TERRA ASTRA 63
Die verlorene Welt von D. C. Hogan
Vorsichtig spähte Kwonar über die halb verfallene Mauer. Die breite...
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TERRA ASTRA 63
Die verlorene Welt von D. C. Hogan
Vorsichtig spähte Kwonar über die halb verfallene Mauer. Die breite Straße war leer, und nichts regte sich. Aber drüben, auf der anderen Seite, stand einer der Wächter - eines jener Wesen, die lebten und doch so tot waren. Es waren sonderbare Geschöpfe. Auf einem seiner Streifzüge hatte Kwonar einmal die Leiche eines Wächters entdeckt. Der Tote lag mit zertrümmertem Schädel am Eingang einer Ruine. Ein riesiger abgebröckelter Stein mußte ihm den Schädel zerschlagen haben. Es war nicht festzustellen gewesen, wie lange der Tote schon dort lag. Der Körper des Wächters ähnelte zwar dem Kwonars - nur der dritte Arm fehlte -, bestand jedoch nicht aus Fleisch und Blut. Voll Scheu hatte Kwonar damals, den metallisch glitzernden Leib des Toten betrachtet. Es mochten nun schon zehn Minuten vergangen sein, ohne daß der Eisenmann sich bewegt hatte. Während sich Kwonar nur mühsam der unzähligen umherschwirrenden Fliegen erwehren konnte, schien der Wächter völlig unbeteiligt über die Ruinen zu starren. Es war ein klarer Tag, und die Sonne stach mitleidlos vom Himmel. Die steinernen Bodenplatten und die alten Gemäuer reflektierten die Strahlen, und Kwonar schien es, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Angespannt beobachtete er den regungslos dastehenden Wächter Kwonar wußte, daß er ein großes Risiko einging. Aber es war notwendig. Die Ruinen waren schon so oft durchsucht worden, daß man kaum noch etwas Brauchbares entdeckte. Nur das Zentrum der Ruinenstadt konnte vielleicht noch Schätze bergen - dieses wurde jedoch von den Eisenmännern bewacht. Kwonar kannte die Gefahr und wußte, daß er im offenen Kampf mit den Wächtern keine Chance besaß. Schon viele hatten versucht, in den Stadtkern einzudringen. Doch keiner war je zurückgekehrt! Die Feuerblitze der Wächter waren tödliche Waffen. Es hieß zwar, daß die Wächter Menschen ihres Aussehens nichts zuleide täten, aber Kwonar war dessen nicht sicher. Er hatte sich jedenfalls einen Umhang aus grobfaserigem Pflanzengeflecht über die Schultern geworfen. Geschickt verbarg - 1-
er seinen dritten Arm darunter. Jenen Arm, der den „Schlagtot“ umfaßt hielt. Er hatte ihn vor langer Zeit einmal in einer Ruine gefunden. Kwonar hatte zwar keine Ahnung, was ein Hammer war, erkannte aber sofort, daß das metallische Ding eine vorzügliche Waffe abgeben mußte. Plötzlich drehte sich der Wächter zur Seite und änderte mit schwer stapfenden Schritten seine Position. Ein entschlossener Zug trat in Kwonars Gesicht. Jetzt war die Gelegenheit gekommen! Blitzschnell riß er den Arm mit der Waffe hoch. Der Wächter mußte etwas bemerkt haben, reagierte aber nicht rasch genug. Der Hammer traf ihn, noch ehe er seinen „Feuerblitz“ loslassen konnte. Die Wucht des Schlages riß ihn von den Beinen, und krachend stürzte er zu Boden. Kwonar ließ sich auf seine vorderen Laufarme nieder und setzte in großen Sprüngen über die Straße. Sein Eingreifen war jedoch nicht mehr nötig - der „Schlagtot“ hatte ganze Arbeit getan. Befriedigt betrachtete Kwonar den zermalmten Leib seines Gegners, aus dem nun feine Rauchwölkchen aufstiegen. Dann nahm er die Waffe wieder an sich und sah sich prüfend um. Er hatte nicht viel Zeit. Es konnte nicht lange dauern, bis die übrigen Wächter auf ihn aufmerksam wurden. Mit raschen Schritten lief er auf das Stadtzentrum zu. Dieser Teil der alten Stadt war etwas besser erhalten als die Randgebiete, die Kwonar bisher kennengelernt hatte. Doch eines hatte das Zentrum mit den Außenbezirken gemeinsam: die trostlose Leere und geradezu unheimliche Ruhe! Kein Lebewesen war zu sehen. Es schien, als wären die seltsamen Eisenmänner die einzigen Einwohner dieser Stadt. Dichtes Unkraut wuchs aus den Rissen im Straßenbelag und wucherte malerisch über die verwitterten Gemäuer. Die von Wind und Wetter gebleichte, einstmals wahrscheinlich farbenfroh leuchtende Tür eines Geschäftsportals zog Kwonars Aufmerksamkeit auf sich. Hinter einer zerborstenen Glasscheibe lagen fremdartige Instrumente. Irgend etwas warnte ihn. Instinktiv stellte er sich auf die Hinterbeine und verdeckte seinen Schla garm mit dem Umhang. Wenn die Wächter ihn überraschten, war es vie lleicht seine einzige Chance, sie zu täuschen. Aufrecht stehend und den dritten Arm verdeckt, sah er aus wie einer von ihnen. Es war keinen Augenblick zu früh.
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Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er plötzlich die schimmernden Gestalten zweier Eisenmänner auf sich zukommen sah. Kwonar spürte, daß er zitterte. Die Wächter näherten sich mit langsamen, schwerfälligen Schritten. Kwonar fühlte die Blicke ihrer harten, unmenschlichen Augen auf sich ruhen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er wagte es nicht, die verlockende Auslage des Geschäfts weiter zu erforschen. Scheinbar unbeeindruckt setzte er seinen Weg fort. Er bemühte sich, keine Unsicherheit zu zeigen. Die Straße, in der er sich befand, mußte einst von regem Leben erfüllt gewesen sein. Verblichene Farbtafeln schienen versunkene Schätze anzupreisen, und hinter Verfallenen Geschäftsportalen blitzten geheimnisvolle Geräte auf. Aus den Spalten und Ritzen des Mauerwerks wehte der Atem der vergangenen Jahrhunderte. Doch Kwonar hatte keine Zeit, über derlei Dinge nachzudenken. Er fühlte die Blicke der Wächter in seinem Rücken. An dem regelmäßigen Stampfen erkannte er, daß die Eisenmänner ihm folgten. Plötzlich huschten einige Schatten über den Weg. Aus dem Dunkel eines eingebrochenen Kanals fauchte und quiekte ihn etwas an. Es waren Scharen jener kleinen, widerlichen Nagetiere, die überall zwischen den Ruinen hausten. Kwonar wußte, daß sie, wenn es ein größeres Rudel war, auch stärkeren Lebewesen gefährlich werden konnten. Aber die Tiere schienen die Wächter zu fürchten und wagten es nicht, aus ihren Schlupfwinkeln zu kommen. Nur schemenhaft sah Kwonar einige der vie lköpfigen Kreaturen, die ihn mit hungrigen und boshaften Augen beobachteten. Seine Nerven waren bis aufs äußerste gespannt. Am liebsten hätte er sein Heil in der Flucht gesucht. Dann erblickte er das Tor. Ein breiter, noch gut erhaltener Bogen überspannte die Straße. Kwonar witterte Gefahr, aber er hatte keine andere Wahl. Die Wächter folgten ihm mit gleichmäßigen Schritten, und es war, als wollten sie ihn durch das Tor drängen. Zögernd ging er weiter. Doch schließlich blieb er verwirrt stehen. Er befand sich auf einem kleinen, kreisrunden Platz. Eine Unzahl schmaler, von hohen Mauern umgebener Wege nahm hier seinen Aüsgang. Unruhig blickte Kwonar um sich. Das Mauerwerk schien aus sehr festem Material zu bestehen, denn es zeigte keinerlei Verwitterungserscheinungen.
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Schließlich entdeckte er die Tafel. Zwischen dreien der unzähligen Gänge leuchtete ein metallisches Schild hell auf. Gebannt starrte Kwonar auf das rot flackernde Etwas. Von der Metallplatte, die mit rätselhaften Zeichen bedeckt war, ging ein kaltes Feuer aus. Plötzlich ertönte ein scharfes Zischen. Es waren die Wächter. Kwonar stellte fest, daß die stählernen Gestalten ihm den Rückweg durch den Torbogen verwehren wollten. Wieder stieß einer der Wächter ein Zischen aus. Es war, als wollten sie den Eindringling vorwärts treiben. Verzweifelt sah Kwonar auf die fla kkernde Tafel. Die dunklen Runen auf dem rot leuchtenden Grund zogen seine Augen magisch an. Als der Wächter das dritte Mal zischte, entschloß sich Kwonar zu handeln. Die schmalen Gänge verloren sich nach wenigen Metern in unübersichtlichen Kurven. Es war also gleichgültig, wohin er sich wandte. Es mußte möglich sein, seine etwas weniger wendigen Verfolger auf diese Art abzuschütteln. Den „Schlagtot“ fest umfassend, lief Kwonar auf einen der Gänge zu. Irgend etwas sagte ihm, daß er einen Fehler begangen hatte. Es war das letzte, das er empfand. Er bemerkte nichts mehr von den fahlen Strahlen, die plötzlich aus den Augen der Wächter auf ihn zuschossen. Auch das unheimliche Flirren, das ihn plötzlich umgab, würde ihm nicht mehr bewußt. Sein Körper registrie rte keinen Schmerz. Es ging alles viel zu schnell. Kwonar hatte aufgehört zu existieren. * Träge floß das lehmigtrübe Wasser dahin. Die große Echse lag, einem verfaulten Baumstamm gleich, bewegungslos in dem seichten Nebenarm des Flusses. Sie lauerte schon lange. Es war einige Zeit her, seit sie ihre letzte Beute gemacht hatte. Nur die kleinen, tückischen Augen und ein Teil der Schnauze ragten aus dem Wasser. Ein kurzes Stück stromabwärts liefen einige rehähnliche Tie re unbekümmert den Strand entlang. Gebannt blickte Singhu auf die regungslos wartende Bestie. Er hatte sich in den Blättern des großen Baumes eingenistet. Von dort aus konnte er alles überblicken, ohne selbst entdeckt zu werden. - 4-
Von hier aus hatte er oft die seltsamsten Kämpfe beobachtet. Er hatte gehofft, daß der große Bulle mit den kräftigen Hörnern zur Tränke kommen würde. Das wäre sicher ein spannender Kampf geworden. Aber nun schien die Echse ein leichtes Spiel zu. haben. Eines der Jungtiere näherte sich ahnungslos der Stelle, an der die Bestie lauerte. Unmutig stieß Singhu einen lauten Pfiff aus. Im Nu stob das ganze Rudel auseinander. Verschreckt lief das Junge seinen Freunden nach. Die Echse bäumte sich wütend im Wasser auf. Dann schnellte sie sich mit voller Kraft in die Höhe, um den warnenden Störenfried zu vernichten. Doch Singhu saß viel zu hoch im Wipfel des Baumes. Das Untier, das nur wenige Meter aus dem Wasser zu springen imstande war, erreichte ihn nicht. „Singhu! Singhu! Willst du nicht zum Essen kommen?“ Es war Jambie. Ihr ganzer Lebensinhalt bestand aus Essen, Trinken und Schlafen. Mißmutig schwang sich Singhu mit Hilfe einer Liane aus dem Geäst des Baumes und landete auf dem Boden. „Was gibt es?“ erkundigte er sich. Jambie musterte seinen sehnigen, braungebrannten und nur mit einem Lendenschurz bekleideten Körper. „Du bist nicht dick, du hast Hunger!“ stellte sie mit unüberwindlicher Logik fest. Sie meinte, daß jemand, der schlank war, auch Hunger haben müsse. Singhu folgte ihr wortlos. Bald erreichten sie das Lager. Das Fleisch der jungen Echse, die Einauge am Morgen erlegt hatte, brodelte bereits in dem uralten, verbeulten Kochtopf. Das Feuer knisterte, und aus dem Kessel stieg ein verlockender Duft auf. Sie hatten nur auf Singhu gewartet. Er gab das Zeichen, anzufangen. Heißhungrig stürzten sich alle auf das Essen. Nur Singhu legte sich gleichmütig in den Schatten eines mächtigen Baumes. Es war Jambie, die das beste Stück Fleisch erwischte und es ihm triumphierend überreichte. Gelassen nahm er seinen Teil entgegen und bedankte sich mit einem kurzen Lächeln. Geistesabwesend starrte er auf die am Himmel dahinziehenden Wolken. Es war schön, der Führer eines Rudels zu sein. Er brauchte sich weder um das Essen noch um einen guten Schlafplatz zu kümmern. Es war das ungeschriebene Gesetz, daß er von allem das Beste erhielt. Singhu war der Führer, und er war stolz darauf. Es gab niemand, der in seinem Alter schon ein eigenes Rudel anführte. - 5-
Doch er erinnerte sich genau, daß es nicht immer so gewesen war. Damals, als Lorrh über das Rudel herrschte und mit eiserner Strenge regie rte. Singhu hatte keine Familie hinter sich gehabt, die ihn vor der Willkür der anderen schützte. Das Rudel hatte ihn von Wanderhändlern im Tauschgeschäft „erworben“. Singhu wußte nicht, daß es so etwas wie Eltern gab. Der einzige, der sich seiner angenommen hatte, war der Alte. Aber der war selten hier - er wohnte allein und abgeschieden in den Felsen. Nur zu oft trieben andere Artgenossen ihre rauhen Späße mit Singhu. Häufig konnte er nur durch List Schlägen entgehen. Bis zu dem Tag, an dem er Lorrh erstmals trotzte! Damals schleuderte Lorrh seine Wurfkeule nach ihm. Er besaß darin eine ungeheure Treffsicherheit, und oftmals war die Keule das einzige Mittel, das Rudel vor gefährlichen Feinden zu beschützen. Wie zu Stein erstarrt hatte Singhu die Waffe auf sich zufliegen sehen. Er verstand selbst nicht sofort, weshalb die Wurfkeule plötzlich ihre Flugrichtung änderte und wirkungslos zu Boden fiel. Anfangs benutzte Singhu seine Kraft ohne Überlegung - wie eine Refle xbewegung. Erst nach und nach lernte er, sie zu beherrschen. Mit ihrer Hilfe konnte er Steine durch die Luft fliegen lassen und selbst stärkste Äste knikken. Es gelang ihm, seine Gegner aus dem Stand zu heben oder sich die schönsten Früchte aus den Baumwipfeln zu holen. Mit abergläubischer Furcht verfolgte das Rudel seine Bemühungen, Gewalt über die Kraft zu bekommen. Bald trat Lorrh ab und machte Singhu zu seinem Nachfolger. Singhus Kraft war entscheidend! Sie machte ihn zum Herrn des Rudels. Oder war es nicht so? „Du bist anders als die anderen!“ hatte der Alte einmal zu ihm gesagt. Immer wieder gingen Singhu diese Worte durch den Kopf. Sie waren doch alle Menschen, wohnten in Baumhütten, kochten ihre Speisen und lebten in Familien. Sie besaßen die gleichen Rechte, und jeder hatte seinen Pflichten innerhalb des Rudels nachzukommen. Was hatte der Alte gemeint? Nachdenklich betrachtete Singhu die um das Feuer sitzende Schar: Einauge, der Jäger - er konnte links von rechts nicht unterscheiden. Aber er verfügte über einen geradezu unfehlbaren Spürsinn, wenn es darum ging, die Fährte eines Wildes zu verfolgen. Jambie, deren pralle Brüste schon so manchen Streit unter den Männern verursacht hatten, und die ewig hungrig war. Pindur, der gemeinsam mit seiner Mutter einen etwas abseits stehenden Baum bewohnte. Er umwarb Jambie schon lange erfolglos. Er war - 6-
stumm und konnte sich nur durch Zeichen verständlich machen. Seine großen, melancholischen Augen verrieten jedoch seine Gedanken, wenn er Jambie demutsvoll den Hof machte. Aber alle wurden von Lorrh überragt, dessen vier mächtige Arme ihn zu einem gefährlichen Gegner machten. Singhu war es gelungen, Herr des Rudels zu werden. Doch irgend etwas störte ihn. Er erinnerte sich noch genau der Worte des Alten: „Jedes Leben hat seinen Sinn!“ Singhu fand aber nicht heraus, welchen. Sinn sein Dasein haben sollte! Nur der Führer eines Rudels zu sein, schien ihm keine Lebensaufgabe darzustellen. Das Rudel war jetzt satt. Die einzelnen Sippen zogen sich in kleinen Gruppen in den Schatten der Bäume zurück, in deren Geäst sie ihre Hütten errichtet hatten. Plötzlich schrie Jambie erschrocken auf. Unmittelbar vor ihr reckte sich der häßliche Kopf einer grauen Sprungviper in die Höhe. Das schuppige Reptil zischte wütend. Mit eiligen Schritten brachte sich alles in Sicherheit. Jeder wußte, daß die gefährliche Bestie ihren Opfern mit weiten Sprüngen nachsetzen konnte. Ein einziger Biß genügte, um die Bedauernswerten elend zugrunde gehen zu lassen. Nur Pindur besaß den Mut, nicht zu fliehen. Er bebte zwar innerlich, konnte es aber nicht zulassen, daß Jambie etwas geschah. Seine Hand umklammerte einen großen Stein, und mit vorsichtigen Bewegungen schlich er näher. Zitternd und mit angstvollen Blicken starrte Jambie auf das züngelnde Ungetier. Als das Reptil den neuen Gegner gewahrte, zischte es heftig. Die ringförmigen Gliedmaßen der Schlange zogen sich zusammen, und jeden Augenblick konnte das Ungeheuer zum Sprung ansetzen. Mit einer plötzlichen Bewegung riß Pindur den Stein hoch. Doch die Sprungviper war schneller! * Obwohl draußen die Sonne schien, war es in der Höhle relativ dunkel. Die Fackeln leuchteten nur einen Teil des Felsendomes aus. Aus dem Innern des Berges strömte ein kühler Wind, und die kleinen Flammen flackerten unruhig.
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Mühsam richtete sich der Alte von seinem Lager auf und starrte zum Ausgang der Höhle. Er fühlte, daß es Zeit war. Es konnte nicht mehr lange dauern. Die Strahlung war noch zu stark. Die Höhle bot zwar einen gewissen Schutz, aber das war zu wenig. Wohl waren die Vorräte auf Jahre hinaus berechnet worden, doch nichts währte ewig. Eines Tages hatte er sich auf natürliche Ernährung umstellen müssen. Jede Mahlzeit, jeder Schluck Wasser brachte ihn dem Grab um einen Schritt näher. Müde sah er an seinem ausgemergelten Körper herunter. Einige der Geschwüre waren aufgebrochen. Die Schmerzen wurden immer stärker. Und trotzdem - der Hauch eines Lächelns huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Er hatte es nicht anders haben wollen! Es war sein freier Wille gewesen, den Schritt zurück zu tun. Er wußte von Anfang an, daß sein Körper sich nicht an die Radioaktivität gewöhnen würde. Nur diejenigen, die in den verseuchten Gebieten geboren und schon seit Generationen der Strahlung ausgesetzt waren, besaßen eine Überlebenschance. Die entsetzlichen Schäden an der Erbmasse waren jedoch nicht zu verhindern gewesen. Der Alte fühlte das unnatürliche Klopfen seines geschwächten Herzens. Es kostete ihn viel Kraft, aufrecht zu sitzen. Er würde die Kontrolle über seinen Körper bald verlieren. Doch irgend jemand hatte es versuchen müssen - und er hatte es gern getan! Er besaß von allen Anwärtern die besten Erfolgsaussichten. Er war einer der wenigen echten Telepathen, den die Erdbevölkerung jemals hervorgebracht hatte. Für ihn gab es keine Kontaktschwierigkeiten. Er mußte alles daran setzen, wenigstens einen Teil der alten Schuld der Väter zu begleichen. Es war der mühevolle und nahezu aussichtslose Versuch, zumindest einem kleinen, noch nicht zu stark mutierten Teil der Kreaturen zu einem schöneren Leben zu verhelfen. Ein Versuch, der gemacht werden mußte - den die Menschlichkeit gebot! Das war der Grand, weshalb man ihn entsandt hatte. Und dann... Der Alte verfiel in träumerische Gedanken. Gab es nicht außer dem offiziellen Grund noch etwas, das ihn veranlaßt hatte, sein früheres Leben aufzugeben? Trug er nicht irgendwo in seinem Innersten ein Stück Sehnsucht? Immer wieder bemühte er sich, den Gedanken zu verdrängen. Er wollte es sich nicht eingestehen. Aber war es nicht natürlich, daß jedes intelligente Wesen danach strebte, seine eigentliche Heimat kennenzule rnen? Denn das hatten die Psychologen der Erde schon lange vorhergesagt - ein Volk, - 8-
das seinen Heimatplaneten verlor, würde immer unter dieser Tatsache le iden müssen. Es hatte etwas Bedrückendes an sich, nicht mehr an den Ursprung des Entstehens zurückkehren zu können. Allein schon das Bewußtsein dieses Verlustes würde die Menschen psychologisch schwächen und ihre Existenz in Frage stellen. Doch wenn es der Menschheit je gelingen sollte, ihre Heimat zurückzuerobern, dann wahrscheinlich nur mit Hilfe der Erdgeborenen. Sie waren es, die den Unternehmungsgeist erneut auffla mmen lassen konnten. Sie würden es vielleicht einmal soweit bringen, daß man wieder ernsthaft daran dachte, den verloren geglaubten Planeten in Besitz zu nehmen. Der Alte fühlte instinktiv, daß dies der wahre Grund seiner Mission war. Erst wenn das eintrat, was er insgeheim erhoffte, hatte er sein Ziel wirklich erreicht. Anfangs hatten nur wenige Wissenschaftler seine Idee unterstützt. Nur unter größten Schwierigkeiten war es gelungen, die notwendige Organisation aufzubauen und die finanziellen Mittel zu erhalten. Doch die Opfer, die er gebracht hatte - und noch immer brachte -, waren nicht vergeblich gewesen. Er hatte Hunderten geholfen, sich von ihrer trostlosen Umwelt und der Tatenlosigkeit loszureißen. Die meisten von ihnen hatten ihr Ziel erkannt und ihren Weg gefunden. Und doch - wie wenige waren es, wenn man bedachte, wie groß dieser Planet einst war! Die ersten Jahre hatte er es leichter gehabt. Sein Körper war noch jung und der Organismus gesund gewesen. Es hatte ausgesehen, als könnte er seine Aufgabe spielend leicht erfüllen. Doch bald wurde es immer schwieriger, geeignete Menschen zu entdecken. Die meisten waren schon zu weit mutiert, als daß sie die strengen Normen der Wissenschaftler erfüllen konnten. Der Alte wußte, daß die Angst vor Schäden der Erbmasse nicht unbegründet war. Man mußte sich hüten, eine Rasse von Ungeheuern heranzuzüchten. Ein Großteil der unglücklichen Kreaturen schied bereits aufgrund rein körperlicher Merkmale aus. Andere waren debil oder psychologisch zu sehr aus dem Gleichgewicht. Als die Krankheit immer weiter fortschritt und den Alten zwang, größere Ausflüge zu unterlassen, wurde die Suche noch schwerer. Nun lag es schon Jahre zurück, daß es ihm gelungen war, einen Kandidaten zu finden. Schade, daß es damals mit Tiny nicht geklappt hatte. Die Kleine hätte es bestimmt geschafft. Er hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben, doch er wußte, daß es nahezu vermessen war, anzunehmen, er könne sie je wiederfinden. Die Kleine war dem fremden Rudel, das sie damals - 9-
überfallen hatte, eine willkommene Beute gewesen. Junge Arbeitskräfte waren immer gefragt! Wehmütig dachte der Alte an Tiny zurück. Er sah im Geist ihr schmales Gesicht mit den grüßen, dunklen Augen und den schwarzen Haaren vor sich. Sie war ihm wie eine eigene Tochter gewesen. Er hatte sie auf einer seiner Wanderungen entdeckt. Sie saß - ein kleines Kind noch - weinend neben ihrer Mutter, die tot im Straßengraben lag. Hätte er das Mädchen nicht zu sich genommen, wäre es wahrscheinlich verhungert oder das Opfer eines Raubtieres geworden. Ein Frösteln durchlief den geschwächten Körper. Der Schmerz der unzähligen offenen Wunden rief den Alten wieder in die grausame Wirklichkeit zurück. Müde lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Felswand. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Eine geeignetere Person würde er wahrscheinlich nicht mehr finden. Es war die letzte Gelegenheit, in das Schic ksal eines Menschen einzugreifen! Der Alte schloß die Augen und begann sich zu konzentrieren. * Noch ehe Pindur den Stein nach dem Reptil werfen konnte, drückte sich die Sprungviper vom Boden ab. Wie ein Geschoß schnellte sie auf den Angreifer zu. Alles spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Der entsetzte Schrei Jambies, das blasse und verbissene Gesicht Pindurs und das atemlose Schweigen des Rudels. Nur Singhu behielt die Nerven! Unmittelbar vor Pindurs Gesicht schien das Reptil auf eine unsichtbare Mauer zu stoßen. Einen Augenblick lang zappelte es unbeholfen in der Luft. Dann stürzte es in einer atemberaubenden Kurve auf einen Felsen zu. Singhu fühlte die Kraft in sich und wußte, daß die feste Materie seinem Geist nicht widerstehen konnte. Er schleuderte die Sprungviper mit voller Wucht gegen das Gestein. Wieder und immer wieder ließ er das bösartige Reptil gegen den Felsen prallen. Schließlich entspannte er sich. Mit zerschmettertem Schädel blieb die Sprungviper am Boden liegen. Aufgeregt schnatternd umringte das Rudel die tote Schlange, und Einauge riß sie schließlich an sich. Er schlitzte den Körper des Reptils mit seinem Dolch der Länge nach auf und zerlegte es waidmännisch. Pindur sah noch etwas blaß aus. Der Stumme brauchte keine Worte, um sich zu bedanken - seine Augen sprachen Bände. - 10-
„Das Untier wird einen guten Braten abgeben“, meinte Jambie, kaum daß sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Einauge nickte zustimmend. „Du bekommst das beste Stück von mir“, versprach Jambie und lachte Singhu strahlend an. „Gib es lieber Pindur!“ meinte Singhu. „Er hat sein Leben für dich riskiert - ich nicht!“ Sie starrte Singhu verblüfft an. Man merkte, daß ihr dieser Gedankengang zu schaffen machte. Plötzlich war die Stimme da. Sie schien aus dem Inneren des Kopfes zu kommen. Man konnte sie mit den Ohren nicht wahrnehmen, obwohl sie so nahe klang. Singhu kannte den Ruf und spürte, daß es wichtig war. Wenn der Alte rief, hatte alles andere zu warten. Ohne viel Worte zu verlieren, verließ er das Rudel. * Nur langsam gewöhnten sich Singhus Augen an die Dunkelheit der Höhle. Der Alte saß in sich zusammengesunken auf seinem Lager. Erschrocken starrte Singhu auf den ausgemergelten Körper. Es konnte nicht mehr lange dauern... „Richtig, es geht zu Ende, mein Sohn. Ich bin froh, daß du so rasch gekommen bist.“ „Nein“, wehrte Singhu ab. „Du wirst bestimmt gesund. Ich werde dir...“ „Du wirst zuhören“, unterbrach ihn der Alte mit seltsamer Ruhe. „Du weißt, daß die Stunde des Abschieds für uns gekommen ist. Doch zuerst verrate ich dir noch ein Geheimnis - das Geheimnis unserer Welt!“ Seine Stimme zitterte etwas. Man sah dem Alten an, daß das Sprechen ihn anstrengte. Singhu fühlte instinktiv, daß der Alte recht hatte und setzte sich auf das primitive, nur aus getrocknetem Gras und Fellen bestehende Lager. Das von der Krankheit entstellte Gesicht des Alten war nun unmittelbar vor ihm, Die wissenden und gütigen Augen des Kranken glänzten unnatürlich. „Du bist der einzige, mein Sohn, dem ich es sagen kann. Ich kenne sonst niemand, dem ich noch helfen könnte. Du hast einen gesunden Körper und einen regen Geist - dir fehlt bloß das Wissen! Die anderen...“ Fieberschauer schüttelten seinen Körper. Schweratmend setzte der Alte fort: „Du mußt weg von hier! Suche deine Brüder!“ sagte er eindringlich. - 11-
„Es sieht aus, als wäre dieser Planet zum Untergang verurteilt. Aber ich fühle, daß es nicht so sein muß. Doch der Umschwung kann nur durch dich und deinesgleichen herbeigeführt werden. Nur euch kann es gelingen, den Planeten für die Menschheit zurückzugewinnen. Suche deine Brüder!“ Verwirrt sah Singhu ihn an. Welche Brüder? Was für ein Planet? Wo sollte er suchen? „Ich darf dir nicht viel mehr verraten“, flüsterte der Alte heiser. „Du mußt sie selber finden. Gehe in die alte Stadt, dort wirst du dein Ziel erkennen! Habe keine Angst vor den Eisenmännern - gehe ohne Furcht, offen und frei, aber mit wachem Auge! Verspreche mir das!“ Singhu verstand überhaupt nichts mehr. Er fühlte nur, daß es wic htig sein mußte, was der Alte von ihm verlangte „Du mußt es mir versprechen“, drängte der Alte erregt. „Du mußt deine Brüder suchen!“ Es war wahrscheinlich der letzte Wunsch eines Sterbenden. Singhu nickte fest. „Ich verspreche es“, sagte er dann deutlich. „Das ist gut, mein Sohn“, sagte der Alte erschöpft und ließ sich auf die Felle zurücksinken. „Nur eine Hilfe kann ich dir noch gewähren“, flüsterte er dann leise. „Die Bücher! Sie gehören dir! Du mußt sie lesen, Singhu Wort für Wort! Es ist wichtig! Erst wenn du alles verstehst, darfst du deine Brüder suchen!“ Mit einer matten Bewegung deutete der Alte auf ein mit Fellen umwikkeltes Päckchen, das in einer Ecke der Höhle lag. Es war, als sei eine schwere Bürde von ihm abgefallen. Tief atmend lag er da, zu schwach, sich zu bewegen. Seine Zeit war abgelaufen. Er hatte sich früher oft den Kopf darüber zerbrochen, wie es sein würde, wenn die Stunde nahte. Aber nun war alles anders - so selbstverständlich und einfach. Mit einem Mal fühlte er sich frei und ungebunden, als hätte sein Körper nur darauf gewartet, die Last des Lebens abzuschütteln. Er wußte, daß er alles getan hatte, um das gesteckte Ziel zu erreichen - auch wenn es ihm nicht mehr vergönnt war, es selbst zu erleben. Ein Triumph jedoch war ihm sicher: Sein Wunsch, auf der Welt seiner Vorfahren zu sterben, ging in Erfüllung! „Kann ich dir etwas helfen?“ fragte Singhu besorgt. Der Alte besaß nicht mehr die Kraft, seine Augen zu öffnen. „Nein, mein Sohn“, flüsterte er fast unhörbar. „Es ist alles gut, so wie es kommt. Nur eines noch, Singhu. Wenn du einmal nicht mehr weiter kannst, sage ihnen, du kommst von Major Kane...“ - 12-
