David Swift, Professor an der Universität von Columbia, wird zu seinem ehemaligen Mentor, dem Physiker Hans Kleinmann, ...
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David Swift, Professor an der Universität von Columbia, wird zu seinem ehemaligen Mentor, dem Physiker Hans Kleinmann, gerufen. Der alte Mann ist brutal überfallen worden und kämpft nun im Krankenhaus um sein Leben. Als Swift an sein Bett tritt, flüstert Kleinmann ihm eine kryptische Zahlenfolge sowie zwei Wörter auf Deutsch ins Ohr: »Einheitliche Feldtheorie« dann stirbt er. Swift glaubt, dass sein alter Lehrer, der vor fünfzig Jahren Assistent von Albert Einstein war, halluziniert hat. Zeit seines Lebens hat Einstein nach der einheitlichen Feldtheorie gesucht, einer Universalformel, die sämtliche Naturkräfte erklären könnte -allerdings auch die Entwicklung schrecklicher neuer Waffen ermöglichen würde. Einsteins Forschung auf diesem Gebiet blieb vergeblich -oder doch nicht? Kurz darauf merkt Swift, dass er verfolgt wird. Und er ahnt nun, dass die Zahlen, die Kleinmann ihm nannte, tatsächlich Hinweise auf die Einstein'sche Weltformel sind. Dank der Hilfe der gutaussehenden Physikerin Monique Reynolds gelingt es Swift zunächst, seine Verfolger abzuhängen. Aber nicht nur das FBI, sondern auch ein russischer Söldner, dessen Auftraggeber sich nicht zu erkennen geben, will die Formel mit aller Macht in seinen Besitz bringen. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht... Mark Alpert studierte Astrophysik und Literatur. Hauptberuflich arbeitet er als Redakteur des populären Wissenschaftsmagazins Scientific American, wo er seinen Lesern komplizierte wissenschaftliche Theorien einfach und verständlich darstellt. Mark Alpert lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Manhattan.
MARK ALPERT
DIE WÜRFEL GOTTES THRILLER
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Final Theory«
Für Lisa, die meine Welt mit Wundern gefüllt hat Die entfesselte Macht des Atoms hat alles geändert bis auf unsere Art zu denken, und deshalb treiben wir auf eine noch nie dagewesene Katastrophe zu.
Albert Einstein
EINS
H
ans Walther Kleinman, einer der großen theoretischen Physiker unserer
Zeit, ertrank in seiner Badewanne. Ein Fremder mit langen, sehnigen Armen drückte Hans' Schultern nach unten. Obwohl das Wasser nur dreißig Zentimeter tief war, verhinderten die Arme, dass Hans seinen Kopf über die Wasseroberfläche hob. Er verkrallte sich in die Hände des Fremden und versuchte dessen Griff zu lockern, aber der Mann war bärenstark, ein junger brutaler Kerl, und Hans war neunundsiebzig Jahre alt, hatte Arthritis und ein schwaches Herz. Er schlug hilflos um sich, trat innen gegen die Badewanne, und das Wasser schwappte wie wild um ihn herum. Er konnte seinen Angreifer nicht richtig sehen - das Gesicht des Mannes war ein undeutlicher verschwommener Fleck. Er musste durch das offene Fenster an der Feuertreppe in die Wohnung geklettert und dann ins Badezimmer geeilt sein, als er begriff, dass Hans drinnen war. Während Hans um sein Leben kämpfte, fühlte er, wie der Druck in seiner Brust zunahm. Das begann direkt unter dem Brustbein und füllte im Nu seinen ganzen Brustkorb. Ein Druck, der von allen Seiten nach innen ging und seine Lunge lahmlegte. Innerhalb von Sekunden stieg er ihm in den Hals, eine heiße, zuschnürende Enge, sodass er den Mund aufmachen musste. Als ihm lauwarmes Wasser in die Kehle drang, wurde aus Hans eine Kreatur reiner Panik, ein sich windendes, zappelndes Tier, das seine letzten Zuckungen durchmacht. Nein, nein, nein, nein, nein, nein! Dann lag er still da, und als sein Blickfeld verblasste, sah er nur noch die kleinen Wellen an der Oberfläche, die sich wenige Zentimeter über ihm kräuselten. Eine Fourier-Reihe, dachte er. Und so schön. Aber das war nicht das Ende, noch nicht. Als Hans das Bewusstsein wiedererlangte, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Fliesenboden, hustete und spuckte Badewasser aus. Seine Augen brannten, ihm drehte sich der Magen um, und jeder Atemzug war ein qualvolles Keuchen. Wieder lebendig zu werden war tatsächlich schmerzhafter als Sterben. Dann spürte er einen harten Schlag in den Rücken direkt zwischen die Schulterblätter und hörte, wie jemand mit fröhlicher Stimme sagte: »Zeit zum Aufwachen.« Der Fremde packte ihn an den Ellbogen und drehte ihn herum. Hans' Hinterkopf schlug gegen die nassen Fliesen. Er atmete immer noch keuchend und schaute zu seinem Angreifer hoch, der auf dem Badezimmerteppich kniete. Ein großer Mann, der mindestens hundert Kilo wog. Seine Schultermuskeln wölbten sich unter dem schwarzen T-Shirt, die Tarnanzugshose war in schwarze Lederstiefel gestopft. Ein kahler Kopf, der verglichen mit seinem Körper unverhältnismäßig klein wirkte, mit schwarzen Stoppeln auf den Wangen und einer grauen Narbe am Unterkiefer. Höchstwahrscheinlich ein Junkie, vermutete Hans. Nachdem er mich umgebracht hat, nimmt er die Bude auseinander und
sucht nach meinen Wertsachen. Erst dann wird der Idiot begreifen, dass ich keinen gottverdammten Cent besitze. Der Mann dehnte seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Jetzt unterhalten wir uns ein bisschen, ja? Sie können mich Simon nennen, wenn Sie wollen.« Simons Stimme hatte einen ungewöhnlichen Akzent, den Hans nicht sofort identifizieren konnte. Seine Augen waren klein und braun, seine Nase krumm, und seine Haut hatte die Farbe eines verwitterten Ziegelsteins. Seine Gesichtszüge 4 waren hässlich, aber nicht eindeutig zuzuordnen - er konnte Spanier, Russe, Türke, beinahe alles sein. »Was wollen Sie?«, wollte Hans sagen, aber als er den Mund aufmachte, musste er nur wieder würgen. Simon wirkte amüsiert. »Ja, ja, es tut mir leid. Aber ich musste Ihnen zeigen, dass ich es ernst meine. Und das macht man besser ganz zu Anfang, nicht?« Merkwürdigerweise hatte Hans jetzt keine Angst mehr. Er hatte bereits akzeptiert, dass dieser Mann ihn umbringen würde. Was ihn irritierte, war seine unglaubliche Unverschämtheit: Er hörte nicht auf zu lächeln, während Hans nackt vor ihm auf dem Boden lag. Es schien klar zu sein, was als Nächstes geschehen würde: Simon würde ihn auffordern, ihm die Geheimzahl seiner Scheckkarte zu verraten. Einer Nachbarin von Hans war das Gleiche widerfahren, einer Frau von zweiundachtzig Jahren, die jemand in ihrer Wohnung überfallen und geschlagen hatte, bis sie ihre Geheimzahl preisgab. Nein, Hans hatte keine Angst - er war wütend! Er hustete die letzten Tropfen Badewasser aus seiner Luftröhre und stützte sich auf die Ellbogen. »Diesmal hast du einen Fehler gemacht, du Ganef. Ich habe kein Geld. Ich hab nicht mal eine Bankkarte.« »Ich will kein Geld von Ihnen, Dr. Kleinman. Ich bin an Physik interessiert, nicht an Geld. Sie kennen sich aus auf dem Gebiet, nehme ich an.« Zunächst wurde Hans nur noch wütender. Machte dieser Ganove sich über ihn lustig? Was bildete er sich ein? Nach einem Moment kam ihm jedoch eine beunruhigendere Frage in den Sinn: Wie hat dieser Mann meinen Namen rausgefunden? Und woher weiß er, dass ich Physiker bin? Simon schien zu erraten, was Hans dachte. »Seien Sie nicht so überrascht, Professor. Ich bin nicht so ungebildet, wie ich aussehe. Ich habe vielleicht keinen akademischen Grad, aber ich lerne schnell.« 4
Hans war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass dieser Mann kein Junkie war. »Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?« »Betrachten Sie es als Forschungsprojekt. Auf einem sehr anspruchsvollen und esoterischen Gebiet.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich gebe zu, einige von den Gleichungen waren nicht leicht zu verstehen. Aber ich habe ein paar Freunde, wissen Sie, und die haben es mir sehr gut erklärt.«
»Freunde? Was meinen Sie mit Freunden?« »Nun ja, das ist vielleicht das falsche Wort. >Klienten< wäre wahrscheinlich besser. Ich habe ein paar sehr kenntnisreiche und wohlhabende Klienten. Und sie haben mich damit beauftragt, einige Informationen aus Ihnen herauszuholen.« »Wovon reden Sie da? Sind Sie eine Art Spion?« Simon lachte verhalten. »Nein, nein, nichts so Grandioses. Ich bin ein unabhängiger Unternehmer. Belassen wir es dabei.« Hans' Gedanken überschlugen sich. Sein Angreifer war ein Spion oder vielleicht ein Terrorist. Nicht ganz klar war, in wessen Auftrag er handelte - Iran? Nordkorea? Al-Qaida? -, aber das spielte keine Rolle. Sie waren alle hinter derselben Sache her. Hans verstand bloß nicht, warum die Scheißkerle sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatten. Wie die meisten Atomphysiker seiner Generation hatte er in den Sechziger und Siebzigerjahren als geheim eingestufte Arbeit für das Verteidigungsministerium geleistet, aber sein Spezialgebiet waren Radioaktivitätsstudien gewesen. Er hatte nie am Entwurf oder der Herstellung von Bomben gearbeitet und die meiste Zeit seines Berufslebens mit theoretischen Forschungen verbracht, die strikt für zivile Zwecke bestimmt waren. »Ich habe ein paar schlechte Nachrichten für Ihre Klienten, wer sie auch sein mögen« sagte Kleinman. »Sie haben sich den falschen Physiker ausgesucht.« Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« 5
»Was für Informationen kann ich Ihnen denn Ihrer Ansicht nach geben? Urananreicherung? Davon habe ich keine Ahnung! Und vom Entwurf atomarer Sprengköpfe verstehe ich auch nichts. Mein Gebiet ist Teilchenphysik, nicht Atomtechnik. Meine Forschungsergebnisse sind alle im Internet erhältlich, an ihnen ist nichts geheim.« Der Mann zuckte unbeirrt mit den Achseln. »Sie haben leider den falschen Schluss gezogen. Sprengköpfe sind mir egal, und Ihre Forschungen sind mir auch egal. Ich bin an der Arbeit eines anderen Physikers interessiert, nicht an Ihrer.« »Warum sind Sie dann in meiner Wohnung? Haben Sie sich in der Adresse geirrt?« Simons Gesicht versteinerte beinahe. Er drückte Hans zurück auf den Boden, legte ihm eine Hand flach auf den Brustkorb und beugte sich über ihn. »Dieser Mann ist zufällig jemand, den Sie gekannt haben. Ihr Professor in Princeton vor fünfundfünfzig Jahren. Der ewige Jude aus Bayern. Der Mann, der Zur Elektrodynamik bewegter Körper geschrieben hat. Den haben Sie doch mit Sicherheit nicht vergessen, stimmt's?« Hans rang nach Luft. Die Hand seines Peinigers fühlte sich unglaublich schwer an. Mein Gott, dachte er. Das darf einfach nicht wahr sein. Simon beugte sich noch etwas weiter nach vorn und kam ihm mit seinem Gesicht so nahe, dass Hans die schwarzen Härchen in seinen Nasenlöchern sehen konnte. »Er hat Sie bewundert, Dr. Kleinman. Seiner Ansicht nach waren
Sie einer seiner intelligentesten Assistenten. Sie haben in seinen letzten Lebensjahren ziemlich eng mit ihm zusammengearbeitet, nicht wahr?« Hans hätte nicht antworten können, selbst wenn er gewollt hätte. Simon drückte ihn so fest zu Boden, dass er das Knirschen seiner Rückenwirbel auf den kalten Fliesen spüren konnte. »Ja, er hat Sie bewundert. Aber er hat Ihnen außerdem 6 auch vertraut. Er hat sich mit Ihnen auf allen Gebieten beraten, an denen er in diesen Jahren arbeitete. Einschließlich seiner Einheitlichen Feldtheorie.« In genau diesem Augenblick brach eine von Hans' Rippen. Auf seiner linken Seite am äußeren Bogen, wo die Belastung am größten war. Der Schmerz fuhr ihm wie ein Messer durch die Brust, und er öffnete den Mund, um zu schreien, konnte aber nicht einmal dafür genug Luft holen. O Gott, Gott im Himmel! Ganz plötzlich bekam er Angst, schreckliche Angst! Weil er verstand, was dieser Fremde von ihm wollte, und er wusste, dass er ihm am Ende nichts mehr entgegenzusetzen hätte. Endlich nahm Simon seine Hand von Hans' Brust, und der Druck ließ nach. Hans machte einen tiefen Atemzug, und während die Luft in seine Lunge rauschte, spürte er wieder diesen Schmerz in seiner linken Seite wie einen Messerstich. Sein Rippenfell war gerissen, was bedeutete, dass sein linker Lungenflügel bald in sich zusammenfallen würde. Er weinte vor Schmerzen und erschauerte mit jedem Atemzug. Simon stand über ihm, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte zufrieden. Das Ergebnis seiner Arbeit konnte sich sehen lassen. »Verstehen wir uns jetzt? Ist Ihnen klar, wonach ich suche?« Hans nickte und schloss die Augen. Tut mir leid, Herr Doktor, dachte er. Ich werde Sie gleich im Stich lassen. Und er sah den Professor wieder vor seinem geistigen Auge, sah ihn so deutlich, als stünde der große Mann direkt vor ihm im Badezimmer. Aber er sah nicht so aus wie auf den Bildern, die alle kannten, die Fotografien des ungepflegten Genies mit den wilden weißen Haaren. Hans erinnerte sich an den Professor in den letzten Monaten seines Lebens. Die eingefallenen Wangen, die tief liegenden Augen, das niedergeschlagene Gesicht. Der Mann, der einen Blick auf die Wahrheit geworfen hatte, sie aber nicht aussprechen durfte. 6
Hans spürte, wie er in die Seite getreten wurde, direkt unterhalb seiner gebrochenen Rippe. Der Schmerz führ durch seinen Oberkörper, und seine Augen gingen mit einem Ruck auf. Einer von Simons Lederstiefeln ruhte auf Kleinmans nackter Hüfte. »Zum Schlafen ist keine Zeit«, sagte er. »Wir haben noch einiges zu tun. Ich werde jetzt ein paar Blatt Papier von Ihrem Schreibtisch holen, und Sie werden alles für mich aufschreiben.« Er drehte sich um und ging aus dem Badezimmer. »Falls ich irgendwas nicht verstehe, werden Sie es mir
erklären. Wie in einem Seminar, stimmt's? Wer weiß, vielleicht macht es Ihnen sogar ein bisschen Spaß.« Simon ging durch den Flur ins Schlafzimmer. Einen Augenblick später hörte Hans, wie dort herumgestöbert wurde. Jetzt, da der Fremde nicht mehr zu sehen war, verzog sich Hans' Furcht zum Teil, und er war wieder in der Lage nachzudenken, wenigstens bis der Dreckskerl zurückkam. Und das, worüber er nachdachte, waren die Stiefel seines Peinigers, seine glänzenden schwarzen SAStiefel. Hans spürte Ekel in sich aufsteigen. Der Mann versuchte wie ein Nazi auszusehen. Und im Wesentlichen wir er das auch, ein Nazi, der sich von den Schlägern in den braunen Uniformen kaum unterschied, die Hans im Alter von sieben Jahren durch die Straßen Frankfurts hatte marschieren sehen. Und die Leute, für die Simon arbeitete, diese namenlosen »Klienten«? Was sollten sie schon anderes sein als Nazis? Simon kam zurück und hielt einen Kugelschreiber in der einen und einen Notizblock in der anderen Hand. »Okay«, sagte er, »von Anfang an. Ich möchte, dass Sie die revidierte Feldgleichung aufschreiben.« Er beugte sich vor und hielt Hans Stift und Block hin, ein Angebot, das dieser ausschlug. Ein Lungenflügel kollabierte, und jeder Atemzug war eine Qual, aber er würde diesem Nazi nicht helfen. »Geh zum Teufel«, krächzte er. Simon schaute ihn leicht tadelnd an, wie man einen Fünf 7
jährigen anschaut, der sich schlecht benimmt. »Wissen Sie, was ich glaube, Dr. Kleinman? Ich glaube, Sie brauchen noch ein Bad.« Mit einer raschen Bewegung packte er Hans und tauchte ihn wieder unter Wasser. Und wieder kämpfte dieser darum, mit dem Kopf an die Oberfläche zu kommen, wobei er verzweifelt gegen die Innenwände der Badewanne schlug und sich in die Arme des Peinigers verkrallte. Das zweite Mal war sogar noch schrecklicher als das erste, weil Hans genau wusste, was ihm bevorstand: die Qual der wachsenden Beklemmung, die hektischen Verdrehungen, der stumpfe Abstieg in die Schwärze. Dieses Mal stürzte Hans tiefer in die Bewusstlosigkeit ab. Es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, wieder aus dem Abgrund emporzusteigen, und selbst nachdem Hans die Augen aufgeschlagen hatte, hatte er nicht den Eindruck, als sei er völlig wach. Sein Blickfeld war an den Rändern verschwommen, und er konnte nur flach atmen. »Sind Sie wieder da, Dr. Kleinman? Können Sie mich hören?« Die Stimme klang jetzt gedämpft. Als Hans nach oben schaute, sah er Simons Silhouette, aber sein Körper schien von einem Halbschatten vibrierender Partikel umgeben zu sein. »Ich wünschte mir wirklich, Sie wären ein bisschen vernünftiger, Dr. Kleinman. Wenn Sie Ihre Situation einmal logisch betrachten, werden Sie begreifen, dass all
diese Ausflüchte absurd sind. Sie können so etwas nicht für alle Zeiten verstecken.« Hans schaute sich den Halbschatten, der den Mann umgab, etwas genauer an und stellte fest, dass die Partikeln eigentlich nicht vibrierten - sie entstanden sprunghaft und verschwanden wieder auf die gleiche Weise, Paare von Partikeln und Antipartikeln erschienen wie durch Zauberhand aus dem 8
Quantenvakuum und verschwanden genauso schnell wieder. Das ist erstaunlich, dachte Hans. Wenn ich nur eine Kamera hätte! »Auch wenn Sie uns nicht helfen, werden meine Klienten bekommen, was sie haben wollen. Vielleicht wussten Sie das nicht, aber Ihr Professor hatte noch andere Vertraute. Er hielt es für clever, die Informationen unter ihnen aufzuteilen. Wir haben schon zu ein paar dieser alten Herren Kontakt aufgenommen, und sie sind äußerst hilfreich gewesen. Auf die eine oder andere Weise werden wir bekommen, was wir brauchen. Warum wollen Sie es sich also schwer machen.« Die vergänglichen Partikeln schienen größer zu werden, während Hans sie anstarrte. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es gar keine Partikeln waren, sondern unendlich dünne Fäden, die sich von einem Vorhang des Raums zu einem anderen erstreckten. Die Fäden zitterten zwischen den wogenden Vorhängen, die sich zu Röhren und Kegeln und Schläuchen zusammenrollten. Und der ganze raffinierte Tanz ging genauso vor sich, wie er vorhergesagt worden war, genauso, wie sein Herr Doktor ihn beschrieben hatte. »Es tut mir leid, Dr. Kleinman, aber meine Geduld ist langsam erschöpft. Mir gefällt das nicht, aber Sie lassen mir keine Wahl.« Der Mann trat ihn dreimal links gegen die Brust, aber Hans spürte es nicht mal. Die durchscheinenden Vorhänge des Raums hatten ihn eingeschlossen. Hans konnte sie deutlich sehen, sie waren wie gebogene Scheiben aus geblasenem Glas, strahlend und undurchdringlich, aber weich. Doch der andere Mann konnte sie offenbar nicht sehen. Wer war dieser Mann überhaupt? Er sah so albern aus, wie er mit seinen schwarzen Lederstiefeln da stand. »Können Sie sie nicht sehen?«, flüsterte Hans. »Sie sind direkt vor Ihnen!« Der Mann stieß einen Seufzer aus. »Ich nehme an, dies erfordert eine energischere Form von Überredung.« Er ging in, 8
den Flur zurück und öffnete die Tür zu dem Wäscheschrank. »Mal sehen, was wir hier haben.« Nach einem Moment kehrte er ins Bad zurück, in einer Hand eine Plastikflasche Waschbenzin, in der anderen ein Dampfbügeleisen. »Dr. Kleinman, können Sie mir sagen, wo die nächste Steckdose ist?« Hans beachtete den anderen gar nicht. Er sah nur noch die Spitzenfalten im Stoff des Universums, die sich um ihn legten wie eine unendlich weiche Decke. ZWEI
D
avid Swift war in ungewöhnlich guter Stimmung. Er hatte gerade mit Jonah,
seinem siebenjährigen Sohn, einen wundervollen Nachmittag im Central Park verbracht. Um dem Tag einen angemessenen Schlusspunkt zu verleihen, hatte David an einem Handkarren auf der Seventy-Second Street zwei Eistüten gekauft, und jetzt schlenderten Vater und Sohn durch die schwüle JuniDämmerung zur Wohnung von Davids Exfrau. Jonah war ebenfalls gut gelaunt, weil er in seiner rechten Hand - mit der linken hielt er die Eistüte -einen brandneuen, dreischüssigen Super Soaker schwenkte. Während Jonah über den Bürgersteig ging, richtete er die Hitech-Wasserpistole beiläufig auf verschiedene Ziele -Fenster, Briefkästen, einige Taubengrüppchen -, aber David blieb gelassen. Er hatte den Wasserbehälter der Pistole geleert, bevor sie den Park verließen. Jonah schaffte es irgendwie, an seinem Eis zu lecken, während er gleichzeitig etwas über den Lauf des Super Soaker anvisierte. »Wie funktioniert das noch mal? Warum kommt das Wasser so schnell rausgeschossen?« David hatte ihm das Verfahren schon zweimal erklärt, aber es machte ihm nichts aus, sich zu wiederholen. Diese Art Gespräch führte er liebend gern mit seinem Sohn. »Du siehst doch das rote Ding da, den Pumpengriff? Wenn du den bewegst, schiebst du das Wasser von dem großen Behälter in den kleineren.« »Moment mal, wo ist der kleinere?« David zeigte auf den hinteren Teil der Pistole. »Genau 9
hier. In dem kleineren Behälter ist etwas Luft, und wenn man Wasser in den Tank hineinpumpt, hat die Luft weniger Platz. Die Luftmoleküle werden zusammengequetscht und fangen an, gegen das Wasser zu drücken.« »Das kapier ich nicht. Warum drücken sie gegen das Wasser?« »Weil Luftmoleküle immer herumspringen, verstehst du? Und wenn du sie zusammenquetschst, springen sie stärker gegen das Wasser.« »Kann ich die Pistole für den Anschauungsunterricht mit in die Schule nehmen?« »Ah, ich weiß nicht recht...« »Warum denn nicht? Es hat doch mit Naturwissenschaft zu tun, stimmt's?« »Ich glaube, Wasserpistolen sind in der Schule nicht erlaubt. Aber du hast recht, in diesem Ding stecken eindeutig naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Der Mann, der den Super Soaker erfunden hat, war Naturwissenschaftler. Ein Kernphysiker, der für die NASA gearbeitet hat.« Ein Bus fuhr über die Columbus Avenue, und Jonah verfolgte ihn mit seiner Wasserpistole. Er schien das Interesse an den physikalischen Aspekten der Super Soaker zu verlieren. »Warum bist du kein Naturwissenschaftler geworden, Dad?« David überlegte einen Moment, bevor er antwortete. »Na ja, nicht jeder kann Naturwissenschaftler sein. Aber ich schreibe Bücher über die Geschichte der
Naturwissenschaft, und das macht auch Spaß. Ich erfahre einiges über berühmte Leute wie Isaac Newton und Albert Einstein und gebe Seminare über sie.« »Dazu habe ich keine Lust. Ich will ein richtiger Wissenschaftler werden. Ich werde ein Raumschiff erfinden, das in fünf Sekunden zum Pluto fliegen kann.« Es hätte bestimmt Spaß gemacht, über das Pluto-Raum 10
schiff zu sprechen, doch jetzt fühlte David sich unwohl. Er empfand das starke Bedürfnis, sein Ansehen in den Augen seines Sohnes zu verbessern. »Vor langer Zeit habe ich nach meinem ersten Examen an der Universität richtige Wissenschaft gemacht. Und dabei ging es nur um den Weltraum.« Jonah wandte sich von der Straße ab und starrte ihn an. »Du meinst Raumschiffe?«, fragte er voller Hoffnung. »Raumschiffe, die Milliarden Meilen pro Sekunde zurücklegen können?« »Nein, es ging um die Form des Weltraums. Wie der Weltraum aussehen würde, wenn es nur zwei Dimensionen gäbe anstatt drei.« »Das kapier ich nicht. Was ist eine Dimension?« »Ein Universum mit zwei Dimensionen hat Länge und Breite, aber keine Tiefe. Wie ein riesiges Blatt Papier.« David streckte seine Hände mit den Handflächen nach unten aus, als wolle er ein großes Blatt glätten. »Ich hatte diesen Lehrer, Professor Kleinman hieß er. Er ist einer der klügsten Wissenschaftler der Welt. Und wir haben zusammen ein Referat über zweidimensionale Universen geschrieben.« »Ein Referat?« Das Interesse verschwand aus Jonahs Gesicht. »Ja, das tun Wissenschaftler nun mal, sie schreiben Referate über das, was sie entdeckt haben. Damit ihre Kollegen sehen können, was sie gemacht haben.« Jonah drehte sich um und beobachtete den Verkehr. Er war derart gelangweilt, dass er sich nicht mal die Mühe machte zu fragen, was das Wort Kollegen bedeutete. »Ich werde Mom fragen, ob ich den Super Soaker zum Anschauungsunterricht mitnehmen kann.« Eine Minute später betraten sie das Apartmentgebäude, in dem Jonah und seine Mutter wohnten. Bis vor zwei Jahren, als er und Karen sich trennten, hatte David auch hier 10
gewohnt. Jetzt hatte er eine eigene kleine Wohnung, etwas näher bei seinem Job an der Columbia University. Er holte Jonah an jedem Wochentag um drei an der Schule ab und brachte ihn vier Stunden später zu seiner Mutter. Diese Regelung erlaubte es ihnen, die beträchtlichen Kosten für die Einstellung einer Kinderfrau einzusparen. Aber David wurde immer das Herz schwer, wenn er durch die Eingangshalle seines alten Wohnhauses schritt und in den langsamen Aufzug einstieg. Er kam sich vor wie ein Verbannter. Als sie schließlich im vierzehnten Stock ankamen, sah David Karen im Eingang des Apartments stehen. Sie hatte sich noch nicht umgezogen und trug schwarze
Pumps und ein graues Kostüm, die klassische Uniform einer Unternehmensanwältin. Mit vor der Brust verschränkten Armen inspizierte sie ihren Exmann und nahm mit eindeutiger Missbilligung die Stoppeln in Davids Gesicht, die schlammverschmierte Jeans und das T-Shirt zur Kenntnis, das mit dem Namen seiner Softballmannschaft verziert war, die Hitless Historians. Dann konzentrierte sich ihr Blick auf den Super Soaker. Jonah witterte Unheil, gab David die Pistole und schlüpfte an seiner Mutter vorbei in das Apartment. »Ich muss pinkeln«, rief er, als er ins Badezimmer rannte. Karen schüttelte den Kopf, als sie die Wasserpistole anstarrte. Eine Locke ihres blonden Haars hatte sich gelöst und hing neben ihrer linken Wange. Sie ist immer noch schön, dachte David, aber irgendwie eine kalte Schönheit, kalt und hart. Sie schob sich die Locke mit einer Hand hinters Ohr. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« David hatte sich auf diese Frage vorbereitet. »Hör zu, ich habe mit Jonah ein paar Regeln vereinbart. Es wird nicht auf Menschen geschossen. Wir waren im Park und haben auf die Steine und die Bäume geschossen. Es hat Spaß gemacht.« 11
»Findest du, eine Maschinenpistole ist ein angemessenes Spielzeug für einen Siebenjährigen?« »Es ist keine Maschinenpistole, okay? Und auf dem Karton hat gestanden: >Ab dem siebten Lebensjahre« Karen kniff die Augen zusammen und verzog die Lippen. Dieses Gesicht machte sie oft, wenn sie sich stritten, und David hatte es noch nie leiden können. »Weißt du, was Jungs mit diesen Super Soakers anstellen?«, fragte sie. »Gestern Abend war eine Geschichte darüber in den Nachrichten. Ein Haufen Jungs in Staten Island haben Benzin statt Wasser in die Pistole gefüllt, damit sie das Ding als Flammenwerfer benutzen konnten. Sie haben fast ihre gesamte Nachbarschaft niedergebrannt.« David holte tief Luft. Er wollte sich nicht mehr mit Karen streiten. Das war der Grund, warum sie sich getrennt hatten - sie stritten sich die ganze Zeit vor Jonah. Deshalb hatte es überhaupt keinen Sinn, diese Unterhaltung fortzusetzen. »Okay, okay, beruhige dich. Sag mir nur, was ich tun soll.« »Nimm die Pistole mit zu dir nach Hause. Du kannst Jonah damit spielen lassen, wenn du auf ihn aufpasst, aber ich will das Ding nicht in meiner Wohnung haben.« Bevor David antworten konnte, hörte er das Telefon in der Wohnung klingeln. Dann rief Jonah: »Ich geh dran.« Karen schaute zur Seite, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte sie selber zum Telefon rennen, aber stattdessen neigte sie nur den Kopf, um besser zuhören zu können. David fragte sich, ob es ihr neuer Freund war, ein herzlicher grauhaariger Herr mit zwei Exfrauen, einer Menge Geld und Anwalt wie sie. David war nicht im üblichen Sinn eifersüchtig -
er hatte seine Leidenschaft für Karen vor langer Zeit verloren. Was er nicht ertragen konnte, war der Gedanke, dass dieser überschwängliche Armleuchter sich mit Jonah anfreundete. Jonah kam mit dem schnurlosen Telefon in der Hand zur 12
Tür. Dort blieb er abrupt stehen, vermutlich weil er durch die besorgten Mienen seiner Eltern verwirrt war. Dann hielt er David das Telefon hin. »Es ist für dich, Dad.« Karen machte ein langes Gesicht. Sie sah enttäuscht aus. »Das ist merkwürdig. Warum sollte dich irgendjemand hier anrufen. Hat er deine neue Nummer nicht?« Jonah zuckte mit den Achseln. »Der Mann am Telefon meinte, er wäre bei der Polizei.« David saß auf dem Rücksitz eines Taxis, das zum St. Luke's Hospital flitzte. Es wurde allmählich dunkel, und erwartungsvolle Paare reihten sich vor den Restaurants und Bars auf der Amsterdam Avenue in die Schlange ein. Während das Taxi durch den Verkehr jagte, an den langsamen Bussen und Lieferwagen vorbei, starrte David auf die Neonschilder über den Restaurants, deren grelle orangefarbene Buchstaben aufblitzten und hinter ihm verschwanden. Angegriffen, hatte der Police Detective gesagt. Professor Kleinman war in seinem Apartment an der 127th Street angegriffen worden. Jetzt lag er in der Notaufnahme des St. Luke's und befand sich in kritischem Zustand. Und er hatte nach David Swift gefragt. Hatte den Sanitätern eine Telefonnummer zugeflüstert. Sie machen besser schnell, hatte der Detective gesagt. Und auf Davids Frage: »Warum? Was ist denn mit ihm los?«, hatte der Detective geantwortet: »Machen Sie einfach schnell.« David wand sich vor Schuldgefühlen auf seinem Sitz. Er hatte Professor Kleinman seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen. Der alte Mann war seit seiner Emeritierung vom Physikalischen Institut der Columbia zu einem Einsiedler geworden. Wohnte in einem winzigen Apartment am Rand von West Harlem und gab all sein Geld an Israel. Keine Frau, keine Kinder. Die Physik war sein Leben gewesen. 12
Vor zwanzig Jahren, als David sein erstes Examen hinter sich hatte, war Kleinman sein Mentor gewesen. David hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Er war weder unnahbar noch streng gewesen und hatte seine Vorlesungen über die Quantentheorie mit jiddischen Vokabeln gewürzt. Einmal pro Woche ging David in Kleinmans Büro, um dort von ihm in die Geheimnisse der Wellenfunktionen und der virtuellen Partikeln eingeweiht zu werden. Leider reichten all die geduldigen Erklärungen nicht aus, und nach zwei frustrierenden Jahren musste David zugeben, dass der Stoff über seinen Horizont ging. Er war einfach nicht klug genug, um Physiker zu werden. Also brach er das
