie lauschte den kurzen, regelmäßigen Feuerstößen. Ja, sagte sie sich, das mußte es sein. Was sollte sie tun? Bleiben, wo sie war, si cherlich. Wenn die Dinge sich beruhigten und niemand käme, sie zu holen, könnte sie dem Kammverlauf bis zum Kuppelgrab folgen und von dort den Fußsteig zum Ufer hinunter nehmen. Von links drang ein leises Knacken an ihr Ohr. Sie spähte über das Gestrüpp hinweg. Aus diesem Winkel konnte sie Terrain einsehen, das die Leute unten nicht überblicken konn ten, und sie glaubte eine schattenhafte Bewe gung zu erkennen. Es war in der herrschenden Dunkelheit schwierig zu beurteilen, aber dort, ja, verlagerte sich wieder ein dunkler Fleck. Wieder ein Knacken. Diesmal näher. Sie gewann den Eindruck einer gleichmäßi gen Bewegung parallel zum Hang. Zwei Ge stalten, vielleicht drei. Sie feuerten nicht, ar beiteten sich nur vor und kamen in ihre Richtung. Natürlich. Hale hatte sie diese Rinne herauf geführt, weil sie Deckung bot. Jemand, der
ungesehen ins Tal absteigen wollte, würde denselben Weg nehmen. Sie würden ihr Versteck und sie finden. Und Hale, falls er noch lebte. Was als ein sicherer Zufluchtsort für sie ge dacht gewesen war, erwies sich nun als Falle. Sie mußte handeln. Diese Leute kamen näher, und wenigstens einer von ihnen würde wahr scheinlich die Stelle passieren, wo sie versteckt war. Sie mußte es verlassen. Doch ihr Instinkt sagte ihr, daß sie sich verbergen, an den Boden schmiegen sollte. Und zugleich wurde sie ein Gefühl von Unwirklichkeit nicht los: daß sie einfach nicht in solch einer Lage sein sollte, daß die Welt plötzlich auf den Kopf gestellt worden sei. Sie sagte sich, daß es nun darauf ankäme, ei nen kühlen Kopf zu bewahren und überlegt zu handeln und sich durch nichts ablenken zu lassen. So würde sich ein Mann verhalten: einfach tun, was getan werden mußte, und den Rest auf später verschieben. Analytisch. Vor sichtig. Auf jedes Problem konzentriert, sobald es sich stellte. Und, sagte sie sich, nicht zittern. Sie kroch aus der Mulde und hielt nach einer Lücke im Strauchwerk Ausschau. Abermals trug ihr die kühle Luft das Knacken eines Zweiges zu, und wieder schien es näher als
zuvor. Sie fand einen Durchschlupf zwischen zwei hohen Sträuchern und einer Gruppe knorriger Bäume. Von dort erreichte sie die steile Rinne und querte sie Zentimeter um Zentimeter, hielt sich an Grasbüscheln und vermied jeden Tritt, der loses Geröll in Bewegung bringen könnte. Vor Angst und Konzentration schnaufte sie so heftig, daß sie befürchtete, das Geräusch werde sie verraten. Auf der anderen Seite ließ sie sich auf alle viere nieder und kroch durch Lücken im Buschwerk weiter. Die umschließende Vegeta tion mit ihren Schatten bot nach der unge schützten Rinne willkommene Deckung. Zweige zerkratzten ihr Gesicht und Hände, aber sie kroch unverdrossen fort von der Rin ne und hielt sich schräg aufwärts. Scharfkan tige Steine schnitten ihr in Hände und Knie. Kleine Tiere huschten raschelnd fort. Der aromatische Duft des Buschwaldes behauptete sich hier gegen den scharfen Napalmgestank. Einmal in Bewegung, kroch sie automatisch weiter. Bald waren ihre Knie wund, das dorni ge Gestrüpp zerkratzte ihr das Gesicht, aber sie spürte die brennenden Schmerzen kaum, da sie all ihre Aufmerksamkeit auf die Geräu sche möglicher Verfolger konzentrierte.
Unten im Tal hatte das Schießen aufgehört. Ein leichter Wind trug ihr ein Gemurmel von Stimmen zu; vielleicht diskutierten die Män ner über die Kabel. Den Hintergrund gab das tiefe, gleichförmige Blubbern des Hubschrau bers ab, dessen Motor leerlief. Sonst nichts. Sie erhob sich rasch, um Rundschau zu hal ten. Im Umkreis des Lagers gab es nur noch wenige kleine Brandherde, die Luft war rauchverhangen. Claire war erstaunt, wie weit sie gekrochen war – mindestens zweihundert Schritte. Sie konnte die Umrisse des Hub schraubers kaum noch ausmachen. Und jeden Augenblick konnte die Singularität an die Oberfläche hervorbrechen und sie alle verbrennen und verstrahlen. Oder, noch schlimmer, eine Kernexplosion hervorrufen. Sie wurde angezogen von ihrem Zwilling im sorgsam verpackten und gesicherten Würfel. Wenn richtig war, was John und Zaninetti und die anderen gesagt hatten, dann würde die seltsame Lichterscheinung nicht dort unten in der See bleiben. Ihre beiderseitigen Anzie hungskräfte würden die Singularitäten un weigerlich zusammenführen. Die schattenhaften Gestalten am Hang hinter ihr waren nicht zweifelsfrei zu erkennen, doch glaubte Claire da und dort Bewegungen in dem
unebenen, mit Buschwald bewachsenen Ter rain auszumachen. Nach ihrem Gefühl hielten sie noch immer auf sie zu, offenbar in einem Versuch, den Hubschrauber zu umgehen. Es konnten nur wenige sein, aber wenn einer von ihnen auf sie stieß… Sie wandte sich um, halb entschlossen, wie der zum Kamm aufzusteigen und sich so in Si cherheit zu bringen – und war überrascht, als sie nur zehn Meter entfernt den ansteigenden Weg zum Kuppelgrab sah. Bis zum Dromos konnte es nicht weit sein. Über steiniges Gelände und durch Gestrüpp kroch sie das letzte Stück zum Weg. Der Ein gang zum Grab kam voraus in Sicht, ein ver trauter, beinahe erfreulicher Anblick. Sie schwang die schmerzenden Beine über einen Block, der die Wegböschung bildete, erreichte ebenen Grund und kauerte nieder. Kein ver dächtiges Geräusch, nur das leise Rascheln des Windes, das Blubbern des Hubschraubermo tors und ihr eigenes Atmen. Gebückt schlich sie den Weg hinauf zum Dromos, folgte diesem bis zum Grabeingang. Das letzte Stück war so dunkel, daß sie sich mit der Rechten an den Blöcken des alten Mauerwerks entlangtastete. Ihr Atem ging rasch, sie stand immer noch un ter dem Schock der letzten Ereignisse und war
ängstlich bedacht, sich in Sicherheit zu brin gen. Die Wand endete, und sie fühlte den mächtigen, aus Kalkstein gehauenen Eingang zum Grab. Sie trat, eng an die Sicherheit ver heißenden massiven Steine gedrückt, über die Schwelle, und verspätet fiel ihr ein, daß sie weder auf die Gitterstäbe des eisernen Tores, noch auf die hölzerne Eingangstür gestoßen war; beide mußten offenstehen, und da die letztere auf der anderen Seite eingehängt war, konnten ihre Finger sie nicht ertasten. Sie brauchte ihren Schlüssel nicht. Das Grab war offen. Ein weißes Licht schien ihr blendend ins Ge sicht. Sie keuchte vor Schreck. »Also sind Sie es doch«, sagte eine Stimme. Die Stimme des Obersten Alexandros Kontos.
7 Lange und wie gebannt starrte John auf das winzige, virulente blaue Licht. Es bewegte sich ungefähr vierzig Meter entfernt über den Meeresboden. Gelbe Fühler gingen wie kleine
Blitze davon aus, die in wolkigen, violetten Ausbrüchen endeten. Eine blaue Aureole er hellte Felsen und Spalten, warf ihr unheimli ches Licht auf die bräunlichgraue Spur, die das Ding hinterließ. Überall in seinem Umkreis lösten sich Blasen aus dem Gestein und dem Grund, in denen das blaue Licht funkelte, dann sprudelten sie wie Schwärme silbriger Vögel aufwärts. Die zweite Singularität. Sie war schon zu rückgekehrt, hatte annähernd zweitausend Kilometer zurückgelegt und war Stunden vor der berechneten Zeit eingetroffen. Aber wie kam sie in die See? Sie hätte in den Höhlengang zurückkehren sollen. Dorthin führte ihr Weg. Als er die Erscheinung beobachtete, verän derte sie ruckartig den Kurs, prallte gegen ei nen Felsblock, und gelbe Funken schossen heraus und erblühten wie schweflige Blumen. Der Block wurde entzweigespalten. Geräuschlos. Geisterhaft still zog die Singula rität ihre Bahn, schnitt sich durch Gestein und Sand, verdampfte Meeresalgen zu braunem Rauch. Elfenbeinfarbene Blasen brachen aus dem Meeresboden hervor, Dampfspuren ener giereicher Partikel. Die Singularität nahm Wasser auf und fügte einen Teil davon seiner
Masse hinzu, während der Rest als heißer Dampf ausgestoßen wurde. Der Wasserdruck in seinem Ohr schien sich zu verändern. Algen wogten träge und majes tätisch in einer frischen Strömung. Von ihr bewegt, kam die Singularität plötzlich auf ihn zu, gegabelte Blitze aus Purpur und Gold spei end. John machte ein Wendemanöver und suchte das Weite. Das Wasser hielt den größten Teil der Strahlung auf, selbst die Gammastrahlen, dennoch bekam er eine respektable Dosis ab. Er mußte eine Abschirmung suchen. In dieser Richtung war kein Entkommen möglich, nicht, solange die Singularität sich auf ihn zubewegte. Sie könnte ihn in einem Augenblick einholen und rösten. Er machte ein neuerliches Wendemanöver und schwamm den Weg zurück, den er ge kommen war, diesmal schneller. Es kam nur darauf an, einen sicheren Abstand zwischen sich und die Singularität zu bringen. Der Schlauchboottransport mußte bald eintreffen, und wenn er ihn erreichte… Nein, wahrscheinlich würde er noch eine gute Weile auf sich warten lassen, denn die Besat zung würde bei der Annäherung die Singulari tät sehen und Meldung machen. Und da man
an Bord der Watson ohnedies seit geraumer Zeit keine Verbindung mehr zum Vortrupp hatte, würde man den Transport zurückbeor dern. Und ihn hier seinem Schicksal überlassen, in der Nachbarschaft von Leuten, die bereits Arditti und vielleicht auch die anderen getötet hatten. Er hielt an und schaltete seine Lampe aus. Er tat gut daran, die Batterien zu schonen. Au ßerdem war der Lichtschein wahrscheinlich von oben zu sehen. Er schwebte in der Dunkelheit und überlegte. Er konnte nicht vor und nicht zurück. Und er konnte auch nicht hier bleiben, nicht für län gere Zeit – der Druckmesser zeigte, daß er nur noch für zwanzig Minuten Luft hatte. Er sollte nicht abwarten, bis der Luftvorrat ganz erschöpft wäre. In diesem Fall bliebe ihm nur noch ein Weg aus der Höhle – aufwärts, durch das Grab. Es sei denn, er wollte mit sei ner Taschenlampe im Dunkeln durch den Höhlengang zurückschwimmen, in der Hoff nung, daß die Singularität nicht mehr draußen sein würde. Er biß die Zähne zusammen. Sei ein theoreti scher Physiker, junger Mann! Lerne die Welt kennen, erlebe Abenteuer, begegne interes
santen Singularitäten! Sieh deine Gleichungen lebendig werden! Sie alle hatten den Zeitpunkt, da das ver dammte Ding zurückkehren würde, völlig falsch eingeschätzt. Ein feiner Mathematiker war er. Was hatten sie noch falsch gemacht? Dennoch war es in einer eigentümlichen Weise befriedigend, die spuckende, virulente zweite Singularität zu sehen und zu wissen, daß ihre Ableitungen aus einer sehr verfeiner ten Feldtheorie den Geschmack und die Würze der Realität hatten. Er lächelte. Sein imaginä rer Drache im mathematischen Garten hatte Krallen, die wirklich aufschlitzen konnten, atmete wirkliches Feuer. Es mochte sein, daß er aus dieser dummen Falle nicht mehr her auskäme, aber er hatte die Wahrheit gesehen: seine grundlegenden Berechnungen waren zu treffend. Das war schon etwas. Er zuckte die Achseln. Etwas, gewiß. Aber nicht genug. Wasser gluckste in seinen Ohren. Er mußte zu einer Entscheidung kommen. Hinter ihm ließ der orangefarbene Licht schein nach, warf zunehmend schwärzere Schatten. Er tat einen tiefen Atemzug und hoffte, der Sauerstoff werde sein Denkvermö gen fördern. Vielleicht nahm die verdammte
Singularität einen anderen Weg. Das wäre die Abwechslung, die er brauchte. Er wollte nicht zurück in die Höhle. Er beobachtete die abnehmende Helligkeit. Aber nein, sie wurde nicht schwächer; das orangefarbene Licht verstärkte sich zuse hends, ging in grün über. Es mußte sich der Mündung des unterseeischen Abflusses nä hern, auf das Ufer zukommen. Aber warum hier? Es war keine Zeit, sich darüber Spekulationen hinzugeben. Als er zwischen den flossenbe wehrten Füßen hinabspähte, sah er das Licht deutlich stärker werden. Ihm blieb keine an dere Wahl; er mußte hinauf. Er schwamm durch die enge Röhre, erreichte den Felsknollen und überwand ihn mit einem vorsichtigen und zugleich geschickten Manö ver. Der Lichtschein wurde kräftiger und trieb ihn vorwärts. Er schwamm so schnell wie die Umstände es ihm erlaubten, orientierte sich an dem Lichtschein von hinten. Da waren Ardittis Füße. John glitt am Körper des Toten vorüber, vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Das Wasser war noch immer trüb vom blutigen Nebel, und er bildete sich ein, es schmecken zu können. Sein Magen zog sich zusammen.
Nun gab es kaum genug Licht, um etwas zu sehen. Er ließ sich vom Auftrieb emportragen und durchbrach die Oberfläche. In der Höhle war kein Licht. Er ließ das Bedarfsventil aus dem Mund fallen und tastete umher. Geröll unter den Schwimmflossen. Er zog die Maske ab und kroch aus dem Wasser über den Ge röllstrand, versuchte jedes Geräusch zu ver meiden. Jedes Getröpfel von Wasser klang hier im Resonanzkörper der Höhle unmöglich laut. Mit unangenehm klatschenden Schwimmflos sen tappte er über den Strand, Geröll gab unter seinen Füßen nach, der Preßluftzylinder rutschte zur Seite. John bekam ihn zu fassen, bevor er gegen den Stein schlagen konnte, wo der Strand endete. Vorsichtig ließ er ihn von den Schultern gleiten und schob ihn schnau fend auf die Felsbank. In fast völliger Dunkel heit kletterte er hinterher. Die Oberfläche des Gesteins war schleimig und schlüpfrig. Er glitt aus und wäre um ein Haar in das von unten her erhellte Wasser zurückgefallen. Wieder zog er sich hinauf, erreichte einen ebenen Platz und wälzte sich herum, die Schwimm flossen auszuziehen. Noch immer war nirgendwo eine Bewegung zu hören, kein Geräusch. Er hatte halb erwar tet, mit einer Salve empfangen zu werden.
Wo waren die anderen zwei? Seine umher tastenden Hände stießen in der Dunkelheit auf Kabel und hielten sie fest. Die Kabel zu seiner schwimmenden Funkstation. Sie führten vor wärts und aufwärts. Er stand auf und ging vorsichtig über die schlüpfrigen, ansteigenden Felsen weiter. Ei nen Unterschlupf suchen, dachte er, hielt auf dunklere Schatten zu und fand, daß sie eine Reihe von Blöcken waren. Er überkletterte sie und ging in Deckung. Das Wasser wurde ma gisch von unten beleuchtet, unheimlich wie ein Fischteich in jemandes Luxusgarten. Der Wi derschein in der Höhle war jedoch so schwach, daß er nur wenig sehen konnte. Er wartete. Stille. Nein, ein Knarren. Sehr schwach, etwas zur Rechten, aber wie von oben. Da war es wieder. Er mußte sich ein Bild von der Lage machen. Jemand, der ihn wirklich töten wollte, hätte beim ersten Geräusch gefeuert. Es sei denn, sie hielten ihn für einen der ih ren. Einen von Kontos’ Leuten. Er hatte irgendwie erraten, daß das Grab von Wichtigkeit war. Er zog die Lampe aus ihrer Schlaufe an sei nem Tauchergürtel und richtete sie nach oben. So ließ sich am besten ein allgemeiner Über
blick gewinnen, und es würde seinen Standort nicht ganz so deutlich markieren. Er schaltete das Licht ein. Plötzlich war die Höhle überall nahe um ihn, ein System von Erweiterungen und Verengungen aus rötli chem Gestein. Keine Reaktion. Er erkannte den ansteigenden Höhlengang, das gewölbte Dach ungefähr drei Meter über ihm, die ver streuten Blöcke, den eingespülten Sand. Dort, zwei Tote. Er wußte, wer sie waren, oh ne sie auch nur aus der Nähe zu betrachten. Sie lagen inmitten der Kommunikationsaus rüstung. Beide hatten große rote Flecken auf ihren schwarzen Taucheranzügen. Auch das Gerät war beschädigt, wie von einer Explosion auseinandergerissen. Keiner der beiden hatte seine Waffe bei sich. Ihre Maschinenpistolen lehnten drei Meter entfernt an einem Block. Noch immer keine Bewegung, kein Geräusch. Vielleicht waren die Angreifer fortgegangen, wieder hinauf. Er schaltete die Lampe aus und tastete sich zwischen den Felsen weiter, bis er sich ungefähr fünf Meter von den Toten ent fernt glaubte. Um eine der Waffen an sich zu bringen, würde er die Deckung verlassen müssen. Er bewegte sich geduckt und so leise wie möglich näher, dann sprang er das letzte
Stück vorwärts, griff sich eine der Maschinen pistolen und suchte hinter einem Felsvor sprung Deckung gegen Beschuß von oben. Als er nichts hörte, schaltete er das Licht wieder ein. Nasses Gestein glänzte zurück. Von hier konnte er den weiteren, steil aufwärtsge richteten Verlauf des Höhlengangs sehen. Dort hing ein Seil herab, und an seinem Ende bau melte ein Körper in einem Klettergurt. Die Gestalt trug die gleiche griechische Mili tärarbeitskleidung, wie er sie in Boston gese hen hatte. Der Körper drehte sich langsam um seine Achse, was im Seil das knarrende Ge räusch erzeugte. Als die Gestalt ihre Umdrehung soweit voll endete, daß sie voll in den Lichtkegel kam, er kannte er das Gesicht. Es gehörte Unteroffizier Petrakos. Sie hing schlaff und mit leer baumelnden Händen in den Gurten. Zwischen den Felsen unter ihr lag eine Maschinenpistole, und an ihrem Gürtel hingen schwarze Eierhandgra naten. Eine von diesen hatte wahrscheinlich die beiden Männer getötet, und dann hatte sie Arditti erschossen, der weiter zurück gewesen war. John stand auf und stieg auf den Leichnam zu. Sand und Kiesel knirschten unter seinen
Füßen, und er bemühte sich, von weiter oben im Schacht nicht gesehen zu werden. Er befand sich hier in einem ungünstigen Winkel, doch war etwas an dem Leichnam, was er nicht ver stand. Das Drillichzeug war am Rücken und über beide Schultern geschwärzt, und ihr Haar – es gab keines. Sie hatte langes schwarzes Haar gehabt, daran erinnerte er sich, aber dieses Zeug war wie Stoppeln. Dann kam ihm der Geruch in die Nase. Ein stechender, säuerlicher Gestank, dessen In tensität ihn unwillkürlich den Atem anhalten und zurückweichen ließ. Ihr Gesicht war auf der Seite, die er sehen konnte, gerötet, und als sie sich am Seil weiterdrehte, brachte die Be wegung geschwärzte Haut in Sicht, aufge sprungen und geplatzt. Aus einem Auge sickerte klare Flüssigkeit, die ihr über die Nase rann und herabtropfte. Wie der trat er entsetzt zurück, um nicht bespritzt zu werden. Ihr Gesicht war an mehreren Stellen zer schnitten, der Hals zeigte tiefe Furchen, aus denen noch Blut sickerte. Die Uniform darun ter war blutgetränkt. Ungefähr eineinhalb Meter über der Toten war das Seil teilweise durchgebrannt. Sein
Blick ging über die Wand des Höhlenschach tes, und dort bemerkte er ein kleines kreis förmiges Muster, außen braun und in der Mit te schwarz. Ihm gegenüber, an der anderen, etwa drei Meter entfernten Wand, war ein ähnliches Phänomen zu erkennen. Die Leuchtkugel? Aber nicht von Arditti ab geschossen, nein. Arditti war zu dem Zeitpunkt bereits tot gewesen. Der gleißende Lichtschein mußte der Durch gang der Singularität gewesen sein. Sie war glatt durch den Fels gegangen, hatte den Höh lenschacht durchquert, Unteroffizier Petrakos mit Hitze und Strahlung geröstet und das Seil versengt. Sie mußte das Gestein mit schrecklicher Ge walt getroffen und Splitter versprüht haben. Das würde die Schnitte am Körper erklären. Er untersuchte die zwei kreisförmigen Löcher genauer. Eines befand sich ungefähr eine Handbreit unter dem anderen. Sobald die Singularität die Wand verlassen hatte, mußte die Schwerkraft sie abwärts ziehen. Um eine Handbreit zu sinken, während sie etwa drei Meter freier Luft durchmessen hatte… Er rechnete rasch. Das Ding hatte sich mit einer Geschwindigkeit von vielleicht neunzig Stun denkilometern bewegt.
