Clarissa Ross
Die weiße Frau von Moorgate Inhaltsangabe Als glückliche Braut eines jungen Arztes kommt Lucy Dorset nac...
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Clarissa Ross
Die weiße Frau von Moorgate Inhaltsangabe Als glückliche Braut eines jungen Arztes kommt Lucy Dorset nach Moorgate. Schon bald entdeckt sie, daß das alte Haus an der Bucht von einem Phantom heimgesucht wird. Es ist der Geist einer lieblichen, bleichen Frau, die vor langer Zeit das Opfer einer romantischen Liebesbeziehung mit tragischem Ende geworden war. Lucy fürchtet, daß die unglücklichen Seelen von Moorgate für sie das gleiche Schicksal heraufbeschwören könnten, wie es vor hundert Jahren der schönen Jennifer widerfuhr. Sie weiß, daß sie das Haus von dem Geist befreien muß, um ihr Glück zu retten.
KELTER TASCHENBUCH Band Nr. 1.141 Alle Rechte vorbehalten
Diese Taschenbuchausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung von Quelle Features, Freiburg Titel der amerikanischen Originalausgabe: Jennifer by Moonlight Übersetzt von Ingrid Herrmann Umschlag: Three Lions (D 288/79) – Sperlich Satz: Mero-Druck Otto Melchert KG. (GmbH & Co.), 2054 Geesthacht/Elbe Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm Printed in Germany 1980 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Z
u der Zeit, als Lucy Dorset das Flugzeug von Boston nach St. Andrews bestieg, einer malerischen Kleinstadt an der Bucht von Fundy in Kanada, war Jennifer Woods schon fast hundert Jahre tot. Dennoch sollte ihre blasse, geisterhafte Gestalt eine wichtige Rolle in Lucys Leben spielen und in ihre Ehe mit dem jungen Arzt Fred Dorset eingreifen. Jedesmal, wenn Lucy an ihr erstes Ehejahr zurückdachte, fielen ihr sogleich Jennifer und das alte steinerne Haus ein, das in der Gegend unter dem Namen Moorgate bekannt war. Denn Jennifers zarter, lieblicher Geist und das eindrucksvolle alte Haus auf dem Hügel, der die Stadt und die Bucht – überragte, hatten ihr Leben verändert. Vom zweiten Stock des Hauses aus konnte sie sogar die Pfarrersinsel sehen, die klein und mit Wald bestanden eine Meile von der Küste entfernt in der Bucht von Fundy lag. Zu Fuß oder mit dem Auto war sie bei Ebbe über eine sandige Fahrspur zu erreichen. Nach und nach machte sich Lucy mit ihrer Umgebung vertraut und lernte Namen und Orte, die mit Jennifers tragischer Geschichte verknüpft waren, kennen. Die Tatsache, daß fast ein Jahrhundert vergangen war, hatte nicht dazu beigetragen, die Einzelheiten dieser unglückseligen Romanze ins Vergessen sinken zu lassen. Und die Charaktere der beteiligten Personen waren für die heutigen Einwohner der verträumten Küstenstadt noch genauso lebendig, wie sie es hundert Jahre zuvor für die Zeugen des Geschehens gewesen sein mußten. Lucys Mann war ein Landarzt alten Schlages, der nicht davor zurückscheute, auch Hausbesuche bei den entferntest wohnenden Patienten zu machen. Nicht selten verbrachte Lucy die Abende allein, wenn Fred in seinem kleinen roten Auto zu Patienten fuhr, die zu krank oder zu 1
gebrechlich waren, um zu ihm in die Praxis zu kommen. Dann wartete sie in dem alten, düsteren Haus auf seine Rückkehr. An Sommerabenden wanderte sie in der Dämmerung oft noch durch den Garten. Und im Flüstern der Birken, die den Garten umsäumten, glaubte sie oft Jennifers traurige, wehmütige Stimme zu hören, die Seufzer der lieblichen, zarten jungen Frau, die vor vielen Jahren einmal hinter den weinbewachsenen Mauern von Moorgate gelebt hatte. Für Lucy hatte alles vor einem Jahr auf einer Party ihrer Freundin in Boston angefangen. Weil Patricia medizinisch-technische Assistentin war, enthielt ihr Bekanntenkreis jede Menge Leute, die beruflich mit der Medizin oder Krankenpflege zu tun hatten. Auf der Party waren sowohl Krankenschwestern als auch Ärzte anwesend. Einer der Ärzte war Fred Dorset, ein ernsthafter, rothaariger junger Mann von zweiunddreißig mit einem kantigen, freundlichen Gesicht. Patricia, die wußte, daß Lucy keinen festen Freund hatte, hatte sie beiseite gezogen und auf Fred Dorset aufmerksam gemacht, der allein und in sich gekehrt neben dem lärmenden Plattenspieler stand. Patricias Augen funkelten verschmitzt, als sie sagte: »Siehst du den rothaarigen jungen Mann dort?« »Ja«, hatte Lucy ahnungslos geantwortet und sich gewundert, weshalb ihm wohl Patricias besonderes Interesse galt. »Das wäre der ideale Ehemann für dich«, hatte Patricia verkündet. Lucy, blond und grünäugig, hatte verblüfft erwidert: »Du machst ja Witze!« »Ich meine es ernst«, gab Patricia würdevoll zurück. »Er ist genau dein Typ. Er verläßt Boston, um in einer kanadischen Kleinstadt seine erste Praxis zu übernehmen. Ich könnte mir vorstellen, daß ein hübsches Mädchen, das zufällig auch noch Krankenschwester ist, genau die Richtige für ihn wäre.« Lucy errötete. »Red keinen Blödsinn!« »Ich denke ausnahmsweise einmal sehr praktisch«, hatte ihre Freundin geantwortet. »Wenn ich nicht schon verlobt wäre, würde ich mich selbst an ihn ranmachen. Vielleicht überlege ich es mir noch, falls du 2
kein Interesse hast. Zieh ihn also als deinen Zukünftigen in Erwägung, allein schon deshalb, um ihn vor mir zu retten.« Lucy hatte gelacht. Aber sie war sich durchaus nicht sicher gewesen, ob Patricia nun ernsthaft oder im Scherz gesprochen hatte. Plötzlich tat ihr der junge Mann leid, der offensichtlich das Ziel mannigfacher weiblicher Schliche war. Schon aus purem Mitleid wollte sie davon absehen, einen Angriff auf ihn zu starten. Aber sie hatte die Rechnung ohne Patricias Hartnäckigkeit gemacht. Trotz ihrer Proteste nahm sie sie beim Arm und schleppte sie quer durch das überfüllte Wohnzimmer bis hin zu dem ernst blickenden jungen Arzt. Sie stellte sie mit folgenden Worten vor: »Lucy Miller, meine beste Freundin und die tüchtigste Krankenschwester, die ich kenne.« Danach tauchte sie in der Menge der Gäste unter und überließ es den beiden, das Gespräch fortzusetzen. Auf Fred Dorsets eckigem Gesicht zeigte sich ein Lächeln, als er fragte: »Sind Sie wirklich so tüchtig, Lucy?« Wieder errötete sie. »Patricia hat eine merkwürdige Auffassung von Humor. Sie müssen ihr verzeihen.« »Aber Sie sind doch Krankenschwester?« erkundigte er sich mit einem Anflug von Interesse. »Ja, das stimmt«, gab sie lächelnd zu. Er hatte freundliche blaue Augen, die jetzt aufleuchteten. »Arbeiten Sie hier in Boston?« »Im New England Baptist Hospital«, antwortete sie. »Ich kenne es gut. Ich war in der Tufts Klinik tätig.« »Dieses Krankenhaus hat einen sehr guten Ruf.« »Der auch berechtigt ist«, stimmte er zu. Sein Blick schweifte von Lucy zu den übrigen Gästen und heftete sich dann unwillig auf den plärrenden Plattenspieler. »Eigentlich sollte ich hier den Discjockey spielen, aber ehrlich gesagt geht mir der Lärm auf die Nerven. Lassen Sie uns ein ruhigeres Plätzchen zum Unterhalten suchen.« Er nahm ihren Arm. Unsicher blickte sie zu ihm hoch. »Ich wüßte nicht, wo wir hingehen 3
sollten. Die Wohnung ist nicht groß, und die Leute haben sich doch auf sämtliche Zimmer verteilt.« »Ein gutes Beispiel für die Bevölkerungsexplosion im sozialen Wohnungsbau«, erwiderte er. »Aber wir haben Juni, und draußen ist es warm. Beim Hereinkommen hatte ich einen kleinen Balkon gesehen, den sonst vielleicht noch niemand entdeckt hat.« »Sie sind ein Optimist«, lachte sie. »Optimismus ist mein hervorstechendster Charakterzug«, entgegnete er zuversichtlich. »Kommen Sie mit.« Sie zwängten sich durch die lachende, lärmende Menge und kämpften sich bis zu dem winzigen Balkon vor, der von Vorhängen verdeckt war, so daß ihn tatsächlich noch niemand erspäht hatte. Sie traten in die frische Luft hinaus, und hinter ihnen schloß Fred Dorset die Tür. Er atmete hörbar auf. Er lächelte ihr zu und fand: »Hier ist es schon viel besser.« Sie lachte. »Hoffentlich ist der Balkon nicht nur zur Zierde da. Nicht, daß wir beide gleich in die Tiefe sausen.« Er winkte ab. »Dazu ist er zu solide gebaut. Erzählen Sie mir mehr über sich.« Sie war zu der Überzeugung gelangt, daß er ein sehr selbstbewußter junger Mann war, der sehr wohl auf sich aufpassen konnte und sich so leicht von keiner Frau überrumpeln ließ. Sie lehnte sich an das eiserne Geländer und blickte hinunter auf die Reihen der parkenden Autos. »Ich bin ein sehr uninteressanter Mensch, genauso wie mein Name, Lucy.« »Mir gefällt Lucy ausgezeichnet«, entgegnete er. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit, wo Sie wohnen, wie Ihnen Boston gefällt – es gibt Hunderte von Themen, und ich bin ein guter Zuhörer.« Lucy lächelte ihm zu. »Ich finde, Sie verlangen aber ziemlich viel dafür, daß wir uns gerade erst kennengelernt haben.« Er lächelte zurück. »Forsches Auftreten ist die einzige Waffe schüchterner Männer.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das abnehmen soll, Fred.« Dann fuhr sie fort: »Was mich anbetrifft, ich wurde in einer Kleinstadt in Maine 4
geboren. Meine Eltern sind schon alt und leben im Ruhestand in Florida. Ich arbeite als Operationsschwester und wohne mit zwei anderen Mädchen zusammen in einem Appartementhochhaus in der Nähe des Hospitals.« »Das Wichtigste haben Sie ausgelassen.« »Und das wäre?« »Sind Sie verlobt oder verheiratet? Sie schüttelte den Kopf. Nein.« »Ich auch nicht.« Sie hob ihre feingeschwungenen Augenbrauen. »Sie sind eine ziemliche Ausnahme. Heutzutage scheinen Mediziner jung zu heiraten. Oft arbeitet die Frau mit und hilft ihnen, ihre Ausbildung zu Ende zu bringen.« Der rothaarige junge Mann nickte. »Ich weiß. Daran ist auch nichts auszusetzen. Ich habe einfach das richtige Mädchen noch nicht getroffen.« »Ich wußte gar nicht, daß das so schwer ist.« »Vielleicht ist es das auch nicht. Ich habe so ein Gefühl, als hätte sich das Blatt heute gewendet.« »Machen Sie sich jetzt über mich lustig?« fragte sie mit strahlenden Augen. »Ganz im Gegenteil. Ich habe es noch nie so ernst gemeint«, erwiderte er mit Nachdruck. Er hatte nicht gelogen. Er bat um ihre Telefonnummer und rief gleich am nächsten Abend an. Danach trafen sie sich immer öfter. Er war ein guter Gesprächspartner, ganz gleich, ob sie zu einer Tanzparty gingen oder einfach nur stundenlang am Fluß saßen. Und irgendwann einmal begann sie, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. Eines Abends saßen sie noch auf einen Drink in der Bar des Sheraton Plaza Hotels, die sich wie ein Karussell drehte. Ohne Einleitung fragte er sie, ob sie seine Frau werden wollte. Überrascht starrte sie ihn an. »Habe ich mich verhört, oder bilde ich mir schon Sachen ein, oder hast du mich gerade wirklich gefragt, ob ich dich heiraten möchte?« 5
»Ich fragte, ob du meine Frau werden willst«, wiederholte er ernst. »Aber auf welche Art und Weise! Und an welchem Ort!« rief sie und blickte in die überfüllte Bar. »Was spielt das für eine Rolle, solange wir uns lieben?« fragte er. »Zeit und Ort sind unwichtig. Wichtig ist, ob du jetzt ja sagst oder nein.« Über den Tisch hinweg lächelte sie ihm zu. »Welche Antwort erwartest du denn?« »Ich weiß es selbst nichts«, gab er zu und sah plötzlich unsicher aus. »Vielleicht habe ich dich gerade deshalb hier gefragt, wo all die Menschen um uns sind. Wenn du mir einen Korb gibst, dann komme ich mir wenigstens nicht so schrecklich verlassen vor.« Lucy lachte und legte ihre Hand auf seine. »Tu nicht so. Du weißt doch genau, was ich antworten werde. Natürlich ja.« Er reagierte genauso impulsiv, wie sie es erwartet hatte. Er stand auf, kam um den Tisch herum und küßte sie. Verlegen bemerkte sie die amüsierten Gesichter ringsum und bat ihn hastig, zu bezahlen und die Bar zu verlassen. Draußen warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du hast mich ja ganz schön in Verlegenheit gebracht.« »Was ist denn daran falsch, wenn ein Mann seine zukünftige Frau küßt?« fragte er scheinheilig. »Aber mitten in einer überfüllten Bar?« gab sie zweifelnd zurück. »Du mußt wirklich ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein besitzen.« Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Wir haben eine lange und glückliche Ehe vor uns. Mit der Zeit wirst du vergessen, wie kindisch ich mich bei meinem Heiratsantrag angestellt habe.« Lucy erklärte, daß sie mit der Hochzeit noch ein paar Monate warten wollte. Sie hatte noch manches in Boston zu regeln und wollte außerdem ihre Eltern in Florida besuchen. Fred war einverstanden. Das verschaffte ihm die Gelegenheit, allein nach Kanada vorzufahren, sich in seiner neuen Praxis einzurichten und ein Haus für sie auszusuchen. Sie machten aus, sich alle vier Wochen für ein paar Tage in Boston zu treffen. 6
Der Plan klappte vorzüglich. Weihnachten beschlossen sie, im kommenden Mai zu heiraten. Im Juni würde Lucy dann nach St. Andrews nachkommen. Erst im März konnte Fred berichten, daß er ein passendes Haus für sie gefunden hatte. Eines Abends, als sie im Grill-Room des Ritz-Hotels saßen, verkündete er die gute Nachricht. »Ich habe das ideale Haus für uns gefunden.« Lucy hielt im Essen inne und sagte erleichtert: »Na endlich!« »Ja.« Er nickte. »Ich hatte schon seit langem ein Auge darauf geworfen, aber es schien aussichtslos, das Haus zu bekommen. Allerdings kenne ich die Besitzerin, und mit etwas Glück überredete ich sie, mir das Haus mitsamt dem großen Grundstück zu verkaufen.« Lucy warf ihm einen fragenden Blick zu. »Eine Frau?« »Du brauchst gar nicht so komisch zu gucken«, protestierte er. »Sie hat uns einen großen Gefallen getan.« »Meinst du?« entgegnete Lucy spitz. »Und ist sie zufällig auch noch jung, hübsch und alleinstehend?« Freds Stirn rötete sich. »Was hat das denn damit zu tun?« »Das will ich von dir wissen, Fred. Junge, gutaussehende Ärzte haben es doch sicher nicht schwer, in einer Kleinstadt wie St. Andrews weibliche Gönner zu finden.« »Du hast das in die falsche Kehle gekriegt«, warf er ihr kopfschüttelnd vor. »Erzähl mir von ihr.« Er stieß einen ergebenen Seufzer aus. »Sie heißt Sheila Farley. Sie ist die einzige Tochter eines wohlhabenden ehemaligen Börsenmaklers, der in St. Andrews lebt. In der Gegend besitzen sie eine Menge Land. Und als sie merkte, wie interessiert ich daran war, Moorgate zu bekommen, willigte sie schließlich in den Verkauf ein. Ach so, ja, außerdem ist sie noch schwarzhaarig, jung und bildhübsch.« »Das dachte ich mir«, entgegnete Lucy trocken. »Spiel jetzt nicht die erzürnte Ehefrau«, bat er sie. »Genau das werde ich bald sein«, erinnerte sie ihn. »Gib mir Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen.« 7
»Vermutlich hast du mit dieser Sheila auf Teufel komm raus geflirtet«, neckte sie ihn. »Nein«, verteidigte er sich. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Gewiß, wir sind ein paarmal miteinander ausgegangen. Aber ganz unverbindlich, nur als gute Freunde sozusagen.« »Das kann ich mir vorstellen.« Sie setzte ein wissendes Lächeln auf. »Ich dachte, du würdest dich mehr für das Haus interessieren«, warf er ein. »Das tue ich auch. Erzähle mir etwas darüber.« »Du wirst dich auf den ersten Blick darin verlieben«, prophezeite er. »Es liegt auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Ringsherum stehen hohe Birken, und von den Fenstern aus hat man einen phantastischen Ausblick auf St. Andrews und die Bucht. Aber was noch wichtiger ist, es ist keines dieser neumodischen, billig gebauten Häuser. Die Wände bestehen aus massivem Stein, und es ist über hundert Jahre alt.« »Ist es in gutem Zustand?« »Das will ich wohl meinen. Das Ehepaar, das zuletzt darin wohnte, betrieb ein Geschenkartikelgeschäft. Als sie den Laden aufgaben und aus St. Andrews fortzogen, verkauften sie den Besitz an Sheilas Vater. Ich kann dir sagen, daß das Haus in ausgezeichnetem Zustand und sehr gepflegt ist. Der letzte Besitzer hat sehr viel Geld für die Renovierungen und Modernisierung hineingesteckt.« Sie machte große Augen. »Wenn sie soviel in das Haus investiert haben, warum sind sie dann überhaupt ausgezogen?« »Sie wollten ihr Geschäft aufgeben und in eine andere Stadt ziehen«, erklärte er. »Leben sie jetzt im Ruhestand?« »Ja. Das Haus heißt Moorgate. Es ist ein solider quadratischer Bau mit zwei Etagen, einem Keller und Dachboden. Hinter dem Haus liegt ein großer Garten mit Nebengebäuden. An den Wänden rankt wilder Wein, und von der Landstraße aus führt ein ziemlich kurvenreicher Weg zum Grundstück.« »Das hört sich faszinierend an«, gab sie zu. 8
»Und das Interessanteste ist«, setzte er hinzu, »früher haben dort einmal ein Arzt und seine Frau gewohnt.« »Was du nicht sagst!« Sie war ehrlich erstaunt. »Ja«, bekräftigte er. »Das liegt natürlich fast hundert Jahre zurück, aber in einem kleinen Nest wie St. Andrews erinnert man sich an solche Sachen. Die Leute sprechen immer noch von ihnen.« »Ich freue mich schon auf den Einzug«, sagte Lucy. »Es wird dir bestimmt gefallen«, meinte Fred begeistert. »Im Haus befinden sich ein paar schöne Antiquitäten, und nach und nach trage ich noch mehr passende Einrichtungsgegenstände zusammen. Wenn wir nach den Flitterwochen einziehen, dann will ich es komplett möbliert haben.« Sie warf ihm einen neckenden Blick zu. »Ich nehme an, Sheila ist dir beim Aussuchen behilflich.« Er lachte. »Du darfst dir nichts dabei denken. Es stimmt, sie hilft mir beim Einrichten. Sie hat einen sicheren Geschmack. Und sie freut sich schon darauf, dich kennenzulernen«, schloß er. »Ich kann unser erstes Treffen gar nicht abwarten«, gab Lucy trocken zurück. Der junge Arzt machte eine besorgte Miene. »Zieh jetzt bloß keine falschen Schlüsse, Lucy. Seit ich in St. Andrews wohne, habe ich mich sehr umsichtig verhalten. Wenn ein Arzt das Vertrauen der Leute gewinnen will, dann muß sein Ruf über jeden Zweifel erhaben sein. Sonst kann er seine Praxis gleich zumachen. Ich habe schon aufgepaßt, daß ich keinerlei Klatsch errege.« »Dann bin ich ja beruhigt«, gab sie in neckendem Ton zurück. »Du hast auch keinen Anlaß zur Sorge«, tröstete er sie. »Alle meine neuen Bekannten brennen schon darauf, dich kennenzulernen. Gleich bei unserer Ankunft gibt der alte Dr. Boyce uns zu Ehren ein Fest. Wir gehen dorthin, noch bevor wir in unserem eigenen Haus waren.« »Es gibt noch einen Arzt in der Stadt?« staunte sie. »Davon hast du mir ja noch gar nichts gesagt.« »Er ist schon recht alt, aber immer noch sehr rüstig. Dr. Boyce be9
handelt kaum noch Patienten. Er war entzückt, als er hörte, ich würde nach St. Andrews ziehen. Das macht die Dinge für ihn leichter.« »Er scheint ein sympathischer alter Herr zu sein.« »Das ist er auch«, bekräftigte Fred. »Du wirst dich in St. Andrews und Moorgate wohl fühlen.« Das war das erste Mal, daß sie von Moorgate gehört hatte. In den folgenden Wochen sollten sie noch oft über das Haus sprechen. Es wurden die hektischsten Wochen, die Lucy je erlebt hatte. Und dann kam der Tag ihrer Hochzeit. Sonnig und mild, wie es sich für einen Hochzeitstag gehörte. Es folgten verträumte Flitterwochen in den Weißen Bergen von New Hampshire. Dann kam die Fahrt entlang der wildromantischen Küste Kanadas nach St. Andrews. Als sie in die Stadt hineinfuhren, war es später Nachmittag. Entzückt betrachtete Lucy das schroff aufragende Gebirgsmassiv, den Küstenstreifen und die dichten dunkelgrünen Nadelwälder. In der Bucht von Fundy lag geschützt der alte Ort St. Andrews. Vorgelagert war eine Kette aus kleinen Inseln, die aus der Ferne wie grüne Farbtupfer im Meer aussahen. Die Straßen der Stadt waren gleichmäßig angelegt. Im Ort war Altes mit Neuem eine harmonische Mischung eingegangen. Die Geschäfte an der Hauptstraße sahen von Wind und Regen verwittert aus. Zwischen den einzelnen Gebäuden hindurch konnte man aufs Wasser blicken, wo an den Molen vertäute Fischerboote sanft schaukelten. Die Luft war kristallklar und schmeckte nach Salz. Fred lächelte ihr zu. »Nun, gefällt's dir?« »Es ist schöner, als ich es mir vorgestellt hatte«, antwortete seine junge Frau glücklich. »Gleich sind wir bei Dr. Boyce«, verkündete er. Sie hielten vor einem schlichten, weißangestrichenen Haus mit einem gepflegten Vorgarten und säuberlich gestutzten Hecken. Auf der Zufahrt parkten mehrere Wagen. Auf einem einfachen Schild neben der Tür stand: Dr. med. Matthew Boyce. Lucy blickte auf Fred, als sie die Stufen der Veranda hochschritten. »Ich bin etwas nervös«, gestand sie. 10
Er drückte ihren Arm. »Das brauchst du nicht. Es sind alles nette, gutmütige Menschen, die sich gern mit dir anfreunden wollen.« Die Tür öffnete sich, bevor sie anklopfen konnten, und ein untersetzter, rundlicher Mann, dessen Kopf völlig kahl war, trat ihnen entgegen. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Ich bin Matthew Boyce«, begrüßte er Lucy. »Und Sie sind genauso hübsch, wie Fred Sie beschrieben hat.« Daraufhin drückte er fest ihre Hand und küßte sie auf die Wange. Er war ein leutseliger, wohlmeinender alter Herr, und Lucy faßte diese Begegnung als einen guten Anfang auf. Sein bescheidenes Wohnzimmer war gedrängt voll mit Menschen aller Altersstufen. Eine der älteren Damen, die Lucy als Mrs. Matilda Stevens vorgestellt worden war, erwies sich als die Witwe des ehemaligen Friedensrichters. Sie war von herrischem Wesen, dabei aber nicht bevormundend oder unangenehm. Sie gab Lucy die Hand und lächelte. »Ich hoffe, Sie werden sich bald bei uns heimisch fühlen.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Lucy. »Von unserem neuen Arzt halten wir bereits sehr viel«, fuhr Mrs. Stevens fort und wies mit dem Kinn in Freds Richtung. »Aber jetzt mache ich Sie mit meinem Sohn Jim bekannt.« Sie winkte einem hochgewachsenen, braunhaarigen jungen Mann zu. Er hatte ein tiefgebräuntes Gesicht, klug blickende Augen und ein gewinnendes Lächeln. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Dorset«, sagte Jim Stevens. »Fred und ich sind uns bereits geschäftlich nähergekommen. Ich betreibe hier eine Anwaltspraxis und war mit dem Verkauf des Hauses betraut.« »Auf Moorgate bin ich schon gespannt«, gab sie zu. »Ich kenne das Haus ja nur aus Freds Beschreibungen.« Jim nickte. »Es ist ein schönes altes Haus.« Seine Mutter pflichtete ihm bei. »Er hat recht. Geben Sie einfach nichts darum, was die Leute sagen.« Ihre Worte verwirrten Lucy. Überrascht blickte sie auf und fragte: »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht. Was meinen Sie denn damit?« 11
Mrs. Stevens schien verunsichert. Hastig erklärte sie: »Ich finde, Sie sollten sich ganz unvoreingenommen Ihr eigenes Urteil über das Haus bilden. Lassen Sie sich Ihren ersten Eindruck nicht verderben, indem sie sich zu viel darüber erzählen lassen.« Und ihr Sohn ergänzte: »Moorgate ist ein feiner Besitz. Er hatte nicht zum Verkauf gestanden, aber die Farleys wollten, daß Dr. Dorset ein angemessenes Heim fand. In eine Kleinstadt wie St. Andrews verirrt sich nicht so schnell ein Arzt. Wir wollen unseren neuen Doktor nicht verlieren.« Etwas von dem Unbehagen, das sie bei Mrs. Stevens' Worten verspürt hatte, fiel von ihr ab. Obgleich sie das Gefühl nicht los wurde, daß Jims Mutter ursprünglich etwas ganz anderes gemeint hatte. Aber was? Mrs. Stevens beeilte sich zu sagen: »Ihr Mann soll ein paar schöne antike Möbel für das Haus gekauft haben. Ich platze vor Neugier, sie zu sehen. Sie können also damit rechnen, daß ich demnächst bei Ihnen hereinschneie.« Jim lachte. »Mutters Leidenschaft sind die Antiquitäten.« »Sie sind jederzeit herzlich willkommen«, entgegnete Lucy mit aufrichtig gemeinter Freundlichkeit. Und mit einem Lächeln zu Jim fügte sie hinzu: »Sie natürlich auch, wo Sie sich schon mit Fred angefreundet haben.« »Mit uns können Sie bald rechnen«, versprach Jim. »Wir leben hier in einer Kleinstadt, und die Leute besuchen sich oft.« »Was sowohl Vorteile als auch Nachteile hat, ich warne Sie«, fiel Mrs. Stevens ein und verzog das Gesicht. »Darüber mache ich mir keine Sorgen«, meinte Lucy. »Nach meinem Leben in Boston wird es sicher eine interessante Abwechslung sein.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Jim. Lucy sah sich nach Fred um und entdeckte, daß er sich am anderen Ende des Raumes mit jemand unterhielt. Jetzt steuerte Dr. Matthew Boyce auf sie zu. Sein rundes, gerötetes Gesicht glänzte vor Freude. »Sie wissen ja gar nicht, wie froh ich bin, daß Dr. Dorset hierher kam«, flüsterte er ihr zu. »Mir ist eine schwere Last von den Schultern genommen.« 12
»Für Fred ist es eine gute Gelegenheit, Erfahrung als praktischer Arzt zu sammeln«, entgegnete sie. »Und ich freue mich schon darauf, in Moorgate zu wohnen.« Auf dem Gesicht des alten Arztes erlosch das Lächeln, so als hätte man eine Lampe ausgeknipst. Er sah beinahe verlegen aus. »Ja«, sagte er lahm, »es wird gewiß sehr interessant für Sie. Ich kenne die Geschichte des Hauses sehr gut. Ich habe mich eingehend damit beschäftigt, weil einmal ein Arzt dort wohnte.« »Fred sagte es mir schon. Über die Geschichte des Hauses wüßte ich auch gern mehr. Sie müssen mich besuchen und mir alles erzählen.« »Ja«, erwiderte er unruhig. »Das werde ich tun. Wissen Sie, es ist eine lange und ziemlich verwickelte Geschichte. Eines Nachmittags oder Abends komme ich bei Ihnen vorbei, und dann halten wir ein gemütliches Plauderstündchen.« »Ich freue mich schon«, versicherte Lucy. Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, denn sie hatte Fred erspäht, wie er sich mit einer rassigen dunkelhaarigen Schönheit unterhielt. Sie brauchte nicht lange herumzurätseln, wer diese bildhübsche Frau war. »Ist das nicht Sheila Farley?« fragte sie den alten Arzt. Dr. Boyce wischte sich mit seiner plumpen Hand über die Glatze. »Richtig. Haben Sie sich schon kennengelernt?« »Nein«, antwortete sie spröde. »Soviel ich weiß, haben wir Moorgate ihrer Vermittlung zu verdanken?« »Sie und ihr Vater bewohnen das angrenzende Grundstück«, erklärte Dr. Boyce. »Kommen Sie, ich mache Sie beide miteinander bekannt. Ihren Vater können Sie leider nicht antreffen. In der letzten Zeit ist er meistens bettlägerig. Eine schwere Arthritis macht ihm zu schaffen.« Der alte Arzt führte Lucy durch das Zimmer. Fred hatte ihr Kommen bemerkt, und er und Sheila unterbrachen ihr Gespräch. Fred legte seinen Arm um Lucys Schultern. »Lucy, ich möchte dich mit Sheila Farley bekannt machen. Ich bin sicher, daß ihr euch gut verstehen werdet.« Die dunkelhaarige Frau streckte ihre Hand aus. Um ihre Lippen spielte ein spöttisches Lächeln. »Willkommen in St. Andrews, Lucy.« 13
»Danke«, antwortete Lucy und nahm die angebotene Hand. »Ich habe gehört, daß Sie uns zu dem Haus verholfen haben?« »Das ist ein bißchen übertrieben«, gab Sheila in leicht affektiertem Ton zurück. »Ich sagte Dad, das Haus sei ideal für Fred und Sie. Den Rest hat er dann erledigt. Wir wollten nicht riskieren, daß Fred uns wegen Wohnungsproblemen verläßt.« Fred lächelte Sheila zu. »Kein Grund zur Sorge. Ich bleibe.« Lucy ertappte sich bei dem Gedanken, daß sie vielleicht einen Fehler gemacht hatte, Fred so lange allein zu lassen. Sie hätte eher nach St. Andrews nachkommen müssen. Hatte sich womöglich noch vor ihrer Heirat zwischen Fred und dieser sinnlichen Brünetten eine Romanze entwickelt? Es war eine beunruhigende Vorstellung. Laut sagte sie: »Ich bin schon jetzt davon überzeugt, daß das Haus mir gefallen wird.« »Ich fand Moorgate seit jeher faszinierend«, erwiderte Sheila. In diesem Augenblick spürte sie Dr. Boyces Hand unter ihrem Ellenbogen. »Gestatten Sie, daß ich Ihre Frau einen Moment entführe, Fred. Lucy, so viele andere Gäste wollen Sie noch kennenlernen.« Lucy bekam viele neue Namen zu hören, von denen sie zum Schluß keinen mehr behielt. Aber jeder empfing sie herzlich und aufgeschlossen, so daß sie keine Bedenken hatte, daß sie sich in diese kanadische Kleinstadt würde einleben können. Dann kam Fred lächelnd auf sie zu und sagte: »Es wird langsam Zeit, daß wir aufbrechen. Du sollst das Haus noch im Hellen sehen.« Sie verabschiedete sich ganz besonders herzlich von Dr. Boyce und sie fuhren los. Auf einem Hügel außerhalb der Stadt erhob sich Moorgate. Während sie die gewundene Straße hinauffuhren, kam das massige, quadratische Haus, halb verdeckt durch Birken und Ulmen, immer wieder zum Vorschein. Lucy war begeistert. »Es ist wunderschön«, schwärmte sie. Zufrieden lächelnd parkte Fred den Wagen vor der Eingangstür. Breite steinerne Stufen führten zu einer schweren Eichentür, über der eine altmodische Laterne hing. »Ich freue mich, daß es dir gefällt.« 14
Sie stieg aus dem Wagen, und er hob das Gepäck aus dem Kofferraum. Während Fred beschäftigt war, stellte Lucy sich vor das Haus, das ziemlich streng wirkte, und betrachtete es. Als sie aufmerksam die Fassade musterte, kam es ihr so vor, als würde im zweiten Stock ein Fenstervorhang zur Seite geschoben. Für einen kurzen Augenblick war das blasse, hübsche Gesicht einer hellblonden Frau hinter der Scheibe zu sehen. Als das Gesicht verschwand, drehte sich Lucy zu Fred um und sagte: »Was für eine angenehme Überraschung. Du hast eine Frau eingestellt, die mir im Haus helfen soll. Sie hat gerade aus dem Fenster geguckt.« Fred, der mit einem Koffer in der Hand unterwegs zur Tür war, blieb stehen und starrte sie verständnislos an. »Du irrst dich! Im Haus ist niemand. Den einzigen Schlüssel habe ich.«
* Lucy war wie betäubt. Ihr Blick glitt wieder zu dem Fenster im zweiten Stock. Der Vorhang hing, als sei er nie bewegt worden. »Ich begreife nicht, wie ich mich so irren konnte«, sagte sie verwirrt. Fred sah unbehaglich aus. »Aber du mußt dich verguckt haben. Vielleicht hat sich ein Ast in der Scheibe gespiegelt.« Die Erklärung kam ihr recht dürftig vor, aber sie wollte das Thema fallenlassen, um die Ankunft in ihrem neuen Heim nicht zu verderben. Aber sie war sich fast sicher, daß sie hinter dem Glas ein Gesicht gesehen hatte. »Vielleicht hast du recht«, entgegnete sie zögernd. »Komm, laß uns schnell ins Haus gehen. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, wie es drinnen aussieht.« Fred lächelte. »Sofort.« Er ging voraus, stellte die Koffer auf der obersten Treppenstufe ab und suchte nach dem Schlüssel. Während sie darauf wartete, daß Fred aufschloß, besah sie sich die Umgebung. Die Bäume, die das Haus umgaben, schienen uralt zu sein. Ihre Stämme waren dick und knorrig, und mächtige Äste reckten sich gegen den Himmel. Man konnte die Bucht sehen, entlang deren Küste 15
sich St. Andrews schmiegte. Zum offenen Meer hin lag die Inselkette, die einen natürlichen Schutz für den Fischereihafen bildete. Eine kleine Insel lag etwas vorgelagert näher zum Land hin. Sie schloß, daß es die Pfarrersinsel sein mußte, zu der bei Ebbe eine Verbindung mit dem Festland bestand. »Komm rein«, rief Fred ihr zu. Sie blickte sich um und sah, daß die Tür jetzt offen war. Weil sie den wichtigen Moment nicht verderben wollte, zwang sie sich, das Gesicht am Fenster aus ihrem Gehirn zu verbannen. Sie war halb davon überzeugt, jemand sei heimlich in das Haus eingedrungen. Vielleicht war aber alles auch nur Teil einer Überraschung. Das Beste war wohl, sie spielte mit. Fred streckte ihr die Hand entgegen. »Traditionsgemäß müßte ich dich jetzt über die Schwelle tragen. Aber ich hoffe, es genügt, wenn ich dich ins Haus führe.« Als sie in das hohe, schattige Wohnzimmer trat, fröstelte sie unter einem kalten Luftzug. Fred nahm sie in seine Arme und küßte sie lang und zärtlich. Dann forderte er sie auf, durch das Wohnzimmer zu wandern und sich alles genau anzusehen. Die Möbel waren antik und von erlesener Schönheit. Von der stuckverzierten Decke hingen zwei gewaltige Lüster. »Warte ab, bis du den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer gesehen hast«, sagte Fred, der mit zufriedenem Lächeln seine Frau beobachtete. »Ich habe ihn in Saint John in einem Antiquitätenladen aufgetrieben. Ich habe mich bemüht, Möbel aus der Epoche zu bekommen, in der das Haus gebaut wurde.« »Und du hast deine Sache gut gemacht«, lobte sie ihn. Das war auch wirklich ihre Überzeugung, obwohl sie insgeheim fand, daß das Zimmer ein wenig streng, zu düster wirkte. Sie kämpfte gegen das Gefühl einer Niedergeschlagenheit an, das plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte, und konzentrierte ihr Interesse ganz auf die Einrichtung, als Fred sie von Zimmer zu Zimmer führte. Im zweiten Stock lag das Schlafzimmer mit seinen beiden riesigen Betten. Sie hatten abgemacht, ihre Betten auseinanderzustellen, damit 16
sie nicht gestört würde, wenn er nachts zu Notfällen hinaus mußte. Das Schlafzimmer war stilgetreu wie vor hundert Jahren eingerichtet. Angefangen von dem wuchtigen, mit Schnitzwerk verzierten Kleiderschrank bis zu dem gewebten Teppich auf dem Dielenboden. Während sie mitten im Zimmer stand und sich umsah, kam ihr plötzlich der Gedanke, daß es das Fenster dieses Raumes gewesen sein mußte, hinter dem sie die Erscheinung der hübschen jungen Frau gesehen hatte. Um Fred nicht unnötigerweise aufzuregen, behielt sie ihre Entdeckung jedoch für sich. Statt dessen trat sie unter dem Vorwand, sich die Aussicht ansehen zu wollen, an das Fenster. In Wirklichkeit jedoch wollte sie ihren Verdacht bestätigt wissen. Es stimmte. Als sie auf die kiesbestreute Zufahrt hinuntersah, war sie sich ihrer Sache sicher. Hinter diesem Fenster hatte sich das Gesicht gezeigt. Sie hob den Blick und suchte den Horizont ab. Dabei entdeckte sie auf der Pfarrersinsel ein Gebäude. »Auf der Insel steht ja ein Haus«, rief sie voller Überraschung. Fred war neben sie getreten. »Ja, daher hat die Insel ja ihren Namen. Das Haus wurde von einem Pfarrer, Dr. Macintosh, gebaut. Nach seinem Tod erbte es sein Neffe, Frank Clay. Die Familie Clay wohnte auf der Insel, bis kein Nachkomme mehr am Leben war. Seitdem steht das Haus leer. Jetzt besitzen es die Farleys.« »Und will dort niemand mehr einziehen?« erkundigte sie sich. »Anscheinend nicht. Den meisten Leuten wäre es zu lästig, immer mit dem Boot zum Festland zu müssen oder abzuwarten, bis bei Ebbe die Landverbindung auftaucht. Das Haus ist verschlossen. Gelegentlich fahren Ausflügler dort hinüber. Aber sie gehen meistens nicht bis zum Haus, sondern picknicken am Strand.« Wieder beschlich Lucy eine tiefe Melancholie, während sie so dastand und das weiße Haus auf der Insel betrachtete. Für diese plötzliche deprimierte Stimmung fand sie keine Erklärung. Zur Niedergeschlagenheit bestand absolut kein Grund. Eigentlich sollte sie doch vor Glück überschäumen. Immerhin war heute der schönste Tag ihres Lebens. In einem Versuch, die gute Laune wiederzugewinnen, schlang sie 17
ihre Arme um Freds Nacken. »Es ist alles wie im Märchen. Wir beide fangen unser neues Leben in diesem schönen Haus an – wie in einem Roman.« Liebevoll lächelnd sah er auf seine junge Frau. »Ich hoffe, unser Leben wird schöner als jeder Roman. Was wird mit unserem Abendessen? Es gibt ein paar Hotels hier.« Sie schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Heute bleiben wir zu Hause. Du hast doch sicher Lebensmittel eingekauft, oder?« »Alles, was du brauchst«, erwiderte er. »Die letzten Wochen habe ich hier ja schon gewohnt. Und bevor wir in die Flitterwochen fuhren, hatte ich die Tiefkühltruhe bis oben hin vollgestopft.« »Schön. Ich mache uns ein Abendbrot aus dem, was da ist. Und morgen früh gehe ich einkaufen wie eine altgediente Ehefrau.« »Für mich wirst du nie eine alte Ehefrau«, versicherte Fred. Bevor sie in die Küche ging, küßten sie sich lange und leidenschaftlich. Der kurze Austausch von Zärtlichkeiten mit ihrem Mann und ihre Tätigkeit in der Küche rissen Lucy vorübergehend aus ihrer gedrückten Stimmung. Während sie zum Essen Steak, Gemüse und Bratkartoffeln vorbereitete, fühlte sie sich schon viel besser. Es war eine geräumige Küche, wie man sie nur noch in alten Häusern findet, mit einer Eßnische, von wo aus man in den angrenzenden Wald blicken konnte. Am frühen Abend klingelte das Telefon. Fred wurde an das Bett eines Patienten gerufen, dessen schwere Krankheit in das Endstadium getreten war. Seufzend legte Fred den Hörer nieder, aber es bestand gar kein Zweifel darüber, daß er hinfahren würde. Er schnappte sich seine Tasche und versprach, so rasch wie möglich wieder zurück zu sein. Lucy beteuerte, daß es ihr nicht das geringste ausmachte, allein gelassen zu werden. Unterdessen konnte sie das Geschirr abspülen und die Küche aufräumen. Anfangs fand sie auch nichts dabei, allein in dem großen Haus zu sein. Aber als sie mit ihrer Arbeit fertig war und die Dämmerung immer dichter wurde, senkte sich ein Gefühl der Traurigkeit in ihr Gemüt. Gleichzeitig verspürte sie eine unerklärliche Unruhe. Sie wander18
