HANK SEARLS
DIE WEISSE BESTIE ROMAN
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HANK SEARLS
DIE WEISSE BESTIE ROMAN
scanned by anybody corrected by moongirl Trotz einiger mysteriöser Todesfälle ahnt noch niemand etwas von der Gefahr, daß eine Panik von nie für möglich gehaltenen Ausmaßen droht. Erst als ein Taucher vor Augenzeugen von der weißen Bestie zerrissen wird, greifen Angst und Schrecken um sich. Aber zu diesem Zeitpunkt ist bereits eine Jugendregatta gestartet. Die Kinder der Stadt sind draußen auf dem Meer, hinter einer Nebelwand nicht auszumachen, in ihren kleinen Segelbooten hilflos dem grauenhaften Mörder ausgeliefert. Und der Hai hat Hunger, nicht zu stillenden Hunger. Denn der weiße Hai ist ein trächtiges Weibchen ... ISBN 3-453-01138-4 Titel der amerikanischen Originalausgabe JAWS 2 WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Richard Ellis (Das Buch der Haie) Deutsche Übersetzung von Helmut Kossodo Umschlagfoto: Bantam Books, Inc. Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg
»Nach den bisherigen Forschungsarbeiten sind die weiblichen Tiere aller Haiarten größer als die männlichen .. .«
Inhalt Inhalt ............................................................................................ 3 ERSTER TEIL............................................................................. 4 Erstes Kapitel.......................................................................... 4 Zweites Kapitel......................................................................15 Drittes Kapitel........................................................................24 Viertes Kapitel.......................................................................34 Fünftes Kapitel......................................................................43 Sechstes Kapitel...................................................................52 Siebentes Kapitel..................................................................59 Achtes Kapitel.......................................................................69 ZWEITER TEIL .........................................................................76 Erstes Kapitel........................................................................76 Zweites Kapitel......................................................................85 Drittes Kapitel........................................................................95 Viertes Kapitel.....................................................................109 Fünftes Kapitel....................................................................119 Sechstes Kapitel.................................................................132 Siebentes Kapitel................................................................139 Achtes Kapitel.....................................................................160 Neuntes Kapitel ..................................................................172 Zehntes Kapitel...................................................................183 Elftes Kapitel.......................................................................198 Zwölftes Kapitel ..................................................................217 Dreizehntes Kapitel ............................................................228 DRITTER TEIL........................................................................239 Erstes Kapitel......................................................................239 Zweites Kapitel....................................................................252 Drittes Kapitel......................................................................258 Viertes Kapitel.....................................................................272 Fünftes Kapitel....................................................................285 Sechstes Kapitel.................................................................292 Siebentes Kapitel................................................................309 EPILOG ...................................................................................311
ERSTER TEIL Erstes Kapitel Eine flache, blutrote Sonne ging vor ihnen auf. Das weiße Hatteras-Schnellboot Miss Carriage brauste um den Montauk Point. Es kam vom Long Island Sound und strebte in die offene See hinaus. Die beiden Taucher mit ihrer halbangelegten Ausrüstung blickten von der Kommandobrücke. Der größere von ihnen war Frauenarzt im Astoria General Hospital in Long Island. Er schaltete eben die Schiffslichter aus. Der kleinere war ein New Yorker Anwalt, der für Union Carbide arbeitete. Die beiden verband nicht viel außer ihrem sportlichen Interesse am Tauchen und dem Schiff, das ihr gemeinsamer Besitz war. Aber auch diese Interessen nahmen mit dem Alter ab. Sie trafen sich kaum je, außer an den Wochenenden des Sommers. Schon vor Jahren war der Arzt ein für allemal zu dem Schluß gekommen, sein kleinerer Partner sei gewiß ein jüdischer Sozialistenfreund, und hatte sich damit abgefunden. Der Anwalt seinerseits vermutete, es mit einem sturen Reaktionär zu tun zu haben, scherte sich aber ebensowenig darum. Ob sie nun Freunde waren oder nicht - jeder von ihnen hatte etwa 30000 Dollar in das Boot investiert und wußte, daß er einen verläßlichen Partner hatte. Außerdem waren beide überzeugt, jeweils der andere sei der bessere Taucher. Jedes Jahr sah der Arzt den ersten Frühlingsausfahrten, bei denen sie nach Kammuscheln tauchten, fast mit Grauen entgegen. Die Ausrüstung fühlte sich zu Anfang immer recht ungewohnt an, das Wasser war kalt und trübe - und gerade hier an der Küste von Amity Township ging ein Gespenst um. Das Ungeheuer war tot. Der Arzt hatte die Geschichten der Long Island Press fast vergessen, und der New Yorker Anwalt dachte nur noch höchst selten an die Bilder der Times. Aber in beider Unterbewußtsein spukte immer noch eine dumpfe Angst. -4 -
Den Arzt überlief ein plötzlicher Kälteschauer. Er blickte auf den Tiefenmesser. Sie suchten eine ihnen bekannte Felsengruppe auf dem Meeresgrund, doch die Nadel auf dem Meßinstrument rührte sich so wenig wie bei einem hoffnungslosen Fall auf der Intensivstation. Hier mußte das Meer also völlig verschlammt und veralgt sein. Er stieg leicht zitternd die Leiter von der Kommandobrücke hinab, griff nach seiner Neopren-Taucherweste und legte sie sich an. Er hatte wieder einmal zugenommen. Er zitterte noch immer, nachdem er in seine Ausrüstung geschlüpft war, und kehrte wieder in die Kabine zurück, da er seine Fußflossen noch nicht angelegt hatte. Als er zum Chromstahlherd hinter der Bar ging, stieß er gegen einen herumstehenden Barhocker und warf ihn um. Er fluchte leise vor sich hin und stellte ihn wieder auf. Dann trat er hinter die Bar und holte zwei Tassen vom Gestell. Sich selbst goß er einen doppelten Old Grandad Bourbon Whisky ein, seinem Partner einen einfachen, dann füllte er die Tassen mit heißem Kaffee vom Herd auf. Er wollte sich schon davonmachen, als ihm einfiel, daß er unmöglich mit zwei Tassen die Leiter zur Kommandobrücke hinaufklettern konnte, also setzte er sich einfach hier unten hin und begann zu trinken. Die Stöße der Grundsee brachten das Boot zum Schlingern, was ihm Übelkeit verursachte. Wahrscheinlich waren sie der Küste zu nahe. Er nahm ein Fernglas und schaute einen Augenblick aus der Steuerbordluke. Die grauen Sommerhäuser von Nappeagues, Amagansett, East Hampton und Sagaponack lagen verträumt etwa eine halbe Meile vor ihm. Ihre Bewohner wachten wahrscheinlich gerade jetzt vom Lärm des starken Chrysler-Doppelmotors auf. Ein Kind rannte, von einem großen, zottigen Hund gefolgt, den Strand entlang. Auf merkwürdige Weise empfand der Arzt die Gegenwart der Sommerhäuser als tröstlich und beschloß, seinem Partner nicht zu sagen, er solle das Schiff weiter von der Küste fortsteuern. Plötzlich verringerte sich das Dröhnen der Motoren und wurde zu einem ruhigen Brummen. Offensichtlich hatte der Tiefenmesser endlich die richtige Stelle angezeigt. -5 -
Der Arzt erhob sich von seinem Hilfssteuersitz. Er zögerte zuerst, leerte dann aber auch noch die Tasse, die er für seinen Partner eingegossen hatte. Darauf ging er nach vorn und schwang einen Danforth-Anker aus Chromstahl, ließ ihn sinken und stellte fest, daß das Meer hier etwa 30 Fuß tief war. Während sein Gefährte langsam rückwendete, ließ er die Kette und das Ankertau hinunter. Schließlich verknotete er das Tau und gab dem Anwalt ein Zeichen, daß alles bereit war. Er schlängelte sich auf dem engen Deck nach achtern durch und blickte auf die Küste. All diese nebeneinanderliegenden Ferienorte der Dünen von Long Island glichen einander zwar wie ein Ei dem anderen, aber trotzdem war er nahezu sicher, daß sie vor Amity geankert hatten. Die Große Weiße schwamm zwanzig Fuß unter der Wasseroberfläche in südlicher Richtung. Block Island lag zu ihrer Rechten. Sie machte eine Linksbiegung und schwamm direkt auf Montauk Point zu. Sie war schwanger und fühlte die Last ihrer Brut im Leib, und sie war von Hunger überwältigt. In der letzten Nacht war sie vor der Küste von Nantucket auf eine Schar Dorsche gestoßen, hatte sich dort genähert, war aber danach stundenlang in südwestlicher Richtung an der Küste von Rhode Island entlanggeschwommen. Sie war bis nach Newport Bay vorgedrungen, hatte dort aber nichts gefunden, eine Weile wie ein weißes Wasserflugzeug an der Küste gelegen und war dann wieder in südlicher Richtung weitergeschwommen. Mit ihrer 1,80 in hohen Schwanzflosse stieß sie sich machtvoll voran. Vor ihr bildete sich eine unsichtbare Zone der Angst, und was da lebte, floh in alle Richtungen, vom Meeresgrund bis hinauf zur Oberfläche. Eine ganze Meile vor ihr hatte sich alles Lebendige verzogen. Seehunde, Schildkröten, Wale, Tintenfische - sie alle flohen. Denn alle diese Tiere hatten Antennen elektromagnetische, Gehör-, Vibrations-, psychische Antennen -, die den riesigen Feind ankündigten. Und sowie er vorbei war, belebte sich alles wieder in seinem Sog.
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Hätte der Mensch über solche Antennen verfügt, wäre ihm die Warnung wohl trotzdem nicht zu Bewußtsein gekommen, denn schon seit langem hat er seine Instinkte zugunsten der Intelligenz vernachlässigt. Allerdings war der Mensch auch nicht die gewöhnliche Beute der großen Weißen. Um den Nachteil auszugleichen, der ihr aus der Wachsamkeit ihrer möglichen Opfer erwuchs, war sie im allgemeinen rascher als jedes von ihr verfolgte Tier. Nahrung war für sie nahezu jede Kreatur von einigermaßen lohnender Größe, die im Meere schwamm, schwebte oder kroch. Aber jetzt war sie infolge ihrer Schwangerschaft schwerer als ihr vorübergehender Gefährte und alle anderen Kreaturen des Meeres, außer vielleicht einigen Walen und ihren eigenen harmlosen Verwandten, den Rauhhaien und Walhaien. Mit ihrer Länge von neun Metern und ihren fast zwei Tonnen Gewicht war sie größer und schwerer als jeder Killerwal. Jetzt, da sie kurz vor der Niederkunft stand, hatte ihr Leib gewaltige Ausmaße angenommen. In ihrem linken Uterus trug sie drei Junge und im rechten fünf, davon drei weibliche und zwei männliche. Das kleinste war etwa einen Meter lang und wog nur zweiundzwanzig Pfund. Es war aber trotzdem schon ein mit allen Lebensfunktionen ausgerüstetes Wesen. Es hatte im Leibe seiner Mutter beinahe zwei Jahre verbracht, hatte Tausende von unbefruchteten Eiern gefressen sowie dreißig schwächere Brüder und Schwestern, die die Stärkeren untereinander aufgeteilt hatten, um zu überleben. Dieses kleinste war keineswegs schon aller Gefahren enthoben, denn besonders seine Schwestern, die an Größe stets den männlichen Tieren überlegen sind, stellten eine beständige Bedrohung dar. Sollte es der Mutter aber gelingen, in den nächsten Wochen genügend Jagdbeute heranzuschaffen, würde ihre Eierproduktion die Embryos zufriedenstellen, und der kleinste würde überleben. Dann würde er als eines der unbestreitbar mächtigsten und aggressivsten Raubtiere des Meeres auf die Welt kommen. Schon jetzt fürchtete er kein Tier, das nicht von seiner Art war. -7 -
Der Anwalt verlangsamte das Tempo, und der Arzt fiel fast über ihn. Der Anwalt wies mit dem Arm nach links, und der Arzt blickte sich um. Er sah einen Schatten, dessen Grün dunkler war als das des Wassers, in dem sie schwammen. Es war nicht die Felsengruppe, auf die sie im letzten Jahr beim Tauchen gestoßen waren. Es war eine klotzige, geradlinige Form, die nur ein Werk von Menschenhand sein konnte. Der Anwalt bewegte sich aufgeregt auf sie zu, und der Arzt folgte ihm. Das Heck eines gestrandeten Fischerbootes, das größer und schwerer als das ihre war, ragte aus dem Schlamm empor. Die grünen Lichtstrahlen flimmerten auf den mit Entenmuscheln bedeckten Querbalken. Es war ein sehr solides, altes Schiff. Aus dem Zustand der geborstenen Planken war leicht zu ersehen, daß es schon seit einiger Zeit auf dem Meeresboden ruhte. Der Arzt entdeckte ein schweres Kabeltau, das im Sande lag. Es führte bis unter den halb im Schlamm vergrabenen Rumpf. Er ergriff das Tau, zog sich daran entlang, versuchte es anzuheben, konnte es aber nicht bewegen. So schwamm er um das Heck herum, um zu sehen, wo es auf der anderen Seite hinführte. Der Anwalt paddelte neben ihm und bemühte sich, seine Auftriebskraft zu regulieren. Der Arzt fand das andere Ende des Seils. Eine an ihm befestigte riesige Schake, ein Eisentank von 250 Litern, schlug unentwegt gegen die Hulk. Er war zerbeult und rostig, aber aus den Spuren der gelben Ölfarbe ersah man, daß er einst als Floß gedient haben mußte. Nun schlug die Strömung ihn mit einem klangvollen Dröhnen gegen den Rumpf. Es war gespenstisch. Im Nu hatte sich die Wirkung des Old Grandad Bourbon aus den Blutgefäßen des Arztes verflüchtigt. Er spürte eine plötzliche Kälte. Der Anwalt war inzwischen nach achtern geschwommen. Er zerrte an dem auf dem Heck wuchernden Seegras. Dann griff er plötzlich nach seinem Muschelmesser und löste etwa ein halbes Dutzend Entenmuscheln, und eine Schlammwolke stieg auf. Als das Wasser sich wieder einigermaßen geklärt hatte, -8 -
konnte der Arzt die blassen, orangefarbenen Buchstaben lesen. Das Schiff hieß Orca und kam aus dem Hafen von Narragansatt. Irgendwie erinnerte ihn das dunkel an etwas. Er blickte fragend zu seinem Partner hin. Hinter der Gesichtsmaske des Anwalts sah er dessen vergrößerte, nachdenklich zwinkernde Augen. Dann schlug sich der Anwalt plötzlich mit der Hand auf die Faust; es war ihm eingefallen. Er stieß ein erregtes Grunzen aus, das war das verabredete Signal für außerordentliche Ereignisse. Er wies zuerst winkend auf die orangefarbenen Buchstaben, dann nahm er beide Hände, krümmte die Finger so, daß sie wie Zähne wirkten, und ahmte mit einer Bewegung beider Hände das Zuschnappen eines riesigen Rachens nach. Dann zeigte er noch einmal auf den Namen des zerborstenen Hecks. Der Arzt hatte ihn verstanden. Er dachte an die schon fast vergessene einstige Sensationsmeldung, die er vor langer Zeit in der Long Island Press gelesen hatte, und in der von einem Haifischjäger, dem Polizeichef einer Hafenstadt und irgendeinem ozeanographischen Experten oder Forscher die Rede gewesen war. Er wurde sich darüber klar, daß es ihm hier durchaus nicht gefiel. Und schließlich waren sie auf Kammuscheln aus und nicht auf Wracks, und außerdem hatten andere Taucher vor ihnen gewiß schon alles mitgenommen, was einen Andenkenswert hatte. Er stellte sogar fest, daß ihn jetzt nicht einmal mehr die Kammuscheln interessierten. Seine Atmung ließ erneut zu wünschen übrig, er schnaufte und keuchte, das Herzpochen fing wieder an, und er fühlte alle Anzeichen eines zu niedrigen Druckes in seiner Sauerstoff-Flasche. Er wies mit dem Daumen nach oben, aber sein Gefährte schüttelte den Kopf, pochte auf seine Kamera und zog ihn zum Heck, wo er sich für ein Bild aufstellen sollte. Er dirigierte ihn direkt unter die Wölbung der Heckplanken. Dann bewegte sich der Anwalt zurück und hielt die Kamera an seine Gesichtsmaske. -9 -
