Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 455
Roy Palmer
Die Wölfin Ein Seeabenteuer-Roman
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Luis Carrero, der neue Sklav...
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Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 455
Roy Palmer
Die Wölfin Ein Seeabenteuer-Roman
2
Luis Carrero, der neue Sklaven für den Silberabbau im Cerro Rico in Potosí beschaffen sollte, war noch nicht zurückgekehrt. Allmählich wurde die Situation für den verantwortlichen Provinzgouverneur prekär – keine Arbeitskräfte, kein Silber. Darum hatte er Order gegeben, Trupps loszuschicken, um Indios einzufangen. Von Arica aus war der Teniente de Mescua mit einem Trupp Soldaten zum Tal von Tacna aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Ein zweiter Trupp setzte sich dorthin in Marsch, unter Führung des Teniente de Garrida, der zuvor bereits in einem kleinen Fischerort gewütet hatte – erfolglos, denn die Fischer waren klugerweise auf See geblieben. Über drei Hängebrücken führte der Weg nach Tacna, aber bereits die erste Hängebrücke war von den Seewölfen besetzt… Die Hauptpersonen des Romans: Ben Brighton – behält immer die Ruhe, aber dieses Mal fährt er aus der Haut. Luke Morgan – fällt auf einen billigen Trick herein und möchte sich erschießen. Mac Pellew – träumt von Heringen und muß Kopfnüsse heilen. Luis Carrero – der Sklavenschinder von Potosí entdeckt in der Vorpiek einen rostigen Nagel. Plymmie – ihre Artgenossen jagen im Rudel, sie nimmt allein die Spur auf. 1. Luis Carrero war ein an Leib und Seele gebrochener Mann. Wie lange hockte er jetzt schon in der scheußlichen, stinkenden Vor3
piek dieses gräßlichen Schiffes, der ›Estrella de Málaga‹? Wie viele Tage? Er wußte es nicht mehr. Mit dem Zählen hatte er aufgehört. Er schrie und fluchte nicht mehr, begehrte nicht mehr gegen seine Gegner auf. Er sprach auch nicht mehr, sondern blickte nur starr auf die düsteren Planken und das Schott, das ihm die Freiheit verwehrte. Das Bilgewasser schwappte unter der Gräting. Jedesmal, wenn es hochschwappte, stieg Carrero der abscheuliche Gestank in die Nase. Schon oft war er kurz davor gewesen, sich zu übergeben. Immer wieder mußte er gegen die Übelkeit ankämpfen. Es fiel ihm schwer, furchtbar schwer. Hundeelend war ihm zumute. Einmal war er bereits drauf und dran gewesen, sich zu dem schwarzhaarigen Bastard führen zu lassen und ihn um Gnade zu bitten. Aber der letzte Rest Stolz, den er noch in sich verspürte, hatte ihn daran gehindert. Sehr stolz war er einst gewesen der stolzeste und härteste Mann von Potosí. Nicht einmal Don Ramón de Cubillo, der Provinzgouverneur, hatte ihm Respekt eingeflößt. Mit dem hatte er geredet, wie es ihm paßte. Als Oberaufseher in den Silberminen des Cerro Rico war er ein geachteter und gefürchteter Mann gewesen, und wenn er mit seinen Hunden durch die Stadt zog, buckelten und dienerten die Bewohner vor ihm. Aber der Schwarzhaarige – dieser elende Bastard hatte alles zerstört. Gefangengenommen hatte er ihn, Luis Carrero, denn er brauchte eine Geisel und einen Führer, der ihn nach Potosí brachte. Unter den Namen de Castellano hatte er sich vorgestellt, dieser Halunke, aber sie nannten ihn den Seewolf. Mit seinem richtigen Namen hieß er Killigrew. Ein Engländer also. Und er hatte eine Crew von Hurensöhnen um sich geschart, zu der sogar ein Neger und eine Indianerin gehörten. Wie konnte es geschehen, daß ein verdammter Engländer, der sich mit solchem 4
Pack einließ, einen stolzen Spanier entwürdigte? Nun, Carrero hatte versucht, sich gegen diese Teufelsmeute aufzulehnen. Es hatte keinen Zweck gehabt. Immer wieder war er gescheitert. Von dem gräßlichen Narbenkerl, dem Profos, hatte er sogar eine Tracht Prügel bezogen. Dafür sollte der Hund büßen und auch der Bastard Killigrew und die anderen Kerle mußten über die Klinge springen. Aber wie sollte er es schaffen, sich zu befreien, sich eine Waffe zu besorgen und gegen sie zu kämpfen? Unmöglich. Er hatte alles versucht, was in seinen Kräften stand. Jetzt gab es nur noch eine Chance – die letzte. Er sollte dieses Drecksgesindel also durch die Berge führen, nach Potosí. Das würde er auch tun. Aber der Marsch war lang, er nahm mehrere Wochen Zeit in Anspruch. In einer der kalten Nächte, die dort oben herrschten, würde er, Luis Carrero, es schon verstehen, seine Bewacher zu überrumpeln und sich abzusetzen. Dann brauchte er nur noch den Provinzgouverneur zu alarmieren und sich ein paar Soldaten aus Potosí zu holen und das große Aufräumen begann. Davon träumte Luis Carrero in seinem grimmigen, verdrossenen Schweigen. Aber er wartete vergebens darauf, daß sie ihn holten. Hatten die Schiffe – die ›Estrella de Málaga‹ und die ›San Lorenzo‹ – denn nicht längst die Küste nahe Arica erreicht? Was war los? Bootsbewegungen glaubte Carrero registriert zu haben, es schien sich etwas zu tun. Doch ihn schien man vergessen zu haben. Brauchten ihn die Hunde nicht mehr? Eine dumpfe Ahnung bohrte in ihm. Wollten sie ihn etwa doch aufknüpfen, an der Nock der Großrah, wie sie es ihm schon mehrfach angedroht hatten? Erhoben sie sich zu Richtern über sein Leben? Wagten sie das wirklich? Er spürte, wie ihm wieder einmal der Schweiß ausbrach. Nein, 5
sie hatten kein Erbarmen mit ihm. Er war ihr Feind, wie auch sie seine erklärten Todfeinde waren. Hatte nicht die spanische Krone ein Kopfgeld für die Ergreifung dieses Killigrew ausgesetzt? Ja, Don Ramón de Cubillo hatte einmal –so konnte er sich jetzt wieder entsinnen – erwähnt, für welche englischen Hurensöhne man eine Prämie kassieren könnte, wenn man sie tötete und ihren Kopf Seiner Allerkatholischsten Majestät, Philipp II., überbrachte. Der Name Killigrew war dabeigewesen. Wenn es ihm gelang, auszubrechen und Killigrew als Geisel zu nehmen, war alles gewonnen. Nein, unmöglich. Er gab sich nur falschen Hoffnungen hin. Hier, aus dem stinkenden Loch, dem Eingang der Hölle, gelangte er nicht mehr heraus. Nur zum Luftholen. Aber dann sperrten sie ihn gleich wieder ein. Er hatte jede Chance, die es möglicherweise noch für ihn gegeben hätte, verspielt. Doch wo befand man sich in der Zwischenzeit? Wo ankerten die beiden Schiffe? Und was hatte der Betrieb zu bedeuten, der in Abständen an Oberdeck herrschte? Von dem, was sie sprachen, verstand Carrero kein Wort, denn er war des Englischen nicht mächtig, während sie Spanisch sehr gut beherrschten. Was hatte dieses Piratenpack vor? Wieder eine dieser Teufeleien? Schier Unglaubliches hatte Carrero erlebt, seit er ihr Gefangener war, und die Schreckensserie schien nicht mehr abzureißen. Was heckten sie jetzt wieder aus? Er konnte es nicht ergründen. Es hatte auch keinen Sinn, daß er sich bei dem Kerl, der gerade vor dem Schott der Vorpiek Wache schob, danach erkundigte. Wie üblich würde er keine richtige Auskunft, sondern nur dumme Antworten erhalten. Luis Carrero schwieg auch weiterhin. Er hatte die Beine an den Leib gezogen und starrte auf die düstere Schiffswand. Irgendwann hat alles ein Ende, dachte er – alles.
6
* Carrero sollte nicht den Trupp von Männern führen, die nach Potosí aufbrachen – so hatte der Seewolf entschieden. Ursprünglich hatte der Oberaufseher der Silberminen tatsächlich als ›Lotse‹ dienen sollen, jetzt aber hatte Hasard die Pläne geändert. Pater Aloysius hatte die Rolle des Bergführers übernommen, oben, im Tal von Tacna, wo die Männer der ›Estrella de Málaga‹ und der ›San Lorenzo‹ die Dominikanermönche unter Pater Franciscus und die dort ansässigen Indios vor dem Zugriff der Spanier bewahrt hatten und vor dem Schicksal, als Sklaven in den Minen des Cerro Rico zu enden. Mithin konnte der Potosí-Trupp auf Carrero verzichten. Mit Pater Aloysius hatten sie einen guten Mann auf ihrer Seite, einen, der in den Bergen zu Hause war, der Potosí kannte und außerdem auf der Seite der Indios stand. Dieser Mann, so hatte Hasard von Anfang an richtig erkannt, war mehr als Gold für das Unternehmen wert. Smoky hatte den Potosí-Trupp bis auf Hasard selbst, Carberry, Dan O’Flynn und Karl von Hutten, die bereits oben in Tacna gewesen waren, zum Tal hinaufgebracht, und inzwischen rüsteten die Männer dort zum Aufbruch: Hasard, Pater David, Pater Aloysius, Jean Ribault, Karl von Hutten, Carberry, Dan O’Flynn, Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark, Mel Ferrow und Fred Finley. In den nächsten Tagen und Wochen würden die Männer an Bord der Schiffe nichts mehr von ihren Kameraden hören. Eine lange Wartezeit begann. Ben Brighton hatte von Hasard das Kommando über die ›Estrella de Málaga‹ übernommen. Auf der ›San Lorenzo‹ war es Jan Ranse, der Jean Ribault als stellvertretender Kapitän ersetzte. Smoky hatte über diesen Beschluß Hasards berichtet, als er zur Ankerbucht der Schiffe zurückgekehrt war. Weiter hatte er 7
erzählt, daß der Seewolf mit von Hutten, Carberry, Dan und Pater Aloysius am Vortag die drei Hängebrücken zwischen Arica und dem Tal von Tacna zerstört und einen weiteren spanischen Trupp, der ihnen ins Gehege geraten war, vernichtet hatten. Am Vormittag dieses neuen Tages, man schrieb den 27. November 1594, pullte Smoky mit der Jolle, mit der man nur den Unterteil des Rio Racna befahren konnte, zur ›Estrella de Málaga‹. Er ging längsseits, legte an der Bordwand an und enterte an der Jakobsleiter auf. Als Ben Brighton sich nach Hasards vorerst letzten Befehlen erkundigte, erwiderte Smoky: »Die Order lautet, daß wir auch weiterhin den Gefangenen scharf bewachen sollen. So lange, bis der Trupp aus Potosí zurückgekehrt ist.« »Und was geschieht dann mit Carrero?« wollte Ferris Tucker wissen. »Hasard will ihn doch wohl hoffentlich nicht laufen lassen.« Smoky hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Das weiß ich nicht. Hasard hat es noch nicht entschieden. Er hat nur etwas angedeutet.« »Raus damit«, sagte Shane schroff. »Du willst es doch wohl nicht für dich behalten.« »Er will ihn vielleicht auf einer Insel aussetzen.« »Was, den Carrero?« sagte Roger Brighton ziemlich aufgebracht. »Das fehlte noch. So ein Dreckskerl ist eine Gefahr für die Menschheit, wo immer er sich auch aufhält.« »Er muß verschwinden«, sagte Shane. »Für immer.« »Also töten wir ihn?« fragte Ben. »Wir sollten über ihn richten«, entgegnete Ferris Tucker. »Was anderes als den Tod hat so ein Kerl ja wohl nicht verdient.« »Darüber sind wir uns einig«, sagte Ben. »Aber die Entscheidung liegt bei Hasard. Wenn ein Bordgericht zusammentritt, wird er den Vorsitz haben, das wißt ihr genau.« 8
»Klar«, sagte Will Thorne, der Segelmacher, von der Kuhl aus. »Und deshalb lohnt es sich auch nicht, über diesen Punkt weiter herumzudiskutieren. Morgen bricht der Potosí-Trupp auf, und wir halten hier Wache und passen auf, daß Carrero uns nicht entwischt.« »Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ihm das gelingen sollte«, murmelte Sam Roskill. »Aber jetzt mal weiter«, meinte Shane zu Smoky. »Du hast noch nicht zu Ende berichtet. Was hat Hasard noch alles gesagt?« Smoky grinste. »Nichts Besonderes. Nur, daß er uns alle herzlich grüßen läßt und auf ein gemeinsames gesundes und glückliches Wiedersehen hofft.« Sie alle standen beieinander und lauschten Smokys Worten. Die Zwillinge schnitten allerdings etwas mürrische Mienen. Sie waren enttäuscht, daß sie bei dem Potosí-Unternehmen nicht dabeisein konnten. Aber wer war das nicht? Araua ging es ebenso, und auch Jan Ranse und die Männer der ›San Lorenzo‹ waren alles andere als begeistert, daß sie nun so lange warten mußten. Ja – etwas traurig waren sie schon, denn die Kameraden fehlten ihnen. Dann mußten sie aber doch grinsen. Der Anlaß dafür war Smokys Äußerung. »Übrigens, von Ed soll ich auch was ausrichten«, sagte er und grinste von einem Ohr zum anderen. »Was denn?« fragte Ferris sofort. »Was kann der uns schon wünschen?« »Einen herzlichen Gruß zunächst mal«, sagte Smoky fröhlich. »Und dann hat er sogar was für uns gedichtet, unser guter alter Profos. Ist das nicht rührend?« Big Old Shanes Augen verengten sich ein wenig. »Was denn? Ein Gedicht? Für uns? Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?« 9
»Du traust dem Braten nicht, was?« fragte Ben und mußte lachen. »Ich hab’ meine Gründe«, brummte Shane. »Also«, sagte Roger aufmunternd zu Smoky. »Nun mal los. Wie lautet denn das Verslein?« Smoky räusperte sich, dann legte er los: »Lebt wohl, ihr alten Affenürsche, ihr Rübenschweine und ihr Hirsche! Wir zieh’n jetzt los nach Pottosi, vergeßt nicht euren Carberry!« »He!« rief Batuti von der Kuhl zum Achterdeck. »Habe ich das richtig verstanden? Affenürsche?« »Ja«, erwiderte Smoky, und er grinste immer noch. »Das haut dem Faß den Boden aus«, sagte Shane. Was anderes fiel ihm nicht ein. »Affenürsche ist ein starkes Stück«, sagte nun auch Ben. »Und Pottosi«, sagte Ferris. »Das heißt doch gar nicht so. Das heißt Potosí.« »Er hat aber Pottosi gesagt«, erklärte Smoky. »Pottosi – wieso?« fragte Bob Grey. »Das kapier’ ich nicht.« »Das hat was mit Pott zu tun«, sagte Al Conroy. »Quatsch«, entgegnete Luke Morgan. »Hör doch auf. Ich glaube, Carberry ist es ganz egal, ob er Potosí oder Pottosi sagt.« »Paddy scheint anders darüber zu denken«, meinte Sam Roskill. »Seht mal, er ist schwer beschäftigt.« Verstohlen blickten sie zu Paddy Rogers, bei dem der Groschen bekanntlich nicht ganz so schnell fiel wie bei den anderen. Manchmal fiel er überhaupt nicht, der Groschen. So wie jetzt und nicht einmal Jack Finnegan, sein bester Freund, konnte Paddy auf die Sprünge helfen. Jack war selbst einigermaßen erstaunt und sann darüber nach, was es mit dem Profosspruch auf sich haben könnte. »Affenürsche!« stieß Paddy plötzlich etwas heiser hervor. Auf seiner Stirn hatten sich schwere Denkfalten gebildet. »Was ist 10
das denn?« Die Männer lachten. Smoky schaute zu Paddy und sagte: »Na, dann will ich dich aufklären. Das muß sich doch auf Hirsche reimen, klar?« »Was denn?« »Na, das mit den Ürschen.« »Den Affenürschen?« »Richtig«, erwiderte Smoky »Leuchtet dir das nicht ein?« »Nein.« »Paß mal auf«, erklärte Jack. »Sag mal Hirsche und Ürsche, dann fällt dir doch sicher was auf.« »Ich sage Hirsche und Ärsche, das ist das gleiche«, sagte Paddy störrisch. »Das ist sogar richtig, oder?« »Nicht, was den Reim betrifft«, versuchte Smoky ihm auseinanderzusetzen. »Ärsche reimt sich höchstens auf Bärsche.« »Stimmt nicht«, sagte Jeff Bowie. »Es heißt Barsche und nicht Bärsche.« »Was? Hab’ ich doch auch gesagt!« stieß Smoky hervor. »Nein! Und Barsche hat mit Ärsche nichts gemeinsam«, sagte der Kutscher, der sich nun ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. Paddy kratzte sich verzweifelt am Kopf, er war jetzt völlig verstört. »Das mit den Affenürschen«, sagte er. »Das kann er doch nicht einfach machen.« »Wer?« rief Pete Ballie aufgebracht. »Na, der Profos«, sagte Paddy bestürzt. »Der macht, was er will!« brüllte Pete. »Und ich hab’ keine Lust, mich mit Ürschen und Hirschen ’rumzuschlagen!« »Paddy«, sagte der Kutscher und legte ihm dabei sogar mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Nun hör mal gut zu. Man nennt das dichterische Freiheit. Ein Dichter darf auch zu einer Rah Baum sagen, wenn die Verse es so erfordern.« 11
»Was? Nein!« »Es ist aber so, und man muß es ihm nun mal durchgehen lassen.« »Wem?« brüllte Pete. »Dem Profos? Unerhört!« Blacky trat zu dem Rudergänger und sagte: »Nun halt aber mal die Luft an, Mister Ballie. Du brauchst dich hier nicht gleich aufzuregen, wenn es um solche Kleinigkeiten geht, nicht wahr?« Pete sah ihn verdutzt an. »Wer regt sich denn auf?« »Eins ist jedenfalls sicher«, sagte der Kutscher zusammenfassend. »Unser verehrter Profos ist ein großer Dichter und Poet. Vielleicht wird er mal berühmt.« »Jetzt versteh’ ich die Welt nicht mehr«, sagte Paddy und zog dabei ein Gesicht, als wolle er mit Mac Pellew, der mit der Miene eines Totengräbers neben ihn getreten war, in Tränen ausbrechen. »Plötzlich sind die Affenärsche zu Affenürschen geworden – das geht doch nicht!« »Alles Unsinn!« rief Bob Grey plötzlich. »Ürsche reimt sich höchstens auf Hürsche, hat das noch keiner bemerkt?« »Ich hab’s gleich begriffen«, erwiderte Hasard junior grinsend. »Und Pottosi reimt sich auch nicht auf Carberry«, fügte Philip junior hinzu. »Das ist dichterische Freiheit!« brüllte Pete Ballie. »Hört jetzt endlich auf!« schrie Blacky. »Ich habe die Schnauze voll. Merkt ihr nicht, daß ihr spinnt?« Batuti blickte ihn an und entblößte seine perlweißen Zähne. »Du spinnst wohl nicht, was? Wenn wir schon spinnen, dann spinnen wir alle zusammen.« »Soll ich den Spruch noch mal wiederholen?« fragte Smoky mit treuherziger Miene. »Nein!« schrie Luke Morgan. »Schluß! Das hält keiner mehr aus!« Auch auf dem Achterdeck herrschte Frohsinn. 12
