Everett Jones
Die Todesinsel Ronco Band Nr. 265/34
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 ...
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Everett Jones
Die Todesinsel Ronco Band Nr. 265/34
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Steigt mit einem Fesselballon auf und landet mit der übrigen Besatzung auf einer Insel im Atlantik. Colonel Goddard – Wollte nur die Stellungen des Feindes beobachten, auch bei Sturm, und das war das Verhängnis. Poul Tullier – Der Bursche des Colonels nervt die anderen mit seiner Angst. Ben Cane – Sergeant und Ballonführer, der sie alle durch seinen Mut und seine Umsicht vor einem schlimmen Schicksal bewahrt. Captain Gardner – Kommandant eines versenkten Schiffes der Südstaaten, der mit sechs weiteren Schiffbrüchigen ausgerechnet die Insel erreicht, auf der der Ballon niedergeht.
Die Todesinsel 22. Januar 1881 Wir sind so tief in den Süden New Mexicos vorgedrungen, daß wir den Winter praktisch hinter uns gelassen haben. Lobo und ich reiten durch zerklüftetes, karges Land, auf dem anspruchslose Kakteen in weiten Lavagebieten wachsen. Nur ganz vereinzelt haben sich schmutzige Schneereste in schattigen Mulden erhalten. Die Bäche und Flüsse sind erheblich angeschwollen. Sie tragen die Schmelzwasser aus den Bergen herunter, und mit ihnen gewaltige Mengen an Lehm und Sand, die sich überall an den Ufern ablagern. Zudem regnet es oft, so daß der Sandboden jenseits der Lavafelder aufgeweicht und dunkel aussieht und die Overlandstraßen glatt wie Schmierseife sind. Je weiter wir nach Süden vordringen, um so bekannter erscheint mir alles, was uns umgibt. In dieser Gegend New Mexicos war Andrew Hilton einst der unumschränkte Herr gewesen, der sogar den Gouverneur wie eine Puppe hatte tanzen lassen. Alles, womit hier einmal Geld verdient worden war, hatte ihm entweder gehört oder war zumindest für ihn eine Einnahmequelle gewesen. Alle hatten an ihn zahlen müssen. Dafür hatten seine eiskalten Revolvermänner gesorgt. Und überall saßen seine Spitzel. Jetzt ist er von der Bildfläche verschwunden und sitzt irgendwo in Mexiko. Aber er soll noch immer stark und mächtig sein und an den Fäden ziehen, mit denen Einfluß und Macht bewegt werden. Er ist so weit weg vom Schuß, daß die Behörden New Mexicos vergebens den Arm nach ihm ausstrecken würden. Ich muß mich nach wie vor vor diesem gefährlichen, durchtriebenen Mann in acht nehmen. Er und seinesgleichen wollen nicht, daß ich Ruhe finde. Doch auch ich habe ihn nicht vergessen. Mein Schwur, ihn zu töten, erinnert mich ständig daran, daß er noch am Leben ist. Ich suche nach ihm. Eines Tages werde ich ihn finden und ihm gegenüberstehen. An diesem Tage wird er für Lindas Tod und für alles andere, was er mir antat, bezahlen.
Wir nähern uns Cow Springs. In dieser Stadt hoffen wir, Senator Wilson anzutreffen. Er hat mir sehr geholfen. Ohne ihn hätte ich mich nicht vom Makel des Geächteten befreien können. Seit mich seine Nachricht in Texas erreichte, in der er mich aufforderte, ich sollte ihn aufsuchen, sind Wochen vergangen. Wir haben viele harte Meilen hinter uns gebracht und sind besonders in den letzten Tagen scharf beritten. Denn ich hatte eine Zeitung gefunden und gelesen, daß Senator Wilson schwer erkrankt sein sollte. Ich weiß nicht, was ihm fehlt und habe auch keine Ahnung, warum er mich überhaupt rief. Aber ich nehme an, daß es wichtig ist. Dort, wo die Paßstraße in die weite Ebene übergeht, haben wir angehalten und sind für eine kurze Rast abgestiegen. Die abgehetzten Pferde brauchen Ruhe. Ich habe mich in eine Spalte an die trockene Felswand gesetzt und mein Tagebuch herausgeholt. Ich schreibe und versuche, meine Sorgen zu verdrängen, wenigstens für eine kurze Zeit. Wir sind allein. Rund um uns ist das Land leer, als würde es hier keine Menschen außer uns geben. So leer und einsam war ich damals auch – damals, vor sechzehn Jahren, in den letzten Tagen des Bürgerkrieges. Ich war Zivilkurier bei den Truppen der Unionsarmee, genauer gesagt, bei General Shermans Stab in Georgia. Wir hatten einen langen, blutigen Marsch hinter uns und waren nach South Carolina vorgedrungen, wo wir die Hafenstadt Charleston eingenommen hatten. Mir stand der Krieg bis obenhin, eigentlich sogar noch ein bißchen höher. Den meisten anderen ging es genauso. Aber wir hatten auch, Fanatiker unter uns, vor denen man sich vorsehen mußte. Ausgerechnet am Ende dieses fürchterlichsten aller seitherigen Kriege stand für mich das bitterste und übelste und sehr makabere Erlebnis, mit dem ich in dieser Zeit konfrontiert wurde …
1. Eine Granate orgelte über unser nördlich von Charleston gelegenes Militärcamp weg. Sekunden später schlug sie westlich ein und
detonierte. Rauch und Dreck stoben in den Himmel. Wir wurden von See aus von einem Kanonenboot der Konföderierten beschossen. Es herrschte ziemliche Aufregung im Camp, denn auch im Westen hatten sich noch einmal versprengte Reste der Konföderierten zu einer Einheit mit uns unbekannter Stärke sammeln können. Es war saumäßiges Wetter. Es regnete und hagelte, dann wieder lachte die Sonne bleich vom Himmel. Und immerzu heulte der ablandige Wind über das Lager. Richtiges Aprilwetter. Wir schrieben den 6. April 1865. General Sherman wollte mit den versprengten Einheiten unserer Gegner im Westen Schluß machen. Richtiger Krieg wurde eigentlich nur noch im Norden geführt. Wieder heulte eine Granate über das Camp, schlug näher ein und warf ein paar Zelte um. Mit Schlamm und Sand flogen Grasbüschel und das Wasser einer großen Pfütze in die Luft. »Zum Teufel, die schießen sich auf uns ein!« brummte Sergeant Ben Cane, ein zweiundvierzig Jahre alter, grauhaariger Mann mit Knollennase, der zum Aufklärungskommando des Stabes gehörte und Ballonführer war. Der große Gasballon stand aufstiegsklar von zehn Seilen gehalten zwischen den Pinien, an deren Stämmen die Haltetaue befestigt waren. Ich war fasziniert vom Anblick des Aufklärungsballons, der am Morgen mit Helium gefüllt worden war. »Es müssen Agenten hier herumschleichen«, sagte der knollennasige Sergeant und spuckte auf den Boden. »Sie meinen, die Granaten gelten dem Ballon?« fragte ich naiv. »Klarer Fall, mein Junge!« Cane nickte. »Ist denn Colonel Goddard nun endlich eingetroffen?« »Meines Wissens noch nicht.« Ich blickte auf die festen Hütten, die als Kommandozentrale General Shermans dienten. Der Colonel, auf den wir warteten, war noch nicht im Camp. Shita, mein graubrauner Bastardhund, drängte sich gegen mein Bein und rieb die Schnauze am rauhen Stoff der Hose. Ich war Zivilscout bei General Sherman und gerade erst sechzehn Jahre und acht Monate alt. Zu meinem Glück sah ich älter aus und
entging so den Hänseleien, denen sich die meisten Jugendlichen meines Alters zu allen Zeiten ausgesetzt sehen. Außerdem hatte ich mir durch die Kenntnis des Landes und eine Reihe geglückter Unternehmungen eine ganze Menge Respekt verschafft. In diesem Augenblick heulte schon wieder eine Granate über die vorgelagerten Hügel im Osten. Shita winselte und vollführte einen Luftsprung. Der Sergeant und ich ließen uns in den Dreck fallen und preßten die Gesichter in den Schmutz. »Deckung!« brüllte jemand überflüssigerweise. Die Granate schien den Ballon zu streifen. Heftig schwankte die gasgefüllte Hülle, während die Granate zwischen den Pinien einschlug. Ein Donnerschlag brauste über uns weg. Losgerissene Äste und Dreckklumpen wirbelten durch die Luft und schlugen in den staubverhangenen Wald. Sergeant Cane hob den Kopf und blickte auf den schwankenden Ballon. Die Taue spannten sich abwechselnd, und die Gondel rutschte über den Boden, als ein Seil riß und der Ballon etwas aufstieg. »Mist, verdammt, der reißt sich los!« Cane sprang auf. Shita hetzte dem Mann kläffend hinterher. Ich erhob mich und kratzte den Dreck so gut es ging von meiner ramponierten Lederjacke und der Hose. Auf See hinter den Hügeln war ein entferntes, aber gewaltiges Krachen zu hören. Ein Posten auf der Hügelkette stieß die Arme in die Luft und vollführte hüpfende Freudensprünge. Ich schaute zu dem Mann hinauf und hörte ihn rufen: »Versenkt, Sir! Das Kanonenboot säuft ab! Das müßt ihr sehen, Leute, es geht wie ein Stein unter!« Ich folgte dem Sergeanten ein wenig erleichtert und half ihm, das gerissene Tau am Baum zu befestigen. Shita sprang kläffend um uns herum. »Was hat der Hund nur?« fragte Sergeant Cane. »Er denkt, wir steigen ein und verschwinden und könnten vergessen, daß er mit will.« »Ach so.« Cane wollte dem Hund über den Kopf streichen, aber
Shita duckte sich, sprang zurück und riß das Maul auf. »Vorsicht, das mag er nicht«, sagte ich. Über uns ließ der Wind die Wipfel rauschen. Ein Hagelschauer ging nieder, so daß wir uns unter den Ballon verkrochen und an die mit Sandsäcken behangene Gondel drängten. Der Korb war ein quadratisches Gebilde mit ungefähr zwei Yards langen Seiten, die eine Höhe von fünf Fuß aufwiesen. Ein Netz spannte sich um den Ballon und lief in geflochtenen Seilen an den vier Ecken der Gondel aus. So war deren Last gleichmäßig über die ganze Hülle verteilt. An den Seilen waren verschiedene Waffen, Fernrohre, Schutzschilde und andere Gerätschaften befestigt, deren Bedeutung mir zum Teil schleierhaft war. »Will der Colonel bei dem Wetter wirklich aufsteigen?« fragte ich mit einem Blick zu den sich fauchend biegenden Wipfeln., »Da oben geht es doch viel temperamentvoller als hier unten zu.« »Das walte Hugo«, sagte der Sergeant. Er war ein kräftiger, fast schon bärenhafter Mann, dem die dunklen Augen und der Seehundsbart etwas Finsteres verliehen. »Aber das Wetter ändert sich ja jede Stunde fünfmal. Wer weiß, was in einer halben Stunde los ist.« Ich konnte mir nur schwer vorstellen, daß man aus einer Höhe von vielleicht hundert Yards mehr von unseren Gegnern sehen sollte, als die Kundschafter auf dem Boden hatten erkennen können. Aber der Stab war anderer Meinung und wollte die Beobachtungen vom Ballon aus unter allen Umständen durchführen, sobald der Colonel eintraf. Lieutenant Simon Gage näherte sich. Sergeant Cane brummte etwas Abfälliges, aber als der siebenundzwanzig Jahre alte Offizier uns erreichte, nahm er flüchtig Haltung an. Lieutenant Gage war ein schmaler, großer Soldat. Er hatte semmelblondes Haar und helle Augen. Er wirkte ein wenig unsicher und war auch erst vor kurzer Zeit an diese Hinterlandsfront geschickt worden, sozusagen frisch von der Akademie in West Point weg. »Ist denn der Colonel nun da, Sir?« fragte Cane. »Noch nicht.« Ich blickte auf das Treiben in unserem Camp und kraulte Shita den
Hals. Er hatte das gern und stand wieder gegen mein Bein gelehnt, als wollte er die eigenen Kräfte schonen. Ein Reiter sprengte über den Hügel im Osten und schrie: »Die Brigg ›Eagle‹ ist versenkt worden! Und ein Kanonenboot wurde auch eben zu den Fischen geschickt!« »Die Brigg ›Eagle‹!« Der junge Lieutenant fuhr herum. »Dann haben die Konföderierten kein nennenswertes Schiff mehr. Das könnte bedeuten, daß der Krieg in ein paar Tagen, spätestens aber in zwei Wochen zu Ende sein müßte.« »Reine Spekulation«, brummelte der Sergeant vor sich hin. »Kein Mensch weiß, wie lange die Südstaatler das noch durchstehen.« »Sie erhalten keinen Nachschub mehr, wenn die Schiffe zum Teufel sind!« rief der Offizier mit leuchtenden Augen. »Na und?« Sergeant Cane zuckte mit den Schultern. »Neulich haben wir einen Haufen ausgehoben, die hatten jeder noch zwei Schuß Munition und seit Tagen keine Krume Brot mehr gegessen. Und wissen Sie, wie lange die uns widerstanden haben, Sir? Vierzehn Tage! In zwei Bunkern auf einer Höhe, auf die wir trotz dreifacher Überlegenheit nicht herankamen. Wie lange die das noch durchhalten, weiß kein Mensch.« »Und ich sage Ihnen, der Krieg ist so gut wie zu Ende«, beharrte der junge Offizier, wandte sich ab und ging davon. Sergeant Ben Cane spuckte auf den Boden. »Gebe Gott, daß er recht hat. Mir dauert der Krieg genau genommen schon viel zu lange.« In diesem Augenblick sprengte ein kleiner Reitertrupp im Norden aus dem Gestrüpp unterhalb der Hügelkette. Die Soldaten hielten im Galopp auf das Camp zu. »Da ist er ja«, sagte ich. »Na, dann kann die Fuhre ja losgehen.« Sergeant Cane blickte zweifelnd zu den sich biegenden Wipfeln. »Entweder in den Himmel oder in die Hölle, mein Junge!« Der kleine Reiterpulk war hinter den Zelten verschwunden. »Ich hatte angenommen, der Colonel käme in einer Kutsche«, sagte der Ballonführer. »Wird ihm wegen des Beschusses zu unsicher gewesen sein. Na ja, in der Gondel ist es auch nicht
bequemer als auf dem Rücken eines Pferdes.« Der Sergeant grinste mich an. Ich reagierte nicht darauf. Mein Blick war nach Osten gerichtet, weil die Männer von dort auftauchen mußten. Tatsächlich stiefelten sie Minuten später bereits von den Hütten herüber. Jetzt waren sie aber nur noch zu viert. Der Colonel war etwa zweiundfünfzig, gedrungen, bullig und hatte bernsteinfarbene Augen und einen struppigen Schnauzbart. Ich fragte mich schon seit geraumer Zeit, warum sie sich alle Bärte wachsen ließen, da sie doch damit finsterer aussahen, als wenn sie glattrasiert waren. Den Colonel begleiteten Lieutenant Gage und der Bursche des Colonels, ein rotblonder, etwa sechsundzwanzigjähriger Mann mit flackernden Augen. Er war Sergeant. Der vierte Mann trug Zivil, und zwar eine gestreifte Röhrenhose, Stiefel und einen Prince-Albert-Mantel, der unter dem Regen erheblich gelitten hatte. Unter dem Mantel hatte der Mann einen Patronengurt mit Colt in der Halfter umgeschnallt. Auf seinem Kopf saß eine graue Melone. »Der Kartograph Phil Edward«, erklärte Ballonführer Cane leise. Der Mann war fünfunddreißig und hatte schwarzes Haar und ein schmales, energisch wirkendes Gesicht. »Was will der denn dabei?« fragte ich genauso leise. »Sicher eine Skizze anfertigen. Wo sich die versprengten Reste der Südstaatler sammeln.« Der Kartograph hatte einen großen Block und ein paar Meßgeräte bei sich, die mit Fernrohren gekoppelt Höhe und Entfernung einer feindlichen Stellung messen konnten. »Hier sind der Ballonführer und der Scout, die mit aufsteigen werden, Sir!« meldete der Lieutenant, der sich auf einmal reichlich eifrig gab. Colonel Aston Goddard sah trotz des struppigen Schnauzbartes recht väterlich aus, obwohl seine Augen kalt wirkten und ständig nach Fehlern Ausschau zu halten schienen. »Sind wir klar zum Aufsteigen, Sergeant?« fragte der Colonel. »Es ist verdammt windig, Sir.« Sergeant Cane schaute in den verhangenen Aprilhimmel. »Und das kann jede Minute noch
verrückter werden!« »Zunächst einmal merken Sie sich, daß hier außer mir kein Mensch zu fluchen hat, zum Teufel!« sagte der Colonel. »Jawohl, Sir.« Cane salutierte lässig und spuckte auf den Boden. »Also, wann sind wir soweit?« »Sie wollen jetzt …« Sergeant Cane schaute verblüfft auf den Colonel. »Dachten Sie, ich bin hierhergeritten, um Witze mit Ihnen auszutauschen?« »Beeilen Sie sich, Sergeant!« befahl der junge Lieutenant barsch. Auch der rotblonde, arrogant aussehende Bursche des Colonels fühlte sich verpflichtet, böse mit den Augen zu rollen. »Also, wenn Sie meinen, Sir, dann hole ich meine Haltemannschaft«, erklärte Ben Cane. »Aber die Verantwortung für Ihre Sicherheit kann ich nicht übernehmen. Die Windgeschwindigkeit kann schon in fünfzig Yards Höhe doppelt so stark wie am Boden sein. Zudem dreht der Wind ständig und weht einmal hinaus auf die See und dann wieder nach Westen. Wenn meine Leute uns nicht mehr halten können und die Bäume ausreißen, dann …« »Wollen Sie mich mit Gewalt langweilen?« unterbrach der Colonel den Ballonführer. »Los, los!« rief der Bursche und stampfte heftig mit einem Fuß auf. Shita fuhr ihn knurrend an. »Zurück, Shita!« befahl ich erschrocken darüber, daß der Hund dem Burschen des Colonels die Hose herunterreißen könnte. Alle Männer außer Cane blickten böse auf den immer noch knurrenden Bastardhund, der mit steilstehenden Ohren und offener Schnauze die Hose von Poul Tullier, dem Burschen, anvisierte. Ich strich Shita über den Kopf, und er hörte auf zu knurren. »Also, dann gehe ich mal, was?« Sergeant Cane blickte wieder in den verhangenen Himmel. Unter dem eintönigen Grau, das sich von einem Horizont bis zum anderen spannte, jagten dunkle Wolken, die der Wind mitunter in Fetzen riß. Noch immer bogen sich die Wipfel der Pinien rauschend im Wind,
und es pfiff und heulte im Geäst über unseren Köpfen. Weil niemand etwas erwiderte, wandte Sergeant Cane sich ab und verließ uns, um die Haltemannschaft zu holen. »Hat er denn geglaubt, ich käme zum Vergnügen hierher?« wandte sich der Colonel an mich. »Nein, kaum, Sir. Er sprach die ganze Zeit davon, daß wir aufsteigen würden. Aber er hat wohl damit gerechnet, daß Sie entweder gar nicht auftauchen oder die Sache verschieben, bis der Wind nachgelassen hat.« »Colonel Goddard fürchtet Tod und Teufel nicht!« rief der Bursche mit schriller Stimme. »Lassen Sie die blödsinnigen Reden, Tullier!« fuhr der Colonel seinen Burschen an. Tullier zog den Kopf ein. Röte zog über sein Gesicht, verschwand aber wieder. Colonel Goddard blickte zu der sich gewaltig spannenden Hülle des Fesselballons hoch. Die Turbulenzen über dem Wald schüttelten die gasgefüllte Hülle so sehr, daß sich ständig ein Seil spannte und jeweils ein Knacken durch einen Baum ging. »Das ist wirklich ein ziemlich heftiger Wind«, wandte der Kartograph ein. Mit in Falten gelegter Stirn und zusammengezogenen Augen starrte Colonel Goddard ihn an. »Habe ich Sie richtig verstanden? Wollen Sie unten bleiben, Mister Edward?« »Ich meinte nur …« »Was Sie meinten, habe ich verstanden«, unterbrach der Colonel den Zivilisten. »Ich habe Sie aber nicht mitgebracht, damit Sie eine Meinung haben sollen, sondern damit Sie eine Skizze anfertigen, nach der General Sherman in Charleston beurteilen kann, wie viele Tage wir benötigen werden, die versprengten Truppenreste der Konföderierten in die Zange zu nehmen und zu vernichten, was sich nicht ergeben will. Ist das klar?« »Aye, aye, Sir.« Der Kartograph rückte sich die Melone in die Stirn. »Wohin soll denn das führen, wenn jeder eine Meinung haben dürfte«, sagte der Bursche kopfschüttelnd.
Der Kerl wurde mir mit jeder Minute widerlicher. Shita knurrte ihn auch schon wieder an und blickte auf seine Hose, als gäbe es sonst weit und breit nichts Interessantes anzustarren. »Laß ihn, er scheint zäh wie Leder zu sein«, sagte ich leise und kraulte Shita den Nacken. »Das verbitte ich mir, zur Hölle!« schimpfte der Bursche. »Sir, Ihr Bursche flucht«, sagte ich. Colonel Goddard grinste für einen Moment. »Tullier, was fällt Ihnen denn ein, zu fluchen?« »Entschuldigen Sie bitte, Sir. Aber dieser struppige Köter will mir an die Kehle. Das sehe ich doch!« »Was denn, Sie haben Angst vor einem Hund, Tullier?« fragte der Colonel. Die Augen des Burschen flackerten unsicher und zeigten die ganze Angst, die ihn beherrschte. »Der Hund ist lammfromm, Sir«, versicherte ich. »Und er hat der Armee so manchen Dienst erwiesen.« »Ich habe schon von Ihnen und dem Hund gehört, Scout. Reine Wunderdinge, an Ihrem Alter gemessen.« Ich war überrascht von dem Wohlwollen des bärbeißigen Offiziers und sah ihn von einer Minute zur anderen mit neuen Augen. Der Bursche hustete scharf und empört. Der Kartograph grinste freundlich. »Soll ich mal nachsehen, wo der Ballonführer bleibt, Sir?« meldete sich Lieutenant Simon Gage wieder zu Wort. »Ich kann ihn nirgendwo sehen.« »Gehen Sie, Lieutenant.« Simon Gage lief zu den Zelten, über die ein Regenschauer geschleudert wurde. Der Wind peitschte das Wasser aus den Pfützen und warf es gegen die Planen. Eine leere Blechbüchse rollte scheppernd gegen einen Baum. Am Ballon flog ein losgerissener Ast vorbei und verfing sich in den Pinien. Der Ballon wurde so heftig hin und her geworfen, daß die Gondel schon über den Boden schleifte, weil sich ihre Leinen abwechselnd spannten. Poul Tullier schaute nach oben und wischte sich ein paar jäh aufgetauchte Schweißperlen vom Gesicht.
