Das Buch Den Coup seines Lebens glaubt der Londoner Journalist Travis Thomson gelandet zu haben, als er den dunklen Mac...
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Das Buch Den Coup seines Lebens glaubt der Londoner Journalist Travis Thomson gelandet zu haben, als er den dunklen Machenschaften eines Computermagnaten auf die Schliche kommt. Doch die Freude währt nur kurz, denn unvermittelt wird Travis in die pseudo-mittelalterliche Fantasiewelt Samella versetzt. Wer ist dafür verantwortlich? Und was soll er nun tun? Um den »Schlüssel« zurück in seine eigene Welt zu finden, muss Travis eine Reihe von Prüfungen bestehen – und die seltsamen, mitunter völlig durchgeknallten Bewohner Samellas sind ihm dabei nicht gerade eine große Hilfe …
Eines der witzigsten Bücher, die je geschrieben wurden – eine knallbunte Mischung aus Monty Python, Shakespeare und Grimms Märchen, eingebettet in eine mittelalterliche Kulisse, wie es sie so noch nie gegeben hat. »John Brosnans Schreibe ist herrlich schrill – einfach großartig!« The Times
Der Autor John Brosnan, 1947 in Australien geboren, lebt seit langem in Großbritannien und hat sich als Autor etlicher Fantasy- und Science-Fiction-Romane einen Namen gemacht.
JOHN BROSNAN
ANDERWELT ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgaben DAMNED & FANCY HAVE DEMON WILL TRAVEL Deutsche Übersetzung von Thomas Hag
2. Auflage Redaktion: Werner Heilmann & Werner Bauer Copyright © 1995, 1996 by John Brosnan Copyright © 2005 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de Printed in Germany 1/2005 Titelbild: Richard Hescox Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-453-53029-2
Für Rob und Sarah (geschieht euch recht)
BUCH EINS
KAPITEL 1
Der Dämon ließ einen fahren und erzeugte dabei außer einem schwefelartigen Geruch auch einen kleinen Feuerstrahl, der unter seinem Schwanz hervorschoss. »Puh«, sagte Travis und wedelte mit der Hand vor der Nase herum. »Muss das sein?« Der Dämon schwang seine ledernen schwarzen Flügel und flatterte wieder auf Whiplashs Kopf, wo er sich niederhockte. »Sorry, aber ich konnte nicht anders. Muss an der zweiten Portion des guten Ziegenhodeneintopfs liegen.« »Erinnere mich bloß nicht daran.« Sie standen auf einem Berg und schauten auf eine düstere, von Schutzwällen umgebene Stadt hinab. In der Stadtmitte erhob sich die obligatorische Burg. Auch sie wirkte ziemlich düster, und die Fahnen, die schlaff an den Turmspitzen hingen, machten den Eindruck, als könnten sie eine ordentliche Wäsche vertragen. »Sieht nicht gerade verlockend aus«, sagte Travis. »Weißt du, wie sie heißt?« »Keine Ahnung«, antwortete der Dämon, der auf den Namen Jack hörte. »Ich bin schließlich kein gottverdammter fliegender Reiseführer.« »Na ja, macht nichts. Diese Flecken sind ja sowieso alle gleich.« Er grub seine Hacken in Whiplashs Flanken, und das Pferd schnaubte zornig. Travis wiederholte seine Aufforderung,
diesmal etwas nachdrücklicher. Wenn er bloß Sporen gehabt hätte. Widerwillig begann Whiplash, den Hügel hinunterzutrotten. Bei jedem Auf und Ab des Sattels zuckte Travis zusammen. Er ritt nun schon seit sieben Monaten auf diesem schrecklichen Pferd, aber sein Hinterteil hatte sich immer noch nicht an die fortwährende Misshandlung gewöhnt. Es war heiß, und Travis schwitzte heftig, wodurch die grob gewebte Unterwäsche noch unangenehmer und rauer auf seiner Haut scheuerte. Er blinzelte in die Sonne. Travis schätzte ihren Durchmesser auf nur etwa eine halbe Meile, aber dennoch war sie ein kleiner heißer Hundesohn von einem Stern. Sie näherten sich dem Stadttor, das von zwei gelangweilt herumstehenden Soldaten bewacht wurde – wenn man es denn bewachen nennen konnte. Die beiden trugen zerlumpte Uniformen, und ihre Helme und Brustpanzer schimmerten rostig. Sie waren um die vierzig und unrasiert, ihre Bierbäuche quollen unter der Panzerung hervor. Bewaffnet waren sie mit Piken und Schwertern. Travis strich über die 45er in dem Halfter an seiner rechten Hüfte, während er auf die Soldaten zuritt. Irgendwie beruhigte ihn die Berührung der Waffe. Die Wachen beäugten ihn und den Dämon mit unverhohlenem Misstrauen. Er brachte Whiplash vor ihnen zum Stehen. »Hübsches Städtchen habt ihr hier, Jungs«, begrüßte er sie. »Das ist kein Städtchen, sondern eine Stadt«, entgegnete einer der beiden missmutig. »Eine Stadt«, höhnte Jack. »Fast hätte ich es gar nicht bemerkt. Und wie heißt diese eure Stadt?« »Sie heißt Vallium«, sagte der andere Posten und warf Jack
einen argwöhnischen Blick zu. »Vallium?«, wiederholte Travis lachend. »Was ist daran so komisch?«, fragte Wächter Nummer eins. »Oh, nichts«, antwortete Travis eilig. »Vallium, so so. Hübscher Name.« »Was wollt ihr hier?«, fragte Wächter Nummer zwei. »Das wissen wir noch nicht«, entgegnete Travis. »Ich bin auf der Suche nach Arbeit.« »In Vallium werdet ihr kaum Arbeit finden«, sagte Nummer zwei. »Wir befinden uns in einer Rezession. Was kannst du denn?« »Er ist Aromatherapeut«, warf Jack ein. »Was?«, fragten eins und zwei im Chor. »Ähm, vergesst das einfach, Leute. Jack hat einen etwas seltsamen Humor. Eigentlich bin ich eine Art von … wie soll ich sagen … Problemlöserspezialist.« Die beiden Männer sahen ihn verständnislos an. »Ich … ähm … helfe den Leuten, ihre Probleme zu lösen … Gegen Bezahlung.« »Kannst du Hämorrhoiden wegkriegen?«, fragte Nummer zwei hoffnungsvoll. Travis schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir Leid. Diese Art von Problemen meine ich nicht.« »Welche Art von Problemen meinst du dann?«, wollte Nummer eins wissen. Travis zögerte etwas. »Nun, sagen wir, diese Stadt hätte ein Kriminalitätsproblem, zu viele Diebe und Mörder, ihr versteht schon. In diesem Fall würde ich den Behörden meine Dienste anbieten – gegen Bezahlung, wie gesagt, und würde das Prob-
lem, äh, beseitigen.« »Mit meiner Hilfe«, murmelte Jack. »O ja, mit Jacks Hilfe.« »Die Verbrechensrate von Vallium ist ziemlich niedrig«, sagte Nummer zwei. »Der König ist ein ganz scharfer Hund. Aber wir haben eine Rattenplage. Bist du auch für Ratten zuständig?« »Nein, Ratten sind nicht mein Fall. Eher schon Drachen.« Die beiden Wachposten blickten einander bedeutungsvoll an. Dann verkündete Nummer eins: »Komisch, aber wir haben in der Tat ein Drachenproblem. Ein ziemlich ernstes sogar.« »Da bin ich ja gerade rechtzeitig gekommen«, meinte Travis mit einem breiten Grinsen. Sie musterten ihn von oben bis unten. »Nichts für ungut, aber du siehst nicht gerade nach einem Drachentöter aus«, sagte Nummer eins. »Und mit diesem Dolch, der da an deinem Gürtel hängt, kannst du vielleicht ein Schwein abstechen, aber keinen Drachen. Und unseren schon gar nicht. Er ist ungefähr so groß wie eine Scheune und kann einen Mann aus fünfzig Meter Entfernung rösten. Wir hatten schon jede Menge so genannter Drachentöter hier, die mit ihm fertig werden wollten. Hatten Referenzen dabei, die so lang waren wie ihr Arm – bis er ihnen weggebrannt wurde.« »Nun, ich verfüge über verborgene Talente«, sagte Travis. »Bist du ein Zauberer?«, fragte eins, völlig außerhalb der Reihe. »Schön wär's. Nein, ich bin kein Zauberer. Dürfen wir nun in die Stadt?« Die beiden schüttelten die Köpfe. »Du könntest ein Spion sein«, gab Nummer eins zu beden-
ken. »Würde uns nicht nur den Job kosten, wenn wir dich reinlassen und du entpuppst dich als Spion. Der König würde unsere Köpfe auf den Befestigungsanlagen aufspießen lassen.« »Jawohl«, pflichtete Nummer zwei bei. »Und wir würden unseren Pensionsanspruch verlieren.« »Ich bin kein Spion«, sagte Travis. »Nun, was solltest du auch sonst antworten. Kannst du es beweisen?« Travis seufzte. »Für wen sollte ich denn spionieren? Befindet sich Vallium mit irgendjemandem im Krieg?« »Eigentlich nicht«, musste Nummer zwei einräumen. »Wie kann ich dann ein Spion sein?« Sie schwiegen, bis Jack die Stille unterbrach: »Merkst du nicht, dass der Schlüssel zu dieser Stadt in deinem Portemonnaie liegt?« »Oh«, entfuhr es Travis, als er endlich kapiert hatte, was Jack meinte. Er knüpfte die Schnur seines Geldbeutels auf und griff hinein. Lediglich fünf Münzen klingelten darin. Er nahm zwei Zehn-Schilling-Stücke heraus und warf jedem der Wächter eines zu. Langsam wurden seine finanziellen Mittel knapp, und der Ziegenhodeneintopf rückte wieder bedrohlich näher. Nicht ohne vorher auf die Münzen zu beißen, salutierten die beiden Wachtposten. »Willkommen in Vallium, Squire«, sagte Nummer eins. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt«, fügte Nummer zwei hinzu. »Danke. Könnt Ihr mir einen guten Gasthof empfehlen? Einen guten billigen Gasthof?«
»Aber sicher doch, Sir«, sagte Nummer zwei. »Folgt einfach nur der Hauptstraße bis zum Marktplatz. Direkt neben dem Galgen findet Ihr die Wirtschaft. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen. Hängt ein großes Schild mit der Aufschrift ›Marktwirtschaft‹ über der Tür.« »Und ist sie auch billig?« Nummer zwei zuckte mit den Schultern. »Sie gehört meinem Onkel, und wenn Ihr sagt, dass ich Euch geschickt habe, bekommt Ihr sicherlich einen Sonderpreis.« »Und dein Name ist …?«, fragte Travis. »Claude.« »Also, vielen Dank, Claude, das nehme ich gerne in Anspruch.« Er trat Whiplash in die Rippen, und mit einem entrüsteten Schnauben trottete das Pferd durch das Tor. Bei näherer Betrachtung hielt Vallium, was der Name versprach. Die Gebäude, genau wie die Menschen auf den Straßen, machten einen öden Eindruck. Jack nahm Travis die Worte aus dem Mund, als er meinte: »Langweilig wäre untertrieben.« »Nach allzu viel Wohlstand sieht es auch nicht gerade aus.« »Das Geld findest du im Schloss, wie überall«, murmelte Jack. Als sie den Marktplatz erreichten, entdeckten sie die Schenke neben dem Galgen, an dem zu ihrer Erleichterung niemand baumelte. Travis stieg ab und führte Whiplash zu den weitläufigen Stallungen neben dem Hauptgebäude. Ein untersetzter, glatzköpfiger Mann, der eine dreckige Schürze trug, warf gerade eine Heugabel Stroh in einen leeren Stall. »Hallo! Kannst du mir
sagen, wo ich den Wirt finde?«, fragte Travis. Der Mann hörte auf zu arbeiten, lehnte sich auf den Stiel seiner Heugabel und sah Travis von oben bis unten an. Dann spuckte er herzhaft ins Stroh und schnaubte sich sorgfältig die Nase. Nachdem er sie mit dem Ärmel abgewischt hatte, sagte er: »Der steht vor dir. Bulric ist mein Name.« In der Hoffnung, dass es sich bei dem Spucken und Naseschnäuzen lediglich um ein in Vallium übliches Begrüßungsritual handelte, sagte Travis: »Ich bin hocherfreut, Euch kennen zu lernen, Bulric. Mein Name ist Travis. Euer Neffe Claude empfahl mir Eure Herberge. Ich brauche ein Zimmer für ein paar Nächte, sowie einen Stall und Futter für mein Pferd.« Erneut spuckte Bulric auf den strohbedeckten Boden. »Dämonen haben keinen Zutritt zur Gastwirtschaft. Er kann hier im Stall bei den Pferden bleiben.« »Verdammter Rassist«, murmelte Jack. »Was hat er gesagt?« Bulric sah auf einmal ziemlich wütend aus. »Nichts, nichts«, warf Travis ein. »Der Stall genügt ihm vollkommen. Was kostet es für zwei Übernachtungen?« »Wollt Ihr etwas essen?« »Aber ja doch. Was steht denn auf der Speisekarte?« »Speisekarte?« »Nun ja, ich meine, was gibt es heute?«, erläuterte Travis seine Frage. »Ach so. Nun, zunächst Taubensuppe mit Brot, und als besonderen Hauptgang …« Travis sah Bulric gespannt an, immer auf das Wort Ziegenhodeneintopf gefasst, aber zu seiner Erleichterung sagte der
Wirt: »… Steak und Kartoffeln, dazu so viel Ale, wie Ihr trinken könnt.« »Hervorragend!«, rief Travis. »Und was die Bezahlung betrifft …?« Bulric kratzte sich am Kinn. »Alles in allem vierzig Schillinge, der Herr.« Travis verzog das Gesicht und reichte dem Wirt seine letzten beiden 20-Schilling-Münzen. »Wie hoch wäre denn der normale Preis gewesen?« »Dreißig Schillinge.« »Aber das ist ja weniger, als ich jetzt bezahlen muss. Euer Neffe sagte etwas von Rabatt!« Bulric spuckte wieder auf den Boden. »Von wegen Rabatt! Wenn dieser Schwachkopf von Neffe glaubt, dass er sich bei mir beliebt machen kann, indem er mir Gäste schickt, dann hat er sich schwer getäuscht. Ich knöpfe den armen Bastarden noch was extra ab!« Travis wollte zwar einwenden, dass es nicht seine Schuld war, wenn er ohne es zu wissen in einen Familienstreit hineingeriet, sah aber sogleich ein, dass es kaum Zweck haben würde, und schwieg. Jack lachte höhnisch und raschelte mit seinen Flügeln. »Wenn Ihr Euer Pferd und Eure fliegende Hausratte versorgt habt, könnt Ihr in die Küche gehen …«, Bulric wies auf eine Seitentür, »… und Euch mit dem Mädchen bekannt machen, Helen. Sie wird sich um alles kümmern.« Er grinste viel sagend. »Danke.« Travis fragte sich, was dieses alles wohl beinhalten mochte. Er führte Whiplash in einen Stall, und während das Pferd sein Maul in einen roh gezimmerten Futtertrog steckte, nahm er ihm Sattel, Satteldecke und Zaumzeug ab und bürstete
das Tier kurz. Jack hüpfte vom Hals des Pferdes herunter und hockte sich auf seine Schulter. »Verdammt, ich hab Hunger«, sagte er. »Ich bring' dir ein paar Reste, wenn ich fertig bin. Mann, Steak und Kartoffeln! Ich kann es kaum erwarten.« »Ich hätte die Ziegenhoden vorgezogen.« »Weil du einen perversen Geschmack hast. Du bleibst jetzt hier. Und mach ja keinen Unsinn.« Der Dämon verbeugte sich spöttisch. »Aber ja doch, großer Travis. Euer Wunsch ist mir Befehl.« »Übertreib's nicht mit dem Sarkasmus, Kurzer. Du könntest drin ersaufen«, wies ihn Travis zurecht. Während Travis auf die Küchentür zuging, dachte er mal wieder daran, wie schön es wäre, den übel riechenden Jack loszusein. Er wusste jedoch, dass ihm der Dämon in dieser Welt als Berater und Helfer zugeteilt war. Die Welt hieß übrigens Samella, und obwohl er sich nun schon einige Monate hier aufhielt, musste Travis noch häufig den Rat und die Hilfe Jacks in Anspruch nehmen. Ohne ihn würde er vielleicht nicht überleben, also musste er auch weiterhin die Gesellschaft des kleinen Monsters ertragen … Pech. Er betrat die Küche und wurde sofort von überwältigenden Dämpfen und Gerüchen eingehüllt, die entweder von einem Kochtopf oder aber einem Kessel mit kochender Wäsche stammten. Genau konnte man das nicht sagen. Eine junge Frau mit roten Haaren saß auf einem Stuhl neben einem großen Eisenkessel, der auf einem glühenden Rost thronte, und rührte dessen Inhalt dann und wann mit einem Holzlöffel um. Sie war recht hübsch, und Travis konnte seinen Blick kaum von dem
tiefen Ausschnitt ihres Kleides abwenden, der einiges von ihrer üppigen Theke enthüllte. »Bist du Helen?«, fragte er. Sie stand auf und lächelte ihn an. »Ja, Sir, das bin ich.« Schade um die Zähne, dachte er. »Dein Vater hat gesagt, du würdest mir mein Zimmer zeigen und dich, äh, um alles kümmern …« Sie kicherte. »Bulric, mein Vater? Was für ein schauderhafter Gedanke.« »Oh, tut mir Leid, ich dachte nur …« »Bulric ist nicht einmal verheiratet. Wieso auch, wo er doch Jungen im Bett bevorzugt, der gute Bulric.« Sie lachte noch lauter. Er wartete geduldig, bis sie sich beruhigt hatte, und fuhr dann fort: »Bulric sagte etwas von einer warmen Mahlzeit – ein Steak, um genau zu sein – und Ale.« Sie wischte sich über die Augen. »Ja, Sir. Ich zeige Euch erst Euer Zimmer, und dann bringe ich Euch Eure Mahlzeit.« Sie führte ihn eine ächzende, strohbedeckte Holztreppe hinauf und einen Flur entlang in ein großes Zimmer mit einem Fenster nach vorne hinaus zum Marktplatz. Das Zimmer war bestückt mit einem großen Bett, einem Tisch, zwei Stühlen und einem grob zusammengezimmerten Etwas, das wahrscheinlich einen Kleiderschrank darstellen sollte. Das Bett bestand aus einem flachen Kasten, in dem eine raue Jutematratze lag, aus der an mehreren Stellen das Stroh quoll. Am Fußende lag eine Art primitives Federbett aus grobem Leinen, ebenfalls mit Stroh gefüllt. Travis gewann nicht zum ersten Mal den Eindruck, dass Stroh in dieser Welt das absolute Top-Produkt war.
»Ich lege nur schnell Euer Steak auf den Rost, Sir. Es dauert nicht lange.« Sie eilte aus dem Zimmer. Travis hätte jetzt am liebsten ein hohles Lachen angestimmt, wusste aber leider nicht genau, wie so was überhaupt klingt! Er setzte sich auf das Bett, zog die Stiefel aus und massierte seine Füße. Dann ging er zum Fenster, öffnete die beiden schweren Läden und sah auf den Platz hinaus. Am anderen Ende des Vierecks schien sich eine Menschenmenge zu bilden. Dann klopfte es an der Tür. Das Mädchen kam zurück. Sie lächelte ihm zu und ließ sich zu seiner Überraschung in einer routiniert aufreizenden Pose auf die Matratze fallen. »Und wie steht es mit Euch, Sir? Ihr seid doch bestimmt nicht wie Bulric, nicht wahr?« »Wie bitte?« »Ihr bevorzugt doch nicht etwa auch Jungen im Bett, oder?«, fragte sie kokett und lächelte ihn wollüstig an. Die Zähne schadeten dem Gesamteindruck erheblich, aber nun wusste Travis, was Bulric gemeint hatte, als er sagte, Helen würde sich um alles kümmern. Aber waren ihre Dienste schon mit dem Übernachtungspreis abgegolten oder kosteten sie extra? Travis konnte es sich nicht leisten, die Frage nicht zu stellen. »Ihr seht gut aus, Herr, nur zu gerne würde ich Euch kostenlos erfreuen, aber Bulric besteht darauf, dass ich alles fifty-fifty mit ihm teile, also …« Er seufzte. »Wie viel?« »Zehn Schilling.« »Oh.« Offensichtlich schätzte sie die Gründe für sein Zögern falsch ein, denn sie zog ihr Kleid langsam bis zur Hüfte hoch.
Darunter trug sie keinerlei Unterwäsche, was Travis nicht einmal überraschte. Für Unterwäsche musste man in Samella wohl erst noch Reklame machen, und wenn man daran dachte, wie unbequem die erhältlichen Produkte waren, konnte man völlig verstehen, wenn jemand darauf verzichtete. Während er das üppige Büschel des zu dem oberen passenden roten Haares betrachtete, gestand er ihr etwas verschämt, dass er nur noch fünf Schilling besäße. Sie sah ihn einen Augenblick lang nachdenklich an. Dann lächelte sie und sagte: »Na schön, fünf reichen auch. Dann kann sich Bulric nicht beklagen. Jetzt seht nur zu, dass hinterher nicht ich mich beklagen muss. Und beeilt Euch, sonst verbrennt das Steak.« Er schlüpfte aus seinen Kleidern, was sich als nicht ganz einfach erwies, weil die landesübliche Kleidung einfach nicht zum schnellen Hinaus- oder Hineinschlüpfen geeignet war. Dann legte er sich zu Helen aufs Bett und half ihr, das Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie roch etwas streng, aber er hatte nichts anderes erwartet; wahrscheinlich roch er selbst so ähnlich. Es dauerte nicht lange, und sie hatte das Steak auf dem Rost völlig vergessen. Schon bald nach seiner Ankunft in Samella hatte Travis entdeckt, dass er den Männern hier in einem um Lichtjahre voraus war. Es handelte sich um seine Kenntnisse raffinierter Sexualtechniken – worunter auch schon das Vorspiel fiel. Es ging ihm wie einem Franzosen, der in den fünfziger Jahren – des 20. Jahrhunderts – Australien besucht hätte. Als schließlich alles vorbei war, lag sie nach Atem ringend neben ihm und keuchte: »Bei den gehörnten Göttern von
Zelpit, das hat noch kein Mann mit mir gemacht!« »Wirklich?«, fragte er mit gespielter Naivität. »Noch nie! Und ich hatte mehr Männer, als ich zählen kann.« Travis hielt das für eine deutliche Untertreibung. Er hätte sich sehr gewundert, wenn sie weiter als bis zehn zählen konnte. »Du bist nicht von hier, was?«, fragte sie, immer noch nach Luft schnappend. »Nein, bin ich nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Erfreuen alle Männer in deinem Land die Frauen so, wie du es getan hast?« »Mhm, ich glaube schon, aber es kommt darauf an, in welchem Landesteil man sich befindet und wie viel sie getrunken haben.« Sie kreischte auf und zwickte ihn schmerzhaft in seinen erschlafften Pimmel. »Du alberner Narr!« »Aua.« Er stieß ihre Hand beiseite und stieg aus dem Bett. Erst jetzt hörte er den Klang zorniger Stimmen, die durch das Fenster drangen. »Was geht dort unten vor?«, fragte er. Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster, wobei ihr runder, rosafarbener Hintern gefällig wackelte. Travis folgte ihr und lehnte sich neben ihr auf das Fensterbrett. Die Menge auf der anderen Seite des Marktes umringte eine Kutsche und eine Gruppe von Reitern. Ein Mann stand auf dem Dach der Kutsche, und selbst aus der Entfernung konnte Travis erkennen, dass er edle Gewänder trug. Er gestikulierte der Menge zu. »Wer ist das?«, fragte Travis, während er seine Hand anerkennend über ihr Gesäß gleiten ließ. »Oh, das ist der Kanzler. Bestimmt will er um einen weiteren
Aufschub für Prinzessin Beatrice bitten, aber dieses Mal werden sich die Leute nicht hinhalten lassen. Beatrice wird als Drachenfutter enden, daran führt kein Weg vorbei.« »Wer ist Prinzessin Beatrice?« »Die olle Tochter des verdammten Königs. Bis jetzt hat sie sich jedes Mal herausgewunden, wenn ihr Name aus dem Hut gezogen wurde.« »Vergiss nicht, dass ich hier fremd bin«, sagte Travis. »Wovon sprichst du überhaupt? Und was hat der Drache damit zu tun?« Sie sah ihn ungeduldig an. »Es ist der übliche Drachenhandel. Mit Garaptor. Oh, wenn er alle Jungfrauen aufgebraucht hat, lässt er uns in Ruhe. Das ist die Abmachung. Ich schätze, dass er die ganze Zeit sowieso nur hinter Prinzessin Beatrice her war.« Sie ging zur Tür. »Ich hol' dir jetzt dein Essen.« In Gedanken versunken begann Travis sich anzuziehen. Als er das Rascheln lederner Flügel hörte, drehte er sich um. Jack landete gerade auf dem Fenstersims. »Wie ich sehe, hast du dich ein bisschen vergnügt«, sagte der Dämon und grinste hämisch. »Ich schätze, du hast dein letztes bisschen Geld mit dieser dummen Kuh verpulvert.« »Mein Geld, genau, und es war die Sache wert. Morgen um diese Zeit bin ich ein reicher Mann.« Der Dämon holte eine Schachtel Marlboro aus einer Hautfalte in seiner Bauchgegend, nahm eine Zigarette heraus, blies die Spitze mit etwas Feueratem an und begann genüsslich zu rauchen. »Das hört sich gut an. Raus damit.« Travis erzählte Jack die Geschichte von Prinzessin Beatrice und dem Drachen. »… also erschlage ich das Biest, bringe die
Prinzessin zu ihrem Vater zurück und werde von ihm dafür mit mehr Geld überschüttet, als ich ohne die Gefahr eines doppelten Schlaganfalls tragen kann. Ende der Geschichte.« Jack blies drei ineinander verschlungene Rauchringe in die Luft. »Ende des Märchens, meinst du wohl. Du hast noch nie einen Drachen zu Gesicht bekommen, geschweige denn getötet. Drachen haben eine dicke, schuppige Haut. Mit dieser Spielzeugpistole dort …«, er deutete auf die 45er, der im Halfter auf dem Boden lag, »… wirst du nicht einmal eine kleine Delle in diesen Drachen schießen.« »Dann ziele ich eben auf seine Augen«, schlug Travis mit etwas gekünstelt klingender Zuversicht vor. »Seit ich hier bin, habe ich mich zu einem ziemlich guten Schützen entwickelt.« Schweigen. Schließlich sagte Jack: »Da kann ich dir zwar nicht widersprechen, aber um dem Drachen mit einem Colt ein Auge auszuschießen, müsstest du schon verdammt nahe an ihn rankommen … und bis dahin wärst du längst zu Kebab verarbeitet.« Stirnrunzelnd strich sich Travis übers Kinn. »Ich fürchte, du hast Recht, Jack«, gab er zu. »Ich brauche eine bessere Idee. Etwas wirklich Cleveres.« »Wenn du tatsächlich so clevere Ideen hättest, wärst du überhaupt nicht hier«, sagte der Dämon und lachte. Dann drückte er eilig seine Zigarette auf dem Fenstersims aus und schwang sich flatternd in die Luft. »Da kommt jemand. Ich verzieh mich « Kaum war Jack verschwunden, als die Tür aufging. Es war Helen. Sie trug ein Holztablett, auf dem eine große Schüssel mit
Essen verheißungsvoll dampfte. »Ah!«, rief Travis. »Mein Steak!« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber das ist völlig verbrannt, während du mir hier oben Vergnügen bereitet hast.« »Und was ist das da?«, fragte er misstrauisch. »Das Einzige, was die Küche noch zu bieten hat … Ziegenhodeneintopf.« In diesem Augenblick fasste Travis einen unumstößlichen Entschluss: Dieser Drache war so gut wie tot.
KAPITEL 2
Als Travis Thomson einige Monate zuvor auf einer Waldlichtung erwachte und feststellte, dass er blaue Strumpfhosen und einen leuchtend roten Beutel für sein Gemächt trug, spürte er instinktiv, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Langsam richtete er sich auf. Sein Kopf tat weh, und er verspürte großen Durst. Sich umsehend entdeckte er ein Pferd mit traurigen Augen, das versonnen im hohen Gras stand und vor sich hinkaute. Auf dem Sattel des Tieres hockte eine Gestalt, die Travis zunächst für eine große schwarze Fledermaus hielt. Die Tatsache, dass die Fledermaus eine Zigarette rauchte, schob er zunächst einmal beiseite. Er sah an sich herab. Außer den Strumpfhosen und dem Beutel trug er eine gelbe Lederjacke, einen roten Umhang, schwarze Handschuhe und lange schwarze Stiefel. Dann fasste er sich an den Kopf: Offenbar hatte er eine Art Kappe – mit einer geschwungenen Feder – auf. Außerdem trug er einen schweren Gürtel, an dessen rechter Seite ein Degen in einer Scheide hing, daneben ein Dolch und ein Lederbeutel. Links befand sich ein Halfter, in dem eine Pistole steckte. Eine Welle von Panik stieg in ihm hoch. Er versuchte sich einzureden, dass er ruhig bleiben müsse, aber offenbar hörte er schlecht. Dann zwang er sich zu dem Gedanken, dass es für all das eine logische Erklärung geben müsse. In diesem Augenblick begann die ›Fledermaus‹ zu sprechen.
»Falls du dich fragst, wo du bist, Kumpel – und ich schätze, das tust du gerade –, dann kann ich dir verraten, dass du tief in der Scheiße steckst.« Entsetzt starrte Travis die ›Fledermaus‹ an. Seine Panik hatte sich von einer Welle in eine Springflut verwandelt. Ein krächzender Laut drang aus seiner Kehle. »Tja, das ist ein schöner Mist, was?«, knurrte das Wesen, das Travis mittlerweile nicht mehr unbedingt für eine Fledermaus hielt. Es hatte ein menschliches Gesicht, Hörner, nicht nur Flügel, sondern auch Arme, sowie einen langen, spitzen Schwanz. Außerdem sprach es mit einer Reibeisenstimme und unverkennbar amerikanischem Akzent. »Krhhhh …«, krächzte Travis erneut. Er hatte aufgehört, nach einer rationalen Erklärung zu suchen. Am liebsten hätte er nach seiner Mutter gerufen. Und zwar laut. Das Wesen seufzte und griff nach einer der beiden Feldflaschen, die am Sattel hingen. »Hier, fang«, sagte es und warf Travis die Flasche zu. Instinktiv griff er danach. »Krhhhh?«, kam es krächzend aus seiner Kehle. »Es ist Brandy. Nimm einen großen Schluck. Das brauchst du jetzt. Danach unterhalten wir uns.« Travis sah die Flasche misstrauisch an. »He, du kannst mir vertrauen«, sagte das Wesen. »Es ist wirklich nur Brandy.« Wie betäubt zog Travis den Korken aus der Flasche und hielt seine Nase über den Flaschenhals. Es roch immerhin nach Brandy. Er setzte das Gefäß an die Lippen und trank. Tatsächlich Brandy. Er brannte ihm fast die Kehle aus und ließ ihm Tränen aus den Augen schießen, aber die Wärme, die durch
seinen Körper lief, tat ihm gut. Jetzt sah er das Wesen wieder an. »Danke«, brachte er mühsam hervor. »Nichts zu danken, Travis«, sagte sein Wohltäter und hielt eine Klauenhand hoch. »Ja, ich weiß, wie du heißt; ich weiß überhaupt eine Menge von dir. Oh, ich heiße übrigens Jack.« Der Brandy war Travis inzwischen in den Kopf gestiegen, aber offensichtlich noch nicht hoch genug. Er nahm einen zweiten kräftigen Schluck. Seine Panik begann sich bereits etwas aufzulösen, zumindest an den Rändern. Langsam bekam er sogar ein gutes, zumindest besseres Gefühl bei der ganzen Sache. Wahrscheinlich handelte es sich doch nur um einen unglaublich realistischen, lebhaften Traum. Das war die einzig denkbare Erklärung. »Ähm, Jack«, sagte er zu dem Wesen. »Ich möchte nicht unhöflich oder so erscheinen, aber was genau bist du eigentlich?« »Ich bin ein Dämon«, antwortete Jack und blies einige miteinander verwobene Rauchkringel in die Luft. »Oh«, meinte Travis. Er ließ seinen Blick über die Lichtung wandern. Es schien um die Mittagszeit zu sein, und die Sonne strahlte besonders heftig herab. Alles sah so echt aus. Bienen summten um die verschiedensten Sorten von Wildblumen herum, ein großer Schmetterling mit wunderschönen Flügeln schwebte über der Lichtung … Als er näher kam, sah Travis, dass es sich gar nicht um einen Schmetterling, sondern um eine kleine Elfe handelte. Sie war nackt und hatte winzige, zierliche Brüste. Einmal flog sie um seinen Kopf herum, dann stieß sie einen hellen Laut aus und flatterte wieder davon. »Ich war nicht immer ein Dämon«, sagte der Dämon. »Zu Hause in L. A. war ich Filmproduzent.«
»Wirklich? Wo liegt da der Unterschied?«, fragte Travis wenig höflich. »Ich bin Jack DeSolva«, sagte der Dämon stolz, Travis' Frage ignorierend. »Schon mal von mir gehört?« »Äh … nein, ich glaube nicht.« Travis trank noch einen Schluck Brandy. »Vielleicht hast du schon mal einen meiner Filme gesehen. Die Nacht der langen Schreie? Schleimer? Horror in der SexSchule? Die Entkleidung? Alles große Video-Hits.« Travis schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir Leid.« »Das überrascht mich aber wirklich. Okay, ich war kein Steven Spielberg, aber ich hatte eine ziemlich große Kultfangemeinde. Wahrscheinlich gibt es sie noch immer. Außerdem habe ich Vorträge an Universitäten gehalten, über meine frühen Jahre in der Filmindustrie. Wie ich und Roger Corman zusammen anfingen und solche Dinge.« »Aha«, sagte Travis aufmunternd, obwohl er auch nicht wusste, wer Roger Corman war. »Ja, es ging mir eigentlich ganz gut … bis ich ihm in die Quere kam. Ich versuchte ihn reinzulegen … und dann hat er das hier mit mir gemacht.« Der Dämon schüttelte sich. Plötzlich merkte Travis, dass seine Unterwäsche ekelhaft kratzte. Wie immer sie aussehen mochte, offenbar hatte man sie aus den Borsten einer Klobürste gewoben. Aufs Klo musste er auch so langsam … Mit einem bösen Grinsen drückte Jack seine Zigarette auf der Flanke des Pferdes aus. Das Tier zuckte zusammen, drehte den Kopf nach hinten und wieherte empört. »Ach, halt's Maul, blöder Gaul«, zischte der Dämon. »Übrigens ist sein Name
›Whiplash‹, wenn es dich interessiert.« »Dieser Whiplash hat dich in einen Dämon verwandelt?«, fragte Travis. »Nein, du Idiot, so heißt das Pferd. Der Schurke, der mir das angetan hat und der auch dich hierher verbannt hat, das ist Prenderghast. Gideon Leonard Prenderghast.« Travis schaute verblüfft. »Prenderghast? Was hast du mit Prenderghast zu tun?« »Alles. Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?« »Ich … ich weiß nicht genau.« Ihm fiel ein, dass er in sein Büro gegangen war, um mit dem Redakteur über die Story zu sprechen, an der er gerade arbeitete – die Prenderghast-Story. Von da an lag alles im Dunkeln. »Streng dich an.« Und dann erinnerte er sich. »Ich habe mit Prenderghast gesprochen, in seinem Penthouse-Büro in den Docklands. Das heißt, ich habe ihn mit einigen Dingen konfrontiert. Ich habe ihm erzählt, was ich über seine ›Geschäfte‹ herausgefunden hatte … und ich habe ihm erzählt, was ich alles nicht über ihn herausfinden konnte: dass er nämlich gar keine Vergangenheit zu haben schien … Daraufhin wurde er wütend … sehr wütend … und dann …« Travis strich sich über die Stirn. »Nein, an mehr kann ich mich nicht erinnern.« »Du hast ihn verärgert. So wie ich. Deshalb bist du hier.« »Meinst du wirklich, Prenderghast ist dafür verantwortlich, dass ich hier bin?«, Travis deutete auf die Lichtung. »Und was genau ist eigentlich hier?« »Das ist gar nicht mal so einfach zu erklären«, antwortete Jack. »Zunächst einmal lautet der Name dieser Welt Samella
…« »Soll das etwa heißen, dass ich auf einem anderen Planeten bin?« »Kumpel, du bist nicht nur auf einem anderen Planeten, du bist auch in einem gottverdammten anderen Universum. Und hier laufen die Dinge anders, als du es gewohnt bist.« Er wies nach oben. »So wie diese Sonne. Diese Welt dreht sich nicht um sie, sie dreht sich um diese Welt. Und davon gibt es noch eine Menge mehr.« »Verstehe«, sagte Travis, der nicht das Geringste verstand. »Und wie hat es Prenderghast fertig gebracht, mich hierher zu schicken?« Der Dämon zuckte mit den Schultern, holte eine Schachtel Marlboro aus einer seiner Hautfalten und zündete sich eine neue Zigarette an. »Er kann fast alles, was er will. Er hat die absolute Macht. Eine Art Zauberer, aber noch mehr als das. Und, Kumpel, er ist auf keinen Fall ein Mensch.« Travis platzte der Kragen. »Das ist doch aberwitzig! Prenderghast ist ein Hersteller von Computerspielen! Er produziert Virtual-Reality-Spiele für Kinder! Deshalb wollte ich eine Reportage über ihn machen … es gab Gerüchte, dass seine VRHelme gefährlich für die Kinder seien …« Er zitterte, als er sich an das wutverzerrte Gesicht des dicken Mannes erinnerte, nachdem er die Kette seiner Vorwürfe heruntergerasselt hatte: die möglicherweise schädlichen neurologischen Nebenwirkungen der Helme, die Prenderghast herstellte; die vielleicht noch größere Gefahr, dass zahllose Kinder, die sich in seine banale Virtual-Reality-Welt der Ritter und Zauberer einklinkten, psychologische Schäden davontragen könnten …
Und dann ging ihm fast buchstäblich ein Licht auf. »Jetzt kapiere ich! Jetzt weiß ich, was hier abläuft!« »Das weißt du?«, fragte der Dämon überrascht. »Prenderghast macht das hier mit mir!« »Das habe ich dir doch schon gesagt, du Pfeife.« »Prenderghast hat mich an irgendein enormes, verdammt hoch entwickeltes Virtual-Reality-System angeschlossen. Er will mir eine Lektion erteilen. Aber was zum Teufel rede ich. Vielleicht bist du ja selbst Prenderghast und redest in Gestalt dieser kleinen, von dir erfundenen teuflischen Monstrosität mit mir. « Jack sah ihn beleidigt an. »Also schön, Mr. Prenderghast, Sie hatten Ihren Spaß, und Sie haben mir einiges klargemacht. Aber jetzt stellen Sie dieses Ding wieder ab und lassen Sie mich gefälligst in die wirkliche Welt zurück …« Traurig schüttelte der Dämon seinen Kopf, breitete seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Bevor Travis begriff, was vor sich ging, flog er direkt auf ihn zu und knallte ihm seinen gezackten Schwanz ins Gesicht. Travis setzte sich auf den Hosenboden. »Auq!«, rief er empört. Er fuhr mit den Fingern über seine Wange. Blut. Der Dämon war mittlerweile wieder zu seinem alten Rastplatz auf dem Pferderücken zurückgekehrt. »Glaubst du noch immer, dass diese Welt nicht wirklich ist?« »Das hat wehgetan!«, sagte Travis verwundert. »Das sollte es auch«, meinte der Dämon und schnippte seinen Zigarettenstummel ins Gras. »Ich verstehe nicht, wie … es sei denn … mein Gott, irgendwo haben Sie Ihr System direkt mit meinem Nervensystem verbunden! Ich wusste nicht, dass sich die VR-Technologie
schon so weit entwickelt hat.« »Welch ein Blödsinn«, sagte der Dämon mit einem Seufzer. »Das reicht! Schluss jetzt, Prenderghast!« Travis rappelte sich auf. »Ich hab für heute um sieben eine Verabredung zum Abendessen. Im Red Fort ist ein Tisch für mich reserviert. Heather zerreißt mich in der Luft, wenn ich wieder zu spät komme.« »Hör zu, Schwachkopf, deine Verabredung kannst du vergessen. Ich bin nicht Prenderghast, dieser Bastard, sondern Jack DeSolva, ehemals Produzent zwar billiger, aber recht geschmackvoller B-Filme, und ich verdanke es Prenderghast, dass ich hier festsitze, noch dazu als ein ekelhafter Dämon. Und du befindest dich keineswegs – ich wiederhole – keineswegs in irgendeiner Virtual-Reality-Fantasiewelt! Diese Welt ist genauso echt wie die, aus der du kommst!« »Das glaube ich nicht!«, protestierte Travis und ging auf den Dämon und das Pferd zu. »Nicht eine Sekunde. Es muss sich einfach um irgendeine Form einer VR-Illusion handeln.« »Wie du meinst, Kumpel«, sagte der Dämon. »Dann musst du es eben auf die harte Tour lernen. Diese Welt ist wirklich: Hier kannst du dich verletzen, du kannst krank oder sogar getötet werden, und wenn du nichts isst, verhungerst du. Und vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass in deinem Geldbeutel am Gürtel nur sehr wenige Münzen stecken. Wenn sie alle sind, wirst du neue brauchen. Mit anderen Worten – besorg dir einen Job. Capisci?« »Einen Job?« »Ja. Mein Job ist zum Beispiel die Rolle des kleinen Helfers. Ich soll dir zeigen, wo's langgeht. Prenderghast würde es gar
nicht gefallen, wenn du gleich an deinem ersten Tag hier getötet würdest. Dann hätte er ja keinen Spaß mehr an dir.« Travis beschlichen erneut Zweifel. Es musste irgendeine Art von Trick sein. Wenn der verdammte Dämon nur nicht so echt klingen würde. Er blickte hinüber zum Rand der Lichtung. Bäume, so weit er sehen konnte. Vogelgezwitscher. Vielleicht hatte Prenderghast ihn unter Drogen gesetzt, ihn in irgendeinen Wald verschleppt. Und jetzt wollte er ihn durch diesen sprechenden Dämon um den Verstand bringen. Travis betrachtete das Wesen genauer. Vielleicht handelte es sich doch um ein animatronisches Modell … ferngesteuert. So wie die Elfe eben auch ein winziges, ferngesteuertes, animatronisches Etwas gewesen war … Sicher. Es gab nur ein kleines Problem: England, das Land, in dem er lebte, steckte mitten in einem bitterkalten Winter, und hier handelte es sich eindeutig um einen heißen Sommertag. Hatte Prenderghast Zeit und Mühe auf sich genommen, ihn in ein anderes Land zu fliegen? Oder – Schrecken aller Schrecken – sagte Jack etwa doch die Wahrheit? Unmöglich! »Du steckst hier fest, Kumpel, vielleicht auf ewig«, sagte der Dämon. »Es sei denn, du findest den Schlüssel. Und das, so hat man mir gesagt, ist ziemlich unwahrscheinlich.« »Schlüssel? Was für einen Schlüssel?« Der Dämon hob unschlüssig die Schultern. »Keine Ahnung. Prenderghast hat es mir nicht verraten. Aber er sagte, du würdest es schon wissen, wenn du ihn jemals finden solltest.« Travis stöhnte auf. »Soll das etwa heißen, dass ich mich auf eine bescheuerte Suche begeben soll, so wie nach dem Heiligen Gral oder so?«
»Hört sich ganz danach an. Du kümmerst dich um deine Jobs, und in deiner Freizeit suchst du nach dem Schlüssel.« Er steckte sich erneut eine zwischen die Lippen und blies Travis den Rauch ins Gesicht. »Was für Jobs?« »Kommt darauf an, was du kannst.« »Ich bin Journalist. Ich kann schreiben.« Der Dämon schüttelte den Kopf. »Wie schade, Kumpel, dass es hier gar keine Zeitungen gibt. Tja, du könntest eine gründen, aber mit der Zustellung dürfte es Probleme geben. Außerdem findet man hier nur wenige Leute, die mehr als ein paar Wörter lesen können.« »Also – was soll ich machen?« »Ich habe gehört, du kannst damit umgehen.« Der Dämon wies auf das Schwert, das an Travis' Gürtel baumelte. »Ja, im College habe ich gefochten.« Er zog den Degen heraus. Es war ein Rapier, der etwas stärkere Bruder des Floretts. »Woher weißt du das?« »Von Prenderghast natürlich.« Aber woher wusste Prenderghast davon?, fragte sich Travis. Er musste eine Menge Nachforschungen angestellt haben. Ein paarmal ließ er das Rapier durch die Luft zischen und stellte fest, dass es gut ausbalanciert war. »Ein guter Degenfechter ist hier stets gefragt«, sagte der Dämon und gackerte boshaft. »Ich verschaffe dir Arbeit, du wirst schon sehen …« Travis steckte den Degen wieder in die Scheide und zog die automatische Pistole aus dem Halfter … »He, vorsichtig mit dem Ding!«, schrie der Dämon. »Die
Knarre ist geladen.« Travis wog die Waffe in seiner Hand. Sie war schwer. »Wozu benutzen sie hier noch Schwerter, wenn sie schon Pistolen haben?«, fragte er. »Sie haben keine Pistolen. Du bist der Einzige. Prenderghast meinte, mit einem kleinen Vorteil könntest du länger überleben« »Oh.« Travis starrte die Pistole an. »Gibt es denn Ersatzmunition?« »Du brauchst keine. Das Magazin wird niemals leer.« Der Dämon lachte und fügte hinzu: »Das ist eine Zauberwaffe, Kumpel. Wie diese Zauberschachtel Marlboro.« Und wieder steckte er sich eine ins Gesicht. Travis schob die Pistole in das Halfter zurück. »Ich fühle mich geehrt. Aber im Augenblick habe ich andere, dringendere Sorgen.« »Zum Beispiel?« »Ich müsste schleunigst eine Toilette aufsuchen. Gibt es hier in der Nähe so etwas?« Der Dämon brach in ein lautes Kichern aus – so heftig, dass er fast vom Pferd gefallen wäre. »Ich fasse das als ein deutliches ›Nein‹ auf«, brummte Travis düster.
KAPITEL 3
Travis hockte auf dem Brett, das über der Sickergrube hinter dem Gasthaus angebracht war, und fragte sich, was wohl in der wirklichen Welt geschah. Was glaubten seine Familie und seine Freunde wohl, war mit ihm passiert? Hatten sie vielleicht schon die Hoffnung aufgegeben, ihn wiederzusehen? War er in seiner Abwesenheit von der Zeitschrift gefeuert worden? War die launische Heather wieder zu ihrem früheren Freund Brian zurückgekehrt? Wahrscheinlich. Schließlich waren jetzt schon über fünf Monate vergangen, und er bezweifelte, dass Heather einen so langen Zeitraum ohne Sex ausgekommen wäre. Zumindest nicht seit ihrem sechzehnten Lebensjahr, das Jahr, in dem sie, wie sie ihm einmal erzählt hatte, sexuell aktiv geworden war. Und das war … wie lange her? Ach je, er konnte sich nicht daran erinnern, wie alt sie war. Sechsundzwanzig, oder siebenundzwanzig? Oder war sie gar schon achtundzwanzig? Sein Gedächtnis machte ihm Sorgen. Einige Details aus der wirklichen Welt begannen zu verblassen. Lücken – wenn auch nur kleine – taten sich in seinem Erinnerungsvermögen auf. Er fürchtete, dass ihm dieser Ort bald realer vorkommen könnte als die Realität. Vielleicht war das Prenderghasts Absicht: ihn durch eine anhaltende Verbindung zu diesem Virtual-RealitySystem in den Wahnsinn zu treiben. Travis glaubte immer noch, meistens jedenfalls, dass Samella ein unglaublich hoch entwickeltes Computersystem war, hatte
aber gelernt, sich so zu verhalten, als wäre alles echt. Schließlich hatte er keine andere Wahl. Soweit es sein Gehirn betraf, war es auch echt. Wie der Dämon vorausgesagt hatte: Hier spürte er Schmerz und Hunger genauso intensiv wie in der wirklichen Welt. Und weil die Zustände in dieser mittelalterlichen Gesellschaft so primitiv waren, musste er weit mehr Unannehmlichkeiten erdulden, als er es in der Wirklichkeit hatte tun müssen. Das hier zum Beispiel, dachte er missmutig, als er eine Hand voll Stroh vom Boden auflas. Hätte ihn Prenderghast doch wenigstens in eine Welt verbannt, in der man schon das Wasserklo und das Toilettenpapier erfunden hatte … Travis hoffte nur, dass Prenderghast sich ausreichend um seinen richtigen Körper kümmerte, während er an dieses Computersystem allerneuesten Standards angeschlossen war. Fünf Monate im Koma waren eine lange Zeit. Seine Muskeln würden langsam verkümmern, und sein Körper wäre wahrscheinlich wund vom langen Liegen. Andererseits konnte er überhaupt nicht sicher sein, dass die Zeit in der wahren Welt in der gleichen Geschwindigkeit ablief wie hier. Vielleicht war alles wie in einem morgendlichen Traum, in dem man zwischen Schlafen und Wachen hin und her irrt. Im Traum konnte man Rom erbauen, aber wenn man aufwachte und auf die Uhr schaute, war vielleicht erst eine Minute vergangen. Möglicherweise hing er erst eine Stunde oder so an Prenderghasts Maschine … und könnte es noch rechtzeitig zum Dinner mit Heather im Red Fort schaffen … und vielleicht wartete Michelle Pfeiffer in seinem Zimmer auf ihn, in einem sehr kleinen schwarzen Lederbikini.
Er seufzte, erhob sich, zog seine Strumpfhosen hoch und rückte seinen Hosenbeutel zurecht. Als er jedoch in seine Kammer kam, fand er schon mal keine Michelle Pfeiffer dort vor, sondern lediglich Jack, der in den Überresten von Travis' Frühstück herumklaubte. »Bedien dich ruhig«, sagte er zu dem Dämon, während er sich auf die Bettkante setzte und seine Stiefel anzog. »Bin schon dabei«, sagte der Dämon und knabberte an etwas, das Jack nicht hatte identifizieren können. »Hast du dir schon eine Strategie für die Rettung der Prinzessin überlegt?« »Nun, nicht so richtig. Aber mir ist da beim Frühstück etwas eingefallen …« »Was ist das wohl?«, fragte Jack, der gerade ein weiteres undefinierbares Nahrungsstück begutachtete. Travis ignorierte ihn. »Ich habe Helen gefragt, wie diese jungfräuliche Opferungszeremonie eigentlich abläuft. Die Opferungen finden in einem verlassenen Steinbruch etwa acht Meilen nördlich des Ortes statt. Das Opfer wird von einer Hand voll Soldaten und einer Kapelle dorthin begleitet …« Der Dämon hörte auf zu kauen. »Eine Kapelle? Eine tragbare Kapelle?« »Eine Musikkapelle! Offenbar spielen sie immer wieder ›Komm und bedien dich bei mir‹, um dem Drachen ihr Nahen anzukündigen. Jedenfalls wird das Opfer dann an einen Baum gekettet, und die Begleittruppe verschwindet aus dem Steinbruch, so schnell sie kann …« »Was ist mit der Kapelle? Spielt sie auch während der Mahlzeit? Wie in einem Restaurant?« Travis seufzte. »Nein, Jack. Die Kapelle verzieht sich eben-
falls. Übrig bleibt nur die arme Jungfrau, die zum Schutz gegen einen zehn Tonnen schweren, bösen hungrigen Drachen lediglich ein weißes Opfernegligée trägt.« »Und wie war noch mal dein Plan?« Travis zog die Pistole aus dem Halfter, ließ das Magazin herausschnappen und überprüfte es. Wie üblich war es voll, aber trotzdem musste er sich immer wieder einmal davon überzeugen … »Nun, ich dachte, ich verstecke mich in der Nähe des Pfahls, bevor alle anderen eintreffen. Wenn die Soldaten – und die Kapelle – fort sind, befreie ich die Prinzessin und nehme ihren Platz ein.« Jack lachte. »Weißt du, Schlauberger, Drachen sollen ja tatsächlich kurzsichtig sein, aber selbst einer mit einem weißen Blindenstock dürfte wohl bemerken, dass du keine jungfräuliche Prinzessin bist.« »Ich werde mich natürlich verkleiden, mit einer Perücke. Und ich wollte die Kleidung mit der Prinzessin tauschen …« Seine Stimme verebbte. »So gerne ich dich in einem OpfernegligÉe sehen würde, das ist der dümmste Plan, den ich je gehört habe«, sagte Jack. »Verdammt, nicht mal Roger Corman würde eine solche Story anrühren.« »Nun ja, sie hat wohl noch ein paar Schwachpunkte«, gab Travis zu. »Der Zeitfaktor, zum Beispiel …« »Vom Blödmannfaktor gar nicht zu reden …« »Aber ich muss nahe genug an den Drachen herankommen, um ihm einen Kopfschuss zu verpassen. Das ist meine einzige Chance.« Der Dämon kratzte sich am Hintern oder, wie er sich auszu-
drücken pflegte, am Arsch. »Vielleicht gibt es in der Nähe der Selbstbedienungstheke eine Stelle, wo du dich verstecken kannst. Wir sollten hinreiten und uns diesen Steinbruch ansehen.« »Gute Idee …« Es klopfte an der Tür, und Helen kam herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie bedachte Jack mit einem missbilligenden Blick. Der Dämon zwinkerte ihr zu und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wenn Bulric dich hier findet, jagt er dich zum Teufel«, sagte sie zu Jack und scheuchte ihn vom Frühstückstablett. Der Dämon flog hoch und landete auf einem der Deckenbalken, von wo aus er lüstern auf Helen hinabstarrte. »Was für einen herrlichen Körper diese Frau hat, he, Travis? Aber das weißt du ja bereits.« Helen sah wütend zu Jack hinauf, während sie das Tablett nahm. »Was hast du diesem fliegenden dämonischen Lustmolch erzählt?«, wollte sie von Travis wissen. »Nichts, gar nichts. Er hat von Natur aus eine schmutzige Fantasie. Übrigens, dieser Steinbruch, den du erwähnt hast … könntest du mir vielleicht eine einfache Karte zeichnen, damit ich den Weg finde?« Sie sah ihn böse an. »Du willst die Prinzessin Beatrice retten, stimmt's? Darum ging es also bei all deinen Fragen.« »Vielleicht«, gab er zu. »Kommt drauf an.« »Tss, tss«, machte sie. »Wäre ein echter Verlust, wenn du es versuchen würdest. Ein echter Verlust.« Mit diesen Worten ging sie zur Tür. »He, ein kleines bisschen Unterstützung würde mir ganz gut
tun!«, rief er. »Um mit Garaptor fertig zu werden, brauchst du mehr Unterstützung als deinen Hosenbeutel«, sagte sie beim Hinausgehen. Travis lag unter einem Blätterhaufen in einer kleinen Senke zwischen zwei Felsen. Es war heiß, stickig und äußerst unbequem, aber er musste zugeben, dass es sich um das ideale Versteck handelte, da es nur ein paar Meter von der Jungfrauenopferrampe entfernt lag. Jack und Whiplash warteten in einem kleinen Wäldchen, eine halbe Meile vom Steinbruch entfernt. Während Travis so dalag und langsam Krämpfe bekam, fragte er sich, wie spät es wohl war. Ohne Armbanduhr auskommen zu müssen, stellte eine weitere Unannehmlichkeit dieser verdammten Welt dar. Er schätzte, dass er seit etwa einer Stunde wartete. Helen hatte ihm gesagt, dass dem Drachen sein Essen traditionellerweise um die Mittagszeit serviert wurde. Also durfte er noch eine halbe Stunde ausharren. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte durch das ihn verbergende Laubwerk zur Opferstätte, die sich in der Mitte einer freien Fläche erhob. Die Erde sah aus, als sei sie schon häufiger versengt worden; außerdem lagen überall menschliche Knochen herum. Travis zitterte. Er hatte Jack öfter als einmal gefragt, was mit ihm geschehen würde, wenn ihn in dieser Welt der Tod ereilen sollte, aber der Dämon hatte eine Antwort verweigert. Stattdessen hatte er nur jedes Mal bösartig gegackert. Plötzlich hörte er das Tapsen winziger Füße. Erschreckt blickte er sich um und sah, wie eine kleine, birnenförmige Gestalt an ihm vorbeihastete. Ein Kobold. Und er
trug Messer und Gabel bei sich. Travis beobachtete, wie er in einem Loch nicht unweit des Opferpfahls verschwand und fragte sich, was dieser unangenehme kleine Wicht dort wohl zu suchen hatte; aber dann wurde ihm klar, wozu der Schrat Besteck brauchte. Offensichtlich hoffte er auf Überreste … Dann hörte Travis plötzlich Musikklänge aus der Ferne. Nun, Musik traf es nicht ganz. Es handelte sich eher um das Geräusch primitiver Blas- und Perkussionsinstrumente, die grob misshandelt wurden. Dies sollte wohl das Signal für den Drachen sein, dass sein Mittagessen unterwegs war. Während die Prozession näher kam und der Lärm lauter wurde, begann Travis sich zu fragen, warum Garaptor nicht die Kapelle anstatt der angebotenen Jungfrau verspeist hatte. Es wäre für alle Beteiligten weitaus gnädiger gewesen. Vorsichtig blickte Travis zum Zufahrtsweg des Steinbruchs. Die ›Kapelle‹ erschien zuerst, und die ›Musiker‹ starrten ängstlich in den Himmel, während sie fortfuhren, ihre Instrumente zu quälen. Ihnen folgten sechs berittene Männer in Rüstung, von deren Lanzen zerschlissene Wimpel herabhingen. Hinter ihnen tauchte eine kostbare Kutsche auf, die von vier Pferden gezogen wurde. Den Schluss bildete ein verloren wirkender Haufen von Fußsoldaten, die ebenfalls ängstliche Blicke nach oben warfen. Die buntscheckige Parade hatte die Opferstätte erreicht und bildete einen Kreis darum. Die Kapelle fabrizierte weiterhin ihren schrecklichen Lärm, während ein Diener von der Kutsche sprang, die Tür öffnete und einem kleinen, dicken Mann in königlichen Gewändern heraushalf. Sofort hob er seine Hand und machte eine erzürnte Bewegung. Die ›Musik‹ verstummte
dankenswerterweise augenblicklich. Der König, denn um ihn handelte es sich ganz offenbar, half sodann jemand anderem aus der Kutsche: einer jungen Frau, die einen langen schwarzen Umhang trug. Und das, so dachte Travis, muss die Prinzessin Beatrice sein. Während der König sie zu dem Pfahl führte, betrachtete er sie mit wachsendem Interesse. Sein erster Eindruck war der, dass sie geradewegs aus einem Märchen zu kommen schien. Sie strahlte eine engelsgleiche, ätherische Schönheit aus. Eigentlich ähnelte sie Walt Disneys Schneewittchen, nur dass die Zeichner sich bei ihr noch mehr Mühe gegeben hatten. Und als der König ihr den Umhang abnahm, verlegene Entschuldigungen stammelnd, dachte Travis: Wow, Schneewittchen ist sexy! Das schlichte weiße Opfernegligée enthüllte, dass die Figur der Prinzessin in jeder Welt, ob wirklich oder nicht, eine Traumnote bekommen hätte. Der König fuhr fort, Entschuldigungen zu stammeln, während er seine Tochter an den Pfahl fesselte. Sie würdigte ihn keines Wortes, aber ihrem Gesicht sah man an, was sie von ihrem Vater hielt. Schließlich rief er aus: »Sag etwas, mein Liebling! Du weißt ja nicht, wie viel Schmerz mir dies bereitet …« »Ich werde versuchen, mich daran zu erinnern, wenn Garaptor an meinen Gliedmaßen kaut«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, die vor Verachtung troff. Einer der Ritter stieg vom Pferd, nicht ohne Schwierigkeiten, und ging auf den König und seine Tochter zu. Schwankend ließ er sich mit einem Klirren und dem leichten Quietschen von
Metall auf einem Knie vor der Prinzessin nieder und hob sein Visier, das ebenfalls quietschte. »Eure Hoheit«, sprach er die Prinzessin an. »Ihr wisst, dass ich alles gegeben hätte, um hier bei Euch bleiben und Garaptor entgegentreten zu können, aber Euer Vater hat mir diese Ehre verweigert.« Angewidert blickte die Prinzessin auf den knienden Ritter herab. »Ach, halt die Klappe, Rodney. Wenn du ein richtiger Mann wärst, dann würdest du diesem zittrigen alten Heuchler nicht gehorchen und versuchen, mein Leben zu retten.« »Beatrice!«, rief der König betroffen. »Eure Hoheit, Ihr wisst, dass ich den heiligen Schwur nicht brechen kann, den ich Eurem Vater, dem König, geleistet habe.« »Und was ist mit den Versprechen, die du mir gegeben hast?«, fragte die Prinzessin wütend. »Wenn du wenigstens eins von ihnen gehalten hättest, dann hättest du mich letzte Woche im Nordturm entjungfert, und ich würde jetzt nicht in dieser verdammten Patsche stecken.« »Beatrice!«, rief der König erneut, wobei er noch betroffener klang. Dann wandte er sich dem Ritter zu. »Und Ihr, Sir Rodney …!« »Keine Bange, Vater«, sagte die Prinzessin. »Sir Rodney kam erst gar nicht. Eure Drohung, den Mann, der mich entjungfern würde, zu exekutieren, indem man ihm kochendes Blei in den After gießt, scheint die gewünschte Wirkung erzielt zu haben. Seltsam eigentlich, dass der Erhalt meiner Jungfernschaft Euch wichtiger erscheint als der Erhalt meines Lebens.« »Meine Liebe, du verstehst einfach nichts von diesen Dingen …«
»Entschuldigung!«, rief einer der anderen Ritter. »Ich will Euch nicht unterbrechen, Eure Hoheit, aber sollten wir nicht langsam machen, dass wir hier wegkommen?« »Was?« Der König schaute zum Himmel auf. »O ja, du hast Recht.« Er gab der Prinzessin einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Kopf hoch, Liebes. Das Königreich wird dein Opfer niemals vergessen. Grüß deine Mutter von mir, wenn du sie im Himmel oder wo auch immer triffst. Bye bye.« Er eilte zu seiner Kutsche zurück, und sein Diener half ihm hinein. Sir Rodney erhob sich wieder, nicht ganz ohne Schwierigkeiten. »Beatrice …«, sagte er hilflos. »Ach, verpiss dich, Rodney«, fauchte sie und wandte ihren Blick von ihm ab. Zögernd ging er zu seinem Pferd zurück, um es unter enormen Mühen wieder zu besteigen. Mit der Kutsche des Königs an der Spitze und Sir Rodney als Schlusslicht machte sich die Prozession daran, den Steinbruch zu verlassen, wobei sie ihr Tempo ständig erhöhte. Dann herrschte Stille. Prinzessin Beatrice riss versuchsweise an den Ketten, die sie hielten. »Was für ein beschissener Mist!«, fluchte sie. Travis hätte ihr gerne etwas zugerufen, ihr gesagt, dass sie nicht allein war, aber noch wollte er seine Anwesenheit nicht enthüllen. Das Überraschungsmoment war der einzige Vorteil, den er besaß. Abgesehen von der 45er. Er zog sie aus dem Halfter und entsicherte sie so leise es nur ging. Dennoch hatte die Prinzessin das Klicken gehört und blickte in seine Richtung. »Ist dort jemand?«, rief sie. »Mist!«, murmelte Travis und zog seinen Kopf unter die Zweige zurück.
Dann hörte er das Schlagen schwerer Flügel. Sehr schwerer Flügel. Verdammt schwerer Flügel. »Mist!«, wiederholte er, dieses Mal mit mehr Emphase. Dem Geräusch nach zu urteilen, kreiste der Drache über dem Steinbruch und checkte die Lage. Als er über ihn hinwegflog, glaubte Travis den Luftdruck seiner Schwingen auf dem Blätterdach zu spüren. Das ist ein verdammt großes Vieh, dachte er sorgenvoll. Die 45er lag wie eine Feder in seiner Hand. Er hätte einen Raketenwerfer gebraucht. Das Schlagen der Flügel wurde lauter. Der Drachen landete. Wumms. Die Erde bebte. Jetzt befand er sich auf dem Boden. Langsam, ganz langsam hob Travis den Kopf und spähte durch die Blätter. Und sah Garaptor. In der Tat, ein großer Drache; von Kopf bis Schwanz maß er etwa fünfzig Fuß. Ein äußerst hässlicher dazu. Seine graue, schlaffe Haut war mit warzenähnlichen Auswüchsen übersät, und sein Kopf hätte selbst unter Wasserspeiern Mitleid erregt. Er war genau vor Prinzessin Beatrice gelandet und starrte mit einem hungrigen Glitzern in dem einen blutunterlaufenen Auge, das Travis sehen konnte, auf sie herab. Die Prinzessin, so fiel ihm auf, schaffte es ganz gut, einen trotzigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, was unter den Umständen sicherlich nicht ganz leicht war. Der Drache senkte seinen Kopf zu ihr hinab. Jetzt wird es Zeit, dachte Travis und erhob sich aus seinem Versteck. Wie versteinert blieb er stehen. Irgendetwas geschah mit dem Drachen. Etwas Komisches. Seine Umrisse wurden plötzlich unscharf und verschwammen,
so als betrachte er ihn durch ein falsch eingestelltes Fernglas. Und dann begann er … zu schrumpfen … Er hörte nicht auf zu schrumpfen, bis er die Größe eines Mannes angenommen hatte, der auf allen vieren hockte. Dann wurde die Form fester und genauer, und Travis erkannte, dass es sich tatsächlich um einen Mann auf allen vieren handelte. Ein nackter alter Mann mit langem, schmutzigem weißem Haar. Als er sich erhob, sah Travis, dass es sich in mehrerlei Hinsicht um einen schmutzigen alten Mann handelte, denn der Typ konnte eine beachtliche Erektion vorweisen. Die Prinzessin schnappte entsetzt nach Luft. »Du!«, rief sie aus. Der alte Mann lachte das schmutzige Lachen eines schmutzigen alten Mannes. »Hättet nicht gedacht, dass Ihr mich je wiedersehen würdet, Prinzessin Beatrice, hä? Oh, ich habe so lange auf diesen Augenblick gewartet.« Langsam streckte er eine dreckige Klauenhand nach ihrem Negligée aus, und während er das tat, fing er tatsächlich an zu sabbern. Travis entschloss sich, zu handeln.
KAPITEL 4
Er sprang auf. »Also, das ist jetzt nahe genug!«, rief er und richtete die Pistole auf den nackten alten Mann, der sich umwandte und ihn verblüfft anstarrte. Die Prinzessin sah gleichermaßen verblüfft drein. »Was soll dieses Ränkespiel?«, brüllte der Alte. Er wandte sich wieder der Prinzessin zu. »Einen schönen Helden habt Ihr da, der sich im Gebüsch herumschleicht wie ein gewöhnlicher Dieb.« »Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen«, antwortete sie. »Und gerade du solltest dich nicht aufregen, Moonglot! Sich als Drache auszugeben …« Travis ging auf die beiden zu und hielt die Waffe weiterhin auf den Alten gerichtet. Er war verwirrt. Was nun?, fragte er sich. Einen Drachen zu erschießen war eine Sache, einen unbewaffneten nackten Greis eine ganz andere. Der alte Mann, der sich von seiner anfänglichen Überraschung erholt zu haben schien, musterte Travis kühl. »Wer bist du?«, fragte er. »Ich bin Travis Thomson, freischaffender Abenteurer und Journalist.« »Journalist?«, wiederholte der alte Mann stirnrunzelnd. »Ist das eine Art Zauberer?« »Nun, ich schätze, man könnte mich als einen Zauberer der Worte bezeichnen …«
Der Alte warf einen Blick auf die Pistole und fragte: »Und dieses Ding in deiner Hand – ist das eine Waffe oder ein Talisman?« Travis blieb etwa sechs Fuß vor ihm stehen. »Irgendwie beides«, sagte er. »Also unternehmt nichts, was mich dazu zwingen könnte, es zu benutzen.« Der Alte betrachtete die Pistole. »Scheint mir ein klägliches kleines Ding zu sein. Vorne hat es sogar schon ein Loch.« »Dieses Loch speit den Tod aus«, sagte Travis und versuchte, seiner Stimme eine gewisse Würde zu verleihen. Er bezweifelte, dass ihm das gelang. »Tötet ihn! Jetzt!«, rief ihm die Prinzessin zu. »Er ist ein Zauberer, und zwar ein böser! Gebt ihm nicht die Chance zu …« »Haltet den Mund, Euer Hoheit!«, fuhr der alte Mann sie an. »Ich werde mich Eurer zarten Haut widmen, sobald ich mit diesem Narren fertig bin.« Er fuchtelte wild mit der Hand in der Luft herum und murmelte unverständliche Worte. Dann sah Travis, wie sich der alte Mann langsam aufzulösen begann. Travis feuerte drei Schüsse auf die wabernde Gestalt ab. Wobei er fürchtete, schon zu lange gewartet zu haben und sich gleich einem sehr großen, sehr verärgerten Drachen gegenüberzusehen. Aber der alte Mann nahm seine Gestalt wieder an. Er schwankte von links nach rechts, und in seiner schmalen Brust zeigten sich drei Löcher, aus denen Blut tropfte. Der Alte blickte mit einem verwunderten Ausdruck auf die drei Einschüsse. Dann sah er wieder die Pistole an. »Ich bin beeindruckt«, murmelte er, seufzte, kippte nach hinten und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Travis dachte, die Show sei vorbei, aber plötzlich begann schwarzer Rauch aus den Körperöffnungen
des Zauberers aufzusteigen. Während sich der Rauch über ihren Köpfen zu einer schwarzen Wolke formte, schrumpfte der Körper langsam zusammen. Bald war nichts mehr übrig geblieben als ein Häufchen Staub. Die schwarze Wolke wehte mit einer leichten Brise davon. Travis sah die Prinzessin an. »War's das?«, fragte er. »Ja. Er ist hoffentlich tot. Dank sei der Grünen Königin. Und mein Dank gilt auch Euch, Sir.« »Gehört alles zum Service.« Er ging näher auf sie zu, und ihre Schönheit wärmte sein Gesicht wie loderndes Feuer. Wer auch immer diese Software entworfen hatte, er musste etwas von einem Genie an sich haben. Schwer zu glauben, dass dies Prenderghasts Werk war. Nein, er zog es vor – zumindest für den Augenblick –, daran zu glauben, dass sie aus Fleisch und Blut war. Ihr zulächelnd sagte er: »Ich schätze, Ihr kanntet unseren verblichenen Drachen und Zauberer.« »Ja. Sein Name war Moonglot. Er war Hofzauberer, bis er dabei erwischt wurde, wie er etwas sehr Unanständiges mit kleinen Kindern machte. Mein Vater verbannte ihn, und Moonglot schwor dem König und dem Königreich Rache.« Sie streckte ihm ihre gefesselten Hände entgegen. »Könnt Ihr nicht auch dagegen etwas tun?« Er inspizierte die schwere Kette. »Ich hoffe«, sagte er, nahm die Kette, die ihre Handgelenke miteinander verband, und hielt die Mündung der Pistole dagegen, wobei er nach unten zielte. »Dreht den Kopf weg«, warnte er die Prinzessin. »Ich weiß nicht genau, was passieren könnte …« Das entsprach der Wahrheit. Travis schloss die Augen, hoffte auf das Beste und drückte ab. Die Pistole vibrierte in seiner Hand, und irgendet-
was pfiff an seinem rechten Ohr vorbei. Er öffnete die Augen. Mehrere Glieder der Kette, deren Metall schon alt und spröde schien, waren geborsten. Schnell zog er den Rest der Kette durch die Eisenringe am Pfahl und die Handschellen, und die Prinzessin war befreit. Sie hatte zwar noch die Schellen um die Gelenke, aber die konnte man in Vallium leicht entfernen. »Ich danke Euch noch einmal, Sir«, sagte sie. »Einen sehr wirksamen Talisman habt Ihr da.« »Ich weiß«, sagte er, während er die Pistole ins Halfter schob. Plötzlich schrie er auf. Ein stechender Schmerz durchbohrte seine rechte Wade. Er blickte hinab. Der verdammte Kobold! Offenbar aus Zorn darüber, dass Travis ihm die Aussicht auf die Essensreste geraubt hatte, war er so unverfroren gewesen, ihn mit seiner Gabel ins Bein zu stechen. Travis holte zu einem Tritt aus, doch der Kobold hatte sich mitsamt seinem Besteck bereits getrollt und verschwand gerade zwischen den Felsen. »Geht es Euch gut?«, fragte die Prinzessin. »Ja, ja. Nur ein kleiner Stich. Keine tiefe Wunde«, murmelte er und drückte auf das verwundete Bein. »Also, machen wir uns davon. Mein Pferd wartet nicht weit von hier.« »Und wohin?« »Zurück in Euer Königreich, wohin sonst.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Was meint Ihr damit – nein? Es ist alles geplant. Ich bringe Euch zurück zu Eurem Vater, der überschüttet mich mit Gold, gibt mir vielleicht noch ein paar Säcke mit verschiedenen Preziosen mit, und fort bin ich.« Sie schüttelte erneut den Kopf und verschränkte trotzig die Arme vor ihrem Busen. »Dahin gehe ich nicht zurück!«
»Ihr müsst! Es ist Eure Heimat!« »Ihr wart doch in Vallium, nicht wahr?« »Ja, nun – ganz kurz.« »Würdet Ihr freiwillig dorthin zurückgehen?« Er überlegte kurz. »Hm, ich schätze nicht. Aber Ihr seid schließlich die Prinzessin. Ihr gehört dorthin. Euer Vater ist dort …« »Diese Ratte? Ich hasse ihn. Er hat meine Mutter in den Selbstmord getrieben. Sie ist vor drei Jahren vom Südturm gesprungen.« »Oh, das tut mir Leid, aber wo wollt Ihr sonst hin?« »Wo auch immer Ihr hingeht. Eine Weile zumindest.« Jetzt war es an Travis, den Kopf zu schütteln. »Kommt gar nicht in Frage. Und, nichts für ungut, Prinzessin, ich brauche das Geld dringend.« »Ich will nicht zurück«, sagte sie bestimmt. »Und wenn Ihr mich zwingt, dann sage ich meinem Vater, Ihr hättet mich vergewaltigt. Ich bin sicher, dass Ihr euch vorstellen könnt, was mein Vater mit Euch täte, wenn ich ihm das erzähle.« Travis dachte ein paar Sekunden lang an flüssiges Blei. »Aber Eure Hoheit, ich habe Euch das Leben gerettet! Das könnt Ihr mir doch nicht antun!« »Es tut mir Leid, ich kann nicht anders. Ich bin verzweifelt. Ich gehe nicht zu ihm zurück.« Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Im Kreis. Sinnlos. »Aber … aber …«, stammelte er hilflos. »Ich meine, ich habe ja gar kein Geld. Wovon sollten wir leben?« Sie sah auf ihre Hände hinab. »Mein Vater hat mir alle Ringe von den Fingern gezogen, bevor wir das Schloss verließen. Ich
besitze nichts von Wert, das wir verkaufen könnten.« Travis war der Meinung, dass man über diese Ansicht möglicherweise geteilter Meinung sein konnte, aber er beschloss, das Thema nicht zu vertiefen. »Also? Wie könnten wir da überleben?« »Wie steht es mit Euch? Besitzt Ihr denn gar nichts?«, fragte sie. »Nur mein Pferd, und das brauche ich.« Noch während er sprach, hörte er Hufgeklapper. Konnte es sein, dass der gute alte Whiplash aufs Stichwort erschien, wie Fury das Wunderpferd? Er drehte sich um. Nein, natürlich nicht. Einer der Ritter kam auf sie zu. Langsam zog Travis seine Waffe aus dem Halfter. Der Ritter hielt vor ihnen an und lüftete sein Visier. »Sir Rodney!«, rief die Prinzessin. »Du erstaunst mich!« »Meine Liebste! Ich konnte nicht anders, ich musste Eurem Vater den Gehorsam verweigern und zurückkehren. Ich schwor, dass ich mit Euch sterben wolle, wenn ich Euch nicht retten kann!« Er blickte sich um. »Aber wo ist der Drache?« Dann deutete er mit seiner Lanze auf Travis. »Und wer ist dieser Geck?« »Er nennt sich Travis, und trotz seines geckenhaften Aussehens hat er mir das Leben gerettet. Er hat Garaptor getötet.« »Hat er?« Sir Rodney klang nicht im Mindesten überzeugt. Erneut sah er sich um. »Wie hat dieser Geck das angestellt? Und wo ist der Kadaver?« »Er hat einen magischen Talisman. Zeigt ihn ihm, Travis.« Travis, der etwas verärgert darüber war, dass man ihn in drei Sätzen dreimal einen Gecken genannt hatte, hielt die Pistole hoch. Sir Rodney sah sie verwundert an. »Und damit habt Ihr
den Drachen getötet?« »Das hat er«, sagte die Prinzessin. »Und was den Kadaver betrifft, der hat sich in einer Rauchwolke aufgelöst.« Sir Rodney starrte sie an. »Ach ja?« »Ist ein bisschen schwierig zu erklären«, sagte sie. »Aber Garaptor war kein richtiger Drache. Es war Moonglot, der alte Magier meines Vaters. Im Laufe der Jahre muss er viel dazugelernt haben, denn er besitzt nun die Fähigkeit, sich in einen Drachen zu verwandeln. Als er noch am Hofe meines Vaters gearbeitet hat, konnte er so etwas mit Sicherheit nicht. Immerhin hat er sich mal auf einer meiner Geburtstagspartys in eine Wühlmaus verwandelt.« Sie hielt inne. »Du erinnerst dich doch an Moonglot, nicht wahr?« »Ähm, nun, ich fürchte nicht, Eure Hoheit«, sagte Sir Rodney. »Tut mir Leid«, fügte er schnell hinzu. »Nun, dann ist er wohl verbannt worden, bevor du an den Hof kamst. Jedenfalls, nachdem er als Drachen gekommen war, verwandelte er sich wieder in Moonglot. Er wollte mich vergewaltigen. Ich bin sicher, wenn er seine geile Begierde an mir gestillt hätte, wäre er in der Lage gewesen, sich wieder in Garaptor zu verwandeln und mich zu verschlingen. Es steht zu befürchten, dass er es mit allen als Opfer dargebrachten Jungfrauen so gemacht hat.« Voller Ekel schüttelte sie den Kopf. »Was für ein schrecklicher Kerl. Zum Glück tötete Travis ihn, bevor er sich wieder in den Drachen verwandeln konnte. Und dann löste sich sein Körper einfach in Rauch auf und wehte davon.« Sir Rodney schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er: »Nun, nun … Natürlich. Klingt völlig überzeugend.« Nicht ohne Mühen stieg er von seinem Pferd und lehnte seine Lanze gegen das
Tier. Dann reichte er der Prinzessin seine Hand. »Aber was immer hier auch geschehen sein mag, das Wichtigste ist doch, dass Ihr gerettet seid. Erlaubt mir, Euch auf mein Pferd zu helfen. Wir werden nach Vallium zurückkehren. Euer Vater wird entzückt sein, Euch lebendig und unversehrt wiederzusehen.« Sie ignorierte seine ausgestreckte Hand. »Nein, Rodney, ich komme nicht mit zurück.« Er sah sie entgeistert an. »Wie bitte?« »Du hast mich richtig verstanden. Ich kehre nicht nach Vallium zurück. Ich laufe mit Travis davon. Er ist ein Abenteurer. Und ein Journalist – was auch immer das ist. Ich will so sein wie er. Ich will die Welt sehen. Ich will reisen und Abenteuer erleben.« »Ähm, ganz so verhält es sich ja nicht …«, versuchte Travis zu berichtigen, aber sie hörte ihm gar nicht zu. Sir Rodney starrte sie mittlerweile mit einem Ausdruck tiefsten Entsetzens an. »Aber Eure Hoheit, das könnt Ihr nicht machen! Ihr seid eine Prinzessin! Das gehört sich nicht!« »Nun, finde dich damit ab, dass ich es machen werde! Ich habe mich entschlossen!« Sir Rodney betrachtete Travis mit einem misstrauischen Blick. »Ich glaube, ich fange an zu begreifen …« Er deutete auf Travis. »Er ist der böse Zauberer! Er hat Euren Geist durch Magie verwirrt!« »Ach, Blödsinn, Rodney«, sagte sie. Doch Sir Rodney glaubte eine Erklärung gefunden zu haben, die ihm äußerst einleuchtend erschien, und er hatte nicht vor, sie aufzugeben. Er zog sein Schwert.
Travis wich zurück. »He, das mit dem ›Zusammenweglaufen‹ war wirklich nicht meine Idee«, verteidigte er sich. »Das stammt ganz allein von ihr! Ich wollte sie zu ihrem Vater zurückbringen und eine schöne Belohnung kassieren …« Seine Worte stießen auf taube Ohren. Der Ritter ging auf Travis zu, der noch schneller zurückwich. »Benutzt Euren Talisman gegen ihn, Travis!«, rief die Prinzessin. »Aber tötet ihn nicht. Es soll ihn nur aus dem Anzug hauen!« »Tut mir Leid, Eure Hoheit!«, rief er zurück. »Aber dieses Ding hat keine Feineinstellung!« Sir Rodney stürzte sich auf ihn, wobei dieses Stürzen eher behäbig aussah, da ihn seine schwere und einfach konstruierte Rüstung sehr behinderte. Travis konnte sich der Gefahr leicht durch einen Schritt zur Seite entziehen. »Bitte, Sir Rodney. Ich möchte Euch nicht wehtun.« »Hoho!« bellte Sir Rodney und machte dabei einen weiteren langsamen und plumpen Ausfallschritt gegen Travis. »Du magst mit deinen Tricks den schwachen Geist einer Frau verwirrt haben, aber jetzt hast du es mit einem Mann und Ritter des Königreiches zu tun! Mach dich zum Sterben bereit!« Mit hoch erhobenem Schwert wälzte er sich ein drittes Mal auf Travis zu. Zur Hölle mit diesem Soldatenspiel, dachte Travis, zielte mit der Pistole auf Sir Rodneys Fuß und drückte ab. Mit einem Aufschrei und dem Krachen von Metall stürzte Sir Rodney zu Boden. Travis eilte auf den stöhnenden Ritter zu; er fürchtete, ihn vielleicht doch ernsthaft verwundet zu haben. »Tut mir Leid, aber ich habe Euch gewarnt«, sagte er, während er sich über ihn beugte und seine Rüstung untersuchte. Erleichtert
atmete er auf, als er sah, dass sich das Einschussloch am Ende des gepanzerten rechten Stiefels von Sir Rodney befand. Die Prinzessin eilte ebenfalls herbei. »Ich bat Euch doch, ihn nicht zu töten«, sagte sie tadelnd. »Er wird nicht sterben« – es sei denn durch den Schock, dachte Travis düster –, »aber vielleicht hat er ein paar Zehen verloren.« »Aaah! Auuuuh! Ooooh!«, schrie Sir Rodney. Er versuchte sich aufzurichten, jedoch vergeblich. Travis gelang es schließlich, ihn in eine sitzende Stellung zu hieven. Während sich die Prinzessin neben Rodney kniete und ihm den Helm abnahm, widmete Travis sich der schwierigen Aufgabe, den rechten Stiefel zu lösen und ihm vom Fuß zu ziehen. Diese Prozedur wurde von weiteren Schreien Rodneys begleitet. »Ach, sei doch still, du großes Kind«, ermahnte ihn die Prinzessin. Schließlich gelang es Travis, Rodney den Stiefel aus Metall und Leder abzustreifen. Ein schmutziger brauner blutdurchtränkter Strumpf kam zum Vorschein. Travis zog den Strumpf aus, um den Schaden zu begutachten. Beim Anblick von Rodneys Fuß wurde ihm schlecht: Dem Ritter fehlte der große Zeh! Wahrscheinlich steckte er noch im Strumpf. Travis spürte kein Verlangen, nachzusehen. Glücklicherweise blutete die Wunde nicht allzu sehr. »Er wird es überleben«, versicherte er der Prinzessin, die einen Streifen aus ihrem Opfergewand riss, um Rodney einen Verband anzulegen. »Aber er braucht Hilfe, um nach Vallium zurückzugelangen.« Insgeheim hoffte er, dass sie sich die Sache mit dem Davonlaufen vielleicht doch überlegt hätte. Aber vergeblich. Während sie Rodneys Fuß bandagierte, sagte sie:
»Bald wird eine Patrouille kommen, um festzustellen, ob der Drache mich auch wirklich verschlungen hat. Sie werden ihn mitnehmen.« »Schön«, sagte Travis. »Aber dennoch bleibt das finanzielle Problem.« »Nicht mehr«, sagte sie heiter und pochte gegen Sir Rodneys Brustschild. »Höchstwahrscheinlich steckt irgendwo darunter seine Geldbörse. Und die Rüstung selbst hat auch einigen Wert. Wir können sie mitnehmen und unterwegs verkaufen. Seine Waffen auch … sein Pferd nehme ich.« Rodney stöhnte auf, dieses Mal nicht vor Schmerzen. »Prinzessin! Ich kann nicht glauben, was ich da höre! Wahrhaftig, dieser verschlagene Magier hat Eure Sinne in seiner Gewalt.« Ungerührt begann sie, die Verschlüsse seiner Rüstung zu lösen. »Meine Sinne befinden sich einzig und allein in meiner Gewalt, Rodney. Darauf hätte ich schon längst achten sollen. Der schwache Geist einer Frau, ach ja? Ich werde das nicht vergessen. Und hör jetzt endlich auf zu jammern. Mein Vater wird dich schon entschädigen … falls er dich nicht hinrichten lässt, weil du seine Befehle missachtet hast.« Rodney sträubte sich, und die Prinzessin schlug ihn mit der flachen Hand auf den Kopf. »Hör auf damit, sonst befehle ich Travis, noch einmal seinen Talisman einzusetzen.« Rodney bewegte sich nicht mehr, stattdessen sagte er mit leiser Stimme: »Ich kann nicht glauben, dass Ihr mir das antut, Eure Hoheit. Nach allem, was wir einander bedeutet haben.« »Oh, erspar mir deinen romantischen Unsinn, Rodney. Du warst für mich lediglich das Mittel zum Zweck, meine Jungfräulichkeit zu verlieren. Aber du hast mich im Stich gelassen, du
aufgeblasener Clown.« Rodney starrte Travis düster an. »Das ist alles deine Schuld, Zauberer!«, schnarrte er. »Du hast meine liebste Prinzessin Beatrice verhext. Und dafür musst du sterben. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Rache genommen habe.« »O je, ich bin sicher, jetzt zittert Travis wie Espenlaub«, sagte die Prinzessin lachend. »Ist es nicht so, Travis?« Travis entgegnete nichts. Etwa zehn Minuten später waren sie fertig zur Abreise. Sir Rodney saß auf dem Boden, nur noch mit dem bekleidet, was in Samella gemeinhin als Unterhose durchging. Die Prinzessin hatte ihn mit Stoffstreifen aus ihrem Opfergewand sorgfältig verschnürt. Einer der Streifen lief über seinen Mund und sorgte somit dankenswerterweise dafür, ihn stumm zu halten. Als sie fertig war, hatte sich das Opfergewand in einen knappen Mini verwandelt, und Travis fühlte sich zugleich enttäuscht und erleichtert, als sie hinter einem Busch verschwand, um sich Sir Rodneys Klamotten anzuziehen. Gerade versuchte sie, ihr langes schwarzes Haar zusammenzuknoten. »Travis, wenn ich deinen Hut trage und mein Haar darunterstecke, glaubst du, ich könnte als junger Mann durchgehen?«, fragte sie in nunmehr recht vertraulichem Ton. »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. Trotzdem streckte sie ihre Hand nach seinem Hut aus. Gehorsam gab er ihn ihr. Sie setzte ihn auf und verbarg ihr Haar darunter. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie, als sie fertig war. Er betrachtete sie eingehend. Trotz der Männerkleidung und dem unter dem Hut versteckten Haar sah sie noch immer aus wie
eine betörend schöne junge Frau. Dennoch sagte er: »Es ist schon verblüffend, welchen Unterschied das macht … Andy.« Sie lachte. »Andy? Was soll das für ein Name sein?« »Eine Abkürzung von Andrew.« »Andrew«, wiederholte sie langsam. »Ja, das gefällt mir. Ja, von nun an werde ich Andrew heißen, und ich werde vorgeben, dein junger Diener zu sein.« Sie ging zu Sir Rodney hinüber und klopfte ihm auf den Kopf. »Auf Wiedersehen, Rodney, du dummer Kerl. Wenn du meinen Vater siehst, dann sag ihm doch bitte, was für ein beispielloses Schwein er ist. Und warne ihn: Jeder, den er schickt, um mich zurückzuholen, wird ebenfalls dem mächtigen Talisman meines Beschützers zum Opfer fallen.« Rodney gab einige zornige, durch den Knebel jedoch gedämpfte Laute von sich. Sie lächelte ihm zu und ging zu seinem Pferd, an dessen Seite Rodneys Rüstung, Lanze, Schild und Schwert festgezurrt waren. »Hilf mir aufsteigen«, sagte sie zu Travis, »damit wir hier fortkommen.« Er stellte sich neben das Pferd, beugte sich vor und formte mit ineinandergehakten Händen einen Steigbügel. Sie hob ihren zierlichen nackten Fuß – ein Paar Stiefel für sie zu besorgen stand ganz oben auf der Liste – und stellte ihn in seine Hände. Dann stützte sie sich auf seiner Schulter ab und schwang sich in den Sattel. »Gut. Geh voran und zeig mir, wo du dein eigenes Pferd versteckt hast.« »Jawohl, Eure Hoheit«, sagte er und ergriff das Zaumzeug. »Ach bitte, nenn mich nicht so! Wenn unsere Maskerade Erfolg haben soll, dann darfst du mich von nun an nur noch Andrew nennen … oder Andy.«
Ihre ›Maskerade‹ hatte so viel Aussicht auf Erfolg wie ein englischer Tennisspieler, aber Travis zog es vor, die Prinzessin bei Laune zu halten. »Also gut, Andy«, sagte er, während er das Pferd zum Ausgang des Steinbruchs führte. »Aber um völlig überzeugend zu wirken, brauchst du einige Lehrstunden, damit du dich wie ein Diener benehmen kannst.« »Ja, du hast Recht«, sagte sie nickend. »Es gibt noch ein anderes Thema, über das wir sprechen müssen«, meinte er. »Und das wäre?« »Es betrifft Jack.«
KAPITEL 5
»Ist das hier so wie in Täglich grüßt das Murmeltier?«, hatte Travis Jack vor einiger Zeit gefragt. »Wie in was?«, war Jacks Gegenfrage gewesen. Das Gespräch hatte in der dritten Woche nach Travis' Ankunft stattgefunden. Sie hatten auf einer Lichtung kampiert, die man von der Straße, auf der sie reisten, nicht einsehen konnte. Am Morgen hatte es eine unangenehme Begegnung mit einigen Banditen gegeben. Travis war gezwungen gewesen, einen von ihnen zu erschießen, bevor die anderen ihren Versuch, sie zu überwältigen, aufgaben und flohen. Zu dem Zeitpunkt hatte Travis noch keinerlei Skrupel gehabt, irgendjemanden zu erschießen. Schließlich war er noch immer – und zwar ziemlich fest! – überzeugt davon, dass dies eine computerisierte Scheinwelt war. »Täglich grüßt das Murmeltier. Der Film mit Bill Murray.« Jack schüttelte den Kopf. »Muss rausgekommen sein, nachdem Prenderghast mich gezappt hat.« »Wann war das?« »Im August 1992. Ein Mittwoch.« »Ja, dann hast du es verpasst. Billy Murray spielt diesen zynischen Fernsehreporter, der in einem kleinen Provinznest feststeckt. Er steckt außerdem noch in dem gleichen Tag fest und muss den gleichen Tag immer und immer wieder durchleben. Zwar ist er nicht ganz gleich – er kann die Ereignisse jedes Mal
beeinflussen –, aber jeden Morgen, wenn er aufwacht, ist derselbe Tag wie am Abend zuvor …« Jack schwang sich plötzlich in die Luft und grabschte nach einem kleinen Vogel, der gerade vorbeiflog. Er erwischte ihn jedoch nicht und ließ sich fluchend wieder auf den Boden sinken. »Mach's kurz«, brummte er. »Nun, nachdem dieser Typ, den Murray spielt, erkennt, dass er auf unabsehbare Zeit in diesem Tag steckt, versucht er diese Tatsache auszunutzen, um seine Kollegin zu verführen, die von Andy MacDowell gespielt wird … kennst du doch sicher?« »Aber klar. Sex, Lügen und Video und andere Sachen. Gut aussehende Puppe. Also … das war ein verdammt cleveres Ding … Hat kaum was gekostet und ein verdammtes Vermögen eingespielt. Und das ohne eine einzige gute Sexszene. Also wenn ich diesen Film gemacht hätte …« »He, ich versuche hier etwas rüberzubringen.« »O je …«, murmelte Jack und holte seine Zauberpackung Marlboro hervor. »Also, Murray versucht mit allen möglichen Tricks, MacDowell ins Bett zu kriegen, aber es klappt nicht. Und natürlich verliebt er sich dabei in sie. Der Punkt ist: Erst als Murray seine einzigartige Lage dazu benutzt, anderen Leuten in der Stadt zu helfen, als er selbstlos handelt, da gewinnt er MacDowells Liebe. Und sobald das geschieht, löst sich der Fluch von ihm, auf ewig im gleichen Tag gefangen zu sein. Und er kann mit Andy MacDowell glücklich werden.« »Ja, dieser Film hat wirklich Geld gemacht«, sagte Jack. »Es war ein Kassenschlager.« »Puh. Aber worauf wolltest du hinaus?«
»Nun, vielleicht soll auch mir eine Lektion erteilt werden, so wie diesem Reporter. Muss ich mich irgendwie zum Guten hin verändern, bevor ich in die wirkliche Welt zurückdarf?« Jack gackerte hemmungslos. Dann sagte er: »Meinst du das ernst? Du glaubst, du befindest dich hier auf einem moralischen Aufrüstungskurs? Ha!« »Ich hielt es für eine mögliche Erklärung«, murmelte Travis. »Hör zu, Holzkopf«, geiferte Jack und streifte die Zigarettenasche in Travis' Richtung ab. »Prenderghast kümmert sich einen Dreck um dein moralisches Wohlverhalten. Du bist hier, weil er sauer auf dich ist. Wie auf mich. Du bist nicht hier, um irgendeine Puppe kennen zu lernen und dich zu verlieben. Du bist hier, damit es dir schlecht geht. Und du steckst hier so lange fest, bis du den beschissenen Schlüssel findest, wie ich schon sagte.« Travis seufzte tief. »Der Schlüssel. Ja. Ich weiß, dass du mir dauernd erzählst, ich müsste diesen Schlüssel finden, aber du sprichst nie davon, wie ich das machen soll oder wie er aussieht.« »Das kommt daher, dass ich es selbst nicht weiß, Holzkopf.« Er schnippte den Zigarettenstummel weg. Travis schwieg eine Weile. Während die Sonne am Horizont versank, wurde es langsam kühl. Er zog seinen Umhang fester und bedauerte, dass sie kein Feuer entzünden konnten, weil sich in der Nähe wahrscheinlich noch andere Banditen aufhielten. »Und wie kommst du von hier weg?«, fragte er schließlich Jack. »Suchst du auch nach einem Schlüssel?« »Nein. Für mich gibt es keinen Schlüssel. Ich bin die ganze Spielzeit über hier, so lange, bis du entweder den Schlüssel
findest oder getötet wirst.« »Lass uns doch die Sonnenseite betrachten … gehen wir mal davon aus, dass ich den Schlüssel finde, bevor ich getötet werde. Wohin gehst du dann?« »Keine Ahnung. Ich hoffe nur, ich muss nicht dahin zurück, wo ich vorher war.« »Und wo war das?« Der Dämon erschauerte. »Frag mich nicht.« Travis tat es nicht. Stattdessen fragte er: »Was genau hast du Prenderghast getan, dass er so wütend auf dich ist?« »Ich habe ihn übers Ohr gehauen. Zumindest habe ich es versucht. Wenn ich nur damals schon gewusst hätte, was ich später über ihn herausgefunden habe …« Er erschauerte noch einmal. »Und wie wolltest du ihn übers Ohr hauen?« »Er kam zu mir und schlug vor, ein Geschäft über eine Reihe billiger Exploitation-Filme zu machen. Aber sie sollten mit einer speziellen Ausrüstung gedreht werden und auf speziellem Filmmaterial, das er zur Verfügung stellen wollte. Ich hielt ihn für einen exzentrischen alten Narren mit mehr Geld als Verstand, also nahm ich sein Geld und machte erst mal Ferien. Ich amüsierte mich gerade prächtig in Las Vegas, als er mich aufspürte und mir sehr deutlich machte, dass ich es nicht mit einem exzentrischen alten Narren zu tun hatte. Für Entschuldigungen war es zu spät.« Er steckte sich eine Zigarette an. Travis sah den Dämon an. So wie er es erzählte, klang das alles so realistisch. Travis sah sich um; die Lichtung, die dunkelnden Wälder … Vielleicht befand er sich ja tatsächlich in einer anderen Welt und auf einer anderen Existenzebene, was
für eine es auch immer war. Und Prenderghast war kein millionenschwerer Spielzeughersteller, sondern ein außerirdisches Wesen mit unbegrenzten Kräften … eine gottähnliche Gestalt, die einen sehr tiefen Groll gegen ihn hegte. Plötzlich wurde er auf äußerst angenehme Art aus diesen düsteren und morbiden Gedanken gerissen. Zwei Elfen, deren Flügel in roten, grünen und gelben Farben schillerten, flogen über die Lichtung und jagten einander spielerisch hinterher. Doch ihr Spiel fand ein abruptes Ende, als Jack mit seinem lavaheißen Speichel nach ihnen spuckte. Ärgerliche, spitze Schreie ausstoßend, machten sie sich davon. »Ich kann diese bescheuerten Elfen nicht ausstehen«, murmelte Jack. Nein, dachte Travis, das alles ist völlig unmöglich. Nichts davon ist wahr. Hoffe ich. Whiplash und Jack warteten dort, wo er sie zurückgelassen hatte, im tiefsten Dickicht verborgen. Wie zu erwarten, ließ Jack einen wolfsähnlichen Pfeifton erklingen, als er die Prinzessin sah. »Wow, was für eine Braut!«, meinte er anerkennend. »Die Prinzessin höchstselbst, nehme ich an.« Er flatterte von Whiplashs Sattel auf den Kopf des geliehenen Pferdes und starrte sie lüstern an, bis sie voller Ekel zurückwich. »Aber ich wusste nicht, dass sie eine Travestie-Show abzieht.« »Sie ist verkleidet « »Na klar doch. Und ich bin Sharon Stone. Nun, meine Hochachtung. Das ist schon ziemlich abgedreht.« Er schmatzte viel sagend mit den Lippen.
