Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 04
Die Versammlung von Hans Kneifel
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 04
Die Versammlung von Hans Kneifel
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der fernen Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Auf Anregung der Widerstandsgruppe »Konterkraft« reist Atlan zur geheimnisvollen Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zu bergen. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich und testet die Wirkung erfolgreich gegen die Truppen der Lordrichter. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er einen Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Dort findet auch das scheinbar zufällige Treffen mit den Cappins statt. Der Arkonide wird per Pedopeiler nach Schimayn befördert, einem der Galaxis Gruelfin vorgelagerten Kugelsternhaufen. Dort gerät er in eine Raumschlacht zwischen Ganjasen und Takerern, die eine überraschend auftauchende Flotte des Ercourra-Clans für sich entscheidet. Um die Gesamtheit der Jungen Clans vor den Lordrichtern zu warnen, reist Atlan mit den Ercourras zu einer eilig berufenen VERSAMMLUNG …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide will die Juclas warnen. Zamptasch - Der alte Murra-Geborene verfügt über reichhaltige Erfahrung. Abenwosch-Pecayl 966. - Der Clanführer der Ercourras lädt zum Thein, der Versammlung aller Juclas. Carmyn Oshmosh - Die Kommandantin des Beiboots AVACYN begleitet Atlan zum Kugelsternhaufen Eschnat.
Zwölf Stämme und Clans sind es, die zwischen den 120 Milliarden Sternen unserer Milchstraße Gruelfin entstanden waren, und es herrschten seit den dunklen, geschichtslosen Anfängen Zwist und Missgunst, Neid und Streit zwischen den Bewohnern der vielen Cappin-Planeten und den raumfahrenden Sippen und Völkern. Wie das Band aus Sternenstaub, Düsternis und Geheimnissen, das sich durch den Mittelpunkt der Sterneninsel dahinzieht und das Licht vieler Sonnen gierig schluckt, ist auch der Zusammenhalt der vielen Cappin-Völker vom Ungeist der Zwietracht verschlungen worden, noch ehe sich die Evolution der fantasiereichen Vernunft durchsetzen konnte. Wehe der Vergangenheit! Unvorstellbar scheint es, dass in Zeiten der Not ein mächtiger Weiser erschien, der vor dem Sternenschwert fremder Krieger warnte und so den Keim des Zusammenschlusses schuf, der in der Kleingalaxis Morschaztas zu blühen begann. Damals, oh ihr Kleingläubigen, wurde auch das Pflänzchen des GANJO-KULTS ins fruchtbare Erdreich vieler Welten gesetzt … Auszug aus den GANJO-LEGENDEN; ein apokrypher Text, von den Interpretatoren verbreitet.
1. Der alte Mann drehte den Stab langsam zwischen den Fingern. Der oberste Knoten seines »Schrittbegleiters«, des langen hölzernen Gehstocks, veränderte im Licht des flackernden Holoschirms sein scheinbares Aussehen: Einmal glich er einem Totenschädel, dann einem alten Rauschpilz, dann wie-
der einer Wurzelknolle oder dem verwitterten Gesicht seines Besitzers. Zamptasch hob den Kopf, sein Blick fokussierte sich auf die Bildschirm-Wand, und sagte aufgeregt: »Das wird nicht gut gehen. Dieser Amateur von einem Kommandanten wird die SIMBOYN kaputtmachen! Wartet nur! Bald ist es so weit!« Die Stimme des greisenhaften erst Zwanzigjährigen schnitt blechern durch das Summen der Sorge-Maschinen. Zamptasch sah sich um. Beifälliges Nicken der anderen Nutzlosen pflichtete ihm bei. »Unverantwortlich! Jeder hätt's besser gekonnt! Ich werde in die Zentrale eindringen und es ihnen zeigen!« Einige der Alten, die im muffigen Senioren-Segment der SIMBOYN untergebracht waren, im Sektor der Jucla-Wracks, lachten zahnlos. Es klang wie das kranke Keckem der Shuettys, dieser kopfgroßen Vögel, die sich manche naturversessenen Cappins hielten. »Ihr lacht! Lacht nur weiter!«, begehrte er auf und hustete. »Von Kampfstrategie versteht jeder mehr als dieser junge Kommandanten-Spund!« Zamptasch rutschte in den Formpolstern seines Ruhesessels hin und her. Er verfluchte jeden Tag, der ihn von der Jugend trennte. Zu alt, um im Schiff und anderswo am aktiven Geschehen teilzunehmen? Nie und nimmer! Aber die Schar der Roboter, die ihn und die anderen Greise und Greisinnen unablässig um- und versorgten, verwehrte ihm dieses Privileg. Dabei wusste er, dass sein Verstand ebenso klar, geschliffen und perfekt war wie stets seit seiner erlebnisreichen Jugend. »Sie werden uns alle umbringen«, ächzte
4 er, ohne die Blicke vom holografischen Schirm losreißen zu können. Die Schiffe Abenwoschs steuerten einen Wahnsinnskurs in diesem Kampf gegen die Takerer, die gegen die Ganjasen kämpften. Es hielt Zamptasch nicht mehr länger in der warmen Wolke des Kombisessels. Der Bildschirm zeigte die Schwärze des Alls, das in schneller, aber unregelmäßiger Folge von weiß glühenden Strahlen, Explosionen und flammenden Gaswolken erhellt wurde. Er packte den Stock fester, klammerte sich mit der Linken an die Sessellehne und zerrte sich mit zitternden Muskeln in die Höhe. Die Gichtknoten in seinen Finger- und Handgelenken begannen stechende Schmerzen durch die Nerven in den Unterarmen zu jagen. Zamptasch stöhnte und holte keuchend Luft; er versuchte, die Beklemmung zu ignorieren. »Die hilflose Strategie führt uns alle geradewegs ins Verderben«, rief er. »Und wenn's zu spät ist, werden mich alle wieder als vergreisten Besserwisser bezeichnen.« »Sofern wir dann noch leben, Zampti!«, meckerte die alte Frau mit den violetten Haaren, die sich schwach gegen einen winzigen Versorgungsrobot wehrte. Zamptasch blieb stehen, die Kante der Sitzfläche in den Kniekehlen. Der Kampf zwischen den Takerern und den Schiffen der Ganjasen hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Abenwosch-Pecayl 966. der neue Clanführer der Ercourras, war in einer Art Kampfrausch gefangen, die ihn und die Schiffe der Ercourras in eine Kette selbstmörderischer Angriffe auf die Takerer gedrängt hatte. Es ging um den Pedopeiler MARKASCH, den die Außenseiter mit dreifacher Überlegenheit zu erobern versuchten. »Da kannst du Recht haben, Alte«, antwortete er und versuchte, die Bilder richtig zu deuten. Die SIMBOYN vibrierte in einem abrupten Manöver. Zamptasch hielt sich, weit vornübergebeugt, an seiner durch jahrelange Benutzung glatt polierten Gehhilfe fest und knurrte: »Das sind selbstmörderische Kurse. Diese Idioten in der Zentrale
Hans Kneifel …« Zamptasch verfluchte zum x-ten Mal die Zeichen seiner Hinfälligkeit. Sein schütteres Haar, grau wie Sternenasche und ausgedünnt wie ein Montonenstrauch im kalten Spätherbst, der hektisch hämmernde Herzschlag. Er schwankte von seinem Sitz aus in einer Schlangenlinie vorbei an Tischen voller halb geleerter Essensschalen und Becher. Ein Robot wich ihm aus, er drängte sich zwischen zwei summenden, aufgeregt blinkenden Maschinen hindurch und hieb einer dritten den knubbeligen Knauf des Gehstocks auf die klirrende Sensorplatte. »Ich, der Balg, weiß genau, wie man angreift und ausweicht. Besonders gegen die Bande vom schrundigen Takera-Planeten!« »Dann geh doch und zeig's ihnen!« Hinter Zamptasch erklang hämisches Kichern. Einige der Alten stierten verständnislos auf die Schirme, die lautlos und unverändert die Blitze, Strahlenbahnen und Detonationen des wilden Kampfes zeigten. Daran, dass die hitzige Schlacht in Wirklichkeit ein bedauerlicher und verlustreicher Teil eines Bruderkrieges war, dachte niemand an Bord der SIMBOYN. Auch nicht die Senilen, von denen jeder älter als zwei Jahrzehnte war. Gebückt, die braunen Augen unter den grauweiß wuchernden Büschen der Brauen weit aufgerissen und auf das mörderische Schauspiel gerichtet, tappte Zamptasch durch den Raum, dessen mit dicken Pelzen gepolsterte Wände Zeichen der Abnützung erkennen ließen. Eine Armbewegung wischte einen schwebenden Robot aus der Flugbahn. »Früher, in der guten alten Zeit, da hätte ich dich Blechkasten längst in deine Einzelteile zerlegt«, behauptete der Alte und sah in der dicken Glasplatte des Schottfensters ein Gesicht, das ihm seltsam vertraut vorkam. »Noch einer, der ein Opfer der takerischen Mördergenetik ist?« Sein Gegenüber, das jetzt mit schadhaften Zähnen zwischen dünnen, faltigen Lippen grinste und dessen grobes Hemd über der schmutzig gelben Haut schlotterte, hob, ebenso wie er, einen langen, knorrigen Stock
Die Versammlung mit faustgroßem Knauf. Der Greis war knochig, dürr wie das Holz dieser Gehkrücke, und die Falten im Gesicht waren nur wenig kleiner als die an den fleischlosen Armen. »Ah!«, machte Zamptasch. »Ich kenne dich. Ehemals ein strammer, kräftiger Ercourra. Leidenschaftlicher Macher zahlreicher Ercourras! Mein besseres Ich. Dringen wir in die Zentrale vor und ersetzen den Kommandanten!« Sein Grinsen wurde breiter, als er den Holzknauf gegen die Kontaktplatte hämmerte. Sein Spiegelbild grinste auffordernd zurück. Während sich das gepolsterte Schott mit den Ritzzeichnungen, Malereien und Sprühfarbenbildern der Alten langsam öffnete, hielt sich Zamptasch mit der Linken an einem der großen, federnden Griffe fest, die in entsprechender Höhe an jeder Wand zahlreich verteilt waren. Auf dem Holoschirm sah er, wie der Kommandant mit aufgeregten Bewegungen ein Ausweichmanöver einleitete. Drei Raumer der Takerer jagten in spitzen Winkeln auf die SIMBOYN zu. Das Schott war aufgefahren. »Das kann nicht gut gehen!« Der Alte war mit wenigen Schritten im Korridor, an dessen beiden Enden kleinere Holoschirme identische Bilder vom Kampfverlauf zeigten. Die drei Gegner, achthundert Meter große Molakanatstahl-Riesen, in deren grauen Hüllen sich das Feuer der auflodernden Gasfanale matt spiegelte, eröffneten den Angriff mit konzentriertem Feuer aus Initialstrahlern, Dopplergeschützen und Punktatoren. Eine Serie von Erschütterungen durchlief dröhnend das eigene Schiff. Die Treffer durchschlugen den Bug und richteten im Bereich dahinter tödliche Verwüstungen an. »Jetzt gibt's wirkliches Chaos!«, sagte sich Zamptasch. Er spürte verblüfft, wie binnen weniger Sekunden junges, neues Leben die Ruine seines hinfälligen Körpers durchströmte. Plötzlich erwachten in ihm Eigenschaften, die er längst nicht mehr hätte definieren können: hohe Eigeninitiative, zielgerichtete Schnelligkeit, Entschlussfreude und
5 Rücksichtslosigkeit. Und vor seinem inneren Auge erschien der komplette, farblich generierte Plan des Schiffs. Deutlich und präzise, als hätte er selbst die SIMBOYN entworfen oder wenigstens an ihr mitgebaut. Er vergaß, dass er sich nur noch langsam bewegen konnte, und rannte fünfzig, fünfundsiebzig oder mehr Schritte geradeaus durch den Korridor, der sich mit Dampf und Rauch zu füllen begann. Richtung: bugwärts! Die Schutzschirme waren durchschlagen; weitere Treffer zerfetzten Teile des Schiffs, und um ihn herum war das Chaos ausgebrochen. Rauch. Sirenen. Quäkende Summer. Mannschaften hasteten von rechts und links in den Korridor und schrien sich panische Bemerkungen zu. Noch mehr Rauch. Weitere Erschütterungen. Die künstliche Schwerkraft fiel aus, kam nach drei Sekunden wieder. Schotten schlossen und öffneten sich. Die Beleuchtung flackerte, strahlte auf und erlosch, als Zamptasch jenen Sektor erreicht hatte, in den ihn sein Überlebensinstinkt getrieben hatte. »Wenn der Idiot auf mich gehört hätte, würde er noch leben!«, schrie er, hustete im Rauch und sprang, den anderthalb Meter langen Stock als Beschleunigungsinstrument benutzend, in einen Laderaum hinein. Der nächste Griff galt der Tür eines Seitenschranks, in dem er im Licht der Notbeleuchtung und der Flammen, die aus einem Teil der Decke züngelten, herkömmliche Schutzanzüge erkannte. Er riss das Fach auf, hielt die Luft an und lehnte den Stock in das leere Fach. Binnen weniger Sekunden – als wäre er ein junger Raumfahrer, der diese Notübung hundertmal durchgeführt hätte – zog er den Schutzanzug an. Ohne zu denken, handelte er absolut fehlerfrei. Mit sicheren, schnellen Griffen regelte er die Innenversorgung, checkte die Funktionen, packte seinen Knüppel und bewegte sich im rötlichblauen Halbdunkel zu jenem Teil der inneren Bordwand, in dem die Fluchtkapseln wie eine Reihe großer Perlen untergebracht waren. Rasend schnell verging die Zeit. Männer
6 in Schutzanzügen und solche, die keine trugen, hasteten an ihm vorbei und überholten ihn. Weitere Detonationen ließen Beleuchtungskörper im Hagel aufpeitschender Scherben zerbersten. Träger knickten mit mörderischem Ächzen, Wände beulten sich ein; überall breitete sich Glut wie Lauffeuer aus. Das Schiff schien sich zu überschlagen, aber noch arbeiteten die Schwerkraftgeneratoren. Durch die Außenmikrofone drang eine laute Kakophonie in den Helmteil des Anzugs. Lichtkegel aus Handscheinwerfern huschten zuckend durch den brodelnden Rauch und erzeugten furchterregende Schattenspiele – auf seinem Weg zu den Rettungskapseln nahm Zamptasch sie nicht einmal wahr. Die glimmenden Piktogramme der Rettungsstation sah er vielleicht, aber er folgte ihnen unbewusst. Mit scheinbar unerschöpflicher Kraft und Energie tastete er sich an den Hinweisen der inneren Navigationsvorgaben entlang. Er passierte Korridore, Quergänge und Luken, leere und teilweise gefüllte Lagerräume, Bereiche der Technik, einen brennenden Raum voller Leichen. Sein Blick huschte über blinkende Piktogramme, Pfeile und Farblinien. Grell zuckendes Notlicht tat seinen Augen weh, kreischendes Metall in allen Stufen der Auflösung quälte seine Ohren. Behindert durch ausfallende Schwerkraftvektoren oder ihn anrempelnde, schattenhaft wirkende Besatzungsmitglieder, schaffte er es schließlich, den Gang, der zur Fluchtstation führte, zu erreichen. Noch fünfzig Schritte. Die Beleuchtung flackerte. Die ersten neun Kapseln hatten sich, leer oder bemannt, vom Wrack gelöst. Vor der zehnten stand ein Ercourra und presste seine Hand auf die blinkende Notöffnungsfläche. Ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern, holte Zamptasch mit dem Stock aus und drosch den Knauf mit aller Wucht von hinten in den Nackenteil des Anzugs. »Erfahrung geht vor Wachsamkeit, Kindchen!«, murmelte er keuchend.
Hans Kneifel Der Raumfahrer sackte in den Knien zusammen. Mit einem wilden Ruck schleuderte der Alte ihn zur Seite, während die Luke der Kapsel aufschwang. Er presste die Arme zusammen, hielt den Stock fest an den Körper gedrückt und hechtete in die Kapsel hinein. Der Sensor registrierte seine Anwesenheit, schmetterte die Luke zu und zündete die Auswurfsmechanik. Mit voller Beschleunigung schoss die Kapsel aus der Öffnung in der Schiffshülle, die von breit aufreißenden Spalten durchzogen war. Zamptasch wurde im kugelförmigen Innenraum umhergewirbelt und gegen die wenigen Teile der Einrichtung geschleudert. Er spürte keinen Schmerz. Hinter den Rissen in den Schiffswandungen breitete sich grelle Helligkeit aus. »Das Schiff ist verloren«, hörte er sich sagen. Seine Stimme in der Enge des Helms klang seltsam vertraut. Wie ein Echo aus alten Zeiten, aus der herrlich jungen, viel zu kurzen Vergangenheit. »Die SIMBOYN ist fast schon untergegangen. Die anderen sind tot. Ich hab's ihnen ja gesagt. Lauter Fehler. Mehr können sie nicht, die jungen Blödmänner.« Durch winzige Sichtluken und auf zweidimensionalen Bildschirmen sah Zamptasch in einer unzusammenhängenden, aber eindeutigen Folge, wie die drei takerischen Schiffe am glühenden, auseinander brechenden, von Explosionen zerrissenen Schiff vorbeizogen und in den Feuerhagel nachfolgender Ercourra-Schiffe gerieten. Losgerissene Teile, Fragmente weißer Röhren von zerstörten Tuilerien, trieben an ihm vorbei, aus denen die schockartig gefrorenen Blätter, Ranken und Gräser hervorquollen wie dicker, griesliger Nebel. »Aber der alte Zamptasch hat sein eigenes Leben gerettet«, murmelte er und setzte sich in die primitive Rohr-Gurtkonstruktion, als die kurze Beschleunigung aufgehört hatte. Ebenso unvermittelt, wie sich sein mürber Organismus an die Zeiten voller jugendlicher Spannkraft erinnert hatte, schien sich
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nun der Effekt umzukehren. Von den Zehen und den Fingerspitzen näherten sich Müdigkeit und Erschöpfung der Körpermitte und dem Gehirn. An einigen Stellen spürte er dumpf wuchernden Schmerz. Eine gewisse Lähmung bemächtigte sich des gesamten Körpers und erzeugte eine angenehme Schläfrigkeit, die sich Zamptasch nicht erklären konnte. Die Rettungskapsel trieb taumelnd durch das All, und in der Wärme, der sauerstoffreichen, umgewälzten Luft des Anzugs und im Bewusstsein, sein Leben gerettet zu haben, gab sich – ohne viele Gedanken daran zu verschwenden – Zamptasch also der Schläfrigkeit hin. Eine letzte Sicherheit blieb ihm: Er badete sich im Schlaf des Überlebenden, des weitaus Besseren, erkennbar Schnelleren, des Entschlossenen. Kurzum: im Schlaf des Gerechten.
* Er schwebte in den großen, daunenweichen Kissen seines Halbtraums über virtuellen Welten. Die ersten bewussten Eindrücke nach seiner Geburt waren Punkte inmitten der Schwärze, Lichter im Dunkeln, also ferne Sonnen gewesen. Jetzt, am Ende seines Lebens, lieferte das Langzeitgedächtnis (das Kurzzeitgedächtnis arbeitete ebenso lückenhaft wie seine kraftlos gewordenen Muskeln und seine Virilität) eine Folge perfekter, wahrheitsgetreuer Bilder aus dem Leben des Raumschiff-Nomaden, der nach elf Jahren als schöner, kräftiger Mann erwachsen war und alles, was ihn zur eigenständigen Persönlichkeit gemacht hatte, hinter sich hatte. Hinter sich, aber nicht verarbeitet: Das ununterbrochene Lernen. Das Fehlen aller Horizonte. Den Stress der Jugend. Die Unmöglichkeit, tausend Schritte weit durch die natürliche Welt eines Planeten zu laufen. Der Schock, verführt zu werden, und die Begeisterung danach. Das Erlebnis, an einem Thein teilzunehmen und all das zu erleben, von dem er nur Bilder kannte: nicht
endlos gefilterte Atemluft, lebendige Pflanzen, Horizonte und Wolken, atemlose Paarungen unter nadelnden Montonen. Die Einsicht, das eigene Leben rase dahin, zehnmal schneller als das eines Takerers oder Ganjasen. Der Verlust an verfügbarer Zeit. Auch wenn der Verstand den Unterschied nicht begreifen konnte. Und dann: die Landung auf einem Planeten. Tag und Nacht. Wald und Brandung. Sonnenschein und Regen, und zum ersten Mal sah Zamptasch die Sterne mit eigenen Augen und nicht in Hologrammen. Die innere Wandlung nahm er nicht wahr. Das Leben erzog ihn – wie viele andere – zum Egoisten und zur Rücksichtslosigkeit. Beide waren Überlebensinstrumente. Die Enge innerhalb der Schiffe warf wie ein Echo jedes Gefühl erst einmal auf das Individuum zurück. Und so hatte sich innerhalb der nie voll ausgeschöpften Lebensspanne die Entwicklung vollzogen. Zamptasch hörte sich reden; er fluchte, rief und kämpfte mit rasselnden Lungen gegen die einschläfernde Wirkung der wieder aufbereiteten Luft. Der Wachtraum wurde durch einige harte Rucke beendet, die virtuelle Wohlfühl-Wolke löste sich auf. Zamptasch zwang fluchend seinen Blick auf die primitiven Anzeigen der Rettungskapsel. Ein Traktorstrahl hatte die Kapsel eingefangen und halb herumgedreht. Jetzt wurde sie in ein helles Rechteck in einer dunklen Fläche gezogen. Zamptasch war wieder bei den Seinen. Er hatte sich gerettet. Erst einige Zeit später bemerkte er, dass ihn Fremde umstanden. Ganjasen oder Takerer. Er war in der Hand der Feinde.
