Estrid Ott
Doktors Frida
Vom ungewöhnlichen und abenteuerlichen Alltag unter den Berglappen in Finnmarken und wie Frid...
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Estrid Ott
Doktors Frida
Vom ungewöhnlichen und abenteuerlichen Alltag unter den Berglappen in Finnmarken und wie Frida, die mutige Tochter des Doktors, für eine Hell seherin gehalten wurde, erzählt diese Geschichte. Verlag Sauerländer, Aarau/Frankfurt am Main 1975
Copyright © Albert Müller Verlag, Rüschlikon
Titel der Originalausgabe: Frida og Fjeldlapperne
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Albert Müller Verlages, Rüschlikon
ISBN 3-7941-1413-2
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Ein Blick in die Vergangenheit Das Schiff, das die Mutter und Bergliot nach Oslo trug, war nur noch ein dunkler Schatten weit draußen auf dem Porsangerfjord, aber Frida und ihr Vater standen noch immer auf dem vereisten Kai und blickten ihm nach. “Viel, viel Glück, Bergliot, und werde rasch mäch tig berühmt!” rief Frida ausgelassen in den wirbelnden Schnee hinaus. Der Vater schaute mit einem kleinen Lächeln auf sie herab. “Eines schönen Tages bist du an der Reihe, nach Süden zu fahren”, sagte er aufmunternd. “Hu, nein!” brach Frida aus und rümpfte die Nase. “Daran will ich gar nicht denken. Wenn man doch nur nicht erwachsen würde! Ich glaube nicht, daß ein Erwachsener es so schön hat wie ich.” “Dagegen gibt es sicherlich kein Mittel”, lachte Vater. “Nein”, sagte Frida, und ihr Gesichtchen wurde plötzlich sehr ernst. “Aber man braucht ja nicht so wie die andern Menschen zu werden. Ich will ge nau wie du werden.” Der Vater wandte den Kopf und lächelte aber mals zu ihr nieder. “Wollen wir nun gehen?” fragte er. “Bei dem Schneegestöber können wir das Schiff ja doch nicht mehr sehen.” Daheim im Kirchspiel, tief in Finnmarken, gab es niemand, der sich umdrehte und Vater nachsah. Aber hier an der Küste machten die Leu te große Augen, wenn er und Frida in ihrer Lappentracht vorbeigin gen. Man erkannte ja sofort an seinem Gang, seiner Haltung und der hohen, ein wenig vornüber geneigten, sportgestählten Gestalt, daß er kein Lappe war, und wenn er sich näherte, musterten neugierige Blik ke sein Gesicht – die scharf geschnittenen Züge, die etwas gebogene Nase, die klaren blauen Augen, die kurzen, ziemlich hellen Haare, die an den Schläfen unter dem Sternenhut zum Vorschein kamen. All das verschlangen die neugierigen Augen im Nu, aber dann wurden sie vor dem leicht spöttischen Lächeln, das bei solchen Gelegenheiten um Va ters Lippen spielte, rasch niedergeschlagen. 2
Das Mädchen an seiner Seite war genau so typisch norwegisch – ei ne Flut von kurzen, blonden Locken drang unter dem Sternenhut her vor; die hellen Augen strahlten vor Lebensfreude und Abenteuerlust; das Naschen ragte keck zum Himmel empor, und das kleine Persön chen gab sich alle Mühe, mit den langen Beinen seines Vaters Schritt zu halten. Manchmal drehte Frida sich nach den Vorübergehenden um und lachte; dann war immer der eine oder andere da, den sie dabei ertapp te, wie er ihr und dem Vater nachstarrte, und der es alsdann sehr eilig hatte, weiterzugehen. “Niemals Tiere necken”, sagte Vater mit einem kleinen vergnügten Lachen. “Vergiß nicht, daß die Leute nicht ge wöhnt sind, Menschen in unserer Tracht hier unten an der Küste zu sehen, wo es dank dem warmen Golfstrom nicht viel kälter ist als im Süden.” “Sie sehen doch die Berglappen, wenn sie im Sommer mit ihren Rentieren herkommen”, wandte Frida ein. “Ja, aber nicht in Pelzklei dung. Denn wenn die Berglappen merken, daß in den Bergen Schnee gefallen ist, treiben sie die Rentiere wieder ins Hochland zurück. Nur die Kranken und ganz Armen bleiben ohne Rentiere und Zelt hier an der Küste; aber sie geben sich alle Mühe, die norwegischen Sitten nachzuahmen, und vergessen sehr bald, daß sie früher ein anderes Le ben geführt haben.” Augenblicklich befanden sich die Berglappen auf dem Weg ins innere Hochland. Gestern, als Mutter und Vater mit Fri da und Bergliot in zwei Pferdeschlitten über das Hochgebirge herge fahren waren, hatten sie plötzlich eine Rentierherde in geringer Ent fernung vom Wege gesehen. Die Schlitten hatten angehalten, damit die beiden Fortreisenden den hübschen Anblick noch einmal genießen konnten, und der Lappe Anders, Vaters zuverlässigster Begleiter, hatte gesagt: “Nun ist der Winter unterwegs; bald können wir wieder mit den Rentieren fahren.” Frida machte ein paar Laufschritte, um sich mit dem Vater auf gleicher Höhe zu halten. Da kam ihnen mit einem Male jemand auf Skiern entgegen, eine kleine, gewandte Frau in Anorak und Pelzmütze, begleitet von einem schmächtigen Manne in Vaters Alter – und wie die beiden glotzten!
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“Das muß ein Lehnsherr aus dem Innern sein”, murmelte die Frau so laut, daß Frida nicht umhin konnte, die Worte zu verstehen. “Man sieht, daß es ein Norweger ist.” “Lehnsherr, was du nicht sagst!” pol terte ihr Begleiter und strebte geradewegs auf den Vater und Frida zu. “Nein, das ist wahrhaftig keiner; das ist mein guter Freund, der Doktor Gylseth.” Ein freudiges Lächeln des Erkennens glitt über Vaters Gesicht. “Bist du's wirklich, Leif!” rief er und blieb überrascht stehen. “Wie zum Kuckuck kommst du denn in diese Gegend?” “Wir müssen doch dafür sorgen, daß euch Lappen etwas Kriegs kunst beigebracht wird”, lachte Oberst Harrang. “Hast du denn noch nicht gemerkt, daß in Europa Krieg ausgebrochen ist?” “Hoffen wir nur, daß wir davon verschont bleiben”, versetzte Vater. “Das weiß man nie. Aber darüber können wir daheim am Kaffee tisch sprechen – nicht wahr, meine Liebe?” Der Oberst hatte sich an seine Frau gewandt. “Begrüßt euch mal, ihr beiden. Und das ist wohl dein Töchterchen? Guten Tag, Kind. – Schneewetter im September ist etwas Neues für uns; da mußten wir hinaus und versuchen, ob unsere Skier zu dieser Jahreszeit überhaupt gleiten. Daß ich aber gleich mei nem alten Kameraden von der Kriegsschule in die Arme laufen würde, hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen. Kommt nun mit – das ist ein Befehl.” “Also gut”, lächelte Vater. “Sonst müssen wir noch Buße zahlen. Wir haben soeben meine Frau und meine älteste Tochter zum Schiff begleitet.” “Wie gerne hätte ich die beiden kennengelernt!” rief der Oberst. “Ja, sag mal! Warst du denn all die Jahre über in dieser gottverlasse nen Gegend vergraben?” Vater blickte den Freund von der Seite an und zog die Augenbrauen ein wenig hoch. “Wenn du erst einmal ein paar Jahre hier gelebt hast, wirst du entdecken, daß diese Gegend kei neswegs gottverlassen ist”, sagte er still. “Aber du bist vergessen worden”, entgegnete der Oberst eifrig. “Du hättest bei dem glänzenden Examen, das du abgelegt hast, rasch Ober arzt oder ein berühmter Spezialist werden können. Statt dessen bist du hierher gezogen, um läppischerweise Lappen zusammenzuflicken.” Er 4
lachte laut. “Du vergeudest deine Zeit.” “Glaubst du?” fragte Vater ruhig. Da flammte es in Frida auf. Daß jemand behaupten konnte, Vater vergeude seine Zeit, Vater, dessen Arbeitslast und Wirkungsfeld sich mit jedem Jahr vergrößerten! Aber sie durfte wohl nichts sagen, das hätte Vater nicht gemocht. Im Hause des Obersten saß sie stumm am Kaffeetisch und lauschte dem Gespräch der Erwachsenen, das ihr fremdartig und merkwürdig vorkam. Der Oberst erwies sich als sehr tüchtig darin, sich all der ehemaligen Kameraden zu erinnern, die es zu etwas gebracht hatten, mochten sie nun Schiffsreeder, Grubendirektoren oder Besitzer von Riesenfarmen in Kalifornien geworden sein oder eine glanzvolle Kar riere als Diplomaten gemacht haben. “Das ist ein Mann, der heute eine halbe Million wert ist”, sagte er von dem Letzten, der an die Reihe gekommen war. “Und du… Erzähl mir nun, was du angefangen hast.” “Das wird dich sicher nicht interessieren”, antwortete Vater lächelnd. “Ich habe mein ganzes Leben unter primitiven Menschen verbracht, und ich erhoffe nichts anderes, als daß ich sie eines Tages noch etwas besser verstehe.” “Du opferst dich wirklich auf”, sagte der Oberst an erkennend, “ja, wahrhaftig. Wir waren damals alle ziemlich neidisch, als du dich mit unserer gefeiertsten Konzertsängerin verheiratetest. Herrschaft, wie wunderbar sah sie aus! Wie hat sie es nur über sich gebracht, sich in all diesen Jahren von allem möglichen auszuschlie ßen?” “Vielleicht fand sie gar nicht, daß sie von allem möglichen aus geschlossen wäre”, versetzte Vater. “Hier oben erlebt man so viel; das kennst du alles noch nicht, aber du wirst es schon noch erfahren…” “Wir haben nicht die Absicht, lange zu bleiben”, fiel der Oberst ein. “Dieses Kommando soll nur ein Sprungbrett zu etwas Besserem sein.” Frida begegnete ganz kurz Vaters Blick; die Andeutung eines Lä chelns wurde zwischen ihnen ausgetauscht. In ihrem Innern aber gluckste ein Lachen über diese ulkigen Menschen, die hinter belanglo sen Dingen herjagten und Vater gar nicht verstanden. Sie war froh, als Vater aufbrach. Der Oberst folgte ihnen auf den Flur hinaus und sah staunend zu, wie sie sich durch den Rentierpelz zu dem kleinen Kopfloch oben durchkämpften. 5
“Wäre es nicht viel praktischer, wenn sich der Pelz aufknöpfen lie ße?” fragte er. “Dann kommt der Schnee hinein”, erklärte Frida. “Pah, das bißchen Schnee”, entgegnete er. “Ich glaube, ihr braucht einen Reformator wie mich. Übrigens werde ich wohl einige Inspektionsreisen ins Landes innere machen müssen; da bleibt mir wahrscheinlich nichts anderes übrig, als mir ein paar Zugrentiere zuzulegen. Es heißt ja, daß man in den Bergen mit Pferden nicht sehr weit kommt. Nun, darüber kann man mit dir sicher nicht reden, Ivar; davon verstehst du wohl nichts… ich muß mich an einen Fachmann wenden…” “Fahr nur nicht an meiner Türe vorbei, wenn du in meine Gegend kommst”, sagte Vater lächelnd und streckte die Hand aus. “Es wäre mir ein Vergnügen, dich wiederzutreffen”, versicherte der Oberst freudig und drückte ihm die Hand zum Abschied. Der Schnee knirschte unter ihren Rentierschuhen, als sie in der Dämmerung rasch dahingingen. Frida atmete erleichtert auf. “Es ist dir hoffentlich klargeworden, was für einen unbedeutenden Menschen du zum Vater hast”, bemerkte Doktor Gylseth mit einem fröhlichen und knabenhaften Lachen. “Wie gräßlich ist es, alles mit dem gleichen Maßstab zu messen!” entfuhr es Frida. “Das klang ja, als gälte es nur, sich mit den Ellenbogen den Weg zu bahnen, um an die Spitze zu kommen.” “Ja, solche Leute haben es sicher nicht lustig”, meinte Vater kopf schüttelnd. “Immer ist etwas da, das sie nicht einholen können.” Der Omnibus war schon voller Lappen, als sie anlangten. Bei Va ters Anblick flog ein frohes Lächeln über ihre Gesichter, und viele standen auf, um ihm und Frida ihren Platz anzubieten. Dann ging die Fahrt los. Wenn aber bei einem Halt eine Frau hereinkam, trat Vater ihr gleich seinen Sitz ab, und flugs sprang ein andrer Lappe für ihn auf. “Es endet noch damit, daß ich ihnen beibringe, für Frauen aufzuste hen”, flüsterte er Frida vergnügt ins Ohr. Tatsächlich saßen dann alle sehr gespannt da und warteten, ob der Arzt nun wirklich auch für die 6
fette, alte, zahnlose Lappenfrau aufstehen würde, die beim nächsten Halt einstieg. Vater hatte sich gerade halbwegs erhoben, als ringsum ein Kichern ertönte und ein junger Bursche ihm die schmutzige Hand auf die Schulter legte. “Jetzt sollst du uns nicht mehr zum Narren halten”, murmelte er. “Sie sitzt hier.” Dann begannen scherzhafte Bemerkun gen zwischen Vater und den übrigen Fahrgästen hin und her zu gehen, während das Auto langsam von dem tiefen Fjord in die Berge vor drang, zwischen den ersten hohen Schneewällen des Jahres hindurch, die der Schneepflug zu beiden Seiten des Weges aufgeworfen hatte. Der Omnibus machte kurz darauf abermals halt, um zwei norwegi sche Gemeindeschwestern aufzunehmen, und jetzt verstummte die Unterhaltung. Die scheuen Lappen zogen sich in sich selbst zurück; teilnahmslos saßen sie da und starrten in den Schnee hinaus, und ihre verschlossenen Gesichter verrieten nicht, was sie dachten. Vater ge genüber zeigten sie sich natürlich und frei, denn er redete ihre Sprache und verstand ihre Gedankengänge; zu ihm hatten sie Vertrauen, und sie wußten, wer er war, obwohl sein Bezirk weit entfernt lag; sein Ruf war mit den umherstreifenden Berglappen bis zur Küste gedrungen. Diese beiden fremden Gemeindeschwestern aber erweckten ihr Miß trauen und ließen sie auf der Hut sein. Durch den Lärm des Motors rief Frida in Vaters Ohr: “Was heißt das eigentlich, wenn ein Mensch ‚gefeiert’ ist?” Und Vater rief zurück: “Dann ist man berühmt, und alle Leute liegen einem zu Füßen, wie man so sagt.” Worauf Frida in Gedanken versank über das, was der Oberst von ih rer Mutter gesagt hatte. Sie waren nur ein kurzes Stück weitergefahren, als sie zum letzten mal haltmachten, vor dem Hause des Postmanns. Von hier aus sollte es am nächsten Morgen mit dem Schlitten weitergehen. Die beiden Gemeindeschwestern stürzten zum Ausgang, aber Vater kam ihnen zuvor und nahm sie im Schnee in Empfang. “Kann ich den Damen irgendwie behilflich sein?” fragte er; doch sie schüttelten die jungen Köpfe mit den strengen Frisuren und setzten eine ebenso verschlosse ne Miene auf wie die Lappen. Mit einem erschrockenen Seitenblick auf die vielen Pferdeschlitten, die vollbepackt im Schnee auf den neu 7
en Tag warteten, eilten die beiden in der Dunkelheit ins Unterkunfts haus hinüber. Vater trat erst beim Postmann ein, und Frida folgte ihm auf den Fer sen. Er öffnete die Türe zur Küche und warf einen Blick auf die Lap pen, die in ihren Kleidern auf dem Boden schliefen. In einer Ecke lag eine Mutter mit zwei hellhaarigen Buben, die an eine Hündin mit ih ren Welpen erinnerte. Sie schlummerten so tief und fest, wie nur Ber glappen schlafen können. Man konnte die Tür zuknallen und mit Ei mern rasseln, ohne daß sie aufwachten. “Da ist Anders”, sagte Frida und wies mit dem Fuß auf ein Pelzbündel am Boden. “Willst du mit ihm sprechen?” “Wir müssen hören, ob er alle Waren von der Küste mit hat”, erwiderte Vater, und Frida begann Anders mit ihren spitzschnabligen Schuhen zu knuffen. Aber das half bei Anders nicht, wenn er schlief; es gab nur ein einziges wirksames Mittel. Sie beugte sich nieder, packte ihn unter den Armen und richtete ihn in sitzende Stellung auf. “Nun ist es bald soweit”, sagte sie über die Schulter zu Vater. “Allmählich kommt Leben in ihn. – He, Anders, sei so gut und wach auf. Vater will mit dir reden.” Einen langen Seufzer stieß An ders aus, und dann rührte er sich. Sein großes, gutmütiges Gesicht kämpfte mit dem Schlaf, doch endlich schlug er die Augen auf. “Hast du alles bekommen?” erkundigte sich Vater. “Ja, es liegt alles in dem einen Schlitten.” “Auch die Medikamente?” “Die sind in der pelzgefütterten Kiste.” “Und die Post?” “Der Postfahrer war schon damit abgefahren, als ich mit den Waren ankam.” “Dann erhalten wir sie, wenn wir heimkommen”, sagte Vater. “Das macht gar nichts. Wir fahren morgen, sobald es hell ist. Du mußt dich beizeiten um die Pferde kümmern.” “Jawohl”, antwortete Anders und fiel zurück wie ein lebloses Bün del, als Frida ihn losließ. Gleich darauf schlief er wieder. Draußen auf dem Gang stand eine abgearbeitete Norwegerin an der Wassertonne und trank Wasser aus dem Schöpfer. Es war die Frau des Postmanns. Sie ließ den Rest des Wassers in die Tonne zurückplat schen und wandte sich eifrig an Vater. 8
“Oh, das ist gut, daß Sie kommen, Herr Doktor. Mein kleiner Junge ist sehr krank. Er kann nichts schlucken, und mir tut es auch schon im Hals weh. Ich versuchte Sie schon gestern zu erreichen, aber der Om nibus wendete gerade, als Sie mit dem Schlitten ankamen; deshalb klappte es nicht.” “Frida”, sagte Vater, “halt bei der Wassertonne Wacht und laß nie mand daraus trinken, bis ich weiß, was dem Jungen fehlt.” Er wandte sich an die Frau: “Wo ist er?” Frida setzte sich auf die Treppe und machte sich darauf gefaßt, ein Weilchen warten zu müssen. So war Vater nun einmal: er nahm sich keineswegs die Mühe, auch nur zu fragen, warum man nicht sofort einen Boten zum Ankerplatz ge schickt habe, anstatt darauf zu warten, daß er auf dem Rückweg vor beikäme. Plötzlich öffnete er die Türe spaltbreit und rief ihr zu: “Geh und wecke Anders, und sag ihm, er solle die Wassertonne in Ordnung bringen. Sie ist verseucht.” “Jawohl”, gab Frida zurück und gehorchte lächelnd. Anders liebte diese Arbeit und hatte sie schon hundertmal 9
besorgt. “Vaters Wassertonnen-Prophet”, hatte Bergliot ihn im Scherz getauft; denn Anders goß nicht nur das Wasser aus und desinfizierte Tonne und Schöpfer, wo es eine ansteckende Krankheit gab, sondern er pflegte auch phantastisch klingende Geschichten zu erzählen von den winzigen Teufelchen, die in den Mundwinkeln, auf der Zunge und den Lippen der Kranken saßen und im Nu auf den Schöpfer sprangen, wenn man daraus trank. Und sie ertranken durchaus nicht, einerlei, wie tief das Wasser in der Tonne war; sie lagen auf dem Rücken und schwammen herum, die Beine übereinander geschlagen, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Und wenn dann ein anderer Mensch aus dem Schöpfer trank, kamen sie rasch herbeigeschwommen, hüpften hinauf, und bevor man sich's versah, hatte man sie im Munde und alsogleich im Magen. Was sie da für Unheil anrichteten, merkte man recht bald. Dann begann nämlich das Blut viel zu schnell durch den Körper zu fließen, es wurde einem heiß und kalt, der Kopf fing an zu schmerzen, und man mochte nichts essen, man erbrach sich, und man bekam ei nen Ausschlag oder Halsweh. Aber Anders hielt die Leute nicht etwa zum Narren – der Doktor hatte ihn gelehrt, sich vor den Teufelchen in acht zu nehmen. Deshalb sorgte er dafür, daß auch die andern wußten, wie gefährlich sie waren. Frida hörte Vater am Telephon sprechen; gleich darauf kam er in den Gang hinaus. “Wir können nun sicher sein, daß es demnächst eine Angina-Epidemie gibt”, sagte er. “Der Postfahrer hat von dem Wasser getrunken, außerdem mindestens ein Dutzend Lappen, die teils zu den Kaufleuten, teils zu den Gebirgsstationen unterwegs sind. Na, es ist nur gut, daß wir den Ansteckungsherd gleich zu Beginn entdeckt ha ben. Wollen wir hinübergehen und schlafen?” “Ist der kleine Junge sehr krank?” erkundigte sich Frida. “Ja, aber ich habe ihm ein Mittel gegeben, so daß er morgen über das schlimm ste Stadium hinweg sein wird.” Draußen herrschte eine solche Dun kelheit, daß Frida sogleich in einen der Schlitten hineinrannte, die fer tiggepackt vor dem Stall standen. Dann stampften sie im Vorraum des Unterkunftshauses den Schnee von den Rentierschuhen, worauf eine Frau, die sie gehört hatte, herausgestürzt kam; sie trug einen Schlaf rock, und auf ihrem Rücken baumelte ein dicker Zopf. 10
“Meine Güte, nun kommt der Doktor doch!” rief sie betroffen. “Und jetzt ist Ihr Zimmer von zwei Gemeindeschwestern besetzt! Ich fragte die beiden, ob sonst niemand mit dem Omnibus gekommen sei, und sie antworteten, daß sie das nicht glaubten. Sie sind von Bergen und sollen morgen zu einem Krankenhaus tief im Innern von Finn marken weiterfahren. Offenbar sind sie um einen Tag zu früh von da heim abgereist, denn ihr Zimmer war erst für morgen bestellt. Sie ver langten auch einen Schlüssel zur Tür, aber wir haben ja gar keine Schlüssel. Und sie wollen weder Rentiermilch trinken noch Rentier fleisch essen.” “Sagten sie wirklich, daß wir nicht mitgekommen sei en?” brach Frida verärgert los. “Sie wußten doch recht gut…” Weiter kam sie nicht, denn Vater versetzte ihr einen kleinen Stoß in den Rük ken, und dieser Puff bedeutete: Halt den Mund! “Es ist gut, daß Sie ihnen mein Zimmer gegeben haben, Frau Peter sen”, sagte er. “Es wäre eine Sünde gewesen, den beiden einen Platz auf dem Fußboden zuzuweisen. In der andern Stube sind ja zwei Prit schen – was können wir also mehr verlangen? Frida und ich haben es wahrhaftig nicht oft so bequem und gemütlich wie hier…” “Ja, es soll ja in Finnmarken ziemlich primitiv sein”, nickte die Frau, “nach dem, was man so hört. Aber nun will ich Ihnen rasch ein Abendessen richten – ich war gerade im Begriff, zu Bett zu gehen.” “Wir können uns schon selber etwas zusammensuchen”, meinte Va ter. “Das fehlte gerade noch!” entgegnete sie entrüstet. “Sie haben si cherlich in der Post einen Krankenbesuch gemacht – und da sollten Sie um Ihr Abendessen betrogen werden? Ihre Sachen habe ich schon in die andere Stube gebracht; aber die Pritschen sind noch nicht in Ordnung.” Sie eilte in die Küche, leise vor sich hin murmelnd. Als sie allein waren, sah Frida den Vater an. “Begreifst du, warum die beiden Schwestern uns das Zimmer weggenommen haben?” fragte sie aufgebracht. “Noch dazu, wo du ihnen deine Hilfe angeboten hast!” “Ja, das begreife ich recht gut”, antwortete Vater und schlüpfte aus seinem Rentierpelz. “Die beiden haben eine Todesangst vor all dem Neuen, in das sie da geraten sind – schon die Fahrt im Omnibus mit den Lappen muß sie in Schrecken versetzt haben. Und dann gibt 11
es einen Aufenthalt hoch oben in den Bergen in der Dunkelheit unter lauter unheimlichen Menschen, die ein langes Messer im Gürtel tragen und sie scheel anblicken. Die Schwestern wissen natürlich nicht, daß wir hier andere Lebensregeln haben als die Menschen im Tiefland, wo diejenigen, die zuerst ein Hotel betreten, Zimmer erhalten, während die andern sehen müssen, wie sie eine Unterkunft finden. So hatten sie ganz einfach Angst, ohne Dach über dem Kopf dazustehen, und des halb vergaßen sie wahrscheinlich, daß noch mehr Norweger mit dem Omnibus gekommen waren – falls unsere Lappentracht nicht schuld an dem Irrtum ist. In einem Jahre werden die beiden ganz anders sein; dann haben sie durch die Arbeit in der neuen Umgebung gelernt, daß man andere Leute nicht einfach draußen im Schnee kampieren lassen kann, nur weil man zufällig als erster in einer Unterkunftshütte ange langt ist. Dann wird es ihnen ebenso natürlich sein wie dir und mir, einen Schlafraum mit andern Menschen zu teilen, und sie werden kei ne Angst mehr haben, als letzte anzukommen. Aber laß sie jetzt nur ruhig schlafen. Ich bin recht froh, daß sie da sind, denn ich werde mir sogleich vom Krankenhaus die Erlaubnis ge ben lassen, sie ein paar Tage hierbehalten zu dürfen. So können wir die kranke Postfrau von den vielen Lappen fernhalten, die Waren und Post holen kommen und in ihrer Küche schlafen und essen. Die beiden Schwestern haben sicher eine gute Ausbildung genossen, und sie sind nach Finnmarken gekommen, um sich für andre Menschen aufzuop fern – das dürfen wir nicht vergessen!” Als sie nach dem Abendessen in den Schlafraum hinaufkamen, fan den sie ein lustig flackerndes Holzfeuer vor. Ein Kupferkessel auf dem Ofen summte munter, und auf den beiden Pritschen, die an den Wänden standen, lagen einladende Rentierfelle. Frida setzte sich auf die eine Pritsche und begann ihre Gamaschen wickel abzubinden, die sie dann zusammenrollte, damit sie für den nächsten Tag bereit waren. Sie zog die spitzschnabligen Schuhe aus und holte das Binsengras daraus hervor, um es am Ofen zu trocknen. Hierauf streifte sie die straffsitzenden Fellgamaschen ab und entnahm ihrem Rucksack einen warmen Pyjama. Einen Augenblick blieb sie vor dem fleckigen Spiegelchen stehen, das an der Wand hing. Man 12
konnte sich leicht so stellen, daß die Flecken gerade auf den Zähnen saßen, so daß es aussah, als wäre man zahnlos. Aber deshalb kam man doch nicht um die Zahnbürste herum, wenn Vater in der Nähe war. Sie legte ihren Schlafsack auf die eine Pritsche, und Vater warf ihr noch eine warme Reisedecke zu. Ihren Pelz schob sie sich als Kissen unter den Kopf, nachdem sie ihr blaues Wams zusammen mit dem Sternen hut an die Wand gehängt hatte. Man hätte beinahe meinen können, daß Vater wußte, womit ihre Gedanken sich den ganzen Nachmittag beschäftigt hatten, denn als das Licht gelöscht war, begann er von sich selbst zu erzählen – von der Zeit, als er fünfzehn Jahre alt gewesen und wie jetzt Frida, von dem Leben, das er geführt, und von den Erwartungen, die er hinsichtlich der Zukunft gehegt hatte. Sein Vater war Pfarrer in einem kleinen Nest am Eismeer gewesen, mit sieben Kindern. Beide Eltern stamm ten aus Oslo und fühlten sich hoch da oben an Norwegens nördlichster Küste von allem abgesperrt. Ihre Kinder sollten um jeden Preis nach Süden gehen, um sich dort zu bilden und zu studieren; kein Opfer war dafür zu groß. Jedesmal wenn eines fortgeschickt wurde, mußten die am Eismeer Zurückbleibenden den Leibriemen enger schnallen. Als Ivar, Fridas Vater, fünfzehn Jahre alt war, kam er an die Reihe. Er fuhr im Zwischendeck nach Trondheim, wo der Bruder seiner Mut ter als Pfarrer amtete. Doch als die Sommerferien anbrachen, nahm er auf einem nordwärts fahrenden Schiff Heuer, um heimzukommen. Seeleute hatte er seit seiner frühesten Kindheit gekannt, Eismeer fischer und Robbenfänger, sogar Fänger, die nach Spitzbergen auf die Pelzjagd zogen. Aber die Lappen waren ihm stets als ein erbärmliches Völkchen erschienen. Er sah ja nur solche, die tief gesunken waren, zerlumpt und schmutzig von Haus zu Haus zogen, um zu betteln, oder draußen vor der Stadt einen Fetzen von einem Zelt aufschlugen, worin sie mit ihren Kindern und mit räudigen Hunden hausten, um den Tou risten Geld zu entlocken, indem sie ihnen die Zukunft vorhersagten. In jenem Sommer lernte er einige norwegische Ingenieure kennen, die den Auftrag hatten, auf der Halbinsel Varanger geologische Untersu chungen anzustellen. Diese Männer nahmen Ivar als Gehilfen mit, im Vertrauen darauf, daß er ihre Geheimnisse nicht verraten würde. Das wurde seine erste Begegnung mit den Berglappen – mit dem freien 13
Nomadenvolk, das im Sommer seine Rentiere zu Tausenden ans Meer treibt, fern von bewohnten Stätten; und je mehr er von ihrem Leben und Treiben sah, desto mehr ergriff ihn das Geschaute. Sie waren ja ein Teil von Norwegen wie er selbst – ein vergessenes Volk, schien es ihm damals, das seine eigenen, einsamen Wege ging und sich von andern Menschen fernhielt. Langsam formte sich der Gedanke in ihm, daß er unter ihnen wirken wollte, wenn er erst einmal erwachsen war. Und er erzählte Frida von der letzten Erinnerung, die er von dort mitnahm, als der kurze Polarsommer vorbei war und die Halbinsel Varanger sich wieder leerte, weil die Rentierherden zurück getrieben wurden. Er hatte auf dem Gipfel eines niedrigen Berges ge standen und auf eine solche Herde hinabgeblickt, auf ein wogendes Meer von mausgrauen Rücken. Dabei hatte er dem Klang der Rentier schellen gelauscht wie dem Bellen der kleinen, eifrigen Hunde, die am Rande der Herde dahinliefen und die Ausbrecher zurücktrieben; da zwischen ertönten die kurzen, klaren Rufe der Lappen. Wie durch ein Wunder befand sich immer ein Rentierknecht gerade dort, wo eins der Tiere verkehrt lief; seine kurzen Beine trugen ihn rasch von der Stelle, sein Wurfseil sauste durch die Luft, ohne jemals das Ziel zu verfehlen, und es war, als ob die Hunde jedes Wort verstünden, das man ihnen zurief, so vollendet arbeiteten Menschen und Hunde zusammen. Vaters Herz hatte ungestüm geklopft, als der alte, weißbärtige Lap pe, der mit dem Leittier an der Spitze der Herde schritt, in einen eis kalten Fluß hineinwatete. Ohne Bedenken folgte ihm die ganze Herde und schwamm ans andere Ufer hinüber. Die Frauen und Kinder aber hatten einen großen Umweg um den Wasserlauf herum gemacht, hin auf zum Schnee im Gebirge, wo sie ihren Weg mit dem Lappenschlit ten, dem Pulk, fortsetzen konnten. Die Kleinsten wurden in ihren Wiegen auf den gutmütigsten Fahr-Rentieren festgebunden, und wenn die Größeren von den steilen Aufstiegen müde wurden, setzte man sie in die Körbe, die die Tiere beiderseits trugen. Und da stand er also und sah die Herde vorbeiziehen – ein fünfzehnjähriger Bursche, in dem die Sehnsucht brannte, ihr zu folgen, Sprache und Sitten der Lappen zu erlernen und ihnen etwas von dem zu geben, wovon sie ausgeschlos sen waren. 14
Nach Trondheim zurückgekehrt, begann er sich sogleich eifrig mit der Geschichte der Lappen zu beschäftigen; dabei erkannte er, daß seine Vermutung zutraf: daß sie ein äußerst mißbrauchtes Volk waren. Es gab Zeiten, wo sie drei verschiedenen Ländern Steuern bezahlen mußten. Auch hatte man sie aus ihrer eigentlichen Heimat vertrieben und in die wilden Berge gejagt, wo sie scheu und verschreckt wurden wie die Rentiere, die sie hüteten. Eine Zeitlang wurde Finnmarken als Strafkolonie benützt, so daß sie nicht gerade mit den besten Vertretern der Menschheit zusammenkamen. Das große Mißtrauen, das sie Fremden gegenüber zeigten, hatte also seine natürliche Ursache. “Nun ja”, schloß Vater mit einem kleinen Lachen, “es war nicht ge rade schwer, zu merken, daß sie am dringendsten einen Arzt brauch ten, und deshalb wählte ich diesen Weg. Es stimmt schon, was der gu te Harrang sagte: daß ich Oberarzt oder ein gesuchter Spezialist hätte sein können; aber wir wählen ja stets das Beste, nicht wahr? Und ich habe gewählt: die Lappen.” “Zu meinem Glück”, sagte Frida aus der Dunkelheit. “Danke.” “Oh, bitte, bitte”, lachte Vater. Aber sie konnte noch keinen Schlaf finden. Es gab noch so viel, das sie erst wissen mußte. “Du, Vater”, begann sie nach einer Weile, “erzähl mir doch von Mutter. Stimmt es wirklich, daß sie so berühmt war?” “Ein Kritiker behauptete sogar, daß man eine Stimme wie die ihre in Norwegen seit vielen Jahren nicht mehr gehört hätte.” “Warum haben wir das denn nie erfahren? Ich wußte zwar, daß sie früher gesungen hat, aber ich dachte immer, das sei nichts Besonderes gewesen.” “Deine Mutter hatte ihr ganzes Leben auf ihre Kunst aufgebaut”, sagte Vater. “Ihre Stimme wurde schon entdeckt, als sie noch ein klei nes Mädchen war. Für sie gab es nichts anderes auf der Welt als die Musik; sie bedeutete ihr das Leben selbst. Das Schicksal aber wollte es anders. Eines Tages erkrankte sie an einem ernsten Halsleiden. Als man ihr schonend beibrachte, daß sie nie mehr würde singen können, war es für sie wie ein Todesurteil. Etwas Grausameres hätte ihr nicht 15
widerfahren können.” “Hast du sie jemals singen hören?” fragte Frida behutsam. “Nein, nie”, antwortete Vater. “Ich war ein armer Medizin student, der kein Geld für Konzerte hatte.” “Wie habt ihr euch denn kennengelernt?” “Ich war Assistent in dem Krankenhaus, in dem sie lag. Ärzte und Krankenschwestern wetteiferten darin, sie zu trösten und aufzumun tern; aber ihr Schmerz war zu tief. ‚Was gibt es denn sonst, wofür ich leben könnte?’ fragte sie verzweifelt. – Man erzählte mir von ihr, als ich von einer Ferienreise nach Finnmarken zurückkehrte. Ich war er füllt von all dem, was ich bei den Berglappen erlebt hatte, und ich be richtete ihr alle Einzelheiten, um ihre Gedanken ein wenig abzulen ken. Ehe ich mich's versah, hatte ich ihr auch meine Zukunftspläne verraten, und dann brachte ich ihr einen Stapel Bücher über die Lap pen, eine ganze Bibliothek, die ich im Laufe der Jahre zusammenge tragen hatte. – Eines schönen Tages begrüßte sie mich in der Lappen sprache, als ich ihr Zimmer betrat. Das war das erstemal, daß ich sie lächeln sah – und noch immer scheint es mir, daß es der glücklichste Tag meines Lebens gewesen sei. – Nun ja, und dann wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen; aber wir kamen auch weiterhin zusam men. Unsere Freundschaft war das wunderbarste Erlebnis, das ich je mals gehabt hatte. Ich wuchs an ihrem Vertrauen zu meinen Fähigkei ten.” “Hast du dann um sie angehalten?” forschte Frida atemlos. “Eines Tages fragte sie mich, ob meine Lappen wohl auch eine Krankenpflegerin brauchten”, erwiderte Vater. “Und als ich sie dar aufhin erstaunt ansah, sagte sie ganz leise: ‚Ich habe daran gedacht, Krankenpflegerin zu werden.’ Das war, als hätte sie geflüstert: ‚Ich habe einen neuen Lebensinhalt gefunden.’” Frida stieß einen tiefen, beglückten Seufzer aus. “Wenn ihr euch nicht getroffen hättet, wäre ich nicht ich geworden.” Vater lachte gedämpft: “Ist es schön, du zu sein?” “Ja, herrlich – auch wenn ich nicht wie Bergliot singen kann. Aber ich will ja auch etwas ganz anderes.” “Was denn?” “All das mit den Berglappen.” Sie lag eine Weile still da und dachte nach. Dann bemerkte sie: “Wie sonderbar, daß ich das bis jetzt gar 16
nicht gewußt habe.” “Siehst du, Frida”, begann Vater ernst, “für deine Mutter war ein Leben vorbei, das sie nie mehr aufnehmen konnte. So wünschte sie alle Brücken hinter sich abzubrechen, um das neue Da sein voll und ganz leben zu können.” “Das kann ich gut verstehen”, sagte Frida. “Ja, das war das einzig Mögliche. Danke, daß du mir das alles erzählt hast.” “Wollen wir jetzt nicht lieber still sein?” schlug Vater vor. “Sonst können die beiden Schwestern im Nebenzimmer vielleicht nicht schlafen.” “Ob sie ihr Verhalten wohl bereuen?” flüsterte Frida. “Gute Nacht, Vater.”
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Die Feuertaufe Frida sang in den höchsten Tönen. Dann sprang sie in die tiefste Stimmlage hinab und dann wieder ganz in die Höhe. Das brachte das Pferd in Schwung, so daß es mit dem schweren Schlitten nur so dahin sauste. Frida lachte, daß es gluckste, und packte die Zügel fester. Va ter rief ihr vom anderen Schlitten aus zu: “Nur nicht so wild!”, und Frida versetzte: “Ich bin nicht wild, ich bin nur vergnügt.” Es war herrlich, über den Neuschnee zu jagen und die Schneeflok ken wie Tausende von kleinen, freundlichen Stichen auf den Wangen zu fühlen. Und nirgends ein Haus, nirgends ein Mensch, ringsum nichts als die endlose Weite, kleine, niedrige Berge mit einigen Tan nen und verkrüppelten Birken da und dort – und hinauf und hinunter ging's, hinauf und hinunter, Stunde um Stunde. Eine graue, schwere Luft hing über der Einöde, legte sich auf das Birkengestrüpp und auf die Tannen und verschleierte alles. Durch diese graue Luft bewegten sich die beiden Schlitten rasch vorwärts.