Der Arzt zeigte gehorsam auf die Buchstaben auf dem Querholz und lächelte verkrampft in sein Mundstück. Sein Partner, der aufrecht auf dem Meeresgrund stand, schien eine Ewigkeit zu brauchen. Plötzlich verspürte der Arzt das Bedürfnis zu urinieren. Das unerklärliche Angstgefühl, das ihn den ganzen Morgen geplagt hatte, war ihm auf die Blase geschlagen, und er verspürte einen unerträglichen Druck. Als er schließlich nicht länger warten konnte, machte er einfach in die Hose. Er empfand die Wärme des an seinem Bein hinunterlaufenden Urins als wohltuend, aber sie genügte nicht, um auch das Frösteln in seinem Magen zu vertreiben. Er hörte den dumpfen Anprall des Eisentanks gegen die Hulk und spürte ihn durch seine Handschuhe hindurch, während er sich an der Planke hielt. Er hörte auch seinen eigenen keuchenden Atem und den seines Gefährten. Das stroboskopische Licht blitzte auf und ließ eine Sekunde lang alles ringsum in einem weißen Glanz erscheinen. Und dann hörte er plötzlich, wie sich ihm von hinten ein donnerndes Geräusch näherte, das wie ein fahrender Untergrundbahnzug klang. Sein Partner tänzelte auf dem Grundsand und versuchte, sich in der Strömung aufrecht zu halten, drehte an seiner Kamera und hielt plötzlich inne. Er starrte auf etwas, das von oben kam und sich hinter dem Arzt befand. Dann fiel ihm das Mundstück aus dem Gesicht. Der Arzt war verblüfft, begann sich umzudrehen, duckte sich aber instinktiv hinter das Heck und klammerte sich an eine abgesplitterte Planke. Er blickte wie gebannt auf seinen Gefährten. Eine große Luftblase stieg aus seines Partners Mund auf. Der Anwalt warf einen Arm hoch, um sich zu schützen. Dabei stieß er an seine Kamera, und das stroboskopische Licht blitzte noch einmal auf, und der Arzt fühlte sich wie nackt im grellen Widerschein. Dann war es dunkel. Das grüne Licht an der Oberfläche erlosch. Eine riesige Masse schoß wie ein gleitendes Jetflugzeug nur wenige Zentimeter über dem Kopf des Arztes -1 0 -
vorbei und überschattete das tanzende Sonnenlicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Am Ende der Masse zeichnete sich eine gewaltige Schwanzflosse ab. Sie schlug nur einmal zur Seite, riß ihn fast von der Planke los und ließ eine Wolke von Schlamm aufwirbeln, hinter der sein Partner verschwand. Dann war es still. Der Eisentank schlug wieder dröhnend an den Schiffsrumpf. Der Arzt hielt sich immer noch an seiner Planke fest und starrte in den sich wieder senkenden Schlamm. Er hörte nur noch seinen eigenen gequälten Atem. Sein Keuchen war jetzt so laut, daß es ihn erschreckte, und inmitten der aufsteigenden Luftblasen starrte er immer wieder auf die Stelle, wo sein Partner gestanden hatte. Er war außerstande, seinen Atem zu beruhigen, und hing wie gelähmt am Heck. Eine der Tauchflossen seines Gefährten schoß in der Strömung an ihm vorbei. Er hätte nach ihr greifen und sie berühren können. Aber er machte keine Bewegung. Nur die Angst brachte ihn schließlich dazu, seinen Unterschlupf zu verlassen. Die Furcht, hier mit seiner leeren Sauerstoffflasche zu ersticken, war größer als die des Entdecktwerdens. Er bewegte sich vorsichtig einige Meter vom Heck fort und wartete. Nichts geschah. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und stieß sich empor. Er war sorgfältig bedacht, nicht schneller als die Luftblasen aufzutauchen, trat sich dementsprechend langsam hoch und war bemüht, nicht in Panik zu geraten - denn damit hätte er sich, wem es auch immer war, verraten -, erinnerte sich, daß es von größter Wichtigkeit war, regelmäßig zu atmen, wenn er der Oberfläche näher kam, so daß die Luft in seinen Lungen sie nicht zum Zerbersten brachte - obwohl das laute Keuchen seines Atems ihn nur noch mehr erschreckte. Er erinnerte sich auch, daß er jetzt, da er wieder im goldenen Sonnenlicht schwamm, sein Mundstück ausspucken und durch den Schnorchel atmen mußte. Er erinnerte sich, seinen Gewichtsgürtel zu lösen, um unbehindert zu schwimmen. Und er erinnerte sich auch, daß es ratsam sei, beim Schwimmen -1 1 -
seine Flossen behutsam zu bewegen, um sich nicht durch lautes Planschen zu verraten. Er hob den Kopf aus dem Wasser. Die Hatteras lag kaum 30 Meter vor ihm. Die Angst verflüchtigte sich. Der Gedanke, daß von den beiden er überlebt hatte, überfiel ihn wie ein Freudenschauer, und er fühlte ein geradezu sexuelles Lustempfinden in sich aufsteigen. Er ließ sich mit äußerster Behutsamkeit zum Boot gleiten und schwamm fast lautlos. Nur einmal hielt er inne und blickte hinunter. Er sah nur die smaragdgrünen Lichtschatten in den Tiefen. Er blickte wieder auf. Einen Kilometer vom Schiff entfernt lagen die schlafenden Häuser in den Dünen. Eine winzige Gestalt rannte am Strand entlang. Es schien ihm eine Ewigkeit her, seit er sie von der Kabinenluke aus gesehen hatte, aber es war immer noch dasselbe Kind, das da lief. Plötzlich zuckte er zusammen. Er fühlte einen neuen panischen Schrecken, der ihm aus dem tiefsten Innern kam. Er beschleunigte das Schlagen seiner Flossen. Sie klatschten laut auf das Wasser auf, aber er beachtete es nicht, denn er hatte kaum noch zehn Meter zu schwimmen. Das schleppende Vorwärtsgleiten war ihm unerträglich geworden. Als er nur noch sechs Meter vom Boot entfernt war, machte er einen Sprint, klatschte und wirbelte rücksichtslos und keuchte laut und schnaufend. Plötzlich - er hatte nur noch drei Meter vor sich - verspürte er einen Schlag und etwas wie einen scharfen und harten Griff, der ihn am Oberschenkel etwa acht Zentimeter über dem Knie packte. Es war überraschend, aber überhaupt nicht schmerzhaft. Sein erster Gedanke war, daß sein Partner irgendwie überlebt hatte, unter ihm aufgetaucht war und ihm nun an den Schenkel gegriffen hatte. Er tauchte mit seiner Maske in das Wasser und blickte hinunter. Verblüfft sah er, wie ein halbes menschliches, in Neopren gehülltes Bein in die Tiefe sackte. Er stellte fest, daß es nur ganz wenig aus der Schenkelschlagader blutete, obgleich es in -1 2 -
der Höhe des oberen Schenkelknochens abgetrennt war. Allerdings bildete sich irgendwo anders ein starker Blutschwall im Wasser. Wer auch immer diese Amputation vorgenommen hatte, hatte ganze Arbeit geleistet, denn die Haut um den Einschnitt herum war so sauber, als sei sie mit einem Skalpell durchschnitten worden. Eine plötzliche Müdigkeit bemächtigte sich seiner. Er ließ sich auf dem Wasser treiben und blickte auf das in der Tiefe wirbelnde Bein. Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas Großes sich unter seinem Körper bewegte, aber es war seiner Sicht entzogen, und er fühlte sich seltsam benommen und von lähmender Gleichgültigkeit. Das Bein schlug noch einmal auf, als ob es auf etwas gestoßen wäre, und verschwand. Er fühlte sich schwach auf der linken Seite. Er fragte sich, ob er eine Herzattacke oder vielleicht sogar einen Schlaganfall erlitt. Vielleicht war er zu alt für den Tauchsport. Vielleicht sollte er lieber seinen Anteil am Boot verkaufen. Er begann mit schwachen Bewegungen weiterzuschwimmen. Jetzt hörte er wieder das schwache Dröhnen des Untergrundbahnzuges. Es machte ihm nichts mehr aus. Er bewegte sich kaum noch. Er war zu müde, um gegen seine Schläfrigkeit anzukämpfen, obgleich das Boot nur drei Schwimmstöße entfernt war. Er wollte nur noch ein wenig vor sich hin dösen wie ein Seehund in der Sonne und dann später die wenigen Meter weiterschwimmen. Da wurde er in die Höhe gehoben. Er fühlte, wie seine Rippen, Lungen, Milz, Nieren, Magen und Gedärme fest zusammengedrückt wurden, wie wenn er in eine riesige hydraulische Presse geraten wäre. Er fühlte überhaupt keinen Schmerz. Allerdings erlebte die Stadt eine Wiedergeburt, wofür bei Polly keine Aussichten bestanden. Er fuhr die fast menschenleere Hauptstraße bis zur Küstenstraße hinunter. Noch vor zwei Jahren hätten hier auf beiden Straßenseiten viele Wagen gestanden, auch wenn es erst Anfang Juni war. Aber heute sah man kaum ein halbes -1 3 -
Dutzend Wagen an den Parkuhren, und es war Samstag. Die Parkuhren hatte man im letzten Jahr extra versiegelt und außer Betrieb gesetzt, weil die Stadtverwaltung sich wahrscheinlich einbildete, sie würde damit mehr Touristen anlocken und mit der Abschaffung der Parkgebühr dem Geschäftsleben der Stadt zu frischer Blüte verhelfen. Als er in die Stadtmitte gelangte, erfreute ihn der Anblick des neuen Gebäudes, das man dort errichtete. Die Chase Manhattan hatte die Amity Bank and Trust aufgekauft, und die Fassade dieser weiteren Zweigstelle, die immerhin noch sehr im Stil von Cape Cod gehalten war, wurde in Weiß angestrichen. Aber die Hauptattraktion war ein ganz neuer Drive-in-Schalter, an dem auch am Samstag in Überstunden gearbeitet wurde, weshalb die Lkws der Baufirma auf dem Parkplatz der Bank standen. Er stellte seinen Wagen in der roten Zone vor Marthas Geschäft für Frauenbekleidung ab. Marthas Ehegatte Roger kroch gerade im Schaufenster herum und bekleidete die Puppen. Er erblickte Brody, grinste und tätschelte dabei den Popo einer Puppe. Drei Türen weiter südlich stand ein neues Neonschild mit den Worten >Amity Eisenwaren< an die Wand des Gebäudes gelehnt und wartete darauf, von Albert Morris an seinen rechtmäßigen Platz gehängt zu werden. Brody trat in die schattige Kühle der Starbuckschen Apotheke. Selbst bei Starbucks schien wieder Leben in den Betrieb gekommen zu sein. Nate war während der >KriseCasino del Mar< stand neben Starbucks Lieferwagen. Er blickte auf die Wand des Gebäudes. Es half alles nichts. Da stand ganz groß und deutlich in neugemalten Lettern: >NUR FÜR KUNDEN DER APOTHEKE. Bei Zuwiderhandeln wird der Wagen abgeschleppt.< Und darunter stand sogar noch die Nummer der betreffenden behördlichen Verordnung. Es war Starbucks Beitrag zur -1 7 -
Verschönerung des Stadtbildes, und dabei würde es wohl auch bleiben. Er war gerade dabei, den Strafzettel auszuschreiben, als er Peterson ankommen sah. Er war ein sportlich gebauter Mann. Peterson grinste. »Mein Gott, ist Amity schon so pleite?« »Schau, Pete, geh doch rein und kauf dem alten Trottel irgendwas ab. Ein Stückchen Kaugummi oder irgendwas.« Peterson dankte ihm und ging in den Laden. Brody steckte sein Strafzettelbuch in die Tasche und ging zum Polizeiwagen I zurück. Er ließ den Blick noch einmal die Straße hinunterwandern. Es sah wirklich schon ganz gut aus. Der Mann, den er in die Apotheke geschickt hatte, war dabei, die Stadt zu retten, und nur Idioten wie Starbuck schienen es immer noch nicht zu wissen. Er hatte Ellens Pillen vergessen, aber der Tag war zu schön für eine zweite Begegnung mit Starbuck. Er stieg in den Wagen und fuhr zum Mittagessen nach Hause. »Sean«, seufzte Ellen, »willst du nun endlich deine Bohnensuppe aufessen?« Brody nippte an seinem Bier, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete seinen Jüngsten, der ihm gegenüber hinter seinem Teller saß. Er rührte mit seinem Löffel in der Suppe herum und hatte die noch verbleibenden Bohnen an beiden Seiten wie Fußballmannschaften aufgebaut. Brody lachte, aber Ellen fand es gar nicht komisch. »Ich warte, daß er aufgegessen hat, damit ich seinen Teller waschen kann.« »Ach laß ihn doch, Ellen«, sagte Brody. Jetzt hatte sie genug und nahm dem protestierenden Sean den Teller weg. »Vergiß bitte Mike nicht«, erinnerte sie Brody. Er hatte es nicht vergessen und nur bis nach dem Mittagessen verschoben. Mike hatte seine Mutter beschwatzt, in das Komitee für die diesjährige Juniorregatta im Amity-Bootsclub einzutreten, und sie hatte sich abgeschuftet, damit alles am -1 8 -
nächsten Sonntag klappen würde. Er hatte seinen jüngeren Bruder in sein Team aufgenommen, und der Kleine war ganz aufgeregt. Und dann hatte Mike scheinbar alles aufgegeben. Das Boot war in einem entsetzlichen Zustand, das Steuer mußte repariert werden, es hatte einen Riß im Segel, und außerdem war er seit letztem Sommer nicht mehr bis zum Leuchtturm des Northcape ausgefahren. Brody erhob sich schwerfällig, und Sean stand ebenfalls auf. Brody lockerte sich den Gürtel, und Sean tat es ihm nach. Dann bückte sich Brody, um seinem Sohn ins Gesicht zu sehen. »Heh, wie war's, wollen wir heute surfen gehen? Wir könnten auch heute abend ein bißchen vor dem Casino schwimmen, was?« Sean grinste. Ihm fehlte ein Zahn. Selbst die Lücke sah wunderschön aus. »Ist nicht nötig«, sagte der Kleine mit gespieltem Trotz. Dann gab er plötzlich Brody einen Kuß und lief zur Küchentür hinaus. Das wenigstens hätten wir erledigt, sagte sich Brody und ging mit schweren Schritten die Stufen hinauf. Ellen Brody griff nach dem Gummihandschuh, um das Geschirr abzuwaschen. Dann erinnerte sie sich, daß er am Zeigefinger ein Loch hatte, und warf ihn angewidert fort. Sie goß das Abwaschmittel in das Spülbecken und ließ heißes Wasser aus dem undichten Hahn nachlaufen, wobei sie ihre Bluse bespritzte. Sie fluchte, bemühte sich jedoch, die Ruhe zu bewahren, so daß sie Sean nicht fortscheuchte, denn sie wußte, daß er im Waschzimmer an der Werkbank war und die Ruderpinne von seines Bruders Boot neu anstrich. Das gehörte zu seinen Pflichten im Hinblick auf die bevorstehende Regatta. Falls er sie jetzt das Geschirr spülen hörte, würde er sich sicher zum Strand fortschleichen, wenn sie ihn zum Abtrocknen benötigte. Sie tauchte ihre Hände in das heiße Wasser und fluchte noch einmal. Brody hätte ihr heute ein neues Paar Gummihandschuhe aus der Stadt mitbringen sollen. Er
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kümmerte sich einen Dreck darum, ob sie sich hier Waschfrauenhände holte. Eigentlich würde sie nicht einmal die Handschuhe brauchen, wenn sie den Geschirrspülautomaten repariert hätte, anstatt den ganzen Sonntag lang mit Mike und Sean an dem blöden Boot zu schuften, und jetzt war der Sommer da, und sie war wieder einmal ihren Mann für drei Monate los, weil er in der verdammten Stadt bleiben mußte. Das machte allerdings nicht mehr viel aus, denn sie war ihn ja schon an ihre Söhne losgeworden. Sie rief Sean. Keine Antwort. Aber das Quietschen der Tür verriet ihr, daß er sie gehört hatte. »Schokoladenkekse?« rief sie heuchlerisch. Sie hatte zwar keine, aber im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Und außerdem war er in dieser Woche mit dem Geschirrabtrocknen an der Reihe. Sean trat nichtsahnend ein. Er lächelte. Auf seiner Nase war ein weißer Ölfarbenfleck. Sie wischte ihn fort und reichte ihm mit entschlossener Geste das Geschirrtuch. »Na, wie geht's dem Boot?« Er blickte auf das Geschirrtuch, als ob er noch nie eins gesehen hätte. »Es gibt Schokoladenkekse?« »Du hast sie doch gestern abend alle aufgegessen. Oder?« »Aber du hast doch eben gesagt ...« »Ich habe nur laut gedacht. Ich wußte nicht, daß jemand draußen war, denn niemand hat mir geantwortet.« Sie reichte ihm einen Teller. »Laß ihn ja nicht fallen«, warnte sie ihn. »Und ich meine es ernst.« Er zog einen Flunsch. »Mike hat gesagt, ich solle die Ruderpinne fertig streichen, sonst kann ich nicht bei der Regatta mitmachen.« »Nach dem Abtrocknen.« »Ach, Mama ... Daddy!« -2 0 -