te durch die Zimmer der ersten Etage und grübelte über die Ursache ihrer Nervosität nach. Diese plötzlichen Stimmungsschwankungen sahen ihr gar nicht ähnlich. Schließlich hielt sie es drinnen nicht mehr aus. Sie trat ins Freie. Hinter dem Haus lag der Garten, und im Garten befand sich ein alter Brunnen. Es war ein Ziehbrunnen, und von dem Querbalken hing immer noch ein alter Eimer. Ihr Interesse war geweckt, und zwischen den Blumenbeeten hindurch schritt sie auf den Brunnen zu. Er war aus Naturstein gebaut, und das Holz des Gestells, das den Eimer und die Welle hielt, war von Wind und Wetter grau zerfressen. Der Himmel hatte sich bezogen, nur fern am Horizont war noch ein schmaler blauer Strich zu sehen. Wenn er fort war, würde es ganz dunkel werden. Sie beugte sich vor, um in den Brunnenschacht zu sehen. In diesem Augenblick hörte sie leise geflüstert ihren Namen. Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie wirbelte herum, um herauszufinden, wer mit ihr gesprochen hatte. Aber sie war vollkommen allein. Jetzt kam es ihr so vor, als sei die leise, sanfte Stimme aus dem Brunnen selbst gekommen. Aber das war doch unmöglich! Ein Windstoß brachte die Wipfel der Birken zum Rascheln. Wieder kam es ihr so vor, als hörte sie ihren Namen. Sofort beruhigte sie sich damit, daß es der Wind gewesen war, der sie getäuscht hatte. Etwas anderes kam gar nicht in Betracht! Trotzdem zitterte Lucy am ganzen Leib. Sie kehrte dem Brunnen den Rücken und hetzte ins Haus zurück. Der Widerhall ihrer eigenen Schritte auf dem plattenbelegten Gartenweg trug nur dazu bei, ihre Furcht noch zu erhöhen. Jetzt stand sie auf den Treppenstufen und starrte auf die Insel der Ferne. Wieder tauchte in ihrer Phantasie das Bild des bleichen Gesichts am Fenster auf. Mit beängstigender Lebhaftigkeit stand die Vision vor ihrem geistigen Auge. Sie war davon überzeugt, daß jemand sich in das Haus geschlichen und auf ihre Ankunft gewartet hatte, ganz gleich, was Fred behauptete. Vielleicht war diese Unbekannte durch eine Nebentür unentdeckt wieder hinausgeschlüpft. Das war die einzige logische Erklärung. 19
Die Dunkelheit zog auf, aber immer noch brachte Lucy es nicht übers Herz, das Haus zu betreten. Sie kam sich töricht vor, aber sie fürchtete sich, allein in das Haus zu gehen. Also blieb sie auf der Treppe stehen und wartete. Unter ihr bewegte sich die Lichterkette der Autos, die auf der Landstraße dahinglitten. Ihre Scheinwerfer rissen lange, helle Bahnen in die Dunkelheit. In St. Andrews war die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Die gelben Fenstervierecke der Häuser und Geschäfte blitzten ihr entgegen. Sie fand, daß St. Andrews bei Nacht größer und strahlender aussah. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie sah, wie ein Wagen von der Landstraße abbog und die Privatstraße nach Moorgate einschlug. Kurze Zeit später tauchten die Scheinwerferkegel sie und das Haus in gleißende Helle. Der Wagen hielt, der Fahrer löschte das Licht und stieg aus. Dann war Fred bei ihr auf der Treppe. »Was machst du denn hier draußen?« wunderte er sich. Sie bemühte sich, gleichmütig zu klingen. »Ich habe auf dich gewartet.« »Drinnen hättest du es gemütlicher gehabt. Nachts wird es ziemlich kalt hier. Selbst im Juni.« »Ich bin nicht empfindlich. Ich habe die Autos auf der Straße beobachtet.« Im matten Schein der Laterne über der Tür konnte sie seinen zweifelnden Gesichtsausdruck erkennen. »Du hast dich doch nicht etwa gefürchtet allein?« wollte Fred wissen. »Natürlich nicht!« log sie. »Das will ich auch hoffen.« Mit einemmal sah er besorgt aus. »In meinem Beruf kann man ständig damit rechnen, nachts herausgerufen zu werden.« »Vergiß nicht, ich bin Krankenschwester. Ich weiß Bescheid.« »Du hast wirklich keine Angst gehabt?« »Nein.« »Schön. Mein Patient starb übrigens. Ich wurde länger aufgehalten, als ich erwartete.« »Wie schrecklich!« rief sie mitfühlend. 20
»Er war schon über achtzig und schwer krank«, erwiderte er. »Es ist keine Tragödie. Komm, laß uns ins Haus gehen.« Der Rest des Abends verlief angenehm, und bald war ihre frühere Nervosität vergessen. Sie gingen früh zu Bett. Nach dem ereignisreichen, anstrengenden Tag fiel sie sofort in einen tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht wurde Lucy aus unerklärlichem Grund geweckt. Mit einemmal waren ihre Sinne hellwach. In der Dunkelheit richtete sie sich auf und stützte sich auf einen Arm. Sie hörte die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes, der im Bett nebenan schlief. Ihr eigener Atem geriet ins Stocken, als sie plötzlich außer diesem vertrauten Geräusch noch etwas anderes vernahm. Von der Halle her kam der Laut schlurfender Schritte. Sie näherten sich dem Schlafzimmer. Um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle aufstieg, preßte sie beide Hände vor den Mund. Direkt vor der Tür schienen die Schritte aufzuhören. Dann hörte sie leises Husten. Jede Faser ihres Körpers gespannt, wartete sie. Sie war bereit, jeden Augenblick Fred zu wecken und ihn zu bitten, in der Halle nachzusehen. Wieder drang das Geräusch der schleppenden Schritte an ihre Ohren. Diesmal schienen sie sich vom Schlafzimmer fortzubewegen. Aufrecht im Bett sitzend lauschte sie, bis nichts mehr zu hören war. Lucy schwitzte, und ihr Herz raste wie verrückt. Fred wälzte sich in seinem Bett und stieß ein leises Stöhnen aus. Dieser Laut beruhigte sie. Sie fühlte sich nicht länger allein in einer unheimlichen dunklen Welt, die von Geistern belebt schien. Woher stammten diese Schritte? Jemand mußte sich im Haus versteckt halten. Womöglich im Keller oder auf dem Dachboden ohne daß Fred etwas davon ahnte. Sie mußte den Dingen auf den Grund gehen. Sie zwang sich dazu, sich wieder ruhig in ihr Kissen zurückzulehnen. Müdigkeit übermannte sie, und bald war sie eingeschlummert. Aber es war ein unruhiger Schlaf, voller verworrener Träume. Sie fühlte sich von einem Phantom verfolgt, das in diesem düsteren Haus lau21
erte und ihren Namen rief. Die Schattengestalt schien sie um Hilfe anzuflehen, versuchte vergebens ihr etwas mitzuteilen. »Lucy!« Sie blinzelte erschrocken und öffnete die Augen. Aber vor ihr stand Fred, fertig angezogen, und beugte sich lächelnd über sie. »Zeit zum Aufstehen«,sagte er. Ich muß gleich meine Runde machen und dann noch ins Krankenhaus in St. Stephen. Möchtest du mit mir frühstücken? Sie richtete sich auf. »Selbstverständlich. Ich bin gleich unten und mache dir etwas zu essen.« »Zieh dich in aller Ruhe an, das Frühstück mache ich«, sagte Fred und verließ das Schlafzimmer. Als sie in die Küche kam, standen Orangensaft, Kaffee und Toast auf dem Tisch. In der Bratpfanne brutzelten Spiegeleier mit Schinken. Fred überwachte die Pfanne wie eine erfahrene Hausfrau. Sie trat zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die glattrasierte Wange. »Du bist der ideale Ehemann«, lobte sie ihn. Später bei Tisch fragte er sie: »Hast du gut geschlafen?« Es klang beiläufig, aber sie bildete sich ein, einen gespannten Zug auf seinem Gesicht zu bemerken. Zögernd setzte Lucy die erhobene Kaffeetasse ab. »Ja. Aber einmal bin ich aufgewacht. Und da hatte ich ein sehr merkwürdiges Erlebnis.« Er hob die Augenbrauen. »Was für ein Erlebnis?« »Ich glaubte, Schritte in der Halle zu hören.« Sie blickte ihn unverwandt an, um zu sehen, wie er darauf reagierte. Fred zog die Stirn kraus. »Wahrscheinlich hast du geträumt.« »Nein«, wiedersprach sie mit Nachdruck. »Ich hörte schlurfende Schritte. Sie kamen bis vor die Schlafzimmertür und hörten dann auf. Danach hustete jemand. Und kurz darauf ging der Eindringling, wer immer es auch gewesen sein mag, fort.« »Außer uns hält sich niemand im Haus auf«, behauptete Fred. »Das hatte ich dir doch bereits gesagt.« »Stimmt. Aber du mußt dich irren.« 22
»Wie kann man sich bei so etwas vertun?« Sie starrte in ihre halbleere Kaffeetasse. »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht besitzt noch jemand einen Schlüssel zum Haus, ohne daß du eine Ahnung hast. In diesem Haus haben so viele Menschen gewohnt, daß ohne weiteres andere Schlüssel existieren könnten. Vielleicht versteckt sich jemand auf dem Dachboden. Ich war ja auch sicher, daß ich bei unserer Ankunft hinter einem der Fenster ein Gesicht gesehen hätte.« »Das war Unsinn«, erwiderte er beinahe ärgerlich. »Tut mir leid«, gab sie resolut zurück und schob ihr kleines Kinn vor. »Aber ich habe mir das nicht aus den Fingern gesogen.« Fred sah ratlos aus. Er nahm ihre Hand und streichelte sie. »Entschuldige bitte, Schatz. Es war nicht bös gemeint. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Und nach der langen Reise sind wir beide etwas abgespannt.« »Am besten, wir sprechen nicht mehr darüber«, schlug sie vor. »Aber darum geht es mir gar nicht«, erwiderte er ernst. »Ich will doch, daß du dich in diesem Haus wohl und glücklich fühlst. Und wie es scheint, klappt es damit nicht so recht.« Sie blickte in sein bekümmertes Gesicht und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Es war fast so, als ließe sie ihn im Stich. Er hatte sich solche Mühe gemacht, dieses Haus zu bekommen und es gemütlich einzurichten. Sie hatte kein Recht, ihn damit zu beunruhigen, daß sie sich einbildete, in ihrem Haus stimmte etwas nicht. Schnell sagte sie: »Wir wollen nicht mehr daran denken. Vergiß, was ich gesagt habe. So wichtig ist es ja auch nicht.« »Es wäre sogar sehr wichtig, wenn du diese Schritte wirklich gehört hättest«, entgegnete er nachdenklich. »Aber meiner Meinung nach hattest du nur einen lebhaften Traum.« »Schon möglich«, lenkte sie ein. Das war genau die Ermunterung, die er brauchte. »Ganz sicher«, bekräftigte er zuversichtlich. »Du hattest einen Alptraum, das war alles.« »Wir wollen das Thema jetzt fallenlassen«, bat sie lächelnd. »Wann kommst du zurück?« 23
»Nicht vor dem Abendessen. Es paßt mir nicht, dich so lange allein zu lassen, aber heute ist der erste Tag, an dem meine Praxis wieder auf ist.« »Das macht doch nichts«, beruhigte sie ihn. »Ich habe viel zu tun. Auspacken, und dann will ich einkaufen gehen.« Er stand vom Tisch auf. »Du hast deinen eigenen Wagen. Ich fahre gleich bei der Garage vorbei und veranlasse, daß er dir noch heute früh gebracht wird. Es ist ein gut erhaltener Sedan aus zweiter Hand.« Kurz darauf verließ er das Haus. Lucy begleitete ihn bis zur Tür. Sie versank zwar nicht wieder in diese melancholische Stimmung vom Abend zuvor, aber als sie ihm zum Abschied zuwinkte, keimte ein starkes Gefühl der Verlassenheit in ihr auf. Ihre tiefe Niedergeschlagenheit konnte sie sich nicht erklären. Es war etwas ganz Alltägliches, daß ein Mann zur Arbeit fuhr und seine Frau zurückließ. Warum brachte dieser Vorgang sie dann so aus dem seelischen Gleichgewicht? Zurück in der Küche, stellte sie eine Einkaufsliste zusammen. Es war ein sonniger Tag, und das Licht flutete in die Eßnische, in die sie sich mit Block und Bleistift zurückgezogen hatte. Danach spülte sie das Frühstücksgeschirr und stellte es zum Abtropfen auf das Ablaufbrett. Sie wusch die letzte Tasse, als sie plötzlich das Gefühl hatte, sie sei nicht mehr allein in der Küche. Ihre Nackenhaare sträubten sich, als stünde jemand direkt hinter ihr. Sie kämpfte gegen ihre Angst an und redete sich ein, daß sie übernervös sei. Die große Küche war sonnenhell, und sie hatte nicht das leiseste Geräusch gehört. Dennoch begannen ihre Hände zu zittern. Lucy zwang sich dazu, so zu tun, als sei alles völlig normal. Vorsichtig stellte sie die Tasse auf das Ablaufbrett. In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Die Tasse schien sich wie von selbst in die Luft zu erheben, purzelte über den Rand und zerschellte auf dem Fußboden in viele kleine Stücke. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand sie genommen und auf den Fliesen zerschmettert. Sie unterdrückte einen Aufschrei und stierte fassungslos auf die Scherben. Eine Autohupe riß sie aus ihrer Starre. Sie hetzte zur Haustür. Aufatmend stellte sie fest, daß es nur ihr Auto war. Der junge Mann hinter dem Steuer grinste ihr freundlich zu. 24
»Mrs. Dorset?« fragte er und steckte seinen wuscheligen Kopf durch das Seitenfenster. »Ja, das bin ich«, antwortete sie matt. »Der Doc bat mich, Ihnen den Wagen zu bringen. Aber Sie müssen mich wieder zur Garage zurückfahren.« »Ja, ja, natürlich«, entgegnete sie immer noch aus der Fassung. »Wie weit ist es denn?« »In drei Minuten ist man da«, sagte der junge Mann in dem blauen Overall. »Es ist gleich an der Landstraße kurz vor St. Andrews. Wir sind die einzige Garage und Tankstelle in der ganzen Umgebung.« Sie ging die Stufen hinunter. »Wenn das so nah ist, dann können wir meinetwegen gleich aufbrechen.« »Okay«, antwortete der junge Mann. »Ich rutsche rüber, und Sie fahren.« Lucy stieg ein und fuhr langsam den engen, kurvenreichen Weg zur Landstraße hinunter. Leutselig fragte ihr Begleiter: »Sie sind neu hier in der Gegend?« »Ich bin gestern erst angekommen«, gab sie zurück. »Und Sie werden in Moorgate wohnen?« »Ja.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Überrascht Sie das?« »Na ja, der Doc wird ja wohl wissen, was er tut«, erwiderte der junge Mann gedehnt. »Der letzte Besitzer, ehe die Farleys das Haus kauften, hat gesagt, er würde für Geld und gute Worte nicht mehr dort einziehen.« »Warum nicht?« fragte sie, während das Auto jetzt die Landstraße entlangbrauste. »Einmal kriegte ich zufällig mit, wie er sich mit meinem Boss unterhielt«, fuhr er fort. »Er sagte ihm, er könnte nachts kaum noch schlafen. Seiner Beschreibung nach war das Haus viel zu alt, und überall knisterte und ächzte es im Gebälk. Da drüben ist schon die Garage.« Am Ziel brachte sie den Wagen zum Stehen, und der junge Mann stieg aus. Danach wendete sie und fuhr in Richtung Moorgate zurück. Ihr Gespräch mit dem jungen Mechaniker hatte sie nachdenklich gestimmt. Es kam ihr so vor, als wüßte er mehr über das Haus, als er zu25
geben wollte. Sie verspürte keine Lust, nach Moorgate zurückzufahren. Und dieser Gedanke erschütterte sie. Um Freds willen mußte sie sich mit diesem Haus aussöhnen. Lucy ließ den Wagen auf der Zufahrt stehen und ging gleich in die Küche zurück. Am Boden lagen immer noch die Scherben der Tasse. Sie suchte Handfeger und Kehrschaufel und warf die Scherben in den Mülleimer. Sie versuchte sich einzureden, sie hätte die Tasse nicht ordentlich auf das Ablaufbrett gestellt, so daß sie, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, auf ganz natürliche Weise hinuntergepurzelt war. Aber insgeheim wußte sie, daß sie sich selbst etwas vormachte. Danach widmete sie sich wieder ihrer Einkaufsliste. Sie wollte die einzelnen Posten noch einmal durchgehen, aber ständig schweiften ihre Gedanken ab. Sie ertappte sich dabei, wie sie alle paar Minuten aufschreckte und sich umblickte, ob auch niemand in der Küche sei. Aber sooft sie die Blicke hob, stets war sie allein. Endlich schloß sie die Haustür ab und setzte sich in ihren Wagen. Sobald sie in ihrem Fahrzeug saß, fühlte sie sich gleich entspannter. Sie fuhr die Hauptstraße von St. Andrews entlang, und es dauerte nicht lange, da erspähte sie einen Supermarkt. Sie holte sich einen Einkaufswagen und schlenderte an den gut bestückten Regalen vorbei. Weit war sie nicht gekommen, da sah sie sich plötzlich Mrs. Stevens gegenüber. Die ältere Frau begrüßte sie gutgelaunt. »Wie ich sehe, stürzen Sie sich gleich in Ihre Arbeit als Hausfrau.« »Fred hatte zwar reichlich eingekauft, aber es fehlt doch noch so manches«, erklärte sie. »Besonders Gewürze.« »Hier finden Sie alles, was Sie brauchen«, meinte Mrs. Stevens. Sie selber schob einen gut gefüllten Einkaufswagen vor sich her. »Aber für Dr. Dorset zu kochen wird sicher kein Problem sein«, fuhr sie gesprächig fort. »Er gehört einer seltenen Spezies an, nämlich den netten Männern.« »Ich wußte gar nicht, daß nette Männer solche Raritäten sind«, gab Lucy lächelnd zurück. »Mit Fred haben Sie gut gewählt. Sie können sich als glückliches 26
Mädchen betrachten.« Mrs. Stevens beugte sich vor und flüsterte ihr in vertraulichem Ton zu: »Sheila Farley ist sicher derselben Ansicht.« »Ach ja?« Mrs. Stevens nickte mit der Miene einer Verschwörerin. »Darauf gehe ich jede Wette ein. Obwohl sie im Geld schwimmt, findet sie keinen passenden Ehemann. Zuerst hatte sie sich an meinen Jim herangemacht. Aber als der nicht anbiß, versuchte sie ihr Glück bei Dr. Dorset.« »Sind Sie sicher?« Lucy bemühte sich, gleichgültig zu klingen. »Ich weiß es«, behauptete die ältere Frau. Sie musterte Lucy mit scharfen Blicken. »Sagen Sie, wie gefällt Ihnen Moorgate?« »Bis jetzt ganz gut. Aber ich habe mich ja kaum in dem Haus aufgehalten«, antwortete Lucy ausweichend. »Es ist ein prächtiges altes Haus«, fuhr Mrs. Stevens unermüdlich fort. »Sie wissen sicher, daß vor vielen Jahren Dr. Graham Woods und seine Frau Jennifer dort lebten.« »Fred sagte mir, ein Arzt hätte mit seiner Frau dort gewohnt. Aber wie sie hießen, wußte ich bis jetzt noch nicht.« »Das ist schon sehr lange her«, sagte Mrs. Stevens. In ihr Gesicht trat ein wehmütiger Ausdruck. »Es war zur Zeit meines Vorfahren, Frank Clay. Damals war er Friedensrichter in St. Andrews. Er lebte in dem weißen Haus auf der Pfarrersinsel.« »Das habe ich schon gesehen«, erwiderte Lucy. »Und war Ihr Vorfahre, dieser Frank Clay, mit dem Doktor und seiner Frau befreundet?« »Man kann sagen, daß sie Freunde waren«, stimmte Mrs. Stevens zu. »Dr. Boyce hat mir versprochen, mich demnächst zu besuchen und mir die Geschichte des Hauses zu erzählen«, informierte Lucy Mrs. Stevens. Die Dame nickte. »Dafür ist er bestens geeignet. Es gibt wohl kaum jemand in St. Andrews, der die Geschichte der Stadt und ihrer Einwohner so gut kennt wie der alte Doc.« »Für sein Alter macht er einen sehr rüstigen Eindruck«, bemerkte Lucy. »Das ist er auch. Aber praktizieren kann er in vollem Maße natürlich 27
nicht mehr. Deshalb war er ja so froh, als Ihr Mann hierherzog. Sie beide müssen mich und Jim unbedingt bald besuchen.« »Danke. Wir kommen ganz bestimmt«, entgegnete Lucy. Mrs. Stevens warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Und vergessen Sie nicht, daß ich Sie vor dieser Sheila Farley gewarnt habe.« Peinlich berührt antwortete Lucy: »Ich werde es mir merken.« »Und noch etwas möchte ich Ihnen ans Herz legen«, fuhr Mrs. Stevens fort. »Ja?« Wieder beugte sich die ältere Dame mit Verschwörermiene zu ihr. »Wenn Sie meinen Rat wollen, dann vermeiden Sie es, allein in den Keller von Moorgate zu gehen.« Lucy spürte, wie ihr bei den Worten ein kalter Schauer über den Rücken rann. »Weshalb?« Mrs. Stevens kniff die Lippen zusammen. »Man munkelt, daß im Keller unheimliche Dinge gesehen wurden. Gespenster, wenn ich es einmal offen aussprechen darf.« Voller Verblüffung starrte Lucy auf Mrs. Stevens. Mit dieser Unverblümtheit hatte sie nicht gerechnet, und momentan verschlug es ihr die Sprache. Was die ältere Frau sagte, trug dazu bei, den Verdacht zu erhärten, der sich allmählich in ihrem Gehirn formte. Aber sie zog es vor, über ihre eigenen unheimlichen Erlebnisse in Moorgate zu schweigen. Zuerst mußte sie mit Fred darüber sprechen. Sie rang sich ein gekünsteltes Lächeln ab und sagte: »Ich vermute, jedes alte Haus hat seine Gespenstergeschichte.« Mrs. Stevens blickte grimmig. »Ich kann Ihnen sagen, Moorgate hat seine Gespenstergeschichte weg. Fragen Sie nur die alten Leute aus der Gegend. Die können Ihnen was erzählen.« Lucy packte den Griff des Einkaufswagens fester. »Vielleicht ist es besser, ich erfahre von diesen Geschichten gar nichts.« Mrs. Stevens zuckte mit den Schultern. »Das müssen Sie selbst wissen. Aber wenn ich dort wohnen müßte, würde ich mich informieren. Es könnten ja seltsame Dinge geschehen, die Sie sonst nicht begreifen.« »Von Natur aus bin ich nicht abergläubisch«, entgegnete Lucy. 28
»Ich auch nicht«, gab Mrs. Stevens mit Nachdruck zurück. »Aber es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich auf normalem Weg nicht erklären lassen.« »Ich danke Ihnen, daß Sie so offen zu mir waren«, sagte Lucy lahm. Sie wollte fort von dieser Frau und ihren unheimlichen Anspielungen auf das Haus. »Ich möchte Ihre Freundin sein«, erwiderte Mrs. Stevens. »Wenn Sie einen Rat oder Hilfe brauchen, dann zögern Sie nicht, sich an mich oder meinen Sohn zu wenden.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Lucy. »Ihren Sohn habe ich ja schon kennengelernt. Und wie ich verstanden habe, haben sich Fred und er bereits angefreundet.« Mrs. Stevens nickte. »Die beiden kennen sich mittlerweile schon recht gut. Aber denken Sie an meine Worte: Bleiben Sie aus dem Keller!« Mit diesem letzten Rat verabschiedete sie sich und rollte ihren Einkaufswagen in Richtung Kasse. Lucy atmete erleichtert auf. Sie mochte Mrs. Stevens, aber das Gespräch hatte nicht dazu beigetragen, ihren Seelenfrieden wiederherzustellen. Gedankenverloren machte sie ihre Runde durch den Laden. Mrs. Stevens Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie überlegte, was daran sein konnte, und wunderte sich gleichzeitig, wieso Fred sie in dieses Haus mit seinem unheimlichen Ruf gebracht hatte. Ihr erstes gemeinsames Heim sollte ein Spukhaus sein! Als sie mit Einkaufen fertig war, war sie zu dem Entschluß gekommen, daß sie den Vorfall viel zu ernst nahm. Jede Kleinigkeit hat ihre Legenden. Und ein Haus wie Moorgate mußte die Phantasie derjenigen anregen, die einen Hang zum Aberglauben hatten. Zu diesen Menschen zählte sie sich nicht. Für alles, was sie gesehen oder gehört hatte, mußte es eine logische Erklärung geben. Es war töricht von ihr, sich so leicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Und jede Bemerkung, die sie diesbezüglich Fred gegenüber machte, würde nur seinen Spott herausfordern. Als sie schwer beladen aus dem Supermarkt trat, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß dichter Nebel aufgezogen war. Die Sonne war 29
überhaupt nicht mehr zu sehen, und die Sichtweite war stark eingeschränkt. Außerdem war es viel kälter geworden. Sie fragte den Lehrjungen, der ihr beim Tragen geholfen hatte: »Passiert das oft, daß hier plötzlich Nebel aufzieht?« Der Junge nickte. »Meistens geht das ganz schnell. Und im Handumdrehen kann sich der Nebel wieder verzogen haben. Heute nachmittag klärt es sich bestimmt wieder auf.« Sie schauderte. »Wie unangenehm. Und vorhin hatten wir noch das schönste Wetter.« »Die Bucht ist eben ein Nebelloch«, erklärte der Junge. Sie bestieg den Wagen und machte sich auf den Heimweg nach Moorgate. In den dichten Nebelschwaden kam ihr die Straße ganz fremd vor. Die Stadt wirkte mit einem Schlag trostlos und öde. Fast hätte sie die Abzweigung verpaßt, die nach Moorgate hinaufführte. Vorsichtig lenkte sie das Auto die sich windende Straße entlang. Das Haus war im Nebel nicht mehr zu erkennen, und sie sah es erst wieder, als sie dicht davor war. Bevor sie die Tüten hineintrug, wollte sie zuerst die rückwärtige Tür aufschließen. Dazu mußte sie durch den Garten gehen. Der Nebel lag klamm und schwer über den Sträuchern. Gerade als sie auf die Tür zuschritt um aufzuschließen, sah sie etwas, das ihr Herz zum Stehen brachte. Wie gelähmt hielt sie mitten in der Bewegung inne. Um die Hecke herum tauchte jetzt eine schemenhafte weibliche Gestalt auf. Die Erscheinung trug einen langen, schleppenden Mantel, der sich am Saum bauschte, obwohl kein Lufthauch ging. Die Gestalt kam näher, und aufatmend stellte Lucy fest, daß es ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Es war Sheila Farley in einem dunkelblauen Regencape über einem Hosenanzug. Lächelnd kam Sheila näher. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Von unserem Grundstück aus führt eine Abkürzung bis hierhin. Der Weg verläuft immer auf dem Hügelkamm. Gelegentlich benutze ich ihn.« Lucy hatte ihre Fassung wiedergewonnen und sagte: »Im ersten Mo30
ment habe ich Sie gar nicht erkannt. Der Nebel ist so dicht, man sieht ja kaum die Hand vor Augen.« »Sie werden sich noch daran gewöhnen«, meinte das hübsche dunkelhaarige Mädchen. »Als ich hierherkam, waren Sie nicht da. Deshalb bin ich ein bißchen draußen herumspaziert.« »Ich war in der Stadt, einkaufen.« Sheila sah amüsiert aus. »Sie fügen sich wohl ziemlich schnell in die Rolle des Hausmütterchens ein, wie? Ich lasse die Einkäufe immer durch unsere Dienstmädchen bestellen, und die Geschäfte liefern dann ins Haus.« »Das ist sicher sehr praktisch«, erwiderte Lucy mit dünnem Lächeln. »Aber ich habe kein Dienstmädchen, und es macht mir Spaß, die Dinge selbst auszusuchen. Ich war gerade dabei, die Hintertür aufzuschließen und die Tüten hineinzutragen.« »Ich helfe Ihnen«, erbot sich Sheila. Später, als die Lebensmittel verstaut waren, setzten sich die beiden Frauen zu einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer. Über den niedrigen Tisch hinweg musterte Sheila ihre Gastgeberin mit neugierigen Blicken. »Glauben Sie, daß es Ihnen in St. Andrews gefallen wird? Es ist ein ziemlich verschlafenes Nest.« »für mich bedeutet das nach Boston eine interessante Abwechslung.« Das dunkelhaarige Mädchen nippte an dem Kaffee. »Für Fred ist es natürlich eine günstige Gelegenheit, Erfahrungen als Arzt zu sammeln.« »Ja.« Sheila lächelte verstohlen. »Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie Sie aussehen würden. Fred hatte mir zwar von Ihnen erzählt, aber aus Beschreibungen kann man sich ja kein genaues Bild machen.« »Das finde ich auch«, gab Lucy zurück. »Sie sind ganz anders, als ich erwartet hatte«, fuhr Sheila fort. Lucy zog die Brauen hoch. »Wie hatten Sie sich Freds Frau denn vorgestellt?« »Ich glaube, etwas weniger bodenständig. Sie machen einen so biederen Eindruck. Ich meine, Fred ist ein sehr feinfühliger, kultivierter Mensch.« 31
»Und ich nicht?« »So hatte ich das nicht gemeint«, gab Sheila ohne eine Spur von Verlegenheit zurück. »Ich finde nur, daß Sie irgendwie gar nicht der Typ sind, der zu ihm paßt. Aber es heißt ja, Gegensätze ziehen sich an.« »So sagt man«, erwiderte Lucy trocken. Sie dachte an Mrs. Stevens' Warnung, die gesagt hatte, Sheila hätte ein Auge auf Fred geworfen. Wahrscheinlich nährte sie deshalb so konkrete Vorstellungen von der Frau, die zu Fred paßte. Am liebsten sähe sie sich selber in der Rolle. Sheila sagte: »Sie und Fred müssen Vater und mich besuchen. Wegen seiner Arthritis ist Vater leider nicht mehr so mobil wie früher. Aber über Gäste freut er sich immer.« »Vielen Dank«, sagte Lucy. »Sobald wir uns eingerichtet haben, mache ich von der Einladung Gebrauch.« »Fred war häufig bei uns zu Gast. Vater mag ihn sehr gern«, erklärte Sheila behaglich. »Wie schön«, war Lucys knappe Antwort. »Das finde ich auch.« Sheila setzte die leere Kaffeetasse auf dem Tisch ab. »Vater ist nämlich sehr eigen.« »Interessant.« Sheila ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. »Was halten Sie von dem Haus?« »Ich bin davon überzeugt, daß ich hier sehr glücklich sein werde«, antwortete Lucy mit Nachdruck. Sheila lächelte kühl. »Das hoffe ich. Wissen Sie, daß hier schon einmal ein Arzt und seine Frau gewohnt haben?« »Das habe ich bereits mehrfach gehört.« »Und Sie werden sicher noch mehr darüber erfahren«, fuhr Sheila mit verstohlenem Lächeln fort. »Ich habe versucht, Fred das Haus auszureden. Aber er hatte nun mal sein Herz daran gehängt, und deshalb bat ich Vater, es ihm zu verkaufen.« Lucy starrte sie an. »Dann finden Sie, daß das Haus für uns nicht geeignet ist?« »Ich hatte ein bißchen Bedenken.« »Ach so.« 32
»Zum Haus gehörten ein paar schöne Antiquitäten«, sprach Sheila weiter. »Längere Zeit hat noch niemand in Moorgate gewohnt. Viele der Möbelstücke, die Sie hier sehen, waren im Kaufpreis inbegriffen.« »Dann haben wir also ein günstiges Geschäft gemacht?« »So könnte man es nennen«, sagte Sheila in ihrer herablassenden Art. »Ein paar interessante alte Portraits gehörten auch dazu. Aber ich kann sie hier nirgends sehen.« »Portraits?« »Ja, die von Dr. Graham Woods und seiner Frau Jennifer. Die beiden lebten hier vor ungefähr hundert Jahren. Es sind schöne, wertvolle Gemälde. Ich kann nicht begreifen, warum Fred sie nicht aufhängt.« »Das verstehe ich auch nicht«, erwiderte Lucy. »Ich würde mir die Bilder gern ansehen.« »Sie müßten immer noch hier im Haus sein«, meinte Sheila und erhob sich. »Sie standen an die Wand gelehnt auf dem Dachboden. Warum gehen wir nicht gleich nach oben und suchen sie?« Lucy befand sich in einer heiklen Situation. Sie interessierte sich für die Bilder. Sie war davon überzeugt, daß Sheila ihr alles andere als freundschaftlich gesinnt war und hätte es am liebsten gesehen, wenn sie gegangen wäre. Sie erhob sich gleichfalls und sagte: »Ich war weder im Keller noch auf dem Dachboden. Wissen Sie genau, wo die Bilder zu finden sind?« »Dort oben gibt es nur drei Räume«, antwortete Sheila. »Und wenn ich mich recht erinnere, dann befanden sich die Bilder im ersten Zimmer gleich vorn an der Treppe. Aber wir können ja nachsehen.« Sie marschierte voran aus dem Wohnzimmer, als ob das Haus immer noch ihr gehörte. Lucy folgte ihr und ärgerte sich insgeheim, weil Sheila die Situation an sich gerissen hatte. Auch gefiel ihr die vertrauliche Art und Weise nicht, in der die junge Frau über Fred sprach. Es war offensichtlich, daß die reiche Erbin sie als unwillkommenen Eindringling betrachtete. An diesem nebelverhangenen Tag wirkte das Haus noch düsterer als sonst, und Lucy hoffte, daß sich dieses trübe Wetter nicht allzu oft wiederholen würde. Sie folgte Sheila die Treppe zum zweiten Stock hinauf, 33
dann eine andere Treppe, die eng und schmal war. Sie befanden sich auf dem Dachboden. Die Wände verliefen schräg, und die Decke war nicht überall von gleicher Höhe. Vor einer grob gezimmerten hölzernen Tür blieb Sheila stehen. »Ich glaube, dies ist das Zimmer.« Sie drückte auf die Klinke und ging als erste hinein. Der Raum roch nach Moder und Staub. Lucy blickte sich um und stellte fest, daß der Raum hauptsächlich mit Kisten und Truhen vollgestopft war. Und in einer Ecke nahe beim einzigen Fenster entdeckte sie zwei große Bilder, die mit der Vorderseite zur Wand wiesen. Sheila trat über den Dielenboden aus rohem Holz auf das blinde, spinnennetzüberzogene Fenster zu. »Ein paar der Stücke hier sind älter als hundert Jahre.« Sie versuchte aus dem Fenster zu blicken und fügte hinzu: »Bei klarem Wetter kann man von hier aus meilenweit sehen.« »Das kann ich mir vorstellen«, stimmte Lucy mechanisch zu. Wieder einmal durchströmte sie dieses melancholische, beunruhigende Gefühl. Das alte, seit Jahrzehnten unbenutzte Zimmer hatte es wieder zum Leben erweckt. Sheila hatte ihre Aufmerksamkeit den Gemälden zugewandt. Sie drehte eines um und erklärte: »Das ist das Portrait von Dr. Graham Woods. Auch wenn es in dem damals üblichen strengen Stil gemalt ist, können Sie immer noch sehen, was für ein attraktiver Mann er war.« Sie stellte das Bild so hin, daß Lucy es gut sehen konnte. Sie betrachtete das Gesicht mit den ausdrucksvollen, ernsten Zügen und dem vollen schwarzen Haar. Sheila sagte: »Ich finde, die Augen blicken ein bißchen kalt. Aber das kann auch am Künstler liegen.« »Vielleicht«, erwiderte Lucy und studierte das vor Alter stark nachgedunkelte Gemälde. »Aber wenn die Geschichten stimmen, die man über ihn erzählt, dann hat er auch kein glückliches Leben geführt«, sprach Sheila weiter und stellte das Bild an die Wand zurück. »Das andere müßte das Por34
trait seiner Frau Jennifer sein.« Sie hob das nächste Bild an und drehte es herum. Im ersten Moment verschlug es Lucy die Sprache. Denn das Gesicht auf dem Bild war das gleiche, das sie erst gestern hinter dem Schlafzimmerfenster gesehen hatte. Dessen war sie sich ganz sicher. Es war das gleiche schöne, traurige Gesicht. Sogar das silberblonde Haar stimmte. »Sie muß eine Schönheit gewesen sein«, erzählte Sheila ohne Lucys Bestürzung zu bemerken. »Vielleicht war sie für ihr eigenes Wohl schon zu hübsch. Nun, jedenfalls haben Sie sie jetzt gesehen.« Damit stellte sie das Portrait an seinen Platz zurück. Lucy konnte ihren Blick nicht von dem lieblichen Gesicht in dem verschnörkelten Goldrahmen abwenden. In ihr wuchs die Überzeugung, daß das Gesicht, das sie flüchtig am Fenster gesehen hatte, keine Einbildung war. Es mußte ein Gespenst gewesen sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie fragte Sheila: »Wie lange haben Dr. Woods und seine Frau in diesem Haus gewohnt?« »Bis zu ihrem Tod«, antwortete Sheila lässig. »Sie starben jung. Sie sind beide zur gleichen Zeit ertrunken.« »Wie schrecklich!« »Ja, das kann man wohl sagen«, stimmte Sheila zu. Eine Zeitlang standen sie sich schweigend in der dämmrigen Dachkammer gegenüber. Zwischen den Relikten einer längst vergangenen Epoche befanden sie sich wie in einer anderen Welt. Eine zwielichtige Welt, voller Schatten, die dem alten Haus sicher besser angepaßt war als die modernisierten Zimmer im Erdgeschoß. Hier in dieser Dachstube war die Zeit stehengeblieben. Lucy heftete den Blick auf Sheila und fragte: »Seien Sie ehrlich zu mir. Hat dieses Haus den Ruf, daß es hier spukt?« Sheila sah unbehaglich aus. »In dieser Gegend behauptet man von vielen Häusern, daß sie Spukhäuser seien. Sie brauchen ein älteres Haus nur lange genug leerstehen zu lassen, und mit Sicherheit werden 35
Leute behaupten, sie hätten nachts geheimnisvolle Lichter und seltsame Gestalten gesehen.« »Damit haben Sie meine Frage noch nicht beantwortet«, beharrte Lucy. »Was ist mit diesem Haus?« Das dunkelhaarige Mädchen zuckte mit den Schultern. »Stimmt, man erzählt sich Gespenstergeschichten darüber. Aber weder ich noch mein Vater glauben an so etwas. Damals hatte Vater nicht gezögert, es zu kaufen.« »Auch nicht, es an meinen Mann weiterzuverkaufen?« fragte Lucy. Sheila zeigte sich leicht verärgert. »Mit dem Verkauf haben wir Ihnen einen Gefallen getan.« »Kannte Fred die Geschichte des Hauses, als er es kaufte?« »Das muß er wohl«, entgegnete Sheila. »Gesprochen habe ich mit ihm allerdings nicht darüber.« »Ach so«, gab Lucy vielsagend zurück. »Ich an Ihrer Stelle würde mir durch solche Phantastereien nicht die Freude an dem Haus verderben lassen«, riet Sheila ihr. »Ich weiß, daß Fred gern hier wohnt. Und für einen Arzt hat das Haus eine ideale Lage. Wenn Fred zu Hausbesuchen fährt, dann ist er doch im Nu auf der Landstraße.« »Wenigstens weiß ich jetzt die Wahrheit«, entgegnete Lucy. Sheila musterte sie mit spöttischen Blicken. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Ihnen das nützen sollte.« Sie bewegte sich auf die Tür zu. »Ich würde gern noch bleiben und mich mit Ihnen unterhalten, aber mein Vater wartet auf mich.« Lucy verließ mit ihr die Dachkammer. »Vielen Dank, daß Sie mir die Portraits gezeigt haben«, sagte sie, als sie die enge Stiege hinunterkletterten. Dann schritten sie die beiden nächsten Treppenabsätze hinab, und Lucy begleitete ihren Gast bis an die Haustür. Der Nebel lag immer noch dicht und undurchdringlich über dem Land. Sheila warf ihr einen besorgten Blick zu. »Lassen Sie Ihre Phantasie nicht mit Ihnen durchgehen. Es ist ein wunderschönes altes Haus mit einem herrlichen Grundstück drumherum. Sie hatten Glück, so etwas überhaupt zu finden.« 36
»Ja, das meine ich auch«, antwortete sie lahm. »Sie müssen bald zu uns kommen und meinen Vater kennenlernen«, sagte Sheila beim Abschied. Dann schlug sie denselben Pfad durch den Garten ein, auf dem sie hergekommen war. Lucy blieb noch einen Moment lang auf dem Treppenabsatz stehen, nachdem der Nebel Sheila verschluckt hatte. Aus der Ferne hörte sie das monotone Tuten des Nebelhorns. Dieser Laut machte die Stille nur noch drückender. Plötzlich fühlte sie sich wie eine Gefangene. Sie trat ins Haus zurück und betrachtete seine eher schäbige Eleganz. Andauernd schob sich das Bild von Jennifers blassem, traurigem Gesicht vor ihr geistiges Auge. Überallhin schien es sie zu verfolgen. Wohin sie in dem schattigen, hohen Wohnzimmer ihre Blicke auch lenkte, ständig lauerte auf sie dieses bleiche, melancholische Bild. Sie brannte darauf, mehr über diese Frau zu erfahren, die einst in Moorgate gelebt hatte. Sie überlegte, wer wohl die geeignetste Person sei, sie mit der Geschichte des Hauses vertraut zu machen. Fast augenblicklich fiel ihr Dr. Matthew Boyce ein. Der alte Arzt hatte deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihre Freundschaft wünschte. Und er hatte ebenfalls versprochen, ihr etwas über die Vergangenheit Moorgates zu erzählen. Ihre innere Anspannung war so groß, daß sie nicht darauf warten konnte, bis er von sich aus den Kontakt aufnahm. Sie mußte ihn anrufen. In der schattigen Diele wartete sie darauf, daß seine Stimme über die Leitung kam. Er meldete sich mit fröhlicher Stimme. »Dr. Boyce. Was kann ich für Sie tun?« Erleichtert atmete sie auf. »Lucy Dorset«, antwortete sie eifrig. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Aber ich habe etwas auf dem Herzen.« »Ich freue mich, daß Sie damit zu mir kommen«, erwiderte der alte Arzt aufgeräumt. »Hätten Sie vielleicht Lust, kurz zu mir herüberzukommen?« fuhr sie fort. »Ich habe eine beunruhigende Entdeckung gemacht und brauche Ihren Rat.« 37