»Ist Ihnen nicht gut, Tullier?« fragte der Colonel mit einem boshaften Grinsen. »Doch, doch, Sir, ich fühle mich bestens«, sagte der Bursche hastig. »Warum schwitzen Sie denn dann? Ist es so warm, daß man schwitzen muß, Ronco?« »Absolut nicht, Sir«, sagte ich und grinste ebenfalls. Tulliers unterdrücktes Fluchen veranlaßte Shita, ihn wiederum knurrend anzufahren. Ich mußte ihm ins struppige Fell greifen, um ihn festzuhalten und eine direkte Attacke auf den Burschen zu verhindern. »Sir, sorgen Sie wenigstens dafür, daß der Köter am Boden bleibt«, sagte der Bursche. »Der hat es auf meine Hose abgesehen.« »Vielleicht kann er nur ängstliche Kerle nicht leiden«, entgegnete der Colonel. Lieutenant Gage tauchte wieder auf und sagte: »Ich kann den Ballonführer nicht finden, Sir.« »Nicht finden?« »Nein.« »Was soll denn das heißen, Lieutenant?« »Ich weiß nicht, wo er steckt, Sir. Offenbar muß er die Haltemannschaft in allen Zelten zusammensuchen.« »Er wird schon bald auftauchen«, sagte ich. »Er ist ja auch eben erst ein paar Minuten weg.« »Sind die Leute nicht einsatzbereit?« fragte der Colonel grollend und mit zitterndem Schnauzbart. »Bei dem Wetter kaum«, erwiderte ich. »Da rechnet. niemand ernstlich mit einem Ballonaufstieg, Sir.« »Aber gerade darin liegt die Chance, die Gegner zu sehen«, erklärte der Kartograph Phil Edward. »Sie werden sich nicht halb so gut wie bei Sonnenschein verstecken!« »Das kann stimmen«, sagte ich. Der Kartograph schaute in den Himmel. »Allerdings muß ich zugeben, daß ich mich alles andere als wohl in meiner Haut fühle.« *
»Mal ordentlich durchgebeutelt zu werden, hat noch keinem Menschen geschadet«, erklärte Colonel Goddard schroff. »Und im übrigen führen wir den Befehl des Generals aus. General Sherman will unsere Meldung bis zum Abend unter allen Umständen haben. Nachdem heute ein Kanonenboot und die ›Eagle‹ versenkt wurden und im Norden offenbar ein Großangriff unserer Truppen auf General Lees Armee bei Appomatox bevorsteht, soll auch hier reiner Tisch gemacht werden.« Ich schaute wieder zu den Bäumen hinauf. Das Heulen in den Wipfeln wollte sich nicht legen. Die schwarzgrauen Wolkenfetzen jagten weiter über uns hin. »Ich suche noch mal«, sagte Lieutenant Gage und entfernte sich. Plötzlich fielen Schüsse. Ich hörte das Pfeifen einer Kugel und ein Klatschen, als der Stamm eines Baumes getroffen wurde. »Achtung!« brüllte der Colonel und warf sich zu Boden. Der Bursche lag schon mit der Nase im nassen Gras und rührte sich nicht. Ich hatte den Colt gezogen und blickte in den westlich gelegenen Wald, in dem ich glaubte, den Feuerschein der Mündungsflammen gesehen zu haben. Pulverrauch wehte zwischen den Stämmen. Der Kartograph hatte seinen Revolver gezogen und stand noch neben mir. Colonel Goddard richtete sich fluchend auf. Da fielen abermals Schüsse. Goddard wurde der Hut vom Kopf gerissen und gegen eine Pinie geschleudert. Fluchend ließ sich Goddard auf die Knie fallen. »Sir, das gilt Ihnen!« rief ich. »Die scheinen zu wissen, daß Sie hier sind und wollen Sie töten!« Shita sprang in die Luft und kläffte. Ich lief vorwärts, drückte ab, stürmte durch den Pulverrauch und drang in den halbdunklen Wald ein. »Zurück, Ronco!« brüllte der Colonel hinter mir. Ich achtete nicht darauf, lief weiter und sah vor mir eine Gestalt, die schoß. Der rotgelbe Flammenblitz beleuchtete ein verzerrtes Gesicht mit funkelnden Augen. Die Kugel streifte meinen Hals. Ich
zuckte zusammen und drückte ab. Die Waffe in meiner Hand zuckte und entlud sich donnernd. Die Gestalt vor mir strauchelte und prallte gegen einen Baum. Shita raste ohne Befehl dazu vorwärts und wollte den Mann anspringen. Aber der war von der Kugel tödlich verletzt worden und stürzte zur Seite, als Shita noch auf ihn zuflog. Das Tier prallte gegen das knackend brechende Geäst und stürzte auf den Toten, der jetzt steif auf dem Rücken lag. Mit dem Revolver in der Faust war ich stehengeblieben und schaute mich um. Der Mann vor mir trug eine graue Uniform, und neben ihm lag ein Hut mit goldgeränderter Kokarde und der Aufschrift CSA darin. Shita schnüffelte an dem Toten. Phil Edward tauchte mit dem Revolver in der Hand auf. »Das ist ja ein regulärer Soldat«, sagte er verblüfft. »War er.« »Was?« »Ich sagte, er war ein regulärer Soldat«, erwiderte ich. »Jetzt ist er nur noch eine Leiche.« »Ach so.« Edward steckte den Colt in die Halfter. »Aber wieso wagen sich Soldaten bis hierher. Sind die denn so nah?« »Zumindest schaffen sie es, sich unbemerkt zu nähern.« Rufe schallten durch den Wald. Herumliegende Äste, die losgerissen waren, knackten unter Stiefeln. Dutzendweise näherten sich Soldaten aus dem Camp. Ich rief Shita an meine Seite, damit nicht noch einer auf den Gedanken verfiel, den Hund erschießen zu müssen. * »Sir, das galt ohne jeden Zweifel Ihnen«, sagte der Kartograph, als wir den Ballon wieder erreicht hatten und ein großer Teil der angerückten Soldaten uns umstanden. »Meinen Sie?« Colonel Goddard runzelte die Stirn. »Dann müßten diese versprengten Reste der Südstaatler aber teuflisch gut informiert sein. Sie müßten wissen, warum ich hier bin.«
»Jawohl«, stimmte Lieutenant Gage sofort zu. »Vielleicht wartet man nur darauf, daß Sie mit dem Ballon aufsteigen, Sir! Um Sie zu töten! Sie werden immerhin ein ganz prächtiges Ziel da oben bieten. Bedenken Sie, es sind im letzten Jahr Gewehre entwickelt worden, mit denen ein sehr guter Schütze fast eine Meile weit treffen kann.« »Theoretisch, Lieutenant, theoretisch!« sagte der Colonel. »Wo steckt denn der Ballonführer nun?« »Hier, Sir!« meldete sich Ben Cane hinter der Mauer aus stoppelbärtigen Soldaten, die uns umstanden. »Nun bewegen Sie sich schon, Teufel noch mal!« sagte Goddard. »Sie wollen also trotzdem, Sir …« Der Bursche starrte seinen Vorgesetzten an und verschluckte, was er noch hatte sagen wollen. »Aber Sie werden da oben vielleicht auf meine Dienste verzichten können, Sir?« Goddard grinste den Kerl kalt an. »Ich brauche Ihre Dienste immer und überall, mein lieber Tullier. Und deshalb werden Sie mich selbstverständlich begleiten.« Inzwischen drängte Ben Cane durch die Menschenmauer, und mit ihm zehn herkulische Männer, die dazu auserkoren waren, die Seile des Ballons zu halten und bei Bedarf zu helfen, den Ballon zu bergen, ohne daß das ganze Gas abgelassen werden mußte. »Sind wir dann endlich soweit?« fragte der Colonel barsch. »Die Tage sind jetzt noch nicht so lang, daß wir uns hier verewigen könnten, Sergeant!« »Es kann sofort losgehen, Sir, nur einen Moment noch.« Ben Cane holte mit einem Sprung in die Höhe das Ende der Strickleiter von der Brüstung der Gondel herunter und hielt sie. Die herkulischen Männer griffen nach den Fesselleinen, die aufgeschossen auf dem Boden lagen und deren Länge die Höhe begrenzte, die der Ballon steigen konnte, ohne zugleich vom Sturmwind weggetragen zu werden. Colonel Goddard schien wirklich keinerlei Furcht zu kennen, denn er kletterte ohne zu zögern die Strickleiter hinauf und in die Gondel. »Oh, hier ist ja eine Menge Platz!« rief er hinunter. »Und hinter den dicken Wänden und den Schilden ist man auch sicher. Tullier, vorwärts, damit wir Sie nicht vergessen!«
Ich lächelte den Burschen scharf an. Der arrogante, ängstliche Kerl hatte sich eben hinter dem Lieutenant verdrücken wollen. Shita schien ihn nicht ausstehen zu können, denn er wollte ihn gleich wieder anfahren. Ich verhinderte das, indem ich Shita die Hand auf den Kopf legte und ihn kraulte. »Vorwärts, Tullier, wir wollen heute noch zurück!« befahl der Colonel. Ben Cane hielt die Strickleiter und grinste den Burschen höhnisch an. »Darf ich bitten, Sir!« Fluchend kletterte der rotblonde Kerl die schwankende Strickleiter hinauf und wurde von Goddard über den Rand der Brüstung in die Gondel gezogen. »Hier sind wir fast so sicher wie in einer Festung, was?« rief der Colonel und ließ seinen Worten markiges Gelächter folgen. »Sie können mich hier wirklich überhaupt nicht gebrauchen, Sir!« protestierte der Bursche. Der Kartograph kletterte die Leiter hinauf und verschwand in der Gondel. »Aber die Bestie bleibt hier, Sir«, sagte der Bursche. »Befehlen Sie diesem jungen Scout, daß er den tollwütigen Hund unten lassen soll. Der hat es auf meine Hose abgesehen!« Die herumstehenden Soldaten lachten über die auffällige Angst des Burschen. »Ronco, der Hund bleibt da!« sagte der Colonel laut. Lieutenant Gage kletterte über die Strickleiter in die Gondel. Ich befahl Shita, zu warten, und kletterte hinter dem jungen Offizier her. »Und ihr Tagediebe haltet schön fest!« befahl der Ballonführer seiner herkulischen Mannschaft. »Überlaßt das nicht nur den Bäumen. Ihr wißt, daß der Colonel wichtig ist!« Shita stand mit wedelnder Rute, gespitzten Ohren und wimmerndem Geheul unter uns. Der Ballonführer stieg ein. »Haltet noch!« rief er. »Sind wir alle an Bord, Sir?« »Überprüfen Sie alles und dann nichts wie hoch!« kommandierte der Colonel. In den Wipfeln rauschte der Wind noch immer.
Shita troff in der Aufregung Speichel vom Maul, und er konnte nicht mehr auf einem Fleck stehen. Ben Cane lief rundum an der Brüstung entlang und kontrollierte die angehängten Sandsäcke, die Seile und Schilde, die Deckung vor feindlichem Beschuß bieten sollten. Der Kartograph stellte einen Block innen an der Wand auf den Boden und gab dem Burschen das eine Meßgerät, während er das andere einstellte. »Es ist alles in Ordnung, Sir!« meldete der Ballonführer. »Wenn Sie wollen, kann es jetzt losgehen. Ich möchte Sie aber noch einmal eindringlich …« »Genug davon!« schrie der Colonel. »Vorwärts, Sergeant! In ein paar Minuten ist alles vorbei und wir sind wieder am Boden. Lassen Sie aufsteigen!« »He, ihr habt es gehört!« rief Cane seinen Haltemännern zu. »Erst mal bis über die Bäume!« Die Männer stemmten sich gegen den zu erwartenden Zug und spannten die Seile. Vier Mann kappten die Haltetaue an den Bäumen. Shita kläffte und sprang mit einem gewaltigen Satz in die Gondel. In derselben Sekunde stieg der Ballon schon auf, und die Halteleinen liefen den herkulischen Männern am Boden durch die Finger. »Langsamer, langsamer!« schrie der Ballonführer hinunter. »So eilig haben wir es nicht, Leute!« Aber der Ballon war prall mit Gas gefüllt und stieg das erste Stück sehr schnell. Die Hülle und das Netz darüber streiften an den Bäumen entlang. Äste verfingen sich in den Maschen und wurden abgerissen. Ich hatte Shita rasch neben mich gezogen und schärfte ihm ein, den Burschen in Ruhe zu lassen. »Das ist eine Unverschämtheit!« schimpfte Tullier. »Der Colonel hat ausdrücklich befohlen, daß die Bestie unten bleiben soll!« Niemand achtete mehr auf den Burschen. Alle blickten gespannt auf die vorbeiwandernden Äste. Kaum hatten wir die Wipfel erreicht, fuhr der Wind heulend in die Gondel, und der Ballon wurde nach Westen gebeutelt. »Verdammt, der Wind hat gedreht und weht landeinwärts!« sagte
der Sergeant. »Habe ich nicht angeordnet, das Fluchen wäre mir zu überlassen?« brüllte Colonel Goddard gegen den scharf peitschenden Wind, der uns kalt durch die Kleider fuhr und bis ins Mark ging. »Bei so einem Mistwetter muß ich fluchen können«, sagte der Sergeant. Die Wipfel lagen unter uns. An den Tauen hingen die herkulischen Männer. Sie liefen zur Ostseite der kleinen Lichtung, weil die Seile westwärts in den Wald zogen und die Gondel mit uns in westlicher Richtung bereits über den Wipfeln schwebte. »Höher, höher!« befahl der Colonel. »Sir, wenn wir Pech haben, reißt sich der Ballon los, und wir schweben über den ganzen Kontinent!« rief Ben Cane: »Haben Sie nicht so eine verdammte Angst!« brüllte Goddard den Ballonführer an. »Sonst lasse ich Sie an einer Leine hinunterklettern und übernehme selbst das Kommando. Höher, vorwärts!« »He, lockerer lassen!« rief Ben Cane kopfschüttelnd nach unten. Die Männer am Boden ließen Leine nach. Unser Ballon schwebte höher, und wir vermochten ein ständig größer werdendes Stück des Waldes im Westen zu überschauen. Ich blickte zur anderen Seite und sah hinter den Hügeln das Meer. Die Brandung stob an den Klippen hoch und entfesselte ein Donnern und Brausen, das mit dem Wind an unsere Ohren getragen wurde. Weiter draußen standen Schaum und Gischt zwischen dem Grau von Himmel und Meer. Es war kein einziges Schiff zu sehen, so weit der Blick reichte. Turbulenzen packten den Ballon und schleuderten ihn zur Südseite. Die Gondel schwankte, wurde aber von den Seilen gehalten und so am Durchschaukeln gehindert. Wir stiegen weiter, und der Wind nahm zu, weil die abbremsende Kraft der Wipfel immer mehr fehlte. Dafür wurde aber auch unser Blick freier. Colonel Goddard hatte sich ein Fernrohr von der Gondel abgeklemmt und blickte hindurch. Hinter dem Wald war dichtes Buschland zu sehen. Aber in den Regenwänden ließen sich keine Einzelheiten erkennen. »Sollen wir immer noch steigen, Sir?« fragte der Sergeant.
»Ja, höher!« Cane schaute nach unten und winkte in den Himmel. Der Kartograph hob seinen Block auf und zog unter den Zeichenblättern eine Karte hervor. Er fuhr mit dem Finger auf ihr entlang, zeigte dann nach Südwesten und sagte: »Dort, hinter den Büschen, beginnt das Sumpfland, Sir.« »Kann man das jetzt nicht mehr überschreiten?« »Der Regen ist ziemlich warm, Sir. Man muß befürchten, daß er Erde und Sumpf tief aufweicht. Den Sumpf überreiten zu wollen, ist sehr gefährlich. Vielleicht zu riskant.« Colonel Goddard spähte wieder durch das Fernrohr. Wir stiegen immer noch. Ich sah die Menschen schon wie Spielzeugpuppen auf der Lichtung. Genauso klein wirkte das östlich des Waldes gelegene Unionscamp, von dem alles zu unserem schwebenden, gebeutelten Ungetüm herauf schaute. Der Wind drehte jäh wieder auf West und jagte unseren Ballon in eine neue Richtung. Die Seile streiften Äste und Wipfel und rissen alles ab, was morsch war. »Gut festhalten, ihr Höllenhunde!« rief Ben Cane hinunter. »Der Satan soll euch holen, wenn ihr loslaßt.« »Ich glaube, ich muß Ihnen wegen Ungehorsam ein paar Tage Arrest verpassen, Sergeant!« sagte Colonel Goddard und ließ das Fernrohr sinken. »Jawohl, Sir«, sagte Ben Cane unbeeindruckt. »Sollen wir immer noch steigen?« »Ich muß sehen können, was im Nordwesten hinter dem Wald ist, Sergeant. Vielleicht kommen wir dort mit einer großen Einheit eher im Sturmangriff heran.« Phil Edward hatte die Karte inzwischen dem Burschen gegeben und begann eine Skizze anzufertigen. Sein Unterfangen war wegen des Regens sehr mühsam. Ganze Schauer wurden ihm auf das Papier geschüttet und weichten es auf. Hier und da drückte er es mit dem Stift durch und hatte Löcher und Risse darin. »Sir, das Wetter kann wirklich kaum schlechter sein«, sagte der Kartograph. »Es wird schon gehen. Strengen Sie sich ein bißchen an, Mister
Edward. In ein paar Minuten haben wir alles erfaßt und können wieder hinunter.« Goddard setzte das Rohr an und peilte nach Nordwesten. »Wenn die Wipfel dort weniger hoch wären, könnte man eine Menge mehr sehen. Lassen Sie uns noch ein Stück steigen, Sergeant!« »In Ordnung, Sir. He, Leute, Leine nachlassen!« »Wir sind gleich am Ende!« brüllte einer der herkulischen Männer zu uns herauf. »Wenn wir noch Leine stecken sollen, muß Burt erst ins Depot. Hier liegt nichts mehr herum, Ben!« »Sir, reicht es denn wirklich nicht?« fragte der Sergeant. »Es wird immer windiger, je höher wir gelangen!« Unser Ballon wurde inzwischen vom drehenden Wind wieder nach Süden gebeutelt und riß neues Geäst von dem Bäumen, das auf die Männer am Boden niederprasselte. »Wir müßten noch etwas höher«, sagte nun auch der Kartograph. »Aber Sie haben doch eine Generalstabskarte dabei!« protestierte jetzt der junge Lieutenant, der weiß um die Nase aussah und sich krampfhaft an einem Tau festhielt. »Ja, ich habe eine sehr genaue Karte«, erwiderte Edward. »Aber was weiß ich, was von den Konföderierten inzwischen aus dem Gelände gemacht wurde, Mister Gage. Es können Löcher gegraben worden sein. Ganze Stolperfallen.« »Sie planen wohl einen Nachtangriff?« fragte ich. Goddard fuhr herum. Er und der Kartograph starrten mich an. »Ach deswegen«, sagte der junge Lieutenant. »Wer hat Ihnen denn das erzählt?« fragte Colonel Goddard fluchend. »Niemand. Aber es war alles ziemlich seltsam. Die Hektik und daß es unbedingt an einem so ungünstigen Tage sein muß, an dem kein Mensch glaubt, daß ein Ballon aufsteigt. Und dann die Karte. Es gibt keine andere Erklärung dafür.« Goddards Blick wurde freundlicher und sein Fluchen leiser. »Wenn davon ein Mensch erfährt, reiße ich euch allen den Schädel ab. Jedem, der hier ist, damit ihr mich richtig versteht. Los, Sergeant, wir müssen höher!« »Holt noch Leinen!« brüllte der Sergeant hinunter.
Plötzlich fielen wieder Schüsse. Kugeln pfiffen uns um die Köpfe. Tullier ließ sich mit einem Schrei auf die Knie fallen, sprang aber sogleich wieder in die Höhe, als Shita ihn knurrend anfuhr. Die Kugeln trafen ratschend die Gondel und prallten singend von den Schilden ab. »Verdammt, wenn die den Ballon treffen, fallen wir in den Wald!« rief Cane. Niemand hörte auf ihn. Wir hatten die Gewehre ergriffen, die in der Gondel standen, und schossen wahllos in Westrichtung in den Wald. Der Wind drehte auch gerade wieder und trieb uns zu allem Überfluß den heimtückischen Schützen genau entgegen. Unsere Helfer auf dem Boden gaben uns Ratschläge, die im Fauchen des Sturms und im Knattern der Schüsse untergingen und außerdem keinen Menschen interessierten. Da wurde das erste, straff gespannte Tau zerrissen und fiel in den Wald. »Es sind Scharfschützen!« schrie Lieutenant Gage. »Sir, die wollen Sie töten!« Goddard war ein unerschrockener Kämpfer, der sich nicht um die eigene Sicherheit scherte, sondern wie wir aus einem Gewehr in den Wald feuerte. Da aber ein Seil fehlte, vermochten die Männer am Boden der aufwärts strebenden Kraft nichts entgegenzusetzen. Ein Mann lag auf dem Boden. Er war gestürzt, als kein Zug mehr auf seiner Leine gewesen war. Einem anderen rauschte das Tau durch die Hand und der dritte schwebte über den Boden und strampelte mit den Füßen. Wieder traf eine Kugel ein Tau und fetzte es auseinander. Da war es mit den beiden anderen vorbei. Die herkulischen Helfer konnten nicht länger halten. Da sie auch nicht in die Lüfte getragen werden wollten, sprangen sie ab. Rasch stiegen wir. Die Seile spannten sich abermals, da sie noch an den Pinien befestigt waren. Aber die Schlaufen zogen sich zusammen und schnitten die dünnen, morschen Stämme einfach durch. Frei schwebten die Leinen und stiegen mit unserem Ballon hoch. Auf dem Boden schrien und winkten die Menschen, aber der
Ballon trieb schon weg von der Lichtung. Sekunden später war unter uns nur noch Wald. Und aus diesem schossen die heimtückischen Schützen, die uns ein Abenteuer bescherten, dessen Ausgang völlig offen war.
2. »Gute Nacht, Leute«, sagte der Sergeant. »Jetzt geht die Fuhre nach Kalifornien ab, Sir! Hoffentlich landen wir nicht im Pazifik bei den Haien!« Ich sah in einer Baumkrone einen Konföderierten, der das Gewehr anschlug. Meine Waffe fuhr herum und entlud sich. Der Scharfschütze wurde aus dem Geäst geschleudert. Der heulende Wind jagte uns nach Westen, drehte und ließ uns einen Bogen nach Süden beschreiben. Jetzt schwebten wir genau jenen Buschgürteln entgegen, hinter denen der Sumpf lag, von dem keiner wußte, ob er noch hartgefroren oder bereits aufgeweicht war und uns sozusagen mit Mann und Maus in die Tiefe ziehen konnte. Aber in den Büschen wurde es lebendig, noch bevor wir sie erreichten. Als würden Ameisen aus ihren Löchern kriechen, so tauchten sie überall auf in ihren verschmutzten grauen Uniformen, schlugen die Gewehre an und schossen. »Wir müssen höher, sonst fallen wir denen in die Hände!« schrie der Colonel. »Die müssen ja irgendwann die Hülle zerschießen. Höher, Sergeant!« »Hängt in Drei-Teufels-Namen die Sandsäcke ab«, sagte der Sergeant. Ich stellte das Gewehr ab, beugte mich aus der Gondel und hängte den ersten Sandsack von seinem Haken. Die Südstaatler beschossen uns, was das Zeug hielt. Ich ließ den Sandsack in den Wald fallen, über den die noch an der Gondel hängenden Seile schleiften. Schon hatte ich den nächsten Sack abgehängt und warf ihn hinter dem ersten her. Auch die anderen Männer warfen den Ballast ab, und tatsächlich gewannen wir kurz vor dem Ende des Waldes an Höhe und wurden über das nun erst sichtbar werdende Lager der Konföderierten
getragen. Die Kugeln trafen den Boden der Gondel. Shita vollführte kläffend Luftsprünge. Wir schossen hinunter, nun allerdings weit wirkungsloser als vorher. Indessen stieg unser Ballon höher und höher, und das Lager der Südstaatler, das Buschland vor den Sümpfen, der Wald und das Lager der Union schrumpften vor unseren Blicken zu scheinbarer Bedeutungslosigkeit zusammen. »Wir müssen Gas ablassen!« rief der junge Lieutenant. »Sind Sie wahnsinnig?« fuhr der Colonel ihn an. »Damit wir den Rebellen in die Hände fallen, was?« »Ich werd noch verrückt«, sagte der kreidebleiche Tullier. »Ich verliere den Verstand, Sir!« »Damit geht der Menschheit nichts verloren«, erwiderte Goddard grob. »Reißt euch gefälligst zusammen, Gentlemen. Ihr tut ja so, als wären wir bereits in der Hölle.« Wir hatten die Waffen leergeschossen. Hinter dem dahintreibenden Ballon zerflatterte der Schwarzpulverrauch im Winde. Ben Cane griff nach der Leine, mit der er das Ventil des Ballons öffnen und Gas aus der Hülle ablassen konnte, um damit ein Sinken zu bewirken. »Warten Sie, bis ich den Befehl gebe!« herrschte der Colonel ihn an. »Die kriegen uns doch, wenn wir hier in der Nähe landen. Und mehr sollte das ganze Manöver sicher auch nicht bewirken. Ein Offizier vom Stab des General Sherman! Ha, von dem könnten die Rebellen eine Menge erfahren, wenn er ihnen lebend in die Hände fällt. Was, Lieutenant, ist doch so?« »Ich würde schweigen wie ein Grab, wenn ich dem Feind in die Hände falle, Sir!« Colonel Goddard nickte höhnisch. »Das haben Sie jedenfalls vor, Mister Gage. Aber wenn die Rebellen Ihnen die Daumenschrauben ansetzen, dann fallen Ihnen die Worte nur so aus dem Munde.« »Sir, ich …« »Reden Sie keinen Blödsinn!« schnitt Goddard dem jungen Offizier das Wort ab. »Wenn die anfangen, ihre Opfer zu quälen, dann redet am Ende jeder. Und die würden uns foltern, Mister Gage. Mit Sicherheit. Weil sie vieles wissen wollen!«
Unser Ballon trieb indessen in einem großen Bogen nach Süden ab, über Hügel, Buschland und Kieferngehölze, die der Sturm beutelte. Wir hatten inzwischen eine Höhe von ungefähr einhundertfünfzig Yards erreicht und stiegen immer noch. Charleston war am brandenden Meer deutlich zu erkennen. Wellen schlugen über die Mole und ließen die Schiffe im Hafen Tänze aufführen. Wir beobachteten den sich rasch entfernenden Waldsaum. »Können diese Narren uns nicht Reiter nachschicken?« sagte Colonel Goddard. »Die haben auch nichts als nasses Stroh in den Schädeln!« Der Ballon schwebte über einen Hügel, geriet in eine Aufwindphase und wurde abermals zwanzig Yards höher getragen. Poul Tullier hing über der Brüstung der Gondel und übergab sich. Als es aussah, als würde er das Übergewicht zu verlieren und aus der Gondel stürzen, riß der Colonel ihn zurück. Tullier sah grün im Gesicht aus. Schaum stand vor seinen Lippen, die nackte Angst leuchtete aus seinen Augen. »So leicht stirbt es sich nicht, Tullier«, sagte der Colonel in seiner groben Art. Tullier taumelte durch die Gondel, prallte gegen die andere Brüstung und wurde von einem der Schilde daran gehindert, in die Tiefe zu stürzen. Unsere abenteuerliche Reise führte einem neuen Lager entgegen, von dem offenbar niemand im Stab etwas gewußt hatte. »Sind es Rebellen, Sir?« fragte der Lieutenant. Colonel Goddard setzte das Fernrohr an und spähte zu dem sich rasch vergrößernden Lager, das auf uns zuzuhalten schien und nicht umgekehrt. »Verdammt, auch Rebellen!« sagte Goddard, klemmte das Rohr in die Halterung, nahm das Gewehr und lud es. Eine Kanone war im Zeltlager der Konföderierten zu erkennen. Das Lager war von Hügeln und dichten Buschketten gut gegen Landsicht geschützt. Wir sahen, wie die Kanone mit dem Rohr zum Himmel gerichtet und geladen wurde.