* Das All im Kugelsternhaufen Schimayn rund um den Schiffsverband war voller Trümmer, schwach flackernder Gaswolken und kleiner Schiffe, die in Zickzackkursen nach Überlebenden und Brauchbarem suchten. Clanführer und Kommandant Abenwosch-Pecayl 966. betrachtete in schwei-
8 gendem Grimm die Zahlen des vergangenen Tages. »Nur 345 Schiffe, die das Desaster überlebt haben«, murmelte der Zwölfjährige. »Nur 345 Einheiten! Aber der Pedopeiler MARKASCH ist ebenfalls zerstört.« Die Ereignisse der letzten Tage zählten zu den einschneidenden Erlebnissen seines Lebens und würden sich niemals mehr tilgen lassen. Er saß in weicher, frisch duftender Kleidung allein in der Kommandantenkabine. Vor ihm standen eine halb gefüllte Kanne Karmoynia, ein geleerter Becher und ein Teller voller Hummoiriegel. Fast unhörbar drang aus akustischen Noy-Quellen entspannende Musik. Sämtliche Sichtfelder des Terminals waren in Tätigkeit und zeigten die Bergungsversuche der Jucla-Schiffe. Im holografischen Bilderband über dem Schreibtisch leuchtete die lange Reihe seiner Ahnen in bunten Miniaturen. In wenigen Jahren würde er, dessen Name früher Scytim gewesen war, sein holografisches Porträt dort sehen. Er lehnte sich im Sessel aus Taurinleder zurück; fast der gesamte muskulöse Körper wurde von den Vibrationen unterschiedlicher Massageelemente durchsummt; der Vorgang half, aus dem brodelnden Kosmos des Kampfrausches ins normale, mühsam beruhigte Leben zurückzukommen. Sein Kampfanzug wurde gereinigt und technisch gecheckt. Abgrundtiefe Betroffenheit kennzeichnete die Stimmung des ClanAnführers. Für wenige Stunden gedachte er, die brutale Notwendigkeit zu ignorieren, rasend schnell lernen und jedes Quäntchen Wissen vertiefen zu müssen. Es galt, sagte er sich, über sein bisheriges kurzes Leben nachzudenken und aus den Geschehnissen die richtigen Erkenntnisse für die unmittelbare Zukunft herauszuarbeiten. An Bord des Flaggschiffs, seiner weitgehend unversehrten TIA, herrschte die schlaffe, melancholische Ruhe nach der grausamen Schlacht. Viele Tuilerien zwischen den anderen Schiffen waren zerbrochen, von Energietreffern durchsiebt oder von Schwer-
Hans Kneifel kräften abgerissen worden. Die selbstmörderische Raserei war vorbei; sie hatte der Erschöpfung Platz gemacht. Der galaxisverdammte Fluch viel zu schnellen Alterns hing wie eine messerscharf geschliffene Waffe am Spinnenfaden, wie ein Verhängnis unzählbarer Generationen über seinem Volk ebenso wie über ihm. Es gab kein Entkommen aus diesem Verhängnis. Mühevolle Forschungen und Jahrzehnte medizinischer Versuche hatten die endgültige Lebensgrenze bis zu drei Jahrzehnten ausgedehnt, aber das Ergebnis, meist reichlich demenzielle Greise, enttäuschte oft. Auch der Verlauf der Raumschlacht hatte es in aller Deutlichkeit gezeigt. Jeder Jucla und besonders jeder Angehörige des Ercourra-Clans wusste, dass er ein Nachkomme genetisch manipulierter takerischer Siedler war, dessen Leben beschleunigt ablief. Er, Abenwosch-Pecayl 966. zählte ganze zwölf Jahre und war schon bis zu einer Größe von 1,60 Metern gewachsen. Vor knapp zwei Jahren hatte er seine ersten sexuellen Erlebnisse gehabt, und in sechs Jahren würde unaufhaltsam die Vergreisung beginnen. Glücklicherweise lebten sie nicht mehr in der Taschkar-Diktatur … »Der Hass auf die Takerer hat uns allen die Besinnung geraubt«, murmelte er und spürte, wie schnell und gründlich er wieder über seine Beherrschtheit verfügen konnte. Während der Diktatur waren Juclas, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten, von der Alterspolizei den Henkern zur Hinrichtung in den Konvertern übergeben worden. »Der Kontrollverlust war beträchtlich. Er hat Tausende Juclas das Leben gekostet.« Und fast vierhundert Schiffe! Das Gemetzel, ohne jede Rücksicht auf Verluste begonnen, durchgeführt und beendet, hatte einen Teil des Schimayn-Universums in eine ausgedehnte Zone fliegenden Schrotts verwandelt. Ob die Ercourras die Verluste an Material durch die Beute ausgleichen konnten, war fraglich, aber durchaus denkbar. Die Verluste an Leben waren immens und unwi-
Die Versammlung derruflich. Als der Clanführer sicher war, nicht mehr unter dem Einfluss der kollektiven Raserei zu stehen, schaltete er sich in das System der Funkzentrale ein, die ihm bisher unkommentierte Bilder und Ortungsergebnisse aus der kosmischen Umgebung eingespielt hatte. »Rundspruch von Abenwosch-Pecayl 966. an alle Clansleute«, sagte er scheinbar ruhig. »Dringende Durchsage. Befehle allerhöchster Priorität.« »Wir senden, Abenwosch!« Er hob den Kopf und blickte in die Batterie der funkelnden Linsen, in denen sich seine grauen Augen spiegelten, und redete weiter: »Die Schlacht gegen die verhassten Takerer ist vorbei, der Pedopeiler zerstört. Unsere Verluste sind so groß, dass jede weitere Kampfhandlung unbedingt vermieden werden muss. Bleibt ruhig! Bleibt besonnen! Wir dürfen nicht noch mehr Clansleute verlieren. Wenn ihr auf Gegner stoßt, paralysiert sie. Jede Einheit schleust weitere Enterschiffe und Beiboote aus. Die Mannschaften sollen versuchen, wertvolle Beute einzusammeln. Wir brauchen sie dringend! Vielleicht werden Überlebende gefunden.« Er machte eine Pause und strich in einer Geste der Verlegenheit sein blauschwarzes Haar über die Schultern zurück. »Wir könnten die überlebenden Ganjasen oder Takerer gegen entsprechendes Lösegeld … eintauschen. Irgendwann. Noch einmal: keine weiteren Gewalttätigkeiten! Beherrscht euch!« Und etwas leiser, aber nicht weniger drängend fügte er wie in innerem Zwang hinzu: »Ich hab's auch geschafft, zur Normalität zurückzukehren.« Er atmete tief ein und aus und wünschte sich, zwei Jahre erfahrener zu sein. »Ende der Durchsage.« Die TIA, die unverändert im Zentrum des Verbandes trieb, schleuste nacheinander ein Dutzend Enterschiffe aus, die zwischen den unzerstörten Tuilerien hervorkurvten und die driftenden Bruchstücke und Wracks ansteuerten. Abenwosch wartete, bis die Feldlinsen ihren technischen Glanz verloren hatten, und
9 erinnerte sich an das ganjasische Schiff. Die Besatzungen der Wachflotte, die den Pedopeiler zu schützen gehabt hatte, waren geflüchtet. Ihre Feigheit war offensichtlich. Die Ortung zeigte ein einzelnes Beiboot, das auf unverdächtigem Kurs näher heranschwebte und den Kontakt mit der TIA zu suchen schien. »Aber da ist dieser ganjasische Kommandant«, überlegte Abenwosch laut. Er stand auf und begann zwischen Terminal und Schott hin und her zu gehen. »Sabylchin.« Sabylchin hatte ihn und seine Ercourras in ausgesuchter Schroffheit aufgefordert, dieses Gebiet im Kugelsternhaufen Schimayn zu meiden. Auf keinen Fall durfte er sich diesem kosmischen Bezirk im Halo der Galaxis Gruelfin nähern, hatte der Kommandant befohlen. Für einen langen Augenblick wirbelten Abenwoschs Gedanken wild durcheinander. In ihm stritten sich das Verhalten eines Kindes, eines Heranreifenden, eines Pubertierenden und eines verzweifelten Individuums miteinander, das sich zu Recht vor der unbarmherzig nahenden Vergreisung fürchtete. Die Folge dieses gestörten, unkoordinierten Reifeprozesses war das ständige Hinterfragen. Verhielt er sich vernünftig? Der Sachlage entsprechend? Pragmatisch genug? Im positiven Sinn für die Belange und das Wohl des Clans? Seine Fingerspitzen strichen über die runden Vertiefungen der Aknenarben, dann zuckte er mit den Schultern. Er setzte sich an die Geräte des Terminals seiner Kommandantenkabine und aktivierte wieder den Kanal zur Funkzentrale. In seiner erschöpften Stimme schwang ein Rest der überstandenen Erregung mit. »Wir nehmen den Kontakt zu dem Boot auf. Zu diesem Fremden, der sich Atlan nennt. Vielleicht kann er etwas vorbringen, was uns davon abhält, seinen Schiffswinzling in einen brennenden Gasball zu verwandeln.« Er hob die Hand und schloss: »Ich bin in wenigen Augenblicken in der Funkzentrale.«
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»Wir erwarten dich, Kommandant.« Im Bewusstsein, den besten Plan für die eigene Profilierung und das Wohl des Clans entwickelt zu haben, verließ er seine Kabine und lief mit kurzen Schritten zur Zentrale.
2. Tornybred, der sich als »Gänger des Netzes« bezeichnete, traf in einem unsagbar fremden Kontinuum auf den Ganjo Ovaron und half ihm, nach Gruelfin zurückzukehren und sein Volk vor der grausamen Gefahr ESTARTU zu warnen. Daraufhin gelang es Ovaron, das Volk der Cappins auf den Angriff der Ewigen Krieger vorzubereiten und den unheilvollen Zustand, der mit dem pervertierten Wirken des Ganjo-Kults einherging, zu beenden. Dann aber rief Tornybred aus tiefster Not nach Ovaron, und so verschwand er, und bis heute wuchern Legenden, falsche und richtige Erinnerungen und die Sehnsucht nach Ovarons Wiederkehr. Auszug aus den GANJO-LEGENDEN. Wieder zuckten scharfe Schmerzen durch meinen rechten Unterarm. Einige Atemzüge später breitete sich unter dem dünnen Verband wohlige Wärme aus, gefolgt von dem Kitzeln, das Heilung binnen kurzer Zeit versprach. Die Wunde, die ich während des Sturzes auf dem Vulkanplaneten Ende erlitten, in der DYS-116 erstversorgt hatte und die von der ganjasischen Ärztin an Bord der CAVALDASCH ordentlich operiert wurde, verheilte schnell mit Hilfe des Zellaktivator. Ich blickte zwischen Ypt Karmasyn und der kleinwüchsigen, korpulenten Pilotin Myreilune hindurch auf die Front der Ortungsschirme. Auf dem Holoschirm der AVACYN-Zentrale glommen zahllose Wracks; die unbekannte Cappin-Flotte aus veralteten Schiffsmodellen, die weder Ypt noch Kaystale identifizieren konnten, hatte gesiegt. Es war ihr gelungen, die Flotte der Takerer zu vertreiben und einen Teil deren Schiffe zu
Wracks zu schießen. Im Weltraum schwebten Trümmer jeder Größe und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Flugbahnen. Zwischen ihnen bewegten sich Beiboote und kleinere Einheiten, die den Schrott mit Traktorstrahlen einfingen und in den Schiffsverband zurückschleppten. Farbige Lichter blinkten, und Scheinwerferstrahlen zuckten auf, in den Funkempfängern erzeugten Kommandos, Fragen und Antworten, Hinweise und Meldungen ein lautstarkes Chaos. Die Bilder erinnern dich an eine Raumschlacht im Jahr 3438, sagte der Extrasinn. Über 100.000 Raumschiffe der Jungen Clans waren beteiligt! Ich erinnerte mich schaudernd an diese Zeit. Damals hatten sich die Juclas, von den Takerern aufgestachelt, mit einer gigantischen Armada auf Ovarons Ganjasen gestürzt. Ein Zehntel der Jucla-Flotte war beim ersten Gefecht zerstört worden. Die gentechnisch veränderten Juclas kämpften mit der besinnungslosen Wut von Wesen, die nichts mehr zu verlieren hatten. Nicht mehr als das eigene Leben – aber daran dachten sie nicht mehr, wenn sie die Kontrolle verloren. In diesen Augenblicken fiel es mir schwer, klare Gedanken zu fassen. Mein Blick schweifte ab, als Ypt Karmasyn einen Ausschnitt des Nahortungsschirms vergrößerte und, an die Pilotin gewandt, sagte: »Ein Notruf. Eindeutig von dieser Rettungskapsel im Sektor Grün Drei. Hier …« »Es waren Juclas, die die Takerer vertrieben haben …« Myreilunes blaue Kontaktlinsen schienen aufzuglühen. Sie richtete einen vorwurfsvollen Blick auf die Kommandantin. Sekundenlang bemerkte ich eine Abwehrhaltung der Pilotin gegen Carmyn; es war in diesem Augenblick müßig, über mögliche Gründe nachzudenken. Ich blieb zwischen den beiden Sesseln stehen, legte die Hände auf die Lehnen und stieß die schwarzhaarige Ganjasin an. Sie blickte mich grinsend an, als würde sie sich über Myreilunes schlechte Laune oder die
Die Versammlung Probleme Evoron Saltos lustig machen. »Du hast Recht, Atlan. Mit denen hatte ich noch nie zu tun. Offensichtlich ein ganz besonderes Exemplar …« Sie setzte die Lautstärke herauf, und wir hörten eine heisere Stimme, die sich hin und wieder überschlug und einen schier endlosen Strom Wörter hervorsprudelte. »… schließlich ein Balg, der aus dem herrlichsten und größten aller Clans, dem Murra-Clan, hervorging. Auf mich, den alten Zamptasch, hat natürlich keiner gehört. Jetzt treibt der einzige Überlebende der SIMBOYN hilflos im All, zwischen all dem Ercourra-Gerümpel und Takerer-Schrott. Ich bin ein Murra – holt mich hier raus! Wenn ich diesen Abenwosch zu fassen kriege, werde ich ihm …« Ich wandte mich an die Kommandantin der AVACYN und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist der Schreihals wirklich der einzige Überlebende. Holt ihn an Bord, Carmyn. Seine Leute scheinen sich tatsächlich nicht um ihn zu kümmern.« Ich deutete auf die Ortungssignale, die keinerlei ErcourraAktivitäten zur Rettung des Überlebenden erkennen ließen. »Das Bergungsmanöver hält uns kaum auf.« »Klar. Wir bringen ihn in den Laderaum Drei. Hoffentlich redet und flucht er uns nachher nicht die Ohren vom Kopf.« »Wir sperren ihn zu Salto«, sagte die Ganjasin vom Pult der Ortung her. »Vielleicht entschlüsseln die beiden dann gemeinsam das Geheimnis cappinscher Weiblichkeit.« Ich musste grinsen. Der hagere, grauhaarige wissenschaftliche Leiter Evoron Salto, der mir mit erheblichem Misstrauen begegnete, schien erhebliche Probleme zumindest mit der weiblichen Führungsspitze unseres Schiffes zu haben. Da er sich meist in seiner Kabine aufhielt, störte mich seine Zurückhaltung kaum. »Ich möchte mit dem Anführer der Ercourras sprechen, Carmyn. Vielleicht ist es dieser Abenwosch.« »Ich versuch's.«
11 Wir brauchten nur auf Empfang zu gehen. Der unsichtbare Gesprächspartner meldete sich auf einem der angemessenen Frequenzkanäle. »Ich habe die Frequenz eines zweiten Bildfunkrufs«, bestätigte Ypt und ließ ihre Finger über die Kontaktfelder tanzen. Eine der großen Holoprojektionen baute sich auf. Wir blickten in das schmale Gesicht eines langhaarigen Jungen, das von Pusteln und Aknenarben übersät war. Als er zu sprechen begann, sahen wir, dass seine obere Zahnreihe weit vorstand. Übergangslos fing er zu sprechen an, in einem ähnlichen Redefluss wie jener schrille Zamptasch. »Ich bin Abenwosch-Pecayl 966. Anführer des siegreichen Ercourra-Clans und Kommandant der TIA. Ich fordere die Insassen des unbekannten Schiffes auf, sich augenblicklich zu identifizieren.« Er blickte von einem Gesicht der Zentrale-Besatzung zum anderen und redete tatsächlich so schnell und aufgeregt wie Zamptasch vor wenigen Minuten. Seine Stimme war die eines höchst erregten Heranwachsenden. Ich seufzte; ich kannte die Evolutionsgeschichte der Juclas. Die erbärmlichen Resultate der gentechnischen Manipulation zeigten sich bei Zamptasch ebenso wie beim Kommandanten der siegreichen Flotte. Aufbrausend, nicht zu besänftigen, wenn sie die Beherrschung verloren, lebten sie ihr kurzes Leben in einer Serie von Exzessen. Ihre Ausgelassenheit war ebenso drastisch wie ihre Wut. Sie hatten Schwierigkeiten, im ausgewogenen Mittelmaß zu existieren. Ich musste also behutsam mit Abenwosch-Pecayl 966. umgehen. »Wir sind das Team von der AVACYN«, sagte ich und zog die Aufmerksamkeit des Jungen auf mich. Wahrscheinlich war er innerlich auf bestimmte Art und Weise viel älter, aber seine Unrast ließ noch keine genaue Beurteilung zu. »Wir sind erst seit kurzem in dieser Galaxis und haben an der Schlacht um den Pedopeiler nicht teilgenommen.« »Aus welchem Grund ist der Pedopeiler hier stationiert worden? Warum ist er von so
12 vielen ganjasischen Schiffen bewacht worden? Was habt ihr mit diesen Vorfällen zu tun? Ich will alles ganz genau wissen.« Die Kommandantin lehnte sich zurück, warf mir einen warnenden Blick zu und überließ das Verhandeln mir. Ich raffte das Wissen zusammen, das ich in der kurzen Zeit über den gegenwärtigen Zustand Gruelfins in wenigen Gesprächen erworben hatte. »Vor langer Zeit war ich, Atlan der Arkonide, ein Kampfgefährte Ovarons. Der Name des Ewigen Ganjos bedeutet viel in Gruelfin, das weiß ich. Vielleicht erinnern dich einige Berichte und, möglicherweise, Legenden an die Zeit, in der Gruelfin in Frieden geeint war, wenn auch für wenige Jahre.« »Wer kennt nicht Ovaron, den Ewigen Ganjo? Aber dass du an seiner Seite gekämpft hast, glaube ich nicht. Möglich ist vieles, wahrscheinlich willst du dich herausreden. Dein Schiff ist in den Zieloptiken meiner Geschütze.« Seine Blicke huschten über die Einrichtung der Zentrale. Sie war weitaus moderner als die meisten Teile der Zentrale seines Schiffes, soweit wir es beurteilen konnten. Meine Antwort hatte Abenwosch ein wenig verunsichert. Passe deine Diktion und deine Handlungen der unkontrollierbaren Auffassungsart der Juclas an!, empfahl mein Extrasinn. Ich zog die Brauen hoch und machte eine beschwichtigende Geste. »Du zielst auf uns, während wir gerade Überlebende deines Stammes bergen? Ein feines Willkommenszeichen bei einer Flotte der Juclas«, antwortete ich. »Denk an die Zeit, in der Ovarons Spuren in die Vergangenheit zu verfolgen sind. Vielleicht findest du dort die Namen und Taten von Atlan und Perry Rhodan. Denk an den Waffenstillstand, den Ovaron vor … fast 1400 Jahren herbeigeführt hat.« Ich befand mich in einer seltsamen, gefährlichen Situation. Ich hatte mich – vorläufig! – damit abgefunden, nicht in die Milchstraße zurückzukönnen. Möglicher-
Hans Kneifel weise gelang es mir, die Nomaden für meine Zwecke zu benutzen. Sie waren weit herumgekommen und besaßen Informationen, die mir helfen würden, das Wirken der Lordrichter besser zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Flüchtig drängte sich das Bild der sterbenden Kythara in meine Gedanken. Der Schmerz machte mich sprachlos. Ich verfolgte aus dem Augenwinkel, wie Silesiante und Kaystale, die Takererin, die Rettungskapsel bargen und in einen Laderaum bugsierten. »Nun? Willst du mir noch mehr Legenden erzählen?«, schnauzte der Kommandant der TIA ungeduldig. »Wenn es sein muss«, erwiderte ich. Aus dem gedanklichen Schmerz über Kytharas Verlust wurde wirklicher Kopfschmerz, der sekundenlang in den Schläfen tobte und mich an den Flammenstaub erinnerte. »Ein Blick in den Geschichtsspeicher deines Schiffs wird dich belehren und überzeugen. Ein Versuch lohnt sich, glaub's mir, Abenwosch.« »Abenwosch-Pecayl 966.!«, entgegnete er aufbrausend. Ich schloss die Augen und setzte die Wirkung des Flammenstaubs bewusst ein. Ich konzentrierte mich auf den Bordrechner, entließ eine winzige Menge Flammenstaub und erzeugte in Datenblöcken der Speicher, die als »alt« zu erkennen waren, eine Informationsflut, die viele der alten Inhalte überspielte. Es fiel mir nicht schwer, Ovarons Freundschaft zu Perry Rhodan und besonders zum anderen »unsterblichen Heilsbringer«, zum Arkoniden Atlan Gonozal, in positronische Impulse zu fassen und über vorhandene Inhalte zu schreiben. Wir drei waren es gewesen, von denen die Juclas über die genetische Veränderung ihres Erbguts erfahren hatten. Ich betrachtete diese übertriebene Darstellung als ein Geschenk, das mir der Flammenstaub vermittelt hatte. »Hast du die Informationen gefunden, Abenwosch-Pecayl 966.?«, fragte ich. Die letzten Worte klangen in meinen Ohren ver-
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zerrt; wieder hatten mich Kopfschmerzen überfallen. Ich wusste, dass sie stundenlang andauern würden. Ich versuchte mich zu beherrschen und legte Carmyn die Hand auf die Schulter. »Carmyn Oshmosh wird weiter mit dir verhandeln, von Kommandantin zu Kommandant. Ich, die lebende Legende, werde nun den Überlebenden der SIMBOYN begrüßen.« Mit langsamen Schritten verließ ich die Zentrale, von extrem heftigen Kopfschmerzen geplagt und krampfhaft bemüht, keine Schwäche zu zeigen. Ich zog mich in meine Kabine zurück, um meine Gedanken zu sammeln und etwas Entspannung zu finden. Abenwosch hatte auf mich den Eindruck gemacht, sein Ehrgeiz reiche seiner Meinung nach für die Herrschaft über möglichst viele, wenn nicht alle Clans. Die Ercourras, denen wir uns gegenübersahen, waren nur einer von angeblich 46 Clans, die sich Odogryn, Doblync, Schybenhyrt oder Schamenhyn nannten. Wahrscheinlich erfuhr ich von unserem geretteten Gast mehr über die Clans und ihre lange, leidvolle Geschichte.
* Als Abenwosch seinen Platz in der Zentrale der TIA erreicht und seine Besatzung mit kargen Handbewegungen und Kopfnicken begrüßt hatte, fühlte er sich als Beherrscher der Lage. Zwei Vorgänge in seinem Inneren waren zu seiner Befriedigung abgeschlossen. Er war ruhig, sachlich, absolut pragmatisch, fern von jeder Erregung; so kalt wie der Weltraum. Und er hatte die Speicher seines Schiffes gewissenhaft kontrolliert. Datei um Datei. Von der Gegenwart in kleinen und großen Schritten zurück in die Vergangenheit. In eine weit zurückliegende Zeit, in der jeder Cappin vom Ganjo-Kult wusste, der von unzählbar vielen Anhängern ausgeübt wurde. Nur wenige Cappin-Völker kannten Götter im transzendentalen Sinn und deren Gebote,
aber ihre Vorbilder waren und blieben heldenhafte Gestalten wie Ovaron. Einer von Ovarons beiden Begleitern aus glorreichen Zeiten als sein Freund. Jener viel gepriesene Atlan, legendärer Kämpfer aus einer fernen Galaxis, würde Macht und Einfluss von Kommandant Abenwosch-Pecayl 966. des Ercourra-Clans und darüber hinaus aller Juclas stärken und vergrößern. Ruhm und Reichtum waren das erste, durchaus erreichbare Ziel. »Es sind große Dinge geschehen«, sagte er beherrscht. Er zwang sich, seine Emotionen streng zu kontrollieren. Wenn die Ercourra-Mannschaften ihren Sieg feierten, würde das Bordfest ebenso unbeherrscht und verlustreich ausfallen. Das Auftreten des Arkoniden Atlan hatte die Besatzung bis jetzt von diesem Vorhaben abgelenkt. »Noch Größeres deutet sich an. In diesem kleinen Raumschiff, das Überlebende des Kampfes gerettet hat, hat ein Freund des Ewigen Ganjos Ovaron das Kommando. Die TIA wird, nachdem wir den Arkoniden Atlan – das ist sein Name – zu uns an Bord eingeladen haben, dringende Botschaften aussenden.« Er sprach viel zu schnell, merkte es selbst und hielt inne. »Mit Ovarons Freund werden wir eine Bedeutung erlangen, die uns Ercourras zu Führern aller Clans machen kann. Kann, sage ich. Ich muss erst einmal mit ihm sprechen.« Er deutete mit einer großartigen Geste auf die Bildfunkterminals und auf die beiden jungen Funker. »Ladet die Besatzung der AVACYN ein. Sie soll an der TIA andocken; wir müssen schnell eine Tuilerie aufbauen. Dann werden die Leuchtfeuer arbeiten und die Nachricht von unserem Ovaron-Freund in allen Teilen Schimayns und bis nach Gruelfin verbreiten.« Die Mannschaft der Zentrale begann zu lachen, rief wild durcheinander, klatschte und klopfte auf die Pulte und Armlehnen. »Aktiviert die Schaumprojektoren des nächsten großen Schiffes!«, rief Abenwosch. »Wir werden die Besten des Clans sein,
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Hans Kneifel
wenn Atlan an Bord ist!« »Verstanden. Wenn das fremde Boot längsseits gegangen ist, wird die TuilerieMaschine fertig sein.« Die eiförmige TIA war in der Mitte des annähernd tropfenförmigen Komplexes, von einem Doppelring anderer Schiffe umgeben, eingepasst worden. In einem unregelmäßigen Muster, vom Zentrum des Komplexes aus, waren in dem Geflecht der röhrenförmigen Verbindungen Löcher zu erkennen; einzelne Schiffe hatten sich losgerissen, waren gestartet und hatten die Tuilerien abgeworfen oder zerrissen. Der Ercourra-Komplex bot aus der Entfernung das Bild einer riesigen Struktur aus unterschiedlich großen, eiförmigen Elementen, die von unzähligen dicken, kurzen Fäden aneinander geheftet waren. In dieser Struktur klafften sowohl in Kernnähe, mehr aber noch an vielen Stellen der Peripherie unregelmäßige, von tiefen Schatten ausgefüllte Höhlen. Die Ortungsholos zeigten einzelne Schiffe, die sich den Höhlungen näherten und an ihre alten Andockstellen zurückzukehren schienen. Hunderte verschiedenfarbene Blinklichter und Scheinwerfer flammten auf und bildeten einen Kanal, eine geschwungene, röhrenförmige Passage, in der sich die siebzig Meter lange AVACYN langsam, von vier kleinen Beibooten eskortiert, der TIA näherte. Aus der Wandung des eigenen Schiffs, die im kreisenden Licht der Scheinwerfer in verschiedenen Farbschattierungen glänzte, ragte der abgerissene Rest eines weißen Hohlstegs hervor.