»Sieh mal an«, sagte Ben lachend. »Ed ist wirklich ein Mann, den man so leicht nicht vergißt. Er sorgt auch dann noch für Heiterkeit, wenn er nicht an Bord ist und ihn alle vermissen.« »Wer vermißt ihn denn?« fragte Shane. »Ohne ihn wird’s langweilig«, sagte Ferris. »Warte mal ab.« »Wir haben aber noch zu tun«, sagte Ben. »Wir werden hier nicht nur rumstehen und Däumchen drehen. Wir haben noch eine Aufgabe, oder habt ihr das schon vergessen?« 2. Es fiel den Männern jetzt, nachdem genügend über Carberrys ›Gedicht‹ gelacht und diskutiert worden war, wieder ein: Ein weiterer Vorschlag von Hasard mit einer entsprechenden Empfehlung an Ben Brighton lautete, er möge doch in Erwägung ziehen, den Padres oben im Tal von Tacna bei den Aufbauarbeiten ihrer ziemlich zerstörten Anlagen zu helfen. Ben Brighton sprach diesen Plan noch einmal mit den Männern durch. »Wir sollten gleich einen Trupp einteilen, der mit der Jolle nach Tacna aufbricht«, erklärte er. »Hasard hat ja auch gesagt, wir könnten unsererseits von dort Proviant beziehen, nicht wahr?« »So ist es«, bestätigte Smoky. »So vervollkommnen wir unseren Speisezettel, nicht wahr?« »Hat jemand was an der Kombüse auszusetzen?« fragte der Kutscher mit ziemlich lauter Stimme. »Niemand«, erwiderte Ben lachend. »Aber es bietet sich hier eine Gelegenheit, ein wenig Abwechslung zu schaffen.« »Wir können nicht immer nur Eier essen, und die Hühner legen im Moment auch ziemlich schlecht«, sagte Blacky. Mac Pellew sah ihn giftig an. »Setzen wir euch etwa nur Eier vor, du Prielwurm?« 13
»In letzter Zeit nicht, weil die Hühner schlecht legen«, erwiderte Blacky grinsend. »Los, keine Sprüche mehr klopfen«, sagte Sam Roskill. »Geht’s endlich los? Gut!« Er spuckte in die Hände. »Es wird Zeit, daß es wieder was zu tun gibt!« »Sehr richtig!« rief Ferris. »Ganz abgesehen davon, daß die Wartezeit dann nicht so eintönig ist!« »Das hab’ ich ja gemeint«, brummte Sam. »Ein guter Vorschlag«, sagte Big Old Shane. »Ich glaube, die Männer begrüßen ihn auch alle, Ben.« »Ja.« Ben ließ seinen Blick über die Gesichter der Männer wandern. »Wer meldet sich freiwillig?« »Ich als erster!« rief Sam. »Alle!« brüllte Pete Ballie, und schon flogen die Arme hoch. »Ferris«, sagte Ben. »Du übernimmst die Leitung des Trupps. Stell ihn beliebig zusammen.« »He!« schrie Jan Ranse von Bord der ›San Lorenzo‹ zu ihnen herüber. »Wir haben alles gehört! Nehmt wenigstens ein paar von uns mit! Wir sterben sonst vor Langeweile!« »Einverstanden!« rief Ben. »Wann bricht der Trupp auf?« wollte Smoky wissen. »Morgen«, erwiderte Ben. »Heute bleiben wir noch an Bord. Ihr könnt euch also Zeit lassen.« Ferris stellte in aller Ruhe den Trupp zusammen. »Smoky«, sagte er. »Du bist auf jeden Fall mit dabei. Schließlich kennst du die Route bereits.« »He, Ferris«, sagte Sam Roskill. »Vergiß mich nicht. Schließlich habe ich mich als erster gemeldet.« Der rothaarige Riese grinste. »Gut, einverstanden. Weiter hätte ich gern Roger Brighton und den Kutscher dabei – und Bill.« »Uns hättest du aber auch gern mitnehmen können«, sagte Philip junior, und sein Bruder Hasard pflichtete ihm mit grimmigem 14
Nicken bei. »Hier wird nicht debattiert«, sagte Ferris. »Wen ich brauchen kann und wen nicht, das bestimme ich, klar?« »Aye, Sir«, antworteten sie wie aus einem Mund. »Kerls, beruhigt euch«, sagte Ferris einlenkend. »Wir lösen uns natürlich ab, und zwar im Drei-Tage-Turnus. Bei der nächsten Schicht seid ihr mit dran.« Die Mienen der Zwillinge hellten sich wieder auf, und auch die anderen Mitglieder der Crew blickten wieder etwas zuversichtlicher drein. Nichts setzte ihnen mehr zu als die Aussicht, auf unabsehbare Zeit dem absoluten Nichtstun ausgeliefert zu sein. Sie waren daran gewohnt, zu handeln, und jedes zu lösende Problem gingen sie am liebsten frontal an. Potosí hingegen war ein besonderer Fall. Das hatten sie schon gewußt, als Jean Ribault auf der Schlangen-Insel das Unternehmen zur Sprache gebracht und sie darüber abgestimmt hatten. Nicht die kompletten Crews der Schiffe konnten sich auf den ziemlich langen Marsch begeben, der durch unwirtliches Bergland führte, es durfte nur ein kleiner Trupp sein, nicht stärker als ein Dutzend Mann. Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens durften die ›Estrella‹ und die ›San Lorenzo‹ nicht unzureichend bewacht in der Bucht zurückbleiben. Die Erfahrung hatte bewiesen, daß immer wieder völlig unversehens die Spanier auftauchen konnten. Deshalb mußten die Männer der Karavelle und der Galeone stets auf ein Gefecht vorbereitet sein. In Potosí wiederum durfte Hasard nicht mit zu vielen Männern auftauchen, sonst erregte er sofort Aufsehen. Selbst als Spanier getarnt, mußten sie stets höllisch aufpassen, auch das hatten sie in den vergangenen Wochen immer wieder feststellen müssen. Und ein Kerl wie der Provinzgouverneur Don Ramón de Cubillo, der in Potosí hockte und auf Nachschub an Sklaven für die Minen wartete, war mit Sicherheit auch nicht zu unterschät15
zen. Richtig war daher die Entscheidung, mit einer kleinen Gruppe zum Cerro Rico aufzubrechen. Der Rest der beiden Crews war zum Nichtstun verdonnert, aber man mußte das Beste aus jeder Situation machen. Ferris Tucker wählte von den Männern der ›San Lorenzo‹ Mulligan, Grand Couteau und Roger Lutz aus – Kerle, die zupacken konnten. Mulligan lachte, als er vernahm, daß er mit zum ersten ›Aufräumtrupp‹ gehörte. »Das ist mal was«, sagte er. »Die Padres werden sich wundern, wie schnell wir ihnen wieder alles herrichten. Hoffentlich haben sie auch einen guten Schnaps.« »Entschuldige mal«, sagte Albert, der von Montbars der ›Gelegenheitsbucklige‹ genannt wurde, mit süffisantem Grinsen. »Wieso sollen denn ausgerechnet diese frommen Ordensbrüder so ein Zeug brauen?« »Ich habe gehört, daß die den besten Kräuterschnaps herstellen«, sagte Mulligan. »Aber davon hast du offenbar keine Ahnung.« »Hugenotten haben mit Mönchen nicht viel im Sinn«, sagte Albert kichernd. »Du bist gar kein Hugenotte«, sagte Mulligan mit wildem Grinsen. »Du bist bestenfalls Hugo, der Sohn einer Vi…« »Halt«, sagte Le Testu beschwichtigend. »Das geht wirklich zu weit. Mit dem Dichten nimmt es überhand, und nicht jeder ist dazu geboren. Mulligan, ich mach’ dir einen Vorschlag. Du fragst diese Franciscus-Brüder, oder wie sie heißen, frei heraus, ob sie Schnaps haben. Wenn ja, bringst du welchen mit.« »Und du säufst die Flasche aus und erzählst mir, wie das Zeug geschmeckt hat, ja?« »So ungefähr habe ich mir das vorgestellt«, erwiderte Le Testu 16
lachend. »Und beim nächsten Turnus bin ich mit von der Partie und bringe dir eine Pulle mit.« »Ihr seid ganz schön bescheuert«, sagte Mulligan und meinte die ›französische Landsmannschaft‹ an Bord der ›San Lorenzo‹, die ja recht stark vertreten war. Ehe die ›Franzmänner‹ jedoch Protest erheben konnten, erschien Jan Ranse bei ihnen und sprach mit ihnen durch, wie er sich die Einteilung der nächsten Arbeitsgruppen vorstellte. Ferris hatte ihm dabei völlig freie Hand gelassen. So hatten alle Männer die Gelegenheit, das Tal von Tacna kennenzulernen und sich bei den Dominikanermönchen nützlich zu machen. Sie spuckten schon jetzt in die Hände und nahmen eine kräftige Abendmahlzeit ein, um sich für den nächsten Tag zu stärken. An Bord der ›Estrella de Málaga‹ beriet Ben Brighton unterdessen noch einmal mit seinen Männern auf dem Achterdeck, wie das ›Programm‹ für die nächsten Tage aussehen sollte. »Eins dürfen wir nicht vergessen«, sagte er. »Wir wollen auch Arica erkunden. Das war schon vorher so mit Hasard geplant.« »Aber sicher doch«, sagte Big Old Shane. »Da werden wir mal kräftig zuschlagen, bevor wir uns von dieser Küste wieder empfehlen.« »Wir wollen doch dafür sorgen, daß die Dons uns so schnell nicht wieder vergessen«, sagte Smoky. »Und wie kann man das erreichen? Am besten durch zündende Beispiele.« »Dann muß Ferris aber noch entsprechend viele Höllenflaschen herstellen«, warf Roger Brighton ein. »Das wird er auch tun«, sagte Ferris grimmig. »Ich hätte mich ohnehin um Nachschub gekümmert. Es ist ja meistens so, daß man die Dingerchen dann am dringendsten braucht, wenn man es am wenigsten vermutet.« »Also gut«, sagte Ben. »Dann wollen wir also Einsatz zeigen. 17
Sollten uns in der Zwischenzeit irgendwelche vorwitzigen Dons aufstöbern, erteilen wir ihnen eine Lektion. Wir werden mit beiden Schiffen fast immer in Gefechtsbereitschaft sein.« »Recht so«, sagte Big Old Shane. »Und ich schätze, daß Batuti und ich morgen wieder einen Vorrat an Brand- und Pulverpfeilen schaffen. Die können wir schließlich irgendwann auch noch gut gebrauchen, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Smoky. »Aber trotz allem befinden wir uns in einer miesen Situation.« »Fang jetzt nicht wieder damit an«, sagte Ferris drohend. »Ich weiß selber, daß es Mist ist, von Hasard und dem Trupp nichts mehr zu erfahren. Sie sind sich selbst überlassen, wir können nichts für sie tun. Aber das ist nun mal so. Wenn du von Falmouth querfeldein nach London marschieren würdest, wüßte ich von dir auch nicht, was dir passiert.« »London ist von Falmouth nicht so weit weg wie Potosí von dieser Bucht«, sagte Smoky. »Da würde ich mal nicht so sicher sein«, sagte Ben. Ferris lachte. »Außerdem gibt es in Potosí mehr zu holen als in London, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« »Amen«, sagte Smoky. »Du weißt immer alles besser, wie? Aber die ganze Sache scheint mir unter einem Unstern zu stehen. Weißt du, was ein Unstern ist? Er ist fast so schlimm wie ’ne Wasserleiche.« »Aufhören«, sagte Shane grollend. »Spar dir die Sprüche für die Schlangen-Insel auf, da hast du einen besseren Zuhörer für deine dummen Sprüche, nämlich Donegal.« »Wenigstens einer, der Ahnung hat«, sagte Smoky. »Ich glaube, daß Hasard und der Trupp gute Chancen haben, unbehelligt nach Potosí zu gelangen«, sagte Ben Brighton. »Pater Aloysius ist sicherlich ein besserer Führer als Carrero, bei dem man ständig mit einem Fluchtversuch hätte rechnen müssen.« 18
»Oder er hätte versucht, unsere Leute in die Irre zu führen«, sagte sein Bruder. »Bestimmt hätte er sie am liebsten in eine Schlucht geleitet.« »Der ist giftiger als hundert Schlangen«, sagte Ferris. »Aber er kriegt sein Fett auch noch, verlaßt euch drauf.« Seine Vorhersage sollte sich bewahrheiten, aber ganz anders, als sie alle es sich vorstellten. * Am nächsten Tag brach Ferris Tuckers Arbeitstrupp mit einer der Jollen nach Tacna auf. Eine andere Jolle war ständig bereit, den Posten – in diesem Fall Mac Pellew – ablösen zu lassen, den Ben an der Küste hatte aufziehen lassen. Mac – und die Männer, die ihn bei den nächsten Wachschichten ablösen würden – hatte die Aufgabe, die Bucht von der Seeseite her so abzuschirmen, daß man gegen unliebsame Überraschungen gewappnet war. Zumindest war auf diese Weise gewährleistet, daß jedes Auftauchen fremder Segler rechtzeitig gemeldet wurde. Mac befand sich auf der Südseite des Mündungstrichters des Rio Tacna, und zwar auf einer überhöhten Felsnase, die fast unmittelbar bis in die See reichte. Er hatte einige Zeit hier zuzubringen, denn es war seine Aufgabe, im Sechs-Stunden-Törn rund um die Uhr hier Ausguck zu halten. Nach ihm würde Blacky an der Reihe sein, dann Pete Ballie, dann Philip junior und danach Hasard junior. So ging es weiter, der Turnus war von sechs Uhr früh beginnend eingerichtet, nur zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens gab es zweimal eine Drei-Stunden-Wache. Der jeweils neue Posten segelte mit der Jolle zur Felsnase, der andere abgelöste Posten kehrte zur ›Estrella de Málaga‹ zurück. 19
Bei Alarmmeldung oder Gefahr im Verzug mußte der Wachtposten durch die Felsen zurück zur Bucht klettern – ein etwas unbequemer Weg. Darum hatten die Männer die Jolle als Transportmittel vorgezogen. Andererseits aber wäre sie zu auffällig gewesen, wenn sie bei der Annäherung eines Schiffes flußaufwärts zur Bucht gesegelt wären, um die Kameraden zu alarmieren. Das felsige, buschbestandene Gelände bis zur Bucht hin bot genügend Deckung. Das bedeutete also: Die normalen Wachwechsel wurden mit der Jolle vollzogen, aber bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr begab sich der jeweilige Aufpasser zu Fuß auf den Weg und arbeitete sich auf dem ›Kriechpfad‹ bis zum Ufer der Bucht vor. An Bord beider Schiffe herrschte wieder völlige Ruhe, nachdem Ferris mit seinem Trupp verschwunden und Mac als erster Wachtposten zu der Felsnase übergesetzt war. Ben Brighton überprüfte noch einmal den Plan für die Wachschichten, dann ließ er Luis Carrero an Deck holen, der wie üblich zumindest eine Stunde Luft schnappen durfte. Carrero erschien, bewacht von Batuti und Bob Grey. Er sprach kein Wort und hielt den Kopf gesenkt. Vor dem Vordecksschott blieb er stehen, als warte er auf einen Befehl. »Nun geh schon«, sagte Bob. »Vertritt dir ein bißchen die Füße.« Carrero setzte sich etwas wankend in Bewegung. Rein äußerlich war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Aber wie sah es in seinem Inneren, in seiner unauslotbaren Seele aus? Das fragten sich die Männer, während sie ihn beobachteten. Aber sie waren sich darüber einig, daß es keinem von ihnen gelingen würde, jemals ganz zu erforschen, was in diesem Kerl vor sich ging. Carrero verhielt sich wie ein folgsames Hündchen. Er zeigte sich nicht mehr renitent, stellte keine Fragen und vermied alles, was seine Bewacher in irgendeiner Weise reizen konnte. Die 20
Abreibungen, die Carberry ihm verpaßt hatte, sowie das Wahnsinnsabenteuer mit dem Kranken hatten ihn wirklich mächtig mitgenommen. Er schlurfte über das Hauptdeck, und an seinem Gebaren war kaum etwas Gespieltes, Vorgetäuschtes. »Der ist wirklich am Ende«, sagte Philip junior leise zu seinem Bruder und zu Araua, die mit ihm auf der Back standen. »Laßt euch nichts vorgaukeln«, sagte Araua. »Er hat immer noch Kraft und Haß genug, um etwas Böses auszuhecken.« Plymmie schien ihrer Meinung zu sein, sie duckte sich etwas und fletschte die Zähne. Leise begann sie zu knurren. »Sei still«, sagte Hasard junior. »Wir wissen ja, daß du ihn nicht ausstehen kannst.« Er mußte die Wolfshündin aber doch unter Deck bringen, denn sie wollte keine Ruhe geben. Kurz darauf enterten die Zwillinge in eine Jolle ab, die schon an der Bordwand der ›Estrella‹ bereitlag. Auch sie hatten ihr ›Programm‹ für diesen Vormittag: Fischen. In der Bucht gab es ihrer Überzeugung nach einiges zu holen und sie sollten sich nicht täuschen, wie sich noch herausstellte. Ben Brighton hatte Luis Carrero die Ketten abnehmen lassen. Dennoch blieb der Mann gefesselt, aber er hatte immerhin nicht mehr an der Last der Eisen zu schleppen. Er konnte sich ganz gut bewegen. Nur an Flucht brauchte er nicht zu denken. Wenn er über Bord sprang und ans Ufer zu schwimmen versuchte, ertrank er jämmerlich. Das hielt er sich noch einmal vor Augen, während er sich müde über die Planken bewegte. Überhaupt: Sie paßten scharf auf und verfolgten jede seiner Bewegungen mit ihren Blicken. Der schwarze Riese schaute drein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, ihn packen und würgen zu können. Nein – Carrero brauchte sich auch weiterhin nicht den geringsten Illusionen hinzugeben. 21
Wo er sich befand, wußte Luis Carrero nicht. Hatte er diese Bucht jemals gesehen? Vorsichtig blickte er sich um. Nein, er konnte sich dessen nicht entsinnen. Er hatte keine Ahnung, wo sie ankerten. Fragen wollte er nicht, die Kerle teilten es ihm aus freien Stücken sowieso nicht mit. Allerdings war da ein Punkt, der ihm jetzt wieder einfiel. Der schwarzhaarige Bastard Killigrew, dieser Teufel aller Teufel, hatte sich kürzlich bei ihm nach Tacna erkundigt. War das eine Möglichkeit? Konnte es sein, daß sie sich in einer Bucht unterhalb des Tals von Tacna befanden? Carrero unterdrückte ein schwaches Grinsen. Möglich war es – sehr wahrscheinlich sogar. Somit war er schon einen Schritt weiter. Er ahnte wenigstens, wo er war und das war eine Menge wert. Noch etwas fiel ihm jetzt auf. Der Bastard Killigrew zeigte sich nicht an Deck. Dabei war er sonst immer anwesend, wenn er, Carrero, seine Runde drehte. Was hatte das zu bedeuten? Und wo war dieser Profos – das Ungeheuer? Er schien ebenfalls verschwunden zu sein. Seltsam war das. Waren sie überhaupt nicht mehr an Bord? Auch eine Jolle war verschwunden, ebenso einer der beiden Hakenmänner, den sie Matt Davies nannten. Carrero schaute sich etwas aufmerksamer um. Da fehlten noch mehr Leute: Die beiden Hellblonden beispielsweise, die, wenn er sich nicht irrte, Gary und Sten gerufen wurden. Und dieser andere hellhaarige Kerl, der mit der Navigation zu tun hatte – Dan! Auch er war spurlos verschwunden. Die Zwillinge hatten unterdessen mit der Jolle ungefähr das Zentrum der Bucht erreicht. Sie warfen ihre Angeln aus. Philip junior stieß seinen Bruder jedoch plötzlich mit dem Ellenbogen an. »He, sieh mal!« »Was? Wo?« stieß Hasard junior etwas verblüfft aus. 22