»Los, Feuer!« befahl Goddard. »Die wollen uns abschießen!« Wir legten die Gewehre an und schossen auf die Geschützstellung. Ein Gunner wurde getroffen und kippte auf die Lafette. Die anderen aber arbeiteten unbeirrt weiter an dem Geschütz und richteten das Rohr auf uns ein. »Können Sie uns denn nicht ein bißchen von dem Camp weglenken, zum Satan?« fragte Goddard den Sergeant. »Ich kann ja abspringen und versuchen, uns nach Osten zu ziehen, verdammt!« erwiderte Ben Cane. »Aber ich habe kein Seil, das lang genug wäre, Sir!« Fluchend feuerte der Colonel auf die Gegner in der Stellung. Da entlud sich die Kanone mit einem Donnerschlag, und die ganze Stellung stand wie in einer Nebelbank in dichten Rauch gehüllt. Die Kugel verfehlte den Ballon um Haaresbreite und barst erst dreißig Yards höher auseinander. Der Splitterregen verteilte sich in alle Richtungen. Unter uns blieb die Stellung mit dem Camp zurück. Soldaten schossen auf uns, aber wir trieben davon. »Und nun?« fragte Ben Cane. Goddard schaute nach oben. »Er scheint noch heil zu sein, was?« Cane blickte ebenfalls hoch. »Sieht so aus, Sir. Aber sicher ist das nicht.« »Was heißt das?« »Wenn ein Splitter die Hülle getroffen hat, muß es nicht unbedingt ein großes Loch sein. Es kann sich um ein klitzekleines handeln, durch welches das Gas nur langsam ausströmt. In ganz winzigen Mengen, so daß wir es erst nach Stunden merken.« »Kann uns egal sein, wir wollen sowieso bei der erstbesten Gelegenheit hinunter.« Unsere Blicke suchten das Gelände ab. Wir hofften, eine von unseren Leuten besetzte Siedlung zu sehen, in deren Nähe wir hätten landen können. Oder ein Camp, einen Konvoi, irgend etwas, wo mit Schutz gegen konföderierte Verfolger zu rechnen war. Aber wir sahen nur eintöniges, nasses, windgepeitschtes Land. Unsere Gondel schwankte unter dem Ballon dahin wie eine Luftschaukel. Mir war auch schon reichlich elend zumute. Auf einem
Schiff konnte es bei diesem Sauwetter kaum schlimmer sein. Lieutenant Gage sah zum Erbarmen aus, versuchte aber mannhaft, die Übelkeit zu unterdrücken. Der Kartograph schluckte und hielt sich krampfhaft fest. Sein Skizzenblock lag mit zertrampelten Blättern unbeachtet und überflüssig geworden auf dem Boden der Gondel. Nur dem alten Haudegen, Colonel Goddard, und dem Ballonführer Ben Cane schien das alles absolut nichts auszumachen. »Soll ich nun endlich?« fragte Cane, der wieder nach der Leine des Ablaßventils gegriffen hatte. »Sind Sie des Teufels, Mann? Wenn wir hier landen, sind wir in einer halben Stunde Gefangene unserer Feinde.« »Und wenn der Wind noch ein bißchen dreht, fegt er uns aufs Meer hinaus, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Oder merken Sie nicht, wie er uns immer mehr herumschiebt.« Ich wandte den Kopf, um Ben Canes Worte nachzuprüfen. Tatsächlich waren wir dem tobenden und heulende Meer näher gerückt. In den höheren Luftschichten drehte der Wind weiter herum. Obendrein schob sich die Küste immer weiter nach Westen zurück und rückte auch dadurch automatisch näher. Ich blickte auf den Hund, der gegen die Wand gepreßt auch seine Not zu haben schien, auf den Beinen zu bleiben. Der Speichel troff ihm unablässig vom Maul, was seine Erregung unmißverständlich dokumentierte. »Wir fliegen aufs Meer, Sir!« schrie Tullier hysterisch. Er war so sehr von seiner Angst gebeutelt, daß ihm die Scheu vor dem Offizier zu vergehen schien. »Verdammt, heulen Sie mir nicht die Ohren voll, Tullier!« brüllte der Colonel den grüngesichtigen Kerl an. »Wie habe ich nur so etwas in meine Nähe kriegen können.« »Sir, wir müssen hinunter«, sagte der Sergeant grimmig. Der Colonel konnte sich wegen der Gegner dort unten nicht entschließen, die Landung zu befehlen. Auch ich konnte mir gut vorstellen, daß die Konföderierten bereits unterwegs waren, um uns abzufangen. Das freilich war für den Colonel und vielleicht für Phil Edward schlimmer als für uns, falls wir nicht als lästige Zeugen
angesehen und einfach liquidiert wurden. Für die Konföderierten hatte der Krieg ein Stadium erreicht, in dem sie keine Rücksichten mehr kannten. Aber das einem brodelnden Hexenkessel ähnliche Meer rückte unaufhaltsam heran. Da geschah etwas Unerwartetes. Der Wind drehte so plötzlich, daß ein Ruck durch unseren Ballon ging und die Gondel infolge der jähen Abbremsung hoch in die Luft geschleudert wurde. Der Sturmwind hatte nach Ost gedreht und riß den Ballon sofort wieder vorwärts, direkt auf das Meer zu. Die Gondel erhielt wieder einen Ruck, schwang unter dem Ballon weg und voraus in die Höhe. Tullier schrie wie am Spieß. Wir alle krampften uns an den Leinen und der Brüstung fest. Die Gondel schwang hin und her, bis der Sturmwind eine solche Geschwindigkeit erreichte, daß der Ballon mit seiner leichten, großen Angriffsfläche schneller als sein schweres Anhängsel dahingeblasen wurde. Als Ben Cane endlich wieder nach der Leine des Ablaßventils greifen konnte, war unter uns schon das grünblaue, tobende Wasser, mit seinen dahinfliegenden weißen Schaumkämmen. »Und jetzt?« brüllte der Sergeant gegen den Sturm an. Wir starrten alle hinunter in die brodelnden Elemente, die uns noch viel mehr Angst einjagten als alles andere, was bis zu dieser Minute geschehen war. Kein Schiff, kein Boot, kein Eiland war in Sicht. Hinter uns entfernte sich der Küstenstreifen mit der donnernden Brandung in Windeseile. »Verloren!« schrie Tullier. »Wir sind verloren, Sir! Die Haie werden uns fressen!« »So ein verfluchter Mist!« schimpfte Colonel Goddard. »Wir müssen runter, Sir!« schrie Tullier. Die wahnsinnige Angst ließ ihn den Ballonführer angreifen. Er wollte die Leine an sich bringen, aber Ben Cane schmetterte ihm die Faust ans Kinn. Tullier flog gegen die Wand und brach zusammen. Shita war es so elend, daß er kein Interesse mehr zeigte, den Kerl anzugreifen. Tullier winselte und gab sich ganz seinem Elend hin.
Der Regen traf ihn peitschend ins Gesicht und verwischte die Tränen, die über seine Wangen rollten. Der Ufersaum entfernte sich wie eine Fata Morgana. Eine südwestliche Strömung trug uns hinaus, zweihundert Yards über dem sturmgepeitschten Atlantik, einer Ungewissen Zukunft, vielleicht dem Tod entgegen. Als mir klarwurde, daß unser Schicksal in der verhangenen, gischtumwölkten Ferne des Ozeans enden und der Sergeant zudem sagte, daß auf dem offenen Meer der Wind nur selten ständig hin und her springen würde, und das bestimmt nicht bei einem solchen Sturm, da setzte ich mich zu Shita auf den Boden und kraulte ihm das durchnäßte Fell. Erst dabei fiel mir auf, daß ich selbst naß bis auf die Haut war. Auch die anderen setzten sich auf den Boden der Gondel. Nur der Colonel stand noch. Er schien sich als letzter gegen das ungnädige Schicksal auflehnen zu wollen. »Verdammter Mist«, murmelte der Sergeant. »Aber ich habe ja gleich gesagt, daß es Wahnsinn sei!« »Ich befehle Ihnen, die Klappe zu halten!« brüllte Colonel Goddard ihn an. »Wenn die Hülle noch eine Stunde zusammenhält, sind wir so weit von den USA weg, daß Ihre Befehle einen Dreck wert sind, Sir«, erwiderte Ben Cane ungerührt. Goddard sah aus, als wolle er ihn anspringen. Ben Cane rappelte sich auf. Ich erhob mich ebenfalls. Ich wollte sehen, wo das Ende lauerte und nicht den Kopf hinter den Planken verstecken, die am Ende doch keinen Schutz boten. Wir schienen in einer sanften Schleife abermals mehr nach Westen als nach Osten abzutreiben. Das Ufer war hinter dem Vorhang von Nebel und Gischt untergetaucht, so daß ich keine Ahnung hatte, wie weit es weg sein mochte. Ben Cane griff in eine an der Brüstung befestigte Ledertasche und zog einen Kompaß heraus. »So ein Ding gehört eigentlich fest montiert«, sagte Colonel Goddard. »Es ist ja seinem Zweck nach nur ein Fesselballon, Sir«,
widersprach Sergeant Cane. »Zur Feindbeobachtung bei entsprechend gutem Wetter.« »Wenn Sie das noch mal sagen, werfe ich Sie aus der Gondel!« knurrte Goddard den Sergeant an. »Denken Sie, es macht einen großen Unterschied, wo man ins Meer fällt, Sir? Früher oder später landen wir da unten, ob der Ballon nun beschädigt wurde oder nicht.« »Aber wieso denn?« fragte der junge Lieutenant, der sich ebenfalls wieder aufrappelte. »Ballons haben es an sich, im Laufe der Zeit das Gas wieder zu verlieren.« »Und wie lange kann das dauern?« fragte Lieutenant Gage zaghaft. Cane hob die Schultern an und verzog das Gesicht. »Es kann zwei, drei oder vier Stunden dauern oder aber auch zwei Tage. Jeder Ballon ist anders dicht. Sicher ist nur, daß keiner absolut dicht ist.« Der Sturm trug uns weiter und weiter, aber da um uns nur Wasser, sprühende Gischt, grauer Himmel und pfeifender Sturm waren, konnten die Schrecken nicht mehr zunehmen. Und doch schauten wir mit Grauen hinunter und prüften, ob wir schon sanken. Im Nordosten braute sich im Grau des Himmels tiefe Schwärze zusammen. »Wird es denn schon Nacht?« fragte Tullier bebend. Der Kartograph zog eine goldene Uhr aus der Tasche. Als er den Sprungdeckel aufschnappen ließ, glitt die Uhr aus seinen nassen, zitternden Händen und pendelte an der goldenen Kette. »Es ist bald sechs«, erklärte der Sergeant. »Das ist die Nacht noch nicht. Aber weit ist sie nicht mehr entfernt.« »Wenn es nicht die Nacht ist, was dann?« fragte Tullier. »Eine Gewitterfront«, sagte Ben Cane. »Dann wird uns ein Blitz treffen, und das Helium explodiert!« Tulliers Gesichtsfarbe wechselte innerhalb einer Minute mehrmals, er wurde bleich, dann rot, dann wieder grüngrau. »Wir werden explodieren!« schrie er mit Schaum vor dem Mund. »Abbrennen! Ich springe hinunter!« Er wollte über die Brüstung, aber der Colonel riß ihn zurück und schlug ihn zusammen.
»Waschlappen«, sagte Goddard verächtlich. Im Norden zuckte ein Blitz zum Wasser hinunter und entferntes Donnergrollen erreichte uns. »Es muß nicht hierher treiben«, sagte Ben Cane. »Eher zieht es mit uns nach Nordosten und bleibt die ganze Zeit über einige Meilen entfernt.« Wir blickten wie gebannt auf die Wolkenbank, und jeder dachte an das, was Poul Tullier über den Blitzeinschlag gesagt hatte. Ich stellte mir vor, daß die Explosion einen riesigen Feuerball entfesseln und uns wie Steine ins Meer fallen lassen würde. Tullier hatte sich wieder aufgerappelt und blickte auf die schwarze Wolkenbank. Aus dieser zuckte ein neuer Blitz und fuhr ins Wasser. Der Wind verwehte das Donnergrollen. »Es kommt auf uns zu!« jammerte Tullier. »Das Gas und der nasse Ballon werden den Blitz anziehen!« »Auf dem Meer zieht am meisten das Wasser den Blitz an, das müßt ihr euch mal merken«, erklärte der Ballonführer, der doch ein bißchen besonnener als jeder von uns war, ausgenommen natürlich der bärbeißige Colonel, der wie ein Fels in der Brandung in unserer Gondel stand. »Ich verstehe das nicht«, sagte der Kartograph kratzig. »Was heißt das für uns?« »Das heißt, daß der Blitz keinen Umweg macht«, erwiderte Ben Cane. »Nicht den kleinsten. Der fährt aus der Entladungszone direkt nach unten. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, daß er die Hülle trifft, denkbar gering.« »Wir können nicht explodieren?« fragte Poul Tullier ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen. »Kaum. Wir müßten schon mitten in das Gewitter hineingeraten. Und danach sieht es nicht aus. Es zieht mit uns nach Nordosten.« Es war merklich dunkler geworden, woran nur die riesige schwarze Wolkenbank schuld sein konnte. Ich blickte auf Shita. Wenn der Hund so hätte nachdenken können wie wir, hätte er sicher längst bereut, gegen den ausdrücklichen Befehl des Colonels in die Gondel gesprungen zu sein. Ich selbst
fragte mich auch, ob es nicht eine Möglichkeit gegeben hätte, mich zu verdrücken. »Es war Wahnsinn«, erklärte Ben Cane in meine Gedanken hinein. »Aber das sagte ich wohl schon, als wir noch am Boden waren.« »Ja, das sagten Sie bereits«, erwiderte der Colonel bissig. »Wo sind wir jetzt ungefähr, Sergeant?« »Auf jeden Fall außerhalb der Drei-Meilen-Zone, Mister Goddard!« Ben Cane grinste den Offizier an. »Womit Sie der Last enthoben sind, uns Befehle erteilen zu müssen.« »Ich werde Ihnen gleich etwas erzählen, Sie verdammter Narr, Sergeant. Und ich muß mir überlegen, ob ich Sie nicht vor ein Gericht stelle, wenn wir zurück sind. Wir befinden uns an Bord eines US-Kriegsfahrzeugs, und auf dem habe ich noch die Befehlsgewalt, wenn wir bereits in Afrika sein sollten. Haben Sie verstanden?« »Verdammt noch mal, an das Kriegsfahrzeug hatte ich gar nicht gedacht, Sir«, sagte der Sergeant. »Das ist vielleicht drollig. Aber etwas ist schon dran.« In der Ferne fuhr der Blitz erneut in kerzengerader Linie in die kochende See, und das Donnern schallte im Brausen und Heulen weiter entfernt, als es war. Das Gewitter behielt dieselbe Richtung und zog mit uns. Dadurch ließ auch der Wind nicht nach. Immer neue Sturmböen peitschten uns weiter. Der Sergeant stellte nach seinem Handkompaß zwar immer wieder fest, daß wir nach Südosten trieben, doch wo wir sein könnten, vermochte er noch nicht einmal annähernd zu sagen. »Vielleicht haben wir Glück und treiben wieder auf das Land zu«, sagte Tullier nach geraumer Zeit. Der Sergeant schaute ihn mit nach unten gebogenen Lippen verächtlich an und warf noch einen Blick auf den Kompaß in seiner Hand. »Wenn irgend etwas sicher ist, dann die Tatsache, daß wir uns vom Land entfernen. Vielleicht nur in einem spitzen Winkel und folglich langsam. Aber jedenfalls entfernen!« Ich ließ mich auf den Boden rutschen. Shita legte den Kopf auf meinen Oberschenkel und schaute mich aus seinen treuen Augen groß und traurig an. Ich kraulte ihm das Fell und lehnte den Kopf gegen die Wand der Gondel.
Ich hatte vieles erleben müssen in diesem verdammten Krieg, dessen nahes Ende schon vor einem Jahr vorausgesagt worden war. Vielleicht stand das Ende diesmal wirklich bevor. Aber das konnte für uns keine Rolle mehr spielen. Wir schienen verloren zu sein. Vielleicht war es lediglich eine Ironie unseres Schicksals, die noch verhinderte, daß der Ballon in das sturmgepeitschte Meer stürzte.