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Frida sang; sie konnte es nicht sein lassen, und jetzt war ja auch zum Glück Bergliot nicht da, die sich dann immer die Ohren zuhielt und rief: “Hör auf, hör auf, du singst wieder ganz falsch!” Vater war ebenso vergnügt, Anders war ebenso vergnügt, und die Pferde waren auch vergnügt. Sie fühlte sich so frei, so glücklich bis zur Ausgelassenheit. Alles war nun anders; daheim konnte sie jetzt wie ein Wirbelwind in die Stube fegen und mit allem herausplatzen, was die Lappen auf der Landspitze gesagt und getan hatten. Sie wurde nicht mehr von einem vorwurfsvollen Blick gebremst, den Mutter oder Bergliot ihr zuwarfen, die beide lauschend vor dem Radioapparat saßen: “Pscht! Wir hören das New Yorker philharmonische Orche ster!” oder: “Pscht! Wir hören Beethoven!” Sie brauchte nicht mehr auf den Zehenspitzen zu gehen, mußte nicht mehr die Türen ganz leise öffnen und schließen, wenn Bergliot ihre klaren Triller sang und Mut ter sie begleitete. Nun, vielleicht würde sie noch dahin gelangen, die Musik ein wenig zu vermissen. Es ließ sich so schön träumen, wenn Mutter abends Klavier spielte und man gerade mit roten Backen und rasch kreisendem Blut von einer Skifahrt zurückkehrte. Man hörte gar nicht richtig hin, aber die Gedanken tanzten mit den Tönen auf wunderlichen Streifzügen in einer unbekannten Welt. Bergliot war sehr hübsch. Fri da konnte das recht gut sehen, obwohl es ihre eigene Schwester war. Aber Mutter war noch viel hübscher; vielleicht nicht gerade wie ein Bild, doch ihre Augen und Züge um den Mund machten sie unver gleichlich schön – all das, was das Leben in ihr Antlitz gezeichnet hat te. Alle Menschen liebten Mutter – sogar die Berglappen. Und nun würden sie sie vermissen… aber sie blieb ja nur einen Winter lang fort, um Bergliots erste Schritte in der Welt der Töne zu überwachen. Im vorigen Jahr hatte Bergliot einmal in Tromsö bei einem Wohltätig keitskonzert gesungen. Dort hatte ein Musikprofessor sie gehört, der nachher zu Mutter sagte: “Diese Stimme dürfen Sie nicht in Finnmar ken verlorengehen lassen – so eine Stimme verpflichtet.” Uff, es war nur gut, daß Frida keine solche Stimme mitbekommen hatte, denn dann mußte man von morgens bis abends üben, das Kon 19
servatorium besuchen, Musiktheorie studieren und alles mögliche Langweilige lernen, Tonleitern bis ins Unendliche singen und sich mit allerlei Lehrern herumschlagen. Allein richtig atmen zu lernen, war schon eine große Kunst. Auch mußte man vor dem Spiegel stehen und darauf achtgeben, daß die Mundstellung nicht falsch war, wenn man “a… ah!” und “o… oh!” und “i… ih!” sang, und dabei durfte man bei leibe nicht über das eigene Spiegelbild lachen! “Tralala… tralala… tralala”, sang Frida im Takt mit dem Trab des Pferdes. Anders hatte die Waren zwar selber heimfahren wollen, und Frida sollte zusammen mit Vater im zweiten Schlitten sitzen. Aber sie hatte so lange gebettelt, bis ihr erlaubt worden war, allein zu fahren. “Kipp nur nicht mit allen Sachen um”, warnte Vater. “Denk an meine kostbaren Medikamente! Fahr bitte voraus, damit ich dich im Auge behalten kann.” Als erstes hatte er am Morgen im Posthaus einen Krankenbesuch gemacht, und dann hatte er die beiden Gemeinde schwestern aus ihrem tiefen Schlaf geklopft, um ihnen Bescheid zu sagen. Sie waren sehr höflich und aufmerksam gewesen, als er ihnen alles erklärte. “Ich hoffe, daß die Damen heute nacht gut geschlafen haben”, sagte er mit einem leisen Lächeln, worauf die eine knallrot geworden war, so daß man sehen konnte, was für ein schlechtes Ge wissen sie hatte. Wäre Frida den Weg nicht schon so oft gefahren, so hätte sie sich gut verirren können, weil seit gestern viel Schnee gefallen war. Solan ge sie der Spur des Postfahrers folgen konnte, war die Sache leicht; aber manchmal gab es gar keine Spur, und dann blieb ihr nichts ande res übrig, als zu mutmaßen. Sie näherte sich nun dem längsten Hang. Frida ließ das Pferd, um das der Dampf wie eine Wolke stand, im Schritt gehen. Hin und wie der sank es in eine Schneewehe, und sie sprang ab, um ihm den Auf stieg zu erleichtern. Sie winkte Vater und Anders zu, die sich tief un ter ihr befanden. Es war nicht mehr weit bis zur Gebirgsstation, wo der Falbe eine wohlverdiente Ruhepause machen konnte. Als sie den Gipfel erreicht hatte, wollte das Pferd sich davonma chen. 20
“He, he!” schrie Frida erschrocken, während sie sich durch die Schneewehen arbeitete. Im nächsten Augenblick warf sie sich auf den Schlitten. Kupferrot im Gesicht vor Anstrengung, und halb liegend, halb sitzend, mit nach außen baumelnden Beinen, leitete sie die Ab fahrt, wobei sie innerlich vor Lachen beinahe platzte. “Ach nein, ach nein, du dummes Tier”, lachte sie und riß an den Zügeln. “Hör gefäl ligst auf, mir den Schnee ins Gesicht zu werfen.” Sie kämpfte wild, um sich richtig hinzusetzen, so daß die Beine nicht mehr nach außen baumelten und ihr Rücken sich gegen Vaters Medikamenten-Kiste stemmte, die nach vorne zu rutschen drohte. Schließlich lag ein ganzer Haufen Schnee unter ihr, und vom Himmel fiel noch immer mehr her ab. Aber dann wurde sie doch aller Schwierigkeiten Meister, und es war gut, daß Vater und Anders nichts gesehen hatten, denn bei einer solchen Abfahrt schätzte man Zuschauer nicht. Lange bevor der zwei te Schlitten eintraf, bog sie in den Hof der Gebirgsstation ein, und sie hatte schon ausgespannt, als der Hüttenwart herauskam. Dann führte sie den Falben in den Stall und rieb ihn mit einem Strohwisch ab, be vor sie ihm Futter holte. Als Vater und Anders anlangten, war sie gerade im Begriff, ihren Schlitten vom Schnee zu säubern. Die ganze Ladung hatte sich ver schoben; aber das mußte Anders in Ordnung bringen. “Wie in aller Welt bist, du denn so viel früher als wir eingetroffen?” fragte Vater und ging mit ihr in die Hütte. “Du hast sicher die Abfahrt viel zu schnell gemacht.” “Das geschah keineswegs freiwillig”, lachte Frida. “Ich weiß nicht, was in den Falben gefahren war.” “Wenn du das letzte Stück auch allein fahren willst, mußt du dich in unserer Nä he halten”, erklärte Vater. “Wir wollen keinen Unfall erleben. Ich brauche dich noch.” “Wirklich?” gab Frida beglückt zurück. Aber da kam der Hüttenwart herbei und störte die Unterhaltung. Mit dem Post fahrer schien etwas nicht zu stimmen. Er hatte in der vorigen Nacht hier geschlafen und war dann bei Tagesanbruch sogleich weitergefah ren; doch bis jetzt hatte er das Kirchspiel noch nicht erreicht. Von dort hatte man angerufen, um zu fragen, wo er denn eigentlich bliebe. Nun, bei dem vielen Schnee, der seit gestern gefallen war, kam er vielleicht nicht so gut vorwärts. Immerhin wäre es gut, zu wissen, ob er über haupt über die Brücken gekommen war. Möglich, daß er hatte umkeh 21
ren müssen und sich jetzt auf dem Rückweg befand. “Wir werden nach ihm Ausschau halten”, versprach Vater. Der Hüttenwart meinte, es sei vielleicht besser, zu warten, bis man wüßte, ob der Postfahrer durchgekommen war; aber er war neu an diesem Platz und kannte Va ter noch nicht. “Was soll denn dann aus meinen Kranken werden?” gab der Doktor zurück. “Nein, nein, wir fahren weiter, sobald die Pferde ausgeruht haben.” Und er blickte seine Tochter mit dem Glanz in den Augen an, den sie so gut kannte. Vater liebte es, vorwärtszukommen, wo andere aufgeben mußten, einerlei, ob er mit Pferden oder Rentieren fuhr. Schlitten und Ladung waren mit einer dicken Lage Schnee bedeckt, als sie in den Hof hinaustraten, um weiterzufahren, und immer mehr Schneeflocken tanzten vom Himmel herab. Die Luft war dicht ver hängt und grau, und man sah kaum ein paar Schritte weit. Anders machte Miene, sich auf den Warenschlitten zu setzen, doch Vater bemerkte: “Laß Frida hinauf. Aber das sage ich dir, mein Kind, du hältst dich knapp vor uns und bleibst stehen, sowie dir der gering ste Zweifel kommt. Das Eis auf dem Fluß und den Seen ist noch nicht sicher, und wenn wir von der Straße abkommen, laufen wir Gefahr, auf Neueis zu landen, das sich unterm Schnee gebildet hat.” Frida war stolz auf das Vertrauen, das Vater ihr entgegenbrachte, und sie fuhr vorsichtig. Anders kam niemals vom Wege ab, doch Va ter wollte wohl sehen, wie sie mit den Schwierigkeiten fertig werden würde. Nun, sie würde ihm schon zeigen, daß sie nicht umsonst ihr ganzes Leben unter Berglappen verbracht hatte. Übrigens war der Falbe auch nicht dumm. Er war schon mehrmals über die Berge zur Küste gelaufen; es war die einzige Straße, die man in diesem Teil von Finnmarken angelegt hatte, und sie führte nur bis zum Kirchspiel. Wollte man weiter nach Norden, Süden oder Westen, so mußte man im Sommer zu Fuß über die Berge wandern oder mit dem Boot auf dem Flusse reisen. Wenn der Schnee fort war, konnte das Postauto bis zum Kirchspiel fahren; aber das war nur drei Monate im Jahre möglich. Dann pries man die Straße und die Brücken über die Wasserläufe, denn wenn sie nicht gewesen wären, hätte man über haupt keine Waren bekommen können. Im Winter hingegen war die 22
Straße überflüssig. Wenn Flüsse und Seen zugefroren waren und der Schnee das Land bedeckte, begannen die langen Reisen mit Rentier und Pulk. Frida sang diesmal nicht. Immer wieder blickte sie zurück, um sich zu überzeugen, daß Vaters Schlitten ihr folgte. Der Falbe war jetzt ziemlich träge und verdrossen, denn man hatte ihn aus dem Stall ge holt, bevor er sich richtig ausgeruht hatte. Aber es bestand nicht der geringste Zweifel, wo die Straße verlief, obwohl der Neuschnee die Spur des Postfahrers längst verwischt hatte. Vielleicht hatte der Post fahrer sich am Morgen nur verschlafen und war zu spät weitergefah ren! Das hätte der Hüttenwart niemals zugegeben, denn die Lappen hielten immer zusammen. Jetzt hatte Frida den halben Weg hinter sich, ohne daß ihr ein Hin dernis begegnet war. Bald näherte sie sich dem Hohlweg durch die Schlucht. Das war der schwierigste Teil der ganzen Reise, und Anders pflegte ihn in voller Fahrt zu nehmen, denn so bewältigte man die ho hen Schneewehen am besten. Sie drehte sich um und rief: “Jetzt kommt der Hohlweg!” Dann zog sie die Zügel straff und feuerte den Falben an. Der ging in Galopp über, als er die Kurve nahm. Vor ihr lag die Schlucht mit dem steilen Abstieg – und da setzte ihr Herzschlag vor Schrecken beinahe aus. Auf halbem Wege gewahrte sie einen umgestürzten Schlitten und ei nen reglos im Schnee liegenden Mann; ein Pferd, das an der einen Schlittenstange angeschirrt war, stand mit dem Rücken gegen den Wind und ließ den Kopf hängen. Um ein Haar wäre sie in voller Fahrt in die Gruppe hineingesaust. Frida handelte, ohne sich lange zu besin nen. Mit ungeheurer Kraftanstrengung zwang sie den Falben mitsamt dem schweren Schlitten nach links die steile Böschung hinauf; un barmherzig ließ sie die Peitsche auf das Tier niedersausen. Einen Au genblick sah es aus, als ob der Gaul die Schwierigkeit nicht bewälti gen würde, doch ihre Peitsche traf ihn wieder, und mit einem Ruck erreichte er die obere Kante des Hanges und setzte alle vier Beine auf den flachen Boden.
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Frida hing mit dem Schlitten über dem Abgrund und peitschte schreiend auf das Pferd los. Da machte es abermals einen Satz vor wärts, der Schlitten hüpfte hochauf und landete, wo er sollte. “Aufpassen! Anhalten!” brüllte sie mit aller Kraft ihrer Lungen dem Vater zu, der sogleich sein Pferd zum Stehen brachte, als er den Fal ben unerwarteterweise hoch oben über der Schlucht auftauchen sah. “Was ist geschehen?” rief er, während Anders auf seinen kurzen OBeinen durch den Schnee watete, um den Falben am Zaum zu packen. “Ich mußte das machen”, rief Frida zurück. “Unten in der Schlucht ist der Postfahrer umgekippt – ich wäre beinahe in ihn hineingefah ren.” Anders hatte inzwischen das zitternde Pferd beruhigt und hielt es fest, so daß Frida hinausspringen konnte. “Ach, Falbe, kannst du mir all die Prügel verzeihen, die ich dir gegeben habe?” murmelte sie; aber es blieb ihr keine Zeit, das Tier zu liebkosen und Abbitte zu tun. Vater benötigte ihre Hilfe. “Du hast dich sehr gut aus der Sache gezogen”, lobte er sie, als sie zusammen den steilen Hang hinunterstiegen, Vater mit seinem Sama riterkoffer in der Hand. Er warf einen Blick auf die Gestalt im Schnee. “Es sieht aus, als hätte er sich auf ein Fell gelegt”, meinte er. “Dann wäre er nicht bewußtlos gewesen. Auf jeden Fall muß ihm etwas Ernstliches zugestoßen sein, sonst hätte er sich von dieser gefährlichen Stelle entfernt.” Jetzt drehte der Lappe den Kopf zu ihnen herum, und ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht, als er die beiden erkannte. “Nun?” fragte Vater, als er sich ihm genähert hatte. “Wo steckt das Übel?” “Im Bein”, antwortete der Lappe. “Es ist sicher gebrochen.” “Du bist doch sonst immer mit Purzelbäumen die Berge hinunterge schossen, ohne dir etwas zuleide zu tun”, bemerkte Vater und befühlte die Fellgamasche. “Und jetzt in all dem Schnee!” “Das ist die Stelle”, ächzte der Lappe und verzog schmerzvoll das Gesicht. 24
“Ja, das fühle ich”, gab Vater zurück. “Wie lange liegst du schon hier?” “Oh, ungefähr drei bis vier Stunden.” “Frierst du?” “Ich bin es gewöhnt, im Schnee zu schlafen, und ich habe ja mein ganzes Fellzeug an.” “Sei froh”, sagte Vater. “Sonst hättest du dir jetzt schon Erfrierun gen geholt.” “Ich rechnete damit, daß du vorbeikommen würdest, aber nicht so zeitig. Ich schleppte mich zu dem Fell, das etwas entfernt von mir lag, doch das war schwer und brauchte seine Zeit.” “Wie hat sich denn das Unglück zugetragen?” erkundigte sich Fri da. “Ich fuhr sehr rasch; das Pferd geriet mit dem Kopf in eine Schnee wehe, und die eine Schlittenstange brach. Wäre mein Bein nicht in den Seitenlatten eingeklemmt gewesen, so hätte ich abspringen kön nen, bevor der Schlitten umkippte.” “Hol einen Skistock und ein Seil”, ordnete Vater an, und wie der Blitz war Frida oben, um den Befehl auszuführen. Anders hatte indes sen die Pferde an zwei großen Felsblöcken festgebunden. “Komm mit und hilf den Schlitten aus dem Wege räumen”, rief sie ihm in aller Eile zu. Vater hatte schon einen festen Verband um die Fellgamasche ge macht, als Frida wieder unten war. “Wir können es uns nicht leisten, das Bein in der Kälte zu entblößen”, sagte er und brach den Skistock überm Knie mitten entzwei. “Hilf mir die Schiene anlegen… nein, halt hier fest… so, ja… halt ganz fest, während ich stramme. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern, wenn er ein bißchen stöhnt.” Anders mußte das Pferd abspannen, ehe er den Schlitten des Post fahrers umdrehen und aus dem Wege schaffen konnte. Das war ein tüchtiges Stück Arbeit, und Vater kam ihm zu Hilfe, während Frida den unruhigen Gaul hielt. “Ich nehme den Mann in meinen Schlitten”, sagte Vater. “Du mußt also schauen, daß du mit Anders zusammen auf dem Gepäckschlitten Platz findest. Und binde das Pferd hinten an.” 25
Nachdem die Schütten zur Unfallstelle gebracht worden waren, tru gen Vater und Anders den Postfahrer im Tragsitz; Frida hielt das Pferd am Zaumzeug, während sie den Verunfallten aufluden, und führte es dann vorsichtig durch das letzte Stück der Schlucht, bis der Weg wieder eben wurde. Es schien, als wäre auf dem vollbeladenen Schlitten nicht genügend Platz für Frida und Anders; aber Anders setzte sich ganz an den Rand, und da er das eine Bein nach außen hängen ließ, ging die Sache doch recht gut. “Wir bringen ihn ins Gemeindekrankenhaus”, entschied Va ter. “Dort ist ein Röntgenapparat, und ich möchte gerne eine Aufnah me von dem Bruch sehen, bevor ich mit der Behandlung beginne.” Das bedeutete, daß Vater nicht mit heimkam. Frida mußte also al lein in das leere Haus zurückkehren. Nun, so konnte sie gleich den Beweis liefern, daß sie dazu imstande war, dachte sie, während sie sich nach Vater umsah. Er mußte auf das gebrochene Bein des Lappen Rücksicht nehmen, und der Schlitten kam nur langsam vom Fleck. Wenn es hügelabwärts ging, lief Frida zurück und führte Vaters Pferd am Zaumzeug Schritt für Schritt hinunter. Sie führte es auch über eine kleine Holzbrücke, wo der Wind den Schnee zu unregelmäßigen Hau fen zusammengeweht hatte. Zwei Stunden später sahen sie das Krankenhaus auf dem Gipfel ei nes niedrigen Berges. Ein letzter langsamer Aufstieg, dann hielten sie vor der Türe, und Frida lief hinein, um die Schwestern zu benachrich tigen. Von hier oben überblickte man das ganze Kirchspiel, das jetzt in sein weißes Schneegewand gehüllt war. Der Fluß beschrieb einen großen Bogen um die paar Holzhäuser, die auf einem Hügel lagen. Es begann zu dunkeln. Die ersten Lichter blinkten hinter den Fenster scheiben auf. Eine schneebedeckte Landspitze erstreckte sich weit in einen See hinaus, die Lappenlandspitze, wo die ansässigen Lappen in primitiven Hütten hausten, die sie sich selber gezimmert hatten. Frida kam es in den Sinn, daß sie auf der ganzen Rückfahrt gar kei ne Berglappen zu Gesicht bekommen hatten. Es geschah allerdings auch sehr selten, daß sie sich mit ihren Rentierherden dem Fahrweg näherten. Und doch wußte sie, daß sie längst zurückgekehrt sein muß ten. Die meisten verließen die Küste, bevor sich das erste Neueis auf 26
den Wasserläufen bildete; denn lag erst einmal eine dünne Eisschicht auf den Flüssen, so ließ sich kein Rentier mehr bewegen, hinüberzu schwimmen, und man mußte warten, bis das Eis die Tiere trug. Dann mußte man das Zelt aufschlagen, und die Zeit wurde einem lang, denn im Tiefland hielt der Winter nicht so rasch Einzug. In Finnmarken aber hatte der Frost schon tüchtig gewirkt; bald konnte man auf dem Eis über den Fluß zum Kirchspiel laufen und weiter über den See zur Lappenlandspitze; dann war man nicht mehr von Brücken und Booten abhängig. Der Herbst war in Finnmarken die Zeit des Reisens und Jagens, bis die Sonne nicht mehr über den Horizont stieg und auch tagsüber Nacht herrschte. Dann begann man im Kalender nachzusehen, wann der Mond aufging, um alle Unternehmungen danach einzurichten. “Du fährst also Frida heim”, sagte Vater zu Anders, nachdem der Patient ins Krankenhaus gebracht worden war. “Ich komme später nach.” Das Haus des Doktors lag auf derselben Flußseite wie das Kranken haus. Der Weg war in den Berghang gehauen. “He, warte! Die Post!” rief Frida und begann nach den Postsäcken zu angeln, die man auf Vaters Schlitten verstaut hatte. “Zuerst müssen wir über die Brücke, damit die Leute ihre Briefe bekommen.” Die Hufe des Pferdes klapperten mit hohlem Klang über die Holz brücke. Frida wünschte sich glühend, daß Fräulein Strand im Posthaus Dienst haben möchte. Fräulein Strand war erst vor kurzem von Trondheim nach Finnmarken gekommen. Sie zählte zweiundzwanzig Jahre und rümpfte die Nase, wenn sie lachte. Sie gab sich große Mü he, die Sprache der Lappen zu lernen, und sie hörte aufmerksam auf Leute, die etwas besser wußten als sie. Als sie vor dem Posthaus halt machten, sprang Frida sogleich ab und stürmte mit zwei Säcken hin ein. “Bitte schön, hier sind die ersten; draußen auf dem Schlitten habe ich noch mehr. Der Postfahrer ist unterwegs verunglückt. Wir fanden ihn mit gebrochenem Bein in einer Schlucht. Vater ist gerade dabei, ihn im Krankenhaus zu behandeln.” Das klang doch wenigstens nach etwas, so daß sogar das alte, sauer töpfische Fräulein Lund, das gerade Dienst hatte, vor Verwunderung Mund und Augen aufsperrte. Sie lief hinter Frida in den Schnee hinaus 27
und rief: “Aber mein gutes Kind, wie konnten Sie denn mit all den Sachen auf dem Schlitten fahren?” “Halten Sie doch bitte das Postpferd”, gab Frida statt aller Antwor ten zurück und machte den Gaul los. Und da stand nun Fräulein Lund mit dem Zügel in der Hand, ohne zu ahnen, was sie mit dem Tier an fangen sollte; denn sie wußte überhaupt nicht, wie man mit Pferden umging. Am liebsten hätte sie einfach den Zügel losgelassen und wäre wieder ins Haus gelaufen. “Sie sollten das Pferd in den Stall bringen”, riet Frida ihr. “Wir wer fen die übrigen Säcke hier auf den Boden.” Fräulein Lund gehörte zu den Leuten, die es für richtig hielten, die Lappen schnöde zu behan deln. Wenn ein Lappe seine Sternenmütze vor sie aufs Pult legte, pflegte sie zu rufen: “Wir wollen euer Ungeziefer hier nicht haben!” Deshalb verdiente sie einen kleinen Denkzettel. Trapp, trapp, trapp! ging es dann wieder über die Brücke und auf den kleinen Bergweg zu, wo der Schnee in großen Haufen lag. Allmählich wurde es immer dunkler; aber oben am Hang schimmerte Licht aus den Fenstern des Doktorhauses. Das Lappenmädchen Marit kam herausgeeilt, bevor noch das Pferd vor dem Hause anhielt. Sie stand in einem großen Lichtschein, klein und zierlich, mit freundlichem Gesicht, das von dem roten Lappen häubchen umrahmt war. “Oh, der Doktor ist gar nicht mitgekommen!” rief sie enttäuscht. “Es sind Patienten da.” “Sie sollen warten”, erwiderte Frida und sprang vom Schlitten hin unter. “Er kommt gleich nach.” Und während Marit ihr mit dem Besen den Schnee abfegte, stand sie auf der Türstufe und schnüffelte, weil ihr ein lieblicher Duft aus dem Flur in die Nase drang. “Oh, Schnee hühner!” jubelte sie entzückt. “Wer hat sie gebracht?” “Ein Berglap pe”, lautete Marits kurze Antwort. “Auf dem Wege von der Küste ha ben sie gut gejagt. Er hat ein großes Bündel mitgebracht. Sein Finger ist so dick!” Damit hielt Marit zwei schmächtige Fingerchen weit aus einander. “Nun übertreibst du wieder”, sagte Frida. “So dick kann ein Finger überhaupt nicht werden!” 28
“Wart nur, bis du ihn zu sehen bekommst”, versetzte Marit und lief hinter ihr ins Haus, wo sie Frida dann half, den Rentierpelz über den Kopf zu ziehen. “Glaubst du etwa, daß ein Berglappe den ganzen lan gen Weg im Pulk reisen würde, bevor das Eis sich gebildet hat, wenn sein Finger nicht so dick wäre?” fragte sie beleidigt. “Er weiß doch, daß die Zugrentiere jetzt halbwild sind, weil sie den Sommer über Ru he gehabt haben. Und er weiß auch, daß er selber unentbehrlich ist, wenn es gilt, beim Zug über das Gebirge die Rentierherde zusammen zuhalten. Glaubst du wirklich, daß er seine Leute verlassen würde, wenn sein Finger nicht so dick wäre?” Wieder zeigte Marit an, wie geschwollen der Finger des Berglappen war. “Vorhin hast du mehr angegeben”, entgegnete Frida und warf sich in einen Sessel. Marit kniete vor ihr, um ihr die steifgefrorenen Gamaschenbänder abzuwik keln. Dann zog sie ihr die Pelzstiefel aus und verschwand damit; kurz darauf kehrte sie mit einem Paar weicher Rentierschuhe zurück. Frida ertappte sich dabei, daß sie lauschte, ob nicht aus dem Wohn zimmer Gesang und Musik herüberdrangen. Es berührte sie doch recht sonderbar, daß Mutter und Bergliot fort waren. “Du, Marit”, sagte sie, “ich gehe jetzt hinauf und lege mich ein biß chen hin, bis Vater kommt.” Ganz plötzlich hatte die Müdigkeit sie überfallen. Daran war die Zimmerwärme schuld. Anders beschäftigte sich damit, die Einkäufe ins Haus zu schaffen; aber er sprach nicht mit Marit, obgleich sie seine Tochter war. Offen bar hätte er das unter seiner Würde gefunden. Frida streckte sich auf dem Bett aus und schloß die Augen. Ob Va ter nach der Schlittenfahrt nicht ebenfalls müde war? Darauf nahm er nie Rücksicht, denn es gab immer so viele Menschen, die seine Hilfe benötigten. Wie herrlich war es, sich auszuruhen… Mit jähem Ruck fuhr sie auf. Unten ertönte Vaters Stimme. “Ninna!” rief er, daß es durchs ganze Haus klang. Verwirrt sprang Frida vom Bett und tastete nach dem Lichtschalter. Es war stockdun kel – sie mußte lange geschlafen haben. Nun wurde die Stimme abermals laut. “Fri-i-da!” “Ja, ja!” antwortete sie schlaftrunken und steckte den Kopf zur Tür hinaus. “Wieso riefst du nach Mutter? Sie ist doch gar nicht hier.” 29
“Das geschah aus alter Gewohnheit”, sagte Vater, der unten in der Diele stand. “Beeil dich und komm mir helfen.” Damit ging er wieder in sein Sprechzimmer. Fridas Herz klopfte wild. Was mochte das nur sein, wobei sie ihm helfen sollte? Jedenfalls war es etwas, womit er nicht allein fertig zu werden vermochte. Sonst pflegte Mutter ihm zur Hand zu gehen. Sie war eine sehr tüchtige Assistentin und niemals verwirrt oder ängstlich. Sie konnte bei den schlimmsten Fällen zuse hen, ohne daß ihr schlecht wurde. “Die armen Menschen brauchen mich ja”, pflegte sie zu sagen. “Daran denke ich immer.” Frida aber hatte keine Ahnung, wie man mit kranken Lappen umge hen mußte, und sie fürchtete sich ein wenig vor Blut. “Kommst du endlich?” erklang Vaters ungeduldige Stimme von un ten. “Ich bin schon unterwegs”, rief Frida zurück, und sie nahm all ihren Mut zusammen, während sie die Treppe hinuntereilte. Dann stellte sie fest, daß der Patient der Lappe mit dem schlimmen Finger war – der, welcher das Bündel Schneehühner mitgebracht hat te. Der Finger war blau und grün und schwarz und sah fast so gräßlich aus, wie Marit verkündet hatte. Das Gesicht des Mannes zeigte Fieber röte, und seine Augen glänzten auffallend. “Wie hast du nur mit solch einer Hand dein Rentier lenken kön nen!” rief Frida verblüfft. “Pera hat es mit der linken Hand gelenkt”, erklärte Vater. “Hier, halte die Schale, aber laß sie ja nicht fallen.” Pera lehnte sich auf dem Stuhl bequem zurück, und Frida hielt die Schale unter den bösen Fin ger. Vater schnitt tief in das entzündete Fleisch hinein, so daß der Ei ter hervorquoll. Fridas Knie wurden so sonderbar weich und zittrig. Das ganze Zimmer begann sich um sie zu drehen. Es war noch schlimmer als Seekrankheit. Im selben Augenblick verspürte sie einen Tritt auf die Zehen – oh, einen unglaublich festen Tritt, und als sie aufblickte, sah sie Vaters belustigte Augen auf sich gerichtet. “Du machst deine Sache als Assi stent recht gut”, bemerkte er munter. Da war sie kuriert. 30
Später, als er am Waschbecken stand und sich die Hände tüchtig bürstete, sprach er über die Schulter zu ihr. “Das war die Feuerprobe”, sagte er, “und du hast sie bestanden, weshalb ich dich als Assistent anstelle. Dein Gehalt beträgt fünf Kronen im Monat, und es gehört zu deinen Pflichten, mich auf meinen Schlittenreisen zu den Berglappen zu begleiten. Was meinst du dazu?” “Ich könnte es verstehen, wenn ich dir dafür fünf Kronen bezahlen müßte”, stieß Frida überwältigt hervor. “Ach, Vater, ist das wirklich und auf Ehre wahr?” “Ja, es ist wahr”, erwiderte Vater und blickte sie fröhlich an. “Rentiere kannst du lenken, daß es ein Vergnügen ist; das andere wirst du auch noch lernen. – Und jetzt wollen wir ins Eßzim mer gehen und uns die Schneehühner schmecken lassen!”
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Die verhexten Lappen Hu, wie kalt es war! Frida verkroch sich ganz in dem großen Kragen ihres Rentierpelzes und versetzte dem Zugren mit dem Zügel einen ordentlichen Schlag über den Stummelschwanz, worauf es in Schwung kam. Wenn sie nicht die ganze Zeit aufpaßte, blieb es zurück, und dann dröhnte Va ters Stimme vom vorderen Pulk her: “Assistent, wo bleibst du denn? Du bist wohl wieder einmal in Gedanken versunken?” Das war gerade das Schlimme bei Frida: daß sie immer an so viele herrliche Dinge denken mußte, wenn sie in ihrem Pulk über den Schnee sauste – besonders jetzt, wo die Dämmerung sich sachte über Finnmarken senkte, so daß man die steilen Berge, die sich zu beiden Seiten des Flußtals erhoben, kaum mehr unterscheiden konnte. Der Winter war nun wirklich gekommen, und mit dem Winter erschienen die Berglappen mit ihren Pulken im Kirchspiel, um beim Kaufmann Waren zu erstehen oder Felle und Fleisch zu verkaufen. Wenn man sie fragte, wo ihr Zelt stand, dann wiesen sie nach Norden oder Süden, ostwärts oder westwärts und murmelten: “Dort.” Als das Eis auf dem Tanaflusse tragfähig war, wurde Anders in den Wald geschickt, um Vaters und Fridas Zugrentiere zu holen; aber die waren scheu nach dem Müßiggang des Sommers, und es bereitete einige Schwierigkeit, sie mit dem Wurfseil einzufangen. Das waren halsbrecherische Pulkfahrten gewesen, bis sie die schlimmste Wildheit abgelegt hatten. Frida hatte gleichzeitig gejubelt und geschrien und gelacht. Allein die Tiere anzuspannen, war schon ein richtiges Kunststück. Behutsam mußte man sich von der Seite an die Rentiere heranschleichen, so daß sie einen erst entdeckten, wenn es zu spät war, um einen Bocksprung in der andern Richtung zu voll führen. Und sie mußten in einer langen Reihe aneinander gebunden werden, immer drei Rentiere und ein Pulk, denn es ging nicht an, mit jedem Pulk für sich zu fahren, bevor sie sich ein wenig ans Ziehen gewöhnt hatten. 32
Vater setzte sich in den ersten Pulk, doch zuvor machte er eine Schlinge in den Zügel und legte sie fest um den Oberarm. Dann wik kelte er sich den Zügel mehrmals um Arm und Hand, um ganz sicher zu sein, daß er und die Zugtiere eins waren, wenn etwas geschah. Ge lang es ihnen durch einen hinterlistigen Seitensprung, ihn in den Schnee zu werfen, so wurden sie ihn trotzdem nicht los; und es war so beschwerlich, einen Menschen über das Eis zu schleifen, daß sie des Versuchs sehr bald müde wurden. Anders und Frida nahmen in den beiden nächsten Pulken Platz, wo ihnen nichts anderes zu tun blieb, als das Gleichgewicht zu halten, indem sie ein Bein in den Schnee hinausstreckten, sowie der Pulk zu kippen drohte. “Los!” rief Vater dem Lappen zu, welcher das Leitren am Zaum hielt, und im nächsten Augenblick geschahen tausend Dinge auf einmal. Die Rentiere verga ßen, daß sie in einer Reihe laufen sollten, und rasten in wildem Wett lauf übers Eis. Bald gab es einen zuammengeballten Klumpen von Rentieren und Pulken, und mitten in dem Klumpen stak Frida und lachte und schrie in einem, während ihr Pulk seitwärts fortgezogen wurde, und die Rentiere ihr auf die Beine traten und sie von allen Sei ten anstießen. Die Geweihe der Tiere verwickelten sich ineinander, so daß sie nicht mehr loskommen konnten; sie zerrten und zogen und tra ten in die Pulke bei ihren unruhigen Versuchen, sich frei zu machen. Einige Hunde kamen vom Flußufer herbeigejagt und versetzten die erschrockenen Rentiere in noch größeren Schrecken. Ganze Schneekaskaden wurden den dreien ins Gesicht gewirbelt, und bald waren die Pulke voll Schnee. Frida hieb mit der geballten Faust auf das Ren ein, das hinter ihrem Pulk hätte sein sollen. Da stieß sie plötzlich krachend mit Anders' Pulk zusammen, doch es gelang ihr, das Bein im letzten Augenblick einzuziehen. Danach verspürte sie ei nen heftigen Schlag auf die Knie – ein halbes blutiges Geweih war auf ihren Schoß gefallen. Als nächstes erhielt sie einen Stoß in den Rük ken – ein zweites Ren hatte das halbe Geweih verloren; die Stange wurde in den Schnee hinausgeschleudert, und Blut spritzte über Schnee und Pulk aus dem Stumpf am Haupte des Tieres.
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So saß Frida wehrlos inmitten der herumspringenden, trampelnden Rentiere, und sie gebrauchte beide Arme und Beine, um nicht über den Haufen geworfen zu werden. Gleichwohl war das herrlich. Die Spannung bewirkte, daß es in ihrem Magen wonniglich kribbelte: und wenn die Rentiere sich einmal müde getobt hatten, kamen sie rasch zur Vernunft. Kaum konnte man es fassen, daß es dieselben Tiere waren, die heu te so friedlich über den Fluß dahintrabten, zwischen zwei Reihen klei ner, entlaubter Birken, die man ins Eis gesteckt hatte, damit sie an zeigten, wo die Pulkspur verlief. 34
Zuvorderst fuhr Aslak, der Lappe, welcher Vater geholt hatte und ihm nun den Weg weisen sollte. Welch ein Glück, daß ihre Zugtiere nicht mehr im Walde gewesen waren, als Aslak gekommen war! An ders hatte draußen gestanden und mit den Rentieren und Pulken ge wartet, denn sie wollten in der Nachbarschaft einen Krankenbesuch machen, als Vater mit Donnerstimme durchs Haus rief: “Assistent, willst du mit oder nicht?” “Ja…a, ich komme schon!” rief Frida zu rück. Ihre langen, roten Gamaschenbänder waren in Unordnung gera ten, und Vater haßte es, zu warten. Frida war nahe daran, die Geduld zu verlieren. Es war sehr schwie rig, sich in dem schweren, steifen Rentierpelz vorzubeugen und die Gamaschenbänder über die Fellgamaschen zu wickeln, damit die Stie fel so dicht anschlössen, daß kein bißchen Schnee hineindringen konn te, auch wenn sie das Bein noch so sehr aus dem Pulk streckte, um besser zu steuern. Ganz rasend konnte man werden, wenn die Bänder immer wieder verrutschten. Sie ahnte jedoch nicht, daß sie eine ganz andre Reise unternehmen sollte als den Besuch in der Nachbarschaft, bis Marit atemlos mit dem Schlafsack angestürmt kam und aufgeregt berichtete, daß sie Vaters pelzgefütterte Proviantkiste schon in den Gepäckpulk geladen habe, und daß der Fremde gerade in der Küche sitze und esse, während der Doktor sich bereit mache, und, nein, nein, nein, keine Lappenfrau könne so schlecht sein und nur wegen fünf Rentieren eine ganze Berg stadt verhexen. “Was für ein Fremder?” fragte Frida. “Was für eine Lappenfrau?” rief sie Marit ungeduldig nach. Aber sie erhielt keine Antwort, und so mußte sie selber herausfinden, was eigentlich los war. Es hörte sich wirklich an, als ob das, was Aslak, der Fremde, vor brachte, wahr sei. Es handelte sich um seine eigene Bergstadt, die ver hext worden war. Fridas Augen öffneten sich weit vor Spannung, während sie Aslaks Erzählung lauschte. Das einzig richtige auf der Welt war, Berglappe zu sein und eine ei gene Bergstadt zu haben. Eine Bergstadt war nämlich keineswegs et was so Dummes wie eine gewöhnliche Stadt, wo die Leute zwischen langweiligen Häusern über schnurgerade Straßen fuhren und die ganze Zeit Gefahr liefen, zusammenzustoßen, wenn sie nicht achtgaben. Ei 35
ne Bergstadt war ein großes Lappenzelt weit draußen in den Schnee bergen; das Zelt beherbergte einen Hausstand mit Vater, Mutter und Kindern, mit Rentierknechten und Mägden und vielen Hunden, und dazu gehörten Hunderte von Rentieren, die auf den Berghängen her umwanderten und tiefe Löcher in den Schnee gruben, um Flechten zu suchen; und wenn sie keine mehr fanden, so zogen sie davon auf einen anderen Berg, und dann mußten Aslak und sein ganzer Hausstand und alle Rentierknechte und Hunde mitziehen. Im Sommer wanderten die Rentiere zur Küste, und wenn der Schnee kam, zogen sie zurück in die Berge. Auf dieser Reise war As lak gerade bei seinem ersten Winterplatz angelangt, als das Fürchterli che geschah: seine Bergstadt wurde verhext. Es war geschehen, wäh rend er und Rudas sich draußen befanden, um die Rentierherde zu hü ten, und selbstverständlich war es gar nicht anders möglich, als daß die alte Ristin es getan hatte. Sie konnte zaubern. In ganz Finnmarken kannte man ihren Ruf als Hexe; ihr Ruhm war so groß, daß sogar Norweger zu ihr kamen und sie um Rat fragten. Wenn Ristin etwas böse besprach, trugen sich gräßliche Dinge zu. Aslak wünschte sich gar nichts anderes, als in Frieden gelassen zu werden; er tat niemals jemand etwas zuleide. Wenn aber ein anderer Mann mit tausend Rentieren auf den Gedanken kam, sein Zelt auch an dem von ihm gewählten Fleck aufzuschlagen, nur fünfzehn Kilometer entfernt, so konnte das leicht böses Blut machen. So viele Flechten gab es denn doch nicht auf dem Bergzug. Und wenn dann Rentiere zu verschwinden begannen, mußte man auch auf allerlei Gedanken kommen. Es gab nur eine Stelle, wohin sie verschwinden konnten, und es mochte wohl seinen ganz bestimmten Grund haben, daß die Herde des andern Mannes so groß war; vielleicht liebte er es, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Tag und Nacht mußte man Knechte und Hunde die Herde bewachen lassen. Man sorgte dafür, daß sie auf einer Bergkuppe hübsch beisammen blieb, so daß man einen Überblick über alle Tiere hatte; aber man sagte nichts. Auch die Frauen und Kinder sagten nichts, als die alte Ristin, die Mutter des andern Mannes, auf Skiern über die Berge kam, ins Zelt kroch und sich auf der Gästeseite niederließ. Sie war über achtzig Jahre alt. Ihre Augen tränten von dem ewigen Rauch im Zelt; ihre Haare hingen in langen, weißen Strähnen 36
unter ihrem Lappenhut hervor; ihre Hände waren von Gicht ver krümmt und ganz verrußt von den Tausenden von Feuern, die sie an gemacht hatten; ihre Stimme klang zittrig; ihr Kopf wackelte leicht – vielleicht waren es die Geister in ihr, die ihn zum Wackeln brachten. Trotzdem behandelte man sie wie einen lieben Gast, denn man wußte ja, daß sie hexen konnte. Man erwähnte nicht einmal, daß sechs Rentiere verschwunden waren; man ging hinaus und holte gedörrtes Renfleisch und Markknochen. Man legte neue Scheiter aufs Feuer und hängte den größten Topf über die Flammen, der mit Wasser und Fleisch gefüllt wurde. Die ganze Zeit dachte man daran, daß sie mit einer bestimmten Absicht erschienen war; und als der Dampf aus dem Topf zum Rauchloch emporstieg, wurde man ein wenig besorgt, denn die alte Ristin saß da und starrte mit sonderbarem Blick in den Dampf, und sie machte, daß der Wind zum Rauchloch hereinblies, so daß der Dampf nicht abziehen konnte, sondern immer dichter und dicker wur de. Gleichwohl fischte man die besten Stücke für sie aus dem Topf, und sie klopfte mit dem Griff des Messers den Markknochen entzwei, hol te das Mark hervor und warf dann den Rest den Hunden zu. Als sie schließlich satt war und ihren Kaffee getrunken hatte, saß sie lange da und schaukelte den Oberkörper hin und her. “Ich sehe Rentiere, die von der Herde fortgehen”, sagte sie, worauf alle im Zelt ernst nickten, und die Knechte, die daheim waren, zu schlafen vergaßen, obwohl sie die ganze Nacht die Rentiere gehütet hatten und bald wieder hinaus mußten. “Ich sehe fünf Rentiere”, fuhr die alte Ristin fort. “Es waren aber sechs”, murmelte Aslaks Frau vor sich hin; doch da erhob die alte Ri stin ihre Zitterstimme und sprach weiter: “Fünf Rentiere sehe ich, fünf Rentiere, die alle meines Sohnes Ohrenzeichen tragen und zu meines Sohnes Herde gehören. Doch jetzt sind sie fort. Wo können sie nur hingeraten sein?” Sie blickte sich mit ihren alten, tränenden Augen in dem ums Feuer versammelten Kreise um. “Ich weiß, wo sie hingeraten sind”, erklärte sie. 37
Da faßte sich Aslaks Frau ein Herz und fragte: “Da du alles weißt und alles siehst, weißt du vielleicht auch, wo unsere sechs Rentiere hingeraten sind?” Der Zorn kochte in der alten Ristin. Sie war unheimlich anzusehen. Sonderbare Laute entrangen sich ihrer Kehle, während sie immerzu hin und her schaukelte. “Eure Rentiere?” zisch te sie. “Ich suche unsere!” Drohend schaute sie von einem zum ande ren. “Wer Mattis Rentiere nimmt, ist ein Narr. Er vergißt, daß die alte Ristin zaubern kann. Er vergißt, daß das Unglück über ihn und seine Bergstadt und die ganze Herde kommen wird.” Und dann erzählte As lak von ihrer schrecklichen Hexerei. Alle lagen rund ums Feuer, als er heimkam; ihre Gesichter waren weiß und verzerrt; drei von ihnen schielten, daß es ein Graus war; andere redeten in Zungen und ge brauchten Wörter, die nur von Geistern stammen konnten. Am schlimmsten aber war es mit den kleinen Kindern, die ganz still dala gen und nicht einmal wimmerten. Auch die Hunde hatte die alte Ristin gelähmt. Ein brennendes Stück Holz war vom Feuer auf den einen Hund gefallen, doch er hatte sich überhaupt nicht gerührt. Aslak muß te ihn aufnehmen und forttragen. Nur ein einziger war von der Verhe xung nicht getroffen worden, und zwar der Rentierknecht Jonte. Frida hörte atemlos zu, und Marit nickte bekräftigend. Es gab ja, wie jedermann wußte, Lappen, die nicht verhext werden konnten. Die hatten Geister in sich, welche stark genug waren, um allen Zaubereien zu widerstehen. Plötzlich gewahrte Frida ihren Vater, der in der Kü chentür stand und sie mit belustigtem Lächeln betrachtete. “Nun, As sistent”, sagte er neckend, “du bist doch nicht etwa abergläubisch?” Frida wurde rot. “Das klingt alles so sonderbar”, murmelte sie auf norwegisch. “Ja, es ist vieles sonderbar hier auf der Welt”, lachte Vater. “Ich weiß recht gut, daß die Lappen oft lügen”, sagte Frida. “Diese Geschichte ist aber leider wahr”, erklärte Vater. Frida forschte in seinem Gesicht. Zog er sie wieder einmal auf? Zuweilen kam es ihr vor, als ob es zwei Welten gäbe, und als stünde sie in jeder mit einem Bein. Wenn der Pfarrer vom Heidentum, von Aberglauben und geistiger Finsternis sprach, dann schien es ihr, als hätte nur er recht. Aber draußen auf der Lappenlandspitze sah sich alles anders an 38
– als ob die Norweger unwissend und dumm und oberflächlich wären. Die Norweger konnten nicht zaubern, denn sie hatten nicht jahrhun dertelang in den wilden Bergen gelebt. Es gab so vieles, das die Nor weger nicht vermochten – beispielsweise waren sie nicht imstande, im Dunkeln ihren Weg zu finden. Ein Berglappe hingegen verirrte sich niemals, einerlei, ob rings um ihn kohlenpechrabenschwarze Nacht herrschte. Daß die Berglappen über diese Fähigkeit verfügten, mußten die Norweger einräumen. War es dann nicht möglich, daß die Ber glappen auch noch andere merkwürdige Fähigkeiten hatten? Oftmals war sie ganz aufgerührt heimgekommen, vollgestopft von Geschichten über Zaubereien, Weissagungen und Hellsehen; und Mutter hatte dann gesagt: “Mir scheint fast, daß wir Frida in den Süden bringen müssen, sonst wird sie allzu abergläubisch. So kann es einfach nicht weiterge hen.” Worauf Frida sich beeilt hatte, zu versichern, daß sie die Ge schichten gar nicht wirklich glaube, es sei nur so schrecklich spannend und aufregend, mitanzusehen, wie die Lappen sie allesamt glaubten. Und nun saß sie hier im Pulk und sauste zu den wilden Bergen, um Vater bei der Rettung der verhexten Lappenfamilie zu helfen. Auf ein Ding verstand sie sich jedenfalls besser als Mutter und Bergliot: sie konnte Rentiere lenken, und es fehlte nicht viel, so sah sie in der Dun kelheit fast ebenso gut wie die Berglappen. Wie mochte das wohl sein, wenn jemand in Zungen redete? Frida lenkte ihren Pulk an Vaters Sei te, um Vater diese Frage vorzulegen, worauf er lachte und erwiderte, er befürchte, daß sie um das Zungenreden betrogen würden. “Wieso?” erkundigte sich Frida. “Weil wir einen weiten Weg bis dorthin haben, und wenn wir end lich angelangt sind, wird dieses Stadium wohl schon vorbei sein”, er klärte er. “Assistent, ich muß dich leider betrüben, aber es handelt sich um nichts Übernatürliches, sondern um eine ernste Fleischvergiftung. Das ist weiter nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit – wahr scheinlich haben die Lappen geschlachtet, bevor es kalt genug war, und da ist das Fleisch vor dem Dörren in Verwesung übergegangen.” “Aber Aslak sagte doch, sie hätten in Zungen geredet”, entgegnete Frida.