»Da drüben! Da wimmelt’s!« »Von Fischen!« rief Hasard junior. »Mann, das sieht ja aus, als ob das Wasser kocht!« Keine zehn Yards von ihrem jetzigen Standort entfernt zappelte und zuckte es unmittelbar unter der Wasseroberfläche. Sie packten die Angeln weg, griffen wieder nach den Riemen und pullten auf die Stelle zu. »Den Haken kannst du dir sparen«, sagte Philip schwer atmend. »Bruder, gib mal den Kescher her.« Blacky hatte Mac Pellew auf der Felsnase abgelöst. Mac war wieder an Bord und verfolgte mit gemischten Gefühlen, wie die Zwillinge die Kescher ins Wasser tauchten und hüpfende, zappelnde Fische in die Jolle luden. »Sind die auch eßbar?« rief er ihnen zu. »Klar!« rief Philip junior zurück. »Die sehen aus wie Heringe!« Carrero registrierte, daß die Männer von diesem Geschehen mehr und mehr abgelenkt wurden. Auch der schwarze Affe, wie er ihn insgeheim nannte, und der andere Aufpasser, dieser Grey, warfen jetzt immer öfter Blicke auf die fischenden Zwillinge. Langsam schritt Carrero weiter und rückte der Nagelbank des Großmastes näher. Gab es denn nirgends eine Waffe, die er an sich reißen konnte? An Flucht war nicht zu denken, aber er konnte sich zumindest ein Hilfsmittel besorgen, wenn sie gerade nicht auf ihn achteten. Der Zeitpunkt schien günstig zu sein. Von der Vorpiek aus hatte er gehört, daß mehrere Male in eine Jolle abgeentert worden war, die dann auch ablegte. Und richtig – an diesem Vormittag schienen viel weniger Leute als sonst an Bord zu sein. Das war sehr merkwürdig, für ihn aber möglicherweise von großem Vorteil. Es kam eigentlich nur darauf an, wie er das nutzte. Er schritt auf und ab und tat so, als sei er mit sich selbst beschäftigt. Hin und wieder blickte er aus den Augenwinkeln zu 23
den fischenden Jungen. Es war wirklich erstaunlich, was sie da an Bord der Jolle hievten. Ihr Tun fand mittlerweile das ungeteilte Interesse der kompletten Crew. »Silbrige Fische«, sagte Nils Larsen mit Kennermiene. »Die sehen wirklich aus wie richtige Heringe.« »Hast du schon mal falsche Heringe gesehen?« fragte Mac Pellew knurrig. »Ja, und zwar als Heringe verkleidete Dorsche«, erwiderte Nils schlagfertig. »Wie findest du das?« »Ziemlich dusselig.« »Fangt nicht an zu zanken!« rief Bob Grey ihnen lachend zu. »Denkt lieber an die schöne Mittagsmahlzeit, die wir jetzt kriegen!« »Denk mal an die Auswirkungen«, sagte Nils. »An die was?« fragte Batuti. »Spinnst du? Fisch ist gut für ’n Geist und für die Muskeln, das weiß doch jeder.« Nils musterte ihn. »Nicht nur dafür. Kannst du dich nicht erinnern? Heringe bewirken so allerlei.« »Ich krieg’ zuviel«, sagte Al Conroy stöhnend. »Geht das jetzt wieder mit der Manneskraft los? Hör bloß auf!« Mac rollte plötzlich mit den Augen. »Her mit den Fischen!« rief er den Zwillingen zu. »Ich will sie braten, verdammt noch mal!« 3. »Was ist denn in Mac gefahren?« fragte Ben Brighton überrascht. »Er kriegt sich nicht mehr ein«, erwiderte Shane, der die Fäuste in die Seiten gestemmt und eine grimmige Miene aufgesetzt hatte. »Wegen der Heringe.« »Das sind keine Heringe«, sagte Ben. »Das sind allenfalls Anchovetas.« 24
»Was für Dinger?« »Eine Fischart, die in Massen vor dieser Küste auftritt«, erklärte Ben. »Sie ist wohl mit den Heringen verwandt, aber eben doch anders, auch vom Geschmack des Fleisches her. Die Anchovetas können unterarmlang werden.« »He!« brüllte Mac zur Jolle hinüber. »Ihr habt den Kahn doch voll! Gleich sauft ihr ab! Kommt her! Pullt an, Jungs!« Carrero war stehengeblieben und tat so, als genieße er die Sonne, die sein Gesicht und seine Gestalt wärmte. Dabei versuchte er, die Windrichtung festzustellen und sich zu orientieren. Wo war Norden, wo Süden? Er atmete tief durch, überlegte und spähte aus schmalen Augen nach allen Seiten. Allmählich gelang es ihm, sich zurechtzufinden. Pete Ballie war inzwischen zu Mac Pellew getreten und legte ihm die rechte Pranke auf die Schulter. »Mac, hör mal zu. Was soll das Geschrei?« »Wird Zeit, daß wir was zu beißen zwischen die Zähne kriegen«, entgegnete Mac hastig. »Ist doch Mittag, oder?« »Die Suppe ist schon gar, oder täusche ich mich?« »Wir hauen ein paar ordentliche Kaventsmänner mit in die Suppe rein, äh – Fische, meine ich.« »Es sind Anchovetas«, sagte Bob Grey, der nähergetreten war. Er hatte vernommen, was Ben und Shane gesprochen hatten. »Das ist egal«, sagte Mac. »Wir wollen Fisch futtern, gebraten und gekocht. Jawohl, und einlegen kann man die Biester auch, dann hat man immer einen Vorrat.« Pete packt auch Nils am Arm und zog ihn langsam zu sich heran. »Ich habe nichts gegen Fisch«, sagte er. »Aber mir stinkt euer Gequatsche.« »Halt die Luft an, Pete«, sagte Jeff Bowie. »Das ist doch eine feine Sache, das mit der Manneskraft.« 25
»Laß dich nicht anstecken«, sagte Pete drohend. »Ich habe noch von seinerzeit, von der Ostsee vor Bornholm, die Nase voll, als Mac das große Spinnen anfing.« »Ich und spinnen?« Mac wurde wütend. »Glaub bloß nicht, daß ich mich von dir beleidigen lasse!« »Wo willst du mit deiner Manneskraft hin, wenn keine Frauen da sind?« fragte Pete. »Wir können schließlich nicht nach Arica segeln, du Walroß. Wie stellst du dir das vor?« Mac kratzte sich am Kopf. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« »Außerdem sind es Anchovetas und keine richtigen Heringe«, stellte Bob noch einmal fest. »Damit hat sich wohl der Fall.« Batuti blickte ins Wasser. »Im klaren Wasser kann man ganze Schwärme sehen«, brummte er. »Wie in Gambia. Man kann sie mit Pfeilen schießen.« »Die Mühe brauchst du dir nicht zu machen«, sagte Jack Finnegan. »Unsere Kerlchen haben genug gefangen und kehren zu uns zurück.« Die Zwillinge pullten zur ›Estrella de Málaga‹ zurück. Von der ›San Lorenzo‹ legte nun auch eine Jolle ab – Eric Winlow, Tom Coogan und Jonny erschienen, um sich ihren ›Anteil‹ zu holen, den Philip und Hasard Jan Ranse großzügig versprochen hatten. »Ihr könnt die Viecher euch selber keschen!« rief Mac Pellew ihnen zu. »Ha, ha!« rief Winlow und deutete auf die Jolle der Zwillinge, die vor lauter Fisch wahrhaftig auf Tiefe zu gehen schien. »Das reicht doch für alle, und wir haben noch was dabei übrig!« »Faulpelze«, sagte Mac. Dann aber suchte er die Kombüse auf, um mit den Vorbereitungen für das Ausnehmen der Anchovetas zu beginnen. Luis Carrero hatte die Gelegenheit genutzt. In dem Augenblick, in dem wegen der Fische Aufregung entstanden war, hatte er 26
sich auf die Nagelbank des Großmastes zubewegt und einen der Belegnägel an sich gebracht. Seine Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt, aber er stellte sich vor die Nagelbank, packte zu und schob sich den Belegnagel hinten unter das Hemd. Immer wieder blickte er sich dabei nach allen Seiten um. Doch niemand hatte sein Handeln bemerkt – nicht einmal Ben Brighton, der in diesem Moment ebenfalls durch die Ankunft der ›Fisch-Jolle‹ abgelenkt war. Luis Carrero nahm seinen Gang über das Hauptdeck wieder auf. Die Begebenheit mit den Anchovetas schien er nicht verfolgt zu haben, sein Benehmen war nach außen hin apathisch und stumpf. Innerlich aber begann er wieder Hoffnung zu schöpfen. Er hatte eine Schlagwaffe! Das war besser als gar nichts, und er würde sie zu nutzen wissen. * An diesem Mittag setzte auf beiden Schiffen das große Fischbraten ein. Die Männer der ›San Lorenzo‹ waren von den Arwenacks gewissermaßen angesteckt worden: Aus der Kombüse der Galeone stiegen mächtige Qualmwolken auf. Tom Coogan und Jonny gingen Eric Winlow kräftig zur Hand. Le Testu hatte sich freiwillig gemeldet – er würzte die Fische. Winlow drehte und wendete sie auf dem Eisenrost über dem offenen Holzkohlenfeuer. Donald Swift holte immer eine »Fuhre« ab, wenn sie gar war, und teilte die Fische auf der Kuhl an die Männer aus, die sofort zulangten und mit begeisterten Gesichtern zu essen begannen. »Die schmecken wirklich gut«, sagte George Baxter. »Aber ich könnte sie mir auch eingelegt vorstellen.« »In Öl, mit Lorbeer, Thymian und Pfeffer«, schwärmte Montbars. 27
»Was sagst du da?« fuhr Gordon McLinn ihn an. »Pfui, Teufel! Man muß die Biester räuchern und in Essig einlegen, dann sind sie erst richtig gut!« Jan Ranse trat zu ihnen, er hatte selbst gerade einen Anchoveta verspeist. »Nun streitet euch nicht«, sagte er. »Jeder hat seinen Geschmack und seine Gewohnheiten.« »Stimmt«, sagte Baxter. »Aber was ist das drüben bei den Arwenacks für ein Gerede von den Ostseeheringen? Die schwärmen ja in allen Tönen.« »Nun ja«, sagte Jan grinsend. »Mac meinte damals, die geräucherten Fische verhelfen einem Kerl zu mächtiger Manneskraft.« »So ist das«, sagte Baxter, dann lachte er dröhnend. »Na, wer’s glaubt, wird selig!« »Wenn schon, dann muß man die Dinger richtig würzen«, meinte Albert mit listiger Miene. »Wie denn?« fragte McLinn. »Etwa mit Knoblauch? O Hölle!« »Ihr Engländer lernt es nie«, sagte Albert giftig. »Für euch ist das Essen eine Notwendigkeit. Für uns ist es eine Kunst und eines der höchsten Vergnügen.« »Es kommt gleich nach dem anderen«, erklärte Pierre Puchan. »Und damit wären wir wieder beim Thema Nummer eins. He, Montbars, willst du die Pulle Wein ganz allein aussaufen? Her mit dem Zeug!« Die Flaschen machten die Runde. Auch an Bord der ›Estrella de Málaga‹ sorgte Ben Brighton für die entsprechende Stimmung, indem er sogar eine Extrarunde Brandy spendierte. Es wurde gelacht und geredet, und wieder gingen die haarsträubensten Gerüchte über die Bornholm-Heringe im allgemeinen und die Arica-Anchovetas im besonderen um. »Ich finde, die lieben Tierchen sind noch besser als Heringe«, sagte Shane, nachdem er die letzten Gräten seiner Ration abge28
lutscht hatte. »Wie viele davon können wir mitnehmen, Ben?« »Ich würde gern die Proviantkammer füllen«, erwiderte Ben. »Aber frischer Fisch wird natürlich schnell schlecht.« »Wir können ihn einsalzen.« »Oder einlegen«, sagte Ben. »Besser noch wäre es, ihn zu räuchern. Wir sollten an Land eine Räucherei einrichten.« »Meinst du das im Ernst?« »Ja. Auch das wäre eine willkommene Abwechslung.« »Im Trott des Wartens, ja«, brummte der graubärtige Riese. »Keine schlechte Idee.« Sie aßen weiter, tranken dazu Wein und Brandy und legten die Details zurecht: wo die Räucherei gebaut werden sollte, welches Material man sich besorgen würde und wer als ›Räuchermeister‹ in Aktion treten sollte. Mac Pellew wäre der richtige Mann gewesen, aber da der Kutscher nicht an Bord war, war er eigentlich in der Kombüse unentbehrlich. »Wie wär’s mit Blacky?« fragte Shane. »Der läßt die Fische verräuchern«, sagte Ben. Araua, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, lachte. »Das ist ja wirklich ein Problem. Ich melde mich freiwillig. Ich kann Fische backen, braten und räuchern.« »Aber du verräucherst dir dein schönes Haar«, sagte Ben. »Nein, das ist nichts für dich.« »Baxter ist der richtige Mann«, sagte Shane. »Der hat keine Haare und kann sich nichts versengen oder verräuchern.« Sie lachten zusammen. Die Stimmung war prächtig und hätte besser nicht sein können. An und für sich hatten sie nicht gedacht, daß der erste Tag nach der ›Abreise‹ des Potosí-Trupps so gut verlaufen würde. Die Stunden verstrichen recht schnell, allmählich wurde es dunkel. Was aber die Nacht für sie bereithielt, ahnte keiner von ihnen.
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* Luis Carrero hockte wieder in seinem Verlies. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete erst einmal tief durch. Dann tastete er mit den Fingern nach dem Belegnagel, der hinten unter seinem Hemd steckte, und grinste. Soweit hatte er es geschafft. Jetzt folgte der zweite Teil des Unternehmens. Irgendwie mußte es ihm gelingen, sich der Handfesseln zu entledigen. Daß er keine Ketten mehr trug, war bereits ein erheblicher Vorteil. Sie hatten ihn derart behindert, daß er nicht einmal durch die Vorpiek hatte kriechen kennen. Jetzt änderte sich einiges an seiner Lage und sein Trübsinn und seine Niedergeschlagenheit waren wie weggewischt. Die Hoffnung auf Flucht war wieder da. Es gab eine Rettung und er würde nicht sterben, wie diese Bastarde ihm prophezeit hatten. Nein, er würde nicht an der Rah baumeln, und sie würden seinen leblosen Leib auch nicht wild lachend in die See werfen. All die Schreckensvisionen von seinem eigenen Ende, die ihm die Angst und die Verzweiflung in Alpträumen und Trugbildern vorgegaukelt hatten, verblaßten. Er schöpfte wieder Mut und Selbstvertrauen. Nicht sie würden triumphieren – diese elenden Bastarde –, sondern er würde der stolze Sieger sein, stolz wie ehemals, als er mit seinen Bluthunden durch Potosí zog und jedermann Furcht einflößte und Respekt abverlangte. Er, Luis Carrero, allein gegen diese Horde von Schlagetots und Galgenstricken! Ja, er traute sich das zu. Der schwarzhaarige Hurensohn Killigrew war nicht an Bord, der Profos und ungefähr ein Dutzend der Bande schienen allein auf der ›Estrella de Málaga‹ zu fehlen. Drüben, auf der ›San Lorenzo‹, war die Crew ebenfalls nicht 30
mehr vollständig, soviel hatte Carrero bei seinem kurzen Decksaufenthalt erkennen können. Zum Beispiel hatte er diesen dreisten Franzosen nicht gesehen, der sich Ribault nannte. Für das Fehlen dieser Kerle gab es nur eine Erklärung. Sie hatten sich auf den Marsch nach Potosí begeben. Warum sie ihren Gefangenen nicht mitgenommen hatten, wie es geplant gewesen war? Carrero machte sich keine Gedanken mehr darüber. Es war ihm gleichgültig. Er würde dieses Teufelsschiff verlassen, nach Potosí zurückkehren – dabei vielleicht einen Umweg über Arica einlegen – und Alarm schlagen. Dann würde er mit de Cubillos Hilfe eine Streitmacht auf die Beine stellen und die Engländer jagen – quer durch das Gebirge und bis an die See, und wenn es sein mußte, über das Meer bis nach Panama hinauf. Er würde sie fassen und sich an ihnen rächen. Ihr Ende waren die Minen des Cerro Rico, dort würden sie mit den Indios zusammen schuften. Dort hatte Carrero noch jeden aufsässigen Hundesohn weichgeklopft. Es gab keinen, der standgehalten hatte. Alle diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er nun das tat, was ihm vorher wegen der Ketten versagt gewesen war. Er ließ sich auf den Knien nieder, schob sich durch die Vorpiek und begann, sie Stück für Stück zu untersuchen, so gut es ging. Natürlich waren die Voraussetzungen immer noch ungünstig, aber er gab sich alle Mühe, das Beste daraus zu machen. Es war stockdunkel, und er konnte nur herumtasten. Zweimal stieß er sich den Kopf, und es gab dabei dumpfe Geräusche. Er verharrte und lauschte. Hatte der Posten, der vor dem Schott stand, etwas gehört? Ahnte er etwas? Nein. Nichts rührte sich. Der Mann schien keinen Verdacht zu schöpfen. Warum sollte er es auch tun? Er wußte ja nicht, daß Carrero einen Koffeynagel an sich 31
gebracht hatte. Und wenn der Spanier durch sein Gefängnis kroch, war das im Grunde nur allzu verständlich. Wer schon einmal in der Vorpiek gesessen hatte, wußte, wie eng und stickig es dort war. Carrero setzte sein Werk fort. Seine Füße waren nicht gefesselt, er konnte die Beine also gut bewegen. Aber das nutzte ihm im Grunde nicht viel. Für die Inspektion brauchte er seine Finger und da ihm die Hände auf den Rücken gebunden waren, war es eine schweißtreibende Arbeit, alles abzutasten. Schließlich fand er, was er suchte: einen Nagel in einem Spant. Der Nagel befand sich sogar in Hüfthöhe. Besser hätte es gar nicht sein können. Carrero grinste triumphierend. Am liebsten hätte er einen Schrei ausgestoßen. Egal, aus welchen Gründen die einstige Besatzung der ›Estrella de Málaga‹ diesen Nagel in den Spant getrieben hatte. Vielleicht war einmal irgend etwas daran befestigt gewesen. Was kümmerte es ihn, Carrero? Der Nagel diente ihm nur zu dem einen Zweck – die Handfesseln aufzuscheuern. Alles andere interessierte ihn nicht. Er grinste immer noch. Er ließ sich wieder nieder und lehnte sich gegen die Schiffswand. Das Öffnen der Fesseln verlegte er aus Sicherheitsgründen auf die Nacht. Es war jetzt Abend geworden. Die Kerle würden ihm seine Mahlzeit bringen, und die mußte er zu sich nehmen, ohne daß sie etwas von dem, was er plante, ahnten. Mit anderen Worten: Er mußte sie in Sicherheit wiegen. Sie sollten nach wie vor davon überzeugt sein, daß er ein erschöpfter, erledigter Mann sei. Es paßte hervorragend zu seinem einfachen, aber – wenn alles klappte, wie er sich das vorstellte – genialen Plan. Hunde, dachte er, ihr werdet euch noch wundern! Eine Welle der Genugtuung und des Siegesgefühls durchlief ihn. Er mußte handeln, solange die Stärke der Mannschaften reduziert war. 32
Hier lag seine Chance, und die würde er ausnutzen. 4. Bevor das Schott der Vorpiek geöffnet wurde, sorgte Luis Carrero dafür, den Belegnagel zu verstecken. Es gelang ihm, die Gräting ein wenig zu lockern und ihn darunterzuschieben. Jetzt mußte es schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn entdeckten. Schritte näherten sich. »Batuti, mach mal auf«, sagte eine Stimme. Sie gehörte diesem anderen Hakenmann, der offenbar auf den Namen Bowie hörte. »Ich habe gebratenen Fisch und Wasser für unseren Don Luis.« »Na, dann los«, brummte der Gambia-Mann. Eigentlich hätte er lieber mit Shane Pulver- und Brandpfeile angefertigt, als hier Posten zu gehen. Aber er fügte sich in sein Schicksal. Batuti schob den Riegel des Schotts zur Seite und öffnete. Jeff Bowie setzte den Essensnapf und den Wasserkrug auf den Planken ab und hängte die Öllampe, die er mitgebracht hatte, an einen Haken an einem der Deckenbalken. Die Lampe schwankte ein bißchen hin und her und verbreitete rötlich-dämmriges Licht. Jeff bückte sich und trat zu dem Gefangenen, Batuti zog seine Pistole und spannte den Hahn. Es knackte, aber Carrero wandte nicht den Kopf. Er schien ins Leere zu blicken, völlig apathisch und entrückt. »Carrero«, sagte Jeff. »Ich nehme dir jetzt die Fesseln ab, damit du essen kannst.« »Ja«, sagte Carrero. »Ja.« »Sei hübsch brav und versuche keine Dummheiten.« »Keine Dummheiten.« Jeff löste die Handfesseln, kehrte zu Batuti zurück und schob dem Spanier den Essensnapf und den Wasserkrug zu. Er stellte 33
