Peter Faecke DIE TANGO-SÄNGERIN
EDITION KÖLN
Peter Faecke
DIE TANGO-SÄNGERIN Roman Die Kommissar Kleefisch-Serie
Krimi & Co.
Der Tango ist mein Messer.
Der Tango ist mein Stolz, meine Wut, meine Liebe, mein
Rotz und mein Wasser.
Der Tango ist die Hure, die ich bin und die Heilige, die ich
hätte sein können.
Der Tango, das bin ich.
(Silvina Muller-Rosenthal, Tango-Sängerin)
Das Akkordeon öffnet und schließt sich wie die Kammern eines Herzens. (James Sallis, Schriftsteller)
Die Toten sind unerbittlich. Sie sagen, was mir nicht auf zuschreiben gelingt. Die Verschwundenen dagegen sind schweigsamer als die Toten. (Carlos Muller, Sportreporter und Schriftsteller, der seine
letzten Arbeiten im Kölner Exil zeichnete mit »Großer Schi zophrener auf blauem Grund«)
Halt die Klappe!
(Condoleezza Rice, Staatssekretärin und Beraterin, zu Geor ge W. Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,
Jerusalem, Januar 2008)
1. TEIL:
Kleefisch wacht auf, läuft warm
und trifft eine Frau
1 Aus letzter Zeit kenne ich nur zwei andere Fälle, in denen in Köln mit Klinge gearbeitet wurde sagte der Pathologe. Einmal dieser Russe draußen beim Flughafen. Der wird nachts von eindeutigen Geräuschen im Nebenraum wach: seine Frau vergnügt sich mit ihrem Stiefsohn. Heftig. Der prügelt den Sohn vor die Tür, schleift die Frau ins Bad. Da küsst er sie. Heftig. Und zack, schneidet er ihr mit dem Ra siermesser den Hals durch, vom rechten zum linken Ohr. Ein ungewöhnlich sauberer Schnitt. Rückhand. Und ich muss sagen: nicht ganz ohne Eleganz. Schließlich hatte er in Mur mansk jahrelang die Offiziere der sowjetischen Nordmeer flotte rasiert. Da staut sich was auf. Ich erinnere mich sagte Kleefisch. Beziehungstat. Sowas hilft mir nicht weiter. Wieso dir? Dich haben sie rausgeschmissen. Du gehörst nicht mehr zu uns. Frühpension. Zwar auch ein Tritt in den Hintern, aber mit Pantoffel. Seitdem habe ich bei dem Herrn Kriminaldi rektor Lieberman noch eine Rechnung offen. Er hat nicht bezahlt. Jetzt hat er. Du hast seine Leiche doch schon gesehen. Willst du noch mal? sagte der Pathologe und musterte Kleefisch mit alten, lüsternen Augen.
Seine Brauen sahen aus wie angewehter Sand. Und an den Mehlstaub seiner hellblonden Wimpern mochte auch nie mand so recht glauben. Aber er war weder Albino noch Eunuch noch Transvestit. Es handelte sich schlicht um einen Mecklenburger. Einer von da oben, da hinten, aus einem un tergegangenen Land, in dem der Wind des Experimentes am lebenden ArbeiterundBauern vierzig Jahre lang gepfiffen und der Sand der Ostsee geschmirgelt hatte. Nein, will ich nicht sagte Kleefisch. Aber es ist schon ein star kes Stück, das ihr hier bringt: schiebt den Lieberman einfach ins Kühlfach. Und keiner erfährt was vom Mord an ihm. Die engsten Angehörigen schon. Aber geht doch gar nicht anders. Willst du die ganze Fußball-Weltmeisterschaft ruinie ren im offenen, fröhlichen Deutschland? Wir behaupten nun mal, diese jeweils 90 Minuten von Knochenbrechern seien fröhlich. Wir selbst dabei weltoffen wie Humboldt. Da aber platzt uns dieser Lieberman rein, mausetot. Ausgerechnet ein Lieberman, der als Halbjude hier gepflegt wurde wie eine Zimmerpalme. Wie lange wollt ihr noch warten? Bis zum Abpfiff des Endspiels. Deutschland gegen Argentinien. Danach geben wir alles zu. Das mit dem Juden. Und dass es schon wieder eine Klinge war. Aber geführt von links nach rechts. Man muss eben nur diagonal am Hals ansetzen und dann schräg nach unten ziehen, durch die großen Halsgefäße eine möglichst keilförmige Wunde schneiden, die sich nicht mehr schließen kann. Hat der mit links alles richtig gemacht. Ihr habt Nerven.
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Oder wir gegen Italien. Wie? So oder so. Wahrscheinlich Italien. Obwohl mir ganz per sönlich Argentinien lieber wäre. Auch Frankreich wäre nicht schlecht. Der Torwart, dieser Barthez, hat stark nachgelassen. Aber jetzt mach ich erst mal Mittag. Heute gibt’s Rouladen. Mit Speckkloß und Mehlschwitze. Dazu brauche ich immer ein paar Tropfen Worcestershire Sauce. Hier sagte er und griff in ein Regal voller Reagenzgläschen und Glaskolben, teils leer, teils gefüllt mit trüben Flüssigkeiten, in denen Präparate schwammen. Es waren verschwiegene, verbockte Teile von Innereien, die nur ihm Geschichten erzählten. Hier sagte er wieder und zeigte ein Fläschchen mit rotem Eti kett vor. Die beste Worcestershire kommt heute nicht mehr aus England, sondern aus Pakistan. England ist ja überhaupt ganz out. Kein Wunder. Erst der Blaustrumpf von Thatcher, und dann dieser Schuhputzer von Tony Blair. Sieh dir nur deren Eisenbahnnetz an. Oder was diese englischen Rüpel jetzt Fuß ball nennen. Und ich war mal Anglophobe. Wegen der Beatles. Selbst die Königin muss heute schon das breite, gewöhnliche Cockney lernen, um sich verständlich zu machen. Und Urdu natürlich und Hindi. Wegen der ganzen Pakis und Inder. Kleefisch, aufrechte Männer wie du und ich, wir sind out. Und der Zweite? Der Zweite was? Ach so. Das war voriges Jahr. Ein Argen tinier. In Pulheim oder Stommeln. In diesem Westen Kölns jedenfalls, wo einem schon die Frittenbuden der Belgier den Atem nehmen sagte der Pathologe. 11
Den erinnere ich nicht mehr. Stimmt, da warst du weg. In der Wüste des Ostens. Als Entwicklungshelfer. Im Osten Berlins, in Treptow sagte Kleefisch. Ganz schlimm. Allein dieses Ehrenmal der Roten Armee dort. Ist lang her. Letztes Jahr war ich hier. Aber seitdem ich als Privatdetektiv arbeite, ist mein Gedächtnis nicht mehr auf Tote trainiert. Dir geht’s gut. Wie man‘s nimmt. Also? Was, also? Dieser Argentinier sagte Kleefisch. Das war eine Variante. Der war allein im Haus, hütete es für seinen Freund. War noch im Bademantel. Ein Carlos Muller ohne ü und mit noch was hinten dran. Wir vermuten, der wurde in seiner Diele von einem Landsmann begrüßt: Um armung und Küsschen links, rechts und wieder links, wie die da unten das so machen mit ihren Virenschleudern. Der dreht sich ab, will unhöflich vorangehen, und schon, zack, fängt er sich einen sauberen Schuss ins Genick. Übrigens mit einer Beretta 9mm, sehr beliebt in Argentinien. Sind doch halbe Italiener, diese Gauchos da unten.
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Muss nichts heißen. Berettas gibt’s wie Pizza und Pasta. Und wo ist da die Variante? sagte Kleefisch. Wer? Die Variante. Ach so. Ja. Die ist etwas delikat. Der Leiche wurde der Pe nis abgetrennt und in den Mund gestopft. So eine Variante hat in unseren Breiten keiner drauf. Deswegen habe ich den Pimmel konserviert. Da unten, kurz vor dem Südpol, soll das Verachtung bedeuten. Die Chinesen nageln dir einen Hund an die Tür. Wenn du dagegen in Afrika einen toten Hahn über dem Türsturz findest, bist du akzeptiert und dein Leben lang geschützt. In Alaska wiederum brauchst du dich nur vor den Frauen der Inuit in acht nehmen. Weil die natürlich auch im Winter riechen wie toter Wal in der Sonne des August. Natürlich, du Spinner sagte Kleefisch. Vielleicht wollte je mand mit dieser Variante eine falsche Spur legen. Aber der Fall ist mir völlig entgangen. Vermutungen? Wahrscheinlich Drogen. Die Pipeline Südamerika-Spanien, dann der Abzweig Frankfurt-Köln-Amsterdam. Allein aus seinen Haarspitzen hätte ich noch Cocasträucher züchten können. Seine Nase sah aus wie Pavian von hinten. Hatte sich als Künstler getarnt, der Bursche. Und hatte wohl auf der falschen Bühne gesungen oder seinen Stoff nicht bezahlt. Aber wir waren damals auch zugemüllt mit Arbeit bis über die Ohren. Unter uns gesagt, hier im Keller, und wo er jetzt tot ist: ich hatte nicht den Eindruck, dass Lieberman da sonderlich Druck machte. Du weißt doch, was er von Ausländern hielt: solange die alles unter sich regeln, ist das 13
ruhender Verkehr. Und dieses Argentinien da unten: mal ein Tango, klar, den hört jeder gern. Aber sonst war das wie Fid schi für ihn. - Willst du ein Pfefferminzbonbon? Hilft nicht gegen den 11-Uhr-Kater, nein, Viertel vor Zwölf, aber ist gut gegen den Alkoholdunst. Ich trinke nicht mehr. Und ziehe nur noch am kalten Pfeifenstiehl. Schrecklich. Ein Heiliger bei mir hier unten. Komm mit es sen. Ich geb dir die Hälfte meiner Roulade ab. Wenn Mari ta in der Kantine Krautrouladen macht, werden das halbe Brotlaibe. Ich mag keine Krautrouladen. Und du bist immer noch der Arsch von früher sagte Kleefisch. Klar. Anders geht es hier nicht. Wieso bist du dann Pathologe geworden? Mein Vater war Chirurg. Spezialisiert auf die Wiederher stellung von Gesichtern. Arbeitsunfälle. Die durfte es ja im Sozialismus nicht geben. Den holten sie von Rostock nach Berlin. Da hat er so manchem Agenten, der mit seiner alten Legende verbrannt war, ein neues Gesicht verpasst. Aber als die Mauer fiel und sein Siechtum begann, hatte er eine letzte Einsicht. Da hat er mir eingebleut: Junge, mach nicht bloß auf Maskenbildner wie ich. Und trag nie ein Parteiabzeichen. Werd was Nützliches. Zum Beispiel Bahnhofsvorsteher. Hast eine kleine Uniform, die einzige, die nicht gefürchtet wird und weltweit geachtet ist, und sorgst dafür, dass die schweren russischen Taiga-Loks auf den Meter genau halten. 14
So sagte Kleefisch und beobachtete eine kleine, wohl noch sehr junge Spinne, die eilig über das Laken des toten Mario Lieberman lief. Sie stolperte an einer Falte. Kein Wunder, bei den vielen Beinen. Dann verschwand sie am oberen Rand des Lakens dort, wo Liebermans Schädeldecke sein musste. Kleefisch erinnerte die schütteren, blonden, quer gekämmten und wie Strecke gelegten Haare des Mario Lieberman. Seine von Leberflecken oder Sommersprossen gefleckte Kopfhaut. Die kleine Spinne würde bei ihrem eiligen Spaziergang da auf kein Hindernis stoßen. Du kennst doch noch unseren alten Spruch sagte der Patholo ge. Wer ein bisschen eckig ist und was will, der landet unwei gerlich auf –ie: Psychiatrie oder Pathologie. Wie unser Uwe, dieser Johnson. Der einzige Mecklenburger, der schreiben konnte. Das Alphabet vorwärts und, wenn er nüchtern war, sogar rückwärts. Dieser Querkopf schüttete sich auf seiner nassen Insel in der Themse-Mündung mit Rotwein zu. Litt unter Verfolgung. Mal wars die Stasi, dann die Geheimen aus Prag. Heute sein eigener Verleger, morgen seine wenigen Leser: alles so wirres Zeug. Saß dann, massig wie er war, ta gelang tot am Tisch, und in seinem letzten Glas schwamm eine Fliege. Oder sieh dir diesen Barlach aus Güstrow an, den umflatterten abwechselnd Engel und Dämonen und … So sagte Kleefisch wieder, um den Absprung zu kriegen. Wenn sich der Doppeldoktor Dr.med., Dr.phil. Hans-Günter Carstensen erst mit Kultur aus Mecklenburg warm redete, war er nicht mehr aufzuhalten. Auch das kein Wunder, da er hier unten immer nur kalte, rheinische Platte serviert bekam. Also zur Bahn wollte ich nicht. Diese Sache mit den offenen Lokusrohren, und alles, platsch, auf die Gleise, das ging mir 15
immer gegen den Strich. Und so bin ich eben hier auf den Hund gekommen. Pathologie und Westen. Ein Kellerkind. Ein Exilant. Die Kölner halten uns Mecklenburger, die wir nun mal hell sind wie Mehl, ohnehin für Zombies. Wir sind eben ein großes Land geworden. Wusstest du übrigens schon, dass neuerdings gleich in jedem Deutschen der Ausländer steckt? Von wegen „offen und fröhlich“. Die eine Hälfte ist der Ausländer der anderen Hälfte. Und wer Sächsisch spricht, ist der Neger. Wusstest du das, Kleefisch?- Kleefisch!
2 Der Gesang der Amsel dicht vor dem Fenster hatte ihn ge weckt. Es war ein kräftiger Hahn mit einer weißen Schwanz feder, der eine Menge Tonfolgen nachzuahmen verstand. Schon voriges Jahr hatte er hier gesungen. Und jetzt war das Kerlchen seit Wochen wieder spitz wie eine Glasscherbe. Sonne. Ein herrlicher Tag. Und wieder ist Köln diese ganz und gar verdorbene, aber unwiderstehlich schöne Hure sagte sich Kleefisch im Bett seines Siedlungs-Reihenhäuschens aus den 20er Jahren. Seitdem er mit der höheren Nüchternheit des Abstinenzlers geschlagen war, brachte tatsächlich sein Kopf schon am frühen Morgen so einen schwierigen Satz zustande. In diesem Kopf tobten der Blütenschaum und die Flutwellen des Sommers, aber in seiner Schlafanzughose war Ebbe. Sel ten nur noch ein morgendlicher Ständer. Er war jetzt eben in diesem Alter, wo der Sommer zwar Sehnsucht nach Nähe bringt, Aufruhr und Wirrnis, aber in allem steckt doch, wie Ungeziefer in der Wäsche, Bitterkeit über die versäumten, auch von ihm selbst verratenen Lieben. An den verwelkten Zustand der Frauen, die ihn bei seinen Streifzügen durch Köln überhaupt noch musterten, durfte er gar nicht denken. Ihre traurigen, enttäuschten, manchmal aber auch sehr schlauen Augen. Für die Jüngeren und ganz Jungen war er bloß noch eine läs tige Fliege. So war es. Und auf die Altersweisheit würde er 17
vergeblich warten. Ihm als trockenem Alkoholiker blieben im Glas ohnehin nur die Eiswürfel der Vernunft. Einsicht und Vernunft. Ein Getränk, das pur selbst die Heiligen nicht runter kriegen. Er würde gern noch einmal eine junge Mulattin lieben. Richtig lieben. Keine Hure, sondern eine Geliebte. Oder wenigstens eine Hure, die sich wie eine Geliebte zu verhalten versteht. Eine mit dem Hintern eines Pfirsichs. Und diesem Duft von Gewürzkräutern zwischen den Beinen. Und schon regte sich doch etwas in seiner Hose. Nun gut, auch das Wattenmeer steckt ja voller Leben. Als er dann allein in der Küche am Frühstückstisch saß, fiel plötzlich der Herbst über ihn her. Logisch. Im Alter verstrei chen die Jahre immer schneller. Du stehst im Juli auf, und wenn du es endlich bis zum Küchentisch geschafft hast, wa bern draußen schon die Nebel des Oktober. Und der Herbst mit seiner hässlichen Aufforderung, sich um eine Grabstelle zu kümmern, tut wirklich weh. Und ängstigt. Kleefisch war immer noch allein. Im letzten Jahr hatte er es nicht geschafft, sich mit Frau und Tochter zu versöhnen. Sie bockten. Er auch. Erst hatten die beiden Frauen wegen seiner Exzesse und Eskapaden gebockt, dann er. Jetzt behaupteten sie, er habe als erster gebockt, und deswegen bockte er jetzt wirklich. Oder umgekehrt. Oder gar nicht. Es war alles ver knäuelt. Das einzig Einfache auf dieser Welt ist der Verdau ungstrakt des Regenwurmes. Vorne rein, hinten raus. Und was hinten rauskommt, macht Sinn. Ist wenigstens für die Kleingärtner nützlich. Wo aber macht sein Leben Sinn, und wieso ist es nützlich?
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Kleefisch, mein Gott, Kleefisch, dein eindeutig schwerster Fall bist du selbst hatte voriges Jahr noch sein Freund und Untermieter Poggenpohl gesagt. Bis der Mann einen klit zekleinen Schlaganfall aus der Hosentasche zauberte, den allerersten Rauhreif eines Schlaganfalles, mehr nicht, mit diesem Pfund gegenüber der Beihilfestelle der Beamten wucherte und sich in ein stilles, sehr gepflegtes Altenheim im südlichen Niedersachsen verzog. In eine Kleinstadt, die ein Bilderbuch des Mittelalters ist. Eine Oase. Hier lebt je der wie ein Maharadscha. Verdammter Poggenpohl. Ein Verräter, dem er um ein Haar gesagt hätte, dass er ihn liebte wie einen Bruder. Und das, obwohl der Mann ein krank hafter Hypochonder und egomanischer Schreiber war. Ei ner, der für sein besessenes, erfolgloses Schreiben immer alles über Kleefischens Arbeit wissen wollte, dem aber bei jeder Leiche, die in Köln herumlag, das Herz in den Dick darm rutschte und der bald mit einer Spielzeugpistole un ter dem Kopfkissen schlief. Ein Schreiber eben. Ein Mann, der eine Stechmücke schon anfliegen hörte, bevor sie über haupt geschlüpft war. Aber doch ein Bruder. Ja. Wann sagt das schon ein Alter dem anderen Alten, und noch dazu so einem? Wir Alten sind doch verbockter als die Kin der im Sandkasten, wo eins dem anderen mit dem Plastik schäufelchen den Scheitel nachgezogen hat. Wieder hörte er den Gesang der Amsel, die er Carlos ge tauft hatte. Nach Carlos Gardel, dem Kette rauchenden, stets vom Übergewicht, wiederholt auch von schweren 1
Jungs oder vom Knast bedrohten König des argentinischen Tango. Er mochte diese Stimme. Und er mochte den Mann, weil er, wie Kleefisch selbst, ein Unehelicher war; ein Versprengter; gezeugt wie von überschäumender Milch von einem Vater, Coronel und Großgrundbesitzer, der mit seiner Samenkano ne in diesem damals noch leeren Süden unerbittlich herum geballert und auch nicht die eigene Tochter verschont hatte. Der Mann zeugte seine eigenen Enkel. Und dabei war nicht einmal sicher, ob Gardel, der argentinische Tango-Mythos, als Uruguayer oder als Franzose geboren wurde. Väter. Zugvögel. Hier naschen sie Früchte, dort scheiden sie Samenkörner aus. Seine Mutter Amalie Kleefisch hatte den Namen seines Er zeugers nie verraten und ihn mit in ihre enge Urne auf dem Westfriedhof genommen. Kleefisch wusste nur, dass er Köl ner war. Für gewöhnlich reichte ihm das. Aber es gab Weg strecken, auf denen er sich verstolperte. Selbst mit seinem nie aufgeklärten Tod war dieser Gardel ihm, dem Kriminalkommissar, noch nahe gekommen: zur Unkenntlichkeit verbrannt auf dem Flughafen von Medellín/ Kolumbien, weil sein Pilot an diesem 24. Juni 135 um 15:15 Uhr mitten im Start in den Kopf geschossen wurde auf der Bahn 36 – nicht, dass es eine weitere Startbahn gegeben hät te, ach wo; diese 36 war bloß eine Projektion, das pompöse Versprechen Kolumbiens, dereinst ein großes, ja großartiges und natürlich ganz und gar friedliches Land zu werden. Und dieses Versprechen war genauso theatralisch und poetisch und leer und für die Menschen wichtig wie jene Versprechen 20
von Liebe und Treue, die Carlos Gardel mit seinen Tangos in dem noch leeren, traumsüchtigen Argentinien gab. Noch einmal die Amsel. Also war doch noch Sommer. Und noch immer überall die Fahnen und Fähnchen eines offenen, fröhlichen Landes. Seit wann sind wir offen wie Kinderher zen und fröhlich wie der Pausenclown? Auch so ein Verspre chen wie das von den 35 weiteren Bahnen und wie jene, die dieser Gardel so eifrig besang. Und dabei hatte der Bursche die ganzen letzten Jahre mit einer Kugel in der Lunge auf der Bühne gestanden! Aber es geht sowieso alles durcheinander. Im Winter lärmt mit ten auf der Domplatte, vor dem Hotel Excelsior ein Schwarm grüner Amazonaspapageien. Und die Kölner Winter sind von denen in Abu Dhabi nicht mehr zu unterscheiden, wäh rend die Schwarzen in Kapstadt zuschneien, weiße Bettlaken plötzlich. Wirklich, Kleefisch, du gehst unter. Frau und Toch ter sind davongeflogen. Poggenpohl lässt sich von der Beihilfe aushalten wie ein Maharadscha. Und dem Lieberman wurde gerade in einem der Ruheräume des Mediterana in Bergisch Gladbach in sanfter Wärme, verführerischen Düften und ei ner einzigartigen Wohlfühl-Atmosphäre die Halsschlagader und der Kehlkopf durchtrennt. Kleefisch, jetzt bist du ganz allein. Mit dem Kriminaldi rektor Mario Lieberman hast du auch deinen besten Feind verloren. Er klappte die Dose mit den Corn Flakes, dem Körnerge misch: Sesam, Hafer, Weizen, Leinsamen, Nüsse mit einem energischen Klaps zu. Soviel Gesundheit schon am frühen Morgen ist auch schädlich. Und schlug, ungeachtet seines 21
erhöhten Cholesterinwertes, zwei Eier in die Pfanne und be deckte sie mit dünnen Scheiben Tiroler Frühstücksspeckes. Na, gar so dünn waren sie nicht. Und er legte noch eine drauf.
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Am Rhein sitzen schärft Kleefisch das Denken. Dom und Innenstadt zur Rechten. Die alten, noch von Häft lingen einer Außenstelle des KZ Buchenwald errichteten Messegebäude gegenüber, auf der anderen Seite des Stromes. Gerade werden sie für den Spaß-Sender RTL entkernt. Die von den Häftlingen gemauerten Backstein-Fassaden bleiben erhalten. Der Kölner, der Kölner an sich, kennt ihre Ge schichte. Und rührt nicht daran. Ein schlafender Hund, diese Geschichte. Aber wenn er aufwacht, schnappt er mit seinem letzten, natürlich auch schon kariösen Reißzahn zu. Dahinter werden, klimatisiert und schallgedämpft, künftig die Kreativen des Spaß-Senders darüber brüten, wie sich brasilianische Seifenopern mit ihrem Pomp der Tropen und den gebrochenen Herzen von Samba-Tänzerinnen auf die Kölner Rumpffamilien der Schmitz und Pütz und Mil lowitsch, der Marx und auch der vielen Kleefisch, Klefisch und Kleefuß übertragen lassen. In kleinen, gedankenleeren Pausen werden diese Kreativen dabei auf den Rhein blicken, den Dom, der sich, je später der Tag, umso schärfer im Ge genlicht abzeichnet. Wenn er überscharf wird, ein Scheren schnitt, alles bloß Schwarz und Weiß, dann ist der Kardinal zu Hause. Das Wasser nimmt, gleichmäßig und hungrig, die Geschichte mit. Stromabwärts nach Düsseldorf. Was dort anlandet, ist dem Kölner egal. Natürlich ist der Kölner, der Kölner an sich, 23
liberal. Aber der Düsseldorfer ist dem Kölner das rote Tuch. Erst vor schlappen 700 Jahren haben sie sich im Verlaufe des limburgischen Erbfolgekrieges auf den Rheinwiesen gegen seitig aufs Haupt geschlagen. Und heute hat die Düsseldorfer Rheinpromenade mehr teure Straßentunnel als die Kölner. Beides kein Grund, sich jetzt wie Verliebte tief in die Augen zu sehen. Kleefisch saß oben auf der Böschung und blinzelte in die Sonne, die über der Verwaltung der Lufthansa stand. Unter ihm, die Füße schon im Wasser, eine junge, in einem Buch lesende Frau. Ein Faltboot trieb vorbei. Noch eins. Ein älteres Pärchen in zwei Faltbooten, natürlich der Mann vorneweg. Vor Jahren noch hätte er einen Zweisitzer gekauft oder ein Tandemfahrrad, immerhin. Eine fingerlange Libelle schoss an seinem Kopf vorbei, schlug über der Leserin einen Haken, kehrte zurück und verschwand. Ein schöner Anblick: eine junge Frau, die sich tief in ein Buch versenkt hat. Langes, dunkelbraunes Haar, auf dem Sonne liegt. Haare, weich und seidig wie das Fell eines Maulwurfs. Bei so einem Anblick von hinten lenkt dich nichts ab: we der ihr Gesicht, das von aufwühlender Schönheit sein mag oder dessen Hässlichkeit tiefes Mitleid erregt, noch ein Buch titel, der Hundert Jahre Einsamkeit sein kann, aber natürlich ebenso gut Doktor Servatius und die nackte Leiche im See. Du siehst nur diese junge Frau, die sich in ein Buch versenkt hat. Und schon bist du das Buch. Du bist als Buch in der Frau. Siehst du, Kleefisch, du säumiger Leser, so ist das manchmal mit den Büchern. Und den Frauen. Von hinten gesehen.
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Kleefischens Tochter Andrea war die schönste Frau der Welt, schöner noch als Paris. Seit kurzem arbeitete sie in einem Kölner Buchverlag. Eine Fliege von Verlag, in dem sie auch den Lokus putzen musste, aber ein Buchverlag. Da arbeitete die schöne Andrea. Bei den Büchern. Ja. Stromaufwärts ein Tankschiff aus der Schweiz. Eine Woche bis Basel. Für gewöhnlich am Heck das Schweizer Kreuz von der Größe einer Kinoleinwand. Selbst auf einem Klodeckel am Vierwaldstädter See hatte Kleefisch das weiße Kreuz auf rotem Grund entdeckt. Aber jetzt, wegen der Fahneninflati on im Land des großen Nachbarn, ließ der Schiffsführer nur ein Schneuztuch hinten wehen. Was für eine Selbstsicherheit und Geschmeidigkeit diese alte Geschichte mit der Armbrust und dem Apfel den Schweizern doch gibt. Und, natürlich, die stummen Tresore in der Züricher Bahnhofstraße. Bei uns jetzt, an den Autos, den Fahrrädern mit und ohne angehängten Käfig-Kindern, den Bussen und Bahnen der Kölner KVB, den Reihenhäusern der Klein- und Kleinstfa milien, den teuren Wohnanlagen der Singles am Rhein, der Schwulen und Lesben und Finanzrentiers, den Hütten der Schrebergärten, den Kiosken, und selbst den Wohnsilos der Arbeitslosen und der in vorbeugendem Eifer zu 150prozen tigen Inländern konvertierten Ausländer, die wie Schorf an den Wundrändern aufgegebener Industrie in Köln-Kalk und -Mülheim leben: die Fahnen und Fähnchen in einem Land von Buben, die unartig gewesen sind. Dafür haben sie lange in der Ecke stehen müssen. Und jetzt probieren sie aus, ob ihnen wirklich alle wieder gut sind. Na schön, schwamm drüber.
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Aber jeder mit Frisur fürchtet sich doch davor, dass die Glatz köpfe die Stunde nutzen: ein Feuerwerk der Hakenkreuze in den Himmel schießen. Einen Neger hetzen. Zwei Türken verbrennen. Wenigstens in einer Nacht fünf Döner-Buden abfackeln, so etwas. Aber nichts. Selbst sie haben inzwi schen Medienberater und bleiben für die Dauer der Festspiele unsichtbar. Der Mecklenburger Dr.med., Dr.phil. Hans-Günter Cars tensen hatte Recht: der tote Lieberman hätte das Bild gestört, das Köln geben wollte. Auch Köln wollte in diesen Tagen schön sein und frei von Schmutz. Ein Versprechen auf stille, wogende Fruchtbarkeit noch dazu wie ein Kornfeld kurz vor dem Schnitt. Eine Ler che, sehr weit oben, singt in der blauen Mittagsglut. Der Bau er mit seiner Magd sitzt am Rande des Feldes unter einem Apfelbaum. Er labt sich an kühlem Quellwasser und selbst gebackenem Krustenbrot. Und sein Blick, schwer vor Ver langen, ruht auf der verschwitzten Brust der Magd, die sich hebt und senkt. Hebt und senkt. Hebt und senkt. So ein schönes Bild wollte auch Köln jetzt sein. Ja. Die Leiche dieses Mario Lieberman aber nahm auch der Ge vatter Rhein dem Kleefisch nicht aus dem Kopf. Die kleine, wohl noch sehr junge Spinne, die gerade auf Höhe seiner Schädeldecke unters Laken kriecht. Liebermans von Leberflecken gesprenkelte Kopfhaut. Die 26
schütteren, quer Strecke gelegten Haare. Seine kleinen, abge kauten Zähne im Unterkiefer. Die sehr wachen, hellbraunen, fast gelben Augen eines Mannes, den Kleefisch von Anfang an gehasst hatte. So hatte er sich bislang nicht gekannt. Früh im Spiegel bei der Nassrasur sah er plötzlich einen Kleefisch, der von einem Tag zum nächsten einen anderen Mann hasste, den er kaum erst kannte. Wer, verdammt, war dieser fremde Kleefisch, den er morgen für morgen nass rasierte? Kleefisch sah seine grauen, borsti gen Haare, die buschigen Brauen, die einen Schnitt vertrugen, seine vertrauten, altersbedingten Leberflecken auf der Stirn, die kleine Hautverkrustung auf der Nase, seine vom Tabak verfärbten, leicht abgekauten Zähne im Unterkiefer, die eine Spur zu regelmäßigen, teuren dritten Zähne oben: eindeutig, das war er. Aber warum blickte dieser Kerl im Spiegel ihn jetzt so prüfend an, als sei er ein anderer? Und wer war dieser Lieberman? Lieberman war sein neuer Chef, nun gut. Von diesen Gift cocktails hatte er schon so manchen überlebt. Dieser Lieberman war mit dem Rückenwind seiner Partei so beschleunigt im Polizeipräsidium aufgestiegen, dass er noch Tage nach der Ankunft keuchte. Auch das geschenkt und überhaupt nicht neu. Schon gar nicht in Köln, wo ein Karnevalist dem anderen auf die Bühne hilft. Und in dieser Höhe, in der auch gern mit dem Hubschrauber abgesetzt wird.
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Jetzt bist du dran, mein Lieber hatte Egbert Poggenpohl mor gens in der Küche gesagt, den Finger auf der Meldung im Kölner Stadtanzeiger: unter diesem Lieberman machen sie dich zum Anstreicher. Gerade diese seine deutsche Volkspar tei streicht doch immer wieder die alten, schwer nachgedun kelten, in rissigem Öl gemalten Meister neu in den Farben von Ostereiern. Kleefisch aber hatte sich angewöhnt, diesen Mann erst gegen Abend halbwegs ernst zu nehmen. Schließ lich hatte er sich so früh am Morgen schon vorgeburtlicher kommunistischer Neigungen bezichtigt, er, ein Ostfriese, war dann aber sofort zur Seelenwanderung geschweift, ein unsteter Geist. Erst gegen Abend wurde er dann ruhiger und saß länger auf einem einzelnen, durchaus vernünftigen Ge danken, tief atmend wie ein Nachtfalter. Lieberman war außerdem einer, der, unauffällig zwar aber entschieden genug, die Finger im Mustopf der deutschen Schuld stecken hatte. Und das, obwohl er nur Halbjude war. Auch das ging in Ordnung. An so etwas rührte Kleefisch nicht. Wie er auch nie am System der subventionierten isra elischen Fernwärme herumfummelte. Er murrte nur, wenn, verdeckt und falsch deklariert, Panzer und andere monströse Tötungsmittel im Hamburger Hafen auf ihre Verschiffung nach Israel warteten. Was also wurmte ihn an diesem Mann? Warum hielt er ihn ständig im Auge und sah auf ihn wie auf ein verstörendes Insekt? Auf zwei Hauskäufe Liebermans im noch preiswerten KölnNippes, in dem einst Arbeiter und Handwerker die Weizen felder und Kartoffeläcker mit selbst entworfenen Häuschen, Werkstätten und Schuppen bebaut hatten, folgte einer in Köln 28
Rodenkirchen. Hier fahren die Inhaber Schweizer Konten zwar den Jaguar aus der Garage, sobald ihnen der Rhein mit Hochwasser droht, ziehen aber ansonsten nur gelassen die Beine hoch am Kamin. Der passgenaue, nie aufgeklärte Unfalltod dann des Besitzers einer kleinen, wunderschönen Lampenfabrik im Bergischen. Und schon ist Lieberman der Partner einer Witwe, die kaum Zeit hat, den Trauerschleier zu lüften und durch eine Kame lie im weizenblonden Haar zu ersetzen. Mit der schreitet die kleine, ältliche Braut, ganz im Pink einer Siebzehnjährigen und überaus lieblich anzusehen, an seinem Arm aus dem Standesamt im Historischen Rathaus. Und Kleefisch und Kollegen von Mord & Co. stehen Spalier. Und die beiden Männer sehen sich an. Wieder einmal. Kleefisch weiß längst, dass dieser Lieberman seinen Posten nutzt wie der Zauberer den Hut. Aber er weiß noch immer nicht, warum er den Lieberman hasst. Es genügte doch, die sen Mann mit seinen engen Interessen zu durchschauen. Lie berman dagegen weiß, dass er diesen Kleefisch irgendwann wird ausschalten müssen. Vielleicht sollte er ihm erst mal was auf die Fresse geben lassen, nachts, in einer der vielen verräu cherten Kneipen, die er bewohnt wie ein anständiger Mann sein Haus. So sehen die beiden sich an. Und wissen Bescheid. Während die ältliche Braut, ganz in Pink und wirklich sehr lieblich anzusehen, eine einzelne Träne des Glücks verdrückt auf Grund einer Fehlschaltung ihres Köpfchens: glaubt sie doch, dieser Kleefisch starre so, weil er gebannt sei von ihrem späten Glück.
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Mit Hilfe eines kleinen, eher buchhalterischen Beischlafes mit einer Sachbearbeiterin hatte sich Kleefisch die Personalakte Lieberman besorgt und danach bei der Synagogen-Gemein de recherchiert. Der Archivar, ein Greis mit den Fingern eines Pianisten, freute sich wie ein Junge, dass sich ein Kölner wirk lich einmal für die ursprüngliche Größe der ältesten Gemein de nördlich der Alpen interessierte. Und so stieß Kleefisch auf den Fleischgroßhändler Mordechai Liebermann und seine Söhne Wilhelm Oswald und Hersh, genannt Plüsch und Plum. Die hießen so, als hätte sie der Karikaturist Wilhelm Busch gerade eben erfunden sagte der Greis. Dieser Mordechai Liebermann mit den zwei n hatte nicht nur große Teile des rheinischen Fleischhandels im Griff, sondern musste auch stets den möglichen Winter des Juden im Blick gehabt haben. Da er ganze Schiffsladungen Rindfleisch aus Argentinien bezog, hatte er dort, in den Weiten des Landes, immer auch Eichhörnchenvorräte verscharren lassen. Und kaum schrien die ersten Nazis in Köln und zeichneten den Stadtplan um – das rechtsrheinische Köln-Deutz ist voll ständig abzureißen, das wird Gauforum, und von da aus eine zwölfspurige Allee nach Osten, die in Moskau endet (2x wöchentlich handgekehrt und staubgewischt von Unter menschen) – da schickte er seinen Sohn Plüsch, der sensiblere der beiden, der Geige spielte und Heine las, mit dem Aus wandererschiff Cabo de Buena Esperanza von Genua aus dorthin in Sicherheit. Er selbst, ein Stier von Mann, stellte sich noch auf dem Bahnsteig der Deportation in Köln-Deutz/Tief schützend vor Frau und Haushälterin und deren zwei Kinder und brüllte die Nazis zusammen, bis er auf den beiläufigen, nur leicht gereizten Wink eines SS-Untersturmführers hin erschlagen wurde wie eine Fliege; hatte aber zuvor noch da für gesorgt, dass sein Sohn Hersh, reichlich ausgestattet mit 30
Gold und Devisen, in dem unübersichtlich bebauten KölnNippes abtauchte zwischen kleinen Häusern, Werkstätten und Schuppen und hier tatsächlich als eines der wenigen UBoote Kölns die lange Finsternis überstand. Als der Junge endlich wieder auftauchen konnte, natürlich reichlich verschlammt und von Moos überwachsen, aber im mer noch mit gut geladener Batterie (sagte hier der Archivar der jüdischen Schrumpfgemeinde, der sich immer wieder mit der Unterlippe die Zahnprothese des Oberkiefers zurück schob, wo sie mit dem Geräusch eines Gewehrschlosses ein rastete), da wurde dieser Hersh Liebermann mit den zwei n der erste, na ja, sagen wir mal: sexuelle Notversorger Kölns. Und schon klingelte es bei Kleefisch. Vor allem wegen der zwei n: schließlich war er in der Melchiorstraße aufgewachsen, am Rande des einstigen Hurenviertels zwischen Hauptbahn hof und Ebertplatz. Und erinnerte noch die Legende vom ersten König der Huren, einem Hersh Liebermann, genannt Spitz, weil er klein und bissig war und mit einem Zacken am Ringfinger zuschlug, sobald etwas seiner Vorstellung von Ordnung zuwiderlief. Das war damals, als dieser Hersh Lie bermann das erste Hotel hinter dem Bahnhof hochzog, Hotel Flamingo, eine bloß zweistöckige, unverputzte Stundenabstei ge aus bereits schon einmal vermauerten Ziegelsteinen, und als die Huren noch aus den Ruinen des Eigelstein, des Sta venhofes, des Gereonswalles, des Thürmchenswalles pfiffen und Kleefisch ihnen mit kurzen Hosen und Schiebermütze zuhörte wie chinesischen Nachtigallen. Und eine, erinnerte er sich jetzt, konnte locken und ähnlich lange Töne rollen wie ein kräftiger Kanarienhahn: wahrscheinlich der erste Trans vestit seines damals noch sehr jungen Lebens.