Doktorandenstudium in Physik ab, wechselte zu dem Studienfach, das ihm am zweitbesten gefiel, und schrieb eine Dissertation in Wissenschaftsgeschichte. Kleinman war enttäuscht, aber voller Verständnis. Trotz Davids Schwächen in Physik hatte der alte Mann Gefallen an ihm gefunden. Sie ließen während der nächsten zehn Jahre die Verbindung nicht abreißen, und als David mit den Recherchen für sein Buch begann - eine Untersuchung über Albert Einsteins Zusammenarbeit mit seinen verschiedenen Assistenten -, steuerte Kleinman seine persönlichen Erinnerungen an den Mann bei, den er Herr Doktor nannte. Das Buch Auf den Schultern von Riesen war ungeheuer erfolgreich und begründete Davids Reputation. Er war inzwischen ordentlicher Professor für Wissenschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Columbia. Aber David wusste, das hatte nicht viel zu bedeuten. Verglichen mit einem Genie wie Kleinman hatte er nichts zustande gebracht. Das Taxi kam quietschend vor dem Eingang zur Unfallstation des St. Luke's zum Stehen. Nachdem David den Fahrer bezahlt hatte, eilte er durch die automatische Glastür und erspähte sofort ein Trio von Officers des New York Police Department, die neben dem Aufnahmeschalter standen. Zwei 13
von ihnen trugen Uniform: ein Sergeant mittleren Alters mit einem vorstehenden Bauch und ein hochgewachsener, dünner Grünschnabel, der so aussah, als hätte er gerade die Highschool verlassen. Der dritte war ein Detective in Zivil, ein gut aussehender Latino in einem ordentlich gebügelten Anzug. Das ist der Mann, der mich angerufen hat, dachte David. Er erinnerte sich an den Namen des Detective: Rodriguez. Mit klopfendem Herzen näherte sich David den Polizisten. »Entschuldigung, ich bin David Swift. Sind Sie Detective Rodriguez?« Der Detective nickte ernst. Die beiden Streifenpolizisten machten jedoch einen amüsierten Eindruck. Der dicke Sergeant lächelte David an. »Hey, haben Sie einen Waffenschein für das Ding?« Er zeigte auf den Super Soaker. Vor lauter Aufregung hatte David völlig vergessen, dass er immer noch Jonahs Wasserpistole in der Hand hielt. Rodriguez schaute den Sergeant stirnrunzelnd an. Er war ganz bei der Sache. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mr. Swift. Sind Sie mit Mr. Kleinman verwandt?« »Nein, nein, ich bin nur mit ihm befreundet. Tatsächlich habe ich früher mal bei ihm studiert.« Der Detective schien verwirrt zu sein. »Er war Ihr Lehrer?« »Ja, an der Columbia. Wie geht es ihm? Ist er schwer verletzt?« Rodriguez legte David eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie bitte mit uns. Er ist bei Bewusstsein, antwortet aber nicht auf unsere Fragen. Er besteht darauf, mit Ihnen zu reden.«
Der Detective führte David durch einen Flur, während die beiden Streifenpolizisten hinter ihnen her gingen. Sie kamen an zwei Krankenschwestern vorbei, die sie ernst ansahen. Das 14
war kein gutes Zeichen. »Was ist denn passiert?«, fragte David. »Sie sagten, er sei angegriffen worden?« »Wir wurden von einem Einbruchdiebstahl benachrichtigt«, sagte Rodriguez emotionslos. »Jemand von der anderen Straßenseite hat gesehen, wie ein Mann von der Feuertreppe aus in das Apartment eindrang. Als die Polizisten eintrafen, fanden sie Mr. Kleinman mit schweren Verletzungen im Badezimmer. Das ist alles, was wir im Moment wissen.« »Was meinen Sie mit schweren Verletzungen?« Der Detective starrte nach vorn. »Derjenige, der das getan hat, muss ein abartiger Typ gewesen sein. Mr. Kleinman hat Verbrennungen dritten Grades im Gesicht, auf der Brust und an den Genitalien. Außerdem hat er einen kollabierten Lungenflügel, und einige andere Organe sind ebenfalls geschädigt. Die Ärzte sagen, sein Herz sei inzwischen zu schwach. Es tut mir sehr leid, Mr. Swift.« Davids Kehle zog sich zusammen. »Kann er nicht operiert werden?« Rodriguez schüttelte den Kopf. »Das würde er nicht überleben.« »Verdammt noch mal«, murmelte David. Er empfand mehr Zorn als Trauer. Bei dem Gedanken, dass Dr. Hans Walther Kleinman, dieser freundliche und hochintelligente Mann, von irgendeinem Sadisten zusammengeschlagen worden war, ballte er die Hände zu Fäusten. Sie kamen zu einem Raum, der als T RAUMAZENTRUM gekennzeichnet war. Durch den Eingang sah David zwei weitere Schwestern in grüner OP-Kleidung neben einem Bett stehen, das von medizinischen Apparaten umgeben war - ein Herzmonitor, ein mobiler Notfallwagen, ein Defibrillator, ein Infusionsständer. Vom Flur aus konnte David nicht sehen, wer in dem Bett lag. Er wollte gerade den Raum betreten, als Detective Rodriguez ihn am Arm packte. 1 »Ich weiß, das wird schwierig werden, Mr. Swift, aber wir 14 brauchen Ihre Hilfe. Ich möchte, dass Sie Mr. Kleinman fragen, ob er sich an irgendetwas im Zusammenhang mit dem Angriff auf ihn erinnert. Die Sanitäter haben ausgesagt, dass er immer wieder zwei Namen genannt hat, während er in dem Krankenwagen war.« Rodriguez blickte über seine Schulter auf den jungen Polizisten. »Wie lauteten diese Namen noch mal?« Der junge Cop blätterte durch die Seiten in seinem Notizbuch. »Ahm, einen Moment. Es waren deutsche Namen, daran erinnere ich mich. Okay, hier sind sie. Einhard Liggin und Feld Terry.« Rodriguez schaute David gespannt an. »Kennen Sie einen der beiden? Waren sie Kollegen von Mr. Kleinman?«
David wiederholte die Namen stumm: Einhard Liggin, Feld Terry. Sie waren selbst für Deutsche ungewöhnlich. Und dann begriff er. »Es sind keine Namen«, sagte er. »Es sind zwei deutsche Wörter. Einheitliche Feldtheorie.« Rodriguez starrte ihn bloß an. »Und was zum Teufel ist das?« David beschloss, ihm dieselbe Erklärung zu geben, die er Jonah gegeben hätte. »Das ist eine Theorie, die alle Naturkräfte erklären würde. Alles von der Schwerkraft über die Elektrizität bis zur Kernkraft. Es ist der Heilige Gral der Physik. Seit Jahrzehnten arbeiten Forscher daran, aber niemand hat bis jetzt die Theorie entwickelt.« Der dicke Sergeant kicherte. »Na, da haben wir ja unseren Übeltäter. Die Einheitliche Feldtheorie. Soll ich einen Rundruf an alle Streifenwagen rausgeben?« Rodriguez schaute den Sergeant wieder mit gerunzelter Stirn an, bevor er sich erneut an David wandte. »Fragen Sie Mr. Kleinman nur, woran er sich erinnert. Alles wäre hilfreich, so wenig es auch sein mag.« David sagte: »Okay, ich will es versuchen«, aber er war 15
jetzt ein wenig verblüfft. Warum sollte Kleinman ausgerechnet diese beiden Wörter wiederholen? Einheitliche Feldtheorie war ein etwas altmodischer Ausdruck. Die meisten Physiker bezeichneten es mittlerweile als Stringtheorie oder JVI-Theorie oder Quantenschwerkraft, wie die letzten Ansätze, an das Problem heranzugehen, genannt worden waren. Erschwerend kam hinzu, dass Kleinman keinen dieser Ansätze in irgendeiner Weise befürwortet hatte. Seine Physikerkollegen gingen völlig falsch an die Sache heran, pflegte er zu sagen. Anstatt zu versuchen, die Funktionsweise des Universums zu verstehen, bauten sie knallige Türme aus mathematischen Formeln. Rodriguez sah ihn ungeduldig an. Er nahm David den Super Soaker aus der Hand und schob ihn in Richtung des Traumazentrums. »Sie gehen jetzt besser rein. Er hat vielleicht nicht mehr lange.« David nickte und betrat den Raum. Als er sich dem Bett näherte, zogen sich die beiden Krankenschwestern taktvoll zurück und konzentrierten sich auf den Herzmonitor. Als Erstes bemerkte er die Verbände, das dicke Mullpolster, das man mit einem Pflaster auf der rechten Seite von Kleinmans Gesicht befestigt hatte, und die blutgetränkten Bandagen auf seiner Brust. Die Verbände bedeckten den größten Teil von Kleinmans Körper, und trotzdem verhüllten sie nicht all seine Verletzungen. David konnte Stellen sehen, wo das Blut unter dem weißen Haar des alten Mannes getrocknet war, und purpurfarbene Flecken in Form einer Hand auf beiden Schultern. Aber die dunkelblaue Färbung seiner Haut war das Schlimmste. David kannte sich in Physiologie gut genug aus, um zu wissen, was das bedeutete: Kleinmans Herz konnte das mit Sauerstoff angereicherte Blut aus
seiner Lunge nicht mehr in die Außenbereiche seines Körpers pumpen. Die Arzte hatten ihm eine Sauerstoffmaske vor das Gesicht geschnallt und ihn in eine sitzende Position gebracht, damit 16
die Flüssigkeit aus seiner Lunge abgeleitet wurde, aber diese Maßnahmen zeigten keine große Wirkung. Der alte Mann sah schon wie eine Leiche aus. Nach ein paar Sekunden begann sich der Leichnam allerdings zu bewegen. Kleinman schlug die Augen auf und hob langsam die linke Hand zum Gesicht. Mit gekrümmten Fingern klopfte er gegen die durchsichtige Plastikmaske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte. David beugte sich über das Bett. »Dr. Kleinman? Ich bin's, David. Können Sie mich verstehen?« Obwohl die Augen des Professors wässrig und stumpf waren, heftete sich sein Blick auf David. Kleinman klopfte wieder gegen die Sauerstoffmaske, und dann griff er nach dem Beatmungsbeutel, der darunter hing, sich füllte und leerte wie ein dritter Lungenflügel. Nachdem er einen Moment daran herumgefummelt hatte, bekam er das Ding zu packen und begann daran zu ziehen. David erschrak. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Bekommen Sie keine Luft?« Kleinman zog fester an dem Beutel. Seine Lippen hinter der Plastikmaske bewegten sich. David beugte sich näher zu ihm hinab. »Was ist los? Was ist nicht in Ordnung?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. Ein Schweißtropfen lief ihm die Stirn hinunter. »Sehen Sie es nicht?«, flüsterte er hinter der Maske. »Sehen Sie es nicht?« »Was soll ich sehen?« Kleinman ließ den Beutel los und hielt die Hand hoch, drehte sie langsam in die eine und die andere Richtung, als würde er einen Pokal herumzeigen. »So wunderschön«, flüsterte er. David hörte ein feuchtes Rasseln in Kleinmans Brust. Das war die Flüssigkeit, die sich in seiner Lunge staute. »Wissen Sie, wo Sie sind, Professor? Sie sind im Krankenhaus.« 16
Kleinman starrte weiter auf seine Hand oder, genauer gesagt, auf den leeren Raum, den seine Hand umschloss. »Ja, ja«, keuchte er. »Jemand hat Sie in Ihrem Apartment überfallen. Die Polizei möchte wissen, ob Sie sich an irgendetwas erinnern.« Der alte Mann hustete, versprühte rosafarbenen Speichel auf die Innenseite seiner Maske. Aber seine Augen hefteten sich weiterhin auf den unsichtbaren Pokal in seiner Hand. »Er hatte recht. Mein Gott, er hatte recht!« David biss sich auf die Unterlippe. Er wusste jetzt ohne jeden Zweifel, dass Kleinman im Sterben lag, weil er schon einmal einen ähnlichen Kampf miterlebt hatte. Vor zehn Jahren hatte er neben dem Krankenbett seines Vaters gestanden und zugesehen, wie er an Leberkrebs starb. Davids Vater John Swift war
Busfahrer und ein ehemaliger Boxer gewesen, der seine Familie verlassen und sich zu Tode getrunken hatte. Am Ende hatte er nicht mal seinen Sohn erkannt. Stattdessen hatte er unter der Bettdecke um sich geschlagen und die Namen der ehemals berühmten Weltergewichtsboxer verflucht, die ihn dreißig Jahre zuvor bewusstlos geschlagen hatten. David ergriff Kleinmans Hand. Sie war weich und schlaff und sehr kalt. »Professor, hören Sie mir bitte zu. Das ist wichtig.« Die Augen des alten Mannes hefteten sich wieder auf ihn. Sie waren der einzige Teil von ihm, der noch am Leben zu sein schien. »Alle haben gedacht ... dass er versagt hätte. Aber er hatte Erfolg. Er hatte Erfolg!« Kleinman sprach abgehackt, machte zwischendurch flache Atemzüge. »Aber er konnte ... es nicht veröffentlichen. Der Doktor sah ... die Gefahr. Viel schlimmer ... als eine Bombe. Zerstörer ... der Welten.« David starrte den alten Mann an. Der Doktor? Zerstörer der Welten? Er packte Kleinmans Hand ein bisschen fester. 17
»Versuchen Sie bei mir zu bleiben, okay? Sie müssen mir von diesem Mann erzählen, der Sie verletzt hat. Erinnern Sie sich, wie er aussah?« Das Gesicht des Professors war jetzt in Schweiß gebadet. »Das war der Grund ... weshalb er gekommen ist. Das war der Grund ... warum er mich gefoltert hat.« »Gefoltert?« David war erschüttert. »Ja, ja. Er wollte ... dass ich es aufschreibe. Aber das hab ich nicht getan. Ich habe es nicht getan!« »Was sollten Sie aufschreiben? Was wollte er von Ihnen?« Kleinman lächelte hinter der Maske. »Die Einheitliche Feldtheorie«, flüsterte er. »Das letzte Geschenk ... des Doktors.« David war verblüfft. Die einfachste Erklärung war, dass der Professor halluzinierte. Der Schock des Überfalls hatte Erinnerungen aus der Zeit vor einem halben Jahrhundert an die Oberfläche geholt, als Hans Kleinman ein junger Physiker am Institute for Advanced Study in Princeton gewesen war, den man als Assistenten des legendären, aber kränkelnden Albert Einstein eingestellt hatte. David hatte in seinem Buch darüber geschrieben: der nicht enden wollende Strom von Berechnungen auf der Schiefertafel in Einsteins Arbeitszimmer, die lange vergebliche Suche nach einer Feldgleichung, die sowohl die Schwerkraft wie den Elektromagnetismus in sich fassen würde. Es war durchaus vorstellbar, dass Kleinmans Gedanken in seinem letzten Delirium sich um jene Zeit drehten. Andererseits machte der alte Mann im Augenblick nicht den Eindruck, als befände er sich im Delirium. Sein Atem ging pfeifend, und er schwitzte stark, aber sein Gesicht war ruhig. »Es tut mir leid, David«, krächzte er. »Tut mir leid, dass ich ... Ihnen nie davon erzählt habe. Der Doktor ... sah die Gefahr. Aber er konnte nicht ... er konnte nicht ...« Klein
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man hustete wieder, und sein ganzer Körper erschauerte. »Er konnte seine ... Notizbücher nicht verbrennen. Die Theorie ... war einfach zu schön.« Er hustete noch einmal heftig, und dann kippte er plötzlich vornüber. Eine der Schwestern lief zu der anderen Seite von Kleinmans Bett. Sie packte den Professor an den mit blauen Flecken bedeckten Schultern und richtete ihn wieder auf. David, der immer noch Kleinmans Hand hielt, bemerkte, dass seine Sauerstoffmaske mit rosafarbenem Schaum angefüllt war. Die Schwester nahm ihm schnell die Maske ab und säuberte sie von innen. Aber als sie versuchte, sie ihm wieder aufzusetzen, schüttelte Kleinman den Kopf. Sie packte ihn im Nacken, um seinen Kopf stillzuhalten, aber er schlug die Maske mit seiner freien Hand beiseite. »Nein!«, krächzte er. »Hören Sie auf! Das reicht!« Die Schwester funkelte ihn wütend an und wandte sich an ihre Kollegin, die immer noch auf den Herzmonitor starrte. »Hol den Arzt«, befahl sie. »Wir müssen intubieren.« Kleinman lehnte sich gegen David, der ihm einen Arm um die Schulter legte, damit er nicht umkippte. Das Gurgeln in seiner Brust schien lauter geworden zu sein, und seine Blicke schössen wie wild hin und her. »Ich sterbe«, krächzte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Davids Augen begannen zu brennen. »Ist schon okay, Professor. Mit Ihnen wird alles wieder ...« Kleinman hob die Hand und packte den Kragen von Davids Hemd. »Hören Sie ... David. Sie müssen ... vorsichtig sein. Ihr Artikel ... erinnern Sie sich? Der, an dem wir beide ... gearbeitet haben. Erinnern Sie sich?« David brauchte einen Moment, bis er begriff, worauf sich ' der Professor bezog. »Sie meinen, als ich bei Ihnen studierte? >Allgemeine Relativität in zweidimensionaler Raumzeit? Der Artikel? « Kleinman nickte. »Ja, ja ... Sie waren nahe dran ... sehr 18
nahe dran ... an der Wahrheit. Sobald ich weg bin ... sind sie vielleicht hinter Ihnen her.« David spürte ein unangenehmes Kribbeln in seiner Magengegend. »Von wem reden Sie?« Kleinmans Griff an Davids Hemdkragen wurde fester. »Ich habe ... einen Schlüssel. Der Doktor hat mir ... dieses Geschenk gemacht. Und jetzt schenke ich es ... Ihnen. Bewahren Sie es ... gut auf. Sicher. Lassen Sie es ... ihnen nicht... in die Hände fallen. Verstehen Sie? Niemandem!« »Ein Schlüssel? Was ...« »Keine Zeit ... keine Zeit! Hören Sie einfach zu!« Mit überraschender Kraft zog Kleinman David zu sich hinunter. Die feuchten Lippen des alten Mannes streiften sein Ohr. »Vergessen Sie die Zahlen nicht. Vier, null ... zwei, sechs ... drei, sechs ... sieben, neun ... fünf, sechs ... vier, vier ... sieben, acht, null, null.«
Sobald er die letzte Ziffer ausgesprochen hatte, ließ der Professor Davids Hemdkragen los und sackte gegen seine Brust. »Wiederholen Sie jetzt... die Zahlenfolge.« Trotz seiner Verwirrung tat David, was ihm aufgetragen worden war. Er legte seine Lippen an Kleinmans Ohr und wiederholte die Zahlenfolge. Obwohl David nie in der Lage gewesen war, die Gleichungen der Quantenphysik zu begreifen, besaß er die Fähigkeit, lange Zahlenketten auswendig zu lernen. Als er fertig war, nickte der alte Mann. »Guter Junge«, murmelte er. »Guter Junge.« Die Schwester stand neben dem Notfallwagen und bereitete die Intubation vor. David beobachtete, wie sie ein silbernes, sichelförmiges Instrument und eine lange Plastikröhre ergriff, die in regelmäßigen Abständen mit schwarzen Markierungen versehen war. Dieses Ding werden sie dem Professor in die Kehle schieben, dachte er. Und dann spürte David etwas Warmes an seinem Bauch. Er schaute hinunter und sah, wie sich ein Rinnsal rosafarbener Flüssigkeit aus Klein 19
mans Mund ergoss und ihm über das Kinn lief. Die Augen des alten Mannes waren geschlossen, und aus seiner Brust kam kein gurgelndes Geräusch mehr. Als der Chefarzt der Unfallstation schließlich eintraf, warf er David augenblicklich aus dem Traumazentrum hinaus und ließ Verstärkung anrücken. Kurz darauf standen ein halbes Dutzend Arzte und Schwestern an Kleinmans Bett und versuchten, den Professor wiederzubeleben. Aber David wusste, dass das hoffnungslos war. Hans Kleinman war tot. Rodriguez und die beiden Streifenpolizisten traten ihm in den Weg, als er durch den Flur schlurfte. Der Detective, der immer noch den Super Soaker in der Hand hielt, bedachte David mit einem mitfühlenden Blick. Er gab ihm die Wasserpistole zurück. »Wie ist es gelaufen, Mr. Swift? Hat er Ihnen irgendwas gesagt?« David schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Er verlor immer wieder das Bewusstsein. Es hat nicht viel Sinn ergeben.« »Nun ja, was hat er denn gesagt? War es ein Raubüberfall?« »Nein. Er hat gesagt, er sei gefoltert worden.« »Gefoltert? Warum?« Bevor David antworten konnte, rief jemand durch den Flur: »Hey, Sie da! Bleiben Sie mal stehen!« Es war ein hochgewachsener Mann mit einem gesunden Teint, dickem Hals und Bürstenhaarschnitt, der einen grauen Anzug trug. Er wurde von zwei weiteren ehemaligen Linebackern flankiert, die ihm sehr ähnlich sahen. Die drei kamen ziemlich schnell durch den Flur auf sie zu. Als sie bei den, Cops ankamen, zog der Mann in der Mitte seinen Ausweis aus dem Jackett und klappte das Abzeichen auf. »Agent Hawley, FBI«, verkündete er. »Arbeiten Sie an dem Fall Kleinman?« Der dicke Sergeant und der junge Streifenpolizist machten
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einen Schritt nach vorn, sodass sie auf einer Höhe mit Rodriguez standen. Einhellig warfen sie den Bundesagenten höhnische Blicke zu. »Ja, das ist unser Fall«, sagte Rodriguez. Agent Hawley gab einem seiner Gefährten ein Handzeichen, der sich daraufhin auf den Weg zum Traumazentrum machte. Dann griff Hawley wieder in die Innentasche seines Jacketts und zog einen zusammengefalteten Brief heraus. »Wir übernehmen den Fall jetzt«, sagte er und reichte Rodriguez den Brief. »Hier ist die Bevollmächtigung vom Büro des Generalbundesanwalts.« Rodriguez faltete den Brief auseinander. Während er ihn las, verfinsterte sich sein Gesicht. »Das ist Blödsinn. Sie sind hier nicht zuständig.« Hawleys Gesicht blieb ausdruckslos. »Falls Sie sich beklagen möchten, können Sie das beim Generalbundesanwalt tun.« David musterte Agent Hawley, der nach links und rechts blickte, um den Flur zu inspizieren. Nach seinem Akzent zu urteilen, war er eindeutig nicht aus New York. Er hörte sich an wie ein Farmjunge aus Oklahoma, der sich sein Konversationsgeschick im Marine Corps angeeignet hatte. David fragte sich, warum dieser nüchterne FBI-Mann sich so für den Mord an einem emeritierten Physiker interessierte. Er spürte wieder das Kribbeln in seiner Magengegend. Als könne er Davids Unbehagen spüren, zeigte Agent Hawley auf ihn. »Wer ist das denn?«, fragte er Rodriguez. »Was hat er hier zu suchen?« Der Detective zuckte mit den Achseln. »Kleinman hat nach ihm gefragt. Er heißt David Swift. Sie haben gerade ihr Gespräch beendet, und er ...« »Verdammt noch mal! Sie haben diesen Kerl mit Kleinman reden lassen?« David runzelte die Stirn. Dieser Agent war ein echtes Arschloch. »Ich habe versucht zu helfen«, sagte er. »Falls 20
Sie mal einen Moment den Mund hielten, würde der Detective es Ihnen erklären.« Hawley wandte sich abrupt von Rodriguez ab. Mit zusammengekniffenen Augen machte er einen Schritt auf David zu. »Sind Sie Physiker, Mr. Swift?« Der Agent rückte ihm bedrohlich nahe, aber David blieb gelassen. »Nein, ich bin Historiker. Und es heißt Dr. Swift, wenn Sie nichts dagegen haben.« Während Hawley ihn durchdringend anstarrte, kehrte der Agent zurück, der ins Traumazentrum gegangen war. Er trat nahe an Hawley heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Den Bruchteil einer Sekunde lang verzerrten sich Hawleys Lippen zu einer Grimasse. Dann nahm sein Gesicht wieder die ausdruckslose und harte Miene an. »Kleinman ist tot, Mr. Swift. Das heißt, dass Sie mit uns kommen.« David hätte fast gelacht. »Mit Ihnen kommen? Ich glaube nicht.« Aber noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, war der dritte FBIMann hinter ihn geschlüpft, riss seine Arme nach hinten und legte ihm ein Paar Handschellen an. Der Super Soaker fiel klappernd zu Boden.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, schrie David. »Bin ich unter Arrest?« Hawley machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er packte Davids Arm unmittelbar über dem Ellbogen und drehte ihn um. Der Agent, der ihm die Handschellen angelegt hatte, hob den Super Soaker auf und hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt, als wäre es eine echte Waffe. Dann eskortierten alle drei FBI-Männer David durch den Flur, bewegten sich rasch an den bestürzten Ärzten und Schwestern vorbei. David warf über seine Schulter einen Blick auf Rodriguez und die Streifenpolizisten, aber die Cops standen nur da. Einer der Agenten ging vor und öffnete die Tür zu einem Treppenhaus. David war zu verstört, um zu protestieren. Als 21
sie die Treppe zum Notausgang hinuntereilten, erinnerte er sich an etwas, das Professor Kleinman vor ein paar Minuten gesagt hatte. Es war Teil eines berühmten Zitats von J. Robert Oppenheimer, ein anderer großer Physiker, der mit Einstein zusammengearbeitet hatte. Die Worte waren Oppenheimer durch den Kopf gegangen, als er Zeuge des ersten Atombombentests wurde. Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten. DREI
S
imon spielte auf dem Fahrersitz seines Mercedes Tetris, wobei er gleichzeitig
das elektronische Spiel auf seinem Mobiltelefon und den Eingang des St. Luke's Hospital im Auge behielt. Tetris war das perfekte Spiel für Situationen wie diese hier. Es bot ihm eine gewisse Unterhaltung, ohne ihn von seinem Job abzulenken. Indem er auf die Knöpfe seines Handys tippte, konnte Simon problemlos die Tetris-Blöcke an ihren Platz manövrieren. Dabei beobachtete er die Wagen und Taxis, die am Eingang zur Unfallstation vorfuhren. Entspannt und doch aufmerksam betrachtete er die Fahrzeuge auf der Amsterdam Avenue allmählich, als handele es sich um übergroße Tetris-Blöcke - Quadrate und TGlieder und Zickzacks und L-Formen -, die über die dunkler werdende Straße rollten. Es kommt nur auf die Flexibilität an, dachte Simon. Egal, welches Spiel man spielt, man muss bereit sein, die Strategie den veränderten Bedingungen anzupassen. Sieh doch nur, was heute Abend mit Hans Kleinman passiert ist. Zuerst hatte der Job ganz einfach ausgesehen, aber Kleinman wurde weich in der Birne, bevor Simon etwas Brauchbares aus ihm herauskitzeln konnte. Dann - als wenn das noch nicht gereicht hätte - kamen auch noch zwei Streifenwagen vor dem Mietshaus des Professors vorgefahren. Simon war überrascht gewesen, aber er geriet nicht in Panik - er passte einfach seine Strategie an. Zuerst entkam er der Polizei, indem er auf der Feuertreppe bis zum Dach kletterte und auf das Lagerhaus nebenan sprang. Dann stieg er in seinen Mercedes 39
und folgte dem Krankenwagen, der Kleinman ins St. Luke's brachte. Er hatte einen neuen Plan: Er wollte warten, bis die Polizisten die Unfallstation verließen, und dann - falls Kleinman noch am Leben war - noch mal probieren, die Einheitliche Feldtheorie aus ihm herauszukitzeln. Eigentlich bewunderte Simon den Professor. Er war ein zäher kleiner Mistkerl. Er erinnerte Simon an seinen alten Vorgesetzten in der Spetsnaz, Oberst Alexej Latypov. Alexej war fast drei Jahrzehnte lang Offizier in der Kommandotruppe der russischen Armee gewesen. Er hatte Simons Einheit schnell, klug und rücksichtslos durch die schlimmsten Jahre des Kriegs in Tschetschenien geführt und seinen Männern beigebracht, wie man die Aufständischen überlisten und niederkämpfen konnte. Und dann hatte ein Scharfschütze während eines Überfalls auf eines der Tschetschenenlager Alexej in den Kopf geschossen. Eine furchtbare Sache, aber nicht unerwartet. Simon musste an einen Ausspruch Alexejs denken: »Das Leben ist lauter Scheiße, und alles, was danach kommt, ist vermutlich schlimmer.« Die Tetris-Blöcke stapelten sich unten auf dem Display des Handys, wo sie einen gezackten Berg mit einem tiefen Loch links außen bildeten. Dann begann ein gerades I-Element seinen Abstieg. Simon verschob es an den linken Rand, und vier solide Reihen verschwanden mit einem von der Software erzeugten Seufzer. Sehr befriedigend. Als ob man mit einem Messer zustäche. Einen Augenblick später sah Simon einen schwarzen Chevrolet Suburban mit getönten Scheiben auf der Amsterdam Avenue herankommen. Der Wagen wurde langsamer, als er sich dem Krankenhaus näherte, und parkte neben der Laderampe. Drei große Männer in identischen grauen Anzügen sprangen heraus und marschierten geschlossen auf den Personaleingang des Krankenhauses zu, wo sie dem überraschten Sicherheitsbeamten ihre Abzeichen präsentierten. Ob22 wohl sie fast dreißig Meter entfernt waren, erkannte Simon die Männer an ihrem Gang: ehemalige Marines oder Rangers, eingeteilt zum Dienst im Hauptquartier, höchstwahrscheinlich beim FBI. Der amerikanische Geheimdienst war offensichtlich ebenfalls an Professor Kleinman interessiert. Das war die Erklärung dafür, warum die Polizei so schnell in seinem Apartment aufgetaucht war. Die Bundesagenten mussten ein paar Abhörgeräte in Kleinmans Wohnung versteckt haben, die vermutlich Simons Unterhaltung mit dem Professor weitergeleitet hatten. Die Agenten gingen in das Krankenhaus, vermutlich um Kleinman zu befragen, bevor der alte Mann das Zeitliche segnete. Simon war nicht glücklich über diese Entwicklung, aber er war auch nicht besonders beunruhigt. Obwohl er einen gesunden Respekt vor amerikanischen Agenten hatte -sie waren gut ausgebildet und sehr diszipliniert -, wusste er, dass er alle drei ohne große Schwierigkeiten ausschalten konnte. Simon hatte ihnen etwas voraus: Weil er selbstständig
arbeitete, waren seine Instinkte schärfer. Das war einer der beiden großen Vorteile eines Freiberuflers. Der andere Vorteil war das Geld. Seit er die Spetsnaz verlassen hatte, konnte Simon an einem Tag mehr verdienen als ein ganzer Trupp Fallschirmjäger in einem Jahr. Der Trick bestand darin, Klienten zu finden, die reich und verzweifelt waren. Eine überraschende Zahl von Menschen, Unternehmen und Regierungen fiel in diese Kategorie. Manchen ging es dabei um Macht, anderen um Respekt. Manche wollten Raketen, andere Plutonium. Wie auch immer der Auftrag lautete, Simon hatte keine Skrupel. Für ihn lief alles aufs Gleiche hinaus. Während er darauf wartete, dass die FBI-Agenten wieder zurückkehrten, dachte Simon darüber nach, ob er Kontakt zu seinem derzeitigen Klienten aufnehmen sollte. Seine Mission hatte einen etwas anderen Verlauf genommen als Ursprünglich geplant, und seine Klienten wurden normalerweise gern über solche Änderungen informiert. Aber am Ende kam er zu dem Schluss, dass es nicht nötig sei. Dieser Klient war vielleicht verzweifelter als jeder, mit dem er bis jetzt zu tun gehabt hatte. Als der Mann ihn zum ersten Mal anrief, hatte Simon es für einen Scherz gehalten; es kam ihm lächerlich vor, dass jemand gutes Geld für eine wissenschaftliche Theorie ausgeben wollte. Aber als Simon mehr über den Auftrag erfuhr, begann er zu verstehen, welche Anwendungsmöglichkeiten diese Theorie hatte, in militärischer und anderer Hinsicht. Und es dämmerte ihm, dass dieser besondere Job ihm etwas unendlich viel Besseres als Geld zu bieten hatte. Bevor er damit gerechnet hatte, tauchten die drei Agenten aus einem der Notausgänge des Krankenhauses auf. Sie hatten einen Gefangenen im Schlepptau. Er war ein bisschen kleiner als die FBI-Männer, aber schlank und athletisch, und er trug Freizeitschuhe, eine Jeans und eins dieser bedruckten TShirts, von denen Amerikaner so angetan sind. Seine Hände waren mit Handschellen hinter seinem Rücken gefesselt, und er drehte den Kopf wie ein verschreckter Vogel in die eine und die andere Richtung, während zwei der Agenten ihn Richtung Fahrzeug schoben. Der dritte Agent trug eine grellbunte Spielzeugpistole. Simon lachte in sich hinein -testete das FBI inzwischen Wasserpistolen im Feldversuch? Die ganze Szene war ziemlich seltsam, und einen Moment lang fragte Simon sich, ob diese Verhaftung überhaupt etwas mit Kleinman zu tun hatte. Vielleicht war der Mann, der da abgeführt wurde, nur ein exzentrischer New Yorker, der die Arzte mit seinem Super Soaker bedroht hatte. Aber unmittelbar bevor die Agenten ihren Gefangenen in den Wagen schoben, zogen sie ihm eine schwarze Kapuze über den Kopf und zogen sie unter seinem Kinn zusammen. Okay, dachte Simon. Dieser Mann ist nicht irgendein Verrückter. Er ist jemand, den die Agenten verhören möchten. 23