3. Der heulende Wind riß das Wasser vom Wellenkamm und schleuderte es in den schwarzverhangenen Himmel. Die Welle rauschte lauter, ihre Vorderseite wurde hohl, der Kamm glich einer weißen, vorspringenden Kante, und dann überschlug sich die Woge mit einem Getose, in dem sich alle Elemente der Vernichtung zu entfesseln schienen. Ein Blitzstrahl zuckte aus dem schwarzen Himmel und warf grellweißes Licht auf das Toben. In der jähen, bizarren Helligkeit wurde ein Rettungsboot sichtbar und im Süden voraus ein weißlicher Sandstreifen und dschungelartiges Gestrüpp darüber. »Land voraus, Captain!« brüllte eine Stimme in dem Rettungsboot, das einer Nußschale gleich über die Wellenkämme geworfen wurde und in die Täler tauchte. Sieben Männer kämpften um ihr Leben. Vier pullten das Boot so gut es ging vorwärts, zwei schöpften die immer erneut vollaufende Bilge leer und einer stand aufgerichtet am Ruder und schaute dahin, wo der Landstreifen im grellweißen Blitzlicht zu sehen gewesen war. Dunkel umgab die Männer im Boot. Das Donnern hallte über den Ozean und verlor sich im Rauschen und Brüllen der See. Die entfesselten Elemente trugen das Rettungsboot dem Landstreifen von selbst entgegen. Eine Welle wollte überholen, aber sie lief nur zur Hälfte unter dem sich hebenden Kiel durch. Die andere Hälfte schlug ins Boot, so daß der Captain am Ruder in einer Wasserwand untertauchte und alle anderen Männer ebenfalls noch getroffen wurden. »Weiter, weiter!« rief der Captain. »Nicht nachlassen, Leute, wir schaffen es!«
Die beiden schöpfenden Schiffbrüchigen arbeiteten mit ihren Eimern verbissen weiter, und die vier übrigen stemmten sich wieder in die Riemen. Sie hofften, sich dem Strand zu nähern, der schemenhaft im Licht des Blitzstrahls sichtbar geworden war. Da zuckte ein neuer Blitz vom Himmel. Berstendes Donnergrollen raste über die See, und dort, wo der Blitz ins Wasser raste, stand für Sekunden ein Feuerball über dem weißen Schaum. Im Süden, dicht voraus, sahen die Männer den Strand und die sturmgepeitschten Lianen. Buschwerk flog durch die Luft und tauchte in der Schwärze hinter dem Dschungel unter. »Noch zweihundert Yards!« rief Captain Errol Gardner seinen verzweifelt kämpfenden Männern zu. »Vorwärts, Leute, vorwärts!« Das bereits leck geschlagene Boot wurde von einer neuen Welle ausgehoben und auf dem Kamm gedreht. Ein Schrei aus vielen Kehlen erschallte, als die Höllenfahrt ins Tal begann und das Boot zu kentern drohte. Die beiden schöpfenden Männer hielten inne und krampften die Hände an den Bordwänden fest. »Weiter, weiter, wir schwimmen noch!« brüllte Gardner. Er war ein großer, kantiger Mann mit langem Silberhaar und einem Vollbart, der sein hageres Gesicht umrahmte. Erroll Gardner war fünfundfünfzig Jahre alt. Er trug eine blaue Schildmütze und einen gleichfarbigen Anzug mit doppelreihiger Jacke, die Goldknöpfe zierten. Vier goldene Streifen um die Ärmel und je ein Stern darüber auf jeder Seite zeigten den Rang, den er bei den Seestreitkräften der Konföderierten einnahm. Es blitzte erneut. Das weiße Licht beleuchtete die nassen, dunklen Bordwände des Bootes, auf denen mit weißer Farbe »Eagle« stand. Da war die Insel schon erreicht. Eine Welle hob das Boot am Sandstrand noch einmal aus, trug es den Saum hinauf und warf es unsanft auf Land. Die Bodenwrangen und Spanten knackten, und ein Brett in der Beplankung zerbarst. Das Wasser lief zurück. Doch schon näherte sich die nächste Woge mit Donnerbrausen. Die Männer sprangen aus dem Boot und schleppten es mit vereinter Kraft höher. Die Welle konnte sie nicht mehr erreichen, leckte nur hinter Captain Gardner über den Sand und lief zurück. Sie schleiften das lecke Rettungsboot in den knackenden
Dschungel und ließen sich neben ihm erschöpft zu Boden fallen. Fünf der Männer waren Seeleute. Sie trugen blaue Hosen und derbe Blusen derselben Farbe. Ihre Kopfbedeckungen hatten sie verloren. Die Haare klebten ihnen in den Gesichtern und die Blusen auf den Leibern. Salzkrusten hatten sich auf der Haut gebildet. Der sechste Mann außer dem Captain trug die braungraue Uniform der konföderierten Landstreitkräfte. Er hatte seinen zerknautschten Hut noch auf dem Kopf und ein Cape um die Schultern, das von gleicher Farbe wie seine Jacke war. Victor French, der Maat, zweiundvierzig Jahre alt, bullig und völlig kahlköpfig, griff nach dem Boot und richtete sich daran ächzend auf. Captain Gardner saß in den sturmzerzausten Büschen, die Lianen überwucherten. Er strich sich das Wasser aus dem Haar und dem Silberbart, den er zusammenquetschte. »Und wo könnten wir hier sein, Captain?« fragte der Maat. »Woher soll ich das wissen, French? Gerettet sind wir erst mal. Das ist wohl wichtig. Alle anderen Männer der ›Eagle‹ dürfte sich der Klabautermann geholt haben.« Fluchend richtete der Maat sich auf und schob das raschelnde Gestrüpp auseinander. Doch dahinter sah er nur weiteres Gestrüpp. Auch als ein Blitz vom schwarzen Himmel ins Meer stach, konnte der Mann von dem Land nicht mehr erkennen. »Wir warten den Tag ab«, entschied Captain Gardner. »Dann werden wir bald wissen, wo wir gelandet sind.« »Könnte South Carolina sein, Sir«, sagte der Maat, während er sich neben das lecke Boot fallen ließ, aus dessen Bilge noch Wasser sickerte. »Wir hatten eine Südostströmung«, erwiderte der Captain. »Ich könnte mir eher vorstellen, daß wir uns auf einer Insel befinden.« »Einer Insel?« Der Sergeant in der braugrauen Uniform setzte sich. »Sagten Sie, auf einer Insel, Sir?« »Ja, das sagte ich.« »Aber wie soll ich dann wieder zu meiner Einheit gelangen?« Dean Hope schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Sir! Das darf einfach nicht wahr sein!«
»Sie sind ein Narr, Sergeant! Statt froh zu sein, fürs erste mit dem Leben davongekommen zu sein, jammern Sie herum wie ein junger Hund, der ins Wasser gefallen ist.« »Idiot«, murmelte der Maat. »Man wird denken, ich wäre mit der ›Eagle‹ untergegangen«, sagte der Sergeant in der braugrauen Uniform. »Dabei hatte ich doch nur eine dringende Meldung zu überbringen.« »Die Meldung ist unwichtig, seit die ›Eagle‹ bei den Fischen ist«, erwiderte der Captain. »Und nun geben Sie endlich Ruhe!« »Ich friere«, sagte einer der Männer mit klappernden Zähnen. »Ob es nicht tiefer in den Büschen ruhiger ist?« »Verkriecht euch, wohin ihr wollt«, gab der Offizier zurück. »Aber nicht zu weit weg vom Boot, damit wir uns bei Tagesanbruch wiederfinden!« Drei der Männer standen auf und schleppten sich tiefer ins Dickicht. Die anderen waren so fertig, daß sie lieber die Kälte in Kauf nahmen, statt sich zu erheben. Der Wind ging ihnen durch die klatschnassen Kleider und durch die Haut, und sie schlotterten und schnatterten um die Wette. Obwohl sie so unmöglich einschlafen konnten, hofften sie doch, durch die Ruhe Kräfte zu sammeln. Nach einer halben Stunde rappelte sich der Maat wieder auf und suchte im inzwischen leergelaufenen Boot nach der Notverpflegung und den Wasserflaschen, die sie an Bord hatten nehmen können. »Will jemand das Salz hinunterspülen?« fragte er kratzig. Keiner der Männer antwortete. Da entkorkte Victor French eine Flasche und trank einen Schluck. Er wischte sich über die Lippen, trank noch einmal und verkorkte die Flasche. »Teilen Sie den Proviant und das Wasser so ein, daß es ein paar Tage reicht, Maat!« befahl der Captain, der hinter dem Boot auf dem Boden lag. »Aye, aye, Sir.« French legte die Flasche weg und streckte sich auf dem Boden aus. Der Wind heulte über ihn weg und zerzauste das raschelnde Buschwerk. Manchmal flogen Äste losgerissen durch die Luft und tauchten in der Schwärze unter. Dann wieder erhellte ein ferner
Blitzstrahl schemenhaft die Finsternis, und entferntes Donnern mischte sich in das Brausen und Rauschen der See. »Immerhin«, murmelte der Maat in Gedanken versunken. »Wir sind gerettet. Und das ist eine ganze Menge.«
4. Ich beugte mich aus der Gondel und erkannte die weißen Fetzen tief unter uns, die über den Atlantik flogen. Tullier übergab sich, aber es war nur noch Galle. Ich wandte mich um, weil ich die anderen reden hörte. Mir war elend zumute. Lieutenant Gage lag auf dem Boden in der Gondel, offenbar unfähig, sich zu erheben. Tullier wurde von Colonel Goddard zurückgerissen und so an den Schultern gestaucht, daß er zusammenrutschte und im nächsten Augenblick auf dem Boden saß. »Es war die reine Galle«, sagte der Colonel zu dem Sergeanten. »Das ist schlimm, Sir. Wenn es mal soweit ist, hilft nur noch Wasser. Reines Wasser.« Mit unsicheren Händen knüpfte Sergeant Ben Cane eine Flasche vom geflochtenen Seil und gab sie dem Colonel. »Wäre nicht Zwieback besser? Etwas Trockenes?« fragte der Offizier zögernd. »Davon würde es nur schlimmer, Sir. Klares Wasser ist das einzige, was ihn wieder auf die Beine bringen kann. Und ein bißchen mehr Mumm natürlich. Wenn man sich so sehr hängen läßt, wird es immer schlimmer, statt besser.« Eine Böschleuderte unseren Ballon in eine neue Richtung. Die Gondel wurde herumgerissen. Colonel Goddard stürzte zu Boden und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. »Immer festhalten«, sagte der Sergeant. Er stand noch immer wie ein Fels in der Brandung. Ich blickte wieder in das Toben hinunter. Nichts als Meer hatten wir in den vielen Stunden gesehen, die wir unterwegs waren. Leider war Ben Cane schon am Abend der Kompaß bei einer
Schlingerbewegung aus der Hand gefallen und auf dem Boden von Colonel Goddard unbeabsichtigt zertreten worden. So hatten wir keine Ahnung mehr, wohin unsere Reise ging. Dennoch nahmen wir an, daß wir nach Süden zu unterwegs waren. Es regnete schon seit Stunden nicht mehr, aber der Sturm hatte kaum nachgelassen. Zudem schien es, als wäre das Meer jetzt näher gerückt. Ich schaute scharfer hinunter. Wir schienen uns wirklich den gepeitschten Wellen zu nähern. Yardhoch sah ich den Seegang gehen. Wogen prasselten mit Urgewalt zusammen und schleuderten Wasserwände in die Luft, so daß ein Glitzern wie Phosphor unter uns stand. Colonel Goddard kniete auf dem Boden und zerrte seinen Burschen herum. Poul Tullier schien aufgegeben zu haben. Er wollte nicht länger um sein Leben kämpfen, seine Kräfte schienen verbraucht zu sein. Vorwiegend die Angst hatte sie verzehrt. »Helfen Sie mir, Ronco!« befahl der Colonel. Ich ließ die Brüstung der Gondel los und wollte zu Goddard hinüber. Aber das Schwanken und meine unsicheren Beine warfen mich um. Hart fiel ich auf die Schulter, wälzte mich herum und lag neben dem stöhnenden Tullier. Shita war auch so krank, daß er nur träge den Kopf hob, dann aber liegenblieb. »Halten Sie sich doch fest, Mann!« sagte Goddard. »Los, stützen Sie ihn mal!« Ich griff nach dem Kopf des grüngesichtigen Kerls, und Goddard flößte ihm Wasser aus der Flasche ein. Tullier röchelte und spie die Hälfte wieder aus. »Es hilft trotzdem«, sagte der Sergeant, der uns zuschaute. »Und wenn nicht, dann sei Gott seiner Seele gnädig!« Goddard verkorkte die Flasche. Ich ließ den Kopf Tulliers los und kroch zu Shita zurück. Das Schwanken, das Pfeifen und das Wimmern in den Leinen und Netzen hielten an. Nach einer Weile raffte ich mich auf, griff nach der Kante der Wand und richtete mich wieder auf. Unter uns war immer noch das tobende Meer. Ich fragte mich, was
ich anderes zu sehen erwartet hatte. »Das hört nie mehr auf«, murmelte der Kartograph, dessen Haltung ich bewundernswert fand. Ihm schien es noch wesentlich besser als mir zu gehen. »Wir kommen dem Wasser näher!« rief Goddard, der ebenfalls wieder nach unten schaute. »Hören Sie, Cane, wir stürzen ins Meer!« »Früher oder später ist das unvermeidlich, Sir«, rief Cane zurück. »Können wir denn nichts mehr tun?« »Wir können knobeln, wer über Bord springt, Sir«, sagte Ben Cane sarkastisch. »Jede halbe Stunde ein Mann, dann schafft es der letzte mindestens noch drei Stunden.« »Möglicherweise reicht das, um zu überleben«, erwiderte der Kartograph. »Ich wollte Ihre Meinung hören und kein dummes Zeug«, sagte Colonel Goddard. »Wir können uns nur halten, wenn wir etwas abwerfen, verdammt!« rief der Sergeant verdrossen. »Aber es muß schon etwas von Gewicht sein! Was Schweres, Sir!« Ich sah an dem Blick Ben Canes, was er meinte. Colonel Goddard selbst war der schwerste von uns allen. Der Offizier fluchte abscheulich. »Los, seht nach, ob noch Gewichte an den Bordwänden hängen!« befahl er. Ich beugte mich hinaus, sah aber keinen Sandsack mehr. Nur die abgerissenen Seile pendelten noch unter der Gondel. Aber zu ihnen gelangen zu wollen, wäre selbstmörderisch gewesen. Dafür nahm ich die Strickleiter ab und ließ sie fallen. »Was war das, Ronco?« schrie mich der Sergeant an. »Die Strickleiter.« »Rindvieh, die wiegt doch fast nichts!« »Sie wird aber, um ins Wasser zu stürzen, nicht benötigt«, gab ich aufsässig zurück. Der Colonel riß die Metallschilde aus den Netzen und warf sie hinter der Strickleiter her. Der Wind peitschte sie hoch und ließ sie torkeln. Wie sie ins Wasser fielen, sahen wir schon nicht mehr. Ich schätzte unsere Höhe noch auf hundert Yards. Ein Blick nach oben zeigte, daß der Sturm eine Beule in die Hülle zu drücken
vermochte. Wir verloren erheblich Gas. Vielleicht war das schon lange der Fall und von uns nur nicht bemerkt worden. Die Granate fiel mir ein, die über uns explodiert war. Möglicherweise hatte sie die Hülle doch beschädigt. »Was haben wir noch, was nie mehr gebraucht wird?« Goddard drehte sich um seine Achse. »Nichts, Sir«, meldete Ben Cane. Ihn schien eine Art Galgenhumor gepackt zu haben. Weit im Süden flammte ein Blitz wie Wetterleuchten auf. Der Donnerschlag ging in dem Brausen und Heulen unter, das uns umgab. »Die Gewitter jagen sich gegenseitig«, sagte Ben Cane. »Eins ist hinter dem anderen her.« Niemand hörte auf ihn. Soweit wir auf den Beinen stehen konnten, blickten wir in das kochende, brodelnde Wasser unter uns und auf die eingedrückte Gashülle über unseren Köpfen. Die Kuhle schien ständig größer zu werden. »Ich ster-sterbe!« jammerte der auf dem Boden liegenden Tullier. Niemand antwortete. Tullier wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen. Lieutenant Gage auch nicht. Niemand. Nur das Wasser mit seinem weißen Schaum, das einem Ungeheuer glich. Da zuckte ein neuer Blitzstrahl in der Nähe aus den schwarzen Wolkenbänken. Augenblicklich nahm der Sturm zu. Grelles Licht blendete uns. »Land!«schrie ich. Der Donner verschluckte das Wort fast. Im Dunkel war ich noch geblendet vom Blitzstrahl und sah feurige Ringe, die es nirgendwo gab. »Land?« fragte Ben Cane. »Du hast Land gesehen, Ronco?« »Es war mir so«, erwiderte ich unsicher. »Wo?« »Direkt vor uns!« Ich schaute wieder hinunter in die kochende See. Es gab nichts als dieses tosende Wasser des Ozeans. Colonel Goddard und Ben Cane drängten sich neben mich. »Wo denn?« schrie Cane. Ich streckte einen Arm aus und zeigte voraus. »Dort!«
In der Schwärze sahen wir nichts. Goddard fluchte. Cane sagte: »Jetzt geht es bei dir auch schon los, was?« Unser Ballon segelte tiefer und tiefer. Das Gas, das uns noch getragen hatte, schien aus einem rasch größer werdenden Loch zu entweichen. Ich schätzte, daß wir nun noch fünfzig Yards über dem Meer waren. Da auf einmal sah ich es wieder. Ein weißer Streifen ragte aus dem Wasser. Wellen brandeten gegen eine aus dem Meer ragende Düne. Hoch spritzten die Wellen in die Luft. »Ja, es ist Land!« brüllte der Colonel. »Verdammt, er hat doch richtig gesehen, Sergeant!« Wir trieben an der Düne vorbei und über den Sandstrand. Die an der Gondel hängenden Seile schleiften durchs Buschwerk. Aber der an der Düne hochgelenkte Aufwind trieb uns noch einige Yards höher. Schemenhaft sah ich ein großes Ziegelhaus mit leer klaffenden Fenstern hinter Büschen und Cottonwoods. Rasend schnell flog alles vorbei, und neues Wasser war zu sehen. »Es ist eine Insel!« schrie der Colonel. »Wir überfliegen Sie, Sergeant! Hölle und Schwefel, stehen Sie nicht wie ein Ölgötze herum. Tun Sie etwas!« Ben Cane fischte nach der Leine des Ventils, erhaschte sie und riß sie kräftig nach unten. Zischend entwich das Helium aus der Ballonhülle über unseren Köpfen. Die Gondel fiel wie ein Klotz in die Tiefe und schlug in letzter Sekunde auf den Sandstreifen, von dem der Sturm das Wasser auf dieser Seite des Eilands zurückgedrückt hatte. Der Ballon war noch knapp zur Hälfte gefüllt und landete unterhalb der Gondel im Wasser. Ich hing benommen auf der Bordwand und hörte Ben Cane schreien: »Ihr müßt die Gewehre hinauswerfen und alles, was wir sonst noch haben. Vorwärts, er ist nicht zu halten!« Ich riß mich zusammen, warf die Waffen hinaus und half dem Colonel, Tullier über die Wand zu kippen. Die Gondel schleifte bereits über den weißen Sandstreifen. Wasser leckte an ihrem Boden.
»Lieutenant, reißen Sie sich zusammen!« befahl der Kartograph, der sich über Gage beugte. »Wir sind gelandet und müssen hinaus!« Wir griffen mit zu und beförderten den jungen, stöhnenden Offizier kurzerhand nach draußen. Ben Cane hatte den Notproviant und die Wasserflaschen auf den Uferstreifen geworfen und kletterte hinterher. Die Gondel rutschte weiter. Der Ballon lag auf dem Wasser und wurde von Wellen und Wind gezogen. Ich ließ mich über die Brüstung fallen und schlug in den nassen Sand. Neben mir lag Gage, der stöhnend auf den Ellenbogen höher kroch. Die Gondel wurde von der Strömung erfaßt und verschwand mit dem halbleeren Ballon in der Finsternis. Wir schauten gebannt hinterher, sahen sie aber nicht mehr auftauchen. »Es ist eine Insel«, sagte der Sergeant, der nun seiner Aufgabe beraubt war. »Nur eine Insel.« »Eine Insel ist tausendmal besser als das Meer«, erklärte der Kartograph. »Wir wären alle ersoffen!« Colonel Goddard stampfte mit unsicheren Schritten ein Stück auf das verfilzte Buschwerk zu und kehrte wieder zurück. »Ich habe ein Haus gesehen«, sagte ich. Goddard und der Sergeant schauten mich finster an. »Haben Sie es denn nicht bemerkt?« fragte ich erstaunt. »Wir flogen dicht daran vorbei!« »Ich habe nichts gesehen«, erwiderte Goddard. »Und Sie, Sergeant?« »Ich hatte alle Hände voll zu tun«, sagte Cane. »Aber er hat schließlich auch die Insel lange vor uns bemerkt, Sir.« Goddard wandte sich um und streckte den Arm aus. »Aus der Richtung kamen wir, nicht wahr?« »So ist es, Sir.« Cane kratzte sich das festgefressene Salz vom Gesicht. »Also, dann sehen wir einfach nach. Tullier, nun reißen Sie sich endlich zusammen, Sie Waschlappen. Lieutenant, haben Sie noch nicht bemerkt, daß wir ausgestiegen sind?« Simon Gage kniete. Sand und Salz klebten naß an seiner Uniform. Er sah zum Erbarmen aus. »Mir ist hundeelend, Sir!«
»Das sieht man. Versuchen Sie trotzdem, aufzustehen, und geben Sie sich einen Ruck. Cane, lassen Sie ihn einen Schluck trinken, vielleicht hilft es wenigstens bei ihm!« Ben Cane gab dem jungen Offizier zutrinken. Ich merkte, wie die Gleichgewichtsstörungen bereits nachließen. Auch war mit der Landung auf der unerwarteten Insel die Angst von mir gewichen, was zu einer raschen Besserung meines Befindens beitrug. Wir schleppten uns durch das Gestrüpp in die Richtung zurück, aus der wir glaubten, die Insel überflogen zu haben. Shita torkelte erschöpft hinter mir her. Ich dachte erst wieder an ihn, als wir die Cottonwoods erreichten und dahinter schemenhaft eine Mauer zu erkennen war. »Shita, hierher!« Der Hund reagierte so träge wie nie zuvor. Er knurrte nicht einmal Tullier an, obwohl der sich in seiner unmittelbaren Nähe vorwärtsquälte. »Tatsächlich«, sagte der Colonel. »Das scheint ein Haus zu sein.« »Der Zivilscout hat Augen wie ein Luchs, Sir«, entgegnete der Ballonführer. »Hast du noch mehr erkannte, Ronco?« »Es sah aus, als wäre das Haus fensterlos«, erwiderte ich. »Kein Wunder, hier ist ja auch alles verwildert.« Ben Cane schaute sich um. »Sieht aus, als wäre es mal eine Baumwollplantage gewesen, Sir. Aber schon lange verlassen. Mindestens drei, vier oder fünf Jahre, schätze ich.« Wir gingen weiter. Das Gemäuer vor uns wurde deutlicher. Es war ein doppelstöckiges, breites Ziegelhaus, noch im Stile der Eroberer des Südens gebaut, ein richtiger Herrschaftssitz mit breiter Veranda und nach oben führender Holztreppe. Das Geländer war stellenweise bereits abgebrochen, und in den Stufen befanden sich Löcher. Leer und schwarz klafften die hohen Fensterhöhlen. Ein paar Nebengebäude waren an den herumliegenden Trümmern undeutlich zu erkennen. Außer dem Haus stand jedoch nichts mehr. Im Hof blieben wir stehen und schauten uns um. Ich sah, daß Tullier und der Lieutenant seelisch langsam wieder Tritt faßten und die grüne Teufelsfarbe aus den Gesichtern verloren.
»Sehen wir doch mal nach, wie es drinnen ausschaut«, schlug der Kartograph vor. Er stieg die knarrende, sich biegende Holztreppe hinauf und griff auch einmal nach dem Geländer. Es brach ihm unter den Händen weg und polterte dumpf die Stufen hinunter. »Das ist die Nässe«, erklärte der Sergeant. »Und im Sommer dann die Sonne. Da fault alles zusammen!« Der Kartograph ging ins Haus. Fledermäuse stoben aus den Fenstern und verschwanden in der Dunkelheit. Ich stieg die Treppe hinauf und spürte das Federn der Stufen unter den Füßen. Shita huschte an mir vorbei und ins Haus. Als ich an die Tür trat, die zerstört auf dem Boden lag, sah ich Phil Edwards Gesicht in der Dunkelheit wie einen hellen Fleck. »Es ist wirklich verlassen«, erklärte der Kartograph. »Hier können wir fürs erste mal bleiben!«
5. »Und ich halte jede Wette, ich habe etwas über uns wegfliegen sehen!« behauptete der kahlköpfige Maat, dessen verschiedenfarbige Augen auf den Captain schauten. »Wer soll denn hier fliegen?« Erroll Gardner schüttelte den Kopf. »Lassen Sie die Hirngespinste, French!« »Ich habe es aber gesehen«, sagte French noch einmal. »Und das lasse ich mir auch nicht ausreden.« »Zum Teufel, was denn nur?« »Etwas Großes, Sir! Etwas Schwarzes! Und ich glaube, ich habe Stimmen gehört. Es könnte ein Ballon gewesen sein.« »Ein Ballon?« »Ja, Sir, ein Ballon. So etwas gibt es doch!« »Wie soll denn ein Ballon hierher geraten?« sagte der Captain aufgebracht. »French, Sie machen mir alle Leute noch verrückt mit ihrem konfusen Quark!« »Aber ich habe es gesehen!« »Also gut, sobald es hell wird, sehen wir nach«, stimmte der
Captain zu. »Genügt Ihnen das?« »Es flog über uns weg, Sir. Mir war es, als würde eine Leine durch die Büsche schleifen. Ich hörte Geräusche im Wind.« »Und ich höre, daß der Sturm allmählich nachläßt«, sagte Sergeant Hope. Sie lagen noch um das lecke Boot herum auf dem Boden. Die Bordwände schützten ein wenig vor dem eisigen Wind. * Victor French kauerte hinter den Cottonwoods und beobachtete das alte Gemäuer. »Donnerwetter«, murmelte Captain Gardner. »Warum haben wir denn die Landungsstelle nicht gleich abgesucht? So ein altes Gemäuer ist doch ein guter Schutz.« Die anderen Männer waren hinter den beiden in Deckung gegangen. »Ich wette mit Ihnen, daß wir auf einer Insel sind«, sagte der Maat leise. »Vielleicht nicht sehr weit vom Festland entfernt, aber auf jeden Fall auf einer Insel.« »Und woran wollen Sie das erkennen, French?« »Ein Gefühl sagt es mir, Sir. Wenn etwas so gründlich verlassen wird, dann gibt es schwerwiegende Gründe dafür. Zum Beispiel, daß es nur schwer erreichbar ist. wie eine Insel das an sich hat.« »Es gibt vor unseren Küsten Inseln, die liegen in starken Meeresströmungen«, gab der Captain zu. »Da hat es ein Segler unheimlich schwer, zu landen, und auf der Rückfahrt treibt er mitunter Dutzende von Meilen ab. Das ganze Geschäft mit der Baumwolle wird dadurch erheblich verteuert. Wenn an so einer Insel zwei Schiffe im Sturm zerschellt sind, ist der Anbau regelrecht unwirtschaftlich geworden. Es finden sich keine Reeder mehr, die das Transportrisiko eingehen wollen. So kann auf einer Insel eine Plantage zugrunde gehen.« Der Maat richtete sich mit dem Revolver in der Hand langsam auf. Er wollte den Schutz des Baumes gerade verlassen, als er hinter einem der hohen Fenster etwas sah, was sich bewegte. Sofort ging
French wieder in die Hocke. »Menschen!« flüsterte Dean Hope hinter dem Captain und seinem Maat. »Da sind Menschen, Sir.« »Ich habe auch etwas gesehen«, sagte der Maat. »Dabei fällt mir wieder ein, daß etwas über uns wegflog, Sir.« In den nächsten Minuten trat Sergeant Tullier vor den Türrahmen. Die Winkel an seiner zerknautschten, noch nassen Jacke, waren für die Konföderierten genau zu erkennen. Tullier stand ein paar Herzschläge lang im Morgengrauen, dann zog er sich in das Gemäuer zurück. »Unionssoldaten«, sagte einer der Seeleute hinter dem Südstaatenoffizier. »Was hat die denn hierher verschlagen? Am Ende ist es doch keine Insel, Maat!« »Ich will einen Besen fressen, wenn es keine ist!« stieß French hervor. »Aber ich habe während der Nacht etwas gesehen. Einen Ballon! Der flog so tief, daß er gelandet sein müßte!« Die Männer beobachteten das Haus, bis Captain Errol Gardner das Zeichen zum Rückzug gab. Geduckt folgte Victor French dem Captain ins leise raschelnde Buschwerk. Sie richteten sich erst auf, als sie einige hundert Yards von dem verfallenen Gemäuer entfernt waren und nicht mehr gesehen werden konnten. »Unionssoldaten«, sagte der Captain. Haß flammte in seinen Augen auf. Er dachte an sein Schiff, die stolze Brigg »Eagle«, die sie ihm unter den Füßen weg versenkt hatten und mit der wahrscheinlich der größte Teil seiner Leute in der Tiefe des Ozeans verschwunden war. »Natürlich kann man mit einem Ballon hier genausogut stranden wie mit einem Rettungsboot«, gab der Sergeant der Landstreitmacht, Dean Hope, zu. »Aber ein seltsamer Zufall ist das schon.« »Zufall oder nicht, es sind unsere Feinde!« sagte der Captain. »Und die werden wir vernichten. Aber zunächst sehen wir uns überall um. Ich muß wissen, ob wir wirklich auf einer Insel sind. Deshalb gehen wir am Ufer entlang. Wenn es eine Insel ist, dann müssen wir wieder dort anlangen, wo das Boot in den Büschen liegt. Danach sehen wir weiter.«
Die sechs Männer schlossen sich ihrem Captain an und zogen durch das Dickicht zu dem Rettungsboot. Sie nahmen den noch vorhandenen Notproviant, die Flaschen und die Gewehre, die sie hatten retten können. Damit liefen sie zum weißen Strand hinunter. Der Himmel war verhangen wie tags zuvor, die Wellen brandeten noch immer gegen die Düne und liefen am weißen Uferstreifen leckend in die Höhe. Jedoch waren die Gewitter weitergezogen und hatten das dämonische Pfeifen in der Luft verklingen lassen. Die Schaumkronen flogen bereits nicht mehr so hoch, und die gigantisch sich türmenden Wellen verloren allmählich von ihrem Schrecken. »Gehen wir«, befahl der Captain und marschierte vor seinen Männern her. »Wenn es eine Insel ist, dann müssen wir feststellen, wie viele Unionssoldaten es sind.« Sie wanderten am Ufer entlang hinter dem Captain her, der ein fanatischer Yankeehasser war und von dem sie wußten, daß er keine Ruhe geben würde, bis sie selbst oder die verhaßten Feinde tot sein würden.