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Und Plüsch? Was war mit Plüsch? fragte er den Greis, der zwischen Büchern, Aktenstößen und schmutzigem Kaffee geschirr jetzt seine Kippa suchte, die er aber ganz ordentlich auf seinem Kopf fand, festgesteckt mit einer roten Büroklam mer. Der Mann war eben Archivar: schon leicht vergesslich, aber noch immer sehr ordentlich. Plüsch war in Argentinien ein großer Mann geworden. Einer der eintausendachthundertundvier Männer, denen das Land gehörte. Für den weideten 10.000, vielleicht 20.000 Rinder in dem gewaltigen Land, das immerhin sechsmal größer ist als Spanien. Und im Süden hatte er nochmal soviel Schafe. Da unten, wo die Pinguine brüten, wissen Sie? Deren Kolonien sehen aus wie Werkssiedlung um 1900. Ruhrgebiet. Kohle und Stahl. Liegen aber in diesem Katatonien mit dem ewi gen Wind. Deswegen können die auch nicht fliegen. Wer? Die Pinguine. Das ist nämlich Darwin pur. Evolution. Ei gentlich sollten das Vögel werden, aber wegen des Windes ... Aha. Heißt aber Patagonien, diese windige Kante. Und? Was, und? Soll ich Ihnen mal das mit dem Darwin genauer erklären? fragte der Greis und ließ wieder die Prothese ent schieden einrasten. Lieber nicht. War er denn nie mehr hier? Der alte Darwin? Der Plüsch! 32
Doch, natürlich. Kaum fiel dieser neue Frieden über Köln her, Sie erinnern sich: die ersten Kölner zogen wieder durch die Stadt wie verwilderte Haustiere, und die englischen Besatzer schickten den Oberbürgermeister Adenauer wegen völliger Überforderung in die Wüste – Kleefisch erinnerte sich nicht, aber hatte Fotos im Kopf, Erzählungen seiner Mutter Amalie, mit denen sie ihn fit zu machen suchte für die Zukunft: alles sei brüchig und vorläufig, nach neuester Erkenntnis dieses Physikers Weinstein oder Zahnstein sogar die Zeit relativ, die Welt sowieso, Köln und der Rhein, und sie selbst bald eine alte Frau, hier, das erste graue Haar, und der Backenzahn unten links ist auch schon futsch – Ja? sagte Kleefisch. Ja sagte der Greis nach einem weiteren Raster der Zahnprothe se: da war er schon wieder hier. Dieser Plüsch, das war jetzt ein reicher Mann, auch wenn ihm ein n fehlte. Denn jetzt hieß er Lieberman, mit einem n. Und aus Wilhelm Oswald war Osvaldo geworden, wie die da unten das so machen. Die vereinfachen nämlich alles rücksichtslos. Aber in seinem linken Knie schlemmten Bakterien und Viren, ein Abszess, Sie haben ja keine Vorstellung, was es in so einem Land da unten neben Gelbfieber und Korruption und Mord und Tot schlag, Mafia und Diktatoren noch alles gibt. Nicht zu ver gessen die übrig gebliebenen Indianer mit ihren Giftpfeilen. Und deswegen lag er wochenlang im Marienhospital. Aha sagte Kleefisch. Und? Wie, und? Er hatte sie natürlich glatt geschwängert. Rein, raus, fertig war das Kind.
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Moment. Wir waren bei dem Knie. Den ganzen fremden Bakterien und Viren. Sie verstehen nichts von Plüsch. Wie denn auch sagte Kleefisch, ich war nie da unten, und mein Knie ist o.k. Ich bin nicht mal Jude. Eben sagte der Greis, das ist der Fehler, der sich durch Ihr ganzes Leben zieht. Plüsch war einer von uns und folglich ein sehr komplexer Mann. Der hatte seine fünfzehntausend oder zwanzigtau send Rinder im Kopf und die ganzen Schafe, diese ewige, unendliche Fruchtbarkeit da unten. Und seine Geige. Und den Heinrich Heine. Und seine große Liebe, die Berta. Das war die Tochter vom Kölner Richter am Landgericht Samu el Rosenthal aus der Weißenburgstraße, die sich aber nicht von ihm schwängern ließ. Ums Verrecken nicht. Und da zog er von Frau zu Frau und schwängerte selbst dann noch, wenn er schlief. Er war besessen vom Schwängern. Selbst im Schlaf sagte Kleefisch. Ja. Er versündigte sich. Aber ich habe immer gesagt: eine eh renwerte Sünde. Er legte es nämlich darauf an, 33 Kinder zu zeugen. Sie erinnern sich: 33, das Jahr, in dem Hitler an die Macht kam. Plüsch zeugte und zeugte, als wolle er alle unse re Toten ersetzen. Wenigstens seinen Teil der 11.800, die aus Köln deportiert worden sind. Wirklich, er versündigte sich. An Gott und an allen unseren 11.800 Toten. Und natürlich an den Frauen, das will ich gar nicht verschweigen. Aber auf ehrenwerte Art. Und dabei lief ihm eines über. 34
Wie, lief über? Wohin? Es wurden nämlich bis zu seinem Tod 34. Er schaffte die 33 nicht, er verhaute sich um eins, es wurden doch 34. Auch bei Ihnen wird es so sein: wenn Sie Ihr Wasser abschlagen, ein letzter Tropfen geht immer noch in die Hose. Genauso war es bei Plüsch. Meine Güte sagte Kleefisch, vierunddreißig! Und dreißigoder vierzigtausend Rinder? Na, ganz soviel waren es nicht, aber fünfundzwanzigtausend bestimmt. Unter dem, in diesem großen Land da unten, bist du nicht mal ein Zahnstocher. À propos Zahn sagte Kleefisch, Sie sollten wenigstens mal den Dentisten wechseln. Wer war denn die Frau hier, als da im Marienhospital diese ganzen Viren in seinem Knie – - die? Ach die. Ja, die lebt noch. In Köln-Brück. Pohlstadtsweg. Die hat uns schon viel Arbeit gemacht. Roswitha Niekisch heißt sie, damals Lernschwester im Marienhospital. Eine ewi ge Querulantin, die Frau. Ein Maulwerk wie eine Rassel. Die wird noch im Grab nach der unbewohnten Insel in der Mün dung des Rio de la Plata schreien, die Plüsch ihr versprochen haben soll. Völliger Unsinn. Ein Multi-Millionenobjekt, so eine Insel, heute. Selbst dieser Menem, dieser durch und durch korrupte Präsident hat es nicht geschafft, sich eine zu besorgen. Und der Mann hat ja nun wirklich geklaut, wo er nur konnte. So sagte Kleefisch und sog jetzt selbst prüfend an seinen obe ren Schneidezähnen, und diese Niekisch gebar einen Sohn. Und das wurde der Kriminaldirektor Mario Lieberman. 35
Richtig. Völlig richtig. Woher wissen Sie das? Weil ich Ihnen einen letzten Gruß ausrichten soll. Der Herr Kriminaldirektor hat jetzt schon im ganzen Präsidium ver schissen. Und irgendwann machen wir den alle. Dieses Mal kein Klicken im Oberkiefer: der durch und durch liebenswürdige alte Mann sah Kleefisch mit offenem Mund hinterher. Aber Kleefisch war nicht weniger betroffen abge fahren, war doch seine Mutter Amalie genau zu dieser Zeit ebenfalls Lernschwester im Marienhospital gewesen und eine Roswitha Niekisch ihre beste Freundin. Der selbe Jahrgang aus der Schwesternschule. Eine, mit der sie alles teilte: die Träume, das Zimmer, das Essen und selbst die noch spärliche Reizwäsche. Und beide Frauen hatten in der selben Woche im Marienhospital Kinder von Vätern entbunden, die sie nicht nannten. Daher war Kleefisch zum Westfriedhof ge fahren, wo er gelegentlich Zwiesprache hielt mit Amalie, die unter einer Zwergweide in ihrer engen Konservendose von Urne lag. Mama sagte er leise zu ihr, du hättest mir vielleicht doch ein Wörtchen über meinen Vater sagen sollen. Ich hasse diesen Lie berman, und ich will es gar nicht. Ich hasse ihn, weil ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Ich war daran gewöhnt, ohne den Nichtsnutz eines Vaters zu leben, ein freier Mann. Aber jetzt habe ich Angst, auch bloß so ein Lieberman zu sein. Noch so einer, der dem Plüsch übergelaufen ist. Du hast doch manch mal mit dieser Niekisch die Jungs getauscht. Du weißt nicht mehr zufällig, ob einer davon Geige spielte und Heine las? So ein quälendes Zeug war damals in seinem Kopf gewach sen. Und bald hatten Lieberman und er die Messer geschärft. 36
Es war klar, dass jeder den anderen zur Strecke bringen woll te. Und es war von vorneherein klar, dass Lieberman der Sie ger wäre bei der Art, in der Kleefisch gelegentlich das Gesetz unterlief und einen seiner kleinen Ganoven im Agnesviertel ungeschoren ließ; bei seinen ewigen Frauengeschichten noch dazu; und, natürlich, bei seinen tagelangen Ausfällen, denn zwischen zwei kaputten Frauengeschichten trank er doch wie ein Flusspferd. Und die Geschichten gingen alle schlecht aus, weil die Frau, in der Eile aufgesammelt und schon reich lich gebraucht, Schrott war. Weil er selbst längst Schrott war. Oder weil beide zusammen einen einzigen, scheppernden Schrotthaufen abgaben. Tja, Kleefisch. Und jetzt? Heute? Hier am Rhein? Mit dem toten Lieberman im Kopf? Und jetzt, hier am Rhein, oben auf der Böschung, unter sich noch immer die junge, in ihr Buch versunkene Frau mit ih ren weich schimmernden Haaren wie die eines Maulwurfs in der Sonne: hier sieht Kleefisch jetzt stromabwärts, noch vor der Zoobrücke, die Kölner Berufsfeuerwehr mit ihrem Wagen der Wasserrettung ans Ufer fahren. Zwei Gerätewagen hinterher. Polizei und Notarzt. Schon kreist der rote Hub schrauber, zeichnet Kreise ins Wasser und wirft Blasen. Aus dem Deutzer Hafen schießt, schnell wie eine Hornisse, das kleine, flache Rettungsboot, dem in gemächlicher Fahrt eines der beiden Feuerlöschschiffe zwecks Eigensicherung folgt: wieder mal ist jemand gesprungen von einer der drei Brücken stromaufwärts – der Severinsbrücke, der Deutzer Brücke oder der Hohenzollernbrücke, über die weiter, langsam und schrecklich unbeteiligt, die Züge vom und in den Haupt bahnhof rollen.
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Manchen Springern bricht der Rhein das Genick. Einige werden herausgezogen mitsamt ihrem ganzen Elend, das nicht endet. Andere sterben am Schock. Wieder andere verhaken sich am Grund oder treiben schnell ab Richtung Düsseldorf. Die Düsseldorfer haben keine Lieder. Sagen die Kölner. Aber die Düsseldorfer singen dann ... und treibt schon wieder ein toter Kölner im Rhein an Düsseldorf vorbei. Stromabwärts von Kleefisch fuhr das Löschschiff eine weite, elegante Schleife und richtete sich wieder stromaufwärts aus. Die junge Frau unter Kleefisch hatte das Buch geschlossen. Mit seinem noch immer scharfen Auge, dem Blick des Kom missars, las er den Titel: Die makrobiotische Ernährungswei se der Yanomani-Indianer am Amazonas. Was nicht alles zwischen zwei Buchdeckel gerät. Jeder Argentinier verdrückt 64 Kilogramm Fleisch im Jahr. Bis vor kurzem hatte Kleefisch noch 365 x 35 = 12.775 Zigaretten der badischen Tabakmanu faktur, filterlos, mit 10 mg Teergehalt pro annum geraucht. Ja. Auf der Höhe von Kleefisch warf der Schiffsführer kurz die Löschkanone zum Gruß an, schwenkte das Rohr, ließ es schnell wieder auströpfeln wie über dem Urinbecken, und Kleefisch griff nach seinem Handy. Hat euch wieder mal einer genarrt?
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Der Springer war flotter. Ruht sich schon auf dem Grund aus oder ist als Schnellpaket nach Düsseldorf unterwegs sagte der Schiffsführer. Günther war lange und begeistert zur See gefahren, bis die hohen Umschlaggeschwindigkeiten ihm den Spaß verdar ben: zwischen Löschen und Laden kaum noch Zeit für das Abenteuer eines feuchten Landganges. Und außerdem war er hier auf eine Kölnerin gestoßen. Die sagte, nachdem er mit einer Müllkippe von Frachter im Chinesischen Meer geken tert und drei Tage auf einem Fass getrieben war Entweder ich oder die See. Da diese Frau zu schön war, um ihr einfach so entkommen zu können, ging er als Schiffsführer zur Köl ner Feuerwehr. Hier hatten sie lange Zeit der Stadt Sicher heit bloß vorgegaukelt: stets lagen zwei Löschschiffe am Kai. Einem hatten sie die Maschine ausgebaut, für die neue fehlte das Geld. Aber das sah ja niemand. Ihr habt doch sowieso nichts zu tun. Denkst du. Wir kommen seit Tagen nicht dazu, unser kühles Fässchen aus dem Rhein zu ziehen. Gerade jetzt, wo alles fröhlich ist. Entweder läuft einer mit seinem Kahn auf Grund, weil er hart getrunken hat. Oder es springt einer. Zur Zeit springen sie wie die Lemminge. Weil, bei der ganzen Fröh lichkeit überall, da fühlen sich viele ausgeschlossen. Es ist eben plötzlich zuviel Fröhlichkeit im Land sagte Kleefisch. Grüß deine Frau, die schöne Inge. Danke. Kann ich bei dir ja zur Zeit nicht bestellen sagte Günther und gab Gas mit seinen 2 x Zwölfzylinder MAN, die 1000 PS entwickelten. Günther war ein runder und meist 3
glücklicher Mann. Vor allem dann, wenn er mit einer guten Maschine fuhr. Kleefisch stand auf, zerquetschte eine der trägen Höckerflie gen, die alle paar Wochen auf den Rheinwiesen explodieren und die sich ihm grau und lappig auf den Hosenlatz gesetzt hatte, querte bei Grün und neben einem Mädchen mit Tret roller und Windkanal-Sturzhelm wie bei der Tour de France das heftig befahrene Konrad-Adenauer-Ufer und bog in die Mevissenstraße ein. Vor dem klassischen Backsteingebäude, das einst die Kohlen barone des Ruhrgebietes hier mit Blick auf den Rhein errich tet hatten, um auch in Köln zu zeigen, wo das Geld im Lande herkam und wer es besaß und somit das Sagen hatte, wech selte er die Straßenseite. Hier, in der Wohnanlage Mevissenstraße 16 hatte er einen der letzten Fälle seiner Dienstzeit untersucht: der zunächst zwei felhafte Suizid einer Frau mit nacktem, kleinen Hund und Unmengen an japanischem Porzellan, die sich ganz und gar und völlig umsonst auf die lebenslange Rente eines Japaners eingestellt hatte, der sie einmal im Jahr, während der Kölner Eisenwarenmesse, mit der Gelassenheit des Eigentümers be schlief. Nun hatte sich der Mann aber mit einem Sortiment von Dübeln ruiniert, die nicht hielten; auf den lächelnden In seln Japans fielen reihenweise die neuen Holzhäuser in sich zusammen wie Kartenspiele. Drei Stockwerke darüber hatte jene Polin gelebt, die Kleefisch schließlich das Genick brach: eine Frau, die er liebte und die zwischen den Beinen nach frisch geschnittenem Tabak duf tete, nach Bratäpfeln und Pferdegespann und, jeweils ganz 40
am Ende des Duftes, schon nach der Weite Russlands, denn natürlich duftet solch eine gewaltige Weite, und der er abends beim Wein von der Enge der Täter und dem Würgeeisen des Gesetzes und von seiner eigenen Sehnsucht nach Weite er zählte, ohne zu wissen, dass diese Frau nicht nur fleißig am Eigelstein kellnerte, sondern ebenso fleißig auch für Lieberman spitzelte. Der hatte sie auf Kleefisch angesetzt. Er lief Richtung Cleverstraße vorbei an einer weiteren der hier teuren Wohnanlagen, die im einstigen Park der Ober postdirektion stand. In diesem Park hatte der Rottländer des Hausmeisters Röschen erschnüffelt und verbellt. Siebzehn Messerstiche in Brust und Rücken. Eine dürre fast schon Grei sin mit weißem Haar, die aber immer noch mit Erfolg auf den Autostrich der Cleverstraße ging. Es gab hier Spezialisten für mürbes, abgehangenes Fleisch, die selbst den Rentnerinnen hinterherhechelten, wenn sie abends ihren Dackel ausführ ten. Andere waren trainiert auf die Drogenabhängigen. Sie warteten in ihren Fahrzeugen, bis die Schwankenden in sich zusammenzustürzen drohten, dann erst waren sie erregt ge nug und gaben den erlösenden Wink. In diesen Straßen lief Kleefisch durch die Geschichte seiner eigenen Fälle. Aber von der Großen Geschichte selbst hatte er nur wenig Ahnung. In der Schule hatte er viel geschwänzt. Als Junge hatte er am Eigelstein schwarz gehandelt und der Mutter Amalie am Güterbahnhof Gereon Kohlen geklaut. Und wenn er die Schule nicht schwänzte, fiel sie wegen Leh rermangels aus. Viele der Lehrer waren zu Kriegsgräbern mit kleinen, ano nymen Kreuzen geworden, zwischen denen Nager huschten und Vögel pickten. Andere, die laut Lehrplan jetzt die lange 41
Finsternis der Nazis hätten erhellen sollen, redeten stattdes sen wie Missionare von den vielen Ländern, die sie mit der Wehrmacht überrollt hatten. Wieder andere, die eben noch Nazis gewesen waren, redeten ausschließlich über Griechen und Römer, hatten zwölf Jahre lang anspruchslos in einer Tonne gelebt wie Diogenes und sich vom Denken genährt. Die jungen Lehrer dagegen redeten wie Kinder, nämlich so, wie sie als Kinder unter den Nazis zu reden gelernt und mit dem Wahnsinn Fünfzehnjähriger die Flak in den Kölner Nachthimmel geballert hatten. Und in Kleefisch war dieses Loch geblieben. Lange Zeit hatte er gut damit gelebt. Wenn er Weizenkorn Fürst Bismarck trank, fragte er sich manchmal, was dieser Bismarck, der zum Geburtstag drei Dutzend Wachteleier verspachtelte, ihm noch so alles hinterlassen hatte. Und ob der kalte Schatten jenes Kaisers, in dem so viele verwachsen sein sollten, auch noch auf ihn gefallen war, den Johannes B.Kleefisch. Aber dann hatte er die Frage wieder vergessen. Sein Loch war das Loch der Stadt. Der unterirdische Bahnhof der Deportation Köln-Deutz/Tief zum Beispiel war vollstän dig in diesem Loch verschwunden. Auch die vierzig U-Boote hatten, wieder aufgetaucht, keinerlei Spur hinterlassen. Sie waren so im Nebel geblieben, dass manche von einer Flotte von hundert Booten redeten und ein bloß flüchtiger Zuhörer heute glauben konnte, die Kölner Kanalisation habe nur so gewimmelt von fröhlich abgetauchten Juden. Und jetzt, während Kleefisch am Ende der Cleverstraße den Theodor-Heuss-Ring querte und in den Ebertpark einbog, 42
jetzt lag in diesem Loch ein Lieberman und war tot. Am Rand des Loches saß der greise Publizist Ralph Giordano, angekettet ans Trauma seiner Deportation, und bellte. Er bellte so nachhaltig, dass allein deshalb schon niemand ins Loch zu sehen wagte. Am Ebertplatz hatte das Grünflächenamt Bäume gefällt und Sträucher geschnitten, um so die Wildpisser zu bremsen. Jene auch, die hier in aller Ruhe weiße Hintern in die Büsche reck ten und defäkierten. Und jene anderen, die sich, ganz ohne Ruhe und in voller Not, ihre Spritze setzten. Die kleine Operation an der Botanik hatte geholfen. Aber an der Stelle, die er jetzt passierte, hatte voriges Jahr die jun ge muslimische Mutter neben ihrem Kinderwagen gelegen, mit gebrochenem Genick und entblößtem Geschlecht. Bis zu 12.000 aufgebrachte Muslime waren damals auf Grund einer missverständlichen Äußerung des Metropoliten der Kirchenprovinz Köln, des Kardinals, die sie als Schmä hung des Propheten Mohammed verstanden, aus dem gesamten Bundesgebiet nach Köln geströmt und hatten gedroht, den Dom zu stürmen. Selbst auf den Molukken, verwischte Inselschatten in den Regengüssen des Monsuns, hatte es gegärt. Kleefisch konnnte auch diesen Fall bis heute nicht restlos klären. Er wusste nur, dass Teile dieses Groß ereignisses inszeniert worden waren. Und dass Lieberman daran beteiligt gewesen war, der sich schon kurz darauf mit neuem, nahezu unauffälligem Toupé den Kölnern auf Plakaten mit einem kleinen, wissenden Lächeln für mehr Sicherheit empfahl. Peter Faecke: Der Kardinal, ganz in Rot und frisch gebügelt. Ro man. Die Kommissar Kleefisch-Serie. 43
Aus Geldmangel lagen die einst schönsten Wasserspiele Kölns noch immer trocken. An den großen Metallscheiben der Wasserzerstäuber hingen Plakate der letzten fünf kurdischen Kommunisten, die noch nicht, unter unablässigen, voraus eilenden Gebeten aus den Nachbarzellen und dem Krachen von Pistazienkernen der Schließer, in türkischer Haft zu Staub zerfallen waren. Kleefisch ging an der Bank der Trinker vorbei. Nie war bei ihren schweren, schleppenden Stimmen zwischen Einigkeit und Streit zu unterscheiden. Schon hatte der Mittagspegel, den sie jetzt hielten, aus ihren Bewegungen Zeitlupen ge macht; während eine junge Türkin oder Rumänin, Bulgarin oder Albanerin, die Augen geweitet vom letzten Schuss, von einem zum anderen tänzelte. Sie brauchte Bewegung. Haut. Fleisch und Schweiß. Sie wollte vögeln. Jetzt. Sofort. Solange sie so weit oben flatterte wie eine Lerche. Und sie brauchte jemanden gegen die Angst vor dem Absturz, der unmittelbar danach käme, ein Sprungtuch, eine Hand hilf mir doch, du Feigling, fick mich, jetzt, hier, vor allen! Ein Haus weiter hatten hier früher, neben den noch laufenden Wasserspielen, ein hängender Garten, Italiener gestanden. Mit großen Gesten, als schöpften sie Wasser in der Adria und un ter gleichzeitigem Schnattern aller lösten sie hier sämtliche Probleme ihres schönen, versauten Landes. Jetzt sitzen hier getrennt Bosniaken und Kosovaren, Serben und Kroaten mit alten, faltigen Gesichtern und, wie Erde am Rand eines Loches, nach innen gefallenen Mündern, in denen noch der eine und andere schwarze Zahn steht. Und wieder erzählt einer von ihnen diese Geschichte weiter, immer nur einer, die er schon vor vierhundert Jahren in einer Schlucht des Balkan, unter ihnen glitzert der grüne, eiskalte Fluss, erzählt hat: eine 44
Geschichte von Hass und Rache. Es ist immer dieselbe Ge schichte. Er wird sie immer weiter erzählen, bis sie alle hier im Exil vertrocknet sind und abfallen wie Borke von einem Baum, den niemand mehr fällen muss und den auch kein Vo gel mehr anfliegt. Und schon musste Kleefisch den ersten grüßen, hier begann seine wirkliche Heimat. In seinem ererbten Reihenhäuschen in Köln-Bickendorf war er in der Fremde. Das hier war sein Viertel, der innere Kreis. Und so bog er in die Neusser Stra ße ein. Hier war er ganz zu Hause. Hier könnte er umfallen und jeder wüsste, wer er wäre. Sieh an, wen hat’s denn hier erwischt würden sie sagen und mehrfach bedauernd mit der Zunge gegen den Gaumen stoßen tss tss tss. Aber wieder kam ihm dieses Loch in die Quere. Die Ge schichte eine Abfallgrube, locker aufgefüllt mit rheinischem Karnevalsschutt und dem Glockengeläut romanischer Kir chen. Das hier war sein Viertel. Wenn auch sein Viertel ein Loch war, dann war er verloren. Er hatte doch zur Zeit nichts anderes als dieses Viertel. Und er sagte sich wieder einmal, dass er schon zuviel verloren hatte. Aber er besaß ja noch dieses Viertel. Und deswegen auch noch die Kraft, weiter ein bisschen in ihm aufzuräumen. Erst ganz am Ende wollte er auf einer Insel sitzen. Warm sollte sie sein, aber nicht tropisch. Mit gut wuchernder Natur, das ja, aber ohne diese schmat zende Fruchtbarkeit des Urwaldes mit allen seinen wider lichen Biestern wie Pirañas, Stachelrochen und Moskitos. Da wollte er noch ein wenig zurückdenken an den ganzen Mist, den er gebaut; an die vielen Lieben, die er versäumt; und an das eine und andere kleine Glück, das er genossen hatte so wie einer in eine vollreife Birne beißt: sein Leben. So sollte das enden. Auf einer Insel. Weil sich auf so einer Insel, ringsum 45
nur Wasser, am besten nachdenken lässt über alles das, was einmal war. Dann erst, bereits hinter dem Optikerladen, fiel ihm wie der ein, wie oft er die Schule geschwänzt hatte. Und dass seine Lehrer elende Versager gewesen waren. Und dass nicht sein Viertel dieses verdammte Loch war, das Loch war in seinem Kopf, nur dort. Und er ging auf die Melchi orschänke zu, die lange Zeit sein Wohnzimmer gewesen war. Seine Familie. Der Wirt Fiddy hielt ihm den Hocker drei Handbreit von dort, wo der rechte Winkel des Tresen in die lange Gerade ausläuft, immer frei. Schließlich war er hier nicht nur Bewohner sondern, durch die hintere Tür durch, an Küche und Lokus vorbei die steile Treppe hoch: auch der Mieter des Büros im ersten Stock – Kölns einzige Detektei, die durch eine Kneipe hindurch zu erreichen ist, vorbei an den Rücken der Trinker, die nur verhalten die Köpfe drehen, sobald sich einer in der Not des Verfolgten oder Verlassenen hinter ihnen vorbeischleicht und zum Pri vatermittler Kleefisch will. Mann, wo steckst du bloß! Schießt eine Frau in den Wind, die schön ist wie dieser Alfa Spider von 1955. »La Signorina« von Pininfarina. Das war noch ein Auto. Hart gefedert, brauchte beim Zurückschalten zweimal die Kupplung und einmal Zwischengas, aber ein Auto! rief Fiddy. Was für eine Frau? Eine, die ich mir sofort in die Garage stellen würde. Silber metallic. Nur ein kleiner Defekt an der Hinterachse: zieht das Bein ein wenig nach. Und will dich dringend sprechen.
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Hat sie was hinterlassen? Ihre Karte. Hier. Silvina Muller-Rosenthal. Übersetzerin. Tango-Sängerin. Was es nicht alles gibt in diesem Argenti nien da unten. Die haben bloß die Pünktchen vergessen. Welche Pünktchen? Die auf dem u. Hier steht Muller ohne ü. Ein Müller ist schon wenig, aber einer ohne ü ist doch rein gar nichts.
4 Nach der Qual von klinischer Entgiftung und Entwöhnung hatte Kleefisch ein besserer Mensch werden wollen: die dun klen Augenringe der um ihre letzten Jahre Betrogenen, mit der seine Frau zur Tochter gezogen war. Die Tochter selbst, die gelegentlich im Viertel still an ihm vorbeiglitt wie ein Segelboot. An ihrem Stiftzahn säuselte ein wenig Wind, das war der Gruß. Selbst ein an sich durchaus elastischer Kölner verkrampft, wenn er, wie Kleefisch neuerdings, auf Biegen und Brechen ein anderer werden will. Kleefisch tat das jetzt sofort, als, ohne auch nur anzuklopfen, diese Frau in sein Büro trat. Wie oft hatte er sich an Schönheit schon das Herz zerschrammt. Denn Fiddy hatte recht mit seinem Alfa Spider von 155: sie war reif und schön. Weiße Bluse, hellblaue Jeans. Sportlich und selbstbewusst. Silbergraues, offensichtlich langes, aber im Nacken verschlungenes Haar. Große, schwarze, sehr wache Augen, die keinerlei Kosmetik benötigten. Eine dieser Fünf zigjährigen, die sich weder durch Joggen noch durch tägliches Marathonschwimmen fit halten müssen, sondern die es da durch zu schaffen scheinen, dass sie fortlaufend Vieles vom Leben der Männer und Frauen durchschauen.
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Als würden sie wie ein Messer durch die Torte durch alles hindurchgehen. Als betrachteten sie die einzelnen Stücke und verkosteten sie und verstauten dann Teile von ihnen in Kammern ihres Selbst, wo sie ruhen und sie randvoll füllen und so Falten und Runzeln keinerlei Chance geben, sodass diese Frauen selbst dann noch ihr dünnes, helles Lächeln um den Mund spielen haben, wenn die letzte Klappe fällt. Dieses Lächeln eines klei nen, nahezu zeitlosen Kunstwerkes, mit dem sie noch immer schön sind und das sagen will, dass sie alles verstanden und damit überwunden haben: das Elend des Alters, die drohende Hinfälligkeit, und damit selbst den Tod. Ja. Kleefisch wusste nach den ersten drei Minuten: die sieht mir irgendwann bis auf den Grund. Schlecht, ganz schlecht, wo du dich gerade häuten willst. Halt sie aus oder wirf sie raus. Oder sag ihr gleich, dass du sie begehren wirst, bei der führt kein Weg drumherum. Und küss sie auf den Mund. Er hatte schon beschlossen, ihren Auftrag nicht anzu nehmen. Sie wollte schlicht selbst observiert werden, wo möglich noch vor leichten kleptomanischen Anfällen in der Kölner Einkaufszone Hohe Straße und Schildergasse behütet werden, so etwas. Und jetzt ärgerte ihn noch die Lässigkeit, das Maß an Sicherheit und Verachtung, mit der sie 20 Hunderter, zusammengehalten von einer großen Bü roklammer, aus einem Beutel zog und ihm mit spitzen Fin gern, wie eine tote Maus am Schwanz, auf den Tisch warf. Da lag jetzt die Droge.
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Sie müssen schwerhörig sein sagte Kleefisch. Vielleicht durch diesen ewigen Wind in Ihrem Katatonien da unten. Ich habe Ihnen gerade erklärt, dass mich Observation nicht interes siert. Zwei Kilometer weiter die Neusser Straße nach Norden, da leckt sich einer die Finger danach. Patagonien sagte sie.
»Observation« habe ich gesagt.
Patagonien wiederholte sie.
Na klar: Patagonien. Dafür aber herrschen in Ihrem Land
ständig katatonische Zustände.
Ich hätte nicht gedacht, dass ein Kölner Bulle auf Wortspielen
steht.
Privatermittler. Ich bin auf Gewaltverbrechen spezialisiert.
Fliegen fress ich nicht. Dafür hab ich meine Pension.
Ich weiß sagte sie.
Was wissen Sie schon von mir.
Genug, um Sie zu wollen. Ich lebe seit Jahren am Neusser
Wall. In Abständen hat sich das Viertel immer wieder das
Maul zerrissen über einen Johannes B. Kleefisch.
Stimmt.
Sie sind einer, der auf die Nase fällt und wieder aufsteht.
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Meistens. Eben. Das gefällt mir. Und jetzt will ich, dass Sie rauskriegen, wer mich in den nächsten Tagen töten wird. Das klingt natürlich schon ganz anders sagte Kleefisch lang sam. Er nahm, auch er mit zwei spitzen Fingern, das Euro bündel und warf es in eine Lade seines Schreibtisches. Sie sahen sich an. Zwei kleine, scharfe Falten unter den Mundwinkeln, sonst war ihr Gesicht faltenfrei, leicht ge bräunt. Eines dieser Gesichter, die sich aufmerksam nach Sig nalen ausrichten, dem Wind, den Gedanken und Gerüchen, den Freuden und Beleidigungen, aber nichts schreibt auf ih nen, nicht einmal die Tränen: das Gesicht einer dieser Frauen, die klug genug sind, alles zu verarbeiten und zu verstauen in Kammern ihres Selbst, die vielleicht längst überquellen oder gar verwüstet sind, von Nagern bewohnt und von Ungezie fer durchpflügt, wer weiß das schon, auf so einem schönen, reifen, leicht gebräunten Gesicht ist das nicht zu sehen also bewohnt sie am Neusser Wall eines dieser Häuser zum Eissta dion hin mit Garten drumherum, Sonne, sitzt auf der Terras se mit Stift in der Hand und liest und sortiert die Geräusche, das Grundgeräusch von der Inneren Kanalstraße und der Auffahrt zur Zoobrücke, das Telefon des Nachbarn, Kinder gekreisch vom Spielplatz im Fort X mit dem Rosengarten obendrauf, der Schuss eines Fußballes, hart und gemein, der genauso hart und gemein von der Fortwand zurückgewor fen wird, da sitzt sie und liest und notiert mit kleinem, sil bernen Stift und sortiert gleichzeitig alle Geräusche um sich herum, denn eines, irgendwann, wird das sein, mit dem sich ihr Mörder ankündigt, und natürlich hört sie von Tag zu Tag mehr Geräusche und werden sie schärfer, unergründlicher 51
auch, ein Kratzen an der Tür jetzt, das Huschen einer Amsel im Gebüsch, das Klopfen im Wasserrohr, ein fremdes Wähl geräusch im Telefon, längst ist jetzt der harte und gemeine Schlag des Fußballes ein Schuss, und deswegen sitzt sie jetzt hier, diese Schöne, die wahrscheinlich vollständig gaga ist. Kleefisch hörte weiter den Geräuschen vom Neusser Wall und von Fort X zu, während sie sich noch immer ansahen. Schließlich holte sie das ihm noch vertraute rote Päckchen der Badischen Tabakmanufaktur aus ihrem Beutel, zog eine der Filterlosen heraus, klopfte Tabak auf dem Daumennagel fest, das Klopfen von Arbeitern nach der Schicht und von mutwil lig freien Frauen, zündete sie an, suchte nach einem Aschen becher, den es nicht mehr gab. Einen Kaffee dazu? Zu diesen Hämmern habe ich früher im mer was getrunken sagte Kleefisch. Ich weiß. Es hieß, der Kleefisch trinkt wie ein Flusspferd. Ja, in Abständen. So hieß es. Espresso sagte sie. Und Cognac. Wie? Für mich einen Espresso, bitte. Doppelt. Und einen Cognac. Kleefisch griff zum Telefon und bestellte unten bei Fiddy zwei Doppelte, den einsamen Cognac, einen Aschenbecher. Wieder sahen sie sich an. Nichts weiter. Irgendwann werden Sie schon irgendwas erzählen. 52
Es gibt nicht viel zu erzählen sagte sie und drohte die Asche in den Espresso abzuklopfen, den Fiddy gebracht hatte, berich tigte den Kurs aber schnell: es gab einmal vier Haupterben des Rinderzüchters Osvaldo Lieberman mit einem n, der als Wilhelm Oswald Liebermann mit zwei n 1934 nach Argenti nien ausgewandert ist. Einer, mein Halbbruder Carlos Mul ler, wurde vor elf Monaten in Pulheim erschossen. Da waren es nur noch drei. Dem Kriminaldirektor Mario Lieberman wurde gerade der Hals durchgeschnitten. Seitdem sind es nur noch zwei. Und eine von den beiden bin ich. Ich hatte gehofft, diese Sache mit dem Lieberman wäre für mich vorbei. Es ist dieses Loch, das verdammte Loch sagte Kleefisch erregt, laut, zu sich selbst, als müsste er sich errei chen und von irgendwo zurückholen. Er trank einen Schluck von dem inzwischen lauen Espresso, den er vergessen hatte zu süßen. Der bittere Extrakt fiel ihm schwer in den Magen, Säure stieg auf. Noch ein Schluck, und er hätte ein Problem. Siehst du sagte sie, ihn übergangslos duzend, als säßen sie in einem Café auf der anderen Hälfte der Erde dort, wo alles lockerer zugeht und sich ein Tango, natürlich ein Tango in der Luft hält und dann wie Flügelschlag verweht, ich habe gewusst, dass ich hier richtig bin. Nicht so schnell sagte Kleefisch. Es fehlt noch der vierte Erbe. Und der wird dich erschießen? Der schießt nicht mehr. Seitdem er sich zwischen zwei Schiffswänden die rechte Hand zerquetscht hat, schießt er nicht mehr. Ein argentinischer Marineoffizier schießt nie mit links wie in diesen ganzen Western. Für den ist das eine Sache der Ehre. Der Moslem wischt sich mit links den Hintern ab 53
und isst mit rechts. Der Marineoffizier wischt mit links und rechts, ganz wie er will, in der Hinsicht ist er ausgesprochen unhygienisch. Aber er schießt immer nur mit rechts. Wegen der Ehre. Aha sagte Kleefisch, der jede Menge Western im Kopf hat te und auch genügend Muslime kannte, aber nichts, rein gar nichts von der Marine und ihrer Ehre verstand und jetzt ru hig war und gelassen und wieder sicher, dass diese Frau zwar schön, aber gaga war. Sie war völlig gaga. Aber er wird töten sagte sie. Mit Links. Wie er mit Links in der Sauna in Bergisch Gladbach getötet hat. Schlagartig war Kleefisch wieder unsicher und erregt. Sie wusste sogar, dass Liebermans Hals von links nach rechts durchschnitten worden war. Was nahelegte, aber nicht zwangsläufig bedeuten musste, dass der Täter ein Linkshän der gewesen war. So völlig gaga konnte diese Frau also doch nicht sein. Jetzt erzähl mal, von Anfang an sagte Kleefisch und kam sich plötzlich selbst vor wie einer dieser Gaga-Ärzte, der Sucht therapeuten in der Psychiatrie Köln-Merheim, unter deren im Laufe vieler Jahre gewachsener Stumpfheit er kürzlich erst gelitten hatte. Jede ordentliche Geschichte hat einen Anfang, und das Ende haben wir ja schon: du wirst in den nächsten Tagen getötet. Mit links. Nein sagte sie. Für die zweitausend Euro gehst du in die Wörth straße, zum Verlag Edition Köln. Da arbeitet als Lektor ein Thomas Hillebrand, der Sohn von Plum. Der weiß alles. 54
Mit Plum meinst du Hersh Liebermann, den früheren König der Huren vom Eigelstein? Ja. Der Bruder meines Stiefvaters Osvaldo Lieberman, ge nannt Plüsch. Die beiden wurden Plüsch und Plum geru fen. Obwohl der eine den anderen hasste wie der Kain den Abel. Und jetzt erzählte sie doch. Zwischendurch trank sie mit kleinen, genießerischen Schlucken ihren Cognac, klopfte dann einen weiteren Hammer dieser Badischen Tabakma nufaktur auf ihrem roten Daumennagel fest, zündete ihn an, inhalierte tief und redete auch schon weiter mit rauchverhan gener Stimme von einem Hersh Liebermann, der sein Ope rationsgebiet bald nach Frankfurt verlagerte, wo im Café Kranzler die noch kränkelnde Deutsche Währung durch Diamanten- und Mädchenhandel gestützt wurde und er mit deren Stärkung zum Bordellkönig aufstieg, der nebenher noch Wohnhäuser, Baugrundstücke, eine Tiefgarage sam melte wie andere ihre Goldketten; bis er, sagte sie und inha lierte und nahm einen letzten Schluck ihres fast schon kalten Espresso, über Nacht wegen ein paar riskanter Schachzüge schnelle Beine machen musste, ein König auf der Flucht, und in Tel Aviv landete, ein herzkranker Mann jetzt, dem die Mädchen aus Ägypten, Syrien, dem Libanon, aus Israel selbst, aus den von Israel besetzten Gebieten, aus Jordanien und aus den Flüchtlingslagern der Palästinenser aber immer noch jede Nacht ein kleines, ihn aufmunterndes Vermögen erwirtschafteten. Und hier saß er auf der Terrasse seines Pent house, trank einen trockenen Martini mit Olive, sah nach Westen in die untergehende Sonne und aufs Meer, und was sah er da? Dort sah er sein Ende.