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“Als Aslak seine Leute fand, hatte die Vergiftung eine Sprachläh mung bewirkt. Benommenheit und Schielen können ebenfalls zu den Begleiterscheinungen gehören”, erläuterte Vater. “Aber alle diese Symptome vergehen ziemlich bald wieder.” Trotz dieser Erklärungen blieb Frida dabei, die Erkrankten “die ver hexten Lappen” zu nennen, wenn sie an sie dachte. Erst spät in der Nacht trafen sie an ihrem Ziele ein. Während der letzten Stunde hatte Frida in ihrem Pulk halb gedöst. Eine halsbreche rische Fahrt einen steilen Berghang hinunter machte sie wieder hell wach. Diese Strecke konnte nur im Zickzack genommen werden, wo bei man das eine Bein als Bremse hinausstrecken mußte. Danach fuh ren sie über eine mondbeschienene Ebene und dann niedrige, abge rundete Berge hinauf und hinab. Vom Gipfel eines solchen Berges aus gewahrte sie leuchtenden Rauch, der aus dem Rauchloch eines einsamen Zeltes stieg, dessen Umrisse hin und wieder zu erkennen waren, wenn das Feuer im Innern aufflammte. Die krummen, rauchgeschwärzten Zeltstützen, die in der Mitte aufragten, wurden einen kurzen Augenblick hell, wenn der Wind ein brennendes Stück Holz zum Himmel emporjagte. Zehn Mi nuten später kniete Frida vor dem Feuer und füllte Vaters Wärmfla schen mit heißem Wasser. Auf der andern Seite des Feuers saß der Knecht Jonte mit erschrockenem Gesicht; Vater beugte sich über eine blasse, jammernde Frau; ein junger Bursche kroch stöhnend aus dem Zelt, um sich draußen zu übergeben. “Das Schlimmste ist schon über standen”, sagte Vater. “Nun müssen wir nur noch den Magen warm halten, und morgen früh, wenn die Patienten sich ein wenig erholt ha ben, wirst du gleich Haferschleimsuppe kochen und Brot rösten, Frida. Wir haben alles Nötige im Gepäckpulk.” Frida nickte stumm und schraubte die Wärmflaschen sorgfältig zu. Eine Stunde später kroch sie in ihrem eigenen kleinen Zelt, das Anders im Schnee aufgeschla gen hatte, in den Schlafsack. Draußen standen die Pulke, sowohl Va ters als auch Fridas, und die beiden, die Anders gefahren hatte – ihre Rentiere aber liefen frei umher und suchten Flechten. Sie ruhte auf einem Lager aus dünnen Birkenreisern und Rentierfell; doch sie fand keinen Schlaf, ihre Gedanken kreisten fortwährend um den Rentier 40
diebstahl. Irgend jemand hatte elf Rentiere gestohlen, und zwar weder Aslak noch Matti noch ein Wolf. Wölfe hinterließen immer eine Spur. Aber warum stahl ein Mann sechs Rentiere von der einen Herde und fünf von der andern? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Er wollte Unfrieden stiften und Mißtrauen zwischen den Besitzern säen. Aber weshalb? Weshalb? Sie erwachte mit jähem Ruck, als sie im Schlaf gegen die Zeltwand stieß. Ihr Herz hämmerte wild. Was hatte sie doch nur geträumt? Ob sie wohl geschrien hatte? Aus Vaters Schlafsack erklang es gedämpft: “Ruhig, ruhig, hier gibt es keinen Rentierdieb.” Sie hatte also wieder einmal im Schlaf geredet, und nun glaubte Va ter wohl, sie habe Angst. Ach, wenn sie sich doch nur an ihren Traum erinnern könnte! Es war ihr zumute, als hätte der Traum große Bedeu tung, aber nun war er vollkommen weg. Den ganzen Vormittag plagte sie sich damit ab, obwohl sie sich alle Mühe gab, die Gedanken nur auf die Arbeit und nicht mehr auf den Traum zu richten. Und sie hatte doch so viel für Vater zu tun! Aber trotzdem ließen ihr die verschwundenen Rentiere keine Ruhe. Frida dachte daran, als sie ins Lappenzelt kroch und die Haferschleimsuppe zu kochen begann. Sie dachte daran, als sie auf Lappenart mit unter geschlagenen Beinen vor dem Feuer hockte und die Brotschnitten rö stete. Zwei hungrige Mädchenaugen folgten allen ihren Bewegungen; und plötzlich fing sie den Blick des Rentierknechts Jonte auf. In der gleichen Sekunde fiel ihr ein, daß sie ja von ihm geträumt hatte, und ihr Hirn begann angestrengt zu arbeiten. Wieso war er nicht ebenfalls erkrankt? Weil er nicht von dem Fleisch gegessen hatte. Warum hatte er nicht von dem Fleisch gegessen? Weil ihn sein schlechtes Gewissen geplagt hatte. Es kam ihr mit einem Male in den Sinn, wie ängstlich er bei ihrem Eintreffen ausgesehen, wie er ge stammelt und gestottert, als der Vater ihm Fragen gestellt hatte. Nach denklich zog sie ihr großes Messer aus der Scheide und steckte die Spitze in ein Stück Röstbrot, das sie dem kranken Mädchen reichte. “Iß langsam und kau gut”, sagte sie, während sie das Mädchen genau betrachtete. Sie kannten einander vom Kirchspiel, wenn Aslak dorthin kam, um zu handeln. Die Lappen rechneten Frida beinahe zu ihres 41
gleichen und sprachen mit ihr über viele Dinge, die sie sonst den Norwegern gegenüber nicht erwähnten. Frida wies mit dem Kinn auf den Zeltausgang. “Ich glaube, du solltest ein bißchen Sonne haben”, sagte sie. “Komm mit mir hinaus.” Draußen zog sie das Mädchen so weit vom Zelt fort, daß niemand hören konnte, was sie redeten. “Warum hat Matti eigentlich seine Bergstadt an einem Ort in eurer Nähe aufgestellt?” fragte sie. “Weil sein Sohn Nilas es wünschte.” “Und was für einen Grund hat Nilas dafür?” “Er liebt ja meine Schwester Inga”, erwiderte das Lappen mädchen, erstaunt über soviel Unwissenheit. Fridas Augen glänzten vor Eifer; nun war sie auf der richtigen Spur. “Die beiden werden sehr reich sein”, sagte sie. “Glaubst du etwa, daß Inga den Sohn eines Rentierdiebs heiraten wird?” fuhr das Lap penmädchen zornig auf. “Liebt Jonte Inga ebenfalls?” forschte Frida, wobei sie einen gleichgültigen Ton anzuschlagen versuchte. “Jonte ist ja nur ein armer Knecht und besitzt nicht mehr als zwanzig Rentiere”, antwortete das Lappenmädchen. “Aber vielleicht ist er dumm genug, sie zu lieben.” In Fridas Kopf ging die Rechenaufgabe auf. Jonte hatte danach ge trachtet, zwischen Matti und Aslak Feindschaft zu stiften, damit er Inga für sich gewinnen könnte. Als er sie dann aber verhext daliegen sah, stand er Todesängste aus. Möglich, daß er nun die Hexerei aufzu heben versuchte, indem er die Rentiere zurückerstattete. Sie beschloß, die Augen offen zu halten. Frida vergaß jedoch Jonte völlig, als Matti in höchsteigener Person in seinem besten Pulk angefahren kam und mit verschlossenem Gesicht ins Zelt kroch. Seine Miene war finster, und er ließ drohende Worte von “Rache wegen seiner Mutter” fallen. Die alte Ristin sei verhext worden, sagte er. Nach der Heimkehr aus Aslaks Bergstadt sei sie mit schweren Krämpfen zusammengebro chen. Jeder könne sehen, wo die Schuld liege. Wer weiß, wie das alles geendet hätte, wenn der Doktor sich nicht eingemischt und Matti den Tatbestand erläutert hätte. Darauf saßen Aslak und Matti sehr beschämt da; aber von einer Versöhnung konnte noch immer keine Rede sein, denn mochte der Arzt auch Ristins Krämpfe sowie das Schielen und Zungenreden der andern erklären, so 42
ergab sich daraus doch keineswegs, wie es kam, daß Matti fünf Ren tiere und Aslak deren sechs fehlten. Frida hatte die Unterredung mit großen Augen und in atemloser Spannung verfolgt. Jetzt wandte sie den Kopf nach Jontes Platz und entdeckte, daß er leer war. Unbemerkt schlüpfte sie hinaus. Ihre Augen schweiften hurtig umher, und sehr bald hefteten sie sich auf eine frische Skispur, die Spur eines einzel nen Mannes, der sich nicht zur Rentierherde begeben, sondern die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte. Der Mann hatte nicht einmal einen Hund mitgenommen; offenbar wünschte er ganz allein zu sein. Sie beugte sich nieder, steckte den Kopf durch die Zeltöffnung und rief den stummen Männern am Feuer zu: “Aslak und Matti! Wenn ihr eure Rentiere wiederhaben wollt, so laßt euch von mir die Spur zei gen, der ihr folgen müßt!” Darauf rührten sie sich sogleich; sie drehten sich um und betrachte ten verwundert das eifrige Gesichtchen in der Zeltöffnung. Matti kam zuerst heraus, doch brauchte er dann kaum einen Augenblick, um sein Zugren loszumachen und sich auf den Pulk zu werfen; und in dem gleichen Augenblick hatte Frida sich die Skier angeschnallt. Matti grinste sie an, als sie das Seil hinten am Pulk ergriff und sich den nächsten Berghang hinaufziehen ließ. Hatte sie Lust, sich bei ihm an zuhängen, so mochte sie das seinetwegen gerne tun. Sie war gewandt und geschickt, das mußte man ihr lassen, obwohl sie nicht in den Ber gen lebte. Ja, wahrhaftig, das hatte sie wieder einmal fein gemacht – na, sie war ja auch fast ihresgleichen, die kleine Doktorstochter. Aslaks Zugtiere weideten in den Bergen, und es fiel Matti gar nicht ein, auf ihn zu warten. Aslak folgte ihnen mit kleinen, raschen Lauf schritten auf den Skiern. Er war flink auf den Beinen, dieser Aslak, obwohl er nicht mehr zu den Jüngsten gehörte; nur schade, daß er and rer Leute Rentiere nicht in Frieden lassen konnte, dachte Matti. Sie waren schon weit draußen in den Bergen, als Frida plötzlich daran dachte, daß sie völlig vergessen hatte, Vater geschwind zu sagen, daß sie mitfuhr. Wenn er sie nun brauchte! Aber jetzt war es unmöglich, umzukehren; Jontes Skispur lag dauernd vor ihnen und führte zu des Rätsels Lösung, und diese Lösung mußte sie unbedingt kennenlernen. 43
Schließlich bog die Spur in ein Birkengehölz ab, und Matti machte halt, um dem Rentier die klingende Schelle abzunehmen. Vielleicht ahnte er, daß sie Jonte bald einholen würden, und da wollte er seine Nähe wohl nicht verraten. Das Birkengehölz wurde zu einem Wald, und Frida mußte aufpassen, wohin sie ihre Skier setzte, als die Fahrt weiterging. Plötzlich hielt Matti das Ren abermals an. Die Skispur verschwand in einer tiefen Schlucht. Er stieg aus und führte das Rentier am Zügel weiter; ganz bis zum Rande ging er, und Frida folgte ihm. Tief unten auf dem Grunde der Schlucht sah sie eine kleine Rentierherde; es gab nur eine einzige Stelle, wo die Tiere hinausschlüpfen konnten, und diese Stelle war mit einem hastig errichteten Zaun zugesperrt. Ein Lappe war gerade dabei, den Zaun niederzureißen. Sie erkann ten ihn beide: es war Jonte. Während sie ihn beobachteten, gesellte sich Aslak zu ihnen. “Meine Rentiere und deine Rentiere”, sagte er, und Matti ließ den Blick über die kleine Herde gleiten und zählte mit leichtem Nicken elf Stück. Lange standen sie schweigend da und betrachteten Jonte, der sein Wurfseil schleuderte und ein Ren einfing, das er dann durch die zer störte Einfriedung zog. Die andern Tiere folgten willig hinterher. Frida blickte Aslak und Matti verstohlen an. Was die beiden wohl denken mochten? In Finnmarken galt es ja nicht als Sünde, wenn ein armer Mann einem reichen Rentiere stahl. “Ein tüchtiger Rentierknecht”, nickte Matti beifällig. “Mein bester Rentierknecht”, sagte Aslak mit einem kleinen Seufzer. “Ich glaube, daß mein Nilas und deine Inga…” begann Matti. “Das glaube ich auch”, fiel Aslak ein. “Ich komme bald mit dem Gefolge; wir bringen Geschenke”, sagte Matti und zog sein Rentier von der Schlucht fort. “Du wirst uns willkommen sein”, erwiderte Aslak. Dann fuhren sie zurück. Diesmal hängten sich beide, sowohl Aslak als auch Frida, an den Pulk, bis sie sich der Stelle näherten, wo Matti abbiegen mußte, um 44
sich zu seiner eigenen Bergstadt zu begeben. Er hielt sein Ren an und drehte sich um. “Ich habe nichts gesehen”, sagte er. “Das gibt eine große Überraschung, wenn ich meine Rentiere wiederbekomme.” Und Aslak murmelte: “Jonte ist mein bester Rentierknecht, und wenn Inga uns nun verläßt, wird er wohl bald Ruhe finden.” “Sicherlich”, stimmte Matti zu und versetzte seinem Ren einen leichten Schlag. Frida blickte ihm nach, als er davonfuhr. Um ihre Lippen spielte ein zufriedenes Lächeln. Der Streit war also beigelegt.
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Während der Dunkelzeit Hinter dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe sprang Frida über den Schnee. Als sie vor dem Arzthaus angelangt war, ließ sie den Licht schein die Mauer hinauftanzen, bis er das große Thermometer traf. Potztausend! Dreißig Grad Kälte – so kalt war es Ende November noch nie gewesen. Kein Wunder, daß das Kirchspiel wie ausgestorben dalag. Alle blieben im Hause, und kein Reisender störte die Ruhe. Die Berglappen hatten genug damit zu tun, während der Dunkelzeit die Wölfe von ihren Rentierherden fernzuhalten, und für die Postschlitten war es ein weiter Weg von der Küste. Häufig dauerte die Reise für die Postfahrer mehrere Tage, wenn der Mond sich hinter einer Wolken decke verbarg und sie sich in der tiefen Dunkelheit nicht weiterwag ten. Wenn dann endlich die Flagge am Posthaus gehißt wurde, zum Zeichen, daß man die Briefe abholen konnte, gab es gleichwohl nie mand, der dieses Zeichen sehen konnte, und das sauertöpfische Fräu lein Lund wurde noch sauertöpfischer, weil andauernd Anrufe erfolg ten. Vater aber konnte seine Reisen nicht aufschieben; denn immer wieder erhielt er Nachricht von einem neuen Angina-Fall, und dann mußte er fort. Die Berglappen wurden von der Krankheit ungewöhn lich hart angegriffen und überstanden sie ohne Hilfe nicht. Mochte es auch noch so kalt sein, sie ließen nachts das Feuer im Zelt ausgehen; und da lagen sie dann krank bei dem erloschenen Feu er, während ein eisiger Wind zum Rauchloch hereinwirbelte, so daß das Fieber immer höher stieg. Oft erwachten sie am Morgen mit glü henden Fieberwangen und waren von Schnee bedeckt. Frida äugte zum Himmel empor. Wenn doch nur die Wolken bald verschwinden wollten; dann gäbe es eine herrliche Mondscheinfahrt zu dem Fluß lappen – aber es sah nicht so aus, als ob sie sich verziehen würden. Vor kurzem hatten sie von einem Postfahrer Besuch gehabt, der die Post noch weiter nordwärts zum Tanafluß brachte, bis halbwegs zum Eismeer hinauf. Er reiste mit dem Pferdeschlitten, weil er nicht über die Berge zu fahren brauchte, sondern auf dem zugefrorenen Flusse bleiben konnte. 46
Das war eine einsame Fahrt durch verlassene, unbewohnte Gegenden. Mitten auf dem Flusse verlief die Grenze zwischen Norwegen und Finnland, und was man an dem höheren Ufer sah, das war Finn land. Für den Postfahrer aber machte es keinen Unterschied, ob es das eine oder das andere Land war, denn die wenigen Menschen, die hier an den Ufern wohnten, waren fast alle Lappen und redeten die gleiche Sprache. In der Schule lernten die norwegischen Lappen norwegisch und die finnischen Lappen finnisch; die norwegischen lernten auch norwegi sche Geschichte und wurden norwegische Soldaten, während die fin nischen Lappen finnische Geschichte lernten und finnische Soldaten wurden. Im Grunde spielte das jedoch alles keine Rolle, im Grunde waren sie ganz einfach Lappen. Sie sahen auf der Karte auch den roten Grenzstrich, der allerdings in Wirklichkeit nicht vorhanden war. In Wirklichkeit konnten sie reisen, wohin sie wollten, und sich an beiden Ufern niederlassen. Der Post fahrer kannte jedes einzelne Haus am Tanafluß mehrere Tagereisen nordwärts. Sechzig Kilometer war die erste norwegische Berghütte entfernt, aber dazwischen gab es auf der finnischen Seite mehrere Siedlungen. Dort lebte auch der Flußlappe, und nun rückte der Postfahrer endlich mit der Nachricht heraus, daß die Frau des Flußlappen sehr krank sei. Keiner von beiden habe ihm aufgetragen, das zu erzählen, und darum sei es wohl das beste, wenn der Doktor sich den Anschein gäbe, als käme er ganz zufällig vorbei. Er, der Postfahrer, wolle ganz gewiß nicht schwatzen; es scheine ihm jedoch notwendig, den Fall vorzu bringen, weil die Frau sich ja jetzt nicht mehr um ihre Kinder küm mern könne. Während seiner langen Rede hatte der Postfahrer die ganze Zeit sei nen Sternenhut zwischen den Händen gedreht. Vater sah ihn scharf an. “Ich dachte immer, du pflegtest bei der norwegischen Olga auf der finnischen Seite einzukehren”, sagte er. “Dort werdet ihr doch stets so gut aufgenommen.”
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“Ja, aber der Flußlappe ist so arm”, stammelte der Postfahrer; und Frida begriff gar nicht, was mit Vater los war – nie zeigte er sich sonst so streng. Später schickte man sie dann, Anders Bescheid zu sagen, der über dem Stall ein Zimmer bewohnte. Diesmal sollten sie mit dem Pferd fahren; aber sie konnten unmöglich mit allen Sachen, die mitgenom men werden mußten, zu dritt im Schlitten sitzen. Frida atmete denn auch erleichtert auf, als Vater sagte: “Richte Anders aus, daß wir bei de Schlitten nehmen. Den Pferden tut es nur gut, wenn sie ein bißchen bewegt werden, und so kannst du mitkommen und bei den Kindern helfen, wenn man dich braucht.” Und nun stand sie auf dem Rückweg vom Stall vor dem Thermometer, doch hielt sie sich nicht lange davor auf. In den Nasenlöchern gefror die Feuchtigkeit, obwohl sie über dem Kragen des Rentierpelzes einen großen Wollschal trug, der bis zur Nasenspitze reichte. So beißend drang die Kälte durch alles hindurch, daß einem nichts andres übrigblieb, als zwei Pelze übereinander anzu ziehen, den einen mit der Innenseite nach außen, damit die Haare gut wärmten. Auf diese Weise schützten sich die Berglappen im Winter vor dem Frost. Sie wollte sich auch von Marit ein Rentierhemd auslei hen statt des dummen Wollzeugs, das sie auf dem Leibe hatte. Bei dreißig Grad Kälte fror man auf jeden Fall, auch wenn man noch so viele Lagen Wolle übereinander anzog; dagegen half nur Fell. In der Küche war Marit gerade im Begriff, Vaters pelzgefütterte Proviantki ste mit den Eßwaren für die Reise vollzupacken. “Tu auch zwei Thermosflaschen mit warmer Milch dazu”, sagte Frida. “Wir kommen zu kleinen Kindern. Laß dafür die Apfelsinen fort. Das letztemal froren sie unterwegs zu Eisklumpen zusammen, und als ich sie beim Feuer auf einen warmen Stein legte, platzten sie mit einem Schwups!” Sie schüttelte sich vor Lachen in der Erinnerung an den Anblick. “Das hättest du erleben sollen. Wie ein Springbrun nen sah das aus.” “Wenn du mein Rentierhemd noch anziehen willst, mußt du dich beeilen”, mahnte Marit. “Gleich wird angespannt.” “Ich muß noch rasch in der Vorratskammer etwas holen”, gab Frida zurück und eilte hinaus. 48
In der Vorratskammer hob sie eine gefrorene Rentierkeule vom Ha ken und wählte den größten Brotlaib aus – für den Fall, daß es beim Flußlappen nicht genug zu essen gab. Das Brot war steinhart, denn Marit trug die frischgebackenen Brote immer in warmem Zustand hierher und ließ sie gefrieren. Wenn sie verwendet werden sollten, taute man sie in der Küche über dem Wasserdampf auf, und dann schmeckten sie, als kämen sie gerade aus dem Ofen, obwohl sie schon über einen Monat alt waren. Ein bißchen Butter konnte man auch mit gehen lassen; Marit hatte heute gerade gebuttert, und da Mutter und Bergliot jetzt fort waren, hatten sie reichlich. Frida mußte tüchtig mit dem Messer schaffen, bis es ihr endlich gelang, einen Klumpen loszu bekommen; dann lief sie mit allen Sachen in die Küche zurück. Pferdeschlitten hatten das Gute, daß sie selten umkippten; so konnte man sich ganz fest darin einpacken lassen, und Marit erwies sich als Meisterin in dieser Tätigkeit. “Lauf nun rasch wieder ins Haus, bevor dir die Ohren abfrieren”, rief Vater ihr zu und ergriff die Zügel. Frida saß neben ihm, tief eingemummelt zwischen bequemen Kissen. An ders fuhr voraus, um den Weg zu weisen. Es herrschte pechschwarze Nacht, und die Pferde setzten ihre Beine auf der steilen Uferböschung höchst vorsichtig auf. Als sie aufs feste Eis gelangten, folgten sie der wohlbekannten Spur. Ungewöhnlich langhaarig waren sie jetzt im Winter; allerdings bil dete das dicke, dichte Fell ihren einzigen Schutz gegen die Kälte. Die Feuchtigkeit, welche die großen Leiber ausschwitzten, setzte sich ih nen als Rauhreif auf Brust, Flanken und Hals. Jedes Härchen wurde von Eis umhüllt. Die Dunkelheit beunruhigte die Pferde. Dann und wann hoben sie den Kopf, als lauschten sie auf Wölfe. Frida schmiegte sich eng an Vater. Er wärmte so herrlich. “Frierst du?” fragte er. “Ich habe es einfach wunderbar”, antwortete sie. “Sind wir schon weit?” “Wahrscheinlich sind wir noch immer auf dem Nebenfluß”, versetz te er. “Ganz genau weiß ich es zwar nicht.” Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte aufwärts. Kein einziges Sternlein war zu sehen. 49
Man hätte fast meinen können, die Sonne wäre für immer verschwun den und käme nie, nie mehr über den Horizont. “Wie spät ist es ei gentlich?” erkundigte sie sich. “Gleich drei. Bald kommt Marit mit dem Nachmittagskaffee”, scherzte er. “Es ist schöner, mit dir draußen zu sein!” jubelte Frida. Im gleichen Augenblick spürte sie, daß hinter ihr etwas Hartes lag. Sie fragte: “Warum hast du denn das Gewehr zuoberst gelegt? In der Dunkelheit kannst du ja doch nicht zielen.” “Dort gehört es hin”, gab Vater kurz zurück. “Morgen muß ich ei nen Aufsatz schreiben”, sagte sie unvermittelt. “Wahrhaftig? Da können wir nur hoffen, daß dein Lehrer Nachsicht mit dir hat, wenn du morgen nicht zur Zeit da bist.” “Glaubst du, daß er Nachsicht mit mir haben wird?” “Ja”, erwiderte Vater mit einem leisen Lachen. “Er hat dich ja selber auf Abwege ge bracht.” “Oh, danke! Dann schreibe ich dafür nächste Woche zwei”, gelobte sie. “Das ist gut, Assistent. Wir sollten ja sehen, daß du nach den Som merferien ins Gymnasium eintreten kannst.” Frida schwieg und schau te vor sich hin. Sie dachte nicht gerne an den nächsten Winter, sie wollte nur an den Augenblick denken, an den heutigen Tag, an die merkwürdige Reise in der Kälte zur kranken Frau eines Flußlappen. Die Flußlappen waren die allerärmsten Lappen. Sie hatten keine Rentiere. Sie hatten auch keine Kühe wie die ansässigen Lappen drau ßen auf der Landspitze. Gewöhnlich bestand ihr ganzer Besitz aus ei ner elenden Hütte am Flusse, einem Boot und einigen Fischereigerä ten, die sie selber verfertigt hatten. Sie lebten vom Fischfang, und sel ten aßen sie etwas anderes als Fische. Zu dieser Jahreszeit behalfen sie sich mit geräucherten, eingesalzenen, gedörrten und gefrorenen Fi schen, abgesehen von Schneehühnern, die in die im Schnee gelegten Schlingen gingen; aber während der Dunkelzeit flogen die Schnee hühner nur selten umher, so daß sie schwierig zu fangen waren. Ein 50
Licht schimmerte von der finnischen Seite herüber, und Frida und ihr Vater sagten wie aus einem Munde: “Jetzt weiß ich, wo wir sind.” Sie hatten jedoch noch einen weiten Weg bis zu ihrem Flußlappen vor sich, und Frida gab sich ihren Gedanken hin. Vor allem dachte sie an die kleinen Kinder des Flußlappen. “Er muß wohl selber auf die Kinder aufpassen, wenn seine Frau krank ist, nicht wahr?” fragte sie. “Ja, hoffentlich tut er's auch”, ant wortete Vater. Dann saßen beide stumm da und blickten in der Dun kelheit vor sich hin. Man brauchte nicht die ganze Zeit zu reden, wenn man mit Vater zusammen war; man konnte sich mäuschenstill verhal ten und sich einfach über das Beisammensein freuen. Endlich hielt Anders an; man war an Ort und Stelle. Als Vater ihn eingeholt hatte, reichte er Anders die Zügel und stieg aus. Frida folgte ihm auf den Fersen; die Lichter ihrer Taschenlampen tanzten über den Schnee, und bald fanden sie eine schmutzige Fußspur, die die Uferbö schung hinaufführte. Dort oben lag in der Dunkelheit die armselige Lappenhütte. Sonderbar, daß kein Lichtschimmer herausfiel. “Bleib draußen”, befahl Vater kurz, nachdem er die Türe gefunden hatte. Ob er wohl etwas Schlimmes erwartete, daß sie nicht mitkommen durfte? Frida näherte sich den Fensterscheiben, aber die waren so ver eist, daß Vaters Licht kaum hindurchzudringen vermochte. Eine große Unruhe ergriff sie, die sich steigerte, als sie Vater mit merkwürdig harter und strenger Stimme sprechen hörte: “Kannst du denn nicht se hen, daß deine Frau vor Kälte stirbt! Leg Holz aufs Feuer, und zwar rasch! Los, wird's bald? Rühr dich!” Dann wurde angstvolles Kinder geschrei laut; dazwischen vernahm Frida das schwache Stöhnen der Frau. Ein Mann redete lallend und unzusammenhängend, und wieder erklang Vaters herrische Stimme. Frida konnte ihre Neugier nicht län ger bezwingen; sie mußte wissen, was da drinnen vor sich ging. Ge räuschlos huschte sie hinein. Vater hatte seine Taschenlampe über der Pritsche aufgehängt, auf der die Frau, die ihre Umgebung überhaupt nicht beachtete, fieberkrank lag. Von einer andern Pritsche starrten erschrockene Kinderaugen auf den Eindringling. “Du betreibst also eine Schnapsbrennerei!” rief Vater mit einem Blick auf die Kolben 51
und Kessel, die auf dem Herde standen. “Jetzt verstehe ich auch, wie so hier draußen so oft Schlitten halten, und wieso die Berglappen vom Kirchspiel betrunken heimkehren. Dich und deinesgleichen können wir in Finnmarken nicht brauchen.” Ein lautes Klirren ertönte, als er mit rascher Bewegung alle die Dinge vom Herd auf den Boden fegte. Frida stand sprachlos da. Unerschrocken streckte Vater jetzt die Hand aus, um einige große Blechkanister von einem Wandbrett herunterzu holen. “Da haben wir ja noch etwas”, knurrte er. Da sah Frida in dem schwachen Lichte, wie der Lappe sein Messer zog und sich schwankend ihrem nicht ahnenden Vater näherte. “Nein, nein!” schrie sie entsetzt auf und sprang ohne Zögern auf den Mann zu. Mit beiden Händen packte sie ihn von hinten an den Schultern, bohrte ihm das Knie in den Rücken und riß ihn zu Boden. Vater drehte sich rasch herum und entwand ihm das Messer; dann beugte er sich über ihn. Im nächsten Augenblick hatte er den kleinen, schwankenden Lappen wieder auf die Beine gestellt. “Wirst du wohl jetzt endlich Feuer machen!” rief er und schüttelte den Mann kräftig. “Wenn die Schnapsnebel in deinem Hirn sich ein mal lichten, wirst du das bereuen.” Er blickte über den Kopf des Flußlappen hinweg zu Frida hinüber und nickte ihr zu: “Gut, daß du ihn erwischt hast, Assistent.” Frida zitterte noch immer vor Erregung, aber Vater ließ ihr keine Zeit, sich ihrer Gemütsbewegung hinzugeben; es gab so viel, wobei sie ihm zur Hand gehen mußte. Nacheinander schleppte sie die Kani ster hinaus und goß den Inhalt in den Schnee. Pfui Teufel, wie alles nach Schnaps stank! Vater hatte sich inzwischen in warmem Wasser vom Herde die Hände gewaschen. Der Lappe stand klein und blaß in einer Ecke und folgte ihm mit den Augen. “Koch jetzt Haferbrei”, sagte Vater, als Frida nach beendigter Tätigkeit zurückkehrte. “Jawohl”, erwiderte sie. Die Proviantkiste war draußen im Schlitten; aber Frida zögerte an der Tür. “Ich lass' dich so ungern allein mit ihm”, sagte sie auf norwegisch. “Ich hab' Angst, daß er dir etwas antut.” Vater lachte. “Das wird er 52
bestimmt bleiben lassen; ich glaube, er kommt allmählich zu sich. Augenblicklich hätte er die größte Lust, sich in einem Mauseloch zu verkriechen.” Fridas Blick fiel auf die steile Treppe, die von der Stube zum Boden hinaufführte. “Vielleicht hat er da oben ein Gewehr”, meinte sie. “Ich werde ihn schon im Auge behalten”, versicherte Vater. Drau ßen im Schnee traf sie Anders, der an der Stelle stand, wo sie die Ka nister geleert hatte, und argwöhnisch schnüffelte. “Schnaps”, murmel te er verwundert. “Bring rasch die Proviantkiste”, rief sie ihm erfreut zu. “Ich hätte sie holen sollen. Ach, da fällt mir ein, daß ich in Vaters Schlitten noch Bonbons habe. Geh rasch hinein, Anders, und paß auf, daß der Flußlappe Vater nichts zuleide tut, während ich schnell die Bonbons für die Kinder hole. Der Mann drinnen ist betrunken. Er hat Vater mit dem Messer anfallen wollen.”