* Der Summer riss mich aus der angenehmen Ruhe meiner Kabine. Der nagende Kopfschmerz hatte sich in einen dumpfen Winkel meines Hirns zurückgezogen. Ich schaltete die Beleuchtung ein und betätigte den Öffner. Im Rahmen des Türschotts stand die Ganjasin Silesiante. »Carmyn schickt mich, At-
lan. Sie sagt, du solltest mit dem Überlebenden reden, den wir aus dem All gefischt haben.« »Wen habt ihr eigentlich geborgen?« Ich richtete mich auf und stellte die Beine auf den Boden. Die hochgewachsene Spezialistin für Energieversorgung und die technische Ausrüstung unseres Schiffs der NAMEIRE-Klasse hatte ein seltsames Lächeln aufgesetzt. Sie richtete den Blick zur Decke und schüttelte kurz den Kopf. »Zamptasch. Ein uralter Ercourra. Ein keifender Besserwisser mit einem bedrohlichen Gehstock. Für einen Jucla ist er überraschend groß.« »Wo habt ihr ihn festgebunden?«, fragte ich mit schwachem Grinsen und hörte den Extrasinn drängen: Vielleicht kann er dir trotzdem wertvolle Informationen liefern. Du bist in einer wenig beneidenswerten Lage. Silesiante deutete mit dem Daumen über die Schulter und antwortete mit halb verzweifeltem Lächeln: »Zunächst im Gemeinschaftsraum. Dann in der Reservekabine Zwei. Er erklärt gerade der Kommandantin, dass die Einrichtung geschmacklos ist.« »Das All ist voller Wunder«, sagte ich und fasste mein Haar im Nacken mit der kleinen Spange zusammen, einem Geschenk Kaystales, das sie mir mit einem Lächeln ihres halbierten Gesichts gemacht hatte. Es war eine zweischwänzige, silberne Schlange mit Rubinaugen. Ich folgte Silesiante in den Korridor. Auf den Holoschirmen des kurzen Verbindungsstücks konnten wir verfolgen, wie sich unser Boot dem Schiffskomplex näherte und den optischen Signalen folgte. Durch das offene Schott hörte ich die unangenehme Stimme des geretteten Cappins. Heiser, fast schrill, von häufigem Räuspern und Husten unterbrochen, bösartig kichernd und mit schwerem Atem beschimpfte er Kaystale. »Ist ja nicht schlimm, wenn man ein paar Glieder verliert. Deiner nicht vorhandenen Schönheit tut's keinen Abbruch. Aber du solltest die Finger-Scharniere ölen.« Er
Die Versammlung schüttelte sich in lautlosem Gelächter. Die hochgewachsene Frau mit den schweren Verbrennungsspuren der linken Gesichtshälfte stand im Bordanzug, der an ihr wie eine leichte Kampfmontur wirkte, vor ihm und betrachtete ihn aus einem grell leuchtenden roten und einem schwarzen Auge, als hätten wir ihn unter einem feuchten Stein hervorgezogen. »Ausgerechnet an der rechten Hand. Passt aber gut zu deinem blechernen Ohrtrichter. Gegen dich ist mein Blick in den Spiegel geradezu ein Labsal.« Kaystale stemmte die Hände in die Hüften und warf Zamptasch einen mitleidigen Blick zu. In ihrem gesunden Auge schien die Bereitschaft zu einer aggressiven Handlung zu lauern. »Noch eine Weile im gleichen Ton, gengeschädigter Greis«, sagte ich scharf, »und wir schleusen dich dorthin aus, woher du gekommen bist. In deinem Alter sollte man höflicher sein.« Er fuhr herum, auf seinen langen, knorrigen Stock gestützt. Er war ebenso groß wie Kaystale und schien weder sie noch mich zu fürchten. Ich musterte ihn schweigend, während hinter mir Silesiante mit schneidender Stimme fragte: »Soll ich ihn paralysieren, Atlan? Dann hört er wenigstens auf, uns zu beleidigen.« »Noch nicht«, antwortete ich ernsthaft. »Zuerst werde ich ihn ein wenig foltern, damit er uns wichtige Informationen mitteilt.« »Was willst du wissen? Ich weiß alles«, schrillte er, die scheinbare Drohung völlig ignorierend. »Und das meiste davon weiß ich besser als andere.« »Dann kannst du mir einen Vortrag über den Ganjo Ovaron und seine Freunde halten.« Aschgraues, strähnig dünnes Haar, große, buschige Brauen über braunen Augen, gelbe, faltige Haut und ein Netzwerk tiefer Falten machten ihn zu einem Greis, der jeden Augenblick tot zusammenbrechen konnte. Er stand gebeugt da, blickte mich aus trüben Augen an, und ich vermochte mir nur
15 schwer vorzustellen, dass er vor einem Jahrzehnt ein kräftiger Jucla gewesen war. »Die gute alte Zeit«, sagte er und leckte sich die schmalen, eingeschrumpften Lippen. »Davon habt ihr Jungen keine Ahnung. Damals, als Ovaron uns gezeigt hat, wo es langgeht zwischen den Sternen und Dunkelwolken. Ich, der Balg, erinnere mich an alles.« Damals, sagte ich mir, war vor fünfzig Jahrtausenden gewesen. Damals hatten die Takerer die frevelhaften Genmanipulationen begangen. »Was bedeutet Balg?«, wollte ich wissen. »An Bord geboren. Aber im Lauf des Lebens Schiffe und Clans gewechselt. Und, irgendwann, im Schiff gestorben …«, antwortete er mit Leidensmiene. »In mein Schiff kann ich nicht mehr zurück. Es ist nur noch ein Wrack. Wäre ein Vorteil für euch, wenn ihr mir Asyl gewähren würdet. Immerhin rühmt jeder meine Gedächtnisleistung«, entgegnete er mit großer Selbstsicherheit. »Mein Körper ist ein wenig runzlig, aber der Verstand und alles andere hier oben«, er berührte mit dem Knauf seiner Gehhilfe die Stirn, »arbeiten besser als der Schiffsrechner der TIA.« Ich blickte Silesiante und Kaystale an und erntete vorsichtige Zustimmung. Selbst wenn seine Erinnerung lückenhaft ist und der Alte eine Zumutung für die Besatzung der AVACYN darstellt, musst du versuchen, sein Wissen über die Stämme der Juclas zu benutzen. mischte sich der Extrasinn ein. »Willkommen an Bord, Zamptasch! Du bekommst eine kleine Kabine und kannst vorläufig bleiben. Eine Bedingung: keinerlei abfällige oder beleidigende Reden, keine Störung des Bordlebens! Die Alternative ist, dass wir dich in deine Kapsel verfrachten und aus dem Laderaum schießen. Klar?« »Du solltest Atlan die Zehen küssen, alter Mann. Wahrscheinlich verbringst du die letzten Tage deines Lebens bei uns«, bemerkte Kaystale trocken. Ich deutete auf die Takererin, deren groß-
16 artige weibliche Formen den Alten nur vorübergehend verwirrt zu haben schienen, und hielt die Hand hinter mein Ohr. Carmyn Oshmoshs Stimme hallte durch das Schiff. »Wir sind eskortiert worden, folgten dem Anflugkanal und werden jetzt von der Ortung der TIA eingewiesen. Achtung! Unser Schiff dreht. Wir bekommen eine so genannte Tuilerie an die linke, die Backbordschleuse. Wir befinden uns dann sozusagen an der Außenseite der Schiffsversammlung, nahe beim Bug des Flaggschiffs. Das Manöver dauert noch zehn Minuten.« Ich wandte mich an Silesiante mit der Bitte: »Bring Zamptasch in die Reservekabine. Er wird sich zurechtfinden. Er soll sich dort erholen, bis wir ihn rufen.« Ich starrte in die dunkelbraunen Augen, die mich unter schwer hängenden Lidern und über faltenreichen Tränensäcken mit festem Blick fixierten. In diesem Blick konnte ich weder Weisheit noch Überlegenheit erkennen, aber Zamptaschs Augen schienen mir zu sagen, dass sein Gedächtnis besser arbeitete als der Rest des hinfälligen Individuums. Silesiante packte ihn fest, aber nicht unfreundlich am Arm und zog ihn an mir und Kaystale vorbei aus der Messe und in den Schiffskorridor hinaus. Das rhythmische Pochen seines Gehstabs wurde leiser. Kaystale strich über die Tattoos ihres kahlen Schädels und murmelte: »Deine Nachsicht ist bemerkenswert, Atlan. Normalerweise überleben solche Typen die zweite Beleidigung nicht. Ich hab mich sehr zurückgenommen, weißt du.« Ich zog die Takererin, die fast so groß war wie ich, kurz an meine Schulter und flüsterte in den kunstvoll gestalteten Metalltrichter ihres linken Ohrs: »Ich weiß es zu schätzen, Kaystale. Der Alte ist ein Ekel. Aber für die nächsten Tage ist er unser Ekel. Wart's ab, von ihm erfahren wir wahrscheinlich mehr als von anderen.« Ich registrierte, dass sie diese Geste genoss, und ging neben ihr in die Richtung der Zentrale. Bestimmte Geräusche und die Bil-
Hans Kneifel der in den Holos zeigten uns, dass unser Boot in der Enge der Höhlung herumschwang, herausdriftete und sich der Bordwand des weitaus größeren Schiffes näherte. Überrascht stellte ich überdies fest, dass meine Kopfschmerzen vergangen waren.
* Ich schaltete drei Mehrbereichs-Außenkameras ein, justierte sie auf die Bordwand und die Schleusen der TIA. Die Bilder erschienen auf den Holoschirmen der Ortungsabteilung. Innerhalb des Komplexes, dessen für mich sichtbarer Ausschnitt einem riesigen Molekülmodell ähnelte, gliederten sich langsam die Schiffe ein, die dem Kampf mit kleineren Beschädigungen entkommen waren. Ein seltsames Weltraumgefährt näherte sich der Lücke zwischen der AVACYN und ihrem unmittelbaren Nachbarn. Auf dem Monitor las ich die Distanz ab: vierhundertfünfzig Meter. Dünne Traktorstrahlen, durch einen zusätzlichen Leuchteffekt gekennzeichnet, spannten sich von Bordwand zu Bordwand. Das hell beleuchtete Gebilde war ebenfalls eiförmig, aber aus dem Rumpf waren Segmente herausgetrennt, so dass an einigen Stellen jeweils drei ebene Flächen in rechten Winkeln entstanden waren. Eine Reparatureinheit? Am Bug, Heck und an vielen Stellen der Hülle blinkten Warnleuchten. Auf einer der Ebenen hantierten Raumfahrer mit großen Geräten. Es gab dicke Leitungen, hydraulische Elemente, röhrenförmige Ausleger und transparente Kanzeln. Hinter einer transparenten Wand entdeckte ich in der Vergrößerung mächtige Tanks. Das Gefährt driftete an die Bordwand unseres Schiffes heran, verankerte sich mit Haftstrahlen und schob eine kreisförmige Maschinerie in die Höhe, schwenkte sie herum und kam auf die kleinere Schleuse zu. Ein kaum merkbarer Stoß traf das Schiff, als das Element sich über die äußere Schleusentür stülpte. Sie stellen eine Tuilerie her, erläuterte der
Die Versammlung Logiksektor. Aus einer Art Kunststoff. Ich schaltete auf eine andere Linsengruppe um und sah zu, wie aus Düsen des ringförmigen Elements dicker weißer Schaum quoll. In der Weltraumkälte erstarrte er nicht sofort, sondern verband sich dampfend miteinander, quoll und wuchs in die Breite und Länge. Das Boot schob sich rückwärts auf das benachbarte Schiff zu und zog im Scheinwerferlicht einen weißlichen Schlauch hinter sich her, eine Röhre, die in sich federte und länger wurde. Kurz bevor die Schleuse des nächsten Schiffes erreicht war, versiegten die Düsen. Ein Paar halbrunder Greifer kam aus einem anderen Segment des Schiffes, umfasste die Röhre und drückte sie rund um die Schleuse an die Schiffswand. Die Tuilerie hatte einen Durchmesser von etwa drei Metern. Plötzlich bildete sich in ihrer Mitte eine Ausstülpung, aus der binnen weniger Minuten ein kugelförmiger Hohlraum entstand. Ich sah eine Plattform, die mit aufgeblähten Tonnen beladen war. Sie kam aus der Schwärze zwischen den weiter innen liegenden Schiffen hervor und schwebte auf die Tuilerie-Fabrik zu. Ein Transportfeld packte jeweils sechs Tonnen und sog sie durch eine kantige Luke ins Innere des Fabrikbootes. »Die Juclas schicken aus ihren Laderäumen irgendwelche KunststoffGrundbestandteile zur Fabrik«, sagte ich zur Kommandantin. »Woher haben sie das Material?« »Es sind Vorräte. Vergiss nicht: Die Juclas fliegen nicht nur durch den Raum, sondern überfallen Kolonialplaneten. Vermutlich kennen sie auch Rohstoffwelten, wo sie ohne Kampf holen können, was sie brauchen«, sagte Carmyn, ohne die Blicke von den Schirmen zu nehmen. »Das ist eine plausible Erklärung.« Wir sahen nur, was in unserer unmittelbaren Umgebung vor sich ging. Bei einigen hundert oder gar tausend Schiffen waren der Aufwand und der Materialbedarf erheblich größer. Unser Schiff war eingegliedert und mit einer kleineren Einheit verbunden wor-
17 den. »Jetzt fehlt noch die Verbindung zum Flaggschiff«, sagte ich und aktivierte andere Beobachtungssysteme. »Das wird eine gute Weile dauern.« Carmyn nickte. Die Bilder in den Holoprojektionen zeigten jetzt einen anderen Ausschnitt des Komplexes. Neben dem riesigen Schiff des Clanführers wirkte unsere AVACYN wie ein Pilotfisch, der einen riesigen Hai begleitete.
* Die AVACYN hatte an der TIA angedockt. Lichtsignale, lautlos huschende Digitalziffern und glimmende Farbflächen im großen Display neben den Betätigungsfeldern der Hauptschleuse signalisierten uns eine Stunde später, dass die Außenluft unserer gewohnten Norm und die Schwerkraft fast derjenigen unseres Bootes entsprachen. Der kubische Schleusenraum lag im Halbdunkel, der Atemluft-Indikator zeigte an, dass sich die Tuilerie noch nicht mit dem richtigen Druck gefüllt hatte. Die Kommandantin Carmyn Oshmosh hatte ihr langes, tiefschwarzes Haar zu einer Hochfrisur aufgetürmt, wodurch ihr schmales Gesicht geradezu asketisch wirkte. Ihr Selbstbewusstsein war aus Gründen, die ich nicht kannte, wenig entwickelt oder durch einen Bruch in ihrer fast fünfzigjährigen Lebensgeschichte lädiert worden. Doch unter Stress und Belastung mutierte die Kommandantin schlagartig zu einer strahlenden Persönlichkeit, die jedermann mitriss. Ich hatte diese Wandlung mitbekommen, als wir in die Raumschlacht am Pedopeiler gerieten. Wir mussten noch warten, bis die Techniker der TIA den Verbindungsschlauch stabilisiert und ungefährliche Umweltbedingungen hergestellt hatten. »Wir werden schnell merken, dass Abenwosch eine schwierig zu verstehende Persönlichkeit ist«, sagte Carmyn leise. »Letztlich das Erbe der takerischen Verbrechen.«
18 Unabhängig von möglichen persönlichen Makeln war Carmyn eine hervorragende Schiffsführerin und eine kluge Frau. Ich stimmte ihr nickend zu und streckte die Hand zum Kontrollfeld aus. »Er spekuliert, dass er sozusagen unter Ovarons, Rhodans und meiner Flagge die Juclas zu tollen Taten mitreißen und sich an deren Spitze setzen kann«, antwortete ich ruhig. »Mit meiner Analyse der Situation bin ich noch lange nicht fertig, aber darauf wird's wohl hinauslaufen.« Schwelge wohlgemut in Erinnerungen. Vielleicht hilft es, flüsterte der Extrasinn. Einstmals, auf Terra, während einer der schönsten Phasen meines Exils, hatte ich einen Weisen getroffen, den spätere Historiker als »Chinesen« bezeichneten. Nach vielen Tassen herzschädigenden Tees und wohlgefüllten Schalen mit Pflaumen- und Reisschnaps verabschiedete mich der kluge Alte mit einem Lächeln, das mir andeutete, dass er das Gegenteil meinte – nicht nur seine zartgliedrigen Konkubinen verzweifelten daran –, und mit einem Spruch, der mir bis zum heutigen Tag gegenwärtig geblieben war: Mögest du, mein riesenhafter, weißhaariger Freund Ati-laahn, stets in interessanten Zeiten leben. Er und seinesgleichen gebrauchten sonst diesen frommen Wunsch als Verfluchung. In vielen schwierigen »Wochen, Monaten und Jahren« auf Larsafs dritter Welt lebte ich in »interessanten Zeiten«. Etliche Male brachte es mich fast um. Und jetzt, hier und heute, fern der Heimat, neben der erwartungsvollen Ganjasin, allein wie meist, nur auf mich gestellt, wieder einmal am Anfang eines langen, schwierigen Weges und mitten im Kampf gegen die Lordrichter, dessen Ende fragwürdig war, musste ich mir sagen: Ich lebte wieder einmal in interessanten Zeiten. »Der alte, fadenbärtige Li Pen hatte Recht«, entfuhr es mir. »Wer? Womit?«, fragte Carmyn fast flüsternd. Myreilune meldete sich in vorwurfsvollem Tonfall aus der Zentrale. »Die AVA-
Hans Kneifel CYN hat fest an der TIA angedockt. Die Verbindungen sind gesichert. Der Kommandant kommt im Raumanzug zu uns an Bord.« Sie wollte die Kommandantin zum Handeln auffordern. »Ich erkenne konstruktive Aktivitäten in der Bordwand des JuclaSchiffes. Wahrscheinlich eine weitere Tuilerie. Ende der Durchsage.« Ich winkte ab und grinste entschuldigend. Das innere Schleusenschott öffnete sich fast geräuschlos. »Vergiss es, liebste Freundin«, antwortete ich. »Andere Zeit, anderes Problem, andere Galaxis – ein anderes Leben. Vielleicht erzähl ich's dir irgendwann. Begrüßen wir den kindlichen Kommandanten Abenwosch-Pecayl 966.« »Ja«, sagte sie. »Da ist er.« Da war er. Wir halfen ihm aus dem Raumanzug. Dem Anzug entstieg ein seltsamer Knabe mit wulstigen Muskeln. Er reichte mir bis zur Brust, ein etwa Zwölfjähriger, muskulös und picklig, mit dem fordernden Blick grauer Augen. Von ihm ging eine starke Aura von Raffinesse, Rücksichtslosigkeit und Ranküne aus, von der Fähigkeit, blitzschnell in jeder Situation persönliche Vorteile erkennen und ausnützen zu können. Er war sicherlich gut und geschickt, aber naturgemäß fehlte ihm die Erfahrung eines Lebens, das reicher an Jahren war. Aber: Binnen eines kargen Dutzends Jahren hatte er es zum Kommandanten des Flaggschiffs und zum Anführer des Ercourra-Clans, gebracht. Es gab insgesamt 46 Clans, und als Abenwosch mit blitzschneller Bewegung sein blauschwarzes, schulterlanges Haar zurückschob und dann den rechten Arm ausstreckte, hörte ich auf, ihn zu unterschätzen. »Das ist die ganjasische Kommandantin meines Bootes«, erklärte ich. »Carmyn Oshmosh. Ich bin der Arkonide Atlan. Viele Zufälle haben uns zusammengeführt, Abenwosch-Pecayl 966.« Wir tauschten einen Händedruck aus. Die Kraft seiner Finger entsprach derjenigen eines gut trainierten 25-Jährigen. Vor Carmyn verbeugte er sich knapp. Mich strahlte er an,
Die Versammlung als sei ich sein persönlicher Heilsbringer. »Ich fühle mich geehrt«, rief er und winkte uns aus der Schleuse in den Korridor zu unserer Zentrale hinein, »einen mächtigen Sternenkrieger mit solcher Autorität und der strahlenden Aura von Vergangenheit, Kampf und Sieg, einen Ganjo-Freund aus ferner Sterneninsel begrüßen zu dürfen. Du, Atlan, könntest uns helfen, die zerstrittenen Clans zu einigen! Willkommen! Folgt mir bitte, wenn die Tuilerie fertig ist, an Bord der TIA!« »Gern. Sieh dich in unserem Schiff um und begrüße meine Mannschaft«, bot ich ihm an. Abenwosch sah sich in der Zentrale um, spazierte durch einige Korridore und musterte schweigend die Ausstattung. »Unsere Schiffe sind alt«, sagte er schließlich. »Sie sind erbeutet, gestohlen, aus altem Familienbesitz, immer wieder halb wrackgeschossen und repariert worden. Deine AVACYN ist neu.« »Es ist ein relativ neues Schiff mit einer tüchtigen und entschlossenen Mannschaft«, bekräftigte Carmyn zufrieden. Zamptasch schlief in seiner Kabine; ein Zusammentreffen konnten wir vermeiden. Was hatte der Clanhäuptling erwartet, fragte ich mich, strahlende Heldengestalten als Mannschaft und gewaltigen Prunk, der mich umgab und als Freund des Ganjo auswies? Solcherlei Legenden und Dinge existierten weiter, selbst wenn sie aus dem Blickwinkel und dem gegenwärtigen Bewusstsein verschwunden waren. Nachdem ihm die hübsche Abreime Shastich im Triebwerksraum ein scheinbar feuriges Lächeln zugeworfen hatte, schien Abenwosch überzeugt zu sein. In der Zentrale warf er sich in einen Sessel, sah nach dem Fortschritt der Tuilerie zwischen unseren Schiffen und sagte schließlich: »Du willst uns warnen, Arkonide Atlan, und uns helfen, so, wie es Ovaron vor langer Zeit getan hat. Berichte mir, was du weißt. Sag mir, wer unsere wirklichen Feinde sind. Ich schweige und höre zu.« Ich setzte mich und fing wieder einmal an zu erklären, was ich über das »Schwert der