sich neben den Gambia-Mann, und sie unterhielten sich leise miteinander. Carrero griff mit seltsam eckigen, beinah linkisch wirkenden Bewegungen nach dem Fisch und aß ein wenig davon. Dann trank er Wasser in großen, gierigen Schlucken. Jeff wartete noch eine Weile, aber Carrero ließ die Hälfte der Anchovetas unberührt im Napf liegen. Jeff zuckte mit den Schultern, legte dem Mann die Fesseln wieder an und trug das Geschirr aus der Vorpiek. Er übergab es Batuti, nachdem dieser das Schott geschlossen und zugeriegelt hatte, und der GambiaMann schob grinsend damit ab. »Danke für die Ablösung«, sagte er. »Gern geschehen«, sagte Jeff und lehnte sich gegen die Wand. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Bis Mitternacht war er mit der Wache an der Reihe, dann löste ihn Luke Morgan ab. Bis dahin hieß es, sich in Geduld zu fassen – es gab keinen langweiligeren Posten als diesen. Da hatten es sogar die Männer besser, die drüben, auf der Felsnase, ihren Dienst versahen. Die hatten wenigstens die frische Luft und konnten dem leisen Rauschen des Wassers lauschen. Carrero überlegte unterdessen, ob er richtig gehandelt hatte. Eigentlich hatte er einen Bärenhunger, und der Magen knurrte ihm immer noch. Aber er hatte absichtlich so getan, als habe er keinen Appetit. Er spielte den Leidenden, Entmutigten. Er hatte kaum noch die Kraft, die Hand an den Mund zu heben. Bei dieser Rolle mußte er bleiben. Aber später, auf der Flucht, würde ihm der Hunger zusetzen. Wann erhielt er wieder etwas zu essen? Er wußte es nicht. Aber das mußte er auf sich nehmen. Wenn es ganz schlimm war, würde er Wurzeln essen. Oder Dreck. Lieber das, als noch weiter diesen Höllenhunden ausgeliefert zu sein. Am Mittag, bei seinem Spaziergang auf das Hauptdeck, hatte 34
er die Himmelsrichtung einigermaßen genau festgestellt. Er würde sich nach Süden absetzen, dorthin, wo Arica liegen mußte. Dies hatte er sich inzwischen in den Kopf gesetzt, denn es war besser, zunächst nach Arica zu laufen, als sich auf den langen Marsch nach Potosí zu begeben. Im übrigen hatte er festgestellt, daß draußen vor der Bucht ein Fluß verlief. Fast war er sich sicher, daß es sich um den Rio Tacna handeln mußte. Folglich lag Arica südlich. Dies war Luis Carreros Plan: Um Mitternacht, beim neuerlichen Wachwechsel, würden die beiden Posten, der abgelöste und der neue, seine Fesseln gemeinsam überprüfen. Danach hatte er wieder Ruhe bis vier Uhr morgens, wenn wiederum die gleiche Prozedur begann. Er hatte beschlossen, nach der Prüfung um Mitternacht die Fesseln zu lösen, den Posten in die Vorpiek zu locken, ihn niederzuschlagen und zu fliehen. Er wollte sich mit der Jolle absetzen, die längsseits vertäut war. Das mußte zu schaffen sein. Bis zum Ufer war es nicht weit, und vielleicht waren die Ankerwachen der Schiffe nicht so scharf, weil sie mit keiner Bedrohung von außen zu rechnen hatten. Wenn er viel Glück hatte, schliefen sie sogar. Das wagte er nicht zu hoffen, aber er rechnete sich einige Chancen aus, das Ufer ungehindert zu erreichen. Er entspannte sich und schloß die Augen. Bis Mitternacht mußte er Energien schöpfen – danach begann die Arbeit. Er atmete tief durch und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm tatsächlich. Es war mehr ein Dahindämmern, jedes Geräusch riß ihn wieder hoch. Aber er ruhte sich doch aus. Allein darauf kam es ihm jetzt an. Mitternacht nahte, und wieder ertönten Schritte, die vor dem Schott verharrten. Der neue Posten war da. Es war Luke Morgan. Er wechselte ein paar Worte mit Jeff, dann öffneten sie das Schott der Vorpiek und befaßten sich mit ihrem Gefangenen. Jeff hielt 35
die Öllampe hoch, Luke überprüfte die Handfesseln des Mannes. »Alles in Ordnung«, sagte Luke. »Ich habe auch nichts anderes erwartet«, sagte Jeff. »Gibt es an der Küste was Neues?« »Nichts.« »Nicht die Spur?« »Bist du so versessen darauf, daß was passiert?« fragte Luke. »Das bin ich nicht«, entgegnete Jeff. »Nur finde ich, daß es hier allzu ruhig ist.« »Mal nicht den Teufel an die Wand. Wir können uns nicht beklagen. Wenn alles so bleibt, wie es ist, schieben wir hier einen wirklich ruhigen Lenz, bis Hasard und der Trupp aus Potosí zurück sind.« »Ich wäre lieber nach Potosí gegangen, wenn du mich fragst.« »Das wären wir alle«, sagte Luke. »Aber darüber haben wir schon genug diskutiert.« »Mann, ich will mich doch nur mit dir unterhalten.« »Hau dich aufs Ohr«, sagte Luke grinsend. »Und denk an die Anchovetas. Morgen wird wieder geangelt – gefischt, meine ich.« »Die Kinderarbeit können wir den Zwillingen überlassen«, brummte Jeff. »Mann, ich melde mich lieber bei Ferris und helfe ihm bei den Höllenflaschen.« »Wie du willst. Ben hat sicher nichts dagegen.« »Also dann viel Spaß, Luke«, sagte Jeff. »Ich werde die Zeit schon ’rumkriegen«, sagte Luke. Das Schott der Vorpiek krachte zu, der Riegel wurde vorgeschoben. Luis Carrero grinste, aber am liebsten hätte er vor Freude geschrien. Ihr Narren, dachte er, ihr wißt ja nicht, was euch blüht. * 36
Carrero begann sofort zu arbeiten. Lautlos bewegte er sich durch die Vorpiek, verharrte wieder, lauschte und setzte dann, als er sicher war, daß der Mann vorm Schott nichts bemerkte, seinen Weg fort. Er erreichte den Nagel, setzte sich hin und drehte sich so, daß er die gefesselten Hände an den Nagel bringen konnte. Dann begann er, seine Hände reibend zu bewegen. Das Tauwerk glitt über den Nagel. Aber es war solide und es dauerte einige Zeit, bis sich die ersten Fasern zu lösen begannen. An der erforderlichen Geduld, Zähigkeit und Ausdauer mangelte es dem Spanier nicht. Lange genug hatte er tatenlos in dem engen, stickigen Verschlag brüten müssen. Und wenn er Stunden an den Fesseln herumsäbeln mußte, bis sie nachgaben – er würde nicht kapitulieren. Etwa nach einer Viertelstunde hielt er für kurze Zeit inne und fing an, Schnarchgeräusche zu imitieren, nicht zu laut, aber für den vor dem Schott stehenden Luke Morgan deutlich zu vernehmen. Carrero nahm seine Tätigkeit wieder auf, schnarchte aber noch einige Zeit weiter. Das Tauwerk schabte über den Nagel, hin und her, und er hatte den Eindruck, daß es etwas rissig geworden war. Seine Haut wurde inzwischen auch in Mitleidenschaft gezogen. Er spürte, wie sie zu brennen und zu schmerzen begann. Weiter, dachte er, nicht aufhören. Und wenn die Haut in Fetzen geht weiter! In unregelmäßigen Zeitabständen wiederholte er die Schnarchgeräusche. Nach ungefähr einer Stunde intensiver Arbeit hatte er die Hände endlich frei. Er ließ die Arme herunterbaumeln, lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Dann massierte er vorsichtig die Handgelenke. Sie taten immer noch weh. Er hatte sie blutig geschrammt, wie ihm schien – aber was bedeutete das schon? 37
Er wartete ab. Jetzt nicht zu hastig vorgehen, prägte er sich immer wieder ein, Geduld haben. Noch ein wenig Zeit verstreichen lassen. Carrero schnarchte wieder ein bißchen und stieß auch hin und wieder einen Seufzer aus – wie ein Mann, der von nicht gerade angenehmen Träumen geplagt wird. Dann verstummte er wieder und wartete weiterhin ab. Als es nach seiner Schätzung auf zwei Uhr zuging, begann er erneut zu schnarchen, diesmal jedoch stärker als zuvor. Das gehörte zu seiner Taktik. Er hatte inzwischen den Belegnagel aus dem Versteck zum Vorschein geholt und bewegte ihn prüfend in der Hand. Hartes Holz, dachte er, vielleicht Steineiche. Für spanische Schiffe wie die »Estrella de Málaga« wurden nur die besten Hölzer verwendet: Eiche, Steineiche, Edelkastanie, Nußbaum und Pinie. Es waren allesamt knochentrockene und harte Materialien, mit denen man einem Mann gut und gern den Schädel einschlagen konnte. Carrero grinste jetzt. Er schnarchte immer lauter, nahm den Belegnagel in die rechte Hand und klopfte damit an die äußere Bordwand. Das gab dumpfe, pochende Laute. Luke Morgan horchte auf. Was war das? Er war ein bißchen dösig geworden. Für kurze Zeit wäre er um ein Haar eingeschlafen, hatte sich aber immer wieder einen Ruck verliehen. Die Augen durften ihm nicht zufallen. Wenn der Spanier auch keine Chance hatte, aus seinem Verlies zu entwischen – es war eine Schande für einen Arwenack, auf Wache einzupennen. Und die Blamage war noch größer, wenn man ihn dabei ertappte. Nein, das durfte sich keiner erlauben. Notfalls gab man sich lieber selbst eine Ohrfeige, als den Dienst zu vernachlässigen, was immer auch geschah. Es hämmerte dumpf im Schiffsbauch, und der Kerl in der Vor38
piek schnarchte wie ein Besessener. Aber was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Luke war ein wenig verwirrt. Luis Carrero lag inzwischen in Schlafstellung auf der Gräting der Vorpiek, die Hände auf dem Rücken, leicht zusammengekrümmt und die Front dem Schott zugewandt. Er stellte das Schnarchen kurz ein und fing im nächsten Moment wieder damit an, noch lauter diesmal. Zwei- bis dreimal klopfte er wieder mit dem Koffeynagel gegen die äußere Wand, dann hörte er auf, schnarchte aber weiter. Komm schon, du Ratte, dachte er. Wie lange brauchst du, um mißtrauisch zu werden? Stunden? Hölle – das dauert mir zu lange. Warum, zum Teufel, kommst du nicht? War der Bastard von einem Engländer am Ende eingeschlafen? Carrero wagte nicht, daran zu denken. Wenn der Posten ihn nicht hörte, war sein ganzer Plan, den er sich zurechtgelegt hatte, hinfällig. Dann konnte er auch nichts Neues ersinnen, denn es gab keine Alternative. Alles hing davon ab, daß der Mann dort draußen versuchte, dem Klopfen auf den Grund zu gehen. Carrero setzte mit dem Schnarchen aus. Er hämmerte den Belegnagel gegen die Beplankung – viermal in kurzen Abständen. Wenn jetzt nichts passiert, ist alles verloren, dachte er. * Luke Morgan lauschte dem Schnarchen und dem Pochen. Verdammt, dachte er, was hat das zu bedeuten? Das Schnarchen beunruhigte ihn nicht, wohl aber das Klopfen. Es klang so, als klopfe von draußen jemand an die Bordwand, nicht laut, aber doch gut hörbar. Was das wohl war? Wieder trat Stille ein. Dann ertönte wieder das Schnarchen aus der Vorpiek und plötzlich war erneut das Pochen da, dumpf und unheimlich. 39
Luke nahm die Öllampe vom Haken, trat auf das Schott zu und schob den Riegel zur Seite. Er zog das Schott auf. Es knarrte ein wenig in seinen Angeln. Luke bückte sich und hielt die Lampe etwas tiefer. Der Lichtschein fiel etwas flackernd ins Innere und erhellte die Gestalt des Spaniers. Carrero schnarchte wieder, jetzt verhalten. Das Klopfen hatte aufgehört. Luke betrachtete den Mann eine Weile, dann schien er überzeugt zu sein. Der schläft, dachte er. Ganz sicher war er aber doch noch nicht. Er wollte es genau wissen. Schlief der Kerl oder hielt er ihn nur zum Narren? Und wenn das Pochen von ihm herrührte, was bezweckte er damit? Carrero schnarchte friedlich vor sich hin. Luke beugte sich über ihn. »He!« zischte er. Carrero antwortete nicht. Lukes Mißtrauen war immer noch nicht gewichen. Hier stimmt’ was nicht, sagte er sich und dann stellte er die Öllampe auf einen Decksbalken. Er hatte vor, sich etwas gründlicher in der Vorpiek umzuschauen. Als er sich jedoch halb von Carrero abwandte, wurde dieser plötzlich sehr lebendig. Er zog die Beine an den Leib, gab sich einen Ruck und sprang auf. Luke hörte ein Geräusch und registrierte auch die Bewegung des Kerls. Er reagierte, fuhr zu ihm herum und wollte zur Pistole greifen. Aber er hatte die Bewegung noch nicht halb vollführt, da krachte etwas auf seinen Kopf – der Koffeynagel. Er hatte das Gefühl, sein Schädel platze auseinander. Stöhnend sackte er in die Knie. Carrero wollte noch einmal zuschlagen, stellte aber fest, daß es nicht mehr nötig war. Der Engländer brach vor ihm zusammen und streckte sich auf den Planken aus. 40
Sehr gut, dachte der Spanier, das geschieht dir recht, du Mistkerl. Er überlegte, ob er ihn töten sollte. Aber dazu war keine Zeit, er mußte sich jetzt höllisch beeilen. In Windeseile zog er sich die Stiefel aus. Die Langschäfter aus weichem Leder – auf sie mußte er jetzt verzichten, denn wenn die Flucht gelingen sollte, mußte er sich absolut lautlos durch das Schiff bewegen. Er legte die Stiefel auf die Gräting und steckte den Belegnagel in den Hosengurt. Dann begann er, den ohnmächtigen Luke zu untersuchen. Wieder war er versucht, ihn umzubringen. Eine Welle des Hasses durchlief ihn. Hier war die Gelegenheit, sich für alles zu rächen, was sie ihm angetan hatten. Aber wie denn? An einem einzelnen, unbedeutenden Decksmann sollte er sich rächen? Das konnte alles andere in Frage stellen, und ihm kam es doch viel mehr darauf an, zu fliehen und dafür zu sorgen, daß der schwarzhaarige Hurensohn Killigrew und dessen Kumpane gepackt und nach Potosí in die Minen verschleppt wurden. Prioritäten setzen, dachte Carrero. Das war jetzt wichtig für ihn. Und er brauchte Waffen. Was hatte dieser Bastard bei sich? Etwa nur die Pistole? 5. Nein, er hatte auch ein Entermesser. Carrero zog es vorsichtig aus der Scheide und prüfte die Schärfe der Klinge mit dem Daumen. Ausgezeichnet! Die Klinge war spiegelblank und frisch gewetzt, man konnte damit einem Kerl den Kopf abschlagen. Carrero steckte sich auch die Pistole Luke Morgans zu, dann nahm er ihm das Pulverhorn und die Kugelbüchse ab. Den Belegnagel behielt er natürlich auch. Den konnte er noch gut gebrauchen, wenn es galt, einen jäh auftauchenden Gegner auszuschal41
ten. Er verließ die Vorpiek und pirschte den schmalen Schiffsgang entlang. Wo befanden sich die Kerle? Lagen sie alle im Logis und schliefen? Sollten sie weiterschlafen – er würde sie nicht weiter behelligen, obwohl er den Drang verspürte, ein volles Faß Pulver in ihren Raum zu rollen und zur Explosion zu bringen. Aber auch damit gewann er nichts, er riskierte nur sein eigenes Leben. Er hielt sich das Endziel vor Augen: die totale Ausrottung der Bande um Killigrew. So schlich er weiter und befaßte sich in seinen Gedanken mit dem, was ihn an Oberdeck erwartete. Wie viele Posten versahen dort die Ankerwache? Nur einer? Oder mehrere? Er hatte keine Gelegenheit gehabt, das zu ergründen. Er mußte es eben darauf ankommen lassen. Wenn er Pech hatte, mußte er mehrere Kerle abservieren. Behutsam stieg er einen Niedergang hinauf. Es war jetzt wieder stockdunkel, der Lichtschein der Öllampe in der offenen Vorpiek reichte nur bis auf wenige Yards in den Gang. Carrero mußte sich vorantasten und höllisch aufpassen, daß er kein Geräusch verursachte. Wenn ihm beispielsweise etwas im Weg lag, würde er mit Sicherheit darüber stolpern. Angenommen, die Kerle ließen irgendwo Kübel herumstehen. Stieß er dagegen, gab es einen Mordsradau, und sofort war das gesamte Schiff hellwach. Dann stürzten sie sich auf ihn und überwältigten ihn, und er hatte auch mit den erbeuteten Waffen nicht die geringste Chance. Aber nein, die Bastarde waren ordentlich und gründlich. Hier wurde nicht geschlampt, sie hielten den Kahn gut in Schuß. Na bitte, dachte Carrero, und er näherte sich dem Logis und dem Schott zur Galion. Wenigstens zu etwas taugen sie. Sie würden auch in den Minen eifrig schuften, wenn sie mit der Peitsche dazu angetrieben werden. Überhaupt, warum nahm er nicht den Kerl, den Killigrew als 42
Kapitän vertrat, als Geisel und beherrschte auf diese Weise das ganze Schiff? Er ließ sich nach Arica segeln, lief als Sieger in den Hafen ein und ließ erst einmal einen der Hunde hängen, weil es ihm so gefiel und als Abschreckung für alle anderen. Nein, es ging nicht. Er durfte das andere Schiff nicht vergessen, die ›San Lorenzo‹. Wenn die Kerle drüben verrückt spielten und die ›Estrella‹ mit Beschuß belegten, hatte er verspielt. Er wußte ja nicht, ob sie bereit waren, für ihre Kameraden alles zu opfern. Außerdem waren es immer noch zu viele eine Übermacht von Gegnern. Die Wolfshündin, die ihm jederzeit an die Gurgel springen konnte, durfte er auch nicht unterschätzen. Der ursprüngliche Plan war richtig. Er mußte fliehen. Erst mal an Land und in die Felsen, wo er sich besser auskannte als dieses Piratenpack. Alles andere ergab sich von selbst, denn er würde in Arica alles mobilisieren, um diese Galgenstricke zu fassen. Schnarchlaute ertönten aus dem Logis. Carrero schob sich daran vorbei und grinste wieder. Gern hätte er sie mit dem Entermesser durchbohrt oder in Stücke gehackt. Aber auch hier war die Gefahr zu groß, es mit einem Gegner aufzunehmen und dann von den anderen überrumpelt zu werden. Und wenn er Feuer legte? Ein Brand an Bord – das lenkte sie ab. Oder es weckte sie erst richtig, und sie nahmen an Land die Verfolgung auf. Nein, das alles nutzte nichts, es waren Ideen, die er sich aus dem Kopf schlagen konnte. Einen Augenblick verharrte er im Dunkel des Vorschiffs. Was war, wenn er die Galionsplattform betrat und sich von dort ins Wasser gleiten ließ? Kein Wachtposten würde ihn hören oder sehen. Völlig unbemerkt würde sein Verschwinden von Bord der ›Estrella de Málaga‹ vonstatten gehen. Aber er mußte schwimmen, und die Waffen, auf die er nicht verzichten wollte, würden ihn erheblich behindern. Vorsichtig, nach allen Seiten spähend und unter Einhaltung sei43