»Er ist oben und redet mit Mike.« So, jetzt trockne mal das Geschirr ab, du kleiner Goldfasan, fügte sie zu sich selbst hinzu, oder ich dreh dir den Hals um. Er begann langsam abzutrocknen. »Ich werde nie mit dem Boot fertig, und er wird mich nicht in sein Team lassen!« »Sean«, sagte sie ernsthaft. »Jetzt hör mir mal gut zu und vergiß nicht, was ich dir sage.« Er sah zu ihr auf. Er hatte seine Unterlippe vorgeschoben, seine Augen blickten sie feindselig an, und er war wieder einmal das typische verwöhnte Gör. Sein Vater hätte ihn so kaum wiedererkannt. »Ja?« »Wenn du mir heute und für den Rest der Woche nicht hilfst, gibt es keine Juniorregatta.« »Wieso?« »Weil ihr dann keinen Präsidenten in eurem Komitee habt! Und ohne Präsidenten keine Regatta. Wie gefällt dir das?« »Ach, Mama!« »Ich meine es ernst.« Er wischte einen weiteren Teller ab, und dann lächelte er. »Er würde dir gar nicht erlauben, auszusteigen.« »Daddy? Was bildest du dir ein? Er würde es mir nicht erlauben? Willst du es darauf ankommen lassen?« Sean blickte sie mit seinen porzellanblauen Augen an. Nein, auf einen Streit wollte er es nicht ankommen lassen. »Nein.« »Na schön«, sagte sie. Sie kochte innerlich vor Wut und beendete die Geschirrwäsche. Er würde es ihr nicht erlauben, auszusteigen? Was bildeten die sich eigentlich ein? War sie etwa eine Sklavin? Der Ärger war nur, daß sie wahrscheinlich recht hatten. Brody stand vor Mikes Pult am Fenster des Schlafzimmers. Er blätterte in einer Sporttaucherzeitschrift und gab seinem wütenden, auf dem Bett liegenden Sohn Zeit, sich abzukühlen. Er hatte ihm zum Kauf des Bootes verholfen, aber damit hatte er es augenscheinlich noch nicht geschafft ... -2 1 -
Das Tauchermagazin hatte auf einem meterhohen Stapel ähnlicher Zeitschriften gelegen. Brody war gerade auf ein zweiseitiges Inserat der U.S.-Taucher gestoßen. Es war ein prächtiger Vierfarbendruck. Ein sehr männlich aussehender Taucher mit Schnurrbart und seewasserglänzender neuester Ausrüstung, und neben ihm blickte ihm ein Fotomodell in einem hauchdünnen Gummianzug lüstern in die Augen. Die Schweinehunde, sagte er sich. Die verdammten geldgierigen Schweinehunde ... »Was willst du nun machen? Sie verbrennen?« quengelte Mike mit dem Blick zur Decke. »Ist ja schließlich keine Pornozeitschrift!« Brody betrachtete seinen Sohn. Mike sah müde aus. Er hatte heute nichts zu Mittag gegessen, und gestern auch nicht. Diesen Hungerstreik hatte ein vorgedrucktes Formular vom Aqua-Sporttaucher-Zentrum ausgelöst, das sein Freund Andy ihm gegeben hatte. Andys Vater hatte unterschrieben, und Andy besuchte wahrscheinlich bereits den neuen Tiefseetaucherkurs. Aber ehe Brody Mikes Formular unterschrieb, müßte es in der Hölle schneien. Er deutete auf den Zeitschriftenstapel. »Nein, Mike. Pornographie wäre mir fast lieber.« »Meinst du? Na schön, das kann ich mir leicht verschaffen.« Seine Stimme klang kehlig. »Am Zeitschriftenstand bei Starbuck. Jackie macht sie nicht einmal auf, weil sie so scharf sind. Na schön. Ich hatte mir das Geld für den Kurs gespart, aber wenn du willst, kann ich mir ja dafür Pornohefte kaufen.« »Nun höre mal, Mike ...« Sein Sohn rollte sich herum und schaute ihn an. »Und siehst du, Daddy, während Andy und Chip und Larry und all die anderen in diesem Kaff zum Taucherkurs gehen, kann ich ja hier oben liegen und mir Playgirls angucken ...« »Halt den Mund!« bellte Brody ihn an. »Wenn du unbedingt schwimmen willst, dann geh ins städtische Schwimmbad. Dein kleiner Bruder hat mehr Verstand als du. Er ist am Strand geblieben. Aber du bist ins Meer geschwommen!« -2 2 -
»Ins Meer geschwommen!« rief Mike. »Wenn schon! Ich kann schwimmen wie ein Fisch. Und ich lebe auf einer Insel. Und da soll ich nicht einmal im Meer schwimmen dürfen ...« »Du kannst ja segeln.« »Und das war auch mal wieder der reinste Regierungsbeschluß. Ich habe genug von dem blöden Laser ...« »Du bist der beste Segler unserer Stadt.« »Aber ich möchte nun mal der beste Tiefseetaucher sein, verstehst du das denn nicht? Es ist doch schließlich mein Leben.« »Nimm dich in acht, Junge!« Brodys Stimme klang ärgerlich. Er trat vom Pult weg und griff nach dem Stuhl. Sein Sohn starrte ihn entsetzt an. Brody trat auf ihn zu und holte zu einem Schlag aus. Mike zuckte zusammen. Mein Gott, wollte er ihn verprügeln? Brody griff ihm an die Stirn. Sie war heiß, und vielleicht hatte er einen Fieberanfall. »Glaubst du etwa, ich sei krank?« quengelte Mike. »Ja, mir ist kotzübel. Kotzübel von deinen Ideen. Kotzübel von Spitz.« »Wer ist Spitz?« »Mark Spitz.« Mike weinte jetzt. »Der große olympische Schwimmeister. >Heh, Spitz, komm an den Strand, aber geh nicht ins Wasser ...< - >Spitz, gib mir Schwimmunterricht ...< >Spitz, Mann, nimm dein Badetuch weg, denn die Flut ist da.Cheffür zwanzig Jahre treuer Dienste< hing. Der Brief war vom Jahr 1942 datiert. »Gott sei Dank ist niemand ertrunken, obgleich man ja nie wissen kann. Vielleicht wollte man mich auch vergewaltigen?« »Minnie«, sagte Brody. »Wollen Sie mir etwa einreden, Sie hätten uns wegen eines herumstreunenden Lustmolches angerufen?« »Das hätte ich nur getan, wenn er versucht hätte, wegzulaufen«, sagte sie hämisch. »Aber bevor Sie jetzt versuchen, Ihre Rolle als Fernsehkommissar zu spielen, gehen Sie doch mal bitte hinaus zum Schrank und sehen Sie oben in der rechten Ecke nach, wo die Keksdose steht und ...« »Das geht nicht, Minnie. Hier ist im Augenblick verdammt viel los.« »In Amity? Daß ich nicht lache. Das ist doch Bockschmutz.« -5 3 -
»Bockmist«, verbesserte Marty sie geduldig. »>Bockmist< klingt besser, Minnie.« »Es kommt aufs gleiche hinaus.« Sie setzte sich aufrecht. »Und was möchten Sie jetzt von mir wissen? Oder wollen Sie bloß Süßholz raspeln?« »Raspeln.« Er nahm sein Meldebuch aus der Tasche. »Len hat Ihren Anruf um zehn Uhr fünfunddreißig notiert. Haben Sie da die Explosion gehört?« Das hatte sie. Und es stimmte mit der Aussage des sonntäglichen Wachmannes auf dem Bauplatz des Casinos überein, der zwar nichts gesehen, aber um die gleiche Zeit einen Knall gehört hatte, als er gerade in seinem Verschlag Kaffee kochte. Er hatte es für den Knall eines Überschallflugzeuges vom Militärflugplatz von Quonset gehalten und sich nicht einmal die Mühe gemacht, auf die Düne zu klettern und aufs Meer zu schauen. Jamie Culver, der Austräger der Times, hatte kurz vorher ein Schnellboot gesehen, das Wasserski zog. Daisy Wicker hatte es auch gesehen, aber ohne Wasserski. Minnie hatte den Motorenlärm gehört, als sie auf die Veranda ging, um die Zeitung zu lesen. Sie hatte das Boot auch gesehen, bevor sie die Brille aufgesetzt hatte, aber es war zu weit entfernt gewesen, und sie hatte nicht erkennen können, ob jemand im Schlepptau war. Dann aber, als sie wieder auf ihrem Schaukelstuhl saß, ihr Hörgerät eingeschaltet und die Brille aufgesetzt hatte, war von dem Boot nichts mehr zu sehen gewesen. Die Explosion mußte gewaltig gewesen sein, wenn sie den Knall hatte hören können. Brody klappte sein Buch zu, aß einen der angebotenen Kekse, nahm noch einen für die Fahrt und schließlich noch eine Tüte voll für Ellen und die Jungens mit. Er kletterte in seinen Buggy, schaltete den Vierradantrieb ein und fuhr um ihr Haus. Er fand einen Kugeleinschlag am Strand, der in den harten Sand gedrungen war. -5 4 -
Es schien ihm, daß die Flut leicht nach Westen strömte, und er fuhr den Strand in westlicher Richtung entlang, verlangsamte das Tempo und hielt nach angeschwemmten Bootsteilen Ausschau. Der Gedanke allein bereitete ihm Übelkeit. Er hatte es immer gehaßt, nach schwimmenden Gegenständen auszuschauen selbst vor der Katastrophe. Aber die Katastrophe war ja schon längst vorüber. Was immer er jetzt auch fand, konnte gar nicht so schlimm sein wie damals. Es war dem dicken Mann nicht gelungen, wieder einzuschlafen. Er lag wach und nervös auf seiner unbequemen Matratze und lauschte den Sägelauten seiner schnarchenden Frau. Im nächsten Jahr - das versprach er sich -, im nächsten Jahr war es Schluß mit Amity. Er haßte selbst den Namen der Stadt. Was bedeutete dieser Name überhaupt? Vielleicht so etwas wie Amnestie? Wie die Amnestie, die Carter den verdammten Langhaarigen gewährt hatte? Und jetzt war er hier und verbrachte seine wohlverdienten Ferien in einer Stadt, die nach sowas benannt war. Amity ... Da wäre er schon viel lieber im Duschraum des Polizeireviers gewesen, wo er seine Lügengeschichten erzählte. Er gab seiner Frau einen derben Stoß. »Verdammt noch mal, willst du vielleicht den ganzen Tag verschlafen? Ich hab' mal wieder einen Scheißhunger.« Sie blickte ihn vorwurfsvoll mit ihren Kuhaugen an. »Hmm?« »Verdammt noch mal. Es ist schon fast Mittag, und die Seehunde machen den Jungen und den Hund verrückt, und du liegst hier und pennst ...« »Seehunde?« fragte sie. »Ja, Seehunde! Nächstes Jahr gehe ich mit dem Kommissar auf die Jagd. So wahr mir Gott helfe! Du kannst mit dem Jungen den Sommer in Coney Island verbringen.« -5 5 -
Die Kuhaugen füllten sich mit Tränen, und da lag sie wieder in jener passiven Pose, die ihn immer von neuem sexuell erregte. Na schön, ich werd' dir die Tränen schon wieder austreiben. Aber bevor er auch nur angefangen hatte, bellte der Hund abermals am Strand. Die Schlafzimmertür quietschte, und er griff nach der Pistole auf dem Nachttisch. Sein kleiner Sohn schlich sich auf Zehenspitzen herein. Er rollte sich aus dem Bett, schlug dem Jungen ins Gesicht und schleuderte ihn zu Boden. »Kannst du nicht anklopfen, du Lausejunge?« Das Kind blickte zu ihm auf. »Du hast doch gesagt, ich soll still sein. Da ist jetzt noch ein Seehund da.« Der Dicke schlug mit dem Kopf gegen die Decke und torkelte auf den Schrank zu. »Wo ist mein Gewehr?« Er stampfte durch das unordentliche Wohnzimmer, schob fünf Ladungen Schnellfeuermunition in sein Savage-Gewehr, knöpfte sich die Pyjamajacke zu, packte den Jungen am Arm und schleifte ihn zur Tür hinaus. Seine Frau schrie ihnen nach. Wahrscheinlich glaubte sie, er würde den Jungen umbringen. Er hatte ihr auch nichts erklärt. Vielleicht würde die Angst ihr endlich Beine machen. Brody stoppte den Buggy und blinzelte in die Brandung. Da schaukelte irgend etwas im Wellenschaum, und es war gelb und sah ganz wie der Teil eines Fiberglasbootes aus. Er parkte den Buggy in gebührendem Abstand von der Flut, stieg aus und streifte sich Schuhe und Socken ab. Dann rollte er sich die Hosen hoch, schnallte die Pistole ab und legte sie auf den Beifahrersitz. In den letzten fünf Minuten hatte er einiges gefunden. Einen Schaumlöscher, ein Kissen und ein verbogenes Stück schwarzgerußter Holzplanke. Er ging an den Rand des Wassers. Ein mächtiges Dröhnen näherte sich. Der Hubschrauber der Küstenwache, kaum höher als sein Kopf, schoß über einen Brecher, peitschte einen kleinen Taifun auf und bespritzte seine Hosen mit Salzwasser. -5 6 -
Er hielt sich einen Augenblick auf der Wellenhöhe. Der Pilot wies mit der Hand durch die Gegend, zuckte bedauernd die Schultern, grüßte zum Abschied mit der Hand am Helm und schoß über den Strand davon, wobei er diesmal Brody mit Sand überschüttete. Er hatte genügend Zeit in der Infanterie verbracht, um die Verachtung des Adlers für die Landratte kennenzulernen, aber er hatte sich nie daran gewöhnen können. Er fluchte, bis er sich ein wenig besser fühlte, und dann stapfte er in die Brandung. Das Wasser war eiskalt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie irgend jemand extra nach Amity kommen konnte, um darin zu tauchen, zu schwimmen oder selbst auf der Oberfläche Wasserski zu laufen. Die Leute mußten wirklich den Verstand verloren haben. Er las eine Fiberglasscherbe aus dem Sand auf. Der Grundsand hatte bereits den glänzenden Lack zerkratzt. Er trat aufs trockene Land zurück. Eine vorbeifliegende Möwe krächzte ihm höhnisch zu. So stand er einen Augenblick und wartete, daß ihm die Füße trockneten, bevor er sich wieder die Socken anzog. Peng ... peng, peng ... Drei Schüsse klangen laut und nahe von hinter den westlichen Dünen zu ihm. Er sprang barfuß in den Buggy, schoß voran, während die Räder im Sand wühlten, und raste dem Sund zu. Er fuhr über die nächste Düne, trat auf die Bremse, rutschte zur Seite und landete fast auf einem dicken Mann und einem kleinen Jungen, die er mit Sand überschüttete. Der Mann kniete auf einer kleinen Anhöhe und hielt das Gewehr schußbereit. Der Junge stand hinter ihm und hielt sich die Ohren zu. Ein riesiger, zottiger Hund stand daneben. Am Strand hörte er nahe am Wasser ein kleines, klagendes Bellen, und er sah ein beigefarbenes Pelzknäuel. Der Mann drehte sich halb herum und schwang sein Gewehr mit. Die Augen waren blutunterlaufen. Ein Betrunkener? Brody -5 7 -
hatte sich im Wagen aufgestellt, den Zeigefinger gekrümmt, aber die Pistole hatte er auf dem Sitz neben sich liegen gelassen. »Lassen Sie das Gewehr fallen!« befahl er. Der Mann ließ das Gewehr nicht fallen, sondern schob es sich unter den Arm. »Tag«, sagte er und streckte die Hand aus. »Charlie Jepps ist mein Name. Polizeiwachtmeister beim vierten Revier in Flushing.« Brody bückte sich hinunter, griff nach dem Gewehr und warf es auf den Hintersitz. Dann wies er mit dem Daumen auf den Beifahrersitz, erinnerte sich, daß sein Revolver noch da lag, und streckte die Finger danach aus. Den Mann schien das zu amüsieren. »Sind Sie von der County Police oder von der Stadtpolizei in Amity?« »Setzen Sie sich hierher!« befahl Brody. »Sie sind verhaftet.« »Verhaftet? Was soll das heißen?« »Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, zunächst einmal.« Er sprang aus dem Buggy, rannte zum Wasser und legte sich den Revolvergürtel an. Ein Seehundbaby lag trocken im Sand und starrte ihn verwundert an. Aus dem Schwanzende tropfte Blut aus einer Wunde. Er hustete wieder, und die großen, feuchten Augen glänzten schmerzvoll. Ein Häufchen Angst mit großen Kulleraugen, fern von der schützenden Mama ... Er nahm es in seine Arme. Es war schwerer, als er erwartet hatte, es roch stark nach Fisch, und sein Blut rann ihm über die Khakihosen. Er trug es schwankend zum Buggy und legte es neben die Schiffstrümmer auf den Hintersitz. Der Mann war noch nicht eingestiegen. Brody zog seine Pistole. »Rein mit Ihnen«, brüllte er. »Steigen Sie sofort ein!« »Meinen Sie nicht, Sie sollten lieber zuerst mal Ihren Chef anrufen?« schlug der Dicke vor. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Brody einen Menschen mit einer geladenen Waffe bedroht. Nichts passierte. Er steckte sie wieder ein. -5 8 -
Der Junge heulte, der Hund bellte, und auf der Veranda des grauen Hauses erschien eine schlampige Frau, die ebenfalls zu schreien begann. Der Dicke stieg ein. Er stank nach Whisky und Bier. Alles in allem war es, wie Brody später zugab, ein äußerst unpolizeiliches Vorgehen, aber wenigstens hatte er den Halunken auf frischer Tat ertappt.
