Atlan - König von Atlantis Nr. 459 Dorkh
Die Todesrinne von Hans Kneifel
Der Marsch zur Stadt der Händler ...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 459 Dorkh
Die Todesrinne von Hans Kneifel
Der Marsch zur Stadt der Händler
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Vorläufig können sie jedenfalls nur versuchen, jeder tödlichen Konfrontation auszuweichen und am Leben zu bleiben. Während Atlan von einer Gefangenschaft in die andere gerät, versuchen die Gefährten, seinen Spuren zu folgen. Der eine will den Arkoniden befreien, der andere verfolgt völlig andersgeartete Pläne. Auf ihrer Suche nach Atlan schlagen Razamon und Grizzard den Weg nach Turgan, der Stadt der Händler, ein. Eines der größten Hindernisse auf diesem Weg ist DIE TODESRINNE …
Die Hauptpersonen des Romans: Razamon ‐ Der Pthorer auf dem Weg nach Turgan. Grizzard ‐ Razamons Gefährte benimmt sich mehr als seltsam. Biderruk ‐ Führer einer turganischen Karawane. Gurd ‐ Ein Brückenwächter. Lakow ‐ Ein Armer wird reich.
1. Kurz nachdem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, tauchte aus dem Dunst über der Steppe wieder der dunkle Streifen des Titanenpfads auf. Razamon blieb stehen und strengte sich an, etwas zu erkennen. Zu Axton sagte er: »Wir kommen an einen wichtigen Abschnitt unserer Wanderung. Ich sehe den Titanenpfad. Die Brücke über die Todesrinne wird nicht weit sein.« Mürrisch erwiderte Grizzard: »Ich sehe nichts.« Heimgesucht von zerrissenen Gefühlen dachte er: Nachdem mein Versuch, Razamon aus der Welt zu schaffen, mißglückt ist, wurde meine Lage unhaltbar. Razamon muß erkannt haben, daß ich ihn beseitigen will! Schräg hinter dem schwarzen Band glaubte Razamon einen Turm oder einen Felsen zu sehen; das einzige wirklich große Merkmal im Gelände vor ihnen. Er stolperte den von dichtem Gras bewachsenen Hügel hinunter und rief über die Schulter zurück: »Schneller, Axton! Du wolltest doch immer so schnell wie möglich die Todesrinne überqueren. Jetzt steht diese Chance unmittelbar bevor!« »Es dauert sicher noch einen Tag«, war die Antwort. Ich möchte meinen Körper niemals wieder verlassen. Endlich habe ich ihn dank der Magier von Pthor wieder zurück. Aber die Versetzung hat mich verwirrt – ich spüre es! Und ich fürchte Copasallior!
Seit dem Nachtlager zwischen den schwarzen Felsen waren sie ständig an der westlichen Kante der furchterregenden Todesrinne entlang gewandert. Abgesehen von den Strapazen eines Fußmarsches durch das unwegsame Gelände war dieser letzte Teil der Wanderung ohne Gefahren, wenn auch keineswegs besonders angenehm verlaufen. Grizzard litt unter seinen Ängsten. Und Razamon war einerseits verwirrt und, daraus resultierend, wütend. Axtons Verhalten wurde von Tag zu Tag ärgerniserregender. »Ich bin sicher, daß wir spätestens morgen vormittag bei diesem dunklen, aufragenden Felsen oder Turm sind!« versprach der Berserker. Vor allem fürchte ich, dachte Grizzard, und diese Art Gedanken begleiteten ihn seit vielen Tagen, daß Copasallior mich in den Körper Axtons zurückversetzen wird, wenn ich meinen Auftrag nicht erfülle. Er lautet: Töte Atlan, den König von Atlantis! Und um ihn aus dem Weg schaffen zu können, muß zuerst der Berserker Razamon sterben. Der Versuch, ihn mit einigen Tonnen Gestein und Mauerwerk zu erschlagen, mißriet mir auf das übelste; Razamon ist noch immer so schnell und überlegen, wie ich ihn vor einer Ewigkeit zum erstenmal kennenlernte. Vielleicht gelingt es mir, Razamon auf der Brücke über die Todesrinne und Atlan in der Stadt Turgan zu töten … Grizzard, der für Razamon nach wie vor Lebo Axton war (weil der Berserker es nicht anders wußte!), erwiderte nach einer Weile, in der er der Spur Razamons folgte: »Kann das schon die Brücke sein, die von Katzenohr und ihren Wilden Rinnsteig genannt wurde?« »Das ist durchaus möglich«, entgegnete Razamon und ging weiter. Die Todesrinne hatte nichts von ihren ehrfurchtsgebietenden Schrecken verloren. Die Schlucht war so tief, daß trotz stellenweise senkrecht abfallender Wände weder Razamon noch Axton jemals den Grund gesehen hatten. Zudem entstand willkürlich zu jeder Tageszeit an
unterschiedlichen Stellen ein feiner Nebel, der ab einer bestimmten Tiefe die Konturen verwischte. Nicht einmal in der Mittagsstunde, wenn die Sonne nahezu senkrecht herunterbrannte, zeigte sich der Boden der Schlucht. Fast an jeder Stelle, die sie während ihres Marsches hatten sehen können, bildeten die Steppenlandschaft und die Felswände der Todesrinne einen Winkel von neunzig Grad. Kaum jemals gab es eine weniger schroff abfallende Senke, in der sich Bäume oder Gras halten konnten. Die gegenüberliegende Seite schien in dieser Hinsicht anders strukturiert zu sein. Dort hingen ganze Gruppen von Bäumen in schrägen Winkeln zwischen der Ebene und den Felsschroffen. Beide Ränder des Spaltes, der einen großen Teil Dorkhs durchzog wie eine offene Wunde, bildeten jeder für sich schartige Linien, die sich voneinander weit entfernten – bis auf fünfzehn, zwanzig Kilometer –, und ebenso oft wieder einander näherten, bis die Entfernung nur tausend oder zweitausend Meter betrug. Trotzdem war selbst der Gedanke, ohne eine Brücke auf die andere Seite gelangen zu können, absolut absurd. Razamon und Axton folgten den Schlangenlinien, die »ihre« Kante beschrieb. Nur dann, wenn sie von einem höher gelegenen Punkt aus erkennen konnten, daß sie den Weg abkürzen würden, gingen sie geradeaus. Einmal erlegte Razamon mit einem blitzschnell ausgeführten Wurf seiner unersetzlichen Metallaxt ein schweineartiges Tier. Es gab einen hervorragenden Braten ab, und noch jetzt hatten sie in ihrem Gepäck, in feuchte Blätter eingeschlagen, große Brocken des Bratens. Etliche Stunden wanderten sie schweigend dahin. Der Berserker dachte ab und zu an die Schriftzeichen, die von Lauder Vierkämpfer zeugten. Er war sicher, daß es sich um eine wirklich existent gewesene Gestalt gehandelt hatte. Jemand war mit einem Heer durch Dorkh gezogen, war in zahlreiche Kämpfe verwickelt worden, hatte seine Kämpfer verloren und begraben –
wobei Razamon eines der Gräber entdeckt und die herrliche Waffe gefunden hatte –, und sein Ziel war gewesen, auf jemanden in Turgan zu warten, dessen Name stets unleserlich war. Nun denn: Turgan war auch sein Ziel. Vielleicht würde er in dieser Stadt, wo der Sklavenmarkt abgehalten wurde und wo er hoffte, Atlan finden und womöglich befreien zu können, auch die Wahrheit über den Vierkämpfer erfahren. Er blieb stehen und zeigte auf den Kamm eines hohen Hügels. »Von dort aus, Lebo, werden wir genau sehen können, wo wir sind«, sagte er. »Wir werden wohl die Brücke über die Schlucht sehen. Was der Titanenpfad wirklich bedeutet, werden wir wohl niemals erfahren«, erwiderte Axton. »Vielleicht später«, sagte Razamon. »Fühlst du dich kräftig genug, die Flanke des Hügels zu erklettern?« »Allemal.« »In Ordnung. Versuchen wir, die Brücke so schnell wie möglich zu erreichen, trotz der angeblich so furchtbaren Bruen. Vorher müssen wir noch den Titanenpfad überqueren – zweifellos.« »Ich habe inzwischen mit meinem Leben abgeschlossen. Dieses Abenteuer wird mich alles kosten«, klagte Axton und verzog sein Gesicht zu einer grämlichen Grimasse. »So schnell stirbt man nicht!« versuchte ihn Razamon zu trösten. »Solltest du vor Hunger nicht mehr weitermarschieren können, dann sage es laut und deutlich.« »Du wirst meinen knurrenden Magen nicht überhören können!« versicherte Axton und ging neben Razamon auf den erwähnten Hügel zu. Am Abend sahen sie im letzten Licht die Brücke, den Rinnensteig. Die sinkende Sonne sandte ihre Strahlen aus dem Westen auf die Flanke der Brücke. Das Bauwerk verlief von Nordwest nach Südost. Es war eine gigantische, archaische Konstruktion aus Stein; allein
der Bogen und die Verankerungen, die in leichtem Schwung aus den Felswänden emporstiegen, drückten aus, was jeder empfinden mußte, der die Brücke sah: riesige Steinmassen, bedrohlich und kantig, spannten sich wie eine Art umgedrehter Doppelgipfel rund siebentausend Meter über einen tiefen Abgrund. An jedem Ende der Brücke befand sich ein wuchtiger Turm. Der südliche wirkte halb verfallen. Atemlos vor Staunen blieben die Pthorer stehen und starrten die Brücke an. Die Brücke überspannte den geringstmöglichen Abstand zwischen den Wänden der Kluft, da an beiden Seiten die Abstürze förmlich vorsprangen und ihre Kanten gegeneinander drängten. Trotzdem war der Rinnensteig ein Bauwerk, das seinesgleichen suchte! »Alles mögliche«, sagte Razamon fast bewundernd, »habe ich mir vorgestellt. Aber das habe ich nicht erwartet.« »Eine Brücke wie jede andere«, erklärte Axton und schien nicht zu merken, daß ihn Razamon mit fassungslosem Gesichtsausdruck anstarrte, »nur größer und älter.« »Das hast du schön gesagt«, knurrte der Berserker. Er lachte sarkastisch auf und ließ seinen Blick über die waagrechte Oberfläche, die Bögen und die beiden Türme gleiten. Die Brücke selbst, beziehungsweise ihr nördlicher Anfang, war rund vier Kilometer entfernt, das südliche Ende lag, zwar durch den weiten Abgrund getrennt und perspektivisch verzerrt und verkleinert, rechts neben den Wanderern von Pthor. »Ja«, erwiderte Axton. Aus dieser Entfernung waren keinerlei Gestalten und keine Bewegungen auf der Brücke auszumachen. Der nördliche Turm war jener dunkle Schatten gewesen, den die Pthorer schon vor einem guten halben Tag wahrgenommen hatten. »Heute erreichen wir die Brücke nicht mehr«, sagte Razamon nach einer Weile. Schwarz und riesig erstreckte sich das Bauwerk vor
ihnen. Links davon lief der dunkle Streifen des Titanenpfads auf den Anfang der Brücke zu. »Nein. Wir müssen uns ein Nachtlager suchen«, entgegnete Axton. »Morgen, vor Mittag, sind wir am Titanenpfad und etwas später am nördlichen Turm.« »So ist es.« Für Razamon war die Konstruktion der Brücke verwirrend und fast eine Unmöglichkeit. Sie bestand offensichtlich nur aus Stein, aus riesigen Quadern, die allein durch Druck und Spannung zusammengehalten wurden. Der nördliche Turm war rund und ebenfalls aus mächtigen Steinbrocken errichtet. Er schloß oben mit einer Plattform ab, die sich hinter einer zinnenartigen Mauer befand. Razamon blinzelte, aber auch im letzten Sonnenlicht konnte er nicht entdecken, ob es eine einsame Gestalt war, die auf dem Turm stand und regungslos Ausschau hielt. Er wandte sich wieder an Axton und sagte: »Ich überlege mir, ob wir nicht nachts, im Schutz der Dunkelheit, die Brücke betreten sollten.« »Bis wir dort sind, haben wir jeden einzelnen Knochen gebrochen«, antwortete Axton. »Das ist kein guter Einfall.« Wäre Razamon allein gewesen, würde er genau diesen Versuch gewagt haben. Aber mit dem unwilligen Axton an seiner Seite war das Vorhaben zu riskant. Der Berserker ließ diese Überlegung sogleich fallen. »Dann werden wir hier unser Nachtlager einrichten«, sagte er. »Einverstanden.« Sie fanden eine geschützte Stelle zwischen Bäumen, nicht weit entfernt von einer winzigen Quelle. Zwar gab es rundum keine Anzeichen, daß sie beobachtet wurden, aber sie blieben nervös und unruhig. Die Nähe der Brücke und des Titanenpfads verhieß nichts Gutes. Zumindest würde jeder, der nach Turgan wollte und aus dem restlichen Teil Dorkhs kam, hier den Anfang des Rinnensteigs als Ziel haben.
Während sie den kalten Braten kauten, sagte der Berserker: »Wenn Atlan nach Turgan gegangen ist oder dorthin gebracht wurde, dann muß er wohl die Todesrinne auf dem Rinnensteig dort überquert haben, nicht wahr?« »Wenn er nicht geflogen ist, auf jeden Fall«, murmelte Axton. »Ob es uns die Bruen freiwillig sagen werden?« »Weiß ich auch nicht – hat deine Freundin Katzenohr nichts darüber gesagt?« »Sie wußte nichts. Sie nannte nur den Namen der Brückenwächter«, entgegnete Razamon. In der Dunkelheit verschwommen die Schlucht, die markanten Formen der Brücke und der zwei Türme und der Horizont mit der Landschaft. Spannung und Unruhe wichen nicht von den zwei Pthorern. Sie saßen da, kühlten ihre Füße mit kaltem Wasser und hingen ihren Gedanken nach. Razamon erinnerte sich an Lauder, jenen »Vierkämpfer«, der einst ebenfalls versucht hatte, den Rinnensteig zu bezwingen; damals hatten sicherlich ganz andere Verhältnisse geherrscht und er war vermutlich gescheitert. Razamon griff zu seiner kostbaren Waffe und hoffte, daß er sie morgen nicht würde benutzen müssen. Er sagte in die Dunkelheit: »Ich übernehme die erste Wache, Axton. Wenn dich deine Alpträume wieder laut aufschreien lassen, werde ich dich vorzeitig wecken.« »Ich kann nichts dafür«, erwiderte Lebos Stimme ärgerlich, »daß ich träume. Ich habe keine Ahnung, welche Streiche mir meine Träume spielen.« Razamon versuchte noch immer, seine Lage mit einer Spur Humor zu sehen. Er antwortete in gutmütiger Ironie: »Jedenfalls hat dein Gestöhne den deutlichen Vorteil, daß es wilde Tiere vertreibt.« »Hoffentlich erschreckt es dich nicht zu sehr«, sagte Lebo Axton. »Kaum. Inzwischen bin ichʹs fast gewöhnt«, meinte Razamon. »Es würde mir fehlen, wenn es ausbliebe.«
»Das glaube ich dir nicht«, schloß Axton humorlos. Resigniert schwieg der Berserker. Er lehnte an einer Stelle des Lagers, die ihm einen größtmöglichen Blick ermöglichte. Er faßte den Griff der Metallaxt und dachte an den nächsten Morgen. Er würde eine erste Entscheidung bringen. * Nach einem schnellen Imbiß und einem Schluck aus der Quelle brachen die Pthorer im ersten Tageslicht auf. Sie gingen, so schnell sie konnten, entlang der Abrißkante der Schlucht. Noch hing ein leichter Dunst über dem Land, und aus den Tiefen der Todesrinne stieg grauweißer, dicker Nebel auf. Razamon betrachtete jede Einzelheit, die sich ihm zeigte, wenn sie sich langsam aus dem Dunst schälte. Der wuchtige, dunkelgraue Turm am nördlichen, also näheren Ende der Brücke wurde scheinbar immer größer. Der Titanenpfad zeigte sich deutlicher, sein Rand hob sich stark von dem hellen Grün der Steppe ab. Razamon erkannte, daß er recht gehabt hatte. Bevor sie den Schnittpunkt zwischen Schluchtkante und Brückenanfang erreichten, mußten sie den Titanenpfad in seiner vollen Breite überwinden. Etwa eineinhalb Stunden, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten, standen sie in Bogenschußweite vor dem Titanenpfad. »Hast du die vielen Pfade gesehen?« fragte Lebo Axton. Vor ihnen mündeten ein halbes Dutzend breit ausgetretener Spuren in einen deutlich sichtbaren Pfad. »Ja. Das kann nur bedeuten«, antwortete Razamon wachsam, »daß hier mehr Verkehr herrscht, als wir dachten.« »Aber es ist niemand zu sehen. Nicht einmal die Chreean‐Reiter!« Die annähernd würfelförmigen Blöcke des Titanenpfads glänzten feucht. Die Pthorer betraten den schmalen Weg, der zwischen Bäumchen und Büschen auf einen Spalt, eine Fuge zwischen den
Quadern zuführte. Vermutlich lauerten hier, entlang eines oft benutzten Weges, weniger Gefahren als an den meisten anderen Stellen dieses verblüffenden Bauwerks. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Landschaft fielen, drangen die Pthorer in den Spalt ein. Sie brauchten in diesem Labyrinth nur auf den Boden vor ihren Füßen zu achten. Das Erdreich war feucht und von Tausenden Füßen niedergetreten. Zunächst führte der Pfad entlang von sechs jener überdimensionalen »Pflastersteine« auf der linken und vier Blöcken auf der rechten Seite fast schnurgerade in den Titanenweg hinein, dann bog er leicht nach rechts ab. Abgesprengtes und von der Oberfläche heruntergefallenes Gestein, Sand und Pflanzenreste ließen nach weiteren fünfzig Schritten den Weg leicht ansteigen. Razamon packte seine Waffe fester und bemühte sich, keinerlei Geräusche zu verursachen. Auch Axton, der hinter ihm schlich, blickte immer wieder nach oben, wo sich zwischen den schwarzen Kanten der Blöcke der Himmel zeigte. Die Morgensonne brannte den Dunst weg, und mit jedem Schritt aufwärts in dem Spalt, der nicht viel breiter als einen guten Meter war, näherten sich die Pthorer dem Rinnensteig und dem beherrschenden Turm. Der Weg machte einen Knick; in dem schmalen Ausschnitt zeigte sich ein Stück des Brückenturms. »Halt! Dort … es wacht tatsächlich jemand auf der Plattform.« Sie standen nebeneinander und sahen, daß etwa hundert Meter schräg über ihnen hinter wuchtigen Steinen eine breitschultrige Gestalt stand. Sie hatte einen tierhaften Kopf – jedenfalls sah dies vom Boden des Spaltes nicht anders aus – und große Augen. Entweder trug der Wächter einen Pelz, oder sein Fell war zottig wie das eines Bären. »Er beobachtet den Titanenpfad«, meinte Axton. »Aber uns sieht er wohl nicht«, murmelte Razamon. »Glücklicherweise.« Wie am vorherigen Abend stand die Gestalt, nur zur oberen Hälfte
sichtbar, hinter den Zinnen und hielt Ausschau – schweigend und regungslos. »Gehen wir weiter!« entschied Razamon nach einigen Sekunden. Zwischen den muffig riechenden Wänden der Steinklötze liefen sie so schnell und so leise wie möglich weiter, und als der Pfad noch steiler aufwärts führte, tauchten sie schließlich wie hinter einer Mauer auf. Genau in dem Augenblick, als ihre Augen über die Kante des vorletzten Blockes sahen, blieben sie wieder stehen und klammerten sich an den Fels. »Da sind sie!« flüsterte Razamon. »Die Bruen. Sie sehen so aus, wie Katzenohr es angedeutet hat.« »Sie wirken, als wäre nicht mit ihnen zu spaßen«, bekräftigte Axton. »Gräßlich.« Dreißig Meter vor ihnen standen etwa dreißig Bruen. Razamon wußte natürlich nicht, ob es wirklich diese Wesen waren, aber laut Katzenohr hießen die schrecklichen Rinnensteig‐Wächter Bruen. »Ich glaube nicht, daß wir gegen sie eine Chance haben«, sagte der Berserker leise. »Wir müssen uns mit ihnen friedlich verständigen.« Sie betrachteten die Wächter sehr genau. Die Bruen ähnelten aufrecht gehenden Bären mit besonders langgestreckten Gliedmaßen. Sie waren mindestens zwei Meter groß, und ihre Haut bestand vom Kopf bis zu den Zehen aus einem braunen, stellenweise schwarzen Fell, das langhaarig und zottig war. Schultern und Hüften besaßen kantige, breite Muskelwülste. »Wenn ich ihre Köpfe ansehe«, sagte Lebo Axton wegwerfend, »dann kann ich nicht glauben, daß diese Wächter sonderlich klug sind.« »Um eine Brücke dieser Art zu bewachen, braucht man Kraft. Man muß kämpfen, aber man muß nicht sonderlich gescheit sein für diese Aufgabe«, schränkte Razamon ein. »Sie stehen da, als würden sie Tag und Nacht nur wachen und die Brücke sperren. Ich bin sicher, daß auf der anderen Seite der Konstruktion ebenfalls eine Reihe von Bruen steht und wartet.«