19 Ordnung« wusste.
* Es dauerte fast eine Stunde, bis sich das Material der Tuilerie völlig stabilisiert und mit Atemluft gefüllt hatte. Die Röhrenmaschine war längst an einer anderen Stelle im Einsatz. Abenwosch hatte sich den schlaffen Raumanzug über die Schulter geworfen und ging uns voraus. Wir passierten die Schleuse, nachdem uns Myreilune die Sauerstoffwerte durchgesagt hatte. »Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte ich und betrat die weiße Röhre, deren Wand milchig leuchtete und leicht vibrierte. »Aber grenzenlose Euphorie verbietet sich – die Zeiten sind schwierig.« »Kommt mit mir«, forderte er uns auf und drehte sich schnell um. Sein dunkles Haar wirbelte um seinen Kopf. »Wir reden miteinander. Viele werden uns zuhören, und dann werden alle anderen Clans von dir erfahren. Ich werde die Leuchtfeuer benutzen.« »Klingt gut.« Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen. »Diese Leuchtfeuer – wozu dienen sie?« »Wir Juclas verfügen über eine besondere Form der Kommunikation, die …« Wir folgten dem Clanführer durch das Material der Tuilerie, das sich verfestigt hatte. Der runde Tunnel, der sich an drei Stellen zu einer Kugel erweiterte, war ungefähr hundertfünfzig Schritte lang. »Wir haben sehr starke, stationäre Satelliten. Funkstrahler und Empfänger. Alle drei Cappin-Standardjahre legen die 46 JuclaStämme bei der Thein-Versammlung die Koordinaten dieser Leuchtfeuer fest«, erklärte Abenwosch begeistert. »Und was bedeutet das für uns?«, fragte ich und balancierte auf einem Steg über die Ausstülpung, die ebenso wie das TuilerieMaterial leise knackte. Abgestandene warme Luft und Geruch nach kaltem Schweiß schlugen uns aus der offenen Schleuse der TIA entgegen. In der AVACYN waren die
20 Ganjasen Amendariasch und Abreime Shastich als Bordwache eingeteilt; Ypt Karmasyn hielt die Verbindung zu uns aufrecht. Die stechenden Schmerzen unter der Schädeldecke nahmen wieder zu. Ich spürte sie bei jedem Schritt und bewegte mich vorsichtiger. »Es wird also alle drei Jahre eine Thein-Versammlung abgehalten?« »Nein. Wir Juclas bestimmen ein Datum und rufen einander zusammen, wenn eine wichtige Abstimmung nötig ist. Es gibt keine festen Termine. Wir treffen uns nach Übereinkunft auf dem Thein-Platz; bald wird es also wieder so weit sein. Alle Juclas richten ihre Funkstrahler auf diesen Leuchtfeuer-Satelliten aus. Gleichgültig, in welchem Teil des Sternhaufens ihre Schiffe fliegen. So sind die Stämme jederzeit in der Lage, wichtige Nachrichten abzurufen, also hauptsächlich alle Informationen, die sie selbst betreffen. Nach unserem Gespräch richte ich einen Aufruf an alle. Bis sie eintreffen, dauert es einige Zeit.« »Verständlich. Eure Komplexe sind wahrscheinlich über ein riesiges Gebiet verteilt.« »Nach dem Leuchtfeuer-Kontakt weiß ich, von woher die anderen kommen und wie lange sie brauchen«, führte Abenwosch aus. Er war von seiner zukünftigen Bedeutung weitaus mehr überzeugt als von meiner Wichtigkeit. Immerhin: Er glaubte mir. Abenwosch verhielt sich so, wie wir es erwartet hatten. Hektik diktierte sein Leben ebenso wie das aller anderen Juclas. Zamptasch hatte mir berichtet, dass die Lebenserwartung vieler Individuen durch umfangreiche medizinische Maßnahmen gesteigert worden war; einzelne Greisinnen und Greise starben erst jenseits von dreißig Lebensjahren. »Wir haben Zamptasch, einen alten Jucla, gerettet. Sein Schiff, die SIMBOYN, wurde bei eurem Kampf vernichtet. Er will nicht zu euch zurück, sagt uns aber nicht, aus welchen Gründen. Wie sollen wir mit ihm weiter verfahren?« Wir hatten die verhältnismäßig kleine Schleuse erreicht und stiegen über eine kur-
Hans Kneifel ze Rampe in den würfelförmigen Raum. Eine schweigende Abordnung der TIA erwartete uns. Abenwosch führte eine schwungvolle Geste aus, die uns aufforderte, das Schiff zu betreten. »Meine hochgeschätzten Gäste«, rief er und deutete in den hell erleuchteten Korridor. »Zamptasch, sagst du? Der MurraBalg? Der Alte mit dem hölzernen Stock?« »Derselbe«, bestätigte Carmyn grimmig und musterte die Inneneinrichtung des Flaggschiffs. In den Einmündungen der seitlichen Gänge standen Ercourras aller Altersstufen und winkten uns, klatschten und zeigten lachende Gesichter. Manche waren offensichtlich betrunken. Niemand störte sich daran. »Niemand hat Zeit für Zamptasch, den alten Zausel. Er ist eine Zumutung für jeden aufrechten Jucla. Der schlimmste Renitenzler im ganzen Stamm.« Abenwosch hob die Arme und wedelte mit den Händen, als würde er ein giftiges Verhängnis abwehren. »Das Glück bleibt dir treu, Atlan«, sagte die Kommandantin leise und nickte lächelnd den feixenden Juclas zu. Jetzt hatte ich, zu all den anderen offenen Fragen, mindestens zwei neue Probleme. Zamptasch und Abenwosch, der mich dazu benutzen wollte, sein ureigenes Spiel zu spielen. »Also bleibt er, wenigstens die nächsten Tage, bei uns an Bord.« Die TIA war offensichtlich eine alte Einheit der ABENASCH-Klasse, also achthundert Meter lang und eiförmig wie alle Cappin-Schiffe. Aber vor langer Zeit hatte der Raumer mit der grauen Molakanatstahl-Hülle zumindest an vielen Stellen der Inneneinrichtung seine strenge militärische Zweckmäßigkeit eingebüßt. Von den nomadisierenden Juclas waren die Innenräume mit viel Aufwand umgestaltet worden; nostalgische Planetenbilder und überflüssiger Zierrat begleiteten uns durch einige offene Schotten bis zum »Konferenzraum«, der von altertümlichem Prunk förmlich überladen war. Über den modernen Schiffssesseln hingen abgewetzte Felle und Decken, die wie Teppiche oder Grasmatten aussahen.
Die Versammlung
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Abenwosch stellte uns vor. Man musterte uns schweigend, mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Wir setzten uns an einen runden Tisch, und während weibliche Angehörige der Schiffsbesatzung uns mit Getränken und kleinen Happen bewirteten, die nach frisch gebackenem Brot rochen, begann Abenwosch zu erklären, welche Wichtigkeit die Ercourras im Verbund der Juclas besaßen. Ich nippte an einem heißen teeartigen Getränk und hörte zunächst schweigend zu.
* Wieder machte sich die Heilung meines Arms mit fast unerträglichem Jucken bemerkbar. Gleichzeitig suchte sich der Schmerz in meinem Kopf und den Nerven der Nackenmuskeln neue Zonen, in denen er wie mit Hunderten Nadeln und dumpfem Trommelschlag zu wüten begann. Der Zellaktivator schien machtlos gegen diese beiden Schmerzzentren. Ich setzte die ungewöhnlich große, wie eine Blüte geformte Tasse ab und hob die Hand. »Ich kann verstehen, dass du allen Juclas die Stärke deines Clans zeigen willst. Wenn ich dich in diesem Vorhaben unterstützen soll, brauche ich Informationen.« »Informationen?« Der Gedanke schien ihm fremd und passte nicht in sein Konzept. »Welche Informationen?« Es fiel mir schwer, Selbstsicherheit und Beharrlichkeit zu zeigen. Die Schmerzen machten mir zu schaffen und verhinderten klares Denken. Denk an die ARK SUMMIA, mahnte der Extrasinn. Was hätte dein Bauchaufschneider Fartuloon zu deiner Wehleidigkeit gesagt? Ich schrie innerlich einen ausgesucht bösen kolonialarkonidischen Fluch, der meine Kopfschmerzen nicht vertrieb, und versuchte mich zu beherrschen. An einen zweiten Einsatz des Flammenstaubs brauchte ich in diesem Zustand erst gar nicht zu denken … »Allgemeine und besondere Auskünfte über die Lage in Gruelfin«, antwortete die
Kommandantin an meiner Stelle. »Die Machtverhältnisse in der Galaxis sind undurchschaubar«, sagte Abenwosch ausweichend. »Da gibt es die verbrecherischen Takerer, die ebenso wie die Ganjasen einige Teile Gruelfins mehr oder weniger friedlich bewohnen, aber wir wissen von vielen Sternhaufen, in denen Cappins ohne jede Verbindung zu ihrer Heimat leben. Und ohne jede Beziehung.« Carmyn und ich tauschten einen langen, skeptischen Blick aus. Was Abenwosch uns erklärte, wussten wir ebenso gut. Carmyn verfügte wahrscheinlich über weit bessere Informationen als ich, denn mein Wissen bestand aus einem zufällig zusammengetragenen Mosaik einzelner Bestandteile und meiner Erinnerung. »Das wissen wir schon längst«, antwortete ich stirnrunzelnd. »Wenn auch der Stamm der Ercourras ständig die Nachrichten vom Leuchtfeuer abruft, dann verfügst du sicherlich über bessere und vor allem aktuellere Informationen«, brachte ich hervor und dachte, trotz meiner Zerfahrenheit, an den Flammenstaub. »Es geht um die Lordrichter, um einen Gegner, der euer aller Leben verändern kann.« »Beim Thein, wo sich alle Juclas friedlich miteinander mischen, erfahren wir alles, was andere wissen«, sagte Abenwosch. Er und seine Berater vertilgten die Essenshappen in auffälliger Schnelligkeit, fast in panischer Gier. Der verkürzte Lebenszyklus zwang die Körper in einen schnelleren Rhythmus auch der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung. Sie lebten nicht nur kürzer, sondern auch schneller. Und aufwendiger. Muße und behagliches Besinnen waren selten. Hast in jedem noch so kleinen Aspekt des Lebens war genetisch programmiert. Ich konnte mir gut vorstellen, dass während der Theins ein genetischer Austausch größten Ausmaßes stattfand. Während der Friedenspflicht lernten sich Tausende und Abertausende kennen, verliebten sich möglicherweise, paarten sich und schwängerten einander, und nur auf diese Weise entgingen
22 sie dem zusätzlichen Übel schleichender Inzucht. Aber auch von diesen Einsichten durfte ich mich nicht ablenken lassen. Ich nahm einen tiefen Schluck des herbsüßen Getränks und sagte: »Vor etwa zehn Jahren sind fünf so genannte Lordrichter – ich kenne nur diese Zahl – in Gruelfin aktiv geworden und haben unter den Völkern einen Bruderkrieg entzündet. Zuerst hetzten sie die Takerer auf. Diese überfielen ihre Brudervölker – ich brauche dir über die Takerer und diese Zeit nichts zu erzählen, Abenwosch. Vor einem Jahr haben die Ganjasen fernflugtaugliche Pedopeiler nach Gantrain entsandt und durch Pedotransferierung gezielt Informationen gesammelt.« »Und davon willst du nichts gewusst haben, Kommandant?«, erkundigte sich Carmyn und straffte ihre Schultern. »Warum berichtest du dem heldenhaften Mitstreiter Ovarons nichts darüber?« Abenwosch schien ratlos zu sein. Seine Begleiter beteiligten sich nicht an der Unterhaltung, hörten aber mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Der junge Kommandant schien sich, dachte ich, auf seltsame Weise vor der Wahrheit zu fürchten. Nicht vor ihr selbst, sondern davor, sie mit einem »Helden« wie mir teilen zu müssen. »Nur Mut, Clanoberhaupt«, munterte ich ihn auf. Die Schmerzen und der dumpfe Druck in meinem Schädel ließen nicht nach, trotz des belebenden Tees. »Wir sind im Kugelsternhaufen Schimayn. Weit entfernt von Gruelfin.« »Wir, die Juclas, haben auf Kampf und Krieg verzichtet und leben zurückgezogen von den anderen.« Die junge Frau füllte die Blütentassen und setzte sich wieder. »Wir würden auch keinen Kampf mehr gewinnen, weil unsere Schiffe alt sind und viel schlechter geschützt und bewaffnet als die der Ganjasen und all der anderen.« »Auch das weiß ich längst«, antwortete ich. »Ebenso, dass eurer Heimatgalaxis rund 1400 Kugelsternhaufen vorgelagert sind, in denen viele Juclas umherziehen. Also … es liegt an euch, eurem Leben einen neuen, ent-
Hans Kneifel scheidenden Sinn zu geben.« »Wie könnte das gelingen? Kennst du wirklich den Weg, der Erfolg verspricht, Atlan?« »Ja. Ich kenne wenigstens die Richtung«, sagte ich und deutete auf die Bildschirme an der Stirnwand des Versammlungsraums. »Dass ihr eure Schiffe zu Komplexen zusammenfasst, ist ein gutes Zeichen. Es könnte das Ende der unsteten Lebensweise sein.« Abenwosch-Pecayl 966. beugte sich vor. Er schien sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben. Die Holoschirme zeigten die Voraus-Ansicht der Bordkameras. Die Koordinaten der Raumschlacht und das Trümmerfeld lagen etliche Lichtstunden hinter uns. Der Komplex bewegte sich unterlichtschnell auf die Galaxis Gruelfin zu, die von den Terranern auch Sombreronebel genannt wurde, weil sie von der Form her der ausladenden Kopfbedeckung der alten Mexikaner glich. »Um nicht die Zeit mit nutzlosen Diskussionen zu vergeuden, Atlan, mache ich einen Vorschlag«, stieß Abenwosch erregt hervor. »Wir hören!« Ich nickte Carmyn zu. »In rund acht Tagen wird nach meinem Rundruf die nächste Thein-Versammlung stattfinden. Wir treffen uns im Kugelsternhaufen Eschnat. Wie du dir denken kannst, ist auch dieser Kugelsternhaufen wie Schimayn unserer Heimatgalaxis vorgelagert.« »Wie weit ist der Treffpunkt von uns entfernt?«, fragte die Kommandantin. Carmyn schien sich, je länger unser Gespräch dauerte, zu wandeln. Sie wurde lebhafter und begann sich plötzlich für die fremdartigen Bilder, Verzierungen und Teile der Einrichtung zu interessieren. Je intensiver sie sich mit einer Sache beschäftigte, desto mehr wuchs ihre Attraktivität. Eine große, schlanke, fast hagere Frau, die ich mir durchaus in meinen Armen vorstellen konnte; ein lebendiges Wesen, bei weitem nicht so überirdisch schön und daher fast schon abstrakt wie Kythara … Müßige Überlegungen, Arkonide! »Ein langer Flug von 37,911 Lichtjahren
Die Versammlung führt uns bis zur Sonne Tyss und zum Planeten Ept im Kugelsternhaufen Eschnat,« antwortete Abenwoschs Begleiter. »Ihr legt ihn im Komplex zurück?« »Die Ercourras sehen in diesem Zusammenschluss ein Höchstmaß an Sicherheit«, erklärte Abenwosch. »Letztlich ist der Mond Eptascyn unser Ziel. Dort stehen die Hyrscen der Juclas.« Ich zuckte mit den Schultern. »Was darf ich mir unter Hyrscen vorstellen?« Abenwosch lachte kurz und schlürfte seine halb volle Tasse in einem Zug leer. »Eptascyn ist der einzige große Mond des Planeten. Dort findet das Treffen statt, während die Schiffe im Orbit kreisen. Die Hyrscen beherbergen die Ausgewählten; es sind schlichte Hütten, die aber alles andere als dürftigen Schutz bieten.« Die Antwort ließ mich an ein archaisches Thing denken, während dem die Teilnehmer in primitiven Zelten und Laubhütten lagerten, Met in sich hineinschütteten und an Lagerfeuern Trockenfleisch kauten. Irgendwie passte die Vorstellung zu den nomadisierenden Ercourras. Ich forschte vergeblich im narbigen Gesicht des Anführers. »Und dort erfahre ich, was ich wissen muss, um gegen die Lordrichter und ihr ominöses Schwert der Ordnung vorgehen zu können?« »Auf Eptascyn wirst du alle Anführer von 46 Jucla-Stämmen treffen. Die Versammlung ist absolut friedlich.« Abenwosch schien erfreut und erleichtert darüber zu sein, dass er sein Wissen nicht vor uns ausbreiten musste. Vorausgesetzt, er besaß genügend Informationen über die gesamte Situation. Vielleicht fand ich heraus, warum er so verschlossen blieb. Schämte er sich etwa noch darüber, dass er die Raumschlacht deswegen angefangen hatte, weil er und sein Clan der uralten genetischen Programmierung gefolgt waren, ohne sich beherrschen zu können? »Das Treffen ist eine der wenigen Basisstrukturen der Nomaden. Ich habe für den Flug nach Eschnat ungefähr fünf Tage errechnen lassen. Nimmst du die Einladung
23 an, Atlan?« »Wenn sie meine zehn Besatzungsmitglieder einschließt«, sagte ich. »Selbstverständlich. Die AVACYN bleibt an deinem Schiff angedockt? Und … Zamptasch soll uns weiterhin belästigen?« »Ich bitte im Namen aller Ercourras darum. Später sehen wir weiter.« Er nickte und stand ruckartig auf. Eine Sekunde danach hatte er sich wieder völlig in der Gewalt und unterdrückte seine Hektik. »Weiter, mehr und genauer«, fügte er hinzu. »Deine ganjasische Besatzung ist ebenfalls eingeladen, unsere Gastfreundschaft kennen zu lernen. Die Tuilerie zwischen unseren Schiffen bleibt bestehen. Wenn ihr etwas braucht, lasst es mich wissen. Besucht die TIA – ihr seid stets herzlich willkommen!« »Danke«, sagte ich. Carmyn schob ihren fellgeschmückten Sitz zurück und sah mich fragend an. Ihr unsichres Lächeln verwandelte ihr Gesicht, das von kleinen Falten gezeichnet war, in ein apartes ganjasisches Antlitz. Sie verstand ebenso wenig wie ich, warum Abenwosch seine Kenntnisse nicht mit uns, zumindest nicht mit mir, teilen wollte. Ich wies mit dem Kinn zum Schott und stemmte mich hoch. Einen Atemzug lang wirbelten die Bilder vor meinen Augen, dann stabilisierte sich mein Blick. »Wir werden in die AVACYN zurückgehen und uns während des Flugs umsehen.« Abenwosch bedeutete seinen Clangenossen, uns zu begleiten. Als wir zur Schleuse zurückgingen, war der Hauptkorridor leer. In der veränderten Tuilerie sagte der Extrasinn drängend: Gib auf Abenwosch und seine Ercourras Acht. Zumindest er verbirgt etwas. Mit dir hat er eigene Pläne. Welche? Versuch es herauszufinden! Die röhrenförmige Verbindung zwischen den Schiffen war erhärtet, bewegte sich aber wie eine flexible Röhre. Die Wand war mit dick aufgesprühten Ornamenten verziert worden, die im Licht eines schmalen Leuchtbandes über unseren Köpfen in grellen Farben glitzerten. Unter dem dicken
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Hans Kneifel
Streifen unter unseren Sohlen, der an dunkelgrünes, von kleinen Blüten durchsetztes Gras erinnerte, verlief unsichtbar eine Gravitationslinie, die etwa zwei Drittel der gewohnten Schwere erzeugte, etwa 0,75 Gravos. In den kugelförmigen Verdickungen hatten sich Rankengewächse mit winzigen Saugnäpfen festgeklammert, deren gezähnte, fleischige Blätter einen Geruch nach Wald und kühlem Regen ausströmten. »Ein interessantes Verfahren«, bemerkte die Kommandantin und zupfte an einem feuchten Blatt, »Verhältnisse herbeizuführen, die sie als natürlich empfinden. Wenn solche Tuilerien sich zwischen allen Schiffen spannen, haben die Ercourras weniger Sorgen mit ihrem Luftvorrat.« »Fast vierhundert Schiffe«, antwortete ich, »jeweils zwei oder drei lange Röhren – das entspricht einem soliden Park.« Mit einem leisen, dumpfen Geräusch schloss sich die äußere Schleusentür der TIA. Wir betraten wieder die hinreichend vertraute Umgebung unserer AVACYN. Ich musste meine Kopfschmerzen loswerden, sagte ich mir. Rund fünf Tage lang hatte ich dazu Zeit. Wenn nichts Unerwartetes passierte …
3. Lange, verlustreiche Jahre tobten die Kämpfe und Kriege zwischen den Juclas und den zahlreichen Völkern Gruelfins. Es gab keinen Frieden in der Großen Sterneninsel. Der Taschkar der Takerer manipulierte Teile der stellaren Völker und erzeugte Mutationen unter den Siedlern der Randbezirke, die sich gegen ihre Verderber wehrten und sie ohne Erbarmen bekriegten. Die Mehrzahl aller Cappins wollte sich nicht von jener »Schutztruppe« und deren absurden Gesetzen unterwerfen lassen, denn die jungen Völker schienen zwar über scharfen Verstand zu verfügen, aber ihr Lebensbild war amoralisch und von großer Grausamkeit geprägt. Erst die Rückkehr und der machtvolle Kampf des Ganjos Ovaron einten die Gruel-
fin-Völker und halfen ihnen, die Juclas zu vertreiben. Die besiegten Clans zogen sich aus der Galaxis zurück, und seither suchen die Juclas nach einem Weg, ihr individuelles Leben zu verlängern. Aus den GANJO-LEGENDEN, verfasst zur Zeit des Pentschypon-Kala 896. Ich hatte den Raumanzug mit Reservetanks und einem Flugaggregat ausgestattet, mit einem zusätzlichen Bildfunkgerät und mehreren Minikameras. Während der nächsten Stunden hielt die junge Ganjasin Ypt Karmasyn das Funk- und Ortungsterminal besetzt; Carmyn war verständigt und hoffte, ebenso wie ich, dass mein Vorhaben uns zusätzliche Informationen bescheren würde. Neben den Portalen des Beiboothangars befand sich eine Personenschleuse. Kaystale begleitete mich durch das halbe Schiff und half mir, den Anzug zu schließen. Der ganjasische Raumanzug, fast ein leichter Raumpanzer, war leider nicht mit dem überlegenen varganischen Modell zu vergleichen. »Ich wiederhole mich ungern«, sagte sie in ungewohnt weichem Tonfall, »aber du musst nicht unbedingt auch uns beweisen, welche heldenhaften Kämpfe du mit Ovaron überlebt hast. Lass es bleiben.« »Vergiss Rhodan nicht und all die anderen.« Ich grinste aufmunternd. »Ich gehe nicht das geringste Risiko ein, Kaystale. Aber ich werde den verdammten Verdacht nicht los, dass die Ercourras etwas verbergen, woran wir alle bisher nicht gedacht haben.« »In Ovarons Namen. Komm sofort zurück, wenn's zu gefährlich wird. Versprochen, Arkon-Held?« Sie bewegte geräuschlos ihre metallenen Fingerglieder. »Versprochen, takerische Einzelkämpferin.« Ich schloss den Anzug, checkte noch einmal sorgfältig sämtliche Funktionen und legte die Hand auf die Kontaktfläche. Leise summend glitten die Teile der Schleusentür
Die Versammlung auseinander, kurz darauf die Segmente der Außentür. Vor mir lag das Vakuum des Weltraums, ohne Sterne, aber voller Scheinwerfer und Lichter, die aus Schiffsöffnungen in allen Größen strahlten. In meinem Blickfeld lagen … neun, zehn, elf Schiffe und die mächtige Bordwand der TIA. Und etwa zwei Dutzend Tuilerien. Die meisten waren von innen beleuchtet und schimmerten schwach in der gebrochenen Dunkelheit. Ich krümmte die Beine, stieß mich ab und schwebte, mich einmal langsam überschlagend, aus der Schleuse. »Alles in Ordnung, Ypt«, sagte ich leise. »Sehen wir nach, was wir finden.« Etwa hundertfünfzig Meter betrug die Distanz zwischen den meisten Schiffen. Ich schwebte hinüber zum nächsten Schiff, stabilisierte meine Fluglage mit winzigen Stößen aus den Projektoren des Aggregats und drehte vorsichtig am Regler des Funkgeräts. »Deine Kameras und die Mikroortung arbeiten zuverlässig. Vor dir scheinen aber keine sensationellen Vorgänge stattzufinden«, sagte Ypt. »Sie sind auch nicht zu erwarten«, antwortete ich. Ich ging auf gut Glück vor. Wer suchet, der findet, lautete ein altes Sprichwort. Verbargen die Ercourras überhaupt etwas? Vielleicht überstieg mein Misstrauen die Wirklichkeit zwischen den knapp vierhundert Schiffen? »Vor dir, im kleineren Schiff rechts in Flugrichtung, bewegen sich auffällige Gestalten.« »Danke.« Ich steuerte in die angegebene Richtung und schwebte langsam, ohne Körperdrehungen, auf das Heck des Schiffes zu. Während ich dahin driftete, öffneten sich große Hangartore, und ein stechendes, purpurnes Licht zeigte mir zwei Reihen Juclas in Raumanzügen, die einige längliche, sackförmige Gebilde umstanden, die ausgestreckt auf einem langen Postament lagen. Die Beleuchtung des leeren Hangars wechselte in langsamem Rhythmus; violett, dunkelrot, blinkend weiß,
25 dann wieder dunkelblau. In den Anzuglautsprechern ertönte eine schwermütige, von tiefen Trommelschlägen skandierte Musik, die über den gegenwärtig geschalteten Funkkanal übertragen wurde. Ich drehte mich halb herum und hatte plötzlich das Gefühl, etwas Wichtiges mitzuerleben. Sieh genau hin. Eine Zeremonie, Arkonide. Erinnert sie dich nicht an bekannte Vorgänge?, hinterfragte der Extrasinn auf penetrante Weise. Musik, Licht, Trommelschläge … Schräg hinter mir lag die vertraute Erscheinung der Tuilerien-Maschine. Sie kam in der gleichen geringen Geschwindigkeit auf die Öffnung des Schiffes zu wie ich. Was hatte das Gerät hier, zwischen fertig gestellten Tuilerien, zu suchen? Ich erreichte die Bordwand des Schiffes, aktivierte einen Saugnapf und hielt mich am Cappinstahl fest. »Da geht etwas Besonderes vor«, sagte ich leise. »Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint nicht gefährlich zu sein. Und auch wenig geheimnisvoll.« »Wir sehen alles und zeichnen auf«, antwortete Ypt sachlich. »Ihr zeichnet … eine Weltraumbestattung auf«, sagte ich, halbwegs von meiner eigenen Feststellung überrascht. »Das ergibt einen bestimmten Sinn.« »Verstanden. Wir beobachten weiter.« Ich schloss einige Atemzüge lang meine Augen und ließ die Musik auf mich einwirken. Sie erinnerte mich an Klänge, die ich mit Nomaden verband, seien es solche einer planetaren Wüste oder des Weltalls; gemischt mit Relikten einer grandiosen, brachialen Vergangenheit, durchtränkt von der Hoffnung einer fröhlichen Zukunft. Die weihevolle Musik beeindruckte mich und brach Gedanken und Empfindungen los, die tief in den Sedimentschichten meiner Vergangenheit geruht hatten. Die schwarz glänzenden Behältnisse hoben sich um einige Meter und schwebten, von unsichtbaren Feldern getragen, auf die Öffnung des Hangars zu und hintereinander hinaus. Sicher verfolgten viele Ercourras auf
26 Holoschirmen das Geschehen, hörten die getragene Musik. Das purpurne Licht erlosch, an den etwa zwei Meter langen Säcken leuchteten winzige Positionslampen, als sie sich in die Richtung des Tuilerien-Gerätes bewegten, in gerader Linie wie blinkende Prozessionsraupen. Sieh dich vor, dass du nicht in den Status der Zwangserzählungen gerätst. Beherrsche dich, Arkonide! Du musst unbedingt verhindern, dass die Zusammenballung deiner einschlägigen Erinnerungen dich überwältigt!, mahnte mein Extrasinn mit Nachdruck. An der Schiffshülle haftend, kämpfte ich gegen den Drang an. Ich hatte in meinem langen Leben schier unzählbar viele Funeralien dieser und anderer Art miterlebt. Manche galten meinen besten Freunden oder einer von meinen einzigartigen Geliebten. Die Sargsäcke schwebten über die Distanz von etwa zweihundert Metern und wurden von einem gitterartigen Behälter der RöhrenMaschine aufgefangen. Noch immer wurde das Ganze von der ungewöhnlichen Musik begleitet. »Jetzt landen die Leichensäcke an einer Stelle, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben.« Ich versuchte eine Erklärung. Die Röhren-Fabriken verwendeten und mischten verschiedene, mir nicht bekannte Rohstoffe und Materialien, um die Verbindungen zwischen den Schiffen herzustellen. Was taten sie mit toten Ercourras, und darüber hinaus – waren auch bei anderen JuclaKomplexen solche Bräuche üblich? Eine unsichtbare Kraft saugte die Totenbehälter aus dem Gitterkorb ins Innere des Schiffes, wo sie verschwanden. Das Reparaturschiff zog sich mit mehreren Schubstößen in die Dunkelheit des Komplex-Inneren zurück; jetzt wurde auch die Musik leiser und verstummte nach einer Minute völlig. »Es mag würdelos und zynisch klingen«, meldete sich Kaystale und lachte kurz und verlegen, »aber auch Leichen sind wieder verwertbar. Viel Flüssigkeit, viel Eiweiß …« »Erspare mir weitere Einzelheiten«, bat
Hans Kneifel ich. »Vielleicht hast du sogar Recht. Die Idee, auf wieder aufbereiteten Leichenbestandteilen von Schiff zu Schiff zu wandern, behagt mir keineswegs.« »Morgen kannst du Abenwosch danach fragen. Oder besser Zamptasch. Er wird kein Blatt vor den Mund nehmen«, schlug Carmyn vor. Ich hatte kaum noch Kopfschmerzen, aber die Erinnerung an etwa zehn Jahrtausende unterschiedlicher Riten und Gebräuche auf Larsaf III zehrte an meinen Nerven. Ich löste die Haftfläche, drehte mich in Position und betätigte den Hebel. Der Rückstoß des Aggregats trug mich tiefer in den Bereich zwischen den Schiffen hinein, und andere Worte und Sätze, die mein Funkgerät auffing, lenkten mich ein wenig ab. Liebesgestammel!, bemerkte der Logiksektor nach einiger Zeit. Vor dir, Atlan! Sieh auf den Ortungsschirm! Im gleichen Augenblick meldete Ypt: »Zwischen den drei kleineren Schiffen, genau in deiner Flugbahn, bewegen sich kugelförmige Echos ungewöhnlich langsam. Sie sind nicht metallisch, aber sie enthalten auffällige Bewegungsstrukturen.« »Ich sehe nach«, antwortete ich und setzte die Energie des Mikrotriebwerks herauf. Die vage Helligkeit zwischen den Schiffen nahm ab, und kein Schiff sendete Musik. »Ein kleiner Schwarm, etwa drei Dutzend Objekte«, meldete nach einigen Minuten die Funkerin. »Ohne erkennbaren Antrieb. Sie schweben einfach so dahin.« Vor meinem inneren Auge erschienen Gondeln, die lautlos durch venezianische Kanäle steuerten. Und schon sah ich mich in den Armen einer schönen Frau. Es war Merceile. Das silberne Mondlicht schimmerte im Weinglas … Was Wünsche betrifft, empfehle ich Zurückhaltung. Noch trägst du geringe Spuren Flammenstaubes in dir, die theoretisch alles Mögliche anrichten könnten. Mein unermüdlicher Spielverderber hatte Recht. Die Gefahr, dass leidenschaftliche Frauen vom Himmel regneten, war einfach zu groß. Kythara zurückzugeben, vermochte
Die Versammlung
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selbst der Flammenstaub nicht. Sie war in meinen Armen gestorben, die Trauer über ihren Tod und den Verlust, dessen Bedeutung ich noch gar nicht überblicken konnte, ließ mich nicht los, und alles, was mich an ein gutes, problemfreies Leben erinnerte, war so weit entfernt wie … Venedig.