Siebentes Kapitel Brodys Schädel brummte, und er fühlte sich, als ob er sich eben mit einem von Seans Comic-strips-Helden herumgebalgt hätte. Er versuchte, sich in dem Chaos, das sein Büro befallen hatte, zurechtzufinden, während der Dicke in seinem Pyjama auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß und ihn aus glasigen Augen anstarrte. Dieser Wachtmeister - falls es wirklich ein Wachtmeister war - schien jeden Augenblick röter zu werden. Vielleicht trifft ihn der Schlag, und uns bleibt der Ärger am Sonntag erspart. Du wirst dich schon beruhigen, versprach ihm Brody schweigend. Man hatte die einzige Gefängniszelle der Stadt in den letzten Jahren in eine Rumpelkammer verwandelt, wo stapelweise alte Schulhefte herumlagen, und Henry Kimble war gerade dabei, sie auszuräumen. Du wirst dich heute abend schon abkühlen, du Scheißkerl ... Brody ging zum Anmeldetisch, wo Hendricks in einem abgegriffenen Exemplar der Bundesstatuten für Wild- und Naturschutz herumblätterte. Hendricks zeigte auf einen Paragraphen. »Wenn der einmal eingebuchtet ist, kann ihn nicht einmal Norton mit einer Kaution rausholen. Nicht, solange kein Bundesstaatsanwalt herkommt.« »Gut.« Willy Norton war der Friedensrichter, aber man mußte ihn zuerst einmal finden. Brody wandte sich an Dick Angelo. »Nun beeil dich schon, Dick. Worauf wartest du noch?« Dick Angelo fand die Fingerabdruckskarten, wo Polly sie gewöhnlich aufbewahrte. Jetzt setzte er sich unter das Bild des -5 9 -
Bürgermeisters Larry Vaughan und las sich die Gebrauchsanweisung durch. Herrgott, mußte er sie ausgerechnet hier lernen, in Gegenwart des Angeklagten? Und wie kam es überhaupt, daß er nicht einmal wußte, wie man jemandem Fingerabdrücke abnahm? Er sollte doch angeblich ein Bulle sein! »Himmel, Herrgott, Dick, ich werde sie ihm schon abnehmen. Oder geh mal rüber und schau, ob Polly zu Hause ist. Und sage Henry, er soll sich eine Krawatte umbinden. Ich will ihn hier als Gerichtsdiener haben, wenn es zu einem Verhör kommt. Und wo zum Teufel steckt Norton?« rief er Hendricks zu. »Er war dabei, das Baumhaus seines kleinen Sohnes neu anzustreichen. Er muß sich nur noch waschen.« Das Telefon auf dem Anmeldetisch klingelte, und Hendricks meldete sich. »Polizei von Amity.« »Polizei?« schnaufte der Dicke. »Hören Sie mal, Brody ...« »Für Sie bin ich der Chef«, raunzte Brody. Er setzte sich und nahm einen Haftbefehl aus der Schreibtischschublade. Er steckte ihn in seine Schreibmaschine. »Das Vieh hat meinen Hund angegriffen«, sagte der Dicke. »Wo ist Ihr ständiger Wohnsitz, Wachtmeister?« Der Dicke nannte eine Adresse in Flushing. Dann fuhr er eintönig und quengelnd fort: »Ich wollte es ja nur abschrecken. Ich bin schließlich Eliteschütze. Sie können bei der Polizei in Flushing nachfragen. Wenn ich es wirklich hätte töten wollen, hätte ich ihm in den Kopf geschossen.« »Zu schade, daß es Ihnen nicht gelungen ist, danebenzuschießen. Hiesige Adresse? Ach ja, ich weiß schon. Das Smith-sche Haus.« »Sie können mich nicht wegen eines strafbaren Vergehens festhalten! Sie haben ja gar nicht gesehen, ob ich auf das Tier schoß!« Dann fügte er hinzu, die Kommission der Staatspolizei werde ja bald davon hören, spätestens morgen um neun, und dann könne Brody froh sein, wenn er noch eine Stelle als Zoowärter -6 0 -
in Bronx bekäme, wo er dann die verdammten Seehunde füttern könne. »Sind Sie überhaupt gegen ungesetzlichen Freiheitsentzug versichert?« Brody lächelte ihn an. »Brauch ich nicht. Die Anklage steht nämlich unter Bundesgesetz, mein Freund. Gesetz zum Schütze der Meeressäuger vom Jahre 1972. Ein Jahr und zwanzig Riesen. Der kleine Bursche da ist nämlich ein Hafenseehund und keine Blechbüchse. Sie haben gegen das Bundesgesetz verstoßen!« Das beeindruckte den Dicken überhaupt nicht. Er redete in seiner kalten, eintönigen Art: Sein Junge benutzte diesen Strand, sogar Babys spielten auf diesem Strand, ob man vielleicht einen Hüter des Gesetzes in dieser liederlichen Weise einbuchten wolle, weil er versucht habe, die Öffentlichkeit zu schützen? Seehunde hätten schließlich Zähne, nicht wahr? »Keine sehr langen, und jedenfalls nicht dieser«, sagte Brody. »Der Tierarzt sagt, er sei etwa drei Wochen alt.« Er fühlte, wie die Wut in ihm aufstieg. Seine rechte Schläfe schmerzte entsetzlich, und der Rücken verkrampfte sich. Er zwang sich zu ruhigem Atmen. Hendricks versuchte, vom Meldetisch aus, Brodys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Chef?« sagte er. »Miranda? Miranda!« Ach du liebe Zeit. Er hatte ganz vergessen, ihm seine Rechte vorzulesen. Er tat es schnell und las den Text von einer Karte in seiner Brieftasche ab. Dann mußte Hendricks alles fein säuberlich abtippen, denn sie konnten Pollys Formulare nicht finden. Er hoffte nur, daß er nie wieder jemanden an einem Sonntag verhaften mußte. Polly war mehr wert als der gesamte Rest seiner Polizeistreitkräfte. Hendricks legte die getippten Bogen auf Brodys Schreibtisch. »Dr. Lean hat angerufen. Dem Seehund geht's einigermaßen, aber jetzt kläffen sämtliche Hunde der Stadt die Wand an. Er sagt, wir müssen ihn unbedingt abholen.« Er hob den Finger, um um Ruhe zu bitten.
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Die Tierklinik von Amity lag einen Häuserblock entfernt, und von dort ertönte etwas, was wie der Hundechor aus Onkel Toms Hütte in Stereoverstärkung klang. Der Seehund war allerdings das einzige Beweisstück für die Gerichtsverhandlung, aber offensichtlich konnte man ihn nicht dort lassen. Er rief Ellen an und bat sie, ihn abzuholen und in der Garage mit viel Wasser unterzubringen. »Da hören Sie's ja selbst, den Lärm auf der Straße da unten«, bemerkte der Dicke ganz vernünftig. »Wie wollen Sie da überhaupt schlafen? Was hätte ich eigentlich tun sollen? Meinen Hund erschießen? Es war schon der dritte Seehund heute früh.« »Der dritte Seehund?« »Heute war's der dritte. Gestern waren's zwei.« Verlogener Bursche. Es gab überhaupt keine Seehunde in Amity Beach. Sie hielten sich immer draußen auf und bellten und lachten zum Vergnügen der Sommergäste. Dieser hier war offensichtlich ein verirrtes Kleintier, das seine Mutter verloren hatte und vielleicht von einer Welle weggeschwemmt worden war ... Oder hatte man es draußen angeschossen, und es war erst dann von der Brandung angeschwemmt worden? Es lief ihm kalt über den Rücken, und er fühlte einen unerklärlichen Verdacht in sich aufkommen. Er wandte sich wieder dem Haftbefehl in seiner Schreibmaschine zu. Die Hände zitterten ihm. Es könnte alles zusammenpassen ... »Haben Sie auch auf die anderen geschossen?« fragte er bemüht uninteressiert. »Gestern?« »Nein.« »Wie sind Sie die dann losgeworden?« Der Wachtmeister grinste blöd. »Ich hab' ihnen meine Dienstmarke gezeigt.« »Das ist aber komisch, daß Sie gestern nicht geschossen haben. Wer so gerne auf Seehunde schießt, sollte eigentlich jede Chance wahrnehmen. Er sollte sie eigentlich schon im -6 2 -
Wasser erschießen. Wozu sie noch an Land lassen, damit sie die Bevölkerung erschrecken und die Kinder auffressen?« Die kleinen grünen Augen sprühten Haß, aber der Dicke antwortete nicht. Brody war so zittrig, daß er unten auf dem Blatt seinen eigenen Namen falsch schrieb und noch einmal ausradieren mußte. Er rückte von der Schreibmaschine weg. »Vielleicht war's eine kleine Schießübung von der Veranda aus gestern abend?« Seine Stimme wurde lauter. »Sie sind doch Scharfschütze, das haben Sie mir ja gesagt, und Scharfschützen pflegen zu treffen, Mann. Die verfehlen ihr Ziel nicht. Wie steht's mit Ihren Augen?« Keine Antwort. Brodys Puls hämmerte. Er fuhr fort: »Sind sie gut genug, um einen Seehund von einem Taucher mit Kapuze zu unterscheiden? Sind sie dazu gut genug, Dicker?« Die grünen Augen weiteten sich. »Auf Taucher soll ich geschossen haben?« »Ich weiß es nicht.« Er stand zitternd auf. »Die werden wir schon noch finden, verlassen Sie sich darauf. Die finden wir noch, du Scheißkerl, du mit deinem Savage-Gewehr und deiner Schnellschußmunition. Am Strand stehen und in die Gegend ballern, das könnte dir so passen. Und wenn wir sie einmal gefunden haben, dann wirst du so lange hinter Gittern sitzen, daß dich keiner mehr sieht!« Er setzte sich. Es war ihm speiübel, sein Kopf schmerzte, und er fragte sich, ob er sich nicht doch auch an Seans Fisch vergiftet hatte. Der Wachtmeister zeigte auf das Telefon: »Ich möchte bitte telefonieren.« Brody zuckte die Schultern. »Bitte sehr.« Der Wachtmeister rief seine Frau an. »Setz dich mit dem Kommissar in Verbindung. Sag ihm, er soll mir den besten Anwalt im Staate New York besorgen.« Er hielt inne, lächelte kalt und schüttelte den Kopf. »Wer das bezahlen soll? Mach dir -6 3 -
keine Sorge. Hier sitzt einer, der die Kosten übernehmen wird.« Seine kleinen Augen funkelten Brody an. »Er scheint es nur noch nicht zu wissen.« Der Wachtmeister hängte auf. Hendricks blickte sich nervös im Zimmer um. Er sah aus, als habe er Angst. Dann kam Henry Kimble hereingeschlurft. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er die zu seiner Uniform passende Krawatte angelegt. Er verkündete, daß die Gefängniszelle ausgefegt sei und daß Richter Norton im Gerichtszimmer warte. Brody nickte dem Dicken zu. »Schließen Sie ihn ein«, befahl er Kimble, »und dann werden wir weitersehen.« Jetzt hätte er gerne Zeit für einen Drink gehabt. Der Seehund wog fast zweihundert Pfund. Es war ein Weibchen, und es streckte seinen Hals aus dem Wasser und suchte den Strand. Schon fast eine Stunde war sie hier herumgeschwommen, obgleich ein dunkler Instinkt ihr sagte, sie sollte anderswo sein. Sie beobachtete den zottigen Hund, der in der Nähe des Wassers schnüffelte. Ihre Augenlider zitterten, aber hier hinter der Brandung war sie in Sicherheit. Wenigstens vom Lande aus drohte ihr keine Gefahr ... Hie und da stieß sie einen kleinen Klagelaut aus, und einmal bellte sie fragend. Dunkel spürte sie, daß ihr Kleines nicht in der See verschwunden war. Es mußte sich an ihrer Angst angesteckt haben und sich auf den Strand gerobbt haben, während sie hinter den Brechern an der Küste entlanggeschwommen war und sich mit ihm in der Brandung zu verbergen suchte, um dem Ungeheuer in der See und den Gefahren an Land zu entkommen. Und während sie einen sicheren Platz suchte, hatte sie angenommen, daß das Jungtier noch bei ihr sei. Erst als sie den aufwirbelnden Grundsand erreicht hatte, wußte sie, daß sie es irgendwo in der Dunkelheit verloren hatte. Sie war nicht sofort zurückgeschwommen. Dazu war die in der See lauernde Gefahr zu groß. Sie hatte sich ins Brandungswasser
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treiben lassen, einmal rufend nach ihm gebellt und sich eine Weile ausgeruht. Sie war ein Seehund der gemäßigten Zone, und im Gegensatz zu den Pelzseehunden des hohen Nordens kannte sie keine Brutstätte. Sie hatte sich im letzten Jahr in der See gepaart, und vor drei Wochen hatte sie ihr Kleines fernab von der Küste zur Welt gebracht. Sie hatte es fern von den anderen Seehunden genährt und aufgezogen, war mit ihm in sicherer Distanz von der Küste herumgeschwommen, hatte es das Tauchen und die Jagd nach Krabben und Hummern auf dem Meeresgrund gelehrt und ihm beigebracht, kleine Steine zu verschlingen, die bei der Verdauung halfen. Wenn es müde war, hatte sie es in ihren Flossen gewiegt, und sie hatte selbst weniger Nahrung als gewöhnlich aufgenommen, denn sie konnte 45 Minuten lang unter Wasser schwimmen und das Kleine nur 15. Ein Weibchen einer anderen Robbenart, wie der Pelzseehunde, der Seelöwen oder der See-Elefanten, hätte sich nicht länger um das Kleine gekümmert, weil es sich der Gefahr bewußt geworden wäre und weil es immer noch die Hoffnung hätte, in ein paar Wochen bei einer der Brutstätten des Nordens ein verwaistes Kleintier zu finden, das es bemuttern konnte. Aber sie hatte noch nie eine Brutstätte gesehen. Für sie war ihr Junges das einzige Kleintier im ganzen Meer, und außerdem hatte sie Wochen nur mit ihm verbracht. Als sie es nicht in der Brandung fand, wich sie seewärts zurück, obgleich sie wußte, daß ihr dort schwere Gefahren drohten. Die Zeichen des schnellen weißen Todes in den tieferen Gewässern waren immer noch da. Aber sie hatte sie nicht beachtet und war in raschen Stößen weiter an der Küste entlanggeschwommen. Als sie schließlich an diesen Ort gelangte, wußte sie, daß ihr Junges hier an Land gekrochen war. Der Hund scharrte jetzt im Sand. Sie stieß sich mit den Flossen etwa drei Meter von der Küste fort.