»Schon möglich.« Die Köpfe der Bruen waren proportional zu den wuchtigen Körpern viel zu klein und fast kugelrund. Auch die Gesichter waren behaart wie die Körper. Die Augen konnten kaum zwischen den Haaren des Pelzes hervorblicken. Sie waren klein und schwarz und funkelten im Licht der aufgehenden Sonne. Die Nase, blaßrot und weit vorspringend, war fleischig und von tiefen, unregelmäßigen Rillen und Einschnürungen durchzogen; sie sah aus wie ein Stück eines herauspräparierten Gehirns. Nur bei einigen Bruen sahen die Pthorer den Mund. Wie die Augen war er nur schwer in dem Wulst aus Haaren und Zotteln zu sehen – aber einige der Bruen hatten den Mund weit aufgerissen und riefen sich unverständliche Worte zu. Aber nicht nur die Körper der Rinnensteigwachen waren gefährlich, sondern auch ihre Waffen. Etwa die eine Hälfte war mit riesigen Holzkeulen bewaffnet, die andere Hälfte trug lange, stark gekrümmte Schwerter. In der Stille des Morgens klangen ihre Worte seltsam kurz und bellend. Razamon strengte sich an, um irgend etwas zu verstehen. Er erkannte, daß sie eine sehr merkwürdige Art von Dorkh‐Pthora sprachen, aber sie verschluckten ganze Wortstücke. Razamon sah seinen Partner prüfend an. »Wollen wir es riskieren?« Die Bruen hatten die Köpfe der Pthorer, die sich über die Kante gehoben hatten, bisher noch nicht bemerkt. »Uns bleibt nichts anderes übrig. Auf!« antwortete Axton. Sie sprangen die letzten Meter aus dem Spalt heraus, wandten sich nach rechts und tauchten innerhalb von wenigen Schritten auf dem letzten Abschnitt des Titanenpfads auf. Das Pflaster des Rinnensteigs war sehr viel kleiner; es gab bis zu der Linie, an der die Bruen standen, nur fingerbreite Spalten zwischen den Steinen. Langsam gingen Axton und Razamon auf die Mitte der Absperrkette zu. Immer dann, wenn die Gefahr unmittelbar war, fand Lebo Axton
zu einem normalen Verhalten zurück. Vielleicht immer dann, sagte sich Razamon, wenn er sich unmittelbar bedroht oder gefordert fühlte. Auch jetzt verhielt sich Axton, wie es der Situation angemessen war. Ruhig, aber unerschrocken ging er neben Razamon auf die Bruen zu, die ihre Gespräche unterbrachen und die Ankommenden aufmerksam und keineswegs feindselig musterten. Razamon hob die Linke und kehrte die Handfläche nach außen. In der Rechten hielt er die Axt, die aber im Gürtel steckte. »Wir kommen in Frieden und wollen mit euch sprechen«, sagte er langsam und deutlich. »Und wahrscheinlich werden wir euch bitten, uns schnell passieren zu lassen«, fügte Axton auf dieselbe Art hinzu. »Brückwächt nurkämpf gegwild«, lautete die Antwort eines Bruen. Razamon versuchte, die Worte zu verstehen. Offensichtlich bereitete der Versuch, längere Wörter auszusprechen oder lange Sätze zu formen, den bruischen Zungen deutliche Schwierigkeiten. Razamon versuchte eine Erwiderung und sagte: »Ihr braucht nicht zu kämpfen. Wir haben eine Frage.« »Wirantwort.« Jedenfalls traten die Wächter des Rinnensteigs den zwei Pthorern außerordentlich höflich und zuvorkommend entgegen. »Habt ihr in den letzten Tagen den Namen ›Atlan‹ gehört? Oder habt ihr einen Mann gesehen, vermutlich einen Gefangenen, der so aussah …«, erkundigte sich der Berserker und schilderte Atlans Aussehen. Er konnte sicher sein, daß jeder, der so aussah wie der Arkonide, von den Bruen bemerkt worden wäre. Auf Dorkh war eine solche Erscheinung sicherlich mehr als nur etwas Außergewöhnliches. Als er geendet hatte, blickte er von links nach rechts alle Bruen an. Sie wirkten, als hätten sie seine Worte verstanden. »Atlan‐Rinsteig nixgang«, sagte einer aus der Mitte der Absperrkette. Die Bruen gingen nicht auseinander, aber auch nicht
vor oder zurück. Unmißverständlich bedeuteten sie durch die Art ihrer Aufstellung, daß jeder, der die Brücke überqueren wollte, von ihrem Wohlwollen abhängig war. »Atlan ist also nach ihrer Auffassung nicht über den Rinnensteig gegangen«, sagte Axton. »Aber …« »Halt«, antwortete Razamon. »Ich bin mit meinen Fragen noch nicht fertig, und ich habe auch noch nicht alle Antworten, die ich brauche.« Er sprach wieder seinen bisherigen Gesprächspartner an. »Kann es sein, daß dieser Mann Atlan die Brücke überquert hat, ohne daß ihr ihn erkannt habt?« »Kannsein. Vielleicht weißfremder in Turgan. Zweitag Sklavenmarkt.« »Du meinst also«, entschlüsselte und wiederholte Razamon die Auskunft, »daß der weißhaarige Fremde in Turgan sein könnte, weil dort in zwei Tagen der Sklavenmarkt stattfindet.« »Ja. Vielgefang über Brück. Versteck Schleiergrau.« Viele Gefangene – und also auch deren Besitzer oder Jäger – hatten die Brücke passiert. Allerdings waren ihre Körper und Gesichter von grauen Schleiern verhüllt gewesen. »Warum versteckt hinter Schleiern?« wollte Axton wissen. Unwillkürlich versuchte er, seine Frage dem Gestammel der Bruen anzugleichen. »Besitzware niezeig.« »Ich habe verstanden«, sagte der Berserker nachdenklich. »Die Besitzer wollen ihre Ware niemandem zeigen.« »Ja. Angsthab.« »Wovor haben die Sklavenbesitzer Angst?« Erst jetzt sahen die Pthorer, daß die Bruen sich ziemlich genau auf der Grenzlinie zwischen Titanenpfad und Rinnensteig aufgestellt hatten. Der gewaltige schwarze Schatten des Turmes fiel schräg über diesen Bereich des Pflasters. Einige Bruen standen im Sonnenlicht, die Pthorer und die Mehrzahl der Wachen befanden
sich im Schatten. »Wüsträuber Churrm.« Diese Antwort war wohl kaum anders zu deuten, als daß die Sklavenjäger Angst vor Räuberbanden hatten, die es in der Wüste Churrum geben sollte. Das Ganze ergab einen Sinn, wenn auch die Wahrscheinlichkeit arg strapaziert wurde. Der Umstand, daß die Räuber erst einmal die Schleier lüften mußten, wenn sie feststellen wollten, ob ihr Fang wertvoll oder wertlos war, würde wohl keinen professionellen Räuber vom Raubversuch abhalten. Immerhin hatte die Erklärung eine eigene, wenn auch bizarre Logik. »Wir müssen sofort nach Turgan!« stieß Axton in plötzlicher Erregung hervor. Der andere Brue erwiderte sogleich: »Zollzahl!« Leise und schnell, so undeutlich, daß es nur Razamon, aber kaum die Rinnensteig‐Wachen verstehen konnten, sagte Lebo Axton: »Wir müssen versuchen, durchzubrechen. Vermutlich gelangen wir schnell nach Turgan. Ich bin sicher, daß irgend jemand Atlan verkleidet über die Brücke geschafft hat. Diese Monstren können uns, wenn wir entschlossen vorgehen und rennen, kaum aufhalten.« Razamon deutete auf die oberste Zinne des Turmes und erwiderte ebenso schnell, leise und undeutlich: »Vielleicht kommen wir an diesen Posten vorbei. Aber auf der anderen Seite der Brücke erwartet uns eine inzwischen alarmierte, dreimal so starke Gruppe von Bruen. Sie werden uns so schnell anhalten, daß wir kaum Zeit haben werden, darüber nachzudenken.« »Du hast recht!« Aber auf dieser Brücke würde es mir gelingen, den Berserker hinter mir zu lassen, dachte Grizzard‐Grizzard. Dann wäre er kein Hindernis mehr. Und ich könnte in Turgan meinen Auftrag erledigen und Atlan umbringen. Soll ich es versuchen?
Razamon fragte laut und deutlich: »Wir sollen einen Zoll zahlen? Habe ich dich recht verstanden?« »Ja. Zollzahl. Viel Zers. Oder wenig Khams.« »Zers und Khams. Das sind Münzen? Oder Zahlungsmittel?« »Wiemünz. Nixwiß? Khams rötlichkristall. So groß oder so.« Mit seinen kurzen, kantigen Fingern machte einer der Bruen die Größenspannweite der Khams deutlich. Es schienen Linsen zu sein, zwischen fünf und vierzig Millimetern Durchmesser, vermutlich rund. »Wie sieht diese Währung aus? Was kriege ich für einen kleinen Kham?« wollte Razamon wissen. Er hörte diesen Begriff zum erstenmal. Nicht einmal eine Ahnung hatte er darauf verschwendet, daß es in den Ländern westlich der Todesrinne eine Währung geben mochte. »Kleinkham guteß. Sattermann.« Ein kleiner Kham war also der Gegenwert für ein gutes Essen, das einen Mann satt machen konnte. »Und …?« verlangte Axton Auskunft. »Zehn Großkham ein Chreean.« Für zehn der großen Kristallinsen konnte man also ein Reittier einhandeln. Diese Antworten beschrieben etwas genauer das Wertverhältnis zwischen den Kristallzahlungsmitteln. Razamon fragte trotzdem weiter: »Und was bekomme ich für ein Zer? Wieviel Zers müssen wir zahlen, wenn wir die Brücke passieren wollen?« Ein Brue griff in eine Tasche, die er am Gürtel auf dem Rücken trug und holte eine Handvoll ungeschliffener Kristallkieselsteine hervor. Sie waren allesamt nicht größer als Erbsen und von leicht unterschiedlicher Färbung. »Wechsel«, sagte er. »Zweizehnvier ist ein Kham.« »Ich verstehe«, sagte Razamon und betrachtete interessiert die kleinen Kiesel. Vierundzwanzig Stück davon ergaben ein Kham, und die Zers dienten als Wechselgeld. Ein wirklich reicher Mann in
einer Stadt von Dorkh würde einen mittelgroßen Steinbruch sein eigen nennen. Der Brue deutete auf Axton und Razamon und sagte: »Zweimann. Zahlen: sechskham.« »Sechs Khams?« rief Axton klagend aus. »Wir haben nicht einen!« »Dann hundertzwanz Zers!« erklärte der Brue mit deutlich spürbarem Unmut. Seine Höflichkeit ließ schlagartig nach. Razamon versuchte ein freundliches Lächeln und sagte: »Leider verfügen wir auch nicht über Zers. Wir haben keinerlei Währung bei uns. Laßt uns bitte trotzdem durch.« Die Blicke der nächststehenden Rinnensteig‐Wächter hefteten sich, als ob sie magnetisch angezogen würden, auf die Waffe in Razamons Hand. »Gibaxt. Dann einmannfrei.« Razamon schüttelte den Kopf. »Ich habe sonst keine Waffe. Ich würde sie dir geben, aber ich kann nicht. Wir sind sonst wehrlos. Was kann ich sonst tun?« »Anderes geben. Essen. Wein. Metall.« »Wir sind arm und haben nichts dergleichen.« Die Gesten, die Razamon und Axton bei dieser Antwort machten, sagten den Brücken Wächtern alles. Sie hoben die Keulen und zogen die Schwerter. Vermutlich hätten die Bruen sogar irgendwelche Naturalien von Wert oder in einer bestimmten Menge angenommen, aber der Ausgang dieses Versuchs war den Pthorern klar. »Ihr weg. Nixpass!« schrie der große Brue und deutete von der Brücke. »Geht!« Gleichzeitig rückten die anderen Wächter näher zusammen und drangen auf Razamon und Axton ein. Mit einem schnellen Blick verständigten sich die beiden und rannten los. Der Angriff der geldhungrigen Bruen erfolgte zwar nicht in heißer Wut und großer Schnelligkeit, aber er war eindeutig ernst gemeint. Die mittellosen Fremdlinge wurden also einfach davongejagt.
Razamon und Axton spurteten auf den breiten Einschnitt zu, sprangen in den Spalt und liefen den Zickzackweg zwischen den Blöcken der Titanenstraße zurück. Kurz vor dem letzten, geraden Stück blieb Razamon stehen und sagte: »Unser Versuch ist fehlgeschlagen. Immerhin wissen wir, woran wir sind. Aber ich habe mir die Brücke sehr genau angesehen.« »Willst du etwa tatsächlich …?« begann Axton. Razamon nickte grimmig. »Ja. Wir beide werden heute nacht im Schutz der Dunkelheit die Brücke überschreiten.« »Und was tun wir bis zum Abend?« wollte Axton wissen. »Wir suchen die risikoloseste Art, an den Wachen vorbeizukommen.« Der Tag verging nur langsam. Die Pthorer achteten darauf, niemals in den Sichtbereich des einsamen Bruen auf dem Nordturm zu kommen, und suchten nach dem besten Pfad. Sie sahen, daß die Bruen ein Stück der Brücke bewachten, das den Beginn einer relativ bequemen Straße kennzeichnete. Dies war der nördliche Teil des Brückenanfangs. Das südliche Stück verlief mit seinem riesigen, keilförmigen Steinstücken mit dem Titanenpfad. Die ersten Teile der Brückenoberfläche bildeten sozusagen ein Dreieck, dessen beide Kanten weit in das Land am Rand der Schlucht hineindeuteten. Dann wurde die eigentliche Brücke schmaler – vermutlich sah es am anderen Ende ebenso aus. »Keine Sorge«, versicherte der Berserker grimmig. »Wir sind morgen früh am anderen Ende der Brücke, auf der anderen Seite der Schlucht.« »Bist du sicher?« »Zu neunzig Prozent.« Sie ruhten sich, nachdem sie die verschiedenen Wege ausgeforscht hatten, lange aus. Sie fanden eßbare Früchte und brachen einige faustgroße Nüsse auf, machten ein winziges Feuer und erhitzten die
letzten Bratenreste, tranken Wasser und warteten. Eine kleine Karawane kam heran und passierte die Kette der Bruen. In der Abenddämmerung gingen sie los, unausgerüstet, fast ohne Waffen, nur von dem Drang ausgefüllt, auf das andere Ende des Rinnensteigs zu gelangen. Wieder schlichen sie auf dem ausgetretenen Pfad bis zur Kante des Titanenpfads. Dort bogen sie nach rechts ab und gingen weiter, bis sie unmittelbar vor dem Abgrund standen. Nachdem sie einige Büsche halb ausgerissen und zur Seite gedrückt hatten, lag ein tiefer Spalt vor ihnen. Sie drangen in den Spalt ein, der etwa fünf Meter tief und stellenweise nicht breiter als ein Meter war. Schlangen oder eidechsenartige Tiere flüchteten vor ihnen in feuchte Felsspalten. Hier gab es weder einen Pfad noch erkennbare Spuren – über ihnen standen die Bruen und wachten. Dann begann das Labyrinth aus riesigen Blöcken, das bis zur Kante der Brücke führte. Schweigend kämpften sie sich weiter; sie hielten sich auf der rechten Seite, und während sie in den Fugen der gigantischen »Pflastersteine« entlangkrochen, nahm die Dunkelheit zu. Schließlich lehnte sich Razamon an die Felswand und flüsterte: »Steige auf meine Hände und dann auf die Schultern. Sieh dich genau um, ehe das letzte Licht weg ist.« »Einverstanden«, murmelte Lebo Axton. »Anschließend bist du dran.« Er zog sich hoch und hob seinen Kopf über das Niveau der Straße. Sie befanden sich bereits einige Meter hinter der Kette der Bruen. Aber wenn sie hier an die Oberfläche zurückkehrten, waren sie binnen weniger Sekunden entdeckt. Razamon stellte dasselbe fest, aber er sah auch, daß die einzige Möglichkeit, ungesehen auf die Brücke zu gelangen, an ihr und an der Außenkante der waagrechten Fläche existierte. Er glitt neben Axton auf den nassen Boden und flüsterte: »Dort entlang, Partner!«
Sie drangen in den nächsten, einigermaßen geradeaus führenden Spalt ein. Der Fels bildete hier, da sich die Kanten zweier Steine oben berührten, eine spitzwinklige Höhle. Nach fünf Schritten ertönte direkt vor Razamons Gesicht ein fauchendes Gurgeln, und stinkender Atem schlug ihm entgegen. Irgendeine Bestie lauerte ausgerechnet in diesem Teil des Labyrinths. 2. Riesengroß ragte der Turm über ihnen in den schwarzen Himmel. Es gab noch einen winzigen Rest von Licht; die Sterne standen noch nicht am Himmel. Auch hinter den Pthorern waren noch die Wände des Spaltes und die Öffnung zu erkennen. Vor Razamon jedoch war es stockfinster. Er riß die Axt hoch und schlug in einer reflexhaften Bewegung geradeaus zu. Die Schneide der Waffe traf mit einem knirschenden Geräusch in Fleisch und Knochen und steckte fest. Razamon wollte sie zurückreißen, aber das Wesen vor ihm bewegte sich ruckartig von ihm fort. Während seine Finger sich um den Griff der Waffe krallten, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck: er durfte sich die Axt nicht entreißen lassen. Er wurde von dem Ruck ins Innere der Höhle gerissen. Er senkte den Arm, und die Schneide kam frei. Das Wesen vor ihm fauchte wieder auf, aber diesmal kam das Geräusch von schräg oben. Wieder wirbelte der Berserker mit seiner gewaltigen Kraft die Axt hoch und traf ein zweitesmal. Diesmal schnitt die Waffe durch eine weiche, nachgiebige Masse und kam sofort wieder frei. Razamon zog das Beil zurück, hielt es wie einen Degen oder einen kurzen Speer und setzte sofort nach. Er war sicher, eine riesige Schlange oder ein schlangenartiges Tier vor sich zu haben, dessen Körper in mehreren Spiralen irgendwo in der Finsternis lag. Er stürmte weiter, trat auf irgendwelche splitternde Knochen und
fühlte über sich wieder den heißen Hauch des Atems. Er stach in rasend schneller Folge in die Richtung, aus der das Tier angriff. Mehrmals ging sein Stich ins Leere, aber ebenso oft traf er den Organismus vor sich. Hinter ihm tappte Axton mit weit nach vorn gestreckten Armen. Razamons Waffe wirbelte hin und her, schlug klirrend gegen Fels, durchschnitt Körperteile der Schlange und zischte ins Leere. Der Berserker wußte nicht, wie tief er in dieses felsige Loch eingedrungen war, aber hinter ihm und Axton, der in diesem Moment schwer stolperte und in seinen Rücken fiel, wurden das Knistern und das Fauchen leiser. »Wir sind durchgekommen«, ächzte er und sah nach einigen Schritten über sich einen helleren Streifen. Zwei Sterne funkelten undeutlich. Hinter dem Berserker keuchte Axton: »Was war das?« »Eine große Schlange oder ein Reptil«, sagte Razamon schwer atmend. »Es war nichts zu sehen.« »Die Dunkelheit schützt uns, aber sie ist verdammt gefährlich«, gab Axton zurück. »Wo sind wir?« »Immer noch auf dem richtigen Weg, denke ich.« Der nördliche Rand der Brücke bestand aus großen Quadern. Sie hatten kaum Fugen und bildeten eine etwa zehn Meter breite Straße, die von den Bruen bewacht wurde. Sie führte rechts am Turm vorbei, und links vom Fuß des Turmes mußten sie vorbeikriechen. »Los. Weiter«, brummte der Berserker. »Wir müssen gleich auftauchen.« Sie tasteten sich am Fels entlang, schlüpften in die nächste Spalte und spähten zur Sicherheit noch einmal über die Kante. Da zwischen den Bruen einige Fackeln brannten, erkannten sie, daß sie richtig waren. Etwa fünfzig Schritte später halfen sie einander aus dem Spalt und ließen sich sofort flach auf den Fels fallen. Razamon flüsterte: »Wir schleichen hier in der Kerbe weiter.«
Hinter ihnen zuckte das Fackellicht. Unmittelbar neben ihnen wuchsen die gerundeten Quadern des Turmes in die Höhe. Sie krochen auf Knien und Ellbogen weiter und blieben hintereinander. Endlich tauchten schwach angeleuchtet die ersten Begrenzungssteine auf; es waren kantige, unregelmäßige Blöcke, die wie schwarze Zähne aus den Quaderfugen hervorstachen. Dicke, uralte Seile waren zwischen ihnen gespannt und im oberen Drittel mehrmals in Windungen um den Stein gelegt. Als Geländer, dachte sich Razamon, hatten die brüchigen Taue wohl nur symbolische Bedeutung. Sie erreichten den ersten Stein. Axton drehte sich halb herum. Der Abstand zu den Bruen, von denen die meisten mit dem Rücken zu ihnen standen oder patrouillierten, betrug jetzt etwa zwanzig, fünfundzwanzig Meter. Sie duckten sich in die keilförmige Vertiefung hinein und robbten so schnell wie möglich hinter dem Fuß des Turmes weiter in die Dunkelheit. Inzwischen war die Nacht endgültig hereingebrochen. Auf dem feuchten Gestein lag das Sternenlicht. Die Pthorer sahen hier im Freien einigermaßen deutlich, wo sie sich befanden und wohin sie krochen. »Schneller!« stieß Razamon hervor. Er preßte die Axt fest an sich und bemühte sich, das Metall nicht gegen den Stein klirren zu lassen. »Geht nicht schneller.« Vom anderen Ende des Rinnensteigs bis zur Stadt Turgan war es noch ein weiter Weg. Ob sich Atlan tatsächlich dort befand, war nach den Auskünften der Bruen fraglich. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß man ihn verhüllt über die Brücke transportiert hatte. Das Warten in Turgan war trotz allem sinnvoller als eine planlose Suche im offenen Land und in der Wildnis. Drei Abschnitte der Haltetaue wurden kriechend überwunden, erst weit hinter dem sechsten Steinblock wagten die Pthorer endlich aufzustehen.