Der Fahrer des Suburban schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los. Simon rutschte tief in seinen Sitz hinunter, als der Wagen an ihm vorbeifuhr. Er würde den FBI-Männern zwei Häuserblocks Vorsprung einräumen, bevor er ihnen
folgte. Es hatte keinen Sinn, weiter vor dem Krankenhaus abzuwarten - der Umstand, dass die Agenten ohne Kleinman abgefahren waren, war ein deutliches Zeichen dafür, dass der alte Mann tot war. Glücklicherweise schien der Professor jedoch einige seiner Geheimnisse einem jüngeren Kollegen anvertraut zu haben. Simon drückte auf den Aus-Knopf seines Handys, um das Tetris-Spiel zu beenden, aber bevor das Gerät sich abschaltete, leuchtete ein Bild auf dem Display auf, ein Foto, das immer dann erschien, wenn er das Handy ein- oder ausschaltete. Im Grunde war es eine Dummheit, ein privates Foto auf einem Telefon zu speichern, das er für geschäftliche Zwecke benutzte, aber er hatte es trotzdem getan. Er wollte ihre Gesichter nicht vergessen. Sergej mit seinem seidenweichen Haar und den strahlend blauen Augen. Larissa mit ihren blonden Locken, nur ein paar Wochen vor ihrem vierten Geburtstag. Der Bildschirm wurde schwarz. Simon steckte das Handy wieder in seine Tasche und startete den Mercedes. Es war eine Frauenstimme mit einem starken Südstaatenakzent. »Okay, Hawley, Sie können ihm das Ding jetzt abnehmen.« David schnappte nach Luft, als ihm die Kapuze vom Kopf gezogen wurde. Ihm war übel, weil er so lange durch den schwarzen Stoff geatmet hatte, der von seinem eigenen Schweiß feucht geworden war. Anfangs musste er blinzeln, und die Augen, die sich an das grelle Neonlicht gewöhnen mussten, brannten ihm. Er saß an einem grauen Tisch in einem kahlen, fensterlosen Raum. Neben seinem Stuhl stand Agent Hawley, der 24
die schwarze Kapuze zusammenrollte und in seine Hosentasche steckte. Hawleys Partner untersuchten beide den Super Soaker, öffneten methodisch die Tanks der Wasserpistole und schauten in jedes Loch. Und auf der anderen Seite des Tischs saß jemand, den er noch nicht kannte, eine breitschultrige, vollbusige Frau um die sechzig, die einen beeindruckenden Helm aus platinblondem Haar trug. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Mr. Swift?«, fragte sie. »Sie sehen ein bisschen zerzaust aus.« Mit David war nichts in Ordnung. Er war verängstigt und desorientiert und trug immer noch Handschellen. Und jetzt war er zu allem Überfluss noch ernsthaft verwirrt. Diese Frau sah nicht wie eine FBI-Agentin aus. In ihrem knallroten Jackett und der locker sitzenden weißen Bluse sah sie wie eine Großmutter aus, die sich für ein Bingospiel herausgeputzt hatte. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Ich bin Lucille, Schätzchen, Lucille Parker. Aber Sie können mich Lucy nennen. Das tun sowieso alle.« Sie griff nach einem Wasserkrug und zwei Pappbechern, die auf dem Tisch standen. »Hawley, nehmen Sie Mr. Swift doch die Handschellen ab.« Agent Hawley schloss widerwillig die Handschellen auf. David rieb seine schmerzenden Handgelenke und musterte Lucille, die Wasser in die Pappbecher goss. Ihr Lippenstift hatte die gleiche Farbe wie ihr Jackett. Ihr Gesicht war ange-
nehm gealtert, sie hatte viele Lachfältchen um die Augen, und an einer Perlenkette um ihren Hals hing eine Lesebrille. Aber hinter ihrem linken Ohr wand sich auch ein dünnes Kabel, und sie trug denselben Kopfhörer, den alle Agenten der Bundesregierung benutzten. »Bin ich festgenommen worden?«, fragte David. »Falls ja, will ich mit einem Anwalt sprechen.« Lucille lächelte. »Nein, Sie sind nicht festgenommen. Tut mir leid, wenn wir diesen Eindruck bei Ihnen erweckt haben.« 25
»Eindruck? Ihre Agenten haben mir Handschellen verpasst und mir einen gottverdammten Beutel über den Kopf gezogen!« »Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären, Schätzchen. Dieses Gebäude wird von uns als sicheres Haus bezeichnet. Und wir haben ein Standardverfahren, mit dem wir Leute hier reinbringen. Wir können den genauen Standort nicht preisgeben, und deshalb müssen wir die Kapuze verwenden.« David stand auf. »Na ja, wenn ich nicht festgenommen wurde, kann ich ja jetzt gehen, stimmt's?« Agent Hawley packte David an der Schulter. Lucille schüttelte den Kopf, aber sie lächelte noch immer. »Es ist leider ein bisschen komplizierter.« Sie schob ihm einen der Pappbecher zu. »Setzen Sie sich, Mr. Swift. Nehmen Sie einen Schluck Wasser.« Die Hand auf Davids Schulter wurde schwerer. Er verstand den Hinweis und setzte sich. »Es heißt Dr. Swift«, sagte er. »Und ich bin nicht durstig.« »Möchten Sie vielleicht etwas Stärkeres?« Sie zwinkerte ihm auf eine beunruhigend kokette Weise zu, griff in ihr Jackett und zog einen silbernen Flachmann aus der Innentasche. »Das hier ist der echte weiße Blitz aus Texas, neunzig Prozent. Ein Freund von mir unten in Lubbock hat eine Brennerei. Er hat eine Spezialerlaubnis vom ATF, damit alles seine Richtigkeit hat. Möchten Sie ein Schlückchen probieren?« »Nein, danke.« »Ah ja, richtig, ich vergaß.« Sie steckte den Flachmann in ihr Jackett zurück. »Sie rühren das Zeug ja nie an, nicht wahr? Wegen Ihrem Daddy, stimmt's?« David wurde steif auf seinem Stuhl. Einige seiner Freunde und Kollegen wussten, dass er vor langer Zeit dem Trinken abgeschworen hatte, aber nur seine Exfrau und ein paar seiner ältesten Kumpel wussten, warum. Und jetzt hatte Lucille es ganz beiläufig erwähnt. »Was ist hier los?«, wollte er wissen. »Bleiben Sie locker, Schätzchen. Es steht in Ihrer Akte.« Sie griff in eine sperrige Handtasche, die an der Rückenlehne ihres Stuhls hing, und zog zwei Aktenordner heraus, einen dicken und einen dünnen. Sie setzte ihre Lesebrille auf und öffnete den dünnen Ordner. »Mal sehen, Familiengeschichte. Name des Vaters: John Swift. Profiboxer von 1968 bis 1974. Spitzname: The Two-fisted Terror. Hey, der ist gut.«
David sagte nichts dazu. Im Ring war sein Vater diesem Spitznamen nie gerecht geworden. Die einzigen Menschen, die er erfolgreich terrorisiert hatte, waren die Mitglieder seiner Familie gewesen. Lucille überflog die Seite, bis sie unten ankam. »Gesamtbilanz: vier Kämpfe gewonnen, sechzehn verloren. Wurde 1975 als Busfahrer für die Metropolitan Transit Authority eingestellt. 1979 entlassen nach einer Verhaftung wegen Trunkenheit am Steuer. 1981 wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Zuchthaus in Ossining verurteilt.« Sie schloss den Ordner und schaute David in die Augen. »Das tut mir leid. Es muss schrecklich gewesen sein.« Clever, dachte er. Es war vermutlich eine Standardtechnik, die das FBI an seiner Academy lehrte. Dem Gegenüber zunächst zeigen, dass man seine Geheimnisse bereits kannte. Und dann zum entscheidenden Schlag ausholen. »Keine schlechte Leistung Ihrer Forschungsabteilung«, bemerkte David. »Haben Sie den ganzen Kram innerhalb der letzten halben Stunde ausgegraben?« »Nein, wir haben vor ein paar Tagen Ihre Akte angelegt. Wir haben Material zu jedem gesammelt, der mal mit Kleinman zusammengearbeitet hat, und Sie waren als Mitverfasser eines seiner Referate aufgeführt.« Sie nahm den dicken Aktenordner in die Hand. »Das ist die Akte für den verstor 26
benen Professor persönlich.« Sie schlug den Ordner auf und schüttelte den Kopf, während sie ihn durchblätterte. »Ich kann Ihnen sagen, einiges von dieser Physik hier ist ziemlich happig. Ich meine, was zum Teufel ist eigentlich dieser Kleinman-Gupta-Effekt? Er wird ein halbes Dutzend Mal hier drin erwähnt, aber ich werde einfach nicht schlau daraus.« David musterte sie eingehend. Er konnte nicht sagen, ob sie wirklich keine Ahnung hatte, oder ob sie sich dumm stellte, um ihn zum Reden zu bringen. »Das ist ein Phänomen, zu dem es kommt, wenn bestimmte instabile Atome zerfallen. Dr. Kleinman entdeckte es 1965 zusammen mit seinem Kollegen Amil Gupta.« »Das ist doch die Ursache radioaktiver Strahlung, stimmt's? Wenn Atome zerfallen?« Er runzelte die Stirn. »Hören Sie, ich würde Ihnen das alles mit großem Vergnügen erklären, aber nicht hier. Bringen Sie mich in mein Büro, dann können wir uns unterhalten.« Lucille nahm die Lesebrille ab. »Ich kann verstehen, dass Sie es kaum erwarten können, hier rauszukommen, Mr. Swift, aber Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden. Sehen Sie, Professor Kleinman hatte Zugang zu geheimen Informationen, und wir haben den Verdacht, dass es zu einem Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen gekommen sein könnte.« David sah sie entsetzt an. »Wovon reden Sie da? Es ist vierzig Jahre her, dass er für die Regierung gearbeitet hat. Nachdem er seine Untersuchung radioaktiver Strahlung abgeschlossen hatte, hat er aufgehört, für das Militär zu arbeiten.«
»Das ist nicht die Art von Arbeit, mit der er hausieren gegangen wäre. Nachdem Kleinman von der Columbia emeritiert war, hat er an einem Projekt des Verteidigungsministenums teilgenommen.« 27
»Und Sie nehmen an, aus dem Grund ist er überfallen worden?« »Ich kann nur sagen, dass Kleinman im Besitz von streng vertraulichem Material war, und jetzt müssen wir feststellen, wer alles davon erfahren haben könnte. Falls er Ihnen irgendwas gesagt hat, als Sie an seinem Krankenbett waren, müssen Sie uns davon Mitteilung machen.« Lucille hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und beugte sich zu ihm vor. Sie lächelte nicht mehr und nannte ihn auch nicht mehr Schätzchen; ihr Gesicht war todernst geworden. David hatte jetzt keine Schwierigkeiten mehr zu glauben, dass sie FBI-Agentin war. Er glaubte nur ihre Geschichte nicht. »Es tut mir leid, aber das klingt nicht glaubwürdig. Es klingt nicht nach Dr. Kleinman. Er hat bedauert, fürs Militär gearbeitet zu haben. Er hat gesagt, es sei unmoralisch.« »Vielleicht kannten Sie ihn nicht so gut, wie Sie dachten.« David schüttelte den Kopf. »Nein, das ergibt keinen Sinn. Er hat Protestveranstaltungen an der Columbia organisiert. Er hat dort jeden Physiker dazu überredet, eine Erklärung gegen Atomwaffen zu unterzeichnen.« »Ich habe nie gesagt, dass er an Waffen gearbeitet hat. Er ist nach dem elften September an das Verteidigungsministerium herangetreten. Er hat angeboten, bei der Terrorismusbekämpfung zu helfen.« David dachte darüber nach, ob das möglich war. Es war weit hergeholt, aber nicht unvorstellbar. Kleinman war Fachmann auf dem Gebiet radioaktiven Zerfalls, insbesondere des Zerfalls von Uranatomen, die in Atomsprengköpfen benutzt wurden. Diese Art Wissen konnte zweifellos zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt werden. »Woran hat er denn gearbeitet?«, fragte David. »An einer neuen Art von Strahlungsdetektor?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen et 27
was zeigen.« Sie nahm Kleinmans Akte wieder zur Hand und blätterte sie durch. Nach einigem Suchen zog sie den Nachdruck eines alten Forschungsreferats heraus und reichte ihn David. Der Nachdruck umfasste etwa zehn Seiten und war leicht vergilbt. »Das können Sie sich ansehen. Es ist eins der wenigen Dinge in dieser Akte, die nicht geheim sind.« Das Referat war 1975 in der Physical Review veröffentlicht worden. Der Titel lautete: »Measurements of the Flux of Rho Mesons«, und der Autor war H. W. Kleinman. David hatte diesen Text noch nie gesehen; das Thema war ziemlich obskur, und er hatte sich während seines Studiums nicht damit befasst. Erschwerend kam hinzu, dass der Artikel mit fantastisch komplizierten Gleichungen gespickt war.
»Deshalb haben wir Sie hierhergebracht, Mr. Swift. Die oberste Priorität einer Operation zur Terrorismusbekämpfung ist es, dafür zu sorgen, dass die Terroristen unsere Abwehrmaßnahmen nicht kennen. Daher müssen wir herausfinden, was Kleinman Ihnen über unsere Arbeit gesagt haben könnte.« David prüfte den Artikel, versuchte, ihn so gut wie möglich zu verstehen. Kleinman hatte offensichtlich entdeckt, dass man durch die Konzentration radioaktiver Strahlung auf Uranatome heftige Schauer von Teilchen auslösen konnte, die als Rho Mesons bezeichnet wurden. Obwohl in dem Artikel nichts über den praktischen Nutzen dieser Untersuchung stand, schien die Sache klar zu sein: Diese Technologie konnte angereichertes Uran in einem atomaren Sprengkopf entdecken, selbst wenn die Bombe in einer Bleiummantelung steckte. David musste wieder an sein letztes Gespräch mit Kleinman denken und fragte sich, ob er die letzten Worte des Professors falsch verstanden hatte. Als Kleinman ihn vor dem »Zerstörer der Welten« gewarnt hatte, konnte er da an eine in die Vereinigten Staaten geschmuggelte Atomwaffe gedacht haben? 28
»Hat er an einem aktiven Scanning-System gearbeitet?«, fragte David. »Etwas, womit man einen Sprengkopf entdecken konnte, der in einem Lastwagen oder einem Schiffscontainer versteckt ist?« »Das kann ich weder bestätigen noch verneinen«, antwortete Lucille. »Aber ich glaube, Sie verstehen jetzt, warum wir diese Angelegenheit so ernst nehmen.« David wollte gerade den Blick von dem Artikel abwenden, als er etwas auf der letzten Seite bemerkte. Da war eine Tabelle abgebildet, in der die Eigenschaften des Rho Mesons mit denen seiner nahen Verwandten, der Omega und Phi Mesons, verglichen wurden. David war die letzte Spalte der Tabelle ins Auge gefallen, in der die Lebensdauer der Partikeln aufgeführt war. Er starrte mehrere Sekunden auf die Zahlen. »Was hat Kleinman also gesagt, Mr. Swift? Was hat er Ihnen erzählt?« Lucille schaute ihn ernst an, benahm sich wieder wie eine freundliche Großmutter. Aber David hatte sie jetzt durchschaut. »Sie lügen«, sagte er. »Dr. Kleinman hat nicht an einem Detektor gearbeitet. Er hat überhaupt nicht für die Regierung gearbeitet.« Lucilles Gesicht nahm einen gekränkten, verständnislosen Ausdruck an, und sie öffnete den Mund weit. »Was? Wollen Sie ...« David tippte mit dem Finger auf die letzte Seite von Kleinmans Artikel. »Die Lebensdauer eines Rho Mesons beträgt weniger als 10~23 Sekunden.« »Na und? Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass Ihre Forschungsabteilung Mist gebaut hat, als sie diese Geschichte ausgebrütet hat. Selbst wenn sich ein Rho Meson mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, würde es weniger als ein Billionstel Zentimeter zurücklegen, bevor es zerfiele. Man könnte diese Teilchen gar nicht entde 28
cken, wenn sie von einem atomaren Sprengkopf ausgingen, und deshalb wäre es unmöglich, ein Scanningsystem auf der Grundlage dieses Artikels zu entwickeln.« Der gekränkte Ausdruck verließ Lucilles Gesicht nicht, und einen Moment lang glaubte David, sie würde so tun, als wüsste sie von nichts. Nach ein paar Sekunden jedoch machte sie den Mund zu und presste die Lippen fest zusammen. Die Falten um ihre Augen herum wurden tiefer, aber es waren keine Lachfältchen. Lucille war stinksauer. »Okay, fangen wir noch mal von vorn an«, sagte David. »Warum verraten Sie mir nicht den wahren Grund, warum Sie so interessiert an Dr. Kleinman sind? Es ist eine Art Waffe, nicht wahr? Irgendeine streng geheime Waffe, über die Sie kein Sterbenswörtchen verlieren wollen, aber für die Sie mehrere Milliarden Dollar ausgeben?« Sie antwortete nicht. Stattdessen zog sie ihr Jackett aus und drapierte es über die Rückenlehne ihres Stuhls. Ein Schulterholster hing seitlich an ihrer Bluse, und in dem Holster steckte eine schnittige schwarze Pistole. Während David auf die Waffe starrte, wandte sich Lucille an die beiden Agenten, die immer noch den Super Soaker inspizierten. »Seid ihr Jungs langsam fertig mit dem verdammten Ding?« Einer der Agenten kam zu ihr und legte die Wasserpistole auf den Tisch. »Sie ist sauber, Ma'am«, meldete er. »Was für eine Erleichterung. Setzen Sie sich jetzt mit der Logistik in Verbindung und sagen Sie Bescheid, dass wir in zehn Minuten einen Wagen zum Flughafen brauchen.« Der Agent zog sich auf die andere Seite des Raums zurück und begann, in das Mikrofon zu murmeln, das sich in seinem Ärmel befand. In der Zwischenzeit drehte sich Lucille auf ihrem Stuhl herum und griff wieder in die Tasche ihres Jacketts. Diesmal zog sie eine Packung Zigaretten und ein Zippo-Feuerzeug heraus, das mit dem Lone Star von Texas 29
verziert war. Sie funkelte David wütend an, während sie eine Zigarette aus der Packung schüttelte. »Sie sind eine echte Nervensäge, wissen Sie das?« Sie wandte sich an Hawley, der immer noch neben Davids Stuhl stand. »Ist der Kerl nicht eine Nervensäge, Hawley?« »Erster Güte«, erwiderte er. Lucille steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. »Sehen Sie ihn sich doch nur an. Wahrscheinlich hält er auch vom Rauchen nichts. Wahrscheinlich meint er, wir sollten rausgehen, wenn wir uns eine anstecken wollen.« Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie das Zippo, zündete sich die Zigarette an und blies David die erste Rauchwolke ins Gesicht. »Nun ja, Swift, ich hab ein paar Neuigkeiten für Sie. Wir können alles tun, was wir wollen, Sie Arschgesicht.« Sie schloss das Zippo und schob es wieder in ihr Jackett. »Verstehen Sie?« Während David überlegte, wie er darauf reagieren sollte, nickte Lucille Agent Hawley zu. Einen Augenblick später versetzte er David einen klatschenden
Schlag an den Kopf. »Hören Sie nicht gut?«, rief er. »Agent Parker hat Ihnen eine Frage gestellt.« David biss die Zähne zusammen. Es war ein harter Schlag gewesen, und er tat höllisch weh, aber in diesem Fall war die Beleidigung schlimmer als der Schmerz. Sein Magen brannte vor Wut, als er zu Hawley hochsah. Nur die Existenz der Pistolen in den Holstern der Agenten verhinderte, dass er aufsprang. Lucille lächelte. »Ich habe noch eine Neuigkeit für Sie. Erinnern Sie sich an die Krankenschwester in Kleinmans Zimmer im Krankenhaus? Nun ja, einer unserer Agenten hat mit ihr gesprochen.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und stieß eine weitere Rauchwolke aus. »Sie hat gesagt, der Professor habe Ihnen ein paar Zahlen ins Ohr geflüstert.« 30
Verdammt, dachte David. Die Schwester. »Eine lange Kette von Zahlen, sagte sie. Sie erinnert sich natürlich nicht an sie. Aber ich wette, dass Sie sich erinnern.« Das tat er auch. Er sah die Reihenfolge der Zahlen vor seinem geistigen Auge, fast so, als schwebten sie vor ihm in der Luft. So funktionierte Davids Gedächtnis nun mal. »Sie werden uns diese Zahlen jetzt nennen«, sagte Lucille. Sie rollte den linken Ärmel ihrer Bluse zurück, unter dem eine alte Uhr an einem silbernen Armband zum Vorschein kam. »Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden.« Während Lucille sich zurücklehnte, zog Agent Hawley die schwarze Kapuze aus seiner Tasche. David schnürte sich die Kehle zusammen, als er auf das Ding starrte. Herrgott, dachte er, wie zum Teufel war es dazu gekommen? Diese Agenten schienen anzunehmen, sie hätten das Recht, ihm eine Kapuze über den Kopf zu ziehen und ihn zu Brei zu schlagen. Und die einzige vernünftige Entscheidung war jetzt, Dr. Kleinmans Warnungen zu vergessen und ihnen die Zahlen zu nennen. Die Zahlenfolge konnte ohnehin bedeutungslos sein, was wusste er denn schon? Und selbst wenn die Zahlen nicht willkürlich waren, selbst wenn sie der Schlüssel zu etwas Entsetzlichem waren - warum sollte er denn dafür verantwortlich sein, das Geheimnis zu wahren? Er hatte nicht darum gebeten. Alles, was er getan hatte war, ein Referat über die Relativität zu schreiben. Er ergriff die Tischkante, um sich irgendwo festzuhalten. Er hatte noch fünf, vielleicht zehn Sekunden Zeit. Lucilles Augen waren auf ihre Armbanduhr gerichtet, und Agent Hawley rollte die schwarze Kapuze auseinander, und als David die Agenten betrachtete, begriff er, dass die beiden ihn nicht gehen lassen würden, selbst wenn er ihnen die Zahlen verriet. Solange die Ziffern in seinem Kopf blieben, war er ein Sicherheitsrisiko. Seine einzige Hoffnung bestand darin, 30
einen Deal zu machen, vorzugsweise mit jemandem, der höher in der Befehlskette stand als die Agenten Parker und Hawley.
»Ich brauche ein paar Garantien, bevor ich Ihnen irgendwas erzähle«, sagte er. »Ich will mit jemandem sprechen, der wirkliche Entscheidungsbefugnis hat.« Lucille funkelte ihn böse an. »Was glauben Sie, was wir hier haben? Ein Warenhaus? Glauben Sie, Sie können sich beim Geschäftsführer beschweren, wenn Ihnen der Service nicht passt?« »Ich brauche eine Vorstellung davon, warum Sie die Zahlen haben wollen. Falls Sie mir den Grund nicht nennen können, bringen Sie mich zu jemandem, der es kann.« Lucille stieß einen langen Seufzer aus. Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und ertränkte sie in einem der Pappbecher. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf, wobei sie ein bisschen zusammenzuckte, als sie die Knie durchdrückte. »Okay, Mr. Swift, der Wunsch wird Ihnen erfüllt. Wir bringen Sie an einen Ort, an dem es viele Leute gibt, mit denen Sie plaudern können.« »Wohin? Nach Washington?« Sie lachte leise. »Nein, dieser Ort liegt ein bisschen weiter südlich. Ein reizendes Fleckchen, das Guantänamo Bay heißt.« Adrenalin durchflutete Davids Körper. »Einen Moment mal! Ich bin amerikanischer Staatsbürger! Sie können mich nicht...« »Unter Berufung auf den Patriot Act erkläre ich Sie hiermit zu einem feindlichen Kombattanten.« Sie wandte sich an Hawley. »Legen Sie ihm die Handschellen wieder an. Das mit den Fußfesseln erledigen wir, sobald wir im Wagen sind.« Hawley packte ihn am Arm und rief: »Aufstehen!«, aber David blieb wie erstarrt auf seinem Stuhl sitzen, sein Herz 31
schlug rasend, und seine Beine zitterten. Hawley wurde noch lauter: »Ich habe gesagt A UFSTEHEN!«, und er wollte David gerade von seinem Stuhl hochreißen, als einer der anderen Agenten ihn auf die Schulter tippte. Es war der Mann, der über sein Funkgerät Verbindung mit der Logistik aufnehmen sollte. Er sah ein bisschen blass aus. »Äh, Sir?«, flüsterte er. »Ich glaube, wir haben ein Problem.« »Was ist los? Worin besteht das Problem?«, schaltete sich Lucille ein. Der blasse Agent war so nervös, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er seine Stimme wiederfand. »Ich kriege keine Verbindung zur Logistik. Ich hab es auf jeder Frequenz versucht, aber ich kriege keine Antwort. Auf allen Kanälen gibt es nur Rauschen.« Lucille sah ihn skeptisch an. »Mit Ihrem Funkgerät stimmt was nicht.« Sie griff nach dem Mikrofon, das am Kragen ihrer Bluse befestigt war, und drückte auf den Sprechknopf. »Black One an Logistik. Logistik, hören Sie mich?« Aber bevor sie eine Antwort bekam, erschütterte eine mächtige Explosion die Wände. Als Simon auf die Tiefgarage zuging, in der der schwarze Suburban geparkt war, kam ihm der Gedanke, dass er immer Arbeit als Sicherheitsberater finden könnte,
falls er jemals den Beruf wechseln wollte. Wer konnte schließlich bessere Ratschläge dazu erteilen, wie man eine Regierungseinrichtung oder eine Unternehmenszentrale verteidigte, als jemand, der eine gewisse Erfahrung darin hatte, in sie einzubrechen. Mit Sicherheit konnte er dem FBI ein paar Tipps geben. In dem Parkwächterhäuschen am Eingang zu der Tiefgarage war nur ein Agent, ein untersetzter junger Grünschnabel in einem orangefarbenen Anorak und einer Baseballmütze der 32 New York Yankees, was seinen nicht sonderlich überzeugenden Versuch darstellte, wie ein normaler Parkwächter auszusehen. Einen anstatt zwei Agenten in das Parkwächterhäuschen zu setzen, ist ein Fehler, dachte Simon. Man sollte bei der Verteidigung des Außenbereichs nie sparen, und ganz bestimmt nicht bei der Nachtschicht. Simon hatte sich umgezogen und trug jetzt einen eleganten dunklen Anzug und eine lederne Aktentasche. Als er an die kugelsichere Glasscheibe des Wächterhäuschens klopfte, musterte ihn der Agent von oben bis unten, bevor er die Tür einen Spalt öffnete. »Was gibt's?«, fragte er. »Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Simon, »aber ich würde gerne wissen, wie hoch die monatlichen Parkgebühren hier sind.« »Wir haben keine ...« Simon riss die Tür auf, rammte dem Agenten seine Schulter in den Unterleib und warf ihn auf den Rücken. Es gab nur eine Überwachungskamera in dem Wächterhäuschen, und sie war so hoch eingestellt, dass sie den Boden nicht im Fokus hatte. Noch ein Fehler. Simon hatte sich auf den Agenten geworfen, stieß ihm sein Nahkampfmesser ins Herz und drückte ihn auf den Boden, bis er aufhörte, sich zu bewegen. Es war eigentlich nicht seine Schuld, dachte Simon. Es war ein institutionelles Versagen. Als Simon aufstand, trug er den Anorak und die Baseballmütze. Er hatte außerdem die Uzi und seine gesamte Munition aus der Aktentasche geholt. Er versteckte die Maschinenpistole unter dem Anorak, verließ das Wächterhäuschen und ging die lange Rampe zur Tiefgarage hinunter. Jetzt waren viele Videokameras auf ihn gerichtet, und deshalb hielt er den Kopf gesenkt. Er kam um eine Ecke und sah ein halbes Dutzend Suburbans, die neben einer nicht gekennzeichneten Stahltür geparkt waren. Als er noch ungefähr zehn Meter entfernt war, ging die Tür auf, und ein 32 aufgeregter Mann in einem grauen Anzug schaute heraus. »Anderson!«, rief er. »Was zum Teufel haben Sie ...« Simon hob den Kopf und schoss gleichzeitig mit der Uzi. Praktischerweise stürzte der Agent der Länge nach zu Boden, sodass seine Leiche die Tür am Zufallen hinderte. Simon rannte auf sie zu und kam gerade rechtzeitig dort an,
um einen dritten Agenten niederzustrecken, der seinem Partner zu Hilfe eilen wollte. Das ist unfassbar, dachte Simon. Sie machen es mir zu leicht. Direkt hinter dem Eingang lag der Kommando- und Kontrollraum, in dem die unglückseligen Agenten stationiert gewesen waren. Simon setzte als Erstes das Sende-Empfangsgerät außer Gefecht und überflog dann die Reihe der Videomonitoren. Seine Zielperson fand er auf dem mit SUB-3A markierten Bildschirm, der eines der Vernehmungszimmer im Kellergeschoss zeigte. Simon war mit der Anlage des Gebäudes bereits vertraut; im Lauf der Jahre hatte er sich mehrere Quellen im amerikanischen Geheimdienst herangezogen, die ihm gegen ein unbedeutendes Honorar eine Menge über die Funktionsweise ihrer Agenturen verraten hatten. Es blieb nur noch ein weiteres Hindernis, eine zweite Stahltür auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Diese Tür hatte ein alphanumerisches Tastenfeld, mit dem das Schloss kontrolliert wurde. Einen Moment lang bedauerte Simon, dass er die Agenten so schnell getötet hatte - er hätte wenigstens einen von ihnen so lange am Leben lassen sollen, bis er ihm den Zugangscode verraten hätte. Doch zum Glück für ihn hatte das FBI einen weiteren dummen Fehler begangen, indem es nur einen einzigen Riegel an der Tür installiert hatte, und keinen stärkeren Schließmechanismus. Simon nahm ein halbes Kilogramm C-4 aus seiner Munitionstasche. Er brauchte dreiundachtzig Sekunden, um den Sprengstoff um den Riegel herum anzubringen, die Zünd 33
kapseln einzusetzen und die Zündschnur durch den Kontrollraum zu verlegen. Hinter eine Säule gekauert, rief Simon »Na zdorovye!« - einen traditionellen Trinkspruch, das russische Äquivalent zu »Prost!«. Dann brachte er den Sprengstoff zur Explosion. Sobald sie die Detonation hörten, zogen Lucille, Hawley und die beiden anderen Agenten ihre Glocks. Es war kein Feind in Sicht, aber sie holten trotzdem ihre Pistolen heraus und richteten sie auf die geschlossene Tür des Vernehmungszimmers. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich David, er hätte ebenfalls eine Schusswaffe. »Verdammte Scheiße!«, rief Hawley. »Was zum Teufel war das denn?« Lucille schien etwas ruhiger zu sein. Sie gab ihren Agenten ein Handzeichen, indem sie den Zeige- und den Mittelfinger hochhielt. Die drei Männer näherten sich langsam der Tür. Dann ergriff Hawley den Knauf und stieß sie auf, und seine beiden Partner machten einen Ausfall in den Flur. Nach einer bangen Sekunde riefen beide: »Frei!« Lucille atmete erleichtert auf. »Okay, alle mal herhören. Hawley bleibt hier, um unseren Häftling zu sichern. Die anderen kommen mit mir, um festzustellen, worin die Gefahr besteht, und den Funkverkehr wiederherzustellen.« Sie griff sich die Aktenordner, die auf dem Tisch lagen, und klemmte sie sich unter den
Arm. Dann wandte sie sich an David. »Sie werden auf diesem Stuhl sitzen bleiben, Mr. Swift, und keinen Laut von sich geben. Agent Hawley wird direkt vor dieser Tür da stehen. Falls Sie auch nur einen Piep machen, kommt er wieder rein und verpasst Ihnen eine Kugel. Verstanden?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, was auch nichts gebracht hätte - David war zu erschrocken, um etwas zu sagen. Stattdessen stürmte sie auf den Flur, wobei sie Hawley 34
streifte, der die Hand immer noch am Türknauf hatte. »Äh, Ma'am?«, fragte er. »Wie sieht die Rückfallposition aus? Was ist, wenn ich die Stellung nicht halten kann?« »Falls es dazu kommt, sind Sie befugt, die notwendigen Schritte zu unternehmen.« Hawley ging ebenfalls in den Flur und schloss die Tür hinter sich. David hörte, wie das Schloss einrastete. Dann wurde es so still im Zimmer, dass er das Summen der Neonlampe an der Decke hören konnte. Notwendige Schritte. Die Bedeutung dieser Worte wurde David klar, als er da saß. Er war im Besitz von Informationen, die das FBI aus welchem Grund auch immer für wertvoll hielt. Und zwar für so wertvoll, dass das Bureau alles Mögliche unternehmen würde, um dafür zu sorgen, dass sie nicht in die falschen Hände fielen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die Informationen vernichten, bevor sie jemand anderes in die Finger bekäme. Selbst wenn das bedeutete, ihn zu vernichten. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Agent Hawley das Zimmer betrat und seine Pistole auf ihn richtete. David sprang auf. Er konnte hier nicht bleiben, er musste raus aus dem Zimmer! Er schaute sich um, suchte hektisch nach einem Fluchtweg, vielleicht gab es eine Deckenplatte, die er herausstemmen, einen Ventilationsschacht, durch den er kriechen konnte. Aber die Decke und die Wände waren aus massivem Beton, leer und weiß. In dem Zimmer gab es nichts, abgesehen von den Stühlen und dem grauen Tisch, auf dem sich der Wasserkrug, die Pappbecher und der gründlich inspizierte Super Soaker befanden. Dann bemerkte er noch etwas. In ihrer Hast hatte Lucille ihr knallrotes Jackett auf der Lehne des Stuhls hängen lassen. In seinen Taschen stockten ein ZippoFeuerzeug und ein Flachmann mit Alkohol. Und David erinnerte sich, was seine Exfrau über die Gefährlichkeit des Super Soaker gesagt hatte. 34