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Klar, ein Mann allein, das Meer vor Augen und bei Son nenuntergang, der sieht sein Ende sagte Kleefisch, um nur irgendetwas zu sagen, was seine Klientin aber nicht hörte oder als nun wirklich neben der Sache gar nicht erst hören wollte, denn sie inhalierte nur kurz und war schon wieder bei Hersh oder Plum, der immer ein hartes, ja unerbittlich auch gegen sich selbst gerichtetes Leben geführt und sich dabei auf einer Geschäftsreise vor der Südspitze Indiens auf einer über ladenen Fähre noch die Pocken geholt hatte und seitdem auch Die Pocke hieß, was natürlich niemandem bekam, der es zu ihm sagte: selbst dieser Mann konnte doch jetzt, an seinem Ende, das Elend der Palästinenser nicht mehr übersehen. Und da rief er Arafat an, den Jassir Arafat. Er bot ihm die Hälfte seines beträchtlichen Vermögens an. Die andere Hälfte bliebe seinem einzigen Sohn Thomas, den er in Köln mit der Fri seuse Hillebrand aus der Venloer Straße gezeugt hatte und der immer noch Student war, ein Schriftgelehrter längst mit sechs Sprachen und noch immer nicht gelehrt genug, und da hörte er von Arafat nur – - und hörte nur von Arafat versuchte Kleefisch auszuhelfen, da sie sich am Rauch verschluckt hatte und eine lange Pause machte – - dieser riesengroße Staatsmann, dieses raffgierige Schlitzohr sagte sie dann und inhalierte wieder tief, der nun wirklich allem hinterherlief, was zwei Beine und ein Loch hatte oder wenigstens ein Mikrophon halten konnte und der selbst dieser spanischen Journalistin Isabel Dingsbums laut die Ehe ver sprach und das nur, damit sie ihn Tag und Nacht interviewte, was sagte dieser heilige Bock, der eigentlich auch Argentinier hätte sein können, wenn er nicht schon an die Palästinenser vergeben gewesen wäre, weil er doch Millionen einsackte 56
und auf kleine Zettel notierte, die er nie jemandem zeigte: der sagte dem Hersh da am Telefon auf seiner Terrasse, dass die Hurerei nun einmal eine Erfindung der Juden sei und dass es in den Ländern Mohammeds keine Huren gäbe und sie daher auch das Geld eines Hurenbockes wie Hersh Lie bermann, genannt Die Pocke, nicht annähmen, er solle sich seine Reichtümer, und verdammt sei er bis ins 19. Glied sei ner Nachkommenschaft, getrost in den Hintern schieben und dabei quietschen wie eine Wüstenmaus – - und natürlich, sagte sie hier noch, kriegte da Hersh, der gera de ein guter Mensch hatte werden wollen, wieder einen seiner fürchterlichen Wutanfälle, die auch am Beginn des tiefen Zer würfnisses mit seinem Bruder Plüsch gestanden hatten, dem er schon als Knirps im Kohlenkeller des elterlichen Hauses am Sudermanplatz eine Schaufel über den Schädel zog, so dass die Wunde mit neun Stichen genäht werden musste: die Ader an der Schläfe schwoll an wie ein Elektrokabel, die Halsschlagader ratterte wie eine Nähmaschine, er biss noch einmal in das Hühnerbeinchen, das er die ganze Zeit in der Linken gehalten hatte, verschluckte sich und erstickte am kalten, trockenen, sehr faserigen Fleisch, denn dieses Huhn stammte aus dem Kibbuz Ein Gedi, und dessen Hühner sind bekannt dafür, besonders zäh und faserig zu sein. Und was will uns der Dichter damit sagen? zitierte Kleefisch seine Deutschlehrerin vom Hansa-Gymnasium, eine aus Siebenbürgen zugewanderte Frau Veronika Schlesak, die er wegen ihrer kleinen, festen Brüste und ihrem Hintern ei ner Hummel still begehrt hatte, bis sie ihn, der nach wie vor rheinisches Kölsch statt preußisches Hochdeutsch sprach, ein ganzes Jahr wiederholen ließ.
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Eine Geschichte sagte sie nur, so wahr wie tragisch, und drückte die bis zum Äußersten gerauchte Kippe aus. Und jetzt solltest du für deine zweitausend Flöhe was tun. Ruf den Hillebrand an und verabrede dich mit ihm. Mein Stief bruder Carlos hat sein Leben lang alles aufgeschrieben. 7000 Seiten. Nur leider völlig durcheinander. Mit seinen Augen hörte Carlos die Toten reden, und mit den Ohren las er te lepathische Botschaften. Carlos war hochbegabt, aber kein stringenter Geist. Verstehst du: stringent! Mit etwas mehr Stringenz hätte er fast so groß werden können wie Borges und Cortázar. Er war also ein Fall für die Psychiatrie sagte Kleefisch trocken. Und wer sind Borsches und Cortascha? Unsere jüngsten Nationalhelden sagte sie. Wie Laurel & Har dy bei den Amerikanern. Riesen, wie alle Argentinier. Du musst wissen: wir haben das Abendland erfunden, den Dü senjäger, Paris, das Kaugummi und das Wetter. Alles. Wir haben soviel Rinder wie andere Länder Fliegen. Und wenn es blitzt, dann macht Gott gerade ein Polaroid von uns. Meine Güte sagte Kleefisch. Kein Wunder, dass ihr nicht so recht weiterkommt. Ihr stolpert ja immer über die eigene Größe. Deswegen seid ihr auch vor den Falklandinseln ins Wasser gefallen. Nein, das mit den Malvinen war anders sagte sie. Die trei bende Kraft damals war der General Galtieri, der schwächs te Kopf in der Militärjunta. Der verstand was vom Trinken, aber hatte keine Ahnung von Geografie. Eigentlich sollte die Marineinfanterie die Sowjetunion vom Kommunismus befreien. Aber Galtieri, ein Landei, hatte größte Schwie 58
rigkeiten, die Seekarten zu lesen. Er verhaute sich mit der Richtung und verwechselte außerdem die Krim mit den Malvinen. So fing dieses Drama an. Lass uns lieber mal Ernst bleiben. Schließlich willst du was fürs Geld. Ja sagte sie. Carlos hat sogar seinen eigenen Tod exakt be schrieben. Hillebrand will seit Jahren ein Buch daraus ma chen. Carlos ist tot, weil Hillebrand dieser große Zauderer ist. Ein Philologe, der wochenlang über einem einzelnen Absatz brütet, den er zunächst aus dem Guaraní übersetzen muss. Carlos schrieb im Guaraní der Indios, er schrieb nicht für jeden. Da liegt der Schlüssel. Das ist jetzt dein Job. Finde ihn, dafür habe ich bezahlt. Sie stand auf und ging. Sie hatte bezahlt, wie sie für alles zahlte: die Miete, das Essen, die Kleidung, vielleicht hin und wieder einen Mann oder eine Frau. Sie hatte erzählt wie verlangt, es gab nichts mehr zu sagen. Kleefisch sah ihr wortlos hinterher. Eine schöne Frau, die sich entfernt. Ein kleines, geschlossenes Kunstwerk, das verblasst. Fiddy hatte richtig gesehen: sie zog das linke Bein ein wenig nach. Sie hinkte leicht und versuchte, es nicht zu zeigen. Wie sie auch unter dem Deckel zu halten sucht, dass sie min destens eine kleine nymphomanische Schlagseite hat, dachte Kleefisch. Und wieder fiel ihm ein, dass sie gaga war. Viele, die hier ankamen, durch die Kneipe hindurch, die schmale und steile Treppe hoch, waren auf die eine oder andere Art leicht verrückt. Von ihren Nöten bereits so gebeutelt, dass es ihnen den Kopf verdreht hatte. Er griff noch einmal nach der Visitenkarte: 5
Silvina Muller-Rosenthal. Übersetzerin. Tango-Sängerin. Schöne Bescherung. Mit dieser Frau war er unter Künstlern gelandet. Er würde einen Dolmetscher brauchen. Aber Pog genpohl lebte weit weg. In der Südspitze Niedersachsens, in seinem Heim. In dieser kleinen, mittelalterlichen Stadt Hann. Münden, in der es jeder gemütlich hat wie einst die Maharad schas im untergegangenen Indien. Hier aber pfiff der Wind. Aus einem schwarzen Loch. Das war es. Er schloss die Au gen, und schon fühlte er sich, die Füße voran, in dem Loch versinken. So ein Loch ist eben ein unheimlich Ding: schluckt alles, und selbst ist es nichts. Ja.
5 Kleefisch biegt in die Weißenburgstraße ein mit ihren früheren 7-Zimmer-Wohnungen und Gesindestuben der gestrengen Herren vom kaiserlichen Landgericht. Längst sind die Wohnungen unterteilt, in den Hausfluren kämpfen Fahrräder mit Kinderwagen, und das Dutzend Hausbriefkästen liegt miteinander im Clinch. Im Café Ele fant drei junge Frauen, die sich mit einem einzigen, sparsam gezeugten Kleinkind beschäftigen, die es quetschen und deh nen und Wasser ablassen und Treibstoff nachfüllen, Steck verbindungen, Stromkreise, Drosselklappen, Kontakte und selbst das Knie der Kardanwelle prüfen, sodass es bei diesem Überangebot an Wartungskräften fürchterlich schreit. Ein vorsichtiger Blick dann in den Keller des Getränkeshops mit seiner lebensgefährlich steilen Treppe: huch, ist nicht mehr, die alte, Kreuzworträtsel lösende, hustende und rauchende Kölnerin mit ihrem schmächtigen Sizilianer wird sich tot geschimpft und totgeraucht und totgehustet haben in ihrem feuchten Keller neben diesem kleinen Mann, der alles sah: den Flaschendieb, den Zigarettenklauer, obwohl er immer woanders hinzublicken schien, denn immer war in seinen Augen: das schäumende, unter dem Scirocco ächzende Meer vor Sizilien; die blühenden Hänge von Taormina mit ihrem Duft der Zitronen; die Weinlagen am Hange des Ätna, an dem sich gerade eine grellrote Lavaspur herunterzieht; der Sägefisch, der in Giardini angelandet wird und mit dem Ge wicht einer Fliegerbombe auf den Kai schlägt: nur so hielt er die hustende Frau aus, den feuchten Keller, den türkischen Imbiss nebenan, denn auch Sizilianer und Türken, das ist eine 61
Geschichte, du glaubst es nicht. Und natürlich gab es in diesen Augen immer auch eine Spur von uralter Verruchtheit und Trotz, und die ließen Kleefisch stets argwöhnen, dass selbst dieser kleine Mann sein Schutzgeld an die Cosa Nostra zahl te, wenn er nicht sogar folgsam wenigstens Kleingeld für sie wusch. Jetzt ist eine Fahrradwerkstatt hier, lauter blinkende Zweiräder, berstend vor Gesundheit – und schon steuert Kleefisch auf den gewaltigen Block des früheren Landgerichtes zu, in dem erst im Namen des Kai sers, dann des Führers, schließlich noch eine Weile im Na men des Volkes die Delinquenten zur Ader gelassen wurden, sofern sie es überhaupt geschafft hatten, Kölns funktionals ten Treppenaufgang zu bewältigen: selbst gestandene, sehr erfahrene Engel wurden hier von Stufe zu Stufe kleiner, bis sie, oben angelangt, nur noch bloße Mitesser waren, deliktive Schmarotzer – schnell quert Kleefisch die hässliche Autoschneise der Riehler Straße zu den Ahornbäumen der Wörthstraße, die kürzlich erst geblüht haben weiß und klein und übervoll mit ihrem Duft nach Speise und Trank, ja reicher Speise und Trank, da mit du beim Gehen nicht stolperst vor Sehnsucht nach was ei gentlich? du weißt es nicht, Kleefisch, das ist das Irrwitzige an diesem Ahornduft, deswegen bist du immer hier, du saugst ihn ein, er füllt dich aus wie einen Anderen, zum Beispiel wie einen, der fliegen kann, nur zum Beispiel so, also du weißt es nicht oder hast nicht die Wörter dafür und möchtest jetzt ein Dichter sein wie früher als kleiner Schwengel Lokomotivfüh rer oder Boxer – geht jetzt vorbei am chipgesicherten Personaleingang der Oberfinanzdirektion, in den gerade, unauffällig wie Komma 62
fehler, zwei Sachbearbeiter schlüpfen, vertieft in ein Gespräch über Pfändungen und Bescheide, die Tür schlägt hinter ihnen zu, und da werden sie am Ende dieses Tages sterben, müde und aufgebraucht, wiewohl nie überanstrengt, und niemand wird sie je erinnern über diesen Tag ihres Todes hinaus – wechselt die Straßenseite und läuft vorbei am Eingang der Ka tholischen Fachhochschule für Sozialarbeit, wo ein paar Erst semester auf den Treppenstufen sitzen, Mädchen mit kleinen Brüsten und bekümmerten Hintern, als seien sie schon im Vorhinein geschrumpft im Elend des ganzen sozialen Repa raturbetriebes, der sie doch erst noch erwartet – quert jetzt die Cleverstraße, die inzwischen gesäubert ist vom Strich, von der Hochschwangeren auch, die hier ihren Stand hatte, von diesem Volvo-Fahrer auch, der hier wo chenlang pünktlich 20:30 Uhr Strecke fuhr, ein Fass von einem Mann, ein böses Kind von einem Fass von einem Mann, der nach Wochen erst unten am Rheinufer, kurz vor der Zoobrücke, zustach, ein einzelner Stich, präzise ins Herz, Lola hieß das Mädchen und wurde Lolly genannt, 17 Jahre, auf Koks und mit dem Ruf, die beste Flötistin der Innenstadt Nord zu sein – und hier sieht Kleefisch nach Hausnummern; denn hier, ja hier hat er tagelang die Kurden beobachtet: damals stieg Kleefisch einer kurdischen Kioskbetreiberin in Köln-Kalk hinter her und interessierte sich allein daher schon verstärkt für das vom Teller der Weltgeschichte gefallene Völkchen der Kurden. Hier standen sie, eindeutig und uneindeutig, also mehrdeutig vor den damals mit Sichtblenden versehenen Bürofenstern im Erdgeschoss, in die er jetzt will; denn hier hatte sich, ge tarnt als Bosporus Import/Export, der türkische Geheimdienst 63
eingerichtet und wagte sich nicht mehr vor die Tür. Die füllten sich schließlich nur noch mit Leitungswasser ab wie Schläuche. Denn ein Geheimer, der vor die Tür tritt und sich den Weg frei schießt, ist doch kein Geheimer mehr, sondern einer, der Köln mit Diyarbakir und Van verwechselt, wo er folgenlos über kurdische Leichen nach Hause steigen kann. Und dann verschwanden sie sang- und klanglos durch den Schornstein, irgendwie, ein Zaubertrick, den sie dem Großen Bruder aus Langley/Virginia abgeguckt hatten: hier klingelt Kleefisch jetzt. Denn hier ist laut Brancheninfo der Sitz der Edition Köln. Und da arbeitet ein Thomas Hil lebrand, der über ein halbes Dutzend Sprachen verfügen soll, einfach so, wie andere Männer drei Sommer- und drei Win terhosen haben, macht auch sechs. Eine junge Frau im schwarzen Top, hellrotes, kurzärmliges Strickkleid, öffnete ihm. Ooooh sagte sie, nichts weiter, und Atemluft pfiff leise an einem Zahn wie der Strich an einer Geige. Sie führte ihn am Praxiseingang eines Chiropraktikers vorbei, hinter der gerade jemand auf sehr unangenehme Art ächzte, und wies auf eine schmale, mit Werbeplakaten des Verlages beklebte Tür: Au torenköpfe, alle ernst wie Trauergäste. Kleefisch hatte nicht gewusst, dass Literatur kürzlich gestor ben war. Nur einer lächelte, leicht und abgründig wie ein Zauber künstler oder ein ausgebuffter Heiratsschwindler, und Kleefisch nahm sich vor, nach diesem einen zu fragen; schließlich brauchte er bei diesem Hillebrand einen guten Anfang. 64
Er trat in eine fingerhutgroße Bude, in der Bücher und Papiere in scheinbar unaufhaltsamer Bewegung übereinander herfie len: ein Seestück, mittlerer Wellengang. Am Fenster saß vor einem Laptop ein hagerer Mann mit dünnem, blonden Bart, schütterem Haar und randloser Brille, der ihn mit durch die Gläser vergrößerten Augen ansah, nicht unfreundlich, aber doch so, als wolle er jetzt gleich den Besucher unter ein Lesege rät legen und in ihm mit diesen großen Augen eines Hirsches oder eines Elches blättern wie in einer alten Chronik. Kleefisch zwängte sich hinter der Tür auf einen kleinen Plas tikstuhl und fragte sich, was der Erbe des Plum sich mit so einer Mönchsklause antat. Und wie so ein Verlag in dieser Enge funktionieren konnte. Kein Wunder, dass er eine Fliege im Buchgewerbe war, das doch trotz aller Totsagungen allein dank unserer Tierliebe und der prächtigen Bildbände mit Pfer den, Hunden, Katzen und Papageien noch immer brummte wie ein Kreisel, wie Kleefisch von einem seiner letzten Fälle wusste: dem des Buchhändlers Tiefental aus der Domstraße, der neben vielen reichen Büchern plötzlich eines Morgens ei nen armseligen Mörder im Kopf gehabt hatte. Wie heißt das schöne Kind, das mich empfangen hat? Kleefisch, die Wörthstraße liegt im Viertel. Und in diesem Viertel eilt Ihnen ein schlechter Ruf voraus. Nein im Ernst, und ganz ohne Eigennutz. Wenn ich etwas Schönes sehe, will ich auch seinen Namen wissen. Ist das Ihre Tochter? Oder ihre Geliebte? Weder noch sagte Hillebrand. Und sie ist ausgebucht. Mit kleinem Sohn und zwei Meerschweinchen. 65
Ausgerechnet Meerschweinchen sagte Kleefisch. Da ist einer wie ich natürlich chancenlos. Und ihr Partner ist Zwilling. Wenn der seinen Koller des Ehemannes kriegt und mit weißen Knöcheln auf den Tisch trommelt, dann hat sie immer noch den anderen Zwilling. Ja, so ähnlich lebt meine Tochter auch sagte Kleefisch. Da mit wird selbst die Last einer Ehe erträglich. Die Frau kann zwischen beiden hin und herschalten wie in einem Getriebe. Und sich nebenher noch ein Liedchen pfeifen. Ja wirklich sagte Hillebrand. Sie ist immer ausgeglichen, die Seele des Betriebs. Und immer hat sie schöne Augen. Und heißt? Andrea. Sehen Sie, und schon bin ich zufrieden. Jetzt hab ich nur noch ein paar zweitrangige Fragen, so ganz nebenbei sagte Kleefisch. Aber selbst dazu kam er nicht. Denn er war auf einen Dau erredner getroffen. Auf einen dieser Menschen, denen offen sichtlich immer alles auf den eigenen Kopf fällt, jeder Meteor und selbst jeder Vogelschiss, und die deswegen unablässig und zwanghaft von sich selbst erzählen müssen. Und das noch dazu in breitem sächsischen Dialekt; obwohl Hille brand doch in Kölns Venloer Straße aufgewachsen war und später jahrelang in Tel Aviv im sonnengefluteten Penthouse von Hersh Liebermann seine vielen Sprachen studiert hatte.
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Das Sächsisch füllte die kleine Bude wie eine zähe, klebrige Paste. Bald glaubte Kleefisch, es auch riechen zu können. Er roch Plaste und Lederimitat und Cognac-Nachahmung. Die Schwaden des Braunkohle–Heizwerkes an einem kalten Wintertag in Leipzig. Die hämische Würde eines Kellners im Hotel Astoria, der ihn bei der Rezeption als Spion der Bonner Faschisten verpfiff, weil er nachts die volkseigene Minibar bis auf den letzten Tropfen ausgeräumt hatte. Selbst die Einweck gläser roch er wieder, in denen die Stasi Geruchsproben aus dem Schambereich der Bürger konservierte – Kleefisch roch den Leichnam eines untergegangenen Landes, bis er merkte, dass er nichts als seine eigenen Vorurteile wahrnahm. Auch diese Geschichte steckte also schon in dem Loch. Und oben an den Rändern hatten sich bloß, verkleckster und verkruste ter Kot am Rande der Latrine, seine Fehlurteile erhalten. Da konnte er dem Dauerredner wenigstens wieder eine Wei le zuhören, der inzwischen vier Sprachen beherrschte und seinen Kopf gerade mit einer fünften nudelte wie eine Gans, dabei aber in diesem schönen Penthouse seines Papas mehr und mehr verzweifelte: denn über sich hatte er, mit den Schwingen und den Krallen eines Greifes, den Vater Hersh, einst Plum genannt, jetzt im mer öfter Die Pocke gescholten. Dessen Fürsorge war genauso unerbittlich und gewaltig wie sein Zorn. Mit der Bildung und Karriere seines einzigen Sohnes als Schriftgelehrtem wollte er sich von dem Schmutz seiner Geschäfte reinigen, die nun einmal im Wesentlichen aus Ausscheidungen bestanden: die hastige Ejakulation, der Urin des Goldregens, die braunen Kleckse der Kakophagen, die Blutergüsse und Blutspritzer, die nach gewissen grundsätzlichen Entscheidungen nicht im mer ganz zu vermeiden sind – 67
und neben sich hatte er Menschen mit 27 unterschiedlichen Sprachen, die ein Land besaßen, das nicht als ihr unbestrit tenes Eigentum galt. Und Urkunden und Pässe hatten sie, die folglich nach wie vor nicht mehr als ein Versprechen waren. Und vor sich hatte er die ihm, dem gebürtigen Kölner, sehr fremde Wut und ebenso fremde, kehlige arabische Trauer von wiederum anderen Menschen, die weder Land besaßen noch Pässe hatten, allenfalls gelegentlich und auf Widerruf ei nen Passierschein. Und Brunnen, die in den langen, staubigen Sommern trocken fielen. Und Steine. Viele Steine. Steine über Steine hatten sie, das ja. Ja. Verstehen Sie, verstehen Sie? fragte Hillebrand hier hastig, weil sein Besucher auf dem schmalen Plastikstuhl der Hin tern weh tat und er ihn lüftete und Hillebrand fürchten muss te, sein erster Gast seit langem könne schon wieder gehen. Und wieder gäbe es nichts als die Bücher und Papierstapel, die ihn umspülten. Wieder wäre er nichts als ein Korken auf hoher See, wie er einst der in Tel Aviv ausgesetzte Köl ner Junge gewesen war, Sie müssen verstehen, ich war der Sohn des Bordellkönigs Hersh Liebermann. Und das einzige Guthaben meiner Mutter Bettina von sichtbarem Maß und verlässlichem Gewicht. Ich maß 173 Zentimeter und wog 67 Kilogramm sagte er hier zu Kleefisch, der auch das nicht derart detailliert hätte haben wollen, ich war einzig das, was Hersh aus mir machen wollte. Und was Mama in der Ven loer Straße aus mir gemacht hätte: ihre Zuckerpuppe, ihr Schnuckelchen, ihr Männlein, ihr Süßer. Denn Mama mit ihrem großen Herzen ist nie wirklich erwachsen geworden. Sie ist zwar 81, ein Weißköpfchen mit kahlen, rosanen Stellen, aber immer noch ein Kind. Ja, und ich selbst war nichts. Und 68
da habe ich in Windeseile die sechste Sprache gelernt, das war Guaraní. Kenne ich sagte Kleefisch, der schließlich einen Sommer lang vergeblich in Peru Polizisten ausgebildet hatte, diese Indios da unten. Freundlich zwar, aber verschlossen wie Briefum schläge. Und das, obwohl sie meistens gar nicht schreiben können. In Paraguay. In Teilen von Bolivien. Im Nordosten Argentiniens. Genau darüber muss ich mit Ihnen reden: Argentinien. Silvina Muller-Rosenthal, Tango-Sängerin sagte Kleefisch schnell, um wenigstens ein paar Zentimeter Boden gut zu machen. Langsam, nur langsam, noch bin ich nicht soweit. Wenn es dann nicht mal zu spät ist. Und warum, und warum? sagte Hillebrand und stieß mit dem Finger in einen Papierstapel, suchte nach etwas, das er nicht fand. Weil sie fürchtet, in den nächsten Tagen getötet zu werden. Darum! sagte Kleefisch mit einiger Heftigkeit. Weil das Guaraní eine der schönsten Erfindungen ist, die je gemacht wurden. Eine Sprache, die keine Geschlechter un terscheidet. Aber von allen sechs Vokalen nasale Varianten kennt. Und dann diese Verbindungen aus Nasal- und hom arganischem, stimmhaften Verschlusslaut, folgen Sie mir?
Peter Faecke: Die Geschichte meiner schönen Mama. Roman. 6
Also das ist ja nun jedem einsichtig. Gibt’s denn auch Knackund Schnalzlaute wie bei den Buschleuten? sagte Kleefisch, der mit einer Kneipenpächterin aus dem Viertel, die Gastro nomin genannt werden wollte, Namibia bereist hatte. Rund und vollständig ist sie wie eine große, tropische Frucht. Eine großartige Erfindung. Denn alles ist ja grundsätzlich eine Sache der Erfindung. Und ich war jetzt auch mit dieser sechsten Sprache dabei, mich zu erfinden. Weg vom Bordellkönig, und weg von Mama, die ein Kind geblieben war. Können Sie mir immer noch folgen? Soweit ja sagte Kleefisch, wieder mit der schon gedehnten Geduld des Vaters, der seinen Sohn langsam aufgibt. Und dann? Und dann brachte dieser Hundsfott von Arafat den Hersh um. Sind Sie wenigstens darüber auf dem Laufenden? Ungefähr sagte Kleefisch. Aber schließlich hat sich der Hersh Liebermann am Hühnerbeinchen verschluckt und ist an sei ner Wut erstickt. Unter uns gesagt: es war der Arafat. Ganz eindeutig. Na gut. Dem schadet es nicht mehr. Jedenfalls war ich jetzt frei. Und vermögend sagte Kleefisch. Sagen wir mal so: ich war flüssig. Denn Teile des Vermö gens von Hersh werden bis heute von verschiedenen Staats 70
anwaltschaften blockiert. Aber ich war frei. Und in diesem reichlich euphorischen Zustand machte ich den ersten großen Fehler meines Lebens: ich glaubte plötzlich, der Sozialismus auf Erden sei möglich. Schließlich ist alles Sprache und Erfin dung. Auch der Sozialismus ist im Wesentlichen eine Sache der Sprache und der Erfindung, nicht wahr? Mag sein. Ich hab’s nicht so direkt mit der Sprache wie Sie sagte Kleefisch und räusperte sich. Ein Belag auf den Stimm bändern plötzlich, ein Schleier im Hirn jetzt, er wollte sich da raushalten. In gemächlicher Gangart hatte er sich bis an den linken Rand der Sozialdemokratie bewegt; bis dahin, wo die Welt abrupt aufhören soll. Und Schiffe, die weiter dem Passat folgen, ganz plötzlich ins Leere kippen – Columbus war drei Tage lang mit seiner Santa María hier gekreuzt auf der Suche nach El Dorado zum hellen Entsetzen der Mannschaft, sodass selbst der gröbste und unflätigste Haudegen, ein Bullenkastrierer aus Galizien, unablässig zur Jungfrau von A Coruña gebetet hatte. Aber wer will, der kann eben von hier aus in den Abgrund der Utopie blicken. Ganz unten auf der Sohle hatte Kleefisch Heilige gesehen, die vor Kälte schlotterten und sich von Schaben nährten. Aber auch Typen mit Reißzähnen, nicht weit davon entfernt, die am Feuer lümmelten und an fetten Hammelkeulen nagten. Nur war Kleefisch genug Kölner, um nicht ewig nach unten zu schauen. Und lieber mit bedächtiger Schläue, genusssüch tig und harmoniebedürftig, arbeitsam und unzufrieden, so 71
weiter zu leben wie bisher, irgendwie. Und hatte sich doch zwischendurch leise gesagt: eigentlich, Kleefisch, bist du ein Arschloch, ein kleines, verklemmtes, mutloses Arschloch, das die vielleicht größte Chance deines Lebens versäumt. Und ewig die Arbeit, die Tochter, dein Viertel, die redliche Müdigkeit des Freitagabends vor sich herschiebt wie einen Hitzeschild. Und da ließ ich ganz Tel Aviv sausen sagte Hillebrand: die Staatsanwaltschaften, die sich in mein Erbe bohrten wie Würmer. Die vielen alten schwarzen Männer mit Hut und Schläfenlocken. Die vielen jungen Männer mit AK-47 Kalaschnikow. Die Besitzwut und die Besitznot der Israelis. Den Hass, diesen Hass wie aus Stein der Araber. Und natür lich auch den Streit und die Verlogenheit der Palästinenser untereinander. Und selbst den Blick übers Meer nach Westen in die unterge hende Sonne ließ ich, an dessen Schönheit schon mein Papa Hersh gelitten hatte und den er gerade deswegen liebte wie sonst nichts auf der Welt. Und einmal, Sie glauben es nicht, den Martini in der Linken, das Telefon wie immer in der Rechten, seinen Bruder im Hörer, hat er da oben gesessen und rückhaltlos geweint. Alles, ich ließ alles und alle sagte Hillebrand –
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- die Jugend eben sagte Kleefisch – - alles und alle wiederholte Hillebrand, der auch die Steine gelassen hatte: jenen Stein, den ein Zehnjähriger gegen einen israelischen Soldaten schleudert und mit dem er ihm das Ge sicht zertrümmert, das er seit kurzem erst rasiert. Und diesen anderen Stein, mit dem ein israelischer Soldat einem unter ihm Liegenden systematisch, Schlag um Schlag, erst aus dem linken und dann aus dem rechten Arm eine Kette von Split terbrüchen macht, Knochenmehl in frisch Gehacktem, was ein französischer Kameramann filmt und noch am selben Tag nach Köln-Bickendorf ins Wohnzimmer eines Johannes B. Kleefisch schickt, der vorhatte, sich einen ruhigen Abend zu machen mit Rotwein, gesalzener Erdnuss und Käsecra cker, eine Pizza (Salami, Mozzarella, Zwiebeln, Knoblauch, Oliven und Oregano) hat er schon in der Neusser Straße ge gessen – ließ ich hinter mir und ging als Verlagslektor nach Leipzig. Spezialist für Guaraní. Die Partei erwartete von uns, damit die Indios zu befreien, und mit den Indios ganz Lateinamerika. Und der Minister für Kultur lauerte uns fast täglich auf in seinem blauen Volvo und quetschte uns auf dem Rücksitz nach dem Fortschritt aus. Wirklich, es war eine schöne Zeit. Denn auch dieser Verlag war eine neue Erfindung. Wir brauchten kein Geld zu ver dienen, wir mussten bloß um die Tonnen der Papierzutei lung feilschen. Wir konnten auch keine Schulden aufhäufen, denn Gewinn und Verlust waren ja wegerfunden worden, verstehen Sie? Natürlich sagte Kleefisch, es war weg, ganz wissenschaftlich, und alles ging futsch. 73
Das ganze Land war eine einzige große, wenn auch zuge geben etwas rigide Erfindung. Denn selbst von uns Zuge zogenen fand sich der eine und andere, der dem Minister im blauen Volvo oder seinem Vertreter im blauen Lada in die Quere gekommen war, über Nacht bei den Schweine züchtern im Bezirk Rostock wieder. Ich will da gar nichts beschönigen. Aber ich ging früh in mein Kämmerlein und studierte Indios und edierte in ganzen drei Jahren zwei schmale Bücher aus dem Guaraní, mit denen wir die Indios und mit den Indios ganz Amerika befreien wollten jenseits von diesem Guevara, der immer ein bloßer, allenfalls zweisprachiger Abenteurer gewesen war: rudimentäres Englisch und das Spanisch der Tangoschuppen, mehr hatte er nicht drauf. Na, was sag ich. Schließlich war er schwerer Asthmatiker, der nächtelang stehen musste, schräg an die Wand gelehnt, ein bedauerns werter Mann. Und zwischendurch lernte ich die siebte Sprache, das war Sächsisch. Denn es war ja so: die echten Sachsen waren es mit dem Fortschritt des Sozialismus leid, von den Berlinern und Mecklenburgern gehänselt zu werden „lern erst mal Deutsch, du sächsischer Neger“, und bemühten sich folglich ernsthaft und verkrampft und meist vergeblich um Hoch deutsch. Und wir, die Internationalisten aus Vietnam, Laos, Kuba, Köln/Tel Aviv und die echten Neger aus Kuba, Ango la, Mozambique wollten in Leipzig möglichst nahe bei dem sächsischen Volk sein und lernten folglich Sächsisch und spra chen bald untereinander nichts anderes mehr als das. Es ist nun mal ein Dialekt von einer gewissen Durchschlagskraft und Anhänglichkeit.
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Da aber fiel über Nacht der Westen über uns her und mach te uns platt. Alles, was wir erfunden hatten, kam auf den Ramsch. Sächsisch war plötzlich bundesweit der Slang von Negern. Und mit unseren Büchern, die eben noch die Indios hätten befreien sollen und mit den Indios ganz Amerika, wurden leere Bergwerksstollen gefüllt. Mein Gott, Kleefisch, wirklich: es waren Millionen von Bü chern. Wir hätten damit den Mond pflastern können. Da erst habe ich gemerkt, dass auch mein Guaraní niemand ge lesen hatte. Die Leute strömten in die Buchhandlungen, weil nur hier die Regale voll waren. Aber sie suchten Bücher mit Stellen, verstehen Sie. Schlüpfriges suchten sie in dem trocke nen, prüden Land, und wenn es bei Goethe dieser Doktor Faustus war, der seinem Gretchen die Furche wässert. Und da habe ich doch glatt den zweiten großen Fehler gemacht. Wieviel Fehler kommen denn da noch? Ich müsste jetzt lang sam mal wieder sagte Kleefisch, noch immer mit der Geduld eines Vaters, der aber insgeheim doch bereits einen klaren Entschluss gefasst hat: den nämlich, seinen Sohn mit der Au torität des Familienvorstandes bei einem gemeinsamen Bade gang im Fluss unter Wasser zu ziehen und zu ersäufen. Mit meinen sechs Sprachen und nicht zuletzt dem Guaraní war ich als Lektor begehrt und ging in ein großes Haus nach München. Kleefisch, es war die Hölle.
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Ich hatte zu produzieren, zu funktionieren, zu schrauben, zu heften, zu klammern, mir Schweiß zu wischen wie Charly Chaplin in Moderne Zeiten. Nachts zuckten mir die Beine und mit der Linken, ich bin nun mal Linkshänder, zeichnete ich immer noch Druckfahnen ab. Ich schluckte Captagon wie die Stürmer der Bundesliga. Und abends Barbiturate wie ein frisch Verlassener, die ich aber mit großen Mengen Calvados nachspülte wie ein von den Agrarministern ruinierter Bauer in der Normandie. Bis mich endlich ein Freund, hier, dieser goldene Ring mit dem kleinen Brillie ist noch von ihm sagte Hillebrand und drehte den Kopf und zeigte seine linke Ge sichtshälfte, an deren Ohr ein kleiner Ring hing, und bei der Bewegung nahm der Brillie Licht von der Wörthstraße auf und blinkte und gleißte und empfing und sendete Signale der Zärtlichkeit und des Liebesversprechens, die zusammen mit Radiowellen und Mobilfunk und Satellitensignalen und den Anfragen der Außerirdischen auch in der Kölner Luft her umschwirren, selbst wenn Kleefisch sie nie richtig zu deuten versteht – da rausholte und erst einmal in der Psychiatrie in Köln-Merheim in Sicherheit brachte, wo ich mich dank der Intervention des Dr. Konrad Becker schnell stabilisierte. Den kenne ich sagte Kleefisch hier, der froh war, in diesem befremdlichen Sächsisch einmal etwas ihm Vertrautes zu hö ren, nach diesem ganzen schon langen Ritt durch Sprachen und Erfindungen. Nach dem Sonnenuntergang im Wes ten, in dem Hersh Liebermann, Die Pocke, rückhaltlos ge weint haben sollte. In dieser mit Büchern und Papierbergen vollgestopften Mönchsklause, in der er langsam nicht mehr wusste, ob dieser Mann mit dem kleinen Ring im Ohr redete oder nicht doch die ganzen Bücher und Papiere, die ständig ineinander zu stürzen drohten und sich bewegten wie mittlere See. Ob dieser Mann wirklich noch zu ihm redete oder nicht 76
schon längst wieder untergetaucht war in eines seiner Bücher und Buchprojekte und einen seiner Autoren nachbetete oder ihm vorbetete und ihn, den Kleefisch, den säumigen Leser, hier nur als Vorwand nutzte, um dessen Buch im Geheimen weiterzuschreiben, ein Fälscher also, ein Lügner sowieso – Ach sagte Hillebrand da erfreut, waren Sie auch schon ver rückt? Psychose oder schizophrener Schub? Suchtproblem sagte Kleefisch knapp, leicht unwirsch, aber nicht ganz ohne Würde. Bloß ein Lackschaden also sagte Hillebrand. Ich für meinen Teil war ausgesprochen gerne dort. In meinem Bereich sind solche Grenzüberschreitungen nun einmal häufig. Wir ha ben den Alfredo Moisés Ellenbogen in Peru und den Leo poldo María Panero auf den Kanarischen Inseln, und beide ziehen es seit Jahren vor, nur noch in der Psychiatrie zu leben. Begabungen auf dieser Höhe lassen sich nicht mehr exakt von Idioten unterscheiden, verstehen Sie? Nein sagte Kleefisch. Macht nichts. Sie sind ja auch keine Begabung, sondern Kommissar. Privatermittler. Und jetzt geht es um Silvina. Und um den vierten Erben, den Marineoffizier. Der sich die rechte Hand zwischen zwei Schiffswänden zerquetscht hat. Ach der, ja. Na ja. Fernando durfte sich nicht Lieberman nennen, weil er mit einer Hure gezeugt war, sondern Wurtler. Das war der Knecht seines Vaters. Dieser Fernando Wurtler 77
fuhr zuletzt auf dem Stolz der Argentinischen Marine, dem Kreuzer Belgrano. Ein Veteran, noch vor dem 2. Weltkrieg von den Amerikanern gebaut. Dieses Museumsstück, das mit ein paar gefährlichen Komponenten modernisiert wor den war, versenkten die Engländer vor den Malvinen, und der unsinnige Krieg um die paar Felsbrocken im Südatlantik war vorbei. Knapp 400 Tote, weil sich die Engländer keine Mühe mit der Rettung gaben. Und mit was versenkten sie die Belgrano? Sie werden‘s gleich sagen. Die eiserne Lady Thatcher war genauso sparsam wie die Ar gentinische Marine arm. Die Thatcher hatte zwar ein teures Atom-U-Boot im Einsatz, das dem Kreuzer seit Tagen unbe merkt folgte. Aber sie ordnete an, dass er mit Torpedos aus dem 2. Weltkrieg versenkt wurde, was natürlich viel spar samer war als die neuen Waffensysteme und die Kosten für die tagelange Verfolgung wieder einigermaßen auffing. Sehen Sie, Kleefisch, ich habe die Engländer immer ge hasst. Wer wie ich auf der Terrasse seines Papas in Tel Aviv sitzt und sieht, wie ein Mann, der immer öfter »Die Pocke« gescholten wird, da oben in den Sonnenuntergang blinzelt und rückhaltlos weint, ich betone: rückhaltlos, Kleefisch, völlig rückhaltlos, der sieht auch, was die Eng länder da an Elend hinterließen, als sie sich mit vollen Taschen davonstahlen. Aber die Thatcher habe ich immer bewundert. Heiß geliebt habe ich die Frau. Weil sie sich jeden Tag neu erfand. Sie war ein einziges Buch, die Frau. Ein hartes, ein fürchterliches Buch. Sie erfand sich sogar als Geliebte des unsäglichen Pinochet. 78
Und ich bin sicher, dass sie auch schon vor hundert Jahren die unterschiedlichen Spurbreiten der Eisenbahnen erfunden hat, die die Engländer in Südamerika bauten, damit diese ganzen Völker später mal nicht auf den Gedanken kämen, sich damit richtige Verkehrsnetze zu knüpfen. Das leuchtet ein. Eben sagte Hillebrand, es ist wirklich alles eine Sache der Er findung. Sehen Sie, Kleefisch, jetzt folgen Sie mir, nicht wahr? Und genau das war es auch, was mich doch wieder aus die sem schönen Treibhaus der Psychiatrie in Köln-Merheim zog: eine Erfindung. Unser Chef hier hatte nämlich die Edition Köln erfunden. Er machte die Erfindung, konnte mit einiger Mühe gerade die 175,52 Euros für die Eintragung ins Handelsregister A beim Amtsgericht Köln zahlen und war auch schon pleite. Seitdem helfe ich ein bisschen aus mit dem, was Hersh mir hinterlassen hat und lebe wie die Made im Speck mit allem, was Sie hier sehen sagte er und sah Kleefisch wieder an mit diesen großen Augen eines Hirsches oder Elches. Er stieß erneut einen Finger in verschiedene Papierstöße wie ein Feinbäcker, der die Kon sistenz, die Temperatur, den Grad an Reife und Knusprigkeit prüft, den verschiedene Törtchen, Baisers und Aufläufe be reits erreicht haben, die er schließlich zu einer mehrstöckigen Geburtstagstorte zusammenzusetzen gedenkt. Hillebrand sah dabei ausgesprochen glücklich aus. Da gab Kleefisch auf. Dieser Mann mit den großen Augen und dem kleinen Ring saß in einer Klause, die vollgestopft war mit Geschichten, und war glücklich. Ein glücklicher 7
Mann aber ist nicht zu erreichen. Und streng genommen zu überhaupt nichts zu gebrauchen. Also läuft der ganze Verlag mit Hurengeld sagte Kleefisch noch, der Hersh hat die Frauen fleißig für sich vögeln lassen und eisern abkassiert. Der Sohn studiert mit dem Geld sechs Sprachen und Sächsisch und macht Bücher mit lauter Indios draus. Ja, glauben Sie denn etwa, dass es anders bei uns geht? Im grellen Licht der Nützlichkeit besehen stellen wir etwas her, das niemand wirklich braucht. Damals in Leipzig hatten wir einen Auftrag. Hier dagegen sind wir bloß Grillen, die einen Sommer lang etwas Musik machen. Aber hier, sehen Sie mal. Hier haben wir mit dem Geld vom Hersh sogar was Nützliches getrieben. Er griff in einen der Bücherstapel neben sich, zog und zerrte etwas Großforma tiges hervor, brachte die ganze Säule zum Einsturz wie Kü chenrollen, Klopapier, Seife bei Aldi, sagte ungerührt Hallo, ließ das Buch fallen, das vor Kleefisch auf dem Rücken lande te: Die Wörter und die Toten – Nachruf auf die kubanische Revolution las der und sah unten rechts auf dem Umschlag das bekümmerte Gesicht des Comandante, der Mumie, des dienstältesten Diktators der Welt, Jahrgang Tutenchamun, die Stirn in scharfe Sorgenfalten gelegt wie einer, dem jeden Augenblick das abbruchreife Haus, das er seit Jahrzehnten be setzt hält, auf den Kopf fallen kann. Na ja sagte Kleefisch, der jetzt auch dieses Gewerbe wie die Hurerei selbst nicht ganz so eng sehen wollte, ich müsste mal den Chef sprechen. Mit Ihnen komm ich nicht so recht weiter.