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Als sie in die Hütte zurückkehrte, saß Anders mit verschränkten Armen auf der untersten Treppenstufe und starrte unverwandt auf den Flußlappen, der sich in seiner Ecke ganz zusammenkroch. “Wir haben es sehr gemütlich, wie du siehst”, lachte Vater. “An ders, geh mit dem Mann auf den Boden hinauf, während ich die Frau und die Kinder untersuche.” “Laß mich erst nachsehen, was er da oben hat”, sagte Frida und sprang voraus. Dann rief sie durch die offene Luke hinunter: “Hier ist eine Masse Korn, außerdem sind Fischereige räte da, gedörrte und eingesalzene Fische und ein Gewehr. Das Ge wehr nehme ich lieber mit.” Anders hatte kurze, krumme Beinchen, aber sein Körper war sehr kräftig; er packte den schmächtigen Knirps von Flußlappen beim Kragen und zog ihn die steile Treppe hinauf. Dann drückte er ihn in einen Winkel und ließ sich neben ihm nieder. Seine Miene war finster, denn wenn er daran dachte, daß dieser Mann an seinen Abgott hatte Hand legen wollen, fühlte er großen Zorn. Der Flußlappe, der allmählich wieder zu sich selbst gekommen war, wies mit allen Zeichen des Schreckens nach unten und flüsterte erschrok ken: “Ist er von der Polizei?” “Das hättest du wirklich verdient”, brummte Anders; “dann kämst du wegen Schnapsbrennerei ins Ge fängnis. Da du aber nur einige Stunden Schlittenfahrt vom Kirchspiel entfernt wohnst, solltest du doch wissen, was allen Berglappen be kannt ist: daß es Doktor Gylseth ist, der Freund der Lappen.” Der Unterkiefer des Flußlappen klappte hinunter, so daß sein Mund weit offen stand. Eine Ahnung von den Zusammenhängen dämmerte in seinem umnebelten Hirn. Das Gesicht des Arztes hatte er ja schon mehrmals auf dem Flusse gesehen, sowohl im Sommer als auch im Winter. Er begann am ganzen Leibe zu zittern, und die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. “Wenn du ihn getötet hättest – wer sollte dann den Kranken hel fen?” bemerkte Anders düster. “Ich habe ja gar nichts getan”, winselte der Flußlappe. “Du hast dein Messer gezogen.” Der Flußlappe verbarg das Gesicht in den Händen und jammerte leise vor sich hin. Mit den Fäusten schlug er sich dann gegen die Schläfen und stöhnte: “Nein, nein, nein!” “Du bist mir ein Schöner”, 54
sagte Anders und biß sich einen Priem ab. “In meinem Kopf ist es ganz dunkel”, klagte der Flußlappe. “Das ist nicht weiter verwunderlich”, entgegnete Anders ungerührt. “Es wäre hell darin, wenn du nicht Schnaps getrunken hättest.” Dann war es, als ob sich plötzlich ein Gedanke durch den Nebel im Hirn des Mannes gedrängt hätte; er richtete sich auf und murmelte: “Ich muß Holz aufs Feuer legen – die Kinder frieren.” Schwer ließ Anders die Hand auf seine Schulter fallen. “Das hast du schon getan”, sagte er. “Der Doktor zwang dich dazu. Aber wenn wir ein paar Stunden später gekommen wären, hättet ihr nicht mehr gelebt, dann wärt ihr alle miteinander erfroren gewesen.” “Was?” stieß der Flußlappe hervor und starrte ihn stumpf an. Nach einer Weile streckte er sich auf dem Boden aus, schloß die Augen und schlief wie ein Dachs. Anders stieg hinunter, um nach den Pferden zu sehen; in dem armseligen Schuppen hinter der Hütte gab es nicht viel Schutz gegen die Kälte. Seine Gedanken schweiften heimwärts zu den Zugrentieren, die frei im Walde umherwanderten und sich in den Schnee niederleg ten, um wiederzukäuen, unempfindlich gegen den Frost. Pferde hin gegen waren empfindlich, zumal wenn sie sich warm gelaufen hatten und dann stillstehen mußten. Es war sicherlich am besten, wenn er den Doktor daran erinnerte, daß die Pferde nicht allzu lange warten durf ten. In der Stube ging Frida inzwischen ihrem Vater zur Hand. Das jüngste Kind hatte sich schon angesteckt und mußte sogleich behan delt werden. Die andern drei weinten in wilder Scheu, wenn sie ange redet wurden, und kauerten sich erschrocken zusammen. “Es würde sicher helfen, wenn sie etwas zu essen bekämen”, meinte Vater, worauf Frida jedem Kinde einen Keks und ein paar Bonbons zusteckte, da der Brei noch nicht fertig war. Aber sie kam der Pritsche nicht gerne nahe, denn dort stank es entsetzlich. Sicherlich war es lan ge her, seit jemand sich der Kleinen angenommen hatte. Sie saßen da, verschmierten sich das Gesicht mit den Süßigkeiten und verfolgten sie mit ängstlichen Augen. “Nimm dich in acht, wenn du sie fütterst”, mahnte Vater; “sie haben bestimmt Läuse.” Es grauste Frida. Läuse bedeuteten etwas Gräßliches für sie, seit ihr einmal als kleinem Kind alle Locken abgeschnitten worden waren, 55
weil Mutter entdeckt hatte, daß ihr ganzer Kopf voll Ungeziefer war. Aber niemand verbot ihr daraufhin, mit Lappenkindern zu spielen; sie wurde nur gewarnt, niemals mutwillig mit ihnen die Kopfbedeckung zu tauschen. Wie hatte Bergliot damals über ihre Kahlheit gelacht! “Du siehst aus wie… ach nein, ich weiß nicht, wem du gleichst… Aber deine Oh ren stehen so ulkig ab, und dein Gesicht ist ganz schmal. Ach, ich hat te ja gar keine Ahnung, daß du größtenteils bloß aus Locken bestan dest! Jetzt ist fast nichts mehr übriggeblieben außer deinen Ohren! Denk dran, daß die Haare knallrot werden, wenn sie wieder wachsen, und du weißt doch wohl, daß sie sich beim zweitenmal nicht mehr kräuseln – mit den Locken ist es also für immer aus! Was, du weißt nicht, daß die zweiten Haare immer rot sind?” “Das macht mir gar nichts”, hatte Frida geantwortet. “Und ob ich Locken habe oder nicht, ist mir ganz schnuppe.” Aber mehrmals im Tage hatte sie sich vor den Spiegel gestellt, um zu prüfen, ob sie wirk lich rote Haare bekäme. Vater sprach leise mit der Lappenfrau, und jetzt schlug sie die Augen auf und blickte verwirrt um sich. Sie öffnete den Mund, als er ihr ein Medikament reichte; dann ließ sie sich wieder zurückfallen. Vater schaute zu Frida hinüber, die vor der Kinderpritsche kniete und dem Jüngsten einen Löffel vor den Mund hielt. “So mach doch endlich den Mund auf, dummes Ding”, sagte sie gereizt. Aber das kleine Mädchen flüchtete sich angstvoll in den hintersten Winkel der Pritsche, wobei es einem der andern Kinder den Teller aus der Hand schlug. Vor kurzem erst hatte der fremde Mann ihm ein Stäbchen in den Mund gesteckt und mit einem kleinen Licht in seinen Hals ge leuchtet. Deshalb kniff es jetzt die Lippen zusammen und ließ sich nicht dazu überreden, den Mund auch nur ein einziges Mal zu öffnen. “Du mußt nicht so streng mit der Kleinen reden”, sagte Vater und er hob sich. “Auch wenn sie kein Norwegisch versteht, macht ihr doch der Ton Angst.” “Das weiß ich recht gut”, räumte Frida kleinlaut ein. “Gib mir den Teller, und paß inzwischen aufs Herdfeuer auf. Schau gar nicht her, damit sie ihre Furcht verliert.” Frida war froh, den Kin dern den Rücken kehren zu können – sie sahen gar zu unappetitlich 56
aus. Sie wollte Vater bei allem andern lieber helfen als bei den Kin dern. Man roch es, daß sie in die Hosen gemacht hatten, und bestimmt waren sie voller Läuse. Ihre Eltern verdienten wirklich Prügel – nein, die Mutter denn doch nicht; sie konnte ja nichts dafür, daß sie krank geworden war; aber der Vater, dieser gräßliche Waschlappen, um so mehr. “Hol den Zitronensirup und misch ihn mit Wasser und Zucker”, ordnete Vater an. “Die Frau lechzt nach etwas Erfrischendem.” Frida dämpfte den Aufruhr in ihrer Seele und folgte dem Befehl. Während sie die Mischung herstellte, äugte sie zur Kinderpritsche hinüber. Die Kleine hielt tatsächlich den Mund weit offen und erwar tete mit gierigem Blick den nächsten Bissen. Vater sprach gedämpft mit dem Kinde und lächelte ganz schwach. Frida fühlte leichte Gewis sensbisse, Sie hatte also versagt. Auf ihrem Gesicht hatte ein Aus druck des Ekels und Abscheus gelegen, und ihre innere Gereiztheit hatte sich im Ton ihrer Stimme verraten. Sie mußte sich zusammen nehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. “Nun, was ist denn, Assistent?” “Ich bin auf mich selber böse.” “Dazu hast du gar keinen Grund”, sagte Vater. “Das ist der schlimmste Fall von Verwahrlosung, den ich in all den vielen Jahren, seit ich in Finnmarken bin, zu sehen bekommen habe. Die Luft hier drinnen ist geradezu verpestet. Ich finde, daß du sehr tapfer gewesen bist.” “Soll ich… soll ich die Kinder umziehen?” fragte Frida, ihren Widerwillen bei dem Gedanken bezwingend. “Wir haben ja nichts zum Wechseln”, antwortete Vater. “Sonst würde ich jedes Stück, das sie am Leibe haben, verbrennen. Aber jetzt werde ich die kleinen Körper einmal untersuchen. Ich nehme an, daß die Hinterteilchen ziemlich schlimm dran sind. Du hast doch warmes Wasser für mich bereit, nicht wahr? Was ich sonst brauche, das liegt im Samariterkof fer.” “Soll ich dir beim Ablausen helfen?” erkundigte sich Frida. “Damit würden wir nie fertig werden. Vergiß nicht, daß die Pritsche ebenfalls mit Ungeziefer behaftet ist. Ich will nur nachsehen, was für Wunden die Kinder haben, und sie mit Salbe behandeln. Morgen schicke ich dann zwei Gemeindeschwestern hierher. Die sind Fachleu 57
te für Läuse. Aber die Frau kann ich in der Nacht nicht ohne Beistand lassen; wir wollen auf dem Heimweg bei der norwegischen Olga vor sprechen und sie hersenden. Sie versteht sich auf Krankenpflege.” “Und was geschieht mit dem Manne oben?” “Ach, der richtet heute bestimmt kein Unheil mehr an”, versetzte Vater. “Auf jeden Fall wer de ich Anders mit Olga zurückschicken. Wir können mit dem Falben schon allein fertig werden. Geh doch jetzt bitte zu Anders hinaus und hilf ihm bei den Pferden, während ich die Kinder untersuche.” “Soll ich dir denn nicht dabei helfen?” “Für heute hast du genug ge sehen”, entschied Vater und gab ihr einen kleinen Klaps auf die Wan ge. “Verschwind nun.” “Schickst du mich fort, weil ich vorhin nichts getaugt habe?” fragte Frida mit tränenerstickter Stimme. “Du hast etwas getaugt”, entgegne te Vater. “Aber die Kinder sollten noch mehr zu essen bekommen”, sagte sie; “sie sind noch nicht satt. Das Brot ist schon beinahe aufge taut, und die Butter wird gleich weich genug sein; außerdem habe ich in der Thermosflasche warme Milch mitgebracht. Wenn ich nun… ich meine… ich kann dir ja den Rücken zukehren… aber jedesmal, wenn du mit einem Kind fertig bist, würde ich ihm Brot und Milch geben… vielleicht… ich dachte… es wäre gewiß weniger schlimm für die Kleinen, wenn sie wissen, daß sie nachher etwas Gutes erhalten.” Va ter betrachtete sie prüfend. “Glaubst du, daß du es über dich- bringst?” “Ja.” “Dann heize erst einmal ordentlich ein, damit den Kindern das Nacktsein nicht schadet.” “Gern”, sagte Frida eifrig. “Und sowie dir schlecht wird, machst du, daß du hinaus kommst – ich werde keine Zeit haben, mich deiner anzunehmen, wenn du um fällst.” “Das geschieht ganz sicher nicht.” “Also versuchen wir's.” Als alles überstanden war, begab Frida sich mit ihrem Vater an die frische Luft. Sie sah sehr blaß aus. “Es war gar nicht so schlimm, wie ich dachte”, murmelte sie und atmete behutsam die eiskalte Luft durch die Nase ein. “Es gab so viel zu tun, daß mir überhaupt keine Zeit blieb, an etwas anderes zu denken.” Vater zündete sich eine Zigarette an. Die Türe zum Gang war ange lehnt, und die Tür zur Stube stand spaltbreit offen. 58
“Jetzt wird die Luft drinnen etwas besser werden”, sagte er. “Aber bei dieser Temperatur muß man sehr vorsichtig sein, wenn man lüftet. Anders ist mit dem Anspannen sicher bald fertig; deshalb muß ich se hen, daß ich den Flußlappen munter mache. Er soll auf das Feuer auf passen, bis die norwegische Olga kommt.” Er warf seine halbgerauchte Zigarette in den Schnee und ging wie der in die Hütte. Frida stand mit geschlossenen Augen in der Dunkel heit und sann vor sich hin. Ein Bild nach dem andern tauchte in ihrem Geiste auf. Der betrunkene Flußlappe mit erhobenem Messer – Hafer brei, der über die Pritsche verschmiert war – Anders, wie er etwas, das einem schlaffen Waschlappen glich, über die Bodentreppe hinauf schleppte. Der Geruch nach Schnaps, nach dem überhitzten Herd, nach besudelten Kinderhosen, nach antiseptischen Mitteln, nach über gekochter Milch – dieser vielfältige, dumpfige Geruch war fast das schlimmste gewesen. Aber sie hatte standgehalten. Sie hatte an Mutter gedacht, die dem Vater immer half – Mutter, die unter ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen war und alle ihre Gedanken an sich selbst und ihre eigenen Empfindungen in den Hintergrund gestellt hatte. Wie weit war sie noch davon entfernt, es der Mutter gleichzutun! Es war ihr nicht übel geworden bei der Behandlung der Kinder, aber ihr Ekel hatte sich gesteigert, und sie trachtete jeglicher Berührung auszuwei chen, obwohl ihr Herz vor Mitleid und Helferdrang hätte überfließen sollen. Jetzt stand sie hier draußen, wohl wissend, daß sie trotz ihrem Aus harren in gewisser Weise versagt hatte. “Es fehlt mir noch viel zu ei nem großen Menschen”, dachte sie betrübt. Sie schlüpfte wieder in die Hütte, um zu sehen, wie es mit dem Flußlappen ging. Vater hatte ihn auf eine Bank an den Tisch gesetzt. Der Mann war jetzt ganz wach, er sah sehr blaß und jämmerlich aus mit seinen dunklen Bartstoppeln. Seine Augen wichen nicht von Va ter, der vor dem Herd stand und Brei ausschöpfte. “Bitte sehr”, sagte der Doktor und setzte einen Teller Haferbrei vor den Mann. “Es ist noch mehr zu essen da, falls die Kinder wieder Hunger bekommen; und für deine Frau findest du hier Zitronensaft.” Dann holte er das Messer des Flußlappen von der Stelle, wo er es versteckt hatte, und 59
wog es nachdenklich in der Hand. “Hier hast du dein Messer wieder”, sagte er schließlich und legte es neben den Teller mit Haferbrei. Da warf sich der Flußlappe über den Tisch, verbarg das Gesicht in den Armen und weinte laut. “Wir holen Hilfe für die Kranken”, fuhr Vater fort. “Inzwischen paßt du gut auf das Feuer auf, nicht wahr?” Lautes Schluchzen und Schneuzen und heftiges Kopfnicken waren die einzige Antwort. “Komm nun”, sagte Vater zu Frida und führte sie hinaus. Nie hatte sie ihn so inbrünstig geliebt wie in diesem Augenblick. “Hast du Hunger?” fragte er, als sie in der Dunkelheit die glatte Uferböschung hinunterrutschten, um sich zu den Schlitten auf dem Flusse zu begeben. “Hu nein”, erwiderte sie, und wieder schüttelte sie der Ekel. “Der Hunger wird schon kommen”, versicherte Vater und half ihr in die Kissen und Decken. Unvermittelt leuchtete er ihr mit seiner Ta schenlampe ins Gesicht, während er munter hinzufügte: “Und jetzt kannst du dich freuen. Nun fahren wir zur norwegischen Olga und zu deiner Freundin Kyllikki. Ich bin gespannt, was sie sich seit dem letz tenmal alles ausgedacht hat.” Und er lachte bei dem Gedanken an Kyl likkis Einfalle. Das Pferd schlug einen flachen Trab an. Vater mußte es zügeln, damit es nicht in Anders' Schlitten hineinlief. Hinter ihnen lag in der Dunkelheit die Lappenhütte, die so viel Elend barg. Vor ihnen aber lag ein neues Erlebnis, das Fridas Gedanken auf sich lenkte – fort von all dem Traurigen. Sie lächelte vor sich hin. Sie dachte an Kyllikki, die finnische Toch ter der norwegischen Olga – an die unbändige, prächtige Kyllikki, die immer so lustige Sachen ausheckte. Ja, es war gut, wieder draußen auf dem Flußeis zu sein.
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Große Ereignisse “Jetzt kommt der Mond endlich hervor”, sagte Frida und wies über den Kopf des Pferdes auf den Himmel. “Aber wir werden nicht mehr viel von ihm haben, er geht schon unter.” Sie fuhren mitten auf dem Flusse, weit vom Ufer entfernt. Wie ein blauer Schatten lag die Spur im weißen Schnee; die gewellten Linien der Ufer zeichneten sich deutlich vom Himmel ab. Doch jetzt bog An ders in eine Nebenspur ein, die sie auf die finnische Seite hinüberführ te. Sie gewahrten eine kleine Ansammlung von schneebedeckten Blockhäusern; das war die ganze finnische Siedlung. Einige Häuser lagen ganz unten am Flusse, andere viel weiter oben, da das Gelände anstieg. Das Haus der norwegischen Olga war das größte. Die Spur führte die Böschung hinauf, vorbei an Blockhütten, Stäl len und Vorratskammern, die auf hohen Steinen standen. Dunkle Fen sterscheiben waren den Ankommenden wie blinde Augen zugewandt. Im Schnee stand eine ganze Reihe von Fahr- und Holzschlitten. Das Mondlicht fiel auf drei ausgespannte Rentierfelle, die an einem Haus giebel hingen. “Sie haben kürzlich geschlachtet”, stellte Frida fest, die vergeblich nach einem Licht Ausschau hielt. Dann fragte sie: “Wie spät ist es eigentlich?” “Halb neun”, antwortete Vater. “Die gehen aber früh zu Bett”, murmelte sie. “Steck die Nase in deinen Schal”, mahnte er. “Wir wollen keine Erfrierungen haben.” “Ich habe nur nach Kyllikki ausgeschaut”, entschuldigte sie sich. “Glaubst du etwa, daß sie bei dreißig Grad draußen in der Kälte steht?” lachte er. “Nein, sicher nicht, aber immerhin sollte ein kleines bißchen Licht zu sehen sein.” Kurz darauf stand sie vor der Haustür und hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz. “Wach auf, Kyllikki, wach auf!” Nach einiger Zeit flammte drinnen ein Licht auf, das sich rasch be wegte. Dann wurde die Türe spaltbreit geöffnet, und Kyllikkis ver schlafenes Gesicht zeigte sich in der Öffnung. Zwei lange blonde Zöp fe hingen ihr auf die Schultern nieder. Wie eine Halbmaske lagen un 61
zählige Sommersprossen über ihrem Nasenrücken und den Wangen. Zuerst mußte sie mit dem Schlaf kämpfen, aber ihre Neugier war so groß, daß sie vor lauter Spannung hellwach wurde. “Wer ist da?” erkundigte sie sich mit einer Stimme, die vor Erwar tung bebte. “Ich bin's – Frida”, erklang die fröhliche Antwort, und Frida trat ein. Kyllikki hatte warme, braune Augen und eine merkwürdig tiefe Stimme. “Nein, so etwas!” rief sie und warf die Türe hinter den An kömmlingen zu, um die Kälte auszuschließen. “Mitten in der Dunkel heit und bei einer Kälte, daß es im Gebälk nur so knackt! Außerdem scheint der Mond kaum, und doch kommt ihr! Noch dazu gerade heu te, wo unsere neue Gästestube fertig geworden ist!” Damit stürmte sie zu ihren Eltern ins Zimmer, die soeben im Begriff waren, sich anzu ziehen. “Na, wer hat nun recht gehabt?” jubelte sie. “Ich sagte, daß es geklopft hat, und ihr sagtet, ich hätte nur geträumt; aber ich fand es doch richtiger, einmal nachzusehen, und als ich auf dem Weg zur Türe war, donnerte es nochmals. Frida und Doktor Gylseth sind gekom men!”
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Dann sauste sie wieder in die Diele hinaus, bürstete den beiden Gä sten den Schnee ab und machte sich daran, Frida den Pelz über den Kopf zu ziehen. Sie zog und zerrte und schnaufte vor Anstrengung, und ihre Wangen glühten. “Meine Güte, das geht aber schwer”, rief sie Frida zu, die mit ausgestreckten Armen vorgebeugt dastand, ganz begraben im Pelz. “Hoffentlich bekommst du noch Luft. Paß auf, jetzt zieh' ich wieder.” Endlich kam Fridas Gesicht zum Vorschein. “Ich konnte gar nicht begreifen, wieso du so dick geworden bist”, lachte Kyllikki. “Jetzt versteh' ich's – wenn du zwei Pelze übereinander an gezogen hast! – Darf ich bitten, hier ist die Gästestube.” Mit strahlender Miene öffnete sie die Türe zu einem großen, dunklen Raum. “Wartet, ich zünde rasch die Lampe an. – Nun glaube ich aber wirk lich an Wunder. Wir sind gerade erst mit der Stube fertig geworden und haben zum erstenmal Feuer gemacht, um den Kamin zu erproben – und da kommt ihr wahrhaftig!” Während sie sprach, setzte sie das Lampenglas über die kleine Flamme und schraubte den Docht in die Höhe. Dann wandte sie sich den beiden zu und fragte entzückt: “Ist das Zimmer nicht schön? Wir haben alles ganz allein hergestellt. Auch die Kissen auf den Stühlen und den Teppich und die Vorhänge. Mutter und ich haben jedes Stück gewebt, während Vater und Eino und Pekko die Stube bauten.” Träumerisch betrachtete sie die Lampe. “Ist sie nicht prächtig?” flü sterte sie ehrfurchtsvoll. “Sie stammt aus Helsingfors. Hier im Norden hat niemand solch eine Lampe. Mutter hat sie heute nachmittag ange zündet, um den Docht anzubrennen; der Schein fiel durch die Fenster, und die halbe Siedlung machte sich eine Ehre daraus, sie anzuschauen. Mir wird ganz feierlich zumute, wenn ich denke, daß wir das erreicht haben. Und seht euch mal den Kamin richtig an. Er reicht bis zur Decke, und der Stein fühlt sich so herrlich an, und ich liebe die grau blaue Farbe. Vater und die Buben haben ihn selber errichtet, ganz oh ne Hilfe haben sie alles gebaut. Vorigen Winter fällten sie Bäume im Walde, und dann ließen sie das Holz den Sommer über draußen trock nen. Doch als sie anfingen, die Gästestube zu bauen, meinten viele, daß sie niemals damit fertig werden würden, weil sie so groß ist. Mut ter aber sagt, daß es immer nur auf den Willen ankommt. Das steht auch in der Zeitung, die wir lesen, und wir haben oft darüber gespro 63
chen – Eino ist außerordentlich stark, und Pekko versteht sich aufs Rechnen. Er hat alles ausgerechnet – so viele Balken hier und so viele Balken dort; und manchmal lag er die halbe Nacht wach, um nachzu denken. Wenn er die Geduld verlor, schalt Vater ihn und sagte, daß man nichts so sehr im Überfluß habe wie Zeit; und Vater war unver zagt und gab nicht nach, so daß die Buben es ihm gleichtun wollten und auch nicht locker ließen, obwohl sie oft müde waren.” Kyllikki lachte fröhlich und fuhr fort: “Im Sommer kommen dann die Touri sten. Sie segeln auf dem Tana bis zum Eismeer hinauf und lassen sich von den Lappen zurückfahren. Die Touristen finden keine bessere Un terkunft als bei uns, denn die meisten ansässigen Lappen sind ja so schmutzig, und die Touristen können es nicht vertragen, wenn man auf den Boden spuckt, und wenn die Rentierköpfe mit Augen und Maul und Zähnen gekocht werden, und wenn niemals etwas sauber gemacht wird. Aber hier werden sie sich daheim fühlen, sagt Mutter, denn wir trinken nicht aus der Wassertonne wie die Lappenkinder, die auf den Rand hinaufklettern und das ganze Gesicht hineintauchen. Einmal ist die Tonne dabei umgestürzt und hat ein paar Kinder beina he begraben. Mutter hat mal einem Professor in Oslo den Haushalt geführt. Der wollte alles genau so haben wie die Touristen – frischge backenes Weizenbrot und vorgewärmte Teller und saubere Gardinen und einen gescheuerten Fußboden. Sie spricht ja auch Finnisch und Norwegisch und Lappisch, und sie sagt, es sei dumm von mir, daß ich nicht Norwegisch lerne, wenn Vater auch Finne ist und ich in Finn land lebe. Aber alle Norweger in Finnmarken können ja die Sprache der Lappen, und meinst du nicht auch, Frida, daß wir beide immer nur Lappisch miteinander reden würden, auch wenn ich Norwegisch könnte? Mutter sagt jedoch, daß die Touristen, die vom Süden kom men, keine Ahnung von der Lappensprache haben – und was dann? – Aber weißt du, was ich im Sinn habe? Ich will Englisch lernen, denn es kommen auch Engländer her, die man an den karierten Stoffen ihrer Kleidung erkennt. Wenn ich nur wüßte, wo ich Englisch lernen könnte – kein Mensch kann diese Sprache.” “Ich kann sie dich lehren”, sagte Frida. “Im Ernst?” rief Kyllikki begeistert. “Oh, wie freut mich das! Sowie ich mir das Pferd ausleihen kann, fahre ich zum Kirchspiel, und im Sommer komme ich mit dem Boot, auch wenn ich mir noch so vie 64
le Blasen an den Händen hole. Da ich aber gegen den Strom fahre, kann ich an einem Tage nur den einen Weg schaffen – so muß ich halt über Nacht fortbleiben. Ich weiß schon, wo ich schlafen kann.” “Du schläfst bei mir”, entschied Frida. “Etwas anderes kommt gar nicht in Frage.” Kyllikki willigte erfreut ein. Dann fragte sie eifrig: “Wie lange dau ert es wohl, bis du mir die englische Sprache eingetrichtert hast?” Frida wurde der Antwort enthoben, denn jetzt erschien Kyllikkis Mutter, die norwegische Olga, in der Türe. Ihre dunklen Haare waren straff aus dem blassen Gesicht mit den klugen Augen gekämmt. Sie trug eine weiße Schürze über dem Kleid und an den Beinen Stiefel und Fellgamaschen. Sie lächelte würdevoll und freundlich, als sie Fri das Vater begrüßte. “Das muß ich sagen”, rief er und ergriff ihre Hand, “Ihr Mann und Ihre Söhne haben ein schönes Stück Arbeit geleistet. Ich werde weit und breit Reklame machen für die prächtige Stube.” Eine feine Freudenröte stieg in Olgas Antlitz. “Wir sind sehr froh, daß wir es geschafft haben”, erwiderte sie. “Pekko und Eino sind heu te fortgefahren, und wir wissen nicht, wann sie zurückkehren werden. Es kam ein Bote mit einem Rentier, der die Nachricht brachte, daß sie sich so schnell wie möglich beim Freikorps melden sollten. Einige an dere junge Männer aus der Gegend wurden ganz plötzlich zum Heer einberufen. Es sieht aus, als ob es große Manöver geben würde.” “Aber fertig sind wir geworden”, erklang es von der Türe, und Ol gas Mann trat ins Zimmer, um die Gäste zu begrüßen. Er war ein stämmiger, kleiner, jedoch sehr kräftiger Mann mit lebhaften Augen, die von Gesicht zu Gesicht schweiften wie um darin zu lesen. “Wir hatten alle Hände voll zu tun, bis die Buben reisefertig waren”, erklär te die norwegische Olga. “Nach ihrer Abfahrt gingen wir gleich zu Bett.” “Da ist es wirklich eine Schande, daß wir Sie geweckt haben”, sagte Dr. Gylseth. “Eine Schande!” wiederholte Olga entrüstet. “O nein, wir freuen uns sehr! Außerdem sind wir es ja gewöhnt, zu allen Tages- und 65
Nachtzeiten von den Postfahrern geweckt zu werden, zumal in diesem Winter, wo sie so schwer vorwärts kommen.” “Ich gehe jetzt hinaus und helfe die Pferde in den Stall schaffen”, verkündete ihr Mann. “Ja, und der Doktor soll doch auch etwas zu essen haben”, rief Olga eifrig und eilte zur Türe. “Es dauert nur einen Augenblick. Oluf ist gerade dabei, im Herd nachzulegen. Ein Glück, daß wir den Jungen noch da haben, wo die andern jetzt fort sind. Er ist ungewöhnlich groß und kräftig für seine zwölf Jahre, und er versteht sich aufs Bäumefäl len schon beinahe so gut wie seine erwachsenen Brüder.” “Machen Sie sich unseretwegen bitte keine Mühe”, wehrte der Arzt ab. “Hingegen bin ich gekommen, um Sie um eine sehr große Gefäl ligkeit zu bitten.” Hierauf erzählte er der norwegischen Olga von der kranken Frau des Flußlappen und von den kleinen Kindern, die der Pflege bedurften. “Anders kann Sie mit dem Schlitten hinfahren”, schloß er. “Ich nehme Oluf mit”, sagte sie entschlossen. “Kyllikki soll daheim bleiben und für ihren Vater sorgen. Sie wird auch mit den Rei senden fertig werden, falls welche vorbeikommen. Ein Glück nur, daß jetzt kein Gast da ist. Sie bleiben doch über Nacht bei uns, Herr Dok tor?” “Nein, wir fahren weiter, sobald wir gegessen haben”, antwortete Vater. “Anders mag hier schlafen, wenn er mit dem Pferd zurück kehrt. Beim Flußlappen gibt es keinen ordentlichen Stall.” Kyllikki machte Frida ein Zeichen, worauf die beiden Mädchen hinausschlüpften und in die Küche eilten. “Wie schade, daß du nicht über Nacht bleiben kannst”, bedauerte Kyllikki, während sie den Tisch deckte. “Ich hatte mich schon so darauf gefreut, dir alles mögli che zu erzählen.” “Dann erzähl doch jetzt”, versetzte Frida. “Kannst du nicht deinem Vater sagen, daß Wölfe in der Nähe sind, und daß es gefährlich ist, weiterzufahren?” “Glaubst du etwa, daß er sich um die Wölfe schert?” lachte Frida. “Noch dazu, wo deine Mutter sich hinauswagt!” “Aber es sind wirklich Wölfe da”, versicherte Kyllikki. “Wir haben unsere Ren tiere aus dem Walde geholt, denn wir wollen nicht, daß sie gefressen 66
werden. Sie sind jetzt draußen in der Umfriedung. Hast du sie beim Herkommen nicht gesehen?” “Ich hab' nur Dunkelheit gesehen”, gab Frida zurück. “Weißt du nicht sonst etwas, das deinen Vater zum Hierbleiben bewegen wür de?” “Das wäre den Kranken gegenüber unrecht”, erwiderte Frida. “Nur um meines Vergnügens willen!” Kyllikki seufzte tief auf. “Ich war so glücklich, dich hier zu haben.” “Ich komme ein andermal wieder.” “Wann?” “Vielleicht komme ich bald, und dann bleibe ich drei Tage hier – wenn du mich haben willst.” Kyllikkis Augen strahlten. “In drei Tagen können wir eine Menge unternehmen”, sagte sie. “Komm nächste Woche, da schlachten wir Rentiere.” “Ich könnte mit dem Postfahrer herkommen”, meinte Frida, “falls Vater mich nicht dringend braucht.” “Du, hör zu! Ich weiß, wo oben auf der norwegischen Seite eine Bergstadt liegt”, sagte Kyllikki mit gesenkter Stimme. “Es ist gar nicht weit von hier, und wir können mit den Skiern hinfahren. Dort ist ein Hellseher, der in die Zukunft sieht und alles zu erzählen vermag, was dann geschieht. Es ist ein uralter Mann; fast blind ist er, und trotzdem ein Hellseher. Er sieht nicht mit den Augen, sondern mit etwas, das in seiner Seele ist.” “Glaubst du an solche Sachen?” flüsterte Frida. “Glaubst du daran?” fragte Kyllikki vorsichtig zurück. “Ich weiß nicht recht.” “Mit den Lappen ist das sonderbar”, raunte Kyllikki. “Hier in der Gegend wohnt eine Lappenfrau; sie ist noch ganz jung, aber bisweilen fällt sie um und verdreht die Augen, und dann sagt sie eine Menge, und das, was sie sagt, geschieht fast immer. Aber sie selbst kann sich nachher nicht mehr daran erinnern. Weißt du, was sie vor vierzehn Tagen gesagt hat? Da sagte sie, daß bald eine Zeit kommen werde, wo alle jungen Männer ihre Angehörigen verlassen müssen, und viele würden nie mehr zurückkehren, und diejenigen, welche heimkämen, brächten große Sorgen mit. Darum wurde mir ganz unheimlich zumu te, als Pekko und Eino plötzlich fortfahren mußten.” “Sprich darüber nicht mit Vater”, mahnte Frida. “Nein, bewahre! Wir brauchen ja 67
niemand zu erzählen, wohin wir gehen; wir sagen bloß, daß wir eine kleine Skitour machen wollen.” Es kribbelte in Frida. Kyllikki weckte etwas tief in ihrem Innern, etwas, das sie zu unterdrücken suchte, wenn sie allein war. Aber die Freundin riß sie mit sich, reizte ihren Hang zum Geheimnisvollen, bil dete gleichsam alles vor ihren Augen um. Ihr Herz klopfte heftig. Um Kyllikkis rote Lippen spielte ein geheimnisvolles Lächeln. “Ich weiß noch etwas, das ich dir erzählen werde, wenn du das nächste Mal kommst.” “Warum kannst du es denn nicht jetzt sagen?” fragte Frida. “Es ist besser zu warten”, antwortete Kyllikki. In diesem Augen blick kam Vater herein. “Na, steht ihr hier und schmiedet Pläne?” be merkte er munter. Frida errötete schuldbewußt. Es war sicherlich nicht recht, etwas vor ihm zu verbergen; er ließ sich nur allzu leicht betrü gen, denn er vertraute ihr. Wenn sie aber ihr Geheimnis verriet, dann wurde nichts aus dem Ausflug zu dem halbblinden, alten Lappen – und sie mußte ganz einfach hören, was er von der Zukunft wußte! Den ganzen Abend steckten die beiden Freundinnen zusammen. Wurde Kyllikki hinausgeschickt, um etwas zu holen, so ging Frida mit. Sie drückten die Nase an die gefrorene Fensterscheibe und sahen Olga im Schlitten fortfahren; zwischen ihr und Anders saß der zwölfjährige Oluf. “Oluf ist so ernst und schweigsam”, murmelte Kyllikki mit ihrer tie fen Stimme. “Er möchte gerne ein Mann sein.” Sie blieben am Fenster stehen und sprachen leise miteinander, lange nachdem die Dunkelheit den Schlitten verschluckt hatte. Hoch oben am Himmel hing ein feines, blasses Spinngewebe aus bunten Licht strahlen, höher, als man den Himmel vermutete. Bisweilen flackerte es schwach, als ob ein unsichtbarer Mund es angehaucht hätte. “Aus der Wissenschaft mache ich mir nicht viel”, flüsterte Kyllikki. “Kann sie vielleicht das Nordlicht da oben erklären? Sie kann nur mutmaßen.” Frida holte tief Atem. Die Dunkelheit bewirkte, daß ihre Gedanken seltsame Wege gingen. Alles war so unwirklich, auch wenn der Mond schien. Schatten und Licht und Farben wurden verwandelt, und die 68
ganze Welt erstarrte in Eis und Schnee. Und mitunter wurde sie von der Angst erfaßt, daß die Sonne überhaupt nie mehr wiederkommen könnte – daß sie vielleicht nur etwas wäre, das sie selber sich einge bildet hatte. “Seit zehn Tagen haben wir kein Radio mehr gehört”, berichtete Kyllikki. “Unsere Batterie gab keinen Strom mehr, und einer der Post fahrer hat sie mitgenommen, um sie laden zu lassen. Heute nachmittag haben wir sie zurückbekommen. Vater sagt, ohne Radio sei es, als ob die Erde stillstünde. Ich finde es herrlich, wenn sie stillsteht. Ich reiße mich gar nicht darum, von all den Menschen zu hören, die sich gegen seitig umbringen. Und du?” Frida schüttelte den Kopf. “Ich habe auch lange keine Radionachrichten mehr gehört. Vater und ich waren im merzu unterwegs.” “Es sollte gar keine andere Welt geben als diese hier”, sagte Kyllik ki und wies mit dem Kinn in die Dunkelheit hinaus. Das Spinngewebe am Himmel schwankte und flackerte, und plötzlich mußte Frida an Mutter und Bergliot in Oslo denken, wo jeden Tag die Sonne schien. “Im vorigen Winter nahmen Pekko und Eino, nachdem das Holz für die Gästestube zugeschnitten war, einige Tagereisen von hier Waldar beit an”, erzählte Kyllikki. “Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, das Geld für Lampe, Porzellan und dergleichen selber zu verdienen; und du kannst mir glauben, sie waren mächtig stolz, als sie heimkamen und das Geld vor Mutter auf den Tisch legten. Die ganze Siedlung gaffte, denn sie trugen Schützenuniform. Hier sieht man so etwas ja selten, weil unsere Siedlung nur aus ein paar Blockhütten besteht und wir fern von allen Menschen hausen. Deshalb gibt es hier auch keinen Schützenverein. Im Süden aber traten sie sogleich dem Schützenver ein bei, und Pekko gewann beim Schießen sogar einen Silberbecher.” Kyllikki machte eine Pause, dann fuhr sie fort: “Und da kam nun heu te der Mann mit dem Rentier und holte sie. Er war in Schützenuni form, und es blieb ihnen keine Zeit, auf den Postfahrer zu warten, denn wenn die Schützen aufgeboten werden, muß jeder sich beeilen, so sehr er kann. Sie hängten sich auf Skiern an seinen Pulk. Meine Güte, waren sie vergnügt und ausgelassen, weil sie beim Manöver mitmachen sollten!” Kyllikki lachte leise. “Es ist ganz sonderbar, daß in der Dunkelheit nie etwas geschieht. Wirklich, nie geschieht etwas. 69
Wir waren deshalb alle sehr aufgeregt, und Mutter sagte: ‚Jetzt ge schieht ganz sicher noch etwas.’ Und siehst du wohl, dann seid ihr ge kommen! Nun fehlt nur noch das dritte Ereignis. Immer geschehen drei Dinge, wenn es erst einmal anfängt.” “Hoffentlich kommt das dritte Ereignis, solange wir noch hier sind”, sagte Frida und folgte der Freundin in die Küche, um beim Ab wäschen mitzuhelfen. “Bleib du gefälligst in der Stube”, rief Kyllikki ihr zu. “Glaubst du etwa, daß ich mir helfen lasse? Setz dich mit dei nem Vater an den Kamin, bis mein Vater angespannt hat, und gib aufs Feuer acht. Wenn du Glück hast, siehst du alle möglichen Bilder in den Flammen, weil das Kaminfeuer ja zum erstenmal brennt.” “Ich will aber bei dir sein”, gab Frida zurück. “Nein, nein, das geht nicht”, verwies Kyllikki sie. “Du bist hier zu Gast, und ich bin die Wirtin.” “Du bist keine Wirtin, sondern ein Quatschkopf”, lachte Frida und er griff rasch ein Küchentuch. Plötzlich ertönte Musik. Kyllikki zuckte vor Schreck zusammen, doch im nächsten Augenblick brach sie in Lachen aus. “Ach, ich hatte das Radio ganz vergessen”, sprudelte sie hervor. “Vater muß den Apparat angedreht haben, bevor er zu eurem Pferd hinausging.” “Nimm nun endlich das heiße Wasser und laß uns anfangen!” rief Frida ungeduldig und fuchtelte mit dem Küchentuch in der Luft her um. “Du sollst aber gar nicht anfangen; allerhöchstens darfst du zuse hen”, versetzte Kyllikki, während sie das heiße Wasser in die Ab waschschüssel goß, wobei ihr Gesicht ganz im Dampf verschwand. “Setz dich inzwischen auf den Schemel dort.” “Nein, ich will nicht”, entgegnete Frida eigensinnig. “Du mußt”, sagte Kyllikki, und sie wollte der Freundin das Küchentuch aus der Hand reißen, aber Frida hielt fest. “Paß auf, daß es nicht zerreißt”, mahnte Kyllikki und packte mit beiden Händen zu. “Dann ist es deine Schuld”, erklärte Frida und zog mit aller Kraft. Im Radio wurde jetzt eine Stimme hörbar, die auf Finnisch laut sprach. 70
“Gib nur ruhig nach”, lachte Frida. “Ich bin nämlich sehr stark.” “Ich auch”, versetzte Kyllikki und warf sich mit neuem Eifer in den Kampf. Gelächter erschallte in der Küche, während die beiden Freundinnen hin und her schwankten. “Laß das Tuch los, sonst komme ich am nächsten Donnerstag nicht wieder!” schrie Frida, während sie versuchte, das Tuch fester zu packen. Im selben Augenblick ließ Kyllikki das Küchentuch los. Alles Lachen war aus ihrem Gesicht fortgewischt, und sie stand wie versteinert da, die Augen auf den Lautsprecher gerichtet. “Na, wer hat nun gesiegt?” rief Frida frohlockend. “Pscht!” kam es von Kyllikki. “Pscht!” Frida wedelte siegesstolz mit dem Küchentuch vor ihrer Nase herum, aber Kyllikki lachte nicht; stumm und leichen blaß lauschte sie der Stimme, die aus dem Lautsprecher kam. “Sagt er etwas Wichtiges?” erkundigte sich Frida verwundert. Kyllikki nickte wortlos. “Ist's etwas Schlimmes?” “Ja”, antwortete Kyllikki mit einem tiefen Seufzer; aber erst als die Nationalhymne laut erklang, wandte sie sich bewegt der Freundin zu. “Wir sind im Krieg”, sagte sie leise. “Die Russen sind an mehreren Stellen über die Grenze gegangen.” Tränen verdunkelten ihre Stimme. “Deshalb also hat man Eino und Pekko und die andern geholt. Sie sol len kämpfen.” “Im Krieg?” fragte Frida erschrocken. “Aber warum denn?” Kyllikki schüttelte den Kopf. “Ich verstehe das alles nicht. Ich weiß nur, daß wir uns niemals ergeben werden – niemals, solange wir uns wehren können.” Dann stürzte sie zur Türe hinaus, um ihrem Vater die Neuigkeit mitzuteilen. Die Schlittenkufen scharrten über das spiegelblanke Eis, und die Pferdehufe schlugen hart dagegen. Dann hatten sie die schneefreie Strecke hinter sich und fuhren über den weichen Schnee durch die brütende Dunkelheit. Die Kälte war so groß, daß das Eis mit lautem Knall immer wieder barst. Der Mond und auch das feine Spinngewebe des Nordlichts waren verschwunden. 71
Frida atmete in ihren dicken Schal; nur ihre Augen waren frei und starrten in die Dunkelheit, um Hindernisse aufzuspüren, die Vater nicht gewahrte. “Du hast dich von der Spur entfernt”, murmelte sie. “Du mußt et was mehr nach rechts lenken.” Vater änderte fast unmerklich die Richtung. “So, jetzt stimmt's wie der”, verkündete Frida. “Du siehst ja fast so gut wie ein Berglappe”, bemerkte er verblüfft. “Ein Glück, daß du mitgekommen bist!” Sie kroch tiefer in die Decken. Ob sie wohl wirklich mit den Augen alles sah, oder hatte sie es ganz einfach nur im Gefühl wie die Berglappen? Sie merkte selber, wie Sehvermögen und Gehör und überhaupt alle ihre Sinne sich in der Dunkelheit schärften. Man mußte vorsichtig sein, wenn man sich in einer solchen Nacht draußen aufhielt. Gleich wohl konnte man die Gedanken schweifen lassen. Krieg in Europa – das war etwas merkwürdig Fernes, das nicht so richtig zu ihr drang. Krieg in Finnland hingegen – das war etwas Wirkliches, das sie be griff. Kyllikkis beide Brüder befanden sich auf dem Wege zur Front. Noch viele andere junge Männer, die sie kannte, wurden aus ihrem friedlichen Leben gerissen und mußten sich Hals über Kopf in den Kampf fürs Vaterland stürzen. “Ja, das ist traurig”, sagte Vater, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. “Und wie sollen sie gegen einen so übermächtigen Feind bestehen?” So hatten Kyllikki und ihr Vater nicht gesprochen; die beiden hatten nur vom Kampf bis zum äußersten geredet. “Ich habe Kyllikki zuge sagt, nächsten Donnerstag wiederzukommen”, berichtete Frida. “Falls die Grenze nicht gesperrt wird”, gab Vater zurück. “Möglich, daß das geschieht.” “Wir können doch die finnische Seite nicht entbehren, wenn wir nordwärts fahren”, rief Frida. “Wo sollen wir denn dann einkehren?” “Ich fürchte, daß man auf uns keine Rücksicht nehmen wird”, ant wortete er. Wieviel hatte sie mit Kyllikki nicht besprochen, und nun war's zu spät! Alles war jetzt anders – nur weil die Stimme im Radio bestimm te Worte geäußert hatte. Die Worte hatten das Leben eines ganzen 72