»Ist es dringend?« fragte er. »Heute nachmittag habe ich nämlich noch etwas zu erledigen.« Ihre Hoffnung schwand dahin. Mit dünner Stimme sagte sie: »Ich bin allein im Haus. Und gerade habe ich erfahren, daß es hier spukt.« Eine kurze Pause trat ein. Dann hörte sie wieder Dr. Boyces Stimme. »Ich verstehe. Wenn das so ist, dann schiebe ich meine Angelegenheiten eben auf und komme sofort herüber.« »Und es macht Ihnen auch wirklich nicht zuviel Mühe?« »Nein. Ich kann Sie gut verstehen«, gab er zurück. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin gleich bei Ihnen.« »Vielen herzlichen Dank!« rief sie erleichtert aus. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Während sie auf Dr. Boyce wartete, versuchte sie sich mit Arbeit abzulenken und ihre Nerven zu beruhigen. Im Erdgeschoß wanderte sie von einem Zimmer ins andere. In einer kleinen Kammer entdeckte sie eine altmodische Nähmaschine, die anscheinend seit Jahren niemand benutzt hatte. Es war auch eher eine interessante Antiquität als ein Stück für den praktischen Gebrauch. Von dort aus spazierte sie in die Bibliothek und las die Titel der alten ledergebundenen Folianten. Es gab vollständige Ausgaben von Dickens, Scott, Hawthorne und Thackeray. In der Bibliothek roch es genauso wie in der Dachstube nach Moder und Zerfall. Sie zog einen Band mit Shakespearegedichten hervor und setzte sich damit an den Schreibtisch, den Fred erstanden hatte. Als sie das Buch aufschlug, geschah etwas Merkwürdiges. Wie von selbst hatte sich das Buch an einer bestimmten Stelle geöffnet. Zwischen den Seiten lag ein beschriebenes Blatt Papier. Kaum hatte sich Lucy von ihrem Erstaunen erholt, da ergriff ein plötzlicher Luftzug das dünne Blatt, wirbelte es hoch, bis es schließlich zu Boden flatterte und auf dem Teppich liegenblieb. In höchster Verblüffung starrte sie auf das Papier. Das einzige Fenster in dem Raum war fest verschlossen. Es gab keinen Hinweis darauf, woher der Luftzug gekommen sein konnte. Dennoch war das Blatt 38
hochgewirbelt worden und ein Stück weiter weg auf dem Boden gelandet. Es war geradezu, als hätte eine Geisterhand es bewegt. Lucy runzelte die Stirn. Sie wußte nicht einmal, warum sie ausgerechnet nach diesem speziellen Buch gegriffen hatte. Ihr kam es beinahe so vor, als hätte sie unter einem hypnotischen Zwang gestanden. Sie starrte auf die vergilbten Blätter mit dem altmodischen Druck und dann auf das Papier auf dem Boden. Zögernd stand sie auf und bückte sich danach. Ihre Hand zitterte, als sie sich darangab, die Botschaft zu entziffern. Die Schrift war klar und fließend. Das Lesen machte keine Mühe. Die Mitteilung war kurz und an Jennifer Woods gerichtet. Sie lautete: »Meine geliebte Jennifer, wenn alles gut geht, bin ich um fünf bei Dir. Tag und Nacht mache ich mir Sorgen um Dich. Ich weiß, daß G. nur Unheil über Dich bringt. Aber sei beruhigt, wir werden einen Ausweg finden. In Liebe, Frank.« Es sah ganz so aus wie ein Liebesbrief, den ein Verehrer an die Arztfrau geschrieben hatte. Lucys Aufregung wuchs. Es war ja so, als hätte es jemand gewollt, daß sie die Botschaft fand. Irgend etwas hatte sie beeinflußt, damit sie gerade nach diesem Buch griff. Dann war der Brief wie von Geisterhand gelenkt durch das Zimmer gewirbelt. Sorgfältig faltete sie das Blatt Papier und verwahrte es in ihrer Jackentasche. Sie wollte sich gerade wieder dem Buch widmen, als sie das Geräusch eines vorfahrenden Autos vernahm. Sie hetzte zur Tür und hatte sie bereits aufgerissen, noch ehe Dr. Boyce sich aus seinem kleinen Auto gezwängt hatte. Langsam stieg der alte Herr die Treppe hoch. »Wie ich sehe, haben Sie mich schon kommen hören«, sagte er bedächtig. »Ja«, erwiderte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich hatte schon Angst, Sie würden wegen des Nebels nicht kommen.« »Keine Bange«, erwiderte der glatzköpfige alte Herr. »Wenn Sie mich brauchen, dann bin ich da.« »Kommen Sie ins Wohnzimmer«, forderte sie ihn auf. Er folgte ihr und schälte sich aus seinem Mantel. Dann drehte er sich um und schaute sie prüfend an. »Was ist los?« 39
»Das wissen Sie doch«, antwortete sie und begegnete seinem Blick. »Sie haben also herausbekommen, daß das Haus in einem schlechten Ruf steht.« »Leider ja.« »Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müßten«, erwiderte Dr. Boyce tröstend. Ihre Augen blickten besorgt, als sie fortfuhr: »Ich finde, man hat mich lange genug über dieses Haus im dunkeln gelassen. Und bei ihnen weiß ich, daß ich mich auf Ihr Wort verlassen kann.« »Danke«, gab der alte Arzt zurück. »Hat Fred Ihnen denn rein gar nichts über Moorgate erzählt?« »Nein. Was ich erfahren habe, weiß ich von Sheila. Und das ist genug, um mir Angst einzujagen.« Der alte Herr sah erbost aus. »Diese Gelegenheit konnte sie sich ja nicht entgehen lassen.« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Was ich Ihnen zu erzählen habe, wird lange dauern. Am besten ist, wir setzen uns gemütlich hin.« Sie nahmen Platz, und er rieb sich das rundliche Kinn. »Sie wissen bereits, daß Dr. Graham Woods mit seiner Frau Jennifer in diesem Haus wohnte?« »Das weiß anscheinend jeder in St. Andrews.« »Sie waren auch Moorgates interessanteste Bewohner. Und sie gehörten zu den ersten.« »Dies hier habe ich gefunden«, unterbrach Lucy ihn und gab ihm das Blatt Papier. Mit hochgezogenen Brauen las er die Botschaft. Danach reichte er sie ihr zurück und meinte trocken: »Ein Liebesbrief.« »Sieht ganz so aus.« »Von Frank Clay an Jennifer«, fuhr der alte Mann mit nachdenklicher Miene fort. »Erinnern Sie sich an Jim Stevens und seine Mutter?« »Selbstverständlich.« Er nickte. »Frank Clay war einer von Jims Vorfahren. Viele Jahre lang bewohnte Frank zusammen mit seiner kränkelnden Mutter das 40
weiße Haus auf der Pfarrersinsel. Erst nach seinem Tod wurde der Besitz verkauft.« »An Sheilas Vater, nicht wahr?« »Stimmt. In der Stadt gibt es kaum noch ein Grundstück, das nicht ihm gehört. Er ist steinreich.« »Das hatte ich bereits angenommen.« Dr. Boyce kniff die Augen zusammen. »Ich habe doch richtig verstanden, daß Sheila Ihnen von dieser Spukgeschichte erzählt hat?« »Ja.« »Das überrascht mich nicht. Ich habe so einen Verdacht, als paßte ihr Ihre Anwesenheit nicht. Bevor Sie hierherkamen, waren sie und Fred ziemlich dick befreundet.« Lucy bekam runde Augen. »Wollen Sie damit andeuten, daß sie mich aus dem Haus vertreiben will?« »Warum nicht? Wenn Sie als Freds Ehefrau versagen, dann rechnet sie sich gute Chancen aus, ihn selber zu bekommen.« Lucys Wangen brannten. »Bevor Fred zurückkommt, muß ich wissen, was in diesem Haus passiert ist. Ich fange nämlich an, mir einzubilden, ich hätte Jennifers Geist gesehen.« Der Doktor blieb ernst. »Es heißt auch, daß Jennifers Geist in Moorgate spukt. Das will ich gar nicht vor Ihnen verheimlichen. Und der Brief, den Sie fanden, bestätigt nur ein Gerücht, das schon seit einer Ewigkeit in der Stadt kursiert.« »Was für ein Gerücht?« »Man hatte schon immer gemunkelt, daß Jennifer und Frank Clay eine Liebesaffäre miteinander hatten. Aber stichhaltige Beweise gab es dafür nicht. Der Brief läßt sich also als Indiz dafür deuten.« »Sie mögen ja recht haben, aber vielleicht war es nur eine sehr innige Freundschaft«, protestierte sie. »Das würde ich auch gern annehmen«, fuhr Dr. Boyce fort. »Aber alles in allem genommen deuten die Umstände darauf hin, daß an dieser Freundschaft mehr war.« »Bitte erzählen Sie«, bat sie. »Als jungverheiratetes, glückliches Paar kamen Dr. Woods und seine 41
Frau in dieses Haus«, begann er. »Aber es dauerte nicht lange, da zogen düstere Wolken herauf. Ihre Beziehung wurde durch Mißtrauen und Eifersucht vergiftet. Und am Ende kam es zu einer Tragödie.« »War es Frank Clay, der die beiden auseinanderbrachte?« »So sagt man jedenfalls. Jennifer war eine bildschöne, lebhafte Frau. In alten Berichten heißt es, daß sie und ihr Mann sich mehrmals heftig wegen Frank Clay stritten.« »Und es endete mit einer Katastrophe?« Er nickte. »Sie starben beide, Graham Woods und seine Frau.« »Sie ertranken, nicht wahr?« Er kniff die Lippen zusammen. »Stimmt. Oder besser gesagt, das ist eine Version der Geschichte. Die andere lautet, daß Dr. Woods seine Frau ermordete und bei dem Versuch, sich der Leiche zu entledigen, selber ums Leben kam. Da haben Sie nun den Ursprung der Gespenstergeschichte.«
* Seine Worte trafen Lucy wie ein Schock. Keine der Anspielungen, die sie bis jetzt über Moorgate gehört hatte, ließ durchsickern, daß sich in diesem Haus Gewalttätigkeiten und Mord ereignet hatten. Entsetzt starrte sie in Dr. Boyces bekümmertes Gesicht. »Jennifer wurde ermordet?« vergewisserte sie sich fassungslos. »Das nahmen die meisten Leute, die damals hier wohnten, an.« »Bitte erzählen Sie mir mehr.« Der alte Mann erhob sich aus seinem Sessel und wanderte mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor dem Kamin auf und ab. »Ich kann Ihnen nur weitererzählen, was ich gehört habe. Verbürgen kann ich mich nicht dafür, daß alles auf Wahrheit beruht. Im Verlauf von hundert Jahren werden aus Tatsachen Legenden. Und Legenden sind nicht immer zuverlässig.« »Darüber bin ich mir im klaren«, wandte sie ein. »Graham Woods zog in dieses Haus, als es fast neu war. Er gehörte zu den ersten Ärzten, die sich in St. Andrews niederließen. Vorher 42
mußten die Einwohner im Notfall einen Arzt aus St. Stephen kommen lassen. Da dieser Ort fast zwanzig Meilen entfernt liegt, war es keine zufriedenstellende Lösung. Besonders damals, als man auf Pferdefuhrwerke angewiesen war.« »War er schon verheiratet, als er ankam?« »Ja. Er brachte seine junge Frau mit. Wenn man alten Berichten trauen darf, dann waren sie ein gutaussehendes Paar.« »Ich habe ihre Portraits gesehen«, warf Lucy ein. »Sheila nahm mich mit auf den Dachboden und zeigte sie mir.« Der Mann hielt in seiner Wanderung inne und musterte Lucy mit Interesse. »Ach, tatsächlich? Dann sind die alten Portraits also immer noch hier?« »Ja. Sie stehen in der ersten Dachstube gleich hinter der Treppe.« »Eine Zeitlang hat es geheißen, sie sollten unserem Heimatmuseum gestiftet werden«, erzählte Dr. Boyce. »Aber die jeweiligen Besitzer konnten sich nie dazu entschließen. Es sind zwei ausgezeichnete Werke ihrer Epoche.« »Mir gefallen sie auch«, stimmte sie zu. »Die herumziehenden Künstler damals malten genauso talentiert eine Landschaft oder ein Portrait wie ein Wirtshausschild. Sie wanderten von Ort zu Ort, erledigten zuerst die kommerziellen Aufträge und widmeten sich dann den ausgefalleneren Wünschen ihrer Kundschaft«, schilderte Dr. Boyce. »War es Eifersucht, die die Ehe von Dr. Woods und Jennifer zerstörte?« wollte Lucy wissen. Das runde Gesicht des alten Herrn furchte sich. »Ich glaube schon. Anfangs, als die beiden hierherzogen, fand jeder, daß sie ein attraktives Paar seien und gut zueinander paßten. Bei den ländlichen Tanzvergnügungen war sie die ausgelassenste junge Frau von allen. Sie sprühte vor Temperament und Lebensfreude und machte sich schnell Freunde. Ihr Mann war eher ein zurückhaltender, ernster Mann. Er gewann Vertrauen auf Grund seines Fleißes und seiner Tüchtigkeit als Arzt. Es heißt, daß er bei Geselligkeiten oft abseits stand, während sie Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war.« 43
Nachdenklich sagte Lucy: »Vielleicht war das der Anlaß für das Zerwürfnis.« »Es hat die Ehe ganz sicher belastet«, gab Dr. Boyce zu. »Schon wenige Monate nach ihrer Ankunft soll sich ihre Beziehung zueinander verändert haben. Sie gingen kühl miteinander um. Und der Dorfklatsch besagte, Frank Clay sei der Grund für diese Entfremdung gewesen.« »Hatte Jennifer sich in ihn verliebt?« fragte Lucy. Dr. Boyce zog die Stirn kraus. »Wir wollen sagen, daß er ihr jedenfalls nicht gleichgültig war. Vielleicht verband die beiden nur eine harmlose Freundschaft, wer will das heute schon wissen; vielleicht war es aber auch eine ernsthafte Liebesaffäre, wie Graham Woods anzunehmen schien.« »Was für ein Mann war Frank Clay?« »Sein Portrait habe ich nie gesehen«, erwiderte Dr. Boyce. »Ich glaube auch nicht, daß eines existiert. Aber er wird als schlanker blonder Mann mit einem ebenmäßigen Gesicht beschrieben. Er hatte die Universität in Boston besucht, es dann aber vorgezogen, das Leben eines Landedelmannes zu führen und seiner Mutter Gesellschaft zu leisten. Seine Mutter war schon sehr alt. Sie hatte Frank bekommen, als sie schon in mittleren Jahren war. Als Witwe verließ sie sich immer mehr auf ihren einzigen Sohn. Ganz allgemein war man der Ansicht, daß sie mit ihrer übertriebenen Liebe und ihrer Herrschsucht das Leben ihres Sohnes ruinierte.« Dr. Boyce befeuchtete sich die Lippen und fuhr fort: »Jennifers Ankunft in St. Andrews muß eine Wende in Frank Clays Leben herbeigeführt haben. Zum erstenmal interessierte er sich lebhaft für eine Frau, trotz der ablehnenden Haltung seiner Mutter. Und in diesem Fall hatte sie sogar recht, denn Jennifer war ja schließlich verheiratet. Aber Frank, der sonst immer auf seine Mutter gehört hatte, schlug mit einemmal sämtliche Warnungen in den Wind. Der Flirt zwischen der lebenslustigen Arztfrau und ihm wurde bald zum Hauptgespräch der Stadt.« »Wie reagierte Dr. Woods darauf?« »Öffentlich zeigte er seine Eifersucht nicht. Das heißt, wenn man den 44
alten Berichten Glauben schenken darf. Aber hinter den Kulissen wird es ohne Zweifel heftige Auftritte gegeben haben. Er und seine Frau zogen sich fast ganz aus dem geselligen Leben zurück. Sie besuchten keine Tanzveranstaltungen oder Feste mehr. Es heißt, Dr. Woods wollte verhindern, daß sie mit Frank Clay zusammentraf.« »Und Frank lebte mit seiner Mutter auf der Pfarrersinsel?« hakte Lucy nach. »Ja«, antwortete der alte Herr. »Als seine Romanze mit Jennifer in vollem Gange war, lag seine Mutter schwer krank. Dr. Woods behandelte sie.« »Das muß die Situation sehr kompliziert haben«, meinte Lucy. Der Doktor richtete seinen Blick aus dem Fenster, von dem sonst die Pfarrersinsel zu sehen war. Jetzt drückte sich nur die milchig graue Nebelwand gegen die Scheiben. »Ja«, sagte er gedehnt, »das kann ich mir vorstellen.« »Hat man Frank und Jennifer denn oft zusammen gesehen?« wollte Lucy wissen. »Allerdings. Frank verfügte natürlich über eine Menge freier Zeit und Geld. Während Dr. Woods zu Pferde seine Hausbesuche machte, tröstete Frank seine junge Frau über ihre Einsamkeit hinweg. Wenigstens munkelte man es.« Lucy lauschte mit wachsendem Staunen. »So wie Sie es erzählen, hört es sich an, als habe sich das alles erst gestern zugetragen. Aber alles liegt doch schon hundert Jahre zurück.« »Hundert Jahre sind schnell vergangen.« »Vielleicht haben Sie recht.« Der Doktor lächelte. »Ich bin jetzt ein dreiviertel Jahrhundert alt. Und mir kommt das noch gar nicht lange vor.« »Sie gehören eben zu den Menschen, die nie alt werden«, meinte Lucy. »Es gibt Tage, da spüre ich mein Alter ziemlich deutlich«, erwiderte er. »Aber zurück zu Jennifer. In der Stadt flüsterte man sich die skandalösesten Geschichten über sie und Frank Clay zu. Und den Leuten fiel es auf, daß die anfängliche Freundschaft zwischen den 45
beiden Männern sich sehr abgekühlt hatte. Sie mieden sich, wo es nur ging.« »Und diese Affäre hat dann zum Mord geführt?« »Es sieht ganz danach aus. Ein Mädchen, das bei den Woods in Stellung war, sagte aus, daß die beiden sich heftig wegen Frank Clay gestritten hatten.« »War das Mädchen denn eine verläßliche Zeugin?« Der alte Mann zuckte die Achseln. »Sie war eine ganz normale junge Frau. Warum sollte sie lügen?« »Und wie kam es zu den Todesfällen durch Ertrinken?« fragte Lucy. Dr. Boyce blickte ernst. »Es passierte in einer Sturmnacht im Oktober. Jeden Herbst wird dieser Küstenstrich von Wirbelstürmen heimgesucht. Und in der Nacht, in der einer der schwersten Stürme der Geschichte tobte, fanden die beiden ihr tragisches Ende.« »Wo war das?« »In der Bucht. Es muß zwischen dem Festland und der Pfarrersinsel passiert sein. Das gesamte Umland, einschließlich der Straße, war damals überschwemmt. Es war alles eine riesige, windgepeitschte Wasserfläche.« »Warum war Dr. Woods denn zu dieser Zeit in einem Boot unterwegs?« wunderte sie sich. »Das kann keiner mit Bestimmtheit sagen. Es kam nicht selten vor, daß er Patienten, die an der Küste wohnten, mit dem Boot besuchte. Aber kein Mensch, der alle fünf Sinne beisammen hat, würde sich während eines Hurrikans in einem offenen Boot hinauswagen. Und später stellte man fest, daß gar kein Kranker nach ihm verlangt hatte.« »Trotzdem fuhr er mit dem Boot hinaus?« »Ja.« Lucy war nachdenklich geworden. »Und Jennifer war bei ihm.« »Sie ertranken alle beide.« »Hat man ihre Leichen gefunden?« »Als der Sturm sich gelegt hatte und das Hochwasser zurückgegangen war, fand man die beiden zusammen mit den Trümmern des Bootes auf der Sandbank, die die Insel mit dem Festland verbindet.« 46
Mit bekümmerter Miene sah Lucy ihn an. »Und wann fingen die Leute an, von Mord zu reden?« »Fred Clay hatte dieses Gerücht in Umlauf gesetzt«, berichtete der alte Arzt. »Sobald der Sturm nachließ, fuhr er mit dem Boot aufs Festland hinüber. Er führte den Suchtrupp an.« »War er es, der die Leichen fand?« »Ja.« »Es muß ein schrecklicher Augenblick gewesen sein, wenn er Jennifer wirklich geliebt hat«, überlegte sie. »Die Augenzeugen, die bei dem Suchtrupp dabeiwaren, sagten, er sei wie von Sinnen gewesen. Er hob Jennifers leblosen Körper auf und trug sie den ganzen Weg bis zum Festland hinüber.« »Und dann?« »Nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte, behauptete er, Jennifer hätte ihm ewige Liebe geschworen und ihm versprochen, ihren Mann zu verlassen. Sie hätte vorgehabt, schon in wenigen Tagen von Graham Woods fortzugehen und zu ihm zu kommen. Er sagte, sie hätte die Streitereien nicht länger ertragen können. Trotz seiner unbestreitbaren Fähigkeiten als Arzt sei Dr. Woods ein kalter, herrschsüchtiger Ehemann gewesen, der mit seiner Eifersucht seine Frau zur Verzweiflung trieb. Und um seiner Geschichte den gehörigen Nachdruck zu verleihen, machte er die Umstehenden auf gewisse Male an Jennifers Hals aufmerksam.« »Und die Leute nahmen das so einfach für bare Münze?« staunte sie. »Sie müssen ja schockiert gewesen sein.« »Viele glaubten Frank Clay«, erwiderte er. »Und heutzutage nimmt man allgemein an, daß er die Wahrheit sagte. Frank behauptete, daß Dr. Woods und Jennifer in der Sturmnacht einen fürchterlichen Streit gehabt hätten. Das Dienstmädchen bestätigte diese Geschichte, indem sie aussagte, sie habe ihre Herrin durch das Heulen des Sturms vor Angst schreien hören.« »Ging sie denn nicht zu ihr, um nachzusehen?« »Sie gab an, dazu sei sie zu erschrocken gewesen. Sie hatte schon öfter gehört, wie die beiden sich gestritten hatten, aber so schlimm wie 47
dies eine Mal sei es noch nie gewesen. Sie sagte, sie hätte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und sei schließlich eingeschlafen.« »Und keiner hat sich gefragt, ob das Mädchen die Wahrheit sprach?« »Anscheinend hatte sie einen guten Leumund. Sie war eine schlichte Seele, die später auf die Insel zog und bis zu ihrer Heirat für die Clays arbeitete.« »Finden Sie das nicht ungewöhnlich, daß sie ausgerechnet zu Frank und seiner Mutter in Stellung ging?« »Nein«, antwortete Dr. Boyce. »Dieses Haus hier wurde vorläufig geschlossen, und viele Familien gab es in dieser Gegend nicht, zu denen sie hätte gehen können. Ich vermute sogar, daß Frank sie aus Mitleid einstellte.« »Und was, glaubte er, wäre nach dem Streit passiert?« »Seine Vermutung war, daß Graham Woods Jennifer im Affekt erdrosselte. Dann schleppte er sie aus dem Haus in das Unwetter hinaus, um sich der Leiche zu entledigen. Anscheinend wollte er, daß es aussah, als sei sie bei ihrem Versuch, die Insel mit dem Boot zu erreichen, ums Leben gekommen. Das Schicksal wollte es so, daß sich sein Wunsch erfüllte. Das Boot kenterte mit ihm und seiner toten Frau. Und Graham Woods ertrank.« Bedrückende Stille senkte sich über den schattigen Raum, nachdem Dr. Boyce seine Erzählung beendet hatte. Ein kalter Schauer rann Lucy über den Rücken, als ihr bewußt wurde, wie wahrscheinlich diese Geschichte klang. Es erklärte, warum der Geist der unglücklichen Jennifer keine Ruhe fand. Ernst blickte sie zu dem alten Herrn auf. »Glauben Sie, daß es sich so zugetragen hat?« »Diese Geschichte habe ich von Kindheit an gehört.« »Und sie sind davon überzeugt, daß sie auf Wahrheit beruht?« Er zog die Stirn kraus. »So muß es wohl gewesen sein. Eine andere Erklärung habe ich nicht dafür, warum Jennifer mit ihrem Mann bei diesem Unwetter auf dem Meer gewesen sein sollte.« »Vielleicht ist sie in ihrer Verzweiflung zu dem Boot gerannt, um die Pfarrersinsel zu erreichen.« 48
»Und ihr Mann folgte ihr, meinen Sie das? Aber warum zwang er sie dann nicht, mit ihm nach Moorgate zurückzukommen? Er mußte wissen, daß bei diesem Sturm jedes Boot kentern würde.« Sie seufzte tief auf. »Dann muß es wohl so gewesen sein.« »Es hat ganz den Anschein.« »Und das ist der Grund, weshalb Jennifer in dem Haus spukt?« Der Doktor spreizte in einer zweifelnden Geste seine Hände. »Falls das überhaupt stimmt.« Lucy warf ihm einen bekümmerten Blick zu. »Oh doch, so ist es. Dafür habe ich genug Beweise.« »Tatsächlich?« »Oh ja!« »Erzählen Sie«, forderte er sie auf und rückte mit seinem Sessel näher zu ihr heran. Sie begann mit der Schilderung, wie sie bei ihrer Ankunft in Moorgate das Phantomgesicht am Fenster gesehen hatte und ließ auch nicht den Vorfall mit der Tasse aus, die auf dem Boden zerschellt war, ohne daß sie sie berührt hätte. Als sie geendet hatte, sah Dr. Boyce ernsthaft besorgt aus. »Haben Sie schon mit Fred darüber gesprochen?« »Nicht über alles. Jedesmal, wenn ich davon anfange, reagiert er gereizt. Er scheint nicht zugeben zu wollen, daß dies ein Spukhaus ist.« »Ich kann es ihm nicht verdenken«, meinte der Doktor. »Er hat viel Geld und Mühe investiert, um das Haus für Sie beide herzurichten.« »Sie kannten doch die Legende«, sagte sie. »Warum haben Sie zugelassen, daß er dieses Haus kaufte?« Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich nie so recht daran geglaubt, daß hier Geister ihr Unwesen treiben. Ganz gleich, was in diesen Mauern passiert sein mag.« »Und ich sage Ihnen, daß es hier spukt!« »Wir wollen uns nicht darüber streiten«, entgegnete er. »Jedenfalls hatte Fred das Haus schon erworben, bevor ich überhaupt mit ihm sprechen konnte.« 49
Angst malte sich in Lucys Zügen ab. »Sie können sicher sein, daß es Sheilas Wunsch entsprach, daß er Moorgate kaufte.« »Wieso?« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht hofft sie, daß die Geschichte sich wiederholt. Daß sich der Schatten, der über diesem Haus liegt, auch auf Fred und mich senkt. Wir sollen uns streiten, und unsere Ehe soll in die Brüche gehen. Das erhofft sie sich.« Der alte Mann sah bekümmert aus. »Sie könnten dem Mädchen sehr unrecht tun. Vielleicht glaubt sie – genauso wie ich – nicht an Geister und Übernatürliches.« »Sheila hat nie in diesem Haus gewohnt – und Sie auch nicht.« »Das ist wahr.« »Ich bin davon überzeugt, daß das Haus von Jennifers unglücklicher Seele verfolgt wird. Ich bin mir absolut sicher.« »Was Sie mir erzählt haben, klingt beunruhigend«, gab Dr. Boyce zu. »Aber für all diese übernatürlich scheinenden Dinge mag es ganz vernünftige Erklärungen geben.« »Das versucht Fred mir auch einzureden.« »Und was meinen Sie? Könnte es eine logische Erklärung für das geben, was Sie in Moorgate erlebt haben?« »Nicht nachdem, was mir passiert ist«, widersprach sie. »Können Sie das denn nicht verstehen?« »Nicht ganz«, gab er unverblümt zu. »Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß Sie sich doch noch mit Moorgate aussöhnen.« »Das ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber um Freds willen werde ich mir trotzdem Mühe geben.« Der Doktor nickte zustimmend. »Mehr kann keiner von Ihnen verlangen. Jetzt kennen Sie wenigstens die Geschichte des Hauses. Das ist auch Ihr gutes Recht. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Wenn ich wieder einmal Ihren Rat brauche, dann wende ich mich an Sie. Wenn ich darf«, fügte sie hinzu. »Sie können mit allem zu mir kommen«, erwiderte der alte Arzt freundlich. Er stand auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muß aufbrechen. Ich habe noch Verschiedenes zu erledigen.« 50
Sie erhob sich gleichfalls. »Ich hätte Ihre Zeit nicht so lange in Anspruch nehmen dürfen.« »Ich habe mich gern mit Ihnen unterhalten.« Aus ihrer Jackentasche zog sie den zusammengefalteten Brief. »Was soll mit der Botschaft von Frank an Jennifer geschehen?« Der alte Mann starrte versonnen auf das Blatt Papier. »Zunächst einmal sollten Sie den Brief ruhig behalten. Später zeige ich ihn vielleicht dem Kurator unseres Heimatmuseums. Jedenfalls besagt die Nachricht, daß die beiden in einem heimlichen Briefwechsel standen.« »Aber nicht, daß sie eine Affäre miteinander hatten.« »Trotzdem könnte man den Brief als Hinweis darauf deuten«, gab er zu bedenken. »Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Lucy. »Man sollte nicht gleich das Schlimmste von einer Frau annehmen, nur weil sie einen derartigen Brief bekommen hat. Ich könnte mir vorstellen, daß es genausogut Indizien gibt, die ihre Unschuld beweisen. Man müßte nur wissen, wo sie zu suchen sind.« »An was denken Sie dabei?« Sie überlegte. »So genau weiß ich das selbst nicht. Tagebücher vielleicht oder private Aufzeichnungen. Als Arzt muß Dr. Woods doch ein Tagebuch geführt haben.« »Wir haben es auch gefunden«, erzählte der alte Herr. »Aber es war sehr unergiebig. Es scheint sogar Franks Aussage zu bestätigen, daß der Arzt ein ziemlich gefühlskalter Mann war. In seinem Tagebuch stand nichts außer routinemäßigen Angelegenheiten und Zahlen. Ein Bericht über Krankheitsfälle und wann sein Honorar bezahlt wurde.« »Könnten nicht noch mehr Tagebücher existieren?« überlegte sie. »Die persönlichere Aufzeichnungen enthalten?« »Man hat nichts gefunden.« Sie zeigte nach oben gegen die Decke. »Auf dem Dachboden ist haufenweise altes Zeug gestapelt. Vielleicht würde man dort fündig. Man müßte nur suchen.« »Ich nehme an, im Verlauf der Jahre ist das Material sorgfältig gesichtet worden«, wandte er ein. 51
»Bei mir setzt sich das Gefühl fest, als sei die Geschichte noch nicht abgeschlossen«, beharrte Lucy. Dieses Gefühl hatte tatsächlich von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte sich nur nicht erklären warum. Dr. Boyce blickte sie mitfühlend an. »Wenn Sie glauben, das Haus belaste Ihre Nerven, dann sollten Sie sich nicht zwingen, hierzubleiben«, riet er. »Aber versuchen Sie es eine Weile. Werfen Sie die Flinte nicht so rasch ins Korn.« »Ich nehme Ihren Rat an«, entgegnete sie. »Aber die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, läßt mich nicht los. Was wurde eigentlich aus Frank Clay?« »Er blieb mit seiner Mutter auf der Insel wohnen.« »Sagten Sie nicht, sie sei ein paar Jahre nach dem Unglücksfall gestorben?« »Ja«, stimmte er zu. »Sie kränkelte schon lange, deshalb kam ihr Tod nicht unerwartet. Danach blieb Frank völlig allein zurück. Die meisten Leute hatten angenommen, er würde die Insel verlassen. Aber er blieb.« »Dann wohnte er bis zu seinem Tod auf der Insel?« »Ja. Er führte ein eigenbrötlerisches, sehr zurückgezogenes Leben. Zum Schluß verließ er die Insel selbst dann nicht mehr, wenn Ebbe und die Zufahrt zum Festland frei war. Ein Diener kaufte in St. Andrews Lebensmittel ein. Und als Frank Clay starb, begrub man ihn auf seinen Wunsch hin auf der Insel.« »Danach wurde das Haus geschlossen?« »Ja. In seinem Testament vermachte er es der Familie Stevens. Sie waren Verwandte mütterlicherseits. Aber niemand wollte mehr dort wohnen. Sie behielten den Besitz bis vor kurzem. Dann verkaufte Jims Mutter ihn an Mr. Farley.« »Eine merkwürdige Geschichte«, sinnierte Lucy. »Frank Clay hat Jennifers Tod nie verwunden.« »Eine Heirat kam für ihn gar nicht mehr in Betracht. Und nach dem, was von ihm überliefert ist, starb er als einsamer, verbitterter Mann.« »Das hört sich logisch an«, meinte sie. »Waren Sie jemals auf der Insel und haben sich das Haus Frank Clays angesehen?« 52
»Schon mehrmals.« »Ich möchte es auch gern in Augenschein nehmen.« »Das läßt sich leicht einrichten«, stimmte Dr. Boyce zu. »Wenn Fred keine Zeit hat, Sie dorthin mitzunehmen, dann lassen Sie es mich wissen, und ich fahre mit Ihnen dorthin. Bei Ebbe ist es mit dem Auto nur ein Katzensprung.« * »Danke schön«, sagte sie. »Auf Ihr Angebot komme ich gegebenenfalls zurück.« Sie begleitete ihren Gast zur Tür und wartete draußen, bis er fortfuhr. Sie fröstelte in dem kalten Nebel, der sie wie ein feuchtes Tuch umgab. Dann drehte sie sich um und trat in das leere, dunkle Haus zurück. Mitten im Wohnzimmer blieb sie stehen und versuchte sich die Tragödie vorzustellen, die sich vor langer Zeit hier zugetragen haben mußte. Hatte es zwischen dem Ehepaar wirklich Gewalt und Mord gegeben, das jungverheiratet und glücklich hierhergekommen war, genauso wie Fred und sie? Alle überlieferten Hinweise deuteten darauf hin. Dr. Boyces Schilderung, wie der Ehemann den leblosen Körper seiner Frau mitten im rasenden Sturm aufs Meer geschafft hatte, stieg als lebhaftes Bild immer wieder in ihrer Phantasie auf. Es war eine beängstigende Szene. Hatte Sheila Fred beeinflußt, dieses Haus zu kaufen, weil sie seine Geschichte kannte und insgeheim darauf hoffte, es würde seine unheilvollen Schatten auf das Jungverheiratete Paar werfen? Wünschte sie sich, die Tragödie von vor hundert Jahren könnte sich wiederholen? Aber das ist ja lächerlich, schalt sie sich, während ein Angstschauer sie durchlief. Welche Probleme konnten zwischen ihr und Fred schon entstehen, außer daß sie sich gelegentlich über dieses Haus stritten und sich kurz darauf wieder vertrugen? Eifersucht war bei ihnen ausgeschlossen. Aber dann stutzte sie, denn ihr war eingefallen, daß die Dinge jetzt etwas anders lagen. Mittlerweile war Sheila auf der Bildfläche erschienen, und es war nur ganz natürlich, daß Lucy das verwöhnte, gutaussehende Mädchen mit einem gewissen Mißtrauen betrachtete. Konnte Sheila der zündende Funke sein, der das Feuer der Eifersucht in ihr entfachte? So weit durfte sie es nicht kommen lassen! 53
Mit diesem Vorsatz marschierte sie in die Küche, um rechtzeitig zu Freds Rückkehr das Abendessen vorzubereiten. Während sie zwischen Tisch und Herd hin und her ging, nahm sie sich vor, sich so zu beschäftigen, daß sie nicht mehr zum Grübeln kommen würde. Wenn Fred heimkam, dann mußte sie jeden Gedanken an Gespenster und dramatischen Szenen im Sturm aus ihrem Gehirn verscheucht haben. Um sechs Uhr abends hatte sie ein vorzügliches Essen gekocht. Trotz des trüben, nebligen Wetters und der unheimlichen Atmosphäre im Haus hatte sich ihre gedrückte Stimmung etwas gehoben. Sie ging in die obere Etage, duschte und zog sich für den Abend ein schickes Kleid an. Voll glücklicher Erwartung setzte sie sich ins Wohnzimmer und hoffte, Fred würde bald auftauchen. Das Warten wurde ihr lange, und sie spazierte von einem Fenster zum anderen. Aber von Freds Auto war keine Spur zu sehen. Wie ein dichter grauer Schleier lastete der Nebel über dem Land. Seufzend wandte sie sich vom Wohnzimmerfester ab und wanderte durch den Raum, als das Telefon schrillte. Es war Fred. »Tut mir leid«, sagte er mit erschöpft klingender Stimme. »Ich wurde in St. Stephen aufgehalten. Und wenn ich zurückfahre, muß ich gleich für ein oder zwei Stunden in meine Praxis.« Sie war enttäuscht. »Und was wird aus dem Abendessen?« »Ich esse eine Kleinigkeit in einer Imbißstube«, sagte er. »Aber ich habe dir ein wunderbares Abendessen gekocht«, gab sie verzweifelt zurück. »Dafür wirst du dir doch wohl ein bißchen Zeit nehmen können.« »Geht leider nicht, Liebling. Es würde mich zu lange aufhalten. Iß schon mal ohne mich. Gegen neun bin ich sicher zurück. Dann erkläre ich dir alles.« »Neun! Das sind ja noch Stunden!« »Sie gehen auch vorbei«, entgegnete er. »Für mich jedenfalls.« Damit hängte er ein. Den Hörer in der Hand stand sie in der dämmrigen Diele und fühlte sich niedergeschlagen wie nie zuvor. Von der Küche her drang der verführerische Duft des leckeren Essens in ihre Nase und erinner54
te sie daran, wie sehr sie sich auf das gemeinsame Abendbrot gefreut hatte. All ihre Arbeit war für die Katz! Es war kaum noch zum aushalten! Sie ging in die Küche und schaltete die Warmhalteplatte ab. Sie diskutierte mit sich, ob sie ein Gedeck auflegen und allein zu Abend essen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war einfach nicht in der Stimmung zu essen. Sie ließ die warme, helle Küche hinter sich und betrat wieder die düstere Diele. Während sie noch unschlüssig dastand, hörte sie, wie ein Auto die Zufahrt hinaufkam. Sie wunderte sich, wer es wohl sein mochte, und öffnete die Haustür. Aus dem Wagen sprang ein Junge. Mit einer zusammengerollten Zeitung in der Hand hüpfte er die Treppe hinauf. »Ihre Zeitung, Ma'am«, rief er und hielt sie ihr entgegen. Er mochte etwa zehn Jahre alt sein. Sie lächelte ihm freundlich zu. »Bringst du mir jeden Abend die Zeitung?« »Nein. Mein Bruder trägt die Zeitungen aus. Ich vertrete ihn nur, weil er für ein Examen büffelt. Er kommt mit dem Fahrrad, aber heute abend fährt mein Vater mit mir die Runde.« »Da hast du ja Glück«, erwiderte Lucy. »Ein eigenes Fahrrad wäre mir lieber«, gab der Junge zurück und hüpfte die Stufen hinunter. Mit der Zeitung in der Hand ging sie ins Haus. Sie überflog die Überschriften, aber als sie nichts von Interesse fand, legte sie die Zeitung auf den Dielentisch, wo Fred sie gleich beim Eintreten sehen konnte. Während sie so allein in dem stillen Haus stand, kehrte das Gefühl einer tiefen Melancholie zurück. Es befiel sie so unverhofft wie beim erstenmal, es war geradezu, als ergriffe eine andere Persönlichkeit von ihr Besitz. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, begann sie die Treppe hinaufzusteigen. Sie ging langsam, mit zögernden Schritten. Ihre Hand schleifte auf dem Geländer. Die Stille im Haus wurde immer drückender. Es war wie in einer Gruft, nicht der geringste Laut war zu hören. Wie eine Schlafwandlerin, die sich außerhalb von Raum und Zeit befindet, erklomm sie die 55
Stufen. Und ehe sie es sich bewußt wurde, stand sie schon auf dem Dachboden. Ihre Hand ruhte auf der Klinke der ersten Kammer. Langsam drückte sie die Tür auf und wagte sich in den dämmerigen Raum. Die Kisten und Truhen längs den Wänden warfen in dem spärlichen Licht, das durch das spinnwebenverhangene Fenster drang, seltsame Schatten. Wie beim erstenmal stieg Lucy der Geruch von altem Staub und Moder in die Nase. Als lenke sie eine unsichtbare Hand, richtete sie ihre Schritte auf die Wand zu, an der die Portraits von Dr. Woods und Jennifer lehnten. Langsam drehte sie das erste Bild so, daß das bißchen Licht vom schmutzverklebten Fenster darauffiel. Während sie das Gesicht des längst toten jungen Arztes musterte, kam es ihr so vor, als hätten sich seine Züge leicht verändert. Es war nur ein flüchtiger Eindruck, aber es schien ihr, als seinen die strengen Linien um den Mund weicher, nachgiebiger geworden. Jetzt blickte das Gesicht auf der Leinwand sie mit einem verlangenden, fast sehnsüchtigen Ausdruck an. Sie erschrak. Augenblicklich nahm das Bild wieder sein ursprüngliches Aussehen an. Lucy starrte auf die Leinwand und fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Das Bild war ein Produkt von Leinwand und Ölfarbe. Wie konnte es sein Aussehen verändern? Es war ja fast so gewesen, als habe der Tote versucht, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Wollte er ihr etwas mitteilen? Eine Gänsehaut ließ ihr über den Rücken, als sie sich wieder aufrichtete. Was tat sie überhaupt hier oben? Was hatte sie dazu gebracht, den unheimlichen Dachboden aufzusuchen, ein Platz, an dem sie sich fürchtete? Es wollte ihr so vorkommen, als habe eine unbekannte Kraft sich ihrer bemächtigt und sie hierhergeführt. Ihre Blicke wanderten zu dem zweiten Bild: das Portrait Jennifers, das ihr solchen Schrecken eingeflößt hatte, als sie es zum erstenmal sah. Denn das Gesicht auf der Leinwand kannte sie. Es waren die gleichen Züge, die sie hinter der Scheibe des Schlafzimmerfensters erspäht hatte. Fred wollte ihr einreden, es sei die Spiegelung eines Zweiges gewesen. Aber sie wußte, daß es nicht so war! Sie nahm einen tiefen Atemzug und blickte auf die Truhen und Ki56
sten, die unordentlich gestapelt im Raum standen. Eines Tages würde sie herausfinden, was sie beinhalteten. Wer weiß, was sie finden würde? Lang verschüttete Geheimnisse, die ein neues Licht auf das Geschehen warfen, das sich in diesem Haus abgespielt hatte. Andere hatten sich bereits mit dem Inhalt dieser Kisten beschäftigt. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit, daß sie etwas übersehen hatten. In diesem Augenblick hörte sie hinter sich Schritte.