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Sie konnte nicht gut sehen, was sonst noch auf dem Strand war, denn die Sonne blendete sie. Sie konnte ihr Kleines auch nicht riechen. Sie horchte in der Hoffnung, seinen Schrei zu vernehmen, aber sie hörte nichts. Dann kam ihr wieder die von der See drohende Gefahr zu Bewußtsein. Sie ließ sich vier Meter näher auf den Sand treiben. Der Hund erblickte sie und begann zu bellen. Sie wartete zögernd, daß die Sonne unterging. Das Vorverhör, das im Büro des Bürgermeisters - es diente auch als Gerichtssaal - stattfand, war vorüber. Willy Norton, der Friedensrichter, hatte sich in den bequemen und gepolsterten Schreibtischsessel des Bürgermeisters gesetzt und die Füße auf die Tischplatte gelegt. »Brody, ich sage es Ihnen«, erklärte er und sah ihn mit seinen sorgenvollen braunen Augen an, »wahrscheinlich wird er morgen wieder auf freiem Fuß sein, aber dafür müssen Sie geradestehen.« Vom Flur gegenüber knarrte eine Eisentür. Henry Kimble hatte gerade die Zelle geschlossen. Brody hätte eigentlich bei diesem Geräusch Freude empfinden sollen, aber er hatte ein unbehagliches Gefühl im Magen und war sich plötzlich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte er doch zu schnell gehandelt? Schließlich ging es nur um einen Seehund, und warum sollte man sich deshalb gleich so aufregen? Und was die Taucher betraf, so konnte er sich ja auch geirrt haben. Bei zwei Besoffenen auf dem Meeresgrund mußte man sich auf alles gefaßt machen ... »Wir müssen dafür geradestehen«, erinnerte ihn Brody. »Ich glaube kaum, daß man einem Friedensrichter etwas anhaben kann«, brummte Norton. Er fuhr den Schulbus, leitete die Pfadfindergruppe, war Mitglied der Handelskammer und Vorsitzender des Elternrats bei der Schule. Dieser Tankstellenwart war dabei, eine schnelle Karriere zu machen. Brody hoffte, ihn nicht verärgert zu haben. Norton wiederholte: »Kann man das, Brody? Einen Friedensrichter belangen?«
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»Niemand redet hier von belangen«, sagte Brody und erhob sich. »Verdammt noch mal, er hat gegen das Waffengesetz der Stadt und gegen einen Bundeserlaß verstoßen! Wie soll er Sie da belangen?« Er wünschte, er wäre sich selbst so sicher gewesen, wie seine Worte klangen. Er vergewisserte sich noch einmal, daß die Haftpapiere wenigstens für diese Nacht in Ordnung waren. Falls sein erster Häftling seit drei Jahren bis morgen nicht wieder freikam, dann mußte Brody sich auf allerlei Budgetschwierigkeiten gefaßt machen. Sie mußten den Kerl ja auch mit einem Abendessen versorgen, das hatte er ganz vergessen, und Polly hatte den Schlüssel zur Schublade, in der das Kleingeld lag. Er gab Angelo drei Dollar und beauftragte ihn, im neueröffneten Colonel-Sanders-Imbißrestaurant an der Küstenstraße nach Nantucket etwas zu essen zu holen. »Hoffentlich erstickt er daran.« Das Gewehr schloß er als Beweisstück in den Schrank, und dann ging er an die Zellentür, um einen letzten stummen Blick auf den Verhafteten zu werfen, der auf seiner Pritsche saß und ihn ununterbrochen anfluchte. Willy Norton hatte ganz recht. Wahrscheinlich würde man ihn morgen herauslassen, wenn sein Anwalt kam. Wie konnte man ihm sonst noch sein Wochenende verderben? Plötzlich erinnerte er sich, daß er ganz vergessen hatte, die Redaktion des Amity Leader von der Verhaftung in Kenntnis zu setzen. Er schaute auf die Uhr. Harry Meadows, dessen Freßgier nur noch von seinem Arbeitseifer übertroffen wurde, saß sicher noch im Redaktionszimmer und bereitete die morgige Ausgabe vor. Er rief bei der Zeitung an. Er sprach absichtlich so laut, daß Jepps hören konnte, wie seine Missetaten an die Öffentlichkeit gelangten, und er gab Harry die erste Polizeiaktion des Sommers bekannt. »Nur auf einen Seehund hat er geschossen?« Meadows Stimme klang enttäuscht.
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»Es war aber ein Seehundbaby«, ermahnte ihn Brody. »Hören Sie mal, Harry, am letzten Montag haben Sie eine halbe Seite einer rührseligen Anklage gewidmet, weil die Leute Babymuscheln suchen gehen.« »Aber am Montag gab es sonst überhaupt nichts zu melden. Heute haben wir dagegen schon zwei ertrunkene Taucher, ein explodiertes Schnellboot und einen Artikel von drei Kolumnen über das Juniorrennen in der Regatta von der nächsten Woche, und den müssen wir bringen, denn sonst wird Ihre Frau kein Wort mehr mit mir reden ...« »Nehmen wir mal an«, schlug Brody vor, »die Taucher und das Schnellboot wurden von dem gleichen verrückten Hallodri abgeknallt?« Das interessierte Meadows. Er schwieg eine Weile, und schließlich fragte er: »Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?« Brody hörte, wie Jepps sich erhob und an die Zellentür ging. »Nun ja«, sagte Brody, »einen ziemlich begründeten Verdacht haben wir schon.« »Kann ich Sie zitieren?« Brody trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Wenn er sich nur besser in den Gesetzen auskannte! War das Verleumdung? »Sagen wir mal, die Sache wird untersucht.« »Das genügt mir«, sagte Meadows und hängte auf. Brody blickte süß lächelnd auf Jepps, der ihn mit tierischem Haß anstarrte. Mein Gott, dachte er sich, wenn ich jemals durch Flushing komme, werden sie mich ohne Warnung erschießen. Dann fuhr er nach Hause. Der kleine Seehund war in der Garage. Er hieß jetzt Sammy. Der Verband war ihm abgerutscht. Sean betätigte sich bereits als Mutter, Vater, Spielgefährte und Erzieher. Er hatte eine Schüssel Büchsensardinen, einen Teller Hackfleisch und einen Topf Milch vor seinem Schützling aufgestellt. Er hielt den Seehund, der etwa vierzig Pfund wiegen mußte, auf seinem Schoß. -6 8 -
»Daddy, er weint ständig. Schau dir mal seine Augen an!« Auch Seans Augen waren feucht. Der Junge hatte recht. Die großen braunen Augen waren tränennaß. »Ich werde mit Doktor Lean darüber reden«, versprach Brody. »Oder mit irgend jemandem, der sich darauf versteht.« »Und er will auch nichts essen!« »Er hat einen schweren Tag hinter sich.« »Und er schüttelt sich auch immer den Verband ab.« »Die Natur weiß sich am besten zu helfen.« Brody rümpfte die Nase. »Was zum Teufel ist das?« Sean erhob sich puterrot: »Es war nicht seine Schuld! Er hat es noch nicht gelernt.« »Und an dir klebt es von oben bis unten, Freundchen«, murmelte Brody. »Lauter Seehundschiete.« Er fand einen sauberen Fleck auf der Nase seines Sohnes und gab ihm einen Kuß. »Leg deine Kleider vor die Küchentür, schleich dich an deiner Mutter vorbei und nimm ein Bad. Ich werde ihr kein Wort sagen.« Sean rannte davon. Brody füllte einen Eimer mit Wasser und begann, die Garage auszuwaschen. Sammy hüpfte zu ihm, blickte ihn aus seinen großen feuchten, braunen Augen treuherzig an, schüttelte sich dann wie ein Hund und bespritzte ihn mit seinen Exkrementen. Brody hoffte, der Dicke würde >lebenslänglich< bekommen.
Achtes Kapitel Nate Starbuck saß auf einem Schemel im Dunkelzimmer seiner Apotheke und schwenkte behutsam den Behälter, in dem der Film schwamm. Er haßte diese Arbeit. Er hätte es sogar vorgezogen, oben mit seiner Frau das langweilige Fernsehprogramm anzuschauen. Sein knöcheriger Hintern schmerzte auf dem harten Schemel, der Rücken tat ihm vom
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ewigen Stehen hinter dem Ladentisch weh, und der Geruch des Entwicklers hatte ihm schon von Kindheit an Übelkeit bereitet. Aber wenn er es hier machte, anstatt den Film an das Laboratorium in New York zu schicken, verdiente er einen zusätzlichen Dollar, und sein Vater hatte es vor ihm getan, und wahrscheinlich auch sein Großvater, falls es in den neunziger Jahren überhaupt schon Filme gab. Die Sommergäste bezahlten sogar den Doppelpreis für Schnellentwicklung, weil sie nicht wußten, daß es aufs gleiche hinauskam. Schließlich zählte jeder Cent, wenn man bedachte, daß die Hälfte des Einkommens von den Bankzinsen aufgefressen wurde, und wenn die Geschäfte so schlecht gingen, daß man ständig vor der Pleite stand ... Er grübelte vor sich hin. Wenn das Spielgesetz durchkam, wenn Amity zu einer neuen Atlantic City wurde und das Casino scharenweise Gäste anlockte, wenn der Grundbesitz in der Stadt wirklich wieder den Wert haben würde, wie es Vaughan und die anderen Stadtbonzen und Fachleute versprochen hatten, dann würde er dieses Mal bestimmt verkaufen und nach Miami ziehen. Verdammt noch mal, das würde er, und Minnies Geritol und Ellen Brodys Kropfpillen und das Parafon forte, drei Tabletten täglich, für Willy Nortons Rückenschmerzen sollten zum Teufel gehen. Und wenn dann noch ein Feriengast mit einer Rolle Ektachromfilm kam, dann würde er ihm sagen, er solle ihn Gott weiß wo entwickeln lassen. Wenn er nur vor der Katastrophe verkauft hätte, als die Chancen noch gut waren! Ellen Brody öffnete die Tür zwischen Küche und dem kleinen Waschzimmer, das Brody vor vier Jahren auf der hinteren Veranda angebaut hatte. Der Trockenautomat, in dem Seans und Brodys Kleider lagen, summte geschäftig. Sie glaubte immer noch, den modrigen und fischigen Geruch von Sammys Exkrementen zu verspüren, aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie schaltete den Automaten ab und nahm Seans zerrissene und ausgebleichte Blue jeans heraus. Sie hielt sie sich vor die Nase. Dann hörte sie ihren Mann an der Tür. -7 0 -
»Ist es weg?« fragte er. Sie zuckte die Schultern. »Wie man's nimmt. Nach RussischLeder haben sie ja noch nie gerochen.« »Es tut Sean wirklich leid«, sagte er entschuldigend. »Es war nicht seine Schuld.« »Auch Sammy tut es leid.« »Seine Schuld war es auch nicht.« »Dann tut es mir leid«, sagte Brody. »Ach, wirklich?« »Nun, schau mal, Ellen, der Seehund ist doch ein Beweisstück.« »Dann hätte ihn die Stadtverwaltung versorgen können.« »Wo denn?« »Im Turnsaal der Sekundärschule, im städtischen Schwimmbad oder in Harry Vaughans Badewanne«, brauste sie auf. »Das ist mir ganz egal. Mein Haus ist schließlich kein Zoo!« Das war wirklich nicht sehr nett von ihr, denn sie mochte den kleinen Seehund, sie mochte ihn wirklich, er war schön und so rührend mit seinen großen braunen Augen, daß es einem das Herz brach, und eigentlich war sie sehr froh darüber, daß Sean ihn so schnell liebgewonnen hatte und daß der Seehund Brody als seine Mutter betrachtete. Aber vielleicht war das falsch. Der Seehund hielt es genau wie Mike und Sean und jeder und alles, was mit Brody in Berührung kam. Sie alle liebten Brody, und sie blieb allein draußen in der Kälte. »Ich werde Dr. Lean bitten, ihn hier wegzuholen«, versprach Brody. »Ach, laß nur. Sean hängt so an dem Tier.« Jetzt tat es ihr leid. Sie blickte ihn um Verzeihung bittend an. Er lächelte gütig. Warum mußte er nur immer in jeder Beziehung so verdammt christlich sein? »Du brauchst ja auch schließlich nicht die Wäsche zu waschen und zu spülen und dann das Ganze noch einmal von neuem anzufangen, um den Gestank herauszukriegen.« -7 1 -
»Das nächstemal werde ich es tun.« Nein, das wird er bestimmt nicht. Irgendein Problem in der Stadt wird sich einstellen, oder die Jungen werden ihn für etwas Wichtigeres benötigen, wie: ein Boot anzustreichen oder einen Taucheranzug zu kaufen oder Mama zu überreden, die Jungpfadfindergruppe zu bewirten. »Schon gut, Brody«, sagte sie zärtlich. »Weißt du, vielleicht ist es wirklich meine Schilddrüse. Ich scheine immer nervöser zu werden.« Er half ihr, die Kleider aus dem Trockenautomaten zu nehmen. Seine Uniformhosen waren schön sauber, aber sein Hemd hatte ein paar häßliche Flecken abbekommen, und sie beschlossen, daß er es nur noch für die Gartenarbeit oder ähnliche Dinge benutzen sollte. Sie ließen die Kleider auf dem Bügelbrett und stiegen Hand in Hand die Treppe hinauf. Sie wußte, was ihr bevorstand, und hatte dabei ein wohliges Vorgefühl, das ihr bis ins Innerste drang. Wenigstens war das wieder in Ordnung, aber es war nicht immer so gewesen. Als er gerade aus dem Hemd schlüpfte, schnippte er mit den Fingern. »Ach, ich hätte fast vergessen, Sean bat mich, dich zu fragen ...« Ein Warnsignal ertönte. »Was?« »Es ist wegen der Brownies ...«* (* Mädchengruppe der Pfadfinder.) »Halt dich da heraus«, warnte sie. »Die Brownies bekommen ein Kanu für die Regatta, und damit hat es sich!« »Nun hör mal, bei dem kleinen Moscotti habe ich damals nachgegeben ...« Er blickte verlegen drein. »Und aus gutem Grunde.« Johnny Moscotti war der isolierte kleine Sohn eines Gangsters aus Queens, der seine Sommerferien in Amity verbrachte. Brody, der die Sünden der Väter auf die Söhne übertrug, hatte es für unklug gehalten, ihn in Seans Wölflingsgruppe zuzulassen. Zur Begründung hatte er angeführt, die Moscottis seien ja nur Sommergäste, und die Gruppe sei für die ständig ansässigen Kinder bestimmt. Noch -7 2 -