ner instinktiven Alarmbereitschaft, bewegte sich Carrero auf das Vordecksschott der Steuerbordseite zu. Er brauchte die Jolle, sein Weg führte deshalb zwangsläufig über die Kuhl. Er gelangte an das Schott, duckte sich und lauschte. Waren draußen Stimmen zu vernehmen? Nein. Alles war ruhig, und auch aus dem Schiffsinneren ertönten außer dem verhaltenen Schnarchen der Schläfer keine Laute. Aber die Tatsache, daß an Oberdeck nicht gesprochen wurde, war noch lange kein Beweis dafür, daß sich nur ein Posten dort befand. Es konnten auch mehrere sein, die sich entweder gegenseitig anödeten oder umschichtig schliefen. Möglich war alles. Carrero wagte es, das Schott einen Spaltbreit zu öffnen. Erfreulicherweise waren die Angeln gut geölt, so daß es nicht das leiseste Quietschen erzeugte. Jedes noch so feine Geräusch wurde in der Nacht verstärkt und hörte sich doppelt so laut an. Eine falsche Bewegung, ein winziges Scharren oder Schaben, und Carrero war geliefert und befand sich wie auf einem Präsentierteller für ihre Pistolen und Musketen. Fahles Mondlicht erhellte die Nacht. Carrero sah durch den Spalt die Gestalt eines hochgewachsenen, schlanken Mannes. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, um welchen von den »Bastarden« es sich handelte, aber auch das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, daß sich dieser Mann praktisch auf ihn zu bewegte. Er schien seine Runde über Deck zu gehen und in der näheren Umgebung war kein anderer Posten zu entdecken. Allerdings war Carreros Sichtbereich begrenzt. Aber er vertraute auf sein Glück, das ihm in den letzten Stunden wieder hold zu sein schien, während es ihn in den vergangenen Tagen verlassen hatte. Langsam zog er den Belegnagel aus dem Hosenbund. Sollte der Wachtposten unmittelbar vor das Schott treten, würde er ihn zu fällen versuchen wie den anderen Hundesohn. Natürlich hätte er 44
sich gern des erbeuteten Entermessers bedient, aber er wollte nicht riskieren, dadurch doch noch alles zum Platzen zu bringen. Traf er mit der Blankwaffe nur um Haaresbreite daneben, ging die Aktion nicht mehr geräuschlos ab. Der Kerl würde zu brüllen beginnen wie am Spieß. Da war der Schmetterschlag mit dem Belegnagel eben doch sicherer. Was die Wucht des Schlages betraf, da übte Luis Carrero auch dieses Mal keine Zurückhaltung. Er umklammerte den Belegnagel mit beiden Händen, kauerte sich so dicht an das Schott, daß er es mit der Schulter berührte, und harrte aus. Aus schmalen Augen verfolgte er, wie der Mann sich näherte und an dem Schott vorbeiging – ahnungslos. Carreros Lippen verzogen sich zu einem breiten, triumphierenden Grinsen. Jetzt, dachte er. * Jack Finnegan versah den Dienst der Ankerwache und unternahm seine gewohnte Kontrollrunde. Alles war ruhig, nur das Plätschern des Seewassers an den Bordwänden und das leise Knarren der Rahen waren zu vernehmen. Hin und wieder glaubte Jack das Schnarchen der Männer im Logis zu hören. Auch die ›San Lorenzo‹ bot ein Bild des Friedens, und von der Küste gab es auch nichts Neues zu vermelden, sonst wäre der Posten längst aufgetaucht. Sven Nyberg war es, der zur Zeit dort drüben stand und die Augen offenhielt. Sicherlich langweilte er sich genauso wie Luke und Montbars, der an Bord der Galeone die Ankerwache hatte. So jedenfalls dachte Jack Finnegan, während er sich mit bedächtigen Schritten dem Steuerbordschott des Vordecks näherte. In dem Moment, in dem er an dem Schott vorbeiging und sich 45
der Backbordseite des Schiffes zuwandte, waren seine Gedanken bei Ferris und dem Tacna-Trupp. Wie weit mochten sie inzwischen mit den Arbeiten sein? Kamen sie gut voran? Nun, bald würde man es erfahren, und Jack hoffte, bei dem nächsten Trupp, der in das Tal aufstieg, mit dabeizusein. Er nahm nicht wahr, wie sich hinter seinem Rücken das Schott ganz öffnete. Er glaubte aber plötzlich, eine Regung hinter sich zu bemerken. Verdutzt wollte er sich umdrehen, aber es war bereits zu spät. Der Koffeynagel sauste auf seinen Kopf und traf ihn mit voller Wucht. Jack stöhnte, krümmte sich, preßte noch beide Hände an den Schädel und sank dann zusammen. Nummer zwei erledigt, dachte Carrero. Er bückte sich, tastete den Bewußtlosen rasch ab und nahm auch seine Waffen an sich: Pistole, Muskete und Entermesser. Er steckte sie sich zu, dann huschte er geduckt über die Kuhl und hielt auf die Jakobsleiter zu, die, wie er mühelos erkennen konnte, an der der ›San Lorenzo‹ abgewandten Schiffsseite ausgebracht war. Und dort unten, direkt an der Jakobsleiter, lag auch die Jolle vertäut, wie er mit einem schnellen Blick übers Schanzkleid feststellte. Er grinste gleichsam diabolisch. Besser hätte es gar nicht sein können. Der einzige Wachtposten der ›Estrella‹ war außer Gefecht gesetzt. Der Kerl, der drüben auf der Galeone Wache schob, würde ihn überhaupt nicht bemerken. Ausgezeichnet, dachte Carrero. Er war jetzt wirklich froh, daß er sich seiner Langschäfter noch in der Vorpiek entledigt hatte. Das war eine gute Idee gewesen. Anderenfalls hätte er sich nicht derart leise bewegen können, ohne ein einziges Geräusch zu verursachen. Daß es dennoch ein Fehler war, die Stiefel an Bord zurückzulassen, leuchtete ihm nicht ein. Er vergaß sie und enterte an der 46
Jakobsleiter in die Jolle ab. Er grinste immer noch. Fast gelassen stand er im Boot und stieß es sachte von der Bordwand ab. Er legte die Riemen ein und begann zu pullen. Leise tauchten die Blätter ein und hoben sich wieder aus dem Wasser. Carrero steuerte auf den Ausgang der Bucht zu. Aber ganz bis dorthin schaffte er es doch nicht. Dafür sorgte Luke Morgan, der inzwischen allmählich ins Bewußtsein zurückkehrte. Durch kräftige Hiebe auf den Kopf eines Mannes, womöglich mit einem brettharten Gegenstand geführt, konnte man diesen in extremen Fällen durchaus töten. Im allgemeinen gab es Platzwunden und eine Menge Blut, und nicht selten wurde so ein Kopf angeknackst. Auf jeden Fall war ein Mann, der mit einem Belegnagel gefällt wurde, eine halbe Stunde bewußtlos – wenn nicht länger. Luke mußte einen besonders harten Schädel haben – Männer wie Carberry hätten dies mit Überzeugung bestätigt. Die Rübe dieses Luke Morgan sei so hart – hatte der Profos einmal erklärt –, daß man damit eine Schiffswand einrammen könne. Daher könne man Mister Morgan ruhig hin und wieder als Rammklotz benutzen. Es konnte aber auch daran liegen, daß Carrero doch nicht ganz so hart zugeschlagen hatte, wie er gemeint hatte. Möglicherweise wäre er besser beraten gewesen, wenn er noch ein zweites Mal zugehauen hätte. Aber er hatte nicht ahnen können, daß ein Kerl wie Luke gleich wieder auf die Beine kam. Natürlich verspürte Luke rasende Kopfschmerzen, als er das Bewußtsein wiedererlangte. Aber seine Wut war größer. Sofort war ihm wieder klar, was geschehen war. Er richtete sich auf, trat gegen Carreros Langschäfter, daß sie quer durch die Vorpiek flogen, und brüllte: »Verdammte Scheiße!« Dann stellte er fest, daß er keine Waffen mehr hatte, und begann noch wilder zu fluchen. Am liebsten hätte er alles kurz 47
und klein geschlagen, aus Zorn darüber, daß er sich von diesem Spanier hatte übertölpeln lassen. Wo steckte der Kerl? »Du Schwein!« brüllte Luke. »Wenn ich dich erwische!« Im Logis wachte Al Conroy als erster auf und stieß sich um ein Haar den Kopf. »He«, sagte er. »Wer brüllt da wie ein Irrer? Bist du das, Batuti?« »Ich doch nicht«, brummte der schwarze Herkules. »Seh’ ich vielleicht so aus?« »Das kommt aus der Vorpiek«, sagte Bob Grey. »Da ist was passiert!« stieß Blacky aus und rutschte von der Koje. »Hölle und Teufel, es ist was mit Carrero!« Lukes Gebrüll erreichte auch das Achterkastell der ›Estrella de Málaga‹ und somit die Ohren von Ben Brighton, Shane und Araua, die in den Kammern schliefen. Aber es drang auch bis zur ›San Lorenzo‹ hinüber und ließ Montbars, den Korsen, hellhörig werden. Mit wenigen Sätzen war Montbars am Schanzkleid und versuchte, zu erkennen, was auf der ›Estrella‹ los war. Nichts rührte sich. Nach wie vor schien alles ruhig und friedlich zu sein. Aber da waren das Geschrei und das Toben. Es klang, als wolle jemand das komplette Schiff auseinandernehmen. Plötzlich sah Montbars die Jolle. Sie schob sich hinter dem Bug der ›Estrella de Málaga‹ hervor – nein, sie schoß hervor! Der Kerl, der auf der Ducht saß, pullte wie ein Verrückter. Segeln konnte er nicht, denn der vorherrschende Südwestwind war in dem Felsenkessel nur schwach. Montbars’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Der Kerl in der Jolle – das konnte nur der verdammte Schönling und Sklavenschinder von Potosí sein. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, die Männer der ›Estrella‹ zu überlisten. Wie? Egal. Luke Morgans Gebrüll reichte aus – der Hund hatte den Arwenacks 48
offenbar übel mitgespielt. Montbars stieß einen wüsten Fluch aus, nicht auf französisch, sondern in seiner Muttersprache, dem korsischen Dialekt. Dann hob er die Muskete, preßte den Kolben an die Schulter, spannte den Hahn des Steinschlosses und zielte auf den Mann auf der Bootsducht. Er zögerte nicht lange. Das silbrige Licht des Mondes reichte zum Zielen aus. Montbars hielt ein wenig tiefer – vielleicht war es besser, den Kerl nicht zu töten. Er drückte ab, und es krachte. Der Kolben stieß im Rückstoß gegen seine Schulter, und fauchend fuhr die Ladung aus dem Lauf. Die Kugel traf das Boot und schlug ein Loch in die Wasserlinie. Luis Carrero fluchte lauthals. »Ihr verdammten Bastarde!« zischte er. Er pullte weiter wie besessen, spürte aber, wie ihn Panik ergriff. Das Wasser drang in die Jolle ein. Er konnte es sprudeln und rauschen hören. Er pullte und pullte, und ihm brach der Schweiß aus. Er spürte die Angst wie eine Faust im Nacken, denn er rechnete sich aus, daß die nächste Kugel ihn treffen würde. Aber er durfte nicht aufhören, sonst war er ihnen völlig ausgeliefert. Jeden Augenblick konnten die Kerle an den Schanzkleidern beider Schiffe auftauchen und ein Salvenfeuer auf ihn eröffnen. Der nächste Schuß krachte, wieder von Montbars abgegeben. Wieder schlug die Kugel in die Wasserlinie des Bootes, und das Wasser schoß noch schneller herein. Montbars grinste wölfisch. Er stand an einer Stelle des Schanzkleides der Kuhl, wo neben einem der Geschütze ein halbes Dutzend Musketen schußbereit lagen. Auch dies gehörte zu den allgemeinen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen, die die Männer für den Fall ergriffen hatten, daß ein Gegner unvermittelt vor der Bucht auftauchte und möglicherweise sogar bis in den Felsenkessel vordrang. 49
Mit raschem Griff packte der Korse die nächste geladene Muskete. Er hob sie, zögerte aber, den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen. Carrero zerrte und ruckste an den Riemen, der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht und den Körper. Die Jolle war schwer wie ein Stein geworden und schien sich kaum noch vom Fleck zu rühren. Das Wasser gurgelte durch die Schußlöcher in der Bordwand, es reichte ihm bereits bis über die Fußknöchel und näßte seine Waden. Montbars konnte das erkennen – die Jolle ging mehr und mehr auf Tiefe. Wie zu erwarten war, sank sie innerhalb der nächsten Minuten ganz, und der Hundesohn von einem Spanier hatte keine Chance mehr, das Ufer zu erreichen. Schwimmend würde er es nicht schaffen. Sie fischten ihn aus dem Wasser, brachten ihn zurück an Bord der ›Estrella‹ und urteilten ihn ab. Denn das blühte ihm jetzt, das hatte er verdient: Keine Gnade mehr für einen Don, der mit Gewalt aus der Vorpiek ausgebrochen war. Eben deshalb gab der Korse keinen dritten Schuß mehr ab. Er hätte Carrero töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er wollte ihn lebend, und er wollte ihn an der Rah zappeln sehen, an die er gehörte. An Bord der ›Estrella‹ wurde es zunehmend lebendig. Luke Morgan fluchte immer noch und rannte durch den engen Schiffsgang zum Niedergang, stürmte ihn hoch und hastete weiter. Er prallte mit Al Conroy zusammen, und sie stießen gemeinsam die übelsten Verwünschungen aus. Die anderen Männer hatten nun auch das Oberdeck erreicht und stürzten zum Schanzkleid, wo auch Ben, Shane und Araua erschienen. »Bist du verrückt?« brüllte Luke Al an. »He, ich wollte doch nur sehen, was mit dir los ist!« »Nichts ist los!« »Wo ist Carrero?« 50
»Abgehauen!« brüllte Luke, und zusammen rasten sie zum Niedergang. Paddy Rogers stolperte derweil über den reglosen Körper seines besten Freundes Jack Finnegan. Wie vom Donner gerührt verharrte er, bückte sich und ließ sich neben dem wie tot daliegenden Jack nieder. »Mann, mach keinen Scheiß«, sagte er erschüttert. »Jack – he! Komm zu dir!« Montbars hatte eine schlechte Entscheidung getroffen, wie sich jetzt herausstellte. Zwar drang immer mehr Wasser in die Jolle, aber der Spanier schaffte es doch – wider Erwarten und allen Berechnungen zum Trotz –, sie an das westliche Ufer der Bucht zu pullen, bevor sie auf Tiefe ging. Knirschend schob sich der Bug auf den schmalen Sandstreifen. Carrero raffte die erbeuteten Waffen zusammen, sprang an Land und begann zu laufen. Er malte sich aus, daß sie wieder mit Musketen auf ihn feuern würden, doch er irrte sich. Kein Schuß peitschte. Er befand sich außerhalb der Reichweite der Handfeuerwaffen. Zwar war es an Bord der ›Estrella de Málaga‹ Al Conroy, der mit einem gebrüllten Fluch an eine der Drehbassen sprang, doch bevor er das Schwenkgeschütz justiert hatte und Hasard junior ein Becken mit glühender Holzkohle zum Entfachen der Lunte brachte, war Luis Carrero verschwunden. Er tauchte zwischen den Steilfelsen unter und war nicht mehr zu sehen. Seine Augen waren zusammengekniffen, er gab sich Mühe, alle Unebenheiten des Geländes zu erkennen, um nicht zu stürzen. Keuchend begann er mit dem Aufstieg. Er schwitzte immer noch, aber es kümmerte ihn nicht. Seine Atemzüge gingen immer heftiger, die Steigung setzte ihm zu. Aber auch das war nebensächlich. Die Hauptsache war, daß er diesem Pack entgangen war, wie er geplant hatte. Er kletterte 51
höher und blickte sich nicht um. Jede Sekunde war kostbar. Je mehr Distanz er zwischen sich und die Bastarde legte, desto größer wurde auch die Aussicht, etwaigen Verfolgern zu entgehen. Carrero triumphierte schon jetzt. Er hatte schließlich die Waffen. Wenn es diesen Hunden wirklich einfiel, ihn zu verfolgen, konnte er sie aus dem Hinterhalt niederknallen. Es würde genügen, einen oder zwei von ihnen abzuservieren, dann zogen die anderen sich zurück. Sie spielten sich auf – die Kerle, die vor nichts zurückschreckten, aber wenn es ihnen wirklich an den Kragen ging – so dachte er –, steckten sie sehr schnell zurück und entpuppten sich als Feiglinge. Diesen einen Punkt überdachte er nicht richtig, und seine Wertung war völlig falsch. Aber in seiner Siegeseuphorie konnte er nicht anders denken. Er arbeitete sich in den Felsen hoch, einem Labyrinth, in dem er schwerlich wiederzufinden war. 6. An Bord der ›Estrella de Málaga‹ und der ›San Lorenzo‹ war inzwischen der Teufel los. Ben Brighton kochte vor Zorn über, trotz seiner sonst so ruhigen und beherrschten Art. Er hatte allen Grund zu toben. Wenn es Luis Carrero gelingen sollte, sich nach Arica durchzuschlagen, dann war Hasards Trupp mit Sicherheit verloren. Die Spanier in Arica würden unverzüglich Potosí alarmieren, durch berittene Boten oder vielleicht auch durch FußMelder, das spielte keine Rolle. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß Potosí daraufhin hermetisch abgeriegelt werden würde. Die zwölf Mann des Trupps, Pater Aloysius mitgerechnet, hatten dann überhaupt keine Chance. Sie ahnten von nichts und liefen in die Falle, die sich für sie öffnete. Man würde sie festnehmen und keine Gnade kennen. Sie konnten noch von Glück 52
sagen, wenn man sie zur Zwangsarbeit in die Minen steckte und in Eisen legte. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Provinzgouverneur sie auf Carreros Drängen hin hängen oder durch ein Peloton erschießen lassen. Das waren die Aussichten – all die bitteren Aussichten, die sich aus Carreros Flucht ergaben. Ben hatte das Gefühl, das Blut würde ihm in den Adern gefrieren. Luke Morgan torkelte auf der Kuhl herum. Erst jetzt sahen Al Conroy und die anderen, daß sein Kopf blutüberströmt war. »O Hölle«, stieß Luke immer wieder hervor. »Wo ist der Kerl? Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn ich ihn erwische!« Araua eilte zu ihm. »Sei still, Luke. Setz dich erst mal hin«, drängte sie. »Sei vernünftig.« »Wo ist der Dreckskerl!« »Zum Ufer entkommen.« »Wir müssen ihn schnappen, wieder einfangen!« »Ja, natürlich.« »Daß dieser Hund mich so ’reingelegt hat! Auf diese Tour!« Luke stöhnte und hielt sich an einer Kanone fest. »Mann Gottes. Aber das zahle ich ihm heim, verlaß dich drauf.« Jack Finnegan lag nach wie vor regungslos auf den Planken. Mac Pellew war zur Stelle und kümmerte sich um ihn. Und Paddy Rogers stammelte immer wieder: »Hölle, was ist denn bloß los? Was ist mit ihm, Mac?« »Reg dich nicht auf«, brummte Mac. »Er lebt noch.« »Wie lange noch?« »Eine Ewigkeit. So schnell stirbt man nicht.« Das Fatale an der Situation war, daß die Männer der ›Estrella‹ zur Zeit kein Boot zur Verfügung hatten. Sie konnten also nicht die Verfolgung des Spaniers aufnehmen. Ben ballte die Hände in ohnmächtiger Wut zu Fäusten. Ihm waren die Hände gebunden, er konnte nichts unternehmen. Was nützte es schon, mit den 53