Der Atem des Sterbenden ging jetzt stoßweise. Ein Zucken durchlief seinen Körper. Dann schien er sich plötzlich zu entspannen - die Gesichtszüge glätteten sich. Der Alte war tot. Bedrückt starrte Singhu auf den Toten. Wie hatte der Alte gesagt? Major Kane? Ein seltsamer Name. Es war Singhu bisher nicht aufgefallen, aber er hatte nie gewußt, wie sein väterlicher Freund eigentlich hieß. Für das Rudel war er immer „der Alte“ gewesen. Als er damals, vor zwei Sommern, plötzlich aufgetaucht war, um sich hier anzusiedeln, hatten sie ihm geholfen, sich die Höhle einzurichten. Von Zeit zu Zeit brachten sie ihm Lebensmittel. Dafür verriet ihnen der Alte viele nützliche Dinge und pflegte ihre Kranken gesund. Bis er schlie ßlich selber krank und von Tag zu Tag schwächer wurde. Das Rudel hatte einen guten Freund verloren! Für Singhu jedoch, der seine Eltern nie gekannt hatte, war der Alte mehr gewesen. Wie ein Vater hatte er ihm stets geholfen, die größten Schwierigkeiten zu überwinden. Und auch später, als Singhu bereits von allen als Führer anerkannt worden war, hätte ihm der Alte oft wertvolle Hinweise gegeben. Was hatte der Alte nun von ihm gewollt? Welche Brüder sollte er suchen? Welchen Hinweis würde er in der toten Stadt finden? Kopfschüttelnd nahm Singhu die Bücher an sich. Dann warf er noch einen letzten Blick auf den Toten. Friedlich lag er da - wie ein Schlafender. Als Singhu die Höhle verließ, stand die Sonne schon recht tief. Abschätzend betrachtete er den wuchtigen Felsen über dem schmalen Höhleneingang. Es würde nicht einfach sein. Aber diesen letzten Dienst hatte er dem Alten schon vor Wochen versprechen müssen. Singhu konzentrierte sich ausschließlich auf den Gesteinsvorsprung. Er hoffte, daß seine Kraft ausreichen würde. Er spürte, wie der Druck in seinem Schädel wuchs und etwas in ihm zu vibrieren schien. Der graue, schwere Felsen blie b unbeweglich. Angestrengt versuchte Singhu, seine Kraft zu verstärken. Schließlich krachte etwas. Einige winzige Gesteinssplitter sprangen von dem Felsen ab. Die Erde schien auf einmal zu beben, und dröhnend barst das Gestein entzwei. Krachend fiel der abgetrennte Fels vor den Höhleneingang. Der Alte hatte das gewünschte Grab erhalten - niemand würde seine letzte Ruhe stören. * - 13-
Schweigend saßen die Gestalten um das kleine Feuer. Es war kühl geworden, und das Rudel rückte zu einem engen Kreis zusammen. Als Singhu das Lager erreichte, war es schon dunkel. Müde ließ er sich zwischen seinen Gefährten nieder. „Da, es ist gut!“ Geschickt fing Singhu das Stück Fleisch auf, das Einauge ihm zuwarf. „Die Schlange hat einen vorzüglichen Braten abgegeben“, sagte der Jäger verschmitzt lächelnd. Hungrig verzehrte Singhu seinen Anteil. Er war müde. „Der Alte ist tot!“ sagte er schließlich. Einen Augenblick lang verstummte das Schmatzen in der Runde. „Schade um ihn“, meinte Lorrh schließlich und fischte sich ein weiteres Stück Fleisch aus dem Topf. Das Rudel hatte dem Alten viel zu verdanken. Jeder von ihnen hatte ihn gut leiden können. Doch was half es - das Leben war hart und ging weiter. Fast jeden Tag starb irgend jemand. Versonnen grübelte Singhu vor sich hin. „Was hast du da?“ fragte Jambie neugierig und deutete auf das fellumwickelte Päckchen. „Bücher“, sagte Singhu ruhig. Augenblicklich erlosch Jambies Interesse. Sie konnte es nicht verstehen. Niemand verstand es - auch Singhu fiel es nicht leicht. Es gab keinen im ganzen Rudel, der die geheimnisvollen Zeichen entziffern konnte. Nur Singhu war imstande, wenn er sich Mühe gab, eine Bedeutung aus den Worten herauszulesen. Er hatte keine Ahnung, weshalb der Alte ihn diese sonderbaren Zeichen gelehrt hatte. Es gab niemand auf dieser Welt, der sie deuten konnte. Singhu hatte sonst noch nie Bücher gesehen. Das Lesen war anscheinend eine geheime Wissenschaft des Alten gewesen. Und doch mußte es wichtig sein - er hätte Singhu sonst bestimmt nicht dazu angehalten. Nachdenklich wickelte Singhu die beiden Bücher aus den Fellen. Eines davon kannte er. Der Alte hatte es oft gemeinsam mit ihm besprochen, um ihm die Worte zu erklären. Es war ein Verzeichnis aller Wörter, die es gab. Vielfach machten einfache Zeichnungen die Bedeutung derselben klar. Das zweite Buch hatte Singhu noch nie gesehen. Neugierig versuchte er, die Worte auf dem Einband zu lesen.
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„R-o-b-i-n-s-o-n C-r-u-s-o-e“, entzifferte er mühsam. Ein eigenartiger Titel! Was hatte das alles zu bedeuten? Weshalb hatte der Alte gesagt, daß es so wichtig sei, die Bücher zu lesen? Vielleicht würde der Inhalt des Buches darüber Aufschluß geben. * Kwonar war tot. Lorrh brachte die Nachricht, als er von einem Jagdausflüg heimkehrte. „Ich bin unten am Fluß zwei Männern aus Kwonars Rudel begegnet“, berichtete er. „Kwonar drang vor zehn Monden in die Ruinenstadt ein und wurde seither nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich haben die Eisenmänner ihn getötet!“ Kwonar versuchte also, in das Zentrum der Ruinenstadt zu gela ngen, ging es Singhu durch den Kopf. Er selbst hatte - außer einigen Ruinen am Rande - die Stadt noch nie betreten. Doch jeder wußte, daß die Eisenmänner niemand ins Stadtinnere ließen. Oder etwa doch? Wäre Kwonar außerhalb des Stadtkerns gestorben, wäre seine Leiche sicher gefunden worden. Es mußte ihm daher gelungen sein, in das Zentrum einzudringen. Alles war sehr mysteriös. Niemand wußte, weshalb die Eisenmänner das Stadtinnere bewachten. Die Wächter nahmen nie Kontakte mit anderen auf - sie schwiegen und schienen gefühllose Feinde jeglichen Lebens zu sein. „Jedes Leben hat seinen Sinn!“ Singhu dachte wieder an die Worte des Alten. Doch wozu waren die Eisenmänner hier? Sie, die so seltsam kalt, unnahbar und doch so lebendig waren. Irgendwie paßten sie nicht in diese Welt. Und in welchem Zusammenhang standen die Wächter der Stadt mit seinen „Brüdern“? Wer waren überhaupt jene unbekannten Brüder? Singhu hatte in den letzten Tagen viel nachgedacht. Anfangs hoffte er, in den Büchern des Alten eine Erklärung zu finden - doch vergeblich. Nirgends ergab sich ein Anhaltspunkt. Sicher, die Geschichte jenes Robinson Crusoe war interessant gewesen. Trotz der Schwierigkeiten, die ihm manche Worte bereiteten, hatte Singhu das Buch hintereinander gelesen. Doch er verstand nicht, weshalb Robinson und seine sonderbare Welt - in der es weder Flatterspinnen, Sprungvipern noch Feuerechsen und Doppelkopfgeier gab - für ihn so wichtig sein sollte. Weshalb hatte der Alte darauf bestanden, daß er die Bücher las, ehe er versuchte, in die Ruinenstadt einzudringen? Was hatte Robinson Crusoes eigenartige, genormte Welt, in der
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alle Menschen - Robinson, Freitag und die Kannibalen - gleich aussahen, mit ihm und den „Brüdern“ zu tun? Instinktiv erkannte Singhu, daß er dieses Rätsel nur in der Ruinenstadt lösen konnte. Es galt, den letzten Wunsch des Alten zu erfüllen! * Regungslos starrte der Wächter in die gleißende Sonne. Die drückende Schwüle des heißen Sommertages, die Myriaden umherschwirrender, blutgieriger Insekten - nichts schien ihn zu beeindrucken Scheinbar teilnahmslos betrachtete er seine Umwelt. Singhu kauerte hinter einem mächtigen Brücken Mauerwerks und beobachtete angespannt sein Gegenüber. Wie würde der Wächter reagieren, wenn er ihn erblickte? Doch Singhu fühlte, daß es für ihn kein Zurück mehr gab. Die Entscheidung war gefallen, als er sich vom Rudel verabschiedete. Alle hatten versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Doch er ließ sich nicht beirren. Er hatte sein. Wort gegeben, und er war entschlossen, es einzulösen. Das Rudel würde nötigenfalls auch ohne ihn auskommen! Der Wächter stand noch immer regungslos an der gleichen Stelle. Was war zu tun? Konnte Singhu es riskieren, sich offen blicken zu lassen? „Habe keine Angst vor den Eisenmännern; gehe ohne Furcht, offen und frei, aber mit wachem Auge“, erinnerte er sich der Worte des Alten. Einem plötzlichen Entschluß folgend, richtete Singhu sich auf. Der Wächter sah ihn sofort. Augenblicklich wandte er sich ihm zu. Einen Moment lang standen sie einander bewegungslos gegenüber. Singhu fühlte die seelenlosen, kalten Augen des anderen auf sich ruhen. Singhu war waffenlos gekommen - er vertraute nur auf die Worte des Alten und seine Kraft. Doch ein einziger Feuerblitz des Eisenmannes konnte ihn vernic hten! Plötzlich trat der Wächter zur Seite. Es war, als lüde er Singhu ein, das Stadtzentrum zu betreten. Entschlossen ging Singhu vorwärts. Der Wächter ließ ihn passieren und folgte Singhu in einigem Abstand. Es war ein sonderbares Gefühl, das schwere Stampfen hinter sich zu hören und den gefährlichen Begleiter in seinem Rücken zu wissen. Und doch, der Alte behielt recht - der Eisenmann griff nicht an. Zumindest vorläufig nicht. Singhu mußte unwillkürlich an Kwonar denken. War es ihm ebenso ergangen? - 16-
Erstaunt musterte Singhu die relativ gut erhaltenen Bauten, die die Straße säumten. Er war bisher erst einmal in der Stadt gewesen - in jenem Teil der Vorstadt, den die Eisenmänner nicht bewachten. Dort stand aber kaum noch ein Stein auf dem anderen. Man konnte nur ahnen, welche Bauten sich dort einst befunden hatten. Nur hier und da entdeckte man noch einen gut erhaltenen Keller - zumeist schon von irgendeinem Rudel durchwühlt und geplündert. Im hellen Sonnenlicht blitzte eine zerborstene Scheibe auf. Dahinter waren die verschiedensten, geheimnisvollen Gegenstände zu sehen. Singhu hätte hier binnen weniger Augenblicke mehr Schätze zusammenraffen können, als das ganze Rudel jemals besessen hatte. Doch er fühlte, daß dies alles bedeutungslos war. Das war bestimmt nicht der Grund, weshalb der Alte ihn hierher befohlen hatte. Die tote Stadt mußte wichtigere Geheimnisse bergen! Der Wächter blieb nicht lange allein. Zwei weitere Eisenmänner schlossen sich dem kleinen Trupp an. Singhu spürte Gefahr. Die Wächter verhielten sich vorläufig friedlich - aber was war mit Kwonar geschehen? Die breite Straße war von unzähligen Rissen und Spalten durchzogen. Sie mündete direkt in einen mächtigen, steinernen Torbogen. Erstaunt betrachtete Singhu die reichen, in das Mauerwerk gehauenen Ornamente. Obwohl die Linien schon verwittert waren und das Gestein teilweise abbröckelte, strahlten die Verzierungen noch immer, eine wundervolle Reinheit und Klarheit aus. Die Wächter ließen Singhu jedoch keine Zeit, die fremdartigen Ornamente zu bewundern. Sie schlossen dicht an ihn auf. Er hatte keine Wahl und mußte durch den steinernen Torbogen treten. Wohin dirigierten ihn die Eisenmänner? Dann stand er auf einem kleinen, kreisförmigen Platz. Dutzende gleichartiger, schmaler Wege führten von hier weg. Wohin sollte er sich nun wenden? Die Eisenmänner verstellten ihm zwar den Rückweg durch den großen Torbogen, schienen den weiteren Weg jedoch ihm zu überla ssen. Das auffallende rötliche Flackern einer kleinen Tafel zog Singhus Aufmerksamkeit auf sich. Ein pulsierendes Leuchten ging von den: metallischen Ding aus. Neugierig las Singhu die Worte. „Wähle den zweiten Weg von rechts, Fremder. Alle anderen Wege führen in den Tod!“
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Was hatte diese Warnung zu bedeuten? Wer hatte jene sonderbare Inschrift hier angebracht? Plötzlich stieß einer der Wächter ein Zischen aus. Es war wie eine Mahnung; vielleicht enthielt es auch eine Drohung. Erregung ergriff Singhu, als er plötzlich den Sinn der Worte erkannte. Das mußte die Lösung sein! Nun wußte er auf einmal, weshalb der Alte ihn so gedrängt hatte, die Bücher zu lesen. Nicht die Geschichte des Robinson Crusoe war wichtig gewesen, sondern die Tatsache, daß er sie überhaupt lesen konnte! Spätestens hier - auf diesem Platz - mußte Kwonar versagt haben! Der Wächter zischte erneut. Singhu riß sich von seinen Gedanken los und blickte suchend auf das gefährliche Gewirr der Gänge. Dann schlug er entschlossen den auf der Tafel angegebenen Weg ein. Die Wächter folgten ihm schweigend. Der Weg war umgeben von hohen unüberwindlichen Mauern. Noch zweimal führte er zu ähnlichen Plätzen. Doch fiel es Singhu nicht schwer, mit Hilfe der jeweils angebrachten Hinweistafeln stets die richtige Fortsetzung zu finden. Schließlich verließen ihn die Eisenmänner. Er war allein - umgeben von Mauern. Er hatte den Eindruck, als wäre das Mauerwerk hier nicht mehr so alt und verfallen wie in den anderen Stadtteilen. Wurden die geheimnisvollen Gänge von den Wächtern instand gehalten? Die ganze Atmosphäre des Labyrinths hatte etwas Unheimliches an sich. Kein Lebewesen war zu sehen oder zu hören. Sogar die gefräßigen Nager, die die übrige Stadt bevölkerten, waren wie vom Erdboden verschluckt. Singhu fühlte sich verlassen wie nie zuvor in seinem Leben. Langsam setzte er seinen Weg fort - immer bereit, einer unerwarteten Gefahr auszuweichen. Nach einer scharfen Biegung war der Gang zu Ende. Singhu befand sich auf einem freien Platz. Überrascht starrte er auf das schmucklose, niedere Gebäude, das den Mittelpunkt der ganzen Anlage bildete. Die Wände des Bauwerks waren glatt und fugenlos. An der Vorderseite befand sich ein schmaler Eingang Fenster waren keine zu sehen. Singhu hatte nichts Bestimmtes erwartet, aber die Nüchternheit dieses quaderförmigen Bauwerks enttäuschte ihn. Es paßte gar nicht zu der alten Stadt. Es sah aus, als stamme es aus einer anderen Welt. Doch es bestand kein Zweifel - er, Singhu, befand sich am Ziel. Wenn überhaupt, dann
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konnte er nur hier die Antwort auf die vielen Fragen erhalten, die ihn schon geraume Zeit beschäftigten. Zögernd ging er auf den Eingang des rätselhaften Quaders zu. Er erschrak, als sich die metallisch schimmernde Tür plötzlich leise zischend öffnete. Einen Moment lang war Singhu wie zu Stein erstarrt. Dann setzte er jedoch mutig seinen Weg fort. Der Raum, den er nun betrat, war sonnenhell erleuchtet. Von der Decke des Saales ging ein stetiges Leuchten aus. Staunend betrachtete Singhu die ungewohnte Umgebung - die mannshohen, blitzenden Maschinen, das Blinken der kleinen Kontrollämpchen, die Unzahl fremdartiger, technischer Geräte. Er verstand nichts von Generatoren, Relais, von Energieprojektoren, drahtlosen Übertragung ele ktrischen Stromes. Er wußte nichts von Elektronengehirnen, die imstande waren, ganze Scharen von Robotern fernzusteuern. Singhu stand einfach da und staunte. Für ihn, der sein ganzes Leben kaum mehr als einen verrosteten Schraubenschlüssel, einen Dolch oder ein verbogenes Eisenrohr gesehen hatte, war alles unbegreiflich. Seine technischen Kenntnisse waren zu gering, als daß er den Wert dieser Anlage auch nur annähernd hätte abschätzen können. „Sei willkommen, mein Freund!“ Singhu zuckte bei der überraschenden Anrede des unsichtbaren Sprechers unwillkürlich zusammen. Er konnte in dem Saal zwar die verschiedensten unverständlichen Maschinen sehen, aber nirgends ein Lebewesen erblicken. „Nimm Platz, mein Freund! Bald wirst du alles erfahren und Antwort auf deine Fragen erhalten“, ertönte wieder die unbekannte Stimme. Jetzt bemerkte Singhu die breiten Stühle. Es waren Sitze, die er bereits in dem Buch des Alten abgebildet gesehen hatte. Verwirrt setzte er sich nieder. Als Singhu merkte, daß der Stuhl sich unter ihm wie ein lebendiges Wesen bewegte, wollte er erschrocken wieder aufspringen. Doch das war nicht möglich! Metallische Arme schlossen sich plötzlich um seine Hände und machten ihn nahezu bewegungsunfähig. Einen Moment lang erfaßte ihn Panik. Was hatte man mit ihm vor? Doch er beruhigte sich bald. Man wollte ihm bestimmt nichts Böses antun. Schließlich hätten die Eisenmänner ihn schon längst töten können, wenn sie es gewollt hätten. Obwohl die Fesseln ihn fest umschlossen, spürte Singhu nirgends einen unangenehmen Druck. Dann schob sich plötzlich eine Metallhaube über - 19-
seinen Kopf. Singhu hatte das Gefühl, als legten sich schwere Metallbänder um seine Stirn. Nun schwebte eine leuchtende Scheibe von der Decke des Raumes zu ihm herab. Das rotbraune strahlende Ding schien erregt zu vibrieren und übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf Singhu aus. Gebannt starrte er auf das flimmernde Etwas. Dann spürte er einen kurzen Schmerz an seinem rechten Handgelenk. Es war, als hätte ihn ein lästiges Insekt gestochen. Plötzlich begann es dunkel zu werden. Vor Singhus Augen wallten Nebel auf, und die Umweit versank. Er war allein mit der strahlenden Scheibe. Er konnte nicht mehr viel bei vollem Bewußtsein in sich aufnehmen. Doch er empfand instinktiv, daß die Stimme die Wahrheit sprach. Einige Worte prägten sich fest und unauslöschlich in seinem Gehirn ein: „Du Lebst auf einer verlorenen Welt! Verloren deshalb, da menschliche Technik und Erfindergeist stärker waren als die Moral...“ * Als Singnu erwachte, konnte er sich frei bewegen. Mühsam versuchte er sich zu entsinnen, was geschehen war. Doch das letzte, woran er sich erinnerte, war die leuchtende Scheibe. Alles andere schien sich hinter einem geheimnisvollen Nebel zu verbergen Singhu erschrak. Hatte er vielleicht, das Wesentlichste verschlafen? Waren seine ganzen Bemühungen vergeblich gewesen, nur weil er im entscheidenden Augenblick versage hatte. „Du hast die Hypnoschulung gut überstanden und bist mit allem nötigen Wissen versorgt.“ Da - das war sie wieder! Dieselbe Stimme, die er während des Schlafes vernommen hatte. Jene Stimme, die so laut und deutlich zu verstehen war und doch nicht wirklich existierte. Auf einmal wußte er, daß niemand außer ihm diese Stimme jemals vernehmen würde. Auch er hörte sie nicht - zumindest nicht mit seinen Ohren. Sie kam vielmehr von innen. Als hätte sie einen Weg gefunden, direkt in seinen Verstand einzudringen. Plötzlich spürte er, daß er hungrig war. Er hatte die letzten Stunden nichts zu sich genommen. Oder? Wie lange hatte der Hypnoschlaf eigentlich gedauert? Waren es Stunden oder Tage gewesen? Seinem Hunger nach zu... „Das Befehlspult befindet sich unmittelbar hinter dem großen Energieprojektor“, meldete sich sein zweites Ich zu Wort. - 20-
Natürlich - mit wenigen Schritten ging er um das leise summende Energieaggregat. Alles war ihm so seltsam‘ vertraut. Es kam ihm gar nicht zu Bewußtsein, daß er kurze Zeit zuvor nicht einmal ahnte, was ihn hier, auf Station IV, erwartete. Vertrauensvoll drückte er eine bestimmte Taste des kompliziert aussehenden Kommandostandes. „Ich habe Hunger! Ich brauche eine kräftige Mahlzeit!“ sagte er in das Mikrofon. Sekunden später rollte ein kleiner Wagen mit Speisen auf ihn zu. Befriedigt setzte er sich auf den schmalen, mit dem sonderbaren Fahrzeug verbundenen Klappsitz. Der Geruch einer heißen Fleischbrühe stieg ihm verlockend in die Nase. Mit einer Selbstverständlichkeit griff er zum Eßbesteck. Heißhungrig löffelte er zuerst die dicke Suppe. Anschließend gab es ein erfrischendes Kompott. Singhu wüßte nicht, woraus seine Mahlzeit bestand, doch anscheinend hielt man es für unwichtig, ihn über die Art der Speisen genauer zu informieren. Gesättigt und tatendurstig erhob er sich wieder. Interessiert beobachtete er, wie das Wägelchen wieder davon rollte. Was sollte er nun unternehmen? Er hatte vorerst keine Ahnung, wie die Station I am besten zu erreichen war. „Die Pla nskizze!“ erinnerte ihn seine innere Stimme. Richtig, die hatte er fast vergessen. Er tippte die entsprechende Zahlenkolonne in den Computer. Ein kurzes Summen ertönte, dann spie ein schmaler Schlitz die Karte aus. Neugierig betrachtete Singhu die schematische Darstellung. Es war weiter, als er ursprünglich angenommen hatte. Der eingezeichnete Weg führte über das Felsengebirge hinweg, einen Flußlauf entlang, durch einen ausgedehnten Dschungel. Erst dann würde er die Station I erreichen. Es war ein weiter Weg. Aber Singhu wußte, daß es keine andere Möglichkeit gab, zu seinen „Brüdern“ zu gelangen. Eigenartig - er war sich selbst nicht klar darüber, was ihn auf Station I erwartete. Doch er fühlte, daß sein bisheriges Leben eine entscheidende Wendung erfahren würde. „Wenn du Waffen benötigst, so kannst du diese über das Schaltpult anfordern!“ Immer wieder wurde Singhu von seinem zweiten Ich überrascht. Sie schienen an alles gedacht zu haben. Doch Singhu fühlte sich auch so sicher genug. Er besaß die Kraft - mit dieser Waffe konnte er allen Widerwärtigkeiten begegnen. * - 21-
Es war drei Tage her, seit Singhu aufgebrochen war. Drei harte, lange Tage. Singhu kannte bisher nur einen kleinen Teil seiner Welt und war noch nie so: weit in unbekanntes Land vorgestoßen. Auch war er es nicht gewohnt, längere Strecken zu wandern. Schon bald begannen seine Füße zu schmerzen. Gottlob war der Plan so genau, daß er sein Ziel kaum verfehlen konnte. Singhu brauchte sich nur an den Lauf des Flusses zu halten. Trotz seiner Naturverbundenheit war es für Singhu kein schönes Gefühl, die Nächte allein im Freien zu verbringen. Die Baumhütten, die das Rudel immer benutzt hatte, waren zwar sehr primitiv gewesen, aber das Wissen, jederzeit einen Freund in der Nähe zu haben, vermittelte ein Gefühl der Geborgenheit. Allein und völlig auf sich selbst gestellt, konnte man gar nicht genug auf der Hut sein. Singhu kannte die Gesetze der Wildnis nur zu genau. Er wußte, daß ein Moment Unachtsamkeit über Leben und Tod entscheiden konnte. Gleich am ersten Abend, als er versucht hatte, in einem dichten Gebüsch einen Schlafplatz zu finden, wäre er fast von einer Flatterspinne überrascht worden. Anscheinend hatte er bei seiner Suche, ohne es zu bemerken, eines ihrer nahezu unsichtbaren Netze zerstört. Es war bloß sein Instinkt gewesen, der ihn warnte! Als Singhu sich umdrehte, sah er, wie das gefährliche Insekt lautlos auf ihn zuschwebte. Die letzten Strahlen der Abendsonne ließen die schimmernden Flughäute des Untieres silbrig aufleuchten. Es war ein geradezu schöner Anblick. Doch die drohend vorgereckten Beißwerkzeuge ließen Singhu alle Schönheit vergessen. Ein einziger Biß, und der qualvollste Tod war ihm sicher! Ein kurzer Kraftimpuls genügte jedoch, um die Flatterspinne hilflos gegen den Boden zu drücken und zu zermalmen. Er hatte noch einmal Glück gehabt - aber darauf allein konnte er sich nicht verlassen. Er mußte vorsic htiger sein. * Es war ein Meisterwerk geworden. Otlod hatte schon viele Brücken gebaut, aber diese hier war seine beste. Voll Genugtuung betrachtete er sein Werk. Nicht umsonst war er der berühmteste Brückenbauer seines Stammes. Alle seine Schöpfungen sahen - 22-
robust und verläßlich aus, schienen ein sicherer Pfad über den Abgrund zu sein. Doch im entscheidenden Moment war noch je de Brücke eingestürzt! Auch diese würde den Zweck erfüllen! Otlod war ein Mann mit Erfahrung. Er war stolz auf sich und seine Leistungen, und er wußte, was ihn von den anderen unterschied. Sie alle waren dumm - keiner besaß die Fähigkeit wie er, das Holz zu bearbeiten und zu verläßlichen Konstruktionen zusammenzufügen. Ein böses Lächeln huschte über Otlods Gesicht, als er daran dachte, daß seine Bauwerke immer raffinierter wurden. Manchmal, wenn er auf ein neues Opfer wartete, wirkte er wie ein gefährliches Raubtier. Den halslosen Kopf tief zwischen den Schultern seines gedrungenen Körpers lauerte er oft wochenlang, bis ihm irgendein Unglücklicher in die Falle ging. Doch Otlods Arbeit trug reiche Früchte. Immer wieder kamen Wanderer, die der Festigkeit der Brücke trauten und ahnungslos die Schlucht überqueren wollten. Otlod hatte weiter nichts zu tun, als die Habseligkeiten der Zerschmetterten aufzulesen und die Spuren des „Unglücks“ zu verwischen. So erwarb er Reichtum und bei seinem Stamm Ansehen. Egal, was er auch erbeutete, nahezu jedes seiner Opfer trug wertvolle Dinge bei sich. Messer, Äxte, wirksame Heilkräuter, vielleicht einen Beutel mit Schmucksteinen - alles Dinge mit hohem Handelswert. Zumeist konnte er seine Beute vorteilhaft gegen andere Sachen eintauschen. Otlods Stamm hatte in einigen Höhlen am Eingang der Schlucht sein Lager aufgeschlagen. Wochenlang hatte Otlod an seiner Neukonstruktion gearbeitet. Nun würde es erstmals nicht mehr nötig sein, das ganze Bauwerk komplett neu aufzubauen. Nur der relativ leicht zu ersetzende Mittelteil der Brücke würde unter dem Gewicht des Unvorsichtigen nachgeben. Gerade soviel, um das Opfer erbarmungslos in den Abgrund zu schleudern. Die Falle stand seit Tagen bereit. Otlod wußte, daß irgendwann wieder einmal ein unvorsichtiger Wanderer kommen würde. Geduldig wartete er. Am vierten Tage seiner Wanderung befand sich Singhu am Fuße des Gebirges. Bis hierher war der Weg einfach gewesen. Doch nun verschwand der Fluß in einem schmalen Felsenkessel. Es war unmöglich, seinem Lauf weiter zu folgen. Aber die Planskizze half auch hier. Singhu konnte sich nach einem großen, alle anderen Gipfel überragenden Felsenhorn orientierten. - 23-
Seine Fußsohlen hatten sich während der letzten Tage an die ungewohnte Beanspruchung gewöhnt. Doch das kleine, scharfe Geröll war immer noch unangenehm genug. Singhu war froh, als die Felsplatten langsam größer wurden und das Geröll verschwand. Es blies ein frischer Wind, und Singhu mußte tüchtig ausgreifen, wollte er nicht frieren. Sich immer nach den Berggipfeln orientierend, suchte er seinen Weg. Einige Stunden vergingen, ehe er den Abgrund erreichte. Suchend spähte Singhu um sich. Die Schlucht war viel zu breit, als daß man sie überspringen konnte. Gab es vielleicht einen Weg, um den Abgrund zu umgehen? Langsam wanderte er neben dem tiefen Felseinschnitt bergaufwärts. Sonderbar - es sah aus, als wäre hier schon oft jemand denselben Weg gegangen. Er wirkte wie ein schmaler, aber ausgetretener Pfad. Nach einiger Zeit machte die Schlucht eine scharfe Krümmung, der sich der felsige Weg harmonisch anpaßte. Ein großer Felsblock verwehrte Singhu den Überblick über den weiteren Verlauf des Weges. Als er den Felsen passierte, glaubte er plötzlich einen Schatten in der Schlucht verschwinden zu sehen. Mißtrauisch blieb Singhu stehen. Dann sah er die Brücke. Erstaunt musterte er das aus festen Stämmen zusammengefügte Bauwerk. Vorsichtig ging er näher. Der schmale Felsenpfad teilte sich nun. Ein halsbrecherisch steiles Stück des Weges führte direkt hinunter in den Abgrund. Eine Abzweigung schlängelte sich weiter am Rande der Schlucht bergaufwärts. Der kürzeste Weg war zweifellos jener über die Brücke! Prüfend betrachtete Singhu den kunstvoll errichteten Übergang. Wer hatte hier in dieser Einöde ein solches Bauwerk geschaffen? Singhu sah nicht, daß wenige Meter unterhalb der Brücke, von Felsen verborgen, zwei tückische Augen funkelten Er ahnte nichts von dem häßlichen Grinsen, mit dem Otlod sein Opfer betrachtete Doch irgend etwas machte ihn mißtrauisch. Er wußte zwar nicht, was ihn störte, aber die Sache war ihm ganz einfach nicht geheuer. Es dauerte einige Zeit, ehe er sich entschloß, den Weg über die Brücke zu wählen. Vorsichtig betastete er die rohen Stämme, ehe er sie mit seinem vollen Gewicht belastete. Die Brücke schien fest und sicher. Ein Gefühl der Erleichterung überkam Singhu, als er sich daranmachte, sie zu überqueren. Ein leises Knistern warnte Singhu. Als sich die Balken plötzlich unter ihm bewegten und Leben in das tote Bauwerk zu kommen schien, handelte er und setzte seine Kraft ein.