Volkes verändert. Wenn die Menschen abends zu Bett gingen, dachten sie als letztes an den Krieg, und wenn sie morgens aufwachten, galt ihm ihr erster Gedanke. Und viele von ihnen schliefen wohl überhaupt nicht in der Nacht. Aber während sie wach lagen, wußten sie, daß ihre Sorgen auch die aller andern Menschen im Lande waren. ‚Mich bedrückt das alles aber nicht’, dachte Frida und fühlte des halb beinahe Gewissensbisse. ‚Nur weil ich auf der andern Seite des Tana wohne, habe ich diese Sorgen nicht.’ “Vater, glaubst du, daß wir auch hineingezogen werden?” fragte sie leise. “Das kann man nicht wissen.” “Ich vermag mir Norwegen im Krieg einfach nicht vorzustellen.” Ihre Gedanken schweiften plötzlich zur norwegischen Olga zurück und zu der neuen Gästestube, die soeben fertig geworden war. “Nun werden im Sommer keine Touristen kommen”, sagte sie. “Da hätten sie die Gästestube ebensogut gar nicht zu bauen brauchen. All die Mühe war umsonst.” “Laß uns nur erst abwarten”, versetzte Vater. “Ewig kann der Krieg ja nicht dauern.” Frida fühlte plötzlich einen Stich, als ihr wieder etwas einfiel. “Oh, und nun kann Kyllikki ja auch nicht ins Kirchspiel kommen, um Eng lisch zu lernen. Alles ist anders geworden!” Ganz in der Ferne ertönte ein langgezogenes Geheul. Das Pferd spitzte die Ohren und schoß vorwärts, so daß Vater Schwierigkeiten hatte, es zu zügeln. “Hast du das gehört?” flüsterte Frida erregt, und vergessen waren Kyllikki und der Krieg. “Gehört hab' ich nichts, aber das Pferd ist über irgend etwas er schrocken.” “Ein Wolf hat geheult.” “Du irrst dich sicher.” “Nein, ich hab's ganz deutlich gehört. Ach, wenn es doch nicht so dunkel wäre – sonst könnten wir ihm eins auf den Pelz brennen?” “Nur nicht so blutdürstig”, lachte Vater. “Kyllikki erzählte mir, daß sie ihre Rentiere aus dem Walde geholt haben, weil sie fürchteten, daß sie gefressen werden könnten. Stell dir vor, wenn nun ein Wolf in un 73
seren Wald käme und eins meiner Rentiere anfiele! Ich hasse die Wöl fe!” “Es ist nur gut, daß du keine Angst vor ihnen hast”, bemerkte er. “Angst? Vor diesen feigen Tieren?” rief Frida verächtlich. “Es gibt doch keinen Menschen, der Angst vor ihnen hat.” “Keinen Berglappen, aber andere Menschen wohl.” “Ich rechne nur mit Berglappen”, erklärte sie. “Sie verstehen sich auf Wölfe – die an dern haben nur irgendwelchen Unsinn in einem dummen Buche gele sen. Hast du jemals gehört, daß ein Wolf einen Berglappen angefallen hat? Warum sollte man also Angst vor den Wölfen haben?” “Men schen sind leichter zu erbeuten als Rentiere”, sagte Vater. “Vielleicht schmecken sie auch besser.” “Das wissen die Wölfe ja gar nicht, wenn sie niemals Menschenfleisch gekostet haben”, erwiderte Frida, und dann lachte sie so herzlich, daß Vater einstimmen mußte. Während sie lachte, fiel ihr die kranke Flußlappen-Familie ein und dann die Tatsa che, daß Finnland im Krieg war – aber man konnte den Kopf nicht hängen lassen, während man bei dreißig Grad Kälte und brütender Dunkelheit auf dem Eise dahinfuhr und damit rechnete, daß die Wölfe sich vielleicht so nahe an den Schlitten heranwagen würden, daß man imstande war, auf sie zu schießen. “Wenn du so lachst, erfrieren dir noch die Lungenspitzen”, mahnte der Vater. “Ich lache aber ganz tief innen im Schal”, entschuldigte sie sich. “In meine Lungen kommt bestimmt nur angewärmte Luft.” Olga mußte inzwischen beim Flußlappen angelangt sein, und sie ahnte nicht, daß ihre beiden Söhne eingezogen waren. Erst morgen, wenn die Gemeindeschwestern sie ablösen kamen, würde sie die be trübliche Neuigkeit vernehmen. “Vater, zeigst du den Flußlappen bei der Behörde an?” fragte Frida. “Nein”, erwiderte er. “Wirst du ihm gehörig den Kopf waschen?” “Vorläufig nicht. So lange seine Frau und das Kind ernstlich krank sind, hat er an wichtige re Dinge zu denken.” “Aber wenn er nun mit seiner Schnapsbrennerei weitermacht?” “Das wird er nicht tun.” “Woher weißt du das?” 74
“Ich werde den Postfahrern einen solchen Schrecken einjagen, daß sie sich in Zukunft hüten werden, bei ihm oder bei andern Schnaps zu kaufen. Vergiß nicht, daß die Leute ihre Stelle bei der Post verlieren, wenn die Sache herauskommt.” “Daran hab' ich gar nicht gedacht”, sagte Frida. “Außerdem wird es dem Flußlappen von nun an schwerfallen, sich Korn für seine Schnapsbrennerei zu verschaffen.” “Wieso?” “Er muß das Korn von Finnland hereingeschmuggelt haben, andern falls wäre sein Tun entdeckt worden. Was glaubst du denn, was der Kaufmann im Kirchspiel sich wohl gedacht hätte, wenn ein armer Flußlappe, der nicht einmal ein Schwein besitzt, zu ihm gekommen wäre, um so große Mengen Korn zu kaufen?” “Aber könnten es ihm die Postfahrer nicht von der Küste bringen?” “Das wäre natürlich möglich, aber ich bezweifle es. Es wird ja nicht jeder Beliebige als Postfahrer angestellt, und sie würden sich damit auf ein zu großes Wagnis einlassen. Aber selbstverständlich haben die Postfahrer Bescheid gewußt; das stand ja auch deutlich genug auf dem Gesicht des Burschen geschrieben, der uns von der kranken Frau be richtete. Er war sich klar darüber, daß ich nicht umhin konnte, das Ganze zu entdecken, doch trotzdem zwang ihn sein Gewissen, mich zu holen. Das gereicht ihm zur Ehre.” “Ja”, sagte Frida und saß eine Weile in Gedanken versunken. Dann sprudelte sie plötzlich hervor: “Wie anders war es doch bei Olga… ach, ich weiß gar nicht, woher es kommt, aber bei ihr bin ich stets gu ter Laune. Beim Flußlappen dachte ich immer nur, wie hoffnungslos es doch sein muß, wenn man arm ist; aber bei Kyllikki gab es nichts Hoffnungsloses. Zuerst hatten ihre Eltern nur eine einzige Stube, die als Küche und Schlafzimmer zugleich diente, und denk bloß, was sie jetzt alles haben – ein großes, schönes Blockhaus und außer einem Pferd und Rentieren noch drei Kühe und zehn Schafe. Und all das ha ben sie sich mit eigenen Händen geschaffen.” “Die Schaffensfreude ist die schönste Freude”, erwiderte Vater, “und Selbstachtung ist die größte Tugend.” “Aber warum kann es denn beim Flußlappen nicht genau so sein?” rief sie erbittert. “Weshalb müssen seine Kinder es so schlecht haben?” 75
“Alle Menschen kommen nackt zur Welt, und doch sind sie nicht gleich ausgerüstet. Dem Flußlappen fehlt es an Verstand und noch mehr an Willensstärke. Er war stets im Hintertreffen, und da hat er versucht, sich mit der Schnapsbrennerei durchzuschlagen.” “Immer verteidigst du die Schwachen”, sagte Frida. “Das ist sehr anständig von dir.” “Pscht! Was war denn das?” stieß Vater hervor und faßte die Zügel fester. “Jetzt kannst du selber hören, daß hier Wölfe sind”, rief Frida froh lockend. “Wenn doch nur Kyllikki bei uns wäre – sie möchte so gerne mit den Wölfen zusammenstoßen.” “Weil sie Lappenblut in den Adern hat”, erklärte Vater. “Hat Kyllikki wirklich Lappenblut in den Adern?” erwiderte sie verblüfft. “Das wußte ich ja gar nicht.” “Ihr Va ter ist ein Halbblut. Finnische Kinder mit blonden Haaren und braunen Augen haben fast immer Lappenblut.” “Habe ich auch Lappenblut?” fragte sie eifrig. “Woher solltest du das wohl haben?” lachte er. Sie fühlte sich doch ein wenig enttäuscht; so gerne hätte sie auch ein we nig Lappenblut in den Adern gehabt. Dann hätte sie sagen können: Deshalb kann ich in der Dunkelheit so gut sehen. Deshalb bin ich abergläubisch. Deshalb hasse ich die Wölfe. Jetzt ertönte wieder das Geheul, und aus größerer Nähe wurde es beantwortet. “Heute nacht sind sie wirklich frech”, bemerkte Vater und runzelte die Brauen. “Sie haben herausgefunden, daß wir nur ein Pferd haben.” Er pfiff dem Falben beruhigend, aber dem Gaul saß die Angst im Leibe, so daß er in tollem Lauf dahinjagte. “Wir kommen rasch heim”, sagte Frida vergnügt. “Wenn der Falbe das nur aushalten kann”, murmelte Vater. “Nein, das geht wirklich nicht, er galoppiert sich noch zu Tode. Hörst du, wie er keucht?” Mit aller Kraft zog er am Zügel, um das Pferd zum Stillstand zu bringen. Der Falbe aber strebte weiter, bis er dann doch nachgeben mußte und schließlich, am ganzen Körper zitternd, stehenblieb. “Warte, ich helfe”, rief Frida und schälte sich erstaunlich rasch aus den Decken und Kissen. Sie lief nach vorne zum Falben, indem sie 76
sich am Zügel vorwärts tastete, bis sie das Zaumzeug erreichte. Mit dem Fausthandschuh aus Rentierfell suchte sie die Nüstern des Pfer des. Der Falbe versuchte den Kopf aufzuwerfen, aber sie hielt ihn nie der. Doch dann merkte sie, daß die steifen Fausthandschuhe sie viel zu sehr hinderten. Entschlossen zog sie den einen mit den Zähnen aus; darunter kam ein Wollhandschuh zum Vorschein; aber sie mußte schnell handeln, bevor der Frost die Finger gefühllos machte. “Seine Nasenlöcher sind voll Eis”, murmelte sie vor sich hin, wäh rend sie den Fausthandschuh zwischen den Zähnen hielt, und begann das Eis herauszuholen. Das Pferd zitterte und bebte vor Schrecken; das Eis haftete an den Härchen in den Nüstern und es tat weh, als Fri da es herauszuholen versuchte. Ganz plötzlich konnte sie überhaupt nicht mehr fühlen, was ihre Finger berührten; die ganze Hand war wie abgestorben. “Ich lasse ihn jetzt los”, rief sie Vater zu und gab den Falben frei. Im Nu mußte sie den Fausthandschuh wieder anziehen und es dann mit der andern Hand versuchen. Ein Geheul, das tief aus einer Wolfs kehle hervordrang, schallte durch die Luft, und das Pferd sprang in Todesangst vorwärts. Der Schlitten sauste vorbei, und Frida warf sich mit einem Satz darauf. Sie hing bäuchlings über dem Rande; ihre Beine baumelten aufs Eis hinunter und suchten nach einem Halt. Plötzlich fühlte sie Vaters Hand, die ihren Pelzkragen packte und sie hinaufzog. Der Schlitten schleuderte und tanzte dahin. Vater packte den Zügel mit beiden Händen und rief Frida in der Dunkelheit zu: “Bist du wohl auf?” “Ja, danke”, kam es atemlos zurück. Frida strengte sich gewaltig an, um ihren Platz wieder einzunehmen. “Ich glaube, daß ich das meiste Eis herausgeholt habe. Aber meine Hand ist ganz abgestorben.” Sie schlug sie kräftig gegen die Felldecke und versuchte die Finger im Fausthandschuh zu krümmen und zu strecken. Dann machte sie sich daran, zur Sicherheit ihre Wangen zu massieren. Man wußte ja nie, ob nicht an irgendeiner Stelle ein weißer Fleck entstanden war. Krieg und Kälte und Dunkelheit und Wölfe. Ein Pferd, das die Mü digkeit von sich abgeschüttelt hatte und in Todesangst dahinjagte. Und da saß sie nun und fühlte sich lebensfroher denn je. Das Blut hämmer 77
te in ihren Adern, ihre Augen strahlten, und in ihren Fingerspitzen kribbelte und stach es. Ach, das Leben war schön, vor allem wenn es Gefahren barg. “Hast du das gehört?” rief sie begeistert, als das Geheul wieder er tönte. “Es klingt, als ob sie auf dem Flusse wären. Paß auf, der Falbe verläßt die Spur, lenk ihn rasch wieder zurück… nein, auf die andre Seite! Hui! Jetzt fahren wir gleich in die Bäume hinein, die im Eis stecken. Es geht schief!” Kleine Birken sanken vor dem Schlitten um und schnellten wieder hoch, wenn der Schlitten vorbei war; oder sie zerbrachen mit lautem Krachen und wurden eine Strecke weit unter den Kufen mitge schleppt. Einen Augenblick hob sich Vaters Seite bedrohlich in die Höhe, und Frida klammerte sich an, um nicht hinauszufallen; dann machte der Gaul einen Sprung nach links und trabte in der eingefahre nen, hartgefrorenen Spur weiter. “Hoppla, fast wären wir umgekippt”, lachte sie. “Das war schön!” “Zur Sicherheit habe ich mir den Zügel fest um den Arm gebun den”, rief Vater. Die Kufen knirschten über das Eis dahin, das wie Glas klirrte. “Wenn Anders dabei wäre, hätte er längst den Schlitten mit einem Satz verlassen und den Wölfen den Garaus gemacht.” “Aber du bleibst hier”, entgegnete er. “Keine Dummheiten!” Sie senkte die Stimme zu einem scharfen Flüstern. “Wenn wir mäuschenstill sitzen und nicht reden, können wir sie vielleicht auf Schußweite heranlocken.” “In der Dunkelheit laufen wir dabei Gefahr, daß sie den Falben anspringen. Darauf möchte ich es lieber nicht an kommen lassen – er hat ohnehin Angst genug.” “Armer Falbe”, mur melte sie, “er hat weder ein Messer noch ein Gewehr.” Dann lauschten sie wieder dem gellenden Geheul eines Wolfes, der seine Jagdgenossen zusammenrief. “Sie sind nicht weit fort”, sagte Vater. “Zum Kuckuck mit der Dunkelheit! Sie können uns anspringen, bevor wir sie überhaupt sehen.” Das Pferd stürzte in toller Flucht vorwärts. “Das trauen sie sich nicht”, erklärte Frida und zog ihr Messer aus der Scheide. “Sie sind 78
nichts anderes als feige Tiere, die bloß wehrlose Rentiere angreifen – aber uns bleiben sie fern.” “Das Pferd ist bald nicht mehr zu halten”, rief Vater. “Frida, nimm mein Gewehr und feure einen Schuß ab.” Frida tastete nach dem Ge wehr und ergriff es. In der Dunkelheit zerrte sie es mit ungeschickten Händen, die von den steifen Fausthandschuhen behindert wurden, zu sich herüber. Vaters Doppelflinte ließ sich gut anlegen, fast noch bes ser als ihr eigenes Gewehr. “Hoffentlich erschrecke ich den Falben nicht zu Tode”, murmelte sie, während sie sich mit rückwärts gewand tem Gesicht auf die Knie niederließ. “Ich werde ihn halten”, versicherte Vater. “Sag, wenn du bereit bist.” Es war schwer, den Abzug zu spannen, wenn man die dicken Fausthandschuhe anhatte, aber sie wollte die Berührung mit dem eis kalten Metall so lange wie möglich umgehen, denn die Wollhand schuhe boten nur wenig Schutz. “Jetzt bin ich bereit”, rief sie und zog den Fausthandschuh mit den Zähnen ab. Sie stützte die Arme gegen den Rückstoß und bewegte den Zeigefinger. Ein langgezogenes Geheul drang an ihre Ohren, worauf sie den Lauf des Gewehrs auf die Stelle richtete, woher die Töne ka men. Dann zog sie so schnell hintereinander zweimal ab, daß dem Pferde gar keine Zeit zu einem Seitensprung blieb, bevor der zweite Schuß in der Frostnacht losknallte und von beiden Flußufern mit dumpfem Laut zurückgeworfen wurde. “Jetzt sind sie wohl kuriert”, sagte sie zufrieden und kroch wieder an ihren Platz. Aber die Kälte des Metalls brannte ihr wie ein unange nehmer, beißender Schmerz den ganzen Arm hinauf, und dieser Schmerz hielt noch lange an, obwohl sie den Fausthandschuh sogleich wieder überzog. “Das Pferd kann bestimmt nicht noch rascher laufen”, sagte Vater, und seine Stimme war voll Mitleid. “Armes Tier.” Der Falbe keuchte und schnaubte, seine Hufe schlugen in gestreck tem Galopp aufs Eis. Vater sprach ihm sanft und leise zu. Dann pfiff 79
er beruhigend, und schließlich sang er mit flehendem Tone: “Fa-halbe, Fa-halbe!” Und das Wunder geschah, das Pferd ging in raschen Trab über. Die beiden Menschen im Schlitten lockerten ihre Haltung und wurden sich jetzt erst ihrer Anspannung bewußt. Angenommen, das Pferd wäre gestürzt… Allmählich verlangsamte sich die Fahrt. Die Hufe schlugen nicht mehr mit der gleichen Gewalt gegen das Eis; aber noch immer saß dem Tier die Angst im Leibe, nicht mehr die wilde, unsinnige Angst, die es hatte dahinjagen lassen, sondern eine Angst, die auch der Mü digkeit einen Platz einräumte, wie man an dem schwerfälligen, unre gelmäßigen Zotteltrab hören konnte. “Ich glaube, daß die Wölfe fort sind”, meinte Vater und ließ dem Gaul die Zügel locker. Das Pferd trabte weiter, und die Körperwärme stieg als warme Wolke von seinem Leibe auf. Allmählich machte es Miene, stehenzubleiben, während es keuchend Atem holte. “Hier müssen wir in den Nebenfluß einbiegen”, erklärte Frida, “dann sind wir bald daheim.” Vater ließ den Falben im Schritt gehen. “So geschwind habe ich die Strecke noch nie zurückgelegt”, bemerkte er. Eine behagliche Mattig keit beschlich Frida. Ihr Kopf nickte im Takt mit dem Gerüttel des Schlittens; ihr warmer Atem war auf dem Schal zu Eis gefroren. Voll Behagen krümmte und streckte sie ein paarmal die Zehen, wobei sie das weiche, warme Binsengras wie eine sanfte Liebkosung an der blo ßen Haut empfand. Von den Berglappen hatte sie gelernt, daß man in den Fellstiefeln weniger fror, wenn man keine Strümpfe trug. Schlaftrunken öffnete sie die Augen ein wenig und murmelte träge: “Beim Pfarrer brennt Licht.” Es rührte sie, daß der Pfarrer noch auf war und schrieb, und sie sah ihn im Geiste vor sich, wie er vor seinem Schreibtisch saß, auf dem der große, mit seiner feinen Handschrift be deckte Bogen Papier lag. Hoch oben am andern Flußufer aber strahlte das Licht wie ein Zei chen für Seefahrer aus ihrem Vaterhaus. Frida wurde mit einem Ruck wach, als sie vor der Türe hielten. “Hüpf hinaus!” “Warum denn?” fragte sie. “Wir sind da”, lachte Vater. 80
“Nei-ein, ich muß dir doch noch helfen das Pferd in den Stall brin gen”, murmelte sie und lud emsig die Sachen ab, bevor sie weiterfuh ren. Dann hielten sie vor der Stalltür und spannten das Pferd aus. Kaum war der Falbe von seinem Zaumzeug befreit, so warf er sich rücklings in den Schnee und streckte alle viere in die Luft, während er sich von einer Seite auf die andre wälzte. Schließlich stand er wieder auf und schüttelte sich wie ein Hund, ehe er in den Stall trabte. Gemeinsam rieben sie das Pferd mit Strohwischen ab, jeder auf einer Seite; dabei prickelte es Frida in allen Fingern. Das Pferd stand derweilen mit hän gendem Kopfe und blutunterlaufenen Augen da; ab und zu blickte es nach hinten, einmal nach rechts, einmal nach links, als wollte es den beiden Menschen für ihre Mühe danken. Als sie dann das Haus betra ten, erwachte Marit von dem Lärm und setzte rasch den Kaffeekessel auf, bevor sie in den Schnee hinauslief, um die Sachen hereinzuholen. Sie fragte nicht nach Anders' Verbleib, denn die Lappen zeigen nicht gerne Neugier. Ebensowenig hätte es sich gehört, sogleich von ihm zu berichten. Das Geheimnis mußte noch eine kleine Weile ungelöst bleiben. So erhielten viele Vermutungen Nahrung, und der Heimkehr wurde ein besonderer Glanz verliehen. Frida zog die Wollhandschuhe aus und betrachtete ihren schmer zenden Zeigefinger. Wo sie den Finger beim Abdrücken gekrümmt hatte, saß eine große Blase. “Schau doch nur mal, Vater!” stieß sie er staunt hervor. “Mit meinem Finger ist doch gar nichts geschehen. Was kann denn das nur sein?” “Erfrierung zweiten Grades”, stellte er fest. “Du hast doch nicht et wa in der Kälte den Fausthandschuh ausgezogen?” “Nur einen kleinen Augenblick, als ich dem Falben das Eis aus den Nüstern holte – und dann, als ich schoß.” “Du bist ja wahnsinnig!” zürnte er. “Stell dir vor, du hättest an der ganzen Hand kalten Brand bekommen. So leichtsinnig hätte sich ein Berglappe niemals benom men.” “Vater!” rief sie und deutete zu seinem Gesicht empor. “Da sitzt ein weißer Fleck auf deiner Nase, ein großer, weißer Fleck. Beeil dich und massiere rasch!” Er schritt schnell zum Spiegel hinüber. “Leichtsinniger, leichtsinniger Vater”, murmelte sie kopfschüttelnd 81
und sah schelmisch zu ihm auf. “Eigentlich verdientest du eine Tracht Prügel”, sagte er und mußte wider Willen lachen, während er sich mit beiden Händen die Nase massierte. “Aber komm jetzt mit ins Sprech zimmer, damit ich deinen Finger behandle.” “Wird's weh tun?” fragte sie. “Leider nicht.” Da lachten sie beide. Am nächsten Vormittag, als der Mond über dem Kirchspiel leuchte te, die Häuser hellblaue Schatten auf den Schnee warfen, und die bei den Reihen der ins Eis gesteckten Birkenbäume wie himmelwärts strebende Ausrufezeichen aufragten, kam Anders zurück. Frida gewahrte ihn vom Fenster aus, als ihre Augen wieder einmal von der Rechenaufgabe fort über die Landschaft glitten. Das Pferd setzte die beschlagenen Hufe hart auf den Schnee auf, als es den Schlitten die Böschung hinaufzog. Plötzlich sah Frida auf der Schlit ten decke etwas liegen; sie reckte den Hals, um besser erkennen zu können, was es war. Zuerst glich es einem großen, steifgefrorenen Hund, dessen Schwanz hinunterhing; dann aber fiel ihr ein, daß nur ein Wolf einen so buschigen Schwanz haben konnte, und da hatte sie auch schon im Nu Pelz und Fausthandschuhe und Sternenhut angezo gen. Als Anders vorfuhr, stand sie wartend vor der Türe. “Nein, so etwas!” rief sie beeindruckt. “Hast du ihn in der Nacht ge schossen?” Anders stieg aus, ruhig und würdevoll, jeder Zoll ein Meister in der Kunst, den großen Augenblick hinauszuzögern. Er erspähte Marits bewunderndes Gesicht am Küchenfenster und daneben eine ältere neugierige Lappenfrau. An den Hinterbeinen ergriff er den Wolf und hob ihn hinunter; dann hielt er ihn an den Vorderpfoten hoch, daß der Schwanz im Schnee nachschleppte. “Ich habe ihn nicht geschossen”, erklärte er. “Ich fand ihn. Er hat eine Kugel in der Kehle sitzen, aber derjenige, der ihn erlegt hat, ließ ihn liegen. Es muß ein großmächtiger Mann sein, daß er es nicht der Mühe wert fand, den Wolf mit sich zu nehmen.” “Er lag auf der finnischen Seite”, schrie Frida ganz außer sich, “zehn Kilometer, bevor man in den Nebenfluß einbiegt, nicht wahr?” “Ihr seid also selber daran vorbeigefahren”, sagte Anders mit deut lichem Erstaunen darüber, daß seine Geschichte nicht mehr neu war. 82
“Wir sind nicht daran vorbeigefahren”, rief Frida atemlos. “Wir sa hen ihn überhaupt nicht, wir hörten ihn nur. Er erschreckte den Fal ben, und ich nahm Vaters Gewehr und schoß in die Richtung des Ge heuls. Anders, ich habe den Wolf geschossen! Er gehört mir! Gib ihn her; ich will ihn Vater zeigen.” Und schon riß sie dem mit offenem Munde dastehenden Anders den Wolf aus den Händen und schleppte ihn durch die Diele und das War tezimmer gleich ins Sprechzimmer, wo Vater gerade einem Lappen mädchen ins Ohr schaute. Ausgelassen warf sie ihn Vater vor die Füße und schrie: “Hurra! Ich habe einem Wolf den Garaus gemacht!” Das Lappenmädchen stieß einen Schrei aus und wäre geflüchtet, wenn Vater es nicht festgehalten hätte. Dann blickte er auf seine Tochter, die mit strahlenden Augen ihre Beute betrachtete. “Willst du so freundlich sein und dich mit deinem Wolf entfernen”, sagte er und wandte sich wieder dem Mädchen zu, um ihm erneut ins Ohr zu leuchten. Nachdem Frida ziemlich beschämt und niederge schlagen den Wolf wieder hinausgeschleppt hatte, wurde die Türe spaltbreit hinter ihr geöffnet, und Vaters Stimme erklang mit herzli chem und frohem Tone. “Ich gratuliere dir, Assistent. Ich komme gleich und sehe ihn mir an.” Fridas Gesicht erhellte sich mit erleichtertem Lächeln – er war also doch nicht böse, obwohl sie sich in ihrer ungestümen Freude gegen eine der strengsten Regeln vergangen hatte: niemals stören, wenn ein Patient da ist. “Danke”, sagte sie beglückt. Aber da war Vater schon wieder bei dem Lappenmädchen.
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Der Strom von Osten Finnland war im Krieg, und der Nachhall drang weit nach Norwe gen hinein. Nahe der russischen Grenze zogen Ruvdas sechshundert Rentiere umher und suchten Flechten. Da kam ein Mann auf Skiern zu Ruvdas Zelt und sagte: “Nimm deine Rentiere und zieh nach Westen, aber spute dich, wenn du kannst. Die Russen kommen.” Ruvda spuckte ins Feuer und entgegnete: “Hier gibt es genug Flech ten für alle, laß sie also nur ruhig kommen.” Aber der Mann sagte: “Sie sind nicht auf Flechten aus wie deine Rentiere. Wir sind im Krieg.” So brach Ruvda denn auf mitsamt seiner Frau, seinen sechs Kin dern, seinen Knechten und Mägden. Die Frauen hatten gemurrt, denn sie waren gerade erst mit dem Aufstellen des Zeltes fertig geworden. “Wie weit sollen wir ziehen?” fragte Ruvda den Mann, denn es ging nicht an, daß man ins Grenzgebiet eines andern geriet. “Zieht quer durch Finnland und über die norwegische Grenze”, antwortete der Mann. Ruvda kratzte sich bedenklich den Kopf, die Frauen blickten ängst lich drein, und die Kinder hörten auf, mit den Hunden zu spielen, denn alle wußten, daß man die norwegische Grenze nicht überschreiten durfte, nicht einmal im Sommer, wenn die Mücken zur Plage wurden, die Rentierkühe kalben sollten und die norwegische Küste als ein ver lockendes üppiges Paradies erschien. Die norwegischen Flechten wa ren nur für die norwegischen Lappen da, die schwedischen Flechten nur für die schwedischen Lappen. Die finnischen Lappen mußten in Finnland bleiben. Aber da wurde der Mann ungeduldig: “Tu, was ich dir sage, und verweile unterwegs nicht, sonst holen dich die Russen ein. Denk auch nicht an die alten Regeln, denn die gelten jetzt nicht mehr. Denk bloß daran, daß du so schnell wie möglich weiter kommst.” 84
In der gleichen Nacht begann die Reise. Der Mond schien auf den Schnee, das Nordlicht zitterte und schwankte am Himmel. Der alte Aulu schritt auf Skiern an der Spitze des Zuges und führte das Leitren an einer kurzen Leine. Zwei ältere, reisegewohnte Rentie re folgten gleich hinterher; ihre Glocken klangen tief und rufend durch die Nacht; die gewaltigen Geweihe schaukelten auf und nieder. Dahin ter kam die ganze Herde, zusammengehalten von den Knechten und den Hunden. Und hinter den Rentieren kamen die Menschen mit all ihrem Hab und Gut; sie fuhren in Schlitten und Pulken. Ab und zu warf Ruvda einen Blick auf das Ren zurück, das er im Schlepptau hatte; es war das erste in der Reihe der Zugrentiere und zog einen großen Schlitten mit vier seiner Kinder, die noch zu klein waren, um selber ein Rentier zu lenken. Die roten Hauben der Mädchen und die blauen Sternenhüte der Buben nickten und tanzten im Takt mit jeder Bewegung. Ruhig und sorglos schliefen die Kinder unter ihren Decken und Fellen, schliefen, wie sie auf vielen langen Reisen über die Berge geschlafen hatten.
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Das Allerkleinste aber lag in seiner Wiege, die zwischen den Bei nen der Mutter in ihrem Pulk untergebracht war; wenn der Pulk ste henblieb, wachte das Kleine auf und begann zu weinen, worauf die Mutter die Beine in den Schnee hinausstreckte und den Pulk zum Schaukeln brachte, während sie leise summte und sang. Wenn ihr Pulk stehenblieb, blieb aber auch die ganze lange Reihe stehen, die ihr folg te. Eine sehr lange Reihe war das, denn es ist die Pflicht der Hausmut ter, mit allem zu reisen, was zum Zelt gehört. Auf dem letzten Pulk ragten die rußigen Zeltstangen in die Höhe; hingegen schleppte der Holzbogen, der den Zelteingang bildete, seine beiden Beine über den Schnee. Ruvda ließ den Blick über den Himmel gleiten, und die andauernde Unruhe des Nordlichts steckte ihn an. Er zog dahin wie ein Weißer, voll Hast, und kein Lappe reist gerne hastig. Die Weißen wurden stets von großer Rastlosigkeit ergriffen, wenn sie eine Reise unternahmen; es handelte sich für sie nur darum, rasch an ein neues Ziel zu gelan gen; für die Berglappen aber hatte das neue Ziel keinerlei Bedeutung. Und gleichwohl mußten sie sich diesmal beeilen, so sehr sie konnten, weil die Russen ihnen auf den Fersen waren und eine kleine Verzöge rung sie alle ihre Rentiere kosten konnte. Das hatte der Mann ihnen immer wieder eingeschärft. Doch ist der Schnelligkeit, mit der ein Mensch mit sechshundert Rentieren fortziehen kann, eine Grenze gesetzt. Menschen können ei nen ganzen Tag lang ohne Nahrung auskommen, Rentiere aber nicht. Die Rentiere müssen alle vier Stunden haltmachen und im Schnee nach Flechten suchen. Und während die Rentiere verweilten und ästen, verweilten die Menschen ebenfalls und nahmen Nahrung zu sich. Die Rast machte jedoch keine Freude, denn man wagte kaum ein Feuer anzuzünden. Den Kindern wurde nur ein Knochen mit gedörr tem Rentierfleisch in den Mund gesteckt, und die Zugtiere wurden gar nicht erst abgespannt. Wenn man das Lager aufschlug, band man die Zugrene in der Nähe des Zeltes an und brachte ihnen Flechten, und man gab acht, daß nur schwacher Rauch durchs Rauchloch drang; auch lauschte man ängst 86
lich auf jeden Laut in der Ferne, vor allem auf das Donnern der Kano nen, das niemals verstummte. Am nächsten Morgen tastete man sich durch die tiefe Dunkelheit weiter. Es war kein Reisewetter; es herrschte ein richtiges Wetter, um im Zelt zu bleiben und auf den großen Steinen der Feuerstatt Brot zu backen, während der Schnee durchs Rauchloch hereingefegt kam. Doch gleichwohl mußte man vorwärts; man durfte nicht daran denken, daß es schwer war, die Rentiere in der Finsternis zusammenzuhalten, sondern mußte froh sein, ein Berglappe zu sein, der selbst in der schwarzen Nacht eines Schneesturms seinen Weg finden konnte. Langsam wanderten die Rentiere über den Schnee. Die vier Kinder im Schlitten zogen die Decken über die Köpfe, lachten und schwatz ten in der schützenden Dunkelheit, bis die eine Kufe gegen einen Stein stieß und der Schlitten umkippte. Eine solche Finsternis herrschte, daß es nicht leicht war, die Decken und Kissen und Felle wiederzufinden. Ruvda aber wollte von einem Aufenthalt nichts hören, denn die Rast losigkeit in seiner Seele war gestiegen. Der Kanonendonner im Osten wurde immer schwächer, aber ein neuer Donner begann im Norden laut zu werden. Am Morgen war er nur schwach gewesen, fast unhör bar, doch dann nahm er an Stärke zu und machte die Rentiere unruhig. Als Ruvda am Abend das Lager aufschlug, beschloß er, am folgenden Tage mehr gen Süden abzuweichen, obwohl dieser Weg über höhere Berge und durch dichtere Wälder führte. In den Bergen war es sehr kalt, doch brachte die Kälte auch klares Wetter und Mondschein. Sie gelangten zu einer Stelle, wo fremde Weiße, die erfroren waren, um ein erloschenes Feuer saßen. Schwei gend fuhren die Lappen an den großen, kräftigen Gestalten vorbei, deren Lebenslicht ausgegangen war. Nur das Kleinste, das zwischen den Beinen der Mutter saß und auf und nieder hopste, lachte vergnügt; es merkte von der grimmigen Kälte nicht mehr als die jungen Kälber im Sommer, die mit unsicherem Gang den Mutterkühen folgten. Ruvda wußte, daß ihm und seinen Leuten niemand auf dem pfadlosen Wege über das Hodigebirge folgen konnte. Als er von einem Berggipfel in die Runde blickte, sah er im Osten an mehreren Stellen flammende Feuer, und seine Unruhe wuchs. 87
Am nächsten Tage gelangten sie an den breiten Fluß, der Finnland von Norwegen trennt. Aulu schritt an der Spitze der Rentierherde aufs Eis hinaus, und die ganze Herde folgte hinterher. Ruvda aber hielt auf der finnischen Seite am Ufer an, bis das letzte Tier der Herde den Fluß überquert hatte. Dann erst zog er vorsichtig hinüber, sehr bedachtsam, damit den Kindern im Schlitten nichts zustieß. Quer übers Eis führte er seine Familie, und schließlich waren sie alle in Sicherheit. Verwundert schaute er um sich, als er auf der andern Flußseite ei nen Paß erreichte, denn hier tauchten auf dem alten Reiseweg der Lappen, der während vieler Jahre niemals von Finnen benutzt worden war, plötzlich Soldaten auf Skiern auf, die weiße Windjacken trugen. Wie kamen sie in diese einsame Gegend? Und wie ging es zu, daß sie sich der Rentierherde zu nähern vermochten, ohne die Tiere zu er schrecken? Ruvda strengte in der Dunkelheit seine Augen an, und da sah er, daß es Lappen waren, und er hörte, daß sie seine eigene Sprache rede ten, und eine große Freude erfüllte ihn. Und wie Ruvda nach Norwegen zog, um sich und seine Rentiere in Sicherheit zu bringen, so wanderten viele andere Lappen mit ihrer ganzen Habe hinüber. Noch, nie war Dr. Gylseth so viel herumgereist wie in diesen dunk len, bitteren Dezembertagen. Er jagte längs der Grenze über das Eis gen Norden und brachte vielen Flüchtlingen Beistand. Frida kam überallhin mit; sie tröstete, half, ermunterte und vernahm viele seltsa me Berichte. O nein, die Grenze war nicht gesperrt, wie Vater geglaubt hatte. Viele Menschen und Rentiere traten in diesen ersten Wochen nach Norwegen über. Das sprach sich weit und breit in Finnmarken herum und weckte das Beste in den Menschen. “Wir brauchen dringend Mehl und Margarine”, sagte Dr. Gylseth, und sogleich war mehr da, als er verwenden konnte. “Wir brauchen Kleidung für Säuglinge”, sagte er, und schon lag die Kleidung bereit, frisch gewaschen und sauber geflickt. 88
Wenn er ins Kirchspiel kam, um nach seinen Patienten zu sehen, läutete das Telephon, und eifrige Stimmen fragten: “Sagen Sie uns, wie können wir helfen? – Was sollen wir Ihnen beschaffen?” Die Stimmen kamen aus kleinen, bescheidenen Häusern an Finn markens Küste, und sie kamen aus reichen Geschäftshäusern im südli chen Norwegen. Der Tana-Fluß lag nicht mehr so verlassen da wie sonst während der Dunkelzeit. Finnische Lappen reisten darüber hin, die zum Kriegsdienst weiter im Süden einberufen waren, norwegische Solda ten benützten ihn, die die Grenze bewachen sollten, und viele heimat lose Flüchtlinge zogen hinüber, um sich vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Als Frida gleich nach Kriegsausbruch mit ihrem Vater auf Kran kenbesuch zu dem Flußlappen fuhr, machte sie auf der finnischen Sei te halt, um zu hören, wie es bei Olga stand. Frida hatte es sich in den Kopf gesetzt, Kyllikki mit zu sich nach Hause zu nehmen; sie konnte Bergliots leeres Zimmer beziehen. Aber Kyllikki dachte gar nicht daran, Finnland zu verlassen. Sie wurde bei nahe zornig über den Vorschlag. “Nicht nur die Männer an der Front sind im Krieg”, erklärte sie. “Wir müssen alle zusammen helfen. Was glaubst du denn, wie Mutter es fertigbrächte, die vielen Durchreisenden zu beköstigen, wenn ich ihr nicht beistehen würde? Und sowie der Menschenstrom vorbei ist, müssen wir Rentierstiefel für die Soldaten an der Nordfront nähen. Wenn einer keine Fellschuhe hat, erfrieren ihm die Füße, und was macht der Ärmste dann?” “Versprich mir wenigstens, daß du sofort zu uns ziehst, wenn die Russen hierherkommen”, drängte Frida. “Selbst verständlich kommen sie nicht hierher”, entgegnete Kyllikki mit gro ßer Überzeugung. “Was für ein unsinniger Gedanke!” Unverrichteter Dinge fuhr Frida wieder ab, doch gleichwohl fühlte sie sich erleichtert, weil Kyllikki das Unglück, das ihr Vaterland heimgesucht hatte, mit solcher Ruhe und Selbstsicherheit hinnahm. Sie ließ sich nicht niederdrücken, und sie hatte überhaupt keine Zeit, an ihr eigenes Ergehen zu denken. 89
Aber es gab andere Menschen, die dringend Hilfe brauchten, und der Doktor gönnte sich kaum genügend Schlaf, um überall Beistand zu leisten. “Jetzt hält sich die Front”, sagte er zu Frida, “und bald wird der Flüchtlingsstrom aufhören. Dann bleibt uns Zeit, alles richtig zu orga nisieren.” Frida nickte schläfrig; sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, und sie sehnte sich danach, ins Kirchspiel zurückzukehren und sich im Bett auszustrecken. Sie hatte mit Kindern gekämpft, die nicht zulassen wollten, daß man ihnen den Oberkörper entblößte, damit Vater sie un tersuchen konnte. Lange Listen hatte sie gemacht, von allen mögli chen Dingen, die fehlten. Telephonisch hatte sie vom nächsten Ge meinde-Krankenhaus Pflegerinnen und Medikamente angefordert und Hunderte von Fragen beantwortet. Und dann befand sie sich plötzlich auf der Heimreise, so müde, daß sie im Pulk kaum das Gleichgewicht zu halten vermochte; und in ihrem überanstrengten Hirn tanzten alle die Dinge ringelum, die sie nicht vergessen durfte. Da war zum Beispiel die Berglappenfamilie, die nur ihre Frauen und Kinder über die Grenze schicken wollte, weil die Männer sich zum Kriegsdienst gemeldet hatten. Dort fehlte es sowohl an Wurfsei len als auch an Skiern. Und sie mußte daran denken, für das Kleinste, das unterwegs gestillt wurde, eine Wiege zu beschaffen. Sie hatte mit dem Lehnsmann gesprochen und auch mit dem Lappenvogt, der alle Flüchtlinge aufschrieb, ihnen Lagerplätze mit Flechten anwies und dafür sorgte, daß sie ihre Zelte nicht zu dicht nebeneinander aufschlu gen; ihm hatte sie in Vaters Namen versprochen, alles zu beschaffen, was die Berglappenfamilie brauchte. Eine kleine Weile schloß sie die Augen und ließ das Ren in Vaters und Anders' Pulkspur weitertraben. Wie müde man wurde von der Kälte und der dauernden Dunkelheit… Mit der Heimfahrt hatten sie warten müssen, bis der Mond aufging, und jetzt war es weit über die Schlafenszeit. Sie merkte nicht, daß An ders auf der finnischen Seite über das Land fuhr; der Fluß beschrieb hier einen großen Bogen, den er abschneiden wollte. 90
Die Spur zeichnete sich deutlich im Schnee ab, denn Anders war nicht der einzige, der diesen Weg genommen hatte. Über eine Anhöhe ging's und dann zum Flusse hinunter wieder auf die andere Seite. Frida war viel zu schläfrig, um auszusteigen, und das Rentier schlenderte träge die Anhöhe hinauf. Niemand trieb es an, und binnen kurzem blieb es ganz einfach stehen. Frida merkte nichts; ihr Kopf war auf die Brust gesunken; die Hand, die den Zügel hielt, ruhte lässig in ihrem Schöße. Das Rentier stand einen Augenblick da und wanderte dann weiter. Plötzlich aber war es, als verstünde es, daß die andern im Begriff wa ren, davonzufahren; ängstlich sputete es sich. Es erreichte den Gipfel der Anhöhe und stürzte sich Hals über Kopf auf der andern Seite hin ab. Wieder lenkte es niemand, und sein Lauf wurde immer stolpernder. Mit hängendem Kopf und wackligen Beinen hastete es den Hang hinunter, brach einen Augenblick in die Knie, wurde vom Pulk ge rammt und sogleich von Panik ergriffen, worauf es völlig die Herr schaft über sich selbst verlor. Frida erwachte, als das Ren zum zweitenmal stürzte. Sein eines Vorderbein war in einem Schneeloch hängengeblieben, und in vollem Laufe stürzte es hilflos vornüber. Der Pulk fuhr in das Rentier hinein, aber es rührte sich nicht vom Fleck. “Vater!” schrie Frida erschrocken auf und sprang mit dem Zügel in der Hand aus dem Pulk. Unten auf dem Eise waren die anderen Rentiere stehengeblieben, und Vaters Stimme klang von dort herauf: “Ist etwas geschehen?” “Ich weiß nicht recht”, rief sie tränenerstickt zurück. “Mein Ren ist gestürzt, und ich bekomme es nicht mehr in die Höhe, ich kann nicht richtig sehen.” Und dann in wilder Verzweiflung: “Es hat ein Bein gebrochen – der Knochen steht hervor. Ach nein, ach nein!” “Ich komme sofort”, sagte Vater und wandte sein Ren. Die Tränen ström ten ihr über die Wangen. “Es war meine Schuld”, schluchzte sie. “Ich bin eingeschlafen.” Das Rentier drehte den Kopf herum und schaute sie mit gequältem, hilflosem Blick an. “Halt meinen Zügel”, befahl Vater. “Es ist schnell überstanden.” 91
Zuerst aber mußte sie die Schlinge vom Oberarm lösen, denn sie war noch immer an das gestürzte Rentier gebunden. “Wirst du es tö ten?” fragte sie kummervoll. “Ja”, antwortete der Vater.