»Iih!«, kreischte Beatrice. »Er ist ja noch ekelhafter als du sagtest, Travis. Und er riecht abscheulich.« Jack beugte sich näher zu ihr. »Aber du, meine süße Schnecke, riechst dafür umso hinreißender.« Er drehte sich um und grinste Travis an. »Ich bin beeindruckt. Eigentlich war ich mir sicher, dass deine Aussichten so gut wären wie die eines Schneeballs in der Hölle. Wie ist es dir gelungen, den Jungferngourmand zu töten?« »Es handelte sich eigentlich nur um einen Teilzeitdrachen. In Wirklichkeit war es ein Zauberer, der sich als Drache ausgab. Ich erwischte ihn, als er seine menschliche Gestalt angenommen hatte.« »Gut für dich, Holzkopf. Also brauchen wir jetzt nur noch nach Vallium zurückkehren und uns die Belohnung von ihrem Alten abholen.« Travis schüttelte den Kopf. »Es gibt da noch ein kleines Problem.« »Ein kleines Problem?«, fragte Jack argwöhnisch. Travis deutete auf die Prinzessin und erzählte Jack von ihrer Weigerung, nach Vallium und zu ihrem Vater zurückzukehren. »Sie will mit uns kommen – also, mit mir – und Abenteuer und so erleben.« »Die spinnt«, sagte Jack und wandte sich an sie: »Du spinnst, Schnecke. Unser Leben ist rau, Baby, wirklich rau. Nach ein paar Tagen und Nächten wirst du dir wünschen, du wärst in deinem hübschen, gemütlichen Schloss geblieben.« »Bestimmt nicht«, sagte sie unbeirrt. »Und so nett und gemütlich ist das Schloss auch nicht.« »Nichts für ungut, Schnecke, aber wir brauchen das Geld, das
dein Paps uns zukommen lassen würde, wenn wir ihm deinen wunderschönen, nicht einmal angeknabberten Leib zurückbringen. Wir sind pleite.« »Nicht ganz«, sagte Travis und hielt Sir Rodneys Börse hoch. »Und diese Rüstung können wir verkaufen.« Jacks Blick fiel auf die Rüstung und die Waffen. »Woher habt ihr das?« Travis erzählte ihm von dem unglücklichen Sir Rodney. Jack lachte. »Da wir gerade von Sir Rodney sprechen«, warf Beatrice ein. »Sobald er nach Vallium zurückgekehrt ist, wird er meinem Vater bestimmt erzählen, dass ihr mich entführt habt. Und dann wird uns mein Vater, der ja schließlich an seine kostbare Ehre denken muss, Soldaten hinterherschicken. Wir sollten also sofort aufbrechen « »Und vielleicht, Baby«, sagte Jack, »sollten wir dich auf alle Fälle nach Vallium zurückbringen, egal was du nun willst.« »Ähm, das kommt wohl nicht in Frage, Jack«, meinte Travis und erwähnte Beatrices Drohung und die unweigerliche Behandlung mit flüssigem Blei, die folgen würde. »Aua«, sagte Jack und schüttelte sich. »Nun, dieses Argument leuchtet ein.« »Ja«, pflichtete Travis ihm bei und schwang sich auf Whiplash. »Und wenn sie sagt, dass wir schnellstens verschwinden sollten, hat sie auch Recht. Also los.« »Eines noch«, sagte Beatrice. »Können wir die hier nicht irgendwie entfernen? Sie sind nicht nur unbequem, sie werden auch überall Verdacht erregen.« Dabei hielt sie ihre in Handschellen steckenden Hände hoch.
»Kein Problem, Baby, lass mich mal sehen.« Jack griff nach ihrer Hand. Sie schreckte zurück, aber dann hielt sie ihm ihre Arme hin. Er nahm eine der Handschellen in seine langen dünnen Finger und zog daran. Mit einem schnappenden Geräusch sprang sie auf. Mit der anderen tat er das Gleiche. Er zwinkerte Beatrice zu und sagte: »Für meine Größe bin ich ziemlich stark, und woanders bin ich ebenfalls sehr gut bestückt …« »Das reicht, Jack. Komm sofort hierher.« Zögerlich erhob sich der Dämon in die Luft und flatterte zu seinem üblichen Platz auf Whiplashs Kopf, wo er sich zusammenkauerte. »Es wurde gerade lustig«, sagte er säuerlich. »Benimm dich gefälligst. Sie ist eine Prinzessin. Aber sprich sie ja nicht so an. Sie glaubt, sich als mein junger Diener ausgeben zu können.« »So wie sie aussieht? Du machst Witze!« »Ich weiß, aber halte sie bei Laune, bitte.« »Natürlich. Und wie nennst du sie?« »Andy.« »Andy? Andy?« Jack brach in wieherndes Gelächter aus. »Brechen wir auf«, sagte Travis gereizt. Sie ritten auf den Feldwegen, hielten sich so weit wie möglich von den so genannten ›Hauptstraßen‹ entfernt und versuchten so schnell vorwärtszukommen, wie es nur ging. Leider war das nicht allzu schnell, da Beatrices entliehener Gaul immer wieder hinterherhinkte. »Wenn wir erst einmal die Rüstung und das andere Zeug losgeworden sind, geht es besser«, meinte Travis zur Prinzessin, als sich der leichte Galopp des Pferdes wieder
einmal zu einem müden Traben verlangsamt hatte. »Wir können sie doch gleich in der ersten Stadt verkaufen, die wir erreichen«, entgegnete sie. »Wahrscheinlich ist es klüger, Städte im Augenblick ganz zu meiden. Wenn wir die Rüstung zu früh verkaufen und die Männer deines Vaters hören davon, verraten wir damit nur, in welcher Richtung wir unterwegs sind.« »Ich wünschte, wir könnten sie einfach irgendwo in die Büsche werfen oder im Wald verstecken.« »Das wünschte ich auch, aber das Geld aus Sir Rodneys Börse wird nicht lange vorhalten. Wir brauchen die Schillinge, die uns der Verkauf der Rüstung und der Waffen einbringt.« »So ist es wohl«, seufzte die Prinzessin. Nach einer Weile fragte sie: »Warum reist du eigentlich mit diesem scheußlichen Dämon?« »Glaube mir, freiwillig tu' ich's nicht«, antwortete er und blickte gen Himmel. Jack hatte sich dankenswerterweise auf eine Erkundungstour begeben, und es sah nicht so aus, als könne er jeden Augenblick zurückkehren. »Wir sind durch eine Art vertraglicher Abmachung, die wir nicht brechen können, aneinander gebunden – bis auf weiteres jedenfalls.« »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Es ist alles sehr verwirrend.« Sie sinnierte eine Weile vor sich hin, dann fragte sie: »Aus welchem Land kommst du? An der Art, wie du sprichst, merkt man deutlich, dass du ein Ausländer bist.« »Ich bin allerdings Ausländer«, sagte Travis lachend. »Ich komme aus einer weit entfernten Galaxis.«
»Einer was?« »Ich komme aus einer anderen Welt, Beatrice. Das hat man mir zumindest gesagt.« »Oh«, meinte sie und nickte. »Du meinst, du kommst aus Avedon«, damit deutete sie zu Samellas größtem Mond hinauf, von dem Travis wusste, dass er bewohnt war. »Nein, nicht aus Avedon. Meine Welt ist viel weiter entfernt.« »Wirklich?« Ihre Stimme hatte einen misstrauischen Klang angenommen. »Ich weiß von keiner solchen Welt. Wie bist du hierher gekommen?« »Keine Ahnung. Durch Zauberei, so wie es aussieht.« »Oh«, machte sie, als erkläre das alles. »Und wie sieht deine Welt aus?« »Ganz anders als diese.« »Inwiefern?« »Man brauchte viel Zeit, um das zu erklären.« »Ist sie besser als Samella?« »Für einige Menschen schon – für die, die das Glück haben, in den reichen Ländern zu wohnen. Aber für die meisten Bewohner meiner Welt ist das Leben ein Haufen Scheiße. Und ähnelt dem hier.« »Kommst du aus einem der reichen Länder?« »Nun, es war einmal reich, aber die Regierung tut ihr Bestes, um das alles zu ändern.« »Vermisst du deine Welt?« »Klar. Und meine Familie und meine Freunde natürlich – und meine Freundin, Heather. Ich vermisse Dinge wie die Zeitung, das Radio und das Fernsehen, Restaurants, Kinos,
guten Wein, mein Auto …, aber am meisten vermisse ich fließendes Wasser und Toilettenpapier.« »Das meiste von dem, was du aufgezählt hast, kenne ich nicht.« »Ich weiß … tut mir Leid.« »Was, zum Beispiel, ist eine Freundin? Eine Frau, die dein Freund ist? Und wieso hast du nur eine Frau als Freund? Ist das ein Gesetz in deiner Welt?« Travis lachte. »Nein, nein, es ist kein Gesetz. Eine Freundin ist … ein weiblicher Freund, der eben mehr ist als ein Freund.« Sie dachte eine Weile nach und sagte dann: »Oh, du meinst, sie ist deine Geliebte?« »Ja, genau«, bestätigte er und sah sie von der Seite an. Er sah sie ziemlich häufig an. Und jedes Mal, wenn er das tat, ließ ihre Schönheit sein Herz schneller schlagen. »Du wirst sie also heiraten, wenn du in deine eigene Welt zurückkehrst?«, fragte sie. Travis zögerte. Als Ehepaar hatte er sich und Heather eigentlich nie gesehen. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Du liebst sie also nicht?« »Ich weiß nicht«, antwortete er ehrlich. »Manchmal glaube ich, ja, aber dann bin ich mir wieder nicht sicher. Ich mag sie sehr gerne. Es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sein.« »Ist sie eine gute Geliebte?« Wieder sah er sie an. Sie meinte es ernst. »Ja, das ist sie«, verriet er ihr. Aber sie hat ja auch eine Menge Erfahrung, fügte er in Gedanken hinzu. Beatrice seufzte. »Ich habe mich noch nie mit jemandem der Liebe hingegeben.«
»Na ja, wenn man Jungfrau ist, gehört sich das wohl auch nicht.« »Natürlich weiß ich alles darüber. Meine beiden Kammerzofen haben Geliebte, und sie müssen mir alle Einzelheiten erzählen. Es klingt wunderbar.« »Nun, meistens ist es das auch. Es sei denn, man hat eine Flasche Wein zu viel getrunken.« Die Vorstellung der schönen Beatrice in einer Situation, die man als ›sich der Liebe hingeben‹ bezeichnen könnte, begann Travis einiges Unbehagen in der Gegend seines Hosenbeutels zu bereiten. Er hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Bist du sicher, dass du dein früheres Luxusleben so schnell aufgeben kannst? Jack hat nicht übertrieben, als er davon sprach, wie rau das Leben auf der Straße sein kann. Und dabei hat er den Ziegenhodeneintopf nicht einmal erwähnt.« »Ich bin nicht irgend so ein verweichlichtes, hilfloses Mädchen. Schon als Kind bin ich mit auf die Jagd gegangen. Ich kann ausgezeichnet reiten und gut mit Pfeil und Bogen umgehen.« »Trotzdem, es wird ganz schön hart für dich werden«, sagte er. »Vielleicht änderst du deine Meinung noch.« »Das werde ich nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Aber wie sehen deine Pläne für die weitere Zukunft aus?« »Also, die Welt ist groß, und ich habe erst einen kleinen Teil davon gesehen. Und vielleicht komme ich mit dir und sehe mir deine Welt an, wenn du dich entscheidest, zurückzukehren.« Travis sah sie verblüfft an. Darauf fiel ihm keine Entgegnung ein.
Dafür ertönte eine Stimme über ihren Köpfen. »Großartige Idee, Baby.« Jack war zurückgekehrt. »Und wenn du deine Karten bei mir richtig ausspielst, dann bringe ich dich zum Film. Du wirst ein Star, Baby, glaub mir «
KAPITEL 6
»Andy? Andy! Mann, du bringst mich noch um, Holzkopf«, schnaubte Jack verächtlich. »Bei Gelegenheit«, murmelte Travis. »Glaubst du wirklich, dass sie der Schlüssel für dich ist? Dein Weg aus diesem Schlamassel, so wie in diesem Film, von dem wir geredet haben?« Jack kicherte. »No way, José.« »Der Name ist mir einfach so eingefallen«, verteidigte sich Travis. »Sie sieht ja auch gar nicht aus wie Andie MacDowell. Aber woher willst du wissen, dass sie nicht der Schlüssel ist? Du hast selbst gesagt, dass du keine Ahnung hast, was es sein könnte. Es könnte auch ein Mensch sein.« »Ja, aber ich kenne mich ein bisschen in Prenderghasts Gedankengängen aus, und dir diese Schnecke als Ausreisevisum anzubieten, das ist einfach nicht sein Stil.« »Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte Travis seufzend und stocherte mit der Spitze seines Degens in der Glut des Feuers herum. Sie hatten ihr Lager an einem kleinen Fluss aufgeschlagen. Travis hoffte nur, dass der Straßenverkäufer, bei dem sie am Nachmittag etwas zu essen gekauft hatten, kein Lügner gewesen war. Hoffentlich stimmte seine Versicherung, dies wäre keine Räubergegend. Nur deshalb hatten sie es gewagt, ein Feuer anzuzünden. Nachdem sie mit dem Essen fertig war, hatte Beatrice sich entschuldigt und war etwas weiter stromabwärts gegangen, um
das zu tun, was sie jetzt noch immer tat. Sich ihrer Toilette zu widmen, vermutete Travis. Er fragte sich, was sie in der Abteilung Toilettenpapier gewohnt war. So etwas gab es wahrscheinlich auch im Schloss nicht. Aber was nahmen die Aristokraten stattdessen? Parfümierte Taschentücher? Er erinnerte sich, dass die alten Römer kleine Schwämme benutzten, die am Ende eines Stockes steckten … Wie auch immer – er musste unbedingt diese Fixiertheit auf Toilettenpapier überwinden. Langsam wurde es ungesund. Aber schließlich war alles in dieser Welt ungesund. Doch so ganz stimmte das nicht. Einige der auf der Erde verbreiteten Krankheiten schien es auf Samella nicht zu geben. Geschlechtskrankheiten schienen hier völlig unbekannt – Gott sei Dank. Ebenso wie Lepra. Er hatte während seiner Reise nicht einen einzigen Leprakranken gesehen. Aber auch hier bekamen die Menschen Grippe und Schnupfen, und einmal hatte er in einer Wirtsstube einen alten Mann beobachtet, der ganz offensichtlich an Schwindsucht litt. Zu den Monden und den Sternen hinaufsehend, fragte er sich, nicht zum ersten Mal, ob die Gesetze der Physik in dieser Welt denen auf seiner eigenen gleich waren. Es musste Ähnlichkeiten geben. Die Schwerkraft zum Beispiel. Er nahm einen Stein in die Hand und ließ ihn auf den Boden fallen. Ja, er schien mit der gleichen Geschwindigkeit zu fallen, wie er es auf der Erde getan hätte. Die Schwerkraft war also hier ein genauso rätselhaftes Phänomen wie zu Hause. Aber es gab einen riesigen Unterschied. In dieser Welt gab es Zauberei. Und wie. Nun, zumindest war Samella nicht flach, geformt wie ein umgedrehter Teller, der auf dem Rücken einer enorm
großen Elefantenschildkröte lag, die wiederum … »Die Schnecke kehrt zurück«, verkündete Jack. Travis wandte sich um und sah Beatrice am Flussufer entlangkommen. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen. »Es wird kalt«, sagte sie, als sie vor ihnen stand. »Siehst du? Ich wusste es«, sagte Jack höhnisch. »Schon kommen die ersten Beschwerden.« »Ich beschwere mich nicht«, entgegnete sie und setzte sich neben Travis. »Ich weise nur auf eine simple Tatsache hin.« »Hol noch mehr Feuerholz, Jack«, befahl Travis. »Hol's dir selbst«, entgegnete Jack und zeigte ihm den Finger. Stöhnend erhob Travis sich. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, dem Dämon etwas zu befehlen. Plötzlich sagte Jack: »Stimmen! Da kommt jemand.« Travis blieb stehen und spitzte die Ohren. Ja, Jack hatte Recht. Hohe Stimmen, aber männliche. Wohl drei, schätzte er. Er griff nach der Pistole; Beatrice hatte bereits den Dolch gezogen, den sie Sir Rodney abgenommen hatte. Auch sie erhob sich langsam. Sie warteten. Die Stimmen kamen näher. Dann traten drei Gestalten aus den Büschen hervor. Als sie Travis und seine Begleiter erblickten, verstummte ihre Unterhaltung abrupt. Die beiden Gruppen starrten einander an. Travis sah drei schlanke Männer mit spitzen Ohren und blonden Haaren vor sich. Sie trugen eng sitzende Tuniken, die aus verschiedenfarbigen Blättern geflochten zu sein schienen. Das Schweigen wurde durchbrochen, als Jack herausplatzte: »O nein, das hat uns gerade noch gefehlt! Ein Haufen bescheuerter Elfen.«
Einer der Elfen stemmte die Hand in die Hüfte und sagte affektiert: »Hach, Jungs, hört nur, was Miss Fledermaus zu sagen hat!« Jack stieg in die Luft auf und spuckte zornig feurigen Speichel nach dem Elf, der gesprochen hatte. Aber der Elf grinste nur und hob die Hand. Der brennende Speichel verschwand in einem Blitz goldenen Lichts. Gleichzeitig erschien ein funkelndes Netz vor Jack, das sich über ihn stülpte; er stürzte krachend zu Boden. Während sich ein Schwall von Obszönitäten aus seinem Mund ergoss, versuchte er vergeblich, sich aus dem Netz zu befreien. Travis Blick wanderte von dem zappelnden Dämon zu den grinsenden Elfen hin. Der Anblick des hilflosen Jack hatte seinen Reiz, aber schließlich gewann sein Sinn für Gerechtigkeit die Oberhand. »Lasst ihn frei«, sagte er. Seine Hand ruhte auf dem Griff der Pistole. »Und warum sollten wir, Zuckerpuppe?«, fragte einer der Elfen, während sie sich Travis und Beatrice näherten. Beatrice zog sogleich ihre Blicke auf sich. »Sieh an, sieh an, was für ein hübscher Bengel«, meinte einer von ihnen und gab Beatrice einen anerkennenden Klaps auf den Po. »Ein saftiges Pfläumchen, in der Tat. Und ich würde nur allzu gerne meine Zähne in …« »Fasst mich nicht an!«, zischte Beatrice und wedelte bedrohlich mit ihrem Dolch herum. Der Elf lachte, machte eine Geste mit der gleichen Hand, mit der er ihr eben einen Klaps gegeben hatte, und der Dolch, plötzlich von einem goldenen Schein umhüllt, verwandelte sich in eine langstielige rote Rose. »Für dich, mein Hübscher«, sagte
der Elf mit einer Verneigung. »Wie wäre es denn nun mit einem kleinen Waldspaziergang?« »Junge, du bist so was von auf der falschen Fährte, Waldschwuchtel!«, stieß Jack hämisch unter den Maschen des Netzes hervor. »Was mein Gefährte dir sagen will ist, dass es sich bei diesem ›hübschen Bengel‹ um ein hübsches Mädchen handelt«, erklärte Travis. Es überraschte ihn, dass die unpassende Verkleidung von Beatrice die Elfen auch nur für einen Moment getäuscht hatte. Aber vielleicht hatte sie auch schieres Wunschdenken geblendet. »Unsinn«, sagte ihr eifrigster Verehrer. Dennoch strich er vorsichtig über ihre Brust. Travis wusste, dass sie ihren Busen mit Stoffstreifen abgebunden hatte, aber dadurch war er natürlich nicht verschwunden. Der Elf zog seine Hand zurück, als habe ihn etwas gestochen. »Drachenscheiße! Die haben Recht. Ein Weib!« »Euer Pech«, sagte Travis. Doch nun richtete sich die Aufmerksamkeit der Elfen auf ihn. »Jetzt bleibst nur du noch übrig, Zuckerpuppe, damit wir uns etwas sportlich betätigen können«, sagte einer von ihnen ohne großen Enthusiasmus. Der Elf packte Travis' Hosenbeutel und drückte zu. Dann seufzte er und meinte: »Nun, einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul.« Travis hatte genug gehört. Er zog die Pistole und richtete sie auf die Elfen. »Okay, zurück, ihr Haufen durchgedrehter Feen!« »Wir sind keine Feen, wir sind Elfen«, maulte einer beleidigt. Ein anderer blickte abschätzig auf die Pistole und meinte: »Wenn das deine Waffe ist, Darling, dann ist sie furchtbar
klein.« »Das ist die gefährlichste Pistole, die es gibt – verdammt, die einzige beschissene Pistole, die es hier gibt –, und sie wird euch eure zarten Köpfchen abschießen!«, verkündete Jack. »Wovon schwafelt diese pflaumengesichtige alte Tunte eigentlich?«, fragte einer der Elfen. »Er spricht hiervon«, sagte Travis und spannte den Hahn. »Es ist eine mächtige Waffe. In der Tat sehr gefährlich. Ich rate euch also, zu verschwinden.« »Er spricht die Wahrheit«, fügte Beatrice hinzu. »Es ist ein äußerst wirksamer Talisman. Ich habe gesehen, wie er ihn benutzt hat.« Die Elfen sahen einander an. Dann hob einer von ihnen schlaff die Hand. »Ich schätze, wir gehen besser auf Nummer sicher, Jungs.« Ein goldener Glanz umhüllte die Waffe. Travis sah besorgt drein. Er fürchtete, dass er jeden Augenblick einen Strauß Butterblumen in der Hand halten könnte. Doch die Wumme blieb eine Wumme. Die drei Elfen sahen einander erneut an, dieses Mal deutlich nervöser. »Was für ein Zauber ist das?«, fragte einer. »Ha!«, brüllte Jack triumphierend. »Das hat euch herumstolzierenden Schwachköpfen einen Stromstoß in die Eier versetzt, was? Gib ihnen eine kleine Vorstellung!«, rief er Travis zu. »Schieß auf einen Baum. Und wenn das nicht funktioniert, schieß auf einen von ihnen.« Travis kam seiner Aufforderung nach. Er wählte einen Baum in der Nähe aus, zielte darauf und drückte ab. Die Elfen fuhren zusammen, als die Waffe beeindruckend laut knallte und Feuer spuckte. Genauso beeindruckend war der tiefe Krater, der sich
im Baumstamm zeigte. Holzsplitter flogen durch die Luft, und der vertraute beißende Geruch von Schießpulver stieg auf. Die Elfen drehten sich um und starrten verblüfft und ängstlich zugleich auf die Waffe. Travis zielte nacheinander auf jeden einzelnen, und sie zuckten zusammen. »Nun, Jungs«, sagte schließlich einer von ihnen, »sieht so aus, als hätte unsere Zuckerpuppe hier mehr in seinem Hosenbeutel, als wir vermutet haben. Ich schlage vor, dass wir diese netten Leute ihrem eigenen Schicksal überlassen und unseren Spaziergang fortsetzen …« Langsam wichen sie zurück. »He, und was ist mit mir?«, schrie Jack. »Lasst mich aus diesem Ding raus, ihr schrillen Vögel!« Travis hätte gar nichts dagegen gehabt, Jack für eine Weile in diesem Netz zappeln zu lassen, aber früher oder später musste er ihn doch freibekommen, und je später das wäre, desto schlechter würde die Laune des Dämons dann sein. »Tut, was er sagt«, befahl er den Elfen. Einer von ihnen hob die Hand und machte ein Zeichen. Das Netz verschwand in einer Wolke aus goldenem Staub. Jack stand auf, schüttelte sich und spannte die Flügel aus. »Wurde auch Zeit, ihr Matratzen kauenden, an Hosenbeuteln schnüffelnden Paradiesvögel!«, schnarrte er. »Jetzt verschwindet, bevor ich meinem Freund sage, er soll euch ein paar Löcher verpassen!« »Elfenhasser!«, sagte einer der Elfen vorwurfsvoll. Dann drehten sie sich um, fassten einander an den Händen und verschwanden im Buschwerk. Travis atmete erleichtert auf. Als er sicher war, dass die Elfen wirklich verschwunden waren, steckte er die Knarre weg und ging zu Beatrice hinüber. »Geht es dir gut?«
Bevor sie antworten konnte, flog Jack in die Luft und explodierte, metaphorisch gesprochen. »Natürlich geht es ihr gut! Ich bin derjenige, der in diesem gottverdammten Netz fast erwürgt worden ist. Warum fragst du nicht mich, ob es mir gut geht, Schwachkopf?« Er kreiste bedrohlich nahe um Travis' Kopf herum. »Weil es dir ganz offensichtlich wieder gut geht«, sagte Travis und versuchte ihn wegzuscheuchen wie eine lästige Fliege. »Es scheint uns allen ganz gut zu gehen. Vielleicht können wir jetzt etwas schlafen, bevor uns die nächste Horde sexsüchtiger Sukkubi oder eine Gang knallvoller Kobolde einen Besuch abstattet .. .« Aber Jack flog weiter um seinen Kopf herum. »Sobald ich diese Schnecke gesehen hatte, wusste ich, dass sie Ärger bringt. Du verliebst dich langsam in sie, stimmt's?« »Mach dich nicht lächerlich, Jack!«, protestierte Travis. »Wie dem auch sei, wie kann ich mich in sie verlieben, wenn ich im Grunde weiß, dass sie gar nicht echt ist?« »Weil du ein Schwachkopf bist, du Schwachkopf.« »Was hast du da gesagt?«, fragte Beatrice. »Was meinst du damit, ich wäre nicht echt?« Zu spät erkannte Travis, in welchen Fettnapf er getreten war. »Ach, gar nichts. Vergiss, was ich gesagt habe, Beatrice, bitte.« »Nein. Erkläre bitte, was du gemeint hast«, forderte sie ihn auf. »Lass mich«, mischte sich Jack ein. »Er glaubt, du seiest ein Teil einer Halluzination, an der er leidet – eine Sinnestäuschung. Er glaubt, du seist lediglich ein Teil eines Computerprogramms …«
»Verstehe ich nicht«, sagte Beatrice verständlicherweise. »Hör nicht auf ihn«, sagte Travis. »Er redet Unsinn.« Jack kratzte sich lediglich am Kopf und fuhr fort. »Ein Computer ist eine Maschine, so ähnlich wie ein Webstuhl, nur etwas komplizierter … und er hält dich eben für einen Teil eines Wandteppichs, den dieser Webstuhl unablässig webt …« Beatrice starrte Travis eindringlich an. »Du hältst mich für eine Figur auf einem Wandteppich?« Er hob die Hände. »Nein, nein, natürlich nicht.« Sie kam auf ihn zu. »Aber du glaubst, ich bin nicht echt?« »Das ist schwer zu erklären …« »Das kannst du laut sagen«, entgegnete sie und trat ihm kräftig gegen das linke Schienbein. »Wie steht es damit? Fühlte sich das einigermaßen echt an?« Travis hielt sein vor Schmerzen pochendes linkes Bein, während er auf dem rechten umherhüpfte und rief: »Aua, aua … ja, der Schmerz ist schon echt. Aber das beweist nicht, dass du es bist …« »Du bist verrückt«, sagte sie. »Noch nicht«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber ich werde langsam ziemlich wütend.« Er hörte, wie über ihm Jack schadenfroh kicherte. »Was für eine Närrin ich bin«, meinte Beatrice. »Ich habe mein Schicksal in die Hände eines Wahnsinnigen und eines stinkenden Dämons gelegt.« »He, Vorsicht!«, rief Jack. »Wir haben dich nicht gerade gezwungen, mit uns zu kommen«, entgegnete Travis zornig. »Und noch ist es nicht zu spät, dich zu deinem Vater zurückzubringen und die Belohnung zu
fordern.« Beatrice starrte düster die langstielige Rose an, die sie noch immer in der Hand hielt, und warf sie schließlich ins Feuer. »Nein, ich gehe nicht zurück. Ich werde bei euch bleiben, bis ich geeigneteren – und weniger exzentrischen – Reisegefährten begegne. Und jetzt lege ich mich schlafen.« Sie nahm die Decke von ihrem Pferd, wickelte sich hinein und legte sich neben das Feuer. »Gute Nacht«, murmelte sie, während sie ihnen den Rücken zudrehte. »Vielen Dank«, zischte Travis in Richtung Jack. »He, Junge, ich hab dir einen Gefallen getan«, sagte Jack sanft und landete auf Travis' Schulter. »Auf lange Sicht hätte eine Beziehung zwischen dir und einer Schnecke aus einem Computerprogramm nie funktioniert. Ich meine, denk doch nur mal an die Kinder, die ihr zeugen würdet. Lauter kleine Computerviren!« Travis fegte Jack von seiner Schulter. Der Dämon flog laut gackernd in die Nacht hinaus.
KAPITEL 7
»Würdest du bitte irgendetwas sagen?«, flehte er. Es war später Nachmittag, und Beatrice hatte den ganzen Tag kein Wort mit ihm gewechselt. Seit sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie ihn praktisch vollkommen ignoriert. Ab und zu hatte sie mit Jack gesprochen (ausgerechnet), und gerade das hatte ihm besonders wehgetan. Mittags hatte er es schon aufgegeben, aber jetzt, da Jack sich auf einer weiteren Erkundungstour befand, wollte er einen letzten Versuch wagten. »Bitte, Beatrice …« Überraschenderweise blickte sie über die Schulter und richtete das Wort an ihn: »Ich verstehe nicht, warum du dir die Mühe machst, jemanden anzusprechen, von dem du glaubst, dass er gar nicht existiert.« Sie schaute wieder nach vorne. Ermutigt grub er seine Fersen in Whiplashs Flanken und ritt neben ihr her. »Ich will dir doch nur erklären …« »Wenn ich nicht existiere, was soll's?«, fragte sie schnippisch. »Du kannst genauso gut mit dir selbst reden. Das machst du wahrscheinlich sowieso ziemlich oft.« »Beatrice, als ich sagte, dass du nicht existierst, da meinte ich, dass du außerhalb dieser Welt nicht existierst. Denn mir kommt, um ehrlich zu sein, diese ganze Welt manchmal nicht sehr real vor.« »Klar wie Kloßbrühe.« »Schau, ich habe dir doch gesagt, dass ich aus einer anderen
Welt komme, nicht wahr?« Sie nickte. »Nun, es ist eine andere Welt als diese. Bei uns gibt es nicht so etwas – wie zum Beispiel diese Elfen, denen wir letzte Nacht begegnet sind … das heißt, es gibt zwar solche Leute, aber wir nennen sie nicht Elfen … und wir haben auch keine Feen … Andererseits gibt es bei uns auch Leute, die man so ähnlich nennt, meistens hinter ihrem Rücken, aber die ähneln mehr euren Elfen. Sie haben keine Flügel oder fliegen in der Gegend herum …« Er zögerte, seufzte und machte mutig weiter. »Wir haben auch keine Zauberer und keine Magier, ja nicht einmal Magie.« Er zögerte erneut. »Nun, es gibt Leute, die daran glauben, aber die offizielle wissenschaftliche Meinung besagt, dass es sie nicht gibt.« Sie sah ihn ungläubig an. »Wie kann es eine Welt geben ohne Magie?«, fragte sie. »Das würde doch gar nicht funktionieren.« »Wahrscheinlich hast du Recht. Aber dennoch, dies alles hier …«, er deutete mit der Hand um sich. »Deine Welt und die Dinge darin ähneln sehr den mythischen Geschichten, die man sich in unserer Welt erzählt. Die Menschen schreiben Bücher darüber, voll mit Rittern, Prinzessinnen, Drachen, Zauberern, Hexen, Verwünschungen und heroischen Abenteuerreisen, auf denen man den magischen Talisman finden muss, der das Böse besiegt und die Macht des Guten im Land wiederherstellt, und so weiter und so weiter … Aber das sind alles Märchengeschichten. Es gibt sie nicht wirklich. Wenn ich mich also in einer Welt befinde, die diese ganze Welt der Märchenbücher widerspiegelt, dann kannst du vielleicht verstehen, dass ich nicht … nun, völlig überzeugt davon bin, dass sie wirklich
existiert.« Sie sah ihn eine Weile schweigend an. Dann sagte sie: »Bist du vielleicht vor kurzem einmal besonders heftig vom Pferd gestürzt? Ich meine, hast du dir den Kopf gestoßen, und zwar besonders schlimm? Solche Stürze können das Hirn verwirren. Ich kannte einen Pagen am Hofe, der nach einem Sturz vom Pferd glaubte, er sei der verschollene Sohn des Königs und daher mein Bruder und rechtmäßiger Thronfolger. Ich fürchte, er dämmert noch immer in einem der Schlosskerker vor sich hin. Er hieß Eric, jedenfalls bevor er darauf bestand, als Prinz Eric angesprochen zu werden.« »Nein, ich bin nicht von meinem verdammten Pferd gefallen!«, entgegnete er zornig. »Ich habe auch keinen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten. Ich sage dir die Wahrheit. Ich habe dir versucht zu erklären, warum ich glaube, dass du nicht existierst.« »Nun, ich weiß, dass ich existiere, aber bei dir kommen mir langsam Zweifel. Woher willst du wissen, dass nicht du derjenige bist, den es in Wirklichkeit hier gar nicht gibt?« »Das ist Unsinn! Ich weiß, dass es mich gibt …« »Kannst du es beweisen?«, fragte sie mit einem süßen Lächeln. »Wohl nicht«, gab er zu. »Nun, das wär's. Also müssen wir gemeinsam akzeptieren, dass wir beide existieren, zumindest bis auf weiteres. Einverstanden?« »Einverstanden«, murmelte er. »Und ich werde sogar so tun, als hielte ich dich nicht für vollkommen verrückt.«
»Vielen Dank.« »Keine Ursache.« Plötzlich fiel ein Schatten auf Travis. Er blickte nach oben: Jack. Landung wie immer auf Whiplashs Kopf. »Wie ich sehe, spricht die königliche Braut wieder mit dir. Wie hast du das geschafft?« »Ist doch egal. Was hast du entdeckt?« »Vor uns liegt eine ziemlich große Stadt und dahinter ein verdammt großes Schloss«, antwortete Jack. Travis sah Beatrice an. »Hast du irgendeine Ahnung, was das sein könnte?« »Wir sind nach Norden geritten, nicht wahr?« »Ungefähr in diese Richtung, ja«, sagte Jack. »Dann könnte es sich um das Königreich des Schwarzen Barons handeln«, sagte sie. »Der Schwarze Baron, soso«, meinte Jack. »Hört sich an, als handele es sich um einen ganz besonders gemeinen Bastard.« »Im Gegenteil«, sagte Beatrice. »Nach dem, was ich weiß, ist er ein guter und gerechter Herrscher.« »Warum heißt er dann der Schwarze Baron?«, fragte Jack. »Weil er schwarz ist.« »Oh«, sagte Jack. »Wenn wir jedoch in Richtung Nordwesten geritten sind, könnte es das Reich Prinz Valeries sein«, meinte Beatrice. »Prinz Valerie«, wiederholte Travis. »Er ist doch nicht etwa ein Elf?« »Nein. Warum fragst du?« »Komischer Name für einen Mann – Valerie.« »Was meinst du damit?«
»Nun, wo ich herkomme, ist Valerie ein Mädchenname.« »An Prinz Valerie ist aber nichts Mädchenhaftes«, sagte Beatrice bestimmt. »Du kennst ihn?« »Ich habe ihn nur einmal gesehen, vor zwei Jahren. Er stattete Vallium einen offiziellen Besuch ab und übernachtete im Schloss meines Vaters. Ein sehr gut aussehender Mann.« Sie seufzte leise. Travis gefiel der Klang dieses Seufzers überhaupt nicht. »Dann würde er dich auch erkennen?«, fragte er irgendwie. »Sicherlich, aber mach dir keine Sorgen. Wenn es wirklich sein Königreich ist, das vor uns liegt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihm begegnen, trotzdem sehr gering. Und selbst wenn, würde er mich doch nicht erkennen. Ich bin verkleidet. Schon vergessen?« Dieses Mal seufzte Travis leise. »Wie könnte ich?« Beatrice ließ ihren Blick durch den übervollen Speisesaal wandern, dann zwinkerte sie Travis selbstzufrieden zu. »Kein Mensch merkt etwas«, flüsterte sie leise. »Die Verkleidung ist perfekt.« Travis hätte sich fast an seinem Löffel Gemüsesuppe mit Hasenfußeinlage verschluckt. Sämtliche Gäste – allesamt Männer – starrten die Prinzessin unablässig an. Kaum hatte Beatrice mit Travis die Gaststube betreten, hatten sich aller Augen auf sie gerichtet. Es war nicht nur ihre atemberaubende Schönheit, die für Aufsehen sorgte, sondern vor allem ihr lächerlicher Versuch, sich als junger Mann auszugeben. Als Travis den Gastwirt nach einem Zimmer für sich
und seinen Diener gefragt hatte, prustete der gute Mann los. Später verpasste er Travis einen gewaltigen Stoß in die Rippen und zwinkerte ihm viel sagend zu. Dann vertraute er ihm mit leiser Stimme an: »Wir sind hier sehr liberal, mein Freund.« Sie hatten tatsächlich das Königreich Prinz Valeries erreicht, waren aber durch eine unglückliche Fügung des Schicksals mitten in ein Barbarentreffen geplatzt. Das war die Erklärung dafür, warum das Gasthaus, wie auch alle anderen Gasthäuser der Stadt, so voll war. Der Speisesaal wimmelte nur so von Barbaren, und der schwere Duft von Männerschweiß und Massageöl hing in der Luft. Beatrice merkte offenbar überhaupt nicht, welches Aufsehen sie erregte. Ungeniert warf sie immer wieder anerkennende Blicke auf die halb nackten, glänzenden Männerkörper um sie herum. »Das ist alles so aufregend«, sagte sie zu Travis. »Ich habe noch nie so viele herrlich aussehende Männer auf einem Fleck gesehen. Schau doch nur, diese Muskeln! Mmmh!« »Ja, sehr beeindruckend«, sagte Travis wütend, aber leise. »Unglücklicherweise befinden sich die meisten ihrer Muskeln zwischen den Ohren.« »Sei doch nicht so ein Miesepeter«, sagte sie. »Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte er. »Wir suchen uns ausgerechnet eine Stadt aus, in der ein Barbarentreffen stattfindet …« »Also ich finde es toll!« »Ich hatte schon mit Barbaren zu tun. Gar nicht gut. Und jetzt sind wir mitten in ein verdammtes Barbarentreffen?« geplatzt. Wir sollten verschwinden.« »Aber du hast selbst gesagt, dass wir bleiben müssen. Zu-
mindest so lange, bis Sir Rodneys Pferd ein neues Hufeisen hat.« »Ich weiß, ich weiß«, knirschte er. Ihr Pferd hatte ein Hufeisen verloren, und der Schmied hatte ihnen mitgeteilt, dass er völlig überlastet sei und das Pferd frühestens am nächsten Morgen beschlagen könne. Auf der positiven Seite konnten sie immerhin den Verkauf des größten Teils von Sir Rodneys Ausrüstung verbuchen. Nur das Schwert waren sie nicht losgeworden. Jeder in der Stadt schien schon mindestens zwei zu besitzen … oh oh … Travis hatte die ganze Zeit so etwas erwartet – beziehungsweise eher befürchtet. Einer der Barbaren hatte sich von einem Nachbartisch erhoben und kam auf sie zu. Ein breites, lüsternes Grinsen lag auf seinem noch etwas breiteren Gesicht. Seine Begleiter schauten erwartungsvoll herüber. Beim ersten Hinsehen hätte Travis darauf getippt, dass er der größte Mann im ganzen Saal war. Und das machte ihn zu einem wirklich großen Mann. Er zog sich einen Stuhl heran – nachdem er den darauf sitzenden erheblich kleineren Mann zur Seite geschleudert hatte – und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?«, fragte er dröhnend. Er schien aus einer einzigen glänzenden Masse von Arm- und Brustmuskeln zu bestehen. Seine Stirn dagegen war nur etwa fingerbreit. »Keineswegs«, sagte Travis und fasste nach der Pistole. »Man nennt mich Bovrol«, sagte der Riese und schickte sein lüsternes Grinsen in Richtung Beatrice. »Bovrol der Brutale.« »Das glaube ich gerne«, sagte Travis. »Wie wär's, wenn ich dich und den Jungen hier zu einem Bier
einlade …?« Überall ertönte lautes Gekicher. Bovrol wandte sich wieder an Travis. »Ist das okay?« »Sicher«, antwortete Travis. Bovrol der Brutale signalisierte dem Wirt seine Bestellung; der brachte in Rekordzeit drei Krüge mit Bier an ihren Tisch und bestand darauf, dass sie auf Kosten des Hauses gingen. Travis wusste, dass sich hier Ärger aufbaute wie ein donnernder, übel riechender Furz. »Mach schon, Junge, trink«, forderte der Riese Beatrice auf. Beatrice starrte entsetzt auf den Krug, der die Größe eines mittelgroßen Eimers hatte. »Ähm, jetzt nicht, vielen Dank. Vielleicht später.« Der Versuch, ihre Stimme tiefer klingen zu lassen, misslang derart kläglich, dass Travis am liebsten laut gelacht hätte, wenn ihm nicht gerade mehr nach einem Weinkrampf zumute gewesen wäre. »Ich bestehe darauf, Junge«, knurrte Bovrol. Mehr Gekicher von den Nachbartischen. Travis wusste, dass er sich nun einmischen musste. Nach einem tiefen innerlichen Seufzer sagte er: »Ich bin – ähm – sicher, dass der junge Andy hier dir sehr dankbar ist, aber er darf keinen Alkohol trinken. Er ist … noch zu jung.« Dann hob er seinen eigenen Krug, was sich als gar nicht so leicht herausstellte, und trank einen Schluck. Doch der Riese riss ihm das Gefäß aus der Hand und schüttete sich zu seiner Verblüffung das Bier über den Kopf. Dann ließ er den leeren Krug auf den Tisch knallen und brüllte Travis anklagend an: »Das hast du mit Absicht gemacht!« Travis starrte den vor Ale triefenden Barbaren fassungslos
an. »Nein, habe ich nicht. Du hast es dir selbst über den Kopf geschüttet.« Der Riese sah sich um. »Hat sonst noch jemand gesehen, wie mich diese kleine Ratte mit seinem Bier übergossen hat?« Überall sah Travis heftig nickende Köpfe. Er zog die 45er und hielt sie unter dem Tisch versteckt. Bovrol sah ihn an. »Für diese Beleidigung fordere ich dich zu einem Duell auf Leben und Tod heraus. Treffpunkt ist morgen Mittag in der Arena. Gekämpft wird mit Breitschwertern. Der Sieger, so der Brauch, bekommt alle weltlichen Güter des Verlierers. Und dazu gehört auch er.« Er deutete auf Beatrice und erhob sich. Travis wunderte sich, dass keine Wolken um seinen Kopf schwebten, so riesig war er. »Du erscheinst besser, wenn du nicht willst, dass jeder Barbar im Land Jagd auf dich macht.« Damit schlenderte er zu seinem eigenen Tisch zurück. Lachend und kichernd widmeten sich die anderen Barbaren wieder ihren Speisen und Getränken. »Warum hast du nicht deinen Talisman gegen diesen Rohling eingesetzt?«, zischte Beatrice. »Vielleicht ist es deiner Aufmerksamkeit entgangen, aber ich befinde mich hier etwas in der Unterzahl.« »Und was willst du jetzt unternehmen?« »Ich versichere dir, dass ich darüber in den nächsten Stunden äußerst angestrengt nachdenken werde«, versprach er, während er die Waffe wieder ins Halfter steckte. »Du kannst nicht in einem fairen Duell gegen ihn kämpfen«, protestierte sie. »Er wird dich töten. Und ich will schließlich nicht zum Eigentum dieses … Barbaren werden!« »Nun, wenn es zum Schlimmsten kommt, dann leg dich ruhig zurück und denke nur an all die Muskeln«, riet er ihr.
KAPITEL 8
»Es gibt Ärger«, sagte Travis. »Erzähl mir doch zur Abwechslung mal was Neues«, entgegnete Jack. Der Dämon räkelte sich auf Whiplashs Rücken und rauchte eine Marlboro. Travis berichtete ihm, was in der Gaststube passiert war. Die Reaktion des Dämons überraschte ihn nicht mehr; Jack rollte sich auf den Rücken, gluckerte schadenfroh und strampelte mit den Beinen in der Luft herum. »Ich wusste, dass ich auf dein Mitgefühl zählen konnte«, knurrte Travis. Als Jack sich beruhigt hatte, sagte er: »Mein Ratschlag – wir verabschieden uns hier, und zwar pronto. Solange ihr dämliches Treffen andauert, werden uns die Barbaren bestimmt nicht verfolgen. Da es erst in vier Tagen endet, haben wir genug Zeit, um uns einen großen Vorsprung zu verschaffen.« »Das hätte ich gerne getan, aber sie haben mir nicht erlaubt, das Gasthaus zusammen mit Beatrice zu verlassen.« »Umso besser. Wenn der Barbar, der dich herausgefordert hat, das bekommt, was er will – und das ist ganz offensichtlich sie –, dann besteht eine noch größere Aussicht, dass er und die anderen dich nicht verfolgen.« Travis schüttelte den Kopf. »Aber ich kann doch Beatrice nicht ihrem Schicksal überlassen. Und schon gar nicht diesem Bovril.«
»Bovril?« »Eigentlich heißt er Bovrol. Bovrol der Brutale. Doch ich nenne ihn Bovril. Aber das kannst du nicht verstehen. Das ist englischer Humor.« »Verdammt, du bist doch nicht verantwortlich für sie. Die dumme Braut hat darauf bestanden mitzukommen, obwohl wir sie gewarnt haben. Außerdem« – er kicherte teuflisch – »wollte sie doch Abenteuer. Jetzt kriegt sie welche – zuhauf. So wie die Barbaren Liebe machen, wird sie für den Rest ihres Lebens mit O-Beinen herumlaufen.« Travis sah Jack voller Abscheu an. »Du bist ekelhaft.« »Ich weiß, das ist mein Job.« »Ich lasse sie nicht hier zurück«, sagte Travis bestimmt. »Stattdessen lässt du dich lieber morgen in der Arena in kleine Stücke hacken. Willst du ihr so helfen?« Travis rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Ich muss mir etwas sehr Schlaues einfallen lassen.« »Das dürfte dein Todesurteil sein.« »He, schließlich habe ich den Drachen getötet.« »Reines Glück. Aber ich habe da eine Idee … Versuch doch herauszufinden, wo dieser Bovril oder Bovrol heute Nacht schläft. Dann schleichst du dich an ihn heran und pustest ihm das Gehirn aus dem Kopf.« »Ein verlockender Gedanke, zugegeben«, meinte Jack. »Aber sehr ehrenhaft ist es nicht.« »Scheiß auf die Ehre«, entgegnete Jack und schnippte seine Kippe fort. Sie landete in einem Strohhaufen, der sofort zu glimmen begann. Travis lief zu dem aufkeimenden Feuer und trat es aus. »Der andere Nachteil dieser Idee besteht darin, dass
Bovrils barbarische Kumpane sofort wissen, wer es war, und dann ende ich ebenfalls als Hackfleisch.« Düster starrte er den Dämon an. »Stimmt. Hmm, da haben wir ein echtes Problem«, meinte Jack. »Hast du irgendwelche anderen Ideen?« »Wie wäre es mit der alten Gift-auf-der-SchwertspitzeNummer?« »Der was?« »Du bringst Gift auf die Spitze deines Schwertes. Dann musst du nur nahe genug an deinen Gegner herankommen, um ihn wenigstens leicht zu treffen. Wenn das Zeug ihn dann langsam lähmt, greifst du an und machst ihm den Garaus.« »Oh, ich verstehe. So wie bei Hamlet, nicht wahr?« »Nein, der Typ, von dem ich das habe, hieß Derek, ein alter Spitzbube, den ich mal kannte.« »Ich glaube nicht, dass es klappen könnte. Meine Aussichten, nahe genug an Bovril heranzukommen, um ihn nur anzukratzen, sind viel zu gering. Seine Arme sind länger als meine Beine. Und zweimal so dick.« »Dann musst du das Schwert des guten alten Sir Rodney benutzen«, sagte Jack. »Dein Degen ist viel zu kurz.« Jack ging zu dem Schwert, das an der Stallwand lehnte. Ächzend hob er es hoch. Selbst mit beiden Händen konnte er es kaum in der Luft halten. »Wenn ich dieses Ding benutze, ist das Duell nach ein paar Sekunden vorbei. Außerdem, wo soll ich jetzt um diese Zeit Gift herkriegen? Die Geschäfte haben alle schon zu.« »Schön, du Schlauberger, dann überlege dir mal etwas wirk-
lich Schlaues, sonst wird deine Prinzessin morgen auf ganz besondere Art zur Ex-Jungfrau, sobald du ins Gras gebissen hast. Wo wir gerade davon sprechen – glaubst du eigentlich, dass sie im Gasthaus sicher ist, so ganz allein?« »Ja. Die anderen Barbaren halten sie bereits für Bovrils Eigentum und rühren sie daher nicht an. Und er wartet gerne bis morgen, bevor er sie beansprucht. Barbarenehre, hat man mir erklärt. Nein, in unserem Zimmer ist sie ganz sicher.« »In unserem Zimmer?« Jack kicherte. »Du und die Schnecke, ihr teilt euch ein Bett?« »Wir haben keine andere Wahl. Es war nur noch ein Zimmer frei. Und dabei hatten wir noch Glück. Es gab eine Absage in letzter Minute. Der Barbar, der es gebucht hatte, ist auf einer Abenteuerfahrt von einer Horde von Trollen in Stücke gerissen worden.« »Dann ist sie ja vielleicht morgen gar keine Jungfrau mehr, wenn dein Kumpel Bovril seinen Preis abholen will.« »Sei nicht albern. Ich mache mir zu viele Sorgen, um schlafen zu können, geschweige denn, um sie zu verführen.« Aber trotz all seiner Sorgen im Hinblick auf das, was am nächsten Tag geschehen würde, dachte Travis doch sehr intensiv daran, was in dieser Nacht in ihrem Zimmer so alles passieren könnte. Er klopfte an die Tür. »Wer ist da?«, rief Beatrice. Sie klang sehr nervös. »Ich bin's, Travis.« »Wie kann ich sicher sein, dass du es bist?« »Glaub mir, Beatrice, ich bin es wirklich. Mach die Tür auf.« »Es könnte ein Trick sein.«
Er seufzte. »Ja, sicher, es ist ein Trick. Ich bin in Wirklichkeit Bovrol der Brutale, der auf besonders geschickte Weise Travis imitiert. Jetzt mach die verdammte Tür auf, bevor ich sie mit einem Stoß meiner gewaltigen Nase aufbreche.« Nach ein paar Sekunden hörte er, wie sie den Riegel zurückschob. Er stieß die Tür auf und betrat das Zimmer. »Überraschung!«, sagte er. »Ich bin doch ich selbst.« Sie stand vor ihm, nur mit ihrem Hemd bekleidet. Eigentlich war es ja eher Sir Rodneys Hemd. Travis' Zorn verrauchte augenblicklich und machte einer anderen Regung Platz. Er schloss die Tür und verriegelte sie wieder. »Irgendwelcher Ärger während meiner Abwesenheit?«, fragte er. Sie ging zum Bett und setzte sich. Der Saum ihres Hemdes wanderte ihre glatten weißen Schenkeln hinauf. Er schluckte und fragte sich, ob sie sich wohl die Beine rasierte. »Nein«, sagte sie. »Tust du nicht?«, fragte er, verblüfft darüber, dass sie seine Gedanken lesen konnte. »Was?«, fragte sie stirnrunzelnd. Er merkte, dass sie wohl eher seine gesprochene Frage beantwortet hatte als die unausgesprochene. »Oh, gut «, entgegnete er schnell. »Abgesehen davon, dass ein paar Barbaren vor der Tür ein schmutziges Lied gesungen haben.« »So? Wovon handelte es denn?« »Es war ein Lied über die Größe von Bovrols Gemächt. Wenn man dem Text glauben darf, der übrigens recht lustig war, dann ist es von enormer Größe. Und selbst wenn man ein gewisses Maß an Übertreibung unterstellt, darf ich mich doch
auf sehr unangenehme Zeiten gefasst machen, falls ich morgen in seine Klauen gerate.« Sie sah ihn flehend an. »Du musst eine Lösung finden. Wenn nicht, bringe ich mich um.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er setzte sich neben sie auf das Bett und legte behutsam einen Arm um ihre Schultern. »Mach dir keine Sorgen, ich befreie uns aus diesem Schlamassel. Irgendwie.« »Wie?« »Ich arbeite noch daran«, räumte er ein. »Es gibt in meinem Plan noch einige Details zu klären.« »Du hast also einen Plan?« »Sozusagen.« Er spürte, wie ihre Schultern heruntersackten. »Nein, du hast keinen Plan. Und dieser Barbar wird dich töten.« »Das wird er nicht«, sagte er und wünschte sich, er wäre so zuversichtlich wie der Klang seiner Stimme. »Wird er doch«, entgegnete sie düster. »In einem Schwertkampf kannst du ihn niemals besiegen. Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht deinen Talisman einsetzen willst.« »Ich habe es dir doch erklärt. Die Regeln. In einem offiziellen Barbarenduell ist Magie untersagt. Und meine Pistole würde als Zauberei gelten. Was sie in gewisser Weise ja auch ist …« Er seufzte. »Aber wenn es hart auf hart geht, werde ich sie dennoch einsetzen«, versprach er ihr. »Dann werde ich versuchen, uns den Weg freizuschießen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass es klappt.« Insgeheim glaubte er jedoch, dass sie nicht die geringste Hoffnung hatten. »Zumindest ist Bovrol dann tot.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Aber wenn du auch stirbst, wird eben der nächste Barbar seinen Anspruch auf mich
anmelden.« Travis' Kopf war leerer als der eines Moderators im Frühstücksfernsehen. Er sagte nichts. Dummerweise – auch wenn ihn angesichts der Situation Schuldgefühle überkamen – erregte es ihn, ihren Körper neben sich zu spüren, ihre Wärme, ihren Duft. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Es funktionierte nicht. Erst als er daran dachte, wie er Bovrol in der Arena gegenüberstehen würde, verflüchtigte sich seine beginnende Erektion auf einen Schlag. »Nun, gehen wir zu Bett«, sagte Beatrice. Sein Glied änderte postwendend die Richtung. »Klar«, erwiderte er enthusiastisch. »Auf welcher Seite willst du liegen?« Sie rückte von ihm ab und sah ihn entgeistert an. »Hast du gedacht, dass wir in einem Bett schlafen?«, hauchte sie ungläubig. Er sah sich um und sagte dann: »Soweit ich sehe, gibt es in diesem Zimmer nur ein Bett.« Sie stand auf und deutete auf den Fußboden. »Du wirst hier schlafen«, sagte sie. »Ich lege dir noch ein bisschen mehr Stroh aus meinem Bett hin.« Travis betrachtete den Steinboden. Ein bisschen mehr Stroh nutzte ihm überhaupt nichts. »Du verlangst von mir, dass ich auf dem verdammten Boden schlafe?« »Natürlich«, entgegnete sie. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Hör zu, wenn du glaubst, dass ich mir irgendetwas herausnehmen würde, dann hast du dich gewaltig geirrt.« Mittlerweile regte sich gar nichts mehr bei ihm. »Du kannst mir vertrauen ….« »Ich bin sicher, dass ich dir vertrauen kann, Travis, aber dar-
um geht es nicht.« »Worum geht es dann?«, fragte er. »Es wäre nicht angemessen, wenn wir uns ein Bett teilen würden.« »Und warum nicht?« »Also, Travis«, sagte sie, als wundere sie sich darüber, dass man jemandem etwas völlig Selbstverständliches erklären musste. »Ich bin eine Prinzessin. Und du bist nur ein Bürgerlicher.« »So, wie du aussiehst – völlig beschissen –, hast du letzte Nacht kein Auge zugetan«, sagte Jack, der grinsend auf einem Dachbalken des Stalles hockte. »Sieht so aus, als habe der Todeskandidat seine Henkersmahlzeit eingenommen. Schnecke auf Toast, hä?« »Du hast Recht, ich habe tatsächlich nicht geschlafen«, sagte Travis, während er Whiplash die Satteldecke überwarf. »Aber nicht aus dem Grund, an den du dachtest. Ich habe auf dem Boden geschlafen, oder besser gesagt, gelegen.« »Sie ist dir nicht in die Arme gesunken? Oder hast du den Gentleman gespielt?« Travis nahm den Sattel und wuchtete ihn auf den Rücken des Pferdes. Er begann die Sattelgurte festzuziehen. »Ich musste die Nacht auf dem Boden verbringen. Sie hat darauf bestanden. Ich bin nicht gut genug, um mit ihr in einem Bett zu pennen. Schließlich ist sie eine verdammte Prinzessin, und ich bin bloß ein armseliger Bürgerlicher.« »Du machst Witze. Hat sie das wirklich gesagt?« Jack lachte. »He, was machst du da?«
»Wonach sieht es denn aus? Ich sattle Whiplash. Wir verschwinden hier. Jetzt.« Jack flog vom Balken herunter und landete auf Whiplashs Kopf. »Wir? Und was ist mit der Prinzessin?« »Die hochnäsige Kuh soll sehen, wie sie zurechtkommt. Ich wünsche ihr viel Glück. Hoffentlich wird sie mit Bovril glücklich.« »Jetzt ist wahrhaftig der Groschen gefallen«, sagte Jack. »Endlich redest du vernünftig daher. Ich habe dir doch gesagt, dass wir mit ihr nichts als Ärger bekommen werden.« Travis band die Satteltaschen fest. »Ja, ich gebe zu, du hattest Recht. Warum sollte ich mein Leben für jemanden aufs Spiel setzen, den es eigentlich gar nicht gibt?« Er stieg in den Sattel und nahm die Zügel in die Hand. Doch plötzlich zögerte er. »Also, worauf wartest du noch?«, fragte Jack. »Hauen wir ab.« »Mist«, murmelte Travis. »Was ist los?« Langsam stieg Travis wieder ab. »Ich kann es nicht. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Ich muss mich in der Arena zeigen.« »Bist du verrückt? Hast du nicht gerade selbst gesagt, dass sie eigentlich gar nicht existiert? Und jetzt willst du dich wegen ihr duellieren? Noch dazu mit einem Kerl, gegen den Arnold Schwarzenegger magersüchtig wirkt?« »Ich bin mir nicht vollkommen sicher, dass sie nicht existiert. Und wenn nur die geringste Möglichkeit besteht, dass es sie doch gibt, dann kann ich sie diesem idiotischen Barbaren nicht ohne Kampf überlassen.« »Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss,
hä?«, schnaubte Jack. »Und manchmal muss ein Schwachkopf tun, was ein Schwachkopf tun muss, würde ich sagen. Du wirst als Hamburgerfleisch enden – und was wird dann aus mir?« »Tut mir Leid, Jack, aber ich gehe. Wenn du mir helfen willst, dann denk dir etwas aus, was mir vielleicht einen kleinen Vorteil verschafft.« Schmollend holte Jack eine Zigarette hervor und zündete sie an. Er zog wie wild daran, bis er plötzlich sagte: »Ich habe eine Idee …« »Du meine Güte, jetzt ist mir ein richtiger Schauder über den Rücken gelaufen.« »Willst du sie hören oder ziehst du es vor, weiterhin den Klugscheißer zu spielen?« Travis seufzte. »Ich bin so verzweifelt, dass ich sie hören will.« Und Jack verklickerte ihm seine Idee …
KAPITEL 9
Auf dem Banner stand ›Willkommen zum 39. Jahrestreffen der Barbaren – gesponsert von Seiner Hoheit Prinz Valerie (Catering: Fancy Freds Partyservice)‹. Der Veranstaltungsort – eine riesige Holzkonstruktion mit Arena – lag auf einem Feld am Rande der Stadt. Der Hauptbau wurde von einer großen Zahl der verschiedenartigsten Stände umringt, die Getränke, Imbisse (Travis fiel auf, dass der Stand mit den Ziegenhodenspießchen regelrecht umlagert war), Souvenirs wie Schrumpfköpfe von Trollen und Massageöl anboten. Travis ging auf den Athleteneingang zu. Jack saß auf seiner Schulter. Ein Torwächter versperrte ihm mit einem rostigen Speer den Weg. »Was glaubst du wohl, wohin du da gehst, Sonnenschein?«, fragte der Mann. Er war mittleren Alters und trug einen dünnen grauen Schnurrbart. »Da hinein. Ich bin einer der Teilnehmer«, informierte Travis ihn barsch. Der Wächter sah ihn mit kaum verhohlener Häme von oben bis unten an. »Versuchs auf 'ne andere Tour, Sonnenschein. Wenn du ein Barbar bist, dann bin ich ein bescheuerter Elf.« »Das würde mich nicht im Geringsten überraschen«, meinte Jack. »Ich bin kein Barbar, aber ich bin trotzdem ein Teilnehmer«, teilte Travis dem Wächter mit. »Ich kämpfe in einem Duell gegen einen Barbaren namens Bovrol der Brutale. Eine persön-
liche Angelegenheit. Also lass mich jetzt vorbei. Ich bin um zwölf Uhr dran.« Der Mann rührte sich nicht vom Fleck. »Wenn ich dich jetzt reinlasse, nur weil du mir irgendeine Geschichte erzählst, bin ich mehr los als meinen Job. Hast du irgendeinen Beweis?« Travis stöhnte, und Jack sagte: »Ich kann bezeugen, dass dieser Mann ein trauriger, verrückter, selbstmordsüchtiger Schwachkopf ist. Würde ein Mann, der noch einigermaßen bei Verstand ist, sich zu einem Duell auf Leben und Tod mit einem Arschloch von Barbaren, das Bovrol der Brutale genannt wird, einfinden?« Der Wächter dachte darüber nach. »Hmm, das klingt überzeugend, Dämon.« »Danke, Jack«, sagte Travis trocken. Der Schnurrbärtige gab den Weg frei und ließ sie eintreten. Nachdem er Travis den Weg zu den Umkleidekabinen erklärt hatte, sagte er: »Viel Glück, Kumpel. Nichts gegen dich, wirklich nicht, aber ich glaube, ich werde schnell mal etwas Geld für euer Duell riskieren. Und ich denke, du weißt, auf wen ich mein Geld setze.« Travis sagte nichts. Die Umkleidekabinen entpuppten sich als eine große Halle voller Holzbänke und Spinde. Überall standen oder saßen mehr oder weniger unbekleidete Barbaren herum, die Ratschläge von ihren Trainern erhielten, ihre Waffen schärften oder Aufwärmübungen machten. Als Travis den Raum betrat, rief jemand: »He, du darfst den Dämon nicht mit reinbringen!« »Ich muss. Er ist mein Trainer«, entgegnete Travis und ging weiter.
Als er die Umkleideräume wieder verließ, trat ihm Beatrice, die schon zuvor von zwei von Bovrols Kumpanen zur Arena eskortiert worden war, mit einem traurigen Blick aus der Menschenmenge entgegen. Ihr langes Haar war nicht länger unter der Kappe verborgen und fiel ihr über die Schultern. Niemand hielt sie mehr für einen Mann, und in dieser aggressivmännlichen Atmosphäre wirkte sie so deplatziert wie Bambi bei einer Tagung von Wölfen. Auch wenn er noch immer wütend auf sie war, so tat sie Travis dennoch Leid. Aber sich selbst tat er noch weitaus mehr Leid. »Travis, ich dachte schon, du kommst nicht mehr.« »Das wäre ich fast auch nicht, Prinzessin. Ich hatte einen Anfall von Vernunft, aber leider ging er zu rasch vorüber.« Enttäuscht blickte sie auf seine Hände. »Wo ist Sir Rodneys Schwert?« »Im Stall. Ich habe schon genug Handicaps. Mir noch einen Bruch zu heben, muss ich den anderen nicht hinzufügen.« »Womit willst du denn sonst gegen Bovrol kämpfen?«, fragte sie entsetzt. Er klopfte an den Degen, der an seiner Seite hing. »Damit.« »Aber doch nicht mit diesem kleinen Ding!« Sie schaute ihn noch entsetzter an. »Hast du gesehen, wie groß Bovrol ist?« »Haha!«, lachte Jack. »Bitte. Ich fühle mich schon so hilflos genug«, sagte Travis zu ihr. »Aber mach dir keine Sorgen – ich habe noch ein Ass im Ärmel. Hoffe ich.« »Was denn?«, fragte sie zweifelnd. In diesem Augenblick tauchte Bovrol auf. Er sah irgendwie noch größer aus als am Abend zuvor. Sofort nahm Travis eine
heroische Haltung an und sagte mit dröhnender Stimme, so Ehrfurcht gebietend wie er nur konnte: »Ah, Bovrol, du hast dich also doch getraut, dein feiges Gesicht heute zu zeigen!« Bovrol sah ihn verwirrt an. »Das wollte ich sagen«, maulte er. »Ich weiß«, entgegnete Travis. Ein älterer Graubart, der eine lange grüne Robe trug und einen Holzstab in der Hand hielt, gesellte sich zu ihnen. Er reichte Bovrol etwa bis zum Ellenbogen. Nachdem er sich als Spielleiter vorgestellt hatte, fragte er: »Und Ihr, Sir, seid wohl Bovrols Opf … äh, Gegner?« »Ich fürchte, ja«, bestätigte Travis. »Nun, junger Mann, Ihr dürft Euch wirklich glücklich schätzen«, erklärte der Schiedsrichter. »Wirklich?«, fragte Travis überrascht. Hatte sich Bovrol eine Sehnenzerrung zugezogen? Sagte er das Duell ab? Solches Glück war Travis nicht vergönnt. »Normalerweise dürfen nur Barbaren an den Spielen teilnehmen, aber in Eurem Fall machen wir eine besondere Ausnahme.« »He, wegen mir soll es bestimmt keinen Ärger geben«, sagte Travis flink. »Ich möchte nicht, dass Ihr Probleme habt …« Der Schiedsrichter hob die Hand. »Es gibt keine Probleme. Wir ernennen Euch für die Dauer des Kampfes zum Ehrenbarbaren. Was haltet Ihr davon?« Travis hätte gerne gesagt, was er von dieser Idee hielt. Stattdessen antwortete er: »Ich bin überglücklich … vor Rührung fast sprachlos … guter alter Bovrol.« Aus der Arena hörte man den Jubelschrei der Menge. »Ah«, sagte der Schiedsrichter. »Das bedeutet, dass Rupert
der Rohling der Hydra einen weiteren Kopf abgeschlagen hat. Fünf sind gefallen, zwei bleiben noch. Ihr seid als Nächste dran, also beeilen wir uns. Irgendwelche Wünsche, was den Namen betrifft?« »Hä?«, fragte Travis dumpf. »Ihr braucht einen richtigen Barbarennamen«, erklärte der Schiedsrichter. »So wie Bovrol der Brutale, versteht Ihr? Es muss Travis der soundso heißen. Also, habt Ihr einen Wunsch?« Travis fielen mehrere Namen ein. ›Travis der Tumbe‹, ›Travis der bald Verblichene‹, ›Travis der unglaublich Blöde‹, ›Travis der Triviale … ‹ Doch er sagte: »Wie wäre es mit ›Travis der politisch nicht Korrekte‹?« Der Schiedsrichter runzelte die Stirn. »Das klingt mir nicht sehr heldenhaft. Was soll es bedeuten?« »Glaubt mir, dort, wo ich herkomme, muss man schon sehr heldenhaft sein, wenn man als politisch nicht korrekt bezeichnet wird.« »Von mir aus«, meinte der Schiedsmann. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Verbeugt Euch.« Travis kam dem nach. Der Schiedsrichter berührte seinen Kopf mit dem Stab und intonierte: »Hiermit ernenne ich dich, Travis den politisch nicht Korrekten, zum Ehrenbarbaren für den heutigen Tag. Bereite dich vor. Da – dieser Schrei bedeutet, dass der Hydra bis auf einen Kopf alle abgesäbelt wurden. Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Travis schubste Jack von seiner Schulter und zog seine Jacke aus. »He!«, rief Bovrol. »Wo ist dein Schwert?« »Na, hier«, antwortete Travis und zeigte auf den Degen.
»Dieses lächerliche kleine Ding nennst du ein Schwert?«, fragte Bovrol hämisch. »Der Kampf sollte mit Breitschwertern geführt werden.« »Willst du eine offizielle Beschwerde anmelden, Bovrol?«, fragte der Schiedsrichter. »Na?«, fragte Travis. »Du hast doch sicherlich keine Angst davor, dass ich dir mit diesem lächerlichen kleinen Ding wehtun könnte.« Dabei zog er sich das Hemd aus. Bovrol kratzte sich nachdenklich am Kopf. Es war deutlich zu sehen, dass ihm mentale Aktivitäten nicht leicht fielen. Denken war für ihn nicht nur eine Bergwanderung, sondern ein Unternehmen vom Ausmaß einer Himalaja-Expedition. »Nö. Eigentlich will ich mich nicht beschweren«, sagte er schließlich. »Gut«, sagte Travis. »Machen wir Nägel mit Köpfen.« Er sah sich um und spannte seine Muskeln an. »Kann mir vielleicht jemand ein Tässchen Massageöl borgen?« Travis folgte Bovrol in die Arena. Kurz bevor er den Umkleideraum verließ, hatte Beatrice ihm ins Ohr geflüstert: »Viel Glück, Travis, und vergiss nicht – für mich steht bei diesem Duell viel auf dem Spiel.« Ja, dachte er, wenn ich verliere, dann wirst du viel mit Bovrol spielen müssen. »Ich tue mein Bestes«, versprach er ihr. »Dann sind wir alle verdammt«, kicherte Jack, der auf einer Fensterbank hockte. Travis zeigte ihm den Finger und ging. In der Arena lagen überall Hydraköpfe herum, unglaublich hässliche Dinger. Einer von ihnen schien Travis zuzuzwinkern, als er mit Bovrol und dem Schiedsrichter zur Mitte der mit Sand gefüllten Arena trabte. Die Sitzreihen des runden Amphi-
theaters waren bis zum letzten Platz mit Besuchern gefüllt. Als sie die Mitte des sandbedeckten und blutgetränkten Runds erreicht hatten, wies sie der Schiedsrichter an: »Verbeugt euch vor der Königlichen Loge.« Gleichzeitig neigte er sich vor einer abgetrennten Zuschauerloge, die mit Flaggen und heraldischen Wappen geschmückt war. Travis und Bovrol folgten seinem Beispiel. Dann verkündete der Schiedsrichter mit lauter Stimme: »Eure Königliche Hoheit, werte Barbaren, Ladies and Gentlemen sowie sämtliche anderen anwesenden Kreaturen – ich habe das Vergnügen, Ihnen ein Racheduell zwischen Bovrol dem Brutalen und Travis dem politisch nicht Korrekten anzukündigen.« Eine Welle höflichen Applauses flutete durch das Stadion. »Nun, meine Lieben«, fuhr der Schiedsrichter beiläufig fort, »ihr kennt die Regeln. Es gibt eigentlich nur eine – jede Form von Magie ist verboten.« Dann sagte er leise zu Bovrol: »Ich bitte dich wirklich, zieh diese Sache ein bisschen in die Länge. Dem Publikum wird es kaum gefallen, wenn du diesen armen Narren schon nach ein paar Sekunden abschlachtest.« »Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Bovrol. »Sein Tod wird langsam und schmerzhaft sein.« »Schön zu hören«, sagte der Schiedsrichter. »Ich verziehe mich jetzt. Fangt an, wenn ich außer Gefahr bin.« Während der Schiedsrichter auf die Tür der Umkleidekabinen zurannte, beäugten sich Travis und Bovrol und zogen ihre Waffen. Als die Zuschauer die Größe von Travis' Degen bemerkten, brandete Gelächter auf. Travis wich vor Bovrol zurück. Der Riese schnaubte verächtlich. »Was glaubst du, wohin du flüchten kannst, Pygmäe?«
Travis wich weiter zurück. Er spürte, wie eine Welle von Panik in ihm hochschwappte, versuchte aber mit aller Kraft, die Ruhe zu bewahren. Er wäre an jedem Ort der Welt lieber gewesen als jetzt in dieser Arena zusammen mit Bovrol. Selbst eine Fahrt in einem überfüllten Londoner U-Bahn-Wagen der Northern Line in der Rushhour hätte ihm Vergnügen bereitet. Aber nein, sagte er sich, so schlimm war es hier auch wieder nicht. Bovrol ließ sein Breitschwert mit einer Hand durch die Luft sausen. Es schien ungefähr fünf Meter lang zu sein. Allein der Luftzug warf Travis fast zu Boden. Als Bovrol auf ihn zustürmte, hielt Travis seinen Degen hoch. Doch plötzlich ließ er ihn los und packte die herabfallende Waffe an der Spitze der Klinge. Er streckte den Arm nach hinten und schleuderte den Degen mit aller Kraft auf Bovrol. Der Barbar hatte keine Chance, den heransausenden Pfeil mit seinem Breitschwert abzulenken. Die Waffe drang tief in Bovrols linke, gut geölte Brusthälfte ein. »Uff«, sagte Bovrol und blieb stehen. Das Publikum schrie entsetzt auf. Der Barbar schwankte nach vorne und nach hinten, dann packte er den Degen mit seiner freien Hand und zog ihn aus seiner Brust. Blut floss aus der Wunde. Er ließ den Degen fallen, und nachdem er noch ein paar Sekunden hinund hergeschwankt war, plumpste er rückwärts in den Sand. Ein sehr lautes, dröhnendes Geräusch – dann war alles still. Verdammt noch mal! Es hat tatsächlich funktioniert!, dachte Travis. Jemand aus dem Publikum buhte. Kurz darauf jubelte ein anderer. Weitere Buhrufe ertönten, die aber bald von den
Jubelschreien übertönt wurden. Travis holte tief Luft und atmete langsam aus. Entgegen jeder Chance hatte er Bovrol besiegt. Sicher, seine Methode war vielleicht nicht ganz koscher gewesen, aber der Schiedsrichter hatte selbst gesagt, dass es keine Regeln gebe. Er hatte gewonnen, klar und deutlich. Doch dann richtete sich Bovrol plötzlich wieder auf, kam auf die Beine und stürzte sich mit einem Wutschrei auf Travis. Was für ein blöder Spielverderber, dachte Travis, während er verzweifelt versuchte, den Fängen Bovrols zu entkommen. Alles ist gut, redete er sich ein, das sind nur noch Reflexe. Bovrol rennt noch ein bisschen herum, wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Das Schwert muss sein Herz durchbohrt haben. Gleich wird er wieder umfallen, und dann bleibt er liegen. So lange muss ich ihm nur entwischen … Nachdem er die Arena fünfmal umkreist hatte, begleitet von den Schreien und dem Gelächter der Zuschauer, begann Travis langsam daran zu glauben, dass seine Theorie ein Loch hatte, das größer war als das in Bovrols Brust. Im nächsten Augenblick stolperte er über einen der Köpfe der Hydra und knallte auf den Bauch. »Mist«, stöhnte er. Hinter sich hörte er die donnernden Schritte Bovrols. Er hatte keine andere Wahl, rollte sich auf den Rücken, zog die 45er und ballerte dreimal auf den heraneilenden Hünen. Bovrol stürzte neben ihm auf den Boden. Dieses Mal war er definitiv tot. Der letzte Schuss echote durch die Arena, und Travis wusste, dass seine eigentlichen Probleme jetzt erst begonnen hatten. Zunächst herrschte verblüfftes Schweigen im Publikum, dann brach die Hölle los. Aus dem Geschrei und den Missfallenskundgebungen hörte er Wörter wie ›Betrug!‹ und ›Zaube-
rei!‹ heraus. Er stand auf und sah sich um. Auch die Besucher hatten sich erhoben – bis auf die in der Königlichen Loge – und drohten ihm mit den Fäusten. Einige warfen Obst nach ihm. Der Schiedsrichter kam auf ihn zu, gefolgt von einer Gruppe wütend dreinblickender Barbaren. Beatrice war bei ihnen. »Welch feigen Akt der Magie hast du benutzt, um Bovrol niederzustrecken?«, fuhr ihn der Schiedsrichter wütend an. »Eigentlich war es gar keine Magie«, protestierte Travis, obwohl er wusste, dass es Zeitverschwendung war. »Es ist eine neuartige Waffe.« »Für mich klang und sah es aus wie Magie«, sagte der Schiedsrichter. »Gib mir das Ding.« Travis schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid«, sagte er und richtete die Knarre auf ihn. »Ich kann mit dir dasselbe machen wie mit Bovrol. Zwing mich bitte nicht dazu.« Beatrice tauchte neben ihm auf, dicht gefolgt von den wütenden Barbaren. Sie schlang ihre Arme um ihn. »O Travis, du hast es getan! Du hast mich vor ihm gerettet.« »Bitte, nicht jetzt«, sagte er und wand sich aus ihrer Umklammerung. Sie wurden von schreienden Barbaren umringt, von denen die meisten bewaffnet waren. »Die Sache ist noch längst nicht in trockenen Tüchern«, sagte er zu ihr, hob die Pistole und feuerte mehrere Male in die Luft. Wilde Hoffnung erfüllte ihn, dass die Barbaren beim Krachen der Schüsse in panischer Furcht auseinander stieben würden wie ein Eingeborenenstamm in einem alten Hollywood-Film. Sie taten es nicht. Sie wichen lediglich ein paar Schritte zurück, und für einen kurzen Augenblick trat Ruhe ein. Dann sagte jemand anklagend: »Dieser dreckige Betrüger benutzt schon wieder Magie.«
»Er sagt, es sei eine neue Art von Waffe«, meinte der Schiedsrichter. »Das ist es auch!«, rief Travis. »Es ist eine Art kleiner Bogen … der sehr kleine Pfeile abschießt«, fügte er lahm hinzu. »Es ist Zauberei!«, rief ein Barbar. »Und selbst wenn es das nicht ist, so ist es auf keinen Fall ein Schwert! Das Duell sollte doch mit Schwertern geführt werden, hab ich Recht?« »Ja«, stimmte der Schiedsrichter zu. »Er hat das Duell nicht den Regeln entsprechend geführt. Die Strafe darauf ist der Tod. Das Mädchen, seine Dienerin, wird Allgemeinbesitz der Barbarengilde.« Travis legte den Arm um ihre Hüfte und machte kreisende Bewegungen mit der Pistole. »Der erste Mann, der einen Schritt auf uns zumacht, wird von mir getötet«, warnte er, wusste aber, dass ihre Lage aussichtslos war. Er konnte ein paar von ihnen umlegen, aber die übrigen hätten ihn rasch überwältigt. Und was danach mit Beatrice geschehen würde, daran mochte er gar nicht denken.
KAPITEL 10
Beatrice nahm ihre Kappe ab, schüttelte das Haar, schob die Schultern zurück und richtete sich kerzengerade auf. »Hört meine Worte!«, sagte sie mit lauter Stimme. »Ich bin Prinzessin Beatrice, Tochter des Königs von Vallium. Legt auch nur einen Finger an mich oder meinen Begleiter, werdet ihr teuer dafür bezahlen!« Einige der Zuschauer reagierten mit Gelächter. Ein Barbar rief ihr zu: »Zieh uns nicht durch den Kakao, Baby, sonst tunken wir dich in Babyöl!« »In der Tat«, sagte der Schiedsrichter. »Warum um alles in der Welt sollte eine Prinzessin mit einem derart zweifelhaften Schurken durch die Gegend reisen – noch dazu als Mann verkleidet. Nicht, dass diese Verkleidung auch nur im Mindesten glaubwürdig wäre.« »Das kann man wohl laut sagen!«, rief ein Barbar und sah sie lüstern an. »Meine Schwester sieht mehr nach einem Mann aus als die hier. Aber Schwesterchen hat auch einen Schnurrbart.« »Ich sage euch, ich bin Prinzessin Beatrice!«, rief sie. In diesem Augenblick bahnten sich zwei Soldaten in Rüstung ihren Weg durch die Menge. »Prinz Valerie will wissen, was hier vorgeht«, sagte einer der beiden. »Ich habe diesen Mann soeben zum Tode verurteilt, weil er Magie gegen Bovrol eingesetzt hat, aber nun behauptet seine Begleiterin, sie sei eine Adelige. Eine Prinzessin Beatrice von
Vallium …« »Bei den Göttern, so ist es!« Der Sprecher trat hinter den beiden Soldaten hervor. Er war ein großer, gut aussehender Mann mit einem etwas verschlossenen Gesichtsausdruck. Die Pracht seines Gewandes ließ deutlich erkennen, dass es sich um Prinz Valerie selbst handeln musste. Hinter ihm stand ein erheblich jüngerer Mann – ein Jüngling noch –, der gänzlich in Schwarz gekleidet war. Der Prinz ging auf Beatrice zu und lächelte sie an. »Ja, du bist es, kein Zweifel. Du bist groß geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe – und du bist noch schöner als damals.« Beatrice errötete. »Ich bin so froh, dass Ihr mich erkannt habt, Prinz Valerie.« »Ein Mann müsste schon ein Mann mit stark eingeschränkten Sinnen sein, um jemanden wie dich zu vergessen«, knödelte er, nahm ihre Hand und küsste sie. Ach du meine Güte, dachte Travis. »Aber was machst du hier, in dieser abenteuerlichen Verkleidung und in der Gesellschaft dieses Kerls?« Er bedachte Travis mit einem sehr kurzen Blick. »Um das zu erklären, bräuchte ich einige Zeit«, antwortete Beatrice. »Aber ich bitte Euch, könnt Ihr nicht irgendetwas tun, um meinem Begleiter zu helfen? Sie wollen ihn töten.« »Wegen Betrugs, Eure Hoheit«, sagte der Schiedsrichter. »Das Ding in seiner Hand ist irgendeine magische Vorrichtung. Ihr selbst habt gesehen, wie er Bovrol damit getötet hat.« Der Prinz wandte sich an Travis. »Was hast du dazu zu sagen?« Travis versuchte, sich irgendetwas besonders Schlaues auszudenken, litt aber an einem schweren Mangel an Inspiration.
»Es ist eine Waffe«, sagte er zu dem Prinzen. »Das einzig Magische daran ist, dass die Kugeln nie ausgehen. Das sind die Dinge, die man damit abfeuert. Bovrol hat drei davon in seinem Körper. Sie haben ihn getötet …« Der so jung aussehende Mann neben dem Prinzen ergriff zum ersten Mal das Wort. »Dürfte ich mal sehen?«, fragte er und streckte seine Hand aus. Travis sicherte die Waffe und reichte sie ihm zögerlich. Der Mann hielt sie in beiden Händen und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Was meinst du, Damion?«, fragte der Prinz. »Sie hat eine seltsame Aura. Eine sehr mächtige. Und sie ist nicht von dieser Welt.« »Das stimmt«, sagte Beatrice eifrig. »Travis kommt auch aus einer anderen Welt.« »Wirklich?«, fragte der Jüngling und sah Travis äußerst interessiert an. »Wie heißt sie und wo ist sie?« »Sie heißt Erde. Was die Lage anbetrifft – das ist ein bisschen schwierig.« »Und wie bist du in unsere Welt gekommen?«, fragte Prinz Valerie. »Durch Zauber«, räumte Travis ein. »Seht Ihr! Er gibt zu, Zauberei einzusetzen!«, donnerte der Schiedsmann. »Ich verlange, dass mein Urteil sofort vollstreckt wird!« »O nein!«, rief Beatrice und ergriff die Hand des Prinzen. »Bitte, tut etwas, ich flehe Euch an! Travis hat mir das Leben gerettet. Und mehr!« »Hat er das wirklich?«, fragte der Prinz. »Das lässt die Sache allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Jeder Mann, der
dir das Leben gerettet hat, verdient meinen aufrichtigen Dank.« Er wandte sich an den Schiedsrichter. »Ich hebe seine Strafe auf. Er ist fremd hier und mit den Sitten und Gebräuchen nicht vertraut. Und so wie es aussieht, hätte Bovrol ihn gar nicht erst herausfordern dürfen. Es war eine äußerst ungleiche Paarung.« Der Schiedsrichter öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn jedoch schnell wieder. Unter den Barbaren erhob sich ein kurzes und leises Gemurmel, aber niemand wagte es, laut Einspruch zu erheben. Offenbar war das Wort des Prinzen Gesetz. Der Prinz verbeugte sich vor Beatrice und sagte: »Du und dein Beschützer, ihr sollt Gäste in meinem Schloss sein. Wir wollen gleich fahren – in meiner Kutsche.« »Ich danke Euch, Prinz Valerie«, sagte Beatrice und errötete schon wieder. »Ja, danke.« Travis atmete erleichtert auf. »Aber dürfte ich eben noch den Rest meiner Kleidung holen. Und es gibt noch etwas – ich habe einen Dämon …« »Haben wir nicht alle einen?«, seufzte der Prinz. »Nein, nein, es handelt sich um einen echten Dämon. Jack heißt er. Ich werde später versuchen zu erklären, warum er mit mir reisen muss. Was dagegen, wenn ich gehe und ihn hole?« »Aber nein. Einer meiner Männer wird dich begleiten und zur Kutsche bringen.« »Schön.« Travis wandte sich an den jungen Mann und streckte seine Hand nach der Pistole aus. Doch der Prinz schüttelte den Kopf. »Nein, ich halte es für das Beste, wenn Damion deine merkwürdige Waffe bis auf weiteres bei sich behält.« »Oh«, sagte Travis. Diese Entwicklung gefiel ihm überhaupt nicht.
Etwa fünfzehn Minuten später saß Travis in der prunkvollen vierspännigen Kutsche des Prinzen, zusammen mit dem Prinzen selbst, Beatrice und dem mysteriösen Damion. Jack war zu seiner Verbitterung auf das Dach der Kutsche verbannt worden. Der Prinz und Beatrice saßen nebeneinander, und zu Travis' Verbitterung schien Beatrice sehr erfreut darüber. Damion untersuchte noch immer interessiert die 45er. »Seid Ihr ein Verwandter des Prinzen?«, fragte Travis höflich. »Ich? Nein. Ich bin der Hofmagier.« »Tatsächlich?«, fragte Travis überrascht. »Aber für einen Zauberer seid Ihr doch noch sehr jung.« »Nicht alle Zauberer sind grauhaarige alte Männer mit langen Bärten«, sagte der Jüngling pikiert. »Jeder muss mal irgendwann anfangen. Ich habe meinen Abschluss am College der Dunklen Künste letztes Jahr gemacht. Das hier ist meine erste Stellung.« »Interessante Arbeit?« »Sehr. Prinz Valerie ist der perfekte Arbeitgeber. Und langfristig sind die Aussichten sehr gut.« »Was genau macht denn ein Hofmagier? Amüsiert er den Prinzen und seine Höflinge mit Kartentricks und dergleichen?« »Ich bestimmt nicht«, entgegnete der junge Mann in scharfem Ton. »Mein Job ist es unter anderem, den Prinzen vor jenen zu schützen, die Schwarze Magie gegen ihn einsetzen wollen.« »Verstehe«, sagte Travis. »Und, habt Ihr viel zu tun?« Damion nickte. »Mein Lehnsherr hat viele Feinde.« Travis überlegte. Bis jetzt hatte er den Eindruck gehabt, dass Prinz Valerie ein durchaus freundlicher Mann war. Aber wahr-
scheinlich, dachte er, schaffen sich auch die gütigsten Herrscher Feinde. »Da ist es!«, verkündete der Prinz stolz und deutete aus dem Fenster. »Schloss Drysfillia!« Travis lehnte sich hinaus und sah in der Ferne ein riesiges weißes Bauwerk mit hohen glänzenden Zinnen und Turmspitzen. Endlich eine richtige Burg, dachte Travis. Sie hatte sogar einen Wassergraben und eine Zugbrücke. »Fantastisch«, sagte er zu dem Prinzen. »Hat sicher eine Stange Geld gekostet, die Burg.« »Eine Stange?«, fragte der Prinz stirnrunzelnd. »Ein Vermögen.« »Drysfillia befindet sich schon seit Generationen in Familienbesitz. Ursprünglich wurde es von meinem Ur-Ur-UrGroßvater gebaut, Lord Brian der Dreiste. Natürlich sind im Laufe der Jahre Anbauten hinzugekommen. Ich selbst war für den Bau des Turmes am Ostflügel verantwortlich, der erst vor kurzem fertig gestellt wurde. Er soll für meine Braut sein.« »Oh, ihr wollt heiraten?« »Sobald ich die richtige Frau gefunden habe«, antwortete der Prinz und lächelte Beatrice viel sagend zu. Sie errötete ein weiteres Mal. Travis seufzte innerlich. »Hier stinkt was«, sagte Jack. »Ja, und zwar du«, entgegnete Travis. »Ich meine Prinz Val. Irgendetwas an ihm ist komisch. Und seinem kleinen Kumpel traue ich auch nicht.« Jack saß auf dem Sims eines schmalen Fensters und schmauchte eine seiner
Marlboros. »Da magst du Recht haben, aber der Prinz scheint doch ganz in Ordnung. Auf alle Fälle ist er äußerst gastfreundlich. Das hier ist das beste Zimmer, das ich seit meiner Ankunft auf diesem blöden Planeten je gesehen habe. Kein Halm Stroh in Sicht und echtes Leinen auf dem Bett. Und was dieses Bad anbetrifft – die reinste Wohltat.« Vor einer halben Stunde waren Diener mit einer großen runden Wanne gekommen und hatten begonnen, sie mit heißem Wasser zu füllen. Travis räkelte sich noch immer darin und wischte sich den Schmerz und die Müdigkeit von seinen überanstrengten Muskeln. »Nun, meine Nase sagt mir, dass mit diesem Prinzen irgendwas nicht stimmt«, beharrte Jack. »Ich meine, wer nennt sich schon freiwillig Valerie? Prinz Eisenherz – ja, das ist ein Name, der etwas aussagt. Aber Prinz Valerie?« »Wenn du andeuten willst, dass er schwul ist, dann kann er das ganz gut verbergen. Jeder sieht, wie er sich an Beatrice heranmacht.« »Ja, du hast Recht. Und unser Baby scheint auch auf ihn abzufahren.« »Das habe ich mitgekriegt«, entgegnete Travis mürrisch. Es klopfte an der Tür. Travis rief: »Herein!« Eine junge, sehr blasse, aber attraktive Dienerin betrat das Zimmer mit einigen Kleidungsstücken über dem Arm. Sie machte einen Knicks vor Travis und sagte: »Prinz Valerie trug mir auf, Euch diese Sachen zu bringen, damit Ihr Euch umziehen könnt.« »Schön«, sagte Travis. »Leg nur alles aufs Bett.« »Und dich selbst dazu«, sagte Jack zu dem Mädchen und ki-
cherte. Das Mädchen tat so, als habe es die Bemerkung des Dämons nicht gehört. Es stellte ein Paar weiche Lederstiefel auf den Boden und legte die Kleider aufs Bett. Dann ergriff sie eines der großen weichen Tücher, die von den anderen Dienern mitgebracht worden waren, hielt es vor sich und sagte: »Wenn Ihr die Güte hättet, aus dem Bottich zu steigen, werde ich Euch abtrocknen, Sir.« Verblüfft erwiderte Travis: »Das ist wirklich nicht nötig, aber trotzdem, vielen Dank.« »Ich habe meine Anweisungen, Sir«, sagte sie. »Und ich muss dem Prinzen stets gehorchen.« »Oh«, meinte Travis und betrachtete sie genauer. Sie war etwa achtzehn, ihr langes tiefschwarzes Haar war zu Zöpfen geflochten, und ihre Augen blickten ihn gefühlvoll an. »Tja, also gut«, sagte er dann. »Ich möchte wirklich nicht, dass du Ärger bekommst, meinetwegen.« Der Dämon lachte. »Das muss ich sehen«, sagte er. »Jack, warum verziehst du dich nicht und siehst dir mal den Burggraben an?« Travis bewunderte sich gerade im Spiegel, als Jack zurückkehrte. »Ist die Luft rein? Hast du dein kleines schmutziges Spiel mit dem Dienstpersonal gespielt?« »Deine schmutzige Fantasie geht mit dir durch. Es war alles völlig harmlos. Sie hat mich abgetrocknet, hat mir beim Anziehen geholfen und ist gegangen.« »Aber sicher.«
»Es stimmt, glaub's mir.« »Und wie harmlos waren deine Gedanken, als sie dich abgetrocknet hat, he?« »Nicht vollkommen harmlos, das gebe ich zu, aber sie ist noch ein Mädchen, und ich würde sie niemals ausnutzen.« »Du bist vielleicht nobel – das macht mich fast krank.« »Schön zu hören. Übrigens, wie sehe ich eigentlich aus?« Er drehte sich um und führte Jack die neuen Kleider vor. »Willst du die Wahrheit wissen? Du siehst so aus, als gingest du gleich zum Vorsprechen für die Hauptrolle in Peter Pan.« »Ja, ein bisschen übertrieben wirkt es schon, aber zumindest sind diese Sachen sauber, und die Unterwäsche fühlt sich nicht an, als wäre sie aus Stroh. Also, ich muss jetzt zum Dinner. Soll ich dir was mitbringen? Ich bezweifle, dass sie Ziegenhoden auf der Speisekarte haben, aber ich finde bestimmt etwas Geeignetes für dich.« »Spar dir die Mühe. Ich habe schon gegessen. Die Abwasserrohre des Schlosses führen direkt in den Burggraben. Allerlei interessantes Zeug, was da im Wasser treibt.« »Na Mahlzeit, Jack. Jetzt habe ich auch keinen Hunger mehr.« Doch als das Essen im königlichen Speisesaal aufgetragen wurde, fand Travis seinen Appetit schnell wieder. Die Mahlzeit war gut, wie er erwartet hatte. Es gab Suppen, Wild, Huhn, Röstkartoffeln, mehrere Gemüse und reichliche Mengen an gutem Rotwein. Die Sitzordnung gefiel ihm weit weniger. Während Beatrice – die in ihrem neuen juwelenbestickten Kleid einfach hinreißend aussah – neben dem Prinzen am Haupttisch
saß, fand sich Travis an einem der beiden Nebentische wieder. Er steckte zwischen einem dicken Mann, der unentwegt schmatzte und schlürfte, und Damion, der ihn unablässig mit Fragen über seine heimatliche Welt quälte. Er bat ihn auch darum, ihm am nächsten Morgen auf dem Schlosshof die Wirkung seiner Waffe zu demonstrieren. Travis hatte keine andere Wahl, als zuzusagen. Eine weitere Quelle des Ärgers war der Anblick von Beatrice und Prinz Valerie. Er konnte nicht verstehen, welchen Unsinn er ihr ins Ohr flüsterte, aber sie saugte es auf wie eine Katze, der man eine Schüssel mit Sahne vorgesetzt hat. Sie hörte gar nicht mehr auf zu kichern und zu erröten und benahm sich durchgehend wie eine absolute Närrin. Mit anderen Worten, sie benahm sich wie eine verliebte junge Frau. Nicht ein einziges Mal sah sie zu Travis hinüber. Zu ihm, ihrem Retter! Welche Undankbarkeit! Welcher Wankelmut! Nach dem Ende des Dinners torkelte Travis unsicher zu seinem Zimmer zurück. Aus Enttäuschung darüber, dass er nicht einmal die Gelegenheit gehabt hatte, wenigstens einige Worte mit Beatrice zu wechseln, hatte er kräftig dem Rotwein zugesprochen. Als er den Raum betrat, stellte er erleichtert fest, dass Jack nicht da war. Er war absolut nicht in der Stimmung, den kleinen Strolch ertragen zu können. Aber wann war er das je? Unmutig entkleidete er sich, zog das Nachtgewand an, das jemand während seiner Abwesenheit bereitgelegt hatte – die dunkelhaarige Dienerin? –, und stieg ins Bett. Gerade wollte er die Kerze auf dem Tisch neben dem Bett auspusten, als es sachte an die Tür klopfte. Beatrice, dachte er fröhlich, sprang aus dem Bett und ging zur Tür.
Doch als er sie öffnete, sah er zu seiner Enttäuschung, dass es nicht Beatrice war, sondern das blasse, dunkelhaarige Dienstmädchen. Sie hielt einen Kerzenhalter mit einer brennenden Kerze in der Hand. Auch sie trug ein Schlafgewand. Ihr Haar war nicht länger zu Zöpfen geflochten, sondern hing offen über die Schultern. »Darf ich hereinkommen, Sir?«, fragte sie leise. »Ja, natürlich …« Er trat beiseite, und sie ging an ihm vorbei zum Bett. Dort stellte sie ihre Kerze neben die andere auf den Tisch und drehte sich zu ihm um. Er schloss die Tür. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er lahm. Als Antwort zog sie sich ihr Gewand über den Kopf und ließ das Kleidungsstück auf den Boden gleiten. Splitternackt bis auf ein samtenes Band um ihren Hals stand sie vor ihm und sah ihn schweigend an. Wie ihr Gesicht, so war auch ihr ganzer Körper sehr weiß, bis auf das pechschwarze Dreieck ihres Schamhaars. Sie hatte eine sehr hübsche Figur. Die Brustwarzen ihres kleinen, aber runden Busens waren hellrosa, fiel ihm auf. Er schluckte und sagte: »Hör zu, das ist alles wirklich sehr nett, und ich weiß die Geste wirklich zu schätzen, aber ich könnte niemals … Zieh dein Gewand besser wieder an.« »Der Prinz hat mir aufgetragen, Euch zu verwöhnen. Ich muss ihm gehorchen«, sagte sie ernst. »Nun, ich hatte auch keinesfalls angenommen, dass du aus eigenem Antrieb gekommen bist, aber nichtsdestotrotz muss ich dein Angebot ablehnen. Richte ihm meinen Dank aus, wenn du ihn das nächste Mal siehst.« »Warum weist Ihr sein Geschenk zurück?«, fragte sie ernst. »Er wird beleidigt sein.«
»Oh, ich will den Prinzen keineswegs beleidigen. Ich denke nur an dich. Du bist noch ein Mädchen, und ich will dich keinesfalls ausnutzen«, sagte er zu ihr. Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich könnte, sagte er zu sich selbst, aber ich muss zumindest einen verdammt ernst gemeinten Versuch machen, mich ehrenwert zu verhalten. »Ausnutzen?«, sagte sie mit einem leichten Anflug von Stirnrunzeln. »Ich würde dich benutzen. Ich würde dich ausnutzen, weil der Prinz dich gebeten hat, zu mir zu kommen.« »Er hat mich nicht gebeten, er hat es mir befohlen«, sagte sie. »Und wenn ich seinen Befehlen nicht gehorche, lässt er mich schlagen.« »Was?«, fragte Travis überrascht. So etwas hatte er Prinz Valerie nun wirklich nicht zugetraut. Sie drehte sich um und zeigte ihm ihren Rücken. Er erkannte Spuren von verblassenden Striemen, die im Zickzack über ihre Haut liefen. »Seht Ihr?« Sie wandte sich wieder um. »Nun, das ändert natürlich alles«, murmelte er, insgeheim erleichtert. »Ich möchte nicht, dass dir so etwas noch einmal passiert.« »Gut«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal. Es war nur ein flüchtiges Lächeln, aber es war eindeutig ein Lächeln. »Wie heißt du?«, fragte er. »Annabelle«, flüsterte sie. Dann ging sie auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl. Sie half ihm aus seinem Schlafgewand und führte ihn zum Bett. Ihre ruhige, passive Art hatte ihn fürchten lassen, dass ihr Sex zu einer ähnlich leblosen Angelegenheit werden könnte,
aber sobald sie auf dem Bett lagen, überraschte sie ihn freudig. Sie wurde sogleich äußerst lebendig und sehr leidenschaftlich. Und erfindungsreich. Wer immer sie unterrichtet hatte, musste ein Ehrendoktor in Sachen Liebeskunst gewesen sein. Zu seiner Erleichterung schien ihr die Sache mindestens ebenso viel Spaß zu machen wie ihm. Er hielt sie für keine so gute Schauspielerin, als dass sie ihm etwas hätte vortäuschen können, und so wurde auch der letzte Rest von Schuldgefühl, den Travis hatte, Vergangenheit. Als er sie das zweite Mal nahm, dieses Mal von hinten – auf ihren eigenen Wunsch –, kam ihm der Gedanke, dass Prinz Valerie sie geschickt hatte, damit er nicht mehr an Beatrice denken würde, als eine Art Trostpreis. Er hätte erbost darüber sein sollen, dass ihn der Prinz für einen solch oberflächlichen Menschen zu halten schien, aber hier und jetzt war ihm das völlig egal. Später, als sie erschöpft nebeneinander lagen, stützte er sich auf einen Ellenbogen und sah sie an. »Du bist wunderschön, Annabelle.« »Vielen Dank, Sir, aber meine Nase ist zu groß, und meine Brüste sind zu klein.« »Nein, nein, sie sind prima, glaub mir. Aber sag mir eines: Trägst du eigentlich immer dieses Band, wenn du mit jemandem schläfst? Nicht, dass ich mich beklagen will, im Gegenteil, ich finde es irgendwie aufregend.« »Aufregend?« »Sexy.« »Oh. Nein, ich trage es, weil der Prinz es so will.« Dieses Mal war es an Travis, ›oh‹ zu sagen. Seine Neugier war
erwacht. Als sie neben ihm ganz plötzlich in einen tranceartigen Schlaf gefallen war, löste er das Band langsam und vorsichtig. Selbst im schwachen, flackernden Licht der beiden Kerzen waren die beiden kleinen Bisswunden an ihrem Hals deutlich sichtbar. Travis hatte genug Horrorfilme gesehen, um zu wissen, was sie bedeuteten.