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Der ist seit Monaten am Amazonas. Taucht hier nur auf, wenn er dort ein neues Völkchen entdeckt hat. Und ihm irgendein Ungeziefer wieder eine Wunde gebissen hat, die nicht verheilt. Die Tropenärzte hier rätseln und verzweifeln, er lacht, ist glücklich und haut wieder ab. Ich geb‘s dran sagte Kleefisch und stand auf. Lauter Glückli che. Bei denen kann einer wie ich nichts ernten. Jetzt lachte Hillebrand erstmals. In einen der oberen Schnei dezähne war ein weiterer Brillie eingelassen. Wenn er sich seine Reserven so implantiert hatte, die Herzkammern dia mantengesäumt, der Dickdarm etwa der reinste Tresor, der After in Gold gefasst, gingen die verschiedenen Staatsan waltschaften natürlich leer aus. Er griff mit links nach einer kleinen Locke im Nacken, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, wickelte sie um den Finger, immer wieder, ein Mann, der glücklich ist und lacht und eine Locke gefunden hat, mit der er spielen und sich fühlen und sich einen Wurm drehen kann, was willst du mehr. Zwischendurch ist er natürlich oft in Argentinien. Weil die Liebermans und Rosenthals und Mullers dort überall Spuren hinterlassen haben. Und schon saß Kleefisch wieder und wartete auf mehr. Schließlich haben wir jetzt schon dreimal den ersten Band des Gesamtwerkes von Carlos angekündigt, und dreimal haben wir nicht Wort gehalten. Ehrlich gesagt, unser Ruf ist nicht mehr der beste. Seine letzten Arbeiten im Kölner Exil hat Carlos gezeichnet 81
mit »Großer Schizophrener auf Blauem Grund«. Da war er immer öfter Gast in der Psychiatrie Merheim. Davor hat er aber in Guaraní auf siebentausend Seiten die ganze Ge schichte der Liebermans mit zwei n und derer mit einem n aufgeschrieben. Das ist die Geschichte Kölns und Argentini ens und der Welt, eine Weltgeschichte eben, verstehen Sie? Und dann, krach bumm, wird er erschossen. Weil er auf vier Seiten und drei Zeilen genau beschreibt, wie ein Lieberman mit einem n ihn an dem Tag töten lassen wird, an dem er es veröffentlicht. Und dieser Killer wird eigens ein Analphabet sein, aus Buenos Aires eingeflogen. Diese vier Seiten und drei Zeilen sind für mich sagte Kleefisch. Jetzt, gleich. Nein sagte Hillebrand. Ich könnte Sie zwingen, mir Sie können mich nicht mal am Arsch lecken. Obwohl ich unter anderen Bedingungen durchaus empfänglich bin dafür sagte hier dieser eben noch glückliche Mensch mit plötzlicher Schärfe und mit einem kleinen Kick in seinem Sächsisch, der eine Neigung zu hysterischen Ausfällen vermuten ließ: Ge schirr an die Wand, Flaschenscherbe ins Gesicht, so etwas. Na gut sagte Kleefisch, dann anders herum. Ich würde gern was von Carlos lesen. Es ist Literatur, Kleefisch. In einer inneren Chronologie ge schrieben, einer Traumordnung, die eigentlich nur Carlos selbst verstand. Und in Guaraní, von mir übersetzt.
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Wollen Sie damit so etwas sagen wie: Perlen vor die Säue? Exakt. Ich habe jemanden, der sich damit auskennt. Sie lassen lesen? Ein Freund. Etwa dieser Poggenpohl, der früher als öffentlicher Schreiber in der Melchiorschänke saß und den Rentnern Liebesbriefe aufsetzte? Sie kennen sich im Viertel aus. Ich bin in der Venloer Straße geboren. In Tel Aviv aufge wachsen. In Indien von einer heiligen Kuh überrannt wor den. In Leipzig an einem gigantischen Irrtum gescheitert. In München als Akkordarbeiter zusammengebrochen. Aber jetzt bin ich wieder hier und einer aus dem Viertel. Also? Dieser Poggenpohl. Irgendwo liegen hier noch Liebesbriefe, die er an eine Buchhändlerin von Thalia in Köln-Chorweiler geschrieben hat. Eigentlich ganz schön. Irgendwas wollte er mal zusammen mit Carlos machen, die beiden mochten sich. Also? Ich suche Ihnen was raus. Etwas zum Einstieg sagte Hille brand und ging in einen Nachbarraum, fensterlos, eine 83
Neonröhre flammte auf. Kleefisch sah sich in der Mönchs klause um: eine Pinnwand mit dem Prospekt einer Drucke rei in der Tschechischen Republik, auf dem Tisch ein Handy, eine Blechschachtel für Selbstdreher, Zigarettentabak Schwar ze Hand, ein kleiner Elefant mit Elefantenbaby, wahrschein lich illegales Elfenbein, ein Adressbuch, das ihn reizte, nichts Ungewöhnliches sonst, nur diese Papierstapel überall, die sich unaufhörlich zu bewegen schienen und vor sich hinmurmel ten und ihm auflauerten. Hier sagte Hillebrand, ich geb Ihnen was zum Kosten. Weil Sie so nett gefragt haben. Wie wird denn dieses Riesenbuch mal heißen? sagte Kleefisch, bereits in der Tür. »Die Tango-Sängerin« sagte Hillebrand. Ich stehe eher auf Gardel. Und Tangos gibt’s wie Tränen. Sagt mir also nicht so direkt was. War auch nicht anders zu erwarten bei einem, der lesen lässt sagte Hillebrand noch und schloss die Tür wie ein Imker sei nen Stock, damit ihm nicht doch noch eines seiner Bienen völker stiften geht. Links vor dem Ausgang saß die junge Frau im roten Strick kleid, die schnell auf eine Tastatur einhieb. Sie hörte auf und sah starr auf den Monitor. Glaub jetzt bloß nicht, dass ich Mama von dir grüße und alles wird wieder gut sagte sie, ohne den Kopf zu wenden.
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Bis bald mal sagte Kleefisch. Weiß ich noch nicht. Eher nein sagte die Frau, die Andrea hieß, geborene Kleefisch, verheiratetete Kowalski, und schrieb weiter.
6 Die ersten Schritte die Wörthstraße zurück Richtung Riehler Straße ging Kleefisch wie ein Boxer, der nach einem Nieder schlag aus dem Ring steigt. Dieser Mann, grell ausgeleuchtet und exakt in der Mitte von Tausenden, ist mit seinem Schweiß geruch, einem verrutschten Tiefschutz, dem zugeschwollenen Auge, dem vom Mundschutz verletzten Zahnfleisch und dem bohrenden Gedanken in seinem Brummschädel, dass er seine Karriere endgültig vor die Wand gefahren hat, völlig allein. Kleefisch drückte der Magen, die Blase. Er schaffte es nicht, jemanden anzusehen. Er entließ ein paar Tropfen in die Un terhose, es war ihm egal. Jetzt fehlte nur noch das Bröckchen Kot zwischen den Hinterbacken, und der kaputte, sündige, von allen geschnittene Greis wäre fertig. Sein Leben war wirklich zum Scheißhaufen geworden. Und alles das nur, weil er genau dieses Leben in seiner besonderen Ausprägung von Frauen immer gesucht und geliebt hatte: die weiten und engen, die geschwätzigen und die fast stummen Frauen; die hellhäutigen und die dunkel getönten; jene, die folgsam die Knie beugten und in Kölns romanischen Gemäu ern das Kreuz schlugen und diese anderen, die stets aufrecht gingen, den Wind der rheinischen Tiefebene im Gesicht; und natürlich jene, deren Haut nach frisch gemähtem Gras dufte te und der Schoß nach himmlischem Manna (unterlegt mit einem Spritzer Urin), die aber dennoch jederzeit den Schwe feldunst der Hölle daraus entweichen lassen konnten, denn die bargen sie schließlich auch immer in sich. 86
Und natürlich, verdammt, war dabei auch stets das eine und andere Zielwasser getrunken worden. Ja. Da wurde er wütend und trat mit aller Wucht gegen eine Co ladose. Die schoss den Gehsteig entlang und traf die Wade ei ner Hostess des Amtes für Öffentliche Ordnung, die gerade Falschparker und andere Verbrecher elektronisch denunzier te. Sie sah nur kurz, aber amtlich und vernichtend über den Rand ihrer Brille auf. Diese Art von Frauen hatte er nie gemeint: keine Haare, sondern ein rot gefärbter Strunk; kein Gesicht, sondern ein teigiger, erstarrter Fladen; kein Körper, nur eine wulstige, in dunkelblaue Amtlichkeit gesteckte Masse, hinterhältig lau ernd, immer wieder enttäuscht, längst darüber bösartig ge worden und Säuerliches ausdünstend. Eine KZ-Aufseherin, schoss es ihm durch den Kopf, wie in diesen Filmen über die Nazizeit mit den vielen KZ-Aufseherinnen, pochte es in sei nem Schädel, und dann erst, fünfzig Schritte weiter, schon vor der Clever Straße, fiel ihm ein, dass er nicht einen einzigen dieser Filme mit den vielen KZ-Aufseherinnen gesehen hatte, was war das nun schon wieder? Das war die Wut. Es war auch das viele Kino überall. Auch das war dieses schwarze Loch, das sie jetzt einfach mit Kino zuschmissen. Sie zogen den Schauspielern von heute, eben noch hatten sie für die Kirsche von Mon Chérie geworben, die Uniformen und Gesichter der früheren Nazis an und sagten, seht her, so ist es gewesen, damals, vor langer Zeit, und machten Kasse damit.
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Andere gaben vor, nur an dieser Kasse noch eine Jugend er reichen zu können wie eben seine jetzt unerreichbare Toch ter Andrea, der in der Schule alles so nachhaltig in sämtliche Körperöffnungen gestopft worden war, dass sie mit den Pi ckeln der Abwehr reagierte: das Gedenken ein Comic von Pinguinen, Auschwitz die Pinkelpause einer Busfahrt, Israel ein Kibbuz voller Killer, die sich mit Palmzweigen und dem Duft von Zitrushainen tarnen. Das hatte ihm diese Tochter, sein Herzstück, sein Kandiszucker, die schöner war als Paris und die er liebte wie nichts auf der Welt, doch wirklich unter jubeln wollen. Und hatte ihn dabei streng gemustert mit dem verschmierten Auge eines Clowns. Dreizehn war sie damals und probierte Wimperntusche aus. Und Kleefisch wurde noch wütender. Und stärker. Und sich selbst fremder. Eine Glatze jetzt, die einem im Gebet versun kenen Türken vor sich eine Zaunlatte in den Hintern treibt, einem Neger die traurigen Glubschaugen eindrückt, mit einem einzigen Handkantenschlag sieben schnatternde Chi nesen köpft, zu Unrecht ist die Gelbe Gefahr vergessen, so einer war Kleefisch jetzt, stand am anderen Ufer und grüßte den Kleefisch auf der gegenüber liegenden Seite mit gestreck tem rechten Arm, und da endlich holte er sich wieder ein. Fing sich selbst, wie er eine hässliche, blau schimmernde Fliege mit einer Hand eingefangen und im Handteller zerquetscht hät te. Und schrumpfte wieder und wurde klein und kleiner, ein schuldiger, pickliger Junge jetzt, der erneut die Riehler Straße gequert und Mühe hatte, mit seinen noch winzigen Bein chen den Bordstein vor der Grünanlage des Landgerichtes zu erklimmen, so klein und kindlich noch waren diese Bein chen. Und außerdem hatte sich das Schnürsenkel gelöst. Und Mama hatte ihn vor die Tür geschickt, weil ein ganz fremder Onkel zu Besuch war, der in der Küche Asbach Uralt trank, 88
schon im Unterhemd, das mitten auf dem Bauch einen gro ßen Kaffeefleck hatte. Ja. Hier, vor dem Landgericht, ging ihm endlich auf, dass er sich in dieser Mönchsklause hatte verschaukeln lassen. Kleefisch war ein Kölner wie alle. Unter Kölnern war das et was. Aber Hillebrand war ein anderer. Und vor diesem Scheißer. Und seinen sechs Sprachen. Und dem einen Dialekt der sächsischen Neger. Und den vielen Büchern. Und dem Penthouse in Tel Aviv. Und hier in der Wörthstraße seinem vertrauten Umgang mit der Tochter Andrea, ein Gletscher für Kleefisch selbst nur noch, diese Tochter, ein Gletscher wie der Furka in der Schweiz, der die se schließlich so gewaltig und schön und fruchtbar dahinströ mende Rhône unter sich lässt - da war er erstarrt. Und weg ist dieser Hillebrand. Auf und davon. Nicht mehr einzukriegen. Einfach weg im Höhenrausch der Bildung, die Kleefisch nicht besitzt. Aus der Höhe wirft er ihm noch eine Gedichtzeile hinterher. Sicher etwas von diesen Borges & Cortázar, diesem gewiss schwulen Pärchen, das für die Argentinier sein soll wie Laurel & Hardy für die Amerikaner. Na egal. Kleefisch versteht es ohnehin nicht. Kleefisch ist wütend. Dem ist der Kopf wie eine Faust, da geht jetzt nichts rein. Und dann, am Schluss der großen Wut, meldet sich die Scham. Über sein Versagen. Sein Leben. Andrea. Die davongeflogene 8
Frau. Das schwarze Loch. Seine dürftige Kenntnis der Welt und diese ganzen verfluchten und verruchten und immer auch hundeverfickten Zusammenhänge. Und was nun Zärt lichkeit ist und was Liebe und was doch nur bloße Verabre dung zum freundlichen, familiären Schweigen. Die ganze Palette eines Mannes, der versagt hat. Und da ist er wie dieser andere Mann, der auf eine Mine trat. Es klickte unter seinem linken Fuß, er erstarrte. Und stand. Aber jetzt, in der schräg einfallenden Sonne, sieht er die klei nen, braunen Köpfe glitzern, einer hinter dem anderen, eine heranrückende Armee von Winzlingen: da kommen die Ameisen.
7 Titel: »Nachschrift« zu »Die Tango-Sängerin«,
gez. unten rechts: Carlos, Großer Schizophrener
auf blauem Grund,
o.O.u.J., vermutlich Köln, Hotel Flamingo, Sept. 2005
übers. aus d. Guaraní: Th. Hillebrand,
Blätter C 310-C 313 von 678 des unveröffentlichten
Originals.
Nachschrift zur Trilogie DIE TANGO-SÄNGERIN Jede wirkliche und wahrhaftige Geschichte, konsequent zu Ende erzählt, mündet unweigerlich in den Tod des Erzählers. Da auch wir Erzähler verständlicherweise gern unser Ende et was hinauszögern, erzählen wir selten bis ganz zum Schluss. Und schreiben zwischendurch fürchterlich viel unnötiges Zeug. Der bereits erzählten Geschichte von den zwei muslimischen Müttern, die Mario Lieberman in Köln hat erschlagen lassen, um seiner Karriere als Ermittler den fehlenden Auftrieb zu ge ben, fehlt daher noch dieser Schluss. Hier kommt er. Als Nach schrift. Mit dem Ende des Erzählers. Seit gestern liege ich im Hotel Flamingo am Gereonswall, Stun denhotel und Nuttenschuppen, einen Steinwurf oder zwei vom Ebertplatz. Die letzte, bis heute zwischen Staatsanwaltschaft und Erbe strittige Liegenschaft des Hersh Liebermann in Köln. Ich liege hier im 2. Stock, Zimmer Nr. 6 auf dünnem, leicht fle ckigen Laken wie gelegentlich üblich in solch whiskygetränkten, koksgefüllten, bislang freilich immer vorübergehenden und nur einmal gründlich verkoteten Phasen meines Exils in der Kölner
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Bucht. Ich schwitze. Der Whisky. Das Koks. Die Spannung und Erwartung. Die Angst vor dem Tod, die in mir seit Haft und Fol ter eine gar nicht unangenehme, jedenfalls sehr interessante chemische Verbindung mit der Lust auf den Tod eingeht … Seit gestern steht mein Buch Die Tango-Sängerin, aufrecht mit seinen vielen Seiten wie ein hochkant gemauerter Ziegel stein, in der Buchhandlung am Ebertplatz bei diesem Türken, der selbst ein einziger Ziegelstein ist: Kunden, die mit einer Re klamation zu ihm kommen oder die für ihr Taschenbuch noch gratis eine Tragetasche verlangen, schlägt er glatt den Schä del ein. Schließlich hat der Mann selbst schmerzlich unter dem türkischen Militär erfahren, was Bücher wert sind. Wir mögen uns. Auf Anhieb haben wir an uns, jeder in den Augen des an deren, diese Erfahrung mit den Uniformierten erkannt, er unter dem Sichelmond der Türkei, ich im blauweiß untergegangenen Abendland Argentiniens. Ich sehe, wie ein erster Leser mit diesem Ziegelstein unter dem Arm meinen Freund, den Schädelzertrümmerer verlässt und das Eiscafé Porta Romana gerade gegenüber ansteuert. Wirklich, es gibt kaum etwas Aufregenderes als den ersten Le ser. Ich greife zum Whisky und überlege, ob nicht schon jetzt die nächste Linie angesagt ist. Noch im Gehen beginnt die ser Leser im Ziegelstein zu blättern. Nur knapp kann er dabei einem über den Platz kreuzenden kleinen Jungen ausweichen, ein schöner, pausbäckiger Engel auf seinem ersten Holzfahr rad. Und schon liest sich dieser Mann, jetzt auf der Terrasse des Eiscafés, endgültig fest, ja rastet in dem Buch ein wie ein Schloss. Da aber sehe ich, wer das ist. Und ich weiß, dass er nicht eine Zeile deutsch lesen kann. Mein erster Leser ist eine Niete. Ich ziehe mir schnell eine Linie und spüle mit Whisky nach, der mir jetzt den Schweiß aus allen Poren treibt. Auf dem linken Hand
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rücken tritt aus den inzwischen abnorm geweiteten Gefäßen etwas Blut aus. Wirklich, es ist Guillermo. Einer, der die Schmutzarbeit für jenen Zweig der Mafia macht, die im noch immer guten Geschäft mit dem Tango und den Boxkämpfen steckt: der Sumpf, in dem ich mich einst als Reporter zu bewegen hatte. Ohne ihn kein Zugang zum Ring, und in die Kabinen der Cruzer- und Schwer gewichtler schon gar nicht. Ich spüle wieder mit Whisky nach und wundere mich, warum sie dieses Mal ausgerechnet Guillermo geschickt haben. Guillermo hört aufs Wort wie ein gut dressierter Hund, aber ist stumm. So einer fällt auf. Selbst die Schöne beim Check-in am Flughafen trägt ihn noch tagelang als stumme Melodie in ihrem Köpfchen mit sich herum. Aber Mario Lieberman kriegt über den Atlantik geschickt, was er ordert. Folglich will er, umsichtig wie er ist, dass Guillermo nach dem Schuss auf mich verbrennt. Mario wird ihn rasch stellen, laut der Presse diktieren Auftrags mord der argentinischen Mafia in Köln und ihn so gleich als wei teren Baustein seiner Karriere nutzen; der Richter wird ihn an einem Dienstag vormittag, der Himmel ist bedeckt, moderate Winde aus WestNordWest, verurteilen und ihm fünf Jährchen extra geben dafür, dass er sich so in seinen Ermittler Lieberman verbiss und ihn bis zuletzt als seinen Auftraggeber verleumdete. Also ist dieser Guillermo jetzt schon tot wie ein überfahrener Hund. Trotzdem: von meinem Bett aus, den Whisky neben mir auf dem schäbigen Nachttisch und im Tisch selbst noch genügend Kokslinien in Reserve, sehe ich, wie seine senkrechte Stirnfalte wächst und sich vertieft, sich glättet, ganz verschwindet, sich er neut bildet dicht neben einer kleinen Beule oder einem verhorn ten Pickel seiner ohnehin unreinen Haut, und ich bin keineswegs
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erstaunt darüber, dass dieses An- und Abschwellen exakt im Rhythmus erfolgt, in dem mein eigenes Herz schlägt. Kein Wunder, habe ich doch allen Kapiteln des Buches, in dem er zu lesen versucht, die Form meines Herzens gegeben. Ich habe mit meinem Blut geschrieben und meinem Kot, meinem Schweiß und meinen Tränen. Ich habe mit den Toten geredet, die unerbittlich waren. Und ich habe die Verschwundenen befragt, in denen die Krebse des Südatlantik leben. So ist die Geschichte von Berta entstanden, der Tochter des Richters Rosenthal am Kölner Landgericht, die mich mit 3477 Gramm in der Provinz Buenos Aires geboren hat. Und die von Osvaldo Lieberman, der mich als drittes von seinen vierund dreißig Kindern mit seiner Gießkanne zeugte. Und die seines Knies, das, von tropischen Viren durchpflügt, die Ärzte des Köl ner Marienhospitals so verwirrt, dass sie wie Mönche in unver ständliches lateinisches Gemurmel verfallen. Einzig Osvaldo selbst behält dabei einen klaren Kopf. Der liest weiterhin abends ein paar Seiten Heine, klopft sogar im Hospital die Frauen ab wie die Wespe den Pflaumenkuchen und zeugt in einer der Wäschekammern mit der Lernschwester Roswitha den Mario Lieberman. Für ihr bloß flüchtiges Entgegenkommen verspricht er ihr eine von dreihundert Inseln in der Mündung des Río de la Plata, die er gar nicht besitzt. Aber allein dieses leere Versprechen gilt im zerstörten Köln als Verheißung des Paradieses. Und folglich wird diese Mutter noch mit dem Starrsinn der Greisin und den Fingern ihrer Gicht
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immer wieder auf ihren Sohn eintrommeln: Hol dir diese Insel, mein Junge, dein Vater schuldet sie uns. Versprich mir das! Wie sie sagen könnte: Mach dich auf ins Paradies, das er uns verheißen hat. Versprich mir das! Und immer wird der Junge antworten: Ja, Mama, ich verspreche es dir – denn diese Mutter hat nichts mehr außer ihrer Gicht und der zugigen Hütte eines Schrebergartens, nichts mehr außer dem leeren Versprechen einer Insel, die im zerstörten Köln als Paradies gehandelt wurde und diesem Sohn, der lange Zeit nichts als die Mutter hat, die Mama mit ihrer Gicht und dem leeren Versprechen einer Insel und dem letzten, gelb verfärbten Schneidezahn und dieser zu gigen Hütte in Köln-Brück, in der wilde Katzen werfen. Und in der sie trotzig und schlau, pünktlich, böse und triumphierend unter sich macht, sobald er sie alleine lässt. Denn dieser Sohn ist ein kleiner Mann und muss ins Amt. Und sich dort selbst die Handschellen des Gesetzes anlegen. Und so, elendiglich und aussichtslos, gebremst vom Menschen recht und gleichzeitig rasant beschleunigt vom Polizeirecht, ein zerrissener Knecht, tagsüber das nachtaktive Wild Kölns jagen, das bei abnehmendem Mond in die Friedhöfe einbricht und die reichen Gräber der Oberbürgermeister mit ihren Ketten aus purem Gold schändet und jene der Präsidenten der Karnevals gesellschaften mit ihren vielen Orden aus purem Blech. Selbst vor dem Domschatz schreckt es nicht zurück mit seinem kost baren Geschmeide, sodass der Kölner Kardinal, ganz in Rot und frisch gebügelt, gleich am nächsten Morgen eine lange Reihe lästerlicher Flüche ausstößt und dabei wieder einmal die Verfechter der Abtreibung mit den Organisatoren der Euthana sie verwechselt, alle Ungläubigen zu Kommunisten macht und sämtlichen Muslimen unterstellt, eine Handgranate im Nacht hemd zu hüten dort, wo bei jedem wahrhaft Gottesfürchtigen die Hoden baumeln - bis der Papst persönlich ihn schließlich väterlich, aber doch mit gewisser Strenge mahnt Joachim, jetzt
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hältst du endlich mal die Klappe, oder es setzt ordentlich was hintendrauf! und schon wieder die Mutter, die Mama Junge, die Heuschre cken der Verwandtschaft kommen! Hol dir jetzt sofort diese In sel, dein toter Vater schuldet sie uns! Und sticht ihren gichtigen Finger mit dem langen, gebogenen, weißgefleckten Nagel ihrem Sohn immer wieder in die Rippen und mitten in Leber und Nieren. Und dieser Sohn, dieser jetzt doppelt zerrissene Knecht weiß längst, dass auch das Testament seines toten Va ters nichts wert ist, denn so eine kleine Insel im Río de la Plata, die er mit, je nach Bissfreude, bis zu dreiunddreißig anderen Erben zu teilen hat, ist allenfalls die Parzelle eines Schrebergar tens, und die haben sie doch hier, in Köln-Brück, wo die Mama regelmäßig und böse alles unter sich lässt. Und da wird er, dieser jetzt drei- und vierfach zerrissene Knecht, zum Brandstifter wie einer dieser Feuerwehrmänner, die im glutheißen Sommer bei anschwellenden Winden ihr ganzes Mittelmeerland anzünden, sodass alles aufleuchtet wie Zun der: ihre Gegenwart im Armenhaus der Europäischen Union, und diese ganze Antike, die ihnen mit ihren frühen und nieder schmetternden Erkenntnissen über den Menschen – Wande rer, denk daran, auch wir alten Griechen wussten schon, dass fast alle Menschen, vor allem die auf der kleinasiatischen Seite, hirnlose Idioten sind - seit über 2000 Jahren als Furunkel im Nacken sitzt. Ich gönne mir gerade eine weitere Linie, als die Tür von Zimmer Nr. 6 aufgeht. Mit der plötzlichen Helligkeit im Kopf sehe ich, dass Guillermo meinen Ziegelstein im Eiscafé liegengelassen hat. Ich habe also wirklich keinen ersten Leser, nicht mal diesen argentinischen Analphabeten. Und ich staune, dass ein Profi wie er den Schalldämpfer beim Aufschrauben verkantet. Er muss ihn zurückdrehen und ganz neu ansetzen. Na gut, dieser
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Guillermo war nie der hellste. Dann ist er endlich fertig. Und der Rest wird sein, wie ich immer befürchtet habe: diese Art von Tod, die Mario für mich geordert hat, kommt viel zu schnell, als dass man noch irgendetwas davon hat. Die Zer störung durch die Kugel ist schneller als der Gedanke von der Zerstörung durch die Kugel, und natürlich auch schneller als die Vorstellung, jetzt von dem ganzen Driss erlöst zu werden. Und dieser Inder unten in seinem Kabuff neben der Tür wird den Hörer aufnehmen, Hör mal wird er sagen, auf die butter weiche und ölige Art dieser Sorte von Indern: wir haben einen Stummen in der Sechs liegen, mehr wird er nicht sagen.
8 Kleefisch hat seine neue Klientin mehrfach angerufen, vergeb lich. Er hat an ihrer Wohnungstür am Neusser Wall geklin gelt, das Haus umrundet und beobachtet, nichts. Jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch über der Melchiorschänke und denkt konzentriert über Männer und Frauen nach, die gaga sind. Wer das schreibt, was er gerade gelesen hat, der ist nun einmal - ob bis zum Überlauf abgefüllt mit Whisky und versunken im Schnee Kolumbiens oder in der schrecklichen Nüchternheit und Einsamkeit eines Offiziers der Heilsarmee - einwandfrei gaga. Und eine Frau, die erst zahlt und dann verschwindet, ist genauso gaga. Oder? Das Problem, über das er seit 10:00 Uhr nachdenkt, steckt genau, wie so oft, in diesem einen Fragezeichen. Meistens steckt das Problem ja im Fragezeichen. Die größten Pro bleme allerdings stecken weder in den Buchstaben noch in den Satzzeichen, hat Kleefisch im Laufe seines doch schon langen Lebens erkannt: die stecken in den Abständen zwi schen den Wörtern. Im Nichts. Dort, wo überhaupt nichts hinkommt. Nicht das Wort, und nicht einmal das Denken eines, der gaga ist. Ja. Da leben die einen endlich als Exilanten im beschaulichen Köln und wollen viel lieber wieder in ihrem nachgemachten Paris, also im schrottreifen und wunderbaren Buenos Aires sein und sind zwischen Hiersein und Wunschsein gaga gewor 8
den. Und die anderen haben als Emigranten im nachgemach ten Buenos Aires gelebt und von dort immer wieder versucht, am Horizont die Dunstglocke über Köln auszumachen, die Nabelschnur des Rheins, die mahnenden Finger des Doms, im Sommer die leichte, süßliche Brise der Chemie über der Stadt mit ihrer Ahnung von Bewusstlosigkeit und schmerz freiem Tod, im Winter den Duft gebrannter Mandeln auf den Weihnachtsmärkten – bis auch sie völlig gaga waren. So stellt Kleefisch sich Exil und Heimat vor, er, der nur Heimat kennt. Wie anders soll einer wie er sich das sonst vorstellen. Im Grunde ist jeder, der scharf nachdenkt, nach kurzer Zeit gaga. Wir denken zu wenig nach, das ist klar. Aber das Mehr bekommt unseren kleinen Köpfen nicht, das ist genauso klar. Ein Dilemma nennt man das, philosophisch gesprochen. Die Philosophen haben aus dem Nachdenken einen Beruf gemacht, das ist was anderes. Acht Stunden denken sie über Lösungen von Problemen nach oder darüber, dass es keine Lösungen gibt, für nichts und durch niemanden. Dann ma chen sie Betriebsschluss. Hängen am Wein. Angeln sich was fürs Bett. Essen Grillhaxe mit Weißkohl und Speckknödel, so bleiben die quietschvergnügt. Erst gestern hat er im Köl ner Stadtanzeiger das Foto eines Philosophen gesehen: dieser Mann, ein gewisser Schlotterdeich oder Sloterdick, sah aus wie ein Apfel am Baum, später Boskop zum Beispiel. Zum Reinbeißen gesund. Ähnlich diese Sache mit den Schreibern. Sein Freund Poggen pohl etwa. Der frisst alles in sich rein wie ein Regenwurm und scheidet es prompt als Wörter wieder aus. So ist dieser Hypo chonder bis ins hohe Alter kerngesund geblieben. Bis auf sei nen kleinen Schlaganfall; aber den glaubt er ihm nicht mehr.
Er nimmt sich wieder die Seiten der Nachschrift vor, die ihm dieser Hillebrand zugesteckt hat. Ein Mann, der natür lich auch völlig gaga ist, sogar mit einer schon anerkannten psychiatrischen Karriere. Aber ein Mann, der ihm sowas zusteckt, denkt sich was dabei. Und hat die Hosen gestri chen voll. Wenn das ein Dokument wäre und nicht Litera tur, müsste Kleefisch es dem Staatsanwalt vorlegen. Wo hört das eine auf zu sein und beginnt das andere zu werden? Das ist ähnlich verwirrend wie die Sache mit Exil und Heimat: wahrscheinlich steckt eines im anderen. Außerdem ist man cher erst im Exil zu Hause, dem nächsten aber ist Heimat ein einziges bitteres Exil. Oder? Ja. Kleefisch greift nach der Figur des tanzenden Schamanen auf seinem Schreibtisch, die er aus Peru mitgebracht hat. Wenn er sie dreht, beruhigt ihn das und hilft ihm beim Denken. Er bildet sich ein, dass sie ihm schon oft geholfen hat. Jetzt ent deckt er auf dem Tonfüßchen eine Schicht Feinstaub. Bisher war der Feinstaub überall, vor allem hier in der viel befah renen Neusser Straße, und konnte ungestört seinem Hand werk nachgehen. Kürzlich erst hat einer das Wort Feinstaub über der Stadt gezündet wie eine Bombe. Und schon fallen die ersten um, denen nur dieses eine Wort zum Umfallen ge fehlt hat. Also ist das Wort der Täter, und nicht der Feinstaub? Kann einer mit dem Wort töten? Hat also dieser Carlos, der tatsächlich erschossen worden ist, seinen Halbbruder Mario mit den Wörtern der Nachschrift getötet, hat er damit einen anderen dazu gebracht, ihm, von links nach rechts gezogen, eine keilförmige Wunde durch die großen Halsgefäße zu schneiden?
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Auch das ist natürlich so eine Frage, die einen auf längere Sicht ziemlich gaga machen kann. Wenn man auf eine Lö sung drängt. Und sie nicht rein philosophisch angeht, versteht sich. Er scheucht eine Fliege von seinem Schweppes-Glas, das ers te des Tages in der langen Reihe des trockenen Alkoholikers, und nippt daran. Was war dieser Carlos bloß gebeutelt von seinem Koks! Eine Nase wie Pavian von hinten, hatte der Doppeldoktor Carstensen gesagt. Aber schreiben konnte er. Dieser Mario Lieberman in der Zwangsjacke des Präsidiums, wo ihm Grundgesetz und Menschenrechte die Handschellen anlegen, wo ihm aber gleichzeitig das Polizeirecht, die Angst, ein kleiner Mann zu bleiben und als solcher zu sterben, die öffentliche Erwartung und dann dieser Finger seiner Mama, der bis in die Leber und die Nieren sticht und noch immer die einst versprochene Insel fordert, seinen ungesunden Auftrieb geben. Ja. Aber Kleefisch kommt an diesem Morgen mit nichts weiter. Das ist normal ganz am Anfang eines Falles. Hier allerdings steckt er mit drin. Und da geht so ein schleppender Anfang nach innen. Er greift sich in die noch vollen, borstigen, aber schon grau en Haare und drückt sich die Fingernägel in die Kopfhaut. Er will fühlen, wie er denkt. Das hat er schon oft versucht, und immer vergeblich. Uns fehlt eine einfache Kupplung zwischen Denken und Fühlen, eine, die hörbar einklickt. Ein paar Schuppen rieseln aufs Papier. Wie hieß dieser franzö sische Schauspieler, der von einem giftigen Haarfärbemittel 101
oder Shampoo oder von seiner Gesichtscrème aufs offene Meer der Verstörung geweht wurde und erst nach vielen Jah ren wieder zurück an Land fand? War das eine fehlerhafte Mixtur der kosmetischen Industrie oder wollte den jemand ausschalten? Jedenfalls lauert Gaga überall. Und Kleefisch be schließt, sein Haarshampoo zu wechseln. Er blättert in einer Klarsicht-Hülle, ein anderer Fall. Es ist ja nicht so, dass er sich nur mit Argentinien beschäftigen müss te, ein Land, das schon auf seinem Globus wie ein Revolver aussieht. Zwar bricht er nicht unter Aufträgen zusammen, aber er kann sich doch fast einbilden, noch immer ein ge fragter Mann zu sein. Dafür sorgt allein schon der Klub der Beschädigten: das sind ordentlich verrentete oder vorzeitig ausgeschiedene Kollegen wie er selbst, von denen sich jeder heimlich einen ungelösten Fall mit nach Hause genommen hat. An dem nagt er wie an einem letzten Knochen. Es sind eben arme Hunde. Der Diktator Pinochet dagegen, als ihm klar wurde, dass er bald nicht mehr Diktator wäre, hatte noch schnell 21 Millionen Dollar aus öffentlichen Kassen auf seine einhundertundzwanzig private Konten verschoben. Als der Mann nicht mehr morden konnte, war er wenigstens noch voll mit seinen Konten ausgelastet. Ja. Diese Blätter in der Klarsichthülle dagegen schreiben die dür re Geschichte einer Frau, von der nur die DNA existiert: ein Phantom, das seine genetische Spur 13 in der Wohnung einer Rentnerin in Idar-Oberstein hinterlässt, die mit einem Blumendraht erdrosselt wurde. 2001 dann Spuren in der Wohnung eines erdrosselten Rentners in Freiburg. Auf einer Heroinspritze schließlich. Auf dem Keks in einer Garten 102
laube. Spuren bis heute in Rheinland-Pfalz, Hessen, BadenWürttemberg, Oberösterreich und Tirol. Nichts als Spuren eines Phantoms, das eine Frau sein muss und die sich die ser verrentete Kollege mit nach Hause genommen hat. Der vermutet diese Frau in der Drogen- und Pennerszene. Kleefisch ist das zu einfach. Manchmal denkt er an eine Frau, die weit oben war, im sauerstoffarmen Wahnsinn der Polittäter der 70er Jahre etwa, und die abgetaucht ist. Noch immer wird jener Scharfschütze oder jene Schützin gesucht, die den obersten Abwickler der gerade untergegangenen DDR, den Treuhand-Chef Rohwedder nachts am Fenster seines Ar beitszimmers mit einem Natogewehr erschossen hat. Viel leicht denkt er aber auch zu kompliziert. Ein Phantom lässt schließlich alles zu. So ein Phantom, lange, gewissenhaft und vergeblich verfolgt, das jetzt noch den verrenteten Verfolger davor schützen soll, vor der Ergebnislosigkeit seines ganzen Lebens zusammenzubrechen und früh im Spiegel nichts als eine beschlagene Null zu sehen, eine Leerstelle, so ein Phan tom kann auch den Verfolger schnell gaga machen. Manchmal glaubt er, dass dieser verrentete, hinter einem sehr beweglichen Phantom hertapsende Kollege viel zu klein denkt. Um hinter die Menschen zu kommen, muss man schließlich groß denken. Dann wieder fürchtet er, dass dies auch bloß so ein schräger Gedanke eines ist, der immer schräg gelebt hat. Schließlich wird das Denken vom Leben geformt, das immerhin ist von Marx übrig geblieben, und sein Leben war nun einmal eine Rutschbahn. In jedem Fall ist das Denken so gefährlich wie Malaria und Typhus zusammen. Und zähl noch die Syphilis dazu. Und die Heliobakter-Bakterien natürlich, die zu Magen- und Darmge schwüren führen.