Da schluchzte sie laut. “Es gibt keinen andern Ausweg”, erklärte er. “Sei nur froh, daß es nicht dein geliebter Dixie ist.” “Es ist bloß geschehen, weil ich einge schlafen bin”, stieß sie hervor. “Nun, laß sein”, sagte er mit großem Mitleid. “Du bist nur einge schlafen, weil du für deine fünfzehn Jahre zu angestrengt gearbeitet hast. Du brauchst dir deswegen keine Vorwürfe zu machen.” “Es ist so entsetzlich”, schluchzte sie außer sich. “Kehr uns den Rücken”, 92
sagte er. “Es ist gleich überstanden. Das Tier wird nicht im geringsten leiden.” Anders hatte seine Rentiere angebunden und kam nun mit langen Schritten herbeigeeilt. Und während das Mondlicht durch die Bäume am Abhang sickerte, hielten sie auf der Stelle, wo das Tier ge stürzt war, eine Rentierschlachtung ab. Anders' Messer zeichnete sich durch besondere Schärfe aus, aber es war Vater, der es mit kundiger Hand gebrauchte. Plötzlich hob er den Kopf und lauschte. Schellengeklingel war zu vernehmen, erst schwach und fern, dann immer näher. Ein Hund bellte andauernd. Kinderstimmen klangen laut und schrill durch die Dunkel heit; Schlittenkufen knirschten über den Schnee. Eine Frau lachte, und ihr Lachen kam rieselnd durch die klare Frostluft. “Noch mehr Flücht linge”, sagte Vater, während er das Messer im Schnee reinigte. Frida ließ den Blick über die Anhöhe schweifen. In einem Streifen Mondlicht tauchte hoch oben eine kleine, jämmerliche Karawane auf, die sich durch den Schnee wand, geführt durch die frische Pulkspur, um dann ihren Weg auf dem Eise des Tana fortzusetzen. Jetzt blieben die Zugrentiere in einiger Entfernung stehen, eine alte, zahnlose Frau stieg aus ihrem gebrechlichen Schlitten und trat, den Zügel über den Schultern, auf Vater zu. Ihr Pelz war so abgetragen, daß er nur noch wenige Haare hatte, aber in ihren Augen stand große Entschlossenheit. Hinter jedem Schlitten waren zwei Rentiere angebunden und hinter dein letzten eine Kuh. Daraus ersah man, daß es keine Berglappen, sondern ansässige Lappen waren, die sich mit ihren Haustieren auf die Reise begeben harten. Die alte Frau sagte: “Unsere Männer sind in den Krieg gezogen, und jetzt reisen wir gen Westen über Norwegens Grenze, wohin die Russen uns nicht folgen können. Das Holz für un ser Haus haben wir im Walde mit unsern eigenen Händen geschlagen, Balken für Balken haben wir das Haus aufgebaut; und nun haben wir es mit unsern eigenen Händen in Brand gesetzt, damit es dem Feind nicht als Schutz gegen die Kälte dient. Ein richtiges Zelt besitzen wir nicht, denn wir haben nie mehr ein Zelt gebraucht, seit wir in einem festen Hause wohnten, aber wir haben uns aus dem, was wir zu finden vermochten, ein Zelt gemacht. Früher war ich Berglappin, und wenn 93
der Feind kommt, ist es das beste, wieder Berglappe zu sein.” Ihr Blick fiel auf den roten Blutfleck im weißen Schnee und auf das tote Rentier, das dort lag, und sie fuhr fort: “Ihr habt Pech gehabt, wie ich sehe. Nehmt eins von meinen Tieren. In diesen Zeiten muß man ein ander nach Kräften helfen.” Vater aber schüttelte den Kopf und erklärte, wer er war, und daß er ein Ersatzren mit sich führte. “Du brauchst eher Hilfe als ich”, fügte er hinzu, “denn deine Kuh kann bei dieser Kälte nicht draußen sein.” “In der einen Nacht fanden wir einen verlassenen Stall”, berichtete sie, “und in einer anderen Nacht kamen wir zu einem leeren Hause, und wir nahmen die Kuh mit hinein. Als wir weiterfuhren, zündeten wir das Haus an. Vorige Nacht machten wir ein kleines Feuer, so daß die Kuh an der Wärme war. Auch heute nacht werden wir schon ir gendeinen Ausweg finden.” “Anders wird euch zu einer Lappenhütte mit einem Stall führen”, sagte Vater, “und er wird dafür sorgen, daß ihr dort zu essen habt. Morgen, wenn ihr ausgeruht seid, sollt ihr ihm ins Kirchspiel folgen, wo ich euch eine feste Unterkunft verschaffen will.” “Man erzählte mir, daß Norwegen voll guter Menschen ist”, erwi derte die Frau, “aber jetzt weiß ich, daß man mir doch noch zu wenig erzählt hat.” Da lachte Vater und sagte: “Du sprichst von Güte, du, die du inmitten deiner großen Not daran dachtest, andern zu helfen. Nimm nun mein geschlachtetes Rentier mit, falls es auf einem deiner Schlit ten Platz hat, aber laß nichts davon verlorengehen, weder vom Fleisch noch vom Fell.” Die Frau sah ihn schelmisch an und versetzte: “Wenn ich könnte, würde ich das Blut im Schnee aufsammeln, denn dieses Blut ist das erste, das von einem Ren verlorenging, welches ich mein eigen nennen konnte.” Frida stand daneben und hörte erstaunt zu, und sie schämte sich der Tränen, die sie vergossen hatte. Was bedeutete der Verlust eines Rentiers im Vergleich zu all dem, was diese armen Menschen aufgeben mußten! Ihr Herz hatte großen Schmerz empfun den, aber dieser Schmerz war gering im Vergleich zu all den Schmer zen und Leiden, die die finnischen Lappen jetzt durchmachen mußten. Und doch weinten sie nicht, noch klagten sie, sondern gingen vertrau ensvoll einer Ungewissen Zukunft entgegen. 94
Als sie dann auf dem Eise hinter Vater weiterfuhr, war ihr frohge mut zu Sinn, und sie summte ein kleines Lied vor sich hin. Vater dreh te sich im Pulk um und fragte munter: “Nun, ist's vorbei?” Darauf lenkte Frida ihren Pulk an seine Seite, und ihr Gesicht strahlte im Mondschein.
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Ein seltsames Erlebnis Bum, bum, bum! Und dann ein rasches, anhaltendes Hämmern. Der Hüttenwart verbohrte sich in seinen Traum, denn er wünschte nicht aufzuwachen. Sogar im Schlaf sagte er sich, daß er sich verhört haben mußte. Um diese Zeit kam sicher niemand zur Bergstation. Da hätte einer ja im nächtlichen Schneesturm vierzig Kilometer vom nächsten Hause reisen müssen, vierzig Kilometer über wilde, waldbestandene Berge – und welcher vernünftige Mensch unternahm eine solche Toll heit? Aber das Klopfen an der Türe dauerte fort und widerlegte alle Über legungen. Der Hüttenwart schlief nach alter Berglappen-Gewohnheit mit allen Kleidern am Leibe, so daß es ihm nichts ausmachte, daß das Feuer im Laufe der Nacht ausgegangen war. Die spitzschnabligen Schuhe beschrieben einen großen Bogen von der Pritsche zum Fußboden, schlurften träge zur Tür und traten mehr mals dagegen, bevor sie nachgab und sich in die Morgendunkelheit öffnete. Draußen stand eine müde, gebeugte Gestalt. Zu ihren Füßen kauerte ein Hund, der eifrig damit beschäftigt war, die Eisklumpen loszubeißen, die sich an seinen Pfoten gebildet hatten, während er in der Finsternis hinter dem Manne hergesprungen war. Der Mann kam von einem Zelt hoch oben im Gebirge und hatte den langen Weg zur Bergstation auf Skiern zurückgelegt. Der Schnee war ihm ins Gesicht gewirbelt und hatte alles verschleiert; jetzt aber stand er hier vor der Türe, und der Hüttenwart zwinkerte mit den Augen, denn seit vielen Tagen hatte kein Reisender mehr bei ihm angeklopft. Der Mann vor der Türe, dessen Gesicht schmutzig und von Bart stoppeln übersät war, holte tief Atem und murmelte: “Meine Frau stirbt, wenn Doktor Gylseth nicht kommt.” Während ganz Finnmarken schlief, begann die Jagd nach dem Arzt. Zuerst war da eine schlaftrunkene Telephonistin im Kirchspiel, die sagte: “Doktor Gylseths Telephon antwortet nicht.” Dann sagte die 96
Frau des Kaufmanns: “Er ist seit drei Tagen fort; ich weiß es, denn ich traf gestern Marit.” Nun klingelte das Telephon fern vom Kirchspiel. Ein Postfahrer erwachte aus dem Schlafe, drehte sich auf seinem La ger um, lauschte den Fragen des Hüttenwarts und versicherte ihm dann, daß er keine Ahnung von Dr. Gylseths Aufenthalt habe. Doch jeder, der die kleinste Erklärung abgeben konnte, rückte damit heraus. “Vorgestern ist er mit vier Pulken hier vorbeigefahren.” “Wir haben ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Könnte er nicht zur Küste gefahren sein?” “Er machte hier Aufenthalt, um Flechten mitzuneh men, und sagte, daß er ganz oben im Hochgebirge auf Krankenbesuch müßte. Aber das war vor drei Tagen, und er ist nicht wieder vorbeige kommen.” Von Berghütte zu Berghütte sangen die Stimmen einander zu, über wildes Gebirge und verlassene Einöden. Hundert Kilometer nördlich vom Kirchspiel rasselte ein Telephon, und ein Mensch schüttelte die Winterschlappheit von sich ab, um darüber nachzusinnen, wo der Arzt wohl hingefahren sein könnte. Hundert Kilometer südlich und hun dertfünfundzwanzig Kilometer westlich wurde gemutmaßt und gerät selt. Ein Mann zog mit seinem Pulk zur nächsten Bergstadt, um nachzu sehen, ob sich der Arzt dort befand. Ein einzelner Lappe im Schlitten folgte den Telephondrähten weithin zu einem fernen Ziele und hörte es in den Leitungen über seinem Kopfe summen und brummen, wäh rend die Stimmen beratschlagten. Hoch oben im Norden aber, wo sich zwei Nebenflüsse des Tana vereinigten, lag eine Unterkunfthütte am Fuße des Hanges, fast er drückt von dem Gewicht des vielen Schnees auf dem Dache, Dahinter ragte eine Reihe grauer, fester Holzschuppen in die graue Luft, und hinter den Schuppen strebte ein steiler, waldbestandener Berg empor. Der Berg nahm zwar das schwache Licht des Mittags fort, doch bot er dafür Schutz vor den Stürmen vom Hochgebirge. Am Hang wanderte ein Rudel Rentiere umher und scharrte nach Flechten. Eins der Tiere hatte ein tiefes Loch in den Schnee gegraben und verschwand darin 97
sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Vorderleib; es trug Fridas Ohrenzeichen. Frida selber lag in tiefem Schlummer auf einer Pritsche in der Frauen-Gaststube, umgeben von vier leeren Pritschen; die Tür zur MännerGaststube stand spaltbreit offen; auch dort war in der Nacht nur eine der sechs Pritschen benutzt worden. Jetzt saß Dr. Gylseth unter der Hängelampe und führte sein Tagebuch, während das ganze Haus schlief. Nach zwei Tagen und Nächten im Zelt hoch oben im Gebirge war es eine reine Wonne gewesen, am Abend spät zum Flusse hinunterzu kommen und sich in zwei riesengroßen Stuben auszubreiten, nur die beiden Menschen; jede Stube hatte ihren Herd, hatte Töpfe und Teller und Tassen. “Wollen wir bei mir oder bei dir kochen?” hatte Vater gefragt. “Jeder kann ja für sich kochen”, lachte Frida. Sie hatten die ganze Fellkleidung anbehalten, bis der Hüttenwart die Öfen ansteckte; aber sogar in den ungeheizten Stuben fühlte man sich wärmer, viel wärmer als dort, woher sie kamen. Und als sie sich dann zum ersten Male in drei Tagen von den schweren Pelzen befreiten, hatte Frida das Gefühl, so leicht geworden zu sein, daß sie Gefahr liefe, wie ein Luftballon in die Höhe zu fliegen und an der Decke hängenzubleiben. Sie warf sich abwechselnd auf jede einzelne Pritsche, um sie alle zu erproben, bevor sie ihre Schlafstätte wählte. Während sie dann mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf dem Rücken lag und ein Lappenlied vor sich hin summte, kam Anders mit dem hartgefrorenen Fleischstück herein, das ihnen die Berglappen zum Abschied ge schenkt hatten. Vater zerteilte das Fleisch mit dem Beil und gab Anders die Hälfte für ihn und den Hüttenwart; dann schwang er das Beil aufs neue und hieb Koteletts ab, die wie kleine Holzscheiter durch die Luft flogen. Aber bevor Frida sie in der Pfanne briet, legte sie sie für kurze Zeit in den Ofen. Dann ergriff sie eines der Koteletts mit den Fingern, hielt es Vater hin und rief frohlockend: “Schau, nun läßt es sich biegen!”, und Vater sagte: “Du bist schon beinahe so ein Schweinchen wie die Berglappen.” Aber das war nur ein Scherz, denn auf ihren Reisen 98
konnten sie es mit Sauberkeit und Gepflegtheit nicht so genau neh men, vor allem dann nicht, wenn sie im Hochgebirge im Zelt hausten, wo man unmöglich ein Stück Brot mit Butter bestreichen konnte, ohne den warmen Zeigefinger zu benützen. Fridas Gesicht glühte mit dem warmen Ofen um die Wette, wäh rend sie begierig den verlockenden Duft des Rentierfleischs ein schnüffelte, das in der Pfanne brutzelte. “Laß dich mal ansehen”, sagte Vater und hielt sie auf Armeslänge von sich. “Es gibt keine bessere Schönheitskur als eine Schlittenfahrt in der Kälte. Du siehst gar nicht so übel aus.” Er kniff sie scherzend in die Nase und fügte mit lustigem Augenzwinkern hinzu: “Nun wäre es gut, wenn du dein Gesicht jetzt mit etwas warmem Wasser in Berührung brächtest.” Wie lachte sie dann, als sie sich in dem kleinen Spiegel an der Wand betrachtete. Sie tauchte das ganze Gesicht in die Waschschüs sel, denn vor drei Tagen hatte sie sich zum letztenmal waschen kön nen. Auch ihren Nägeln ließ sie eine wohlverdiente Pflege angedei hen, bevor sie sich an den Tisch setzte. Und welch ein Luxus, auf einem richtigen Stuhle zu sitzen, statt den Teller auf den Knien balancieren und ihn gegen freche Hunde vertei digen zu müssen! Sie lächelte Vater zu, der ihr gegenüber an dem mit einem Wachstuch bedeckten Tische unter einer Hängelampe saß, die mitunter ein wenig tropfte. Aber sie gab Licht, so daß man wirklich jeden Bissen sehen konnte, den man in den Mund steckte, und auch einander sah man deutlich in dem weißen, ruhigen Scheine, nicht so verschwommen wie in dem Flackerlicht des Holzfeuers der Lappen zelte. Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, zündete Vater sich eine Pfeife an, und Frida gab der Versuchung nach, die Arme auf den Tisch zu legen, das Gesicht darin zu vergraben und ein wenig zu schlafen. Sie wußte ja, daß Vater, sobald er seine Pfeife geraucht hatte, wegge hen würde, um die Kinder des Hüttenwarts zu untersuchen, wie er alle Kinder in der Einöde stets untersuchte, gesunde und kranke, um ihre Entwicklung zu verfolgen. Sie wurde erst wieder wach, als eine Hand sie sacht am Arm rüttelte. “Nun, Assistent, wollen wir jetzt ins Bett?” klang es da an ihre Ohren, und gleich darauf taumelte sie im Halb schlaf zu ihrer Pritsche hinüber, um sich dort niederzulegen. Sie mur 99
melte schlaftrunken: “Laß die Türe ein wenig offen, damit wir plau dern können, ja?” Aber aus dem Plaudern wurde nicht viel, denn Frida beantwortete nur Vaters erste Frage; dann versank sie in einen tiefen, schweren, traumlosen Schlaf und fand endlich die Ruhe, nach der ihr junger Körper schon längst Verlangen getragen hatte. Und hier lag sie nun unbeweglich in der gleichen Stellung, wie sie in Schlaf gefallen war, und wären ihre tiefen, ruhigen Atemzüge nicht gewesen, so hätte man sie wohl für tot halten können. Durch ganz Finnmarken ging um diese Zeit die telephonische Jagd nach Dr. Gyl seths kleiner Karawane, aber nicht einmal der leiseste Nachhall von dem Trubel drang in ihr Bewußtsein. Im Nebenzimmer bewegte sich der Arzt geräuschlos, um sie nicht zu wecken. Schwaden von Braten dunst drangen durch die halboffene Türe und kitzelten ihre Nase. Die Ringe auf dem Herd rasselten; ein Holzscheit fiel schwer zu Boden; verspritztes Wasser zischte auf dem Herde; ein Eimer klirrte an sei nem Henkel. – Weit fort läutete ein Telephon; der Hüttenwart antwor tete. Dann klopfte es an Vaters Türe, und die Bratpfanne wurde zur Seite gestellt. – Die Jagd war zu Ende. “Ja, ich bin's”, sagte Dr. Gylseth in die Sprechmuschel des Tele phonapparats. Und von Bergstation zu Bergstation lief die frohe Botschaft durchs Telephon: “Wir haben ihn gefunden!” Bei dem Hüttenwart der ersten Bergstation saß der Berglappe ge duckt auf einer Bank, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den Händen vergraben. Sein langhaariger Hirtenhund lag neben ihm, wie eine Kugel zusammengerollt, so daß der Schwanz über die Schnauze hing. Beide hoben den Kopf, als das Telephon klingelte. Der Hüttenwart begann mit abgehackten Erklärungen, doch der Doktor unterbrach ihn sogleich: “Laß mich mit dem Mann selber sprechen. Ich muß genau wissen, wo seine Bergstadt liegt.” Dann erklang eine neue Stimme am anderen Ende des Drahtes, eine Stimme, in der Hoffnung schwang. Als sie dann schwieg, sagte der Doktor langsam auf Lappisch: “Sei ruhig; ich bin nur vierzig Kilome ter weit weg. Aber wo liegt denn deine Bergstadt – vielleicht kann man den Weg abkürzen?” 100
Die Stimme erklärte den Weg mit großer Hast, während eine ro mantische Telephonistin atemlos zuhörte, die Augen auf eine große Landkarte an der Wand gerichtet, und eine Bleistiftspitze mitten in einen dunkelbraunen Bergklumpen setzte. Dort mußte es sein. Dann zeichnete sie einen Strich von Vaters Berghütte bis zu dem Punkt und maß mit dem Bleistift die Entfernung auf der Kilometerskala oben in der Ecke. Höchstens dreißig Kilometer betrug die Entfernung, aber dazwischen lag wildes und unwegsames Gelände, wo selten andre Menschen als Lappen verkehrten. Jetzt war Anders am Telephon. Der kannte die Berge in der ganzen Gegend in- und auswendig; und er nannte sie bei den Namen, die ih nen die Berglappen gegeben hatten. Die Telephonistin suchte verge bens auf ihrer Karte nach Hexenzinne und Wolfskopf. Am Fuße des Kleinen Ren wollte der Lappe warten und sie das letzte Stück zur Bergstadt hinaufführen. Dann wurde der Hörer eingehängt, und mit einem tiefen Seufzer zog die Telephonistin den Stöpsel heraus. Vaters Stimme hatte ihr für die Berglappenfrau Hoffnung gemacht. In der Frauen-Gaststube schlug Frida die Augen auf, und mit einem Schlage war sie hellwach. Vaters Schritte hatten so tatkräftig geklungen, als er zum Herde zu rückkehrte. “Ist etwas los?” rief sie. “Ja, viel”, antwortete er. “Steh auf und hilf Anders beim Einfangen der Zugtiere. Wir fahren ab, sobald wir gegessen haben.” Frida brauchte kein Wurfseil; Dixie kam, sowie sie ihn rief. Anders konnte ihn nicht dazu bewegen, herbeizukommen, so sehr er das Tier auch lockte. Darum war sie immer dabei, wenn die Rentiere eingefan gen wurden, denn wenn sie Dixie erst einmal hatte, folgten die andern willig. An diesem Morgen aber war schon jemand draußen; die ganze Her de kam heruntergejagt, einen fremden Hirtenhund auf den Fersen. Und da stand eine dicke Lappenfrau ruhig auf ihren festen Beinen und schwang ihr Wurfseil, als das Rudel im Halbdunkel vorbeisauste. Sie traf das Geweih eines mächtigen Rentiers mitten in der Herde; der Stein am Ende des Wurfseils schlang sich rundum, so daß es einen Ruck an ihrem Arm gab; sie stemmte die Beine fest gegen den Boden 101
und lehnte sich zurück, und das Gewicht ihres Körpers brachte das Tier zum Stehen. Dann näherte sie sich ihm langsam, um den Zügel festzubinden, wobei sie fröhlich und lebhaft zu dem Hunde sprach, der die Herde wieder an ihr vorbeitrieb. Mit derselben Sicherheit fing sie ein zweites Ren ein. “Das ist ja Inga”, rief Frida begeistert. “Wo kommt die denn her?” Da drehte die Frau ihr das breite, muntere Gesicht zu und ließ die Rentiere vorbeilaufen, ohne das Wurfseil zu schwingen. “Meine Rentiere und eure”, lachte sie, “das ist eine große Herde. Aber meine Rentiere sollen dem Doktor nicht zur Last fallen, wenn er wegfahren will. Deshalb stand ich auf, bevor der Mond am Himmel erschien, um sie einzufangen. Aber es sieht ganz so aus, als ob ich doch zu spät aufgestanden wäre.” “Aber woher kommst du denn?” fragte Frida. “Und mit wem reisest du?” “Ich komme vom Kirchspiel”, erwiderte Inga, “und ich reise al lein mit acht Pulken und neun Rentieren heim zu meiner Bergstadt – den Weg dort”, und sie wies mit dem Kinn gen Norden. “Ganz allein?” fragte Frida verblüfft. “Mein Hund ist bei mir”, lach te Inga. Sie sprach wieder mit dem Hunde, dessen Augen an ihr hin gen, und der daraufhin fortfuhr, die Rentiere an ihr vorbeizujagen. Dann sagte sie: “Es ist für euch leichter, eure Rentiere einzufangen, wenn meine von ihnen geschieden sind.” Sie machte sich daran, das Wurfseil aufs neue aufzuwickeln. Die beiden eingefangenen Tiere hat te sie an ihrem linken Oberarm festgebunden. “Hast du heute nacht hier geschlafen?” fragte Frida. “Ich hab' in ei nem der Schuppen genächtigt”, erwiderte Inga. “Heute abend aber ist meine Reise zu Ende. Heute abend schlafe ich an meinem eigenen Feuer.” Frida sah ihr bewundernd zu, wie sie abermals ein Ren aus der Herde holte. Inga machte ihrem Ruf alle Ehre – die reiche Berglappenwitwe, die sich nicht wiederverheiraten wollte, sondern ihre Bergstadt selbst be wirtschaftete, so tüchtig wie ein Mann. Alles, was ihr gehörte, zeichnete sich durch besondere Güte aus, ihr Zelt, ihre Pulke und ihre Felle. Und sie selber wußte Büchse und 102
Wurfseil besser zu gebrauchen als die sechs Rentierknechte, die in ih rem Sold standen. Ihre große Herde wuchs von Jahr zu Jahr, denn das Glück war mit ihr. Jetzt stand sie hier in einem Mantel aus schneeweißem Renkalbfell, wie sich kein zweiter in ganz Finnmarken fand. An ihren schmutzigen Fingern steckten schwere Goldringe mit funkelnden Steinen, die sie beim Pelzhändler an der Küste gekauft hatte. Jeden März fuhr sie quer durch Finnmarken, um auf dem Lappenmarkt an der Küste ihre Felle zu verkaufen. Die schwarzen, losen Haare hingen ihr unter dem Lappenhäubchen auf die Schultern; und wenn sie lächelte, entblößte sie eine Reihe kur zer, breiter Zähne und ein großes Stück rotes Zahnfleisch. Sie starrte Frida beharrlich an, und Frida wandte die Augen ab, denn sie war es nicht gewohnt, daß man sie so ansah; Neugier und Bewunderung und ein wenig Furcht hatten in dem Blick gelegen. Es war, als ob Inga et was von ihr wollte; aber was konnte das nur sein? Frida schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und lief auf den Skiern zur Rentierherde. Inga sollte nicht glauben, daß sie und Anders zuschauten und faulenz ten, während Inga ihre Rentiere von den andern sonderte. Unweit der Herde blieb Frida stehen, und dann begann sie mit leiser, einschmei chelnder Stimme zu locken und zu rufen; ganz schwach pfiff sie und streckte die Hände aus. Da löste sich ein großes Rentier mit gewalti gem Geweih von der Herde. Furchtlos schritt das Tier auf sie zu und ließ sich willig den Zügel am Zaumzeug befestigen. Ein paarmal wik kelte sich Frida das lose Ende um die Hand, bevor sie Dixie mit sich fortzog. Die ganze Herde folgte hinterdrein, während Inga mit offe nem Munde dastand und ihr nachstarrte. Oh, das war ein großer Au genblick! Jetzt aber riefen Anders und Inga ihre Hunde an, die darauf hin zwischen den Beinen der Rentiere umhersausten und die beiden Herden voneinander trennten. Nur ein junges, erschrockenes Tier lie ßen sie entschlüpfen, und Inga rief ihrem Hunde zornig zu: “Du dum mer Kerl, kennst du denn mein neues Zugren noch immer nicht?” So fort jagte der Hund hinter dem jungen Ren her und versetzte ihm in seiner Erbitterung einen ordentlichen Biß, weil es ausgerissen war, wo doch alle andern ihm gehorchten. 103
Frida reichte Anders Dixies Zügel und überließ ihm alles weitere, denn Inga bedeutete ein Erlebnis, das man sich nicht einfach entgehen lassen konnte. “Laß mich deine Rentiere halten, während du das letzte einfängst”, bat sie. Da blickte Inga sie mit ihren großen, feurigen Augen an und rief: “Komm mit mir in meine Bergstadt!” Frida schüttelte den Kopf und erwiderte, daß sie mit Vater reisen müsse. “Ich hab' daheim ein paar Renkalbfelle”, erklärte Inga; “vielleicht kannst du mir sagen, was du davon hältst. Ich selber verstehe ja nicht viel von Kalbfellen, aber einige sagen, sie seien weiß wie Schnee, und andere sagen, daß sie keinen einzigen Schatten haben, und wenn das wirklich wahr ist, so könnte es ja sein, daß die Doktorstochter sich nicht zu schämen brauchte, einen Pelzmantel zu tragen, der daraus ge näht ist.” “Findest du, daß mein Pelzmantel nicht gut genug ist?” lachte Frida. “Ganz sicher ist er nur grau, und früher hat er Mutter gehört, und er beginnt schon die Haare zu verlieren – schau, an der Sitzfläche und an den Ellenbogen. Aber er ist doch noch dicht genug, um im Hochge birge die stärkste Kälte abzuhalten. Und was brauche ich mehr?” “Hast du erst einmal einen weißen Pelz an”, entgegnete Inga, “dann erkennen dich alle Leute von weitem und sagen: ‚Da sehe ich einen weißen Pelz – das ist Doktors Frida.’” “Und jetzt sagen sie: ‚Da kommt ein abgetragener grauer Pelz – das ist Doktors Frida’”, lächelte Frida. Inga runzelte die Brauen und ver setzte: “Jetzt schämen sich alle Berglappen. Der Doktor sucht sie in ihren Bergstädten auf, und er verlangt kein Geld. Er leistet ihnen gro ße Dienste und fordert nichts dafür. Wenn sie dann aber seiner Toch ter eine winzigkleine Freude machen wollen, so schüttelt sie den Kopf und lehnt ab.” Frida sah sie betroffen an. “Du machst mich ganz trau rig”, bekannte sie. “Doch sag selbst, wie kann ich zu einem armen Flußlappen in einem weißen Pelz kommen, wenn er selber nur einen abgenutzten, haarlosen Mantel hat, und wenn seine Kinder nicht ein mal Fellstiefel haben, die dem Schnee draußen widerstehen? Siehst du nicht ein, Inga, daß er mich dann hassen müßte, und daß ihn die kleine 104
Hilfe, die ich ihm bringe, dann nur reizt? Mein Herz ist gerührt, weil du mir ein so großes Geschenk anbietest. Du willst mir deine kostba ren Felle geben, um Vater zu danken, und das werde ich dir nie ver gessen.” Inga scharrte mit dem einen Fuß im Schnee und betrachtete grübelnd das Loch, das sie gemacht hatte. Schließlich hob sie den Kopf und schaute Frida ins Gesicht: “Verzeih mir bitte meine Einfalt”, sagte sie. Frida nickte stumm, denn sie war den Tränen nahe. Inga blickte verlegen fort und murmelte: “Ich muß an die Kinder denken, von denen du gesprochen hast, und ich denke an meine Mädchen da heim, die mit müßigen Händen am Feuer sitzen und nur schwatzen. Ich will sie heißen, warme, dichte Kinderstiefel nähen, große und kleine Paare, und ich werde die Felle selber auswählen, damit nie mand sagen kann, die reiche Inga habe den armen Kindern Pelzstiefel geschenkt, die aus häßlichen Fetzen zusammengestückelt wurden, weil sie selber keine Verwendung dafür hatte. Wenn die Stiefel fertig sind, werde ich sie ins Kirchspiel bringen. Und ich bitte dich, sie dann in deinen Pulk zu nehmen und sie den Kindern der armen Flußlappen zu geben, die in der Stube bleiben müssen, weil sie keine ordentlichen Stiefel haben.” “Tausend, tausend Dank!” rief Frida glückstrahlend. “Dank von Vater und von mir und von allen Kindern. Ihre Augen werden glänzen, wenn ich ihnen dein Geschenk zeige, und wenn sie dann hören, daß die Stiefel in Ingas Zelt genäht worden sind, wird ihre Freude noch größer sein, denn alle wissen, daß Inga nur das Beste gibt.” “Nun haben wir von dieser Kleinigkeit genug geredet”, versetzte Inga. “Noch nie habe ich so lange Zeit gebraucht, um meine Rentiere einzufangen.” Sie rief wieder ihren Hund, ließ das Wurfseil in der Luft kreisen und warf es aufs neue. “Der Tag, an dem du mich in mei ner Bergstadt besuchst, wird ein großer Tag sein”, bemerkte sie ab schließend. “Auch für mich!” rief Frida. “Du mußt wissen, daß es niemand in Finnmarken gibt, den ich lieber besuchen möchte als dich. Und ich habe das Gefühl, daß es nicht sehr lange dauern wird, bis ich komme.”
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Auf ihren Skiern fuhr sie zur Berghütte zurück, ohne den sonderba ren Blick zu sehen, den Inga ihr nachsandte. Es schien, daß Vater gro ße Eile hatte, fortzukommen. Der Hüttenwart half Anders beim Anspannen, und Vater schleppte alle möglichen Dinge zum Gepäckpulk. “Wir haben ja noch gar nicht gegessen”, bemerkte Frida verwundert, als sie entdeckte, daß er bereits im Pelzmantel war. “Anders und ich haben schon gegessen”, antwortete er, “und für dich steht das Essen drinnen. Morgen abend sind wir zurück – inzwischen bleibt dir genug Zeit.” “Ja, soll ich denn nicht mit?” rief sie unglücklich. “Fahrt ihr ohne mich?” “Es geht um Leben oder Tod”, erklärte er. “Ich bitte dich, hier auf uns zu warten. Ich kann dich nicht brauchen, und wir werden eine an strengende Reise haben.” “Habe ich etwa nicht bewiesen, daß ich dem gewachsen bin?” gab Frida verzagt zurück. “Doch, das hast du. Aber es gibt Dinge, die deine jungen Augen besser noch nicht sehen. Nun weißt du Bescheid.” “Gut, dann bleibe ich.” Fridas Blick fiel auf Inga, die sich mit ihren Rentieren näherte. 106
“Weißt du, was ich schrecklich gern möchte?” entfuhr es ihr. “Ich möchte mit Inga in ihre Bergstadt fahren. Das kann kein sehr weiter Weg sein, denn Inga sagte, daß sie heute abend schon an ihrem eige nen Feuer sitzen würde. Das wäre ein ganz wundervolles Erlebnis!” “Es ist keineswegs sicher, daß sie große Lust hat, dich um sich zu haben”, wandte Vater ein. “Und wie willst du dann zurückkommen?” “Sie hat mich selber aufgefordert, mit ihr zu fahren”, antwortete Frida eifrig. “Und wenn ich sie dazu bewegen kann, mir morgen einen ihrer Knechte mitzugeben?” “Du kannst ja mal mit ihr sprechen. Wenn sie einverstanden ist, dann meinetwegen gerne. Es gibt keinen Menschen, dem ich dich lieber anvertraue.” “Sie ist einverstanden”, erklärte Frida mit großer Überzeugung. “Und weißt du, was sie vorhat? Sie will ihre Mädchen daheim im Zelt dazu anhalten, den armen Lappenkindern Pelzstiefel zu nähen, nur weil ich ihr von ihnen erzählt habe.” “Damit hast du eine bessere Tat vollbracht, als du selber ahnst”, versetzte Vater. “Wenn Inga mit gutem Beispiel vorangeht, folgen ihr alle übrigen.” Frida lief eiligst zu Inga und rief ihr laut und begeistert zu: “Magst du mich heute mitnehmen? Vater erlaubt's, wenn ich morgen abend wieder zurück bin!” “Ich werde dich selber zurückbringen”, versprach Inga. “In dem einen Pulk habe ich schon für dein Gepäck Platz ge macht.” Dabei lächelte sie geheimnisvoll, als hätte sie die ganze Zeit gewußt, daß Frida mitkommen würde. Als der Mond auf der andern Flußseite über den Gipfeln zum Vor schein kam, gab der Doktor seinem Zugren mit dem Zügel einen leichten Schlag über den Stummelschwanz und warf sich auf den fah renden Pulk. Sein linkes Bein machte eine tiefe Furche in den Schnee, während er das Rentier einen großen Bogen beschreiben ließ und auf den steilen Berghang zusteuerte. Anders folgte ihm mit dem Rest der Karawane. Dixie, der vor Fridas Pulk gespannt und an einen Pfosten gebunden war, versuchte vergebens sich loszureißen, als sie vorbeijag ten. Beunruhigt blickte das Tier der Karawane nach, als sie den be schwerlichen Zickzack-Aufstieg begann. Jetzt liefen beide Männer neben ihren Pulken durch den tiefen Schnee; dann fuhren sie ein 107
Stück, und gleich darauf liefen sie abermals nebenher; und schließlich stapften sie mühselig vor den Rentieren den Hang hinauf, den Zügel über dem Arm, bis sie auf einem niedrigen Plateau Fuß faßten und Rentier und Pulke nach sich zogen. Frida mußte den Kopf in den Nacken legen, um den Aufstieg zu verfolgen. Der Mond goß sein Licht über die Weite. Die Bäume zeichneten blasse Schatten in den Schnee, und die beiden kleinen Menschen-Ameisen hoch oben traten in ihren eigenen Mondschatten, während sie sich zum Gipfel emporkämpften. Eine Stunde später machte auch Frida sich auf den Weg. Inga saß breitschultrig und stattlich im ersten Pulk; über dem Pelz trug sie ei nen bestickten Seidenschal mit langen Fransen. Ihrer Pulkspur folgten sieben Zugrene, jedes mit seiner eigenen Fuhre. Der letzte Gepäck pulk in der Reihe war der Deckelpulk, der das bunte Kaffeegeschirr barg, das Inga vor kurzem beim Kaufmann erstanden hatte; und dahin ter tanzte an einem langen Seile ein junges, unbändiges Ren, das der Hund immer wieder mißbilligend betrachtete, denn er hatte die mor gendliche Schande noch nicht vergessen. In strahlender und ausgelassener Stimmung fuhr Frida neben Inga dahin. Es erfüllte sie mit großem Stolz, daß sie ohne die Hilfe eines einzigen Mannes durch die Einöde unterwegs war. Vorläufig hielten sie sich auf dem Flußeis. Der Hund lief fortwäh rend an der langen Reihe vor und zurück und hatte ein wachsames Auge auf die Rentiere. Von Zeit zu Zeit hielt Frida an und ließ alle vorbei, und wenn sie ein Zugren unbeholfen auf drei Beinen hinken sah, weil es sich mit dem einen Vorderbein in den eigenen Zügel ver wickelt hatte, rief sie sogleich “Halt!”, worauf Inga die ganze Reihe zum Stehen brachte, während Frida rasch aus dem Pulk sprang und das Rentier befreite, ohne Dixie loszulassen. Mitunter fuhr sie auch zuallerletzt, um den Anblick der ganzen Ka rawane so recht zu genießen. Fast wären ihr die Tränen gekommen, weil es ein so überaus schönes Bild war. Die großen, geschmeidigen Tiere setzten die Beine mit viel Anmut auf; ihre leichte Bürde behin derte sie nicht. Es war fast, als ob sie im Mondschein über das Eis da hinschwebten, mausgrau und gespenstisch. Ein rotes Geschirr lag um 108
ihren Hals und ihre Brust; zwischen den Beinen lief das einzige Seil hindurch, das an der Pulkspitze an einem Ring befestigt war, und der Zug von vorn und von hinten hielt sie in einer schnurgeraden Linie. Und all diese Kraft und Anmut wurde von Inga beherrscht, die in ih rem besten Fahrpulk saß, vor den die besten Zugrene gespannt waren; das eine dicke, fellbekleidete Bein streckte sie hinaus und ließ den spitzschnabligen Stiefel lässig über den Schnee schleifen. Ihre Macht war für sie etwas so Selbstverständliches, daß sie ihr überhaupt keinen Gedanken schenkte. Hätte jemand sie gefragt, ob sie sich nicht fürch te, allein durch die verschneiten Berge zu reisen, wo es bei einem Un fall keine Hilfe gab, so wäre sie nur höchst verwundert gewesen. Die Menschen konnten vielleicht ihre Selbstzufriedenheit erschüttern, aber die Einsamkeit vermochte das nicht. In der freien Natur war sie Herrin über alle andern Geschöpfe, klüger als Rentiere und Wölfe und Hun de; und sie hatte ihr Messer, ihr Gewehr, ihr Wurfseil und ihre Skier. Was gab es da zu fürchten? Fridas Herz klopfte in heißer Freude. Sie klapste Dixie mit dem Zü gel auf den Schwanz und jagte an der ganzen Karawane vorbei. Dabei streckte sie den linken Arm seitwärts aus und schwenkte ihn auf und nieder, um Dixie zum äußersten anzutreiben. Inga drehte sich im Pulk halb herum und lächelte munter; sie vergaß, daß Frida keine Lappin war, und öffnete ihr das Herz. Sie war im Kirchspiel gewesen, um einzukaufen. Ihre Gepäckpulke waren vollbeladen mit Mehl, Zucker und Salz, mit Margarine, Tabak, Munition und vielen anderen Waren, die sie nun in ihre Bergstadt brachte. Sie hatte jedoch noch etwas an deres erledigen müssen. Ihre beiden jüngsten Kinder gingen ja in die Internatsschule. Jetzt warf sie einen verstohlenen Blick auf Frida. Dann starrte sie wieder mit ihren großen, braunen Augen unablässig auf den Schnee. Inga vermißte ihre Kinder, und die Kinder vermißten das Leben in den wilden Bergen; aber das Gesetz verlangte ja, daß sie sechs Winter hindurch die Schule besuchten. Inga schnaubte höhnisch; sie fand die ses Gesetz dumm, denn was lernten sie viel, das für einen Berglappen lernenswert gewesen wäre?