Der Turm entzog sie den Blicken der Bruen. Zufrieden meinte Razamon, noch immer flüsternd: »Immerhin sind wir ohne Eintrittspreis auf dem Rinnensteig. Dieses Bauwerk ist voller Rätsel.« Nach einigen Schritten fragte Axton zurück: »Wie meinst du das?« »Eine Brücke aus gigantischen Steinbrocken, die ohne andere Mittel zusammenhält, müßte längst zusammengebrochen sein. Der Rinnensteig muß schon eine Unmenge von Erschütterungen ertragen haben, wenn sich Dorkh bewegte. Eines Tages wird sie vermutlich zusammenstürzen und einen riesigen Haufen Steine auf dem Boden der Todesrinne hinterlassen.« Dieser Teil der Brücke besaß eine glatte Oberfläche wie eine hervorragend erhaltene Straße. Fünf Meter von den Begrenzungssteinen und den zusammengedrehten Tauen gingen die Pthorer nach Südosten. Sie waren völlig allein auf der Brücke; auch das ein Umstand, der Razamon merkwürdig vorkam. »Ich kann nur hoffen, daß der Rinnensteig nicht gerade jetzt niederkracht«, sagte Axton. »Auf der anderen Seite sieht die Brücke schon reichlich ramponiert aus.« »Warten wir ab, was wir am Morgen sehen!« meinte der Berserker. Schnell und schweigend wanderten sie weiter. Die Fackeln jenseits des Turmes waren längst nicht mehr zu sehen. In der Nacht kühlte sich der Rinnensteig ab. Die Steine ächzten, rieben sich aneinander, sie knisterten und knackten. Meist waren es nur Laute wie das Zirpen großer Insekten, aber ab und zu sprangen mit trockenem Knallen irgendwo Steinsplitter ab. Aus dem Schlund der Todesrinne kam ein dunkles Grollen und erstarb wieder. »Da ist etwas vor uns«, murmelte Lebo Axton eine Stunde später. Er blieb stehen und zeigte geradeaus. Dort schimmerten zwei winzige Lichter. Es konnten Fackeln sein. »Richtig. Das bedeutet, daß irgend jemand den Wegzoll entrichtet hat. Einzelne Personen oder eine Karawane. Sie haben denselben
Weg wie wir – notgedrungen«, stimmte Razamon zu. »Ob sie auch nach Turgan wollen?« »Wahrscheinlich«, sagte der Berserker. »Nach allem, was wir wissen, gibt es in dieser Richtung nur die Stadt.« Die Pthorer bewegten sich über die glatte Fläche der Steine. Inzwischen befanden sie sich längst über der tiefsten Stelle der Todesrinne. Zwischen ihren Sohlen und dem Grund des Felsenschachts klaffte eine Distanz von mehreren hundert Metern, wenn nicht von einem Kilometer und mehr. Es war völlig ruhig und still, abgesehen von den Geräuschen der Brücke selbst. Die Lichter wurden eine Spur heller. Immer wieder sahen sich die Pthorer um, aber nichts änderte sich während dieses gespenstischen Marsches. Links neben ihnen schwangen sich, tief durchhängend, die Haltetaue zwischen den Steinen am Brückenrand. Razamons Instinkt sagte ihm, daß sie sich in Gefahr befanden – aber er erkannte nichts dergleichen. Seine Unruhe steigerte sich. Er blickte nach oben: dort funkelten nur die Sterne. Hinter ihnen war nichts, weder Geräusche noch Lichter oder Bewegungen. Rechts und links von ihnen gab es die gähnende Leere neben der Brücke. Trotzdem merkte der Berserker, wie sich in seinem Magen ein harter Klumpen zu bilden begann. »Es sind mehrere Personen«, sagte er nach einer Weile. »Außerdem höre ich Hufschlag. Vermutlich reiten sie auf Chreeans. Oder transportieren Lasten auf diesen Reittieren.« »Wahrscheinlich hast du recht«, bestätigte Axton. Die Fackeln vor ihnen schwankten hin und her. Sie selbst waren unsichtbar und unhörbar, denn sie führten keine Lichter mit sich. Wachsam und schnell gingen sie auf ihrem Weg durch die sternenfunkelnde Finsternis. Razamon schätzte, daß sie sich bereits auf der zweiten Hälfte oder gar im letzten Drittel der Distanz befanden. Die Geräusche vor ihnen wurden lauter und charakteristischer. Durch die Stille der Nacht hallten nicht nur die Hufschläge, sondern auch die bellend‐heisere Stimme eines Bruen.
»Wir können unbesorgt nahe an die Karawane herangehen«, schlug Razamon vor. Ohnehin waren sie schneller als die Teilnehmer der Karawane vor ihnen. »Niemand sieht und hört uns.« Grizzard dachte: Sollte es mir gelingen, ein Chreean zu packen und im Galopp die letzten Kilometer der Entfernung nach Turgan zurückzulegen, könnte ich Atlan in der Stadt erwarten, ohne abermals Razamon angreifen zu müssen. Razamons Gedanken und Überlegungen waren pragmatischer und beschäftigten sich mit der Lage, in der er sich befand. Sein Überlebenspotential, das wußte er definitiv aus der langen Zeit seiner Erinnerungen, war so hoch, daß es ihn selbst manchmal verblüffte. Nur zum Teil hing dies damit zusammen, daß er die Kräfte von mindestens drei Männern seiner Größe und Art besaß. Zudem hatten ihn die unendlich vielen Jahre viel gelehrt; nicht nur seine Reflexe waren geschärft worden. Trotzdem war und blieb er angespannt und nervös. Die Welt, in der er sich befand, schien exotischer und verwirrender zu sein als Pthor. Dazu kam das seltsame Verhalten seines Weggenossen. Zwar benahm sich Axton angesichts der unmittelbaren Gefahren in der letzten Zeit erstaunlich normal und vernünftig, aber dies konnte sich binnen kurzer Zeit radikal ändern. Der Berserker rechnete damit, daß es sich änderte – schon die Anwesenheit der Karawane vor ihnen konnte wieder einen der gefürchteten Schocks auslösen. »Niemand hört uns. Niemand sieht uns«, bestätigte Axton nach einer Weile. »Es sind etwa ein Dutzend Tiere. Und ich höre einwandfrei das Organ eines dieser geldgierigen Bruen.« »Du sprichst aus, was ich denke!« bekräftigte Razamon und griff nach seinem Beil; es steckte nach wie vor in seinem Gürtel. Sein einziger Besitz! Keine dreißig Meter trennten ihn von dem letzten Tier der Gruppe. Die zwei brennenden Fackeln ließen die einzelnen Teilnehmer der Gruppe nur höchst undeutlich erkennen. Ein wenig nachdenklich flüsterte der Berserker:
»Wir sollten nicht viel näher herangehen. Sonst bemerken sie, daß wir hinter ihnen sind.« »Einverstanden, Partner«, gab Axton scheinbar ausgeglichen und gutgelaunt zurück. Die geringe Menge Sternenlicht und die beiden rußenden Fackeln genügten, um auf den Rücken der Chreeans große, eckige Packen und die Gestalten erkennen zu lassen. Die Reiter hingen halb schlafend und schwankend in den Sätteln. Die Schuppen der Reptilienhaut schimmerten fahl. Klappernd und tappend berührten die Klauen und Laufballen der Reittiere und Lasttiere den Stein. »Ich …«, begann der Berserker, aber erschrocken schwieg er, als plötzlich der Boden unter ihm zu beben begann. Ein Orkan von verschiedenen Geräuschen drang schlagartig von allen Seiten auf die Wanderer ein. Die Steine, aus denen der Rinnensteig sich zusammensetzte, schrammten aneinander und gaben ein grauenvolles Knirschen von sich. Riesige Teile lösten sich krachend und polternd in die Tiefe. Die Schluchtwände der Todesrinne bebten, und schwere Steinlawinen gingen ab. Rechts neben den Pthorern verschwand ein quadratmetergroßes Stück aus dem Brückenbelag, ein kantiges Loch blieb übrig. Die riesige Brücke schüttelte sich und bebte, als bestünde sie nicht aus Stein. Razamon stand auf einem der großen Quadern und sah, wie links von ihm die Haltetaue wild zu schwanken begannen. Die Tiere der kleinen Karawane gerieten in Panik. Die Fackeln schwankten und wirbelten umher. Die Tiere drehten sich im Kreis, keilten aus und stiegen hoch. Lasten wurden abgeworfen, die Reiter kippten aus den Sätteln. Die Sterne schienen zu zittern. Razamon erkannte schlagartig, daß Dorkh sich ruckartig bewegte. Setzte sich der Dimensionsfahrstuhl in Bewegung? Über den Himmel zuckten gewaltige Blitze hin und her und zeigten das Chaos vor den Pthorern. Schlaglichter enthüllten die
kreischenden und scheuenden Chreeans. Aber die Bewegungen Dorkhs waren untypisch, der Berserker vermißte das dröhnende ferne Brausen. Die Sterne wurden von den grellen, zuckenden Blitzen verdeckt. Gerade dort, wo sich die Karawane befand, sah Razamon, wie sich ein großes Stück der Straße ruckartig absenkte. Ein Brue, der eine der Fackeln trug, taumelte zur Seite und verschwand durch ein Loch in der Fläche. Das Knirschen und Ächzen der Steinmassen verschluckte seinen lauten Schrei. Zwei Tiere kippten nach hinten. Sie rutschten ab, überschlugen sich und versanken, mit allen Gliedern wild um sich schlagend, in der grollenden und krachenden Tiefe. Razamon lief los, um zu versuchen, etwas zu retten. Seine Reaktion erfolgte völlig spontan. Gleichzeitig winkelte Lebo Axton die Arme an und rannte auf ein scheuendes Chreean zu, das seinen Reiter abgeworfen hatte und blind, sich hin und her werfend, auf die Pthorer zukam. Aber auch Axton wurde von den schweren Stößen, die durch die Brücke gingen, von den Füßen gerissen und wälzte sich, um den Sturz abzufangen, nach vorn. Ununterbrochen, während die Blitze zuckten und ferner Donner krachte, hoben und senkten sich einzelne Teile der Rinnensteig‐Oberfläche. Das Tier schrie auf und brach über die Vorderhand zusammen. Einige Reiter wurden an den Rand des Abgrunds geschleudert. Razamon sprang auf die Gestalten zu, die sich, verzweifelt schreiend, an die Steinkanten klammerten. Er packte eine davon, stemmte sich gegen die Bewegungen des Bodens und riß den Fremden in die Höhe. Grizzard dachte: Das ist meine beste Chance. Razamon wird mit der Brücke untergehen. Ich werde mich in den Sattel des Chreeans schwingen und nach Turgan reiten – und dort kann ich Atlan erwarten. Selbst wenn Razamon nicht getötet wird, hält ihn dieses Unglück lange auf. Mein Vorsprung wird
dadurch gesichert. Es gelang ihm, den Zügel des Tieres zu packen. Er zog sich an das Chreean heran, das Tier spürte die beruhigende Gegenwart eines Reiters und wehrte sich nicht, als er in den Sattel kletterte. Dann wendete Axton das Reittier. Als wäre es von seiner Furcht befreit, sprang das Tier los. Der erste Satz wirbelte Axton fast aus dem schmalen Sattel. Er beugte sich weit vor und suchte mit den Füßen die baumelnden Steigbügel. Er fand sie, gab den Zügel frei und das Tier galoppierte in rasenden Sprüngen, von der Furcht und der Panik getrieben, in Richtung Turgan über die zitternde und schwankende Brücke. Der Berserker wurde zusammen mit einem Fremden, dessen Gürtel er gepackt hatte, von einem harten Stoß auf den Rücken geworfen. Er fluchte laut auf. Dann fand sein Fuß irgendwo eine Kante, an der er sich abstemmen konnte. Razamon packte die Schultern des Mannes und drehte sich über den Boden. Er rollte zusammen mit dem Fremden auf die Mitte der Brücke zu, ließ den geretteten Reiter los und sprang auf. Wieder bebte der Boden, es knirschte und krachte, und im flackernden Licht der Blitze sah Razamon zwei weitere Teilnehmer der Karawane am Rand der Brücke hängen. Er tappte schwankend auf die beiden Männer zu. Als er sie erreichte, warf er sich auf den Fels und packte sie an den breiten Krägen ihrer Mäntel. Er spannte die Muskeln und zog sie mit einem Ruck auf den Brückenrand hinauf. Die Männer schauten ihn, schweigend vor Angst und Überraschung, aus großen Augen an. Eine schwelende Fackel lag auf einem der großen Steine. Wieder sprang der Berserker an die Kante des Rinnensteigs und holte zuerst einen, dann den letzten Teilnehmer der Karawane von einem schrägen Felsband. Es war die letzte Chance, denn die schräge Platte bewegte sich hin und her.
Als der Mann nach vorn gezerrt wurde, stellte sie sich senkrecht, splitterte an den Enden und fiel lautlos in die Tiefe. Die Blitze hörten auf. Offensichtlich bewegte sich auch Dorkh nicht mehr. Aber noch immer gab die Brücke ihr Knirschen von sich und bewegte sich. Die Bewegung war allerdings anders: ein Zittern und leichtes Vibrieren ließ die gewaltige Gesteinsmasse weiterhin schwingen. Durch die nachlassenden Geräusche hindurch hörte Razamon eine laute, angsterfüllte Stimme. Es war das unverkennbare Bellen eines Bruen. »Komme sofort!« brummte er und rannte auf das Loch zu, in dem er den Bruen hatte verschwinden gesehen. Die Reiter der Karawane schienen ihre Furcht überwunden zu haben. Jedenfalls rannten sie auseinander und fingen die wild herumspringenden und schreienden Tiere ein. Neben dem kantigen Loch in der Brücke ging Razamon in die Knie, stützte sich ab und spähte hinunter. In diesem Moment blitzte es über ihnen kurz auf, aber der kurze Schein hatte genügt, um dem Berserker den Brückenwächter zu zeigen. Er hing auf der Kante des Blockes, der drei Meter tiefer, um neunzig Grad gedreht, festgeklemmt war. Die beiden Tiere waren durch den offenen Spalt in die Tiefe gefallen. Razamon holte tief Luft und schrie hinunter: »Festhalten! Ich helfe dir!« »Schnellhelf!« ächzte der Brue zurück. Mit zwei Sprüngen war Razamon bei einem Karawanenreiter und riß das Seil, das er am Sattel sah, aus den Knoten. Während er zurückrannte, rollte er es auf und nahm die Fackel aus der Hand eines Mannes, der sie gerade aufgehoben hatte. Sekunden später war er am Rand des Loches und schleuderte ein Ende des groben Seils nach unten. Der Brue fing es ungeschickt auf und wickelte es sich mehrmals um das dicke Handgelenk. Fast senkrecht zog Razamon, das Seil über der Schulter, den Bruen aus der Vertiefung
heraus. Der Brue schien ebenfalls große Körperkräfte zu besitzen, denn er unterstützte Razamon, indem er jeden Felsvorsprung, den seine Finger in der Dunkelheit fanden, ausnutzte und sich daran hochzog. Razamon packte den Gürtel des Wesens und zog den Bruen von der Kante weg. Dann ließ er das Seil fallen. »Das warʹs«, sagte Razamon. Er hielt die Fackel hoch, sie brannte mit heller, knisternder Flamme. Die Sterne schwankten und zitterten nicht mehr. Die Brücke war fast gänzlich zur Ruhe gekommen. Am Horizont fuhren ein paar Blitze hin und her. »Großdank«, stöhnte der Brue und tastete sein Fell ab. Zwischen den Haaren sickerten schmale Blutspuren hervor. »Bist du schwer verletzt?« fragte ihn der Berserker und nahm aus den Augenwinkeln wahr, daß die insgesamt sechs Karawanenreiter mit sieben Tieren die Reittiere und das übriggebliebene Lasttier fest an den Zügeln hielten und sich auf der nur noch ab und zu knirschenden Brücke um den Bruen und ihn herum versammelten. »Leichtwund«, stöhnte der Brue. »Du auf Rinnsteig?« Er erkannte ihn offensichtlich wieder. Razamon lachte und antwortete knapp: »Ja. Ich habe die Brücke benutzt, ohne zu zahlen. Wie mein Partner. Er ist offenbar verrückt vor Angst gewesen, deshalb stahl er ein Chreean und ritt davon. Auch er hat nicht gezahlt.« Einer der Reiter hob den Arm und erklärte: »Ich bin Biderruk, der Anführer der Karawane aus Turgan. Du hast uns gerettet, und wenn er darauf besteht, bezahle ich deine Passage, Fremder. Wir danken dir!« Der Brue stöhnte ein paarmal und sagte dann: »Vergeß! Nixzahl. Ich helfalls Fremder. Vieldank, mehrdank. Du Freund von Rinnsteigwacht anderende.« »Das ist ein Wort«, stimmte Razamon zu, der mehr oder weniger diese Antwort erwartet hatte. »Wir sollten zusehen, daß wir von
dieser verdammten Brücke wegkommen. Ich traue ihr nicht mehr.« Biderruk sagte mit unsicherer Stimme: »Vor Sonnenaufgang sind wir kaum auf dem sicheren Boden. He, Tarnsik! Hole den Weinschlauch und den großen Becher, wenn die Last nicht im Abgrund verschwunden ist. Und bringt ein paar Fackeln.« »Das ist ein noch besseres Wort«, meinte der Berserker. »Ein guter Schluck läßt Ängste schnell vergessen.« Drei Fackeln wurden an der einzigen brennenden Fackel angezündet. Ein Turganer – er sah im Halbdunkel ebenso aus wie die Reiter, die Razamon und Axton überfallen hatten – ließ dunklen Wein in einen hölzernen Becher gluckern. Der Becher ging von Hand zu Hand, und ehe die Hälfte der Männer getrunken hatten, war er leer. »Dein Freund … er ist davongeritten«, stellte Biderruk fest. »Warum diese Eile?« Razamon hob die Schultern und drückte ihm die Fackel in die Hand. Auch die Reittiere hatten sich inzwischen beruhigt. »Ich weiß es nicht genau«, erwiderte er ehrlich. »Vielleicht hat er in der Furcht den Kopf verloren – oder sein Verstand hat gelitten. Ich muß bekennen, auch ich habe mich zu Tode gefürchtet.« Der Brue sagte laut: »Rinnsteig fest. Oftwackel. Am Rand Steinfall. Aber: immerfest. Nixfurcht.« Razamon nahm den Becher und roch an dem starken Wein. »Das sagst du so leicht, Freund«, erklärte er. »Aber für einen Fremden stellt sich die Sache ganz anders dar. Übrigens, ich heiße Nomazar und will nach Turgan. Danke für den Wein.« Er nahm einen Schluck. Der Wein war hervorragend, aber stark und schwer. Dann fiel ihm ein, daß er mehrfacher Lebensretter war, und er trank den Becher fast leer, ehe er ihn an den Tarnsik zurückgab. »Gehen wir?«
»Ich begleite dich natürlich nach Turgan«, versprach Biderruk.
»Du hast Durst für drei Männer.« »Ich habe auch drei Männer auf die Brücke zurückgezogen«, sagte Razamon entschuldigend. »Wir sollten wirklich dieses Lieblingsspielzeug der Bruen hinter uns lassen.« »Rinnsteig immerfest«, fügte der Brue hinzu. Die Turganer und der Brue packten die Zügel der Chreeans und wandten sich nach Osten oder vielmehr nach Südost. Innerhalb weniger Sekunden befanden sich die Tiere und die Reiter in einer Reihe. Die Männer gingen neben den Reittieren dahin. Die Fackeln loderten und knisterten. Gemeinsam setzten sich die Teilnehmer dieses seltsamen Zuges in Bewegung und liefen auf das andere Ende der Brücke zu. Der Brue sagte irgendwann: »Noch ein Drittel Rinnsteig. Nixmehr.« »Wie lange werden wir brauchen?« fragte Razamon und schob seine Waffe hinter dem Gürtel zur Hüfte hin. »Sonnaufgeh«, bellte der Brue. »Dann Altturm.« Nur ab und zu kam zwischen den Steinen des Rinnensteigs ein knirschendes Ächzen hervor und erschreckte die Teilnehmer der Karawane. Im Schlund der Todesrinne krachten und rollten Steine. Razamon versuchte, sich zu beruhigen und über die Ereignisse der letzten Stunde nachzudenken. Dorkh, der Dimensionsfahrstuhl, hatte zweifellos starten wollen. Aber alle Geräusche und Vibrationen hatten Razamon gesagt, daß Dorkh nicht wirklich geflogen war. Dorkh hatte sich nicht lösen können, trotz einer gigantischen Kraft, die an dem Weltenfragment zerrte. Vielleicht hatten diese Geschehnisse etwas mit dem Augenfeld zu tun? Dorkh hatte sich, trotz aller Kraftentfaltung, nicht von der Stelle gerührt. Dessen war der Berserker gewiß – er kannte diese Vorgänge von Pthor sehr genau. Sein zweites Problem war Lebo Axton. Was mochte in ihn gefahren sein? Bisher hatte er volles Verständnis für die mehr als schwierige Lage gehabt, in der sich Lebo Axton im Körper Grizzards befand. Aber das Verhalten war
nicht mehr zu verstehen und überdies gefährlich für sie beide. Der geglückte Versuch, mit einem Chreean zu fliehen … was hatte das zu bedeuten? Daß Axton mürrisch war und selten antwortete, daß er vor jeder Anstrengung Angst hatte und sich trotzdem der Situation entsprechend richtig und entschlossen verhielt, war eine andere Seltsamkeit. Razamon war völlig verwirrt. Im Augenblick war er sogar froh darüber, dieses wandelnde Problem für unbestimmte Zeit los zu sein. Aber ebenso sicher konnte er sein, daß ihn Lebo Axton bald wieder auf eine Weise beschäftigen würde, die ihm alles andere als angenehm war. In den wenigen Stunden, die noch der Nacht gehörten, zog die Karawane auf dem glatten Teil des Rinnensteigs nach Südosten. Einmal blieb der Brue, der den Zug anführte, stehen und wartete, bis Razamon an seiner Seite war. »Ich Gurd«, sagte er. »Kamerad Ziel‐Turgan, wie?« »Ich bin fast sicher«, antwortete Razamon, »daß Axton in die Richtung der Stadt geritten ist. Wir hoffen, dort einen Freund zu treffen, einen schlanken Mann mit auffallend weißem Haar.« »In Stadt Sklavmarkt«, bestätigte der Brue. »Du mir Lebgerett.« »Vergiß es«, sagte Razamon gönnerhaft. »Das kommt häufig vor.« »Nichtmir«, erklärte der Brue. »Du Neufreund.« »Einverstanden. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage.« »Schnellantwort wennkann.« »Hoffen wirʹs. Ich habe den Namen ›Lauder Vierkämpfer‹ mehrmals gelesen und gehört. Ist er der Herrscher von Turgan?« »Nein. Uralt. Legendensage. An Altturm Tafelschreib. Dichzeig später.« Für Razamon war es oft nicht ganz einfach, die merkwürdig zusammenziehende EinfachSprechweise der Bruen zu verstehen. Er mußte immer erst einige Sekunden lang überlegen, um den Sinn gänzlich zu verstehen, und dann bemühte er sich, nicht in diesen Tonfall zu gleiten. Vermutlich würde Gurd dies als Beleidigung
auffassen, als eine Gefährdung der eben beteuerten Freundschaft. »Tatsächlich? Eine Tafel? Mit einem Text des legendären Vierkämpfer? Wann soll er gelebt und vierfach gekämpft haben?« »Ich nixwiß«, antwortete Gurd. »Viellang her. Niegehört. Ich nixles kann.« »Ich werde es dir vorlesen«, versicherte der Berserker. »Es wird heller. Die Nacht dauert nicht mehr länger.« »Nein. Bald Sonnlicht.« Die Sterne begannen wieder zu verblassen, aus der Todesrinne brodelten die ersten Nebelschwaden hoch. Die Karawanenführer wurden müde; die Aufregungen schlugen durch. Die Männer hingen schwer an den Hälsen der dahintrottenden Chreeans. Auch Razamon fühlte die Anstrengungen der Nacht, aber sie machten ihm keinesfalls schwer zu schaffen. Er wartete auf den Moment, an dem sich aus Dunkelheit und Nebel die Umrisse des zweiten, halb zerfallenen Brückenturms hervorschälen würden. 3. Die ersten Sonnenstrahlen trafen über der Nebelschicht auf die zackigen, zernarbten Ränder des Turmes. Der Turm war einstmals ebenso groß gewesen wie sein Gegenstück am anderen Ende des Rinnensteigs. Auch der Durchmesser des untersten Teiles schien gleichgroß. Aber selbst jetzt, im Dunst, sahen sie deutlich, daß die Spuren der Zerstörung groß waren. Auch die Erschütterungen der letzten Nacht hatten dem Turm zugesetzt. Die oberste Mauerkrone verlief schräg und ausgezackt. Links waren ein paar Zinnen übriggeblieben, die aus gegeneinander versetzten Quadern bestanden. Die abfallenden Schrägflächen sahen aus wie ein kranker Zahn, und die wenigen Öffnungen waren ausgefranst und leer. Hier gab es keine Plattform mehr, von der aus
ein Brue weit ins Umland schauen konnte. Die Haltetaue schwangen, naß vom Morgennebel, tief durch und verschwanden links vom Turm in Gestrüpp und Gebüsch. Die Steine der Brückenoberfläche glänzten tiefschwarz, und alle Mitglieder der Karawane schienen wieder wacher und kräftiger zu werden. Um den Turm lagen Staub und große Trümmerstücke. Razamon war froh, nach wenigen Schritten die Brücke verlassen zu können. Die Bruen, die auf dieser Seite standen, waren weniger zahlreich, aber ebenso bewaffnet und wachsam. Gurd lief auf seine Kameraden zu und redete, heftig gestikulierend, auf sie ein. Die Karawane tappte zwischen den einzelnen Wächtern hindurch, am Fuß des Turmes vorbei, und Gurd zeigte, nachdem er Razamon zu sich herangewinkt hatte, schräg nach oben. »Dort. Lauderschreibe.« »Danke. Ich werde nachsehen«, sagte der Berserker und sah das Sonnenlicht auf einer alten, zerbeulten Metalltafel funkeln. In den breiten Spalten des alten Gemäuers kletterte er aufwärts und sah, daß Schriftzüge ins Metall eingraviert waren. Dieselbe Schrift wie in der Höhle von Cibola, der vergessenen Steinstadt. Schweigend las er: Das schreibt der Vierkämpfer: mit einem Heer zog ich aus. Wild und entschlossen waren wir, Dorkh zu unterwerfen. Ehe der … (hier war das Metall zerfressen, auch schien man mit Steinen oder Metallwaffen die Kerben und Schriftzeichen verstümmelt zu haben)… kam. Die Orte, die wir verließen, waren befriedet. Die Kämpfe forderten hohe Verluste. An der Todesrinne warfen sich uns viele mutige Streiter entgegen. Nur ich überlebte den Kampf. Turgan bleibt mein Ziel, dort warte ich auf (das Ende der Tafel fehlte.) Razamon kletterte hinunter und brachte diesen Text mit dem Felsengrab und der Waffe in Verbindung – seine Gewißheit wuchs, daß es sich bei Lauder Vierkämpfer um einen tatsächlich geschichtlich existenten Mann gehandelt hatte.