Also gut. Das widerlegte die Minderheiten theorie, die behauptete, daß die Singularität nicht entlang ihres früheren Kanals zurück kehren und darum größerem Widerstand be gegnen würde. Sie hatten eine Ausgangsge schwindigkeit von ungefähr dreißig Stundenkilometern berechnet. Eindeutig falsch. Auf der anderen Seite war die Singularität eher zurückgekehrt als die Mehrheit es für möglich gehalten hatte. Vielleicht hatte sie sich zeitweise noch schneller voranbewegt als die hundert oder mehr Stundenkilometer, die sie vorausgesagt hatten. Dies bedeutete, daß sie einen großen Teil der Rückreise auf dem einfachen Weg durch den bereits gebahnten Stollen genommen hatte. Gut. John fühlte sich wohler, wenn die Zahlen mehr oder weniger mit ihren Erwartungen übereinstimmten. Abgesehen davon, daß die entscheidende Voraussage – wann die Singu larität zurückkehren würde – weit genug da neben gelegen hatte, daß es sie alle das Leben kosten konnte. Aber Arditti und die anderen waren nicht da ran gestorben. Die Politik hatte sie getötet. Als die Singularität hier hindurchgeschossen war, hatte sie nur Unteroffizier Petrakos er
wischt. Und warum war sie hiergewesen? Kontos mußte vermutet haben, daß im Grab oder seinem Umkreis etwas Wichtiges zu rückgeblieben war, und er mußte es ernst ge nug genommen haben, daß er mit seinen Leu ten gekommen war, um nachzusehen. Was den Schluß zuließ, daß Kontos sich oben im Grab befand. Er hatte die Schießerei nicht gehört, andernfalls würde er jetzt hier unten sein. Hinter ihm wurde es heller in der Höhle. Er warf sich herum, daß Kieselsteine gegen die Wände prasselten. Das schwarze Wasser leuchtete. Es warf einen diffusen orangefarbenen Widerschein auf die geglätteten, nassen Gesteinswände. Die Singularität wurde aufwärtsgezogen. Kam ihm nach. Natürlich. Die Hubschrauber waren jetzt über dem Tal, und die ursprüngliche Schwungkraft der Singularität war verausgabt. Nun fraß sie sich langsam den Weg zu ihrer Schwester durch. Und er war mittendrin. Auf einmal verblaßte der orangefarbene Lichtschein. Er stand stocksteif, hoffte, es werde ganz dunkel. Möglicherweise waren ei nige seiner Folgerungen doch falsch. Kontos befand sich nicht notwendigerweise oben im
Kuppelgrab. Der Lärm der anfliegenden Hubschrauber hatte ihn wahrscheinlich hinausgelockt. Der Weg mochte frei sein. Dann vernahm er ein Summen, schwach zu erst. Eine Vibration im Fels. Es schwoll an und gewann einen Oberton von etwas, was er erin nerte, eine eigentümliche Verbindung von flüssigen Geräuschen und einer Erinnerung… An einen Zahnarztbohrer. Das hohe, schrille Pfeifen eines Turbinenbohrers. Unvermittelt brach ein Hammerschlag von Licht und Lärm in die Höhle ein. John sprang hinter einen Fels und kauerte nieder. Er sah es nur einen Augenblick, bevor der gelb lich-weiße Schein ihn blendete. Die Singulari tät kam wenige Handbreit unter dem Wasser aus dem Fels hervor und versprühte Dampf strahlen. Sie machte ein unheimlich saugen des, schmatzendes Geräusch. Dann begann sie zu fallen, warf lange Schatten mit ihrem wäß rigen Licht, und traf die jenseitige Wand mit einem Schauer bläulicher und gelblicher Fun ken. Er zwinkerte. Die Erscheinung war fort. Langsam gewöhnten seine Augen sich an den Lichtkegel der Taschenlampe. Das war nahe, verdammt nahe, und er hatte
wahrscheinlich eine weitere Dosis Gamma strahlung abbekommen. Das Wasser hatte die meisten anderen Strahlen aufgehalten, die Röntgen- und Ultraviolettstrahlen, die Unter offizier Petrakos versengt hatten. Die Singularität mußte dem Hubschrauber folgen, und er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung dieser sich befand. Aber warum durchkreuzte sie dabei diese Höhle? Das konnte nur heißen, daß der Hubschrau ber sich mehr oder weniger unwillkürlich bald über dem Land, bald über der See bewegte. Zusätzlich zu der Anziehung zwischen den Singularitäten kam die Kraft der Meeresströ mungen, die sie dort unten hierhin und dort hin bewegt hatte und wie ein Schleppanker gewirkt haben mußte. Und er war hier unten mit dem Ding gefan gen.
8
Claire schlug verzweifelt zu. Ihre Handwurzel
traf seine Wange, und die Taschenlampe
schwenkte ab, warf ihr Licht hoch in die Kup pel des Grabes. Am Schulterriemen hatte Kontos eine Ma schinenpistole, die er mit der anderen Hand im Hüftanschlag hielt. Claire griff danach, doch kam er ihr zuvor und schlug ihr den Lauf über das Handgelenk. Der jähe Schmerz entriß ihr einen erschrockenen Aufschrei. Kontos trat einen Schritt zurück, lud durch und richtete die Waffe auf sie. Sein Gesicht war gerötet, und er sagte durch die Zähne: »Keine falsche Bewegung! Ich werde Sie nie derschießen!« Die Maschinenpistole hatte ein langes, nach vorn gebogenes Magazin, und die auf sie ge richtete Mündung schien ihr riesig. Plötzlich wurde ihr klar, daß er wirklich feuern würde, wenn sie eine bedrohliche Bewegung machte. »Zurück! Hinaus!« »Aber es sind – es ist gefährlich… Napalm – ich…« »Raus!« Sie machte kehrt, und Kontos gab ihr von rückwärts einen Stoß, daß sie durch den Ein gang stolperte. Die Blendung durch seine Lampe hatte sie der Nachtsicht beraubt, und sie tappte wie eine Blinde vorwärts, strauchel te wieder, und er versetzte ihr einen neuerli
chen Stoß. »Vorwärts! Ihre Leute vom Hubschrauber sollen sehen, was ich gefangen habe.« »Es – es kommt etwas, es ist gefährlich…« »Wir werden es sehr gefährlich für Sie ma chen, ja«, versetzte Kontos. »Sie dachten, der Krieg würde mich vergessen machen. Ich er fuhr von Ihren Schiffsbewegungen, das verriet mir genug.« »Etwas kommt…« Kontos stieß ihr die Mündung ins Kreuz, und sie ging zögernd weiter. In der Ferne brüllte der Motor des Hubschraubers auf. Claire er reichte das Ende der Kalksteinblöcke, die den Dromos markierten, und sie sahen die Ma schine knatternd und dröhnend abheben. »Ihre Leute lassen Sie im Stich!« rief Kontos zornig. Er brachte die Maschinenpistole in Anschlag und gab einen Feuerstoß auf den Hubschrauber ab. Aus dem Busch unten im Tal stimmten andere Handfeuerwaffen ratternd ein. Claire duckte sich hinter einen Steinblock. »Schweinehunde!« schrie Kontos auf grie chisch. Der Hubschrauber kam hoch, und nun sah Claire den Verschlag wild baumelnd unter dem Bauch der Maschine hängen. Das Feuer der versteckten Schützen konnte leicht den Ver
schlag treffen und würde womöglich die mag netischen Anordnungen beschädigen. »Kon tos, schießen Sie nicht auf den…« Ihre Worte gingen im dröhnenden Hämmern der Schnellfeuerkanone des Hubschraubers unter. Explosionsblitze legten eine kurzlebige Lichterkette über den Hang. Von irgendwo er tönte ein langgezogener Schrei. Kontos hörte ihn und gab einen Feuerstoß auf den Hub schrauber ab, doch ohne erkennbare Wirkung. Claire kroch von Kontos fort. Sie fühlte die Steine hinter sich, und ihr Handgelenk knickte schmerzhaft ab. Wenn der Hubschrauber ihn an seinem Mündungsfeuer lokalisierte… Kontos schwang herum und richtete die Waf fe auf sie. »Dageblieben! Ihre Freunde wollen Sie nicht, aber ich werde Sie nach Athen brin gen, der Welt vor Augen führen, was Ihre Re gierung für eine schamlose…« Der Hubschrauber drehte auf sie zu, und sie gingen beide in Deckung. Aber er drehte wei ter, beschleunigte, und seine Maschinenkano ne hämmerte auf wirkliche oder vermeintliche Ziele im Tal. Kontos jagte wieder einen langen Feuerstoß hinaus, ein lautes metallisches Schnattern. Der Rückstoß ließ die Waffe so sehr in seinen Händen springen, daß sie sich wunderte, wie
er so etwas treffen wollte. Das Abwehrfeuer aus dem Busch ließ nach. Der Hubschrauber drehte um und knatterte lärmend wieder über sie hinweg. Er kreuzte über dem Höhenrücken hin und her, von wo er freie Sicht sowohl hinab ins Tal als auch zur See hinaus hatte. Claire kauerte an der Mauer aus Kalkstein blöcken. Kontos feuerte ein Magazin leer und lud fluchend nach. Sie konnte seine Silhouette kaum ausmachen. »Oberst, wir müssen fort von hier«, sagte sie in einem Versuch, vernünftig und überzeugend zu sein. »Der Hubschrauber befördert etwas, was gerade jetzt gefährlich ist.« »Mein Artefakt, das ist es, ja?« Seine Stimme war gepreßt und erregt. Er steckte ein neues Magazin in die Waffe. »Ja, und im Innern ist etwas, eine nuklea re…« »Ich weiß, ein wertvolles Etwas. Ich habe die Aufzeichnungen dieses Sprangle gelesen. Das Ding war die ganze Zeit in dem Würfel, wie?« »Hören Sie zu, es gibt noch eins. Es…« »Ich will kein anderes. Ich will nur, was mei nem Land gehört.« »Das Land hat in dieser Frage keine Bedeu tung, Oberst. Dieses Ding…«
»Ich weiß, Sie haben immer ein höheres Mo tiv, wenn Sie mit Ihren Hubschraubern kom men.« »Aber wir…« Der Hubschrauber drehte um und kam mit dröhnendem Geknatter zurück. Der Bordschütze feuerte unaufhörlich ins Tal. Dort blitzten nur wenige antwortende Mündungs feuer auf. Auch Schreie waren nicht mehr zu hören, und Claire war froh darüber. »Nicht viele von Ihren Leuten schießen noch«, sagte sie. »Es hat Verluste gegeben«, sagte Kontos. »Aber wir werden hier aushalten.« »Wie lange? Sehen Sie, wir wollen nur…« »Ich konnte nur zwei Korporalschaften be kommen, aber aus den umliegenden Städten wird bald Verstärkung hier sein. Glauben Sie nicht, Sie könnten entwischen.« »Sie haben die Verstärkungen gerufen?« Er grunzte nur. Seine Funksprüche mußten von der Watson aufgefangen worden sein, dachte sie, worauf wiederum die Sechste Flotte Verstärkungen schicken würde. Eine Eskala tion bahnte sich an. Der Hubschrauber feuerte auf etwas unweit von ihnen. Claire hörte die Einschläge und spürte, wie der Fels erzitterte und die Granat
splitter pfiffen. Der Bordschütze mußte über Berge von Munition verfügen. Kontos wech selte das Magazin und brachte die Waffe gegen den Hubschrauber in Anschlag. »Warten Sie! Der ist gepanzert, mit dieser Waffe kommen Sie nicht durch.« »Er kann nicht überall gepanzert sein.« »Die an Bord werden das Mündungsfeuer se hen, und Sie sind hier oben der einzige, der feuert.« »Still!« Er gab einen Feuerstoß auf den Hub schrauber ab, der südlich von ihnen über ei nem ebenen Absatz schwebte. Er legte wieder an, und plötzlich stieg der Hubschrauber em por, legte sich auf die Seite und drehte auf sie zu. »Schnell, laufen wir hinein!« rief Claire. »Bitte!« Das Motorengebrüll und die plötzliche be drohliche Wendung schienen Kontos nicht unbeeindruckt zu lassen. Er hob die Waffe, aber sie ergriff ihn am Ärmel. »Kommen Sie, schnell!« Er starrte aus schmalen Augen der Maschine entgegen, trat dann zögernd zurück, machte kehrt und eilte durch den Dromos zum Grab. Schon bellte die Maschinenkanone und jagte ihre Geschosse über den Kalksteinblöcken in
den Busch. Es war ein Glück für sie, daß der Bordschütze zu hoch zielte. Die letzten Meter zum Eingang der Grab kammer legten sie rennend zurück, dann wa ren sie im Innern und in Sicherheit. Der Hub schrauber überflog das Grab, schien eine Weile an Ort und Stelle zu schweben und ent fernte sich dann nach Westen, wo er offenbar ein neues Ziel entdeckt hatte. Bald war der ab schwellende Motorenlärm das einzige Ge räusch von draußen. Auch aus dem Buschwald kam kein Feuer mehr. Kontos murmelte griechische Verwünschun gen. Claire begann zu überlegen, ob sie ihm in der Dunkelheit entwischen und draußen ein Versteck finden könnte. Aufgeregt und der Verzweiflung nahe, atmete sie mit schnaufen den schnellen Zügen die kühle, feuchte Luft der Grabkammer. Kontos stand beim Eingang, die Maschinenpistole unter dem Arm, scharrte ungeduldig mit den Füßen und sah dem Hub schrauber nach. Irgendwie mußte sie ihm entkommen.
9 John hatte genug. Er ließ den Lichtkegel der Lampe nach oben gleiten, wo das Seil gleich einer blassen Nabelschnur hing. Es hatte in regelmäßigen Abständen Knoten, um das Klettern zu erleichtern. Dick und rauh, schien es auf einmal äußerst einladend. Vorausge setzt, es gelänge ihm, an der verbrannten Stel le vorbeizukommen. Würde er aber dort oben sicherer sein? Die Singularität sank jetzt, allem Anschein nach, aber der Hubschrauber würde sie früher oder später wieder zur Oberfläche ziehen. Und als sie sich in rascher Bewegung befunden hatte, mußte sie eine absolut tödliche Gefahr gewe sen sein – Petrakos’ blutige Uniform deutete darauf hin, daß sie an den Verletzungen durch Gesteinssplitter gestorben war. Nun, da die Singularität langsamer geworden war, bedeu tete Strahlung die Hauptgefahr. Er konnte sie durch das Gestein kommen hö ren. Am Seil hatte er wenigstens eine gewisse vertikale Bewegungsfreiheit. Gut. Also mußte er klettern. Er hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter und dachte dabei an seinen Vater, wie er in seiner undeutlichen, langgezogenen Re
deweise sagte: »In einer Lage wie der sollte man was bei sich haben.« Er packte das Seil, wo es mit ein paar Schlin gen am Boden lag. Er dachte daran, sich das Ende für den Fall, daß er den Halt verlöre, um die Mitte zu binden. Aber er mußte irgendwie an der Toten vorbei, die in ihrem Klettergurt hing, und wenn er höher kletterte, würde ein Sturz in jedem Fall tödlich ausgehen. Nein, es war besser, er blieb frei. Abseits sah er Splitter von der alten Kiste lie gen, der er vor Monaten, am Beginn von alle dem, hier hinab nachgestiegen war. Hier war die Kiste zerschellt und weiter über den Kiesstrand ins Wasser gepoltert. Er umfaßte den untersten Knoten mit beiden Füßen und zog sich am Seil hoch. Es ächzte unter der zusätzlichen Last. Die Vorstellung, an der Toten vorbei oder über sie hinweg klet tern zu müssen, war alles andere als ermuti gend. Ihr Körper schwang wie ein Gegenge wicht zu seinem, schlenkerte mit den Armen und verlieh ihren Händen eine unheimliche Belebung. Er kletterte bis zu ihren Füßen und versuchte an ihr vorbeizukommen, indem er sich Hand über Hand hinaufzog. Es war schwierig, aber er kam mit den Armen vorbei, ohne ihren Oberkörper zu berühren. Als er
sich so vorbeiwand, mußte er einen Augenblick die Füße gegen sie setzen, und die Berührung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sein Abscheu trieb ihn aufwärts zum nächsten Knoten. Er erinnerte sich, wie er in Georgia an regne rischen Tagen in der Turnhalle Konditions training betrieben hatte, angetan mit einem baumwollenen Trainingsanzug, um die Mus keln warmzuhalten, und unter anderem auch am Seil geklettert war. Damals war es ihm leichter gefallen. Er hatte es nicht in einem Taucheranzug tun müssen, nachdem er Hun derte von Metern geschwommen war. Und, ja, damals war er ein Jahrzehnt jünger gewesen. Schon spürte er Ermattung in den Armen, und in den Bauchmuskeln, die die Beine hochzie hen mußten, wenn sie am nächsten Knoten Halt suchten. Das Seil brannte in seinen vom Wasser erweichten Händen. Er war ungefähr zwanzig Meter gestiegen, als er den zweiten Satz Löcher in den Höhlenwänden sah. Sie waren geschwärzt, und er fing aus einem Meter Entfernung einen scharfen, beißenden Geruch auf. Demnach war die Sin gularität hier mehr als einmal durchgeschos sen. Diesmal konnte er keinen Höhenunter schied zwischen den Löchern sehen. Daraus
folgte, daß das Ding noch schneller gewesen war, als es diese Löcher gebrannt hatte. Er hatte sich also in den unteren zwei Löchern getäuscht. Sie waren später entstanden. Er zog sich weiter aufwärts, ließ seine Beine den größten Teil der Arbeit tun. Der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe an seinem Gürtel warf trügerische Schatten über das feuchte Gestein. Endlich erreichte er den großen Absatz. Seine Arme zitterten, und die Maschinenpistole auf seinem Rücken schlug hell gegen den Stein, daß Echos durch den Höhlengang hallten. Er zog sich das letzte Stück hinauf und brachte einen Fuß über den glatten Wulst. Dann hatte er ebenen Boden unter sich und konnte das Seil loslassen. Er legte sich auf den schlüpfri gen, nassen Stein, streckte sich und ließ die Verkrampfung aus seinen Muskeln weichen. Sobald er zu Atem gekommen war, leuchtete er mit seiner Lampe durch die enge Höhle zu dem Seitengang, wo er vor Monaten die blaue Lichterscheinung gesehen hatte. Die Wände waren jetzt glasig, nicht so, wie er sie in Erin nerung hatte. Anscheinend war die Singulari tät hier durchgekommen. Er wälzte sich herum und leuchtete hinter sich. Dort war ein kleines geschwärztes Loch
im Fels, und rundherum eine glasige braune Verfärbung. Gesteinssplitter lagen auf dem Fels darunter. Die Singularität war hier mit hoher Ge schwindigkeit durchgeschossen und hatte das Gestein mit Druckwellen zersplittert, noch ehe sie sich hindurchgefressen hatte. Dies mußte bei der Rückkehr geschehen sein, als sie von irgendeiner Position unter Europa zurückge kehrt war, wie Carmody es erhofft hatte. Aber viel zu früh! Vielleicht vor einer oder zwei Stunden. Sie hatte eine sengende Bahn durch die Höhle gezogen… und vielleicht Unteroffi zier Petrakos’ Aufmerksamkeit erregt. Darauf war sie schnurgerade in Richtung auf die Watson und ihren Zwilling weitergesaust. Doch waren ungefähr zur gleichen Zeit die Hubschrauber gestartet, und so hatte die Sin gularität kehrtgemacht und war zurückgejagt, durch die Höhle geschossen, hatte Petrakos getötet und war schließlich, verursacht durch die ständigen Kursänderungen der Hub schrauber, am Meeresboden gelandet. Der Höhenunterschied zwischen den beiden Lö chern markierte ihre aufsteigende, dem Hub schrauber folgende Bahn, bevor sie in die See gefallen war, als der Hubschrauber über dem Meer gekreist war. Seitdem war sie umherge
wandert, von den Strömungen behindert, war wieder in den Fels eingedrungen und hatte, immer auf der Suche nach ihrem Zwilling, mehrfach die Höhle gekreuzt. Dies erklärte den blauen Lichtschein, den er im vergangenen Herbst im seitlichen Höhlen gang gesehen hatte. Er hatte geglaubt, es sei das Licht des Morgens, gebrochen durch die blauen Wasser des Mittelmeeres. Es mußte je doch die Aureole dieser zweiten Singularität gewesen sein, die sich tief unten durch den Kalkstein gefressen hatte. Er lächelte. Das schien unglaublich lange her. Eine einfache Beobachtung hatte zuletzt eine einfache Erklärung gefunden. Er rappelte sich auf und suchte die Umgebung ab. Da waren die zersplitterten Kistenbretter und lagen noch so, wie er sie erinnerte. Offen bar hatte Unteroffizier Petrakos alles unbe rührt gelassen. Ein leiser Ton wie vom Anreißen einer Gitar rensaite klang durch die Höhlen. John krab belte über den schlüpfrigen Stein zur nächsten Deckung. Das Summen kam. Er drängte sich an die Höhlenwand hinter ihm. Ein schrilles, grelles Pfeifen, viel schlimmer jetzt als ein Zahnarzt bohrer, gefolgt von einem gellenden Heulen,
einem verzehrenden, gefräßigen Feuersturm. Er spürte die Hitze in der Luft. Ein greller Blitz. Nicht orangefarben jetzt, sondern von einem bläulichen Ton – und dann war die Er scheinung fort, der schrille, zornige Ton ent fernte sich durch das Felsgestein. Er atmete auf. Sein Herz schlug ihm im Halse, vor seinen Augen tanzten farbige Kreise. Kalk stein, der in die Singularität fiel, zeigte ein blaues Spektrum. Seewasser hatte ein oranges erzeugt. Die Singularität hatte in diesen letzten Monaten eine verschiedenartige Diät von Steinen verzehrt, während ihr Gegenstück in der magnetischen Falle des Würfels isoliert geblieben war; dies gab ihnen verschiedene Emissionsspektren. Unter normalen Umstän den hätte ihn die vergleichende Analyse faszi niert, doch im Hier und Jetzt schien die Frage weniger interessant. Die Singularität stieg durch die Felsen auf wärts, angezogen von ihrem Gegenstück. Die ses mußte also in der Nähe sein. Und er mußte zusehen, daß er hier hinaus kam. Da das Ding emporstieg, war damit zu rechnen, daß es bei jedem Durchgang höher sein würde. Er mochte überhaupt nicht mehr durch diese Gegend kommen, aber wenn es dazu käme, genügte ein Augenblick in seiner
Nähe, und er wäre ein toter Mann. Er faßte das Seil und zog sich rasch weiter empor. Eine Panik überkam ihn, aber er wußte sie zu gebrauchen, ließ ihr freien Lauf, damit sie seine Kräfte beflügle. So mühte er sich aufwärts, ungeachtet der Schmerzen, die das rauhe Seil seinen Handflächen zufügte, der Stiche in den Muskeln seiner erlahmenden Oberschenkel, allein darauf konzentriert, das Seil fest zu ergreifen und den Körper nachzu ziehen. Jeder erreichte Knoten war ein kleiner Sieg. Es war nicht mehr weit. Schweiß brannte ihm in den Augen, er schnaufte angestrengt, aber als er nächstes Mal aufwärtsspähte, sah er den Rand nur noch etwa fünf Meter über sich. Die letzten paar Knoten waren schwierig. Der Adrenalinstoß hatte seine Wirkung eingebüßt, und seine erschöpften Muskeln schmerzten qualvoll. Der Kolben der Maschinenpistole schlug ihm immer wieder ins Kreuz, aber end lich hatte er den Rand erreicht und kroch hin aus auf klebrig-feuchten Lehm. Eine Weile lag er keuchend und ausgepumpt, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Er war mit Schweiß bedeckt, und doch fröstelte ihn, und seine Erschöpfung war vollkommen. Arme und Beine zitterten, sein Gesicht ruhte auf dem
kalten, feuchten Lehm. So lag er ungewisse Zeit, bis er die Stimmen hörte. Ein gedämpftes Gemurmel, unmöglich zu verstehen. Griechen, dachte er, es müssen Griechen sein, die das Grab bewachen und auf Unteroffizier Petrakos warten. Er setzte sich auf und nahm die Maschinen pistole von der Schulter. Nun, da er sie in den Händen hielt und im Schein seiner Taschen lampe betrachtete, wurde ihm klar, daß er niemals etwas annähernd Gleiches abgefeuert hatte. Hier war die Kammer, mit dem einge schobenen Patronenmagazin. Die Waffe hatte einen Pistolengriff aus grünem Kunststoff, ei nen Tragegriff, in den die Kimme eingelassen war, und an der Mündung einen konischen Rückstoßdämpfer. In den Filmen rissen die Leute einfach Waffen hoch und feuerten da mit, niemals hatten sie Schwierigkeiten mit dem Laden oder gar eine Ladehemmung. Er zog den Bolzen zurück und sah das schim mernde Messing einer Patrone in der Kam mer. Gut. Er fragte sich, was er tun sollte. War er wirk lich imstande, die Männer draußen niederzu schießen? Ohne Warnung? Sie mußten die Hubschrauber gesehen haben und wissen, daß etwas in Vorbereitung war.