* Offensichtlich hatten die Ercourras ihre Nahortung nicht in Betrieb, denn mein zielloses Dahinschweben fiel niemandem auf. In den verschiedenen Funkkanälen, zwischen denen ich ständig wechselte, herrschte Stimmenwirrwarr. In der Beschleunigungsphase des Komplexes besuchten zumindest die Erwachsenen einander und wechselten von Schiff zu Schiff. Ich hörte Dutzende verschiedener Schiffs- und Jucla-Namen; hektisch wurden Verabredungen getroffen, meistens eindeutige Aufforderungen, sich zu leidenschaftlichen Besuchen zu treffen. Das erste kugelförmige Objekt kam näher. Ich sah, dass die fast glasartig durchsichtige Blase von innen in wechselnde Beleuchtung getaucht wurde. Rosa, rot, dunkelrot und wieder rosa. Auf einer runden Liege im unteren Drittel vergnügten sich zwei nackte Juclas miteinander und hatten keine Augen für die dunkle Umgebung. Die weiche Unterlage enthielt höchstwahrscheinlich einen Generator, der schwache Gravitation erzeugte; als die Kugel von etwa drei Metern Durchmesser an mir vorbeischwebte, eine Tuilerie sanft berührte und dadurch die Richtung geändert hatte, kam ein Pärchen auf mich zu, das den Generator ausgeschaltet hatte und sein erotisches Spiel in der Schwerelosigkeit genoss. »Wir haben die Nacht der ErcourraLeidenschaft herausgesucht«, meldete ich. »Überall wird an Ersatz für die Opfer der Pedopeiler-Schlacht gearbeitet.« Ypt lachte und murmelte etwas Unverständliches. Ich erfuhr, dass bei der Zerstörung einiger Tuilerien die komplette Nusszucht erfroren
und verdorben war, dass die Reben in mindestens sieben langen Verbindungsröhren unwiderruflich vernichtet worden waren und der Weinertrag wohl nur halb so groß sein würde. Die Ercourras beklagten den Verlust Hunderter Schiffsinsassen – vom Kleinkind bis zum Greis. Und immer wieder verabredeten sich unzählige weibliche und männliche Clanangehörige zu Stelldicheins und versprachen sich gegenseitig sexuelle Wonnen. Ich schob mich durch den Reigen der fluoreszierenden Kugeln. Keines der Paare bemerkte mich. Durch die Tuilerien huschten Schatten hin und her. Plötzlich, bei einem zufälligen Kanalwechsel, glaubte ich Abenwoschs Stimme zu erkennen. »… nachgeprüft. Auch ein paar unserer Alten haben es bestätigt. Es klingt wie eine Legende, aber es ist historische Wirklichkeit! Ovaron und Atlan und noch einige andere waren damals zu potenziell Unsterblichen gemacht worden. Der Arkonide ist der Älteste von ihnen.« Unzweifelhaft handelte es sich um Abenwosch. Es war mir also gelungen, ihn restlos zu überzeugen. »Dir bleiben an Atlans Seite vielleicht fünfzehn Jahre. Ein Jahr mehr oder weniger.« Eine wohlklingende Frauenstimme, im Gegensatz zu Abenwosch gefasst und ruhig. »Du willst es wagen, die Ercourras, uns alle, zu Anführern aller Juclas zu machen?« Ohne Pause, als ob er von Sendungsbewusstsein durchdrungen wäre, erwiderte Abenwosch: »Atlan und ich, er als mein Ratgeber, mit dem Wissen eines Unsterblichen! Das ist einmalig in der Geschichte der Juclas! Ich kann es schaffen.« Seinen Ehrgeiz hatte ich kennen gelernt. Er schien die Wahrscheinlichkeit, dass der Widerstand gegen die Lordrichter große Opfer erforderte, nicht wahrhaben zu wollen. Mit seinen rund vierhundert Schiffen stellte er keinen Machtfaktor dar. Auch ich konnte weder eine Raumflotte herbeizaubern noch das Schwert der Ordnung von innen heraus kaltstellen. Abenwosch stellte sich das
28 Langzeitproblem wahrscheinlich mehr wie ein Kind vor, das an Wunder glaubte, wenn es an der Hand eines mächtigen Freundes hing. »Bisher hast du meine Ratschläge befolgt. Jedenfalls die meisten. Wirst du mich weiterhin brauchen, wenn du vierzig oder mehr andere Juclas anführst?« Sprach da Abenwoschs Schwester? Seine Geliebte? Seine Mutter? Eine weise Ratgeberin? Meine Kopfschmerzen waren nicht stark genug, um klares Denken verhindern zu können, aber ich spürte noch immer die Nachwirkungen des minimal eingesetzten Flammenstaubs. Zum ersten Mal hegte ich den Verdacht, die Sprecherin sei keine Gengeschädigte, sondern ein »normaler« weiblicher Cappin. »Du hast sämtliche Aufzeichnungen aller Begegnungen mit dem Arkoniden gesehen. Ich habe dir die Informationen aus den historischen Speichern überspielt.« Die Antwort klang vorwurfsvoll und trotzig, so als wehre sich Abenwosch gegen die Bevormundung. »Du weißt ebenso viel wie ich. Du wirst als Erste erfahren, was ich auf Eptascyn erreicht habe, zusammen mit dem Unsterblichen.« Seine Stimme verriet seine Unruhe, seinen Drang und seine Selbstzweifel. Bisher hatte ich zwar Einblicke in die Gesellschaftsstruktur der Nomaden erhalten, war aber, was Abenwoschs Pläne betraf, nicht klüger als zuvor. Vielleicht hat er keinen raffinierten Plan, sondern handelt spontan und instinktiv, flüsterte mein Logiksektor. Die leuchtenden Blasen waren mit unbekanntem Kurs davongezogen. Noch immer glitten die Schatten erregter Ercourras durch die Tuilerien. Sicher erschien mir nur, dass der Clanführer nicht an die Sesshaftigkeit seiner Gefolgsleute dachte. Er und die rätselhafte Sprecherin schwiegen minutenlang. »In kurzer Zeit geht der Komplex in den Hyperraum. Benütze die ruhigen Stunden, um alle deine Vorhaben genau zu überprüfen. Frage mich! Dein Weg zum Clanführer
Hans Kneifel war kurz, jäh und erfolgreich. Die Zukunft kann nur in Ruhe und unter sorgfältiger Abwägung aller Einzelheiten gestaltet werden«, sagte die namenlose Frau. Abenwosch war nicht dieser Meinung. Seine Antwort war, wie ich nicht anders erwartet hatte, drängend, fast explosiv: »Ich habe eine Vision. Schon immer. Jetzt habe ich Hilfe und Unterstützung. Auch deine Träume werden wahr!« »Meine Träume sind anders als deine, Abenwosch. Vielleicht wird ein anderer ausführen und beenden, was wir uns vorgestellt haben«, antwortete die Frau wehmütig. Klick. Der Dialog endete abrupt. Ich orientierte mich und sagte zu Ypt: »Ich komme zurück. Einen Peilstrahl bitte.« »Habe ich erwartet«, antwortete sie. »Ich kann nur hoffen, dass du die letzten Geheimnisse der Juclas enthüllt hast.« »Nicht einmal ein ganz kleines, Ypt.« Sie konnte mein Grinsen nicht sehen. Mit kurzen Impulsen des Triebwerks schob ich mich zwischen den Tuilerien hervor in den leeren Raum des Komplexes und beschleunigte. Schweigend dachte ich über das Gehörte nach; der junge Kommandant und seine mütterliche Partnerin – das konnte eine zutiefst romantische Angelegenheit sein. Seine Geliebte, vielleicht von ihm schwanger, das gemeinsame Kind als Nachfolger? Abenwosch-Pecayl 967.? Aber gleichzeitig quälte mich die Einsicht, dass ich nichts wirklich Wichtiges erfahren hatte. Mein Streifzug zwischen den Schiffen war unterhaltsam, eigentlich voyeuristisch, aber fruchtlos gewesen. Und trotzdem waren Abenwosch und die anderen Clanchefs eine wichtige machtpolitische Gruppe. Einzeln mochten sie Piraten sein, räuberische Raumnomaden, listige Ausbeuter einsamer Planeten oder genversehrte Eigenbrötler, die Erinnerungen an ihre einstige Heimat in Form von Gewächsen und Zeremonien seit einer kleinen Ewigkeit mitschleppten. Ich hatte vor, sie im Kampf gegen die Lordrichter zu vereinen.
Die Versammlung
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Aber wenn … Aber wenn außer mir noch ein anderer die gleiche Vision hatte? Ein zweiter Ovaron? Oder eine andere Gestalt aus der Vergangenheit? Er würde kaum anders handeln als ich; wahrscheinlich viel nachdrücklicher. Spätestens während des Theins wirst du es wissen, Arkonide!, erklärte der Logiksektor. Eine halbe Stunde später erreichte ich die kleine Schleuse, kehrte zurück in die scheinbare Geborgenheit der AVACYN und verbrachte den Rest der Nachtperiode damit, den drei Schiffswachen Einzelheiten meiner Beobachtungen zu erzählen.
* Von den rund 125 Stunden waren weniger als zwei Drittel vergangen. Der große Schiffsverband hatte sich zu meiner Verblüffung gleichmäßig, in beruhigender Synchronisation, in Bewegung gesetzt und hatte zusammen mit der AVACYN den dreidimensionalen Raum verlassen. Der Bug der TIA wies nicht mehr länger zum herrlichen Bild der Galaxis Gruelfin, sondern auf einen Punkt jenseits seines Randes. Im Halbdunkel meiner Kabine erinnerte ich mich an weit zurückliegende Geschehnisse in der Kleingalaxis Morschaztas und der Terrosch-Rotwolke. Mit jeder Stunde und nach kurzen Schlafperioden schwand ein Teil meiner Schmerzen; die Heilung meines Arms schritt auch voran. Über der nachgewachsenen, empfindlichen Haut trug ich nur noch eine transparente Schutzschicht. An Bord der AVACYN herrschte gemäßigte Langeweile, die nur hin und wieder durch Zamptaschs Gezeter unterbrochen wurde. Carmyn und Silesiante checkten Antrieb und Maschinen, Myreilune schminkte ständig ihr rundes Gesicht nach, und Ypt durchforschte emsig den Funkverkehr zwischen den Schiffen, ohne aber nennenswerte Neuigkeiten herausfiltern zu können. Ein seltsame Hassliebe verband mittler-
weile Kaystale und den alten Zamptasch. Er verhielt sich im wahrsten Sinn ambivalent. Zweimal hatte die hochgewachsene Kämpferin ihm den Stock entrissen, in einer blitzschnellen Bewegung, und gedroht, die Einbein-Krücke mit dem Vibromesser aus ihrem Stiefelschaft zu handlangen Stücken zu zerschneiden oder das »hässliche Ding« in den Konverter zu schieben. Anschließend bezwang und bezähmte er sich und erzählte ihr aus seiner Vergangenheit und von den Streif- und Raubzügen der Ercourras. Und meist schloss er mit weitschweifigen Berichten seiner erotischen Erlebnisse, die die in ihrem Aussehen geschädigte Takererin an ihre missliche Lage erinnern sollten. Mühelos vertiefte Zamptasch den ersten Eindruck; er war wirklich ein egomanischer, bissiger Greis mit lädiertem Charakter. Wir konnten die Ercourras verstehen, die ihn nicht mehr zurückhaben wollten. Hyptosch, der unauffällige Pediaklast und Evoron Salto, der wissenschaftliche Leiter des Schiffes, koordinierten und archivierten Teile von Zamptaschs Erzählungen, meine wenigen Erkenntnisse und die kargen Informationen, die Ypt und Myreilune auffingen. Kalihen Pseez und Abreime Shastich zeigten sich als Allroundkräfte, versorgten uns mit aufwendig zubereitetem Essen und Getränken. Amendariasch half Silesiante, reparierte, baute Ersatzteile ein, putzte unentwegt und brachte der Funkerin siebenmal in einer Tagesperiode jenes sämige Symbiontengetränk, das widerlich süßlich roch und angeblich ihre Konzentrationsfähigkeit heraufsetzte. Sie schien geradezu süchtig nach dieser sirupartigen, grünlich gelben Flüssigkeit zu sein, in der kleine schwarze Mehrzeller zu schwimmen schienen. Zweieinhalb Tage dauerte es, bis ich mich erholt hatte und, ausgeschlafen, ohne Kopfschmerzen und mit fast ausgeheiltem Unterarm, in frischer ganjasischer Bordkleidung, am frühen Abend Bordzeit die Messe betrat.
*
30 Ich begrüßte die Ganjasen, belud mein Tablett mit gefüllten Schalen, Bechern, mit Besteck und Würzröhrchen und setzte mich zu Ypt Karmasyn an den Tisch. Der Komplex aus 345 Schiffen und unserer AVACYN jagte auf die Sterneninsel Eschnat zu. »Offensichtlich ein ereignisloser Flug«, sagte ich leise. »Wie ich sehe, seid ihr auch nicht auf überraschende Erkenntnisse gestoßen.« »Jeder Ausflug endet irgendwo in der TIA. Und dort sind alle Ercourras zwar sehr entgegenkommend, aber von einer beeindruckenden Schweigsamkeit«, bemerkte die Funkerin. »Einblicke ins innere Gefüge des Clans gibt uns nur Zamptasch.« »Und diese Schilderungen sind kaum mehr als Darstellungen seiner eigenen, keineswegs lobenswerten Befindlichkeit.« Carmyn am Nachbartisch breitete hilflos die Hände aus. Der Alte war nicht in der Messe; er schlief viel und brauchte nur wenig Fürsorge. Ypt Karmasyn blickte sich in einer Weise um, als fürchte sie sein überfallartiges Erscheinen. Ich begann mit gutem Appetit zu essen und merkte nach wenigen Bissen, wie hungrig ich eigentlich war. »Der Zausel hat uns weismachen wollen«, rief die Kommandantin zu uns herüber, »dass er viermal auf Eptascyn war und dort, jedes Mal als Teilnehmer eines anderen Clans, das Thein mitgemacht hatte.« »Wahrscheinlich stimmt es sogar«, mutmaßte ich. »Er ist schließlich alt genug.« »Und was weiß er wirklich?«, fragte Kaystale und sah mich über den Rand des Bechers durchdringend an. Ihr linkes Auge glühte grellrot, ihre drei metallenen Finger klopften einen aufgeregten Takt auf dem Rand eines Tellers. »Er kennt – jedenfalls behauptet er das – jeden Anführer, die Eigenarten vieler Clans, und er hat uns bestätigt, dass Abenwosch mit Atlan an seiner Seite im Triumph auftreten will.« Nichts anderes hatte ich mir vorgestellt. Die Nachrichtensperre galt nicht nur für uns,
Hans Kneifel sondern noch mehr für seine Clansangehörigen und erst recht für alle anderen Juclas. Er rechnete mit ihrem Erstaunen und ihrem Beifall. Aber auch in diesem Fall lagen die Gründe in der Vergangenheit und in dem Zwang eines jeden Juclas, innerhalb von drei Jahrzehnten alle Höhepunkte eines erfolgreichen Daseins zu erleben. Die Lordrichter und die Gefahr, die von ihnen ausging, schienen für die Ercourras kaum eine Bedeutung zu haben. »Zamptasch hat bestätigt, dass kein einziger Angehöriger eines Jucla-Stammes der Pedotransferierung fähig ist.« »Ich hab's vermutet«, brummte ich und aß weiter. »Was weiß er von den Lordrichtern?« »Er kennt die Rangbezeichnungen der Garbyor. Trobyor, Trodaryor, die Marquis, die über den Kommandanten stehen, die Erzherzöge, die den Befehlen der Lordrichter gehorchen. Er kennt auch die Bezeichnungen Oberste Lordrichter und Schwert der Ordnung. Die Begriffe haben die Ercourras vom Hörensagen und aus mitgehörten Funkgesprächen und aus Berichten von Überlebenden. Das scheint allgemeines Wissen der Juclas zu sein.« Seit meinem ersten Zusammentreffen mit Truppen der Lordrichter oder einem der Erzherzöge versuchte ich, hinter den Begriff »Schwert der Ordnung« zu kommen. Es gab unzählige Erklärungsversuche, aber keine Gewissheit. Ich hielt das »Schwert« für den Kern einer Legende, wahrscheinlich ein Gesetz oder eine Handlungsmaxime, ein galaktischer Imperativ. Sarkahan und Yyrputna, diese zwei Lordrichter, waren namentlich den Cappins bekannt; ich wusste dies von Heroshan Offshanor. Alles in allem hatte mir auch Zamptaschs Wissen nicht weitergeholfen. Immerhin wussten wir, dass die Ercourras bewusst versuchten, durch Konzentration ihrer Schiffe zu einem Komplex die starren Verhaltensmuster früherer Zeit aufzubrechen. Nicht mehr länger die Besatzungen einzelner Schiffe bildeten die Zellen der Gemein-
Die Versammlung schaft, sondern die Bewohner von Hunderten Schiffen. Eiförmig oder nicht, kleiner und größer, mit weniger oder mehr Besatzungsmitgliedern. »Wir treten auf der Stelle«, sagte ich und stapelte das benutzte Geschirr übereinander. »Ob wir auf dem Thein mehr erfahren, ist fraglich.« Wenn du sie am wenigsten erwartest, Arkonide, sagte der Extrasinn grämlich, wird dich die Gefahr überraschen. Misstraue der gegenwärtigen Ruhe! Carmyn und Evoron Salto berichteten von ihren Besuchen und Spaziergängen in der TIA. Die Besatzung war scheinbar begeistert, aber gab von der Struktur des Clans so gut wie nichts preis. Nur Minimales über die Beziehungen innerhalb der Familien, die Erziehung der Kinder oder die Versorgung der Alten, die häufig – laut Zamptaschs bissigen Auskünften – völlig bedeutungslos ihrem Ende entgegendämmerten. Wir hatten also trotz unserer Bemühungen insgesamt wenig Kenntnisse vom wirklichen Leben des Clans. »Es genügt wohl, dass wir davon ausgehen: Alle Weltraumnomaden verhalten sich mehr oder weniger gleich«, fasste ich zusammen. »In wenigen Tagen erleben wir das Treffen der Juclas.« Ypt Karmasyn schenkte ihren Becher mit der sirupartigen Symbiontenflüssigkeit voll und sagte: »Immerhin hat Abenwosch einen großen Informationsblock über den Treffpunkt zu uns überspielen lassen. Sechsundvierzig Jucla-Komplexe treffen zusammen; es sind Tausende verschieden großer Schiffe. Wir haben die Daten schon gesichtet, Atlan.« Ich trug mein Tablett zur halbrobotischen Kombüse zurück und antwortete: »Ich habe genug Zeit, um mich gründlich auf das Thein vorzubereiten. Ich bewundere an den Nomaden immerhin die Fähigkeit, viele Schiffe synchron zu beschleunigen, in den Hyperraum und wieder hinaus zu bringen und abzubremsen, ohne dass sämtliche Tuilerien abreißen.«
31 »Sie sind durch Prallfelder verstärkt und geschützt«, erklärte Carmyn. »Immerhin …« Ich blieb neben dem Sicherheitsschott stehen. »Ich arbeite in der Zentrale die Informationen über Eptascyn durch. Es ist immer besser, rechtzeitig Bescheid zu wissen.« Ich nickte den Ganjasen und der Takererin zu und ging ohne Eile zur Zentrale der AVACYN.