* Lucy behielt so weit ihre Beherrschung, daß sie sich langsam herumdrehte. Hinter ihr, wo die Schatten sich zusammenzogen, stand die Gestalt eines Mannes. Im ersten Moment erkannte sie nicht, wer es war. Dann sprach er. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir mein Eindringen.« Sofort kam die Stimme ihr vertraut vor. Es war Jim Stevens, der junge Anwalt, den sie auf Dr. Boyces Willkommensparty kennengelernt hatte. Erleichtert atmete sie auf, »Sie haben mich vielleicht erschreckt!« sagte sie stockend. Jims sympathisches Gesicht nahm einen verlegenen Ausdruck an. »Daran hatte ich nicht gedacht.« »Ich habe Sie erst gehört, als Sie hinter mir standen«, fuhr Lucy fort. »Ich hätte Sie früher ansprechen sollen«, gab Jim zu. »Ich kam hierher, um Fred zu besuchen, und fand die Haustür unverschlossen. Keine Menschenseele ließ sich blicken, auch der Wagen war fort. Ich dachte mir, Sie seien fortgegangen und hätten vergessen, die Haustür abzuschließen, oder daß während Ihrer Abwesenheit jemand hier eingedrungen sei. Deshalb entschloß ich mich, mich im Haus umzusehen. Unten war niemand, aber dann hörte ich oben Ihre Schritte.« Jetzt entsann sie sich. »Ich war draußen, um die Zeitung in Empfang zu nehmen. Beim Hineingehen muß ich die Tür wohl nicht richtig ins Schloß gedrückt haben.« »Sie stand ein paar Zentimeter weit offen«, erzählte Jim. 57
»Es war richtig, daß Sie ins Haus kamen und der Sache nachgingen«, lobte sie ihn. »Ich bin auf dem Dachboden, weil ich mir diese alten Portraits ansehen wollte. Ich war so in den Anblick vertieft, daß ich gar nicht hörte, wie jemand das Haus betrat.« Er besah sich die Bilder. »Interessante Stücke.« »Sie kennen sie?« »Ja«, sagte er. »Sheilas Vater zeigte sie mir einmal. Nachdem er den Besitz gekauft hatte, machten wir eine Runde durchs Haus. Moorgate hat seine ganz private Geschichte. Dr. Woods und seine Frau spielten darin die Hauptrollen.« »Sie kennen die Legende natürlich.« »Jeder, der in St. Andrews wohnt, weiß über Moorgate Bescheid.« Er nickte zu Jennifers Bild hinüber und fuhr fort: »Es heißt, daß einer meiner Vorfahren, Frank Clay ein romantisches Verhältnis zu ihr unterhielt.« »Das hat man mir schon erzählt.« Jim lächelte ihr zu. »Ich muß sagen, ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Wenn ich damals gelebt und sie gekannt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich auch in die schöne Jennifer verliebt.« Lucy wiegte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß zwischen den beiden etwas Ernstes war. Irgendein Gefühl sagt mir, daß dieses Gerücht nicht stimmt.« Er hob seine Augenbraue. »Das ist ja interessant!« »Ich kann es selbst nicht erklären. Aber es kommt mir so vor, als würde andauernd eine Stimme ›nein‹ flüstern, wenn ich mich mit dieser Romanze beschäftige.« »Interessant«, wiederholte Jim. Lucy drehte sich um und betrachtete Dr. Woods' herbe, melancholische Züge. »Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß seine Ehe mit Jennifer so böse ausgegangen sein soll. Ich weigere mich einfach, es zu glauben. Ich bin sicher, daß die beiden sich von Herzen liebten.« »Aber wie erklären Sie sich dann den Tod der beiden? Das gleichzeitige Ertrinken? Was machten sie draußen im Sturm, wenn Dr. Woods nicht die Leiche seiner Frau verschwinden lassen wollte?« 58
Die Schatten in der kleinen Kammer verdichteten sich. Lucy schauderte. »Es ist eine so häßliche Geschichte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß den beiden Menschen so etwas passierte. Meine innere Stimme spricht dagegen.« Der junge Anwalt sah amüsiert aus. »Sie sind eine unverbesserliche Romantikerin.« »Dessen bekenne ich mich schuldig«, konterte sie verschmitzt. »Sie brauchen sich nicht dafür zu schämen«, erwiderte er lächelnd. »Es gibt viel zu wenig romantische Menschen.« »Im unterkühlten Klima des zwanzigsten Jahrhunderts gedeiht diese Sorte schlecht.« »Ohne Zweifel. Aber jetzt zu dem eigentlichen Grund meines Besuchs. Ist Fred nicht zu Hause?« »Nein. Er wurde in St. Stephen aufgehalten und mußte dann noch in seine Praxis. Gegen neun wollte er zurück sein.« »Ach so.« »Ich habe noch nicht zu Abend gegessen«, erzählte Lucy dem jungen Mann. »Ich hatte mir beim Kochen so viel Mühe gegeben, und jetzt läßt Fred mich mit dem schönen Essen sitzen. Haben Sie schon gegessen?« »Nein.« »Dann leisten Sie mir doch Gesellschaft. Ich war so enttäuscht, daß mir der Appetit vergangen war.« »Ich bleibe gern, wenn ich darf.« Lucy lächelte und schritt zur Tür. »Ich bestehe darauf. Wenn Sie hierbleiben, tun Sie mir sogar einen Gefallen. So mutterseelenallein in diesem Haus wurde ich schon ganz kribbelig.« Sie gingen nach unten, und wenig später servierte sie in dem holzgetäfelten Eßzimmer das Abendbrot. Sie zündete die Kerzen an, die sie für Freds Ankunft auf den Tisch gestellt hatte, und die Zeit verging in heiterer Atmosphäre. Über den Tisch hinweg blickte Jim sie anerkennend an. »Das Essen ist ausgezeichnet. Sie sind nicht nur eine Romantikerin, sondern auch eine hervorragende Köchin.« 59
»Danke«, lächelte sie zurück. »Ich hätte nie gedacht, daß ich mich in Moorgate einmal gelöst und entspannt fühlen würde«, fuhr Jim fort. »Aber Sie haben ein Wunder bewirkt. Sie wissen, wie man ein Heim gemütlich machen kann. Ich will Ihnen etwas sagen: Fred und Sie werden hier sehr glücklich sein.« Versonnen hielt sie im Essen inne. »Hoffentlich«, sagte sie zweifelnd. »Dieses Haus scheint von irgendwelchen geheimnisvollen Kräften belebt zu sein, die ich nicht verstehe. Ich fürchte, sie könnten Unheil über uns bringen. Ich mache mir ehrlich Sorgen, ob die Menschen, die hier wohnen, dadurch nicht auf unselige Weise beeinflußt werden.« Ruhig entgegnete er: »Sie sprechen von den Geistern der Verstorbenen?« »Ja.« »Haben Sie denn etwas gesehen, das Sie so sprechen läßt?« Sie nickte. »Seit ich hier ankam, sind mir ein paar merkwürdige Dinge passiert.« Das plötzliche Flackern der Kerzenflamme warf einen huschenden Blick auf sein Gesicht. Er sagte: »Sie wissen sicher, daß die Sage geht, Jennifers Geist würde im Haus und Garten spuken.« »Einmal habe ich sie sogar mit eigenen Augen gesehen«, antwortete sie mit Nachdruck. »Und verschiedene andere Anzeichen sprechen dafür, daß dies kein gewöhnliches Haus ist.« »Aber wenn Sie nicht an die Mordgeschichte glauben, warum sollte dann Jennifers Geist das Haus heimsuchen?« wollte Jim wissen. »Wenn sie tatsächlich nicht das unglückliche Opfer ihres Mannes war, weshalb kommt ihre Seele dann nicht zur Ruhe?« »Vielleicht wegen der Verleumdungsgeschichte«, schlug Lucy vor. »Sie findet keine Ruhe, weil man ihr Unrecht getan hat. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?« Jim nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ehrlich gesagt, nein«, gab er zu. »Dann sollten Sie das aber tun«, erwiderte sie ernsthaft. »Meiner Meinung nach verfolgt Jennifer dieses Haus, weil die Geschichten, die 60
man sich über sie, ihren Mann und Frank Clay erzählt, erfunden sind. Sie will, daß die Wahrheit herauskommt.« »Und deshalb erscheint sie den Menschen also als Geist.« »Ja«, gab sie zurück. »Ich bin sicher, daß der wahre Sachverhalt noch gar nicht ans Tageslicht gedrungen ist. Und solange die Wahrheit nicht bekannt ist, steht Moorgate unter einem Fluch. Jennifers unglückliche Seele wird durch das Haus und den Garten streifen.« Der junge Mann sah interessiert aus. »Ich bin erstaunt, daß Sie sich dieses alte Märchen so zu Herzen genommen haben. Daß Sie sich sogar Ihre eigene Meinung über die Vorgänge bilden, die doch sowieso längst verschüttet sind.« Mit resigniertem Lächeln lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück. »Ich hatte Sie ja gewarnt, ich bin eine unverbesserliche Romantikerin.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Er trank den Rest Wein aus, den sie ihm eingeschenkt hatte. Indem er das Glas absetzte, sagte er: »Fast bin ich dankbar, daß Fred aufgehalten wurde. Dadurch bekam ich die Gelegenheit, ein vorzügliches Essen zu genießen und Sie näher kennenzulernen.« »Ich bin froh, daß Sie geblieben sind«, bekannte sie in aller Freimütigkeit. »Hoffentlich ist Ihre Mutter nicht böse, weil Sie nicht zum Abendessen heimkamen.« »Mutter ist heute den ganzen Tag nicht zu Hause«, erzählte er. »Sie ist zu Verwandten nach Saint John gefahren. Für ihr Alter ist sie eine sehr rührige Frau.« »Und auch sehr nett«, ergänzte Lucy. »Sie war die erste, die mich warnte, ich solle nicht auf den Dachboden oder in den Keller gehen. Aber wie Sie gesehen haben, habe ich mich nicht an den Rat gehalten.« »Vielleicht sollten Sie es besser doch tun«, erwiderte Jim ernst. »Wenn Sie sich in dem Haus unbehaglich fühlen, dann sind ausgerechnet Dachboden und Keller nicht die geeigneten Orte, an denen Sie sich aufhalten sollten.« »Aber es sind die einzigen Stellen, wo ich mehr über die Geschichte des Hauses in Erfahrung bringen könnte«, wandte sie ein. Jim runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, daß es noch etwas Geheim61
nisvolles an der Geschichte gibt. Halten Sie sich ruhig an die Version, daß Frank Clay und Jennifer Woods ein Liebespaar waren. Der eifersüchtige Ehemann deckte das Verhältnis auf und erdrosselte seine Frau in einem Anfall von Wut.« »Diese Erklärung ist mir zu simpel.« »Und wie werden Sie vorgehen, wenn Sie diese Version ins Wanken bringen wollen?« Sie dachte kurz nach. »Das weiß ich selbst noch nicht. Vielleicht unternehme ich erst mal gar nichts und lasse die Dinge an mich herankommen. Ich habe das bestimmte Gefühl, als könnte mir das Haus eine Geschichte erzählen. Man muß die Einzelheiten nur richtig zu deuten wissen.« Der junge Mann betrachtete sie mit nüchternen Blicken. »Und was ist, wenn als Folge des Mordes in irgendeiner Ecke ein böser Geist lauert. Was dann?« »Das werde ich noch herausfinden.« »Mir fällt nur gerade eine andere Möglichkeit ein«, sinnierte er. »Es ist nicht auszuschließen, daß Sie in den Bann des bösen Fluches geraten, der auf Moorgate lasten soll, ohne daß Sie selbst etwas davon bemerken.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Sie sollten es aber als mögliches Risiko in Betracht ziehen«, warnte er sie. Sie starrte ihn an. Die Dunkelheit wurde nur durch den flackernden Schein der Kerzen unterbrochen. »Was meinen Sie damit. Wollen Sie andeuten, daß die gleiche Geschichte sich wiederholen könnte?« »Warum nicht?« »Daß Fred und ich uns auseinanderleben könnten, so wie man es von Dr. Woods und seiner Frau behauptet?« »Möglich wäre es.« Sie schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.« Aber noch während sie sprach, fiel ihr ein, daß sie selbst an diese Möglichkeit auch schon gedacht hatte. »Mein Urahn, Frank Clay, schwor bei Gott, daß jemand Jennifer 62
erdrosselt haben mußte, ehe sie ins Wasser fiel. An ihrem Hals waren Würgemale. Und er war der erste, der ihren Körper fand und aufs Festland trug.« »Davon habe ich gehört«, gab sie zu. »In diesem Fall kann er doch nicht gelogen haben«, fuhr Jim fort. »Er betete Jennifer an.« »Es sei denn, er war von Grund auf schlecht und verbreitete absichtlich dieses Gerücht«, gab sie zu bedenken. Jim lächelte schief. »Jetzt bezichtigen Sie meinen Vorfahren einer Schurkerei.« »Warum nicht? Er ist ja längst tot. Und vielleicht ist es sein böser Geist, der heutzutage Moorgate heimsucht, und nicht der von Jennifer.« »Aber sagten Sie nicht, Sie hätten ein Frauengesicht gesehen?« »Richtig. Vielleicht geht ihr Geist auch noch um, weil sie sich an dem begangenen Unrecht rächen will«, gab sie schnell zurück. Jim lachte leise. »Eine interessante Erklärung.« Sie stand vom Tisch auf. »Wir setzen uns jetzt lieber ins Wohnzimmer. Sie können ruhig auf Fred warten. Er müßte gleich hier sein.« Sie vertauschten das Eßzimmer mit dem größeren und besser erleuchteten Wohnzimmer auf der anderen Seite des Hauses. Sie setzten sich auf das Sofa vor den Kamin, der in seiner Breite fast die ganze Wand einnahm. Wieder sprachen sie über das Haus. Jim erkundigte sich: »Wenn Sie so fest daran glauben, daß es in Moorgate spukt, haben Sie dann gar keine Angst, hier zu wohnen?« »Doch«, gestand sie. »Aber ich werde bleiben. Einmal, weil Fred dieses Haus liebt, und zum anderen möchte ich diese mysteriöse Sache aufklären. Mir liegt daran, Jennifers guten Ruf wiederherzustellen.« »Dabei wünsche ich Ihnen viel Glück«, erwiderte Jim. »Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, ich finde, Sheila Farley hätte Fred ein anderes Haus zum Kauf anbieten sollen. Sie weiß nämlich von allem, was sich hier zugetragen hat.« Lucy lächelte verkniffen. »Vielleicht hoffte sie, das Haus würde mich fortjagen.« 63
Jim zwinkerte ihr zu. »Damit Fred für sie frei wird? Wie ich sehe, haben Sie mit meiner Mutter gesprochen. Sie kann Sheila nicht ausstehen. Als ich ein paarmal mit Sheila ausging, bekam sie beinahe einen Anfall.« »Haben Sie jetzt noch Kontakt mit ihr?« »Wir sehen uns sehr selten«, erzählte Jim. »Gelegentlich besuchen wir zusammen eine Party. Als Fred hierherzog, war sie für ihn gleich Feuer und Flamme. Die Ankunft seiner Frau mußte ihr notgedrungen die Flügel stutzen.« »Hoffentlich.« »Doch, doch, davon bin ich überzeugt«, versicherte Jim. »Fred liebt Sie aus ganzem Herzen. Das sieht doch jeder.« »Ich halte Sheila nicht für eine Frau, die schnell aufgibt«, meinte Lucy. »Ob sie aufgibt oder nicht, das wird nichts an der Tatsache ändern, daß sie sich geschlagen geben muß, was Fred anbetrifft.« Jim hatte mit ruhigem Nachdruck gesprochen. Um das Thema zu wechseln, sagt sie: »Ich habe gehört, daß Frank Clay auf seinen Wunsch hin auf der Insel begraben wurde. Wo liegen die Gräber von Jennifer und Dr. Woods?« »Auf dem alten Gemeindefriedhof«, antwortete Jim. »Die beiden Grabsteine können Sie in der Friedhofsecke finden, die am weitesten von der Kirche entfernt ist. Ich könnte mir vorstellen, daß die damalige Kirchengemeinde sich dagegen sträubte, den Mörder und sein Opfer in geheiligtem Boden zu begraben.« »Ich fand einen Brief, der offensichtlich von Frank an Jennifer geschrieben wurde«, erzählte Lucy. »Ich entdeckte ihn rein zufällig in einem Band mit Shakespearegedichten. Als ich das Buch aufschlug, wirbelte das Blatt auf den Boden, als hätte eine unsichtbare Hand es bewegt.« »Darf ich den Brief sehen?« fragte er interessiert. Sie stand auf und wollte das Relikt längt vergangener Tage holen. Sie hatte den Brief in einem der Fächer von Freds Schreibtisch verwahrt. Trotz minutenlangem Suchen konnte sie das Blatt jedoch nirgends fin64
den. Ratlos drehte sie sich zu Jim um, der neben ihr stand und den Brief entgegennehmen wollte. »Das begreife ich nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Er ist verschwunden.« »Sind Sie sicher, daß der Brief überhaupt existierte?« witzelte er. »Selbstverständlich. Ich zeigte ihn noch Dr. Boyce. Er kann es Ihnen bestätigen.« »Sie müssen ihn verlegt haben.« Nachdenklich betrachtete sie den antiken Schreibtisch. »Ja, so muß es wohl sein«, stimmte sie zu, ohne jedoch daran zu glauben. In ihrem Gehirn formte sich die Vorstellung, daß dieselbe Geisterhand, die den Brief zu Boden flattern ließ, auch für sein mysteriöses Verschwinden verantwortlich war. Jim blickte auf seine Uhr. »Es ist gleich neun und Fred ist immer noch nicht hier. Länger kann ich nicht warten. Aber richten Sie ihm bitte aus, daß ich hier war, und er möchte mich in meinem Büro anrufen.« »Können Sie wirklich nicht länger bleiben?« fragte sie. »Er muß jeden Augenblick kommen.« »Leider nein«, erwiderte Jim. »Ich danke Ihnen für das gute Essen und die angenehme Gesellschaft. Ich bin gespannt, zu welchen Erkenntnissen Sie noch kommen werden. Es kann ja sein, daß Ihre Theorie über Jennifer zutrifft. Vielleicht hat man ihr mit den Verdächtigungen sehr Unrecht getan.« »Ich neige zu dieser Annahme«, bekräftigte sie. Als sie ihn zur Haustür brachte, bemerkte sie, daß sich der Nebel immer noch nicht aufgelöst hatte. Jim stieg in seinen Wagen und fuhr langsam die private Zufahrt hinunter. Sie wartete, bis die Rücklichter im Nebel verdämmerten, dann zog sie sich ins Haus zurück. Sie war dankbar für Jims Gesellschaft. Außerdem hatte sie das gute Essen nicht verkochen zu lassen brauchen. Aber jetzt war sie wieder allein in dem alten Haus, wo in jeder Ecke Schatten lauerten. Gerade hatte sie angefangen, das Eßgeschirr abzuräumen, als sie draußen Motorengeräusch hörte. Sie erkannte Freds Auto. Überglücklich stürzte sie zur Tür. 65
Sie warf sich an seine Brust und küßte ihn. »Ich habe dich so vermißt! Gott sei Dank, daß du endlich da bist!« »Tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte er mit einer Stimme, aus der die innere Anspannung herauszuhören war. Und dann: »Sag mal, fuhr da nicht eben ein Auto die Zufahrt hinunter?« In ihrer Freude hatte sie Jims Besuch ganz vergessen. Sie sagte: »Das muß der Wagen von Jim Stevens gewesen sein.« »Ach?« Fred sah nicht gerade erfreut aus. »Was hatte er denn so spät abends hier noch zu suchen?« »Er kam so gegen sieben, aber du warst ja nicht da.« »Und er blieb bis nach neun?« »Ja«, erwiderte sie. »Ich wußte ja, daß du zum Essen nicht kommen würdest, und ich hatte etwas ganz Besonderes gekocht. Deshalb lud ich ihn ein, mit mir zu essen.« »Was für ein Glück für ihn«, gab Fred mit einem Anflug von Ironie zurück. Überrascht starrte sie in sein Gesicht. »Das hört sich ja so an, als sei es dir nicht recht.« Seine Reaktion verblüffte sie noch mehr. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das gutheißen kann.« »Und warum nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Jim steht in dem Ruf, ein Schürzenjäger zu sein. Die Tatsache, daß er während meiner Abwesenheit hierherkam und dann noch stundenlang blieb, könnte Klatsch erregen. Und das wollen wir doch beide nicht.« Aus ungläubigen Augen blickte sie ihn an. »Klatsch? Aber wieso denn? Ich bat ihn, zum Essen zu bleiben, weil ich mich einsam fühlte. Du hattest mich alleingelassen, und ich wurde unruhig in diesem alten Gemäuer.« »Ich mußte meinen beruflichen Pflichten nachgehen«, gab Fred selbstgerecht zurück. »Meine Pflichten als Arzt kann ich ja wohl nicht vernachlässigen.« »Ich gebe dir ja recht«, stimmte sie zu. »Aber du solltest auch an mich denken.« 66
»Das tue ich ja gerade. Deshalb möchte ich um jeden Preis vermeiden, daß über dich und Jim geklatscht wird.« »Das ist ja albern!« protestierte sie. »Meinetwegen«, schnitt er ihr das Wort ab. »Wir wollen nicht mehr darüber reden.« »Ich will dir nur sagen, daß ich nichts getan habe, wofür ich mich schämen müßte«, beharrte sie. Fred nickte müde. »Das weiß ich ja. Ich denke nur daran, was andere annehmen könnten. Es war indiskret von Jim, deine Einladung anzunehmen. Er weiß doch wohl am besten, wie kleinkariert und engstirnig diese Stadt sein kann.« »Man muß schon sehr beschränkt sein, um aus einer harmlosen Einladung zum Essen etwas zu machen«, schimpfte sie. »Ich gehe jetzt in die Bibliothek«, kündigte Fred im gleichen erschöpften Ton an. »Ich muß ein paar Rezepte an die Apotheke durchgeben und mit einigen Patienten telefonieren. Es wird etwas dauern.« Mit der Arzttasche in der Hand marschierte er in die Bibliothek. Lucy ging ins Eßzimmer zurück und nahm ihre unterbrochene Arbeit wieder auf. Freds Worte hatten sie gekränkt. Erst später, als sie sich für das Zubettgehen rüstete, fiel ihr auf, daß sie ihren ersten kleinen Streit gehabt hatten. Er war nicht von Belang gewesen, aber es war ihre erste Meinungsverschiedenheit. Und es hatte sich dabei um einen anderen Mann gedreht. Mit einem Schlag wurde ihr die Ähnlichkeit mit dem Dreiecksverhältnis von vor hundert Jahren bewußt. Damals hatte Jennifer sich in Lucys Situation befunden. Es war ein beunruhigender Gedanke. Sie lag bereits im Bett, die Lichter waren alle gelöscht, als sie Fred das Schlafzimmer betreten hörte. Sie knipste die Lampe an, die auf dem Nachttisch zwischen ihren Betten stand. Es kam ihr so vor, als sähe Fred sogar noch müder aus als bei seiner Ankunft. Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Verzeih mir, Lucy«, bat er zerknirscht und nahm ihre Hand. »Ich habe mich sehr schlecht benommen.« »Schon gut«, sagte sie versöhnlich. 67
»Ich habe meine schlechte Laune an dir ausgelassen«, gab er reuig zu. »Ich kam mit allen meinen Problemen beladen nach Hause und ärgerte mich, weil Jim an meiner Stelle mit dir gegessen und deine Gesellschaft genossen hatte.« Spitzbübisch lächelte sie zu ihm auf. »Dann warst du also eifersüchtig?« »Ja, darauf läuft es wohl hinaus.« »Ich fasse es als Kompliment auf.« »Tu das«, bat er. »Und vergiß bitte, was ich gesagt habe.« Er beugte sich nieder und küßte sanft ihre Lippen. Aber die Versöhnung trug nicht dazu bei, ihre bösen Träume zu verjagen, die sie bereits die vorige Nacht gequält hatten. Kaum war sie eingeschlafen, da sank sie auch schon in ein Traumland, das von Jennifer, Dr. Woods und Frank Clay bevölkert war. Im Traum sah Frank genauso aus wie Jim Stevens. Nur die Kleidung stammte aus dem vergangenen Jahrhundert. In ihrem Alptraum sah sie Jennifer, wie sie im Garten von Moorgate in Franks Armen lag. Engumschlungen standen die beiden Liebenden draußen in der stürmischen Nacht. Im Erdgeschoß des Hauses zeigte sich hinter einem erleuchteten Fenster der schattenhafte Umriß von Dr. Woods. Der Wind pfiff und heulte in den hohen Bäumen, und dann verschmolz der Traum zu einem wirren Durcheinander. Nebelschwaden wogten um Liebespaar und Haus, und im Stöhnen des Windes glaubte sie immer wieder den Namen Jennifer zu hören. Die Sicht klärte sich, und auf einmal befand sich Jennifer im Haus. Um Kopf und Schultern hatte sie ein altmodisches Fransentuch geschlagen. Und im Traum spürte Lucy auf einmal, wie ihre eigene Person mit der Jennifers verschmolz. Sie war es jetzt, die durch die finstere Diele schritt, während draußen der Sturm ächzte und jaulte. Die Schatten verdichteten sich, und aus der Dunkelheit tauchte plötzlich die reglose Gestalt ihres Ehemannes auf. Stumm und drohend ragte er über ihr. Sie wußte, sie brauchte sich nicht zu fürchten, dennoch verspürte sie Angst. Irgend etwas sagte ihr, daß Gericht über sie gehalten würde, 68
sobald sie die Stelle erreicht hatte, an der er stand. Aber war es wirklich ihr Mann? Sie sah nur verschwommen und war sich nicht sicher. Wenn das Toben des Sturmes nur aufhören würde! Sie näherte sich der Gestalt und streckte in flehender Gebärde die Hände aus. »Was habe ich falsch gemacht?« Statt einer Antwort stieß er ein wütendes Knurren aus. Sie bettelte um Verzeihung, versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber die Schatten zogen sich nur noch dichter zusammen. Und dann fühlte sie, wie seine schmalen, sehnigen Hände sich um ihren Hals legten. Nur das Heulen des Windes war zu hören. Die Szene hatte sich verwandelt. Sie lag ausgestreckt auf dem Plankenboden eines kleinen Bootes, das sich in der schweren See wie ein Korken hob und senkte. Über ihr legte sich eine Gestalt in die Riemen. Das Holz der Ruder knarrte und ächzte. Sie rührte sich und stöhnte leise. Die Gestalt beugte sich leicht vornüber. Gleichzeitig bäumte sich eine riesige Welle auf, und das Boot wirbelte um die eigene Achse. In wilder Panik schrie sie auf. Das Boot kenterte, und sie befand sich in dem eisigen Wasser. Die Kälte biß sie bis ins Mark. Sie schrie immer noch, auch als sie schon in den bleigrauen Fluten versank. Mit einem Ruck erwachte sie und setzte sich auf. Der Traum spukte immer noch in ihrem Gehirn. Dann kam ihr zu Bewußtsein, daß sie sich in ihrem Schlafzimmer befand, nur ein kleines Stück von Fred entfernt. Sie preßte den Handrücken auf ihren Mund, um nicht noch einmal aufzuschreien. Aber Fred war bereits wach. Er stand neben ihrem Bett. »Was ist los?« Sie warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. »Es tut mir schrecklich leid. Ich habe so schlecht geträumt.« »Das glaube ich«, sagte er. »Du hast ja geschrien wie am Spieß.« Er setzte sich auf die Bettkante. Sein junges Gesicht sah verwirrt und ängstlich aus. »Was hast du denn so Schlimmes geträumt?« Sie empfand eine seltsame Scheu, ihm von ihrem Traum zu erzählen. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Es war so ein konfuses Zeug.« Fred musterte sie mit ernsten Blicken. »Aber ein Grundmuster muß der Traum doch gehabt haben. Erzähl mal.« 69
Sie fühlte sich in der Falle. Sie wußte, was sie auch sagte, es würde ihn ärgern. Zaghaft begann sie: »Ich träumte von dem Haus.« »Schon wieder dieses verflixte Haus.« Es klang verächtlich. »Ich sagte dir doch, es war ein verworrenes Zeug. Vollkommen unwichtig.« »Das finde ich nicht«, widersprach er. »Erzähl ruhig weiter.« Sie führte eine Hand an ihre Schläfe. »Ich glaube, ich habe von Dr. Woods und seiner Frau geträumt, weil ich mir heute ihre Portraits angesehen habe. Der Traum handelte von ihnen.« Er runzelte die Stirn. »Worum ging es denn?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich fühlte mich in jene Zeit zurückversetzt. Und durch irgendeine Zauberei war ich auf einmal Jennifer.« Um Freds Mund spielte ein kühles Lächeln. »Die untreue Ehefrau.« »Das kann man nicht wissen!« protestierte sie. »Aber so redet man über sie.« »Wer sagt denn, daß die Geschichte wahr ist.« »Erzähl mir mehr von deinem Traum«, forderte Fred sie auf. »Es ist nicht so wichtig. Ich träumte von einem Sturm und daß ich mich mit Graham Woods gezankt hätte. Dann waren wir plötzlich draußen in einem Boot, und es schlug um. Daraufhin schrie ich und wachte auf.« Fred starrte sie auf merkwürdige Weise an. »Worüber habt ihr euch denn im Traum gestritten?« Sie zauderte. Als sie merkte, daß Fred nicht lockerlassen würde, sagte sie: »In dem Traum erwischte er mich in den Armen Frank Clays.« »Interessant«, gab Fred beinahe schroff zurück. »Ich hatte also doch recht. Jennifer war eine Ehebrecherin.« »Es war ein ganz wirrer Traum«, erwiderte sie verärgert. »Mein Unterbewußtsein hat nur verarbeitet, was ich tagsüber gehört und gesehen habe.« »Sieht ganz so aus«, meinte er trocken. »Jedenfalls hat dich dein Traum ganz schön aufgeregt. Wirst du wieder einschlafen können?« 70
»Ja, natürlich«, antwortete sie unbehaglich und blickte im matten Licht der Lampe auf sein Gesicht. »Leg dich wieder schlafen, Fred. Du brauchst deine Ruhe. Du hattest einen schweren Tag.« »Ich bin wirklich hundemüde«, gab er zu. Ohne ein tröstendes Wort oder einen flüchtigen Kuß kehrte er in sein Bett zurück. Sie lag da und starrte in die Dunkelheit. Fred hatte sich merkwürdig benommen. Auch schon früher am Abend war ihr sein zurückhaltendes Benehmen aufgefallen. Ob er immer noch beleidigt war, weil sie Jim Stevens zum Abendessen eingeladen hatte? Dann dachte sie über ihren Traum nach und wie sie in Jennifers Rolle geschlüpft war. War es möglich, daß sie im Traum die Tragödie nacherlebt hatte, die vor hundert Jahren geschehen war? Und fing der böse Einfluß dieser Schandtat an, sich auf sie auszuwirken, so daß sie und Fred sich zueinander verhielten, wie damals die leichtsinnige Jennifer und ihr Mann?
* In der folgenden Woche wurde St. Andres nicht mehr von diesem dichten Nebel heimgesucht. Eine Periode kühlen, klaren Wetters setzte ein, und Lucy bekam Gelegenheit, sich in der reizvollen Umgebung der Bucht umzusehen. Fred schien seinen Anfall von Eifersucht überwunden zu haben und war wieder ganz der liebende, aufmerksame Gatte. Er richtete es sogar ein, sich einen Nachmittag freizuhalten, und als die Ebbe einsetzte, fuhren sie über die Sandbank zur Pfarrersinsel. Trotz des sonnigen Nachmittags hielten sich keine anderen Besucher auf der Insel auf. Den Wagen ließen sie auf dem schmalen Sandstreifen stehen und schlugen den gewundenen, halb zugewachsenen Pfad zum Haus ein. »Wie alt mag das Haus wohl sein?« wollte Lucy von Fred wissen. In Cordhosen und mit einem offenen Sporthemd wirkte er viel jünger und unbekümmerter als sonst. Hand in Hand blieben sie stehen. Die frische Meeresbrise zauste mutwillig ihr Haar. Fred überlegte: »Das Haus muß noch älter sein als Moorgate.« 71
»Will denn niemand mehr hier wohnen? Es ist doch ein romantisches Fleckchen Erde.« »Es ist sehr einsam hier«, gab er zu bedenken. »Und das Haus hat einen schlechten Ruf.« Sie zwinkerte ihm zu. »Sag bloß, hier spukt es auch.« »So sagt man jedenfalls«, gab er zu. »Aber bei deiner blühenden Phantasie hätte ich es dir gar nicht erzählen dürfen.« »Jetzt bist du aber ungerecht«, protestierte sie, während sie ihren Spaziergang wieder aufnahmen. Der Garten des Hauses, der eine riesige Fläche bedeckte, war total verwahrlost. Rosensträucher hatten sich wüst vermehrt, und je näher sie dem Haus kamen, um so intensiver stieg der Duft in ihre Nasen. Sie schloß die Augen und schnupperte verzückt. »Riecht das nicht herrlich, Fred?« Er nickte. »Der Duft ist mir schon beim erstenmal aufgefallen, als ich hier war.« Jetzt standen sie vor der Vorderfront des Hauses, das im Kolonialstil erbaut worden war. Die Farbe blätterte ab, war aber im großen und ganzen noch ein sauberes Weiß. Die hellblau gestrichenen Fensterläden befanden sich in gutem Zustand. Mit Brettern aus rohem Holz hatte man die Fenster vernagelt, und auf einem Schild las sie: »Betreten verboten.« Prüfend betrachtete Lucy das alte Haus. »Hier hat also Frank Clay gelebt.« »Ja.« »Was für ein Mensch mag er wohl gewesen sein?« Fred dachte nach. »Nach allem, was ich gelesen habe, war er in erster Linie darauf aus, Jennifer ihrem Mann wegzunehmen.« »Keiner weiß, ob das wirklich stimmt.« »Aber jeder nimmt es an«, entgegnete Fred. »Die alten Berichte beschreiben ihn als einen gutaussehenden Mann. Mit zunehmendem Alter lebte er immer zurückgezogener und soll auch schließlich sein Äußeres vernachlässigt haben. Nach Jennifers Tod machte seine Persönlichkeit eine völlige Wandlung durch.« 72
»Und vermutlich hat das jeder auf ein gebrochenes Herz zurückgeführt«, sinnierte sie. Fred nickte. »Das ist doch auch logisch, oder? Offensichtlich hat er Jennifer sehr geliebt. Sie auf diese Weise zu verlieren muß ein harter Schlag gewesen sein.« Lucy seufzte. »Dann hat dieses Haus also nicht viel Glück gesehen.« Und nach einer Weile fragte sie: »Erzähle mir von der Gespenstergeschichte, die über dieses Haus im Umlauf ist.« Sein empfindsames Gesicht verdüsterte sich. »Ich halte alles für blanken Unsinn. Das sind Spökenkiekereien.« »Das gleiche sagst du auch von Moorgate«, warf sie ein. »Und da bin ich ganz und gar nicht deiner Ansicht.« Fred sah ehrlich bekümmert aus. »Menschen mit deiner Phantasie bilden sich rasch etwas ein, wenn man ihnen Anlaß gibt, an so etwas zu glauben. Das ganze Gerede über Moorgate hat dich überempfindlich gemacht. Was du gesehen hast, waren nur Hirngespinste.« »Das stimmt nicht.« »Ich glaube es aber doch«, widersprach er. »Und ich wette, wenn ich dir erzähle, was in diesem Haus vor sich geht, dann siehst du auf der Insel auch bald Gespenster.« Sie lächelte verkniffen. »So leicht zu beeinflussen bin ich denn doch nicht. Du kannst mir ruhig sagen, was die Leute sich erzählen. Wenn du es nicht tust, dann erfahre ich es früher oder später von jemand anders.« Fred lachte. »Du kannst wirklich hartnäckig sein. Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber ich lege mich jetzt ein bißchen in die Sonne.« Er streifte sein Hemd ab und entblößte seine breite, muskulöse Brust. Er legte sich bäuchlings ins Gras und schien vor sich hin zu dösen. Sie wußte, wie dringend er diese Ruhe brauchte. Deshalb setzte sie sich still neben ihn. Eine Sonnenbrille schützte sie vor der strahlenden Helligkeit, und sie suchte das Festland ab, ob sie Moorgate auf dem Hügel entdecken konnte. Bald hatte sie das Haus erspäht. Sie dachte daran, wie oft Frank Clay wohl so dagesessen und zu dem 73
alten steinernen Haus hinübergeblickt haben mochte. Seine Gedanken weilten dann bei der hübschen jungen Frau, die vielleicht seine Geliebte gewesen war. Und nach ihrem gewaltsamen Tod mußte der Anblick des Hauses eine ständige Qual für ihn gewesen sein. Die Arme um die angezogenen Knie verschränkt, hockte sie auf dem Streifen Gras und ging im Geist die Legende durch, die sich um die Menschen wob, die in ein tragisches Dreiecksverhältnis verstrickt waren. Wieder einmal überlegte sie, ob die Überlieferung der Wahrheit entsprach. Viele Anzeichen sprachen dafür, daß Jennifer ihrem Mann untreu geworden war. Dennoch weigerte sie sich, an diese Möglichkeit zu glauben. In Gedanken weilte sie in der Vergangenheit. Nach einer Weile regte sich Fred und setzte sich gähnend auf. »Ich muß eingeschlafen sein«, murmelte er. »Das habe ich gemerkt«, erwiderte sie lächelnd. »Du hättest mich ruhig wecken können.« »Warum? Wir haben doch noch viel Zeit, bis die Flut zurückkommt, oder?« »Doch. Aber ich war dir eine langweilige Gesellschaft.« »Das macht nichts.« Fred beugte sich zu ihr und küßte sie. »Ich nehme mir extra einen halben Tag frei, um etwas mit dir zu unternehmen, und dann schlafe ich ein. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man glatt darüber lachen.« »Das trifft auf die meisten Dinge im Leben zu«, meinte sie. Jetzt richtete auch er seinen Blick auf das entfernte Festland. »Von hier aus kann man Moorgate ganz deutlich sehen.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Wie muß Frank Clay gelitten haben, nachdem Jennifer tot war.« Er bedachte sie mit einem schrägen Blick. »Du hast Mitleid mit Frank Clay?« »Er verdient es doch wohl! Er verlor eine Frau, die er über alles liebte.« »Da hast du allerdings recht.« 74
»Nun, was dann?« »Ich habe keine Achtung vor einem Mann, der eine Ehe auseinanderbringt. Oder es versucht«, erwiderte er mit schmalen Lippen. Er hatte so nachdrücklich gesprochen, daß sie sich fragte, ob seine gute Stimmung wieder in Eifersucht umschlug. Womöglich hatte er dabei an Jim und sie gedacht. Von jetzt ab mußte sie Jims Gesellschaft meiden, soweit es die gebotene Höflichkeit zuließ. Ruhig sagte sie: »Du nimmst es als gegeben an, daß Frank Clay einen Keil zwischen die Eheleute trieb. Hinweise dafür gibt es, aber sie lassen durchaus keinen zwingenden Schluß zu. Womöglich tust du ihm bitter Unrecht.« »Das möchte ich bezweifeln«, gab Fred stur zurück. Lucy wollte das Thema wechseln. Deshalb sagte sie: »Du hast mir immer noch nicht erzählt, warum diese Insel einen schlechten Ruf hat.« Fred seufzte. »Du gibst mir wohl eher keine Ruhe, bis du es weißt.« »Ich finde, du solltest dich nicht so anstellen. Früher oder später bekomme ich es doch zu hören.« »Also gut«, gab er nach. »Leute, die sich auf der Insel aufgehalten haben, behaupten, sie hätten Frank Clays Geist gesehen. Eine Zeitlang kamen Jugendliche mit Booten hier herüber, um am Strand Lagerfeuer anzuzünden. Das hörte langsam auf, als sich die Geschichten häuften, man hätte Frank Clay im Kreis der jungen Leute gesehen, die sich um die Feuer versammelten.« »Woher will man denn wissen, daß es ein Geist war? Dazu Frank Clays Geist?« Er zog die Stirn kraus. »Als Frank älter wurde, trug er einen auffallenden langen Mantel und einen Biberhut mit schmaler Krempe. Er kleidete sich nach der Mode, die ein halbes Jahrhundert früher modern war. Und die jungen Leute behaupten steif und fest, sie hätten seine gebeugte Gestalt in dem langen Mantel und mit dem Hut im Schein des Lagerfeuers gesehen.« Sie schüttelte sich. »Die nächtlichen Strandpartys haben mittlerweile aufgehört, das kann ich dir versichern«, bekräftigte er. 75
»Vielleicht hat jemand die Geschichte nur erfunden, um die Leute von der Insel zu verscheuchen«, überlegte sie laut. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Grundstück gehört jetzt den Farleys. So etwas würden sie nie tun.« »Es ist also der große Frank Clay, der auf der Pfarrersinsel herumspukt«, sagte sie. »Und der Geist der jungen Jennifer erscheint in Moorgate. Das war wohl zu erwarten, denn die eine starb in der Blüte ihrer Jugend, der andere in hohem Alter.« Fred warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Ich für meinen Teil glaube weder die eine Geschichte noch die andere. Ich hoffe, du verstehst mich.« »Ich verstehe dich vollkommen. Du glaubst eben nicht an übernatürliche Dinge.« »Das gleiche rate ich dir«, erwiderte er. »Ich wünschte, ich könnte genauso skeptisch sein wie du«, gab sie zurück. »Aber die ganze Angelegenheit hat etwas an sich, was mich stutzig macht.« »Meinetwegen. Solange du nur keine Gespenster mehr siehst«, entgegnete er gutmütig. Sie lächelte kläglich. »Ich werde mir Mühe geben, keine Gespenster mehr zu sehen.« »Du läßt dein Gefühl über deinen Verstand die Oberhand gewinnen. Wenn man seiner Phantasie freien Lauf läßt, dann wird jeder Schatten zu einem Gespenst.« »Ich bin kein Mensch, der sich normalerweise im Dunkeln fürchtet«, entgegnete sie. »Aber die Dinge, die in Moorgate geschehen sind, sind mit normalen Mitteln nicht zu erklären.« »Davon wirst du mich nie überzeugen.« Fred stand auf und streifte sein Oberhemd wieder über. Sie erhob sich gleichfalls. »Das hatte ich auch nicht erwartet.« Sie drehte sich um und blickte zum Haus hinüber. »Kann man das Haus betreten?« »Dazu müßten wir einbrechen. Und das hätten die Farleys bestimmt nicht gern.« 76
Lucy warf ihm einen neckenden Blick zu. »Und du möchtest es dir mit Sheila nicht verderben. Ich weiß.« Abwehrend hob er eine Hand. »Fang jetzt bitte nicht damit an.« »Magst du es nicht, wenn ich eine gesunde Eifersucht zeige?« »Nein.« »Vergiß nicht, daß ich in dieser Hinsicht genauso denke wie du«, erwiderte sie mit bedeutungsvollem Blick. Sie dachte dabei an den Auftritt wegen Jim Stevens. Ein grimmiger Ausdruck überzog Freds Gesicht. »Dann gib mir keinen Anlaß.« Seine Antwort und sein abrupter Stimmungsumschwung schockierten sie. Es erzeugte wieder eine der unerklärlichen Spannungen, die in der letzten Zeit häufiger zwischen ihnen vorkamen, und zwar ohne Vorwarnung oder erkennbaren Grund. Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube sagte sie: »Bevor wir aufbrechen, möchte ich mir noch einen Strauß Rosen pflücken.« Fred stand regungslos mit zusammengezogenen Brauen da und starrte auf das Festland. Weder gab er eine Antwort, noch ließ eine Reaktion an ihm erkennen, ob er sie überhaupt gehört hatte. Er schien in sich gekehrt und tief in Gedanken versunken zu sein. Einen Moment zögerte Lucy, dann wandte sie sich von ihm ab und stromerte zur anderen Seite des Hauses, wo die meisten Rosensträucher wuchsen. Sie bereute schon, das Thema Eifersucht überhaupt zur Sprache gebracht zu haben, und hoffte, er würde seine gute Laune wiederfinden bevor sie zum Festland zurückfuhren. Seine unverhofften Stimmungsumschwünge waren beängstigend. Zu Anfang ihrer Bekanntschaft hatte sie keine Launen an ihm bemerkt. Es war ein völlig neuer Wesenszug an ihm, dessen Entwicklung zeitlich mit ihrem Umzug nach Moorgate zusammenfiel. Sie wünschte bereits, sie hätte dieses alte Gemäuer nie zu Gesicht bekommen. In derlei unerquicklichen Gedanken vertieft, gab sie sich daran, Rosen zu pflücken. Allmählich entfernte sie sich von dem Haus. Hinter dem Wohnhaus befanden sich ein paar Schuppen, und etwas weiter 77