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Sie hatte mit den Kindern gesprochen, und sie hatten ihr ihre Bü cher gezeigt, die voll Krimskrams waren. Was nützte es jedoch, daß sie diesen Krimskrams kennenlernten, wenn sie nicht lernten, die Ohrenzeichen der Rentiere zu unterscheiden, falls drei Herden durchein ander und in einem Klumpen dahergejagt kamen, und man Augen und Hände geschwind gebrauchen mußte, um die eigenen Rentiere heraus zuholen? Sie lernten auch zählen, aber was hatte das für einen Zweck, wenn sie nicht imstande waren, mit einem einzigen Blick über den Berghang zu sagen, ob von den zweihundert Rentieren der Herde, die dort äste, sieben Stück fehlten? Nein, in der Schule lernten sie kaum etwas, wofür ein Berglappe Verwendung hatte; und wenn sie heimkamen, froren sie nachts im Zelt, weil sie die Kälte im Hochgebirge nicht mehr gewöhnt waren. Und ihre Augen sahen nicht mehr so gut wie früher, denn inzwischen hatten sie sich an das starke elektrische Licht angepaßt. Der Tag war schon schlimm in der Schule, die Nacht aber war noch schlimmer. In der Nacht war's, als hätten sie gar keine Verbindung mit der Natur. Sie schliefen mit Wänden ringsum und mit einem Dach über dem Kopf; es fehlte ihnen das schwache Flattern der Zeltbahnen im Winde, und es fehlte ihnen das Rauchloch, das die Sterne am Himmel oder den herabfallenden Schnee enthüllte; es fehlte ihnen das Feuer, das schwach glühte, bis ihnen die müden Augen zufielen; sie vermißten auch die Hunde, die zwischen den Schlafenden herumliefen, sich dicht neben ihnen hinlegten und ihnen Freundschaft und Wärme vermittel ten. Am meisten aber vermißten sie die Freiheit. Sie konnten nicht mehr rufen und schreien und sich in wilden Spielen tummeln. Sie wurden auf eine kleine Bank gesetzt, neben ein anderes Kind, und man sagte ihnen, daß sie sich nicht kratzen dürften, weder mit den Händen noch mit den Füßen – und da saßen sie und wurden krank vor Sehnsucht nach den wilden Bergen, wo ihr Geschrei im Spiel durch die dunklen Schluchten rollte und niemand zu ihnen sagte: “Das darfst du, und das darfst du nicht.” 110
Man lehrte sie nicht, daß die Berglappen die Herren der Berge und der Rentiere seien, sondern man hielt ihnen vor, daß die erbärmlichen ansässigen Lappen, die ihr freies Leben aufgegeben und alle ihre Ren tiere verloren hatten, viel ruhiger in der Bank säßen und besser zuhör ten. “Schaut sie euch an, sie lassen die Gedanken nicht dauernd um herschweifen”, hieß es. Wohin sollten denn ihre Gedanken auch schweifen, wenn sie nichts hatten, wonach sie sich sehnten? Frida lauschte stumm, während Inga ihr Herz ausschüttete und sie fühlte großes Mitleid mit den Berglappen-Kindern, die sich so schwer zähmen ließen. Und sie fragte sich im stillen, ob sie nicht viel glückli cher wären, wenn sie weder lesen noch schreiben könnten; aber dann fiel ihr ein, wie die ansässigen Lappen die Berglappen häufig zu be trügen versuchten, und dagegen gab es nur eine Waffe – das Wissen. “Der Winter ist ja bald vorbei”, bemerkte sie tröstend. “Aber da nach kommt ein neuer”, gab Inga düster zurück. “Und es ist für die Berglappen nicht gut, in Mauern zu leben.” Hier auf dem Flusse im Mondschein verstand man, was sie meinte. Die Rentiere liefen und liefen; der Mond verblaßte und wich einem schwachen Tagesschimmer, der verriet, daß die Sonne jetzt mitten am Tage nahe unter dem Horizont stand. Einen Augenblick färbten sich die Wolken im Süden leicht rosa, dann liefen die grauen Rentiere wie der in grauer Dämmerung dahin, liefen unermüdlich, während sich eine neue Mondnacht über sie senkte. Inga lenkte den ganzen Zug eine niedrige Uferböschung hinauf und fuhr zwischen verkrüppelten Tan nen und Birken weiter, und als sie vor dem Flußwind geschützt waren, hielt sie an und stieg aus. Aus der Pulkspitze holte sie einen Sack mit Rentierflechten hervor und legte vor jedes Ren einen Haufen davon, während Frida ein kleines Feuer anzündete, um Kaffee zu kochen. In ga schwang ihr großes Messer unter den Bäumen, und mit hartem Knall fielen kleine Zweige im Frost von den Stämmen. Dann errichte te sie vor dem Feuer ein Lager, breitete Rentierfelle darüber und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen gemütlich zurecht. In Reichweite stand rings um sie alles, was sie brauchte. So bereitete sie das Fleisch zu und kochte mit der gleichen Gemächlichkeit wie daheim im Zelt den Kaffee. 111
Von allen Seiten kam die Dunkelheit herangeschlichen, die Kälte nahm zu, aber Inga setzte ihre Tätigkeit unbeirrt fort. Während Frida ihr Gesicht betrachtete und über Ingas unerschütterliche Ruhe staunte, begann sie die merkwürdige Wahrheit zu erfassen: Die ganze Natur war Ingas Heim. Die Rastlosigkeit, die sie früh am Morgen von der Bergstation fortgetrieben hatte, war völlig verschwunden. Hier war sie daheim, und darum hatte sie gar keine Eile, fertig zu werden und wei terzufahren. Das Feuer warf einen rötlichen Schein auf die Rentiere, die mit träumerischen Augen dastanden und die Flechten mit knir schendem Geräusch zwischen den Zähnen zermalmten. Frida empfand eine eigenartige Zusammengehörigkeit mit der Natur; eine tiefe, stille Freude erfüllte sie, während sie neben Inga am Feuer saß und zum Mond emporschaute. Drei Stunden später hielten sie vor Ingas Zelt, erhitzt und etwas atemlos nach einem langen, anstrengenden Aufstieg. Fünf Hunde ka men herbeigesprungen und vollführten einen spielerischen Kampf mit dem Hunde, der die Fahrt mitgemacht hatte, und aus dem Zeltinnern 112
strömten ihnen die Wärme des Feuers und die Freude der Menschen entgegen. Ingas achtzehnjährige Tochter beeilte sich, das Feuer höher anzufachen und den Kaffeekessel darüberzuhängen. Die Mädchen lie fen zu den Vorräten, die vor den Hunden und den Wölfen versteckt waren, und kehrten mit Markknochen und leckeren Fleischstücken zurück. Dann stieg der Dampf aus dem großen Kochtopf empor und erfüllte das Zelt mit verheißungsvollem Duft. Die Hunde schnüffelten ihn ein, wedelten und kamen nacheinander zu Frida, um den fremden Gast zu beschnuppern, der festliche Freude in die Bergstadt gebracht hatte. Schwatzen hob an, es wurde gelacht und gefragt. Die Rentier knechte mußten ihren Teil erzählen, und Inga erzählte ihre Erlebnisse. Die Frauen befeuchteten Sehnenfäden im Munde und rollten sie über der Brust. Ingas fünfzehnjähriger Sohn schnitzte sich einen neuen Ski, denn es war ihm einer zerbrochen, als er tollkühn eine fast senkrechte Schluchtwand hatte hinuntersausen wollen. Und die ganze Zeit merkte Frida, daß aller Augen neugierig auf ihr ruhten. Gegen Abend krochen zwei müde Rentierknechte ins Zelt, und zwei andere zogen auf Skiern in die Nacht hinaus, um die Herde zu bewa chen. Inga zündete sich ihre Pfeife an und starrte gedankenvoll ins Feuer. Die beiden Neuankömmlinge nahmen ihr Essen ein, umdrängt von den Hunden, die etwas abzubekommen hofften. Da nahm Inga die Pfeife aus dem Munde und sah zu Frida hinüber. “Bald müssen wir fort von hier”, sagte sie. “Es gibt hier nur wenig Flechten, und täglich ziehen die Rentiere weiter fort, um Futter zu suchen. Jetzt halten sie sich zwölf Kilometer vom Zelt entfernt auf, und das ist ein weiter Weg für die Knechte. Die Rentiere finden nur wenig zu äsen; darum drängen sie weiter, so daß es am besten ist, wenn wir aufbrechen. Und nun frage ich dich, Frida, wohin sollen wir ziehen?” “Das fragst du mich?” entfuhr es der verblüfften Frida. “Ja, ich fra ge dich”, antwortete Inga ruhig. Frida blickte sie verwirrt an. “Alle sagen, daß du tüchtiger bist als irgendein Berglappe sonst – und da fragst du mich, die ich nichts weiß!” “Vielleicht war das Glück auf meiner Seite”, bemerkte Inga be scheiden. “Aber ich kann ja nicht wissen, wo unter dem Schnee Flech ten wachsen.” “Das kann ich doch auch nicht!” 113
“Vielleicht verlierst du deine Kraft, wenn du es zugibst”, murmelte Inga. “Aber obwohl wir viele Tagereisen vom Kirchspiel entfernt wohnen, so hat uns doch das Gerücht von deinen Fähigkeiten er reicht.” “Was für Fähigkeiten?” fragte Frida voll banger Ahnungen. “Einmal bist du mit deinem Vater zu einer verhexten Bergstadt ge fahren. Da gingst du vors Zelt, um zu zaubern, und gleich darauf stecktest du den Kopf hinein und sagtest: ‚Aslak und Matti, wenn ihr eure fehlenden Rentiere wiederhaben wollt, müßt ihr der Spur folgen, die ich euch zeige.’ Alle im Zelt hörten das, und am nächsten Tage waren Aslaks und Mattis gestohlene Rentiere wieder da, aber niemand konnte ein Wort aus ihnen herausbekommen, wie das zugegangen war.” “Ich ging hinaus, um mit Aslaks Tochter zu sprechen”, erklärte Fri da. “Sie war es, die mich auf die Spur brachte.” Inga aber lächelte ein kleines, abweisendes Lächeln und entgegnete: “Heute sah ich mit meinen eigenen Augen, daß die Rentiere zu dir springen, wenn du bloß rufst.” “Das tut nur Dixie; er ist in unserem eigenen Stall geboren und war nie so wild wie die Rentiere, die du aus deiner Herde aus wählst und zu Zugtieren aufziehst.” “Man sagte mir”, beharrte Inga, “daß im Kirchspiel die Lappen in der Küche des Doktors sitzen und darauf warten, mit dir zu reden.” “Früher sprachen sie mit Mutter”, erwiderte Frida, “aber da sie jetzt fort ist, versuche ich die Leute zu beraten, so gut ich es vermag. Ich glaubte erst gar nicht, daß ihnen meine Ratschläge nützen würden, doch dann kamen immer mehr.” Inga lachte leise vor sich hin. “Da siehst du's”, murmelte sie. “Aber wenn sie mich etwas fragen, wovon ich nichts verstehe, dann sage ich es ehrlich, oder ich schicke sie zu Vater.” “Aber sie kommen zuerst zu dir”, betonte Inga. “Nicht die Kran ken.” “Ich spreche nicht von den Kranken, sondern von den Lappen, die Rat brauchen. Vorige Weihnachten kam ein Mann, der dich fragte, wohin er mit seiner Herde ziehen sollte, und da zeigtest du in die Luft. 114
Er zweifelte ein wenig, denn in der angegebenen Richtung lagen un fruchtbare Berge, die die Lappen zu meiden pflegen. Dann aber sagte er zu sich: ‚Nun habe ich gefragt, und sie hat geantwortet; da muß ich gehorchen, sonst wird Unglück mich und meine Bergstadt treffen.’ Und er trieb seine Rentiere zu den unfruchtbaren Bergen, wo sie im Schnee scharrten und jeden Tag nur ein paar Schritte machten, so viele Flechten gab es dort.” Einen Augenblick saß Frida mit offenem Munde da, während ihr die Gedanken durch den Kopf jagten. Wer in aller Welt hatte bloß die se Räubergeschichte erfunden? Dann erinnerte sie sich plötzlich an den kleinen, dünnen, krummbeinigen alten Lappen, dem der Ta bakspeichel aus den Mundwinkeln floß. Er hatte über all das Unglück geklagt, das über seine Herde gekommen war; er hatte die Hände ge rungen und mit zitternder Stimme gefragt, wohin er seine Rentiere treiben sollte. Sein Gejammer hatte Frida schrecklich gereizt, und so fuhr sie ärgerlich mit der Hand durch die Luft und sagte auf Norwe gisch: “Da ist die Türe, scher dich fort, du alter Kobold!” Gleich dar auf hatte sie ihre Worte bereut, denn es war ihr in den Sinn gekom men, daß Mutter sich niemals so benommen hätte, auch wenn der alte Lappe schon aus der Entfernung nach Schnaps roch und keinen Mucks von dem begriff, was sie sagte. Sie hatte sich sehr elend gefühlt, als er sich mit überschwenglichen Dankesworten verabschiedete, während er sich mit strahlender Miene rückwärts auf die Türe zu bewegte. Dar über hatte sie sich gewundert und sich gefragt, was wohl in ihm vor gehen mochte; aber erst in diesem Augenblick ging ihr auf, daß er ge glaubt hatte, sie habe in eine bestimmte Richtung gewiesen, in die er seine Herde führen sollte. Da warf sie den Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. Sie lach te und lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen kullerten und alle im Zelt verwundert zu ihr hinüberschauten. “Ach, du meine Güte”, stöhnte sie und wischte sich eine Lachträne fort. “Erzähl mir noch mehr von meinen Hexereien.” Inga kniff die Lippen ein wenig zusammen. Dann sprach sie: “Erin nerst du dich, wie du heute morgen zu mir sagtest, du habest das Ge fühl, daß du bald zu mir in meine Bergstadt kommen würdest? Da 115
wußte ich, daß du ein Gesicht gehabt hattest, und ich machte in mei nem Gepäckpulk Platz für deine Sachen.” “Ihr glaubt wohl allesamt, ich sei eine Hellseherin?” fragte Frida und blickte gespannt von Antlitz zu Antlitz, und da las sie auf allen Gesichtern ein stummes Ja. “Und wenn ich nun sage: Nehmt diese oder jene Richtung – dann werdet ihr es tun?” Inga nickte. “Aber wenn dein Sohn krank wäre, würdest du dann lieber mich oder Vater fragen?” Da rutschte Inga unruhig auf ihrem Platz herum und erwiderte: “Dein Vater weiß viel, was niemand sonst weiß.” “Weiß er mehr als ein Hellseher?” fragte Frida streng. “Das glauben wir”, antwortete In ga und schlug die Augen nieder. “Nun will ich euch sagen, was er vor allem weiß”, erklärte Frida, “und wenn er das nicht wüßte, würde er nicht Tag und Nacht bei jedem Wetter herumreisen, um euch Hilfe zu bringen. Er weiß, daß viele versucht haben, euch zu betrügen, und er weiß, daß ihr euch auch selbst betrügt. Es bedarf nur einer Kleinigkeit, damit ihr einen Lappen für einen Hellseher haltet, und so blind seid ihr in eurem Glauben, daß ihr dem Hellseher in allem und jedem folgt. Dabei kann der Hellseher nichts anderes als raten. Einmal rät er richtig, und einmal rät er falsch. Aber ihr vergeßt die Male, wo er falsch geraten hat, und erinnert euch nur an die Male, wo er richtig geraten hat. Vater weiß jedoch, daß der Hellseher ein Schwindler ist und nicht zu helfen vermag – das vermag nur Vater.” Frida schaute sich im Kreise um; alle lauschten ihr, ohne ein Wort zu äußern. “Ihr solltet die Wahrheit über Aslaks Rentiere und über den Lappen hören, der mich fragte, wohin er seine Rentierherde führen sollte”, fuhr sie fort. “Und wenn ihr meine Erzählung gehört habt, werdet ihr begreifen, daß ihr euch zum Narren gemacht habt.” Sie saß eine kleine Weile stumm da und genoß den Anblick der Ge sichter, die ihr zugewandt waren. ‚Nun tue ich etwas, das Vater und Mutter freuen wird’, dachte sie, und dieser Gedanke erhob ihr Gemüt. Ihre Stimme war warm und eindringlich, denn hier saß sie, eine unter vielen, und versuchte, die Berglappen aus ihrem Aberglauben zu rei ßen, sie, die selber so oft mit glänzenden Augen und klopfendem Her 116
zen all die abergläubischen Geschichten eingesaugt und im geheimen gedacht hatte: ‚Vielleicht ist doch etwas daran’; sie, die erst vor kur zem mit Kyllikki verabredet hatte, auf Skiern zu einem Hellseher zu fahren und sich von ihm weissagen zu lassen; sie, die sich von allem Geheimnisvollen und Übernatürlichen so sehr angezogen fühlte. Es war, als hätte Inga ihr eine Binde von den Augen genommen und sie für immer von allen törichten Gedanken befreit; doch da sie selber so abergläubisch wie die Berglappen gewesen war, wußte sie auch, welche Worte sie wählen mußte, um sich ihnen verständlich zu ma chen. “Du sagst, Inga, ich sei eine Hellseherin”, begann sie, “und viel leicht stimmt das auch, denn jetzt sehe ich etwas, das keiner von euch sieht. Ich sehe, wie der Betrug vor sich geht.” Es ermüdete sie, auf Lappenart mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen, und sie änderte ihre Stellung, indem sie die Arme um die Knie schlang. Sie machte eine lange Pause, um die Neugier der andern zu erhöhen. “Es ist großartig, Hellseherin zu sein”, sprach sie dann wei ter, “ganz großartig. Wie leicht wäre es für mich gewesen, in irgend eine Richtung zu weisen und zu sagen: ‚Nehmt diesen Weg.’ Dann hättet ihr euch bei mir bedankt und meinen Rat befolgt. Meine Macht wäre immer mehr gewachsen. Mein Ruhm hätte sich weit über Vaters Bezirk ausgebreitet. Ich könnte mich in eurer Bewunderung sonnen. Aber wenn ich das täte, würde ich mich schämen, denn jetzt weiß ich, daß es Hellseherei gar nicht gibt, und ich weiß auch, wie sie entsteht, und gleich sollt ihr es auch wissen.” Gedankenvoll nahm sie ein Stück Holz vom Erdboden auf und warf es ins Feuer, bevor sie ihren Bericht fortsetzte; und als sie geendet hat te, wußten alle, wie sie Aslaks Rentiere gefunden und was sie in Wirk lichkeit zu dem alten, betrunkenen Lappen gesagt hatte. Gelächter gurgelte in den Kehlen, als sie es hörten, und lächelnd blickten sie einander an; plötzlich wurde es Ingas achtzehnjähriger Tochter zuviel, und sie explodierte in lautem Lachen. “Nun, bin ich eine Hellsehe rin?” fragte Frida ausgelassen. Lachend schüttelten alle den Kopf. “Es gibt gar keine Hellseherei”, fuhr sie fort. “Das ist bloß eine Art, sich interessant zu machen!” Da wurden die Gesichter ringsum wieder verschlossen; die Lappen schlugen die Augen nieder und starrten vor 117
sich hin. Frida war sich klar darüber, was sie dachten: Vielleicht weißt du nichts – aber wir wissen Bescheid. “Jetzt ist es Zeit, ans Schlafen zu denken”, unterbrach Inga das Schweigen. Ihre Worte kamen wie eine große Befreiung, und alle machten sich daran, Rentierfelle über die Birkenreiser am Boden zu breiten. Frida kroch in ihren Schlafsack, und da lag sie in der Nacht im Kreise der anderen, die Füße dem Feuer entgegenstreckend. Inga löschte die Laterne aus, die über ihrem Platze hing, und das Feuer brannte langsam nieder. Aber lange glühte und mottete es noch zuinnerst, und wenn der Wind durchs Rauchloch feg te, riß er Funken himmelwärts. Frida konnte nicht schlafen. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken mußte. Sie hatte geglaubt, sie könne Ingas Hausstand vom Irrwahn befreien, aber so leicht wurde man mit einem jahrhundertealten Aberglauben nicht fertig. Die Hunde schli chen rastlos ums Feuer, um die wärmste Stelle zu finden; doch als die letzte Glut erloschen war, krochen sie ganz nahe zu den Menschen. Zwei legten sich auf Fridas Beine, und sie ließ sie dort, denn sie wärmten gut. Am nächsten Morgen wurde das Feuer früher als gewöhnlich ange zündet, und bald roch es im Zelt nach Kaffee und nach Blutsuppe für die Hunde. Als Frida aus dem Zelt kroch, hatten die Knechte Dixie und zwei von Ingas besten Zugtieren schon eingefangen; und Ingas Antlitz strahlte wie die Sonne. Heute konnten sie leicht und schnell fahren, denn sie führten nicht mehr Sachen mit sich, als sie in der Pulkspitze unterbringen konnten. Kein Gepäckpulk und keine mitlaufenden Tiere hinderten ihre Fahrt. Und zuerst ging's zu Ingas gewaltiger Rentier herde. Der Mond versteckte sich hinter leichten Wolken, als Frida sich auf den fahrenden Pulk warf; sie folgte Ingas Pulk, der im Halbdunkel vor ihr dahintanzte und behende über die kleinen runden Hügel auf und nieder glitt. Je rascher Frida fuhr, desto rascher fuhr auch Inga, so daß der Abstand zwischen ihnen stets gleich blieb. Doch wenn es die stei len Berghänge hinunterging, übereilte Inga sich nicht, denn das hinter ihrem Pulk angebundene Ren bremste ganz von selbst die Fahrt. 118
Dann kam der Mond hervor; Inga machte auf einem runden Berge halt und wandte sich Frida zu. Sie wies geradeaus und sagte: “Schau!” Dabei glänzte ihr Gesicht vor Freude und Stolz. Fridas Augen fielen auf einen weißen, kuppelförmigen Berg, der im Mondlicht glänzte. Der ganze Hang war mit schwarzen Punkten und Streifen und Klumpen übersät. “Rentiere”, erklärte Inga. “Meine Ren tiere.” Sie versetzte ihrem Zugtier einen Schlag mit dem Zügel und sauste hinab. Als sie unten im Tale waren, verschwand der kuppel förmige Berg vor ihnen, doch als sie sich wieder auf der Höhe befan den, erblickten sie ihn von neuem. Und die Punkte wurden größer, je näher sie kamen. Die Streifen lösten sich in viele dichtstehende Punk te auf, die Klumpen wurden zu einer lebendigen Masse, und alle die schwarzen Punkte, Streifen und Klumpen waren Rentiere, die nach Flechten scharrten. Nun nahmen sie Form an, bekamen Beine, und Geweihe sprossen aus ihren Häuptern. Schließlich waren die beiden so nahe herangekommen, daß sie die Hirtenhunde am Rande unterschei den konnten; und Frida sah ,eine Welle durch die ganze Herde gehen, als ein halbes Dutzend Ausbrecher zurückgejagt wurde. Dann legte sich wieder Ruhe über den kuppelförmigen Berg. Sie jagten den letz ten Hang hinunter und gewahrten ein kleines Zelt, das sich am Fuße erhob. Vor dem Zelt brannte ein Feuer, an dem zwei Knechte saßen, die aufblickten, als sie das Geräusch der Pulke hörten, die über den Schnee knirschten. Als sie beim Zelt angelangt waren, nahmen sich die Knechte der Zugtiere an, während Inga und Frida den kuppelförmigen, schneewei ßen Berg zu ersteigen begannen. Die Rentiere flüchteten nicht vor ih nen, sondern näherten sich neugierig und schnupperten an ihren Fell mänteln. Bald standen sie inmitten einer gewaltigen Herde, die ihnen immer höher hinauf folgte. Wenn sie stehenblieben, wurden die lan gen Rentierzungen ausgestreckt, die die Pelze untersuchten. Aber wenn Frida ein Rentier zu ergreifen versuchte, glitt es ihr unter den Händen fort; und Inga sagte lachend: “Wenn du es halten kannst, soll es dein eigen sein.” Frida ließ die Augen ringsum gehen, und wohin sie sah, da waren Rentiere. Sie begriff nun, daß es stimmte, wenn gesagt wurde, Inga sei 119
die reichste Berglappin, denn ihre Herde zählte mindestens tausend Tiere. Viele waren Kälber vom letzten Sommer, die mit der Mutterkuh gingen und mitunter auch mit einem nahezu ausgewachsenen Bruder oder einer Schwester vom Vorjahr. Als sie wieder im Pulk saßen und Inga im Bogen auf eine ferne Bergkette zusteuerte, sagte sie leise zu Frida: “Verstehst du nun, daß meine Kinder in einem Steinhaus nicht gedeihen können?” Frida nickte darauf nur stumm. Während der ganzen langen Rückfahrt zur Berghütte tauchte das Bild von Ingas Rentieren auf dem weißen Berghang im Mondschein immer wieder vor ihr auf. Es wischte alle Gedanken an Vater und An ders aus, so daß sie sich gar nicht mehr fragte, wie es den beiden wohl ergangen sein mochte, seit sie sich getrennt hatten. Erst als sie den Rauch aus der Berghütte zum Himmel aufsteigen sah, dachte sie mit allen Fasern an die beiden; sie trieb Dixie zur Eile an und konnte es nun kaum mehr erwarten, die letzten Kilometer hinter sich zu bringen, weil sie erfahren wollte, ob sie wohl als erste zurückgekehrt wäre. Endlich beschrieb der Fluß einen Bogen, und die Berghütte tauchte am Ufer auf. Ihre Augen glitten weiter über den hohen Berg dahinter, und da stieß sie einen lauten Schrei der Überraschung aus. Etwas bewegte sich über den Schnee am Fuße des Berges. Eine kleine Reihe müder Rentiere schleppte ihre Pulke das letzte Stück zur Bergstation. Zwei Männer saßen darin – Vater und Anders. Inga, die sie ebenfalls erblickt hatte, lachte munter und rief: “Nun wollen wir angefahren kommen, wie es sich für echte Berglappen ge ziemt.” Und sie sauste über die Flußböschung auf das flache Gelände zu, auf dem die Berghütte stand, und während das Rentier in voller Fahrt dahinlief, erhob sie sich in ihrem Pulk und stand fest auf ihren kräftigen Beinen da. Frida sah ihr bewundernd zu. Das war eine Kunst, die nicht viele beherrschten. Übermütig versuchte auch sie es. Mit beiden Händen hielt sie sich vorsichtig an den Rändern des Pulks fest, bis sie die Beine in die richtige Stellung gebracht hatte. Dann richtete sie sich lang sam auf und schaute beglückt zu Vater hinüber. Es war, als stünde man in einem kleinen wippenden Boot, das in rasender Fahrt übers 120
Wasser sauste. Die vielen kleinen und großen Unebenheiten im Schnee waren die Wellen, über die man leicht und hurtig glitt. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht. Wild fuchtelte sie mit den Armen durch die Luft, so daß sie am Zügel riß. Dixie sprang zur Seite, und Frida flog lachend kopfüber hinaus und landete – pardauz! im Schnee. Bäuchlings wurde sie noch ein Stück weit mitgeschleppt, bis Dixie endlich haltmachte. Da stand Vater vor ihr. Er sah müde aus, doch gleichwohl lächelte er sie an. “Du hast wohl die Absicht, mir neue Arbeit zu verschaffen?” bemerkte er neckend. Im Nu war Frida auf den Beinen. “Ich habe es einfach herrlich ge habt!” platzte sie heraus. “Und… und… Inga und ihre Leute glaubten, ich sei eine Hellseherin; aber nun glauben sie's nicht mehr. Pah, all der dumme Aberglaube!” Sie blickte zu Vater auf, der sie forschend betrachtete. “Ich bin ge heilt, Vater”, fügte sie leise hinzu. “Aber sag, wie ist's dir ergangen?” “Ich habe die ganze Nacht mit dem Tod gekämpft, und heute bin ich den ganzen Tag gefahren”, antwortete er. “Hast du gesiegt?” “Ja; aber ich bin froh, daß du nicht mit warst.” Sie sah, daß die Mü digkeit tiefe Furchen in sein Gesicht gezeichnet hatte; und plötzlich bereute sie, daß sie ihrem Vergnügen nachgegangen war. Nun kehrte er in eine kalte Berghütte zurück, wo ihn kein warmes Essen erwarte te. “Willst du mir nicht alles überlassen?” bat sie eifrig. “Dann kannst du dich auf der Pritsche ausstrecken und ausruhen, bis das Essen fertig ist.” “Wenn du dazu imstande bist”, versetzte er. “Oh, sicher!” lachte sie übermütig. “Ich sehne mich geradezu danach, etwas zu schaffen.” Damit sprang sie wieder in den Pulk und fuhr das letzte Stück mit sehr entschlossener Miene. Jetzt wollte sie beweisen, daß sie etwas taugte.
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Oberst Harrang wird belehrt “Was ist denn das für ein Knirps?” rief Frida und lehnte sich aus dem Pulk, um den Mann besser sehen zu können, der vor ihnen durch den Schnee stapfte. “Er geht wahrhaftig zu Fuß!” Lachen kullerte in ihr. – Es war März, die Sonne schien; eine besse re Reisezeit gab es im ganzen Jahr nicht. “Wenn er zum Kirchspiel will, hat er noch zwanzig Kilometer”, lachte Vater. “Und vorher gibt's kein einziges Haus.” “Aber woher kommt er denn?” fragte Frida verwundert. “Die näch ste Berghütte in der andern Richtung liegt fünfundzwanzig Kilometer weit weg. Glaubst du wirklich, daß er so lange ohne Skier unterwegs ist? Das ist ja nicht möglich!” “Ja, nun gerät er in tiefen Schnee”, sagte Vater. “Paß auf, gleich liegt er auf der Nase.” Und er brach in lautes Lachen aus, als der Mann einsank und auf den Saum seines schweren Pelzes trat, so daß er wirklich auf die Nase fiel. “Das ist nie im Leben ein Lappe”, erklärte Frida mit Überzeugung. “Kein Lappe setzt so die Beine, und keiner pendelt so mit den Armen, und so hält keiner den Kopf. Und schau nur, wie er bei jedem Schritt die Knie durchdrückt – das muß ein Norweger sein.” “Dann ist das Rätsel noch größer. Aber wir werden es schon lösen, denn gleich ha ben wir ihn eingeholt.” Die kleine Karawane jagte in der feinen Schlit tenspur über den Schnee. Frida ließ den Mann vorne nicht aus den Augen. Jetzt blieb er stehen, nahm den Sternenhut ab und trocknete sich die Stirne. “Was hab' ich gesagt – es ist ein Norweger, er hat ein Taschen tuch!” stellte Frida frohlockend fest. Der Mann ging in der Pulkspur weiter, erschöpft und müde. Plötzlich hörte er die Rentierschellen hin ter sich, und er drehte sich rasch um. “Nein, so etwas!” rief Frida verblüfft. “Es ist Oberst Harrang.” Alles Jungenhafte meldete sich in Vaters Innern, und seine Augen blitzten vor Übermut. “Wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen”, 122
flüsterte er Frida eifrig zu. “Wir fahren an ihm vorbei.” Er wandte sich und rief Anders auf Lappisch ein paar Worte zu, worauf Anders nick te, ohne eine Miene zu verziehen. Der Oberst stand mitten in der Schlittenspur und winkte mit beiden Armen. Es war deutlich zu sehen, daß er sich in der Lappentracht nicht zu Hause fühlte. Vater legte sein Gesicht in ernste Falten und steuerte geradewegs auf ihn zu; im letzten Augenblick lenkte er das Rentier in einem kleinen Bogen um ihn herum, und während sein Pulk vorbeiglitt, sagte er freundlich: “Guten Tag, Leif. Na, du hast ja noch ein schönes Stück zu laufen.” “He, he!” schrie der Oberst verdutzt. “Wir sehen uns im Kirchspiel wieder”, gab Vater zurück und führte die Hand in lässigem Gruß zum Sternenhut. Nun kam Frida an die Reihe. “Grüß Gott”, rief sie, als sie vorbeifuhr. “Herrliches Wetter, nicht?” Aber sie mußte sich auf die Lippe beißen, um nicht in Lachen auszu brechen. Das Gesicht des Obersten sah zu komisch aus. Stumm glitt Anders mit drei Rentieren und zwei Pulken an ihm vorbei. Sein Haupt senkte sich tief in einem würdevollen Nicken; dann richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder auf das Zugren. Der Oberst höhlte beide Hände vor dem Mund und rief mit aller Kraft seiner Lungen: “Halt, Ivar! Zum Kuckuck, halt doch an, Men schenskind!” Vater hielt sein Ren an und drehte sich im Pulk um. “Ist etwas los?” fragte er unschuldig. Mit langen Schritten kam der Oberst angestürmt. “Du bist und bleibst der größte Schuft, den ich kenne”, zeterte er und schüttelte lachend die Faust. “Aber der Himmel sei ge lobt, daß du gekommen bist. Ich weiß nicht, wo die verflixte Schlit tenspur endet. Ich kann dir sagen, daß es kein Vergnügen ist, allein durch die Einöde zu wandern. Vielleicht hast du mir das Leben geret tet.” “Laß uns nicht von Kleinigkeiten reden”, entgegnete Vater. “Übri gens besteht nicht die geringste Gefahr. Bis zum Kirchspiel sind's nur noch zwanzig Kilometer, und früher oder später hätte dich schon je mand aufgelesen, denn du befindest dich auf dem meistbefahrenen Karawanenweg von ganz Finnmarken.” 123
“Davon habe ich noch nichts gemerkt”, brummte der Oberst. “Seit über einer Stunde ist mir keine lebende Seele begegnet.” “Wir rechnen nicht mit Stunden in dieser Gegend”, lächelte Vater. “Doch sag mir, wo willst du eigentlich hin?” “Ich bin privat unter wegs”, antwortete der Oberst und senkte die Stimme. “In vierzehn Ta gen soll ich eine Inspektionsreise durch diese Gegend machen, aber ich wollte erst lernen, ein Rentier zu lenken. Vor kurzem hatte ich noch eine ganze Karawane; nun ist sie weg.” “Du bist doch nicht etwa aus dem Schlitten gefallen?” fragte Vater, und ein Lächeln spielte in seinen Augenfältchen. “Genau das ist mir widerfahren”, knurrte der Oberst. “Ich saß in meinem Schlitten, und es ging wirklich sehr gut, bis wir zu einer stei len Schlucht kamen; dort stürzte der Schlitten um.” “Soll das etwa heißen, daß du das Rentier mit dem Schlitten weg laufen ließest?” erkundigte sich Vater kopfschüttelnd. “Es fragte gar nicht erst um Erlaubnis”, entgegnete der Oberst spöttisch. “Hatte dein Vappus denn nicht den Zügel mit einer Schlinge an dei nem Oberarm befestigt?” “Mein was?” “Dein Vappus! So wird der Lappe genannt, der eine Karawane an führt.” “Muß man denn wirklich den Zügel am Oberarm festmachen?” rief der Oberst ungläubig. “Am ersten Tage versuchte er es, aber ich mochte nicht so fest an ein Rentier gebunden sein.” “Das war sehr leichtsinnig von dir”, sagte Vater. “Wenn ein Rentier einmal fortgelaufen ist, läßt es sich so leicht nicht wieder einfangen. Es ist keineswegs sicher, daß du es heute noch wiedersehen wirst.” “Danke für die Ermunterung”, brummte der Oberst. “Aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich dem Kerl Bescheid sagen werde, weil er mich im Stich gelassen hat. Ich bin wütend auf ihn.” “Er hat mehr Grund, auf dich wütend zu sein”, lachte Vater. “Er muß doch das durchgegangene Rentier wieder einfangen. Wie soll er das machen, wenn er eine ganze Karawane mit sich herumschleppt?”
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“Nun ja, es sah wirklich ein bißchen halsbrecherisch aus, als er in aller Eile verschwand”, räumte der Oberst ein. “Meine Ausrüstung ist ja ziemlich groß – zwei Gepäckschlitten.” “Das wirst du dir abgewöhnen müssen”, bemerkte Vater. “So viel Gepäck hält nur auf.” “Das klingt ja, als ob du etwas davon verstündest”, rief der Oberst überrascht. “Und wie ich sehe, fährst du recht flott Pulk.” “Es geht”, lächelte Vater. “Woher kommst du?” “Ach, von dort.” Vater wies zu den Bergen hinauf. “Auf der Karte ist dort aber gar kein Weg verzeichnet”, wandte der Oberst ein. “Ich habe ja auch im Zelt übernachtet”, antwortete Vater. “Das wagst du bei dieser Kälte?” “Nun, zu dieser Jahreszeit haben wir selten mehr als zwanzig Grad – das ist gar nichts. Und mein Patient konnte sich nicht fortbewegen; ich mußte also zu ihm kommen. Fehlschuß durch die Schulter, einen halben Liter Blut hat er verloren.” “Und deine Tochter? Was macht die dabei?” “Sie hat mir gehol fen”, antwortete Vater. “Aber sag mir nun, sollen wir dich mitneh men? Es kann gut mehrere Stunden dauern, bis du deinen Vappus und deine Rentiere wiedersiehst.” “Ihr habt ja keinen Platz für mich”, meinte der Oberst. “Es wird schon gehen”, erwiderte Vater. “Du kannst in Fridas Pulk sitzen; sie fährt dann auf den Skiern hinterher.” “Ich habe noch nie in meinem Leben in einem Pulk gesessen”, sagte der Oberst bedenklich. “Und es heißt, daß es dabei ebenso schwer ist, das Gleichgewicht zu halten wie beim Radfahren.” “Ich habe auch gar nicht daran gedacht, dich allein fahren zu las sen”, erklärte Vater. “Wir binden dein Rentier hinter meinem Pulk an.” “Und wenn ich hinausfalle?” “Dann warten wir ein wenig, bis du wieder eingestiegen bist.” “Auf Skiern würde ich besser zurechtkommen”, sagte der Oberst. “Aber ich habe weiche Schuhe an, so daß die Bindung wohl nicht sit zen wird.” 125
“Von einer Bindung ist gar keine Rede”, mischte sich Frida ein. “Nur eine Schlaufe, durch die man die aufgebogene Spitze der Schuhe steckt – bitte schön!” Damit legte Frida ihre Skier vor ihn hin. Kurz darauf setzte sich der kleine Zug in Bewegung, und Frida merkte sehr bald, daß Oberst Harrang ein ungewöhnlich guter Skifah rer war. Nachdem sie zehn Kilometer zurückgelegt hatten, stießen sie auf seine Karawane. Der entmutigte Vappus hatte das fortgelaufene Ren tier nicht erwischt und sich deshalb auf den Rückweg begeben. Sein Gesicht erhellte sich, als er sah, daß der Oberst sich in guten Händen befand. “Binde deine Gepäckschlitten hinter Anders' Pulken an”, rief der Arzt ihm zu, “und mach dich wieder auf die Suche nach dem Aus reißer.” “Ich fahre mit”, rief Frida eifrig. Der Vater winkte ihr lächelnd zu, als die beiden Pulke nebeneinan der dahinjagten, gefolgt von dem Hunde des Vappus. Aber es dauerte lange, bis sie das Ren erblickten, das auf einem niedrigen Hügel weit fort vom Karawanenweg nach Flechten scharrte und den Schlitten hinter sich herschleppte. Ab und zu hob es den Kopf, bereit zu neuer Flucht. Ohne ein Wort zu äußern, fuhr Frida in einem großen Bogen den Hang hinauf, während der Lappe sich dem Tier langsam von unten näherte und das Wurfseil zur Hand nahm. Nun tauchte sie zuoberst auf, gefolgt von dem Hunde, und sauste in rasender Fahrt hinab. Der Hund hielt sich dicht an ihrer Seite, so daß das Ren gerade auf den wartenden Lappen zugetrieben wurde. Sein Wurfseil zischte durch die Luft, doch so ungestüm rannte das Rentier dahin, daß es den Lappen umriß und ein Stück weit über den Schnee schleppte. Frida hielt weiter oben und lachte aus vollem Halse, als der Mann eine tiefe Furche in den Schnee grub. Jetzt aber war der Hund dem Ren auf den Fersen und brachte es zum Stehen. Auf einer fernen Anhöhe kam Vaters ganze Karawane in Sicht. Fri da warf sich in ihren Pulk und fuhr ihr fröhlich entgegen. “Wir haben zugesehen”, sagte Oberst Harrang begeistert. “Du bist wirklich ein Prachtmädel.” 126
“Aber ich hab' das Rentier ja gar nicht eingefangen”, widersprach Frida. “Nein, das nicht gerade, doch du hast es dem Lappen zugetrieben, und du fuhrst wie ein Teufel.” “Wie ein Berglappe”, verbesserte Vater lächelnd. Später am Tage mußte Frida dem Oberst Gesellschaft leisten, denn daheim wartete eine ganze Stube voll Patienten auf den Doktor, und er mußte auch noch ins Krankenhaus. In der Küche wurde gebrutzelt und gebacken, und das ganze Haus duftete nach Wildbret und Backwerk. Beim Essen thronte Frida in ei nem von Bergliots ausgewachsenen Kleidern auf Mutters Platz. Vater hob sein Rotweinglas und hieß seinen alten Jugendkameraden im In nern Finnmarkens willkommen. “Du hast es wirklich gut”, stellte der Oberst fest und kostete den Wein mit Kennermiene. “Ein schönes Haus, ein herrliches Skigelände und ein prächtiges Jagdgebiet. Du schwelgst in gutem Essen und gu ten Weinen. Kein Vorgesetzter plagt dich. Was für ein wunderbares Dasein!” Vaters und Fridas Augen begegneten sich in verständnisvol lem Lächeln. Der Oberst glaubte also, hier ginge es jeden Tag so zu. “Aber das alles birgt eine große Gefahr”, fuhr der Oberst fort. “Man wird dabei mit den Jahren bequem. Ein gutes Buch und ein Lehnstuhl beim Kamin, was? Und so läßt man das Leben an sich vorübergleiten. Das ist verlockend, muß ich gestehen.” Er blickte auf das Tischtuch nieder und spielte mit einem Salzfäßchen. “Eigentlich hatte ich ge glaubt, du würdest dich zu einer norwegischen Ambulanz in Finnland melden. Hast du daran nie gedacht?” “Nein”, antwortete Vater. “Wir an der Küste können den Krieg keinen Augenblick vergessen. Es scheint uns, daß wir die Pflicht haben, den Finnen zu helfen. Dazu wird überall aufgerufen. Hier in Finnmarken bin ich der Grenze ganz nahe, aber merkwürdigerweise ist der Widerhall noch nicht bis hierher gedrungen.” Vater unterdrückte ein Lächeln. “Vielleicht hören wir dafür die Fin nen selbst um so besser. – Wollen wir hineingehen und in der Wohn stube Kaffee trinken?” Der Oberst ließ sich in einem bequemen Lehn stuhl nieder und rauchte eine dicke Zigarre, während er von Norwe 127
gens Einsatz für Finnland sprach. “Du mußt unbedingt aufgerüttelt werden”, sagte er hitzig und erzählte von den vielen Ärzten und Kran kenpflegerinnen, die sich zur norwegischen Ambulanz gemeldet hat ten. Doch mitten im Satz hielt er inne, weil im Nebenzimmer schwere Schritte erklangen. Dann erschien eine große, breitschultrige Gestalt in Lappentracht in der Türöffnung. “Verzeihung”, sagte der Fremde mit einer kleinen Verbeugung. “Ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben, Doktor.” “Es macht nichts, Lehnsmann, kommen Sie nur herein”, rief Vater und sprang auf, um die Herren miteinander bekanntzumachen. “Es tut mir leid”, bemerkte der Lehnsmann bedauernd. “Ich wurde aus Finnland angerufen.” “Aus Finnland?” wiederholte der Oberst verblüfft. “Ein Dienstgespräch”, erklärte der Lehnsmann kurz. “Sie wissen, ich hasse es, Sie zu plagen, Doktor, aber natürlich galt es wie gewöhnlich Ihnen.” “Inwiefern?” fragte Vater. “Sie müssen gleich aufbrechen. Fahren Sie an der üblichen Stelle über die Grenze; dort wartet ein Mann mit frischem Pferd und Schlit ten auf Sie. Diesmal ist's ein Stück weit im Lande, offenbar eine Epi demie – etwas mit dem Halse, hieß es. Die Bevölkerung braucht drin gend ärztlichen Beistand, aber man kann keinen Arzt frei machen. Die finnischen Behörden haben zwei Frauen vom freiwilligen Hilfsdienst als Krankenpflegerinnen hingeschickt und ersuchen nun um Ihre Hil fe, Doktor Gylseth. Hier ist der norwegische Passierschein für Sie und Ihre Tochter, falls Sie ihn brauchen sollten. Der finnische liegt an der Grenze bereit.” “Einen Augenblick, Ivar”, bat der Oberst äußerst interessiert und sprang von seinem Stuhle auf. “Kommt so etwas öfters vor?” “Finnland hat Mangel an Ärzten, weil die meisten an der Front sind”, erklärte Vater. “So müssen wir andern einspringen, wo wir nur können. Du mußt mich jetzt entschuldigen. Ich sage Marit rasch Be scheid, daß sie Anders benachrichtigt.” “Du fährst doch wohl nicht fort, bevor es hell ist”, rief der Oberst. “Ich fahre sogleich, lieber Freund, so leid es mir auch tut, auf deine angenehme Gesellschaft verzichten zu müssen. Aber vielleicht über nimmt der Lehnsmann meine Pflichten als Wirt und trinkt einen 128
Whisky mit dir. Mein Haus steht dir zur Verfügung, bis du weiter ziehst.” “Höre, ich hätte die größte Lust, dich zu begleiten”, sagte der Oberst. “Das läßt sich kaum einrichten”, fiel der Lehnsmann ein. “Da wären zu viele Formalitäten zu erledigen.” “Aber wenn doch Frida…” be gann der Oberst. “Mit Frida ist's etwas anderes”, unterbrach Vater lä chelnd. “Sie ist meine Assistentin.” “Was für ein Unsinn!” “Sie kennt sich auf der andern Seite der Grenze wirklich gut aus”, erklärte der Lehnsmann. “Sie hat diesen Winter ihrem Vater großartig geholfen. Niemand hätte geglaubt, daß ein fünfzehnjähriges Mädchen so viel auszurichten vermag. Aber sie ist ihm getreulich auf allen Rei sen gefolgt, wo wir andern uns erst zweimal bedacht hätten.” Tief er rötend flüchtete Frida aus der Stube. Es war nur gut, daß es mit der Proviantkiste und der Ausrüstung allerlei zu ordnen gab. Als sie kurz darauf zurückkehrte, um sich zu verabschieden, blieb sie im Nebenzimmer stehen und lauschte. Sie hörte die Stimme des Obersten. “Und da saß ich und begriff nicht, daß Ivar sich nicht zur norwegi schen Ambulanz gemeldet hatte”, erklang es zerknirscht. “Das wäre das Schlimmste, was uns hätte geschehen können”, sagte der Lehnsmann. “Er ist die Seele unserer ganzen Arbeit. Wahrschein lich ahnen Sie gar nicht, was alles auf den Schultern des Doktors ruht?” Und dann begann er zu erzählen. Fridas Augen strahlten. Endlich bekam der Oberst die Wahrheit über Vaters Leben und Wirken zu wissen. “Er gönnt sich kaum genü gend Schlaf und Ruhe”, schloß der Lehnsmann. “Es ist nur ein Glück, daß er eine eiserne Gesundheit hat. Wir andern dürften uns auf solche Winterreisen nicht wagen, denn wir könnten ganz einfach nicht durchhalten. Wenn ich Ihnen sage, daß er in der Dunkelzeit bei fünf zig Grad Kälte gereist ist, werden Sie verstehen, was er leistet. Und er und seine Tochter sind Meister im Pulkfahren. Kein Wunder, daß die Berglappen sie lieben.” “Wenn ein Mauseloch da wäre”, sagte der Oberst mit einem verle genen Lachen, “würde ich hineinkriechen.” Frida schlich sich leise fort. Sie konnte jetzt nicht mehr hineingehen. 129
Am nächsten Tage, als Vater in einem kleinen finnischen Polarflek ken mit einer um sich greifenden Angina-Epidemie kämpfte und mit einem Lappen als Dolmetscher den Lottas vom freiwilligen Hilfs dienst erklärte, was sie tun sollten, während Frida seine Instrumente auskochte, hieß es plötzlich, daß Finnland Frieden geschlossen hätte. Niemand wollte das Gerücht glauben. “Wir ergeben uns nie”, sagte die eine Sanitätslotta und reckte sich auf. “Das ist nur ein dummes Gerücht”, rief die andere. “Sonst hätte man gestern etwas davon im Radio gehört.” Aber bald war es nicht mehr zu leugnen. Das Radio verkündete den Friedensschluß in aller Form. Ergriffen und ernst lauschten alle. Eine neue Grenze war gezo gen worden. Vierhunderttausend Finnen wurden dadurch heimatlos. Sorge und Kummer schlichen sich in den kleinen Ort. Viele weinten unverhohlen. Am Abend fuhren Frida und ihr Vater in trauriger Stimmung nach Hause. Plötzlich aber brach er sein Schweigen und wandte sich mit einem leisen Lächeln an sie. “Weißt du, was für ein Tag morgen ist?” fragte er. “Nein.” “Morgen wirst du sechzehn Jahre alt.” “Das hätte ich wirklich bei nahe vergessen”, murmelte sie gleichgültig. Als sie dann auf dem Flusse waren, hörten sie plötzlich in der Ferne das Trab-trab von Hunderten von Rentieren. Frohe Rufe klangen durch die Dunkelheit. Hunde bellten. Ein Kind lachte laut und herz lich. Es waren die ersten Flüchtlinge, die jetzt nach Finnland zurück kehrten. “Der Friede hat doch sein Gutes”, sagte Frida mit einem Seufzer der Erleichterung.