Simon fand eine Sache nicht schlecht, was die Sicherheit des FBI-Gebäudes betraf: Zumindest hatten sie die Stromkreisunterbrecher nicht an einem so offensichtlichen Ort wie dem Kommando- und Kontrollzentrum untergebracht. Er musste den Windungen und Drehungen der über Putz liegenden Kabel folgen, bevor er den Wandschrank der Stromversorgung fand. Aber seine Meinung von der Agentur sank wieder ins Bodenlose, als er feststellte, dass der
Schrank unverschlossen war. Er schüttelte den Kopf, als er den kleinen Raum betrat und die elektrische Schalttafel ausfindig machte. Unglaublich, dachte er. Als Steuerzahler wäre ich empört. Als er einen Schalter umlegte, wurde es dunkel im Gebäude. Dann griff Simon in seine Tasche und nahm sein neues Spielzeug heraus, eine Infrarotbrille. Er stellte das Gerät an und richtete den Kopfgurt so, dass das Binokular gut über seinen Augen saß. Es war eine viel bessere Technologie als bei den Nachtsichtgeräten der US-Army, die schwaches Umgebungslicht verstärkten; die Thermalbrille zeigte Wärme, nicht Licht, sodass sie auch bei völliger Dunkelheit funktionierte. Auf seinem Display leuchteten die warmen Computer und Bildschirme in dem Raum hell, während die kalte Stahltür pechschwarz war. Er fand den Weg zum Treppenhaus ganz leicht, indem er den langsam abkühlenden Neonröhren folgte, die er gerade ausgeschaltet hatte. Simon lächelte im Dunkeln - er fand neue Technologien toll. Jetzt war er bereit, die Jagd auf sein Opfer zu eröffnen, den schlanken, athletischen Gefangenen, der Simon an einen erschrockenen Vogel erinnert hatte. Er lief zwei Treppenabsätze hinunter, bevor er Schritte hörte. Sehr leise ging er die Stufen bis zum nächsten Absatz zurück und richtete seine Uzi auf den Eingang zum Treppenhaus. Nach ein paar Sekunden sah er drei verschiedene Strahlen von Taschenlampen, die sich durch den Flur herantasteten. Das konnte man den Agenten eigentlich nicht zum 35
Vorwurf machen - unter den gegebenen Umständen hatten sie kaum eine andere Wahl, als ihre Taschenlampen zu benutzen. Das änderte allerdings nichts am Ergebnis. Auf dem infraroten Display sah Simon eine warme Hand, die einen hellen Zylinder gepackt hielt, und ein geisterhaftes Gesicht, das aussah, als wäre es in Leuchtfarbe getunkt worden. Bevor der Agent die Taschenlampe auf ihn richten konnte, feuerte Simon zwei Kugeln in seinen glänzenden Kopf. Eine barsche Stimme ertönte: »Lampen aus!«, und die beiden anderen Taschenlampenstrahlen verschwanden. Ohne einen Laut zu machen, kam Simon die Treppe hinunter, machte einen Schritt über die Leiche des von ihm erschossenen Agenten und lugte um die Ecke. Zwei Gestalten kauerten in dem Flur, eine rund zehn Meter entfernt, die andere etwas weiter dahinter. Der Agent, der näher war, hatte eine gebückte Schießhaltung eingenommen, die Pistole mit beiden Händen umfasst und schwenkte sie, auf der Suche nach einem Ziel in der Dunkelheit, schnell von rechts nach links. Das Infrarotbild war derart präzise, dass Simon graue Spuren kühleren Schweißes sehen konnte, die an seinem weißen Gesicht hinunterliefen. Simon erledigte den armen Kerl mit einem Schuss in die Stirn, aber bevor er den dritten Agenten ausschalten konnte, pfiff eine Kugel an seinem rechten Ohr vorüber. Simon zog sich hinter die Ecke zurück, als eine weitere Kugel an ihm vorbeistreifte. Der dritte Agent schoss blind in seine Richtung. Nicht schlecht,
dachte er. Wenigstens hat dieser Typ ein bisschen Kampfgeist. Er wartete ein paar Sekunden, bevor er wieder durch den Flur schaute, um sich Klarheit über seinen Gegner zu verschaffen. Der Agent hatte sich zur Seite gedreht, um ein kleineres Ziel abzugeben, und Simon sah auf dem Infrarot-Bildschirm eine dicke, kräftige Gestalt mit Beinen wie Baumstämme und massiven Brüsten. Er zögerte, bevor er die Uzi hob - der Agent war eine 36
Babuschka! Sie hätte Simons Großmutter sein können! Und während er diesen kurzen Moment zögerte, gab sie drei weitere Schüsse auf ihn ab. Er drückte sich so fest wie möglich gegen die Wand. Herrgott, das war knapp! Er hob seine Waffe und bereitete sich darauf vor, das Feuer zu erwidern, aber die Babuschka drehte sich auf der Stelle um und verschwand hinter einer Ecke. Jetzt war Simon wütend. Die Alte hatte ihn gedemütigt! Er begann, hinter ihr herzugehen, bewegte sich leise durch den Flur. Bevor er jedoch eine größere Strecke zurücklegen konnte, hörte er von irgendwo hinter sich einen gedämpften Schrei. Er blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Er hörte noch einen Schrei, eine sehr laute Männerstimme aus einer ziemlichen Entfernung, so laut, dass er durch die Wände im ganzen Gebäude gehört werden konnte: »Sie haben mich verstanden, Hawley! Machen Sie die gottverdammte Tür auf!« Mit großem Widerwillen brach Simon seine Verfolgung der Babuschka ab. Um sie würde er sich später kümmern. Im Moment hatte er einen Job zu erledigen. Die Lampen gingen aus, als David seine Hand gerade in Lucilles Jackett gesteckt hatte. Er erstarrte wie ein Taschendieb, der auf frischer Tat ertappt wird. Agent Hawley, der draußen vor der Tür Wache stand, war von der plötzlichen Verdunkelung genauso überrascht. David hörte ihn schreien: »Verdammter Scheiß ...«, bevor er abbrach und den Mund hielt. David holte tief Luft. Okay, dachte er. Das hier ändert gar nichts. Ob die Lampen nun an sind oder nicht, ich muss trotzdem hier raus. Er zog den silbernen Flachmann aus der Innentasche von Lucilles Jackett und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch, sorgfältig darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Dann grub er ein bisschen tiefer und holte Lucil 36
les Zippo heraus. Einen Moment lang dachte er daran, das Feuerzeug anzumachen, damit er sehen konnte, was er da tat, aber er wusste, dass Hawley möglicherweise den Lichtschein unter der Tür durchschimmern sehen konnte. Nein, er musste dies blind tun. Er stellte das Feuerzeug auf den Tisch, wobei er sich sorgfältig dessen Position merkte. Dann griff er nach dem Super Soaker. Glücklicherweise war er im Umgang mit der Wasserpistole ein ziemlicher Fachmann geworden. Er hatte den Tank der Pistole mindestens ein Dutzend Mal gefüllt, als er nur ein paar Stunden zuvor mit Jonah spielte, und jetzt konnte er mit den Fingern leicht die Einfüllöffnung ertasten und den Deckel abnehmen. Die Erinnerung an seinen Nachmittag mit Jonah ließ ihn eine Sekunde
innehalten, und sein Magen verkrampfte sich, als er sich fragte, ob er seinen Sohn je wiedersehen würde. Nein, wies er sich zurecht, denk nicht darüber nach. Mach einfach weiter. Er packte den silbernen Flachmann und schraubte den Verschluss ab. Die kleine Flasche enthielt vielleicht einen Viertelliter Schnaps, und wie Lucille versprochen hatte, war es fast reiner Alkohol - die Dämpfe brannten in Davids Augen, als er das Zeug in den Super Soaker goss. Aber war es auch genug? Er brauchte fast die doppelte Menge, um genügend Druck zum Schießen zu erzeugen. Verdammt! Obwohl es in dem Raum stockfinster war, schloss er die Au gen, um nachdenken zu können. Wasser. Irgendwo auf dem Tisch standen zwei Pappbecher mit Wasser. Und Alkohol brannte auch noch, wenn man ihn bis auf fünfzig Prozent verdünnte. Nachdem er vorsichtig auf dem Tisch herumgetastet hatte, fand er einen der Pappbecher, fischte den Zigarettenstummel •heraus und goss knapp hundert Milliliter Wasser in den Tank. Dann ertastete er den zweiten Becher und füllte noch einmal die gleiche Menge nach. Das war alles, was er riskieren konnte. Er hoffte nur, dass es genug war. 37
David schloss den Wasserbehälter und bediente leise die Pumpe. Er stellte sich in der Dunkelheit vor, wie die Mischung aus Alkohol und Wasser in den zweiten Tank strömte und Druck auf die Luftmoleküle darin ausübte. Als er so viel gepumpt hatte, wie er konnte, drehte er an der Düse der Wasserpistole, bis sie auf Weite Streuung stand. Der Alkohol würde leichter brennen, wenn er zu Tröpfchen zerstäubt wurde. Dann streckte er die Hand nach der Stelle aus, wo er das Zippo hingestellt hatte, aber als er es gerade packen wollte, hörte er zweimal einen scharfen Knall irgendwo draußen. Es waren Schüsse. Erschrocken stieß er das Feuerzeug vom Tisch, und er hörte es über den Boden rutschen. Der Boden des Zimmers schien sich zu neigen. Es kam David so vor, als sei er dabei, auf dem Boden eines schwarzen Meeres zu ertrinken. Er starrte hilflos in den Abgrund, in den das Zippo gefallen war, und dann ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann, nach ihm zu tasten. Er überprüfte methodisch den gesamten Bereich vom Tisch bis zu den Wänden, führ mit seinen Armen in weiten Bögen über das kalte Linoleum, konnte aber das verdammte Ding nicht finden. Auf dem Flur waren erneut Schüsse zu hören, die diesmal näher klangen. David suchte hektisch weiter, rammte seine Finger in jede Ecke. Herrgott im Himmel! Wo zum Teufel ist das Ding? Dann schlug er mit dem Kopf gegen einen der Stühle, und als er unter den Tisch griff, fühlte er das Zippo. Zitternd öffnete er das Feuerzeug und drehte an dem Feuersteinrädchen. Die Flamme stieg wie ein Engel empor, ein kleines, vom Himmel gesandtes Wunder. David sprang auf, schnappte sich den Super Soaker und richtete ihn auf die Tür. Er hörte eine dritte Salve von Schüssen, als er die Flamme vor die
Plastikmündung hielt, aber diesmal zuckte er nicht zusammen. »Hawley!«, rief er. »Machen Sie die Tür auf! Sie müssen mich rauslassen.« 38
Eine leise Stimme zischte von der anderen Seite der Tür. »Halt den Mund, du Arschloch!« Hawley wollte offenbar nicht die Aufmerksamkeit des-oder derjenigen, die in der Nähe um sich schössen, auf sich lenken. Aber David hatte den Eindruck, dass sie ohnehin kamen. »Sie haben mich verstanden, Hawley!«, brüllte er. »Machen Sie die gottverdammte Tür auf.« Mehrere Sekunden verstrichen. Er präpariert sich innerlich, dachte David. Seine Position ist unhaltbar geworden, und jetzt muss er die notwendigen Schritte unternehmen. Seine einzige Alternative ist, mich umzubringen. Dann öffnete sich die Tür, und David drückte auf den Abzug. Simon kam zu einer Stelle, wo sich zwei Flure kreuzten, und sah noch einen Agenten auf dem Infrarot-Display. Der hier stand vor einer Tür und umfasste den Knauf mit einer warmen Hand und hielt eine Pistole in der anderen. Neugierig schlich Simon näher, wobei er seine Uzi auf den Mann gerichtet hielt. Der Agent stand mehrere Sekunden wie ein nervöser Freier da und murmelte »Verfluchte Scheiße, verfluchte Scheiße«, als müsse er sich beruhigen. Dann machte er die Tür weit auf und griff in seiner Hosentasche nach einer Taschenlampe. Plötzlich brach eine strahlende weiße Wolke aus der Türöffnung hervor. Simon war geblendet. Die sengende Wolke dehnte sich aus, bis sie jede Ecke seines Bildschirms ausfüllte und das Display in ein leeres weißes Rechteck verwandelte. Er riss sich die nutzlose Brille herunter, nahm eine Kauerhaltung ein und legte sich die Arme über den Kopf. Es war eine Art Brandsatz, aber es roch nicht wie Benzin oder weißer Phosphor. Seltsamerweise roch es eher wie selbst gebrannter Wodka. Der Feuerball löste sich nach ein paar Sekunden auf und hinterließ ein paar kleine bläuliche Flammen, die von 38 einer Pfütze auf dem Boden aufstiegen. Der FBI-Agent taumelte rückwärts und begann dann, wie ein Baumstamm über den Boden zu rollen, weil er die blauen Flammenfransen an seinem Jackett auslöschen wollte. Dann hörte Simon eine rasche Serie gummiartiger Quietschtöne. Das Geräusch war schon an ihm vorüber, als er begriff, was es war: die Freizeitschuhe des Gefangenen. Automatisch hob Simon seine Uzi und zielte damit in die Richtung der schnellen Schritte, aber er wagte nicht zu schießen. Er wollte den Mann lebend haben. Also richtete er sich unbeholfen auf und jagte in dem stockfinsteren Flur hinter ihm her. Simon war kurz davor, den Mann von hinten anzuspringen, als er etwas klappernd zu Boden fallen hörte, etwas, das aus Plastik und hohl war, und im nächsten Augenblick trat er auf das Ding und verlor das
Gleichgewicht. Das ist die verdammte Wasserpistole, begriff er, als er nach hinten fiel und mit dem Schädel gegen einen Türrahmen knallte. Er lag vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden da im Dunkeln. Als er die Augen aufmachte, sah er den immer noch qualmenden FBI-Agenten an sich vorbeirennen, hinter dem entflohenen Gefangenen her. Ein typischer amerikanischer Idiot, dachte Simon. Engagiert, aber blind für seine Umgebung. Nachdem er tief Luft geholt hatte, um einen klaren Kopf zu bekommen, stand Simon auf und zog die Infrarotbrille wieder an. Das Display-System hatte sich neu eingestellt, und der Bildschirm arbeitete wieder normal. Dann hob er seine Maschinenpistole auf und lief den Flur hinunter. David stürzte sich in die Dunkelheit und dachte nur noch an Flucht. Er hörte einen dumpfen Aufschlag hinter sich, nachdem er den Super Soaker hatte fallen lassen, aber er drehte sich nicht um, sondern lief einfach weiter. Schließlich machte er das Feuerzeug wieder an, und die Flamme erleuchtete einen kleinen Kreis um ihn herum. Zuerst sah er nur kahle
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Wände auf beiden Seiten des Flurs, dann aber erblickte er ein schimmerndes rotes Schild über einer Tür zu einem Treppenhaus. »Ausgang« stand darauf. Er hielt direkt darauf zu und rammte die Tür mit der Schulter. Zu seiner Bestürzung gab sie nicht nach. Er versuchte, den Türknauf zu drehen, aber er ließ sich nicht bewegen. Unglaublich! Wie konnte man einen Notausgang verschließen? Und wie er da stand und vergeblich an dem Türknauf rüttelte, hörte er in einiger Entfernung ein Gebrüll - »Verdammte Scheiße!« - und dann die hallenden Schritte von Agent Hawley. David begann wieder zu rennen. Er bog nach links und raste durch einen anderen Flur, verzweifelt auf der Suche nach einem anderen Treppenhaus, einem anderen Ausgang. Er überflog beide Seiten des Flurs und rannte so schnell er konnte, als er über etwas stolperte, das sich wie ein Wäschesack anfühlte. David machte das Zippo wieder an und stellte fest, dass er auf einer Leiche lag. Es war einer von Hawleys Partnern im grauen Anzug, und er hatte zwei blutige Löcher in der Stirn. Voller Entsetzen sprang David auf. Dann stellte er fest, dass die Leiche am Fuß eines Treppenhauses lag. Einen Augenblick später kam Hawley um die Ecke und erschien am Ende des Flurs. Sobald er das Feuerzeug sah, nahm er Schießhaltung ein. David löschte das Licht und jagte die Treppe hoch. Er stieg in der Finsternis nach oben, tastete wie wild nach dem Geländer und stieß sich die Schienbeine an den Stufen, während Hawley nur ein paar Sekunden hinter ihm war. Nachdem er drei Treppenabsätze hinter sich gelassen hatte, erspähte er einen schwachen gelben Lichtschein durch einen gezackten Eingang. Er lief durch einen Raum voller zerschlagener Videomonitore und sprang über zwei andere Leichen, ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Er war jetzt in einer Tiefgarage und konnte
die süßlich verpestete New Yorker Luft riechen. Er sprintete die Rampe hoch auf das herrliche Tageslicht zu. 40 Aber es waren mindestens dreißig Meter bis zum Ende der Auffahrt, und es gab keine Möglichkeit, sich dort irgendwo zu verstecken. Deshalb wusste er, dass er verloren war, als er über die Schulter schaute und Hawley unten stehen sah. Uber das verbrannte und geschwärzte Gesicht des Agenten zog ein breites Lächeln. Langsam hob er seine Glock und zielte sorgfältig. Dann erklang ein Schuss, und Hawley brach auf dem Boden zusammen. David starrte auf den Körper des Agenten, der nun wie ein Fötus dalag. Einen Augenblick dachte er, irgendjemand spiele ihm einen Streich. Er war zu verwirrt, um Erleichterung zu empfinden, und zu verängstigt, um mit dem Laufen aufzuhören. Seine Beine trugen ihn die Auffahrt hoch, und innerhalb weniger Sekunden stand er auf einer verlassenen Straße, die von hohen Bürogebäuden gesäumt war. Er las die Straßenschilder an der Ecke: Liberty Street und Nassau Street. Er war im unteren Teil von Manhattan, knapp drei Häuserblocks nördlich der Börse. Aber er hörte jetzt Polizeisirenen, und deshalb hielt er sich nicht länger auf und lief in Richtung Westen auf den Broadway und den Hudson River zu. Als Simon den angekokelten FBI-Agenten erledigt und das Ende der Rampe erreicht hatte, kamen einige Streifenwagen auf der Liberty Street näher. Die Babuschka, dachte er. Sie musste das NYPD per Funk um Unterstützung gebeten haben. Als die Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen und die Cops in die Tiefgarage ausschwärmten, duckte er sich hinter einem Zeitschriftenkiosk mit verschlossenen Fensterläden. Der Gefangene hatte nur einen Häuserblock Vorsprung, war jetzt an der Ecke Broadway und Liberty, aber Simon konnte es nicht riskieren, an all diesen Polizisten vorbeizumarschieren, nicht mit einer Uzi unter seinem Anorak. Also tauchte er stattdessen in die Nassau Street ab und rannte einen Häuserblock nach Norden, wo er sein Opfer abzufan40
gen hoffte. Als er jedoch den Broadway erreichte, war von dem Gefangenen nichts zu sehen. Simon hetzte die breite Straße entlang und schaute in jede der Querstraßen hinein, aber er konnte seinen Mann nicht entdecken. »Yobany v'rot!«, fluchte er und schlug sich frustriert auf den Oberschenkel. Aber seine Wut hielt nur einen Augenblick an. Es kommt nur auf deine Flexibilität an, ermahnte er sich. Er musste seine Strategie wieder anpassen. Während er an der Straßenecke stand und keuchte wie ein Hund, dachte Simon über den Gefangenen nach. Es gab nicht viele Orte, wohin er gehen konnte, und sie waren alle ziemlich vorhersagbar. Der erste Schritt war, den Mann zu identifizieren und festzustellen, worin seine Verbindung zu Professor Kleinman bestand. Dann ging es nur noch darum, seine Kontaktpersonen ausfindig zu
machen. Früher oder später, das wusste Simon, würde ihn dieser Bursche in den Freizeitschuhen zu der Einheitlichen Feldtheorie führen. Simon kam wieder zu Atem, während er dorthin zurückging, wo er den Mercedes geparkt hatte. Er empfand grimmige Befriedigung, als er zu den Wolkenkratzern am Broadway hochschaute, deren dunkle Türme hoch über der Straße aufragten. Sehr bald, dachte er, wird all das hier verschwunden sein. VIER
verdammt noch mal, Lucy! Was zum Teufel ist da passiert?« Lucille saß in einem Konferenzraum im FBI-Hauptquartier am Federal Plaza und sprach über eine sichere Telefonleitung mit dem Direktor des Bureau. Sie hatte das Gebäude an der Liberty Street evakuiert und einen vorläufigen Kommandoposten im regionalen New Yorker Hauptquartier eingerichtet. Alle Agenten außer Dienst, die in der Nähe wohnten, waren aus den Betten geholt worden und hatten neue Anweisungen erhalten. Und jetzt, eine Viertelstunde nach Mitternacht, war Lucille mit der schwierigen Aufgabe beschäftigt, ihrem Boss die schlechten Nachrichten zu übermitteln. »Sie haben uns überrascht«, gab sie zu. »Sie haben zunächst die Logistik ausgeschaltet und unser Kommunikationssystem lahmgelegt. Dann haben sie die Stromzufuhr unterbrochen und versucht, sich den Häftling zu schnappen. Wir haben sechs Agenten verloren.« Lucille war erstaunt, wie gelassen sie das berichten konnte. Sechs Agenten. Was für ein beschissener Albtraum. »Ich übernehme die volle Verantwortung.« »Scheiße, wer war das, zum Teufel noch mal? Haben Sie irgendwas auf Video?« »Nein, Sir, leider sind die Überwachungssysteme zerstört worden. Aber wir haben eine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Sie waren mit Uzis bewaffnet und haben C-4 benutzt. Wahrscheinlich hatten sie auch Infrarotbrillen aufgesetzt.« 41
»Denken Sie an Leute von al-Qaida?« »Nein, für die war die ganze Sache zu raffiniert. Vielleicht die Russen. Oder vielleicht die Chinesen oder die Nordkoreaner. Zum Teufel, es hätten sogar die Israelis sein können. Es war eine ziemlich professionelle Operation.« »Was ist mit dem Häftling? Glauben Sie, er steckt mit ihnen unter einer Decke?« Lucille zögerte, bevor sie antwortete. Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht, was sie von David Swift halten sollte. »Zuerst hätte ich gesagt, nein. Ich meine, der Typ ist Professor für Geschichte. Keine Vorstrafen, kein Wehrdienst, keine ungewöhnlichen Reisen und Anrufe ins Ausland. Aber er hat praktisch zugegeben, dass Kleinman ihm eine Zahlenkombination genannt hat, vermutlich einen Code zur Verschlüsselung einer Computerdatei. Vielleicht haben sie versucht, die Information zu verkaufen, aber mit dem Deal ist irgendwas schiefgelaufen.«
»Wie gut stehen die Chancen, ihn wieder in die Finger zu bekommen? Der Verteidigungsminister treibt mich noch in den Wahnsinn. Er ruft jede halbe Stunde an und will auf den neuesten Stand gebracht werden.« Sie spürte, wie Widerwille in ihr aufstieg. Der gottverdammte Minister. Er hatte das Bureau gezwungen, in diesem Fall die Drecksarbeit zu übernehmen, und trotzdem wollte er nicht mit der Sprache rausrücken, worum es hier eigentlich ging. »Teilen Sie ihm mit, es ist alles unter Kontrolle«, sagte sie. »Wir haben die New Yorker Polizei veranlasst, Kontrollpunkte an den Brücken und Tunneln einzurichten, mit Sprengstoffspürhunden, die nach Spuren von dem C-4 schnüffeln. Außerdem haben wir Agenten an allen Bahnhöfen und Busbahnhöfen stationiert.« »Haben Sie ein Foto von dem Häftling? Zu Identifikationszwecken?« »Wir haben ein Führerscheinfoto von der New Yorker Zu 42
lassungsbehörde und ein Foto vom Schutzumschlag eines Buchs, das er geschrieben hat. Der Titel ist Auf den Schultern von Riesen. Wir sind gerade dabei, Handzettel zu drucken, und wir sollten im Lauf der nächsten Stunde oder so in der Lage sein, sie an unsere Agenten zu verteilen. Keine Sorge, der geht nirgendwohin.« David rannte am Hudson River entlang Richtung Uptown. Nachdem er den FBIAgenten entkommen war, hatte er einen vordringlichen Impuls: sich so weit wie möglich von dem Gebäude an der Liberty Street zu entfernen. Aber er hatte zu viel Angst, sich ein Taxi heranzuwinken oder in eine U-Bahn zu springen, machte sich zu viel Sorgen, von einem Streifenwagen oder einem Verkehrspolizisten angehalten zu werden. Daher lief er auf dem parallel zum Fluss verlaufenden Fahrradweg und mischte sich unter die abendlichen Fitness-Fanatiker, die Jogger, Radfahrer und Inline-Skater, die mit glänzenden Leuchtstreifen geschmückt waren. Er lief bis zur Thirty-Fourth Street, mehr als drei Meilen, bis er langsamer wurde und stehen blieb. Schwer atmend lehnte er sich gegen einen Laternenpfahl und schloss für einen Moment die Augen. Herrgott, flüsterte er. Das darf nicht wahr sein. Er hatte fünf Minuten lang den Worten eines sterbenden Physikprofessors gelauscht, und jetzt rannte er um sein Leben. Und was von dem, was Kleinman gesagt hatte, war so unglaublich wichtig? Einheitliche Feldtheorie? Zerstörer der Welten? David schüttelte den Kopf. Was zum Teufel war hier los? Eine Sache war klar: Die FBI-Agenten waren nicht die einzigen, die Kleinmans Geheimnis haben wollten. Jemand anderes hatte den Professor gefoltert, jemand anderes hatte das Gebäude an der Liberty Street überfallen. Und David hatte keine Ahnung, wer das war. Von diesem Gedanken beunruhigt, machte er die Augen 42
auf und blickte den Fahrradweg entlang. Hier konnte er nicht bleiben. Er musste sich etwas überlegen. Er wusste, dass es nicht besonders schlau wäre, zu seinem oder Karens Apartment zu gehen; das FBI überwachte mittlerweile wahrscheinlich beide Wohnungen. Aus demselben Grund konnte er es auch nicht riskieren, einen seiner Freunde oder Kollegen aufzusuchen. Nein, er musste aus New York verschwinden. Er musste sich Bargeld besorgen und sich dann auf den Weg machen, vielleicht eine Möglichkeit einfallen lassen, wie er die kanadische Grenze überqueren konnte. Er konnte keinen Wagen mieten - die FBI-Agenten würden die Transaktion bald auf seinem Kreditkartenkonto sehen und jedem State Trooper im Nordosten das Nummernschild durchgeben -, aber vielleicht konnte er mit ein bisschen Glück einen Zug oder einen Bus nehmen, ohne bemerkt zu werden. David fand einen Geldautomaten und hob so viel Geld von seinem Bank- und seinem Kreditkartenkonto ab, wie er konnte. Auch diese Transaktionen würde das FBI entdecken, aber das ließ sich nicht vermeiden. Dann ging er schnurstracks zum Bahnhof Penn Station. Sobald er allerdings durch den Bahnhofseingang an der Eighth Avenue gegangen war, wusste er, dass er zu spät war. Im Bereich vor den Fahrkartenschaltern wimmelte es von Polizisten und Mitgliedern der Nationalgarde. An den Eingängen zu den einzelnen Bahnsteigen verlangten die Cops Ausweise von allen Fahrgästen, und Deutsche Schäferhunde beschnüffelten jede Handtasche, jeden Aktenkoffer und jedes Hosenbein. David verwünschte sich im Stillen, während er auf die andere Seite des Bahnhofs ging. Er hätte schon vor einer Stunde im PATH Station downtown einen Zug besteigen sollen. Als David sich dem Ausgang Seventh Avenue näherte, strömte plötzlich eine neue Welle von Polizisten in die Eingangshalle und bildete eine geschlossene Linie vor den Trep 43
pen und Aufzügen. »Ach du Scheiße«, flüsterte David. Einer der Cops hob ein Megafon an den Mund. »Okay, Leute«, tönte er. »Bilden Sie vor der Treppe eine Reihe und holen Sie die Führerscheine raus. Wir müssen irgendeinen Ausweis zu sehen bekommen, bevor Sie den Bahnhof verlassen können.« David drehte sich um und ging denselben Weg wieder zurück, wobei er versuchte, so unauffällig wie möglich zu wirken, aber mittlerweile standen auch an den Ausgängen zur Eighth Avenue Cops. Voller Panik begann er sich nach einem Versteck umzusehen, einem Kiosk oder Imbissstand, wo er ein paar Minuten Unterschlupf finden und seine fünf Sinne wieder zusammennehmen konnte, aber die meisten Geschäfte in der Bahnhofshalle hatten bereits zugemacht. Die einzigen Lokale, die noch nicht geschlossen hatten, waren ein Dunkin' Donuts voller Polizisten und eine trostlose kleine Kneipe namens The Station Break. David hatte seit Jahren keine Kneipe mehr von innen gesehen,
und allein bei dem Gedanken daran, diese hier zu betreten, stieg ihm die Galle hoch. Aber er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. In der Kneipe tobten ein Dutzend fleischige, bärtige Burschen Anfang bis Mitte zwanzig um einen Tisch herum, der mit Budweiser-Dosen vollstand. All die Männer trugen identische, speziell angefertigte T-Shirts mit dem Aufdruck P ETES J UNGGESELLENABSCHIED über einer vollbusigen Silhouette. Sie waren unglaublich laut und hatten offensichtlich bis auf den Barkeeper, der mit einem angewiderten Stirnrunzeln hinter der Kasse stand, alle anderen Gäste aus dem Lokal vertrieben. David nahm an der Theke Platz, lächelte und tat so, als wäre alles in Ordnung. »Ich hätte gern eine Cola.« Ohne ein Wort griff der Barkeeper nach einem trüben Glas und füllte es mit Eis. David sah zwei Toilettentüren 44
am hinteren Ende des Lokals, aber keinen Notausgang. Es gab einen Fernseher an der Wand, aber der Ton war abgestellt; eine junge blonde Moderatorin stand neben den Worten T ERRORALARM und starrte ernst in die Kamera. »Hey, die ist verdammt scharf!«, rief einer der Männer. Er kam taumelnd auf die Beine, um einen besseren Blick auf die Moderatorin werfen zu können. »Oh yeah! Trag mir die Nachrichten vor, Baby! Komm schon, trag sie Larry vor! Larry will die ganze Geschichte kennenlernen, Baby!« Während seine Freunde in brüllendes Gelächter ausbrachen, näherte sich Larry der Bar. Er hatte einen Bauch von der Größe eines Medizinballs über dem Gürtel hängen. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Bart war mit Popcornbröckchen gesprenkelt, und er roch derart stark nach Budweiser, dass David die Luft anhalten musste. »Hey, Barkeeper!«, schrie Larry. »Wie viel kostet ein Jägermeister?« Die Falten auf der Stirn des Barkeepers vertieften sich. »Zehn Dollar.« »Herrgott im Himmel!« Larry schlug mit der Faust auf die Theke. »Das ist der Grund dafür, dass ich nicht mehr in diese Scheißstadt komme!« Der Barkeeper ignorierte ihn und gab David seine Cola. »Macht sechs Dollar.« Larry wandte sich an David. »Sehen Sie, was ich meine? Das ist der reinste Wucher. Das ist dreimal so teuer wie in Jersey.« David sagte nichts. Er wollte den Typ nicht ermutigen. Er hatte schon genug Dinge, um die er sich Sorgen machen musste. Er gab dem Barkeeper einen Zwanziger. »Bei den Tittenbars ist es genauso«, fahr Larry fort. »Wir kommen gerade aus einem Lokal, das Cat Club heißt. An der Twenty-First Street. Die Mädchen wollten da fünfzig Dollar für einen Strip über meinem Schoß haben. Können Sie sich das vorstellen? Fünfzig beschissene Dollar? Also hab 44