Tatsächlich glaubte er in der Ferne das Knat tern eines Hubschraubers zu hören. Mögli cherweise waren sie nervös und überreizt. Vielleicht sollte er versuchen, sie gefangenzu nehmen, bevor es zu Kurzschlußreaktionen kommen konnte. Vorsichtig stand er auf. Hände, Füße und Taucheranzug waren beschmiert mit dem feuchten, glitschigen Lehm. Er schaltete die Taschenlampe aus und schob sich durch das Loch in der Umfassungsmauer in die Grab kammer. Kein Lichtschein war zu sehen. Er fühlte etwas Steifes, Nachgiebiges im Gesicht und schrak zurück, ehe er begriff, daß es die Zeltbahn war, die noch vor der Öffnung hing. Im Kuppelgrab herrschte absolute Finsternis. Er ahnte den hohen Eingang mehr als er ihn sah, ein kaum helleres Rechteck. Von dort ka men Stimmen. Er konnte sie noch nicht verstehen. Grie chisch? Vielleicht. Leise trat er hinter der Zeltbahn hervor in die Grabkammer, richtete sich auf und erkannte, daß er gleichzeitig die Waffe schußbereit hal ten und die Taschenlampe einschalten mußte. Er umfaßte den Pistolengriff und brachte die Waffe in Anschlag, indem er sie mit der Rech ten gegen seine Schulter preßte. Gleichzeitig
schaltete er mit der Linken die Taschenlampe ein. Ihr Lichtkegel schien in zwei erschrockene Gesichter: Claire und Kontos.
10 Kontos hielt eine Maschinenpistole in der Armbeuge, die Mündung zu Boden gerichtet. John ließ die von der Fangschnur an seinem Gürtel gehaltene Taschenlampe fallen und war mit ein paar raschen Schritten bei Kontos, schlug ihm den Lauf über den Unterarm und riß seine Hand von der locker gehaltenen Waffe. Kontos grunzte vor Schmerz und Über raschung, doch ehe er reagieren konnte, hob John die Mündung der Maschinenpistole und stieß sie Kontos gegen die Brust. Der Oberst gab auf und ließ seine Waffe zu Boden fallen. »Eine falsche Bewegung, und ich schieße«, sagte John und trat zurück, so daß Kontos nicht nach der Mündung fassen konnte. »Clai re, geh weg von ihm!« Kontos fluchte. Die Taschenlampe baumelte
von Johns Gürtel und erzeugte verrückt tau melnde Schatten. »Gott sei Dank!« sagte Claire. »Hier oben ist alles schiefgegangen.« »Unten ist es auch nicht gerade ein Tag am Strand gewesen«, sagte John. »Unteroffizier Petrakos…«, fing Kontos an. »Tot.« »Ihre Marinesoldaten…« »Keine Marinesoldaten. Aber die Leute, die mit mir kamen, sind tot – Petrakos hat ganze Arbeit geleistet.« Kontos fragte ungläubig: »Dann haben Sie…?« »Nein. Sie wurde von einem Stückchen theo retischer Physik getötet.« »Sie…« »Seien Sie still!« John schob sich zur Tür der Grabkammer und spähte hinaus. Es war unmöglich, etwas zu erkennen. Sie standen ohne Bewegung im trüben rötli chen Schein der Taschenlampe. Ausrüstungen und Werkzeug von der archäologischen Arbeit lagen noch da und dort am Boden. Die Kisten, die John vor Monaten hier gesehen hatte, wa ren fort, nach Athen geschafft. Kontos rieb sich den Arm und sagte drohend:
»Ich rate Ihnen, sich zu ergeben!« John lachte nur. »Sie können diese Position nicht lange halten, nicht einmal mit Luftunterstützung. Ich dachte mir, daß Sie kommen würden, daß es hier et was geben muß, was Sie brauchen.« »Aber Sie wissen von der Singularität.« »Ich konnte die Bänder nur teilweise verste hen«, sagte Kontos. »Ist es ein Partikel? Etwas in dem Würfel?« »Vergessen Sie’s! Dafür ist jetzt keine Zeit.« »Bald werden unsere Verstärkungen eintref fen…« »Sie sollen still sein!« John wandte sich zu Claire. »Sag mir, wie es draußen ist. Wird man auf uns schießen? Wie kommt es, daß du hier bist?« Claire unterrichtete ihn über die Ereignisse und schloß: »Nach dem Napalmangriff scheint der Hubschrauber die meisten von Kontos’ Leuten getötet zu haben.« »Gott, was für ein Gemetzel!« »Der Hubschrauber ist jetzt dort oben. Kon tos hatte sich gerade ausgedacht, wie er mich gebrauchen könnte, als du auftauchtest. Genau zur rechten Zeit.« Sie lächelte matt. Ihre Stimme bebte, und er sah ihr an, daß sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs war.
Außerdem war sie zerkratzt und blutig, die Kleider zerrissen und schmutzig. Ihre Augen blickten wild, und als er hineinsah, füllten sie sich mit Tränen. »Hier«, sagte er, hakte die Taschenlampe vom Gürtel und gab sie ihr. »Leuchte ihn an!« Kontos stand abwartend, in angespannter Ruhe. Er trug Drillich, aber ohne die übliche Pistole am Koppel, die den Offizier kenn zeichnete. Statt dessen hatte er ein großes Messer in einer Scheide an der Hüfte befestigt. John beäugte ihn mißtrauisch und überlegte, ob Kontos imstande sein könnte, ihn unbe waffnet anzuspringen. »Wohin fliegt der Hubschrauber?« »Er ist jetzt über uns.« »Verdammt!« »Wieso, was…?« »Könnten wir ihm nicht mit der Taschenlam pe Signale geben?« »Das könnte klappen.« »Sind draußen noch Griechen am Leben, die auf uns schießen könnten?« »Ich glaube es nicht.« »Gut. Dann laß uns hinausgehen!« Er bedeutete Kontos mit der Waffe, voraus zugehen. Der Mann starrte wie gebannt auf die Maschinenpistole. Beobachtete er Johns Hand,
um zu sehen, ob er bei Nichtbefolgung seines Befehls den Finger am Abzug krümmen wür de? Im roten Lichtschein sah der Mann wie ein finsterblickender Unhold aus. Kontos warf ei nen riesigen Schatten, der seine Bewegungen vergrößerte. Er verlagerte sein Gewicht, setzte die Füße weiter auseinander, und sein Schat ten glitt über die alten Kalksteinblöcke. »Vorwärts, Kontos!« Noch immer der fixierte Ausdruck. »Bewegung!« Kontos sprang ihn an. Wie die meisten Menschen, hatte John sich oftmals die Frage vorgelegt, ob er imstande sein würde, einen anderen Menschen zu er schießen, selbst wenn es in dem Sekunden bruchteil wäre, wo jedes Zögern Unheil be deuten konnte, und nun war die Frage wie von selbst beantwortet. Er hatte zuviel durchge macht; die letzte Stunde hatte seine zivilisier ten Vorbehalte weggespült. Er drückte den Abzug durch. Nichts geschah. Der Drücker war festgestellt und gab nicht nach. John begriff, daß er die Sicherung der Waffe nicht überprüft hatte, und nun war der Sicherungshebel in der Sperrposition. Die Maschinenpistole vor sich im Anschlag, suchte er mit dem Daumen den Sicherungshe
bel umzulegen, doch ehe er dazu kam, schlug Kontos ihm mit einer Hand die Waffe zur Seite und versetzte ihm mit der anderen einen Handkantenschlag unter das Kinn. Die Maschinenpistole flog John aus den Händen. Er selbst fiel rücklings zu Boden, und Kontos landete auf ihm. Kontos versuchte ihm das Knie in den Magen zu stoßen, aber John rollte seitwärts und bemühte sich, Kontos mit der linken Hand abzuwehren. Beide versuch ten gleichzeitig aufzuspringen und waren noch kaum auf den Knien, als Kontos einen rechten Schwinger an Johns Backenknochen landete, der die Haut aufplatzen ließ und einen dump fen, betäubenden Schmerz erzeugte. Im nächsten Augenblick war Kontos auf den Beinen, und John entging dem nächsten Schwinger durch Abducken, dann kam auch er auf die Füße und versuchte einen Kinnhaken anzubringen. Kontos blockte ab, zielte seiner seits einen Haken, fehlte, verlor das Gleichge wicht und strauchelte. John nutzte die Gele genheit, um nach der Maschinenpistole Ausschau zu halten, sah sie aber nicht. Wenn er sie erwischen und das verdammte Ding ent sichern könnte… Kontos grabbelte an seiner Seite. Das Messer. John wich zurück, stolperte fast über irgend
ein Werkzeug. Claire stand im rückwärtigen Teil der Grabkammer und war wie gelähmt, beleuchtete den Zweikampf mit der Taschen lampe. Warum hatte sie nicht die Waffe auf gehoben? Verzweifelt hielt er danach Aus schau, während er vor Kontos weiter zurückwich. Wo lag das Ding? Aber da war noch etwas, etwas, das ihn warnte… Kontos riß das Messer aus der Scheide. Sein Blick zuckte von Claire zu John, und er nahm eine breitbeinig geduckte Haltung ein, beide Arme halb vorgestreckt. Plötzlich sah John, daß die Maschinenpistole hinter Kontos lag, verborgen vom Schatten des Mannes. Es gab keine Möglichkeit, sie zu erreichen. John beobachtete Kontos’ stechende schmale Augen, suchte zu erraten, was er als nächstes tun würde. Kontos hatte Nahkampfausbildung, wußte ein Messer zu gebrauchen. Er ging langsam und lauernd gegen John vor. Während John ihn mit angehaltenem Atem beobachtete, nicht viel anders als das Kanin chen die Schlange, erreichte ein Geräusch den Rand seiner Wahrnehmung, ein Summen, das er als wichtig erkannte. Kontos kam mit tiefgehaltenem Messer auf ihn zu, die Spitze aufwärtsgerichtet, die kräf tige Klinge rasiermesserscharf geschliffen.
John wich weiter zurück. Keine Möglichkeit, die Tür zu erreichen; obwohl Kontos zehn Schritte von ihr entfernt war, würde er ihm den Weg abschneiden können. »Claire!« John tat zwei schnelle Schritte und entriß ihr die Taschenlampe. Kontos kam un erbittlich nach, bereit zum jäh vorspringen den, zustoßenden Angriff. John schlug die Taschenlampe gegen die Wand der Grabkammer. Plötzlich war es stockfinster. »Durch das Loch!« wisperte er Claire zu. »Durch und das Seil hinunter!« Er streckte die Hand aus und gab ihr einen Stoß in die gewünschte Richtung. Er merkte, daß sie widerstrebte, dann aber hinter die Zeltbahn kroch. Er schleuderte die Taschenlampe in Kontos’ Richtung, hörte sie gegenüber an die Wand schlagen. Kontos stieß etwas hervor, aber John achtete nicht darauf. Sie waren jetzt gleicher maßen blind, und das bedeutete jedenfalls eine Gnadenfrist für ihn. Kontos würde in der Finsternis langsam tastend und lauschend ge gen ihn vorgehen, sorgsam bedacht, sich nicht überrumpeln zu lassen. Aber die Dunkelheit war nicht vollkommen. Es war noch Licht in der Grabkammer. Ein
diffuses Leuchten. Die Wand hinter Kontos glühte allmählich mit einer elfenbeinfarbenen Strahlung auf. John bewegte sich seitwärts zu Claire. Er bückte sich, um hinter die Zeltbahn durch das Loch zu schlüpfen und sah, daß das Licht be reits ausreichte, um Kontos’ Schattenriß klar vom Hintergrund der Wand abzuheben. Ein perlfarbenes Lichtmuster kam aus den Stei nen, funkelnde Facetten gelber und grüner Töne formierten sich zu tanzenden, strahlen förmigen Mustern. Ein Summen. Eine tiefe Vibration, die sich vom Gestein auf seine Füße und durch den Körper übertrug. Auch Kontos wurde aufmerksam; plötzlich drehte er sich um und blickte zur Wand des Kuppelgrabes, verständnislos, seine Beute vergessend. John öffnete den Mund zu einem Schreckensschrei, aber da kam schon das schrille, bedrohlich kreischende Geräusch, und ein bläulichweißer Punkt, der violette Strahlen hinausschleuderte, schoß aus den Kalksteinquadern der Wand, sank im Flug abwärts. Spitze, zuckende Dolche aus Licht, ein schneidendes Winseln. Die Erscheinung traf Kontos in die Brust. John fühlte eine Hitzewelle im Gesicht und
duckte sich, suchte Schutz hinter den Stein blöcken der Wand, kroch in den Höhlenraum dahinter. Er richtete sich auf, versuchte Claire auszu machen, aber seine Augen waren geblendet, und er wankte und schlitterte im feuchten Lehm. Blauweiße Glut erhellte das Loch hinter ihm, und das schreckliche pfeifende Winseln dröhnte aus der Grabkammer. John fiel auf die Knie, tastete nach dem Strick, der ihn zur Öff nung führte. Als er sie erreichte, konnte er Claire sehen, die bereits zwei Knoten unter ihm am Seil hing. Sie starrte mit angstgewei teten Augen zu ihm auf. »Weiter!« Er kletterte durch die Öffnung und ließ sich am Seil hinab, hielt es kaum fest und ließ sich die Handflächen verbrennen. Der blaue Lichtschein über ihnen wuchs. Dumpfes Krachen und Poltern drang herab. »Ganz hinunter! Schnell!« schrie er durch das Dröhnen und Rumpeln der zusammenbre chenden Steine. Sie ließen sich rasch hinab, nur von den Kno ten gebremst. Sie erreichten die erste größere Biegung, und John blickte hinauf. Noch immer die heiße blaue Glut, aber inzwischen etwas schwächer. Eine Serie schwerer, dumpfer Schläge signalisierte, daß weitere Teile des
Kuppelgrabes einstürzten. Die Singularität mußte Blöcke aus dem Verbund gelöst und die innere Stabilität des Gewölbes zerstört haben. Seine Arme und Hände schmerzten so, daß sie das Seil kaum halten konnten. Wenn seine Füße einen Knoten trafen, ließ er die Knie einknicken und das Gewicht des Körpers ab fangen, während er das Seil einen Augenblick mit den Händen hielt, bis die Füße wieder um das Seil geschlossen waren. Der Abstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. Blaue und grüne Lichterscheinungen spielten über die glatten nassen Wände. Im schwächer werdenden Licht sah er, daß Claire den breiten Felsabsatz er reicht hatte und wankend auf den Füßen stand. Gleich darauf landete er neben ihr und zeigte durch die Höhle zu dem engen Seitengang mit den glasigen Wänden. »Dorthin! Es ist ge schützter.« Sie zögerte. »Los, mach schon!« Er faßte sie bei der Hand, nahm das Seil in die andere und führte sie über den schlüpfrigen Fels seitwärts, wo sie unter einem wulstigen Überhang De ckung fanden. »Was… ich…« Claire schnappte nach Luft. Dumpf polternde Schläge ließen den Fels un ter ihnen erzittern. Eine große dunkle Masse schoß vorüber, prallte auf, daß Feuer in alle
Richtungen stob und ein beißender Rauch die Höhle füllte, verspritzte Gesteinssplitter und polterte weiter hinab. John und Claire zogen die Köpfe ein und schmiegten sich in ihre De ckung. Ein weiterer großer Felsbrocken pol terte abwärts, prallte in Hammerschlägen von den Wänden ab. Der blauweiße Lichtschein von oben ließ wei ter nach. Weiteres Krachen und Rumpeln, neue dumpfe Schläge aus der Höhe des Schachts. Geröll rasselte hernieder. Grünliche Lichtfinger. Ein weiteres entferntes Poltern. Diesmal fiel nichts in den Schacht, und es wurde dunkel. »Kontos…« »Vergiß ihn!« murmelte er, von Husten un terbrochen. »Vergiß den Schweinekerl!« Im letzten verglimmenden Licht krochen sie weiter vom Rand des Felsabsatzes in ihre De ckung zurück. Er erzählte ihr nicht, was er in dem kurzen Augenblick gesehen hatte, ehe er, von Panik getrieben, durch das Loch in der Wand geflo hen war. Der blaue Lichtpunkt hatte Kontos’ Brustkorb durchschlagen. Der Körper wankte unter dem Einschlag, blieb aber aufrecht, die Arme halb erhoben, das Messer noch im Griff. Augenblicklich brach ein Wirbel von Regen
bogenfarben aus dem Körper, als würde Kon tos von innen beleuchtet. Die Arme erschlaff ten, der Kopf fiel in den Nacken zurück, wäh rend das Ding die Körpersubstanz einsog. Ein fluoreszierender Effekt sandte leuchtend rote Wellen durch Kontos’ Arme. Bevor der Körper in sich zusammenfiel, konnte John in diesem einen Augenblick tief hineinsehen – das Skelett, die Knochen waren durch die verstreute Strahlung klar abge zeichnet. Die Rippen einwärtsgezogen, wie angesaugt von der Quelle unerträglich inten siven Lichts. Und in der Mitte der Brust rotierte langsam ein starrer Rahmen. Ein Würfel, funkelnd und vibrierend von einer Kaskade aller erdenkli chen Farben – orangegelb, blau, rot, rauchig violett. Die Singularität war angeschwollen, vollge fressen. Sie rotierte. Gelbe Lichtstrahlen stie ßen wie spitze Stacheln in den Raum hinaus, verbrannten und verdampften Knochen und Fleisch. Und noch ehe Kontos zusammenbrach, quoll sein Rücken in einer schwefliggelb strahlenden Blase auf. Die Singularität sog sich während ihres sekundenschnellen Durchgangs durch den Körper mit seiner Materie voll, zerriß
Sehnen, Knochen und Fleisch. John wußte nicht, ob er es wirklich gesehen hatte, oder ob es eine nachträgliche Ausschmückung seiner Phantasie war, doch behielt seine Erinnerung das Bild einer von innen erhellten Anschwel lung von Fleisch, die in ihrem Anwachsen den Stoff der grünen Drillichjacke aufplatzen ließ und Kontos in einen grotesken Buckligen ver wandelte, dann eruptierte die schwärende An schwellung wie ein Vulkan, sprühte Dampf, Blut und Fleisch mit dem Geräusch einer flüs sigen Explosion in die Luft. John schloß die Augen und sah es wieder, und wußte, daß er den Anblick nie würde vergessen können.