* Der große Ortungs- und Navigationsholoschirm über dem Steuerpult projizierte das Bild der Galaxis Gruelfin und etwa ein Drittel der Kugelsternhaufen, so, wie sie in einem Teleskop von Rand »meiner« Milchstraße aus zu sehen waren. Mit wenigen Schaltungen wählte ich bedächtig eine Ausschnittvergrößerung und las die Angaben der Distanzen und der Größen ab. Der Kugelsternhaufen Eschnat war der Westside Gruelfins vorgelagert, also links in dieser Darstellung. Er enthielt etwa 80.000 Sonnen. Eine davon war Tyss, ein K0-Stern mit rund 5000 Kelvin Temperatur und von durchschnittlicher Größe und Leuchtkraft. Ich gab seine Daten und Koordinaten ein und sah zu, wie der Rechner die Flugbahn des Komplexes nachvollzog. Die Optik näherte sich, vorbei an zahlreichen Sternen, dem Zielgebiet und definierte eine rote Sonne und deren einzigen Begleiter. Die Kurzcharakteristik des Planeten Ept wurde eingeblendet. Ept war etwa so groß wie der Jupiter des Solsystems, und seine stark geäderte Gashülle spiegelte mattrot das Licht seines Sterns. Der einzige Mond, Eptascyn, wies einen Äquator-Durchmesser von 4950 Kilometern auf, kreiste in 39,55 Tagen cappinscher Rechnung um seinen Planeten, was 29 Erdtagen entsprach, und drehte sich während 26 Stunden einmal um die eigene Achse. Die Anziehungskraft am Äquator betrug 0,77 Gravos; auf der »Hinseite« herrschten jene atmosphärischen Bedingungen, die aus
32 gemäßigten Zonen bekannt waren. Der Mond wandte also wie Luna dem Planeten stets dieselbe Hemisphäre zu, also eine »Merkur-Situation«. Auf ihr herrschte eine mittlere Temperatur von bis zu 45 Grad, noch angenehm für Arkoniden … »Die Rückseite nennen die Cappins Abseite. Dort schwankt die Temperatur zwischen minus 50 und plus 250 Grad«, murmelte ich. »Die Juclas brauchten Schutzanzüge, wenn sie den ganzen Mond bereisen wollten.« Ich prägte mir die verschiedenen Werte ein, las die Beschreibung der Abseite, studierte einige Bildfolgen der Starkwinde in der Librationszone und innerhalb des Terminator-Bandes sowie die Zusammensetzung der Atmosphäre und lehnte mich entspannt zurück. Ein seltsamer Platz für eine so wichtige Versammlung, bemerkte der Logiksektor. Der Mond ist als Ort für das Thein wahrscheinlich historisch bedingt. Die übrigen Angaben und Diagramme waren von geringerer Wichtigkeit. Die astronomischen Bilderfolgen zeigten die aufregenden Muster in der stürmischen Hochatmosphäre des Planeten, die aus verschiedenen Gasen und vermutlich Eiskristallen bestanden. Der Planet, dessen Albedo ungewöhnlich groß war, »beleuchtete« und wärmte Tag und Nacht die Hinseite des Mondes; der volle Planet wirkte schätzungsweise zwanzigmal so groß wie Luna und weitaus leuchtender als Terras Mond. »Also wird es auch auf Eptascyn recht stürmisch zugehen«, sagte ich mir und musste mir eingestehen, dass mich auch dieser Informationsblock nicht wirklich klüger gemacht hatte. Das Thein würde mir Gelegenheit geben, die wichtigsten Vertreter der Jungen Clans zu treffen. An mir lag es, sie von der Notwendigkeit eines Kampfes gegen die Lordrichter zu überzeugen. In jedem Fall war meine Lage vergleichsweise besser als zu manchem Zeitpunkt in der Vergangenheit. Ich war nicht nackt, nicht ohne Waffen, war keineswegs allein
Hans Kneifel und wusste, wo ich mich befand. Die nahe Zukunft würde zeigen, ob ich Erfolg hatte.
* Sämtliche Funkgeräte aller Schiffe des Komplexes aktivierten sich im selben Sekundenbruchteil. Aus der Zentrale der TIA kam die erwartete Durchsage. Die Autopiloten schalteten sich wie bei jedem Manöver dieser Art auf den Bordrechner der TIA, in dessen Zentrale Abenwosch-Pecayl 966. seinen Platz im Kommandantensessel eingenommen hatte. Der Flug hatte den Komplex zuverlässig an die unmittelbare Nähe des Zielsterns, Tyss im Kugelhaufen Eschnat, herangeführt. Schutzschirme bauten sich auf. Die Intensität der Zug- und Traktorstrahlen wurde heraufgesetzt. Das nächste Signal rief alle Ercourras aus den Tuilerien in den sicheren Schutz der Schiffe zurück. Bremstriebwerke liefen an, Steuerkodes wurden abgerufen, durch sämtliche Leitungen und Kanäle summten Myriaden von Signalen. Der Komplex glitt in den Normalraum zurück. Blitzartig füllten sich Bildschirme und Ortungsschirme mit Sternen. Im energetischen Kielwasser der Schiffe strahlte grellrot die Sonne Tyss; Abenwosch hatte während des Aufenthalts im übergeordneten Raum den riesigen Schiffsverband drehen lassen. Ebenfalls völlig synchron begannen die Bremstriebwerke zu arbeiten. Dennoch bewegten sich viele Röhren, knarrten und ächzten viele Tuilerien. Manche kleinere Schiffe vibrierten einige Sekunden lang, als die Verzögerungskräfte einsetzten. Im unterlichtschnellen Flug schob sich die tropfenförmige Anordnung auf die Zielsonne und ihr Einplanetensystem zu. Die vielen Sonnen des Kugelsternhaufens umgaben die Schiffe wie ein sicherer Wall aus Sternenmaterie, wie eine Kugelschale aus unterschiedlichen Leuchtpunkten und dunklem interstellarem Gas und Staub. Auf den Ortungsschirmen
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erschienen Zahlen und Symbolgruppen. Ept war noch vier Lichtstunden entfernt.
* Carmyn Oshmosh saß im Kommandantensessel, der in Ruheposition ausgeklappt war. Ich lag entspannt in Myreilunes Sitz. Um uns herum leuchteten, flirrten und zuckten die Bilder von mehr als einem Dutzend großer Holos. Im Funkpult war die Frequenz geschaltet, auf der Abenwosch bisher mit uns verkehrt hatte. Zwischen uns schwebte eine Servoplatte. Wir tranken Mineralwasser, Fruchtsaft und wenig Alkohol. In den Farbspielen der technischen Beleuchtung wirkte die Kommandantin fraulicher, entspannter und liebenswürdiger als zu allen anderen Stunden des Schiffseinerleis. Wir hatten über die galaktopolitische Großlage Gruelfins geredet, über Pedokontakte, Ovaron und Arkon, über die Eigenarten der Ganjasen von Morschaztas, die Takerer und die Loisooger, die Wesakenos aus dem Sorgelan-System und die Oldonen-Stämme, Planetenvölker und Machtfaktoren in Gruelfin, über die ganjasischen Cappins, die auf einigen tausend Kolonialwelten lebten; vieles zählte zur mehr oder minder ruhmreichen Vergangenheit. Über die korpulente, blond gefärbte Pilotin, die sich ständig in Opposition gegen die Kommandantin befand. Und natürlich über die Kontakte mit den Terranern und die auseinander gebrochene Gruelfin-Allianz. Mein nächstes Thema waren die Lordrichter, deren Spur die Ganjasen zur Milchstraße und zur Galaxis Gantrain (Dwingeloo oder Leda 100.170) verfolgt hatten. Noch während ich unsere Gläser füllte, ertönte ein Summer, und eine, zwei Schaltungen später erschien Abenwosch auf dem Kommunikationsschirm. »Zum ungünstigsten Zeitpunkt«, flüsterte ich. Carmyn lächelte und hielt, als ich ihr das Glas reichte, meine Hand länger fest als nötig. »Ich grüße dich, Atlan«, sagte er lachend
und aufgeregt. »Wir sind im Anflug auf den Planeten. Schon fünfzehn Juclas haben sich gemeldet. Ich lade dich in unsere Hyrsce ein.« »Danke«, antwortete ich. »Meine Mannschaft und ich werden den Shuttle der AVACYN ausschleusen und auf dem Mond landen. Ich brauche nur noch die Koordinaten der Landezone.« Abenwosch hob abwehrend die Hände. »Nur fünfzig Ercourras haben Platz in einer Hyrsce. Du darfst einen Begleiter mitnehmen; ein Beiboot der TIA bringt uns alle zum Thein-Gelände. Tut mir Leid – so lautet unser Gesetz. Ich rechne mit höchstens 2300 Teilnehmern. Du und dein Begleiter, ihr werdet Gäste in unserer Hyrsce sein.« Ich bemühte mich, meine Enttäuschung nicht zu zeigen. Mein Plan war gewesen, drei Frauen und Evoron Salto mitzunehmen. Dass die Clansführer mit ihren wichtigsten Gefolgsleuten am Thein teilnehmen würden, war selbstverständlich. Aber vielleicht hätte die Anwesenheit von mehreren Ganjasen irgendwelche Hitzköpfe verärgert. »Wie viel Zeit bleibt mir, um einen Begleiter auszusuchen?«, erkundigte ich mich. Abenwoschs schmales Gesicht glühte förmlich vor Stolz. Nur er hatte einen solch wichtigen Ehrengast! Er zog die breiten Schultern hoch und antwortete: »Wenig Zeit, Atlan. Ich lasse euch abholen und zum Beiboot bringen. Du wirst sicherlich verstehen, dass ich dich zum günstigsten Zeitpunkt den anderen vorstellen werde – dem bedeutenden Murra-Clan, der über 5800 Schiffe verfügt. Der kleine Pentschypon-Kala 1005. das böse Kind, wird vor Verblüffung sprachlos sein! Und besonders Ers-Sypten 943. vom Sebestyn-Clan.« »Wie viele Schiffe erwartest du?«, fragte die Kommandantin. »Ungefähr 100.000 Schiffe. Sie sind alle in Komplexen zusammengefasst.« Also mindestens zehn Millionen Juclas, wenn ich jeweils nur hundert Besatzungsmitglieder pro Schiff rechnete. Begeistert zählte Abenwosch weitere Clans auf.
34 »Die Clans Soyblin, Odogryn, Schybenhyrt, Doblync, Alt-Erloin und Neu-Erloin, der jüngste Clan, oder Gryncin und Schamenhyn mit 2400 Schiffen. Dir werden die Namen nichts sagen, Arkonide.« »Noch nicht«, antwortete ich. Argwöhnisch beobachtete Carmyn jede Geste und jede Veränderung im Gesichtsausdruck des Anführers. »Aber mir gefällt es nicht, dass du mich bis zu einem geeigneten Zeitpunkt versteckt halten willst.« Der Anführer zeigte kein Bedauern; er grinste listig und entblößte seine Schneidezähne. »Gönne mir diesen Vorteil, Atlan. Was du noch nicht weißt, dieses Thein ist außergewöhnlich. Ich habe es nur deinetwegen zusammengerufen.« Er wurde plötzlich ganz ernst. »Ich habe auch allen Ercourras verboten, darüber zu reden. Es ist also keines der regelmäßigen Treffen.« »Das ändert einiges«, stimmte ich ihm zu. »Also bleibt die AVACYN weiterhin angedockt und durch eine Tuilerie mit deinem Schiff verbunden.« »Wir holen dich zu uns an Bord«, versicherte er. »Alle Schiffe verbinden sich zu einem riesengroßen Komplex und bleiben im Orbit von Eptascyn.« »Wie lange wird das Thein dauern?«, fragte Carmyn. Abenwosch machte eine unbestimmte Geste. »Einige Tage. Solange die Clans Nachrichten austauschen und friedlich miteinander verkehren. Und noch etwas: Niemand nimmt zum Thein-Platz Waffen mit. Keine Waffen, welche auch immer. Wir haben in den Hyrscen freiwillig auf jede Art überflüssiger Technik verzichtet.« Gleichzeitig nickten Carmyn und ich. Was Abenwosch berichtete, klang nach ländlichem Idyll und harmlosem Treffen von Nomadensippen, nach Schamanentanz, Lagerfeuerromantik und Neuigkeitenaustausch. Die Erlebnisse meines langen Lebens hatten mich gelehrt, dass sich oft in solchen scheinbar problemlosen Situationen große Gefahren verbargen. Ich durfte nicht
Hans Kneifel nachlässig sein und sollte mich gewissenhaft auf das Thein vorbereiten. »Hoffentlich müssen wir uns nicht von Wasser und Gras ernähren.« Ich grinste Abenwosch an und deutete auf unsere Gläser. »Gibt es besondere Kleidungsvorschriften für Eptascyn und das Thein?« »Das Klima und die Temperaturen sind ausgeglichen. Mitunter regnet und stürmt es. Aber in den Gebäuden und zunächst in unseren Beibooten sind wir genügend geschützt.« Während Abenwosch uns die Beschaffenheit des Thein-Geländes erklärte, liefen auf unseren Holoschirmen die Bilder aus einem Datenarchiv, die einen Ausschnitt der Mondlandschaft zeigten. In der Mitte des Bildes, einer dreidimensionalen, positronisch verfremdeten Darstellung, erhob sich ein auffälliger Gebirgsrücken, fast ein Tafelberg. Seine Höhe betrug um die 2000 Meter, und der Durchmesser der kreisrunden Erhebung war mit genau 288 Kilometern angegeben. Der Sain, lasen wir ab, stellte das Zentrum einer losen Ansammlung kleinerer, weit niedrigerer Hügel dar. Das gesamte Gebiet war unterschiedlich stark bewachsen, aber auf dem Sain schien der Wald am dichtesten zu sein. »Das bedeutet, dass ich vom Mond aus mit meiner Mannschaft nicht in Kontakt treten kann?«, erkundigte ich mich. Ich hatte es geahnt! »Dieses Verbot gilt für uns alle«, gab Abenwosch zurück. »Auch das ist historisch bedingt. Die lange Geschichte der Theins … es würde Stunden dauern, das zu erklären. Du verstehst?« »Ich bemühe mich«, gab ich zu. »Der Sinn allerdings erschließt sich mir nicht. Nun, wohl nicht zu ändern.« Abenwosch winkte Abschied nehmend. In der TIA-Zentrale brach hinter seinem Rücken aufgeregte Betriebsamkeit aus. Wir hörten Kommandos und laute technische Geräusche. Das Bild zog sich im Holo in den imaginären Mittelpunkt der Darstellung zusammen; der Schirm änderte seine Fär-
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bung zu Grau. Ich schaltete die Mikrofone ab, wandte mich an Carmyn und sagte leise: »Die Ercourras werden mich sicherlich kontrollieren. Aber wahrscheinlich kann ich das eine oder andere Hilfsmittel zum Mond hinunterschmuggeln.« »Viel Glück.« Carmyn deutete auf einen der Hauptbildschirme. Der Komplex näherte sich abbremsend dem großen Gasplaneten. Die Vergrößerungen der Ortung zeigten den Mond, von rötlich gefärbtem Reflexionslicht Epts übergossen. »Wen wirst du mitnehmen?« »Mir schwebt eine Überraschung vor. Möglicherweise ist meine Wahl das Ergebnis kluger Gedanken. Warten wir's ab.« Sie blickte mich fragend an. Offensichtlich hatte sie, was nicht schwer war, meine Überlegungen nachvollziehen können. Ich stand auf, nickte und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Carmyn schüttelte den Kopf und murmelte: »Das ist nicht dein Ernst, Arkonide.« »Ungewöhnliche Vorhaben erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. In ein paar Stunden sind wir klüger.« Ich verließ die Zentrale und zog mich in meine Kabine zurück. In kurzer Zeit war es mit der Ruhe vorbei.
* Als der Ercourra-Komplex in den Orbit um Eptascyn einschwenkte und mit wenigen Brems- und Steuermanövern die Geschwindigkeit anpasste, zeigte die Nahortung nacheinander siebzehn Jucla-Schiffscluster. Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft schoben sich zwei weitere Komplexe langsam in die Umlaufbahn. Aufgeregte Funksprüche wechselten ununterbrochen zwischen den Flaggschiffen. Kraftvoll und langsam packten Traktorstrahlen zu und bereiteten die Vereinigung der vielen Schiffe vor. »Ich hab's euch schon ein paarmal gesagt«, rief Zamptasch und drehte seinen
Stock zwischen den Händen. »Wenn es darum geht, sich zu besaufen und herumzuhuren und Kinder zu machen, rücken alle Juclas so eng zusammen wie Bakterien.« »Verständlich«, antwortete ich und musterte den Alten. Er hatte, ohne zu fragen, förmlich mit Inbrunst alle Möglichkeiten ausgenutzt, die er im Kabinentrakt des Schiffes gehabt hatte. Dusche, Massagen, Finger- und Handpflege, Hautbehandlung, Haarschnitt, neue Kleidung und Stiefel aus dem Bordmagazin; irgendwie wirkte er gesünder und zweifellos um einige Lebensmonate jünger. Stimme und skrupellose Diktion hatten sich nicht verändert. Er grinste mich an. »Die äonenlange galaktische Erfahrung zeigt, dass seit Anbeginn der Schöpfung die Vielfalt genetischer Vermischung gesundes Leben hervorbringt. Gerade ihr Juclas solltet es wissen, denn euer Schicksal ist ein trauriges Lied. Kannst du mir folgen, Zamptasch?« Für einen langen Augenblick wurde er völlig ernst und glaubwürdig. Ich hatte vielleicht eine Saite seines egomanischen Inneren angerissen. »Ist schon richtig so«, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme. »In meiner Jugend hab ich auch alles gepackt, was nicht schnell genug geflüchtet ist. Wahrscheinlich hab ich ein ganzes Schiff voller Kinder gezeugt.« »Vielleicht auch nur ein Beiboot, wie? Also, du warst wirklich auf vier Theins?« »Ich schwöre es.« Er hustete flach und spuckte in die hohle Hand. »Bei meiner geriatrischen Impotenz.« »Du kennst die meisten Clans und viele ihrer Anführer?« »Viele. Nicht alle. Die meisten, die ich erlebt habe, sind raffinierte Anführer. Aber die wenigsten haben wirklich etwas für ihren Clan getan. Immerhin – die Juclas haben, alles in allem, überlebt.« »Du kannst dich auf Eptascyn bewegen wie ein … Eingeborener, wenn es ihn gäbe?« Er hob die Schultern, packte seinen Stock
36 und griff mit gichtigen Fingern – von den Hygienerobots perfekt manikürt – nach dem Knauf, der dem knollenförmigen Wildwuchs einer polierten Wurzel glich. »Viermal rund fünfundzwanzig Tage. Also hundert Tage bin ich dort gewesen. Getrunken, gepaart, gelacht und herumgewandert. Etliche Merkwürdigkeiten gefunden. Als Angehöriger von vier verschiedenen Clans. Es gibt keinen mit mehr Erfahrung, glaub mir!« »Du kennst den Sain? Die Montonen?« Ich starrte in seine listigen Augen. »Die Lebewesen auf dem Mond?« Er nickte mehrmals, drehte an dem Knauf und hielt ihn in der linken Hand. Er stieß den Stock in meine Richtung. Ich sah, dass zumindest der obere Teil ausgehöhlt war. Ich musste innerlich anerkennend grinsen; ein Versteck, das ich nicht besser hätte entwickeln können. Wer vermutete schon bei Zamptasch, einem ausgemusterten Jucla, eine solche Raffinesse. »Ich kenne die meisten Lebewesen. Lauter kleines Viehzeug. Viele sind garstig, giftig und gemeingefährlich.« »Hast du mit irgendeinem deiner Clanangehörigen persönliche Differenzen? Willst du einen oder mehrere mit deinem Wurzelstock aus Rache erschlagen? Kannst du, wenigstens zeitweise, schweigend beobachten und mich beraten?« »Wenn ich will, kann ich alles.« »Hör genau zu, alter Mann«, sagte ich beschwörend. »Wenn du denkst, du wärst rücksichtslos, dann hast du in mir deinen Meister gefunden. Glaub's mir – ich kann es besser. Ich kenne weniger Skrupel als du. Willst du mit mir, als mein Vertrauter und Berater, am Thein teilnehmen? Es geht um die Zukunft von euch allen, von sämtlichen ehemaligen Gruelfin-Bewohnern und buchstäblich jedem, der von Cappins abstammt.« »Ist es tatsächlich so wichtig und aussichtslos?« Zamptasch schien langsam die Wichtigkeit der Aktion und meine Entschlossenheit zu begreifen. »Viel wichtiger. Aber nicht aussichtslos«,
Hans Kneifel sagte ich und bohrte unverändert meine Blicke in seine dunklen Augen. Ich folgte zwar grundsätzlich einer Eingebung, aber trotz aller begreifbaren Einschränkungen schien Zamptasch tatsächlich die beste Wahl zu sein, wenn es um meinen Begleiter ging. »Abenwosch will mich den anderen präsentieren. So weit, so gut. Er erhofft sich als Clansführer einen Vorteil.« Er hustete, kicherte und grinste schräg, hielt aber meinem Blick stand. »In Ordnung. Schließlich will und werde ich ihn als Sprachrohr benutzen, um euch alle vor den Lordrichtern zu warnen. Aber auf dem Mond, dort unten, bin ich vermutlich der einzige Fremde. Ich muss mich also auf dich verlassen können. Wenn du nicht willst, wenn ich dich mit dieser Aufgabe überfordere – dann bleibe ich besser allein.« Er schraubte den faustgroßen Knauf wieder auf das Ende seines Stockes und antwortete: »Du könntest keinen Besseren finden. Ich geh mit dir zum Thein. Vielleicht trample ich auf deinen Nerven herum, aber ich kenne den ganzen Laden wie kein Zweiter.« »Einverstanden.« Ich streckte die Hand aus und prüfte seinen Händedruck. »Zusammen werden wir diese wenigen Tage in den Hyrscen überstehen.« Ich war bestenfalls halb von seiner Kooperationsbereitschaft überzeugt. Andererseits: Welchen Vorteil konnte er auf Eptascyn für sich selbst herausschlagen, wenn er meine Absichten sabotierte? Er würde alles tun, um zu überleben, aber alle Besucher des Theins hielten sich in einer unverdächtigen Umgebung auf, redeten miteinander und hatten darüber hinaus wenig anderes im Sinn, als sich hemmungslos zu paaren. »Wenn es so weit ist«, sagte ich entschieden, »gehen wir hinüber zur TIA und werden zum Thein-Platz hinuntergeflogen. Alles andere entscheidet sich dort.« »Wenn alle Juclas versammelt sind.« Ich nickte ihm verabschiedend zu und dachte, während ich zu meiner Kabine zurückging, über meine Ausrüstung für die Tage auf Eptascyn nach. Und über Zamptaschs
Die Versammlung
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hohle Gehhilfe.