KAPITEL 11
Der kalte Schweiß brach ihm aus. Die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand: Die beiden Wundmale an ihrem Hals deuteten darauf hin, dass sich ein Vampir in der Nähe aufhielt, und aus irgendeinem Grund glaubte Travis, dass es sich um niemand anderen als Prinz Valerie selbst handelte. Dann kam ihm ein anderer Gedanke – was, wenn Annabelle auch ein Blutsauger war? Teilte er das Bett mit einem weiblichen Vampir? Vorsichtig band er die samtene Schleife wieder zu. Dann hob er sachte ihre Oberlippe an, bis er ihre Zähne sehen konnte. Er entdeckte jedoch keine Fangzähne, nur ein ganz normales Gebiss. Aber vielleicht wuchsen ihr die Fangzähne auch nur dann, wenn sie beißen wollte … Sie bewegte sich. Travis zog schnell seine Hand zurück. Sie öffnete die Augen. »Was machst du?«, fragte sie. »Oh, nichts.« Sie setzte sich auf. »Du hast irgendwas mit meinem Mund gemacht.« »Ich habe mir nur deine Zähne angesehen.« »Warum?« »Zähne faszinieren mich. Ich muss sie mir immer ansehen.« »Du bist seltsam.« Du musst gerade reden, dachte er. »Aber du bist auch sehr nett«, sagte sie und beugte sich zu
ihm, um ihm einen Kuss zu geben. Er zuckte vor ihren Lippen zurück. »Was ist denn los?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Gib es zu – du wolltest mich beißen«, sagte er. »Dich beißen? Warum sollte ich dich wohl beißen wollen?« Sei vorsichtig, dachte er. Er durfte sie nicht wissen lassen, dass er sie für einen Vampir hielt. Sicherlich würde sie sofort Prinz Valerie davon berichten, und wahrscheinlich gefiel es dem Prinzen gar nicht, wenn jemand herumlief und ihn als Blutsauger bezeichnete. Vielleicht hatte der Prinz Annabelle nur deshalb zu ihm geschickt, um auch aus ihm einen Vampir zu machen … Plötzlich warf sie sich auf ihn und hielt ihn an den Armen fest. »Aaargh«, stieß er hervor. Er wusste, dass es zwecklos war zu kämpfen. Schließlich war allgemein bekannt, dass Vampire die Stärke von zehn Männern besaßen. In diesem Fall die Stärke von zehn Frauen, aber auch das würde natürlich reichen, um ihn niederzuhalten. »Was ist plötzlich mit dir los?«, fragte sie. »Was ist in dich gefahren?« »Ich mache mir eher Sorgen darum, was in dich gefahren ist«, sagte er und machte mit den Fingern ein Kreuzzeichen vor ihrem Gesicht. Verblüfft starrte sie seine gekreuzten Zeigefinger an, leicht schielend. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Ich auch nicht«, ertönte eine andere Stimme. »Aber lass dich dadurch nicht aufhalten « Travis wandte den Kopf und sah zu seiner großen Erleichterung, dass Jack durch das schmale Fenster hereingeflogen war
und auf dem Fensterbrett saß. »Jack, ich bin so froh, dich zu sehen!«, rief er. »Du bist was?«, fragte Jack überrascht. Travis schubste Annabelle zur Seite und sprang aus dem Bett. »Jack, das ist Annabelle. Sie wollte gerade gehen.« »Ich wollte was?«, fragte sie ebenso überrascht wie Jack. »In der Tat«, sagte Travis und reichte Annabelle ihr Gewand. »Danke, es war fantastisch.« Als sie aus dem Bett stieg, schüttelte er ihr die Hand. »Auf Wiedersehen. Bis demnächst irgendwo im Schloss.« Sie streifte ihr Gewand über und sah ihn noch einmal verwundert an. Dann nahm sie ihre Kerze und ging. »Also gut, ich gebe es zu«, sagte Jack. »Du hast es geschafft, mich zu verwirren. Gibt es einen guten Grund, warum du diese tolle Schnecke aus deinem Bett geworfen hast?« »Sie ist vielleicht ein Vampir«, sagte Travis und ließ sich erleichtert auf die Kissen fallen. »Und? Niemand ist vollkommen.« »Ich meine es ernst«, sagte er und erzählte Jack von den Bissspuren, die er unter dem Band an ihrem Hals entdeckt hatte. »Oh, das erklärt die Sache mit den Fingern. Du wolltest ein Kreuz schlagen, stimmt's?« »Ja, aber es schien sie überhaupt nicht zu beeindrucken.« »Nun, wieso auch, Schlauberger. Denk doch mal nach.« »Was meinst du?« »Wie viele Kirchen hast du seit unserer Ankunft hier gesehen?«, fragte Jack. Er überlegte kurz. »Keine«, antwortete er dann. »Das kommt daher, dass es mit dem Christentum in dieser
Welt nicht weit her ist. Genauer gesagt, es existiert nicht. ›O je, das wirkt bei diesem Vampir nicht‹, wie es in einem Film hieß, den ich mal gesehen habe. Außerdem weißt du nicht einmal genau, ob sie einer ist.« Travis fuhr sich übers Kinn. »Nein, aber ich bin sicher, dass Prinz Valerie einer ist.« »Ich wusste doch, dass dieser Kerl im Trüben fischt«, rief Jack triumphierend. »Allerdings habe ich ihn schon in gleißendem Sonnenlicht herumlaufen sehen.« »Vielleicht benutzt er einen starken UV-Blocker«, meinte Jack. »Außerdem, selbst wenn es hier Vampire gibt, und ich habe Gerüchte gehört, die das nahe legen, so heißt das noch lange nicht, dass sie sich genauso wie unsere heimische Art verhalten. All dieses Zeug ist doch nur von Schriftstellern erfunden worden. Denk mal an diesen Bram Stoker. Das sind keine in Stein gemeißelten Gesetze. Verdammt, in meinem Film Die Nacht der Nympho-Vampire konnten unsere weiblichen Vampire nur mit einem silbernen Vibrator getötet werden. Ich persönlich habe diese Regel erfunden.« »Wer sonst!« »Der Punkt ist doch der, Schlauberger – wenn es hier echte Vampire gibt, dann gelten für sie wahrscheinlich völlig andere Regeln.« »Ja, du hast Recht«, räumte Travis ein. »Und ich muss unbedingt herausfinden, wie sie lauten, wenn ich Beatrice helfen will.« »Was hat das königliche Baby damit zu tun?« »Das ist doch klar! Sie hat sich offenbar in Valerie verknallt,
und in der Kutsche sprach der Prinz davon, dass er eine Frau suche. Wenn ich nicht etwas unternehme, dann endet sie als Braut eines Vampirs.« »Braut eines Vampirs? Dazu fällt mir einiges ein. 1982 habe ich einen Film mit genau diesem Titel gedreht. Hat weniger als 200.000 Dollar gekostet und fast drei Millionen eingespielt. Mixie O'Connor war in der Hauptrolle zu sehen.« Jack seufzte wehmütig. »Enorme Möpse, und zwischen den Laken ist sie losgegangen wie eine Rakete. Einmal hat sie …« »Entschuldige bitte«, unterbrach Travis ihn. »Deine Filmkarriere ist sicherlich faszinierend, wenn auch unglaublich ekelhaft, aber können wir vielleicht zum eigentlichen Problem zurückkehren? Wie kann ich Beatrice vor einem Schicksal bewahren, das schlimmer ist als der Tod?« »Eher ein Schicksal schlimmer als das Leben.« »Ich muss sie irgendwie warnen.« »Aber zuerst musst du herausfinden, ob Prinz Valerie auch wirklich ein Vampir ist«, korrigierte ihn Jack. Travis ließ sich aufs Bett sinken. »Ja. Aber wie mache ich das, wenn die Vampire hier nach anderen Gesetzen agieren?« »Durch einen Prozess der Eliminierung«, schlug Jack vor. »Zunächst überprüfst du all die bekannten Punkte aus den Geschichten von zu Hause. Man kann nie wissen, manche gelten ja vielleicht doch auch hier.« Travis' Miene heiterte sich auf. »Großartige Idee. So mache ich es.« »Mögt Ihr Knoblauch?«, fragte Travis Prinz Valerie. Der Prinz hob eine Augenbraue. »Was ist das, Knoblauch?«
»Oh, es ist ein Gewürz. Vielleicht wächst hier keiner. In meiner Welt ist Knoblauch sehr beliebt. Bei einigen, jedenfalls …« Knoblauch können wir streichen, dachte Travis. Bis jetzt hatte er noch nicht allzu viel Glück dabei gehabt, die möglichen vampiristischen Tendenzen des Prinzen zu verifizieren. Zu Beginn des Frühstücks hatte Travis so getan, als bewundere er eine Silberplatte und hatte sie so gehalten, dass sich Prinz Valerie darin spiegelte. Und genau das hatte er getan. Er hatte also definitiv ein Spiegelbild, und damit galt auch diese alte Erdenregel für Vampire hier nicht. Prinz Valerie aß und trank das Gleiche wie alle anderen, und auch das unterschied ihn von seinen irdischen Artgenossen. Langsam gingen Travis die Ideen aus. Er stand kurz davor, sich auf Valerie zu stürzen und ihm einen Holzpflock ins Herz zu rammen. Allerdings war das eine dramatische Maßnahme, die sich überdies als äußert peinlich erweisen könnte, sollte sich herausstellen, dass der Prinz gar kein Vampir war. Er kam einfach auf keinen narrensicheren Weg, um die Wahrheit herauszufinden. Vielleicht hatte Annabelle auch nur einen Liebhaber mit ungewöhnlich langen Beißern gehabt, für den das Wort Knutschfleck ein dehnbarer Begriff war? Das Frühstück fand in erheblich kleinerem Rahmen statt als das Dinner am Abend zuvor. Außer dem Prinzen, Beatrice, Damion und Travis selbst waren nur einige wenige Höflinge anwesend, sodass alle an einem Tisch im Speisesaal saßen. Als der Prinz und Beatrice den Saal betraten, stellte Travis erleichtert fest, dass sie kein verräterisches Band um den Hals trug. Trotzdem starrte er auf ihren Hals und ihre Kehle, um ja keine
Wunde zu übersehen, sei sie auch noch so klein, die auf gewaltsames Vorgehen schließen ließ. »Hallo, Travis«, begrüßte sie ihn, als sie Platz nahm. »Warum zeigst du ein solch ausgeprägtes Interesse für meinen Hals?« Er freute sich zwar, weil sie heute zumindest wahrnahm, dass er existierte, aber ihre Frage traf ihn völlig unvorbereitet. Mit einem besorgten Seitenblick zum Prinzen, der ihn ebenfalls verwundert anblickte, sagte er hastig: »Dein Hals? O nein, ich habe keinesfalls auf deinen Hals geschaut …« »Nun, ich hatte schon den Eindruck«, entgegnete Beatrice, die ein neues, tief dekolletiertes Kleid trug, diesmal in Smaragdgrün. »Aber wenn es nicht mein Hals war, wohin hast du dann geschaut?« Mit einem süffisanten Lächeln senkte sie den Blick zu ihrem Ausschnitt. Für sie mochte es nur ein Spiel sein, aber Travis fand all dieses Gerede von Hälsen in Gegenwart des Prinzen überhaupt nicht amüsant. Im Gegenteil. Er musste schnellstens das Thema wechseln. »Ähm, gut geschlafen, Prinzessin?«, fragte er. »Ich hatte eine wundervolle Nacht«, antwortete sie. Was zum Teufel sollte das nun wieder heißen? Besorgt fragte er sich, ob sie noch immer Jungfrau war. Konnte das nicht eine postkoitale Röte sein, die er da auf ihren herrlichen Wangen schimmern sah? Sich von ihrer Jungfräulichkeit zu überzeugen, dazu bedurfte es jedoch erheblich größerer Anstrengungen, als einen genauen Blick auf ihren Hals zu werfen. »Damion sagte mir, dass du uns nach dem Frühstück eine Demonstration deines famosen Talismans geben willst«, sagte der Prinz, während er behende ein gebratenes Hühnchen zer-
legte. »Das werde ich«, sagte Travis. Ohne seine Waffe fühlte er sich sehr unwohl, und er hoffte, dass Damion sie ihm nach der Vorführung zurückgeben würde. Irgendwie zweifelte er jedoch daran. Damion, der neben ihm saß, mischte sich ein: »Es handelt sich um einen ausgesprochen faszinierenden Apparat. Ich habe Stunden damit verbracht, ihn zu untersuchen, aber es ist mir nicht gelungen, ihn auseinander zu nehmen.« Gott sei Dank, dachte Travis. »Du sagst, es handelt sich um eine mechanische Vorrichtung, und dennoch wird das Ding von einer starken magischen Aura umgeben«, sagte Damion. »In meiner Welt wäre es auch nur eine mechanische Vorrichtung, aber hier ist es anders.« »Besitzt jeder in deiner Welt einen solchen Apparat?«, fragte Damion. »Nun, in meinem Land kommen die gewöhnlichen Bürger nur sehr schwer daran. Aber es gibt ein Land, das man die Vereinigten Staaten von Amerika nennt, wo jeder mindestens zwei oder drei dieser verdammten Dinger sein Eigen nennt. Waffenbesitz scheint dort gesetzlich vorgeschrieben, und sich gegenseitig zu erschießen – nun, das gilt als nationales Freizeitvergnügen.« »Werden sie auch im Krieg zwischen den Königreichen benutzt?«, fragte Valerie. »O ja. Aber dann sind sie viel größer als diese hier. Dann heißen sie Gewehre, Maschinengewehre, Artillerie … die Massaker, die man mit ihnen anrichten kann, sind ganz abscheu-
lich.« Travis lächelte bitter. »In Massakern sind wir sehr gut.« »Ich freue mich schon auf die Vorführung«, meinte der Prinz und tauschte Blicke mit Damion aus. »Aber sage mir, war das Mädchen, das ich dir zu Diensten schickte, Annabelle, war sie zufriedenstellend?« Er spürte, wie er rot wurde. »Vollkommen zufriedenstellend, Eure Hoheit«, sagte er. »Sie hat sich um all deine … Wünsche gekümmert?« »O ja! Das hat sie in der Tat. Eine ausgezeichnete Kraft. Sagt mir nur Bescheid, wenn sie ein Empfehlungsschreiben braucht.« Hastig griff er nach einem Krug Bier, um schnell einige Schlucke hinunterzustürzen. Er wusste, dass Beatrices Augen auf ihm ruhten. »Und welche › Wünsche‹ hat Annabelle dir erfüllt, Travis?«, fragte sie mit süßer Stimme. »Ach, weißt du, die üblichen Dinge, was eine Dienerin so macht.« »Zum Beispiel?« »Oh, sie hat mir ein Bad eingelassen, mir die Kleider zurechtgelegt, mir beim Anziehen geholfen … und so weiter.« »Dieses ›und so weiter‹ finde ich höchst interessant«, sagte Beatrice. Ein Einwurf des Prinzen erlöste Travis. »Du bringst unseren Gast in Verlegenheit, mein Liebling. Warum erzählst du ihm nicht unsere guten Neuigkeiten?« Travis wartete gespannt. Der doppelte Gebrauch von Possessivpronomen beunruhigte ihn. »Heute Abend gibt Prinz Valerie einen Ball zu meinen Ehren. Du bist natürlich auch eingeladen. Der Prinz wird eine
wichtige Mitteilung machen. Im Hinblick auf ihn und mich.« Travis stöhnte innerlich auf. Er wusste, was jetzt kam. Sie schenkte dem Prinzen einen bewundernden Blick und wandte sich dann wieder an Travis. »Er hat mich gebeten, ihn zu heiraten, und ich habe ja gesagt«, teilte sie ihm strahlend mit. Travis zwang sich, den beiden erfreut zuzulächeln und sagte: »Meinen Glückwunsch. Ich hoffe, ihr werdet glücklich.« Mist, Mist, Mist, ging es durch seinen Kopf. Travis zielte auf die Scheibe für Bogenschützen, die man am anderen Ende eines kleineren Hofes aufgestellt hatte, und schoss fünfmal. Das Dröhnen der Waffe echote zwischen den dicken Steinmauern hin und her. Er hörte auch, wie die Kugeln in das Mauerwerk einschlugen, nachdem sie die Strohscheibe durchschlagen hatten. »In der Tat, eine gefährliche Kraft«, sagte der Prinz. »Darf ich?«, fragte Damion jovial und streckte seine Hand aus. Nur unwillig gab Travis ihm die Waffe zurück. Damion zielte auf die Scheibe. »Ich muss nur an diesem kleinen Haken hier ziehen, ist das so richtig?«, fragte er. »Ja. Das nennt man Abzug.« Travis' Wertschätzung des Magiers war im Keller. Er wartete. Obwohl er sah, wie Damions Knöchel weiß wurden, als er versuchte, mit aller Kraft den Abzug zu drücken, tat sich letztlich nichts. »Es geht nicht«, sagte Damion. »Lass sehen.« Travis nahm die Waffe und überprüfte sie. Sie war entsichert, hätte also funktionieren müssen. Er zielte und
drückte ab. Der Schuss löste sich. Er gab Damion die Waffe zurück. »Versuch es noch einmal.« Damion versuchte es, doch nichts tat sich. Dann war der Prinz an der Reihe, aber auch ihm gelang es nicht, abzudrücken. »Seltsam«, sagte Damion. »Die Waffe scheint nur in deinen Händen zu funktionieren.« Travis nickte überrascht. »Funktionieren diese Apparate in deiner Welt alle so?«, fragte Damion. »Können sie nur von ihren Besitzern benutzt werden?« »Nein. Das ist wohl ein Teil der magischen Kräfte, die nur diese Waffe besitzt. Um ehrlich zu sein, wusste ich bis heute auch nichts davon.« »Weißt du, wie es auf rein mechanischer Ebene funktioniert?«, fragte Damion. »Nun ja, ich kenne das Prinzip, mehr oder weniger.« »Könntest du ein Diagramm des Mechanismus zeichnen?«, fragte Damion. »Ich glaube schon.« »Gut«, sagte Damion. Dann gingen er und Prinz Valerie zur Zielscheibe, um sich den angerichteten Schaden genauer zu betrachten. Travis sah seine Chance gekommen. Er beugte sich zu Beatrice und flüsterte: »Beatrice, du kannst Prinz Valerie nicht heiraten.« »Was? Wieso nicht?« »Weil er ein Vampir ist.« »Wie bitte?« »Nun, ich kann es nicht hundertprozentig beweisen, aber ich bin mir ziemlich sicher «
»Ein Vampir? Bist du vom Pferd gefallen und hast dir wieder den Kopf gestoßen?«, fragte Beatrice. »Nein, das habe ich nicht. Du musst mir glauben! Das Dienstmädchen, das der Prinz mir letzte Nacht geschickt hat – Annabelle –, hatte Bissspuren am Hals. Sehr tiefe!« »Du hast es also doch mit ihr getrieben. Das habe ich mir schon gedacht.« »Hör mir zu!«, stieß er hervor und packte ihren Arm. »Jemand hat sie als menschliches Weinfässchen angezapft, und der Hauptverdächtige muss ihr Herr sein, der Prinz. Und wenn du nicht Acht gibst, endest du genauso. Oder noch schlimmer – vielleicht verwandelt er dich auch in einen Vampir!« »Du redest Unsinn. Weil du eifersüchtig bist!« »Bin ich nicht. Und ich rede keinen Unsinn. Es ist nicht schön, ein Vampir zu sein, glaub mir. Du musst in einem Sarg unter schmutziger Erde schlafen. Denk doch nur an die Wäscherechnungen!« Der Prinz und Damion kamen zurück. Travis ließ sie los. »Wenn du mir nicht glaubst, dann überzeuge dich doch selbst«, flüsterte er heftig. »Und worüber unterhaltet ihr beiden euch so intensiv?« fragte der Prinz, als er wieder vor ihnen stand. »Oh, nichts Besonderes«, antwortete Travis. »Nur eine kleine Plauderei.« »Travis glaubt, dass du ein Vampir bist«, sagte Beatrice lächelnd.
KAPITEL 12
»Das hat sie ihm so einfach gesagt?«, fragte Jack. »Ja. Sie hat ihm gesagt, dass ich ihn für einen Vampir halte.« »Und wie hat er darauf reagiert?« »Er hat es lachend abgetan. Obwohl ich glaube, dass er bluffte. Ich habe keine Ahnung, wie er sich wirklich fühlt. Nicht zu fröhlich, schätze ich mal. Verdammt …« »Was machst du denn da?« Jack flog von dem Dachbalken herunter, auf dem er saß, und landete vor Travis auf dem Tisch. Er blickte neugierig auf das grobe Stück Papier, auf dem Travis etwas mit einem Federkiel zeichnete. »Was soll das sein?« »Wonach sieht es wohl aus?« »Nach einem prähistorischen Dildo.« »Es ist eine Pistole, du Idiot. Ich versuche, ein Diagramm der 45er zu zeichnen, für Damion.« »Warum?« »Ich glaube, dass er und der Prinz vorhaben, ins Waffengeschäft einzusteigen«, sagte er und erzählte Jack von dem Interesse, das die beiden an seiner Waffe gezeigt hatten. »Ich dachte, ich wüsste, wie eine Schusswaffe funktioniert, aber nun stelle ich fest, dass ich keine Ahnung habe. Ich meine, ich kenne das Grundprinzip, aber von den Details habe ich keinen Schimmer.« »Denk dir doch einfach etwas aus«, meinte Jack. »Es spielt sowieso keine Rolle. Selbst wenn du ihnen ein völlig genaues
Diagramm zeichnen würdest, könnten sie nie im Leben eine Pistole herstellen. Ihnen fehlen die Werkzeuge. Und Schießpulver haben sie auch noch nicht erfunden.« »Ich hoffe, du hast Recht. Bei dem Gedanken, dass ich derjenige sein sollte, der Schusswaffen in dieser Welt einführt, ist mir gar nicht wohl.« Er lehnte sich seufzend zurück. »Zum Glück kann Damion meine Waffe nicht benutzen.« Er berichtete, wie weder der Zauberer noch der Prinz in der Lage gewesen waren, einen Schuss abzufeuern. »Ich wünschte, ich könnte mir die Pistole von Damion zurückholen. Ohne sie fühle ich mich so verdammt verwundbar.« »Dabei kann ich dir vielleicht helfen«, sagte Jack und flog wieder zu seinem Platz im Dachgebälk. »Wie?« »Ich habe mich in diesem Gemäuer schon ausgiebig umgesehen. Heimlich, natürlich. Ich weiß, wo sich das Labor oder die Werkstatt oder was auch immer dieses kleinen Wichsers befindet. Ich hatte sogar schon ein interessantes Zusammentreffen mit einem süßen kleinen Sukkubus, den er dort gefangen hält. Natürlich würde ich dir erzählen, was wir miteinander getrieben haben, wenn ich nicht wüsste, wie leicht du zu schockieren bist …« »Sehr aufmerksam«, sagte Travis. »Glaubst du, dass er dort auch meine Waffe versteckt?« »Nicht unwahrscheinlich. Ich werde die Räumlichkeiten heute Nacht mal gründlich durchsuchen. Nachdem ich mit Sharon fertig bin …« Er grinste teuflisch. »Sharon?« »Der Sukkubus. So heißt sie.«
»Ein Sukkubus namens Sharon?« »Sicher. Was ist falsch daran?« »Nichts. Sie hat nicht zufällig eine Schwester namens Tracy, oder?« »Nein. Ich glaube, sie sagte, ihre Schwester hieße Cheryl. Wieso?« »Vergiss es. Hör zu, ich schleiche mich heute Abend von dem Ball und helfe dir beim Suchen. Du musst mir nur sagen, wie ich zu Damions Werkstatt finde.« »Sicher.« »Und mach dir keine Sorgen. Ich achte darauf, erst dann zu erscheinen, wenn du und, äh, Sharon, mit dem fertig seid, was immer ihr an Perversem treibt.« Jack gluckste. »Du verpasst die Erfahrung deines Lebens.« Travis schüttelte sich. Später lag er auf dem Bett und überlegte sich eine todsichere Strategie, um Beatrice davon zu überzeugen, dass ihr zukünftiger Gatte mit großer Wahrscheinlichkeit ernsthaft funktionsgestört war – mit anderen Worten ein lebender Toter –, als es an der Tür klopfte. »Herein!«, rief er, und Annabelle betrat das Zimmer. Sie trug eine große, primitiv aussehende Pappschachtel. Nervös erhob Travis sich von seinem Bett. »Oh, hallo Annabelle«, sagte er mit etwas gezwungener Höflichkeit. »Euer Kostüm für den Ball heute Abend, Sir«, sagte sie ernst. Als sie die Schachtel auf das Bett legte, fiel ihm auf, wie steif sie sich bewegte, als habe sie Schmerzen. Er bemerkte auch ihre kummervolle Miene und die verweinten Augen.
»Kostüm?« »Es ist ein Kostümball, Sir«, sagte sie zu ihm. »Aber wir tragen doch schon Kostüme …« Er brach den Satz ab, da sie ihn ja doch nicht verstehen würde. Als sie sich umwandte, um zu gehen, sah er die roten Striemen auf ihrem Rücken, die durch den Stoff des Kleides bluteten. »Warte!«, rief er. Sie wandte sich ihm wieder zu. »Ja, Sir?« »Annabelle, was ist mit dir geschehen? Hat man dich wieder geschlagen?« »Mein Herr hat mich schlagen lassen«, antwortete sie mit tonloser Stimme. »Aber warum?«, fragte Travis entsetzt. »Du hast seine Befehle letzte Nacht doch völlig zufriedenstellend ausgeführt.« »Es war nicht wegen dem, was wir zusammen getan haben. Der Grund war, dass er glaubt, ich habe ihn verraten, indem ich Euch sein Geheimnis anvertraute.« Dann ist er ein Vampir!, schoss es Travis durch den Kopf. »Aber du hast mir doch gar nichts verraten.« Sie nickte und ging wieder zu einem vertraulichen Ton über. »Er weiß, dass ich dir niemals etwas direkt gesagt hätte, aber trotzdem muss es meine Schuld oder Nachlässigkeit sein, dass du von seinem Vampirismus erfahren konntest. Denn du weißt ja davon.« »Es war nicht deine Schuld. Während du schliefst, habe ich dein Halsband gelöst. Ich sah die Bissspuren an deinem Hals.« »Ich hätte nicht einschlafen dürfen.« »Es war trotzdem nicht deine Schuld. Das Band hat mich von Anfang an interessiert. Und als du sagtest, du müsstest es auf Prinz Valeries Befehl tragen … nun, da konnte ich nicht anders,
ich musste nachsehen.« »Deshalb hast du dich so seltsam benommen, als ich aufwachte. Du hast gedacht, ich wäre auch ein Vampir!« Travis lachte nervös. »Nimm die Frage nicht persönlich – aber bist du einer?« »Nein. Der Prinz achtet darauf, mich nicht mit dem Fluch zu infizieren.« »Verstehe«, sagte Travis und beschloss, ihr zu glauben. »Und wie hat der Prinz darauf reagiert, dass ich um sein Geheimnis weiß?« »Abgesehen davon, dass er zunächst auf mich wütend war, macht er sich Sorgen darüber, dass du dieses Wissen weitergeben könntest.« Das klang in Travis' Ohren äußerst verdächtig. Und damit lag er richtig, denn Annabelle fügte hinzu: »Er wird nicht erlauben, dass du das Schloss verlässt. Lebendig.« »Oh«, sagte Travis. »Du meinst, er wird mich umbringen lassen?« »Irgendwann schon. Wenn er dich leid ist. Noch findet er dich interessant und glaubt, dass du von Nutzen für ihn sein kannst. Dein Talisman fasziniert ihn.« »Ich verstehe«, sagte er. »Aber warum erzählst du mir das alles?« »Du wirst doch versuchen zu fliehen, nicht wahr?« »Darauf kannst du wetten.« »Dann versprich mir, dass du mich mitnimmst, wenn du gehst. Ich kann es hier nicht länger aushalten. Ich hasse den Prinzen.« Ihm blieb das Wort im Halse stecken. Wie konnte er ihr so
etwas versprechen? Die Flucht würde schon für ihn allein schwierig werden. Und er musste ja auch an Beatrice denken … »Hör zu, ich denke darüber nach, wenn du mir einen großen Gefallen tust.« »Was für einen Gefallen?« »Kommst du in Kontakt mit Prinzessin Beatrice?«, fragte er. »Ich bin ihr nicht persönlich zugeteilt, aber ich kann ohne weiteres zu ihr gehen. Soll ich ihr eine Botschaft überbringen?« »Mehr als das. Du musst sie davon überzeugen, dass Prinz Valerie ein Vampir ist. Zeig ihr deinen Hals oder was auch immer.« Annabelle sah ihn beklommen an. »Ich weiß nicht … wenn der Prinz davon erfährt, wird er mich umbringen lassen. Und zwar sehr, sehr langsam.« »Du riskierst schon jetzt dein Leben. Ich muss Beatrice vor dem Prinzen retten – auch wenn sie eine dumme, undankbare Kuh ist.« Sie nickte bedächtig. »Also gut, ich versuche es.« »Danke, ich danke dir«, sagte er erleichtert. Dann fügte er hinzu: »Aber ich kann dir natürlich nicht garantieren, dass unsere Flucht gelingen wird.« »Ja, ich weiß. Aber du bist im Besitz starker magischer Kräfte. Wenn es jemanden gibt, der den Prinzen überlisten kann, dann bist du es.« Travis hätte gerne freudig zugestimmt, schwieg aber lieber. Ansonsten hätte er ihre Illusionen zerstören müssen. Nachdem sie gegangen war, schaute er lange Zeit gedankenverloren aus dem schmalen Fenster. Dann fiel ihm die Schachtel ein, die sie gebracht hatte. Neugierig ging er zum Bett, klappte
den Deckel auf und sah hinein. O Gott! Er nahm das Kostüm aus der Schachtel und starrte es an. Es gab nichts daran zu deuteln, die schreckliche Wahrheit lautete: Er würde als riesiges weißes Kaninchen auf den Kostümball gehen! »Es steht dir gut«, sagte Jack. »Nein, bitte, sag mir die Wahrheit«, bettelte Travis. Der Kaninchenkopf dämpfte seine Stimme. »Es steht dir wirklich. Du siehst bescheuert aus.« »Das dachte ich mir.« Er nahm den Kopf ab und betrachtete ihn erneut. Eines der Ohren hing auf eine dümmlich aussehende Weise herunter. Der ganze Kopf sah irgendwie dumm aus. Jemand hatte etwas gegen ihn, und er hatte eine verdammt konkrete Ahnung, wer das war. Seufzend sagte er: »Also – etwa eine Stunde nach Beginn des Balls schleiche ich mich davon und treffe dich in Damions Werkstatt .« »Okay. Bist du sicher, dass du sie findest?« »Ich habe mir deine Angaben eingeprägt. Ich würde ja vorschlagen, dass wir unsere Uhren synchron stellen, wenn man hier so etwas wie Uhren hätte.« »Versuch nicht zu früh zu kommen, es sei denn, du willst mich und Sharon in Aktion sehen.« »Keine Sorge, das will ich echt nicht.« Zweifelnd betrachtete er den Kaninchenkopf. »Ich mache mich besser langsam auf den Weg. Zumindest dürfte ich nicht der Einzige sein, der auf dem Ball so dämlich aussieht. Schließlich muss jeder ein Tierkostüm tragen.«
Auch hier hatte er sich geirrt. Er war der Einzige, der so dämlich aussah. Die anderen Gäste trugen lediglich durch Masken oder andere Kopfbedeckungen dem Tiermotiv Rechnung. Ansonsten zeigten sich die Männer in Tuniken in leuchtenden Farben und Strumpfhosen, und die Frauen in prunkvollen Kleidern. Travis war der Einzige, der sich im Ganzkörperkostüm präsentierte. Um alles noch schlimmer zu machen, war die untere Hälfte des Kaninchens so genäht, dass er sich nur mit kleinen Hopsern vorwärtsbewegen konnte. Schon bald erregte er allgemeine Aufmerksamkeit und sorgte für große Heiterkeit. Er verfluchte Prinz Valerie. Darüber hinaus erwies sich das Kostüm als überaus unangenehm – innen war es heiß und stickig –, und der Kopf war ein regelrechtes Ärgernis. Durch die Augen konnte man kaum etwas sehen, und der Mund ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen. Als er versuchte, ein Glas Bier zu trinken, kippte er sich den größten Teil davon auf seine Kaninchenbrust. Essen war völlig unmöglich. Er musste warten, bis um Mitternacht die Masken offiziell fielen, und dann gab es bestimmt nichts mehr. Travis versuchte Beatrice ausfindig zu machen, aber der verdammte Kopf, durch den man kaum etwas sehen konnte, hatte ihm das bisher unmöglich gemacht. Er hatte schon ein oder zwei schwere Fauxpas begangen, als er sich Frauen genähert hatte, oder besser gesagt auf sie zugehoppelt war, und ihnen zu ihrer Verblüffung ›Beatrice? Ich bin es, Travis‹ ins Ohr geflüstert hatte. Es gab eine Menge Dienerinnen und Diener, die Essen und Trinken servierten, aber auch sie waren maskiert, und wenn sich Annabelle unter ihnen befand, so war auch das unmöglich festzustellen. Mit jeder Minute fühlte er sich frust-
rierter; nur allzu gern hätte er erfahren, ob es Annabelle gelungen war, zu Beatrice vorzudringen und sie davon zu überzeugen, dass Prinz Val, ihr zukünftiger Ehemann, ein böser, Blut saugender, Diener schlagender, stinkender Hurensohn von einem Vampir war. Oder so ähnlich. Aber vielleicht hatte Annabelle auch versucht, sie zu überzeugen, und Beatrice hatte dem Mädchen nicht geglaubt. Was, wenn sie sofort zu Valerie gelaufen war? In diesem Fall war das Spiel aus. Nach etwas ›Druck‹ durch den Prinzen hätte Annabelle sicherlich alles verraten, auch die Fluchtpläne von Travis. Und was danach mit Annabelle geschehen würde, daran wagte er gar nicht zu denken. Ziellos hoppelte er herum und versuchte, die ausgestreckten Finger und das Gekicher zu ignorieren. Er fragte sich, wie viel Zeit seit seiner Ankunft in der großen Halle vergangen war, und überlegte gerade, ob er noch einmal versuchen sollte, ein Bier zu trinken, als ein stämmiger, großer Mann in sein beschränktes Gesichtsfeld trat. Der Mann trug eine Bärenmaske. Sein massiger Körper wurde bedeckt von einem voluminösen Umhang. »Amüsierst du dich, Travis?«, brummte eine tiefe Stimme mit einem seltsamen Akzent, die er von irgendwoher zu kennen meinte. »Im Gegenteil, mein Freund … He, du kennst meinen Namen. Haben wir uns schon mal irgendwo getroffen?« »Ja. Nur einmal. Aber es war ein schicksalhaftes Treffen. Zumindest für dich.« »Hier im Schloss?«, fragte Travis. Er konnte sich nicht erinnern, unter den Höflingen einen so großen Mann gesehen zu haben. Die einzige annähernd schicksalhafte Begegnung, die er
im Schloss gehabt hatte, war die mit Annabelle gewesen. »Nein, nicht hier«, sagte der Mann. Seine Augen schienen hinter der Maske zu glühen. »Wir haben uns an einem weit entfernten Ort getroffen. Sehr weit entfernt.« Travis lief es zunächst kalt über den Rücken, dann heiß. Danach wieder kalt. Er war entsetzt und aufgeregt zugleich. Ängstlich und voller Hoffnung. Er wusste jetzt, wer dieser Mann war: Prenderghast. Gideon Leonard Prenderghast.
KAPITEL 13
»Es ist vorbei, nicht wahr?«, fragte Travis voller Hoffnung. »Was ist vorbei?«, fragte der Mann, den Travis als Prenderghast kannte. Travis breitete seine Pfoten aus. »All das hier. Diese … diese … Charade. Ich wusste die ganze Zeit, dass es nicht echt ist.« »Oh, es ist schon echt, Travis. Glaub mir«, sagte Prenderghast mit sonorer Stimme. »Und ich hoffe, du erkennst an, welche Mühe und wie viel Zeit ich auf mich genommen habe, um diese maßgeschneiderte Welt für dich und deine arroganten Vorurteile zu finden. Ich musste allerdings eine ganze Weile in den unendlichen Variationen des Lebens herumstöbern.« Einer von uns beiden ist definitiv verrückt, dachte Travis, und ich hoffe nur, dass nicht ich es bin. »Nun, Sie können mir glauben, ich weiß es sehr wohl zu schätzen, Sir.« Es schien ihm am schlauesten, seinen Peiniger einstweilen bei Laune zu halten. »Es war eine sehr lehrreiche Erfahrung für mich, aber jetzt möchte ich wieder nach Hause. Wenn Sie nichts dagegen haben.« »Du kannst noch nicht nach Hause, Travis. Du kennst die Regeln. Wenn du den Schlüssel nicht findest, kannst du vielleicht nie mehr nach Hause zurück.« Travis fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. »Ach ja, der Schlüssel. Tut mir Leid, den hatte ich ganz vergessen. Also, wie wär's denn mit einem klei-
nen Tipp, wo ich ihn finden kann? Wie sieht er denn überhaupt aus?« Die Bärenmaske bewegte sich verneinend. »Nein, das kann ich nicht machen. Ich kann nur wiederholen, was Jack schon gesagt hat – wenn du ihn findest, wirst du ihn schon erkennen.« »Oh, das ist wirklich enorm hilfreich.« »Mehr kann ich nicht für dich tun«, sagte Prenderghast. »Das heißt, eins habe ich noch für dich.« Er griff in seinen Umhang, holte ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket hervor und reichte es Travis, der es eilig an sich nahm. Er hatte auf eine zweite Waffe gehofft, musste aber enttäuscht feststellen, dass es viel zu leicht war, um eine Pistole oder etwas Ähnliches zu enthalten. Prenderghast drehte sich wortlos um und ging davon. »Halt!«, rief Travis. »Gehen Sie nicht!« »Ich muss!«, rief Prenderghast ihm über die Schulter zu. »So viele Termine, so viele Projekte.« Eine Sekunde später hatte ihn die Menge verschluckt. Travis stürzte hinter ihm her. »Halt!«, rief er. »Lassen Sie mich nicht hier zurück! Es tut mir Leid, was ich in Ihrem Büro zu Ihnen gesagt habe …« Er stieß einige Leute beiseite, aber von Prenderghast war keine Spur mehr zu sehen. Dann trat er auf etwas Weiches und blickte, nicht ohne Schwierigkeiten, nach unten. Mit leeren Augen starrte ihn die zerfetzte Bärenmaske vom Fußboden an. Er wusste sofort, dass er Prenderghast weder in der großen Halle noch sonst irgendwo im Schloss finden würde. Er war fort. »Scheiße«, murmelte Travis. Dann fiel ihm das Paket ein, das er in den Händen hielt. Er riss das braune Papier mit den Pfoten
auf … und dann murmelte er noch einmal ›Scheiße‹, was angesichts dessen, worauf er starrte, ziemlich angemessen war. Ein Doppelpack Toilettenpapier. Vorsichtig klopfte Travis an die große hölzerne Tür, die sich ein wenig öffnete. Er drückte sie weiter auf, bis er hindurchschlüpfen konnte. »Jack?«, flüsterte er, während er sich umsah und wartete, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Den verdammten Kaninchenkopf hatte er abgenommen und hielt ihn zusammen mit den Klopapierrollen unter dem Arm. »Hier bin ich, Boss«, sagte der Dämon und landete auf seiner Schulter. »Wie findest du diese Gruft?« »Auf alle Fälle ist sie ganz schön groß«, entgegnete Travis und hatte Recht damit. Damions kleine Werkstatt entpuppte sich als Verlies von labyrinthartigen Ausmaßen. Überall lagen die merkwürdigsten Objekte herum, die zum größten Teil wie Folterinstrumente aussahen. Dinge hingen an Ketten, die an der Höhlendecke befestigt waren … Travis wünschte sich, seine Augen würden sich nicht mehr allzu sehr der Finsternis anpassen, damit er nicht ganz genau erkennen konnte, um was es sich da handelte. An den Wänden standen Regale, die unzählige Flaschen beherbergten sowie viele große Glasbehälter, in denen weitere Dinge schwammen. Überall hingen die obligatorischen Spinnennetze, mitsamt dicker, behaarter Spinnen, und unter der Decke flatterten Fledermäuse umher. Als Krönung des Ganzen tropfte grüner Schleim aus Decke und Wänden. »Seinem Innenarchitekten möchte ich nicht in einer dunklen Gasse begegnen«, meinte Travis. »Wahrscheinlich ist das der Typ dort drüben«, sagte Jack
und deutete auf einen der größeren Behälter. »Komm, ich stelle dir Sharon vor « Er flatterte von Travis' Schulter. »Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Travis, während er Jack in die schrecklichen Tiefen von Damions Spielstube folgte. »Hast du mit deinem Kaninchenkostüm Eindruck auf dem Ball gemacht?«, fragte Jack. »In gewisser Weise schon. Und es wird dich interessieren, dass ich dort einen unerwarteten Gast getroffen habe. Einen Überraschungsgast sozusagen.« »Wen?« »Das erzähle ich dir später … iiih …« Travis war in ein großes Spinnennetz gelaufen, dessen Fäden die Stärke von Nylonseilen zu haben schienen. Er wollte zurückweichen, hatte sich aber bereits darin verfangen. Dann sah er aus den Augenwinkeln, dass sich etwas Dickes, Behaartes auf ihn zubewegte: die größte Spinne, die er je gesehen hatte. »Jack!«, schrie er. »Ich habe hier ein Problem!« Die Spinne wurde schneller. Jack warf den Kaninchenkopf nach ihr, was sie allerdings nur kurz aufhielt. »JACK!« Jack schoss herab, spuckte Feuer nach der trippelnden Spinne und traf genau. Schrill quietschend fiel sie als brennende Kugel aus dem Netz, schlug auf dem Boden auf und schrumpfte zu einem qualmenden Ball zusammen. Travis schätzte, dass sie etwa Tellergröße hatte. »Danke«, sagte er zu Jack und versuchte, sich aus dem Spinnennetz zu befreien. »Glaubst du denn, ich könnte zusehen, wie ein wehrloses Kaninchen von einer Spinne verspeist wird?«, sagte Jack und half ihm, sich aus dem klebrigen Gespinst zu lösen. Es kostete sie einige Mühe. Als sie es endlich geschafft hatten, klebten
überall im Netz Stücke von künstlichem Kaninchenfell. Travis bückte sich nach dem Kopf und dem Toilettenpapier, das er beim Angriff der Spinne hatte fallen lassen. Jack pfiff überrascht. »Wo hast du denn die her?«, fragte er. »Hinter den Stallungen gibt es einen 7-Eleven-Supermarkt«, sagte Travis. »Blödmann, jetzt mal im Ernst.« »Es hat mit dem Überraschungsgast zu tun, den ich erwähnt habe. Ich werde dir alles erklären, später. Ist es noch weit?« »Wir sind gleich da.« Travis folgte Jack um eine große Säule herum und sah im flackernden Licht einer Wandfackel: Sharon. Er war sich nicht sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Wahrscheinlich etwas Ähnliches wie Jack, nur als weibliche Ausgabe. Aber sie sah kein bisschen aus wie Jack. Erstens war sie nicht so klein wie er, sondern von normaler menschlicher Größe. Zweitens war sie kein hässliches Monster. Im Gegenteil, sie sah hinreißend aus. Sharon lag auf einem großen Schreibtisch und stützte sich auf dem Ellenbogen ab. Vor allem aber war sie vollkommen nackt. Travis hatte noch nie eine nackte Frau gesehen, die so nackt aussah wie Sharon. Sie hatte glänzende braune Haut, glänzendes schwarzes Haar, glänzende grüne Augen und spitz zulaufende Ohren. Dann bemerkte Travis, dass sie doch nicht völlig nackt war. Ein Eisenband umschloss ihren linken Knöchel, und daran hing eine Kette, die irgendwo hinter dem Schreibtisch verschwand.
Jack landete wieder auf seiner Schulter und sagte: »Travis, darf ich dir Sharon vorstellen. Sharon, sag Travis guten Tag.« Träge hob sie eine Hand zum Gruß. »Hallo, Travis.« Er räusperte sich. »Ähm, hallo, Sharon. Schön, dich kennen zu lernen.« »Und was hältst du von ihr?«, fragte Jack stolz. »Ich bin beeindruckt … wenn auch ein bisschen überrascht.« »Warum?« Travis zögerte, aber wenn Sharon etwas dagegen hatte, dass man über sie redete, als sei sie gar nicht da, dann ließ sie es sich nicht anmerken. »Nun, ich dachte immer, ein Sukkubus sei ein Dämon«, sagte er schließlich. »Stimmt auch. Sie ist ein Dämon.« »Aber sie sieht nicht sehr dämonisch aus.« »Hör zu, Junge, ihr Job besteht hauptsächlich darin, sterbliche Männer zu verführen. Wenn sie aussähe wie ich, könnte sie wohl kaum sehr erfolgreich sein, nicht wahr?« »Da hast du Recht. Aber da ist noch etwas … Der Unterschied zwischen euch beiden …« »Der Altersunterschied? Ach, das ist gar kein Problem.« »Ich meine ihre Größe.« »Was stimmt nicht mit ihrer Größe?«, fragte Jack. »Nichts. Sie ist perfekt. Aber du sagtest, dass ihr beide so viel Spaß miteinander hattet …« »Das hatten wir. Nicht wahr, Baby?« Sie streckte Jack die Zunge heraus. Sie war rosa und lief spitz zu. Travis lief ein Schauder über den Rücken. »Aber bei deiner … eher kleinen Größe … und ihrer normalen … wie macht ihr es da?«
»Sollen wir's dir zeigen?«, fragte Jack. »Ich glaube nicht, dass ich eine Vorführung erleben möchte. Trotzdem danke.« »Das meine ich nicht. Sharon, zeig ihm deinen Partytrick.« »Klar doch, Kleiner«, sagte Sharon und zwinkerte. Vor Travis' verblüfften Augen begann sie zu schrumpfen. Zuerst langsam, dann immer schneller. Nach dreißig Sekunden war sie genauso klein wie Jack. Jack flog zu ihr und landete neben ihr auf dem Schreibtisch. »Ziemlich clever, was?« »Sehr clever. Aber wenn sie das kann, warum streift sie dann nicht einfach …« Dann sah er, dass die eisernen Fesseln um ihren Knöchel ebenfalls geschrumpft waren. »Zauberei, was?« »Zauberei«, bestätigte Jack. »Warum hält Damion sie gefangen?«, fragte Travis. »Was glaubst du? Um es mit ihr zu treiben, natürlich.« »Oh …«, meinte Travis, peinlich berührt. »Es ist nicht nur der Sex«, sagte Jack. »Erklär's ihm, Baby.« »Wenn er Sex mit mir hat, bevor er einen Zauber spricht, verstärkt das seine Kräfte«, sagte Sharon. Ihre Stimme klang tief und leicht heiser. Erneut lief Travis ein Schauder über den Rücken. »Unser Damion sieht aus wie ein Teenager, aber er ist bereits ein Meister der dunklen Künste«, erklärte Jack und holte seine unvermeidliche Schachtel Marlboro hervor. »Und er ist gefährlich.« »Sie geben ein feines Paar ab, er und sein Herr, der Vampir«, stieß Sharon hervor. »Also, wirst du unserer Sharon hier helfen?«, fragte Jack und streichelte der Miniatursharon über ihren glänzenden Ober-
schenkel. »Helfen wobei?« »Zu entkommen, natürlich. Sie will den klebrigen Klauen Damions entfliehen. Sie mag ein Sukkubus sein, aber sie hat auch ein gewisses Niveau.« »Und wie kann ich ihr helfen?« »Ich habe so eine Ahnung, dass man die verdammte Kette mit deiner magischen Knarre zerstören könnte«, sagte Jack. »Wirklich?« Travis ging zum Schreibtisch und hob einen Abschnitt der Kette hoch. Sie fühlte sich leicht und zerbrechlich an, aber seine Finger juckten, als fließe ein elektrischer Strom durch die einzelnen Glieder. »Okay, von mir aus. Ich werde es versuchen, aber zunächst müssen wir die Waffe finden. Hast du schon Gelegenheit gehabt, danach zu suchen?« »Ja, ich habe angefangen. Bis jetzt hatte ich kein Glück, aber sie muss hier irgendwo sein, ich spüre es.« »Okay, sobald wir sie finden, probiere ich sie an der Kette aus. Wenn es klappt, kann sich Sharon aus dem dämonischen Staub machen.« »Nicht so schnell«, sagte Jack. »Sie kommt mit uns.« »Was?«, fragte Travis. Er wusste, dass er nicht gerne hören würde, was Jack ihm gleich zu sagen hatte. Der Dämon legte seinen Arm um Sharons Schultern. »Wir sind ein Paar, Junge. Wir wollen zusammenbleiben.« »Gütiger Himmel.« Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Zuerst Annabelle, und nun sie. Falls sie es schafften, ihre Flucht aus dem Schloss endlich in die Tat umzusetzen, würde wahrscheinlich das halbe Schlosspersonal an ihrem Rockzipfel hängen. Dagegen würde Gesprengte Ketten wie eine Billig-
Produktion wirken. Und an einen Charter-Bus war auch nicht zu denken … »Bitte sag ja«, flehte Sharon mit ihrer aufregend heiseren Stimme. Dann begann sie zu wachsen. In Sekundenschnelle hatte sie ihre normale Größe wieder erreicht. »Ich wäre dir sehr dankbar.« Travis sah schnell weg. »Suchen wir diese verdammte Knarre«, sagte er nervös. Während der nächsten Stunden fand Travis eine Menge seltsamer und ungewöhnlicher Dinge in Damions dubioser Werkstatt, von denen er die meisten lieber nicht gefunden hätte. Die Waffe war nicht dabei. Auch Jack suchte ohne Resultat. Travis ging zu ihm, während der Dämon gerade in einer großen Kiste voller Totenschädel herumwühlte. »Ich muss jetzt gehen. Bald werden die Masken abgenommen, und dann kann ich endlich mit Beatrice sprechen. Such weiter. Und wenn du die 45er hast, dann bring sie mir. Aber so unauffällig wie möglich.« »Sicher, Junge. Hüpf los.« Kurze Zeit später befand sich Travis wieder in der großen Halle und steckte unter dem erstickend heißen Kaninchenkopf. Er verspürte ungeheuren Durst, aber zu seiner Erleichterung teilte ihm ein Dienstmädchen – leider nicht Annabelle – mit, dass es nur noch wenige Minuten bis Mitternacht seien. Kurz darauf wurde ein Gong geschlagen, und ein Herold verkündete, dass die Demaskierung bald beginnen werde. Zwei Personen bestiegen Hand in Hand ein Podest am Ende der Halle. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trug eine Hirschmaske samt Geweih,
die Frau den Kopf eines Rehs. Sie wandten sich der trunkenen Menge zu und nahmen gleichzeitig ihre Masken ab. Travis war nicht überrascht, dass es sich bei den beiden um Prinz Valerie und Beatrice handelte. Der Prinz sah sehr fröhlich und selbstgefällig aus, während Beatrice geradezu glühte. Sie wirkte durchaus nicht wie eine Frau, die man gerade davon unterrichtet hatte, dass ihr zukünftiger Ehemann ein schwerer Trinker der ganz besonderen Sorte war. Auf ein Zeichen des Prinzen begannen auch alle anderen damit, ihre Masken abzunehmen. Erleichtert riss sich Travis den schrecklichen Kaninchenkopf von den Schultern und schmiss ihn beiseite. Besorgt sah er sich in der Menge um und suchte Annabelle unter den Dienstmädchen. Als er sie nicht sogleich fand, nahm seine Besorgnis zu … aber, dann fiel ihm ein Mann auf, der seine Maske nicht abgenommen hatte. Er bemerkte ihn, weil der Mann geradewegs auf ihn zukam. Einen Augenblick hoffte er, es möge sich um Prenderghast handeln, aber dieser Mann war viel schlanker. Außerdem trug er eine Raubvogelmaske. Als er noch näher kam, bemerkte Travis, dass er hinkte. Travis wartete mit wachsender Neugier, während sich der Fremde seinen Weg durch die Menge bahnte, bis er direkt vor ihm stand. Mit einer eleganten Bewegung entledigte er sich seiner Vogelmaske. Travis lächelte gezwungen. »Sieh an, Sir Rodney! Hallo! Was macht der Fuß?«
KAPITEL 14
Sir Rodney zog seinen Degen und richtete ihn auf Travis' Kehle. »Bereite dich auf den Tod vor, du verräterischer Hund!«, zischte er. »Eigentlich bin ich kein Hund, sondern ein Kaninchen«, entgegnete Travis, der sich wünschte, er hätte seinen eigenen Degen dabei. »Du kannst so viele Witze reißen, solange du willst, Magier, aber du wirst trotzdem sterben. Jetzt sinke auf die Knie und bitte darum, dass ich dein erbärmliches Leben schnell beende.« »Ich ziehe es vor, stehend zu bitten«, sagte Travis, dem nicht entgangen war, dass sich längst ein Kreis von Zuschauern um sie gebildet hatte. »Aber bevor Ihr Euch hinreißen lasst – Prinz Valerie gefällt es vielleicht gar nicht, wenn Ihr an seinem großen Abend in seinem Schloss Blut vergießt. Übrigens, er beabsichtigt, Beatrice zu heiraten.« »Mit ihm werde ich später abrechnen«, sagte Sir Rodney. »Aber dein Tod ist mir ein noch brennenderes Bedürfnis.« »Was mir als Bürgerlichem ungemein schmeichelt«, sagte Travis und schaute sich um, ob nicht bald die Kavallerie in irgendeiner Form erschiene. Und tatsächlich, eine Autoritätsperson betrat den Kreis. Die Kavallerie bestand aus Damion. Egal, dachte Travis, besser ein kleiner Furz als gar keiner. »Was geht hier vor?«, fragte Damion. Er wandte sich an Sir Rodney. »Wer seid Ihr?«
»Ich bin Sir Rodney Swash, Ritter des Königreichs von Vallium und treuer Untertan von König Morbias.« »Dürfte ich Eure Einladung sehen?«, fragte Damion. »Ich fürchte, ich habe keine. Ihr müsst mein Eindringen verzeihen, Sir, aber ich musste diesem teuflischen Zauberer entgegentreten und meine Rache stillen«, sagte Sir Rodney. »Er ist kein Zauberer«, sagte Damion. »Und ich muss es wissen, weil ich selber einer bin …« »Für mich ist er ein Zauberer, Sir. Er hat Zauberei eingesetzt, um mir meine Liebste fortzunehmen. Und er hat Zauber benutzt, um mir eine schwere Fußverletzung zuzufügen.« Rodney deutete auf seinen Stiefel. »Was geht hier vor? Wer wagt es, die Festlichkeiten zu stören?« Der Prinz war gekommen, zusammen mit Beatrice. Voller Entsetzen erkannte sie den Ritter. »Rodney! Was macht Ihr hier?«, frug sie sehr förmlich. »Prinzessin Beatrice, meine Geliebte!«, stieß er hervor, während er niederkniete und sich vor ihr verbeugte. »Ich bin gekommen, um Euch nach Hause zu geleiten.« »Macht Euch doch nicht lächerlich!«, sagte sie erbost. »Wer ist dieser Tropf?«, fragte der Prinz. »Er ist der erste Ritter meines Vaters. Du kannst dir also das Niveau der anderen vorstellen. Außerdem leidet er an der Wahnvorstellung, wir seien ein Liebespaar.« Sie wandte sich wieder an den Ritter. »Wie habt Ihr mich so schnell gefunden?« Er erhob sich und antwortete: »Terry der Triebhafte, Valliums Barbar Nummer eins, hat als Kämpfer am Barbarentreffen teilgenommen. Er erkannte Euch und kehrte sofort nach Vallium zurück, um Euren Vater zu informieren … und mich. Und
trotz der Schmerzen habe ich mich von meinem Krankenlager erhoben und eilte augenblicklich hierher.« »Ihr hättet Euch die Mühe schenken können. Wie geht es dem Zeh?« »Er wurde mit allen Ehren begraben. Euer Vater selbst hielt die Trauerrede …« »Die Sache mit Euren Fuß tut mir Leid, Rodney«, sagte Travis. »Aber ich habe versucht, Euch zu warnen …« »Spar dir deinen Atem«, schnarrte Sir Rodney. »Es ist zu spät für Entschuldigungen. Du hast mich entehrt, von Prinzessin Beatrice ganz zu schweigen, und dafür musst du sterben.« »Das ist ja alles sehr unterhaltsam«, unterbrach ihn der Prinz. »Aber was die Ehre der Prinzessin betrifft, so müsst Ihr Euch an mich wenden. Sie wird bald meine Frau.« »Nein, das kann nicht sein!«, protestierte Sir Rodney lautstark. »Auch Ihr müsst sie verhext haben!« Er wandte sich an Damion. »Oder du! Du hast selbst gesagt, dass du ein Zauberer bist.« »Das ist er auch«, warf Travis ein. »Er hat meine Hexenkünste ausgehext. Und fragt den Prinzen nach seinen nächtlichen Gebräuchen. Seinen nächtlichen Trinksitten, um genauer zu sein.« Er wusste, dass er sich um Kopf und Kragen redete, aber er hoffte, es könne ein Weg sein, Beatrice den Klauen des Prinzen zu entreißen. »Dieser Mann redet Unsinn«, sagte Damion und sah Travis wütend an. »So etwas habe ich nicht getan.« »Er ist geisteskrank«, fügte der Prinz hinzu. Rodney stand direkt vor dem Prinzen und richtete sich nun zu seiner vollen Höhe auf, was bedeutete, dass sein Kopf bis an
Valeries Kinn reichte. »Eure Hoheit, ich muss Euch davon unterrichten, dass ich beabsichtige, die Prinzessin nach Vallium mitzunehmen.« Der Prinz lächelte auf ihn herab. »Ihr ganz allein?« »König Morbias' Armee ist mir gefolgt. Während wir hier sprechen, hat sie das Schloss umstellt.« »Oh«, sagte der Prinz, eindeutig überrascht. Aber er gewann schnell seine Haltung zurück, lächelte Rodney blasiert zu und fragte: »Was sind Eure Bedingungen?« »Ihr habt vierundzwanzig Stunden Zeit, die Prinzessin herauszugeben«, sagte Rodney. »Tut Ihr es nicht, werden wir das Schloss stürmen, die Prinzessin befreien, euch alle töten und das Schloss bis auf die Grundmauern schleifen.« »O Rodney«, sagte die Prinzessin, jetzt wieder in vertraulichem Ton. »Ich wusste, dass du wieder mal überreagieren würdest.« »Ich bitte um die Erlaubnis, mich meinen Männern anschließen zu dürfen, Eure Hoheit«, bat Sir Rodney. »Selbstverständlich.« »Und dürfte ich Eure Hoheit um einen weiteren Gefallen bitten?« Der Prinz seufzte leise. »Um was handelt es sich denn?« Rodney deutete mit seinem Degen auf Travis. »Ich erbitte die Erlaubnis, diese widerwärtige Kreatur hier und jetzt niederzustrecken.« Nach nur kurzem Zögern nickte der Prinz und sagte: »Meinetwegen.« »Valerie, nein!«, rief Beatrice. »Es tut mir Leid, meine Liebe, aber dein früherer Reisege-
fährte wird langsam lästig. Ich muss ihm meinen Schutz entziehen. Komm …« Er nahm Beatrice beim Arm und versuchte sie wegzuführen, doch sie wehrte sich. »Nein! Du kannst nicht zulassen, dass Travis einfach so getötet wird. Gib ihm eine Waffe, damit er sich wenigstens verteidigen kann!« Travis nickte begeistert. »Ja, eine Waffe, das wäre nett.« Der Prinz runzelte die Stirn und sagte dann gelangweilt: »Also schön, meinetwegen. Damion, leih ihm deinen Dolch.« »Nur ein Dolch?«, protestierte Beatrice. »Das ist nicht fair!« »Aber das einzige Zugeständnis, das zu gewähren ich bereit bin«, entgegnete der Prinz. Travis hob eine Pfote. »Ich beschwere mich auch nicht, Sir, aber um eines möchte ich bitten.« »Nun«, sagte der Prinz, »hängt ganz davon ab, um was.« »Kann ich dieses verdammte, blöde Kostüm ausziehen? Wenn ich schon sterben muss, dann wie ein Mann und nicht wie ein Kaninchen.« »Gewährt«, sagte der Prinz. Travis nahm sich viel Zeit, um aus dem Kostüm zu steigen, und überlegte dabei, was er als Nächstes tun sollte. Nur mit einem Dolch hatte er gegen Rodney keine Chance. Er konnte versuchen, mit dem Ding nach ihm zu werfen, bezweifelte aber, dass der Trick ein zweites Mal klappen würde. Und eigentlich hatte er ja auch beim ersten Mal schon nicht geklappt … Endlich hatte er das Kostüm ausgezogen. Damion hielt ihm seinen Dolch hin, und Travis nahm ihn entgegen. Im nächsten Augenblick hatte er Damion von hinten gepackt, hielt ihm den Dolch an die Kehle und rief: »Okay, Prinz, du tust, was ich sage,
oder dein kleiner Zauberer endet in einem seiner Einmachgläser!« Ein Raunen ging durch die Menge, aber der Prinz lächelte lediglich und sagte: »Was macht dich so sicher, dass mir das Leben des Zauberers so viel wert ist? Ich kann jederzeit einen neuen einstellen.« »Oh, ich denke, dass es dir sehr viel wert ist, Val, alter Junge. Ihr beide habt eine ganz besondere Beziehung. Und er kennt ein kleines Geheimnis, nicht wahr? Wahrscheinlich besorgt er dir sogar deine Opfer. Er weiß, dass du ein Vampir bist!« Erneutes Raunen. Das Gesicht des Prinzen verdunkelte sich vor Zorn. »Du lügst!« Travis drückte die Spitze des Dolchs gegen Damions Kehle, und der quiekte nervös. »Lüge ich wirklich, Damion? Komm schon, sag es!« Er verstärkte den Druck. Wahrscheinlich hätte der Zauberer ein Geständnis abgeliefert, aber das sollte Travis nie erfahren, denn in diesem Augenblick schrie Rodney: »Jetzt reicht es mir aber!«, und stürzte sich auf Travis und Damion. Beide fielen zu Boden, und dabei verlor Travis den Dolch. Er rappelte sich hoch und sah, dass auch Rodney durch den Zusammenprall das Gleichgewicht verloren hatte und auf allen vieren kniete. Sein Degen lag vor ihm auf dem Boden, und schon griff er danach. Travis suchte den Dolch, konnte ihn aber nirgends entdecken. Rodney hatte den Degen wieder in der Hand … er stand da … bereit zum Stoß … »He, Schwachkopf, fang!« Travis blickte hoch. Jack segelte herab, die Wumme in der Hand. Travis streckte die Hände aus, und die Waffe landete darin. Er zielte auf Rodney, genauer gesagt, auf Rodneys Füße.
Rodney brach seinen Angriff mitten im Schwung ab. Sein Gesicht wurde weiß. »Bitte … nicht schon wieder …« Travis hatte Oberwasser. »Lass deinen Degen fallen«, befahl er Rodney. Der Ritter gehorchte. Travis fuchtelte mit der Waffe herum. »Keiner bewegt sich!« Niemand bewegte sich. Selbst diejenigen, die keine Ahnung hatten, was Travis da in ihre Richtung hielt, spürten, dass es nichts Gutes war. Jack landete auf seiner Schulter. »Los jetzt, Schwachkopf. Sag diesem Haufen Irrer, wo's langgeht.« »Ja!«, brüllte Travis. Das Adrenalin schoss durch seinen Körper. »Jeder, der nur einen Fuß nach vorne setzt, kriegt eine verpasst! Wer sich rührt, dem trete ich gewaltig auf den großen Zeh!« Dann fügte er hinzu: »Tut mir Leid, Rod, da waren ein paar Freudsche Versprecher dabei, alter Junge.« »Pass auf, Schwachkopf!«, rief Jack. Damion! Er hatte den Dolch gefunden und wollte ihn Travis in den Leib rammen. Travis warf sich zur Seite und drückte dabei ab. Dem Schuss folgte ein Aufschrei. Weitere Schüsse folgten, während die Menge auseinander spritzte. Aber wenn Travis jemanden getroffen hatte, so war es nicht Damion. Der jugendliche Zauberer stand noch, und er hielt noch immer den Dolch in der Hand. Erneut holte er aus, aber Jack flog ihm mitten ins Gesicht und lenkte ihn ab. Travis ließ den Lauf der Pistole auf Damions Handgelenk sausen, und klirrend fiel der Dolch auf den Steinboden. Damion stöhnte vor Schmerzen auf, und Travis sah sich um. Rodney wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und hielt sich den linken Fuß. »Schon wieder«, jammerte er. Beatrice und der Prinz waren nirgendwo zu sehen. Bewaffnete Wächter strömten in die
Große Halle und eilten auf Travis zu, der auf einen der Männer schoss. Mit einem Schrei stürzte der Soldat zu Boden, die anderen blieben verunsichert stehen. Travis zielte auf Damion, der auf dem Boden kniete und sich das rechte Handgelenk hielt. Anscheinend war es gebrochen. »Steh auf und sag dieser Schlägertruppe, sie soll verschwinden, oder ich mache dich zu einem Ex-Zauberer. Für immer und ewig!« Mit aschfahlem Gesicht erhob Damion sich und rief: »Zieht euch zurück! Tut, was er sagt!« Zu Travis' Erleichterung hatte das Wort des Zauberers offenbar genug Gewicht. Die Wachen gehorchten ihm. »Los, wir verschwinden hier!«, rief Travis. »Weißt du denn, wohin?«, fragte Jack, der über seinem Kopf flatterte. »Daran arbeite ich noch«, antwortete Travis, während er Damion in die Richtung des nächstgelegenen Gangs schubste. »Ich weiß es«, sagte Jack. »Zurück zu Damions Werkstatt!« »Machst du Witze? Dort sitzen wir in der Falle.« »Hab Vertrauen«, sagte Jack. »Oh, ich bitte dich.« Travis schob den schweren Riegel vor die Tür. »Glaubst du, damit kannst du die Wachen lange aufhalten?«, fragte Damion hämisch. »Nach ein paar Minuten haben sie die Tür eingetreten.« »Egal!«, rief Jack von oben. »Wir haben noch ein Ass im Ärmel!« »Haben wir?«, fragte Travis und fügte rasch hinzu: »Aber ja,
natürlich.« Das Dumme ist nur, dachte er, Jack trägt kein Hemd, und ich weiß definitiv, dass in meinem Ärmel absolut nichts verborgen ist. Er drückte den Lauf der Pistole fest gegen Damions Rücken und folgte Jack in die Tiefen des höhlenartigen Raums. »Hi, Baby«, begrüßte Jack Sharon, als sie den Sukkubus erreicht hatten. »Schau, was wir dir mitgebracht haben.« Sharon gab einen zischenden Laut von sich, als sie Damion erblickte. Sie murmelte etwas, das in Travis' Ohren wie eine Beschwörung klang. Jack landete neben ihr auf dem Schreibtisch. »Keine Sorge«, sagte er. »Der kleine Scheißkerl ist außer Gefecht. Zeig ihr die Kanone, Boss.« Travis zeigte gehorsam. »Ach, übrigens, wo hast du ihn gefunden?«, fragte er Jack. »In einem Schrank«, antwortete der Dämon. »In einer Schublade unter ›P‹ « »Das wird euch alles nichts nützen«, schnarrte Damion. »Ihr kommt hier niemals lebendig raus. Und bevor er euch tötet, lässt der Prinz euch eure eigenen Gedärme essen. Und das wird noch der angenehmere Teil sein.« Travis hob die Pistole und versetzte dem Zauberer einen Schlag auf den Hinterkopf. »Wo bleiben deine Manieren?«, fragte er, während Damion mit einem Aufschrei vorwärtsstolperte. In diesem Augenblick hörten sie rhythmisch krachende Geräusche. Die Wachen hatten begonnen, die Tür zu bearbeiten.
KAPITEL 15
»Schnell! Schieß die Kette durch!«, rief Jack. Er nahm ein Stück Kette in die Hände, zog es auseinander und wandte den Kopf ab. Travis zielte sorgfältig und feuerte. Sofort flog die Kette auseinander. Jedes Teil, mitsamt der Fußfessel um Sharons Knöchel, begann zu glühen und verwandelte sich in glitzernden Staub. Sharon war frei. Der sehr zornige – und sehr nackte – Sukkubus sprang vom Tisch herab und lief mit gazellenhafter Geschmeidigkeit auf Damion zu, der sich torkelnd den Kopf hielt. Voller Wucht rammte sie ihm ihr Knie zwischen die Beine. Mit einem zischenden Laut brach Damion zusammen. Fast tat er Travis Leid. Fast. Das Donnern gegen die Tür ging weiter, aber bis jetzt schien sie noch zu halten. Jack wandte sich an Sharon: »Jetzt hast du deinen Spaß gehabt. Geben wir ihm den Rest und verschwinden wir.« »Stets zu Diensten, mein übel riechender Liebling.« Sharon hob die Hand, um sie auf Damions freiliegenden Nacken niedersausen zu lassen. »Halt!«, rief Travis, sprang vor und packte ihr Handgelenk. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, ließ ihn um sein eigenes Leben fürchten, aber sie beruhigte sich sogleich und fragte nur: »Warum hast du das getan?« »Ich will ihm einige Fragen stellen«, antwortete Travis. Sie entzog sich seinem Griff und sagte: »Ich stehe in deiner Schuld. Tu, was du für richtig hältst.«
»Großartig«, murmelte Jack. »Die Bastarde können jeden Augenblick die Tür aufbrechen, und du willst ›Frage und Antwort‹ mit diesem Teenager aus der Hölle spielen.« »Es wird nicht lange dauern«, sagte Travis. Er packte Damion bei den Haaren, riss seinen Kopf hoch und hielt ihm die Pistole unter die Nase. »Hör mir gut zu, Damion. Wenn du meine Fragen beantwortest, dann werde ich Sharon sagen, dass sie dich nicht töten soll. Verstanden?« Damion versuchte zu nicken, was ihm unter den Umständen relativ schwer fiel. »Erstens: Ist der Prinz wirklich ein Vampir?« »Ja«, stieß Damion hervor. »Es liegt in der Familie. Der Ahne des Prinzen, Lord Brian der Dreiste, schloss einen Pakt mit dem König der Vampire. Auf diese Weise hat die Familie die Herrschaft über dieses Land erlangt. Jeder männliche Nachkomme muss den Pakt erneut besiegeln …« »Moment mal! Sind Vampire nicht unsterblich?«, fragte Travis. Damion gelang es, sowohl ängstlich als auch verblüfft dreinzuschauen. »Natürlich ist nur der König der Vampire unsterblich, die gewöhnlichen sind es nicht«, antwortete er. »Oh«, sagte Travis. Wieder ein Beispiel für die Andersartigkeit der Vampire in dieser Welt. Dann fragte er: »Und was ist mit Beatrice? Was hat er mit ihr vor?« »Er wird sie heiraten. Und wenn sie ihm einen Sohn geboren hat, wird sie dem König der Vampire geopfert. Das ist Teil eins des Pakts.« »Verdammt noch mal«, murmelte Travis. »Finde dich damit ab, Schwachkopf«, sagte Jack. »Offenbar
ist dieses königliche Girl feinstes Opfermaterial. Aber jetzt lass uns diesem Hübschen hier eins über die Rübe geben, und dann verziehen wir uns. Die Tür beginnt zu splittern!« »Wartet! Eine Frage habe ich noch.« »Jetzt mach mal halblang«, stöhnte Jack. »Was jetzt noch? Willst du ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragen?« Travis ignorierte ihn. »Damion«, sagte er eindringlich, »das Dienstmädchen, Annabelle, weißt du, was mit ihr geschehen ist?« »Ja. Der Prinz hat mitbekommen, wie sie versuchte, mit der Prinzessin zu reden. Er … hat sie verhört. Sie ist jetzt in der Folterkammer. Wenn er Zeit hat, wird er sich persönlich um ihre Hinrichtung kümmern « »Weißt du, wo sich die Folterkammer befindet?« fragte Travis Jack. »Aber sicher.« »Gut.« Travis zog Damion mit der Pistole eins über; lautlos sackte der Zauberer in sich zusammen. Da hörten sie Stimmen … Die Wachen hatten es geschafft, die Tür aufzubrechen. »Ich nehme an, du weißt, wie wir hier rauskommen«, sagte er zu Jack. »Wo geht's lang?« »Genau hier«, antwortete Jack und deutete auf ein Loch am unteren Ende der Wand. Ein kleines Loch. »Das ist ein Abflussrohr!«, rief Travis. »Sicher. Was hast du erwartet – eine Drehtür?« Er landete neben dem Loch. Travis hörte das Scheppern von Rüstungen. »Ähm, vielleicht bin ich etwas beschränkt, aber …« »Du bist beschränkt«, unterbrach ihn Jack. »Reich mir deine
Knarre.« Verwirrt tat Travis, wie ihm geheißen. »Jetzt nimm Sharon bei der Hand, schließ die Augen und denk an etwas Kleines.« Der Sukkubus ergriff seine Hand; ihre Berührung kitzelte ein wenig. Er schloss seine Augen und hoffte auf ein Wunder. »Du kannst sie wieder aufmachen«, sagte sie mit ihrer aufregend heiseren Stimme. Er öffnete die Augen und war zunächst furchtbar enttäuscht, weil er noch immer genauso groß wie sie war. Aber als er sich umdrehte, stellte er fest, dass er und auch Jack, dass sie alle gleich groß waren. Tatsächlich, ihre Zauberkraft hatte sie geschrumpft. Die Möbel, einschließlich des Tisches, auf dem sie gefangen gehalten worden war, ragten drohend über ihnen auf. Und dann stürmte ein riesiger Mann in Rüstung heran, dem andere folgten. Die Wachen suchten nach ihnen, konnten sie jedoch nicht so schnell entdecken. »Macht voran«, sagte Jack, schulterte die Pistole, die nicht kleiner geworden war, und verschwand im Abflussrohr. Travis folgte ihm. Er fragte sich, ob es nicht bequemer gewesen wäre, den Colt ebenfalls einzuschrumpfen, aber dann fiel ihm ein, dass die Zauberkräfte dieser Welt der Waffe ja nichts anhaben konnten. Als er in das Ablaufrohr stieg, brachte ihn der Gestank fast zum Würgen, aber er zwang sich, weiterzugehen. Sharon bildete die Nachhut. Zunächst war es in dem engen Tunnel stockfinster, aber dann steckte sich Jack eine seiner Zigaretten an, und die zweifelhafte Umgebung wurde von einem schwachen rötlichen Schimmer erhellt. »Kommen wir auf diesem Weg auch zur Folterkammer?«,
fragte er Jack. »Mit einigen Umwegen landen wir schließlich dort. Aber bist du wirklich sicher, dass du dorthin willst?« »Ja. Annabelle ist durch meine Schuld in Schwierigkeiten geraten. Wir müssen sie befreien, wenn es nicht schon zu spät ist. Und dann müssen wir Beatrice retten.« »Sicher. Und wenn wir unterwegs noch weiteren Maiden in Gefahr begegnen, dann befreien wir die auch noch. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätten wir irgendwelche dringenden Aufgaben, wie zum Beispiel am Leben zu bleiben oder hier rauszukommen!« »Du musst gerade reden! Haben wir nicht auch deinem kostbaren Sukkubus geholfen?« »He, Vorsicht«, sagte Sharon hinter ihm. »Tut mir Leid. War nicht persönlich gemeint«, entschuldigte sich Travis. »Worauf ich hinauswill, Schlauberger, ist Folgendes: Je mehr Leute wir hinter uns herziehen, desto schwieriger wird es für uns, aus dem Schloss zu kommen.« »Das weiß ich sehr wohl, Jack, aber ich könnte mir nicht mehr ins Gesicht sehen, wenn ich nicht zumindest versuchen würde, Annabelle und Beatrice vor ihrem schrecklichen Schicksal zu bewahren.« »Dabei sind sie doch deiner Meinung nach nur fiktionale Konstrukte«, entgegnete Jack zornig. »So wie Sharon und ich.« »Wovon redest du?«, fragte Sharon. »Dieser Schwachkopf hat die Theorie, dass niemand von uns wirklich existiert«, erklärte Jack. »Das ist dumm. Ich weiß, dass ich existiere«, protestierte
Sharon. Travis spürte ihren heißen Atem in seinem Nacken und daher kein Verlangen, mit ihr zu streiten. Stattdessen sagte er zu Jack: »Vielleicht interessiert es dich, dass ich heute Abend Prenderghast getroffen habe …« Eine Sekunde später prallte er gegen die 45er, denn Jack war urplötzlich stehen geblieben. Von hinten lief Sharon in ihn hinein, ein weitaus angenehmerer Zusammenstoß. »Du hast was?«, rief Jack. Travis rieb sich die Nase. »Könntest du es bitte vorher ankündigen, wenn du das nächste Mal einfach so abrupt stehen bleibst?« »Du hast Prenderghast gesehen?« Jack blickte über die Schulter zurück. »Wo?« »Auf dem Ball. Er hat mir die Rollen Klopapier gegeben.« »Was ist das, Klopapier?«, fragte Sharon. »Eine Rolle mit weichen Blättern aus Papier«, erklärte ihr Travis. »Es sei denn, man arbeitet bei einer Behörde, dort sind sie härter.« »Und wozu braucht man das?« »Nun …« »Hör auf, Schlauberger, über Körperhygiene könnt ihr beiden euch ein anderes Mal unterhalten!«, rief Jack genervt. »Erzähl mir lieber von Prenderghast. Was hat er gesagt?« Travis berichtete von seinem Gespräch, und als er fertig war, seufzte Jack enttäuscht auf. »Also stecken wir weiterhin hier fest«, murmelte er. »Ja. Bis ich den Schlüssel finde – wo immer der auch ist.« Jack trottete weiter. »Ja, wo auch immer.«
»Wovon redet ihr beiden eigentlich?«, fragte Sharon. »Zerbrich dir nicht deinen dämonischen kleinen Kopf darüber«, entgegnete Jack. »Chauvischwein«, murmelte sie. Wieder blieb Jack abrupt stehen, und Travis prallte erneut gegen den Griff der Pistole. »Aua! Mann, sie hat doch Recht, du bist ein Chauvi. Geh endlich weiter.« »Da kommt etwas«, sagte Jack. »Etwas kommt?«, meinte Travis ungläubig. »Wir sind in einem verdammten Abwasserrohr. Was soll da kommen?« Doch dann erbleichte er. »Sag bloß nicht eine Ladung Scheiße.« »Nein, nein«, sagte Jack. »Dem Klang nach dürfte es eine sehr große Kanalratte sein.« »Oh.« Jack kniete nieder. »Was machst du da?« »Ich ziele mit der verdammten Pistole, Schlauberger. Ich werde dieses verdammte Ding in Stücke schießen. Du drückst ab, wenn ich es dir sage « »Ist das nötig? Können wir sie nicht einfach verscheuchen?« »Hör zu, ich bin diesen Dingern schon öfter begegnet. Man kann sie nicht verscheuchen. Sie sind zäher als ein ganzes Frauenkabarett. Achtung, jetzt … sie kommt. Feuer!« Travis packte den Abzug mit einer Hand und zog. Er rührte sich nicht. »Ich sagte, Feuer, Schlauberger!«, brüllte Jack. Jetzt sah auch Travis die Ratte. Aus seiner Perspektive wirkte sie wie eine U-Bahn, die auf sie zurollte, nur schneller. Er packte den Abzug mit beiden Händen und zog erneut. Der Abzug
bewegte sich. Genau wie er. Der Rückstoß warf die Waffe nach hinten, und Travis wurde gegen Sharon geschleudert. Zusammen landeten sie im Abwasser. Travis bekam das alles kaum mit. Der Blitz und der Knall der Detonation hatten ihn kurzzeitig geblendet, betäubt und allgemein verwirrt. Als er wieder teilweise bei Sinnen war, stellte er fest, dass er auf etwas Weichem lag. Es fühlte sich angenehm an, was immer es auch war. »Geh runter von mir!«, verlangte das weiche angenehme Etwas mit zorniger Stimme. Er rollte sich von Sharon herab und erhob sich mit zitternden Beinen. Seine Ohren klingelten, und er sah alles verschwommen. Dann half er Sharon hoch und sah, wie Jack über die Pistole stieg. »Alles klar?«, fragte er. »Nein«, antwortete Travis. »Und wenn du das nächste Mal eine brillante Idee hast, dann steck sie dir besser irgendwohin …« »He, es hat funktioniert, oder nicht? Sieh dich um. Diese Ratte war mal eine solche.« Travis spähte in die Finsternis, die vor ihnen lag. Die Ratte war in der Tat verschwunden. Oder besser gesagt, sie hatte sich in eine undefinierbare Masse von blutigen Fellklumpen und Fleisch verwandelt, die an den Tunnelwänden klebte. Durch den stechenden Geruch des Schießpulvers nahm Travis einen Gestank wahr, der noch weitaus übler war als die Abwasserdüfte. »Großartig. Jetzt müssen wir durch diesen Matsch hindurchwaten.« »Mein Gott, bist du empfindlich«, sagte Jack. »Halt dir einfach die Nase zu.« Er schulterte die Pistole und schritt voran.
Zögernd ging Travis hinter ihm her, gefolgt von Sharon. Die nächsten Minuten wurden für Travis äußerst unangenehm. Der Gestank ließ sich ertragen, wenn er sich die Nase zuhielt, aber das schmatzende Geräusch, das entstand, wenn er mit seinen Stiefeln auf die weichen Überreste der Ratte trat, erzeugten einen fast unwiderstehlichen Brechreiz. Erleichtert atmete er auf, als sie das Ende des blutigen Weges erreicht hatten. »Mein Gott, war das schrecklich«, murmelte er. »Was war schrecklich?«, fragte Sharon. Travis fragte sich, warum es so klang, als spreche sie mit vollem Mund, und gab sich selbst im nächsten Augenblick – schaudernd – die Antwort. Dämonen, dachte er angeekelt. Wirklich so richtig zum Liebhaben! Nach unzähligen Abzweigungen und Wendungen – es kam Jack vor, als seien sie stundenlang im Kreis herumgeirrt, immerhin gab es keine weiteren Begegnungen mit Ratten mehr – sagte Jack endlich: »Wir sind fast da …« In einiger Entfernung konnte Travis einen gelblichen Schimmer ausmachen. Das Rohr stieg leicht nach oben an, und im nächsten Augenblick folgte Travis Jack in einen großen, dunklen Raum hinaus. Hoch über ihnen brannten Fackeln an den Verliesmauern. Travis hörte Stimmen, aber die Sicht wurde ihm durch eine große, bettartige Holzkonstruktion verdeckt. »Sehen wir uns mal diese Bettstatt an«, murmelte Jack. »Und dabei denke ich ausnahmsweise nicht an dich, Sharon, he, he …« Sachte legte er die Pistole auf den Boden und schlich sich zur nächstgelegenen Ecke des bettähnlichen Gestells. Travis folgte ihm. Er hoffte, dass sie nicht zu spät kamen.
KAPITEL 16
Travis und Jack linsten um die Ecke des Holzpfostens. Travis sah zwei muskulöse, bemerkenswert hässliche Männer mit nackter Brust, die auf Schemeln neben einer glühenden Kohlepfanne saßen, in der eine eiserne Ahle und eine roh gefertigte Zange lagen. Travis brauchte keinen Blick in ihre Bewerbungsunterlagen, um festzustellen, welcher Tätigkeit sie nachgingen. Aber wo war Annabelle? Einer der Schergen kratzte sich die haarige Brust und knurrte: »Wüsste gerne, was ihn aufhält. Sieht dem Prinzen gar nicht ähnlich, uns so lange warten zu lassen.« »Vielleicht ist der Ball noch nicht zu Ende.« »Ach was. Der ist doch schon seit Stunden vorbei. Schätze, er kommt nicht mehr. Wir können genauso gut ohne ihn anfangen.« »Bist du verrückt? Wenn du die Befehle des Prinzen missachtest, dann endest du selbst auf dem Streckbett …« Er deutete auf die Holzkonstruktion, hinter der sich Travis und Jack versteckten. »Und ich bin dann der arme Teufel, der dir die gekochten Gedärme herausreißen muss, während ich dein Rückgrat auseinander ziehe.« Der Erste starrte ihn an. »Du würdest es tatsächlich tun, was? Wo ich doch dein ältester Kumpel bin!« Der andere hob die Schultern. »Ich müsste es. Eine Frage der
Berufsehre. Du würdest es umgekehrt genauso machen.« Der Erste dachte darüber nach. Dann nickte er. »Ja, schätze, das würde ich.« »Klar, du bist ein Profi. Wie ich.« »Richtig«, sagte der Erste und grinste stolz. Eine Frau stöhnte auf, und Travis wusste, wo Annabelle sich befand. Er tippte Jack auf die Schulter und machte ein Zeichen. Sie eilten zurück. Sharon wartete neben der 45er. »Kannst du mich auf meine normale Größe zurückzaubern?«, fragte Travis. »Sicher«, sagte sie und reichte ihm ihre Hand. Bevor er sie ergriff, flüsterte er Jack zu: »Gib mir die Pistole, wenn ich wieder groß bin.« »Aber sicher.« Er hielt Sharons Hand und schloss die Augen. Erneut spürte er das Kitzeln auf der Haut, sonst nichts. Dann hörte er, wie sie sanft sagte: »Wir sind da.« Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er wieder seine normale Größe hatte. »Jetzt kannst du allen erzählen, dass wir zusammen groß geworden sind«, hauchte Sharon. Travis sah sich rasch um. Vor ihm, auf dem Streckbett, lag Annabelle. Sie trug ein zerfetztes graues Gewand, das blutverschmiert war, schien jedoch nicht ernsthaft verletzt – so weit er es feststellen konnte. Sie war bei Bewusstsein, und ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie zu Travis und Sharon aufsah. Die beiden Folterknechte hatten augenscheinlich noch viel größere Probleme, zu begreifen, was da vor sich ging. Zunächst gingen ihnen die Augen über, dann klappten die Kinnladen herunter. Erst danach erhoben sie sich langsam. Jack landete auf dem Rand des Streckbetts. »Hier, Boss.« Er
reichte Travis die Waffe. Travis zielte auf den ersten Folterknecht und schoss ihm in die Stirn. Er wurde nach hinten gerissen und prallte gegen die Wand. Den zweiten Folterer schoss Travis in die Schläfe. Beide lagen tot auf dem Boden. »Gut getroffen«, lobte Jack. »Sehr professionell. Ich bin sicher, dass die Mafia deine Arbeit schätzen würde.« Travis fühlte sich elend. Er steckte die Pistole in seinen Gürtel. Der Lauf fühlte sich warm an. Dann wandte er sich an Annabelle. »Geht's dir gut?«, fragte er. »Nein«, lautete die wenig überraschende Antwort. Travis befreite sie von den Stricken, mit denen sie an Armen und Beinen gefesselt war, und half ihr, sich aufzurichten. Sie wirkte nicht größer, als er sie in Erinnerung hatte. Offenbar war die Streckbank noch nicht in Betrieb genommen worden. »Bist du verletzt?«, fragte er besorgt. »Nicht ernsthaft«, antwortete sie. »Sie haben mich nur geschlagen. Mit den schlimmen Sachen wollten sie erst beginnen, wenn der Prinz eintrifft.« »Der Prinz …« Travis sah nervös zur Tür. »Er kann jeden Moment hier auftauchen.« »Ach was«, sagte Jack. »Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Suche nach uns zu beaufsichtigen. Und vergiss nicht, dass er sich auch noch um die Belagerer kümmern muss.« »Er wird kommen«, sagte Annabelle leise. Sie rieb sich die Arme. Ihr Gesicht war blass und schmerzverzerrt. »Egal, wie beschäftigt er ist, meinem langsamen Tod beizuwohnen würde er sich nicht entgehen lassen. Solche Dinge bereiten ihm allzu großes Vergnügen.« »Sie hat Recht«, sagte Sharon. »Nach dem, was ich über Prinz
Val gehört habe, wird er früher oder später hier erscheinen.« Travis dachte kurz nach. »Also gut, bereiten wir ein herzliches Willkommen für ihn vor. Aber zuerst müssen wir diese beiden irgendwo verstecken …« Er deutete auf die beiden toten Folterknechte. Jack flatterte durch das Verlies. »Hier ist eine Art Falltür!«, rief er. Travis untersuchte sie. In den Boden war eine runde Holzplatte eingelassen, an deren Seite sich ein Eisenring befand. Travis zog die schwere Platte an dem Eisenring hoch und ließ sie krachend nach hinten fallen. Er spähte in das gähnende finstere Loch hinein, konnte aber nichts sehen. »Weißt du, was dort unten ist?«, fragte er Annabelle. Sie schüttelte den Kopf. »Jack, würde es dir viel ausmachen, hinunterzufliegen und nachzuschauen?« »Travis, würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich dich ein wenig durch einen Fleischwolf drehe?« »Das nehme ich mal als ein Nein.« Travis sah wieder in den Schacht hinunter. »Vielleicht kommen wir so aus dem Schloss heraus«, sinnierte er. »Halte ich für sehr unwahrscheinlich«, sagte Annabelle düster. Er seufzte. »Ja, du hast sicherlich Recht. Sharon, hilf mir doch mal mit diesen beiden Verblichenen. Wir werfen sie in was immer das hier auch ist.« Gemeinsam mit Sharon zog er die erste der beiden Leichen zum Schacht und schob sie hinein. Nach einiger Zeit hörten sie ein platschendes Geräusch. Kurz darauf ertönten andere Laute.
Kauen und Schmatzen. »Offenbar das Abfallbeseitigungssystem des Schlosses«, sagte Jack. Irgendetwas in der Tiefe rülpste laut. Travis lief es kalt über den Rücken. »Okay, jetzt den anderen.« Als sie sich auch der zweiten Leiche auf diese Weise entledigt hatten, schloss Travis eiligst den Deckel. »Okay, dann verstecken wir uns jetzt und warten auf Prinz Val … Oh, Moment, da fällt mir etwas ein.« »Willst du zurück und das Toilettenpapier holen?«, fragte Jack. Ohne ihn zu beachten, wandte sich Travis an Annabelle. »Ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten«, sagte er. »Verdammt, jetzt ist nicht die Zeit für Sex!«, rief Jack. Travis fuhr fort, ihn zu ignorieren, und fragte Annabelle: »Ich möchte, dass du dich wieder auf das Streckbett legst.« Ihre blasse Gesichtsfarbe wurde noch blasser. »Was?«, fragte sie ungläubig. Er ergriff ihre Hände. »Denk doch mal nach. Das Erste, was der Prinz sieht, wenn er dieses Verlies betritt, ist das Streckbett. Und wenn er sieht, dass du nicht mehr darauf liegst, dann weiß er, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist und wird sofort misstrauisch. Er ruft seine beiden abgetretenen Knechte, und wenn sie nicht antworten, dann wird er noch misstrauischer und macht sich wahrscheinlich auf die Suche nach ihnen. Er muss aber in diesen Raum kommen. Verstehst du?« Sie starrte ihn nur an. »Ich verspreche dir, dass niemand dir ein Leid zufügen wird«, sagte Travis.
»Oh, oh, das heißt, du bist so gut wie tot, Baby.« »Halt's Maul Jack!« »Ich werde es tun«, sagte Annabelle sanft. »Wirklich?« Travis war überrascht. »Gut … sehr gut. Also los, wir müssen uns beeilen.« Während Travis Annabelle zum Schein wieder auf das Streckbett fesselte, gab Jack zu bedenken: »Der Prinz wird doch sicher nicht allein kommen?« »Nein, aber ich glaube nicht, dass er mehr als zwei, drei Männer bei sich hat. Und mit denen werden wir fertig.« Der Sukkubus schenkte ihm ein Lächeln, das ihre scharfen Zähne enthüllte. Travis hatte die letzten Stricke befestigt. »Bequem?«, fragte er Annabelle. »Nein«, murmelte sie. »Oh … na ja, ich denke mal, es soll ja auch nicht bequem sein. Ich meine, der ganze Sinn einer Folterbank besteht doch darin. Also, ich hoffe, es dauert nicht lange.« Travis hörte auf, bevor er sich um Kopf und Kragen redete, klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und wandte sich dann an Jack. »Lösch doch bitte ein paar von den Fackeln, okay? Ich möchte, dass es hier noch düsterer aussieht als sonst. Dann gehen wir in Stellung … und warten.« Travis schätzte, dass sie etwa eine halbe Stunde gewartet hatten, als der Prinz das Verlies betrat. Erleichtert sah Travis, dass er ganz allein gekommen war. Der Prinz ging geradewegs auf das Streckbett zu. Travis duckte sich. »Tut mir Leid, dass ich dich habe warten lassen, Annabelle«,
sagte der Prinz, »aber ich bin aufgehalten worden.« Nach einer kurzen Pause rief er: »Maurice? Jeremy? Wo seid ihr?« Als er keine Antwort bekam, fragte er: »Annabelle, wo stecken diese beiden unförmigen Kretins?« »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Wenn sie sich wieder in den Bierkeller verdrückt haben, dann lasse ich ihnen die Haut …« Travis stand auf und richtete die Pistole auf den Prinzen. »Darum hat sich schon jemand gekümmert, Val. Maurice und Jeremy sind nicht nur gehäutet, sondern auch verspeist worden.« Der Prinz ließ sich seine Überraschung nur durch ein winziges Zucken der Augenbrauen anmerken, bevor er wieder seine gelassene Haltung annahm. »Sieh an, sieh an, du schon wieder. Langsam wirst du wirklich lästig, Travis.« »Der Kunde ist König«, erwiderte der, während Jack heranflatterte und Sharon aus den Schatten hervortrat. Der Prinz warf ihnen einen misstrauischen Blick zu. »Hier steckst du also, Sharon«, sagte er. »Vielleicht interessiert es dich, dass Damion dich nur allzu gern wieder zurückhaben möchte.« »Er ist nicht tot?«, fragte sie. »Nein. Sein Schädel brummt, aber er ist weit davon entfernt, tot zu sein.« »Schade.« »Jack«, sagte Travis, »binde Annabelle los, schnell.« »Sicher doch«, sagte Jack und landete auf dem Streckbett. »Ich verstehe wirklich nicht, warum ihr euch all diese Mühen macht«, sagte der Prinz zu Travis. »Ihr könnt nicht davonkommen. Eure Lage ist hoffnungslos.«
»Nicht ganz. Wir haben dich.« Der Prinz ließ ein leises verächtliches Schnauben hören. »Ach ja, tatsächlich? Du glaubst, dein lächerlicher Talisman könnte mir Angst machen?« Annabelle war ein zweites Mal von ihren Fesseln befreit. Sie stellte sich neben Travis, vor Furcht zitternd. »Oh, ich glaube, er macht dir sehr viel Angst.« »Unsinn«, sagte der Prinz lächelnd. »Du kannst mich nicht töten. Du bestehst ja darauf, es überall herumzuerzählen – ich bin ein Vampir.« »Aber du bist nicht unsterblich. Das hat mir Damion verraten.« »Das stimmt, aber solange ich vertraglich an den König der Vampire gebunden bin, kann ich nicht getötet werden. Und ich schätze, dass der Pakt noch für weitere sechzig Jahre gilt. Danach werde ich zu einem gewöhnlichen Sterblichen. Tötet mich dann, wenn ihr solange warten könnt.« Oh, oh, dachte Travis. »Er blufft«, sagte Jack. »Die Pistole kommt nicht aus dieser Welt. Sie ist immun gegen ihre Zauberkräfte. Das weißt du … und er auch.« »Diese fliegende stinkende Achselhöhle redet Unsinn«, sagte der Prinz in gelangweiltem Ton. »Machen wir doch einfach einen Test, okay?« Travis hob die Pistole mit beiden Händen. »Schießen wir ein paar Löcher in dich – dann sehen wir ja, was passiert.« Der Prinz wich zurück. Seine gelassene Haltung veränderte sich drastisch. »Ähm – wir wollen uns doch nicht zu übereilten Schritten hinreißen lassen … Löcher in meinem Körper wären
wirklich äußerst unangenehm. Es würde Stunden dauern, bis die Wunden heilen … außerdem habe ich mein Lieblingsgewand an.« »Aha!«, krähte Jack. »Ich hatte Recht. Sieh nur, Val macht sich praktisch in die Hose.« Travis bewegte die Pistole. »Noch einen Schritt zurück, und ich schieße!«, warnte er den Prinzen. Der Prinz streckte seine Arme aus. »Bitte … nicht …« »Und keine Vampirtricks, wenn ich bitten darf, kein Sichplötzlich-in-eine-Fledermaus-verwandeln oder so etwas.« Der Prinz hatte sich wieder etwas erholt und sagte blasiert: »Ich verwandle mich nicht in Nagetiere.« »Nun ja, in was auch immer, tu's nicht.« »Warum tötest du ihn nicht einfach?«, fragte Annabelle. Der Prinz sah sie mit einem verletzten Blick an. »Annabelle … nach allem, was ich für dich getan habe …« »Wir brauchen ihn«, sagte Travis bedauernd. »Also schön, dann habt ihr mich eben zeitweilig in eurer Gewalt«, sagte der Prinz, der mit jeder Sekunde tapferer wurde. »Aber ihr befindet euch noch immer in einer aussichtslosen Lage. Wo wollt ihr hin? Wie kommt ihr aus dem Schloss? Und gesetzt den Fall, ihr schafft es, dann wäret ihr noch immer von einer feindlichen Armee umzingelt.« »Diese Hürde nehmen wir, wenn es so weit ist«, sagte Travis. »Aber nun wollen wir Beatrice einen Besuch abstatten. Und sollten wir unterwegs deinen Schergen begegnen, so machst du ihnen umgehend klar, was dir widerfahren würde, sollten sie versuchen, uns aufzuhalten.« »Ich verstehe, ja«, sagte der Prinz zögerlich. »Schön. Dann lasst uns gehen.«
Der Prinz klopfte an die Tür und rief: »Beatrice? Ich bin's, Valerie. Wach auf!« Während sie auf Beatrices Antwort warteten, beobachtete Travis den Flur in beiden Richtungen, aber die Männer des Prinzen folgten seinen Anweisungen und hielten sich zurück. Die Tür öffnete sich, und Beatrice blickte mit verschlafenen Augen auf den Flur hinaus. Ihr Haar war zerzaust, und sie trug ein wenig schmeichelhaftes zerknittertes Nachthemd, doch für Travis war sie noch immer das schönste Wesen, das er je gesehen hatte. Sie erblickte den Prinzen und sagte: »Zum wiederholten Male, Valerie – nicht, bevor wir verheiratet sind.« Puh, was für eine Erleichterung, dachte Travis. »Ähm, das ist nicht der Grund für meinen Besuch, Geliebte. Und wir sind auch nicht allein.« Beatrice öffnete die Tür weiter und begutachtete ihre Besucher schlaftrunken, einen nach dem anderen. Dann runzelte sie die Stirn. Offenbar verwirrte es sie nicht wenig, dass ein Komitee, bestehend aus dem Prinzen, Travis, Jack, einem blutbespritzten Dienstmädchen und einer auf höchst schamlose Weise nackten Frau ihr in den frühen Morgenstunden einen Besuch abstatten wollte. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte sie. In der Tat, wunderschön, sinnierte Travis, aber eindeutig nicht das Hellste, was auf zwei Beinen herumläuft. »Wie kommst du darauf?«, fragte Jack. »Wir waren nur gerade in der Gegend und dachten ganz spontan, wir schauen mal auf einen Plausch bei dir vorbei, Spatzenhirn.« »Können wir reinkommen?«, fragte Travis. »Ihr alle?«, fragte sie verblüfft. »Ja, wir alle.«
»Also, ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Es ist kaum die richtige Zeit …« Herr, gib mir die Kraft, dachte Travis. Er drückte den Lauf der Pistole etwas härter gegen die Rippen des Prinzen. »Valerie …« »Es ist wirklich nötig, dass wir alle hereinkommen«, versicherte der Prinz ihr hastig. »Nun, wenn ihr darauf besteht.« Beatrice öffnete die Tür ganz und wich zur Seite. Nacheinander betraten alle den Raum, bis auf Jack, der flog. Beatrice schloss die Tür. »Also, macht es euch gemütlich«, sagte sie und fügte hinzu: »Valerie, ich bin so froh, dass du und Travis wieder Freunde seid.« Jack, der auf dem Kopfteil des Bettes gelandet war, kicherte laut. »Ja, sie sind jetzt richtig gute Kumpel.« Beatrice sah Sharon leicht misstrauisch an. »Möchtest du dir eins meiner Gewänder ausleihen?«, fragte sie in dem Tonfall, in dem sie normalerweise Bürgerliche fragte, womit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten. »Nein. Warum?«, antwortete Sharon und legte sich auf das Bett. Travis hätte ihre Pose beinahe unerträglich provokant gefunden, wenn er nicht mit anderen Dingen beschäftigt gewesen wäre. »Nun ja, weil du einfach keine Kleider anhast«, entgegnete Beatrice eher überflüssigerweise. »Ich trage nie Kleider«, sagte Sharon und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale neben dem Bett. »Ich mag keine.« »Sie fällt nicht gerne auf«, sagte Jack. »Ignorier sie einfach«, knurrte der Prinz. »Sie ist nur Dami-
ons Privatvergnügen. Ein dreckiger kleiner Sukkubus.« »Ach nein«, bemerkte Beatrice und bemühte sich, höflich zu sein. »Und was genau ist ein Sukkubus?« »Ich bin ein Dämon. Ich ernähre mich von den Seelen der Männer«, sagte Sharon und biss kräftig in den Apfel. »Wie interessant«, sagte Beatrice. »Es gibt noch etwas, das dich interessieren wird«, warf Travis ein und drückte den Lauf der Pistole gegen den Hals des Prinzen. »Sag's ihr, Valerie.« Der Prinz räusperte sich: »Beatrice, meine Liebe, ich muss dir ein kleines Geständnis machen.«
KAPITEL 17
»Du bist wirklich ein Vampir?«, fragte Beatrice. »Ich fürchte ja, meine Liebe«, murmelte der Prinz. Beatrice dachte eine Weile nach und zuckte dann mit den Schultern. »Ach, was soll's«, sagte sie. »Niemand ist vollkommen.« Der Prinz strahlte. »Wie verständnisvoll von dir, mein Schatz. Du willst mich also noch immer heiraten?« »Natürlich«, sagte sie. Travis stöhnte auf. »Hör zu, du Spatzenhirn, es handelt sich um ein etwas größeres Problem, als mit einem Mann liiert zu sein, der abends oft ausgeht.« Er stieß dem Prinzen die Pistole in die Seite. »Erzähl ihr die ganze Geschichte. Alles!« »Muss ich?«, fragte der Prinz seufzend. Travis stieß noch einmal zu, fester, und erst dann erzählte der Prinz Beatrice von dem Familienpakt mit dem König der Vampire und von dem, was für sie geplant war, nachdem sie dem Prinzen erst einmal einen Sohn geschenkt hätte. Sie sah ihn entrüstet an. »Das hört sich aber gar nicht gut an«, erklärte sie mit meisterlichem Understatement. »Und dieses Monster wolltest du heiraten«, warf Travis ein. »Du hast mich sehr enttäuscht, Valerie«, sagte Beatrice streng. »Da gibt's noch mehr. Sieh dir nur die arme Annabelle an. Und dabei hatte dein zukünftiger Ehegatte noch nicht einmal
Gelegenheit, selbst Hand an sie zu legen. Er wollte sie heute Nacht zu Tode foltern. Glücklicherweise konnten wir das verhindern. Und das alles nur, weil Annabelle dich vor ihm warnen wollte.« Beatrice bedachte Valerie mit einem Blick voller Abscheu. Er hob enttäuscht die Schultern. »Ich schätze, das bedeutet, die Hochzeit ist passé?« »Allerdings«, sagte Beatrice. »Wie schade«, seufzte der Prinz. »Ich fürchte, dass ich dich nun deinem tölpelhaften Ritter zurückgeben muss. Da du mich nicht mehr heiraten willst, sehe ich gar nicht ein, dass ich die Unannehmlichkeit auf mich nehmen sollte, wegen dir mein Schloss verteidigen zu müssen.« »Das wirst du nicht! Rodney würde mich wieder nach Vallium und zu meinem Vater zurückbringen!« »Ich habe jetzt keine andere Wahl mehr, als seinen Forderungen nachzugeben«, sagte der Prinz und breitete bedauernd die Arme aus. »Jetzt, wo du wertlos für mich geworden bist.« »Ich gehe nicht nach Vallium zurück«, sagte die Prinzessin bestimmt. »Dann bleibe ich eben bei Travis. Ich werde mit ihm und den Dämonen Weiterreisen, bis ich einen Ort finde, an dem es mir gefällt.« Der Prinz lachte. »Travis reist nirgendwohin. Im Augenblick mag er die Oberhand haben, aber er und seine bunt gescheckte Truppe sitzen in der Falle, wie du vielleicht bemerkt hast. Und früher oder später werden sie einen langsamen und schmerzhaften Tod erleiden, in ebendem Verlies, in dem sie auf mich gewartet haben.« Der Gedanke daran schien ihm Spaß zu machen.