Kanonen zwischen die Felsen zu feuern? Nichts – er vergeudete nur Munition. Und er wußte auch, daß er nicht in Hasards Sinn gehandelt hätte. Jan Ranse hatte drüben, an Bord der ›San Lorenzo‹, von Montbars erfahren, was sich zugetragen hatte. Alle Mann waren an Deck versammelt, und der Korse stieß einen saftigen Fluch aus. »Dreck!« brüllte er. »Ich dachte, er säuft mit der Jolle ab, verflucht noch mal!« »Wir müssen sofort an Land!« schrie Baxter. »Dem Hurensohn nach! Wir können ihn noch erwischen!« »Abentern!« rief Jan. »Drei Mann mit mir! Piet, George und Montbars! Los! Wir müssen erst zur ›Estrella‹ rüber und uns mit Ben abstimmen!« In Windeseile enterten sie in die Jolle ab, die längsseits lag, und griffen zu den Riemen. Jan stieß das Boot von der Bordwand ab, die Männer begannen wie die Irrsinnigen zu pullen. Rasch glitt die Jolle zur ›Estrella‹ hinüber und überbrückte die Distanz in kürzester Zeit. Jan stand breitbeinig vor der achteren Ducht und rief den Männern der Karavelle zu: »Ich stelle euch meine Jolle zur Verfügung, Ben!« »Ja! Danke! Habt ihr gesehen, an welcher Stelle Carrero zwischen den Felsen verschwunden ist?« »Montbars hat ihn am Westufer landen sehen!« »Ich auch!« schrie Al Conroy. »Aber wo genau?« »Ich weiß, wo die Stelle ist!« rief Montbars. »Ich finde sie wieder!« »Shane!« stieß Ben hervor. »Du kommst mit! Al, Batuti und Blacky, ihr seid auch mit dabei! Los, Beeilung!« »Sir«, sagte Hasard junior, der mit seinem Bruder herandrängte. »Wir sollten auch Plymmie mitnehmen. Du weißt doch, was für einen guten Spürsinn sie hat. Sie findet ihn bestimmt besser als wir.« 54
»Das ist eine gute Idee«, sagte Ben Brighton sofort. »Los, holt Plymmie!« »Sie ist schon hier«, meldete Araua. Sie hielt Plymmie an der Leine fest. Die Hündin schien zu spüren, was geschehen war, sie knurrte und zerrte an der Leine. »Herrgott, warum hat sie nicht schon eher was bemerkt?« fragte Bob Grey. »Dann wäre diese Schweinerei nicht passiert.« »Sie hat auch geschlafen«, verteidigte Philip Plymmie. »Und sie kann schließlich nicht alles wittern. Carrero hat sich wohl auch sehr leise bewegt.« »Das stimmt«, sagte Jack Finnegan, der eben wieder zu sich gekommen war und mit verzerrtem Gesicht den Hinterkopf betastete. »Er hatte bestimmt keine Stiefel an.« »Dann müssen die noch in der Vorpiek sein«, sagte Ben. »Jeff, sieh mal nach!« »Die Stiefel sind unten«, sagte Luke. »Ich habe sie selbst gesehen, zur Hölle noch mal!« Jeff Bowie eilte nach unten. Ben gab unterdessen weitere Anweisungen. »Von deiner Crew nehmen wir Montbars, Piet Straaten und George Baxter mit«, sagte er zu Jan Ranse, der von der Jolle zu ihm aufblickte. »Damit ist der Trupp komplett.« »Aye, Sir«, sagten die Männer. »Und jetzt hört gut zu. Wir müssen verhindern, daß Carrero Arica erreicht. Um jeden Preis.« »Koste es, was es wolle!« rief Shane. »Und wenn er doch Arica erreicht, schlagen wir ihn dort in den Gassen tot!« Mac Pellew stieß plötzlich einen dumpfen Laut aus. Paddy Rogers stöhnte entsetzt auf. Jack Finnegan hatte die Augen verdreht und sank wieder in sich zusammen. »Ben«, sagte Mac. »Beim Henker, was machen wir jetzt?« »Tu doch was, Mac«, drängte ihn Paddy. 55
Ben lief zu ihnen und beugte sich ebenfalls über den Besinnungslosen. Jack war von dem Belegnagel mindestens genauso hart getroffen worden wie Luke, vielleicht hatte es ihn noch ein bißchen unglücklicher erwischt. Aber konnte ein Mann von einem einzigen Knüppelhieb sterben? Ben wußte, daß es möglich war. »Rück mal das Licht näher ran«, sagte er rauh zu Mac Pellew. Mac bewegte die Öllampe, die sie auf die Planken gestellt hatten, näher auf Jack zu. Ben untersuchte vorsichtig die Platzwunde, die Jack am Hinterkopf hatte, und betrachtete das viele Blut, das ihm übers Gesicht gelaufen war. Schlimm sah das aus. Luke Morgan hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt. »So ein verdammter Mist«, sagte er immer wieder. »Das ist alles meine Schuld. So ein Mist.« »Sei still«, sagte Ben, »und hör auf, solchen Quatsch daherzureden.« Jeff Bowie hatte sich unterdessen in der Vorpiek umgesehen und griff nach den Stiefeln. Er eilte zurück zum Niedergang und kehrte mit polternden Schritten an Oberdeck zurück. »Hier sind die Dinger!« rief er. »Aha«, sagte Shane. »Der Kerl ist also gewissermaßen barfuß. Dann können wir noch hoffen. Bei dem scharfen Felsgestein wird er sich die Füße blutig laufen.« »Das wünsche ich ihm«, sagte Bob grimmig. Die Zwillinge führten Plymmie heran und ließen sie an den Stiefeln riechen. Die Hündin senkte den Kopf und schnupperte. Sofort sträubten sich ihre Nackenhaare, und sie begann laut zu knurren und fletschte die Zähne. »Es wirkt«, sagte Philip junior. »Sie hat die Witterung aufgenommen.« Plymmie zerrte an ihrer Leine und wollte zum Schanzkleid. Sie zog Philip und Hasard, die jetzt beide zupackten, hinter sich her 56
und schien immense Kräfte zu entwickeln. Sie strebte genau auf die Stelle zu, an der die Jakobsleiter hing und Luis Carrero von Bord verschwunden war. »Los geht’s«, sagte Big Old Shane, aber er wandte sich noch einmal Ben und den anderen zu, die bei dem ohnmächtigen Jack Finnegan knieten. »Ben, du bleibst am besten hier.« Ben tauschte einen Blick mit ihm und nickte. »Einverstanden. Aber denk daran: Ihr müßt Carrero erwischen.« »Ich denke an nichts anderes.« »Du weißt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn er es bis nach Arica schafft.« »Ja. Dann sind Hasard und die Männer des Trupps verloren.« »Schießt den Spanier von mir aus nieder wie einen tollen Hund«, sagte Ben. »Sonst sehen wir Hasard und unsere Männer nie wieder.« Al Conroy, Batuti, Blacky und die Zwillinge enterten in die Jolle ab. Batuti hatte sich Plymmie über die Schulter gepackt und hangelte mit ihr nach unten. Shane folgte ihnen und rutschte fast an der Jakobsleiter nach unten, so eilig hatte er es. »Kommst du mit?« fragte er Jan Ranse. »Oder sollen wir dich zum Schiff übersetzen?« »Um noch mehr Zeit zu verlieren?« Jan schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier. Mal sehen, ob ich irgendwie was für euren Jack Finnegan tun kann. Und für Luke Morgan.« Mit diesen Worten schwang er sich bereits auf die Sprossen der Jakobsleiter. Die Jolle legte ab, und die Männer pullten, als säßen ihnen sämtliche Teufel der Hölle im Nacken. * Das Bild, das sich Jan Ranse an Bord der ›Estrella de Málaga‹ bot, war schockierend. Luke Morgan taumelte blutüberströmt 57
herum, Jack Finnegan lag ebenfalls blutend mit halb geöffnetem Mund wie tot auf den Planken der Kuhl. Ben, Mac und Paddy knieten bei Jack, und auch die anderen Männer näherten sich jetzt und bildeten einen Kreis um sie. Jan kratzte sich am Kinn. Er wußte nicht, was er tun sollte. Ben war selbst ratlos. Er wünschte sich den Kutscher herbei, aber der war oben im Tacna-Tal und damit für ihn unerreichbar. Was konnten sie unternehmen, um Jack zu retten? Wo war Araua? Jan Ranse blickte sich nach ihr um, konnte sie aber nirgends entdecken. Plötzlich erschien sie im offenen Schott des Achterkastells. Sie hielt etwas in den Händen – nasse Tücher. Damit eilte sie zu den Männern und verlangte mit leiser Stimme danach, durchgelassen zu werden. Sie traten zur Seite, und Araua kniete sich neben Ben, Mac und Paddy. Mac sah die Tücher und sagte: »Nutzt das was? Ich hab’ ihm doch schon ein paarmal das Blut abgewischt und Kampferpulver auf die Wunde gestreut. Was soll ich sonst noch tun?« Araua antwortete nicht. Sie legte Jack ein nasses Tuch auf die Stirn und schob ihm ein zweites unter den Nacken. »Nur abwarten«, sagte sie dann mit gedämpfter Stimme. »Und er darf nicht bewegt werden.« Mac fühlte immer wieder den Puls des bewußtlosen Mannes. »Schwach, aber normal«, sagte er. »Also stirbt er nicht, oder?« fragte Paddy. »Halt den Mund«, sagte Ben ungewohnt grob. »Das wissen wir noch nicht. Klar?« »Aye, Sir«, murmelte Paddy betroffen. Jan war nähergetreten. »Wie wär’s, wenn wir ihm was zu trinken geben würden? Brandy zum Beispiel.« Araua sah nicht zu ihm auf, sagte aber: »Das wäre völlig falsch. Wir müssen nur warten.« Ihre Lippen bewegten sich auch wei58
terhin, aber keiner verstand, was sie murmelte. Es waren Wörter ihrer Muttersprache, ein leises Gebet, an den Schlangengott gerichtet. Jan Ranse mußte etwas unternehmen, er konnte nicht einfach nur so dastehen. Er packte Luke Morgan beim Arm und führte ihn zum Backbordniedergang, der die Kuhl mit der Back verband. »So, setz dich da erst mal hin«, sagte er. »Du bist wohl verrückt, hier so rumzulaufen.« »Ich bin verrückt, Jan.« »Du verschlimmerst deinen Zustand nur noch, wenn du…« »Es ist alles meine Schuld, kapierst du das?« Lukes Gesicht hatte die Farbe alten, abgestandenen Talges. »Ich habe mich auf die ganz blöde Tour von diesem Hund ’reinlegen lassen.« »Das kann jedem passieren.« »Nein.« »Wie hat er denn seine Fesseln überhaupt aufgekriegt?« fragte Jan. »Das weiß ich nicht.« »Und womit hat er zugeschlagen?« »Mit ’nem Koffeynagel, glaube ich«, entgegnete Luke. »Der Teufel weiß, woher er sich den besorgt hat.« Jan blickte im matten Schein der Öllampen zur Nagelbank des Großmastes. »Da fehlt einer«, sagte er ganz sachlich. »Siehst du das?« »Ja!« entfuhr es Luke. »Und – Mann, daß das keiner bemerkt hat.« »Du hast also nicht allein die Schuld.« »Du willst es mir ausreden.« »Ich will nur, daß du wieder Vernunft annimmst«, sagte Jan. »Wenn Jack tot ist, schieß’ ich mir eine Kugel in den Kopf.« »Weißt du, was ich glaube? Du hast wirklich einen Dachscha59
den.« »Denk, was du willst«, sagte Luke finster. Unterdessen hatte sich Jack Finnegan wieder ein bißchen bewegt. Er brummelte irgend etwas, was keiner verstand, dann schlug er plötzlich die Augen auf. »Kreuzdonnerwetternochmal«, murmelte er. »Wo bin ich hier?« »An Bord der ›Estrella de Malaga‹, Sir«, antwortete Mac mit dem Versuch eines Grinsens. Leider wirkte es so, als wolle er jeden Augenblick losheulen. »Und wieso glotzt ihr mich so an?« »Ach, nur so«, erwiderte Will Thorne. »Wir hatten gerade nichts Besseres zu tun, da dachten wir, na, schauen wir uns den Jack mal an.« Jack hob die Hand und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. »Total verrückt. Habt ihr den Don schon wieder eingefangen?« »Nein«, antwortete Ben. »Aber Shane und ein Trupp sind mit der Jolle unterwegs.« »Ich will mit«, sagte Jack und traf Anstalten, sich von den Planken zu erheben. Ben drückte ihn sanft, aber bestimmt, zurück. »Du bleibst liegen, mein Freund. Weißt du eigentlich, daß du ein Loch im Kopf hast?« »Klar, tut auch lausig weh.« »Ist dir schlecht?« fragte Araua. »Nein. Ich habe nur Durst. Auf einen Brandy. Von mir aus kann’s auch Whisky sein.« »He, sieh mal einer an«, sagte Mac überrascht. »Das Blut sickert nicht mehr so schnell raus.« »Sicher«, sagte Jack mit dünnem Grinsen. »Denkst du vielleicht, ich laß mein ganzes Blut aus meinem feinen Kopf ’raus60
laufen? Ich bin doch nicht bescheuert.« Araua nickte Ben zu. Er entnahm ihrer Gebärde, daß keine Lebensgefahr für Jack bestand. Bald konnte er wieder auf den Beinen sein. »Paß auf«, sagte Ben. »Du legst dich jetzt vorsichtig in deine Koje. Will und Bob, ihr begleitet ihn nach unten. Ganz langsam, klar?« »Aye, Sir«, murmelten sie und hoben Jack, von Mac und Araua unterstützt, behutsam von den Planken auf. Ben stand auf und blickte zu Jan Ranse und Luke Morgan. »Mac, komm her«, sagte er. »Kümmre dich jetzt um Luke.« »Ich bin schon wieder in Ordnung«, sagte Luke rauh. »Ich brauche keine Hilfe.« Ben trat auf ihn zu. »Du sollst keinen Quatsch reden, das habe ich dir eben schon mal gesagt. Das ist ein Befehl, Mister Morgan. Hast du das vergessen?« »Nein, Sir. Ich nehme auch die Konsequenzen auf mich. Meinetwegen kannst du mich auspeitschen lassen. Oder kielholen, das wäre noch besser.« »Ich glaube, er hat so eine Art temporären Gedächtnisschwund, oder wie das heißt«, sagte Mac. »Sein Gedächtnis ist in Ordnung«, sagte Ben. »Luke, erzählt mal genau, wie sich das zugetragen hat. Wie konnte sich Carrero von den Handfesseln befreien? Ihr habt sie doch um Mitternacht überprüft.« »Es ist mir ein Rätsel«, entgegnete Luke. »Vielleicht sollten wir die Vorpiek noch mal untersuchen.« Das taten sie etwas später und fanden den Nagel, der aus dem Spant ragte. So klärte sich das Rätsel auf. Luis Carrero hatte sie alle überrumpelt, nicht nur Luke und Jack. Die Jolle hatte in der Zwischenzeit das westliche Ufer der Bucht erreicht. Plymmie sprang als erste an Land, blieb stehen, duckte 61
sich und knurrte, daß es ihnen fast eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Zwillinge stiegen aus, sie hatten beide je einen Stiefel des Spaniers in der Hand. Wieder schnupperte Plymmie daran, und ihre weißen Zähne blinkten im Mondlicht. Wie ein richtiger Wolf sah sie jetzt aus, furchterregend und wild. »Sie hat schon immer einen Pik auf den Kerl gehabt«, sagte Shane, der zu ihnen trat. »Am liebsten hätte sie ihn ja gleich zerfetzt, als er an Bord kam.« Das traf zu. Hasard hatte Carreros Bluthund Philipp nicht an Bord gelassen, als dieser in der Bucht des Indio-Dorfes zu ihnen übergesetzt war. Carrero hatte vor Wut fast geschäumt, sich aber fügen müssen. Dann hatte er Plymmie gesehen und er hatte dem Seewolf vorgeschlagen, Philipp und Plymmie zu einem Kampf antreten zu lassen. Er hatte eine großartige Wette abschließen wollen, aber als er Plymmies haßfunkelnde Lichter und ihre gefletschten Zähne gesehen hatte, war ihm doch eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Plymmie nahm am Ufer sofort die Spur des Spaniers auf. Die Männer und die Jungen – allesamt schwer bewaffnet – folgten ihr und kletterten in die Felsen. Die beschädigte Jolle der ›Estrella de Malaga‹ ließen sie am Ufer neben dem Boot der ›San Lorenzo‹ zurück. Sie würden sie später reparieren. Das lief ihnen nicht weg. Carrero hingegen entfernte sich immer weiter von ihnen, und mit jedem Schritt, den er zurücklegte, sank die Chance, ihn wieder zu erwischen – trotz Plymmie. 7. Sven Nyberg, der um Mitternacht den Seeausguck an der Küste bezogen hatte, richtete sich gegen zwei Uhr plötzlich kerzenge62
rade auf. Er vernahm deutlich die beiden Musketenschüsse, die in relativ kurzen Zeitabständen abgegeben wurden. Die kamen von der Bucht, daran gab es keinen Zweifel. Auf welchem Schiff waren sie abgefeuert worden? Egal. Tatsache war, daß es Verdruß gab. Die See war leer, soweit er sie überblicken konnte. Die ganze Zeit über hatte er sie aufmerksam beobachtet. Es war ausgeschlossen, daß sich jemand mit einem Schiff oder auch nur mit einem Boot in die Bucht gepirscht hatte. Er hätte es bemerken müssen. Folglich mußten diese beiden Schüsse mit Luis Carrero zusammenhängen. Einen anderen Grund konnte Sven sich nicht vorstellen. Hatte Carrero einen Fluchtversuch unternommen? Kaum vorstellbar, aber der Kerl war gerissen und gefährlich wie ein Sack voll Schlangen. Theoretisch konnte er aus der Vorpiek der Karavelle nicht entweichen. Aber vielleicht hatte er es fertiggebracht, den Posten zu überrumpeln. Sven ließ seinen Blick erneut über die See wandern. Nichts – keine Bewegung. Es konnte also nicht sein, daß Spanier, Küstenhaie oder Eingeborene in die Bucht eingedrungen waren. Außerdem wären dann wahrscheinlich nicht nur zwei Schüsse gefallen. Diese Schüsse – was hatten sie zu bedeuten? War Carrero auf der Flucht erschossen worden? Oder war er entwischt. Sven entschloß sich, zur Bucht zurückzukehren, um sich Gewißheit zu verschaffen. Der Weg über die Felsen und durch das Gestrüpp war beschwerlich genug, aber Sven kümmerte sich nicht um die Kratzer, die er sich wegholte, als er sich ein wenig zu hastig durch ein Dornengesträuch zwängte. Es kam ihm jetzt auf Schnelligkeit an. Er mußte wissen, was da los war. Vielleicht konnte er, wenn Carrero tatsächlich auf der Flucht sein sollte, 63