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Unsichtbare, überdimensionale Energien hielten die losen Stämme in ihrer Lage - verbanden das trügerische Blendwerk zu einem festen Steg über den drohenden Abgrund. Und Singhu passierte die gefährliche Brücke. Fassungslos sah Otlod alles mit an. Er ballte in ohmnächtiger Wut seine Hände zu Fäusten und sprang fluchend aus seinem Versteck. Erregt schle uderte er einen faustgroßen Stein nach dem verhauten Fremden, der das Unerklärliche geschaftt hatte. Mit einer schnellen Bewegung wich Singhu dem Geschoß aus. Plötzlich verstand er alles. Mit einem Schlag wurde ihm die ganze Tücke dieser Falle bewußt. Das haßverzerrte Gesicht des Fremden gab den Ausschlag! Das trügerische Bauwerk war bereits aus seinem Gleichgewicht gebracht. Schon das Aussetzen der bindenden Kraft hätte genügt, es in sich zusammenstürzen zu lassen. Ein kurzer Impuls tat ein übriges. Es ging so schnell, daß Otlod keine Chance hatte. Zu plötzlich waren die schweren Stämme über ihm und rissen ihn unbarmherzig in die Tiefe. Es war kalt. Ein eisiger Wind strich über die Anhöhe, und Singhu fror erbärmlich. Er gönnte sich keine Rast - die Kälte trieb ihn unaufhörlich weiter. Er bereute es, keine warmen Felle mit auf seinen Weg genommen zu haben. Bald erreichte er ein Hochplateau. Erst in einiger Entfernung schien sich der Rand der Hochebene abzuzeichnen. Es sah so aus, als würden die Felsen dort auf einmal abbrechen und einem neuen, von pulsierendem Leben erfüllten Tal Platz machen. Nach Singhus Skizze befand sich hinter dem Gebirgszug eine Dschungellandschaft. Sicher - wo Dschungel war, gab es Gefahren, aber auch Wärme und Leben. Schon dieser Gedanke allein trieb Singhu immer wieder von neuem an. Trotzdem vergingen Stunden, ehe er den Felsrand erreichte. Die Strahlen der schon tief am Himmel stehenden Sonne trafen auf ein Meer weißer Wolken, die tief unter Singhu dahiritrieben. Nur an wenigen Stellen schimmerte das Grün des üppig wuchernden Dschungels hervor. Es war für Singhu ein völlig ungewohnter Anblick. Trotzdem konnte er seine Sorgen nicht vergessen. Die Sonne würde bald hinter der Wolkenbank verschwinden. Es war zu spät. Zu spät jedenfalls, um noch vor Einbruch der Finsternis das Tal zu erreichen. Doch wo sollte er die Nacht verbringen? Schon jetzt fühlte er die Kälte in seinen Gliedern. Auf diesen felsigen Höhen gab es nichts Brennbares, womit er ein kleines Lagerfeuer
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hätte machen können. Andererseits war es Wahnsinn, in der Dunkelheit den Abstieg durch das unbekannte Gebiet zu wagen. Suchend blickte er sich um. Schließlich bemerkte er das zum Himmel ragende Ding. Es sah aus wie ein vom Blitz getroffener Baum, aber bei näherem Hinsehen bemerkte Singhu ein metallisches Schimmern. Und dann entdeckte er das niedrige Mauerwerk, das sich im Farbton kaum von den Felsen abhob. Das Ding mußte von Menschenhand geschaffen sein! Gab es hier in dieser Einöde eine menschliche Siedlung? Neugierig kle tterte er näher. Jetzt konnte er das metallische, in die Höhe strebende Ding näher betrachten. Es mußte früher wesentlich größer gewesen sein. Der anscheinend dazugehörige Hauptteil des sonderbaren Gerüsts lag auf den Felsen - verbogen und vom Rost zerfressen. Unvorstellbare Gewalten mußten das Ding entzweigerissen und gegen das Gestein geschleudert haben. „Es ist eine Rundfunkstation!“ Singhu verstand nichts von derlei Dingen. Der Begriff „Rundfunkstation“ hatte bis zu diesem Moment in seinem Vokabular gar nicht existiert. Er besaß keine diesbezüglichen Kenntnisse. Man hatte es bei der Hypnoschulung nicht für notwendig gehalten, ihn mit entsprechenden Daten zu versorgen. Doch sinngemäß verstand er plötzlich, daß von hier aus das ganze weite Land mit Nachrichten versorgt worden war. Vorsichtig ging Singhu an dem geknickten Sendemast vorbei. Das flache, in den Felsen gehauene Gebäude besaß nur einen schmalen Eingang. Singhu schritt vorwärts und mußte sich erst an das Dunkel gewöhnen. Erschrocken hielt er inne und starrte auf ein bleiches Skelett. Es mochte wohl Ewigkeiten hier liegen. Nur das nackte Gebein hatte die Zeiten überdauert. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn, doch er ließ sich von seiner Suche nicht abbringen. Der nächste Raum, den er erforschte, war relativ hell. Die eine Längswand mußte früher zur Gänze aus Glas bestanden haben. Überall lagen Splitter. Die Einrichtung war verwittert, verrostet, in sich zusammengefallen. An einem einst repräsentativen Schreibtisch kauerte ein weiteres Skelett. Der Mann mußte in dieser Haltung vom Tod überrascht worden sein. Anscheinend hatte der Unbekannte geschrieben. Das Schreibgerät war den knöchernen Händen natürlich längst entfallen, aber dafür lag etwas ungleich Wertvolleres wie unberührt auf dem Tisch. Ein Buch! Ein richtiges Buch - so wie der Alte etliche besessen hatte. - 26-
Es lag aufgeschlagen da. Erregung ergriff Singhu. Bekam er hier vie lleicht Gelegenheit, ein unschätzbares persönliches Zeitdokument kennenzulernen? Der Unbekannte besaß eine klare, schöne Schrift. Die Zeichen waren jedoch nur noch undeutlich zu erkennen. Singhu wagte es nicht, das Werk zu berühren. Er hatte Angst, das verwitterte Ding durch eine unbedachte Bewegung zu zerstören. Es kostete ihn einige Mühe, die Worte auf der aufgeschlagenen Seite zu entziffern. „... meinem Tagebuch, dem ich mein Herz ausschütten kann. Ich bin bestimmt nicht der einzige, der die Dinge sieht, doch wer von uns kann wirklich etwas dagegen unternehmen? Gleichgewicht des Schreckens, atomares Gleichgewicht - sind es nicht Schlagworte des Wahnsinns? Die geringste Kleinigkeit muß genügen, dieses labile Gleichgewicht zu zerstören! Ein winziger Funke kann das Pulverfaß, auf dem wir leben, zur Explosion bringen. Zeigt nicht die Geschichte der Menschheit, daß oft nur der Glaube an einen vermeintlichen strategischen Vorteil ausreichte, Kriege zu entfesseln? Wir haben einen steilen Aufstieg hinter uns. Unsere Technik ist nahezu perfekt. Wir könnten heute einen perfekten Krieg führen. So vollkommen und präzise, daß auf der Erde kein Platz mehr für den Menschen wäre! Wir haben viel gelernt - haben wir es wirklich? Stehen wir vielleicht schon am Ende eines erfolgversprechenden Weges? Die Menschheit kann nur noch hoffen. Wenn ich heute...“ Hier brachen die Worte des Unbekannten ab. Singhu schauderte. Ein plötzlicher Tod mußte den Worten des Fremden ein Ende gesetzt haben. War die Katastrophe, die der Unbekannte fürchtete, eingetreten? Hatte die perfekte Kriegsmaschinerie dieser Welt der Zivilisation den Todesstoß versetzt? Es wurde rasch dunkel. Innerhalb weniger Minuten verschwand die Sonne am Horizont Hastig raffte Singhu verschiedenes brennbares Material zusammen: halb vermoderte Schriftstücke, verwitterte hölzerne Möbel damit würde er ein schönes Feuer machen. Singhu wußte, daß er auf diese Weise die nächtliche Kälte heil überstehen konnte Erst als in einer abgeschiedenen Ecke des verlassenen Gebäudes ein helles Feuer brannte, wurde er ruhiger. So gut es der harte Boden zuließ, machte Singhu es sich bequem. Er war müde, doch im Augenblick konnte er noch keinen Schlaf finden. Zu viele Fragen beschäftigten ihn.
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Allmählich wurde ihm klar, daß die Menschheit früher einmal viel mächtiger gewesen sein mußte. Alles wies darauf hin: die Spuren in den Ruinenstädten, die geheimnisvolle Sendestation, die er entdeckt hatte. War es so, daß die Geschichte der Menschheit immer wieder von vorn begann? Daß das Rad, das Feuer und viele andere Dinge immer wieder neu entdeckt werden mußten und jede Blütezeit von einer Zeit des Verfalls abgelöst wurde? War alles nur ein Teil eines unübersehbaren, gigantischen Kreislaufs? Singhu ahnte nicht, daß sich vor ihm schon die größten Philosophen dieser Welt den Kopf darüber zerbrochen hatten. Und doch - eines fühlte er. Irgend etwas war falsch. Wenn es einen solchen Kreislauf gab, dann war die Menschheit gewaltsam daraus gerissen worden. Seine innere Stimme hatte ihm erklärt, daß fast alles auf dieser Welt mutiert war. Aus diesen Abweichungen vom Normalen konnte es aber kaum einen Rückweg geben! Oder waren seine Brüder etwa gar keine ewig feststehende Konstante, sondern bloß eine kurze, veränderliche Phase im Ablauf der Zeiten? Vielleicht war - von höherer Warte aus gesehen - das Mutierte normal und seine „Brüder“ existierten längst nicht mehr. Schreckhaft wurde ihm diese Möglichkeit bewußt. „Doch, du hast Brüder!“ sagte sein zweites Ich. „Aber wo sind sie dann?“ fragte er sich. Wie kam es, daß er - von dem Alten abgesehen - nie jemand von den Normalen erblickt hatte? Wenn es sie wirklich gab, mußten sie doch zu finden sein. „Station I wird dir über alles Aufschluß geben!“ Singhu war ungeduldig. Wenn es tatsächlich noch eine mächtige Zivilisation gab, dann konnte diese doch nicht nur auf eine einzelne Station beschränkt sein. Eine Rasse, die den ganzen Planeten beherrscht hatte, konnte nicht auf einem örtlich derart begrenzten Raum zusammengedrängt leben. Ratlos wartete Singhu auf weitere Hinweise seines zweiten Ichs. Doch vergeblich. Er warf einige Stücke Holz in das Feuer, dann schloß er müde die Augen. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis der Schlaf die Schatten der Vergangenheit überwand. * Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel. Wohl spendeten die riesigen; von schmarotzenden Schlingpflanzen überwucherten Baumkronen reichlich Schatten, doch es war drückend schwül. Der Boden schien vor - 28-
Feuchtigkeit zu dampfen, und die dichte Vegetation ließ jeden Schritt zu einem Abenteuer werden. Hinter jedem vermoderten Baumstrunk, hinter jedem Gebüsch konnte der Tod lauern. Und doch war Singhu froh, als er den Dschungel erreicht hatte. Diese Umgebung war ihm vertraut, und die Gefahren kannte er. Die Berge hingegen erschienen ihm noch jetzt wie ein böser Alptraum. Singhu mußte sich nun erneut nach dem Lauf eines Flusses orie ntieren, wie er aus seiner Karte entnahm. Überall wucherten mannshohe Farne. Der Boden war zwar feucht, aber nicht sumpfig. Ein leises Geräusch aus den Baumwipfeln warnte Singhu. Gerade noch rechtzeitig setzte er seine Kraft ein, um den Angreifer abzuwehren. Eine schwere, feuchtglänzende Masse klatschte knapp neben ihm zu Boden. Hätte er nicht so rasch reagiert, wäre er bestimmt getroffen worden. Voll Abscheu betrachtete Singhu das sich ständig verformende Etwas. Er kannte diese tückischen, klebrigen Blutsauger. Sie lauerten, zu tausenden zusammengeballt, im Geäst der Bäume. Wehe dem, der ihnen nicht ausweichen konnte. Sie waren, einmal am Körper, kaum abzuschütteln und saugten ihren Opfern gierig das Blut aus dem Leib. Die Bedauernswerten wurden meist bald zu schwach, um sich ernsthaft zur Wehr zu setzen. Singhu erinnerte sich, daß die Blutsauger Einauge einmal fast zum Verhängnis geworden wären. Hätte das Rudel dem vor Schmerz aufbrüllenden Jäger nicht sofort mit glühenden Ästen die ekligen Schmarotzer vom Leib gebrannt, wäre er damals verloren gewesen. Vorsichtig setzte Singhu seinen Weg fort. Der Fluß konnte nicht mehr allzuweit entfernt sein. Doch immer wieder blockierte dichtes Gestrüpp den Weg. Im stillen bedauerte es Singhu, kein kräftiges, langes Messer bei sich zu haben. Erleichtert stellte er schließlich fest, daß sich der Dschungel endlich aufzuhellen schien. Dann erreichte er die Lichtung. Überrascht blieb er stehen. Vor ihm befand sich ein weites Feld etwa kniehoch wuchernder Pflanzen. Im Hintergrund wälzte sich der Fluß träge dahin. Das Erstaunliche an diesem Anblick waren jedoch die Blüten. Das niedrige Pflanzenwerk war von Tausenden und Abertausenden zartrosa Blüten bedeckt. Ein herrlicher, süßer Duft lag in der Luft, und nach dem grausamen Dickicht kam Singhu dieses Blütenmeer wie ein Paradies vor. Die zarten Blüten wogten im Wind wie die Wellen eines Sees. Der breite Fluß - ein ewiger Wegweiser - lag in greifbarer Nähe vor ihm. - 29-
Das Feld der rosa Blumen war wie ein Versprechen. Es schien Singhu, als würde die Wiese ihm zuflüstern: „Komm nur, Singhu, bald bist du am Ziel. Bald werden sich deine Wünsche erfüllen.“ Die ganze Natur schien in ein tiefes Schweigen zu verfallen, nur um diesen bisherigen Höhepunkt seiner Wanderung entsprechend zu würdigen. Doch plötzlich wurde Singhu stutzig. Mit einem Mal bedrückte ihn die Lautlosigkeit, die so unvermutet eingetreten war. Dann sah er das Tier. Es war schon halb verwest, und an einigen Stellen blitzte bereits das blanke Gebein hervor. Verwundert betrachtete Singhu den Kadaver. Weder Käfer noch sonst irgendwelche Insekten waren zu sehen. Doch die Pflanzen mit den wunderschönen zartrosa Blüten schnürten sich wie stählerne Netze um das verwesende Fleisch. Als Singhu die Gefahr erkannte, war es fast schon zu spät. Der Wind drehte sich plötzlich, und auf einmal war er von einem berauschenden, süßen Duft umgeben. „Auch Pflanzen sind Lebewesen, die unter radioaktiver Bestrahlung mutieren können!“ vernahm Singhu sein zweites Ich. Fluchtartig versuchet; er umzukehren und wieder den Dscnungel zu erreichen Der betäubende Duft stieg ihm zu Kopf, und er merkte, daß er taumelte. Plötzlich war ihm, als würden die Pflanzen nach ihm greifen, um ihm den Rückweg zu versperren Eine frische Brise traf Singhu. Der Wind drehte erneut. Mit letzter Kraft stolperte der Wanderer einige Schritte in das Dickicht des Dschungels. Dann fühlte er, wie seine Beine einknickten. Schwer aufatmend ließ er sich fallen. Der Schädel brummte, und für einen Augenblick schien die Umwelt nur aus farbigen Flecken zu bestehen. Diese teuflischen Mordblumen! Es war ein leiser Lufthauch, ein winziger Zufall gewesen, der ihn rettete. Auch seine Kraft hätte ihm nicht mehr helfen können! Es dauerte einige Zeit, ehe Singhu wieder imstande War, seinen Weg fortzusetzen Vorsichtig umging er die gefährliche Lichtung Die Bäume standen zwar in der Nahe des Flusses nicht mehr so dicht beisammen, aber trotzdem war Singhu wieder von den gewohnten Lauten des Urwaldes umgeben. Nach der tödlichen Stille des Blumenmeeres erschien ihm das vertraute Gekreische wie der Gesang himmlischer Wesen.
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Endlich erreichte er das Wasser. Es war lehmig und trüb. Das mannshohe Schilf und die Riesenfarne standen nicht sehr eng beieinander, und Singhu konnte bequem seinen Weg suchen. Schließlich stellte er überrascht fest, daß vor ihm schon andere denselben Weg gegangen sein mußten. Im weichen Boden waren deutlich menschliche Fußspuren zu erkennen. Neugierig folgte er dem Pfad. Vie lleicht lag irgendeine Ansiedlung in der Nähe. Oder Wanderhändler hatten... Es kam so unverhofft, daß Singhu keine Zeit blieb, sich zur Wehr zu setzen. Wahrscheinlich litten seine Reaktionen auch noch unter dem Duft der Todesblumen. Als der Boden plötzlich unter ihm nachgab, war es schon zu spät. Er merkte nicht mehr viel von seinem Sturz. Das letzte, was er verspürte, war ein harter Schlag. Dann versank alles in Finsternis. Es war kühl und feucht. Irgend etwas Umschlang Singhu und versuchte, ihm den Atem abzupressen. Er wehrte sich verzweifelt und bemühte sich vergeblich, der Umklammerung zu entkommen. Er fühlte das Hämmern in seinem Schädel und glaubte, sein Kopf müsse zerspringen. Irgendwo, in weiter Ferne, waren Stimmen zu hören. Erst als ihn das Seil in die Höhe riß, kam er vollends zu sich. Singhu schwebte, von einem starken, rauhfaserigen Seil getragen, eine Wand empör. Seine Gliedmaßen waren gefesselt, und er konnte sich fast nicht bewegen. Der nächste Ruck riß Singhu wieder ein gutes Stück höher. Er war jetzt nur noch ein kleines Stück vom Grubenrand entfernt. Eine Grube war es nämlich, die Singhu zum Verhängnis geworden war. Eine finstere, raffiniert angele gte Fallgrube, auf deren Boden sich etwas Wasser angesammelt hatte. Wer immer diese Falle errichtet hatte - er verstand es, sein Werk zu tarnen. Singhu hörte einen lauten Kommandoruf. Dann riß das Seil ihn endgültig aus der Grube. Er kam mit dem Gesicht nach oben zu liegen, so daß er seine Umgebung ohne Schwierigkeiten mustern konnte. Einige relativ kleine, braungebrannte Männer betrachteten ihn abschätzend. Sie warfen, ähnlich wie Singhu, mit einem Lendenschurz bekleidet und trugen verschiedenartigste, primitive Waffen. Keiner der Männer war gerade gewachsen oder besaß regelmäßige Gliedmaßen. Es handelte sich durchweg um Mutationen. „Ein kräftiger Kerl“, meinte einer der Fremden. „Die Göttin wird sich freuen, wenn wir ihn bringen.“ - 31-
„Er trägt keine Waffen bei sich“, sagte ein anderer. Trotz der ernsten Lage mußte Singhu lächeln. Er wußte, daß seine Kraft den primitiven Keulen und sonstigen Waffen der Unbekannten zweifellos überlegen war. Das konnten die Fremden jedoch nicht ahnen, und Singhu beschloß, vorerst seinen Trumpf noch nicht auszuspielen. „Verstehst du unsere Sprache?“ fragte jetzt eine tiefe Stimme, und das bisher außerhalb Singhus Gesichtskreis stehende Wesen trat naher. Singhu hatte schon vieles erlebt, doch dieses Geschöpf überraschte auch ihn. Das nur noch entfernt menschenähnliche Wesen war etwa zwei Meter groß. Von dem mächtigen Brustkasten ragten drei haarlose, zum Teil ineinander verwachsene Schädel in die Höhe, die einen seltsamen Kontrast zu den kurzen, krummen, aber dicht behaarten Beinen des Fremden bildeten. „Nun, verstehst du mich?“ fragte der Dreiköpfige nochmals und starrte Singhu mit seinen rotglänzenden Augen durchdringend an. Singhu nickte zustimmend. Die Fremden sprachen einen ähnlichen Dialekt wie sein eigenes Rudel. Er hatte keine Schwierigkeiten, ihren Worten zu folgen. „Das ist gut“, sagte nun das Monstrum. Die Stimme war unangenehm laut, hatte aber jetzt einen etwas versöhnlicheren Tonfall. „Was habt ihr mit mir vor?“ fragte Singhu gespannt. „Die Göttin wird über dich entscheiden“, sagte der Riese jetzt fast ehrfurchtvoll. „Wo ist die Göttin?“ fragte Singhu neugierig. „Wir werden dir nun deine Fesseln teilweise abnehmen. Du brauchst aber nicht versuchen, zu flüchten, denn du kannst uns nicht entkommen. Wenn du uns keinen Ärger machst, geschieht dir nichts.“ „Hm“, machte Singhu. „Und wenn die Göttin mich nicht mag?“ fragte er. Der Riese starrte ihn verblüfft an. „Die Göttin ist gütig“, sagte er dann. Zwei der Unbekannten lockerten jetzt Singhus Fußfesseln, so daß er ohne Schwierigkeiten kleine Schritte machen konnte. „Vorwärts!“ kommandierte der Riese nun lautstark. Die Unbekannten nahmen Singhu in die Mitte, und er folgte ihnen. Singhus Neugierde war geweckt. Was bezweckte dieses sonderbare Rudel? Wer oder was war die Göttin? Es lockte Singhu, diese Rätsel zu ergründen. Im Moment hatte er anscheinend nichts zu befürchten, und auf einen Tag mehr oder weniger kam es bei seiner Wanderung nicht an. Außerdem konnte er sich, wenn er es nur wollte, jederzeit von den lästigen Fesseln befreien. - 32-
Der schmale Pfad verlief immer unmittelbar neben dem Flußufer. Der Dschungel wirkte zwar noch immer undurchdringlich, doch der Weg wurde allem Anschein nach öfter begangen und ließ sich mühelos verfolgen. Schweigend marschierte die seltsame Schar dahin. Der Fluß machte nun eine leichte Krümmung Das Dickicht des Urwalds wich zur Seite, und überrascht starrte Singhu auf die Ansiedlung. Inmitten des Dschungels, eingebettet in den Bogen des Flusses, befand sich eine kleine Oase der Zivilisation. In wohlgeordneten Reihen standen unzählige stabil aussehende Lehmhütten. Sie waren mit großen, breitflächigen Blättern gedeckt. Das Erstaunlichste jedoch waren die ausgedehnten Felder, die die Ansiedlung umgaben. Die Äcker waren in gleichgroße, quadratische Flächen eingeteilt und mit den verschiedensten Pflanzen bebaut. Zumindest ein Teil der Felder wurde sogar künstlich bewässert. Einige schmale Kanäle führten vom Fluß zu den Äckern. Ein großer, langgestreckter Steinbruch schloß die Ansiedlung fast zur Gänze vom Dschungel ab. Verblüfft musterte Singhu dieses Bild friedlicher Zivilisation. „Da staunst du, Kleiner“, dröhnte die Stimme des Dreiköpfigen. „Wir haben die schönste und mächtigste Stadt der Welt“, erklärte der Riese voll Stolz. „Es ist wirklich beachtlich, was ihr hier geschaffen habt“, gab Singhu zu. „Das haben wir alles unserer Göttin zu verdanken“, sagte der Riese ehrfurchtsvoll. Es war wirklich etwas Besonderes. Singhus Rudel hatte nie pla nmäßig Pflanzen angebaut. Es genügte, die umliegenden Wälder und Fluren abzugrasen. Auch gab es ausreichend Wild, um die Ernährung sicherzustellen. Nur der Alte, der öfter eigenartige Ideen gehabt hatte, prophezeite einmal, daß sie später das Nomadenleben aufgeben und die Landwirtschaft entdecken würden. Nun glaubte Singhu erstmals, ihn zu verstehen. Das Rudel, das sich hier angesiedelt hatte, war zweifellos viel größer als sein eigenes. Wenn die Versorgung reibungslos funktionieren sollte, war sicher genaue Planung nötig. Und wer auch der Führer dieses Rudels sein mochte - er hatte alles bestens organisiert. Zwischen den Lehmhütten tauchten nun die verschiedenartigsten Gestalten auf. Es sah aus, als wolle das ganze Rudel seinen Gefangenen besichtigen. Es waren Frauen und Kinder unter ihnen erwartungsvolle, neugierige und freudige Gesichter. In ihren Mienen war aber nicht bloß Triumph zu lesen - es lag auch Anteilnahme darin.