Travis nahm die Pistole in die andere Hand, griff sie am Lauf und gab dem Prinzen mit dem Griff zweimal eins auf die Birne. Valerie ging zu Boden. »Allmählich wurde ich richtig sauer auf ihn«, sagte Travis. »Darin wirst du richtig gut«, lobte Jack und holte seine Schachtel Marlboro hervor. »Aber er hat nicht Unrecht. Wie soll es jetzt weitergehen?« »Daran arbeite ich noch.« Travis ging zu dem schmalen Fenster und sah hinaus. In der Ferne, hinter dem Burggraben und ohne Zweifel auch außer Pfeilreichweite, brannten die Lagerfeuer von Sir Rodneys Armee. Dann wandte er sich an Sharon. Sie hatte den Apfel aufgegessen, mitsamt Gehäus. »Wie klein kannst du jemanden schrumpfen?« »Oh, ich schätze, so auf etwa zwei, drei Zoll. Wieso?« »Ich habe da eine Idee, bei der Jack eine wichtige Rolle spielt …« »So?«, fragte Jack misstrauisch. »Ja.« Travis beugte sich über den bewusstlosen Prinzen und begann, seine Kleider zu durchsuchen. »Ah, das kommt wie gerufen«, sagte er und hielt einen Geldbeutel hoch. Er schüttelte ihn, und das Geräusch von klingenden Münzen war zu hören – das Geräusch von Goldmünzen. »Davon können wir in der Stadt Pferde und Proviant kaufen.« »Und wie kommen wir in die Stadt?«, fragte die Prinzessin. »Jack wird uns dorthin fliegen. Du ziehst dir jetzt besser Reisekleidung an, und such auch etwas Passendes für Annabelle aus.« Beatrice sah Travis ungläubig an. »Ich soll euch dorthin fliegen?«, rief Jack. »Wie soll das gehen?«
Während Beatrice in einem großen Kleiderschrank herumwühlte, zog Travis aus einem Stiefel des Prinzen das lange Schnürband heraus. Er warf es Jack zu, der es geschickt auffing. »Wozu ist das?« »Mach dir eine Art kleines Zaumzeug daraus«, entgegnete Travis. »Noch einmal, wozu?« »Weil wir etwas brauchen, woran wir uns festhalten können, wenn wir auf deinem Rücken reisen. Nachdem Sharon uns geschrumpft hat.« »Oh«, sagte Jack. »Nun ja … das könnte klappen.« »Es gibt ein Problem«, sagte Travis. »Du musst die Pistole tragen, die ja nicht geschrumpft werden kann.« »Mist, stimmt. Ich glaube nicht, dass ich mit der Knarre bis zur Stadt komme « »Dann musst du unterwegs eben Pausen einlegen«, meinte Travis. »Travis, würdest du mit Jack bitte kurz nach draußen gehen«, sagte Beatrice. Sie hielt ein paar Kleidungsstücke in der Hand. »Wie bitte?« Travis sah sie erstaunt an. »Ich habe diese alten Reitklamotten gefunden. Bitte geht auf den Flur hinaus, während Annabelle und ich uns umziehen.« »Beatrice«, sagte Travis langsam. »An beiden Enden des Korridors lauern die Männer deines Ex-Bräutigams. Es sind keine fröhlichen Häschen. Sie warten nur darauf, mich mit Pfeilen zu spicken. Und Jack auch. Du willst also, dass wir auf diesen Flur gehen, während du dich umziehst?« »Ich ziehe mich nicht vor dir aus«, sagte sie entschieden. »Mach dich nicht lächerlich. In diesem Raum befindet sich
bereits eine extrem nackte Frau. Schenkt ihr irgendjemand besondere Beachtung?« »Ich schon«, sagte Jack, der sich mit dem Schuhband abmühte. »Und die Blicke, die du ihr zugeworfen hast, sind mir auch nicht entgangen, Heuchler. Ich wundere mich, dass du noch nicht über deine eigene Zunge gestolpert bist.« »Gütiger Gott!«, stöhnte Travis. »Also gut, Beatrice, ich schließe meine Augen. Und jetzt zieh dich endlich um.« »Du versprichst, nicht hinzusehen?« »Ich verspreche es«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Du auch, Jack.« »He, Ihr wisst doch, dass Ihr mir vertrauen könnt, Eure Schönheit.« »Versprich es, Jack.« »Mach es einfach, Jack!«, fuhr Travis ihn zornig an. »Okay, ich verspreche es«, sagte Jack seufzend. Während er mit geschlossenen Augen wartete, dachte Travis darüber nach, ob es wohl ein Universalgesetz gab, nach dem alle Prinzessinnen, egal wie schön sie waren, einen absolut auf die Palme bringen konnten. »So, jetzt könnt ihr die Augen wieder aufmachen«, sagte Beatrice ein wenig später. Sie und Annabelle trugen attraktive Reithosen, Blusen und Stiefel. Er sah zu Sharon hinüber. »Möchtest du nicht vielleicht doch in Erwägung ziehen, etwas anzuziehen, Sharon? Du wirst, ähm, die Aufmerksamkeit auf dich ziehen, wenn wir in die Stadt einfallen.« »Ach, und du glaubst, der Rest von uns wäre extrem unauffällig, Schlauberger? Übrigens, in die ›Stadt einfallen‹ könnte
uns durchaus blühen.« »Keine Sorge«, meinte Sharon. »Ich werde nicht auffallen. Ich habe da noch einen anderen kleinen Trick.« »Hab ich's doch gewusst, Baby«, sagte Jack. »Ich meine diesen.« Und Sharon war verschwunden. Travis starrte auf das leere Bett. »Das ist allerdings ein guter Trick«, sagte er. »Und ihr könnt auch nicht ein winziges Stück von mir sehen?«, erklang Sharons Stimme vom Bett. »Nicht ein bisschen. Hast du noch andere verborgene Talente?«, fragte Travis. »Abgesehen von deinen Schrumpffähigkeiten und dieser Sache – dass du dich von den Seelen sterblicher Männer ernährst?« Sharon erschien wieder auf dem Bett. Sie stand auf und streckte sich auf eine Weise, die Travis, neben anderen Dingen, an eine Katze denken ließ. »Ich kann ziemlich gut kochen«, sagte sie. »Plaudern wir jetzt oder verschwinden wir?«, fragte Jack und warf seine Zigarette aus dem Fenster. »Bald geht die Sonne auf, und ich gebe auch so schon ein gutes Ziel ab. Noch besser muss es nicht sein.« Travis ging zu ihm und inspizierte das improvisierte Zaumzeug, das Jack aus dem Senkel geknüpft hatte. »Sitzen die Knoten auch fest?«, fragte er. »Das werdet ihr noch früh genug herausfinden«, entgegnete Jack kichernd. »Sehr beruhigend. Jetzt flieg auf den Boden, und wir steigen auf – nachdem Sharon uns geschrumpft hat.« Jack deutete auf Valerie. »Und was ist mit ihm? Lässt du ihn
am Leben? Oder am untoten Leben, um genau zu sein?« »Ich kann ihn nicht einfach kaltblütig erschießen.« »Er ist hier der mit dem kalten Blut.« »Wenn du ihn am Leben lässt, wird er uns verfolgen, egal wohin wir flüchten«, gab Annabelle zu bedenken. »Ich kenne ihn zu gut. Er wird auf Rache sinnen.« Travis seufzte. »Ich weiß, du hast Recht. Aber …« »Ich werde ihn töten«, bot sich Sharon an. »Gib mir deine Waffe.« »Tut mir Leid, aber bei dir funktioniert sie nicht. Ich bin der Einzige, der daraus eine Kugel abfeuern kann. Und das ist das Einzige, womit er zu töten ist.« »Dann töte ihn«, sagte Annabelle und fügte flehentlich ›bitte‹ hinzu. Travis schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich weiß, er ist ein Vampir und überhaupt ein sadistisches Ungeheuer, aber ich kann einfach nicht.« »Das wird dir wirklich noch Leid tun, Schlauberger«, sagte Jack. »Es wäre aber vielleicht wirklich klüger, Travis«, meinte Beatrice. Er sah sie verwundert an. »Beatrice, es handelt sich um den Mann, den du selbst dann noch heiraten wolltest, nachdem du erfahren hast, dass er ein Vampir ist. Und jetzt schlägst du vor, dass ich ihn töten soll! Ich weiß, dass du wankelmütig bist, aber das ist grotesk.« »Das war, bevor ich wusste, was er sonst noch für mich geplant hatte. Ich werde mich nicht mehr sicher fühlen, solange er lebt.«
Travis betrachtete den bewusstlosen Prinzen. Er spürte die Versuchung, brachte es aber nicht über sich. Noch einmal schüttelte er den Kopf. »Tut mir Leid.« »Könntest du ihm dann nicht wenigstens etwas wehtun?« »Wehtun? Was stellst du dir vor – soll ich ihm den großen Zeh abschießen?« »Das wäre zumindest ein Anfang«, meinte Jack. »Also schön, wenn er uns verfolgt und angreift, dann werde ich ihn erschießen, das schwöre ich«, sagte Travis. »Ich spreche, glaube ich, für alle«, meinte Jack, »wenn ich sage, dass uns dein Versprechen nicht im Geringsten beruhigt.« »Tut mir Leid, aber so ist es nun mal. Und jetzt wird es wirklich Zeit. Sharon, du bist dran.« »Welche Größe willst du haben?«, fragte sie. »Oh, vier Zoll werden wohl reichen.« »Gut. Jetzt halten wir alle einander an den Händen …« Während Jack auf den Boden flog, bildeten Travis, Sharon, Beatrice und Annabelle einen Kreis. »Augen zu, Leute«, sagte Sharon. »Nächster Halt Parterre.« Travis legte die Pistole neben Jack auf den Boden, nahm Sharon und Annabelle bei der Hand und schloss seine Augen. Als er sie wieder öffnete, türmte sich Jack hoch über ihm auf. Es war kein erfreulicher Anblick. Jack grinste boshaft auf das geschrumpfte Quartett hinab. »Eine Änderung im Plan«, sagte er. »Ich habe beschlossen, euch aufzufressen. Lecker, lecker.« »Sehr witzig«, entgegnete Travis mit einer Stimme, die ihm völlig normal vorkam, aber in Jacks Ohren wahrscheinlich wie die von Micky Maus klang. »Dreh dich rum, damit wir an Bord
gehen können.« Jack kam seiner Aufforderung nach. Sie kletterten auf seinen Rücken und steckten Arme und Beine durch das Zaumzeug. Travis wählte eine Position zwischen Jacks Schulterblättern, damit er besser sehen konnte, wohin die Reise ging. Beatrice tat es ihm gleich. »Puh, von nahem riecht er ja noch unangenehmer«, beschwerte sie sich und rümpfte die Nase. »Das habe ich gehört«, sagte Jack. »Du kannst immer noch aussteigen und zu Fuß gehen, Königliche Hoheit.« »Vielleicht bringt Prenderghast bei seinem nächsten Besuch eine Dose Deospray mit«, meinte Travis. Der Geruch war wirklich furchtbar. »Was ist eine ›Dose Deospray‹?«, fragte Sharon. »Das erzähle ich dir ein anderes Mal.« »Vergiss nicht, dass du mir auch ›Toilettenpapier‹ erklären wolltest.« »Wie könnte ich das vergessen? Also, sind alle angeschnallt?« Nachdem jeder mit ja geantwortet hatte, sagte Travis: »Okay, Jack, du kannst jetzt starten.« »Super. Danke, Boss.« Er griff nach der Pistole. »Schwerer, als ich in Erinnerung hatte«, ächzte er. »Kannst du mit dem Gewicht fliegen?«, wollte Travis wissen. »Das werden wir bald herausfinden«, meinte Jack. Er breitete seine Flügel aus, und sie erhoben sich leicht schwankend in die Luft. Der Dämon flog auf das schmale Fenster zu und flatterte hindurch. Dann schoss er wie ein Stein auf den Burggraben in der Tiefe zu.
KAPITEL 18
»Hör jetzt auf mit deinen Witzen!«, schrie Travis in Jacks Ohr. »Ausnahmsweise mache ich keine Witze!«, schrie Jack zurück. »Oh …« Die Luft pfiff an ihnen vorbei, während Jack tiefer sackte. »Du musst mehr mit den Flügeln schlagen!«, brüllte Travis. »Danke für den Rat, Schlauberger! Darauf wäre ich nie gekommen!« Dennoch setzte sich ihr Sturz mit Schwindel erregendem Tempo fort. Der Burggraben kam auf sie zugeschossen. Travis wusste, dass sie ganz tief in der Scheiße stecken würden, wenn sie dort hineinfielen. Buchstäblich. Dann, nur noch einen Augenblick von der Bruchlandung entfernt, gelang es Jack, den Absturz zu verlangsamen. »Uff«, grunzte er und legte sich mächtig ins Zeug. Zu Travis' ehrlicher Erleichterung fielen sie nicht mehr, sondern flogen. »Dank sei der Grünen Königin!«, rief Beatrice erleichtert. »Wie wär's mit einem Dank an mich?«, japste Jack. Doch Travis sah, dass sie noch längst nicht aus dem Schneider waren. Während sie über die Oberfläche des Burggrabens glitten, gelang es Jack kaum, an Höhe zu gewinnen. Außerdem flog er sehr unruhig, in einem schwankenden Zickzack-Kurs. »Flieg höher«, wies Beatrice den Dämon wenig hilfreich an. »Hör zu, Schwester«, grunzte Jack. »Wenn du nicht deine Klappe hältst, kannst du den Rest des Weges schwimmen.«
Das Ufer kam näher. Dahinter sah man die Zelte und die Lagerfeuer der Armee aus Vallium. »Pass doch auf!«, schrie Travis. Am Ufer stand ein Mann und pinkelte in den Schlossgraben. Dabei stützte er sich auf Krücken. »Was?«, rief Jack, der den Mann offenbar völlig übersehen hatte. Als er ihn entdeckte, war es zu spät. Er machte einen letzten verzweifelten Versuch, der Gestalt auszuweichen, und flog dabei direkt gegen eine Krücke. Mit einem Aufschrei stürzte der Mann zu Boden, und Jack machte eine Notlandung am Ufer. Glücklicherweise überschlug er sich dabei nicht, sodass seine Passagiere nicht in allzu große Gefahr gerieten, zerquetscht zu werden. Dennoch war es eine holprige Landung, und Travis fühlte sich ordentlich durchgeschüttelt, als Jack schlingernd zum Stehen kam. »Oh, meine Knie …«, stöhnte der Dämon. »Wen interessieren deine Knie, was ist mit den Flügeln?« fragte Travis ungerührt. »Mir ist schlecht«, klagte Beatrice. »Annabelle, Sharon – alles okay?« »Ich habe heute Nacht Schlimmeres erlebt«, antwortete Annabelle. »Das hat Spaß gemacht«, meinte Sharon. Sie hörten ein lautes Stöhnen. Der zu Boden gestürzte Mann versuchte sich mit Hilfe der ihm gebliebenen Krücke wieder aufzurichten. Als es ihm gelungen war, blickte er sich um, um festzustellen, was ihn niedergestreckt hatte. Dann entdeckte er Jack. »Du!«, stieß er hervor. »Der Hausdämon des Zauberers!« Der Schein der Lagerfeuer in der Ferne beleuchtete das Gesicht des Mannes: Rodney, wer sonst? »O nein!«, murmelte
Travis, als der Ritter unbeholfen auf sie zuhinkte. Travis sah, dass nun beide Füße Sir Rodneys bandagiert waren. »Schnell, mach schon!«, rief er Jack zu. »Ich bin im Eimer«, beklagte sich Jack, begann aber, sich vor dem heranhinkenden Ritter davonzumachen. »Wo ist dein teuflischer Meister, Dämon?«, brüllte Rodney. »Wenn du hier bist, kann er nicht weit sein!« Er versuchte Jack mit seiner Krücke zu erwischen, was ein Fehler war, weil er wieder zu Boden stürzte. »Abheben! Abheben!«, rief Travis. »Nein, ich ziehe es vor, auf der Erde zu bleiben und wie ein kopfloses Huhn herumzuhüpfen, Schlauberger«, keuchte Jack und schlug wild mit seinen Flügeln. Endlich erhob er sich in die Lüfte, jedenfalls so ungefähr. Rodney hatte sich aufgerappelt und setzte seine Verfolgung fort. »Wo ist er? Wo ist dein Herr?«, schrie er und schwenkte seine Krücke, während er hinter Jack herhumpelte. »Ich wünschte, er würde aufhören, dich ›Meister‹ zu nennen«, keuchte Jack völlig außer Atem, während er versuchte, an Höhe zu gewinnen. Sie flogen nur etwa drei Meter über dem Boden. »Können wir nicht höher fliegen?«, rief Beatrice. »Jetzt fängt sie schon wieder an …«, stöhnte Jack. »Die Pistole. Mach ihn damit fertig!«, schrie Travis. »Du weißt doch genau, dass ich mit dem verdammten Ding nicht schießen kann …« »Nein! Schlag ihn damit! Flieg über ihn und hau ihm damit auf den Kopf!« »Einen Versuch ist es wert«, stimmte Jack zu. Er zog eine en-
ge Kurve und flog auf Rodney zu. Doch in diesem Augenblick schwang Rodney noch einmal seine Krücke und traf Jack durch puren Zufall mitten auf den Kopf. Wieder sah Travis, wie sie auf den Boden hinabschossen. Als sie dieses Mal aufschlugen, riss der Schnürsenkel, und für einen kurzen Augenblick fand sich Travis erneut in der Luft, bevor er zwischen einigen Gräsern landete. Der Aufprall verwirrte ihn einige Sekunden, aber als er daran dachte, dass ein erboster Sir Rodney jede Sekunde auf ihn treten konnte, sprang er sofort, wenn auch etwas unsicher, auf die Beine. Außer dem riesigen Ritter sah Travis so gut wie gar nichts, also kletterte er auf einen Stein und spähte durch die Gräser nach unten. Er stellte fest, dass es ihn ein gutes Stück von Jacks Notlandeplatz weggeschleudert hatte. Von den drei Frauen entdeckte er keine Spur. Rodney piesackte Jack mit der Spitze seiner Krücke und schrie: »Komm schon, du elendes Stück fauligen Schleims, sag mir, wo dein Meister ist!« Aber Jack bewegte sich nicht, er schien bewusstlos zu sein. Travis zuckte zusammen, als eine Hand sein Bein berührte. Er schaute nach unten. Es war Sharon, die anscheinend unverletzt war. »Wo sind die anderen?«, fragte er. Sie zuckte mit den Schultern und kletterte ebenfalls auf den Stein. »Wenn du mir nicht verrätst, wo dein schurkischer Meister steckt, dann schlage ich dich zu einem dämonischen Klumpen Brei!«, schrie Rodney und hob die Krücke, um sie auf Jack niedersausen zu lassen. Dann hörte Travis, wie ein dünnes Stimmchen rief: »Rodney, du Schwachkopf, hör auf und hilf mir!« Beatrice. Auch wenn Rodney ihre Stimme nur sehr leise vernommen
haben konnte, so hatte er sie auf jeden Fall gehört, denn er hielt ein und starrte auf Jack hinab. »Häh?«, sagte er. »Ich bin es, Beatrice, du Tropf! Ich bin hier unten und stecke unter Jacks Bein fest. Puh, das stinkt vielleicht.« »Beatrice?«, fragte Rodney ungläubig und beugte sich hinunter. »Seid Ihr es wirklich?« Vorsichtig hob er Jacks Bein an, und Beatrice kroch darunter hervor. »Endlich!«, rief sie. Rodney hob entsetzt die Arme. »Beatrice! O nein, was hat man nur mit Euch gemacht?« »Wonach sieht es wohl aus, du Idiot?« Mit einer dramatischen Geste legte Rodney eine Hand auf seine Stirn. »Wie schrecklich! Welch teuflischer Zauberer hat Euch das angetan? War es Travis, oder dieser andere, Damion?« »Eigentlich war es Sharon«, meinte Beatrice und wischte sich den Schmutz von den Kleidern. »Habt keine Angst, meine Geliebte!«, rief Rodney aus. »Auch wenn meine Reise Jahre dauern und mich durch alle Länder der Erde führen sollte, ich werde das Mittel finden, um diesen Fluch von Euch zu nehmen. Das schwöre ich!« »Mach mal halblang, Rodney, du Idiot. Auf mir liegt kein Fluch …« Aber Rodney hörte ihr gar nicht zu, er war zu sehr in Fahrt. »Ganz gleich welche Gefahren und welche Unbill ich auf meiner Reise ertragen muss, ich werde nicht eher ruhen, bis ich das Mittel gefunden habe, das Euch Eure wahre Größe wiedergibt.« Travis flüsterte Sharon zu: »Schnell, bring mich wieder auf meine wahre Größe.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, ich kann nicht.« »Und warum nicht?«, fragte er.
»Meine magischen Batterien sind sozusagen aufgebraucht. Es hat mich viel Kraft gekostet, uns vier zu schrumpfen. Jetzt brauche ich Zeit, um mich wieder aufzuladen, bevor ich jemanden wachsen lassen kann.« »Und wie lange wird das dauern.« » Oh, etwa eine halbe Stunde.« »Mist.« Rodney war vor Beatrice niedergekniet. »Ich versichere Euch, meine Prinzessin, dass meine Reise erfolgreich sein wird. Fürchtet Euch nicht.« »Das Einzige, was ich momentan zu fürchten habe, bist du, Rodney. Ich weiß, wie tollpatschig du sein kannst.« »Ich werde Euch aufheben, meine Geliebte«, sagte Rodney. »Nein, nein! Du Idiot! Du wirst mich zerquetschen!« Doch trotz ihres Protests griff er nach ihr. Sie wich vor ihm zurück. »Es gibt einen Weg, wie ich mich schneller wieder aufladen könnte«, sagte Sharon. »Aber ich brauchte deine Hilfe dazu.« »Prima. Was soll ich tun?«, fragte Travis. »Du kannst Sex mit mir machen.« »Klingt gut, aber wieso lädt das deine Batterien wieder auf?« »Nun«, räumte sie ein, »während wir es miteinander machen, muss ich mich von deiner Seele ernähren …« »Kommt gar nicht in Frage!« »Ich nehme nur ein bisschen, ich verspreche es. Schließlich stehe ich in deiner Schuld.« Er schüttelte den Kopf. »Ich lasse meine Seele nicht aufessen, vielen Dank.« »Ich knabbere nur ein bisschen daran.«
»Nein«, sagte er bestimmt. Rodney hielt Beatrice in der Hand und hob sie hoch. Sie schrie wie am Spieß, und Travis fühlte sich an die Szene aus King Kong erinnert. »Euch ist natürlich klar, dass wir unsere Hochzeit jetzt verschieben müssen«, sagte Rodney zu Beatrice. »Bei Eurer Größe wäre der Vollzug der Ehe ein ernsthaftes Problem …« Beatrice schrie noch lauter. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Sharon. »Wird dabei meine Seele als Vorspeise serviert?«, fragte Travis misstrauisch. »Nein, nein. Ich könnte gerade noch genug Energie haben, um uns etwas größer zu machen, als wir jetzt sind.« »Wie groß?« »Etwa zwei Zoll größer, höchstens drei.« Travis überlegte kurz. Es war besser als nichts, und vielleicht konnte es ausreichen, die Waffe zu bedienen, wenn er sie fand. »Also gut, versuchen wir es.« Sie sprangen vom Stein herunter. Sharon hielt seine Hand, und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, ragten Sharon und er etwas über die Gräser hinaus. »Danke«, sagte er zu dem Sukkubus. »Du suchst Annabelle, und ich kümmere mich um Rodney. Er ging zu Rodney und Beatrice hinüber und hielt dabei Ausschau nach der Pistole. Vielleicht lag Jack darauf … »Beatrice, hört bitte auf zu schreien«, flehte Rodney, ohne jedoch Gehör zu finden. Er hatte Travis noch immer nicht entdeckt. Jack begann sich zu bewegen. Erleichtert bemerkte Travis, dass er Recht gehabt hatte – der Griff der Pistole kam
unter dem Dämon zum Vorschein. Travis brauchte ihn nur noch zu ergreifen. Das Problem war, dass Rodney im Weg stand. »Rodney, setz die Prinzessin wieder ab«, befahl er so laut er konnte. Rodney drehte sich um und sah ihn ungläubig an. »Was zum …?« Dann erkannte er Travis. »Du bist es! Der Zauberer! Und ebenfalls als Zwerg!« »Ich ziehe den Ausdruck ›Person von beschränkter Größe‹ vor, wenn du nichts dagegen hast. Und jetzt setze Beatrice ab, oder ich verwandle dich in etwas wirklich Furchtbares, wie zum Beispiel einen Pekinesen oder einen Literaturkritiker.« Verblüfft wich Rodney zurück. Hinter ihm rappelte sich Jack hoch. Verzweifelt versuchte Travis ihm ein Zeichen zu geben und hoffte, dass er es auch verstand. »Ich weiß nicht, welchen finsteren Zauber du über meine geliebte Beatrice gesprochen hast«, sagte Rodney, »aber ich werde sie nie mehr gehen lassen.« Mit der freien Hand zog er sein Schwert. Genau in diesem Moment ließ Jack den Griff der Pistole auf Rodneys bandagierten Fuß herabsausen. Das knirschende Geräusch, das ertönte, gefiel Travis recht gut. Noch besser gefiel ihm der darauf folgende Schmerzensschrei Rodneys. Aber als der Ritter einen Satz machte, rutschte ihm das Schwert wieder in die Scheide, und Beatrice wurde regelrecht aus seiner Hand katapultiert. Schreiend segelte sie in einem perfekten Bogen durch die Luft. Travis rannte mit ausgestreckten Armen los, um sie aufzufangen. Er war ein großer Kricketfan, aber beim Schulsport hatte er sich als hoffnungslos unbegabt erwiesen. Nie hatte er
den Ball fangen können. Er hoffte, Beatrice würde ihm vergeben, wenn seine Möglichkeiten dieser Situation nicht entsprachen … Doch zu seiner Freude und großen Überraschung landete sie genau in seinen Händen. Sogleich schwang er sich herum und zur Seite, um dem Aufprall die Wucht zu nehmen. Dann hielt er sie vor sein Gesicht. »Prinzessin, alles klar?« Für jemanden, der nur wenige Zoll groß war, klang ihr Geschrei ziemlich laut, sodass er annahm, dass es ihr gut ging. Rodney schrie ebenfalls. Er hüpfte auf einem Fuß herum und hielt sich den anderen, auf den Jack draufgeschlagen hatte. Das gefiel Travis gar nicht. Bald würde jemand im Lager aufmerksam werden, wenn das nicht schon geschehen war. Vorsichtig setzte er Beatrice auf dem Boden ab und sagte zu ihr: »Warte hier. Rühr dich nicht vor der Stelle.« Dann eilte er zu dem hüpfenden Rodney und ließ sich unterwegs von Jack die Pistole geben. »Alles klar?«, fragte er den Dämon. »Du stellst allen Leuten die gleiche dämliche Frage«, knurrte Jack und rieb sich den Kopf. Travis ging auf Rodney zu und stieß ihm den Lauf der Waffe gegen den Knöchel. Damit erreichte er die gewünschte Reaktion: Rodney gab ein pfeifendes ›Uuumpff!‹ von sich und klappte zusammen, was dem verkleinerten Travis die Gelegenheit gab, ihm mit der Waffe auf den Kopf zu schlagen. Rodney wurde sehr, sehr still. Jack hat Recht, dachte Travis, ich werde langsam richtig gut darin. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er stolz darauf sein sollte, spitzte die Ohren und lauschte auf den Lärm heraneilender Wachtposten; alles blieb ruhig. Aber das bedeute-
te nicht, dass sie nicht vielleicht doch schon unterwegs waren … Jack ging auf den bewusstlosen Rodney zu und trat ihm in die Rippen. »Dieser Bastard! Er hätte mich fast umgebracht!« Dann hörte Travis ein Geräusch und drehte sich um, aber es war nur Sharon. Sie hielt Annabelle in den Armen. »Ich habe sie gefunden. Sie ist ohnmächtig.« Travis blickte hin und sah, dass sich die Brust der winzigen Annabelle hob und senkte. »Annabelle«, sagte er leise, »kannst du mich hören?« Sie antwortete nicht. Er führte Sharon zu der Stelle, an der er Beatrice zurückgelassen hatte, und stellte erleichtert fest, dass sie aufgehört hatte zu schreien. Beim Niederknien sagte er: »Beatrice, Sharon wird Annabelle neben dir auf den Boden legen. Sie ist verletzt. Kannst du nach ihr sehen?« »Natürlich. Aber, Travis – ich habe Angst. Was geschieht jetzt?« Während Sharon Annabelle vorsichtig neben Beatrice legte, räumte Travis ein: »Das weiß ich nicht. Aber hier können wir nicht bleiben.« Er wandte sich an Sharon. »Die magischen Batterien schon aufgeladen?« »Nein«, antwortete sie. »Jetzt dauert es sogar noch länger.« »Wir haben keine Zeit mehr«, sagte er halb zu sich selbst. »Auch wenn sie ihn nicht gehört haben, wird bestimmt bald jemand kommen, um nach ihm zu sehen.« »Ich habe dir doch gesagt, wie ich meine Kräfte wiedergewinnen kann«, meinte Sharon viel sagend. »Tut mir Leid«, erwiderte er. »Aber meine Seele knabberst du nicht an.« Dann erhellte sich sein Gesicht. »Aber ich sehe da eine Alternative.«
KAPITEL 19
»He, Rodney, wach auf, es gibt viel zu tun!« Travis verpasste dem Ritter eine weitere Ohrfeige. Rodneys Augenlider flatterten, und sein Blick wurde klarer. »Hrgrmph«, sagte er. Er sagte das, weil ein Knebel in seinem Mund steckte. Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. »Guter Junge«, meinte Travis. »Ich möchte nur eins von dir: Leg dich hin und denk an England.« Travis stand auf. »Er gehört dir«, sagte er zu Sharon. Sharon fiel über Rodney her wie ein Blitz und machte sich mit verdächtigem Eifer am Hosenbeutel des Ritters zu schaffen. »Hrhggrrhhh«, sagte Rodney, dessen Augen sich entsetzt geweitet hatten. Travis wandte sich ab. »Willst du nicht zusehen?«, fragte Jack. »Natürlich nicht.« »Du bist verrückt. Sharon in Action sollte man sich nicht entgehen lassen.« »Nun sieh dir das an«, hörte Travis die Stimme Sharons. »Das hat ja ungefähr die Größe einer verschrumpelten Erdnuss. Eine echte Herausforderung! Gut, dass ich nicht meine normale Größe habe, sonst …« »Erspar mir die intimen Details, Sharon«, sagte Travis. »Bring es nur so schnell wie möglich hinter dich. Und verschlinge nicht seine ganze Seele. Denk daran, du hast verspro-
chen, nur ein Stückchen davon zu essen.« »Spielverderber«, maulte Sharon. »Uhrgrphfm!« schrie Rodney. Danach hörte man nur noch einige schlürfende Geräusche. Mit einem leichten Schuldgefühl wandte sich Travis ab und ging, um nach Annabelle zu sehen. Er kniete neben dem Mädchen und Beatrice nieder. »Wie geht es ihr?«, fragte er. »Sie hat ein paarmal gestöhnt, aber sie ist noch immer nicht zu sich gekommen. Auf ihrer Stirn prangt eine böse Beule«, antwortete Beatrice. Dann fragte sie: »Was macht Sharon mit Rodney?« »Sie lädt ihre spirituellen Batterien auf«, antwortete Travis, während er sich umsah. Noch immer kein Zeichen von Rodneys Männern. Er blickte zum Schloss hinüber. Auch dort schien sich nichts zu tun, aber ihr Glück konnte nicht mehr lange anhalten. Bald würde es dämmern … »Hört sich doch an, als würde es ihr Spaß machen«, sagte Beatrice. »Rodney anscheinend weniger.« Travis erhob sich. »Es macht ihm wirklich keinen Spaß. Sie isst seine Seele auf.« »Nun, allzu appetitlich dürfte das nicht sein«, meinte Beatrice. Unwillkürlich blickte er zu den beiden hinüber. Sharon wirkte in der Tat so, als mache es ihr Vergnügen. Schnell sah er wieder weg. »Brauchst du noch lange?«, rief er nach hinten. »Bin fast so weit …«, keuchte Sharon. Kurz darauf stieß sie einen durchdringenden Schrei aus. Erschrocken drehte sich Travis wieder zu dem Paar hin. Sharon saß auf Rodney, den
Oberkörper nach hinten gebogen. Der Schrei schien nicht mehr aufzuhören, doch dann ebbte er langsam ab. »Das wär's«, sagte sie und erhob sich von Rodney. Der Ritter stöhnte. Travis hatte Verständnis dafür. »Gut gemacht, Baby!«, jubelte Jack. »Bist du wieder voll aufgeladen?«, fragte Travis. »Bis zum Rand«, antwortete der Sukkubus und leckte sich die Lippen. Langsam begann sie wieder zu wachsen, bis sie ihre vorherige Größe erreicht hatte. »Siehst du?« »Dann lasst uns keine Zeit verlieren … Jack, fessle ihn an den Beinen. Dann knüpfst du ein neues Zaumzeug.« Jack schüttelte energisch den Kopf. »Keine Chance. Euch und dazu noch die Pistole kann ich wirklich nicht tragen. Wir kommen vielleicht fünfzig Meter weit, aber dann muss ich wieder runter. Es geht einfach nicht.« »Es ginge, wenn du größer wärst«, sagte Travis. Er wandte sich an Sharon. »Kannst du ihn doppelt so groß machen, wie er jetzt ist?« »Ich denke schon«, sagte Sharon. »Dann mach es.« »Von mir aus«, meinte Jack, als Sharon seine Hand ergriff. Sie sah ihn mit konzentriert gefurchter Stirn an, und plötzlich begann Jack zu wachsen. Schon bald war er fast so groß wie Travis. Dann sah Sharon hoch. »Oh, oh«, sagte sie. »Da kommt Ärger.« »Was für Ärger?«, fragte Travis besorgt. »Echter Ärger … aus dem Schloss … es fliegt auf uns zu … du benutzt besser deine Waffe, Travis.« Dann hörte er es auch. Das Schlagen mächtiger Flügel. Aber
noch sah er nichts. Die Pistole … Er hatte sie neben Annabelle und Beatrice liegen lassen. Schnell lief er darauf zu und hob sie hoch. Das Flügelschlagen war sehr laut geworden. Er blickte nach oben und sah eine verschwommene dunkle Form, die auf sie zuflog, sah riesige, fledermausartige Flügel, Klauen und einen langen, schmalen Kopf mit einem gekrümmten Schnabel. Darüber glühte ein rotes Augenpaar. Er schoss. Der Rückstoß warf ihn fast von seinen kleinen Beinen, aber dafür wurde er durch einen schrecklichen Schmerzensschrei belohnt. Das riesige, aber irgendwie ungeschlachte Wesen versuchte davonzufliegen, kam aber nur bis zum Wassergraben, wo es senkrecht in die Tiefe stürzte. Ein lautes, unheimliches Platschen, dann war es still. »Ich hoffe, das war Valerie«, sagte Travis. »Nein, es war Damion«, erklärte Sharon fröhlich. »Ich glaube, jetzt hast du ihn tatsächlich erwischt. Ich kann seine Aura nicht mehr wahrnehmen.« »Gut. Aber jetzt müssen wir wirklich machen, dass wir hier fortkommen. Der Schuss hat sicherlich alle aufgeschreckt. Jack, beeil dich mit dem Zaumzeug.« Schon hörte er Schreie aus dem Lager. »Sharon, komm her und schrumpfe uns wieder auf vier Zoll.« Er legte die Waffe auf den Boden, und Sharon lief zu ihm. Bald hatten sie die gleiche Größe wie Annabelle und Beatrice. Aus dem Lager kamen Soldaten gelaufen. Jemand rief: »Sir Rodney, wo seid Ihr?« »Pfrbmpf!« Jack flog herbei und landete neben dem Quartett. Er wirkte ziemlich groß. »Es ist improvisiert, aber es sollte halten«, sagte
er, zog an seinem neuen Zaumzeug und kniete sich nieder, damit alle auf seinen Rücken klettern konnten. Travis und Sharon mussten Annabelle helfen. Sie war zwar nicht mehr bewusstlos, aber noch immer äußerst verwirrt, und bekam kaum mit, was vor sich ging. Travis nahm seine alte Position auf Jacks Schulter ein. Die Wachen hatten Rodney entdeckt. »Sir Rodney! Was ist mit Euch?«, fragte der Erste, der ihn erreichte. »Prztpftrrl!«, entgegnete Rodney zornig und versuchte mit den gefesselten Beinen in Jacks Richtung zu deuten. »Nimm die Pistole!«, befahl Travis. Jack gehorchte und schraubte sich in die Luft. Rodneys Männer entdeckten ihn. »Seht! Dort drüben!«, rief einer von ihnen. »Ein Dämon!«, rief ein anderer. »Erschieß ihn!«, rief ein dritter Mann. Travis beschloss, ihn von seiner Weihnachtsgrußliste zu streichen. Der Pfeil einer Armbrust strich pfeifend an Jack vorbei, der jedoch schnell an Geschwindigkeit und Höhe gewann. Die Vergrößerung hatte ihren Zweck erfüllt – trotz des Gewichts der Pistole flog er nun viel leichter. Zwei weitere Pfeile zischten an ihm vorbei, verfehlten ihr Ziel allerdings um einiges. Dann befanden sie sich außer Schussweite … Als sie über die Stadt flogen, ging gerade die Sonne auf. Nach dem kühlen Flug durch die Nacht genoss Travis die wärmenden Strahlen auf seiner Haut. »Geschafft …«, japste Jack. »Und nicht zu früh. Ich kann nicht mehr …« Travis dirigierte Jack zu dem Stall, wo sie Whiplash zurückgelassen hatten, und Jack flog durch eines der Fenster und
landete im Stroh. Travis und die Frauen kletterten von seinem Rücken, und Sharon zauberte sie alle wieder zur alten Größe zurück. Als sie fertig war, ließ sich der Sukkubus erschöpft ins Stroh sinken. »Ich bin fix und fertig. In den nächsten Stunden bittet ihr mich besser um nichts.« Erfreut stellte Travis fest, dass Whiplash und Sir Rodneys Pferd noch im Stall standen. Er hatte befürchtet, der Eigentümer könnte sie verkauft haben, nachdem er und Beatrice nicht zurückgekommen waren. Schnell ging er auf Whiplash zu und klopfte dem Pferd auf den Rücken. »Hallo, Whiplash, alter Freund. Freust du dich, mich zu sehen?« Whiplash drehte den Kopf, sah Travis an und gab einen Laut von sich, der wahrscheinlich das Äquivalent eines tiefen Seufzers war. »Also, hört zu, wir müssen jetzt ein paar Dinge regeln. Erst einmal brauchen wir mehr Pferde. Ich werfe den Stallbesitzer aus dem Bett und kaufe ihm noch zwei ab …« Er sah zu Annabelle hinüber, die sich offensichtlich etwas erholt hatte, auch wenn sie noch wacklig auf den Beinen schien. »Kannst du reiten?«, fragte er. Sie nickte. »Gut. Beatrice, ich möchte, dass du mit Annabelle ins Wirtshaus gehst und Vorräte kaufst – so viel ihr tragen könnt –, und bringt auch etwas Wein mit.« Er zählte einige Goldmünzen in ihre Hand. Sie sah das Geld zweifelnd an. »Ich war noch nie beim Einkaufen«, sagte sie. »Glaub mir, Einkaufen ist wie für dich geschaffen, Prinzessin. Danach müssen wir uns überlegen, wohin wir überhaupt wollen. Wahrscheinlich sind uns mittlerweile zwei Armeen auf den Fersen. Wer weiß, vielleicht haben sich Rodney und Valerie verbündet.«
»Sie würden ein wunderschönes Paar abgeben«, knurrte Jack. »Ich kenne einen Ort, an dem wir uns verstecken können«, sagte Beatrice. »Ein Ort, an den sie uns niemals folgen werden.« »Wirklich?«, fragte Travis. »Und was ist das für ein Ort?« »Der Zauberwald.« »Der Zauberwald?«, wiederholte er ungläubig. »Ja, Zauberwald. Hörst du schlecht?«, fragte Beatrice. »Dorthin folgen sie uns nicht – es ist das Reich der Grünen Königin.« »Die Grüne Königin? Heißt sie vielleicht Anita Roddick und gehören ihr zufällig die Body Shops?« »Was? Nein, sie heißt schlicht die Grüne Königin, und sie ist meine lokale Lieblingsgöttin. Ich bete zu ihr. Sie ist wunderbar.« »Verstehe«, sagte Travis, auch wenn das eigentlich nicht der Wahrheit entsprach. »Und warum können uns Valerie und Rodney, von ihren Armeen ganz zu schweigen, nicht in den Wald der Grünen Königin folgen?« »Sie würde es nicht erlauben. Es wäre eine Verletzung ihres Herrschaftsgebietes.« »Und was ist, wenn sich Rodney und Valerie einen Dreck darum scheren und uns trotzdem folgen?« »Dann würden sie vom Zauberwald vernichtet. Er kann zur tödlichen Falle werden.« »Hmmm«, meinte er zweifelnd. »Und wieso wird der Wald uns in Ruhe lassen?« »Weil wir uns der Gnade der Grünen Königin anheimgeben. Außerdem wird sie mich als eine ihrer größten Verehrerinnen erkennen.« »Wieso, verteilt sie Mitgliedsausweise?« Beatrice sah ihn stirnrunzelnd an. »Was?«
»Woher will sie wissen, dass du eine ihrer Verehrerinnen bist?« »Sie weiß es einfach, Dummchen«, entgegnete Beatrice ungeduldig. »Sie ist eine Göttin, um Himmels willen!« Travis dachte nach. Dann fragte er. »Wie weit ist dieser Wald von hier entfernt?« »Etwa einen Drei-Tage-Ritt.« »Und du kennst den Weg?« »Ja.« Er seufzte. »Nun gut, warum sollen wir es nicht einfach wagen. Hoffen wir nur, dass die Grüne Königin so mächtig ist, wie du sagst.« »Oh, sie ist wirklich mächtig«, versicherte Beatrice. »Du wirst schon sehen.« »Sieht mir nicht allzu zaubermäßig aus«, sagte Travis enttäuscht. »Eher wie ein ganz normaler Wald …« Sie standen vor den Ausläufern des Zauberwalds, wenn man Beatrice glauben durfte. »Lass dich nur nicht täuschen«, mahnte sie streng. »Dies ist kein gewöhnlicher Wald. Es ist der Wald.« »Es sei denn, du hast dich unterwegs irgendwie vertan, und wir stehen vor einem ganz anderen Gehölz.« »Das habe ich nicht!«, protestierte sie. »Das ist der Zauberwald.« »Schon gut, schon gut, geh nicht gleich in die Luft.« Er wandte sich im Sattel um, spähte über die hügelige Landschaft, die hinter ihnen lag, sah aber kein Zeichen von den drei Reitern mehr, die sie in den beiden letzten Tagen verfolgt hatten. Kurz
entschlossen stieg er ab und begann, Whiplash in den Wald zu führen. In den Wald. »Kommt«, sagte er zu den anderen. »Selbst wenn das hier nicht der Zauberwald ist, können wir die bösen Buben vielleicht trotzdem abschütteln …« »Warte!«, rief Beatrice. »Du kannst da nicht einfach so hineingehen. Wir müssen der Grünen Königin unsere Referenz erweisen!« »Schön!«, rief er über die Schulter zurück. »Du stellst mich vor. Und sag ihr, dass ich verspreche, für den Rest meines Lebens im Body Shop einzukaufen.« Er wurde dieses mystische Gesabber langsam leid. Vorsichtig ging er tiefer in den Wald hinein … … und fand sich plötzlich an einem Tisch in einem Restaurant wieder. Heather saß ihm gegenüber. »Was ist eigentlich heute Abend mit dir los, Travis?«, fragte sie. »Ich wette, du hast kein einziges Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe.« Er sah sich um. Diesen Ort kannte er. Es war das indische Restaurant Red Fort in Soho in London. Er war wieder zu Hause.
KAPITEL 20
Travis konnte es einfach nicht glauben. Er war wieder in seiner eigenen Welt! Aber wie …? Er hatte diesen blöden Schlüssel doch nicht gefunden. Es sei denn … es sei denn, der Zauberwald selbst war der Schlüssel. Verwirrt ließ er seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Heather sah ihn stirnrunzelnd an. Sie trug eine weiße Bluse und eine schwarze Wildlederjacke. Er blickte an sich herab. Er trug Anzug mit Krawatte. Seinen Lieblingsanzug – den dunkelblauen. Als er sich übers Gesicht strich – keine Bartstoppeln. »Entschuldige«, sagte er zu ihr. »Ich war etwas abwesend.« »Du bist schon seit deiner Ankunft ein einziges Ärgernis«, fauchte sie wütend. »Ich wette, das hat irgendwas mit Prenderghast zu tun.« Travis fuhr zusammen. »Prenderghast? Was weißt du von Prenderghast?« »Du hast mir von ihm erzählt, du Depp. Seit Tagen machst du dieses Theater um dein Interview mit dem großen Prenderghast, und dann willst du mir nicht mal erzählen, wie es heute Nachmittag gelaufen ist.« »Heute … Nachmittag?« In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. »Ähm, Heather, die Frage klingt vielleicht dämlich, aber welchen Tag haben wir heute?« Sie sah ihn verständnislos an. »Es ist eine dämliche Frage. Dienstag natürlich.«
»Nein, nein, ich meine das Datum.« »Du willst das Datum wissen? Fühlst du dich gut, Travis? Du bist doch nicht etwa vor ein Auto gelaufen oder so etwas?« »Nein. Und ich bin auch nicht von meinem verdammten Pferd gefallen.« »Deinem Pferd? Du hast doch gar kein Pferd.« »Jetzt nicht mehr, Gott sei Dank. Aber sag mir bitte, welches Datum wir haben. Tu mir den Gefallen. Ich habe meine Gründe.« »Wenn du meinst. Also, es ist der 12. Januar. Willst du auch das Jahr wissen?« »Der 12. Januar?«, wiederholte er nachdenklich. Der gleiche Tag, an dem er Prenderghast besucht hatte. Aber auf Samella waren Monate vergangen … wie konnte das angehen? Hatte Prenderghast ihn hypnotisiert? Alles hatte so echt gewirkt … Er konnte nicht glauben, dass alles nur in seinem Kopf stattgefunden haben sollte. »Du sagst schon wieder nichts«, schalt ihn Heather. »Und du hast schon wieder diesen komischen Blick.« Er riss sich zusammen. »Entschuldigung. Aber mir ist heute etwas sehr Seltsames passiert. Und Prenderghast hat damit zu tun … glaube ich.« »Erzähl's mir«, bat sie. »Das werde ich, ich muss nur mal eben kurz wohin. Entschuldige …« Er stand auf und ging zur Herrentoilette. Drinnen stellte er sich vor den Spiegel und musterte sich genau. Dann klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er versuchte, alles zu verstehen … und versagte kläglich. Was, wenn doch alles echt gewesen wäre? Was, wenn Prenderghast wirklich eine Art
Zauberer war, der ihn auf eine ferne Welt verbannt und erst jetzt zurückgeholt hatte? Das würde bedeuten, dass er Beatrice, Annabelle und Sharon im Stich gelassen hatte, im Augenblick größter Gefahr. Aber Beatrice hatte ja gesagt, dass sie im Zauberwald vor Rodney und Valerie sicher seien, also brauchte er deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben. Doch der Gedanke, dass er Beatrice nie mehr wiedersehen würde … Er seufzte und öffnete eine der Klotüren. Bewundernd betrachtete er die Toilette und betätigte fast liebevoll die Spülung. Ja, er war wirklich zu Hause. Im Restaurant zurück, setzte er sich an seinen Tisch. »Also«, sagte Heather ungeduldig. »Ich höre.« Er überlegte gerade, wie er am besten anfangen sollte, als ein Kellner an den Tisch trat. »Möchten sie bestellen, Sir?« Sein Blick fiel auf die Speisekarte, die vor ihm lag. Falls er sie gelesen hatte, konnte er sich nicht daran erinnern. Er sagte, dass sie sich noch nicht entschieden hätten, und der Kellner verschwand wieder. »Was denn nun? Ich warte. Und ich werde langsam hungrig, also mach's kurz«, sagte Heather. Kurz? Travis atmete tief durch. »Also, alles begann in Prenderghasts Büro. Ich konfrontierte ihn mit meinen Vorwürfen, und er wurde sehr wütend …« In diesem Augenblick tippte ihm jemand auf die Schulter. Der Kellner etwa? Er drehte sich um, weil er dem impertinenten Kerl mitteilen wollte, dass sie noch immer nicht die Absicht hatten, zu bestellen … dann sah er, dass es sich nicht um den Kellner handelte, sondern um – Beatrice. »Komm schon, Travis«, sagte sie. »Du musst mit mir zurück-
kommen.« »Beatrice!«, schrie er auf. »Du kannst nicht hier sein!« »Nun, ich bin's.« Heather starrte Beatrice fassungslos an. »Travis, wer ist das? Und warum ist sie angezogen wie die Hauptdarstellerin in einem Robin Hood-Film?« Plötzlich tauchte Sharon am Tisch auf, wie üblich atemberaubend nackt. Ein Raunen ging durch das Restaurant. »Sharon …«, sagte Travis hilflos. »Beatrice hat Recht, Travis, du musst mit uns zurückkommen.« Ein Kellner eilte auf Sharon zu, um ihre Blöße mit einem Jackett zu bedecken. Mit einem gezielten Schlag streckte sie ihn nieder. Das Raunen schwoll an. »Travis, was geht hier vor?«, fragte Heather. »Wenn ich das nur wüsste«, stöhnte er. Er schloss die Augen und hoffte, dass alles verschwinden würde. Sein Wunsch wurde erfüllt. »Travis, geht's dir gut?« Er öffnete die Augen wieder. Das Restaurant mitsamt Heather war verschwunden. Es war helllichter Tag. Er saß auf dem Boden, in den Ausläufern des Zauberwalds. Beatrice und Sharon beugten sich über ihn. »Ich war wieder zu Hause«, klagte er. »Und ihr beide habt mich zurückgebracht. Warum? Warum habt ihr mich nicht dagelassen, wo ich hingehöre?« »Du weißt doch, dass du nicht zurückkannst, Schlauberger«, sagte Jack, der auf Whiplashs Kopf hockte. »Du kannst erst zurück, wenn du den Schlüssel gefunden hast.«
»Du bist auch nirgendwo gewesen«, sagte Beatrice. »Als Sharon und ich dich fanden, lagst du in einer Art Trance im Gebüsch. Wir mussten dich rausziehen …« »Nein. Ich war wirklich wieder in der echten Welt. Auf einer Toilette! Ihr habt doch das Restaurant selbst gesehen. Du und Sharon, ihr wart doch da.« »Als wir dich packten, wurden wir kurzzeitig Teil deiner Illusion, das ist alles«, sagte Beatrice. »Der Zauberwald hat dich bestraft. Du hast der Grünen Königin nicht den gebührenden Respekt gezollt. Wenn wir dich nicht gerettet hätten, wärest du in deiner eigenen Illusion versunken und schließlich entkräftet gestorben.« »Oh …«, sagte Travis ernüchtert. Aber es hatte alles so echt gewirkt … das Wasserklo, Heather … Annabelle, die auf ihrem Pferd saß, sagte: »Wir können nicht länger hier bleiben. Seht.« Sie deutete auf die Hügel hinter ihnen. Eine lange Reihe Berittener war dort aufgetaucht, Soldaten, die nicht mehr weit entfernt waren. Sofort fiel Beatrice auf die Knie, dem Wald zugewandt. »O Große Grüne Königin, höre das Flehen einer deiner treuesten Verehrerinnen. Wir bitten dich, meinen Begleitern und mir in deinem Zauberwald Schutz zu gewähren. Wenn du uns aufnimmst, versprechen wir dir, alles zu tun, was du sagst.« Wirklich alles?, fragte sich Travis besorgt. Beatrice erhob sich. »Kommt.« Auch Travis stand auf. »War's das? Hast du schon eine Antwort bekommen?« »Nicht in Worten«, gab Beatrice zu, während sie ihr Pferd in den Wald führte. »Aber wenn unsere Bitte abgelehnt wurde, so
werden wir das bald herausfinden.« Travis zögerte kurz, bevor er ihr folgte. Er fragte sich, ob er sich gleich erneut im Red Fort-Restaurant wiederfinden würde. »Ich hoffe, die Grüne Königin hat nichts gegen Dämonen«, meinte Jack. »Und gegen Sukkubi«, fügte Sharon hinzu. »Oh, sie ist sehr tolerant, was anderer Leute Meinungen betrifft, solange man ihr den gebührenden Respekt entgegenbringt.« »Und alles tut, was sie sagt«, murmelte Travis. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto deutlicher wurde Travis, wie sehr er mit seiner ersten Einschätzung danebengelegen hatte. Der Wald hatte eindeutig etwas sehr Zauberhaftes. Die Baumstämme wuchsen nicht gerade, sondern erinnerten mit ihren Wölbungen und Kurven an Frauenkörper. Ein süßer, schwerer und leicht erotischer Duft lag in der Luft. Travis meinte aus den Augenwinkeln Bewegungen wahrzunehmen, aber jedes Mal, wenn er den Kopf drehte, war alles ruhig. Manchmal glaubte er Mädchengelächter zu hören … weit entfernt, dann wieder überraschend nah, sodass er zusammenzuckte, auch wenn immer noch nichts zu sehen war. »Waldnymphen«, erklärte Beatrice, als er sie danach fragte. »Dryaden und Feen. Sie dienen der Grünen Königin.« »Schüchterne kleine Dinger, nicht wahr?«, fragte Travis. »Laufen die Kleinen nicht nackt herum?,« erkundigte sich Jack. »Normalerweise schon.« »HALLO, IHR HÜBSCHEN, KOMMT DOCH MAL HER
ZU EUREM ONKEL JACK!« »Still!«, ermahnte ihn Beatrice. »Tu das nicht. Wenn du die Wesen beleidigst, die den Wald bevölkern, dann könnte das für uns alle sehr gefährlich werden.« In diesem Augenblick hörten sie, wie etwas sehr Großes und Schweres durch das Unterholz brach. Es kam genau auf sie zu. »Hoppla«, sagte Jack. Sie blieben stehen und warteten. Die Geräusche wurden lauter. Travis nahm seine Waffe und entsicherte sie. »Wenn wir diese Sache heil überstehen, dann tanze ich auf deiner Schachtel Marlboro«, flüsterte er wütend Jack zu. Sie sahen eine Gestalt, die sich ihnen durch die Bäume näherte. Eine riesige Gestalt. Als sie dichter herankam, konnte Travis Einzelheiten ausmachen. »Verdammte Scheiße«, flüsterte er. Die Gestalt ähnelte einem Mann, wenn auch einem über drei Meter großen Mann. Und eigentlich war es auch gar kein Mann. Sein Körper bestand aus Zweigen, aus Rinde, aus Blättern und Pflanzen. Die riesigen Hände und Füße waren Baumwurzeln, und sein gewaltiger Kopf wurde von einer grotesken, lüstern grinsenden Holzmaske verdeckt. Ein paar Meter vor ihnen blieb er stehen und sah sie schweigend an. Travis bezweifelte ernsthaft, dass seine Pistole diesem Ding irgendeinen Schaden zufügen konnte. Höchstens so viel, als würde man in einen Baum schießen. Dann sah er, dass sich ein Vogel auf der Schulter des Wesens ein Nest gebaut hatte. Zu Travis' Überraschung trat Beatrice vor und sagte mit lauter, nur ganz leicht zitternder Stimme: »Wir entschuldigen uns für unser Eindringen und für jede Verfehlung, die wir begangen
haben. Doch sind wir Diener der Grünen Königin. Und suchen ihren Schutz.« Das Ding aus dem Gartencenter, wie Travis es für sich nannte, schwieg. Glücklicherweise blieb es aber stehen. »Wir empfehlen uns deiner Gnade«, sagte Beatrice. Schweigen. »Es sieht aus wie das Monster, das wir '79 für Das Ding aus dem Sumpf gebaut haben«, flüsterte Jack. »Nur mit einem viel größeren Budget.« »Halt den Mund, Jack«, flüsterte Travis. »Ähm«, fuhr Beatrice fort. »Du kannst uns nicht vielleicht den Weg zum Palast der Grünen Königin zeigen? Bitte!« Eine Zeit lang schien es, als würde der Gigant auch dieses Mal nicht antworten, aber dann sprach er plötzlich. Seine Stimme klang, als würde man zwei Holzstämme gegeneinander reiben. »Das kostet aber.« »Wie bitte?«, fragte Beatrice überrascht. »Wie viel denn?« »Zehn Goldstücke«, schnarrte das Ding. »Was?«, rief Jack. »Das ist ja Straßenraub.« »Halt den Mund, Jack!«, sagte Travis. »Gib sie ihm, Travis«, bat Beatrice. »Zehn Goldstücke für eine lausige Wegbeschreibung! Das ist doch Wucher!«, rief Jack. »Halt den Mund, Jack!«, schrien Travis, Beatrice, Annabelle und Sharon. Travis holte Prinz Valeries Geldbeutel hervor und zählte zehn Geldstücke ab. Nervös näherte er sich dem Wesen. »Hier …« Die Kreatur streckte eine riesige, knorrige Hand aus. Travis
ließ die Münzen hineinfallen. Mit einem knarrenden Geräusch schlossen sich die Finger um das Gold. »Schönen Dank«, sagte das Ding und wies mit dem anderen Arm in den Wald. »Ihr bleibt auf diesem Weg, bis ihr an den Großen Stehenden Stein kommt. Da biegt ihr scharf links ab, und nach einer halben Meile seht ihr dann schon den Palast der Königin. Ihr könnt ihn nicht verfehlen.« Damit drehte sich der Riese um und schritt durch das Unterholz davon. Als er außer Sichtweite war, murmelte Jack: »Und dafür zehn Geldstücke. Was für ein Abzocker.« »Wir können froh sein, dass er uns nicht in Stücke gerissen hat«, fuhr Travis ihn zornig an. »Falls wir noch weitere Bewohner dieses Waldes treffen, dann hältst du deine dämliche Zunge besser im Zaum, bevor sie dir rausgerissen wird.« Doch auf dem Weg zum Großen Stehenden Stein begegneten sie niemandem, auch wenn Travis immer wieder huschende Schatten links und rechts von sich sah und Stimmen hörte. Der Stehende Stein erwies sich als riesiger schwarzer Fels, der etwa zehn Meter in die Höhe ragte. Er erinnerte Travis an die Steine von Stonehenge, nur dass dieser hier viel größer war. Als er sich näherte, hörte er ein Summen und hatte das Gefühl, als sei die Luft elektrisch aufgeladen. »Geh nicht zu nahe heran«, warnte Beatrice ihn. »Er liefert die Hauptenergie für den Zauberwald. Wenn ein Sterblicher wie du ihn berühren würde, könnte es sein, dass du vor bloßer Lust stirbst.« Travis blieb stehen. »Vielleicht ein andermal …« Sie folgten den Anweisungen des gigantischen Baummannes und wandten sich nach links. Wie er gesagt hatte, erblickten sie
ihn nach etwa einer halben Meile … Den Palast der Grünen Königin.
KAPITEL 21
Der Palast der Grünen Königin war ein Baum. Travis schätzte den Durchmesser des Stammes auf wohl hundert Meter. Wie hoch der Baum war, wagte er sich nicht einmal vorzustellen, denn das Netz aus Zweigen und Ästen, das dichte Blattwerk verhinderten einen Blick zur Spitze. Eigentlich hätte man diesen riesigen Baum schon von weitem sehen müssen. Bei ihrem Ritt auf den Wald zu war er ihnen jedoch verborgen geblieben, durch Zauberei, wie Travis annahm. »Er ist wunderbar«, flüsterte Beatrice ehrfürchtig. »Ein echter Hammer von einem Baum«, kommentierte Jack. »Ich würde im Herbst nicht gerne die Blätter zusammenfegen.« »Okay, jetzt sind wir hier. Was nun?«, fragte Travis. Plötzlich hörten sie Gelächter, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Travis und die anderen schauten sich um und sahen, dass sie umzingelt waren – umzingelt von einer Gruppe größtenteils nackter junger Frauen in den verschiedensten Größen. Einige trugen Kleider aus einem seideartigen, durchsichtigen Material. Einige hatten Flügel, die meisten hielten Speere in den Händen. »Mir ist, als wäre ich tot und im Sexhimmel gelandet«, sagte Jack. »Bitte Jack, keine weiteren Kommentare«, ermahnte ihn Travis. »Die Speere sehen scharf aus.« »Die Waldnymphen …«, flötete Beatrice. »Aber wo ist ihre
Herrin?« »Hier, meine Tochter.« Sie sahen wieder zum Baum hin. Wie aus dem Nichts war plötzlich die Grüne Königin davor aufgetaucht. Sie war von großer, Ehrfurcht gebietender Gestalt, mit hageren, aber wunderschönen Gesichtszügen. Travis sah, warum sie die Grüne Königin genannt wurde; sie trug ein smaragdgrünes Gewand, einen Umhang aus grünen Blättern, hatte leuchtende grüne Augen und grüne Fingernägel. Selbst ihr schulterlanges Haar war grün. Außerdem trug sie einen gedrechselten Stab, aus dem grüne Blätter wuchsen. Es hätte viel schlimmer sein können, dachte Travis. Bei der Grünen Königin hätte es sich ja auch um eine seekranke Elizabeth II. handeln können. Beatrice sank auf die Knie und neigte ihren Kopf. »Meine Herrin …« Die Grüne Königin kam auf sie zu. Travis sah, dass in ihren Fußabdrücken auf der Erde kleine Pflanzen emporsprossen. Er nahm sich vor, ihr nicht die Hand zu geben. Mit leichtem Unbehagen sah er zu, wie sie ihre Hand auf Beatrices Hinterkopf legte. »Gesegnet seist du, Tochter. Jetzt erhebe dich.« Als sie ihre Hand zurückzog, stellte Travis erleichtert fest, dass keinerlei Blätter oder kleine Zweige Beatrices dichtes schwarzes Haar verunzierten. Während Beatrice mit gesenktem Haupt dastand, begrüßte die Grüne Königin sie nacheinander. »Willkommen, Annabelle, Sharon … hi, Travis, was läuft denn so?«, hauchte sie rauchigzarahleandrös und erwischte ihn damit völlig auf dem falschen Fuß. »Wie bitte?« Sie lachte, und ihr Blätterumhang raschelte. »Ich weiß, woher
du kommst. Ich habe der Erde sogar schon selbst einen Besuch abgestattet, auch wenn das sehr lange her ist.« Sie seufzte. »Es ist lange her, seit ich einen … Erdenmann getroffen habe.« »He, ich bin auch ein Erdenmann«, meldete sich Jack. Sie sah zu ihm hinunter. »Du warst mal einer.« »Na schön, ich hatte eben ein bisschen Pech. So kann's laufen.« Sie legte den Finger aufs Kinn und sah ihn nachdenklich an. Plötzlich tippte sie ihm mit der Spitze ihres Stabes auf die Stirn, und Jack war verschwunden. An seiner Stelle stand ein untersetzter Mann in den Vierzigern mit Halbglatze. Er trug karierte Hosen, ein rostfarbenes Jackett und ein schwarzes Hemd. Auf seiner Nase saß eine Sonnenbrille. Er sah an sich herab, klopfte sich auf den Bauch und sagte mit einer etwas tieferen Version von Jacks Stimme: »Hey, ich bin wieder ich!« »Ich kann den Fluch leider nur zeitweilig von dir nehmen«, sagte die Grüne Königin zu ihm. »Sobald du mein Reich verlässt, wirst du wieder zum Dämon.« »Und wenn schon! So ist es großartig. Besten Dank, Queenie.« »Eure Hoheit für dich, Jack«, entgegnete sie kühl. »Sicher, sicher. Wie Sie wollen, Eure Hoheit.« Jack holte eine Schachtel Marlboro aus der Jackentasche und steckte sich leicht zitternd mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette an. Die Königin machte eine Handbewegung, und die Zigarette verschwand. »Und dies hier ist Nichtraucherzone«, erklärte sie ihm.
Jack grinste dümmlich. »Aber selbstverständlich, Eure Hoheit. Tut mir Leid.« »Also«, sagte die Grüne Königin, »gehen wir in meinen Palast. Ich könnte mir vorstellen, dass euch eine kleine Stärkung willkommen wäre.« Sie wandte sich dem Großen Baum zu und deutete mit ihrem Stab darauf. Im unteren Teil des Stammes tat sich eine Öffnung auf. Wie ein auf die Seite gekipptes Auge, dachte Travis. Nein, mehr wie eine Vagina … Die Grüne Königin sagte »Kommt« und schritt durch die Öffnung. Travis und die anderen folgten ihr, wobei sie darauf achteten, nicht auf die kleinen Pflanzen zu treten, die in den Fußstapfen der Königin wuchsen. Travis fiel auf, dass das Innere des Großen Baumes hohl zu sein schien, oder dass sich vielmehr ein großer Raum darin auftat, um den sich spiralenförmig mehrere Ebenen, durch sanft ansteigende Rampen verbunden, nach oben wanden. Überall sah man Waldnymphen, von denen einige gingen, andere flogen – Flügel schienen eine Zugabe auf besonderen Wunsch zu sein. Als Travis aufwärts in den riesigen Raum blickte, wurde ihm fast schwindelig. »Wow!«, meinte Jack. »Das ist ja noch beeindruckender als das Los Angeles Hilton.« »Ich schätze, dass ihr wissen wollt, was eure Feinde machen, bevor ihr eine Stärkung zu euch nehmt. Folgt mir.« In der Mitte des Bodens, der sich im Schatten verlor, befand sich ein Teich. »Seht her«, sagte sie und tauchte die Spitze ihres Stabes in das Wasser. Farben huschten über die Oberfläche, und nach kurzer Zeit sahen sie ein Panoramabild der Stelle, von der
aus sie den Wald betreten hatten. Eine große Zahl von Männern auf Pferden hatte sich auf dem Hügel versammelt. Wie eine Filmkamera zoomte das Bild im Teich nun auf die erste Reihe der Männer. Zwei fing sie ein – Sir Rodney und Prinz Valerie. Wie von Travis befürchtet, hatten sich ihre beiden Feinde zusammengetan. »Kann man auch den Ton bei diesem Wunderding einschalten … Eure Hoheit?«, fragte Jack. »Natürlich.« »… und bin ich immer noch der Meinung, wir sollten einfach hineinreiten«, hörten sie Sir Rodney sagen. »Wir haben genug Männer.« »Nein. Ihr kennt die Grüne Königin nicht so gut wie ich. Sie und dieser Wald verfügen über starke Zauberkräfte. Keiner von uns würde je ihren Palast erreichen. Ich bestehe darauf, dass wir warten, bis mein Zauberer eingetroffen ist. Dann können wir Magie mit Magie bekämpfen.« »Mist«, sagte Sharon. »Damion ist also noch am Leben.« »Wann erwartet Ihr ihn?«, fragte Sir Rodney den Prinzen. »Nicht vor morgen. In seinem Zustand fällt ihm das Reisen nicht leicht. In der Zwischenzeit können wir genauso gut ein Lager aufschlagen.« Die Grüne Königin nahm ihren Stab aus dem Wasser, und das Bild verschwand. »Nun, hört sich so an, als hättest du Damion ziemlich schwer verletzt«, sagte Sharon zu Travis. »Aber er lebt noch, und das ist schlecht.« »Ich weiß wenig über diesen Damion«, sagte die Grüne Königin. »Er soll noch sehr jung sein.«
»Jung, aber mächtig«, sagte Sharon. »Und er ist extrem hinterhältig und böse.« »Keine Bange«, beruhigte die Grüne Königin sie. »Hier bist du in Sicherheit.« »Ich hoffe«, sagte Sharon. Völlig überzeugt klang sie nicht. Travis teilte ihr Unbehagen. »Sollten wir nicht lieber sofort etwas unternehmen? Während der Nacht ihr Lager angreifen und sie in alle vier Winde zerstreuen oder so?« Die Grüne Königin schüttelte den Kopf. »Bevor sie den Wald nicht betreten haben, kann ich nichts tun. Aber vergesst sie einstweilen. Jetzt müsst ihr essen, trinken und euch ausruhen.« »Das ist doch mal ein Wort, Köni … Eure Hoheit«, sagte Jack. Eine Stunde später lag Travis auf einem Sofa aus weichem grünem Moos. In der Hand hielt er einen Becher mit starkem Cider. Es war bereits der dritte. Gerade hatten sie eine ausgezeichnete Mahlzeit beendet – rein vegetarisch –, die ihnen von wunderschönen Nymphen serviert worden war. Danach hatte die Königin sie eingeladen, sich in dieser Ruhekammer zu entspannen, die, wie sie ihnen verriet, während des Mahls extra für sie hergerichtet worden war. »So gefällt mir das Leben«, äußerte sich Jack, der ebenfalls auf einem Moossofa lag. »Dank dir, Baby …« Gnädig winkte er einer Nymphe zu, die ihm eine Hand voll Trauben anbot. Er nahm die Trauben, zwinkerte ihr zu und fragte: »Na, schon was vor heute Abend?« Die Nymphe kicherte und lief davon. »O Mann, sieh dir nur ihren Arsch an«, seufzte Jack und
stierte auf das Hinterteil der Nymphe. »Ach ja, es macht Spaß, wieder mein altes Ich zu sein. Ich kann nicht glauben, dass ich all diese ekelhaften Dinge getan habe, als ich ein Dämon war. Ich meine, mir hat Ziegenhodeneintopf geschmeckt, verdammt noch mal!« Travis hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, Jack als menschliches Wesen vor sich zu sehen. Das heißt, wenn man einen schmierigen Produzenten billiger Exploitation-Filme als menschliches Wesen bezeichnen konnte. »Jack, du bist als Mensch genauso abstoßend wie als Dämon«, sagte Beatrice. »Ich weiß, dass du das nicht wirklich ernst meinst, Prinzessin«, entgegnete Jack leicht beleidigt. »Ich habe dich als Dämon mehr gemocht«, erklärte Sharon verschnupft. Eine weitere Nymphe kam und ging direkt auf Travis zu. »Sir, die Grüne Königin möchte, dass Ihr Eurer Hoheit Gesellschaft leistet. Wenn Ihr mich begleiten wollt …?« »Ich?«, sagte Travis erstaunt. »Sie will mich sehen?« »Ja, in ihren Privatgemächern.« »O Junge, das könnte eine interessante Sache werden«, prustete Jack los. »Halt doch den Mund, Jack«, sagte Travis, als er sich vom Sofa erhob. Mit leichter Nervosität fragte er sich, was die Grüne Königin wohl von ihm wollte. Die Privatgemächer der Grünen Königin erwiesen sich als eine Art Märchenhöhle – was sie ja auch irgendwie waren. Überall wuchsen Pflanzen und Blumen, und das Licht schien sanft und
verträumt. Ein Duft wie Parfüm, den sicherlich die Blüten verströmten, erfüllte die Räume, und er hörte ein leises Klirren, das ihn an ein Glockenspiel erinnerte. Es lag – er musste es zugeben – so etwas wie Zauber in der Luft. Er folgte der Nymphe durch eine Reihe durchsichtiger seidener Vorhänge in verschiedenen Farben, bis sie schließlich das innerste Heiligtum der Königin erreicht hatten. Es erinnerte ihn an den Mutterleib. Im Unterbewusstsein fühlte er, dass es dort so ähnlich gewesen sein musste. Diese organisch geformte Kammer, mit ihren geschwungenen Wänden und einem Gewirr aus verschlungenen Wurzeln und üppiger Vegetation schien mit einem beruhigenden und vertrauten Herzschlag zu pulsieren. Der kleine Raum wurde von einem großen runden Bett beherrscht, das aus einem Gewebe von Ästen bestand, die aus einem schweren Holzstrunk zu kommen schienen, der aus dem Boden wuchs. Das Astwerk trug eine runde weiße Matratze, die aus einem Travis unbekannten Material bestand. Die Grüne Königin lag darauf. Sie wirkte verändert. Robe und Blätterumhang hatte sie abgelegt. Ihr Körper war von Kopf bis Fuß mit tausenden kleiner grüner Blätter bedeckt, die an ihr hafteten, als seien sie angeklebt. Und was für ein Körper das war, konnte Travis jetzt deutlich sehen. »Willkommen, Travis«, sagte sie. »Bitte setz dich. Formalitäten brauchen wir hier nicht.« Mit einer eleganten Handbewegung deutete sie auf einen Stuhl, den er bis dahin nicht bemerkt hatte; als er sich niederließ, schien er sich seinem Körper anzupassen und wurde unglaublich bequem. »Tyra«, sagte sie zu der Nymphe, »hol uns etwas Wein.«
»Ja, Eure Hoheit«, entgegnete die Nymphe und verschwand. Die Grüne Königin richtete sich auf und schlug die Beine übereinander, und zwar auf eine, wie es Travis schien, recht unkönigliche Art. »Du hast Fragen an mich«, sagte sie, »aber ich habe auch einige an dich.« »Wirklich?«, sagte er überrascht. »Ich hatte den Eindruck, Ihr wüsstet alles.« »Kaum«, meinte sie lachend. »Was ich über dich weiß, habe ich aus den Gedanken meiner Verehrerin Beatrice. Aber es gibt vieles, was ich nicht von dir weiß, außer der Tatsache, dass du und dein Begleiter Jack ein Zusammentreffen mit Einem von Uns hattet; sonst wärt ihr nicht hier.« »Einem von Uns?« Sie nickte. »Ein Wesen, wie ich selbst eines bin. Eine übernatürliche Einheit. Jemand, der die Variationen der Existenz überbrücken kann.« »Ja … er nennt sich Prenderghast. Aber er ähnelt Euch in keiner Weise, Hoheit.« Erneut lachte sie. »Ach, nenn mich einfach Megan. Diesen Namen habe ich benutzt, als ich die Erde besuchte. Und, ja, ich habe von Prenderghast gehört. Sehr alt, sehr mächtig und sehr böse. Wie hast du es geschafft, dir seine Feindschaft zu verdienen?« Travis erzählte ihr die Geschichte. Zwischendurch kam die Nymphe mit zwei Bechern Wein zurück, der, wie nicht anders zu erwarten war, vorzüglich schmeckte. »Und Prenderghast hat keine Andeutungen darüber gemacht, welcher Art der Schlüssel sein könnte, den du finden
musst?«, fragte sie, als er geendet hatte. »Nichts dergleichen. Aber vielleicht spielt das ja gar keine Rolle mehr. Du hast doch sicherlich die Macht, mich in meine Welt zurückzubringen?« »Nein«, sagte sie und zerschlug damit seine Hoffnungen. »Ich kann genauso wenig seine Taten vereiteln, wie er die meinen. Wie ich schon zu Jack sagte – ich kann den Fluch, der auf ihm liegt, nur für kurze Zeit von ihm nehmen. Und ich kann es nur, weil er sich in meinem Reich befindet.« »Verstehe«, murmelte Travis bedauernd. »Es tut mir Leid. Aber wie steht es mit dir, welche Fragen hast du?« »Nun, vielleicht kannst du mir sagen, ob das alles wirklich passiert. Oder …?« »Oder ist alles nur ein willkürlich herbeigeführter Traum, in den du gegen deinen Willen verwoben bist?«, sagte sie und lächelte. »Wie kannst du mir glauben, wenn ich dir antworte? Ich bin ein Teil dieser mystischen Erfahrung. Und werde dir kaum sagen, dass ich nicht existiere.« »Egal … sag mir bitte … gibt es diesen Ort wirklich?«, fragte er fast flehentlich. »Er ist so wirklich wie deine Welt – und weißt du genau, wie wirklich die ist?« »Gute Frage«, entgegnete er seufzend. »Okay, etwas anderes: Warum tut er das, was er tut?« »Prenderghast?« »Ja. Was beabsichtigt er?« »Er braucht Nahrung.« »Wie bitte?«
»Er braucht Nahrung, um zu überleben und seine Macht zu erhalten.« »Und wovon ernährt er sich?« »Von Menschen. Ich meine nicht, dass er Menschen frisst wie ein Kannibale, nein, er ernährt sich von ihrer Lebensenergie. Ich gewinne meine Kraft aus der Liebe meiner Verehrer, aber Prenderghast hat es vorgezogen, seinen eigenen Weg zu gehen. Er stiehlt die Kraft, die er braucht. Er stellt nichts ahnenden Menschen eine Falle und ernährt sich von ihrer Energie.« Travis war wie vor den Kopf geschlagen. Er dachte an die Virtual Reality-Helme für Kinder, die Prenderghast produzierte, und richtete sich auf. »Ich muss zurück! Ich muss ihn aufhalten! Seine Schandtaten publik machen …« »Travis, du kannst nicht heimkehren, solange du den Schlüssel nicht gefunden hast.« Er sank zurück. »Ja …« »Ich habe nachgedacht«, sagte sie langsam. »Und vielleicht kann ich dir dabei helfen.« »Du hilfst mir, den Schlüssel zu finden?« »Ja. Ich glaube, ich weiß, wo er sein könnte.« »Wo? Wo?«, fragte er aufgeregt. »Nun, zuerst musst du mir einen kleinen Gefallen tun.« »O ja?«, sagte er, von plötzlichem Misstrauen gepackt »Zum Beispiel was?« »Ich möchte, dass du mit mir schläfst.« Erstaunt sah er sie an. Was bezweckte sie mit ihrem Angebot? »Willst du dich etwa auch von meiner Seele oder meiner Energie ernähren? Da mache ich nicht mit.« »Ich versichere dir, dass es um nichts dergleichen geht. Ich
will nur eines von dir.« Sie stand auf, und die winzigen Blätter begannen von ihrem Körper herabzufallen. Immer mehr segelten auf das Bett, bis sie eine grüne Decke gebildet hatten und die Grüne Königin splitternackt vor ihm stand. »Ich will deinen Samen.« Er sah, dass auch ihr Schamhaar und die Brustwarzen grün waren – aber egal. Jetzt war nicht die Zeit für Nörgeleien.
KAPITEL 22
»Damion ist irgendwo in der Nähe«, sagte Sharon. »Ich kann ihn riechen.« Am nächsten Tag hatten sie sich um den Zauberteich der Königin versammelt. Das Bild auf dem Wasser zeigte die vereinigten Armeen von Sir Rodney und Prinz Valerie: Die Zahl der Männer hatte sich seit gestern verdreifacht. Travis fühlte sich jedoch keineswegs ängstlich, ihm war leicht und wohl zumute, und sein Körper schien von der Nacht mit Megan beziehungsweise der Grünen Königin, die sie nun wieder war, noch nachzuglühen. Sex mit einer Göttin war zweifellos das Erlebnis seines Lebens gewesen, aber er bezweifelte, ob es zur Gewohnheit werden könnte. Zum einen glaubte er nicht, dass sein Herz die Gangart lange aushalten würde. Er fragte sich auch, welchen Gebrauch sie wohl von seinem Sperma machen wollte, aber da sie von sich aus nichts dazu gesagt hatte, war er nicht mutig genug gewesen, sie zu fragen. Würde er eines Tages, ohne es zu wissen, der Vater einer kleinen Baumschule sein? »Irgendwas läuft da ab, Leute«, kündigte Jack an. Travis blickte in das Wasser. Eine kleine Gruppe von Männern war aus der langen Reihe der Soldaten herausgetreten und ging den Hügel hinab. Zwei Soldaten trugen einen Mann, der in einem Stuhl saß. »Können wir näher herangehen, Eure Hoheit?«, bat Travis. Die Königin kam seiner Bitte nach. Sogleich hatten sie eine
Nahaufnahme der Gruppe. »Es ist Damion!«, rief Sharon. »Junge, sieht der mitgenommen aus«, murmelte Jack. Der Mann, der in dem Stuhl getragen wurde, war in der Tat Damion, aber er wirkte nur noch wie ein Schatten seines früheren Selbst. Sein Gesicht sah eingefallen und bleich aus. Sein linker Arm hing in einer Lederschlinge, sein rechtes Auge wurde von einer schwarzen Klappe verdeckt. Über seinen Beinen lag eine Decke. »Du hast ihn ganz schön fertig gemacht, Travis«, sagte Sharon. »Aber leider lebt dieser Hundesohn noch, ist also immer noch gefährlich.« »Ich frage mich, was er im Schilde führt«, sagte die Grüne Königin scheinbar ungerührt. Die Soldaten trugen Damion zum Fuße des Hügels, wo sie ihn vorsichtig absetzten. Damions unbedecktes Auge leuchtete voller Rachedurst, als er seine Stimme erhob. »Ich weiß, dass du mich sehen kannst, Grüne Königin!«, rief er. Das Sprechen schien ihm größte Mühe zu machen. »Und vielleicht sehen auch die schäbigen Feinde zu, die du so skrupellos schützt. Gut! Ich möchte, dass ihr alle Zeuge seid, wenn eure vollständige und endgültige Vernichtung beginnt!« »Er hat völlig seinen Sinn für Humor verloren«, meinte Sharon. Damion griff unter die Decke auf seinem Schoß und holte eine kleine schwarze Ledertasche hervor. Er winkte die Soldaten zu sich heran, fasste in seine Tasche und händigte jedem einzelnen etwas aus. Sie stellten sich in einer langen Reihe auf und streuten das, was Damion ihnen gegeben hatte, auf den Boden. Es sah aus, als säten sie etwas. Damion befahl ihnen, zurückzu-
treten. »Ich habe alle Variationen organischen Lebens abgesucht, um die Kreaturen zu finden, die die aggressivsten und abstoßendsten Eigenschaften in sich vereinigen – Kreaturen, die nichts aufhalten kann. Zwei solche Spezies habe ich gefunden und sie zu dem kombiniert, was gleich über euch herfallen wird … Seht!« Überall brach etwas durch die Oberfläche der Erde und begann zu wachsen. Immer mehr und immer mehr dieser Dinger schossen empor, bis sich Hunderte von ihnen vor Damion aus der Erde bohrten. Nach wenigen Minuten hatten sie sich voll ausgebildet. Mit ihrer knotigen grauen Haut und den Hörnern sahen sie ähnlich wie Trolle aus, doch waren dies nicht die Merkmale, die Travis das Blut in den Adern gefrieren ließen. Es war die Tatsache, dass sie Schals trugen und schwere Stiefel, dass sie gemeine, leere Augen hatten, niedrige Stirnen, auf die massenhaft Union Jacks tätowiert waren, und dass ihre Arme fast bis auf den Boden hingen. Es war auch nicht so sehr die Tatsache, dass sie tragbare Raketenabschussrampen und Flammenwerfer trugen, sondern dass die meisten von ihnen Bierdosen in den Händen hielten. Und da begannen sie auch schon mit ihren schrecklichen Gesängen. Travis' schlimmste Befürchtungen wurden bestätigt. Sie sangen: ›Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os!‹ Und so weiter. Endlos. »Er hat sie englischen Fußball-Hooligans nachempfunden«, sagte Travis zur Königin. »Wir sind verloren.« »Stellen sie ein Problem dar?« »Ein Problem?« rief Travis. »Auf der Erde haben sie halb Europa in Schutt und Asche gelegt.«
»Egal wer sie auch sind, sie können dem Zauber meines Waldes nicht widerstehen!«, rief die Königin. »Darauf würde ich nicht wetten, Eure Hoheit. Denn wenn der Zauberwald jemanden mit seinem Zauber umweben will, so muss derjenige zumindest über ein Hirn verfügen. Aber diese Gestalten haben so gut wie kein Hirn im Kopf. Eine Amöbe ist intelligenter als sie.« Er blickte wieder ins Wasser. Die Hooligan-Trolle marschierten auf den Wald zu. »Meine Nymphen werden sie mit ihren Speeren angreifen«, sagte die Grüne Königin. »O nein! Wenn diese Burschen Eure Nymphen erblicken, dann bricht hier erst richtig die Hölle los. Glaubt mir, Ihr wisst nicht, womit Ihr es zu tun habt.« »Was schlägst du vor?« »Der grüne Riese, der uns den Weg gewiesen hat – gehorcht er Euch?« »Selbstverständlich.« »Dann setzt ihn in Bewegung, damit er sie aufhält. Es wird nicht mehr als eine Verzögerungstaktik sein, fürchte ich, aber alles, was uns Zeit verschafft, sollten wir ausprobieren.« Die Grüne Königin legte eine Hand auf die Stirn und schloss die Augen. »Er hört und gehorcht«, sagte sie. Travis blickte wieder in den Teich. Die ersten Reihen des brüllenden Hooligan-Troll-Mobs hatten fast den Waldesrand erreicht. Hinter ihnen begann die menschliche Armee ihren Vormarsch den Hügel hinab. »Seht Ihr, Damion setzt diese Monster als Vortruppe ein. Sie sollen eine Schneise durch Euren Wald schlagen, auf der die Armee von Rodney und Valerie sicher folgen kann.«
»Wir müssen sie aufhalten!«, rief die Grüne Königin. Jetzt klang auch sie höchst besorgt. »Gibt es noch mehr Wesen in Eurem Wald wie den Grünen Riesen?«, fragte er eilig. »So etwas wie einen Menschen verschlingenden Zyklopen vielleicht? Die eine oder andere Gorgo? Ein paar Minotauren? Ein Vogel Greif wäre auch nicht schlecht …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte mal einen Minotaurus, aber der bekam Maul- und Klauenseuche, und wir mussten ihn einschläfern lassen.« Travis sah, wie der Mob in den Wald einfiel. Man hörte die Explosionen, als sie begannen, ihre Raketen in das Blattwerk zu feuern. »Mein armer Wald«, klagte die Königin. Travis schluckte und zog seine Pistole. Im Vergleich zu den Feuerwaffen, mit denen die Hooligan-Trolle anrückten, wirkte sie eher klein und mickrig. »Ich schätze, ich kann ein paar von ihnen stoppen, bevor sie mich überwältigen«, sagte er unentschlossen. »Sei nicht dumm, Travis«, sagte Beatrice. »Der Königin wird schon etwas einfallen. Nicht wahr, Eure Hoheit?« Die Grüne Königin blickte noch immer auf die düsteren Bilder im Wasser. »Vielleicht«, sagte sie zweifelnd. »Wenn sie sich dem Großen Stehenden Stein nähern, kann ich einen Energiestoß ableiten, um sie zu zerschmettern. Aber dann wären ich und der Wald für eine Weile sehr schwach.« »Und es ist nicht gesagt, dass es die gewünschte Wirkung auf sie hat«, sagte Travis. »Nein, ich muss sie aufhalten, ich allein. Schließlich bin ich schuld, dass sie hier sind.« Travis klang weitaus tapferer, als ihm zumute war.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Jack. »Damion würde gar nichts von der Erde wissen, wenn ich ihm nichts davon erzählt hätte. Er wollte unbedingt an Erdwaffen herankommen, und jetzt hat er …« Travis zögerte. Dann fragte er die Grüne Königin: »Er ist nicht Einer von Euch, nicht wahr? Wie Ihr und Prenderghast?« »O nein«, antwortete sie schnell. »Er ist nicht Einer von Uns. Er ist einfach ein unglaublich mächtiger kleiner Scheißkerl.« »Dann kann ich mich vielleicht an den Angreifern vorbeischleichen und Damion ausschalten …« »Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest«, maulte Sharon. »Und Prinz Valerie auch«, fügte Annabelle hinzu. »Okay, okay, ich habe sie ein bisschen falsch eingeschätzt. Ihr braucht nicht ständig darauf rumzureiten.« »Das würde jetzt doch nichts mehr nützen«, sagte die Königin. »Nach Damions Tod verschwinden die schrecklichen Kräfte, die er losgelassen hat, sicherlich nicht.« »Also vergessen wir die Idee. Es gibt wohl nur die Möglichkeit eines direkten Angriffs.« Travis holte tief Luft. »Ich schätze, ich gehe jetzt besser los.« »Ich würde ja mitkommen, Kumpel«, sagte Jack. »Aber bei meinem jetzigen Aussehen und ohne Waffe würde ich dir doch nur zur Last fallen.« »Das wäre ja nichts Neues«, meinte Travis. Bevor Jack etwas entgegnen konnte, erklärte Sharon: »Ich begleite dich, Travis.« »Danke für das Angebot, Sharon, aber du hast auch keine Waffe.«
»Ich bin eine Waffe.« »Sharon, du isst Seelen. Diese Dinger haben aber keine Seelen.« »Ich kann dir auf andere Weise helfen«, sagte sie und war urplötzlich verschwunden. »Ich bin deine Geheimwaffe. Und, gib's zu, du könntest Beistand gebrauchen …« Ihre Stimme schien irgendwo aus der Luft zu kommen. Sie hat ja Recht, dachte er. »Du hast Recht. Aber wenn es allzu heikel wird, dann kehrst du wieder hierher zurück.« »Geht klar«, antwortete sie und stand plötzlich wieder vor ihnen. »Dann los …« »Viel Glück, Travis«, sagte Beatrice. »Ich werde dich nie vergessen.« »Ich auch nicht«, fügte Annabelle hinzu. »He, Mädchen, seid so nett und wartet mit der Grabrede, bis ich wirklich tot bin, okay?« »Du hast meinen Segen, Travis«, sagte die Grüne Königin. »Zugegeben, in der jetzigen Situation ist er wenig wert, aber schließlich ist es die gute Absicht, die zählt.« »Danke, Meg … ich meine, Eure Hoheit.« Er wollte gerade gehen, als ihm ein Gedanke kam. »Mir fällt da gerade etwas ein …«, sagte er. »Ich hoffe, es ist eine dieser wilden und verrückten Ideen, bei denen du immer ›und es könnte klappen‹ hinzufügst«, meinte Jack. »So weit würde ich nicht gehen«, sagte Travis. »Aber einen Versuch ist es sicher wert.« Er erklärte ihnen sein Vorhaben. »Das gefällt mir«, sagte Jack. »Es ist wild und verrückt – und
es könnte klappen.« »Ich setze meine Mädchen sofort in Bewegung!«, rief die Grüne Königin. »Ich verstehe gar nichts«, sagte Beatrice. »Ich erklär's dir später«, versprach Travis. »Wenn es ein ›später‹ gibt. Komm, Sharon …« Travis und Sharon eilten durch den Wald, auf die heranrückende Horde der Fußballtrolle zu. Sie hatten keinerlei Schwierigkeiten, sie zu finden. Dichter schwarzer Rauch zeigte eindeutig ihre Position an. Ständig kamen ihnen fliegende Waldnymphen entgegen, die den nicht mehr ganz sicheren Schutz des Palastes der Grünen Königin suchten. Im Hintergrund erklang die ganze Zeit der schreckliche monotone Gesang: »Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os!« »Wir kommen näher. Du machst dich jetzt lieber unsichtbar«, sagte er zu Sharon. »Okay«, erwiderte sie, aber anstatt plötzlich zu verschwinden, wie sie es zuvor getan hatte, löste sie sich dieses Mal ganz langsam auf, bis nur noch ihre Brustwarzen zu sehen waren. Dann verschwanden auch die. Unter anderen Umständen hätte Travis gerne applaudiert. Mit der Pistole in der Hand schlich er sich vorsichtig durch die Bäume. In der Ferne sah er die Spitze des Großen Stehenden Steins. »So wie es sich anhört, haben sie den Stein erreicht«, sagte er zu der unsichtbaren Sharon. »Folge mir …« Er bahnte sich seinen Weg durch dichtes Unterholz. Hinter sich hörte er: »Aua! Aua!« »Pssst!«
»Müssen wir hier entlang gehen?«, jammerte Sharon. »Da ich nicht unsichtbar bin, muss ich schon … aber du hast Recht, du kannst dir auch deinen eigenen Weg suchen und später zu mir stoßen.« »Okay«, hauchte sie. Travis hörte, wie das Unterholz krachte, während sie zurückging, begleitet von einer Reihe weiterer Auas. Er selbst hielt weiter auf die Quelle der nervtötenden Gesänge zu. Schließlich hatte er die Lichtung erreicht, die den Großen Stehenden Stein umgab, und spähte vorsichtig durch das Unterholz. Eine Horde von Hooligan-Trolls tanzte um ein Freudenfeuer herum. Auf der Spitze des brennenden Holzstapels sah Travis eine große schwelende Maske. Travis erkannte sie. Der Grüne Riese hatte ins Gras beißen müssen. Auf dem Großen Stehenden Stein standen nun in roter Farbe verschiedene Slogans, die die Fußballtrolle draufgesprayt hatten: VERPISST EUCH! WIR SCHEISSEN AUF ALLES! und ELFEN RAUS! Hinter den herumtobenden Idioten sah Travis die schreckliche Schneise, die sie durch den Wald geschlagen hatten – eine versengte und aufgerissene Wunde, die sich bis zum Waldrand zog. Der Zauberwald war regelrecht geschändet worden. Und schon bald würde die Armee von Rodney und Valerie durch diese Schneise ziehen und den heiligen Wald ein zweites Mal entweihen. Zorn stieg in Travis hoch. Schön, mochten es dreihundert gegen einen sein – oder besser zwei, wenn Sharon bald auftauchte –, aber er war gewillt, so viel wie möglich mitzunehmen, bevor sie ihn überwältigten. So hätte die Grüne Königin noch
mehr Zeit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Hoffte er jedenfalls. Sorgfältig zielte er auf einen der tanzenden Hooligan-Trolle und wollte gerade abdrücken, als er sah, wie nur wenige Meter entfernt ein weiterer Hooligan krachend durch das Unterholz brach. Er hielt eine sich heftig wehrende Waldnymphe in den Armen. »He, Leute!«, brüllte er. »Seht mal, was ich hier habe!« Als die anderen die Nymphe sahen, hörten sie auf zu tanzen; stattdessen begannen sie zu pfeifen und Obszönitäten zu brüllen. Travis wusste, dass sie die arme Nymphe in Stücke reißen – oder Schlimmeres mit ihr anstellen würden. Er trat zwischen den Büschen hervor. »Lass sie los, oder du wirst nie wieder die Sun lesen!«, rief er. Der Hooligan-Troll blieb stehen. »Wer, zum Teufel, bist denn du?«, fragte er. »Ich sagte, lass die Nymphe los, oder ich töte dich.« Travis sah, dass die anderen auf sie aufmerksam geworden waren. Noch standen sie da und sahen verblüfft zu ihnen herüber. Aber er hatte nur noch wenig Zeit. Der Hooligan-Troll vor ihm war groß, fast doppelt so groß wie die in seinen Armen zappelnde Nymphe. Die Gefahr, sie zu treffen, war relativ gering. Travis zielte auf die Stirn des Fußballtrolls. Der Schuss war perfekt. Er traf genau in die Mitte. Leider blieb das Wesen stehen, als sei nichts geschehen. Es sah jedoch ziemlich sauer aus.