Einen Beweis dafür trug er am Gürtel. Er ging auf Gurd zu und fragte: »Ich habe die Schrift gelesen, Gurd. Hat mein verwirrter Freund, wie wir alle glauben, auf dem Rücken eines Chreeans die Sperre deiner Kollegen passiert?« Zwei andere, mit Schwertern bewaffnete Bruen schlenderten auf Razamon und Gurd zu. Er stieß eine Reihe von bellenden Lauten aus. Es war Dorkh‐Pthora, aber Razamon verstand nur wenige kurze Ausdrücke. Seine Kameraden antworteten in derselben verwirrenden Schnelligkeit. »Verstand?« fragte Gurd. »Nicht ein Wort«, bekannte der Berserker fast wahrheitsgemäß. Der Brue versuchte zu übersetzen. »Er ist wie ein Rasender über die Brücke galoppiert. Der Rinnensteig hat noch gezittert und geknirscht. Meine Kameraden sind auf den festen Boden gerannt, weil sie sich fürchteten. Er ist an ihnen vorbeigeritten und höchstwahrscheinlich in die Richtung von Turgan gehetzt. Sie haben ihn natürlich nicht ganz deutlich gesehen, denn es war dunkel.« So lautete seine Auskunft, aber Razamon mußte an manchen Stellen dreimal nachfragen, ehe er alles verstanden hatte. »Jetzt verstand?« rief Gurd zum Schluß. »Jetzt ganzverstand. Megadank«, sagte Razamon. »Ich werde ihn verfolgen. Allein in Turgan … Axton wird dies nicht überleben.« Er ging hinüber zu der Karawane und berührte Biderruk, der mit seinen Leuten im Kreis auf dem Boden saß und eine Mahlzeit herunterschlang, an der Schulter. »Ich habe eine Bitte«, sagte der Berserker. »Ja?« »Was muß ich tun, damit du mir ein Chreean leihst? Ich möchte versuchen, meinen im Verstand verwirrten Freund einzuholen, bevor er Turgan erreicht. Oder, wenn er in der Stadt sein sollte, ihn vor Unglück und Fehlern retten. Ich würde das Chreean einem der
Torposten geben. Oder irgendwo stehenlassen, bei einem deiner Freunde oder bei einem anderen Karawanenherrn. Erfüllst du mir diese Bitte?« Er sagte sich, daß er vermutlich mehr Erfolg haben würde, wenn er höflich bat, statt als Lebensretter zu fordern. Seine Rechnung ging auf, denn Biderruk antwortete: »Kein Problem. Nimm das Reittier. Aber es ist nicht mehr frisch und ausgeruht. Wie wir alle. Und … du kannst es tatsächlich bei Harkker in der Straße der Händler stehenlassen.« »Ich danke dir«, sagte Razamon, aber Gurd, der hinter ihm auftauchte, rief: »Du nix alleinreit. Ich mitreit. Turgan vollGefahr. Du Neufreund und lebensrett. Ich‐helf.« Er zeigte auf den Turm. Dort zog einer seiner Kameraden ein gesatteltes Chreean aus dem halb zerfallenen Eingang. »Natürlich freue ich mich darüber«, bestätigte der Berserker, »wenn mir jemand hilft. Ich weiß nicht, wie es in Turgan zugeht.« »Turgan immergefahr. Niemalsruh«, bestätigte Gurd beflissen. »Halten dich deine Pflichten nicht davon ab, mit mir zu reiten?« fragte Razamon vorsichtig. »Nein. Nixpflicht. Wir zusammenreit.« »Einverstanden.« Die Turganer versorgten den Berserker mit einigen Bissen Brot und Fleisch. Er bekam auch einen Schluck Wein, dann schwangen sich der Brue und er in die Sättel der Chreeans. Sie ritten los, ein ungleiches Paar mit unterschiedlichen Absichten, aber demselben Ziel. Binnen weniger Schritte verließen sie die letzten Riesenquader der Brücke, wechselten über auf einen Straßenabschnitt, der an die Oberfläche des Titanenpfads erinnerte, und nachdem sich Gurd vergewissert hatte, daß ihm Razamon folgte, schlug er die Richtung auf Turgan ein. Es war die Straße rechter Hand. Die Sonne löste Dunst und Nebel auf, und Razamon drehte sich im Sattel um. Das Schlimmste schien überstanden zu sein.
Der löchrige Turm sah aus, als wolle er jeden Moment völlig in sich zusammenfallen. Die Gestalten der Turganer und Bruen wurden an seinem Fuß immer kleiner. Der Berserker griff an seine Waffe; sie steckte noch im Gürtel. Noch war von der Stadt nichts zu sehen, aber die Straße war gepflegt und nicht sonderlich breit, kein Vergleich mit dem Rinnensteig und dem monströsen Titanenpfad. Die Tiere schienen, ohne daß die Reiter etwas dazu taten, von Turgan angelockt zu werden. Sie wurden schneller und zeigten nicht die geringsten Spuren der Erschöpfung. Razamon setzte sich in dem ungewohnten Sattel zurecht. Er hoffte, daß die vor ihm liegenden Abenteuer in Turgan seine Kräfte nicht überfordern würden. Und … hoffentlich traf er Atlan! * Die Straße zwischen dem östlichen Ende des Rinnensteigs und den Bergen um Turgan war ein krasser Gegensatz zu den Pfaden und Beschwernissen der letzten Tage. Die Chreeans liefen auf weichen Sohlen gleichmäßig dahin, ihre stumpfen Reptilienkrallen schlugen auf das kleinformatige Pflaster. Die Farbe der Schuppenhaut hatte sich verändert und der Umgebung angeglichen; die Reittiere verschmolzen zum Teil mit der grünen, schattigen Umgebung. Als der Brue und Razamon aus einer leichten Kurve herausritten, sahen sie, daß die Straße dicht bevölkert war. Razamon rief: »Sieht es hier immer so aus? Karren und Gefährte? Reiter aus allen Teilen von Dorkh?« Gurd rief über seine pelzige Schulter zurück: »Niximmer. Vielverkehr weil Sklavmarkt. Klar?« »Klar«, sagte Razamon. »Das ist ein überzeugender Grund für ein solches Verkehrsaufkommen.« Die Straße lag auf einer nicht geringen Länge, leicht abfallend, im Blickfeld der beiden Reiter. In kleinen Abständen wanderten in die
Richtung auf Turgan einzelne Personen und kleine Gruppen. Zwischen ihnen rumpelten die schweren Räder von hochbeladenen Karren dahin. Andere Wagen rollten am Straßenrand, zwischen ihnen ritten vermummte Männer auf Chreeans. Jede einzelne Person und jede Gruppe, die Razamon überholte, wurde von ihm genau beobachtet und angestarrt. Er blickte in jedes Gesicht, aber Atlan war nicht unter ihnen. Auch niemand, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Arkoniden hatte. Wieder berührte der Titanenpfad mit seinem Rand die Straße. Sie lief einige Kilometer lang auf dem Titanenpfad, der hier eine vollkommen andere Oberfläche hatte. Sie war glatt und durch die ständige Benutzung ausgetreten. An ihren Rändern wuchsen Büsche und große, alte Bäume, die jetzt am frühen Vormittag schwarze Schatten über die Straße warfen. Wieder ritten Gurd und Razamon an mehreren Dorkhern vorbei. Zwischen ihnen schwankte ein Karren mit zwei Rädern. Razamon beugte sich weit aus dem Sattel und musterte die Passanten. Einige gaben seinen Blick zurück, andere blickten uninteressiert an ihm vorbei. Atlan war nicht darunter. »Du Freundsuch, ja?« rief Gurd und zügelte das Tier ein wenig. »So ist es«, gab Razamon zurück. »Aber ich finde ihn nicht. Es sind viel mehr Leute in Turgan, wenn der Sklavenmarkt stattfindet?« »Vielmehr. Allesvoll«, antwortete der Brue. Gegen Mittag kam Turgan in Sicht. Bisher hatte der Berserker nur gewußt, daß die Stadt ziemlich groß sein mußte, und daß sie auf den Felsen des Randgebiets erbaut war. Jetzt erkannte er ihre Lage und die Ausdehnung, und auch das war eine neue Überraschung für ihn. Das letzte Stück der Straße, also des Titanenpfads, reichte bis an die Felsen heran. Dann wurde sie von zackigen, breiten Steinzacken verdeckt. Turgan war am östlichen Rand von Dorkh errichtet. Die Lage war ähnlich wie bei Aghmonth oder Wolterhaven auf
Pthor. Eine Art Rampe, noch undeutlich zu erkennen, führte zwischen den Felsen aus dem Norden hinauf zu den Stadttoren. Sie wirkten, in der Farbe der umgebenden Steine, wuchtig und unbezwingbar. Die Mauern waren stellenweise sehr hoch und von zahlreichen Öffnungen durchbrochen, an anderen Stellen waren sie von mächtigen Kanzeln und Türmen durchsetzt. Eine auffallend große Menge von Öffnungen befand sich in den Felsen über der Rampe. »Kennst du Turgan, Gurd?« »Stadtkenn, ja. Großart.« »Dann kannst du mir sicher auch sagen, was diese Löcher neben und über der Rampe bedeuten?« »Händlerstraß.« »Meinst du die ›Straße der Händler‹?« »Ja.« Das war also die Straße der Händler, von der Biderruk gesprochen hatte. Razamon sollte das Chreean irgendwo dort zurückgeben. Harkker, ein anderer Händler. Vielleicht gab es dort auch ein paar aktuelle Informationen. Ein paar Kurven weiter waren die einzelnen Abschnitte der Stadtanlage viel besser zu erkennen. Natürlich fand Razamon weder Atlan noch die geringste Spur von ihm. Er fragte sogar einige Karawanenführer, aber auch sie – sofern sie überhaupt antworteten – wußten nichts. Die Rampe, die zum Stadttor hinaufführte, bildete die unterste Ebene einer erstaunlichen, treppenartig gestaffelten Anlage. Die Felsen darüber waren stellenweise höher als hundertfünfzig Meter. Jetzt lagen sie im vollen Sonnenlicht. Darüber gab es weitere Rampen, von breiten Treppen miteinander verbunden. Unterschiedliche Stadtteile waren auf diesen Flächen angesiedelt, und auf der höchsten Ebene, die schon aus der Entfernung irgendwie sauberer und sorgfältiger gearbeitet wirkte, erhoben sich Mauern und Kanzeln. Diese gewaltigen Felsstufen bildeten einen
Halbkreis, eine Art abgestufte Halbpyramide. Zwischen den Öffnungen und auf den waagrechten Flächen bewegten sich Wesen von Dorkh und Tiere. Lastenstapel standen da und wurden hin und her bewegt. Die Straße umrundete wieder einen Felsen, und der Blick auf Turgan war unmöglich. Razamon trieb sein Chreean an die Seite des Bruen. Sie überholten einen Zug vermummter Wesen, unterschiedlich groß, aber mit einer dünnen Kette aneinander gefesselt. Neben ihnen ritt ein Turganer mit funkelnden Augen hinter seinem Gesichtsschleier. »Nocheinstund«, erklärte der Brue. »Stadthüter übel. Willkürmänner.« Der Berserker versuchte zu verstehen, was der Brue meinte, dann nickte er. Also eine neuerliche Komplikation! »Du meinst, daß sie so ähnlich wie die Rinnensteig‐Wächter nicht jeden in die Stadt hineinlassen?« Der Brue nickte. »Aber vermutlich gehen sie nach anderen Gesichtspunkten vor. Vielleicht sind in Turgan solche Gäste, die über keine Barschaft verfügen, sogar hochwillkommen.« Gurd brach in ein dröhnendes Gelächter aus und ritt weiter, ohne eine Antwort zu geben. * Inmitten einer Gruppe anderer Reiter zügelten Gurd und Razamon ihre Tiere am Fuß der Rampe. Razamons in zahllosen Gefahren geschärfte Sinne stellten sofort fest, daß die Angehörigen einer einzigen Gruppe auf der Rampe dominierten. Es waren Turganer, die keine Schleier oder Verkleidungen trugen. In ihren Händen befanden sich lange Hellebarden, deren metallene Spitzen groß, mehrfach gezackt und mit einer halbmondförmigen Schneide versehen waren. Einige der
Turganer trugen Bögen und gefüllte Köcher, andere hatten in röhrenförmigen Futteralen auf ihrem Rücken kurze Wurfspeere. Jeder der selbstbewußt stolzierenden Männer wirkte, als sei er durchaus in der Lage, seine Waffen sicher zu handhaben. Auf der Rampe herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Anzahl derjenigen, die nach Turgan hinauf wanderten, war eindeutig größer. »Kennst du die Stadthüter gut?« fragte Razamon und überlegte, ob er aus dem Sattel steigen sollte. »Ganzgut«, antwortete der Brue. »Bösmänner.« »Wohin müssen wir, wenn wir den Sklavenmarkt beobachten wollen?« »Mittelstufe. Süd«, gab Gurd zurück und zeigte auf eine der Ebenen in der Mitte der Stadtanlage, aber weit rechts von ihnen. Um dorthin zu kommen, mußten sie etwa die Hälfte der ziemlich schmalen Rampe aufwärts reiten und dann rechts abbiegen. Razamon sah, daß die Stadtwächter jeden, der die Rampe betreten hatte, genau kontrollierten. Aber sie schienen keinerlei Zoll zu erheben. Für Razamon waren die Stadttore und die Mauern viel begehrenswerter als die seitlichen Ebenen. War er erst einmal dort oben, dann konnte er sich abwärts viel ungehinderter bewegen. Er gab Gurd ein Zeichen und ritt los. Es war halbwegs eine Erholung, sich wieder innerhalb dem Trubel einer größeren Menge zu befinden. Von überall her drangen Gerüche und Geräusche, Farben und Bewegungen auf die Neuankömmlinge ein. Aufmerksam beobachtete Razamon seine Umgebung und notierte schweigend jede Einzelheit. Die Rampe war nicht breiter als zehn Meter. Beide Böschungen waren mit Steinplatten belegt. In den Fugen der Platten wuchsen Gras, Moos und allerlei dürres Gesträuch. Hier oben, am Rand, neben den Hufen der Tiere und den Sohlen der Fußgänger, gab es nur dunkelgrünes Moos und verfilztes Gras, aber
je tiefer es hinunterging, desto mehr Abfälle lagen an den Wurzeln der knorrigen Büsche und hatten sich in deren Zweigen verfangen. Den einzigen Zugang zur Stadt, wenigstens auf der nördlichen bis zur südlichen Seite, bildete diese belebte Rampe. Zwei Stadtwächter, die Hellebarden senkrecht aufgerichtet, schlenderten auf den Bruen und den Fremden zu und musterten sie überaus gründlich von oben bis unten. Aber sie unternahmen nichts, um sie anzuhalten oder gar zurückzuweisen, sie sagten auch kein einziges Wort. Razamon schob sein kostbares Kampfbeil im Gürtel über die rechte Hüfte – dort war es von den Hellebardenträgern kaum zu sehen. Im Gegensatz zu allen anderen Turganern waren die Stadthüter nicht vermummt. Sie trugen lederne Waffenröcke, deren Oberfläche wie poliert wirkte. Brustpanzer und Helme schimmerten metallisch. Die Helme hatten an den Seiten große Öffnungen, die von breiten Metallrändern geschützt waren. Die großen Ohren der Turganer waren auf diese Weise frei beweglich. Die Köpfe samt den Helmen wirkten sehr phantastisch und boten einen auffallenden Gegensatz zu der Stadt, die keineswegs sonderlich bizarr aussah. Razamon beugte sich kurz zu Gurd hinüber, deutete auf den Fuß der Rampe und fragte: »Ich sehe dort unten Gestalten und so etwas wie alte Hütten. Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?« »Gesindel dort. Übelvolk.« Gleichzeitig mit der Antwort des Bruen sah Razamon, was er meinte. Vier oder fünf Stadtwächter rannten etwa fünfzig Meter weiter oben auf der Rampe auf zwei Gestalten zu. Sie sahen wie Tiermenschen aus, wie Wesen aus dem Hordenpferch. Die Wächter senkten die Hellebarden und entrissen den zottigen Gestalten lange Holzstangen, an denen Körbe und aus Stroh oder Ruten geflochtene Schalen hingen. Die Zottigen wehrten sich verbissen, aber die Stadtwächter waren unbarmherzig. Noch drei Männer rannten herbei. Einer senkte die Hellebarde, schob deren anderes Ende
zwischen die Beine des ersten Mannes und brachte ihn zu Fall. Eine Hellebardenspitze bohrte sich in den Rücken des Stürzenden. Der Tiermensch heulte schauerlich auf, warf die Arme in die Höhe und kippte über den Rand der Rampe. Razamon zuckte zusammen; es schien für ihn einen Akt reiner Willkür zu bedeuten. Die Rampenwachen waren tatsächlich ein übles, schurkenhaftes Volk, wie Gurd gesagt hatte. Sie warfen auch den zweiten Tiermenschen von der Rampe. Beide Männer fielen auf die glatten Steinplatten und rutschten vom Kamm der Rampe hinunter. Verzweifelt brüllend versuchten sie, sich irgendwo festzukrallen. Aber die dürren Grashalme rissen in ihren Fäusten ab. Schließlich, nachdem sie etwa dreißig Meter abwärts gerutscht und sich mehrmals überschlagen hatten, gelang es ihnen an zwei verschiedenen Stellen, sich an Büschen und Wurzeln festzuklammern. Die Turgan‐Wächter hoben die Bögen von den Schultern, legten Pfeile auf die Sehnen und feuerten die Geschosse nach unten ab. Ein Pfeil schrammte entlang der Steinplatte und traf den Tiermenschen in die Schulter. Das Wesen schrie noch lauter und löste seinen Griff von der Wurzel. Wieder rutschte er weiter, bis zum Fuß der Rampe. Dort rannten sofort die Wegelagerer auf ihn zu, obwohl es dem Berserker schleierhaft war, was es in diesem Fall noch zu plündern oder rauben gab. »Eine bemerkenswert grobe Bande«, murmelte er und dirigierte das Reittier nach rechts. Die Straße der Händler lag unmittelbar vor ihnen. Der andere Bogenschütze hatte mit seinem ersten Schuß sein Ziel verfehlt. Er zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und jagte ihn hinunter. Diesmal traf er die Finger des Ärmsten, die einen Strauch an der dicksten Stelle umklammerten. Auch der zweite Hordenpferchbewohner verlor endgültig den Halt und rutschte mit weit ausgebreiteten Gliedmaßen bis hinunter
zur Kante zwischen Felsboden und Rampe, mitten in Abfälle und Steingeröll hinein. »Wahrsagt, ja? Du selbst sehkannst«, murmelte der Brue leise, denn eben liefen zwei Stadtwächter an ihm vorbei auf die nächsthöhere Ebene zu. Die verschiedenen Einzelpersonen und Gruppen auf der Rampe taten so, als hätten sie den Zwischenfall nicht bemerkt – vermutlich wollten sie das Interesse der Wachen nicht auf sich selbst ziehen. »Das Leben verspricht auch hier hart zu werden«, sagte Razamon etwas lauter. »Und unser Freund Biderruk soll nicht den Schaden haben. Geben wir unsere Tiere dort ab.« »Einverstand.« Sie bogen in die »Straße der Händler« ein. Razamon fragte einen Wächter, der ihn starr anblickte, nach dem Karawanenhändler Harkker. Er bekam die Antwort, bis zum Bild des Beladenen Chreeans zu reiten. In der Höhle darunter wäre der Laden des Harkker zu finden. Höflich bedankte sich Razamon und sah ein, daß er mit seinem Aussehen auch hier einige Aufregung erregen mußte. Andererseits kamen Wesen aus allen Teilen Dorkhs hierher – und wer kannte schon alle Bewohner dieser Welteninsel? Über vielen Höhleneingängen waren Zeichen und Bilder in den Fels geschlagen. Sie befanden sich als Reliefs oder Basreliefs in eckigen Rahmen aus Felsleisten, die man stehengelassen hatte. Im schrägen Licht und unter der Wirkung der Schatten wurden die Bilder ziemlich deutlich. »Dort ist es.« Razamon fand ohne Schwierigkeiten das Bildnis eines langbeinigen Chreeans. Das Tier war an den Flanken und auf dem Rücken mit riesigen Bündeln beladen. Das Relief schien die Tüchtigkeit und den Reichtum eines Karawanenhändlers zu versinnbildlichen. Razamon und der Brue stiegen ab und packten die Reittiere an den kurzen Zügeln. Eine schlanke, vermummte Gestalt, unverkennbar ein Turganer,
kam aus der Höhle. Sie hatte drei Eingänge, durch breite Stege voneinander getrennt. Auch diese Höhlen und die daneben und dahinter liegenden Räume waren, wie die Spitzkegel der Felsenstadt Cibola, aus dem massiven Stein herausgemeißelt. An vielen Stellen zeigte der glattpolierte Stein die Spuren jahrhundertelangen Bewohnens. Razamon hob die Hand und erklärte: »Wir suchen den ehrbaren Kaufmann Harkker. Wir kommen von Biderruk, seinem Freund. Mit seiner Karawane wird Biderruk bald hier eintreffen. Allerdings verlor er in dieser Nacht ein paar Tiere mitsamt den Lasten.« »Und beinaheleben. Fremder Lebensgerett«, bellte der Brue und wies auf Razamon. Der Berserker lächelte und fuhr fort: »Das Tier stammt von Biderruk. Er wird es hier abholen. Und dieses Tier sollst du mit der nächsten Karawane den Bruen am östlichen Turm übergeben, wenn wir beide getrennt und am Ritt zurück gehindert werden sollten. Willst du das für Freund Biderruk tun, wenn du Harkker bist?« Der Turganer hob einen Arm. Die Hand im dunklen Handschuh glitt aus dem Ärmel hervor. Mit dumpfer Stimme sagte er unter dem Umhang hervor, während seine stechenden runden Augen den Fremden musterten: »Ich bin Harkker. Wenn Biderruk ein Tier leiht, muß er überfließen vor Dankbarkeit. Ich denke, ihr seid müde und hungrig.« »Wir hungervoll«, bestätigte der Brue. »Aber Nomazar eiligsuch.« »Im Augenblick sind die Brückenwächter ein wenig … mürrisch, scheintʹs«, sagte der Händler. »Genießt einen Imbiß. Es ist im Sinn von Biderruk, wie ich definitiv weiß. He, Tnark!« Aus dem dritten Eingang glitt geräuschlos eine kleine Gestalt, nahm die Zügel der Tiere und führte sie in die Höhle zurück. Es geschah so schnell, daß Razamon nicht genau sehen konnte, ob es ein Turganer oder ein anderer Bewohner dieser Welteninsel war. Er zuckte die Schultern und folgte dem Händler ins Innere der
mittleren Höhle. Es schien eine Art Laden und ein Teil der privaten Wohnung zu sein. Ein Teil des Ladens wurde vom Tageslicht erhellt, das durch den Eingang und Aussparungen im Bild des Beladenen Chreeans hereinfiel, andere Nischen und in den Fels geschlagene Regale erhielten ihre Beleuchtung durch Lampen, deren Aussehen und zischendes Funktionieren augenblicklich Razamons Interesse hervorriefen. Er blieb stehen und berührte den Metallzylinder mit den Fingern. »Turgan erfindungsvoll«, meinte der Brue begeistert. »Kunstlamp.« Der Zylinder war fast so heiß, daß Razamon sich die Finger versengte. In seinem Innern lief vermutlich ein Gärungsprozeß ab und erzeugte Gas. Das Gas fuhr durch eine Düse, reicherte sich dort mit Sauerstoff an und ließ ein gitterartiges Kugelgebilde in weißer Glut strahlen. Die Ausbeute an Helligkeit war beträchtlich. Die Lampe erzeugte nur geringfügigen Gestank. »Kunstlamp beeindruckend«, bekräftigte Razamon und sah, daß solche Zylinder an vielen Stellen der Höhle standen. Die Räume hinter den drei Eingängen befanden sich auf mehreren Ebenen, eine Art kunstvolles Labyrinth. Kleine Kontrollöffnungen ließen erkennen, daß die Treppen über dem Stall, ein Wohnraum über einer Treppe, andere Räume förmlich ineinandergeschachtelt waren, nur durch massive Felsen getrennt, die man stehengelassen hatte. Seine Achtung vor den ausgestorbenen Wesen, die sowohl Cibola wie auch große Teile Turgans aus dem Stein geschlagen und dabei mit großer Kunstfertigkeit vorgegangen waren, wuchs abermals. Er folgte dem Karawanenhändler in einen kleinen, fast gemütlich eingerichteten Raum. Auf steinernen Sitzbänken lagen Kissen aus Chreeanleder. Auf einem großen Steintisch standen Schalen und Krüge. Unter seinen Gewändern erzeugte der Turganer ein schnalzendes Geräusch.