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Frida doktert auf eigene Faust Dort fuhren sie über das Eis dahin. Frida, die am Fenster stand, drückte die Nase an die Scheibe und folgte Vaters Karawane mit den Augen, bis sie hinter der großen Bie gung des Flusses verschwunden war. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Diesmal mußte sie daheim bleiben, denn sie war mit den Schularbeiten weit zurück. “Schreib mir einen guten Aufsatz, während ich weg bin”, hatte Va ter gesagt. “Überschrift: Was ich für andere tun will, wenn ich groß bin. Leb wohl!” “Leb wohl!” hatte Frida mit dünner, verzagter Stimme geantwortet. “Und wenn von Mutter und Bergliot ein Brief aus Oslo kommt, kannst du ihn gern aufmachen.” Und nun stand sie hier und blickte mutlos der Karawane nach, bis auch das letzte Rentier nicht mehr zu sehen war. Die Aprilsonne hatte den ganzen Tag geschienen; sie blen dete die Augen, so daß man sie zusammenkneifen mußte. Sehr kalt war es auch nicht mehr, nur zehn Grad unter Null. Oben in den Ber gen aber herrschte noch immer klirrender Frost; und da die Sonne jetzt unterzugehen begann, wurde es auch im Flußtal wieder kälter. Vater und Anders waren zwischen den blauen Bergen verschwunden, wel che die Sonne aussperrten. Bald kam die Dämmerung, und dann eine wundersame helle Frostnacht. Aber sie war nicht mit! Jetzt begann der Aufsatz in ihrem Kopfe zu tanzen – alle die tau send Zukunftspläne, die sie hegte. Zuerst mußte sie natürlich nach Os lo, um zu studieren. Es würde fürchterlich sein, Finnmarken entbehren zu müssen, aber das war notwendig, und jeden Sommer wollte sie in den Ferien mit dem Schnelldampfer heimfahren und die Mitternachts sonne genießen. Wenn sie dann Arzt war wie Vater, wollte sie zu rückkommen und immerdar hier wohnen. Sie wollte wie ein Berglap pe das ganze Jahr im Zelt leben – nun, vielleicht baute sie sich an ir gendeiner Stelle ein Haus mit Badezimmer; dann konnte sie sich zwi schendurch einmal gründlich waschen und die Briefe lesen, die ihr 131
andere Ärzte aus allen Teilen der Welt geschrieben hatten, weil sie wissen wollten, wie es mit ihrer Arbeit ging. Ihr richtiges Heim aber würde das Zelt in den wilden Bergen sein; und sie wollte mindestens sechshundert Rentiere und drei Rentierknechte haben, und sie wollte selber mitmachen, wenn die Rentiere mit dem Wurfseil eingefangen, gesondert und gezeichnet wurden, und sie wollte sie auch des Nachts bewachen, um sie vor den Wölfen zu schützen. Sie wollte genau so werden wie Inga und die andern Berglappen-Frauen, die alles konn ten, was ein Mann konnte. Und sie wollte über dem offenen Feuer ko chen und den Hunden die Blutsuppe zubereiten; doch wollte sie sich ein Lappenmädchen suchen, das nicht allzu schmutzig war, das auf waschen und ihre Fellschuhe sowie ihre Pelzkleidung instand halten konnte. Und sie wollte die andern Berglappen lehren, daß es nicht notwendig war, in einem solchen Schmutz zu leben, wie sie meinten. Es machte natürlich nichts, wenn man ein paar Rentierhaare in den Magen bekam, und sie brauchten sich auch nicht am Morgen zu wa schen, denn das vertrug die Haut in der Kälte nicht; aber sie sollten nicht in die Hände spucken, bevor sie das Fleisch vom heißen Stein nahmen; und sie sollten sich nicht damit begnügen, ihren kleinen Kin dern Kaffee und etwas Margarine zu geben, so daß deren Knochen immer schwächer wurden, weil es ihnen an allem fehlte, was die Kno chen zu ihrem Aufbau brauchten. Vor allem wollte sie die armen Lappen unentgeltlich behandeln und heilen; die reichen Leute hingegen sollten recht viel bezahlen; und al les Geld, das sie verdiente, wollte sie zur Einstellung neuer Lehrer und Lehrerinnen hergeben, damit die Berglappen ihre Kinder im Winter nicht mehr in die Internatsschule schicken mußten, sondern sie daheim behalten konnten. Es sollten richtige Berglappen-Lehrkräfte sein, die das ganze Jahr mit im Zelt herumzogen und genau wußten, was Ber glappen lernen mußten – nicht nur Erdkunde und Geschichte und Rechnen. Die würden die Kinder lehren, Binsengras für die Schuhe herstellen, Pelzkleidung nähen, Rentiere betreuen und Fleisch und Fel le verwerten. Und zum Schluß würde das Zeltleben so herrlich sein, daß alle ansässigen Lappen ihre Hütten verkauften und wieder in die Berge hinaufzogen. Frida entkleidete sich und kroch ins Bett, aber ihre Gedanken schweiften in eine strahlende Zukunft. Am nächsten Mor 132
gen erwachte sie davon, daß Marit das Tablett mit dem Kaifee und dem knusprigen Gebäck auf ihr Deckbett stellte. In Norwegen begann damals jeder Tag mit einem kleinen Imbiß im Bett, bevor man sich an den Frühstückstisch setzte. Marit blieb stehen; sie sah aus, als hätte sie große Neuigkeiten zu erzählen, und als wartete sie nur darauf, daß Frida die Augen richtig aufmachen würde. “Nun?” fragte Frida und gähnte verschlafen, worauf Marit mit ihrer Nachricht herausplatzte. Nilas war in der Nacht von den Bergen heruntergekommen, um den Doktor zu holen. Aber er hatte nicht stören wollen, bevor es hell wur de. Nun stand er draußen mit seinen ausgeruhten Zugtieren und warte te noch immer – und kein Doktor war da. Einem der Rentierknechte ging es schlecht; um seine Augen stand es schlimm, schrecklich schlimm. Wenn er sie aufmachte, schnitt es darin wie mit einem Messer; sie tränten in einem fort, und er konnte nicht sehen. Es tat weher als damals, wo er sich selber in den Schenkel geschossen hatte. “Ich weiß, was ihm fehlt”, sagte Frida und goß sich Rahm in den Kaffee. “Ich könnte ihn leicht heilen, wenn er mitgekommen wäre.” “Wirklich?” gab Marit mit großen, verwunderten Augen zurück. “Ganz leicht”, bekräftigte Frida. Da fuhr ihr ein Gedanke durch den Kopf. “Wohnt Nilas noch dort, wo er sich aufhielt, als er krank in sei nem Zelt lag?” “Wohnt ein Berglappe drei Monate lang an der glei chen Stelle?” entgegnete Marit vorwurfsvoll. “Wie sollten denn dann die Rentiere Flechten finden? Nein, seither ist er mehrmals umgezo gen. Zehn Stunden hat er für die Fahrt hierher gebraucht, obwohl er nur einmal unterwegs gerastet hat, während die Rentiere ästen.” “Dann kann er heute abend schon wieder daheim sein”, sagte Frida und streckte das eine Bein aus dem Bett. “Ich fahre mit. Schade, daß Anders nicht hier ist; dann hätte er Dixie im Walde einfangen können. Nilas weiß leider nicht, wo Dixie herumwandert, und wie seine Ohrenmarke aussieht.” “Ich kann ja mit ihm gehen”, sagte Marit. “Wir bringen Dixie her, während du frühstückst – auf dem Tisch steht alles bereit.” 133
Doch an der Türe blieb Marit zögernd stehen. “Aber was wird dein Vater sagen, wenn er hört, daß du allein zu den Berglappen gefahren bist?” “Ich fahre ja gar nicht allein, Nilas fährt mit. Und bin ich etwa nicht schon sechzehn Jahre? Und nennt Vater mich nicht Assistentin? Beeil dich nun und hol Dixie her!” Frida ließ sich mit dem Anziehen Zeit, denn der Wald lag drei Kilometer entfernt, und Marit und Nilas kamen auf den Skiern nicht so schnell vom Fleck. Als sie dann am Frühstückstisch saß, fiel ihr ein, daß sie vielleicht besser daran täte, den Pfarrer oder den Lehnsmann anzuläuten und von ihrem Vorhaben zu erzählen – aber angenommen, man riet ihr davon ab? Nein, darauf konnte sie es nicht ankommen lassen. Sie lief in Vaters Zimmer und schrieb mit großen Buchstaben auf das oberste Blatt seines Notizblocks: “Lieber Vater! Du sagtest ein mal, daß ich mich niemals davor fürchten sollte, einen Entschluß zu fassen, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, und nicht zuviel darüber nachdenken, was wohl andere dazu sagen würden. Es handelt sich wirklich um etwas Wichtiges, denn Nilas' Knecht ist schneeblind geworden. Ich weiß, wo du die Tropfen hast, aber zur Sicherheit will ich mich doch erst mit eigenen Augen überzeugen und hinfahren. Du hast mir ja alles von der Schneeblindheit erzählt, so daß ich keine Sorge zu haben brauche, ich könnte Unheil anrichten. Ich komme heim, sowie es dem Knecht besser geht, und Marit kann dir sagen, wo Nilas' Bergstadt liegt. Viele liebe Grüße. Frida.” Eine Stunde später saß sie in ihrem Pulk und fuhr singend hinter Nilas und seiner Karawane in der Morgensonne über die Pulkspur des Flusses. Bald aber ging es zu den Bergen hinauf; Frida mußte häufig aussteigen und mit dem Zügel in der Hand zu Fuß gehen, während Dixie den Pulk bergauf schleppte; oft sank sie bei jedem Schritt, den sie machte, bis zu den Knien im Schnee ein. Ganz rot war sie im Ge sicht vor Hitze und Anstrengung. Der Rentierpelz fühlte sich wie ein schweres Gewicht an, aber gleichwohl durfte sie ihn nicht ausziehen. Auf der Höhe wurden die Rentiere gewechselt, dann ging es rasch vorwärts über die schneebedeckten Weiten, wo die Sonne noch nicht die Macht hatte, die harte Kruste des Winterschnees wegzuschmelzen. 134
Sie goß ihr Licht über die endlose, weiße Fläche und ließ die Schneekristalle funkeln und glitzern. Die weißen Berghänge warfen die Strahlen zurück, so daß es Frida vor den Augen flimmerte und sie das Gefühl hatte, als drängte das Geflimmer in ihr Hirn. Hin und wie der stießen sie auf Nilas' Spur vom vergangenen Tage, und wenn sie eine Bergkuppe erreichten, hatten sie einen Ausblick auf Hunderte von Hügeln und Höhen, bevor die Fahrt wieder abwärts ging. Mittags machten sie halt und legten vor jedes Ren ein Bündel der mitgenom menen gefrorenen Flechten. Dann zündeten sie ein Feuer an, kochten Kaffee und aßen; Nilas rauchte seine Pfeife, während die Rentiere wiederkäuten. Frida breitete ihren Schlafsack auf dem Schnee aus und ließ sich von der Sonne braten. Sie hielt sich etwas fern von Nilas, denn er war mit Ungeziefer behaftet und kratzte sich immerfort. Er roch auch nicht gerade gut, aber er war unter den Berglappen für seine Tüchtigkeit im Einfahren neuer Rentiere berühmt; und Frida errötete 135
vor Stolz, als er Dixie und ihre Fertigkeit im Lenken lobte. Als sie weiterfuhren, war's, als ob der sonnendurchtränkte Schnee mehr Hel ligkeit verstrahlte als die Sonne selber. Frida machte die Augen zu, doch hinter den geschlossenen Lidern flimmerte und tanzte das Licht; und als sie dann wieder um sich blickte, zuckte ein messerscharfer Schmerz durch ihren Kopf. Aber das war nur ein Übergang; sie lenkte den Pulk in den Schatten und vergaß den Schmerz. Am späten Nach mittag sahen sie den Rauch von Nilas' Zelt in feinem, weißem Streifen aufsteigen. “Ein Fremder”, sagte Nilas, lange bevor Frida ein Rentier mit Pulk gewahrte, das in der Nähe angebunden war. “Vielleicht die Zauberin”, fügte er kurz darauf hinzu. Sie banden ihre Rentiere an zwei verkrüppelten Birken fest und krochen ins Zelt. Frida erkannte sogleich die alte Frau, die da saß und den Kopf des Knechtes im Schöße hielt; es war Ristin, Aslaks alte Mutter, die sowohl zaubern als auch mit Kräutern und Zaubersprüchen heilen konnte. Übers Feuer hatte sie einen kleinen Topf mit Zweiglein und Moos gehängt, das in dem kochenden Wasser herumtanzte und sich in lauter winzige Teile auflöste. Jetzt beugte die Alte sich vor; der Knecht mußte die Augen öffnen, und sie leckte die Augen mit der Zunge rein; dann tauchte sie einen fettigen Lappen in das kochende Wasser und legte ihn als Binde über die Augen des Mannes. Er stöhnte und jammerte über das Licht, das ihn wie mit Messern schnitt, und über das Feuer, das in seinem Kopfe heiß flackerte. Frida saß da und rieb sich die Augen. Ein sonderbarer Nebel wogte im Zelt. Ob das der Rauch vom Feuer war? Immer dichter und dichter wurde er. Ihre Wangen glühten und brannten von der Sonne, und sie fühlte einen merkwürdigen Drang, die Lider zufallen zu lassen, ob wohl sie gar nicht schläfrig war. Die alte Ristin hatte ihre Arbeit beendet und traf Anstalten, sich zu entfernen. “In einer Stunde ist er gesund”, sagte sie und kroch durch die Zeltöffnung hinaus. Als sie fort war, erklärte Nilas' Frau, daß Zau berinnen sehr gut seien, aber die norwegischen Ärzte seien besser, und jetzt könne man ja sehen, wer am besten wäre. “Ich bin doch gar keine Ärztin”, wandte Frida ein und wischte sich ein paar Tränen weg, die ihr überraschenderweise aus den Augen liefen. “Ich habe ein bißchen von meinem Vater gelernt; aber ich kann euren Knecht nicht in einer 136
Stunde heilen. Dazu brauche ich drei Tage; und zuerst muß ich einmal wissen, wie es angefangen hat.” Der Knecht lag mit der Binde vor den Augen auf dem Rücken und erzählte. Vorgestern hatte es angefangen, als er den ganzen Tag draußen gewesen war, um die Rentierherde zu bewachen. Vor seinen Augen entstand ein Nebel, so daß er die Ge sichter der andern kaum erkennen konnte. Der Nebel wurde immer dichter, und seine Augen begannen zu tränen. Je mehr sie tränten, de sto mehr schmerzten sie; schließlich tat es so weh, daß er die Augen nicht mehr aufzumachen vermochte. Sie fühlten sich an, als ob hinter den Lidern Sandkörner wären; erst mochten es drei bis vier Sandkör ner gewesen sein, jetzt waren es Millionen. Und das schmerzte, auch wenn man die Augen geschlossen hielt. Die Sandkörner drückten auf die Augäpfel, daß er nahe daran war, zu schreien. Am meisten weh getan hatte es, als die Zauberin ihn mit der Zunge abgeleckt und das Licht hereingelassen hatte. “Nun will ich essen und ausruhen, bis die Stunde um ist”, sagte Frida. “Und wenn es sich herausstellt, daß die Zauberin dich nicht geheilt hat, gebe ich dir ein paar von meinen Tropfen in die Augen.” Nachdem sie dies geäußert hatte, schloß sie selber die Augen, denn der Feuerschein war so stark, daß sie ihn kaum aushaken konnte; und da merkte sie mit Schrecken, wie es unter ihren Lidern zu tränen be gann; es fühlte sich an, als hätte sie etwas in die Augen bekommen. ‚Ich bin im Begriff, schneeblind zu werden’, dachte sie entsetzt. ‚Den ganzen Tag bin ich in starkem Sonnenlicht gefahren, und ich habe meine Schneebrille nicht aufgehabt. Wer soll ihm helfen, wenn ich nicht mehr sehen kann?’ Nilas kam mit ihrer Samariterkiste herein, und sie tastete nach der Flasche mit den Tropfen. Vorsichtig öffnete sie die Augen, um die Aufschrift im Scheine des Feuers zu lesen; ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Nachdem sie die Tropfen gefunden hatte, träufelte sie sich davon in beide Augen. Es brannte, als die Flüs sigkeit mit dem Augapfel in Berührung kam; so weh hatte es am Mor gen nicht getan, als sie die Tropfen erprobte; jetzt aber waren die Au gen überempfindlich. Dann saß sie mit geschlossenen Augen da und beantwortete alle Fragen. Sie streichelte die Hunde, die sie beschnüffelten; und als das Essen fertig war, holte sie ihren eigenen Teller und ihr Besteck hervor, 137
indem sie mit den Händen tastete: doch ihre Augen konnten nicht hin und her gehen, so daß es ihr unmöglich war, darauf aufzupassen, daß die Hunde ihr nichts vom Teller wegstahlen. Deshalb mußten die Kin der sie wegjagen. Schließlich erkundigte sich die Frau: “Ist mit deinen Augen etwas nicht in Ordnung?” “Ich bin schneeblind wie der Knecht”, erwiderte Frida verzagt. “Aber mit deiner Hilfe werde ich ihn trotzdem heilen. Zuerst will ich dir zeigen, wie du den Augentröpfler auskochen mußt, jedesmal, nachdem ich ihn gebraucht habe. Danach mußt du ihn in dem kochen den Wasser zugedeckt neben mich stellen und die Hunde fernhalten. Die Flasche mit den Tropfen stecke ich zur Sicherheit in die Tasche. Und nun muß ich es ganz dunkel haben; ich darf weder das Licht durchs Rauchloch noch den Feuerschein sehen. Häng bitte das Zelt tuch vor meinen Platz und auch vor den Knecht, und draußen leg eine Decke auf die Zeltwand, damit kein Schimmer der Sonne hindurch dringt. Wenn du mit dem Essen kommst, darfst du das Zelttuch nicht lüften, bevor ich ganz unter das dunkle Rentierfell gekrochen bin. Und laß mich dir auf deiner Weckeruhr zeigen, wann du sagen mußt: ‚Jetzt ist es Zeit für die Tropfen.’ Ich will den Knecht anweisen, wie er sich die Medizin in die Augen träufeln muß, wenn ich ihm den Tröpfler reiche. Binnen kurzem kann ich nichts mehr sehen, aber vorläufig ver schwimmt nur alles vor meinen Augen.” Die Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie sprach. Sie träufelte dem Knecht zum erstenmal die Tropfen in die Augen und ließ ihn selber den Tröpfler handhaben. “Ich glaube, daß es mir genau so weh tut wie dir, als Nilas zum Arzt fuhr”, sagte sie mit einem klei nen verlegenen Lachen und schloß die schmerzenden Augen. “Ich will nun versuchen zu schlafen, während der Tröpfler ausgekocht wird.” Sie legte sich auf einem ausgebreiteten Rentierfell auf den Rücken; dabei behielt sie alle Sachen an, auch Kopfbedeckung und Schuhe, wie die Berglappen es beim Schlafen machen. Sie fand jedoch keinen Schlummer, denn die Lider waren ihr so schwer, als bestünden sie aus Blei, und darunter tanzten Tausende von kleinen kratzenden Dingern herum, die ihr große Pein bereiteten. 138
‚Was für ein Dummkopf war ich doch’, dachte sie. ‚Wenn Vater das hört, wird er mich auslachen.’ Nein, sie wollte lieber nicht an Vater denken, denn dadurch bekam sie eine solche Sehnsucht nach ihm, und es verlangte sie danach, in seinen kundigen Händen zu sein und ihn aufmunternd sprechen zu hören: “Das geht rasch vorbei, Assistent.” Sie setzte sich auf und schlang die Arme um die heraufgezogenen Knie. Wenn sie den Kopf vorbeugte, drückten die Lider nicht so stark. ‚Wenn ich bloß nicht Mitleid mit mir selber bekomme’, dachte sie. ‚Ich habe eine Verantwortung, und da darf ich nicht versagen, ganz gleich, ob ich Schmerzen habe. Sie sollen nachher nicht behaupten können, ich verstünde weniger als eine Zauberin. In drei Tagen ist's überstanden. Drei Tage sind ja gar nichts.’ Im gleichen Augenblick aber dünkte es sie, als wären drei Tage ein ganzes Leben, so weh taten ihre Augen. Sie lauschte auf die Atemzü ge der Schlafenden, während die Minuten dahinschlichen. Drei Tage! – Sie mußte dann doch eingeschlafen sein. Nilas Frau rief mit lauter Stimme von der andern Seite des Vorhangs, daß es Zeit für die Augentropfen sei. Frida tastete nach dem Tropfler, den sie füllte und dann dem Knecht reichte; hierauf ließ sie ihn wieder auskochen, ehe sie ihn selber benutzte. “Jetzt lassen die Schmerzen schon etwas nach”, murmelte der Knecht. “Die Dunkelheit und deine Tropfen scheinen zu helfen.” Eine stille Freude regte sich in ihr. Was machte es, daß sie selber mit Schneeblindheit kämpfen mußte, solange sie dadurch das Vertrau en der andern nicht verlor. Und wenn sie auch mit den Augen nicht zu sehen vermochte, so konnte sie doch alles verfolgen, was im Zelt vor sich ging. Sie lauschte den Messerschlägen, als das Holz fürs Feuer zerkleinert wurde; sie nahm Wärme, Rauch und Geruch wahr, als Blutsuppe und Kaffee zubereitet wurden. Durch den Vorhang hin durch sprach sie mit den zurückkehrenden Rentierknechten, und sie hörte die Kinder draußen herumlaufen und spielen. Ihre Proviantkiste wurde vor sie hingestellt, und sie tastete nach Brot, Butter, Gebäck und Apfelsinen. Von Zeit zu Zeit wurde ihr ein warmer Knochen mit Fleisch in die Hand gesteckt, und hin und wieder ertönte die Stimme der Frau: “So, jetzt ist die Uhr da, wo du sagtest.” 139
Dann machte sie sich wieder daran, dem Knecht den gefüllten Tröpfler zu reichen und sich selbst die Tropfen in die Augen zu träu feln. In der Nacht schlief sie, und am folgenden Tage ging es schon et was besser. Gegen Abend versuchte sie vorsichtig die Augen ein wenig zu öff nen, aber sie machte sie rasch wieder zu. Als sie dasaß und auf den ausgekochten Tröpfler wartete, hörte sie Nilas' Frau plötzlich mit er schrockener Stimme “O je, o je!” rufen. “Was ist geschehen?” fragte sie mit banger Ahnung. “Der Tröpfler ist zersprungen”, antwortete die Frau aufgeregt. Der Knecht hatte die Tropfen schon erhalten, aber Frida noch nicht. Tastend fand sie in der Samariterkiste einen Tropfenzähler – ja, damit ging's; doch am nächsten Morgen mußte sie die Augen aufzwingen, damit sie sehen konnte, um dem Knecht die Tropfen einzuträufeln, denn allein wurde er mit dem Tropfenzähler nicht fertig. Lange lag sie als einzige im Zelt wach und lauschte auf jeden Laut. Dann endlich erklang die Stimme der Frau: “Es ist an der Zeit.” Sie zog den Vorhang beim Knecht beiseite, so daß ein schwacher Lichtschimmer hereindrang, und machte behutsam die Augen auf. Da lag er mit weit offenen Augen und lächelte sie an. “Jetzt tut's nicht mehr weh”, sagte er und ließ sich willig die Tropfen einträufeln. “Du bist ein guter Doktor.” Die dummen Tränen kamen wieder; aber sie zwang sich, die Augen offen zu halten, bis sie mit ihrer Arbeit fertig war; dann schloß sie sie gequält. Wenn der schlimmste Schmerz vorbei war, wollte sie an ihren Platz zurückkriechen. Plötzlich wurde der Vorhang hochgehoben, und eine wohlbekannte Stimme ließ ihr Herz höher schlagen. “Es ist gut, Assistent, jetzt scha det ihm ein bißchen Licht nicht mehr.” Mit geschlossenen Augen drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam; die Tränen rannen ihr über die feuchten Wangen und zeichneten helle Streifen darauf, doch um ihre Lippen spielte ein Lächeln. “Guten Tag, Vater”, sagte sie froh. 140
Sie fühlte sich an den Schultern ergriffen, und hinter den geschlos senen Lidern spürte sie eine lindernde Dunkelheit, als der Vorhang schnell fallen gelassen wurde. Nun klang Vaters Stimme ganz anders. “Aber du bist ja selber schneeblind”, stieß er mitleidig hervor. “Wann ist denn das geschehen?” “Auf dem Wege hierher, denn ich vergaß meine Schneebrille aufzu setzen”, erwiderte sie. “Ich hatte sie in der Tasche. Aber das macht nichts – ich habe den Patienten trotzdem behandelt.” Vater tätschelte sie liebevoll und flüsterte ihr zu: “Ich bin sehr stolz auf dich – weil du allein hierher gefahren bist und dich so tapfer be nommen hast. Doch jetzt sollst du richtige Pflege haben. Ich nehme dich in unser eigenes Zelt, sobald Anders es aufgeschlagen hat. Die ganze Nacht bin ich gefahren, um rasch zur Stelle zu sein. Zuerst aber muß ich dich waschen und kämmen; du ahnst ja nicht, wie du aus siehst. Mach den Mund auf – hier kommt ein Stück Schokolade.” Es war ein herrliches Gefühl, Vater in der Nähe zu wissen. Nach rechts und links erteilte er Befehle und trug sie an den alten Platz auf ihr Lager zurück, das weicher und wärmer geworden war als zuvor. “Du bekommst eine Binde vor die Augen, sowie ich dich gesäubert habe. Dann brauchst du nicht mehr in der Dunkelheit zu sitzen und vor dich hin zu brüten.” “Uha!” rief Frida, und dann lachten sie alle beide, denn Vaters Schwamm traf gerade ihren offenen Mund.
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Ein Blitz aus heiterem Himmel “Wir fahren heute nacht”, bestimmte Vater, “so bekommst du die starke Sonne nicht in die Augen.” Dann war er wieder weg. Anders hatte am vergangenen Tage ihr eigenes Zelt aufgeschlagen, und da lag Frida nun mutterseelenallein, während Vater die Kinder des Berglappen untersuchte. Sie konnte hören, wie die Kinder weinten und schrien, wenn sie sich ausziehen sollten; sie fürchteten sich vor dem Nacktsein, ja, sie schämten sich, denn in ihrem ganzen Leben hatten sie die Kleider nicht vom Leibe gehabt. Frida hingegen hegte keinen heißeren Wunsch, als alles auszuziehen, sich in der Sauna aufs oberste Brett zu legen und zu fühlen, wie der heiße Dampf ihren gan zen Körper umhüllte und Haut und Poren reinigte. Seit vier Tagen hat te sie die Kleider auf dem Leibe, und es begann sie schon überall zu jucken. Die Zeit schlich dahin, denn obwohl ihre Augen wieder geheilt wa ren, ließ Vater sie noch nicht ans Helle. Den Nachmittag versuchte sie durchzuschlafen, aber das gelang ihr nicht so recht. Dann kam Vater, um das Essen zuzubereiten, und sie plauderten derweilen gemütlich. Frida hatte eine große dunkle Brille auf der Nase, damit der Feuer schein sie nicht belästigte. Sie schälte Kartoffeln, die sie am liebsten fortgeworfen hätte, so schwarz sahen sie durch die Brille aus. Nach dem Essen rauchte Vater seine Pfeife, und im Gespräch ent standen immer längere Pausen. Schließlich schlummerte sie ein, und sie schlief, bis er sie in der Nacht weckte. “Der Mond ist aufgegangen”, sagte er. “Nun wollen wir aufbre chen.” Diese Fahrt vergaß sie nie. Die Landschaft war im Mondlicht wie verwandelt. Ringsum erhoben sich Hunderte von schneebedeckten niedrigen Bergen gleich abgerundeten Wellen, die zu Eis gefroren wa ren. Es schien, als führe man über ein aufgerührtes, jählings erstarrtes Meer. Die Entfernungen waren kaum zu schätzen. Da glitt sie nun mit Vater und Anders dahin, während alle andern Menschen auf Erden in 142
ihren Häusern eingesperrt waren und nicht einmal ahnten, daß es all diese Schönheit gab. Ganz still und friedlich wurde ihr zumute. Leise schnaubend liefen die Rentiere über den unberührten Schnee, und die Pulke zeichneten ihre schnurgeraden Spuren hinein. Sie empfand ihre eigene Kleinheit und Schwäche, und sie fühlte Dankbarkeit, daß sie dies erleben durfte. Die Nacht war kurz; bald dämmerte ein neuer Tag herauf. Sie hielten Rast und saßen um ein kleines Feuer, als die Sonne sich blutrot und riesengroß über einem fernen Grat erhob. “Setz deine Schneebrille auf”, mahnte Vater. Da wurde die Welt für Frida dunkler, als die Nacht gewesen war. Sie fuhr über schwarzen Schnee, und die kleine schwarze Karawane bewegte sich schwarze Hänge hinauf und hinab. Aber die Sonne stieg immer höher, und der Schnee nahm dann eine graublaue Farbe an. Va ter und Anders bekamen ein blaues Gesicht, und der weiße Hirten hund, der sich dicht bei ihnen hielt, war seltsam bläulich. Frida stieß einen Seufzer aus. “Alles sieht so traurig aus durch meine Brille”, klagte sie. Die Traurigkeit legte sich ihr aufs Gemüt und erfüllte sie mit mißmutigen Gedanken. “Sei jetzt vorsichtig”, sagte Vater, der sich in seinem Pulk umdreh te. “Wir kommen gleich zur Abfahrt.” Wachsam richtete er den Blick wieder nach vorne. Noch ein kleines Stück, dann gewahrte sie plötz lich tief unter einem steilen Berghang das Eis des Flusses. Anders' Ka rawane glitt schon wie eine Wagenreihe auf einer Rutschbahn über die Kante. Nur das hinten angebundene Rentier stemmte noch alle viere in den Schnee; dann wurde es hinuntergerissen, doch arbeitete es mit al len Kräften dagegen. “Was für ein glänzendes Bremstier!” rief Vater begeistert. “Nun, kannst du's schaffen?” “Ich glaube, daß ich's gut allein kann, wenn ich darf”, erwiderte sie, und sie verspürte eine kribbelnde Spannung im ganzen Körper, als sie sich dem Rande näherte. Entschlossen streckte sie das Bremsbein in den Schnee hinaus, und dann begann eine aufregende ZickzackAbfahrt, die ihre ganze Aufmerksamkeit und Anspannung erforderte, da sonst der Pulk gegen die Bäume geschleudert worden wäre. 143
Mit einer raschen Bewegung schob sie die Schneebrille auf die Stir ne, um besser sehen zu können, und dann entdeckte sie zu ihrer eige nen Überraschung, daß sie leise vor sich hin sang. Anders hielt bereits unten auf dem Eise, und ein Stückchen unter ihr sauste Vater am Hang hin und her, wobei er sein Zugtier mit kurzen Rufen lenkte. Sie vermochte der Verlockung nicht zu widerstehen – plötzlich saß sie ganz vornüber gebeugt. Das Rentier flog förmlich dahin, und der Schnee sprühte ihr ins Gesicht. Sie lachte laut vor Wonne und Spannung. Dann glitt sie übers Eis, bis der Pulk die Ge schwindigkeit verlangsamte. Sie drehte sich rasch um und rief Vater frohlockend zu: “Ich bin Erste!” “Das war sehr leichtsinnig gefahren”, tadelte er kopfschüttelnd, als er übers Eis dahinglitt. “Aber ich war schon beinahe unten, bevor ich's versuchte”, vertei digte sie sich und setzte die Brille wieder auf die Nase. Ein Pferdeschlitten kam ihnen in flotter Fahrt entgegen. Jetzt er kannten sie den Kutscher; es war einer der Postfahrer von der Küsten route. Was in aller Welt hatte er auf dieser Strecke zu suchen? Er ver langsamte die Fahrt nicht, als er die kleine Karawane erreichte, son dern rief nur laut und warnend: “Es ist Krieg!” “Was für ein Unsinn”, murmelte Frida. “Finnland kann doch nicht schon wieder Krieg ha ben.” “Hast du sein Gesicht gesehen?” entgegnete Vater. “Es war fin ster wie ein Gewitterhimmel.” “Alles ist finster, wenn man solch eine Brille aufhat”, lachte Frida. Aber wer war denn das, der da in einem einsamen Pulk mit einem hin ten angebundenen Ren dahergejagt kam? Wahrhaftig, der Gehilfe des Lehnsmanns! Frida nahm die Brille ab, um ihn richtig betrachten zu können. “Wir sind im Krieg mit Deutschland!” schrie er, während er vorbeifuhr. “Die Deutschen sind im Süden gelandet.” Sein Antlitz zeigte einen wilden und entschlossenen Ausdruck. “Aber wir ergeben uns nicht. Ich muß ins Gebirge hinauf und die Berglappen mobilisie ren.” Einen Augenblick saß Frida wie gelähmt da und starrte ihm nach, ohne das Entsetzliche wirklich fassen zu können. “Laß uns rasch heimfahren”, rief Vater. Seine Miene war sehr ernst, und sie las darin dieselbe Entschlossenheit wie in dem Gesicht des Mannes im Pulk. 144
Die Rentiere gerieten in Schweiß, während sie die Uferböschung zum Kirchspiel hinaufjagten. Da und dort blickte ein sorgenvolles Antlitz zum Fenster hinaus. Vor dem Kaufmannsladen stand eine Gruppe Menschen im Gespräch vertieft. Vater warf Anders den Zügel zu, als sie vor dem stattlichen Hause des Lehnsmanns haltmachten. Dann eilte er auf den Eingang zu und verschwand im Innern. Frida folgte ihm auf den Fersen. Sie kannten den Weg zum Amtszimmer des Lehnsmanns, und Vater klopfte kräftig an die Türe, bevor er sie öffne te. Der Lehnsmann telephonierte gerade. Er nickte den Eintretenden ernst und ein wenig geistesabwesend zu und wies auf den Radioappa rat im Nebenzimmer. Hierauf warf er den Hörer auf die Gabel und wandte sich ihnen zu. “Es ist unmöglich, eine Verbindung mit Oslo zu bekommen”, sagte er. “Aber wir sind im Krieg mit Deutschland. Deutsche Truppen sind heute morgen im Süden an vielen Stellen gelandet, und in Finnmarken ist die Mobilisierung in vollem Gange. Es ist an uns hier oben im Norden, zu kämpfen. Die andern sind überrumpelt worden. Ich weiß allerdings nichts anderes, als was ich durchs Radio aufgefangen habe. Dänemark ist auch überfallen worden und hat sich ergeben, aber wir werden uns wehren.” “Das ist klar”, rief Frida mit flammenden Au gen. Das Telephon auf dem Schreibtisch läutete, und der Lehnsmann ergriff wieder den Hörer. “Wo sammelt sich das Heer?” fragte er. “Jawohl.” Nebenan ver kündete eine schwedische Stimme im Radio, daß Oslo bombardiert worden sei. Frida blickte erschrocken auf Vater, und beide dachten an Mutter und Bergliot. “Komm, laß uns gehen”, sagte er und nahm ihren Arm. Leichenblaß verließ sie mit ihm das Haus. Als sie zu den Pulken kamen, mußte sie plötzlich an Kyllikki denken… mit welchem Stolz die Freundin die Nachricht aufgenommen hatte, daß Finnland im Krieg war. Diesmal war Kyllikki diejenige, die im friedlichen Lande wohnte. Frida hob entschlossen den Kopf. Die Norweger waren ebenso tapfer wie die Finnen, wenn es um ihr Vaterland ging. Die müden Rentiere stolper ten die Uferböschung hinunter und liefen langsam übers Eis auf die 145
andere Seite hinüber. In der Ferne ertönte der muntere Klang vieler Schlittenschellen. Das fröhliche Geläute ließ Frida überrascht den Kopf drehen, und da sah sie eine lange Reihe Pferdeschlitten flott über die Brücke und dann weiter zum Küstenweg fahren, gefüllt mit jungen Lappen von der Landspitze. Auf dem Rücken trugen sie Tornister, und überall ragten Gewehrläufe auf. Unvermittelt begannen die Lappen zu singen. Schnee und Berge verschluckten den Gesang, doch gleichwohl fing sie die Melodie auf, die wie ein Zittern ihres eignen Herzens war: “Ja, wir lieben dieses Land…” Tief ergriffen wandte sie sich Vater zu und sagte: “Wir beide werden auch helfen.” “Natürlich”, antwortete Vater mild. “Wo unsere Lappen hingehen, da folgen wir. Lauf rasch hinauf, zieh dich um und pack das Notwen digste, während Anders die Pferdeschlitten bereit macht. Wir fahren zur Küste.” Frida stand reisefertig im Gang, als Anders mit den beiden Pferdeschlitten vorfuhr. Sie hatte nichts vergessen. Vater musterte sie mit einem freundlichen Lächeln; dann zeigte er auf das Gewehr, das sie sich über die Schulter gehängt hatte. “Was willst du denn damit?” fragte er. “Wir beide ziehen doch aus, um Schmerzen zu lindern und Wunden zu heilen.” “Vielleicht brauchen wir's doch einmal”, murmelte sie. “Vielleicht”, gab er zurück und sah sie sinnend an. Dann faßte er sie plötzlich un ters Kinn und hob ihr Gesicht empor. “Was auch geschehen mag”, sagte er eindringlich, “die Welt braucht immer Barmherzigkeit – ver giß das nicht.” Frida nickte stumm. Dann ging sie zu den wartenden Schlitten. Ein neues Leben sollte beginnen.
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