heute machte es sie wütend, wenn sie nur daran dachte. »Von wegen verfassungswidrig!« »Aber die Sache mit der Regatta ist etwas ganz anderes. Sean meint ...« »Die Brownies werden an der Regatta teilnehmen«, wiederholte sie. »Und zwar in einem Kanu!« »Aber Sean meint ...« »Sean ist ein gerissenes, berechnendes, chauvinistisches männliches Schweinchen.« Die Ungerechtigkeit der Sache trieb ihre Stimme eine Oktave hinauf. »Die Wölflinge bekommen alles, gehen zu Baseballspielen und lassen sich in Quonset Point festlich bewirten, und die Brownies sitzen zu Hause und helfen Mama. Ich habe selber einmal dazugehört, und ich habe endgültig die Nase voll davon, und wenn die Wölflinge mitmachen, machen die Brownies auch mit!« »Und wenn nicht«, bemerkte Brody grimmig, »dann startet auch Den Three nicht?« »Genau«, sagte sie. Er zog sich schweigend aus und stieg ins Bett. Sie wandte ihm den Rücken zu und tat, als schliefe sie schon. Heute abend war es also nichts damit. Nathaniel Starbucks Frau klopfte an die Tür des Dunkelzimmers. Sie hatte dreißig Jahre dazu gebraucht, stellte er fest, aber wenigstens das hatte sie inzwischen gelernt. »So komm schon rein«, rief er. »Das Licht ist an.« Sie trat ein. »Nate? Die Fischfrikadellen sind gekocht.« Fischfrikadellen, verdammt noch mal! Wenn er nur gestern abend seine Angel zu Hause gelassen hätte. Jetzt konnte er für den Rest seines Lebens Fischfrikadellen essen. »Okay«, brummte er. »Ich muß nur noch die Filme aufhängen.« Er nahm die Filmrolle aus der Lösung, rollte sie auseinander und hängte sie an eine Filmklammer. »Ist das der, den Brody gebracht hat?« fragte Lena. »Was ist drauf?«
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Er blickte auf den Umschlag, aus dem er die Rolle herausgenommen hatte. Ja, es war Brodys Film, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Er sah sich selten die Filme an, außer wenn er wußte, daß sie von einem jener flotten Sommerpärchen stammten, die alles, aber auch wirklich alles fotografierten. Der Film hingegen, der nun an der Klammer baumelte, enthielt, wenn man Brody glauben konnte, die letzte Aufnahme, die ein nun toter Taucher unter Wasser gemacht hatte. Er war neugierig geworden, faßte den Streifen unten an, zog ihn so herüber, daß das Licht ihn beleuchtete, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts. Überhaupt kein Bild.« »Warte mal! Da, wo du die Finger hältst!« Er blickte hinunter. Sie hatte recht. Die ersten beiden Bilder waren belichtet. Er drehte den Film um und hielt ihn an den Rändern, um ihn nicht zu beflecken. Er sah sich genau die Negative an. Plötzlich rückte er sich die Brille zurecht. Die erste Aufnahme zeigte einen Tiefseetaucher unter Wasser, der vor dem Heck der versunkenen Orca stand. Er schien seinen Kameraden anzublinzeln. Nate hörte das Wasser aus dem Hahn tropfen. Von oben ertönte das fade Geschnatter einer Fernsehsendung. Und außerdem knurrte ihm der Magen. »Lena«, befahl er rauh, »holst du mir das Vergrößerungsglas? Es liegt bei den Abzügen.« Sie reichte es ihm. Er schaute sich das Bild noch einmal an, aber er wußte es bereits, er hatte es gesehen, er wollte nur ganz sicher sein, es war unglaublich, aber er mußte absolut sicher sein. »Nate«, rief seine Frau. »Was ist es?« Das Bild war schlecht und von einem unmöglichen Winkel aus aufgenommen. Es war unterbelichtet, aber nicht zu sehr, und es hatte den Anschein, als habe sich die Kamera während der Aufnahme bewegt. Die Buchstaben auf dem Heck der Orca
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waren rot, hätten aber gelb sein sollen, und die Zähne des Ungeheuers waren grau, anstatt weiß zu sein. »Nate?« Er saß regungslos auf seinem Schemel. Das Ding war also noch da und noch immer vor der Küste von Amity. Sie hatten es nicht getötet, und Brody hatte gelogen. Die Katastrophe war wieder da, und sie war eigentlich nie vorüber gewesen. Er hatte das Gefühl, daß ihm übel wurde. Er stammte aus einer Seemannsfamilie von Waljägern. Ein winziges Atoll im Stillen Ozean war nach seinem Urgroßvater benannt worden und trug den Namen jetzt noch. Seine Vorfahren kannten die größten Geschöpfe der Weltmeere besser als irgend jemand. Er hatte die See im Blut. Wenn Brody nur geahnt hätte, was auf dem Film war, hätte er ihn sicher gleich wieder ins Meer geworfen. Denn Brody hatte wahrscheinlich gelogen, als er behauptete, sie hätten das Tier getötet, aber in bezug auf die Größe hatte er die Wahrheit gesagt. Es war das größte, gewaltigste Untier von einem gottverdammten weißen Hai, das je ein Mensch gesehen hatte. Er hob den Filmstreifen an, so daß Lena ihn sehen konnte. Sie saß eine ganze Weile und starrte auf das Bild. Dann blickte sie ihn an. Beide waren erschrocken und angsterfüllt. »Oh, mein Gott«, stöhnte sie. »Was sollen wir nur tun?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Verkaufen werden wir«, sagte er resigniert. »Das Maul halten und verkaufen. Was sonst?«
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ZWEITER TEIL Erstes Kapitel Die Große Weiße war in der letzten Nacht zwischen Amity und Fire Island hin und her gekreuzt. Sie hielt eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 10 Knoten. Vor Sagaponack hatte sie einen jungen männlichen Seehund erwischt, und vor Great South Beach war sie auf einen Schwärm von Seebarschen gestoßen. Vor Fire Island hatte sie wieder nach Nordosten gewendet. Und dabei war ihr ein Riesentintenfisch in den Weg gekommen, der sich aber, sowie er ihre Nähe fühlte, auf dem Meeresgrund in ein zerklüftetes Riff sinken ließ, dann jedoch zu rasch wieder fortschwamm und schließlich doch noch von der Großen Weißen getötet und verschlungen wurde. In der Höhe von Southampton hatte sie einen Rauhhai aufgespürt, ihn aber wieder verloren, da ihre momentane Leibesfülle das Tempo verlangsamte. Während der Nacht hatte sie etwa 300 Pfund lebendes Protein zu sich genommen, aber als sie in der Morgendämmerung wieder vor Amity angekommen war, litt sie unter einem wahren Heißhunger. Vor zwei Tagen hatte sie eine Schar Dorsche in den Hafen von Amity getrieben, jetzt begegnete sie einer weiteren und trieb sie in die Amity Sound. Sie war dabei, ihre Beute stückweise zu verschlingen, als das rhythmische Tschak ... Tschak ... Tschak der Fähre von Amity Neck ihre Antennen störte und die Schar Fische in alle Richtungen vertrieb. Da war sie so hungrig, daß sie sich beinahe auf den seltsamen eckigen Schatten über ihr gestürzt hätte, aber im letzten Moment schreckte sie doch davor zurück. Sie wurde von niemandem an Bord gesehen, obgleich Willywau, der Hund des Kapitäns, vom vorderen Wagendeck aus ganz aufgeregt zu bellen begann. Sie suchte den Grund ab, und ihre Antennen horchten im Schlamm nach versteckten Meerbarben und Flundern. Sie wühlte einen alten Gummistiefel aus dem Schlamm auf und schüttelte ihn. Ein Zahn der letzten oberen Reihe saß etwas -7 6 -
schief und verursachte bei ihr ein automatisches und zwingendes Bedürfnis, Dinge zu verschlingen. Obgleich ihr Computerverstand den Stiefel sofort als nicht proteinhaltig erkannte und sie veranlaßte, ihn wieder fallen zu lassen, gab ihr der schiefgestellte Zahn ein, herumzuwirbeln und ihn von neuem zu finden. Sie verschlang ihn dann auch in einer aufsteigenden Schlammwolke. In ihrem rechten Uterus wandte sich der Kleinste ihrer Brut gegen seine größte Schwester und hielt sie kämpfend von sich ab. Brody parkte den Buggy oberhalb der Hochwassermarke und in der Nähe der Stelle, an der er das Seehundbaby Sammy gefunden hatte. Die schlampige Frau des dicken Polizisten saß auf der Veranda des Smithschen Hauses, starrte ihn eine Weile an und verschwand dann mit ihrem Sohn, den sie hinter sich herzog, im Innern des Hauses. Brody half Tom Andrews beim Anlegen der Taucherausrüstung. Der bärtige Riese hatte sich schließlich bereit erklärt, für die Suchaktion nach dem explodierten Schnellboot etwas Geld anzunehmen. Er legte die Flossen an, und dann stapfte er mit Riesenschritten in das Wasser, denn er mußte achtgeben, daß die Flossen ihn nicht im Sand zum Straucheln brachten. Er sah ganz wie der lustige grüne Riese auf der Reklame aus, nur war er schwarz. Als er das Wasser erreicht hatte, wandte er sich noch einmal um und schritt dann rückwärts in die Brandung. Dann wirbelte er herum, schoß in einen Brecher hinein und hinterließ dabei kaum eine Wellenspur. Das Ganze sah wie der Stapellauf eines atomaren Unterseebootes in Groton auf der anderen Seite des Sounds aus. Brody nahm sein Mikrofon hervor. »Wagen Nr. 3. Polly, ich bin am Strand beim Smithschen Haus.« »Roger, Martin«, sagte Polly. »Ellen hat angerufen. Sie braucht Kondensmilch für Sammy, und bittet Sie, welche mitzubringen.« »Zehn-vier.« Er schrieb es auf seinen Notizblock. Sammy hatte das von Sean gebrachte Frühstück prompt erbrochen und seine Arbeit von gestern abend in der Garage wieder zunichte -7 7 -
gemacht. Was dieses arme Geschöpf brauchte, war die Pflege seiner Mutter, und die Mutter schwamm wahrscheinlich draußen irgendwo herum und suchte nach ihm. Er beschloß, die Wunde als Beweisstück zu fotografieren, so daß man Sammy wieder freilassen konnte, sobald er gesund genug zum Schwimmen war. Allerdings würde es Sean das Herz brechen. Phil Hooples Taxi holperte die Strandstraße entlang und hielt vor dem Haus. Jepps kehrte in sein gemietetes Sommerheim zurück. Ein verrunzelter Gerichtsbeamter aus Flushing war am Morgen angekommen, hatte Jepps mit gelben Zähnen lächelnd Mitgefühl und Sympathie und Brody Feindseligkeit bezeugt, bei der Stadtbehörde eine Kaution von fünfhundert Dollar hinterlegt und überall seine Visitenkarten verteilt. Nun stieg Jepps aus dem Taxi, sah ihn im Buggy sitzen, setzte eine steinerne Miene auf und schritt nachdenklich ins Haus. Brody wartete eine halbe Stunde lang auf Andrews. Einmal stellte er sich sogar aufrecht auf den Sitz des Buggys, um zu sehen, ob er irgendwo die Luftblasen erblickte, aber das Wasser war hier in der unmittelbaren Nähe der Brandung zu bewegt dafür. Er schaute immer wieder auf die Uhr und wurde von unangenehmen Vorahnungen befallen, als der zottige Hund plötzlich über die Dünen gefegt kam und ihn anbellte. Jepps folgte ihm, und sein Wanst quoll aus einer so winzigen Badehose, daß Brody schon einen Augenblick lang dachte, er könne ihn jetzt auch noch für nacktes Baden verhaften. Er kam auf den Buggy zu. Brody tat, als hantiere er mit dem Funkgerät. »Brody?« »Ja?« Der dicke Bulle lächelte, aber seine Augen waren so kalt wie immer. »Sehen Sie mal, Brody«, begann er. »Ich bin hier auf Ferien. Ich komme jedes Jahr hierher. Diese Stadt braucht allen Fremdenverkehr, den sie nur kriegen kann ...« »Aber keine Leute, die am Strand herumballern.« »Das war ein Fehler von mir, Brody! Das versuche ich ja Ihnen zu erklären.« Brody gab ihm zu verstehen, daß er keine Erklärung brauchte und daß gerade jetzt jemand den Meeresgrund absuchte, um herauszufinden, was für Fehler er vielleicht sonst noch gemacht -7 8 -