weg erspähte sie eine Art Pavillon. Sie vermutete, daß sich an dieser Stelle einmal eine große, offene Rasenfläche befunden haben mußte, die im Lauf der Jahrzehnte dann von den vorrückenden Sträuchern überwuchert worden war. Sie ging auf den Pavillon zu, dessen Farbe von Wind und Wetter arg abgebeizt war. Ihr Blick wanderte über das umgebende Gestrüpp. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei. Denn halb verborgen durch das wirre, verfilzte Astwerk stand die unheimliche Erscheinung, die Fred ihr noch kurz zuvor beschrieben hatte. Es war die gebückte Gestalt eines alten Mannes in einem langen, faltenreichen Mantel mit einem Biberhut auf dem Kopf. Das Bild hob sich nur undeutlich von dem Hintergrund aus Zweigen und Blättern ab, aber es war zweifelsohne da. Starr vor Entsetzen starrte sie auf die geisterhafte Erscheinung. Dann verschwand die Gestalt so plötzlich wie sie aufgetaucht war. Lucy zitterte am ganzen Leib. Sie verspürte den übermächtigen Wunsch, zu Fred zu rennen und ihm ihr Erlebnis zu schildern. Aber sie wußte, daß das das Falscheste war, was sie machen konnte. Er würde sie auslachen und bereuen, daß er ihr überhaupt die Geschichte von Frank Clays Geist erzählt hatte. Ihre Vision würde er als Produkt ihrer überhitzten Phantasie abtun. Mit weit aufgerissenen Augen blieb sie wie angewurzelt an derselben Stelle stehen und dachte fieberhaft nach, wie sie sich verhalten sollte. Und wie sie im hellen Sonnenlicht auf die Büsche starrte, fing sie auf einmal selber an zu zweifeln, ob sie sich nicht geirrt hatte. Vielleicht war sie einer vorübergehenden Illusion erlegen, so daß sie nur sah, was ihre Phantasie ihr vorgegaukelt hatte. Damit versuchte sie ihre Nerven zu beruhigen. Aber es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie zu Fred zurückgehen konnte. Von ihrem angespannten Zustand schien er nichts zu bemerken. Mit einem Blick auf den Rosenstrauß in ihrer Hand lobte er anerkennend: »Einen schönen Strauß hast du für uns gepflückt.« »Ja«, stimmte sie zu und blickte auf die Blumen. »Hier gibt es so viele davon, daß es eine Schande ist, wenn niemand sich an ihnen erfreut.« 78
»Zeit zum Nachhausefahren«, sagte er. »Hat es dir gefallen?« »Es war ein wunderschöner Nachmittag«, gab sie mit einem gezwungenen Lächeln zurück. Er blickte zum Haus hinüber. »Du wolltest diesen alten Kasten ja unbedingt sehen.« »Stimmt.« Er bedachte sie mit einem Blick voller Nachgiebigkeit und Toleranz. »Und ich bemühe mich, deine Wünsche zu erfüllen.« Anscheinend hatte er seine gute Laune wiedergefunden. »Die Insel hat mich sehr beeindruckt«, erwiderte sie. »Laß mich die Rosen für dich tragen.« Er streckte seine Hand nach dem Strauß aus, und sie brachen auf. Auf dem Weg zum Festland verhielt sie sich sehr einsilbig. Der Schreck, diese Phantomgestalt zwischen den Sträuchern gesehen zu haben, steckte ihr immer noch in den Knochen. Es drängte sie, ihr Erlebnis jemanden mitzuteilen, und sie nahm sich vor, sich bei der erstbesten Gelegenheit an Dr. Boyce zu wenden. Fast wie von selbst hatte es sich ergeben, daß sie den alten Arzt als ihren Vertrauten betrachtete. Da Fred abends Sprechstunden hatte, verließ er Moorgate gleich nach dem Essen. Mit den Rosen gab Lucy sich viel Mühe. Sie beschnitt die Stiele und ordnete sie in einer hohen Porzellanvase. Auf dem Tisch, wo sie sie hinstellte, sahen sie bezaubernd aus. Ihr intensiver Duft erfüllte bald das ganze Zimmer. Lucy fühlte das alte Unbehagen in sich aufkeimen, sobald sie sich allein im Haus aufhielt. Sie führte es auf ihr unheimliches Erlebnis auf der Insel zurück und daß sie sich mit niemand darüber aussprechen konnte. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Garten bestieg sie ihr Auto und schlug die steile Abfahrt zur Landstraße ein. St. Andrews erlebte in den Sommermonaten einen gemäßigten Ansturm von Touristen, und die Hauptstraße des Ortes war ziemlich belebt. Als Lucy sich dem Haus des Arztes näherte, sah sie zu ihrer größten Erleichterung bereits von weitem, daß der alte Herr sich in seinem Garten zu schaffen machte. Sie verließ ihr Auto und marschierte auf ihn zu. 79
Lächelnd begrüßte er sie: »Um diese Jahreszeit beginnt mein Kampf mit den Kartoffelkäfern. Ich arbeite Tag und Nacht, um sie auszurotten.« »Hoffentlich komme ich nicht ungelegen«, erwiderte sie. Der alte Herr schüttelte seinen Kopf. »Ganz und gar nicht.« In seinem blauen Arbeitsanzug sah er eher wie ein Bauer als wie ein Arzt im Ruhestand aus. »Ich wollte ohnehin gerade Schluß machen für heute. Kommen Sie, wir beide setzen uns auf die Veranda. Ich bin ganz allein zu Haus. Meine Frau ist bei Freunden zu Besuch.« Bei dieser Nachricht fiel Lucy ein Stein vom Herzen. Sie hatte das Bedürfnis, mit Dr. Boyce allein zu sprechen. Sie folgte ihm die hölzernen Stufen zur Veranda hinauf. Er ging ins Haus und kam bald mit einem Tablett zurück, auf dem zwei hohe Gläser und eine Karaffe standen. »Sie trinken doch hoffentlich eisgekühlten Orangensaft?« fragte er, während er das Tablett auf dem kleinen Korbtisch absetzte. »Gern«, erwiderte sie und nahm in einem der Korbsessel Platz, die verstreut auf der Veranda standen. »Ich wünschte, Moorgate hätte eine Veranda.« Er schenkte die Gläser voll und setzte sich ihr gegenüber. »Ich genieße es auch, bei schönem Wetter draußen zu sitzen«, pflichtete er ihr bei. »Leider wird heute kaum noch ein Haus mit Veranda gebaut. Es ist aus der Mode gekommen. Allerdings ist ein Haus wie Moorgate nicht für eine Veranda angelegt.« Sie nippte an dem Orangensaft. »Ich weiß. Manchmal glaube ich fast, der Architekt, der Moorgate gebaut hat, muß ein sehr skurriler Charakter gewesen sein. Das Haus wirkt doch wie eine Festung.« »Es wurde gebaut, um die Jahrhunderte zu überdauern.« »Das hat es getan.« Der alte Herr schmunzelte. »Wo ist Fred?« »Heute abend hat er Sprechstunde für Berufstätige.« »Ich werde immer vergeßlicher«, seufzte Dr. Boyce. »Vor kurzem mußte ich den gleichen Zeitplan einhalten. Jetzt kümmere ich mich nur noch um meinen Garten oder behandle gelegentlich einen alten Patienten. Ich genieße meinen Lebensabend, wie man so schön sagt, und es bekommt mir ausgezeichnet.« 80
Unbehaglich wandte sie ein: »Hoffentlich störe ich Sie nicht.« »Aber nein!« protestierte er. Die alten Augen funkelten vergnügt. »Der Besuch einer hübschen Frau hat mich noch nie gestört.« »Ich danke Ihnen.« »Sie wirken etwas nervös auf mich«, fuhr er in seiner direkten Art fort. »Haben Sie Kummer mit Moorgate?« »Mit Moorgate dieses Mal nicht«, antwortete sie. Plötzlich kam sie sich sehr unbeholfen vor. Sie druckste herum und wußte nicht, wie sie ihre Geschichte anfangen sollte. Vermutlich würde er sie wegen ihrer kindischen Ängste auslachen. »Nun denn, heraus mit der Sprache«, forderte er sie freundlich auf. »Fred hatte sich heute nachmittag freigenommen. Er fuhr mit mir zur Pfarrersinsel hinüber, um mir Frank Clays Haus zu zeigen.« Dr. Boyce zeigte sich interessiert. »Ja wirklich? Hat Ihnen der Ausflug gefallen?« »Einerseits ja. Ich überredete Fred, mir von dem Haus zu erzählen. Daß es dort spuken soll, meine ich.« Dr. Boyce erwiderte nichts, sondern sah sie nur aufmunternd an. Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Er beschrieb mir das Gespenst und wo man es gesehen haben will. Kurz darauf ging ich ein paar Rosen pflücken und hatte selbst eine solch unheimliche Begegnung.« Er nahm sich Zeit mit der Antwort. »Und Sie haben sich ganz bestimmt nicht getäuscht?« »Ich bin mir fast sicher«, antwortete sie entschlossen. »Haben Sie Fred davon erzählt?« »Das konnte ich nicht! Er hatte mir prophezeit, ich würde Gespenster sehen, sobald er mir davon erzählte. Er hätte sich nur über mich lustig gemacht.« »Wo genau haben Sie das Gespenst gesehen?« »Zwischen den Sträuchern dicht bei einem runden Pavillon. Ich sah die Erscheinung nur für einen flüchtigen Augenblick. Dann löste sie sich wieder in Luft auf.« »Es könnte eine optische Täuschung gewesen sein.« »Daran dachte ich auch schon. Aber ich glaube es nicht.« 81
Seine buschigen Brauen schoben sich hoch. »Sie haben eine Menge erlebt, seit Sie hier in St. Andrews sind. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Ihre Nerven Ihnen einen Streich spielen.« Lucy blickte ihn verzweifelt an. »Ich hatte gedacht, Sie würden mich verstehen.« »Ich will Ihnen gern helfen«, entgegnete er. »Gleichzeitig möchte ich keine neurotischen Anwandlungen in Ihnen unterstützen.« »Aber ich habe etwas zwischen den Sträuchern gesehen. Eine Gestalt, die genauso aussah, wie Fred mir Frank Clays Geist beschrieben hatte.« Der alte Herr lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sie mögen ja recht haben. Geschichten über Frank Clays Geist habe ich auch schon gehört. Er ist schon einmal in der Nähe des Pavillons gesehen worden. Er stand ganz allein dort, und auf seinem Gesicht lag ein Zug äußerster Verzweiflung.« Aufgeregt fiel sie ein: »Das muß dieselbe Erscheinung gewesen sein.« »Hört sich ganz so an«, gab der alte Doktor zögernd zu. »Aber nur wenige Menschen werden Ihnen glauben. Und Fred ganz sicher nicht.« »Das macht die Sache ja so kompliziert«, klagte sie. »Es belastet mich, daß ich das alles für mich behalten muß. Ich will keine Geheimnisse vor Fred haben.« »Ich kann Sie gut verstehen«, gab Dr. Boyce mitfühlend zurück. »Sie dürfen es Fred aber nicht übelnehmen. Er will nicht unfreundlich zu Ihnen sein. Es mangelt ihm einfach an Verständnis für derlei Dinge. In dieser Hinsicht besitzt er eben nicht Ihre Empfindsamkeit.« »Meinen Sie damit, daß ich eher einen Geist sehe als er?« »Ganz genau. In meinen langen Jahren als Arzt habe ich die Erfahrung gesammelt, daß manche Leute mehr psychische Fähigkeiten besitzen als andere. Ich könnte Ihnen mindestens ein Dutzend Fälle aufzählen, in denen jemand hellsichtig war oder sonst etwas erlebte, was sich jeder logischen Erklärung entzieht.« »In Moorgate gibt es Gespenster«, beharrte sie. »Ich kann sie förmlich um mich herum fühlen. So viele unheimliche Dinge sind passiert. Denken Sie nur an die Tasse, die ohne mein Zutun zu Boden fiel.« 82
»Derlei Vorkommnisse sind für Spiritisten nichts Ungewöhnliches«, erwiderte er ernst. »Womöglich müssen Sie noch die Dienste eines Geisteraustreibers in Anspruch nehmen. Angeblich können sie ein Haus von seinem Spuk befreien.« »Fred würde damit nie einverstanden sein«, gab sie unglücklich zurück. »Trotzdem passieren unerklärliche Dinge im Haus, die mir Angst machen.« »Ich werde mal mit Fred reden«, versprach der alte Herr. »Er würde ja doch nicht auf Sie hören.« »Vielleicht schon, wenn man ihn nur richtig angeht«, überlegte der Mann. »Vorläufig sollten Sie ihm allerdings noch verschweigen, was Sie auf der Insel gesehen haben. Das ist mein Rat.« Sie erhob sich. »Ich danke Ihnen, daß ich damit zu Ihnen kommen durfte. Irgend jemandem mußte ich einfach mein Herz ausschütten.« Er lächelte verständnisvoll. »Es war gut, daß Sie damit zu mir gekommen sind. Ich sagte Ihnen ja schon, ich bin immer für Sie da.« Er begleitete sie zum Auto und winkte ihr nach, als sie davonfuhr. In der hereinbrechenden Dämmerung kehrte sie nach Moorgate zurück. Sie fühlte sich getröstet. Sie vertraute dem alten Arzt und war davon überzeugt, daß er das Menschenmögliche tun würde, um ihr zu helfen. Und wenn irgend jemand mit Fred reden konnte, dann war es Dr. Boyce. Wenn er keinen Erfolg hatte, dann half ihr nichts mehr. Bald mußte sie die Scheinwerfer anknipsen. Die Bäume, die die private Zufahrt nach Moorgate rechts und links umstanden, verschluckten das letzte Tageslicht. Sie hoffte inständig, Fred sei schon aus seiner Praxis heimgekehrt, damit sie sich nicht allein in dem düsteren alten Haus aufhalten mußte. Der alte Doktor hatte die Wahrheit getroffen, als er meinte, sie sei mit besonderen psychischen Fähigkeiten begabt. Das erklärte, warum sie Gespenster sah, die sonst niemand außer ihr wahrnahm. Als sie die letzte Kurve nahm, entdeckte sie Freds Auto vor dem Haus. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Hastig brachte sie ihren eigenen Wagen zum Stehen und stieg aus. Das erste, was ihr auffiel, war, daß nirgendwo im Haus Licht brannte. Verwirrt blieb sie stehen, als sie 83
plötzlich vom Garten her Stimmen und Gelächter hörte. Eine Frau lachte! Eisige Kälte kroch in ihr hoch. Dann sah sie die beiden Gestalten, die auf sie zugeschlendert kamen. Fred rief: »Wir sind im Garten!« »Das habe ich gemerkt.« Ihre Stimme klang gepreßt. Sie hatte Sheila erkannt. Sheila ergriff das Wort. »Ich bin über die Abkürzung gekommen und wollte euch beide zu uns einladen. Mein Vater möchte Sie gern kennenlernen, Lucy. Als ich ankam, war zuerst niemand da. Ich wollte gerade wieder weggehen, als ich Freds Auto hörte.« »Und als du kamst, stromerten wir ein wenig durch den Garten«, ergänzte Fred. »Wo warst du eigentlich, Lucy?« »Im Dorf.« »Davon hattest du nichts gesagt.« Sein Tonfall klang beinahe vorwurfsvoll. Sie fand, daß er unter den gegebenen Umständen unpassend war und entgegnete spitz: »Ich bekam plötzlich Lust, in den Ort zu fahren. Bei Dr. Boyce hielt ich an, und wir plauderten ein Weilchen.« »So, so«, gab Fred zurück, als ob er ihr nicht so recht glaubte. »Hast du Lust, jetzt gleich zu Sheila nach Hause zu gehen?« »Zuerst möchte ich mich etwas frisch machen«, sagte sie. »Ich will auch ein anderes Kleid anziehen.« Sie betraten das Haus und knipsten Licht an. In der Luft lag schwer das süßliche Aroma der Rosen. Fred wollte wissen: »Wo hast du die Rosen hingestellt? Die ganze Diele duftet ja danach.« »Sie stehen im Wohnzimmer«, erwiderte Lucy und steuerte auf die Treppe zu. Fred, mit Sheila an seiner Seite, steckte den Kopf durch die Wohnzimmertür. »Ich kann sie nicht sehen.« Sie machte kehrt und kam noch einmal zurück. »Sie stehen doch gleich hier auf dem Tisch«, sagte sie und betrat das Zimmer. Unwillkürlich stockte ihr Schritt. Denn obgleich auch hier die Luft mit Rosenduft geschwängert war, war die Vase leer! 84
* Freds Gesicht trug einen verblüfften Ausdruck. »Ich sehe nur die leere Vase«, gab er zurück. Langsam drehte sie sich zu ihm um. »Das begreife ich nicht. Ich habe sie doch in die Vase gesteckt. Man kann sie ja noch riechen.« Sheila war knapp hinter Fred im Türrahmen stehengeblieben. Auf ihrem leicht gebräunten Gesicht zeigte sich ein verständnisinniges Lächeln. »Wahrscheinlich haben Sie die Rosen in eine andere Vase gestellt und es dann vergessen.« Mit einer Mischung aus Furcht und Erstaunen starrte Lucy sie an. Ihr war der Gedanke gekommen, daß Sheila sich noch vor ihr und Fred in dem Haus aufgehalten haben konnte. Es war sehr gut möglich, daß das Mädchen Verwirrung stiften wollte und jetzt nur Ahnungslosigkeit mimte. Sie erwiderte: »Ich weiß aber ganz genau, daß ich die Rosen in diese Vase stellte und sie hinterher nicht mehr angerührt habe.« Fred betrachtete sie mit seltsamen Blicken. »Jetzt sind sie aber nicht mehr da.« »Das weiß ich selbst«, versetzte Lucy gereizt. »Und wie erklärst du dir das?« wollte er wissen. »Ich kann es mir nicht erklären.« Sheila rückte bis an Freds Seite vor und meinte: »Das ist doch alles nicht so wichtig. Sie sollten nicht so viel Aufhebens davon machen. Ich würde gern bald aufbrechen. Mein Vater wartet auf Sie, Lucy.« Lucy holte tief Luft. Sie war völlig durcheinander. »Zuerst muß ich nach oben und mich ein bißchen frisch machen, ehe wir gehen.« »Mach nicht so lange«, ermahnte sie Fred, der leicht verärgert aussah. »Ich werde mich beeilen.« Mit raschen Schritten ging sie die Treppe hoch. Als sie den ersten Absatz erreicht hatte, konnte sie von unten Freds und Sheilas gedämpfte Stimmen hören. Wieder einmal beschlich sie das Gefühl einer tiefen Melancholie. Sie bildete sich ein, die beiden würden ein Komplott gegen sie schmieden. 85
Im Schlafzimmer knipste sie das Licht an. Sie brauchte nur wenige Minuten, um sich für den Besuch bei den Farleys zurecht zu machen. Die ganze Zeit über zermarterte sie sich das Gehirn, was mit den Rosen passiert sein konnte. Lucy verließ das Schlafzimmer und trat auf den im Schatten liegenden Treppenabsatz zurück. Kaum hatte ihre Hand das Geländer berührt, da fühlte sie, wie die fremde Macht, die von ihr Besitz zu ergreifen schien, seit sie in Moorgate wohnte, sie abermals in ihren Bann schlug. Anstatt nach unten zu gehen, wie sie es vorhatte, machte sie kehrt und lenkte ihre Schritte treppauf. Bis auf den Dachboden kletterte sie. Vor dem Zimmer mit den alten Portraits blieb sie stehen. Langsam öffnete sie die Tür und betrat den dunklen Raum. Merkwürdigerweise stieg ihr hier oben der Rosenduft genauso intensiv in die Nase wie unten in der Diele. Sie machte Licht, und ihr stockte der Atem. Die Rosen waren wirr über die beiden Bilder verstreut. Die Entdeckung jagte einen Angstschauer über ihren Rücken. Mit einemmal wurde das Gefühl in ihr übermächtig, sie sei nicht länger allein im Raum. Sie glaubte, die Geister der beiden Verstorbenen neben sich zu spüren. Furcht griff mit eisigen Fingern nach ihrem Herzen. In einer Aufwallung von Panik drehte sie sich um und stürzte zur Tür. Sie blieb erst stehen, als sie atemlos unten angekommen war. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Freds und Sheilas Stimme. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Für das, was sie gerade gesehen hatte, gab es keine vernünftige Erklärung. Es sei denn, Sheila hätte sich diesen makabren Scherz ausgedacht, um ihr einen Schrecken einzujagen. Allerdings bezweifelte sie, ob das Mädchen über genug Phantasie verfügen würde, sich diesen Streich auszudenken. Nur eine Antwort blieb übrig. Es mußte Jennifers Geist gewesen sein, der die Rosen aus dem Wohnzimmer entfernt hatte, um sie über die Bilder zu streuen. Lucy riß sich zusammen und trat, äußerlich gefaßt, ins Wohnzimmer. Erzählen würde sie von ihrer unheimlichen Entdeckung weder Sheila noch Fred. 86
Beide starrten sie überrascht an. Fred sagte: »Du siehst so blaß aus. Fehlt dir etwas?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Sheila fragte zweifelnd: »Möchten Sie vielleicht lieber hierbleiben?« »Nein«, brachte sie heraus. »Mir fehlt gar nichts. Ich bin nur plötzlich ein bißchen müde. Der Gang durch die frische Luft wird mir gut tun. Und Ihren Vater möchte ich sehr gern kennenlernen.« »Dann brechen wir jetzt auf«, meinte Fred abrupt. »Sonst wird es zu spät.« Sie schlugen den Pfad durch den Wald ein, der zu dem angrenzenden Grundstück führte. Sheila ging mit einer Taschenlampe voraus, und Lucy und Fred folgten. Die Luft war frisch geworden, und Lucy fröstelte, als sie neben ihrem Mann den schmalen Pfad daherschritt. Sie hatten sich eingehakt, und Fred spürte ihr Zittern. »Was hast du?« erkundigte er sich besorgt. »Nichts. Mir ist nur ein bißchen kalt. Vielleicht steckt mir eine Grippe in den Knochen.« Sie wußte, daß das nicht der Fall war. Es war ihre Entdeckung auf dem Dachboden, die sie zu Tode erschreckt hatte. Und daß sie mit niemandem darüber sprechen konnte, machte es nicht gerade leichter für sie. Endlich erreichten sie den hochherrschaftlichen Landsitz der Farleys. Über eine weitläufige, gepflegte Rasenfläche bewegten sie sich auf das Haus zu. Sheila drehte sich um und zeigte ihnen ein schiefes Lächeln. »Es kann sein, daß mein Vater Ihnen etwas sonderlich vorkommt, Lucy. Aber er leidet sehr unter seiner Arthritis, und das wirkt sich auch auf seinen Gemütszustand aus.« »Ich fand immer, daß man prächtig mit ihm auskommen kann«, erwiderte Fred. Sheila schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Dich mag Vater auch ganz besonders gern, Fred. Meine Warnung galt Lucy, weil sie ihn ja noch nicht kennt.« »Danke«, entgegnete sie. »Aber ich werde mich schon mit ihm vertragen.« 87
Sie betraten das vornehme Haus, und Sheila führte sie in ein riesiges Wohnzimmer, wo Henry Farley auf einer Chaiselongue liegend seine Gäste empfing. Er war ein ungewöhnlich großer Mann und ausgesprochen hager. Die Wangen wirkten eingefallen, aber die tief in ihren Höhlen liegenden Augen blickten hellwach und interessiert. Obwohl sein Haar schlohweiß war, waren die buschigen Brauen immer noch pechschwarz. Aber es waren seine Hände, die als erstes Lucys Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die schmalen Hände waren zu knotigen, erbarmungswürdigen Klauen gekrümmt. Er hielt sie dicht an seinen Körper gepreßt, als wollte er sie verstecken. Die Begrüßung war freundlich, und sein besonderes Interesse galt Lucy. Sobald sie Platz genommen hatten, sagte er: »Sie sind also Freds junge Frau. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Sie lächelte herzlich. »Nur Gutes, hoffe ich.« »Das will ich wohl meinen«, gab er zurück. »Ich kann mir vorstellen, daß es nicht einfach für Sie ist, Herrin von Moorgate zu sein. Es ist ein beachtliches altes Haus. Ich habe lange gezögert, ehe ich es Fred verkaufte.« »Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn ich es nicht bekommen hätte«, wandte Fred lächelnd ein. Henry Farley heftete seinen durchdringenden Blick auf ihn. »Warum hatten Sie sich ausgerechnet auf Moorgate versteift?« »Die Lage ist für einen Arzt ideal«, antwortete er. »Und das Haus selber gefällt mir.« Henry Farleys scharfe Augen blieben unentwegt auf Fred geheftet. »Und die Geschichte des Hauses kümmerte Sie überhaupt nicht?« Fred sah unbehaglich aus. »Nein. Ich kann nicht sagen, daß das bei meiner Entscheidung eine Rolle gespielt hätte.« »Ich hätte mir Sorgen gemacht, wenn ich eine junge Braut dorthin gebracht hätte«, meinte der alte Herr mit schmalen Lippen. Er richtete das Wort an Lucy. »Und Sie, Mrs. Dorset? Wie fühlen Sie sich als Herrin von Moorgate?« 88
Sie fand nicht auf Anhieb die passende Antwort, und die eintretende Stille lastete beklemmend im Raum. Dann sagte sie: »Hundertprozentig glücklich fühle ich mich in dem Haus nicht. Ich bin von Natur aus wohl ein bißchen nervös, und ich bleibe oft allein im Haus. Dort oben auf dem Hügel, so weit weg von der Landstraße, komme ich mir ziemlich isoliert vor.« »Ich kann Sie gut verstehen«, pflichtete Henry Farley ihr bei. »Sie sagen, Sie seien von Natur aus nervös. Hat das Haus Sie vielleicht noch unruhiger gemacht?« Freds Kinn flog hoch. »Warum sollte das Haus sie denn beunruhigen?« Henry Farley hob eine gekrümmte Hand und bedeutete ihm zu schweigen. »Lassen Sie Ihre Frau antworten.« Lucy sagte: »Ja, durch das Haus bin ich noch nervöser geworden.« »Sehen Sie?« Farleys Augen leuchteten triumphierend. Zu Lucy gewandt fügte er hinzu: »Auf Moorgate lastet eine tragische Geschichte. Und wie Sie sicher wissen, neigt man in St. Andrews allgemein zu der Ansicht, daß es in dem Haus spukt.« Mit einem Tablett in der Hand betrat Sheila gerade rechtzeitig den Raum, um die letzten Worte ihres Vater mitzukriegen. Während sie die Drinks verteilte, bedachte sie ihn mit einem warnenden Blick und meinte: »Das mit den Gespenstern ist doch Blödsinn!« Ihr Vater lächelte. »Du glaubst doch selbst daran. Ich habe es aus deinem eigenen Mund gehört.« Sie hielt inne. »Wann soll das gewesen sein? So etwas habe ich nie gesagt.« »Doch, das hast du!« beharrte er. »Ich finde, wir sollten das Thema wechseln«, erwiderte das Mädchen gereizt. »Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach er. »Ich würde gern herausfinden, ob Mrs. Dorset bereits die Bekanntschaft mit Jennifers Geist gemacht hat. Sie kennen doch sicher die Geschichte ihres tragischen Todes und wie es dazu kam?« »Ja«, gab Lucy mit sprödem Lächeln zu. Sie dachte an die Dachstube 89
und an die verstreuten Rosen. Und an das bleiche, traurige Gesicht, das sie bei ihrer Ankunft hinter der Fensterscheibe erspäht hatte. Henry Farleys mageres Gesicht zeigte lebhaftes Interesse, als er fragte: »Ich will es ganz genau wissen. Haben Sie Jennifers Geist gesehen?« »Ja«, entgegnete sie ruhig. »Ich glaube schon.« »Mehr als einmal?« Begierig lauschend hatte er sich vorgebeugt. »Ja«, flüsterte sie, während ihre Hände sich in ihrem Schoß verkrampften. Fred mischte sich ein. Sein junges Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Wirklich, Sir, es wäre mir lieb, wenn wir dieses Thema nicht weiter ausschlachten würden. Ich glaube nicht, daß es meiner Frau guttut, sich über diesen Humbug zu verbreiten.« Die schwarzhaarige Sheila machte ein paar Schritte auf die Chaiselongue zu und nickte heftig. »Das finde ich auch. Du verdirbst uns nur den Abend, Vater.« »Im Gegenteil«, wehrte er sich. »Ich versuche nur, Mrs. Dorset zum Sprechen zu bewegen. Es tut nicht gut, wenn man seine Ängste in sich verschließt. Als Arzt sollten Sie das wissen, Fred.« »Meine Frau ist übernervös, wie Sie Ihnen selbst sagte«, antwortete Fred bestimmt. »Man sollte ihren Angstgefühlen nicht noch Nahrung zuführen. Ich finde, wir könnten uns ruhig über etwas anderes unterhalten.« »Einen Moment noch«, wandte Henry Farley ein, der sich köstlich zu amüsieren schien. Es war unverkennbar, daß er diese Unterhaltung auskostete. Er fragte Lucy: »Sind in Moorgate Dinge geschehen, für die Sie keine natürliche Erklärung haben?« »Oh ja. Viele Dinge sogar«, hörte sie sich sagen. Henry Farley fuhr fort: »Dann stimmen Sie vermutlich mit mir überein, daß dies nicht das richtige Haus für Sie ist. Sie dürfen es ruhig aussprechen. Ich nehme Moorgate gern zurück, und Ihr Mann bekommt von mir das Geld wieder, das er schon bezahlt hat.« Die Atmosphäre im Zimmer war jetzt spannungsgeladen. Zu ihrer eigenen Überraschung hörte Lucy sich sagen: »Ich glaube, ich will gar nicht, daß mein Mann Moorgate verkauft.« 90
Die schwarzen Augenbrauen fuhren hoch. »Warum nicht? Sie sagten doch selbst, daß Sie sich in dem Haus unglücklich fühlten. Daß Sie sogar Angst hätten. Warum wollen Sie unbedingt dort bleiben?« Lucy fühlte, wie aller Augen sich auf sie richteten. Betreten antwortete sie: »Vielleicht hänge ich mittlerweile schon mehr an dem Haus, als mir bewußt ist. Ich habe das Gefühl, als müßte ich dort etwas verändern, um Moorgate von seinen Geistern zu befreien.« Henry Farleys Lächeln war nicht ganz frei von Spott. »Und wie wollen Sie das anstellen, wenn ich fragen darf?« »Ich bin mir selbst noch nicht sicher«, gab sie verlegen zurück. »Ich glaube, es gibt Menschen, die sich mit Geisteraustreibung befassen. Es muß doch möglich sein, ein Haus von seinem Spuk zu befreien.« Betroffen blickte Fred auf seine Frau. »Ich bin erstaunt, dich so reden zu hören, Lucy. Was mich anbetrifft, ich weigere mich zu glauben, daß es in Moorgate spukt. Und ich werde ganz gewiß nicht zulassen, daß ein sogenannter Geisteraustreiber unser Haus betritt. Als Arzt kann ich es mir nicht leisten, mich mit derlei Unfug abzugeben.« Henry Farley schmunzelte. »Ihr Ruf scheint Ihnen wichtiger zu sein als das Glück Ihrer Frau.« »Das stimmt nicht«, protestierte er. Sheila mischte sich ein. »Das Gerede über Gespenster ist doch nur Altweibergewäsch. Fred würde sich lächerlich machen, wenn er einen Geisteraustreiber zu Rate zöge. In Moorgate gibt es keinen Geist.« »Da irren Sie sich«, widersprach Lucy. Sheila sah verunsichert aus. »Ich spreche natürlich nur aus meiner eigenen Erfahrung.« Ihr Vater wies sie zurecht: »Du kannst nicht so einfach Mrs. Dorset widersprechen, Sheila. Schließlich wohnt sie ja in Moorgate und nicht du. Sie wird sich in dem alten Haus wohl besser auskennen.« Sheila zuckte mit den Schultern und warf Fred einen hilfesuchenden Blick zu. Jedenfalls wußte Lucy jetzt, daß Henry Farley ein willensstarker Mann war, der aussprach, was er dachte. Ob er dabei Fred oder sei91
ne Tochter vor den Kopf stieß, spielte keine Rolle. Über Moorgate hatte er sich seine eigene Meinung gebildet und scheute nicht davor zurück, sie in aller Öffentlichkeit kundzutun. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich Moorgate wirklich aufgebe«, sagte Fred. »Alles hängt von meiner Frau ab. Aber ich finde, daß diese Diskussion alles nur noch schlimmer macht.« Der hagere Mann auf der Chaiselongue meinte: »Ich wollte nur herausfinden, ob Mrs. Dorset sich in ihrem ersten eigenen Heim wohl fühlt oder nicht. Offensichtlich ist sie mit Moorgate nicht ganz glücklich, und deshalb bin ich jederzeit bereit, das Haus zurückzunehmen.« Lucy erwiderte: »Ich möchte Moorgate aber nicht verlassen. Wenigstens vorläufig nicht. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Auf irgendeine Art und Weise will ich die unglücklichen Geister daraus vertreiben.« Henry Farley sah zufrieden aus. »Ich freue mich, daß Sie Ihr Problem so energisch angehen. Vielleicht brauchen wir einen Geisteraustreiber in St. Andrews. Ich besitze mehr als ein Haus, in dem es spukt. Der ehemalige Besitz der Clays gehört mir nämlich auch. Angeblich soll dort der Geist des unglücklichen Frank Clay sein Unwesen treiben.« »Auf der Insel war ich bereits«, verkündete Lucy. Fred sah aus, als fürchtete er noch mehr peinliche Enthüllungen. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr sagte er: »Ich glaube, wir brechen jetzt auf. Ich muß morgen früh raus.« Der alte Herr stützte sich auf seinen Ellenbogen. »Ausgerechnet jetzt, wo es interessant wird, müssen Sie gehen?« Seine Tochter warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Nicht jeder findet dieses Thema so ergiebig wie du, Vater.« »Ich bin sicher, Mrs. Dorset nimmt mir nicht übel, was ich gesagt habe, stimmt's, Mrs. Dorset?« »Sie haben recht«, lächelte sie. Henry Farleys Gesicht glänzte vor Zufriedenheit. »Ich finde, Sie sind eine sehr vernünftige junge Frau. Und falls Sie einen Geisteraustrei92
ber finden sollten, lassen Sie es mich wissen. Vielleicht brauche ich ihn auch noch.« Fred blickte säuerlich drein. »Ihre Auffassung kann ich leider nicht teilen, Sir. Ich jedenfalls werde nicht dulden, daß solch ein Mensch sich in meinem Haus aufhält.« Die alten Augen funkelten vergnügt. »Dann sind Ihnen die Gespenster also lieber?« Fred errötete. »Ich bleibe dabei: In Moorgate gibt es keine übernatürlichen Dinge.« »Mir scheint, mit Ihrer Meinung befinden Sie sich in der Minderheit, Fred. Warum sträuben Sie sich eigentlich so dagegen, an übernatürliche Dinge zu glauben? Ich habe ein sehr ereignisreiches Leben geführt, und in meiner jetzigen Abgeschiedenheit finde ich die Zeit, über vieles nachzudenken. Es gibt so viele Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Was mich zum Beispiel interessiert, ist das Leben nach dem Tod. Wenn man älter wird, beschäftigt man sich automatisch mit diesem Problem. Wer weiß? Vielleicht finden wir die Antwort hierauf in Moorgate.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen, Dad«, warf Sheila ein. Er lächelte ihr zu. »Nun, ich jedenfalls werde die Geschehnisse weiterverfolgen. Ich bin es leid, meinen Besitz zu vergrößern und mein Vermögen zu zählen. Ich bin ein alter Mann. Und bevor ich sterbe, möchte ich noch ein spannendes Abenteuer erleben.« Wieder schaute Fred auf seine Uhr. »Lucy und ich müssen jetzt wirklich gehen. Tut mir leid, Sir, aber es ist schon spät.« Der hagere alte Mann streckte Lucy die Hand entgegen. »Sie müssen mich recht bald wieder besuchen, junge Frau.« Sheila brachte sie zur Haustür und gab Fred die Taschenlampe mit. Sie schien sich für das Benehmen ihres Vaters zu schämen und trug eine ziemlich abweisende, unterkühlte Haltung zur Schau, als sie sich verabschiedeten. Kurz darauf trotteten Fred und Lucy den Waldweg in Richtung Moorgate zurück. Fred gab sich sehr schweigsam. Endlich sagte er: »So habe ich Henry Farley noch nie erlebt.« 93
»Er ist schon ein komischer alter Kauz«, stimmte sie zu. »Aber sehr nett.« »Ich befürchte fast, daß er senil wird«, fuhr Fred mit barscher Stimme fort. »Dies dumme Geschwätz über Moorgate deutet doch auf Verkalkung hin.« »Nicht alles davon war dummes Geschwätz«, verteidigte sie den alten Mann. Der helle Kegel der Taschenlampe geisterte vor ihnen über den Waldweg. »Er treibt nur seinen Schabernack mit dir«, sagte Fred. »Er hat es doch so gut wie zugegeben. Ihm ist es langweilig, und er amüsiert sich damit, dir einen Schrecken einzujagen. Ich finde das grausam von ihm.« »Mir macht das nichts aus.« »Mir aber«, grollte Fred. Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen scheuen Blick zu. »Es stimmte aber, was er sagte. Ich habe ja selbst in Moorgate unheimliche Dinge gesehen.« »Fang nicht schon wieder an!« »Aber es ist wahr.« »Mich wirst du nie überzeugen!« sagte er mit Nachdruck. Schweigend wanderten sie weiter. Der Wald hörte auf, und sie durchschritten den Garten von Moorgate. Freds Gesicht zeigte immer noch den gleichen verschlossenen Ausdruck. Sie erreichten das Haus und gingen die Steintreppe hoch. Wieder umgab Lucy das Gefühl der Melancholie wie ein alles umhüllender Mantel. Drinnen drehte sie sich zu Fred um. »Fred, sei mir nicht böse, aber ich möchte dir noch etwas zeigen.« Er sah ungeduldig aus. »Was ist es denn? Ich wollte eigentlich gleich ins Bett gehen.« »Es dauert nicht lange. Es hat mit unserem Gespräch von vorhin zu tun. Und wenn du es gesehen hast, wirst du mich vielleicht ein bißchen besser verstehen.« Sie verlegte sich aufs Bitten. »Fred, du hast immer Rücksicht auf mich genommen. Sei jetzt nicht hart mir gegenüber.« 94
Ihre Bitte schien ihn zu rühren. Er zog sie in seine Arme und blickte ihr tief in die Augen. »Ich liebe dich, Lucy, das weißt du. Ich will immer für dich sorgen und dich beschützen.« »Dann laß uns nicht mehr streiten«, bat sie. »Wir wollen uns nicht auseinanderleben, so wie sie.« »Wer, sie?« Er runzelte die Stirn. »Dr. Woods und Jennifer«, antwortete sie. »Ihr Schicksal soll sich an uns nicht wiederholen.« »Die beiden bedeuten mir nicht das geringste«, bekräftigte er. »Sie sind lange tot und haben keinen Einfluß mehr auf die Lebenden. Ich bin nicht abergläubisch.« »Vielleicht wollen sie aber nicht in Vergessenheit geraten«, beharrte sie. »Vielleicht bleiben sie deshalb als Geister hier. Um eine Art Botschaft zu vermitteln.« »Ich muß schon sagen, der alte Farley hat dich mächtig beeindruckt«, gab Fred trocken zurück. »Ich weiß zwar noch nicht, was er damit bezwecken wollte, es sei denn, er hätte das Haus gern zurück, um es an jemand anders zu einem höheren Preis zu verkaufen. Wenn es ans Geschäftemachen geht, ist er ein gerissener alter Fuchs.« »Ich glaube nicht, daß er so etwas im Sinn hat«, widersprach sie. »Sheila war es auch nicht recht, wie er daherredete.« »Sie hat ja keine Ahnung.« Er sah böse aus. »Und wo willst du deine Weisheit her haben?« Ihre Augen schwammen in Tränen. »Sei doch nicht so frech zu mir. Warum bist du in letzter Zeit immer gleich beleidigt?« Fred sah beschämt aus. »Es war nicht so gemeint. Entschuldige bitte, Lucy.« »Aber warum regst du dich bei der kleinsten Kleinigkeit immer gleich so auf? Du warst doch sonst nicht so.« »Vielleicht bin ich einfach nur übermüdet. Es war nicht leicht, eine neue Praxis anzufangen.« »Davon bin ich überzeugt.« Er seufzte. »Ich habe einfach keine Lust, meine Zeit mit Geschwätz über Gespenster zu vertrödeln. Wenn du dich wirklich so unglücklich 95
fühlst, dann nehme ich Farleys Angebot an, und er soll das Haus zurücknehmen. Wir finden schon ein anderes Heim.« »Das will ich nicht. Ich sagte es ihm ja, als er davon anfing.« Fred zog die Stirn kraus. »Was willst du dann?« »Hierbleiben und das Geheimnis von Moorgate lösen«, erwiderte sie. »Ich will das Haus von seinen Geistern befreien.« Er lächelte matt. »Nur gut, daß ich dich über alles liebe. Das macht es mir leichter, mich mit deinen Schrullen abzufinden.« Er zog sie an sich zu einem langen, zärtlichen Kuß. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie: »Jetzt kommst du mir schon wieder mehr wie der junge Mann vor, den ich in Boston kennengelernt habe.« Er wiegte den Kopf. »Man kann nicht immer in romantischer Stimmung sein. Im Leben gibt es ernstere Dinge.« Sie blickte offen in sein Gesicht. »Es gibt nichts Wichtigeres, als wenn zwei Menschen sich lieben. Jedenfalls glaube ich das.« Er schloß ihren Mund mit einem Kuß. »Komm jetzt mal mit mir auf den Dachboden«, schlug sie vor. »Ich möchte dir etwas zeigen, das deine Meinung über Gespenster vielleicht ändern wird.« »Dann wollen wir keine Zeit verlieren«, gab er nachsichtig lächelnd zurück. Mit vor Anspannung klopfendem Herzen führte sie ihn in die Dachbodenkammer. Es war ein wichtiger Augenblick. Sie mußte ihm beweisen, daß ihre Erlebnisse nicht nur Hirngespinste waren. Sie riß die Tür auf und zeigte auf die Bilder. »Siehst du?« fragte sie triumphierend. Er schaute in die angegebene Richtung. »Was gibt's denn da zu sehen?« fragte er verständnislos. Sie gab keine Antwort. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Denn die Rosen, die jemand aus der Vase entwendet und über die Bilder verstreut hatte, waren verschwunden. Der Duft der Blüten hing zwar noch in der Luft, aber von den Blumen war keine Spur mehr zu sehen. »Warum hast du mich hierhergebracht?« wollte Fred wissen. 96
Sie schluckte an dem Kloß in ihrer Kehle und blickte ihn verloren an. »Du solltest die Rosen sehen. Die Rosen, die jemand aus dem Wohnzimmer fortgenommen hatte.« Er sah noch verblüffter aus. »Willst du damit sagen, daß sie hier oben waren?« »Ja. Ich fand sie über die Bilder verstreut. Es muß eine Art Botschaft gewesen sein. Und nun muß die gleiche Geisterhand sie wieder entfernt haben.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Fred sie an. »Du hast hier oben nach den verschwundenen Rosen gesucht, während Sheila und ich uns im Wohnzimmer unterhielten?« »Ja.« »Weshalb?« Sie zögerte. Sie fühlte sich vollkommen hilflos. »Ich weiß es selbst nicht. Ein ganz merkwürdiges Gefühl überkam mich. Irgend etwas oder irgend jemand brachte mich dazu, auf den Dachboden zu gehen.« »Und dort fandest du auf Anhieb die Rosen«, sagte er zynisch. »Ja.« »Du machst mir Sorgen«, sagte er. »Mir kommt es fast vor, als seist du das Opfer von Halluzinationen. Das ist ja ernster, als ich dachte.« Sie warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Ich sage dir die Wahrheit.« »Was du für die Wahrheit hältst.« »Nein, was ich wirklich und wahrhaftig gesehen habe!« Er schüttelte den Kopf. »Du hältst mich zum Narren, dabei sollte ich schon längst im Bett liegen und schlafen, Lucy.« Auf der Stelle machte er kehrt und ging wortlos in die untere Etage zurück. Eine Weile blieb sie verloren oben stehen, bevor sie ihm in das gemeinsame Schlafzimmer folgte. Erst als sie zu Bett gingen, sagte sie: »Es tut mir sehr leid, Fred.« »Schon gut«, erwiderte er. »Eines ist wenigstens klar: du bist zu sensibel, um lange in dem Haus allein bleiben zu können.« »Ich möchte aber bleiben«, hörte sie sich sagen. Verdutzt blickte er sie an. »Das verstehe ich nicht. Einmal sagst du, 97
hier gäbe es Gespenster und es passierten die merkwürdigsten Dinge. Im nächsten Augenblick bestehst du darauf, hier wohnen zu bleiben und dich von den Quälgeistern plagen zu lassen. Weshalb?« »Ich weiß es selber nicht«, antwortete sie leise. Fred seufzte. »Ich gebe zu, bis zu dem Vorfall von heute abend habe ich die Sache auf die leichte Schulter genommen. Sobald ich eine halbe Stunde Zeit habe, fahre ich zu Dr. Boyce und bitte ihn um Rat.« »Tu das«, pflichtete sie ihm bei. »Das werde ich auch.« Er zog sie in seine Arme und streichelte zärtlich über ihr Haar. »Diese Mißverständnisse müssen aufhören. Wir dürfen uns nicht mehr streiten.« »Das ist auch mein Wunsch«, entgegnete sie aus vollem Herzen. Er schaute sie prüfend an. »Ständig hältst du mir vor, wie sehr ich mich in der letzten Zeit verändert hätte. Das gleiche könnte ich aber auch von dir behaupten. Seit wir hier wohnen, hat deine Persönlichkeit einen Wandel mitgemacht. Selbst wenn ich dich ansehe, kommst du mir wie eine andere Frau vor.« »Ich bin dieselbe geblieben«, lächelte sie. »Vielleicht hast du mich früher nur nicht realistisch genug gesehen.« »Keine Ahnung«, erwiderte er ruhig. Wieder küßte er sie. Danach zog sich jeder in sein Bett zurück, und er löschte das Licht. Sie blickte in die Dunkelheit und ließ im Geiste all die merkwürdigen und unheimlichen Vorkommnisse an sich vorbeiziehen. Bald verrieten ihr Freds tiefe, gleichmäßige Atemzüge, daß er eingeschlafen war. Ein Gefühl der Zärtlichkeit wallte in ihr auf. Sie wußte, wie schwer er schuftete, um ihnen eine gemeinsame Existenz zu schaffen. Sie wollte ihm sein Leben nicht noch komplizierter machen. Dennoch wünschte sie, er würde gemeinsam mit ihr das Geheimnis des alten Hauses lösen. Sie war sicher, daß die steinernen Mauern noch ein Geheimnis bargen. Und daß es ihre Aufgabe war, das Rätsel zu lösen. Plötzlich, noch während ihre Gedanken sich damit beschäftigten, beschlich sie eine Ahnung, als sei noch jemand Drittes im Zimmer. Eine Gestalt, die stumm und still im Schatten stand. Und der intensi98
ve Rosenduft, der ihr bereits auf dem Dachboden aufgefallen war, stieg ihr plötzlich wieder in die Nase.