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Singhu verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Kannibalen, wie in „Robinson Crusoe“, schienen es jedenfalls nicht zu sein. Die Kinder waren gut genährt, und die Felder verrieten, weshalb niemand Hunger zu leiden brauchte. Tam, tam - tam, tam, tam - tam... Ein kahlköpfiger Greis trommelte auf einigen sonderbaren Instrumenten. Sie bestanden aus ausgehöhlten, riesigen Schalen unbekannter Früchte, die mit irgendwelchen Tierhäuten straff bespannt waren. Der Trommler schien nur aus Armen zu bestehen. Es war verwirrend, zu beobachten, mit welcher Geschicklichkeit der vielarmige Greis seine Instrumente bediente. Durch das dumpfe Tam-tam angelockt, strömten weitere groteske Gestalten herbei. Angesichts der seltsamen Prozession, deren Mittelpunkt er auf einmal war, fiel es Singhu nicht leicht, ruhig und beherrscht zu erscheinen. Der dreiköpfige Riese schritt kräftig aus. Singhu hatte - eingeengt durch die Fesseln - Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Leise flüsternd folgten die Dorfbewohner. Schließlich erreichten sie den Steinbruch Die kahle Felswand ragte steil in die Höhe und bildete eine natürliche Begrenzung der Ansiedlung. Erst oberhalb des Steinbruchs begann wieder die Üppigkeit des ungebändigten Dschungels, Jetzt erblickte Singhu die aus den matt schimmernden Felsen gehauenen Statuen. Sie standen wie unnahbare, zeitlose Wächter unbeweglich da. Es sah aus, als wachten sie über die Ansiedlung. Es waren ernstblickende Gestalten mit eindrucksvollen Charakterköpfen. Männer in langen, wallenden Gewändern und Frauen, die Hände schützend um ihre Kinder gelegt. Die Gesichter der Statuen wirkten derart lebendig, daß man jeden Augenblick erwartete, sie würden zu reden beginnen. Erregung ergriff Singhu, als es ihm bewußt wurde. Einen Moment lang glaubte er zu träumen. Doch er täuschte sich nicht. So mußten seine Brüder aussehen! Jede einzelne der Gestalten stand stolz und aufrecht da. Alle besaßen zwei Arme, zwei Beine und waren in nichts von den Wesen in Büchern des Alten zu unterscheiden. Wer hatte diese kunstvollen Denkmäler geschaffen? Der Dreiköpfige erhob grüßend seine Arme - dann setzte er seinen Weg fort. Auch die anderen grüßten die Statuen auf ihre Art. Singhu fiel auf, daß eines der Standbilder besonders verehrt wurde. Eine Unzahl bunter Blumen umrahmte es. Verschienene Früchte, einfache
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Lehmfiguren und hölzerne Ziergegenstände waren vor der Statue aufgestapelt. Verwundert betrachtete Singhu das steinerne Bildnis. Es zeigte den Oberkörper und das Gesicht einer jungen Frau. Sie besaß ein zartes, etwas melancholisch wirkendes Gesicht. Die langen Haare waren zu gleichen Teilen nach beiden Seiten gescheitelt und fielen weich über die Schultern. Sie hielt den Kopf etwas zurückgeworfen und die Arme zum Himmel gestreckt. Alle Sehnsucht und Schönheit dieser Welt schienen sich in dieser Geste auszudrücken. „Komm weiter, Kleiner! Wir können die Göttin nicht warten la ssen!“ Die dröhnende Stimme des Dreiköpfigen riß Singhu aus seinen Gedanken. „Was bedeuten diese Statuen?“ wollte Singhu nun wissen. „Es sind die Bildnisse der Götter“, belehrte ihn der Riese etwas ungeduldig. „Los jetzt! Du wirst später noch genug Zeit haben, sie zu betrachten!“ Sie näherten sich nun dem Ende des Steinbruchs. Jetzt bemerkte Singhu, daß sich in den vor ihnen aufragenden Felsen einige Höhlen befanden. Aus einer dieser Höhlen trat nun ein großes, aufrecht gehendes Wesen, das mit einem nahezu mannshohen Stab bewaffnet war. Der Dreiköpfige und der Fremde aus der Höhle verständigten sich mit einer kurzen Gebärde. „Warte einen Augenblick, und verhalte dich ruhig!“ befahl Singhus riesiger Begleiter. „Wenn du eine feindliche Bewegung machst, muß ich dich sofort töten“, sagte er entschlossen und umklammerte fest seine mächtige Keule, „Was geschieht jetzt?“ fragte Singhu. „Die Göttin will dich nur kurz sehen. Sie wird dir deine Arbeit zuweisen!“ Die Sache wurde immer unverständlicher. Welche Arbeit sollte er zugewiesen erhalten? Wer war die Göttin? Anscheinend war es ein Wesen aus Fleisch und Blut. Äußerlich ruhig, aber mit gespannten Sinnen wartete Singhu. Plötzlich stand sie am Eingang der großen Höhle. Zu ihrer Seite wachten zwei mit eigenartigen gla tten Stäben bewaffnete Männer. Das einzige Kle idungsstück der Göttin war ein kleiner Lendenschurz, wie auch Singhu einen trug. „Wie heißt du?“ fragte sie kurz und blickte Singhu prüfend an. Singhu war zu verblüfft, um sofort antworten zu können. „Singhu“, antwortete er dann automatisch. Es kam zu überraschend für ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. - 35-
„Du wirst uns zwei Sommer dienen!“ sagte die Göttin mit fester Stimme. „Dann bist du frei! Wenn du ehrlich arbeitest, wird dir nichts geschehen!“ Singhu hatte sich schon zuvor im Geist ausgemalt, wie er auf alle Fragen reagieren, was er sagen würde. Doch diese wenigen Augenblicke genügten, seine ganzen Pläne ins Wanken zu bringen. „Bringe ihn zum Steinbruch, Murdo!“ befahl die Göttin nun dem Dreiköpfigen. Singhu war noch immer wie gelähmt. Er hörte die Worte der Göttin, ohne den eigentlichen Sinn zu begreifen. Nur langsam löste er sich aus seiner Erstarrung. Er war auf alles gefaßt gewesen - nur auf das nicht! Ausgerechnet hier sah er erstmals in seinem Leben ein Mädchen, das wie er, normal zu sein schien. Ein Wesen, das ihm glich - ein Mensch, wie er ihn bisher nur aus den Büchern und Erzählungen des Alten kannte. Irgendwie schockierte es ihn, sie als Göttin verehrt zu sehen. Doch eines mußte Singhu neidlos anerkennen - der Bildhauer war ein großer Künstler! Die Ähnlichkeit war augenscheinlich. Die Göttin sah aus, als wäre die steinerne Statue zum Leben erweckt worden. * Das Trommeln der Tam-tams machte sie rechtzeitig aufmerksam. Wieder einmal war es gelungen, eine neue Arbeitskraft zu beschaffen. Sie hatte es von Anfang an eingeführt, die Gefangenen zu besichtigen. Es war schon seit langem zu einem feststehenden Ritual geworden, und sie dachte längst nicht mehr daran, weshalb sie damit begonnen hatte. „Wie heißt du? Hinunter mit ihm, zum Fluß - auf die Felder! Bringt ihn zum Steinbruch! Zwei Sommer, dann bist du frei!“ Es war reine Routinesache. Und das Rudel wuchs, ihre Macht wurde immer größer. Und trotzdem... Die Posten standen vor dem Eingang der Höhle. Stumm, aber immer gegenwärtig - bei Tag und bei Nacht. Mit einem langen Blasrohr bewaffnet - stets bereit, ihre Giftpfeile zu versenden. Bereit, auf den leisesten Wink der Göttin zu reagieren - ihr alle erdenklichen Wünsche zu erfüllen. Bis auf einen! Die Blasrohrmänner hatten nichts gemerkt. Aber es kostete die Göttin ihre ganze Kraft und Beherrschung, den Gefangenen unbeteiligt anzusehen und die üblichen Befehle zu erteilen. Sie war froh, als Murdo den gleic h- 36-
gültig aussehenden Gefangenen wieder abführte. Sie mußte allein sein. Allein, um in aller Ruhe nachdenken zu können. Seit Jahren hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Doch nun, wo es soweit war, wußte sie nicht, was sie tun sollte. Die überraschende Begegnung hatte ihr Innerstes zutiefst aufgewühlt. Die unzähligen Flämmchen der vielen Öllampen erfüllten die Höhle mit einem warmen, freundlichen Licht. Der süßliche Geruch des verbrannten Öles wirkte beruhigend. Die weichen Felle auf dem Boden und an den Wänden schufen Behaglichkeit. Grübelnd betrachtete die Göttin ihren Höhlenpalast - und ihr Gefängnis. War es nicht so? Sicher, sie konnte die Höhle jederzeit verlassen, konnte sich sonnen, baden oder irgendeiner anderen Beschäftigung nachgehen. Aber war sie wirklich frei? Wohin sie auch ging - ihre Bewacher ließen sie keinen Moment aus den Augen. Es hatte sie einige Überredungskunst gekostet, daß sie wenigstens die Höhle für sich allein haben konnte. Und so standen ihre Beschützer am Eingang und warteten auf ihr Erscheinen. Alles geschah, wie sie es wollte. Aber manchmal beneidete die Göttin alle anderen jungen Mädchen und Frauen des Rudels, wenn sie kichernd und ausgelassen ihren Vergnügungen nachgingen. Es waren häßliche, bizarre Gestalten unter ihnen - doch es waren Gleiche unter Gleichen! Die vollkommene Schönheit ihres eigenen Körpers war hier, wo allgemeingültige Ideale fehlten belanglos. Ihre ebenmäßigen Gliedmaßen und ein geradezu lächerlicher Zufall - erhoben sie zur Göttin. Zur Göttin, die gütig, selbstlos und einsam über alles zu herrschen hatte. Ein bitteres Lächeln huschte über ihr junges Gesicht. Alle anderen besaßen Freunde. Menschen, mit denen sie leben und glücklich sein, mit denen sie Freud und Leid teilen konnten. Die Göttin fühlte sich noch nicht alt genug, um immer abseits und allein zu stehen. Doch war es nicht immer so gewesen? Ein richtiges Zuhause, Eltern, eine eigene Heimat - das alles hatte sie doch nie besessen Mühsam versuchte sie sich zurückzuerinnern. Die Jahre der Kindheit hatten keine tieferen Eindrücke bei ihr hinterlassen. Ihre Mutter bedeutete ihr nicht viel mehr als ein freundlicher Schemen der Vergangenheit. Ein längst verflüchtigter Hauch von Liebe und Geborgenheit. Nicht viel mehr, als die Erinnerung an einen längst entschwundenen Sonnentag. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Dann war da noch der Alte gewesen. Sie war etwa zehn, als er sie aufgelesen hatte. Hilflos und verlassen - ihre Mutter war überraschend gestorben - 37-
- hatte er seine Tiny bei sich aufgenommen. Tiny - wie lange hatte sie schon niemand mehr so genannt? Ein Zittern durchlief ihren Körper, als sie an früher dachte. Wahrscheinlich war das die schönste Zeit ihres jungen Lebens gewesen. Gemeinsam waren sie durch die Welt gewandert - wie Vater und Tochter. Ein unsteter Geist hatte den Alten immer vorwärtsgetrieben. Es war eine Zeit des Lernens für sie gewesen. Wißbegierig nahm sie in sich auf, was der Alte zu berichten wußte. Er war sehr klug. Sie kannte niemand, der es wie der Alte verstand, sich über die sonderbarsten Dinge sinnvolle Gedanken zu machen. Damals erschien er ihr allmächtig! Sie hatte nicht immer alles verstanden, was ihr der Alte sagte - manchmal verliefen sich seine Worte in unklaren Andeutungen. „Du bist nochzu klein, um alles zu verstehen. Du mußt erst erwachsen werden. Aber ich werde dafür sorgen, daß du den richtigen Weg gehst. Du mußt zu deinen Brüdern finden!“ Häufig sprach er in dieser oder ähnlicher Art über ihre Zukunft. Es klang oft wie ein Märchen, was der Alte zu erzählen wußte. Doch langsam hatte sie die Überzeugung gewonnen, daß der Alte und sie anders waren als die übrigen Menschen dieser Welt. Es waren hochfliegende Pläne gewesen - zerplatzt wie eine Luftblase an der Oberfläche eines stillen Tümpels. Der nächtliche Überfall, der kurze Kampf und der Schmerz der Trennung. Plötzlich wieder das Gefühl, allein zu sein. Allein in einem fremden Rudel, ein brutal behandelter Sklave Stärkerer. Die Verwegene Flucht, ihre verzweifelte Suche nach einem sicheren Unterschlupf - ihre erneute Gefangennahme. Die einzelnen Abschnitte ihres vielgestaltigen Lebens zogen wie ein Film an ihr vorüber. Als willenloses Tauschobjekt war sie von Rudel zu Rudel gestoßen worden. Es war eine Zeit des ewigen Wanderns gewesen - eine Zeit, die trotz ihrer Schrecken keine bleibenden Eindrücke ‚ hinterlassen hatte. Und schließlich das Rudel, das über die Berge wanderte... Das Chaos im Schneesturm, die eisige Kälte, die ihren ungeschützten Körper traf. Der grausige Schrei des Führers, als er in die Felsspalte stürzte. Das blinde Umherirren im Nebel. Als sie nach zwei Tagen erschöpft und dem Tode nahe das Tal erreichte, war sie frei - und allein. Die Götter der Felsen und des Eises hatten alle anderen zu sich genommen.
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Wie durch ein Wunder hatte sie die folgenden Tage überlebt. Ein abgekämpftes, hungriges und übermüdetes Mädchen von vierzehn Jahren. Allein auf sich gestellt im grausamen Überlebenskampf des Dschungels. Mehr als einmal entrann sie nur mit Mühe und Not dem drohenden Verderben. Doch langsam lernte sie, die gnadenlosen Gesetze des Dschungels für sich zu nutzen. Aus ihrem planlosen Umherirren wurde das zielstrebige Suchen nach einem sicheren Aufenthalt. Ihr junger, kräftiger Körper überwand die Strapazen des täglichen Daseinskampfes. Aber ihr Innerstes blieb unausgefüllt. Sie sehnte sich nach Ruhe und Geborgenheit, ihre Nerven waren überreizt. Die Einsamkeit wurde jeden Tag unerträglicher für sie. Tief in ihrem Unterbewußtsein schlummerte die Sehnsucht nach anderen Menschen. Die zunehmende innere Leere brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Als sie die Siedlung entdeckte, war sie am Ende ihrer Kräfte. Es war zeitig am Morgen. Der Hunger hatte sie vorzeitig aus dem Schlaf geweckt und auf Nahrungssuche getrieben. Die Sonne stand noch tief am Horizont, und die Nebel stiegen nur zögernd über die Wipfel der Baumkronen. Der Morgentau glitzerte auf den Gräsern wie Myriaden leuchtender Kristalle. Sie war dem Flußlauf gefolgt und stand plötzlich vor der Ansie dlung. Es waren nur wenige, verstreut dastehende, primitive Laubhütten. Sie wirkten baufällig. Nichts regte sich. Es war noch zu früh, als daß die Bewohner ihre Behausungen verlassen hätten. Alles machte einen trostlosen Eindruck. Dann bemerkte sie die seltsamen Skulpturen am Rande des Steinbruchs. Neugierig schlich sie näher. Die Statuen stellten Menschen jeden Alters und Geschlechts dar. Menschen, wie der Alte sie immer beschrieben hatte. Wesen wie sie, wie... sie sonst noch nie welche gesehen hatte. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Wenn alles zutraf, was der Alte ihr erzählt hatte, dann waren dies die stummen, unvergänglichen Zeugen einer längst entschwundenen Vergangenheit. Ein eigenartiges Gefühl ergriff sie. Hier mußten einst Menschen ihrer Art gelebt haben! Dann entdeckte sie das Mädchen. Es stand, die Arme sehnsuchtsvoll zum Himmel gereckt, unbeweglich da. Die langen, in der Mitte gescheitelten Haare umrahmten ihr Gesicht. Der unbekannte Bildhauer hatte Jeden Muskel, jede Linie mit zärtlicher Genauigkeit in den Stein gemeißelt. Es war, - 39-
als könne sich die Statue jederzeit aus ihrer Erstarrung lösen und zu neuem Leben erwachen. Fasziniert bewunderte sie das Abbild jenes Mädchens, das ihr so zu gle ichen schien. Ihre vom rauhen Alltag stets verdrängte kindliche Verspieltheit bekam die Oberhand. Geschickt versuchte sie, ihr la nges, strähniges Haar so zu ordnen, wie sie es bei der Statue sah. Sie richtete sich auf, legte den Kopf etwas zurück und streckte ihre Arme zum Himmel. Die unbewegliche Skulptur hätte ihre Schwester sein können! Sie war derart in ihr Spiel vertieft, daß sie die lautlos heranschle ichenden Schatten nicht bemerkte. Erst das leise Geflüster riß sie aus ihren Träumen. Erschrocken blickte sie auf die verwegenen Gestalten, die sie plötzlich umringten. Nur wenige Schritte entfernt verharrten die fremden Krieger. Jeden Moment mußte die Horde über sie herfallen. Wieder einmal stand ihr das Leben einer willenlosen Sklavin bevor. Doch merkwürdig. Irgend etwas hielt die Fremden zurück. Gebannt starrten sie einander an. Vergeblich suchte das Mädchen nach einem Ausweg aus dieser beängstigenden Situation. Und dann geschah es! Einer der Fremden, ein dreiköpfiger Riese, trat einige Schritte auf sie zu. Plötzlich fiel er auf die Knie und senkte den Kopf. „Verfüge über uns, Göttin!“ sagte er schließlich demutsvoll. Auch die anderen Männer grüßten sie nun untertänigst. Sie war wie erstarrt. Etwas Unbegreifliches war geschehen. Die fremden Krieger hatten Angst vor ihr - oder schienen sie zu verehren! Dann begriff sie. Ein befreiendes Lachen löste sich aus ihrer Kehle. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Sie konnte nicht anders. All ihre Not und Bedrängnis fanden ein Ventil. So wurde sie zur Göttin! Eine jener unberechenbaren Launen des Schic ksals - die zufällige Ähnlichkeit mit jener Statue - verhalf ihr nun zu überraschenden Würden. Wahrscheinlich verehrten die Fremden jene kunstvollen Statuen schon seit Jahrhunderten als Götterbildnisse. War es nicht ganz natürlich, daß man in ihr eine fleischgewordene Göttin der Vergangenheit zu erblicken glaubte? Anfangs wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Doch bald fand sie sich in ihrem neuen Leben zurecht. Die schlichte Glä ubigkeit der Dorfbewohner machte es ihr leicht. Sie hatte Glück Als es ihr gelang, mit Hilfe einiger Kräuter, die der Alte ihr einmal gezeigt hatte, Kranke zu heilen, stieg der Glaube an ihre Fähigkeiten ins Unermeßliche. Alle hegten nur eine Befürchtung! Die Göttin könnte, so plötzlich wie sie gekommen war, wieder in ihr Reich zurückkehren. Man versuchte, ihr den - 40-
Aufenthalt „auf dieser Welt“ so angenehm wie möglich zu machen. Sogar eine eigene Leibwache wurde gebildet, um sie vor den Mächten der Finsternis zu beschützen. Es war wie ein Traum. Anfangs genoß sie die vielen Annehmlichkeiten, die dieses Leben bot. Erst viel später merkte sie, daß sich an ihrem Dasein nicht viel geändert hatte. Sie mußte zwar nicht mehr um ihre Existenz kämpfen, war aber so einsam wie zuvor. Man hütete sie wohl wie einen Augapfel und sorgte ständig für sie - doch ein gewisser Abstand blieb bestehen. Eine Göttin nahm eben eine Sonderstellung ein! Man war gewohnt, sie um Rat zu fragen, die persönlichen Sorgen vor ihr auszuschütten und ihr die geheimsten Wünsche anzuvertrauen Doch mit wem hätte sie ihre Sorgen teilen können? Sie besaß kaum die Möglichkeit, von sich aus Kontakte anzuknüpfen. Ihre Wache war ständig um sie und verhinderte es geschickt, daß ein Fremder die Göttin zu sehen bekam Ob sie zum Fluß ging, um sich zu baden, die Felder besichtigte oder sich sonnte - die Blasrohrmänner waren nicht weit. Man hatte Angst, ihr könnte etwas zustoßen oder sie konnte das Dorf wieder verlassen, um in himmlische Gefilde zu entschweben Niemals ließ man sie allein aus der Siedlung gehen. Sie war die Gefangene ihrer Göttlichkeit! Insgeheim suchte sie nach einem Ausweg. Die Gespräche, die sie mit dem Alten geführt hatte, gingen ihr durch den Kopf, gab es wirklich „Brüder auf dieser Welt?“ Er konnte mit den Brüdern doch nur wesensgle iche Menschen gemeint haben! Sie hatte keine Vorstellung von der Größe dieser Welt, ahnte aber, daß sie, Tiny, nur den kleinsten Teil kannte. Doch sie besaß keine Möglichkeit, nach den geheimnisvollen Brüdern zu suchen. Sie versuchte, sich durch Arbeit von ihren Gedanken abzulenken. Immer wieder nutzte sie ihren Einfluß, um die Dorfbewohner zu neuen Taten anzuspornen. Zuerst würden die primitiven Hütten instand gesetzt und neue errichtet. Unter ihrer Leitung begannen die Männer Felder anzulegen. Anfangs machten sie sich nur unwillig an die Arbeit. Wozu der viele Aufwand? Der Dschungel bescherte alles reichlich, und wenn einmal schlechte Tage kamen, hungerte man eben ein bißchen. Doch bald sahen sie den Erfolg, und die Sache begann ihnen Spaß zu machen. Dann kam der Sommer und die große Dürre. Wochenlang fiel kein Tropfen Regen. Tag für Tag brannte die Sonne vom Himmel. Die reiche Ernte auf den Feldern drohte zu verdorren. Doch die Göttin wußte Rat! Und unter Aufbietung aller Kräfte mußten die Dorfbewohner Bewässerungsgräben - 41-
ziehen. Die Ernte war gerettet. Doch es waren Tage der Arbeit und des Kampfes. Da kam ihr die Idee! Sie benötigten zusätzliche Arbeitskräfte und... Sie hätte gerne gewußt, ob sie Brüder besaß. Hier bot sich vielleicht die Gelegenheit, beide Probleme auf einmal zu lösen. Vorsichtig weihte sie Murdo in einen Teil ihres Planes ein. Mit Feuereifer machten sich die Männer daran, Fallen zu stellen. Zuerst fingen sie bloß Tiere - dann gab es stets ausgiebige Festmähler zu Ehren der Göttin. Doch bald folgten die ersten Menschen. Wandernde Händler, Jäger oder Männer, die aus irgendeinem Grund von ihrem Rudel ausgestoßen worden waren. Die Göttin hatte keine Skrupel, die Gefangenen zur Zwangsarbeit zu verurteilen. Die meisten von ihnen hatten nie eine gesicherte Existenz besessen, waren von anderen Rudeln gejagt und den Gefahren des Dschungels bedroht worden. Viele der Gefangenen blieben später für immer da. Sie bauten sich eigene Hütten und schlossen sich den anderen Siedlern an. Trotzdem blieb die Göttin unzufrieden. Es war immer das gleiche. Niemand wußte von den Brüdern der steinernen Götter zu berichten. Ihre anfängliche Hoffnung wich bald und machte tiefster Resignation Platz. Die Jahre vergingen - nichts änderte sich Und dann geschah es! Zu einem Zeitpunkt, als sie selber nicht mehr daran gedacht hatte. Doch was war nun zu tun? War es wirklich einer ihrer Brüder, oder handelte es sich nur um eine zufällige Ähnlichkeit? Hing sie vielleicht einem leeren Wahn nach? * „Wie lange bist du schon hier?“ „Ich wurde während der vorigen Regenzeit gefangengenommen.“ „Du darfst dich aber ziemlich frei bewegen. Mich läßt man nicht aus den Augen.“ „Das war bei mir anfangs auch so. Doch jetzt mache ich alle Botengänge und bin so gut wie frei.“ „Hast du niemals zu flüchten versucht?“ „Warum sollte ich? Besser als hier ist es mir nie gegangen. Ich brauche mich nicht anzustrengen und habe trotzdem ein gutes Leben.“
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Aufmerksam betrachtete Singhu sein Gegenüber. Galo war nur ein unscheinbarer Zwerg. Er war kaum mehr als einen Meter groß und hatte einen Buckel. Seine scharfen Augen verrieten jedoch einen wachen Verstand. Wahrscheinlich hatte Galo recht. Die Gefangenen wurden gut behandelt und bekamen ausreichend zu essen und zu trinken. Die Dorfbewohner arbeiteten Seite an Seite mit ihnen. Niemand brauchte sich zurückgesetzt zu fühlen. „Wirst du später einmal hierbleiben?“ fragte Galo und kaute nachdenklich am Kern einer Pokej-Frucht. Singhu sah ihn fragend an. „Die meisten der Gefangenen bleiben für immer hier. Es gibt genügend Mädchen im Rudel und nirgendwo so viel und regelmäßig zu essen. Es ist Platz für jeden.“ „Du bleibst?“ Der Zwerg nickte. „Murdo versprach, man würde mir am Flußufer ein schönes Haus bauen. Die Göttin ist damit einverstanden, also wird es geschehen.“ Galos Kiefer bewegten sich monoton. Endlich spuckte er den Kern in weitem Bogen aus und löste sich einen neuen aus dem Fruchtgehäuse. Willst du auch davon?“ Er sah Singhu fragend an. Singhu lehnte dankend ab. Die Dinger schmeckten viel zu süß. „Wer ist die Göttin?“ erkundigte er sich neugierig. Galo zuckte die Achseln. „Sie ist plötzlich vom Himmel gekommen - so erzählt man. Sie war jedenfalls schon vor mir da und ist sehr klug “ Singhu nickte geistesabwesend. Es war nichts zu erfahren. Wieder spuckte Galo einen der Kerne aus. „Ich gehe jetzt schlafen“, sagte er. „Morgen ist auch noch ein Tag!“ Er hüllte sich in ein altes Fell und warf sich auf seine Schlafstelle. Draußen war es bereits dunkel. Außer; einigen kleinen Feuern, die man brennen ließ, um die Tiere vom Dorf abzuhalten, war nichts zu sehen. Ein lauer Wind strich durch die Türöffnung der Hütte. Vom Fluß her drang das Gequake der Frösche. Galos regelmäßiges Atmen verriet, daß der Zwerg bereits eingeschlafen war. Manchmal beneidete Singhu ihn. Galo hatte sein Ziel erreicht. Er besaß alles, was er zum Leben brauchte, genoß den Schutz eines großen Rudels und hatte das Gefühl, ein nützliches Mitglied dieser Gemeinschaft zu sein.