11 Claire drückte sich an den nassen Stein, als die blaugrünen Lichtreflexe an den Höhlenwänden verblaßten und die dröhnenden, pol ternden Schläge verklangen. Stille und Dun kelheit senkten sich herab, und sie konnte den Herzschlag in ihren Schläfen hämmern hören.
Lange kauerte sie halb liegend in der De ckung, keuchend, unfähig, an etwas anderes als die wundersame Tatsache zu denken, daß sie noch lebte. Allmählich verschmolzen die Schmerzen in ihren Händen, Armen und Bei nen, schwollen an zu einem allgemeinen Schmerz, der von allen Körperteilen gleichzei tig zu kommen schien. »Ich glaube nicht… daß wir zuviel Strahlung abgekriegt haben«, keuchte John. »Gut.« »Das ganze Grab… wahrscheinlich einge stürzt, wie es sich anhörte. Hat uns wahr scheinlich eingeschlossen.« »Ja.« »Ich sehe keinen Lichtschein von oben.« »Nein.« »Komm, rück näher!« Sie tastete in der klammen Schwärze nach ihm und fand ihn. Er zog sie in eine Umar mung. Sein Taucheranzug war kalt und feucht, aber sie schmiegte sich an ihn, froh über die Berührung. Eine lange Weile sagten sie nichts; Claire ließ die fiebrigen Regungen ihres Ner vensystems flackernd erlöschen, bis eine tiefe Erschöpfung ihren Platz einnahm. Nach langer Zeit fragte sie: »Wie ist es… da unten?«
»Wir könnten uns am Seil hinunterlassen.« »Glaubst du, der Felssturz könnte diesen Schacht blockiert haben?« »Möglich wäre es.« »Sollten wir es nicht erkunden?« »Ruhen wir noch ein wenig aus.« Sie blieben noch eine Weile sitzen. Die Kälte des nassen Gesteins begann in sie einzudrin gen. Claire wartete, und als er auf ihre An strengungen, sich enger an ihn zu schmiegen, nicht reagierte, glaubte sie, daß er eingeschla fen sei. Sie schüttelte ihn und fühlte, wie er zu sich kam und sein Atem schneller ging. »Sollten wir nicht etwas unternehmen?« »Gut. Ich werde nachsehen… ob ich das Seil finden kann.« Er erhob sich langsam auf alle viere und be wegte sich über den Felsabsatz, und sie streckte die Hand aus, um ihn zu halten. »Hier ist nichts«, sagte er. »Ich fühle den Rand ab und strecke den Arm hinaus in den Schacht, aber das Seil ist nicht da.« »Vielleicht hängt es weiter weg.« »Kann ich mir nicht denken. Es war ungefähr in der Mitte. Ich müßte es fassen können, weil es hier über den Absatz hing.«
»Hast du nichts, womit du weiter reichen kannst? Einen Stock oder was?« »Nein. Du?« »Nein.« Er kam zurückgetappt und legte die Arme um sie. »Ich werd’s versuchen«, sagte sie. »Deine Arme sind nicht länger als meine.« »Nein, aber es muß da sein.« »Nein, es muß nicht. Ich glaube, der Felssturz hat es weggerissen.« »Oh.« Eine lange Stille. »Gibt es eine Möglichkeit, ohne Seil hinunterzukommen?« »Nein. Es ist viel zu steil. Wir würden abstür zen und uns den Hals brechen.« »Dann… was können wir tun?« »Nichts. Nicht jedes Problem hat eine Lö sung.« »Wir – wir werden hier drinnen erfrieren.« »Oder verhungern.« »Carmody wird uns finden.« »Wahrscheinlich. Aber wer weiß, daß wir hier sind?« »Sie werden suchen.« »Ich weiß nicht, ob sie die Zeit und die Aus rüstung haben, um die Kalksteinquader dort
oben wegzuschaffen.« »Zeit?« »Die Griechen werden zurückkommen.« »Oh.« »Könnte sein, daß die Transportgruppe von unten heraufkommen wird. Es sei denn, der Weg herein ist nicht durch den Felssturz blo ckiert. Ich würde vermuten, daß er zu ist. Das waren mächtige Brocken.« »Wir müssen etwas tun.«
»Uns warmhalten.«
»Du hörst dich an wie Marc Aurel.«
»Wer?«
»Ein Stoiker.«
»Ach so. Sieh zu, daß du dich warmhalten kannst.« Eine weitere lange Stille schloß sich an. Seine Akzeptanz ihrer Situation entnervte sie. Ihr Verstand suchte verzweifelt nach einem Aus weg. »Führt dieser Seitengang irgendwohin?« »Gewiß. Direkt hinunter zu einer Stelle ir gendwo unter Frankreich. Er ist der Stollen, den die Singularität gebohrt hat.« »Oh.« Sie streckte die Hand aus und fühlte die kalte, glatte Oberfläche entlang. In der absoluten Schwärze war ihr Tastsinn verstärkt, übertrieb jede Unebenheit zu Tälern
und Bergen. Wenn der Schacht und seine Sei tenöffnung hier irgendeine archäologische Bedeutung besaßen, dachte sie kläglich, war sie nun verloren; die eingetretenen Schäden hatten mit Sicherheit alle Spuren der Vergan genheit ausgelöscht. Sie fragte ihn, was mit Arditti und den ande ren geschehen sei. Er sagte es ihr mit wenigen Worten, mochte offensichtlich nicht daran zurückdenken. Seine Stimme war tief und rauh, und in der Finsternis konzentrierte sie sich darauf, gebrauchte sie als einen Anker. Die Worte bildeten sich langsam in ihm, und seine Stimme versagte einmal, als er ihr er zählte, wie er die Toten angetroffen hatte. Sie war entsetzt über die wiederholten Durchgän ge der Singularität. Sie wollte fragen, wieviel Strahlung er dabei seiner Vermutung nach abbekommen hatte, sah aber ein, daß es nichts nützen würde, daß er es nicht beurteilen konnte und versuchte, nicht daran zu denken. Er sprach langsamer, und seine Worte fielen in die Stille wie Steine in einen tiefen Brunnen. Er schwieg. Schließlich sagte er wie aus weiter Ferne in schläfrigem Ton: »Komm, ruh dich aus, kuschel dich an mich! Wir haben wahr scheinlich eine lange Wartezeit vor uns.« Sie schmiegte sich an ihn, schlang die Arme in
einer Art Beschützerinstinkt um ihn. Er war erschöpft und stand wahrscheinlich unter ei nem leichten Schock. Sie war zerkratzt und zerschlagen, hatte aber nichts hinter sich, was den Anstrengungen des Schwimmens und Kletterns gleichkam, zu schweigen von den Schrecken, die er in diesem furchtbaren un terirdischen Schlund ausgestanden haben mußte. Die Kälte breitete sich allmählich aus. Zuerst versuchte Claire, die zunehmende Gefühllo sigkeit ihrer Füße zu ignorieren, aber nach und nach erstarrte ihr ganzer Körper, die Muskeln versteiften sich, und ein dumpfer Schmerz ließ ihr keine Ruhe. Sie konnte nicht schlafen. Die Aufregung hatte nachgelassen, hinterließ aber einen Zustand nervöser Schreckhaftigkeit, den sie nicht unterdrücken konnte. Es wäre besser, sagte sie sich, wenn sie erschöpft wäre wie John. Dann könnte sie schlafen und ihre Energie aufsparen. Aber sie sah sich außerstande, ihre Gedanken von der Beschäftigung mit den düsteren Aussichten ihrer Lage abzulenken. Sie waren in Kälte und Finsternis gefangen, niemand wußte von ih rem Aufenthalt, vielleicht glaubte man sogar, sie seien beim Einsturz des Grabes umgekom men. So oft sie die Tatsachen durchging, es fiel
ihr keine Lösung ein, keine wirkliche Hoff nung, je aus diesem stillen Grab zu entkom men. Ganz ähnlich wie andere einmal in dem alten Grab oben den Tod erwartet hatten, soll te es wirklich so gewesen sein, daß Diener mit ihrem Herren begraben worden waren. Die Überlegung brachte sie von der fruchtlo sen Grübelei über ihre Aussichten auf das Grab. Sie lächelte bei dem Gedanken, daß sie selbst an diesem Ort, der wahrscheinlich ihr eigenes Grab sein würde, noch die Zerstörung eines solch guterhaltenen und seltenen Kul turdenkmals wie des Kuppelgrabes bedauerte. Das Artefakt hatte viele mögliche Interpreta tionen des Begräbnisplatzes eröffnet, Ideen und Hinweise gebracht, denen nachgegangen werden sollte, weil sie eine sorgfältige Unter suchung rechtfertigten. Es war offensichtlich, daß die Singularität magnetisch in dem Kalksteinblock gefangen gewesen war, bevor er zum Grab geschafft worden war. Möglicherweise bot der Bern steinzapfen eine Möglichkeit, das schreckliche Licht der Singularität zu sehen, ohne sich als Betrachter in Gefahr zu bringen. Aber warum den Würfel vergraben? Weil er einem Herrscher gehört hatte, einem großen Mann? Vielleicht. Aber die mykenischen Grie
chen hatten wie fast alle anderen Völker des Altertums ihren Toten Gerätschaften und Werkzeuge mitgegeben, die ihnen während der Reise in die Unterwelt von Nutzen sein wür den. Die Gerätschaften wurden nahe dem Körper zurückgelassen. Warum hatte man den Würfel hinter der Mauer der Grabkammer vergraben? Weil er gefährlich war? Nicht für die Toten, aber vielleicht für die Lebenden, die mit der Vorbereitung des Grabes für die Beisetzung beschäftigt gewesen waren. Wenn die Kratzspuren am äußeren Block tatsächlich von Bediensteten herrührten, die mit ihrem Herrn begraben worden waren, dann hatten diese Diener das Artefakt selbst gewollt. Vielleicht hatten sie gewußt, daß es etwas enthielt, was Gestein durchschneiden und eine Öffnung in die Mauern des Grabes machen konnte. Sie hatten sicherlich gewußt, daß an ein Entkommen durch die versiegelte Tür und die Tonnen von Gestein, Sand und Erde davor nicht zu denken war. Sie hatten versucht, sich der vorhandenen Möglichkeiten zu bedienen. Aber wer immer die Kratzspuren hinterlassen hatte, hatte sein Ziel nicht erreicht und war umgekommen. Angenommen, jeder hatte gewußt, daß das
Artefakt etwas sehr Gefährliches enthielt. Daß etwas darin gefangen war, weil der große Mann es sonst nicht bei sich behalten hätte. Aber die trauernden Hinterbliebenen wollten es nicht in ihrer Nähe haben, sollte es nach dem Tod des Mannes freigesetzt werden, wo es töten und zerstören konnte. Stolz. Dies alles ließ auf eine gewisse Hybris schließen, den prahlerischen Stolz eines Man nes nach einer Großtat, einem Sieg, der längst im Staub der Jahrtausende verschwunden war. Er mochte das Artefakt als Siegesbeute geschätzt haben, hatte vielleicht die im Stein gefangene Singularität aus gewachsenem Fels herausmeißeln und zu einem Würfel machen lassen. Auf die Weise konnte er in Größe und Pracht zurückkehren und seinem Volk das gefangene Ungeheuer zurückbringen. Hier, konnte er prahlen, seht meine Beute! Und die Daheim gebliebenen zogen den Kopf ein, ängstlich und ehrfürchtig, als sie den roh behauenen Würfel gewahrten. Seht, konnte er sagen, den Bern stein. In ihm glüht der innere Dämon. Und um zu zeigen, wie unbekümmert er war, konnte er den Würfel mit einer Inschrift in Linear A und einer Elfenbeinkarte als Herkunftszeichen versehen lassen.
Die Karte. Was wäre natürlicher gewesen als die Anbringung eines Zeichens seiner Reisen, seiner Triumphe? Ein Zeichen für die Herkunft des Würfels. Santorin. Das Elfenbeinplättchen war die erste Karte irgendwelcher Art aus dem mykenischen Griechenland, aus der fernen Zeit, als die Le genden geboren wurden, die später von Homer zu den unvergänglichen Epen seiner Kultur verarbeitet werden sollten. Die Anfertigung von Karten ergab sich mit größter Wahr scheinlichkeit aus den Notwendigkeiten der Navigation, also zeichnete man sie auf Perga ment oder anderes Schreibmaterial. Etwas, was ein Schiffer oder Handelsmann mit sich führen konnte. Kein Schmuckstück, das müh sam in kostbares Elfenbein geritzt war. Dieses zerbrechliche Plättchen war offensichtlich eine Manifestation von Reichtum und Glanz. Also war der große Mann, der König, aus ir gendeinem Grund nach Santorin gereist und hatte das Ding im Stein zurückgebracht. Er mußte es unter der Erde gesucht und gefunden haben, ein Glücksfall, den er in eine große Heldentat umzumünzen verstand. Sie versuchte sich zu erinnern, was John und Sergio Zaninetti über die beiden Singularitäten
gesagt hatten. Zusammen mochten sie sehr viel friedlicher sein. Hatten sie erst zusam mengefunden, begraben im Fels, konnte die zufällige magnetische Falle, in die sie geraten waren, sie festhalten. Vielleicht war dies ihr normaler, relativ stabiler Ruhezustand. Bis sie erschüttert wurden, wie John und sie es fer tiggebracht hatten. Also hatte der König die Zwillinge vielleicht vereint vorgefunden, ge fangen in Felsgestein, hatte sie in einem Block davon heraushauen lassen und auf dem See weg in die Heimat gebracht… Diese Theorie setzte freilich voraus, daß man mit dem damals verfügbaren Bronzewerkzeug Tonnen von Gestein aus dem gewachsenen Fels geschlagen, zur Küste transportiert, auf ein Segelschiff verladen und über Hunderte von Seemeilen verfrachtet hatte. Und daß man dabei um einiges umsichtiger und sorgfältiger verfahren war als sie und John. Oder hatte der König am Ende nur eine Sin gularität gefunden? Eine einzelne Singularität konnte wenigstens über Monate hin relativ ru hig in solch einer Falle verharren; ihre hatte es in Boston gezeigt. Dann hätte der König sie gefunden und nach Haus gebracht… … und ihr Gegenstück wäre gefolgt. Angenommen, der König glaubte das Unge
heuer gefunden und eingefangen zu haben. Tatsächlich aber hatte er nur eines der Unge heuer in seiner Gewalt. Das zweite befand sich wahrscheinlich in der Nähe, vielleicht auf Santorin selbst. Sie würden einander suchen, bemüht um Wiedervereinigung, aber immer wieder abgelenkt von Meeresströmungen, von magmatischen Bewegungen unter der Erde. Sie erinnerte sich Johns Bericht über die eingestürzten Ruinen des Höhlenganges am Meeresboden, die eine Fortsetzung des Schachtes waren, in welchem sie jetzt gefangen waren. Eine Singularität, die sich durch Kalk stein fraß, würde einen kleinen Gang öffnen, durch den in der Folgezeit Regenwasser ab fließen und den Kalkstein auswaschen und weiter aushöhlen konnte. Mit der Zeit würde er das Aussehen aller durch Auswaschung ent standenen unterirdischen Karstabflüsse an nehmen. Freilich ließ sich heute nicht mehr beweisen, daß eine Singularität den ursprünglichen Gang auf der Suche nach ihrem Zwilling geöffnet hatte. Doch wenn sie die Spekulation weiter verfolgte, so hatte die zweite Singularität ihre Schwester im Grab gefunden, das Loch in den Rücken des Würfels entlang der genauen Linie gebohrt, die zum Zentrum des Würfels führte,
und sich dort in einem gebundenen Zustand wiedervereinigt. Und niemand hatte sie gese hen, weil sie ihren Weg unter der Ägäis ge nommen und sich vom fernen Santorin lang sam durch das Gestein gearbeitet hatte. Sie war niemals ans Tageslicht getreten und hatte sich schließlich in einem Grab versteckt und still gewartet, bis sie aufgedeckt worden war. Claire verspürte eine Aufwallung von Gewiß heit. Sie dachte an diesen König aus dem Al tertum, einen Mann, der gut den harten Glanz des Sonnenlichts auf dem silbrig grünen Oli venlaub kannte, die vielen kräftigen Gerüche frisch gepflügter Erde, der Winde Geflüster von kommenden Unwettern. Sie sah ihn als einen klugen, welterfahrenen Mann, dem die natürlichen Erscheinungen so vertraut waren wie die Verhältnisse der Menschen jener Zeit, und der nun unversehens mit einem winzigen Punkt virulenten Lichts konfrontiert worden war, eines Lichts, das alles fraß, das in der Er de hauste und sich sogar durch gewachsenen Fels bohrte. Der König mußte durch das rauhe, schrille Winseln darauf aufmerksam geworden sein, dem Geräusch seiner Materialaufnahme. Viel leicht hatten die Einwohner von Santorin das Ding vorher schon gesehen, oder seinen Zwil
ling – hatten beobachtet, wie es aus glühendem vulkanischen Gestein hervorgebrochen war und sich durch ihre Felder gebrannt hatte, ihre Häuser. Konnte es sein, daß sie um Hilfe geru fen und einen König angelockt hatten, den die Gefahr reizte, der die Jagd liebte und glaubte, daß Ungeheuer ebenso Bestandteile der natür lichen Welt waren wie Regen und Sonnen schein? So war er in Höhlen hinabgestiegen und war auf das schrill winselnde Ding gestoßen, das durch den massiven Fels rief. Und als es sich weder bewegte noch hervorkam, vermutete er, daß es gefangen sei. Er brauchte es nicht zu bekämpfen. Er brauchte nur seinen Käfig herausmeißeln und es mit sich nehmen. Aber ein mutiger Mann mußte wissen, was er hatte. Also hatte er in das kleine Loch gespäht, durch das die erste Singularität eingedrungen war, und aus dem die Lichterscheinung und das Geräusch kamen. Und er konnte nichts von der tödlichen Strahlung gewußt oder gespürt haben, die aus der Öffnung drang und ihn Monate oder Jahre nach diesem Augenblick zu einem qualvollen Ende verurteilte. Damit war sein Schicksal be siegelt gewesen, bis hin zu seinem Begräbnis in einem Kuppelgrab aus Kalksteinquadern, zu
sammen mit dem mörderischen alterslosen Ungeheuer, das ihn getötet hatte. Sie bewegte sich ruhelos, halb erstarrt vor Kälte, aber beschäftigt mit Ideen und Mög lichkeiten. John regte sich, suchte ihre Wär me. Die Dunkelheit lastete schwer. Was hatte der König sich unter der Singula rität vorgestellt? Welche Überlieferung hatte er mit dieser Ruhmestat begründet, während seine Steinmetze den Würfel behauen hatten, die kubische Falle? Sie versuchte sich das Ende des Königs vorzustellen, dahinsiechend von der Strahlenkrankheit, von nässenden Schwä ren bedeckt, kahlköpfig, zum Skelett abgema gert, phantasierend im Delirium, vielleicht endlich erratend, daß das Ding im Stein ihm die schweißigen, erhitzten Fieberträume ein gebracht hatte, die quälende Übelkeit, den körperlichen Verfall. Sie schüttelte John schwach. Er ächzte, müh te sich aus irgendeiner Tiefe nach oben. »Ja?« »Der Bernsteinzapfen, John. Ich weiß, welche Bewandtnis es damit hat.« »Was? Ich weiß nicht…« »Er ist golden, verstehst du? Erinnerst du dich an den Stierkopf im Museum auf Kreta?« Er streckte die Hand aus und tastete mit eis kalten Fingern in der Dunkelheit nach ihrem
Gesicht. »Quäl dich nicht… Leg dich wieder hin!« »Nein, mir fehlt nichts, ich möchte es dir nur erzählen. Hör zu! Die goldenen Hörner haben bei den mykenischen Griechen eine zeremoni elle Bedeutung, und dieses Horn ließ der Kö nig, dieser tote König oben im Grab, an seiner Beute anbringen. Ein Horn. So entstand eine Legende um dieses Vorstellungsbild von einem gehörnten Ding in der Erde.« »Ich sehe nicht…« »Dem gehörnten Ungeheuer, das der König jagte und zur Strecke brachte. Mit sich heim führte, verstehst du? Du und Zaninetti, ihr habt immer darüber geredet, als wäre es ein neues Stück der Teilchenphysik. Aber auch damals sahen Menschen die Singularitäten, einzelne müssen dann und wann an die Ober fläche gekommen sein, die Menschen geängs tigt haben, und… Es war wichtig, es war Ge schichte.« »Hör mal, ich bin müde, ich…« »Geschichte, die uns als Legende überliefert wurde! Nur ist sie ganz verdreht auf uns ge kommen. Was kannst du von Bauern erwar ten, die versuchen, etwas zu beschreiben, was so schrecklich ist wie eine vagabundierende Singularität? Der König war wirklich ein gro
ßer König, weil er das Ungeheuer tötete. Oder jedenfalls fing.« »Was redest du da?« murmelte er benom men. »Ungeheuer?« »Das Ungeheuer oder den Gott oder den Dä mon, den wir wieder freigesetzt haben. Wir ließen sein Gefängnis in den Schacht hinun terfallen, so daß eine Hälfte durch den natür lichen Ausgang – die ›Symmetrieachse‹, wie du sagtest – ins Freie schoß. Genauso wie es hin eingekommen war, kurz nachdem der König begraben worden war. Beide Singularitäten lebten in den Höhlen von Santorin und ver setzten die Bewohner in Angst und Schrecken. Vielleicht hatten die vulkanischen Schlote sie aus dem Untergrund heraufgetragen. Und der König hörte davon, er kam und fing eine – hörte sie summen, bereits im Felsgestein ge fangen! Eine große Tat! Er wußte nicht, daß es einen Zwilling gab. Sie suchten einander, und von Zeit zu Zeit werden sie an die Oberfläche gekommen sein. Wie hätten die Bewohner sie unterscheiden sollen? Sie dachten, es gäbe nur ein Ungeheuer.« »Du meinst also, wir…« »Ja! Und als der König sie einfing, entstand daraus eine Legende. Eine veränderte, ver ständlich aufbereitete Version der Wahrheit.