KAPITEL 23
Mist! Sein offensichtlich winziges Resthirn muss sich irgendwo verkrochen haben!, dachte Travis düster, als er sah, wie der Fußballtroll trotzig auf den Beinen blieb, obwohl sich ein großes Loch in seiner Stirn aufgetan hatte. Ich wusste ja, dass ihre Gehirne klein sind, aber doch nicht SO klein! »Du Arsch, du!«, brüllte das Wesen. Dann ließ es die Nymphe fallen, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und sagte: »Auuu …«, bevor es nach hinten umfiel. Die befreite Nymphe hastete an Travis vorbei und verschwand im Wald. »Der Bastard hat Brian getötet!«, schrie ein Mobber. »Den schnappen wir uns!« »Ja. Wir tanzen auf seinem Kopf herum!« »Wir treten ihm in die Eier!« Der Mob setzte sich in Bewegung. Travis feuerte blindlings in die sich nähernde Masse heulender, grauhäutiger Monster. Dann packte ihn eine Hand am Kragen. »Komm schon, Travis!«, hörte er Sharon sagen. »Zeit zum Rückzug.« Dieser Ratschlag schien Travis ausgesprochen vernünftig zu sein. Er drehte sich um und folgte Sharon – zumindest nahm er an, dass es Sharon war, da er sie nicht sehen konnte – in den Wald. Gleich darauf hörte er ein zischendes Geräusch und sah, wie eine Rakete an ihm vorbeischwirrte und vor ihm gegen einen Baum krachte. Sie war so dicht an seinem Kopf vorbeige-
flogen, dass jetzt sein rechtes Ohr angesengt war. Das Geschoss explodierte, und der Baum barst mit einem lauten Donnern auseinander. Eine unsichtbare Hand zog an seinem Ärmel. »Ins Unterholz, schnell.« Auch dieser Vorschlag kam ihm sehr klug vor. Er ließ sich in die Büsche fallen, und auch Sharon schien das Gleiche zu tun, denn erneut hörte er eine Reihe leiser Auas aus der Nähe. Bei dem Gedanken, wie es sein musste, sich splitternackt durch das dornige Gestrüpp zu schleichen, verzog er das Gesicht. Vielleicht würde diese Erfahrung Sharons Haltung in Bezug auf die Kleiderfrage etwas ändern. »Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os!«, grölte der sie verfolgende Mob. Weitere Explosionen begleiteten seinen Vormarsch durch den Wald. »Komm schon, Grüne Königin, du bist an der Reihe«, flehte Travis. Plötzlich hörte das Unterholz auf. »Verdammt!«, rief er. »Wir haben unsere Deckung verloren!« »Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh darüber«, meinte Sharon. »Dir kann es egal sein, du bist ja unsichtbar«, murmelte Travis neidisch und begann zu rennen. Da passierte ihm etwas, das er bislang nur in alten Filmen gesehen hatte, in denen Frauen vor IHM oder IHNEN zu fliehen versuchten – er stolperte über einen dicken Ast und fiel hin. Mit einem lauten Stöhnen landete er auf dem Waldboden. Der Aufprall wurde durch den dichten Blätterteppich gemildert, der den Boden bedeckte, er verlor jedoch seine Pistole, die ziemlich weit weg von ihm landete. »Da ist er! Schnappt ihn euch!« Travis blickte sich um und sah zwei der Gestalten durch das
Unterholz brechen. Er krabbelte zu seiner Waffe. Ich muss mir das verdammte Ding ums Handgelenk binden, dachte er zornig, packte sie und drehte sich um. Die beiden Hooligan-Trolle kamen immer näher auf ihn zu. Travis schoss, ohne sorgfältig zu zielen, und erwischte den einen am Arm, was das Wesen jedoch nicht im Mindesten zu beeindrucken schien. Bevor er das zweite Mal abdrückte, zielte Travis sorgfältiger. Der Troll, den er in den Arm geschossen hatte, stürzte zu Boden, dieses Mal mit einer Kugel zwischen den Augen. Aber mittlerweile hatte sich der andere bis auf wenige Meter genähert … Plötzlich erhob sich der Ast, über den Travis gestolpert war, in die Luft und sauste dem Kerl mitten in die Visage. Mit gebrochener Nase torkelte er rückwärts. Noch einmal traf ihn der Ast, und Sharon materialisierte sich. Trotz der massiven Veränderungen an dem, was man als sein Gesicht bezeichnen konnte, gelang es dem Hooligan-Troll, so etwas wie ein lüsternes Lächeln darauf zu zaubern. »Mann, bist du ein heißer Ofen, Darling«, röchelte er. »Wie wär's mit einem Quickie in der Halbzeit?« Sharon schlug ein drittes Mal zu, worauf er prompt zu Boden ging. Sie grinste Travis an. »Das macht Spaß.« »Freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Travis und rappelte sich hoch. »Wenn du das noch dreihundertmal so hinkriegst, sind alle unsere Probleme gelöst …« Das Röhren eines Flammenwerfers unterbrach ihn. Ein großer Teil des Unterholzes begann zu brennen. Und dann wühlte sich die Speerspitze des Mobs durch die verkohlte und schwelende Vegetation. »Sie gehören alle dir«, sagte Travis zu Sharon, während er zurückwich. Sofort ließ Sharon den Ast fallen und
löste sich in Luft auf. Letzteres hätte Travis liebend gern selbst getan. »Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os!« Und dann begann es. Sie fielen vom Himmel. Dosen. Goldene Dosen. Unzählige. Bald bedeckten sie den Boden zwischen der Horde HooliganTrolle und Travis. Der Mob blieb stehen. Es dauerte nicht lange, bis der Erste sich eine Dose griff, den Ring auf der Oberseite abzog und einen zögernden ersten Schluck trank. Die anderen blickten ihn erwartungsvoll an, und es entstand so etwas wie ehrfürchtige Stille. Bis der Fußball-Troll sein Urteil verkündete: »Total geil, Leute!«, brüllte er und ließ den Rest des Doseninhalts mit einem einzigen großen Schluck seine Kehle hinunterrinnen. Mit einem lauten Aufschrei stürzten sich nun auch die anderen auf die Dosen und folgten seinem Beispiel. Und nachdem eine Dose geleert worden war, wurde schnellstens die nächste vom Waldboden aufgehoben. Noch immer fielen die goldenen Dosen vom Himmel … Travis lehnte sich an einen Baum und betrachtete die Szene zufrieden. Der gesamte Mob der Hooligan-Trolle lag auf dem Boden zwischen den Bäumen. Von den wenigen, die immerhin noch sitzen konnten, hörte man leise ›Jetzt geht's loo-os!‹Gesänge, aber auch sie verstummten rasch. Diese bernsteinfarbene Flüssigkeit hatte ihren Zweck erfüllt. Die schon von Natur aus geistig benachteiligten Burschen waren mittlerweile bis auf den letzten Mann, oder Troll, hirntot. Die wieder sichtbare Sharon stand neben ihm. »Das muss
man dir lassen, Travis, dein Plan hat die Wende gebracht.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich gratuliere.« »Danke, aber die Grüne Königin hat das meiste geleistet. Ohne ihre Fähigkeit, den Braukreislauf zu beschleunigen und so die Stärke des Biers zu vervielfachen, wären wir verloren gewesen.« »Ja, aber du kanntest die Schwachstelle dieser Kreaturen.« »Sie hat Recht. Wir stehen in deiner Schuld.« Travis fuhr zusammen. Die Grüne Königin hatte sich plötzlich neben ihm materialisiert. »Eure Hoheit …« »Nur eines meiner vielen Talente«, sagte sie leichthin, während sie auf die Armee der besoffenen Invasoren blickte. »Sie sind jetzt völlig wehrlos?« »Ja. Es wird Zeit für Plan B. Ihr könnt die Nymphen kommen lassen.« Auch wenn er glaubte, dass die Fußballtrolle keine lebenden Wesen waren, sondern lediglich die Produkte Schwarzer Magie, so wandte er doch den Blick ab, als die mit Speeren bewaffneten Nymphen damit begannen, den Invasoren den Rest zu geben. Sharon dagegen lieh sich einen Speer aus und beteiligte sich enthusiastisch an der Metzelei. »Und was nun?«, fragte er die Grüne Königin. »Nach der Vernichtung dieser barbarischen Teufel wird mein Wald damit beginnen, seine Wunden zu heilen und seine alte Kraft wiederzugewinnen. Die menschlichen Invasoren spüren bereits jetzt meinen Zorn. Komm, gehen wir und schauen wir uns an, was über sie gekommen ist. Entschuldige, aber wir Königinnen müssen manchmal so sprechen.« Die Grüne Königin nahm Travis bei der Hand, und im
nächsten Augenblick erhob er sich gemeinsam mit ihr in die Höhe. Etwa drei Meter über dem Boden schwebten sie durch den Wald. Travis fühlte sich wie Margot Kidder in Superman. Sie ließen das Schlachtfeld hinter sich und folgten dem verbrannten Pfad, den die Invasoren geschlagen hatten. Travis sah, dass der Wald sich bereits erholte und das verlorene Gebiet zurückeroberte. Grüne Sprösslinge schossen aus der schwarzen Erde, und Kriechpflanzen begannen sich von beiden Seiten über den Boden zu schlängeln. Als sie den Großen Stehenden Stein erreicht hatten, summte er bereits wieder mit seiner Ehrfurcht einflößenden Kraft. Travis fiel auf, dass die obszönen Schmierereien von seiner Oberfläche verschwunden waren. Die Grüne Königin und Travis landeten neben dem noch immer schwelenden Holzstoß, der einmal der Grüne Riese gewesen war. »Armer Harry«, seufzte die Königin. »Wer ist Harry?«, fragte Travis. »Er«, sagte sie und deutete auf den verkohlten Haufen. Dann ging sie näher heran und berührte den Haufen mit dem Stab. Fast augenblicklich begann sich der Holzstoß zu bewegen. Begleitet von krachenden und ächzenden Geräuschen zeigte sich neues Grün. Die verkohlten äußeren Schichten fielen von dem scheinbar formlosen Stapel aus Ästen und Stämmen ab und enthüllten darunter frisches grünes Holz. Allmählich bildete sich der Grüne Riese wieder zurück. Zu guter Letzt rückte er seine Maske gerade und verneigte sich steif und unter einigen Ächzern vor der Grünen Königin. »Ich danke Euch, Eure Hoheit. Leider habe ich versagt. Die kleinen Bastarde haben mich überwältigt.« »Kein Grund zur Entschuldigung, Harry. Du hast deine
Pflicht getan.« Sie wandte sich an Travis. »Komm mit mir …« Je weiter sie den Pfad der Verwüstung entlang flogen, den die Hooligan-Trolle zurückgelassen hatten, desto schmaler wurde er. Schließlich verschwand er ganz. Der Wald hatte sein verlorenes Terrain zurückerobert. Sie landeten und gingen zu Fuß weiter. Plötzlich hörte Travis beklemmende Laute, so als weinten und schluchzten erwachsene Männer. Er sah die Grüne Königin fragend an. »Die Schlacht ist vorbei«, sagte sie. »Der Wald hat sie zu sich geholt.« Kurz danach begegneten sie dem ersten Soldaten. Er hatte seine Waffen und seinen Helm verloren und stolperte ziellos mit ausgestreckten Armen durch das Unterholz. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er torkelte an ihnen vorbei, ohne sie gesehen zu haben. »Er steht unter dem Bann des Waldes«, sagte die Grüne Königin. »Und bald wird ihn der Wald ganz aufgenommen haben.« »Besser ihn als mich«, meinte Travis. »Es gibt schlimmere Schicksale«, entgegnete sie mit einem Hauch Arroganz. Nach und nach begegneten ihnen immer mehr Soldaten, die sich in einem ähnlichen Zustand befanden. Mit dem frisch erblühten Grün waren auch die Waldnymphen zurückgekehrt. Sie neckten die verwirrten, eindeutig halb verrückten Soldaten und piekten sie mit ihren Speeren. Travis sah einen Soldaten, der an einem Baum lehnte. Eine Waldnymphe hielt ihn umschlungen und presste sich an ihn. Der Soldat sah sie mit einer Mischung aus Glückseligkeit und Verzweiflung an und schien gar nicht zu bemerken, dass sich seine Füße in Wurzeln ver-
wandelt hatten, die sich in den Waldboden gruben. Während sie weiterschritten, hielt Travis Ausschau nach Valerie und Rodney. Den Prinzen entdeckte er nicht, aber den Ritter fanden sie nach einiger Zeit … Nachdem er Sir Rodney eine Weile entgeistert angestarrt hatte, meinte Travis schließlich: »Nun, zumindest sieht er glücklich aus.« Auf Sir Rodneys Gesicht lag in der Tat ein verträumtes Lächeln, was, wenn man die genauen Umstände in Betracht zog, sicherlich von Vorteil war. Seine Krücken hatten nicht nur Wurzeln im Erdreich geschlagen, sondern auch begonnen, in ihn selbst hineinzuwachsen. Hände und Schultern waren bereits mit dem Holz der Krücken fest verbunden, und aus den Scharnieren seiner Rüstung sprießten grüne Zweige. Auf seinem unbehelmten Kopf wuchs eine einzelne rote Rose. Travis fand den Effekt ganz reizend. Und nun, da es so aussah, als würde Sir Rodney den Rest seines Lebens als Baum verbringen, plagten Travis auch nicht mehr sehr viele Gewissensbisse, weil er ihm beide großen Zehen abgeschossen hatte. »Armer Narr«, lautete der einzige Kommentar der Königin, bevor sie weiterging. Sie erreichten das Ende des Zauberwaldes. Dort, wo der Wald begann, saß Damion in seinem Stuhl. Vier verängstigt dreinblickende Soldaten standen neben ihm; um sie herum grasten zahlreiche reiterlose Pferde. Damion sah noch schlechter aus. Er war kalkweiß und schien völlig ausgebrannt. Als er die beiden sah, zischte er: »Ihr … ihr Teufel! Wie habt ihr das gemacht? Wie habt ihr meine Monsterhorde besiegt? Sie waren unaufhaltbar!« »Du lächerlicher Knabe«, sagte die Königin höhnisch. »Hast
du etwa wirklich geglaubt, dass deine tölpelhaften Tricks mich jemals ernsthaft bedrohen könnten, mich, die Königin des Zauberwaldes?« »Ja, Damion«, fügte Travis hinzu. »Du solltest die Abendschule besuchen und einen Auffrischungskurs in Magie belegen.« Damion richtete das Auge, mit dem er noch sehen konnte, direkt auf Travis. Er wirkte in der Tat keineswegs wie ein zufriedener junger Mann. »Du hast der Königin die Vorteile verschafft, die die Waage auf ihre Seite neigte«, klagte er und zeigte mit einem sehr knochigen Finger auf Travis. »Irgendwie hast du ihr geholfen, meine Truppen zu besiegen. Gib es zu!« »Ich habe ihr schon ein bisschen geholfen«, antwortete Travis, der langsam nervös wurde. Welche Gefahr ging noch von Damion aus? »Früher oder später werde ich meine Rechnung mit dir begleichen, das schwöre ich dir«, schnarrte Damion. Travis entschloss sich, den Unerschütterlichen zu mimen, und zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Ich mache mir eine Notiz in meinem Terminkalender. Montags geht es allerdings nicht. Ich bin nämlich ein richtiger Montagsmuffel.« »Wo ist Prinz Valerie? Ist meinem Herrn etwas zugestoßen?«, fragte Damion. »Mit ein bisschen Glück hat er sich in eine Kiefer verwandelt«, antwortete Travis. »Vielleicht fällt ihn mal jemand und zimmert eine hübsche Kommode aus seinem Holz.« »Er befindet sich noch im Wald«, sagte die Grüne Königin. »Dein Herr wird ihn nicht mehr verlassen. Nie mehr.«
Damion schüttelte den Kopf. »Nein, Ihr könnt ihn niemals mit Eurem Bann belegen, mein Herr ist zu mächtig.« »Du solltest doch wirklich wissen, wozu mein Wald und ich in der Lage sind. Du bist doch derjenige, der alles an mich verloren hat. Sei dankbar, dass ich dir dein armseliges Leben lasse.« »Ha! Ihr könnt mir nichts anhaben«, knurrte Damion. »Ich bin nicht drin in Eurem verdammten Wald.« »Noch nicht«, sagte die Grüne Königin und schlug mit ihrem Stab auf den Boden. Sogleich wuchsen grüne Schlingpflanzen aus dem Wald heraus, die auf Damion zukrochen. Bei diesem Anblick machten die nervös dreinblickenden Soldaten, dass sie davonkamen, und rannten den Hügel hinauf. »Kommt zurück, ihr Feiglinge!«, rief Damion. »Ihr könnt mich nicht zurücklassen!« Doch die Soldaten liefen weiter. Damion sah voller Entsetzen auf das herankriechende Gewächs. Schließlich schrie er: »Also gut! Ihr habt gewonnen! Ich gebe mich Eurer Gnade anheim … Eure Hoheit!« Sie schlug ein zweites Mal auf den Boden, und die Schlingpflanzen hörten auf zu wachsen. »Dann lasse ich dich frei«, sagte sie zu Damion. »Aber wenn du es jemals wieder wagen solltest, mich herauszufordern, werde ich mich nicht so gnädig zeigen.« Damion senkte den Kopf. »Ich danke Euch, Eure Hoheit«, sagte er demütig. Die Grüne Königin ergriff Travis' Hand. »Komm, Travis. Wir kehren zum Palast zurück …« Sie erhoben sich in die Lüfte. »Wartet!«, schrie Damion. »Ihr könnt mich doch nicht hier
sitzen lassen! Meine Männer sind davongelaufen, und ich kann nicht ohne Hilfe gehen!« »Was für ein Pech«, erheiterte sich die Grüne Königin. »Augenblick mal«, sagte Travis. »Ich finde, wir sollten wenigstens jemanden schicken, der ihm auf ein Pferd hilft.« »Wirklich?«, fragte die Königin überrascht. »Ja. Und ich weiß auch genau die Richtige.« »Wen?« »Sharon. Sie und Damion haben sich mal sehr nahe gestanden.« »Der Sukkubus!«, rief Damion entsetzt. »Nein! Bitte nicht! Jeden, nur nicht sie!« Die Grüne Königin lächelte. »Gute Wahl, Travis«, sagte sie. »Halt dich fest.« Sie flogen davon, während Damions hysterische Schreie unter ihnen immer leiser wurden.
KAPITEL 24
»Im Wald steckt er nicht«, sagte die Grüne Königin. »Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er ist entkommen.« Der Tag neigte sich dem Ende zu. Sie standen vor dem Zauberteich der Königin und hatten jeden Zentimeter des Waldes nach Valerie abgesucht, auch nach einem baumförmigen Valerie. Nirgendwo eine Spur von ihm! Die Waldnymphen waren befragt worden, aber auch wenn sich manch eine erinnern konnte, Prinz Valerie gesehen zu haben, so wusste doch keine, was aus ihm geworden war. »Vielleicht hat er sich einfach in eine Fledermaus verwandelt und ist weggeflogen«, rätselte Travis. »Das ist einer der Vorteile, die man als Vampir hat.« »Ich werde mich nie mehr sicher fühlen«, klagte Beatrice. »Du kannst hier bei mir bleiben, Kind«, sagte die Königin zu ihr. »Innerhalb des Waldes bist du immer in Sicherheit.« »Kann ich auch bleiben?«, fragte Annabelle schüchtern. »Aber nicht, weil ich Angst vor dem Prinzen habe. Ich … ich möchte eine Waldnymphe werden, wenn Ihr mich nehmt, Eure Hoheit.« Die Grüne Königin klopfte ihr auf die Schulter. »Natürlich darfst du bleiben, Annabelle. Und ich bin sicher, dass aus dir eine ganz entzückende Waldnymphe wird.« Travis blickte zu Sharon hinüber. »Und du?«, fragte er hoffnungsfroh. »Willst du auch bleiben und eine Waldnymphe
werden?« Sharon rollte mit den Augen und streckte ihm die Zunge heraus. »Diese Antwort hatte ich erwartet«, sagte er seufzend. »Und was ist mit mir?«, fragte Jack. »Kann ich bleiben?« »Du willst eine Waldnymphe werden?«, erkundigte sich Travis. »Ach was, ich will einfach nur hier bleiben. Mir gefällt's hier.« Er warf Sharon einen unsicheren Blick zu. »Tut mir Leid, Baby, aber als Mensch fühle ich mich doch wohler. Und Prenderghast kann mir hier auch nichts anhaben.« »Ich fürchte, das steht nicht zur Debatte«, sagte die Königin bestimmt. »Sterbliche Männer können nicht auf ewig bei mir bleiben, sondern nur für kurze Zeit als meine Gäste.« »Mist«, murmelte Jack. Dann sagte er zu Sharon: »Tja, Baby, sieht aus, als wären wir beide wieder ein Paar.« »Du kannst mich mal«, entgegnete sie. Travis verspürte eine gewisse Enttäuschung, auch wenn er eigentlich nicht geglaubt hatte, Jacks Gesellschaft so leicht zu entkommen. Immerhin hatte er sich auf der Habenseite zweier schwerer Bürden entledigt, Annabelles und Beatrices. Er würde sie beide allerdings vermissen, besonders Beatrice, auch wenn sie eine hochnäsige kleine Nervensäge sein konnte, die ihn zur Weißglut trieb. Nun blieben ihm nur noch Jack und Sharon. Er sah den Sukkubus etwas nervös von der Seite an. Sie hatte ihm noch immer nicht verraten, was mit Damion passiert war. Die Grüne Königin hatte ihr strikt befohlen, den Zauberer am Leben zu lassen, aber das teuflische Grinsen, das sie bei ihrer Rückkehr zeigte,
ließ vermuten, dass sie sich auf äußerst unangenehme Weise an Damion gerächt hatte. »Jetzt ist es wohl an mir, meinen Teil des Abkommens zu erfüllen«, sagte die Grüne Königin. Erst jetzt merkte Travis, dass sie mit ihm geredet hatte. »Verzeihung … Abkommen?« »Das, welches wir letzte Nacht vereinbart haben«, sagte sie lächelnd. »Du hast es doch nicht etwa vergessen?« Travis spürte, wie sich seine Wangen röteten. Und nicht nur die. »O ja. Ihr wolltet mir sagen, wo ich den Schlüssel finden kann.« »Ich glaube es zumindest. Zunächst reitest du in die Stadt Lankhair. Sie befindet sich zehn Tagesritte von hier entfernt. Folge immer nur der Straße nördlich des Waldes. Wenn du in Lankhair ankommst, suchst du eine Straße namens Knobbly Way. Dort klopfst du an Nummer zwölf und fragst den Mann, den du antriffst, nach dem Schlüssel.« Travis nickte. »Nummer zwölf … Knobbly Way. Lankhair … nördliche Straße. Ich hab's.« Es schien alles so furchtbar … einfach. »Glaubt Ihr wirklich, dass dieser Mann weiß, wo der Schlüssel ist?« »Vertrau mir«, sagte die Grüne Königin und zwinkerte ihm zu. »Beeil dich«, sagte Sharon. »Immer langsam mit den jungen Pferden. Ich mache, so schnell ich kann«, sagte Travis, während er versuchte, seinen Sattelgurt festzubinden. Whiplash war wie immer keine große Hilfe und bockte ständig. Sharon, die bereits auf ihrem Pferd
saß, sah im Licht der Morgensonne aus wie eine wildere Ausgabe von Lady Godiva. Jack stand schmollend in einer Ecke. Er freute sich verständlicherweise überhaupt nicht darauf, den Zauberwald zu verlassen. »Wartet auf mich!« Travis drehte sich um. Beatrice kam vom Palast, ihr Pferd am Zügel führend. Sie trug wieder ihre Reisekleidung. »Wo willst du denn hin?«, fragte Travis. »Ich komme mit dir, Dummkopf«, antwortete sie. »Was? Du hast doch gesagt, du wolltest hier bleiben! Wo du sicher bist …« »Seitdem habe ich ernsthaft nachgedacht«, entgegnete sie. Travis musste ein Grinsen unterdrücken. Ernsthaftes Nachdenken und Beatrice waren zwei miteinander völlig unvereinbare Konzepte. »Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich doch nicht bleiben will. Natürlich, es ist wunderschön hier, und ich liebe die Grüne Königin – ich meine, ich bete sie ja schließlich an –, und ich habe noch immer Angst vor Prinz Valerie, aber wenn ich mich für den Rest meines Lebens hier aufhalten würde, wäre das ein Eingeständnis meiner Niederlage. Ich lasse mich von Valerie nicht einschüchtern. Verstehst du das?« »Ich glaube schon«, sagte Travis zögernd. Er wusste nicht recht, wie er auf ihre Entscheidung reagieren sollte. Teilweise freute er sich darüber, dass sie weiter in seiner Nähe sein würde, teilweise stöhnte er innerlich auf bei dem Gedanken, wieder für sie verantwortlich zu sein. »Bist du dir vollkommen sicher?«, fragte er. »Ja, das bin ich«, antwortete sie bestimmt. »Ich habe der
Grünen Königin alles erklärt, und sie hatte volles Verständnis. Sie hat mir ihren Segen gegeben.« »Den können wir gut gebrauchen«, murmelte Travis. »Also gut, willkommen an Bord.« Er zog die letzte Schnalle an und bestieg Whiplash. Dann half er Jack dabei, hinter ihm aufzusteigen. Er und Sharon sprachen noch immer nicht miteinander, obwohl es eher Sharon war, die nicht mit Jack redete. Jack ließ einen tiefen Seufzer hören. »Ich werde mich vermissen«, sagte er. »Nun, wenn ich den Schlüssel kriege, können wir die Sache mit Prenderghast vielleicht ein für alle Mal bereinigen«, tröstete Travis ihn. »Ja, und Schweine kriegen Flugzeugtickets«, entgegnete Jack verbittert. Travis schwieg. Als Beatrice ihr Pferd bestiegen hatte, drehte er sich zum Palast um und hob seine Hand zum Gruß. Er hatte sich schon zuvor von der Grünen Königin verabschiedet, wusste aber, dass sie ihm nachsah. Dann begann er seine kleine Gruppe aus dem Zauberwald zu führen. Als sie den Waldrand erreicht hatten, brachte Travis Whiplash zum Halten. »Bist du bereit?«, fragte er Jack über die Schulter. »Ja«, antwortete Jack zögernd. »Bringen wir's hinter uns.« Travis ließ das Pferd antraben, und in dem Augenblick, als sie den Wald verließen, merkte Travis, dass Jack ihn nicht mehr umklammerte. Dann hörte er das vertraute Flattern ledriger Flügel, und Jack, nun wieder ein Dämon, landete auf Whiplashs Kopf. »Ich hatte ein bisschen gehofft, die Grüne Schnecke würde sich vielleicht irren«, sagte er zu Travis.
»Tut mir Leid«, meinte Travis. »Nun, man muss auch das Positive sehen«, seufzte Jack. Er holte seine Schachtel Marlboro heraus und zündete sich genüsslich eine an. »Ich bin nicht mehr in der Nichtraucher-Zone, und für einen Teller mit Ziegenhodeneintopf könnte ich jetzt morden.» Früher sagte man von der Wardour Street, die mitten in London in Soho liegt und die einst die britischen Filmgesellschaften beherbergte, sie sei die einzige existierende Straße, die auf beiden Seiten im Schatten läge. Die Straßen von Lankhair waren nicht nur auf beiden Seiten schattig, sondern auch in der Mitte. Der Grund dafür war, dass die windschiefen Häuser, die diese Straßen säumten, sich so sehr nach vorne beugten, dass sich ihre Dächer fast berührten. Ein Blick auf den freien Himmel galt in Lankhair als großes Privileg. Lankhair, das wusste Travis mittlerweile, war nicht nur ein schmutziger, düsterer, rattenverseuchter Slum von einer Stadt, es war auch Zentrum aller möglichen dubiosen Geschäfte. Magnetisch zog es jeden verschlagenen, hinterhältigen und bösartigen Betrüger in Samella an. Kein Wunder, dass Jack sich hier ziemlich heimisch fühlte. »Hier ist es, Nummer zwölf«, verkündete der Dämon von seinem Sitz auf Whiplashs Kopf aus. »Wenn du es sagst«, meinte Travis und starrte in die Finsternis. Er konnte gerade so etwas wie eine Art Schaufenster eines Geschäfts ausmachen. Jack schnippte mit dem Finger und zauberte eine kleine Feuerkugel, die einen rötlichen Schein auf
das Gebäude warf. Jetzt konnte Travis erkennen, dass über der Eingangstür ein Schild hing. Es trug die Aufschrift ›Alles für die Suche‹. »Hier muss es sein.« Travis stieg ab, und Beatrice und Sharon taten es ihm nach. Die Vorübergehenden beachteten die Gruppe kaum. In Lankhair war es ratsam, sich nur um seine eigenen Geschäfte zu kümmern. Sie banden die Pferde an ein Geländer, und Travis betätigte den Türklopfer. Nachdem sie fast eine Minute gewartet hatten, öffnete sich die Tür mit einem düsteren Knarren. Ein alter Mann in einem langen, verstaubten roten Mantel – er sah aus, als könne er als Weihnachtsmann in den Kaufhäusern auf der Erde ein Vermögen verdienen – musterte sie von oben bis unten. Dann lächelte er sie strahlend an und fragte: »Haben wir etwa schon wieder Halloween?« »Was?«, fragte Travis. »Nur ein kleiner privater Scherz. Kommt herein … nur herein.« Er öffnete die Tür, trat beiseite und bat sie einzutreten. Travis sah sich voller Neugier um. Das Innere des Ladens ähnelte mehr einer Lagerhalle. Einer sehr unaufgeräumten und sehr staubigen Lagerhalle. In alle Richtungen und in allen Höhen stapelten sich Kisten, Kartons und riesige Truhen. Es gab lange Reihen mit Holzschubladen, von denen jedoch keine auf irgendeine Art gekennzeichnet schien. Wie der alte Mann in diesem Chaos irgendetwas finden wollte, war Travis ein Rätsel. »Mein Name ist Best. Jeremy P. Best«, stellte sich der Alte vor. »Und ihr ehrenwerten Leute seid …?« Travis nannte ihre Namen und begann dann: »Man hat uns gesagt, dass Ihr uns eventuell dabei behilflich sein könnt, etwas
zu finden. Etwas Besonderes.« Best ließ wieder sein strahlendes Lächeln aufblitzen und kicherte. »Besonderes für die Leute zu finden, das ist doch meine Spezialität. Wie ihr sehen könnt.« Er breitete die Arme aus, um die Größe seines Ladens zu verdeutlichen. Staubwolken wirbelten von seinen herabhängenden Ärmeln hoch. »Mein Motto lautet: ›Alle Suche endet – wenn man an Best sich wendet‹.« »Ihr seid also Sammler?«, fragte Travis und unterdrückte seinen Niesreiz. »Sozusagen. Aber ich sammele nicht irgendwelche alten Dinge – sondern eben nur besondere Dinge«, entgegnete Best stolz. »Die Dinge, für die man auf eine Suche geht.« »Verstehen wir dich richtig, Opa?«, fragte Jack. »Du bist so eine Art Vertreter, der für andere Leute auf die Suche geht?« »Nicht ich persönlich«, sagte Best. »Ich nehme geeignete Personen unter Vertrag, die die Suche für mich aufnehmen – entehrte Ritter, arbeitslose Abenteurer, ausgemusterte Barbaren, trunksüchtige Steuereintreiber, eben Menschen, die für ein bisschen Bargeld die unglaublichsten Risiken eingehen. Natürlich sind sie nicht immer erfolgreich, aber ich schätze, dass ich mehr gewinne als verliere.« »Und wenn Leute die Dinge, die Eure Söldner gefunden haben, wirklich dringend brauchen, dann müssen sie zu Euch kommen, stimmt's?«, fragte Travis. Best nickte eifrig. »Und ich wette, dann berechnest du ihnen einen Arm und ein Bein und noch mindestens ein lebenswichtiges Organ«, warf Jack ein. »Ich würde eher sagen, dass wir zu einer für beide Seiten zu-
friedenstellenden Einigung gelangen«, sagte Best glatt. Travis war zu der Überzeugung gelangt, dass Bests Weihnachtsmannkostüm grob irreführend war. Und er hoffte, dass das Geld in Prinz Valeries Börse ausreichen würde, um den Finderlohn des kleinen Gauners zu begleichen, sollte Best den Schlüssel tatsächlich besitzen. »Also, wie kann ich Euch helfen?«, fragte Best strahlend. »Sucht Ihr nach einem Zauberschwert? Einem magischen Ring? Einem Zauberamulett, das in Eurem geplagten Land die Kräfte des Guten zum Leben erweckt? Einem besonderen Siegel, das Euch wieder den Thron besteigen lässt? Na, warm oder kalt?« »Eher kalt«, meinte Travis. »Ich suche etwas, das Der Schlüssel genannt wird. Allerdings weiß ich nicht, ob es überhaupt ein Schlüssel ist. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, was es sein könnte.« Best legte einen Finger auf die Lippen und runzelte die Stirn. »›Der Schlüssel‹, hmmm, und dazu dein Name, Travis Thomson, da läutet irgendwo ein Glöckchen bei mir.« Er legte seine Stirn noch tiefer in Falten. Dann strahlte er plötzlich und rief: »Aha!« Schon schlurfte er zu einer riesigen Kommode, zog die unterste Schublade heraus, beugte sich darüber und begann Schlüssel aller Formen und Größen hervorzuholen und auf den Boden zu werfen. »Nein … nein … nein … nein …«, murmelte er, während er in den Schlüsseln herumwühlte. Plötzlich sagte er ein zweites Mal ›Aha!‹ und erhob sich. »Hab ich mir's doch gedacht …«, sagte er, auf eine Weise strahlend, die Travis langsam auf die Nerven ging. Er kam auf Travis zu und streckte seine Hand aus. Travis sah, dass ein altmodischer silberner Schlüssel von etwa
acht Zentimetern Länge darin lag. Mit einem roten Band war ein großes weißes Pappschild daran gebunden. Auf dem Schild stand in flüssiger Handschrift DER SCHLÜSSEL – AUSSCHLIESSLICH FÜR TRAVIS THOMSON. »Der Schlüssel ist ein Schlüssel?«, sagte Travis, der nicht länger zu glauben wagte, dass die Dinge so einfach lagen. »So sieht es aus«, entgegnete Best strahlend. Travis griff nach dem Schlüssel, aber sofort schloss Best seine gichtigen Griffel fester um das Teil. »Zuerst sollten wir über das Geschäftliche reden.« Er strahlte nicht mehr. Travis seufzte: »Wie viel?« »Zweitausend Schillinge«, sagte Best und fügte rasch hinzu: »Ich habe sehr hohe Unkosten.« »Kann ich eine Frage stellen, Opa?«, sagte Jack. »Nur zu.« »Wir sind in der Überzahl. Was könnte uns daran hindern, das verdammte Ding zu schnappen und dich in eine deiner Schubladen zu sperren?« Best pfiff leise. Zunächst hörte man nur ein Rascheln von oben. Staub fiel von der Decke herab. Travis blickte hinauf. In der Finsternis zwischen dem Dachgebälk, das sich unter der Decke wölbte, bewegte sich etwas. Er sah, wie sich ein einzelnes rotes Auge langsam öffnete. Kurz darauf senkten sich zehn große Tentakel bedrohlich nach unten … »Gute Antwort«, sagte Jack zu Best. Best pfiff erneut. Die Tentakel stoppten und zogen sich langsam wieder nach oben zurück. »Das ist Oskar«, sagte Best, nun wieder strahlend. »Er ist mein Beschützer und Schuldeneintreiber.«
Travis holte die Börse des Prinzen hervor, leerte ihren Inhalt in seine Hand und zählte die Münzen. »Das habe ich befürchtet. Nur noch achthundert Schillinge … Mist.« »Dann kommen wir nicht ins Geschäft«, meinte Best. »Beehrt mich wieder, wenn ihr die gesamte Summe habt.« Travis fluchte. »Wo, zum Teufel, soll ich zwölfhundert Schillinge herbekommen?« »Von mir«, sagte Beatrice und holte einen prallen Geldbeutel aus einer ihrer Taschen hervor. Travis sah hinein. Er war voll mit Goldmünzen. »Woher hast du die?«, fragte er mit ungläubigem Staunen. »Von der Grünen Königin. Sie meinte, du könntest ein bisschen knapp bei Kasse sein.« »Die Frau ist göttlich!«, rief Travis und zählte eifrig Schillinge ab. »Das wissen wir doch schon, Travis«, sagte Beatrice. Travis bezahlte Best die zweitausend Schillinge und nahm den Schlüssel an sich. Er sah ihn respektvoll an. »Na gut, jetzt habe ich den Schlüssel – aber was fange ich damit an?« Niemand wusste eine Antwort. Schließlich schlug Jack vor: »Warum wünschst du dir nicht etwas?« »Wünschen?« »Ja. Versuch doch, dich nach Hause zu wünschen. Und wenn es klappt, dann vergiss nicht, ein gutes Wort für mich einzulegen, falls du Prenderghast wiedersiehst.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so einfach sein könnte …«, sagte Travis. Dennoch wünschte er sich: »Ich möchte wieder nach Hause!«
Travis wachte auf. Sein Radiowecker hatte sich eingeschaltet und weckte ihn mit den Klängen von Kylie Minogues ›I Should Be So Lucky‹. Ohne Zweifel ein geschmackloser Scherz. Er öffnete die Augen, richtete sich auf und stellte fest, dass er sich in seinem eigenen Schlafzimmer befand. Dann sah er auf die Uhr. Es war acht Uhr morgens. Der dreizehnte Januar. Vorsichtig blickte er an sich herab. Er trug sein ›Wasp Factory‹-T-Shirt und grüne Shorts. In diesem Augenblick bemerkte er, dass er furchtbare Kopfschmerzen hatte. Vorsichtig stieg er aus dem Bett, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. St. John's Wood, in all seiner heruntergekommenen Pracht, breitete sich vor ihm aus. Er war eindeutig wieder zu Hause. Er setzte sich aufs Bett. Wo war er gewesen? Schon jetzt hatten seine Erlebnisse auf Samella etwas Traumhaftes an sich. Hatte vielleicht nur ein allzu scharfes Currygericht all das ausgelöst? Oder zu viel Wein? Er erinnerte sich an das indische Restaurant, in dem er gestern Abend mit Heather gegessen hatte. Oder war auch das Teil eines Traums gewesen? Scheißegal. Was immer mit ihm geschehen war – es war vorbei. Er hörte die Toilettenspülung. Und runzelte die Stirn. War Heather mit in seine Wohnung gekommen? Es kam nur sehr selten vor, dass sie das an einem Werktag tat. Hastig stand er auf und öffnete die Schlafzimmertür. In diesem Augenblick kam eine splitternackte Frau aus dem Bad. Sharon. Sie lächelte ihm zu. »Fühlst du dich besser?«
»Aargh …«, antwortete Travis. »Gut«, sagte sie und verschwand in der Küche. Mit zittrigen Beinen ging er ihr nach. In der Küche saß Beatrice in seinem Morgenmantel am Tisch und aß ein Stück Toast. »Hallo, Travis«, begrüßte sie ihn strahlend und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder seinem tragbaren Schwarzweißfernseher zu, in dem gerade das Frühstücksfernsehen lief. »Aargh …«, entgegnete er. Auf dem Kühlschrank hockte Jack. In der einen Hand hielt er eine Tasse Kaffee, in der anderen eine Marlboro. »Du siehst schlechter aus als die Maske, die wir für das Monster in Der Höllenmutant vom Jupiter entworfen haben«, begrüßte Jack ihn fröhlich. Dann wandte auch er sich wieder dem Fernseher zu. »Weißt du übrigens, dass man auf deiner Kiste nur vier Programme reinkriegt?«, erkundigte er sich. »Aargh …«, antwortete Travis. Er fragte sich, wo Whiplash wohl war. Glücklicherweise konnte er das Pferd nirgendwo entdecken. Vielleicht stand es auf Travis' Parkplatz? Sharon, der es irgendwie gelang, in seiner Küche noch nackter auszusehen als auf Samella, stand am Ausguss und füllte den Wasserkocher auf. »Willst du Kaffee, Travis?«, fragte sie. »Jack hat uns gezeigt, wie alles funktioniert. Es ist toll hier.« Travis ließ sich in einen Stuhl fallen. »Aargh …« Dann gab er sich einen Ruck. »Was … was macht ihr alle hier?« »Keinen Schimmer, Boss«, antwortete Jack schulterzuckend. »Gerade eben stehen wir noch im Laden dieses Halunken, und eine Sekunde später in deinem Wohnzimmer. Du bist ohnmächtig geworden, und wir haben dich ins Bett geschafft.« »Aber Ihr könnt nicht hier sein! Ihr existiert nicht! Ihr seid
nur Gestalten aus einem abstrusen Traum …« Beatrice biss gewissenhaft ein kleines Stück von ihrem Toast ab und sah ihn missbilligend an. »Sei nicht albern, Travis …« »Sieht so aus, als wäre Prenderghast noch nicht mit dir fertig«, sagte Jack. »Oder mit mir.« Es klingelte an der Haustür.
BUCH ZWEI
KAPITEL 1
»Sie halten mich für verrückt, nicht wahr?«, fragte Travis den Polizeipsychologen. Der Psychologe, ein gütig aussehender Mann, Anfang vierzig, mit schütterem Haar, schenkte ihm ein trauriges, missbilligendes Lächeln. »Das Wort verrückt gefällt mir gar nicht, Travis. Ich würde es vorziehen, Ihren derzeitigen Zustand als ›sehr verstört‹ zu bezeichnen.« »Natürlich fühle ich mich verstört«, entgegnete Travis gereizt. »Schließlich hat man mich verhaftet!« »Ja, aber Sie müssen zugeben, dass Ihr Verhalten den herbeigerufenen Beamten keine andere Wahl ließ«, meinte der Psychiater ruhig. »Kann schon sein«, murmelte Travis. »Und die Sache mit der Polizistin tut mir auch Leid. Aber wie ich schon seit geraumer Zeit zu erklären versuche – ich konnte nichts dafür. Es war allein die Schuld dieser verdammten …« Er zögerte. »Elfen?«, half der Psychologe versuchsweise. Der Polizist, der an der Tür des Befragungszimmers stand, kicherte leise. »Nein! Dämonen!«, berichtigte Travis. »Das habe ich Ihnen doch schon tausendmal gesagt.« »Ach ja, Dämonen, Entschuldigung. Zwei, sagten Sie?« »Ja, Jack und Sharon. Nur dass Jack nicht schon immer ein Dämon gewesen ist. Früher war er Filmproduzent in Hollywood, wenn auch ein ziemlich schmieriger. Aber Sharon ist
dafür goldecht. Sie ist ein Sukkubus.« »Jack der Dämon, der früher Filmproduzent war«, wiederholte der Psychologe langsam. »Und Sharon der Sukkubus. Jaaa … und diese beiden, ähm, Dämonen sind schuld an Ihren Problemen, stimmt's?« »Seit wir aus Samella zurück sind …« »Ah ja …« Der Psychiater blickte auf seinen Notizblock und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen seine Vorderzähne. »Samella. Diese Welt, die Sie besucht haben.« »Die Welt, in die ich geschickt wurde«, verbesserte Travis. »Von Prenderghast!« »Und mit Prenderghast meinen Sie Gideon Leonard Prenderghast, den bekannten Hersteller von Computerspielen. Der Gideon Leonard Prenderghast?« Travis seufzte und steckte sich eine Mentholzigarette an. Eigentlich hatte er das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben, aber die Ereignisse der letzten Zeit hatten ihn dazu gebracht, die alte Gewohnheit wieder aufzunehmen. »Er ist nicht der, der er zu sein scheint. Er ist … eine Art Gottheit! Und keine nette. Er hat unglaubliche Macht.« »Travis, ich habe mich ein wenig mit Ihrem Redakteur vom Watchdog-Magazin unterhalten. Er hat mir von Ihrer Obsession in Bezug auf Prenderghast erzählt. Und wie Sie wochenlang an Ihrer Story – der geplanten Titelgeschichte – gearbeitet haben. Ganz offensichtlich litten Sie unter dem Stress und reagieren als Resultat darauf mit diesen Wahnvorstellungen.« Travis blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht und freute sich, als der Psychologe angewidert die Miene verzog. »Ich habe keine Wahnvorstellungen. Wollen Sie nun meine Version der
Geschichte hören, Doktor, oder nicht?« »Entschuldigen Sie. Fahren Sie fort. Und, bitte, sagen Sie ruhig Dave zu mir.« Ach du meine Güte, dachte Travis. »Also gut, Dave, es war folgendermaßen: Als ich Prenderghast mit den Ergebnissen meiner Recherchen konfrontierte, zappte er mich irgendwie weg, und nachdem ich aufgewacht war, fand ich mich auf Samella wieder, in der Gesellschaft von Jack und Whiplash.« » Whiplash? « »Das Pferd.« »Ach ja«, sagte Dave und schrieb wieder etwas auf seinen Notizblock. »Jack hat mich dann aufgeklärt. Ich konnte von Samella so lange nicht weg, bis ich den Schlüssel gefunden hatte. Allerdings wusste er nicht, wie der Schlüssel aussehen sollte.« »Und diese Welt, Samella, war sie wie die Erde?« »In mancher Hinsicht schon. Ich meine, dort gab's Menschen, und ich konnte sie verstehen. Zumindest in dem Teil, in dem ich gelandet war. Aber es war eine mittelalterliche Welt, besiedelt von Drachen, Elfen, Feen, Zauberern und all solchem Zeug.« »Und Dämonen?« »Und Dämonen«, bekräftigte Travis. »Travis, waren Sie eigentlich in der Schule ein großer Fan von Der Herr der Ringe?«, fragte Dave. »Um Himmels willen, nein. Ich hab's noch nicht mal bis zur Hälfte des ersten Buches geschafft.« »Aber heute lesen Sie eine Menge Fantasy-Geschichten, nicht wahr?«
Travis schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Ich weiß, diese ganze Geschichte klingt wie eine schlechte Version des Nibelungenlieds, aber dafür kann ich nichts. Es war so! Zuerst dachte ich, es sei nicht wirklich. Ich war überzeugt davon, dass Prenderghast mich an ein außerordentlich leistungsfähiges Virtual Reality-Spiel angeschlossen hatte. Ich glaubte, er wolle mir eine Lektion erteilen, weil ich mich in seine Angelegenheiten eingemischt hatte. Aber letzten Endes musste ich mir eingestehen, dass Samella wirklich existierte.« »Natürlich«, sagte Dave besänftigend. »Und da Sie jetzt ja wieder auf der Erde sind, ist es Ihnen ganz offensichtlich gelungen, diesen Schlüssel zu finden.« »Ja, mit Hilfe der Grünen Königin.« »Wer?« »Einer Göttin, der ich zufällig begegnete. Die Königin des Zauberwaldes, jenes Ortes, an dem unser letzter Kampf mit Prinz Valerie, Sir Rodney, ihren beiden Armeen und diesem schrecklichen Damion stattfand.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen schon wieder nicht ganz folgen«, seufzte Dave. »Das macht nichts. Ja, ich habe den Schlüssel gefunden …« »Und was war es?« »Es war ein Schlüssel.« »Der Schlüssel war ein Schlüssel?« »Ja, der Schlüssel war ein schlichter Schlüssel.« »Und was war mit der Tür?« »Welcher Tür?« »Der Tür, die man mit dem Schlüssel öffnen konnte.« Travis schüttelte den Kopf. »Es gab keine Tür, Dave. Ich habe
mir nur etwas gewünscht, und schon war ich wieder zu Hause.« »Sehr bequem.« »Ja, das dachte ich auch. Und als ich dann in meinem eigenen Bett erwachte, glaubte ich sogar eine Weile, dass alles nur ein verrückter Traum gewesen sei. Aber dann stellte sich heraus, dass es sich keineswegs so verhielt. Ich war nicht allein. In meiner Küche saßen Beatrice, Jack und Sharon.« »Beatrice? Noch ein Dämon?« »Nein, sie geht einem nur auf den Geist. Sie ist eine Prinzessin.« »Was haben sie dort getan?« »Gefrühstückt und ferngesehen.« »Nein, ich meine, warum sind sie mit Ihnen zurückgekommen?« »Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich war der Meinung gewesen, dass meine Leidenszeit vorüber sei, sobald ich den Schlüssel gefunden hatte.« Er drückte die Zigarette aus. »Stattdessen begann sie erst …« Während Travis Beatrice, Jack und Sharon ungläubig anstarrte, klingelte es hartnäckig an der Tür. »Du hast Besuch, Holzkopf«, sagte Jack, der auf dem Kühlschrank hockte. »O Gott, das ist sicher Heather«, stöhnte Travis. »Deine Geliebte, nicht wahr?«, fragte Beatrice, die an einem Stück Toast knabberte. »Das war sie. Ich schätze, dass sowohl meine Person als auch meine Beziehungen Gegenstand einer allgemeinen Revision geworden sind.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Sharon, schnell, verschwinde!« »Warum?« »Weil ich nicht möchte, dass Heather eine nackte Frau in meiner Küche vorfindet.« »Warum?« »Tu's bitte einfach!« »Also schön …« Sharon verschwand. »Jack, du gehst in den Kühlschrank«, sagte Travis. »Du machst Witze. Natürlich gehe ich nicht in den bescheuerten Kühlschrank. Da drinnen ist es kalt. Ich könnte erfrieren. Und was ist, wenn ich keine Luft mehr kriege?« »Jack, du bist nicht mehr das, was man einen Sterblichen nennt. Du bist ein Dämon. Etwas Kälte und Sauerstoffmangel können dir nichts anhaben. Außerdem dauert es ja nicht lange. Bitte!« »Mist«, murmelte Jack, flatterte jedoch vom Kühlschrank herunter, öffnete die Tür und stieg hinein. »Und was ist mit mir?«, fragte Beatrice. Es klang so, als würde sich Heather – irgendwie war Travis klar, dass nur sie es sein konnte – gegen die Türklingel lehnen. Und er wusste nur allzu gut, dass mit Heather nicht gut Kirschen essen war. »Du bleibst, wo du bist. Wenn ich Glück habe, kann ich sie abwimmeln, bevor sie hier reinkommt. Und falls doch, dann hältst du den Mund und überlässt mir das Reden.« »Geht in Ordnung«, sagte sie und bestrich einen weiteren Toast mit Butter. Travis ging in den Flur und öffnete die Wohnungstür. In der Tat, Heather. Sie sah sehr wütend aus. Kaum hatte sie Travis jedoch gesehen, wich ihre Wut allergrößter Bestürzung. Sie
inspizierte ihn von oben bis unten und sagte: »Spinnst du, in diesem Aufzug die Tür zu öffnen? Und wenn es nun nicht gerade ich gewesen wäre?« Ihm fiel ein, dass er nur seine grünen Boxershorts und sein Wasp Factory-T-Shirt trug. Dann erinnerte er sich, wo sein Bademantel war. Beatrice hatte sich hineingeschmiegt. »Schau dich nur an!«, fuhr Heather entsetzt fort. »Du siehst so aus, als hättest du dich eine Woche lang nicht rasiert, und zum Friseur musst du auch. Wie hast du es geschafft, das in zwei Tagen so hinzukriegen?« Darauf gab es eine sehr gute Antwort, aber Travis hatte nicht vor, sie Heather zu geben. Stattdessen murmelte er: »Das ist schwer zu erklären .. « Heather schob ihn beiseite. »Ich schätze, es ist auch sehr schwer zu erklären, warum du mich gestern Abend versetzt hast.« Sie ging auf die Küche zu. »Du hast nicht einmal angerufen …« Travis schloss die Tür und eilte ihr nach. »Ich konnte dich nicht anrufen. Wo ich war, gab es keine Telefone.« »Und was war mit deinem Handy?« Sie betrat die Küche. Dann sagte sie: »Oh!« Travis folgte ihr. Sie stand wie angewurzelt da und starrte Beatrice an, die in seinem Bademantel am Küchentisch saß. Beatrice sah hinreißend schön aus, und selbst in seinem alten, abgewetzten Bademantel wirkte sie immer noch wie eine Märchenprinzessin, die sie ja auch war. Beatrice lächelte Heather an und winkte ihr mit dem Stück Toast huldvoll zu. »Hallo, Heather«, sagte sie aufgeräumt. Heather drehte sich um und starrte Travis an. Mit dem eisi-
gen Blick ihrer blauen Augen hätte man eine brennende Ölquelle zufrieren können. »Ich bin ganz Ohr«, sagte sie. Ihre Stimme klang ebenfalls eisig. Travis überlegte. Nicht gut genug, wie er bald merken sollte. »Ähm, Heather, darf ich dir Beatrice vorstellen. Sie ist aus … ähm, Australien.« »Ach ja? Und was macht sie hier? Und was noch wichtiger ist: Was macht sie hier in deinem Bademantel?« »Sie wohnt eine Weile bei mir. Und da sie vergessen hat, ihren Bademantel einzupacken, habe ich ihr eben meinen geliehen.« Die Art, wie Heather ihn ansah, ließ ihm das Herz in die Hose fallen. Als Reaktion darauf grub er sich noch tiefer in das von ihm selbst geschaufelte Loch. »Es ist nicht so, wie du denkst. Beatrice ist meine … Cousine.« »Du hast mir nie erzählt, dass du Verwandte in Australien hast«, sagte Heather. »Habe ich nicht? Komisch. Mein Onkel mütterlicherseits, Robert, ist vor Jahren dorthin ausgewandert.« Heather wandte sich Beatrice zu. »Also, Sie sind aus Australien?« Beatrice sah zwar etwas verwirrt aus, nickte jedoch eifrig. »Ja, genau.« »Sie klingen gar nicht australisch. Ich kann Ihren Akzent nicht einmal einordnen.« »Tasmanisch«, sagte Travis flugs. »Völlig anderer Dialekt als im Rest des Landes. Weißt du, Tasmanien ist eine Insel, an der Südküste …« »Ich weiß, wo Tasmanien liegt«, erwiderte Heather kalt. »A-
ber ich wusste nicht, dass die Tasmanier anders sprechen.« »Nun, so ist es«, sagte Travis. »Nicht wahr, Beatrice?« »O ja, wir Tasmanier sprechen ganz anders.« »Hörst du?«, sagte Travis. »Sie spricht sogar Tasmanier anders aus.« »So, so«, meinte Heather. »Und aus welchem Teil Tasmaniens kommen Sie, Beatrice?« Beatrice sah Travis hilfesuchend an. In diesem Augenblick ertönte ein Niesen aus dem Kühlschrank. Alle sahen hin. »Was war das?«, fragte Heather. »Was war was?« »Es klang so, als hätte jemand in deinem Kühlschrank geniest.« »Ach was. Das war sicherlich schmelzendes Eis. Ich taue ihn gerade ab«, erklärte Travis. Plötzlich hörten sie ein erneutes Niesen aus dem Kühlschrank, gefolgt von einem wütenden Gemurmel. »Da ist jemand in deinem Kühlschrank, Travis«, sagte Heather langsam und sah den weißen Kasten misstrauisch an. »Sei nicht albern«, entgegnete er lachend. »Wie sollte jemand da reinpassen?« Er stellte sich ihre Reaktion vor, wenn sie die Tür öffnen und Jack sehen würde. Das Telefon klingelte. Gott sei Dank, dachte Travis, als er den Hörer ans Ohr presste. »Hallo?« »Travis, was zum Teufel soll das?«, fragte eine zornige Stimme. Travis stöhnte innerlich auf. Es war sein Redakteur, Martin Shulman. »Du wolltest mich doch sofort nach deinem Interview mit Prenderghast anrufen und mich informieren. Gestern Abend habe ich seine Nummer und dein Handy vielleicht
hundertmal angewählt – keine Reaktion. Was war los?« »Ähm … etwas Unerwartetes ist plötzlich eingetreten. Umstände außerhalb meines Einflussbereichs … tut mir Leid …« »Also, was ist bei dem Gespräch mit Prenderghast herausgekommen?«, fragte Shulman gespannt. »Hat er alles zugegeben?« »Na ja, nicht so richtig«, antwortete Travis. »Was soll das denn nun wieder heißen?« »Es gab Komplikationen.« Er sah zu Heather hinüber, die noch immer misstrauisch auf den Kühlschrank starrte. Allerdings hatte sie keinen Schritt darauf zugetan. Offensichtlich hatte sie das Geheimnis des Kühlschranks von dem Geheimnis, das Beatrice darstellte, abgelenkt. Für den Augenblick jedenfalls. »Komplikationen? Aber wir können die Story doch noch bringen, oder? Ich brauche sie bis heute Abend, damit die Anwälte sie durchsehen können.« »Ich muss verschieben, Martin. Leider muss ich erst noch mal mit Prenderghast sprechen.« »Was?« Shulman schien zu explodieren. »Aber du hast mir versprochen, dass du heute damit fertig bist! Du weißt doch, dass es die Titelgeschichte unserer nächsten Ausgabe werden soll!« »Martin, ich rufe dich später noch mal an und erkläre dir alles«, versprach Travis. »Im Moment bin ich ziemlich müde. Bye.« Er legte auf, bevor sein Redakteur noch irgendetwas sagen konnte. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Heather nun ihn mit dem gleichen argwöhnischen Blick musterte wie eben den Kühlschrank. »Sag bloß nicht, dass die Prenderghast-Story geplatzt ist, nach all der Arbeit, die du investiert hast.«
»Doch, im Moment sieht es so aus«, gab er zu. »Wie ich schon zu Martin sagte, es gab Komplikationen.« »Und mir willst du auch nicht verraten, worin diese Komplikationen bestanden haben, oder?« »Doch, aber nicht jetzt. Später, ich verspreche es dir. Erst muss ich ein paar Dinge klären.« Sie sah zu Beatrice hinüber, die ihr gütig zulächelte. »Zum Beispiel die Sache mit deiner australischen Cousine hier?«, fragte sie spitz. »Ja«, entgegnete er kleinlaut. Heather nickte. Offenbar hatte sie eine Entscheidung getroffen. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Ruf mich später an. Wenn du bereit bist, mir von deinen Komplikationen zu berichten.« Dann marschierte sie aus der Küche, nicht ohne dem Kühlschrank noch einen letzten argwöhnischen Blick zugeworfen zu haben. Er folgte ihr bis zur Tür. »Es gibt wirklich eine Erklärung für alles«, sagte er voller Verzweiflung. Sie lächelte verkniffen. »Das hoffe ich für dich.« Dann fügte sie hinzu: »Sie ist sehr hübsch, deine Cousine.« Damit schlug sie die Tür hinter sich zu. Travis seufzte und ging in die Küche zurück. Sharon war wieder aufgetaucht und trank Kaffee. Jack hämmerte gegen die Innenseite der Kühlschranktür. »Lasst mich raus, ihr Dumpfbacken!«, kreischte er. Travis öffnete die Tür, und Jack taumelte zitternd heraus. Er breitete seine Flügel aus und flog wieder auf den Kühlschrank. »Das war eine tolle Idee, Holzkopf. Das nächste Mal versteckst du dich in der Kühlbox, und ich kümmere mich um deine Schnecke.«
»Tut mir Leid«, sagte Travis. »Aber mir ist in der Eile nichts anderes eingefallen. Schade nur, dass du geniest hast.« »Sei froh, dass ich nicht furzen musste. Du hättest dein ganzes Essen wegschmeißen können. Aber eins habe ich wenigstens dabei gelernt.« »Wirklich? Und was?« »Die kleine Lampe geht tatsächlich aus, wenn man die Tür zumacht.« Das Telefon klingelte erneut. »Travis, was ist Australien?«, fragte Beatrice. »Moment«, sagte er und griff zum Hörer. Er befürchtete, dass es wieder Martin sein könnte, aber der war es nicht. Travis stutzte. Er hielt Jack den Hörer hin. »Es ist für dich!« »Ah, das wird Arnie sein«, sagte Jack und nahm das Telefon. »Wie zum Teufel konnte irgendjemand wissen, dass du hier bist …?«, fragte Travis erstaunt, aber Jack unterhielt sich bereits angeregt mit Arnie, wer immer Arnie auch war. Travis fragte sich benommen, ob es sich vielleicht um Arnold Schwarzenegger handelte. Es klingelte schon wieder an der Tür. War Heather noch einmal zurückgekehrt? Er bezweifelte es. »Beatrice, kann ich bitte meinen Bademantel wiederhaben? Nur kurz?« »Nein, das kannst du nicht. Ich habe nichts darunter an.« »Bitte, erzähl mir nicht solche Sachen, während ich gerade einen Panikanfall bekomme.« Er eilte ins Badezimmer, wo hinter der Tür ein noch älterer Bademantel hing. Diesen zog er an und lief zur Wohnungstür. Draußen stand nicht Heather, sondern seine pingelige Nachbarin von unten, Mrs. Whitby,
eine pensionierte Steuerprüferin. Sie sah ihn missbilligend an, so wie immer. »Mr. Thomson …«, sagte sie. »Mrs. Whitby«, entgegnete Travis. Nach dieser Begrüßung wartete Travis darauf, den Grund ihres Besuchs zu erfahren. Er wusste, dass es sich auf alle Fälle um eine Beschwerde handeln würde. »Mr. Thomson, in meinem Garten befindet sich ein Tier, und ich hege den starken Verdacht, dass Sie in irgendeiner Weise etwas damit zu tun haben.« »Mrs. Whitby, es ist Ihnen doch bekannt, dass ich keine Haustiere habe. Was in diesem Haus ja auch nicht erlaubt ist, wie Sie wissen. Es wird wohl der Hund der Familie gegenüber sein.« »Es ist kein Hund!« »Nicht? Was dann, eine Katze?« »Es ist ein Pferd, Mr. Thomson, und es frisst meine Hyazinthen auf.« Travis stöhnte. Whiplash.
KAPITEL 2
»Macht es dir etwas aus, nicht zu rauchen?«, fragte Travis. »Natürlich macht es mir etwas aus, Holzkopf«, entgegnete Jack und blies drei miteinander verbundene Rauchkringel in die Luft, so etwas wie sein Markenzeichen. »Wenn man ein Dämon ist, dann gehört Rauchen praktisch dazu.« Travis widersprach ihm nicht, sondern winkte nur resigniert ab. Dann sagte er: »Wenn du sie nicht schlagen kannst, schließ dich ihnen an, heißt es wohl. Kann ich auch eine haben?« »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst«, sagte Jack. »Ich hab vor Jahren damit aufgehört. Aber ich glaube, jetzt fange ich wieder damit an. Bis das hier vorüber ist.« Jack warf ihm eine Marlboro zu. Travis fing sie auf und steckte sie sich an einem der Gasringe an. Er inhalierte und fühlte sich urplötzlich ziemlich daneben. Oder besser gesagt, noch danebener als bisher. »Diese Dinger, die dort unten herumrasen – wie nennt man sie?«, fragte Beatrice. Sie lehnte aus dem Küchenfenster. Travis hatte ihr einige Kleidungsstücke von Heather gegeben, und so trug sie nun deren Jeans, ein T-Shirt und eine Jacke von Travis. Die Jeans saßen ein bisschen eng, aber zumindest ihn störte das nicht. Er stellte sich zu ihr ans Fenster, und sie deutete auf den unten vorbeifließenden Verkehr. »Das sind … pferdelose Kutschen«, sagte er. »Das sehe ich selbst, Dummchen«, entgegnete sie ungedul-
dig. »Aber um was genau handelt es sich?« »Man nennt diese Dinger Autos«, entgegnete er. »Und du musst dich sehr vor ihnen hüten. Behandele sie wie gefährliche, unberechenbare und ungeschickte Tiere mit sehr, sehr kleinen Gehirnen. Dann hast du eventuell eine Überlebenschance.« Einer von Heathers Röcken, darüber eines von Travis' Hemden, schwebte in den Raum. Das Hemd zog sich aus dem Rock und landete auf dem Boden. Darauf folgte der Rock, und dann materialisierte sich Sharon vor Travis, in all ihrer gewohnten olivhäutigen, prächtigen Nacktheit. Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich trage keine Kleider!«, verkündete sie. »Wie schön für uns, Baby«, sagte Jack und sah sie lüstern an. Travis seufzte. »Sharon, entweder ziehst du etwas an, oder du musst unsichtbar bleiben, solange du hier bist.« »Von mir aus«, meinte Sharon und verschwand. »Spielverderber«, sagte Jack zu Travis. »Ich meine nicht, während du in meiner Wohnung bist«, verkündete Travis ins Leere. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich es schon ein bisschen irritierend finde … Wie dem auch sei, ich dachte, du wolltest mit uns nach draußen gehen. Es wäre einfacher und sicherer, wenn du sichtbar bliebest, wenn wir das Haus verlassen.« Sharon tauchte wieder auf. »Muss ich wirklich? Ich fühle mich so eingeengt. Und sie kratzen.« »Nur solange du hier bist«, versprach Travis. »Und das wird nicht lange dauern. Sobald ich mit Prenderghast in Verbindung treten und die Dinge klären kann, kehrst du in deine Welt zurück. Vielleicht noch heute.« »Ich will aber noch nicht zurück«, warf Beatrice protestie-
rend ein. »Ich habe ja noch gar nichts von dieser Welt gesehen.« »Ich verspreche, dass wir einen Ausflug machen, bevor wir Prenderghast in seinem Büro aufsuchen«, sagte Travis. Insgeheim hatte er jedoch erhebliche Zweifel, dass alles so leicht gehen würde, wie er hoffte. Er hatte versucht, Prenderghast anzurufen, und seine Sekretärin hatte ihm mitgeteilt, er sei in einer Sitzung. Das, so wusste Travis aus Erfahrung, konnte alles Mögliche heißen. Aber sicherlich würde Prenderghast sein Versprechen halten – schließlich hatte Travis den Schlüssel gefunden, und damit hatte die Sache ein Ende. Bei der Tatsache, dass Jack, Beatrice, Sharon – und Whiplash – ihn in seine Welt begleitet hatten, konnte es sich nur um einen handfesten organisatorischen Fehler handeln. Oder hatte Prenderghast das mit Absicht veranlasst, um ihn noch ein bisschen mehr zu ärgern? Daran mochte er gar nicht denken. Im Hinblick auf diese neue Situation konnte es nicht allzu lange dauern, bevor sein Leben unter der Last völlig zerbrach. Das alles würde ihn außerdem eine Stange Geld kosten – er hatte bereits ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, die Eigentümer einer Reitschule in Primrose Hill dazu zu bringen, Whiplash abzuholen und ihn bis auf weiteres in einem ihrer Ställe zu versorgen. Beatrice forderte andauernd, dass er ihr richtige Kleider kaufen sollte … und allein die Kosten fürs Essen würden enorm ausufern. Und dann gab es da noch das kleine, aber äußerst komplexe Problem, wie er Martin die Sache mit Prenderghast erklären sollte: Ich hatte Recht, Martin, Prenderghasts Virtual RealityHelme stellen ein Sicherheitsrisiko für Kinder dar, aber ein noch viel größeres, als ich vermutet hatte. Ich habe herausgefunden, dass Prenderghast nicht nur ein Gauner ist, sondern
auch eine Art altertümlicher, finsterer Gott. Ich fürchte, dass die Helme dazu dienen, den Kindern den Lebenssaft auszusaugen, der ihm als Nahrung dient … eindeutig ein Fall für die Selbstzensur-Kommission der Spielwarenindustrie. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Martin diese Story schluckte und ihn nicht in eine Zwangsjacke stecken ließ – wie würde Prenderghast reagieren, wenn er herausfand, dass Travis die Wahrheit über ihn verbreiten wollte? Er würde ihn wahrscheinlich an einen Ort schicken, der weitaus schlimmer war als Samella. Dabei hatte er sich gerade wieder an häusliche sanitäre Einrichtungen gewöhnt. »Ich möchte dein Königspaar kennen lernen«, verkündete Beatrice. »Was möchtest du?«, fragte Travis zerstreut. »Ich möchte deinen König und deine Königin kennen lernen«, wiederholte Beatrice. »Ihr habt doch wohl einen König und eine Königin hier, oder?« »Wir haben eine Königin, aber keinen König. Noch nicht zumindest. Aber wir haben eine Menge Prinzen und Prinzessinnen, Fürsten und Fürstinnen, Barone und … wie auch immer. Unsere Königliche Familie ist so umfangreich, dass man ein kleineres Land mit ihr bevölkern könnte. Eine Menge Leute sind auch der Meinung, dass man genau das tun sollte.« »Willst du damit sagen, hier besteht die Gefahr, dass sich das gemeine Volk gegen das Königshaus erhebt?«, fragte Beatrice besorgt. »Kaum. Das gemeine Volk ist ziemlich apathisch. Außerdem, wenn wir die Königliche Familie nicht hätten, gäbe es nichts, womit man die Boulevardblätter füllen könnte.«
»Die was?« Sie sah ihn verständnislos an. »Die Boulevardblätter. Zeitungen für Leute, die nicht gerne lesen.« Sie runzelte die Stirn und sagte: »Na gut, dann stell mich bitte eurer Königin vor. Noch heute « »Aber sicher. Ich ruf sie gleich an und mach einen Termin für dich klar.« Das Telefon klingelt erneut, und wieder war der mysteriöse Arnie am Apparat, der Jack sprechen wollte. Während Jack telefonierte, tauchte Sharon erneut auf, diesmal in Rock und Bluse. »Okay, das hier trage ich, aber Schuhe kommen nicht in Frage. Und Unterwäsche auch nicht. Ich trage keine Unterwäsche.« »Schön, schön«, seufzte er. »Also, wie sehe ich aus?« Er betrachtete sie. Selbst angezogen sah sie nackt aus. Aber es war besser als nichts. »Du gehst als Mensch durch«, versicherte er. So gerade eben. »Danke, Arnie«, sagte Jack in den Hörer. Dann legte er auf. »Diese Schlampe«, murmelte er. »Arnie ist eine Schlampe?«, fragte Travis. »Nein, meine Frau Candice ist die Schlampe. Sie betrügt mich hinter meinem Rücken.« »Das müsste dir doch eigentlich gefallen«, sagte Travis lächelnd. Jack schmollte. »Arnie hat mir erzählt, dass sie mich kurz nach meinem Verschwinden für tot erklären ließ. Dann hat sie meine Filmgesellschaft übernommen, hat mein Personal gefeuert, ihre eigenen tuntigen Verkäufer eingestellt und den Namen
von Pulp Productions in New Age Life Productions geändert. Sie bringt Videos über Meditation, Channeling und Aromatherapie heraus. Was für ein großer Haufen Mist!« »Und, verdient sie Geld damit?« »Ja, verdammt noch mal. Das stinkt mir am meisten.« »Was wirst du jetzt unternehmen?« »Ich weiß es noch nicht. Ich habe zu Arnie gesagt, dass ich ihn anrufe, wenn mir etwas einfällt.« »Wann rufst du endlich die Königin an und bittest um eine Audienz für mich?«, unterbrach Beatrice. »Später«, wich Travis aus. »Und wer ist dieser Arnie?«, fragte er Jack. »Ein alter Kumpel von mir. Wir haben zur gleichen Zeit im Geschäft angefangen. Hat wie ich für Corman gearbeitet. Jetzt ist er Agent.« »Und er lebt doch sicher in Hollywood?«, fragte Travis langsam. » Klar.« »Du hast also von meinem Telefon aus in Los Angeles angerufen?« Travis versuchte sich zu erinnern, wie viel ein Anruf in die USA pro Minute kostete. »He, mach mal halblang. Ich zahl's zurück.« »Und wie?«, fragte Travis. »Das könnte jetzt ein Schock für dich sein, aber ich fürchte, dass du in den Stellenanzeigen kaum etwas Geeignetes finden wirst. Ein übel riechender kleiner Dämon, der außer Fliegen und Feuerspucken nichts gelernt hat, dürfte äußerst schwer vermittelbar sein. Finanziell gesehen steht es schlecht um dich.« »So? Nur zu deiner Information, Klugscheißer, möglicher-
weise könnte ich dich auf diesem Gebiet noch überraschen.« »Dann überrasch mich doch«, forderte Travis skeptisch. »Noch nicht, ich arbeite noch an den Feinheiten …« »Welche Feinheiten?« Jack legte den Finger an die Nase und zwinkerte Travis zu. »Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.« »Der Gedanke allein ängstigt mich. Wie willst du denn …« Er unterbrach sich. Schon wieder klingelte es an der Tür. »O nein … wer kommt jetzt?« »Bist du immer so gefragt?« »Eigentlich nicht. Schnell, du musst dich wieder verstecken.« »Ich gehe nicht in den Kühlschrank zurück. Niemals.« »Dann versteck dich im Badezimmer. Und bleib dieses Mal ruhig.« Jack flatterte aus der Küche. Travis betrachtete Beatrice und Sharon. »Versucht, euch ganz … normal zu benehmen«, sagte er hilflos. Das Schlimmste befürchtend, ging er in den Flur und öffnete die Tür. Draußen stand Stephen Hastings. Stephen war sein bester Freund; sie hatten sich auf der Universität kennen gelernt. Stephen arbeitete auch als Journalist, aber als freier. Er hatte sich auf Wissenschaftsreportagen spezialisiert und war genau so alt wie Travis – dreißig –, ein großer, athletisch aussehender Mann mit schütterem rotem Haar. Die dicken Brillengläser, die er trug, betonten seine blauen Augen. Normalerweise freute sich Travis stets, Stephen zu sehen, aber dieser besondere Morgen stellte eine Ausnahme dar. »Oh, du bist's«, sagte er lustlos. Stephen setzte sein übliches fröhliches Grinsen auf. »Mach
dir vor Freude nicht in die Hose, Travis.« »Was willst du?« »Heather hat mich von der Arbeit aus angerufen. Sie klang ziemlich durcheinander. Erzählte mir eine seltsame Geschichte über dich und deine gut aussehende australische Cousine. Natürlich wurde ich neugierig …« Er wollte in die Wohnung, aber Travis streckte seinen Arm aus. »Im Moment passt es leider gar nicht, Stephen. Ich stecke bis zu den Ohren in … nun, in allerlei.« »Jetzt bin ich noch neugieriger. Und ich weiß genau, dass du gar keine Verwandten in Australien hast. Und so wie es klang, weiß Heather das auch. Also, was läuft hier? Wer ist sie?« »Ich verspreche dir – später erzähle ich dir alles, wenn ich mal wieder ein bisschen zum Atmen komme.« Stephens Grinsen wurde breiter. »Das hört sich prima an. Ist sie anstrengend, deine Cousine?« Er schob sich einfach an Travis vorbei und latschte in den Flur. »Mist«, murmelte Travis und folgte Stephen. In der Küchentür blieb Stephen abrupt stehen, sodass Travis gegen ihn lief. »Zwei tolle Frauen!«, sagte Stephen verblüfft. »Heather sprach nur von einer.« Beatrice stand mit dem Rücken vor dem Fenster, während Sharon am Tisch saß. Beide lächelten Stephen zu. In der Art, wie Sharon lächelte, glaubte Travis etwas zu sehen, was ihm Sorgen machte. Die Aura des Sexuellen, die Sharon sowieso ständig umgab, schien sich an Voltstärke ziemlich vergrößert zu haben. Schlechte Aussichten. »Würdest du mich bitte diesen beiden charmanten Damen vorstellen?«, bat Stephen.
»Tja, das ist Beatrice … und das ist Sharon … und, Beatrice, Sharon, das ist Stephen, ein alter Freund von mir.« Sie tauschten ein paar Hallos aus, und dann sagte Stephen: »Und wer von euch ist Travis' Cousine aus Australien?« »Das bin ich«, antwortete Sharon. »Nein, ich«, warf Beatrice ein und sah Sharon stirnrunzelnd an. »Travis hat gesagt, dass ich es bin, stimmt's, Travis?« Stephen schien das Ganze eine Menge Spaß zu machen. Er sah Travis lächelnd an. »Und? Welche ist nun die Cousine?« »Nun«, sagte Travis. »Alle beide sind es.« »Jetzt hast du also schon zwei australische Cousinen«, meinte Stephen lachend. »Das wird ja immer besser.« »Nun ja … aber es stimmt«, sagte Travis, dem schmerzhaft bewusst war, wie blöde das alles klang. »Ihr seid also Schwestern?«, fragte Stephen Sharon und Beatrice. »Nein! Natürlich nicht«, antwortete Beatrice entrüstet. »Ich bin ein menschliches Wesen von königlichem Geblüt. Sharon ist nur ein Sukkubus.« Sie sah Sharon an und fügte hinzu: »Ist nicht persönlich gemeint, Sharon.« Sharon reagierte mit einem Schmollen. Stephens Blick wanderte von Beatrice zu Travis und wieder zurück. »Jetzt bin ich doch etwas verwirrt. Königliches Geblüt? Sukkubus?« »Ach je«, seufzte Beatrice. »Tut mir Leid, Travis.« Stephen sah Travis neugierig an. Sein Grinsen war einem misstrauischen Stirnrunzeln gewichen. »Was ist hier eigentlich los? Wollt ihr mich alle auf den Arm nehmen?« »Auf den Arm nehmen?«, sagte Travis. »Nein, nein. Beatrice
ist nur ein bisschen verwirrt. Sie leidet noch am Jetlag. Und sie ist müde. Es war ein langer Flug.« »Klammerst du dich noch immer an das australische Märchen?«, fragte Stephen. »Komm schon, Travis, raus mit der Wahrheit. Was ist wirklich los? Wer sind sie? Und was machen sie hier?« Travis versuchte es voller Verzweiflung mit einem neuen Ansatz. »Ich kann es dir nicht erklären, es ist streng vertraulich. Ich kann nur so viel sagen – es hat mit meiner Arbeit zu tun. Diese Prenderghast-Geschichte, von der ich dir erzählt habe.« »Deine große Story über ihn? Du hast es also geschafft?« »Ja, und sie ist noch größer, als ich gedacht habe. Und es ist gefährlich. Deshalb sind Sharon und Beatrice hier … zumindest für eine Weile. Sie sind in die ganze Situation verstrickt. Weil sie mir wichtige Informationen zukommen ließen, und als Resultat …« Travis schwieg bedeutsam. Stephen wurde plötzlich ernst. »Du meinst, Prenderghast könnte etwas … Unüberlegtes tun? Weil du bestimmte Dinge über ihn herausgefunden hast?« »Genau.« Stephen sah die beiden Frauen an. »Und ihr versteckt euch hier vor Prenderghast?« Die beiden sahen einander an und nickten ernst. »Mein Gott«, sagte Stephen. Er wandte sich an Travis. »Ich weiß, du hast mir gesagt, dass diese Prenderghast-Sache eine große Nummer sei, aber ich hatte keine Ahnung …« »Ich auch nicht«, meinte Travis. »Du verstehst also, dass ich dir keine Einzelheiten erzählen kann, bis die Sache publik wird. So ist es sicherer für alle Beteiligten. Das verstehst du doch?«
»Klar, klar, ich verstehe«, versicherte Stephen. »Ich mag dich«, sagte Sharon plötzlich völlig unvermittelt zu Stephen. Verblüfft starrte Stephen sie einige Sekunden an. Dann nahm er eine Art unbeholfener Balzhaltung ein. Travis konnte fast sehen, wie ihm der Kamm schwoll. »Wirklich?«, sagte Stephen zu Sharon. »Nun, ich fühle mich geschmeichelt. Ich mag dich übrigens auch, und ich würde dich gerne näher kennen lernen.« Travis unterdrückte ein Stöhnen. Sharon verströmte eine solche Menge an sexuellem Magnetismus, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn sämtliches Besteck in ihre Richtung geflogen wäre. Dass Sharon ihre tödlichen Zähne in Stephen schlug, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. »Wenn diese ganze Sache mit Prenderghast vorbei ist, musst du mir unbedingt erlauben, dich zum Essen einzuladen«, sagte Stephen zu Sharon. »Das würde mir gefallen. Sehr sogar«, gurrte sie. Travis packte Stephen am Ellenbogen und steuerte ihn energisch auf die Wohnungstür zu. »Ich denke, es ist Zeit für dich, zu gehen. Die Mädchen und ich haben noch eine Menge zu erledigen.« Es gelang ihm, den protestierenden Stephen in den Flur zu schieben. »Ich rufe dich an, Sharon!«, rief Stephen über die Schulter. »Ja, bitte!«, lautete Sharons Antwort. »Ich kann es kaum erwarten.« »Stephen, halt dich von ihr fern!«, flüsterte Travis eindringlich. »Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt.« »Oh, ich denke, ich habe da schon eine recht genaue Vorstellung. «
»Nein, im Ernst. Das Mädchen kann … lebensgefährlich werden.« »Klingt immer besser.« »Ich meine es ernst. Bleib von ihr weg. Außerdem ist sie sowieso nicht lange hier. Hoffe ich jedenfalls.« »Und wo wohnt sie?« »Weit weg. Du musst sie vergessen. Tu so, als gäbe es sie gar nicht.« Er versuchte Stephen weiterzuschieben, aber der wehrte sich. »Was ist mit dir los, mein Freund? Eine umwerfend schöne Frau macht mir Avancen, und du tust alles, um das zu sabotieren!« »Glaub mir, es ist zu deinem Besten. Und mit umwerfend hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Oh, natürlich. Hör mal, seit mich Carol vor zwei Monaten verlassen hat, habe ich wie im Zölibat gelebt. Fast jedenfalls. Und diese Sharon ist nicht von dieser Welt.« Die Entgegnung darauf lag nahe, aber Travis biss sich auf die Zunge. Er schob Stephen weiter. »Ich wäre doch verrückt, wenn ich eine solche Einladung ausschlagen würde«, murmelte Stephen. »Und du wärst noch verrückter, solltest du sie annehmen. Und jetzt geh, bitte. Ich erkläre dir alles, sobald ich kann.« Er öffnete die Tür. Widerwillig ging Stephen hinaus. »Ich gebe nicht auf, Travis. Sag Sharon, dass ich mich bei ihr melde.« »Mach's gut, Stephen«, knurrte Travis und schlug die Tür hinter ihm zu. Er ging in die Küche zurück. »Echt prima gemacht, Mädels. Ich bitte darum, dass ihr euch so normal wie
möglich benehmen sollt, und sofort reitet ihr mich wieder rein.« »Ich habe mich normal benommen«, sagte Sharon schnippisch. Jack kam in die Küche geflogen und landete auf dem Fernseher. »Wer war der Vogel?« »Mein bester Freund.« »Das sagt alles«, meinte Jack. »Ich fand ihn süß«, erklärte Sharon und reckte sich sinnlich. »Das habe ich gesehen. Versprich mir, dass du ihn in Ruhe lässt. Ich will nicht, dass mein bester Freund als metaphysisches Eis-am-Stiel für dich endet.« »Ich werde nicht das kleinste Stückchen von seiner Seele abbeißen. Mich interessiert nur sein Körper.« »Auch davon sollst du nichts abbeißen«, sagte Travis. Er musste daran denken, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach mit Damion, dem jungen Zauberer, gemacht hatte. »Travis?«, meldete sich Beatrice. »Ja, was ist denn?«, entgegnete er ungeduldig. »Können wir jetzt langsam mal deine Königin besuchen?«
KAPITEL 3
Prinz Valerie hing schlaff auf seinem Thron und stützte sein Kinn auf die Hand. Er machte sich nicht einmal die Mühe, dem Pagen einen Blick zuzuwerfen. Der junge Mann räusperte sich nervös, während er sich dem Prinzen näherte. »Eure Hoheit …?«, sagte der Page vorsichtig. »Was gibt es?«, fragte der Prinz uninteressiert. »Euer Zauberer, Damion, ist zurückgekehrt, Herr. Er bittet um eine Audienz.« Der Prinz blickte überrascht auf. »Damion? Hier?« Und in der Tat, Damion stand bereits an der Tür – er war abgemagert, gebeugt und sah wesentlich älter aus, als er in Wirklichkeit war. Doch er war es, unverkennbar. »Damion! Du lebst!« Damion, wie immer in Schwarz gekleidet, schlurfte, auf einen Spazierstock gestützt, auf den Thron zu. »Mehr oder weniger, Herr, wie Ihr seht.« »Bring ihm einen Stuhl! Sofort!«, befahl der Prinz dem Pagen. Der Page eilte davon und brachte einen Stuhl herbei. Er stellte ihn neben Damion und half dem geschwächten Zauberer, darauf Platz zu nehmen. »Gut dich zu sehen, Damion«, sagte der Prinz. »Ich glaubte, du seist ein Opfer der Grünen Prinzessin geworden, wie alle anderen auch.« »Nein, sie ließ mich gehen …« Er verzog schmerzhaft das
Gesicht. »Aber nicht ohne mich dafür bezahlen zu lassen.« Der Prinz hielt es für weiser, sich nicht danach zu erkundigen, wie diese Bezahlung genau ausgesehen hatte. »Und wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« »Ich habe einige Wochen in der Reha-Klinik des ZGW verbracht.« »Des ZGW?« »Des Zauberer-Genesungs-Werks. Aber wie ist es Euch ergangen, mein Herr? Wie seid Ihr an diesem schrecklichen Tag entkommen?« Der Prinz winkte geringschätzig ab. »Oh, ich habe mich gerade noch rechtzeitig in eine Fledermaus verwandelt. Noch bevor ich der Magie der Grünen Königin zum Opfer gefallen wäre, bin ich aus dem Zauberwald geflogen. Seit ich wieder hier bin, habe ich versucht, die Scherben zusammenzukehren, aber ohne großen Erfolg. Es gibt eine Menge unzufriedener Leute um mich herum. Ich meine, eine ganze Armee zu verlieren dient nicht gerade dazu, das Vertrauen in einen Herrscher zu stärken.« »Eigentlich waren es ja zwei Armeen, Herr, wenn man die von König Morbias dazurechnet …« »Erinnere mich nicht daran. König Morbias überschwemmt mich mit Rechnungen, nicht nur für seine verschwundenen Männer, sondern auch für Pferde, Waffen und Ausrüstung. Meine Buchhalter raufen sich die Haare. Außerdem ist mein Sozialleben völlig im Eimer.« »Wegen Eurer verschwundenen Armee?« »Zum Teil auch deswegen, aber hauptsächlich, weil ich von Du-weißt-schon-wem als Vampir geoutet worden bin.«
»O ja, natürlich. Das hatte ich ganz vergessen.« »Ich wünschte, das hätten alle anderen auch. Einladungen zum Abendessen gibt's nicht mehr, die Einheimischen machen einen weiten Bogen um mich, und für einen guten Schluck muss ich Meilen reisen.« »Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl, Herr«, sagte Damion. »Vielleicht interessiert es Euch zu erfahren, dass ich – nachdem ich halbwegs neue Kräfte gesammelt hatte – versucht habe, die Spur von Ihr-wisst-schon-wem und unseren anderen gemeinsamen Freunden wieder aufzunehmen.« Der Prinz beugte sich wissbegierig vor. »Hattest du Erfolg?«, fragte er. »Zuerst schon. Mein verräterischer Sukkubus hinterließ genug Spuren. Ich folgte ihnen bis Lankhair. Und dort endete die Fährte.« »Warum?«, fragte der Prinz enttäuscht. »Sie endete im Laden eines gewissen Jeremy P. Best. Vielleicht habt Ihr von ihm gehört?« Der Prinz runzelte die Stirn. »Ich meine, den Namen zu kennen, aber kläre mich bitte auf.« »Er hilft Leuten, die auf der Suche sind. ›Die Suche endet – wenn man an Best sich wendet‹ lautet einer seiner Werbesprüche.« »Ach ja, ich kenne ihn.« »Er verriet mir – gegen Bezahlung –, was geschehen ist. Unglücklicherweise hatte Ihr-wisst-schon-wer das Objekt, das er suchte, bereits erworben, eben das Objekt, welches als der ›Schlüssel‹ bekannt ist.« »Mist«, murmelte der Prinz. »Also ist es Du-weißt-schon-
wem gelungen, in seine eigene Welt zurückzukehren?« »Ich fürchte, so ist es, Herr. Aber das Merkwürdige ist, dass seine samellanischen Begleiter mit ihm gegangen sind. Sogar sein Pferd.« »Tatsächlich?« Der Prinz war zugleich überrascht und verärgert. »Das heißt, dass sie allesamt außerhalb unserer Reichweite sind?« »Nun, nicht alle. Best erzählte mir, dass Ihr-wisst-schon-wer nur von drei Personen begleitet wurde. Nach seiner Beschreibung handelte es sich um Prinzessin Beatrice, meine Sharon und Jack, den fliegenden Furz. Annabelle war nicht dabei. Ich tippe, dass sie im Reich der Grünen Königin geblieben ist.« »Dann ist sie umso sicherer vor uns«, seufzte der Prinz. »Ich werde es nicht noch einmal wagen, die Grüne Königin herauszufordern.« »Vielleicht ist sie tatsächlich am sichersten von allen. Aber vielleicht sind es die anderen, die nicht außerhalb unserer Reichweite sind …« Auf Damions verwüsteten Gesichtszügen zeichnete sich etwas ab, was man möglicherweise als Lächeln deuten konnte. »Was meinst du damit?«, fragte der Prinz. »Was ich damit meine? Ich meine, dass es möglich sein könnte, Ihr-wisst-schon-wem und seinen Begleitern in diese andere Welt zu folgen. Wir beide, mein Herr. Ich muss Euch allerdings darauf hinweisen, dass die Sache nicht ohne größere Risiken ist.« Der Prinz überlegte eine Weile. Dann sagte er: »Mein Durst nach Rache ist noch heftiger als der nach Blut. Ich pfeife auf die Risiken. Tun wir's einfach!«
Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit musste Damion richtig laut lachen. »Es tut mir Leid, Mr. Prenderghast ist nicht anwesend, Mr. Thomson«, teilte die Sekretärin Travis mit kühler Stimme mit. »Er musste sich aufgrund dringender Termine auf eine Auslandsreise begeben.« »Er ist nicht mehr im Land?«, fragte Travis ungläubig. »Als ich das letzte Mal anrief, saß er noch in einer Besprechung!« »Wie ich schon sagte, es kam alles sehr überraschend.« »Wo ist er? Haben Sie eine Nummer, unter der ich ihn erreichen kann?« »Ich bin nicht befugt, solche Informationen weiterzuleiten«, beschied sie ihn. »Können Sie mir sagen, wann er zurückkommt?« »Tut mir Leid. Das hat er mir nicht gesagt.« »Ach du meine Güte …«, seufzte Travis. »Aber er trug mir auf, Ihnen eine Nachricht zu übermitteln, Mr. Thomson.« »Tatsächlich?« Travis schöpfte Hoffnung. »Und wie lautet die Nachricht?« »Ich soll Ihnen sagen, dass er an sie denkt.« Travis' Hoffnung sank wieder. »Das ist alles? So lautet die Nachricht?« »Ja, das ist alles, Mr. Thomson. Hoffentlich konnte ich Ihnen helfen. Auf Wiederhören.« Sie legte auf. Travis starrte den Hörer in ohnmächtigem Zorn an, bevor er ihn auf die Gabel schmetterte. »Gemach, gemach«, schalt ihn Jack.
»Prenderghast hat das Land verlassen. Niemand weiß, für wie lange. Aber er hat mir eine Nachricht hinterlassen – dass er an mich denken würde.« »Oh. Das hört sich aber überhaupt nicht gut an«, sagte Jack. »Finde ich auch. Er spielt mit mir.« Travis ließ sich in einen Sessel fallen. »Was zum Teufel soll ich jetzt tun?« »Du bringst mich zu deiner Königin«, schlug Beatrice vor. Travis sah sie an. »Es wird dich vielleicht überraschen, aber die Königin von England und ich sprechen nicht miteinander.« »Hattet ihr Streit?«, fragte Beatrice besorgt. »Nein, du königliche Schnepfe, ich meine damit, dass ich sie nicht kenne. Wir bewegen uns in unterschiedlichen sozialen Kreisen. Und das bedeutet, dass ich keineswegs bei ihr anrufen und ihr mitteilen kann, mal eben mit einer Freundin auf einen Tee vorbeikommen zu wollen. Verstanden?« Beatrice sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Verblüffung an. »Nun, das war nicht sehr nett von dir – mir falsche Hoffnungen zu machen. Kennst du überhaupt keine Adeligen?« »Nur dich. Zum Glück.« Sie sah ihn verletzt an, und Travis fühlte sich sogleich schuldig. »He, tut mir Leid, so habe ich das nicht gemeint.« »Doch, hast du.« Ihre Lippen zitterten. »Und das, nachdem ich dir so oft das Leben gerettet habe.« »Was? Ich bin es gewesen, der dir das Leben gerettet hat, und zwar öfter, als man aufzählen kann. Ich habe dich vor dem verdammten Drachen gerettet, vor Bovrol dem Barbaren, vor Prinz Valerie … vor allem Möglichen.« »Trotzdem habe ich dir öfter das Leben gerettet«, entgegnete sie bestimmt. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte dich dieser
Mob wütender Barbaren nach dem Duell in Stücke gerissen … und ich habe Prinz Valerie überredet, dir eine Waffe zu geben, als Sir Rodney dich durchbohren wollte …« »Ha! Erzähl mir bitte nichts von deinem lieben Prinz Valerie. Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du jetzt neben ihm in einem Sarg schlafen und müsstest ein Vermögen für Zahnseide ausgeben.« »Moment mal«, unterbrach Jack. »Wie steht's mit mir? Wer hat euch aus Prinz Valeries Schloss gebracht? Und wer ist mit euch vor Sir Rodneys Männern davongeflogen?« »Was ohne meine Hilfe niemals möglich gewesen wäre«, fügte Sharon hinzu. »Ach, was soll's«, murmelte Travis. »Also schön, wir alle haben einander mehrmals das Leben gerettet. Belassen wir es dabei und hoffen wir, dass wir in keinerlei lebensgefährliche Situationen mehr kommen.« Er sah zu Beatrice hinüber. »Ich kann dich zwar nicht in den Buckingham-Palast bringen, aber als Ersatz zeige ich dir Harrods.« »Was ist ›Harrods‹?«, fragte sie. »Eine andere Art Palast. Es wird dir gefallen. Ich ziehe mich nur rasch an, und dann brechen wir auf.« Er wollte gerade ins Schlafzimmer gehen, als Jack ihn fragte, ob er eine Polaroidkamera besitze. »Ja, weshalb?«, antwortete er. »Ich möchte sie ausleihen, deshalb.« Travis holte die Kamera aus dem Schlafzimmer und gab sie Jack. Als er wieder ins Schlafzimmer zurückging und seinen Kleiderschrank öffnete, erlebte er eine Überraschung. Ordentlich nebeneinander platziert, hingen dort die Kleider, die er in Samella getragen hatte und die von Prinz Valerie stammten.
Und auf dem Boden des Schranks lag die 45er, die mindestens ebenso fehl am Platze wirkte wie das grelle samellanische Kostüm. Vorsichtig hob er ihn auf und fragte sich, ob er in dieser Welt wohl auch funktionieren würde. Er spürte die Versuchung, es auszuprobieren, sagte sich aber schnell, dass ein solcher Versuch selbst im Hinblick auf seine derzeitige Geistesverfassung eine ausgesprochene Dummheit wäre. Also legte er die Waffe in ein Regal und bedeckte sie mit einem Handtuch. Selbst wenn sie funktionieren sollte – in London brauchte er sie ganz sicher nicht. Nachdem er sich umgezogen hatte, ging er wieder in die Küche, wo Jack eifrig Polaroidfotos von Beatrice und Sharon machte. Letztere führte sich vor der Kamera auf wie ein professionelles Model; sie posierte und flirtete, als habe sie nie etwas anderes getan. »Wozu soll das gut sein?«, fragte Travis den Dämon, als der die Resultate seiner Arbeit mit offensichtlicher Zufriedenheit betrachtete. »Das ist alles ein Teil meines Meisterplans«, sagte Jack. Dann wandte er sich an Sharon. »Du hast ein angeborenes Talent, Babe. Die Kamera mag dich nicht nur, sie möchte Kinder von dir kriegen.« Beatrice, die sich die Polaroids anschaute, auf denen sie selbst zu sehen war, sagte mit beinahe ehrfürchtiger Stimme: »Ich bin unglaublich schön, nicht wahr?« »Ja, Babe, du bist okay. Du wirst Herzen brechen und für feuchte Sitze sorgen.« Travis sah Jack misstrauisch an. »Wie soll dieser Meisterplan aussehen, und werde ich noch erleben, wie er scheitert?«
»Was deine Lebenserwartung betrifft, Travis, so möchte ich darüber nicht spekulieren. Aber solltest du noch leben, wenn ich diese Sache auf die Beine stelle, dann wirst du es nicht bedauern, das schwöre ich dir.« Travis fühlte sich alles andere als beruhigt. Als es schon wieder an der Tür klingelte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. »Du solltest Eintritt verlangen, es würde sich lohnen«, sagte Jack, als Travis zur Tür eilte. Draußen stand ein großer dunkelhäutiger Mann in einer Uniform. Die Worte »Eildienst« leuchteten in roten Buchstaben an seiner Jacke. Er hielt ein großes Paket und ein Clipboard in den Händen. »Würden Sie hier mal eben unterschreiben?«, sagte er und reichte Travis sowohl Paket als auch Clipboard. Travis unterschrieb mit dem beigefügten Kugelschreiber und fragte nach dem Absender. Der Paketbote schlug ihm vor, doch einen Blick auf die Absenderkolumne auf dem Packzettel zu werfen. Als Travis dort den Namen Prenderghast Inc. las, spürte er eine Welle des Unbehagens. »Es ist von Prenderghast«, verkündete er, als er das Paket in die Küche trug und vorsichtig auf den Tisch legte. Er starrte es argwöhnisch an. »Mach's schon auf, Holzkopf«, sagte Jack. »Es wird wohl kaum eine Bombe sein. Dazu ist Prenderghast zu subtil.« Travis gab dem Dämon insgeheim Recht, aber als er das Klebeband aufschnitt und das Paket öffnete, konnte er eine gewisse Nervosität kaum verbergen. Das Paket enthielt einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte, ein Paar schwarzer Schuhe, blaue Boxer-Shorts und schwarze Socken. »Ziemlich abgedreht«, lautete Jacks Kommentar.
Jetzt erkannte Travis die Sachen wieder. Sie gehörten ihm. Es waren die Kleider, die er getragen hatte, als er Prenderghast vor Monaten in dessen Büro besucht hatte – wenn auch in dieser Welt erst ein einziger Tag seitdem vergangen war. »Das sind meine«, sagte Travis. Er nahm die Jacke und durchsuchte die Innentaschen. Seine Brieftasche war noch da, ebenso wie alle darin enthaltenen Kreditkarten und das Geld. »Nun, sehr aufmerksam von ihm«, meinte Jack. »Die Frage ist nur – warum hat er das getan?« »Das frage ich mich allerdings auch«, sagte Travis missmutig. »Können wir jetzt gehen?«, bettelte Beatrice. »Von mir aus«, seufzte Travis. Er wandte sich an Jack. »Und was machst du, während wir fort sind?« »Das geht dich gar nichts an.« »Schätze, dass weitere teure Ferngespräche eine gewisse Rolle spielen werden.« »Ich sagte doch schon, ich zahle alles zurück.« »Sicher doch«, sagte Travis. »Also, meine Damen, gehen wir. Und bemüht euch bitte, die Aufmerksamkeit der Leute nicht allzu sehr auf euch zu lenken. Besonders du, Sharon.« Sharon probierte einen unschuldigen Blick, der ihr völlig misslang. »Mach dir keine Sorgen, Travis. Ich habe eine gute Kinderstube genossen.« Ich bin verloren, dachte Travis.
KAPITEL 4
Travis beschloss, das Auto stehen zu lassen und mit der U-Bahn zu fahren. Schon sehr bald bereute er seinen Entschluss. Er ging mit den beiden Frauen zur St. John's Wood-Station. Abgesehen von einer haarigen Situation beim Überqueren der Straße gab es keine besonderen Probleme, bis sie die U-BahnStation erreicht hatten. Die automatischen Tore amüsierten die beiden eher, und die langen Rolltreppen beeindruckten sie, aber der Ärger begann, als sie auf dem Bahnsteig standen und auf den Zug warteten. Als sich eine U-Bahn mit ständig lauter werdendem Getöse durch den Tunnel näherte, hielt sich Beatrice die Ohren zu und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Sharon nahm Verteidigungshaltung an – sie ging in die Knie, zeigte die Zähne und knurrte wie eine große, gefährliche Wildkatze. Die Leute, die neben ihnen standen, starrten das Trio entgeistert an. Einige wichen einige Meter zur Seite. Travis packte die beiden Frauen an den Armen. »Es ist alles okay! Habt keine Angst!«, rief er über den Lärm des heranfahrenden Zuges und Beatrices Kreischen hinweg. Als der Zug aus dem Tunnel kam und vor ihnen hielt, hörte Beatrice zu Travis' großer Erleichterung auf zu schreien. Und nachdem sie festgestellt hatte, dass keinerlei Gefahr drohte, beruhigte sich auch Sharon.
Travis wandte sich an die Umstehenden. »Ähm, machen Sie sich nichts draus«, sagte er. »Die beiden waren noch nie in einer Großstadt … sie, äh, kommen aus Australien.« Ein großer junger Mann mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken warf Travis einen wütenden Blick zu. Offensichtlich ein Landsmann der beiden. Hastig schob Travis die Frauen in ein Abteil und dirigierte sie zu einer Längsbank im hinteren Teil, wo wenige Leute saßen. »Setzt euch, seid still und benehmt euch unauffällig«, flüsterte er ihnen zu und platzierte sich zwischen sie. Sharon lehnte sich entspannt zurück, aber Beatrice blieb aufrecht sitzen und ergriff Travis' Hand, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Sharon gegenüber saß ein Mann mittleren Alters in Geschäftskleidung, auf dessen Schoß ein Aktenkoffer lag. Er las die Daily News. Als sich Sharon und Beatrice gesetzt hatten, war er kurz aufmerksam geworden und hatte sich dann wieder seiner Zeitung gewidmet. Jetzt jedoch warf er Sharon wiederholt unauffällige – wie er glaubte – Blicke zu. »Wie lange müssen wir uns in diesem lärmenden Biest aufhalten?«, fragte Beatrice. »Nicht lange. Wir fahren ein paar Stationen, dann steigen wir kurz in ein anderes um, und dann sind wir bald da.« »Gut«, sagte Beatrice. »Hier gefällt es mir nämlich nicht.« »Willkommen im Club. Eine Menge Leute in dieser Stadt müssen diese Prozedur zweimal am Tag über sich ergehen lassen. Während der Rushhour ist es besonders schlimm, wenn die Leute zu ihrer Arbeitsstelle fahren oder nach Hause zurückkehren.«
»Arbeitsstelle? Was ist das?« »Etwas, worüber ich lieber gar nicht nachdenken möchte.« Dabei tat er kaum etwas anderes. Er konnte Martin nicht mehr lange hinhalten. Spätestens heute Abend musste er ihm irgendetwas liefern. Aber was? Dann fiel Travis der Geschäftsmann auf. Er starrte Sharon an, war rot im Gesicht geworden und schien auf einen ganz bestimmten Punkt fixiert. Travis sah zur Seite. Sharons Rock war hochgerutscht, und er musste daran denken, dass sie keine Unterwäsche trug. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, welche Aussicht sich dem Geschäftsmann bot. Es war so, als hätte man bei der berühmten Szene in Basic Instinct auf die Pause-Taste des Videorecorders gedrückt. Kein Wunder, dass der Mann den Aktenkoffer auf seinem Schoß hin und her schob. »Sharon, hör auf, dich so zu zeigen«, flüsterte Travis ihr ins Ohr. »Wie meinst du das?« »Du entblößt dich. Hör auf damit!« »Aber du hast gesagt … Na schön, wie du willst.« Die Kinnlade des Geschäftsmanns klappte herunter, und seine Augen weiteten sich entsetzt. Travis wandte sich erneut Sharon zu und sah, warum. Egal, wie spektakulär das gewesen war, was der Mann noch eben unter Sharons Kleid gesehen hatte, es war nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt sah. Nämlich absolut nichts. Sharon war verschwunden. Nur ihre Bluse und ihr Rock lagen noch auf dem Sitz. »Sharon, was machst du?«, flüsterte Travis. »Komm sofort zurück.« »Du musst dich schon entscheiden«, ertönte ihre ungeduldi-
ge Stimme aus der Luft. »Eben noch hast du zu mir gesagt, dass ich mich nicht zeigen soll.« Der Mund des Mannes öffnete sich immer weiter. Seine Gesichtsfarbe gefiel Travis gar nicht. Er fürchtete, der Mann könne gleich einen Herzanfall erleiden. »Ich meinte damit nicht, dass du dich überhaupt nicht zeigen sollst«, flüsterte er. »Ich meinte nur bestimmte Teile von dir. Bitte komm zurück.« »Also gut«, murmelte sie und tauchte mit einem Schlag wieder auf. Der Mann zuckte zusammen und gab einen wimmernden Laut von sich. »Gut«, atmete Travis auf. »Jetzt presse die Knie zusammen und zieh deinen Rock runter.« »Ich soll meinen Rock ausziehen?«, fragte sie. »Warum denn das?« »Nein, nicht aus … runter. So …« Er packte den Saum des Rocks und zog ihn über Sharons Oberschenkel. Sharon sah ihn verwundert an. »Warum hast du das gemacht?«, fragte sie. »Das erkläre ich dir später.« Der Zug erreichte Baker Street. Der Geschäftsmann erhob sich schwankend und stolperte aus dem Zug. Travis hegte den Verdacht, dass dies nicht seine übliche Haltestelle war. Er sah sich um. Ansonsten schien tatsächlich niemand Sharons kurzes Verschwinden bemerkt zu haben. Vielleicht lag es daran, dass die hartgesottenen U-Bahn-Fahrer schon alle möglichen bizarren Anblicke erlebt hatten. »Von jetzt an bleibst du sichtbar und hältst deine Knie zusammen«, sagte er streng zu Sharon.
