Scan by Schlaflos
Buch Lauren Dane ist aus der magischen Welt Oria zurückgekehrt und trauert um ihre Schwester Molly, ...
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Scan by Schlaflos
Buch Lauren Dane ist aus der magischen Welt Oria zurückgekehrt und trauert um ihre Schwester Molly, die sich geopfert hat, um ihren kleinen Sohn Jake zu retten. Da erhält Lauren die Nachricht, dass Molly lebt. Sofort macht sie sich erneut auf den Weg durch den magischen Spiegel in die Geschwisterwelt der Erde. Laurens Schwester lebt tatsächlich wieder, doch zu einem hohen Preis - ihre Seele ist im Jenseits geblieben und Molly fühlt sich leer. Schlimmer noch: Sie hat das Gefühl, den dunklen Göttern ähnlich zu werden, die mit jedem Tod, den sie erleben, noch boshafter als zuvor zu neuem Leben erwachen. Lauren hilft Molly bei der Suche nach einer Lösung für ihr Problem, doch da gelingt es ihrem kleinen Sohn Jake, in das Jenseits zu wechseln, um seinen toten Vater zu suchen. Lauren folgt ihm und versucht, vier Seelen zu retten: die ihres Mannes, Jakes, Mollys und ihre eigene. Doch dunkle Mächte haben es auf die Vernichtung der beiden Schwestern abgesehen und sehen jetzt ihre Chance gekommen ... Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem, Ohio, geboren und wuchs in den USA, in Costa Rica und Guatemala auf. Zunächst arbeitete Holly Lisle als Musikerin, bevor sie sich in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley auf das Schreiben konzentrierte und schon bald ihre ersten Erfolge als Autorin feierte. Von Holly Lisle bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551), 3. Der Flug der Falken (26552) DAS GESETZ DER MAGIE: 1. Die Höllenfahrt (24126), 2. Die Torweberin (24127)
Holly Lisle
Die Torweberin Das Gesetz der Magie 2 Aus dem Englischen von Michaela Link BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Wreck of Heaven. The World Gates, Book 2« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2005 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24127 Redaktion: Patricia Woitynek UH ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24127-8 www.blanvalet-verlag.de Für Matthew in Liebe 1 Kupferhaus, Ballahara, Nuue, Oria Molly McColl zog die Bänder des schweren Seidenleibchens stramm und schlüpfte in das Brokatgewand. Ich lebe, dachte sie. Ich lebe! Ich war tot, und jetzt lebe ich, und ich bin wieder im Kupferhaus. Sie versuchte ein
Lächeln, aber es schien ihr nicht zu passen. Sie erinnerte sich allzu deutlich daran, gestorben zu sein - erinnerte sich daran, das Kind ihrer Schwester durch das Tor zwischen den Welten gebracht zu haben, nur zu langsam, denn sie war nicht bereit gewesen, zu tun, was sie tun musste. Und ihr Zögern hätte den dreijährigen Jake um ein Haar das Leben gekostet. Seine Rettung hatte dann ihr Leben gekostet. Die Heilung, die auf Oria so mühelos gewesen wäre, hatte sie auf der Erde dazu gezwungen, Jakes Schmerz und all seine Verletzungen in ihren eigenen Körper aufzunehmen. Zu absorbieren. Auf der Erde war sie nur ein Mensch gewesen, bar jeder unter weltlichen Magie oder der Macht einer Vodi. Und auf der Erde war sie gestorben. Aber jetzt lebte sie wieder, war zum Leben erweckt worden durch die Magie der Vodi. Dieselbe Magie hatte sie nach Oria zurückgebracht - und in ihrem Kopf hörte sie die Stimmen lange verstorbener Vodi wispern; sie erzählten ihr von ihrem eigenen Sterben, von ihren Wiedergeburten und ihrem abermaligen Sterben. Molly war erst seit wenigen Stunden wieder lebendig - zumindest konnte sie sich nur an die letzten paar Stunden 7 erinnern. Sie fühlte sich fehl am Platz in ihrer eigenen Haut; sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Kupferhaus gelangt war. Sie war nackt durch den Wald gestolpert, das war das Erste, woran sie sich erinnerte. Ihre einzigen Hinweise, was die Umstände ihrer Rückkehr betraf, waren die Blätter in ihrem Haar und der Schmutz unter ihren Fingernägeln. Die glatte, schwere Goldkette schnurrte an ihrem Hals, beinahe wie eine Katze, die sich an einen schmiegt. Sie wollte nicht über die Kette nachdenken oder darüber, dass sie die Vodi war; eigentlich wollte sie überhaupt nicht darüber nachdenken, dass sie lebte, ebenso wenig wie über die Frage, warum das falsch war. Sie wollte einfach das Zusammensein mit Seolar genießen. Sie wollte verliebt und glücklich und sorglos sein in einer Welt, die von dem Wohnwagenpark in Cat Creek so weit entfernt war wie nur irgend möglich. »Du bist nicht geboren worden, um sorglos zu sein«, murmelte sie ihrem Bild im Spiegel zu. Der Spiegel betonte diese Wahrheit nur noch. Auf der Erde war sie von durchschnittlicher Größe gewesen, halbwegs attraktiv und eindeutig menschlich. Auf Oria hatte sich das verändert, und ihre unerwartete Rückkehr vom Tod ins Leben hatte sie noch mehr verändert. Ihr Haar fiel ihr jetzt bis zur Taille, und es war von einem so glänzenden Kupferton, dass es beinahe metallisch wirkte. Sie war sowohl größer als auch schlanker geworden - ihrer Schätzung nach musste sie jetzt etwa einen Meter achtzig groß sein, aber sie wusste es nicht mit Bestimmtheit, da ihr jede Möglichkeit fehlte, die Maßeinheiten der Einheimischen in die ihr vertrauten umzurechnen; für eine Veyär war sie immer noch eher klein. Die Knochenstruktur ihres Gesichtes hatte neue Kanten bekommen, mit hohen Wangenknochen und einem scharfen, kleinen Kinn. Die Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegen8 blickten, waren von einem unmöglichen Smaragdgrün, riesig und mandelförmig. Glücklicherweise besaß sie noch immer die richtige Anzahl von Fingern und Zehen. Sie warf einen Blick auf die zwölfsaitige Gitarre, die in einer Ecke des Raums lehnte, und versuchte sich vorzustellen, dass sie das Spiel noch einmal ganz von vorn würde erlernen müssen, mit den zusätzlichen Fingern an einem Paar Veyär-Hände. »Du siehst atemberaubend aus«, flüsterte Seolar, der ihr Geliebter war und der Imallin vom Kupferhaus. Sie hätte dasselbe von ihm sagen können. Seine goldfarbene Haut, sein Haar, das von einem dunkleren Goldton war, die pechschwarzen Augen, seine Größe und seine Anmut verliehen ihm die Ausstrahlung eines anderweltlichen Engels. Selbst die goldbraunen Tätowierungen, die spiralförmig seine Wangen überzogen, vergrößerten seine Schönheit nur noch. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte unsicher. »Findest du?« »Ich schwöre es.« Das Lächeln, mit dem er ihren Blick erwiderte, zitterte ein wenig, und sie sah einen unnatürlichen Glanz in seinen Augen. Er überwand die Entfernung zwischen ihnen mit drei Schritten und zog sie an sich. »Verlass mich nie wieder. Ich war vollkommen verloren ohne dich. Ich bin innerlich gestorben, und erst als du heute Abend auf dem Balkon erschienen bist, habe ich wieder zu atmen begonnen.« Die Dunkelheit in Molly senkte sich von neuem auf sie herab. »Ich bin die Vodi«, wisperte sie. »Ich weiß. Ich liebe dich trotzdem.« Sie nickte. »Aber ich bin die Vodi.« Sie rückte ein wenig von ihm ab, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. »Wusstest du, was für eine Art Leben meine Vorgängerinnen gelebt haben?« 9 »Ich habe die alten Aufzeichnungen gelesen. Nachdem du ... nachdem du gestorben warst...« Seolar wandte sich von ihr ab und blickte durchs Fenster, wo gerade das letzte Zwielicht verdämmerte und helle, gold- und rosafarbene Streifen den tiefblauen Himmel überzogen. »Ich habe kaum etwas anderes getan, als zu lesen, als zu versuchen, es zu verstehen.« »Dann weißt du ja, was mit den Vodi geschehen ist.« »Sie wurden gejagt. Gnadenlos, von furchtbaren Feinden.« Er wandte sich wieder zu ihr um. Dann fuhr er mit heiserer Stimme fort: »Sie sind wieder und wieder gestorben. Aber das wird nicht dein Schicksal sein. Ich werde es nicht zulassen.« Molly sagte: »Ich hoffe, dass du es verhindern kannst, Seo. Du kannst die Bilder nicht sehen, die ich sehe, oder die Stimmen der anderen Vodi hören. Ich bin durch die Kette eng mit ihnen verbunden, und wenn ich die Augen schließe und mich von ihnen führen lasse, kann ich sehen, wo die anderen Vodi vor mir gewesen sind. Das