* Lucy stützte sich auf einen Ellbogen ab und strengte sich an, mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen. Und dort, schwach als Silhouette vor dem Fenster erkennbar, stand jemand. Es schien eine Frauengestalt zu sein, die über Kopf und Schultern ein Tuch geschlungen hatte. Die Beobachtung zusammen mit dem Rosenduft erhärteten ihren Verdacht, daß es Jennifers Geist war, den sie sah. Der Duft und die schemenhafte Gestalt waren kurz darauf verschwunden. Dann schien alles wieder normal zu sein. Lucys Herz hämmerte wie verrückt, als sie sich in ihr Kissen zurücklehnte und gegen die dunkle Zimmerdecke starrte. Während der ganzen unheimlichen Begegnung hatte Fred fest durchgeschlafen, und sie wußte jetzt schon, daß es zwecklos sein würde, ihn von ihrer Beobachtung zu überzeugen. Es dauerte lange, bis sie endlich einschlummerte. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, als sie am nächsten morgen ins Untergeschoß ging, um Fred das Frühstück zu machen. Es war das Frühstück, was sie an ihrem gemeinsamen Leben am meisten schätzte. Sie konnten sich in aller Ruhe unterhalten, bevor er ging und sie den ganzen Tag lang und meistens auch noch den Abend über allein ließ. Kurze Zeit später betrat Fred mit der Morgenzeitung unter dem Arm die Küche. Als er sich setzte, bedachte er seine Frau mit einem wissenden Lächeln. »Ich weiß jetzt, was gestern abend mit deinen Rosen passiert ist.« »Was meinst du damit?« »Vorhin ging ich nur so aus Neugier ins Wohnzimmer und fand sie«, antwortete er. »Das kann doch nicht sein.« Sie war verblüfft. »Gestern sah ich sie doch noch verstreut über den Bildern liegen.« 99
Fred sah zufrieden und selbstgefällig aus. »Und du bist sicher, daß sie von Geisterhand dort oben hingebracht wurden?« »Wenn du es so ausdrücken willst, ja.« Mit der zusammengefalteten Zeitung in der Hand lehnte Fred sich in seinen Stuhl zurück. »Aber als du mich mit nach oben nahmst, waren doch keine Rosen mehr da.« »Dazu kann ich auch nichts sagen«, erwiderte sie hilflos. »Ein paar Stunden vorher hatte ich sie dort noch gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Eben nicht. Das war nur Einbildung.« »Nein!« »Ich sage ja«, erwiderte er mit Nachdruck. »Ich ging ins Wohnzimmer, und die Rosen standen in der Vase, genauso, wie es sich gehört.« »Das kann nicht sein!« »Geh und sieh selbst nach«, forderte Fred sie auf. »Ich erkläre mir das Ganze so: du warst dabei, die Rosen in die Vase zu stellen, als irgend etwas dich ablenkte. Die Vase steht nicht gleich vorn im Zimmer, sondern am anderen Ende. Und hinterher warst du so davon überzeugt, du hättest sie vorn bei der Tür auf einen Tisch gestellt, daß du woanders gar nicht mehr nachschautest. Dabei müssen sie die ganze Zeit über im Wohnzimmer gestanden haben.« Lucy hörte mit wachsendem Unbehagen zu. Es hörte sich so plausibel an, daß sie beinahe selbst daran glaubte. Dennoch wußte sie, daß Fred unrecht hatte. Sie hatte die Rosen in der Dachkammer gesehen. Zögernd stand sie auf und ging ins Wohnzimmer. Selbst an diesem strahlenden Morgen lag der Raum im Schatten. Wie Fred gesagt hatte, befand sich die Vase mit den Rosen am hinteren Ende des Wohnzimmers. Ungläubig starrte sie auf die immer noch frischen Blumen. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Sie kannte nicht einmal die Vase, in der die Rosen standen. Freds Erklärung stimmte nicht. Dies war kein weiteres Beispiel für ihre Vergeßlichkeit und Nervosität. Aber wie konnte sie ihn überzeugen? Sie wußte mit Bestimmtheit, daß sie die Blumen ursprünglich in einer ganz anderen Vase arrangiert hatte. Einen Be100
weis dafür gab es natürlich nicht. Und Fred akzeptierte nur hieb- und stichfeste Beweise. Mit einem Gefühl äußerster Verwirrung kehrte sie in die Küche zurück. Fred trank seinen Kaffee und las in der Zeitung. Triumphierend blickte er zu seiner Frau auf. »Nun?« »Ich habe die Rosen gesehen«, sagte sie lahm und nahm wieder ihm gegenüber Platz. »Du gibst also zu, daß ich recht habe?« Sie zögerte. Dann sagte sie: »Nein, so einfach ist das nicht.« »Du bist stur und eigensinnig, mein liebes Kind. Das laß dir gesagt sein.« »Es tut mir leid, daß du mich so einschätzt«, erwiderte sie unglücklich. »Gebrauch doch bitte deinen Verstand«, redete er dringlich auf sie ein. »Ich gebe ja zu, all dieses Geschwätz, daß Moorgate ein Spukhaus sei, hat dich aus dem Konzept gebracht. Und zu allem Überfluß bestärkt dich dieser Henry Farley auch noch in deinem Glauben, hier gäbe es Gespenster.« »Ich weiß aber, daß es so ist.« Fred sah unglücklich aus. »In einem hat Mr. Farley vermutlich recht. Wir werden aus Moorgate fortziehen müssen. So kann das nicht weitergehen.« »Wenn du mir doch nur glauben würdest!« »Um dich in deinen Spintisierereien auch noch zu unterstützen? Nein, danke!« In ihrem Blick lag tiefer Ernst. »Vielleicht versuchen die Menschen, die einmal hier lebten, mit uns Verbindung aufzunehmen. Vielleicht versuchen sie durch ihren Geist, uns eine Botschaft mitzuteilen.« Fred stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus. »So etwas hätte ich von einem Dienstmädchen erwartet! Aber doch nicht von dir! Weißt du überhaupt, was du da redest, Lucy?« »Entschuldige«, bat sie. »Ich wollte dich nicht aufregen.« Seine Stimmung schlug um. Er erhob sich und legte sanft seine Hand 101
auf ihre Schulter. »Du regst mich nicht auf, Liebling. Du kannst nichts dafür. Zu viele Leute haben dich mit ihrem unsinnigen Geschwätz über Moorgate verwirrt.« »Vielleicht«, gab sie einlenkend zu. Es war wohl besser, sie behielt ihre Ansichten für sich. Fred bückte sich und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. »Ich werde mal mit Dr. Boyce darüber sprechen. Vielleicht kann er uns mit einem guten Rat weiterhelfen. Auf seine Meinung scheinst du ja Wert zu legen.« »Ich habe Vertrauen zu ihm.« »Dann warten wir mal ab, was er dazu zu sagen hat. Ich bleibe den Tag über mit dir in Verbindung. Und ich werde mich anstrengen, damit ich pünktlich zum Abendbrot zu Hause bin.« »Bitte versuch es«, lächelte sie. Sie stand auf und begleitete ihn bis zur Haustür. Aber kaum war sein Auto um die erste Biegung verschwunden, da ergriff wieder dieses nun schon vertraute melancholische Gefühl von ihr Besitz. Sie spürte förmlich, wie es sie durchströmte und sie in eine fremde Persönlichkeit verwandelte. Beklommen trat sie ins Haus zurück und ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Vor der Vase mit den Rosen blieb sie stehen. Wieder beschlich sie eine Ahnung, als sei sie nicht allein in dem Haus, als stünde eine unsichtbare Person dicht neben ihr. Angstvoll blickte sie sich in dem dämmrigen Raum um. Zu sehen war nichts. Sie bewegte sich in die Bibliothek hinüber und suchte in dem Schreibtisch nach dem Brief Frank Clays an Jennifer, den sie vorher nicht hatte finden können. Mit zitternden Fingern tastete sie jedes einzelne Fach noch einmal ab. Und plötzlich spürte sie das verschollene Stück Papier. Sie zog es aus einem der vielen Fächer heraus. Es war noch genauso, wie sie es gefaltet hatte. Warum hatte sie den Brief vorher nicht finden können? Offensichtlich hatte sie ihn so tief in das Fach gesteckt, daß sie ihn nicht hatte entdecken können. Diese Erklärung legte sie sich zurecht. Andernfalls hätte sie annehmen müssen, eine Geisterhand habe ihn zwischenzeitlich versteckt. 102
Sie entfaltete das Blatt Papier und las noch einmal die verblaßten Zeilen. Die Botschaft schien den Skandal von vor hundert Jahren zu bestätigen. Trotzdem weigerte sich Lucy, Jennifer als untreue Ehefrau zu sehen. Die hübsche, lebenslustige Arztfrau konnte mit Frank Clay befreundet gewesen sein, ohne deshalb gleich ihren Mann zu betrügen. Vielleicht aber hatte Frank ihre Freundschaft ernster genommen als sie. Er mußte ein stolzer, selbstbewußter Mann gewesen sein, der geglaubt hatte, in Jennifer die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Und als sie tot aufgefunden wurde, verbreitete er dann das Gerücht, sie habe ihren Mann aus Liebe zu ihm verlassen wollen. Es mußte nicht unbedingt stimmen. Vielleicht war alles nur eine böswillige Verleumdung. Entschlossen, den kostbaren Brief nicht ein zweites Mal zu verlieren, ging sie in ihr Schlafzimmer und schloß ihn in ihre Schmuckkassette ein, die sie wiederum in einer Kommodenschublade verstaute. Danach machte sie die Betten und räumte auf. Als sie fertig war, trat sie an das offene Fenster. Es war dasselbe, an dem sie bei ihrer Ankunft Jennifers Gesicht gesehen hatte. Von hier aus hatte sie eine phantastische Aussicht auf St. Andrews, die Bucht und die dem Festland vorgelagerte Inselkette. Trotz seines verwitterten Anstrichs glänzte das Haus auf der Pfarrersinsel weiß in der Sonne. So wie sie mußte Jennifer oft am Fenster gestanden und zur Insel hinübergeblickt haben. Vielleicht hatte sie dabei an Frank Clay gedacht. Warum hatte alles in einer Tragödie enden müssen? Was war in jener Sturmnacht vor hundert Jahren geschehen? In Lucys Kopf herrschte ein wirres Durcheinander. Es war durchaus möglich, daß Frank Clay die Wahrheit gesprochen hatte. Daß Jennifer im Begriff gewesen war, seinetwegen ihren Mann zu verlassen. Und Graham Woods, außer sich vor Zorn, hatte seine junge Frau erdrosselt und dann versucht, sich der Leiche zu entledigen. Lucy wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte einen Entschluß gefaßt. Sie ging auf den Dachboden hinauf und trug zuerst das Portrait von Dr. Graham Woods hinunter. Sie hängte es an die Stelle, wo vorher ein 103
Seestück geprangt hatte. Dieses Bild nahm sie mit hinauf, und von ihrem zweiten Ausflug brachte sie das Portrait der schönen blonden Jennifer mit. Sie hängte es in die Diele anstelle eines Stillebens, das Fred gekauft hatte. Jeder, der das Haus betrat, würde als erstes auf Jennifer blicken. Es war ein wunderschönes altes Portrait. Lucy fand, daß es einen Ehrenplatz verdiente. Danach fühlte sie sich zufrieden. Anstelle der inneren Gespanntheit trat ein Gefühl der Erleichterung. Eine Zeitlang blieb sie im Wohnzimmer sitzen, den Blick auf Dr. Graham Woods geheftet. Wie schon einmal schienen sich seine Augen in sonderbarer Weise zu beleben. Es war, als schickten ihr seine Blicke eine Botschaft zu. Laut sprach sie zu dem Portrait: »Jetzt stehst du wenigstens nicht länger verstaubt und vernachlässigt auf dem Dachboden herum.« Später machte sie einen Gang durch den Garten, um das herrliche Wetter auszunutzen. Die warmen Strahlen in der Sonne ließen den Duft der Bäume und Blumen schwer über dem Garten liegen. Bei dem alten Brunnen blieb sie stehen. Sie beugte sich vornüber und blickte in die schwarze Tiefe. Als sie in dem dunklen Wasser ihr Spiegelbild sah, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Denn das Gesicht, das sie aus der matt schimmernden Tiefe anblickte, war nicht ihr eigenes. Sie starrte in die Augen der blonden Jennifer! Sie blinzelte, und als sie wieder hinabschaute, hatte die Illusion sich verflüchtigt. Sie trat vom Brunnenrand zurück und fühlte, wie sie trotz des warmen Sonnenscheins eine Gänsehaut bekam. War sie schon so weit, daß sie sich mit dem schönen Phantom identifizierte? Schlüpfte sie so in Jennifers Rolle, daß bald all ihre Handlungen und Gedanken von ihrem Geist gelenkt wurden? Und wenn es sich so verhielt, welche Auswirkungen hatte es auf ihre und Freds Ehe? Würden sie das gleiche tragische Schicksal ereilen, das Jennifer und ihren Mann ereilt hatte? Sie weigerte sich, an diese Möglichkeit zu glauben. Aber dennoch wußte sie, daß sie nicht länger völlig sie selbst war. Sie tat Dinge und gab sich Gedanken hin, die ihr normalerweise fremd waren. Ein unbestimmtes Gefühl der Angst trieb sie dazu, den halbver104
steckten Pfad einzuschlagen, der Moorgate mit dem Besitz der Farleys verband. In einem Zustand der Benommenheit wanderte sie durch das Waldstück. Die Luft war voll von dem Summen der Insekten, die die Mittagssonne belebten. Der weiche Waldboden verschluckte ihre Schritte, während sie sich mit blicklosen Augen wie eine Schlafwandlerin vorwärtsbewegte. Sie trat aus dem Wald, und das Haus der Farleys mit seinen weitläufigen Rasenflächen lag vor ihr. An einem Swimming-pool, durch einen Sonnenschirm vor der ärgsten Hitze geschützt, lag Henry Farley auf einer Liege. Er begrüßte Lucy mit allen Anzeichen der Freude. »Was für eine angenehme Überraschung, Mrs. Dorset. Schade, daß Sheila nicht da ist.« Immer noch leicht benommen blickte sie ihn an. »Das macht nichts.« Der alte Herr zeigte auf einen Gartenstuhl in der Nähe. »Möchten Sie nicht Platz nehmen und etwas Erfrischendes trinken?« »Ich setze mich gern einen Moment«, sagte sie. »Aber zu trinken möchte ich nichts.« »Wie Sie wünschen«, entgegnete Henry Farley galant. Sie setzte sich ihm gegenüber. »Ich weiß gar nicht, warum ich eigentlich hierherkam«, bekannte sie verwirrt. »Ich gab irgendeinem plötzlichen Impuls nach, der über mich kam.« »Sie sollten sich darüber keine Gedanken machen«, meinte er. Und mit einem Blick auf den Swimming-pool fügte er hinzu: »Schwimmen ist der einzige Sport, der mir geblieben ist. Sheila leistet mir allerdings sehr selten Gesellschaft. Sie zieht es vor, zu reiten oder Golf zu spielen.« »Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Lucy. Sie warf dem alten Herrn einen forschenden Blick zu und fragte: »Sagen Sie, Mr. Farley, haben Sie sich gestern abend mit mir einen Scherz erlaubt?« Der weißhaarige Mann setzte ein feines Lächeln auf. »Wie kommen Sie darauf?« »Nun, meinen Sie es ernst, was Sie über Moorgate und den Spuk dort sagten?« Er nickte. »Nach dem, was ich von Ihnen und anderen Leuten weiß, spukt es in diesem Haus.« 105
»Und es war auch Ihr Ernst, als Sie sagten, Sie würden es zurückkaufen?« Abermals nickte er. »Weshalb?« Er zögerte. Dann sagte er nachdenklich: »Ich mache mir Sorgen darüber, auf welche Weise sich das Haus auf Sie und Fred auswirken könnte. Wie mir scheint, glaubt Ihr Mann nicht an übernatürliche Dinge und ist eher geneigt, Ihren schwachen Nerven die Schuld für die unerklärlichen Vorkommnisse zu geben. Es könnte böse enden, wenn Sie weiter dort wohnen blieben.« Ernst blickte sie ihm in die Augen. »Es ist ganz komisch. Einerseits fürchte ich mich vor den Geistern, dann wiederum aber auch nicht. Ich fühle, daß sie mir etwas mitteilen wollen. Sie sind nicht böse, sondern traurig. Sie suchen mich nicht auf, weil sie mir etwas antun wollen, sondern weil ich ihnen eine Freundin und Vermittlerin sein soll.« »Diese Einstellung kann gefährlich für Sie werden. Besonders wenn man Freds Meinung dazu in Betracht zieht.« »Dr. Boyce glaubt, ich sei paranormal begabt. Ich besitze psychische Fähigkeiten, die andere nicht haben. Zum Beispiel habe ich auch auf der Pfarrersinsel einen Geist gesehen. Es muß Frank Clay gewesen sein, wie er im Alter ausgesehen hat.« Henry Farley schien beunruhigt. »Wenn Sie paranormal begabt sind, dann ist Moorgate nicht der richtige Platz für Sie. Sie sollten sich mein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Und wenn Fred sich weigert, dann wäre es vielleicht das beste, wenn Sie ihn verließen und aus St. Andrews fortgingen. Womöglich ist das die einzige Chance, Ihr Leben zu retten.« Seine Worte erschreckten sie. Mit entwaffnender Offenheit fragte sie: »Könnte es sein, daß Sie mich vielleicht los werden wollen, Mr. Farley? Wäre es Ihnen lieber, Fred hätte Ihre Tochter geheiratet anstatt mich?« Jetzt war er an der Reihe zu erschrecken. »Wer hat Ihnen diese Idee in den Kopf gesetzt?« »Ich weiß, daß Fred Ihrer Tochter nicht gleichgültig ist. Und ich glaube auch, daß er sie mag. Wenn er zu der Überzeugung gelangen sollte, 106
ich sei seelisch krank und unzurechnungsfähig, dann könnte er sich von mir scheiden lassen und Sheila heiraten.« Henry Farley sank in seine Liege zurück. »Wenn Sie glauben, daß ich dieses Komplott gegen Sie geschmiedet hätte, dann vergessen Sie alles, was ich gesagt habe. Sie sind eine sehr mißtrauische junge Frau.« »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, beharrte sie. Der Mann vor ihr sah plötzlich um Jahre gealtert aus. »Wer weiß schon, was manchmal in den Tiefen unserer Seele vor sich geht? Was sind unsere geheimsten Wünsche? Ich glaube, daß ich mich Ihnen gegenüber fair verhalten habe. Aber ich kann natürlich nicht verhehlen, wie gern ich meine Tochter glücklich sehen möchte. Ich glaube, als Freds Ehefrau wäre Sheila glücklich.« »Und ich stehe im Weg«, versetzte Lucy bitter. »Es ist eine unglückliche Verkettung von Zusammenhängen«, sagte der alte Mann. »Ihre Ehe hatte einen unseligen Start. Deshalb wäre es für Sie vielleicht das Klügste, Sie gingen von Fred und St. Andrews fort, bevor irgend etwas Gewaltsames geschieht. Verhindern Sie, daß die Tragödie von vor hundert Jahren sich wiederholt.« »Glauben Sie, daß so etwas noch einmal passieren kann?« »Oh ja. Wenn Moorgate von unglücklichen Geistern heimgesucht sein sollte, dann könnten sie solchen Einfluß auf Sie und Fred ausüben, daß sich das Drama von Eifersucht und Mord wiederholt.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Ich fühle mit Ihnen, Mrs. Dorset«, fuhr er ernsthaft fort. »Ich weiß, wozu eine schlechte Ehe führen kann. Ich war selbst unglücklich verheiratet. Als meine Arthritis anfing, mich zu verkrüppeln, ging meine Frau mit einem jüngeren Mann fort. Es war ein harter Schlag für mich.« »Das tut mir sehr leid«, erwiderte sie leise. Mit seiner knochigen, verkrümmten Hand machte er eine wegwerfende Geste. »Ich verlange kein Mitleid. Sie sollen nur wissen, daß ich Verständnis für Sie habe. Ich will Ihnen helfen.« Sie erhob sich. »Ich danke Ihnen, daß Sie so offen mit mir gesprochen haben.« 107
»Offenheit ist meine Devise«, gab er zurück. »Möchten Sie nicht doch noch auf Sheila warten? Sie müßte gleich zurück sein.« »Nein. Ich möchte lieber nach Hause gehen.« »Wie Sie wünschen«, entgegnete er. Aus seinen tief eingesunkenen Augenhöhlen blickte er sie scharf an. »Lassen Sie sich durch den Kopf gehen, was ich gesagt habe.« »Das werde ich tun«, sagte sie mit dünner Stimme. »Über Ihren Besuch freue ich mich jederzeit«, rief er ihr nach, als sie sich zum Gehen wandte. Sie schlug den Waldweg ein, während seine Worte in ihrem Kopf widerhallten. Sie wußte nicht recht, was sie von diesem alten Mann halten sollte. Er war ein Sonderling, ein komischer alter Kauz, ein steinreicher Mann, der sich seine Schrullen leisten konnte. Was war er nun, ihr Freund oder ihr Feind? Er war unverblümt genug, um ihr auf den Kopf zuzusagen, daß er Sheila gern mit Fred verheiratet sähe. Aber dennoch traute sie ihm nicht zu, daß er in brutaler Weise gegen sie intrigierte. Dazu war er wieder viel zu ehrlich. Es war alles ein großes Rätsel. Als sie zurück in Moorgate war, drehte sich ihr immer noch der Kopf. Sie versuchte, Fred in seiner Praxis oder im Krankenhaus anzurufen, aber nirgendwo war er zu erreichen. Also entschloß sie sich, in den Ort zum Einkaufen zu fahren. Dann brauchte sie wenigstens nicht mehr allein in diesem düsteren Haus zu brüten und wurde abgelenkt. Ihre Einkäufe in dem Supermarkt hatte sie schnell erledigt. Erst als sie wieder unterwegs war, fiel ihr ganz plötzlich der alte Friedhof ein, von dem Jim Stevens ihr erzählt hatte. Nach kurzem Fragen fand sie ihn. Sie parkte den Wagen in einer Seitenstraße und machte sich auf ihren Erkundungsgang. Der Friedhof sah wirklich uralt aus. Ein hohes schmiedeeisernes Gitter umgab ihn von allen Seiten. Man hatte das Gras wild wuchern lassen, und die Anlage machte einen verwahrlosten Eindruck. Gleichzeitig bestärkte es sie in ihrem Verdacht, daß der Friedhof schon lange nicht mehr benutzt wurde. 108
Die Grabsteine standen schief und waren von der salzigen Seeluft zerfressen. Gelegentlich war ein Stein umgekippt und auf ein Grab gestürzt. Lucy schlenderte durch den stummen Wald von Grabsteinen und Kreuzen. Sie suchte die Gräber von Graham Woods und Jennifer. Jim hatte gesagt, sie seien am äußersten Ende, so weit weg wie möglich von der alten, halbzerfallenen Kirche, zu finden. Unter einer mächtigen, uralten Ulme erspähte sie einen großen, imposanten Stein. Sie beschleunigte ihre Schritte, und ihr Herz klopfte bei der Erwartung, kurz vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen. Groß und in immer noch deutlich erkennbaren Buchstaben war der Name Woods in den grauen Marmor eingemeißelt. Als sie näher kam, erschrak sie. Denn in den Stein war deutlich und unverkennbar Jennifers Gesicht eingehauen. Es zeigte nach oben und war von Wellen umspült. Ein totes Gesicht, offensichtlich den Zügen der gewaltsam ums Leben gekommenen nachempfunden. Sie starrte auf den Text unter dem Namen, aber die Buchstaben waren zu verwittert, als daß sie sie entziffern konnte. Ein Windstoß fuhr durch die gewaltigen Zweige der Ulme. Im Rascheln der Blätter glaubte sie zu hören, wie jemand ihren Namen seufzte. Sie zwang sich ruhig zu bleiben, aber sie fühlte, wie sich vor Angst die Haare in ihrem Nacken aufrichteten. Mit einemmal war sie sicher, hinter sich Schritte zu hören. Sie fuhr herum und sah Jim Stevens, der lächelnd auf sie zukam. »Wie ich sehe, haben Sie den Weg also doch gefunden«, sagte er zur Begrüßung. »Ja«, entgegnete sie. »Wo die Gräber zu suchen waren, wußte ich ja von Ihnen.« Mit ehrfurchtsvoller Miene stellte sich der junge Mann neben sie. »Ich komme oft hierher. Viele dieser alten Grabsteine erzählen Ihnen ein Stück der Geschichte von St. Andrews. Zum Teil sind sie noch gut erhalten.« »Den Text unter den Namen kann ich nicht entziffern«, sagte sie. Er betrachtete den Grabstein, in den das Gesicht der toten Jennifer 109
modelliert war. »Vermutlich wundern Sie sich, warum nur Jennifers Tod bildlich dargestellt ist.« »Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht.« Jims Lächeln fiel bitter aus. »Frank Clay ließ diesen Stein aufstellen. Er sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, daß Mann und Frau nebeneinander begraben wurden. Aber verhindern konnte er es nicht. Deshalb ließ er diesen Stein anfertigen und bestand darauf, daß man ihn aufstellte. Dieses Denkmal trug nur dazu bei, den Skandal im Ort zu schüren.« »Von Franks Seite war das nicht sehr diskret gehandelt«, warf sie ein. »Nein. Aber man konnte ihn nicht daran hindern. Und bevor er auf seiner Insel gänzlich in die Einsiedelei ging, besuchte er regelmäßig das Grab.« »Das kann ich verstehen«, meinte Lucy. Jim Stevens blickte sie von der Seite her an. »Und wenn man gewissen Leuten glauben soll, dann kommt er gelegentlich immer noch hierher. In dunklen, stürmischen Nächten. Es gibt viele Menschen, die behaupten, sie hätten Frank Clays Geist an Jennifers Grab gesehen.«
* Lucy glaubte, das Blut gefriere ihr in den Adern. Nur zu lebhaft geisterte das Bild Frank Clays durch ihr Gedächtnis, wie sie ihn auf der Pfarrersinsel gesehen hatte. Mit dünner Stimme sagte sie: »Ich dachte, sein Geist würde nur auf der Insel spuken.« »Hier auf dem Friedhof auch«, bekräftigte Jim. »Und niemals in Moorgate?« Er lächelte. »Niemals in Moorgate. Die Geistergeschichten, die man sich von dem alten Steinhaus erzählt, drehen sich stets nur um Jennifer.« »Ich weiß«, sagte sie und warf ihm einen nervösen Blick zu. »Ich habe sie ja selbst gesehen.« Seine Stirn runzelte sich. »Das macht mir Sorgen.« »Warum?« 110
»Die Legende behauptet, daß es Unglück bedeutet, wenn man sie sieht.« »Und hat sich die Legende bis jetzt bewahrheitet?« wollte sie wissen. »Das weiß ich auch nicht«, gab Jim zurück. »Ich weiß nur, daß der letzte Eigentümer darauf versessen war, Moorgate zu verkaufen. Und die Farleys griffen sofort zu. Einen anderen Käufer hätte er in dieser Gegend wohl kaum gefunden.« »Ist Moorgate denn so verrufen?« »Leider ja. Ich erzählte Fred davon, aber er wollte nicht auf mich hören. Er sagte, er sei nicht abergläubisch.« »Das ist er wirklich nicht«, entgegnete sie mit schiefem Lächeln. »Sie sollten sich nicht so oft allein in dem Haus aufhalten«, riet er ihr. »Es liegt so einsam und isoliert auf dem Hügel. Nicht, daß Sie noch schwermütig werden.« Sie blickte wieder auf den Grabstein. »Wenn ich mir das so ansehe, dann wundere ich mich immer mehr über Frank Clay. Er muß ein sehr willensstarker Mann gewesen sein.« »Das war er sicher.« »Daß er diesen Grabstein aufstellen ließ, muß ihn zur Zielscheibe der Kritik gemacht haben.« »Das stimmt auch, wenn man den überlieferten Berichten glauben darf. Aber seine Liebe zu Jennifer machte ihn rücksichtslos. Und es war Ironie des Schicksals, daß er sie ausgerechnet in dem Augenblick verlor, als sie zu ihm wollte.« Lucys Stirn umwölkte sich. »Ich finde es aber gehässig, daß er ihren Mann als Mörder hinstellte, obwohl es keinen stichhaltigen Beweis dafür gab.« Jim zuckte mit den Schultern. »Vieles deutete darauf hin, daß Graham Woods Jennifer erwürgte und sie dann in sein Boot schleppte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb er sich in dem Hurrikan auf dem Meer aufgehalten haben sollte, außer, daß er sich unbedingt der Leiche entledigen mußte. Es war die Tat eines verzweifelten Mannes.« Sie holte tief Luft. »Ich würde zu gern Graham Woods' Version hören, was in jener Nacht geschah.« 111
Jim sah leicht amüsiert aus. »Warum machen Sie sich eigentlich so viele Gedanken über einen Vorfall, der hundert Jahre zurück liegt? Sie sind doch eine Fremde in dieser Gegend. Warum kümmern Sie sich um die hiesigen Legenden?« »Weil ich in Moorgate wohne.« »Wenn Sie das alles so mitnimmt, dann sollten Sie woanders hinziehen. Die Atmosphäre dieses unheimlichen alten Kastens bekommt Ihnen nicht. Und vielleicht läßt Fred Sie auch viel zuviel allein.« Sie blickte über die Gräber und schien angestrengt nachzudenken. Dann fragte sie: »Eines möchte ich gern wissen. Wenn Graham Woods seine Frau ermordete, warum streift dann nicht sein Geist durch das Haus über den Friedhof?« Jim war überrascht. »Ich habe noch nie gehört, daß jemandem sein Geist erschienen wäre.« »Ich finde das merkwürdig.« »Wieso?« Ernst blickte sie in das sympathische Gesicht des jungen Mannes. »Er müßte doch derjenige sein, der durch sein schlechtes Gewissen keine Ruhe findet.« »So gesehen haben Sie recht«, gab er zu. »Natürlich habe ich recht«, beharrte sie. »Wenn er seine Frau umbrachte, dann müßte er in Moorgate spuken.« »Eine unglückliche Seele.« »Genau.« »Vielleicht geistert er auch durch das Haus«, überlegte Jim. »Nur finden die Leute es romantischer, wenn sie behaupten, sie hätten den Geist der schönen Jennifer gesehen.« »Irgend etwas stimmt da nicht.« Verwundert sah Jim sie an. »Die Sache scheint Ihnen ja wirklich nahe zu gehen. Aber ich finde, es ist nicht gut für Sie, sich so intensiv mit Dingen zu beschäftigen, die hundert Jahre zurückliegen. Es könnte zu einer fixen Idee bei Ihnen werden.« Sie blickte ihm offen in die Augen. »Glauben Sie, mein Verstand könnte darunter leiden?« 112
»Ich finde, es ist eine ungesunde Beschäftigung.« Er nahm ihren Arm, und gemeinsam verließen sie den Friedhof. Jim schlug vor: »Wenn Sie sich manchmal einsam fühlen, warum kommen Sie nicht einfach bei uns vorbei? Mutter würde sich über Ihren Besuch sehr freuen.« »Vielen Dank. Ich komme auf die Einladung zurück«, antwortete sie. »Aber ganz bestimmt«, sagte er mit Nachdruck, während sie durch das schmiedeeiserne Gittertor traten. Einen Moment lang blieben sie plaudernd auf der Straße stehen. Jim schien sich ernsthaft Sorgen um sie zu machen, und sie stellte fest, daß der junge Anwalt ihr immer sympathischer wurde. Sie wünschte sich, Fred hätte etwas von seiner Empfindsamkeit und seinem Verständnis. Sie wollten sich gerade verabschieden, als sich ein Wagen näherte und dabei das Tempo verlangsamte. Sofort erkannte sie Freds Auto und winkte ihm zu. Fred winkte zwar zurück, machte aber keine Anstalten, den Wagen anzuhalten. Betroffen stand sie da und starrte dem davonfahrenden Auto nach. Verwirrt fragte Jim: »War das nicht eben Fred?« Sie wußte, daß ihre Wangen vor Scham und Verlegenheit brannten. Deshalb antwortete sie mit abgewandtem Gesicht: »Ja. Vermutlich muß er ganz dringend in die Praxis.« »Das wird's sein«, stimmte Jim zu. Es klang nicht sehr überzeugt. »Es war schön, Sie wiedergesehen zu haben«, sagte sie, »aber ich muß mich jetzt beeilen.« »Ich muß auch fort. Und wenn Sie Fred sehen, dann richten Sie ihm bitte aus, er hätte ruhig auf ein, zwei Worte anhalten können. Ich finde sein Verhalten nicht sehr gesellig.« »Ich werd's ihm sagen«, versprach sie mit hochrotem Kopf. Sie trennten sich, und sie fuhr heimwärts. Unterwegs grübelte sie über Freds unverständliches Benehmen nach. Sie hatte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht erhascht, als er vorbeifuhr, und sie ahnte, daß er ihr Zusammensein mit Jim Stevens falsch auslegen würde. Da er bereits eifersüchtig war und Jim als Schürzenjäger ansah, würde es schwierig werden, ihm ihr unverhofftes Zusammentreffen auf dem Friedhof zu erklären. 113
In Moorgate machte sie sich gleich daran, das Abendessen vorzubereiten. Sie hoffte, Fred würde dieses eine Mal pünktlich sein, damit sie sich in aller Ruhe aussprechen konnten. Aber um halb sechs rief Fred an. »Ich bin in der Praxis«, erklärte er. »Und gleich muß ich nach St. Stephen. Ein Notfall. Es wird wahrscheinlich spät werden.« »Und ich habe so etwas Schönes gekocht«, jammerte sie. »Tut mir leid«, erwiderte er steif. »Warum bist du heute nachmittag so an uns vorbeigerauscht?« wollte sie wissen. »Einen Moment lang hättest du aus Höflichkeit wenigstens anhalten können.« »Ich wollte dich und deinen Freund nicht in Verlegenheit bringen«, kam die Antwort. »Du machst Witze«, gab sie ergrimmt zurück. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang unbeteiligt. »Du scheinst Jim ja ziemlich häufig zu sehen.« »Wir haben uns heute rein zufällig getroffen.« »Davon bin ich überzeugt«, spottete er. »Es stimmt, und durch dein Benehmen machst du dich nur lächerlich«, beschuldigte sie ihn. »Ich war in Eile. Es gibt keine Vorschrift, die besagt, daß ich anhalten mußte.« »Es gibt aber so etwas wie Höflichkeit.« »Offensichtlich lege ich nicht so viel Wert auf Etikette wie dein junger Freund, der Anwalt«, gab er bissig zurück. »Wenigstens brauche ich mir jetzt keine Sorgen mehr zu machen, daß du dich einsam fühlst, wenn ich nicht zu Hause bin.« Damit legte er auf. Mit einem Gefühl der tiefsten Verzweiflung legte sie den Hörer auf die Gabel zurück. Warum mußte Fred nur so eifersüchtig sein? Er hatte nicht den geringsten Grund dafür, und trotzdem konnte diese sinnlose Eifersucht ihre Ehe schwer belasten. Sie stand in der dämmrigen Diele und fragte sich, ob es die ungesunde Atmosphäre des Hauses war, die solch einen gefährlichen Einfluß auf Fred ausübte. Waren sie dazu verurteilt, Jennifers und Graham Woods' Schicksal nachzuvollziehen? 114
Das einsame Mahl wollte ihr nicht schmecken. Sie aß nur ein paar Happen und setzte sich dann mit einem Buch ins Wohnzimmer. Aber lesen konnte sie nicht. Ihre Gedanken Schweinen immer wieder ab. Und dann vernahm sie fernes Donnergrollen. Angst verkrampfte ihr Herz, und sie ließ das Buch in ihren Schoß sinken. Sekunden später erhellte ein Blitz die französischen Fenster, die auf den Garten gingen. Normalerweise fürchtete sie sich nicht vor einem Gewitter. Deshalb nahm sie ihr Buch wieder auf und versuchte krampfhaft, die aufkeimende Furcht zu unterdrücken. Sie zuckte zusammen, als der nächste Donnerschlag krachte. Ein gleißender Blitz zuckte über den Himmel. Dann öffneten sich die Wolken. Sie klappte das Buch endgültig zu. Sie wußte, daß sie doch nicht lesen konnte, solange das Gewitter anhielt. Sie saß auf der Couch in der Nähe der Tür, die auf die Diele hinausführte. Sie war sich unschlüssig, was sie tun sollte. Um sich aus dem Wohnzimmer fortzubewegen, fürchtete sie sich viel zu sehr. Auch wäre ihr kein anderer Raum in dem ganzen Haus eingefallen, in dem sie sich sicherer gefühlt hätte. Was sollte sie tun, wenn sich ein Hurrikan entwickelte? Aus Sicherheitsgründen in den Keller gehen? Aber vor dem Keller hatte Mrs. Stevens sie doch ausdrücklich gewarnt. Blitz und Donner folgten jetzt dicht aufeinander. Plötzlich riß ein zorniger Windstoß die Flügel des französischen Fensters auf, so daß die Vorhänge wie irrsinnig ins Zimmer flatterten. Sie stürzte auf das Fenster zu, um es zu schließen. Kaum hatte sie es erreicht, da zerriß ein gewaltiger Blitz den blauschwarzen Himmel. Und in diesem Augenblick sah sie es. Eine Phantomgestalt, die sich blaß und schemenhaft von den windgepeitschten Zweigen der Sträucher abhob. In der flüchtigen Helligkeit des Blitzes erkannte sie Jennifer, die neben dem alten Brunnen im Garten stand. Mit einem Aufschrei stieß sie die Fensterflügel zu und versperrte sie gegen den Sturm, der wütend an der Verriegelung zerrte. Zitternd lehnte sie sich gegen die Wand und bemühte sich, ihrer Erregung Herr zu werden. Dabei fiel ihr Blick wie zufällig auf das Portrait Graham Woods. Seine Lippen bewegten sich, als versuchten sie eine stumme 115
Botschaft zu formulieren. Sie redete sich ein, es seien nur ihre überreizten Nerven, die ihr einen Streich spielten. Aber sie konnte ihren Blick nicht von der unheimlichen Erscheinung abwenden. Während sie wie gebannt auf das Bildnis starrte, erlosch plötzlich das Licht. Vor Angst schreiend stolperte sie durch den Raum und tastete nach der Tür. Von einem animalischen Fluchtinstinkt besessen kannte sie nur einen Gedanken: sie mußte hier raus! Sie fand den Knauf der Haustür und riß sie weit auf. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, und im blendenden Widerschein erkannte sie am Fuß der Treppe die Frauengestalt, die ihr den Weg versperrte. »Nein!« kreischte sie und zuckte zurück. Durch das Heulen des Windes und das Prasseln der Regentropfen auf dem Kies hörte sie eine vertraute Stimme. »Keine Angst! Ich bin's nur, Sheila!« Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Sie hatte sich wieder gefangen und rannte die Treppe hinunter. »Das Licht ging plötzlich aus«, rief sie Sheila erklärend zu. »Ich weiß«, kam die Antwort. »Vater machte sich Sorgen um Sie. Er meinte, der Sturm könnte noch schlimmer werden und ich sollte Sie lieber zu uns herüberholen.« Lucy stand jetzt vor Sheila. »Danke, aber ich komme schon zurecht. Der unerwartete Stromausfall ließ mir die Nerven durchgehen.« Sheila nahm sie beim Arm. »Allein können Sie hier nicht bleiben. Kommen Sie mit mir nach Hause.« Sie zauderte. »Und was ist, wenn Fred zurückkommt.« »Ach was! Wahrscheinlich kommt er noch lange nicht zurück und wenn, dann wird er schon raten, daß Sie bei uns sind.« »Ich weiß nicht.« Lucy zögerte immer noch. Aber dann schien ein gewaltiger Blitz den Himmel aufzureißen, und es schüttete wie aus Eimern. Es war töricht, sich bis auf die Haut durchnässen zu lassen, und willig folgte sie Sheila zu deren Auto. Sekunden später lenkte Sheila den Wagen die abschüssige Straße hinunter. »Ich mußte den Umweg über die Landstraße machen«, er116
klärte sie. »Bei dem Unwetter wäre es zu gefährlich, durch den Wald zu laufen.« »Sie hätten sowieso zu Hause bleiben sollen.« »Vater bestand darauf«, gab Sheila zurück. »Und ich finde, er hat recht. Sie waren ja ganz aufgelöst, als ich zu Ihnen kam.« Zitternd vor Kälte und Nässe kauerte sich Lucy auf dem Sitz zusammen. Sie schämte sich, weil sie sich so hatte gehenlassen. »Im Moment war ich völlig kopflos«, gab sie zu. »Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein«, erwiderte Sheila von oben herab. »In einer Nacht wie heute würde ich nicht für Geld und gute Worte allein in Moorgate bleiben.« Der Sturm tobte immer noch, als sie vor dem Haus der Farleys anlangten: Nirgendwo brannte Licht. Der Stromausfall war total. Sie verließen das Auto und spurteten zur Eingangstür, die von einem aufgeregten Dienstmädchen, eine Kerze in der Hand, geöffnet wurde. »Ihr Vater wartet im Arbeitszimmer auf Sie«, sagte sie zu Sheila. »Danke.« Sheila drehte sich zu Lucy um. »Ich gehe mal voraus.« Lucy folgte ihr durch lange, finstere Korridore ins Arbeitszimmer. Ausgestreckt auf einem Sofa liegend erwartete Henry Farley sie. Auf einem Tisch sorgte ein Kandelaber mit drei Kerzen für flackerndes, unruhiges Licht. »Dann hat Sheila Sie also gefunden«, sagte er zur Begrüßung. »Ja«, erwiderte Lucy. »Es war sehr freundlich von Ihnen, an mich zu denken.« Der weißhaarige Mann setzte ein vielsagendes Lächeln auf. »In einer solchen Nacht muß man einfach an Moorgate denken.« »Zuerst wollte sie nicht mitkommen«, verkündete Sheila. »Sie hatte Angst, Fred könnte zurückkommen und das Haus leer vorfinden.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, meinte Henry Farley begütigend. »Ich bin mir immer noch im Zweifel, ob ich richtig gehandelt habe, so einfach fortzugehen«, sagte Lucy. »Ohne Strom und mit diesem Sturm, der sich ohne weiteres zu einem Hurrikan entwickeln kann, dürfen Sie nicht allein zu Hause bleiben«, 117