Das Ungeheuer war in der Erde, und als der König starb, kehrte es in die Erde zurück. Mit seinem Horn! Dem Bernsteinhorn!« »Ich weiß nicht…« »Das Horn ist der Schlüssel.« Sie lachte. »Die Singularität war der Minotauros.«
12 Kälte, die bis auf die Knochen schnitt, den Körper seines Willens zur Bewegung, seines natürlichen Dranges, Blut in die tauben Gliedmaßen zu pumpen, sogar seiner Lust zu atmen beraubte. Er fror schon so lange, daß er die Schmerzen und die Starrheit der Unter kühlung aus dem Bewußtsein verloren hatte, und die Kälte wie den Schmerz als eine sepa rate Einheit empfand, eine Gegenwart, die in seinem Körper mit ihm hauste, sich von ihm nährte und ihn nie wieder verlassen würde. Er öffnete die Augen, aber es war so stock finster, daß er sie geradesogut geschlossen hätte halten können. Von Claire kam eine schwache, diffuse Wärme, sie war eine matte
Sonne, um die er in ewiger harter Dunkelheit kreiste. Er drückte sie an sich und fühlte ihren langsamen, beinahe widerwilligen Herzschlag. Sie hatte noch eine Zeitlang weitergeplappert, und er hatte halb verstanden, worauf sie hin aus wollte, aber es schien alles so entlegen, Geschichte und Legenden, Ideen und Abstrak tionen, so fern wie die kalten Sterne. Er hatte versucht, ihr zu folgen, aber die Müdigkeit entzog ihm alle Kräfte, und er konnte sich kaum wachhalten. Dann war sie zum Schluß gekommen, hatte das Gesagte noch einmal be kräftigt, und ihre Stimme hatte in einer Weise glücklich geklungen, ein angenehmes Ge räusch in der endlosen völligen Finsternis, und schließlich war auch sie vom Schlaf überwäl tigt worden. Er hatte längere Zeit geschlafen, das war ge wiß. Wie lange sie schon hier waren, wußte er nicht. Er hatte während des Abstiegs nicht auf die Uhr gesehen, und jetzt war ihm nicht ein mal die Willenskraft geblieben, das Leuchtzif ferblatt vor die Augen zu heben. Diese Bewe gung würde kostbare Wärme entweichen lassen, und die Zeit war sowieso nicht mehr wichtig. Zeit, das bedeutete einfach Ertragen, und wenn man aufhörte, zu ertragen, würde es Zeit nicht mehr geben, ganz gleich, was die Uhr
sagte. Aber nun war er aufgewacht, wo er lieber weitergeschlafen hätte. Im Schlaf kauerte nicht der zupackende, bleierne Schmerz auf der Brust und atmete einem ins Gesicht und ließ eisige Messer von den Beinen aufwärts in die Gedärme stoßen. Schlaf war besser. Wachen hieß leben und wissen, was als nächstes kam. Er zwinkerte und sah Lichtreflexe. Wan dernde Muster, die wie ziehende Wolken ka men und gingen, lautlos und unbeeinflußbar. Die Wolken – er hatte nie wirklich aufmerk sam zum Himmel aufgeblickt und sie betrach tet, nie versucht, ihre vielgestaltigen Formen und Bedeutungen zu verstehen. Er hatte sein Leben damit verbracht, daß er auf beschrie benes Papier gestarrt oder Formeln auf Wandtafeln geschrieben oder endlos darüber diskutiert hatte, wenn er statt dessen die Wol ken hätte betrachten sollen, in der warmen Sonne liegend und die Fülle ewigen Lichts aufzunehmen, die aus dem Himmel herabstrahlte, Wärme ohne Ende… Gelbe, geriffelte Lichtstrahlen. An den Wän den. Er bewegte die Hand und konnte Finger se hen, die, vollkommen ohne Gefühl, zur Faust geballt waren, von der Kälte zusammengezo
gen. Sie hoben sich schwarz vom Höhlendun kel ab. Er öffnete den Mund und brachte keinen Laut hervor. Seine Brust war wie zusammenge schnürt und ließ ihm keine Luft. »He! Arditti! Anderson! Jemand da unten?« Ein ferner hallender Ruf. »Ah!« krächzte er. Er schüttelte Claire. »Ja!« Undeutlich: »Hast du das gehört?« Noch leiser: »Nein.« »Ah! Wir… wir sind hier!« »Verdammt! Hast du gehört? Da unten ist jemand.« Als John aus den Ruinen der Grabkammer wankte, weigerte er sich, auf die Tragbahre zu warten, die heraufzuholen man ihm anbot. Seine ersten Schritte ohne fremde Hilfe hatten heftige prickelnde Schmerzen in den Beinen erzeugt, aber da er wußte, daß die wieder in Gang kommende Blutzirkulation in jedem Fall Schmerzen verursachen würde, war er auf den Beinen geblieben und von einem Fuß auf den anderen gestiegen, um den Vorgang zu be schleunigen und draußen zu sein. Seine Beine waren steife, schwere Klumpen, die mit ge ronnenem Blut gefüllt schienen. Die Last auf seiner Brust war verschwunden. Die Mühsal,
mit fremder Hilfe in die Rettungsgurte zu kommen und sich am Seil festzuhalten, wäh rend sie ihn wie einen nassen Sack hinaufge zogen hatten, waren wenigstens geeignet ge wesen, ihn aus der Erstarrung von Kälte und Schmerz zu reißen. Er stolperte an den durcheinandergeworfe nen Blöcken des eingestürzten Gewölbes durch den noch stehenden Eingang hinaus und tapp te den langen Dromos entlang, eine Hand an der Wand. Hale stützte Claire, die vor ihm ging. Also war Hale doch durchgekommen. Gut. Jemand sagte ihm immer wieder, er solle sich tragen lassen, doch er ignorierte die Stimme und wankte weiter, die Zähne zusammenge bissen. Man hatte Lampen gebracht und das ganze Gebiet war hell beleuchtet. Über ihnen schnatterten Hubschrauber, und Düsenma schinen kreuzten mit drohendem Gebrüll über den Wolken. Die Sechste Flotte war in massi ver Stärke anwesend. Carmody hatte die Mas ke fallengelassen. John erreichte das Ende des Zugangs und sank gegen die letzten, roh behauenen Kalk steinblöcke. Was vom Lager übrig war, lag ge schwärzt und tot unter den Lichtern, und der Rauch hatte sich über das Tal verbreitet und
eine dünne, trübe Decke gebildet. Auf einer ebenen Fläche im Osten standen Hubschrau ber. Offensichtlich waren die Retter mit ihnen gekommen; die Träger mit den Bahren kamen von dort. Karmesinrote Dämmerung ließ die Kämme ferner Höhenzüge scharf hervortre ten. Aber seine Aufmerksamkeit wandte sich au genblicklich dem grellen, bläulichen Lichtfun ken zu, der im Westen am Ende des Tales zu sehen war. Über ihm hing Claires Hubschrau ber mit dem klobigen Behälter. Die Maschine flog ganz langsam nordwärts, und unter ihr folgte wie angetrieben von einem unwider stehlichen Liebeszauber, der heiße bläu lich-weiße Lichtpunkt, vollzog jede Wendung nach. Es war, als hätte der Hubschrauber die Singularität an einer Leine, wo sie nun gehor sam den unausgesprochenen Befehlen des Pi loten folgte. Man hatte sie vom Grab fort und in eine Ge gend gelockt, wo man sie manövrieren und ih re Reaktionen erproben konnte. Nun, als John hinübersah, ging der Hubschrauber tiefer, und die Unterseite des Behälters klappte auf. Die Ingenieure hatten einen einfachen, nar rensicheren Mechanismus eingebaut, aber tatsächlich wußte niemand, wie es weitergehen
würde. Jahrzehntelange Forschungen auf dem Gebiet der Fusionsenergie hatten die Technik magnetisch festgehaltener Plasmaströme enorm vorangebracht. Die Plasmaphysiker konnten heiße ionisierte Materie in magne tisch beherrschten Räumen, die wie Krapfen, Wurstringe oder Brezeln geformt waren, ein fangen und festhalten. Aber dieses Ding war kein Plasma, und die Erfahrungen der Physi ker mochten hier nicht anwendbar sein. Die Erfahrung erbrachte nur primitive Daumenregeln, Annäherungen. Die an seiner und Claires Rettung beteiligten Männer hatten sich um ihn versammelt, ließen ihn aber in Ruhe. Er steckte die noch gefühllo sen Hände in die Taschen der Daunenjacke, die sie ihm gegeben hatten. Claire und Hale saßen ein Stück weiter oben am Hang neben dem Weg. Es wurde nicht gesprochen. Der Hubschrauber ließ den offenen Verschlag langsam herab. Die Unterseite des Behälters war ein kompliziertes Arrangement von Mag neten und leitfähigen Oberflächen. Stahlplat ten sollten den Hubschrauber gegen die sprü hende Gammastrahlung der Singularität abschirmen. Die bläulichweiße kleine Sonne rollte auf ih rem eigenen Feuer, versengte das Land und
ließ eine Bahn von orangefarben flackernden Feuerbränden und grauem Rauch hinter sich. Ein leises, aber durchdringendes Pfeifen er füllte die Luft, und wenn die Singularität sich tief durch Unebenheiten des Bodens fraß, ging das Pfeifen unter, und ein langgezogenes, tie fes Brummen ging durch das Tal. Vielleicht hatten die Bewohner des einstigen Santorin die Singularität so gesehen. John dachte, daß es nicht schwerfallen könne, in diesem Ding ein Ungeheuer der heißen vulka nischen Tiefen zu sehen, das wütend an der Oberfläche herumfuhr und die Unterlassung der Menschen, ihm Opfergaben zu schicken, es in seinem ungeheuren schwefligen Labyrinth aufzusuchen und zu beschwichtigen, mit sen gendem Tod bestrafte. Der Behälter senkte sich tiefer, und seine weiße Farbe ging nun in ein rauchiges Blau über, als er das Feuer der Singularität reflek tierte. Näher, näher – ein helles Aufblitzen, ein Donnerschlag. Plötzlich war der Schauplatz des Geschehens in Dunkelheit getaucht. Der Schock des Verschwindens war erschre ckend, und allen stockte der Atem. Dann aber sah John, daß die Positionslichter des Hub schraubers noch brannten. Die zweite Singula rität war in die Falle gezogen worden, hatte
ihre Schwester wiedergefunden, und nun schlummerten sie zusammen. Die Bindeener gie der Wiedervereinigung war sehr gering, verglichen mit den Megatonnen, die er und Zaninetti berechnet hatten. Aber sie hatten den schlimmsten Fall angenommen, wenn die beiden einander mit hohen Geschwindigkeiten begegneten. Verlangsamt, fand die Wiederver einigung sanft statt. Die Flamme war gelöscht. Die Zuschauer brachen in Jubelrufe aus. Der Hubschrauber stieg mit triumphierend brül lendem Motorenlärm. Bei niedriger Geschwindigkeit war der Ener gieverlust aus der Bindung der Zwillinge also relativ gering. Das hätte er wissen sollen, wenn er Zeit oder Verstand genug gehabt hätte, Claires Theorie zu durchdenken. Wenn die beiden Singularitäten sich schon vor 3500 Jahren innerhalb des Würfels vereinigt hatten, dann konnten sie damals offensichtlich nicht viel Energie freigesetzt haben; andernfalls wäre der Würfel zerstört worden. Claire und er und der arme tote George hätten niemals mehr als Bruchstücke entdeckt. Er schüttelte den Kopf. Hätten er und Zaninetti der Archäo logie mehr Aufmerksamkeit geschenkt, so wä re ihnen vielleicht einiges von alledem erspart geblieben.
Nun konnten sie, solange sie die beiden Zwil linge vereint hielten, mit ihnen experimentie ren und ein gänzlich neues Gebiet der Physik erschließen. Das Problem bestand in der si cheren Einschließung der beiden Komponen ten. Es gab viel zu tun. Er versuchte sich auf die Möglichkeiten zu konzentrieren, merkte aber bald, daß sein Kopf ein rauchiger, ver schwommener Ort war, wo Ideen kreuz und quer herumflogen und sich allzubald im diesi gen Nichts verloren. Hale und Claire waren aufgestanden und nä hergekommen. Die Bahrenträger eilten im Laufschritt den Weg herauf. Er fand, daß die breite weiße Liegefläche der Bahre und die wohligen Decken tatsächlich einen unwider stehlichen Reiz ausübten. »Fühlst du dich… einigermaßen?« fragte Claire. »Fünf minus, wie wir im Lehrerberuf sagen«, antwortete John mit matter Stimme. »Teufel noch mal«, sagte Hale staunend und zeigte zum Hubschrauber. »Es klappt.« »Ja«, sagte John. »Bis jemand es fallen läßt.«
EPILOG Sie war drauf und dran, sich zu verspäten. Hastig ordnete Claire die fotokopierten Blät ter, steckte sie in den an die Wissenschafts zeitschrift Science adressierten Umschlag, leckte die gummierte Klappe und klebte sie zu. Fertig. Sie hatte sich selbst das wahrscheinlich ganz und gar neurotische Ziel gesetzt, den Ar tikel bis zu diesem Datum fertigzustellen, und nun war »Ethnohistorische Zusammenhänge zwischen dem Minotauros-Mythos und einer ungewöhnlichen mykenischen Grabbeigabe« bereit für den Druck. Sie hatte eine knappere, beschränktere Fassung geplant gehabt, gefolgt von einem ganzen Buch, in welchem sie die verschiedenen Stücke des Puzzlespiels aus führlich zusammensetzen wollte, reichlich garniert mit Vorbehalten, Einschränkungen und den gebotenen wissenschaftlichen An merkungen. Doch in dem Maße, wie während der Monate Februar und März mehr und mehr Informati onen durchgesickert waren, hatte sie erkannt, daß eine stückchenweise Veröffentlichung die akademischen Raubtiere nur noch rascher auf den Plan rufen würde. Jemand würde die Zu
sammenhänge sehen und eine kurze Notiz in der Zeitschrift Ethnoarchäologie oder an derswo veröffentlichen und damit den allge meinen Gedanken festhalten. Um sich zu schützen, mußte sie auf Anhieb ein großes Aufhebens machen. Ein paar Telefongespräche mit bedeutenden Fachgelehrten hatten erge ben, daß die Redaktion der Science einen Ar tikel über die geheimnisvollen Ereignisse auf der Peloponnes begrüßen würde. John war vergattert worden, nächste Woche in New York ein wissenschaftliches Interview über seine Theorie zu geben, und beides würde gut zusammenpassen. Claire suchte ihre Sachen zusammen und ver ließ den Arbeitsraum, ohne sich die Mühe zu machen, Ordnung in das Chaos auf ihrem Schreibtisch zu bringen. Dafür war später Zeit genug, viel später, irgendwann im Rest ihres Lebens. Sie fummelte mit dem Schlüssel, un vertraut mit der verzogenen Tür. Der Fachbe reich hatte ihr großmütig ein neues Büro an geboten, das ungefähr dreimal so groß war wie ihre frühere klaustrophobische Kammer, und mit freiem Blick auf den Charles River. Die Zeit hatte nicht gereicht, ihr Material zu ord nen. Sie hinterließ dem Reinigungspersonal eine Notiz mit der Ermahnung, während der
Wochen ihrer Abwesenheit alles zu lassen, wo und wie es war. Die Commonwealth Avenue schimmerte in spätem Frühlingsgrün. Ramponierte Studen ten latschten dahin, bedrängt und auf sich selbst zurückgeworfen von den bevorstehen den Schlußexamen. Sie sog die feuchte Luft tief ein; ihr Geschmack verhieß einen regenrei chen Sommer. Der willkommene Druck auf ihre Lungen erinnerte sie an das Rauchen, das sie vor Monaten aufgegeben hatte und noch vermißte, ein nervöses Verlangen. Sie ging zum Briefkasten. Das dumpfe Plumpsen, mit dem er das Manuskript aufnahm, interpunk tierte ihr Leben. Getan und fertig. Sie fand ihren Alfa Romeo, warf den unter dem Scheibenwischer steckenden Strafzettel fort und fuhr mit quietschenden Reifen hinaus in den Verkehrsstrom. Sie hatte ihre Aktenta sche absichtlich im Büro zurückgelassen; während der Arbeit an der Veröffentlichung war die Aktentasche zu einem Symbol für die Last des vergangenen Jahres geworden. Wütendes Hupen ertönte, als sie unbeküm mert auf den Storrow Drive hinausjagte. Sie sah auf die Uhr. Wahrscheinlich wäre es am besten, zur Cambridge Street hinaufzuschie ßen und einen Bogen in die Stadt zu machen.