habe. Sie blickten auf die See hinaus. Andrews tauchte aus der Brandung auf wie ein prähistorisches Ungeheuer. Der Hund bellte noch lauter. Der Dicke schüttelte den Kopf. »Suchen Sie immer noch nach den Tauchern da?« »Wir würden gerne feststellen, ob sie Löcher in den Köpfen haben«, sagte Brody. Andrews hielt einen Gegenstand in seiner Hand, der wie der Überrest eines explodierten Benzintanks aussah. Er war rot. Andrews stapfte an Land, zog sich die Flossen ab und legte den roten Benzintank auf die Kühlerhaube des Buggys. »Keine Spur von den Tauchern. Ich habe den Motor gefunden, konnte ihn aber nicht heben. Und dann habe ich das hier entdeckt.« Brody sah sich den Benzintank gründlich an. Er war kein Sprengstoffexperte, hatte nie Ballistik studiert, aber dieser rote Benzintank war schon ein recht merkwürdiger Fund. Die eine Seite war völlig herausgesprengt, und in der anderen war ein Loch, das sehr gut vom Projektil einer Schußwaffe stammen konnte. Er blickte Jepps an. Der Dicke starrte auf den Tank. Seine Augen waren weit aufgerissen, und ein kleiner Muskel zuckte ihm an der Wange. Dann drehte er sich zu Brody um. »Na schön, Chef! Ich weiß nicht, was für eine Polizei Sie hier haben, und ich weiß auch nicht, was sonst noch in diesem Kaff vorgeht, aber ich weiß sehr gut, daß mir hier jemand was anhängen will.« Er tippte mit dem Finger auf den Tank. »Machen Sie mit dem Zauber nur so weiter, und bald haben wir Ihren Arsch in der Klemme!« Er machte kehrt und ging zum Haus. »Was zum Teufel war denn das nun wieder?« brummte Andrews. Brody nahm den Tank in die Hand. Er roch noch schwach nach Benzin. Dann steckte Brody einen Finger durch das Loch. »Wahrscheinlich hat er sich fürs Wochenende einen angesoffen«, meinte er. »Hat auf unserm Strand herumgeballert. Na ja, er hat mehr Enten geschossen, als er -7 9 -
sich vorstellt.« Er warf den Tank mit ärgerlicher Geste auf den Rücksitz des Buggys. Seine Stimme zitterte leicht. »Und ich glaube, er hat es inzwischen auch schon begriffen.« Er ließ den Motor an, und sie fuhren am Strand entlang in die Stadt zurück. Die Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt. Was sollte er jetzt nur tun? Nate Starbuck warf einen Blick aus dem Fenster des Rezeptschalters. Seine Frau Lena staubte das Kosmetikregal ab. Sie war schon seit fünfzehn Minuten dabei und machte ein ausdrucksloses, leeres und blödes Gesicht. Sie vergeudete ihre Zeit, es gab andere und wichtigere Dinge zu tun, und ihre Gedankenverlorenheit gab ihm ein unangenehmes Gefühl. Er wandte sich wieder seinem Inventar zu. Er zählte nämlich die Pillenflaschen. Irgendwie hatte er dabei den Faden verloren, weil sie da herumspukte wie eine Mondsüchtige, und, verdammt noch mal, jetzt mußte er wieder von vorne anfangen. Aber plötzlich ließ er dann doch alles stehen und liegen. Es war besser, wenn sie jetzt gleich miteinander ins Reine kämen. »Lena!« Sie sprang auf, als ob er sie in den Hintern gezwickt hätte. Das hatte er früher immer getan, vor Millionen von Jahren, nur so zum Vergnügen, und sie hatte dann die Erschreckte gespielt, gekichert und so getan, als wollte sie ihm eine Ohrfeige geben. Himmel, Herrgott, was für Narren waren sie damals gewesen. Sie wären es eigentlich immer noch, wenn er es nur zuließe. »Ja?« »Komm mal her!« Er führte sie in das Dunkelzimmer zurück und schaltete das rote Licht >Nicht stören< ein, so daß Jackie nicht hereinkommen und sie unterbrechen konnte. Er hätte nur zu gern Jackie einmal hier hereingelockt, aber wahrscheinlich hätte sie es gleich ihrem Daddy erzählt, und dann hätte er die ganze Polizei von Amity auf dem Hals. »Lena, was ist eigentlich mit dir los? Vergiß, daß du das Bild je gesehen hast. Verstanden?«
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»Aber ich hab's doch gesehen. Und du auch.« Zum erstenmal seit Jahren sah sie ihm voll ins Gesicht. »Es könnte noch jemand anders erwischen!« »Ich hoffe, es wird Brody erwischen.« »Nate!« »Nur geht er nie in die Nähe des Wassers«, fuhr er boshaft fort. »Hast du das nicht bemerkt? Weder er noch seine beiden Söhne.« »Das hat er doch nie getan. Auch vorher nicht.« Er ignorierte sie. »Er hat jedenfalls sein Geld gerettet. Er mußte hier den Helden spielen. Und hat er nicht auch sein verdammtes Grundstück verkauft? Na?« Er ging auf und ab und ballte dabei die Fäuste. Er hatte ihr das alles schon gestern abend erklärt, aber es wollte ihr einfach nicht in den dämlichen Schädel. Es war eine Verschwörung der Eingeweihten gegen ihn und die übrigen Außenstehenden. Bürgermeister Larry Vaughan mußte es die ganze Zeit gewußt haben, auch Willy Norton, der große Friedensrichter, und auch die Herren von der Stadtverwaltung. Sie wußten genau, daß der Weiße Hai noch lebte, hatten alles vertuscht und verschwiegen und hatten Peterson und sein Syndikat bei der Casinoangelegenheit schön übers Ohr gehauen. Warum sollte er da nicht auch sein Schäfchen ins trockene bringen? Er mußte sein Grundstück verkaufen, bevor es zu spät war. »Aber ich möchte nicht verkaufen«, protestierte Lena. »Es ist doch unser Heim.« »Das ist mir ganz egal. Wir verkaufen. Für so viel wie möglich und so rasch wie möglich, und dann ziehen wir möglichst weit von Amity fort. Hoffentlich frißt der Hai das ganze gottverdammte Kaff auf!« »Aber während der Katastrophenzeit haben wir doch nie einen Käufer gefunden.« »Während der Katastrophenzeit? Die ist noch gar nicht vorbei! Und die wird auch nie vorübergehen!«
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Es hatte gar keinen Zweck, es ihr noch weiter groß zu erklären. Sie hatte keine Ahnung von Haifischen oder der See. Sein Urgroßvater, der neunundachtzig Jahre alt wurde, war mit ihm eines Tages die Water Street entlanggehumpelt, als er noch ein kleiner Junge war. Sie hatten auf einer Kiste am Hafen gesessen - es war noch der alte Hafen -, er hatte sich seine Pfeife gestopft und ihm wieder einmal seine Geschichten aus der Zeit des Walfangs erzählt, und Nate hatte ihm zugehört. Er kannte die Geschichten schon von Kindheit an auswendig, und sie waren ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Ein Großer Weißer hatte einmal eines der Fischerboote des alten Seebären im Jahre 1897 vor der Küste von Sydney in Australien beinahe zum Kentern gebracht und die Mannschaft mit Haut und Haaren verschlungen. Derselbe Hai hatte 1899 ein treibendes Wrack eine halbe Meile entfernt davon angegriffen - der Große Weiße lebte in diesen Gewässern. Im Jahre 1896 schon hatte ein Weißer das Wasser mit dem Blut eines Pottwals, den sie gefangen hatten, rot gefärbt, und im Jahre 1898 hatte der gleiche Hai, in dem immer noch der Schaft des Messers des Urgroßvaters steckte, noch einmal angegriffen - und wieder am gleichen Ort. Die Haie wachten eifersüchtig über ihr Jagdgebiet. Und sie zogen nicht fort. Als der liebe Gott den Großen Weißen schuf, war er müde. Denn er hatte vergessen, ihm das Gefühl der Angst zu geben. Wenn nun so ein Hai einen passenden Jagdgrund fand, warum sollte er dann fortziehen? »Und wenn wir nun keinen Käufer finden?« flüsterte sie. »Wenn niemand unser Haus und Grundstück will?« Als er sie endlich beruhigt hatte, gab er ihr einen Klaps auf den Bauch - der fühlte sich wie die Stoßstange seines alten DodgeLieferwagens an - und öffnete eine unbelichtete Filmrolle. Er kam sich komisch vor, wie er das Ding unter dem hellen Licht aufrollte, nachdem er in all den Jahren immer so vorsichtig damit umgegangen war, und es schien ihm eine sündhafte Verschwendung. -8 2 -
Er brachte es aber doch über sich. Schließlich kostete ihn so ein Film nur einen halben Dollar dreißig, Grossistenpreis. Und wo es jetzt um seinen ganzen Laden ging, spielten ein Dollar dreißig weiß Gott keine Rolle mehr. Er entwickelte den leeren Film und hängte ihn zum Trocknen auf. Brody fand eine Bresche in den Dünen von South Amity Beach, schaltete seinen Buggy in den Vierrädergang und wollte auf die Dünen fahren. Andrews stützte sich auf seine Sauerstoffflasche, als sie durch den Sand der Beach Road entgegenschaukelten. Plötzlich legte Andrews Brody die Hand auf den Arm. »Warten Sie ...« Brody stoppte und folgte seinem Blick. Unten am Strand hatte eine Gruppe schlaksiger Teenager ihre Badetücher auf dem Strand ausgebreitet. Die meisten von ihnen trugen Taucheranzüge, und sie waren wahrscheinlich Jungen aus Andrews Taucherschule. Andrews schaute zu ihnen hinüber. »Ich wollte nur sicher sein, daß niemand da unten zufällig einen Benzintank entdeckt, der die Sache mit dem Einschußloch entkräftet. So, jetzt können wir weiterfahren.« »Einen Augenblick ...«, sagte Brody. Seine Augen waren auf den am nächsten stehenden Jungen gerichtet. Er holte sein Fernglas aus der Ablage unter dem Armaturenbrett hervor. Dann stellte er es ein. Es war Mike. Er trug seinen Taucheranzug. Weiter unten am Strand sprang Larry Vaughan jr., der Sohn des Bürgermeisters, gerade von seinem Badetuch auf, rannte zum Wasser und stürzte einem Brecher entgegen. Der Wellenschaum glitzerte silbern in der Mittagssonne. Mike stand ebenfalls am Wasser, ließ die Brandung auf sich zukommen, duckte sich, bis ihm das seichte Wasser über die Hüften lief. Larry winkte ihm von hinter der Brandung zu. Er winkte zurück, machte ein paar Schritte weiter zum Wasser hin -8 3 -
und gähnte gelassen. Plötzlich griff er sich an die Wade und humpelte vom Wasser fort. Der Riese sah Brody unsicher an. »Hat er manchmal ... Krämpfe?« »Es ist nichts Ernstes«, sagte Brody mürrisch. Er brauchte sich bei niemandem und für nichts Mikes wegen zu entschuldigen. Oder, da Mike es offensichtlich nicht getan hatte, ihm zu erzählen, was der arme kleine Kerl einmal durchgemacht hatte. Brody stand dem Apotheker hinter dem Ladentisch gegenüber. »Was soll das heißen, Sie haben ihn versaut?« Nate sah ihn aus seinen blassen, blauen Augen an. »Nun ja, genaugenommen war ich es nicht.« Er nickte zu seiner Frau hin, die gerade die Lippenstifte in einer Vitrine hinter dem Ladentisch zählte. »Sie hat die Tür zum Dunkelzimmer aufgemacht.« »Und auf dem Film ist überhaupt nichts mehr zu sehen?« Brody konnte es nicht glauben. Starbuck zog eine Schublade heraus und entnahm einem gelben Umschlag mit der Aufschrift >EILIG: AMITY POLIZEI< eine Filmrolle. Er hielt sie aufgerollt gegen das Licht. Es war nichts darauf zu sehen. »Verdammt«, stieß Brody hervor. »Da war wahrscheinlich auch vorher nichts drauf. Wie ich höre, waren die beiden doch besoffen.« »Und jetzt werden wir es also nie wissen, Nate?« Starbuck schüttelte den Kopf. Brody fühlte sein Blut aufwallen. Heute früh hatte er die Witwe des toten Anwalts vernommen. Sie war eine trauergebeugte Frau mit großen, schwarzen Augen. Er hatte ihr versprochen, den Film zu schicken, wenn ihr Bruder kam, um das Boot abholen zu lassen. »Verdammt noch mal, Nate, es ist die letzte Aufnahme, die der Kerl je gemacht hat! Was soll ich nun seiner Frau sagen?«
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Starbuck zuckte die Schultern. Er schien einen innerlichen Kampf auszufechten. Er furchte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf den Ladentisch. Und plötzlich, als habe er gerade ein schweres Problem bewältigt, griff er zum Ständer hinter sich und nahm eine gelbe Filmpackung heraus. »Sagen Sie ihr, wir entschädigen sie mit einem neuen Film.« Brody blickte ihm in die blauen Yankeeaugen. Sie waren so undurchdringlich wie das Meer. »Ich werde ihr sagen, daß es Ihnen leid tut, Nate. Ihren Film können Sie sich sonstwohin stecken!« Als er draußen war, stellte er fest, daß er schon wieder einmal Ellens Schilddrüsenpillen vergessen hatte. Aber, Teufel noch mal, er hatte nicht die Absicht, in den Laden zurückzugehen.
Zweites Kapitel Um die Mittagszeit schwamm die Seehundmutter wieder am Strand von Amity entlang, hielt sich in der Nähe der Brandung und wagte sich bis zum Sund vor. Sie hatte den größten Teil der Nacht an dem Ort verbracht, wo sie ihr Kleines verloren hatte. Schließlich war sie trotz des Hundegeruchs auf den Strand gehüpft. Dort hatte sie das starke Gefühl, daß das Kleine sich ganz in der Nähe aufgehalten hatte. Sie schnüffelte im trockenen Sand, und als sie Blutspuren roch, geriet sie in große Erregung. Aber sie sah ihr Kind nirgends, und schließlich war sie ins Wasser zurückgekehrt. Eine Stunde lang ließ sie sich unentschlossen von der Küste weg treiben. Sie sah das seltsame zweischwänzige Menschengeschöpf ins Wasser gehen und untertauchen, hörte sein rauhes und fremdartiges Keuchen eine halbe Stunde lang, als es im Schlamm des Meeresgrundes herumsuchte wie ein Hai, der nach Flundern ausschaut. Sie hatte keine Furcht vor dem Taucher, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß er sie Ruhe lassen würde.