Grauen ist noch immer nicht von ihnen gewichen. Sie sind hohl - uralte Hüllen -, und alles, was von ihnen übrig geblieben ist, sind der Tod und der Schmerz und die Angst. Ich halte sie von mir fern, so gut ich kann. Ich möchte nicht dorthin gehen, wo sie gewesen sind.« Als er sich wieder zu ihr umwandte, fügte sie hinzu: »Nicht noch einmal.« »Nein. Du bist meine Geliebte. Du bist mein Herz und meine S...« Seine Stimme verlor sich, und in seine Züge trat ein Ausdruck, der Molly beunruhigte. »Du bist mein Herz und meine Seele. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts zustößt.« Er legte einen Arm um sie und geleitete sie aus ihren gemeinsamen Gemächern hinaus. »Während du dich angekleidet hast, habe ich Birra angewiesen, uns eine Mahlzeit in den Wintergarten bringen zu lassen. Ich weiß, dass 10 dir dieser Raum von allen im Haus der liebste ist, und ich dachte, ein behagliches Abendessen inmitten der Blumen und neben dem kleinen Wasserfall würde dir an deinem ersten Abend daheim gewiss gefallen. Mittlerweile sollte alles vorbereitet sein.« Molly sah lächelnd zu ihm auf. »Das klingt wunderbar.« Der Druck seiner Hand in ihrem Rücken und seine wohltuende Wärme und Gegenwart beruhigten sie. Sie brauchte eine Beruhigung; so glücklich sie darüber war, am Leben zu sein, so unendlich dankbar sie dafür war, wieder in Oria, im Kupferhaus, in Seolars Armen zu sein, konnte sie doch weder die Dunkelheit in sich abschütteln noch ein hässliches Gefühl der Leere, das selbst im kürzesten Augenblick der Stille widerzuhallen schien. Der Tod hatte sie verändert, und das nicht zum Guten. »Das klingt wunderbar«, wiederholte sie. Und sie wünschte, es wäre die Wahrheit gewesen. Aber in einem tief verborgenen Winkel ihrer selbst bewegte sich die Dunkelheit, verlagerte sich bald hierhin, bald dorthin, und flüsterte ihr zu. Tief in ihren Gedanken hatten die Feinde ihrer verstorbenen Vorgängerinnen ihre Augen geöffnet, sie gähnten und reckten sich, sie sogen die Luft ein, witterten frisches Fleisch. Auf der einen Seite sehnte Molly sich nach der Alltäglichkeit des Abendessens und dem Charme eines im Haus angelegten Wasserfalls, nach dem süßen Duft von Blumen, die außerhalb der ihnen bestimmten Jahreszeit blühten, nach diesem Raum, wo sie durch die Fenster das Mondlicht auf dem Schnee sehen konnte. Andererseits konnte sie sich jedoch nicht vor den Jägern verstecken, die am Rand ihres Bewusstseins auf sie lauerten. Sie konnte sich nicht vor dem Leben verstecken, das ihr von Geburt an bestimmt war, vor der Pflicht, die nur sie erfüllen konnte, vor der Hand des Schicksals, die sie mit unerbittlichem Griff umklammert hielt. 11 Sie fragte sich, wie sie es fertig bringen sollte, zu essen und unbeschwert zu plaudern, während sich diese schreckliche Angst in ihr ausbreitete. Seolar führte sie durch die privaten Korridore, die sie gleichermaßen vor den Blicken der Gäste und der Diener schützten; sie schlüpften durch die Geheimtür zum Wintergarten in ein Feenreich, wo Tausende schlanker Kerzen die Wände säumten und in Kandelabern zwischen den Blumen und Pflanzen standen - selbst in dem stillen Fischteich gegenüber der kleinen, steinernen Brücke, die über den Bach führte, schwammen Hunderte von golden flackernden Kerzen. Auf der Terrasse mitten im Wintergarten, wo sie und Seolar das erste Mal miteinander gegessen hatten, erwartete sie bereits ein kleiner, gedeckter Tisch, allerdings ohne Speisen und Getränke. »Das Essen wird gebracht, sobald wir rufen«, sagte Seolar. »Ich wollte nicht, dass es kalt wird.« »Das alles ist so schön«, erwiderte Molly. »Wie hast du das in so kurzer Zeit fertig gebracht?« Seolar lachte. »Ich habe hundert Diener und Soldaten damit beauftragt. Hätten sie sich der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt, hätte ich zweihundert abkommandiert.« Molly fand ein echtes Lächeln in sich. »Es hat seine Vorteile, der König zu sein«, murmelte sie. Seolar zog eine Augenbraue in die Höhe. Molly zuckte die Achseln. »Ein Satz aus ... aus einem Theaterstück daheim.« »Ich sehe dich gern lachen.« Molly lächelte ihn an, während er ihr einen Stuhl vom Tisch zog. »Es fühlt sich auch gut an. Ich bin so froh, hier zu sein.« Seolar läutete und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich wage 12 kaum, danach zu fragen, aus Angst, dich an großen Schmerz oder großen Kummer zu erinnern, aber ... hast du gelitten?« Molly schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht mehr, sobald es vorüber war.« »Was ist passiert?« »Ich war dumm. Ich habe gezögert, den Schauplatz des Kampfes zu verlassen - du weißt von dem Kampf?« »Yaner hat uns ausführlich von den Vorfällen berichtet.« »Das sieht ihm ähnlich«, antwortete Molly. »Meine Schwester hatte mir aufgetragen, den Kampfplatz zu verlassen und ihren Sohn, Jake, in der anderen Welt in Sicherheit zu bringen. Sie hatte das Tor bereits fertig; ich hätte mühelos hindurchgehen können. Aber ich habe gewartet, weil ich Angst hatte, dass es mir vielleicht nicht gelingen würde, wieder hierher zurückzukommen. Ich habe gezögert, und wir wurden beschossen. Ein Schuss hat ihren Sohn getroffen - er hat ihn beinahe in zwei Stücke gerissen -, gerade als ich endlich durch das Tor trat. Wir kehrten zur Erde zurück, aber während wir zwischen den Welten waren, spürte ich eine Kraft, die Jake am
Leben hielt. Sobald wir jedoch auf der anderen Seite ankamen, wusste ich, dass er sterben würde. Ich konnte es spüren, und je näher ich der Erde kam, umso grauenvoller wurde es. Und wenn er gestorben wäre, wäre es meine Schuld gewesen.« Sie schloss die Augen, holte tief Luft und spürte, wie die ersten Tränen ihr über die Wangen rannen. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen«, sagte Seolar. »Doch, es muss sein. Du musst es wissen, denn es wäre uns um ein Haar ... teuer zu stehen gekommen.« Molly riss sich zusammen und fuhr fort. »Ich habe vor langer Zeit einmal einen anderen kleinen Jungen nicht gerettet, und ich wusste, dass ich unmöglich damit würde leben können, 13 wenn ich Jake sterben ließ. Ich hätte nur zu tun brauchen, was Lauren mir aufgetragen hatte, und wir wären beide in Sicherheit gewesen ... Also habe ich, als wir auf der anderen Seite ankamen, seine Verletzungen auf mich genommen. Niemand kann solche Wunden überleben. Um Jake zu retten, bin ich an seiner Stelle gestorben.« »Das tut mir Leid«, sagte Seolar und legte eine Hand auf ihre. »Mir auch. Es hätte nicht sein müssen.« »Ich bedauere jedes schreckliche Erlebnis, das dir jemals widerfahren ist.« Er beugte sich vor und küsste sie. »Nie wieder, meine Geliebte. Nie wieder.« Molly hörte Schritte und ein Räuspern. Sie öffnete die Augen, und Seolar rückte von ihr ab. Birra - der gute Birra - stand mit einem abgedeckten silbernen Tablett vor ihr. »Imallin«, sagte er und verneigte sich. Dann wandte er sich an Molly, und sein Gesichtsausdruck verriet nichts als bedächtige Höflichkeit. »Und ...« Seine Stimme geriet ins Stocken, sein Körper versteifte sich, und das Tablett fiel mit einem schrecklichen Krachen auf den Tisch. Birra riss die Hände vors Gesicht und ließ sich auf ein Knie sinken. Aus seinem Mund drang ein Heulen, das auf der Erde jeden Hund im Umkreis von einem Kilometer veranlasst hätte, ebenfalls mitfühlend zu winseln. Seolar legte Birra eine Hand auf die Schulter und sagte: »Genug, Mann! Nimm dich zusammen.« Birra presste die Stirn auf den Boden und wisperte: »Ersetzt mich durch einen anderen, Imallin. Ich wage nicht, mir einzugestehen, was meine Augen mir vorgaukeln. Enthebt mich meines Postens - ich habe den Verstand verloren.« »Sie ist wirklich da«, entgegnete Seolar. »Deshalb habe ich all dies veranlasst. Sie ist wirklich da, sie ist wieder bei uns, und diesmal werden wir auf sie aufpassen.« 14 Birra hob den Kopf gerade hoch genug, um über den Tisch zu spähen. »Vodi?«, stieß er krächzend hervor. »Seid Ihr das wirklich?« Molly lächelte. »Ja, Birra, ich bin es. Ich hatte einen langen Weg, um nach Hause zu kommen, aber jetzt bin ich hier.« Birra blickte von Molly zu Seolar und wandte sich dann wieder Molly zu. Tränen rollten über seine tätowierten Wangen, und er tupfte sie mit seinen Zöpfen ab. »Wie?«, wollte er wissen und nahm die Frage dann unverzüglich mit einem vehementen Kopfschütteln zurück. »Nein, es steht mir nicht an, solche Fragen zu stellen. Oh, Vodi«, sagte er, »ich hätte selbst die Sonne verkauft, um dich zurückzuholen, wäre sie mein gewesen. Was immer du von mir willst, du brauchst nur darum zu bitten. Ich danke all den kleinen Göttern, dass du zu uns zurückgefunden hast.« Er erhob sich, holte tief Luft und besah sich, ein wenig gefasster anscheinend, das Durcheinander auf dem Tisch. »In der Küche gibt es von allem noch mehr«, erklärte er. »Ich werde euch euer Mahl bringen, ohne euch mit meiner ...«Er warf Seolar einen zweifelnden Blick zu. »... mit meiner Torheit zu stören.« »Es tut mir Leid, Birra«, griff Seolar sein Stichwort auf. »Ich hätte es dir erzählen müssen. Doch ich dachte, du würdest mich für verrückt halten, solange du sie nicht mit eigenen Augen gesehen hattest - aber sie hat sich gerade umgekleidet. Danach war ich so aufgeregt, dass ich vollkommen vergessen habe, was für ein Schock ihre Anwesenheit für dich bedeuten musste.« »Reines Glück, dass ich nicht vor Schreck gestorben bin, um die Wahrheit zu sagen.« »Allerdings.« Seolar hatte den Anstand, zerknirscht dreinzublicken. »Vielleicht solltest du besser die übrigen 15 Diener warnen, bevor wir nach etwas anderem schicken -es wäre mir grässlich, den Rest der Nacht damit zuzubringen, Speisen und Geschirr vom Boden aufzusammeln.« Birra beseitigte die Spuren seiner Unachtsamkeit und zog sich dann wieder zurück. Seolar sagte: »Morgen wird das Haus und das ganze Dorf mit Bändern geschmückt, und ich denke, übermorgen wird es im ganzen Land so aussehen.« Molly entgegnete: »Ein überwältigendes Willkommen.« Sie seufzte. »Lauren weiß es noch nicht.« »Deine Schwester? Du hast es ihr nicht erzählt?« »Ich bin in dem Wald ganz in der Nähe des Hauses aufgewacht. Es gab keine Möglichkeit für mich, sie zu erreichen oder ihr irgendetwas mitzuteilen. Aber wenn wir das tun wollen, was unsere Eltern für uns geplant haben, muss ich eine Möglichkeit finden.« »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Seolar. »Ich möchte das Risiko nicht eingehen, dich allein fortzulassen.«