»Du bist seltsam, Travis«, sagte sie, presste aber gehorsam ihre Knie zusammen. »Ich weiß«, sagte er. »Und ich werde mit jeder Minute immer seltsamer …« »Heather? Hallo, hier ist Martin Shulman …« »Oh, hallo Martin, wie geht's dir?« Heather drückte zwei Knöpfe ihrer Sprechanlage und lehnte sich zurück. »Danke, gut. Tut mir Leid, dich bei der Arbeit zu stören …« »Kein Problem, schön, wieder mal was von dir zu hören …« »Heather, ich mache mir Sorgen um Travis …« »Da bist du nicht der Einzige«, sagte sie. »Er benimmt sich sehr seltsam«, seufzte Shulman. »Das kannst du laut sagen«, meinte Heather. »Du hast sicherlich von diesem Prenderghast-Auftrag gehört?« »Ja, in letzter Zeit habe ich kaum noch von etwas anderem gehört.« »Nun, morgen ist der letzte Termin für die Geschichte, aber jetzt sagt mir Travis plötzlich, dass wir sie vielleicht verschieben müssen. Völlig unmöglich. Ich versuche ständig, ihn zu erreichen, aber dauernd habe ich so einen unverschämten Amerikaner am Apparat, der mir nur einfach sagt, ich solle mich – nun, er hat es wirklich so gesagt – verpissen. Weißt du, wer der Mann ist?« »Nein«, antwortete Heather. »Das weiß ich nicht. Ich bin heute Morgen bei ihm gewesen. In seiner Küche saß eine äußerst attraktive junge Frau, die seinen Bademantel trug. Einen Mann habe ich nicht gesehen. Und Travis hat sich wirklich sehr
seltsam aufgeführt. Er behauptete, die Frau sei seine Cousine aus Australien.« Heather schnaubte leise. »Wenn diese Frau Australierin ist, komme ich vom Mars. Und von wegen seine Cousine … niemals.« »Und für wen hältst du sie dann?«, fragte Shulman. »Keine Ahnung. Aber es kommt noch besser. Ich habe seinen Freund Stephen angerufen, der ganz in der Nähe wohnt. Eine australische Cousine kannte er auch nicht. Er sagte, er würde bei Travis vorbeischauen und sich diese Cousine einmal ansehen. Als er mich zurückrief, erzählte er mir, dass er zwei Frauen in Travis' Küche angetroffen habe. Zuerst wollte ihm Travis weismachen, dass beide seine Cousinen seien. Aber dann hat er ihm eine andere Geschichte erzählt – er hat gesagt, sie hätten beide mit der Prenderghast-Sache zu tun.« »Was?«, rief Shulman. »Inwiefern?« »Travis hat sich sehr bedeckt gehalten, aber angedeutet, dass ihnen von Prenderghast irgendeine Gefahr drohe und dass sie sich in seiner Wohnung vor ihm verstecken müssten.« Eine Weile herrschte am anderen Ende der Leitung Stille. Dann sagte Shulman: »Diese Sache gefällt mir nicht. Ich werde sofort mit Travis sprechen.« »Ich komme mit«, sagte Heather. »Ich will dieser Sache auf den Grund gehen. Und wenn ich herausfinde, dass zwischen ihm und diesen so genannten Cousinen etwas läuft, dann kriegt er ein paar auf die Glocke!« Am Green Park stiegen sie von der Jubilee auf die Piccadilly Line um. Knightsbridge war nur zwei Haltestellen entfernt, und zu Travis' Erleichterung erreichten sie es ohne weitere Zwi-
schenfälle. Allerdings erregte Sharon auch ohne ihr Zutun erhebliches Aufsehen. Beatrices Schönheit zog ebenfalls eine Menge bewundernder Blicke auf sich, aber die in der Tat exotisch aussehende Sharon wirkte sowohl auf Männer als auch auf Frauen wie ein Magnet. Travis hatte das Gefühl, als trage er ein riesiges Schild mit der Aufschrift ›Gefahr! Sukkubus auf Durchreise‹ vor sich her. Am Knightsbride-Ausgang direkt gegenüber von Harrods kamen sie an die Oberfläche. Die Sicherheitsmänner zogen die Augenbrauen hoch, als die barfüßige Sharon an ihnen vorbeiging, aber niemand hinderte sie am Betreten des Kaufhauses. Schon bald waren die beiden Frauen von der eleganten Atmosphäre der exklusiven Abteilungen gefesselt, durch die Travis sie führte. Die ägyptische Abteilung gefiel ihnen sehr, aber mehr noch die Schmuckabteilung. Beatrice bat Travis, ihr eine silberne Halskette zu kaufen, die ihr besonders gefiel. Er teilte ihr mit, dass der Schmuck leider seine finanziellen Möglichkeiten überstiege, und zwar um mehrere hundert Pfund. Als Sharon von einer gleichermaßen teuren Preziose angezogen wurde, musste er sie ebenfalls enttäuschen. Danach sahen ihn die beiden mit so offensichtlicher Verärgerung an, dass er es für angeraten hielt, sie so schnell wie möglich in die Delikatessenabteilung zu führen. Er hoffte, dass ihr guter Appetit sie schnell ablenken würde, und damit hatte er Recht. Er kaufte einige Sachen – italienische Würstchen, Käse, Quiche und ein paar Flaschen guten italienischen Wein – und versprach ihnen ein richtig schönes Essen, wenn sie wieder in der Wohnung seien. Dann baten ihn die beiden Frauen, ihm die Damentoilette zu zeigen. Er führte sie dorthin und wartete
voller Nervosität vor der Tür. Dass er sie allein lassen musste, und wenn es auch nur für ein paar Minuten war, beunruhigte ihn sehr. Während er wartete, kamen und gingen eine Menge Frauen, einige von ihnen mit kleinen Kindern. Einmal öffnete sich die Tür, aber er sah niemanden herauskommen. Er dachte nicht weiter darüber nach, bis Beatrice auftauchte. Sie trug Sharons Bluse und Rock über dem Arm. Travis' Alarmglocken schrillten. »Wo ist Sharon?«, fragte er. »Oh, sie sieht sich etwas um«, antwortete Beatrice leichthin. »Sie sieht sich um? Du meinst, sie läuft unsichtbar durch Harrods?« In Travis' Magen stürzte ein Fahrstuhl in freiem Fall mehrere Stockwerke hinab. »Mhm. Sie wollte ein bisschen Spaß haben.« »Spaß?«, wiederholte Travis tonlos. »Was für Spaß?« Aus der Ferne hörten sie den Schrei einer Frau. Travis hatte eine düstere Ahnung, dass Sharon bereits ihren Spaß hatte. Als Heather vor Travis' Wohnung eintraf, wartete Martin Shulman bereits auf sie. Er war schlank, Anfang vierzig und hatte eine Halbglatze. Zu ihrer Verwunderung kniete er vor der Tür und schrie durch den Briefschlitz. »Was ist hier los?«, fragte sie. Er sah mit vor Zorn gerötetem Gesicht zu ihr auf. »Oh, hallo, Heather. Ich weiß nicht, wie es mit Travis und den Frauen aussieht, aber dieser unverschämte Amerikaner ist auf alle Fälle in der Wohnung. Und er weigert sich, mich reinzulassen.« Shulman rappelte sich auf, um gleichzeitig gegen die Tür zu
hämmern und auf die Klingel zu drücken. »Machen Sie sofort auf!« Heather tippte ihm auf die Schulter und ließ ihren Schlüssel in der Luft baumeln. »Darf ich?«, fragte sie. Er trat beiseite, und sie schloss die Tür auf. Im Flur war niemand zu sehen. »Lass mich besser vorangehen«, sagte Shulman. »Dieser Ami klang ein bisschen verrückt.« Vorsichtig schlich sich Shulman durch den Flur. Heather folgte ihm voller Neugierde. Zuerst sahen sie im Wohnzimmer nach, dann in der Küche. Beide Zimmer waren leer. Heather schreckte zusammen, als Shulman plötzlich schrie: »Komm und zeig dich, du Bastard! Ich weiß, dass du hier bist!« Sie lauschten. Plötzlich hörten sie das Geräusch schlagender Flügel und sahen einander an. »Hat Travis einen Papagei?«, fragte Shulman. »Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Heather. »Aber ich wusste auch nicht, dass er australische Cousinen hat.« »Vielleicht gehört der Vogel einer von ihnen.« »Man bringt keinen lebenden Vogel durch den Zoll. Das heißt also, dass die Mädchen definitiv nicht aus Übersee kommen …« Sie zögerte und ging zum Küchentisch. Dort lagen einige Polaroidfotos. »Sieh dir das mal an.« Shulman stellte sich neben sie. Sie zeigte auf die Bilder. »Die hier habe ich heute Morgen hier getroffen, die andere kenne ich nicht.« Shulman räusperte sich. »Nun, das sind zweifellos sehr … beeindruckende junge Frauen.« »Nicht wahr?«, meinte sie säuerlich. Dann rümpfte sie die Nase. »Ich rieche Zigarettenrauch. Travis raucht nicht.« Shulman schnupperte ebenfalls und sagte: »Aber irgendje-
mand hat geraucht. Und zwar erst vor kurzem. Durchsuchen wir den Rest der Wohnung …« Das Schlafzimmer war leer, genau wie das Badezimmer. Plötzlich hörten sie erneut das Geräusch schlagender Flügel. »Es gibt doch einen Hinterausgang, nicht wahr?«, fragte Shulman. Sie nickte. »Den Notausgang am Ende des Flurs. Er führt zu einer Außentreppe, über die man in den Garten gelangt.« Sie öffneten die Tür und schauten hinaus. Auch im Garten war niemand zu sehen. »Wahrscheinlich hat sich dieser Kerl längst verdrückt«, sagte Shulman und ließ seinen Blick umherschweifen. »Aber wer war der Mann? Und wo ist Travis mit seinen … Cousinen?« »Das möchte ich auch gerne wissen. Mir läuft langsam die Zeit davon. Ich muss die Prenderghast-Story haben!« Nachdem sie noch einmal die ganze Wohnung durchsucht hatten, kehrten sie ratlos wieder in die Küche zurück. Als das Telefon klingelte, zuckten beide zusammen. »Hoffentlich ist das Travis«, sagte Shulman, als er den Hörer abnahm. »Travis …?« Er runzelte die Stirn. »Jack? Nein, hier ist nicht Jack. Wer zum Teufel ist Jack? Und wer zum Teufel sind Sie?« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Arnie? Arnie wer?« Heather sah Shulman enttäuscht an. »Ich habe Durst«, sagte sie, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn in der Hoffnung, dort Orangensaft zu finden. Sie sah hinein … und stieß einen markerschütternden Schrei aus. In der Schmuckabteilung war die Hölle los. Frauen kreischten, Sicherheitsmänner rannten aus allen Richtungen herbei. Travis
befürchtete das Schlimmste. Er sah Beatrice fragend an, aber sie lächelte ihm nur ebenso geheimnisvoll wie nervtötend zu. Dann entdeckte er im Augenwinkel ein Bündel glitzernder, silberner Objekte, die in Hüfthöhe auf ihn zugeflogen kamen. Bevor er sich noch klar machen konnte, was geschah, verschwanden sie in seiner Einkaufstüte aus der HarrodsDelikatessenabteilung. Er hörte ein metallisches Klimpern, und die Tasche fühlte sich sofort schwerer an. »Was zum …?«, begann er und schnappte nach Luft, als ihm jemand unsanft in die Rippen boxte. »Benimm dich ganz unauffällig, Travis«, hörte er Sharons Stimme dicht neben seinem Ohr. Dann lachte sie. »Was hast du getan?«, fragte er. »Ich schlage vor, dass wir uns auf den Ausgang zubewegen«, entgegnete sie. »Und zwar schnell.«
KAPITEL 5
»Hier, trink noch einen Schluck«, sagte Shulman. Er nahm ihr Glas, schüttete etwas Scotch hinein und reichte es ihr. Heather trank dankbar einen kräftigen Schluck. »Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte sie mit leicht zittriger Stimme. »Wie um alles in der Welt kommt eine Fledermaus in Travis' Kühlschrank?« »Keine Ahnung«, meinte Shulman. »Ich weiß nur, dass es ein verdammt hässliches Ding war.« »Eine ekelhafte Kreatur«, pflichtete sie ihm bei. »Ich hoffe nur, dass sie nicht zurückkommt.« »Sie muss sich aber noch irgendwo in der Wohnung verstecken. Die Fenster sind alle zu.« »Ich glaube, Travis dreht langsam durch«, seufzte sie und nahm noch einen Schluck Scotch. »Da stimme ich dir nur ungern zu, aber ich fürchte, du könntest Recht haben«, entgegnete Shulman. »Was mich aber am meisten verwundert, ist die Schnelligkeit, mit der es geschehen ist. Gestern noch war er völlig okay. Ich meine, seine Arbeitsmethoden waren schon immer etwas unorthodox, aber er hat immer rechtzeitig seine Arbeit abgeliefert. Und du? Ist dir in letzter Zeit etwas an ihm aufgefallen?« Sie runzelte die Stirn. »Eigentlich nicht. Ganz normal war er ja eigentlich nie, aber zumindest war er so wie immer. Gestern Abend hat er mich versetzt, aber das ist ihm auch schon vorher
passiert, wenn er mitten in einer Arbeit steckte.« »Vielleicht ist er zu tief in diese Prenderghast-Sache verstrickt. Irgendetwas muss passiert sein, als er sich gestern mit Prenderghast getroffen hat.« »Du glaubst doch nicht etwa …? Nein, nicht Travis.« Sie schüttelte den Kopf. »Was denn?« »Ich hätte nicht einmal daran denken dürfen«, sagte sie. »Nicht Travis.« »Komm schon, mir kannst du es sagen«, drängte er. »Es bleibt unter uns.« »Na ja …« Sie senkte die Stimme. »Was, wenn Prenderghast Travis bestochen hat?« Shulman sah sie entsetzt an. »Travis bestechlich? Niemals!« »Vielleicht doch«, sagte sie zögernd. »Prenderghast ist immens reich. Was wäre, wenn er Travis etwas so Wertvolles angeboten hätte, dass er nicht nein sagen konnte?« Shulman dachte kurz darüber nach. »Nein, ich hatte niemals auch nur den geringsten Zweifel an Travis' Integrität. Er würde niemals ein Bestechungsgeld annehmen, egal wie viel.« »Und wenn es gar kein Geld wäre?«, fragte sie und sah ihn viel sagend an. Er runzelte die Stirn. »Ich kann nicht ganz folgen …« »Was, wenn Prenderghast ihn mit diesen Frauen bestochen hat?« Sie nahm eines der Polaroidfotos vom Küchentisch und wedelte damit unter Shulmans Nase herum. »Seine so genannten Cousinen aus Australien! Was, wenn Prenderghast sie Travis als Sexsklavinnen geschenkt hat?« Er blickte auf die Fotos der beiden hinreißend aussehenden
Frauen. »Nieee …«, sagte er, aber in seiner Stimme klang ein leiser Zweifel mit. »Ich kann noch immer nicht glauben, was du getan hast!«, schimpfte Travis laut. »Man hätte mich verhaften können!« Sharon antwortete nicht. Stattdessen meinte Beatrice: »Bitte, Travis, hör auf, dich zum Narren zu machen.« »Ich? Ich mache mich zum Narren? Das ist ja lächerlich!« »Bitte, es ist mir peinlich«, sagte Beatrice und wandte sich von ihm ab. »Dir ist es peinlich? Du … du …« Doch dann fiel der Groschen der Realität bei Travis, und er sah, was Beatrice meinte. Sie befanden sich in einem Abteil der Piccadilly Line. Der Zug war gut besetzt, sodass es keine Sitzplätze mehr gab und sie zwischen anderen Fahrgästen in der Nähe der Tür standen. Travis blickte in viele neugierige Augen, deren Blicke eine Bandbreite abdeckten, die von Neugier über Misstrauen bis Mitleid reichte. Der Grund dafür war eindeutig. Seit sie in den Zug eingestiegen waren, hatte er Sharon bittere Vorwürfe gemacht. Das Problem war nur – Sharon war noch immer unsichtbar. Ihre Bluse und ihr Rock lagen in der Einkaufstüte, in der sich neben Käse, Quiche und Wein auch gestohlener Silberschmuck im Wert von über 50.000 Pfund befand. »O nein«, murmelte er, während sein Gesicht rot anlief. »Wohin gehen wir jetzt?«, fragte Beatrice ihn, ohne sich umzudrehen. »Ich weiß nicht … doch. In meinen Club. Ich brauche einen Drink.« »Du brauchst einen Psychiater, Freundchen«, sagte ein sport-
lich aussehender junger Mann, der neben Travis stand. »Du scheinst mir völlig durchgeknallt.« Travis grinste ihn verlegen an und verfluchte insgeheim Sharon. Plötzlich stieß der junge Mann einen grunzenden Laut aus und fasste sich zwischen die Beine. Wütend sah er sich um, aber keiner der Umstehenden hatte sich gerührt. Er starrte Travis an und stöhnte plötzlich ein zweites Mal auf. Offenbar befasste sich Sharon mit seiner Weichteilgegend. Das Gesicht des Mannes nahm einen verzweifelten Eindruck an, und er wich eilig in den hinteren Teil des Zuges zurück. Travis konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sharon auch ihre Vorzüge hatte. Sie stiegen am Leicester Square aus, und Travis führte Beatrice und die unsichtbare Sharon durch China Town nach Old Compton, wo sein Club, The Soho Centre, lag. Am Eingang blieb er stehen und sagte ernst: »Wenn wir jetzt hineingehen, dann möchte ich, dass Beatrice Sharons Kleider mit auf die Damentoilette nimmt. Sharon, du folgst ihr, ziehst die Kleider an und machst dich wieder sichtbar, verstanden?« Beatrice nickte, und Sharon murmelte »ja«. Er öffnete die Tür mit seiner Sicherheitskarte. An der Rezeption trug er sowohl Beatrice als auch Sharon mit erfundenen Nachnamen als seine Gäste ein. Die Empfangsdame, Cathy, sah ihn verständnislos an. »Wo ist Ihr anderer Gast, Mr. Thomson?« »Sie kommt später«, antwortete Travis und stieg die Stufen zur Bar hinauf. Im Club verkehrten hauptsächlich Medienleute; Journalisten, Werbemanager, gelegentlich Fernsehproduzenten und alle möglichen Arten von Autoren. Zu dieser Tageszeit war
es meistens recht leer, und Travis stellte erleichtert fest, dass nur zwei andere Mitglieder im Barraum saßen. Travis erkannte den Horrorschriftsteller Harry Adam Knight, der ständig betrunken zu sein schien, egal um welche Uhrzeit. Der heutige Tag stellte keine Ausnahme dar – mit geschlossenen Augen hing der Autor auf seinem Barhocker, sodass man fürchten musste, er könne jeden Augenblick herunterfallen. Travis fragte sich, wann er eigentlich zum Schreiben kam. Er bestellte drei Gläser Rotwein und dirigierte Sharon und Beatrice zur Damentoilette, wo er Beatrice die Tüte in die Hand drückte. »Also, meine Damen, ihr wisst, was ihr zu tun habt. Und keine Tricks mehr, Sharon.« Er ging zur Bar zurück, trank seinen Wein in einem Zug aus und bestellte ein zweites Glas. Dann bat er den Barmann, der Todd hieß, um ein Telefon. Todd brachte es, und Travis rief in seiner Wohnung an. Jack antwortete: »Arnie?« »Nein, hier ist nicht Arnie, hier ist Travis. Ich wollte nur eben hören, welche neuen Katastrophen sich ereignet haben. Ich schätze, meine Telefonrechnung ist mittlerweile so lang wie eine Telefonnummer auf den Äußeren Hebriden.« »Ach was, nicht mal annähernd. Mach dir keine Sorgen. Hattet ihr einen schönen Ausflug?« »Oh, wirklich ganz nett.« Er drehte sich von der Bar weg und senkte seine Stimme. »Abgesehen davon, dass Sharon die Schmuckabteilung von Harrods ausgeraubt hat. Wir hatten Glück, dass wir nicht erwischt wurden …« »Gut so«, sagte Jack ungerührt. »Wie viel ist der Klunker wert?« »Etwa 50.000 Pfund, mehr oder weniger.« »Hmm, nicht schlecht. Ein guter Hehler gibt uns mindestens
die Hälfte.« »Ein guter Hehler? Bist du verrückt? Ich werde das Zeug ganz bestimmt nicht verkaufen. Ich schicke es an Harrods zurück, anonym, versteht sich.« »Mein Gott, manchmal kannst du wirklich ein Idiot sein. Du brauchst das Geld, und ich auch. Ich benötige Startkapital.« »Ich schicke den Schmuck zurück«, sagte Travis bestimmt. »Und außerdem – wozu brauchst du Startkapital?« »Das wirst du noch erfahren. Übrigens, du hattest Besuch …« »Wer?«, fragte Travis besorgt. »Eine von ihnen war deine Alte …« »Meine Mutter?«, japste Travis. »Nein, du Schwachkopf, deine Schnalle, Heather. Und ein Glatzkopf. Ein echter Spinner.« »Das muss Martin gewesen sein, mein Chef. Haben sie dich gesehen?« »Irgendwie schon«, antwortete Jack. »Was soll das heißen – irgendwie schon?« »Sie haben mich überrascht, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder in den beschissenen Kühlschrank zu flüchten. Und dann hat deine Schnalle die Tür aufgemacht.« »O nein«, stöhnte Travis. »Ein ziemlich lautes Organ hat sie. Mir klingeln noch immer die Ohren.« »Also haben sie dich beide gesehen?« »Ganz ruhig. Sie dachten, ich sei eine Fledermaus. Und eine verdammt hässliche dazu, wie der Spinner meinte.« »Und was ist dann passiert?«, fragte Travis entnervt.
»Ich hab mich im Schlafzimmer versteckt, auf dem Kleiderschrank. Dabei hörte ich mit, was sie so gesagt haben …« »Und was haben sie gesagt?« »Willst du es wirklich wissen?« »Sag's mir einfach.« »Nun, dein dir treu ergebenes Babe und dein loyaler SpinnerChef haben den Grund gefunden, warum du dich so seltsam verhältst …« »Und der wäre?« »Sie sind der Meinung, dass Prenderghast dich bestochen hat.« »Das glaube ich nicht!«, rief Travis entrüstet. »Aber ja doch«, erwiderte Jack glucksend. »Und jetzt kommt das Komischste … sie glauben, dass er dich mit Sharon und Beatrice bestochen hat.« »Das kann nicht sein!«, rief Travis noch entrüsteter. »Sie halten sie für deine Sexsklavinnen.« »Nein!« Travis' Entrüstung hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. »Leider wahr. Dein Mädchen ist auf dem Kriegspfad. Sie sucht dich. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht allzu viele Ringe an ihrer rechten Hand trägt.« »Heather würde niemals …«, begann er und hielt inne. O doch, sie würde. »Ich muss jetzt aufhören«, sagte Jack. »Ich erwarte einen Anruf von Arnie. Viel Glück, alter Junge. Du wirst es brauchen.« Jack gluckste noch einmal und legte auf. Travis legte ebenfalls auf und seufzte. Er drehte sich wieder zur Bar um und fragte sich, was er zu Heather sagen sollte,
wenn er ihr das nächste Mal begegnen würde. Wie um alles in der Welt konnten sie oder Martin auf den Gedanken kommen, er habe sich von Prenderghast bestechen lassen? Und noch dazu in Form von Sharon und Beatrice! Als Sexsklavinnen! Nun ja, wenn man darüber nachdachte, kam einem die Idee gar nicht mehr so weit hergeholt vor. Apropos … Ungeduldig sah er zum Eingang der Bar hinüber. Wo blieben die beiden nur? Was, wenn sie abgehauen waren? Dann … dann … wüsste er nicht, was er tun sollte. Doch gerade in diesem Augenblick kamen die beiden zur Tür herein, lachend und offenbar äußerst zufrieden mit sich selbst. »Schön, dich wiederzusehen, Sharon«, sagte er betont, als sie sich neben ihn setzte. Sie streckte ihm die Zunge heraus und lächelte Todd, dem Barmann zu. Todd verschlang sie mit seinen Blicken; dabei wusste Travis, dass er schwul war. Beatrice nippte an ihrem Wein und sah sich um. »Wo sind wir hier?«, fragte sie. Travis überlegte. »Nun, es ist so etwas wie ein Gasthaus, das nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Es ist ein privater Club. Man muss bezahlen, um Mitglied zu sein.« »Aber um in ein Gasthaus zu gehen, muss man nichts bezahlen, oder?«, fragte Beatrice. »Nein.« »Warum zahlst du dann hier, wenn du etwas trinken willst, anstatt einfach in ein Gasthaus zu gehen?« »Weil …« Er zögerte. »Weil … dieser Club Dinge bietet, die ein Gasthaus nicht hat.« »Als da wären?« »Ähm, ein gutes Restaurant … angenehme Atmosphäre …«
»Ist das alles?« »Nun, um ehrlich zu sein, hier wird man von den Leuten, die sich normalerweise in Gasthäusern aufhalten, nicht gestört.« »Ah, ich verstehe«, sagte sie nickend. »Du meinst das gemeine Volk. Plebs. Menschen wie dieser Diener hier.« Sie deutete mit ihrem Glas auf Todd. »Nun ja, so kann man es auch nicht sagen«, meinte Travis nervös. Trotz Sharons Reizen hatte Todd nicht umhin können, ihr Gespräch mitanzuhören. Er warf Beatrice einen wütenden Blick zu, den sie völlig ignorierte. Daraufhin sandte Todd den wütenden Blick in Travis' Richtung, der einen Wechsel des Gesprächsthemas für angebracht hielt. »Gib mir bitte die Tasche«, sagte er und deutete auf die Tüte von Harrods, die sie auf dem Stuhl neben sich platziert hatte. »Warum?«, fragte sie, reichte sie ihm jedoch. »Ich will nur mal kurz reinschauen.« Der Silberschmuck schien noch da zu sein. Ihm war der Gedanke gekommen, dass die beiden Frauen vielleicht ein paar Teile am Körper versteckt hatten, während sie in der Toilette waren. »Ich wusste, dass ich ihn hier finden würde«, hörte Travis eine Stimme hinter sich sagen. Er kannte sie gut. Es war Heathers Stimme. O nein. Er drehte sich um und rang sich ein Lächeln ab. Heather und Martin standen vor ihm. Beide sahen ihn zornig an. »Oh, hallo«, sagte er. »Wollt ihr einen Drink?« »Nein, danke«, entgegnete Heather kühl. »Zeigst du deinen Cousinen die Sehenswürdigkeiten?« »Nun …« »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Martin. »Du musst
morgen einen wichtigen Artikel abgeben und sitzt hier mitten am Tag in deinem Club und trinkst. Bist du verrückt geworden?« »Seid ihr sicher, dass ihr nichts trinken wollt?« Er drehte sich um und sagte zu Todd: »Noch zwei Rote, bitte.« »Oh, ich fühle mich geehrt, dass Sie mit dem gemeinen Volk sprechen, Sir«, erwiderte Todd sarkastisch. »Hören Sie, es tut mir …« Ein dringlich pochender Finger auf seinem Rücken unterbrach ihn. Der Finger gehörte Heather. »Vergiss den Wein«, sagte sie. »Und versuch nicht länger so zu tun, als seien diese beiden Tussis deine Cousinen. Wir wollen die Wahrheit wissen.« »Was sind Tussis?«, fragte Beatrice misstrauisch. »Kleine Törtchen mit Marmeladenfüllung«, sagte Travis. Heather explodierte förmlich. »Bei mir kommst du mit deiner Miss-Unschuldig-Masche nicht durch!«, fauchte sie Beatrice an. »Da kannst du noch so lange in meinen Kleidern hier rumsitzen mit diesem In-meiner-Muschi-würde-nicht-ein-malButter-schmelzen-Blick!« »Heather, du verstehst nicht …«, versuchte Travis einzugreifen. Ohne Erfolg. »Oh, ich verstehe nur allzu gut, Travis Thomson!«, rief sie. »Du hast Prenderghast vom Haken gelassen und dafür die Dienste dieser beiden Schlampen erhalten.« »Was sind Schlampen?«, fragte Beatrice. »Travis, deine Freundin hier geht mir langsam auf die Nerven«, warf Sharon drohend ein. Sofort wandte sich Heather an sie. »Und aus welchem Teil Australiens kommst du? Auch aus Tasmanien? Du siehst tat-
sächlich aus wie ein tasmanischer Teufel!« Oh, oh, dachte Travis, kein guter Vorstoß. Sharon zischte Heather an, die erschrocken zurückwich. Travis legte beruhigend eine Hand auf Sharons Schulter und sagte: »Ganz ruhig, ganz ruhig …« Zu seiner Erleichterung stürzte sich Sharon nicht auf die sehr blass gewordene Heather. »Stimmt es, Travis?«, fragte Martin. »Hast du Prenderghast laufen lassen? Hast du die Geschichte deshalb nicht abgeliefert?« »Nein, ich habe ihn nicht laufen lassen, Martin, und ich bin sehr enttäuscht darüber, dass du mir zutraust, man könne mich bestechen.« »Wo ist dann die Story?« »Es gibt ein Problem … ich kann es dir jetzt leider nicht erklären.« »Nun, das solltest du aber besser tun, Travis, denn sonst müsste ich mich von dir als Mitarbeiter trennen«, sagte Martin schroff. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«, rief Travis. »Ich fürchte doch. Entweder du lieferst mir eine zufriedenstellende Erklärung, oder du bist deinen Job los …« Noch bevor Travis etwas entgegnen konnte, betrat einer der Clubmanager, Chris, die Bar und ging auf die Gruppe zu. Er war ein eleganter, gut aussehender Mann Anfang dreißig. Travis war sich nicht sicher, aber er hielt Chris und Todd für ein Paar. »Alles in Ordnung? Mir war, als hätte ich laute Stimmen gehört .. « »Alles in bester Ordnung, Chris«, log Travis. »Schön, schön«, sagte Chris strahlend. Die fast greifbare
Spannung schien ihm völlig zu entgehen. Doch dann senkte sich sein Blick, und er runzelte die Stirn. »Mr. Thomson, Sie wissen, dass wir in diesem Club keine Kleiderordnung haben, aber es gibt Grenzen.« Travis hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber er sah bereits weiteren Ärger auf sich zukommen. Und er sollte Recht behalten. »Wie bitte?« Chris wies nach unten. »Ihr Gast ist barfuß. Ich muss sie bitten zu gehen, es sei denn, sie zieht Schuhe an. Außerdem sind ihre Füße schmutzig.« Travis sah hinunter. Er hatte vollkommen vergessen, dass Sharon keine Schuhe trug. Und Chris hatte Recht – ihre Füße waren schmutzig. »Ähm, sie hat keine Schuhe«, sagte er. »In diesem Fall müssen Sie Ihren Gast leider bitten, unser Haus zu verlassen«, wies er Travis an. »Ha!«, rief Heather. »Will dieser Idiot mich hinauswerfen?«, wandte sich Sharon an Travis. »Ich fürchte, ja. Aber wir gehen zusammen …« Sharon schüttete Chris den restlichen Inhalt ihres Weinglases ins Gesicht. »Blöder Kerl«, knurrte sie ihn an. Chris, dem der Wein vom Gesicht auf sein weißes Hemd lief, reagierte zunächst verblüfft und dann ausgesprochen wütend. »Schlampe!«, schrie er. Sharons Reaktion bestand darin, aufzustehen und ihm einen Haken zu verpassen, der ihn von den Beinen holte. Eine Sekunde lang herrschte betroffenes Schweigen. Dann stöhnte Chris vom Boden: »Todd, ruf die Polizei …« Das war schon schlimm genug. Aber was es noch schlimmer
machte, war die Tatsache, dass er im Besitz einer Harrods-Tüte war, die gestohlenen Silberschmuck im Wert von mindestens 50.000 Pfund enthielt.
KAPITEL 6
Um genau 22 Uhr explodierte in einer Seitenstraße neben einem Platz im Londoner East End ein Huhn. Das Ereignis übte nachhaltige Wirkung auf die beiden Brüder Barry und Nigel aus, die sich zu dieser Zeit in dieser Straße herumdrückten, einer Seitenstraße, die bis dahin vollkommen huhnfrei gewesen war. Das Huhn – eigentlich ein Hahn – war urplötzlich vor ihnen in der Luft aufgetaucht und mit einem spektakulären Lichtblitz explodiert. Barry und Nigel Simmons kauerten hinter der Mülltonne eines anliegenden indischen Restaurants und atmeten den Geruch der Essensreste ein. Sie kauerten dort, weil sie hofften, jemanden in dieser Seitenstraße ausrauben zu können. Einen alten Menschen vielleicht, oder einen Asiaten. Ein alter Asiate wäre ihnen am liebsten gewesen. Die Simmons-Brüder hätten eineiige Zwillinge sein können, auch wenn sie in Wirklichkeit keine waren. Sie hatten beide runde, rasierte Schädel, breite Schultern und Bierbäuche. Trotz ihrer physischen Ähnlichkeit unterschieden sie sich in der Ausprägung ihrer Persönlichkeiten. Barry war von dumpfer Bösartigkeit, während Nigel sich eher bösartiger Dumpfheit befleißigte. Während die beiden noch mit ungläubigem Erstaunen auf das explodierende Huhn reagierten, geschah etwas, das noch viel bizarrer war. In der Mitte der Wolke aus angesengten
Federn tauchten plötzlich zwei Männer auf. Der eine war groß, der andere klein. Der Kleinere hatte einen Gehstock. Beide trugen seltsame schwarze Kleidung und dunkle Umhänge. Der größere Mann nieste und hustete. Er holte ein Taschentuch hervor, wischte sich die Nase ab und sagte: »Verdammt nochmal, Damion, war das Huhn wirklich unbedingt notwendig?« »Es war unverzichtbar, Herr, ich versichere es Euch«, antwortete der kleinere. Der große Mann sah sich um. Barry und Nigel duckten sich tiefer. »Wo sind wir?« »Wenn meine Beschwörungen korrekt waren, Prinz Valerie, dann sind wir in einer Stadt namens London. Hier wohnt Travis.« »Also ist er ganz in der Nähe?« »Möglicherweise.« »Was soll das heißen, möglicherweise?« »Es handelt sich um eine sehr große Stadt. Größer als jede samellanische.« »Hättest du uns nicht direkt in seine Nähe befördern können?« »Tut mir Leid, Herr, das übersteigt meine Kräfte. Ich weiß nur, dass wir in der richtigen Stadt sind – an dem Tag, an dem auch er und seine Begleiter hier ankommen. Vielleicht einen Tag früher oder später.« »Kannst du nicht erschnüffeln, wo sich dein verräterischer Sukkubus aufhält?« »Ich habe es versucht. Sie muss sich außerhalb meiner Reichweite befinden « »Damion, ich werde langsam ziemlich sauer auf dich.«
»Ich bedaure, Herr.« Nichts von diesem Gespräch ergab für Barry und Nigel irgendeinen Sinn. »Wer sind diese beiden Vögel?«, fragte Barry seinen Bruder. »Keine Ahnung«, flüsterte Nigel. »Die hab ich noch nie hier gesehen. Vielleicht Tunten.« »So wie die aussehen, müssen sie Tunten sein. Und sie reden so komisch, wie Ausländer.« »Glaubst du, das sind Paki-Tunten?« »Nee, das sind keine Pakis«, sagte Barry. »Aber Tunten sind es bestimmt. Der kleine Typ hat den großen ›Valerie‹ genannt.« »Was sollen wir jetzt machen?« »Wir schnappen sie uns. Du kümmerst dich um den Kurzen, und ich nehme ›Valerie‹, okay?« »Gut.« Dann sagte er: »Barry?« »Hä?« »Wo ist dieses Huhn hergekommen? Und wie ist es explodiert?« »Das müssen sie irgendwie gemacht haben. Diese beiden ausländischen perversen Tunten. Holen wir sie uns.« Barry und Nigel traten hinter dem Müllcontainer hervor. Beide hielten Klappmesser in den Händen und ließen sie im gleichen Augenblick aufschnappen. Die beiden Fremden drehten sich um. »Hallo, was haben wir denn da?«, sagte der große Mann unbeeindruckt. »Zwei gemeine Galgenvögel, so wie es aussieht«, meinte der kleinere Mann. »Äußerst gemeine.« Barry und Nigel gingen auf die beiden zu. »Du hast es erfasst,
du Zwerg«, knurrte Barry. »Und nachdem wir euch die Kehlen durchgeschnitten haben, schneiden wir euch auch noch die Eier ab, kapiert?« »Was für furchtbar kleine Klingen«, sagte der große Mann und zog mit einer fast unsichtbaren Bewegung ein riesiges Schwert unter seinem Umhang hervor. »Wie ihr seht, ist meine eigene Waffe beträchtlich größer.« Barry und Nigel blieben abrupt stehen und sahen einander zweifelnd an. »Werft eure dummen kleinen Messer auf den Boden«, befahl der große Mann, dessen Augen plötzlich auf eine sehr bedrohliche Weise rötlich glühten. »Bevor ich euch beide auf der Stelle durchbohre.« Zwei Klappmesser landeten fast gleichzeitig auf dem Asphalt. »Wir wollten Ihnen wirklich nichts tun«, sagte Barry eilig. »Es war nur ein harmloser kleiner Spaß, ja?«, fügte er hinzu. »Sir.« »Vernichtet sie, Herr«, sagte der kleinere Mann verächtlich. »Nur nicht so eilig«, meinte der Mann mit den roten Augen – und dem Schwert. »Ja, genau, Kumpel, nicht so eilig«, pflichtete Barry ihm bei. Seine Stimme klang eine halbe Oktave höher. »Ja«, echote Nigel, der äußerst verängstigt und verwirrt wirkte. »Wie ihr vielleicht bemerkt habt«, sagte der große Mann, »sind wir fremd in eurer schönen Stadt …« »Willkommen in London … Sir«, sagte Barry. »Danke. Und da wir fremd sind, könnten wir zwei Führer und Assistenten gebrauchen.« »Wir brauchen diese Narren nicht«, murmelte der Kleinere.
Der Große wendete sich ihm zu. »Ich bin anderer Meinung. Ich glaube, diese beiden stämmigen Einfaltspinsel könnten noch von Nutzen sein.« »O ja, wir sind ziemlich stämmig«, sagte Barry. »Und Einfaltspinsel«, fügte Nigel hinzu. Er wusste nicht genau, was das Wort bedeutete, aber wie Barry wollte er den großen Mann auf keinen Fall verärgern. »Mit ihrer Hilfe werden wir Travis und die anderen wesentlich schneller finden«, sagte der große Mann zu dem kleineren. »Ihr habt sicher Recht«, entgegnete der Kleinere, ohne besonders überzeugt zu klingen. Zu Barrys und Nigels großer Erleichterung schob der große Mann sein Schwert wieder in die Scheide. »Gut. Das wäre also geklärt. Und jetzt hätte ich Lust, etwas zu trinken …« »Großartig!«, sagte Barry. »Wir bringen Sie in den Tug and Pullet. Ich könnte auch ein paar Bier vertragen.« Der große Mann kam auf ihn zu. »An Bier hatte ich eigentlich weniger gedacht«, sagte er lächelnd und zeigte seine Zähne. »Und wie kam es dazu, dass die Polizistin, WPC Westmoreland, ins Bein gebissen wurde?«, fragte der Polizeipsychologe. »Das weiß ich nicht genau, aber ich war es nicht«, entgegnete Travis. »Wahrscheinlich war es Sharon.« »Sharon? Ach ja, der Sukkubus. Die anwesenden Polizisten können sich nicht erinnern, eine zweite Frau gesehen zu haben.« »Nein, Dave, sicher nicht, da sie sich unsichtbar machen kann.« Der Psychiater schaute in sein Notizbuch und nickte. »Ja, ja,
sie ist die unsichtbare Frau. Aber Sie geben zu, Police Constable Wellmann geschlagen zu haben?« »Es war mehr ein kleiner Schubser … ich bin in Panik geraten.« »Aber den Türsteher des Clubs haben Sie geschlagen?« Travis seufzte. »Ja.« »Und den Clubmanager?« »Ich wollte nur noch raus. Sie haben versucht, mich aufzuhalten.« »Warum wollten Sie so schnell verschwinden? Man hätte die Angelegenheit doch sicher auch auf zivilisierte und vernünftige Weise regeln können « »Sharon wurde als Erste gewalttätig, und sie ist selbst zu ihren besten Zeiten weit davon entfernt, zivilisiert und vernünftig zu sein.« Der Psychiater nickte. »Ah ja, schon wieder diese Sharon – die niemand gesehen hat.« Travis steckte sich eine neue Zigarette an und sagte ungeduldig: »Eine Menge Leute haben sie gesehen. Sie war der Grund, warum die Polizei überhaupt gerufen wurde. Sie hat Chris, dem Manager, eine verpasst, nachdem er sie aufgefordert hatte, den Club zu verlassen, weil sie keine Schuhe trug.« Als Travis bemerkte, wie absurd das alles klang, seufzte er erneut. Der gute alte Dave war offensichtlich überzeugt davon, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Der Versuch, ihm die Wahrheit zu erzählen, hatte sich als schwerer Fehler erwiesen. Es wäre besser gewesen, sich irgendeine Geschichte auszudenken. Aber welche? Er hätte ihm kaum beichten können, dass er es deshalb so eilig hatte, aus dem Club zu ver-
schwinden, weil er eine Einkaufstüte von Harrods bei sich hatte, die gestohlenen Silberschmuck enthielt. Gott sei Dank war die Tüte in dem allgemeinen Durcheinander verschwunden. Wahrscheinlich hatte Sharon sie genommen, oder Beatrice. »Aber diese Sharon war nicht mehr anwesend, als die Polizei eintraf«, wandte Dave ein. »Und die andere junge Frau in Ihrer Begleitung, die, äh, Prinzessin, war ebenfalls nicht mehr da. Hat sie sich vielleicht auch unsichtbar gemacht?« »Nein, aber sie besitzt ein fast unheimliches Talent, mitten durch ein Gewitter zu laufen und es völlig unversehrt zu überstehen. Vielleicht hat es etwas mit ihren königlichen Genen zu tun.« »Und wo halten sich diese beiden Frauen Ihrer Meinung nach jetzt auf?« Travis zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Und um die Wahrheit zu sagen, ich mache mir ziemliche Sorgen um sie. Sie kennen sich in dieser Welt nicht aus, sie ist ihnen vollkommen fremd. Ich bin sicher, dass sie gar nicht mehr zu meiner Wohnung zurückfinden. Außerdem haben sie kein Geld.« Nur Schmuck im Wert von etwa 50.000 Pfund, dachte er bitter. Der Nenn-mich-Dave-Psychologe lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Travis mit einem mitleidigen Blick an, der ihm gehörig auf den Senkel ging. »Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie Hilfe brauchen, oder, Travis?« »Da haben Sie verdammt Recht«, entgegnete Travis. »Sie brauchen eine Therapie. Außerdem befürworte ich den Einsatz von Anti-Depressiva.« »Die Anti-Depressiva nehme ich gerne«, sagte Travis. »Aber Ihre Therapie können Sie sich sonstwohin stecken.«
Traurig schüttelte Dave den Kopf. »Ihre Einstellung hilft uns nicht sehr viel weiter, Travis. Sie müssen kooperieren, wenn wir die Traumata aufbrechen wollen, die sie in ihre Phantasiewelt getrieben haben.« »Alles, was ich Ihnen erzählt habe, ist wahr. Wenn Sie mir nicht glauben, ist das Ihr Problem.« »Travis, all das Gerede von Dämonen, Prinzessinnen und – unsichtbaren Frauen … das soll ich glauben?«, fragte Dave. »Leicht ist es nicht«, musste Travis seufzend eingestehen. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Befragungsraums. Travis erwartete, dass ein weiterer Polizist eintreten würde, aber niemand war zu sehen. Die Tür ging wieder zu. Der Beamte, der daneben stand, runzelte die Stirn und machte sie noch einmal auf. Er sah auf den Flur hinaus und sagte dann zu Dave: »Komisch. Niemand da.« »Muss wohl der Wind gewesen sein«, meinte Dave und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Travis zu. »Travis, ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig als vorzuschlagen, Sie in Gewahrsam zu halten – bis auf weiteres. Meiner Meinung nach stellen Sie in Ihrem derzeitigen Zustand eine Gefahr für sich selbst und andere …« In diesem Augenblick spürte Travis plötzlich, dass jemand neben ihm stand, und ihm wurde klar, dass es Sharon gewesen war, die gerade unsichtbar den Raum betreten hatte. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Was hatte sie vor? Er sollte es bald erfahren. »Es tut mir Leid, Travis, aber so wie sich mir die Situation darstellt …« Dave schwieg plötzlich, und ein Ausdruck tiefen
Erstaunens zeigte sich auf seinem Gesicht. Er blickte in seinen Schoß hinunter. »Was zum …?«, entfuhr es ihm. Dann lief ein Schauder durch seinen Körper. »Oooh«, sagte er. »Ist alles in Ordnung, Sir?«, fragte der Constable an der Tür. Dave starrte ihn an, dann Travis, dann wieder in seinen Schoß. »Was geht hier vor? Ich verstehe nicht! Ooooh …« Travis hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was da gerade vor sich ging. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dave versuchte sich zu erheben, sackte aber sogleich wieder zusammen. Man sah seinem Gesicht an, dass ihm das, was er gerade erlebte, im Grunde ausgezeichnet gefiel – schließlich war Sharon eine übernatürliche Expertin auf ihrem Gebiet. »Oooh … ahhh … oooh!«, flötete er. »Sir, sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte der Constable. Er machte einen Schritt auf Dave zu, doch der Psychologe hob abwehrend die Hand. »Nein … oooh … bleiben Sie … wo Sie … sind!« »Aber Sir«, sagte der Polizist besorgt. »Was soll ich tun? Soll ich vielleicht Hilfe holen?« »Nein … Oooh … Nein.« »Aber … aber …« Travis sah, wie sich Daves Gesicht vor Entzücken verzerrte. Die Adern an seinem Hals standen hervor, und er warf den Kopf zurück. »Ja … ja … ja! Oh … verdammt! JA!! JA!!!« Dann sackte sein Körper nach vorne. Er sah völlig ausgelaugt aus, und sein Blick verschwamm. Travis grinste ihn an und hielt ihm die Schachtel Zigaretten hin. »Rauchen Sie hinterher auch immer eine, Dave?«, fragte er. »Was … was … ist passiert?«, fragte Dave japsend.
»Das sollten Sie doch wissen«, meinte Travis. »Sir, ich verstehe das alles nicht … was ist mit Ihnen geschehen?«, fragte der verwirrte Constable. »Sagen Sie's ihm, Dave«, forderte Travis ihn vergnügt auf. »Ich weiß … es … nicht«, keuchte der Psychologe, während er mit den Händen unter dem Schreibtisch herumfummelte. Travis nahm an, dass er seinen Hosenstall zumachte. »Ich glaube, dass Dave soeben eine sehr aufregende Erfahrung gemacht hat«, sagte Travis zu dem Polizisten. »Stimmt's, Dave?« Dave sah ihn verwirrt an. »Was haben Sie mit mir gemacht?«, fragte er. »He, sehen Sie mich nicht an!«, protestierte Travis. »Ich habe Sie nicht mit dem kleinen Finger berührt, und das wissen Sie auch.« »Aber Sie müssen es gewesen sein … irgendwie. Außer PC Watson ist hier niemand.« »Das stimmt nicht ganz«, sagte Travis, der spürte, wie Sharon, die offenbar gerade unter dem Schreibtisch hervorgekommen war, an ihm vorbeistrich. »Sie hatten soeben eine Begegnung mit Sharon, dem Sukkubus, von dem ich Ihnen erzählt habe.« »Unsinn!«, rief Dave. »Sie ist nichts als eine Ausgeburt ihrer überdrehten Phantasie.« »Sharon?«, fragte Travis. »Möchtest du etwas dazu sagen?« »Sicherlich. Der Mann ist ein Idiot«, erklang Sharons Stimme hinter Travis. »Aber er ist beachtlich gebaut.« Dave starrte Travis mit offenem Mund an. »Sie sind Bauchredner …«
»Klar, und Jongleur dazu.« »Sir, was geht hier vor?«, fragte der Constable unsicher. »Zeig's ihnen, Sharon«, forderte Travis sie auf. »Okay.« Sofort tauchte Sharon in all ihrer herrlichen Nacktheit vor ihnen auf. Sie schwang sich auf die Kante des Schreibtischs, beugte sich zu Dave vor und kitzelte ihn unter dem Kinn. »An dir hat man ganz schön zu knabbern, Dave«, sagte sie anerkennend. Sie hörten einen dumpfen Aufprall. Travis drehte sich um. Der Polizist lag auf dem Boden. Ohnmächtig. Travis wandte sich wieder an Dave und lächelte ihm zu. »Für eine bloße Ausgeburt meiner überdrehten Phantasie ist sie gar nicht schlecht, was, Dave?« Der Psychiater sah entsetzt zu Sharon hoch, die gerade mit den Fingern durch das fuhr, was ihm von seinem Haarschopf noch geblieben war. »Das kann nicht sein«, stöhnte er. »Ich bin hypnotisiert worden, das ist die einzige Erklärung.« Travis seufzte. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, aber ich fürchte, Sie müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen. Sharon ist so wirklich wie Sie oder ich. Sharon, zeig ihm, wie wirklich du sein kannst.« Sharon schwang sich elegant vom Schreibtisch. Sie beugte sich vor und riss Dave aus seinem Sessel hoch. Nachdem sie ihn ein paarmal hin und her geschüttelt hatte, küsste sie ihn auf den Mund, bevor sie ihn wieder in den Sessel stieß. »Ist die Botschaft angekommen?«, fragte Travis. »Ich habe den Verstand verloren«, murmelte der Psychologe. »Ich bin genauso verrückt wie Sie.« »Aber Dave, das Wort ›verrückt‹ gefällt uns doch gar nicht,
wissen Sie nicht mehr?« Travis lächelte ihn herablassend an. »Wir würden es vorziehen, Ihren derzeitigen Zustand als ›sehr verstört‹ zu bezeichnen.« Dave stöhnte verzweifelt auf. Sharon kicherte. »Und jetzt«, sagte Travis. »Jetzt werde ich Ihnen sagen, was ich vorhabe …«
KAPITEL 7
Eine unnatürliche Stille senkte sich über Tug and Pullet. Es war weniger die Ankunft von Barry und Nigel, die diesen Effekt auf die versammelten Stammgäste hatte, sondern der Anblick der beiden Männer, die die Brüder begleiteten. Die Gäste des Tug and Pullet hatten dergleichen noch nicht gesehen, und daher schien es nur allzu verständlich, dass ihnen völlig entging, wie auffallend blass und zittrig Barry und Nigel waren. Das Schweigen wurde gebrochen, als einer der männlichen Gäste laut lachte. Und dann rief ein anderer junger Mann, glatzköpfig wie die beiden Brüder: »He, Barry, wer sind denn eure neuen Freundinnen?« Die Bemerkung erzeugte fröhliches Gelächter im ganzen Pub. Barry und Nigel schauten allerdings nicht besonders glücklich drein. Die beiden langhaarigen, seltsam gekleideten Fremden sahen sich angewidert um. Als das Lachen abebbte, sagte Barry zu dem jungen Mann, der den Witz gemacht hatte: »Lass es lieber bleiben, Gary. Diese beiden … Gentlemen … sind geschäftlich hier, ja? Wir arbeiten für sie.« »Ihr arbeitet für die beiden Schwuchteln?«, fragte Gary düster. »Seht sie euch an! Die sehen doch aus, als kämen sie gerade vom Tuntenball!« Barry verzog das Gesicht. »Gary, sieh dich vor … trete ihnen nicht auf den Schlips …«
»Oh, ich würde ihnen gerne irgendwo hintreten«, höhnte Gary. »Aber wahrscheinlich würde ich mir dabei eine Krankheit holen.« »Das hättest du nicht sagen sollen«, seufzte Barry. Der große Mann warf dem kleineren einen Blick zu und deutete mit dem Finger auf Gary. »Kümmere dich um dieses impertinente Furunkel.« »Mit Vergnügen«, sagte dieser und machte eine Geste in Richtung Gary. Gary, der hinter den Gesten des kleinen Mannes automatisch etwas Obszönes vermutete, hob die Faust und trat einen Schritt auf ihn zu. »Du kleiner Bastard! Ich polier dir die Fresse … Oink! Oink!« Gary hatte seine Herrschaft über die englische Sprache – von jeher eine unzulängliche – gänzlich verloren, da er nicht länger über einen menschlichen Lautapparat verfügte. Das wiederum lag daran, dass er sich in ein kleines Schwein verwandelt hatte. Erneut senkte sich eine tiefe und selten vorkommende Stille über den Tug and Pullet. Schließlich meinte einer der älteren Stammgäste: »Also – so was sieht man nun wirklich nicht alle Tage.« »Oink! Oink!«, machte Gary, während er völlig außer sich durch die Gegend lief. »Ich habe dich gewarnt«, sagte Barry zu ihm, während die Leute ängstlich vor diesen beiden wirklich merkwürdigen Fremden zurückwichen. »Bring den Narren wieder in seine frühere fast menschliche Form«, befahl der große dem kleinen Mann. Gesagt, getan. Ein Lichtblitz flammte auf, und als er erstarb,
sahen alle, dass Gary wieder der Alte geworden war. Er stand schwankend vor ihnen, und sein Gesicht war schreckverzerrt. »Was war das …?«, stammelte er. »Es gibt noch ganz andere Möglichkeiten«, zischte der Prinz und packte ihn beim Hals. »Erlaube mir, dass ich mich vorstelle – ich bin Prinz Valerie, und der Name meines Begleiters lautet Damion. Irgendwelche schlauen Kommentare, was unsere Namen betrifft?« »Nein …«, keuchte Gary. »Gut«, sagte Prinz Valerie und schleuderte Gary durch den Schankraum. Gary krachte gegen die Wand, wobei der Glasrahmen des allseits geschätzten Porträts der Kray-Brüder zerbrach, und blieb regungslos liegen. Die Klientel des Tug and Pullet, die meisterhaft ausgeübte körperliche Gewalt durchaus zu würdigen wusste, klatschte Beifall. Prinz Valerie bedankte sich für den Applaus mit einer kleinen Verbeugung. »Danke. Und nun möchte ich eine Botschaft verkünden: Ich, Prinz Valerie, habe dieses Etablissement annektiert. Ihr als die Gäste seid von nun an meine Untertanen. Kniet nieder!« Die Stammgäste des Tug and Pullet gingen wie ein Mann auf die Knie. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Dave und warf Sharon nervöse Blicke zu. Sharon lehnte verführerisch auf seinem Schreibtisch, blickte gelangweilt drein und saugte dabei intensiv an ihrem Daumen. »Die Vorwürfe gegen Sie sind massiv.« »Oh, ich bin sicher, dass es Ihnen gelingt«, sagte Travis verträumt. »Sonst muss Sharon leider bei Ihnen bleiben, und ich
verspreche Ihnen, Sie wird Ihnen das Leben zur Hölle machen. Nicht wahr, Sharon?« Sie nahm ihren Daumen aus dem Mund und betrachtete ihn eingehend. »Sicher«, sagte sie und begann wieder daran zu saugen. Dave starrte sie an. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass all dies wahr sein soll « »Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Ich brauchte auch einige Zeit, um es zu akzeptieren«, sagte Travis. »Aber ich bin ein rational denkender Mensch! Das widerspricht meiner gesamten Weltsicht! Ich habe niemals an das Übernatürliche geglaubt! Und Sie wollen mir erzählen, dass diese Dame ein … Dämon ist?« »Ein Sukkubus, um korrekt zu sein. Sie ernährt sich von den Seelen sterblicher Männer, unter anderem. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch von Ihnen etwas abgezweigt hätte, als sie Sie … bediente.« »Ich habe nur ein bisschen daran geknabbert«, sagte Sharon mit dem Daumen im Mund. »Ich glaube nicht an die Existenz der Seele«, sagte Dave. »So wie Sie auch nicht an Dämonen wie Sharon glauben«, entgegnete Travis. Dave schwieg. »Sharon, zeig ihm noch einen von deinen Partytricks«, forderte Travis sie auf. Sharon nickte und begann augenblicklich zu schrumpfen. Schon bald war sie nur noch etwa zehn Zentimeter groß. Dave traten die Augen hervor. Dann wuchs Sharon wieder auf ihre alte Größe zurück. Sie zwickte Dave in die Wange. Dave stöhnte
auf. Sie hörten, wie noch jemand aufstöhnte. »Er kommt zu sich«, sagte Dave. Travis wandte sich an Sharon. »Mach dich lieber ein bisschen rar«, sagte er. Gehorsam verschwand sie, wurde vor ihren Augen unsichtbar. Travis und der Psychologe gingen zu dem aus seiner Ohnmacht erwachten Polizisten. Der Constable öffnete mühsam die Augen. Dann richtete er sich auf und sah sich verwirrt um. »Wo ist sie?«, rief er. »Wo ist wer?«, fragte Dave, während er ihm auf die Füße half. »Die Frau! Die nackte Frau, die vorhin aus dem Nichts erschienen ist!« »Beruhigen Sie sich erst mal, Mann«, sagte Dave besänftigend. »Es hat hier keine Frau gegeben. Sie hatten eine Art Anfall und sind zusammengebrochen. Ich schlage vor, Sie gehen zum Arzt und lassen sich von Kopf bis Fuß durchchecken …« »Aber ich habe sie gesehen! Und Sie auch!« Der Constable schob die beiden zur Seite, ging zum Schreibtisch und warf einen Blick darunter. »Wo ist sie hin?« »Ich sage Ihnen, hier war keine Frau, weder nackt noch sonstwie«, beharrte Dave. »Sie müssen halluziniert haben. Hat wohl mit Ihrem Anfall zu tun. Ich schlage vor, Sie lassen ein Enzephalogramm machen …« Der Constable hörte nicht zu. »Sie muss nach draußen gegangen sein. Sergeant Potts wird sie gesehen haben …« Er ging auf die Tür zu. Dave versperrte ihm den Weg. »Denken Sie nach, mein Lieber, bevor sie rausgehen und einen Narren aus sich machen.« »Was meinen Sie damit?«, fragte der Constable misstrauisch.
»Nun, was glauben Sie, was die Kollegen denken, wenn Sie dort draußen von einer nackten Frau schwafeln, die angeblich aus dem Nichts vor uns aufgetaucht sein soll? Sie werden lediglich suspendiert und dürfen ein paar therapeutische Sitzungen mit mir machen. Überlegen Sie sich das gut.« Der Constable zögerte. Nach einer Weile sagte er: »Aber sie war da. Ich weiß, dass ich sie gesehen habe.« »Nun, was immer auch Sie gesehen haben, es wäre wohl klüger, niemanden davon zu erzählen, meinen Sie nicht auch?« Der Constable nickte langsam. Dann sah er Travis an und deutete auf ihn. »Es hat alles mit ihm zu tun, nicht wahr? Und Sie stecken jetzt mit ihm unter einer Decke.« Dave räusperte sich. »Mr. Thomson hat sein Fehlverhalten eingesehen und wird freiwillig psychiatrische Hilfe aufsuchen. Daher werde ich dem wachhabenden Beamten raten, die Anklagen gegen Mr. Thomson fallen zu lassen.« Der Blick des Constable wurde noch misstrauischer. »Er hat irgendwas mit Ihnen gemacht, nicht wahr? Während ich ohnmächtig war, ist zwischen Ihnen beiden irgendwas passiert. Was ist er – eine Art Hypnotiseur?« »Befolgen Sie einfach meinen Rat, mein Lieber, und vergessen Sie alles, von dem Sie glauben, dass es heute Abend hier geschehen sein könnte. Das wäre für alle Beteiligten am besten. Ganz besonders für Sie.« Der Constable murrte. »Gut, Sir, aber ich muss sagen, die Sache gefällt mir nicht.« Dave schlug ihm auf die Schulter. »Guter Mann, Sie werden es nicht bereuen.« Dann wandte er sich an Travis. »Also gut, gehen wir und bringen wir die Sache in Ordnung.«
»Gerne«, sagte Travis. »Komm, Sharon, wir verschwinden « »Ich bin hier, Boss«, erklang Sharons körperlose Stimme, gefolgt von dem Geräusch nackter Füße auf dem Boden. Der Constable starrte entsetzt in ihre Richtung und schrie dann plötzlich auf. »Jemand hat mich angefasst!«, rief er. Travis seufzte. »Sharon, benimm dich«, sagte er streng. »Tu ich das nicht immer?«, entgegnete sie. Nachdem er auf Bewährung entlassen worden war, ging Travis zusammen mit Dave in die Eingangshalle, wo zu seiner Überraschung Beatrice saß. Dann sah er die Harrods-Tüte auf ihrem Schoß und stöhnte innerlich auf. Sie hatte gestohlenen Schmuck im Wert von 50.000 Pfund mit auf eine Polizeiwache genommen! Als sie ihn erkannte, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln und sprang auf. »Das ist ja wunderbar«, sagte sie und umarmte ihn. »Sharon meinte, sie würde dich hier rausholen, und sie hat es geschafft.« »Ja, die gute alte Sharon«, entgegnete er und löste sich sanft aus ihrer Umarmung. Er hatte es eilig, hier zu verschwinden, oder, genauer gesagt, die Harrods-Tüte verschwinden zu lassen. »Ähm«, räusperte sich Dave laut. »Und wer ist das?« Travis hatte ihn ganz vergessen. »Oh, tut mit Leid«, sagte er zu Dave, der Beatrice unverhohlen fasziniert anstarrte. »Das ist Beatrice. Prinzessin Beatrice. Prinzessin, das ist Dave.« »Ach ja, die Prinzessin«, sagte Dave. »Natürlich. Nun, ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt in unserer Welt, Eure Hoheit.« Gnädig streckte sie ihm ihre Hand zum Kuss hin. Nach kur-
zem Zögern küsste er sie. »Bis jetzt war es in der Tat höchst interessant, Dave«, sagte sie. »Diese Welt ist ganz anders als meine.« »Das glaube ich gerne«, sagte Dave und sah sie ungeniert an. »Wir gehen jetzt besser«, meinte Travis. Er schüttelte Dave die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Sie haben mein ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt, wissen Sie das?«, fragte Dave. »Willkommen im Club. Auf Wiedersehen«, meinte Travis. »Ja, auf Wiedersehen, Dave«, sagte Beatrice. »Und auch von mir auf Wiedersehen, Dave«, ertönte Sharons Stimme aus dem Nichts. Dave zuckte zusammen. Eilig schob Travis Beatrice zur Tür. »Wie habt ihr mich gefunden?«, fragte er leise. »Wir sind dir gefolgt.« »Aber wie? Ihr wart zu Fuß.« »Sharon folgte deinem Geruch. Sie sagt, dein Geruch sei sehr intensiv.« »Heiliger Jens! Das haben sie auch schon in der Schule immer behauptet.« Sie traten auf die Straße hinaus. Travis war zur West EndWache gebracht worden, die sich in der Nähe des Piccadilly Circus befand. Er winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran. Zu seiner Verwunderung behauptete der Fahrer nicht, dass er gerade auf dem Weg nach Hause sei oder dass er das ›Frei‹Zeichen nur aus Versehen habe leuchten lassen; er sagte auch nicht, dass er gerade Pause mache oder dass er eigentlich gar kein Taxifahrer sei und den Wagen nur von einem Freund ausgeliehen habe. Stattdessen erklärte er sich tatsächlich ohne
Umschweife bereit, sie nach St. John's Wood zu fahren. Zutiefst dankbar hielt Travis Beatrice die Tür auf, folgte ihr und machte dann Platz für die unsichtbare Sharon. »Huch, ist der Sitz kalt«, rief Sharon. »Psst«, sagte Travis. Glücklicherweise schien der Fahrer sie nicht gehört zu haben. Als das Taxi vom Bordstein losfuhr, griff Beatrice in die Harrods-Tüte und holte ein silbernes Stirnband heraus. Sie hielt es Travis vor die Nase. »Ist das nicht wunderbar?«, hauchte sie. Er schloss die Augen und stöhnte. »Wo seid ihr die ganze Zeit gewesen?«, fragte Jack, der in Travis' Arbeitszimmer neben dem Faxgerät hockte, das eifrig vor sich hinsummte. »Eine Zeit lang war ich im Gefängnis«, entgegnete Travis und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Er informierte Jack über die dunklen Einzelheiten, und Jack fand das alles höchst amüsant – wie Travis schon vermutet hatte. »Schön, dass du es so verdammt komisch findest«, knurrte Travis. »Ich habe nicht nur meine Freundin verloren, ich werde höchstwahrscheinlich auch noch meinen Job verlieren. Und da ich hier derjenige bin, der die Rechnungen bezahlt, wird es auch dich betreffen.« »Entspann dich. Du hast bald einen neuen Job.« »Aber sicher«, sagte Travis sarkastisch. »Und wie genau soll dieser neue Job aussehen?« »Du gehst ins Filmgeschäft«, antwortete Jack. »Wir drehen einen Film.«
KAPITEL 8
Travis nahm einen kräftigen Schluck von seinem Scotch mit Soda und sagte: »Okay, ich glaube, jetzt bin ich genügend betäubt, um mir die Sache noch mal anzuhören. Vielleicht komme ich nun damit klar.« Er und Jack saßen mittlerweile in der Küche. Die beiden Frauen machten sich über die Lebensmittel von Harrods her, als wäre es das Erste, was sie seit Tagen zu essen bekommen hätten. Jack hockte auf dem Fernseher und rauchte eine Marlboro. »Es ist ganz einfach, Holzkopf«, sagte er. »Wir machen einen Film. Oder, besser gesagt, ich mache einen Film, mit deiner Hilfe. Und mit Hilfe dieser beiden Schönheiten.« »Du redest aus einer Körperöffnung, die nicht dein Mund ist, auch wenn es zwischen den beiden eine auffällige Ähnlichkeit gibt«, entgegnete Travis. Der Scotch weichte auf äußerst angenehme Weise sein Hirn auf und betäubte die schmerzhaften Erinnerungen an die Ereignisse des Tages. »He, Filmemachen ist mein Geschäft, weißt du noch?« »Es war dein Geschäft, Jack«, korrigierte Travis. »Aber damals warst du – ich wähle den Begriff bewusst etwas allgemein – eine Art menschliches Wesen. Selbst deine früheren Kollegen fänden es sicherlich etwas irritierend, mit dir in deiner jetzigen Form zusammenzuarbeiten.« »Sie müssen es ja nie erfahren. Die meisten meiner Geschäfte kann ich per Telefon oder Fax erledigen. Aber dann und wann
werde ich doch einen Strohmann brauchen, und hier kommst du ins Spiel.« »Ich weiß doch gar nichts übers Filmemachen.« »Gut. Das heißt, dass es zwischen uns keine Diskussionen geben wird. Du tust einfach, was ich dir sage.« »Das hättest du wohl gern«, meinte Travis und trank noch etwas mehr Scotch. »Du wirst mir noch dankbar sein. Ich mache uns alle reich. Nun ja, ziemlich reich.« »Gut«, sagte Beatrice. »Ich bin es leid, arm zu sein.« Travis sah sie an. Sie trug ein silbernes Stirnband, eine silberne Halskette und ein breites silbernes Armband. Sharon hatte sich gleichermaßen mit den Beutestücken von Harrods behängt. Er seufzte. »Ich muss dieses Zeug zurückbringen.« »Du spinnst«, meinte Jack. »Wir brauchen es. Wir müssen es verkaufen.« »Du bist hier der Spinner. Ich riskiere doch nicht, deswegen in den Knast zu gehen. Ich hatte schon einen kleinen Vorgeschmack auf das Leben in einer Zelle, und ich möchte keine Vollzeitbeschäftigung daraus machen.« »Ich sagte dir doch, dass wir etwas Geld brauchen, um das Projekt anzukurbeln. Wir müssen dieses Zeug verscherbeln … es sei denn, du hast mindestens zwanzigtausend auf deinem Bankkonto.« »Sehr witzig. Ich habe gerade mal zweitausend. Ich hatte ein teures Hobby.« »Du hast Drogen genommen? Kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Es waren keine Drogen, es war Heather. Aber das liegt alles
in der Vergangenheit.« »Egal. Jedenfalls müssen wir die Kronjuwelen verkaufen.« Travis starrte in sein Glas. »Ich sage nicht ja – aber nur so aus Neugier: Wie würdest du es überhaupt anstellen?« »Kein Problem. Über einen Hehler « »Du warst noch nie in London. Wie willst du einen finden?« Jack zwinkerte ihm zu. »Ich kenne Leute, die Leute kennen. Überall. Setz mich in irgendeiner Stadt auf der Welt ab, und es dauert nicht lange, bis ich weiß, an wen man sich wenden muss.« »Willst du damit sagen, dass es eine weltweite Bruderschaft der Gauner gibt, deren eingetragenes Mitglied du bist?« »Pass auf, was du sagst, Holzkopf. Ich versuche, dir zu helfen.« »Indem du mich in die Hehlerei gestohlenen Schmucks verwickelst? Vielen Dank. Meine Dankbarkeit kennt gar keine Grenzen.« Das Telefon klingelte. Jack flog hinüber und nahm den Hörer ab. »Arnie?«, bellte er. Dann hielt er Travis mit verärgertem Gesicht den Hörer hin. »Es ist dieser Idiot – dein Boss.« Travis nahm das Telefon. »Hallo, Martin.« »Offenbar ist dein unangenehmer amerikanischer Freund wieder da«, sagte Martin säuerlich. »Freund ist ein bisschen übertrieben, aber es stimmt, er ist wieder da. Tut mir Leid wegen heute Nachmittag.« »Mir auch, Travis, mir auch. Ich rufe an, weil ich dir noch eine Chance geben will. Bist du wieder zur Vernunft gekommen?« »Nun, das ist Ansichtssache, Martin.«
»Willst du mir nicht sagen, was wirklich zwischen dir und Prenderghast abläuft?« »Ich wünschte, das könnte ich. Aber du würdest mir nicht glauben. Und es tut mir wirklich Leid, dass ich die Story nicht abgeliefert habe, aber so wie es aussieht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es noch tun werde, sehr gering. Alles was ich dir sagen kann ist, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte – Prenderghasts Virtual Reality-Helme stellen in der Tat eine Gefahr für Kinder dar. Eine noch größere Gefahr, als ich befürchtet hatte. Du musst eine Warnung drucken.« »Das täte ich gerne, wenn du mir nur die Beweise liefern würdest.« »Ich kann nicht, tut mir Leid.« »Dann tut es mir auch sehr Leid, Travis«, sagte Martin kühl. »Ich habe dich gewarnt. Das Watchdog-Magazin möchte deine Dienste nicht länger in Anspruch nehmen. Du bist gefeuert. Du bekommst noch zwei Monatslöhne, wie vertraglich vereinbart. Mach dir nicht die Mühe, noch mal im Büro zu erscheinen. Der Inhalt deines Schreibtischs wird dir per Post zugeschickt. Auf Wiedersehen, Travis.« »Auf Wiedersehen, Martin«, erwiderte Travis und legte auf. Er seufzte und sagte zu Jack. »Also schön, such dir einen Hehler.« David Whiteman und seine Frau Daphne saßen im Wohnzimmer ihres Hauses in Moor Park und nahmen das Abendessen ein. Daphne war verwundert, ja etwas beunruhigt darüber, dass ihr Gatte während des Mahls ungewöhnlich schweigsam geblieben war. Das sah ihm kaum ähnlich, da er den Klang seiner
eigenen Stimme eigentlich mochte – ja sogar liebte und bewunderte. Deshalb zuckte sie ein kleines bisschen zusammen, als er endlich das Wort an sie richtete. »Daphne, ich muss dir etwas Ernstes sagen.« »So?«, entgegnete sie. Er sah ihr in die Augen. Sein Blick, wie auch der Klang seiner Stimme, waren in der Tat ungewöhnlich ernst. »Ja. Heute ist etwas geschehen.« »Wirklich? Was denn?« »Ich habe eine Prinzessin kennen gelernt, von einem anderen Planeten. Sie heißt Beatrice. Ich habe auch einen Sukkubus getroffen, von dem gleichen Planeten. Ihr Name ist Sharon.« Ach du liebes bisschen, dachte Daphne. »Beide waren sehr schön, besonders Beatrice. Wie eine Elfenkönigin, auch wenn ich nicht denke, dass sie eine Elfe ist. Aber Sharon ist ein echter Sukkubus. Sie hat ein Stück meiner Seele verspeist. Und sie konnte sich unsichtbar machen. Ach ja, schrumpfen lassen konnte sie sich auch.« »Natürlich«, sagte Daphne. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Ein schrecklicher Verdacht begann Gestalt anzunehmen. »Selbstverständlich hat dieses Ereignis mein Leben völlig verändert. Meine rationale Sicht der Welt ist vollkommen auf den Kopf gestellt worden«, sagte er. »Ich werde die Psychologie an den Nagel hängen. Jedes Vertrauen in meine früheren beruflichen Glaubenssätze ist mir verloren gegangen. Ich werde mich auf ein neues Gebiet wagen – Aromatherapie. Was hältst du davon, Schatz?« Sie starrte ihn an. Dann ließ sie Messer und Gabel auf den Tisch fallen. »Wie kannst du nur dieses böse Spiel mit mir
treiben!«, rief sie und sprang auf. »Ich weiß, dass du alles herausgefunden hast. Warum kannst du es mir nicht vernünftig sagen?« Er runzelte die Stirn. »Was soll ich herausgefunden haben?« »Oh, hör auf, so dumm zu tun. Irgendwie hast du es herausgefunden! Du hast herausgefunden, dass ich ein Verhältnis mit deiner Schwester Audrey habe, und zwar seit zwei Jahren!« »Du hast was?« Mit einem Schlag waren alle Gedanken an Prinzessinnen, Sukkuben und Aromatherapie aus seinem Kopf verbannt. »Also schön, ich erkläre mich damit einverstanden, dass du den Schmuck verkaufst, wenn du mit dem Erlös genug andere Finanzmittel auftun kannst, um diesen Film zu drehen …« »Endlich scheine ich durchgekommen zu sein«, sagte Jack beifällig. »Aber es gibt da noch ein paar Details, die mir nicht ganz klar sind.« »Schieß los.« »Führe mich nicht in Versuchung. Ich habe immer noch die Knarre, denk dran.« »Hör bloß auf, mir Angst einzujagen. Was macht dir noch Sorgen?« »Nun, zum Beispiel habe ich mal gehört, dass man für einen Film ein Drehbuch braucht. Ich bin sicherlich Neuling in diesem Geschäft, aber trotzdem denke ich, dass ein Drehbuch ganz nützlich sein könnte.« »Kein Problem. Du wirst es schreiben.« »Ich? Aber ich bin Journalist. Oder, besser gesagt, war …«
»Du kannst schreiben, oder? Also kannst du auch ein Drehbuch verfassen.« »Aber ich habe noch nie etwas Erfundenes geschrieben.« Jack lachte unangenehm. »Zeig mir einen Journalisten, der noch nie etwas Erfundenes geschrieben hat, und ich zeige dir einen unverschämten Lügner.« »Das weise ich zurück!«, empörte sich Travis. »Weise es später zurück. Wir reden hier vom Geschäft, Holzkopf. Und ich sage, du kannst ein Drehbuch schreiben. Mit meiner Hilfe, natürlich.« »Und wovon soll das Drehbuch handeln? Oder hast du über diesen Punkt noch nicht nachgedacht?« »Natürlich habe ich das. Es handelt von dir und deinen Abenteuern.« »Meinen Abenteuern? Ich habe keine Abenteuer erlebt.« »Ach nein? Du kommst gerade aus einer anderen Welt zurück, in der du mit Drachen gekämpft, Prinzessinnen gerettet, einen teuflischen Vampirprinzen und seinen Zauberer ausgetrickst und süße und interessante Dämonen kennen gelernt hast. Wenn das keine Abenteuer sind, was dann, Holzkopf?« Travis dachte darüber nach. »Mir kamen sie eher wie Prüfungen denn als Abenteuer vor«, sagte er schließlich. »Ich bin für dich eine Prüfung?«, warf Beatrice entrüstet ein. »Eine wunderschöne Prüfung, aber leider wirklich eine Prüfung«, sagte Travis ehrlich. Sie musste schlucken. »Der Stoff ist perfekt«, erklärte Jack enthusiastisch. »Arnie meint, dass Fantasy-Filme zur Zeit der Renner sind. Wir werden eine starke Geschichte schreiben, und diese beiden umwer-
fenden Babes, die wirklich nicht von dieser Welt stammen, werden sich selbst spielen.« Er deutete auf Sharon und Beatrice, die freundlich lächelten, auch wenn sie nicht genau wussten, wovon er eigentlich sprach. »Aber was ist, wenn sie nicht schauspielern können?«, fragte Travis. »Das brauchen sie gar nicht. Glaub mir, der Kamera geht bei ihrem bloßen Anblick einer ab.« »Und wer wird dich spielen?« »Ich. Ich werde ebenfalls mich selbst spielen.« »Du wirst deine Identität preisgeben?«, fragte Travis ungläubig. »Nicht ganz. Du musst mich nur als verteufelt guten Special Effect verkaufen « »Oh. Und ich werde mich wahrscheinlich auch selber spielen.« »Unsinn«, sagte Jack kopfschüttelnd. »Für dich brauchen wir einen richtigen Schauspieler. Jemanden, der gut aussieht und Amerikaner ist. Wir brauchen einen amerikanischen Namen – muss kein großer sein, aber immerhin einen Namen –, um auf dem US-Markt anzukommen.« »Mich soll ein Amerikaner spielen?«, fragte Travis langsam. »Du musst zugeben, das macht Sinn«, entgegnete Jack. »Fass es bitte nicht falsch auf, aber du bist nicht gerade das Holz, aus dem Filmstars geschnitzt sind. Okay, du kannst Strumpfhosen tragen und dein Gesicht macht nicht die Pferde scheu, aber … nun, du verstehst sicherlich.« »Ja, ich verstehe schon«, murmelte Travis. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Ich verstehe, dass ich nicht in dem Film
mitspielen werde.« Er stand auf und streckte sich. »Aber das ist mir jetzt alles zu viel. Ich bin total müde. Ich gehe ins Bett. Bis morgen, Leute … fürchte ich.« Er stellte das leere Whiskyglas auf den Tisch und ging aufs Schlafzimmer zu. »Ähem«, sagte Beatrice. Er blieb stehen und sah sie an. »Du hast ›ähem‹ gemacht«, sagte er zu ihr. Er hatte die dunkle Ahnung, dass dieses »ähem« Probleme für ihn bringen würde. »Das habe ich.« »Ich weiß, dass ich diese Frage bedauern werde, aber warum hast du ›ähem‹ gemacht?« »Du sagtest, du würdest ins Bett gehen«, erwiderte Beatrice. »Ja. Wieso rechtfertigt das ein bedeutungsschwangeres ›ähem‹?« »Es gibt nur ein Bett«, stellte Beatrice fest. Er nickte. »Das ist richtig.« »Und wo werde ich schlafen?« Er runzelte die Stirn. »Das weiß ich nicht«, räumte er ein. »Dort, wo du auch gestern Nacht geschlafen hast? Auf dem Wohnzimmersofa? Nein?« »Letzte Nacht war ich zu aufgeregt, um zu schlafen. Außerdem warst du in einem üblen Zustand und brauchtest ein richtiges Bett.« »O nein«, murmelte er. »Es ist doch ein Doppelbett … Können wir es uns nicht einfach teilen? Ich werde ganz brav sein, ich verspreche es dir. Ich bin zu müde, um auch nur an solche Sachen zu denken.« »Travis, du weißt, warum ich das Bett nicht mit dir teilen kann«, sagte sie bestimmt.
Zuerst wusste er es nicht, aber dann fiel es ihm wieder ein. »O ja, weil du eine Prinzessin bist, und ich nur ein gemeiner Bürger.« »Ja. Ich denke, für einen gemeinen Bürger bist du sehr nett, und es gibt auch alle möglichen Gründe, weswegen ich dir dankbar bin, aber das ändert nichts an der Situation.« Travis hatte eine Idee. »Ich weiß was! Als Prinzessin könntest du mich doch zum Ritter schlagen. Und als Sir Travis Thomson gäbe es dann keinen Grund, warum wir nicht ein Bett teilen könnten. Warte … du brauchst ein Schwert …« Er öffnete die Besteckschublade und holte ein Brotmesser hervor. »Geht das auch?« Sie schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle, Travis. Ich habe nicht die Autorität, dich zum Ritter zu schlagen.« »Mist!« Er warf das Messer wieder in die Schublade. »Aber warum soll ich dir mein Bett abtreten? Warum schläfst du nicht einfach auf dem Sofa?« Sie sah ihn überrascht an. »Aber Travis, schließlich bin ich Gast in deinem Haus, ein königlicher Gast. Natürlich musst du mir dein Bett anbieten.« Hoffnungslos. Ihm waren die Argumente ausgegangen. »Okay, okay, ich nehme das Sofa.« Vorsichtig sah er zu Sharon hinüber. »Es sei denn, du willst es.« »Nein. Aber ich würde mich freuen, es mit dir zu teilen«, antwortete Sharon. »Danke – nein danke. Ich möchte nicht aufwachen und feststellen, dass mir die Seele fehlt, nur weil du vielleicht mitten in der Nacht noch Hunger bekommen hast.« »Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde«, sagte Sharon.
»Vielleicht nicht mit Absicht, aber möglicherweise isst du ja im Schlaf. Außerdem ist das Sofa für zwei nicht groß genug.« »Und was ist mit mir?«, fragte Jack. »Du kannst von mir aus im Kühlschrank schlafen«, antwortete Travis. »Du bist mir ein schöner Gastgeber. Egal, ich kann's mir überall gemütlich machen.« Er sah Sharon lüstern an. »Ich habe da eine Idee, meine Schöne. Wie wär's, wenn du dich auf meine Größe schrumpfst? Dann könnten wir die ganze Nacht sehr unanständige Dinge mit unseren Körpern tun.« »Eine ganz schlechte Idee«, meinte Sharon. »Ich steh' nicht mehr auf dich, Jack.« »Mist …« »Dann kannst du das Bett mit mir teilen, Sharon«, sagte Beatrice. »Ich danke Euch, Eure Hoheit.« Travis sah Beatrice wütend an. »He, einen Augenblick mal! Wieso darf sie mit dir in einem Bett schlafen? Sie gehört doch auch zum gemeinen Volk!« »Sei nicht albern, Travis«, entgegnete Beatrice, als rede sie mit einem unglaublich begriffsstutzigen Menschen. »Sie ist ein Sukkubus. Sukkuben gehören natürlich nicht zum gemeinen Volk; nur Sterbliche gehören dazu.« »Oh.« Dann fiel ihm noch etwas ein: »Aber was ist mit deiner …« Sehr schnell brach er den Satz ab, als ihm einfiel, dass Sukkuben ja nur die Seelen sterblicher Männer aßen. Beatrice hatte also nicht das Geringste zu befürchten. »Oh«, sagte er noch einmal. Der Gedanke daran, dass Beatrice und Sharon in einem Bett nebeneinander lagen, hatte sich
bereits so in seinem Kopf festgesetzt, dass in dieser Nacht an Schlaf wohl kaum noch zu denken war.
KAPITEL 9
Prinz Valerie las einen Roman von James Herbert. Damion saß am Esstisch und zauberte Ein-Pfund-Münzen herbei. Er fand es zwar schrecklich umständlich, hatte aber die Kunst, das in dieser Welt gebräuchliche Papiergeld zu reproduzieren, noch nicht gemeistert. Sie befanden sich in der Wohnung des Wirts des Tug and Pullet, eines Mr. Sydney Street. Mr. Street und seine Familie hatten ihre Behausung großzügigerweise Prinz Valerie und Damion angeboten und ein alternatives Quartier aufgesucht. Der Prinz legte das Herbert-Buch mit einem zufriedenen Seufzer beiseite. Es war bereits der zweite Roman dieses Autors, den er gelesen hatte. Der Wirt hatte eine ganze Regalreihe voll mit Herberts Horror-Büchern. »Verdammt guter Schriftsteller, dieser Herbert«, sagte der Prinz zu Damion. »Ich würde ihn gerne mal kennen lernen.« »Es freut mich, dass Ihr Euch gut unterhaltet«, murmelte Damion, während sich wieder eine Pfundmünze in sulphurgelbem Rauch materialisierte. »Ich zaubere mir hier den Arsch ab.« »Alles für einen guten Zweck, Damion«, meinte der Prinz. »Wir müssen unsere neuen Untertanen bei Laune halten.« »Bei Laune? Sie sind doch bereits trunken vor Glück, besonders seit wir uns um diese rivalisierende Gang ein paar Häuserblocks entfernt gekümmert haben.« Die besagten Rivalen, deren
Hauptquartier ein Pub namens The Rampant Cock war, hatten einen radikalen Sinneswandel vollzogen, seit Prinz Valerie und Damion ihnen einen Besuch abgestattet hatten. Das Lokal war nun ein Gemeindezentrum, das homöopathische Behandlungen und Beratungsgespräche anbot. Außerdem war der Rampant Cock zur alkoholfreien Zone erklärt worden. Zu guter Letzt hatte man den Namen noch in The Happy Hen geändert. »Trotzdem sollten wir sie weiterhin mit Geld versorgen«, sagte Valerie. »Weitere zweihundert dürften aber erst einmal reichen.« »Verdammter Mist«, murmelte Damion. »Es muss doch einen leichteren Weg geben, an Geld zu kommen. Wir sitzen hier rum und verschwenden unsere Zeit, während wir nach Travis und seinen verdammten Begleitern suchen sollten.« »Sie können warten. Keine Eile. Mir gefällt diese seltsame neue Welt. Und ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal Urlaub gemacht habe.« »Ihr habt noch nie Urlaub gemacht, Herr«, sagte Damion. »So etwas wie Urlaub kennt man in Samella nicht.« »Genau das meine ich«, sagte der Prinz. »Ich hatte dringend einen nötig. Außerdem, was wartet in Samella schon auf mich? Widerspenstige Tagelöhner und eine Legion von Soldatenwitwen, die Schadenersatz für ihre vermissten Ehemänner fordern. Und versuch mal, ein Rendezvous zu kriegen, wenn jeder weiß, dass du ein Vampir bist. Ha!« Damion sah sich um und rümpfte die Nase. »Aber erzählt mir bitte nicht, dass Euch auch diese nicht eben luxuriöse Behausung zusagt.« »Nun, da sprichst du einen wunden Punkt an«, sagte der
Prinz. »Wir werden noch heute eine Unterkunft suchen, die meinem königlichen Status entspricht. Die Frage ist nur, wo wir so etwas finden … Rufe Barry herbei, sofort. Vielleicht weiß er etwas.« Damion unterbrach seine Münzprägung und klatschte in die Hände. Sekunden später öffnete sich die Tür, und Barry Simmons trat herein. Er verneigte sich vor dem Prinzen und sagte: »Ihr wolltet mich sprechen, königliche Fürstlichkeit?« »Ja, mein dümmlicher Freund. Wir möchten gerne das, was man ironischerweise als dein Wissen bezeichnen könnte, anzapfen.« Barry sah erfreut auf. »Gerne, Master. Zapft nur.« »Es ist nicht so, als wären wir nicht dankbar für die Benutzung dieser bescheidenen – sehr bescheidenen – Hütte, aber Damion und ich würden doch eine etwas luxuriösere Umgebung vorziehen. Gibt es etwas Geeignetes in dieser Gegend?« Barry runzelte die Stirn. »Ihr meint, Ihr wollt in eine schickere Bude ziehen?« »Ich schätze, das meinen wir …« »Die Docklands wären der beste Ort, aber eine richtig schicke Bude würde eine Menge Zaster kosten.« »Zaster?«, fragte der Prinz. »Zaster … Knete … Moos …« Barry deutete auf die Münzen auf dem Tisch. »Dieses Zeug.« » Oh, ich verstehe. Und wie viel würden wir brauchen?« »Hunderttausende davon, Master«, antwortete Barry. Eine weitere glänzende Münze erschien. Damion legte sie auf den Stapel. Er stöhnte auf. »Hunderttausende? Dafür bräuchte ich Monate!«
»Es gibt leichtere Wege, an Geld zu kommen«, meinte Barry. »Nicht, dass ich wüsste«, sagte Damion bitter. »Warum raubt ihr nicht einfach 'ne Bank aus?« Der Prinz sah Barry an. »Was ist eine Bank?«, fragte er. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Travis zu Jack und starrte auf den Bildschirm seines Apple Macintosh. »Hau einfach eine grobe Storyline runter, in der du beschreibst, was auf Samella passiert ist«, riet Jack. »Wenn wir erst einmal ein Skelett haben, können wir es mit Fleisch behängen.« »Du tust so, als wäre das verdammt einfach«, murrte Travis. »Aber wo fange ich an?« »Am besten denkt man sich zuerst einen Titel aus«, schlug Jack vor. Travis versuchte sich einen auszudenken – etwas, das seine Erlebnisse auf Samella auf den Punkt bringen würde –, aber sein Kopf blieb so leer wie der Bildschirm seines Computers. Jack hatte eine Idee: »Wie wär's mit Planet der heißen Bräute?« Travis stöhnte auf. »Ja, du hast Recht«, meinte Jack und steckte sich eine unvermeidliche Marlboro an. »Ein bisschen zu grobschlächtig.« Er hockte auf dem Drucker neben dem Computer. Ärgerlich wedelte Travis den Rauch beiseite. »Ach, übrigens, ich habe ein Treffen mit einem Hehler arrangiert. Ihr trefft euch heute Nachmittag « »Was?«, japste Travis. »Um halb drei in einer Bar im Osten der Stadt, in Walford oder so«, fuhr Jack fort. »In einem Pub mit dem Namen Tug
and Pullet.« »Ich soll mich mit einem Hehler treffen? In Walford? Du meine Güte, nicht mal die Polizei wagt sich ohne Armeeverstärkung nach Walford.« »Sei kein Feigling. Du brauchst dich ja nur mit diesem Typen im Pub zu treffen und ihm den Schmuck zu geben. Er händigt dir dafür einen Umschlag mit Geld aus. Ist doch kein Problem.« »Für dich vielleicht nicht, aber für mich schon, und zwar ein großes«, sagte Travis. »Ich trage das ganze Risiko. Woher weißt du, dass ich diesem … Hehler vertrauen kann?« »He, Leute, denen ich vertraue, haben sich für ihn verbürgt«, erklärte Jack. »Nun, vertrauen ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber für Ganoven sind sie wirklich okay.« »O prima, das stärkt meine Zuversicht ungemein. Woher weißt du, dass es keine Polizeifalle ist?« »Ach was, niemals.« »Und wie erkenne ich diesen Herrn?« »Überhaupt nicht. Er wird dich erkennen. Er hat eine vollständige Beschreibung von dir erhalten.« »Es wird immer schlimmer.« »Komm, wir brauchen das Geld. Mach es einfach.« Travis wusste nur allzu gut, dass sie das Geld wirklich brauchten. Am Vormittag hatte er Beatrice und Sharon zu Selfridges gefahren und sie dort eingekleidet. Mit einigen Accessoires hatten diese Einkäufe sein Bankkonto fast auf null gebracht. Er seufzte. »Na schön, ich muss wohl.« Es klingelte. Fast schon automatisch zuckte Travis nervös zusammen. Früher hatte er das nie getan, wenn es an der Haustür schellte, aber mittlerweile war es zu einer guten alten Ge-
wohnheit geworden. »Bleib hier«, sagte er zu Jack, als er sich von seinem Stuhl erhob. Er ging ins Wohnzimmer, wo Beatrice und Sharon vor der Glotze hingen. Sie trugen ihre neuen Sachen. Travis sah einen Mann auf dem Schirm, der vor einer großen, sich bewegenden Landkarte Englands hin und her hüpfte. »Benehmt euch«, warnte er sie, als er an ihnen vorbeiging. Er öffnete die Wohnungstür. Draußen stand Stephen mit seinem üblichen breiten Grinsen. »Hi!«, sagte er. »Was willst du?«, fragte Travis recht barsch. »Travis, du musst wirklich ein bisschen an deinen Umgangsformen arbeiten. Dein Niveau sinkt beträchtlich.« Stephen drängte sich an Travis vorbei. »Ich möchte eine deiner einsamen Cousinen zum Essen ausführen. Wo sind sie?« Hilflos folgte Travis seinem Freund durch die Küche ins Wohnzimmer. »Hi, Sharon … Beatrice«, begrüßte Stephen die beiden Frauen. Beatrice schenkte ihm ein höfliches Lächeln, während Sharon ihm einen verführerischen Blick zuwarf. Travis wurde klar, dass er eigentlich zum ersten Mal einen wirklich verführerischen Blick gesehen hatte. »Hallo, Stephen«, hauchte Sharon und erhob sich. »Wie gefallen dir meine neuen Kleider?« Schon drehte sie sich vor ihm. Sie trug einen schwarzen Minirock aus Leder und eine tief ausgeschnittene blutrote Bluse. Die Sachen hatte sie sich selbst ausgesucht, ebenso die schwarzen Lederstiefel. Travis hoffte nur, dass sie auch einen der Schlüpfer trug, auf deren Kauf er bestanden hatte, aber wetten wollte er nicht darauf. »Du siehst hinreißend aus«, sagte Stephen und meinte das
offensichtlich auch so. »Ich habe Travis gerade erzählt, dass ich dich zum Essen einladen möchte.« »Oh, wie schön«, meinte sie. Stephen sah Travis an. »Es sei denn, dein Cousin hat etwas dagegen.« Travis hatte schon einmal versucht, Stephen zu warnen, und er sah, dass er auch dieses Mal auf taube Ohren stoßen würde. Also zuckte er die Schultern. »Gut«, sagte Stephen und wandte sich wieder Sharon zu. »Hier ganz in der Nähe gibt's ein fantastisches italienisches Restaurant. Magst du italienisch?« »Sicher«, sagte Sharon strahlend. »Was ist das?« »Essen, italienisches Essen«, sagte Stephen irritiert. »Magst du italienisches Essen?« »O ja, ich liebe italienisches Essen!«, rief sie aus und hakte sich bei ihm unter. »Gehen wir!« Stephen zögerte und wandte sich an Beatrice. »Hast du vielleicht auch Lust, mitzukommen, Beatrice?«, fragte er ohne allzu großen Enthusiasmus. »Nein, danke«, antwortete sie. Zweifellos hatte sie die Situation erfasst. »Ich bleibe bei Richard und Judy.« »Wer zum Teufel sind Richard und Judy?«, stieß Travis hervor. Bitte nicht noch mehr ungebetene Gäste, dachte er. »Die beiden da«, sagte Beatrice und deutete zum Fernseher. Travis sah einen Mann und eine Frau, beide blond, die vor einer gläsernen Wand saßen und – wie es Travis schien – ein bisschen zu euphorisch in die Kamera grinsten. »Oh«, sagte er erleichtert.
Als Stephen und Sharon gegangen waren, kehrte Travis in sein Arbeitszimmer zurück und setzte sich wieder vor den Computer. Jack fragte ihn, wer gekommen sei, und Travis erzählte ihm, dass Stephen Sharon zum Essen eingeladen habe. »O Mann«, sagte Jack lachend. »Hat er irgendeine Vorstellung davon, was er sich da zur Brust nimmt?« »Ich mache mir mehr Sorgen darüber, was Sharon sich so zur Brust nimmt«, sagte er und fing an zu schreiben. »Ich glaube, ich habe einen Titel …« Jack sah auf den Bildschirm. »Verflixt und Zugehext?«, las er. »Klingt gut, aber was soll es bedeuten?« »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Travis wahrheitsgemäß. Travis schloss den Wagen ab und sah sich vorsichtig um, auf der Suche nach potenziellen Autoknackern. Unglücklicherweise sah jeder im Umkreis aus wie ein potenzieller Autoknacker. »Du wirkst irgendwie gehetzt«, meinte Beatrice. »Ich habe dir doch gesagt, dass diese Gegend gefährlich ist. Ich wünschte, du hättest nicht darauf bestanden, mitzukommen.« »Ich habe mich gelangweilt. Als Die Landarztpraxis vorbei war, kam überhaupt nichts Interessantes mehr im Fernsehen. Du solltest dir vielleicht doch eine Satellitenschüssel zulegen.« Du meine Güte, dachte Travis. Und das ist erst ihr zweiter Tag in dieser Welt … »Da drüben ist der Tug and Pullet«, sagte er und deutete auf einen von außen recht schmuddelig wirkenden Pub auf der anderen Seite des Platzes. »Komm, bringen wir's hinter uns.«
»Werden wir ein Abenteuer erleben, Travis?« »Ich hoffe inständig nicht«, murmelte er. Die Bankangestellte Valerie Dickson sollte später aussagen, dass ihr die beiden Männer schon beim Betreten der Bank irgendwie verdächtig vorgekommen waren. Der eine war groß und trug eine Leinentasche, der andere war kleiner und jünger und bewegte sich mit Hilfe eines Gehstocks vorwärts. Ihre Kleidung kam ihr ziemlich sonderbar vor. Beide trugen schlecht sitzende Anzüge und hatten ihr langes Haar zu Zöpfen gebunden. Außerdem, so erinnerte sie sich später, seien die beiden unnatürlich bleich gewesen. Sie gingen gemeinsam auf Valeries Kassenschalter zu. Der Große lächelte und sagte: »Guten Tag. Bitte lesen Sie das.« Er schob ein Stück Papier unter dem Sicherheitsglas hindurch. Sie las, was auf dem Blatt stand. Es war nur ein Satz. Sie las ihn ein zweites Mal, aber er ergab noch immer keinen Sinn. Der Satz lautete: »Schieben Sie alles verfügbare Bargeld rüber, oder wir verwandeln den Kollegen rechts neben Ihnen in eine Kröte.« Valerie Dickson sah die beiden Männer abwechselnd an. »Was meinen Sie damit … in eine Kröte?«, fragte sie und überlegte, ob sie bereits den Alarmknopf drücken sollte. Vielleicht war es ja doch nur ein seltsamer Scherz. »Ich meine eine Kröte«, erklärte der größere Mann ungeduldig. »Ein größeres, zu den Amphibien zählendes Tier, dem Frosch verwandt. Sie wissen doch sicher, wie eine Kröte aussieht. Und jetzt bitte das Geld.« »Sind Sie bewaffnet?«, fragte Valerie nervös.