Sofort glitt eine andere, ebenso große und schlanke, verhüllte Gestalt in den Raum und wieder hinaus. Sie brachte Speisen und mehrere Krüge herbei und richtete sie auf dem Tisch an. »Setzt euch!« bat der Händler. »Eßt reichlich. Es trifft keinen Armen. Es gibt eine Gastfreundschaft zwischen denen, die in der Wildnis von Dorkh wandern. Niemand, der von Turgan auszieht, weiß, ob er lebend zurückkommt.« »Das – ist – richtig«, sagte Gurd langsam und betont. Wenn er sich anstrengte, schien er richtig sprechen zu können. »In – der – Nacht – war – uns – der – Todnah.« Razamon starrte ihn verblüfft an und erntete ein breites Grinsen. »Langsamsprech besser, hä?« Razamon hob einen Becher, in dem sich eine Art dünnes, aber schäumendes Bier befand und nahm einen Schluck. »Ich bin überwältigt. Herzlichen Dank, Harkker.« »Ich kann sicher sein, daß ihr dasselbe für mich tun würdet, irgendwo draußen zwischen Hordenpferch und Bitterem Fluß.« Sie aßen und tranken langsam und mit Genuß. Im gleichmäßigen Licht der Gaslampen sahen sie, daß an vielen Stellen die Felswände mit künstlerischen Darstellungen versehen waren. Eigentümlicherweise bevorzugte der unbekannte Künstler die Geometrie, denn die einzelnen Felder der Bildwerke waren Rechtecke und Vierecke verschiedener Größe und riefen irgendwie den Eindruck aufgehängter Tafeln hervor, zwischen denen es nur fingerbreite Zwischenräume gab. Kauend fragte Razamon, ob unter den Händlern in dieser Ebene etwas von dem Arkoniden bekannt sei. Natürlich war nichts bekannt. Aber er wollte buchstäblich nichts unversucht lassen. »Aber«, sagte der Turganer, »man hat erzählt, daß im ersten Morgenlicht ein Reiter in halsbrecherischem Tempo die Rampe aufwärts geritten ist. Er soll ausgesehen haben wie ein haarloser Hordenpferchler.«
»Lebo Axton!« entfuhr es Razamon. Die Frage nach Axton wäre eine seiner nächsten Fragen gewesen. »Was weißt du noch?« »Niemand hat es genau gesehen, die meisten schliefen. Aber es hat ganz den Anschein, als ob er mit den Rampenwachen verhandelt hat. Jedenfalls ließen sie ihn weiter hinauf und behielten sein Chreean.« Razamon lachte grimmig. »Dieses Tier gehört ebenfalls Biderruk! Axton, so heißt dieser Fremde, stahl es, während der Rinnensteig beinahe zusammenbrach. Ist das alles?« »Für uns verliert sich die Spur in der Oberstadt. Nur wenige von uns gehen dort hinauf, denn nicht jeder ist mit dem Sklavenhandel beschäftigt.« »Bist du es?« »Nicht in der letzten Zeit. Die Aufbewahrung ist schwierig, auch kann die Ware rasch an Wert verlieren. Es gibt ein Überangebot. Du mußt wissen, daß uns Turganern das Privileg des Sklavenhandels heilig ist; ein unveräußerliches Grundrecht der Stadt. Aber nicht jeder übt es aus. In meinen früheren Jahren …« Er seufzte, und es schien, als habe er es schlimm getrieben, seinerzeit. Wieder kam das scheue Wesen hereingehuscht, räumte leergegessenes Geschirr ab und brachte kleine Süßigkeiten und Appetithappen. Ein neuer Krug des prickelnden Getränks, das nicht berauschte, sondern aufmunterte, erschien auf dem Tisch. Während Razamon an jenen Befehl des Neffen dachte, der da lautete, Dorkh für ihn zu erobern, hob er den Kopf und blickte – zufällig – direkt auf eine Darstellung, die er wiederzuerkennen glaubte. Er stellte den gefüllten Becher ab, ging an die Wand heran und starrte das Wesen an, das von dem Bildhauer verewigt worden war. Es war dasselbe Wesen geschildert worden, wie es in der Höhle von Cibola dargestellt war: ein vierarmiges Ungeheuer, alles andere als menschenähnlich, das von zwei Ringen umgeben war, die sich
im spitzen Winkel kreuzten … nach Razamons privater Meinung ein Angreifer, der möglicherweise mit Strahlenwaffen die Humanoiden von Dorkh heimgesucht hatte. »Diese Bilder …«, fragte er, aber der Turganer schien geahnt zu haben, was er fragen würde. »Viele der Bilder fanden schon meine Urahnen, als sie die Höhlen ausbauten. Dieses Bild gehört dazu. Man munkelt, es wäre das Bildnis eines Götzen oder Gottes, der noch heute verehrt wird. Mag sein, daß daran etwas Wahres ist. Ich persönlich kümmere mich nicht um solcherlei Mummenschanz. Mir sind die Zers und die Khams wichtiger, vor allem die Khams.« »Danke für die Antwort, Harkker«, sagte Razamon. Er setzte sich wieder. Also war Axton in der Stadt. Wo? Auf welcher Ebene? Eine neue Frage drängte sich ihm auf. »Wer lebt auf der höchsten Ebene, wenn hier unten die Straße der Händler und in der Mitte der Rang des Sklavenmarkts ist?« »Ganz oben? Die Weisen leben dort!« Gurd trank seinen Becher leer, zog sein langes Krummschwert aus der Lederscheide und stieß es wieder zurück. Er wirkte plötzlich entschlossen und mutiger als sonst. »Es – wird – spät«, artikulierte er mühsam. »Du – hast – ein – Ziel. Ich – dirallhelf.« »Du hast völlig recht«, meinte Razamon und erhob sich ebenfalls. Er verabschiedete sich von Harkker. Wer die »Weisen« waren, würde er andernorts erfahren können. Er versuchte, mit dem Turganer einen Händedruck auszutauschen, aber der Mann behielt seine Gliedmaßen unter seinen Umhängen. Der Dank und die Beteuerung, daß es eine Selbstverständlichkeit sei, Freunde von Freunden zu bewirten, waren echt. Sie traten aus dem Lager, das nach Gewürzen und Spezereien roch, aber auch nach stinkendem Fleisch und halbgegerbtem Leder, hinaus ins helle Sonnenlicht. »Noch einmal: Danke!« sagte der Berserker. »Viel Glück bei deinem Vorhaben, Fremder!«
Sie gingen langsam zwischen Warenstapeln und vorbei an geschäftigen Händlern und deren Helfern zurück auf die Rampe. Und dann ertönte über ihnen ein Geräusch, das Razamon sofort erkannte. Er wußte, daß er recht behalten würde! Turgan war eine geheimnisvolle Stadt. Und dieses Summen und Pfeifen konnte nur bedeuten, daß etwas Ungewöhnliches in ganz kurzer Zeit geschehen würde. 4. »Halt. Sieh dort hinauf!« sagte Razamon voller Erregung zu seinem fellbedeckten Freund. Er zeigte nach rechts, also nach Nordwesten. Über die Felsen und ein paar verwehende Nebelschleier hinweg kam ein schwarzer Punkt, der sich rasch vergrößerte und genau auf die Rampe zuschwebte. »Ich seh Fliegmaschin«, bestätigte Gurd nicht minder aufgeregt. »Es ist … ein Zugor.« Fast alle anderen Wesen, die sich auf der Rampe und auf den Ebenen befanden, starrten schweigend die Quelle des ungewöhnlichen Geräusches an. Der Zugor verminderte seine Geschwindigkeit und raste scheinbar direkt auf Razamon und den Bruen zu. Razamon duckte sich, aber die Maschine zog über ihn hinweg, das Geräusch veränderte seine Frequenz. Dann landete die Schale viel weiter oben auf der Rampe. Razamon blickte einen Augenblick lang über den Rand der Schale. Er sah mehrere Insassen und zwischen ihnen das auffallend weiße Haar des Arkoniden. Sein Gesicht konnte er nicht erkennen, auch nicht den Oberkörper, denn die Insassen bewegten sich und schoben sich vor Atlan. Dann rannten, noch ehe Razamon ein paar Schritte tun konnte, von allen Seiten Rampenwächter mit blitzenden Hellebarden auf den Zugor zu. Der Berserker fühlte den Stich der Aufregung – alle
seine Annahmen und Wünsche trafen zu. Atlan war in Turgan! Die Stadthüter umgaben für einige Sekunden den Zugor wie eine lebende Mauer. Die großen Metallteile der Hellebarden schwankten und funkelten. Sie blendeten Razamon, der nun gar nichts mehr erkannte. Dann verstärkte sich das Maschinengeräusch wieder. Razamon und Gurd kamen ungehindert einige Dutzend Schritte die Rampe weiter aufwärts. Die Stadthüter, insgesamt rund zwei Dutzend, wichen auseinander und gaben den Zugor frei. Die Flugschale startete sofort, und wieder erhaschte der Berserker einen kurzen Blick auf das Haar des Arkoniden. Es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel – es war Atlan! Das Gefährt stieg, kippte ein wenig nach vorn, und diese Flugstellung entzog die Insassen wieder dem Blick Razamons. Dann flog der Zugor entlang der Rampe höher und höher und verschwand brummend und pfeifend hinter den Felsen und Mauern der Stadt. Razamon hob die Schultern und stieß hervor: »In dem Zugor war der Mann, den ich suche! Der Fremde, den auch Axton zu treffen versucht.« Axton war irgendwo im Gewimmel Turgans untergetaucht … und Atlan würde mit einiger Gewißheit auf dem Sklavenmarkt angeboten werden. Der Brue antwortete: »Ich versteh. Wir – werden – ihn – finden – könn.« In größter Eile stapften sie die Rampe weiter aufwärts. Zunächst gelang es ihnen, zwischen den vielen Gruppen der Ankömmlinge unbehelligt von den Stadthütern um einige Ebenen weiter hinauf zu gelangen. Aber schon nach etwa zweihundert Metern war es damit aus. Drei Hellebardenträger stellten sich ihnen entgegen und starrten sie herausfordernd an. »Halt, Fremde!« sagte einer der Männer mit den Metallhelmen und senkte die Hellebarde. »Nicht weiter.«
»Warum nicht? Wir sind harmlose Besucher Turgans«, widersprach der Berserker, schätzte seine Chancen ab und blieb stehen. »Das wird sich zeigen«, meinte der Anführer dieser Gruppe. Die Stadthüter schienen wirklich ein übler, bestechlicher Haufen zu sein. »Zeigt her, was ihr bei euch habt! Alle Taschen ausleeren. Wir müssen sicher sein, daß nicht Gegenstände von stadtgefährdender Bedeutung eingeschmuggelt werden.« Razamon unterdrückte seine Wut und sagte leidlich beherrscht: »Von Schmuggel keine Spur. Ich habe nur mein Handwerkszeug bei mir.« Er rückte seine Axt im Gürtel weiter nach vorn, lüpfte an mehreren Stellen seine ramponierte Kleidung und zeigte, wie er meinte, überzeugend, daß er absolut nichts bei sich hatte. »Und du?« wandte sich ein anderer Posten an den Bruen. Gurd holte aus seiner Rückentasche eine Handvoll jener kieselförmigen Münzen hervor und zeigte sie den Stadthütern. Die Turganer zeigten sich nur scheinbar uninteressiert; blitzschnell zuckten einige Hände vor und nahmen die Khams von der Handfläche. Die Zers ließen sie liegen. »He!« protestierte Gurd, »solange ichweiß, Turgan hat nie Weggeldfordern.« »Man hat gefährliche Waren und Waffen in die Stadt gebracht«, lautete die kaltschnäuzige Erklärung. Der Brue schüttelte sich unwillig und verschloß seine Tasche. Er zog an den Haaren seines Körperfells. »Soll ich Pelzauszieh?« fragte er. Die Männer mit den Piken kamen drohend näher. Natürlich sahen sie, daß der Brue an seinem Körper nichts mehr verstecken konnte. »Wie heißt du?« fragte ein Stadthüter grimmig. »Gurd, vom Rinnensteig.« »Was willst du in der Stadt?« »Stadtbesuch. Allesseh. Begleitfreund«, bellte der Brue
aufgebracht. Er begann einzusehen, daß sie nicht ungehindert an den Wachen vorbeikommen würden. Noch hielt sich Razamon zurück, aber auch er mußte sehen, daß immer mehr Turganer die Rampe vor ihnen abriegelten. »Dein Freund? Du willst ihn begleiten?« Die Turganer behandelten Razamon, als wüßten sie genau, wer er war, und als habe man ihnen befohlen, auf ihn zu achten und ihn nicht in die Stadt zu lassen. Konnte es das Werk Axtons sein? Durchaus denkbar, immerhin hatte er ein Chreean »in Zahlung gegeben«. »Ja. Sklavmarkt seh.« »Wie heißt dein Freund?« »Nomazar«, sagte Razamon. »Ich komme aus dem Norden. Ich habe viel von Turgan gehört und will die Tage des Sklavenmarkts dazu benutzen, diese Stadt kennenzulernen. Außerdem erwarte ich Freunde in Turgan.« »Du bist nicht Nomazar«, rief ein Turganer und hob schlagbereit die Hellebarde. »Wir kennen deinen wahren Namen. Du bist Razamon.« Für den Berserker war die Situation klar. Sie hatten den Auftrag, ihn am Betreten der Stadt zu hindern. Er hob die Hände und sagte abwehrend: »Ihr behandelt uns ungerecht! Nur deshalb, weil wir euch nicht bestechen können, laßt ihr uns nicht in die Stadt. Was haben wir euch getan? Laßt uns durch!« Die Einzelpersonen und Gruppen hinter Gurd und Razamon ließen sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Sie wichen nach links aus und zogen an der Absperrung durch die Stadthüter vorbei. Die Turganer bildeten einen engen Halbkreis und richteten die Spitzen der Hellebarden auf Gurd und Razamon. »Ihr werdet beschuldigt, an einer Verschwörung teilzunehmen«, lautete die nächste Anschuldigung. Sie war ebenso durchsichtig wie die vorherigen Bemerkungen. »Ihr wollt den Ablauf des
Sklavenmarkts stören. Uns Turganern ist der Markt wichtig. Wir lassen uns nicht stören.« »Wir haben nicht die Absicht, euch zu stören«, sagte der Berserker erbost. Aber vor den scharfgeschliffenen Spitzen der Waffen mußte er zwei Schritte zurückweichen. Der massige Körper des Buren drängte sich an ihn. Sie waren nur noch zwei Meter von der Kante der Rampe entfernt. »Das hat nichts zu besagen«, schnarrte der Stadthüter. »Ihr habt unsere Prüfung nicht bestanden.« »Aber …«, protestierte der Berserker und sah sich einem rundum geschlossenen Wall von Waffen und Körpern gegenüber. Seine Chancen, trotz seiner Kräfte und schnellen Reaktionen, hier durchzubrechen, waren gleich null. »Ihr habt keine Erlaubnis, Turgan zu betreten«, beschied ein hochgewachsener Stadthüter. »Hinweg mit euch!« Die Rampenwächter verschränkten die Haken der Hellebarden miteinander und drangen auf Gurd und Razamon ein. Die Spitzen bohrten sich schmerzhaft in die Kleidung, das Fell und die Haut. Es half nichts – die Rampenkante kam unabänderlich immer näher. »Ihr wollt uns …«, keuchte Razamon. »Tatsächlich!« Der Angriff erfolgte blitzschnell und sehr gut gezielt. Die Stadthüter ließen dem Bruen und dem Berserker nicht die geringste Chance, seitlich oder unterhalb der Waffenspitzen auszubrechen. Sie sprangen nach vorn, die Hellebarden rasselten und klirrten. Der Brue schwankte und hielt sich an Razamons Schulter fest. Der Berserker stieß einen gellenden Schrei aus. Für einen Sekundenbruchteil stutzten und zögerten die Turganer. Razamon packte, indem er sich nach vorn warf, zwei Hellebarden am Schaft, dicht hinter dem Befestigungspunkt des Metallteils. Er stieß die Schäfte der Waffen ruckartig von sich weg und schleuderte zwei Stadthüter dadurch zu Boden. Aber sofort setzten die anderen nach. Gurd taumelte und kippte. Er bellte heiser auf und trat mit einem Fuß ins Leere.