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Im Grunde denkt Kleefisch halblaut vor sich hin, da ist es bereits 12:13 Uhr und zwei ganz neue Fliegen erkunden sein Schweppes-Glas, ja jetzt stürzt sich die eine im Fliegenpaa rungsrausch auf die andere, sieh dir diesen kleinen Schlingel nur mal an, im Grunde wären wir alle, Täter und Ermittler, besser in der Psychiatrie aufgehoben. Wie alle Autofahrer auch. Und die Manager des 1. FC Köln, die schon lange die Rote Karte verdient haben. Seit kurzem redet er manchmal halblaut vor sich hin. Jetzt ertappt er sich wieder dabei. Als würde ihm ein Kleefisch von früher auf die Schulter tippen, einer aus der Zeit, da er nun wirklich nichts anbrennen ließ, und ihm sagen: Junge, bist du aber alt geworden! Als er so tief bei sich selbst angekommen ist, also auch da, wo Köln am Boden liegt, da ist es 12:15 Uhr. Und er lacht vor sich hin. Kleefisch, der nun wirklich kein Humorist ist, nicht mal Karnevalist, lacht. Anders ist das Alter nicht zu schultern. Und schon schreckt ihn das Telefon auf. Papa, du musst mir helfen! Dieses Mal säuselt nicht bloß leichter Wind am Stiftzahn der Tochter. Selbst am Telefon klingt es nach Sturmspitze und Orkan. Und spätestens dann wird auch auf dem Rhein die Schiffahrt eingestellt. Was ist denn bloß los – Kind sagt Kleefisch. Er macht diese vorsichtige, ängstliche Pause, bevor er Kind sagt, leise, ver suchsweise, wie hinter vorgehaltener Hand. Schließlich hat er dieses Kind schon sehr früh, ja unzüchtig früh, empörte er sich damals, an die Frau Andrea verloren – fünfzehn war sie, 104
Kleefisch hütete sein Kindchen, seinen Augapfel, die schönste kleine Tochter der Welt, allein im Haus. Und kommt nachts früher als erwartet von einer Reise zurück. Öffnet vorsich tig die Tür zum Wohnzimmer, weil er einen leisen, leicht schwülstigen Blues hört, na ja, eben die Jugend, sein Herzchen, sein süßes, pubertierendes Träumerchen, und da schminkt er sich noch schnell dieses Lächeln des Papas ins Gesicht, der alles vollkommen versteht. Und schon sieht er seine Tochter auf dem Sofa knien: der ins Polster gedrückte Oberkörper ist noch das flauschige Kaninchen Andrea, aber der nackte, weiße, zur Decke gereckte Hintern ist längst der einer Frau, die gerade von hinten bestiegen wird. Von einem Jungen, den Kleefisch noch nie gesehen hat. Einer, dem auch noch die Ei erschalen hinter den Ohren kleben. Und der stößt sie, rot gesichtig, aufgeregt und dabei immer wieder wimmernd, als hätte er kaputte Bronchien oder Pubertätspickel selbst noch am Schwanz. Und so leise, wie Kleefisch diese Tür noch nie geschlossen hat, macht er sie hinter sich zu und verzieht sich: Ende der Kindheit. Aus der Vatertraum. Auch deine Süße ist jetzt eine fremde Frau, die sich schon erfahren in den After penetrieren lässt, und du bist der ausgesperrte alte Esel. Was ist denn nur, Kind sagt er wieder, und hört dann zwi schen den Sturmspitzen, dass dieser Orkan gestern schon durch die Wörthstraße gefegt ist und den ganzen Hillebrand mit fortgerissen hat: erst kamen zwei Typen der Kripo und verlangten von Hillebrand ein Schriftstück oder ein Buch, das noch gar nicht gedruckt ist. Er aber weigerte sich, ihnen auch nur mit einer Rolle Klopapier auszuhelfen. Also luden sie ihn, zunehmend gereizt und auch heftig, für morgen früh ins Präsidium vor. Und fuhren dann sehr laut, nämlich mit Musik, ab –
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- wie, mit Musik? fragt Kleefisch – - die waren so wütend über einen Schwulen, der sich von ihnen nicht einschüchtern lässt, dass sie in der ruhigen Wörthstraße im Stand ihr Horn anstellten, damit jeder merkt, sie waren hier sagt Andrea und holt Luft zwischen zwei Sturmspitzen – - nun beruhige dich erstmal, nur der Reihe nach sagt Kleefisch und hört auch schon, dass abends dieser Argentinier kam, dieser Fernando mit seiner Lederhand – - Leder links oder Leder rechts? fragt Kleefisch hier - wie? - Hat er die linke oder die rechte Hand kaputt? Die Rechte, ich weiß nicht, doch, die Rechte - Fernando Wurtler heißt der, ein Marineoffizier, noch so ein halber Lieberman sagt Kleefisch, und schon wieder eine Sturmspitze, mit der sich Hillebrand weigert, ihm das zu geben, was er verlangt, und dass es dieses Mal noch lauter wurde, und dass Hillebrand sofort nachher eine seiner Tro penkisten packte, alle Mappen und Klarsichthüllen verstaute, die er von Carlos besitzt, seinem wertvollsten Schmetterling, und von seinen Übersetzungen aus dem Guaraní, und dass er von ihr verlangte, die Kiste mit nach Hause zu nehmen und ankündigte, für ein paar Tage abzutauchen, zu verduften, einfach so – - und jetzt steht diese verdammte Kiste hier bei uns in der Woh nung. 7000 Blatt von diesem schizophrenen Carlos und 3000 106
Blatt übersetzt aus dem Guaraní. Und ich weiß nicht, wo zwi schen diesen 10.000 Blättern die Bombe liegt. Das macht mir Angst. Denn schräg gegenüber steht ein Audi mit Hamburger Kennzeichen. Das ist der Wagen von diesem Fernando. Aber der sitzt nicht drin. Als Kleefisch in die Auerstraße in Köln-Nippes einbog, war der Wagen verschwunden. Er fuhr die angrenzenden Straßen ab, kontrollierte in der Auerstraße selbst Hauseingänge und Toreinfahrten, bevor er seit drei Jahren erstmals wieder bei seiner Tochter klingelte. Der Enkel Alexander war ein kleiner Mann geworden, der verschwörerisch ein Auge knipste, be vor er in seinem Zimmer verschwand. Eine tropentaugliche Kiste mit 10.000 Blatt hat es in sich. Als er sie zusammen mit Andrea zu seinem alten Passat trug, be wegte sich am Fenster eine Gardine. Dahinter also stand die Frau, die am meisten von allen Frauen von ihm wusste und die zum Schluss kühn behauptet hatte, er habe sie ruiniert. Da oben stand ein großes, schmerzendes Missverständnis. Und viel Arbeit. Für ein anderes Mal. Oder nie. Durch die Melchiorschänke trugen sie die Aluminiumkiste wie einen kleinen Sarg. Jetzt holst du dir also schon deine Leichen ins Büro sagte der Vierte derer, die am Tresen saßen. Am Anfang der Reihe hockte Gustav. Der hatte sein Leben lang still bei der Post in der Cleverstraße gedient und mit Dienstschluss das Re den fast ganz eingestellt. Daneben saß Rüdiger, der seit dem Tod seiner Frau nur auf Gustav sah. Wenn Gustav still blieb, schwieg auch er. Daneben ein Neuer, und dieser Neue war ein schlauer Neuer und sagte noch gar nichts. Oder es war 107
ein Ausländer und hatte mit dem Reden schon die bitters ten Erfahrungen gemacht und sich deswegen einfach, zack, um sich besser zu integrieren, mit dem Taschenmesser die Zunge abgeschnitten. Und so blieb es bei dem, was der Vierte sagte, das war Rainer D., Schiffsführer einst, bis auf seinem Rheinkahn zehn Kilo Marihuana gefunden wurden, Knacki dann, der zur Zeit am Eigelstein zwei Afrikanerinnen und eine Inderin laufen hatte, die bis vor kurzem noch in den Hu renschwärmen Kalkuttas gesummt hatte wie eine Biene. Und Rainer, der Kleefisch gelegentlich eine Hand reichte oder zwei, wenn bei einem Fall mal einfache Handarbeit angesagt war, durfte so etwas sagen. Fiddy hinter dem Tresen nutzte die Gelegenheit, allen den Rücken zu kehren und schnell einen seiner Staubsaugerschlucke aus dem Kölschglas zu nehmen. Fiddy redete sich beharrlich ein, keiner sähe das. Aber jeder machte sich Striche im Kopf. Da, schon wieder einer. Hilfst du mir beim Sichten? Ich suche alles über Mario Lieberman. Und über den mit der Lederhand sagte Kleefisch oben im Büro, noch schwer atmend. Glaub jetzt bloß nicht, dass ich – Du wiederholst dich, Tochter. Ich will nur nicht – Ich auch nicht. Also?
II. Teil:
Kleefisch und das Buch, das fliegen kann
9 gez. unten links:
Carlos, Pulheim, August 2004
Blätter B 2380 ff des unveröffentlichten
Originals. Übers. aus d. Guaraní:
Th. Hillebrand.
Der Rentner mit Strohhut und kurzem, verwaschenen Hemd Zugegeben, ich war immer ein schwacher Mensch. Aber ich liebte meine Schwächen. In ihrem Dämmerlicht und ihrer Feuchtigkeit wuchs ich wie ein Pilz. Damals, Ende der 60er, wollte auch ich auf Genossen verwei sen können. Das war die Hafeneinfahrt: rotes und grünes Licht, verschmutztes, aber ruhiges Wasser mit Diesel- und Kloa kengeruch und Möwen, die sich um ein Klümpchen Scheiße streiten. Gerade weil meine Herkunft gegen mich sprach, wollte ich hier anerkannt werden; schließlich war ich von einem Osval do Lieberman gezeugt. Wer auf den zuging, dem schlug der warme Atem seiner Rinderherden entgegen und die Fliegenschwärme, die nun einmal zur Viehwirtschaft gehören wie das Gelbe zum Ei, hüllten ihn ein. Allein Osvaldos Fußab druck: die Spur des Grundbesitzers, eines Mammut, dem es in dem weiten Land zu folgen und das es irgendwann mit Keule und Speer und einer Meute prähistorischer Hunde zu stellen galt.
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Aber aufgewachsen war ich bei dem zweiten Mann meiner Mutter Berta: Ernesto Muller. Ein liebenswerter Träumer, Dru cker und Kleinverleger, der uns mit Tränen der Rührung auch noch den größten Unsinn als Broschüre druckte, wenn wir nur lange genug behaupteten, eigentlich und letztendlich doch überzeugte Anarchisten zu sein. Ihm zitterten nur die Finger, wenn die Rede auf einen Henker der Anarchisten kam. Außerdem konnte ich damit punkten, dass ich mich mit ers ten Fußball- und Boxreportagen über Wasser hielt, denn beide Varianten des bedingungslosen Körpereinsatzes galten als Volkssport; wobei meine neuen Freunde geflissentlich übersa hen, dass beides hauptsächlich Bombengeschäfte waren und vollständig von der Mafia durchwirkt. Auch wer als Reporter ungefragt von ihren Geschäften redete, der hatte bald, wie Pablo Jérez, ernste Schwierigkeiten. Pablo wollte doch wirk lich während der WM ‘78 laut über den gekauften Sieg speku lieren: er war auf eine zwischen den Generälen beider Länder ausgehandelte Getreidelieferung an die Hungerleider Perus gestoßen, angeblich 40.000 Tonnen, mit dem Ergebnis eines auffälligen 6:0 im Spiel Argentinien : Peru (das 6. Tor schon 20 Minuten vor Schluss durch Kempes-Luque). Das ebnete un seren Blauweißen tatsächlich den Weg ins Finale gegen die Niederlande, denn die Brasilianer hatten mit ihrer arroganten Verspieltheit den Weg frei gemacht und die Deutschen wa ren mit einem Eigentor dieses unglücklichen Berti Vogts nach Hause geflogen, sodass sich ganz Buenos Aires auf den Straßen am Gewinn der Weltmeisterschaft betrank (3:1 nach Verlängerung, mit Toren von Kempes und Bertoni), während Pablo in seiner stickigen Mansarde in der Calle Montevideo lag, mit zerschmetterten Kniescheiben, und wegen dieses kleinen Handicaps nicht mehr von seiner Höhe runterkam. Dass ich auch Gedichte schrieb, galt ihnen als minderer Makel, wie Mundgeruch etwa oder Nägelbeißen.
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Silvina und ich verbargen damals, dass wir ein Paar waren. Wir galten als Stiefgeschwister, die auf getrennten Bahnen umein ander kreisten, ohne je zu kollidieren. Wir fürchteten den Spott. Und auch die Kritik unseres Fixsterns. Das war Rodolfo Walsh. Journalist und Schriftsteller. Gewerkschafter. Mitbegründer der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina und der Agen tur Ancla, der, für mich immer unbegreiflich, neben seinen zahl losen offenen und verdeckten Aktivitäten nicht bloß ein intaktes Familienleben führte, also Vater und Liebhaber war, sondern auch noch regelmäßig während der Siesta schlief. Mehr noch als mit seinen Büchern steckt er mir bis heute mit seinem letzten Auftritt im Kopf: ein unauffälliger Rentner in brauner Hose, kurzem, verwaschenen Hemd und Strohhut auf seiner beginnenden Glatze, der am 25. Mai 1977 kurz nach 14 Uhr zwischen Sarandí und Entre Ríos die Haltestellen der Co lectivos ansteuert und die ersten fünf Kopien seines Offenen Briefes eines Schriftstellers an die Militärdiktatur bei sich trägt, die er in der Stadt verteilen will. Hier wird er von einem Greif trupp gestellt. Entweder kannten sie seinen Aufenthaltsort und beobachteten ihn schon länger, oder einer von uns hat ihn an diesen Tag verraten. Es gibt noch immer diese Stimmen, die mich quälen. Sie be haupten, der Verräter sei ich gewesen. Wenn ich an diesem 25. Mai nicht schon zusammen mit Silvi na im Folterzentrum ESMA im einstigen Offizierskasino dieser 17 ha großen Liegenschaft der Marine eingesessen und dort in den Büros des »Negro« Massera Zwangsarbeit geleistet hätte, würden jene, die bis heute vor Überzeugung glühen wie Zündkerzen, auch glatt behaupten, ich hätte damals kurz nach 14:00 Uhr auf Walsh geschossen. Und nicht der Subcomisario
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Webber, der ihm eine Blutspur verursachte, die ihm diagonal über die Brust lief, als er verladen wurde und sie aus ihm den bis heute spurlos Verschwundenen machten. Einen Schatten. Eine Nummer. Eine Zahl von unbekannter Höhe, die irgend wo zwischen 18.000 und 30.000 anzusiedeln ist; impliziert die ebenso einfache wie vollkommene Technik des Verschwin denlassens doch, dass später nicht einmal die genaue Anzahl der Opfer festzustellen oder glaubhaft zu machen ist, sodass im 18. Kommissariat in der Avenida San Juan ein ausgemach ter Humorist der Policía Federal dieser Ehefrau sagen kann: Verschwunden, ja? In einen Ford Falcon ohne Kennzeichen verladen und verschwunden, ja? Ich sag dir nur eins: eine Schönheit warst du nie. Aber inzwischen siehst du aus wie luft getrocknete Scheiße. Und dein Kerl hat sich einfach verpisst!
10 Mädchen, das bringt uns nichts, nur Schriftsteller und Balle rei unter denen da unten. Ich bin nicht mehr dein Mädchen. Ist gut, ist ja gut. Schon lange nicht mehr. Ist doch gut.
11 Papa, wir müssen alles erst sortieren nach A, B und C, denn Hillebrand wollte drei Bücher draus machen, und dann ge hen wir die Nummern durch, wir machen Häufchen mit den Personen, Hillebrand hat selbst seine Zettel auf dem Schreibtisch nummeriert, seine Bücher, seine Einfälle, die Anrufe, der lebt in einer totalen Unordnung und so weiß er total Bescheid, wir müssen bloß hinter das System der tota len Unordnung kommen. Total sagt Kleefisch, und er sagt: es riecht hier total nach Mäusedreck und Tabakkrümel, ich halte das nicht aus, so einer bin ich nicht, wenn ich da rein greife, ist es ein totaler Ameisenhaufen, ich rufe Poggenpohl, der kommt mit seiner Wünschelrute. Quatsch, Papa, komm her, du hast doch früher auch mal gelesen. Früher. Und pass bloß mit deinem Schweppes-Glas auf, das Zeug klebt wie Uhu, dass du überhaupt diesen ganzen Chitinscheiß verträgst, der geht aufs Herz, hast du heute dein Hemd nicht gewech selt? Chinin. Was? Im Schweppes ist Chinin und nicht Chitin. Schon wieder deine ewige Rechthaberei. Mir geht bloß der Lieberman aufs Herz, sonst nichts. Hier, sieh mal, was ich hab. Sag das ruhig noch mal. Das mit dem Chitin? Nein, einfach nur: Papa. Nein, ich bin nicht dein Papagei, lass den Stapel da liegen, mein Gott, Papa, du bringst nur alles wie der durcheinander.
12 A 210 – A 21 datiert Pulheim, Mai 2005 Susimil Es war Susimil, die dem Leben meines Vaters Osvaldo eine Wende gab. Susimil war eine Mulattin aus Kuba. Auf der Zuckerinsel, die noch aus nichts als Elend und Sonne bestand, aus Huren, Tabak, der Marionette Batista, aus Drogen und Spielsalons, drumherum nur blaues Wasser (der Bärtige war noch ein jun ger Mann und stand auf der Gehaltsliste der CIA), hatte sie sich »La Faraona, der schönste Arsch von La Habana« genannt. Dann aber sagte sie mit ihrem losen Mundwerk dem Meyer Lansky, mit dem sie jeden Dienstag im Hotel Hilton schlief, ein paar Wahrheiten, die dem nicht schmeckten. Sie konnte gera de noch rechtzeitig mit kleinem Gepäck nach Buenos Aires flie hen, bevor sie in einer der leeren Grabstellen auf dem zentralen Friedhof gelandet wäre, in denen die Mafia solche Fälle unter falschem Namen ablegte. Seitdem war sie »Susimil, der schönste Arsch vom Río de la Plata«. Und sie hatte Osvaldo in ihrem Apartment in der Calle Libertad in unmittelbarer Nähe des Obelisken gelinkt: sie war schwanger von ihm. Natürlich wusste meine Mutter Berta, die sich von ihrem Os valdo innig geliebt fühlte, sich aber seit ihrem Aufbruch aus Köln beharrlich weigerte, an ein gemeinsames Kind zu denken, nichts von der Bescherung. Berta machte damals jahrelang mit 117
einer kleinen, senkrechten Stirnfalte geltend, dass sie noch im mer das neue, große Land verwirre; die Fruchtbarkeit der Rin derherden und selbst die der Pampakatzen, der Gürteltiere und des Kleinviehs auf der Estancia »Las Primicias« – »Die ersten Früchte«. Diese Estancia hatte Osvaldo mit dem im Land ge bunkerten Vermögen erworben und dank einiger Zuwendungen an den ehrgeizigen Oberst Perón bald zu einer kleinen Provinz vergrößert, sodass Argentinien inzwischen nicht mehr, wie bei seiner Landung mit der Cabo de Buena Esperanza, nur 1803 Männern gehörte, sondern 1804. Und dass dieser eintausend achthundertundvierte Mann ein Jude war, pflegte dank der Zuwendungen selbst der Oberst, der sich Hitler und Mussolini nahe fühlte und bloß verhalten über den kleinwüchsigen und grausamen General Franco spottete, schlau zu übersehen. Tatsächlich aber war Bertas Weigerung, sich schwängern zu lassen, wohl eine frühe, noch rudimentäre Form der Emanzipa tion. Immer öfter suchte sie hier, in der Eintönigkeit der Pampa, abends den Horizont im Osten ab in der Hoffnung, einen Wider schein der Lichter von Buenos Aires zu sehen, ja vielleicht sogar eines der erleuchteten Fenster im damals höchsten Hochhaus Lateinamerikas, das mit den Gewinnen von Fleisch und Leder aus dem 1. Weltkrieg gebaut worden war. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern, eine Staubwolke hinter sich, die in der Abendsonne glitzerte, fuhr ein offener, kardinalsroter 42er Buick Convertible durch die Toreinfahrt von »Las Primi cias«, die mit einem Turm gekrönt war. Der Fahrer, ein Kreole in Livree, hielt vor den fünf Stufen des Haupthauses und drückte mit seiner behandschuhten Rechten so lange den Hupring, bis auch dem Verwalter, dem deutschstämmigen Roberto Wurtler, und selbst der taubstummen Haushälterin Mercedes Ipaguirre klar war: da unten steht Größeres bevor. Dann erst stieg Susimil aus, ganz in Rosé und Spitze, ein Kleinkind in den Armen, das ebenfalls in eine roséfarbene Wolke geschlagen war, und legte es auf die oberste der fünf Stufen neben jenen Schaukelstuhl,
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in dem Osvaldo an milden Abenden wie diesem zu sitzen und ein paar Seiten Heine zu lesen pflegte. Hier lag jetzt der erste Sohn Osvaldos, der spätere Fernando. Er schrie, zahnlos noch, aber schon mit aller Kraft, weil sofort die Fliegen vom warmen Milchgeruch des Babys angezogen wurden und hungrig über die Mahlzeit herfielen. Da hast du ihn, du hast ihn dir gewünscht. Aber ficken darfst du mich erst wieder, wenn aus dem Kleinen was geworden ist! rief Susimil mit jener Deutlichkeit, für die sie inzwischen weit über die Calle Libertad hinaus bis in die großen Wohnungen von Belgra no bekannt war (und mit diesen rollenden Rs wie Meereswellen auf Kieseln, die ich immer geliebt habe und die selbst in der alten Frau mit ihrem zerstörten Gesicht und den Spinnenbeinen, die im fünften und sechsten Stock der Calle Libertad bis nach der Militärdiktatur ihren kleinen, sehr gepflegten Puff betrieben hatte, noch immer die wunderschöne Mulattin mit großen, hellblauen Augen erahnen ließen, die sie damals war). Und schon saß sie wieder, ganz in Rosé und Spitze, eine Wolke in der Abenddämmerung, im Fond des 42er Buick Convertible und bedeutete mit einem Schwenk ihrer kleinen Hand dem Fahrer, die Estancia zu verlassen. Schließlich hatte sie ihn und den schönen Wagen nur für diesen Auftritt von nicht mehr als vier Minuten gemietet, und der Auftritt war beendet. Jetzt? fragte da Roberto und sah auf seinen Chef. Jetzt! sagte Osvaldo. Sie kannten sich seit Jahren, sie muss ten nichts weiter sagen: sie meinten beide den Fahrer, der sie mit seinen Handschuhen genervt hatte, der Livree, der Mütze, dem steifen Rücken und dem Blick eines Mannes, der gelang weilt und unbestimmt hoch über sie hinwegsah, als ständen sie hier auf dem weiten, flachen, von Fliegen gesättigten und noch
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vom Pampawolf durchzogenen Land bis zu den Knien in der Rinderkacke. Roberto schlug die Remington 32 an, mit der er gelegentlich einem Viehdieb das Bein punktierte oder einen Kampfuchs er legte. Er zielte auf den Kopf des Fahrers und schoss ihm sau ber die Mütze vom Schädel. Der Buick machte einen kleinen, für seine Größe etwas uneleganten Hopser, dann rollte er aus und stieß leicht gegen eine Akazie. Da stand er nun. Susimil stieg wieder aus und schnippte sich eine Verunreinigung von der Bluse, etwas Kopfhaut, ein Büschel blutiger Haare, die sie getroffen hatten wie Vogelkot. So waren hier die Bräuche. Jetzt stand es ohne großen Schnick schnack 1:1. Susimil akzeptierte das und ließ, als kein weiterer Schuss fiel, den noch immer leicht verwirrten Fahrer den Gang einlegen. Am Abend reiste ihr Berta mit zwei Koffern hinterher nach Bue nos Aires, wo die beiden bald Freundinnen wurden; schließlich hatten sie schon länger eine Gemeinsamkeit: das Glied und Teile des Herzens ein und desselben Mannes. Osvaldo aber fuhr das ganze Elend einer gescheiterten Ehe und seiner verratenen großen Liebe ins Knie, nannte sich hier Virus und Bakterie, und in seiner Verzweiflung trank er drei Tage am Stück. Dann fiel er rücklings auf seine Geige, die zer brach. Verkatert suchte er Trost bei dem Gedanken, in Köln noch Reste seiner Familie finden zu können; obwohl sie doch in der zerstörten Stadt nur noch aus Hersh Liebermann bestand, dem Plum, seinem Zwilling, mit dem er schon als Kind bitter gestritten hatte. So machte er sich auf die erste Flugreise seines Lebens, mit schwerfälligen Propellermaschinen und viel Umsteigerei. Als er
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endlich in Köln den zerstörten Ebertplatz sah und die Trümmer der Sudermanstraße und das gähnende Kellerloch, das einst das große, stuckverzierte Haus aller Liebermanns gewesen war, da begriff er, was es heißt: das Leben ist in die Steinzeit zurück gebombt. Und er fiel mit seinem Knie, in dem die Viren schlemmten, einfach um. Und landete im Marienkrankenhaus. Eigentlich direkt in den Armen der Lernschwester Roswitha Niekisch, die gelegentlich, aber nur gelegentlich, bescheiden wie die Zeiten waren, für ein Pfund Kaffee, eine Stange Camel oder Collie, ein Paar Nylons, ausgerechnet für Hersh Lieber mann anschaffen ging. Aber das wusste Osvaldo nicht. Hersh war untersetzt, gut einen Kopf kleiner als Osvaldo. Trotz dem gelang es ihm, seinen Bruder, diesen im zerstörten Köln doch übergroßen und noch dazu in den satten Farben der Tro pen schillernden Paradiesvogel, unmittelbar vor der Abfahrt noch um zwei ganze Köpfe kleiner zu machen. Die ungleichen Zwillinge standen an Gleis 3 des Kölner Haupt bahnhofes. Durch sein Dachgerippe fiel noch der Himmel, aber schon gurrten in ihm wieder die ersten Tauben. Die beiden war teten auf den Zug, der vor dem Krieg Wanzen-Express gehei ßen hatte, weil er von Warschau bis Paris durchging. Osvaldo wollte vor seinem Rückflug noch Paris sehen, das Mekka der Argentinier, und hier noch zu einem Stück mehr einer von ihnen werden. Diese Tauben sind noch so dürr und zerrupft wie die Köl ner selbst sagte Osvaldo. Er sagte es, um irgendetwas zu sa gen. Er sagte es leise, um niemandem außer Hersh zu nahe zu treten. Er hätte auch von der dünnen Maus reden können, die zwischen den Schwellen von Gleis 3 zu überleben suchte und deren Gehüpfe er jetzt mit den Augen folgte. Wirklich, jetzt sah er es genau: diese Maus war schwindsüchtig und hatte nur drei Beine. Und keinen Schwanz. Hier war noch alles kaputt.
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Schon bei seiner Ankunft hatte er dem Hersh sagen wollen, dass sie schließlich Brüder seien. Und dass sie sich doch lie ben könnten, jetzt, da sie die letzten Liebermänner waren und ein ganzes Meer zwischen ihnen lag. Aber er hatte den Anfang nicht gefunden. Sie hatten sich nicht einmal gesagt, dass sie die letzten waren. Schwatz nicht so dämlich daher sagte Hersh nur. Bei dir schlägst du dich wieder mit Rinderbraten voll, bis dir die Augen zuschwellen. Und hast am Tisch die ganzen Nazis sitzen, die dein Oberst ins Land geholt hat. Also wirklich, diese Nazis sitzen auf meinem Bruder wie die Fliegen auf der Scheiße. Das war Hersh, nie sehr elegant, aber meist punktgenau. Und er fügte leiser, fast milder, aber umso nachhaltiger hinzu: Du bist eben einer, der Geige spielt und diesen Heine liest. Und im Kopf hast du nichts als Träume. Und Schwanz. Fürchter lich viel Schwanz. Hersh war ein Konterboxer, der sich im Boxclub Colonia 09 fit hielt. Wenn er richtig zuschlug, meißelte er mit einem unvorbe reiteten rechten Schwinger dem Gegner die linke Augenbraue so auf, dass sie genäht werden musste. Danach fühlte er sich für einen Augenblick entlastet, leicht wie eine Feder. In so einem Augenblick hätte er selbst seinen Bruder lieben können. Die uralte, tückische, natürlich ungerechte, aber gerade deswegen umso schärfere Wut war dann weg. Das war die Wut auf den alten Mordechai Liebermann, der seinen Bruder, unfertig und privilegiert, ins Paradies der Tropen geschickt hatte, gleich zu sammen mit diesem Betthäschen aus der Weißenburgstraße, dieser Flaumfeder Berta, dieser niedlichen Ficknudel, damit es dem Jungen drüben nun wirklich an nichts fehlte, nicht mal an der gewohnten Kost –
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und ihn selbst hatte der Alte in den Untergrund von Köln-Nip pes verbannt, wo er dümpelte und versumpfte und, endlich wie der aufgetaucht, nur die Wahl hatte, klein und schmutzig und gefährdet zu bleiben oder aber ein Großer zu werden: einer, der täglich drei frisch gebügelte Seidenhemden tragen kann und einen schweren Ring am Mittelfinger. Und der ganz zwangsläu fig und zuvorkommend mit einem Ehrbaren verwechselt wird, der erfolgreich sein Brot verdient und auch noch andere nährt. Und somit alle wieder ein Stück voran bringt in diesem Elend aus Schweigen und Schuld. Und Steckrüben und Schuld. Und Ungeziefer und Schuld. Und Verbocktheit und Schuld, das die Nazis hinterlassen hatten, als sie endlich auf ihre Zyankali-Kap seln bissen. Oder vorübergehend die mäusespeckigen Hosen von Briefträ gern in Tirol anzogen. Oder aber auf das leise, lockende Gurren des Oberst Perón hörten, der mit ihnen und ihrem geheimen Schatz sein Land entscheidend zu modernisieren und nebenbei den ersten Dü senjäger zu bauen gedachte - sodass sie sich, wie Jahre zuvor Osvaldo auf der Cabo de Buena Esperanza, von Genua aus mit dem französischen Linienschiff Campana oder mit der North King einschifften, auf der schon kurz nach dem Ablegen, als sich die Küstenlinie verlor, ein Helmut Gerber stöhnte Wellen, nichts als Wellen, bevor er wieder in seiner Kabine verschwand. Hier hütete er einen kleinen Koffer mit Unterlagen und Präpara ten, die er sich als Dr. Josef Mengele in Auschwitz mit wissen schaftlicher Strenge erarbeitet hatte. Als der Zug endlich einfuhr mit einer Dampflokomotive, die in Köln umständlich gewechselt werden musste, weil sie aus zuviel Löchern pfiff, als Osvaldos rindslederner Koffer verstaut und sein Jackett aus feinem englischen Tweed aufgehangen war, da sagte Hersh noch, der kleiner als je zuvor vor dem Fenster stand:
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Ich werfe dir nicht vor, dass du die Niekisch geschwängert hast. Obwohl, sie war eines meiner Mädchen, und jetzt ist sie fürs Geschäft verloren. Ich werfe dir vor, dass du ihr den Kopf verdreht hast mit dem Versprechen einer Insel, die du gar nicht hast. Sie ist verrückt geworden. Durchgeknallt ist sie, und das bleibt sie. Wegen dieser Insel, die du gar nicht hast. Ich habe nicht gewusst, dass sie für dich arbeitet. Und dass sie diese Geschichte mit der Insel so ernst nimmt. Es war doch eher ein Gleichnis. Du weißt nichts von uns, nichts. Du lebst im Licht, bei uns ist immer noch Nacht. Und jetzt fahr ab. Und halt drüben wieder Einzug durchs Tor deiner Fleischfabrik. Estancia. Wie? Estancia heißt das. Von mir aus. Zieh da wieder ein wie dieser Cäsar damals in Rom. Oder dieser Napoleon in Ägypten. Mit seinem Turm sieht dieses Tor jedenfalls genauso aus wie das Tor des Lagers, in dem Mama umgekommen ist. Wir wissen nicht einmal, welches Lager es war. Aber sie hatten alle dieses eine Tor mit dem Turm. Bis Aachen wurde, von Schienenstoß zu Telegrafenmast, Os valdos Wut auf seinen Bruder immer größer. Hier lebten Frem de. Sie lebten im Schatten einer Tragödie, er aber hatte das Theater noch vor Beginn der Aufführung verlassen. Es stimmte, er hatte nicht einmal nach der Frau mit dem leicht wächsernen Gesicht und dem schwarzen Dutt gefragt. Er hatte die Katas trophe nicht erlebt und wusste daher nicht, wie man nach einer
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Mama fragt, die zu ihren Opfern zählt. Sein Bruder Hersh hatte die Erinnerung und den Schmerz. Und wer den Schmerz hat, der hat auch die Liebe. Er selbst hatte nichts. Bloß die Vorwürfe eines Zuhälters auf dem Bahnsteig von Gleis 3. Zwischen Brüssel und Paris dann, in dem flachen Land mit sei nen einzelnen Gehöften, die in ihren Senken lagen wie die Au gen Toter und das ihn von fern an die Pampa erinnerte, wurde aus der Wut wieder Trotz. Als er in Paris ausstieg, war er in der Lage, die Brust vorzuwölben, sodass das Seidenhemd spannte. Und er stellte fest, dass er Argentinier war. Und merkte, was das ist: Männer, die ihre Brust wölben und sich trotzig in den Wind stellen. An Frauen wollte er jetzt ausnahmsweise mal nicht denken. Es waren eben Männer, die auf der langen Seereise alles verloren hatten. Ihr Gepäck und selbst ihre Erinnerungen waren zerfressen vom Sinterwasser. Durchstöbert von räuberischen Zöllnern. Und durchpflügt von Ungeziefer im Hotel des Immigrantes am Hafen. Und sofort nach diesem stinkenden Kasernenloch, das im Sommer alle Epidemien der Mittelmeerländer ausschwitzte und die Hefepilze der irischen Steinkaten, hatten sie sich schon der versammel ten Anarchisten, Sozialisten und Gewerkschafter aller Län der Europas erwehren müssen, die als blinde Passagiere gelandet waren und hier ihre in Europa missratenen Auf stände neu zu zünden suchten. Der Evangelisten und Mo narchisten und selbst der rituellen Esser von Spatzeneiern. Der polnischen Jüdinnen, die von der Miqdal-Mafia ins Land gelockt und zu Huren gemacht wurden. Und natürlich auch der nun wirklich hinreißenden Mulatinnen aus der Karibik, die zumeist auf eigene Rechnung arbeiteten. Und kaum angekommen in den dampfenden Wäldern des Nordens oder den windigen Weiten des Südens, hatten sie schon ein paar der immer noch verbliebenen oder trotz der letzten
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Kopfgeld-Aktion bereits wieder nachgewachsenen Indios aufs Haupt schlagen, den Puma jagen und die Moskitos zu rück in die Sümpfe treiben müssen. So war die Geschichte seines neuen Landes gewesen, in dessen Hauptstadt die Lederfabriken und Fleischbänke ratterten, die Pökelanlagen stanken und Schönheit ein Traum von jenseits des Meeres blieb. Zu Hause war der Traum in Paris. Wirklich, alle träumten von Paris. Und selbst waren sie nichts. Er stand jetzt auf dem kleinen Balkon seines Hotels in der Rue de Rivoli, einen Cognacschwenker in der Hand, blinzelte in die Sonne, bewunderte die Fassaden, die fein geschwungenen Ei sengitter der Brüstungen, die Place de la Concorde, sah wieder und wieder auf den Obelisken, den echten, den aus Luxor, den der ägyptische Vizekönig Mohamed Ali der großen Nation zum Geschenk gemacht und dessen Transport zwei Jahre gedauert hatte. Wenn er in Susimils Apartment in der Calle Libertad zum Rauchen aufs Dach stieg – jedes Mal pfiff der Papagei von gegenüber, der im 6. Stock dicht am Fenster saß und weiße, bekümmerte Streifen auf die Straße schiss – konnte er auf der Kreuzung Corrientes / 9 de Julio diesen anderen Obelisken sehen, den nachgemachten, der den in Paris überragte und den die Firma Siemens in wenigen Wochen errichtet hatte, flutsch, und er stand: El Obelisco – die erigierte Nation.
Die kleine Bumserin und die Heilige Hersh sollte später stets behaupten, Bertas plötzliche Rückkehr nach »Las Primicias« sei einzig sein Verdienst gewesen, Frucht nämlich langer Telefonate mit dieser kleinen, aber echten Per le aus Kölns Weißenburgstraße, und nur sein Bruder Osvaldo habe damals alles wieder versaut. Unsinn, sage ich dazu nur: er versuchte auch mit dieser Lesart, seinen Zwilling wie einen kleinen Bruder zu beherrschen und wie alle seine sonstigen Geschäfte. Hersh, damals Spitz ge nannt, später auch Die Pocke, war herrschsüchtig wie schon sein Vater Mordechai, der früh um 05:30 Uhr den Kölner Groß markt zusammenbrüllte. Wenn er nicht herrschen konnte, war er wenig bis nichts. Anlass für Bertas Rückkehr war vielmehr das, was Susimil ihrer neuen Freundin wieder und wieder erzählte. Wenn sie in der Calle Libertad ihren Freier Osvaldo rangenommen hatte, wie nur eine Susimil es verstand; wenn er an dem pfeifenden Papa geien vorbei zu einer letzten Zigarette aufs Dach gestiegen war und nach einem allerletzten Whisky in ihren Kissen versank, dann redete Osvaldo im Schlaf und erzählte von seiner großen Liebe zu Berta. Und im Schlaf, befreit von allen Unzulänglich keiten und Beschränktheiten des wachen Osvaldo, erzählte er so, wie nur ein großer Dichter, beispielsweise Heinrich Heine, erzählen kann. Selbst die nun wirklich erfahrene Susimil hatte so etwas Schö nes noch nie von einem Mann gehört. So machte sie ihrer neu en Freundin ein Geschenk und erzählte ihr alles brühwarm. Ja
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sie verhehlte ihr auch nicht, dass sie in manchen Nächten ge glüht hatte vor Eifersucht. Und über diesem Zuviel an Schön heit und Liebe ihrem Kunden gelegentlich k.o.-Tropfen ins letzte Glas gegeben hatte, die ihre Mutter, geheiligt sei ihre schwarze Haut und die Ahnen im Kongo, aus dem Sud von sieben Kräu tern destillierte und von einem Santero in der Altstadt von La Habana weihen ließ. Mit diesen Tropfen vergaß auch Osvaldo schlagartig, was Liebe und was Begehren ist und fiel ins Bett wie gefällt. So genossen Osvaldo und Berta das, was unter Boxern ab der siebten oder achten Runde Der zweite Atem heißt. Bertas steile Falte zwischen den Augen war verschwunden. Sie wusste we der etwas von der Bescherung, die Osvaldo mit der Niekisch in Köln angerichtet hatte, noch von jener merkwürdigen, ja höchst intimen Art, in der er in Paris wieder und wieder den Obelisken von Luxor betrachtet und von Susimils Dach aus auf den Obe lisken von Siemens in der 9 de Julio gestarrt hatte. Und so ließ sie sich endlich schwängern, und ich wurde geboren. Als ein vermeintlich glückliches Kind. Ich soll sogar schon gleich nach der Geburt, natürlich zahnlos, faltenreich, verschleimt und blutig, aber doch lauthals gelacht haben; denn natürlich wusste ich noch nicht, dass ich als Reporter nie etwas zu lachen haben würde, als Schriftsteller kaum je einen Leser fände und sowie so immer im Exil der Dichter zu leben hätte. Das Glück der beiden hielt bis zu dieser einen Nachricht aus Buenos Aires an. Dieses Mal reiste Berta mit großem Gepäck und endgültig ab, mit allen Hutschachteln und Fotoalben und dem Fell eines Silberfuchses mit eingenähter Klappe, in der ein Carlos steckte. Dieser Carlos, das war ich. Und hinter mir nichts als eine große Staubwolke.