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Singhu war nun schon seit vier Tagen Gefangener des Rudels. Man hatte ihm eine Hütte zugewiesen, die er nur mit Galo zu teilen brauchte. Tagsüber mußte er mit den anderen im Steinbruch arbeiten. Gedankenvoll starrte Singhu in das Dunkel der Nacht. Niemand bewachte zu dieser Zeit die Gefangenen, denn jeder Fluchtversuch grenzte an Selbstmord. Singhu hätte seine Kraft zu Hilfe nehmen können. Doch er war voller Unruhe. Sein zweites Ich drängte ihn zwar, seinen Weg fortzusetzen. Aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er gestand es sich nicht ein, daß es in erster Linie seine Neugierde war. Es geschah jedoch nichts, was diese hätte stillen können. Singhu wollte noch so vieles wissen - hätte so viele Fragen zu stellen gehabt. Doch ein Tag verging wie der andere. Singhu war voller Zweifel. Wer war die Göttin, die ihm in ihrem Aussehen so glich? In einem plötzlichen Entschluß richtete er sich auf. Die frische Nachtluft füllte seine Lungen, als er tief atmend vor der Hütte stand. Außer den ewig gleichbleibenden Lauten des Dschungels war nichts zu hören. Das ganze Dorf schien zu schlafen. Mühsam versuchte Singhu mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Vorsichtig schlich er durch die Ansiedlung. Die Umrisse der Hütten waren fast nicht auszumachen. Doch Singhu fand sich leicht zurecht. Niemand kreuzte seinen Weg. Bald lagen die Hütten der Dorfbewohner hinter ihm - unaufhaltsam näherte er sich dem Steinbruch. Irgendwo aus der Ferne drang ein markerschütternder Schrei. Ein kurzes Aufheulen, ein aufgeregtes Geschnatter - dann war es wieder ruhig. Irgendein Raubtier hatte sein Opfer gefunden. Unbeirrt setzte Singhu seinen Weg fort. Vor der Wohnhöhle der Göttin brannten zwei kleine Feuer. Die Flammen erhellten die nächste Umgebung. Singhu verharrte bewegungslos. Was sollte er nun unternehmen? Bis hierher hatte ihn die Dunkelheit geschützt, doch nun? Wie kam er ungesehen an den Feuern vorbei? Zumindest einen Augenblick lang würde er weithin sichtbar sein. Es war ein großes Risiko. Irgend jemand mußte schließlich wachen und ab und zu neues Holz in die Flammen werfen. Mißtrauisch beobachtete Singhu die Umgebung. Aber so sehr er sich auch bemühte - alles, was außerhalb des Lichtkegels der Feuer lag, wurde von der Finsternis verschluckt. Sollte er - so nahe vor dem Ziel - seinen
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Plan aufgeben? Er zögerte. Aber es war wohl notwendig, ein gewisses Risiko einzugehen. Wenn er sich beeilte, war es sicher nicht allzu groß. Mit schnellen Schritten tauchte Singhu aus dem Dunkel. Einige große Sprünge, und er war bei den Feuern. Einen Moment lang glaubte er, einen unterdrückten Aufschrei zu hören. Hastig lief er weiter. Er hatte den Eingang der Höhle noch nicht erreicht, als das le ise Zischen ertönte. Er spürte einen leichten Stich an der Schulter. Dann war es plötzlich aus, und er verlor das Bewußtsein. Die leuchtenden Wirbel beruhigten sich nur langsam. Kaskaden vielfarbiger Lichter lösten einander ständig ab. Ein Brausen und Dröhnen schien jegliches Leben verschlingen zu wollen. Es war trocken und heiß. Der Lärm ebbte nur zögernd ab. Allmählich klärten sich die bunten, wirbelnden Schleier vor Singhus Augen. Wieder hatte er jenes trockene Gefühl. Er merkte plötzlich, daß seine Zunge am Gaumen klebte. Er wollte nach Wasser rufen, doch nur ein unverständliches Krächzen entrang sich seiner Kehle. Dann fühlte er das kühle Naß an seinen Lippen. Gierig sog er die Flüssigkeit in sich auf. Er glaubte eine beruhigende Stimme zu hören, dann versank alles wieder im Nichts. Als Singhu endgültig erwachte schien das helle Sonnenlicht zur Tür herein. Er befand sich in seiner Hütte. Seine Kehle war noch immer ausgedörrt. Mühsam suchte er sich zu erinnern. „Willst du Wasser?“ Es war Galo. Dankbar nickte Singhu dem Zwerg zu. In großen Schlucken trank er aus dem dargebotenen Tonkrug. „Der Durst wird bald vergehen. In einigen Stunden spürst du nichts mehr von dem Gift. Ich kenne das - du bist nicht der erste, den ich gesund pflege.“ Singhus Schädel dröhnte zwar nicht mehr, doch hatte er ziemliche Mühe, seine Gedanken zu ordnen. „Was ist geschehen? Seit wann...“ „Die Blasrohrmänner haben schnell reagiert. Zwei Pfeile in die Schulter, einen in die Hüfte. Es ist kein Wunder, daß du einen ganzen Tag und eine Nacht verschlafen hast!“ Richtig, die glatten Stabe der Wachen mußten Blasrohre sein. Es war ein Glück, daß das Pfeilgift nur einschläfernd wirkte! Wortlos reichte Galo dem Kranken ein Stück Braten. Der Zwerg schien das Geschehen als Selbstverständlichkeit anzusehen und dachte gar nicht daran, Fragen zu stellen. Ein riesiger Schatten verdunkelte die Tür. - 45-
„Wie geht es ihm?“ Der unangenehm laute Bau kam zweifelsfrei von Murdo. Der Zwerg deutete wortlos auf Singhu, der gerade einen Fleischbrocken in den Mund stopfte. Murdo starrte Singhu schweigend an. Er mußte sich etwas ducken, sonst hätte seine wuchtige Gestalt das Blätterdach der Hütte beschädigt. „Weshalb wolltest du die Göttin töten?“ fragte er verachtungsvoll. Singhu schüttelte den Kopf. „Wenn ich es gewollt hätte...“ Wie sollte er dem Riesen klarmachen, was er selbst nicht sicher wußte? „Du wolltest also die Göttin entführen, um sie dann als Geisel zu benutzen!“ stellte Murdo mit gefährlicher Ruhe fest. „Ich wollte weder ihr noch einem von euch etwas zuleide tun“, erklärte Singhu. „Du lügst!“ brüllte Murdo zornig. „Du darfst nicht glauben...“ „Ich lüge nie!“ entgegnete Singhu scharf. Der Riese starrte ihn wütend an. Dann wendete er sich ärgerlich ab und verließ die Hütte. Es war Murdo nicht zu verdenken, überlegte Singhu. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß seine Worte nicht glaubwürdig wirkten. Wie mochte die Göttin wohl über die Angelegenheit denken? War es etwa doch besser, zu fliehen, seinen Weg fortzusetzen und alles Gewesene zu vergessen? Andererseits - wenn es so war, wie er vermutete, war er dann nicht verpflichtet, auch der „Göttin“ den Weg zu ihren Brüdern zu zeigen? Galo saß still in seiner Ecke. Er kaute an einer Pokej und sah Singhu nachdenklich an. „Willst du noch Wasser?“ Singhu verneinte. Trotzdem war er über die fürsorgliche Hilfe des Zwerges froh. Galo stellte keine einzige Frage; ohne ein Zeichen von Neugier bot er seine Hilfe an. Dabei fühlte Singhu, daß gerade der Zwerg klug genug war, seine Sorgen zu verstehen. Der Kleine stieg in Singhus Achtung. Es war heiß. Die Nachmittagssonne brannte unbarmherzig vom Himmel und machte jede Bewegung zur Qual. Singhu litt außerdem noch unter den Nachwirkungen des Giftes. Neben ihm arbeiteten weitere vier Gefangene und drei der Dorfbewohner. Hier, wo sich alle gemeinsam abrackerten, bestand kein Unterschied zwischen ihnen. Das war auch das Geheimnis, weshalb keiner der Gefangenen sich jemals beschwerte. Galo hatte im Augenblick nichts zu tun und beobachtete aufmerksam die Arbeitsgruppe. Er wurde aufgrund seiner Schmächtigkeit nie zu schweren Arbeiten eingesetzt. - 46-
Die spröden Felsen wurden mit Hilfe metallener Keile sorgfältig zerkle inert. Das zu gleichmäßigen Platten und Quadern geformte Gestein wurde später zum Dämmebau, zum Auskleiden von Feuerstellen und dergleichen Dingen verwendet. Es war eine mühselige Arbeit. An manchen Tagen war Singhu von einer ähnlichen Schaffenskraft besessen wie die anderen. An diesem Nachmittag jedoch verfluchte er den Steinbruch, die Sonne und die Arbeit. Es war auch zu dumm! Hätte er seine Kraft einsetzen können, wäre alles viel schneller gegangen. Doch irgend etwas hielt ihn zurück. Er wollte sein Geheimnis noch nicht preisgeben. Verbissen arbeitete er weiter. Wenig später kam Murdo aufgeregt angelaufen. Einige Panzerechsen waren über die Bewässerungskanäle in die Felder eingedrungen und verwüsteten das Ackerland. Murdo und seine Leute benötigten Verstärkung, um die Untiere wieder zu vertreiben. Eilig verließen die Männer den Steinbruch. Nur Singhu und der in diesem Fall wohl nutzlose Galo blieben zurück. Unmutig knirschte Singhu mit den Zähnen. Murdo traute ihm offensichtlich nicht. Um die Echsen zu vertreiben, mußten die Männer bewaffnet werden. Das war ein Risiko, das Murdo bei Singhu zweifellos nicht eingehen wollte. „Da, trink!“ meinte Galo und reichte Singhu einen Tonkrug. „Jetzt kannst du wenigstens ausruhen. Du hast es sicher nötig!“ Durstig setzte Singhu den Krug an die Lippen. In diesem Moment erblickte er die Bestie. Irgend etwas - vielleicht waren es die Männer in den Feldern gewesen mußte das Untier aufgeschreckt haben. In panischer Angst war es davongejagt und hatte die Orientierung verloren. Anstatt in die vertrauten Fluten des Stromes zurückzufinden, hatte es sich in die Tiefen des Dschungels verirrt. Schließlich versperrte ihm der steil abfallende Hang des Steinbruchs den Rückweg zum Fluß. Aufgeregt schnaubend stand die Echse auf dem Felsvorsprung. Gereizt, mit tückisch funkelnden Augen starrte sie auf Singhu und den nichtsahnenden Galo herab. Sofort erkannte Singhu die Gefahr. Der Kleine stand genau unterhalb des Felsens, auf dem sich das Untier befand. Wenn das Gestein unter dem Gewicht der Bestie nachgab... „Was ist tos?“ fragte Galo, als Singhu plötzlich zu erstarren schien.
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Dann splitterte das spröde Gestein. Die Bestie verlor das Gleic hgewicht und stürzte mit einem urweltlichen Aufschrei in die Tiefe. Der Zwerg konnte gerade noch den Kopf wenden und sehen, was so unvermutet über ihn hereinbrach. Doch es war zu spät, um zu flüchten. Singhus Abwehr war nur eine instinktive Reflexbewegung. Der Stoß seiner Kraft traf die herabstürzende Bestie im Fluge. Von unsichtbaren Mächten gepackt, veränderte der riesige Körper seine Flugbahn und stürzte, einige Schritte abseits, schwer zu Boden. Die Bestie war zu Tode verletzt. Doch der wild umherschlagende Schwanz der Panzerechse peitschte in gefährlicher Nähe den Sand auf. Erst als einige nachstürzende Felsen nach einem sonderbaren Zickzackflug auf dem Schädel des Ungeheuers landeten, war die Gefahr beseitigt. Fassungslos starrte der Zwerg abwechselnd auf Singhu und die tote Bestie. Sein Gesicht war blaß, und vergeblich suchte er nach Worten. Das Krachen der herabstürzenden Felsen und das Gebrüll der sterbenden Panzerechse alarmierten die anderen. Von allen Seiten strömten Männer herbei, um sich einem etwaigen Gegner zum Kampf zu stellen. Verwundert betrachteten sie den leblosen Körper des Untieres. Dutzende von Fragen hämmerten auf Galo ein. Nur zögernd fand der Zwerg seine Sprache wieder. Mit anschaulichen Worten schilderte er den Vorfall. Es schien keinen der Umstehenden zu stören, daß der Körper der toten Echse so weit von der Felswand entfernt lag. Alle freuten sich über die glückliche Fügung, wobei das herabstürzende Gestein das Untier zerschmettert hatte. Niemand sah einen Grund, sich zu wundern. * Es war Abend. Ein lauer Wind brachte den verlockenden Geruch gebratenen Fle isches mit. Ab und zu hörte man das helle Lachen eines Mädchens oder die rauhen Stimmen der Männer. Die Echsen waren vertrieben, und die Jäger hatten einiges Fleisch erbeutet. Mit urwüchsiger Lebensfreude feierten die Dorfbewohner ihre Erfolge. Galo saß in einer Ecke und kaute an einem Pokej-Kern. Es war ein Abend wie so mancher andere. Sie hatten über den nachmittäglichen Zwischenfall nicht mehr gesprochen. Aber die innere Übereinstimmung der beiden ungleichen Männer lag fast greifbar in der Luft. - 48-
„Wie hast du das gemacht?“ unterbrach der Zwerg schließlich die Stille. „Ich weiß es selbst nicht“, meinte Singhu. „Ich habe diese Kraft schon immer gehabt.“ Plötzlich gab es kein Geheimnis mehr zwischen ihnen. Singhu wußte, daß er Galo vertrauen konnte. Der Kleine nahm das Unverständliche mit Gelassenheit auf. Während er unbekümmert an einem Kern kaute, nahm sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an. „Du müßtest längst kein Gefangener mehr sein!“ stellte er dann fest. „Du könntest über das ganze Rudel gebieten!“ Das war für Singhu nichts Neues. Doch der Gedanke daran hatte für ihn nichts Faszinierendes. Es war jedoch auffallend, wie rasch der Zwerg seine Schlüsse zog. „Ich habe mir von Anfang an gedacht, daß du anders bist als wir“, setzte Galo fort. „Dein Körper weist dieselbe Ebenmäßigkeit auf wie derjenige der Göttin und die der steinernen Bilder. Wenn es überhaupt Götter gibt, dann bist du einer davon.“ Der Zwerg sprach ruhig und gelassen, als sei nichts Besonderes an seinen Worten. Doch Singhu wurde davon zutiefst erregt. Der intelligente Zwerg dachte seine eigenen Gedanken und war der einzige, der zumindest annähernd die Wahrheit erriet. Der Kleine musterte Singhu nachdenklich. „Was wolltest du von der Göttin? Du brauchst es mir nicht zu verraten, aber du kannst mir vertrauen“, erklärte er ruhig. „Ich weiß, was ich dir schuldig bin. Vielleicht kann ich dir helfen!“ Die ganze Zeit über hatte diese Frage unausgesprochen zwischen ihnen gestanden. Der Zwerg hatte Singhu fürsorglich gepflegt, aber nie ein Wort darüber verloren, weshalb Singhu überhaupt in die Höhle der Göttin hatte eindringen wollen. „Was muß ich tun, um ungestört mit der Göttin reden zu können?“ fragte Singhu „Das wird nicht einfach sein. Die Blasrohrmanner sind seit jener Nacht doppelt wachsam. Aber eine Möglichkeit gibt es!“ „Und die wäre?“ fragte Singhu gespannt. „Die Göttin wird ständig bewacht. Wenn sie die Höhlen verläßt, gehen die Wachen mit ihr, und die Höhlen bleiben unbeaufsichtigt. Wenn du dich also während ihrer Abwesenheit in die Höhle...“ „Wann wird das möglich sein?“ - 49-
„Die Göttin ist mittags sehr oft unten am Fluß und genießt die Sonne. In Begleitung der Blasrohrmänner natürlich!“ setzte Galo mit Nachdruck hinzu. „Und wie kann ich den Steinbruch unbemerkt verlassen?“ Der Kleine schüttelte vielsagend den Kopf „Ich kann dir nur sagen, wann die Gelegenheit günstig ist. Den Rest mußt du selbst besorgen!‘ * Es geschah wenige Tage darauf. Es war einer jener heißen Tage, da jeder froh war, nicht arbeiten zu müssen. Murdo hatte kurz zuvor Anweisung gegeben, den Gefangenen eine längere Mittagspause zu gönnen. Untätig lagen alle im Schatten der alten Hütte. Singhu blieb mit Galo und Salub, dem Aufseher, allein im Steinbruch zurück. Salub war ein gutmütiger, aber einfältiger Riese, dessen größte Stärke seine vier muskulösen Arme darstellten. Seine Schwäche jedoch lag darin, daß er zu wenig Verstand besaß, diese richtig zu gebrauchen. Galo plauderte häufig mit dem Aufseher, und es fiel daher nicht weiter auf, daß er Salub in ein Gespräch verwickelte. Doch nur Singhu wußte die unauffällige Handbewegung des Kleinen richtig zu deuten. Der entscheidende Zeitpunkt war gekommen. Der Eingang der schattenspendenden Hütte lag so, daß man den Steinbruch nicht beobachten konnte. Es war daher unwahrscheinlich, daß einer der rastenden Männer etwas bemerkte. Wie hatte Murdo gesagt? „Erst wenn der Schatten des Pokej-Baumes die Felsen erreicht...“ Singhu wußte, daß ihm das Zeit genug geben würde. Salub war durch Galos belangloses Geschwätz derart in Anspruch genommen, daß er kaum noch auf seine Umgebung achtete. Er bemerkte nicht, daß sich hinter seinem Rücken plötzlich ein faustgroßer Stein vom Boden hob. Der Gesteinsbrocken schwebte auf einmal wie ein bösartiges Insekt über Salubs Kopf, schien einen Moment zu zögern und stürzte dann auf den Riesen. Besinnungslos brach der Aufseher zusammen. Niemand hatte etwas bemerkt. Erleichtert stellte Singhu fest, daß der Riese nur eine harmlose Platzwunde davongetragen hatte. Die Kraft war richtig dosiert gewesen. Wenn Salub wieder das Bewußtsein erlangte, würde er kaum unter nachhaltigen Folgen leiden müssen. - 50-
„Das hast du gut gemacht! Ich bin froh, daß dem armen Kerl nicht mehr passiert ist - es hätte mir leid getan“, flüsterte Galo aufgeregt. „Aber jetzt beeil dich - sonst war alles vergeblich!“ Singhu brauchte nur den Steinbruch entlang zu laufen, um an sein Ziel zu gelangen. Niemand begegnete ihm. Als er die Höhle erreichte, stellte er sofort fest, daß niemand in der Nähe war. Singhu zögerte nicht lange. Als er die Höhle betrat, umfing ihn sofort der zarte Geruch der brennenden Öllämpchen. Es war angenehm kühl. Der schmale Felsspalt ließ nur wenig Tageslicht eindringen. Neugierig blickte er sich um. Überall lagen große, weiche Felle ausgebreitet. In einem tönernen Krug standen herrlich leuchtende, gelb blühende Blumen. Ihr Duft verlieh dem Raum eine eigene, fremdartige Atmosphäre. Singhu fühlte sich unbehaglich, wenn er daran dachte, was er der Göttin alles sagen wollte. Er wußte gar nicht, womit er beginnen sollte. Wie würde sie reagieren - würde sie ihn überhaupt anhören? Vielleicht rief sie sofort die Blasrohrmänner zu Hilfe? Plötzlich wurde er sich einer weiteren Gefahr bewußt. Was geschah, wenn Salub vorzeitig erwachte und Alarm schlug? Würde das nicht den ganzen Plan zunichte machen? Unruhig schritt Singhu in der Höhle auf und ab. Plötzlich stutzte er. In einer schmalen Felsnische bemerkte er ein kleines, buntes Etwas. Ein Buch! Mit einem Satz war Singhu bei der Nische. Wie kam das Ding hierher? Seine eigenen Bücher hatte er vor Beginn seiner Wanderung in einem sicheren Versteck zurückgelassen. Er hatte nicht damit gerechnet, hier etwas Gleichartiges zu entdecken. Interessiert betrachtete Singhu das Werk. „DAVID LANDSEY - VOM NOMADENTUM ZUR AGRARKULTUR“. Hielt er das Geheimnis der Göttin in der Hand? War hier die Ursache dafür zu suchen, daß das Rudel der Göttin sein Land so erfolgreich anbaute? Wie kam sie zu diesem... „Was suchst du hier?“ Überrascht fuhr Singhu zusammen. Stolz aufgerichtet stand die Göttin vor ihm und musterte ihn zornig. Ein kurzer, scharfer Dolch blitzte in ihrer Rechten. Nun erst bemerkte sie, daß er das Buch umfaßt hielt. „Lege das Buch sofort in die Nische!“ befahl sie. - 51-
„Wo hast du es her?“ „Das geht dich nichts an!“ Ihre Augen funkelten wütend. „Wenn ich die Wachen rufe, lebst du nur noch wenige Atemzüge lang.“ Singhu zögerte. „Gib es sofort her!“ sagte sie scharf, und ihre dunklen Augen waren voll wilder Entschlossenheit. „Woher hast du das Buch ,Vom Nomadentum zur Agrarkultur‘?“ Ungläubiges Staunen zeichnete sich auf ihren Gesichtszügen ab. Einen Moment lang war sie zu verblüfft, als daß sie hätte antworten können. Ihre Hand mit dem Dolch sank langsam herab. „Du kannst lesen?“ stieß die Göttin ungläubig hervor. Singhu nickte hoffnungsvoll. Er fühlte die Wandlung, die in ihr vorging. Dann faßte sich die Göttin wieder. „Lies mir ein Stück daraus vor!“ sagte sie bestimmt. Ein Unterton von Zweifel schwang in ihrer Stimme mit. Wahllos schlug Singhu eine Seite des Buches auf. „... und im wesentlichen vom Ertrag ihrer Viehherden lebten. Um diesen ganzjährig Futter zu bieten, mußten die Nomaden entweder das ganze Jahr umherziehen; von der Sommer- zur Herbst- Winter- und Frühjahrsweide, oder sie...“ Gebannt lauschte sie seinen Worten. „Es ist wahr“, sagte sie dann aufatmend. Ihr Mißtrauen war verschwunden. „Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, daß ich diesen Augenblick einmal erleben werde“, setzte sie dann leise hinzu. „Die Lehmhütten, die Felder, die Bewässerungsgräben - es ist alles aus dem Buch hier?“ fragte Singhu. Sie nickte. „Wer hat dir das Lesen beigebracht?“ fragte sie dann: „Der Alte! Ich meine, bei meinem Rudel war...“ Ein Schwall von Fragen unterbrach seine Erklärung. „Wie sah der Alte aus? Wie alt war er? Wo ist dein Rudel zu Hause?“ Verwundert suchte Singhu ihren überraschenden Wissensdurst zu befriedigen. Stück für Stück ließ sich die Göttin noch so kleine Details schildern. Er verstummte erst, als er bemerkte, daß sie in tiefes Nachdenken versunken war. „Wo ist er jetzt? Wie geht es ihm?“ fragte sie schließlich. „Er ist tot! Eine Krankheit hat...“ Es dauerte einige Augenblicke, ehe er begriff. Jetzt erst verstand er, was sie so erregt hatte. „Du kanntest den Alten?“ fragte er mitfühlend. - 52-
Sie nickte schweigend. Ihre dunklen Augen wurden feucht. „Er war der einzige, der immer für mich da war. Auch das Buch ist von ihm. Es ist mein einziges Andenken!“ Es war, als stünde die Vergangenheit vor ihren Augen wieder auf. „Das Buch des Alten war mein ganzes Vermögen. Jeden Kampf, jedes Abenteuer, jede Flucht erlebte es mit mir! Es war meine Stütze, die mir half, alles durchzustehen!“ Singhu verstand sie. „Ich war bei ihm, als er starb“, sagte er. „Der Alte hat ein würdiges Grab bekommen!“ Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Danke“, sagte sie leise. Sie fand nur schwer in die Gegenwart zurück. „Was willst du nun unternehmen?“ fragte sie dann zögernd. „Wir müssen versuchen, unsere Brüder zu finden“, sagte er bestimmt. „Wir?“ „Ja, wir! Der Alte hätte es nicht anders gewollt! Du erfüllst sämtliche Bedingungen genausogut wie ich!“ Mit kurzen Worten schilderte Singhu, was er in der Stadt der Eisenmänner erlebt hatte. „Aber ich habe während der ganzen Jahre niemand gesehen, der uns gleicht“, gab sie zu bedenken. „Hätten wir wirklich so viele Brüder, wie der Alte sagt, müßte man doch zumindest von ihnen hören!“ „Aber mein zweites Ich bestätigt immer wieder, daß der Alte die Wahrheit sprach!“ „Dein zweites Ich? Ist es nicht die Stimme einer toten Maschine?“ Er zögerte, als er erkannte, worauf sie hinauswollte. Auch in ihm waren während der letzten Tage Bedenken aufgestiegen. Es war gar nicht einmal notwendig, daß die Maschine log. Vielleicht sprach sie die Wahrheit - die Wahrheit eirier längst vergangenen Zeit! Durfte er seinem zweiten Ich überhaupt trauen? ,,Vielleicht ist die Nachricht überholt und es gibt heute längst keine Station I mehr! Vielleicht war die Botschaft für andere bestimmt, die vor unendlich vielen Sommern lebten?“ „Aber der Alte sprach doch ebenfalls davon“, erwiderte Singhu. „Wenn er die Brüder kannte...“ Singhu zeigte ihr die Planskizze, die er immer in seinem Lendenschurz mit sich führte. „Wir befinden uns etwa hier“, erklärte er. „Wenn die Karte stimmt - und bisher konnte ich noch keinen Fehler feststellen -, dann ist es
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nicht mehr sehr weit. Unser Ziel müßte ungefähr am Ende dieses Dschungels liegen!“ Interessiert betrachtete die Göttin die Zeichnung. „Flußabwärts könnten wir ein gutes Stück des Weges mit dem Boot zurücklegen. Nur bei den Wasserfällen müssen wir vorsichtig sein!“ sagte sie. „Du kennst den weiteren Weg?“ „Das nicht, aber die Wanderhändler haben mir oft von ihren Fahrten berichtet,“ „Ausgezeichnet!“ sagte Singhu optimistisch. „Was hält uns dann noch? Wir versuchen das Geheimnis der Station I zu ergründen: Gelingt es uns nicht, können wir immer noch überlegen...“ „Es wäre einen Versuch wert“, gab sie zu. „Aber wie kommen wir von hier weg? Du brauchst doch nicht zu glauben...“ Plötzlich erscholl das gleichmäßige Trommeln der Tam-tams. Das rhythmische Dröhnen hatte etwas Unheimliches an sich. „Das Alarmsignal‘“ stellte die Göttin fest. „Man wird meine Flucht entdeckt haben“, sagte Singhu lächelnd. „Göttin, der neue Gefangene ist...“ Murdo kam atemlos in die Höhle gestürmt Als er Singhu erblickte, brüllte er wütend auf. Angriffslustig schwang er seine gefährlich aussehende Keule. Sein kurzer Aufschrei hatte genügt, die Wächter zu alarmieren. Die heimtückischen Blasrohre in den Händen, besetzten die verwegenen Gestalten den Höhlenausgang. „Halt! Der Gefangene steht unter meinem persönlichen Schutz. Außerdem habe ich ihm soeben die Freiheit geschenkt!“ Erstaunt musterte Murdo die Göttin. „Legt die Blasrohre weg!“ befahl sie nun den Wachen. „Aber er hat Salub niedergeschlagen“, protestierte Murdo erregt. Hinter den Blasrohrmännern bewegte sich etwas, und die muskulöse Gestalt des Gefangenenaufsehers wurde sichtbar. Salub mußte Murdos Worte noch gehört haben. Er musterte Singhu verblüfft. In seinem Blick lag etwas Ungläubiges, als könne er nicht begreifen, wie sein Gefangener so unerwartet in das Heiligtum der Göttin kam. Die mächtige Beule auf Salubs Schädel war nicht zu übersehen. „Ich weiß es nicht, Murdo“, sagte er zögernd „Ich bin nicht sicher, ob Singhu es war.“ „Aber du hast doch eben selbst gesagt, daß du plötzlich...“