Molly hätte Einwände erheben können, aber in Wahrheit wollte sie dieses Risiko auch nicht eingehen. »Schick einen verlässlichen Mann zu ihr«, bat sie. »Vielleicht Yaner - Lauren kennt Yaner.« »Natürlich.« Molly hörte ein Schlurfen aus Richtung des Eingangs zum Wintergarten, und als sie sich umdrehte, entdeckte sie eine Hand voll Diener, die sie durch die gewölbten Zweige der Bäume und das feine Blätterwerk der Farne beobachteten. Sie lächelte ihnen zu, woraufhin sie sich der Länge nach auf den Boden warfen und dann hastig kehrtmachten und flohen. »Es hat sich bereits herumgesprochen«, bemerkte Seolar. »Ich könnte sie für eine derartige Unverfrorenheit bestrafen ... aber ich werde es nicht tun. Wir glaubten, der Unter16 gang der Veyär sei besiegelt; dass sie sich selbst davon überzeugen wollten, dass wir wieder Hoffnung haben, nun ... das werde ich ihnen nicht vorwerfen.« Molly lächelte. »Nein. Es tut mir Leid, dass ich ihnen so töricht ihre Hoffnung geraubt habe, und sei es auch nur für kurze Zeit gewesen.« Seolar küsste sie abermals. Als neue Speisen gebracht wurden, schmeckten sie wundervoll, und Molly stellte fest, dass sie vollkommen ausgehungert war. Sie nahm von allem eine zweite Portion und noch eine dritte von dem köstlichen Obstdessert. Seolar beobachtete sie mit einem Ausdruck der Verwunderung beim Essen, noch lange nachdem er selbst fertig war. »Ich weiß nicht, warum ich solchen Hunger habe«, sagte Molly. »Vielleicht war die Rückkehr so anstrengend, dass jetzt nichts mehr in mir ist.« Sie runzelte die Stirn. »Hm, nein - es war ohnehin nichts in mir ...« Sie zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei, es kommt mir so vor, als hätte ich ein Jahr lang nichts mehr zu essen bekommen, und dies hier ist einfach himmlisch. Und ich bin so dankbar, dass die Küche Extraportionen gemacht hat.« Seolar stützte das Kinn auf eine Hand und fragte: »Meinst du, dass du jetzt bei jeder Mahlzeit solchen Hunger haben wirst? Dann müsste ich vielleicht zusätzliche Köche einstellen.« Er grinste sie an, und Molly lachte. »Keine Ahnung. Aber ich glaube es nicht. Es ist einfach so, dass dies seit einiger Zeit die erste Mahlzeit für mich ist. Und dabei wusste ich nicht einmal, dass ich solchen Hunger hatte.« »Es ist noch mehr da, wenn du willst«, erwiderte Seolar. Molly lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte. »Nein, ich glaube nicht, dass ich noch etwas will. Jetzt nicht mehr.« 17 Seolars Lächeln wurde breiter. »Schön. Denn ich schätze, dass nicht mehr allzu viel da ist.« Molly lachte und beugte sich dann vor. »In den nächsten paar Tagen werden wir viel zu tun haben. Aber heute Abend - heute Abend haben wir doch nichts Besonderes vor, oder?« »Gewiss nicht. Warum fragst du?« »Weil ich furchtbar gern etwas schöne Musik hören und mit dir tanzen würde. Ließe sich das machen?« »Du brauchst nur darum zu bitten, meine Geliebte.« Seolar blickte zu der Haupteingangstür des Wintergartens und hob an, etwas zu sagen. Bevor er jedoch einen Laut über die Lippen bringen konnte, wehte Birras Stimme wieder zu ihnen hinüber. »Ich bin schon auf dem Weg, die Musikanten zu holen, Imallin. Sie werden im Handumdrehen hier sein.« Molly seufzte und lächelte, wahrhaft zufrieden, in das Schweigen hinein. In diesem Schweigen, in der Stille ihrer Gedanken, hörte sie das schwere, träge Klatschen einer ledrigen Schwinge, und ihr Glück schmolz dahin wie Schnee auf heißem Pflaster. Sie erstarrte und konzentrierte sich. Hatte sie etwas gehört, oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie schloss die Augen und lauschte. Und da war es wieder. Klatsch. Eine Pause. Klatsch. Es kam aus einiger Entfernung, und obwohl sie das Geräusch nicht mit den Ohren hörte, hatte sie keinen Zweifel daran, dass es real war. Sie schlug die Augen auf, sah Seolar an und sagte: »Da kommt etwas.« »Etwas?« »Jäger«, antwortete sie. »Sie kommen. Sie wissen, dass ich hier bin, und sie suchen nach mir.« »Was für eine Art Jäger sind das?« 18 Molly graute davor, auch nur das Wort auszusprechen. »Die Rrön«, wisperte sie. Cat Creek, North Carolina Krokusse auf der Wiese, die ersten Spuren von Narzissen, die die Köpfe durch die Erde schoben, und eine Reihe geradezu unvernünftig gelber Forsythien, die neben der Einfahrt am Haus entlang wuchsen. Es sah so fröhlich aus und so alltäglich, dachte Lauren, als sie in die Einfahrt einbog. »Gut, kleiner Junge«, sagte sie zu Jake. »Diesmal hilfst du mir aber, unsere Einkäufe ins Haus zu tragen, hm?« Jake schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Ich helfe«, sagte er. »Ich bin ein großer Junge.« Während sie seinen Sicherheitsgurt öffnete, saß er ganz still im Wagen; dann stand er reglos da, bis sie ihm die Plastiktüte mit dem Brot in die Arme drückte. Die meisten der übrigen Einkaufstaschen nahm sie selbst, dann klemmte sie sich den Schlüssel zwischen die Zähne und sagte: »Komm, Jake. Gehn wir.« Wie ein gehorsames kleines Lämmchen stolperte er dicht hinter ihr her. Lauren hätte am liebsten geschrien. Sie
hätte am liebsten geweint. Jake war niemals ein gehorsames kleines Lämmchen gewesen. Niemals. Tatsächlich war er ihr immer wie eine Kreuzung zwischen einem mit Koffein voll gepumpten Kätzchen und dem Marsupilami aus der Zeichentrickserie erschienen. Während der beiden letzten Wochen hatte sie nichts von dem kleinen Jungen gesehen, den sie kannte - nicht mehr, seit ihm auf dem Weg durch die Weltentore etwas Furchtbares zugestoßen und Molly gestorben war, um ihn wieder gesund zu machen. Lauren wollte ihren quirligen, eigensinnigen, witzigen kleinen Kerl 19 zurückhaben. Sie fragte sich, ob er es jemals schaffen würde, wieder zu sich selbst zu finden - immerhin hatte er endlich wieder angefangen, zu sprechen, aber er plapperte nicht mehr wie früher. Er kletterte nirgendwo mehr hinein. Er lief nicht herum. Er blieb, wo sie ihn hinsetzte, tat, was sie ihm auftrug, und sonst nichts. Lauren nahm alle Tüten in eine Hand und schloss die Haustür auf. Dann stieß sie sie mit der Hüfte auf und stellte ihre Einkäufe schwungvoll auf den Fußboden in der Diele. Als sie sich umdrehte, kämpfte Jake sich gerade die Stufen zur Veranda hinauf, den Arm mit dem Brot vorsichtig erhoben, damit es nicht über den Boden schleifte. »Kommst du zurecht?«, fragte sie ihn. »Ja.« Er hielt sich mit der anderen Hand am Geländer fest und bewegte sich in einem Tempo, das Lauren als gemäßigten Hochzeitsmarsch bezeichnet hätte, die Treppe hinauf - linker Fuß vor, schließen; linker Fuß vor, schließen. Vorsichtig. »Ich bin gleich wieder da«, rief sie ihm zu, während sie die Treppe hinuntereilte. »Ich muss noch die anderen Sachen aus dem Wagen holen.« Lauren beeilte sich; sie lud sich die übrigen Taschen auf einen Arm, betete, dass die dünnen Plastikgriffe nicht reißen würden, schlug den Kofferraumdeckel zu und rannte beinahe zum Haus zurück. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Jake war lediglich durch die Tür bis zur Treppe gegangen, die in den zweiten Stock hinaufführte, und hatte sich auf die erste Stufe gesetzt. »Also schön«, sagte Lauren. »Lass uns das ganze Zeug in die Küche bringen. Komm.« Er schüttelte den Kopf, rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah sie nur an. 20 Lauren seufzte. »Jake, ich muss das Essen wegpacken. Das Eis wird schmelzen, und viele dieser Sachen müssen in den Kühlschrank. Kannst du das Brot für mich in die Küche tragen?« Er blieb immer noch da, wo er war, und schüttelte den Kopf. Also gut. Bis auf diese Kleinigkeit war er ungeheuer brav. Er weigerte sich, durch den Flur zu gehen - da half kein Bitten und nicht einmal die Aussicht auf ein Eis. Sie beugte sich vor, küsste ihn und nahm die Tasche mit dem Brot. »In Ordnung. Ich bringe die Sachen weg und komme sofort zurück. Du bleibst hier.« »Neiiiiin!«, heulte er, als er sah, dass sie sich zum Gehen wandte. »Ich gehe durch den Flur. Es ist alles in Ordnung, Äff-chen. Wirklich.« »Neiiiiin«, sagte er. Der hintere Teil der Diele machte ihm Angst. Der riesige Spiegel, der dort an der Wand hing, machte ihm Angst. Sie konnte ihn in die Küche schaffen, wenn sie ihn auf den Arm nahm und dort hintrug, und das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie in letzter Zeit etwas von seinem alten Kampfgeist zu spüren bekommen hatte. Dann verwandelte er sich, wenn auch nur vorübergehend, in einen richtigen Dämon, und sie hatte das Gefühl, ihr kleiner Sohn sei wieder da - wie er leibte und lebte. Sie hatte allerdings zu viele Lebensmittel, die sie verstauen musste, um sich freiwillig auf einen Kampf einzulassen. »Es muss sein, Schätzchen. Mir wird schon nichts passieren. Und dir auch nicht.« »NEIIIIIN!