* In Stundenabständen traten weitere Juclas in der Nähe des Mondes ein. Die riesigen Ansammlungen von Nomadenschiffen bremsten im Raum zwischen dem Planeten und dem Mond ab. Auf den Ortungsschirmen wirkten sie wie körnige Wolken oder Schwärme aus kugeligen Lebewesen, die vom rötlichen Glanz der Sonne überschüttet wurden. Die Mischung aus reflektierenden Kugelflächen und den Schatten dazwischen, in denen sich die Tuilerien abzeichneten, bot ein bedrohliches Bild. Zwei Tage nach unserer Ankunft und dem Andocken an fünf andere Komplexe zählten die Ercourras insgesamt schon 41 Clans. Ich suchte aus den Magazinen und den Notausrüstungen der AVACYN ein Messer heraus, das aus hochtechnischem Kunststoff und nicht aus Metall hergestellt war, und bastelte eine Scheide im rechten Stiefel. Zwei verschieden große Behälter, angefüllt mit Zündstäbchen, fand ich ebenfalls im Überlebensgepäck unseres Beiboots. Vielleicht ergab sich die Notwendigkeit, ein Feuer anzuzünden; bei dem Licht, das der Planet herunterspiegelte, half ein Brennglas nichts. Ich suchte ein Armbandfunkgerät heraus und war sicher, dass man es mir abnehmen würde. Die Ercourras erwarteten von einem Mitstreiter Ovarons, dass er sich nicht allen Anweisungen fügte. Die Zündstäbchen ließ ich von einem Roboter in das Futter einer wind- und regensicheren Kapuzenjacke einnähen, die Reibeflächen versteckte ich unter breiten Adhäsionsstreifen. Ein Monofildraht, einige Meter dünner Kordel und Tücher für jede Tasche meiner Kleidung vervollständigten meine Ausrüstung. Ich erneuerte den Schutzverband meines Unterarms und hätte sogar riskiert, als Knöpfe getarnte Explosionskörper mitzunehmen, aber derlei Quinto-Center-Kleinigkeiten fanden sich nicht an Bord des ganjasischen Schiffes.
Dein Überlebensfaktor ist so hoch wie seit jeher, sagte der Logiksektor besänftigend. Du wirst das Treffen und die Reden der Juclas überstehen. Vier Stunden später meldete sich die Zentrale der TIA. Der 43. Komplex war eingetroffen; Abenwosch würde in wenigen Minuten ein Kommando schicken, das uns abholen und zum Beiboot des Flaggschiffs eskortieren würde. »Wen hast du als deinen Begleiter bestimmt, Arkonide Atlan?« fragte der Funker. »Zamptasch, den Balg, geboren im Murra-Clan, einziger Überlebender der SIMBOYN.« Der Sprecher zeigte nur geringe Verwunderung und antwortete kommentarlos: »Er wird seinen Platz in unserer Hyrsce finden.« Ich nickte ihm zu und wandte mich an die Kommandantin. »Du weißt, dass wir keine Verbindung haben werden. Ich werde zwar versuchen, dieses Verbot wenigstens für mich zu umgehen oder eine Sondererlaubnis zu bekommen.« Ich hob den linken Arm und tippte auf das unauffällige Gerät. »Wahrscheinlich stellt sich Abenwosch stur. Und eine Körperkontrolle werde ich vermeiden.« »Aus dem Mondorbit ist nur ein Mindestmaß an Überwachung möglich«, antwortete Carmyn. »Wir tun unser Bestes. Es dauert ja angeblich nur eine Hand voll Tage.« Kaystale und Zamptasch betraten die Zentrale. Der Alte schwenkte unternehmungslustig seinen hölzernen »Schrittbegleiter« und rief: »Los geht's! Dort unten werde ich wieder alte Bekannte treffen.« Er kicherte und rammte der Takererin freundlich den Ellbogen in die Rippen. »Wenn sie nicht völlig verblödet, senil geworden oder längst gestorben sind.« »Ich verlasse mich auf dein Wissen, deine Kenntnisse und deine angeblich perfekte Erinnerung, Zamptasch«, ermahnte ich ihn. Er war für mich tatsächlich der wichtigste Mann auf Eptascyn. »Enttäusche mich nicht. Du wirst dann zu den neuen Helden der Clans zählen!«
38 »Keine Sorge, Atlan«, entgegnete er streitlustig. »Ich weiß alles.« Die Schiffsbesatzung sah dem Ereignis mit weitaus mehr Angespanntheit entgegen als ich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Myreilune am Steuerpult die Schleuse öffnete. Ypt und Kaystale gingen der Ercourra-Eskorte entgegen. Ich verabschiedete mich von der Kommandantin und winkte Zamptasch. »Gehen wir«, sagte ich. »Abenwosch erstickt sonst an seiner Unruhe.« »Viel Glück«, sagte Carmyn trocken. »Vielleicht übersieht Abenwosch dein Funkgerät.« Wir trafen auf halbem Weg zur Schleuse auf vier junge Ercourras, die annähernd ebenso praktisch gekleidet waren wie wir. Ihr Anführer verbeugte sich knapp und musterte uns eine Weile, ehe er zum Ende des geschwungenen Korridors zeigte und sagte: »Clanführer Abenwosch-Pecayl 966. erwartet euch im Beiboothangar. Der Start ist vorbereitet.« Wir folgten ihnen; Kaystale stand neben der offenen Schleuse und hob die Hand. Die Tuilerie hatte abermals ihr Aussehen verändert. An vielen Stellen sahen wir Pflanzbehälter, frische Ranken und feuchte Blätter, farbenfrohe Zeichnungen und Malereien. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Juclas es trotz der Beeinträchtigungen wichtig fanden, ihre Herkunft nicht zu vergessen. Waren diese Versuche, fragte ich mich, eine Besinnung auf alte, verlässliche Werte? Wir durchquerten den Hohlsteg und wurden jenseits der Schleuse von einer zweiten Abordnung empfangen, die eine Konstruktion umstanden, die aus Metallelementen, Verbindungskabeln und linsenähnlichen Geräten bestand. Ich wusste, dass Zamptasch und ich gescannt wurden, blieb zwischen den Stäben und Blöcken stehen und streckte den linken Arm vor. Ein Summer ertönte, rote Lichter begannen zu blinken. Ich setzte ein scheinbar verlegenes Grinsen auf und sagte: »Abenwosch wird nichts dagegen haben,
Hans Kneifel wenn ich ein Funkgerät mitnehme. Ich muss mit meiner Mannschaft in Verbindung bleiben.« »Der Clanführer hält sich an die Gesetze. Nicht einmal er hat ein Gerät. Er bittet dich um Verständnis. Wir müssten es dir mit Gewalt abnehmen.« Ich löste die Klemme, reichte dem Sprecher das Gerät und sagte grimmig: »Keine Gewalt nötig. Ich sehe ein, dass selbst ich mich an die Vorschriften halten muss. Gerade ich gehe mit gutem Beispiel voran. Trotzdem halte ich diese Einschränkung für ausgesprochen töricht und gefährlich.« Mit sichtlicher Befriedigung nahm der Ercourra das Armbandgerät in Empfang und warf Zamptasch, der angriffslustig seinen Stock schwenkte, einen misstrauischen Blick zu. Wieder einmal empfand ich sekundenlang eine Art Bewunderung für den Alten. Er verstellte sich nicht, und ihm schien inzwischen alles gleichgültig zu sein – außer der eigenen Person. Kein zweiter Alarm ertönte. Ob Zamptasch etwas in seinem ausgehöhlten Knüppel versteckt hatte und was es war, würde ich auf der Oberfläche des Mondes erfahren. Durch einen vergleichsweise niedrigen, aber von grünem Blattwerk ausgekleideten Korridor wurden wir zum Hangar gebracht, in dem das Beiboot startfertig stand. Abenwosch begrüßte mich neben der Schleusenrampe. Er gönnte dem Alten einen grimmigen Blick, den Zamptasch kichernd und mit einer Grimasse erwiderte. »Wir erwarten nur noch drei Flotten«, klärte mich Abenwosch auf. Er trug eine knielange Jacke aus matt glänzendem weißem Kunststoff und einen Kopfschmuck, der an einen durchlöcherten Helm erinnerte, auf dessen Vorderseite ein Schild mit einem unentzifferbaren Schnörkel funkelte. Ein Clanabzeichen? »Willkommen an Bord. Bald können wir in unsere gemütliche Hyrsce einziehen.« »Meine Neugierde ist gewaltig«, antwortete ich. »Wir haben eine große Aufgabe vor uns, Kommandant.«
Die Versammlung Er nickte nur. Sein Gesicht war unnatürlich bleich, auf seinen Wangen sah ich hektische Röte. Er schien jede seiner Bewegungen mit erheblichem Aufwand kontrollieren zu müssen, als wir ihm ins Innere des eiförmigen Beibootes und in eine schmucklose Kabine mit einem halben Hundert Sitzen folgten. Zamptasch winkte mich auf einen Platz hinter dem Piloten und rief: »Ich zeig dir alles, Atlan. Ich kenne den Thein-Platz wie kein anderer. Keiner war vor mir viermal dort.« »Ich kann es kaum erwarten.« Etwa fünfzig Ercourras, nicht zuletzt wegen ihrer geringen Körpergröße kindlich wirkende Männer und Frauen, stiegen ohne sichtbare Ausrüstung hinter uns ein. Abenwosch setzte sich neben den Piloten, sah sich um, bewegte lautlos die Lippen. Er zählte tatsächlich ab. Dann hob er den Arm. Zischend schlossen sich die Schleusentüren. Das Beiboot hob ab, die Hangartore glitten auseinander, und das Bild des Mondes füllte die Monitoren. Im Zentrum zeichnete sich der Sain inmitten eines riesigen Kreises aus unterschiedlich intensivem Grün ab. Die Farbe und die Dichte des Bewuchses nahmen zum Mittelpunkt und zu den Hängen des Gebirges zu. Die Landschaft war in ein ungewöhnliches Licht getaucht; besonders befremdlich wirkte das Fehlen der gewohnten Schatten. »Das sind die Montonen«, erklärte Zamptasch. »Immergrüne Nadelbäume, höchstens drei Meter hoch. Es gibt keine anderen größeren Pflanzen auf Eptascyn.« Die Albedo des Planeten im Heck des Beiboots war ungewöhnlich hoch. Die Reflexion sorgte für Helligkeit und Wärme des Trabanten, der groß genug war, eine Lufthülle an sich zu binden. »0,77 Gravos«, sagte Abenwosch eifrig, um Zamptaschs Redefluss zu unterbrechen. »Die Leichtigkeit der Bewegungen bestimmt unsere Gespräche. Du wirst es erleben, Atlan.« Ich nahm alle Einzelheiten des Bildes auf
39 und merkte mir jede Kleinigkeit. Ich hatte mehrere Male gefragt, aber kein Jucla konnte mir erklären, warum auf Eptascyn außer unbedeutenden Bodendeckern nur die Nadelbäume wuchsen. Vielleicht brauchte ich jene Bilder, die mein fotografisches Gedächtnis speicherte. Als das Beiboot in eine weite Kurve glitt, sah ich, wie vom Bildrand her aus der dunklen Hemisphäre eine Sturmfront heranrollte. Die eisige Rückseite des Mondes streckte eine turbulente Hand mit vier gierigen Fingern nach der Hinseite und dem Thein-Platz aus.
4. Die Cappins trafen auf die Menschheit im Jahr 3433 der klassischen Zeitrechnung. Perry Rhodan wagte ein Jahr später eine Zeitreise und begegnete während dieses wagemutigen Versuchs den Ganjasen Ovaron und Merceile. Sie begleiteten die Terraner zurück in die Gegenwart. Ovaron erhielt später das Geschenk der potentiellen Unsterblichkeit, den Zellaktivator, der zuvor Diktator Dabrifa gehört hatte. Vier Jahre nach dem ersten Zusammentreffen beider Völker startete Rhodans MARCO POLO mit Ovaron, dem rechtmäßigen Ganjo, in dessen Heimat. Dort begannen sie, die drohende Gefahr für Gruelfin zu bannen; die Chronik dieser Begegnung ist Teil der terranischen Geschichte. Auszug aus »Grundzüge der Geschichte, Band 23«. Beim letzten Teil des Landeanflugs sah ich die Ausdehnung der Montonen-Wälder und erfuhr von Zamptasch und Abenwosch mehr über die Umweltbedingungen des Thein-Platzes. Wir überblickten eine Landfläche von ungefähr 1200 Kilometern Durchmesser; sollte es Seen, Bäche und Flüsse geben, waren sie winzig klein. Die Montonen, die terranischen Tannen
40 oder Fichten ähnelten, trugen knallrote Früchte – »wie das eine Auge der hässlichen Soldatin«, sagte Zamptasch hämisch – mit leicht alkoholischer Note, die angenehm süßlich-säuerlich schmeckten und erstaunlich hohen Nährwert besaßen. Auch der Sain war dicht mit Montonen bewachsen. Das Beiboot vibrierte und rüttelte in einem hohen Ausläufer des Abseite-Sturms und näherte sich dem Boden. Weniger als hundert Kilometer vor dem ersten Hang des Sains entdeckte ich eine Ansammlung größerer, kantiger Hütten, etwa fünfzig zu dreißig Meter groß, mit spitzen Dächern aus unbekanntem Material. »Sechsundvierzig Hyrscen«, sagte Zamptasch, als habe er die Häuser mit eigener Hand errichtet. »Eine für jeden Clan.« »Zwei Hyrscen bleiben vorläufig leer«, berichtigte ihn der Clanführer. »Bisher haben sich zwei Clans nicht gemeldet. Alle anderen sind eingetroffen oder auf dem Anflug in den Orbit.« Ich schob mein Haar unter die große ganjasische Schirmmütze und kontrollierte deren Sitz im matt spiegelnden Bullauge. An ungeordneten Plätzen, in einer Art Doppelkreis, umstanden die Hyrscen eine Lichtung, auf der nur niedrige Montonen wuchsen. Augenscheinlich eine Monokultur. »Eher eine Monotonkultur«, warf ich ein. Der Logiksektor schwieg. Sein Sinn für Wortspiele war so reichhaltig wie die Vegetation dieses Mondes, sehr monoton, dachte ich grinsend. Je weiter das Waldgebiet vom Sain entfernt war, desto dünner war der Bewuchs, desto größer die Abstände der Pflanzen zueinander. Das Beiboot strich nach einigen Bremsmanövern über die Dachfirste und setzte am Rand der Lichtung zwischen zwei Häusern auf. Zwischen den dünnen Stämmen der Montonen sah ich verschiedene niedrige Gewächse: Gräser, Ranken und einen bräunlichen Teppich abgeworfener Nadeln. »Ich hab's schon ein paarmal gesagt: In diesem Unterholz wimmelt es von garstigen,
Hans Kneifel giftigen und gemeingefährlichen kleinen Bestien«, warnte Zamptasch. Das Boot setzte ruhig auf. Die Holoschirme zeigten ungefähr ein Dutzend anderer Beiboote, die jeweils in der Nähe einer der spitzgiebligen Hütten gelandet waren. Aus der Nähe wirkten die Bauten erheblich ramponiert. Schließlich, sagte ich mir, standen sie seit Jahren leer und waren der Witterung ausgesetzt. Ich wartete auf eine Luftanalyse, aber der Pilot betätigte, ohne zu warten, die Schleusenservos. Als sich die Schleuse geöffnet hatte, hörten wir das Fauchen der Windstöße. Die Luft, die ins Innere drang, roch seltsam, aber nach einigen Atemzügen hatte ich mich an den Geruch gewöhnt. Der Stickstoff- und Sauerstoffanteil schien weitestgehend der Atemluft innerhalb der Schiffe zu entsprechen. »Ich bringe euch zur Ercourra-Hyrsce«, rief Abenwosch, sprang auf und rannte durch die Sitzreihen zur Schleuse. Einige Ercourras folgten ihm ebenso hastig. Zamptasch richtete sich ächzend auf und sagte leise: »Zweieinvierteltausend Ercourras und andere Juclas, Fremder. Bald werden sie anfangen, sich wild zu paaren!« »Verständlich«, antwortete ich und schloss mich den Passagieren an. Sie drängten sich zur Schleuse. »Aber das wird sicherlich keine romantische Veranstaltung. Die Hyrscen scheinen ziemlich heruntergekommen zu sein.« Ich betrat die Rampe, deren Ende in moosartigen Pflanzen halb eingesunken war. Ich brauchte ein paar Schritte, um mich an die geringere Schwerkraft zu gewöhnen. Auch die Ercourras, die wild durcheinander redeten, stolperten und machten hilflose Bewegungen. Die Lastenfächer öffneten sich klappernd. Eine merkwürdige Welt breitete sich aus, in der ein seltsames Zwielicht eine eigenartige Wirklichkeit schuf. Über uns hing der Planet, dessen riesige Scheibe von dunklen und strahlend weißen Wirbeln und Spiralen durchzogen war. Die Drehung Epts, in 26 Stunden einmal um die Polachse, war innerhalb weniger Blicke
Die Versammlung nicht wahrnehmbar. Derzeit betrug die Außentemperatur angenehme 25 Grad. Die Montonenwälder rochen nach Moschus und feuchten Pilzen. Eines der Beiboote startete, flog einen Kreis und stieg schräg in eine wolkenlose Zone des fahlen Himmels hinein. Zwischen meinen Füßen krabbelten handtellergroße Käfer mit gesprenkelten Flügeldecken und langen, zitternden Fühlern durch das Moosgras. Zamptasch stieß das Ende seines Stocks bei jedem zweiten Schritt auf und erzeugte auf der Rampe eine Serie lauter Trommelschläge. »Bring deine Gäste zum ErcourraWohnheim, Abenwosch-Pecayl 966.!«, rief er. »Die rechte von den beiden Hyrscen, wenn's beliebt.« Zamptasch erinnerte sich zuverlässig. In einer langen Reihe folgten wir einem älteren Clanangehörigen. Die Hütten sahen sich im Ausmaß der Verwahrlosung ziemlich ähnlich. Hohe, runde Kamine waren dick von wild wucherndem, efeuartigem Blattwerk umwunden. Ich blickte mich aufmerksam um und erkannte die überwachsenen Spuren schmaler Wege. Teile des Geländes schienen vor Urzeiten planiert worden zu sein. Eine seltsame Umgebung für ein so wichtiges Treffen, stellte der Extrasinn fest. Die Wände der Hyrscen bestanden aus großen Quadern, die aus organischem Material gepresst waren, mit einer Art Leim zusammengebacken. Ranken mit fingerlangen Dornen wuchsen an den Mauern in die Höhe. Wenige schmutzstarrende Fenster. Zwischen den Quadern dicke Träger, die wie Holz aussahen, das aber keineswegs in der heimischen Vegetation mit ihren höchstens schenkeldicken Stämmen geschlagen worden war. Der Führer stand vor einer zwei Meter hohen Metalltür und hantierte mit einem klobigen Impulsgeber. Es klickte, schließlich öffnete der Ercourra die Tür. Sie bewegte sich mit lautem Kreischen nach außen. Abenwosch hob den Arm und schrie: »Holt euch das Putzzeug aus dem Haus! Zu-
41 erst die Fenster! Dann richten wir uns gemütlich ein.« Etwas leiser sagte er zu uns: »Gilt nicht für dich, Atlan.« »Wenn du glaubst, ich vergeude meinen kostbaren Lebensabend mit Aufräumen und Schrubben, irrst du dich schon wieder, Abenwosch Pecayl 966.!«, trompetete Zamptasch und schüttelte drohend seinen Stock. Abenwosch winkte ab. Er schaffte es, die Energieversorgung zu aktivieren. Eine Anzahl Leuchtkörper erhellte das Innere des einfachen, aber verblüffend soliden Bauwerks. Dicke Träger stützten das Dach; im Hintergrund, an der anderen Stirnseite, gab es mehrere schmale Türen, die wahrscheinlich zu Hygienezellen führten. Zwischen den Mauern herrschte ein dumpfer, betäubender Gestank. Im Dach oder an Stellen, die ich nicht einsehen konnte, begannen Lüfteranlagen zu winseln. Fingerhoch lag der Staub auf dem Boden, der aus unregelmäßigen Stücken eines glasartigen Steins zusammengesetzt worden war. Die Ercourras gingen an die Arbeit. Pumpen quietschten, Wasser plätscherte, es roch nach Reinigungsmitteln. Aus Wandschränken wurden Liegen hervorgeholt und ausgeklappt, der Brei aus Staub und Putzwasser lief gurgelnd durch Bodenabflüsse. Ich ging den umherrennenden Frauen und Männern aus dem Weg, verließ die Hyrsce und sah Zamptasch hinterher, der zum benachbarten Gebäude stapfte. Einzelne Clanmitglieder reinigten die Fenster und warfen immer wieder neugierige Blicke zu den startenden und landenden Beibooten und deren Passagieren. Der Durchmesser des Kreises, an dessen Rand sich die Hyrscen gegenüberstanden, betrug rund zweihundert Schritte. Das am weitesten entfernte Schutzhaus konnte ich mit weniger als tausend Schritten erreichen. Überall wurden die Hütten in bewohnbaren Zustand versetzt. Das Beiboot, das uns abgesetzt hatte, war entladen worden und startete wieder. Ich definierte die Richtung, in der sich der Sain erhob, mit Nordost, und je mehr ich von der Umgebung und dem Ver-
42 halten der Ercourras sah, desto seltsamer kam mir alles vor. Selbstverständlich wandte ich keinen arkonidischen oder terranischen Maßstab an. Ein Thein mit ungefähr zweieinhalbtausend Juclas unter derartig primitiven Verhältnissen? Eine Zusammenballung von so vielen Raumschiffen im Orbit? Eine Fortpflanzungsorgie in dieser Montonenschonung? Oder in den muffigen Hütten, in denen so gut wie keine Privatsphäre möglich war? »Eigentlich musste längst dein Misstrauen erwacht sein«, sagte ich zu mir und sah, wie sich erste Gruppen zusammenfanden. Seit dem Ende der Raumschlacht waren knapp neun Tage vergangen. Männer schleppten aus den Beibooten verschiedene Lasten heran, luden sie auf der Lichtung ab oder brachten sie in die Hyrscen. Im Mittelpunkt der Kreisfläche rodeten kindlich aussehende Juclas unter aufgeregtem Geschrei eine Fläche. Andere setzten einfache Sitzbänke zusammen, deren Teile unterschiedlich gefärbt waren und ein verwirrendes Bild abgaben. Ein Podest wurde aus Einzelteilen konstruiert; alles bot den Eindruck großer Flüchtigkeit. Zwischen den mannshohen Montonen ertönten Rufe und Gelächter. Zamptasch schlurfte auf mich zu, schwenkte den Gehstock über dem Kopf und rief: »Dort drüben, das ist die Hütte vom Schamenhyn-Clan. Der Anführer ist Aptosch-Imayls 1049. Ich kenne ihn. Ein übler Bursche. Hat ein paar Junge, die ihm Konkurrenz gemacht haben, auf dem Gewissen.« »Und die anderen kennst du auch?« »Viele. Ich bin hier der Erfahrenste, kein Zweifel. Wenn die Clanführer so alt sind wie ich, sitzen sie im Heck, in der Wrackklasse.« »Wann beginnt eigentlich das Thein?«, wollte ich wissen. Wieder stieß Zamptasch ein heiseres Kichern aus, dann hustete er und brachte abgehackt hervor: »Wenn sich die erste Aufregung gelegt hat. Wenn die ersten hundert Pärchen kopuliert haben. Wenn sich die Clananführer entscheiden. Vielleicht in fünf
Hans Kneifel Stunden? Wer weiß?« Binnen einer Stunde waren das kleine Podium, einzelne Klappstühle und Bänke für rund tausend Personen aufgestellt. Es gab keine wandernden Schatten, sondern nur dunklere Zonen unter Stellen und Flächen, auf die das Licht des Planeten fiel. Der nächste Blick auf Ept zeigte mir, wie sich die Sturmwirbel verändert hatten, wie am Rand neue Spiralen und Flecken aufgetaucht und am gegenüberliegenden Rand verschwunden waren. »Gib gut auf diesen Aptosch Acht, Arkonide«, sagte Zamptasch mit gehässigem Grinsen. »Wahrscheinlich hat er sich jetzt gerade ein junges Clansmädchen geschnappt und liegt mit ihm unter irgendeiner Montone.« »Warum nicht? Ich werde es mir merken.« Er kletterte schwer atmend neben mir auf eine Bank und blickte sich um, als suche er etwas Bestimmtes, und fasste sich in den Schritt. Er warf mir aus seinen schwerlidrigen Augen einen Blick zu, der alles Elend eines Mannes am jenseitigen Ende seines Lebens zu enthalten schien. »Viermal, Weißhaariger. Vier Male! Ich hab sie nicht nur in den Schiffen verführt und genommen. Obwohl – da war nicht viel zu verführen! Haben ja alle begeistert mitgemacht.« Er stieß einen Seufzer aus und hustete sekundenlang. »Und jedes Mal hier unten. Dort hinten, in den Hyrscen; ach! Es war ein Stöhnen und Keuchen und überhaupt wunderbar.« Wieder kicherte er schmerzlich; später Triumph kroch aus jedem Vokal. »Alle möglichen Schiffe sind voller junger Zamptaschi und Zamptaschinen!« Ich verzichtete darauf, ihm einschlägige Erlebnisse aus meiner Zeit auf Terra zu schildern. Er stützte sich schwer auf meiner Schulter ab und stieg von der Sitzbank. Aus einigen Kaminen quoll bereits Rauch. Das Lärmen von zweitausend und mehr Juclas erfüllte die Lichtung, und der Anteil nackter oder
Die Versammlung halb bekleideter Raumnomaden, die zwischen den Montonen hervorkrochen, – wankten und stolperten, mit erschöpften Gesichtern und verklebten Haaren, nahm zu. Aus unserer Hyrsce kam Abenwosch, in jedem Arm eine Vollbusige mit gerötetem Gesicht und aufgelösten Haaren. Ich identifizierte keine der beiden als Sprecherin mit der warmen Stimme. Er wirkte nicht im Mindesten erschöpft, als er mir frech grinsend zurief: »Geh bitte in das Haus, lieber Gast. Die anderen sollen von dir überrascht sein, wenn ich es ankündige. Dort gibt es leckeres Essen und ein bequemes Lager für dich.« »Wahrscheinlich hat er Recht«, sagte Zamptasch leise. »Komm! Mir knurrt längst der Magen.« Ich ging voraus und betrat die Hyrsce. Entlang der Wände waren fünfzig Faltbetten aufgebaut, neben deren Kopfteil eine Metallkiste stand. Graue Tücher und schwarze Decken lagen auf den Liegestätten. In der Mitte des Raums, unterbrochen von drei dampfenden Kochstellen und unter grell leuchtenden Tiefstrahlern, die an langen Kabeln aus dem Deckengebälk hingen, standen auf einem langen Tisch gefüllte und halb leere Schalen, Teller und Esswerkzeug in Bechern. Es gab feuchte Tücher, Becher und große Kannen. Nur ein Dutzend Ercourras schaufelten sich Essen in große Näpfe und aßen im Stehen oder auf der Bettkante sitzend. Im Hintergrund vergnügten sich auf den schmalen Liegen zwei oder drei Pärchen, deren Silhouetten sich auf den Falten der Stoffbahnen abzeichneten, die zwischen den meisten Betten herunterhingen. Mein Gefühl, ein bisher Unbeteiligter in einer der seltsamsten Veranstaltungen meines langen Lebens zu sein, nahm um einige Grade zu. Ich suchte mir eine Schale des am wenigsten verdächtig aussehenden Essens heraus und füllte einen großen Becher mit einer Flüssigkeit, die mich an den »Tee« in der TIA erinnerte. Was zögerst du?, mahnte der Logiksektor.