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Als er wieder fort war, schwamm sie den Strand entlang, bis sie wieder die Brandung von Amity erreicht hatte. Sie klomm auf einen Felsen, denn dort war sie vor dem Schrecken, der immer noch draußen im offenen Meer lauerte, sicher. Sie lag unter dem weißangestrichenen Leuchtturm von Amity. Ein männlicher Seehund sonnte sich in ihrer Nähe, aber sie achtete nicht auf ihn, und auch er ignorierte sie. So lag sie unter der Mittagssonne und fühlte sich immer noch beklemmend einsam, als eine innere Stimme sie wieder ins Wasser zurückrief. Sie durchschwamm die Hafeneinfahrt und wandte sich dem Sund zu. In diesem begrenzten und ungewohnten Gebiet fühlte sie sich eingeengt. Sie zog im allgemeinen die offene See vor. Aber sie hatte das Gefühl, daß ihr Kleines irgendwo in der Nähe war, und verhielt etwa hundert Meter vor einem weißen Holzhaus, ließ sich treiben, streckte den Hals empor und tröstete sich bei dem Gefühl seiner Nähe. Sie konnte es weder sehen noch riechen oder hören, aber irgendwie spürte sie, daß es sich nicht weit von hier aufhielt. Und so blieb sie. Brody nippte an seinem Mittagsbier und sah seinen Söhnen beim Essen zu: Sie verschlangen einige Sandwiches. Sean hatte die Lokalzeitung vor sich ausgebreitet, brütete über einem Artikel und schob das Blatt seinem Vater zu. »Bitte, Daddy, lies es mir vor«, bat er. »Da steht was über Sammy drin.« Brody schüttelte den Kopf. »Nein, lies du es mir vor.« Sean war das Lesen verhaßt. Merkwürdig, da doch sein Vater das halbe Leben mit seinen Büchern verbrachte, und seine Mutter auch. Sean murrte, aber dann begann er leiernd wie vor einer Schulklasse: >Amity: Ein hier in den Ferien weilender Polizeiwachtmeister wurde gestern verhaftet, da er angeblich ein Seehundbaby am Strand von Amity angeschossen und verletzt hatte. Er wurde dem Polizeibericht zufolge eines ... Versehens?< -8 6 -
»Vergehens«, unterbrach ihn Mike. Er hatte ihm über die Schulter geschaut, riß ihm die Zeitung weg, glättete sie auf dem Tisch und las selbst weiter: >Er wurde dem Polizeibericht zufolge eines Vergehens gegen das Gesetz zum Schütze der Meeressäuger und gegen den städtischen Erlaß, der den Gebrauch von Feuerwaffen innerhalb der Stadtgrenzen untersagt, bezichtigt.< Er räusperte sich wichtigtuerisch. >Der Angeklagte wurde von der Polizei in Flushing als Wachtmeister Charles Jepps, 54 Jahre alt, identifiziert. Er ist ein Sommergast und wohnt zur Zeit in dem von ihm gemieteten Smithschen Sandschloß, 118 West Beach Road. Wie Polizeichef Martin Brody mitteilte, wird der Angeklagte nach einem Vorverhör bei Friedensrichter William Norton an das zuständige Country-Gericht überwiesen werden. Nach Brodys Aussage ist das Opfer ein drei Wochen alter Seehund. Brody erklärte ferner, er wolle eine weitere Untersuchung einleiten, um festzustellen, ob eine Verbindung zwischen den Schießereien des Angeklagten zu den beiden vermißten Tauchern und einem vor Amity Beach explodierten Schnellboot besteht. (Siehe auch Seite 1)< »Junge, Junge«, seufzte Ellen. »Da hast du dir wieder mal den Hals ganz schön in die Schlinge gelegt, was?« Sie hatte recht. Harry Meadows hatte zwar seinen Amity Leader durch alle möglichen >angeblichlaut Aussage< und >wie Brody erklärte< geschützt, Brody selbst aber hatte sich in gefährliche Wasser vorgewagt. Er trank sein Bier aus. »Na schön, ich hatte halt eine Stinkwut. Aber schwitzen werde ich deshalb nicht«, sagte er und versuchte, Zuversicht auszustrahlen. »Den Seehund hat er schließlich tatsächlich angeschossen.« »Und du hast ihn ins Gefängnis gesteckt, nicht wahr?« fiel ihm Sean ins Wort. »Nicht wahr, Daddy?« »Er will es ganz genau wissen«, seufzte Mike. »Er muß ja Sammy auf dem laufenden halten.«
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Brody nickte. »Ich habe ihn ins Gefängnis gesteckt, Sean. Aber er ist schon wieder draußen. Gegen Kaution.« Sean riß die Augen auf. »Das ist aber ungerecht! Nur für eine Nacht?« »Du kannst Sammy sagen, ich werde mir alle Mühe geben, ihn wieder einzulochen.« Sean rannte zur Garage. Brody betrachtete seinen älteren Sohn. Mike kaute lustlos an seinem Brot. Er war gereizt, leicht auffahrend, und er hatte immer noch den gleichen gequälten Blick wie vor Tagen. Brody beschloß, ihn sich einmal vorzunehmen, denn er glaubte, den Grund zu kennen. Vor zwei Jahren, als die Katastrophe ausbrach, waren Mike und Sean die reinsten Wasserfrösche gewesen. Die Angriffe des Hais auf die ersten wenigen Opfer hatten auf keinen der beiden die leiseste Wirkung gehabt. Alles, was er tun konnte, war, sie vom Meer fernzuhalten. Sie durften nur noch an der schlammigen Küste vor ihrem Haus im Sund schwimmen. Als die falsche Panik ihren Höhepunkt erreicht hatte - und wochenlang hatte es täglich am Strand Alarm gegeben -, war Mike im Flutwasser etwas weiter hinausgeschwommen, während Sean in der Nähe im Sand spielte. Der weiße Hai hatte sich im gleichen Augenblick unter die Eisenbahnbrücke in den Sund vorgewagt und hatte sich auf einen Mann gestürzt, der auf einem Gummifloß in der Sonne lag. Das hatte sich, kaum fünfzehn Meter entfernt, vor Mikes Augen abgespielt. Der Angriff war schon für Brodys Begriffe entsetzlich gewesen, wie all die anderen auch, wenn man sich nur die scheußlichen Einzelheiten vorstellte. Aber auf Mike hatte er eine katastrophale Wirkung gehabt. Man hatte ihn im Schockzustand aus dem Wasser holen müssen, und er hatte zwar keinen Kratzer am Körper, dafür aber eine tiefe, klaffende Wunde in der Seele. Seitdem hatten sie nie mehr davon gesprochen. Nach dem Mittagessen nahm Brody Mike auf die Sonnenveranda, und sie setzten sich auf die Treppenstufen und schauten über das Wasser auf das schwach blinkende -8 8 -
Tageslicht des Leuchtturms von Cape North am anderen Ufer des Amity Sound. Mikes Segelboot lag gestrandet und verloren auf seinem Untergestell am Ufer. »Wirst du am Sonntag die Regatta gewinnen?« fragte Brody. Mike zuckte die Schultern. »Wenn ich mitmache.« »Was soll das heißen?« »Wenn Jackie mitfahren darf.« »Halt mal. Sollte Sean nicht mitfahren?« »Naja, er hat ja die Ruderpinne angestrichen. Da werd' ich ihn wohl schon mitnehmen müssen. Wenn ich überhaupt fahre ...« »Du kannst es doch nicht einfach aufgeben! Du hast es ihm versprochen!« »Na schön, dann fahr' ich eben. Was soll's? Ist ja keine große Sache.« Brody sah ihn an. »Mike, hast du irgendein Problem?« fragte er vorsichtig. »Ein Problem?« Mikes Stimme klang abweisend. Er wollte seinem Vater nicht in die Augen sehen, neigte sich vor und schaute auf Brodys Armbanduhr. »Wie spät ist es? Jackie ...« »Laß Jackie mal aus dem Spiel. Ich finde, wir sollten uns lieber über das Schwimmen am Strand unterhalten.« Mike reagierte nervös. »Ach, ich dachte, das hätten wir geklärt.« »Naja, sozusagen schon.« Wenn Brody ihm jetzt sagte, daß er ihn heute morgen gesehen hatte, wie er mit einem angeblichen Krampf vom Wasser weghumpelte, wäre er beleidigt, und dann bekam man kein Wort mehr aus ihm heraus. »Hast du es getan?« Mike zuckte die Schultern. »Hab' heute früh nur meinen Taucheranzug ausprobiert.« »Hält er dich warm?« Mike verdrehte die Augen. »Fantastisch.«
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»War es schön, wieder mal im Ozean zu schwimmen?« Brodys Stimme zögerte. Das war das reinste Minenfeld, und er wußte wirklich nicht, was er sagen sollte. »Ganz toll! Ja!« Brody tappte sich weiter vor. »Keine ... Empfindungen?« Nur nicht zuviel auf einmal ... »Keine ... Sorgen?« Es war, wie wenn man versuchte, Minnies siamesische Katze vom Dach zu locken, ohne sie zu erschrecken und zu einem Zwölfmetersprung zu treiben. »Überhaupt nicht!« Mike blickte ihn wütend an. »Hör mal, dir ist das Wasser verhaßt! Aber du bist trotzdem mit Quint herausgefahren! Ich aber liebe das Wasser! Und du glaubst, ich mache mir Sorgen? Jetzt, wo er tot ist?« Von der Garage her kam ein schrilles Bellen und danach ein Schrei Seans. Sie liefen schnell über die Wiese. Die Garage stank immer noch entsetzlich nach Seehund und Sardinen. Sean kämpfte mit Sammy, der durch die Tür entschlüpfen wollte. Sean sah wie der Torhüter einer Fußballmannschaft zehn Sekunden vor dem Penalty aus. Der Junge und der Seehund schrien hysterisch. Brody hockte sich vor dem Seehund auf den Boden, der seinen Kopf schüttelte und ihn aus dem Weg zu stoßen versuchte. Endlich gelang es den dreien, ihn wieder in die Garage zurückzubringen. Der Verband war ihm wieder einmal von der Wunde gerutscht. Wenn man ihn jetzt nicht bald soweit hatte, daß er schwimmen konnte, blieb nur noch die Möglichkeit, ihn im Woods Hole Institute oder im Zoo von Bronx unterzubringen. »Am Vormittag schien er noch ganz zufrieden«, erklärte Sean. Der Seehund bellte kläglich, und seine Augen waren voller Tränen. Man konnte ihn unmöglich noch viel länger hierbehalten. Und wenn er fort war, war es ebenso unmöglich, Sean zu trösten. »Wir haben nur gespielt, und dann hat er versucht wegzulaufen.«
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Brody führte Sean heraus und schloß die Tür. »Laß ihn ein bißchen in Ruhe.« Er blickte bedauernd auf seine Uhr. Im Winter waren seine Söhne in der Schule, aber im Sommer hatte er nie genug Zeit für sie. Er hatte eine Verabredung im gerichtsmedizinischen Laboratorium von Suffolk County in Bay Shore, und er wurde in einer halben Stunde erwartet. Er wandte sich an Mike. »Und was hast du heute nachmittag vor?« Mike zuckte die Schultern. »Ich treffe mich mit Jackie. Sie hat heute frei. Vielleicht gehe ich mit ihr schwimmen.« Plötzlich erschien ihm sein Sohn größer, gelenkiger und weiser. Und Jackie war gewiß eine reife Frucht. Und trotz ihrer Zahnklammern war sie eine Schönheit. Er hatte den Eindruck, daß man Mike in nächster Zeit weniger im Wasser und auf dem Strand als in den Dünen finden würde. »Behalt nur deine Taucherhosen an«, sagte er und fuhr ihm über das Haar. »Verstanden?« Mike wurde rot. »Nun hör schon auf, Daddy!« Brody stieg in den Wagen Nummer eins und fuhr in Richtung von Bay Shore davon. Er hoffte insgeheim, daß Jackie Mike vom Wasser fernhalten würde. Aber das war ein dummer Gedanke. Die Katastrophe war ja vorüber. Der Hai und sein eigener Vater hatten dem Jungen eine wahre Phobie angehängt. Da blieb dem Armen keine Chance. Eine elende Geschichte, Teufel noch mal ...! Larry Vaughan, der Bürgermeister von Amity und Präsident der Grundstücksfirma Vaughan und Penrose, wünschte nicht, daß man in seinem Rathausbüro über Grundstücksgeschäfte sprach. Eventuelle Kunden wurden an sein Firmenbüro auf der Scotch Road, das er in einer Holzbude eingerichtet hatte, verwiesen. Er befürchtete nämlich, daß die Stadtväter ihm die Bürounkosten und das Gehalt seiner Sekretärin Daisy Wicker, die er angeblich zur Erfüllung seiner bürgermeisterlichen Pflichten benötigte, verweigern würden, falls er das offizielle Büro für seine persönlichen Geschäfte benutzte. -9 1 -
Aber Starbuck war es gelungen, Daisy zu überrumpeln, und nun stand er vor ihm und starrte ihn über den großen Schreibtisch hinweg an. Vaughan blickte ihm argwöhnisch entgegen. Der Apotheker bot der Stadt zwar einige Profitchancen, doch gab es mit ihm immer Ärger, und er war eine ausgesprochene Nervensäge. »Die Apotheke wollen Sie verkaufen?« Vaughan wiederholte es ungläubig. Ihn interessierte der wahre Grund, der den Apotheker zum Verkauf bewog, und er war keinesfalls gewillt, einen angegebenen Grund als wahr hinzunehmen - besonders, wenn es um Geschäfte ging. »Tja«, sagte Starbuck. »Das habe ich vor.« »Mein lieber Nathaniel«, sagte Vaughan langsam. »Natürlich bestürzt mich das, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Ihr Preis scheint mir ziemlich hoch, aber vielleicht so etwa in einem Monat, falls das Spielgesetz durchkommt ...« »Ich rede nicht von etwa in einem Monat. Ich will jetzt verkaufen.« Vaughan vernahm das Alarmsignal. Die Zukunft sah im Augenblick zwar recht rosig aus, Vaughan wußte zwar, daß Vaughan und Penrose und die Stadtverwaltung von Amity eine Periode noch nie dagewesenen Wachstums und Wohlstands voraussahen - das hatte er im Rotary verkündet -, aber seit der Katastrophe war er vorsichtiger geworden. Der Fremdenverkehr ist immer eine unsichere Angelegenheit. Und im Stadtgebiet von Amity war Vertrauen in die Zukunft erste Vorbedingung für einen Wertzuwachs von Grund und Boden. Da war es zumindest befremdend, zu wissen, daß ein Geschäftsmann der Stadt, der die Krise der Katastrophe überstanden hatte, jetzt auf einmal aussteigen wollte, wo man das Spielgesetz und den entsprechenden Boom erwartete. Vaughan klopfte mit dem Bleistift auf den Schreibtisch. »Nathaniel, wir wollen jetzt nicht über den Preis reden. Ich bin einfach bestürzt über Ihren plötzlichen Wunsch, wenn ich bedenke, seit wann ein Starbuck in dieser Stadt schon Pillen drehte -« das war nun weiß Gott nicht der richtige Ausdruck, -9 2 -
der alte Trottel hatte schließlich auch seinen Stolz -, »ich meine, sich um die hiesige Apotheke bekümmerte. Wie lange ist es her? Drei Generationen, nicht wahr? Da müssen Sie verstehen, daß es ein Schlag für uns ist ...« »Gesundheitsgründe«, sagte Starbuck. »Gesundheitsgründe?« »Lena.« Er zuckte mit keiner Wimper. »Sie hat Krebs.« Vaughan schauderte. Vor fast vierzig Jahren hatten seine Eltern, die den Sommer über bei einem Grundstücksmakler in East Hampton arbeiteten, Lena als sein Kindermädchen angestellt. Sie war damals ein junges Mädchen mit stark vorstehenden Zähnen gewesen, und sie war stets lieb und freundlich und hatte ihm das Kartenspielen beigebracht. »Um Gottes willen«, rief er. »Doch nicht Lena!« »Sie muß nach New York ins Memorial-Krankenhaus. Das wird mich sechzig, vielleicht auch hundert Dollar pro Tag kosten, und Gott weiß, für wie lange, ganz abgesehen von den Kosten für die Medikamente und unserer Versicherung, in der sowas gar nicht vorgesehen ist.« Vaughan trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Starbucks Grundstück war eines der bestgelegenen der Innenstadt, direkt an der Hauptstraße. Wenn das Casino einmal fertig war und das Gesetz durchkam, war jeder Quadratmeter südlich der Scotch Road ein klotziges Vermögen wert. Starbuck hatte versucht, das Grundstück während der Katastrophenzeit zu verkaufen, und jetzt war es schwer mit Hypotheken belastet. Eine davon hatte Vaughan selbst über die Bank vermittelt. Möglicherweise hatte Starbuck keine Ahnung vom zukünftigen Wert seines Besitzes. Er wollte 50000 Dollar haben. Vaughan war sicher, es für 75000 verkaufen zu können. Oder sollte er es nicht lieber selbst behalten und abwarten? »Sagen Sie Lena, es täte mir furchtbar leid. Ich werde die Apotheke für einen Wert von 50 veranschlagen. Ich werde mich in New York erkundigen, ob es Interessenten gibt. Jedenfalls werde ich sehen, was sich machen läßt.« -9 3 -
Starbuck grinste. »Tun Sie das, Larry.« Dieses sonst so seltene dünne Lächeln überraschte Vaughan. »Ich bin sicher, daß wir es verkaufen können«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ist auch höchste Zeit«, sagte Starbuck. Er erhob sich, setzte sich den Hut auf und ging. Was zum Teufel sollte das nun wieder heißen? Vielleicht hatte Lenas Krankheit ihm einen Schock versetzt. Ein seltsamer Kerl. Vaughan beschloß, ihn eine Woche zappeln zu lassen, ihm dann 35000 zu bieten - weil es schließlich um Lena ging - und das Grundstück für sich selbst zu kaufen. Das rote Licht an seinem Telefon blinkte auf. Der Anruf kam aus Albany, der Hauptstadt des Staates New York. Clyde Bronson, der für Amity zuständige leitende Beamte der Justizbehörde, hatte gerade eben den staatlichen Polizeikommissar empfangen, bei dem wiederum ein Rechtsanwalt vorgesprochen hatte, der einen Polizeiwachtmeister aus Flushing namens Jepps in einer Angelegenheit vertrat, die mit unerlaubtem Umgang mit Waffen und einem Verstoß gegen das Tierschutzgesetz zu tun hatte. Clyde erklärte, die staatliche Polizeikommission sei ohnehin gegen das Spielgesetz, und sie verfügten über ausgiebige Akten mit allen Einzelheiten bezüglich der Beziehungen, die die Staatsbeamten zu den Stadtbehörden unterhielten, und sie seien bestimmt auch über ihn informiert. Falls Vaughan sich nun einbildete, er könne diesen Leuten an den Karren fahren und dann noch erwarten, daß Amity eine Spielzulassung bekäme, dann sei er schief gewickelt. »Haben Sie das auch richtig mitgekriegt, Larry?« Er hörte den hohen Beamten durch den Hörer schnaufen. Vaughan bestätigte ihm, er habe es mitbekommen. Er legte den Hörer auf und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Jetzt schnaufte auch er, als ob er sich angesteckt hätte. Er stapfte über den Flur zum Büro der Polizei von Amity. Brodys -9 4 -
Schreibtisch war leer. Polly las gerade Angst vorm Fliegen. Er starrte sie mürrisch an. »Wo steckt er?« fragte er. »Im gerichtsmedizinischen Laboratorium in Suffolk. Larry, Sie sind ja in Schweiß gebadet. Fehlt Ihnen was?« »Die einzige für mich wäre, Ihren Chef an die frische Luft zu setzen.« »Das können Sie nicht«, sagte sie geziert. »Wir sind Beamte.« »Ich schmeiß ihn raus, sowie er zurückkommt«, bellte er. Er trat aus dem Rathaus und ging auf einen Drink in den >Wilden BärenBallistisches Laboratorium< stand. An einer Wand hing eine Riesensammlung von Waffen. Da gab es alles, von den winzigen Damenhandtaschenpistolen bis zu den Maschinengewehren, an die sich Brody noch aus seiner Militärzeit erinnerte. Und über der Sammlung war ein Schild: >VERGLEICHENDE BALLISTISCHE TESTABTEILUNGDas Recht auf Waffenbesitz darf dem Volke nicht verwehrt werden.
Wilden BärenPlayboy