Früher Nachmittag an einem Samstag im Mai, da fuhren die Massen der Baseball-Zuschauer in die entgegengesetzte Richtung, nach Fenway Park. Sie kam gut voran und überholte Volkswagen mit ihrer gewohnten Gering schätzung. Die anwachsende, zeitraubende Arbeit an dem Artikel war gekommen, als sie versucht hatte, erhärtende Beweise zu finden. Mochten späterhin Fachleute für minoische Ethnologie und Geschichte und die archäologische Geolo gie von Santorin mit ihren vermuteten Ver bindungen und vergleichbaren Ideen kommen, die auf Tonscherben und verstreuten Resten von Metall und Holz beruhten. Das war alles schön und gut. Aber die Überzeugungskraft mußte aus neuen Forschungsergebnissen er wachsen. Sie hatte Carmody überredet, die am Mee resboden in Überresten erkennbare Fortset zung des Höhlengangs kartographisch auf nehmen zu lassen. Im Anschluß an Carmodys Operation und ihre mißlungene Geheimhal tung hatte die Sechste Flotte eine Woche lang die Küste der Argolischen Halbinsel blockiert und einer Gruppe von Wissenschaftlern, wel che die Auswirkungen der Singularität auf das Gelände im einzelnen erforscht hatte, ein un
gestörtes Arbeiten ermöglicht. Während dieser Zeit hatten Taucher festgestellt, daß die unter seeische Fortsetzung des Höhlengangs eine gerade Linie beschrieb, die, auf eine größere Karte übertragen, genau durch Santorin schnitt. Damit nicht genug, führte die Linie durch die gewaltige Caldera des explodierten Vulkans, nicht durch den verbliebenen Halb mond der gegenwärtigen Insel. Das legte den Schluß nahe, daß die Singularität Santorin vor der endgültigen Eruption auf der Suche nach ihrem Zwilling verlassen hatte. War es ein zufälliges Zusammentreffen, daß die Bewegungen der Singularitäten, die Suche des toten Königs nach einer von ihnen, und die Eruption des Vulkans Santorin von 1426 v. hr. alle ungefähr zur gleichen Zeit stattfanden? Oder war der König nach Santorin gesegelt, das mythische Ungeheuer zu finden und zu bändigen, weil die Bewohner der Insel mit vorbestimmter Intuition einen Zusammen hang zwischen den sonnenhellen, alles ver brennenden Erscheinungen und der ruhelosen Erde unter ihren Füßen sahen? War es mög lich, daß die Singularitäten die Eruption ver ursacht hatten? So war die Minotauroslegende vielleicht aus dem vergeblichen Bemühen des Menschen er
wachsen, sein Schicksal zu lenken und das achtlose Achselzucken der Erde zu blockieren, das ihn und all seine Schöpfungen zerschmet tern und zu Staub machen würde. Das machte dem erstaunlichen Mythos vom Minotauros zu einer Geschichte stolzen, hart erkämpften zeitweiligen Erfolges, in mündlicher Überlie ferung umgewandelt in eine Legende von ei nem Wesen, das halb Mensch und halb Tier war. ›Vielleicht‹ war, wie John sagte, freilich keine Theorie, ›vielleicht‹ war nur ›vielleicht‹. Da rum hatte sie nach substantiellen Anhalts punkten gesucht, nach bekräftigenden Argu menten, die etwas vom harten Glanz naturwissenschaftlicher Beweisführung an sich hatten. Gebeine und Grabbeigaben des Königs waren in einigen der Kisten, die früh zeitig im Verlauf der Ausgrabungen von Hampton in die Vereinigten Staaten gebracht worden waren, und an diesen hatte sie gear beitet. Eine radiologische Analyse der Knochen ergab ein deutliches Übermaß an mehreren radioaktiven Isotopen. Der König war einer tödlichen Strahlungsdosis zum Opfer gefallen. Andere Gebeine aus demselben Kuppelgrab, aber von anderen Toten, zeigten keine über die minimalen natürlichen Werte der damaligen
Zeit hinausgehenden Konzentrationen. Dies war für sie das entscheidende Argument. Die Singularität hatte ihn schon getötet, als er noch seinen großen Triumph gefeiert hatte. Die Archäologie war ein ruhiges, methodi sches Arbeitsgebiet. Wie alle Wissenschaften belohnte sie Umsicht. Claire brachte eine The orie vor, die weitgehend auf Spekulation be ruhte, um scheinbar isolierte Fakten mitei nander zu verbinden und zu erklären. Das war immer gefährlich, und sie war sich dessen ebenso bewußt wie der Möglichkeit, daß spä tere Erkenntnisse sie zum Rückzug zwingen könnten. Aber die Kühnheit war ihr jetzt ins Blut übergegangen, und sie fand Gefallen an der Herausforderung. Die Cambridge Street war ungewöhnlich ver stopft. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr. Noch war genug Zeit, sich fer tigzumachen, aber nur knapp. Sie passierte das JFK-Gebäude, bog in die Tremont Street, hielt sich rechts und stellte den Wagen in einer Zone mit Parkverbot ab. An der Kreuzung Tremont und School Street machte sie ihren Onkel Alexander aus, der mit zwei irischen Polizisten redete. Sie umarmte ihn, zeigte zu ihrem Wagen, und aus der Art und Weise, wie die Polizisten an ihre Mützen
tippten und nickten, erkannte sie, daß Onkel Alexander sie bereits bestochen hatte. Außer dem bemerkte sie jetzt, daß das Parkverbots schild provisorisch war, nur vorübergehend aufgestellt; dieser Block war sonst frei, und es gab genug Platz. Onkel Alexander machte ei nen Scherz, und sie lachte, atmete befreit auf und spürte, wie die verkrampfte Beklemmung von ihr wich. Die King’s Chapel hockte wie eine unbe zähmbare Bulldogge der Vergangenheit, ge drungen, eckig und grau, zwischen den geist losen Hochhäusern der School Street mit ihren endlos wiederholten, monotonen Fensterrei hen. Claire eilte über die Tremont Street, als die Ampel umschaltete. Vor der King’s Chapel sprach Onkel Charlie mit Tante Edna, so ver tieft in den Klatsch, daß sie Claire nicht zwi schen den ehrfurchteinflößenden Säulen hin durch und ins Hauptportal schlüpfen sahen. Ein kleines Schild warnte PRIVATE FEIERLICHKEIT. Gut; keine Touristen. Ihre herumtappende, ahnungslos glotzende Auf merksamkeit hatte für Claire immer die Stimmung von Kirchen beeinträchtigt und ih nen in krassen Fällen eine Atmosphäre verlie hen, die an Öffentlichkeit einem Bahnhof nicht nachstand. Die King’s Chapel war ein histori
scher Ort. Ihre Granitquader waren 1749 auf Barken von den Steinbrüchen in Quincy herbeigeschafft worden. Ihre bedeutungs schwere Feierlichkeit hüllte Claire ein, und sie stand eine Weile und ließ den Raum auf sich wirken, unbemerkt von den frühen Besuchern in den vorderen Bänken. Die steinernen ang likanischen Werte, die der König in die Neue Welt eingeführt hatte, waren längst zu dem stoischen Bostoner Kompromiß mit der Zu kunft, der Lehre der Unitarier, verblaßt. Der Kirche fehlte noch immer ihr weißer, neugo tisch-protestantischer Kirchturm, obwohl hartbedrängte Bauausschüsse noch immer von Zeit zu Zeit die über hundert Jahre alten Pläne für einen hervorzogen. Die Vergangenheit er schien hier unausweichlich melancholisch, als erinnerten sich die harmonischen, gedämpften Räumlichkeiten jener Tage, als sie noch der Angelpunkt eines theokratischen Boston ge wesen waren. Doch in der Vorhalle gab es Zei chen eines anhaltenden Erfolgs: die chaotische Veranstaltungstafel und der hoffnungsvoll mit religiösen Druckschriften gefüllte Zeitschrif tenständer kündigte von innerem Leben. Sie wandte sich um und stieg die Treppe hin auf, die steil genug war, eines jeden Puritaners ernste Zustimmung zu finden. Hier waren die
anderen – ängstlich und nervös, weil sie sich verspätet hatte. Sie brachte die üblichen Ent schuldigungen vor und ergab sich ihnen: Mut ter, verschiedenen Tanten, Cousinen, alle in geschmackvollem Hellviolett oder Mattgelb oder Braunrot. Die meisten waren von Ver mont oder New Hampshire heruntergekom men, wohin so viele der alten Familien sich zurückgezogen hatten; die Anreisezeit hatte eine Trauung am Nachmittag vorgeschrieben. Sie hatten das alte Kleid, von der Urgroßmut ter weitergegeben, noch immer schmuck und blendend weiß. Ihr eigenes Kleid verschwand, und der alte Stoff hüllte sie ein, zurechtgezupft von ungeduldigen Fingern. Die Luft hier oben war muffig, trocken von der Zentralheizung und durchdrungen von einem Geruch nach Möbelpolitur. Claire hatte am Vortag drei Stunden in den Frisiersalon investiert und war erleichtert, im Spiegel eine wohlmodellierte Kappe von braunem Haar mit einem leichten Stich ins Blonde zu sehen. Ihre Mutter um schwebte sie, verkürzte den Saum, steckte et was an den Schultern zusammen, damit die Träger nicht zu sehen seien. Der mit kunstvol ler Stickerei geschmückte Schulterumhang schien geradezu übertrieben, beruhigte sie aber mit seiner behaglichen, bergenden Dra
pierung. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her, betrachtete sich kritisch und stellte erfreut fest, daß die Falten sich elegant den Konturen ihres Körpers anpaßten; Urgroß mutter mußte die gleiche selbstgefällige Be friedigung empfunden haben. Ringsum wurde geschwatzt, erinnert, gebil ligt, alles mit einem Unterton verordneter Er regung. Diese Frauen ließen ihre Zustimmung in gurrenden Ausrufen der Bewunderung er tönen, und Claire sah sie liebevoll in ihren pastellfarbenen Kleidern, eingetaucht in ihr Element. Sie hatte sie immer bewundernswert gescheit in den Einzelheiten des Dahinlebens gefunden, und seltsam passiv im größeren Rahmen ihrer Existenz. Nun war sie ihrer Sa che nicht so sicher; vielleicht war es möglich, aus so vielen Blütenblättern einen Strauß fri scher Bedeutung zu sammeln. Von der Orgelempore drangen die ersten langsam anschwellenden Akkorde. Unten ge leiteten pflichtschuldige Cousinen Verwandte zu ihren Plätzen. Die erwartungsvolle Atmo sphäre wurde fühlbar; sie wählte einen Per lenring, verzichtete jedoch auf eine Halskette, weil der Kontrast zu der elfenbeinfarbenen Eleganz des Schulterumhangs zu groß gewesen wäre.
Es wurde Zeit. Sie stieg die steile Treppe hin ab, auf den Rat ihrer besorgten Mutter unbeschuht, damit sie nicht stolpere. Unten auf den Steinplatten machte sie halt, und eine Cousine half ihr in die weißen Seidenpumps. Die Kirchenbänke waren beinahe gefüllt, ihre roten Polster bildeten einen farbenfrohen Kontrast zu den mächtig aufstrebenden wei ßen korinthischen Säulen. Das Orgelvorspiel brach ab. Sie blickte auf und sah den Organis ten lächelnd zu ihr herabnicken, worauf er mit beiden Händen in die Manuale griff und kraft voll den Einzug der Braut umrahmte, und sie dachte mit einem Schock, daß, so unglaublich es scheinen mochte, sie selbst es war. Am Arm ihres rotbackigen Großvaters schritt sie durch den Mittelgang. Vorbei an der getä felten und mit Pilastern geschmückten Kanzel, die mit ihrem Schalldeckel ein Symbol der Au torität war, das für diese Zeremonie unbenutzt blieb. Der Geistliche lächelte ihr zu, und die Orgelmusik brandete auf, und da war John, kam in einem weißen Smoking auf sie zu, um vor dem Geistlichen Aufstellung zu nehmen. Sie sagte die archaischen Gelübde auf, zeitge mäß abgeändert, um die Gehorsamsverspre chen zu umgehen, alles in einem gedämpften heiseren Ton, der von dem freien Kirchen
raum ringsum verschluckt wurde und für die Hochzeitsgäste in den Kirchenbänken unhör bar blieb. Als sie zu einem auf der Orgel begleiteten Trompetensolo von Vivaldi hinausschritten, blickte sie zurück, um sich das Bild des Rau mes und der Gäste einzuprägen. Dann, ehe sie sich’s versah, war sie bei dem Empfang im Eliot House, Mount Vernon Place 6. Sie und John trafen, chauffiert, als erste ein und wur den vom Festausrichter willkommen geheißen und mit vollen Champagnergläsern und Bröt chen mit Hummersalat versorgt. Bevor sie Zeit gehabt hatte, die Blumen zu bewundern, hatte sich die Reihe der Teilnehmer am Empfang formiert, und Johns Vater, strahlend in sei nem Smoking, bat um den ersten Kuß. Onkel Alex umarmte sie kraftvoll und wiederholte seinen alten Scherz, daß Archäologen Leute seien, deren Zukunft in Trümmern liege. Alle waren da, die selten gesehenen Bewoh ner entlegener Farmen und Dörfer, und John bewegte sich lächelnd unter ihnen, ganz gleich, welche lokalen Klatschgeschichten sie zum besten gaben. Betagte Onkel fragten ihn, ob es wirklich wahr sei, daß Atome wie kleine Son nensysteme seien, in denen die Elektronen wie Planeten kreisten. Tanten bewegten sich unsi
cher umher, tappten vorsichtig über spiegeln des Parkett und Teppiche, und vorbei an dem gefährlichen ungepolsterten Mobiliar. Claire merkte, daß er an allem interessiert teilnahm, und daß er noch immer dem selbstverständli chen Glauben der Südstaatler anhing, daß Fa milien ihrem Wesen nach faszinierend seien. Sergio Zaninetti trat strahlend auf sie zu, um seine Glückwünsche auszusprechen. »Esquisito. Ich hätte nicht gedacht, daß die Bostoner sich auf diese Dinge verstehen.« »Wir haben viele Italiener gehabt, die es uns beibrachten.« »In der Tat. Ich hoffe, Sie werden nach Ihrer Rückkehr einmal meine Gäste sein. Und im Herbst wird John zur Abteilung gehören.« »Natürlich.« Mit »der Abteilung« meinte er offensichtlich Harvard. Das Angebot war John vor sechs Wochen aus heiterem Himmel auf den Tisch geflattert. Eine Entdeckung dieser Größenordnung ließ die Fachwelt aufmerken, brachte Ruhm und Si cherheit. Sie war so in ihre Probleme ver strickt gewesen, so besorgt und ärgerlich we gen ihrer Verletzung der Berufsehre und der Ethik, daß ihr die wahre Bedeutung entgangen war. In einem einzigen Monat hatte John ein Dutzend Angebote erhalten, unter denen das
von Harvard die Bekrönung gewesen war. Er würde dort als außerordentlicher Professor anfangen; die Berufung zum ordentlichen Professor schien gesichert. Zaninetti beglückwünschte ihn überschweng lich, und Abe Sprangle tat es ihm beinahe gleich. Abe und Claire wollten nach ihrer Rückkehr gemeinsam an einer ausführlichen Veröffentlichung über das Artefakt arbeiten. Schon jetzt war es Abes bekanntestes Werk, dabei war es noch nicht einmal geschrieben, geschweige denn publiziert. Die Gerüchtekü che tat mehr für das Ansehen als die Fachzeit schriften. Das Stimmengewirr wurde lauter, und die Kapelle begann aufzuspielen. Sie tanzte mit Hingabe Walzer, erinnerte sich zwar nicht bewußt der Schritte, fand aber mit Leichtigkeit hinein. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, und die Lichter der Kronleuchter wirbelten wie Sternbilder um sie, bis sie in momentanem Schwindel die Stirn an Johns weißen Smoking lehnte, eine saubere Fläche, wo sie Ruhe fin den konnte, so willkommen wie die Tragbahre es an jenem fernen Morgen gewesen war. Ihre Mutter versammelte die Hauptpersonen für die obligatorischen Fotografien um sich. Ein wieselflinker Mann arrangierte Lampen
und Menschen, manövrierte sie dann durch die vorgeschriebenen Konfigurationen der Familie, steife Gruppenaufnahmen, Nahauf nahmen mit statischem Lächeln. Obwohl dies das am wenigsten natürliche Ereignis von allen war, fühlte Claire sich davon erhoben, einge hüllt in den gedämpften Schein von Atelier lampen, in einer seltsamen Weise imstande, sich selbst und alle anderen wie von dritter Warte aus zu sehen, als ob sie für alle Zeit fi xiert wären. Ihre Mutter brachte einen Toast auf das Brautpaar aus und hielt ein Glas mit geheimnisvoll wirkkräftigem Punsch in die Höhe: »Auf eure Zukunft, liebe Kinder!« Etwas schwappte über den Rand des hocherhobenen Glases, wurde zu bernsteinfarbenen Tropfen, und der flinke Fotograf hielt sie in einem Schnappschuß fest – kleine Bernsteinkugeln, die im schräg einfallenden gelben Sonnen schein hingen und durchsichtig glänzten, zu ihrer Mutter nicht ganz vornehmer, gaffender Überraschung. Prof. Hampton trat auf sie zu, lächelnd, das Gesicht gerötet, entweder vom Champagner oder der Peinlichkeit seiner Pflicht. »Ich freue mich darauf, Sie wieder in der Abteilung zu haben«, sagte er mit erzwungener Leutselig keit. »Dies alles war das pièce de resistance für
ein wahrhaft unglaubliches Jahr.« Sie lächelte und antwortete mit einer bedeu tungslosen Höflichkeit. Vielleicht würde sie noch ein Jahr an der Universität Boston aus halten, aber eher wollte sie verdammt sein, als noch länger unter Hamptons Fuchtel zu blei ben. Wenn er nicht ging, würde sie es tun. Aber das war ein anderer Kampf, sagte sie sich, für eine spätere Zeit. »Ich glaube, ihr solltet euch für euer Flugzeug umziehen«, sagte ihre Mutter. Die Hochzeits gäste wirbelten um sie her, Stimmen, Geläch ter, eine glückliche Fülle… sie wollte nicht ge hen. Sie wollte sich an diesen Nachmittag klammern und ihn genießen, einen Augen blick, von dem sie niemals geglaubt hatte, daß er je kommen würde, den sie sowieso mehr gefürchtet als ersehnt hatte. Aber es war alles gut ausgegangen, sie hatte das jenseitige Ufer erreicht, und die Zeit brauchte nicht stillzu stehen. »Ja, es ist Zeit«, sagte John neben ihr. Der Sommer hatte sich durch die Marienfä den des New Yorker Frühlings gedrängt und den Nachmittagen eine drückende, bleierne Hitze gebracht. Sie machten das Abendessen zum gemütlichen Mittelpunkt des Tages und
verbrachten die heißesten Stunden in ihrem Zimmer im Astor, wo sie die Zeit in einem ero tischen Dunst vertändelten. Eine Woche verging, ohne daß sie das Gefühl hatten, es sei Zeit vergangen, vielmehr war es wie die gleichmäßige Bewegung eines Flusses, die endlos ziehende Strömung, die den Fluß den noch nie veränderte. Sie hatten ihr Ziel niemandem verraten. Johns Vater hatte sie in einem Wagen, der mit Rasierwasser und Parfüm besprenkelt und mit NEUVERMÄHLT-Schildern verziert war, zum Flughafen gebracht. Am Callahan-Tunnel zahlte der Fahrer vor ihnen die Gebühr für sie, hupte und winkte ihnen zu. Johns Vater hatte ihnen mit dem Gepäck geholfen und John dann zum Abschied einen festen Händedruck von Mann zu Mann gegeben. Im Flugzeug stimmten sie beide darin überein, daß der Empfang wundervoll gewesen sei, und tatsäch lich bedauerten sie, daß sie ihn vorzeitig hat ten verlassen müssen. Die umfassende, geradezu verschwenderische Geschäftigkeit New Yorks verschlang sie. Sie besuchten Kunstausstellungen, aßen gut, sa hen das Erfolgsstück der Saison: Ich würde, wenn ich könnte, aber ich kann nicht, also werde ich nicht. John fand es gut, Claire nicht.