ich gesagt: Scheiß auf diesen Nepp, fahren wir wieder nach Metuchen. Da gibt's einen Club an der Route 9, die Lucky Lounge, in dem sind die Mädchen genauso gut, und für einen Strip auf dem Schoß bezahlt man nur zehn Mäuse.« David hätte den Kerl am liebsten erwürgt. Die Polizisten und die Männer von der Nationalgarde kamen immer näher, patrouillierten mit ihren Schäferhunden und ihren M-16ern unmittelbar vor dem Station Break vorbei, aber anstatt sich zu überlegen, wie er aus diesem Chaos wieder rauskam, musste David diesem Trottel aus New Jersey zuhören. Er schüttelte frustriert den Kopf. »Entschuldigen Sie, aber im Moment bin ich ...« »Hey, wie heißen Sie, Kumpel?« Larry hielt ihm die rechte Hand hin. David knirschte mit den Zähnen. »Phil. Hören Sie, ich bin ein bisschen ...« »Schön, Sie kennenzulernen, Phil! Ich heiße Larry Nelson.« Er packte Davids Hand und schüttelte sie energisch. Dann zeigte er auf seine Freunde. »Das sind meine Kumpels aus Metuchen. Sehen Sie Pete da hinten? Er heiratet am Sonntag.« Der Bräutigam hing über dem Tisch, sein Kopf war vor lauter Budweiser-Dosen fast nicht mehr zu sehen. Seine Augen waren geschlossen, und eine Seite seines Gesichts war fest gegen die Tischplatte gepresst, als versuche er das Rumpeln der Züge zu hören, die in den Bahnhof einfuhren. David verzog das Gesicht. Das war ich vor zwanzig Jahren, dachte er. Ein dummer Junge, der sich mit seinen Freunden betrank. Der einzige Unterschied war, dass David keine Entschuldigung wie einen Junggesellenabend gebraucht hatte, um sich die Kante zu geben. Während der letzten paar Monate seines Physikstudiums hatte er sich jeden Abend volllaufen lassen. »Wir wollten den Zug um Null Uhr dreißig zurück nach Jersey nehmen«, fügte Larry hinzu, »aber dann haben die 45
Cops angefangen, Ausweise zu überprüfen, und die verdammte Schlange wurde so lang, dass wir den Zug verpasst haben. Jetzt müssen wir eine Stunde auf den nächsten warten.« »Was ist, wenn man keinen Ausweis dabeihat?«, fragte David. »Lassen sie einen dann nicht in den Zug?« »Nee, nicht heute Abend. Wir haben einen Typ gesehen, der gesagt hat, er hätte seine Brieftasche zu Hause gelassen. Die Cops haben ihn abgeführt. Das ist so ein verdammter Terroralarm. Gelber Alarm, roter Alarm - ich kann mich nicht erinnern, was für einer.« Davids Magen verkrampfte sich. Herrgott, dachte er, ich werde es nie schaffen, hier rauszukommen. Das ganze verdammte Land ist auf der Suche nach mir. »Das einzig Gute an der ganzen Sache ist, dass ich morgen früh nicht arbeiten muss«, sagte Larry. »Ich hab diese Woche Abendschicht und muss deshalb erst um sechzehn Uhr im Polizeirevier aufkreuzen.«
David starrte ihn einen Moment lang an, den ungepflegten Bart, den Bierbauch. »Sie sind ein Cop?« Er nickte stolz. »Ich bin Dispatcher für das Police Department von Metuchen. Hab gerade vor zwei Wochen angefangen.« Erstaunlich, dachte David. Er hatte den einzigen Cop in ganz New York City gefunden, der nicht nach ihm suchte. Zunächst sah er nur die Merkwürdigkeit dieser zufälligen Begegnung, aber nach ein paar Sekunden sah er auch die Gelegenheit, die sich ihm dadurch bot. Er versuchte, sich an das bisschen zu erinnern, was er geografisch über New Jersey wusste. »Ich lebe gar nicht weit von Metuchen entfernt, wissen Sie. In New Brunswick.« »Ohne Scheiß?« Larry wandte sich an seine Freunde. »Hey, Jungs, hört mal her! Der Typ hier kommt aus New Brunswick .« 46
Mehrere von ihnen hoben ihre Bierdosen zu einem halbherzigen Salut hoch. Ihre Stimmung tendiert langsam gegen den Nullpunkt, dachte David. Sie mussten ein wenig aufgemuntert werden. »Hören Sie, Larry, ich würde gern was für Ihren Freund Pete tun. Zu Ehren seiner Hochzeit und so. Wie wär's, wenn ich allen einen Jägermeister ausgebe?« Larry machte große Augen. »Hey, das wäre super!« David stand von seinem Barhocker auf und hielt seine Arme senkrecht in die Höhe, als wäre er ein Football-Schiedsrichter, der einen Touchdown bekannt gibt. »Eine Lokalrunde Jägermeister!« Die plötzlich wiederbelebte Junggesellenmannschaft ließ ein lautes Johlen ertönen. Als David sich an den Barkeeper wandte, machte der Mann allerdings keinen übermäßig glücklichen Eindruck. »Lassen Sie erst mal das Geld sehen«, sagte er. »Das wären dann hundertdreißig.« David zog eine dicke Rolle Zwanziger aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tresen. »Lassen Sie sie einfach anrollen.« Karen lag neben Amory Van Cleve, geschäftsführender Teilhaber der Kanzlei Morton Mclntyre & Van Cleve, und lauschte dem seltsamen Pfeifen, das aus den Nasenlöchern des schlafenden Anwalts drang. Dies war das erste Mal, dass es ihr auffiel, obwohl sie mittlerweile seit mehreren Wochen mit Amory ins Bett ging. Das Pfeifen hatte drei verschiedene Töne - F über dem eingestrichenen C, wenn er Luft holte, das zunächst auf D und dann auf B hinuntersank, wenn er ausatmete. Karen hatte Musik studiert, bevor sie mit dem Jurastudium anfing. Nach einer Weile wurde ihr klar, warum ihr die Tonfolge so vertraut vorkam: Es waren die ersten drei Noten von »The Star-Spangled Banner«, der Nationalhymne. Karen unterdrückte ein Lachen. Ihr neuer Freund war einfach von ganzem Herzen ein altmodischer Patriot. 46
Er lag auf dem Rücken und hielt die manikürten Hände vor der Brust gefaltet. Karen rückte näher an ihn heran und musterte sein volles graues Haupthaar,
seine Patriziernase und sein ausgeprägtes Kinn. Für einen Sechzigjährigen sieht er eigentlich verdammt gut aus, entschied sie. Und selbst wenn er außer dem nächtlichen Pfeifen noch ein paar Fehler hatte, selbst wenn er nicht mehr so gut hörte und nicht der leidenschaftlichste aller Liebhaber war, ließen seine Vorzüge all diese Fehler trivial erscheinen. Amory war würdevoll, wohlerzogen und gut gelaunt. Und was am besten war: Er wusste, was Karen wollte. Er wusste, was für sie eine Rolle spielte. Das war etwas, was David nie kapiert zu haben schien, obwohl er drei Jahre um sie geworben hatte und neun mit ihr verheiratet gewesen war. Eine Sirene heulte auf der Columbus Avenue. Von denen schienen heute Nacht eine Menge unterwegs zu sein. Wahrscheinlich unterwegs zu irgendeinem Feuer oder vielleicht zu einem großem Wasserrohrbruch. Sie würde morgen in der Zeitung nachsehen. Natürlich konnte sie David nicht an allem die Schuld geben. Karen hatte selbst erst begriffen, was sie wollte, als die Hälfte ihrer Ehe hinter ihr lag. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie eine naive dreiundzwanzig Jahre alte Frau, eine Klavierstudentin an der Juilliard School, die einen aussichtslosen Kampf gegen Kandidaten mit mehr Talent führte. David war fünf Jahre älter und schon ein erfolgreicher Professor im Programm der Columbia für Wissenschaftsgeschichte. Karen verliebte sich in ihn, weil er lustig und klug war und gut aussah, und sie begann sich die Zukunft auszumalen, die sie sich zusammen aufbauen würden. Nach ihrer Hochzeit gab sie Juilliard auf und begann mit dem Jurastudium. Nach Jonahs Geburt unterbrach sie ihr Studium ein Jahr lang, aber innerhalb eines Jahrzehnts war sie Seniorpartnerin bei Morton Mclntyre & Van Cleve und verdiente doppelt so 47
viel wie ihr Mann. Außerdem wusste sie inzwischen genau, was sie wollte: ein gemütliches Zuhause für ihre Familie, eine Privatschule für ihren Sohn und einen prominenteren Platz in den gesellschaftlichen Kreisen der City. Karen konnte David verzeihen, dass er diese Interessen nicht teilte - er war im Grunde seines Herzens Wissenschaftler und legte deshalb nicht viel Wert auf seine äußere Erscheinung. Was sie ihm nicht verzeihen konnte, war seine völlige Missachtung ihrer Wünsche. Er schien ein perverses Vergnügen dabei zu empfinden, so ungepflegt wie möglich auszusehen, indem er Jeans und Freizeitschuhe zu seinen Seminaren anzog und sich mehrere Tage lang nicht rasierte. Zum Teil ließ sich das zweifellos auf seine chaotische Erziehung zurückführen. Er war mit einem prügelnden Vater und einer geschlagenen, verhuschten Mutter aufgewachsen, und obwohl er hart daran gearbeitet hatte, dieses Trauma zu überwinden, war er nur teilweise erfolgreich gewesen. David war ein wundervoller Vater für seinen Sohn geworden, aber ein armseliger Ehemann. Immer wenn Karen etwas vorschlug, machte er es zunichte. Er wollte nicht mal darüber nachdenken, in eine größere Wohnung zu ziehen oder Jonah
auf eine Privatschule zu schicken. In ihren Augen schlug es dem Fass den Boden aus, als er das Angebot zurückwies, die Leitung des Historischen Seminars zu übernehmen. Diese Stellung hätte ihnen zusätzliche dreißigtausend Dollar pro Jahr gebracht, was gereicht hätte, um ihre Küche zu renovieren oder die Anzahlung auf ein Landhaus zu leisten, aber David lehnte sie ab, weil die damit verbundenen Verpflichtungen ihm »kaum noch Zeit für seine Forschung gelassen hätten«, wie er sagte. Danach hatte Karen ihn aufgegeben. Sie konnte nicht mit einem Mann zusammenleben, der ihr auch nicht das kleinste Zugeständnis machen wollte. Ach, hör endlich auf, über David nachzudenken, ermahnte sie sich. Was sollte das schon bringen. Sie hatte doch jetzt 48
Arnory. Sie hatten schon davon gesprochen, ein Apartment zu kaufen. Ein Haus auf der East Side wäre eine schöne Abwechslung. Vielleicht eine Fünf-ZimmerWohnung in einem dieser Gebäude an der Park Avenue. Oder ein Stadthaus mit Dachgarten. Das würde eine schöne Stange Geld kosten, aber Amory konnte es sich leisten. Karen war so sehr damit beschäftigt, sich das perfekte Apartment vorzustellen, dass sie das Klingeln an der Tür beim ersten Mal nicht hörte. Das zweite Klingeln hörte sie allerdings, weil es davon begleitet wurde, dass jemand gegen die Tür hämmerte. »Mrs. Swift?«, ertönte eine eindringliche Bassstimme. »Sind Sie da, Mrs. Swift?« Sie setzte sich im Bett auf, und ihr Herz pochte wie wild. Wer um alles in der Welt würde um diese Uhrzeit an ihrer Tür klopfen? Und warum benutzte er den Ehenamen, den sie vor zwei Jahren aufgegeben hatte? Beunruhigt packte sie Amory an der Schulter und schüttelte ihn. »Amory! Wach auf! Da ist jemand an der Tür.« Amory drehte den Kopf auf die andere Seite und murmelte etwas. Er hatte einen gesunden Schlaf. »Machen Sie auf, Mrs. Swift«, vernahm sie eine andere tiefe Stimme. »Hier ist das FBI. Wir müssen mit Ihnen sprechen.« Das FBI? Was war das denn? Wollte ihr jemand einen Streich spielen? Dann erinnerte sie sich an den Telefonanruf von vor ein paar Stunden, der Anruf des Detectives, der nach David gefragt hatte. War es das? War David in irgendwelche Schwierigkeiten geraten? Sie schüttelte Amory noch mal an der Schulter, richtig fest diesmal, und er öffnete die" Augen. »Was?«, krächzte er. »Was ist denn? Was ist hier los?« »Steh auf! Da sind ein paar Männer an der Tür! Sie sagen, sie wären vom FBI!« »Was? Wie spät ist es?« 48
»Steh einfach auf und sieh nach!«
Amory seufzte, griff nach seiner Brille und stieg aus dem Bett. Er streifte einen rötlich braunen Bademantel über seinen gelben Schlafanzug und zog den Gürtel zu. Karen warf sich ein altes T-Shirt über und schlüpfte in eine Trainingshose. »Dies ist Ihre letzte Chance!« Eine dritte Stimme. »Wenn Sie die Tür nicht aufmachen, schlagen wir sie ein! Hören Sie mich, Mrs. Swift?« »Moment mal! Nicht so schnell!«, erwiderte Amory. »Ich bin schon auf dem Weg.« Karen folgte ihm, hielt sich aber ein wenig im Hintergrund. Während Amory in die Eingangsdiele ging, bezog sie instinktiv Stellung vor der Tür zu Jonahs Kinderzimmer. Gott sei Dank hatte ihr Sohn auch einen gesunden Schlaf. Amory beugte sich ein wenig vor, sodass er durch den Spion gucken konnte. »Wer sind Sie, meine Herren?«, fragte er durch die Wohnungstür. »Und was machen Sie hier mitten in der Nacht?« »Wir haben Ihnen gesagt, dass wir vom FBI sind. Machen Sie auf.« »Tut mir leid, aber ich muss zuerst Ihre Dienstmarken sehen.« Karen starrte auf Amorys Hinterkopf, während er durch den Spion schaute. Nach ein paar Sekunden warf er ihr über die Schulter einen Blick zu. »Es sind wirklich FBI-Agenten«, sagte er. »Ich will mal feststellen, was sie wollen.« Karen rief noch: »Warte, lass sie nicht ...«, aber es war zu spät. Amory entriegelte die Tür und drehte den Knauf um. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen, und zwei riesige Männer in grauen Anzügen griffen Amory an, warfen ihn auf den Rücken und hielten ihn am Boden fest. Zwei weitere Agenten sprangen über ihn und rannten in das Apartment, ein hochgewachsener, breitschultriger Blonder 49
und ein Schwarzer mit einem dicken Hals. Karen brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass beide Schusswaffen auf sie richteten. »Keine Bewegung!«, schrie der Blonde. Sein Gesicht war angespannt, blass und ungeheuer breit. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, gab er seinem Partner ein Handzeichen. »Sieh in den Schlafzimmern nach.« Karen machte einen Schritt nach hinten. Sie spürte die Tür zu Jonahs Zimmer in ihrem Rücken. »Bitte nicht! Ich habe ein Kind! Er ist...« »Ich hab gesagt: K EINE B EWEGUNG!« Der Blonde kam auf sie zu. Die Waffe in seiner Hand zitterte, als hätte sie ein Eigenleben. Sie hörte Schritte hinter der Kinderzimmertür und dann ein leises, verängstigtes »Mommy?« Aber die Agenten schienen nichts davon zu hören. Beide bewegten sich jetzt mit hoch erhobenen Pistolen auf sie zu, die Augen fest auf die Tür gerichtet, als ob sie versuchten hindurchzusehen. »Aus DEM W EG!«, befahl der Blonde. Karen stand da wie gelähmt, sie atmete nicht einmal. Dann hörte sie Jonahs Schritte direkt hinter ihr, hörte das blecherne Wackeln des Türknaufs, und mit
einer blitzartigen Bewegung führ sie herum und stieß die Tür auf und warf sich auf ihren Sohn. »N EIN , NEIN !«, schrie sie. »T UN SIE IHM NICHT WEH !« Die Agenten standen über ihr, ihre massigen Gestalten füllten den Türrahmen aus, ihre Pistolen nach unten gerichtet, aber das war okay, es war okay. Sie bedeckte jeden Quadratzentimeter von Jonahs Körper mit ihrem eigenen. Sein Kopf ruhte unter ihrem Kinn an ihrer Kehle, und seine Schultern wurden von ihren Brüsten gegen den Boden gedrückt. Sie konnte ihn vor Furcht und Verwirrung zittern spüren. »Mommy, Mommy!«, flüsterte er weinend dem Holzboden zu. Aber er war in Sicherheit. 50
Während der blonde Agent über ihr Wache stand, ging der schwarze ins Kinderzimmer und öffnete die Tür zum Wandschrank. »Alles klar!«, rief er. Dann inspizierte er die anderen Zimmer. Im Hintergrund konnte Karen neben dem Geräusch von Jonahs Weinen und den Rufen der Agenten Amorys empörte Stimme hören. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, was Sie hier machen?«, schrie er. »Sie können diese Wohnung nicht ohne eine richterliche Anordnung durchsuchen! Das ist eine eindeutige Verletzung unserer verfassungsmäßigen Rechte!« Nach ein paar Sekunden kehrte der schwarze Agent zurück, um dem blonden, der das Kommando zu haben schien, Bericht zu erstatten. »Sonst ist niemand hier«, sagte er. »Und der alte Mann entspricht nicht der Beschreibung.« Der blonde Agent trat von Karen zurück und ging in die Eingangsdiele, um sich mit seinen Partnern zu beraten. Er steckte die Waffe ins Holster. Karen setzte sich aufrecht hin, umklammerte Jonah und erschauerte vor Erleichterung. Amory lag ein kleines Stück von ihr entfernt auf dem Bauch, die Hände mit einer Art Plastikschnur hinter dem Rücken zusammengebunden. »Das wird Ihnen noch leidtun, meine Herren!«, rief er. »Ich bin gut befreundet mit dem Generalbundesanwalt!« Der blonde Agent schaute ihn finster an. »Halt die Klappe, Opa«, sagte er. Dann wandte er sich an Karen. »Wo ist Ihr Exmann, Mrs. Swift?« Erstaunlicherweise hatte Karen keine Angst mehr. Nachdem der Agent seine Waffe weggesteckt hatte, empfand sie nur noch Verachtung für ihn. »Ist das der Grund, warum Sie hier reingeplatzt sind? Weil Sie David suchen?« »Beantworten Sie einfach ...« »Sie verdammter Scheißkerl! Sie haben Ihre Waffe auf einen siebenjährigen Jungen gerichtet!« Während Karen den FBI-Mann anfunkelte, zog Jonah vor 50
ne an ihrem T-Shirt. Sein Gesicht war feucht und fleckig. »Wo ist Daddy?«, fragte er weinend. »Ich will Daddy hier haben!« Einen Moment lang schien der Agent zu zögern. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab, als er Karen und Jonah betrachtete, die aneinandergekuschelt im Türrahmen
saßen. Aber dann wurde seine Mimik wieder starr. »David Swift wird wegen Mordes gesucht. Wir mussten die notwendigen Vorkehrungen treffen.« Karen hob die Hand an den Mund. Nein, dachte sie. Das ist unmöglich. David hatte viele Fehler, aber Gewalttätigkeit gehörte nicht dazu. Das Brutalste, was sie ihn je hatte tun sehen, war, mit der Faust in seinen Softball-Handschuh zu schlagen, nachdem seine Mannschaft ein Spiel verloren hatte. Er hatte sich so gut im Griff, dass seine Gefühle nie außer Kontrolle gerieten. Er hatte von seinem Vater gelernt, was andernfalls passieren konnte. »Das ist eine Lüge«, sagte sie. »Wer hat Ihnen das erzählt?« Die Augen des blonden FBI-Agenten wurden schmaler. »Ich kenne ein paar der Männer, die er umgebracht hat, Mrs. Swift. Zwei von ihnen waren Freunde von mir.« Er starrte sie noch einen Moment an, kalt und ohne mit den Wimpern zu zucken. Dann sprach er in das Mikrofon, das im Ärmel seines Jacketts verborgen war. »Hier spricht Agent Brock. Wir haben hier drei, die wir mitbringen. Rufen Sie die Zentrale an und sagen Sie Bescheid, dass wir eine Frau und einen Minderjährigen dabeihaben.« Karen nahm Jonah fester in den Arm. »Nein! Das können Sie nicht machen!« Der Agent schüttelte den Kopf. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Bis wir Ihren Exmann finden.« Er griff in die Tasche seines Jacketts und holte ein paar Streifen Plastikschnur heraus. 51
»Auf Phils Wohl! Du bist der Größte, Phil! Du bist der Allergrößte!« Um den Tisch im Station Break herum erhoben die Teilnehmer von Petes Junggesellenabend ihre Gläser mit Jägermeister, um Davids Alter Ego, dem großzügigen Phil aus New Brunswick, zuzuprosten. Es war die dritte Runde, die David ausgegeben hatte. Larry hielt in jeder Hand ein Glas und stimmte den Sprechchor an: »Phil! Phil! Phil!«, bevor er die beiden Gläser in schneller Folge leerte. Sogar Pete, der betrunkene Bräutigam, hob kurz den Kopf vom Tisch und murmelte: »Du bist der Größte!« David reagierte auf die gleiche Weise, legte den Arm um Pete und rief: »Nein, DU bist der Größte! Du bist der G RÖSSTE, du verrückter Scheißer!« Aber obwohl David zusammen mit den anderen brüllte und grölte, ließ er keinen Tropfen Alkohol an seine Lippen kommen. Er schob seine Gläser nacheinander Larry hin, der nur zu glücklich war, sie leeren zu dürfen. Nachdem die Sprechchöre verklungen waren, kam Larry schwankend auf die Beine. »Und vergesst Vinnie nicht!«, schrie er. »Vinnie soll leben, der muschigeplagte Scheißer, der heute Abend nicht bei uns sein konnte, weil seine Freundin denkt, wir würden einen miesen Einfluss auf ihn haben.« Alle schrien Variationen von »Scheiß auf diese Schlampe!«. In der Zwischenzeit öffnete Larry eine Plastiktüte, die auf dem Tisch lag, und nahm ein ordentlich gefaltetes blaues Hemd heraus. Es war eins dieser speziell angefertigten T-Shirts, das alle anderen anhatten, und trug ebenfalls vorn den Aufdruck P ETES J UNGGESELLENABSCHIED. »Seht euch das an!«, tönte Larry. »Weil Vinnie es
nicht geschafft hat mitzukommen, hab ich noch dieses T-Shirt übrig!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Wisst ihr, was ich mache? Ich werde dafür sorgen, dass diese beschissene Freundin es bezahlt.« Die anderen Junggesellen riefen: »Yeah, lass die Schlampe zahlen!« und ähnliche Stellungnahmen, aber David starr 52
te nur auf das T-Shirt. Nach einigem Nachdenken schlug er mit der Faust auf den Tisch, damit jeder ihn ansah. »Ich werde dir das T-Shirt abkaufen, Larry«, verkündete er. »Wie viel kostet es?« Larry machte einen verdutzten Eindruck. »Ach, Phil, das brauchst du nicht. Ich meine, du hast uns schon all die Runden ausgegeben und ...« »Nein, nein, ich bestehe darauf! Ich will es kaufen! Ich will ein offizielles Mitglied von Petes Scheiß-Junggesellenabend werden!« Er stand auf und schob Larry einen Zwanzig-Dollar-Schein hin. Dann schnappte er sich das T-Shirt und zog es an, über sein Softball-Trikot. Natürlich jubelten ihm alle zu. »Phil! Phil! Phil! Phil!« Dann schrie jemand: »Hey, es ist fast halb zwei, wir werden den Scheiß-Zug wieder verpassen!«, und die versammelten Junggesellen stolperten los. »Gehen wir!«, befahl Larry. »Wir müssen bei der Lucky Lounge ankommen, bevor sie zumacht! Jemand muss Pete helfen!« Während zwei der Feiernden Pete an den Ellbogen packten, erblickte David seine Chance. Er rief mit undeutlicher Stimme: »Wartet auf mich!«, und fiel dann der Länge nach hin, wobei er seinen Sturz vorsichtig mit seinen Händen abfing. Larry beugte sich schwankend über ihn. »Hey, Phil, alles in Ordnung?« »Ich bin ein bisschen ... durch den Wind«, antwortete David, der versuchte, so betrunken wie möglich zu klingen. »Kannst du mir ... hochhelfen?« »Klar, Kumpel, kein Problem!« Larry ergriff Davids Arm, zog ihn hoch und führte^ ihn zur Tür des Station Break. David lehnte sich gegen die Schulter des großen Mannes, während sie aus der Kneipe torkelten. Obwohl David seit knapp zwanzig Jahren nicht mehr betrunken gewesen war, konnte er ohne Schwierigkeiten den schwankenden Gang und die 52
gebeugte Haltung imitieren. Die Erinnerung daran war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. In der Bahnhofshalle befanden sich mittlerweile kaum noch Fahrgäste, dafür wimmelte es immer noch von Polizisten. Ein halbes Dutzend Cops standen vor dem Eingang zum Gleis zehn, auf den die Junggesellen zusteuerten. Larry stieß mit der Faust in die Luft, als sie sich den Polizisten näherten. »Okay, NYPD!«, rief er mit dröhnender Stimme. »Wir stehen hinter euch, Mann! Schnappt euch diese Scheiß-Terroristen!« »Yeah, schnappt euch die Scheißer!«, rief der nächste. »M ACHT SIE ALLE KALT !«
Ein hagerer Police Sergeant streckte die Hände aus, als wolle er den Verkehr anhalten. »Okay, Leute, beruhigt euch«, sagte er. »Holt einfach alle euren Führerschein raus.« David drehte sich der Magen um, als die anderen ihre Brieftaschen hervorzogen. Okay, dachte er. Jetzt geht es los. Er gab sich ganz den Anschein, seine Hosentaschen abzuklopfen, zuerst die vorderen, dann die Gesäßtaschen. »Scheiße«, rief er. »Ach du Scheiße!« Er ließ sich auf Hände und Knie fallen und begann wie ein betrunkener Schwachkopf den Boden abzusuchen. Larry beugte sich wieder über ihn. »Was ist denn los, Phil?« »Meine Brieftasche«, keuchte David und klammerte sich an Larrys Schulter. »Kann meine ... verdammte Brieftasche nicht finden.« »Hast du sie in der Kneipe gelassen?« David schüttelte den Kopf. »Scheiße ... weiß nicht... die könnte ... überall sein.« Der Sergeant nahm die Aufregung zur Kenntnis und kam herüber. »Was ist denn hier los?« »Phil hat seine Brieftasche verloren«, teilte Larry ihm mit. 53 Mit offen stehendem Mund und zur Seite hängendem Kopf schaute David zu dem Sergeant hoch. »Ich versteh ... das nich ... sie war ... grad noch ... hier.« Der Cop legte die Stirn in Falten. Sein Mund war eine straffe, grimmige Linie. Oh-oh, dachte David. Der hier ist ein scharfer Hund. »Haben Sie keinen Ausweis dabei?« »Das ist Phil«, erklärte Larry. »Aus New Brunswick.« Er zeigte auf das J UNGGESELLENABSCHIED -T-S HIRT . »Er gehört zu uns.« »Man braucht einen Ausweis, um in den Zug zu kommen«, erwiderte der Sergeant. Wie aufs Stichwort erklang ein hoher Glockenton aus den Lautsprechern des Bahnhofs. »Achtung, Achtung«, verkündete eine Stimme vom Band. »Letzter Aufruf für den Zug der Northeast Corridor Line an Gleis zehn mit den Stationen Newark, Elizabeth, Rahway, Metuchen, New Brunswick und Princeton Junction. Fahrgäste auf Gleis zehn, bitte einsteigen.« »Wir müssen in diesen Zug einsteigen!«, rief Larry. Er griff hektisch in die Hosentasche und zog seine eigene Brieftasche heraus und öffnete sie für den Sergeant. »Sehen Sie, ich bin bei der Polizei von Metuchen. Hier ist meine Marke. Ich sage Ihnen, Phil gehört zu uns. Er ist mein Kumpel.« Der Sergeant schaute mit immer noch gerunzelter Stirn auf das Dienstabzeichen, zögerte, ihretwegen eine Ausnahme zu machen. Und in dem Moment hörte David einen Hund bellen. Er drehte sich um und sah einen Mann von der Nationalgarde und seinen Schäferhund etwa zwanzig Meter entfernt unter einer Ankunftstafel hervorkommen. Der Hund, der genau auf sie zuging*, zog mit einer derartigen Begeisterung an seiner Leine, dass der Nationalgardist sich nach
hinten lehnen musste, um das Gleichgewicht zu bewahren. O Herr im Himmel, dachte David. Das verdammte Tier riecht irgendwas, was ich an mir habe. 54
Er schloss die Augen und eine Welle von Übelkeit erfasste ihn. Es ist hoffnungslos, dachte er. Sie werden mich festnehmen und mich dem FBI übergeben, und die werden mich zurück in eins ihrer Verhörzimmer bringen. Er konnte den fensterlosen Raum mit den nackten Wänden und den Neonröhren an der Decke und den FBI Agenten, die in grauen Anzügen um den Metalltisch herumstanden, vor seinem inneren Auge sehen. Eine weitere Welle der Übelkeit fuhr durch seinen Körper, und diese war so heftig, dass David sich plötzlich krümmte und trocken würgen musste. Ein dünner Speichelfaden zog sich von seinem Mundwinkel bis zu dem Betonboden. »Vorsicht!«, warnte Larry. »Phil muss sich gleich übergeben!« Der Sergeant machte einen schnellen Schritt zurück. »Ach du Scheiße«, rief er. »Schafft ihn hier weg!« David hob den Kopf und schaute zu dem Sergeant hoch. Der Mann verzog die Lippen, sichtlich angeekelt. Aus einem Impuls heraus stolperte David näher auf den Cop zu und machte ein würgendes Geräusch, ein feuchtes gutturales »Ahhhhhhh!« Der Sergeant stieß David von sich, schob ihn auf Larry zu. »Scheiße, schafft diesen Typ hier fort!«, schrie er. »Los, nehmt ihn in den Zug mit.« »Ja, Sir!«, erwiderte Larry und packte David unter den Achselhöhlen. Und zusammen eilten sie die Treppe zu Gleis zehn hinunter und in den Ein-Uhrdreißig-Zug nach Metuchen. Simon saß an einem alten Schreibtisch in einer der grotesk überteuerten Suiten im Waldorf-Astoria. Das Hotel stellte einem zweitausend Dollar pro Nacht für einen stickigen Salon mit Fenster auf die Park Avenue und ein Schlafzimmer in Rechnung, das wie ein Bordell aus der Zarenzeit eingerichtet 54
war. Simon war so erfolgreich, dass er sich das leisten konnte, aber er weigerte sich aus Prinzip zu bezahlen; stattdessen hatte er sich eine Kreditkartennummer aus einer der undichten Rohrleitungen des Internets gemopst. Ein ahnungsloser Bewohner Oregons namens Neil Davison bezahlte jetzt Simons Aufenthalt im Waldorf sowie für den Lammrücken und den halben Liter Stolichnaya, die er beim Zimmerservice bestellt hatte. Während Simon noch ein Glas Wodka hinunterkippte, starrte er auf den Bildschirm seines Laptops, auf dem die Webseite des Physikseminars der Columbia University zu sehen war. Praktischerweise enthielt die Liste der Mitglieder des Lehrkörpers Farbfotos aller Professoren, aller Dozenten und Assistenten. Simon scrollte langsam nach unten und musterte jedes Gesicht. Die Annahme, dass es sich bei Kleinmans Komplizen um einen Physikprofessor handelte, schien auf der Hand zu liegen. Die Einheitliche Feldtheorie wäre ganz
bestimmt für einen Laien zu kompliziert; man würde vermutlich umfassende Grundkenntnisse in der Relativitätstheorie und in Quantenmechanik benötigen, um auch nur mathematische Terme in den revidierten Feldgleichungen zu erkennen. Und dennoch sah Simon den Mann in den Freizeitschuhen nirgendwo auf der Webseite des Physikalischen Seminars. Er überprüfte zur Sicherheit noch die entsprechenden Listen des wissenschaftlichen Personals an zwanzig anderen Universitäten mit berühmten Physikalischen Abteilungen - Harvard, Princeton, MIT, Stanford und so weiter -, fand aber dennoch keinen Hinweis auf sein Opfer in den Fotogalerien lächelnder Wissenschaftler. Nach einer Stunde klappte er den Laptop zu und warf die leere Flasche Stoli in den Papierkorb. Es war nicht zu fassen. Er brauchte nur den Namen des Mannes. Um sich zu beruhigen, ging Simon zum Fenster und starrte auf die Lichter an der Park Avenue. Selbst um zwei Uhr 55
morgens bewegte sich ein steter Strom von Taxis über die Straße. Während er den Yellow Cabs dabei zusah, wie sie sich in eine gute Position zu drängeln versuchten, fragte sich Simon, ob er irgendwas übersehen hatte, irgendein Detail aus Professor Kleinmans Leben, das die Identität seines Kollegen offenbarte. Vielleicht war der Mann ein Neffe oder Patensohn des Physikers, vielleicht sogar das uneheliche Kind aus einer längst verflossenen Affäre. Simon ging zum Schrank, öffnete seinen Matchbeutel und holte das Buch heraus, das er benutzt hatte, um Kleinman aufzuspüren. Es war ein dickes Buch, mehr als fünfhundert Seiten, vollgepackt mit nützlichen Informationen über all die Physiker, die Albert Einstein in den letzten Jahren seines Lebens assistiert hatten. Es hieß Auf den Schultern von Riesen. Als Simon das Buch aufschlug, erhaschte er einen Blick auf etwas, das ihm bekannt vorkam. Er nahm sich die Innenseite des hinteren Schutzumschlags vor. Direkt unterhalb eines überschwänglichen Klappentexts aus dem Library Journal war ein Foto des Autors. Simon lächelte. »Hallo, David Swift«, sagte er laut. »Schön, Sie kennenzulernen.« FÜNF
T
rotz aller Bitten von Larry, Pete und den anderen Junggesellen blieb David
standhaft und stieg an der Haltestelle Metuchen nicht aus. Er sagte, seine Frau würde ihn umbringen, wenn er nicht direkt nach Hause käme, versprach aber, sich mit seinen neuen Freunden an einem anderen Abend in der Lucky Lounge zu treffen. Die ganze betrunkene Mannschaft klatschte ihm gegen die erhobene Hand, als sie ausstiegen und sangen »Phil! Phil! Phil! Phil!«. David nahm ihr Gejohle mit hoch gestrecktem Daumen zur Kenntnis und sank dann erschöpft auf seinen Platz zurück.