« Lauren holte tief Luft und schickte sich an, einfach ihre Plastiktüten zusammenzuraffen, den Flur hinunterzugehen 21 und Jake schreien zu lassen. Hinter ihr klopfte jemand an die Haustür. Sie drehte sich um. Pete Stark stand dort, immer noch in Uniform. Pete war der Stellvertreter des Sheriffs von Cat Creek. Außerdem war er ein Neuling bei den Wächtern, die - bis zu Laurens Rückkehr nach Cat Creek - eine geschlossene und heimlichtuerische Zelle einer Gruppe von Wächtern gewesen waren. Das Amt war erblich, und die Zugehörigkeit zu diesem illustren Kreis ließ sich über Generationen zurückverfolgen. Die Menschen in Laurens eigener Familie waren länger bei den Wächtern gewesen, als sie Amerikaner waren - und sie waren seit über hundert Jahren Amerikaner. Die Wächter standen an den Weltentoren und versuchten, magische Schäden zu verhindern - und wenn nötig zu beheben -, deren Echo aus anderen Welten in der Weltenkette bis zur Erde vordrang. Sie lebten ein gefährliches Leben und starben häufig jung. Versteckt in kleinen Städten verbrachten sie ihre Tage als Floristen, Versicherungsvertreter, Bankangestellte und Hausfrauen, während sie die uralten Geheimnisse der Weltentore und der Magie hüteten, die zu beiden Seiten dieser Tore zu finden war - denn jeder konnte es lernen, die Tore zu benutzen, und jene, die sich innerhalb der Weltenkette nach unten bewegten, erlangten die Macht von Göttern, wenn auch nicht deren Weisheit. Und Magie, die in einer unteren Welt benutzt wurde, wirkte sich auf die obere Welt aus, häufig mit entsetzlichen
Folgen. Die Wächter von Cat Creek hatten kürzlich schwere Verluste erlitten. Neun von vierzehn Wächtern waren im vergangenen Monat gestorben, darunter die Verräter, die mit ihrer Magie eine menschheitsbedrohende Seuche ausgelöst 22 hatten. Allein in Cat Creek waren dreihundert Menschen gestorben, weltweit waren es Millionen gewesen. Die überlebenden Wächter hatten Lauren als ihre neue Torweberin vereidigt, und Pete hatten sie vor allem deshalb in ihren Kreis aufgenommen, weil er ein Freund von Eric MacAvery war - Cat Creeks Sheriff und Oberhaupt der Wächter von Cat Creek. Zum Teil aber hatten sie es wohl auch deshalb getan, weil Pete zu viel über die Wächter und die Weltentore wusste, als dass sie ihn einfach hätten ziehen lassen können. Obwohl seine Aufnahme bei den Wächtern beinahe einer Zwangsrekrutierung gleichgekommen war, hatte Pete die Pflichten und die Verantwortung eines Wächters mit einer Begeisterung und Hingabe übernommen, die alle überraschte. Nur Lauren schien daran zu zweifeln, dass er sich in einer Gefahrensituation bewähren würde. Nur sie schien zu bemerken, dass unter der Oberfläche seines Wesens noch andere Dinge verborgen lagen, oder zu argwöhnen, dass er mehr war, als er zu sein vorgab. Sie hielt ihn für vertrauenswürdig, was immer das wert sein mochte. Taten sprachen die Wahrheit, wo Worte logen - und er hatte Erics Leben gerettet und sein eigenes viele Male auf verschiedenste Weise riskiert. Ihr gefiel der Ausdruck seiner Augen. Ihr Bauch sagte ihr: Er ist in Ordnung. Er ist einer von den Guten. Aber von welchen Guten? »Hallo«, sagte sie und öffnete die Tür. »Hast du Zeit, ein oder zwei Minuten bei Jake im Flur zu sitzen, damit ich die Lebensmittel wegpacken kann?« Er sah sie verblüfft an. »Hm ... ich denke schon. Ich bin vorbeigekommen, um mit dir zu reden, aber ...«Er zuckte die Achseln, lächelte Jake an und setzte sich dann neben 23 ihn auf die Treppe. »Hast du Lust zu spielen? Autos? Oder Pferdchen? Oder etwas anderes?« Jake starrte Pete an, als hätte dieser zwei Köpfe. »Bin gleich wieder da«, sagte Lauren und schleppte ihre Einkaufstaschen den Flur hinunter, bevor Pete es sich anders überlegen konnte. Seit der Beerdigung war er fast jeden Tag vorbeigekommen. Sie traf ihn auch, wenn sie durch die Stadt fuhr und bei den einzelnen Wächtern die Tore überprüfte, und manchmal liefen sie einander zufällig auf der Straße über den Weg. In einer Stadt, in der - seit der Grippeepidemie - kaum mehr als siebenhundert Menschen lebten, war es schwierig, jemandem nicht zu begegnen. Pete wollte mit ihr zusammen sein, er wollte Zeit mit ihr verbringen, um sie kennen zu lernen; er wollte ihr helfen, all die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Monate zu überwinden - und vielleicht auch die des vergangenen Jahres. Er mochte sie. Was das betraf, sie mochte ihn ebenfalls. Aber er war nicht Brian und konnte niemals Brian sein. Brian hatte sich aus dem Reich des Todes gewagt, um Jakes Leben zu retten, und er hatte Lauren gesagt, dass er sie immer lieben und dass er auf sie warten würde. Damit blieb Lauren nicht viel Spielraum, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Das Haus gehörte ihr, und die kleine Rente, die ihr allmonatlich ausgezahlt wurde, reichte ihr aus, um sich und Jake durchzubringen, auch wenn sie ein recht bescheidenes Leben führen mussten. An einem Ort wie Cat Creek war es nicht allzu schwierig, bescheiden zu leben. Aber das Leben hatte so viel mehr mit ihr vorgehabt. Bis zu Mollys Tod war sie eine Hälfte einer Partnerschaft gewesen, deren Bestimmung es war, die Erde vor der Selbstzer24 Störung zu retten und den endgültigen Zusammenbruch der Weltenkette zu verhindern, in der die Erde lediglich eine einzelne Perle war. Sie hatte fünfunddreißig Jahre ihres Lebens damit zugebracht, sich auf ein Schicksal voller unvorstellbarer Wunder zuzubewegen, und sie hatte an einem einzigen Tag am Ende dieses fünfunddreißig Jahre währenden Marsches nicht nur herausgefunden, wer sie war und wer Molly war, sondern auch Aufschluss darüber erhalten, was ihre Eltern mit ihnen beiden vorgehabt hatten. An jenem Tag war ihr klar geworden, dass ihr Leben eine Bedeutung hatte, deren Ausmaß sie nicht einmal annähernd erfassen konnte ... und am selben Tag war dann Molly gestorben, und sie hatte die Schwester verloren, die sie gerade erst gefunden hatte, und mit ihr die Zukunft, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Und ebendieser bittere Tag hatte das furchtbare Opfer ihrer Eltern vor so vielen Jahren nutzlos gemacht - denn wenn Lauren und Molly die Pläne ihrer Eltern nicht in die Tat umsetzen konnten, waren Laurens Mom und ihr Dad umsonst gestorben. Lauren knallte die Büchsen auf die Regale in der Speisekammer, legte die Früchte in die großen Holzschalen auf der Theke und weigerte sich, den Tränen ihren Lauf zu lassen. Solcher Mist passierte eben manchmal. Er passierte jedem, und auch wenn es ihr nicht fair erschien, dass sie so viel davon abbekommen hatte, nun, niemand, der auch nur einen Funken Verstand hatte, hatte je behauptet, dass das Leben fair war. Oder dass irgendjemand auch nur versuchen sollte, für eine gewisse Fairness zu sorgen. Außerdem hatte sie immer noch Jake. Sie hatte einen Ort zum Leben, ein wenig Geld und die Zeit für ihren kleinen Sohn, die so vielen jungen
Müttern fehlte. Sie hatte eine ganze Menge, und sie würde sich nicht gestatten, in Selbstmitleid zu schwelgen. Auf keinen Fall. Sie verabscheute Jammerlappen. 25 Draußen in der Diele konnte sie Pete hören, der mit Jake redete. Er las ihm eine Geschichte vor, wie sie jetzt bemerkte. Die kleine alte Dame, die vor nichts Angst hatte? Sie zuckte zusammen. Das war eins von Jakes Lieblingsbüchern gewesen, bevor ... nun ja, bevor das alles passiert war. Aber jetzt schien er die Spannung nicht länger zu ertragen, und wenn der Kürbis »Buh, buh!« sagte, brach er immer in Tränen aus, selbst wenn der Kürbis nur ganz leise »Buh, buh!« sagte. »Auf dieses Buch spricht er in letzter Zeit nicht besonders gut an«, schrie sie. »Im Moment kommt er recht gut klar«, rief Pete zurück. »Er hält sich zwar die Augen zu, aber ich mach's nicht übermäßig dramatisch.« »Beim Kürbis fängt er an zu weinen.« »Ich passe schon auf.« Wie du willst, dachte Lauren verärgert. Aber wenn er einen Anfall bekommt, kriegst du es mit uns beiden zu tun. Das Brot in den Kühlschrank, die Kuchenmischung aufs Regal, Mehl und braunen Zucker in das oberste Fach mit den Backsachen. »Das TUT ER NICHT!«, hörte Lauren Jake plötzlich rufen. »Der furchtbar schreckliche Kürbis sagt: >BUH! BUH!Ich hab ein Plätzchen!Der furchtbar große, furchtbar orange und furchtbar schreckliche Kürbis sagt: >Ich habe ein Plätzchen in meinem Bauch.BUH! BUH!< sagen.« Jake verlieh diesen »Buhs« den gleichen bebenden Nachdruck, mit dem Lauren diese Stelle des Buches früher immer vorgelesen hatte. »Und ich habe gesagt, Pete ist ein Blödian.« Lauren zuckte zusammen und erwiderte: »Ich hab's gehört.« Pete grinste sie an. »Er hat seinen eigenen Kopf, wie?« »Und ob.« Sie sah ihren Sohn lächelnd an. »So glücklich habe ich ihn nicht mehr gesehen, seit ...« Sie zuckte die Achseln. »Er ist ein zäher kleiner Bursche«, meinte Pete. Dann schwang er Jake auf den Fußboden hinunter, und der Junge kam auf sie zugelaufen und schlang die Arme um ihre Oberschenkel. »Kann ich helfen?« Lauren gab ihm eine Suppendose und zeigte unten in die Speisekammer. »Die kommt da drüben hin«, antwortete sie. »Stell sie weg und hol dir die nächste.« Pete sagte: »Ich wollte dir mitteilen, dass wir heute eine neue Wächterin bekommen haben. Eine junge Frau namens Darlene Fullbright. Eric hat mich gebeten, bei dir vorbeizufahren und dir Bescheid zu geben. Wenn du