Sie verbrachten einen Vormittag in dem neuen Vergnügungspark zwischen der 130. und 142. Straße. Es war alles aufwendig und kunstvoll gemacht, ein bunter Karneval, der wie aus der Phantasie eines Künstlers in die Mitte einer Grünfläche von der Ausdehnung eines Blocks gepflanzt war. Die kleinen Hügel und Senken gemahnten Claire an einen Golfplatz, und man konnte nicht mehr sehen, daß sich darunter Schutthaufen von Mietshäusern verbargen, die einst hier gestanden hatten. Zwei Wolken kratzer darstellende Kulissen ragten über den Verkaufsbuden und Fahrgeschäften, dienten als Blickfang für eine furchteinflößende Bahn, die im Volksmund als Das Tier mit zwei Rü cken bekannt war. Claire fuhr einmal mit und kam blaß und zitternd heraus. Die Sensation kam, als sie an diesem Abend in ihrem Hotelzimmer lagen und Claire keuchend aus dem Schlaf auffuhr. »John, ich… ich…« Er wachte auf und begriff sofort. Lange hielt er sie in den Armen, streichelte sie und hörte zu, was sie an zusammenhanglosen Vorstel lungsbildern bedrängt hatte. Das Hinabstür zen der Achterbahn verschmolz mit dem bau melnden, schreckenerregenden Abstieg durch den Schacht. Und ihr panikartiger, pfeifender
Absturz endete in einem Maul, dem klaffenden Loch, das von glänzenden Hörnern bekrönt war und brüllend feurigen Atem schnob, die Zähne scharf und reißend, glutäugig und er füllt von verzehrender Wut. »Solche Träume werden dich noch eine gute Weile plagen«, sagte er leise. »Aber mit der Zeit werden sie vergehen. Ich hatte sie auch.« »Wirklich?« »Natürlich.« »Du hast es nie gesagt.« »Für uns schickt es sich nicht. Es ist der Preis, den man dafür zahlen muß, daß man einen Pe nis hat.« Sie lachte. »Idiot!« »Nur soweit es dich betrifft.« Am nächsten Tag lud sie der Vorsitzende der New Yorker Sektion der Amerikanischen Phy sikalischen Gesellschaft zum Essen in ein neu es vegetarisches Restaurant ein, dessen Aus stattung in opulentem Gegesatz zu dem sparsamen Menü stand. Claire erfuhr, daß das Lokal Geschäftsleuten eine Gelegenheit bot, sich mit einem moralisch erhebenden Essen zu kasteien. Jedes bißchen Gemüse wurde mit einer schwungvollen Verbeugung serviert, als ob es ein neuer Gang wäre. Beim Vorgericht – einem hühnchenförmigen Ding aus zerdrück
ten Nüssen – fragte der Vorsitzende John, ob er einverstanden wäre, wenn im Anschluß an den Vortrag, zu dem man ihn eingeladen hatte, eine Pressekonferenz stattfinden würde. »Ach nein.« »Sie würde nicht sehr lange dauern müssen«, sagte der andere besorgt. »Gut. Führen wir das zur asymptotischen Grenze von überhaupt nicht«, erwiderte John fröhlich. Am Nachmittag, während sie wartete und John in einem Nebenraum seine graphischen Darstellungen ordnete, schweifte Claire unter den Physikern umher. In mehreren großen Räumen waren Korridore von Schautafeln aufgebaut, und an jeder waren Schriften und graphische Darstellungen befestigt. Davor standen Männer und Frauen wie Basarhändler, eingerahmt von den Schriften, die sie verfaßt hatten, beantworteten Fragen, verteilten Vorabdrucke und verteidigten ihre Ideen. Das ganze hatte wenig gemein mit den Zusammenkünften von Archäologen, die ge wöhnlich lange Vorträge hielten, die sie in ab gedunkelten Räumen mit Diapositiven illus trierten und in denen Fragen nur kurz am Schluß beantwortet wurden. Dieses Platz hirsch-Verhaltensmuster der Vortragenden,
die ihre Position hinter einem erhöhten Lese pult hinaustrompeteten, hatte sie immer irri tiert. Die Physiker mit ihren anspruchslos aufgemachten Schriften und Tafeln, die sie of fen zur Schau stellten, um ein Publikum anzu locken, schienen in dieser Hinsicht aufrichti ger und demokratischer als die Humanisten. Johns Vortrag wurde gut aufgenommen. Er sprach mit einem deutlichen Südstaatenakzent und erläuterte in knapper Form die wesentli chen Punkte seiner Darstellungen, die bereits von Gleichungen eingerahmt waren. Er hatte seine Annäherung an das Problem der Singu laritäten mit Hilfe mathematischer Einheiten eigener Erfindung formalisiert, deren schwin delerregende Kompliziertheit von einer ver einfachten Notation Lügen gestraft wurde. Sie hatte eine Informationsschrift über diese ver einfachten Symbole, die als »Bis hop-Funktionen« bezeichnet wurden, draußen in der Vorhalle gesehen; auch hier hatte die Mundpropaganda die für jede Wissenschaft notwendige Armee von Pedanten und Kleinig keitskrämern angezogen. Die wiedervereinten Singularitäten waren in die Staaten zurückbefördert worden, isoliert gegen Stöße jeglicher Art und zusätzlich fest gehalten von überlappenden magnetischen
Systemen. Ein paar Monate des Studiums am MIT hatten einige ihrer Eigenschaften geklärt, doch blieb die Frage nach der Stabilität der Anordnung. Johns mathematisches Modell war eine vereinfachte Annäherung, die meh rere lokale Einflüsse, wie denjenigen der Erdschwere, außer acht ließ. John und Zaninetti hatten sich mit der Vervollkommnung des Modells bemüht, mit begrenzten Ergebnissen. Das ärgerliche Problem der Stabilität wurde schließlich bis hinauf vor die Nationale Sicherheitsagentur gebracht. Niemand wußte genau, wie gut die magnetische Falle war. John und Zaninetti waren ziemlich sicher, daß die gepaarten Singularitäten keine Gefahr dar stellten, weil sie keine Bindeenergie mehr aufzubieten brauchten. »Sie sind ungefährlich wie zwei gewöhnliche Steine«, hatte John bei einer Geheimsitzung in Washington erklärt. Die Nationale Sicherheitsagentur war für weitergehende Maßnahmen. Sie ordnete an, daß die magnetischen Fallen verbessert wer den sollten, indem man sie in eine zusätzliche Schicht stärkerer, eng angeordneter Elektro magneten bettete. Kaum war dies geschehen, ordnete sie an, daß weitere Forschungsarbei ten in dem erst vor kurzem fertiggestellten Weltraumlabor ausgeführt werden sollten.
Von den konsultierten Teilchenphysikern hielten die meisten diese Maßnahme für unnö tig und lästig, gab es doch keinen Anhaltspunkt dafür, daß das Paar ausbrechen würde, und bessere Zugänglichkeit würde die Forschungen beschleunigen. Keines dieser Argumente ver mochte die NSA zu überzeugen. Der Start der Weltraumfähre war eine Woche zuvor erfolgt, und gegenwärtig wurde die vielfach verpackte Sendung langsam an das Weltraumlaborato rium herangeführt. Carmody hatte sich für diese Vorsichtsmaß nahmen eingesetzt. Durch den griechischen Zwischenfall war er zu seinem Mißvergnügen erstmals in seiner Laufbahn in die Schlagzei len geraten. Insgesamt war Claire jedoch überrascht, wie wenig internationales Aufse hen der Angriff erregt hatte. Die NSA war be strebt, den Vorfall herunterzuspielen, die mi litärische Führung hielt sich ohnedies bedeckt, und die Griechen zeigten, nachdem sie die USA der imperialistischen Aggression und der völ kerrechtswidrigen Willkür bezichtigt hatten, offenbar kein Verlangen, ihre Niederlage hin auszuposaunen. Sie hatten durch italienische Vermittlung einen unsicheren Waffenstill stand mit den Türken geschlossen, und noch immer drohte ein Wiederaufflammen der
kriegerischen Auseinandersetzungen, doch gaben beide Parteien sich einstweilen damit zufrieden, ihre Wunden zu lecken und Wort kanonaden abzufeuern. Gegenwärtig galt ihre Hauptsorge der Beschaffung modernerer Waffensysteme aus welchen Quellen auch im mer, um darauf vorbereitet zu sein, was viele Beobachter als die zweite Runde voraussagten. Der Vortragssaal war gut besetzt, und der Applaus dauerte ungewöhnlich lange für ein akademisches Publikum, wie Claire meinte. Sie und John gingen bald darauf. Am Eingang wurden sie von drei Reportern gestellt, von denen einer mit einer Videokamera ausgerüs tet war. John machte abwehrende Handbewe gungen. Der Mann, der die Videokamera im Schulteranschlag hatte rief: »Dr. Bishop! Dr. Anderson! Darf ich Ihnen nur eine Frage stel len?« »Das haben Sie gerade getan«, erwiderte Claire, und John geleitete sie schmunzelnd hinaus in Manhattans stachelige Hitze. Sie schlief unruhig und erwachte rasch, als aus dem Badezimmer würgende Geräusche kamen. Das Gurgeln und Ächzen hallte ver stärkt von den Fliesen wider, und in jäher Angst fuhr sie im Bett hoch. John lag auf den
Knien, das Gesicht war rot und verzerrt, die Augen glasig. »Mein Gott! Bist du…?« Er schüttelte matt den Kopf und erbrach wieder. Nach ihrer Rückkehr aus Griechen land war er eine Woche lang so gewesen. Die Strahlenfachärzte am amerikanischen Mili tärkrankenhaus in Wiesbaden sagten, sie könnten nicht ohne weiteres schätzen, wieviel Strahlung er abbekommen habe; anders als Arditti und seine Leute hatte er kein strah lungsempfindliches Plättchen getragen, aus dem sich die Dosis hätte ablesen lassen. Das Erbrechen und die abnehmende Zahl der roten Blutkörperchen deuteten auf eine mäßige Kontamination hin, aber in diesen Dingen gab es keine Gewißheit; sie schwammen in einem grauen Grenzbereich vieler Unbekannter. »Alles… draußen«, keuchte er. Tränen rollten ihm über die Nase, der Mund schnappte nach Luft. »Du meinst…« Sie wagte nicht weiterzuspre chen, wußte nicht, wie sie der Angst Ausdruck geben sollte, die ihr das Herz abdrückte. »Dieses verdammte Brathuhn zum Abendes sen. War verdorben. Ich merkte gleich, daß etwas damit nicht in Ordnung war.« Diese Worte stießen ein Fenster in den Son
nenschein auf; sie seufzte, merkte, daß sie den Atem angehalten hatte. »Bist du… sicher?« Er stand wankend auf. Seine Haut, schweiß naß und blaß von einem nördlichen Winter, gewann im Schein der Leuchtstoffröhre und ihrer Reflexe von den Kacheln eine elfenbein farbene Totenblässe. »Wissenschaft ist nicht Gewißheit, weißt du«, sagte er mit einem ge knickten Lächeln. »Es sind nur Wahrschein lichkeiten.« Die Ärzte hatten ihn vielerlei Untersuchungen unterzogen, Proben genommen und sich we gen des unbekannten Strahlungsspektrums der Singularität gesorgt. Ihre bruchstückhaf ten Ungewißheiten hatten schließlich, aufeinandergestapelt, ein wankendes Vorher sagegebäude ergeben. Die unmittelbaren Aus wirkungen würden wahrscheinlich kurzfristig sein und mit dem normalen Stoffwechsel aus geschieden werden. Langzeitschäden waren schwieriger einzuschätzen. Sicherlich bestand ein erhöhtes Krebsrisiko. Wenn bestimmte Symptome wiederkehrten, war die Prognose nicht gut. Sie biß sich auf die Lippen und beschloß nichts zu verbergen und ihre Befürchtungen auszusprechen. »Wann hast du zuletzt eine dieser Blutuntersuchungen machen lassen?«
»Erst vorige Woche.« Er beugte sich über das Waschbecken, ließ kaltes Wasser in die Hände laufen und warf es sich ins Gesicht. Er schnaubte. »Die Zählung war normal. Äh! Ich habe den Geschmack noch immer im Mund.« »Das ist… das ist gut.« Es schien verdächtig spät, um vom Abendessen Übelkeit zu verspü ren. »Ich meine…« Er lächelte. »Ich weiß. Frag mich ruhig, Clai re! Lade deine Gefühle auf mich ab! Das möchte ich.« »Ich…« Sie zwinkerte Tränen zurück. »Dan ke.« Sie legte ihm die Arme um die Schultern. »Laß mich erst die Zähne putzen«, sagte er, »sonst wirst du mich am Morgen weniger lie ben.« Sie lächelte. »Komm zu Bett, und ich mache dir ein Geschenk.« »Oh, schon als Kind mochte ich immer Ge schenke. Sag mir, was es ist. Kann ich es rei ten?« »Soviel du willst.« Zwei Stunden später läutete das Telefon. Als Claire von einem Ort warmer Geborgenheit emportauchte, sprach John in den Hörer. »Verstehe. Welche Art von Bewegung?« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und blin
zelte zur Uhr. Es war vier Uhr früh. »Also wirken die gepaarten Singularitäten gemeinsam? Es treibt sie nicht auseinander?« Er preßte die Lippen zusammen und furchte nachdenklich die Stirn. »Gut, was immer geschieht, stört wenigstens nicht die Stabilität des Paares. Aber was könn te sie dazu veranlaßt haben? Ich meine, sie sollten in dem Raum herumschweben, genau so wie jede gewöhnliche Materie.« Sie entnahm seinen Worten, daß sie über die Singularitäten oben im Weltraumlabor spra chen. Die Fähre mußte inzwischen angedockt haben. »Nein, ich verstehe es nicht. Kann man sie nicht unter Kontrolle halten? Daran hindern, daß sie gegen die Wand prallen?« Er lauschte, schüttelte den Kopf. »Nun, mir fällt im Augenblick auch nichts ein. Meine Gü te, wissen Sie, wie spät es ist?« Wieder lauschte er, diesmal längere Zeit. »Nein, gewiß, ich kann darüber nachdenken, aber ich werde nicht weiterkommen.« Mehr Hin und Her. Schließlich: »Nein, Ser gio, ich fürchte nicht.« Er legte auf. »Sergio? – Was hatte er?« fragte Claire. »Die Besatzung schaffte die Singularitäten ins Laboratorium, oder vielmehr, sie versuchte es
zu tun. Sobald die Singularitäten die Freiheit hatten, sich zu bewegen, begann die Vorrich tung, in der sie sind, an den Wänden des La bors festzukleben.« »Was?« »Soweit ich seinen Worten entnehmen konn te, hat sich die gesamte Anordnung – Singula ritäten, magnetische Fallen, Isolierungen, alles miteinander – an der Innenwand festge macht.« »An der Wand? Es bewegt sich nicht?« »Es sei zur Ruhe gekommen, sagt er. Es hat sich an der Wand festgesetzt, die der Erde am nächsten ist.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Sergio sagt, Carmody habe ihn angerufen. Er wußte nicht, wo er uns er reichen konnte, also dachte er sich, daß Sergio es wissen könnte.« Claire runzelte die Stirn. »Sergio muß meine Mutter angerufen haben.« »Richtig. Carmody möchte, daß ich gleich nach Florida fliege. Das nächste Shuttle startet in drei Tagen.« »Was?« Claire saß aufrecht, alarmiert. »Sie wollen dich in die Umlaufbahn schicken?« »Bis hinaus zum Weltraumlabor.« »Um Experimente zu überwachen und für sie
auszuknobeln.« »Richtig. Bloß gehe ich nicht.« »Ich will auch nicht, daß du es tust.« »Während meiner Flitterwochen? Kommt nicht in Frage!« Sie redeten noch weiter, schläfrig, und John schlief noch vor Claire ein. Doch zwei Stunden später läutete das Telefon wieder, und wieder nahm John den Hörer ab. Als sie munter wur de, sah sie, daß er bereits wach gewesen sein mußte, denn er hatte einen gelben linierten Block auf dem Schoß und bedeckte ihn mit den Kringeln seiner Gleichungen. »Ja, Madam, ich weiß das, Madam, aber…« Eine Pause. »Ich bin gerade zu einer ziemlich ähnlichen Schlußfolgerung gelangt. Beide Singularitäten müssen von einer sehr weit wirkenden Kraft angezogen werden. Sie werden zu etwas auf der Erde gezogen. Oder in der Erde, das ist in diesem Fall das gleiche.« Eine weitere Pause. »Selbstverständlich legt das ein weiteres Zu sammenwirken nahe, etwas, was wir noch nicht verstehen. Sie werden zur Erde zurück gezogen, das ist richtig, darum haften sie an der inneren, der Erde zugekehrten Wand und…«
Die Stimme am anderen Ende wurde lauter. »Ja, ich stimme Ihnen darin zu, daß es poten tiell von großer Bedeutung sein kann. Nein, ich sehe keine unmittelbaren Implikationen, vor läufig nicht…« Mehr Argumente vom anderen Ende. »Aber ich bin auf meiner Hochzeitsreise, um Himmels willen…« Claire kuschelte sich an ihn. In seine Stim mung kam Spannung. »Ich fürchte nein, Ma dam. Das werde ich nicht tun.« Er preßte die Lippen zusammen, während er lauschte, und ein Zug unerschütterlicher Ent schlossenheit kam in die knotig hervortreten den Backenmuskeln. »Ich bin früher schon hier gewesen. Nein danke.« Er lauschte nur kurze Zeit, dann sagte er mit erhobener Stimme: »Ich sagte nein, und dabei bleibt es!« worauf er den Hörer auf die Gabel knallte. Dann blies er dramatisch die Backen auf und schnaufte aufgebracht. »Wer war es diesmal?« »Der Präsident.« »Der Präsident des MIT? Warum sollte…« »Nein, der Vereinigten Staaten.« »Was?« »Ich sagte ihnen doch, daß ich nicht gehen würde.«
»John… du… und da hast du einfach aufge legt?« »Ja.« Er dachte einen Moment lang nach und starrte in die Ferne. »Ja, das habe ich tatsäch lich, nicht?« Er schmunzelte vergnügt. »Sie wollen sich einfach nicht mit einem Nein als Antwort abfinden. Eine willensstarke Dame. Aber was hätte ich ihr noch sagen sollen?« Obwohl sie eine weitere halbe Stunde lang darüber diskutierten, sah John keinen Grund, anderen Sinnes zu werden. Er blickte ver drießlich ins Leere und dachte nach. »Weißt du«, sagte er schließlich, »es muß so sein, daß diese Zwillinge nicht die Grundein heit sind, das fundamentale gebundene Sys tem. Unsere Gleichungen besagen, daß sie es sind, aber diese Anziehung zur Erde bedeutet, daß wir zu sehr vereinfacht und zuviel voraus gesetzt haben.« »Dann ist deine Theorie falsch?« Er grinste. »Die Tragödie der Wissenschaft ist die herzlose Ermordung schöner Theorien durch häßliche Tatsachen.« »Wie falsch?« »Das läßt sich noch nicht beurteilen. Seit Griechenland laufe ich herum wie ein Huhn, dem man den Kopf abgehackt hat. Keine Zeit zu denken. Aber eine Sache habe ich mir durch
den Kopf gehen lassen: Sergio und ich haben eine Theorie über Singularitäten in flachem Raum entwickelt, ohne die schwerkraftbe dingte Krümmung der Raumzeit insgesamt. Über Entfernungen, die so groß sind wie der Abstand des Weltraumlabors, ist das keine gu te Annäherung. Die Veränderung in der von der Erdgravitation hervorgerufenen Krüm mung ist beträchtlich. Wir sollten das mit ein beziehen.« »Wie schwierig ist das?« »Es sollte nicht so überaus schwierig sein. Vielleicht wird es die grundlegenden Glei chungen hinreichend verändern, daß dabei ein neuer Kraftbegriff herausspringt.« »Was zieht das Paar zur Erde?« »Weitere Paare. Oder vielleicht einzelne, ungepaarte Singularitäten. Ich wette, dies ist das erste Mal, daß ein Paar für längere Zeit von der Erdoberfläche entfernt worden ist. Wenn es eine Anziehungskraft zwischen allen Singu laritäten dieses Typs gibt, einen Aspekt des ganzen Gesetzes, den wir übersehen haben, dann werden die Singularitäten auf Erden zur Oberfläche heraufgezogen und versuchen den Satelliten zu erreichen.« »Von unten?« »Wenn es dort unten welche gibt, die sich
durch den Untergrund wühlen. Und es muß welche geben. Zugegeben, es erfordert eine enorm hohe Energiekollision, um diese Dinge entstehen zu lassen. Aber Sergio integrierte die Gleichungen für die Rate kosmischer Strahlungsereignisse, die zur Entstehung mas siver Singularitäten wie der unsrigen führen könnten, und er berechnete danach, daß im Innern des Erdkörpers wenigstens ein paar hundert entstanden sein müßten, seit der Pla net sich bildete. Ausbrüche kosmischer Strah lung erreichen die Erde, treffen auf Atomker ne, und es entsteht eine Singularität.« »Im Erdinnern?« »Nun, mit Ausnahme deines toten Königs hat noch niemand eine an der Erdoberfläche ge funden. Die übrigen müssen in der Tiefe um herwandern.« »Dann könnten sie jederzeit hervorkommen. Paarweise…« »Richtig. Oder einzeln.« »Das wäre schrecklich.« »Sicher.« »Was können wir tun?« »Ich weiß nicht recht. Ich hatte mit Möglich keiten wie über weite Entfernung wirkenden Kräften nicht gerechnet. Die Gleichungen…« »Glaubst du, du könntest eine Methode fin
den, sie zu, nun, zu befrieden? Ein kompli ziertes Arrangement, ein neuer gebundener Zustand?« John lächelte. Sie kannte inzwischen den Ausdruck, der eine Wendung nach innen sig nalisierte. Er erinnerte sich, wie das pfeifende, kreischende Ding Kontos verzehrt hatte, und an das Vermächtnis, das es ihm in seinem ei genen Körper und Blut hinterlassen hatte und das sein weiteres Leben mit Ungewißheit überschattete. Für sie beide war jene Nacht das Ende des langen Sommers der Jugend ge wesen, ein Ende der unbekümmerten Selbst sicherheit – ein Verlust, den sie ohne wirkli ches Bedauern trugen, denn beide spürten jetzt ein neues Bedürfnis, das nur im Mitei nander befriedigt werden konnte. Aus dem behaglichen kleinen Wirkungskreis ihres aka demischen Lebens waren sie in die rauhe Welt geworfen worden und hatten am heulenden Abgrund gestanden. Doch lag gerade darin ei ne eigentümlich reife Freiheit, eine beruhi gende bittersüße Freude. Ihr Leben wurde jetzt von erfrischenden Unbekannten berührt, zeigte sich, wie die Wissenschaft selbst, provi sorisch und elementar und in Entwicklung be griffen. »Klar«, sagte er. »Eine Zeitlang.«
EIN TECHNISCHES
NACHWORT
Unsere Beziehungen als Experimentatoren zur theoretischen Physik sollten denen zu ei ner schönen Trau gleichen. Wir sollten dank bar alle Gunstbezeigungen annehmen, die sie uns erweist, aber wir sollten nicht zuviel er warten noch alles glauben, was gesagt wird. LEV ARTSIMOVICH Schreibt man romanhaft über Wissenschaft, so ist es schwierig, sich in die Bereiche hoher Theorie zu erheben, ohne ein Nasenbluten zu riskieren. Ich habe dieses Buch in einer spiele rischen Stimmung geschrieben, als wollte ich sagen: Seht nur, wie sonderbar die Welt sein könnte! Dieses Nachwort füge ich an, um dem Leser, der ein bißchen mehr wissen möchte, die wesentliche Frage zu beantworten: wie imaginär ist dieser Drache, den ich in eine re lativ reale Wirklichkeit eingeführt habe?