sogar etwas unternehmen, um den Mann zu stoppen. Gut eine Viertelstunde mochte verstrichen sein, vielleicht auch eine halbe Stunde – da registrierte Sven rechts vor sich eine Bewegung. Sofort duckte er sich. Das Gelände, das sich vor ihm erstreckte, war ziemlich unübersichtlich wegen der vielen zerklüfteten und bizarren Gesteinsformationen und auch wegen des Gestrüpps, das allen Regeln der Natur zum Trotz direkt aus dem Fels zu wachsen schien. Dennoch: Sven erkannte im fahlen Mondlicht die Gestalt eines Mannes, die südwärts auf die Küste zuhastete. Der Mann schien Waffen bei sich zu tragen, eine Muskete war in seinen Fäusten zu sehen. Sven erkannte, daß es sich um Luis Carrero handelte, und die Gewißheit durchzuckte und alarmierte ihn. Also doch – der Hund hatte es geschafft! Sven legte mit der Muskete auf ihn an und schrie: »Carrero!« Luis Carrero zuckte zusammen, als habe man mit einer Peitsche auf ihn eingeschlagen. Er wirbelte herum, riß die Muskete hoch und schoß, dann warf er sich in Deckung. Irgendwie rechnete Sven nicht damit, daß Carrero ihn in der Dunkelheit wirklich treffen würde. Er hatte sich aufgerichtet, um richtig auf den Kerl zielen zu können, und dabei gab er sich zwangsläufig eine Blöße. Er wollte ebenfalls abdrücken, sah den Mündungsblitz von Carreros Waffe und dachte: Schieß genau hinein! Aber etwas sprang ihn aus dem Dunkel an und grub sich siedendheiß in seine linke Schulter. Die Kugel! dachte er entsetzt – dann wurde er von der Wucht des Anpralls umgestoßen. Er stöhnte auf und biß die Zähne zusammen. Der Schmerz fraß sich von der Schulter durch seinen Oberkörper und schien ihn zu lähmen. Carrero grinste triumphierend. Der Kerl, der ihn angerufen 64
hatte, war zwischen den Felsen zusammengebrochen. War er tot oder nur verletzt? Carrero rappelte sich wieder auf. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß ihm der Mann nicht mehr gefährlich werden konnte. Nichts rührte sich. Gut so, dachte Carrero. Er hatte keine Zeit, sich um den Gegner zu kümmern, sonst hätte er ihn mit einem zweiten Schuß in den Kopf endgültig niedergestreckt. Er durfte sich jetzt nicht aufhalten lassen. Wenn das Engländer-Pack ihm auf den Fersen war, dann hatte es den Schuß natürlich gehört und wußte, in welche Richtung es sich zu wenden hatte. Carrero lief weiter. Die Muskete lud er nicht nach. Keine Zeit, dachte er, das erledige ich später. Er rannte durch die Dunkelheit und dachte an das, was er unternehmen würde, wenn er Arica erreichte. Boten mußten unverzüglich nach Potosí aufbrechen, damit der Provinzgouverneur Don Ramón de Cubillo gewarnt wurde. Ein Landtrupp Soldaten sollte sich zu der Felsenbucht in Bewegung setzen, und alle verfügbaren Schiffe mußten auslaufen und Kurs auf den Rio Tacna nehmen. So wurde den Bastarden jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. In einer kurzen Schlacht würde er, Carrero, sie vernichten. * Sven Nyberg gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte zuviel Erfahrung und wußte genau, daß ihn die Kugel aus Carreros Muskete nicht nur gestreift hatte. Sie hatte, wie er vermutete, seine Schulter glatt durchschlagen. Wenn es so war, konnte er noch von Glück reden, daß keiner der Knochen verletzt war oder die Kugel im Fleisch steckte. Aber die Schmerzen waren höllisch. Unendlich langsam richtete er sich halb wieder auf. Es flirrte vor seinen Augen. Eine 65
Welle von Übelkeit stieg in ihm auf und setzte ihm zu. Er mußte sich übergeben. Ihm war hundeelend zumute. Alles drehte sich um ihn herum, und das zunehmende Schwindelgefühl drohte ihn umzureißen und erneut zu Boden zu werfen. Aber er kämpfte dagegen an. Er bezwang die Übelkeit und biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Er hob die Muskete, die ihm aus den Fingern zu gleiten drohte, drückte den Kolben gegen die Schulter und zielte noch einmal auf den Spanier, der sich über die Felsen entfernte. Sven brach der kalte Schweiß aus. Du mußt es schaffen, hämmerte er sich ein, gib nicht auf. Wankend stand er auf den Beinen. Aber er vermochte sich zu halten. Sein rechter Zeigefinger schien gelähmt zu sein. Warum gelang es ihm nicht, ihn zu krümmen? Schließlich klappte es doch. Aber Luis Carrero war schon weit entfernt, seine Gestalt schrumpfte im Licht des Mondes allmählich zusammen. Er drohte zwischen den Felsen zu verschwinden. Sven taumelte, seine Hände und Arme zitterten. Er bebte am ganzen Körper, und die Kälte legte sich wie ein eisiger Panzer um ihn. Schwindelgefühle, Schmerzen, Schwäche und Übelkeit drohten ihn zu übermannen. Er stieß einen leisen Fluch aus und betätigte den Abzug der Muskete. Es krachte dumpf, eine weiße Wolke Pulverqualm puffte hoch. Der Rückstoß fuhr hart in Svens Schulter. Er torkelte zurück, konnte sich aber doch noch fangen. Carreros Lachen drang an seine Ohren. Wirkungslos war die Musketenkugel in der Nacht verpufft. Fehlschuß, dachte Sven, und er war sich seiner Ohnmacht bewußt. Der Bastard lief weiter und tauchte unter. Die Nacht war sein Verbündeter. Gleich war er ganz weg – keine Aussicht mehr, ihn zu stellen. Sven dachte an Hasard und die Kameraden, die nach Potosí 66
unterwegs waren. Nein – ihr Unternehmen durfte nicht scheitern! Nicht durch Carrero. Carrero wollte nach Arica, das lag auf der Hand. Dort fand er alle Hilfe und Unterstützung, die er brauchte. Von dort aus organisierte er einen Gegenschlag – der sich vernichtend auswirken würde, denn damit saßen der Seewolf und sein Trupp in einer höllischen Falle. Diese Gedanken trieben Sven voran. Wie durch ein Wunder hielt er sich noch auf den Beinen. Er stolperte, drohte in den Knien einzuknicken, raffte sich wieder auf und wankte weiter. Die leergeschossene Muskete ließ er einfach fallen. Sie war ihm eine Last, und er konnte sie im Laufen nicht nachladen. Er griff zur Pistole. Die Pistole hatte nicht die Reichweite der Muskete, er mußte näher an Carrero heran, um ihn zu erwischen. Dieser Schuß durfte nicht fehlgehen! Carrero warf einen Blick über die Schulter zurück und fragte sich, ob er dem Verfolger zwischen den Felsen auflauern sollte. Aber nein – der Hund torkelte wie ein Betrunkener. Er war angeschossen und konnte sich nicht mehr lange auf den Beinen halten. Grinsend lief der Spanier weiter. Nicht mehr lange, und der andere würde zusammenbrechen. Wieder hatte er es einem von ihnen gegeben und etwas von dem heimgezahlt, was sie ihm angetan hatten. Vielleicht konnte er noch ein paar von ihnen abschießen. Sie würden auch den Verletzten finden und durch ihn aufgehalten werden. Sein Vorsprung wuchs, dessen war er sicher. Seine Füße taten ein bißchen weh, aber das nahm er in Kauf. In Arica würde er sich neue Stiefel besorgen – handgearbeitete, weiche Langschäfter. Das war kein Problem. Er mußte nur den Hafen erreichen, dann fand alles seine Lösung. Hart und scharf waren die Felsen, und jeder Schritt begann zur Plage zu werden. Aber das war ein Preis, den Carrero gern 67
zahlte. Er hätte auch noch mehr Opfer gebracht. Nur fort – fort aus der Gefangenschaft, die den sicheren Tod für ihn bedeutete. Sie warteten nur darauf, ihn an der Rah hochzuziehen, sie bereiteten sich einen Spaß daraus, ihn zu quälen. Aber jetzt hatte er ihnen alles verdorben! Sven tat noch ein paar Schritte, dann blieb er stehen. »O mein Gott«, murmelte er. Die Pistole entglitt seinen schlaff werdenden Fingern. Alles drehte sich, schneller als vorher. Die Schmerzen waren glühende Zangen, die in seine linke Schulter bissen. Er tat noch einen einzigen Schritt, dann wurde es ihm schwarz vor Augen. Er stürzte auf die Felsen, aber den Aufprall spürte er schon nicht mehr, denn er war bewußtlos, als sein Körper den Boden berührte. 8. Big Old Shane blieb wie vom Donner gerührt stehen, als die beiden Musketenschüsse durch die Nacht peitschten. »Hölle und Teufel«, sagte er. »Das kommt vom Wasser.« »Sven«, sagte Blacky. »Er hat natürlich die Schüsse gehört, die Montbars abgegeben hat. Er hat sich auf den Weg zu uns gemacht, schätze ich, und dabei ist er Carrero begegnet.« »Hoffentlich hat er ihn erwischt«, sagte Baxter. »Damit wäre der Fall erledigt.« Shane setzte sich wieder in Bewegung und begann zu rennen. »Glaub bloß nicht an Wunder!« stieß er hervor. »Los, Beeilung!« Hasard junior, der Plymmie an der Leine festhielt, war dicht hinter ihm. Die Hündin zerrte wie verrückt daran und legte jetzt ein geradezu unwahrscheinliches Tempo vor. Die anderen Männer und Philip junior hasteten hinter ihnen 68
her. Hatte Sven wirklich geschossen? Diese Frage beschäftigte sie, bis sie mitten zwischen den Felsen auf eine reglose Gestalt stießen. »Sven!« sagte Shane wild. Er stoppte und beugte sich über ihn. Sven Nyberg rührte sich nicht. Er gab auch keinen Laut von sich. Er lag in etwa so da wie Jack Finnegan, der mehr tot als lebendig gewirkt hatte. Die klaffende Wunde in seiner linken Schulter konnten sie im Mondlicht deutlich genug erkennen. »Dieses Schwein hat ihn angeschossen«, sagte Blacky. »Das wird er uns büßen.« »Sei still!« zischte Shane. »Nicht so laut! Vielleicht lauert er hier irgendwo in der Nähe und wartet nur darauf, uns der Reihe nach abzuknallen!« »So viele Kugeln hat er nicht«, raunte Montbars. »Kugeln vielleicht«, stellte Al richtig. »Aber er kann nicht schnell genug nachladen. Er hat eine Muskete und zwei Pistolen, das ist alles. Die Muskete ist bereits leergeschossen.« Shane hatte Svens Muskete untersucht. »Sven hat auch gefeuert«, sagte er. »So erklären sich die beiden Schüsse.« »Carrero kann die Muskete auf seiner Flucht nicht nachladen«, sagte Baxter. »Er hat also nur noch die beiden Pistolen.« Er blickte sich sichernd nach allen Seiten um. »Shane, du irrst dich. Hier ist er nicht. Sonst hätte er sich längst bemerkbar gemacht.« Plymmie zerrte wieder wie von Sinnen an der Leine und schien davonrasen zu wollen. »Verdammt!« stieß Hasard junior hervor. »Ich kann sie nicht mehr halten!« Philip junior eilte ihm zu Hilfe. Gemeinsam trachteten sie, die Hündin zurückzuhalten. Sie legte sich jedoch knurrend immer stärker ins Zeug und schien sich am eigenen Halsband erwürgen zu wollen. 69
»Wir müssen weiter«, sagte Shane. »Blacky, du bleibst hier und kümmerst dich um Sven. Versuche wenigstens festzustellen, was die Kugel angerichtet hat.« »In Ordnung«, sagte Blacky. »Aber wenn ihr mich braucht, ruft ihr, klar?« »Oder wir geben einen Warnschuß in die Luft ab«, entgegnete Shane. »Daß Plymmie auf der richtigen Spur ist, hat sie uns schon bewiesen. Jetzt legen wir noch einen Zahn zu, und ich schwöre euch, wir kriegen den Bastard.« Blacky kauerte sich neben Sven. Die anderen hetzten weiter. Binnen weniger Augenblicke hatte die Nacht ihre Gestalten verschluckt. Blacky sah sich um und versuchte, mehr von der Umgebung zu erkennen. Da waren die Felsen, die wie stumme, drohende Wesen in die Dunkelheit aufragten, und da waren die Büsche, struppige, stachlige Gebilde. Versuchte Carrero vielleicht doch, ihnen ein Schnippchen zu schlagen? Lag er in Deckung, während der Trupp weiterlief und ihn suchte? Nein – Plymmie konnte sich nicht irren. Dennoch beschloß Blacky, sich umzuschauen und sich wenigstens zu vergewissern, daß im Umkreis von fünfzig Yards keine Gefahr lauerte. Er wollte sich erheben und davonhuschen, da erlangte Sven das Bewußtsein wieder. »He«, flüsterte er. »Blacky, bist du das?« »Ja. Wie fühlst du dich?« »Einfach prächtig. Habt ihr ihn?« »Noch nicht, aber die anderen sind ihm auf den Fersen«, erwiderte Blacky. »Wer alles?« »Shane, Al, Batuti, die Zwillinge, Montbars, Piet und Baxter und Plymmie. Plymmie hat mal kurz an Carreros Stiefeln geschnuppert, die er in der Vorpiek zurückgelassen hat, und jetzt hat sie seine Witterung aufgenommen.« 70
»Das ist gut. Sie findet ihn.« »Hör mal«, raunte Blacky. »Was ist, wenn der Don noch hier in der Nähe steckt?« »Er ist weg«, murmelte Sven. »Ich habe ihn selbst türmen sehen. Dann wurde alles schwarz um mich rum, und ich bin wohl umgekippt.« »Tut die Schulter sehr weh?« »Ach wo.« »Glaubst du, daß die Kugel steckt?« »Sie ist glatt hindurchgegangen«, erwiderte der Däne. »Wie durch ein Stück Butter. Ist das nicht witzig?« »Ja, sehr. Urkomisch. Mir kommen gleich die Tränen. Vor Lachen, meine ich.« »Viel ist da nicht zu machen. Das heilt schon wieder aus.« »Ich lege dir einen provisorischen Verband an«, sagte Blacky. »Dann wird das Bluten schon aufhören. Du stützt dich auf mich, und wir kehren zur Bucht zurück.« »Verdammt, ich will Carrero schnappen!« »Du spinnst wohl! In deinem Zustand?« »Wie ist das überhaupt passiert?« erkundigte sich Sven. »Wie konnte der Hund aus der Vorpiek entkommen?« »Beim Fischen der Anchovetas müssen wir unaufmerksam gewesen sein. Er durfte sich gerade die Füße an Deck vertreten, erinnerst du dich?« »Ja.« »Nun, dabei hat er sich einen Koffeynagel aus der Nagelbank des Großmastes geholt als wir gerade nicht aufgepaßt haben.« »Und die Fesseln? Wie hat er die gelöst?« »Noch wissen wir es nicht«, erwiderte Blacky. »Aber er muß sie irgendwo aufgescheuert haben.« »Vielleicht an einem Nagel, der ein Stück aus ’ner Planke ’rausragt«, meinte Sven. »Möglich wäre es. O Teufel, hätten wir ihm 71
doch nie die Ketten abgenommen.« »Ben hat es bereut, das kannst du mir glauben.« »Und was ist weiter vorgefallen?« »Carrero hat Luke, der gerade Wache vor dem Schott hatte, mit einem Trick hereingelockt. Er hat mit dem Belegnagel herumgehämmert, glaube ich. Luke wollte nach dem Rechten sehen, da hat Carrero ihm was über den Kopf gegeben. Vorher hat er sich natürlich schlafend gestellt.« »Dieser Scheißkerl«, sagte Sven. »Wenn Hasard das erfährt, macht er uns alle zur Schnecke.« »Carrero hat an Deck auch noch Jack Finnegan umgehauen mit dem Belegnagel. Der hat eine saubere Handschrift, kann ich dir sagen.« »Sind die beiden schwer verletzt?« »Ihre Köpfe sind hart genug, sie werden es überstehen«, erwiderte Blacky. »Und wir haben ja schon Schlimmeres einstecken müssen, nicht wahr?« »Ja, klar. Der dickste Hund ist, daß Carrero weg ist. Mann, so eine Schande.« »Plymmie erwischt ihn«, sagte Blacky. »Ich bin davon überzeugt. Sie wird ihm sicherlich einiges mehr als den Hosenboden aufreißen. Was für einen Haß Sie auf ihn hat, weißt du ja.« »Ja.« Sven stöhnte und verzog das Gesicht. »Hör jetzt auf zu reden«, sagte Blacky. »Du hast schon genug Blut verloren. So gut wie der Kutscher bin ich nicht, aber vielleicht mindestens so gut wie Mac, was das Behandeln von Blessuren betrifft. Hältst du still oder soll ich dir den Arm gleich amputieren?« »Du machst vielleicht Witze!« Blacky grinste, zog sich das Hemd aus und riß es in Streifen. Im Nu hatte er jeweils zwei Fetzen zusammengeknotet und legte Sven einen behelfsmäßigen Verband an. Lange würde diese 72
Maßnahme nicht vorhalten, das wußten sie beide. Vor allen Dingen mußte Sven so schnell wie möglich an Bord der ›Estrella de Málaga‹, damit die Wunde ausgewaschen und mit sauberen Tüchern verbunden werden konnte. Eine Weile hockten sie aber noch da und lauschten in die Nacht. War da nicht ein Knurren zu vernehmen? Plymmie – oder bildeten sie sich das nur ein? Wie weit hatte Carrero sich entfernen können, seit er auf Sven Nyberg gefeuert hatte? Sehr weit konnte er nicht gelangt sein. Aber was war, wenn er die Hündin niederschoß? Gelang es ihm dann, sich wiederum abzusetzen, fanden Shane und seine Begleiter ihn in der Dunkelheit sicher nicht mehr wieder. * Plymmie riß und zerrte an ihrer Leine, und jedesmal, wenn das Halsband tief in ihr Fell schnitt, gab sie einen keuchenden Laut von sich. »Laßt sie los!« stieß Shane hervor. »Sie ist schneller als wir!« Hasard junior biß die Zähne zusammen. Philip schnitt ebenfalls eine Grimasse. Hasard befreite Plymmie von der Leine und sie raste davon. Den Zwillingen war nicht wohl in ihrer Haut. Big Old Shanes Befehl war durchaus richtig, aber es gab auch noch einen anderen Aspekt, den man bedenken mußte: Sie mußten damit rechnen, daß Luis Carrero Plymmie kaltblütig tötete. Allerdings war es genausogut möglich, daß Plymmie den Spanier niederwarf und schaffte. Und nicht zu vergessen – es ging um Hasard und die Männer, die mit ihm nach Potosí unterwegs waren. Selbst wenn Plymmie geopfert werden mußte, war Shanes Entscheidung nur richtig: Das Leben der Männer war mehr wert als das eines Tieres. 73
Hasard junior und auch sein Bruder erkannten, wie schwer es war, solche Entscheidungen zu treffen, bei denen es um Leben oder Tod des einen oder anderen ging. »Faß ihn!« gellte Hasard Juniors Stimme hinter Plymmie her und sie schien ihr Tempo noch zu verdoppeln. Sie jagte durch die Nacht – ein langgestreckter grauer Schatten. Die Männer und die beiden Jungen liefen hinter ihr her, hatten sie aber bald schon aus den Augen verloren. Lautlos huschte Plymmie durch die Nacht, sie schien über den felsigen Untergrund zu fliegen. Sie verlor die Witterung des Spaniers nicht, hatte sie deutlich in der Nase. Die Flecken waren in der Dunkelheit nicht zu sehen, doch die Hündin roch sie: Blutstropfen hafteten an dem Gestein. Carreros Blut. Er hatte sich die Fußsohlen aufgescheuert und aufgeritzt. Dieser Umstand erleichterte Plymmie die Suche. Sie wußte, welche Richtung sie einzuschlagen hatte. Sie raste dahin und hetzte die Beute. Sie war jetzt die Wölfin, die sich ihrem Opfer näherte und ihm bald im Nacken sitzen würde. Eine gnadenlose Jagd – grausam, wie die Natur nun einmal war. Und doch lag eine gewisse Art der Fairneß darin. Das Opfer hatte eine Chance. Es könnte, wenn es gerissen genug war, noch auf die eine oder andere Art entwischen. Wenn Carrero ins Wasser lief, verlor sich seine Spur. Aber er konnte sich nicht in die See stürzen. Welcher Sinn lag darin? Draußen war er verloren, und eine andere Art von Schicksal ereilte ihn. Seine Hoffnung würde darin bestehen, an einen Bachlauf zu gelangen. Aber fand er ihn rechtzeitig genug? Noch ahnte er nicht, daß ihm die Hündin auf den Fersen saß. 9.