»Bewaffnet?«, fragte er verächtlich. »Wo sollte ich meinen Degen in diesen lächerlichen Kleidern verbergen?« Von Kröten zu Degen. Eindeutig Zeit, den Alarmknopf zu drücken, beschloss Valerie. Also drückte sie ihn. Gleichzeitig versuchte sie sich zu erheben, um sich auf den Boden zu werfen, für den Fall, dass sie anfingen zu schießen. Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest, dass sie irgendwie an ihrem Stuhl festzukleben schien. »Das Geld«, sagte der große Mann. »Jetzt!« Valerie erstarrte. Sie musste nur darauf warten, dass die Polizei kam. Den Grund, warum sie nicht in der Lage war, sich von ihrem Stuhl zu erheben, konnte sie auch später herausfinden. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte der Mann. »Damion, du bist an der Reihe.« Sie sah, wie der kleine Mann in die Richtung ihres Kollegen Peter Ferris gestikulierte, der bislang noch gar nicht mitbekommen hatte, was neben ihm vor sich ging. Er verschwand augenblicklich, und an seiner Stelle saß eine große grüne Kröte auf seinem Stuhl. »Krooaak?«, machte die Kröte. »Das tut mir schrecklich Leid, Peter«, sagte sie zu der Kröte. Ihr Bargeldfach war schnellstens ausgeräumt. »Das ist alles«, sagte sie zu dem großen Mann. »Geben Sie uns auch das Geld der Kröte«, befahl er. Da sie noch immer nicht in der Lage war, aufzustehen, musste sie sich auf ihrem Stuhl zu Peters Geldfach rollen. Der große Mann ging zu Peters Schalter. Mittlerweile hatten die beiden anderen Kassiererinnen bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Eine von ihnen, Elrica Patel, fragte ängstlich: »Was ist
denn los?« »Diese beiden Herrschaften rauben gerade die Bank aus«, informierte Valerie sie. »Sie haben Peter in eine Kröte verwandelt. Ich habe also gar keine andere Wahl, als ihren Befehlen zu folgen.« »Na klar«, sagte Elrica, der gerade nichts Besseres einfiel. In diesem Augenblick hörte Valerie zu ihrer Erleichterung den Klang näher kommender Polizeisirenen. Sie erwartete, dass die beiden Männer jetzt fliehen würden, aber zu ihrer Überraschung schienen sie die Sirenen gar nicht zu stören. Aber dann kam ein dritter Mann in die Bank gelaufen und schrie: »Ihre Fürstlichkeit! Die Bullen kommen! Wir müssen verschwinden, sonst schnappen sie uns!« »Wenn du meinst«, sagte der große Mann enttäuscht. Er hörte auf, das Geld in seine Tasche zu stopfen und ging zur Tür. »Komm schon, Damion.« Aber der Kleinere blieb noch einmal stehen und gestikulierte in Richtung der Kröte, die augenblicklich verschwand. An ihrer Stelle saß wieder Peter auf seinem Stuhl. Dann folgte der kleinere Mann den beiden anderen nach draußen. Peter fiel wie betäubt nach vorne und musste sich an seinem Computermonitor festhalten. »Was war das?«, stöhnte er. Valerie, die bemerkt hatte, dass sie nicht länger an ihrem Stuhl klebte, ging zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist alles wieder gut«, sagte sie. »Zwei Bankräuber haben dich kurzzeitig in eine Kröte verwandelt, aber jetzt bist du wieder okay.«
»Steigt ein, Master! Schnell!«, drängte Barry, der bereits im Wagen saß. Nigel klemmte sich hinters Steuer. Der Klang der Martinshörner wurde immer lauter. Prinz Valerie reichte ihm die Tasche mit dem Geld. »Fahrt los. Wir finden allein zurück«, sagte er zu Barry. »Aber …« »Hinweg!«, donnerte der Prinz. Der Wagen brauste davon. Der Prinz und Damion schlichen sich in eine Seitenstraße; dort verwandelte sich der Prinz in eine Fledermaus und Damion in eine kleine Flugechse. Sie stiegen empor und flatterten auf dem Luftweg zum Tug and Pullet.
KAPITEL 10
Als Travis und Beatrice den Tug and Pullet betraten, senkte sich eine unnatürliche Stille herab, wie in einem Westernsaloon, wenn der Fremde auftaucht. Travis machte Beatrice dafür verantwortlich – er hatte versucht, ihre Reize zu verbergen, indem er sie in einen alten Regenmantel gesteckt und sie gebeten hatte, ein Kopftuch und eine Sonnenbrille zu tragen. Dennoch ließen sich ihre ätherische Schönheit und ihr einfach nicht von dieser Welt stammendes Charisma nicht ganz verbergen. Scheinbar gleichgültig führte er sie an die Bar. Eine kleine Frau mit einem großen Busen und hellblondem Haar begrüßte sie freundlich. »Tach, meine Lieben! Welches Gift bevorzugt ihr?« Travis bestellte zwei Drinks. Dann sah er sich vorsichtig um, auf der Suche nach einem Typ, der wie ein Hehler aussah. Seltsamerweise kamen fast alle Besucher des Tug and Pullet – männliche und weibliche – für den Job in Frage. Mit Schaudern entdeckte er das große Porträt der Krays, das an der Wand hing. Beatrice nippte an ihrem süßen Sherry, rümpfte die Nase und sagte: »Irgendwas ist nicht in Ordnung.« »Oh, tut mir Leid, ich bestelle dir was anderes.« »Ich meine nicht nur den Sherry, ich meine den ganzen Ort. Irgendwas stimmt hier nicht.« »Das überrascht mich nicht. Der ganze Pub ist voller Gauner«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Es sind auch nicht nur die Leute«, beharrte sie. »Ich spüre noch etwas anderes, eine gewisse Aura. Und diese Aura riecht nach Samella.« »Was?«, fragte er entsetzt. »Wie kann das sein?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete sie. In diesem Augenblick spürte Travis ebenfalls eine besondere Aura, auch wenn es sich in diesem Fall eher um eklatantes Deodorantversagen handelte. Er drehte sich um und sah, dass ein fetter, etwa vierzigjähriger Mann neben ihm stand. »Travis?«, fragte der Mann leise. Travis nickte. »Und Sie sind der Hehler?« Der Mann schnaubte. »Nennen Sie mich gefälligst nicht so, Sie Idiot!« »Tut mir Leid, ich bin neu in diesen Dingen. Aber ich habe das Zeug …« Er raschelte mit der Harrods-Tüte. »Haben Sie das Geld?« »Nicht so hastig!«, zischte der Mann und sah sich misstrauisch um. »Nicht hier. Der kleine Kerl dort, der mit der Hasenscharte, der am Ende der Bar steht, ist Edwards' Spitzel.« Travis sah zu dem kleinen Mann mit der Hasenscharte hinüber. »Was für ein Spitzel? Und wer ist Edwards?« Der Hehler schüttelte verständnislos den Kopf. »Mann o Mann, sehen Sie denn nie Krimis? Edwards ist D. I. Edwards, Detective Inspector Ramsey Edwards. Das hier ist sein Revier. Und ein Spitzel ist ein Lauscher. Ein Doppelagent. Ein Informant. Verstanden?« »Nur allzu gut.« »Also müssen wir vorsichtig sein. Aber da gibt es noch etwas, das mir Sorgen macht …« Der Hehler sah sich um. »Hier
stimmt heute irgendetwas nicht.« »Sie finden das auch?«, fragte Travis verblüfft. »Ich hab's im Urin«, meinte der Hehler. »Irgendwas ist hier anders. Ich spüre eine ganz merkwürdige Atmosphäre …« »Siehst du, Travis«, sagte Beatrice. »Das habe ich dir doch auch schon gesagt.« Travis ließ seinen Blick durch den Pub schweifen. Abgesehen davon, dass er den meisten Gästen nicht gerne in einer dunklen Seitenstraße begegnet wäre – nicht einmal in einer hell erleuchteten Seitenstraße –, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. »Es sind ihre Augen«, sagte der Hehler. »Die Leute hier schauen alle irgendwie glasig drein, als hätten sie Drogen genommen.« Travis sah genauer hin und erkannte, was der Hehler meinte. Es erinnerte ihn daran, wie er sich einmal in eine Versammlung von Scientologen eingeschlichen hatte, um einen Artikel zu schreiben. »Wir machen es so«, sagte der Hehler. »Ich gehe auf die Herrentoilette. Sie warten kurz und kommen dann nach. Dann nehmen wir den Tausch vor.« »Okay«, murmelte Travis. Nach den ominösen Warnungen sowohl Beatrices als auch des Hehlers war er noch nervöser als vorher. Er sah dem Hehler nach, der auf die Tür zu den Toiletten zuging, und sagte zu Beatrice: »Wenn ich in ein paar Minuten nicht zurück bin, dann mach, dass du hier wegkommst.« »Warum solltest du denn nicht zurückkommen?«, fragte sie. »Da gibt's eine Menge Gründe. Tu einfach, was ich dir sage.« Er ging auf die Toilette zu, voller Stolz auf seine coolen Worte. Das flaue Gefühl im Magen ignorierte er.
Der Hehler drückte sich nervös auf der Toilette herum. »Beeilen!«, drängte er. Travis sah sich um. Auf Samella hatte er bessere und sauberere sanitäre Anlagen gesehen. Er reichte dem Hehler die Tüte, und dieser warf einen Blick hinein und begutachtete die Handelsware. Schließlich nickte er zufrieden und holte einen großen braunen Umschlag aus seinem Mantel hervor. Travis nahm ihn an sich. »Danke …« »Sie zählen besser nach«, sagte der Hehler. »Ist schon okay. Ich vertraue Ihnen.« »Machen Sie sich nicht völlig lächerlich. Zählen Sie nach! Und zwar schnell!« Travis zählte nach. Der Umschlag enthielt 30.000 Pfund in gebrauchten Zehnern und Zwanzigern, so wie Jack es gesagt hatte. Er nickte. »Ja, alles da.« »Dann bin ich weg«, sagte der Hehler. »Und Sie und Ihr Mädchen sollten sich ebenfalls schleunigst aus dem Staub machen.« Der Hehler verschwand. Travis verspürte den plötzlichen Drang, sich zu erleichtern, und stellte sich an das Urinbecken. Dann ging er wieder in den Pub. Beatrice, konstatierte er freudig, stand an genau demselben Platz, an dem er sie verlassen hatte. Von dem Hehler war keine Spur mehr zu sehen. »Komm, wir verschwinden«, sagte er. »Gut«, sagte sie, als sie auf die Vordertür zugingen. »Dieses komische Gefühl, das ich habe, wird immer stärker …« Als sie durch die Tür traten, wären sie fast mit zwei jungen Männern zusammengestoßen: Barry und Nigel Simmons. Und in genau diesem Augenblick landeten Prinz Valerie und Damion, der eine als Fledermaus, der andere als kleine Flugechse, auf
dem Dach des Tug and Pullet. »Schneller! Schneller!«, rief Beatrice und begann zu laufen. Travis folgte ihr. Den Umschlag mit den 30.000 Pfund drückte er fest gegen seine Brust. Prinz Valerie und Damion nahmen wieder ihre menschliche Form an. Sofort begann Damion, in der Luft herumzuschnuppern, wobei seine Nasenflügel heftig zitterten. »Damion, ist mit deiner Nase was nicht in Ordnung?«, fragte Prinz Valerie. »Ich rieche etwas …« »Du überrascht mich. Ich meine, wenn du mit deiner Nase etwas hören könntest, das würde mich wirklich beeindrucken.« »Nein, nein, Sir«, sagte Damion aufgeregt. »Ich kann Samella riechen.« »Du Ärmster.« »Ich ließ einen Wächter-Zauber über der Taverne zurück, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einer unserer Feinde während unserer Abwesenheit hier auftauchen sollte. Und so ist es gewesen. Es waren zwei. Sie sind gerade erst gegangen, sie müssen noch in der Nähe sein.« »Wirklich?«, sagte der Prinz und entblößte lächelnd seine Fangzähne. »Zeig mir, wo …« Travis und Beatrice erreichten den Wagen und stiegen eilig ein. »Schnell! Schnell!«, rief Beatrice. »Ich versuch's, ich versuch's!«, rief Travis und ließ den Motor an. Er fuhr aus der Parklücke heraus, gab Gas und brauste davon.
»Verdammt!«, fluchte Damion, der sich über den Rand des Dachs beugte. »Sie haben das Gebiet soeben verlassen.« »Wie enttäuschend«, meinte der Prinz. »Irgendeine Idee, wer es war?« »Ich weiß nur, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelte«, sagte Damion, der immer noch dabei war, den Platz abzusuchen. »Also nicht dein Sukkubus?« »Nein, definitiv nicht diese kleine Hexe. Ihre Gegenwart hätte ich ganz deutlich gerochen.« »Dann muss es sich um Travis und um meine liebe ExVerlobte Beatrice gehandelt haben.« »Ich frage mich, was sie hier wollten«, sagte Damion. »Ich denke, wir sollten in den Pub gehen und ein paar Nachforschungen anstellen«, meinte der Prinz. Detective Inspector Ramsey Edwards betrat die Bank und wurde von WPC Janet Weller begrüßt. »Was gibt's hier, Janet?«, fragte er brüsk. »Nun«, antwortete sie zögernd. »Es ist alles etwas seltsam, Sir. Es scheint einen Raubüberfall gegeben zu haben, aber die Hauptzeugen erzählen Geschichten, die allzu komisch klingen.« »Komisch?«, sagte DI Edwards, während er einen düsteren Blick durch die Bank und über die versammelten Zeugen schweifen ließ. »Inwiefern komisch?« »Sir … Geschichten über einen männlichen Kassierer, der in eine Kröte verwandelt wurde … Sir.« »Wie bitte?! Haben Sie sich auf den Arm nehmen lassen, Janet?«, donnerte der DI. »Ich will Tatsachen, keine Märchenge-
schichten!« »Es tut mir Leid, Sir«, entgegnete WPC Weller mit unsicherer Stimme. »Aber das haben sie alle gesagt.« Sie blickte auf ihren Notizblock. »Eine Zeugin, Miss Valerie Dickson, eine der Kassiererinnen, hat folgende Aussage gemacht: ›Zwei ungewöhnlich aussehende Männer kamen auf mich zu. Einer von ihnen reichte mir einen Zettel, auf dem stand, dass mein Kollege, Peter Ferris, in eine Kröte verwandelt würde, wenn ich nicht sofort alles Geld herausrückte. Ich weigerte mich zunächst, aber zu meiner Verblüffung wurde Peter tatsächlich in eine Kröte verwandelt …‹« DI Edwards hob die Hand. »Genug!« Er sah sich um. »Wo steckt diese Märchentante?« »Dort drüben«, antwortete die WPC und deutete auf eine junge, etwas mollige Frau, die mit einer asiatischen Frau und einem jungen Mann mit aschfahlem Gesicht zusammenstand. DI Edwards ging auf die kleine Gruppe zu und sah Valerie Dickson böse an. »Was soll dieser ganze Unsinn über Menschen, die sich in Kröten verwandeln?«, herrschte er sie an. Sie sah ihn entrüstet an. »Das ist kein Unsinn. Es ist die Wahrheit. Peter wurde in eine Kröte verwandelt.« »Das stimmt«, mischte sich die asiatische Frau ein. »Peter wurde ein großer grüner Frosch.« »Mit mir ist auf alle Fälle etwas sehr Merkwürdiges geschehen«, sagte der junge Mann zitternd. »Ich saß da und fühlte mich ganz normal, und plötzlich konnte ich nicht einmal mehr über den Computer sehen. Und alles, was ich hervorbrachte, war ein ›Kruak‹!« »Eigentlich klang es mehr wie ›Kroak‹!«, korrigierte Valerie.
DI Edwards starrte sie der Reihe nach an. »Das ist eine Verschwörung!«, platzte er schließlich heraus. »Und Sie stecken alle unter einer Decke! Sie haben sich diese lächerliche Geschichte ausgedacht, um Ihre eigene Rolle bei diesem Raubüberfall zu vertuschen.« »Entschuldigen Sie«, mischte sich ein adrett gekleideter Mann mittleren Alters ein und trat vor. »Aber Sie haben kein Recht, diese drei integren Personen irgendwelcher Machenschaften zu bezichtigen …« DI Edwards wandte sich an den Mann. »Und wer sind Sie?« »Ich bin Roger Preston, der stellvertretende Filialleiter, und ich verbürge mich für diese drei Angestellten. Miss Dickson ist seit vielen Jahren bei uns beschäftigt.« »Das genügt mir leider nicht«, schnaubte Edwards. »Außerdem können Sie genauso gut beteiligt sein.« Eine kleine ältere Dame, die einen Sturzhelm in der Hand hielt, trat nun ebenfalls vor. »Sie sagen die Wahrheit«, wandte sie sich an DI Edwards. »Der junge Mann hat sich in der Tat in eine Kröte verwandelt. Ich habe es selbst gesehen. Und wenn Sie mich eine Lügnerin nennen, dann kratze ich Ihnen die Augen aus.« DI Edwards machte einen schnellen Schritt rückwärts. »Das ist der unglaublichste Blödsinn, den ich in meinem ganzen Berufsleben je gehört habe.« Er wusste nicht, was noch kommen sollte. Detective Sergeant Dick betrat die Bank, zusammen mit einem schäbig gekleideten Mann in den Fünfzigern. »Chef, diese Figur hier hat die Flüchtenden gesehen. Hat sogar die Autonummer – gibt er jedenfalls an.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte DI Edwards. »Nun, ich habe die Nummer in die Zentrale durchgegeben, und sie haben mich gerade zurückgerufen und mir mitgeteilt, dass es keinen Wagen mit einem solchen Nummernschild gibt.« DI Edwards beugte sich zu dem Mann vor. Er roch die Alkoholfahne. »Sie haben getrunken«, sagte er tadelnd. »Aber sicher habe ich das«, sagte der Mann. »Wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, dann hätten Sie auch zur Flasche gegriffen.« »Und was genau haben Sie gesehen?« »Ich sah, wie drei Männer aus der Bank rannten. Einer von ihnen stieg in den Wagen, einen roten Ford Escort, und fuhr mit einem anderen Kerl davon. Die beiden anderen gingen in die Seitenstraße neben der Wimpy-Bar.« »Tatsächlich?«, sagte DI Edwards verblüfft. »Aber das ist eine Sackgasse.« »Ja, ich weiß. Also schaute ich um die Ecke, um einen kurzen Blick auf die beiden zu werfen …« Er hielt inne und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Und?«, drängte Edwards. »Ich sah etwas total Unglaubliches. Deshalb musste ich ja auch los und mir einen Drink genehmigen.« »Was war denn nun so unglaublich?«, fragte Edwards ungeduldig. »Die beiden Kerle … sie verwandelten sich …« »Sie haben andere Sachen angezogen?« »Nein, nein, ich meine wirklich verwandeln! In seltsame Wesen! Verdammt große Biester waren das, ähnlich wie große Fledermäuse, aber die Köpfe sahen anders aus. Echt Furcht
einflößende Köpfe. Außerdem waren sie nicht richtig … fest. Man konnte irgendwie durch sie hindurchsehen …« »Man konnte also durch sie hindurchsehen, ja?«, fragte DI Edwards mit tonloser Stimme. »Ja, ja, sie waren irgendwie verschwommen …« »Verschwommen? Aha. Und was geschah dann?« »Sie schwangen sich in die Lüfte. Flatterten einfach mit ihren Flügeln und flogen davon.« »Flogen davon«, wiederholte Edwards. Er wünschte sich, auch er könne jetzt davonfliegen. »Wie kleine Vögel?« »Eher wie verdammt große Vögel, Constable.« Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Das reicht, Sie sind verhaftet!« Er wirbelte herum und zeigte mit dem Finger auf Valerie Dickson und die anderen Zeugen. »Sie sind alle verhaftet! Wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen! Und Sie bleiben so lange in der Zelle, bis ich dahinter komme, warum Sie mir alle diesen blödsinnigen Haufen Unsinn erzählen!« »… und sie sah echt klasse aus, wie ein Filmstar oder so«, fuhr die Frau des Wirts, Babs, fort. »Inmitten dieser trüben Masse stach sie umso mehr hervor.« »Und der Mann, der bei ihr war? Wie sah der aus?«, fragte der Prinz. Babs zuckte mit den Schultern. »Der sah ganz normal aus. Etwa dreißig. Sprach gewählt, kann also nicht von hier sein. Ansonsten gab's nichts an ihm, dass man zweimal hätte hingucken müssen. Ich weiß noch, ich dachte, dass diese Frau doch eigentlich eine Nummer zu groß für ihn sei, und fragte mich, was sie bei ihm machte.«
»Das muss Travis sein«, meinte Damion. »Ja …«, sagte der Prinz und strich sich übers Kinn. »Die Frage ist, was wollten er und Beatrice hier?« »Sie haben uns gesucht, was sonst.« »Die Implikationen dieser Entwicklung gefallen mir ganz und gar nicht«, sagte der Prinz nachdenklich. »Vielleicht besitzt Travis in dieser Welt Kräfte, die uns bislang verborgen geblieben sind.« »Glaubt Ihr ernsthaft, dass er eine Bedrohung für uns darstellen könnte?« »Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, aber du weißt, wie sehr er uns in unserer Welt in die Quere gekommen ist. Wir müssen vorsichtig sein.« »Ich schätze, Ihr habt recht«, sagte Damion zögernd. »Und in der Zwischenzeit«, fügte der Prinz hinzu, »sollten wir so schnell wie möglich ein neues Hauptquartier finden.« Er nahm Harrys Reisetasche, öffnete sie und leerte den Inhalt auf dem Tresen aus. »Reicht das für unsere neue Wohnung?« »Nee«, sagte Barry. »Nicht mal annähernd. Ich schätze, wir müssen mindestens noch zwei andere Banken knacken, bevor wir genug Knete haben.« Der Prinz verdrehte die Augen. »Also schön, verlieren wir keine Zeit.« Travis warf den Umschlag über den Tisch. »Hier hast du dein dreckiges Geld«, sagte er zu Jack. »Unser dreckiges Geld, meinst du wohl«, sagte der, flog herbei und öffnete den Umschlag. »Das rettet uns den Arsch.« »Erzähl mir das nur immer wieder – vielleicht glaube ich dir
eines Tages sogar«, entgegnete Travis seufzend, während er sich einen Drink eingoss. »Irgendwelche Probleme?«, fragte Jack. »Ich weiß nicht recht. Beatrice hat im Pub irgendwelche schlechten Schwingungen gespürt. Der Hehler komischerweise auch. Aber passiert ist nichts.« Er trank einen Schluck Scotch mit Soda. »Wann ist Sharon denn zurückgekommen?« »Sharon? Überhaupt nicht. Sie ist wahrscheinlich noch immer mit deinem tölpelhaften besten Freund zusammen.« Scotch und Soda stiegen Travis in die Nase. »Sie ist was?«, japste er. »Ich sagte, sie ist noch nicht zurückgekommen.« Travis knallte das Glas auf den Tisch und rannte zur Tür. Er hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
KAPITEL 11
»Sie beharren also auf Ihrer lächerlichen Geschichte?«, fragte DI Edwards den Obdachlosen, dessen Name Bernard Davenport lautete. »Ich muss. Es ist die einzige lächerliche Geschichte, die ich kenne.« DI Edwards stieß einen lautlosen Fluch aus. Zuvor hatte er laut geflucht, so lange, bis ihn WPC Weller daran erinnern musste, dass das Aufnahmegerät im Verhörzimmer auch seine Obszönitäten aufzeichnete. Er holte tief Atem und versuchte, ruhig zu bleiben. »Also, Sie geben zu, Alkoholiker zu sein. Meinen Sie nicht selbst, es sei doch wohl recht wahrscheinlich, dass es sich bei dem, was Sie zu sehen glaubten, eher um eine alkoholbedingte Halluzination gehandelt hat?« »Ich bin kein Alkoholiker«, protestierte Bernard. »Ich bin lediglich ein starker, aber geselliger Trinker.« »Geselliger Trinker?«, höhnte Edwards. »Damit meinen Sie, dass Sie mit all den anderen saufenden Nichtsnutzen auf der Straße herumlungern.« »Geselliger geht es wohl kaum.« DI Edwards holte erneut tief Luft. »Bei der Wagennummer haben Sie sich auch geirrt«, führte er an. »Nein, das habe ich nicht. Mit Zahlen kenne ich mich aus. Ich war früher beim Finanzamt.« »Aber ein Wagen mit dieser Nummer ist nicht registriert!«,
rief Edwards entnervt. Bernard zuckte die Schultern. »Dafür kann ich nichts. Ich weiß, was ich gesehen habe. Das war die Nummer auf dem Fluchtfahrzeug.« »Unmöglich!« Bernard lächelte den DI verschlagen an. »Wenn diese Kerle es schaffen, sich in große fledermausartige Dinger zu verwandeln und davonzufliegen, dann dürfte es wohl nur ein Kinderspiel für sie sein, ein lächerliches Nummernschild zu ändern, stimmt's?« »Diese Sache wollen Sie also weiter behaupten?« »Scheißt der Bär in den Wald oder nicht?« DI Edwards schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Also schön«, sagte er resigniert. »Ich weiß nicht, aus welchen Motiven heraus Sie mir hier diesen Haufen Müll auftischen wollen, aber ich habe jetzt genug von Ihnen. Sie können verschwinden. Gehen Sie mir aus den Augen!« Bernard erhob sich. »Danke, Constable. Ich wollte nur helfen.« »Raus!« Bernard zögerte kurz. Dann streckte er seine Hand aus »Ähm, Sie ham nicht zufällig n' bisschen Kleingeld übrig, Constable?« »Raus!«, donnerte Edwards. Bernard ging. DI Edwards stöhnte und rieb sich die Augen. »Herr, gib mir Kraft«, flüsterte er. »Was nun, Sir?«, fragte WPC Janet Weller. »Nun, während wir darauf warten, dass das SOCO-Team ir-
gendwelche Ergebnisse beibringt, sollten wir vielleicht noch einmal mit dieser Kassiererin sprechen, dieser Dickson. Holen Sie sie bitte mal her.« Valerie Dickson sah nicht allzu fröhlich aus, als sie wieder in das Verhörzimmer gebracht wurde. »Ich will einen Anwalt«, sagte sie bestimmt. DI Edwards zwang sich zu einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es väterliche Fürsorge mit beruhigender Milde verband. »Miss Dickson, ich möchte Ihnen lediglich einige weitere Fragen stellen. Sie werden hier gewiss nicht beschuldigt, ein Verbrechen begangen zu haben.« »Das haben Sie vorhin aber nicht so gesagt.« Er versuchte schuldbewusst dreinzublicken. »Ich war ein bisschen erregt … und habe Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Dafür entschuldige ich mich.« »Das will ich auch hoffen«, erwiderte Valerie. »Sie waren unglaublich rüde, selbst für einen Polizisten.« Es gelang DI Edwards, sein Lächeln an Ort und Stelle zu halten. »Wie ich schon sagte, es tut mir Leid. Aber vielleicht können wir jetzt noch einmal die Ereignisse in der Bank besprechen, so wie sie sich daran erinnern. Bitte.« »Warum? Sie glauben mir ja doch nicht.« »Miss Dickson, ich will ganz ehrlich sein – ich glaube tatsächlich nicht, was sie mir erzählt haben, aber mittlerweile glaube ich zumindest, dass Sie glauben, was Sie gesehen haben.« »Wollen Sie damit sagen, dass Sie der Meinung sind, ich sei verrückt?« »Nein, nein«, entgegnete er hastig. »Ich sage nur, dass Sie und die anderen Zeugen irgendwie beeinflusst wurden, sodass
sie das sahen, was sie glaubten zu sehen. Durch Hypnose vielleicht.« Sie dachte kurz darüber nach. »Das passiert sicherlich dauernd«, sagte sie dann schnippisch. »Bankräuber, die die Angestellten so hypnotisieren, dass sie ihre Kollegen für Kröten halten? Bei Aktenzeichen XY habe ich das noch nie gesehen.« »Es kommt nicht dauernd vor, in der Tat«, knurrte Edwards. »Tatsächlich handelt es sich um meine erste Erfahrung dieser Art. Aber das ist die einzige rationale Erklärung, die einem einfällt. Darin müssen Sie mir doch zustimmen.« »Ich weiß nur, was ich gesehen habe«, meinte sie achselzuckend. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und ein Constable betrat den Raum. »Tut mir Leid, Sie unterbrechen zu müssen, Sir«, sagte er zum DI, »aber ich habe hier den vorläufigen Bericht der SOCO …« »Gut«, sagte Edwards und riss dem Constable das Papier fast aus den Händen. »Jetzt bekommen wir wenigstens ein paar Tatsachen.« Doch noch während des Lesens legte sich seine Stirn in Falten. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Was steht drin, Sir?«, fragte WPC Weller. »Die SOCO hat den Zettel untersucht, den die beiden Räuber Miss Dickson überreicht haben«, sagte er langsam. »Sie haben auch Fingerabdrücke gefunden, darunter die von Miss Dickson. Das Problem ist nur, dass die anderen Abdrücke – leer sind.« »Leer, Sir?«, fragte WPC Weller mit leerem Gesicht. »Die anderen Abdrücke weisen keine Abdrücke auf. Wer auch immer außer Miss Dickson den Zettel angefasst hat, hatte vollkommen glatte Fingerkuppen.« Er knüllte das Papier zu-
sammen und warf es in den Papierkorb. »Ich schätze, das bringt uns nicht viel weiter.« Das Telefon klingelte. WPC Weller nahm den Hörer ab und hörte zu. Dann sagte sie: »Ich geb's weiter.« Sie legte auf. »Das war die Zentrale, Sir. Es hat noch einen Banküberfall gegeben. In der Crowley Road. Die Beamten vor Ort sprechen von ungewöhnlichen Umständen …« »Welchen zum Beispiel …?«, fragte Edwards lauernd. »Ähm … Zeugen in der Bank sagen aus, dass sie sahen, wie der Kassierer sich in ein kleines, pelziges Tier verwandelte. Möglicherweise eine Beutelratte, aber darüber herrscht zwischen den Zeugen noch eine gewisse Uneinigkeit.« »Eine Beutelratte?« »Das haben sie gesagt, Sir, tut mir Leid.« »Kann ich jetzt nach Hause gehen?«, fragte Valerie Dickson mit einem überzuckerten Lächeln. Edwards starrte sie an, seufzte und knurrte dann: »Ja, natürlich. Gehen Sie.« Valerie erhob sich von ihrem Stuhl. Nach einem kurzen Zögern sagte sie: »Da gibt es noch etwas, das ich Ihnen mitteilen sollte.« »Wenn es mit Kröten oder kleinen pelzigen Tieren zu tun hat, möchte ich es nicht hören«, erklärte er grimmig. »Es geht um den dritten Mann. Der, der in die Bank gelaufen kam, um die beiden anderen zu warnen, dass die Bullen unterwegs seien.« »Was ist mit ihm?« »Ich habe ihn erkannt. Sein Name lautet Barry Simmons. Meine ältere Schwester, Jackie, ist mal eine Weile mit ihm
gegangen, aber dann wurde sie vernünftig.« DI Edwards' Mund blieb offen stehen. »Sie kennen den Mann? Warum zum Teufel haben Sie mir das nicht früher gesagt?«, fuhr er Valerie an. »Weil Sie so grob zu mir waren«, entgegnete Valerie und setzte erneut ihr Zuckerlächeln auf. Travis lehnte sich gegen Stephens Klingel. Schließlich hörte er Schritte in der Wohnung. Die Tür ging auf. Stephen stand vor ihm, nur mit einem Bademantel bekleidet. Auf Travis machte er einen völlig ausgelaugten Eindruck, aber er wusste nicht, ob es daran lag, dass Sharon an seiner Seele geknabbert hatte, oder daran, dass Stephen ganz einfach eben völlig ausgelaugt war. »Oh, du bist's, Travis … was liegt an?« »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, antwortete Travis. »Ich nehme an, dass Sharon noch immer bei dir ist?« »Und wie«, sagte Stephen und zwinkerte ihm mit einem lüsternen Grinsen zu. »Geht es dir gut?«, fragte Travis ängstlich. »Hab mich noch nie besser gefühlt, altes Haus. Obwohl ich heute Muskeln benutzt habe, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie besitze. Morgen werde ich wahrscheinlich den schlimmsten Muskelkater meines Lebens haben, aber das war es wert.« Sharon tauchte neben Stephen auf. Sie war selbstverständlich nackt und sah aus wie eine zufriedene Katze. »Hallo, Travis«, sagte sie. »Hast du ein Problem?« »Du bist das Problem. Aber komm jetzt. Wir gehen nach Hause «
»Nein, ich bleibe. Es gefällt mir hier bei Stephen.« »Das glaube ich. Mach schon, hol deine Sachen. Du verschwindest hier.« Sharon streckte ihm die Zunge heraus. Stephen legte schützend seinen Arm um ihre Schultern. »Du kannst sie nicht zwingen, Travis, sie ist schließlich ein großes Mädchen. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen, nicht wahr, Darling?« Sharon nickte und fuhr ihm mit der Zunge ins Ohr. »Stephen, du verstehst nicht«, sagte Travis verzweifelt. »Du bist in Gefahr.« »Na ja, wenn du das meinst, sie hat wirklich sehr scharfe Zähne, aber sie hat mir versprochen, demnächst besser aufzupassen.« »Es sind nicht nur ihre Zähne .. « »Keine Sorge, Travis«, sagte Sharon. »Ich habe wirklich nur ein bisschen daran geknabbert.« »Das nennst du ein bisschen knabbern?«, sagte Stephen lachend. »Ich bin fast an die Decke gegangen.« Er drückte sie liebevoll an sich. »Ich rede nicht von … so etwas«, stammelte Travis. »Ja, wovon denn dann?« Travis sah Sharon an, die ihm achselzuckend zuzwinkerte. Resignierend hob er die Arme. »Also schön, wie ihr meint. Ich gebe auf. Macht, was ihr wollt. Aber sage nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Stephen.« »Das werde ich nicht, wovor auch immer du mich warnen willst. Du benimmst dich wirklich merkwürdig in letzter Zeit, Travis. Ein Spielverderber warst du doch sonst nie.« »Es gibt noch eine ganze Menge anderer Dinge, die ich noch
nie war«, entgegnete Travis müde. »Vielleicht erzähle ich dir eines Tages mal die ganze Geschichte. Bis dahin, sieh dich einfach nur vor ihren … Zähnen vor.« »Das werde ich. Bye, Travis.« »Ja, bye, Travis«, sagte Sharon grinsend. Stephen schloss die Tür. Travis hörte Gelächter von drinnen. Er drehte sich um und ging den Flur hinunter. Was sollte er jetzt tun? Er hatte keine große Lust, sofort wieder in seine Wohnung zurückzukehren, wo Jack ihn doch nur wieder mit diesem verfluchten Drehbuch plagen würde. Aber wo konnte er hin …? Todd, der Barmann, schien nicht sehr erfreut, ihn zu sehen. »Hat man Sie nicht ausgeschlossen?«, fragte er, als sich Travis auf einen der Barhocker setzte. »Meines Wissens nicht. Den Regeln entsprechend, kann mir meine Mitgliedschaft nur auf einer Komiteesitzung entzogen werden, und irgendwie glaube ich nicht, dass eine solche Sitzung inzwischen schon stattgefunden hat. Einen doppelten Scotch mit Soda, bitte.« Todd sah ihn zweifelnd an. »Ich frage mal beim Manager nach«, sagte er und griff zum Telefon. »Nur zu«, forderte Travis ihn auf. »Und grüßen Sie Chris von mir.« Er sah sich in der Bar um. Es waren nur drei andere Mitglieder anwesend. Ein junges Pärchen saß an einem der Tische, und der unvermeidliche Harry Adam Knight hing am anderen Ende der Bar auf dem Hocker, auf dem er immer hing. Nach einem kurzen Gespräch legte Todd auf. »Chris sagt, dass ich Sie bedienen muss, Ihre Freunde aber nicht.«
»Sehen Sie vielleicht irgendeinen meiner Freunde in der Nähe?« »Nein«, gab Todd zu. »Dann nehme ich besagten doppelten Scotch mit Soda.« Als Todd den Drink vor ihm abstellte, sah Travis, wie Harry Adam Night umständlich von seinem Hocker rutschte und auf ihn zuwankte, oder zumindest in seine Richtung. »Tach, mein Freund«, sagte er mit starkem australischem Akzent und streckte eine Hand aus. »Harry Adam Knight mein Name, Autor von Schundromanen mein Beruf.« Travis schüttelte ihm die Hand. »Ich kenne Sie, Mr. Knight. Mein Name ist Travis Thomson.« Knight schaffte es irgendwie, den Barhocker neben Travis zu erklimmen. »Nennen Sie mich Harry, Kumpel.« Er war Ende vierzig, trug einen zerknitterten blauen Anzug und war sehr dünn. Travis war sich nicht ganz sicher, ob ihm der plötzliche Anfall von Geselligkeit seitens des Horrorautors, der ihn bislang stets ignoriert hatte, willkommen war. Auf jeden Fall nahm er einen kräftigen Schluck Scotch und steckte sich eine Zigarette an. »Ich muss Ihnen gleich gestehen, dass ich noch keinen Ihrer Romane gelesen habe.« Knight zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und musste gleichzeitig husten und lachen. Dann sagte er: »Sie und der Rest der Weltbevölkerung. Aber sehen Sie, ich bin ein bisschen neugierig, und nachdem auch ich mitbekommen habe, welchen Zirkus Sie gestern hier mit diesen beiden hinreißenden Bräuten und dem anderen Kerl veranstaltet haben, wollte ich unbedingt wissen, worum es da eigentlich ging. Und heute kommen Sie
hier rein mit einem Gesicht wie mindestens sieben Tage Regenwetter, und da dachte ich, geh einfach zu ihm rüber und frag ihn. Aber wenn Sie nicht reden wollen, Kumpel, dann sagen Sie ruhig, dass ich mich verpissen soll. Ich verstehe einen subtilen Wink.« Zu seiner eigenen Überraschung überlegte Travis nicht lange und begann Knight eine gekürzte Fassung dessen zu erzählen, was ihm in den letzten Stunden passiert war. Travis redete lange und unterbrach seine Geschichte nur, wenn sie neue Getränke bestellten, was in regelmäßigen Abständen geschah. Als er geendet hatte, nickte Knight verständnisvoll und meinte: »Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen, Kumpel. Ich selbst war schon in ähnlichen Situationen.« »Was?«, fragte Travis überrascht. »Ja, sicher.« Dann fügte der Autor hinzu: »Natürlich hatte es nichts mit Dämonen, Vampiren, Zauberern, anderen Welten und all dem anderen Zeug zu tun, aber abgesehen davon … ja, ich habe Ähnliches durchgemacht.« »Oh«, sagte Travis und bestellte eine neue Runde. Detective Inspector Edwards hörte geduldig zu, während die Zeugen darüber diskutierten, ob die Kassiererin, eine Yvonne Campbell, nun in eine Beutelratte oder eine andere Spezies der kleinen Säugetiere verwandelt worden war. Der Zettel, der dem Kassierer neben ihr überreicht worden war, stellte sich in dieser Sache ebenfalls als wenig hilfreich heraus. Der Text lautete: »Her mit dem gesamten Bargeld, oder wir verwandeln den Kollegen links von ihnen in ein kleines, pelziges Tier.« Die Beschreibung der beiden Bankräuber entsprach derjenigen, die
die Zeugen in der anderen Bank gegeben hatten. Das schien das Einzige, was Sinn machte. DI Edwards verspürte den Wunsch, sofort nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen, bis sich dieser ganze Wahnsinn von allein verflüchtigt hatte. Detective Sergeant Dick Spencer nahm eine Funkmeldung entgegen. »Gute Neuigkeiten, Chef. Sie haben Barry Simmons geschnappt. Er war im Tug and Pullet, genau wie Sie gesagt haben.« »Großartig!«, rief der DI und rieb sich die Hände. »Sie bleiben hier und nehmen den Rest dieser bescheuerten Zeugenaussagen auf. Ich fahre in die Wache zurück. Vielleicht kommen wir jetzt endlich dieser verrückten Sache auf den Grund.« Als DI Edwards die Polizeiwache erreichte, fuhr der Polizeiwagen gerade auf den Parkplatz. Er parkte seinen eigenen Wagen daneben und sprang heraus. Uniformierte Beamte stiegen hinten aus dem Kleinbus aus. Simmons sah er nicht. »Wo ist er?«, fragte er, schob sich an den Polizisten vorbei und sah in den Bus. Simmons war nicht drin. Er wandte sich an die Gruppe der Polizisten. »Sie sagten, Sie hätten ihn! Also wo zum Teufel ist er?« Einer der Beamten, Constable John Parker, antwortete mit verwunderter Stimme: »Aber er steht doch neben mir, Sir.« Dabei deutete er nach links. DI Edwards bemerkte die Handschellen, die an Parkers Handgelenk baumelten. Langsam sagte der DI zu Constable Parker. »Er steht also neben ihnen, ja? Sie haben ihn mit Handschellen an sich gefesselt,
ja?« Constable Parker nickte ernst und entgegnete in noch verblüffterem Tonfall: »Aber ja, hier ist er doch.« DI Edwards hatte einen Einfall. Er hob die Hände und schlug sie dicht vor Parkers Gesicht heftig zusammen. Der junge Constable zuckte zusammen und blinzelte verwirrt. Dann sah er sich um, bis er die leeren Handschellen bemerkte, die an seinem Handgelenk hingen. Völlig fassungslos sagte er: »Das gibt's doch gar nicht! Er ist weg!«
KAPITEL 12
»Ich war nicht immer Schriftsteller, müssen Sie wissen. Ich hatte eine Menge Jobs, in Australien«, sagte Harry Adams mit undeutlicher Stimme. »Ich war Koch, Lastwagenfahrer, Barmann, Leichenbestatter, Perlentaucher, Bauarbeiter, Goldgräber und Vertreter für Damenunterwäsche.« Er nahm noch einen Schluck. »Die anstrengendste Woche meines Lebens war Letzteres.« »Warum sind Sie aus Australien weggegangen, Harry?«, fragte Travis mit gleichermaßen undeutlicher Stimme. »Ah, das ist ein wunder Punkt, mein Freund. Daran sind viele bittere Erinnerungen geknüpft. Es ging natürlich um eine Braut.« »Eine Frau?« »Ja, die Wurzel allen Übels ist immer eine Frau. Immer.« »Ja«, stimmte Travis zu. Nach kurzem Überlegen fügte er an: »Es sei denn, es ist ein Mann.« » Wie bitte? « »Ich sagte, es sei denn, es ist ein Mann. Wenn man schwul wäre, dann wäre immer ein Mann die Wurzel allen Übels.« »Oh … ja«, erwiderte Knight und sah ihn etwas misstrauisch an. »Sie sind einer? Nicht, dass ich irgendwas gegen euch Perverse hätte. Einige meiner besten Freunde sind Perverse.« »Nein, nein, ich bin nicht schwul, ich weise nur darauf hin, dass, wenn man es wäre, ein Mann die Wurzel allen Übels …«
Der Barkeeper hörte einfach weg. »Ah, ja klar«, sagte Harry irgendwann und trank einen Schluck. »Sie waren also in diese Frau verliebt …« »Welche Frau?« »Die Frau, wegen der Sie aus Australien weggegangen sind.« »Oh, die. Ja. Ja, ich hab sie schon geliebt. Ich liebte sie so sehr, dass ich auf Händen und Knien durch die ganze NullaborSteppe gekrochen wäre, nur um zu hören, wie sie in eine leere Kerosindose pinkelt.« »Das klingt nach einer ernsten Sache«, meinte Travis beeindruckt. »Allerdings war es ernst, Kumpel.« »Und was ist passiert? Hat sie Sie wegen eines anderen Mannes verlassen?« »Nee, sie hat mich wegen anderer Männer verlassen.« »Anderer Männer?« »Ja, das örtliche Kricket-Team. Die erste Elf von Burrandini, um genau zu sein. Sie hätte es auch mit der zweiten Elf getrieben, wenn es eine gegeben hätte.« »Ah, ich, ähm … verstehe«, sagte Travis etwas unsicher. »Ein bisschen nymphoman veranlagt, die Dame?« »Ein bisschen. Sie kniff die Schenkel nur zusammen, wenn sie eine Weinflasche öffnete.« »Verstehe«, wiederholte Travis, obwohl dem dieses Mal eigentlich nicht so war. »Und die dreckige kleine Schlampe hatte auch noch die Nerven, mir die Schuld zuzuschieben. Sagte, ich könne sie im Bett nicht befriedigen.«
Travis nickte. »Kein Mann hört es gerne, wenn ihn seine Frau der sexuellen Untauglichkeit bezichtigt.« »Nein, besonders nicht, wenn sie die Sache in der Lokalpresse verbreitet. Und genau das hat sie getan. Diese Ratte.« »Und deshalb sind Sie also von Australien weg? Um vor der Erniedrigung zu flüchten?« »Nein, flüchten musste ich erst, nachdem ich ihre jüngere Schwester geschwängert hatte und ihr Vater mit einem großkalibrigen Gewehr aus dem Zweiten Weltkrieg hinter mir herjagte.« Detective Inspector Edwards betrachtete die sechs uniformierten Beamten, die im Mannschaftsraum warteten. Die Gruppe bestand aus einem Sergeant, vier männlichen Constables und einem WPC. Sie sahen alle sehr unglücklich drein. »Gehen wir die Sache noch einmal durch, ganz langsam«, grollte DI Edwards. »Jeder Einzelne von Ihnen erinnert sich also sehr genau daran, dass Sie Barry Simmons verhaftet haben, stimmt's?« Alle nickten und murmelten zustimmend. Der Sergeant sagte: »Es gab keine Schwierigkeiten, Sir. Simmons leistete keinen Widerstand, und auch von den Gästen des Tug and Pullet hat sich keiner eingemischt. Das war eigentlich schon sehr merkwürdig. « »Und Sie, Parker«, fuhr Edwards fort, »Sie erinnern sich genau daran, Simmons die Handschellen angelegt zu haben?« »Ja, Sir«, antwortete Parker. »Und dann brachten Sie ihn aus dem Pub und in den Wa-
gen?« »Ja, Sir.« »Und erinnern Sie sich daran, mit ihm gesprochen zu haben?« »Ja, Sir«, entgegnete Parker. »Er nahm die ganze Sache erstaunlich leicht. Machte Witze und so.« »Er machte Witze?«, fragte Edwards. »Ja, Sir …« »Was für Witze?« Parker tauschte mit zwei seiner Kollegen betretene Blicke aus. »Ähm, daran kann ich mich nicht genau erinnern … aber ich glaube nicht, dass sie besonders gut waren.« »Kein Wunder, dass er so verdammt guter Laune war«, knurrte Edwards. »Wenn man bedenkt, dass er sich nicht einmal in dem verfluchten Polizeibus befand.« Drauf wussten sie keine Antwort. Parker kratzte sich am Kopf. »Es ist in der Tat ein Rätsel, Sir.« »Idiot«, murmelte Edwards. »Offensichtlich sind Sie allesamt hypnotisiert worden. Und das muss im Tug and Pullet geschehen sein. Erinnern Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches?« Sie murmelten ein verlegenes Nein, bis auf einen Constable. Edwards wandte sich an den Mann, der nichts gesagt hatte. »Ja, Harris? Ihnen ist etwas aufgefallen?« »Nun ja«, sagte der Constable zögernd. »Ich bin nicht sicher, aber kaum hatte ich den Tug and Pullet betreten, da spürte ich, dass der Pub das Zentrum böser, übernatürlicher Kräfte und von etwas unaussprechlich Teuflischem war.« »Ach ja?« Edwards wandte sich wieder an die anderen. »Und was ist mit euch? Keinen Hauch von bösen, übernatürlichen
Kräften gespürt? Kein Fitzelchen von unaussprechlich Teuflischem?« »Ich fand, es roch etwas muffig«, sagte die WPC nach einer Weile. Edwards stöhnte leise. »Und dieses merkwürdige Paar, deren Komplize Simmons bei den Raubüberfällen war, haben Sie nicht gesehen?« »Auf niemanden im Pub passte die Beschreibung«, entgegnete der Sergeant. »Na schön«, sagte DI Edwards gereizt. »Dann gehen Sie jetzt zurück in den Tug and Pullet. Und ich begleite Sie! Und wenn irgendein Bastard versucht, mich zu hypnotisieren, dann baller ich ihm ins Knie, Mann! Also los!« Travis sah auf seine Armbanduhr. »Ich sollte jetzt besser nach Hause gehen. Jack wartet bestimmt schon auf mich, damit ich weiter an dem verfluchten Drehbuch arbeite.« »Und es macht keinen Spaß?« »Nein, macht es nicht. Ich bin für diese Art von Arbeit nicht geschaffen. Ich bin Journalist. Oder besser gesagt, ich war Journalist«, fügte er verbittert hinzu. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, alter Junge«, sagte Harry. »Ich kenne mich mit Drehbüchern ziemlich gut aus. Ein paar, die auf meinen Romanen basieren, habe ich selbst geschrieben.« »Wirklich?« Travis hob den Kopf. »Sind sie auch verfilmt worden?« »Klar. In einem spielte sogar Liz Hurley die Hauptrolle.« »Wow. Das hat dem Film sicherlich mächtig Schub gegeben.«
»Leider nicht. Das war, bevor sie die Liz Hurley wurde. Man hat den verdammten Film kurz vorher aus den Programmen der West End-Kinos herausgenommen.« »Was für ein Pech.« »Sie sagen es. Egal, jedenfalls helfe ich Ihnen gerne aus der Klemme, Kumpel.« »Großartig«, sagte Travis. »Kommen Sie doch einfach morgen bei mir vorbei.« »Und wieso nicht jetzt sofort?« »Nun, um es plump auszudrücken, wir sind beide bis oben hin voll, Harry.« »Genau der richtige Zustand, um ein Drehbuch zu schreiben, mein Bester«, murmelte Harry und fiel von seinem Barhocker. Detective Inspector Edwards stürmte in den Tug and Pullet, gefolgt von seinen sechs Beamten. Er entdeckte Barry Simmons auf den ersten Blick; er stand in voller Lebensgröße an der Bar. Sein gleichermaßen vierschrötiger Bruder Nigel lehnte neben ihm. Einen Augenblick lang glaubte Edwards hinter den beiden einen großen Mann in einem dunklen Anzug zu sehen, aber als er genauer hinsah, war niemand mehr da. Edwards wühlte sich durch die Menge. Zu seiner Überraschung lag vor den Simmons-Brüdern ein großer Haufen Banknoten, die sie offenbar gerade zählten. So dreist konnten sie doch nicht sein … oder so blöd. Andererseits waren sie in der Gegend wegen ihrer Blödheit schon fast legendär. Er legte jedem der beiden einen Arm um die Schulter. »Hallo, Jungs. Amüsiert ihr euch?« Sie drehten sich um und sahen ihn ohne allzu große Besorg-
nis an. Im Gegenteil, sie grinsten ihm fröhlich ins Gesicht. »Na, wenn das nicht DI Edwards höchstpersönlich ist«, sagte Barry. »Wir fühlen uns sehr geehrt, nicht wahr, Nigel?« »Ja, echt geschmeichelt«, pflichtete Nigel bei. Edwards gefiel die Einstellung der beiden nicht. Sie machte ihn nervös. Er deutete auf den Geldhaufen. »Gehört das euch?« »Jetzt schon«, sagte Barry. »Wir haben es in der Lotterie gewonnen«, sagte Nigel und fing an zu kichern. »Die Wahrheit ist, wir passen nur darauf auf, es gehört einem Freund …« »Egal, was ihr mir erzählt, ihr seid beide verhaftet«, sagte Edwards. »Sergeant, lesen Sie den beiden das vor, was man ulkigerweise als ihre Rechte bezeichnen könnte.« Während der Sergeant genau das tat, holte Edwards Handschellen hervor und fesselte Barry Simmons damit an sein eigenes Handgelenk. »Ich weiß nicht, was für einen kleinen Trick du beim letzten Mal abgezogen hast, Barry, aber jetzt hast du es mit mir zu tun.« Dann befahl er Constable Parker: »Sie und Fenton sammeln das Geld ein.« Edwards ließ seinen Blick durch die Bar wandern. Er suchte die beiden anderen Bankräuber, die von den Zeugen beschrieben worden waren, fand aber keine in Frage kommenden Kandidaten. Ihm fiel wieder der große Mann ein, den er beim Hereinkommen zu sehen geglaubt hatte. Edwards hätte wetten mögen, dass es sich um einen der beiden anderen gesuchten Männer handelte, aber das musste jetzt warten. Nachdem Nigel Simmons mit den Handschellen an den Sergeant gefesselt und das Geld auf der Bar eingesammelt worden
war, führte Edwards die Gruppe durch den Pub hindurch zum Ausgang. Er rechnete halb damit, dass einige der Stammgäste Ärger machen würden, aber niemand stellte sich ihnen in den Weg oder sagte auch nur etwas. Im Gegenteil, eine durchaus gelassene, ja fast fröhliche Stimmung schien in der Luft zu liegen. Dennoch atmete er erleichtert auf, als sie auf der Straße standen. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Edwards«, sagte Barry grinsend. »Er wird nicht zulassen, dass Sie uns gefangen nehmen.« »Wer ist dieser ›Er‹, Barry? Und erzähl mir nicht, dass du gläubig geworden bist.« »Er ist der Meister. Der neue Boss hier.« »Ach ja? Wie heißt er denn?« »Prinz Valerie.« Einen Augenblick lang schien DI Edwards die Beherrschung zu verlieren. »Er heißt wie? Prinz wer?!« »Prinz Valerie. Er und sein Zauberer Damion sind sehr mächtig.« »Ich glaube, langsam verstehe ich endlich«, sagte Edwards mit bitterer Stimme. »Heute ist offensichtlich der Nationalfeiertag des allgemeinen Blödsinns, aber man hat vergessen, es mir zu sagen.« Alle stiegen in den Bus ein, der sogleich losfuhr. »Wie ist es, Barry, willst du mir nicht etwas über deine beiden geheimnisvollen Komplizen bei den Banküberfällen erzählen?« »Das habe ich doch gerade getan.« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Edwards verwirrt. »Es war unser neuer Boss, der Prinz. Und Damion.« »Tut mir Leid, dass ich gefragt habe«, seufzte Edwards.
Edwards' Vorgesetzter, Detective Chief Inspector Canterbury, wartete im Innenhof, als sie auf die Wache zurückkehrten. Kaum war Edwards mit Barry aus dem Bus ausgestiegen, stürzte sich der DCI auf ihn. »Edwards, was geht hier vor? Ich erhalte Berichte, die klingen wie Enid Blyton auf LSD-Trip! Lauter Zeug über Leute, die in Kröten und kleine, pelzige Tiere verwandelt werden.« »Es war in der Tat ein ungewöhnlicher Tag, Tom«, sagte Edwards, der beschlossen hatte, zum Understatement zu greifen, was die Beschreibung der Ereignisse betraf. »Und was soll diese Sache mit dem Großeinsatz gegen Barry Simmons?« »Er war an den Banküberfällen beteiligt.« »Und wo ist er dann?« »Wie bitte?« »Warum sind Sie dann mit leeren Händen zurückgekehrt?« Edwards war verwirrt. »Aber das sind wir doch nicht, Tom. Hier steht er doch. Schauen Sie nur …« Er deutete auf den grinsenden Barry Simmons und hielt die Handschellen in die Höhe. »Geht es Ihnen gut, Edwards? Sie zeigen mir ein paar Handschellen, an die niemand gefesselt ist«, sagte der DCI. Edwards spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. »Sie können Ihn nicht sehen … und seinen Bruder Nigel auch nicht?« Er deutete noch einmal auf Barry und dann auf Nigel, der an den Sergeant gefesselt war. »Ich sehe nichts weiter als sechs uniformierte Idioten und einen Schwachkopf in Zivil«, schnaubte der DCI wütend.
»Ach du Scheiße«, keuchte Edwards. »Ich hab's Ihnen ja gesagt«, meinte Barry und verschwand. Nigel verschwand ebenfalls. Die Polizisten starrten einander entgeistert an. »O nein, es ist schon wieder passiert!«, stieß der Sergeant hervor. Edwards stöhnte leise. »Wollt ihr Clowns mir vielleicht mal erklären, was hier gespielt wird?«, fragte Canterbury. »Das ist … nicht ganz einfach zu erklären«, begann Edwards. Mit einigen Schwierigkeiten gelang es Travis, den Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür zu stecken und sie zu öffnen. Leicht schwankend führte er Harry Adam Knight in seine Räumlichkeiten. »Jemand zu Hause?«, rief er. »Beatrice? Jack? Sharon?« Niemand antwortete, aber er hörte, dass der Fernseher im Wohnzimmer dröhnte und ging hinein. Beatrice lag auf dem Sofa und sah sich eine Sendung an. »Hallo, Beatrice, ich möchte dir jemanden vorstellen …« »Psst«, machte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Ich bin mitten in Brookside.« »Harry, darf ich dir Prinzessin Beatrice vorstellen«, sagte Travis. »Unsere königliche Couchbenutzerin.« »Erfreut, Sie kennen zu lernen, Eure Hohoheit …«, lallte Harry. »Hallo«, sagte Beatrice, die noch immer gebannt auf den Schirm starrte. »Sie ist eine richtige kleine Schönheit«, sagte Harry zu Travis. »Ja, nicht wahr«, entgegnete Travis ohne Begeisterung. »Bea-
trice, wo ist Sharon?« »Noch immer nicht da.« »Oh, oh.« Das bedeutete nichts Gutes für Stephen. »Und Jack?« »Irgendwo hier. Wahrscheinlich versteckt er sich. Jetzt aber pst …« Ohne sie zu beachten, rief Travis laut: »Jack, komm her, es ist alles in Ordnung! Dieser Mann hier ist auf unserer Seite.« Man hörte das Geräusch schlagender Flügel, und dann kam Jack ins Wohnzimmer geflogen und landete auf der Couch. Er und Harry starrten einander an. Dann sagte Harry: »Mann o Mann, ein hässlicher kleiner Kerl, was?« Jack wandte sich an Travis: »Verdammt noch mal, Travis, was hast du gemacht? Musstest du unbedingt noch auf einen Imbiss im Leichenschauhaus vorbei?« Travis seufzte. »Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, da bin ich sicher. Harry, das ist Jack – Jack, das ist Harry Adam Knight. Er wird uns helfen.« »Ich wusste nicht, dass wir eine Vogelscheuche brauchen«, sagte Jack. »He, Vorsicht, du kleine Ratte«, erwiderte Harry. »Sonst spüle ich dich das Klo runter.« »Jack, Harry ist Schriftsteller. Er wird uns mit dem Drehbuch helfen.« »Könntet ihr endlich mal ruhig sein!«, beschwerte sich Beatrice. »Ich verliere ja völlig den Faden.« »Das tun wir doch alle«, murmelte Travis. In diesem Augenblick hörte er, wie die Haustür geöffnet wurde. Das musste Sharon sein, der er seinen Ersatzschlüssel
gegeben hatte. Sharon kam ins Wohnzimmer. Sie sah aus, als habe sie sich ihre Kleider völlig unachtsam übergestreift, was sie zweifellos getan hatte. Sharon würde nie auf ihre Garderobe achten. »Endlich«, sagte Travis. »Und in welchem Zustand hast du Stephen zurückgelassen? Als einen Haufen sorgsam abgenagter Knochen, nehme ich an?« »Es geht ihm blendend«, entgegnete sie abwesend. Sie roch etwas, kam auf Travis zu und schnüffelte an seinen Kleidern. »Tut mir Leid, aber es war ein langer Tag, und ich hatte noch keine Zeit zum Duschen«, sagte er verärgert. Sie antwortete nicht, sondern drehte sich um und roch an Beatrice. »He!«, rief Beatrice und schubste sie weg. »Das dachte ich mir«, sagte Sharon ernst. »Was dachtest du dir?«, fragte Travis besorgt. Es sah Sharon kaum ähnlich, dass sie sich wegen irgendetwas Sorgen machte. »Ich hatte schon vorhin einen Hauch gespürt, als du vor Stephens Wohnung standest, aber ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Jetzt bin ich sicher. Du und Beatrice, ihr müsst heute ganz in seiner Nähe gewesen sein.« »In wessen Nähe?«, fragte Travis. »In der Damions«, antwortete Sharon.
KAPITEL 13
»Hypnose?« »Die einzig mögliche Erklärung, Tom«, sagte Edwards. Sie saßen im Büro des DCI und versuchten sich – zumindest ansatzweise – an einer Analyse der vorangegangenen, äußerst seltsamen Ereignisse. »Sie wollen sagen, dass im Tug and Pullet jemand sitzt, der mehrere Menschen gleichzeitig hypnotisieren kann?«, fragte DCI Canterbury ungläubig. »Genau das. Und es handelt sich um die gleiche Person, die in der Lage ist, eine Bank voller Kunden davon zu überzeugen, dass sich die Kassiererin in ein kleines, pelziges Tier verwandelt hat.« »Eine Beutelratte, nicht wahr?« »Was auch immer.« »Aber Sie gehen doch sicherlich nicht davon aus, dass Barry oder Nigel Simmons dafür verantwortlich sind? Die beiden Schwachköpfe haben doch zusammengerechnet nicht genug Hirnzellen, um einen Bankangestellten in eine Amöbe zu verwandeln.« »Nein, sie sind lediglich Komplizen. Die wahren Schurken sind die beiden geheimnisvollen Männer, die vor Barry in die Banken kamen.« »Haben Sie ne Ahnung, um wen es sich da handeln könnte?« Edwards schüttelte den Kopf. »Barry hat irgendwelchen Un-
sinn über einen Prinzen erzählt, einen Prinz mit einem Mädchennamen, und dass der andere sein Zauberer sei. Vielleicht wurden sie ebenfalls hypnotisiert.« »Das sollte nicht allzu schwierig sein. Aber es überrascht mich, dass auch Sie so leicht zu manipulieren waren, Ramsey. Und Sie erinnern sich an gar nichts mehr?« »Nein«, sagte Edwards. »Es gab nichts Verdächtiges.« »Und keine Spur von diesen beiden Fremden?« »Als ich den Tug and Pullet betrat, glaubte ich einen Moment lang einen Mann zu sehen, auf den die Beschreibung passte, den Größeren der beiden. Aber dann … nun, er schien einfach verschwunden zu sein.« »Mmmhm«, meinte der DCI nachdenklich. »Tom, wir brauchen die Hilfe eines Experten. Wir müssen mit Scotland Yard sprechen. Sie sollen uns sofort einen PolizeiHypnotiseur schicken.« »Ich bezweifle, dass es so etwas gibt.« »Zu dumm.« »Aber ich kenne einen Polizeipsychologen. Vielleicht kann er uns weiterhelfen. Sein Name ist Dr. David Whiteman, und er arbeitet in West End Central. Ich werde ihn gleich mal anrufen …« Nach einem kurzen Gespräch legte der DCI den Hörer auf. Er sah Edwards bestürzt an. »War er nicht da?« »Nein. Und so wie es sich anhörte, wird er auch in Zukunft nicht mehr da sein.« »Was meinen Sie damit?«, fragte Edwards. »Gestern Abend hat er die Kleider und andere Sachen seiner
Frau im Vorgarten ihres Hauses in West Moor zu einem Haufen aufgetürmt und angezündet. Dann hat er sich ausgezogen und ist nackt um dieses Freudenfeuer herumgetanzt, während seine Frau einen hysterischen Anfall erlitt. Als die örtliche Polizei ihn verhaftete, plapperte er etwas von Dämonen, Sukkuben und Märchenprinzessinnen.« DI Edwards starrte DCI Canterbury an. Dann sagte er mit heiserer Stimme: »Um Himmels willen! Es breitet sich aus«! Travis saß auf dem Sofa und stöhnte. Er hatte die Schwiegermutter aller Kater. Selbst unter seinen Fingernägeln pochte es. Unbeholfen stolperte er in die Küche. Es war lediglich der Gedanke an ein eiskaltes Glas Orangensaft, das gleich seine Kehle hinabrinnen würde, der seine Glieder zu einer schwachen Imitation menschlicher Bewegungen veranlasste. Er erreichte den Kühlschrank, öffnete ihn und griff blind hinein … »Wenn du den Saft suchst, hast du Pech gehabt.« Jack. Travis hatte gar nicht bemerkt, dass er auf dem Kühlschrank saß. »Bitte nicht …«, ächzte Travis. »Die Mädchen haben alles ausgetrunken. Wirklich Pech. Du siehst übrigens aus wie etwas, das ich mal auf dem Boden des Schneideraums hab liegen lassen.« »O Gott, ich brauche Vitamin C. Dringend.« Travis goss sich ein Glas Leitungswasser ein, stürzte es hastig runter und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wo sind sie?« »Ausgegangen. Wohin, weiß ich nicht.« »Großartig. Wahrscheinlich rauben sie wieder ein Kaufhaus aus.« Er legte seinen Kopf in die Hände. »Das käme unserem Budget zugute.«
»Bitte, keine Witze. Wo ist eigentlich der Schriftsteller, den ich gestern mitgebracht habe?« »In deinem Arbeitszimmer. Er ist entweder ohnmächtig oder tot – schwer zu sagen. Ich tippe auf Letzteres. Wieso hast du dich eigentlich mit ihm eingelassen?« »Es schien mir eine gute Idee«, sagte Travis seufzend. »Er hat Erfahrung im Drehbuchschreiben, aber ich weiß nicht, ob er etwas taugt.« »Ich habe mich bei Arnie mal nach seinem Werkverzeichnis erkundigt«, sagte Jack. »Immerhin hat er Karnosaurus, Das Tollhaus und Schleimmonster geschrieben.« »Bist du sicher, dass du nicht schon eins seiner Bücher verfilmt hast? Ihr beide scheint wie füreinander geschaffen.« »Könnte in der Tat sein. Vor allem aber spricht eines für ihn – er hat für Roger gearbeitet.« Bei dem Gedanken an die Kosten für weitere Transatlantikgespräche zuckte Travis innerlich zusammen. »Roger wer?« »Roger Corman natürlich. Der König der B-Filme. Der Meister.« »Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Dein Mentor.« »Und nicht nur meiner. Er hat vielen großen Namen in Hollywood die erste Chance gegeben … Coppola, Bogdanovich, Cameron, Hurd …« »Schön für ihn«, sagte Travis schnell und fragte sich, ob Douglas Hurd wirklich seine erste Chance bei Corman bekommen hatte, und vor allem warum. »Was haben er und Harry denn zusammen gemacht?« »Karnosaurus. Es ging um genetisch neu erschaffene Dinosaurier, die Amok laufen …«
»Oh, ein Plagiat von Jurassic Park?«, fragte Travis. »Nein, nein, Arnie hat mich darüber informiert. Es sieht so aus, als habe dein neuer Kumpel schon vor Jahren einen Roman über dieses Thema geschrieben, eben mit dem Titel Karnosaurus. Roger hat den Stoff gekauft, um Jurassic Park Konkurrenz zu machen.« »Und, hat es sich finanziell gelohnt?« »Arnie sagt, dass Roger ziemlich gut absahnen konnte. Mit seinem Budget hätte Spielberg zwar nicht mal die Brötchen für die Crew kaufen können, aber Roger hat den Videomarkt erobert.« »Also muss Harry ebenfalls ein kleines Vermögen damit gemacht haben …« »Oh, er ist sicherlich ganz gut bezahlt worden, aber wenn er reich dabei geworden sein sollte, dann wäre Corman nicht mehr der Alte«, meinte Jack gackernd. »O Mann, ich fühl mich beschissener als ein Kängurufurz in der Wüste.« Harry Adam Knight, der Mann, um den es ging, kam in die Küche gewankt. Er sah aus wie eine aufgewärmte Leiche, setzte sich Travis gegenüber und legte seinen Kopf auf die Tischplatte. »Das erinnert mich an einen Film, den ich mal verbrochen habe«, sagte Jack. »Die Leiche, die nicht sterben wollte.« »Ich mach mal Kaffee«, sagte Travis und stand auf. »Willst du auch welchen, Harry?« »Danke, Kumpel«, murmelte Harry von der Tischplatte. »Aber ich würde lieber einen Tropfen des Gifts vorziehen, das man mir gestern Nacht eingeflößt hat. Ach was, ich will einen ganzen verdammten Eimer davon.«
»Das dürfte schwierig werden«, meinte Travis. »Ich fürchte, wir haben alles, was auch nur im Entferntesten mit Alkohol zu tun hatte, gestern ausgetrunken. Aber ich schau mal nach …« Travis kehrte mit einer Flasche Bells in der einen und einem dünnen Stapel Papier in der anderen in die Küche zurück. Er hielt die Flasche hoch. »Das verstehe ich nicht. Es ist fast noch eine halbe Flasche Whisky übrig, dabei bin ich sicher, dass wir heute Nacht alles ausgetrunken haben.« Er stellte die Flasche auf den Tisch und legte die Blätter daneben. »Aber irgendwie riecht er komisch.« Harry hob den Kopf und starrte die Flasche an. Dann ließ er ihn wieder auf die Tischplatte sinken. »Das wundert mich nicht, Kumpel«, murmelte er. »Ich hab in den frühen Morgenstunden einen verdammt hartnäckigen Drang verspürt, und da ich nicht mehr wusste, wo das Klo war, hab ich in die Flasche gepinkelt.« Travis würgte, lief zum Spülbecken und beugte sich darüber. Jack konnte sich kaum halten vor Lachen. »Harry, langsam wirst du mir sympathisch.« »Urrgh!«, meinte Travis vom Grund der Spüle her. Jack flog auf den Tisch und betrachtete die beschriebenen Blätter. »He, ihr habt ja letzte Nacht sogar gearbeitet«, sagte er. »Sicher. Ich bin ein Profi, mein Freund«, lallte Harry. Jack überflog die Seiten des Drehbuchs. »Das ist gar nicht schlecht. Aber wie ist diese Szene hineingekommen – in der Travis ein ganzes Team von nymphomanen Cheerleadern verführt?« »Travis hat es mir so erzählt.« »He, Mann, während dieser kleinen Episode muss ich aber voll geratzt haben«, rief Jack Travis zu, der sich gerade ausgiebig
den Mund spülte. »Dichterische Freiheit«, nuschelte er. »Sieht mir eher nach einem bösen Fall von Wunschdenken aus«, kicherte Jack und las weiter. Schließlich meinte er zu Harry: »Das Zeug ist in Ordnung. Betrachte dich als angestellt.« »Heidiho, heidihei«, sagte Harry, den Kopf immer noch auf der Tischplatte. »Wann kriege ich mein Geld?« »Nun, wir arbeiten alle auf gegenseitiger Vertrauensbasis. Das Geld kommt später.« »Wo habe ich das nur schon mal gehört?« Harry stöhnte. »Ich glaube, ihr verdammten Filmproduzenten habt euch das Wort ›Vertrauensbasis‹ auf eure Ärsche tätowieren lassen.« Travis kehrte mit aschfahlem Gesicht an den Tisch zurück. »Ich fühle mich schrecklich«, verkündete er. »Das glaube ich gerne«, sagte Jack und blies ihm etwas Rauch ins Gesicht. »Du siehst so schlecht aus, dass im Vergleich dazu sogar Harry halb lebendig wirkt.« »Und ich mache mir Sorgen.« »Was gibt's sonst noch Neues?« »Ich mache mir Sorgen um Beatrice und Sharon. Sie sind sicher irgendwo unterwegs in London, ganz allein.« »Armes London«, sagte Jack und blies drei miteinander verbundene Rauchringe in die Luft. Detective Chief Inspector Canterbury sah von dem Bericht auf. »Eine Giraffe?« »Leider wahr«, bestätigte DI Ramsey Edwards zögernd. »Passt denn eine Giraffe überhaupt in eine Bank?« »So gerade eben, Tom.«
DCI Canterbury las weiter. »Abgesehen davon ist die Vorgehensweise identisch.« »Genau. Sie sind mit 30.000 Pfund über alle Berge.« »Ramsey, langsam werden wir hier vorgeführt … und das von Idioten wie Barry und Nigel Simmons …« Er schüttelte den Kopf. »Und von ihren geheimnisvollen Komplizen. Sie stecken hinter all dem, sie sind das Gehirn – diese beiden müssen wir schnappen.« »Dann sollten wir uns damit beeilen. Area Command wird mir bald ein paar unangenehme Fragen über diese Serie von Banküberfällen in unserem Revier stellen. Ich kann ihnen schlecht einen Bericht liefern, in dem steht, dass eine Bankangestellte in ein kleines, pelziges Tier verwandelt wird …« »Und jetzt ist es eine Giraffe, Tom …« »Giraffen. Ich werde in der gleichen Gummizelle enden wie der arme Doktor Whiteman.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Tom. Operation Nußknacker kann nicht fehlschlagen.« »Ich hoffe, Sie behalten Recht.« »Das werde ich. Ich habe jeden verfügbaren Beamten zum Dienst gerufen, auch die aus der B-Schicht. Zum Teufel mit der Überstundenrechnung. Wir bilden eine lückenlose Kette um den gesamten Block. Wenn wir Operation Nussknacker starten, wird uns niemand entwischen.« »Dann lassen Sie mal knacken«, sagte DCI Canterbury und lächelte über seinen kleinen Scherz. Edwards lächelte nicht.
Beatrice und Sharon kamen näher und sahen sich um. Sie hatten sich verkleidet. Beatrice trug einen sehr kurzen schwarzen Minirock, Netzstrümpfe, eine tief ausgeschnittene grüne Bluse und versuchte sich, so gut es ging, auf ihren hochhackigen Schuhen zu bewegen. Ihr Haar war hochtoupiert, ihr Mund ein greller Streifen Rot. Dazu trug sie eine Sonnenbrille. Sharon hatte eine schwarze Dschellaba umgehängt, die nur ihre Augen frei ließ. Sie lüftete ihren Schleier, schnupperte und sagte: »Er ist im Pub. Ich kann ihn riechen, eindeutig. Und wenn Damion im Pub ist, dann muss der Prinz ebenfalls dort sein.« Sie senkte den Schleier. »Bist du sicher, dass Damion dich nicht auch riechen kann?«, fragte Beatrice besorgt. »Nein. Nicht, nachdem ich diesen Umhang mit Travis' After Shave durchtränkt habe. Er könnte ganz nahe herankommen, ohne zu merken, dass ich es bin.« »Aber das wirst du nicht tun.« »Nein. Besser kein unnötiges Risiko eingehen.« »Dann hängt es also an mir«, sagte Beatrice stirnrunzelnd. »Allein an mir.« »Mach dir keine Sorgen. Du hast dich ja auch mit Travis' After Shave übergossen. Sie werden nicht merken, dass du es bist. Und wir müssen doch wissen, was sie planen …« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Beatrice. Sie holte tief Luft und stolperte auf ihren hohen Absätzen auf den Tug and Pullet zu.
KAPITEL 14
Damion addierte Zahlen auf seinem kürzlich erworbenen Taschenrechner. »Wie stehen wir da?«, fragte der Prinz gelangweilt, während er seinen Blick über die Gäste des Tug and Pullet schweifen ließ. Seine getreuen, loyalen Untertanen. Alle dumm wie Stroh, aber irgendwie mussten die Untertanen eines Königs auch so sein. »Nicht schlecht«, antwortete Damion. »Noch zehntausend, und wir können uns diesen schicken Loft mit den zwei Wohnebenen leisten, die wir uns gestern Abend in Rutland Terrace angesehen haben.« »Gut. So dankbar ich für unsere neuen Freunde hier bin, es wird Zeit, dass wir etwas Distanz zwischen ihnen und uns schaffen. Sie fangen langsam an, Ansprüche zu stellen und glauben, ich könnte ihre sämtlichen Probleme lösen.« »Was für Probleme?« »Nun, nehmen wir zum Beispiel Shirley dort drüben …« Der Prinz deutete auf eine blonde Frau mittleren Alters in einer weiten Wolljacke, die sich an einem der Tische mit einer jüngeren Frau unterhielt. »Sie hat eine Affäre mit Bernard, dem örtlichen Gebrauchtwagenhändler, und macht sich Sorgen, dass ihr Mann Alf, der auf dem Markt einen Gemüsestand betreibt, dahinterkommt. Dabei hat sie keine Ahnung, dass Alf eine Affäre mit Bernards Tochter Mavis hat, die bereits von Alf
schwanger ist. Mavis hat natürlich furchtbare Angst davor, dass Shirley und ihr Vater von der Sache erfahren. Sie hat noch nicht einmal Alf erzählt, dass sie schwanger ist. Unter diesen Umständen wage ich es nicht, ihr zu eröffnen, dass sie gar nicht Bernards leibliche Tochter ist, sondern in Wahrheit das uneheliche Kind von Bob, dem Straßenkehrer, der einst eine Affäre mit Sylvia, Bernards Frau hatte, als sie noch ein Teenager war. Und dann ist da Fred …« Diesmal wies der Prinz auf einen dicklichen Mann um die dreißig, der am Tresen lehnte. »Er macht sich Sorgen, seine Frau Freda könnte erfahren, dass er ihre gesamten Ersparnisse auf einen vermeintlichen ChampionWindhund namens Firefly gesetzt hat. Mittlerweile ist ihm nämlich klar geworden, dass Firefly nur drei Beine hat. Außerdem ist er ebenfalls in eine Affäre mit Shirley verstrickt und hat sich zu allem Überfluss auch noch eine Geschlechtskrankheit geholt – vielleicht bei Shirley; wobei er ziemlich sicher ist, dass er Freda angesteckt hat. Jetzt weiß er nicht, ob er es ihr erzählen soll, bevor er ihr von dem dreibeinigen Champion berichtet hat – oder erst hinterher. Freda hat natürlich auch eine Affäre mit Shirley, die zufällig bisexuell ist. Davon abgesehen weiß Shirley nicht, dass ihr Sohn Mark seinen besten Freund Grant ermordet hat, als er herausfand, dass Grant eine Affäre mit seiner Mutter hatte. Ich sage dir, Damion, diese Leute und ihre verdammten Probleme machen mich ganz krank.« »Seid Euch meines Mitgefühls sicher, Herr, aber es gibt noch einen dringenderen Grund, warum wir uns rar machen sollten«, entgegnete Damion. »Nach dem gestrigen Besuch von Travis und Beatrice können wir nicht vorsichtig genug sein.« Der Prinz winkte ab. »Ich glaube, du ziehst voreilige Schlüs-
se. Was sollten wir denn von diesen beiden zu fürchten haben?« Damion zögerte. »Ich weiß nicht, Herr, aber ich würde mich viel wohler fühlen, wenn ich mehr über diese Welt wüsste.« »Ach was, ich halte es für fast ausgeschlossen, dass er und Beatrice hier gefährliche neue Kräfte gewonnen haben. Und du, Damion, hast deine alten Kräfte schon so weit wieder erlangt, dass es dir bald möglich sein wird, Sharon unter deine Kontrolle zu bringen.« »Ja, Herr«, sagte Damion zaghaft. Der Prinz seufzte tief. »Da wir gerade von Beatrice sprechen – mir fällt ein, wie dringend ich eine Frau brauche.« »Ihr könntet Euch doch eine von diesen hier aussuchen, Herr.« Der Prinz verzog schmerzvoll das Gesicht. »Ich möchte nicht wie ein Snob klingen, Damion, aber … ach, zum Teufel, ich bin ein Snob, und ich bin stolz darauf. Meinem Gefühl nach sind die Frauen aus dieser Gegend nicht auf meinem Niveau. Viel zu gewöhnlich. Beatrice mag eine hinterhältige kleine Hexe gewesen sein, aber sie hatte Klasse, ganz zu schweigen von einem königlichen Paar Möpse.« »Wie bitte, Herr?« »Vergib mir, aber die örtliche Ausdrucksweise ist ansteckend. Ich bezog mich auf die Brüste der Prinzessin.« »Ach so.« »Ich erinnere mich ebenfalls, dass sie höchst eindrucksvoll waren«, sagte Damion, um sofort hastig hinzuzufügen. »Nicht dass ich je die Möglichkeit einer genaueren Inspektion gehabt hätte, Herr.« »Schon gut, Damion. Wenn ich je wieder meine Finger an
diese Dinger kriege, dann schneide ich sie sowieso ab und mache Geldbörsen daraus.« In diesem Augenblick stolperte Beatrice zur Tür herein und blieb wie angewurzelt stehen. Die Sonnenbrille reduzierte ihre Sehfähigkeit im ohnehin düsteren Tug and Pullet nahezu auf null. Sie nahm sie ab und starrte in den Raum. »Ich habe noch immer nicht verwunden, wie gemein sie sich verhalten hat«, seufzte der Prinz. »Schließlich wollte ich sie heiraten und alles.« »Ihr vergesst, dass dieses ›und alles‹ auch Euer Vorhaben beinhaltete, sie dem Herrn der Vampire zu opfern«, ergänzte Damion. »Ach, das«, sagte der Prinz lässig. »Trotzdem kein Grund, mir in den Rücken zu fallen und mit dieser Dumpfbacke abzuhauen.« »Dumpfbacke?« »Travis, Damion, Travis! Es wird Zeit, dass du lernst, wie man sich hier ausdrückt.« »Jawohl, Sir.« Mittlerweile hatte Beatrice das teuflische Duo entdeckt. Schnell setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf und ging auf sie zu. Als sie neben ihnen an der Bar stand, hörte sie den Prinzen sagen: »… und nachdem ich Beatrices Brüste abgeschnitten habe, werde ich ihr langsam die Gedärme herausreißen und sie in einem großen eisernen Topf kochen, während sie noch an ihr hängen. Dann werde ich sie verspeisen …« »Iiih!«, entfuhr es Beatrice. Der Prinz und Damion drehten sich um. »Hast du etwas gesagt, junge Dame?«, fragte der Prinz.
Beatrice sah sich verzweifelt um und deutete dann mit dem Finger auf sich. »Ich?«, quietschte sie. »Ja, du«, sagte Damion und sah sie durchdringend an. Dann begann er zu schnuppern … Beatrice schüttelte den Kopf. »Nee, nee. Ich nich.« »Ich glaube nicht, dich hier jemals gesehen zu haben, und doch kommst du mir irgendwie bekannt vor«, sagte der Prinz. »Bist du hier aus der Gegend?« »Aus der Gegend?« Beatrice lachte laut auf. »Mann, ich krieg die Motten, aber klar doch, geboren und aufgewachsen am Wilford Square, Alter. Bei meiner Geburt hab ich die Glocken von Bow läuten hören, ihr Süßen, und wisst ihr wieso? Weil meine gute Mutter mich unten im Turm zur Welt gebracht hat, weil es draußen Bindfäden regnete …« Beatrice hatte sich schlauerweise etwas vorbereitet, bevor sie auf ihren Spionagetrip gegangen war. »Mein Alter verkauft Aal am Marmelade-Stand auf dem Markt, äh, ich meine natürlich Aal am Gelee-Stand, ha ha …« Leider hatte sich Beatrice wirklich nur etwas vorbereitet. Der Prinz und Damion starrten sie ungläubig an. In diesem Augenblick zupfte jemand am Ärmel des Prinzen. »Verzeihung, Eure Hoheit, Sir«, sagte Barry Simmons. »Die Bullen, Eure Sirheit, sie haben den Block umstellt und kommen näher.« »Schon wieder?«, sagte der Prinz. »Lernen sie denn nie?« »Dieses Mal ist es eine größere Operation, Euer Hochwürden. Überall wimmelt es von Bullen.« »Wir werden schon mit ihnen fertig«, sagte der Prinz leichthin. »Nicht wahr, Damion?«
»Sicher«, sagte Damion stirnrunzelnd. »Was heißt ›es wimmelt‹?« »Oh, bestimmt fünfzig Blaue«, sagte Barry. Sein Bruder Nigel tauchte neben ihm auf. Er trug eine Baseballkappe. Seine schmale Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht. »Kein Problem«, sagte der Prinz. »Nicht wahr, Damion?« »Nun …«, sagte Damion. Aber der Prinz hörte gar nicht hin. Er fragte Barry: »Kennst du diese junge Frau hier?« Barry sah ihn verständnislos an. »Was'n für 'ne junge Frau?« »Na, diese hier«, sagte der Prinz und drehte sich um. Aber sie war nicht mehr zu sehen. Die Aufmerksamkeit, die Barry zuteil geworden war, hatte Beatrice genutzt, sich rasch davonzumachen. Als sie den Ausgang gerade erreichte, wurde die Tür von außen aufgestoßen, und Polizisten in Kampfanzügen stürzten in den Tug and Pullet. Ein Beamter mit einem Megaphon rief: »Keiner rührt sich von der Stelle! Sie sind alle verhaftet!« Beatrice versuchte sich klein und unscheinbar zu machen und zwängte sich durch die Mauer aus Polizisten. Sie dachte schon, es schaffen zu können, als einer von ihnen sie am Arm packte. »Wohin möchtest du denn, Schätzchen?«, knurrte er. »Nach St. John's Wood«, antwortete Beatrice und versuchte es mit einem Tritt zwischen die Beine des Polizisten, traf aber nicht genau. »Das reicht. Du bist verhaftet, Schlampe«, zischte er und streifte ihr die Handschellen über den rechten Arm. Draußen beobachtete Sharon die Ereignisse mit großer Sorge.
Nicht nur der Tug and Pullet war von Polizisten umstellt worden, die ganze Gegend schien abgeriegelt. Wie Beatrice versuchte auch Sharon, sich so unauffällig wie möglich davonzumachen, aber das war noch schwerer, da sie ja eine von Kopf bis Fuß reichende schwarze Dschellaba trug. Als sie auf eine Seitenstraße zuging, versperrten ihr zwei Polizisten mit Plastikschildern den Weg. »Schau mal an, was haben wir denn da?«, höhnte einer der beiden. »Batwoman, richtig?« »Lassen Sie mich durch. Ich gehöre nicht hierher.« »Das kannst du zweimal sagen«, meinte der andere Polizist. »Hier ist es nicht ungefährlich für dich. Die Leute in dieser Gegend halten nicht viel von Pakis. Hier ist National FrontGebiet.« Sharon hatte keinen Schimmer, wovon er sprach. »Heißt das, ich kann gehen?« »Tut mir Leid, Lady, das heißt es nicht. Wir haben den Befehl, niemanden durchzulassen, der sich auf dem Platz befindet. Was machst du hier eigentlich?« »Ich seh mir die Gegend an. Ich bin Touristin«, sagte Sharon. »Aus Tasmanien«, fügte sie hinzu. »Von mir aus könntest du die Mutter von Lawrence von Arabien sein, Schwester«, meinte der erste Polizist. »Du gehst jedenfalls nirgendwo hin.« »Oh, ich fürchte, da irren Sie sich«, sagte Sharon, zog sich die Dschellaba über den Kopf und warf sie auf den Boden. Darunter trug sie wieder mal nichts. Die beiden Beamten starrten sie mit fast ehrfürchtigem Schweigen an. Schließlich sagte der zweite: »Ähm, nicht, dass ich mich beklage, Madam, aber ist
das, was Sie hier machen, nicht gegen Ihre Religion?« »Nicht gegen meine Religion«, sagte Sharon und streckte ihm die Zunge heraus. Der erste Beamte hob die Dschellaba auf und hielt sie ihr hin. »Die ziehen Sie besser wieder an, bevor wir sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder so festnehmen müssen.« Sharon lachte und verschwand. Die beiden Polizisten sahen einander an. »Hast du auch gesehen, was ich gerade gesehen habe, Terry?«, fragte der erste den zweiten. »Ja … aber schließlich hat uns DI Edwards gewarnt, dass wir bei dieser Aktion einige seltsame Dinge zu Gesicht bekommen könnten.« »Und er hat auch gesagt, dass wir versuchen sollten, sie zu ignorieren.« Sie schwiegen eine Weile. »Aber ganz schön schwer, diese Frau zu ignorieren, was? Ich glaube, die werde ich nie vergessen«, murmelte der zweite Beamte, Terry, gedankenverloren. Detective Inspector Edwards, ebenfalls in voller Kampfmontur, hatte soeben über sein Megaphon verkündet, dass sich niemand im Tug and Pullet von der Stelle rühren solle, und einige Sekunden lang schien es, als würden ihm die Anwesenden gehorchen. Doch dann begannen alle wie auf ein Kommando durcheinander zu laufen, und Stühle und Barhocker flogen durch die Luft. »Los, Leute, schnappt sie euch!«, rief er und wehrte ein fliegendes Objekt mit seinem Schild ab. Er entdeckte Barry und Nigel an der Bar, zusammen mit den beiden Fremden, von denen er den einen – also doch! – schon einmal gesehen hatte.
Das Megaphon als Rammbock benutzend, bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Jedesmal, wenn er jemanden beiseite stieß, gab es laute, quakende Geräusche von sich. Schließlich stand er Nigel Simmons gegenüber. Endlich, dachte er mit grimmiger Zufriedenheit. »Nigel«, sagte er warnend, »sei kein Dummkopf und lass den Schläger fallen.« Gleichzeitig warf er das Megaphon weg und zog seinen neuen, extralangen Schlagstock. Das wird spaßig, dachte er. »Drauf geschissen, Bulle!«, schrie Nigel und holte mit seinem Baseballschläger aus. Edwards wehrte den Hieb mit seinem Schild ab und hob seinerseits den Schlagstock … Im nächsten Augenblick sah er sich einem riesigen Erdferkel gegenüber. O nein, jetzt geht das wieder los, dachte er noch, bevor ihm das Erdferkel mit dem Baseballschläger auf den Kopf schlug. Gleichzeitig fanden sich auch die anderen Beamten im Tug and Pullet mit allen möglichen bizarren Kreaturen konfrontiert, von denen einige wirklichen Tieren ähnelten; andere schienen direkt einem teuflischen Albtraum entsprungen zu sein. Das Chaos brach los, als verwirrte und schockierte Polizisten versuchten, irgendwie mit der Situation fertig zu werden. Einer von ihnen kämpfte mit einem riesigen rosafarbenen Tintenfisch, ein anderer mit seiner toten Schwiegermutter. Eine Polizistin lieferte sich ein Gefecht mit einem großen Teddybären, und der Beamte, der von einer eine Kettensäge schwingenden Margret Thatcher durch den Pub gejagt wurde, sollte noch auf Jahre psychologische Hilfe brauchen. Als der Kampf zwischen den Polizisten und den Gästen des Tug
and Pullet ausbrach, wandte sich der Prinz gereizt an Damion: »Schnell, schnell, wir sind noch immer sichtbar für diese Idioten …« »Immer langsam, Herr, ich muss hier eine Menge Dinge gleichzeitig tun.« Er machte eine Handbewegung, und plötzlich waren er und der Prinz für die Menschen im Pub nicht mehr zu sehen. Dann belegte er den ganzen Raum mit einem Massenbann, wobei sich seine Stirn vor Anstrengung zerfurchte. Schließlich gestikulierte er erneut … Die Stammgäste des Tug and Pullet hatten sich wieder in Menschen verwandelt und sahen erstaunt, dass die Polizisten sich sehr seltsam aufführten. Entweder ließen sie ihre Schlagstöcke fallen und ergriffen die Flucht, oder sie schlugen wie wild auf Dinge ein, die offenbar nur sie sehen konnten. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns nutzten die Gäste die Verwirrung schnellstens zu ihren Gunsten und schlugen mit Stühlen und Flaschen auf die verwirrten Beamten ein. »Gute Arbeit«, lobte der Prinz und trank einen Schluck trockenen Sherry, während er das Chaos beobachtete. »Besser spät als nie … hoppla, um den solltest du dich kümmern, Damion.« Der Prinz deutete auf einen Polizisten, der seinen Helm verloren hatte. Blut lief ihm das Gesicht herunter. Er stolperte wie blind auf sie zu und schwang seinen Schlagstock auf recht beunruhigende Art und Weise. »Ja, Sir«, antwortete Damion, hob die Hände … und erstarrte. »Sharon ist hier!«, rief er. »Ich kann sie riechen! Sie muss draußen sein!« In diesem Augenblick traf ihn der Schlagstock des Polizisten an der Schläfe, und er sank zu Boden. Augenblicklich hielten
die Polizisten – zumindest diejenigen, die noch auf den Beinen standen – inne und schüttelten die Köpfe, als wären sie soeben aus einem grotesken Traum erwacht. »O nein«, murmelte der Prinz, als ihm klar wurde, dass er wieder sichtbar war. Er stupste den am Boden liegenden Zauberer mit dem Fuß an. »Komm schon, Damion, sei ein guter Junge, wach auf und zeig's ihnen … Damion?« Eine schwere, in einem Handschuh steckende Hand senkte sich auf seinen Oberarm. Es war der Beamte, der Damion niedergestreckt hatte. Seine Augen waren wieder klar, und als der Prinz ihn erkannte, verließ ihn der Mut. »So, Freundchen, du bist verhaftet!«, brüllte DI Edwards.
KAPITEL 15
Trotz der bohrenden Kopfschmerzen fühlte sich DI Edwards sehr zufrieden. Alles in allem war es eine gelungene Aktion gewesen. Okay, am Anfang hatte alles etwas chaotisch ausgesehen – das riesige Erdferkel sah er noch immer vor sich –, aber letzten Endes wurde es ein Erfolg. Sie hatten die SimmonsBrüder und ihre beiden geheimnisvollen Komplizen geschnappt, ganz zu schweigen von den anderen Gaunern, die den Tug and Pullet bevölkerten. Als er den größeren der beiden festnehmen wollte, hatte es allerdings noch einmal Probleme gegeben: Der Mann schien über schier unmenschliche Kräfte zu verfügen und hatte es sogar geschafft, die Kette der Handschellen zu zerreißen. Er musste bis zum Hals mit Drogen voll gepumpt gewesen sein. Sechs Beamte hatte es gebraucht, um ihn zu überwältigen, dazu ein paar kräftige Schläge mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. Jetzt steckte er in einer Zwangsjacke, nachdem ihn ein Arzt mit Beruhigungsmitteln kaltgestellt hatte. Auf der Negativseite waren die zahlreichen Verletzungen zu beklagen, die seine Leute erlitten hatten. Die meisten standen unter Schock, aufgrund der Erfahrungen, die sie gemacht hatten, als sie … nun, hypnotisiert oder was auch immer gewesen waren. Officer John Parker hatte es am schlimmsten erwischt. Er stammelte nur noch »Sie war es! Sie war wieder da – und sie hatte eine Kettensäge!« Ein gebrochener Mann. Schade.
Er war ein guter Polizist gewesen. Eine Beamtin kam auf Edwards zu. »Sir, der DCI ist da …« »Gut«, sagte er. Er ging hinaus, bemüht, nicht in eine der zahlreichen umherliegenden Scherben zu treten. Draußen stieg DCI Canterbury gerade aus seinem Wagen. »Gratuliere, Ramsey«, sagte er zu Edwards. »Wie ich höre, ist alles nach Plan gelaufen.« »Danke, Tom. Es hat ein paar Aussetzer gegeben, aber letzten Endes haben wir gewonnen …« Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Gerade hatte er die Fernseh-Crews bemerkt. Sie filmten eine junge Frau, die mit Handschellen an einen Beamten gefesselt war. Wie um alles in der Welt konnte es geschehen, dass eine Verhaftete Interviews gab? »Entschuldigung, Tom, aber ich glaube, ich muss da eben etwas klären.« Er eilte auf die Gruppe zu. »Was geht hier vor?«, herrschte er den unglücklich dreinblickenden Constable an, an den das Mädchen gefesselt war. »Es tut mir Leid, Sir«, sagte er. »Sie haben sich plötzlich alle auf sie konzentriert. Ich habe zu ihnen gesagt, dass sie nicht mit ihr sprechen dürfen, aber man hat mich einfach ignoriert. Und sie lassen mich auch nicht …« »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Edwards und wandte sich an die Fernsehleute. Eine Frau hielt ein Mikrofon, in das das Mädchen munter hineinplapperte. Edwards bekam irgendwie mit, dass es um das Königshaus ging. Er riss der Frau das Mikro aus der Hand. »Also gut, das reicht jetzt! Die Show ist vorbei. Sie können die Frau nicht interviewen. Sie ist verhaftet.« »He, das wird sich gut in den Ein-Uhr-Nachrichten machen. Sehr schön, Inspector«, sagte die Reporterin sarkastisch.
»Es ist mir vollkommen egal, wie es sich macht. Packen Sie Ihre Sachen zusammen und verduften Sie.« Unbeeindruckt erkundigte sich die Frau: »Würden Sie unseren Zuschauern vielleicht mitteilen, warum diese junge Dame verhaftet worden ist?« »Sie steht unter dem Verdacht, in kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein«, sagte er und schaute das Mädchen zum ersten Mal an. Er hatte sie noch nie gesehen, was ihm seltsam erschien, da er sich eingebildet hatte, wirklich jeden, der in dieser Gegend wohnte, zu kennen. »Wussten Sie eigentlich, Inspector?«, fragte die Reporterin, »dass es sich um eine ausländische Staatsbürgerin handelt? Und dass sie darüber hinaus eine Prinzessin ist? So wie es aussieht, haben Sie ein Mitglied eines ausländischen Königshauses verhaftet.« Edwards sah sie mit offenem Mund an. Travis hing vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Sein Kater hatte sich noch nicht verflüchtigt, und der Geruch des ›Whiskys‹ hing ihm noch immer in der Nase. Er hörte, wie Harry Adam Knight eifrig auf den Tasten seines Schreibcomputers herumhämmerte, während Jack mit jemandem am Telefon schwatzte. Nichts davon trug dazu bei, seine Laune zu bessern. Und zu allem Überfluss hatte er vor etwa einer halben Stunde auch noch einen Werbespot für Prenderghasts neue Reihe von Virtual Reality-Helmen für Kinder gesehen. Der offizielle Start sollte in einer Woche erfolgen, und er wusste nicht, wie er in dieser Zeit noch Sand ins Getriebe streuen konnte. Er hatte es noch mal in Prenderghasts Büro versucht, war aber wieder an
die gleiche hochnäsige Sekretärin geraten, die ihm erneut erzählt hatte, dass Prenderghast sich auf Geschäftsreise im Ausland befinde. Langsam fragte er sich, ob sie überhaupt wusste, für wen – oder was – sie arbeitete. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihr die Wahrheit zu sagen: ›Hören Sie, Miss, wissen Sie, dass Ihr Chef einer der dunklen Götter ist und dazu noch ein Obergauner?‹, hatte dann aber davon abgesehen. Müde lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Es gab zu vieles, worüber er nachdenken musste, zu vieles, was ihm Sorgen bereitete. Er wollte sein altes Leben zurück: seinen Job, Heather … Der Klang einer wohlbekannten Stimme schreckte ihn auf. Und als er das wohlbekannte Gesicht auf dem Bildschirm sah, war er hellwach. »Wa …«, keuchte er. Beatrice. Sie stand vor einem Pub, den er als den Tug and Pullet wiedererkannte, war angezogen wie eine Friseuse mit sehr wenig Geschmack und schien mit Handschellen an einen Polizisten gefesselt. Im Hintergrund standen noch mehr Polizisten. »Jack!«, rief er. »Komm her … schnell!« »Und deshalb«, sagte Beatrice in ein Mikrofon, »halte ich es für eine Schande, dass man als Besucherin von der Polizei dieses Landes so behandelt wird. Noch dazu als königliche Besucherin!« Jack flatterte ins Zimmer und landete auf der Sessellehne. »Was gibt's so Dringendes? Ich war mitten in einem wichtigen Telefongespräch …« »Halt den Mund und schau hin«, sagte Travis und deutete auf den Bildschirm. »Und Sie heißen Prinzessin Beatrice?«, fragte die Reporterin.
»Das stimmt …« »Was habe ich dir gesagt, Kumpel!«, rief Jack triumphierend. »Die Kameras lieben sie! Sie verströmt eindeutig LeinwandCharisma! Stimmt das etwa nicht?« »Psst!«, machte Travis. »… ja. Samella. Es ist ein sehr kleines Land in, äh, Europa«, sagte Beatrice zu den Reportern. »Osteuropa, oder?« »Genau«, erwiderte Beatrice und lächelte dermaßen strahlend, dass der Bildschirm zu leuchten schien. Travis erkannte, wovon Jack sprach. Ihre Präsenz auf dem Bildschirm war in der Tat beeindruckend. Was für einen Eindruck würde sie wohl erst auf der großen Leinwand machen! Die Reporterin fragte sie dann, was sie denn in dieser Kleidung im Tug and Pullet zu suchen gehabt hätte. Beatrice tischte ihr irgendeinen Unsinn darüber auf, wie schön es sei, inkognito zu reisen und so ein echtes Gefühl für die Orte zu bekommen. »Denn sehen Sie«, sagte sie, »ich bin nach England gekommen, um die Hauptrolle in einem Film zu übernehmen. Er heißt Verflixt und Zugehext …« »Das ist unser Mädchen!«, schrie Jack und hüpfte vor Aufregung auf und nieder. Travis sah mit ständig düsterer werdenden Miene zu, wie Beatrice der BBC und damit der breiten Öffentlichkeit insgesamt mitteilte, dass der Autor und Produzent des Films ein gewisser Travis Thomson sei. »Du bist berühmt, Holzkopf«, kicherte Jack. »Hip hip hurra«, murmelte Travis betrübt. »Also, worauf wartest du noch, geh und hol sie raus.«
»Wäre es nicht einfacher, sie im Gefängnis zu lassen?«, sagte Travis. »Du weißt doch, dass du das nicht machen kannst. Außerdem musst du Sharon finden.« »Ist schon gut«, erwiderte er seufzend und erhob sich schließlich ächzend. Welche Wahl hatte er schon – außer seinen Namen zu ändern und nach Australien auszuwandern? Detective Sergeant Dick Spencer traf DI Edwards auf dem Flur. »Da draußen herrscht das blanke Chaos«, sagte er zu Edwards. »Eine so große Meute habe ich noch nie gesehen. Die Medien überschlagen sich förmlich wegen dieser Frau. Selbst wenn wir Prinzessin Di verhaftet hätten, könnte der Wirbel nicht größer sein.« »Wem sagen Sie das?«, knurrte Edwards. »Aber wir müssen sie hierbehalten, bis wir ihre Geschichte überprüft haben. Kein Tourist, der noch ganz richtig im Kopf ist, würde freiwillig zum Walford Square gehen. Ich werde sie später befragen, nachdem ich mich um diesen seltsamen Prinz Valerie gekümmert habe. Wie geht es ihm?« »Immer noch ziemlich groggy, aber er kann verhört werden. Er sitzt in Raum drei …« »Gut«, sagte Edwards und rieb sich die Hände. »Knöpfen wir ihn uns vor.« Edwards setzte sich an den Tisch und sah dem Gefangenen, der ihm gegenüber saß, ins Gesicht. Er trug noch immer eine schwere Zwangsjacke und wurde von zwei kräftig aussehenden Polizisten flankiert.