Als der Zug den Bahnhof verließ, begann David zu schaudern. Die Klimaanlage schien das Abteil unerträglich kalt zu machen. Er schlang sich die Arme um die Brust und rieb sich die Schultern, um sich zu wärmen, aber er hörte einfach nicht auf zu zittern. Er erkannte, was mit ihm los war: Er hatte eine posttraumatische Stressreaktion, die verzögerte Antwort seines Körpers auf all die erschreckenden Ereignisse der letzten vier Stunden. Er schloss die Augen und machte mehrere tiefe Atemzüge. Es ist alles in Ordnung, sagte er sich. Du bewegst dich mit großer Geschwindigkeit weg von New York. Du lässt sie alle hinter dir. Er schlug die Augen auf, als der Zug in die Station New Brunswick einfuhr. Inzwischen hatte er aufgehört zu zittern und konnte etwas klarer denken. Er beschloss, im Zug zu bleiben, bis dieser Trenton erreichte. Dann würde er in einen Greyhound-Bus nach Toronto steigen. Aber als die Türen zugingen und der Zug weiter in westlicher Richtung 56
fuhr, begann David die Fehler an seinem Plan zu erkennen. Was wäre, wenn man auch an den Busbahnhöfen die Ausweise kontrollierte? Er konnte nicht direkt damit rechnen, auf noch einen Junggesellenabschied zu stoßen. Und wenn der Bus schließlich an der kanadischen Grenze ankäme, würde die Polizei wahrscheinlich auch dort nach ihm suchen. Nein, einen Bus zu nehmen war zu gefährlich, falls er keinen gefälschten Führerschein in die Finger bekäme. Und wie zum Teufel sollte er das bewerkstelligen? David begann, im Gang des beinahe leeren Eisenbahnwaggons auf und ab zu gehen, weil er zu aufgeregt war, um sitzen zu bleiben. Es gab nur drei weitere Fahrgäste: ein Paar kurzberockte Teenager und ein älterer Mann in einem karierten Pullover, der leise in sein Mobiltelefon sprach. Einen Augenblick lang dachte David daran, Karen und Jonah mit seinem eigenen Handy anzurufen, aber er wusste, dass der Apparat im selben Moment, in dem er ihn einschaltete, ein Signal zum nächsten Funkturm senden würde, und dann wüsste das FBI, wo er war. Das Frustrierende daran war, dass David sich allmählich Sorgen um seine Exfrau machte. Er hatte den Eindruck, dass die Männer in den grauen Anzügen versuchen könnten, sie zu vernehmen. Kurze Zeit später verkündete der Zugführer: »In wenigen Minuten erreichen wir Princeton Junction. Dort besteht eine Verbindung nach Princeton mit der Princeton Branch Line.« Es war die Wiederholung, die den Ausschlag gab, die drei Princetons hintereinander. David dachte sofort an jemanden, der ihm helfen konnte. Er hatte diese Person seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass sie immer noch in Princeton wohnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass das FBI vor ihrem Haus auf ihn wartete, war nicht besonders groß. Obwohl das Bureau offensichtlich eine gründliche Untersuchung seiner Vergangenheit vorgenommen hatte, bezweifelte er, dass sie irgendetwas über Monique ausgegraben 56
hatten. Erfreulicherweise war sie Physikerin und hatte bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Stringtheorie geleistet. David hatte den Verdacht, dass nur Physiker etwas von der Geschichte verstehen konnten, die er zu erzählen hatte. Der Zug blieb stehen, und die Türen gingen auf. David trat auf den Bahnsteig hinaus und ging zu dem Gleis der Princeton Branch Line. Im Jahr 1989, als David noch Doktorand in Physik war, hatte er an einer Konferenz zur Stringtheorie in Princeton teilgenommen. Zu dieser Zeit war die neue Idee in der Wissenschaftlergemeinde sehr en vogue, weil sie ein seit Langem bestehendes Problem zu lösen versprach. Obwohl Einsteins Relativitätstheorie die Schwerkraft perfekt erklärte und die Quantenmechanik Aufschluss über jede Nuance der subatomaren Welt geben konnte, waren die beiden Theorien mathematisch inkompatibel. Dreißig Jahre lang hatte Einstein versucht, die beiden Reihen physikalischer Gesetze in der Absicht zu vereinigen, eine einzige allumfassende Theorie zu schaffen, die alle Naturkräfte erklären konnte. Aber alle von Einstein veröffentlichten Lösungen stellten sich als fehlerhaft heraus, und nach seinem Tod kamen viele Physiker zu dem Schluss, dass seine Suche auf falschen Annahmen beruhte. Sie meinten, das Universum wäre einfach zu komplex, um durch einen einzigen Satz von Gleichungen beschrieben zu werden. In den Siebzigerjahren begannen allerdings einige Physiker damit, die Idee einer einheitlichen Theorie durch die Hypothese wiederzubeleben, dass alle fundamentalen Partikeln eigentlich winzige »strings«, also Saiten von Energie seien, von denen jede weniger als ein Billionstel eines Billionstel Millimeters lang ist. Mitte der Achtziger hatten die Stringtheoretiker ihr Modell weiterentwickelt, indem sie behaupteten, dass die Ketten in zehn Dimensionen vibrierten, von 57 denen sechs zu derart kleinen Mannigfaltigkeiten zusammengerollt seien, dass sie unterhalb der Wahrnehmungsgrenze lägen. Die Theorie war unbestimmt, unvollständig und äußerst unhandlich, und trotzdem beflügelte sie die Fantasie von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt. Eine von ihnen war Monique Reynolds, eine vierundzwanzigjährige Doktorandin in Princetons Naturwissenschaftlicher Fakultät. David sah sie zum ersten Mal am Tag der Schlussveranstaltung der Konferenz, die in einem großen Auditorium in Jadwin Hall stattfand. Monique stand auf der Bühne und bereitete sich darauf vor, einen Vortrag über mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten zu halten. Was ihm als Erstes auffiel, war ihre Größe, einen ganzen Kopf größer als der vertrocknete Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, der Monique als »die klügste junge Studentin, mit der ich je das Vergnügen hatte zusammenzuarbeiten« vorstellte. David fragte sich, ob sie dem alten Mann nicht vielleicht ein bisschen zu sehr gefiel, weil diese Frau nicht nur groß, sondern auch wunderschön war. Ihr Gesicht war wie eines der antiken Porträts von Athene, der griechischen Göttin der Weisheit, aber anstatt eines Helms trug sie eine Krone kompliziert geflochtener Cornrows, und ihre Haut hatte die Farbe
von Kaffeelikör mit Sahne. Ein langes Kleid aus gelb-rotem Kente-Stoff umhüllte ihre Schultern, und mehrere goldene Reifen hingen an jedem ihrer braunen Arme. In der Eintönigkeit von Jadwin Hall funkelte sie wie ein Teilchenschauer. Physikerinnen waren in den Achtzigerjahren eine ungewöhnliche Erscheinung, aber eine dunkelhäutige Stringtheoretikerin war eine echte Seltenheit. Die Naturwissenschaftler im Hörsaal betrachteten sie, wie sie jede andere Seltenheit betrachten würden, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Skepsis. Sobald sie allerdings mit ihrer Präsentation anfing, akzeptierten sie Monique als eine der Ihren, weil sie ihre Sprache sprach, die abstruse Zunge der Mathematik. Sie ging 58
zu der Tafel und schrieb eine lange Folge von Gleichungen auf, jede voll mit den Symbolen, die für die fundamentalen Parameter des Universums standen: die Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante, die Masse des Elektrons, die Stärke der Atomkraft. Mit einer Leichtigkeit, um die David sie nur beneiden konnte, manipulierte und transformierte sie anschließend das dichte Unterholz der Symbole, bis sie sich zu einer einzigen, eleganten Gleichung zusammengefasst fanden, die die Form des Raums um einen vibrierenden String beschrieb. David konnte nicht jedem Schritt ihrer Beweisführung folgen; zu diesem Zeitpunkt seines Studiums hatte er die Grenzen seiner mathematischen Fähigkeiten erkannt, und normalerweise empfand er eine überwältigende Frustration und Eifersucht, wenn er Zeuge wurde, wie ein Genie von Moniques Kaliber seine Fertigkeiten demonstrierte. Aber während sie ihre Zauberkunststücke an der Tafel vollführte und gelassen auf die Fragen ihrer Kollegen antwortete, empfand David nicht die Spur von Bitterkeit. Er gab sich in ihre Hände, ohne Widerstand zu leisten. Als sie mit ihrer Präsentation fertig war, sprang er auf und ging nach vorn zur Bühne, um sich vorzustellen. Monique zog die Augenbrauen hoch, als David seinen Namen nannte. Ein Ausdruck von Überraschung und Freude zog über ihr Gesicht. »Natürlich, ich kenne Sie!«, rief sie aus. »Ich habe gerade das Referat gelesen, das Sie mit Hans Kleinman geschrieben haben. Relativität in einer zweidimensionalen Raumzeit, stimmt's? Das war ein feines Stück Arbeit.« J Sie ergriff seine Hand und drückte sie. David war sprachlos - er konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich sein Referat gelesen hatte. »Na ja, eigendich ist es nichts Besonderes«, antwortete er. »Nicht im Vergleich mit Ihrer Arbeit, meine ich. Ihre Präsentation war absolut umwerfend.« Er versuchte 58
sich zu einem intelligenteren Kommentar aufzuraffen, aber ihm wollte nichts einfallen. »Sie haben mich völlig umgehauen. Ich war ehrlich überwältigt.« »Herr im Himmel, machen Sie mal 'nen Punkt!« Sie ließ ein Lachen hören, einen wundervollen hohen perlenden Ton. »Ich komme mir ja vor wie ein Filmstar!« Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und legte ihm leicht die Hand auf den
Unterarm, als wären sie alte Freunde. »Also, Sie sind an der Columbia, stimmt's? Wie sieht es dort an der Fakultät aus?« Ihr Gespräch dauerte mehrere Stunden, wobei sie sich zunächst ins Dozentenzimmer begaben, wo David ein paar der anderen Doktoranden in Princetons Physikalischem Institut kennenlernte, und dann zu einem Restaurant namens The Rusty Scupper in der Nähe, wo die kleine Schar angehender Physiker Margaritas bestellte und die relativen Verdienste der chiralen und nicht chiralen Stringtheorie diskutierte. Nach ein paar Drinks gestand David Monique, dass er manche Partien ihrer Präsentation nicht verstanden hatte, und sie freute sich, seine Verständnislücken füllen zu können und erklärte geduldig jedes mathematische Verfahren. Nach ein paar weiteren Drinks fragte er sie, woher ihr Interesse an Physik stammte, und sie erzählte ihm, es läge alles an ihrem Vater, einem Mann, der nie über die neunte Klasse hinausgekommen sei, aber immer wieder interessante Theorien über die Welt aufstellte. Um Mitternacht waren David und Monique die letzten Gäste im Restaurant, und um ein Uhr befummelten sie sich gegenseitig auf der Couch in Moniques winziger Wohnung. Für David war diese Reihenfolge von Ereignissen ziemlich typisch. Er befand sich mitten in der sechsmonatigen Sauftour, die das zweite Jahr seines Doktorandenstudiums überschattete, und wenn er mit einer Frau trank, versuchte er normalerweise, mit ihr ins Bett zu gehen. Und obwohl Monique intelligenter und schöner als die meisten Frauen 59
war, mit denen er geschlafen hatte, war sie auf andere Weise typisch - sie war impulsiv, einsam und schien aus irgendeinem Grund traurig zu sein. Daher bewegte sich alles in den üblichen Bahnen, aber als Monique von der Couch aufstand und den Reißverschluss ihres Kente-Kleids aufzog und es zu einem farbenfrohen Haufen um ihre Knöchel fallen ließ, lief irgendetwas schief. Sobald David ihren nackten Körper sah, begann er zu weinen. Das kam so plötzlich und war so unerklärlich, dass David zuerst dachte, es geschähe Monique, nicht ihm. Er dachte: Warum weint sie bloß? Hab ich irgendwas falsch gemacht? Aber nein, sie weinte nicht. Die Schluchzer kamen aus seiner Kehle, und die Tränen liefen seine Wangen hinunter. Er stand schnell auf und wandte sich beschämt von ihr ab. Herrgott noch mal, dachte er, was zum Teufel ist mit mir los? Nach ein paar Sekunden spürte er Moniques Hand auf seiner Schulter. »David?«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, sein Gesicht zu verbergen. »Tut mir leid«, murmelte er und trat von ihr zurück. »Ich gehe jetzt besser.« Aber Monique ließ ihn nicht los. Sie schlang die Arme um seine Taille und zog ihn näher zu sich. »Was ist los, Baby? Du kannst es mir sagen.« Ihre Haut war weich und kühl. Er spürte, wie etwas in ihm nachgab, und auf einmal wusste er, warum er weinte. Mit Monique Reynolds verglichen war er wertlos. In der Woche zuvor war er durch seine Prüfungen gerasselt, was
bedeutete, dass das Physikalische Institut an der Columbia ihn bald auffordern würde, sein Doktorandenstudium abzubrechen. Die Trinkerei hatte mit Sicherheit zu seinem Versagen beigetragen - es ist einigermaßen unmöglich, die Quantentheorie zu verstehen, wenn man einen chronischen Kater hat -, aber er bezweifelte, dass das Ergebnis anders gelautet hätte, wenn er das ganze Semester stocknüchtern gewesen wäre. 60
Schlimmer noch war, dass sein Vater ihm diese Entwicklung vorhergesagt hatte. Als er den alten Mann zwei Jahre zuvor in dem schmuddeligen Hotelzimmer besucht hatte, in dem John Swift seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis wohnte, hatte der gelacht, als David ihm von seinen Plänen erzählte, Physiker zu werden. »Du wirst nie Wissenschaftler werden«, hatte sein Vater ihn gewarnt. »Du wirst einfach Scheiße bauen.« Aber davon konnte er Monique nichts erzählen. Stattdessen löste er ihre Hände von seiner Taille. »Tut mir leid«, sagte er wieder. »Aber ich muss gehen.« Er hörte nicht auf zu weinen, während er Moniques Wohnung verließ und über das dunkle Universitätsgelände Princetons ging. Du Idiot, murmelte er, du blöder Idiot. Es liegt an dem Alk, dem ganzen verdammten Alk. Du kannst nicht mehr richtig denken. Er blieb vor einem der Studentenwohnheime der Uni stehen und lehnte sich eine Minute gegen das neugotische Gebäude, um einen klaren Kopf zu bekommen. Du musst mit dem Trinken aufhören, sagte er sich. Du hast deinen letzten Alkohol getrunken. Aber als er am nächsten Tag nach New York zurückkam, ging er als Erstes zur West End Tavern am Broadway und bestellte einen Jack Daniel's. Er war noch nicht ganz unten angekommen. Erst zwei Monate später, nachdem man ihn offiziell vom Physikstudium an der Columbia ausgeschlossen hatte, hatte er ein Stadium der Erniedrigung erreicht, das ihm derart unangenehm war, dass er für immer dem Trinken abschwor. Während David in den folgenden Jahren sein Leben auf die Reihe bekam und sein Doktorandenstudium in Geschichte betrieb, dachte er gelegentlich daran, sich mit Monique in Verbindung zu setzen, um ihr zu erklären, was vorgefallen war. Aber er tat es nie. 2001 stieß er im Scientific American auf einen Artikel über sie. Sie war immer noch in Prince 60 ton und beschäftigte sich immer noch mit der Stringtheorie, die seit den Achtzigerjahren erhebliche Fortschritte gemacht hatte, aber immer noch so unbestimmt, unvollständig und unhandlich war wie zuvor. Monique erforschte jetzt die Möglichkeit, dass die von der Stringtheorie vorhergesagten zusätzlichen Dimensionen nicht zu unendlich kleinen Mannigfaltigkeiten zusammengerollt waren, sondern hinter einer kosmischen Barriere lagen, die uns daran hinderte, sie zu sehen. David war allerdings weniger an den physikalischen als an den biografischen Details interessiert, die in den letzten Absätzen des Artikels
bekannt gegeben wurden. Wie sich herausstellte, war Monique in Anacostia, dem ärmsten Viertel in Washington, D. C, aufgewachsen. Ihre Mutter war heroinsüchtig gewesen, und ihr Vater war bei einem Raubüberfall erschossen worden, als sie erst zwei Monate alt gewesen war. Als David das las, empfand er einen Schmerz tief in seiner Brust. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Vater sie dazu inspiriert habe, Physikerin zu werden, aber in Wirklichkeit hatte sie den Mann nie kennengelernt. David dachte wieder an Monique, nachdem seine Ehe gescheitert war, und ein paar Mal war er kurz davor gewesen, sie anzurufen. Aber jedes Mal hatte er den Hörer wieder hingelegt und stattdessen gegoogelt, ihren Namen in die Suchmaschine eingetippt und auf den Webseiten nachgeschaut, die sich daraufhin ergaben. Auf diese Weise hatte er erfahren, dass sie inzwischen ordentliche Professorin für Physik war, dass sie an einem Web-Chat über afrikanische Geschichte teilgenommen und dann New York Marathon in drei Stunden und zweiundfünfzig Minuten absolviert hatte, eine sehr beachtliche Zeit für eine dreiundvierzig Jahre alte Frau. Seine beste Entdeckung allerdings war ein Foto von Monique in der Online-Version des Princeton Packet, das sie zeigte, wie sie vor einem bescheidenen zweistöckigen Haus mit einer großen Veranda stand. David erkannte das Haus sofort: Es war 61 112 Mercer Street, das Haus, in dem Albert Einstein die letzten zwanzig Jahre seines Lebens gewohnt hatte. In seinem Testament hatte Einstein darauf bestanden, dass das Haus nicht in ein Museum verwandelt würde, und daher blieb es der private Wohnsitz für Professoren, die mit Princetons Institute for Advanced Study zu tun hatten. In der Legende unter dem Foto stand, dass Professor Reynolds vor Kurzem in das Haus eingezogen sei und den Platz eines emeritierten Kollegen einnähme. Das war die Richtung, die David einschlug, als er den Zug am Bahnhof Princeton verließ. Er überquerte wieder das dunkle Universitätsgelände, diesmal sauber und nüchtern, aber immer noch verzweifelt, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Monique froh wäre, ihn zu sehen. Lucille telefonierte mit ihren Agenten in Trenton, als der Verteidigungsminister in den Konferenzraum stürmte. Sie war so überrascht, dass sie fast den Hörer fallen ließ. Sie hatte den Minister erst einmal anlässlich einer Veranstaltung im Weißen Haus getroffen, bei der eine neue Antiterrorismus-Initiative angekündigt worden war, und sie hatten sich nur die Hand geschüttelt und einige Nettigkeiten ausgetauscht. Aber jetzt baute sich der Mann direkt vor ihr auf, den Quadratschädel kampflustig vorgestreckt, während die kleinen Augen hinter der randlosen Brille missbilligend zusammengekniffen waren. Obwohl es drei Uhr nachts war, hatte er die dünnen grauen Haare ordentlich gekämmt, und seine Krawatte hing kerzengerade von einem makellosen Windsorknoten herab. Ein
Zwei-Sterne-General der Air Force folgte in seinem Windschatten, die Aktentasche des Ministers unter dem Arm. »Ahm, ich rufe Sie zurück«, sagte Lucille in das Telefon. Sie legte auf und erhob sich pflichtschuldigst. »Mr. Secretary, ich ...« 62 »Behalten Sie Platz, Lucy, behalten Sie Platz.« Er winkte sie in ihren Sitz zurück. »Wir können auf Formalitäten verzichten. Ich wollte mir nur selbst ein Bild davon machen, wie die Operation läuft. Die Air Force war so freundlich, mich nach New York zu fliegen.« Super, dachte Lucille. Es wäre nett gewesen, wenn mich jemand gewarnt hätte. »Nun ja, Sir, wir glauben, wir haben uns Klarheit über den Aufenthaltsort des Häftlings verschafft. Wir sind im Besitz von Informationen, dass er jetzt in New Jersey ist, und wir ...« »Was?« Der Minister beugte sich vor und drehte den Kopf zur Seite, als versuche er eine leichte Schwerhörigkeit auf einem Ohr zu kompensieren. »Ich dachte, Sie hätten den Kerl in Manhattan festgenagelt. Was ist mit all den Kontrollpunkten an den Brücken und Tunneln?« Lucille rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Leider ist David Swifts Foto erst mit einer gewissen Verspätung an die Polizei verteilt worden. Sobald wir die Handzettel verteilt hatten, hat ein der Penn Station zugeteilter Officer den Verdächtigen erkannt. Er hat gesagt, Swift sei gegen halb zwei in einen Zug Richtung New Jersey eingestiegen.« »Wie ist er in den Zug reingekommen? Hatte er falsche Papiere?« »Nein, der Verdächtige hat sich anscheinend einer Gruppe von Männern angeschlossen, die den Zug schnell noch in letzter Sekunde besteigen wollten. Ein Haufen betrunkener Trottel. In der Verwirrung hat der Officer darauf verzichtet, sich den Ausweis zeigen zu lassen.« Der Minister runzelte die Stirn. Sein linker Mundwinkel verzog sich nach unten wie ein Angelhaken. »Das ist unverzeihlich. Wenn das hier eine richtige Armee wäre, würde dieser Officer erschossen. Er würde in der Morgendämmerung von Angehörigen seiner eigenen Einheit exekutiert.« 62 Lucille war nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Sie beschloss, die bizarre Bemerkung auf sich beruhen zu lassen. »Ich habe gerade mit unseren Agenten in New Jersey gesprochen. Sie sind im Bahnhof Trenton in den Zug gestiegen, haben den Verdächtigen aber nicht gefunden. Jetzt überprüfen wir die Möglichkeit, dass Swift mit den Betrunkenen ausgestiegen ist. Der Officer in der Penn Station sagte, sie wären aus Metuchen.« »Das klingt nicht sehr verheißungsvoll. Was für Anhaltspunkte haben Sie sonst noch?« »Wir haben Observierungsteams an den Privatadressen von Swifts Kollegen am Historischen Institut der Columbia postiert. Mehrere davon wohnen in New
Jersey, daher stehen die Chancen nicht schlecht, dass er bei einem von ihnen auftaucht und ihn um Hilfe bittet. Und wir haben uns Swifts Exfrau geschnappt, um sie zu verhören. Sie ist unten mit ihrem Sohn und ihrem Freund, einem älteren Knaben namens Amory Van Cleve. Wir werden uns ...« »Moment mal, was haben Sie da gerade für einen Namen genannt?« »Amory Van Cleve. Er ist Rechtsanwalt, der geschäftsführende Partner von Morton Mclntyre und ...« »Herrgott noch mal!« Der Minister hob die Hand an die Stirn. »Wissen Sie nicht, wer das ist? Van Cleve war einer der größten Spendenbeschaffer bei der letzten Wahl, um Himmels willen! Er hat zwanzig Millionen Dollar für die Kampagne des Präsidenten aufgetrieben!« Lucille wurde steif. Dieser Ton gefiel ihr nicht. »Sir, ich befolge nur die Anordnungen des Direktors vom Bureau. Er hat mich angewiesen, diesen Fall mit allem gebührenden Nachdruck zu verfolgen, und das ist genau das, was ich tue.« Der Minister verzog das Gesicht, nahm die Brille ab und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. »Glauben Sie mir, Lucy, ich will, dass Sie aggressiv sind. Ich 63 will, dass Sie sich mit allem, was Sie haben, auf diesen Fall konzentrieren. Dieses Projekt steht ganz oben auf der Prioritätenliste des Pentagon. Wenn die Information den Iranern oder den Nordkoreanern in die Hände fallen würde, wären die Konsequenzen katastrophal.« Er setzte die Brille wieder auf und warf einen kurzen Blick auf sie, wobei seine Augen ihr wie zwei Heckenschützen vorkamen. »Aber Sie können bei jemandem wie Amory Van Cleve nicht die üblichen Befragungstechniken einsetzen. Er ist einer der besten Spendenbeschaffer im ganzen Land für die Republikaner. Als der Präsident im letzten Frühjahr hier oben war, haben sie zusammen Golf gespielt!« »Nun ja, was schlagen Sie vor, Sir?« Er schaute über die Schulter auf den Air-Force-General. Ohne dass ein Wort fiel, öffnete der Mann den Aktenkoffer, zog einen Hefter heraus und reichte ihn dem Minister, der ihn aufschlug und darin herumblätterte. »Okay, hier steht, dass dieser Bursche Swift eine Vorgeschichte von Drogenmissbrauch hat.« »Er hatte in seinen Zwanzigern ein Alkoholproblem«, stellte Lucille klar. Der Minister zuckte mit den Achseln. »Einmal ein Trinker, immer ein Trinker. Wir können sagen, dass der Kerl inzwischen bei Kokain angekommen ist und den Stoff den reichen Studenten an der Columbia vertickt. Das Bureau war dabei, ihn in seinem Crackhaus zu verhaften, aber er und seine Freunde haben es geschafft, die Agenten zu überraschen und ein halbes Dutzend von ihnen zu töten. Wie gefällt Ihnen das als Geschichte?« Lucille versuchte, sich eine diplomatische Antwort einfallen zu lassen. »Es gibt ein paar Probleme. Zunächst würde das Bureau normalerweise nicht...«
»Die Einzelheiten muss ich nicht wissen. Bringen Sie einfach die Geschichte auf Vordermann und erzählen Sie sie Van 64 Cleve und der Exfrau. Vielleicht verlieren sie so viel von ihrer Sympathie für Swift, dass sie uns sagen, wo er sich versteckt. Und geben Sie die gleiche Geschichte auch an die Presse. Auf die Weise kriegen wir eine landesweite Fahndung auf die Beine gestellt.« Lucille schüttelte den Kopf. Das war ja wohl nicht zu glauben. Den Verteidigungsminister auf dem Laufenden zu halten, war eine Sache, aber Befehle von ihm entgegenzunehmen eine andere. Was brachte diesen Blödmann auf die Idee, er könnte eine FBI-Aktion leiten? »Ich weiß nicht, ob das die richtige Vorgehensweise ist«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir uns mit dem Direktor des Bureau in Verbindung setzen und ...« »Keine Sorge, der Direktor wird damit einverstanden sein. Ich werde mit ihm reden, sobald ich wieder in Washington bin.« Er schloss den Hefter und gab ihn dem Air-Force-General zurück. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging aus dem Konferenzraum hinaus, der General unmittelbar hinter ihm. Lucille stand entrüstet auf. »Einen Moment mal, Mr. Secretary. Ich finde, Sie sollten sich das noch mal überlegen!« Er drehte sich nicht mal zu ihr um. Er hob nur den Arm zum Abschied, während er aus dem Zimmer marschierte. »Keine Zeit zum Nachkarten, Lucy. Man zieht mit den Truppen in den Krieg, die man zur Verfügung hat.« David war schon einmal in Einsteins Haus an der Mercer Street gewesen, als er Auf den Schultern von Riesen schrieb. Weil es ein Wohnhaus für Professoren war, stand das Haus der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung, aber nachdem David einen besonderen Antrag gestellt hatte, in dem er seine Absicht erläuterte, gewährte ihm das Institute for Advanced Study die Erlaubnis für einen halbstündigen Besuch. Dieser Besuch erwies sich für seine Studien als unschätzbar. Er ver 64 brachte den größten Teil der ihm zugestandenen Zeit in dem Arbeitszimmer im ersten Stock, wo Einstein in seinen letzten Jahren fast alle seine Untersuchungen durchgeführt hatte. Drei Wände des Zimmers waren von der Decke bis zum Boden mit Bücherregalen ausgestattet, und die vierte wurde von einem Panoramafenster mit Blick auf den Garten hinter dem Haus dominiert. David war von einem merkwürdigen Schwindel gepackt worden, als er auf den Schreibtisch vor dem Fenster starrte. Er versetzte sich ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit und konnte vor seinem geistigen Auge sehen, wie Einstein über diesen Schreibtisch gebeugt dasaß und mit seinem Füller stundenlang Seite um Seite mit Raumzeit-Maßen und Ricci-Tensoren vollkritzelte. Als er sich dem Haus jetzt im Dunkeln näherte, sah David, dass das Grundstück irgendwann im Lauf der vergangenen zehn Jahre auf Vordermann gebracht
worden war. Jemand hatte Blumentöpfe auf die Vorderveranda gestellt und die ungebärdige Glyzinie gestutzt, die sich früher um das Abflussrohr an der Regenrinne gewunden hatte. David ging sehr leise die Verandatreppe zur Haustür hoch. Er drückte auf die Türklingel, die überraschend laut war, und wartete. Zu seiner Bestürzung ging kein Licht an. Nach einer halben Minute drückte er noch mal auf die Klingel und lauschte aufmerksam auf irgendwelche Lebenszeichen im Haus. Mist, dachte er, vielleicht ist niemand zu Hause. Vielleicht ist Monique übers Wochenende weggefahren. Langsam machte sich Verzweiflung in ihm breit, und er wollte gerade ein drittes Mal auf die Klingel drücken, als ihm etwas Merkwürdiges auffiel: Der Türrahmen war vor Kurzem erneuert worden. Die neuen Türpfosten waren noch nicht gestrichen, und in die Tür war ein neues Schloss eingebaut worden, dessen Messingbeschlag frisch glänzte. Die Arbeiten schienen hastig und schludrig erledigt worden zu sein, und ihre Qualität stand in deutlichem Kontrast zur or 65 dentlichen Erscheinung des restlichen Hauses. Aber bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, hörte er irgendjemand, der sich nur ein paar Schritte hinter ihm befand, schreien: »Hey, du Arschloch!« David fuhr herum und sah einen barfüßigen jungen Mann mit nacktem Oberkörper die Verandatreppe hochkommen. Er trug nur eine Jeans, hatte lange blonde Haare, eine beeindruckende Brustmuskulatur, aber was David wirklich ins Auge fiel, war der Baseballschläger in seinen Händen. »Yeah, ich rede mit dir«, sagte der Mann unnötigerweise. »Was zum Teufel machst du hier? Feststellen, dass niemand zu Hause ist?« David machte einen Schritt von der Tür weg und streckte seine Hände aus, um zu zeigen, dass sie leer waren. »Tut mir leid, dass ich so spät noch störe. Ich heiße David ...« »Es tut dir leid? Du sagst, es tut dir leid? In einer Minute tut es dir noch viel mehr leid, du Arschgesicht.« Sobald der Mann die oberste Stufe erreicht hatte, drosch er mit dem Baseballschläger los. Er verfehlte David nur um ein paar Zentimeter, der Schläger fuhr so nahe an seinem Ohr vorbei, dass er ihn pfeifen hören konnte. »Herrgott!«, rief er und wich zurück. »Hör auf. Ich bin ein Freund.« Der Mann kam hinter ihm her. »Du bist nicht mein Freund. Du bist ein Scheißnazi.« Er holte mit dem Schläger aus, um erneut zuzuschlagen. Es blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken, daher reagierte David instinktiv. Er wusste, wie man kämpfte. Sein Vater hatte ihm die Grundregel beigebracht: Hab keine Angst davor, schmutzig zu kämpfen. Er blieb außer Reichweite, bis der blonde Kerl zuschlug, dann lief er auf ihn zu und trat ihm zwischen die Beine. Als der Kerl zusammenklappte, rammte David ihm einen Unterarm gegen die Brust und warf ihn hintenüber. Sein nackter Rücken landete mit einem dröhnenden Klatschen auf der Veranda, und während er nach Luft
66 schnappte, hebelte David ihm den Baseballschläger aus den Händen. Innerhalb von drei Sekunden war alles vorbei. David beugte sich über den auf dem Rücken liegenden Mann. »Okay, zweiter Versuch«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich so spät noch störe. Ich heiße ...« »Keine Bewegung, du Wichser!« David schaute hoch und sah Monique zwischen den Türpfosten stehen und eine Schusswaffe auf ihn richten. Ihre hinreißenden Augen funkelten wütend, während sie den Revolver in beiden Händen hielt. Ein knallgelbes Nachthemd hing ihr bis auf die Oberschenkel und bewegte sich leicht in der nächtlichen Brise. »Lass den Schläger fallen und geh weg von ihm«, lautete ihre Anweisung. David tat wie befohlen. Er ließ den Schläger klappernd zu Boden fallen und machte drei Schritte zurück. »Monique«, sagte er. »Ich bin es, David. Ich habe ...« »Halt gefälligst das Maul!« Sie hielt die Waffe auf seinen Kopf gerichtet, erkannte ihn offenbar nicht. »Keith, ist alles in Ordnung?« Der barbrüstige Mann stemmte sich hoch. »Ja, mir geht's gut«, sagte er, klang aber ein bisschen benommen. »Monique, ich bin es«, wiederholte David. »David Swift. Wir haben uns neunundachtzig auf dem String-Kongress kennengelernt, als du dein Referat über die Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten gehalten hast.« »Ich hab gesagt, du sollst das Maul halten!«, zischte sie, aber David merkte, dass er sie auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ihre Stirn legte sich in Falten. »David Swift«, sagte er noch einmal. »Ich war Doktorand an der Columbia. Relativität in zweidimensionaler Raumzeit. Erinnerst du dich?« Als sie begriff, wer er war, sperrte sie den Mund auf, aber wie David es sich gedacht hatte, war sie nicht erfreut. Sie schien eher noch wütender zu sein. Sie runzelte weiterhin 66 die Stirn, während sie den Revolver senkte und den Hahn entspannte. »Was zum Teufel ist hier los? Warum tauchst du hier mitten in der Nacht auf? Ich hätte dir fast den Kopf weggepustet.« »Kennst du diesen Typ, Mo?«, fragte Keith, der mühsam auf die Beine kam. Sie nickte. »Ich kenne ihn vom Studium. Flüchtig.« Mit einer schwungvollen Bewegung ihres Handgelenks klappte sie die Trommel des Revolvers heraus und ließ die Patronen in ihre Handfläche fallen. In dem Haus nebenan ging ein Licht an. Mist, dachte David. Wenn wir nicht leiser werden, wird jemand die Cops rufen. Er warf Monique einen flehenden Blick zu. »Hör mal, ich brauche deine Hilfe. Ich hätte dich nicht belästigt, wenn es nicht wichtig wäre. Können wir uns vielleicht drinnen unterhalten?« Moniques Stirn blieb gerunzelt. Nach ein paar Sekunden stieß sie jedoch einen Seufzer aus. »Ach, was soll's. Komm rein. Ich werde ohnehin nicht wieder einschlafen können.«
Sie hielt ihm die Tür auf. Keith hob den Baseballschläger auf, und David dachte einen Moment lang, er würde noch einmal damit auf ihn einschlagen, aber stattdessen gab er ihm die Hand. »Hey, Mann, tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, du wärst eins von diesen Nazi-Arschlöchern. Sie haben Mo einigen Ärger gemacht.« »Nazis? Wovon redest du?« »Das wirst du sehen, wenn wir reingehen.« David betrat das Haus und fand sich in einem kleinen Wohnzimmer mit einem gemauerten Kamin auf der einen und einem Erkerfenster auf der anderen Seite wieder. Er erinnerte sich von seinem früheren Besuch daran, dass ein ansehnlicher hölzerner Sims den Kamin nach oben abschloss, aber jetzt sah er so aus, als hätte sich jemand mit einer Axt daran zu schaffen gemacht. Das lackierte Bord wies auf sei 67 ner gesamten Länge tiefe Kerben auf. Der Kamin selber war ebenfalls verwüstet worden; mindestens ein Dutzend Ziegelsteine waren herausgegraben oder abgeschlagen worden. Die Wohnzimmerwände waren mit klaffenden Löchern übersät, die mit einem Vorschlaghammer gemacht worden sein mussten, und die Dielen waren an mehreren Stellen herausgerissen worden, wodurch dunkle, gezackte Krater im Boden entstanden waren. Am schlimmsten war aber, dass überall Hakenkreuze zu sehen waren: in den Kaminsims geschlagen, in die verbliebenen Bodendielen geritzt, mit Farbe auf die Wände gesprüht. Ein Paar große rote Hakenkreuze waren irgendwie an die Decke gemalt worden, und zwischen ihnen standen die Wörter N IGGA GO HOME . »O nein«, flüsterte David. Er drehte sich zu Monique um, die den Revolver mitsamt Patronen auf den Kaminsims gelegt hatte und jetzt an die Decke starrte. »Skinheads, wahrscheinlich Jungs von der Highschool«, sagte sie. »Ich hab sie in ihren Lederjacken und Springerstiefeln an der Bushaltestelle rumhängen sehen. Sie haben vermutlich das Bild von mir in der Zeitung entdeckt und sich gedacht: Oh, Junge, das ist unsere große Chance. Eine Niggerschlampe, die im Haus des berühmtesten Juden der Welt wohnt. Das passt doch wie die Faust aufs Auge.« David zuckte zusammen. »Wann ist das passiert?« »Am letzten Wochenende, als ich ein paar Freunde in Boston besuchte. Die Typen sind ganz schön clever gewesen. Sie haben gewartet, bis niemand zu Hause war, und dann haben sie die Haustür aufgebrochen. Die Außenwände haben sie nicht besprüht, weil sie wussten, dass sie jemand von der Straße aus hätte sehen können.« David dachte an das Arbeitszimmer im ersten Stock. »Haben sie die Zimmer oben auch demoliert?« »Ja, sie haben sich fast in jedem Teil des Hauses ausgetobt. Sie haben sogar den Rasen im Garten aufgewühlt. Zum 67
Glück haben sie die Küche in Ruhe gelassen, und die Möbel haben sie nicht zu sehr beschädigt.« Sie zeigte auf ein schwarzes Ledersofa, einen verchromten Beistelltisch und einen knallroten Barcelona-Sessel, alles Stücke, die Einstein offensichtlich nie gehört hatten. Keith machte einen Schritt über eines der Löcher im Fußboden, die Daumen hatte er in den Vordertaschen seiner Jeans eingehakt. David bemerkte jetzt, dass er eine Klapperschlange auf die linke Schulter tätowiert hatte, und sein Gesicht hatte den frischen, ernsten Ausdruck eines Zwanzigjährigen. »Als wir die Türklingel hörten, dachten wir, es wäre wieder einer dieser Punks, der überprüfen wollte, ob das Haus leer war. Wir nahmen an, die Jungs würden einfach weglaufen, wenn wir das Licht anmachten, und deshalb bin ich hinten aus dem Haus gegangen, um sie zu überraschen.« Monique legte Keith den Arm um die Taille und ließ den Kopf gegen seine tätowierte Schulter sinken. »Keith ist ein Engel«, sagte sie. »Er ist diese Woche jede Nacht bei mir geblieben.« Keith reagierte, indem er Moniques Hüfte packte und sie oben auf den Kopf küsste. »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du bist meine beste Kundin.« Er wandte sich mit einem breiten Lächeln auf seinem jugendlichen Gesicht an David. »Sehen Sie, ich arbeite an Mos Auto. Im Princeton Auto Shop. Sie hat eine scharfe Corvette, aber die hat ihre Launen.« David starrte sie einen Augenblick verwirrt an. Monique, eine berühmte Stringtheoretikerin, hatte eine feste Beziehung mit ihrem Kfz-Mechaniker? Das schien unglaublich. Aber er ließ diesen Gedanken auf sich beruhen. Es gab wichtigere Dinge, um die er sich kümmern musste. »Monique, können wir uns irgendwo hinsetzen? Ich weiß, das ist ein schlechter Zeitpunkt für dich, aber ich stecke im Moment in 68 großen Schwierigkeiten und muss rauskriegen, was eigentlich los ist.« Sie zog eine Augenbraue hoch und schaute ihn sorgfältig an, als spürte sie zum ersten Mal, wie verzweifelt er war. »Wir können in die Küche gehen«, sagte sie. »Dort herrscht Chaos, aber wenigstens gibt es keine Hakenkreuze.« Die Küche war groß und modern; sie war vor ein paar Jahren angebaut worden, um die enge Kombüsenküche zu ersetzen, in der Einsteins zweite Frau Elsa mal gekocht hatte. Eine breite Arbeitsfläche aus Marmor lag unter einer Reihe von Hängeschränken, und in einer Frühstücksnische stand ein runder Tisch. Aber obwohl die Küche selbst für Vorstadtverhältnisse groß war, gab es keinen Platz, weil jeder verfügbare Raum mit Kartons, Büchern, Lampen und Krimskrams aus anderen Teilen des Hauses bis zum Überquellen vollgestellt war. Monique führte David zu dem Frühstückstisch und entfernte einen Bücherstapel von einem der Stühle. »Tut mir leid, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich musste einiges Zeug in der Küche unterbringen, weil das Arbeitszimmer so ein Katastrophengebiet ist.«
David half ihr, Tisch und Stühle freizuräumen. Während er einen Stapel Bücher zum Fensterbrett trug, erkannte er einen ziemlich weit oben liegenden Band. Es war Auf den Schultern von Riesen. Monique gab ein erschöpftes Stöhnen von sich, als sie sich setzten. Dann wandte sie sich an Keith und legte ihm sanft die Hand aufs Knie. »Baby, könntest du etwas Kaffee machen? Ich brauche unbedingt eine Tasse.« Er tätschelte ihre Hand. »Kein Problem. Kolumbianischer Supremo, stimmt's?« Sie nickte und sah ihm hinterher, wie er zur Kaffeemaschine auf der anderen Seite der Küche ging. Sobald er außer Hörweite war, beugte sie sich über den Tisch zu David hin. »Okay. Wo liegt das Problem?« SECHS
Als Simon im Spetsnaz war und die Aufständischen in Tschetschenien bekämpfte, hatte er eine nützliche Technik kennengelernt, um den Standort des Feindes ausfindig zu machen. Man konnte es in zehn Wörtern zusammenfassen: Um jemanden zu finden, muss man wissen, was er will. Ein tschetschenischer Rebell beispielsweise will russische Soldaten töten, also sollte man in den Bergen in der Nähe militärischer Stützpunkte nach ihnen Ausschau halten. Ganz einfach. Aber bei David Swift gab es eine Komplikation: Die Amerikaner hielten auch nach ihm Ausschau. Wenn man annahm, dass dieser Geschichtsprofessor auch nur ein bisschen Verstand hatte, würde er sich von seiner Wohnung und von seinem Büro an der Columbia und irgendwelchen anderen Orten fernhalten, wo das FBI vielleicht auf ihn wartete. Deshalb musste Simon wieder improvisieren. Mithilfe des Internets begann er mit einer Untersuchung David Swifts geheimer Wünsche. Um drei Uhr morgens starrte er immer noch auf seinen Laptop in der überteuerten Suite im Waldorf Astoria. Er hatte es fertiggebracht, sich Zutritt zum internen Netzwerk der Columbia zu verschaffen, und machte schon bald eine erfreuliche Entdeckung: Der Administrator des Netzwerks verfolgte die Internet-Aktivität der Mitglieder des Lehrkörpers, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass sie sich während der Bürostunden keine Pornofilme ansahen. Simon lachte leise in sich hinein - das würde den Sowjets gefallen. Und was noch besser war, die Nachweise der Aktivitäten waren nicht 69 mal verschlüsselt. Mit ein paar Klicks war er in der Lage, die URL-Adresse von jeder Webseite herunterzuladen, die David Swift in den vergangenen neun Monaten besucht hatte. Eine lange Liste von Web-Adressen lief über den Bildschirm des Laptops, insgesamt viertausendsiebenhundert-fünfundfünfzig. Zu viele, um sie einzeln zu überprüfen. Aber es gab eine Methode, die Liste zu verkürzen: indem er sich nur die Ergebnisse der Google-Suchläufe ansah. Wonach du suchst, offenbart, was du begehrst. Google war das neue Fenster zur menschlichen Seele.