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Luis Carreros Atem ging hastig und stoßweise. Er verfluchte sich, weil er die Langschäfter in der Vorpiek zurückgelassen hatte. Aber dieser Fehler war nicht wiedergutzumachen. So schlimm, wie es jetzt war, hatte er sich das Ganze doch nicht vorgestellt. Das Gestein erwies sich als mörderisch. Seine Füße brannten wie Feuer. Er lief mit seltsam staksenden Bewegungen. Bei jedem Schritt hätte er am liebsten aufgeschrien. Er verspürte den Drang, sich einfach hinzusetzen und abzuwarten – aber er mußte weiter. Nicht stehenbleiben jetzt, hämmerte er sich immer wieder ein, nicht schlappmachen. In einem Anflug blinder Wut schleuderte er die Muskete von sich, die er Jack Finnegan abgenommen und auf Sven Nyberg abgefeuert hatte. Er hatte ohnehin keine Zeit zum Nachladen. Die Waffe behinderte ihn jetzt nur beim Laufen. Sie flog ein Stück zurück und landete klappernd zwischen den Felsen. Carrero fluchte leise und hastete weiter. Er wandte sich jetzt zur Küste. Da war zum Teil harter Sand, der nicht die Fußsohlen zerfetzte wie dieses scharfkantige Gestein. Die Aussicht auf einen besseren Boden beruhigte ihn wieder. Er ertrug die Schmerzen ein wenig besser. Immer wieder trieb er sich zu schnellerem Tempo an. Manchmal warf er einen Blick über die Schulter zurück. Es schien ihm jedoch niemand zu folgen. Somit war die Flucht geglückt. Doch es war ein Fehler, jetzt zu verharren. Erst später, wenn Meilen zwischen ihm und den Verfolgern lagen, durfte er sich eine kurze Verschnaufpause gönnen. Dann ging es weiter, und er rechnete damit, Arica noch während der Nacht zu erreichen. Dort durfte er sich auf seinen Lorbeeren ausruhen – nur für kurze Zeit, denn anschließend galt es, über die englischen Galgenstricke herzufallen und ihnen den Garaus zu bereiten. Aber aufatmen würde er, und er würde gleich wieder der alte Luis 75
Carrero sein: selbstbewußt, stolz und überlegen. Wenn er erst wieder in Potosí war – das gab ein Fest! Er würde sich an den Engländern rächen, würde sie schikanieren und foltern. Dann gab es eine große Orgie mit vielen Weibern, und sicherlich würde es auch Don Ramón de Cubillo einen Riesenspaß bereiten, den Sieg über die Bande von Schnapphähnen zu feiern. Als Krönung der Feier sollte man, so fand Carrero, den Kopf des schwarzhaarigen Bastards Killigrew auf einem silbernen Tablett hereintragen. Ja, das war nach seinem Geschmack! Seine Allerkatholischste Majestät wollte ja ohnehin nur den Kopf dieses Satans. Er wollte ihn nicht lebend. Welchen Wert hatte es, wenn Killigrew nach Spanien überführt wurde? Nicht den geringsten. Er, Luis Carrero, würde die Belohnung kassieren. Und der Ruhm und der Dank der Nation waren ihm sicher. Diese Gedanken hielten ihn aufrecht und trieben ihn voran. Wieder verspürte er heftige Schmerzen. Er versuchte, sie zu ignorieren, aber so einfach war das nicht. Er humpelte. Sein Herz hämmerte in der Brust, und in den Lungen spürte er schon seit geraumer Zeit ein scharfes Stechen. Dennoch hielt Carrero nicht inne. Weiter, weiter, dachte er, bleib nicht stehen! Er erreichte den schmalen Uferstreifen und schlug die südliche Richtung ein. Ja, im Sand ging es besser. Die Schmerzen ließen jetzt nach. Er hatte den Eindruck, auch wieder schneller voranzukommen. Noch einmal blickte er über die Schulter zurück. Nichts. Keine Gestalt näherte sich. Hatten die Bastarde von den Schiffen die Verfolgung überhaupt nicht aufgenommen, weil sie meinten, daß es aussichtslos sei? Möglich war aber auch, daß sie ihren angeschossenen Kumpanen zwischen den Felsen entdeckt hatten und sich in diesem 76
Augenblick um ihn kümmerten. Das verschaffte ihm einen größeren Vorsprung. Alles war zu seinem Vorteil. Es war letztlich auch nicht schlecht gewesen, daß dieser Hundesohn von einem Wachtposten versucht hatte, ihn zu stellen. Er hatte sein Fett empfangen, und die anderen konnten zusehen, wie sie ihn verarzteten. Noch einmal schaute Carrero sich um. Plötzlich war er irritiert. War da nicht etwas? Links hinter ihm? Nein – er irrte sich bestimmt. Er blickte wieder voraus und konzentrierte sich auf das Laufen. Wie lange konnte er so durchhalten? Die Fußsohlen brannten nicht mehr so schlimm. Sein Herz schlug noch heftig, aber wieder etwas regelmäßiger. Die Seitenstiche hielten sich in Grenzen. Er rechnete sich aus, daß er noch gut eine Stunde so weiterlaufen konnte. Da – war da nicht ein Geräusch hinter ihm? Wieder wandte er den Kopf. Diesmal sah er den grauen Schatten, der wie ein Schemen über den Strand huschte. Das Mark schien ihm in den Knochen zu gefrieren. Ein Hund, dachte er entsetzt. Die Bestie! Sofort hatte er wieder das Bild vor sich, wie Plymmie ihn an Bord der ›Estrella de Málaga‹ angeknurrt hatte. Jetzt hatten sie das Vieh auf ihn losgelassen, kein Zweifel. Herrgott, warum hatte er nicht gleich daran gedacht? Und die Stiefel – sie hatte ja nur daran zu riechen brauchen. Und das Blut, das er garantiert auf den Felsen hinterlassen hatte, als er sich die Fußsohlen zerfetzt hatte? Er wußte Bescheid. Er hatte selbst Hunde gehabt und war ein Fachmann auf dem Gebiet. Was für ein Narr war er doch! Diese Bastarde hatten den einfachsten und sichersten Weg gewählt, ihn zu fassen. Sie hetzten die Hündin hinter ihm her! So hatte er es getan, wenn einmal Sklaven aus dem Lager am 77
Cerro Rico von Potosí geflohen waren. Auch kurz vor seinem Aufbruch nach Arica, von wo aus seine Expedition in See gegangen war, hatte er einen dieser Indio-Affen, wie er sie nannte, ›erlegt‹. Der Kerl hatte sich eingebildet, ungesehen und ungehört aus dem Lager zu entwischen. Aber er hatte einen Fehler begangen: Er hatte versucht, ihn, Carrero, umzubringen, und zwar mit einem Hartholzmesser. Carrero war dem Anschlag auf sein Leben dank seiner Geistesgegenwart entgangen und dann hatte er seine Bluthunde auf den Mann gehetzt. Ja, sie hatten ihn zerrissen. Carrero hatte sich das Werk selbst angesehen. Viel war von dem Kerl nicht übriggeblieben. Hatte er es anders verdient? Kein Indio durfte sich in den Kopf setzen, einen Luis Carrero überlisten zu können. Außerdem waren sie allesamt dumm und dreist, diese IndioAffen. Waren sie nicht von Gott bestimmt, als Sklaven für die Spanier zu arbeiten? Na also – es gab nichts Besseres und Richtigeres für sie. Statt sich zu beugen und dankbar zu sein, rebellierten sie jedoch. Dagegen gab es nur ein Mittel. Man mußte Exempel statuieren, um die anderen an der Kandare zu halten. Carrero hatte immer nach dieser Devise gehandelt, unterstützt von Don Ramón de Cubillo, der alles guthieß, was sein Oberaufseher tat. Carreros Erfolge zählten: Er herrschte wie ein Despot, und auch die Aufseher kuschten vor ihm – wie die Bluthunde. Carrero war überall und hielt seine Augen und Ohren offen. Nichts konnte ihm entgehen. Und wenn neue Sklaven beschafft werden mußten, weil einige von den Indios die Frechheit hatten, einfach zu sterben, war Carrero immer sehr schnell mit ›Nachschub‹ bei der Hand. Jawohl, er war ein angesehener Mann in Potosí. Und so würde es auch wieder sein, obwohl der Provinzgouverneur inzwischen allen Grund dazu hatte, sich zu sorgen. Keine Nachrichten von 78
Carrero und dem Expeditionstrupp, obwohl diese schon längst hätten zurück sein müssen! Das gab selbst einem behäbigen Mann wie de Cubillo allmählich zu denken. Warte auf mich, Don Ramón, dachte Carrero, ich komme! Dann wandte er noch einmal den Kopf und stellte fest, daß der graue Schatten noch nähergerückt war. Das war die Realität – er konnte sich ihr nicht entziehen! Es war genau die Situation, die er Hunderten von Sklaven mit seinen Bluthunden bereitet hatte. Jetzt war es umgekehrt – er war der Gejagte. Und er hatte Angst vor dieser wölfischen Bestie. Das Grauen, das ihn packte, konnte er nicht abschütteln. »Nein!« stieß er hervor. Er glaubte, ein Hecheln und Knurren zu vernehmen. Der Abstand zwischen ihnen schrumpfte zusammen. Gleich war die Hündin heran. Carrero spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Sein Atem ging jagend, sein Herz schlug wie wahnsinnig. Die Seitenstiche nahmen wieder zu. Aufhören! schrie es in ihm. Ich werde verrückt! Schon einmal hatte ihn dieses Wolfsvieh umgerissen – entsetzlich! Das Hecheln war dicht hinter ihm. Das Knurren, das in unregelmäßigen Zeitabständen ertönte, holte ihn ein und versetzte ihn in Panik. »Nein!« schrie er. »Ich will nicht sterben!« * Carrero riß die eine der beiden erbeuteten Pistolen heraus – es war die von Luke Morgan. Er drehte sich halb um, spannte den Hahn, legte auf die Hündin an und drückte mit wutverzerrtem Gesicht ab. Die Wölfin schien den Schuß geahnt zu haben. Sie schnellte zur Seite. Carrero feuerte auf den huschenden Schatten, der aber 79
plötzlich hinter einem Uferfelsen verschwand. Es schien sie nie gegeben zu haben, diese teuflische Wolfshündin. Es wirkte, als habe sie sich in Luft aufgelöst – wie ein Spuk. Der Schuß donnerte in die Nacht und ging fehl. Irgendwo prallte die Kugel von den Felsen ab und jaulte als Querschläger davon. Carrero stöhnte auf. Das hatte ihm noch gefehlt. Wieder hörte er das Knurren. Wie von Sinnen schleuderte er die leergeschossene Pistole aus dem Gurt. Sie gehörte Jack Finnegan, und es handelte sich um ein solides, nicht sonderlich aufwendig gearbeitetes, aber sehr präzises Radschloß-Modell. Carreros Gesicht war eine Fratze der Angst und des Hasses. Er wollte den Hahn spannen, griff aber mit dem Daumen daneben. Er stolperte und drohte zu stürzen, fing sich wieder, fluchte und hantierte mit beiden Händen an der Waffe herum. Endlich gelang es ihm, den Hahn zu spannen. Da sah er, wie der Schatten des Tieres wieder hinter dem Felsen hervorsprang. »Nein!« schrie er. Plymmie raste auf ihn zu, ein zähnefletschendes Ungeheuer in der Nacht. Das Knurren nahm zu, das Hecheln wurde zu einem Dröhnen. Ihr Atem verwandelte sich in Dampf. In dieser Vision sah Carrero sie plötzlich, und er schrie noch einmal. Er war halb irrsinnig vor Angst und Entsetzen, vor allem deshalb, weil er wußte, was solche Hunde mit Menschen anrichten konnten. Brüllend richtete er die Radschloßpistole auf Plymmie. »Du Vieh! Ich bring’ dich um!« schrie er. Ihr Schatten flog an ihm vorbei. Er feuerte im Laufen, und ein Donnerhall rollte über den Strand. Der Mündungsblitz stach auf die Wolfshündin zu, doch wieder war sie schneller. Schon war sie vorbei, und die Kugel raste ins Leere. Carrero brüllte auf und schleuderte die Pistole nach ihr. Er traf auch dieses Mal nicht. Die Pistole landete im Sand. Plötzlich war Plymmie wieder verschwunden. Carrero tau80
melte. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. War dieses Vieh vielleicht wirklich verhext? Stand es mit dem Teufel im Bund? Er konnte es nicht fassen. Er war ein guter Schütze, und er hatte schließlich auch den Kerl nicht verfehlt, der ihn angerufen und bedroht hatte. Warum gelang es ihm nicht, dieses Höllenbiest zu töten? Er hatte nur noch das Entermesser als Waffe. Er zog es aus dem Gurt, nahm es in beide Hände, blieb stehen, blickte gehetzt nach allen Seiten und sagte: »Komm her! Wo bist du?« Seine Stimme klang schrill und verzerrt. Er erkannte sie selbst kaum wieder. Wütend hackte er mit dem Entermesser durch die Luft. »Du dreckiges Biest!« brüllte er. »Wo steckst du?« Er sah das Tier nicht, so sehr er seine Augen auch anstrengte. Keuchend, mit pumpenden Lungen, stand er da. Er duckte sich und schaute sich wieder nach allen Seiten um. Da! Da war etwas! Oder nicht? Carrero war sicher, eine Bewegung bemerkt zu haben. Er schleuderte das Entermesser. Es huschte durch die Luft. Und dieses Mal traf er. Es gab ein hartes Geräusch, und er vernahm auch einen Ton, den Laut eines Tiers im Sterben, wehklagend und hell. Dann riß es ab. Carrero trat auf sein Opfer zu. Er bückte sich und dann begriff er. Es war nicht die Hündin, die er mit dem Messer getroffen hatte. Es handelte sich um einen Strandhasen, der jählings aufgetaucht war. Er hatte ihn glatt geköpft. Carrero begann, wie ein Irrer zu lachen. Er konnte sich nicht mehr beruhigen und ließ das Entermesser zu Boden fallen. Nutzte es ihm noch? Nein. Das Vieh war fort. Verschwunden! Er konnte wieder laufen – Arica entgegen. Er lief und lief, lachte und lachte. Er vernahm kaum das leise Knurren, das plötzlich wieder hinter ihm war. Und welche 81
Bedeutung hatte es jetzt noch? Er hatte den Köter abgehängt, in die Flucht geschlagen – jawohl! Die Wölfin war heran, setzte Carrero in letzten, langen Sprüngen nach und hob vom Boden ab. Sie flog von hinten auf ihn zu, saß ihm im Nacken und riß ihn mit sich nieder. »Nein!« schrie Carrero. Aber sein gellender Schrei verröchelte. Es nutzte ihm nichts mehr, daß er mit den Fäusten nach ihr schlug und wie verrückt mit den Beinen stieß. Die Wölfin war ihm überlegen. Ihre kräftigen Zähne schnappten nach seiner Kehle. Carrero sah sie aufblitzen. Sie waren wie die Zähne eines Haies, dolchspitze Waffen, gnadenlos und tödlich. Sein letzter Laut erstickte, als sie ihm die Kehle durchbiß. Sein Körper sank schlaff auf den Sand, dann regte er sich nicht mehr. Die Wölfin ließ von ihm ab, trottete ins Wasser und schnappte nach den Wellen, als müsse sie sich das Maul spülen. Sie kehrte auf den Strand zurück, hob den Kopf und legte ihn in den Nacken. Sie schien den Mond anzublicken, öffnete ein wenig das Maul und gab ein verhaltenes Heulen von sich. Dann begab sie sich wieder zu Luis Carrero, beschnupperte ihn und ließ sich schließlich in seiner Nähe auf dem Sand nieder. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Sie atmete jetzt ganz ruhig, von der Hetzjagd war ihr nichts mehr anzumerken. Überhaupt – es schien nichts geschehen zu sein. Ruhe war jetzt wieder eingetreten, unterbrochen nur von dem leisen Rauschen der Brandung. * Nichts konnte Sven Nyberg mehr halten. Als die Schüsse aufpeitschten, mußte er sich aufrappeln. »Wir sehen nach, was da los ist«, sagte er zu Blacky. »Nein, 82
keine Widerrede. Wenn du nicht willst, daß ich dem Trupp nachlaufe, ist das deine Sache.« »Na los, ich stütze dich«, sagte Blacky. »Mann, meine Schulter ist durchlöchert, nicht mein Bein!« »Kannst du laufen?« »Klar kann ich das!« stieß Sven hervor, dann lief er los und hängte den verblüfften Blacky fast ab, als sie durch die Felsen zum Ufer eilten. Shane, Al und die anderen hatten unterdessen das Wasser fast erreicht. Die Stille wirkte unheimlich. Was war geschehen? »Plymmie!« rief Hasard junior. »Plymiiiee!« Ein helles Bellen ertönte hinter den Felsen. Philip junior und sein Bruder lachten auf. »Sie ist am Leben!« rief Philip. »Hast du vielleicht was anderes erwartet?« fragte Hasard. »Ich schon, du vielleicht nicht?« »Lassen wir das, es ist ja egal«, sagte Hasard junior. Ziemlich außer Atem gelangten sie an den schmalen Uferstreifen, als erster Shane, dann die Zwillinge, und dicht hinter ihnen Al, Batuti, Montbars, Piet und Baxter. Plymmies Ohren spielten. Als sie die Stimmen ihrer Leute hörte, bellte sie kurz, erhob sich und trottete ihnen entgegen. Big Old Shane blieb stehen, streichelte sie und blickte zu der reglosen Gestalt, die in der Nähe der Brandung lag. »Gut gemacht, Plymmie«, sagte er. »Der Frauenschänder und hundertfache Mörder hat sein gerechtes Ende gefunden.« Batuti und Al liefen zu dem Toten. »Hölle, die hat es ihm aber besorgt!« stieß der Gambia-Mann in einer Mischung aus Verblüffung und Betroffenheit hervor. Die Hündin strich um ihre Beine herum. Sie ließ jetzt die Zunge heraushängen und benahm sich wie ein junger Hund, der Lust zum Spielen hat. Es war kaum zu glauben, daß sie soeben einen 83
Menschen getötet hatte. »Achtung!« stieß Montbars plötzlich hervor. »Da ist jemand!« Sie fuhren herum und griffen zu den Waffen. Zwischen den Felsen waren leise Geräusche. Stimmen waren zu vernehmen. Dann erschienen Blacky und Sven Nyberg, und die Männer atmeten wieder auf. »He!« rief Big Old Shane. »Ihr habt uns vielleicht einen Schrecken eingejagt! Gebt euch das nächste Mal gefälligst zu erkennen!« »Das habe ich glatt vergessen«, sagte Blacky. »Ich dachte, ihr wüßtet, daß wir hinter euch sind«, sagte Sven. »Du spinnst wohl«, sagte Shane. »Und überhaupt, was hast du hier zu suchen?« »Ich will wissen, was mit Carrero ist«, sagte Sven. »Er ist tot«, erwiderte Shane. »Plymmie hat ihn zur Strecke gebracht.« »Das genügt mir«, sagte Sven grimmig. »Geschieht ihm recht.« »Wir müssen Ben und die anderen benachrichtigen«, sagte Blacky. »Du übernimmst das«, sagte Shane. »Und du nimmst Mister Nyberg gleich mit, der soll sich von Mac behandeln lassen.« »Um Gottes willen«, stöhnte Sven. »Von dem?« »Einen besseren Feldscher haben wir zur Zeit nicht«, sagte Shane grob. »Außerdem war ja nicht damit zu rechnen, daß es reihenweise Schulterdurchschüsse und Brummschädel gibt, nicht wahr?« Darauf wußte keiner etwas zu erwidern. Blacky und Sven zogen sich zurück. Sie marschierten zur Bucht und setzten mit der intakten Jolle zur ›Estrella de Málaga‹ und zur ›San Lorenzo‹ über, um den voll Spannung wartenden Kameraden zu berichten, was sich zugetragen hatte. Shane und die anderen bestatteten unterdessen den Toten. 84
»Er hat es nicht verdient«, sagte der graubärtige Riese. »Aber irgendwie ist es unsere Pflicht, verdammt noch mal. Wir können ihn schließlich nicht hier liegenlassen.« »Wir könnten es doch«, sagte Batuti. »Hör auf. Er ist tot, das genügt uns.« Sie begruben ihn unter Steinen. Keiner sprach ein Gebet für Luis Carrero, kein Wort fiel. Sie wandten sich ab und schritten davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Carrero hatte empfangen, was er verdient hatte. Der Potosí-Trupp würde in keine Falle laufen… ENDE
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Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 456
Eisige Höhen von Fred McMason
Zu sehen war nichts mehr, absolut nicht. Nicht mal die eigene Hand sah man mehr vor Augen. Der peitschende Schnee hüllte alles ein, deckte alles zu, webte ein riesiges Leichentuch über die Berge, Schroffen, Schluchten und Pfade und ließ alles vereisen. Mörderische Kälte fraß sich immer tiefer in die Knochen der Männer, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Potosi zu erreichen. Da schmerzten die Beine, stachen die Lungen, jagte das Herz, und der Schädel drohte zu zerspringen. Diese brüllende und eisige Berghölle schien nie mehr ein Ende zu nehmen. Mechanisch setzten sie Fuß vor Fuß und folgten dem jeweiligen Vordermann, mit dem sie durch das Seil verbunden waren…
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