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Susimil hatte in der Calle Libertad aufdringlichen Besuch er halten. Der zerschnitt ihr ohne jegliche Vorrede das Gesicht so gründlich, dass es einer schier unendlichen Kette von Eingriffen bedurfte, bis ihr aus dem Spiegel nicht mehr ein Frankenstein entgegensah. Aber selbst dann hielt sie sich nur aus, wenn sie es ab der Nasenspitze mit wechselnden Tüchern verhüllte, sodass sie schließlich beschloss, sich als gemäßigte Muslimin auszugeben und mit Geld, das Berta von Osvaldo eingefordert hatte, jenen orientalischen Puff zu gründen, der in den ver schwiegenen, aber lächelnden Erinnerungen Eingeweihter bis heute nachklingt wie ein großer Roman oder eine einzigartige Sonate. Berta ließ sich nie davon abbringen, dass ihr Osvaldo, trunken von neuem Glück, mit seinem alten Leben gründlich hatte auf räumen wollen. Sie glaubte wirklich, er habe späte Rache an Susimil genommen für ihren Auftritt im 42er Buick Convertible mit Fahrer in Livree und dem kleinen Fernando ganz in Rosé und ihr in einem Anfall von schrecklicher Reinheit und Wahn diesen verqueren Chirurgen geschickt. Meines Wissens war das aber ein frisch eingeschiffter irischer Schläger aus Limerick, der auf der Gehaltsliste der Peronisten stand. Der Oberst Perón und seine werdende Heilige hatten schließ lich das Uhrwerk der Demokratie studiert und schnell begrif fen, wie sie in den Mechanismus eingreifen konnten. In einem armen Land reicht es doch, die Bedürftigen und zur Sicherheit auch noch die Gewerkschaften eine Weile zu wässern wie mit einem Feuerwehrschlauch. Das sichert dir die Mehrheit, und so lange du jetzt vom Volk redest, kannst du mit ihm ma chen, was du willst. Keiner fragt dich mehr nach dem Brun nen, aus dem das Wasser kommt. Niemand fragt auch nach der Häufung von Todesfällen unter den eingeschleusten, mit
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dem Transfer des Nazischatzes befassten Deutschen wie diesem Heinrich Dörge, dessen Leichnam auf offener Stra ße liegt; oder von Richard Leute, der ermordet aufgefunden wird; von Richard Stadt; oder vom Millionär Ludwig Freude, der in seinem Haus vergiftet vor einer Tasse Kaffee sitzt. Und selbst Juan Duarte, Evitas eigener Bruder, hat nach dem Tod der Heiligen gerade noch Zeit, Dokumente zu zeichnen, mit denen er die Überführung von Kisten und Geldern ermöglicht, die bei Schweizer Banken lagern und eine, von den Ärzten freilich als aussichtslos erachtete Behandlung seiner Syphilis zu beginnen, als er auch schon mit einem Loch in der rechten Schläfe im 5. Stock seiner Wohnung Callao 1944 entdeckt wird. Er kniet in Unterhemd und Unterhose vor dem Bett, den Kopf gegen die Matratze gelehnt. Links von ihm liegt ein 45er Smith & Wesson. Offizielle Todesursache ist Selbstmord, denn Juan Duarte, der sein Leben lang geschoben hatte, war gerade in einen Fleischskandal verwickelt. Die Kugel in sei nem Kopf allerdings ist vom Kaliber 38. Und ungeklärt bleibt zudem, wie ein Mann, der, nach Feststellung des Richters auf der Bettkante sitzend, sich eine Kugel in die rechte Schläfe jagt, vor dem Bett knieend gefunden wird, den Revolver links neben sich. Dieses Mal hatte Susimil teuer für ihr loses Mundwerk bezahlt. Während Eva Duarte zu Evita Perón mutierte und zu jener Hei ligen, deren Wiedergeburt wir alle seit jetzt fast 2000 Jahren ersehnten; während die Heilige, die als magere, hustende, von Kalziumspritzen stabilisierte Kleine aus ihrem Provinznest nach Buenos Aires gekommen war und der noch ordinärer Slang an hing wie anderen Staub und Ausschlag, die Armen salbte und ihnen die Füße wusch und jetzt sogar die Vizepräsidentschaft anstrebte, erzählte Susimil wieder und wieder den teuersten ihrer Kunden, dass sie damals, damit die Kleine nicht in ihrer
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erbärmlichen Pension verhungerte, den einen und anderen Bums an sie weitergereicht habe. Und dass sie selbst jetzt, als die Bedürftigen salbende und die Fische vermehrende Heilige, keineswegs monogam sei: habe ihr doch gerade eben der eitle Nazi Otto Skorzeny, dieser wilde Flieger und Befreier Mussoli nis gestanden, im Präsidentenpalast mit ihr ein Quickie gehabt und sie von hinten genommen zu haben. Von vorne ging nicht hatte er noch mit einem maliziösen Lächeln nachgeschlagen, denn da steckte gerade einer ihrer berühmten Obdachlosen drin. Die begüterten Kunden Susimils hörten das gern. Und erzähl ten es noch lieber weiter, mehrmals täglich, waren sie doch tief getroffen davon, dass im ganzen Land niemand mehr von ihnen redete und dass neuerdings jemand, der etwas zu sa gen haben wollte, arm sein und die Krätze haben musste. Und schon, stelle ich mir vor, wachte Evita in ihrem breiten Bett auf; denn so lange der Krebs im Uterus sie halbwegs in Ruhe ließ, hatte sie Ohren wie eine Maus. Wirklich, es entging ihr nichts. Sie hörte das leichte, flüchtige Kindergetrappel, wenn sich der Oberst, den sie öffentlich be dingungslos liebte und für dessen Liebe sie Gutes tat wie für einen Gott, eines seiner kleinen Mädchen zuführen ließ. Sie hörte selbstverständlich alles, was die Telefonistinnen der ver staatlichten Telefongesellschaft weitergaben, die sich über dies weigerten, in die Peronistische Partei einzutreten, sodass Irene Rodríguez, Nieves Beschi de Blanco, Dora Fernández, Paulina Manasaro, Segunda Gil, Luci Vial und Raquel Soto mit der Picana eléctrica in die Vagina behandelt werden muss ten, wobei eine von ihnen schwanger war und die Frucht ver lor. Und selbst diese verhalten kritische Äußerung unseres späteren Nationalhelden Jorge Luis Borges, der jahrelang am
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Nobelpreis vorbeischrammte, sodass er zum Schluss dünn und abgenutzt war wie ein Blatt im Herbst, hörte sie, als er sie leise aus dem Labyrinth seines Genies entließ, woraufhin ihm, dem Bibliotheksdirektor, auf der Stelle gekündigt und ersatz weise der Posten des Geflügelinspektors der Stadt angeboten wurde, der auf den Märkten die Milben im Gefieder zu zählen hatte. Und ich bin sicher, sie hörte auch nach dem 26. Juli 1952 als Kadaver noch, den der Spanier Pedro Ara sorgfältig präpariert und einbalsamiert und von dem er gegen alle möglichen Lei chenfledderer und für alle unmöglichen Fetischisten (deren er selbst einer war) vorsorglich eine unbekannte Zahl an Kopien gezogen hatte – selbst da, bin ich sicher, hörte sie noch bis zum Sturz ihres Oberst, dass Abend für Abend das Radioprogramm unterbrochen wurde und der Sprecher mit seiner Stimme eines untergehenden Ozeandampfers verkündete: Es ist zwanzig Uhr fünfundzwanzig, die Zeit, zu der Evita Perón Unsterb lichkeit erlangte.
Kinder der Leere
oder
Dieser Chevrolet Station Wagon, der schon zum
Frühstück ein kleines Ölfeld verschlabbert
Wenn die Mütter am Horizont eine besonders große Staubwol ke aufsteigen sahen, wussten sie Bescheid. So wie früher die Siedler im Wilden Westen in ihren Planwagen wissen konnten: die Indianer kommen. Oder schon wieder, verdammte Scheiße, Buddy der Einarmige mit seiner Bande. Dann war Osvaldo unterwegs in seinem Chevrolet Station Wa gon, eine Mühle von 2,5 Tonnen, die schon zum Frühstück ein Ölfeld verschlabberte und in der bis heute, weiter oben im Nor den, amerikanische Familien ziellos durchs Land ziehen wie einst in ihren Planwagen: der Papa am Steuer; rechts von ihm in unendlicher Entfernung die Mama; die zwei Kinder hinten mit ihrem Hamster und dem Eimer voller Popcorn, dem Über gewicht und den Pickeln. Und dahinter der gesamte Hausrat eines Mannes, der gerade wegen zyklischer Überproduktion entlassen worden ist und dem mit der Arbeit auch der hölzerne Bungalow gekündigt wurde - im Winter die Eishölle des Frostes und im Sommer mit seinem flachen Zinkdach eine Würstchendose im Dampfbad: Amerika eben, wenn die Bude nicht gerade zur Zeit der großen Stürme einfach davonfliegt mitsamt ihren Bewohnern und deren Hoffnungen und Verzweiflungen, aber auch immer dem Glauben, dass die Welt, von der sie, weil in Gottes Hand, wirklich nicht alles wissen müssen, wohl doch eine Scheibe ist, eine flache Torte, von der sich andere gefäl ligst nichts abzuschneiden haben: Amerika eben, na gut, ich merke schon, ich komme etwas atemlos vom einen ins andere.
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Dieser Norden, das ist eben unser Trauma. Und Argentinien, das ist hier und ist bloß mein schwaches Herz. Das habe ich mir mit Alkohol, Nikotin und Kokain ziemlich versaut. Und das ist daher unter anderem dreimal täglich angewiesen auf Biso prololhemifumarat 10mg von Pfizer aus Amerika. In der Pampa damals war freilich vieles anders. Einer, der sich hier in einem Chevrolet Station Wagon bewegte, dem gehörte sie. Und die Mütter wussten Bescheid. Kaum sahen sie die Staubwolke oder erahnten sie bloß, begannen sie zu kreischen. Sie schürzten die Röcke und stießen spitze Schreie aus. Die einen liefen in ihre niedrigen Häuser und versteckten die Töchter, andere wiederum stürzten in die niedrigen Häuser, zerrten die Töchter hervor und stellten sie neben die Tür wie Milchkannen, die gefüllt werden sollten. Die Witwen traten ans Fenster, lifteten ein wenig die Gardine und bereiteten sich dar auf vor, gegrüßt zu werden. Und tatsächlich, jedes Mal lüpfte der Fahrer beim Vorbeigleiten den Strohhut. Er winkte ihnen zu. Er bat um Bestätigung für sein Tun, Hilflosigkeit und die Bitte um Erbarmen in den Augen – aber da gönnten ihm die Witwen nur einen weiteren klaren, völlig unerbittlichen Blick: sie würden niemandem jemals verzeihen, und er selbst würde mit all seinen frischen, noch taufeuchten Blüten nie die eigene Leere füllen. Osvaldo Lieberman war unterwegs und suchte eine weitere Braut. Das tat er nie mit Gewalt, nicht einmal mit List und Tücke. Os valdo war kein schöner Mann: groß und hager, leichter Silber blick und ein etwas unglücklich fliehendes Kinn - aber wenn er so voller Verlangen steckte, war er schön. Wie ein Tango. Auch war er viel vorsichtiger geworden und winkte nicht mehr
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so einfach mit dem Bombast einer Insel in der Mündung des Rio de la Plata. Er war umsichtig und zärtlich, er machte klei ne Versprechungen, die er auch tatsächlich hielt. Er verteilte Vergünstigungen, die teils durchaus beachtlich waren, sodass selbst Mütter, die mehrmals täglich ihren Rosenkranz beteten und bislang die Tochter im Auge gehabt hatten wie den Topf mit kochender Milch, scharf ans Rechnen gerieten: auch sie wollten dann einen Fuß in der Tür der Estancia »Las Primicias« haben, wenn dieser Mann, mit seltenen Blüten geschmückt und einbalsamiert, leicht duftend nach Bienenwachs und Aka zienöl, in der Eingangshalle aufgebahrt würde und alle auf diesen modernen und leichten, nur gelegentlich knackenden Stühlen aus dem schnell nachwachsenden Holz des Euka lyptus zu einem letzten Abschied um ihn herumsäßen: der Bischof der Provinz, ganz in Rot, weil der Tote, wiewohl Jude, ihm Land zu wohltätigen Zwecken geschenkt hat; der Präsi dent des Verbandes der Viehzüchter; der Stellvertreter des Gouverneurs; der Kommandant der leichten Panzerbrigade; ein verbindlich lächelnder, aber innerlich schwer beleidigter Rabbi, der gar nicht gerufen worden war; fünf oder sechs die ser Gauchos, die mehr und mehr ersetzt werden durch die verwegenen Fahrer von Geländewagen und die Piloten von Kleinflugzeugen; der Schlachter natürlich und der Zimmerer; die Vertreter von General Motors (Chevrolet) und von John Deere, der früher Landmaschinenschlosser war; Verwandte und Gesinde selbstverständlich einschließlich dieses Rober to Wurtler, dem inzwischen ein Viehdieb selbst das Bein steif geschossen hat; eine unbekannte, weil verschleierte, franzö sisch duftende Mulattin aus der Hauptstadt und zweiunddrei ßig noch sehr junge Frauen mit je einem Kind, die jetzt alle auf einen Schlag Witwen sind und sich vorsichtig schneuzen. Und die Kinder, vorübergehend vor dem Toten erstarrt wie in einem angehaltenen Film, sind jetzt zwar halbe Waisen, aber tragen
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doch ein gewisses, vielleicht sogar reiches Versprechen in sich, ja werden in jedem Fall die Großmutter damit nähren und schließlich würdig bestatten können, etwa in einem klei nen Mausoleum mit schmiedeeisernem Portal. Ich war in diesem Sommer 16 und hatte, in der Pampa ver streut, eine Heerschar mir völlig unbekannter Geschwister. Eine beunruhigende Vorstellung ähnlich der, irgendwann über eine Wiese voller Tretminen This side to the enemy gehen zu müssen. Und ich hatte den mit Susimil gezeugten Halbbruder Fernando, der mein Freund war. Und einen mit einer Roswitha Niekisch in Köln gezeugten Mario Lieberman, der Polizist wer den wollte. Das mit dem Polizisten ging mir, der ich Koteletten trug wie El vis Presley und eine lange Haartolle und Gedichte schrieb im Rhythmus des Rock and Roll mit der Nervosität von Bill Ram sey, völlig gegen den Strich. Gerade waren wir, mit ein paar Schrammen und nur dank israelischer Luftcharter, den Adolf Eichmann losgeworden, der anfänglich als Ricardo Klement auf der Gehaltsliste von Mercedes-Benz Argentina gestanden hatte. Und jetzt das: mein Bruder ein Polizist in Deutschland. Das konnte ich keinem meiner Freunde hier auch nur andeu tungsweise erzählen zu einer Zeit, da Jimi Hendrix wieder und wieder die amerikanische Flagge zersang und seine Guitarre auf dem Schädel dieses Nixon zerschmetterte und in Mexiko City, ein Fanfarenstoß zur Eröffnung der Olympischen Spiele, dreihundert Studenten erschossen wurden und der Widerhall der Schüsse uns Nacht für Nacht in Buenos Aires aus den Bet ten warf.
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In diesem Sommer lebte ich noch bei Berta und dem weißhaa rigen, bald kahlköpfigen Ernesto, der meine Halbschwester Sil vina gezeugt hatte. Die beiden schienen dauerhaft glücklich zu sein in dem schmalen Haus im Stadtteil San Telmo (englisches Fachwerk von 1897), und so nickten auch Silvina und ich meist dazu wie kleine, mechanische Spielzeug-Enten. Aufrichtig gesagt: es war verheerend, sodass ich bald regel mäßig zweimal die Woche nach dem Boxtraining versucht war, mich am Dachbalken meiner Mansarde aufzuhängen. Denn es war ja so: schon bevor ich mit den wöchentlich un ters Volk gestreuten Western-Heftchen lesen lernte, stieß ich zufällig darauf, dass wir nur geboren werden, um bald darauf zu sterben. Diese Einsicht sauste auf mich runter wie ein Berg, und richtig erholt habe ich mich davon nie. Von da ab gab es nur wenige Höhepunkte, die, erkenntnistheoretisch betrach tet, reine Ablenkungen waren: der Roman Pedro Páramo von Juan Rulfo, fünf Gedichte von Borges, drei Kurzgeschichten von Cortázar, ein paar Tangos von Gardel und die Filme mit Hedy Lamarr, etliche Boxkämpfe, die eine und andere Partie zwischen Boca Juniors und River Plate, Besuche im orien talischen Bordell von Susimil (fast immer zusammen mit Fer nando) und natürlich meine früh schon aufgekeimte Liebe zu Silvina: es war ein Dienstag im Februar, es war 17:35 Uhr, die Abendsonne zog goldene Streifen durch ihr Zimmer, und Sil vina war wunderschön. Da stand sie, nackt und makellos, und ich wusste, es ist um mich geschehen. Silvina war rein wie Quellwasser, und weiß war sie und eben wie aus Porzellan. Denn Silvina wuchsen keine Haare, nirgendwo. Natürlich, ein genetischer Defekt. Der sie für mich aber zu einem Kunstwerk machte, das ich begehrte wie kein anderes Mädchen auf der ganzen Welt; auch wenn unser Nachbar zur
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Rechten, Pedro Roncagliolo, der in der Calle Balcarce einen Frisiersalon betrieb, stets behauptete, ihr Erzeuger Ernesto, der weißhaarige und schon leicht vergessliche Anarchist, habe beim entscheidenden Nümmerchen mit Berta einfach die hal be Portion, eben die mit den Haaren, daneben gekleckert. Der Mann war Peronist, im Kopf noch immer nur die Gebetsmühle des Oberst und die Heiligkeit von Evita, und wie die meisten Peronisten neigte er daher zu einer extrem einfachen Sicht der Dinge. Es war ein Januar voller Fliegen, heiß und staubig. Ich machte Ferien auf »Las Primicias« und war verrückt nach Autos, die sich mit zwei Fingern und Handgas durchs Land steuern las sen. Ich legte paar Mal die Hand auf die warme Motorhaube des Chevrolet, besah mir den Auspuff, der mich sehr erregte und schnüffelte am Einfüllstutzen. Um mich mit Fernando zu treffen, musste einer von uns bei den umständlich hin und hergefahren werden wie ein Bügel brett oder ein Grill, die verborgt werden: Osvaldo hatte doch seinen ersten Sohn, kaum dass ihn Susimil in dieser rosé farbenen Wolke neben seinem Schaukelstuhl ablegte, gleich wieder entsorgt, gewissenhaft und gut ausgestattet, das ja, aber eben entsorgt - er hatte diesen Roberto Wurtler ge zwungen, die taubstumme Ipaguirre, mit der er gelegentlich schlief, zu heiraten und fortan so zu tun, als sei Fernando beider Sohn. Er hatte ihm einen Dodge-Lastwagen gekauft (Transportes R. Wurtler), ein kleines Haus in einer 20 Kilome ter entfernten Gemeinde, die aus nichts als ein paar rechten Winkeln, einer Bar, einer Zapfsäule und zwei mageren Hu ren bestand, drumherum nur Pampa und gelegentlich Rinder, die auftauchten und wieder weg waren wie der Name dieses Kaffs, den selbst seine eigenen Bewohner nicht immer im
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Kopf zu haben schienen. Dieser Roberto Wurtler war schwer sauer und ließ es die Stumme und Fernando spüren. Kein Wunder, dass Fernando und ich in diesem Januar übereinka men, einfach abzuhauen. Ich entnahm Osvaldos Schreibtisch einen ganzen Stapel Scheine frisch von der Bank, dem Gewehrschrank eine Mauser, man weiß nie, wann man auf Fernreisen dem letz ten Jaguar begegnet. Ich versank, aufs höchste erregt, in Osvaldos Chevrolet und wurde erst wieder ruhiger, als die se herrliche Mühle auf der langen staubigen Geraden ein halbes Ölfeld verschlabberte und Fernandos quadratisches Kaff in Sicht kam, dessen Namen ich selbst immer wieder vergaß. Der Dodge stand nicht vor dem Haus, das war gut. Aber Fer nando kniff und ließ sich verleugnen. Er war mein Freund, und ich wusste: Fernando ist feige wie ein Huhn, das sich vor jedem Regentropfen und selbst vor dem kleinsten Windzug duckt, als sei er der Habicht. Die stumme Ipaguirre wollte mich aufgeregt küssen wie eine Mutter und beschwor mich mit Gesten immer wieder, und diese Gesten konnten nur Umkehr bedeuten und so eine uralte, abgestandene Weisheit wie Die Tür, die du heute zuschlägst, öffnet sich morgen nicht wieder, und da gab ich Gas, die Mauser neben mir, den Tank fast voll, ein paar große Scheine in der Tasche und frei selbst von der Last des Führer scheines: ein Mann eben, der sein eigenes Land erkundet und in Besitz nimmt. Nach Westen wollte ich, Berge sehen. Und hinter den Bergen liegt noch ein anderes Land und ein ganz anderes Meer. Vielleicht gehen da die Menschen fröhlich auf den Händen und schlafen, wenn ihnen danach ist, ganze sechs Monate am Stück.
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Abends stieg ich in einem kleinen Hotel an der Straße ab, verdrückte ein ganzes Brathuhn mit Yucca, als sei ich den ganzen Tag geritten, fuhr schon früh am Morgen weiter, ohne zu bezahlen und ohne auch je etwas von einer Forderung zu hören. Offensichtlich waren die Kunden dieses Hotels nicht von der Art, die man zu mahnen wagt: es lag an der Ein fallschneise des Kokains aus Bolivien. Ich fuhr und war frei und auch bitter wie ein Mann, der gerade vieles Schöne hin ter sich gelassen hat, aber lief schon vor Mendoza auf eine Polizeisperre auf. Da standen sie, drei Wagen, volles Aufge bot, die Maschinenpistolen wiesen eindeutig auf mich. Keine Möglichkeit der Umkehr mehr. Ich nahm Gas weg und den Gang raus. Und vergaß, dass die Mauser unter mir lag und voller Schrot war. In Mendoza saß ich tagelang fest, von Einzelzimmer keine Spur. Es war eine Gemeinschaftszelle mit Delinquenten aus Chile und Peru, und die Anden, die ich doch hatte sehen und queren wollen, sollten hinter der feuchten Längswand sein, an der meine Pritsche stand. Statt Gebirgsluft der Geruch ungewaschener Leiber und der stechende des Kloloches. Und es gab hier eine sehr kleine, ungemein schnelle Art von Kakerlaken, die wie Rallyefahrer die Wände hoch- und run tersausten. Wie üblich, stritten sich die Chilenen hart mit den Peruanern. Die Chilenen behaupteten, nur aus einem Scheißland wie Peru könne so eine hässliche, aggressive Art von Kakerlake entwichen sein, und umgekehrt. Ich tippte eher auf Überlebenskünstler aus Asien, aber auf mich, den Benjamin, hörte hier ohnehin niemand. Mein Problem waren die Schrotflinte und Osvaldos bankfrische Scheine. Denn ich war, ohne den Film mitzukriegen, an einer Tankstelle vorbeigefahren, die gerade einen blutigen Überfall
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hinter sich hatte. Der Sohn des Pächters hatte sich gewehrt und eine Schrotladung in die Brust gekriegt. Und sein Vater war sich völlig sicher, genau die frischen Scheine in der Kasse gehabt zu haben, mit denen ich spazierenfuhr. Ich hatte also viel Zeit, tagsüber die Rennen der Kakerlaken zu verfolgen und mich nachts dagegen zu wehren, dass einer an meinen Hintern ging. Mit den Versuchen wechselten sich Chilenen und Peruaner ab, da waren sie sich einig. Bis endlich einer von Osvaldos Anwälten aus der renommierten Sozietät Dr. Vi cente Batista & Cie. zur Stelle war, nicht nur seinerseits ein paar Scheine strategisch verteilte, sondern auch schlüssig darlegte, dass der Pächter aus verständlichem, wenngleich verwerflichen Eigeninteresse log und der Sohn, eine simple Frage von Forensik und Ballistik, keineswegs mit einer Schrot ladung niedergestreckt worden war, sondern von einer 45er Polizeikugel: hier ist sie, frisch der Leiche entnommen sagte er und hielt sie dem Richter lächelnd zwischen Daumen und Zeigefinger unter die Nase. Bei der Rückfahrt im Chevrolet, dieses Mal der Anwalt am Steuer, versuchte ich, aus diesem Dauerlächler schlau zu werden. Es gelang mir nicht. Er war klein und rund und trug ständig dieses Lächeln von einem Ohr zum anderen im Gesicht. Immerhin war er die rechte Hand des berühmten Dr. Vicente Batista, und die beiden hatten den Ruf, auch noch die aussichtslosesten Fälle vor Gericht zu gewinnen. Ich versuchte es, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie er mit diesem Lächeln, das keineswegs ein Grinsen war, jemanden verteidigte, der gerade seine Großmut ter wegen eines nur halb gefüllten Sparschweinchens erschla gen hatte. Und wie er selbst diesen Fall so eindeutig gewann, dass sich der Staatsanwalt noch mit Bückling für die Anklage entschuldigte.
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Aber genauso war es. Und während er lächelnd und laut dar über nachdachte, welcher der drei Streifenwagen, die doch die Straßensperre gebildet hatten, kurz zuvor für den Überfall auf die Tankstelle und den Schuss auf den Sohn des Pächters verantwortlich war, beschloss ich, aus diesem Rätsel des lä chelnden Anwalts meine erste größere Prosaarbeit zu machen, die natürlich katastrophal in die Hose ging. Daraus lernte ich wenigstens, dass man selbst über ein Rätsel ein bisschen was wissen muss, bevor man darüber schreiben kann. Und ich be gann zu ahnen, was für ein schlechtes Geschäft das Schreiben würde. Einen unserer nassen Winter – die halbe Provinz war geflutet, Haus- und Nutztiere trieben über Land, auch der eine und an dere Sarg aus den flachen, illegalen Gräbern der Armen, die jetzt schon lange nicht mehr von Evita getränkt wurden – hatte Osvaldo sich mit einem Trip in den Sommer Italiens verkürzt. Bei seiner Rückkehr wollte er alles anders machen. Er riss das Eingangstor von »Las Primicias« nieder mit jenem Aufsatz, den sein Bruder Hersh schon früh und mit gewisser Bitterkeit als den eines Konzentrationslagers beanstandet hatte und errich tete einen sechsstöckigen Wohnturm, wie sie sich ihm in der Toskana als »Geschlechtertürme« aus dem 13. Jahrhundert eingeprägt hatten. Hier ließ er sich in einem leicht klingelnden OTIS-Aufzug ins Turmzimmer fahren, blickte über sein Land, das mit dem Horizont noch immer nicht aufhörte und behaup tete bald, nur hier oben und allein ganz bei sich zu sein. Ich wusste, dass er gelegentlich hier oben weinte. Aber ich wusste nicht, warum. Bei unserer Ankunft saß er oben im Turm. Das trifft sich gut, dachte ich, das ist weiche Zone, und fuhr hoch. Und lag auch schon am Boden. Ich hatte nicht gewusst, dass sein Bruder
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Hersh zu Besuch gekommen war und mit ihm über Land sah. Ich kannte diesen Hersh nicht. Er stand auf, machte zwei Schritte auf mich zu, streckte mir freundlich die offene Hand entgegen, ballte plötzlich die Faust, landete einen kurzen, tro ckenen Schwinger an meine Schläfe, Sekundenblackout, un terbrochene Blutzufuhr, ich setzte mich wie ein Kleinkind auf den Hintern, dann erst wurde ich wieder klar. Hersh half mir auf, wie wir das unter Sparringspartnern tun. Das war dafür, dass du die anderen unterschätzt hast. Wenn du etwas drehst, musst du immer damit rechnen, dass die anderen auch gerade fleißig sind. Sonst bist du schnell im Arsch sagte er. Dann umarmte er mich und küsste mich auf die Wange. Das tat er etwas unbeholfen, so richtig konnte er das noch nicht. Er war eben gerade erst angekommen und zum ersten Mal ein Ausländer. Ansonsten war es schon ganz anständig. Mein einziger Sohn heißt Thomas. Der würde das nicht bringen. Der lernt nur. Und jetzt wird er auch noch schwul. Ich kannte diesen Hersh wirklich nicht, und ich kannte auch kei nen Thomas. Ich verstand nicht und wollte gehen. Was rieselt denn hier in der Wand eigentlich so? fragte Hersh. Ich hatte nichts gehört. Die Tropen sagte Osvaldo und zeigte auf die weiß getünchte Ziegelwand, hier gibt’s immer irgendwelche kleinen Mitbe wohner. Und meist wird nicht so stabil gebaut wie in Köln.
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Die Schlamperei des Südens sagte Hersh. Die Tropen sagte Osvaldo wieder, mehr sagte er nicht. Als gäbe es hier zu nichts mehr irgendwas zu sagen. Da saßen die beiden und sahen mir hinterher, als ich zum Fahr stuhl ging. Sie sahen aus wie zwei verlorene alte Männer, die nichts weiter zu sagen haben. Ich dachte, die wissen, dass sie verloren sind. Und zwischen denen bin ich es auch.
Der Junge mit dem Hammer Pulli pulli pulli machte Roberto Wurtler mit seinen dicken Lip pen, und gleich noch einmal pulli pulli pulli. Klein-Fernando lag auf einer Wolldecke und beobachtete den Mann, der sein Papa sein sollte. Pulli pulli pulli gab Roberto wieder von sich und hatte jetzt schon Speichel im Mundwinkel. Er richtete Klein-Fernandos Glied auf, das schlaff und wurmartig über dem Hodensäckchen lag und schnalzte anerkennend mit der Zunge: wirklich, dem Jungen würde da ein prachtvolles Geweih wachsen, größer als alles, was er bisher gesehen hatte. Und das in diesem Land der Hirsche, in das ihn sein Vater, ein arbeitsloser, früh verwitweter Schreiner aus Düsseldorf-Oberbilk, verschleppt hatte mit nichts als zwei Unterhosen und einem sehr kleinen Stoffhasen, dem ein Ohr fehlte. Diese Sache mit dem prächtigen Geweih beseitigte nicht sei nen Frust. Schließlich hatte ihn Osvaldo Lieberman Knall auf Fall zum Ersatzvater gemacht. Er hatte ihn in das Joch einer Ehe mit einer Taubstummen gezwungen, mit der er nur gele gentlich schlief. Und hatte er sich früher auf »Las Primicias« fast als Chef gefühlt, so war er jetzt einer, der immer öfter in einer Ölpfütze unter seinem Dodge-Lastwagen Transportes R. Wurtler lag; denn die aus dem Norden schickten alles hier runter, was ihnen montagfrüh oder während der Nachtschicht am Fließband misslang. Und wenn die Mühle wirklich lief, hat te er sich strikt nach Kunde und Liefergut zu richten, abends erstickte Hühner und Schweinescheiße zu entsorgen, trotz
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einer hauseigenen Destillieranlage halbwegs nüchtern zu sein und gelegentlich auch noch eines der Verkehrszeichen zu beachten. Aber dieses Versprechen, das der Kleine zwischen den Beinen hängen hatte und das jetzt frisch gepudert wurde, war einfach schön. Und es gab ihm einen gewissen Auftrieb. Die Nachbarn waren zu Beginn einmal gekommen, hatten ei nen Blick auf die leicht getönte Haut des Säuglings geworfen, auf das Krausköpfchen, hatten Roberto kurz und vernichtend angesehen wie den Versager, der sich von einem tiefschwar zen Neger hat Hörner aufsetzen lassen und waren weggeblie ben. Inzwischen aber kamen sie wieder. Die Männer lachten und tranken, und die Frauen hatten ein Glitzern in den Augen, wenn sie sich vorstellten, mit dem Kleinen im warmen Bade wasser zu liegen und Pulli Pulli zu spielen. Jetzt war Roberto einer von ihnen. Er hatte Familie und lebte in einer kleinen Stadt, auch wenn sie nur aus ein paar rechten Winkeln bestand und höchstens auf den Messtischblättern der Militärs verzeichnet war - sofern die wirklich darüber verfügten, wie sie behaupteten. Es war die einzig glückliche, ja fast euphorische Phase seiner Ehe mit der taubstummen Mercedes, die als eine Ipaguirre weit im Süden, fast schon dort, wo die Eisberge kalben, geboren worden war. Dann freilich nahm die Last von Jahr zu Jahr zu. Denn das an fänglich schöne Versprechen des Kindes wuchs sich zu einer Bedrohung für die Zukunft des Jungen aus. Und wieder waren Roberto und die Taubstumme ein Paar, auf das die anderen hinter seinem Rücken zeigten, als hätte es eine unglaubliche, zirkusreife Missgeburt gezeugt:
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Fernandos Geschlecht wuchs sich zu einem derart volumi nösen Apparat aus, dass der Arzt bald schon zwecks Vermei dung von Haltungsschäden zu einem Suspensorium riet. Da verfluchte Roberto wieder und wieder den Osvaldo Lieberman, den er einst heiß geliebt hatte. Er trank und schlug Mercedes die Stumme und meinte damit seinen Chef, der ihm den Sohn mit den Riesenklöten eingebrockt hatte. Nie freilich verprügelte er Fernando. Denn er hatte von der Fah rerkabine aus beobachtet, wie sein Sohn in einer der rechtwink ligen Gassen von einem Gleichaltrigen ins Gesicht geschlagen wurde. Fernando stand aufrecht vor ihm, mit hängenden Armen, weder Deckung noch Gegenwehr, und weinte. Da schlug auch der andere nicht mehr zu, und Roberto waren Rührung und Mit leid tiefer ins Herz gefahren als je die Liebe gesteckt hatte: sein Sohn, der noch besser dotiert war als die kräftigsten Afrikaner, denen doch wahre Wunder zwischen den Beinen nachgesagt werden, der Obelisk in der 9 de Julio sei nichts dagegen, war ein Hasenherz. Groß gewachsen, wache Intelligenz, kluges Gesicht, ein werdender schöner Mann – und ein Weichei und Hasenherz. Aber Roberto brüllte fürchterlich und schwor, Türen schlagend, es jetzt allen zu zeigen, als sein Sohn nach einer Schulauf führung mit Szenen des Gaucho-Epos »Martin Fierro« nach Hause kam. Ja, Roberto wollte sofort mit seinem Dodge los fahren und diesen Drecksack von Lehrer zusammenschla gen, der Fernando zur Schauspielschule in Buenos Aires geraten und ihm eine glänzende Zukunft am Teatro Colon, der größten Bühne aller Länder des Südens, vorgeflunkert hatte. Und das natürlich mit dem Hintergedanken, den schö nen Fernando zu verspachteln mit Haut und Haar, irgendwie. Roberto hätte wirklich zugeschlagen, aber die Wasserpumpe
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des Dodge zeigte einen Riss, und das ganze Kühlwasser lief aus. Du gehst zum Militär. Zur leichten Panzereinheit, die hier um die Ecke ist entschied er am nächsten Tag, noch reichlich verkatert, aber umso unwiderruflicher, und so fing Fernandos Karriere bei den Uniformierten Argentiniens an. Ich traf ihn erst bei Susimil im 5. Stock der Libertad als Kadet ten der Marine wieder. Die Sache mit der Panzereinheit war schnell schief gegangen. Natürlich hatte es schon bei der ers ten Dusche ein gewaltiges Gejohle gegeben, und kurz darauf versuchte ein Panzerschütze, der sich nicht mehr beherrschen konnte, ihn nachts zu stimulieren und mit ihm ein Solo für Flö te und Bongos zu spielen. Ich weiß nicht, warum Fernando glaubte, mit seiner besonderen Dotierung bei der Marine in La Plata besser aufgehoben zu sein. Jedenfalls fädelte er sich hier ins Slalom der Offizierslaufbahn ein, wurde zunächst Guardia marina de Infantería de Marina, und ich verlor ihn aus den Au gen, als er auf eine Fregatte abkommandiert wurde, die tief im Süden lag und die Chilenen belauerte. Bis dahin hatten wir eine gute Zeit, obwohl immer knapp bei Kasse. Ernesto mit seinem Hang zum Anarchismus tat stets so, als gäbe es die Zwangsjacke des Geldes gar nicht und rückte nichts raus; und selbst Susimil verwechselte gern Erziehung mit der möglichst sparsamen Zuteilung von Flocken, sodass wir fast immer blank waren. Dafür aber konnten wir in ihrem Betrieb fast nach Belieben ein und ausgehen. Hier besorgte sie, in spar samer Dosierung auch das, Fernando eine schon ältere Frau, die sein Kaliber in sich aufzunehmen bereit war, während sich alle anderen Mädchen strikt der Tortur verweigerten. Das war »Mayra die Sommersprosse«, weil sie den ganzen Hintern voll
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damit hatte. Aber vorne eine Einfahrt wie ein Scheunentor, und vom Wesen her wie ein Engel. Und ich konnte hier mit wech selnden Mitgliedern der Belegschaft vervollkommnen, was ich mir mit Silvina selbst erarbeitet hatte, die ich noch immer liebte wie seit dem Tag, da ich sie nackt und haarlos gesehen hatte und schön wie aus Porzellan. Da tauchte die seit zwanzig Jahren verschollene Mumie Evitas wieder auf, und wir hatten eine glänzende Geschäftsidee, die unsere Finanzen sanieren sollte.
Hitlers Schädel Wirklich, die vielen alten Leute am Stock oder an der hilfreichen Hand der Nichte; am Arm der männerlosen und flachbrüstigen Tochter; oder an jenem der alle Demütigungen still erleidenden und schweigsam den Hass von fünfhundert Jahren in sich tra genden India im weißen Kittel der Muchacha – und alle diese anderen Alten mit den zweirädrigen Gehhilfen, den vierrädrigen Karren mit und ohne Einkaufskorb, den Rollstühlen und Bahren (und den Mündern wie Spinnenweben und den Augen voller Angst und einem letzten, unerfüllbaren Verlangen), und schließ lich dieses ewige Geheule der Ambulanzen in Buenos Aires mit jenen Gefäßkranken an Bord, die gerade zur radikalen Bein amputation gefahren werden und nachher bloß noch Kopf und Rumpf sind, zwei hilflose Ärmchen irgendwo, mit denen sie sich am Phantomschmerz kratzen – alles das ist doch Beleg genug dafür, dass uns die Evolution zu früh und zu hastig auf die Beine gestellt hat. Unser Bewegungs apparat ist eine einzige Katastrophe. Und der Kopf. Einerseits ist so ein Kopf natürlich eine schöne Sache. Ganz offensichtlich hat er ja jenes Vergnügen in sich gespeichert, das es bedeutete, sich von Baum zu Baum zu schwingen, sodass schon aus der Antike unser brennendes Verlangen überliefert ist, doch wieder fliegen zu können. Andererseits haben wir an manchen Tagen größte Schwierigkeiten, früh im Spiegel den einen und anderen vertrauten Zug im eigenen Gesicht zu er kennen, geschweige denn, dass wir je mit Sicherheit zu sagen vermögen, wer wir wirklich sind.