»Ich hörte, dass Sie nicht nach einem Anwalt verlangt haben«, sagte Edwards. »Grrrr«, entgegnete der Gefangene. »Gut. Hauptsache, wir verstehen uns. Fahren wir fort. Zunächst einmal, wie heißen Sie?« »Prinz Valerie, Herrscher des Königreiches von Whiterose«, sagte der Gefangene. Seine Stimme klang etwas schleppend. »Waitrose? Sie meinen, dass Ihnen die Supermarktkette gehört?« »Ich sagte Whiterose«, knurrte der Gefangene. »Es ist ein Königreich auf der Welt von Samella.« Samella? Hatte nicht diese Verrückte behauptet, dass sie von dort käme? Also war sie doch in diese Sache verwickelt… »Kennen Sie eine Frau, die sich Prinzessin Beatrice nennt?« »Leider ja. Wir waren kurze Zeit verlobt, aber dann hat sie sich gegen mich gewandt.« »Warum?« Der Gefangene zuckte mit den Schultern, soweit dies die Zwangsjacke zuließ. »Sie fand heraus, dass ich ein Vampir bin. Ich hätte es ihr natürlich sagen können, aber ich hielt es für besser, damit bis nach der Hochzeit zu warten.« »Ein kluger Schachzug.« Der Gefangene schnaubte verächtlich. Edwards beugte sich vor. »Können wir jetzt mit dem Blödsinn aufhören? Ich weiß nicht, welches Spiel Sie hier spielen, es sei denn, Sie machen auf unzurechnungsfähig. Aber das zieht bei mir nicht, Freundchen. Also sparen Sie sich Ihren ganzen Unfug von Vampiren, Prinzen und Prinzessinnen und rücken Sie mit der Wahrheit heraus.«
Das Gesicht des Gefangenen rötete sich. Er geiferte. »Wenn deine böse Magie nicht meine Sinne getrübt hätte, dann würde ich mich auf der Stelle von diesen Fesseln befreien und dir mein wahres Ich zeigen. Und dann, wenn du angesichts meines Zorns um Gnade betteln würdest, dann würde ich dir die Leber aus dem Leib reißen und vor deinen Augen verspeisen.« »Wenn du glaubst, dass dir meine Leber schmecken würde, musst du wirklich wahnsinnig sein, du Früchtchen«, sagte Edwards lachend. »Und jetzt komm, du Angeber, sag mir die Wahrheit. Die Simmons-Brüder haben bereits gestanden. Sie haben dich und deinen kleinen Freund als das Hirn hinter den Banküberfällen bezeichnet. Und jetzt will ich wissen, wer ihr seid und wo ihr herkommt.« »Das habe ich dir bereits gesagt, taube Nuss«, grollte der Gefangene. »Aber was ist mit meinem Zauberer Damion? Wo ist er? Warum ist er mir noch nicht zur Hilfe gekommen?« »Wenn du deinen kleinen Komplizen meinst – er ist im Krankenhaus. Er liegt im Koma. Sieht so aus, als hätte ich ein bisschen zu hart an seine Birne geklopft. Tut mir Leid.« »Keine Sorge. Nur eine weitere Impertinenz, für die du noch teuer bezahlen wirst, gemeiner Abschaum.« »Ja, ja, ja, von mir aus kannst du diese Show abziehen, solange du willst. Ich bin geduldig. Und ich weiß, dass ihr Profis seid, du und dein Kumpel. Ihr habt euch sogar eure Fingerkuppen verätzen lassen, damit man keinen Fingerabdruck nehmen kann. Wo habt ihr gearbeitet, bevor ihr im Tug and Pullet eingezogen seid?« Der Gefangene antwortete nicht. »Okay, dann werde ich dir sagen, was ich weiß. Zunächst, ihr
seid keine Engländer. Ich kann euren Akzent nicht einordnen, aber ich würde sagen, ihr stammt von irgendwo in Osteuropa. Aus dem gleichen Land, aus dem auch diese verrückte Frau kommt.« »Und nachdem ich deine Leber gegessen habe, werde ich deine Hoden kochen.« »Und das bedeutet, dass ihr alle unter einer Decke steckt.« Plötzlich hatte Edwards einen Einfall. »Dick«, sagte er zu Sergeant Spencer. »Holen Sie das Mädchen.« »Sofort, Sir«, sagte Spencer und ging. Ein paar Minuten später kehrte er mit Beatrice und einer weiblichen Polizistin zurück. Beim Anblick des so genannten Prinzen erbleichte die junge Frau. »Valerie!«, stieß sie hervor. Er lächelte sie an. »Hallo, Beatrice. Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen. Gratulation zu deiner Verkleidung. Im Pub hast du mich tatsächlich zum Narren gehalten … für eine Weile. Ich hätte sehr schnell erkannt, wer du bist, aber dann …« Sie wandte sich an Edwards. »Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie nicht, wer das ist? Erkennen Sie nicht, wie gefährlich er ist? Sie müssen ihn in Ihren tiefsten, sichersten Kerker sperren und die Schlüssel wegwerfen.« »Ich sehe mit Rührung, dass du noch immer genauso stark empfindest wie früher, mein Liebling«, sagte der Gefangene. Edwards seufzte. »Also, ich muss zugeben, ihr spielt eure Rollen wirklich perfekt. Ich würde euch ja selbst für den Ritterstand vorschlagen – aber es ist Zeitverschwendung. Ich weiß, wer ihr beiden seid.« »Das wissen Sie?«, fragten beide. »Ja«, sagte Edwards und grinste triumphierend. »Ihr seid Mitglieder der Russen-Mafia.«
Zu seiner Überraschung entdeckte Travis, dass sich vor der Polizeiwache eine große Menschenmenge versammelt hatte. Er sah nicht nur Fernsehleute und Fotografen, die auf Trittleitern standen, sondern auch das einfache Volk, was auch immer man darunter verstand. Sie alle hatte der Fernsehauftritt Beatrices herbeigelockt. Bemerkenswert … Als er aus dem Taxi ausstieg, richtete sich die Aufmerksamkeit der Menge kurze Zeit auf ihn, aber da sein Gesicht nicht aussah wie das einer Berühmtheit, flaute das Interesse schnell wieder ab. Er wollte sich gerade durch die Menge drängen, als ihn jemand am Arm packte. Er sah sich um. Niemand war da. »Wurde auch Zeit, dass du endlich erscheinst.« Sharon klang leicht gereizt. »Sharon? Bist du's?« »Nein, hier ist Audrey. Sharon ist leider verhindert, und daher hat die Agentur für unsichtbare Sukkubi mich als Ersatz geschickt. Natürlich bin ich es, du Idiot!« »Sharon, was ist passiert? Wieso hat man Beatrice verhaftet? Was habt ihr beiden dort gemacht?« »Wir wollten herausfinden, was Prinz Valerie und seine schleimige Kröte Damion im Schilde führten, aber dann lief alles schief. Beatrice geriet in eine Polizeirazzia und wurde mitgenommen.« »Und wo sind Prinz Valerie und Damion jetzt?« »Der Prinz befindet sich in diesem Gebäude. Ich habe gesehen, wie Damion abtransportiert wurde, bewusstlos, mit einer übel aussehenden Kopfwunde. Ich hoffe, sie erweist sich als tödlich.« »Prinz Valerie ist hier?«, fragte Travis entsetzt. »Wie ist es
der Polizei gelungen, ihn in Gewahrsam zu halten?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sharon. »Das klingt gar nicht gut. Je eher wir …« An diesem Punkt fiel Travis ein, dass die Leute um ihn herum sicherlich auf ihn aufmerksam geworden waren. Schnell steckte er einen Finger ins Ohr und murmelte in sein Revers. Dann sagte er laut zu den ihn anstarrenden Menschen: »Funkmikrofon … ich rede nur mit meinem Chef …«, aber sie hörten nicht auf, ihn anzustarren, als sei er nicht ganz dicht. Langsam gewöhnte sich Travis daran, dass die Leute ihn immer öfter so ansahen. »Folge mir«, sagte Sharon zu ihm. »Wie?«, fragte er, aber die Antwort war deutlich genug. Die Leute vor ihm stoben förmlich auseinander, als die unsichtbare Sharon sich in die Menge stürzte. Travis eilte in die so entstandene Lücke und hoffte nur inständig, dass niemand ihn für den unverschämten Drängler hielt und ihm eins verpasste. Schnell erreichte er den Eingang zur Wache, der durch die einschüchternde Präsenz zweier kräftiger Polizisten geschützt wurde. »Journalisten dürfen nicht hinein, Sir«, sagte einer von ihnen gelangweilt. Sicherlich hatte er diesen Satz heute schon bis zum Erbrechen sagen müssen. »Später findet eine offizielle Pressekonferenz statt.« »Ich kann mich um diese beiden Trolle kümmern«, flüsterte Sharon. »Nein, nein, warte«, sagte er hastig. »Ich übernehme das schon.« »Verzeihung, Sir?«, sagte einer der beiden Beamten mit einem Stirnrunzeln. »Ich bin kein Journalist«, sagte Travis schnell. Ebenso schnell
stieg in ihm die bittere Erkenntnis hoch, dass dem tatsächlich so war. »Ich, äh, vertrete eine ihrer Gefangenen …« »Sie sind Anwalt?« »Nein, ähm, ich vertrete sie nur so, ich bin sozusagen verantwortlich für sie. Für Beatrice, die Prinzessin.« Die Beamten tauschten einen viel sagenden Blick miteinander aus, der eine Menge Polizeiinformationen zu enthalten schien. Dann fragte der Zweite argwöhnisch. »Sind Sie sicher, dass Sie kein Journalist sind? Sie sehen nämlich wie einer aus. Und Sie benehmen sich wie einer.« »Wie benehme ich mich denn?« »Irgendwie verschlagen.« »Ja. Definitiv verschlagen«, stimmte der andere zu. »Hören Sie, ich bin Travis Thomson, der Travis Thomson. Derjenige, den Beatrice in ihrem Fernsehinterview erwähnt hat.« »Jeder, der das Interview gesehen hat – jeder Journalist –, könnte behaupten, er sei Travis Thomson. Können Sie sich irgendwie ausweisen?« Travis holte seine Brieftasche heraus. Leider war das Erste, was ins Auge fiel, seine Mitgliedskarte der Journalistengewerkschaft, der NUJ. Das bot einem der beiden Polizisten eine gute Gelegenheit, einen Sergeant zu mimen, wie er in Fernsehkrimis auftauchte. »Ja, aber hallo, hallo, Sir, was haben wir denn da, Sir?« »Also schön, ich war Journalist. Bis vor kurzem. Jetzt bin ich« – Travis senkte die Stimme – »Filmproduzent.« »Ach ja?« »Ja! Schauen Sie doch.« Er hielt seine NUJ-Karte hoch. »Hier
steht es, Travis Thomson.« Dann holte er seinen Führerschein heraus und hielt den beiden Männern auch den hin. »Da. Kann ich jetzt zu Beatrice?« Erneut tauschten sie einen Blick aus. Dann sagte der eine: »Es ist nicht an mir, das zu entscheiden, Sir, aber es gibt da jemand, der Sie ganz bestimmt gerne sehen möchte.« »Wer denn?« »Detective Inspector Edwards. Er wird sich zweifellos freuen, Sie kennen zu lernen. Bitte hier entlang, Sir.«
KAPITEL 16
Travis saß im Verhörzimmer und rauchte nervös eine Zigarette. »Der Prinz ist ganz in der Nähe«, sagte Sharon. »Ich kann ihn riechen.« »Warum hat er bislang nicht seine Kräfte eingesetzt, um zu fliehen?« »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er riecht schwach.« »Gut«, sagte Travis. »Ich friere«, klagte Sharon. »Die Heizung ist nicht an«, sagte Travis. »Wahrscheinlich mit Absicht.« Sharon materialisierte sich. Sie saß auf dem Schreibtisch und hatte die Arme um die Knie geschlungen. »Ist das klug?«, fragte Travis. »Was ist, wenn jemand hereinkommt und dich sieht?« »Wenn ich jemanden kommen höre, verschwinde ich wieder.« Sie beugte sich vor, nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog kräftig daran. »Du weißt doch, wie gut ich hören kann.« In diesem Augenblick ging die Tür auf, und eine junge Polizistin betrat den Raum. Als sie Sharon sah, erstarrte sie, drehte sich auf dem Absatz um und schloss die Tür wieder. »Dein Hörsinn ist eindeutig übernatürlich«, sagte Travis. »Bäh«, machte Sharon und verschwand. Die Tür ging erneut auf. Die Polizistin kam zurück, diesmal
in Begleitung des wachhabenden Sergeanten, mit dem Travis vor dem Gebäude gesprochen hatte. Die Frau sah sich in dem kleinen Raum um. »Sie ist weg!«, rief sie. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Travis unschuldig. »Die Kollegin sagt, dass sie eine Frau hier bei Ihnen gesehen hat«, sagte der Sergeant. »Eine nackte Frau.« Travis hob die Augenbrauen. »Ach ja? So, wie Sie schon öfter Dinge gesehen haben, die nicht …?« Er hielt inne, als er sah, dass die WPC ungläubig auf etwas über dem Schreibtisch starrte. Dort bemerkte er seine halb gerauchte Zigarette, die in der Luft schwebte. Schnell nahm er sie aus Sharons unsichtbarer Hand und steckte sie sich zwischen die Lippen. Der Sergeant sah ihn durchdringend an. »Wie machen Sie das?«, fragte er. »Ich bin Amateurzauberer.« »Hören Sie damit auf. Hier sind in letzter Zeit zu viele merkwürdige Dinge passiert.« »Sarge, ich fühle mich nicht gut«, sagte die Polizistin, die ganz blass geworden war. »Ich habe sie bestimmt gesehen.« »Jenny, nach einigen der Dinge, denen ich im Tug and Pullet begegnet bin, wäre ein nacktes Mädchen eindeutig eine willkommene Abwechslung. Komm, du brauchst jetzt eine starke Tasse Kaffee und ein Aspirin.« Auf dem Weg nach draußen drohte er Travis warnend mit dem Finger. »Und keine komischen Tricks mehr.« »Ja, Officer«, sagte Travis demütig. Als sie gegangen waren, tauchte Sharon wieder auf. »Ich könnte uns beide doch einfach schrumpfen. Dann machen wir
uns auf die Suche nach Beatrice. Wenn wir sie gefunden haben, schrumpfe ich sie auch, und wir können uns hier rausschleichen.« »Ich möchte nicht auf einer Polizeiwache herumlaufen, wenn ich nur ein paar Zentimeter groß bin. Polizisten sind berüchtigt dafür, dass sie auf sehr großem Fuß leben. Wir würden als Hamburger enden. Nein, ich muss versuchen, diesen Edwards davon zu überzeugen, dass Beatrice unschuldig ist.« »Da kommt jemand«, sagte Sharon und verschwand. Die Tür ging auf, und ein untersetzter Mann Ende dreißig betrat den Raum. Er hatte ein rotes Gesicht und schütteres rotes Haar. Außerdem hatte er ein großes Pflaster auf der Stirn. Travis erkannte ihn. Es war der Beamte, der Beatrices Fernsehinterview abgebrochen hatte. Der Mann sah ihn argwöhnisch an. »Sie sind Travis Thomson?«, fragte er barsch. »Das ist richtig«, antwortete Travis. Er stand auf und hielt dem Polizisten die Hand hin. »Setzen Sie sich. Ich bin Detective Inspector Edwards.« Er ignorierte Travis' ausgestreckte Hand und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich werde unser Gespräch auf Band aufnehmen. Irgendwelche Einwände?« Travis setzte sich wieder. »Ich denke nicht … aber müsste ich nicht unter Anklage stehen, bevor Sie so etwas dürfen?« »Normalerweise schon«, sagte Edwards und schaltete das Tonband ein, das auf dem Schreibtisch stand. »Und Sie haben auch das Recht, es abzulehnen. Ich würde es zur Vorsicht aber gerne tun.« »Zur Vorsicht?« »Ich habe gerade gehört, dass eine Polizistin hier etwas
Merkwürdiges gesehen hat, und dann berichtete mir Sergeant Wells auch noch, dass Sie irgendeinen Trick mit einer Zigarette beherrschen. Sie haben ihm erzählt, Sie seien Amateurzauberer?« »Ja, schon, aber es ist wirklich nur ein Hobby.« »Gehört Hypnose auch zu Ihrem Repertoire?« Verwundert antwortete Travis, dass dem nicht so sei. »Mr. Thomson, wir erleben hier zur Zeit einige sehr merkwürdige Dinge. Hypnose ist die einzige mögliche Erklärung. Ich möchte das Band laufen lassen, für den Fall, dass Sie etwas anstellen. Dann habe ich einen Beweis. Okay?« Travis nickte. Er hielt es für geschickter, den Detective nicht darauf hinzuweisen, dass er, wenn er tatsächlich ein Hypnotiseur wäre, Edwards einfach hypnotisieren und das Band löschen könnte. »Also, wie ist Ihre Beziehung zu dieser Beatrice?« »Ich bin sozusagen ihr Gastgeber. Und ich bin auch der Grund, warum sie in diesem Land ist.« »Um einen Film zu machen, stimmt's?« »Ja.« »Sie sind also Filmproduzent.« »Nein … nun ja, ich schätze, mittlerweile bin ich einer.« »Was haben Sie gemacht, bevor Sie Filmproduzent wurden?« »Ich war Journalist. Beim Watchdog.« Edwards kräuselte die Lippen. »Bei diesem linken Blatt? Na ja. Und wann sind Sie ins Filmgeschäft gewechselt.« »Eigentlich erst vor kurzem.« »Und wie lange ist das her?« »Noch nicht sehr lange.«
»Sie sind also eines Morgens aufgewacht und haben sich gesagt, ach, ich bin es leid, als Zeilenschinder zu arbeiten, ich glaube, ich werde mal Filmproduzent.« »So ungefähr, ja«, sagte Travis, der sich unter anderen Umständen gegen die Bezeichnung »Zeilenschinder« gewehrt hätte. »Interessant. Vielleicht wache ich ja morgen auf und denke, oh, ich bin es leid, Detective Inspector bei der CID zu sein – ich glaube, ich werde mich ab sofort als Meisterkoch betätigen.« »Ich gebe zu, es klingt ein wenig ungewöhnlich.« »Sehr ungewöhnlich, Freundchen.« »Jemand hat mich überredet. Ein Veteran des Filmgeschäfts, ein Amerikaner. Sein Name ist Jack DeSolva. Er hat schon eine Menge Filme gemacht.« »Zum Beispiel?« Travis versuchte sich an die Titel von Jacks Filmen zu erinnern, aber ihm fiel kein einziger ein. »Äähm …«, war alles, was er herausbrachte. »Er muss eine enorme Überredungsgabe besitzen«, meinte Edwards trocken. »Oh, das stimmt.« Dann sahen beide zur Tür hin, die sich soeben geöffnet hatte und nun wieder schloss. Aber niemand war zu sehen gewesen. »Haben Sie das gemacht?«, fragte Edwards und starrte Travis finster an. »Ich? Nein, natürlich nicht …«, sagte Travis, der sich dennoch irgendwie schuldig fühlte. Außerdem fragte er sich besorgt, was Sharon wohl vorhatte. »Wie kann ich denn von hier aus die Tür öffnen und schließen?« »Das würde ich auch gerne wissen.«
»Vielleicht ist diese Polizeiwache verhext.« »Ja, und vielleicht wollen Sie mich auf den Arm nehmen. Kommen wir wieder zu Ihrer Beatrice zurück. Sie sagt, sie komme aus einem Land namens Samella. Ein Land, das gar nicht zu existieren scheint. Können Sie mir dazu etwas sagen?« »Sicher«, entgegnete Travis fröhlich. »Dann mal los. Ich bin ganz Ohr«, sagte Edwards und lehnte sich zurück. Die unsichtbare Sharon eilte durch die Wache, auf der Suche nach Beatrice, überall Türen öffnend und schließend. Die Reaktionen, die ihre Vorgehensweise auslöste, amüsierten sie zutiefst. Schließlich fand sie Beatrice, die mit düsterem Blick in einem kleinen Zimmer saß. Bei ihr saß die junge Polizistin, die zuvor Sharon gesehen hatte. Beatrice und sie tranken Kaffee. Sharon ging auf die Polizistin zu, die entsetzt zur Tür sah, und drehte leicht die Tasse, die die Beamtin in den Händen hielt. Kaffee schwappte auf ihre Bluse. Die junge Frau sprang auf, sagte dann laut: »So eine Scheiße!«, und lief aus dem Zimmer. Sharon materialisierte sich. »Oh, hallo, Sharon, was machst du denn hier?«, fragte Beatrice. »Ich möchte dich hier rausholen«, erwiderte Sharon und setzte sich auf den Stuhl, auf dem die Polizistin gesessen hatte. »Genau wie Travis. Er versucht gerade, irgendeinen höheren Beamten davon zu überzeugen, dass du nicht im Geringsten in das verwickelt bist, was hier vorgeht – was immer das auch ist.« »Wie schön von Travis. Wie kommt er voran?« »Nun, sagen wir mal, wenn du dich auf Travis verlassen
müsstest, dann solltest du in naher Zukunft keine Einladungen zum Essen annehmen.« »Mist.« »Deshalb habe ich mich selbst auf die Suche gemacht. Früher oder später wird Prinz Valerie seine Macht wiedergewinnen, und wenn das geschieht, sollten wir weit fort sein …« »Samella ist also der alte Name für dieses kleine osteuropäische Königreich, das von der Sowjetunion geschluckt wurde?«, fragte Edwards. »Richtig«, sagte Travis. »Und dieser Kerl, der sich Prinz Valerie nennt, kommt auch aus diesem Land.« »Wieder richtig.« »Wahrscheinlich hat er in Russland in einer dieser Banden mitgemischt, die zur Mafia gehören.« »Oh, bestimmt«, sagte Travis und fragte sich, wovon Edwards da redete. »Und was für eine Verbindung besteht zwischen der Frau und diesem Valerie? Arbeitet sie für ihn?« »Beatrice? Aber nein. Sie waren eine Zeit lang verlobt, aber als sie herausfand, dass er ein Vampir ist, hat sie die Beziehung abgebrochen.« »Das hat er mir auch schon erzählt. Sie glauben also auch, dass er ein Vampir ist?« »Nein. Aber er glaubt das«, entgegnete Travis. »Was im Grunde mindestens ebenso schlimm ist, als wenn er wirklich einer wäre. Er ist sehr gefährlich.« »Ich werde daran denken. Und warum ist er jetzt hier und
verübt Banküberfälle?« »Ich weiß nichts von Banküberfällen, aber ich würde sagen, dass er eigentlich wegen Beatrice in London ist. Er ist ziemlich aufgebracht darüber, dass ich sie ihm weggenommen habe.« »Da kommen wir zu einem interessanten Punkt. Wie genau haben Sie denn Ihre Hoheit nach England gebracht? Sind Sie nach Russland geflogen und haben Sie mit Ihrem Charme beeindruckt?« »Nicht ganz …«, erwiderte Travis. »Und wieso wussten Sie überhaupt von ihr?« Travis überlegte kurz. Zumindest versuchte er es. Zeitweise hatte er das Gefühl, in Treibsand zu versinken; bis zum Kinn steckte er schon drin. »Ich habe sie in einem Film gesehen. Auf Channel Four. Ein samellanischer Film. Chanel Four zeigte eine Reihe mit samellanischen Filmen. Die Filmindustrie in Samella blüht geradezu. Ihre Präsenz auf dem Bildschirm hat mich so beeindruckt, dass ich ihr sofort ein Angebot schickte …« »Wie?« »Per … Fax«, sagte Travis lahm. »Per Fax«, wiederholte Edwards. Die Worte hingen so peinlich in der Luft, als hätte jemand einen fahren lassen. Dann öffnete sich wieder die Tür. Dieses Mal wurde sie von einer sichtbaren Person geöffnet. Ein Polizist trat auf Edwards zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr und ging wieder hinaus. Edwards starrte Travis mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, der Travis gar nicht gefiel. Schließlich sagte Edwards: »Nun, das ist sehr interessant, sehr interessant.« »So?«, fragte Travis und versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen.
»Ich habe diesen Beamten gebeten, im Computer zu überprüfen, ob Sie irgendwelche Vorstrafen haben, und er hat etwas sehr Interessantes gefunden.« »So?«, wiederholte Travis und gab jeden Versuch auf, unbeteiligt zu klingen. »Vor ein paar Tagen wurden Sie angeklagt, während einer Schlägerei im Soho Centre Club einen Polizisten angegriffen zu haben.« »Nun ja, aber die Anklage wurde fallen gelassen.« »Das stimmt. Auf Empfehlung eines Dr. David Whiteman, eines Polizeipsychologen.« »Ja. Der gute alte Dave.« »Vielleicht interessiert es sie, dass der ›gute alte Dave‹ im Augenblick in einer psychiatrischen Anstalt untersucht wird.« »Wirklich?«, sagte Travis. »Wie es aussieht, schwafelt er von Märchenprinzessinnen und Dämonen. Und er erwähnt Ihren Namen sehr häufig.« Travis schwieg. »Ich will jetzt die ganze Geschichte hören«, erklärte Edwards ernst. »Und ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie mir nicht wieder einen Haufen Müll erzählen.« Travis seufzte. »Also schön, ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt …« »Wie überraschend.« »Aber eines ist definitiv wahr. Prinz Valerie ist sehr, sehr gefährlich. Genau wie sein Begleiter, Damion.« »Damion liegt im Koma im Bart's Hospital. Er wird von der Polizei bewacht. Was diesen verrückten Valerie betrifft – ich gebe zu, er verfügt über ungewöhnliche Kräfte, aber nach ein
paar Handgreiflichkeiten ist es uns gelungen, ihn ruhigzustellen.« »Sie hatten Glück. Er muss unvorsichtig gewesen sein. Hören Sie, er ist wirklich ein Vampir. Und er kann sich in alle möglichen unangenehmen Dinge verwandeln. Große Dinge mit Flügeln und sehr scharfen Zähnen und Klauen.« Edwards sah Travis mit einem beinahe mitleidigen Blick an. Und dann geschah etwas zwischen ihnen. Buchstäblich. Es erschien auf dem Tisch. Die kleine Gestalt einer Frau, etwa zehn Zentimeter groß. Dann wurde sie rasch größer. »Heiliger Strohsack!«, stieß Edwards hervor. Die Gestalt wuchs weiter. Es war Beatrice. Als sie ihre volle Größe erreicht hatte, lächelte sie zu Travis hinunter und sagte: »Hallo, vielen Dank für deinen Versuch, mir zu helfen, auch wenn du alles vermasselt hast.« »Ich bin hypnotisiert worden!«, rief Edwards, der sich aus seinem Stuhl erhoben hatte und zurückwich. »Man hypnotisiert mich schon wieder!« Travis erhob sich ebenfalls und half Beatrice vom Tisch herunter. »Sie sind nicht hypnotisiert worden«, sagte er zu Edwards. »Das hier ist die Wirklichkeit.« »Und das hier auch«, sagte Sharon, die nackt mitten im Zimmer auftauchte. Sie ging auf den geduckt dastehenden Edwards zu, packte ihn am Kragen und stieß ihn wieder auf seinen Stuhl. »Und Travis hat Ihnen auch über Prinz Valerie und Damion die Wahrheit gesagt. Sie wissen nicht, womit Sie es zu tun haben. Sie sollten die beiden besser verwahren!« »Nichts von all dem geschieht wirklich«, murmelte Edwards. »Es spielt sich alles nur in meinem Kopf ab.«
»Es hat keinen Sinn«, meinte Travis. »Nichts kann ihn von der Wahrheit überzeugen …« Doch in diesem Augenblick hörten sie einen explosionsartigen Knall, und das Gebäude erzitterte kurz. Dann ertönten Schreie … »Valerie!«, zischte Sharon.
KAPITEL 17
Die Schreie hallten durch das ganze Haus, kurz darauf hörten sie weiteren Lärm und das Geräusch trampelnder Füße. Dann wurde die Tür des Verhörzimmers aufgerissen, und ein Beamter in Zivil stürmte herein. »Ramsey! Wir haben ein« – er zögerte kurz, als er Sharon erblickte, aber was immer dort draußen vor sich ging, wog offenbar schwerer als die Frage, was eine nackte Frau im Verhörzimmer zu suchen hatte – »ein Problem! Der Gefangene, der Verrückte, er ist … Kommen Sie schnell! Wir haben bereits eine bewaffnete Eingreiftruppe angefordert!« Er eilte wieder davon. Edwards sah aus wie ein Mann, der in einem Kino auf die Toilette gegangen war, sich beim Zurückkommen verlaufen hatte und schließlich in einem anderen Kino mit einem anderen, völlig unverständlichen Film gelandet war. Auch er rannte hinaus. »Wir machen uns besser auf den Weg«, sagte Sharon und schubste Travis in Richtung Tür. »Wir können hier nicht einfach rausmarschieren!«, protestierte er. »Oh, ich denke, das können wir«, sagte sie, während sie sich verflüchtigte. »Ich glaube, die sind alle viel zu sehr mit dem Prinzen beschäftigt, um sich um uns zu kümmern …« Sie sollte Recht behalten. Niemand achtete auf sie, als sie durch den Wachraum und den Empfangsbereich gingen. Draußen sah es jedoch anders aus. Die Mauer aus Medienleuten
stand noch. Als Travis, die unsichtbare Sharon und Beatrice vor das Gebäude traten, wurden sie mit Fragen überhäuft. »Was geht hier vor? Woher kommt der Krach? Warum die Schreie?« Travis sagte etwas von einem kleineren Problem mit einem Gefangenen, aber dann rief jemand: »Sie ist es! Es ist die Prinzessin!« Gleich darauf, während die Kameras surrten und klickten, ertönten die Rufe: »Hierher, Beatrice! Schauen Sie in diese Richtung, Prinzessin!«, und »Könntest du uns nicht ein bisschen mehr zeigen, Darling?!« Fernseh- und Zeitungsreporter schlugen sich fast um die besten Plätze. Verblüfft beobachtete Travis, welchen Aufruhr Beatrice mit einem einzigen Fernsehauftritt verursacht hatte. Jack behielt Recht. Auf dem Bildschirm verströmte sie noch mehr Magie als in Wirklichkeit. Ein verschwitzter, fetter Mann mit einer roten Nase bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge. »Prinzessin, ich bin von der Sun. Ich bin befugt, Ihnen 50.000 Pfund für eine Exklusivstory zu bieten …« Travis sagte zu Sharon: »Weichteile. Angriff.« Mit einem Schmerzensschrei sackte der Mann von der Sun zu Boden. Die unsichtbare Sharon hatte wieder zugegriffen. Dann bat Travis sie, ihnen einen Weg zu bahnen. Es war wie die Szene in Die zehn Gebote, nachdem Charlton Heston dem Roten Meer befohlen hatte, sich zu teilen, wenn auch in einem kleineren Maßstab und ohne sichtbare Schnitte. Als Travis und Beatrice in die von Sharon geschlagene Schneise sprangen, gelang es einem Mann, nahe genug an Beatrice heranzukommen, um ihr zuzurufen: »Prinzessin, ich bin Agent! Werden Sie schon von jemandem vertreten?« Doch
ebenso schnell wurde er von der tobenden Menge verschluckt. Schließlich hatten sie sich aus dem Menschenknäuel befreit und rannten die Straße hinunter. Verzweifelt hielt Travis nach einem Taxi Ausschau. Wie durch ein Wunder tauchte nach wenigen Sekunden eines auf, das sogar anhielt. Sie stiegen ein. Travis wusste, dass Sharon bei ihnen war, weil sie auf seinem Schoß saß. »Wohin?«, fragte der Fahrer. Travis sah nach hinten. Der Medienmob verfolgte sie. »Egal, nur weg!«, rief er dem Fahrer zu. Zu seiner Erleichterung fuhr der sofort los, und die aufgeregte Meute blieb bald zurück. »Travis?«, fragte Beatrice. »Ja?«, sagte er außer Atem. »Was ist ein Agent?« Nach kurzem Zögern entgegnete Travis: »Beatrice, es gibt einige Dinge auf dieser Welt, von denen du am besten gar nichts wissen solltest. Agenten gehören dazu.« Schwester Anne Petrie, neunzehn Jahre alt und auf eine adrette Weise hübsch, eilte den Flur des Krankenhauses hinunter. Sie trug eine Bettpfanne. Ihr adrett hübsches Gesicht zeigte einen leicht unglücklichen Ausdruck, weil sie diese besondere Aufgabe hatte übernehmen müssen, nachdem sie das kürzeste Streichholz gezogen hatte. Keine der Krankenschwestern hatte gerne mit dem Patienten zu tun, der von allen nur ›Damion X‹ genannt wurde. Er hatte etwas Unheimliches an sich. Und die Gerüchte, dass sich auf seiner Hirntomographie etwas sehr Seltsames gezeigt hatte, machten es auch nicht besser. Es gab noch einen anderen Grund, warum sie gerade diese Aufgabe nicht gerne erledigte. Der Grund saß vor dem Zimmer
von »Damion X« und hieß Constable Chris Evans, der glaubte, dass den Frauen der Welt ein wahrhaft fürstliches Geschenk gemacht worden war, indem Gott ihn erschaffen hatte. Als sie sich dem Krankenzimmer und PC Evans näherte, holte sie tief Atem und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie wurde nicht enttäuscht. Kaum hatte PC Evans sie gehört, sah er von seiner Ausgabe der Sun hoch und schenkte ihr ein selbstgefälliges Grinsen. »Schon wieder du, Anne? Kannst nicht lange ohne mich sein, was?« »Eigentlich schon. Wir haben Streichhölzer gezogen, wer diesen Job übernehmen muss, und ich habe verloren«, sagte sie wahrheitsgemäß. Er lachte ob der schieren Absurdität dieser Vorstellung und stand auf, um ihr die Tür zu öffnen. Sie hätte ihm nur allzu gern eins mit der Bettpfanne übergezogen, aber das Budget des Krankenhauses war so knapp, dass sie es sich nicht leisten konnte, sie eventuell zu beschädigen. »Danke«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und betrat das Zimmer. Er wollte ihr folgen, aber sie schob ihn mit der Bettpfanne zurück. »Ich brauche keine Hilfe, danke.« »He, es handelt sich um einen gefährlichen Kriminellen. Ich muss dich doch beschützen.« Sie deutete mit der Hand auf den bewusstlosen Patienten im Bett. »Ich brauche keinen Schutz vor jemandem, der im Koma liegt.« »Vielleicht tut er nur so.« »Raus«, sagte sie bestimmt. »Das Vögelchen von Seite drei ruft.« Zögernd schloss er die Tür, nicht ohne ihr noch einmal ver-
schwörerisch zuzugrinsen. Blöder Idiot, dachte sie wütend, als sie auf den Patienten zuging. Sie stellte die Bettpfanne auf dem Tisch neben dem Bett ab und betrachtete den Bildschirm. Alle Zeichen, die lebenswichtige Funktionen betrafen, waren stabil. Sie zog eine seiner Augenbrauen hoch. Er lag noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit. Keine Veränderung. Dann zog sie die Bettdecke ganz zurück, um nachzusehen, ob noch alle Katheder an ihrem Platz wären. Wie schon zuvor wunderte sie sich darüber, wie dieser seltsam aussehende Mann sich so schwere Verletzungen an den Genitalien zugezogen hatte. Vorsichtig zog sie die benutzte Bettpfanne unter dem Patienten hervor … … und stieß einen Schrei aus. Die Bettpfanne und ihr Inhalt fielen auf den Boden. Die Tür flog auf, und PC Evans stürmte mit erhobenem Schlagstock herein. Er blickte wild um sich. »Was ist geschehen? Was hat er getan?«, rief er und lief auf das Bett zu. Schwester Petrie, die heftig zitterte, konnte nur stumm auf den Boden deuten. Evans sah hin. Er sah die Bettpfanne. Daneben saß mit zuckenden Ohren ein weißes Kaninchen. »Das ist ein Kaninchen«, erklärte er. Schwester Petrie nickte heftig. Noch immer brachte sie kein Wort heraus. Sie schüttelte den Kopf. Er sah sie an. Ihre extreme Reaktion auf dieses Kaninchen verblüffte ihn. »Was ist los? Hast du eine Kaninchenphobie oder so was?« Sie schüttelte erneut heftig den Kopf, deutete zuerst auf den komatösen Patienten und dann auf die Bettpfanne. Er verstand es nicht. »Ich verstehe nicht …«, sagte er.
Endlich gelang es ihr, zu sprechen. »Das Kaninchen … es … war in der – Bettpfanne!« Er verstand noch immer nicht. »Willst du damit vielleicht sagen, dass du das Kaninchen in der Bettpfanne gefunden hast?« »Ja, du blöder Kerl!«, rief sie. »Und die Bettpfanne lag unter dem Patienten! Ich habe schon eine Menge komischer Dinge in Bettpfannen gesehen, seit ich Krankenschwester bin, aber noch nie ein weißes Kaninchen!« »Beruhige dich«, sagte er. »Es ist völlig klar, was hier geschehen ist.« »Ja«, sagte sie und deutete auf ›Damion X‹. »Ich habe einen Patienten, der weiße Kaninchen ausscheidet. Kommt dauernd vor.« »Ach was, jemand hat dir einen Streich gespielt. Ich weiß, wie ihr Mediziner so seid.« »Wir spielen keine Spielchen mit unseren Patienten, du bescheuerter Polizist! Und außerdem, wer war seit meinem letzten Besuch in diesem Zimmer?« »Ähm, niemand«, musste er zugeben. »Dann erklär mir das!«, verlangte sie und deutete auf das Kaninchen. Das Kaninchen, das rosa Augen hatte, sah zu ihr hoch. Seine Nase zuckte. In diesem Augenblick furzte der Patient. Schwester Petrie und PC Evans drehten sich um und blickten auf die Gestalt im Bett, zwischen deren Beinen sich etwas bewegte. Dann flatterte eine weiße Taube in die Luft. Sie sahen eine Weile zu, wie sie im Zimmer herumflog. Schließlich sagte Schwester Petrie schwach: »Und das erklärst
du gleich mit.« Evans' Funkgerät meldete sich quäkend. Während er zuhörte, widmete Schwester Petrie ihre Aufmerksamkeit abwechselnd ihm, der weißen Taube und dem Patienten. Sie fragte sich nervös, was wohl als Nächstes seinen unteren Regionen entweichen würde. Evans sprach in sein Funkgerät. »Ja … ja … Was?! Sie machen Witze! Oh, tut mir Leid, Sir … ja … ja … O mein Gott! Dann hat er was getan …? Um Himmels willen! Was, hier? Nein, keinerlei Zeichen, Sir. Ob irgendetwas Ungewöhnliches …?« Er zögerte und blickte auf das weiße Kaninchen und die weiße Taube. »Nun ja, ich denke, das könnte man sagen, Sir. Was? Nun, es ist irgendwie schwer zu beschreiben, Sir … Ja, ich warte hier, bis Verstärkung eintrifft.« Er beendete das Gespräch und betrachtete den Patienten besorgt. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie ihn. »Ich meine, abgesehen von dem, das wir hier haben?« »Ja«, erwiderte er abwesend. »Auf der Wache. Sein Kumpel ist geflohen und hat dabei das halbe Gebäude zerstört … Eine Menge seltsamer Dinge sind geschehen, sagt der Sarge. Aber es ist nicht nur das …« »Sondern?« Sie wusste bereits, dass ihr kaum gefallen würde, was sie als Nächstes zu hören bekäme. »Der Sarge meinte, Prinz Valerie weiß, wo der hier sich befindet« – er deutete mit seinem Schlagstock auf den Patienten – »und es ist recht wahrscheinlich, dass er hier auftauchen wird.« »Oh.« Evans blickte nervös aus dem Fenster, was sie für seltsam hielt. Dann ging er zur Tür, öffnete sie und sah den Flur hinauf
und hinunter. »Die Verstärkung ist unterwegs«, sagte er zu ihr. »Es gibt nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste.« Der Klang seiner Stimme verriet ihr jedoch, dass es davon eine Menge geben musste. »Wie kann ein einzelner Mann aus dem Polizeigewahrsam entkommen?«, fragte sie. »Ein Mann?«, entgegnete er und lachte auf eine seltsame Weise. »Was soll das jetzt wieder?« »Der Sarge meinte, dass er nicht unbedingt menschlich aussah, als er die Wache verließ.« »Also, wirklich, du bist einfach nur albern …« Sie nahm die Bettpfanne in die Hand und wollte das Fenster öffnen, um mit der Bettpfanne die nervende Taube aus dem Zimmer zu scheuchen. Doch als sie darauf zuging, rief der Constable: »Nicht das Fenster aufmachen!« »Wovon redest du jetzt schon wieder?«, fragte sie, gleichzeitig gereizt und verängstigt. »Der Sarge sagte … sagte …« Plötzlich stöhnte der Patient und richtete sich auf. »Oh, mein verdammter Kopf«, murmelte er. Sie starrten ihn an, und er starrte sie an. »Wer zum Teufel seid ihr beiden? Und wo bin ich hier?« »In einem Krankenhaus«, antwortete sie. »Sie sind sehr krank.« »Das glaube ich gerne«, meinte Damion und betastete seinen bandagierten Kopf. »Und ich bin verdammt sauer.« Er machte Anstalten, aus dem Bett zu steigen. Evans hob seinen Schlagstock. »Keine Bewegung! Sie stehen unter Arrest! Bleiben Sie,
wo Sie sind!« »Idiot«, sagte der Patient und machte eine Geste mit der rechten Hand. Evans' Schlagstock verwandelte sich prompt in ein langes Baguette. Evans starrte es dümmlich an. Schwester Petrie bedauerte noch einmal, wie viel Pech sie beim Streichholzziehen gehabt hatte. ›Damion X‹ stieg aus dem Bett. »Wo sind meine Kleider?«, fragte er. Stumm zeigte sie auf den Schrank. Evans starrte noch immer auf das Baguette in seiner Hand. Der Patient riss sich sämtliche Nadeln und Röhren aus dem Körper, zusammen mit den Sensoren, ging zum Schrank und begann sich anzuziehen. »Sie können hier nicht weg«, begann Evans mit zittriger Stimme. »Sie sind verhaftet und dürfen nicht …« »Und Sie sind krank«, fügte Schwester Petrie hinzu. Plötzlich zerbarst das Fenster hinter ihr mit einem lauten Knall. Sie schrie auf und duckte sich, während die Scherben an ihr vorbeiflogen. Dann drehte sie sich um … Ein großes Etwas, das aus Rauch zu bestehen schien, aber große rote Augen hatte, strömte durch das zerbrochene Fenster. Sie schrie noch einmal. Dann begann sich das Etwas zu einem großen, in Schwarz gekleideten Mann zu materialisieren. Die roten Augen blieben die gleichen. Schwester Petrie gelangte zu der Einsicht, dass es keinen Sinn hatte, ein drittes Mal zu schreien. »Damion!«, sagte der große Mann. »Geht es dir gut?« »Nein, Sir. Aber ich freue mich, Euch zu sehen. Verschwinden wir hier.«
»Sogleich, Damion, sogleich«, sagte der große Mann, der mittlerweile Schwester Petrie von oben bis unten betrachtete. Er leckte sich die Lippen. »Aber zunächst stelle mich dieser süßen kleinen Schnecke vor.« »Ich weiß nicht, wer sie ist, Sir. Ich bin eben erst aufgewacht und fand mich in Gesellschaft dieser Frau und dieses Narren in Uniform.« Der große Mann kam auf sie zu und schenkte ihr ein Lächeln, das sein Gebiss entblößte. Evans, der völlig durchgedreht war, richtete sein Baguette auf den großen Mann und schrie: »Stehen bleiben, oder ich schieße!« Schwester Petries Reaktion war effektiver. Sie schlug dem großen Mann die Bettpfanne mit aller Wucht ins Gesicht. Im Augenblick scherte sie sich nicht mehr besonders um das Krankenhausbudget. Der große Mann stolperte nach hinten, aus seiner Nase spritzte das Blut. Dann warf sie die Bettpfanne nach dem überraschten ›Damion X‹. Mit einem wohltuend dumpfen Klang landete sie an seinem bandagierten Kopf. Im gleichen Moment rannte sie zur Tür, riss sie auf und hetzte den Flur hinunter. Sie entkam. Police Constable Evans hatte nicht so viel Glück.
KAPITEL 18
Als das Taxi vor Travis' Haus hielt, stellte er erleichtert fest, dass keine Reporter vor dem Eingang warteten. Doch er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn aufgespürt hatten. Es gab nicht allzu viele Travis Thomsons in den Londoner Telefonbüchern. Und die Reporter wussten genau, dass dort, wo immer Travis sich aufhielt, auch ihr Traumgirl des Monats, wenn nicht des Jahres, zu finden wäre – Prinzessin Beatrice. »Ich habe Hunger«, beschwerte sich besagtes Traumgirl des Monats, als sie aus dem Taxi stiegen. »Und ich bin noch immer sehr böse auf dich«, sagte Travis. »Auf euch beide. Ihr müsst nicht ganz bei Trost gewesen sein, in den Tug and Pullet zu gehen.« »Es war Sharons Idee«, erklärte Beatrice bockig. »Ha! Du hast selbst gesagt, es sei eine gute Idee«, warf die unsichtbare Sharon ein, was dem Taxifahrer einen gehörigen Schrecken versetzte. Travis beschloss ihn dadurch abzulenken, dass er ihm ein außergewöhnlich großzügiges Trinkgeld gab. Wenn man einem Londoner Taxifahrer ein fettes Trinkgeld gibt, würde er nicht einmal merken, dass ein tausend Tonnen schwerer Asteroid neben seinem Taxi aufschlägt. »Lasst uns dieses Gespräch drinnen fortführen«, ermahnte er die beiden. Doch in der Küche seiner Wohnung saß zu Travis' Kummer Stephen. Jack war nirgendwo zu sehen. Travis hoffte, dass er sich nicht wieder im Kühlschrank versteckte. »Hallo, Stephen«,
sagte Travis müde, »wie bist du reingekommen?« Stephen stand auf. »Wieder so eine warmherzige Begrüßung. Ein alter Australier hat mir die Tür aufgemacht. Ziemlich betrunken. Ich bin gekommen, nachdem ich dich und Beatrice in den Fernsehnachrichten gesehen habe. Was geht hier vor? Und was soll dieser ganze Blödsinn, du seist ein Filmproduzent?« »Es stimmt«, sagte Travis. »Irgendwie schon.« Er stellte die Plastiktüte, die er bei sich trug, auf dem Tisch ab. In weiser Voraussicht hatte er das Taxi auf dem Heimweg an einem Spirituosenladen halten lassen. Beatrice betrat die Küche, und augenblicklich schien eine merkwürdige Veränderung mit Stephen vorzugehen. Er errötete und sagte linkisch: »Äh, hi, Beatrice, ich meine Prinzessin …« »Hallo, Stephen«, sagte sie uninteressiert und setzte sich. »Ich habe Durst. Und ich habe noch immer Hunger.« Travis fiel auf, mit welch sehnsüchtigem Ausdruck Stephen sie anstarrte. So hatte er sie bei ihrem ersten Kennenlernen nicht angesehen, auch wenn ihn ihre Schönheit schon damals beeindruckt hatte. Die Magie, die sie via Bildschirm verströmte, hatte ihr einen weiteren Fan hinzugewonnen. Dann sah Stephen sich um und fügte wie eine Fußnote hinzu: »Und wo ist Sharon?« »Oh, sie muss hier irgendwo sein«, sagte Travis. Er goss Beatrice ein Glas Mineralwasser ein, und für sich und Stephen zwei große Scotch mit Soda. »Was das Essen betrifft, bestellen wir gleich was beim Chinesen«, versprach er Beatrice. In diesem Augenblick kam Sharon aus dem Schlafzimmer in die Küche. Sie trug einen Bademantel und gähnte übertrieben. »Hallo,
Stephen.« Er starrte sie an. »Woher kommst du?« »Aus dem Schlafzimmer«, antwortete sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich habe ein Nickerchen gemacht.« »Aber abgesehen von diesem Aussie war niemand hier, als ich in die Wohnung kam«, protestierte Stephen. »Wenns nur so wäre«, murmelte Travis. Sharon zuckte mit den Schultern. »Ich lag unter der Decke. Du hast mich übersehen.« Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich.« Das Telefon klingelte. Travis nahm mit bösen Vorahnungen ab, aber es war nur der geheimnisvolle Arnie, der mal wieder Jack sprechen wollte. »Tut mir Leid, er ist gerade nicht da«, sagte Travis. Dann hörte man das Schlagen von Flügeln. Jack flatterte in die Küche und entriss Travis wütend den Hörer. »Her damit, Holzkopf! Es ist wichtig.« Stephen glitt das Glas aus den Händen und fiel auf den Boden, wo es in Scherben zerbrach. »Ich mach dir besser schnell noch einen«, sagte Travis zu Stephen. »Du wirst ihn brauchen.« Dann schlurfte Harry Adam Knight in die Küche und schnupperte. »Rieche ich da nicht Alk? Mein Freund, die Flasche! Ho-dideli-dum!« Anderswo in London klammerte sich noch jemand an einen großen, dringend benötigten Scotch: Detective Inspector Edwards. Er saß in DCI Canterburys Büro. Der DCI klammerte sich ebenfalls an einen großen Scotch. Beide Männer blickten
ausgesprochen verzweifelt drein. »Bitte sagen Sie mir, dass es nicht geschehen ist, Ramsey«, flehte der DCI. »Nichts davon.« »Nichts davon ist wirklich geschehen, Tom«, sagte Edwards. Auf seinem Schoß lag eine Broschüre für Erwachsenenbildung. Er hatte den Eintrag für die Abendkurse im Kochen mit Kugelschreiber eingekreist. »Aber es ist passiert, nicht wahr?«, seufzte DCI Canterbury. »Was also soll ich dem Hauptquartier sagen? Sie wollen einen vollständigen Bericht von mir.« Es stimmt, ich habe schon immer eine geschickte Hand gehabt, wenn's ums Kochen ging, dachte Edwards. Vielleicht könnte ich den Kurs belegen und danach ein kleines Restaurant eröffnen … »Hypnose«, sagte er automatisch. »Hören Sie mir doch auf mit diesem Hypnose-Quatsch, Ramsey«, blaffte der DCI. »Hypnose erklärt keineswegs dieses riesige Loch im Dachfenster. Sie erklärt auch nicht, was Sie und andere Beamte heute Nachmittag gesehen haben. Und sie erklärt nicht, dass die Wache halb verwüstet war und fünf Polizisten im Krankenhaus behandelt werden mussten!« »Sechs, wenn Sie PC Evans dazurechnen.« »O ja«, sagte Canterbury düster. »Wie geht es dem armen Kerl?« »Ich glaube, sie operieren noch immer.« »Tss, tss. Das ist schrecklich. Wie man so etwas mit einem Baguette fertig bringt, ist mir allerdings noch immer ein Rätsel.« »Ja, aber es hätte schlimmer kommen können. Gut, dass sie nicht den Schlagstock benutzt haben.« Nach einigen Augenblicken des Schweigens sagte DCI Can-
terbury: »Also, was machen wir jetzt?« »Lügen, Tom. Lügen, was das Zeug hält. Das ist unsere einzige Chance.« »Aber so viele Beamte haben gesehen, was geschehen ist, Ramsey …« »Und glauben Sie, dass auch nur einer einen offiziellen Bericht einreichen wird, in dem das steht? Das hieße doch, im Eiltempo aus dem Dienst geschmissen zu werden.« »Wahrscheinlich schon«, murmelte Canterbury. »Und den Medien wird auch niemand die Wahrheit verraten«, sagte Edwards. »Darauf können Sie wetten.« »Ach ja, die Medien. So ungern ich es zugebe, aber wir können dieser ›Prinzessin‹ nur dankbar sein. Sie hat die ganze Meute abgelenkt.« »Ja, ich schätze, das hat sie getan«, grummelte Edwards widerwillig. »Aber mir gefällt nicht, wie sie und dieser Travis Thomson einfach hier rausspaziert sind.« »Unsere Leute hatten gerade etwas Dringendes zu tun«, meinte Canterbury trocken. »Nun, sie sollte nicht allzu schwer aufzuspüren sein. Wenn wir Thomson haben, haben wir auch sie.« »Sicher, Ramsey, aber der Punkt ist doch der – wollen wir denn überhaupt noch etwas mit ihr zu tun haben?« »Sie meinen, wir sollten die Sache ruhen lassen?«, fragte Edwards. »Das geht gegen meine Berufsehre, Tom.« »Möchten Sie noch einmal erleben, was heute hier geschehen ist?« Edwards überlegte nur kurz. »Nein«, sagte er dann und warf einen Blick auf die Volkshochschulbroschüre. Vielleicht könnte
er nach Beendigung des Kurses eine kleine Trattoria aufmachen … Er hatte schon immer eine Vorliebe für italienisches Essen gehabt. »Wissen Sie was, Ramsey«, sagte der DCI nachdenklich. »Ich bin eigentlich nur aus Familientradition in den Polizeidienst gegangen. Früher mal wollte ich Baumchirurg werden.« »Wirklich?«, sagte Edwards. »Ich habe darüber nachgedacht … noch ist es nicht zu spät. Wenn ich mich frühzeitig pensionieren und umschulen ließe … Na ja, Sie müssen mich für sehr dumm halten, Ramsey …« »Nicht im Geringsten«, entgegnete Edwards ernst. Stephen konnte seinen Blick nicht von Jack abwenden, der noch immer telefonierte. Er betrachtete ihn mit einer Mischung aus Ekel und Faszination. »Und du willst mir sagen, dass das ein echter Dämon ist?« »Nun, jetzt ja«, sagte Travis. »Früher war er Filmproduzent. Ich denke, da gibt es schon Unterschiede.« Stephen nahm noch einen Schluck. »Das ist alles ein bisschen viel.« »Ich kann dich verstehen«, sagte Travis. »Aber es kommt noch besser. Nimm Sharon, zum Beispiel.« »Sharon?«, sagte Stephen und sah sie an. »Sie ist auch ein Dämon. Ein Sukkubus, um genau zu sein.« Sharon, die eine Tasse mit Kaffee in der Hand hielt, lächelte Stephen mit gespielter Unschuld zu. »Ich glaube es nicht«, sagte Stephen. »Zeig ihm einen deiner Partytricks, Sharon«, forderte Travis sie auf.
»Klar.« Sie stellte ihre Tasse ab, stand auf und zog den Bademantel aus. Ein kurzes Aufblitzen ihres grandiosen nackten Körpers – und sie war verschwunden. Erneut fiel Stephen das Glas aus der Hand. Als es auf dem Boden zerbrach, fragte sich Travis, wie lange bei diesem Tempo sein Vorrat an Gläsern reichen würde. Sharon tauchte wieder auf, zog den Bademantel an und setzte sich. »Sie kann auch die Seelen von Männern essen«, berichtete Travis dem niedergeschlagenen Stephen, als er ihm ein neues Glas reichte und ihm einen Drink eingoss. »Beim Sex.« »Aber … aber …«, stammelte Stephen, »sie und ich … wir … wir …« »Ich weiß«, sagte Travis. »Und ich habe versucht, dich zu warnen.« »Keine Sorge«, sagte Sharon zu Stephen. »Ich habe nur ein ganz winziges Stückchen abgebissen.« Stephen sah nicht sehr beruhigt aus. »Aber woher kommst du?«, fragte er. »Aus einer Welt namens Samella. Beatrice auch. Und Jack ebenfalls, obwohl Jack eigentlich aus Kalifornien stammt.« »Beatrice ist auch ein Dämon?«, rief Stephen entsetzt. »Bin ich nicht!«, protestierte sie. »Ich bin eine Prinzessin!« Kaum hatte Jack endlich aufgelegt, als das Telefon schon wieder klingelte. Hastig griff er nach dem Hörer, lauschte und sagte dann verärgert zu Beatrice: »Für dich « Travis sah verblüfft, wie Beatrice zum Telefon ging. Wer konnte sie nur anrufen? »Oh, hallo Phillip«, sagte Beatrice in den Hörer. »… Ja … ja … oh, ich bin sicher, du hast Recht. Ja, ich sag's ihm. Danke,
bye.« Sie legte auf und kehrte an den Tisch zurück. »Das war Phillip«, sagte sie zu Travis. »Und wer ist Phillip?«, fragte er. »Phillip Billson. Er ist mein Agent. Er möchte sich mit dir treffen. Morgen. In seinem Büro in der Bond Street. Ich gebe dir die Adresse.« »Dein Agent?«, fragte Travis. »Aber du hast keinen Agenten.« »Doch, habe ich. Ich hab's dir doch gerade gesagt. Sein Name ist Phillip Billson.« »Wie ist das möglich?«, fragte Travis. »Dieser Mann, der mich gestern vor der Polizeiwache kurz angesprochen hat … Es gelang ihm, mir seine Visitenkarte in die Jackentasche zu stecken. Ich habe sie gefunden und ihn mit deinem Handy angerufen, als du in dem Laden warst und all die Flaschen gekauft hast. Er hat mir gesagt, dass du mich ausbeutest und dass ich mit seiner Hilfe ein Vermögen machen könnte.« »Ich beute dich aus?«, fragte Travis entgeistert. »Das hat er gesagt. Jedenfalls ist er jetzt mein Agent und möchte morgen mit dir die Bedingungen besprechen.« »Bedingungen?«, stöhnte Travis. »Auch wenn ich es nur ungern zugebe«, sagte Jack. »Man muss den Burschen bewundern. Er hat Recht. Sie ist ein ungeheuer kommerzielles Medienereignis mit potenziell riesigen Einkommensaussichten. Und er ist als Erster dagewesen. Ich ziehe meinen Hut vor ihm.« »Halt den Mund, Jack. Beatrice, ich beute dich nicht aus. Du brauchst keinen Agenten!«
»Er hat gesagt, dass du das sagen würdest!«, entgegnete Beatrice triumphierend. »Beatrice, er ist ein Agent!«, rief Travis verzweifelt. »Er muss so etwas sagen!« »Und er hat gesagt, dass du das auch sagen würdest«, konterte sie. Travis gab es auf und trank noch einen Schluck Scotch. Er spielte mit dem Gedanken, professioneller Trinker zu werden. »Ich hatte auch mal einen Agenten«, lallte Harry Adam Knight, der seine Entscheidung im Hinblick auf das Trinken offensichtlich schon vor Jahren getroffen hatte und seitdem dabei geblieben war. »Glaube ich jedenfalls«, fügte er hinzu. »Einige meiner besten Freunde sind Agenten«, sagte Jack verteidigend. »Da bin ich sicher«, murmelte Travis. Stephen starrte noch immer mit Entsetzen Sharon an. »Du isst Seelen … beim Sex?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Ich habe doch schon gesagt«, entgegnete sie, »dass ich an deiner nur ein ganz kleines bisschen geknabbert habe.« »Außerdem kann sie ziemlich gut kochen«, sagte Travis. »Man kann es schlechter treffen.«
KAPITEL 19
Travis saß in seinem Arbeitszimmer und sah zu, wie Harry Adam Knight die Tastatur seines Computers bearbeitete. Ihm war aufgefallen, dass Harrys Hände an diesem Morgen nicht mehr so schrecklich zitterten, auch wenn er am Abend zuvor die übliche großzügige Menge an Scotch konsumiert hatte. Seit den Ereignissen auf der Polizeiwache waren zwei hektische Wochen vergangen. Es war eine Menge passiert. Prinzessin Beatrice war zum Superstar der Medien geworden. Als Resultat kampierten nun ständig Presse- und Fernsehleute vor Travis' Haus. Dank Beatrice und ihrer Berühmtheit hatten sie das Geld für den Film in bemerkenswert kurzer Zeit zusammenbekommen. Allerdings hatte sich das Budget auch verdoppelt, und das ebenfalls dank Beatrice, oder besser dank ihres Agenten, der eine astronomische Gage für sie ausgehandelt hatte. Nachdem Travis von diesem Agenten beschuldigt worden war, Beatrice auszubeuten, beschloss er, das dann auch zu tun. Er veranlasste sie, bei jedem ihrer vielen Fernsehauftritte eine Warnung an die Öffentlichkeit zu richten. Sie empfahl, dass niemand Prenderghasts Virtual Reality-Helme für Kinder kaufen solle. Ihre Warnung hatte dramatische Konsequenzen – die Werbekampagne wurde über Nacht gestoppt und die Helme noch vor dem offiziellen Verkaufsstart aus den Läden genommen. Es hatte einige Drohgebärden eines Sprechers von Prenderghast gegeben und vage Andeutungen einer Klage, aber
bislang war nichts dergleichen geschehen. Travis wusste, dass Prenderghast alles andere als glücklich war, wo auch immer er sich aufhielt. Irgendwann würde er mit Konsequenzen rechnen müssen, aber im Augenblick kümmerte er sich einen Dreck darum. Es gab noch eine andere ungewöhnliche Entwicklung, die aber nichts mit Beatrice zu tun hatte, sondern die in Sharons Verantwortungsbereich fiel – Stephen stand kurz davor, zum Katholizismus zu konvertieren, mit dem Fernziel, Priester zu werden. Sharon hatte mittlerweile auf Travis' Anregung hin heiße Affären mit Sun-Journalisten, wofür sogar das Seelen-Essverbot gelockert wurde. Allerdings war sie unter dieser Klientel noch nicht so recht fündig geworden. Ein weiteres amüsantes Nebenprodukt von Beatrices MegaRuhm: Martin Shulman, Travis' ehemaliger Chef, hatte ihn nach Beatrices Warnung bezüglich der Prenderghast-Helme angerufen und ihm wieder seinen alten Job angeboten. Und Heather, seine ehemalige Freundin, war telefonisch bereit gewesen, sich mit ihm zum Lunch zu treffen. Travis hatte beide Angebote abgelehnt, obwohl ihn das Letztere doch arg in Versuchung führte. Vielleicht ein anderes Mal … »Wir sind in der letzten Runde, mein Freund«, verkündete Harry Adam Knight. »Noch zehn Seiten, und die endgültige Fassung steht.« Er lehnte sich zurück und streckte sich. Dann nahm er einen Schluck aus einem Glas Wodka und Orangensaft mit Eis, einer Mischung, die er als seinen »morgendlichen Fitnessdrink« bezeichnete. »Gut«, sagte Travis. »Dann wird Jack endlich aufhören, uns
die Hölle heiß zu machen. Ich hätte nicht geglaubt, dass er einem noch mehr auf die Nerven gehen könnte als früher, aber die Macht ist ihm wohl zu Kopf gestiegen. Dieser kleine Furz.« »Ach, geh nicht zu streng mit ihm um«, sagte Harry. »Für einen Dämon ist er okay. Ich habe schon für schlimmere Typen gearbeitet.« »Kaum zu glauben«, meinte Travis. »Oh, wirklich, damals in Aussieland habe ich mal für einen Bastard von Filmproduzenten geschrieben, der mich in mein Hotelzimmer eingeschlossen hat, bis sein beschissenes Drehbuch fertig war. Der Kerl hatte den Nerv, die Minibar leeren zu lassen und mich vom Zimmerservice auszuschließen. Ich bin fast gestorben.« »Das klingt schrecklich. Sag mal, Harry, hast du niemals Heimweh nach Australien?« »Ach was, mein Freund. Ich hatte die Nase voll von diesem Land, das kann ich dir sagen. Verglichen mit hier gibt es dort zu viele Dinge, die dich töten können oder dir zumindest große Unannehmlichkeiten machen. Dinge wie Schlangen, Spinnen, Fliegen, Haie und Aussie-Frauen. Und wenn du mal kurz in der Sonne spazieren gehst, kommst du über und über mit bösartigen Melanomen bedeckt nach Hause. Da ist mir das gute alte England lieber. Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren hier und habe noch nicht einmal die Sonne gesehen.« »Wirklich?«, sagte Travis, obwohl ihn diese Information nicht allzu sehr überraschte. »Ich sag's dir, mein Freund, ich war froh, lebend aus Australien rauszukommen. Nenn mich einen paranoiden alten Penner, aber irgendwie bin ich mir sicher, dass es dieses Land auf
mich abgesehen hatte. Ich bin mehr als einmal nur um Haaresbreite davongekommen, und mehr als einmal habe ich gedacht, das ist jetzt das Ende für den alten Harry.« »Und wann war das?« »Nun, ich habe mal eine Zeit lang als Pilot für die Fliegenden Zahnärzte gearbeitet. Der Arzt, den ich durch die Luft kutschieren musste, war eine Ärztin namens Doktor Raylene DiMaggio. Ein verdammt heiß aussehender Ofen war das, aber jedes Mal, wenn ich versuchte, meine Hände in ihre Höschenzone zu kriegen, hatte ich so viel Glück wie ein Koala in einem Buschfeuer. Jedenfalls musste ich sie eines Tages zu einem Notfall fliegen. Irgend so einem armen Bastard in einem Bergarbeiterlager hatte man während einer politischen Diskussion an der Lagerbar die Zähne ausgeschlagen. Plötzlich bekamen wir Ärger mit der Maschine. Sie lief nicht mehr. Die Wahrheit ist, dass ich an jenem Tag an einem bösen Kater litt und einfach vergessen hatte, aufzutanken, aber ich würde den Teufel tun und Doktor Raylene davon erzählen. Also gingen wir runter …« »Ihr seid abgestürzt?«, fragte Travis. »Nun, mein Freund, ich möchte es lieber als kontrollierte Notlandung bezeichnen. Trotzdem konnte man das Flugzeug komplett abschreiben. Aber wir beide waren okay, von ein paar Schürfwunden und einem leichten Brummschädel mal abgesehen. Das Funkgerät war Geschichte, sodass wir nicht um Hilfe rufen konnten, aber die Frau Doktor machte sich keine großen Sorgen. Sie sagte, dass uns der Suchtrupp bald finden würde, wenn wir beim Flugzeug blieben. Ich hatte nicht das Herz, dem armen Mädchen zu erzählen, dass ich nicht nur vergessen hatte, den Tank mit Benzin zu füllen, sondern auch den Flugplan
auszufüllen, bevor wir starteten. Niemand hatte die geringste Ahnung, wohin wir geflogen waren. Wir waren in der Manguiup-Wüste runtergekommen, einem der heißesten und trockensten Flecken in ganz Aussieland. Aber wenn die Tage heiß waren – die Nächte waren kälter als das Herz eines Steuerprüfers. Als wir so zitternd neben dem Wrack lagen, deutete ich an, dass ein bisschen Körperkontakt in unserer Situation angebracht sei, rein überlebensmäßig. Sie stimmte zu, wenn auch etwas zögernd. Natürlich versuchte ich nach einiger Zeit wieder, in ihr Höschen zu kommen, und dann sagte sie das zu mir, was ich hätte ahnen sollen, nämlich, dass sie ihre Ferien auf der Insel Lesbos verbringe, wenn du weißt, was ich meine. Mein Pech! Allein in der Mitte von nirgendwo mit einer prächtigen Frau, die leider meine Vorliebe für prächtige Frauen teilte!« »Wirklich Pech«, pflichtete Travis bei. »Ich sag's dir, Kumpel, ich fühlte mich so schlecht wie ein Känguru ohne Beutel. Angesichts der neuen Lage schlug ich vor, Hilfe zu suchen. Sie sagte, das sei Selbstmord, aber ich wusste, dass ich es tun musste, weil ansonsten keiner von uns mehr auf eine Grillparty hätte gehen können. Also ging ich los, mit der Hälfte des Wasservorrats, während sie beim Flugzeug blieb. Dann ging die Sonne auf, und bald war ich so ausgepowert wie ein alter Boxer in der letzten Runde. Bald hatte ich mein Wasser getrunken, und meine Aussichten, lebendig durchzukommen, sahen ungefähr so aus wie die Toiletten auf einer Kanalfähre nach einem Sturm. Mein Gehirn brutzelte vor sich hin, und ich spürte, wie meine Lebensgeister dahinschwanden. Ich fiel in den Sand, und dann überkam mich
eine dieser ›Todeserfahrungen‹, von denen ich im australischen Readers Digest gelesen hatte. Du weißt, was ich meine, wenn man so einen weißen Tunnel sieht, der ins Surfer-Paradies führt oder in eine andere heilige Halle. Ich hörte die Stimmen der anderen Mitglieder der Familie Knight, die bereits die Kurve gekratzt hatten. Sie forderten mich auf, in den Tunnel zu gehen und zu ihnen zu kommen. Das hat mir wirklich eine Scheißangst eingejagt, denn alle meine Verwandten waren langweilige Spießer, in deren Gesellschaft ich es nicht mal fünf Minuten ausgehalten hätte, geschweige denn eine Ewigkeit … Plötzlich hörte ich eine Stimme, die ich nicht kannte. Ich öffnete die Augen und sah, dass über mir ein Aborigine mit zwei Köpfen stand. ›Hilfe!‹, schrie ich. Offensichtlich hatte der Fallout all dieser Atomtests in den Fünfzigern in der Wüste doch ernsthaftere Folgen gehabt, als ich gedacht hatte. Entweder das, oder mein gebratenes Gehirn war durchgeknallt. Aber dann stellte sich heraus, dass der zweiköpfige Aborigine ein Komparse bei einem Film war, der gerade in der Gegend gedreht wurde. Es war eine australisch-amerikanischtaiwanesische Produktion mit dem Titel Der verrückte Kelly gegen die Wächter der Zeit. So wie es sich mir darstellte, war es ein Haufen Science-Fiction-Müll. Es ging darum, dass Ned Kelly – eine Art australischer Nationalheld – in die Zukunft gesaugt wird, wegen dieses Helms aus Stahl, den er immer trug, und sich dort mit ein paar außerirdischen Wichsern herumschlagen muss; das alles in Kostümen, die aussehen, als hätte sie irgendeine Schwuchtel aus Paddington – New South Wales, nicht London – im Koma entworfen. Nicht, dass ich mich wirklich beklagen würde. Die Filmge-
sellschaft hatte gerade ihren Best Boy verloren – er war die Woche zuvor von einem Kamel überrannt worden –, und sie stellten mich als Ersatz ein. Und als der Produzent herausfand, dass ich ganz gut mit Feder und Tinte umgehen konnte, schrieb ich auch noch die Dialoge um. So begann meine Karriere als Drehbuchautor. Meine Karriere als Pilot bei den Fliegenden Zahnärzten schien mir nicht mehr allzu aussichtsreich, und so hat es sich auf lange Sicht doch ausgezahlt.« »Aber was wurde aus der Ärztin?«, fragte Travis. »Oh, sie wurde ebenfalls gerettet. Als ich den Flughafen alarmierte, war sie bereits von einer Gruppe japanischer Landvermesser gefunden worden, die einen Golfkurs ausmaßen. Wusstest du, dass nach seriösen Schätzungen im Jahre 2010 etwa achtzig Prozent der Fläche Australiens von japanischen Golfplätzen bedeckt sein werden?« »Nein, das wusste ich nicht«, sagte Travis. Jack flog in das Arbeitszimmer. »He, Leute. Sie ist wieder zu sehen. Kommt!« Gehorsam folgten ihm Travis und Harry ins Wohnzimmer. Auf dem Bildschirm des Fernsehers sahen sie Beatrice, wie üblich magischen Charme versprühend. Sie war schon wieder Gast in einer dieser Shows, war es nun die Anne und Richard Show oder die Nick und Judy Show? Travis konnte sie nie auseinander halten. Für ihn war es immer das Gleiche – SynchronGrinsen. Beatrice beschrieb gerade ihre Kindheit in dem armen osteuropäischen Land Samella, wie sie ihre Jugend auf einer Kartoffelkolchose verbracht hatte, wie sie als Teenager von dem großen samellanischen Regisseur Ruger Kormannis entdeckt
wurde und, nachdem sie in einer Reihe von Filmen gespielt hatte, zur beliebtesten Schauspielerin Samellas aufstieg. Travis hatte das schon oft gehört, nur die Details änderten sich dann und wann. Er war noch immer verblüfft, dass die Leute das alles schluckten. Ein paar Journalisten hatten es gewagt zu behaupten, dass sie keinerlei Hinweise auf einen Ruger Kormannis und seine Filme hätten finden können, ja nicht einmal irgendeinen Hinweis auf das Land Samella selbst, aber niemand beachtete sie. Dazu war der magische Einfluss, den Beatrice über den Bildschirm ausübte, zu groß. Judy – oder war es Anne? – fragte sie nach ihrem ersten englischsprachigen Film, nach Verflixt und Zugehext. Beatrice sagte, dass sie hoffe, Ende März mit den Dreharbeiten beginnen zu können. Allerdings wäre das Casting noch nicht ganz beendet. Sie hätte aber gehört, dass Tom Cruise kurz davor stünde, den Vertrag als Hauptdarsteller zu unterschreiben … »Tom Cruise wird mich spielen?!«, rief Travis. »Ist so geplant, aber eher unwahrscheinlich«, sagte Jack und starrte auf den Bildschirm. »Aber es macht sich gut. Braves Mädchen! Wir kommen mit diesem Film ganz groß raus!« Irgendjemand kommt sicherlich groß raus, dachte Travis verbittert, aber ich werde es nicht sein. Er fragte sich, ob er sich nicht auch einen Agenten suchen sollte. »Durch sie sparen wir tausende Dollar Publicity!«, rief Jack aufgeregt. »Stimmt«, sagte Travis. »Aber je mehr Publicity wir kriegen, desto nackter fühle ich mich.« »He, die Polizei hat dich doch in Ruhe gelassen, oder?« »Ja, aber ich mache mir nicht nur wegen der Polizei Sorgen. Ich
denke an Prinz Valerie und Damion.« »Entspann dich«, meinte Jack. »Die beiden haben wahrscheinlich nicht mal einen Fernseher.« Aber genau in diesem Augenblick sahen Prinz Valerie und Damion zu, wie Prinzessin Beatrice im Studio ebenjenes Fernsehsenders agierte. Sie saßen in dem riesigen Wohnzimmer ihres Penthouses in den Docklands. Das riskante Geschäft des Bankraubs war ihnen lästig geworden, stattdessen hatten sie eine weniger gefährliche Strategie entwickelt. Sie hatten sich eine geeignete Wohnung ausgesucht und dank Damions Überredungskünsten den Eigentümer davon überzeugt, ihnen die Wohnung samt Möbel zu überschreiben. Der Ex-Besitzer hatte danach den überwältigenden Drang verspürt, nach Guatemala auszuwandern. Prinz Valerie zischte, als er Beatrice auf dem Bildschirm sah. »Soll die kleine Hexe ihren Ruhm ruhig für kurze Zeit genießen«, knurrte er. »Sobald du wieder ganz der Alte bist«, damit wandte er sich an Damion, »und deine Kraft vollständig zurückgewonnen hast, schlagen wir zu. Wir werden einen solchen Schlag landen, dass sie bis an ihr schon bald bevorstehendes Lebensende weiß, was Schmerz und Angst bedeuten. Und ihre Freunde werden wir gleichfalls vernichten.« »Besonders Sharon«, sagte Damion und kicherte teuflisch. »Hä hä hä hä hä …« Prinz Valerie kicherte noch teuflischer: »Hä hä hä hä hä hä hä hä …«
Travis saß in der Küche und aß etwas, als das Telefon klingelte. Er ignorierte es, in der Annahme, es sei sowieso für Jack. Überrascht schaute er auf, als Jack hereingeflattert kam und ihm mitteilte, der Anruf sei für ihn. »Ein Anruf für mich? In meiner eigenen Wohnung? Wie ungewöhnlich.« Er nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Mr. Travis Thomson?«, meldete sich eine Frau, deren Stimme ihm irgendwie bekannt vorkam. »Am Apparat«, sagte er. »Hier ist Mr. Prenderghasts Sekretärin …« »Oh … hallo«, sagte er, dachte aber, oh, oh … »Mr. Prenderghast ist wieder im Land«, sagte sie. »Ach ja?« War es Zeit für den Alarmknopf? »In der Tat. Und er möchte mit Ihnen sprechen. Heute.« Ja, es war definitiv Zeit für den Alarmknopf.
KAPITEL 20
»Ich bin verloren«, sagte Travis, nicht zum ersten Mal. »Es ist deine eigene Schuld«, meinte Jack. »Ich habe dich davor gewarnt, Prenderghasts Virtual Reality-Kampagne zu sabotieren.« »Ich konnte doch nicht zusehen, wie er damit durchkommt! Er wollte den Kindern dieses Landes den Lebenssaft aussaugen.« »Wem wäre das aufgefallen?«, fragte Jack. »Ich musste tun, was ich tat«, erklärte Travis und nahm einen kräftigen Schluck Scotch mit Soda. »Nun, das ehrt dich, John Wayne. Und als Resultat steckst du jetzt knietief in der Scheiße.« Travis ging in der Küche auf und ab. »Es gibt keinen Ausweg. Wenn ich nicht in sein Büro gehe, kommt er hierher.« »Ja, du kannst dich vor Prenderghast nicht verstecken. Das weiß ich genau.« »O je … ich habe ihm nur gedroht, und er hat mich nach Samella geschickt. Jetzt habe ich seinen ganzen Plan vereitelt. Was wird er wohl mit mir machen?« »Meine Vermutung teile ich dir lieber nicht mit«, sagte Jack. Travis sah auf seine Armbanduhr. »O Gott, ich muss los. Seine Sekretärin sagte, ich solle um drei da sein.« »Viel Glück. Könntest du mir einen Gefallen tun, wenn du Prenderghast siehst?«, fragte Jack.
»Welchen denn?« »Erwähne meinen Namen nicht.« »So viel zur Solidarität«, schnaubte Travis und stiefelte ins Schlafzimmer, um seinen Mantel zu holen. Als er die Tür gerade schließen wollte, fiel sein Blick auf die 45er, die, halb in ein Handtuch gewickelt, in einem Regal lag. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht. Vorsichtig wickelte er sie aus. Sie sah groß und gefährlich aus. Ganz wie Prenderghast. Travis nahm die Waffe mit in die Küche und zeigte sie Jack. »Ich glaube, die könnte ich gebrauchen.« »Oh, brillante Idee, Holzkopf«, sagte Jack. »Was, glaubst du, könnte sie dir bei Prenderghast nützen? Außerdem ist es seine Knarre. Er hat sie verzaubert. Wenn du das Ding nur auf ihn richtest, könnte es schon vor deinem Gesicht explodieren.« »Vielleicht«, räumte Travis ein. »Aber ich würde mich trotzdem besser fühlen. Und man weiß nie – vielleicht kann ich seinen eigenen Zauber gegen ihn wenden.« »Im Traum vielleicht.« »Vielleicht …«, seufzte Travis, als er die Waffe in die Manteltasche steckte. »Aber es ist besser als nichts.« Er holte tief Atem. »Also, dann gehe ich jetzt. Wünsch mir Glück.« »Viel Glück, Travis«, sagte Jack. »Du armer, verfluchter, kaputter Verlierer.« »Danke, Jack, ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen.« Nachdem er die Docklands erreicht hatte, verfuhr sich Travis prompt in dem Irrgarten der Straßen. Ihm fiel auf, dass er immer wieder an den gleichen Gebäuden vorbeikam, weil er ständig im Kreis herumkurvte. Bald erinnerte er sich, dass er
auch schon bei seinem ersten schicksalhaften Besuch Schwierigkeiten gehabt hatte, Prenderghasts Hauptquartier zu finden. Das war in dieser Welt erst ein paar Wochen her, aber Travis kam es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich fand er einen freien Parkplatz, hielt und holte seine Straßenkarte hervor. Sein altes Ich hatte die Straße markiert, in der Prenderghast sein Büro hatte. Schön. Aber wo stand er nun in Relation dazu? Er sah sich nach einem Straßenschild um und fand wunderbarer Weise auch eins. Er befand sich in der Byng Street. Und als er wieder auf die Karte blickte, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass er ganz in der Nähe seines Zieles war, nur zwei Straßen entfernt. Er beschloss, den Wagen stehen zu lassen und den Rest des Wegs zu Fuß zu gehen. Prinz Valerie und Damion kehrten heim. Sie hatten Lebensmittel eingekauft. Aber während sie durch die Docklands gingen, dachte Prinz Valerie an eine andere Form der Verköstigung – jedes Mal wenn eine attraktive Frau an ihm vorbeiging, starrte der Prinz auf ihre Kehle, und der Speichel lief ihm im Mund zusammen. »Ich muss heute Abend auf Jagd gehen«, sagte er zu Damion. »Ich bin buchstäblich am Verhungern.« »Was immer ihr wollt, Herr«, sagte Damion. Da er die ganzen Tüten schleppen musste, war er nicht allerbester Stimmung. Plötzlich blieb er stehen und rief: »Ich glaub, mich trifft der Schlag! Das haut den stärksten Seemann um!« Der Prinz blieb ebenfalls stehen. »Was redest du da?« »Seht doch! Seht doch!«, rief Damion erregt. »Da ist er!« Er versuchte, einen Arm zu heben, aber das Gewicht der vollen Einkaufstüten hinderte ihn daran, und so deutete er mit seiner
Nase in die Richtung. Der Prinz sah die Straße hinauf, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. »Dieser Schlag auf den Kopf hat dir wirklich den Rest gegeben«, sagte er zu seinem Magier. »Der Mann, der da an der Ampel über die Straße geht! Das ist Travis!« Der Prinz schaute genauer hin. Er sah einen Mann, konnte aber nicht erkennen, wer es war. »Bist du sicher?« »Ja, vollkommen sicher. Kommt, schnell, bevor wir ihn verlieren!« Trotz des Gewichts der Einkaufstüten eierte Damion los. Der Prinz schüttelte den Kopf und folgte ihm. Travis blieb zögernd vor dem Eingang des großen, aus schwarzem Glas und blauem Stahl bestehenden Gebäudes, dem Hauptquartier Prenderghasts, stehen. Dann hob er die Schultern und ging hinein. Zwischen den beiden Fahrstühlen im Foyer befand sich ein Empfangsschalter. Der Sicherheitsbeamte bat ihn, sich in das Gästebuch einzutragen. Als er sich vorbeugte, um zu unterschreiben, rutschte die 45er aus seiner Tasche und landete krachend auf dem Boden. »Hoppla«, sagte Travis und bückte sich schnell. Er hob die Waffe auf und steckte sie wieder ein. »Mir ist mein … Terminkalender heruntergefallen«, teilte er dem Sicherheitsbeamten mit und lachte nervös. »In was haben Sie den denn binden lassen? Gußeisen?«, fragte der Mann. »Haha«, lachte Travis und unterschrieb hastig. Der Sicher-
heitsmann gab ihm wortlos einen Sicherheitspass zum Anstecken. Travis eilte zum wartenden Fahrstuhl. Während der Lift hinauf in den obersten Stock glitt, sortierte er seine Gefühle. Mit schlechtem Ergebnis. Sein Herz hing in der Hose, er hatte Schmetterlinge im Bauch, sein Magen drehte sich gleich um, die Hosen hatte er gestrichen voll. Der Fahrstuhl hielt, und die Türen öffneten sich. Travis stand in Prenderghasts Vorzimmer. Seine Sekretärin, deren Schreibtisch neben der Tür zu seinem Büro stand, blickte ihn stirnrunzelnd an, als er eintrat. »Sie sind zwei Minuten zu spät, Mr. Thomson«, sagte sie streng. »Tut mir Leid, ich habe mich verirrt«, murmelte er dümmlich. Plötzlich kam er sich wieder vor wie ein kleiner Schuljunge, der zum Direktor beordert wird. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er Prenderghasts Sekretärin kaum beachtet. Sie mochte kaum älter als fünfundzwanzig sein, klang aber bestimmter und selbstsicherer, als ihr Alter vermuten ließ. Dennoch war sie äußerst attraktiv, und obwohl sie ganz steif und aufrecht dasaß und ein strenges schwarzes Kleid trug, wirkte ihr Körper aufregend kurvenreich. Travis fielen ihre katzenhaften Augen auf. »Gehen Sie hinein. Mr. Prenderghast wartet schon auf Sie«, sagte sie. »Danke«, murmelte er. Mit in die Hose gerutschtem Herz, wie gehabt, öffnete er die Tür und betrat Prenderghasts Büro. Der Mann selbst, Gideon Leonard Prenderghast, stand mit dem Rücken zu ihm vor der spektakulären Glaswand, die ihm als Fenster diente. Es kam Travis so vor, als sei Prenderghast
noch größer als bei ihrem letzten Treffen. Er musste mindestens 130 Kilo wiegen. Seine mächtige Gestalt warf einen langen Schatten durch das Büro, was sehr merkwürdig war, da Travis wusste, dass die Sonne auf die andere Seite des Gebäudes schien. Ohne sich umzudrehen, sagte Prenderghast mit tiefer, rumpelnder Stimme: »Hallo, Travis. Nimm bitte Platz.« Travis setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Nachdem er noch eine Weile die Londoner Skyline betrachtet hatte, drehte Prenderghast sich um und setzte sich auf seinen eigenen Sessel, der eher wie ein Thron denn wie ein Büromöbel wirkte. Er sah Travis über den riesigen Schreibtisch hinweg eindringlich an. Travis starrte nervös zurück, nahm das runde, alterslose Gesicht, das zurückgekämmte schwarze Haar und die dunklen, undurchdringlichen Augen zur Kenntnis. Travis räusperte sich. »Ähm, es tut mir Leid, Mr. Prenderghast, aber ich musste es tun. Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte es nicht zulassen, dass sie diese VR-Helme an die Kinder verkaufen …« Prenderghast zuckte mit seinen breiten Schultern. »Du hast dich als kapitales Ärgernis für mich erwiesen, Travis«, brummte er. »Und hast mir durch deine Handlungen ernste Unannehmlichkeiten verursacht.« Travis versuchte sich in einer Falte seines Sessels zu verkriechen. »Tut mir Leid«, wiederholte er mit piepsiger Stimme. Jetzt oder nie. Seine Hand wanderte in die Tasche, in der er die 45er versteckte. »Aber ich kann es dir nicht verübeln.« Travis war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Wie
bitte?«, fragte er. Seine Hand bewegte sich nicht mehr. »Ich sagte, ich kann es dir nicht verübeln. Es war deine brillante Idee, Prinzessin Beatrice als Waffe gegen mich zu verwenden, die mich zu Fall brachte; aber es war mein eigener Fehler, dass ich sie überhaupt in diese Welt befördert habe. Ich schickte dir Beatrice und die beiden Dämonen aus Samella nach, damit sie dir auch in dieser Welt Ärger machen sollten, zu meinem Amüsement … aber dann schlug mein Plan fehl. Ich hatte nicht daran gedacht, welche Wirkung sie auf die Leute hier haben würde …« »Das wussten Sie nicht?«, fragte Travis ungläubig. »Ich dachte, sie wären all … all …« »Allmächtig?« Prenderghast lachte donnernd. »Kaum. Natürlich verfüge ich nach den lächerlichen Maßstäben dieser Welt über Kräfte, die dein kleines Vorstellungsvermögen bei weitem übertreffen, aber ich bin nicht allmächtig. Und als Resultat .. .« Er wurde durch Geräusche im Vorzimmer unterbrochen. Travis drehte sich um. Er hörte laute Stimmen – dann flog die Tür auf. Prinz Valerie und Damion stürzten in das Büro, gefolgt von der beeindruckenden Sekretärin, die sehr wütend aussah. Prinz Valerie und Damion wirkten dagegen freudig erregt. Sie starrten Travis gierig an. »Endlich haben wir dich!«, schrie Prinz Valerie. »Rache! Rache!« »Rache!«, echote Damion. »Hähähähä …« »Es tut mir Leid, Sir«, sagte die Sekretärin. »Aber sie …« »Ich weiß«, sagte Prenderghast und hob die Hand. »Zeig ihnen, wer du bist.«
Die Sekretärin verwandelte sich auf der Stelle in einen großen schwarzen Panther. Bis zu diesem Augenblick hatte sich das Interesse Prinz Valeries und Damions ganz auf Travis gerichtet. Sie schienen Prenderghast nicht einmal wahrgenommen zu haben, aber das plötzliche Auftauchen eines knurrenden Panthers lenkte sie dann doch von Travis ab. »Was zum …?«, sagte der Prinz. Damions Blick wanderte vom Panther zu Prenderghast. Ihm dämmerte etwas. »Oh, oh«, stöhnte er. »Was ist los?«, fragte der Prinz, der noch immer im Dunkeln tappte. »Sir, ich denke, wir haben ein Problem«, sagte Damion. »Wer ist dieser große, fette Bastard?«, fragte der Prinz und deutete auf Prenderghast. »Sir, ich glaube, wir sollten gehen«, murmelte Damion. Er packte den Prinzen am Ärmel und zog ihn zur Tür. Doch der knurrende Panther stellte sich davor und versperrte ihnen den Weg. Der Prinz sah Damion verwirrt an. »Was ist hier los?«, fragte er noch einmal. »Herr, er ist einer von IHNEN …« Endlich fiel der goldene Groschen. »Oh …«, machte der Prinz. Dann lächelte er Prenderghast unterwürfig an. »Verzeihen Sie unser Eindringen, Sir. Hier lag eine Verwechslung vor. Wir dachten, unser Freund hier sei ein Bekannter, den wir ernsthaft verstümmeln wollten. Aber, hoppla, er ist es gar nicht, und deshalb verabschieden wir uns jetzt, wenn's recht ist.« Prenderghast schnippte mit den Fingern. Augenblicklich fro-
ren Prinz Valerie und Damion auf der Stelle ein. Sie sahen aus wie zwei Wachsfiguren. Das unpassend unterwürfige Lächeln verschönerte noch immer das Gesicht des Prinzen. Der Panther verschwand und wurde wieder zur Sekretärin. Sie verneigte sich kurz vor Prenderghast und ging wieder hinaus. Irgendwie hatte Travis das Gefühl, dass Prenderghast sie nicht über eine Zeitarbeit-Agentur bekommen hatte. »Wie ich sagen wollte, bevor ich auf so grobe Weise unterbrochen wurde«, sagte Prenderghast, »als Ergebnis meiner Dummheit muss ich dir leider mit tiefem Missfallen verkünden, dass ich dir was schuldig bin. Und zwar, den unumstößlichen Regeln entsprechend, eine ganze Menge.« Er lächelte gequält. »Sie meinen …?« »Ich fürchte, ja.« Travis richtete sich auf und fing an zu grinsen. Am Drehort von Verflixt und Zugehext in den PinewoodStudios fühlte sich Travis so nützlich, wie sich ein Drehbuchautor am Drehort meistens fühlt. Die Filmcrew bereitete sich auf die Szene vor, in der Travis und seine Begleiter durch das Fenster von Prinzessin Beatrices Schlafgemach aus Prinz Valeries Schloss fliehen sollten. Die Kulissen hatten keine große Ähnlichkeit mit der Realität, aber vielleicht war das Wort ›Realität‹ im Zusammenhang mit Samella sowieso fehl am Platz. Das echte Schlafgemach war viel kleiner gewesen, und Travis erinnerte sich daran, wie eng es mit all den Leuten geworden war. Diese Kammer jedoch war riesig. Man hätte Wagners Ring des Nibelungen darin aufführen können und immer noch ein bisschen Platz gehabt.
Der Regisseur, ein junger, heiß gehandelter Neuling, der bereits Angebote aus Hollywood hatte, steckte mitten in hitzigen Diskussionen mit dem Kameramann, einem bärbeißigen Filmveteran, der auf der Leinwand sogar einen ausgelatschten Schuh gut aussehen lassen konnte. Bei Beatrice brauchte er eigentlich gar nichts zu machen. Travis hatte einige der Probeaufnahmen gesehen. Beatrice schien auf der Leinwand geradezu zu leuchten. Sie würde das Filmwunder des Jahrhunderts werden. Keiner der Darsteller befand sich momentan am Drehort. Beatrice saß ohne Zweifel in ihrem riesigen Luxuswohnwagen und machte ihrer Frisöse und ihrem Maskenbildner das Leben schwer. Sie wohnte in einer unglaublich teuren Wohnung in Mayfair, war auf den Covers von mehr Hochglanzmagazinen zu sehen als Liz Hurley und bewegte sich in gesellschaftlichen Kreisen, die für Travis unerreichbar blieben. Er sah sie nur beim Drehen, und dann und wann erwies sie ihm die Gnade, seine Anwesenheit wahrzunehmen. Travis spürte einen Whiskyhauch in seinem Nacken. Harry Adam Knight war eingetrudelt. Leicht schwankend blieb er neben Travis stehen. »Hi, Travis«, sagte er. »Hast du die neuen Fassungen schon gesehen?« »Ja«, sagte Travis. »Und ich bin nicht glücklich damit.« Jack hatte in letzter Minute noch einen dritten Autor angeheuert, einen jungen Amerikaner, der noch mitten in der Pubertät zu stecken schien und dessen Gesicht mit Aknepickeln übersät war. »Die meisten meiner besten Sachen sind raus. Deine auch.« »Das kümmert mich einen feuchten Kehricht, Freund, und du solltest ebenso denken«, sagte Harry. »In diesem beschissenen Geschäft sollte man sich daran gewöhnen. Du musst dein
Ego zu Hause lassen, sonst schmeißen sie es ins Klo und spülen es runter. Das Wichtigste ist, dass man bezahlt wird.« »Ich schätze, du hast Recht«, murmelte Travis skeptisch. Ein glatzköpfiger Mann Mitte vierzig, der wie ein farbenblinder Golfspieler gekleidet war, ging auf den Regisseur und den Kameramann zu und begann auf sie einzureden. Jack hatte seine menschliche Gestalt wieder. Ein Teil von Prenderghasts Abkommen mit Travis hatte darin bestanden, dass Jack wieder der wurde, der er früher gewesen war, aber auf Jacks Wunsch, dem Prenderghast widerwillig zugestimmt hatte, konnte er auch weiterhin in der Gestalt des Dämons existieren. Travis kam diese Wahl sehr merkwürdig vor, aber Jack hatte gesagt: »Nun, manchmal ist es von Vorteil, ein kleiner fliegender Dämon zu sein. Außerdem, denk doch an den Film. Es würde ein Vermögen kosten, mich durch Special Effects zu ersetzen.« Und so spielte es sich dann ab – wenn Jack der Dämon für eine Szene benötigt wurde, eilte Jack der Produzent davon, um ein wichtiges Telefongespräch zu führen oder sonst etwas, und kurz darauf tauchte dann Jack der Dämon auf. Bis jetzt hatte zu Travis' Verblüffung noch nie jemand auf den Umstand hingewiesen, dass man die beiden niemals zur gleichen Zeit sah. Kein Wunder, dass Superman all die Jahre damit durchgekommen war. In seiner menschlichen Gestalt hatte Jack noch etwas anderes getan – er war nach L.A. geflogen und hatte seine Frau zur Rede gestellt. Candice war alles andere als froh darüber gewesen, dass ihr Gatte noch höchst lebendig war. Er hatte die Kontrolle über seine Firma wiedererlangt und hatte – mit seinen Worten – »diese ganzen New Age-Spinner und AromaTherapie-Arschlöcher gefeuert«.
»O je«, sagte Harry. »Nerver- und Trottelalarm auf deiner Backbordseite.« Travis drehte sich um und sah, dass Prinz Valerie und Damion auf sie zukamen. Sie schwenkten ihre Drehbücher und sahen sehr erbost aus. »Travis, Harry, ich muss mit euch reden!«, rief der Prinz. »Und ich auch!«, sagte Damion. Travis seufzte. Er wusste, was ihn erwartete. »Die Neufassungen der heutigen Szenen!«, rief Valerie wütend und fuchtelte mit dem mehrfarbigen Drehbuch herum. »Sie sind unmöglich! Ihr habt meine besten Sätze rausgestrichen! Was habt ihr vor? Wollt ihr mich ganz aus dem Film schreiben?« »Ja, und das gilt auch für mich«, beschwerte sich Damion. »Meine Rolle wird kleiner und kleiner. Ich hätte heute gleich zu Hause bleiben können.« »Erst einmal, Damion«, sagte Travis, »warst du für diese Szene in Samella eigentlich gar nicht vorgesehen. Und zweitens habe ich dir schon oft genug gesagt, dass weder Harry noch ich für diese Änderungen im Drehbuch verantwortlich sind. Das macht alles der Akne-Junge. Wenn ihr irgendwelche Beschwerden habt, dann geht damit zu Jack.« Diese Aussicht schien den beiden gar nicht zu gefallen. Travis wusste, dass sie Angst vor Jack hatten. Leise vor sich hinmurmelnd zogen sie schmollend ab. »Was für ein Paar! Da schleichen sie hin wie zwei begossene Pudel«, sagte Harry. »Ja, es geht ihnen nicht gut«, meinte Travis. »Aber ich sehe sie lieber so als in ihrer früheren Form.« Ein weiterer Teil der Abmachung mit Prenderghast bestand darin, dass Valerie und
Damion ihre samellanischen Titel und ihre Zauberkräfte abgenommen wurden. Valerie war kein Vampir mehr, und Damion war ein Ex-Zauberer. Jetzt waren sie ganz normale menschliche Wesen, die nur ziemlich seltsam aussahen. Außerdem waren sie völlig pleite und obdachlos. Sobald der Zauber gebrochen war, erlosch auch der Bann über den Eigentümer der Wohnung in den Docklands. Er kehrte sofort aus Guatemala zurück und ließ die Hausbesetzer auf die Straße werfen. Dankbar hatten sie die Filmrollen angenommen, in denen sie sich selbst spielten. Als Schauspieler waren sie nicht gerade heiß – Valerie zeigte immerhin ein gewisses Potenzial –, aber zumindest entsprach ihr Aussehen den Rollen. Prenderghast war verschwunden. Eine Woche nach dem Treffen in seinem Büro war er während eines Ausflugs mit seiner Segeljacht als vermisst gemeldet worden. Einige Tage später wurde seine Leiche aus dem Meer gefischt. Aber Travis ließ sich nicht zum Narren halten. Er wusste, dass Prenderghast nicht tot war. Es war nur seine Art, sich aus dieser bestimmten Zeitzone zu verabschieden. Er hatte den schrecklichen Verdacht, dass sich ihre Pfade irgendwann, irgendwo wieder kreuzen würden. Sharon erschien am Drehort. Da Jack einen jugendfreien Film in die Kinos bringen wollte, trat Sharon nicht nackt auf, sondern trug einen kleinen schwarzen Lederbikini. Sie küsste Travis auf die Wange und fragte: »Was essen wir denn heute Abend?« »Was immer du willst, Liebling«, entgegnete er. »Ich hätte Lust auf Chinesisch.« »Dann soll es Chinesisch sein!«
Sie küsste ihn noch einmal und ging dann zu Jack hinüber. Sharon und Travis wohnten mittlerweile zusammen. Als ein weiterer Teil des Abkommens mit Prenderghast war sie – mit ihrer Zustimmung – ›entschärft‹ worden. Das hieß, dass sie kein Sukkubus mehr war. Wie jede andere Frau war sie jedoch auch nicht. Travis konnte das bezeugen. »Einen wirklich heißen kleinen Ofen hast du da, Travis«, meinte Harry anerkennend. »Ich hätte es nicht besser formulieren können, Harry«, erwiderte Travis. »Wieso steht ihr beiden faulen Hunde hier so rum?« Jack! Travis fand ihn als Mensch fast so widerlich wie als Dämon. Immerhin roch sein Atem etwas besser. »Wir stehen hier so rum, Jack«, sagte Travis, »weil wir sonst nichts zu tun haben. Und das verdanken wir dir.« »Nun, dann wird es Zeit, dass ihr wieder an die Arbeit geht.« »Was, hast du den Akne-Jungen gefeuert?« »Ich meine nicht die Arbeit an diesem Drehbuch, sondern an der Fortsetzung.« »Fortsetzung? Welcher Fortsetzung?« »Die Fortsetzung, mit der ihr heute anfangen werdet!« Er klatschte laut in die Hände. »Also los, an die Arbeit!« Er machte sich davon. »Ho-dideli-dum«, sagte Harry. »Heilige Einfalt«, murmelte Travis, »jetzt geht das schon wieder los. Na dann.«