6. Als es richtig Tag wurde, begann es wieder zu regnen. Dadurch schlief der Wind allerdings völlig ein. Ich lehnte an der kalten Wand in dem Gemäuer, in das sich das Tageslicht nicht richtig hereinwagen wollte. Es sah verheerend aus. Spinnennetze überspannten sämtliche Ecken und teilweise die Ecken der Decke. Trümmer von Möbeln lagen herum. Dazwischen die Scherben der Fenster, die vielleicht von den abgezogenen Bewohnern selbst zerschlagen worden waren, damit sich niemand anderes hier niederlassen sollte. Blindwütige Vernichtung grinste von überall zu mir herüber. Dabei war ich sicher, daß dieses Haus von wohlhabenden Leuten erbaut worden war. Lieutenant Simon Gage lag auf dem Boden neben dem Steinherd, in dem Feuer brannte. Eine zertretene Tür lieferte das Brennmaterial. Wenigstens frieren würden wir nicht. Der Lieutenant wälzte sich stöhnend herum, schrie auf und fiel auf
den Rücken zurück. »Ich möchte nur wissen, was ihm fehlt!« Goddard, unser Colonel, schüttelte den Kopf. Es war wirklich seltsam mit dem jungen Offizier. Erst war er mit uns hier herauf gegangen und ins Haus eingedrungen. Dann hatte er sich an der Wand auf den Boden gesetzt und nichts mehr gesagt. Schließlich lag er. Da wir alle geschlafen und es vorher für normale Schwäche gehalten hatten, wunderten wir uns jetzt, daß er nicht aufstand. Dabei hatte selbst Tullier sich wieder aufgerappelt und offensichtlich den Schock und die Krankheit überwunden. »Mit dem stimmt doch etwas nicht, zur Hölle!« Ben Cane kniete auf den Dielenboden neben dem Lieutenant, dessen Gesicht der Schmerz zu einer Fratze verzerrte. »He, Lieutenant, was ist denn los?« »Mir ist ganz elend!« stieß Gage hervor. »Stehen Sie auf und laufen Sie ein paar Runden um das Haus, dann wird Ihnen schon besser werden!« befahl Colonel Goddard. Ben Cane half dem Offizier, sich zu setzen. Gage stützte die Hand auf den Boden, schrie und fiel zurück. »Der hat etwas mit dem Arm«, sagte der Sergeant. »Bestimmt, Sir!« »Was soll er denn mit dem Arm haben?« Cane hatte nach Gages Arm gegriffen und bewegte ihn vorsichtig. Der Lieutenant schrie. Cane ließ den Arm los. »Gebrochen.« »Gebrochen?« Goddard ging in die Hocke. »Nun reden Sie mal keinen Unsinn, Sergeant! Das hätten er und wir doch längst merken müssen. Wann soll denn das passiert sein?« »Vielleicht noch unterwegs, als es ihn in die Gondel fegte, Sir«, erklärte Cane. »Und das soll er nicht gemerkt haben?« »In der Aufregung und bei den Schmerzen, die er innerlich sowieso hatte?« Cane schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. »Nein, in so einer Situation würde das keiner merken, Sir.« »Und später?«
»Was heißt später, Sir? Der hat sich doch alle Knochen gestaucht und sämtliche Rippen geprellt. Dem tut alles weh. Daß er den Arm gebrochen hat, merkte er erst, als er die Hand aufstützte. Ein paar Bretter, Tullier!« Der Bursche des Colonels hatte sich an der Tür umgewandt. »Wenn du etwas willst, dann hole es dir«, fauchte er. »Ich bin Sergeant wie du.« Cane stand auf. »Nur im Gegensatz zu dir weiß ich, warum ich Sergeant wurde, Tullier!« Der rotblonde Kerl zeigte die Zähne, während sich sein Gesicht verzerrte. Er wollte sich schon auf den Ballonführer werfen, als der Colonel befahl: »Nehmen Sie Haltung an, Sergeant Tullier!« Der Rotblonde knallte die Hacken zusammen. »So bleiben Sie stehen!« kommandierte der Colonel. Cane holte ein paar schmale Bretter, lehnte sie schräg gegen die Wand und trat sie durch. »Wir benötigen ein paar Riemen. Stricke tun es aber auch!« Ich ging in den angrenzenden Raum, gefolgt von Shita, der sich ebenfalls völlig erholt hatte. An der Schmalwand stand ein Schrank, der mir mit offener Tür leer entgegengähnte. Eine Ratte raste unter dem Schrank hervor, quer durch den Raum und verfolgt von dem knurrenden Hund in ein Loch, an dem Shita vergeblich scharrte. »Gut, Ronco, ich habe etwas!« rief Cane mir nach. Ich ging weiter. Vom Flur aus führte eine Treppe ins Obergeschoß: Sie sah weniger wurmstichig als die draußen vor der Veranda aus, so daß ich mich hinaufwagen konnte. Die Stufen knarrten zwar ausnahmslos, und das Geländer war ausgetrocknet und locker. Doch ich gelangte mit dem Hund hinauf und konnte die Zimmer in Augenschein nehmen. Das Herrschaftshaus bestand im oberen Teil aus zehn Räumen, von denen jedoch die Hälfte enge, kleine Kammern mit winzigen Fenstern waren. Hier schien das schwarze Personal des Haushalts sein Leben gefristet zu haben. Ein paar Betten standen noch herum. Doch die Matratzen waren verschwunden, sicher bis auf den letzten Rest von den Mäusen und Ratten vertilgt. Shita zog schnuppernd von Kammer zu Kammer, ohne Anzeichen
von Aufregung zu zeigen. Erst in einem größeren Raum schoß er plötzlich vorwärts und packte einen grauen Hasen, der erschrocken aus einem türlosen Schrank fiel. Shita zerbiß dem Tier das Genick, bevor es einen Laut von sich gegeben hatte. Blut spritzte auf den Boden. Knurrend zerfleischte der Bastardhund das Tier, das ihm eine unverhoffte Mahlzeit bescherte. Ich stieg die Treppe hinunter. In dem großen Raum, der einmal die Küche gewesen sein mußte, hatte indessen der Ballonführer dem jungen Lieutenant den Arm geschient. Tullier stand nicht mehr stamm. Er ordnete auf dem Boden am Herd den Proviant, der ihnen verblieben war, und reihte die Wasserflaschen aneinander. Es waren drei, und sie waren alle nicht ganz voll. »Es gibt Wild hier«, sagte ich. »Und oben von den Fenstern aus kann man überall den Strand sehen. Die Insel ist ungefähr eine Meile breit und zweimal so lang. Aber es stehen überall Büsche und Bäume. Man kann sie schlecht übersehen.« »Was für Wild?« Colonel Goddard hatte sich umgewandt. »Shita hat oben einen grauen Hasen aufgestöbert und zerrissen. Es wird noch mehr Wild auf der Insel geben.« »Fehlt uns nur noch Wasser, dann kann uns kaum etwas passieren, da wir über genügend Munition verfügen«, sagte der Kartograph. Unsere Lage sah auf einmal gar nicht mehr verzweifelt aus. Nur der anhaltende Regen ließ alles ziemlich düster erscheinen. »Sergeant Cane, was schätzen Sie, wo wir sein könnten?« fragte der Colonel. »Ich kann es nicht sagen. Aber es würde mich nicht wundern, wenn wir auf eines der Eilande geraten sind, die vor South Carolina liegen. So zehn bis fünfzehn Meilen vom Festland entfernt.« Ich ging zum Wasserstein, über dem eine eiserne Pumpe montiert war. Der Schwengel ließ sich noch bewegen, aber der Kolben klapperte und schlackerte im Rohr. Nach ein paar Bewegungen ließ ich den Schwengel wieder los und wandte mich um. Lieutenant Gage lag auf dem Boden und wimmerte leise vor sich hin. Er hatte Schweiß auf der Stirn und fieberheiße Wangen. Es schien ihm ziemlich mies zu gehen. Der Ballonführer hatte ihm in
seiner zwar herzlichen, dafür aber um so rauheren Art den Arm einfach langgezogen und die beiden Bretter dann daran gebunden, damit der Bruch heilen sollte. »Manchmal saugt so eine Pumpe wieder Wasser an, wenn man oben etwas hineingießt«, erklärte der Kartograph. »Bloß nicht!« Ben Cane streckte die Hand aus, als wollte er sie schützend über unsere drei Flaschen halten. »Das wird unter gar keinen Umständen vergeudet.« »Vielleicht ist das Wasser versiegt«, entgegnete ich. »Vielleicht wurde die Insel auch deswegen verlassen.« »Wenn es hier kein Wasser gibt, werden wir an anderen Stellen der Insel graben«, sagte der Colonel. »Wir haben die Insel gefunden, und wir kriegen auch Wasser. Müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn jetzt noch etwas schieflaufen sollte. Ist es nicht so, Sergeant Cane?« »Doch, Sir, zur Hölle!« »Aber das Fluchen schenken Sie sich jetzt wieder!« »Jawohl, Sir.« Ben Cane grinste beinahe unverschämt. Doch Colonel Goddard war bemüht, es gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Draußen rauschte der Regen vom Himmel. In einer Ecke begann inzwischen das Wasser auch durch die Decke und die Wand herunter zu rinnen. »Ich schlage vor, wir suchen erst mal zusammen, was einigermaßen wasserdicht ist, und stellen es hinaus«, sagte Ben Cane. »Vielleicht können wir für eine ganze Woche Wasser auffangen.« Wir starrten ihn alle an. Der Colonel vergaß sogar den Mund zu schließen. Jeder schien sich zu fragen, wieso er auf diese einfachste Art der Trinkwassergewinnung nicht verfallen war. Cane, der das sah, grinste wieder und sagte: »Ich bin ja nicht sehr eingebildet, aber ohne mich sieht es traurig für euch aus, Leute.« Wir begannen das Haus zu durchsuchen und fanden in der Tat ein paar Wannen und Eimer. Die Wannen bestanden allerdings aus Holz, und es klafften Risse zwischen den Dauben. Als sie jedoch eine Stunde im Regen gestanden hatten, waren sie so weit aufgequollen,
daß die Wände und Böden dicht zu werden begannen. * Am folgenden Morgen waren die Wolken verschwunden, und die Sonne lachte am blankgeputzten Himmel. Das Meer lief noch in langer Dünung nach Süden und war infolge der Ebbe weit von den weißen Ufern zurückgelaufen. Aber die weißen Schaumkronen und die scharfen Spitzen waren von den Wasserkämmen verschwunden, und die Sicht reichte weit hinaus. Wir standen im Obergeschoß des verlassenen, halbverfallenen Hauses und blickten nach Westen. Nichts als Ozean dehnte sich vor uns aus, so weit das Auge sehen konnte. »Kein Land in Sicht«, sagte der Ballonführer. »Wenn es genau dort zu sehen wäre, wo die Kimm davor steht, wie weit ist es dann weg?« wollte der Colonel wissen. »Können Sie nicht etwas Leichteres fragen«, erwiderte der Ballonführer. »Ich schätze, von unserem erhöhten Platz aus gesehen ungefähr fünfzehn Meilen. Vielleicht auch zwei oder drei weniger.« »Dann muß das Land also nicht weit entfernt sein«, sagte der Colonel. »Ronco, Sie beobachten diese Seite und lassen Sie, bis es Mittag ist, nicht mehr aus den Augen. Sollten Sie ein Schiff sehen, dann rufen Sie mich.« »Ja, Sir.« Ich holte mir in der angrenzenden Kammer einen noch einigermaßen intakten Stuhl, stellte ihn einen Yard vom Fenster entfernt auf und setzte mich. Die Beine legte ich auf das Fensterbrett, und den Stuhl kippte ich auf den rückwärtigen Beinen so weit nach hinten, bis es mir bequem genug war. Dann beobachtete ich das Meer und teilte mit Shita die karge Zwiebackration, die Ben Cane mir zugedacht hatte. »An dich hat wieder mal kein Mensch gedacht«, sagte ich zu dem Hund und kraulte ihm das salzverkrustete Fell. Da Shita sich nicht kratzte, schien ihn das Salz wenig zu stören. Ich hätte ihn am liebsten gewaschen, wollte von den anderen aber nicht verlangen, das tags zuvor eingefangene Regenwasser zu opfern. So wie der Himmel jetzt aussah, konnte eine lange Periode der
Trockenheit folgen. Aber immerhin hatten wir auch für viele Tage Wasser und brauchten vorerst an die Suche nach Grundwasser nicht zu denken. Weder in der Nähe der Insel noch weiter entfernt waren Segel oder die schwarze Wolke eines Dampfers zu sehen. Das blieb auch in den folgenden Stunden so. Einmal sprang ich auf und blickte auf die Büsche hinter den Cottonwoods. »Colonel!« Goddard stürzte die Treppe hoch und ans Fenster. »Wo?« »Was, wo?« »Sie haben doch gerufen! Wo ist das Schiff?« »Es ist kein Schiff. Wer weiß, ob es mitten im Krieg hier überhaupt Schiffahrtslinien gibt, Sir.« »Was soll das dann?« »Mir ist, als hätte sich hinter den Cottonwoods in den Büschen etwas bewegt, Sir.« Goddard schaute zu den Büschen, auf die meine Hand wies. »Jetzt sehe ich nichts mehr«, bekannte ich, unsicher geworden. »Wird der Wind gewesen sein.« »Es ist kein Wind, Sir.« »Eine Bö!« »Es gibt auch keine Böen«, erklärte ich. »Aber vielleicht habe ich mich wirklich geirrt. Entschuldigen Sie.« Goddard brummte etwas Unverständliches. Es klang, als fluche er vor sich hin. Er ging hinaus und stieg die Treppe hinunter. Unten sagte er: »Am Nachmittag versuchen wir, etwas zu jagen. Frisches Fleisch würde uns allen guttun.« »Ich schlage vor, daß nur zwei von uns auf Fleischsuche gehen«, meldete sich der Ballonführer. »Ronco mit dem Hund sollte einer der zwei sein, Sir.« »Und warum das?« »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Sir. Es könnte noch andere Menschen hier geben.« »Dummes Zeug, Sergeant! Die Insel ist verlassen.« *
Ich hatte das Gewehr an der Hüfte angeschlagen und drehte mich im Kreise herum. Shita hatte soeben das defekte Rettungsboot zwischen den Büschen aufgestöbert und schnupperte daran. »›Eagle‹«, murmelte Ben Cane, der mich und den Hund begleitete. »Erinnerst du dich? Es kam die Meldung, daß die ›Eagle‹ versenkt worden sei. Ein Kurier schrie es durch das Lager.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte ich und dachte wieder an die Büsche, die sich bewegt hatten. Shita stand mit erhobenen Ohren und offener Schnauze und schaute zu den Büschen. »Wir ziehen uns besser zurück«, sagte Cane. »Der Colonel soll selbst entscheiden, was zu geschehen hat.« »Einen Augenblick noch, Ben.« »Was denn noch? Los, wir verschwinden, hier hängt Ärger in der Luft, das kann ich riechen.« »Wollen wir denn nicht nachsehen, ob es sich reparieren läßt?« fragte ich. »Wenn die See ruhig ist, kann man damit vielleicht das Land erreichen. Man braucht ja nur immer nach Westen zu pullen.« »Aber kein Mensch weiß, wie weit«, sagte der Ballonführer. Er ging trotzdem auf das Boot zu und nahm es in Augenschein. »Es hat ein Loch, und eine Planke ist auch noch gebrochen. Aber wenn wir in der Ruine noch zwei oder drei ordentliche Bretter und etwas Teer finden, ließe es sich schon reparieren. Zur Not könnte man auch mit Stoff und Brettern zurechtkommen.« Shita hatte ein Bein an den Körper gezogen, was seine Wachsamkeit und Spannung signalisierte. »Wir hauen ab, hier sind welche in der Nähe, die uns beobachten«, sagte Cane. »Los, mein Junge, solange wir noch hoffen können, den Rücken frei zu haben!« Ich zog mich zurück. Das sich auseinanderbiegende Buschwerk raschelte. »Shita, hierher!« rief ich dem Hund zu. Das Tier blickte zurück, schaute dann abermals zum Dickicht und kläffte. »Da, was habe ich gesagt, der wittert sie auch!« »Shita, zurück!« befahl ich scharf.
Da wirbelte der Hund herum, setzte über das Rettungsboot und jagte uns entgegen. Plötzlich entluden sich im Gestrüpp vor uns Gewehre. Äste flogen losgerissen in die Luft. Ich spürte den Luftzug einer Kugel und hörte ihr bösartiges Wimmern. Ben Cane fluchte, krümmte sich zusammen und verlor das Gewehr. Ich feuerte ins Gestrüpp, über das grauer Pulverrauch wehte. Cane stolperte weiter. »Ben, bist du getroffen?« Mein Ruf war sinnlos, weil ich sah, daß er getroffen worden war. Cane erreichte das Rettungsboot wieder und stürzte darüber. Shita bellte und machte Miene, sich vorwärts zu stürzen und die Feinde zu suchen. »Bleib hier!« befahl ich und schoß auf Verdacht. Cane lag reglos auf dem Rücken. Ich war ihm noch nahe genug, um den starren Blick seiner Augen zu erkennen. Er war tot. Wieder fuhr mir ein wütender Kugelhagel entgegen, aber wie durch ein Wunder wurde ich nicht getroffen. Meine Gegner mußten mich sehen können, aber sie waren offenbar sehr aufgeregt. Ich jagte noch einen Schuß auf gut Glück ins Dickicht, dann lief ich mit dem Hund davon. Pfeifende Kugeln verfolgten mich. Ich hörte Zweige unter Stiefeln brechen und wußte, daß sie mir folgten. Das Gestrüpp lichtete sich vor mir. Ich stürmte unter den Cottonwoods weiter. Abermals wurde geschossen. Rinde fetzte von den weitästigen Bäumen. Ich blieb stehen, zerrte den Revolver hervor und feuerte wieder hinter mich. Der Hund wollte zurück, aber ich rief ihn, bei mir zu bleiben. Nach dem dritten Schuß hastete ich weiter, stolperte in ein Loch und landete auf dem Bauch. Keuchend raffte ich mich auf, und wir liefen weiter. Da endlich sah ich die Ruine. Das Gemäuer mit den leeren, hohen Fensterhöhlen sah im Sonnenlicht noch verwahrloster aus als am Tage zuvor im Regen. »Was ist denn los?« rief mir der Colonel entgegen, der aus einem
der hohen Fenster schaute. Hinter mir wurde geschossen. Eine Kugel traf klatschend die Hauswand und warf eine winzige Gesteinsstaubwolke in die Luft. »Deckung, Sir!« rief der Bursche des Offiziers mit kreischender Stimme. Ich feuerte aus dem Colt hinter mich und sprang die Treppe hinauf. Shita jagte an mir vorbei und flog mit einem Satz in die schützende Ruine. Ich folgte dem Hund, durchquerte den ganzen Raum und fing mich erst an der gegenüberliegenden Wand, gegen die ich prallte. Ziemlich außer Atem wandte ich mich um. Draußen wurde noch geschossen. Im Sonnenlicht über den Cottonwoods stiegen Pulverrauchwolken in die Höhe und zerflatterten. Colonel Goddard hatte ein Gewehr ergriffen und schoß ergrimmt fluchend hinaus. Auch der Kartograph folgte dem Beispiel. Der Lieutenant hatte auf einem Stuhl gesessen, stand nun auf und näherte sich der Tür. Die Bretter an seinem linken Arm hinderten ihn, und er wirkte unsicher. Draußen fielen keine Schüsse mehr. Als auch der Kartograph und Colonel Goddard das Feuer einstellten, wagte sich der rotblonde Poul Tullier aus der Deckung des Tisches und spähte ins Sonnenlicht. Goddard schaute sich um. »Wo ist Sergeant Cane?« »Er wurde erschossen, Sir.« Ungläubiges Staunen sah mir aus den Augen der vier Männer entgegen. »Erschossen?« fragte der Kartograph und vergaß, den Mund zu schließen. »Ja. Wir haben ein Rettungsboot gefunden. Es ist zwar leck, könnte aber vielleicht geflickt werden. ›Eagle‹ steht daran.« »›Eagle‹?« Der Colonel trat an den Tisch und legte das noch rauchende Gewehr darauf. »Ja, Sir. Es könnten damit bis zu neun oder zehn Männer auf der Insel gelandet sein.« »Konföderierte«, murmelte Lieutenant Gage. »Das hat uns gerade noch gefehlt, Sir. Jetzt wird der Krieg auf dieser Insel fortgesetzt.«
Der Kartograph warf einen Blick aus dem Fenster. Der Pulverrauch hatte sich unter der leuchtenden Aprilsonne aufgelöst, und die verwilderten Cottonwoods und Büsche wirkten friedlich und unberührt. »Möglicherweise haben wir die Ruine nur rein zufällig vor denen entdeckt«, murmelte Phil Edward, der Kartograph. »Anderenfalls hätten wir gestern im Regen stehen können, kein Wasser aufgefangen … Da fällt mir ein, die sind vielleicht ziemlich am Ende. Wenn sie kein Wasser auffangen konnten und keinen Proviant mehr haben, sieht es wohl übel um die Männer aus.« »Quatsch«, sagte der Colonel barsch. »Die haben mindestens volle Flaschen gekriegt, als es so schüttete. Und damit hält man es um diese Jahreszeit schon ein paar Tage aus.« »Aber sie werden durchnäßt sein«, sagte der Lieutenant. »Und die Nächte sind kalt, Sir. Das macht solche Männer wild wie Tiger!« »Das ist die wahre Gefahr«, gab Goddard zu. Er schaute hinaus. »Und Cane ist bestimmt tot?« »Ja, Sir«, erwiderte ich. »Er fiel auf das Boot.« »Aber Sie müssen doch gesehen haben, wie viele es sind?« sagte der Colonel. »Ich habe noch nicht mal einen gesehen«, gab ich heftig zurück. »Aber ich wurde aus sicher einem halben Dutzend Gewehren beschossen und wundere mich, bis hierher gelangt zu sein, ohne wie ein Hase gespickt zu werden!« Fluchend wandte Colonel Goddard sich wieder um. »Was tun wir jetzt, Sir?« fragte Tullier, dem die neue Gefahr gewaltig an die Nerven zu gehen schien. »Abwarten«, sagte der Kartograph. »Das denke ich auch.« Ich nickte zustimmend. »Die Deckung haben wir. Angreifen müssen die anderen.« »Und wenn sie das Boot flott kriegen und verschwinden, sobald sich die See ganz beruhigt hat?« »Ohne ein glatt gehobeltes Brett ist das Boot kaum zu flicken«, erwiderte ich. »Und so was findet man nur hier im Haus, wo noch nicht alles wie Zunder zerfallen ist.« »Das mag stimmen«, sagte der Colonel. »Aber ohne daß wir etwas
Eßbares finden, gehen uns auch bald die Gäule durch. Wir müssen versuchen, zu jagen. Spätestens morgen animiert uns der Hunger ganz von selbst dazu.« »Bis morgen kann eine Menge geschehen«, erklärte der Kartograph. »Wichtig ist, daß wir keine Minute unaufmerksam sind.« »Also gut, teilen wir Wachen ein«, entschied der Colonel. »Jeder zwei Stunden. Wer nicht gerade schläft, hält auch die Augen offen. Dann werden wir sehen, was morgen ist.«
7. »Heute müßte der neunte April sein«, sagte Lieutenant Gage, als ich am folgenden Morgen mit Shita die Treppe aus dem Obergeschoß hinunterstieg. Sie waren schon alle in dem großen Raum versammelt, der die Küche gewesen war. »Haben Sie von oben etwas gesehen, Ronco?« wollte Goddard wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Die Insel wirkt wie ausgestorben. Aber die lauern in der Nähe.« »Sie warten darauf, daß wir die Ruine verlassen«, sagte Lieutenant Gage überzeugt. »Und mir knurrt der Magen.« Er blickte auf seinen mit Brettern geschienten Arm, der ihn nun schon mehr behinderte als schmerzte, was immerhin ein gutes Zeichen für uns war. »Warum haben Sie gesagt, daß heute der neunte April sein müßte?« fragte der Kartograph. Gage blickte ihn fassungslos an und zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Nur so. Es ist doch der neunte?« »Ich glaub schon.« »Na also.« »Es wundert mich nur, warum Sie daran denken, daß der neunte April ist«, sagte Edward. »Das spielt doch hier überhaupt keine Rolle.« »Vielleicht ist auf dem Festland der Krieg schon zu Ende«, sagte ich.