Er versuchte ein zweitesmal, sich an Razamon festzuhalten. Aber der Pthorer, der den scharfen Spitzen ausweichen mußte, strauchelte ebenfalls. Fast gleichzeitig rutschten beide über die Kante der Rampe. Razamon riß noch im Fallen sein Beil aus dem Gürtel und versuchte, sich zu wehren, aber seine Anstrengungen waren vergeblich. »Achtung, Gurd!« schrie er. Ihre Körper schlugen, als es ihnen die Füße wegriß, schwer auf die Steinplatten des Abhangs. Mit einer Hand versuchte Razamon, sich festzuhalten. Die andere krallte sich um den Griff der Waffe. Er rutschte ebenso die schräge Fläche hinunter, wie er es vor kurzem gesehen hatte. Einige Meter neben ihm sank der Brue, von Sekunde zu Sekunde schneller, über die glatten Steinplatten. Sie hatten ihre Chance gehabt. Jetzt war es zu spät. Auf diesem Weg würden sie nicht mehr nach Turgan hineinkommen, schoß es Razamon durch den Sinn, als auch seine Finger die wenigen Grashalme und die Ranken der dürren Gewächse aus den Fugen der großen Steinplatten herausrissen. Seine Handflächen, die Knie und die Ellenbogen begannen zu schmerzen, der Sturz wurde immer schneller. Aber noch hatte sein Körper sich nicht gedreht. Das Metall der Axtschneide schürfte kreischend über den Stein. Razamon sah die Stiefel und die Knie der Stadthüter, und darüber wie einen Strahlenkranz die langen, flammenförmig gezackten Spitzen der Hellebarden. Sein Fuß streifte einen trockenen Busch oder einen verkümmerten Baum. Neben ihm schrie Gurd heiser und voller Wut auf. Razamon breitete bremsend die Arme aus. Ein Hindernis hakte sich in seine Achselhöhle. Es war ein reichlich kopfgroßer Strauch voller Stacheln und mit lanzenförmigen, lederartig braunen Blättern. Der schnelle Fall wurde gebremst, der Körper des Berserkers schwang halb herum, ehe er aus dem Strauch
herausgerissen wurde und abermals abwärts rutschte. Gurd rutschte zwischen den Rinnen der Platten in rasender Geschwindigkeit abwärts. Er versuchte, seinen Sturz zu verlangsamen oder zum Stillstand zu bringen. Schließlich gelang es ihm, fast gleichzeitig zwei herausragende Wurzeln zu packen. Sein schwerer Körper riß eine davon heraus, aber an der anderen konnte er sich festklammern. Razamon rutschte an ihm vorbei, fluchte ununterbrochen und krachte dann mit beiden Sohlen gegen einen stärkeren Busch. Ein heftiger Schmerz zuckte durch seine Knie, aber er schaffte es, auf der Steinfläche liegenzubleiben. Gurd schrie zu ihm hinunter: »Stadthüter Mistbande, ja? Ich rechtgehabt.« »Du hast völlig rechtgehabt, Freund«, stöhnte der Berserker, »sie haben uns keine Chance gelassen.« »Unten Gesindel. Plünderstehlen.« »Wir werden ihnen zeigen, daß es nicht richtig ist, uns anzugreifen«, gab Razamon zurück. »Sind wir schon ganz unten?« »Nein. Wächter uns nachschieß, vorsehen.« »Ich warte schon darauf.« Einige Sekunden genügten, um sie wieder richtig zur Besinnung kommen zu lassen. Sie holten tief Luft. Razamon wandte nicht ohne Schwierigkeiten, wie ein Frosch auf dem Bauch und den Oberschenkeln liegend, den Kopf und spähte nach unten. Etwa hundert Meter oder mehr unter ihnen versammelten sich einige der lauernden Plünderer. Hoch über ihnen hoben mehrere Stadthüter die Bögen von den Schultern. Ein Turganer holte mit einem Wurfspeer aus. Razamon knurrte: »Wir lassen uns langsam nach unten gleiten.« Der Brue bellte haßerfüllt zurück: »Dann wieder Rampenlauf. Turganer niedertret, wie?« »Oder so ähnlich. Achtung! Sie schießen mit Pfeilen nach uns und werden, wie vorhin, Speere nach uns werfen. Nimm dich in acht,
Freund Gurd.« »Schon geradegedacht«, lautete die Antwort. Ein Turganer sprang an den Rand der Rampe und schleuderte einen kurzschäftigen Speer auf die beiden Fremden. Das Geschoß war gut gezielt, schoß fast parallel zu der Schräge abwärts und traf zwei Meter vor Razamon auf den Stein. Die Spitze riß einen Funkenschweif aus dem Stein, der Schaft prallte auf die Platte, und der Speer wurde dicht über Razamons Kopf davongewirbelt. Summend verschwand er in dem Unrat und dem Haufen von Abfall am unteren Rand des Abhangs. »Loslassen!« schrie Razamon. Gleichzeitig lösten sie ihre Griffe um die Wurzeln oder Äste der Krüppelgewächse. Sie rutschten langsam tiefer. Ein zweiter Speer flog zwischen ihnen hindurch und bohrte sich in das Geröll. Ein Pfeil schwirrte sirrend an Razamons Hand vorbei, traf klirrend die Steinplatte und zerbrach. Der Berserker und der Brue ließen sich von Busch zu Busch gleiten, kippten hin und her und schürften sich die Haut und die Knöchel auf. Einige weitere Pfeile heulten über die Schultern der Eindringlinge hinweg. »Ich sie allumbring«, schwor der Brue und landete wieder zwischen dürrem Gras, dunklem Moos und hartem Gesträuch. »Das wird schwierig sein«, murmelte Razamon und schlug die Schneide des Beiles in eine Querfuge. Er hielt sein Rutschen kurz auf, zog die Waffe wieder heraus und landete schließlich in einem kleinen Pfeilschauer inmitten von Steinen, allem denkbarem Abfall und faulendem Grünzeug. Er sprang auf die Füße und sah sich um. Von allen Seiten kamen zerlumpte, alte und abgerissene Wesen auf sie zu. Sie trugen Knüppel und Waffen, die von den Stadthütern etwa hundertzwanzig Meter über ihnen herabgeschleudert worden waren. Der Brue rollte sich ab, fluchte dröhnend und rappelte sich von dem feuchten Geröll hoch. Er war mit drei Sprüngen bei Razamon und riß einen Speer hoch.
»Plünderer nicht herankommenlaß«, schrie er. Razamon befand sich zusammen mit seinem Freund und den Wegelagerern in einem unregelmäßig verlaufenden, keilförmigen Felsental. Es endete auf der Seite der Stadt an einer senkrecht aufragenden Felswand und war am Anfang der Rampe, also am Ende des Titanenpfads und der gepflegten Straße leicht zugänglich. Vom Anfang dieses künstlichen Tales bis zu dem Punkt, an dem sich die Turganer befanden, waren es zweihundert Schritte. Aber die Plünderer, die sich auf die zuerst hinuntergeworfenen Besucher gestürzt hatten, zögerten etwas vor dem Anblick des zornigen Bruen und des Fremden mit dem wirbelnden schwarzen Haar, der seine Streitaxt hoch erhoben hatte. »Versuchen wir es noch einmal?« fragte Razamon lauernd und starrte den heranrennenden Plünderern in die Augen. »Wo? Oben?« »Ja.« »Sinnlos, Nomazar«, bellte der Brue und hieb dem ersten der Plünderer, der ihn ansprang und ihm die Tasche vom Gürtel zu reißen versuchte, den Schaft des Speeres auf den Schädel. Schreiend ging der Angreifer zu Boden. Aus den Reihen der anderen erscholl ein Wutgeheul. Razamon drehte sich und stand jetzt Schulter an Schulter mit dem Brückenwächter. Vor ihm standen lauernd und angriffsbereit etwa ein Dutzend verschieden großer und unterschiedlich starker Wesen. Keiner von ihnen sah aber so aus, als würde er Gurd oder Razamon ernsthaft gefährden können. Razamon hob das Beil über den Kopf und schrie: »Der erste, der sich heranwagt, stirbt.« Der Brue wurde schwer gegen ihn geschleudert. Mit johlenden Schreien, mit denen sie sich selbst Mut machten, griffen ihn eine Handvoll Plünderer an. Gurd bückte sich, packte einen von ihnen am Arm und an einem Bein und hob ihn aufstöhnend hoch über den Kopf. Dann schleuderte er ihn gegen die übrigen Wegelagerer. Die Wesen brachen zusammen, wurden zu Boden gedrückt und fielen
übereinander. Aus dem Angriffsgeheul wurde ein Wehegeschrei, einer der Plünderer blieb bewegungslos liegen. Gurds Speer war zerbrochen, aber er hielt die Spitze wie ein Kurzschwert in der Hand. »Zurück!« sagte Razamon. Er machte einen schnellen Ausfall in die Richtung der Plünderer. Sie wichen vor ihm zurück; der Ausdruck seines Gesichts hatte sie erschreckt. Sie blieben abwartend stehen. Der Berserker brüllte: »Ich habe nichts, was ihr stehlen könnt. Nur dieses Beil. Aber vorher bekommt ihr es zu spüren.« Gurd zeigte an ihm vorbei auf eine Öffnung im Fels. An ihrer Unterkante lief ein breites Rinnsal trüben Wassers heraus und versickerte zwischen dem Geröll. Das war also die Quelle der Feuchtigkeit hier unten. Die Plünderer standen jetzt im achtungsvollen Abstand vor den beiden Fremden. »Dort Stadteingang. Weg – Wasser!« sagte der Brue. »Ich habe begriffen. Und jetzt zu dir, Gurd.« »Ich mit dirgeh!« »Nichts da. Ich werde mich allein durchschlagen. Dein Platz ist an der Brücke. Ich begleite dich bis zur Straße.« »Hinaufsehen. Stadthüter angreif.« In dem kurzen Augenblick, in dem sich die Fremden gegen die Plünderer durchgesetzt hatten, waren die Wächter Turgans nicht untätig geblieben. Sie hatten augenscheinlich nicht nur den Auftrag, Razamon nicht in die Stadt hineinzulassen, sondern wollten ihn festnehmen oder gar töten. Einige von ihnen ließen Seile und Strickleitern über die Kante der Rampe fallen. Die Stadtwächter standen in einer breiten Reihe oben und schickten sich an, herunterzusteigen. Razamon schätzte die Zeit ab, die sie brauchen würden, um hier zu erscheinen, mitsamt ihren Bogenschützen – er hatte sie als einzige zu fürchten. Er packte den Bruen am Arm und stieß hervor: »Schluß! Ich weiß, was ich tue. Es reicht, wenn sich einer in die
Gefahr stürzt. Wir brechen jetzt dorthin durch, klar? Keine Widerrede, mein Freund – du hast mir schon viel zu lange geholfen.« Er versuchte gar nicht erst, edelmütig zu sein, aber bei seinem nächsten Versuch, in Turgan einzudringen, würde ihn der Rinnensteig‐Wächter nur behindern. Der Brue überlegte, dann senkte er seinen runden Kopf und antwortete: »Du rechthab. Ich nur hinderlich.« Sie nickten sich zu, dann spannten sie ihre Muskeln und rannten auf die Plünderer los. Der Zottige brüllte auf, und Razamon schwang über seinem Kopf das Beil mit der blitzenden Schneide. Sie schleuderten die ersten Plünderer zur Seite, rammten die nächststehenden mit den Schultern, und vor den beiden Waffen zuckten die Hintersten zurück und wichen aus. In langen Sätzen stürmten Gurd und Razamon über das Geröll, sprangen über die Trümmer einer zeltartigen Hütte und schlitterten über eine Spur feuchten Sand. Mit der flachen Seite der Axt traf Razamon den Kopf eines Wesens, das sich ihm mutig entgegenwarf, einen Steinsplitter in der Faust. Im Zickzack rannten und sprangen sie weiter, wichen einigen geschleuderten Knüppeln aus und kamen dem Ende des flacher werdenden Felseinschnitts näher. »Wir werden von den Stadthütern verfolgt«, keuchte Razamon, wich einem Speer mit zersplittertem Schaft aus und unterlief den Angriff von zwei Hordenpferchlern, die sich mit dicken Holzknüppeln auf ihn warfen. Es war wohl sinnlos, zu versuchen, ein zweitesmal auf der Rampe die Stadt zu betreten. Razamon spurtete geradeaus und schlug nach dem letzten Gegner vor dem Ende des Hanges. Hier gab es keine Rampenwachen mehr. Hinter ihm kam Gurd herangekeucht und lief mit vollem Schwung ein Stück die Straße hinauf. Der Berserker folgte ihm und blieb stehen. »Du solltest rennen, ehe sie hierher kommen!« empfahl ihm Razamon und schüttelte die Hand des Bruen. »Danke für alles.
Bringe dich in Sicherheit, schnell.« Schwer atmend gab Gurd zurück: »Ich – wünsche – dir – viel – Glück. Du – hast – Schmutzwassergesehn?« »Auf diesem Weg werde ich versuchen, nach Turgan hineinzukommen«, bestätigte Razamon und schlug ihm auf die Schulter. »Los! Weg mit dir!« Der Brue grinste ihn an und lief auf die erste kleine Karawane zu, die auf dem Weg nach Turgan war. Binnen weniger Augenblicke war seine auffällige Gestalt zwischen den Benutzern der Straße verschwunden. Langsam drehte sich Razamon um und sah, daß sich die sogenannten Plünderer, jenes Gesindel am Fuß der Rampenabhänge, nicht aus ihrem Revier hervorwagten. Aber er sah auch, daß etwa zehn Stadthüter, mit Lanzen und Bögen bewaffnet, an den Seilen und über die Strickleitern tiefer herunterturnten. Konnte der Verrat Lebo Axtons diese Aktivitäten ausgelöst haben? »Verdammt!« sagte er bitter. Vage hatte er den Versuch ins Auge gefaßt, hier irgendwo entlang der Straße auf Biderruk zu warten und zu versuchen, im Schutz dessen Karawane und die Ortskenntnis des Händlers ausnutzend, Turgan zu betreten. Aber da die Hellebardenträger ihn derart gezielt verfolgten, würde auch dieser Plan nicht zum Erfolg führen. Als einzige Möglichkeit bot sich nun der Abwasserkanal an – Razamon wußte aber, daß er kämpfen mußte, um an diese Stelle zu gelangen. Die untersten Stadthüter waren noch rund siebzig Meter vom Grund der kleinen Schlucht entfernt. Ihre Anwesenheit ließ die Wegelagerer vorsichtig werden. Sie zogen sich nach rechts und links von der Stelle zurück, an der die Bewaffneten langsam herunterturnten. Die Wachen hatte es nicht sehr eilig. Sie vertrauten auf ihre Anzahl und ihre Waffen. Einige Atemzüge lang war Razamon ratlos, denn er war allein und sah sich einer ständig wachsenden Anzahl von ernstzunehmenden Gegnern
gegenüber. Dann entschloß er sich, alles zu riskieren. Er holte tief Luft, wirbelte herum und lief in den Einschnitt neben der Rampe hinein. Die ersten zwanzig Schritte wagte niemand, sich ihm entgegenzustellen. Dann wurden die Wegelagerer auf den heranrasenden Fremden aufmerksam, der mit beängstigender Sicherheit über den nassen Sand, den Unrat und die glitschigen Steine hetzte. Er hielt die blitzende Waffe mit der Spitze nach vorn und sprang direkt auf zwei in Lumpen steckende Plünderer zu. Einer hob einen Stock und ließ ihn fallen, als sich die Spitze des Beiles in seinen Arm bohrte. Der andere schlug zu, traf Razamon an der Schulter und wurde vom Beil im Rückhandschlag zur Seite geschleudert. Mit einem würgenden Aufschrei stolperte er und brach in die Knie. Razamon sprang auf die Steinplatten hinauf. An dieser Stelle waren sie trocken, und er kam schnell voran. Die Plünderer hatten sich weiter unten aufgestellt, und auf diese Weise wich er ihnen aus. Dann spürte er den Luftzug an seiner Wange. Im selben Moment riß ein Pfeil einen langen Schnitt durch seine Jacke. Der Pfeil ritzte den Rücken und hinterließ eine Schnittwunde. Razamon schaute auf und sah, daß sich einige Bogenschützen in den Strickleitern auf den Rücken gedreht hatten und auf ihn zielten. Wieder heulte ein Pfeil gefährlich nahe an ihm vorbei, ein anderer bohrte sich neben seinem Fuß in den Gesteinsschutt. Razamon schnellte sich nach rechts in den fragwürdigen Schutz einer windschiefen Hütte aus Geflecht und Stoffetzen. Es wurde immer gefährlicher. Er befand sich erst im ersten Drittel der Strecke bis zu dem dunklen Loch zwischen Felsabsturz und Rampenabhang. Niemand würde ihm helfen; er mußte hindurch. Seine Kräfte waren groß, aber nicht unerschöpflich. Razamon hörte die scharfen Einschläge der Pfeile in das Holz und das Flechtwerk. Einige Geschosse fuhren in der Nähe seines Kopfes und der Schultern durch die Bespannung. Der Berserker duckte sich
tief zum Boden, als er im Zickzack weiterrannte und sich immer mehr der Stelle direkt unterhalb der Seile näherte. Inzwischen schienen sich alle Rampenwächter versammelt zu haben. Sie sperrten mit wenigen Hellebardenträgern die Rampe völlig ab. Auf halber Höhe staute sich jeder Verkehr. Eine lange Schlange bildete sich bis zum Endpunkt der Straße. An der Kante standen Bogenschützen und nahmen Razamon unter Beschuß. Er bewegte sich in unregelmäßigen Sprüngen und Bewegungen. Rings um ihn schlugen die Pfeile in den Abfall. Einer traf einen Wegelagerer in den Hals. Ein Stadtwächter verlor den Halt und rutschte aufschreiend über die glatten Steinplatten. Sofort stürzte sich das Gesindel auf ihn und entwaffnete ihn, noch ehe sein Körper zur Ruhe gekommen war. Razamon stürmte weiter. Von oben kamen wütende Schreie. Während einige Rampenhüter die letzten Meter an den Leitern zurücklegten, warfen sich die Plünderer in Deckung. Ein Pfeilhagel prasselte Razamon entgegen und zwang ihn, sich zwischen größere Steine zu werfen. Mehrere Geschosse krachten gegen die Deckung und fielen unschädlich auf seinen Rücken. Mindestens fünfzehn Männer hatten sich mit den Füßen in den Strickleitern festgehakt und schossen auf ihn. Dann sprang der erste Hellebardenträger in den nassen Sand. Razamon knurrte wütend und voller Verzweiflung: »Es ist sinnlos. Sie bringen mich um, wenn ich weitermache.« Er war gegenüber einer so großen Menge von Gegnern hilflos, und er sah ein, daß er diesen Versuch nicht überleben würde. Augenblicklich drehte er sich herum, wich einem Wurfspeer aus und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Er erreichte in einem rasend schnellen Lauf das Ende des Einschnitts, rannte auf die Straße hinaus und bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge, die ins Stocken gekommen war. Er erregte nur bei wenigen Ankömmlingen Aufsehen; vermutlich sah jeder, der regelmäßig Turgan besuchte, Szenen dieser Art.