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„Hm, ja“, sagte der Aufseher und betastete nachdenklich seine Beule. „Aber ich habe nicht gesehen, daß Singhu etwas unternahm. Auch Galo sagte... „Es ist ja auch gleichgültig, wie er es getan hat!“ unterbrach ihn Murdo zornig. „Er wollte jedenfalls flüchten!“ „Er braucht nicht zu fliehen“, sagte die Göttin fest. „Er ist frei!“ „Habt ihr nicht gehört, was die Göttin euch befahl?“ herrschte Singhu die Wachen an. „Legt die Blasrohre weg!“ Unentschlossen sahen die wilden Gestalten abwechselnd auf die Göttin, Singhu und Murdo. Sie waren sichtlich verwirrt. „Das darf nicht sein!“ begehrte Murdo auf. „Zuerst muß er seine zwei Jahre abarbeiten!“ Singhu fühlte, daß es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. Jedes weitere Zögern würde die Autorität gefährden. Ein kurzer Impuls genügte! Die Wächter rechneten nicht damit, daß ihre Waffen plötzlich ein Eigenleben entwickeln würden. Als eine unwiderstehliche Gewalt ihnen die Bla srohre aus den Händen riß, schrien sie erschrocken auf. Unaufhaltsam schwebten die Waffen zur Decke der Höhle. „Das kommt davon, wenn man die Befehle der Göttin mißachtet!“ sagte Singhu nachdrücklich. Mit blassen Gesichtern verfolgten Murdo und Salub den unerklärlichen Vorgang. Einer der Wächter fiel bestürzt auf die Knie, und die übrigen beeilten sich, es ihm gleichzutun. Der Göttin gelang es noch am besten, ihre Verblüffung zu verbergen. Sie erholte sich bald von der Überraschung. „Ihr braucht keine Angst zu haben; es wird euch nichts geschehen“, sagte sie hoheitsvoll. Singhu konnte es sich nicht verkneifen, die - zumindest für ihn erheiternde - Situation voll auszukosten. „Seht ihr nun, daß Salub der einzige von euch war, der die wahren Zusammenhänge erkannte?“ Der ungläubige Ausdruck in den Augen des gutmütigen Gefangenenaufsehers wich einem breiten Lächeln. Salub hatte zwar keine Ahnung, wie es dazu kam, genoß aber das seltene Lob sichtlich. „Wie Salub richtig erkannte, habe nicht ich ihn niedergeschlagen. Nein dieselbe göttliche Kraft, die euch die Waffen entriß, hat das vollbracht! Es war für Salub eine Ehre, sich dieser Kraft zu beugen.“ Salubs Gesicht drückte ehrliches Staunen aus. Verlegen und behutsam betastete der Riese seinen Schädel. „Meinst du wirklich, Singhu?“ Etwas wie Zweifel schwang in seiner Stimme. - 55-
„Sicherlich, Salub“, sagte Singhu bestimmt. „Diese göttliche Kraft wäre zweifellos stark genug gewesen, dich zu zerschmettern. Du mußt ein besonderer Günstling der Götter sein, daß sie dir keinen ernsten Schaden zufügten!“ Das leuchtete dem Riesen ein. Ein befriedigtes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Zieht euch nun zurück!“ befahl die Göttin streng. „Du willst uns verlassen, Göttin?“ fragte Murdo finster. „Ich werde wahrscheinlich auf einige Zeit von hier fort müssen“, sagte sie fest. „Aber wir haben all deine Wünsche doch immer erfüllt“, wandte der Dreiköpfige betrübt ein. „Weshalb willst du fort von uns?“ „Ich habe nicht gesagt, daß ich für immer von hier gehe“, sagte sie weich. „Vielleicht komme ich eines Tages wieder zurück.“ „Ihr habt von eurer Göttin schon vieles gelernt“, warf nun Singhu ein. „Bist du nicht selber kräftig genug, um das Rudel zu führen? Wer tüchtig ist, hat die Götter auf seiner Seite! Es liegt nun an euch, zu beweisen, daß die Göttin keinen Unwürdigen half!“ „Vielleicht hast du recht, Fremder“, murmelte Murdo bedrückt. „Aber wird eine schwere Zeit werden.“ * Die lehmigen Fluten wälzten sich träge dahin. Der Strom war breit, und es gab keine Stelle, an der das Wasser stärker wirbelte. Aus den dichten Wäldern und dem sumpfigen Unterholz am Rande des Flusses drangen die verschiedenen Laute der Dschungelbewohner. In einiger Entfernung tauchte der häßliche Kopf einer Panzerechse aus dem Wasser. Sie schien sich jedoch um das kleine Boot nicht zu kümmern. „Wenn sie nicht gereizt werden oder in Scharen auftreten, greifen die Echsen keine Boote an“, sagte Tiny. „Wir müssen uns nur vor einem großen Rudel in acht nehmen.“ Für Singhu war es ein erregendes Abenteuer. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, den Fluß für seine Reise auszunutzen. Anfangs konnte er gar nicht glauben, daß das dünne Rindenboot stark genug sein könnte. Doch bald schwanden seine Bedenken. Die sanfte Strömung trieb sie ruhig ihrem Ziel entgegen. Wenige Ruderschläge genügten, um das Boot auf geradem Kurs zu halten. - 56-
Geschickt hielt Singhu das Fahrzeug in der Mitte des Stromes. Wenn Tiny recht behielt, würden sie die Wasserfälle morgen erreichen. Bis dahin war es in der Flußmitte am sichersten. Sie waren nun den zweiten Tag unterwegs. Die vergangene Nacht hatten sie an einer geschützten Stelle in der Nähe des Flußufers verbracht. Etwas Blattwerk, mit dem sie den Boden des kleinen Bootes notdürftig ausgepolstert hatten, diente ihnen als Nachtlager. Die Zeit verstrich wie im Fluge. Obwohl ihr Dasein jetzt nicht weniger bedroht war als zuvor, empfanden sie ein nie gekanntes Gefühl der Geborgenheit. Sie waren es beide gewohnt gewesen, ihre Sorgen und Probleme allein zu lösen. Ohne, daß sie es jemals richtig merkten, hatten sie ihr Leben in der Isolation der Wissenden verbracht. Der Gedanke, nun einen ebenbürtigen Partner zu haben, hatte etwas Faszinierendes für sie. „Willst du wirklich später einmal zurück zu deinem Rudel?“ fragte Singhu. Tiny nickte. „Ich glaube schon. Wir werden sehen, was vor uns liegt!“ Sie deutete vage flußabwärts. „Alles hängt davon ab, ob der Alte recht halte. Aber selbst dann - möchtest du nie wieder zurück?“ Auch Singhu hatte sich insgeheim schon diese Frage gestellt. Bisher hatte sein ganzes Streben dem Ziel gegolten, seine Brüder zu finden. Aber war es überhaupt richtig, alles, was ihm bisher so viel bedeutet hatte, einfach im Stich zu lassen? Einauge, Jambie, Lorrh, Galo - war es nicht ein Fehler, seine Gefährten für immer zu verlassen? Sicher - sie alle waren nicht von seiner Art. Nicht so wie etwa der Alte oder Tiny. Aber fühlte er sich nicht trotzdem auch mit den anderen verbunden. Singhu wußte, daß es wichtig war, das Land seiner Brüder zu suchen. Er spürte aber instinktiv, daß dies nicht das Endziel sein konnte. Weshalb sollte es nicht möglich sein, mit seinen Brüdern und den alten... „Singhu, schau, da vorne!“ rief Tiny aufgeregt. Inmitten des Flusses, genau vor ihnen, wurde eine Unzahl dunkler Rücken sichtbar. Es mußte eine riesige Herde von Panzerechsen sein. Noch trieben die Tiere scheinbar teilnahmslos dahin, doch das Bild konnte sich blitzartig ändern. So schnell er konnte, steuerte Singhu das Boot auf das Ufer zu. Einmal an Land, waren sie den im Wasser so wendigen Tieren an Geschwindigkeit überlegen. Es war gerade noch rechtzeitig. Einige der Bestien schossen bereits auf sie zu als sie das rettende Ufer erreichten. - 57-
„Das war knapp“, sagte Tiny, nachdem sie das schmale Kanu an Land gezogen hatten. „Ich fürchte, wir werden ein Stück zu Fuß laufen müssen, ehe wir unser Boot wieder ungefährdet in den Fluß setzen können!“ „Das Boot ist ohnehin nicht schwer“, sagte Singhu. „Es läßt sich leicht tragen. Wir müssen nur vorsichtig sein und nirgends damit anstoßen. Die dünne Rinde würde sonst sofort brechen!“ Bald hatten sie das dichte Ufergestrüpp hinter sich. Der sumpfige Boden wurde zusehends trockener. Anfangs half Tiny beim Transport des Bootes mit. Singhu merkte jedoch bald, daß sie rascher vorankamen, wenn er das Boot allein trug. Einer hinter dem anderen, gingen sie schweigend vorwärts. Den Fluß aus den Augen zu verlieren und sich zu verirren, war kaum möglich. Zur Flußseite hin wurde das Buschwerk deutlich üppiger und leuchtete in einem saftigen Grün. Auch die mannshohen Farne wiesen deutlich den Weg. Aus den Baumkronen drang das Zwitschern der Vögel. Einige langschwänzige Mankies turnten hoch oben im Geäst. Durch die Schritte der Menschen aufgescheucht huschten ein paar Beutelratten durch das Unterholz, und irgendwo in der Ferne ertönte der Schrei eines Hornbullen. Freudig genoß Singhu die ungebundene Freiheit der Wildnis. Schließlich erreichten sie eine kleine Lichtung. Eine armdicke Riesenschlange lag träge auf einem sonnigen Platz. Ihre kleinen, grünlichen Augen verfolgten schläfrig die Vorübergehenden. Singhu beachtete sie nicht weiter. Die Würgerin war satt und faul. Ihr herrlich gezeichneter Körper blähte sich an einer Stelle fast zu einer Kugel. Es konnte noch nicht lange her sein, daß sie ihre Mahlzeit verschlungen hatte. Die langgestreckte Lichtung war frei von den gefährlichen, duftenden Mordblumen, und die beiden kamen rasch voran. Plötzlich klatschte eine reife Pokej-Frucht neben ihnen ins Gras. Lächelnd mußte Singhu an Galos Vorliebe für die süßen Kerne denken. Hier hätte der Kleine seine Vorräte leicht ergänzen können. Im Dschungeldikkicht verstreut standen immer wieder einige der hochstämmigen Bäume mit den kopfgroßen Früchten. Singhu erkannte die Gefahr erst, als zwei weitere Früchte knapp neben ihm ins Gras plumpsten. Auch Tiny sprang erschrocken zur Seite, als sie von einer herabsausenden Pokej gestreift wurde. Singhu setzte das Rindenboot vorsichtig zu Boden und sah sich suchend nach dem unbekannten
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Gegner um. Es war niemand zu sehen. Nur ein leises Rascheln im Dickicht zeigte an, daß sie nicht allein waren. „Was ist das?“ fragte Tiny besorgt. Ängstlich beobachtete sie den undurchdringlich erscheinenden Blätterwald. „Keine Ahnung“, gestand Singhu. „Wir müssen jedenfalls vorsic htig sein. Die Pokejs sind zu schwer, als daß ich eine auf den Schädel bekommen möchte. Außerdem müssen wir auf das Boot...“ Wieder schössen einige Früchte mit großem Schwung auf sie zu. Doch diesmal war Singhu auf der Hut. Ohne besondere Mühe änderte er die Flugbahn der sonderbaren Geschosse, so daß die Pokejs wirkungslos zu Boden fielen. Doch wie von unsichtbaren Händen geschleudert, nagelten weitere Früchte aus den Baumkronen auf sie herab. Tiny mußte untätig zusehen, wie Singhu voll damit beschäftigt war, die heranfliegenden Pokejs durch Kraftimpulse abzulenken. „Das gibt es doch nicht!“ meinte sie unruhig. „Die Dinger können sich doch nicht auf einmal selbständig machen!“ „Das habe ich bisher auch gedacht“, murmelte Singhu verbissen. Dann erblickten sie den Mankie. Das nur entfernt menschenähnliche Geschöpf hielt mit seinem langen Greifenschwanz einen Ast umklammert und pendelte, mit dem Kopf nach unten, langsam hin und her. Jetzt erst bemerkte Singhu die unzähligen Augen, die sie aus dem Dschungel zu beobachten schienen. Es mußte eine größere Herde sein. Die Mankies waren im allgemeinen durchaus friedlich. Manchmal allerdings wurden sie von einem bis zur Bösartigkeit ausartenden Spieltrieb befallen. Auch Tiny hatte die Mankies nun entdeckt. „Es sieht aus, als würde der schaukelnde Kerl darüber nachdenken, womit er uns ärgern könnte“, flüsterte sie. „Einzeln sind sie harmlos“, erklärte Singhu. „Einer großen Herde wichen aber sogar die Doppelkopftiger zumeist aus.“ Er hob eine der am Boden liegenden Früchte auf und wog sie abschätzend in der Hand. „Ein beachtliches Geschoß!“ sagte er schließlic h. Ohne viel zu überlegen, warf er die schwere Frucht in das grüne Mauerwerk des Dschungels. Als er seinen Fehler erkannte, war es zu spät. Ein wütendes Kreischen war die Reaktion auf seinen Wurf. Dann brach die Hölle los. In regelrechten Schwärmen nagelten die schweren Früchte auf sie herab. Ein Geschoß, das Singhu nicht mehr rechtzeitig abwehren konnte, durchschlug krachend - 59-
den Boden des Rindenkanus. Unaufhörlich regneten Pokejs von allen Seiten auf sie nieder. Singhu bemühte sich zwar, die Geschosse umzulenken und auf die nahezu unsichtbaren Angreifer zurückzuschleudern, aber er war nahe daran, den Überblick zu verlieren. Die Pokejs, die für ihn bestimmt waren, konnte er noch am leichtesten abwehren. Seine Kraft arbeitete in einer Art Reflexbewegung. Doch er mußte auch auf Tiny achten - ohne seine Hilfe wäre sie bald unter den schweren Geschossen begraben worden. Wieder durchschlug eine der Früchte die Bootswand. Zorn stieg in Singhu hoch. Es war den Mankies gelungen, ihr Fahrzeug zu zerstören. Wütend ließ er die Geschosse wieder in das Buschwerk zurückschießen. Doch es gelang Singhu aber kaum, die Tiere zu treffen. Die Lichtung rings um die beiden Wanderer war bereits dicht mit Pokejs übersät. Mit bedrohlicher Schärfe krachten immer wieder neue Früchte in ihrer Nähe zu Boden. Singhu konnte direkt beobachten, wie sich die Pokejs von ihrem Stengel lösen und auf sie... Das konnte doch nicht sein! Ehe er sich noch der Tragweite seiner Entdeckung bewußt wurde traf ihn ein harter Stoß. Er spürte, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Nur seiner Wendigkeit verdankte er es, daß er sich bei dem Sturz nicht alle Knochen brach. „Singhu‘“ Tiny schrie erschrocken auf. Dann verlor auch sie das Gleichgewicht. Die Mankies änderten nun ihre Angriffstaktik. Entsetzt erkannte Singhu, mit welch gefährlichen Gegnern sie es hier zu tun hatten. Ein weiterer Stoß traf ihn und warf ihn zur Seite. Er fühlte, daß etwas an ihm zerrte. Singhu hätte nie gedacht, daß auch jemand anders sie besaß. Um so mehr schockierte ihn nun die Gewißheit. Die Mankies verfügten über die Kraft! Es waren nicht einmal intelligente Wesen - doch sie besaßen die gleiche, seltsame Macht, die Singhu so oft zu seinem Vorteil nutzte. Das Zerren an seinem Körper wurde stärker Die unsichtbaren Kräfte schienen ihn vom Boden lösen zu wollen. Eine herabfliegende Pokej, die er in der Hitze des Gefechts übersehen hatte, traf schmerzhaft sein Knie. Einige der schweren Früchte, die harmlos im Gras zu liegen schienen, entwickelten plötzlich ein unheimliches Eigenleben. Im letzten Augenblick gelang es Singhu, die heranschwirrenden Brocken abzulenken. Dabei hatte er Mühe, dem ständigen Ziehen und Stoßen nicht zu unterliegen. „Bleibe liegen und versuche, dich festzuhalten!“ rief er Tiny zu, die mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfte. Zornig mußte sich Singhu eingestehen, - 60-
daß die Mankies sie wahrscheinlich schon längst besiegt hätten, wären sie imstande gewesen, ihre Kraft zu koordinieren. Eines der Tiere, das auf dem Wipfel eines Pokejbaumes saß, wurde von Singhu mit einem kräftigen Stoß aus dem Gleichgewicht gebracht. Verblüfft aufkreischend stürzte es zu Boden. Dann entdeckte Singhu ein ganzes Rudel der kleinen, boshaften Ungeheuer, das von dem weit ausladenden Ast eines mächtigen Baumes seine Kräfte spielen lie ß. Als der starke Ast nun plötzlich in der Nähe des Stammes barst, stürzten die Tiere polternd in das dichte Unterholz. Augenblicklich fühlte Singhu, daß das Zerren nachließ. Sein Angriff hatte die Mankies offenbar verwirrt. Die Überraschung hielt jedoch nicht lange an. Sekunden später mußte Singhu seine ganze Kraft aufbieten, um unter den energischen Impulsen der Gegner nicht seinen Halt zu verlieren. Plötzlich heulten die Mankies triumphierend auf. Es war ihnen gelungen, Tiny von einer Wurzel, an der sie sich bisher festgeklammert hatte, loszureißen. Hilflos schwebte sie auf die nahen Baumkronen zu. Wenn die Mankies sie plötzlich losließen, würde sie kopfüber zu Boden stürzen. Doch ganz im Gegenteil! Tinys Flug wurde immer schneller. Ihre verzweifelten Schreie spornten die Mankies nur noch mehr an. Mühsam versuchte Singhu die Kraft der Mankies zu neutralisieren. Einen Moment lang schien es, als würde er als Sieger aus dieser Kraftprobe hervorgehen. Doch dann wurde ihm schmerzhaft bewußt, daß die fremden Kräfte seinen Widerstand brachen. Er fühlte den Druck in seinem Schädel, den stechenden Schmerz, der seine Schläfen zu durchbohren schien, und er wußte, daß er verloren hatte. Sein überanstrengtes Gehirn registrierte Tinys Hilferufe nur noch im Unterbewußtsein. Er sah hoch, wie ihr Körper in das Grün des Blattwerks einschlug - dann ließ die tödliche Unendlichkeit des Dschungels sie seinen Augen entschwinden. * ES hatte lange geschlafen. Nicht etwa so wie ein Wesen animalischer Natur. Aber die meisten seiner Funktionssektoren hatten durch lange Jähre hindurch nicht aktiviert werden müssen. Still und ruhig hatte ES gewartet - jederzeit bereit, seine vorherbestimmten Aufgaben zu erfüllen. Nur ein kleiner Sektor seines vielgestaltigen Ichs wachte über den ganzen endlosen Zeitraum. Das riesige Energie- 61-
aggregat, die Unzahl der winzigen elektronischen Meßsonden, die komplizierten, aber lebenswichtigen Teile der Kühlanlage und der vollautomatische Abwehrsektor. Doch was ES auch tat - ES besaß nur einen Daseinsgrund! Das Leben des Herrn zu schützen! ES war geschaffen worden, um die Jahrhunderte des Grauens zu überbrücken. Die elektronischen Schaltungen seines Gehirns kannten keinen eigentlichen Zeitsinn. Doch alles war darauf abgestimmt, ständig zu prüfen, ob der Tag der Auferstehung gekommen sei. In regelmäßigen Abständen schossen die Meßsonden aus ihren strahlensicheren, bleigepanzerten Kammern, um ihre Kontrollflüge durchzuführen. Kleine, ferngesteuerte Robots verließen von Zeit zu Zeit den Bunker, besorgten Bodenproben und erledigten verschiedene Erkundungsgänge. ES wußte, daß der Augenblick bald kommen mußte. Die Meßergebnisse waren eindeutig. Jahrhunderte hindurch hatte ES pflichtgetreu, mit der unerschütterlichen Unfehlbarkeit einer wohlprogrammierten Positronik, für seinen Herrn gesorgt. Und doch... Irgendwann und irgendwo mußte sich in die Abwehrautomatik ein Fehler eingeschlichen haben. Wie wäre es den kleinen, bleichen Soldaten sonst gelungen, in ES einzudringen? Immer wieder war es während der vielen Jahre vorgekommen, daß sich irgendwelche tierische - zumeist intelligenzlose - Wesen, seinem Aufenthalt näherten. Doch die Programmierung ließ keinen Zweifel zu. Die Kreaturen mußten vertrieben, nötigenfalls vernichtet werden. Jegliches Leben konnte eine Gefahr für das Dasein des Gebieters darstellen. Unerbittlich führte ES einen Präventivkrieg gegen alles, was sich den geheiligten Bereichen näherte. Und ES besaß Mittel genug, um auch gegen mächtige Feinde seinen Willen durchzusetzen. Aber wo lag der Fehler? Wie war es dem Heer der bleichen Soldaten gelungen, nahezu unbemerkt sogar das Zentrum zu erobern? Weshalb hatten die empfindlichen Meßorgane die Gehirnschwingungen des nahenden Gegners nie angezeigt? Wie war es möglich, daß der unheimliche Feind erst entdeckt wurde, als er sein Zerstörungswerk schon begonnen hatte? Die Antwort war in seinem Datenspeicher nicht enthalten. ES konnte nicht verstehen, daß seine eigenen Werkzeuge mit den Bodenproben den Keim des Unheils in sein Reich geschleppt hatten. Aber ES ahnte, daß es einen unbarmherzigen Gegner bekommen hatte. Einen Feind, der an seinem Innersten nagte und fraß - von dem ES nicht wußte, wie er aufzuhalten wäre. Die - 62-
Waffen, über die „ES“ verfügte, waren nach außen gerichtet. Nie hatte ES damit gerechnet, einen Gegner wie diesen bekämpfen zu müssen. Beunruhigt vermerkte ES die Auflösung einiger unwichtigerer Teile, registrierte das plötzliche Erlöschen einiger nebensächlicher Stromkreise. Gleichzeitig stellten die feinnervigen Instrumente die unzähligen, fast gleichgerichteten Gehirnschwingungen des aus dem Nichts kommenden Feindes fest. Es war ein unheimliches, nahezu lautloses Heer, das sich ständig vergrößerte. ES spürte, wie sich das Grauen in seinen Zellen einnistete und unaufhörlich an den dicken Isolierungen seiner lebenswichtigen Kabelstränge nagte. Schließlich kam der Tag, an dem die Hauptverbindung zu der Kammer des Gebieters ausfiel. ES wußte, daß sein Herr in Gefahr war, doch ES fand keinen Weg, das Chaos zu verhindern. Soweit es sein von Natur aus gefühlsarmes Wesen zuließ, stieg Panik in ihm auf. ES besaß keine Möglic hkeit mehr, die lebenserhaltenden Instrumente der Zentralkammer zu kontrollieren. Doch die Anzeigegeräte registrierten, daß nach wie vor große Mengen elektrischer Energie von den Kühlmaschinen der Zentralkammer verbraucht wurden. Eines Tages jedoch fiel auch das Hauptstromkabel dem unsichtbaren Feind zum Opfer. Die letzte Verbindung war unterbrochen. ES wußte nicht mit Sicherheit, was sich in der Zentralkammer abspielte, doch die angestellte Wahrscheinlichkeitsberechnung ließ das Schlimmste befürchten. Die Logiksektoren seines Gehirns hatten in einer umfassenden Hochrechnung einen Wahrscheinlichkeitsfaktor von 99,99978 Prozent für den Tod des Gebieters errechnet. Jedes natürlic he Wesen an seiner Stelle wäre nun verzweifelt gewesen. Verzweiflung war seiner Programmierung fremd. Aber ES wußte, daß mit dem Tod seines Herrn auch seine Existenz sinnlos wurde. Der Weg war auch für diesen Fall vorherbestimmt worden. ES würde ihn konsequent zu Ende gehen. Doch bevor ES eine endgültige Entscheidung traf, mußte ES versuchen, Hilfe zu holen. Hilfe - oder sich zumindest Gewißheit verschaffen! Aber ES hatte nicht mehr viel Zeit. ES spürte, daß der Vormarsch der ble ichen Soldaten kaum mehr aufzuhalten war. ES mußte sich beeilen, sonst würde der grausame Feind ihm die Entscheidung abnehmen. Das war der Moment, als die Orter anschlugen. Die Gehirnschwingungen der herannahenden Wesen verrieten, daß eines von ihnen mit weit überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet war. Au- 63-
tomatisch aktivierten sich die von dem unheimlichen Gegner bisher verschont gebliebenen Abwehranlagen. Dann begann das Reserveprogramm RXJ 3204 anzulaufen! * Es war ein wilder, alptraumartiger Flug. Immer wieder schlugen dornige Ranken in ihr Gesicht, wurde ihr nahezu ungeschützter Körper von den Zweigen der Bäume getroffen. Anfangs schrie Tiny. Doch sie erkannte bald, daß dies ihr nichts half. In vollem Tempo jagten die Mankies von Ast zu Ast und kletterten behende durch die Baumkronen. Durch die unsichtbaren Kräfte der Mankies getragen, mußte Tiny die atemberaubende Jagd durch den Dschungel mitmachen. Manchmal merkte sie, daß die Kräfte uneinheitlich an ihr zerrten. Doch zumeißt einigten sich die Mankies bald. Unaufhaltsam stürmte die wilde Horde vorwärts. Tiny biß die Zähne zusammen und versuchte, die auf sie zuschnellenden Zweige von ihrem Gesicht abzuhalten. Von Zeit zu Zeit gab sie Singhu durch laute Schreie die Richtung an, in der die Mankies mit ihr flohen. Einmal glaubte sie, eine Antwort auf ihre Rufe zu hören. Aber wahrscheinlich war es nur der Aufschrei irgendeines Urwaldtiers. Tiny hatte längst die Orientierung verloren. Sie ahnte, daß es nicht einfach sein würde, den Rückweg zu finden. Ihren Dolch hatte sie irgendwo verloren. Sie war waffenlos. Plötzlich war die Bewegung abrupt zu Ende. Die Mankies saßen diskutierend auf den Ästen - unentschlossen, wohin sie sich nun wenden sollten. Ungebunden und doch hilflos schwebte Tiny zwischen zwei riesigen Bäumen. Es war, als hätten die Mankies ein lästiges Paket deponiert, um sich ungestört einem Gespräch widmen zu können. Schließlich sah sie die Hütten, die sich auf der kleinen Lichtung befanden. Ein freudiger Schreck durchzuckte sie. Wenn es hier Hütten gab, so... Doch dann erkannte sie, daß sie keine Hilfe erwarten durfte. Die Ansie dlung mußte schon seit Jahren unbewohnt sein. Die Dächer der meisten Hütten waren eingestürzt, ein Großteil der Wände geborsten. Die hölzernen Pfosten, die einst als feste Stütze gedient hatten, waren bis auf kle ine Reste von Termiten zerstört worden. Einige kunstvoll errichtete Hügel, die sich inmitten der ehemaligen Ansiedlung befanden, zeugten von der Anwesen-