Sie drehten sich alle nach mir um. »Na ja, könnte doch sein«, erklärte ich. »Wir erfahren das ja nicht.« »Es wäre verrückt, wenn wir uns hier mit einer Handvoll Konföderierter herumschlagen, während die Südstaatler vielleicht schon kapituliert haben«, gab der Kartograph zu. »Und wie die Dinge lagen, konnte mit dem Kriegsende praktisch jeden Tag gerechnet werden. Das stimmt doch, Sir?« »Es stimmt zwar, ist aber für uns unwichtig«, erwiderte Goddard grob. »Vielleicht sollte man versuchen, mit den anderen darüber zu reden, Sir«, schlug ich vor. »Sie meinen, daß die anderen sich ergeben sollen?« fragte der Colonel verächtlich. »Es könnte ja sein, daß diese Leute die Nase vom Krieg gestrichen vollhaben«, beharrte ich. »Immerhin muß es sich ja um Seeleute von der ›Eagle‹ handeln. Die sind wie wir mit dem losgerissenen Ballon mit knapper Not dem Tod entronnen.« »Das ist richtig, Sir«, erklärte der junge Lieutenant. »Soll ich ihnen von oben zurufen, daß wir sie fair wie Kriegsgefangene behandeln, wenn sie sich ergeben?« »Das können Sie tun, Lieutenant. Aber halten Sie den Kopf dabei nicht zu weit hinaus, sonst kriegen Sie ein Loch zuviel im Gesicht.« »Sie glauben nicht, daß die anderen die Nase vollhaben?« »Ich weiß, daß Konföderierte fanatisch sind, Lieutenant. Viel fanatischer als unsere Leute. Das trifft vor allem auf die Offiziere zu, die oftmals aus jenen Herrenschichten stammen. Diese Leute beschäftigten mitunter Hunderte von Sklaven, die ihnen quasi fürs Essen volle Taschen beschert haben. Diese Männer wissen, daß es damit ein für allemal vorbei ist, wenn sie den Krieg verloren haben. Das ist es, was sie so fanatisiert!« »Ich versuche es trotzdem.« Gage ging zur Treppe im Flur und stieg hinauf. Shita saß neben mir auf dem Boden. Wir lauschten alle auf das Knarren der Stufen und dann auf Gages Ruf, der den Männern galt, die wir bis dahin nicht gesehen hatten und von denen wir nicht
wußten, wie viele sie waren. Die Antwort bestand in krachendem Gewehrfeuer. Wir duckten uns. »Da haben wir den Salat«, schimpfte Goddard. »He, Lieutenant, hat es Sie erwischt?« »Nein, Sir!« Gage stieg mit bleichem Gesicht die Treppe hinunter und blieb auf der Türschwelle stehen, um die Deckung der Querwand nutzen zu können. Eine Weile hielt das heftige Feuer an, ohne daß wir draußen einen der Gegner zu sehen vermochten. Dann flaute das Schießen ab, und der Pulverrauch stieg träge in den Himmel. »Nicht schießen«, sagte Colonel Goddard, als Tullier das Gewehr anhob. »Soviel Munition haben wir nicht, daß wir sie sinnlos verpulvern dürften.« »Haben Sie jemanden gesehen, Lieutenant?« fragte Goddard. »Ja, Sir. Einen Mann in blauer Uniform, mit goldenen Knöpfen und Schildmütze. Er hat silbergraues Haar und einen gewaltigen Bart. Wohl ein älterer Seeoffizier.« Goddard stutzte. »Sagten Sie nicht, es wären die jungen Männer, die sich so fanatisch gebärden?« erkundigte sich Simon Gage in einem Ton, der naiv klingen sollte, jedoch unüberhörbar ironisch war. »Natürlich nicht nur die jungen Männer«, sagte Goddard. »Auch die alten Esel bilden sich ein, es ginge durch die ganze Menschheitsgeschichte so weiter, daß es eine privilegierte Klasse gibt. Mit Silberhaaren sagten Sie?« »Ja, Sir. Und mit einem gewaltigen Bart. So ein richtiger Seebär, würde ich behaupten.« »Dann ist es Captain Erroll Gardner von der ›Eagle‹. Ausgerechnet den scheinen die Haie verschmäht zu haben. Konnten Sie auch sehen, wie viele es sind?« »Nein, Sir, leider nicht. Aber nach den Schüssen zu urteilen, ungefähr ein halbes Dutzend, wie Ronco gestern schon sagte.« Der Pulverdampf war verflogen. Scheinbarer Frieden lag erneut über der Insel. Der Himmel war wie am Tage zuvor blankgeputzt, und die Sonne lachte zu uns herunter.
Ich setzte mich auf den Boden und zog die Beine an. Shita legte den Kopf auf mein Knie, ließ sich aber nach ein paar Minuten zur Seite fallen. Stunden verrannen. Von den Konföderierten sahen und hörten wir nichts. Der Hunger beschäftigte uns um so mehr, je später es wurde. »Also, wir schaffen die Zwiebackreste und das Wasser in den Keller«, entschied der Colonel gegen Mittag. »Lieutenant Gage bleibt hier und bewacht diese Habseligkeiten. Er ist mit seinem geschienten Arm zu sehr behindert, um uns draußen wirkungsvoll helfen zu können. Wir anderen versuchen, Wild aufzustöbern. Wir gehen in zwei Gruppen, Sie, Ronco, mit Tullier, und Sie, Edward, mit mir.« »Warum denn gleich in zwei Gruppen?« fragte ich. »Wenn wir beisammen bleiben …« »Haben Sie Angst?« schnitt der Colonel mir schroff das Wort ab. Ich stand auf. Shita sprang sofort auf die Beine und knurrte dunkel. Tullier war bleich geworden. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Mit dem konnte es heiter werden. Aber ich sah dem Colonel an, daß es an dessen merkwürdiger Entscheidung nichts zu rütteln geben würde. »Der Kartograph und ich lenken die anderen ab«, fuhr Goddard fort. »Wir gehen auch vorn hinaus. Ihr schleicht durch die Hintertür und schafft es hoffentlich unbemerkt bis ins Dickicht. Wenn auf der Westseite der Insel geschossen wird, werden die Tiere, falls noch mehr als der Hase hier sind, den der Hund zerriß, nach Osten fliehen. Ist jetzt klarer, was ich meine, Ronco?« »Allerdings, Sir«, mußte ich zugeben. »Dennoch haben zwei Mann gegen die Konföderierten zusammen kaum eine Chance.« »Es ist ja nicht sicher, daß sie alle zusammen sind. Aber wenn, werden wir uns mit Vorsicht bewegen. Ich denke, wir gehen gleich los. Tullier, was haben Sie denn?« Der Kerl wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. »Nichts, Sir!« »Dann ist ja alles in bester Ordnung. Also los, tragen wir erst mal das Wasser in den Keller.« Ich nahm mit Edward einen Bottich. Wir trugen ihn in den Flur
und die steile, aus Stein bestehende Treppe in den finsteren Keller hinunter. Das Gewölbe hatte etwas Unheimliches. Tullier folgte uns mit einer Lampe, deren Docht er entzündet hatte. Gespenstisch huschte das Licht in das Gewölbe, und eine an der Decke hängende Fledermaus wurde sichtbar. An die Quaderwände waren rostige Ketten mit großen Ringen angeschlagen. Ein Prügelbock mit modernden Ledermanschetten und Riemen daran stand in einer Ecke. Ratten verschwanden in Löchern. Wir stellten unsere Last ab und traten zur Seite, damit Poul Tullier vorbeigehen konnte. Colonel Goddard trug Flaschen nach unten und schaute sich um. »Hier sind offensichtlich Sklaven zur Räson gebracht worden«, sagte der Lieutenant, der als letzter erschien. »Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken.« Tullier blickte schaudernd zu der wie leblos hängenden Fledermaus hinauf. Shita vollführte sinnlos ein paar Sprünge, konnte die Beute aber nicht von der Decke holen. »Oben steht noch mehr«, sagte der Colonel. Edward und ich gingen noch einmal hinauf und trugen die zweite Wanne in den Keller, und Tullier, dem Lieutenant Gage die Lampe abgenommen hatte, schleppte alle überzähligen Waffen und den restlichen Proviant in den Keller. »So, Lieutenant, Sie wissen, auf was Sie achten müssen. Und erschießen Sie keinen von uns, wenn wir zurück sind. Gehen wir!« * Das Krachen von Schüssen dröhnte über die Insel. Ich stand an der Rückwand der Ruine, lauschte auf das Revolverfeuer und blickte auf das verfilzte Buschwerk im Osten des verlassenen und verfallenen Anwesens. Tullier wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. Das Feuer war verklungen. Ich wußte, daß Colonel Goddard und der Kartograph die Aufmerksamkeit der Rebellen auf sich hatten lenken wollen. Auch ich hoffte, daß nun auf dieser Seite der Insel
keiner der Gestrandeten mehr wäre. Ich verließ das verfallene Haus und hetzte mit Shita zu den Büschen. »Am besten, ich decke Ihnen immer den Rücken!« rief Tullier hinter mir. Ich achtete nicht darauf, erreichte die Büsche und warf mich hinein. Das Dickicht raschelte und barst auseinander. Ich sprang auf und lief weiter. Das Gestrüpp wurde lichter, und der Boden stieg an. Shita war neben mir und zeigte keine Anzeichen von Gefahr. Ich erreichte die Düne und sah das Meer. Es lief in sanften Wellen auf den weißen Strand und wieder zurück. »Hier soll es Wild geben?« fragte Tullier hinter mir. »Ja.« Ich verließ die Düne und lief den Cottonwoods entgegen, die südlich von uns standen. Plötzlich fiel vor uns ein Schuß. Hinter mir warf sich Tullier zu Boden. Die Kugel pfiff an mir vorbei. Shita raste kläffend los, sprang über einen Busch und war nicht mehr zu sehen. Ich hörte die Äste prasseln und stürmte hinter dem Hund her. Das Gestrüpp war an dieser Stelle vor den Cottonwoods wie eine geschlossene Mauer. Ich prallte dagegen und drang nicht durch. Shita mußte das instinktiv begriffen haben. Er war einfach über das Dickicht gesprungen. Sein böses Knurren war zu hören, und ein Mann fluchte. Ich hetzte um das Dickicht herum, hörte den Hund winseln und Holz knacken. Shita lag auf dem Boden, als ich ihn erreichte. Eine Gestalt hastete davon. Ich sah nur noch das Geäst zusammenschlagen. Shita sprang auf. Er war jedoch so hart getroffen, daß er schwankte und wie betrunken umfiel. In seinem Maul hing ein Stück blauer Stoff. Er erholte sich rasch und ließ sich den Stoff abnehmen. »Ronco?« fragte Tullier schüchtern im Gestrüpp. »Die Gefahr ist vorbei, Sie können sich herauswagen«, rief ich zurück. Die Zweige raschelten. Tullier tauchte auf, bleich, und starrte auf
den Stoff in meiner Hand. Ich beruhigte den Hund, der unablässig knurrte. »Was ist denn das?« fragte Tullier. »Stoff von einer Marineuniform, wenn mich nicht alles täuscht. Heller als bei unseren Leuten! Konföderierte?« »So ist es.« Ich steckte den Stoff in die Tasche. »Das heißt, Lieutenant Gage hat richtig gesehen, und die Leute gehören auch zu dem Boot, das Cane und ich fanden.« »Und was jetzt?« »Wir suchen weiter. Vielleicht finden wir einen Bau, den wir ausräumen können. Was es hier an Tieren gibt, dürfte sich wegen des Lärms inzwischen verkrochen haben. Aber Shita wird uns helfen, sie aufzustöbern.«
8. Lieutenant Simon Gage zog den Kopf zwischen die Schultern und blickte zur Decke hoch, an der die Fledermaus hing. Über ihm waren Schritte zu hören. Sie schallten durch das alte, verfallene Gemäuer, verklangen und waren wieder zu hören. So bewegte sich keiner von ihnen, das wußte der Lieutenant. Jeder hätte sich gemeldet, schon, um nicht versehentlich abgeknallt zu werden. Da waren die Schritte wieder. Heiß und kalt lief es dem Lieutenant über den Rücken. Er beugte sich zur Lampe hinunter und drehte den Docht so weit nach unten, daß nur noch eine kleine, bläuliche Flamme hinter dem Zylinder stand, die kaum noch Licht verbreitete. Danach zog sich der Lieutenant zurück und holte den Revolver aus der Halfter. Im fast dunklen Keller löste sich die Fledermaus von der Decke und flog die Treppe hinauf. Gage stieß gegen die feuchte Kellerwand, schob sich seitwärts weiter und landete in einer finsteren Nische. Die geheimnisvollen Schritte nervten ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er meinte, sie auch lauter zu hören, als sie waren. Dazu kam das Krachen der Schüsse, das er weit entfernt vom Haus
gehört hatte. Vielleicht waren die anderen schon tot. Da tauchte eine Gestalt über der im fahlen Licht glitzernden Steintreppe auf. Eine Waffe schimmerte dunkel in einer vorgestreckten Hand. Lieutenant Gage spürte, wie ihm kalter Schweiß über den Rücken lief. Der Mann an der Treppe trug einen grauen Umhang und einen Hut der Konföderierten mit Kokarde. Der Lieutenant sah das genau. Er sah auch die Winkel an dem einen Arm, der unter dem Cape hervorragte. Der Mann betrat die Treppe, stieg zwei, drei Stufen hinunter und hielt wieder an. Gage hörte sein eigenes Atmen. In West Point hatte er sich den Krieg ganz anders vorgestellt, als er ihn jetzt erlebte. In der Aufregung vermochte er auch nicht länger an sich zu halten. »Halt! Waffe wegwerfen!« schrie er. Der fremde Sergeant reagierte sofort – aber nicht, indem er den Colt fallen ließ. Er feuerte und wurde vom grellen Licht beleuchtet. Die Kugel prallte gegen die Wand und irrte singend durch das Gewölbe. Gages Finger krümmte sich. Der Feuerstrahl blendete ihn, das infernalische Donnern betäubte seine Ohren. Der Mann auf der Treppe wurde ins Bein getroffen, taumelte, verlor seine Waffe und stürzte die Treppe hinunter. Der Sergeant lag neben den Wasserbehältern. Die Lampe in seiner Nähe flackerte. Gage ging auf ihn zu und schob die brennende Lampe mit dem Fuß aus dem Bereich des Rebellen. Er trat zurück und blickte auf den Mann, der sich zu erheben versuchte, jedoch fluchend zurücksank. Gage ging noch weiter zurück und schaute die Treppe hinauf. Er fürchtete, daß weitere Konföderierte auftauchen und in den Keller eindringen könnten. Doch es kam niemand. Allmählich klang seine Angst ab. Da raffte sich der ins Bein getroffene Südstaatler wieder auf und wollte nach seinem Revolver greifen. Gage gab sich einen Ruck, sprang vor und trat dem Mann gegen die Schulter.
Der Rebell prallte gegen die volle Wasserwanne und rutschte wieder auf den kalten Steinboden. »Ich bringe dich jungen Hüpfer um!« Der Haß des Mannes ging Gage unter die Haut und ließ ihn den Hammer des Revolvers spannen. In diesem Augenblick waren Schritte zu hören. »Lieutenant, was ist los?« brüllte Colonel Goddard durch das verfallene Haus. Gage atmete befreit auf. »Ich bin im Keller, Sir! Ich habe einen Gefangenen für Sie hier liegen!« * Sie hatten den Gefangenen auf die Beine gestellt und an die Wand gekettet. Sein Bein war viel weniger schlimm verletzt, als er zuerst selbst gedacht hatte. Er fluchte, tobte und wehrte sich. Als der durch den gebrochenen Arm behinderte Lieutenant ihn beruhigen wollte, versetzte er ihm einen Tritt. Gage stürzte zu Boden. Ich setzte mich auf die Steintreppe und zog Shita zu mir. Der Hund erweckte ganz den Eindruck, liebend gern in den Kampf eingreifen zu wollen, obwohl dieser alles andere als ausgeglichen war. Gage rollte stöhnend über seinen verletzten Arm und die angeschienten Bretter, um aus dem Bereich des tobenden Rebellen zu gelangen. Die anderen standen alle in beachtlicher Entfernung von dem Angeketteten, so daß er sie nicht erreichen konnte. Mit klirrenden Ketten lehnte der Sergeant sich gegen die Wand und entlastete das Bein, das die Kugel getroffen hatte. »Wir hatten euch angeboten, den Krieg fair zu beenden«, erklärte Colonel Goddard. »Dazu ist auch das moralische Recht auf unserer Seite. Abgesehen davon, daß unsere Truppen den Krieg bereits für sich entschieden haben.« »Geht zum Teufel!« Der Gefangene rasselte mit den Ketten und versuchte vergebens, seine Hände aus den Ledermanschetten zu ziehen.
»Wie viele seid ihr?« fragte der Colonel. »Das werde ich dir gerade sagen!« brüllte der Gefangene ihn an. »Seid ihr sechs?« fragte Goddard. »Oder sieben? Oder gar nur fünf?« »Sinnlos, Sir«, murmelte Edward, der Kartograph. »Der scheint sogar davon auszugehen, daß diejenigen das moralische Recht auf ihrer Seite haben, die die Sklaverei bis in alle Ewigkeit fortzusetzen gedenken. Schade um jedes Wort.« »Geht zum Teufel, ihr Hurensöhne!« schrie der Gefangene. Ich stand auf, nahm das Gewehr und stieg die Treppe hinauf. Shita folgte mir. Mit der angeschlagenen Waffe betrat ich vorsichtig den verwahrlosten ehemaligen Küchenraum und blickte hinaus ins Sonnenlicht. Kein Rebell ließ sich sehen. Dabei hätten sie in der verflossenen Viertelstunde das Haus besetzen und uns im Keller festnageln und aushungern können. Die Zeit verrann. Phil Edward erschien kopfschüttelnd bei mir und setzte sich auf den Boden. Ich beobachtete die Büsche und Cottonwoods und sagte: »Ob es fünf, sechs oder sieben sind, ist kaum sehr wichtig. Die Schlacht um die Insel wird nicht durch Überlegenheit, sondern durch Schläue, List und Tücke gewonnen.« »Sie hassen den Krieg?« »Nur Narren lieben ihn«, erwiderte ich. Nach einer weiteren halben Stunde tauchte der Colonel auf. Seinem verbitterten Gesicht war anzusehen, daß er aus dem Gefangenen nichts hatte herausholen können. Draußen regte sich nichts. Tullier tauchte auf, und der Lieutenant, schleppte sich aus dem Keller. Er schien wieder erhebliche Schmerzen im Arm zu haben. Eine Weile war es still zwischen uns. Dann erklärte der Colonel: »Das Wasser lassen wir erst mal da unten. Es ist angenehm kühl im Keller. Dort wird uns das Wasser kaum faulen. Aber mit etwas Eßbarem sind wir nicht weitergekommen. Ronco, was schlagen Sie vor?« Ich war verwundert, daß der alte Haudegen von mir Rat haben
wollte. Aber er sah ganz ernsthaft aus und schien es wirklich so zu meinen. »Ich würde hier erst mal abwarten, Sir«, sagte ich. »Und warum das?« »Weil anzunehmen ist, daß die Kerle versuchen werden, dem Sergeanten zu helfen.« »Sie nehmen also an, wir werden angegriffen?« »Ja.« »Und wann?« »Irgendwann, Sir. Vielleicht noch am Tage. Vielleicht auch erst während der Nacht.« »Ich habe aber Hunger, mein Junge.« »Ich auch, Sir,« Ich lächelte schief. »Und den Zwieback im Keller kann ich kaum noch ansehen.« »Das ist ja nur noch ein schäbiger Rest, den wir für den äußersten Notfall aufheben müssen«, erklärte Goddard. »Da fragt man sich ernsthaft, ob man hier drinnen oder da draußen besser aufgehoben ist.« Edward erhob sich. »Wir haben den Schutz des Hauses, und die da draußen können sich etwas jagen.« »Wenn es tatsächlich etwas zu jagen gibt«, schränkte der Lieutenant ein. »Es gibt«, sagte ich überzeugt. »Haben Sie Wild gesehen?« fragte der Colonel. »Ich habe Spuren gesehen.« »Also bitte.« Colonel Goddard wandte sich der Fensterfront zu. »Wenn diese Halunken nur endlich kämen.« Die Zeit verrann sehr träge, wie es mir und den anderen erschien. Wir dachten ständig an unseren Hunger. Und die Rebellen zeigten sich nicht. Im Keller rasselte der Gefangene manchmal mit seinen Ketten und brüllte wie ein Verrückter. Niemand beachtete es. Der lange Krieg hatte sie hart werden lassen. Mitleid galt als Schwäche, also ließ man den Mann da unten toben und Krach mit den Ketten schlagen. Endlich neigte sich die Sonne nach Westen. Lang fielen die Strahlen in die Ruine. »Ihr verfluchten Schweine!« schrie der Gefangene im Keller. Er
hieb die Ketten gegen die Wand, daß es durch das ganze Gemäuer hallte. »Das geht mir auf die Nerven«, sagte der Lieutenant »Wenn mal ein paar Dutzend Kameraden neben Ihnen verreckt sind, sieht alles anders aus«, sagte der Colonel schroff. »Dabei lernt man, kalt wie ein Gletscher zu reagieren.« Shita richtete sich auf und knurrte. Ich war sofort an einem der Fenster und spähte nach draußen. »Was ist los?« stieß der Colonel hervor. »Ist es soweit?« »Könnte sein, Sir.« Ich beobachtete die Büsche und die Cottonwoods und hob das Gewehr. Alle postierten sich am Fenster oder an der Tür. Der Lieutenant hatte den Revolver in der Hand. Minuten reihten sich aneinander. Shita knurrte immer noch. Immer wieder schauten die Männer auf das Tier. »Als Cane erschossen wurde, konnten wir keinen der Kerle sehen«, sagte ich mahnend. »Aber auf einmal schossen sie auf uns, und der Sergeant fiel um!« »Schon gut, wir halten ja die Augen offen«, sagte der Colonel gereizt. »Tullier, gehen Sie zur Hintertür. Passen Sie auf, daß uns keiner von dort in den Rücken fällt.« »Warum ausgerechnet ich, Sir?« »Weil Sie sonst zu nichts zu gebrauchen sind«, erklärte der Colonel grob. Tullier verdrückte sich. Wir spähten auf die Büsche und Bäume, hinter denen die Sonnenkugel langsam versank. Flammende Röte hatte den Feuerball überzogen und ihm die blendende Kraft genommen. Auf einmal wurde es lebendig. Die Büsche teilten sich, und wir sahen sechs Gestalten. Sie traten schießend hervor und standen binnen weniger Sekunden in einer Pulverrauchwolke. Die Geschosse trafen die Wände, heulten ins Haus, sprengten Holz und klatschten an die hintere Wand. Im Keller tobte der Gefangene, der offensichtlich meinte, die Stunde seiner Freiheit wäre angebrochen. Wir schossen zurück, was das Zeug hielt.