willst, fahre ich dich zu ihr rüber, damit du ihr Tor einrichten kannst. Sie wollte ursprünglich bei June Bug wohnen, aber anscheinend ist Darlene allergisch gegen Rauch, und June Bug meinte, dass sie sich in ihrem Alter nicht von irgendjeman28 dem in ihrem eigenen Haus zum Rauchen vor die Tür schicken ließe - die beiden hatten jedenfalls keinen guten Start miteinander.« Lauren lächelte leicht. »Ich kann mir gut vorstellen, dass June Bug von niemandem allzu begeistert wäre, der ihr irgendwelche Veränderungen vorschlägt. Und alles, was ihre verdammten Zigarren betrifft...« »Sie ist ein Unikum«, stimmte Pete ihr zu. »Soll ich dich rüberfahren? Natürlich erst, wenn du den Rest deiner Einkäufe verstaut hast.« Lauren zuckte die Achseln. »Warum nicht. Ich muss Jake heute Abend noch baden, aber das ist das größte Ereignis, das mir bevorsteht.« »Wir könnten zusammen etwas unternehmen. Irgendwo essen gehen - drüben in Rockingham oder in Laurinburg oder unten in Bennettsville. Du brauchst nicht jeden Abend allein zu verbringen. Du hast eine Menge durchgemacht -und ich habe das Gefühl, dass dir ein wenig Gelächter genauso gut täte wie unserem kleinen Jake.« Lauren dachte voller Sehnsucht an die Abende zurück, an denen sie und Brian sich herausgeputzt hatten - Lauren in einem hübschen Kleid, Brian in seiner blauen Uniform mit allen Rangabzeichen -, wenn sie zu besonderen Anlässen zum Stützpunkt in Pope fuhren. Sie konnte die Augen schließen und ihn im Wohnzimmer ihres einfachen, kleinen Doppelhauses sehen, die Fliegerkappe in der Hand, ein Lächeln auf dem Gesicht. Seit Brians Tod hatte sie außer zu Beerdigungen niemals mehr eine Strumpfhose oder ein Kleid angehabt. Vielleicht würde es nichts schaden, Pete beim Wort zu nehmen - vielleicht wurde es Zeit, dass sie aufhörte, hochhackige Schuhe nur als etwas zu betrachten, das man anzog, wenn jemand starb. 29 Aber wäre das Pete gegenüber fair? Sie war nicht frei. Sie war zwar Witwe, aber eine Witwe in einer besonderen Situation - sie würde niemals mehr frei sein. Ja, beantwortete sie sich ihre eigene Frage. Sie wusste, dass sie Pete etwas bedeutete und dass er gern mit ihr ausgehen würde, daher konnte sie nichts mit gutem Gewissen akzeptieren, das er als ein Rendezvous betrachten würde. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Aber ... du gibst mir einen Korb.« Pete lächelte traurig. »Ich schwöre, Lauren, ich konnte den ganzen Film auf deinem Gesicht ablaufen sehen, während ich auf deine Antwort wartete. Du wolltest Ja sagen, du hast es erwogen, Ja zu sagen, und dann hat irgendetwas deine Meinung geändert. Was?« »Brian.« Pete schloss die Augen, holte langsam Atem und stieß ihn mit dem Gehabe eines Mannes aus, der versuchte, mehr Geduld aufzubringen, als er hatte. Jetzt würde er ihr sagen, dass Brian tot war, dachte Lauren, dass ein Ehegelübde nur bis zum Tod galt - aber stattdessen nickte er nur. »Also gut.« Lauren stellte fest, dass sie sich gewünscht hatte, er würde versuchen, sie umzustimmen. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Sie wandte sich ab, räumte die letzten Lebensmittel weg, knüllte die Plastiktüten zusammen, warf sie in den Mülleimer und wünschte, sie könnte sich selbst verstehen. Zu ihren Füßen machte sich Jake bemerkbar. »Oh, nein«, wimmerte er. »Mama. Nein.« Lauren drehte sich um, um herauszufinden, was ihn beunruhigte. Sie konnte nichts entdecken. Sie machte einen Schritt nach vorn und trat an eine Stelle, wo die Luft so eisig, so erschreckend war, dass sie beinahe laut gekreischt 30 hätte. Aber in ihren Gedanken wisperte etwas: Schick den Mann weg. Ich habe Neuigkeiten für dich. 2 Cat Creek Lauren erstarrte und versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann nahm sie Jake auf den Arm, drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Seht, Schätzchen, es wird alles gut.« Beruhigend strich sie ihm übers Haar und trat aus dem eisigen Luftstrom heraus, bei dem es sich kaum um etwas anderes handeln konnte als um einen Orianer. »Mama, der Mann will mit dir reden«, sagte Jake und begann laut zu schluchzen. »Lass uns hier weggehen. Komm, Mama. Lass uns weggehen.« Lauren zwängte sich an Pete vorbei aus der Küche, woraufhin dieser ihr mit verwirrter Miene nacheilte. »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Lauren. »Jake hat ... Wenn er älter wäre, würde ich sagen, dass er jedes Mal Panikattacken hat, wenn wir in den hinteren Teil des Hauses kommen. Natürlich reagiert er auf den Spiegel in der Diele sehr schlecht, aber er gerät auch in der Küche in Panik. Er weigert sich, sie allein zu betreten, und versucht auch, mich davon abzuhalten.« Pete sah sie zerknirscht an. »Tut mir Leid. Das wusste ich nicht. Ich dachte, es würde ihn von seiner Angst vor dem Spiegel ablenken, wenn ich ihn nach hinten bringe ...« Er klopfte Jake auf die Schulter, doch der Junge
wandte den Kopf ab und vergrub das Gesicht in Laurens Haaren. 32 »Geh weg.« Pete sah Lauren an. »Ist er böse auf mich?« Lauren, die Pete zur Haustür brachte, warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. »Er hat in letzter Zeit einige Übung darin, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Person, die ihn in eine Situation bringt, in der er nicht sein will, wird zum Feind - zumindest für ein Weilchen. Im Allgemeinen bin ich es, da ich die Einzige bin, mit der er die ganze Zeit zusammen ist.« Achselzuckend öffnete sie Pete die Tür. Jake klebte noch immer an ihr wie eine Muschel an einem Boot. »Aber er ist nicht nachtragend«, fügte sie hinzu. »Was das betrifft, ist er ein ziemlich cooler kleiner Junge. Wenn er dich das nächste Mal sieht, ist alles wieder in Ordnung.« »Wir hatten doch so viel Spaß miteinander«, meinte Pete, während er auf die Veranda hinaustrat. »Genau. Und dann hat er begriffen, dass du ihn gegen seinen Willen in die Küche bringen wolltest - also bist du jetzt in seinen Augen einfach ein genauso hinterhältiger Erwachsener wie alle anderen auch.« Lauren trat so weit auf die Veranda hinaus, dass Pete den Eingang freigeben musste. Als sie sicher sein konnte, dass er sich endgültig zum Gehen entschlossen hatte, machte sie einen halben Schritt zurück ins Haus und sagte: »Ich werde das Tor für die Neue später machen. Sie braucht es ja ohnehin nicht auf der Stelle. Sie kann sich einfach freinehmen, wenn sie zu Hause ist, bis ich die Gelegenheit hatte, bei ihr vorbeizuschauen. Jetzt muss ich zuerst Jake beruhigen.« Pete, der offensichtlich nicht recht begriff, welche Dampfwalze ihn auf die Veranda hinausbefördert hatte, wollte protestieren. Dann nickte er jedoch. »Klar - kümmer dich um ihn. Tut mir Leid, Kleiner. Ich wollte dir keine Angst machen.« 33 Jake riss den Kopf zur Seite, so dass er Pete nicht ansehen musste. »Er wird schon darüber hinwegkommen«, erklärte Lauren. Dann trat sie in die Diele und schloss die Tür. Pete blieb noch einen Moment lang auf der Veranda stehen, ohne dass der verblüffte Ausdruck aus seiner Miene gewichen wäre. Dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Lauren verschloss die Haustür - ihre Mitstreiter unter den Wächtern hatten die unangenehme Angewohnheit, anzuklopfen, um ihr Erscheinen anzukündigen, und dann einfach hereinzukommen, falls die Tür nicht verschlossen war. Die meiste Zeit über störten Lauren diese kleinstädtischen Gewohnheiten nicht weiter. Jetzt jedoch konnte ein ungebetener Gast - oder eher ein zweiter ungebetener Gast - zum Problem werden. »Ich komme nicht in die Küche zurück«, sagte sie, als sie Pete mit seinem schwarzweißen Wagen aus der Einfahrt fahren sah. »Wenn du mit mir reden willst, wirst du schon hier heraufkommen müssen. Mein Sohn fürchtet sich vor der Küche.« Sie sah ein Schimmern im hinteren Teil der Diele - etwas Durchsichtiges bewegte sich auf sie zu. Sie wartete ab, und das Ding nahm Gestalt an. Es war einer der Veyär. Da er durchsichtig blieb und sich weiterhin im hinteren Teil des Raumes aufhielt, fern des hellen Lichtes von draußen, konnte sie seine Farbe nur erraten, vermutete aber, dass es einer von den blaugrünen war. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte der Veyär. Zwar konnte Lauren seine Stimme jetzt hören, aber sie klang, als spreche er vom Ende eines sehr langen Tunnels, so dass seine Worte ein starkes Echo hatten. »Das erwähntest du bereits.« Lauren drückte Jake fest an sich. Sein kleiner Körper war stocksteif geworden, und 34 sie spürte, dass er vor Furcht zitterte. »Beeil dich. Du erschreckst meinen kleinen Sohn.« Veyär-Gesichter waren schwer zu deuten - Lauren konnte die Gefühle nur ahnen, die über das tätowierte Antlitz huschten. Der Veyär wirkte nervös und furchtsam, gleichzeitig aber beinahe erregt. »Kurz. Ja. Ich werde es kurz machen. Der Imallin schickt mich - du musst nach Oria kommen, um dein Schicksal zu erfüllen.« »Mein Schicksal ist mit meiner Schwester gestorben«, erwiderte Lauren leise. »Ich habe kein Schicksal mehr.« Der Veyär ließ nachdrücklich seine Handgelenke knacken, indem er sie heftig schüttelte; dann sagte er: »Nein, nein, nein. Dein Schicksal ist wiedergeboren worden. Die Vodi ist zu uns zurückgekehrt.« »Ihr habt eine neue Vodi gefunden?«, fragte Lauren, die versuchte, sich einen Reim auf diese Worte zu machen. »Nein. Deine Schwester. Die Vodi. Sie lebt.« Laurens Magen krampfte sich zusammen. Ärger stieg in ihr auf. Furcht. Irgendetwas, das dunkel und hässlich war. »Ich habe Molly beerdigt«, sagte sie, und ihre Stimme wurde weicher, während ihre Wut wuchs. »Sie ist tot. Ich kann dich zu ihrem Grab führen, wenn du willst. Aber ich werde mich nicht wegen irgendeiner Farce, die ihr euch ausgedacht habt, zusammen mit meinem kleinen Sohn noch einmal nach Oria verschleppen lassen. Ohne Molly kann ich ohnehin nichts tun, was von Belang wäre.« »Und ohne dich kann auch sie nichts tun«, versetzte der Veyär. »Sie hat mir eine Nachricht für dich gegeben. Sie sagte, du würdest wissen, dass sie von ihr kommt, dass es etwas sei, das nur ihr beide verstehen könntet. Eure Eltern wollten, so erzählte sie mir, dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden.« 35 Lauren starrte den Veyär ungläubig an. »Das musst du mir näher erklären.« »Ich weiß nicht mehr darüber. Ich kann nur wiedergeben, was sie mir für dich aufgetragen hat. Sie sagte, eure