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Und dann dieser ganze Schutt, der auch noch in ihm gestapelt ist. Kein Wunder, dass wir zeitweilig wieder in den Animismus und Fetischismus zurückfallen, die Herzen unserer Feinde essen wollen, den eigenen Kot sorgsam verstecken, uns an Wiedergeburt und Seelenwanderung wärmen und am Toten sonntag die Großeltern aus der Grabkammer steigen lassen, um wenigstens mit dem Alten ein Gläschen zu trinken, wäh rend, wie immer, die Großmutter, in Erwartung einer größeren Sauferei und der üblichen Zoten, mit ihrem einen verbliebenen Auge pikiert auf das Wollknäuel in ihrem Schoß starrt. Natürlich sind wir übers Meer Eingewanderten oder die Kin der dieser Seefahrer der Not besonders anfällig dafür; haben wir doch die Sicherheit unserer Hütten und Kochstellen und die Gräber der Ahnen in Europa zurückgelassen. Und was wir uns dort schon mit dem Katechismus und dem Neuen Testament an noch immer reichlich abstrusen und aben teuerlichen, aber doch schon etwas lichteren Vorstellungen angeeignet hatten, das ging bei den Stürmen in der Karibik über Bord. Oder wurde bei der Landung im alten Hafen von Buenos Aires gestohlen. Hier wurden Rucksäcke aus flecki gem Leinen und Holzkoffer mit Eisenbeschlägen gnadenlos gefilzt. Dafür waren vor allem Syrer berüchtigt und die einsti gen Ziegenhirten aus den rumänischen Karpaten, aber auch Dänen und Holländer, von den bei uns überall gegenwär tigen Engländern nicht erst zu reden. Und auch nicht von die sem Hamburger Luden, der hier der König der Kinderdiebe war: ein Frank Göhre, der seinen Namen unaussprechlich tschechoslowakisierte, als er sich ganz nach oben geboxt hatte und in einer Nacht mit Stromausfall (der Mond war hauchdünn und lag auf dem Rücken) einfach das Hotel des Immigrantes stürmte und sieben Jungfrauen raubte. Zwei entkamen ihm wieder (sie waren noch so jung und wendig,
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dass sie ihm zwischen den Fingern durchflutschten wie Fi sche), fünf aber machte er gnadenlos zu Huren, die sich bald mit tiefen, verdorbenen Stimmen den Bahnreisenden in der Es tación Retiro anpriesen. Kein Wunder auch bei solcher Ratlosigkeit und Leere, dass immer wieder Tote auferstanden und uns an die Hand nah men. Es waren nie Sokrates oder Voltaire, das nicht. Auch von Goethe kaum je ein Wind. Aber über Jahre hinweg war Mar tin Bormann allgegenwärtig. Und dann tauchte, in homöopa thischer Dosierung zunächst, nach und nach, dann immer öfter als zwar alter, aber noch rüstiger Mann Adolf Hitler auf. Tief im Süden, etwa auf Höhe der Malvinen, versuchte er alles neu zusammenzuschweißen, was ihm so laut zerbrochen worden war. Und da hatten Fernando und ich diese eine Idee. Enrico war Friedhofswärter auf La Recoleta und mit seinen sechs Kindern und einer trinkenden Frau stets noch knapper bei Kasse als wir selbst. Aus einer lange schon eingesunkenen Grabkammer besorgte er uns preiswert den Schädel eines Mannes, dem eine Kugel in die rechte Schläfe gejagt worden war. In einem unbenutzten, weil zur Renovierung anstehenden Zimmer im 6. Stock der Libertad richteten wir dafür, als Susimil einen trockenen Husten am Wasser in Tigre zu kurieren suchte, einen kleinen Altar her. Wir klebten Handzettel in der Corri entes, ließen sie, gänzlich unabsichtlich, in Buchhandlungen und Bars liegen, an Kinokassen auch. Am Tag der angekün digten Eröffnung von Gedenkraum mit Altar, den wir mit zwei kleinen Schreibtischlampen ausgeleuchtet hatten, kriegten wir selbst Bedenken und schließlich Angst wegen der vielen und dringenden Anrufe, die im 5. Stock eingingen und die alle eine volle Gedenkstunde mit Hitlers Schädel zu 150,- US Dollar buchen wollten (Verlängerung möglich) - bis Susimil, die Füße
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noch voller hellem Sand, mit einem Taxi angerauscht kam. Ihr Geschäftsführer, ein Schwarzer von der Karibikküste Kolumbi ens, hatte sie alarmiert. Hitler sagte ihr nicht viel, als Mann war er für sie ein eher unbe schriebenes Blatt. Als sie aber dahinterkam, wie dringend es die Anrufer meinten, wie viele es waren und wohl auch welchen Kalibers und Bekanntheitsgrades, erschrak sie und begann zu kreischen. Nie zuvor hatte ich Susimil kreischen gehört. Sie durchlebte, während sie wieder und wieder alle Räume im 5. und 6. Stock prüfte auf der Suche nach weiterem Unfug, den wir da angerichtet haben sollten, erneut jene Schrecken, die ihr vor Jahren dieser irische Schläger verursacht hatte, als er ihr das Gesicht zerschnitt. Susimil fürchtete um ihre Existenz und um ihr Leben. Sie warf zwischendurch mit einem Martini nach uns, mit französischer Seife und mit Badeschwämmen, ja fürchtete, alle Stockwerke, das ganze Gebäude könne abbren nen, wenn die Nazis merkten, wie sie gelinkt wurden und ihre Brunft genutzt werden sollte. Und selbst die Peronisten könnten noch einmal über sie herfallen, gab es doch für sie nur einen Fetisch, der zu verehren war: die Mumie der unsterblichen To ten, die seit zwanzig Jahren spurlos verschwunden war. Und Susimil erteilte uns Hausverbot auf unbestimmte Zeit. Ich, als hoffnungsvoller Jungunternehmer, war schwer beleidigt. Und Fernando weinte, wobei er sich auf die Knöchel der Rechten biss wieder und wieder, bis sie bluteten. Zu Hause wurde selbst der milde Anarchist energisch: hier grif fen Ernesto und Berta erstmals erzieherisch in mich ein. Sie schickten mich in ein von Jesuiten geleitetes Internat nach Mis siones an der Grenze zu Brasilien und Paraguay, wo abwech selnd die Sonne explodiert und schwarze Wolken brechen und dich nachts die Moskitos mit ihren winzigen Elektropumpen bis
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auf den letzten Tropfen leer saugen. Hier gab es noch alle Pla gen der Jesuiten und alle Unsitten der Natur. Aber es gab auch die Schönheit der Guaranís und ihrer Sprache, die ich lernte. Das deutsche Wort »Blatt« etwa, hier ein bloßer Einwanderer mehr, zielte hilflos vorbei an der grünen, dampfenden Hölle, die uns umgab. Auch das spanische Wort war zahnlos und zudem beschädigt vom faulen Atem derer, die als erste hier gelandet waren und schwangere Frauen aufgeschlitzt hatten. Aber das Guaraní-Wort für »Blatt« schmiegte sich den Blättern an, ja wurde zum Blatt selbst. Und ich nahm mir vor, später einmal ein Buch in Guaraní zu schreiben. Denn das würde ein Buch, das fliegen kann.
Das Grab der María Maggi de Magistris Pater Beltrani hatte bei zwei Gelegenheiten seinem Bischof gesagt, was er von ihm hielt, und war daraufhin in Gottes freie Natur strafversetzt worden. In seinem Zimmer zeigte er mir sogar eine von ihm unter Pseudonym verfasste Broschüre, die Ernesto gedruckt hatte: Handpressendruck und nummeriert 1 99. Dann ließ er sie wieder hinter zwei Bibeln verschwinden. Wir mochten ihn. Trotzdem hatten wir ihm an diesem Tag eine Tarantel aufs Pult gesetzt, denn manchmal ließ er den Autori tären raus. Die acht Beine locker aufgesetzt, maß die Tarantel 20 cm, ein schönes, tiefbraunes Exemplar, die Giftdrüse gut gefüllt. Pater Beltrani sah dieses Geschöpf Gottes und sah es nicht. Jedenfalls beachtete er es überhaupt nicht weiter: Pa ter Beltrani war so empört, dass ihm die Unterlippe zitterte. Die Empörung hieß ihn alle Vorsicht aufgeben, die er sonst walten ließ, um nicht noch aus Misiones an einen der groß en Schlachthöfe versetzt zu werden oder ins Eis des Südens zu den Pinguinen. Monatelang, sagte er und verhaspelte sich, jahrelang, berichtigte er, hatten seine Freunde jetzt Evitas Lei che im ganzen Land gesucht und für sich reklamiert. Denn wer sie hat, der gewinnt auch das Volk, sagten sie, sagte er. Denn sie gehört dem Volk, wie sie sagten, sagte er, und das Volk sind wir. Sagte er. Also gehört der Leichnam uns, sagten jene, die schon drei Jah re später selbst Leichname oder wenigstens Verschwundene sein sollten.
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Daher hatte am 29. Mai 1970 die Gruppe um den Komman danten Mario Firmenich den Ex-Präsidenten Aramburu in einem Kleinlaster mit getönten Scheiben entführt und ihn auf einem abgelegenen Rancho in der Pampa wieder und wieder nach den Exekutionen befragt, die er gleich nach dem Sturz des Oberst angeordnet hatte. Der Mann kannte nichts, staatsmän nisch gab er alles zu. Aber er wurde auch nach dem Leichnam Evitas gefragt. Da wich er aus. Er berief sich auf sein Ehrenwort. Er wollte lediglich einen geschlossenen Umschlag mit genauen Informationen empfangen und ihn bei einem Notar hinterlegt haben mit der Weisung, ihn erst vier Wochen nach seinem Tod dem zu übergeben, der dann Präsident wäre. So exekutierten sie ihn und kündigten an, seine Leiche erst der Familie zu über lassen, »wenn die sterblichen Überreste unserer geliebten Evi ta dem Volk zurückgegeben werden.« Und vor drei Tagen, sagte Pater Beltrani und stützte sich jetzt mit der Linken dicht neben der Tarantel aufs Pult -, vorvorgestern, sagte er, ist in Mailand das Grab der María Maggi de Magistris geöffnet worden, Bezirk 86, Garten 41, eine italienische Witwe, die nach Argentinien ausgewandert war und fünf Jahre vor ihrer angeblichen Beisetzung in diesem Grab in Mailand starb. Und da lag, in einem angerosteten Zinksarg, Evita. Der Sarg wurde zunächst in einem Leichenwagen nach Spanien überführt, für das letzte Stück bis Puerta de Hierro, der Resi denzzone im Nordosten von Madrid, wurde der Lieferwagen einer Bäckerei benutzt. Dann wurde er in der Villa des Oberst ausgeladen, der seit jetzt 15 Jahren, beschirmt vom kleinwüch sigen General Franco, dem dieser Stier aus der Pampa we der sympathisch noch geheuer war, auf die Möglichkeit einer Rückkehr an die Macht wartete. Nachdem der Sarg geöffnet war, griff der Oberst der Leiche ins Haar und hinter die Ohren.
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Ein Ohr fehlte. Sie war es also: er erinnerte sich an dieses ge heime Zeichen, um das Original von den Kopien unterscheiden zu können, und war wieder einmal stolz auf sein Gedächtnis. Er hatte sich nie um die Leiche gekümmert. Bei seinem Sturz vor 15 Jahren war er schnell wie der Blitz in die Botschaft Paragu ays geflüchtet und von dort auf ein Kanonenboot, das vorsorg lich im Hafen lag. Der Spanier Pedro Ara wurde gerufen, um die Leiche auf Schä den durch Lagerung und Transport zu untersuchen. Er stellte mit der Nüchternheit des Handwerkers fest, dass alles wieder herstellbar war. Nur die roten Flecken in seinem Gesicht verrie ten die Anspannung des bildenden Künstlers und die inneren Wallungen des Mannes, der sich einst in die Leiche verliebt hatte. Die Schwestern der Toten, Blanca und Erminda, zogen dage gen eine andere Bilanz und beklagten bitter: • • • • • • • • • • •
mehrere Messerstiche an der Schläfe und vier an der Stirn. Ein großer Schnitt an der Wange und einer am Oberarm. Eine völlig eingedrückte Nase, ein gebrochenes Nasenbein. Ein praktisch durchtrennter Hals. Ein abgeschnittener Finger. Zerschmetterte Knie. Vier Messerstiche in der Brust. Mit einer Teerschicht überzogene Fußsohlen. Der Leichnam wurde mit ungelöschtem Kalk bestreut und zeigt an einigen Stellen Brandschäden. Das Haar ähnelt feuchter Wolle. Das Leichenhemd ist verschimmelt und zerfressen.
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José López Rega, der Sekretär des Oberst, sein Biograph und Geisterschreiber, sein Rasputin und Schamane, Mitglieds-Nr. 591 der italienischen Geheimloge P2, Propaganda Due und Initiator der Todesschwadron Triple A versucht, die Seele Evitas auf Isabel Perón zu übertragen, das neue Püppchen des Oberst, die er als Tänzerin in einem Nachtklub Panamas kennen gelernt und geheiratet hat, vergeblich. Entweder ist die Seele doch schon zu alt, oder sie ist irgendwo beschädigt. In der Morgendämmerung überrascht der Oberst den Pedro Ara dabei, wie er sich über die Leiche beugt. Er küsst sie, strei chelt ihr die Brustwarzen, die Scham und murmelt Diese Frau gehört mir, sie gehört mir. Tss, Tss, Tss macht da der Oberst und geht wieder, todmüde wie er ist. Er hat sich nie wirklich um die Leiche gekümmert, und er will es auch jetzt nicht.
Trotz der Guaraní und ihrer Sprache verließ ich zwei Tage spä ter mit wechselnden Lastwagen, die Soja, Früchte oder Holz transportierten, Misiones. Ich haute wieder mal ab und brannte durch. Dem Pater Beltrani, der auch nur ein Animist und Nekro phile war. Dem Mario Firmenich, ein Henker, der Richter spielte. Allen Leichenfledderern und Kakophagen, den Bombenlegern und Entführern, den großmäuligen Verbesserern und sämt lichen Missionaren – alles Früchte des Oberst, denen er ein Modell von Himmel auf Erden versprochen hatte, das er selbst gar nicht wollte, und die jetzt das Versprechen gewaltsam ein zulösen suchten. Und ich türmte vor mir selbst, der ich gar nichts war. Ich wusste nicht, wohin. Ich wollte fahren. Ich war keiner von hier. Ich war
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der Sohn von Osvaldo aus der Sudermanstraße in Köln, eine Stadt, die ich überhaupt nicht kannte. Ich war einer irgendwo dazwischen. Ich wollte zu Fernando, Sohn einer Mulattin aus der Karibik, die eine Hure war und Sohn eines Trinkers, der ihn gar nicht gezeugt hatte. Auch einer dazwischen. Fernando war offen und ungeschützt und feige. Ich saß neben einem Fah rer, der ein Schraubenschlüssel von Mann war und Getreide in den Flusshafen von Rosario brachte. Ich musste darauf ach ten, dass dieser Grieche seine Hände am Steuer behielt, denn die verdammte Schwuchtel wollte mir ans Loch. Da merkte ich, dass ich noch feiger bin als Fernando, aber getarnt und verbor gen, einer, der nicht offen weinen kann und der innerlich wie verfault ist. Wirklich, ich war nichts. Ich hatte einzig dieses Gua raní in mir, das nahm mir keiner. Im Norden von »Las Primicias« erwischte ich einen Laster, der 200 Gänse einer Pleite gegangenen Geflügelzucht geladen hat te. Sie schrien und krächzten, als seien sie wieder Wildgänse geworden und zögen hoch oben in der Luft zu ihren Brutplätzen. Ein schönes und völlig rätselhaftes Orchester, ebensowenig zu verstehen wie eine Sinfonie, und in der Fahrerkabine glaubte ich, mit ihnen über Land zu fliegen, irgendwohin, während der Fahrer neben mir, ein Mexikaner aus Sinaloa mit einem fürch terlichen Narcoslang, die harten Lieder seiner Heimat sang, in denen in jeder Strophe jemand an einer Kugel stirbt. Osvaldo war, wie fast immer in letzter Zeit, in seinem Turmzim mer. Er lebte dort oben und sah über Land. Er ließ sich das Es sen bringen und die Geschäfte. Und noch immer gelegentlich eine Frau, denn selbst die letzten seiner inzwischen 33 Kinder hatte er hier oben gezeugt – und auch das vierunddreißigste, das, wie sein Bruder Hersh zu spotten pflegte, gezeugt worden war mit einem alten, schadhaften Rohr, das nachtröpfelte.
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Schon am Fahrstuhl hörte ich, dass Osvaldo am Telefon hing und sich wieder einmal mit Hersh stritt. Natürlich hatten sich die Indianer hier in der Weite zunächst mit Rauchzeichen verständigt und die wichtigen Nachrichten aus den Samen der Gräser, dem Verlauf der Sonne, den ziehenden Wolken, aus den noch blutigen Herzen ihrer Feinde und aus den Augen ihrer Toten abgelesen. Dann waren die Spanier ge kommen, hatten die Indianer geköpft und das Glockengeläut eingeführt. Dann die Engländer mit ihren Eisenbahnen. Und der Herr Marconi mit seiner drahtlosen Übermittlung. Und endlich hatten die Amerikaner dieses Überseekabel verlegt, an dessen einem Ende jetzt Osvaldo in seinem Turmzimmer hing, und am anderen Ende hing Hersh auf der Terrasse seines Penthouse in Tel Aviv, denn gerade hatte er in Frankfurt schnelle Beine machen müssen. Ich wusste genau, Osvaldo sieht dabei strikt nach Osten, und Hersh blickt nach Westen. Beide schimpfen aufeinander ein und beharken sich wie Hähne. Und sehen sich dabei tatsäch lich, so intensiv blicken sie übers Meer und so unnachgiebig beharken sie sich; denn wer den anderen vernichten will, der muss ihn schließlich auch voll im Auge haben. Und wieder warf Hersh seinem Bruder die inzwischen 34 Kin der vor, die nach seinem Tod sein Lebenswerk durchpflügen würden wie die Würmer den Toten. Und Osvaldo konterte, dass Hersh mit diesem Sohn Thomas seinen einzigen Schuss ver pulvert hätte, ein Schwuler noch dazu, der fremde Sprachen nutzt, damit ihn nicht einmal der eigene Vater versteht. Und dass er jetzt in Frankfurt schon ganz schnelle Beine hätte ma chen müssen. Und selbst in Köln bereits die Staatsanwälte seine Guthaben und Immobilien einschließlich des Hotel Fla
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mingo durchpflügten wie die Würmer den Toten, sodass auch von ihm, dem Hersh, nichts übrigbleiben würde außer ein jäm merliches, in der Sonne Israels bleichendes Skelett. Und beide, dachte ich, haben Recht. Diese Jungs, die der Oberst verdorben hat, die fangen jetzt hier an, Leute wie mich wie Hirsche zu jagen hörte ich dann Osvaldo ins Überseekabel brüllen, und seine Stimme über schlug sich. Osvaldo war ziemlich fertig, er würde diese Runde verlieren. Schrei nicht so, die hier brauchen das nicht zu hören. Die machen jetzt schon alles nach, was von drüben kommt! brüllte Hersh zurück. Was ist denn mit der Mumie dieser Evi ta, die du die ganzen Jahre versteckt hast? Kannst du we nigstens an der noch ein paar Dollars verdienen? Mehr hörte ich nicht, denn wie so häufig brach die Verbindung zusammen. Ich ging ins Zimmer, so zerlumpt ich nach diesen ganzen Tagen war. Osvaldo sah nicht besser aus. Der Schreib tisch war mit Speiseresten und Flaschen bedeckt, das Hemd schmutzig, durch die schon lichten, grauen Haare schimmerte eine blutige Schramme. Er musste hier oben mehrere Tage lang stark getrunken haben. Die Wand neben dem Schreibtisch war aufgestemmt, eine Ziegelwand noch vor der Außenwand, die einen Hohlraum gebildet hatte. Zwischen dem Schutt lagen Teile aus fleischfarbenem Plastik oder Pappe, ein Drahtgestell, das entfernt an ein Skelett erinnerte, gelbliche, zerfressene Textilien. Osvaldo war angeschmiert worden. Die Anhänger Evitas und des flüchtigen Oberst, mit dem er schließlich Geschäfte gemacht und seine Ländereien erweitert hatte, sie hatten ihn
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benutzt und ihm, um von der Originalleiche abzulenken, eine von unbekannt vielen Kopien angedreht. Und die hatte er die ganzen Jahre gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Jetzt lagen die Reste hier. Und Osvaldo weinte. Weil er betrunken war. Weil sie ihn gelinkt hatten. Und weil sein Bruder, bevor die Verbindung abbrach, mal wieder das letzte Wort gehabt hatte. Mein Vater war fertig, wie ich. Gut, dass du da bist, du hast mir gefehlt sagte er da, deutlich, obwohl mit vom Alkohol getrübter Stimme. Sowas Schönes hatte er noch nie gesagt. Wir sahen uns an. Doch, wir waren vom selben Stamm.
III. Teil:
Kleefisch gewinnt einen Freund
und schießt eine Frau in den Wind
13 Wieso sind euch diese Hautpartikel von Mario Lieberman am Penis des erschossenen Carlos Muller erst gestern aufgefal len? Ein ganzes Jahr nach der Tat? fragte Kleefisch gereizt. Von »euch« kann nicht die Rede sein. Mir sind sie aufgefallen. Deswegen ist das jetzt mein Problem sagte der Doppeldoktor Dr.med., Dr.phil Carstensen und rührte wieder hastig im Ge triebe seines Ford Mondeo, um hinter der Kreuzung Neusser Straße / Innere Kanalstraße vom zweiten in den dritten Gang zu kommen. Kleefisch hatte sich immer gewundert, wie hilf los dieser Mann in einem Automobil war, der doch mit einer Vielzahl von Instrumenten hellwach Leichen zerlegte, Gewe beproben nahm, Organe aufschnitt, nach natürlichen und unnatürlichen Zutaten, Zerfallserscheinungen, verräterischen Mitbewohnern und Einlagerungen fahndete und sich dabei noch fortlaufend selbst ins Mikro protokollierte. Als Fahrer war er ein Verkehrshindernis. Und jetzt hatte er die Hose voll und fuhr noch schlechter als sonst. Aber genau darauf hatte er bestanden: in meinem Wagen. Wir fahren durch die Stadt, ich erzähle. Da hört uns keiner. Ja, und? sagte Kleefisch, der nur ungern sein Büro verlassen hatte. Da stand die Kiste. Da sortierte die Tochter Andrea Geschichten. Und nach und nach tauchte ein weites Land auf. Und Menschen in dem Land. Es war nicht wirklich, dieses Land, aber es war auch nicht ganz unwirklich, wie die Men schen. Es war eine Form der Wirklichkeit, die ihn süchtig machte, als ob er Erdnüsse äße oder Katzenzungen oder wie er früher getrunken hatte. Leicht war sie und durchsichtig, 165
stellenweise etwas diesig, diese Wirklichkeit, so hatte er sie nie erfahren. Und dazu die Gegenwart der Tochter. Ihr Atem. Der dünne Schweißfilm auf der Haut. Ihre beginnende Mü digkeit. Und dieser Duft von Boucheron Eau de Parfum an ihrem Hals, ein Wässerchen, das sie seit Jahren nutzte, seit dem Kleefisch es ihr erstmals geschenkt hatte. Ja, und? sagte er wieder, aber jetzt rätselte der Doktor voll über einen Kleinlaster, der auf der Höhe des Kaufhofes ein deutig links abbiegen wollte. Dieser Mecklenburger wäre besser beim Trabi geblieben. Oder sollte hier auf einen dieser neuen, chromglänzenden Tretroller umsteigen, die leiser sind als ein Gerücht. Ich hab diese Hautpartikel damals übersehen. Lieberman machte Druck, der Fall hatte keine Priorität, zwei tote Kin der gingen vor, die hatten wir gerade aus einer Kühltruhe in der Frankfurter Straße gezogen sagte Carstensen und ver irrte sich vom ersten gleich in den dritten Gang. Hinter der Haltestelle Florastraße würde der Verkehr auf der Neusser schwächer, darauf hoffte Kleefisch. Den Pimmel habe ich damals konserviert, weil ich nicht wuss te, wohin damit. Annähen wollte ich ihn nicht. Aber so einfach in die offene Bauchhöhle fallen lassen auch nicht. Und vorige Woche sind mir in dem Glas Verunreinigungen aufgefallen. Diese Partikel. Mehr aus Spielerei und weil der Lieberman noch da lag, habe ich sie mit Hautproben von Liebermans rechter Innenhand vergleichen lassen. Da hat die Leiche auf fällige Schäden. Die Epidermis ist entzündet und löst sich, eine Allergie wahrscheinlich, Ursache unbekannt. Manche Com putermäuse verursachen sowas, aber auch Putzlappen aus Mi krofaser. Und gestern sagt das Labor: Bingo. 166
Der Ford folgte jetzt der Straßenbahn, die alten Wagen mit den Froschaugen und den Sitzen, die für Hämorrhoiden gut sind. Linie 6 nach Longerich. Der Doktor hätte sie gut rechts überholen können. Er zog bereits eine lange Schlange hinter sich her. Lieberman war nicht dabei, als ihr damals zu der Leiche nach Pulheim gerufen wurdet? Nein. Er hat sie sich auch bei dir auf dem Tisch nie angesehen, nie berührt? Nie. Also hat der Herr Kriminaldirektor Mario Lieberman die sen Argentinier in Pulheim mit einem Schuss ins Genick li quidiert. Er hat ihn regelrecht hingerichtet. Und er hat die Leiche geschändet und ihr das Glied in den Mund gestopft sagte Kleefisch. Korrekt. Dabei hat er sich diese Hautpartikel abgestoßen. Und deswegen habe ich jetzt ein Problem. Ich bin ein Zu gezogener. Mit der Haut und den Haaren und dem Her zen eines Mecklenburgers. Mit einem Vater, der Major der Stasi war. Ich bin noch immer nicht verbeamtet, aber ich habe sieben Kinder. Und jetzt behaupte ich, der gerade er mordete, stadtbekannte Kriminaldirektor Lieberman habe vor elf Monaten einen Mann in Pulheim liquidiert und ihm den Pimmel ins Maul gestopft? Kleefisch, du kennst dich bei uns aus: damit bin ich doch erledigt! Die jagen mich wie ei nen Hasen! Aber mit zwei akademischen Titeln und sieben 167
Kindern, da rennst du nicht mehr. Du hüpfst allenfalls wie mit Fußfesseln. Bieg mal da vorne rechts ab, da wird’s ruhiger. Hier? Quatsch, das ist eine Einfahrt. Da vorne. An der Feuerwache vorbei, an der Trabrennbahn, dann wieder rechts auf die Niehler Straße. Die fährst du zurück und lässt mich an der Agneskirche raus. Du willst mir also nicht helfen. Du bist auch bloß einer, der von mir weg will sagte Carstensen und bog plötzlich, mit einem gewagten Schlenker, eine Zumutung für die Hinter achse eines Ford, auf den Parkplatz der Trabrennbahn ein. Der Ford rumpelte durch ein paar Schlaglöcher, zerquetschte eine Abfalltüte vom letzten Trödelmarkt, dann stand er. Carstensen leckte sich den rechten Mundwinkel, in dem sich gerade ein Pickel bildete. Herpes. Einerseits sagte Kleefisch gedehnt, weil er einen längeren Satz vorhatte und weil nun mal die Verhältnisse zwischen den Le benden undurchschaubarer sind als die chemischen Reakti onen in der Bauchhöhle eines Toten: einerseits verschärft sich deine Lage noch dadurch, dass dieser Carlos der Halbbruder vom Lieberman war. Der Vater Osvaldo hat nämlich ein ganzes Dorf gezeugt: den Mario Lieberman als Zweitgebore nen, den Carlos als dritten, insgesamt sind es 34 Kinder. Hast du das? Vierunddreißig! Carstensen nickte. Mit seinen sieben mehlfarbigen Kindern verstand er ziemlich genau, was das bedeutete. 168
Andererseits hast du Glück, denn ich habe gerade einen Auf trag. Und dabei stellt sich heraus, dass ich dem Lieberman Anstiftung zum Mord in wenigstens zwei Fällen nachweisen kann. Aber ich brauche noch etwas Luft. Ich hab keine Luft mehr. Dir fällt was ein, du verzögerst einfach die Information. Wir arbeiten schnell. Wir? Ich und meine Tochter. Du hast eine Tochter? Ja, und sie ist schöner als Paris sagte Kleefisch stolz. Damals in Berlin gab‘s für mich nichts als schöne Frauen. Alle Frauen waren schön. Bis ich bei sieben Kindern war. Mit wie vielen Frauen? Der Doktor fuhr schweigend an der Holzhandlung vorbei und bog in die Niehler Straße ein. Über die Rennbahn zog ein einzelner Traber. Er wurde von Bäumen und Baum gruppen verdeckt, tauchte wieder auf. Es war noch immer derselbe, hartnäckig und einsam. Ein großes Pferd, und winzig der Fahrer hinten dran, der ihm ständig in den Hin tern sah. Vor dem Praktiker-Baumarkt zwei Linksabbieger, und er neut stocherte der Doktor im Getriebe. Erst auf Höhe der 16
Backsteinbauten der aufgegebenen Clouth-Gummiwerke fuhr er wieder zügiger. Wenn es bei uns im Osten so weitergeht, können sie bald die See ins Land lassen. Alles fluten bis zum Thüringer Wald, zack. Berlin wieder eine Insel. Ausflugsdampfer fahren las sen und an den Ufern Altenheime bauen. Bis zur polnischen Grenze wird alles Ruhezone des Westens. Und landesweit natürlich Rauchverbot sagte Carstensen unvermittelt. Überall liegen jetzt tote Kinder rum. Als die Spanier in Ame rika einfielen, haben sich ganze Dörfer entleibt, zack. Zack sagte Kleefisch. Ich werfe in Frankfurt/Oder ganz ordentlich eine Coladose in den öffentlichen Papierkorb, und schon wimmert unten ein Kleinkind. Bei der Konjunktur muss man schon fürs Wimmern dankbar sein sagte Kleefisch. Er wusste jetzt, dass dem Doktor inzwi schen eingefallen war, wie er seine Information unbeschadet ein paar Tage zurückhalten könnte. Carstensen war bei sei nem Lieblingsthema gelandet, der Zukunft des verratenen Ostens, und das half ihm immer, oben zu schwimmen. Wie ein Korken. Kleefisch sagte sich: wie ein Korken. Andere sagten: wie das Fettauge auf unserer dünn gewordenen Suppe. Wieder an dere sahen aus dem Fenster, erschraken und riefen über die Schulter in die Küche: Emma, versteck den Braten, streck die Suppe, Verwandtschaft kommt. Ja.
14 C 1436 ff Titel im Original unleserlich Datiert: Köln, Hotel Flamingo Mai 2004 Übers. aus d. Guarani: Th. Hillebrand Bis zu dem Tag, da Silvina aus dem Fenster im ersten Stock sah und sagte Da unten steht einer, hatten wir eine gute Zeit. Ich hatte nebenher mit Box- und Fußballreportagen weiter ge macht, und da ich ziemlich genau hinsah und über eine flotte Feder verfügte, war ich dabei, mir einen kleinen Namen zu er schreiben. Und ich liebte Silvina, die noch immer schön war wie ein Kunstwerk und wie aus Porzellan; auch wenn ich sie zuweilen mit einem Kommilitonen ihrer Veterinärmedizin teilen musste. Oder mit einem Musiker; denn sie hatte begonnen, Tangos, Milongas und Boleros zu singen. Und immer musste ich sie mit wenigstens einem zugelaufenen Hund teilen, der ihr Zimmer mit seiner Muffelei und mit den Neurosen des Geflüch teten füllte. Ich hasste diese kaputten Hunde. Am schlimmsten war ein gewaltiger Neufundländer, der vor Angst pinkelte, wenn er mich sah. Aber es half nichts: ich liebte, und schließlich woll te Silvina Tierärztin werden und übte an den Kreaturen. Und ich arbeitete an meinem Handwerk, strikt nach Plan. Ich lernte, noch genauer hinzusehen und zu fragen wie ein Ermitt ler: die Box- und Fußballszene bot reine Honigtöpfe dafür und natürlich auch Kübel voller Jauche. Wirklich, der Mafia ging es gut hier, und auch der Pharmaindustrie. Das meiste aber
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lernte ich von meinen Studien an der Stubenfliege. Seitdem empfehle ich jedem, der das Handwerk des Schreibens lernen will: verzichte auf alle diese teuren Abendkurse, fang einfach bei der Fliege an. Wochenlang war ich damit beschäftigt, die gemeine, behaarte Stubenfliege (musca domestica), wie sie in Buenos Aires en demisch ist, zu beobachten und in einzelnen Phasen ihres Ar beitslebens zu beschreiben: • • • • • • • • • •
die Fliege, die mit ihrem Tupfrüssel am Rand eines noch feuchten Matefleckes trinkt; die Fliege, die sich auf meinem Handrücken erst das vor dere Flügelpaar, dann die hinteren Schwingkolben putzt; die Fliege, die auf der weißen Wand sitzt und schläft; die Fliege, die mit ihrem raffinierten Bogen rückwärts star tet und so dem Schlag entgeht; das Fliegenmännchen, das, plop, ein etwas größeres Flie genweibchen bespringt; die Fliege, die Eier ablegt in einem von mir präparierten Schwamm, den sie für ergiebige Scheiße hält; die Fliege, die wütend ist; die Fliege, die in der unendlichen Ebene des Fenster glases eine Freiheit sucht, die es für sie nicht gibt; die Fliege, die in meinem Weinglas stirbt; das rote Facettenauge der Stubenfliege, die größte Her ausforderung für einen Lehrling wie mich, und jeder Ver such einer Beschreibung zerriss mir die Sprache, bis ich begriff, dass es genau das sein muss: die zerrissene, zer splitterte Sprache, und ich zertrümmerte sie.
Und ich zeigte es meinem Mentor, der lächelte. Sein immer etwas scheues, aber auch ein wenig oberlehrerhaftes Lächeln,
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und dann zuckte die linke Augenbraue von Rodolfo Walsh, und er sagte leicht und wie nebenbei, wobei etwas Speichel an einem schadhaften Backenzahn klickte: gut gut, schätze, jetzt kannst du bald mit den Menschen beginnen. Da war er mir natürlich nahe, dieser Mann, der mit wechselnden Identitäten lebte und auf der Flucht, aber wie ein Obdachloser von einem Haus träumte und einem intakten Familienleben. Dann erschoss sich seine Tochter Vicky auf dieser Terrasse des Hauses in der Calle Corro. Vicky war 26 und zuständig für die Pressearbeit der Gewerk schaft. Wie viele andere, trug sie seit dem Putsch von Videla & Co. eine Zyanid-Tablette bei sich, als sie am Abend des 29. September zu einer Arbeitssitzung in das Haus in der Calle Corro kam. Sie hatte ihre kleine Tochter auf dem Arm, weil sie im letzten Augenblick niemanden fand, der auf sie aufgepasst hätte. Sie zog sich ein weißes Nachthemd an, das ihr zu groß war, und legte sich mit der Kleinen schlafen. Früh um sieben Uhr wachte sie von den Lautsprechern des Militärs und den ersten Schüssen auf. Das Haus war von Lastwagen, einem Panzer und 150 Solda ten unter Führung des Coronel Roualdes umstellt. Vicky stieg auf die Terrasse, über der ein Hubschrauber kreiste, und be gann mit einer Halcón Maschinenpistole zu schießen, die sie nie zuvor bedient hatte. Schließlich ließ sie die Waffe fallen und stieg auf die Brüstung der Terrasse, ein schmales Mädchen mit kurzem Haar im zu großen Nachthemd, breitete die Arme aus und begann, zu denen unten zu sprechen. Die hatten auf gehört zu schießen, ohne dass der Coronel es ihnen befohlen hatte. Sie redete nicht sehr laut, und es kam nicht viel an. Viel leicht zählte sie die Methoden auf, die jetzt seit vier Monaten in
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den Folterzentren praktiziert wurden, vor allem in der ESMA: die Picana eléctrica natürlich, eine der wenigen originär argen tinischen Erfindungen, die Scheinhinrichtung, das Wasserbad, die Verstümmelung, die Sedierung, der Abwurf über dem Meer, aber zu hören war, und es blieb einem der Zeugen lange im Ohr, dass diese beiden Personen da oben auf der Terras se es vorzogen, sich selbst zu töten, anstatt von denen unten gefangen genommen und entstellt zu werden. Dann hielten sie und dieser eine Mann sich die Pistolen an die Schläfen und drückten ab, und wir alle hier unten sahen zu. Im Erdgeschoss öffnete der Coronel die Tür und warf eine Gra nate. Hier fanden sie fünf Leichen und ein auf dem Bett sitzen des kleines Mädchen. Eine Weile fürchtete ich, jetzt würde aus der schmalen Frau mit den kurzen Haaren im zu großen Nachthemd eine weitere unsterbliche Tote, die heilige María Victoria, und der Vater wür de den Chor der sie heilig Sprechenden aus seinem auch mir inzwischen unbekannten Quartier dirigieren. Wir neigen dazu: wir verzeihen den Toten nicht und lassen sie nicht ruhen. Und schließlich haben alle Heiligen diese Leute mit den schlechten Zähnen, den Tuberkelbazillen und den schwarzen Fingernä geln auf dem Programm. Aber er schickte einen Brief an seine Freunde, in dem er die Umstände ihres Todes beschrieb und wie sie sich zuvor einmal die Woche oder alle vierzehn Tage an wechselnden Orten der Stadt getroffen hatten, kurz nebeneinander hergehend oder zehn Minuten auf einer Bank. Da hatten sie von einem Haus geträumt, in dem sie leben und Erinnerungen austauschen könnten. Wenn sie sich verabschiedeten, wussten sie, dass sie geflunkert hatten. Es war ein Brief, der uns ohne Absender er
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reichte und der geöffnet war. Ein schöner Brief, der Silvina und mich mit seiner Ruhe und Detailgenauigkeit beschämte und mit diesem Tod; denn wir waren hungrig und wollten leben. Da unten steht einer sagte Silvina in ihrem Zimmer. Sie hat te die Übergardine etwas gerafft und zeigte ihn mir. Er stand auf der anderen Straßenseite und rauchte, mehrere Kippen zu seinen Füßen. Das war um 16:30 Uhr. Nachts um 00:45 Uhr waren sie da. Sie ließen sich mit allem bewirten, was Bertas Kühlschrank und die Speisekammer hinter der Küche enthielt. Ich erinnere Forellenfilets, Riesengarnelen, angestaubte Wein flaschen aus Bordeaux, die Ernesto hütete wie Familienalben, die er lagerte und prüfte und wendete wie die Ameisen ihre Eier. Sie lockerten während des Essens Gürtel, verrückten Halfter und Patronentaschen, schnallten nach dem Essen wie der Gürtel enger und fuhren endlich ab, mit Silvina, die zu der Zeit eine schwarze Perücke trug, Bubikopffrisur, und mir.
Die doppelläufige Flinte von Eastern Arms Drei Häuser weiter hatte Ernesto einen Freund, der bei nass kaltem Wetter über sein künstliches Hüftgelenk stöhnte. Vor der Operation hatte er gejagt, jetzt pflegte er bloß noch die Erinne rung daran und seine Flinte von Eastern Arms. Die holte sich Ernesto noch in der Nacht. Und saß damit Stunde um Stunde auf einem Stuhl hinter der Haustür, was der Nachbar zur Linken, dieser Friseur Roncagliolo, durchs Fenster des angrenzenden Zimmers beobachten konnte. Ernesto hatte nie mit einer Flinte geschossen, nie zuvor auch nur eine in der Hand gewogen und wusste kaum, was ein Rückstoß ist. Jetzt saß er hier und zielte Stunde um Stunde auf die Haustür. Sie kamen am frühen Nachmittag und sprengten die Tür mit einer Granate. Ernesto zog gleichzeitig beide Hähne, der Rück stoß warf ihn um. Getötet haben soll ihn aber ein Holzsplitter der Tür, der ihm in den Kopf drang. Sie waren mit zwei Ford Falcon und einem Kastenwagen ge kommen. Sie nahmen mit, was ihnen gefiel: Elektronik, Tep piche, Bilder, Schmuck, eingelegte Schattenmorellen, obwohl sie nur noch fruchtige Jauche waren. Und sie nahmen Berta mit, die sich im Keller hinter dem Heizkessel versteckt hatte.
Teniente de Corbeta Fernando Wurtler, im Zuge des Rota tionsverfahrens der Marine vorübergehend in die ESMA abkommandiert und beschäftigt mit Bereitstellung und Wartung von Personenkraftwagen, vorzugsweise Ford Falcon, Sechszylinder, in guten Wohngegenden wie Bel grano oder Palermo Chico auch zu beschaffen als V8. »Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Indifferenten, und zum Schluss die Lauen.« Brigadegeneral Iberico Manuel Saint Jean, Gouverneur von Buenos Aires
Der Gefangene, gefesselt, mit Kapuze, wird in einen kleinen, fast kahlen Raum geführt, dessen Fenster auf dem sehr weit läufigen Gelände zum Fluss hin weist. Er wird auf einen Stuhl vor einem schmalen Schreibtisch gesetzt. An der Seitenwand, neben dem Fenster, hängt ein Kalender der Tageszeitung La Razón des Jahres 1977. Du weißt nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Du wirst es auch nie wissen.
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Ich werde es nie wissen. Wir wollen den Aufenthaltsort von Rodolfo Walsh, der sich früher auch Francisco Freyre nannte und mit gefälschtem Ausweis lebte. Ich kenne den Ort nicht. Du kennst ihn. Und du wirst sterben, wenn du ihn nicht nennst. Nimm mir die Kapuze ab, Fernando. Ich kann nicht. Du darfst nicht. Ich kann nicht, weil ich nicht darf. Wo ist Berta? Verlegt. Tot? Verlegt. Also tot. Und Osvaldo? Seine Anwälte? Diese Vicente Batis ta & Cie, können die nichts tun? Es gibt Streit zwischen Marine und Polizei. Die Quote.
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Es gibt eine Art Quote. Die Polizei behauptet, mit dir und Silvina sei sie überschritten. Die Polizei glaubt immer, sie käme bei dem Geld zu kurz. Nimm mir für einen Augenblick die Kapuze ab, Fernando. Ich will dich sehen. Du hast mich nie gesehen. Ihr müsst zu denen gehören, die »El Negro« in seinen Büros arbeiten lässt. Das sind die, von denen er glaubt, sie könnten umerzogen werden. »El Ne gro« will eine Reihe von Gefangenen haben, die er umer zogen hat. Ja. Und du weißt nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wer du bist. Du hast mich nie gesehen. Ich habe Sie nie gesehen. Der Gefangene Carlos Muller-Lieberman, 25, und die Gefan gene Silvina Muller-Rosenthal, 20, nehmen kurz darauf ihre Arbeit in den Büros des Admirals Emilio Eduardo Massera auf, genannt »El Negro«, Mitglied der dreiköpfigen Militärjunta, Oberkommandierender der Marine, damit auch verantwortlich für das größte Folterzentrum ESMA, Schulungsort für Unterof fiziere der Marine am Ende der Avenida del Libertador, früher »Höhere Mechanikerschule der Marine«, durch die insgesamt 5000 Gefangene geschleust werden, von denen bis heute ein großer Teil als verschwunden gilt.