Quarks in einem menschlichen Maßstab
Eine entscheidende Eigenschaft der Singula rität ist, daß die zwischen ihr und ihrem Zwil ling wirkende Kraft konstant ist, unabhängig von der Entfernung. Sie ist genauso stark, wenn beide 5000 Kilometer getrennt sind, wie wenn sie bloße Zentimeter auseinanderliegen. Dies ist für alltägliche Objekte allerdings selt sam, aber durchaus nicht in der Welt der Teil chenphysik. Im Jahre 1964 wurden Hunderte von neuen Teilchen entdeckt. Sie alle waren der »starken Wechselwirkung« unterworfen, der Kraft, welche die Protonen in einem Atomkern zu sammenhält. Murray Gell-Mann und George Zweig wiesen darauf hin, daß dieser Zoo von verschiedenen Teilchen aus mehr fundamen talen Bausteinen gemacht sein könnte, die sie Quarks nannten. Nur drei Quarks, in geeigne ter Weise kombiniert, würden die Hunderte von scheinbar verschiedenen Teilchen erklä ren. Dies war ästhetisch erfreulich, und je dermann fand Gefallen an der Idee. Sie war auch erfolgreich. Die Theorie pro phezeite Partikel, die bisher noch nicht gese hen worden waren, und Experimentatoren fanden sie dann auch, mit all den vorausge sagten Eigenschaften. Es bestand allerdings ein ernstes Problem, das sich um das Paulische
Ausschließungsprinzip dreht. Einfach ausgedrückt, besagt dieses Prinzip, daß sich in einem abgeschlossenen System wie im Atombau niemals zwei Elektronen im ge nau gleichen Zustand befinden können. Alles, was ein Teilchen bestimmt, ist ein Satz von Quantenzahlen, die Energie, Impuls, Umdre hung und andere Eigenschaften beschreibt. Dies bedeutet, daß keine zwei Elektronen auf der Welt genau dieselben Zahlen haben kön nen. Da sie in wenigstens einer Quantenzahl differieren, können sie in verschiedenen Ato men ausgemacht werden; das kommt Paulis Erfordernissen für nahezu alle Elektronen nach. Für Elektronen in ein und demselben Atom führt das Prinzip jedoch ein sehr wichti ges Element neuer Physik ein. Ein Heliumatom beispielsweise hat zwei Elektronen. Das Prinzip, das sehr gut verifi ziert ist, besagt, daß sie, da sie viele Eigen schaften gemeinsam haben (Masse, Energie, Ladung, Orbitalimpuls) in ihrer Umdrehung differieren müssen. Und tatsächlich tun sie das. Betrachtet man die nächsthöhere Ebene in der periodischen Tabelle, so findet man beim Lithium, daß von seinen drei Elektronen zwei genau wie die eines Heliumatoms sind, das
dritte aber einen höheren Energiezustand einnehmen muß; es kann keines der anderen nachahmen. Man kann auf diese Weise alle Elemente auf bauen, berücksichtigt man das Erfordernis, daß jedes hinzugefügte Elektron sich unter scheiden muß. Das erklärt den Unterschied in der Chemie zwischen Atomen und damit die gesamte periodische Tabelle. Dies war das re volutionäre neue Verständnis, das die Quan tenmechanik mit sich brachte. Quarks laufen dem Pauli-Prinzip zuwider, weil man scheinbar identische Quarks nicht in einem größeren Teilchen unterbringen kann. Doch gab es Teilchen, die solch eine Erklärung verlangten. Um die verwirrenden Schwärme beobachteter Teilchen vollständig zu erklären und dennoch dem Pauli-Prinzip zu gehorchen, mußten die Physiker eine neue Quantenzahl einführen, die eine zusätzliche Eigenschaft, ›Farbe‹ genannt, beschrieb. Eine vielleicht un glückliche Wortwahl, weil diese Facette nichts damit zu tun hat, was wir gemeinhin unter Farbe verstehen. Dies läßt den Zusammenschluß von Quarks zu einem größeren Partikel zu und bestimmt seine Eigenschaften, denn die Quarks konnten in ihrer Farbe-Quantenzahl immer differieren.
Zuerst waren die drei Farbwahlmöglichkeiten ›rot‹, ›weiß‹ und ›blau‹. Einige Europäer wie sen mit Recht darauf hin, daß Weiß keine Far be ist und schlugen eine Veränderung zu ›gelb‹ vor. Ich habe mich immer gefragt, ob sie die sen Einwand insgeheim deshalb vorbrachten, weil es die Farben in der US- und der Briti schen Flagge sind, nehme aber an, daß dies ein unfachmännischer Verdacht ist. Auch ›gelb‹ wurde jedoch nicht von allen gebraucht, aus dem einfachen Grund, daß Grün bei Vorträ gen, in denen ein Episkop verwendet wird, besser zu sehen ist. Diese farbkodierte Theorie funktionierte einwandfrei, und mit ihrer Hilfe ließen sich erfolgreich Teilchen voraussagen, die dann auch beobachtet wurden. Es ist interessant, daß alle beobachteten Teilchen »farblos« sind – die drei Farben ergeben zusammengenom men keine Farbe. Nun schien dies alles wie ei ne Buchhaltungshilfe, und viele Physiker be trachteten ›Farbe‹ und sogar die Quarks selbst als mathematische Krücken, bloße Rezepte. Erfolgreiche Voraussagen in einer Vielzahl von komplizierten Experimenten haben jedoch die meisten Physiker überzeugt. Aber eine ver drießliche Frage stellte sich immer wieder: Warum sehen wir keine einzelnen, nackten
Quarks? Auch hier wieder war ›Farbe‹ die Rettung. Es stellte sich heraus, daß sie eine ebenso grund legende Facette der Teilchen ist wie ihre La dung. Wir alle wissen, daß Ladung den Teil chen die elektrischen und magnetischen Kräfte mitteilt, deren Wirkungsweise wir täglich in allem sehen, angefangen von Toaströstern bis zum Blitzschlag. Farbe ist jedoch subtiler. Sie regelt die ›starke‹ Kraft, die winzige, subato mare Teilchen zusammenhält. Sie ist der Un terbau unserer ganzen Welt, und wir verlassen uns blindlings darauf, daß sie die Materie zu unserem Wohlergehen im Innersten zusam menhält. Der Unterschied ist, daß elektrische Kräfte die Ladung nicht auszutauschen brauchen, ob gleich sie sie gebrauchen. Wenn ein Radiosig nal von einem Sender zum Empfänger geht, übermittelt es keine Ladung. Statt dessen bringt es die Elektronen in der Antenne in Schwingungen, und der Empfänger verstärkt diese Schwingungen so, daß der Inhalt der Sendung herausgezogen werden kann. In der drahtlosen Sendung gibt es keine Nettoladung. Farbe stellt höhere Anforderungen als La dung. Sie muß von einem Punkt zum anderen fließen, bevor die starke Kraft wirken kann.
Dieser einfache Unterschied macht es möglich, freie Quarks zu sehen. Elektronen, die eine Ladung haben, ergeben einfache Felder. Wir können diese Feldlinien vom Elektron in ihrer sphärischen Ausbrei tung zeichnen.
Die Stärke der elektrischen Kraft ist propor tional zu der Zahl dieser Linien, die eine gege bene Fläche kreuzen. Weit entfernt vom Elektron gibt es weniger Linien in einer gege benen Nachbarschaft, also ist die Kraft schwächer. Genauso wirkt die Schwerkraft. Das erklärt, warum die nahe Erde uns weit stärker anzieht als die Sonne es tut, obwohl diese viel mehr Masse besitzt. Zwei benachbarte Elektronen haben Feldli nien, die sie miteinander verbinden und von einem zum anderen führen:
Wieder bestimmt sich die Stärke der Kraft aus der Zahl der Feldlinien, die eine gegebene Fläche kreuzen. Betrachten wir nun zwei Quarks, Q und Q’, die Farbe, aber keine Ladung haben. Die Farbe muß stetig zwischen den Quarks fließen, wie eine Strömung. Wir können eine Analogie her stellen, indem wir sagen, daß dieser Farbfluß sich verhält wie der elektrische Strom, der Magnetfelder erzeugt. Wir können uns Drähte zwischen den beiden Quarks vorstellen, die elektrischen Strom leiten. Diese erzeugen Magnetfelder, und die Felder drücken die Drähte enger zusammen (der »Quetscheffekt« genannt.) Die Drähte drängen sich enger zu sammen und ergeben eine geschlossene Gruppe von Feldlinien:
Nun ist die Zahl der Linien, die eine gegebene Fläche kreuzen, größer als in dem elektrischen Beispiel. Tatsächlich ist die Zahl konstant, da die Linien sich entlang der Achse zwischen den Quarks zusammendrängen. Da die Zahl der Feldlinien, die eine Fläche überspannen, kon stant ist, muß auch die Kraft zwischen den Quarks konstant sein, unabhängig davon, wie weit sie voneinander entfernt sind. Angenommen, wir versuchen zwei Quarks auseinanderzuziehen. Wir arbeiten ange strengt gegen die Kraft, und es wird nie leich ter, weil die Kraft sich nicht verringert, so weit wir die Quarks auch voneinander entfernen. Tatsächlich ist es nicht bloß schwierig, zwei Quarks zu trennen, so daß wir sie sehen kön nen; es ist unmöglich. All dieses Ziehen fügt dem System Energie hinzu, bis es schließlich genug gibt, mehr Quarks zu erzeugen – ein weiteres Q-Q’-Paar, das mir nichts dir nichts aus dem Vakuum er
scheint. Dann zerbricht das Modell der Drähte, und wir haben:
Wieder zwei Paare eng miteinander verbun dener Quarks! Der Versuch, ein Q-Q’-Paar – das wirklich ein Paar ist, bestehend aus einem Quark und einem Antiquark, um es technisch auszudrücken – zu trennen, gleicht dem Ver such, einen Pol eines Magneten zu isolieren. Schlägt man eine Magnetstange entzwei, so erhält man nicht ein ›Nordende‹ und ein ›Sü dende‹, sondern man erhält zwei kleinere Magneten, – und jeder hat zwei Pole. In ähnlicher Weise erhält man durch das Auseinanderziehen von Quarks – etwa durch das Zusammenschießen eines Elektrons und eines Antielektrons, um die Folgen zu be obachten –, Quark-Antiquark-Paare. In einem derartigen Experiment sehen wir scharf ge bündelte Partikelstrahlen in entgegengesetzte Richtungen auseinanderfliegen. Sie begannen als ein einziges Q-Q’-Paar, das wiederum zu einer Menge anderer Trümmer zerfiel. Man kann sich das elektrische Feld als einen Schwarm von ›Photonen‹ vorstellen, die eine
Ladung umgeben. In ähnlicher Weise gibt es um einen Quark einen ›Gluonenschwarm‹. (›Gluon‹, weil sie in starker Wechselwirkung befindliche Objekte fest zusammenbinden; abgeleitet aus dem englischen Verb to glue = kleben: Die Terminologie der Physik ist nicht so hochgestochen, wie mancher denken mag.) Aber Gluone lassen keine Quarks frei werden, wo wir sie sehen können. Oder vielmehr sind sie nicht frei in einem Maßstab, den Menschen sehen können. Die starke Kraft ist so machtvoll, daß Quarks sich nicht weiter als eine unendlich geringe Distanz voneinander entfernen können. So begann ich nachzudenken… Wie, wenn es eine Kraft gäbe, die sehr, sehr schwere Partikel regulierte? Wenn sie schwach genug wäre, würde sie eine Trennung der schweren Teil chen gestatten. War dies möglich?
Quadratische Kräfte in einer runden Welt. Die erste Schwierigkeit stellt sich schon am Anfang ein. Für eine schwache, jedoch quark ähnliche Kraft muß die Masse des Teilchens groß sein – ungefähr eine Tonne. Gleichwohl
ist es ein Elementarteilchen – und die Quan tenmechanik sagt uns, daß Elementarteilchen auch als wellenförmig gedacht werden können. Die Wellenlänge eines Teilchen ist kürzer, je größer die Masse ist. Ein Teilchen von einer Tonne würde eine so kurze Wellenlänge ha ben, daß seine Masse in einen unvorstellbar kleinen Raum zusammengepreßt wäre. Seine Dichte würde so hoch sein, daß an der Ober fläche eine enorme Anziehung durch Schwer kraft entstünde – so stark, daß nicht einmal Lichtstrahlen entweichen könnten. Kurzum, es würde ein Schwarzes Loch en miniature sein. Daraus folgt, daß die Sache sehr exotisch wird. Die Übereinstimmung mit unseren Vor stellungen über Quarks ist nicht von der Hand zu weisen. Es gibt Theorien der Schwerkraft, die anwendbar sein mögen, wenn die Quan tennatur der Materie auf die gleichen Dimen sionen wirkt, wie es die Schwerkraft tut. Diese ›Superschwerkraft-Theorien‹ haben Quanten zahlen ähnlich der ›Farbe‹. Nehmen wir an, die Superschwerkraft sei richtig. Dann könnten Leute wie John Bishop und Sergio Zaninetti durch bekannte Rechen methoden die Quantenzahlen bestimmen. An stelle des langweiligen alten Gesetzes der Schwerkraft käme eine äußerst interessante
Kraft zum Vorschein, die quarkähnliche Ei genschaften hätte. Zuerst wissen John und Sergio nur, daß das Teilchen ungeheuer massiv ist. Dann erkennen sie, daß es die Raumzeit in seiner unmittelbaren Umgebung kubisch ver formt – eine weitere exotische Eigenschaft! Alles in unserer gewöhnlichen Erfahrung ist beherrscht von sphärisch wirkenden Kräften wie der Schwere. Aber dieses Objekt zieht nicht mit gleicher Kraft in alle Richtungen. Wie sind diese Facetten miteinander zu ver einbaren? John erinnert sich seiner Jugenderfahrung mit einer seltenen, wandernden Wasserwelle. Sie war ein ›Soliton‹, eine Wellenerscheinung, die in den Dreißigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt wurde, als man beo bachtete, wie eine sich durch einen Kanal be wegte. Ein solches Soliton ist eine Konzentra tion von Energie, die eingeschlossen bleibt und sich nicht auflöst, so daß ein Soliton seine Größe und Form konstant beibehält. Es ist einfach, Lösungen des Solitonentyps in der theoretischen Physik zu übersehen. Lö sungen, die wellenartige Bewegungen darstel len, sind technisch einfacher zu beschreiben und wurden daher stets bevorzugt. Erst in letzter Zeit haben wir angefangen, uns für die
schwierigen Lösungen zu interessieren, und viele argwöhnen, daß solch exotische Wesen in den Einsteinschen Gravitationsgleichungen lauern. Bisher wurde auf dem Gebiet der Gravitation wenig mit Wellengleichungen gearbeitet. Ob wohl die komprimierten Formulierungen von Einsteins Gleichungen elegant sind, verbergen sie eine verwirrende Komplexität – einen Satz von zehn gekoppelten, nichtlinearen Differen tialgleichungen. Um mit diesen umgehen zu können, nehmen die Mathematiker fast immer sphärische Symmetrie an. Schließlich sind alle Sterne und Planeten sphärische Körper, und vielleicht ist auch das Universum in einem all gemeineren Sinn sphärisch. Die Gleichungen verraten einem nicht, wie sie gelöst werden können. Bisher haben sie einfa che Annahmen wie die sphärische Symmetrie in den resultierenden Objekten belohnt. Aber es ist durchaus plausibel, daß kubische Sym metrie gleichfalls ›natürlich‹ ist und durch die Gleichungen gedeckt wird. Niemand hat die Möglichkeit bisher erkundet. Es gibt keine Hinweise dieser oder jener Art für solche Ty pen von Lösungen, also stellte ich sie mir als gegeben vor. Sie fügten sich gut in die ›Tatsa che‹, daß das Artefakt selbst kubisch war, und
nicht bloß durch eine Laune des Handwerkers, der es machte. John geht von dieser Annahme aus. Die kubi schen Formen, die er findet, erlauben eine Masse von ungefähr einer Tonne. Mathema tisch ergibt sich die Kraft aus einer erhalten den Quantität, die John ›Mode‹ nennt, welcher Begriff eine ähnliche Rolle spielt wie ›Farbe‹ in der starken Kraft. Seine Gespräche mit Sergio enthüllen im weiteren Verlauf die quarkähn liche Natur der Kraft, die er entdeckt hat, aber keiner von beiden nimmt den Hinweis auf. Schließlich sehen sie ein einziges Teilchen. Niemand jedoch sieht nackte Quarks. Beide glauben an einen Fehler, rätseln daran herum. Erst als sie das Artefakt in einem Seil hängen sehen und bemerken, daß es von der Vertika len nach Nordosten abweicht, sehen sie beide die Lösung. Die Kraft ist quarkähnlich, aber so schwach, daß die ›Quarks‹ weit genug vonei nander getrennt sein können, daß sie einzeln gesehen werden. Damit nicht genug, können sie, von ihrer Anziehungskraft bewegt, Wan derungen unternehmen. Nach dem Abweichungswinkel des Seils von der Senkrechten bestimmen sie die Kraft auf ungefähr ein Zehntel der Erdschwere. Die zur Trennung beider Hälften benötigte Energie ist
danach das Produkt dieser konstanten Be schleunigung (0,1 G) mal ihrer Trennung. Um eine neues Paar aus diesen Singularitäten zu machen (die mathematisch unteilbare Punkte sind), sind 2Mc Energie erforderlich. Teilt man diese durch die Trennungsenergie, so stellt sich heraus, daß die Entstehung eines neuen Paares eine Trennung von zehn Lichtjahren erfordert. Dies bedeutet, daß John und Sergio niemals ein neues Paar wie von ungefähr aus dem Nichts auftauchen sehen. Aber die zwei Singu laritäten können sich wieder vereinen, wobei eine Menge Energie freigesetzt wird – viel leicht Hunderte von Megatonnen. In dem Maße, wie John und Sergio diesen Fragen weiter nachgehen, erweist sich die neue Kraft doch nicht als so verrückt. Die Masse der Singularität ist ungefähr eine Ton ne, das heißt, die Kraft zwischen beiden be trägt ungefähr ein Prozent der Kraft zwischen Quarks. So betrachtet, macht die Kraft allein die beiden Theorien nicht so sehr verschieden voneinander; sie unterscheiden sich haupt sächlich in den beteiligten Massen. Dies er laubt, daß die Teilchen auf einer menschlichen Entfernungsskala zu sehen sind. Ein weiterer entscheidender Hinweis für
John war der Umstand, daß die Berührung des Artefakts mit der Hand ein eigentümliches prickelndes Gefühl erzeugte. Es wurde verur sacht von den Vibrationen des Schwerefelds nahe der Singularität und war ein direkter Beweis, daß die Kraft des kubischen Gravita tionspotentials bei weitem die der Nettomasse der Singularität überstieg. Technisch ausgedrückt, übertraf der achtpo lige Begriff in dem Potential (in dem Sinne, daß Kräfte beschrieben werden, die Pole ha ben wie die magnetische Kraft) den einpoligen Begriff (der sphärische Kräfte wie die Schwer kraft beschreibt) um Größenordnungen. Dies konnte nur auf eine verformte Lösung des Solitonentyps zutreffen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Physik, die den Rahmen dieser Erzählung abgibt, nur ein paar Annahmen erforderlich macht, von denen wir keine als falsch kennen: 1. Eine solitonische Lösung der Gravitations gleichungen mit kubischer Symmetrie exis tiert. 2. Die beteiligte Kraft hat eine Quantenzahl, die derjenigen des Begriffs ›Farbe‹ der Quarks ähnlich ist. 3. Sie ergibt eine große Masse (eine Tonne).
4. Die Kraft entspricht ungefähr einem Zehn tel der Schwerkraft an der Erdoberfläche. Ich habe so fair gespielt, wie ich es verstehe – der Rest der Geschichte folgt aus diesen Be dingungen. Aber man beachte, welch ein Reichtum an Umständen aus solch einem scheinbar abs trakten Satz von Annahmen fließen kann! Die menschliche Geschichte beruht auf der An nahme einer ziemlich eintönigen Welt, in der wir alle Regeln kennen. Wird nur ein Aspekt verändert, so gerät unser ganzes Weltverständnis in eine prekäre Schieflage. Mit der Archäologie bin ich in dem Roman sehr viel vorsichtiger umgegangen. Meine ein zige größere Täuschung liegt in der Implikati on, daß in den Grabkammern der mykenischen Griechen Diener geopfert und mit ihren Her ren begraben wurden. Es gibt keinerlei Bewei se für oder gegen diese Praktik, obwohl be kannt ist, daß sie dem griechischen Kulturkreis fremd war. Überhaupt ist diese Annahme für den erzählerischen Gang nicht wirklich notwendig, obwohl sie ihm ein wenig Würze verleiht. Dr. Marc Sher hat mir in zahlreichen Diskus
sionen über die relevanten physikalischen Fragen und insbesondere durch seinen Beitrag zu diesem Nachwort sehr geholfen. Prof. Hara Georgiou, ein griechischer Archäologe, tilgte meine Irrtümer aus einer frühen Fassung des Manuskripts. Ihnen gebührt mein Dank, ob wohl sie selbstverständlich nicht verantwort lich für irgendwelche Fehler sind, die sich bis in die endgültige Fassung gehalten haben. Gregory Benford Athen – Laguna Beach – Kairo März 1984