Eltern hätten gewollt, dass ihr beide unsere Weltenkette wieder zu einem Gewebe zusammenfügt, und dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden.« Er zuckte die Achseln - diese Geste zumindest konnte Lauren verstehen. Eure Eltern wollten, dass sie die Kette sein sollte und du der Schussfaden. Ja. Genau das war es - der Vergleich, den sie Lauren und Molly mit magischen Mitteln ins Gehirn gepflanzt hatten. Dieses Bild war zusammen mit tausend anderen Gedankenverbindungen urplötzlich zum Leben erwacht, als Lauren und Molly einander endlich kennen gelernt und berührt hatten. Am selben Tag, an dem die Erinnerung in ihnen wach geworden war, war Molly jedoch gestorben, ohne eine Gelegenheit oder einen Grund gehabt zu haben, diese Information mit irgendjemandem zu teilen. Lauren selbst hatte niemals jemandem davon erzählt - sie hatte niemals auch nur ein einziges Wort darüber verloren, was sich zwischen ihnen ereignet hatte. Vielleicht verfügten die Veyär über eine Möglichkeit, ihre Gedanken zu lesen - zuzutrauen wäre es ihnen. Aber irgendwie ... irgendwie hatte Lauren nicht das Gefühl, hintergangen zu werden. Konnte Molly wirklich noch am Leben sein? Nein. Natürlich nicht. Lauren war bei der Beerdigung gewesen, hatte ihre Schwester in dem Sarg liegen sehen und beobachtet, wie June Bug Täte beim Anblick von Mollys Leiche lautlos zusammengebrochen war. Jake lebte nur deshalb noch, weil Molly ihr eigenes Leben geopfert hatte, um ihn zu retten. Kette und Schuss. 36 Sie holte tief Luft und fragte den Veyär: »Wie? Wie kommt es, dass sie lebt?« »Sie ist die Vodi«, antwortete der Veyär. »Sie trägt die Kette, die alle Vodi vor ihr getragen haben, und diese Kette beschützt sie geradeso, wie sie die anderen Frauen beschützt hat. Sie lebt, und sie und der Imallin bitten dich, nach Oria zu kommen.« »Er ist böse, Mama«, sagte Jake, das Gesicht gegen ihren Hals gedrückt. »Mach, dass der böse Mann weggeht.« Lauren lehnte sich an die Wand und starrte den Veyär an, während sie ihren Sohn sanft in den Armen wiegte und ihm auf den Rücken klopfte, als sei er noch ein Baby. Kette und Schuss - die Fäden, die die hinfällige Weltenkette wieder zusammenfügen sollten. Ihre Eltern hatten diese Nachricht Molly eingepflanzt, sie hatten sie Lauren eingepflanzt -und nun war sie wieder aufgetaucht, um Lauren zu verfolgen. Und wenn Molly wirklich noch lebte, dann lebte auch der Plan. Laurens Eltern waren nicht umsonst gestorben. Lauren hatte immer noch ein Schicksal. Die Welt, die sie liebte und die sie Jake und den Kindern, die er vielleicht einmal haben würde, hinterlassen wollte, diese Welt hatte noch immer eine Chance. Aber wenn der Plan noch lebte, dann würden die Wächter vielleicht ein Problem werden, genauso wie einige andere Dinge auch. Schutzlos waren Lauren und Jake in dem alten Haus ihrer Familie eine leichte Beute für jeden, der diese Lage der Dinge bereinigen wollte - nachdem Mollys Beerdigung dazu offensichtlich nicht gereicht hatte. Scheiße. Im Kupferhaus wären sie und Jake in Sicherheit - zumindest so lange, wie sie brauchen würde, um festzustellen, ob Molly tatsächlich noch lebte und ob ihnen irgendwelche realen Gefahren drohten. Das Kupferhaus lag jenseits der 37 Tore, in Oria, der Unterwelt der Erde, und es war dazu erbaut worden, der Magie der ältesten und tödlichsten unter den dunklen Göttern standzuhalten. Die Veyär mochten kurz vor dem Aussterben stehen, aber das lag nicht daran, dass sie es versäumt hätten, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um ihre Haut zu retten. Wenn Molly noch lebte, musste Lauren nach Oria gehen. Sie hatte eine Pflicht zu erfüllen. Sie hatte eine Aufgabe, die sie nicht einfach ignorieren durfte, denn einzig und allein sie war zu ihrer Erfüllung auserkoren. Sie war geboren worden, um die Dinge zu tun, die sie tun musste. Laurens Mutter hatte einen ungeheuren persönlichen Preis bezahlt, um Molly, die halb Mensch, halb Veyär war, zu empfangen und zur Welt zu bringen. Lauren wusste nicht, ob ihre Eltern ihren Plan vor oder nach der Entdeckung gefasst hatten, dass Lauren Tore weben konnte und eine ausgesprochene Begabung dafür hatte, mit ihren Toren eine Verbindung zu Orten zu knüpfen, an denen sie noch nie gewesen war. Sie wusste, dass das selbst unter Torwebern eine Seltenheit war. Lauren sah sich in dem Haus um, das ihren Eltern gehört hatte und jetzt ihr gehörte, und begriff, dass sie, wenn der Veyär die Wahrheit sagte, dieses Haus würde verlassen müssen, vielleicht für immer. Sie wollte es nicht. Ihre Mutter hatte die Narzissen und Krokusse gepflanzt, die Phloxe und die Forsythien, den Hartriegel und die Azaleen. Ihr Vater hatte die Bücherregale und die Fensternischen geschreinert, hatte die Veranda renoviert und die Schaukel dort gebaut, und er hatte Dinge auf dem Dachboden hinterlassen, deren Sinn Lauren noch immer nicht ganz entschlüsselt hatte. Dies war der einzige Ort auf der Welt, den sie wahrhaft ihr Zuhause nennen konnte. Nirgendwo sonst gehörte sie hin. 38 »Ich werde Jake mitnehmen müssen«, erklärte sie dem schattenhaften Veyär. »Tu das.« »Du verstehst nicht. Ich bekomme ihn nicht einmal in die Nähe eines Tores, ohne dass er vollkommen durchdreht. Etwas Schreckliches ist ihm zugestoßen, etwas, das mit Molly und den Toren zusammenhängt, und ich möchte ihm nicht noch mehr wehtun.« Der Veyär sah sie mitfühlend an - zumindest interpretierte Lauren sein Mienenspiel und seine Bewegungen als
Mitleid. Er sagte: »Der kleine Junge wird im Kupferhaus sicherer sein als hier. Der Imallin hat mir aufgetragen, dir unbedingt mitzuteilen, dass sich bereits Kräfte zusammengeschlossen haben, die von der Rückkehr der Vodi wissen -und von der Bedeutung dieses Geschehens. Diese Kräfte werden sich auch über deine Beziehung zu ihr im Klaren sein. Sie werden wissen, wie wichtig du bist. Und wenn sie an Molly nicht herankommen - und das können sie nicht, weil sie im Kupferhaus in Sicherheit ist -, dann werden sie es bei dir versuchen.« »Nein«, widersprach Lauren, aber in Wirklichkeit wusste sie bereits, dass der Veyär die Wahrheit sagte. »Bitte. Um deiner Sicherheit willen, um unserer Welten willen - um unserer Völker willen. Bitte, komm. Sie braucht dich. Wir brauchen dich.« Lauren drückte Jake noch fester an sich und strich ihm übers Haar. »Geh zurück nach Oria. Sag ihr, dass ich so schnell wie möglich kommen werde. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich die Erde verlassen kann - ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde, und ich muss einige Vorkehrungen treffen.