entschied der alte Mann. Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu: »Haben Sie auch kein Gespenst gesehen? Wenn die Elemente entfesselt sind, dann treiben auch die unglücklichen Geister ihr Unwesen.« Nach kurzem Zögern erwiderte sie: »Doch, ich habe etwas gesehen.« »Erzählen Sie!« »Ich glaube, es war Jennifer. Sie stand neben dem alten Brunnen.« Henry Farley drehte sich zu seiner Tochter um, die im Schatten stand. »Hörst du, Sheila? Glaubst du jetzt, daß es in Moorgate spukt?« »Das glaube ich erst, wenn ich mit meinen eigenen Augen ein Gespenst gesehen habe«, antwortete sie spöttisch. »Du besitzt eben nicht Lucys psychische Fähigkeiten«, gab ihr Vater zu bedenken. »Darauf kann ich verzichten.« Im flackernden Schein der Kerzen nahm Farleys Lächeln diabolische Züge an. »Als Sie heute nacht Jennifer sahen, hat Sie Ihnen da ein Zeichen gegeben?« »Nein. Sie stand einfach bei dem Brunnen. Sie bewegte sich nicht. Und ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen.« Sheila bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Wahrscheinlich war es eines unserer Dienstmädchen, das die Abkürzung durch den Wald genommen hat.« »Das ist nicht fair, Sheila«, tadelte Henry Farley seine Tochter. »Du verdirbst uns eine gute Gespenstergeschichte.« »Ich erkläre Lucy nur, wer ihr angeblicher Geist gewesen sein könnte«, gab Sheila unwillig zurück. »Ich finde, wir sollten sie in ihrer Angst nicht noch bestärken.« Lucy warf ihr einen nüchternen Blick zu. »Ich würde ja gern glauben, was Sie sagen, aber ich kann nicht. Es war keine irdische Gestalt, die ich sah.« Sheila zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, Sie genießen es auch noch, mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet zu sein.« »Ich dulde nicht, daß du Lucy maßregelst«, fiel Henry Farley ein. »Ich bin sicher, daß Lucy ihr Erlebnis nicht übertreibt. Ich für meinen Teil glaube ihr, daß sie ein Gespenst gesehen hat.« 118
»Weil es dir in deinen Kram paßt«, antwortete Sheila brüsk. Sie wandte sich ab und trat an das dunkle Fenster. Der alte Mann sagte: »Ich fange nämlich an zu glauben, daß ich selber auch Zugang zu übersinnlichen Phänomenen habe. Heute abend beschlich mich eine gewisse Vorahnung, was Ihnen in Moorgate passieren könnte. Deshalb drängte ich so darauf, daß Sheila Sie hierher brachte.« »Vielleicht hätte ich doch nicht mitkommen sollen«, überlegte sie kleinlaut. »Denken Sie nicht mehr darüber nach«, sagte Farley begütigend. »Sie können sicher sein, daß Fred Sie verstehen wird.« Kurz darauf sollte der alte Herr recht bekommen. Denn in einem Zustand höchster Erregung betrat Fred das Haus. Auf seinem Gesicht malte sich unverkennbar Erleichterung ab, sobald er Lucy im Arbeitszimmer des alten Farley sah. »Verzeihen Sie, daß ich hier so unangemeldet hereinplatze«, entschuldigte er sich bei dem alten Herrn. »Aber als ich nach Hause kam, die Tür verschlossen vorfand und Lucy weg war, da war ich vor Angst ganz außer mir.« »Ich bestand darauf, daß sie zu uns kam«, erklärte Henry Farley. Er lächelte Lucy zu. »Und ich muß schon sagen, Ihre junge Frau machte sich große Sorgen, ob Sie ihr Verhalten billigen würden. Sie hatte sich schon Vorwürfe gemacht, weil sie das Haus überhaupt verließ.« Fred wandte sich zu Lucy. »Du hast dich richtig verhalten.« »Sheila hat mich geholt«, sagte sie. Fred blickte zu der jungen Frau, die sich die meiste Zeit im Schatten aufhielt. »Das war sehr umsichtig von dir.« Sheila lächelte matt. »Es war Vaters Idee.« Fred sah betreten aus. »Nun, ich danke Ihnen beiden sehr.« Sie plauderten noch ein Weilchen, und schließlich kam auch das Licht zurück. Fred schlug vor, nach Moorgate zurückzufahren. Wie durch ein Wunder hatte sich der Sturm gelegt. Am samtschwarzen Himmel glänzten Sterne und ein blasser Mond. Beim Einsteigen in Freds Auto sagte sie: »Das Unwetter ging genauso schnell zurück, wie es gekommen war.« 119
»Ja«, antwortete er einsilbig. Er ließ den Motor an. »Ich war fast wahnsinnig vor Angst, als ich nach Moorgate kam und das Haus war leer.« »Das hatte ich befürchtet.« »Keine Sorge. Ich dachte mir gleich, du könntest nur bei den Farleys sein. Ich wurde also bald erlöst.« »Gott sei Dank.« Er sah schuldbewußt aus, wie er starr auf die Straße blickte. »Ich hatte diesen Schreck verdient. Ich habe mich heute sehr töricht benommen. Ich meine, was ich über dich und Jim gesagt habe.« Ihre Stimmung stieg. Sie sagte: »Ich hatte mich schon gewundert, daß du auf einmal so bissig warst.« »Gleich hinterher habe ich mich sehr geschämt«, beichtete er. »Irgend etwas kam plötzlich über mich. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Offenbar kann ich mich gar nicht dagegen wehren, auf Jim eifersüchtig zu sein.« »Dazu besteht nicht der geringste Anlaß.« »Das weiß ich ja.« Er schüttelte den Kopf. »Für mein Verhalten habe ich selbst keine Erklärung. Ich kann dich nur bitten, mir noch einmal zu verzeihen.« »Schon vergeben und vergessen«, lächelte sie. »Aber ich befürchte nur, daß es in diesem Stil weitergeht. Wo soll das enden, wenn du diese plötzlichen Eifersuchtsanfälle kriegst?« »Diese Anfälle kannst du als nichtig betrachten«, versicherte er. »Hattest du Angst allein im Haus, bevor Sheila dich holte?« »Ja.« Sie entschloß sich, die Einzelheiten auszulassen. Es war nichts gewonnen, wenn sie Fred von ihrem Erlebnis mit Jennifers Geist erzählte. Sie waren vor Moorgate angelangt. Fred stieg aus und öffnete ihr die Tür. Seite an Seite erstiegen sie die Treppe. Im Wohnzimmer brannte Licht, aber die weitläufige Diele lag im Dunkeln. Als sie eintraten, kam ein Strahl des Mondlichts so durch das Fenster, daß er genau auf Jennifers Portrait fiel. Abrupt blieb Fred stehen. Er starrte auf das Gesicht, das im fahlen 120
Mondlicht geisterhaft blaß wirkte. »Wie kommt das Bild hierher?« rief er aus. Lucy fühlte ihre Selbstsicherheit dahinschwinden. Mit dünner Stimme antwortete sie: »Ich hab's hierhingehängt.« »Weshalb?« »Ich hatte keinen besonderen Grund. Mir kam nur plötzlich der Einfall. Es ist ein schönes Bild.« Er stand in der schattigen Diele, und auf seinem jungen Gesicht malte sich Unmut ab. »Weißt du, was das bedeutet? Jeder, der hierherkommt, sieht auf den ersten Blick das Bild und wird Fragen stellen, ob es in dem Haus wirklich spukt und dergleichen Blödsinn mehr. Dieses Gerede will ich vermeiden.« »Hast du deshalb die Bilder in die Dachkammer verbannt? War das der Grund dafür?« »Was denn sonst.« »Dann laß die Leute ruhig Fragen stellen. Man kann sich von seiner Umwelt doch nicht so abhängig machen.« »Du verstehst nicht«, grollte er. »Ein Arzt ist aber von der guten Meinung seiner Umwelt abhängig.« »Wir wollen uns nicht darüber streiten«, erwiderte sie kläglich. »Für heute habe ich schon genug mitgemacht.« Sofort war er zum Einlenken bereit. »Entschuldige bitte, mein Herz. Wir werden uns ein andermal darüber unterhalten.« Ein Streit war vermieden worden. Kurz darauf gingen sie in ihr Schlafzimmer. Lucy fühlte sich, als balanciere sie über einem Abgrund. Die Situation war gespannter als jemals zuvor. Sie fragte sich, was als nächstes den Zorn ihres Mannes erregen würde. Sie lagen schon im Bett, und er war im Begriff, das Licht zu löschen, als er anfing, von seinem heutigen Tag zu erzählen. »Ich wurde zu einem Notfall nach St. Stephen gerufen. Ich kam gerade erst von dort zurück.« »Du arbeitest zu viel«, wandte sie ein. Von seinem Bett aus lächelte er ihr zu. »Heute früh habe ich mir selbst ein Geschenk gemacht. Ich habe ein Motorboot gekauft.« 121
Die Nachricht kam für sie als komplette Überraschung. »Ein Motorboot?« »Ja. Ich kann es zum Vergnügen und für Patientenbesuche benutzen. Viele meiner Patienten wohnen dicht bei der Küste. Für die hiesigen Ärzte war es immer üblich, Hausbesuche mit dem Boot zu machen. Das erspart einem Meilen Fahrerei über schlechte Straßen.« »Daran hatte ich nicht gedacht«, gab sie zu. »Hast du denn Ahnung, wie man mit einem Boot umgeht?« »Sie sind nicht schwer zu bedienen«, versicherte er. »Bevor ich anfing zu studieren, besaß ich auch mal eins. Das ist zwar schon eine Ewigkeit her, aber alles kann ich nicht vergessen haben.« »Das will ich auch hoffen.« »Wir werden viel Spaß damit bekommen«, prophezeite er. »Wir beide machen Ausflüge entlang der Küste, sooft ich mir ein paar Stunden freihalten kann.« »So oft wird das sicher nicht passieren.« »Jetzt, wo ich das Boot habe, werde ich mich um mehr Freizeit bemühen«, versprach er. »Freust du dich schon?« »Ich glaube ja«, antwortete sie lahm. »Leider bin ich nicht besonders seefest.« »Das kommt mit der Zeit«, meinte er zuversichtlich und löschte endgültig das Licht. Während sie in die Dunkelheit starrte und nicht einschlafen konnte, kamen die Gedanken. Es war eine sehr beunruhigende Vorstellung. Mit dem Besitz eines Bootes ähnelte ihre Situation immer mehr derjenigen von Jennifer und Graham Woods. Ein Boot hatte ihr tragisches Schicksal in einer Sturmnacht besiegelt. Jetzt besaßen wieder ein Arzt und seine Frau, die in Moorgate wohnten, ein Boot. War es eine Fügung des Schicksals? Trieben sie langsam auf einen dunklen Moment zu, von dem sie beide jetzt noch nichts ahnten? Am liebsten hätte sie Fred gestanden, daß die Neuigkeit von dem Boot ihr Angst machte. Sie wünschte sich, sie brächte den Mut auf, ihn zu bitten, es wieder zu verkaufen. Aber dieser Wunsch würde ihr nie über die Lippen kommen. 122
Mußte das alles so sein? Die dunklen Mächte des alten Hauses ergriffen Besitz von ihnen und wollten sie nicht wieder loslassen. Hilflos folgten sie den Spuren, die ein ungewisses Schicksal ihnen vorbestimmt hatte. Mit diesem beängstigenden Gedanken im Kopf schlummerte sie schließlich ein.
* Die folgenden Tage vergingen ruhig und ereignislos. In Moorgate fanden keine unheimlichen Ereignisse statt, und Lucy ertappte sich bei der Hoffnung, daß der Spuk vielleicht ein Ende gefunden hatte. Trotz Freds Kopfschütteln suchte sie systematisch in der Bibliothek und auf dem Dachboden, ob sie nicht vielleicht ein altes Tagebuch entdecken würde. Aber außer ein paar historisch interessanten Dingen fand sie nichts, was Aufschluß über Jennifers Tod hätte geben können. Mit Fred vertrug sie sich gut. Es war, als hätten sie eine Art Burgfrieden geschlossen. Ihr erster Ausflug mit seinem Boot war für sie allerdings ein eher beängstigendes Erlebnis. Sie hatte den Eindruck, daß er viel zuviel aus dem Motor herausholte und nicht genug auf die felsigen Riffs achtete, die heimtückisch unter der Wasseroberfläche verborgen lagen. Sie machte ihn darauf aufmerksam, daß das Boot im Fall einer Kollision sofort untergehen würde. Aber Fred war voller Begeisterung über seinen neuen Sport und schlug ihre Warnungen in den Wind. Er verstand nicht, warum sie sich fürchtete, in der Bucht von St. Andrews auf dem Wasser zu sein. Nach ihrem ersten Ausflug erfand sie ständig neue Ausreden, nicht mit ihm aufs Meer fahren zu müssen. Fred war nicht gerade erfreut über ihre ängstliche Zurückhaltung, aber er drängte sie auch nicht. Verschiedentlich nahm er Sheila mit, und Lucy mußte zugeben, daß das schwarzhaarige Mädchen eine echte Wasserratte war. Sheila ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Fred mit der Gemeinsamkeit ihrer Interessen zu beeindrucken. Dann schlug das Wetter um, und sie erlebten eine Folge naßkalter, trüber Tage. Damit einher ging für Lucy ein Stimmungsumschwung, 123
der sie nicht wenig belastete. Sie fühlte sich grundlos bedrückt und niedergeschlagen. An einem nebligen Vormittag kam Jim Stevens zu Besuch. Seit ihrem zufälligen Zusammentreffen auf dem Friedhof hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Zwar hatte sie sich vorgenommen, Freds wegen auf weitere Kontakte mit Jim zu verzichten, aber nun stand er vor der Tür, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn hereinzubitten. Er begrüßte sie mit seinem charmantesten Lächeln. »Zu dieser Tageszeit komme ich vielleicht ungelegen. Aber ich habe einen Fund gemacht, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.« »Was für einen Fund denn?« fragte sie interessiert. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Bei diesem feuchten Wetter tut etwas Heißes im Magen gut.« »Einen Kaffee könnte ich gut vertragen.« Sie bat ihn ins Wohnzimmer und ging in die Küche, um frischen Kaffee zu brühen. Als sie sich mit dem Tablett zu ihm gesellte, stand er vor dem französischen Fenster und blickte in den nebelverhangenen Garten. Sie setzten sich, und als sie ihm seine Tasse reichte, erkundigte sie sich nach seinem interessanten Fund. »Ach ja«, sagte er. »Eigentlich hat Mutter die Entdeckung gemacht. Wie Sie vielleicht wissen, sind wir von ihrer Seite her mit den Clays verwandt.« »Ja, das erwähnten Sie bereits«, stimmte Lucy zu. »Ich erzählte meiner Mutter von unserem Gespräch auf dem Friedhof«, fuhr Jim fort. »Und von Ihrer Ansicht, Graham Woods könnte unschuldig am Tod seiner Frau sein. Daraufhin durchsuchte Mutter sämtliche Dokumente, die von Seiten der Clays im Familienbesitz sind.« Lucy war voller Aufmerksamkeit. »Und dabei hat sie etwas gefunden?« »Ja«, sagte er und faßte in die Innentasche seines Jacketts. »Einen alten Brief, den damals ein Familienmitglied an Frank Clay schrieb. Der Briefschreiber war ein Händler im Ort und kannte sowohl Graham Woods als auch Frank Clay sehr gut.« 124
Er zog einen vergilbten Umschlag hervor, auf dem in verblaßter brauner Tinte die Adresse stand: »Dieser Brief wurde nach dem Hurrikan und nach dem Fund der beiden Leichen verfaßt. Wie es aussieht, war der Schreiber einer der Verwalter des Friedhofs, auf dem Graham Woods und seine Frau begraben liegen.« »Was steht in dem Brief?« fragte sie begierig. »Es ist ein sehr weitschweifiges Dokument«, erwiderte Jim. »Aber im großen und ganzen geht es um Frank Clays Bitte, auf Jennifers Grab einen Stein stellen zu dürfen. Aber zusätzlich wollte Clay noch einmeißeln lassen, daß Graham Woods den Tod seiner Frau verschuldet habe. Dieser Wunsch wird ihm in dem Brief glatt abgeschlagen.« Lucy nickte. »Das kann ich gut verstehen.« »Der Brief zeigt uns die geistige Verfassung, in der Frank Clay sich befunden haben mußte«, sprach Jim weiter. »Und der Schreiber befaßt sich auch mit der Frage nach dem Mord. Deshalb dachte ich mir, der Inhalt des Briefes könnte Sie interessieren.« Sie runzelte die Stirn. »Ist der Briefschreiber auch der Ansicht, daß Jennifer von ihrem Mann umgebracht wurde?« »Leider ja«, erwiderte Jim. »Er führt eine Szene zwischen Graham Woods und Jennifer an, die sich in einem Kleidergeschäft abgespielt haben muß. Angeblich hat er sie dort angeschrien, er wäre es leid, Geld auszugeben, damit sie sich für Frank Clay schön machte.« »Das braucht nichts zu bedeuten«, protestierte sie. »Es war eine taktlose Bemerkung, aber deshalb bringt ein Mann seine Frau doch nicht, gleich um.« »Das ist aber noch nicht alles«, fuhr Jim fort. »Der Schreiber schildert außerdem einen Auftritt, den Dr. Woods mit dem Betreiber eines Mietstalls hatte. Er schreibt, nach einem Wortwechsel hätte sich der Arzt auf den Mann gestürzt und hätte ihn erwürgt, wäre er nicht von anderen zurückgehalten worden. Dr. Woods wird als ein unbeherrschter, jähzorniger Mann beschrieben, trotz der Qualitäten als Arzt, die er zweifelsohne hatte.« »Das beweist aber immer noch nicht, daß er seine Frau tötete«, erwiderte sie hartnäckig. 125
»Natürlich nicht«, gab Jim zu. »Aber der Bericht sagt immerhin, daß er zu Gewalttätigkeiten neigte.« Sie runzelte die Stirn. Jim fuhr fort: »Der Verfasser des Briefes neigt ebenfalls der Ansicht zu, daß Dr. Woods seine Frau auf dem Gewissen hatte. Aber er findet, es sei nichts dabei gewonnen, diesen Umstand schriftlich auf einem Grabstein festzuhalten. Und wie Sie selbst gesehen haben, ist dies auch nicht geschehen.« »Ein interessanter Fund«, meinte Lucy und blickte auf das Schriftstück, das Jim aus dem Umschlag gezogen hatte. »Aber ich kann dennoch nicht finden, daß er ein neues Licht auf den Fall wirft.« »Als Anwalt muß ich da widersprechen. Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung noch, wenn Sie den Brief selbst gelesen haben. Aus erster Hand ist der Eindruck viel stärker. Der Brief zeigt deutlich auf, daß Frank Clay mit seiner Annahme nicht allein stand.« Lucy sagte: »Aber der Brief wurde doch einige Zeit nach dem Ereignis geschrieben. Und nachdem Frank Clay seine Meinung im ganzen Ort schon verbreitet hatte.« »Dieses Schreiben basiert noch auf anderen Tatsachen als auf Frank Clays Anschuldigungen«, argumentierte Jim. »Der Verfasser scheint ein Mann von gesundem und ausgewogenem Urteilsvermögen gewesen zu sein. Der Zweck des Briefes ist, Frank Clay von seinem Vorhaben, Dr. Woods' Schuld schriftlich zu fixieren, abzuhalten. Das weist den Mann als einen verantwortungsvollen Charakter aus.« »Darüber will ich nicht streiten«, erwiderte sie. »Ich bleibe nur dabei, daß Frank Clay seine Theorie über den Mord und den anschließenden Unfall durch Ertrinken gut verkauft hat.« Er bedachte sie mit einem resignierten Blick. »Mit anderen Worten, Sie lassen sich nicht überzeugen.« »Stimmt genau.« »Den Brief sollten Sie trotzdem lesen«, sagte er und reichte ihr das Schriftstück. Danach erhob er sich. Sie war ebenfalls aufgestanden. »Sie wollen das wertvolle Dokument sicher bald zurückhaben.« 126
»Mutter wird den Brief gern behalten wollen«, stimmte er zu. »Aber zu beeilen brauchen Sie sich nicht. Zeigen Sie auch Fred den Brief. Ich weiß zwar, daß er sich für den alten Kram nicht interessiert, aber immerhin betrifft der Inhalt auch Moorgate.« »Ich werde dafür sorgen, daß er den Brief liest«, versprach sie. Sie brachte ihn zur Tür. Gerade als er in sein Auto steigen wollte, erschien Sheila Farley auf der Zufahrt. Allem Anschein nach war sie über die Abkürzung nach Moorgate gekommen. Jim unterhielt sich kurz mit ihr, winkte Lucy noch einmal zu und brauste davon. Sheila kam die Treppe hoch. »Ich wußte nicht, daß Sie Besuch hatten.« »Unverhofften Besuch«, beeilte Lucy sich zu sagen. »Er kam ohne Anmeldung.« Das dunkelhaarige Mädchen lächelte verständnisvoll. »So sind wir hier in St. Andrews. Formalitäten werden klein geschrieben. Ich kam hierher, um Fred eine Nachricht zu hinterlassen. Heute nachmittag wollten wir mit dem Boot raus. Aber es ist zu neblig, deshalb fahre ich nach Saint John. Ich habe dort für Vater etwas zu erledigen.« »Ich richte es Fred aus, sobald er anruft«, versprach Lucy. »Aber manchmal höre ich den ganzen Tag lang nichts von ihm.« »Es muß ziemlich eintönig für Sie sein.« »Bleiben Sie doch auf eine Tasse Kaffee hier«, lud Lucy das Mädchen ein. »Er ist bereits fertig. Ich machte welchen für Jim und mich.« »Gern«, entgegnete Sheila und ging mit Lucy ins Haus. Während sie im Wohnzimmer ihren Kaffee tranken, erklärte Lucy, weshalb Jim sie aufgesucht hatte. Sie zeigte Sheila sogar den Brief. Sie konnte sich gut vorstellen, daß Sheila Fred von ihrem Besucher erzählen würde, und sie wollte keine Mißverständnisse aufkommen lassen. Sheila zeigte weder für die Erklärung noch für das alte Schriftstück Interesse. Sie sagte: »Ja, ja, ich weiß, daß Jim sich sehr für die Geschichte von St. Andrews interessiert. Er ist ein charmanter Bursche, finden Sie nicht auch?« »Ich mag ihn«, antwortete Lucy lakonisch. »Er und Fred hingen früher andauernd zusammen«, fuhr Sheila fort. 127
»Aber in der letzten Zeit scheinen sie nicht mehr viel miteinander zu tun zu haben. Woran das wohl liegen mag?« »Keine Ahnung.« »Nun, Freundschaften verlaufen oft im Sand«, meinte Sheila mit wissendem Lächeln. »Sie fangen erst ganz dick an, und auf einmal hören sie auf. Hier in St. Andrews scheint das besonders häufig zu passieren.« »Ich bin noch nicht lange genug hier, um mir ein Urteil bilden zu können«, wandte Lucy ein. »Das werden Sie noch schnell genug merken«, prophezeite Sheila. »Wie liefen die Dinge denn letztlich in Moorgate? Vater interessiert sich dafür.« »In der letzten Zeit ist nichts Besonderes vorgekommen«, erwiderte Lucy ruhig. »Wie schön. Vater ist der Überzeugung, daß Sie psychisch begabt sind. Ich habe das Gefühl, er erwartet von Ihnen, daß Sie für ihn die Geisterwelt erforschen. In der letzten Zeit beschäftigt er sich viel zu sehr mit dem Tod. Aber in seinem Alter ist das wohl nichts Ungewöhnliches.« Lucy ging Sheilas oberflächliches Geschwätz auf die Nerven. Sie verspürte den dringenden Wunsch, allein zu sein. Außerdem wollte sie sich unbedingt dem Brief widmen, den Jim ihr zurückgelassen hatte. Endlich, zu ihrer größten Erleichterung, erhob sich Sheila, um zu gehen. An der Haustür ermahnte sie Lucy noch einmal, Fred ihre Nachricht zu übermitteln. Dann schlug sie den Pfad durch den Wald ein. Unverzüglich setzte sich Lucy ins Wohnzimmer zurück und begann, den Brief zu lesen. Die Handschrift war zierlich und vor Alter verblaßt, und die Sätze klangen geschraubt und langatmig. Aber der Inhalt bestätigte, was Jim gesagt hatte. Der Verfasser des Briefes kannte Dr. Woods gut und teilte mit Frank Clay die Ansicht, daß er seine Frau auf dem Gewissen hatte. Seufzend legte sie den Brief zur Seite und blickte forschend auf das Portrait des längst verstorbenen Arztes. Das empfindsame, feingeschnittene Gesicht kam ihr nicht wie das eines Mörders vor. Aber wer konnte schon sagen, wie ein Mörder auszusehen hatte? 128
Kurz nach eins rief Fred vom St. Stephen Hospital aus an. Er wollte ihr nur sagen, daß er nicht zum Mittagessen zu Hause sein würde. »Sheila war hier und erzählte mir von eurem geplanten Bootsausflug heute nachmittag. Sie meinte, es sei zu neblig. Sie fährt statt dessen nach Saint John.« »Das weiß ich bereits«, erwiderte er reichlich schroff. »Sie konnte mich telefonisch hier erreichen. Du hattest also Besuch heute vormittag?« Lucy fühlte Panik in sich aufsteigen. Dazu ohnmächtige Wut. Sheila hatte also keine Zeit verloren, Fred von Jims Besuch zu erzählen. Mit gepreßter Stimme antwortete sie: »Jim kam ganz kurz vorbei, um mir einen Brief zu zeigen, den seine Mutter gefunden hatte. Er ließ ihn zurück, damit du ihn auch lesen kannst.« »Wie rücksichtsvoll von ihm«, erwiderte Fred. »Nur schade, daß er seinen Besuch nicht so einrichten konnte, daß er mich zu Hause angetroffen hätte.« »Du bist doch kaum noch zu Hause«, antwortete sie bitter. »Das stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Aber du scheinst dich auch ohne mich gut zu unterhalten.« Ohne ein weiteres Wort legte er auf. Lucy fühlte sich unverstanden und deprimiert. Wieder einmal war Freds Laune in diese verbissene, eifersüchtige Stimmung umgeschlagen. Keine Frage, daß dieses Mal Sheila dafür verantwortlich war. Sie hatte dafür gesorgt, daß er von Jims Besuch zuerst von ihr erfuhr. Sheila gab immer noch nicht auf, Fred für sich zu gewinnen. Und manchmal wollte es Lucy so vorkommen, als würden ihre Anstrengungen eines Tages von Erfolg gekrönt. Als nächstes wählte Lucy Dr. Boyces Nummer. Es war eine fast mechanische Handlung. Als er an den Apparat kam, fragte sie: »Darf ich kurz zu Ihnen herüberkommen?« »Selbstverständlich«, antwortete er freundlich wie immer. »Kommen Sie gleich, wenn Sie wollen.« Sie eilte die Treppen hinauf und zog sich ein warmes Wollkostüm an, darüber einen Regenmantel, und dann war sie zum Aufbruch be129
reit. Ihr kam der Einfall, den Brief, den Jim ihr zurückgelassen hatte, mitzunehmen. Mit dem Brief in der Hand rannte sie die Treppe hinunter. In dem Moment, als sie unten in der Diele angekommen war, hörte sie ein Geräusch, als sei unten im Keller ein schwerer Gegenstand gefallen. Vor Schreck blieb sie sekundenlang mit angehaltenem Atem stehen. Dann überlegte sie, was passiert sein konnte. Nach Mrs. Stevens' Warnung hatte sie sich gehütet, in den Keller hinunterzugehen. Aber jetzt war sie doch unschlüssig, was zu tun war. Womöglich hatte sich ein schweres Teil vom Heizungssystem gelöst und war zu Boden gefallen. Das durfte nicht vernachlässigt werden. Nach kurzem Zögern schritt sie durch die schattige Halle zur Tür, die in den Keller führte. Sie öffnete sie, und sofort schlug ihr ein dumpfer, modriger Geruch entgegen. Sie tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn. Danach stieg sie vorsichtig die steile Kellertreppe hinab. Nackte Glühbirnen in Fassungen, die in die roh verputzte Kellerdecke eingelassen waren, spendeten ein trübes Licht. Überrascht stellte sie fest, daß der Fußboden aus Holzplanken anstatt aus Stein oder Lehm bestand. Vermutlich war das Haus auf Muttergestein gebaut und die Dielen hatte man gelegt, um Unebenheiten auszugleichen. Außer dem steten Summen der Ölheizung lastete eine absolute Stille in dem Gewölbe. Es war eine unterirdische, schattenhafte Welt, wo jeder Gegenstand nur undeutlich zu erkennen war. Langsam bewegte sie sich auf die Stelle zu, woher der Laut gekommen sein konnte. Dann sah sie, was das dumpfe Krachen verursacht hatte. Gegen die Wand hatte man Holzscheite für den Kamin gestapelt, und einige von ihnen waren heruntergefallen. Aber wieso? Das Holz war sorgfältig gestapelt und ineinander verkeilt. Warum waren die obersten Scheite zu Boden gepurzelt? Angstvoll blickte sie in dem schattigen Gewölbe um sich. Ihr kam ein neuer, erschreckender Gedanke. Hatte jemand absichtlich das Holz hinunterfallen lassen? Ihr Blick heftete sich auf die verstreuten Birkenscheite, und sie überlegte krampfhaft, ob vielleicht ein Eindringling sie hinuntergelockt hatte und ihr jetzt irgendwo in dem Halbdunkel 130
auflauerte. Bis zur Treppe war es ein langer Weg. Blitzartig wurde ihr klar, daß sie sich unvernünftig verhalten hatte, allein hier hinunterzukommen. Panik übermannte sie. Den Brief immer noch in der Hand, fing sie an zu rennen und stürmte auf die rettende Treppe zu. Weit kam sie nicht. Ein schwerer Schlag traf sie ins Kreuz, und mit einem Aufschrei stürzte sie auf den rauhen Dielenfußboden. Schluchzend vor Angst raffte Lucy sich auf und suchte als erstes nach dem Brief, der ihr aus der Hand gefallen war. Sie konnte ihn nirgendwo finden. Es war anzunehmen, daß er zwischen die Ritzen der Dielen gerutscht war. Sie war nicht in der Stimmung, eine längere Suche anzustellen. Sie hetzte die steile Treppe hoch und schöpfte erst wieder Atem, als sie oben angekommen war. Sie beruhigte sich wieder, als sie sicher in ihrem Auto und unterwegs zu Dr. Boyce war. Erst jetzt kam sie dazu, sich über den verlorengegangenen Brief Sorgen zu machen. Jim würde sich über den Verlust ärgern. Es war nachlässig von ihr gewesen, ihn in der Hand zu halten. Alles wäre ja gutgegangen, wenn sie nicht zu Fall gekommen wäre. Aber was hatte ihren Sturz verursacht? Sie war vollkommen perplex. Es gab nur eine Möglichkeit: in dem Keller mußte sich außer ihr noch ein Wesen befunden haben. Durch dessen Einfluß war sie gestolpert und gestürzt, so daß ihr der Brief aus der Hand gefallen war. Eine erschreckende Vorstellung. Es ließ den Schluß zu, daß irgend jemand oder irgend etwas sie absichtlich in den Keller gelockt hatte. Die Geister der Vergangenheit wollten nicht, daß dieser Brief existierte und hatten zugesehen, daß er verschwand. Sie zitterte immer noch, als Dr. Boyce sie in sein Arbeitszimmer führte. »Sie sehen krank aus«, begrüßte er sie mit ernster Miene. »Was ist passiert?« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Ich bin sicher, daß ich gerade wieder eine Begegnung mit einem Geist hatte.« Sein rundes, glänzendes Gesicht zeigte Überraschung. »Schon wieder?« 131
»Ja.« »Erzählen Sie.« Sie schilderte den Vorfall und schloß mit den Worten: »Ich bin davon überzeugt, daß irgendeine übersinnliche Macht in Moorgate den Brief zerstört haben will. Und auf diese Weise ist es dann passiert.« Der ältere Herr wiegte den Kopf. »So wie Sie es darstellen, hört es sich an, als gäbe es wirklich Gespenster in Moorgate.« »Das stimmt auch«, beharrte sie. »Ich weiß ganz genau, daß ich nicht gestolpert bin, sondern etwas hat mir einen Stoß zwischen die Schulterblätter versetzt.« »Es wird schwierig sein, das Fred oder jemand anderem zu beweisen.« Sie warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. »Und was soll ich Jim sagen? Er wird mir nie verzeihen, daß ich diesen Brief verloren habe. Seine Mutter hing an dem Schriftstück.« »Man könnte eventuell an der Stelle die Dielenbretter herausreißen«, überlegte Dr. Boyce. »Sie scheinen ja sicher zu sein, daß der Brief in eine Spalte gerutscht ist.« »Eine andere Möglichkeit gibt es wohl nicht. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß der Brief auch wiedergefunden wird.« Dr. Boyce stieß einen Seufzer aus. »Und Fred war also böse, weil Jim Ihnen den Brief nach Hause gebracht hatte?« »Ja. Das habe ich Sheila zu verdanken.« »Sie versucht, einen Keil zwischen Sie und Fred zu treiben. Aber das war ja zu erwarten«, entgegnete der alte Arzt. Lucy nickte verbittert. »In der letzten Zeit streiten wir uns überhaupt sehr häufig. Das fing mit unserem Einzug in Moorgate an.« »Aber vorher waren Sie auch noch nicht verheiratet«, gab Dr. Boyce zu bedenken. »Vielleicht passen Sie doch nicht so gut zusammen, wie es Ihnen vor Ihrer Ehe vorkam.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie zögernd. »Ich habe eher den Eindruck, als würde eine Macht von außen unsere Handlungen bestimmen. Von mir weiß ich es ganz bestimmt, daß ich manchmal Züge einer anderen Person annehme, die mir vollkommen fremd ist.« 132
Er hob die Augenbrauen. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie gegen Ihren Willen etwas tun, nur weil irgendwelche geheimnisvollen Mächte Sie von außen dazu zwingen?« »Ja.« Sie nickte. »Genauso kommt es mir manchmal vor.« »Aber bis jetzt ist doch noch nichts Schlimmes passiert, oder?« Sie warf ihm einen verlorenen Blick zu. »Ich habe das Gefühl, als führte alles unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu. Die bösen Geister wollen uns dazu zwingen, die Gewalttat von damals zu wiederholen. Wenn wir dem keinen Widerstand entgegenbringen, dann könnte es damit enden, daß Fred mich eines Tages erwürgt.« Dr. Boyce machte ein bestürztes Gesicht. »Das ist ja eine ungeheuerliche Feststellung, die Sie da machen!« »Aber es könnte so kommen«, beharrte sie. »Es wird eine Tragödie geben, wenn nicht vorher etwas getan wird, um diesen bösen Einfluß aus unserem Leben zu verbannen.« Der alte Mann nickte bedächtig. »Ich wollte mit Fred sprechen, aber er hört nicht auf mich.« »Ich weiß«, erwiderte Lucy. »Im Augenblick läßt er keine andere Meinung gelten außer seiner. Er steht vollkommen im Bann einer bösen Macht.« Der alte Arzt betrachtete sie aus besorgten Augen. »Sind Sie immer noch der Ansicht, daß Graham Woods am Tode seiner Frau unschuldig war?« »Ja«, erwiderte sie fest. »Und das ist der Grund, weshalb Frank Clays böser Geist immer noch am Werk ist. Genau deshalb findet Jennifer in ihrem Grab keine Ruhe. Frank Clay macht seinen bösen Einfluß geltend, um zu bewirken, daß in unserer Zeit eine treue Ehefrau ermordet wird. Er will, daß es passiert, damit seine falsche Aussage von damals sich nach hundert Jahren bewahrheitet.« »Wenn es tatsächlich Gespenster geben sollte«, erwiderte Dr. Boyce gedehnt, »dann kann ich Ihrer Theorie aber nicht zustimmen.« »Was meinen Sie damit?« »Sie nehmen an, daß Graham Woods Jennifer nicht tötete. Ich für meine Person bin da eher anderer Ansicht. Der Brief, den Sie von Jim 133
erhielten, ist für mich Beweis genug. Dazu kommt die merkwürdige Art und Weise, wie er verlorengegangen ist.« Sie runzelte die Stirn. »Was hat das denn damit zu tun?« »Passen Sie auf.« Dr. Boyce beugte sich vor. »Sie haben doch immer behauptet, Graham Woods Geist würde sich nicht blicken lassen.« »Das stimmt auch.« »Ich sage Ihnen, daß Sie sich irren. Ich sage, daß es sein böser Geist war und nicht der von Frank Clay, der Sie heute im Keller zu Fall brachte. Denn es kommt doch nur ihm zugute, wenn der belastende Brief verschwindet.«
* Dr. Boyces Feststellung hörte sich überzeugend an. Mit dünner Stimme fragte Lucy: »Dann glauben Sie also, daß Graham Woods seine Frau ermordete.« »Das nehme ich an. Ja.« »Er tötete also Jennifer, und aus diesem Grunde entwendete er mir den Brief. Er wollte das Beweismittel gegen sich vernichten.« »Vorausgesetzt, Dire Geistergeschichten stimmen, so scheint es mir die einzig logische Erklärung zu sein«, gab Dr. Boyce zurück. »Das paßt mir ganz und gar nicht.« »Das kann ich verstehen«, erwiderte er freundlich. »Sie sind eine romantisch veranlagte junge Frau. Sie hätten sich einen positiveren Ausgang gewünscht.« »Ich wünschte, ich hätte nie einen Fuß in Moorgate gesetzt«, entgegnete sie bitter. »Mir und Fred hat dieses Haus nichts als Kummer gebracht.« Dr. Boyce nickte. »Ein Einheimischer, der die dunkle Geschichte des Hauses kannte, hätte Moorgate niemals gekauft.« »Henry Farley gab es uns, weil er sich in seinem Alter für das Übernatürliche interessiert. Als Versuchskaninchen kamen wir ihm gerade zupaß.« »Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Sie unter allen Umstän134
den in Moorgate wohnen bleiben sollten«, meinte Dr. Boyce. »Ziehen Sie aus und vergessen Sie alles, was Sie dort gesehen oder erlebt haben. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mit Fred darüber reden. Dieses Mal muß er mir einfach zuhören. Vielleicht sollten Sie beide am besten ganz aus St. Andrews fortgehen.« Sie warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Dann würde mich die Erinnerung an Jennifer mein Leben lang verfolgen.« »Hat diese Geschichte Sie mittlerweile so in ihren Bann geschlagen?« Lucy nickte. »Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich sie zu ihren Lebzeiten persönlich gekannt. Als wäre sie meine Freundin gewesen.« »Sehr sonderbar.« Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Könnte es sein, daß die Lösung des Rätsels auf der Pfarrersinsel zu finden ist?« »Meinen Sie, in Frank Clays Haus?« »Ja. Seit seinem Tod hat niemand mehr darin gewohnt. Es könnte sehr gut möglich sein, daß dort noch alte Briefe oder Dokumente existieren, die Aufschluß darüber geben, was in jener Sturmnacht damals wirklich geschah.« »Jim Stevens behauptet, das Haus sei gewissenhaft durchsucht worden.« »Dennoch mag etwas Wichtiges übersehen worden sein«, gab er zu bedenken. »Sie sollten einmal mit Jim darüber sprechen und ihn veranlassen, das Haus ein zweites Mal gründlich zu durchforsten.« »Ich werd's mir überlegen.« Sie stand auf. »Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten.« »Überhaupt nicht«, antwortete er und erhob sich gleichfalls. »Ich finde es faszinierend, was Sie mir erzählt haben. Ich bin genauso begierig, das Geheimnis zu lösen, wie Sie.« Lucy lächelte. »Sie waren mir eine große Hilfe.« »Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.« »Allein, daß Sie mir unvoreingenommen zuhören, bedeutet mir schon sehr viel«, versicherte sie. »Vielleicht bilde ich mir über Frank Clay schon Sachen ein. Aber aus irgendeinem Grund behagt er mir nicht. Ich verspüre eine böse Macht, wenn ich nur seinen Namen ausspreche.« 135
»Dennoch befinden Sie sich über ihn wahrscheinlich im Irrtum.« »Es sieht ganz so aus«, gab sie zu. Der alte Herr begleitete sie bis an das Auto. Bevor sie abfuhr, schärfte er ihr noch ein: »Als allererstes versuchen Sie, Ihre Differenzen mit Fred beizulegen. Das ist Ihr wichtigstes Problem. Es besteht nicht der geringste Grund, warum Sie nicht wieder ein glücklich verheiratetes Paar werden sollten.« Zwar getröstet, aber mit dem Gefühl, nicht viel klüger geworden zu sein, fuhr Lucy heimwärts. Der Nebel hatte sich ein bißchen gehoben, dafür setzte nun ein unangenehmer Nieselregen ein. Sie hatte die Stadt bereits hinter sich gelassen und war unterwegs nach Moorgate, als sie wieder eine jener plötzlichen Zwangsvorstellungen bekam. Wie von selbst drosselte sie das Tempo, wendete den Wagen und bog in die Straße ein, die zum Meer führte. Am Ufer angekommen sah sie, daß die Ebbe eingesetzt hatte. Die Insel mit dem Haus darauf war im Nebel nicht zu sehen. Aber die schmale Sandbank, die die Verbindung bildete, lag hoch aus dem Wasser. Ohne eine Sekunde zu zögern lenkte sie das Auto darauf zu. Sie hatte keine Ahnung, wann die Ebbe eingesetzt hatte und wann die Flut zurückkommen würde, und machte sich merkwürdigerweise auch keine Gedanken darüber. Auf der Insel ließ sie den Wagen am Strand stehen und schlug den Pfad zum Haus ein. Hier mitten im Meer war der Nebel viel dichter als auf dem Festland. Vor dem Haus blieb sie stehen und studierte die Fassade. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß versperrt. Dann ging sie zur Rückseite des Hauses. Sie wußte immer noch nicht, was für ein unerklärlicher Impuls sie getrieben hatte, allein auf die Insel zu fahren. Auch die Hintertür war durch ein schweres Schloß gesichert. Vor dem einzigen Fenster, das nicht mit Brettern zugenagelt war, blieb sie stehen. Ein umgestülpter hölzerner Eimer gab eine wunderbare Stufe ab. Sie stieg hinauf und versuchte, ob das Fenster sich hochschieben ließ. Un136