Razamon rannte, solange die Straße einigermaßen frei war, auf den Steinen dahin, dann wechselte er auf einen der ausgetretenen Pfade neben der Straße und verschwand zwischen den Büschen. Er lief, bis er keine Stimmen und keinen Lärm mehr hörte. Er sah zwischen den Felsen eine schillernde Wasserfläche und blieb stehen. Er war erschöpft. Viel schwerer als seine Müdigkeit wogen die Gedanken an Atlan, der sich hinter den Mauern der Stadt Turgan befand und darauf wartete, als Sklave verkauft zu werden. 5. Razamon lehnte neben dem Wasserloch an einem Baumstamm und wischte das Wasser aus seinem Gesicht. Seine Brust hob und senkte sich; nur langsam erholte er sich wieder. Sein schwarzes Haar war triefend naß. Die Schürfwunden schmerzten, und seine Verzweiflung wuchs mehr und mehr. Hatte er versagt? Nein, sagte er sich, denn Gurd war in Sicherheit. Und er selbst würde einen Weg finden, ungesehen nach Turgan zu gelangen. Allerdings würde er warten, bis es dunkel wurde. Und während er hier wartete, trieb Lebo Axton in der Stadt irgendwelche Dinge, die geeignet waren, Razamon noch tiefer in Schwierigkeiten zu bringen. Die Sonne tauchte hinter die Baumkronen. Es war Nachmittag. Razamon setzte sich auf einen kleinen Findling und versuchte, seine Kleidung so weit in Ordnung zu bringen, daß er sie nicht verlor. Noch hatte er seine Waffe. Dank des freundlichen Händlers fühlte er sich satt. Wieder rief er das Abbild des felsigen Geländes in seine Erinnerung zurück und versuchte, einen Weg zu finden, der ihn nicht mitten in die Masse der Wegelagerer und schon gar nicht in die Arme der Stadthüter bringen würde. Er trank einen letzten Schluck Wasser, schob die Büsche auseinander und ging langsam in die Richtung auf die Felsen
davon. Als er am Rand der bewachsenen Zone stehenblieb, sah er fast das gesamte Panorama der Rampe, der Hänge, der vielen Ränge und Höhlen und der darübergebauten Stadt. Der Weg auf der Rampenfläche war fast frei, der Verkehr kam und ging ungehindert. Die Stadthüter hatten die Strickleitern und Seile aufgerollt und befanden sich wieder auf ihren Plätzen. Deutlich erkannte Razamon das ovale Loch des Schmutzwasserkanals unterhalb der Stadt. Nach langem Warten und Beobachten, während die Dämmerung des Abends kam und die letzten Sonnenstrahlen aus der Felslandschaft ein goldstrahlendes Bild machten, entschied sich der Berserker. Er würde im Schutz der Nacht genau den Weg nehmen, den er bereits kannte. * Gurd, der Brue, lief schwankend und am Ende seiner Kräfte über das glatte Stück des Titanenpfads. Er suchte Biderruk und dessen Karawane. Zwei Gedanken beherrschten ihn: einerseits mußte er zurück zum Rinnensteig, denn dort war sein Platz. Er war Brückenwächter. Aber andererseits dachte er unausgesetzt an seinen Lebensretter, diesen zähen und schlanken Fremden mit den ungeheuer großen Kräften, der ihn mühelos aus den Trümmern des Rinnensteigs gezogen hatte. Nur wenn er, Gurd, den Karawanenhändler traf, würde Nomazar‐ Razamons Vorhaben unter einem besseren Schutz stehen. Denn auch Biderruk war dem Fremden verpflichtet. Zahllose Wesen kamen ihm entgegen. Immer wieder suchte er nach den kräftigen Chreeans und den vermummten Gestalten in den Sätteln. Er hatte sich oft genug umgedreht und wußte, daß ihn die Stadthüter nicht verfolgten – sie verließen die Stadt und die Rampe niemals. Aber es mochte sein,
daß sie jemanden hinter ihm hergeschickt hatten. Es hatte nicht den Anschein, also fiel er erschöpft zurück in Schrittempo. »Endlich!« keuchte er, als er aus einer Biegung die kleine Karawane auftauchen sah. »Biderrukda.« Er lief auf den Mann im Sattel des ersten Tieres zu und breitete seine behaarten Arme aus. »Biderruk! Lebensretter ingefahr!« stotterte er und stützte sich schwer auf den Hals des Reittiers. »Gurd! Man hat euch nicht in die Stadt gelassen?« fragte erstaunt der Händler. Er wirkte, als sei er aus einem tiefen Schlaf aufgeweckt worden. Der Brue erzählte ihm stockend, was geschehen war. Schließlich nickte Biderruk mehrmals und erwiderte: »Ich kann ihm nicht über die Rampe hinauf helfen. Aber wahrscheinlich werde ich ihn irgendwo in der Stadt treffen – danke, daß ihr die Tiere zurückgegeben habt.« Auf einen Befehl des Karawanenführers reichte eine der vermummten Gestalten dem Bruen einen Becher des starken Weines. Gurd trank ihn gierig leer und dankte. »Ich weiterlauf bis Brücke«, versprach er. »Du helfen?« »Ich sehe, was ich unternehmen kann. Aber bis ich in der Stadt bin, ist die Nacht da. Im Finstern werde ich unseren Freund kaum treffen können … aber hinter den Mauern habe ich viele Freunde.« Sie verabschiedeten sich. Gurd wußte nicht, ob es die Wirkung des Weines war oder die der Zusicherung Biderruks. Jedenfalls setzte er seinen Weg zum östlichen Brückenturm beruhigt und ohne schlechtes Gewissen fort. * Er drang in die Zone unterhalb der Rampe an einer anderen Stelle ein. Zwischen den Felsen führte ein schmaler Weg bis zu der ersten zeltartigen Hütte. Einige zerlumpte Gestalten lagen
zusammengekrümmt im Schutz der Stauden und Gräser und schienen zu schlafen. Vorsichtig bewegte sich der Berserker am Rand des Grabens. Weit vor ihm zuckten die Flammen eines winzigen Feuers über die Steinplatten. Heiseres Grölen kam von einer Gruppe, die um das Feuer saß. Razamon stützte sich auf die großen Steine, die seinen Weg säumten, und schlich langsam näher. Zwischen seinem Ziel und der Stelle, an der er den Graben betreten hatte, lagen rund fünfhundert Meter. Über ihm leuchteten aus zahllosen Öffnungen der Felsenwände die schwachen Lampen und Fackeln der Bewohner. Aber ihr Licht genügte keineswegs, die Umrisse der Steine und des felsigen Geländes zu erhellen. Zusammen mit dem Sternenlicht und dem roten Feuer aber gab es einen vagen Schein, der immerhin die Finsternis eine Spur weniger dicht machte. Zwischen Steinen und durch nassen Sand, entlang stinkender Gewächse und verdorrter Pflanzen, vorbei an faulendem Abfall tappte Razamon auf das Feuer zu. Er hoffte, daß die Stadthüter nicht damit rechneten, daß er nachts seinen Versuch wiederholen würde – sie waren wohl der Meinung, ihn endgültig vertrieben zu haben. Rechts konnte sich Razamon gegen die Felsen stützen, links wuchs der Abhang der Rampe immer höher hinauf. Wieder kam der Berserker an einer Gruppe von Schlafenden vorbei. Steine bewegten sich unter seinen Sohlen, aber das feine Knirschen konnte niemanden aufwecken. Ungehindert drang Razamon etwa drei Dutzend Schritte weiter im Graben vor. Mehrmals trat er in stinkende Pfützen und versank einmal bis zu den Knien darin. Inzwischen konnte Razamon bereits die einzelnen Gestalten am Feuer deutlich unterscheiden, und er verstand auch einzelne Worte. Dann blieb er starr stehen. Langsam hob er die Streitaxt. Von links hörte er Geräusche, die ihn augenblicklich alarmierten. Jemand schnippte ein Steinchen in seine Richtung und pfiff ganz
leise zwischen den Zähnen. »He, Fremder!« Razamon lehnte sich gegen den nassen Fels, stellte sich breitbeinig hin und wartete. Er flüsterte zurück: »Ja? Ich höre und sehe dich.« »Ich will nichts von dir. Kein Kampf«, kam es fast unhörbar aus der Finsternis. »Sondern?« »Du willst in die Stadt? Du bist der Schwarzhaarige, den sie von der Rampe gestoßen haben?« »Ja. Ich muß nach Turgan hinein.« »Ich bin Lakow. Du weißt, daß im Tunnel der Tod lauert?« »Gestank? Giftige Gase? Giftiges Wasser?« flüsterte der Berserker so leise wie möglich zurück. Eine Art sarkastisches Lachen kam aus der Dunkelheit. »Ein Monstrum. Eine Bestie. Sie hat Hunderte erwürgt. Sie bringt auch dich um, wenn du eindringen willst.« »Und du?« »Ich will etwas, das von der unsichtbaren Bestie bewacht wird. Eine Art Schatz. Ich muß hier aus der Rinne heraus!« Razamon begann zu ahnen, daß er jemanden getroffen hatte, der ihm helfen konnte. Wenn nicht dies, dann erfuhr er wenigstens mehr über Turgan. Die Information, daß im Innern der Abwasserschächte eine unbekannte Bestie hauste, war unter Umständen schon jetzt lebensrettend gewesen. Und er mußte in die Stadt! Er konnte Atlan nicht ohne Hilfe lassen. Trotzdem nahm er sich Zeit, um zu fragen: »Und … warum?« »Du bist schnell und voller Kraft. Ich habe alles gesehen. Ich habe auf dich gewartet.« »Wer bist du?« »Ich bin Turganer. Arm. Bekomme ich die Khams aus dem Kanal, bin ich reich – und frei. Beantwortet das deine Frage?«
Zweifellos war dieser Turganer gebildet; seine Sprache ließ es
erkennen. Jetzt raschelte es wieder vor Razamon, und aus dem Dunkel schob sich eine große, schlanke Gestalt. Das, was der Berserker erkannte, stimmte mit der Antwort überein. Allerdings trug dieser Turganer nur ein paar dunkle Kleidungsfetzen an seinem Körper, war also nicht gänzlich vermummt. Razamon senkte seine Waffe und sagte: »Bleibt nur ein Problem: wie kommen wir an den anderen Leuten hier vorbei? Am Feuer? Sie haben mich angegriffen!« »Wenn du mit mir kommst, werden sie uns helfen. Wir sind alle Ausgestoßene. Es wird keinen Kampf geben.« »In Ordnung. Gehen wir. Du führst mich?« »Ja. Dein Name?« »Nomazar«, murmelte der Berserker. »Ich hoffe, du bekommst, was du willst. Ich habe nur diese Waffe.« »Ich habe dich kommen gesehen. Die Waffe glänzte im Licht.« Die undeutliche Gestalt ging vor Razamon auf das Feuer zu. Der Turganer zeigte keinerlei Vorsicht. Die Männer am Feuer drehten sich um, als die beiden nur einige Schritte von dem zuckenden Feuerschein entfernt waren. »Ich binʹs, Lakow. Und der Fremde. Er will mir helfen, das Unratmonstrum zu töten und den Schatz zu heben.« Ein rohes Gelächter war die Antwort. Razamon betrachtete schweigend die Köpfe und Körper der Ausgestoßenen. Sie sahen auch in der Dunkelheit mehr als bemitleidenswert aus. Vermutlich war Lakow mit seiner Geschichte vom Schatz bereits zur tragischen oder lächerlichen Figur geworden. »Ihr braucht uns nicht zu helfen«, stieß der Turganer heftig hervor. »Aber haltet uns nicht auf.« »Wenn du deinen Schatz hast«, knurrte einer, »dann kannst du uns Wein herunterwerfen!« Wieder kommentierten die anderen die Bemerkung mit Gelächter. Lakow packte Razamon am Arm und zog ihn am Feuer vorbei. »Sie glauben mir nicht«, sagte er. »Sie haben keine Hoffnung
mehr. Sie sind an das Leben im Dreck gewöhnt.« »Und warum tun sie nichts dagegen?« wollte Razamon wissen. »Sie sehen keine Chance. Ein paar von ihnen kommen immer wieder über die Rampe in die Stadt. Und ein paar Tage später wirft man sie wieder herunter. Sie sind arm und bleiben arm.« Nebeneinander kletterten sie über Hindernisse aller Art und durch feuchte und weiche Dinge. Zwischen dem Geröll standen immer mehr stinkende Pfützen. Die dunkle Felswand kam näher, der entsetzliche Gestank nahm zu. Neben Razamon raschelte es, der Turganer drückte ihm ein Bündel trockener, zusammengedrehter Pflanzenreste in die Hand. Razamon spürte Stoffetzen in den Fingern. »Eine Fackel. Ich habe sie heute gemacht«, sagte Lakow eifrig. »Es ist zu dunkel.« »Wir hätten sie am Feuer anzünden sollen.« »Ich habe ein Feuerzeug. Damit friste ich hier mein Leben.« Razamon verstand etwas mehr von dem Zustand der Ausgestoßenen. Vermutlich tauschte Lakow seine Möglichkeit, nachts Feuer anzuzünden, gegen Nahrungsmittel ein, die mit den verschiedenen Wesen von oben heruntergestoßen wurden. Er nickte und fragte zurück: »Wie sieht diese Bestie aus?« »Schwer zu sagen. Sie lebt im Abfallwasser. Ihre Arme sind wie Seile.« Also eine Art Krake, dachte Razamon. Vor ihnen plätscherte das Wasser in dünnen Strahlen über den Felsen und versickerte in irgendwelchen Felsspalten. Der Gestank wurde intensiver und stach in Razamons Nase. Razamon hatte gesehen, daß das große Loch etwa fünfzehn Meter über dem Boden des Grabens lag. Sie mußten fast direkt davorstehen. Das Geräusch des Wassers wurde lauter und kam direkt von vorn. »Wir sind da«, sagte der Berserker, als seine ausgestreckte Hand den verkrusteten Felsen berührte. »Zünde die Fackel an.«
»Wir werden klettern müssen«, stellte Lakow fest. »Die anderen kümmern sich nicht um uns. Sie wissen mehr oder weniger, daß wir niemals zurückkommen.« »Schöne Aussichten«, murmelte Razamon. Vor ihm zuckte eine Flamme auf. Er sah, daß Lakow am Hals eine stabförmige Röhre trug, an deren oberem Ende ein kleines Rad aus einem Feuerstein Funken riß. Aus einem winzigen Loch, das mit einer Nadel verschlossen wurde, züngelte eine dünne Flamme. Sofort senkte Razamon die Fackel, und die Halme und Holzspäne brannten. »Ausgezeichnet. Du kletterst, ich leuchte – dann ziehst du mich hoch. Es gibt genügend Trittstufen!« »Warst du schon im Rohr dort vorn?« Der Gestank würgte Razamon in der Kehle und brannte in seinen Augen. Er schob die Axt in den Gürtel, krallte seine Finger um einen Vorsprung und zog sich neben dem breiten Band schlammigen Wassers in die Höhe. Das Klettern fiel ihm nicht schwer; es waren viele tiefe Spalten und breite Kanten, an denen er sich festklammern und abstemmen konnte. Er beugte sich nach unten, streckte die Hand aus und zog Lakow mit der Fackel zu sich herauf. Sie preßten sich eng an den Stein. Aus dem Innern des Tunnels kamen gluckernde und tropfende Geräusche. »Ich war schon ein paarmal drinnen!« bestätigte Lakow. Im Fackellicht kletterten sie langsam weiter. Schließlich kamen sie an ein glitschiges Felsband, das quer über die Wand bis zur Kante des Loches führte. Vorsichtig schoben sie sich nach rechts, und schließlich griff Razamon um den Fels herum, schwang sich auf den Boden des Tunnels und stand bis zu den Waden in der ekelerregenden Brühe. »Wir sind da!« sagte er und half Lakow. »Ab jetzt gehst du vorn. Ich weiß nichts von diesem Höhlensystem.« »Selbstverständlich.« Plätschernd und mit Geräuschen, die ein hallendes Echo produzierte, tappten die Männer in die Höhle hinein. Nach einigen
Metern wurde aus der ovalen Öffnung ein mehr oder weniger runder Felstunnel. Die Wände waren feucht, überall wucherten bleiche Pilze und Flechten, die wie schmutzige, ausgefranste Bärte aussahen. Zwischen den Parasiten krochen doppelt fingergroße, weiße Würmer herum. Sedimente und Krusten leuchteten in den Flammen der Fackel wie Edelsteine auf. Zehn Meter weit drangen sie ein, dann blieb Lakow stehen und sagte mit bleichem, schweißbedeckten Gesicht: »Ab jetzt wird es gefährlich. Achte auf dünne, weiße Fäden. Es sind die Glieder der Unratbestie.« »Wo lebt sie – ich meine, gibt es andere Höhlen, oder nur diesen Tunnel?« »Ich war viermal hier. Immer entkam ich nur knapp den Schlingen und Armen. Ich bin sicher, daß die Bestie in einer Nebenhöhle hockt.« Der runde Tunnel erstreckte sich gerade in den Berg hinein, auf dem die Stadt und ihre Ränge erbaut waren. Das Licht reichte rund zwanzig Meter weit. Immer wieder entzündeten sich Gasschwaden, die aus dem Abwasser aufstiegen, an den Flammen. Sie explodierten mit leise puffenden Geräuschen und erloschen sofort wieder, flammten abermals auf und warfen bläulich zuckenden Schein an die Tunnelwände. Dicke Tropfen lösten sich von der Decke und schlugen schwer auf die Köpfe und Schultern der Eindringlinge. Razamon atmete keuchend, dem anderen erging es nicht besser. »Es gibt keinen Schutz gegen das Gas. Wir müssen tiefer hinein«, sagte der Berserker und zog die Waffe. »Los, Partner!« »Das Unratmonstrum hat viele Männer erwürgt und zu sich gerissen. Es hat ihre Wertgegenstände. Es dringen nicht nur Arme hier ein. Und das Biest haust hier seit undenkbar langer Zeit, Partner!« erklärte Lakow, während sie sich weiter vorarbeiteten. Die Fackel war zu einem Viertel erst verbrannt, die Hochachtung Razamons vor dem Turganer stieg. Eine kleine Flutwelle kam von
vorn, nicht höher als einen halben Meter. Der Kamm schäumte, und das Wasser stieg im Tunnel. »Der Schatz, von dem du sprichst, ist also in langer Zeit gesammelt worden. Woher weißt du, daß es ihn irgendwo gibt?« »Weil die Bestie nur die Eindringlinge frißt … ihr Besitz ist unverdaulich.« »Ich verstehe. Hoffentlich hast du recht.« Wieder verpuffte eine Gaswolke. Die Geräusche der Schritte im Wasser und die Worte der Eindringlinge brachen sich als Echos. Etwa vierzig, fünfzig Meter tief waren sie in das Abwassersystem eingedrungen. Plötzlich hielt Lakow den Berserker am Arm fest. »Hier!« Er zeigte auf einen fingerdicken Tentakel, der weiß und lederartig aus der undefinierbaren Brühe hervorzüngelte. Das Glied des Monstrums tastete mit seinem Ende, das einen kurzen Dorn trug, durch die Flüssigkeit, hob sich den Fremden entgegen und glitt dann zwischen den Pilzen und Flechten umher. Razamon flüsterte zischend: »Wie können wir das Ungeheuer besiegen?« Der Turganer deutete auf Razamons Axt. »Nur du hast die Möglichkeit. Wir müssen einen Tentakel nach dem anderen abhacken.« Razamon lachte kurz auf und erkannte die Schwierigkeiten. »Wie viele Tentakel hat, deiner Meinung nach, dieses liebliche Tierchen?« »Dutzende!« Der Tentakel hob sich aus dem Wasser und wurde auf einer Länge von rund fünf Metern sichtbar. Der Gestank war hier nicht mehr ganz so mörderisch wie am Schlund des Tunnels. Die Eindringlinge gingen weiter, den Tentakel zwischen sich, und als sie auf gleicher Höhe mit dem zuckenden und ringelnden Ding waren, griff der weiße Krake – der sie nicht sehen konnte – nach ihnen.
Wie ein Seil schlang sich der dünne Tentakel um den Fuß des Turganers. Er stieß einen Warnruf aus und ließ sich mitziehen. Aber die Fackel in seiner Hand schwankte nicht. Razamon hob das Beil und lief neben Lakow auf eine dickere Stelle des Gliedes zu. Der Turganer keuchte: »Schlage dort zu, wo es dick wird! Sonst verliert er nur ein kurzes Stück!« »Schon begriffen!« Razamon wurde schneller und erreichte die Stelle, an der das unterste Stück des Tunnels einen leichten Knick beschrieb. Hier ragte der Tentakel, knapp schenkeldick, deutlich sichtbar aus dem Wasser. Razamon zielte im schwachen Licht und schlug zu. Schon der erste Hieb der scharfen Waffe durchtrennte das Gebilde aus Muskeln, Haut und Knorpeln zur Hälfte. Eine schwarze Flüssigkeit trat aus, als der Berserker zum zweitenmal zuschlug und den Tentakel zerschnitt. Der Turganer schrie: »Der Griff lockerte sich. Ich bin wieder frei!« »Jetzt weiß die Bestie, daß wir da sind!« gab Razamon zurück und sah zu, wie Lakow seinen Fuß aus den Schlingen befreite. Er rannte durch das aufspritzende Wasser heran und blieb keuchend neben Razamon stehen. »Danke. Ausgezeichnet!« sagte er und richtete die Fackel auf den Stumpf des Tentakels. Der Muskel mit den offenen Saugnäpfen, die wie Münder zitterten, sich öffneten und schlossen, peitschte wild umher und zog sich in einen Spalt zurück, der rechts vom Tunnel abzweigte. »Hinterher!« drängte Lakow. »Oder, nein, noch nicht.« Sie stapften auf den Spalt zu. Wieder kam ihnen eine große Welle entgegen, vermischt mit neuem Gestank und polterndem Blubbern. Diesmal schien das Wasser etwas weniger verschmutzt zu sein. Razamon sah zu, wie aus dem Spalt ein halbes Dutzend dünner Tentakel herauskam. Sie tasteten sich vorsichtig hervor, suchten
blind und zitternd nach den Eindringlingen. »Abwarten!« sagte der Turganer. Razamon hob die Axt und wich einer dieser weißen Fingerspitzen aus. Das Bündel der dünnen Krakenarme wurde länger und tauchte in die Strömung ein. Noch hatten die Enden die Eindringlinge nicht aufgespürt, aber sie suchten gierig danach. Als einer der Krakenarme anhielt und sich hochringelte, kappte der Berserker mit einem wilden Hieb den weißen Arm. Der zuckende und peitschende Rest wurde mit der Abwasserströmung mitgerissen. »Ich komme doch noch zu plötzlichem Reichtum!« murmelte der Turganer. Wie Razamon war er von Kopf bis zu den Schienbeinen triefend naß und voller stinkendem Schmutz. Wieder zuckte Razamons Waffe herab und zerschnitt einen Tentakel. »Schon möglich!« kommentierte Razamon und hieb, hinter einem Stück pilzbewachsenem Gestein halbwegs sicher, auf die Muskelstränge ein. Seine Schläge wurden schneller und trafen fast immer. Vor den Eindringlingen verwandelte sich die Brühe in schleimigen, braunen Schlamm. Die blutenden Stümpfe peitschten wie rasend durch die Wassermasse. Ein lockeres Gesteinsstück wurde aus der Wand gerissen. Der Berserker wartete, bis wieder einer der Muskelstränge auftauchte. Dann hieb er rasend schnell zu und trennte den Tentakel mit mehreren Hieben ab. Nur noch drei dieser ekelerregend weißen Krakenarme befanden sich zwischen den Eindringlingen und dem Tunnel, und Razamon versuchte, auch diese Gefahr zu beseitigen. Einer der blutenden Stümpfe schmetterte über seinem Kopf gegen die Wand und glitt dann in den Spalt zurück. Der Turganer schwenkte die Fackel und stieß hervor: »Jetzt! Eine größere Chance gibt es nicht wieder. Vielleicht findest du auch einen kürzeren Weg in die Stadt!« Sie sprangen in den Spalt hinein und folgten dem niedrigen Wasser. Der Spalt beschrieb mehrere Windungen. Hier waren die
Wände glattgeschabt. Auf einem kleinen Felsvorsprung lagen verschimmelte Knochen; sie sahen aus wie ein zertrümmertes, menschliches Skelett, das von der tödlichen Umarmung des Kraken zerdrückt worden war. »Siehst du? Ich habe recht. Er bringt sie alle um.« »Hoffentlich nicht auch uns«, knurrte Razamon und tastete sich weiter. Der Gestank nahm wieder zu, aber hier roch es ganz anders als draußen. Ein Luftzug brachte die Flammen und den Rauch der Fackel zum Erzittern und führte so etwas wie frischere Luft in die Höhle des Kraken. Noch sahen sie ihn nicht, aber sie konnten ihn deutlich hören. Irgendwo vor ihnen fauchte und zischte es. Dann ertönten Geräusche, die an riesengroße, platzende Blasen erinnerten. Und immer wieder die Laute von bewegtem Wasser. Die Felswände waren glatt und ohne Pilze und schimmerten ölig im Licht. Wieder ringelten sich dünne, weiße Krakenarme aus dem Wasser, das breite Blutspuren erkennen ließ. Es waren nur drei Stück, die kürzer schienen als die zuerst aufgetauchten Tentakel. Razamon sprang zur Seite und drückte sich gegen die Wand. Die Fackel war mehr als ein Drittel heruntergebrannt und rauchte stark. »Wir müssen ganz nahe bei dem Unratmonstrum sein. Ich kann es schon riechen. Bis dort vorn … dort war ich schon.« Razamon machte mehrere Schritte, hob das Beil und hieb in den dicken Teil des schlammbedeckten Armes. »Gleich bist du an deinem Schatz, Partner!« sagte der Berserker und schlug weiter zu. Binnen weniger Sekunden verwandelte sich der enge Schlund der Spalte wieder in ein Inferno aus Schlamm, Spritzern und aufgewühltem Wasser. Die Stücke des Krakenarms wurden hochgewirbelt, und der Berserker schlug mit aller Kraft auf die dicken Teile ein. Er trennte sie ab, zerhackte sie und drang weiter vor. Der Turganer folgte ihm und hielt die Fackel so hoch wie möglich. Einige Schritte weiter, noch immer im Bereich der wild um sich
peitschenden Krakenarme und deren Stümpfe, verringerte sich der Durchmesser des Tunnels. Razamon fragte sich schon seit einiger Zeit, aus welchen Gründen sich diese angeblich so mörderische Bestie abseits des breitesten und größten Tunnels versteckt hatte. Es mußte einen Grund geben. Die Decke des Tunnels senkte sich, die Wassermenge, durch die beide Männer rannten, wurde geringer. Ein einziger Tentakel schlängelte sich noch vor den Eindringlingen, aber er griff nicht an, sondern zog sich zurück. Irgendwie drückte dieses einzelne weiße Ding Furcht oder Kapitulation aus. Die Männer stürmten weiter, duckten sich und kamen durch ein vergleichsweise kleines Loch in eine Höhle. Lakow hob die Fackel hoch über seinen Kopf. Das zuckende Licht ließ die Ausmaße der Höhle deutlich erkennen. Sie war ziemlich groß und annähernd kugelförmig. Ein Drittel der Höhle war mit Wasser gefüllt, diesmal mit klarem, jedenfalls nicht stinkenden Wasser. Der Krake füllte einen Teil dieses Tümpels aus, eine viermal mannsgroße Kreatur mit vielen abgetrennten und einigen ganzen Tentakeln, die sie wie schutzsuchend um den Körper ringelte. Der Körper war tatsächlich quallenähnlich, völlig weiß und voller eingekerbter Runzeln. In zahlreichen Löchern oder Nischen in der Höhlenwandung lagen irgendwelche Haufen von Metallen, Schachteln oder Säcken. Das Monstrum machte nicht den geringsten Versuch, anzugreifen. Razamon murmelte: »Los, Partner! Hole deinen Schatz. Aber vergiß nicht, daß du ihn auch tragen mußt.« Er blieb stehen und beobachtete den Kraken schweigend und wachsam. Das Tier hatte keine Augen, jedenfalls waren keinerlei Sinnesorgane zu erkennen. Vor den beiden Eindringlingen zog sich die Kreatur langsam bis an den Rand des Tümpels zurück. Erst jetzt sahen sie, daß aus dem Wasser an vielen Stellen weiße Knochen hervorragten.