« Sie konnte jedoch keinem der Wächter sagen, dass sie fortging. Sie war sich nicht sicher, ob sie auf ihrer Seite sein 39 würden, wenn sie erfuhren, dass MoUy noch lebte. Bis auf Pete vielleicht. Sie glaubte, dass sie Pete vertrauen konnte. Sie musste ihm ihre Schlüssel geben und dafür sorgen, dass er in ihr Haus gelangen und ihre Rechnungen bezahlen konnte, falls es ihr nicht möglich war, schnell genug zurückzukehren ... und sie musste dafür sorgen, dass er die übrigen Wächter davon abhielt, ihr zu folgen, wenn sie nicht unverzüglich auf die Erde zurückkehren konnte. Was das Packen betraf, brauchte Lauren sich keine Sorgen zu machen; die Veyär würden ihr alles beschaffen, was sie benötigte, während sie im Kupferhaus lebte. Sobald sie die Festung der Veyär verließ und ihre Aufgaben erledigte, würde sie sich in den meisten Fällen mit Magie behelfen können. Ein paar von Jakes Lieblingsspielsachen sollte sie allerdings einpacken. Und sie brauchte ihr Foto von Brian. Davon abgesehen ... Sie hatte auf den Fußboden gestarrt, und als sie nun aufblickte, um dem Veyär zu erklären, dass sie ihm ein oder zwei Tage später folgen würde, war er bereits fort. Lauren holte tief Luft. Molly lebte. Vielleicht ... und wenn sie noch lebte, wie war das möglich? Und wie passte diese Tatsache zu dem rigorosen Verbot der Wächter, jemanden von den Toten zurückzuholen? Und was bedeutete dieses Übelkeit erregende Gefühl, das Laurens Magen zusammenkrampfte, wenn sie auch nur daran dachte, einen Toten mithilfe von Magie wieder zum Leben zu erwecken? Aber diese Einzelheiten konnte sie nur in Erfahrung bringen, wenn sie nach Oria ging. Zuerst einmal musste sie dort sein. Lauren listete die Dinge auf, die sie noch tun musste. Sie würde einen Brief und einen Schlüssel für das Haus durch ein kleines Tor in Petes Wohnung befördern und auf den Tisch legen, wo er beides finden würde, wenn er nach Hau40 se kam. Und sie musste sich irgendeine plausible Lüge für ihn ausdenken; sie musste der Putzfrau absagen; eine vertrauenswürdige Person finden, die ein Auge auf das Haus hielt; Bearish und Mr Puddleduck und die CrashAutos zusammen mit Jakes Flanelllätzchen und Brians Foto in einen Rucksack packen. Und die Briefe. Sie würde nicht ohne die Briefe fortgehen, die sie und Brian einander geschrieben hatten, wenn er in Übersee stationiert gewesen war. Das alles konnte sie an einem Nachmittag erledigen. Während sie Jake noch immer auf den Armen wiegte, wurde ihr klar, dass sie durchaus aus dem Haus sein konnte, bevor es dunkel wurde. Es widerstrebte ihr. Aber je schneller sie nach Oria kam, umso schneller würde sie die Wahrheit erfahren. Und dann würde sich vielleicht herausstellen, dass alles eine Lüge war, und sie konnte nach Hause zurückkehren. Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass der Veyär ihr die Wahrheit gesagt hatte. Sie konnte es spüren, wie das Heraufziehen eines Unwetters. Molly war wieder lebendig, und sie beide hatten eine Aufgabe zu erfüllen. Von Cat Creek ins Kupferhaus Lauren schaffte sich das Tor für das neue Mädchen vom Hals, einfach weil sie nichts unerledigt lassen wollte. Sie bestellte ihre Zeitung ab, legte eine Nachricht für den Postboten in den Briefkasten und drehte den Thermostat im Haus herunter, so dass er die Heizung nur noch einschalten würde, um bei einem späten Frost in Cat Creek ein Einfrieren der Rohre zu verhindern. Sie überzeugte sich davon, dass alle Fenster und Türen verschlossen waren, dass ihr Wagen 41 abgeschlossen in dem Schuppen hinterm Haus stand und dass ihre privaten Tore in diesem Schuppen alle geschlossen und mit ihrem persönlichen Schlüssel blockiert waren. All das war erledigt, und soeben senkte sich die Dämmerung über die Stadt. Lauren war noch nicht bereit, zu gehen. »Aber ich weiß nicht, ob ich jemals bereit sein werde«, sagte sie zu Jake. »Die große Frage ist, ob wir jemals zurückkommen werden ... Und diese Frage kann ich uns nicht beantworten.« Jake, der es gewohnt war, bei Gesprächen, die keinen Sinn für ihn ergaben, den Zuhörer zu spielen, schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln und konzentrierte sich auf die Worte, die er kannte. »Gehen?«, fragte er. »Gehen wir zu Hardee's, Kekse kaufen?«
»Nicht heute, Jakey«, verneinte Lauren. »Heute haben wir andere Dinge zu tun. Es wird Zeit, deine Tante Molly zu besuchen.« Das sagte ihm nichts. Nun, er war ihr nur ein einziges Mal begegnet, und das unter den denkbar schlimmsten Umständen; es gab keinen Grund, warum er ihren Namen hätte behalten sollen. Aber wenn er durch ein Tor gehen sollte, würden gewiss die Alarmglocken bei ihm schrillen. Lauren griff nach ihrer kleinen Reisetasche, hängte sie sich über die Schulter und trat auf den Spiegel in der Diele zu. Sie hatte Petes Brief griffbereit. Jetzt überflog sie ihn noch einmal, um ihn nach möglichen Fehlern zu überprüfen. Hallo Pete, tut mir Leid, dass ich dich so ohne Vorwarnung um einen Gefallen bitten muss, aber jake und ich müssen nach Charlotte reisen. Brians Eltern werden für ein paar Tage in der Stadt sein; sie haben mich aus heite42 rem Himmel angerufen und darum gebeten, ihren Enkel sehen zu dürfen. Da nicht einmal der Teufel persönlich ihn dazu bringen könnte, diese Leute zu besuchen, ohne dass ich in der Nähe bin, werde ich in den nächsten Tagen nicht in der Stadt sein. Falls wir einen Notfall haben sollten, bevor ich zurück bin, können die Wächter sich Verstärkung bei den Torwebern in Vass holen. Ich werde keine Telefonnummer hinterlassen - was ich zu tun habe, muss ich tun, ohne Wenn und Aber und ganz gleich, wie lange es dauern wird. Bitte entschuldige mich bei allen. Ich hätte diese Angelegenheit lieber mit ein wenig mehr Anstand und einer gewissen Vorwarnung erledigt. Ich komme zurück, sobald ich kann. Bitte halte in der Zwischenzeit für mich ein Auge auf das Haus und nimm dir alles aus dem Kühlschrank, was du gebrauchen kannst. Danke, Lauren In ihren Augen sah der Brief ganz annehmbar aus. Lauren setzte Jake auf die unterste Treppenstufe im vorderen Teil der Diele, wo er auf sie warten sollte. Dann ging sie zu dem riesigen Spiegel an der hinteren Wand, holte tief Luft und legte eine Hand auf das Glas. Sie starrte in ihre Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und konzentrierte sich auf Petes Küchentisch. Eine Sekunde später konnte sie ein winziges grünes Schimmern in den Augen ihres Spiegelbilds ausmachen. Sie rief dieses Feuer zu sich und spürte, wie der Spiegel unter ihren ausgebreiteten Fingerspitzen einer glücklichen Katze gleich zu schnurren begann. Sie ließ ihren Blick ein klein wenig unschärfer werden, und das Bild, das sie sah, veränderte sich - es war nicht länger eine dunkelhaarige Frau, die in der Diele eines alten 43 Hauses stand, eine Hand auf einen übermannsgroßen Spiegel gelegt. Jetzt sah sie eine adrette, beinahe kahle Küche; der Klapptisch in der Ecke war sauber abgewischt, und darauf lagen exakt rechtwinklig ausgerichtet einige wenige ungeöffnete Rechnungen. Sie betrachtete die Küche von Petes kleiner Wohnung durch einen grünen Schimmer, einen Nebel aus bleichem, kaltem Feuer. Für den Fall, dass er zu Hause war, wollte sie den Brief nicht einfach durch das Tor hindurchschieben, daher konzentrierte sie sich darauf, auch den Rest der Küche mit ihrem Blick zu erfassen. Seine Speisekammer, türlos und mit ordentlichen Regalen, die er, wie sie wusste, selbst aufgestellt hatte, war erschreckend. Lauren hatte innerhalb des militärischen Systems gelebt, und trotzdem hatte sie noch niemals einen gar so zwanghaft ordentlichen Raum gesehen. Er hatte die Büchsen alphabetisch sortiert und bewahrte sie auf einem anderen Regal als Müsli und Backwaren - tatsächlich hatte er sogar Letztere im Haus. Darauf sollte man sich nun einen Reim machen. Der typische Junggeselle war er jedenfalls nicht. Sie konnte jetzt den ganzen Raum sehen, und falls Pete tatsächlich da war, hielt er sich in einer Ecke auf, in der sie ihn nicht ausmachen konnte. Also schob sie den Brief durch die Oberfläche des Spiegels und spürte dabei den sinnlichen Sog der Pfade zwischen den Welten. Da sie wollte, dass Pete den Brief fand, sorgte sie dafür, dass er nicht gerade auf dem Tisch lag, sondern eher so, als hätte sie ihn achtlos von der anderen Seite des Raums aus dort hingeworfen und ihr Ziel nur mit knapper Not getroffen. Dann ließ sie ihren Schlüsselring neben dem Brief auf den Tisch fallen. Sie zog den Arm zurück, und das Feuer, das sie heraufbeschworen hatte, erstarb. Als sie sich umdrehte, hatte 44 Jake sich auf der untersten Treppenstufe zusammengerollt und die Arme vors Gesicht gelegt. Er flüsterte: »Nein, nein, nein ...« »Oh Gott«, stieß Lauren leise hervor. Sie eilte zu ihm, hockte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. »He. Äffchen. Kleiner Wolf. Es ist in Ordnung. Es ist alles gut. Niemand wird dir wehtun. Ich beschütze dich.« Sie küsste ihn, wiegte ihn hin und her und wartete. Nach langer, langer Zeit spürte sie, wie er sich entspannte. Lauren hätte sich am liebsten übergeben. Dies war das Kind, das sie durch ein Tor zerren wollte; dies war das Kind, das sie zu der Frau bringen wollte, deren Verhalten es beinahe das Leben gekostet hätte, und in die Welt, die es beinahe getötet hätte. Sie schloss die Augen und überlegte, ob es irgendjemanden gab, irgendwo, dem sie das Leben ihres Kindes anvertrauen konnte. Aber es gab niemanden. Nicht einen einzigen Menschen. Am ehesten wäre wohl noch Pete in Frage gekommen - aber Lauren hatte den Verdacht, dass Pete ein Geheimnis hütete, und bevor sie nicht wusste, was es war, würde sie auch mit ihm kein Risiko eingehen. Wir müssen nach Oria, dachte sie. Ich muss es tun, denn wenn Molly und ich Erfolg haben, werden wir diese