Simon fand eintausendeinhundertsechsundzwanzig Suchläufe. Immer noch zu viele, aber jetzt konnte er sich auf die Suchbegriffe konzentrieren. Er hatte ein Programm auf seinem Laptop, das die Vornamen in jeder Textprobe identifizieren konnte. Eine Analyse der verbleibenden URL-Adressen ergab, dass David Swift bei einhundertsiebenundvierzig seiner Suchläufe einen Namen eingegeben hatte. Jetzt war die Liste der Web-Adressen so kurz, dass Simon jede einzelne inspizieren konnte. Aber Swift hatte den Job für ihn viel leichter gemacht. Es gab nur einen Namen, der mehr als einmal auftauchte. Seit September hatte David Swift an drei verschiedenen Tagen nach jemandem namens Monique Reynolds gesucht. Und als Simon selber nach ihr suchte, sah er schnell, warum. Er wählte die Nummer der Rezeption des Hotels und wies den Concierge an, seinen Mercedes in fünf Minuten abfahrbereit zu haben. Er würde nach New Jersey fahren, um dem letzten Heim des ruhelosen Juden aus Bayern einen Besuch abzustatten. David holte tief Luft. »Hans Kleinman ist tot«, begann er. »Er ist heute Nacht ermordet worden.« Monique fuhr in ihrem Stuhl zurück, als wäre sie geschlagen worden. »Ermordet? Wie? Wer hat das getan?« 70 »Ich weiß nicht. Die Polizei behauptet, es wäre ein Einbruchdiebstahl, bei dem etwas schiefgegangen ist, aber ich glaube, es war etwas anderes.« Er brach ab. Seine Theorie zu dem Mord an Professor Kleinman war bestenfalls bruchstückhaft, und er war sich noch weniger sicher, wie er sie Monique erklären sollte. »Ich habe mit Kleinman im Krankenhaus geredet, kurz bevor er starb. Damit hat dieser ganze Albtraum angefangen.« Er wollte ihr gerade erzählen, was in dem FBI-Gebäude an der Liberty Street passiert war, konnte sich aber noch rechtzeitig bremsen. Sie schüttelte den Kopf, starrte mit leerem Blick auf die lackierte Platte des Küchentischs. »Herrgott«, flüsterte sie. »Das ist furchtbar. Erst Bouchet und jetzt Kleinman.« Der erste Name versetzte David einen Schock. »Bouchet?« »Ja, Jacques Bouchet von der Sorbonne. Du kennst ihn doch, oder?« David kannte ihn gut. Bouchet war einer der großen alten Männer der französischen Physik, ein herausragender Wissenschaftler, der zur Entwicklung einiger der stärksten Teilchenbeschleuniger Europas beigetragen hatte. Er war ebenfalls einer von Einsteins Assistenten zu Beginn der Fünfzigerjahre gewesen. »Was ist ihm zugestoßen?« »Seine Frau hat heute den Direktor des Instituts angerufen. Sie sagte, Bouchet sei letzte Woche gestorben, und sie wolle eine Stiftung zu seinen Ehren ins Leben rufen. Der Direktor war überrascht, weil er nirgendwo einen Nachruf auf Bouchet gelesen hatte. Seine Frau sagte, die Familie hätte es nicht an die große
Glocke gehängt, weil es ein Selbstmord gewesen sei. Anscheinend hat er sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschlitzt.« David hatte Bouchet im Rahmen seiner Studien zu Auf den Schultern von Riesen interviewt. Der Physiker hatte ihn zu einem wundervollen Abendessen in seinem Landhaus in 71 der Provence eingeladen und bis drei Uhr morgens mit ihm Karten gespielt. Er war ein kluger, lustiger und unbekümmerter Mann gewesen. »War er krank? Hat er sich deshalb das Leben genommen?« »Darüber hat der Direktor nichts gesagt. Aber er sprach davon, dass die Frau sich ziemlich verzweifelt angehört habe. Als ob sie es immer noch nicht glauben könnte.« Davids Gedanken überschlugen sich. Zuerst Bouchet und jetzt Kleinman. Zwei von Einsteins Assistenten, die innerhalb einer Woche das Zeitliche segneten. Natürlich waren sie mittlerweile alle ziemlich alt, Ende siebzig, Anfang achtzig. Man sollte annehmen, dass sie allmählich wegstarben. Aber nicht so. »Hast du einen Computer, den ich benutzen könnte?«, fragte er. »Ich muss etwas im Internet überprüfen.« Monique zeigte ein wenig verwirrt auf einen schwarzen Laptop, der neben einem Karton auf der Küchenablage stand. »Du kannst mein MacBook benutzen, das hat eine drahtlose Verbindung. Wonach suchst du?« David holte den Laptop an den Tisch, stellte ihn an und rief die GoogleHomepage auf. »Amil Gupta«, sagte er, während er den Namen in die Suchmaschine tippte. »Er hat auch in den Fünfzigerjahren mit Einstein zusammengearbeitet.« In weniger als einer Sekunde erschienen die Suchergebnisse auf dem Bildschirm. David scrollte rasch auf der Liste vor. Die meisten Einträge bezogen sich auf Guptas Arbeit am Robotics Institute an der Carnegie Mellon University. Gupta hatte in den Achtzigerjahren, nachdem er dreißig Jahre als Wissenschaftler gearbeitet hatte, die Welt der Physik unvermittelt verlassen und eine Softwaregesellschaft gegründet. Innerhalb eines Jahrzehnts war er mehrere hundert Millionen Dollar schwer. Er wurde Philanthrop, stiftete sein Geld für verschiedene schrullige Forschungsprojekte, aber sein Hauptinteresse war nach wie vor die künstliche Intelligenz. 71 Er spendete dem Robotics Institute fünfzig Millionen Dollar und wurde ein paar Jahre später sein Direktor. Als David Gupta interviewte, war es ein echtes Problem gewesen, ihn beim Thema Einstein zu halten. Alles, worüber er reden wollte, waren Roboter. David überflog mindestens hundert Suchergebnisse, bevor er hinreichend beruhigt war, dass es keine schrecklichen Neuigkeiten über Gupta gab. Aber ein
großer Trost war es nicht. Er konnte schon tot sein, und es hatte nur noch niemand seine Leiche gefunden. Während er auf den Bildschirm des Laptops starrte, kam Keith mit zwei Bechern Kaffee zum Tisch zurück. Er gab David einen. »Hier bitte«, sagte er. »Wollen Sie Milch oder Zucker haben?« David nahm den Becher dankbar entgegen. Seine grauen Zellen schrien förmlich nach Koffein. »Nein, nein, schwarz ist prima. Vielen Dank.« Keith reichte Monique den anderen Becher. »Hör mal, Mo, ich geh dann nach oben. Ich muss morgen früh um acht in. der Werkstatt sein.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihr hinüber, sodass sein Gesicht neben ihrem war. »Ist das in deinem Sinn?« Sie drückte seine Hand und lächelte. »Ja, das geht völlig in Ordnung. Hol dir eine Mütze Schlaf, Baby.« Sie küsste ihn auf die Wange und gab ihm einen Klaps auf den Po, als er abzog. David musterte ihr Gesicht, während er seinen Kaffee schluckte. Man konnte darin lesen wie in einem Buch. Sie hatte den Burschen offenbar gern. Und obwohl Monique zwanzig Jahre älter war als ihr Freund, sah sie in diesem Augenblick genauso jung aus wie er. Ihr Gesicht hatte sich seit dem letzten Mal, als David sie auf der Couch in ihrem winzigen Studentenapartment gesehen hatte, kaum verändert. Nach ein paar Sekunden bemerkte Monique, dass er sie 72 anstarrte. Verlegen hob David den Becher Kaffee an seine Lippen und trank die Hälfte in großen Schlucken, die ihm heiß die Kehle hinunterliefen. Dann stellte er ihn auf dem Tisch ab und wandte sich wieder dem Laptop zu. Es gab noch einen Namen, den er überprüfen musste. Er tippte Alastair MacDonald in die Suchmaschine. MacDonald war der Unglücksrabe unter Einsteins Assistenten. 1958 erlitt er einen Nervenzusammenbruch und musste das Institute for Advanced Study verlassen. Er ging nach Hause zu seiner Familie in Schottland, aber er wurde nie wieder richtig gesund; er fing an, sich unberechenbar zu benehmen, schrie Passanten auf den Straßen von Glasgow an. Ein paar Jahre später griff er einen Polizisten an, und seine Familie ließ ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen. David besuchte ihn dort im Jahr 1995, und obwohl MacDonald ihm die Hand schüttelte und sich zu einem Gespräch hinsetzte, antwortete er nicht auf Davids Fragen über seine Arbeit mit Einstein. Er saß einfach da und starrte ins Leere. Eine lange Liste mit Ergebnissen erschien auf dem Bildschirm, aber bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich um andere Personen handelte Alastair MacDonald, der schottische Volkssänger, Alastair MacDonald, der australische Politiker und so weiter. Keine Spur von Alastair MacDonald, dem Physiker.
Monique stand auf und schaute ihm über die Schulter. »Alastair MacDonald? Wer ist das?« »Noch einer von Einsteins Assistenten. Er ist quasi vom Erdboden verschwunden, und deshalb ist es schwer, irgendwelche Informationen über ihn zu finden.« Sie nickte. »Ach ja, du hast ihn in deinem Buch erwähnt. Er ist der Typ, der verrückt geworden ist, stimmt's?« David fühlte sich geschmeichelt. Sie hatte Auf den Schultern von Riesen ziemlich sorgfältig gelesen. Er ging zum Fensterbrett, griff sich Moniques Ausgabe seines Buchs und schlug 73 das Kapitel über MacDonald auf. Er fand den Namen der Anstalt, Holyrood Mental Institution, und tippte ihn direkt neben Alastair MacDonald in die Suchmaschine. Nur ein Ergebnis tauchte auf, aber das war noch nicht lange her. David klickte auf die Web-Adresse, und einen Augenblick später erschien eine Seite aus der Online-Version des Glasgow Herald auf dem Bildschirm. Es war ein kurzer Artikel, der am 3. Juni erschienen war, vor neun Tagen erst. U NTERSUCHUNG IN HOLYROOD Das schottische Executive Health Department kündigte heute an, dass es eine Untersuchung eines Unfalls mit tödlichem Ausgang in der Holyrood Mental Institution veranlassen würde. Einer der Insassen, der einundachtzigjährige Alastair MacDonald, wurde Montag früh tot im Hydrotherapieraum der Anstalt aufgefunden. Angehörige des Departments gaben bekannt, MacDonald sei in einem der Therapiebecken ertrunken, nachdem er sein Zimmer irgendwann im Lauf der Nacht verlassen habe. Das Department ist darum bemüht festzustellen, ob Lücken bei der Überwachung durch das Personal der Nachtschicht für den Unfall mitverantwortlich sind. David schauderte, als er auf den Monitor starrte. MacDonald ertrank in einem Therapiebecken, Bouchet schnitt sich die Pulsadern in einer Badewanne auf. Und jetzt erinnerte er sich, was Detective Rodriguez ihm im St. Luke's Hospital erzählt hatte: Die Polizei hatte Kleinman in seinem Badezimmer gefunden. Die drei alten Physiker waren nicht nur durch ihre Zusammenarbeit mit Einstein miteinander verbunden, sondern auch durch einen schrecklichen Modus Operandi. Dieselben Mistkerle, die Kleinman zu Tode gefoltert hatten, 73 hatten auch MacDonald und Bouchet getötet und ihre Ermordung als Unfall und Selbstmord getarnt. Aber das Motiv, was war das Motiv? Der einzige Hinweis waren Kleinmans letzte Worte: Einheitliche Feldtheorie. Zerstörer der Welten. Monique lehnte sich gegen David, damit sie die Kurznachricht über seine Schulter lesen konnte. Ihr Atem ging schneller, als sie begriff, was da stand. »Mist«, flüsterte sie. »Das ist sehr merkwürdig.«
David drehte sich um und sah ihr in die Augen. Ob sie bereit war oder nicht, es war Zeit, ihr seine Hypothese zu präsentieren. »Was weißt du über Einsteins Arbeiten zur Einheitlichen Feldtheorie?« »Was?« Sie machte einen Schritt zurück. »Einsteins Arbeiten? Was hat das ...« »Gedulde dich bitte noch einen Moment. Ich rede von seinen Versuchen, eine Feldgleichung abzuleiten, die Schwerkraft und Elektromagnetismus in sich vereinigt. Du weißt schon, seine Arbeit über fünfdimensionale Mannigfaltigkeiten, post-Riemannsche Geometrie. Wie vertraut bist du mit diesen Arbeiten?« Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht sehr. Das Zeug ist nur von historischem Interesse. Es ist für die Stringtheorie nicht relevant.« David runzelte die Stirn. Er hatte sich - vielleicht unrealistische - Hoffnungen gemacht, dass Monique das Thema in- und auswendig kannte und ihm deshalb bei der Untersuchung der Möglichkeiten helfen könne. »Wie kannst du so was sagen? Es gibt eindeutig eine Verbindung zur Stringtheorie. Was ist mit Einsteins Zusammenarbeit mit Kaluza? Sie waren die Ersten, die die Existenz einer fünften Dimension postuliert haben. Und du hast dich während deiner ganzen beruflichen Laufbahn mit zusätzlichen Dimensionen beschäftigt! « 74 Sie schüttelte den Kopf. Der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag, war der einer leidgeprüften Professorin, die einem unwissenden Erstsemester die Grundlagen beibringt. »Einstein hat versucht, eine klassische Theorie zu entwickeln. Eine Theorie mit eindeutiger Ursache und Wirkung und ohne seltsame QuantenUngewissheiten. Aber die Stringtheorie leitet sich von der Quantenmechanik her. Es ist eine Quantentheorie, die die Schwerkraft einbezieht, und das unterscheidet sich gänzlich von dem, woran Einstein gearbeitet hat.« »Aber in seinen späteren Arbeiten ist er anders an das Problem herangegangen«, widersprach David. »Er hat versucht, die Quantenmechanik in eine allgemeinere Theorie zu integrieren. Die Quantentheorie wäre ein spezieller Fall in einem größeren klassischen Rahmen.« Monique tat das mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß, ich weiß. Aber was ist am Ende dabei herausgekommen? Keine von seinen Lösungen hat standgehalten. Seine letzten Aufzeichnungen waren totaler Unsinn.« David wurde ärgerlich. Ihr Ton gefiel ihm nicht. Vielleicht war er kein mathematisches Genie wie Monique, aber diesmal wusste er, dass er recht hatte. »Einstein hat eine funktionierende Lösung entdeckt. Er hat sie nur nicht publiziert.« Sie legte den Kopf schief und schaute ihn fragend an. Ihre Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. »Ach, wirklich? Hat dir jemand ein lange verschollenes Manuskript geschickt?« »Nein, das hat Kleinman mir erzählt, bevor er starb. Er sagte: >Herr Doktor hatte Erfolg.< Das waren seine genauen Worte. Und deshalb wurde er heute Nacht umgebracht, deshalb wurden sie alle umgebracht.«
Monique hörte die Dringlichkeit in seiner Stimme und sie sah ihn ernst an. »Hör mal, David, ich verstehe, dass du außer dir bist, aber was du da andeutest, ist unmöglich. Auf kei 75 nen Fall hätte Einstein eine einheitliche Theorie formulieren können. Er verstand nur etwas von Schwerkraft und Elektromagnetismus. Die Physiker haben die schwache Atomkraft erst in den Sechzigerjahren verstanden, und die starke Kraft haben sie erst zehn Jahre später kapiert. Wie konnte Einstein dann eine Theorie von Allem entwickeln, wenn er zwei der vier fundamentalen Kräfte nicht verstand? Es ist so, als wollte man ein Puzzlespiel zusammensetzen und hätte nur die Hälfte der Teile.« David dachte einen Moment darüber nach. »Aber er müsste nicht alle Details kennen, um eine allgemeine Theorie zu konstruieren. Es ist eher ein Kreuzworträtsel als ein Puzzle. Solange du genug Anhaltspunkte hast, kannst du die Struktur rauskriegen und die Leerstellen später ausfüllen.« Monique war nicht überzeugt. An ihrem Gesichtsausdruck konnte David ablesen, dass sie die Idee für absurd hielt. »Nun ja, wenn er eine stichhaltige Theorie entwickelt hat, warum hat er sie dann nicht veröffentlicht? War das nicht schon immer sein Traum?« Er nickte. »Ja, das war er. Aber das geschah alles nur ein paar Jahre nach Hiroshima. Und obwohl Einstein nichts mit dem eigentlichen Bau der Atombombe zu tun hatte, war er sich im Klaren darüber, dass seine Gleichung die Richtung angegeben hatte. E = mc2, große Mengen Energie aus winzigen Teilchen Uran. Es war qualvoll für ihn. Er hat einmal gesagt: >Wenn ich gewusst hätte, dass sie das machen würden, wäre ich Schuster gewordene« »Ja, ja, das hab ich alles schon gehört.« »Na ja, dann denk mal einen Moment darüber nach. Falls Einstein tatsächlich eine Einheitliche Feldtheorie gefunden hätte, hätte er sich dann nicht Sorgen gemacht, dass die gleiche Sache noch mal passieren könnte? Er wusste, dass er sich über die Implikationen der Entdeckung klar werden müsste, über alle möglichen Konsequenzen. Und ich glaube, er 75 sah voraus, dass die Theorie für militärische Zwecke benutzt werden könnte. Vielleicht um etwas zu erschaffen, das noch schlimmer wäre als eine Atombombe.« »Was meinst du? Was könnte noch schlimmer sein?« David schüttelte den Kopf. Das war das schwächste Glied in seiner Argumentation. Er hatte keine Ahnung, was die Einheitliche Feldtheorie war, geschweige denn, was sie entfesseln konnte. »Das weiß ich nicht, aber es muss etwas Schreckliches gewesen sein. Es war schlimm genug, dass Einstein beschloss, die Theorie nicht zu veröffentlichen. Aber er konnte es auch nicht auf sich beruhen lassen. Er glaubte, dass die Physik eine Offenbarung von Gottes
Werk war. Er konnte die Theorie nicht einfach ausradieren und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Also vertraute er sie seinen Assistenten an. Er gab wahrscheinlich jedem von ihnen ein kleines Stück der Theorie und ordnete an, es sicher aufzubewahren.« »Was sollte das denn nützen? Falls die Theorie so schrecklich war, konnten seine Assistenten sie auch nicht veröffentlichen.« »Er dachte an die Zukunft. Einstein war ein hoffnungsloser Optimist. Er glaubte wirklich, dass die Amerikaner und die Russen in ein paar Jahren ihre Waffen einmotten und eine Weltregierung bilden würden. Dann würde Krieg geächtet werden, und alle würden miteinander in Frieden leben. Und seine Assistenten müssten einfach bis zu diesem Tag warten, bevor sie die Theorie bekannt gäben.« Überraschenderweise begannen Davids Augen zu brennen. »Sie haben ihr ganzes Leben gewartet.« Monique schaute ihn voll Mitgefühl an, aber sie glaubte kein Wort von dem, was er gesagt hatte. »Das ist eine außergewöhnliche Hypothese, David. Und außergewöhnliche Behauptungen verlangen außergewöhnliche Beweise.« David wappnete sich. »Kleinman hat mir eine Reihe von 76 Zahlen genannt, als ich ihn heute Nacht im Krankenhaus besucht habe. Er sagte, sie seien der Schlüssel, den Einstein ihm gegeben habe, und er gäbe ihn mir.« »Na ja, das ist kaum als ...« »Nein, das ist nicht der Beweis. Der Beweis ist, was danach passiert ist.« Dann erzählte er ihr von seiner Vernehmung in dem FBI-Gebäude und dem Massaker, zu dem es daraufhin gekommen war. Zunächst starrte sie ihn nur ungläubig an, aber als er beschrieb, wie das Licht ausgegangen war und die Schüsse in den Gängen widerhallten, packte sie den Saum ihres Nachthemds, ohne sich dessen bewusst zu sein, und zerknüllte den Stoff in ihrer Hand. Als er mit seiner Geschichte fertig war, machte Monique einen genauso verstörten Eindruck wie er, als er aus der Tiefgarage auf die Liberty Street hinausgelaufen war. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Wer hat das Haus angegriffen? Waren es Terroristen?« »Ich weiß nicht, ich hab sie nicht gesehen. Ich hab nur die toten FBI-Agenten gesehen. Aber ich wette, es waren dieselben Leute, die Kleinman und Bouchet und MacDonald umgebracht haben.« »Woher weißt du das? Vielleicht hat das FBI sie umgebracht. Es hört sich so an, als wären Regierung und Terroristen hinter der gleichen Sache her.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das FBI hätte sie zur Befragung festgenommen. Meiner Ansicht nach ist es so abgelaufen, dass die Terroristen als Erste von der Einheitlichen Feldtheorie erfahren haben. Vielleicht haben sich Kleinman, Bouchet oder MacDonald irgendwie verplappert. Also waren die Terroristen hinter ihnen her und haben sie einzeln gefoltert, um weitere Informationen aus ihnen rauszuholen. Und als einer nach dem anderen als Leiche auftauchte, müs-
sen sich die amerikanischen Geheimdienste gedacht haben, dass irgendwas im Busch war. Deshalb haben sich die FBI77 Agenten so schnell im Krankenhaus blicken lassen. Sie haben Kleinman vermutlich überwacht.« Davids Stimme war lauter geworden, als er das Szenario skizzierte, und seine letzten Worte hallten regelrecht von den Küchenwänden wider. Er ertappte sich dabei und schaute Monique an, um festzustellen, wie sie reagierte. Ihr Gesichtsausdruck war nicht mehr ganz so skeptisch, aber sie war noch nicht überzeugt. Sie ließ seine Schulter los und starrte erneut auf ihren Laptop, der mittlerweile wieder seinen Bildschirmschoner zeigte, die Animation einer rotierenden CalabiYau-Mannigfaltigkeit. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie. »Ich meine, du hast vielleicht recht, was die Morde betrifft, vielleicht waren die Terroristen hinter Kleinman und den anderen her, weil sie alle an irgendeinem geheimen Projekt mitgearbeitet haben. Aber ich kann nicht glauben, dass es sich bei dem Projekt um die Einheitliche Feldtheorie handelt, die Einsteins Assistenten seit fünfzig Jahren versteckt hielten. Das ist einfach zu unwahrscheinlich.« Er nickte wieder. Er konnte verstehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihm zu glauben. Es ging nicht nur darum, dass sie der Quantenphysik klassischen Theorien gegenüber den Vorzug gab. Ihr gesamtes Lebenswerk stand hier zur Debatte. David sagte im Grunde nichts anderes, als dass alle Errungenschaften, die sie und ihre Stringtheoretiker-Kollegen in den letzten zwei Jahrzehnten erreicht hatten, all die mit großer Sorgfalt erzielten Fortschritte und hart erkämpften Einsichten und brillanten Neuformulierungen, irrelevant waren. Ein Wissenschaftler, der gestorben war, bevor die meisten von ihnen das Licht der Welt erblickt hatten, hatte sich bereits ihren wichtigsten Preis geschnappt, die Theorie von Allem. Und diese Möglichkeit war, um es gelinde zu formulieren, nicht leicht zu akzeptieren. Er wandte sich von Monique ab und überlegte, wie er sie überzeugen könnte. Er hatte eine außergewöhnliche Behaup 77 tung aufgestellt, aber keinen außergewöhnlichen Beweis. Er hatte nicht mal etwas in der Richtung eines gewöhnlichen Beweises. Als er an die leeren Küchenwände starrte, kam ihm allerdings ein neuer Gedanke. Es war kein angenehmer Gedanke; er war im Gegenteil derart abscheulich, dass ihm das Herz bis zum Halse schlug. Aber es war ein Beweis. »Schau dich mal um«, sagte er, während er sich wieder Monique zuwandte und auf Wände und Küchenschränke zeigte. »Schau dir diese Küche an. Hier ist nichts kaputtgemacht worden, keine Schmierereien. Nicht ein einziges Hakenkreuz.« Sie starrte ihn verständnislos an. »Ja? Na und?«
»Warum sollte ein Haufen von Skinheads aus New Jersey jedes Zimmer in diesem Haus verwüsten, die Küche aber in Ruhe lassen? Kommt dir das nicht ein bisschen merkwürdig vor?« »Was hat das denn mit deiner Geschichte ...« »Es gab keine Skinheads, Monique. Jemand hat dieses Haus auseinandergenommen, um nach Einsteins Notizbüchern zu suchen. Sie haben unter den Bodendielen nachgeschaut, Löcher im Garten gegraben und sich durch den Gips gebohrt, um die Zwischenräume zwischen den Wänden zu überprüfen. Und sie haben überall Hakenkreuze hingeschmiert, damit es nach Vandalismus aussieht. Die Küche haben sie nicht angerührt, weil sie erst lange nach Einsteins Tod an das Haus angebaut worden ist und er deshalb hier nichts versteckt haben konnte. Und deine Möbel haben sie aus demselben Grund nicht angerührt.« Monique hob die Hand an den Mund. Ihre langen schlanken Finger berührten ihre Lippen. »Falls ich raten müsste«, fuhr David fort, »würde ich sagen, dass FBI-Agenten das Haus durchsucht haben. Die Terroristen hätten sich nicht damit abgegeben zu warten, bis du zum Wochenende das Haus verlassen hast. Sie hätten dich 78 einfach im Schlaf umgebracht. Und ich würde auch darauf tippen, dass die Agenten keine Notizbücher gefunden haben. Dafür war Einstein zu schlau. Er hätte nichts Schriftliches hinterlassen.« Obwohl Moniques Hand die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte, konnte David beobachten, wie sich ihr Mienenspiel veränderte. Zuerst weiteten sich ihre Augen vor Angst und Überraschung, aber innerhalb von Sekunden verengten sie sich wieder, und eine tiefe senkrechte Linie erschien zwischen ihren Augenbrauen. Sie war fuchsteufelswild, absolut außer sich. Neonazi-Skinheads waren schlimm genug, aber Agenten der Bundesregierung, die Hakenkreuze an die Wände sprühten, um eine geheime Operation zu vertuschen? Das war eine völlig andere Liga. Schließlich nahm sie die Hand wieder herunter und packte David an der Schulter. »Was waren das für Zahlen, die Kleinman dir genannt hat?« Simon hatte keine Schwierigkeiten damit, auf die andere Seite des Hudson zu kommen. Es gab eine Kontrolle an der Einfahrt zum Lincoln Tunnel, wo ein Paar Polizisten ihm befahl, sein Fenster herunterzulassen, und ein Bombenspürhund die Schnauze in den Wagen steckte, aber Simon hatte sich im Waldorf umgezogen und jede Spur C-4 von seiner Haut abgeduscht, sodass der Schäferhund nur dümmlich das Lenkrad anstarrte. Simon zeigte den Officers seinen Ausweis - einen perfekt gefälschten Führerschein des Staates New York -, woraufhin sie ihn durchwinkten. Fünf Minuten später war er auf dem New Jersey Turnpike und raste über den Damm, der die dunklen, feuchten Meadowlands überspannte. Er konnte so schnell fahren, wie er wollte, weil der Highway um vier Uhr morgens fast leer war
und alle State Trooper die New Yorker Polizei an Brücken und Tunneln unterstützten. Also bretterte er mit hundert 79 vierzig Stundenkilometern am Newark Airport vorbei und schwenkte dann nach Westen in Richtung der wild wuchernden Exxon-Raffinerie ab. Es war tiefste Nacht. Geradeaus vor ihm erhoben sich die Destillationstürme der Raffinerie aus der Schwärze. Ein Gasfeuer strömte aus einem der Fackelrohre, aber die Flammen waren dünn und flackerten so schwach wie eine Zündflamme. Die Straße schien dunkler zu werden, als Simon an dem Labyrinth aus Röhren und Petroleumtanks vorbeiraste, und ein paar Sekunden lang kam es ihm so vor, als führe er unter Wasser. Auf dem leeren Bildschirm vor seinem geistigen Auge sah er zwei Gesichter, die Gesichter seiner Kinder, aber es war nicht das tröstliche Bild, das er auf seinem Handy gespeichert hatte. Auf diesem Bild lächelten Sergej und Larissa nicht. Sergej lag mit geschlossenen Augen in einem schlammigen Graben, seine Arme von langen schwarzen Brandwunden gestreift und seine Haare mit Blut verkrustet. Aber Larissas Augen waren weit aufgerissen, als ob sie immer noch am Leben wäre, als ob sie immer noch voller Entsetzen den Feuerball anstarren würde, der sie zu verschlingen drohte. Simon trat aufs Gas, und der Mercedes machte einen Satz nach vorn. Kurze Zeit später erreichte er die Ausfahrt 9 und brauste weiter auf der Route 1 nach Süden. Er würde in fünfzehn Minuten in Princeton sein. 4 0 2 6 3 6 7 9 5 6 4 4 7 8 0 0 J David schrieb die Zahlen mit Bleistift auf ein Stück Papier. Er reichte es Monique und verspürte sofort den fast unwiderstehlichen Drang, ihr das Papier wieder abzunehmen und es in kleine Stücke zu zerreißen. Er hatte Angst vor diesen sechzehn Ziffern. Er wollte sie vernichten, sie vergraben, sie für alle Zeiten auslöschen. Aber er wusste, dass er das nicht konnte. Sie waren alles, was er hatte. 79 Monique hielt das Stück Papier in beiden Händen und betrachtete die Zahlen. Ihre Augen flogen von rechts nach links, hielten Ausschau nach Mustern, Progressionen, geometrischen Sequenzen. Auf ihrem Gesicht fand sich der gleiche konzentrierte Blick, den David gesehen hatte, als sie ihr Referat über die Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten auf der Konferenz zur Stringtheorie in Princeton gehalten hatte. Wie das Gesicht der Göttin Athene, wenn sie sich auf die Schlacht vorbereitete. »Die Verteilung sieht nicht-zufällig aus«, bemerkte sie. »Es gibt drei Nullen, drei Vieren und drei Sechsen, aber nur ein einziges Paar, die beiden Siebener. Bei einer numerischen Sequenz dieser Größenordnung ist es unwahrscheinlich, mehr Drillinge als Pärchen zu haben.« »Könnte es ein Schlüssel für die Dekodierung einer Computerdatei sein? Kleinman hat das Wort Schlüssel benutzt, also wäre es nicht unlogisch.«