Tullier hastete durch den Flur und rief: »Hinten ist niemand, Sir!« Niemand beachtete ihn. Ich hatte das Gewehr aus der Hand fallen lassen und den Revolver gezogen. Die Waffe entlud sich pausenlos, bis ich sie leergeschossen hatte. Ungefähr zur selben Zeit hatten sich auch die anderen verschossen, und die Waffen schwiegen. Von den Konföderierten war nichts zu sehen. Auch der Rest des Sonnenlichts durchbrach die, Pulverrauchschwaden nicht mehr. »Sie sind wieder weg«, sagte der Lieutenant. »Mit solchem Widerstand haben die nicht gerechnet, Sir.« »Und keinen getroffen, wie es aussieht«, sagte der Colonel. »Ist jemand von uns verletzt?« Keiner meldete sich. »Na, bestens.« Ich lud den Revolver und anschließend das Gewehr. Die Ruine stand voll mit beißenden Schwaden, die sich mühsam einen Weg durch die Fensterhöhlen und die Treppe hinauf ins Obergeschoß suchten. Der Gefangene im Keller hatte den Krawall eingestellt. Draußen lag der verwilderte Platz in der Dämmerung. Die Sonne war jenseits der Kimm untergetaucht. »Na, jetzt ist es dir vergangen, was?« fragte Tullier im Flur. Er schien an der Kellertreppe zu stehen. »Yankeeschwein!« brüllte der Gefangene. Wieder klirrten die Ketten im Keller. Tullier lachte höhnisch. »Die kannst du nicht sprengen, Freundchen! Und deine Kumpane haben wir in die Flucht geschlagen. Die haben die Hosen voll, das kannst du mir glauben!« Das kichernde, überlegene Gelächter ging sogar Shita auf die Nerven. Mit entblößten Zähnen blickte er in den Flur, sein Nackenhaar sträubte sich, und Spannung kam deutlich sichtbar in seine Gelenke. »Tullier!« rief der Colonel. Das irre Gelächter verklang. Der Sergeant mit den rotblonden Haaren tauchte auf. »Sir?« »Was soll denn der Blödsinn, Tullier?«
»Ich habe dem Kerl nur mal Bescheid gestoßen, Sir!« »Ausgerechnet der«, sagte ich. Edward schüttelte den Kopf. Colonel Goddard blickte ihn an. »Was ist, Mister Edward, haben Sie etwas mit dem Kopf?« »Es ist alles in Ordnung, Sir. Ich frage mich nur, wie ein Mann Ihres Schlages an einen Burschen wie Tullier geraten konnte.« Der Sergeant funkelte böse mit den Augen. »Das allerdings frage ich mich manchmal auch, Mister Edward«, erwiderte der Colonel. Tullier duckte sich. Die Farbe verschwand aus seinem Gesicht, und er hustete stockend. »Gehen Sie wieder an Ihren Posten, Tullier!« befahl Colonal Goddard. »Und daß Sie ihn nicht wieder verlassen!« »Jawohl, Sir!« Poul Tullier wandte sich ab und schlich weg wie ein geprügelter Hund.
9. Ein neuer Tag schickte goldenes Sonnenlicht über den Ozean und unsere Insel. Ich hatte mich, noch müde, endlich erhoben, rieb mir gähnend über die Augen und verließ die Kammer im Obergeschoß, in der ich mit Shita den größeren Teil der Nacht verbracht hatte. Vom Flur aus schaute ich durch das Fenster über die Insel und sah das golden schimmernde Meer. In den Büschen und unter den Cottonwoods rührte sich nichts. Ich stieg die Treppe hinunter und fand die anderen in der Küche versammelt. Lieutenant Gage gab mir und Shita je einen Zwieback und sagte, das wäre unsere Ration für diesen Tag. Mein Hunger war so groß, daß ich den Zwieback so rasch es nur ging verschlang. Shita gebärdete sich noch schlimmer, da er gar keine feinen Manieren kannte. »Sie sind immer der letzte«, sagte der Colonel zu mir. »Habe ich etwas verpaßt?« fragte ich. Zorn flammte in Goddards Augen auf, verschwand jedoch wieder.
Shita gähnte und leckte sich die Schnauze in der Hoffnung, Krümel des Zwiebacks dabei aufzustöbern. »Wir müßten eigentlich auch Fische angeln können«, sagte der Colonel, selbst bemüht, das Thema zu wechseln. »Während der Ebbe findet man sicher auch Muscheln am Strand«, fügte ich hinzu. »Aber es muß auch Wild geben.« »Egal was, jedenfalls muß was Eßbares heran!« Goddard zog fünf Zettel aus der Tasche, die ungefähr seiner Handgröße entsprachen. Er schob sie zu einem Fächer wie Spielkarten auseinander und sagte: »Zwei davon haben auf der unteren Seite ein Kreuz. Wer die zieht, wird versuchen, unsere Verpflegung aufzubessern.« Colonel Goddard hielt mir den Fächer so hin, daß ich als Feigling gegolten hätte, wäre meine Hand unten geblieben. Ich zog ein Blatt, drehte es um und sah das Kreuz. »Na ja, wieso auch nicht ausgerechnet ich«, sagte ich und ging zur Hintertür. Shita trottete hinter mir her. »Nein, Sir, das können Sie nicht von mir verlangen!« schrie Tullier in den schrillsten Tönen. Ich blickte entsetzt zurück und sah in der Hand Tulliers den zweiten Zettel mit dem Kreuz. »Gezogen ist gezogen!« erklärte Goddard. Ich verließ die Ruine. Protest war sinnlos. »Ronco, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, kehrt ihr sofort um!« rief Goddard mir nach. Ich gab keine Antwort und beobachtete die Bäume und Büsche, während ich das Gewehr anschlug. »Das ist ungerecht!« jammerte Tullier, als er mich erreichte. »Dann bleiben Sie doch hier, zum Teufel!« Shita fuhr ihn knurrend an. Er sprang zurück und stürzte zu Boden. »Shita, laß ihn!« befahl ich dem Hund. »Los, weiter!« Widerstrebend gehorchte Shita und folgte mir. Es war zuviel, wenn ich mich außer um die womöglich überall lauernden Gegner auch noch um Wild, vielleicht um Fische oder Muscheln und noch um diesen Waschlappen kümmern sollte.
Aber der Kerl blieb mir auf den Fersen und rief: »Der Colonel zerfetzt mich in der Luft, wenn ich umkehre!« »Still, verdammt!« »Ist jemand in der Nähe?« »Nein, vielleicht nicht.« »Was dann?« »Man kann Sie meilenweit hören, Tullier. Wie konnten Sie es eigentlich bis zum Sergeanten bringen?« »Ich verbiete mir diesen Ton!« sagte Tullier aufgebracht, blickte sich aber wieder ängstlich um. Ich ging weiter, sah, wie sich die Büsche vor mir bewegten, und hörte den Hund knurren. Das Gewehr in meinen Händen entlud sich mit einem Donnern und spie Feuer und Rauch. Noch in das Krachen hinein stolperte eine Gestalt aus dem Gestrüpp und brach zusammen. Tullier rannte brüllend zurück. Ich hatte keine Wahl und mußte ihm folgen, wenn ich nicht riskieren wollte, von den Konföderierten eingekreist zu werden. Shita jagte vorbei und sprang ins Haus, in dem Gages Gesicht im Flur zu sehen war und der Gefangene im Keller die Kette gegen die Quader knallte. »Ronco hat einen erschossen!« brüllte Tullier, während er ins Haus stürzte. Ich gelangte keuchend in den Flur und blieb stehen. Zurückschauend sah ich den Toten am Rand der Wildnis, die das Anwesen aufzufressen begann. »So kann man niemals etwas jagen und auch keine Fische fangen«, erklärte der Kartograph. Ich ging weiter und fand die anderen in der ehemaligen Küche des Herrschaftshauses. »Zu viel Krach«, gab der Colonel zu. »Von oben aus ist eine Kuhle im Sand zu erkennen«, sagte der Lieutenant hinter mir. »Man sieht sie allerdings nur bei Ebbe. Wenn das Wasser sozusagen ganz unten ist. In solchen Kuhlen sollen sich Muscheln sammeln, hat mein Vater immer gesagt.« »Ist jetzt Ebbe?« fragte der Colonel. »Ich sehe nach, Sir.« Gage verschwand und stieg die knarrende
Treppe hoch, die beängstigend schwankte. Tullier hatte sich auf den Boden gesetzt und war bemüht, seine Fassung zurückzugewinnen. Draußen war es still, als wäre nichts geschehen. »Jedenfalls haben wir offenbar nur noch fünf gegen uns«, sagte der Colonel. Der Lieutenant kehrte zurück. »Das Wasser ist von der Kuhle weggelaufen, Sir.« Goddard blickte Phil Edward an, der etwas weiß um die Nase wurde. »Jetzt wir beiden, Mister Edward.« »Wenn Sie wollen, gehe ich wieder mit«, sagte ich. Goddard schüttelte den Kopf. »Jeder ist mal an der Reihe. Es würde sonst aussehen, als hätte ich die Zettel vorhin gezinkt. Aber ihr geht nach oben und gebt uns Feuerschutz, wenn es nötig werden sollte. Sie nicht, Tullier. Sie bringen es fertig, mir noch eine Kugel in den Kopf zu jagen!« »Wollen wir gleich gehen?« fragte Edward. »Sofort, Mister Edward«, erwiderte der Colonel. »Jetzt rechnet die Bande sicher nicht damit, daß wir es gleich wieder versuchen. Haben Sie Ihre Waffen?« »Ja, Sir, die habe ich.« Colonel Goddard rückte seinen Revolver zurecht. »Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Ihr geht nach oben, los, los!« Ich ging mit dem Lieutenant zur Treppe. Shita folgte uns, sprang vorbei und raste die knarrenden Stufen hoch. »Eigentlich könnten Sie uns den Hund mitgeben, Ronco«, sagte der Colonel. Ich war stehengeblieben und schaute zurück. »Sir, der geht nicht mit Ihnen. Sie müßten mich dann schon …« »Wie oft muß ich eigentlich noch sagen, daß Sie nicht an der Reihe sind?« sagte Goddard, winkte ab und verließ das Haus durch die vordere Tür. Gage war bereits mit dem Hund im Obergeschoß. Unten saß Tullier und zog den Kopf ein. Draußen geschah nichts. »Hals- und Beinbruch, Mister Edward«, sagte ich zu dem
Kartographen. Er war mir nach Ben Canes Tod der sympathischste der Männer, weil ich das Gefühl gewonnen hatte, daß er immer genau das meinte, von dem er sprach. In seiner ganzen Art war er anders als der Colonel, anders auch als Simon Gage, der so gern ein schneidiger Soldat sein wollte, was mir gar nicht zusagte. Doch auch Gage war eigentlich ein verträglicher, kameradschaftlicher Mann, eben nur ein anderer Schlag als ich. Der Lieutenant stand bereits am Fenster und blickte hinunter. Goddard und Edward entfernten sich vom Haus und liefen in das Gestrüpp. Nirgendwo rührte sich etwas. Ich stand auf der anderen Seite des Fensters und ließ meine Blicke über das Dickicht wandern. Nichts bewegte sich. »Man hat keine Ahnung, wo die Halunken sind«, sagte der Lieutenant. Hinter den Büschen tauchten Goddard und der Kartograph auf und liefen zum weißen Uferstreifen hinunter. »Teufel noch mal, das klappt!« rief Gage so aufgeregt, daß es Shita zum Knurren veranlaßte. Ich sah, wie Goddard kniete und in den Tümpel griff, der sich am Strand gebildet hatte. »Da!« rief der Lieutenant und zeigte mit dem Revolver auf das Gestrüpp. Köpfe tauchten auf und wieder unter. Die Rebellen stürmten dorthin, wo sich Goddard und Edward befanden. Gage feuerte. Shita hüpfte in die Luft, so sehr hatte er sich erschrocken. Die Kugel fetzte in die Büsche. Ich schoß ebenfalls, legte das Gewehr weg und zog den Revolver. Die beiden Männer am Strand hatten sich aufgerichtet. Goddard sprang ein zappelnder Fisch aus der Hand. Er hatte jedoch noch mehr zwischen den Fingern, schien sich um den Rest nicht kümmern zu können und lief zurück. »Weiter nach Osten, Sir!« brüllte Gage. Äste wurden in die Luft geschleudert. Der massive Beschuß ließ die Kerle im Gestrüpp zurückweichen. Sie schossen jetzt auf uns, was uns zwang, in Deckung zu gehen. Querschläger jammerten
draußen herum, Geschosse klatschten gegen die Wände und fielen auf die Veranda. Ich wandte mich um und schoß die Trommel leer, um die Südstaatler an der Verfolgung unserer Leute zu hindern. »Alles in Ordnung, wir haben es geschafft!« rief der Colonel unter dem Fenster. Erleichtert lehnten wir uns gegen die Wände und luden unsere Waffen. Schritte polterten unten durch den Flur. »Tullier, sorgen Sie für das Feuer, wenn Sie sonst schon zu nichts nützlich sind«, sagte Colonel Goddard. »Lieutenant, wurde jemand getroffen?« »Niemand, Sir.« Ich stieg langsam die schwankende Treppe hinunter und sah die beiden Männer mit zufriedenen Gesichtern vor ihrem Fang, der beachtlich war. Es handelte sich um ein halbes Dutzend handtellergroße Muscheln und zwei Muränen, von denen die eine so lang wie mein Unterarm war. »Die Fische werden in dem Tümpel offenbar von der Ebbe überrascht und können nicht mehr ins tiefe Wasser«, sagte Goddard zufrieden grinsend. »Dort können wir uns bei jedem Niedrigwasser eindecken.« »Bei der nächsten Ebbe wissen die Kerle, wo sie zu lauern haben«, erwiderte ich. »Das stimmt allerdings«, sagte der Colonel. »Ich bin jedoch der Meinung, daß wir mit diesen Vorräten für zwei Tage ausreichen. Bis dahin müßten die Rebellen eingesehen haben, daß ihr Kampf gegen uns sinnlos ist.« »Ihr Wort in Gottes Ohr, Colonel«, sagte der Kartograph. Tullier entfachte Feuer und blies hinein. »Wir brauchen Wasser, um die Fische abzuwaschen«, erklärte der Colonel. »Ich gehe.« Mich umwendend, steuerte ich die Kellertreppe an und stieg hinunter. Der Sergeant stand an die Wand gekettet, obwohl die Kettenringe so tief angebracht waren, daß er sich auch auf den Boden setzen
konnte. »Warum stehen Sie denn?« fragte ich. »Tritt näher, du Würstchen, und ich drehe dir eine Wendeltreppe in den Hals!« »Ich begreife Sie nicht«, erwiderte ich. »Sie können sich nicht befreien und nehmen es lieber auf sich, wie ein wildes Tier im Keller zu hausen, statt sich wie ein Kriegsgefangener behandeln zu lassen. Der Colonel ist ein ordentlicher und fairer Mann. Der hätte euch alle gut behandelt!« »Meine Leute werden euch alle umlegen.« »Es sind nur noch fünf«, sagte ich. »Wenn mich nicht alles täuscht, konnte ich sie genau zählen. Der Captain der ›Egale‹ muß einer von ihnen sein. Stimmt doch – oder?« »Der Teufel soll euch holen, Yankee!« »Ich bin kein Yankee. Ich diene General Sherman als Zivilscout und wurde im Westen geboren. Dort bin ich auch aufgewachsen. Sie bringen offenbar schon alles durcheinander. Also, wenn ich mit dem Colonel wegen Ihnen reden soll, dann sagen Sie es.« »Scher dich zum Satan!« Ich sah in den Augen des Sergeanten, daß jedes Wort sinnlos war. So bückte ich mich nach einer Flasche, füllte sie in der Wanne und richtete mich auf. »Wollen Sie etwas trinken?« »Hau ab, du Stinktier!« Ich drehte mich um und stieg die Treppe hinauf. Der Gefangene riß und zerrte an den laut klirrenden Ketten. »Was ist denn nun mit dem da unten wieder los?« fragte der Lieutenant, als ich in die ehemalige Küche trat. »Der ist wild wie ein gefangener Bussard.« »Der wird schon noch müde«, sagte der Colonel überzeugt. »Jeder Vogel streckt früher oder später die Schwingen. Die anderen werden auch flügellahm. Die Nacht wird wieder schön kalt werden – nach dem langen Sonnenschein und dem klaren Himmel zu urteilen. Ich werde morgen mit ihnen reden.« »Was werden Sie?« fragte ich verblüfft. »Haben Sie mich nicht verstanden?« »Doch, Sir. Aber ich kann nicht glauben, was ich gehört habe.«
»Bis morgen früh ist der Gefangene fix und fertig und frißt aus der Hand. Dann gehe ich mit ihm zu seinen Amigos und rede mit dem Captain. Schließlich ist Erroll Gardner trotz allem ein Ehrenmann.« »Vielleicht war er das, solange sein Schiff noch schwamm«, erklärte der Kartograph. »Er wird annehmen, daß sich außer ihm und den paar Männern niemand hat von der ›Eagle‹ retten können, Sir. Vermutlich trifft das auch zu. So etwas verändert einen Mann sehr, wenn er sich verantwortlich fühlt.« »Das werden wir sehen«, erwiderte der Colonel. »Ich muß und will dieses sinnlose Blutvergießen hier auf der Insel beenden und mit dem Captain reden.« »Wann haben Sie sich denn das in den Kopf gesetzt?« fragte ich verblüfft von dieser Eröffnung. »Irgendwann, Scout, spielt doch für Sie keine Rolle!«
10. Was den Gefangenen betraf, hatte der Colonel richtig geschätzt. Der Sergeant war am Morgen fertig. Er lag auf dem Boden und machte einen völlig erschöpften Eindruck. »Haben Sie einen Namen?« fragte Goddard, als er vor uns den Keller betrat. Der Sergeant in dem schmutzigen, zerknautschten und voll Salz hängenden Cape setzte sich an die Wand. Sein Gesicht sah grau und stoppelbärtig aus, seine Wangen waren hohl, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen umgaben schwarze Ränder. »Dean Hope«, erwiderte er. Goddard schaute mit blitzenden Augen über die Schulter und zeigte uns den Triumph, der ihn erfüllte. Gage ging am Colonel vorbei. »Colonel Goddard will mit Ihnen zu Captain Gardner, um mit ihm zu reden. Es ist doch Captain Gardner, der das Kommando führt?« »Ja, er ist es.« Der Gefangene stöhnte. Der Kartograph gab dem Sergeanten zu trinken. »Und wie viele Leute?« fragte der Colonel. »Wir waren sieben mit Captain Gardner.«
»Was wollten Sie an Bord?« »Reiner Zufall, Sir. Eine Botschaft. Die ›Eagle‹ sollte nach Norden laufen.«, Goddard gab dem Lieutenant ein Zeichen. Mit der einen Hand, die Gage benutzen konnte, befreite er den Gefangenen. Hope stand auf und rieb seine Handgelenke. Er war unsicher auf den Beinen, ließ sich die Flasche geben und trank noch einmal. »Wir würden Ihnen etwas zu essen geben, aber heute haben wir so gut wie nichts mehr. Ihre Leute sind in einer besseren Lage.« Goddard winkte ihn an sich vorbei. »Aber keine Mätzchen, verstanden?« »Verstanden, Sir.« * »Es ist verrückt«, sagte ich leise zu Edward. Wir standen noch auf der Veranda. Die anderen, allen voran Goddard mit dem Gefangenen, hatten die schwankende Treppe bereits verlassen und steuerten die Bäume und Büsche an. »Er hat es sich eben so in den Kopf gesetzt«, entgegnete Edward. »Gegen einen Frieden wäre ja auch nichts einzuwenden, oder?« »Absolut nicht«, erwiderte ich. »Aber warum so plötzlich? Sagte er nicht, dieser Captain Gardner würde bis aufs Messer kämpfen, vor allem jetzt, da er sein Schiff verloren hat?« »Gesagt hat er von Erroll Gardner viel«, meinte der Kartograph. »Aber vielleicht geht es dem Captain wirklich wie seinem Kurier, der inzwischen auch die Nase voll hat.« »Hoffentlich markiert er nicht nur.« Ich stieg die schwankende Treppe hinunter und ging vorsichtig den Löchern aus dem Weg. Mein Blick wanderte erneut hinter den anderen her. Dean Hope humpelte im zerknautschten Cape voran. Goddard hatte den Revolver in der Hand und auf den Rücken des Sergeanten gerichtet. Wir ließen die Bäume zurück und drangen ins Gestrüpp ein. Bald sah ich die Stelle, an der Ben Cane und ich das Boot gefunden hatten. Es war völlig zertrümmert worden und teilweise verschwunden. Die Leiche schien man beerdigt zu haben, wie ein flacher Hügel vor den
Büschen andeutete. »Die scheinen das Boot zerschlagen zu haben, um das Holz verbrennen zu können«, sagte ich. Hope blieb stehen und schaute zurück. Wir hielten alle an. Tullier, Gage, Edward und ich standen zehn Yards hinter dem Colonel und der seinerseits drei Yards hinter dem Rebellen, den Revolver immer noch in der erhobenen Hand. »Was nun?« fragte Goddard scharf. »Es ist vielleicht besser, wenn nicht alle auf einmal auftauchen, Sir. Der Captain und seine Seeleute könnten erschrecken und unbeabsichtigt falsch reagieren.« Goddard schaute über die Schulter. Er wirkte unsicher. »Ich würde Ihnen raten, das ganze Unternehmen abzubrechen«, sagte ich. »Warum?« »Hier wurde Ben Cane erschossen, ohne daß wir einen Gegner sahen, Sir.« »Und?« Ich schaute auf die Büsche und meinte, überall dahinter würden versteckte Gesichter grinsen. »Reden Sie weiter, Ronco«, sagte der Offizier. Tullier wurde immer kleiner. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und tropfte vom Kinn. Auch der junge Lieutenant blickte sich unsicher um. »Ich habe das Gefühl, als würden wir beobachtet. Hier draußen sind die Rebellen uns überlegen, Sir.« »Das stimmt«, sagte Lieutenant Gage. »Ihr habt Angst, was? Kalte Füße gekriegt?« Colonel Goddard lachte blechern, schaute voraus und winkte Hope mit dem Revolver. »Vorwärts, gehen wir! Und keine Tricks, Freundchen, sonst sind Sie der erste, der ins Gras beißt!« Hope humpelte weiter. »Er hat in dem Gefangenen ein gutes Faustpfand«, raunte Edward mir zu. »Das sollten wir nicht übersehen, Ronco.« »Trotzdem«, beharrte ich.. Dean Hope hielt wieder an, als wir gerade an den Resten des
zerschlagenen Bootes vorbei waren. »Was ist nun wieder?« fragte Goddard. »Es ist wirklich besser, wenn die anderen etwas zurückbleiben, Sir. Nur noch ein paar Yards, damit für den Captain nicht alles wie ein Überfall aussieht.« »Der redet so laut, daß man es überall hören muß«, murmelte ich. »Also bleibt gefälligst noch ein paar Schritte zurück!« befahl der Colonel. Dann winkte er wieder mit dem schweren Revolver und folgte dem Gefangenen. »Waren Sie auch hier?« fragte der Kartograph Edward. »Nein, soweit nicht. Aber ich nehme an, die Insel ist bald zu Ende. Von den Fenstern im Obergeschoß der Ruine ist eine Lichtung zu erkennen. Kurz vor dem Weststrand.« Der Colonel verschwand kurzfristig aus meiner Sicht. Als ich ihn abermals sah, hatte er die Lichtung erreicht, die Hope soeben betrat. Nur undeutlich erkannte ich Gestalten am anderen Ende der Buschgrenze. »Achtung, sie sind alle hier!« schrie Hope plötzlich. Er hatte den Colonel näher an sich herangelassen und warf sich nun mit der Schulter gegen ihn. Goddard strauchelte. Hope lief, humpelnd und so schnell er konnte auf die Büsche zu. Goddard schrie etwas und schoß. Hope ließ sich fallen. Auf der anderen Seite der Lichtung entluden sich die Revolver, und der Colonel zuckte von mehreren Kugeln getroffen zusammen. Er taumelte vorwärts und lief in neue Kugeln hinein. Pausenlos schossen die Konföderierten, bis Goddard zusammenbrach und ein letztes Zucken seines Körpers vom jähen Ende des Mannes zeugte. Wir waren derart überrascht, daß keiner von uns einen Schuß abfeuerte. Tullier lief schreiend zurück. Auch der junge Lieutenant zog sich zurück, da er sich am weitesten vorgewagt hatte. Die Rebellen nahmen uns unter Beschuß. Kugeln pfiffen über das Dickicht und stoben in das verästelte Zweigwerk, das uns umgab. »Zurück!« rief Phil Edward. »Die legen uns alle um!« Gage und der Kartograph hasteten hinter Tullier her. Ich jagte
noch ein paar Kugeln zur Lichtung hinüber, dann folgte ich den anderen. Den Lieutenant hatte ich bald eingeholt. Der verletzte und geschiente Arm behinderte ihn. Ich blieb stehen, schaute zurück und hörte das Rascheln in den Büschen. Ich hob die Waffe und schoß die Trommel leer.