Welt für alle folgenden Generationen retten und die Welten darüber wieder zum Leben erwecken und die darunter schützen. Wenn ich nicht nach Oria gehe, könnte der nächste Fehler, die nächste Katastrophe, der nächste Ausrutscher der letzte sein, und alle Menschen auf diesem Planeten werden sterben, bis auf die, die Tore finden oder schaffen können. Ich muss gehen. Ich kann Jake nicht zurücklassen. Ich kann nicht warten, bis er so weit ist, denn er wird 45 vielleicht niemals so weit sein, und Molly und ich haben nicht bis in alle Ewigkeit Zeit, um zu tun, was wir tun müssen. Sie zog ihren Sohn fester an sich und wiegte ihn in den Armen, während lautlose Tränen über ihre Wangen rannen. Sie hasste es aus ganzem Herzen, was sie tun musste, weil Jake darunter leiden würde; sie hasste das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein, und sie hasste den Mangel an Alternativen, die sich ihr boten. Einen Augenblick lang hasste sie sogar ihre Eltern, weil sie ihr eine solche Last auferlegt hatten. Dann, weil sie um die Pflichten wusste, die ihr aufgetragen waren, und weil sie ihre Verantwortung nicht abschütteln konnte, trug sie Jake zu dem Spiegel hinüber, legte ihre freie Hand auf das Glas und beschwor das Feuer herauf, das sie durch die Wirklichkeiten tragen würde. Sie beschwor die Welt von Oria herauf, mit ihren riesigen, uralten Wäldern, und konzentrierte sich auf das umfriedete Dorf, das um das prächtige Kupferhaus herum erbaut worden war. Dann zeichnete sie einen Kreis aus Feuer in die Mitte der gepflasterten Straße direkt vor dem Palast, genau zwischen den zwei blauhäutigen Veyär-Wachen, die zu beiden Seiten der Tür standen. Endlich war es so weit. Die kleine Tasche mit ihrer persönlichen Habe über der Schulter und Jake, der sich starr vor Entsetzen an sie klammerte, auf der Hüfte, drückte sie sich sachte an das Spiegelglas. Es gab nach, und das Universum dahinter hieß sie sanft willkommen. Für eine Zeit, die keine Zeit war, die eine Ewigkeit war, fiel und schwebte und trieb sie, während die Musik des Universums vibrierte und jede Zelle ihres Körpers erfüllte. Das Universum strömte an ihr vorbei, sie berührte ihre eigene Unsterblichkeit, und ihre Seele wurde eins mit der von 46 Jake. Es ist gut, sagte sie zu dem Universum und zu Jake, alles binnen eines Atemzuges und eines einzigen Gedankens, und irgendwie sorgte sie dafür, dass es tatsächlich gut war. Sie bewegte sich innerhalb des Schmerzes und des Grauens, die in seinem winzigen Körper Wohnung genommen hatten, und glättete die Kanten, so dass es immer noch sein Schmerz war, den er sich verdient hatte und den er zu Recht sein Eigen nennen konnte - aber jetzt konnte er sich dem Schmerz stellen. Magie. Hinter den Toren lag Magie; die Bausteine des Universums und der Geburtsort des Göttlichen. Während jener Zeit außerhalb der Zeit war sie purer Geist; das Gewicht ihres Körpers war null und nichtig geworden, und sie und Jake flogen wie Adler und Engel. Dann schob das Universum sie auf der anderen Seite hinaus, und Lauren und Jake standen vor den beiden VeyärWachen, die, völlig unvorbereitet auf ihr jähes Erscheinen aus dem Nichts, aufheulten und ihre Waffen senkten, als wollten sie sie angreifen. »Ich bin die Schwester der Vodi«, schrie Lauren und presste Jake fest an sich. Als sie das Tor gemacht hatte, hätte sie nicht nur an ihre eigene Bequemlichkeit denken dürfen, das wurde ihr jetzt klar. Diese Speere hatten höllisch scharfe Spitzen, und sie waren so nah. Sie konnte natürlich einen Zauber heraufbeschwören und beide Wachen in der Luft zerreißen - aber die Männer standen angeblich auf ihrer Seite. Sie bot all ihre Willenskraft auf, um die Wachen dazu zu bringen, ihre Speere in eine aufrechte Position zu bringen, und schließlich gehorchten sie ihr, obwohl Lauren die Anspannung in ihren Muskeln erkennen konnte, während sie sich gegen den fremden Willen zur Wehr setzten. Schließlich wiederholte sie: »Ich bin die Schwester der Vodi. Ich bin hier, weil sie nach mir geschickt hat.« 47 Die beiden starrten sie an, und einer von ihnen wandte kaum merklich den Kopf zur Seite. Ohne sie aus den Augen zu lassen, rief er: »Ein Gast für die Vodi; sie behauptet, ihre Schwester zu sein.« Sie zwängte sich nicht an ihnen vorbei. Sie hätte es tun können, wollte sich aber keine Feinde machen. Irgendetwas hatte diese Leute zutiefst beunruhigt - sie hätte die Zeichen erkennen müssen, als sie sie durch den Spiegel beobachtet hatte. Wachen gingen auf den Zinnen des Kupferhauses entlang und hockten auf den Türmen der Mauer, die die Siedlung umgab. Bewaffnete Soldaten beobachteten den Himmel, und nun beobachteten einige von ihnen auch Lauren. Lauren blickte auf. Über ihr kreisten dunkle Gestalten. Sie hatte sie für Geier oder vielleicht für Raben gehalten, aber die schuppigen, nach unten hängenden Ränder ihrer Flügel und Schwänze, die die Länge von Peitschen hatten, machten ihr klar, in welch großer Höhe diese Geschöpfe flogen. Sie zählte ein Dutzend von ihnen, bevor sie sich an die Wachen wandte, die sie beobachteten. »Rrön«, sagte sie und schauderte. Die Männer nickten. »Sie sammeln sich, seit die Vodi zurückgekehrt ist. Sie führen nichts Gutes im Schilde.« »Sicher nicht«, stimmte Lauren ihnen zu. Die Menschen nannten sie Drachen und hatten sie als Drachen gekannt, als sie noch auf der Erde lebten, und sie
hatten sie entweder gefürchtet oder ihnen gehuldigt. Aus gutem Grund. Sie waren Albtraumgestalten. Lauren hatte an einem schrecklichen Tag drei von ihnen gesehen und einen getötet. Jetzt war sie versucht, die Magie zu benutzen, über die sie in Oria gebot, um Waffen zu schaffen und die Rrön vom Himmel zu schießen. Nur dass Magie, die Tod brachte, ihr Echo in die obere Welt sandte; wenn sie hier ei48 nen der Rrön tötete, würde ein Dutzend unschuldiger Menschen daheim auf der Erde ein furchtbares Schicksal erleiden - es konnte aber auch hundert oder tausend Menschen treffen, die weniger unschuldig waren. Niemand verstand genug von der Bewegung der Magie zwischen den Welten, um vorhersagen zu können, welche Auswirkungen irgendeine Tat haben mochte. Aber jeder konnte die groben Zusammenhänge sehen - ein Heilzauber, der eine Welle von Begnadigungen zur Folge hatte, ein Mord, der eine Unzahl von Gewaltverbrechen nach sich zog. Lauren würde nichts mithilfe von Magie töten, es sei denn, es blieb ihr keine andere Wahl. Also ließ sie die Rrön weiterkreisen und konzentrierte sich auf das vordere Portal des Kupferhauses, durch das gerade ein bernsteinhäutiger, goldhaariger Veyär trat und auf sie zukam. Der König der Burg, dachte sie. Er trug ein schlichtes Gewand aus dunkelrotem Samt, schwarze Kniehosen und weiche, flache, schwarze Stiefel, doch weder Krone noch Zepter. Aber er strahlte Macht aus, und diese Macht strafte die schlichte Kleidung ebenso Lügen wie den schmucklosen Zopf, der ihm über den Rücken fiel. Seine Männer drehten sich zu ihm um und verneigten sich tief; er antwortete mit einem Nicken. Dies musste also Seolar sein, Mollys Geliebter. Lauren wartete ab, ohne sich zu verbeugen. Als Seolar zwischen die beiden Wachen trat, die Lauren immer noch in Schach hielten, blieb er stehen und sah sie lange ausdruckslos an. Pechschwarze Augen, riesig und ohne Lederhaut, blickten in ihre, und sie hatte das Gefühl, als sei ihr ganzes Leben bloßgestellt, so dass jeder es betrachten konnte. Für die Veyär war sie eine alte Göttin. Aber verdammt, die Veyär hatten eine ungeheure Ausstrahlung. Lauren hätte diesen Burschen mit einem Wort und einer 49 winzigen Handbewegung rösten können, aber er war ihr auf eine Weise überlegen, die sich mit keinem Maß messen ließ. »Du ähnelst ihr in hundert Einzelheiten, die ich nicht zu fassen vermag«, erklärte er schließlich. Dann verneigte er sich vor ihr, anmutig und tief, und setzte hinzu: »Schnell, bitte. Lass uns hineingehen - die Rrön sind vor einiger Zeit erschienen, und seither ist die Vodi nicht mehr recht sie selbst gewesen. Sie beobachten alles, was wir tun, und ich befürchte, sie wissen vielleicht, dass die Jägerin der Vodi eingetroffen ist.« Lauren warf noch einen flüchtigen Blick gen Himmel und sah, dass die Rrön sich näher herangewagt hatten. Sie drückte Jake fester an sich, umklammerte ihre schäbige, kleine Reisetasche und eilte dem Herrn der Burg nach. Sie fühlte sich klein und bedeutungslos und war ausgesprochen nervös. Durch Türen aus massivem Kupfer, unter mit Kupfer überzogenen Deckenbögen, über kupferbeschlagene Fußböden, vorbei an Kupfer, das in Lampen, Springbrunnen, Geländer und Balustraden eingearbeitet war, folgte sie dem Veyär, der ihr mit raschem Schritt voranging. Endlich kam sie in eine geräumige Bibliothek, wo Bücher bis zu drei Stockwerke hoch die Wände säumten, überall erreichbar durch umlaufende Gänge in verschiedener Höhe und Wendeltreppen. In der Mitte befand sich ein wunderschöner, prächtiger Kamin. Und vor dem Kamin stand Molly - eine Molly, die größer war, als sie es hätte sein dürfen, mit den zarten Knochen und den unglaublich grünen Augen, die das Veyär-Blut in ihren Adern verrieten. Lauren sah ihre Schwester, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Molly eilte durch den Raum und umarmte sie und Jake. 50 Eine Weile standen sie nur da und wiegten einander in den Armen, bis Molly schließlich ein klein wenig von Lauren abrückte. Lauren ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und setzte sich Jake auf die Hüfte. Sie schüttelte den Kopf, lächelte und suchte vergeblich nach Worten. »Irgendwie schwierig, herauszufinden, was man sagen soll, wie?«, meinte Molly schließlich. »Abgesehen von: >Mein Gott, es ist schön, dich zu sehen