»Du hattest Recht. Überall liegen Knochen«, sagte Razamon. »Schnell, Mann – deine Fackel!« »Halte sie, bitte.« »Schon gut.« Razamon nahm die Fackel. Als Lakow ins Wasser sprang und auf die nächste Nische zuwatete, wich der Rumpf der Bestie zurück. Die Bewegungen waren matt und nicht mehr aggressiv. Der Turganer hob einen Sack auf, riß den Verschluß auseinander und sagte entgeistert: »Voller Khams!« »Dann beeile dich, Partner!« sagte Razamon drängend. »Du bist hier, um reich zu werden. Ich bin hier, um in die Stadt zu kommen. Schnell!« »Du hast recht«, antwortete der Turganer. »Völlig recht.« Er hängte sich den Beutel über den Oberarm, öffnete ein Kästchen und schrie auf: es schien ebenfalls voller Kostbarkeiten zu sein. Er hob einen zweiten Beutel auf, öffnete ihn und leerte den Inhalt des Kastens in den Beutel. Razamon ließ seine Blicke zwischen dem Monstrum und Lakow hin und her gehen und fühlte die Hitze der herunterbrennenden Fackel. In rasender Eile riß der Turganer die Säcke an sich, stopfte sich blitzende Gegenstände in die Taschen und schien einzusehen, daß er nicht alles wegschleppen konnte, das hier in den Nischen lagerte. »Weißt du«, sagte Lakow und hängte sich einen weiteren Sack über den Kopf. »Wenn ich mit diesem Zeug hier herauskomme, habe ich keine zweite Chance mehr. Die anderen werden hier hereinstürmen.« »Das ist ein Gesichtspunkt«, sagte Razamon. »Aber gib doch auch den anderen eine Chance.« »Sie werden nicht nur sehen, wo ich war, sondern es sogar riechen«, meinte der Turganer. »Du bist sicher, daß sie alle hier hereinklettern und den Höhlensaal plündern?« wollte Razamon wissen.
»Ich bin völlig sicher!« »Vermutlich hast du recht. Laß mir ein paar übrig, falls ich in Turgan Zahlungsschwierigkeiten haben sollte.« Der Turganer versuchte, so viel wie möglich an sich zu raffen. Aber nachdem er den Inhalt von zwei Nischen an sich gebracht hatte, sah er ein, daß er mehr nicht herausschaffen konnte. Er stapfte zu Razamon zurück und zeigte auf den Kraken, der zitternd am Rand seines blutigen Tümpels kauerte. »Und wenn die anderen kommen, wird dieses Tier tot sein. Dann haben sie alles.« Razamon suchte den Blick des anderen und sagte, so eindringlich wie möglich: »Ich habe dir geholfen. Du bist vermutlich reicher als jemals zuvor. Gönne den anderen im Graben auch etwas von diesem Reichtum. Oder sage ihnen nichts und komme ein zweitesmal hierher. Überlege es dir!« »Vielleicht hast du recht. Einverstanden. Kommst du mit mir hinaus in den Haupttunnel?« »Jawohl.« Noch zwei der Ledersäcke nahm der Turganer aus einer Nische, schlang die Riemen um das Handgelenk und stapfte auf den Spalt zu. Die Säcke wogen schwer, sie mußten voller Khams sein, den kleinen, geschliffenen Kieseln. Razamon warf einen letzten Blick auf das Quallenmonstrum, dann lief er hinter dem Turganer her. »Wenigstens einer von uns, der bekommen hat, was er wollte«, knurrte er. Der Weg in den großen Stollen hinaus war schneller als das Eindringen. Sie blieben stehen, als sie wieder in dem übelriechenden Strom standen. Der Berserker deutete in die Richtung des Stollenendes. »Dorthin geht dein Weg. Hoffentlich bleibt das Glück dir noch einige Zeit treu.« »Ich muß dir danken. Aber ich kann dir den Weg in die Stadt nicht
zeigen. Ich weiß nur, daß du diesem stinkenden Wasser nachgehen und nachklettern mußt.« »So etwas Ähnliches dachte ich.« Razamon hob die Fackel und sah, daß sie nach rechts und links eine größere Strecke des Tunnels erhellte. »Du läufst in diese Richtung«, sagte er dann. »Schnell. Und ich habe für meinen weiteren Weg noch etwas Licht. Viel Erfolg.« »Ab morgen werde ich in den Straßen Turgans zu finden sein. Frage nach mir. Ich helfe dir, wenn du es brauchst.« »Gib mir ein paar Khams!« sagte Razamon und streckte die Hand aus. Der Turganer griff in ein Säckchen und holte ein paar Handvoll der Kiesel hervor. Er ließ sie in Razamons Hand gleiten, der sie in seiner Brusttasche verstaute. Lakow nickte dem Berserker zu und drehte sich um. In großer Eile watete er davon und hob noch einmal den Arm, bevor er hinter der Biegung verschwand. Razamon war allein, er hatte eine fast heruntergebrannte Fackel, eine Axt und einige Khams. Und wieder dachte er an Atlan, der nicht wußte, daß er auf dem Weg zu ihm war. »Ein schöner Weg!« knurrte er und wandte sich dorthin, woher aus unbekannten Höhlen, Röhren und Schächten das dreckige Wasser kam. 6. Der bestialische Gestank nahm ihm den Atem, als er Schritt um Schritt weiterging. Der Tunnel wurde schmaler, aber nicht niedriger. Wieder setzte die Fackel einen Gasschwaden in Flammen. Die schwache Explosion wuchs nach vorn, entzündete eine weitere Wolke, die nach oben aufflammte und den Berserker darauf aufmerksam machte, daß der Tunnel nach oben ging oder eine senkrechte Zuführung hatte.
Tatsächlich lief das Wasser nach einigen Schritten schneller und wurde flacher. Aber es stank nach wie vor. Razamon hielt sich von den Wänden fern, an denen die kleinen Würmer zwischen den Pilzen und Flechten herumkrochen. Er schüttelte sich und glitt aus, als er die Steigung nahm. Er mußte sich vorstellen, daß diese Art Höhlensystem sich bis in die obersten Teile der Stadt fortsetzte und immer dünner und enger wurde. Die Fackel knisterte und blakte. Er schob sich weiter, der Boden stieg steiler an, und das Wasser lief rechts von ihm. Nach kurzer Zeit stand er vor einer senkrechten Wand. Wasser schoß entlang der Felswand herunter. Ab hier mußte er klettern, und er sah, daß die Wand auf der anderen Seite rissig und leidlich trocken war. Der Schacht schien weit hinaufzuführen, denn die Flamme wurde hochgewirbelt und flackerte wild auf. »Hinauf in die stinkende Finsternis«, sagte er, suchte mit den Augen die nächsten Griffmöglichkeiten und legte die Fackel auf einen Absatz. Dann schwang er sich hinauf und fing an, im ständig schwächer werdenden Licht höher zu klettern. Razamon blickte ab und zu nach unten. Die Fackel und ihre Lichtreflexe im Wasser wurden kleiner. Das Licht reichte kaum bis hierher herauf. Razamons Fingerspitzen ertasteten mühsam jede weitere Vertiefung. Plötzlich klirrte es an seinem Knie, es klirrte ein zweitesmal, und ein eisiger Schreck durchzuckte den Berserker. »Meine Axt!« stöhnte er auf. Die Waffe war aus seinem Gürtel gerutscht, schlug klirrend mehrmals gegen die Steine und traf genau die Fackel. In einem Funkenregen erlosch sie völlig. Die Axt fiel in das aufspritzende Wasser und wurde mitgerissen. Razamon hing in der dunklen Wand und fluchte. Er versuchte, seine Chancen abzuwägen. In völliger Dunkelheit würde er sie in der stinkenden Brühe suchen müssen; möglicherweise riß das Schmutzwasser die Axt bis zum Ausgang des letzten Tunnels. Er
beschloß, die Axt zu vergessen, aber er fluchte noch immer, als er weiterkletterte und nach einigen Minuten begriff, daß große Flächen der Wand – vermutlich die Pilze – schwach phosphoreszierten. Das Licht war sehr schwach, aber immerhin besser als die völlige Dunkelheit. Vorsichtig stemmte er seinen Fuß in einen Spalt und streckte das Bein. Das Klettern in dem engen Schacht ging weiter. Ab und zu traf ihn ein Guß Wasser im Nacken und durchnäßte ihn vollends. * Lakow wußte, daß er ohne den Fremden niemals dieses gewaltige Glück gehabt hätte. Sein einziges Verdienst war gewesen, den richtigen Mann erkannt und gewartet zu haben. Er klammerte sich förmlich an seine Schätze und watete dem helleren Fleck vor ihm entgegen, bis zu den Knien in der stinkenden Brühe. Eine wilde Freude füllte ihn aus, und er wußte bereits, was er gegenüber seinen Genossen im Graben machen würde. Er erreichte die Öffnung im Felsen und kletterte so behutsam wie möglich hinunter. Er verlor nicht einen einzigen Kham; von der Menge seines Reichtums hatte er nur undeutliche Vorstellungen. Seine Füße berührten den stinkenden Sumpf unterhalb des Schlundes. Zehn Schritt weiter holte er zum erstenmal tief Luft. Das Feuer brannte noch immer. Ruhig stapfte er darauf zu. Niemand sah sich nach ihm um, die meisten Ausgestoßenen lagen schlafend da. Er stank so abscheulich, daß es ihn selbst grauste. Zwei Schwierigkeiten standen zwischen Lakow und der Herberge am Marktplatz Turgans. Die erste war: seine Kameraden am Feuer. Trotzdem ging er weiter, und sowohl seine Schritte als auch sein Gestank kündigten ihn an. Drei Männer hockten, reichlich betrunken, vor der heruntergebrannten roten Glut.
»Das ist Lakow mit seinem Schatz!« grölte einer. »Reich geworden, Kumpel?« Er drückte sich seitlich am Feuerkreis vorbei, spuckte aus und sagte krächzend: »Naß geworden. Ihr könnt es riechen. Das Monstrum hat tausend Arme. Es ist sinnlos.« Gelächter verfolgte ihn, und ein anderer schrie ihm nach: »Bist ja blöde! Wer einmal hier ist, kommt niemals weg. Willstʹn Wein.« »Ich gehe zum Wasser und lasse mich aufweichen. Ich stinke, wie ihr gemerkt habt.« »Du bist reich – an Gestank!« lachten sie. Er ging weiter, wich den regungslos schlafenden Körpern aus und erreichte, ohne ein zweitesmal angesprochen worden zu sein, das Ende des Grabens. Sofort sprang er auf die Rampe und machte sich an den Aufstieg. Die zweite Gefahr waren die Stadthüter. Jetzt, in der Nacht, waren sie weniger aufmerksam. Und weniger zahlreich. Er hoffte nur, daß ihn keiner von ihnen erkannte. Als er an sich herunterblickte, zweifelte er daran, daß ihn überhaupt jemand erkannte. Lakow war vor Jahren ein erfolgreicher Stadtkaufmann gewesen. Drei überfallene und ausgeraubte Karawanen und die Habgier seines Partners hatten ihn binnen einer kurzen Zeit vernichtet, und seitdem lebte er im Graben. Er erreichte zwei Drittel der Rampenlänge, ehe zwei Hellebardenträger auf ihn zukamen. »In die Stadt?« fragte einer von ihnen gähnend, aber barsch. »Ich bin der Bote für das Leere Weinfaß«, gab Lakow zurück. »Ich bringe Ware.« »Du bringst Gestank«, bemerkte der Mann, aber er senkte die Waffe nicht. »Du wirst erwartet?« »Man hat mich, unten im Graben, fast überfallen und in den Dreck geworfen. Hier, ein paar Khams, die mir nicht gehören.« Er ließ drei Khams in die offene Hand fallen.
»Hört zu, Männer«, sagte er. »In den Beuteln trage ich Gewürze. Nicht, daß die anderen oben mich auch noch nach Wegegeld fragen – ich habe nur noch ein paar Zers, und die brauche ich für ein Nachtessen.« »Schon gut. Sieh zu, daß du bald ins Bad kommst.« »Auch dazu brauche ich die Zers. Dank.« Sie gaben den Weg frei. Lakow, der die Habgier und die Willkür der Stadthüter so gut wie kaum ein anderer kannte, wunderte sich. Aber er bezwang seine Ungeduld und ging weiter. Er sah, daß einer der Männer den Posten weiter oben an der Rampe ein Zeichen gab. Und wie sollte er seinen Reichtum verstecken? Er traute niemandem in der Stadt, und anderen Händlern schon gar nicht. Das beste Versteck würde er finden müssen. Mehr und mehr Lichter in den Höhlen der Ebenen erloschen. Einige Wächter der Kaufleute gingen zwischen den Warenstapeln hin und her. Irgendwo schrien in den Ställen die Chreeans. Tief unter seinen Sohlen kämpfte sich der Fremde durch die stinkenden Höhlen der Abwässer. Er passierte die letzten Posten und befand sich in der Stadt. Schon nach wenigen Schritten fand er die Bestätigung dafür, daß die Tage des Sklavenmarkts angebrochen waren. Die Stadt war überfüllt. Natürlich hatte er nicht vor, in die Schenke Leeres Weinfaß zu gehen – er würde sich ein besseres Zimmer suchen. Die Straßen waren voller Fremder. Er hielt nach Möglichkeit weiten Abstand von einzelnen Personen; dies war eine der Nächte der Taschendiebe und Beutelschneider. Gerüche nach Braten und Wein zogen durch die Gassen. Sein Magen verkrampfte sich in der Erwartung, daß in kurzer Zeit alle diese Köstlichkeiten auch für ihn da sein würden. Zwischen Hausfronten und unter einem breiten Steg hervor betrat er den Marktplatz. Ein Breitrelief fiel ihm auf. Es war von vier Lampen beleuchtet und zeigte einen Zecher vor voller Tafel, dahinter ein wuchtiges Bett. Darunter stand Zum Rinnensteig.
»Genau das habe ich mir vorgestellt«, brummte er und stieß die schweren Vorhänge zur Seite. Ein weiß verschleierter Turganer hinter dem Steintisch stand auf und verbeugte sich. Seine runden Augen ließen nicht erkennen, ob er den Aufzug des »Gastes« mißbilligte. »Ich brauche das zweitbeste Zimmer. Dazu die beste Mahlzeit und ebensolchen Wein. Und wenn du einen Mann auftreiben kannst, der mir Kleidung verkauft, gehören dir zwei Khams. Und das Wichtigste: ein heißes Bad voller würziger Kräuter.« Eine schnarrende, kehlige Stimme fragte zwischen den Falten des Umhangs hervor: »Du bist sicher, daß du die Preise des besten Hauses am Platz zahlen kannst?« »Es ist das zweitbeste Haus, wie jedermann weiß«, antwortete Lakow und legte mit hörbaren Geräuschen fünf Khams auf den Stein. Sie stanken abscheulich, waren aber von erlesenem Schliff. »Dies wird genügen … ach, und einen metallenen Krug brauche ich auch. Ich muß das Gewürz aus meinen Säcken umfüllen.« »Ich bringe dich in dein Zimmer!« versprach der Wirt, schlug einen Gong und überschüttete Diener und Sklaven, die aus allen Richtungen lautlos auftauchten, mit einer Serie von Befehlen und Anordnungen. Auch in Turgan bedeutete der Besitz von Geld fast alles! Ein geräumiges Zimmer, dessen Öffnung auf den Marktplatz blickte, öffnete sich für ihn. Verhüllte Gestalten brachten heißes und kaltes Wasser und mischten es in der trogförmigen Wanne. Ein anderer streute stark duftende, zermahlene Kräuter hinein. In der polierten Metallplatte, die von kleinen Öllampen beleuchtet wurde, sah Lakow ein Gesicht, das ihm mehr als fremd war – sein eigenes. Immer mehr Lampen wurden angezündet. Lakow entledigte sich seiner Säckchen und stellte sie nebeneinander auf den Tisch. Es waren zwölf lederne Säcke, alle etwa gleichgroß und prall gefüllt. An einigen Stellen war das
Material vermodert und fadenscheinig, und der Turganer zuckte zusammen, als er merkte, wie nahe er daran gewesen war, einen Großteil seines Reichtums zu verlieren. »Wo bleibt das Essen?« Auf dem polierten Steinboden lagen weiche Teppiche. Kissen und Decken befanden sich auf dem breiten Bett. Der Turganer entledigte sich der durchlöcherten, nassen Stiefel nicht ohne Mühe. Er warf sie in die Richtung eines Sklaven und rief: »Wirf sie sofort weg. Ich kann sie nicht mehr riechen.« »Sofort, Herr.« Das Essen kam und wurde auf einem zweiten Tisch serviert. Lakow stürzte einen Becher Wein hinunter und fühlte sich ein wenig besser. Der Wirt der Herberge brachte einen großen Metallkrug mit Deckel, stellte ihn neben die nassen Säckchen und erklärte: »In einer Stunde wird jemand kommen, der mir schon oft aus der Verlegenheit geholfen hat. Wir mußten ihn erst wecken. Auch wird er Stiefel bei sich haben. Alles zur Zufriedenheit?« Lakow bemühte sich, einen kühlen Kopf zu behalten. Er hob den Becher und sagte: »Soweit ich es sehen kann, stimmt alles mit dem Preis überein. Laßt mir eine Stunde Zeit. Dann könnt ihr meine Lumpen abholen.« »Ich habe verstanden. Wir wünschen Wohlergehen.« Hinter dem Wirt schloß sich eine schwere Tür. Lakow machte ein paar Schritte und schob den Riegel vor. Zuerst zog er seine Lumpen aus und nahm das Feuerzeug vom Hals. Dann wusch er sich flüchtig und begann zu essen. Immer wieder sprang er auf, kauend und trinkend, und öffnete einen Münzensack. Er kippte den ersten Sack und leerte den Inhalt in die große Urne. Es prasselte und klirrte, und im Licht der Öllampen schimmerten die geschliffenen Kiesel. Er war reich! Es gab keine Sorgen mehr!
Was hatten – wann immer es geschehen war – reiche Männer in dem unterirdischen Labyrinth zu suchen gehabt? Waren sie vom Geheimen Tempel gekommen und hatten sich verirrt? Oder hatten sie versucht, wie der Fremde, die Stadt auf diesem Weg zu betreten, obwohl sie die Stadthüter hätten bestechen können? Für ihn jedenfalls lagen die anderen Schätze in dem stinkenden Versteck, und wenn er Lust dazu hatte, konnte er sie bergen. Lakow erinnerte sich an sein Versprechen, das er seinem kämpfenden Zufallsfreund gegeben hatte. Er kippte sorgfältig den Inhalt aller Ledersäcke in den Metallkrug. Die leeren Beutel warf er auf den Haufen der stinkenden Kleiderreste. Er aß, ohne genau zu erkennen, was auf Tellern und Schüsseln lag. Dann, nachdem er bis auf wenige Khams seinen Reichtum in der Urne hatte und den Deckel darauf zwängte, versteckte er den Krug in seinem Bett hinter Kissen. Das Bratenmesser nahm er mit, als er in das duftende Wasser stieg und versuchte, zugleich mit dem Dreck auch die Erinnerung an seine bisherige Existenz wegzuwaschen. Später kam der Händler, dem er alles abkaufte, was notwendig war. Die Sklaven nahmen die schmutzigen Reste mit, und nun, nicht wiederzuerkennen und im Schmuck seiner neuen Ausrüstung, ging er ans Fenster und öffnete es weit. Der Marktplatz lag unter ihm. Dort hinten war die Zisterne der Stadt. Gruppen von Händlern standen und wanderten auf den Steinen. Einige Stadthüter patrouillierten zwischen den Pfählen, an denen man die Sklaven angekettet hatte. Alte Sklaven öffneten die Hähne und ließen Wasser auf einzelne Teile des Platzes laufen; sie kehrten den Unrat zusammen mit dem Wasser weg und spülten den Schmutz durch die großen Öffnungen weg. »Und der Fremde, irgendwo hier unten, bekommt die Brühe auf die Schultern«, sagte Lakow. Er schloß das Fenster, verriegelte sorgfältig die Tür und ging hinunter, um sein Versprechen
einzulösen. Aber weder in dieser Nacht noch während des nächsten halben Tages konnte er den Fremden in Turgan finden. * Razamon erkannte im fahlen Phosphorlicht eine Öffnung in dem senkrechten Kamin. Er streckte die Arme aus und zog sich in den waagrecht verlaufenden Stollen hinein. Auch hier rieselte Schmutzwasser heran und ergoß sich in die Tiefe. Er kannte keinen einzigen Stollen hier, seine einzige Möglichkeit war, immer in die Richtung zu waten, zu klettern und zu robben, aus der dieses verdammte Wasser kam. »Und das alles für Atlan!« knurrte er. Hungrig und müde, immer wieder den Fäulnisgasen und dem bestialischen Gestank ausgesetzt, in fast völliger Dunkelheit, ging er gebückt in diesem Querstollen weiter geradeaus. Ständig stieß er mit der Schulter an glitschigen Stein, und einmal krachte sein Schädel gegen die Decke, daß er Sekunden lang Sterne und Kreise sah. Er fluchte und ging geduckt weiter. Für ihn war es, als sei er wieder an den Ausgangspunkt des Abwassersystems zurückgekehrt, an den großen, stinkenden Schlund. Nur der Gedanke an den Arkoniden, der vermutlich auf dem Sklavenmarkt feilgeboten wurde, ließ ihn durchhalten. Er tappte weiter und hoffte, daß er bald einen Schimmer Tageslicht sehen würde. ENDE
Weiter geht es in Band 460 von König von Atlantis mit: Der Sklavenmarkt von Horst Hoffmann