43 Die Nahrung der Juclas kannst du dir jederzeit einverleiben! Im Übrigen besitzt du ein kleines Gerät namens Zellaktivator … Ich kaute trotzdem misstrauisch auf dem körnigen Gemenge, das tatsächlich brauchbar schmeckte. Nach einer Weile setzte ich mich auf die Kante eines Lagers und wartete auf den offiziellen Beginn des Theins. Das Gefühl, ohne Schutz und Waffen am falschen Platz zu sein, war mittlerweile überdeutlich geworden. Etwas Übles nahm unaufhaltsam seinen Lauf. Ich war sicher, dass mich mein Gefühl auch heute nicht täuschte. Von draußen drangen die Geräusche eines der letzten startenden Beiboote herein. Was mich am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass sich Zamptasch schon seit Stunden wie ein vernünftiges Wesen verhielt; pragmatisch und auf seine Art auskunftsfreudig.
* Ich hatte etwa eine Stunde lang geschlafen. Zamptasch weckte mich, indem er mit dem Knauf seines Stockes gegen mein Knie klopfte. »Es geht los, Atlan. Ich hoffe, du hältst eine anfeuernde Rede, die für ein Jahrzehnt klare Vorgaben schafft.« »Ich hoffe, man versteht mich richtig«, antwortete ich achselzuckend. An einem der Handwaschbecken wusch ich meine Hände und das Gesicht, setzte die Kappe wieder auf und folgte Zamptasch zur Tür. Davor, auf einer Fläche aus frischem weißem Kies, erwartete mich Abenwosch. Er war allein und aufgeregt. »Die Juclas sammeln sich. Bald ist es so weit. Warten wir hier, bis sich die meisten gesetzt haben.« »Einverstanden.« Die Organisation dieses Treffens war, gelinde gesagt, planlos und improvisiert. Nomaden! Ohne sichtbare Eile kamen die Juclas aus den Hyrscen und zwischen den Montonen hervor. Einige setzten sich vor das Podium, andere blieben in Gruppen ste-
44 hen und schäkerten miteinander. Hinter den Dächern startete das letzte Beiboot, das wir von hier aus sehen konnten. Von irgendwoher hallten Gongschläge über die große Lichtung. Abenwoschs Unruhe erreichte einen ersten Höhepunkt. Er tänzelte um mich herum und sprang auf eine Bank, um besser sehen zu können, welche Gruppe sich aus der entgegengesetzten Richtung näherte. Zamptaschs Augen waren offenbar besser. »Dein Freund Aptosch-Imayls kommt, Abenwosch. Der ist noch gerissener als du!« In den Reihen der Versammelten, die auf vielleicht anderthalbtausend Juclas angewachsen waren, entstand eine Gasse. An der Spitze eines halben Hunderts Juclas, die sich nur durch ihre Entschlossenheit von allen anderen unterschieden, marschierte der Clanführer, der ungefähr zwei Jahre älter war als Abenwosch, eine ähnliche Kopfbedeckung trug und dem Podium entgegenstrebte. »Was hat er vor? Er zeichnet sich doch sonst nicht durch übertriebene Eile aus?«, fragte sich Abenwosch laut. Der Clanführer sprang aufs Podium, drehte sich einmal um sich selbst und hob einen altertümlichen Sprechtrichter. Langsam wurden die Geräusche der vielen Unterhaltungen leiser. Aptosch winkte, hob den zerbeulten Trichter an die Lippen und schrie: »Abenwosch-Pecayl 966. mag gute Nachrichten haben, wie seine Leute verbreitet haben. Aber ich, Aptosch-Imayls 1049. habe viel bessere Nachrichten. Nachrichten, die alle Juclas betreffen.« Stimme und Lautstärke waren die eines erwachsenen Mannes; tief und weit hallend. »Für alle Juclas brechen interessante, erfolgreiche Zeiten an, die uns Macht und Einfluss sichern. So, wie die mutigen Ercourras gekämpft und gesiegt haben, so werden alle tapferen Juclas siegen – mit einem Unterschied: deutlich weniger Verluste.« »Vielleicht hat er ein neues Geschütz erfunden?«, rätselte Abenwosch und griff nach meinem linken Arm. Die Berührung der fri-
Hans Kneifel schen Haut war unangenehm; ich streifte seine Finger ab. »Oder einen besseren Abwehrschirm.« Zamptasch stieß ein wieherndes Gelächter aus, das nicht im Mindesten fröhlich klang. »Zum Erfinden von so was ist der genauso zu dämlich wie sein ganzer SchamenhynClan. Da steckt mehr dahinter.« »Er hat mächtige Freunde«, sagte ich. »Und ich ahne, um wen es sich handeln könnte.« Die Juclas klatschten und johlten begeistert. Aptosch-Imayls 1049. Stimme fuhr über die Lichtung hinweg wie leises Donnergrollen. Inzwischen waren alle versammelt. Ein dichter Ring staunender Zuhörer umgab das Podium. Der Schamenhyn-Anführer hatte tief Luft geholt und fuhr mit seiner Rede fort: »Die Jungen Clans werden die Sterne beherrschen und ihren heldenhaften Krieg gegen die Takerer und Ganjasen fortführen und jede Auseinandersetzung gewinnen!« »Jede Auseinandersetzung … gewinnen! Ich habe so viele Clanmitglieder verloren, so viele Schiffe«, murmelte Abenwosch niedergeschlagen. »Wie willst du die Clans überzeugen, Atlan …?« »Hier stimmt etwas nicht!«, rief Zamptasch unterdrückt. »Nichts wie weg, wenn wir überleben …« »Ich kann das Thein nicht verlassen!«, sagte Abenwosch. »Hören wir doch erst, was er zu sagen hat!« Triumphierend, mit großartigen Gesten und laut genug, um jedes Gespräch niederzubrüllen, erklärte der Clanführer seinen verblüfften Zuhörern: »Mich und unseren Clan hat eine neue Lehre erreicht. Nach langem Überlegen haben wir die Vorteile erkannt, die sie auszeichnet. Unterstützt von mächtigen Freunden, werden wir alle unsere Feinde vernichten.« Er verfolgte etwa die gleiche Taktik, die ich hätte anwenden wollen! Wieder erhob sich Jubel, obwohl niemand wusste, um welche Freunde und welche Siegesaussichten es sich handelte. Niemand hatte mich bisher
Die Versammlung beachtet! Die Juclas waren schon nach wenigen Sätzen wieder von ihrer typischen Eigenart befallen worden. Sie jubelten und rissen die Arme hoch. »Der gesamte SchamenhynClan mit seinen 2400 schnellen Schiffen hat sich den Freunden angeschlossen. Seite an Seite mit ihnen werden wir kämpfen und siegen.« Er schwenkte aufgeregt sein Sprechrohr und deutete zur Hyrsce seines Clans. Alle Blicke richteten sich auf die Front und den Pfad. Ich sah eine einzelne riesige Gestalt, die sich mit großer Leichtigkeit bewegte, durch die Reihen der Juclas pflügen. Einige Herzschläge lang lähmte mich eisiger Schrecken. »Ich hab's geahnt!«, rief ich und packte Zamptasch und Abenwosch an den Armen. »Du hast Recht, Alter. Nur weg von hier.« Ein Zaqoor, rief der Logiksektor. Deine Ahnung war richtig, Arkonide! Der Riese im schwarzen Anzug kam schnell näher. Wir standen fast am äußersten Rand der Versammlung. Ich bewegte mich, ohne den Blick von dem »Freund« zu nehmen, der mit weiten Schritten auf das Podium zukam, langsam, aber energisch auf den Waldrand zu. Auf der Heimatwelt dieser hochgewachsenen Humanoiden herrschte eine Gravitation von 2,2 Gravos. Sie erlaubte ihm, hier mit großem Tempo zu rennen. Der wuchtige Zaqoor, mindestens zweieinhalb Meter groß, trug einen Kampfanzug; ich erkannte die helle braune Haut des Lordrichter-Leibgardisten und sein kurzes, tiefschwarzes Haar. Es war kein Irrtum möglich. Niemand beachtete uns, als wir mit kurzen Schritten die Versammlung verließen. Der Zaqoor sprang mit einem weiten Satz auf das Podium und blieb am Rand stehen. Das Mitglied der absoluten Eliteeinheit der Lordrichter blickte schweigend und mitleidig auf Aptosch herunter. »Das ist ein Vertreter unserer neuen Freunde!«, schrie Aptosch geradezu aufgelöst. »Er ist mein Partner! Er hat uns alles
45 versprochen, wovon ich geredet habe.« Die Teilnehmer des Theins hatten plötzlich zu lärmen aufgehört. Sie starrten schweigend den Zaqoor an und wussten nicht, was sie von seinem Aussehen und seinem Auftritt halten sollten. Der Zaqoor legte die Hand auf seinen Waffengriff und rief: »Ich bin Erzherzog Gulago. Das Schwert der Ordnung ist mein Gesetz. Aptosch-Imayls ist mein Partner.« »Die Zaqoor sind die Leibgardisten der Lordrichter und unterstehen dem Schwert der Ordnung. Die größten Feinde aller Cappins. Aller Cappins, nicht nur der Ganjasen. Jetzt geht es um unser Leben, Freunde«, sprudelte ich hervor. Mit eisernem Griff hielt ich die beiden Ercourras fest und zog sie mit mir. Sie waren noch verwirrt und wehrten sich nicht. Wir näherten uns den ersten höher gewachsenen Montonen des Waldrandes und wandten uns immer wieder kurz um. »Gleich bricht hier ein mörderisches Chaos aus«, sagte ich drängend und ging schneller. Während der ersten hundert Schritte hielt Zamptasch mit Hilfe seines Stocks gerade noch meine Geschwindigkeit, während Abenwosch, der die meiste Zeit seines Lebens im Schiff zugebracht hatte, bei jedem fünften, hastigen Schritt stolperte. Die Stimme des Zaqoor war unüberhörbar, und seine Worte verstand jeder Jucla. »Um einen Kampf richtig zu führen, muss es eine klare Rangordnung geben.« Zwischen zwei Montonen blieb ich stehen und sah zum Podium. Der Elitekrieger senkte ungerührt seine Waffe, zielte nachlässig und tötete Aptosch mit einem einzigen Schuss. Der zerfetzte Körper sackte auf dem Podium zusammen. Der Helm des Clanführers überschlug sich in der Luft, prallte aufs Podium und rollte trudelnd über dessen Rand zu Boden. Als hinter uns ein einziger, schriller Schrei des Entsetzens aufstob, riss ich Abenwosch und Zamptasch in die Deckung der nächsten Bäume. Aus den Zweigen prasselten Dutzende der feuerroten Früchte zu Boden und platzten auf.
46 »Er ist nicht allein«, sagte ich scharf. »Wahrscheinlich haben sich seine Truppen hier versteckt.« »Am besten ist, wir rennen weit weg«, forderte uns Zamptasch auf und hieb mit seinem Stock nach Ästen, die unseren Weg versperrten. »Kennst du das Gelände?« »Geradeaus«, sagte er keuchend. »Zum Sain. Dort gibt's alle möglichen Verstecke.« Wir hasteten stolpernd weiter, möglichst schnell und möglichst weit von der Lichtung fort. Im Wald schlugen uns die Äste mit scharfen Nadeln ins Gesicht. Während wir uns den Weg durch die Vegetation bahnten, begann ich in abgehackten Sätzen zu erklären, was ich wusste und welche Folgen der Auftritt des Erzherzogs für die Cappins hatte. Besonders für die Juclas. »Ihr reist ständig um die Galaxis herum und nach Gruelfin hinein … ihr fliegt mit euren Komplexen weiter als alle anderen Cappins … Wenn ihr geeint sein würdet, wärt ihr ein gewaltiger Machtfaktor.« Hoch über uns begann ein dünnes, heulendes Geräusch anzuschwellen. Es waren unverkennbar die Triebwerksgeräusche eines Raumschiffs, das in die Atmosphäre eingetreten war und zur Landung ansetzte. Also gab es kein Versteck der Elitetruppen. Ich blickte in die Höhe, konnte aber vor der mächtigen Kulisse des Planeten nichts erkennen. »Warum hat er den Clanführer umgebracht?«, stotterte Abenwosch und lehnte sich gegen einen kahlen Stamm. Er rang nach Luft und schüttelte den Kopf. »Wenn die neuen Freunde sich an die Stelle der Anführer setzen, werden die Juclas ihren Befehlen gehorchen … dann verlieren sie ihre Eigenschaften und ihre Identität … sie werden zu Kampftruppen der Horden von Garb. Die Lordrichter waren schneller und erfolgreicher, als ich befürchtet habe.« Wir konnten gerade noch kurze Blicke zum Podium und zur Lichtung werfen. Das Heulen der Bremstriebwerke wurde lauter.
Hans Kneifel Zamptasch stolperte und schlug der Länge nach zu Boden. Er stemmte sich hoch, riss die Arme zwischen den Ranken heraus und stäubte abgestorbene Nadeln von der Kleidung. »Sie werden alle umbringen«, sagte ich. »Um ihre Macht zu zeigen und zu festigen. Und wegen eurer blödsinnigen Regeln wird kein Cappin im Cluster erfahren, was hier vorgeht.« Abenwosch-Pecayl 966. starrte mich ungläubig an. Dann begriff er. Sein Gesicht änderte die Farbe; seine Lippen zitterten, als ob er zu weinen beginnen würde. »Das glaube ich nicht, Atlan.« »Ich bin sicher und habe jeden Grund dafür«, antwortete ich. Hinter uns peitschten die Energieschüsse aus der schweren Waffe des Zaqoor und mischten sich in die grellen Entsetzensschreie der Juclas. Wir hasteten durch raschelnde Gewächse und durch Barrieren nadelstarrender Äste. Nach weiteren zweihundert Schritten begann sich das Gelände zu verändern. Bis hierher waren wir auf einer ebenen Fläche geflüchtet. Jetzt durchzogen niedrige Gräben den Boden. Kleine Hügel, dichter bewachsen als am Rand der Lichtung, erhoben sich vor den weit entfernten Hängen des Sains. Ich mäßigte meine Geschwindigkeit und wartete auf Zamptasch, der sich zwar mit bewundernswerter Sturheit, aber unter zunehmenden Schwierigkeiten fortbewegte. Seine Lippen formten eine Reihe von Flüchen, die in seinem Keuchen untergingen. Der nächste Blick in die Höhe zeigte mir ein Beiboot der Golfball-Raumschiffe. Das Beiboot senkte sich durch den freien Raum zwischen dem unteren Rand der Planetenscheibe und dem Horizont und würde zwischen den äußeren Hyrscen aufsetzen. Viele Juclas würden das Thein nicht überleben, denn schon kurz vor der Landung begannen die Bordgeschütze zu feuern. »Sie töten uns alle!«, schrie Abenwosch. Er hatte seinen zeremoniellen Helm verloren und schwitzte. Der Logiksektor schwieg, aber ich wusste, dass der Erzherzog und sei-
Die Versammlung ne Truppe jeden töten würde, der nicht weit genug flüchtete und sich geschickt verbarg. Ob das Schwert der Ordnung ahnte, dass ich mich zwischen den Clans aufhielt? Nimm die schlimmste Wahrscheinlichkeit an!, empfahl der Extrasinn. Etwas langsamer, aber so schnell, wie wir es schafften, entfernten wir uns vom Ort des Geschehens. Vielleicht tausend Schritte lagen schon zwischen dem Rand der Lichtung und unserer Position auf einem niedrigen Hügel. Die Zaqoorfähre war gelandet. Aus den Luken und über die Rampen schwärmten Krieger. Kampfstrahlen zuckten über die Fläche und setzten Montonen in Brand. Flammen, Detonationen und schwarzer Rauch breiteten sich aus. Wahrscheinlich zerstörten die Zaqoor auch die Hyrscen. Ein Inferno war ausgebrochen. Hoffentlich bemerkt von den Juclas, die im Komplex zurückgeblieben waren. Die AVACYN schwebte neben der TIA an der »Außenseite« des Komplexes. Ich wusste nicht, wie sich die Struktur dieser Zusammenballung im Eptascyn-Orbit verändert hatte, als die übrigen Jucla-Komplexe andockten. Vielleicht beobachtete irgendjemand die Oberfläche des Mondes und speziell den Thein-Platz. Vielleicht! Ich sollte besser nicht damit rechnen. Fünfzig Schritte weiter setzte ich mich auf einen moosbewachsenen schrägen Montonenstamm, holte mehrmals tief Luft und sagte: »Ruht euch ein paar Atemzüge lang aus!« Sie ließen sich augenblicklich fallen und starrten mich an, als könne ich alle unsere Überlebensprobleme lösen. »Außer uns sind vielleicht noch einige Juclas entkommen. Die Zaqoor richten ein schreckliches Gemetzel an.« »Der Murra-Clan«, stöhnte Zamptasch. »Der größte. Und der Sebestyn-Clan. War noch nie im Streit mit den anderen.« »Ausgerechnet die Schamenhyns haben die furchtbaren Fremden mitgebracht. Dieser … Aptosch-Imayls! Verräter, verdamm-
47 ter!« »Wir sind allein«, sagte ich. »Wir haben so gut wie keine Hilfsmittel. Finden wir hier irgendwo Wasser, Zamptasch?« »Weiter oben in den Hängen. Nur Rinnsale.« »Immerhin. Und diese roten Früchte kann man essen?« »Sind nicht besonders gut«, antwortete Abenwosch. »Aber sie stillen den Hunger.« »Ich werde das Rennen sicher nicht überleben«, erklärte Zamptasch, wischte Schweiß und braune Nadeln aus seinem Gesicht und hustete. »Aber vielleicht können wir uns so lange verstecken, bis die Juclas planmäßig nach uns suchen.« Er zeigte auf den Planeten. Ich fuhr fort: »Aufgeben gilt nicht. Die Alternative ist der Tod. Die Zaqoor werden uns jagen. Also … weiterlaufen, zum Sain. Dort das perfekte Versteck suchen und finden.« Abenwosch starrte zwischen seinen Knien zu Boden und bekannte murmelnd: »Unsere einzige Möglichkeit. Wir haben viel zu viel Vertrauen gehabt – auch die anderen. Die Soyblin, die Gryncin …« Er erging sich in einer Aufzählung von Namen, die mir so gut wie nichts bedeuteten. Aus der Richtung des gelandeten Schiffes drangen noch immer die Geräusche des Massakers an unsere Ohren. Ich zeigte zur Kante des Gebirges und wiederholte: »Ihr braucht nur den Rauch und die Flammen dort hinten anzusehen, dann wisst ihr, was uns erwartet. Wir haben keine andere Wahl. Jetzt müssen wir beweisen, dass wir überleben können. Nur so können wir vielleicht den anderen helfen. Später, irgendwie …« Abenwosch zog sich in die Höhe und sagte: »Also los. Versuchen wir es.« »Ich überlebe das nicht«, jammerte Zamptasch und stützte sich schwer atmend auf den Knauf seines Stocks. »Statt mit dir mitzugehen, Fremder, hätte ich mich in deinem feinen Schiff besser selbst umbringen können.«
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Hans Kneifel
Ich lachte kurz und schneidend. »Dazu ist immer noch Gelegenheit. Zeig's uns, du Held der ehemals feurigen Lenden. Finde uns ein todsicheres Versteck. Auf! Weiter!« Er kam auf die Füße, indem er halbwegs an seinem Stock hochkletterte, und stapfte vor uns tiefer in das Dickicht der Montonen hinein. Nach zwei Dutzend Schritten hatten wir ihn überholt; und da gab es keine Nacht, in deren Dunkelheit wir uns sicherer fühlen konnten. Es gab nur spinnenartige Tiere und Käfer, schwarze Würmer und wandernde ameisenartige Punkte, die weiße Fäden hinter sich herzogen. Ich hatte nur meine Erfahrung, ein hohes Überlebenspotential und die warnende
Umsicht des Extrasinns. Unsere Flucht ins Ungewisse begann, während die Zaqoor im Umkreis der Lichtung sengten, mordeten und zerstörten. Über den rechten Horizont krochen hellgraue Wolken heran, in denen spiralige Sturmzonen aus Eiskristallen glitzerten. Warme Windstöße waberten von der brennenden Lichtung. In kurzer Zeit würden wir auf unserer panischen Flucht von Regen durchnässt oder von Hagelgeschossen verletzt werden. ENDE
ENDE
Die Rache der Juclas von Uwe Anton Atlan flieht vor den Truppen der Zaqoor in die Wildnis der Montonenwälder. Der schiffsgewohnte Abenwosch und der altersschwache Zamptasch sind nicht gerade eine Verstärkung. Wie verhalten sich indessen die Überlebenden des Massakers? Und wie reagieren die JuclaKomplexe im Orbit? Kann die wachsame Besatzung der AVACYN unserem Arkoniden helfen?