ter ihrem leichten Druck gab es so bereitwillig nach, daß sie bereits mißtrauisch wurde. Es kam ihr so vor, als sei das Schiebefenster in der letzten Zeit häufig benutzt worden. Aber die Möglichkeit, in das Innere des Hauses einzudringen, ließ sie alle Vorsicht in den Wind schlagen. Das Schiebefenster war so eingerichtet, daß es in der jeweils gewünschten Stellung blieb. Jetzt verbreiterte sie die Öffnung so, daß sie sich hindurchzwängen konnte, wenn sie sich mit den Händen am Fensterbrett abstemmte. In einer Art Vorratskammer fand Lucy sich wieder. Durch die geöffnete Tür konnte sie in die Küche blicken. Ein riesiger, eiserner Herd hätte das Herz eines jeden Antiquitätensammlers höher schlagen lassen. Nachdem sie ihren Rock von Staub und Spinnweben gesäubert hatte, betrat sie mit zögernden Schritten die Küche. Der Raum lag im tiefen Schatten, und sie beschlich ein Gefühl der Angst. Allein hierherzukommen war ein großes Wagnis gewesen. Einmal hatte sie schon Frank Clays Geist zwischen den Rosensträuchern gesehen. Was war, wenn er ihr noch einmal erschien und sie womöglich angriff? Aber die Gelegenheit, mehr über ihn und das schreckliche Verbrechen zu erfahren, konnte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Und zaghaft, dabei alle Sinne angespannt, bewegte sie sich durch das düstere Haus. Sie kam ins Wohnzimmer und stellte fest, daß die Wände vollkommen nackt waren. Nirgendwo sah sie ein einziges Bild. Wie weiße Ungeheuer wirkten die mit Leintüchern abgedeckten Möbel. Von dort aus führte der Weg in die Bibliothek. Zwei Seiten bestanden ganz aus Bücherregalen, und die beiden anderen Wände wiesen eine reichverzierte Holztäfelung auf. Am hinteren Ende der Bibliothek stand ein Schreibtisch, ähnlich dem, den Fred für Moorgate gekauft hatte. Unschlüssig starrte sie auf das Möbel. Und dann, urplötzlich, wußte sie, daß sie nicht allein im Haus war. Mit ihr war eine zweite Gestalt in dem Zimmer, in dem die Schatten sich zu verdichten schienen. Sie hörte das Knarren des Dielenfußbodens, und ein modriger, eiskalter Lufthauch traf ihre Wange. 137
Ehe sie sich umdrehen konnte, stand der Angreifer schon hinter ihr. Starke Hände legten sich um ihre Kehle. Sie wollte schreien und versuchte verzweifelt, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Die ganze Zeit über konnte sie ihren Angreifer nicht sehen. Sie wußte nicht, ob es ein Geist war oder ein Mensch aus Fleisch und Blut. Vor Atemnot geschwächt, sank sie in die Knie. Ein schwarzer Vorhang zog sich vor ihr zusammen. Als sie die Augen wieder aufschlug, war es im Zimmer noch dunkler als zuvor. Ihre Sicht klärte sich, und sie entdeckte die Konturen einer Gestalt, die sich unheimlich vor dem helleren Türviereck abhob. Das Phantom hatte lange, wirre Haare und einen struppigen Bart. Der Kopf lag leicht schräg, und die Gestalt schien sie zu beobachten. Lucy stützte sich auf ihren Ellenbogen und schrie voller Angst und Verzweiflung auf. In diesem Augenblick verschwand die Vision. Jetzt war der Türrahmen leer, aber sie war sich sicher, daß noch den Bruchteil einer Sekunde zuvor dort jemand gestanden hatte. Mühsam raffte sie sich auf. Dir erster Gedanke war, dieses Haus und die Insel auf schnellstem Wege zu verlassen. Es hatte keinen Sinn, Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Dir nächster Gedanke galt der Sandbank und wieviel Zeit seit ihrer Ankunft wohl verstrichen sein mochte. Hoffentlich hatte die Flut mittlerweile nicht eingesetzt. Bei der Vorstellung an diese Möglichkeit geriet sie in Panik. Es würde bedeuten, daß sie auf der Insel gefangen war. Hastig verließ sie die Bibliothek und tastete sich zu ihrem einzigen Fluchtweg vor: dem Schiebefenster. Jeden Augenblick erwartete sie, ein zweites Mal von der Schreckensgestalt angegriffen zu werden, die dieses Haus bewohnte. Aber ungehindert kletterte sie aus dem Haus und befand sich nun wieder mitten im feuchten, dichter werdenden Nebel. Dir Herz hämmerte vor Angst. Sie wußte, daß sie nirgendwo auf der Insel sicher war. Ein plötzlicher Wind war aufgekommen und blies heftig vom offenen Ozean her. Von einer hohen Düne aus sah sie die kabbelige See, die der Wind zu wütenden, weißschäumenden Wellen aufpeitschte. Und sie sah noch etwas. Etwas, das ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. 138
Wie sie schon befürchtet hatte, stand die Sandbank, die einzige Verbindung zum Festland, völlig unter Wasser! Die Flut war zurückgekommen und hatte sie zur Gefangenen auf der Insel gemacht. Die gesamte Bucht war eine einzige wild wogende Wasserfläche. Sie würde hierbleiben müssen, bis die Ebbe wieder einsetzte. In heller Verzweiflung stolperte sie die Düne hinunter zu ihrem Auto. Jetzt trennten nur wenige Meter Strand das Auto von den aufgewühlten Wassermassen. Lucy blieb stehen und fror in dem Nieselregen, den ihr ein heftiger Wind ins Gesicht blies. Der Nebel lag immer noch so dick über dem Wasser, daß sie das Festland sehen konnte. Was sollte sie tun? Angstvoll blickte sie zurück. In Frank Clays Haus fühlte sie sich nicht sicher genug. Nicht nach dem, was ihr dort passiert war. Ihre einzige Möglichkeit war, sich ins Auto zu setzen und stundenlang zu warten, bis die Flut zurückging. Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, öffnete sie die Tür und setzte sich in den Wagen. Niedergeschlagen kauerte sie sich hinter dem Lenkrad zusammen. Was würde Fred denken, wenn er nach Hause kam und sie nirgends finden konnte. Der Regen klatschte jetzt in großen Tropfen gegen die Scheiben. Der Wind pfiff immer stärker und schien sich zu einem Hurrikan entwickeln zu wollen. Um sich etwas an der Heizung wärmen zu können, stellte sie den Motor an. Gleichzeitig drehte sie an dem Knopf für das Radio. Sie bekam gerade noch die Wettervorhersage mit, die mit den Worten endete: »Mit einem Hurrikan ist in dieser Gegend nicht zu rechnen. Allerdings überqueren die Ausläufer des tropischen Wirbelsturms Alice in der Nacht das Land und verursachen heftige Regenfälle. Der Wind kann zeitweise Sturmstärke erreichen.« Der Ankündigung folgte plärrende Pop-Musik, und sie schaltete das Radio ab. Die Wettervorhersage klang nicht gerade günstig. Dies war kein normaler Wetterumschwung, sondern die Ausläufer eines Wirbelsturms. Böen zerrten bereits an der Karosserie des Autos. Sie schloß ihre Augen und versuchte, das Toben der entfesselten Natur zu ignorieren. Sie mußte lange so dagesessen haben, denn beinahe wäre sie einge139
nickt. Ein Pochen gegen das Autofenster ließ sie hochschrecken. Sie schrie auf vor Angst, als sie draußen verschwommen ein Gesicht sah und eine Hand, die immer wieder gegen das Glas hämmerte. »Lucy«, hörte sie eine Stimme durch das Jaulen des Sturms. Sie blickte näher hin und erkannte, daß die Gestalt draußen Fred war. Aufatmend beugte sie sich über den Beifahrersitz und öffnete ihm die Tür. Eilig zwängte er sich in das Auto. Seine Kleidung triefte vor Nässe, und das Haar klebte in tropfenden Strähnen an der Stirn. Er schloß die Tür und drehte sich zu ihr. »Lucy, alles in Ordnung?« »Ja«, sagte sie glücklich. »Jetzt geht es mir wieder gut. Wie bist du bloß hierhergekommen?« »Mit dem Boot.« »Natürlich, das Boot«, rief sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das hatte ich ganz vergessen.« »Einfach war die Überfahrt nicht«, gab er ergrimmt zurück. »Das kann ich mir vorstellen. Woher weißt du überhaupt, daß ich hier bin? Ich hatte mit niemand darüber gesprochen.« »Ich rief alle möglichen Leute an, und Dr. Boyce sagte mir, ihr zwei hättet über die Insel gesprochen. Dann fuhr ich zur Tankstelle und fragte nach, ob sie deinen Wagen gesehen hätten. Einer der Angestellten hatte mitbekommen, wie du in die Straße zur Pfarrersinsel abgebogen bist. Den Rest konnte ich mir selber zusammenreimen.« »Ich hätte nicht allein hierherkommen dürfen.« Er runzelte die Stirn. »Warum bist du denn so lange geblieben?« »Ich kam hierher, um nach Dokumenten zu suchen, die irgend etwas über die Beziehung zwischen Jennifer und Frank Clay aussagen könnte.« »Das hätte ich mir denken können. Aber du hast kein Recht, in das Haus einzudringen.« »Das weiß ich«, erwiderte sie reumütig. »Aber ich fand ein Fenster, das sich öffnen ließ und stieg ein.« »Und dann?« 140
»Ich ging in die Bibliothek. Und während ich mich dort aufhielt, begegnete ich einem Gespenst. Ich bin mir ganz sicher, Fred.« Sie sah den mißbilligenden Ausdruck auf seinem Gesicht. »Und weiter?« forderte er sie auf. »Er griff mich an und würgte mich.« »Genau wie in der Legende.« »Ich weiß. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, war viel Zeit vergangen.« »Hast du ungefähr eine Ahnung, wie lange du ohnmächtig warst?« »Nein. Aber als ich wieder zu mir kam, war es beinahe dunkel. Und als ich aufblickte, sah ich jemanden in der Tür stehen.« »Das Gespenst?« fragte er mit zweifelnder Miene. »Vermutlich. Es war eine Gestalt mit langen, verfilzten Haaren und einem struppigen Bart. Als ich schrie, verschwand die Erscheinung plötzlich.« »Das hilft uns auch nicht weiter«, seufzte Fred. »Warum mußtest du nur hierherfahren?« »Irgend etwas trieb mich einfach dazu.« »Was hatte Jim Stevens eigentlich heute bei dir zu suchen? Unter welchem Vorwand kam er denn diesmal wieder angeschlichen?« »Er hatte einen Brief für mich«, antwortete sie. »Hat Sheila dir nichts davon erzählt?« Fred sah unbehaglich aus. »Laß Sheila aus dem Spiel.« »Weshalb?« gab sie leicht verärgert zurück. »Fred brachte mir einen Brief, der seiner Mutter gehört. Der Brief erhärtet den Verdacht, daß Graham Woods seine Frau ermordete.« »Ich dachte, das sei längst klar.« »Aber ich kann es einfach nicht glauben«, entgegnete sie hartnäckig. Dann erzählte sie ihm von dem Vorfall im Keller und daß irgendeine geheimnisvolle Macht sie dazu getrieben hatte, auf die Insel zu fahren und nach Beweisen für Graham Woods Unschuld zu suchen. »Eine phantastische Geschichte«, kommentierte Fred trocken. »Und sieh nur, in welche Gefahr sie dich gebracht hat. Hörst du, wie der Sturm heult?« 141
»Es sind die Ausläufer eines Wirbelsturms. Ich habe den Wetterbericht gehört.« Er beugte sich zu ihr und zog sie in seine Arme. »Deinetwegen sitzen wir ja schön in der Klemme.« »Du bist auch schuld«, gab sie zurück. »Du mit deiner Eifersucht auf Jim. Manchmal kriege ich richtig Angst.« Fred sah beschämt aus. »Es tut mir leid. Jim ist mir jetzt vollkommen egal. Ich habe nur den Wunsch, dich sicher wieder aufs Festland zu bringen.« Sie streichelte ihm zärtlich sein nasses Haar. »Jetzt, wo du bei mir bist, habe ich überhaupt keine Angst mehr, Fred. Ich liebe dich.« »Und ich liebe dich«, beteuerte er. »Weißt du, ich glaube manchmal, in Moorgate liegt irgend etwas in der Luft, was uns veranlaßt, dauernd zu streiten.« »Das ist das Böse«, sagte sie. »Es wirft einen Fluch auf jeden, der in dem alten Haus wohnt. Die unglücklichen Geister finden keine Ruhe und stören die Lebenden.« »Wenn wir diese Nacht überleben, dann verlassen wir Moorgate gleich morgen auf der Stelle!« schwor er. »Ich weiß nicht, ob das die Lösung ist«, gab sie zögernd zurück. »Die bösen Geister haben uns in ihren Bann geschlagen, und wir werden erst unseren Frieden finden, wenn wir ihnen ihre Ruhe zurückgeben können.« »Und wie sollen wir das anstellen?« »Das weiß ich auch nicht«, gab sie unglücklich zu. »Die Suche nach diesem Geheimnis hat mich auf diese Insel gebracht.« Der Wagen schwankte in einer kräftigen Sturmbö, und der Regen klatschte gegen die Scheiben. Fred hielt Lucy in seinen Armen und küßte sie. Einen Augenblick lang konnte sie die drohende Gefahr vergessen. Dann sagte er: »Irgendwie müssen wir von der Insel verschwinden.« »Wie lange dauert es wohl noch, bis die Flut zurückgeht?« »Das kann ich nicht sagen. Der Sturm drückt das Wasser aus dem offenen Ozean in die Bucht. Es kann Tage dauern, bis die Zufahrt wieder frei ist. So lange können wir nicht warten.« 142
»Was dann?« »Wir könnten das Boot nehmen.« »Wo ist es?« »Ich habe es unten an der Mole vertäut. Hoffentlich ist es überhaupt noch da. Aber ich glaube, ich habe es gut festgemacht.« Sie schauderte. »Du weißt doch, wie sehr ich mich jetzt auf dem Wasser fürchten würde.« »Hier im Auto können wir nicht bleiben. Es ist zu gefährlich.« »Es wäre noch viel gefährlicher, in diesem Sturm die Überfahrt zu wagen«, wandte sie ein. »Das Boot ist klein, aber seetüchtig«, erwiderte er. »Wir müssen es wagen.« Ein schrecklicher Gedanke ergriff von ihr Besitz. Mit angstgeweiteten Augen sah sie zu Fred auf. »Wenn wir versuchen, im Boot das Festland zu erreichen, dann werden wir kentern und ertrinken. Ich weiß es ganz genau!« »Wie kommst du darauf?« »Es ist unser vorgezeichnetes Schicksal. Die bösen Geister von Moorgate haben es für uns bestimmt. Wir sollen hier draußen ertrinken!« Er schüttelte seinen Kopf. »Quatsch!« Sein Griff um ihren Arm wurde härter. »Hör mir einmal gut zu«, sagte er eindringlich. »Du mußt mir jetzt gehorchen. Steig aus dem Auto und komm mit mir zum Boot. Ich bringe dich sicher aufs Festland zurück.« »Bitte, Fred!« flehte sie. »Bitten nützt dir jetzt gar nichts«, erwiderte er knapp. Gleichzeitig drückte er gewaltsam die Tür gegen den Sturm auf und zwängte sich hinaus. An den Armen zog er die sich sträubende Lucy hinaus in den eisigen Wind und den prasselnden Regen. Er knipste die Taschenlampe an. »Die Mole ist dort drüben«, schrie er ihr ins Ohr. Sie lehnte sich gegen ihn, um vom Sturm nicht von den Füßen geweht zu werden. Er legte seinen Arm um sie, und gemeinsam stolperten sie zu der Stelle, wo er das Boot zurückgelassen hatte. Sie spürte 143
förmlich, wie jeder Schritt sie näher an den Tod heranbrachte. Niemals würden sie in diesem Sturm die Überfahrt zum Festland schaffen. Sie betete, Fred würde es sich im letzten Augenblick noch anders überlegen. Gleichzeitig wußte sie, daß sie sich im Bann eines unentrinnbaren Schicksals befanden. Es waren Kräfte am Werk, die stärker waren als sie. Die bösen Geister von Moorgate wollten es so, daß sie das Boot nahmen und ertranken. Sie konnte sich die Geschichten vorstellen, die man später über sie erzählen würde. Es war die Tragödie von Graham und Jennifer Woods in moderner Fassung. Nur waren dieses Mal die Hauptakteure sie selbst, Fred und Jim. Fred suchte die Umgebung mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe ab. »Ich kann die Mole nicht finden«, brüllte er, um das Heulen des Sturms zu übertönen. »Laß uns zurückgehen!« schrie sie. »Nein!« Seine Stimme klang unerbittlich. Sie wußte, daß es zwecklos war, ihn umzustimmen. Der Wind verschluckte ohnehin fast jedes Wort, das gesprochen wurde. Verzweifelt stolperte sie neben ihm her, während er unermüdlich den Strand nach dem Boot absuchte. Unvermittelt blieb er stehen. Im Lichtkegel der Taschenlampe sah sie jetzt die Umrisse der Mole. Die Wellen brausten und schäumten gegen die schwarzen Steine. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck betrachtete Fred das Schauspiel. Das Boot war fort!
* »Was jetzt?« schrie Lucy. Ihr Haar flatterte wie verrückt im Wind. »Zurück zum Auto!« brüllte Fred. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ins Haus!« Wortlos nickte er. Den Arm um sie gelegt, schlugen sie den Weg in Richtung Haus ein. Sie war gleichzeitig erleichtert und erschrocken. Einerseits war es ein glücklicher Zufall, daß das Boot sich von seiner Vertäuung los144
gerissen hatte. Sie war immer noch davon überzeugt, daß die Überfahrt in dieser kochenden See ihr sicherer Tod gewesen wäre. Was allerdings in dem düsteren, unheimlichen Haus auf sie wartete, war ungewiß. Es dauerte eine Weile, bis sie das Haus erreichten. Die hohen Bäume, die es umgaben, schwankten in den Böen wie junge Bäumchen. Ein Fensterladen hatte sich gelöst und schepperte wie irrsinnig gegen die Mauer. Sie führte Fred um das Haus herum zu dem Fenster, das sich mühelos aufschieben ließ. Erst half er ihr hinein, dann kletterte er nach. In dem massiv gebauten alten Haus war das Jaulen des Windes nur gedämpft zu hören. Durchnäßt und frierend standen sie in der Dunkelheit, aber sie wußten, daß sie die sicherste Lösung gefunden hatten. »In der Küche gibt es einen Herd und einen Kamin«, sagte sie. »Vielleicht finden wir Holz und trockene Streichhölzer.« »Wir wollen sehen«, erwiderte Fred. Im Schein der Taschenlampe durchforschte er die Küche. »In der Bibliothek gibt es ebenfalls einen Kamin«, fuhr sie fort. »Der Raum ist kleiner und ist vielleicht besser zu heizen.« »Wir wollen es versuchen«, entgegnete er. Sie bewegten sich durch die dunkle Diele. Unter ihren Schritten stöhnte und knarrte das alte Haus. In der Bibliothek fiel der Lichtkegel der Taschenlampe auf den Kamin und enthüllte ein paar mächtige Holzscheite. »Mal sehen. Hoffentlich schaffen wir es, ein Feuer anzuzünden«, meinte Fred. Mit Hilfe von altem Zeitungspapier gelang es ihm, die Scheite zum Brennen zu bringen. Fred richtete sich aus seiner knienden Stellung auf und sagte: »Wenn wir das Feuer in Gang halten können, dann trocknen vielleicht sogar unsere Kleider. Viel Holz haben wir ja leider nicht.« Er nickte und blickte sich in dem Raum um. »Das war also Frank Clays Studierzimmer. Und hier hat dich dieses Phantom angegriffen?« »Ja. Es war nicht das erste Mal, daß ich auf der Insel einem Geist begegnete. Bei unserem ersten Ausflug hierhin sah ich Frank Clay zwi145
schen den Rosensträuchern. In seinem langen Mantel und mit dem Biberhut, genauso, wie du ihn mir beschrieben hattest.« Freds Mund war eine schmale Linie. »Warum hast du mir das nicht schon eher gesagt?« »Ich wollte uns den schönen Tag nicht verderben. Du hättest mir ja doch nicht geglaubt.« »Dann hast du es also die ganze Zeit lang für dich behalten?« »Jemandem mußte ich es erzählen. Ich sprach mit Dr. Boyce darüber.« »Und was sagte er?« »Er glaubt, ich sei mit besonderen paranormalen Fähigkeiten ausgestattet. Ich sei empfänglicher für übersinnliche Dinge als andere Menschen. So ähnlich, wie es bei einem spiritistischen Medium der Fall ist.« »An solchen Hokuspokus werde ich nie glauben«, gab er verächtlich zurück. Mit flehenden Blicken sah sie ihn an. »Nur weil wir gewisse Dinge nicht verstehen, brauchen wir noch nicht ihre Existenz abzustreiten.« Eine besonders starke Windbö rüttelte an dem Haus und brachte das Feuer im Kamin zum Qualmen. Der Regen prasselte wie ein Trommelfeuer gegen die Fenster. »Ich mache mich jetzt auf die Suche nach mehr Holz und Kerzen«, sagte Fred. »Du bleibst hier beim Feuer.« »Allein bleibe ich nicht hier. Dazu habe ich viel zuviel Angst«, erklärte sie und wollte mitgehen. »Du mußt aber«, drängte er. »Es wäre viel gefährlicher, wenn du mit mir durch das dunkle Haus wandertest. Außerdem hat du es hier hell und warm.« »Gut. Aber beeil dich«, bat sie ihn. Sie kauerte sich vor die brennenden Scheite. Trotz der Wärme, die das Feuer abstrahlte, fror sie bis ins Mark. Einen Augenblick lang schienen die züngelnden Flammen sich zu Jennifers Gesicht zu formieren. Ehe sie genau hinsehen konnte, war die Vision verschwunden. 146
Von der Diele hörte sie Schritte. Sie fuhr herum, aber es war nur Fred. Er trug ein paar Holzscheite und zwei Kerzen. »Das wird genügen, um uns die Nacht über warm zu halten«, sagte er und ließ die Scheite vor dem Kamin zu Boden poltern. »Zum Glück habe ich diese Kerzen gefunden.« Eine davon steckte er in einen Leuchter und zündete sie an. »Und du hast nichts Unheimliches gesehen?« fragte sie ängstlich. »Nein. Und du?« »Auch nicht. Aber ich hatte schreckliche Angst, während du fort warst.« Er kniete mit ihr vor dem Kamin. Er betrachtete sie mit zärtlichen Blicken und sagte: »Ich glaube, du läßt deine Phantasie mit dir durchgehen. Du siehst Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht existieren.« »Und was ist mit dem Geist, der mich heute nachmittag hier angriff und würgte?« »Das könnte ein hysterischer Anfall gewesen sein, der durch übergroße Furcht erzeugt wurde«, erklärte er. »In der Medizin kennen wir solche Fälle. Menschen sind davon überzeugt, jemand hätte sie angegriffen, dabei ist alles nur ein Produkt einer Angst, mit der sie nicht fertig werden.« »Die Erklärung ist mir zu einfach«, wandte sie ein. »Ich habe Dinge gesehen und erlebt, die man nicht so einfach als Einbildung abtun kann.« »Du hast eine blühende Phantasie«, meinte er. Aber ihr entging nicht, wie er stirnrunzelnd seine Blicke durch den Raum schweifen ließ. »Wenn du mich fragst, dann haust hier kein Geist, sondern eher ein menschliches Wesen.« »Wie kommst du darauf?« »Als ich durch das Haus wanderte, ist mir Verschiedenes aufgefallen«, fuhr er fort. »Zigarettenasche zum Beispiel, die noch gar nicht so alt sein kann. Zeitungen neueren Datums. Und was das Wichtigste ist: mehrmals bin ich auf Zigarettenkippen getreten.« »Vielleicht hat Mr. Farley eine Aufwartefrau eingestellt, die gelegentlich nach dem Rechten sieht«, überlegte sie. 147
»Hoffentlich hast du recht.« »Etwas anderes kann es gar nicht sein«, bekräftigte sie. »Diese Insel wäre das ideale Versteck für jemanden, der für eine Zeitlang verschwinden will. Jemand, der von der Polizei gesucht wird zum Beispiel«, bemerkte Fred. Nervös blickte sie zur Tür hin, in der ihr die unheimliche Gestalt erschienen war. Fred seufzte auf, als der Sturm erneut an den Fensterläden rüttelte. »Es hört sich an, als würde es die ganze Nacht über so wehen.« »Vor morgen früh können wir sowieso nicht von hier weg«, meinte sie. »Sogar wenn die Sandbank über Wasser sein sollte, wäre es zu gefährlich, sie im Dunkeln zu befahren.« »Wenn das Hochwasser nicht fällt, dann kann es noch lange dauern, bis wir hier wegkommen«, entgegnete er. Ihre Augen weiteten sich. »Und was werden die Leute denken, wo wir abgeblieben sind?« »Man wird annehmen, wir seien ertrunken«, meinte Fred. »Vor allen Dingen, wenn man mein Boot findet.« »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht!« »Wenn der Nebel sich lichtet, dann kann man uns vom Festland aus vielleicht sehen. Dein Auto wird man auf alle Fälle entdecken«, beruhigte er sie. Fred machte ihr vor dem Feuer ein Lager aus alten Wolldecken zurecht. »Ich bin froh, daß das Boot sich losgerissen hat«, sagte sie schläfrig. »Ich weiß genau, wir wären ertrunken, wenn wir uns aufs Wasser gewagt hätten.« Fred gab keine Antwort, und sie war zu müde, um ein Gespräch in Gang zu halten. Sie starrte auf die Kerzenflamme, die in einem leichten Luftzug hin und her flackerte. Dann fielen ihr die Augen zu. Als sie aufwachte, wußte sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Es war immer noch dunkel. Das Feuer war zu einem Häufchen Glut zusammengesunken. Es war kalt im Zimmer. Das einzige Licht im Raum ging von der fast niedergebrannten Kerze im Ständer aus. Lucy war im Begriff, Fred zu wecken und ihn auf das verlöschen148
de Feuer aufmerksam zu machen, da sah sie die schattenhafte Figur. Es war derselbe unheimliche Mann, den sie in der Tür gesehen hatte. Lautlos bewegte er sich auf sie zu. Um Fred zu warnen, stieß sie einen wilden Schrei aus. Im selben Augenblick krümmte sich die Gestalt wie eine Katze und sprang auf Fred zu. Er war gerade noch rechtzeitig wachgeworden, um den Angriff abzuwehren. Entsetzt mußte Lucy mit ansehen, wie die beiden Männer auf dem Boden miteinander kämpften. Der Mann sprang auf und rannte zur Tür. Aber Fred war schneller. Er holte ihn ein und versetzte ihm einen Fausthieb, daß er gegen die Wand taumelte. Langsam sackte die Gestalt in sich zusammen. Keuchend stand Fred über seinem bewußtlosen Angreifer. Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er zu Lucy: »Dein Gespenst scheint mir sehr menschliche Formen zu haben.« Sie kam herüber und starrte auf den ausgestreckt am Boden liegenden Mann. »Was glaubst du, wer er ist?« »Vermutlich jemand, der mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist und sich auf der Insel vor der Polizei versteckt. Seit diese Geistergeschichten kursieren, kommt ja niemand mehr hierher. Das Haus bietet einen idealen Unterschlupf.« »Warum hat er dich angegriffen?« überlegte sie. »Vermutlich wollte er uns berauben«, meinte Fred und strich sich das Haar aus der Stirn. Er schnitt die Schnüre der Fenstervorhänge ab und fesselte den Mann. Mittlerweile war er wieder zu sich gekommen und starrte mit glasigen Augen um sich. Aber er sprach kein Wort. Fred wandte sich an Lucy. »Eine langweilige Nacht war das bestimmt nicht.« »Ich wünschte, sie wäre zu Ende.« Er zeigte auf das Fenster. »Bald ist es soweit. Im Osten geht schon die Sonne auf. Und der Sturm hat sich auch gelegt.« Fred machte sich an der alten Pumpe zu schaffen, und sie tranken jeder einen Schluck klaren, kühlen Wassers. Er brachte auch ihrem schweigenden Gefangenen einen Becher voll. 149
Als die Dämmerung durch die geschlossenen Läden in die Bibliothek sickerte, entdeckte Fred, daß die Holztäfelung an der Stelle, an der sein Widersacher mit dem Kopf aufschlug, gesplittert war. Ein Loch in der Wand zeugte von dem nächtlichen Kampf. Fred untersuchte den Schaden und faßte mit der Hand in die Öffnung. Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« Sofort war sie bei ihm. »Was denn?« »Eine Minute«, sagte er. Seine Finger förderten eine eiserne Kassette mit einem kräftig aussehenden Schloß zutage. »Eine Art Safe«, sagte er. »Ich bin sicher, die Kassette gehörte Frank Clay.« »Und hundert Jahre lang hat sie in diesem Geheimfach hinter der Holzverkleidung gelegen«, staunte Lucy. Frank warf einen Blick auf den Mann, der gefesselt gegen die Wand gelehnt saß. »Und sie würde immer noch da liegen, wenn unser Freund uns heute nacht nicht überrascht hätte.« »Was mag wohl in der Kassette sein?« rätselte Lucy. »Das werden wir erst zu Hause erfahren«, erwiderte er. »Hier kann ich sie nicht öffnen.« Am frühen Vormittag marschierte sie mit Fred zum Strand. Es war Ebbe, und die Sandbank lag hoch über Wasser. Sie konnte ihr eigenes Glück kaum fassen. Erfreut wandte sie sich an Fred: »Jetzt können wir gleich nach Hause fahren.« Sein Blick war auf das gegenüberliegende Festland geheftet. »Ich glaube, zuerst mal kriegen wir Besuch. Ein Polizeiauto ist auf dem Weg zu uns.« Sie warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Herr des Himmels. Und ich sehe aus wie eine Vogelscheuche.« Fred lächelte nachsichtig. »Mach dir darüber keine Gedanken. Sie werden froh sein, daß wir überhaupt noch am Leben sind.« Wie sich herausstellte, hatte er recht gehabt. Das Boot war ans Festland getrieben worden, und man hatte angenommen, sie seien ertrunken. Sobald sie sich überzeugt hatten, daß Fred und Lucy wohlauf waren, wandten die beiden Polizisten ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, den Fred gefesselt im Haus zurückgelassen hatte. Sie erkannten in 150
ihm einen Sträfling, der aus dem Gefängnis in St. Stephen ausgebrochen war, und nahmen ihn gleich mit. Als sie fort waren, sagte Fred zu Lucy: »Wir fahren auch sofort nach Moorgate. Ich rufe dann im Krankenhaus an und sage ihnen, daß ich heute nicht kommen kann.« »Das solltest du auch tun«, bekräftigte sie. »Wir brauchen beide Zeit, um uns von diesem Abenteuer zu erholen. Im übrigen platze ich vor Neugier, was in der Kassette ist.« »Immer mit der Ruhe«, wehrte er mit einer Geduld ab, die sie ganz kribbelig machte. In Moorgate entledigten sie sich als erstes ihrer klammen Kleidung und nahmen ein heißes Bad. Während Fred telefonierte, machte Lucy ein kräftiges Frühstück zurecht. Nach dem Essen, bei der zweiten Kanne Kaffee, brachte sie die Sprache erneut auf die Kassette. »Ich warte«, sagte sie. Er betrachtete das eiserne Kästchen, das auf einem Bord in der Küche stand. »Du bist ja mächtig neugierig.« »Dazu habe ich auch allen Grund. Vielleicht enthält sie etwas, was meine Meinung bestätigt.« »Um sie aufzumachen, muß ich aber das Schloß aufbrechen«, gab er zu bedenken. »Eigentlich ist die Kassette das Eigentum von Henry Farley. Ihm gehört das Haus mit allem Drum und Dran.« »Die Kassette gehört Mrs. Stevens«, widersprach sie. »Schließlich war Frank Clay ihr Verwandter. Und sie hat nichts dagegen, wenn wir die Kassette öffnen, das weiß ich ganz bestimmt. Sie ist an dem Fall genauso interessiert wie ich.« Fred war umgestimmt. Sie stand dicht neben ihm, während er mit Werkzeug das Schloß aufstemmte. Im Kästchen lagen ein paar vergilbte, amtlich aussehende Dokumente. Außerdem ein dicker Umschlag, der mit Wachs fest versiegelt war. Fred nahm den Umschlag heraus. »Er ist an einen Jarvis Clay adressiert.« »Wahrscheinlich irgendein Verwandter«, antwortete sie voller Ungeduld. »Mach bitte auf.« 151
Mit Augen, die vor Staunen immer größer wurden, überflog Fred den Inhalt des Briefes. Als er ihr das Stück Papier überreichte, trug sein Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck. »Es wird dich interessieren«, war sein einziger Kommentar. Mit zitternden Händen nahm sie den Brief entgegen. Bedächtig fing sie an zu lesen. Die Botschaft lautete folgendermaßen: »Mein lieber Cousin Jarvis Clay! Seit vielen Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, Dir von einem Vorfall zu berichten, der mein Gewissen schwer belastet. Viele Male griff ich zur Feder, schreckte aber jedesmal bei der Vorstellung zurück, welche Konsequenzen die Enthüllung für meine Person bedeuten könnte. Also schob ich mein Anliegen ständig vor mir her. Jetzt bin ich ein alter Mann und der Tod holt mich bald zu sich. Deshalb trage ich Sorge, die Angelegenheit schriftlich niederzulegen. Ob Du diese Botschaft jemals zu Gesicht bekommen wirst oder nicht, hängt von meinem Entschluß in der Sterbestunde ab. Dieser Brief wird versiegelt in einem Geheimfach in meiner Bibliothek aufbewahrt werden. Wenn Du ihn finden sollst, gebe ich meinem Notar die genaue Stelle bekannt. Sollte ich mich anders entscheiden, bleibt der Brief bis in alle Ewigkeit den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Und vielleicht ist es so das beste. Was ich zu schreiben habe, handelt von Dr. Graham Woods und seiner Ehefrau Jennifer. Wie du dich erinnern wirst, habe ich diese Frau über alle Maßen geliebt. Und ich wurde wiedergeliebt. Ich wähnte mich in der Überzeugung, sie würde ihren Mann verlassen und mein Weib werden. Aber es kam anders. Die Sage geht, daß Woods unser Liebesverhältnis entdeckte und in seinem maßlosen Zorn Jennifer erdrosselte. Danach soll er sie in sein Boot geschleppt haben, um im tosenden Sturm die Leiche zu versenken. Ich war es damals, der den Suchtrupp anführte und als erster die Beschuldigung aussprach, Woods habe seine Frau ermordet. Bis hierhin ist Dir dieser gräßliche Vorfall selber bekannt. Nun 152
will ich mit Tatsachen aufwarten, die Dir fremd sein müssen. Graham Woods ist unschuldig am Tode Jennifers. Ich selbst habe sie erwürgt. In jener Sturmnacht suchte ich sie auf, um mit ihr über einen Brief zu sprechen, den sie mir geschickt hatte. Als ich ankam, benahm sie sich mir gegenüber mit merklicher Kühle. Sie teilte mir mit, daß sie ihren Gatten immer noch liebe und daß unsere Beziehung zu Ende sein müsse. Sie war nicht bereit, meinetwegen ihre Ehe aufzulösen. Unser Streit nahm immer heftigere Formen an. Und plötzlich fühlte ich ihren weichen Hals unter meinen Fingern. In einem Anfall rasender Wut erdrosselte ich sie. Dann, dem Wahnsinn nahe, fuhr ich mit meiner Kutsche auf die Insel zurück. Ich wollte dort sein, ehe das steigende Wasser und der auffrischende Wind die Sandbank unpassierbar machten. Meiner Mutter gegenüber heuchelte ich Ausgeglichenheit und Gleichmut. Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich entdeckte, daß ich einen silbernen Anhänger mit meinen Initialen darauf von meiner Taschenuhr verloren hatte. Jennifer mußte ihn bei ihrem verzweifelten Kampf um ihr Leben von der Kette gerissen haben. Ich war sicher, als ihr Mörder gehängt zu werden. Aber das Schicksal wollte es anders. Als der Sturm sich gelegt hatte, erhielt ich Nachricht vom Festland, man habe Dr. Woods Pferd in einem Stau in der Nähe des Hafens gefunden. Alle Anzeichen sprächen dafür, daß er in seinem Boot trotz des Sturms aufgebrochen sei, vermutlich um einen schwerkranken Patienten zu besuchen. Das gekenterte Boot war bereits angetrieben worden, und man bat mich, einen Suchtrupp nach Dr. Woods' Leiche anzuführen. Ich war aufgeregt und erleichtert zugleich. Mit einem Schlag wurde mir klar, daß sich alles noch zum Guten wenden konnte. Dr. Woods mußte nach Hause gekommen sein und hatte seine Frau erwürgt vorgefunden. Dabei entdeckte er den Silberanhänger mit den Initialen und schloß, daß nur ich der Mörder sein konnte. Die Rache hatte er in seine eigenen Hände genommen. In 153
seiner Kutsche transportierte er Jennifers Leiche zum Hafen, legte sie in das Boot und brachte das Pferd in einen Stall. Danach bestieg er selber das Boot, in der Absicht, mich auf meiner Insel zu stellen und sich für den Mord an seiner Frau zu rächen. Wahrscheinlich wollte er mich erschlagen. Aber er sollte die Insel nie erreichen. Das Boot kenterte, und er ertrank. Ich führte den Suchtrupp an, und es dauerte nicht lange, bis wir die beiden Leichen auf der Sandbank fanden. Ich richtete es so ein, daß ich als erster bei den Toten war. Eine rasche Durchsuchung der Taschen Dr. Woods' förderte meinen Silberanhänger zutage. Ich nahm ihn an mich, ohne daß meine Begleiter es gemerkt hätten. Danach verbreitete ich das Gerücht, Graham Woods selbst hätte seine Frau getötet. Die Würgemale an ihrem Hals verlangten nach einer Erklärung. Und nachdem das Schicksal so milde mit mir verfahren war, sah ich keinen Grund, meine Schuld einzugestehen. Dennoch erlebte ich Stunden düsterer Qual, in denen mein Gewissen mich peinigte. Ich werde mich vor einem höheren Richter zu verantworten haben. Ergebenst Dein Cousin Frank.« Lucy rang nach Luft. »Er wollte nicht, daß der Brief gefunden wird. Deshalb spukte er nach seinem Tod auf der Insel. Und Jennifers guter Geist beeinflußte mich, nachzusuchen, damit der Name ihres Mannes reingewaschen wird.« »Wenn du es so auffaßt«, murmelte Fred zweifelnd. »Jedenfalls müssen wir das Schriftstück den Behörden zugänglich machen.« »Natürlich. Und nach so langer Zeit wird man Frank Clay schuldig sprechen«, erwiderte sie. »Unter diesen Umständen macht es mir nichts aus, weiter in Moorgate wohnen zu bleiben.« Fred warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Aber denk daran, es bleibt ein Haus, in dem ein Mord geschehen ist. Vielleicht läßt sich der Spuk gar nicht mehr vertreiben.« 154
»Das glaube ich nicht«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Ich kann förmlich spüren, wie die Atmosphäre sich in dem Haus wandelt. Es kommt mir auf einmal alles viel heller und freundlicher vor.« Sie sollte recht behalten. Von der Zeit an gab es keine unheimlichen Vorkommnisse mehr in Moorgate und auf der Pfarrersinsel. Sheila merkte bald, daß es aussichtslos für sie war, Fred für sich zu gewinnen. Sie verließ St. Andrews und zog nach New York. Jim Stevens machte sich daran, ein Buch über die Familie Clay zu schreiben. Jennifers Portrait behielt seinen Ehrenplatz in der Diele von Moorgate. Und wenn Fred und Lucy in mondhellen Nächten das Haus betraten, schien sie ihnen zuzulächeln. An einem dieser Abende sagte Lucy zu Fred: »Siehst du nicht auch, daß sie jetzt ihren Seelenfrieden hat? Mit den Jahren ist sie immer schöner geworden.« Fred nickte und zog sie in seine Arme. »Genau wie du«, sagte er und küßte zärtlich ihre Lippen.
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