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heit der gefräßigen Tiere. Niedriges Buschwerk wucherte über die ehemals sicher gepflegten Wege des alten Dorfes. Dann bemerkte Tiny das weiße Etwas. Es stand ein bißchen abseits, am anderen Ende der Lichtung. Es war, als hätte der Dschungel Hemmungen gehabt, es in seinen allumfassenden grünen Mantel zu hüllen. Neugierig betrachtete Tiny das halbkugelförmige Ding, das so gar nicht hierher zu passen schien. Als das unangenehme Ziehen an ihrem Körper ihr anzeigte, daß die Mankies den Weg fortsetzen wollten, klammerte sie sich unwillkürlich an einer nahen Luftwurzel fest. „Du bist ein intelligentes Wesen - du mußt mir helfen!“ Es kam für Tiny so unerwartet, da sie vor Schreck beinahe ihren Halt verlor. Sie vernahm jedes einzelne Wort und hatte doch das Gefühl, daß da nichts mit ihrem Gehör zu tun hatte Wie damals, wenn der Alte... „Du mußt mir helfen! Verstehst du mich?“ „Ja“, antwortete Tiny unwillkürlich laut. Sie wußte, daß sie nicht gehör werden konnte, aber... Woher kam die geheimnisvolle Stimme? Ein heftiger Stoß wirbelte ihren Körper herum. Verzweifelt kla mmerte sie sich an die Luftwurzel. Als die Mankie merkten, daß ihre Gefangene sich gegen ihre Kraft wehrte, schnatterten sie erbost. „Du mußt mir helfen! Komme bitte mir!“ Der Fremde hatte leicht reden! Das Zerren der Mankies ließ Tiny laut aufstöhnen „Wie könnte ich je mand helfen wenn ich selbst um mein Leben zittern muß?“ rief sie verzweifelt. „Du fürchtest jene unbedeutender, Wesen, die dich umgeben?“ Ergrimmt knirschte Tiny mit den Zähnen. Sie merkte, wie ihre Hände kraftlos wurden. Die Luftwurzel entglitt ihr, und unter dem triumphierenden Geheul der Mankies schwebte ihr Körper davon. Dann geschah das Unerklärliche! Plötzlich war alles von blendender Helle umgeben. Die leuchtenden Farben des Dschungels wurden von einem geisterhaften Licht verschluckt. Tiny merkte auf einmal, daß die Kraft ihren Körper freiließ. Dann flog die Welt an ihr vorüber. Äste schlugen ihr ins Gesicht, saftige, schmarotzende Schlingpflanzen drängten sich an ihr vorbei - irgendwo blitzte der Himmel auf. Einige scharfkantige Blattrispen schnitten schmerzhaft in ihr Fleisch. Doch sie hatte Glück! Sie landete in einem dichten Buschwerk, das ihren Aufprall milderte. Verblüfft stellte Tiny fest, daß sie sich wieder auf dem Erdboden befand. - 65-
Einige der Mankies lagen leblos am Boden, andere wiederum suchten humpelnd und kriechend das Weite. Nur wenige Tiere hatten einen schweren Sturz vermeiden können. Doch alle wirkten steif und unbeweglich. Es herrschte Stille - fast so, als wäre der Dschungel in schweigendem Entsetzen erstarrt. Vorsichtig richtete Tiny sich auf. Ihr kleiner Lendenschurz baumelte irgend wo über ihr in den Zweigen. Sie war nackt. Das war zwar bedeutungslos, aber sie besaß keine Waffe! Wenn jetzt... „Komme nun zu mir! Bitte - es ist dringend!“ Die Stimme! Wahrscheinlich hatte sie der „Stimme“ ihre Freiheit zu verdanken. Sie fühlte, daß man etwas Wichtiges von ihr wollte. Trotzdem empfand sie Angst vor dem Fremden. „Wo bist du?“ fragte sie sie zögernd. Doch bevor noch die Antwort kam, wußte sie, daß ihr Ziel nur jenes seltsame, weiße Ding sein konnte. Zögernd machte sie sich auf den Weg. Mutig durchschritt sie die verlassene Ansiedlung. Es mußte schon lange her sein, seit jemand hier gelebt hatte. Die Reste der primitiven Hütten waren derart baufällig, daß sie unter dem nächsten größeren Regenguß zusammenbrechen würden. Innerlich zitternd bahnte sie sich einen Weg durch das überall wild wuchernde Gestrüpp. „Beeile dich, die Zeit drängt!“ „Ich komme schon“, sagte Tiny leise. Sie ahnte, daß das Ding sie hören konnte. Das weiße Etwas befand sich unmittelbar hinter der Ansiedlung. Es war, als hätte jemand mit dem Messer einen Kreis in den Sand gezeichnet, der das weiße Ding umgab. Innerhalb dieses Kreises fehlte jegliche Vegetation. Eine unsichtbare Macht schien alles Leben aus dem Umkreis des weißen Etwas zu verdrängen. „Komm näher. Fürchte dich nicht. Ich brauche deine Hilfe!“ Die Stimme klang nun so nahe, daß Tiny das Gefühl hatte, von Angesicht zu Angesicht mit dem Unbekannten zu sprechen. Immer noch zögerte sie. Was wollte das unheimliche Ding von ihr? Ein leises Geräusch ertönte. Plötzlich öffnete sich ein Spalt in der strahlend hellen Wand der Halbkugel. Gerade breit genug, um Tiny einzulassen. Schließlich entschloß sie sich, dem Ruf zu folgen. Wenn das Ding so mächtig war, die Mankies zu vernichten, so hätten es auch sie längst töten können. Vielleicht wußte es einen Weg, wieder zu Singhu zu finden, oder es konnte etwas über ihre Brüder berichten. - 66-
Im Innern der Halbkugel herrschte ein fremdartiges, gleichmäßiges Licht, das von den Wänden auszugehen schien. Kaum hatte Tiny das Ding betreten, als sich der Spalt, durch den sie hineingeschlüpft war, wieder schloß. Sie befand sich in einem kleinen, schmucklosen Raum. Dann entdeckte sie die Tafel. Sie war aus einem rötlichen, unregelmäßig gemusterten Stein gehauen. Gebannt starrte sie auf die Worte, die in die mattglänzende Oberfläche des Steines gemeißelt waren. „ICH BESASS ALLEN REICHTUM DIESER WELT - DAS WISSEN MEINER ZEIT WAR MIR UNTERTAN! ICH HABE BEIDES GENUTZT, UM DEN TOD ZU BESIEGEN! WENN DER HASS DER WELTEN SICH ENTLADEN HAT, DIE LUFT WIEDER KLAR UND REIN, DIE ERDE WIEDER SAUBER IST - WENN DU, FREMDER, DIESE WORTE LIEST, DANN IST DER TAG DER AUFERSTEHUNG GEKOMMEN!“ Wer war der Unbekannte, der Zeit und Tod überwinden wollte? Was meinte er mit der klaren Luft und der sauberen Erde? Hatte nicht auch der Alte einmal ähnliche Worte gebraucht, als er von der „verseuchten“ Welt sprach? Waren es die Schatten der Vergangenheit, die sich gleich einem eisigen Hauch um ihren Körper schmiegten? Tiny fror. „Komm weiter, Fremdling!“ In einer der Wände öffnete sich ein schmaler Durchlaß. „Wo bist du?“ fragte sie scheu. „Ich bin hier und überall um dich“, antwortete die Stimme. „Du mußt mir helfen...“ Es klang plötzlich so, als müßte das Ding sich anstrengen, um mit ihr sprechen zu können. „Was soll ich tun?“ fragte Tiny beunruhigt. Sie empfand ein undeutliches Gefühl von drohender Gefahr. Es dauerte einige Atemzüge, ehe das Ding sich wieder meldete. „Ich brauche Gewißheit über das Schicksal meines Herrn! Wahrscheinlich ist es schon zu spät... „Wieder war jenes sonderbare Zögern, dieses undeutliche Raspeln und Kratzen in der Stimme des Unbekannten. „Die bleichen Soldaten sind schon weit vorgedrungen. Ich muß bald Gewißheit haben, sonst kommt mir der Feind zuvor!“ In dem angrenzenden Raum befanden sich unzählige fremdartige Dinge. Die meisten Geräte sagten Tiny nichts. Aber es gab etliche Sachen, die ihr vertraut waren. Die vorhandenen Sitzgelegenheiten hatte sie in ähnlicher Form schon in den Büchern des Alten gesehen. An einer der Wände hing - 67-
ein farbenprächtiges Bild. Es zeigte eine sonderbare Landschaft mit riesigen, steinernen Quadern. Plötzlich begann das Licht zu flackern. Dann war es finster. Tiny fühlte Angst in sich aufsteigen. Ihre geschärften Sinne vernahmen ein leises, unheimliches Knistern, von dem das „Ding“ erfüllt zu sein schien. “... nur ein Nebenstromkreis ausgefallen“, sagte die Stimme plötzlich. Das Licht flammte wieder auf. Doch es entging Tiny nicht, daß die Stimme eigenartig hohl klang. Nervös biß sie die Zähne zusammen „Wo ist dein Herr?“ fragte sie dann leise. Sie zitterte. Instinktiv fühlte sie, daß das Böse auf sie lauerte. „Der Hibernator ist nebenan. Er sieht aus wie ein gläserner Sarkophag!“ Tiny waren diese Begriffe fremd. Aber sie wußte, daß die Entscheidung nahte. Polternd wich eine Trennwand zur Seite. Tiny starrte anfangs wie blind in das dahinterliegende Dunkel. In dem Raum des Unheimlichen brannte kein Licht. Es gab wahrscheinlich nichts, was hier noch leben und funktionieren konnte, außer... Entsetzt erkannte sie den Wirrwarr der bleichen, weißlichen Leiber. Das also waren die bleichen Soldaten, mit denen das Ding kämpfte! Hunderte - ja, viele Tausende von riesigen Termiten krabbelten über den Boden. Instinktiv flüchteten sie vor dem aus Tinys Raum einfallenden Licht in den dunklen Hintergrund der Kammer. Wie versteinert beobachtete Tiny, wie die hellfarbenen, lichtscheuen Tiere mit ihren großen Beißwerkzeugen zurückwichen. Nur einige wenige krabbelten unbeholfen auf sie zu, als wollten sie ergründen welches Wesen es wagtet Licht in ihr dunkles Reich zu bringen. Tiny fühlte wie ihr Puls raste und die Knie zu zittern begannen. Sie wollte umdrehen und davonlaufen und konnte doch den Blick nicht von dem Bild der Zerstörung wenden. Das unheimliche Knistern und Rauschen, das von diesem mitleidslosen Heer ausging, schien sie mit magischer Kraft anzuziehen. Dann sah sie die Truhe. Sie stand inmitten des Gewimmels. Rissig, schief - als hätte irgendeine gigantische Faust sie aus dem Gleichgewicht gebracht und zu zertrümmern versucht. Der durchsichtige Deckel war an mehreren Stellen geborsten und... Entsetzt schrie Tiny auf. Der unerwartete Anblick war zuviel für ihre angespannten Nerven. „Was siehst du? Wie geht es meinem Herrn?“ - 68-
Tiny war nicht mehr fähig, ihre Gedanken klar zu ordnen. Der Schock hatte sie überwältigt. Die nackten Knochen des Armes, der durch einen Zufall aus der geborstenen Truhe wie drohend herausragte - das weiße Skelett, das fast aufrecht in seinem umgestürzten, transparenten Käfig zu sitzen schien... Es sah aus, als ballte der Herrscher über das Reich der Toten seine Faust gegen sie. „Was siehst du?“ fragte die Stimme wieder. Tiny brachte kein Wort über die Lippen. Aber sie wußte, daß der Herr des unheimlichen Dinges niemals auferstehen würde! Trotz ihrer Angst und Hilflosigkeit mußte sie an die Worte auf der steinernen Tafel denken. Für den Herrscher des Dinges würde es keine klare Luft und saubere Erde mehr geben! Es war, als würde sich ein gigantisches, urtümliches Wesen voll Schmerz aufbäumen. Ein tiefes, grauenvolles Stöhnen schien von den Wänden ringsum auszugehen. Das Ding mußte ihre Gedanken verstanden haben. Es klang wie der letzte Seufzer eines sterbenden Riesen. Plötzlich begann das Licht zu flackern und verlosch schließlich. An der Wand leuchtete irgend etwas phosphoreszierend auf. Es war zu wenig, als daß es das Dunkel hätte durchbrechen können. Panische Angst erfaßte Tiny. Sie hatte das Gefühl, als würgte etwas an ihrer Kehle. „Fliehe, Fremdling, fliehe..."Nur undeutlich und schwach drangen die Impulse zu ihr durch. „Flüchte... du noch kannst!“ Abermals schien die Welt zu erbeben, und ein Stöhnen erfüllte die Finsternis. Von Entsetzen getrieben versuchte Tiny den Rückzug durch das Dunkel zu finden. Das Knistern und Rascheln wurde stärker. Sie glaubte zu sehen, wie das unersättliche Heer der bleichen Soldaten sich in Marsch setzte. Sie bildete sich ein, zu hören, wie die ekelhaften Wesen auf sie zutrippelten. Die scharfen Zangen nach vorne gereckt, gierig... In wahnwitziger Hast tappte Tiny durch das Dunkel. Irgend etwas schlug gegen ihr Schienbein. Hinter ihr fiel polternd etwas zu Boden. Der Raum schien plötzlich klein und eng geworden zu sein - erfüllt von dem scharfen Geruch Milliarden hungriger Bestien. Tiny fühlte, daß ihr der Schweiß aus allen Poren drang. Blind vor Angst tastete sie sich vorwärts. Auf einmal spürte sie, daß sich unter ihren Füßen etwas bewegte. Wie mit glühenden Nadeln biß sich etwas in ihre Sohlen. Dann tappte sie ins Leere. Sie hatte den Durchlaß gefunden. Ein einsamer Lichtstrahl fiel von der Öffnung des Haupteingangs auf die steinerne Tafel des Vorraumes. Doch was war das? Der Durchgang zur - 69-
Außenwelt war nur ganz schmal und klein. Konnte - oder wollte das Ding sie nicht entkommen lassen? Verzweifelt preßte sich ihre schmächtige Gestalt gegen das halboffene Tor. Tiny hörte das Rascheln Und sah, wie die ersten Termiten in den Vorraum quollen. Mit aller Kraft, die die Angst ihr verlieh, stemmte sie sich gegen das Tor. Endlich gab es nach. Ungestüm zwängte Tiny sich ins Freie. Mit einem Aufschrei der Erleichterung lief sie in das grelle Sonnenlicht. Immer noch von Angst gejagt, rannte, sie durch die verfallene Ansiedlung. Dann begann die Erde zu zittern. Als ihr das donnernde Krachen bewußt; wurde, war es schon zu spät. Die Druckwelle der Explosion schleuderte sie in ein Gestrüpp. Ein dichter Regen von Sand und Gesteinsbrocken prasselte zu Boden. Einen Moment lang blieb sie regungslos liegen. Erst als sie merkte, daß sich nichts mehr rührte, richtete sie sich vorsichtig auf. Aufatmend schüttelte sie den Sand aus ihrem Haar. An jener Stelle, an der das Ding sich befunden hatte, war jetzt nichts mehr. Nur ein tiefer Krater und eine feine, sich rasch verflüchtigende Rauchwolke zeugten von der Katastrophe. Die verfallenen Hütten der nahen Ansiedlung hatten dem Druck der Explosion nicht standgehalten. Nun, da das Ding verschwunden war, würde der Dschungel in kürzester Zeit auch die letzten Spuren der Vergangenheit tilgen. Das Ding hatte das Geheimnis seines Herrn mit in eine andere Welt genommen. Der grausame Feind hatte ihm den Lebenszweck geraubt, doch noch im Tode triumphierte es über seinen Gegner! Trotzdem empfand Tiny etwas wie Mitleid mit dem Ding. War es auch ihren Brüdern ähnlich ergangen wie dem Gebieter der weißen Kuppel? Jagten Singhu und sie Geister der Vergangenheit, die nie wieder auferstehen würden? Gedankenvoll bahnte sie sich einen Weg durch das Dickicht. Sie sah den Doppelkopftiger erst, als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war. * Die unendliche Monotonie der grünen Wildnis war Singhu noch nie so aufgefallen - eine Wand aus schmarotzenden Lianen, abstrakt geformten
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Zweigen und dichtem Unterholz. Geheimnisvoll, unveränderlich und voller Gefahren. Anfangs wiesen das Geschnatter der Mankies und Tinys Schreie Singhu den Weg. Dornen zerkratzten ihn, und einmal entging er nur mühsam dem wütenden Angriff einer Sprungviper. Unaufhaltsam kämpfte er sich vorwärts. Dann war es plötzlich still. Der dichte Urwald verschluckte alle Laute. Doch das zerfetzte Blattwerk, geknickte Zweige und aus ihren Verankerungen gerissene Schlingpflanzen sprachen eine deutliche Sprache. Vorsichtig folgte Singhu den Spuren. Er mußte fürchten, daß andere Dschungelbewohner den Weg der Mankies inzwischen gekreuzt hatten und dabei die Fährte verwischten. Immer wieder war Singhu gezwungen, von einem markierten Standpunkt aus die Gegend in kleinen Kreisen abzugehen. Nur langsam kam er vorwärts. Trotzdem befielen ihn manchmal Zweifel, ob er noch der richtigen Spur folgte. Singhu stand eben bei zwei mächtigen Baumriesen, als ein helles Aufblitzen seine Aufmerksamkeit erregte. Tinys Messer! Es steckte, mit der Klinge nach oben, im lockeren Erdreich. Der Fund flößte Singhu neuen Mut ein, obwohl er nun wußte, daß Tiny waffenlos war. Selbst wenn sie den Mankies entkam, befand sie sich in größter Gefahr. Der Gedanke daran trieb ihn zur Eile. Doch es wurde immer schwieriger, die Spuren richtig zu deuten. Dann vernahm er das Geräusch. Es dauerte zwar nur einen Augenblick, aber Singhu war alarmiert. Mit angehaltenem Atem erwartete er den unbekannten Gegner. Da! Jetzt wurde es wieder hörbar. Etwas bewegte sichlangsam auf Singhu zu. Dann sah er den Mankie. Das Tier war verletzt. Quer über den Schädel verlief eine offene Wunde, und eine der Vorderpfoten stand in unnatürlichem Winkel weg. Sie mußte gebrochen sein. Mühsam hüpfte das verwundete Tier vorwärts. Als es Singhu erblickte, kreischte es erschrocken auf und machte einen verzweifelten Satz in die Büsche. Singhu hatte keine Lust, dem Tier nachzusetzen. Das unglückliche Geschöpf war ohnehin dem Tod geweiht. Doch Singhu wurde nachdenklich. Die Mankies waren typische Herdentiere. Wenn also irgendein Untier das Rudel angegriffen hatte, so mußte es ein beachtlicher Gegner sein. Singhu hatte schließlich selbst die - 71-
ein beachtlicher Gegner sein. Singhu hatte schließlich selbst die gewaltige Kampfkraft der Mankies zu spüren bekommen. Diese Gedanken waren nicht dazu angetan, Singhu zu beruhigen. Er ahnte, daß die Chance, Tiny lebendig wiederzusehen, mit jedem Atemzug geringer wurde. Plötzlich begann die Erde zu beben. Ein donnerähnliches Krachen ertönte. Der Dschungel schien auf einmal aufzustöhnen, und ein heftiger Windstoß fuhr durch das Dickicht. Beunruhigt verharrte Singhu. Der Himmel war strahlend blau, und es war keine Gewitterwolke in Sicht. Wie war der Donner zu erklären? Doch automatisch brachte Singhu alles Außergewöhnliche mit Tiny in Verbindung. Eilig jagte er in die Richtung, aus der das Krachen zu kommen schien. Plötzlich war Singhu nur noch von kniehohem Gestrüpp umgeben. Das erste, was er sah, war das farbenprächtige Fell des Doppelkopftigers. Dann erst wurde er auf Tiny aufmerksam. „Singhu!“ In dem Schrei lagen alle Freude und Verzweiflung dieser Welt. Auch der Tiger - ein herrliches, voll ausgewachsenes Tier - hatte seinen neuen Gegner entdeckt. Er besaß drei mächtige Vorderpranken, mit denen er tödliche Schläge austeilen konnte. Stolz aufgerichtet stand die Bestie vor Singhu. Während sie mit einem Kopf auf das eben noch so sicher scheinende Opfer blickte, beobachtete sie Singhu mißtrauisch mit dem anderen. Langsam drehte sich das Raubtier auf Singhu zu. Es spürte, daß ihm von dieser Seite die größere Gefahr drohte. Sprungbereit duckte es sich, und ein bedrohliches Fauchen entströmte den beiden Rachen. Singhu handelte ganz instinktiv. Der kleine Dolch flitzte so schnell durch die Luft, daß man ihn kaum sehen konnte. Er bohrte sich bis ans Heft in die Kehle des Ungeheuers. Trotzdem wäre es für Singhu beinahe zu spät gewesen. Gerade noch rechtzeitig warf er sich zur Seite. Er spürte, daß eine der Pranken haarscharf an seinem Kopf vorbeischlug. Das wütende Gebrüll des Tigers sagte Singhu, daß er gut getroffen hatte. Doch der Dolch war zu kurz und hatte das riesige Tier nicht ernsthaft verletzen können. Singhu wollte nichts mehr riskieren. Ehe das Untier noch die Situation erfaßte, wurde es von einer gewaltigen Kraft aus dem Stand gerissen. Das hilflose Jaulen des Tigers verriet, daß er restlos die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Er wurde bis zu den Baumwipfeln hinaufgetragen und stürzte dann mit unheimlicher Wucht zu
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Boden. Alle katzenhafte Gewandtheit half nichts - die Kraft ließ den Tiger rücklings aufschlagen. Die Bestie war tot. * Das grüne Dämmerlicht strahlte etwas Beruhigendes aus. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen durchdrangen das dichte Blattwerk und zeigten an, daß es bereits heller Tag war. Als Singhu erwachte und sich vorsichtig aufrichtete, schwankte die Matte leicht. Verschlafen blickte er um sich. Eine saftige Schmarotzerpflanze wand sich um den Baum. Die dunkelroten, samtenen Blüten des Parasiten strömten einen angenehm herben Duft aus. Zwei winzige, buntschillernde Vögel stritten erbost um einen PokejKern. Der Wind rauschte leise in den Zweigen. Es war ein Bild des Friedens. Doch Singhu wußte, daß dieses Bild trog. Hinter jedem Blatt, Ast oder Busch konnten tödliche Gefahren lauern. Im Dschungel überlebte nur der Stärkere und Klügere. Er war froh, daß ihm die Idee mit der Hängematte gekommen war. Der luftige Schlafplatz im Geäst des Baumes bot zwar keineswegs absoluten Schutz, aber es war immer noch sicherer, als die Nacht auf dem Boden zu verbringen. Prüfend betrachtete er das dichte Geflecht der Matte. Sie hatte der Belastung gut standgehalten. Früher, als er mit seinem Rudel oft tagelang ziellos durch die Wildnis wanderte, hatten sie sich oft einen derartigen Unterschlupf gebaut. Mit etwas Geschicklichkeit war es recht einfach, die überall wuchernden Lianen zu einem dichten Netz zu verflechten. Wenn man die verschiedenen Löcher und Unebenheiten mit großblättrigen Pflanzen abdeckte, verfügte man im Nu über ein bequemes Nachtlager. Die Strapazen des vergangenen Tages waren zuviel gewesen. Vor allem Tiny hatte den Schlaf bitter nötig. Es wäre sinnlos gewesen, sich völlig zu verausgaben. Erstmals empfand Singhu, daß er sich mit Tiny eine große Verantwortung aufgebürdet hatte. Als er die „Göttin“ damals überredete, ihm zu folgen, hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Doch sie hatte schlie ßlich seinetwegen ihr relativ sorgenfreies Leben aufgegeben und sich ihm angeschlossen. Manchmal glaubte er, daß es nebensächlich war, ob sie ihre Brüder fanden oder nicht. Er fühlte, daß ihn mit Tiny mehr ver- 73-
band als nur die Worte des Alten. Er wollte für sie sorgen - gleichgültig, wo der Weg auch, enden mochte. Um Tiny nicht aufzuwecken, kletterte Singhu möglichst behutsam aus der Matte. Es war höchste Zeit, etwas Eßbares zu suchen. Sie hatten schon lange nichts mehr zu sich genommen, und Singhu war rechtschaffen hungrig. Bald hatte er genügend Früchte gesammelt. Die nahrhaften Pokejs würden zusammen mit den saftigen Manja -Schoten ihren Hunger und Durst bald stillen. Als Singhu zurückkehrte, schlug Tiny eben die Augen auf. „Ist etwas?“ fragte sie, als sie feststellte, daß er hellwach war. „Das Frühstück ist bereit“, erklärte er. Heißhungrig machten sie sich über die Früchte her. „Jetzt bekomme ich das Essen sogar schon am Bett serviert“, sagte Tiny lächelnd und schmiegte sich an ihn. Die Wärme ihrer Haut und die Weichheit ihrer Haare verwirrten ihn. Er sah ihr in die Augen und versuchte zu ergründen; was sie empfand. Sie lag jetzt ruhig da und sah ihn offen an. Es war nichts Herausforderndes in ihrem Blick. Und doch... Plötzlich wußte er, daß sie wie er fühlte. Es kam so selbstverständlich wie der Sonnenaufgang, so natürlich wie der Schatten der Nacht. Es war rein und frei von allen Nebengedanken. Etwas Unbekanntes, Neues, riß sie mit sich fort und verband sie in nie gekannter Einigkeit. * Singhu wußte nicht, wieviel Zeit seit ihrem Aufbruch verstrichen war. Es war jedenfalls nicht einfach, den Rückweg durch das Dschungeldickicht zu finden. Doch er war ziemlich sicher, daß die Richtung stimmte. Es mußte möglich ein, wieder den Fluß zu erreichen. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, aber es war noch immer drückend schwül. Die üppige Vegetation machte ein rasches Vorwärtskommen unmöglich. Doch unverdrossen stapfte Tiny hinter Singhu her. Sie hatte sich aus allerlei Pflanzenwerk einen Lendenschurz zurechtgemacht und ihren Dolch daran befestigt. Sie wertete es als gutes Zeichen, daß sie die Waffe wiedergefunden hatten. Immer wieder behinderten dornige Ranken und unentwirrbares Gestrüpp ihren Marsch. Und als sich die Sonne schon deutlich neigte und noch nichts - 74-
darauf hindeutete, daß sie sich dem Fluß näherten, stiegen Zweifel in Singhu auf. Aber plötzlich hörten sie es. Zuerst nur ganz leise, doch dann immer la uter. Auch das Grün der Pflanzen wurde intensiver, und die ersten mannshohen Farne tauchten auf. Und schließlich standen sie vor dem gewaltigen Naturwunder. Die Wassermassen stürzten in Kaskaden über eine Felsengruppe. Das Tosen übertönte alles, und es war nahezu unmöglich, sich miteinander zu unterhalten. Sie hatten jedoch keine Zeit, sich dem Reiz dieses Naturschauspiels lange hinzugeben. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen, und sie hatten noch keinen geeigneten Schlafplatz entdeckt. Eilig wanderten sie flußabwärts. Der Boden wurde in zunehmendem Maße felsiger, und der Dschungel lichtete sich deutlich. Wohl säumten nach wie vor alte Baumriesen das Flußufer, doch das Unterholz war nicht mehr so dicht. Endlich entdeckte Singhu eine kleine Felsennische, die ihnen für eine Nacht sicheren Schutz versprach. Mit Hilfe einigen Blattwerks war bald ein bequemes Lager bereitet. „Schade, daß wir unser Boot nicht mehr haben“, sagte Tiny. „Wir müssen froh sein, überhaupt noch zu leben“, meinte Singhu. „Es hätte auch ganz anders kommen können. Denke an die Mankies, das Ding und...“ „Du hast recht, aber wir haben durch unsere Abenteuer einige Zeit verloren.“ „Ich glaube nicht, daß es viel ist. Wir dürften bei unserem Marsch durch den Dschungel ein gutes Stück Weges abgeschnitten haben. Sonst könnten jetzt die Wasserfälle noch nicht hinter uns liegen. Nach unserer Karte sind wir schon fast am Ziel!“ „Das bedeutet, daß wir spätestens morgen zu der alten Stadt kommen“, folgerte Tiny. „Dann werden wir endlich Gewißheit erhalten!“ Singhu hoffte es. Er hatte während der letzten Tage kaum Zeit gefunden, darüber nachzudenken. Vielleicht versuchte er auch im Unterbewußtsein, seine Zweifel zu unterdrücken. Sogar sein zweites Ich, das ihn früher immer angespornt und ihm neuen Auftrieb gegeben hatte, meldete sich schon lange nicht mehr. Es sah aus, als hätte es ihn verlassen. Aber er hatte einem Sterbenden ein Versprechen gegeben - ein Versprechen, das nun eingelöst werden mußte!