11. Wir hatten den Schutz des alten Gemäuers erreicht und schauten uns keuchend an. Shita knurrte laut. »Geh dort weg!« befahl ich. Shita gehorchte und kam zu mir an die Wand. Ich lud die Kammern meines Colts. Jetzt waren wir noch vier. Der verletzte Gage zählte nur zur Hälfte und Tullier, genau genommen, überhaupt nicht. Zu meiner Verblüffung sagte Gage: »Das Kommando führe ich jetzt.« »Sie?« Edwards Stirn legte sich in Falten. »Ich denke, daß ich hier der ranghöchste Soldat bin«, erklärte der Lieutenant. In dessen Stimme schwang unüberhörbare Arroganz mit. »Nun mal langsam«, erwiderte ich. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind Mister Edward und ich Zivilisten, Mister Gage. Wenn Sie also Befehle erteilen wollen, müssen Sie sich mit Tullier begnügen.« Phil Edward lächelte den Offizier ironisch an. »Viel Spaß dabei.« Plötzlich fielen wieder Schüsse. Ein Pfeifen erfüllte den Raum. Der Lieutenant brüllte getroffen auf, rutschte an der Wand entlang und kippte zu Boden. Er brüllte, weil er zu allem Überfluß auch noch auf dem gebrochenen Arm gelandet war. Wir stürzten zu den Fenstern und schossen auf die Rebellen, die unter den Cottonwoods aufgetaucht waren. »Die wollen es jetzt wissen«, schrie Edward. »He, Lieutenant, was ist los, wollen Sie uns nicht helfen? Tullier, Sie müssen den Kopf heben, wenn Sie zielen wollen.« Schießend stürmten die Rebellen auf das Haus zu.
Ich feuerte und traf den glatzköpfigen Maat in die Hüfte. Der Mann mit dem großen Kopf knickte ein und fiel auf die Knie. Auch Tullier hatte sich endlich entschlossen, zu feuern. Lieutenant Gage kroch mit verzerrtem Gesicht auf den Knien zum Fenster und entleerte seinen Revolver. Die Rebellen flohen vor dem konzentrierten Feuer in die Büsche zurück und überließen den Maat seinem Schicksal. Wir luden die Revolver und schossen wieder. »Los, Edward, den holen wir uns!« rief ich dem Kartographen zu. Wir liefen schießend hinaus und die Treppe hinunter. Ein Brett zerbarst, aber wir schafften es, konnten im Hof den Kerl an den Armen ergreifen und durch den Sand ziehen. Dabei schossen wir erneut auf das Gestrüpp, obwohl dort keiner mehr zu sehen war. Tullier tauchte an einem Fenster auf und schoß auf die Cottonwoods. Edwards und ich schleiften den stöhnenden Mann die Treppe hinauf und ins Haus. Der Lieutenant saß jetzt an der rückwärtigen Wand. Er hatte die Jacke offen, und so war das Blut auf seinem Hemd zu sehen. »Verdammt«, murmelte der Kartograph. »Tullier, passen Sie auf«, befahl ich, »daß uns diese Kerle nicht unversehens wieder überfallen.« Edward holte Verbandszeug aus den Notvorräten. Er schnitt erst Gage das Hemd auf und betrachtete das Loch, das eine knappe Handbreit unter dem Herzen saß. »Die müssen wir herausholen, Lieutenant. Sonst gibt es eine Blutvergiftung. Legen Sie sich hin, ich sehe mir erst mal den Maat an.« Simon Gage ließ sich stöhnend auf den unverletzten Arm sinken. Edward wandte sich dem Maat zu, riß ihm das Hemd auf und stellte fest, daß meine Kugel nur eine tiefe Fleischwunde gerissen hatte und von der Rippe abgeprallt war. Der Schmerz schien vorwiegend von dem Anprall her zu stammen. »Das kriegen wir eher hin«, erklärte der Kartograph. »Ich würde ihn verrecken lassen!« stieß Tullier gehässig hervor. Ich richtete mich auf. »Na ja, stimmt doch!« sagte Tullier. »Was treiben die denn mit
uns? Locken den Colonel einfach in eine Falle.« »Wir müssen doch nicht genauso schlecht sein wie diese Kerle«, erwiderte ich. »Wir tun auch nur, was der Captain befiehlt«, sagte der Maat schwach. »Er ist unser Vorgesetzter. Was sollen wir denn dagegen tun?« »Wie viele sind es noch?« fragte ich. »Fünf mit Hope, der Landratte.« Edward verband den Maat und schob ihn an die rückwärtige Wand, damit er nicht im Wege war. Er durchsuchte ihm die Taschen und nahm ihm ein Messer und Patronen ab, die wir gut gebrauchen konnten. »Krieg ist eben Krieg«, sagte der Maat. * Eine schier endlose Nacht hatte endlich ein Einsehen mit uns und begann sich im Grau eines neuen Morgens aufzulösen. Dichte Nebelschwaden krochen von See her über das Land. »Heute gibt es erst mal ein paar Stunden lang eine Waschküche, bevor die Sonne aufgeht«, erklärte der Kartograph. »Das ist die Wärme der letzten beiden Tage.« Ich blickte hinaus in die grauen Schwaden, die der scheidenden Nacht folgten und die Cottonwoods und Büsche verschluckten, kaum daß diese in der Dunkelheit sichtbar geworden waren. Kein Mensch hatte sich während der Nacht sehen lassen. Bleierne Müdigkeit steckte in mir. Edward ging es nicht besser. Tullier, der Lieutenant und unser Gefangener schliefen. »Sie haben das Boot zerschlagen, um Brennholz zu haben«, sagte ich versonnen. »Na und?« »Das Feuer hilft ihnen gegen die Nachtkälte«, fuhr ich fort. »Und um ein paar Fische zu braten. Auch ihre Kleider konnten sie daran trocknen. Auf jeden Fall aber hielt es nachts warm.« »Ich verstehe nicht, Ronco.« »Sie werden das Feuer immer an derselben Stelle entfachen«,
erklärte ich. »Und sicher brennt es jetzt noch.« »Ach, Sie meinen, dort könnten wir die Kerle überraschen?« »Zunächst einmal mit großer Wahrscheinlichkeit antreffen«, verbesserte ich. »Und bei diesem Nebel vielleicht auch überraschen.« Edward schaute hinaus. Unter dem Einfluß der ansteigenden Temperatur nahm die Dichte des Nebels zu. Er würde vermutlich in der Tat stundenlang anhalten. Schon war von den Cottonwoods nichts mehr zu erkennen. »Eine gute Idee.« Edward weckte Tullier und den Lieutenant, aber es dauerte eine Weile, bis die richtig bei sich waren und aufnehmen konnten, was der Kartograph ihnen sagte. Als sie es begriffen hatten, stand Tullier auf. Sie nahmen die Waffen in die Hände. Gage mußte jedoch liegen bleiben. »Aber schießt nicht auf uns, wenn wir zurückkehren«, sagte ich. »Und du bleibst hier, Shita! Als Verstärkung!« Wir nahmen die Gewehre mit und verließen das Haus. Unsere Blicke waren in den dichten Nebel gerichtet, durch den leise das immerwährende Rauschen des Meeres drang. »Hoffentlich sind sie auch wirklich dort, wo wir sie vermuten«, sagte Edward. Ich gab keine Antwort. Wir sahen die Bäume mit ihren bis auf den Boden hängenden Ästen auftauchen und wandten uns nach rechts, um sie und das Buschwerk zu umgehen. Wenig später konnten wir im Dunst das Wasser sehen. »Es fällt schon wieder«, sagte Edward leise. »Bald werden wieder Fische in der Kuhle schwimmen, wenn wir ein wenig Glück haben.« Ich lächelte ihm zu und ging weiter. Nur leise knirschte der Sand. Den Abstand zu den Büschen richtete ich so ein, daß ich sie immer gerade noch erkennen konnte. Wir passierten die Stelle, an der die Konföderierten das Boot ins Gestrüpp geschoben hatten und eine Rinne vom Kiel erhalten geblieben war, die der Regen allerdings rund und tiefer ausgewaschen hatte. Danach hörten wir ein leises Knacken und blieben stehen. »Ja, das ist es«, sagte Phil Edward. »Feuer! Ich höre es deutlich.« Schritt um Schritt gingen wir weiter. Lichtes Dickicht lag vor uns.
Dahinter zuckte schemenhaft Flammenschein durch den Nebel, und ein paar Gestalten waren zu sehen. Andere entfernten sich gerade. Laut raschelte es im Buschwerk. »Die gehen weg«, flüsterte Edward. »Aber nur zwei«, erwiderte ich ebenso leise. Es dauerte eine Weile, bis das Rascheln verklungen war. Wir schlichen weiter und sahen drei Männer am Feuer sitzen. »Los, Pfoten hoch!« befahl Edward. Die Kerle fuhren herum. Es waren der Sergeant im zerknitterten, schmutzigen Cape und zwei Seeleute. Als sie nach den Waffen griffen, schlugen wir mit den Gewehren zu. Ich traf den einen und trat nach dem Sergeanten Hope. Während der eine stöhnend umfiel, flog Hopes Waffe über das Feuer. Er griff nach meinem Bein und wollte mich umreißen, aber ich knallte auch ihm den Gewehrkolben ins Gesicht. Er fiel zur Seite und regte sich nicht mehr. Auch die beiden anderen lagen bewußtlos vor uns. Es waren nur wenige Sekunden vergangen, und die Geräusche hatten sich im Rahmen gehalten. Trotzdem lauschten wir. »Nichts. Die sind weg. Los, schaffen wir die Kerle fort!« Wir schnappten uns erst einmal die beiden Seeleute und zogen sie aus dem Buschwerk zum Strand. »Verdammt, jetzt haben wir Stricke vergessen«, sagte Phil Edward. »Ich hole Hope. Vielleicht liegt dort oben etwas herum.« Ich ging auf die Büsche zu, als sich ein Revolver entlud. Die Kugel streifte meinen Arm, und die Jacke riß auf. »Der ist schon wieder aktiv, Ronco!« brüllte der Kartograph hinter mir. Ich schoß und stürmte vorwärts. Jetzt konnte ich Hope sehen, der humpelnd um das Feuer hastete, sich umdrehte und erneut den Colt auf mich abfeuerte. Mich zur Seite werfend, feuerte ich zurück. Der Kerl verschwand in der Nebelwand hinter dem Feuer. Ich sprang auf und hastete weiter. Abermals wurde Dean Hope für mich sichtbar. Er hatte Dornengestrüpp erreicht, das sein Cape
festhielt und es von seinen Schultern riß, als er sich zu befreien versuchte. Er fuhr fluchend herum und schoß noch in der Drehung. Durch einen Sprung nach rechts entging ich der Kugel, schoß zugleich zurück und sah den Mann zusammenzucken. Er ächzte, stolperte vorwärts und stürzte über ein herumliegendes Brett, das zu den Sitzen des Rettungsbootes gehört haben mußte. Ich ging weiter. »Ronco, zurück!« befahl Phil Edward bei den beiden bewußtlosen Gefangenen, die am Strand lagen. »Das müssen die beiden anderen doch gehört haben, Mann!« Ich achtete nicht darauf, kniete und schob den Mann in der graubraunen Uniform herum. Hope lebte noch. Aber der Tod grinste mich an. Hope wollte noch etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Nur ein Stöhnen drang aus seinem Mund, dann verschwand der Glanz aus seinen Augen. »Ronco, wir müssen weg!« rief Edward. Ich drückte dem Toten die Augen zu, richtete mich auf und lief zurück. »Er ist tot.« »Die haben die Schüsse gehört, Mann!« Edward blickte auf die Bewußtlosen. »Was jetzt?« Da knatterten erneut Schüsse. »Das Haus!« Edward wirbelte herum. »Sie greifen das Haus an, Ronco!« »Beim Feuer liegt Verschiedenes herum«, erwiderte ich. »Fesseln Sie die beiden, und warten Sie. Ich versuche, Tullier und dem verletzten Lieutenant zu helfen!« »Gut, ich bleibe hier.« Ich stürmte durch das Gestrüpp und den Nebel, bis ich die Bäume erreichte. Shitas wildes Kläffen schallte aus dem Haus. Vor mir bewegten sich Captain Gardner und ein Seemann auf die Ruine zu. Sie schossen aus ihren Revolvern. Das ihnen geltende Feuer war nur schwach. Shita kläffte um so heftiger. Als sie wieder schossen, war ein gellender Schrei zu hören.
Ich blieb stehen. Undeutlich sah ich die Ruine wie ein Geisterschloß in den Nebelwänden. Tullier war aus dem Türrahmen getaumelt und stürzte auf die Treppe. Zwei Stufen zerbarsten unter seinem Gewicht. Er fiel halb in das entstandene Loch, blieb aber mit den Armen hängen, so daß sein Kopf sichtbar blieb. Der Seemann lachte, als er wieder schoß. Die Kugel traf die Stirn von Tullier, aber der war bereits tot. Lieutenant Gage kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Tür zu und schoß heraus. »Jetzt machen wir sie fertig und besetzen das Haus!« rief Gardner. »Dann sollen die anderen sich mal heranwagen!« Ich griff ihn von hinten an. Er hörte mich noch und schnellte herum. Doch ich war schneller und knallte ihm den Gewehrkolben gegen die Brust. Er kippte um. Der Seemann hatte sich gedreht und schoß, aber seine Kugel pfiff über meinen noch gekrümmten Rücken weg. Ich schleuderte ihm das Gewehr entgegen. Seine Hand wurde getroffen und geriet aus der Richtung. So fuhr seine nächste Kugel ins Gestrüpp. Mit langen Sätzen sprang ich auf ihn zu. Wir prallten zusammen, und er schlug mir seinen Colt auf die Schulter. Der Schmerz durchzuckte mich und wollte meine Knie einknicken lassen. Ich riß mich zusammen und hieb dem Kerl die Faust ins Gesicht. Er stöhnte laut auf. Lieutenant Gage schoß wieder. »Hören Sie auf, zur Hölle!« rief ich hinüber. Der Seemann sprang mich mit wutverzerrtem Gesicht an. Doch ich blockte seinen Hieb ab und knallte ihm die Faust auf die Nase. Er jaulte und kriegte glasige Augen. Ich setzte nach und feuerte ihm eine brettharte Rechte unter das Kinn. Das war das Aus für ihn. Wie ein gefällter Baum fiel er um. »Achtung!« brüllte Gage. Sofort wußte ich, was gemeint war, schnellte herum und sah den silberbärtigen Captain mit erhobenem Gewehr. Er hatte die Waffe am Lauf gepackt und wollte mir den Kolben auf den Kopf donnern. In letzter Sekunden warf ich mich zur Seite.
Der Gewehrkolben raste vorbei, traf den Boden und zerschellte. Ich griff an und schlug zu, aber es war, als hätte ich die Faust gegen einen Fels und nicht in Erroll Gardners Gesicht gerammt. Doch die Wut und der Lebenswille stachelten mich an. Ich schlug mit beiden Fäusten zu und traf Gardner auf ein Auge und am Ohr. Er taumelte, als hätte er Gleichgewichtsstörungen. Nachsetzend deckte ich ihn mit einem Wirbel wilder Schläge ein. Shita setzte über den toten Tullier weg und raste die Treppe herunter. Hinter mir brüllte der Seemann. Ich konnte mich nicht um ihn kümmern, da Erroll Gardner mich gerade mit gesenktem Kopf wie ein Stier angriff. Aber Shita nahm mir den Seemann ab, flog wütend knurrend auf ihn zu und brachte ihn mit seinem Gewicht und der Wucht des Angriffs zu Fall. Ich schmetterte Gardner die Fäuste auf Augen und Nase. Als er einknickte, verpaßte ich ihm den Fanghieb. Er kippte ruckartig um. Shita knurrte mit gefletschten Zähnen. Er stand über dem käseweißen Seemann und schien auf den Befehl zu warten, zuzubeißen. »Laß ihn, Shita«, sagte ich. Knurrend wich der Hund zurück, die Schnauze immer noch zum Angriff offen und ein Glitzern in den Augen, das seine Wut verriet. Die Büsche raschelten hinter mir. Shita flog herum, blieb aber stehen. Edward tauchte mit dem Gewehr in der Hand auf und schaute mich an. »Alles in Ordnung?« »Ja.« »Beim Feuer lag Verschiedenes herum. Ich habe die beiden Kerle fesseln können.« »Dann scheint ja wirklich alles in Ordnung zu sein.« Edward blickte entsetzt an mir vorbei auf die Treppe, in der Tulliers Leiche hing. »Wir werden die Toten beerdigen«, sagte ich. »Und die Gefangenen ketten wir in dem Gewölbe an.«
12. Edward hatte ein paar Fische in der Kuhle gefangen. Ich saß auf dem Boden im Haus und schaute hinaus. Die wärmenden Sonnenstrahlen hatten den Nebel aufgelöst. Im Keller rumorten die Gefangenen mit den klirrenden Ketten. Lieutenant Gage lag stöhnend auf dem Boden. Edward entfachte das Feuer, um die Fische zu braten. Shita schwänzelte um ihn herum, um ja nicht vergessen zu werden, wenn es ans Verteilen der Beute ging. »Sind wir jetzt eigentlich schlauer?« fragte Gage. »Wie meinen Sie das?« Ich schaute ihn fragend an. »Na ja, Schiffahrtswege gibt es hier offenbar nicht. Nach uns sucht kein Mensch. Wir sind für die anderen im Meer ersoffen. Und schließlich wird das Wasser im Keller entweder zur Neige gehen oder faulen. So was hält sich ja nicht unbegrenzt.« »Es wachsen massenhaft Bäume und Büsche auf der Insel«, erwiderte, ich. »Also brauchen wir nur zu graben. Ich denke, wir werden schon in ein oder zwei Fuß Tiefe auf Süßwasser stoßen.« »Na gut«, stimmte Edward zu. »Und sich von Fischen zu ernähren, ist zwar auf die Dauer eintönig, aber immerhin lebenserhaltend. Wir werden weder verdursten noch verhungern.« »Könnten wir denn kein Boot bauen?« fragte Simon Gage. »Hier im Haus ist das Holz zu morsch dazu«, erklärte ich. »In dem Zeug hält kein Nagel mehr. Und von dem Rettungsboot ist keine ganze Planke übrig. Irgendwann wird schon mal ein Schiff vorbeifahren.« »Hoffentlich sehen wir es dann auch«, sagte der verletzte Lieutenant. * Das Wetter war wieder rauher geworden. Hochgehende Wellen beherrschten den Ozean. Die Brandung donnerte gegen die Düne auf der Nordseite und lief weit den weißen Strand herauf. Ich saß im Obergeschoß der Ruine und schaute hinaus auf das
diesige Meer. Seit acht Tagen saß ich nun viele Stunden jeweils zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an diesem Fleck und hoffte, irgendwann einmal Masten, Segel oder eine Rauchwolke von einem Dampfschiff zu erkennen. Doch mit jedem neuen Tag war meine Hoffnung geringer geworden. Vielleicht gab es wirklich Inseln in der Weite des Atlantik, die niemals ein Schiff ansteuerte. Auf einmal war es mir, als hätte ich doch etwas anderes als Wasser und Himmel gesehen. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Nein. Es waren nur die Wellen, von denen manchmal Schaumkämme in die Luft flogen. Unten verließ der Lieutenant das Haus. Sein Arm war wieder in Ordnung und seine Brustwunde soweit geheilt, daß er sich, wenn auch nur mühsam, bewegen konnte. Er schleppte sich die Treppe hinunter, gefolgt von Shita, der zu dem Wasserloch lief, das wir gegraben hatten. Als ich wieder aufs Meer schaute, sah ich es wieder. Zerrissener Rauch stand über dem Wasser und etwas Graues, das Konturen hatte. »Ein Schiff!« brüllte ich. Edward stürzte aus dem Haus. »Ein Schiff!« Ich zeigte nach Norden. Tatsächlich tauchte ein Küstenwachboot auf einer Welle auf, versank aber gleich wieder in einem tiefen Tal. »Verdammt, die fahren vorbei, ohne uns zu sehen!« schrie Edward. Als ich das Schiff wieder bemerkte, war es näher an der Insel als vorher. »Nein, es fährt hierher«, sagte ich, verließ den Platz am Fenster und stürmte die schwankende Treppe hinunter. Das Schiff näherte sich auch weiter. Edward und ich winkten aufgeregt von der Veranda aus. »Sollen wir die Büsche anbrennen, damit sie sehen, daß hier jemand ist?« fragte Simon Gage. »Nein, die sehen uns doch!« Edward vollführte Sprünge und winkte und lachte ohne Pause. Als das Schiff in den Wellen beidrehte, vermochten wir die Unionsflagge am Heck zu erkennen. Unsere Freude war
unbeschreiblich. Shita war auch zurückgekehrt und kläffte auf die See hinaus. Wir sahen, wie ein Boot ausgebracht wurde und ein paar Männer einstiegen. Daraufhin liefen wir von Shita verfolgt zum Strand hinunter. Eine lange Welle trug das Beiboot weit auf den Sandstrand und setzte es unsanft auf. Das Wasser lief zurück. Ein Captain stieg aus. Lieutenant Gage salutierte und erklärte in einer zackigen Meldung alles, was wesentlich war, und so kurz und bündig, wie man es ihm in West Point beigebracht hatte. In der Beziehung war er uns anderen eben doch haushoch überlegen. Der Captain schüttelte den Kopf. »Wir suchen zwar die Inseln systematisch nach eventuellen Schiffbrüchigen von uns oder den Südstaatlern ab, aber daß hier vor acht Tagen noch Krieg gewesen sein soll, finde ich doch reichlich makaber.« »Sir, ich verstehe nicht«, sagte Gage. »General Lee hat am neunten April kapituliert, Lieutenant«, erklärte der Captain. »Der Krieg ist vor zehn Tagen beendet worden.« Gage schaute mich verblüfft und mit offenem Mund an. Wir waren so überrascht, daß wir es kaum zu glauben vermochten. Endlich war dieses sinnlose Morden beendet worden. Niemand sollte mehr um fragwürdiger Vorherrschaften und Vorrechte willen umgebracht werden. »Aber dann war ja schon Frieden, als Captain Gardner unseren Colonel erschoß«, sagte Lieutenant Gage fassungslos. »Darüber sollen sich die Kriegsgerichte die Köpfe zerbrechen«, sagte der Captain. »Wir geben nur unsere Aussagen zu Protokoll. Können wir jetzt die Gefangenen holen?« Wir waren sofort bereit. Eine Stunde später standen wir an der Reling des Küstenwachbootes und wußten, daß es sechzehn Meilen bis zum Festland waren. Die würden in zwei Stunden hinter uns liegen. Auch das vermochten wir uns nur schwer vorzustellen. Hinter den hochgehenden Wellen versank allmählich die Insel, auf der unser Ballon gestrandet und die für jeden zweiten von uns zum Schicksal geworden war. Wir aber dampften South Carolina
entgegen. Niemals zuvor in meinem Leben war ich so erleichtert gewesen wie an diesem Tag, und so sah ich der Zukunft mit neuer Hoffnung entgegen.
ENDE
Vorschau Ronco starrte auf den Umschlag, den ihm John Sallinger, der Sekretär Senator Wilsons überreicht hatte. »Was soll ich damit?« fragte er verblüfft. »Öffnen«, sagte Senator Wilson und paffte dichte Rauchwolken vor sich hin. Sein Gesicht verschwand wie hinter einer Nebelwand, aber Ronco sah, daß er zufrieden lächelte. Ronco ritzte den Umschlag auf. Spannung lag über den Männern im Zimmer. Lobo beugte sich etwas vor. Sein narbiges Gesicht war unbewegt. Ein wappenförmiges Abzeichen aus Metall rutschte in Roncos Hände. U.S. DEPUTY MARSHAL stand darauf. Ronco warf einen schnellen Blick auf den Senator, aber der sagte nichts. Ein Briefbogen war noch in dem Umschlag. Es war eine Ernennungsurkunde, ausgestellt von dem U.S. Marshal von New Mexico, Hepfinger, darunter befand sich die Unterschrift des zuständigen Bundesrichters. Roncos Gesicht wirkte wie versteinert. »Was ist los?« fragte Lobo. »Ich soll Deputy Marshal werden.« Roncos Stimme war nur ein Flüstern … Die Jagd auf Ronco geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 266 dieser großen deutschen Western-Serie:
Der Campesino-Töter