Sie hielt den Blick auf die Zahlen gerichtet. »Die Größe ist ungefähr richtig. Sechzehn Ziffern, und jede davon kann in vier Stück digitalen Code umgewandelt werden. Das würde zusammen vierundsechzig Stück ergeben, und das ist die Standardlänge für einen Verschlüsselungscode. Aber damit die Technik funktioniert, muss die Sequenz zufallsgeneriert sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Mit einer nicht-zufälligen Sequenz könnte man den Code zu leicht knacken. Warum sollte sich Kleinman für einen derart mangelhaften Schlüssel entscheiden?« »Na ja, vielleicht ist es eine andere Art Schlüssel. Vielleicht ist es eher eine Art Erkennungs-Etikett. Etwas, das uns hilft, die Datei zu finden anstatt sie zu entschlüsseln.« Monique antwortete nicht. Stattdessen hielt sie das Stück Papier ein wenig näher an ihr Gesicht, als hätte sie Schwierigkeiten, die Zahlen zu entziffern. »Du hast diese Sequenz merkwürdig hingeschrieben.« 80 »Was meinst du damit?« Sie drehte das Blatt Papier um, damit er es sehen konnte. »Die Zahlen sind ein bisschen zusammengezogen. Nach jeder zweiten Ziffer sind die Zwischenräume ein wenig breiter. Außer am Ende, wo die Abstände gleichmäßig sind.« Er nahm ihr das Blatt ab. Sie hatte recht, die ersten zwölf Ziffern waren in Paaren zu zwei Ziffern angeordnet. Er hatte sie nicht bewusst auf diese Weise geschrieben, aber so sah es aus. »Hmm«, grunzte er. »Das ist wirklich merkwürdig.« »Hat Kleinman diese Gruppierung vorgenommen, als er dir die Sequenz nannte?« »Nein, nicht genau.« Er schloss einen Moment lang die Augen und sah Professor Kleinman wieder vor sich, wie er sich in seinem Krankenhausbett aufrichtete und seine letzten Worte hervorkeuchte. »Seine Lunge versagte, und deshalb kamen die Zahlen stoßweise heraus, immer zwei auf einmal. Und so sehe ich die Zahlenfolge auch jetzt in meiner Erinnerung. Ein halbes Dutzend zweistellige Zahlen mit einer vierstelligen Zahl am Ende.« »Aber ist es möglich, dass hinter dieser Gruppierung eine Absicht steckte? Dass Kleinman wollte, dass du die Zahlen so arrangierst?« »Ja, ich denke schon. Aber ändert das etwas an der Sache?« Monique griff sich das Blatt und legte es auf den Küchentisch. Dann nahm sie den Bleistift und machte Striche zwischen den zweistelligen Zahlen. 4 0 / 2 6 / 3 6 / 7 9 / 5 6 / 4 4 / 7 8 0 0 »Wenn man die Zahlenfolge so gruppiert, wirkt sie sogar noch weniger zufällig«, sagte sie. »Vergiss zunächst mal die vierstellige Zahl und schau dir nur die zweistelligen an. Fünf von den sechs liegen zwischen fünfundzwanzig und sechzig. 80
Nur die Neunundsiebzig fällt nicht in diesen Bereich. Das ist eine relativ dichte Gruppierung.« David starrte die Zahlen an. Auf ihn wirkten sie immer noch ziemlich zufällig. »Ich weiß nicht. Es sieht so aus, als würdest du ganz schön manipulieren, um ein Muster zu erzeugen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, was ich tue, David. Ich hab eine Menge Zeit damit verbracht, Datenpunkte von teilchenphysikalischen Experimenten zu studieren, und ich erkenne ein Muster, wenn ich eins sehe. Aus irgendeinem Grund sind die Zahlen in einem schmalen Streifen zusammengedrängt.« Er starrte die Zahlenfolge wieder an und versuchte sie aus Moniques Perspektive zu sehen. Okay, dachte er, die Zahlen scheinen sich unterhalb von sechzig zu bewegen. Aber konnte das nicht einfach eine zufällige Anordnung sein? In Davids Augen sah die Sequenz genauso zufällig aus wie die Gewinnzahlen für das New York Lotto, bei dem er von Zeit zu Zeit trotz der erbärmlich schlechten Chancen mitspielte. Die Lottozahlen scharten sich auch immer unterhalb von sechzig, aber das lag nur daran, dass neunundfünfzig die höchste Zahl war, die man wählen konnte. Und dann sah er es sonnenklar. »Minuten und Sekunden«, sagte er. Monique schien ihn nicht zu hören. Sie blieb weiterhin über den Küchentisch gebeugt und studierte die Zahlenfolge. »Du siehst Minuten und Sekunden vor dir«, sagte er, diesmal etwas lauter. »Deshalb liegen die Zahlen unter sechzig.« Sie schaute zu ihm hoch. »Was? Willst du damit sagen, dass es sich hier um eine Art Zeitangabe handelt?« »Nein, nicht Zeit. Das sind räumliche Dimensionen.« David schaute noch einmal auf die Zahlenfolge, und jetzt öffne 81 te sich ihm ihre Bedeutung wie eine Blume, bei der alle sechs Blütenblätter perfekt angeordnet sind. »Es sind geografische Koordinaten, Breiten- und Längenangaben. Die erste zweistellige Zahl ist das Winkelmaß, die zweite sind Bogenminuten, und die dritte sind Bogensekunden.« Monique starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte sie sich wieder den Zahlen zu. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, eins der bezauberndsten Lächeln, die David je gesehen hatte. »Okay, Dr. Swift«, sagte sie. »Es ist einen Versuch wert.« Sie ging zu ihrem Laptop. »Ich gebe die Koordinaten in Google Earth ein. Dann können wir uns die Stelle mal ansehen.« Sie fand das Programm und gab die Zahlen ein. »Ich nehme an, bei der Breite handelt es sich um vierzig Grad Nord, nicht Süd. Andernfalls wärst du irgendwo im Pazifik. Und was die Länge betrifft, vermute ich, es ist neunundsiebzig Grad West, nicht Ost.« David stand neben ihr, damit er den Bildschirm des Laptops sehen konnte. Das erste Bild, das auftauchte, war ein unscharfes Satellitenfoto. Oben befand sich ein
großes Gebäude, das wie ein H geformt war, und unten war eine Reihe von kleineren Gebäuden in der Form von Ls und Pluszeichen. Ihre Ausmaße waren zu groß für Häuser, aber sie waren nicht hoch genug, um Bürohochhäuser sein zu können. Zudem waren sie nicht in einem Straßennetz angeordnet oder neben einem Highway angesiedelt; stattdessen lagen die meisten Gebäude an) der Peripherie eines langen rechteckigen Hofs, der kreuz und quer von Gehwegen durchzogen war. Ein Campus, dachte David. Es war ein Universitätsgelände. »Wo liegt dieser Komplex?« »Moment mal, ich rufe das Straßenverzeichnis auf.« Monique klickte auf ein Symbol, das alle Gebäude und Straßen mit Schildchen versah. »Es ist in Pittsburgh. Die Koordinaten kreuzen sich genau auf diesem Gebäude hier.« Sie zeigte auf 82 einen Punkt auf dem Bildschirm und kniff die Augen zusammen, um das Schild zu lesen. »Die Adresse lautet 5000 Forbes Avenue. Newell-Simon Hall.« David erinnerte sich an den Namen. Er hatte das Gebäude schon einmal betreten. »Das ist in der Carnegie Mellon. Das Robotics Institute. Wo Amil Gupta arbeitet.« Monique tippte noch auf ein paar Tasten und fand die Website des Instituts. Sie klickte auf die Seite, die eine Liste der Mitglieder des Lehrkörpers enthielt. »Sieh dir mal die Telefonnummern an«, sagte sie und warf einen Blick über die Schulter auf David. »Jeder hat einen vierstelligen Nebenanschluss, der mit achtundsiebzig anfängt.« »Welchen Anschluss hat Gupta?« »Seine Privatnummer ist sieben-acht-drei-zwo. Aber er ist Institutsdirektor, stimmt's?« »Ja, seit zehn Jahren.« »Sieh dir das an. Die Nebenstelle für das Büro des Direktors ist sieben-acht-nullnull.« Sie strahlte triumphierend. »Das sind die letzten vier Ziffern in Kleinmans Sequenz.« Sie war so begeistert von ihrem gemeinsamen Erfolg, dass sie mit der Faust in die Luft boxte. Aber David starrte nur auf die Namensliste auf dem Bildschirm des Laptops. »Irgendwas ist da faul«, sagte er. »Das kann nicht die richtige Nachricht sein.« »Wovon redest du da? Es ergibt perfekten Sinn. Falls Einstein tatsächlich eine einheitliche Theorie entwickelt hat, hat er wahrscheinlich auch Gupta davon erzählt. Kleinman wollte dir sagen, dass du zu Gupta gehen sollst, um die Theorie zu bewachen. Das ist doch ganz offensichtlich!« »Das ist ja das Problem. Die Nachricht ist zu offensichtlich. Jeder weiß, dass Gupta mit Einstein zusammengearbeitet hat. Das FBI weiß es, die Terroristen wissen es, es gibt ein ganzes verdammtes Kapitel in meinem Buch darüber. Warum sollte sich Kleinman also die ganze Mühe machen und die 82
sen komplizierten Code entwickeln, wenn das alles ist, was er sagen wollte?« Sie zuckte mit den Achseln. »Tja, mein Lieber, da fragst du die Falsche. Ich habe keine Ahnung, was Kleinman durch den Kopf gegangen ist. Vielleicht war das der beste Plan, der ihm einfiel.« »Nein, das glaube ich nicht. Kleinman war nicht blöd.« Er schnappte sich das Blatt Papier mit den sechzehn Ziffern. »In dieser Zahlenfolge muss noch irgendwas versteckt sein. Etwas, das uns noch nicht aufgefallen ist.« »Nun ja, es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden. Wir müssen mit Gupta reden.« »Wir können ihn nicht anrufen. Ich bin sicher, dass die Typen vom FBI mittlerweile sein Telefon angezapft haben.« Monique schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu. »Dann müssen wir nach Pittsburgh fahren.« Sie nahm den Laptop mit zur Küchentheke und verstaute ihn in einer ledernen Tragetasche. Dann holte sie sich eine kleine Reisetasche und begann verschiedene Dinge aus den Küchenschränken und -Schubladen einzupacken: ein Batterieladegerät, ein kleiner Schirm, ein iPod, eine Schachtel mit Keksen. David sah ihr beunruhigt zu. »Bist du verrückt? Wir können nicht einfach bei Gupta zu Hause auftauchen! Das FBI lässt wahrscheinlich das Institut überwachen. Wenn sie ihn nicht schon nach Guantänamo verschleppt haben.« Oder die Terroristen ihn noch nicht zu Tode gefoltert haben, dachte er. »Wir werden so oder so nicht in seine Nähe kommen .« Monique zog den Reißverschluss an der Reisetasche zu. »Wir sind zwei intelligente Leute, David. Wir werden uns schon eine Möglichkeit ausdenken.« Mit der Reisetasche in einer und dem Laptop in der anderen Hand marschierte sie aus der Küche. David folgte ihr ins Wohnzimmer. »Warte doch einen 83 Moment! Das können wir nicht machen! Die Polizei macht bereits Jagd auf mich! Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt aus New York rausgekommen bin.« Sie blieb vor dem verwüsteten Kamin stehen und setzte die Taschen auf dem Boden ab. Dann nahm sie den Revolver vom Kaminsims und ließ die Trommel seitlich ausschwingen. Die senkrechte Falte war wieder zwischen ihren Augenbrauen erschienen, und ihr Mund war ein schmaler, grimmiger Strich. »Schau mal dort hoch«, sagte sie und zeigte mit der Waffe auf die zwei roten Hakenkreuze an der Decke und auf die Wörter N IGGA GO HOME. »Diese Arschlöcher sind in mein Haus eingebrochen - in mein Haus! - und haben diese Scheiße an meine Wände geschrieben. Glaubst du, ich lasse ihnen das durchgehen?« Sie nahm die Patronen vom Kaminsims und führte sie eine nach der anderen in die Trommel ein. »Nein, ich werde dieser Sache auf den Grund gehen. Ich werde rauskriegen, was hier vor sich geht, und dann werde ich dafür sorgen, dass diese Drecksäcke bezahlen.«
David konzentrierte sich auf den Revolver in Moniques Hand. Ihm gefiel nicht, wie diese Sache sich entwickelte. »Diese Waffe wird dir nicht viel nützen. Sie haben Hunderte von Agenten und Tausende von Cops. Du kannst dir den Weg nicht einfach freischießen.« »Keine Sorge, ich habe nicht vor, irgendwelche Schießereien anzufangen. Wir werden raffiniert sein und nicht blöd. Niemand weiß, dass du bei mir bist, also wird das FBI nicht nach meinem Wagen Ausschau halten. Du musst einfach dein Gesicht bedeckt halten, dann haben wir keine Probleme.« Sie schob die letzte Patrone ein und klappte die Trommel wieder zu. »Jetzt gehe ich nach oben und ziehe mich an. Soll ich dir Reiths Rasierzeug mitbringen?« Er nickte. Er konnte ihr nicht mehr widersprechen. Sie war wie eine Naturgewalt, unnachgiebig und nicht aufzu 84 halten, sie verbog die ganze Struktur der Raumzeit um sich herum. »Was wirst du Keith erzählen?« Monique schnappte sich beide Taschen mit einer Hand und nahm den Revolver in die andere. »Ich werde ihm eine Nachricht hinterlassen. Ich sage ihm, wir hätten zu einer Konferenz fahren müssen oder so.« Sie ging in die Eingangsdiele und stieg die Treppe hoch. »Er wird nicht allzu sauer sein deswegen. Keith hat noch drei Freundinnen, mit denen er seine Zeit verbringen kann. Der Junge hat ein erstaunliches Durchhaltevermögen.« Er nickte wieder. Also war ihre Beziehung zu Keith nicht so ernst. David stellte zu seiner Überraschung fest, dass er diese Tatsache ganz erfreulich fand. Simon raste nur noch eine halbe Meile von Einsteins Haus entfernt über die Alexander Road, als er das kreisende Blinklicht in seinem Rückspiegel sah. Es war ein blau-weißer Streifenwagen vom Princeton Borough Police Department. »Yob tovyu mat!«, fluchte er und schlug mit der Faust gegen das Lenkrad. Wenn das nur eine Minute früher passiert wäre, als er auf der Route 1 war, hätte er einfach Gas gegeben -sein Mercedes war ein SLK 32 AMG, der problemlos jeden in Amerika produzierten Wagen hinter sich gelassen hätte -, aber jetzt war er auf innerörtlichen Straßen, und die Gefahr war zu groß, dass er in eine Falle geriet. Er hatte keine andere Wahl, als an den Straßenrand zu fahren. Er hielt am Seitenstreifen eines verlassenen Straßenstücks, ungefähr fünfzig Meter vom Eingang eines Parks entfernt. Es gab keine Häuser oder Geschäfte in der Nähe, und auf der Straße herrschte kein Verkehr. Der Streifenwagen hielt rund zehn Meter hinter ihm, ließ die Scheinwerfer an und blieb einfach mehrere Sekunden stehen, die ihn nachgerade wahnsinnig machten. Der Fahrer des Wagens gab vermutlich gerade über Funk eine Beschreibung von Simons Fahrzeug 84 an seine Zentrale durch. Schließlich stieg ein kräftiger Mann in einer blauen Uniform aus dem Polizeiauto. Simon verstellte seinen linken Außenspiegel, um
den Streifenpolizisten genauer in Augenschein zu nehmen. Ein junger Bursche von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Muskulöse Arme und Schultern, aber ein bisschen pummelig um die Taille. Wahrscheinlich verbrachte er den größten Teil seiner Schicht damit, im Wagen zu sitzen und darauf zu warten, dass betrunkene Studenten zu schnell an ihm vorbeifuhren. Simon ließ sein Seitenfenster hinuntergleiten, als der Officer sich dem Mercedes näherte. Der junge Mann stützte die Hände auf der Fahrertür ab und beugte sich zu Simon herab. »Mister, haben Sie eine Ahnung, wie schnell Sie gefahren sind?« »Einhundertdreiundvierzig Kilometer pro Stunde«, antwortete Simon. »Mehr oder weniger.« Der Officer runzelte die Stirn. »Das hier ist kein Witz. Sie könnten jemand getötet haben. Führerschein und Fahrzeugschein, bitte.« »Gerne.« Simon griff in sein Jackett. Er hatte einen gefälschten Führerschein, aber keinen Kraftfahrzeugschein für den Mercedes, den er vor zwei Tagen bei einem Autohändler in Connecticut gestohlen hatte. Anstatt also nach seiner Brieftasche zu greifen, zog er seine Uzi und schoss dem Polizisten in die Stirn. Der Mann taumelte nach hinten. Simon ließ den Mercedes an und brauste los. In wenigen Minuten würde ein vorbeifahrender Verkehrsteilnehmer die Leiche bemerken, und binnen einer halben Stunde würde die Polizei von Princeton nach seinem Fahrzeug Ausschau halten. Aber das war in Ordnung. Er hatte nicht vor, sehr lange in der Stadt zu bleiben. Keith träumte von Moniques Corvette. Sie hatte den Wagen in die Werkstatt gebracht und ihm gesagt, der Motor liefe 85 heiß, aber als er die Kühlerhaube anhob, stellte er fest, dass der Motor fehlte. Dieser Typ namens David Swift lag zusammengerollt dort, wo der Motorblock hätte sein sollen. Keith drehte sich zu Monique um, weil er sie fragen wollte, was los sei, aber sie versteckte sich schelmisch hinter ihm. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Das war echt, kein Traum. Eine Hand packte seine Schulter und drehte ihn sanft auf den Rücken. Das muss Monique sein, die wieder ins Bett kam, dachte er. Wollte wahrscheinlich ein bisschen an ihm herumknabbern. Sie war gut im Bett, konnte aber nicht genug bekommen. »Ach, Mo«, stöhnte er mit geschlossenen Augen. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich früh aufstehen muss.« »Du bist nicht David Swift.« Die fremde Stimme machte ihn im Nu hellwach. Er schlug die Augen auf und sah die Silhouette eines kahlen Kopfs mit einem dicken Hals vor sich. Die Hand des Mannes war zu Keiths Kehle gewandert und drückte jetzt fest zu, presste ihn ins Bett. »Wo sind sie?«, fragte der Mann. »Wo sind sie hingegangen?« Die Finger legten sich um seine Luftröhre. Er lag da, unbeweglich, zu erschrocken, um Widerstand zu leisten. »Unten!«, krächzte er. »Sie sind unten!« »Nein, sind sie nicht.«
Keith hörte ein Rascheln in der Dunkelheit und sah etwas kurz aufblitzen. Es war eine lange gerade Klinge, die das bläuliche Licht der Morgendämmerung widerspiegelte, das durch das Schlafzimmerfenster hereinfiel. »Nun gut, mein Freund«, sagte der Mann. »Wir werden uns kurz unterhalten.« SIEBEN
Karen maß einen Vernehmungsraum der FBI-Niederlassung am Federal Plaza mit ihren Schritten aus. Zuerst ging sie an der Stahltür vorbei, die von außen verschlossen war. Dann passierte sie einen Spiegel, der fast die gesamte Länge einer Wand einnahm, höchstwahrscheinlich ein venezianischer Spiegel, der es Agenten gestattete, die Vernehmungen von der anderen Seite aus zu beobachten. Schließlich marschierte sie an einem blau-goldenen Schild mit dem Bild eines Adlers und den Worten FEDERAL B UREAU OF I NVESTIGATION PROTECTING A MERICA vorbei. Mehrere Stühle standen um einen Metalltisch in der Mitte des Raums herum, aber Karen war zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Stattdessen zog sie mindestens fünfzigmal ihre Kreise durch den Raum, leicht benommen von Angst, Empörung und Müdigkeit. Die Agenten hatten ihr Jonah weggenommen. Um fünf Uhr hörte sie Schritte in dem Flur vor der verschlossenen Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und einen Augenblick später trat der Agent, der sie festgenommen hatte, in den Raum. Er war hochgewachsen, blond und muskelbepackt und trug immer noch das hässliche graue Jackett, das von dem Schulterholster ausgebeult wurde. Karen erinnerte sich an seinen Namen, als sie auf ihn zustürmte: Agent Brock. Der Mistkerl hatte einem siebenjährigen Jungen Handschellen angelegt. »Wo ist mein Sohn?«, wollte sie wissen. »Ich will sofort meinen Sohn sehen!« Brock streckte die Hände aus, als wolle er sie auffangen. Er hatte kalte blaue Augen. »Hey, hey, immer mit der Ruhe! 86 Ihrem Sohn geht's gut. Er schläft in einem der Zimmer vorn im Flur.« Karen glaubte ihm nicht. Jonah hatte geschrien wie verrückt, als die Agenten ihn aus ihren Armen gerissen hatten. »Bringen Sie mich dorthin! Ich muss ihn jetzt sehen!« Sie versuchte, um Brock herumzugehen, um zur Tür zu gelangen, aber der Agent trat ihr in den Weg. »Hey, ich hab gesagt, immer mit der Ruhe! Sie können Ihren Sohn gleich sehen. Ich muss Ihnen zuerst ein paar Fragen stellen.« »Hören Sie mal, ich bin Anwältin, okay? Ich praktiziere vielleicht kein Strafrecht, aber ich weiß, dass das hier illegal ist. Sie können uns hier nicht festhalten, ohne Anklage zu erheben.« Brock schnitt eine Grimasse. Von Anwälten hielt er offenbar nichts. »Wir können Anklage gegen Sie erheben, wenn Sie das wollen. Was halten Sie von strafbarer Vernachlässigung eines Kindes? Klingt das legal genug für Sie?« »Was? Wovon reden Sie da?«
»Ich rede von der Drogensucht Ihres Exmannes. Und wie er sie finanziert hat, indem er Kokain an seine Studenten an der Columbia verkaufte. Er hat meistens im Central Park gedealt, direkt nachdem er Ihren Sohn von der Schule abgeholt hatte.« Karen starrte ihn nur an. Das war das Lächerlichste, was sie je gehört hatte. »Das ist irrsinnig! Das Schlimmste, was sie im Park tun, ist mit dem Super Soaker spielen!« »Wir haben Überwachungsvideos, auf denen die Transaktionen zu sehen sind. Unseren Quellen zufolge betreibt Swift dieses Geschäft seit mehreren Jahren.« »Herr im Himmel! Ich hätte davon erfahren, wenn David im Park mit Rauschgift dealt!« Brock zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eine Sache steht jedenfalls fest: Das Familiengericht wird sicher wissen wollen, ob Sie auch darin verwickelt waren. 87 Sie könnten dann die Entscheidung treffen, Ihnen das Sorgerecht für Ihren Sohn zu entziehen, bis die Angelegenheit geklärt ist.« Karen schüttelte den Kopf. Brock log. Als Unternehmensanwältin verdiente sie ihre Brötchen damit, Fusionsvereinbarungen zu treffen, und sie konnte normalerweise erkennen, wenn die Gegenseite einen Bluff versuchte. »Okay, beweisen Sie es. Zeigen Sie mir die Überwachungsvideos.« Brock trat einen Schritt auf sie zu. »Keine Sorge, Sie werden sie heute Abend in den Nachrichten sehen. Sie müssen nämlich wissen, dass Ihr Exmann sein Geschäft ausweiten wollte und deshalb anfing, mit den Latin Kings zu arbeiten. Ich nehme an, Sie haben von ihnen gehört?« Sie schaute ihn entsetzt an. »Wollen Sie sagen, dass David sich mit einer Gangsterbande angefreundet hat?« »Die Latin Kings kontrollieren den Drogenhandel in Upper Manhattan. Außerdem haben sie in der letzten Nacht meine Kollegen umgebracht. Sie haben drei Agenten erschossen, die als verdeckte Ermittler Drogen von Swift kaufen wollten, und drei weitere, die zum Überwachungsteam gehörten.« Karen gab ein angewidertes Schnauben von sich. Die Geschichte war absurd. Jeder, der David kannte, würde das sofort erkennen. Aber warum dachte sich das FBI diesen Blödsinn aus? Was versuchten sie zu verstecken? Sie wich vor Brock zurück, ging zu dem Metalltisch und setzte sich auf einen der Stühle. »Okay, Agent Brock, im Moment verlasse ich mich auf Ihr Wort. Was möchten Sie von mir wissen?« Er zog ein Notizbuch und einen Stift aus seinem Jackett. »Wir brauchen Informationen über die Kontaktpersonen Ihres Exmannes. Besonders über alle, die in New Jersey wohnen.« »New Jersey? Glauben Sie, David hält sich dort auf?« Brock machte ein finsteres Gesicht. »Lassen Sie mich die
88 Fragen stellen, okay? Wir haben schon die Namen seiner Kollegen an der Columbia. Jetzt arbeiten wir an einer Liste mit Freunden, Bekannten, etwas in der Art.« »Ich bin in dem Punkt nicht der beste Ansprechpartner. David und ich sind seit zwei Jahren geschieden.« »Nein, Sie sind eindeutig die beste Ansprechpartnerin. Sehen Sie, Swift ist auf der Flucht, und wahrscheinlich hält er jetzt nach einem Freund Ausschau, der ihm helfen könnte. Einer sehr engen Freundin beispielsweise, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er legte den Kopf schief und warf ihr einen wissenden Blick zu. »Hat er irgendwelche Freundinnen dieser Art in New Jersey?« Karen schüttelte erneut den Kopf. Wie erbärmlich, dachte sie. Brock versuchte, sich ihre Eifersucht zunutze zu machen. »Ich habe keine Ahnung.« »Ach, kommen Sie schon. Wissen Sie nichts über sein Liebesleben?« »Warum sollte mich das was angehen? Wir sind nicht mehr verheiratet.« »Na ja, was ist denn mit der Zeit vor Ihrer Scheidung? Hat David nie mit anderen Frauen rumgemacht? Irgendwelche späten Trips über die George Washington Bridge unternommen?« Sie sah ihm unverwandt in die Augen. »Nein.« Brock stand vor Karens Stuhl. Er stützte sich mit einer Hand an der Tischkante ab und beugte sich vor, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. »Sie sind nicht sehr hilfsbereit, Karen. Wollen Sie Ihren Sohn nicht sehen?« Ihr Magen verkrampfte sich. »Wollen Sie mir drohen?« »Nein, ganz und gar nicht. Ich möchte Sie nur an das Familiengericht erinnern. Wenn wir denen keinen günstigen Bericht erstatten, geben sie Ihren Sohn vielleicht zu Pflegeeltern. Sie wollen ihn doch nicht verlieren, nicht wahr?« 88 Brocks Gesicht war so nahe, dass Karen sein Mundwasser riechen konnte, ein widerlicher Pfefferminzduft. Einen Moment lang dachte sie, sie müsste sich übergeben. Aber stattdessen schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie streifte Brock, als sie an ihm vorbei auf den Spiegel am anderen Ende des Raums zuging. Sie versuchte durch das Glas zu spähen, aber alles, was sie sehen konnte, war ihr eigenes Spiegelbild. »Okay, ihr Idioten«, sagte sie an den Spiegel gerichtet. »Habt ihr mittlerweile rausgekriegt, mit wem ihr es hier zu tun habt?« Im Spiegel sah sie Brock auf sich zukommen. »Niemand ist da, Karen. Nur Sie und ich.« Sie richtete den Zeigefinger auf das Glas. »Amory Van Cleve. Klingelt es bei Ihnen, wenn Sie den Namen hören? Er kennt die Hälfte der Anwälte im Justizministerium, und er wird nicht erfreut sein, wenn ich ihm sage, was ihr hier mit mir anstellt.«
Brock war jetzt nur noch ein kurzes Stück hinter ihr. »Okay, das reicht. Sie setzen sich besser ...« »Schaffen Sie mir dieses Arschloch vom Hals!«, rief Karen und zeigte auf Brock, wobei sie weiter in den Spiegel schaute. »Falls er immer noch hier ist, wenn ich bis zehn gezählt habe, lässt Amory die Fetzen fliegen. Hört ihr mich? Er wird mit seinen Freunden in Washington reden und dafür sorgen, dass ihr alle in den Knast kommt!« Ungefähr fünf Sekunden lang war es still in dem Raum. Sogar Brock hielt die Klappe, während er darauf wartete, was passieren würde. Dann hörte Karen wieder Schritte auf dem Flur. Die Tür ging auf und eine ältere Frau in einer weißen Bluse und mit einer Lesebrille betrat den Raum. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Süße?«, fragte sie in schleppendem Tonfall. »Ich hörte jemand rufen, und ich dachte mir ...« Karen wirbelte herum. »Fangen Sie gar nicht erst an!«, schrie sie. »Bringen Sie mich nur zu meinem Sohn!« 89 David wurde in dem niedrigen Beifahrersitz von Moniques Corvette wach. Halb benommen und desorientiert schaute er aus der Windschutzscheibe. Der Wagen fuhr auf einem Interstate Highway durch eine üppige Hügellandschaft, die im Morgenlicht grün leuchtete. Eine Herde brauner Kühe stand auf einer weiten, abfallenden Wiese neben einer großen roten Scheune und einem frisch gepflügten Acker. Es war ein wunderschöner Anblick, und einen langen Moment starrte David nur auf das ruhige, unbewegliche Vieh. Dann spürte er einen dumpfen Schmerz unten im Rücken, der zweifellos von der ganzen Rennerei herrührte, die er in der vergangenen Nacht absolviert hatte, und ihm fiel wieder ein, warum er durch die Landschaft brauste. Er veränderte seine Position in dem unbequemen Schalensitz. Monique schaute hinaus auf die Straße, eine Hand am Lenkrad, die andere wühlte in einer Schachtel Keks mit Vanillecreme. Bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie eine weiße Bluse und eine Khaki-Shorts angezogen, und jetzt trug sie außerdem ein Paar Ohrhörer von ihrem iPod, der in ihrem Schoß lag. Ihr Kopf bewegte sich ganz leicht im Takt der Musik. Sie merkte zunächst nicht, dass David wach war, und ein paar Sekunden lang beobachtete er sie aus den Augenwinkeln, starrte auf ihren herrlichen Hals und die langen, kakaofarbenen Oberschenkel. Nach einer Weile kam er sich allerdings wie ein Voyeur vor, und deshalb gähnte er, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er streckte die Arme aus, soweit ihm dies in dem beengten Innenraum der Corvette möglich war. Monique wandte sich ihm zu. »Na endlich!«, sagte sie. »Du bist drei Stunden lang weg gewesen.« Sie zog sich die Ohrhörer vom Kopf, und David hörte einen lärmenden Fetzen Rap-Musik, bevor sie den iPod ausstellte. Dann bot sie ihm die Schachtel mit den Keksen an. »Möchtest du ein bisschen frühstücken?« 89
»Ja, klar, vielen Dank.« Sobald David die Schachtel in der Hand hatte, merkte er, wie heißhungrig er war. Er stopfte sich zwei Kekse in den Mund und griff sich noch drei weitere. »Wo sind wir?« »Im schönen West-Pennsylvania. Wir sind keine Stunde mehr von Pittsburgh entfernt.« Er sah die Anzeige der Uhr im Armaturenbrett: 8:47. »Kein schlechter Schnitt.« »Bist du verrückt?«, fragte sie spöttisch. »Wenn ich fahren würde wie sonst, wären wir schon da. Ich bleibe nur unter hundertzwanzig, falls irgendwelche State Trooper in der Nähe sind.« David nickte. »Gute Idee. Mittlerweile haben sie wahrscheinlich mein Bild.« Er zog noch zwei Kekse aus der Schachtel. Dann schaute er Monique wieder an und bemerkte mit Verspätung die Schatten unter ihren Augen. »Hey, du musst völlig erschöpft sein. Soll ich dich mal ablösen?« »Nein, mir geht's prima«, sagte sie schnell. »Ich bin nicht müde.« Sie packte das Lenkrad jetzt mit beiden Händen, als wolle sie ihr Anrecht darauf bestärken. Die Vorstellung, dass er ihr Auto fuhr, behagte ihr eindeutig nicht. Nun ja, das war verständlich, dachte er. Ihre Corvette war eine Augenweide. »Bist du sicher?« »Aber ja, das macht mir nichts aus. Ich fahre gern lange Strecken. Unterwegs kommen mir manche meiner besten Gedanken. Kennst du meinen letzten Beitrag in der Physical Review? >Zu den Schwerkrafteffekten nicht-kompakter Extra-Dimensionen