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* Mit den ersten Strahlen der Sonne erwachte Singhu. Leichte Nebel lagen über dem Fluß, und auf den Gräsern glitzerte frischer Tau. Singhu war ungeduldig. Nun, wo die Entscheidung bevorstand, konnte er es kaum erwarten, den Weg fortzusetzen. Auch Tiny schien ähnlich zu empfinden, denn sie war sofort bereit, aufzubrechen. Sie konnten dem Lauf des Stromes ohne Mühe folgen. Die Vegetation wurde rasch spärlicher, und nichts hinderte sie, gut vorwärts zu kommen. Schweigend marschierten sie dahin. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Schließlich machte der Fluß eine scharfe Krümmung, und eine kleine, nahezu unbewachsene Anhöhe wurde sichtbar. Der Punkt, der auf ihrer Karte eingezeichnet war, lag vor ihnen! Doch es befremdete Singhu, daß er nirgends Spuren einer Ansiedlung erkennen konnte. Mit klopfenden Herzen stürmten sie die Anhöhe hinauf. Es war ein nahezu kahles Felsplateau. Nur vereinzelt sprossen einige Grashalme aus den Felsenritzen. Nach der einen Seite erstreckte sich eine weite Steppenlandschaft, nach der anderen konnte man die Baumkronen des nahen Dschungels erkennen. Doch von einer Ansiedlung war nichts zu sehen! Sie blickten auf ein ödes, verlassenes Stück Land, ohne die geringsten Spuren einer Zivilisation. „Bist du sicher, daß dies die richtige Stelle ist?“ fragte Tiny zögernd. Der Fluß schlängelte sich wie ein silbernes Band um die Anhöhe. Die eigenartige Schleife, die er hierbei zog, war nicht zu verwechseln. Es konnte kein Irrtum sein! Müde nickte Singhu. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Anscheinend war alles nur ein Traum gewesen. Die Karte stimmte nicht! Oder die auf ihr eingezeichnete Station I hatte längst aufgehört zu bestehen. Vielleicht... „Halt, Fremde! Ihr dürft hier nicht weitergehen!“ Plötzlich näherte sich ihnen eine mit bunten Federn geschmückte Gestalt. Tiny fuhr erschrocken zusammen, und Singhu ärgerte sich, den Unbekannten nicht früher entdeckt zu haben. Der Fremde hatte sich bisher hinter einigen Felsen geschickt verborgen gehalten. „Wer bist du?“ fragte Singhu schließlich. Der Mann war zwar mit einem kurzen Speer bewaffnet, machte aber keinerlei feindliche Geste. Er war
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ziemlich groß und besaß drei mächtige Arme. Sein Körper war mit dic htem, rotem Haar bedeckt. „Ich stamme vom Volk der Dreiarme“, sagte der Fremde stolz. „Ich wache über den Platz der Hinrichtungen!“ „Hinrichtungen?“ fragte Singhu erstaunt. „Richtig, Fremdling! Zwar geschehen bei uns nur selten Verbrechen, aber auf manche Dinge - Kinderraub, Priestermord oder Diebstahl der Jagdbeute - steht die Todesstrafe. Da mein Stamm jedoch ständig unterwegs ist, passe ich auf, daß niemand versehentlich die Hinrichtungsstätte betritt!“ Der Fremde deutete ein Stück nach vorn. Wenn man genau hinsah, konnte man eine exakt abgegrenzte Linie erkennen. Es sah aus, als wäre die spärliche Rasenfläche dort mit Feuer ausgebrannt worden. Nachdenklich betrachtete Singhu die seltsame Markierung. „Wer hat das getan?“ Der Wächter zuckte mit den Achseln „Das war schon immer so. Jeder Schritt weiter bedeutet Selbstmord!“ Die verbrannte Bodenfläche war kreisrund. Der Durchmesser betrug etwa zehn Mannslängen. Singhu verglich die Lage des Feuerkreises mit seiner Karte. Es gab keinen Zweifel. Gerade weil es für die Feuerspuren keine natürliche Erklärung gab, war Singhu sicher, eine Fährte entdeckt zu haben. „Was geschieht wenn wir den Kreis trotzdem betreten?“ fragte Singhu interessiert. „Bei allen Göttern das könnt ihr nicht tun!“ wehrte der Fremde entsetzt ab. „Auf diese Art rechnen wir mit den Schwerverbrecher ab!“ Singhu sah ihn zweifelnd an. „Wer den Kreis betritt, wird von den Feuerblitzen der Götter erschlagen. Oder, wenn die Blitze dich nicht treffen, so öffnen sich alle Schleusen der Finsternis, und du wirst vom Erdboden verschlungen. Der Tod ist dir jedenfalls sicher!“ meinte der Fremde nachdrücklich. Die Argumente waren eindeutig. Doch Singhu war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Er konnte nicht glauben, daß sie den weiten, gefahrvollen Weg umsonst zurückgelegt hatten. Aber durfte er die Warnungen des Fremden in den Wind schlagen? Er mußte zurückdenken, wie alles begonnen hatte. An die Ruinenstadt, die Eisenmänner... War der verbrannt Kreis vielleicht der einzige Weg, der zu Station I führte? War diese kleine, verbrannte Fläche etwas Ähnliches wie das Zentrum der alten Stadt? Auch die Eisenmänner schleuderten Feuerblitze und vernichteten jeden Eindringling - doch gegen Singhu hatten sie - 77-
nichts unternommen! Der Alte hatte ihm geraten, die steinerne Stadt zu besuchen. Auch der Auftrag, den er dort erhalten hatte, war eindeutig gewesen. Hier gab es zwar keine Eisenmänner, doch konnten nicht auch andere darüber wachen, daß kein Unbefugter den Kreis betrat? Doch nach allem, was Singhu wußte - wer war dazu befugt, wenn nicht er? Bloß Tiny! Sie unterschied sich in nichts von ihm. Außer, daß sie eine Frau war natürlich. Aber das konnte keine Rolle spielen. „Gehen wir?“ sagte Singhu gespannt und blickte Tiny fragend an. Sie faßte nach seiner Hand. „Komm!“ sagte sie ruhig. „Aber die Götter werden euch...“ „Hab Dank für deine Warnung, Fremder“, verabschiedete sich Singhu. „Doch unser Weg ist vorherbestimmt!“ Entschlossen gingen sie auf den geheimnisvollen Kreis zu. Unmittelbar vor der in den Boden gebrannten Linie zögerte er einen Augenblick. Dann überschritt er sie. Einen Augenblick lang durchlief sie eine sonderbare Spannung. Es war, als hätten sie einen unsichtbaren Vorhang passiert. Das Hochplateau, der warnende Krieger, alles war plötzlich nur noch verschwommen sichtbar, so seltsam weit entfernt. Dann hörten sie das Donnern. Es war ein unheimliches, tiefes Grollen, das aus dem Innern der Erde zu kommen schien und den Boden erschütterte. Doch Singhu war zuversichtlich. Er spürte Tinys Hand in der seinen und wußte, daß er nicht allein war. Dann gab der Boden unter ihnen nach. Die eben noch so fest wirkende Felsplatte, auf der sie sich befanden, setzte sich plötzlich in Bewegung. Sie versanken in undurchdringlicher Finsternis. Das war es also, was der Fremde gemeint hatte, als er prophezeite, sie würden vom Erdboden verschlungen werden. Er wußte nun, daß er auf dem richtigen Weg war, das Geheimnis seiner Brüder zu enträtseln. Die Fahrt ins Ungewisse schien endlos zu dauern. Das spärliche Licht, das anfangs noch von oben hereindrang, wurde rasch schwächer. Dann schloß sich die Decke über ihnen. Die Dunkelheit war vollkommen! Plötzlich war ihre Fahrt zu Ende. Irgendwo zuckte ein sanfter Lichtschimmer auf, dann wich die Dunkelheit endgültig, und ein Leuchten, das von überall zu kommen schien, ließ sie ihre Umgebung erkennen. Sie befanden sich in einer schmucklosen, nüchternen Felsenhöhle. Der Raum verlor sich in unbestimmbaren Höhen. Nur die genau kreisrunde Form und Glattheit der Wände bewies, daß die Höhle nicht natürlichen - 78-
Ursprungs sein konnte. Das dumpfe Grollen von zuvor war verschwunden. Nur ein leises, undefinierbares Summen erfüllte den Raum. Sie stellten fest, daß die Felsenhöhle keinen Ausgang besaß. Es gab also keinen Weg der aus diesem steinernen Verließ führte. Systematisch suchten sie die Wände ab. Aber nirgends war auch nur ein kleinster Spalt zu erspähen, der ihnen Hoffnung eingeflößt hätte. „So kommen wir nicht weiter“, sagte Singhu. Er setzte sich auf den Boden und dachte nach, irgendeinen Ausweg mußte es doch geben! Es ergab keinen Sinn, daß man sie hier einsperrte! „Singhu?“ Ein leichtes Zögern lag in Tinys Stimme. „Was gibt es?“ fragte er. „Vielleicht täusche ich mich“, meinte sie. „Aber ich glaube, unsere Höhle wird langsam kleiner!“ „Das gibt es doch nicht!“ sagte er ungläubig. Dann sah er sich nochmals genau um. Konnte Tiny recht haben? Auch ihm war es, als sei der Raum anfangs größer gewesen. Tiny stellte sich nun eine Fußlänge von der Wand entfernt auf. Die Zeit schien stillzustehen. Sie waren allein. Um sie herum waren nur Felsen und das gleichbleibende, monotone Summen. „Glaubst du mir noch immer nicht?“ fragte Tiny dann mit Nachdruck. Sie hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Trotzdem stand sie nun so knapp an der Wand, daß diese ihren Körper berührte. „Tatsächlich!“ entfuhr es ihm. Mißtrauisch betrachtete er die hohen, gla tten Wände, die so fest zu sein schienen und sich doch bewegten. Was hatte das zu bedeuten? Die Situation hatte etwas Bedrohliches an sich. Sie besaßen zwar noch genug Raum, aber wenn die Wände sich weiter näherten, mußte... „Was können wir dagegen tun?“ fragte Tiny. Sie war zu dem gle ichen Schluß gekommen. Singhu wußte keine Antwort. Schließlich konzentrierte er sich. Vergeblich! Es war, als würde seine Kraft an der Wand abprallen oder durch sie hindurchgehen. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Er hatte noch nie erlebt, daß ihm etwas auf derart geheimnisvolle Weise widerstand. Versuchsweise ließ er Tiny ein Stück in die Höhe schweben. „Was ist los?“ fragte sie erschrocken. „Bei dir geht es“, sagte er nachdenklich, „aber bei diesen Mauern habe ich das Gefühl, daß meine Kraft ins Leere greift!“
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„Wer auch diese Höhle geschaffen hat, er rechnete damit, daß jemand diese Kraft einsetzen könnte“, sagte Tiny leise. „Und nicht nur das - er fand auch ein Mittel dagegen‘“ „So muß es wohl sein“, gab er widerwillig zu „Aber was will man von uns? Wenn der Raum ständig kleiner wird, müssen die Mauern uns bald erdrücken! Das ergibt doch keinen Sinn. Man hätte uns auch einfacher töten können“, sagte er trocken Es sah aus, als näherten sich die Wände jetzt noch schneller als am Anfang. „Du kennst die Lösung - erinnere dich zurück!“ Singhu erschrak, als er so unvermutet die Stimme vernahm. Sein zweites Ich hatte schon derart lange geschwiegen, daß er schon angenommen hatte, es sei erloschen. „Denke zurück an die Zeit, bevor du auszogst, deine Brüder zu suchen. Mehr darf ich dir nicht sagen. Du mußt den Weg selber finden!“ Alle möglichen Gedanken schwirrten durch Singhus Kopf. Doch er fand keinen Anhaltspunkt Die einzelnen Abschnitte seines Lebens zogen an seinem geistigen Auge vorrüber. Die Zeit mit dem Rudel, sein Kampf mit Lorrh, Jambie, Pindur, der Tod des Alten... Halt! Plötzlich sah er die Lösung vor sich. Er erinnerte sich noch genau der Worte: „Wenn du einmal nicht mehr weiter kannst...“ Dann schrie er es laut heraus „Wir kommen von Major Kane!“ Die Worte brachen sich in vielfachem Echo an den Wänden. Tiny sah ihn erstaunt an Plötzlich öffnete sich die Felswand vor ihnen. Ein schmaler Gang würde sichtbar. Sie hatten es geschafft! Doch es sah aus, als wären sie die einzigen Lebewesen in diesem Felsendom. Niemand ließ sich blicken, doch die Aufforderung war unübersehbar. Mit gemischten Gefühlen betraten sie den schmalen Korridor. Die Felsen schlossen sich wieder hinter ihnen. Nachdenklich schritt Singhu vorwärts. „Vorsicht, Singhu!“ schrie Tiny aufgeregt. Urplötzlich richtete sich vor ihnen eine Mauer auf. Wo eben noch der endlos erscheinende Korridor gewesen war, befand sich nun eine solide Wand. Vorsichtig untersuchte Singhu das unerwartete Hindernis. Es war fugenlos, kühl und glatt. Nichts deutete darauf hin, wie diese Sperre zu umgehen war. „Was soll das bedeuten?“ fragte Tiny beunruhigt.
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„Ich weiß es nicht“, gestand er. Forschend blickte er auf den länglichen, schmalen Raum, in dem sie nun gefangen waren. „Anscheinend müssen wir noch weitere Hindernisse überwinden“, sagte er schließlich. „Das kann sein. Wir sind bestimmt nicht die ersten, die dieses Labyrinth betreten haben. Der Fremde erzählte doch, daß manche der Verbrecher, die für die Hinrichtung bestimmt waren, vom Erdboden verschlungen wurden“, überlegte Tiny laut. Singhu nickte. Er mußte daran denken, daß auch die Eisenmänner nicht alle Lebewesen sofort vernichteten. Es war, als zögen sie bereits aus dem Äußeren der Eindringlinge gewisse Schlüsse. Einen Teil der Neugierigen ließen sie in das Zentrum eindringen und... Das konnte die Lösung sein! Tiny untersuchte inzwischen die Wandungen ihres Gefängnisses. Singhu wollte ihr noch eine Warnung zurufen - doch es war schon zu spät!“ Plötzlich schoß eine weitere Wand aus dem Boden empor. Er hörte noch Tinys erschrockenen Aufschrei - dann war er allein. Die heimtückische Falle war zugeschnappt! Singhu war sicher, daß es keinen Sinn hatte, gegen diese unheimlichen Mauern anzukämpfen. Er ahnte, daß er es hier mit einer weit überlegenen Technik zu tun hatte. Doch was bedeutete das alles? Unruhig ging er in dem winzigen Raum, der ihm noch verblieben war, auf und ab. Tiny war nun ebenfalls allein. Hoffentlich verlor sie nicht die Nerven! Es ging so schnell und geräuschlos, daß er es gar nicht gleic h bemerkte. Auf einmal stand er wieder in einem langen Gang. Eine der Wände war überraschend verschwunden. Einen Moment lang zögerte er. Doch dann verstand er plötzlich. Sie konnten ihren Weg nicht gemeinsam gehen! Aber wenn er die Situation richtig einschätzte, dann mußte der Gang ihn letzten Endes wieder zu Tiny führen. Befreit atmete Singhu auf und ging unbekümmert weiter vorwärts. Unvermittelt erschien vor ihm auf dem Boden eine flammende Leuchtschrift. „Vorsicht, Lebensgefahr! Wenn Sie diese Stelle des Ganges passieren wollen, dürfen Sie nur unterhalb der roten Linie durchkriechen!“ Mißtrauisch musterte Singhu den roten Streifen, der nun an den Seitenwänden des Ganges zu laufen begann. Die Linie befand sich etwa in Kniehöhe. Befriedigt legte Singhu sich flach auf den Boden und robbte vorsic htig vorwärts. Er hatte etwas Ähnliches erwartet.
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Bald hatte er die gefährliche Stelle hinter sich. Nichts war geschehen. Er blickte nochmals den Gang zurück. Er konnte nichts Auffallendes bemerken. Ein spitzbübisches Lächeln huschte über Singhus Gesicht, als er den winzigen Feuerstein aus seinem Lendenschurz zog. Mit einer raschen Bewegung warf er das Steinchen in den Gang zurück. Der grüne Blitz blendete Singhu völlig. Es dauerte einige Zeit, ehe seine Augen sic h wieder an das diffuse Licht seiner Umgebung gewöhnten. Der Gang war leer, das Steinchen verschwunden. Es hatte sich in Nichts aufgelöst. Singhus Übermut war etwas gedämpft. Die Falle funktionierte perfekt. Das Auswahlsystem schien das gleiche zu sein wie damals in der steinernen Stadt. Wer nicht lesen konnte... So gesehen war anzunehmen, daß die Hinrichtungsstätte ihren Zweck erfüllte! Vorsichtig ging Singhu weiter. Als eine weitere Leuchtschrift vor ihm auftauchte, blieb er sofort stehen. „Achtung, Lebensgefahr! Laufen Sie nicht gerade weiter, sondern springen Sie auf die rechte Wand zu, als wäre diese nicht vorhanden!“ Nachdenklich sah Singhu sich um. Der Gang schien geradeaus zu führen. Seine Wände strahlten einen harten, metallischen Glanz aus. Singhu überwand das ungute Gefühl und machte einen Satz nach rechts, als wollte er mit dem Schädel die Wand einrennen. Unvermutet sprang er ins Leere, und plötzlich befand er sich in einem neuen Korridor. Es sah aus, als wäre die Wand nur eine Luftspiegelung gewesen. Singhu war jedoch sicher, daß der gerade Weg in den Tod geführt hätte! Langsam ging er weiter. Bald darauf machte der Gang einen Knick. Singhu verhielt mitten im Schritt, als er plötzlich das leise Tappen hörte. Irgend etwas näherte sich ihm. Welche Gefahr kam nun auf ihn zu? Dann stand Tiny vor ihm. „Singhu!“ stieß sie überrascht hervor. Dann lag sie schon in seinen Armen. „Ich dachte schon...“ Sie sagte nichts mehr, doch ihre Augen hatten einen seltsamen, feuchten Glanz. „Keine Angst!“ beruhigte er sie. Sie brauchte ihm nichts zu erzählen. Er wußte, daß sie Ähnliches erlebt haben mußte. „Das war der letzte Test! Sie haben nun keine Gefahren mehr zu befürchten!“ Die fremde Stimme riß sie abrupt aus ihren Gedanken.
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Erwartungsvoll starrten sie auf den schmalen Korridor, der sich nun plötzlich vor ihnen öffnete. Er war von einem eigenartigen Flimmern erfüllt. Nun gab es kein Zögern mehr. Sie waren entschlossen, ihren Weg zu Ende zu gehen Nachdem sie den Gang betreten hatten, war es zu spät, um an eine Rückkehr zu denken Der abrupt einsetzende Schmerz überflutete den ganzen Körper. Es ging so rasch, daß Singhu nicht mehr dazu kam, einen Schrei auszustoßen. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß die Welt um ihn zu bestehen aufgehört hatte. Es gab keine Felsen, keinen Gang. Tiny war verschwunden, und sein Körper hatte sich in kleinste Moleküle aufgelöst, Nur ein geheimnisvolles Wirbeln und Fließen schien um ihn zu sein. Er sah es nicht - er hatte keine Augen, um es wahrnehmen zu können -, und doch war es seltsam real. Er fühlte, daß irgend etwas mit ihm mitschwang. Er war nicht allein. Irgendwo in diesem fluktuierenden Etwas war Tinys vertraute Nähe spürbar. Es war eine sonderbare, unbeschwerte Freiheit, die er empfand. Und dann vernahm er die Stimme. Es war der Moment, wo sein zweites Ich endgültig mit ihm zu einem einheitlichen Ganzen verschmolz. Der Augenblick, wo das letzte Wissen des Unterbewußtseins an die Oberfläche drang. Mit einem Mal wurde ihm bewußt, wie alles begonnen hatte, drängte sic h ihm die Lösung aller Fragen auf. Das Bild - die Geschichte einer uralten Welt - zog an ihm vorbei. Er wußte plötzlich, daß der Mensch, der diesen Planeten Jahrtausende regierte, es nicht verstanden hatte, sich auf allen Gebieten zu entwickeln. Wohl eilte er in der Technik von einem Triumph zum anderen - doch seine Moral blieb schwach. Er war nicht reif genug, die Macht, die sich ihm bot, zu seinem Wohl zu nutzen. Er versuchte, seine Probleme durch Kriege zu lösen. Durch Kriege, die immer größere, schrecklichere Ausmaße annahmen. Dann kam der Moment, da der Mensch nach den Sternen griff. Aber noch immer war es ihm nicht gelungen, die Probleme des menschlichen Zusammenlebens zu bewältigen. Eine Periode des Schreckens setzte ein. Immer wieder versuchte die menschliche Vernunft, gegen die Emotionen anzukämpfen - einen mit alles vernichtenden Waffen geführten Krieg zu ver-
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meiden. Vergeblich! Jene, die gehofft hatten, daß die Jahrtausende des Kampfes vorüber seien, wurden bitter enttäuscht. Als das Inferno ausbrach, gab es keine Rettung. Die jahrtausendealte Zivilisation war zum Tode verurteilt! Die Erde wurde beherrscht von künstlich gezüchteten Bakterien, tödlichen Chemikalien und noch gefährlicheren radioaktiven Strahlen. Nur wenig Leben überstand diese Periode des Todes. Auch was nicht sofort dahingerafft wurde, veränderte sich, wandelte sich mutierte! Es war der Beginn einer neuen Schöpfungsgeschichte. Der Anfang neuen Lebens, das sich den veränderten Bedingungen seiner Umwelt anzupassen suchte. Nur wenige große Geister der alten Menschheit erkannten die Gefahr rechtzeitig und handelten folgerichtig. Unermüdlich arbeiteten sie an ihrem Ziel. Es war der wagemutige Versuch, eine alte Kultur vor dem gänzlichen Untergang zu bewahren. Es mußte ein Planet gefunden werden, der geeignet schien, einem auserwählten Rest der Menschheit zur Zufluchtsstätte zu werden. Eine Welt, auf der man die Jahre des Chaos überleben, die alte Kultur erhalten konnte. Und es mußte ein Weg gefunden werden, diese Welt jederzeit zu erreichen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde der Materietransmitter errichtet. Ein technisches Wunderwerk, das den Sprung von einer Welt zur anderen ermöglichte. Ein gigantisches Präzisionsinstrument, das imstande war, je gliche Materie in seine, Moleküle zu zerlegen, über Lichtjahre hinweg zu transportieren und am Bestimmungsort wieder zu einem unverletzten Ganzen zusammenzufügen. Es war der Sternentransmitter, den Tiny und Singhu nun betreten hatten! Auf einmal war es vorüber. Der Schmerz der Rematerialisation klang noch in ihnen nach. Etwas zittrig und benommen standen sie da. Ein azurblauer Himmel spannte sich über ihnen. Von irgendwoher drang das Gezwitscher der Vögel. Singhu spürte Tinys Händedruck und wußte, daß alles in Ordnung war. Dann entdeckte er die anderen. Sie blickten erwartungsvoll auf die Ankömmlinge. Es waren aber nicht die eigenartigen Gewänder der Fremden, die Singhu faszinierten. Erregung ergriff ihn, als er es erkannte. Es waren Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen - gleichmäßig und wohlproportioniert! Menschen wie der Alte, Tiny und er. Sie hatten die Welt ihrer Brüder entdeckt! ENDE - 84-