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Ein Glas mit Gordon‘s Dry Gin in der Hand, pflegt »El Negro« unvermittelt in ein 20-Minuten-Schläfchen zu verfallen und davon zu träumen, dass er die beiden anderen Mitglieder der Junta liquidiert und der neue Perón wird. Pünktlich nach 20 Minuten öffnet er die Augen, aus dem Stand heraus wieder hellwach, aber leicht verärgert darüber, dass alles noch beim Alten ist. Andere Träume dieser 20-Minuten-Kurzschläfchen des Nar koleptikers hat er sich schon erfüllt: so unterhält die Marine in London zum Ankauf neuer Waffensysteme eine vielköpfige Delegation, die zu Beginn des Falkland/Malvinen-Krieges aus England ausgewiesen wird. Sie zieht nach Hamburg um, wo die Werft Blohm & Voss ihr am Hafenrand, Vorsetzen 50, Büroräume zur Verfügung stellt. Die Werft baut zwanzig Zoll kreuzer und die Fregatten MEKO 360 Almirante Brown, La Argentina, Herrina, Sarandi. Sechs von ihr entwickelte Kor vetten sollen in der argentinischen Staatswerft auf Kiel gelegt werden. In anderen seiner 20-Minuten-Schläfchen hat er wieder und wieder von Anita Gräfin Zichy-Thyssen geträumt. Und von ih ren in Argentinien als Großgrundbesitzer lebenden Söhnen Federico und Claudio Graf Zichy-Thyssen. Er hat geträumt, dass sie Aufträge für Panzer und U-Boote an ihre deutsche Heimat vermitteln, sodass die Junta das Land neu mit sechs Milliarden überschulden kann, die hauptsächlich von Deutsche Bank und Dresdner Lateinamerikabank AG finanziert werden und von de nen wegen atmossphärischer Verdunstung nicht jeder Cent bei den Lieferanten eingehen muss. Auch diese wiederholten und ihn oftmals quälenden Träume haben sich erfüllt, sodass der Admiral inzwischen als einer der
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reichsten Männer Argentiniens gilt. Diesen Ruf kann er noch weiter durch den Verkauf von Immobilien der Gefangenen sta bilisieren, durch gemäß der Quote zwischen Polizei und Militär ausgehandelte Lösegelder. Und ein gewisses Zubrot vermag er durch den Verkauf von Kindern jener weiblichen Gefange nen zu erzielen, die bei ihrer Festnahme schwanger sind, in der Haft gebären und unmittelbar nach der Entbindung getötet werden. Wenn »El Negro« – in interner Kurzschrift COARA, mit Kampf namen Cero, Mitglieds-Nr. 478 der Geheimloge Propaganda Due des Licio Gelli, einstiger Verbindungsoffizier der Schwarz hemden Mussolinis zu den Nazis – nicht Gin trinkt, nicht in einem seiner 20-Minuten-Schläfchen des Narkoleptikers ver sinkt, sich nicht in seinem Apartment in der Avenida del Li bertador bei Frau Lilí und dem Nachwuchs entspannt oder bei seiner Geliebten Marta Mac Cormack, nicht damit beschäftigt ist, deren Verlobten Fernando Branca auf einer Autofahrt spur los verschwinden zu lassen, was ihm mehrere Millionen ein bringt, nicht Bötchen fährt in Punta del Este, was er hasst, aber aus Gründen des familiären Friedens tut und auch nicht mit dem deutschen Botschafter Tennis spielt auf dem offiziellen Gelände der Vertretung, dann ist er ein Mann, der nachdenkt. Dann sagt er, dies nur nebenbei und als ein eher zufälliges Beispiel: Die augenblickliche Krise der Menschheit, die wir Militärs hier in Argentinien zu meistern suchen, haben wir drei Männern zu verdanken. Ende des 19. Jahrhunderts ver öffentlichte Marx die drei Bände des »Kapital« und säte Zweifel daran, dass das Eigentum unantastbar zu sein hat. Anfang des 20. Jahrhunderts wird die geheiligte in time Sphäre des Menschen durch Freud mit seinem Buch
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»Traumdeutung« angegriffen, und als wäre das noch nicht genug gewesen, um die positiven Werte der Gesellschaft zu zerstören, sorgt 1905 Einstein dafür, dass seine Rela tivitätstheorie anerkannt wird, mit der er an der toten und statischen Materie zweifelt. »El Negro«, einen Gin-Tonic in der Hand, betritt den Raum, in dem ich sitze und Akten sortiere. Es gibt hier viele Akten. Links über mir in der Zimmerecke ist eine kleine Spinne damit be schäftigt, ihr zerrissenes Netz zu flicken. Sonne fällt ein, die Fä den leuchten silbrig. »El Negro« betrachtet die Spinne. Diese kleine Sorte lebt nicht lange sagt er. Wie lange? sage ich. Ein paar Tage sagt er. Sie wird es nicht einmal bis zum Fenster schaffen sage ich. Sie weiß nichts vom Fenster. Sie kann bloß spinnen sagt er, nimmt einen Schluck aus seinem Glas und geht. Ich sehe ihm nach. Wenn ich hier überlebe, töte ich ihn.
Endspiel Wie soll ich erzählen, dass wir gestorben sind, Silvina und ich, als am Sonntag ab 15:08 Uhr im Stadion Monumental von River Plate die argentinische Auswahl im Endspiel gegen die Niederlande stand? Und dass wir, als es nach Verlängerung in der 23. Minute durch ein weiteres Tor von Bertoni 3:1 hieß und Argentinien Weltmeister war, nur dadurch noch weiterlebten, dass wir bei de, Silvina und ich, jeder für sich, uns vornahmen, »El Negro« zu töten? Ich habe oft versucht, diesen Sonntag aufzuschreiben, ich kann es nicht. Es ist eben eine Geschichte, die am besten die Toten mit ihrer Unerbittlichkeit erzählen: die Marine, die Luftwaffe, das Heer, das Colegio Militar, das Re giment Patricios, die Grenadiere mit nervösen Pferden auf dem Rasen - die Nation mit Videla an der Spitze von 80.000 auf den Tribünen (und mit Henry Kissinger, seiner Frau Nancy und dem Sohn David als Dank dafür, dass K. immer wieder die Berichte des Botschafters über die Klagen der Angehörigen Verschwun dener entschieden zurückgewiesen hatte, und mit Maradona, und dem Pater Emilio Bonell, der alle Spieler vor einem leich ten Mahl gesegnet hat) sind auf einen pünktlichen Spielbeginn 15:00 Uhr vorbereitet. Der Beginn, sehe ich in dem kleinen Panasonic, verzögert sich um 8 Minuten, weil auf dem Spielfeld der Kapitän Pas sarella einen weißen Verband am rechten Handgelenk der
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Nr. 10 der Niederländer beanstandet und vom italienischen Schiedsrichter Gonella verlangt, diesen van de Kerkhof vom Platz zu stellen. Ich sehe auf dem Panasonic, dass die Nieder länder drohen, geschlossen das Spielfeld zu verlassen, wenn ihre Nr. 10 nicht auflaufen kann wie in anderen Partien zuvor. Schließlich einigen sie sich darauf, dass ihm der Arzt noch einen zusätzlichen, fleischfarbenen Verband anlegt, und das Spiel beginnt. In der 37. Minute fällt das erste Tor durch Kempes. Die schon stark angetrunkenen Männer um mich herum springen auf, umarmen sich, bedienen sich aus einem Karton Whisky und trinken, lassen auch mich trinken. Zwei verlassen den Raum und kehren mit einer Gefangenen zurück, die Hände auf dem Rücken gefesselt, den Kopf in der Kapuze, legen sie an der Rückwand des Raumes ab, wo ich sie nicht sehen kann. Vor mir zieht jetzt der Monitor immer häufiger Streifen. Zwei Minu ten vor der Halbzeit fällt der Ton aus. Die Männer schreien und trinken, schalten an dem Panasonic herum, treten dagegen, nehmen ihn vom Netz und geben ihm wieder Saft. Ein erster bedient sich an der Gefangenen. Er zieht ihr die Hose aus und vögelt sie und zeigt sein immer noch eri giertes Glied den anderen. Zu Beginn der 2. Halbzeit erinnert sich einer, dass ich einst, draußen, in der Stadt, in meinem ganz eigenen kleinen Leben einen Namen als Box- und Fuß ballkommentator hatte. Und so lassen sie mich trinken und trinken selbst und hören zu, wie ich die stummen Bilder des Panasonic kommentiere mit einer Stimme, die mir fremd ist. Ich, das ist jetzt diese andere Stimme. Erst nach einer Reihe von verdächtigen Zeichen der Assistenten und nach zwei mehr als auffälligen Entscheidungen dieses Gonella aus Italien, die ich mit dem Verdacht der Bestechlichkeit versehe, gewinne ich et
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was mehr Sicherheit und höre mir selbst zu als dem, der ich mal gewesen bin. Da aber versenkt dieser elende Resenbrink 30 Sekunden vor Schluss den Ball im Tor von Fillol und es steht 1:1. Wieder schreien die Männer. Und springen auf. Und trinken. Und lassen mich trinken und bedienen sich der Gefangenen, wie sie an eine Theke treten, auf der ihr Glas steht, oder an ein Pissoir, in das sie urinieren. Und so fiebern sie und trinken und schreien und kommentiere ich, wie in der 14. Minute der Verlängerung Kempes sein zweites Tor schießt. Und dass die Niederländer jetzt fertig sind und auseinander fallen. Und Ber toni in der 23. Minute das dritte Tor schießt. Und Argentinien der Weltmeister 78 ist mit 3:1 gegen die Scheißholländer, die kalte Heringe und gespickte Katzen fressen und denen in ihrem win zigen Land immer das Brakwasser bis zum Halse steht. Und mangels Gefälle fließt die Kacke nicht ab. Wirklich, die leben in der eigenen Kacke. Und jetzt springen wieder alle auf und schreien und tanzen und trinken und bedienen sich der Gefangenen wie eines Pis soirs. Und ziehen mir die Hose runter. Und stimulieren mich. Und greifen mich wie einen, den man am Ende einer Party ins Schwimmbecken wirft. Und legen mich auf der Gefan genen ab. Und treten mir in den Hintern. Und drücken mich durch das Meer aus Samen und Blut und Urin, damit ich in sie eindringe und sie vögele. Jetzt wollen sie sehen, wie ein Gefangener eine Gefangene vögelt, das haben sie noch nicht gesehen. Und ich dringe in sie ein und weiß, als mein Glied plötzlich versagt, dass diese Gefangene einst wie aus Porzel lan war, eben und schön, ohne Haar und wie aus Porzellan, ich liege auf Silvina, einer uriniert auf uns, es plätschert, in
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meinem Kopf wird das Plätschern zum Getöse, dann ist es ganz still. Massera töten sagt da Silvina leise, mehr sagt sie nicht.
Allein I Nachts fuhren sie mich weiter nach Norden, wo die Stadt in der Provinz Buenos Aires zunächst verelendet, dann versan det. Hier stand ich auf der Straße, allein, hinter mir die Lichter der Stadt und ihre Geräusche, vor mir das schwarze Land. Ich war so geräuschempfindlich, dass ich glaubte, das Bienenge summ der Stadt zu hören. Aber es war unerreichbar und nur in meinem Kopf. Ich wusste nicht wohin. Es gab keinen Ort, nir gendwo, und mir versagten die Beine. Der Friseur Roncagliolo, unser Nachbar zur Linken, hatte be reits im Hausflur und in dem, was unser Wohnzimmer gewe sen war, Spanplatten, Farbeimer, einen Frisiertisch gelagert und schickte sich an, seinen Salon aus der Calle Balcarce hier einzurichten. Mit Hilfe des Nachbarn zur Rechten und eines Hirschfängers, den er noch von seinen Jagden besaß, warf ich ihn raus. Drei Tage später steckte ein anonymer Brief in der Tür, der eine Bombendrohung enthielt. Am Tag darauf eine Notiz von Silvina, dass sie abgetaucht war. Bekannte, die ich anrief, legten auf. Einer beschimpfte mich als Verräter an Rodolfo Walsh. Ein anderer behauptete, ich hätte mit seiner Frau geschlafen, die seit meiner Gefangennahme nichts mehr von ihm wissen wollte. Nur weg von hier, dachte ich da. Als Sportreporter war ich ohnehin verbrannt. Keiner würde es wagen, mich auch nur einen Amateurkampf kommentieren zu lassen. Allenfalls als Ghostwriter eines analphabetischen Er pressers hätte ich noch dienen können, aber der Mann will erst einmal gefunden sein.
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Daher versuchte ich, den Pater Beltrani im Internat der Jesui ten in Misiones zu erreichen. Ich wollte wieder eine Weile dort oben leben, Guaraní sprechen, erneut die weiche Gangart de rer annehmen, die sich in der feuchten Wärme zwischen Pflan zen und Insekten bewegen, ja am liebsten wäre ich selbst zur Pflanze geworden, zum Blatt, das Regenwasser sammelt und weder Augen noch Ohren hat, aber auch Pater Beltrani war verschwunden. Sein Freund redete vorsichtig und mit vielen Zitaten, die mir nach alten, Buchstabe um Buchstabe gemalten Handschriften klangen. Das war Osorio, ich erinnerte mich gut: der oben links fehlende Schneidezahn erzählte von den Eifer süchteleien unter Schwulen. Aber trotz seiner Vorsicht wurde mir klar: keiner seiner Oberen hatte einen Finger für den Pater gerührt. Ich wusste aus meinen Akten in dem Zimmer mit der kleinen Spinne, dass die katholische Kirche sehr erfolgreich in tervenieren konnte, wenn sie nur wollte, dass sie aber auch die Lage zur Säuberung der eigenen Reihen nutzte. Und sie hatte den Pater Beltrani runtergespült wie die Reste einer Mahlzeit im Klo. Da rief ich Osvaldo an. Schließlich war ich eines seiner 34 Kinder, und ich saß zur Zeit wirklich nicht in einer HollywoodSchaukel, einen Longdrink in der Hand. Osvaldo in seinem Turmzimmer war gerade schwer beschäftigt. Der neue Gouverneur hatte alte Rechnungen aufgemacht. Jetzt sollte Osvaldo für seine frühe Unterstützung von Perón zahlen, und sie waren dabei, ihm hier im Norden Land wegzunehmen. Ganz im Süden drohten ihm ebenfalls Einbußen: ermutigt durch Gruppen aus Europa, die ihren Glauben an die Revolu tion eingetauscht hatten gegen ihren Einsatz für Ureinwohner, die es gar nicht mehr gab, verlangten Indianer das Land ihrer Ahnen zurück. Außerdem waren hier zwei räuberische Brüder
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aus Italien aktiv. Das waren die Brüder Benetton, die gewaltige Flächen voller Schafe für ihre Textilien brauchten, die sie mit hoher Aggressivität und in immer schnellerer Schnelligkeit von New York über Berlin bis Tokio verkauften. Den Süden hast du immer gehasst. Und warst nie da. Richtig. Aber es tut weh. Es geht an die Substanz. Du hast hier oben noch eine halbe Provinz. Da unten, das war immer meine strategische Reserve. Hier oben sehe ich bald nur noch Zäune. Und wenn erst diese Benettons vor der Tür stehen, habe ich gar nichts mehr. Ich muss in der Küche Karnickel züchten. Und am Ende bin ich ein Sozialfall. Es sind eben die Sorgen des Großgrundbesitzers, dachte ich am Telefon. Aber dann begann Osvaldo wüst zu fluchen, sehr ungewöhnlich für ihn, der so sorgfältig und gepflegt redete wie Heinrich Heine geschrieben hatte. Er fluchte wieder und wieder auf diesen Jassir Arafat. Dann fing er an zu weinen. Und ich begriff, dass ihn doch mehr beschäftigte als nur die gewöhn lichen Sorgen des Besitzers: immer hatte er davon geträumt, zusammen mit seinem Bruder Hersh die gewaltigen Flächen im Norden und die im Süden zu bewirtschaften, und sich da bei nicht nur zu hassen, sondern sich zwischen zwei Phasen des Hasses auch zu lieben. Ja, vielleicht hatten sie sich wirklich manchmal geliebt, und der Hass hatte ihnen bloß keine Zeit gelassen, es sich irgendwann einmal zu sagen. Jetzt aber war Hersh tot, erstickt auf seiner Terrasse in Tel Aviv. Und dieser Arafat sollte es gewesen sein.
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Ich hütete mich, ihn daran zu erinnern, dass Hühnerbeinchen und die Luftknochen von Federvieh schon so manchem den letzten Atem genommen haben. Ich wartete am Telefon auf eine Gelegenheit, meinem Vater zu sagen, dass ich wieder mal seine Hilfe brauchte. Aber er machte eine Pause, in der er et was aß oder ein Medikament nahm. Oder er war jetzt doch mit einem weiteren Gedanken beschäftigt, und der ließ seine Kau muskeln arbeiten und regte die Speichelproduktion an, denn er weinte wieder stärker und schmatzte dabei, und das war das Letzte, was ich von ihm hörte. Ich habe mir von diesem Augenblick an stets gesagt, dein Va ter hat trotz seiner Sorgen wegen der Indianer und der Brüder Benetton und in seinem Schmerz um den Bruder Hersh doch noch begriffen, dass Carlos und Silvina wieder frei sind – dank der vielen Scheine, die an die Kanzlei Dr. Vicente Batista & Cie gewechselt sind und von ihr an die Policía Federal und an »El Negro«. Aber er hat auch begriffen, dass Berta von jetzt ab zu den Verschwundenen zählt. Und dass die noch schweigsamer sind als die Toten. Es wird dieser letzte Gedanke gewesen sein, der ihn beschäf tigte und auf dem er kaute, als ich endlich auflegte. Denn zwei Tage später ließ er sich nachts, mit dem Rücken am erleuchte ten Turmfenster stehend, von Roberto Wurtler mit der Reming ton 32 vom Hof aus erschießen. Er hielt das für einen Mann in seiner Position für angemessener, als sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Daher hatte er seinem langjährigen Knecht einen letzten Auftrag gegeben. Auch war er dabei mit der nö tigen Umsicht vorgegangen: mit dem Gewicht eines Mannes, dem in weitem Umkreis alles gehört, hatte er dem zuständigen Comisario klar gemacht, dass sein bevorstehender Tod ein Unfall wäre. Aber der Comisario hielt sich nicht daran; denn
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Roberto fuhr seit kurzem einen neuen dreiachsigen MercedesBenz mit Aufleger und Ladekran. Der stach dem Comisario ins Auge. So buchtete er den Schützen am nächsten Morgen ein. Roberto, der immer blind seinem Chef vertraut hatte und sich jetzt von ihm verraten fühlte, erhängte sich in der Zelle. Und der Mercedes-Benz, mit Aufleger und Ladekran, wechselte den Besitzer. Da klingelte ich am Portal der Deutschen Botschaft. Am Ende meiner gewiss schlichten Überlegung stand, dass sich diese Halbtagsarbeiter und Tennisspieler wenigstens gelegentlich mit dem Verbleib von Berta beschäftigen könnten, die schließlich in Kölns Weißenburgstraße als Tochter eines Richters am Land gericht geboren und mit einem deutschen Pass hier gelandet war. Und so eine gelegentliche Beschäftigung würde ein Rä derwerk in Gang setzen, das ich mir gewaltig und von wunder barer Wirkung vorstellte, deutsch bis hin zum Feinöl, in dem es lief. Dieser Mann in seinem geräumigen Büro war nicht unfreund lich. Er war aber auch nicht freundlich. Ich sah überhaupt nicht, wer er war. Selbst sein Alter entging mir. Ich wusste nicht, wo hin seine Jahre bei meinem Eintritt verschwunden waren. Ich bin daran gewöhnt, dass das Leben nach und nach Spuren in ein Gesicht zeichnet. Hier aber war ich bald versucht, ihm ins Gesicht zu fassen, um zwischen Daumen und Zeigefinger die Konsistenz eines unbekannten, zeitlos resistenten neuen Werk stoffes zu prüfen. Auf dem Schreibtisch stand, halb ihm, halb mir zugewandt, in einem silbernen Halter die Farbfotografie zweier kleiner Mäd chen, die mir, oder ihm, zuwinkten – Elfen aus einem Traum. Wirklich, dieser Vater war nicht von hier.
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Dann hoffte ich wenigstens auf einen Schluckauf, einen Rülpser nach dem Genuss von Rinderfilet oder Lamm, eine Hautallergie irgendwo bei unserer belasteten Luft, von et was so Eindeutigem wie einer Zahnlücke gar nicht erst zu reden, einem Pumps, einer dünnen Fahne von Rotwein oder Cognac wenigstens, von Fisch oder Zigarre, aber nichts. Ich saß vor einem Zombie unbestimmbaren Alters und Wesens, einer jung-alten Planstelle im diplomatischen Dienst, und schon zweifelte ich daran, dass dieser Mann zur Zeit wirk lich in Buenos Aires war – vielleicht saß er noch in einem Boot zwischen den Kleinen Antillen und wurde turnusgemäß von Insel zu Insel gerudert, ein Stempelkissen auf den Knien und das Dienstsiegel zwischen den Zähnen, obwohl er ein deutig den Auftrag hatte, alle Visaanträge der Insulanerinnen in ihren Baströcken und der Männer mit der Rumflasche im Hemd rigoros abzulehnen. Oder er war noch auf c7 oder b4 auf jenem Schachbrett, auf dem er für die Dauer seiner Kar riere alle paar Jahre verschoben wird zusammen mit allen Privilegien, die er genießt: der Steuerfreiheit, dem Heimatur laub, den Flügen in der Business Class der Lufthansa unter Mitnahme einer präkolumbinischen Grabbeigabe (12. Jahr hundert, Chimú-Kultur) im Diplomatengepäck, die auf dem Schwarzmarkt der Antiquare leicht einen Porsche oder sogar ein Eigenheim erbringt. Und da begann ich mich regelrecht zu schämen, weil ich nach der ESMA so erbärmlich aussah. Und seit Tagen unter Krampfhusten litt. Und neue Zähne brauchte. Berta war nach ihrer Ausreise von den Nazis ausgebürgert worden. Sie hatte aber längst neben Ernesto ein feines Sen sorium für Erdstöße und Seebeben entwickelt und daher noch kurz vor ihrer Gefangennahme neu die deutsche Staatsbürger schaft beantragt, die sie für eine Art Lebensversicherung hielt.
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Ihrem Antrag war auch entsprochen worden, aber sie hatte die Urkunde nicht mehr abholen können. Diese Urkunde wird erst dann wirksam, nachdem sie per sönlich in Empfang genommen wurde. Sie hätte hier we nigstens einmal die Hand auf die Urkunde legen müssen. So können wir nichts tun. Sie ist Argentinierin, da sind wir machtlos sagte der Mann ohne Alter und Gerüche und Spuren des Lebens, und auch das war weder freundlich noch unfreund lich, es war so, wie der ganze Mann war. Und im Übrigen sagte er, ist ja gar nicht sicher, dass sie als dauerhaft Verschwundene zu bezeichnen ist. Schließlich ist es schon vorgekommen, dass Verschwundene selbst nach Jahren wieder aufgetaucht sind. Fick dich sagte ich. Wie bitte? Hast du einen dicken Schwanz? Dann fick dich selbst! sagte ich. Ich war jung, und die Jugend hat nun mal ihren Slang. Aber er fasste das enger auf und drückte einen Knopf der Telefonan lage. Da wusste ich, es wird kritisch. Sowas hatte ich gerade hinter mir. Also gab ich Gas. Nachts quälten mich Klopfgeräusche. Sie waren da, sie waren weg, immer wieder diese Klopfgeräusche ins Hirn, das noch immer sehr empfindlich war. Mal hielt ich sie für Reste eines Albtraums, dann wieder war ich überzeugt, Besuch im leerge räumten Haus zu kriegen. Ich stand auf, griff zum Klappmesser,
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kontrollierte das Fenster, mein Zimmer, die anderen Räume, nichts. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, es klopfte. Dann endlich entdeckte ich die Quelle. Es war eine fingerlange, we nigstens 5cm dicke, dunkelgrüne Zikade, die sich zwischen der hölzernen Innenjalousie und dem Fenster verfangen hatte und dagegenschlug. Ich nahm sie und brach sie mittendurch. Sie knackte wie ein Spielzeug, das ein böse gewordenes Kind zerstört. Seit meiner Zeit in Misiones hatte ich nicht mehr ge tötet. Fliegen und Moskitos, das schon, auch eine Wanze zer quetscht, ihr Geruch, mein eigenes Blut, aber ich hatte nicht einen einzigen Käfer getötet, nicht mal eine Ameise. Es war nichts mehr wie vorher. Ich wusste nicht weiter. Ich wusste nur: ich will »El Negro« töten. Und hatte keine Ahnung von diesem Geschäft. Da stand Osorio vor der Tür, dieser Osorio aus Misiones mit dem fehlenden Schneidezahn. Früher war er sehr träge gewe sen, kindlich, übergewichtig, und stets hatte er abgewartet, was der Pater entschied. Jetzt aber wollte er nicht bloß Totengräber sein. Er hatte eine besondere Art der Missionsarbeit entwickelt und war dazu halb zur evangelischen Konkurrenz übergelaufen. Durch ihn und die evangelische Kirche geriet ich auf die Passa gierliste eines Fluges nach Frankfurt und wurde der Stadt Köln zugewiesen, aus der schließlich der tote Osvaldo und die ver schwundene Berta einst vor den Nazis geflohen waren. In der Abflughalle von Ezeiza wanderten die üblichen gedeck ten Kampfanzüge umher, dunkle Falter, die auch an den Wän den lehnten, vor mir ein weißhaariger General, der sich seinen Aktenkoffer tragen ließ. An der Café-Bar stieß ich auf drei Frauen. Ein Wort, und alle drei sahen durch mich hindurch. Die mittlere von ihnen war Silvina. Zwei Angehörige der Deutschen Botschaft begleiteten uns durch die Passkontrolle. Ich hatte kei
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nen Blick mehr für sie, wahrscheinlich waren sie unauffällig und wie schon seit langem erloschen. Pass auf dich auf, du alter Ficker! sagte der Kleinere der bei den zum Schluss und lachte. Jetzt sah ich es: der halbe Unter kiefer links war überkront und verdrahtet. Der ist doch noch nicht ganz verloren, dachte ich beim An schnallen in der Boeing, Sitz 23A, schließlich hat er diese bei den kleinen Elfen. Sowas schlaucht und fordert einen Mann. Und heute bin ich sicher, dass ich mich damals, über diesem einen und letzten Gedanken in Buenos Aires, erwachsener fühlte, als ich es war.
Allein II Übermüdet und geplagt von Kopfschmerz durch die Enge und den künstlichen Sauerstoff (und irritiert durch eine blonde Ste wardess, die einen aufreizenden Leberfleck in der linken Knie kehle hatte), versuchte ich, mir nach der Zwischenlandung in São Paulo die Bewohner der Stadt vorzustellen, auf die ich jetzt in der Nacht meiner Deportation zuraste: alle älteren, nazibelasteten Kölner laufen mit dem Kopf unter dem linken Arm herum und schlagen sich als ewig Schuldige unablässig mit der flachen rechten Hand auf die Brust. Eine einzige Gemeinschaft Tag und Nacht Sühnender, was sie nur während des Tiefschlafes und beim Kopulieren unterbre chen. Solche Menschen, hatte ich kürzlich erst gelesen, soll es schließlich auch in gewissen Regionen des südlichen Indien und auf Sumatra geben: Menschen, die ihr augenblickliches Leben auf zwei Beinen als Verpflichtung zu dauernder Sühne betrachten. Ich kannte eben die Kölner nicht, und ich wusste fast nichts von der Welt. Erst als ich sah, dass auch sie die üblichen Köpfe zwi schen den Schultern tragen und sich wie selbstverständlich und gänzlich unbesorgt an den intimsten Stellen kratzen, ging mir auf, wie die Entfernung und die Interkontinentalflüge doch alles verzerren. Und bald erfuhr ich auch, dass die Kölner umgekehrt glaubten, wir in Buenos Aires gingen wegen der Diktatur alle in Sack und Asche, wohingegen die Mehrheit doch Videla & Co. applaudiert hatte und viele es begrüßten, dass ein Teil von uns einfach verschwand. Wirklich, im Grunde waren wir gleichauf und alle gequält davon, dass wir nicht mal jenen verstehen, der
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Nacht für Nacht neben uns im Bett liegt und still seinen Liter Nachtschweiß absondert, eine Insel im Nebel, dieser vermeint liche, im Schlaf leicht röchelnde Partner, nicht mehr. Umso gelassener war ich dann im Hotel Flamingo am Ebert platz, als ich feststellte: diese Kölner sind fast so wie ich. Hier falle ich kaum auf. Ja, wir Argentinier sind in diesen west- und mitteleuropäischen Breiten wie geschaffen fürs Exil. Da wir uns schon aus so vielen seefahrenden Nationen Europas zusammengesetzt haben, können wir in der Fremde, wie der Zauberer aus dem Hut, auch leicht die geeignete Komponen te unserer selbst wieder hervorziehen und aktivieren. Und so registrierte ich bald und dann immer öfter, dass ich die Köl ner im ersten Augenblick schwach an einen Ausländer erin nerte, zum Beispiel einen Türken oder Syrer, der ihnen vor Wochen unangenehm aufgefallen war - dass sie aber schon beim zweiten Blick auf mich ziemlich sicher waren, diese lästi ge Erinnerung habe sich ihnen nur aufgedrängt und ich sei in Wirklichkeit nichts als ein Eindringling aus Düsseldorf oder ein hilfloser Provinzler aus Kleve am Niederrhein. Wenn es dagegen wirklich mal eng wurde, mich einer als Aus länder bedrängte, als Maisfresser und Hühnerficker, als Koka innase und Dealer, als notorischer Mutterficker gar, dann lernte ich schnell, mit einem Tango zu kontern. Natürlich haben auch die Kölner ihre Lieder. Aber die stillen nicht ihre Sehnsucht. Den Tango haben nur wir. Nur wir sind so verrückt, uns diesen Tango zu leisten, eine immer unmögliche Liebe zu leben und darüber zu zerbrechen und es dann auch noch zu singen. Unsere Liebe ist schwarz und kitschig, blutig, gewaltig und immer vergeblich, und schon wollen auch die Kölner für einen Augenblick, der mir Ruhe gibt, kopfüber in einen Abgrund stürzen und Argentinier sein.
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Mehr aber will ich hier übers Exil nicht sagen. Ich will mich nicht am Eigentum jener vergreifen, die daran zerbrochen sind. Es ist das einzige, was sie noch haben. Und ich war schließlich schon kaputt, als es begann. Ich wollte keine eigene Wohnung, auch nicht eine ganz kleine. Ich fürchtete die Erinnerung an unser Haus. Und dass ich hier bald nachts mit einer Flinte hinter der Tür säße, bei einem plötz lichen Geräusch beide Hähne ziehen und meinen spät nach Hause kommenden Nachbarn durchsieben könnte. So wurde ich zum Hotelgast, wie dieser Jean Genet, der Zeit seines Le bens entweder im Knast residierte oder im Hotel logierte und sich von seinem Verleger wöchentlich die Mücken zuteilen ließ. Oder wie mein Freund Leopoldo María Panero, der auf Gran Canaria die Gastlichkeit der Psychiatrie vorzieht. Ich blieb also im Hotel Flamingo, das meinem am Hühnerbeinchen erstickten Onkel Hersh gehört hatte und jetzt seinem Sohn Thomas, der gerade in Leipzig Sächsisch als weitere Fremdsprache lernte, Lektor war und verrückt nach allem, was ich in Guaraní schrieb. Es war nicht viel, aber er war verrückt nach jeder Seite, die ich spärlich und vereinzelt produzierte, wie ein geschwächtes Huhn das Ei. Von meinen zehn Brüdern kenne ich drei überhaupt nicht. Meine Mama hat mir die Liebe zu den Opern mitgegeben. Aber mit ihren ewigen Männern, dadrunter sogar Neger aus Amerika, war sie eine einzige Katastrophe sagt Waldi. Dieser Waldi ist arbeitsscheu, rund wie ein Kloß und berauscht sich nachts am kleinen Empfangstresen des Flamingo über Kopf hörer an italienischen Opern. Waldi weiß alles über diese pom pöse, hybride Form der Kunstausübung. Den Huren und ihren Freiern verkauft er überteuerten Piccolo und Portionsfläsch chen Underberg, die er in Supermärkten klaut. Seine Hemden
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sind weiß und frisch gestärkt, auf seinem schwarzen Anzug sehe ich nie auch nur einen Faden, wenn er abends pünktlich aus seiner städtischen Notunterkunft kommt, in der seine Frau durch Putzarbeit rund um die Uhr vier Töchter nährt und sauber kleidet wie Puppen. Mein Bruder Erich lebt bei euch am Meer. Der geht oft mit Hitler fischen. Tatsächlich? Der kommt noch mal groß raus. Dein Bruder? Na, der kann ja nicht mehr. Sein Asthma. Aber der Hitler. Jetzt hat er eine schöne Rente. Erst mal hatte euer Perón ihm ja alles weggenommen, als er da mit seinen fünf kleinen U-Boo ten landete. Mein Bruder hat beim Fischen alles gesehen. Ihr habt den Hitler ja regelrecht ausgeräumt, mein Bruder muss te ihm sogar was borgen. Seitdem sind sie Freunde. Aber jetzt, mit dieser schönen Rente, da kommt er noch mal groß raus sagt Waldi. Ich lasse ihn dabei. Ich kläre ihn nicht auf, dass wir schon seinen Totenschädel ausgestellt haben und dass dieser Schädel eindeutig ein Loch in der rechten Schlä fe hatte. Es hätte sich auch nicht gelohnt. Mein Bruder schreibt auch oft von einem Emilio. Der ist Metzger. Ein unglaublicher Gauner. Der verkauft den Leuten in ihren Papphütten sogar Hoden als Filet. So, wie du aus siehst, kennst du ja wahrscheinlich diesen Emilio! Ich war nie auf diesen Emilio gestoßen, aber auch das sagte
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ich ihm nicht. Einem Ausländer wie mir glaubte Waldi ohnehin kein Wort. Silvina sah und hörte ich nur einmal. Sie sang in der Evange lischen Studentengemeinde Lieder nach Texten von Cortázar. Silvina, mit grau-silbriger Perücke, war noch immer wunder schön, und auch die Lieder waren es. Ich stand hinten neben dem Ausgang, um jederzeit verschwinden zu können. Ihr letz tes Lied handelte vom Endspiel, als Bertoni in der 23. Minute der Verlängerung das 3:1 gegen die Niederlande erzielt und die Sängerin bei der anschließenden Feier ihren Geliebten verliert. Nach dieser letzten Strophe, in der sie zum achten Mal ver gewaltigt wird, reißt sich die Sängerin die Perücke ab, wirft sie unter die Zuhörer und verbeugt sich mit ihrer kahlen, im Scheinwerferlicht glänzenden Billardkugel von Kopf. Und wird ab jetzt stets behaupten, in der ESMA, im Anschluss an dieses Endspiel der Weltmeisterschaft 78 in Buenos Aires, alle Haare verloren zu haben, das Haupthaar, die Schamhaare, die Haare unter den Achseln, die Flaumhärchen an Armen und Beinen, al les, und seitdem rundum kahl zu sein wie diese einst berühmte Kahle Sängerin von Ionesco, die inzwischen freilich, wie das ganze absurde Theater, ziemlich aus der Mode gekommen ist. Da ging ich. Wir waren beide im Eis festgebacken, Tauwetter nicht in Sicht, und bald wären wir an der Reihe, ganz aus der Mode zu kommen. Sie mit ihren Liedern und Auftritten, ich mit meinen Texten in Guaraní versuchten wir beide, uns wieder als die kleinen und runden Persönlichkeiten zu erfinden, als die wir uns vorher gesehen hatten. Dabei flunkerten wir beide. Bei einem Treffen hätten wir uns in die Augen gesehen und gesagt: Du lügst. Du auch. Und wieder wären wir nackt gewesen.
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Ich lief lange durch Straßen, die ich nicht kannte. Schließlich stieg mir der vertraute Geruch von Rind und Blut und Kot in die Nase, die warme, schäumende Rinderpisse auch, und ich wusste, dass ich beim Schlachthof gelandet war. Nur die Flie gen der Pampa fehlten noch. Und die kleine, steile Falte auf der Stirn von Berta, die immer dann wie ein Verkehrszeichen aufgetaucht war, wenn ich etwas gedreht hatte, was sie ablehn te. Ich setzte mich in eine Toreinfahrt. Der Geruch verrottender Küchenabfälle, ein rostiges Bettgestell, der huschende Schat ten einer Ratte. Da heulte ich. Es war gut so, ich heulte. Ich ließ locker. Vielleicht würde ich morgen in Köln ankommen. Noch war mein Deutsch zu schlecht, ich trieb auf einer Eisscholle dahin. Manchmal stießen von unten Fische dagegen – die Kölner mit ihrem Dialekt, den sie Kölsch nennen und den ich anfangs für pure Unterwelt hielt, eine Art Rotwelsch, eben Ganovenschwatz.
Helmut Schmidt zieht sich eine Linie Komm doch einfach mit. Du erzählst was über den Offenen Brief von Walsh, ich berichte von meinem Besuch bei Hel mut Schmidt. Einen kleinen Dichter wie dich kriegen wir in dieser Talkshow immer noch unter sagte Osvaldo Bayer, den ich vor dem Funkhaus am Wallraffplatz traf. Bayer war so selbstverständlich quer über den Platz auf mich zugegangen, als wären wir uns vor einem Kino in der Corrientes begegnet und sowieso schon lange miteinander verheiratet. Außer mit Henkern war dieser gepflegte und gern schwarz ge kleidete Mann mit allen Menschen auf du. Das machte den Um gang mit ihm einfach. Das machte ihm selbst das Leben aber auch schwer. Schließlich war dieser Historiker und Publizist, dieser Filmemacher und immer geschliffene Redner, der sich in Argentinien das leicht singende Deutsch des österreichischen Juden bewahrt hatte – (mit seiner Neigung zu Sahnehäubchen und Scho kokrümel, aber auch zu Falltreppen, Geheimfächern und Giftphiolen, und der Vorliebe zu unendlich lan gen, weit schwingenden Satzperioden, bei denen mir schwindlig wurde: immer fürchtete ich um den Absturz dieses Seiltänzers. Er fiele ins Wasser, zer schellte auf dem Pflaster von Hohn und Spott über einen alt gewordenen Trottel mit den Hautflecken und den wässrig gewordenen Augen des UraltAnarchisten wie unser schüchterner und kahlköp figer Ernesto, den wir kurz vor meinem Abflug in
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seinem Grab auf La Recoleta vorsorglich mit einer schweren Betonplatte gesichert hatten: wer weiß schon, wohin einem so ein notorischer Träumer sonst noch aus der Gruft heraus nachsteigt. Und Osvaldo Bayer schwankte tatsächlich auch kurz auf seiner Höhe dort oben. Ein plötzlicher Sei tenwind. Ein kleiner Schritt war ihm missraten. Dann setzte er den nächsten Fuß. Er schnürte weiter wie der Fuchs im Schnee auf ein Ziel zu, das ich noch gar nicht sah, aber ich wusste, am Ende legt er die sem Ziel die Schlinge um den Hals - ein feiner Draht, eine Nylonschnur, und zieht sie zu, ganz ohne Ge nuss, aber mit einem letzten Gruß und völlig ohne Reue … und stets argwöhnte ich auch, er hielte die Spannung dort oben auf dem Seil nicht aus. Irgend wann verlöre er die Beherrschung über sich selbst oder ihm explodierte ganz einfach der Kopf – selbst Ernesto saß doch die letzten Stunden seines Le bens mit dieser doppelläufigen Flinte hinter der Tür. Schließlich hatte er beide Hähne gleichzeitig gezo gen, war vom Rückstoß noch umgerissen worden, bevor sie vor der Tür die Granate zündeten und ihm diesen tödlichen Splitter in den Schädel jagten) - und der in Belgrano auf der Kreidetafel einer Grundschule zu schreiben lernte, die bald die Nazis für sich reklamierten hopp hopp raus hier, Reichsgebiet! und zu ihrem Hauptquartier machten, schon früh in die Schusslinie all derer geraten, die, wie mein Vater Osvaldo, mehr als eine Wiese mit Streuobst besaßen. Das war, als er die Geschichte der blutigen Niederschlagung
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des Aufstands der Landarbeiter Patagoniens von 1921 schrieb. Es war eine große Geschichte. Er schrieb sie Zeile um Zeile auf, bis der Wind und der Staub Patagoniens, die Verlassenheit und die Straflosigkeit vier Bände füllten. Ich erinnere noch, wie mein Vater zwischen zwei Seiten Heine, ein Glas seines schweren Rotweins in der Hand, in dem gera de eine Fliege ertrank, über diesen Mann fluchte, weil er wie der mal um seinen Besitz im Süden fürchtete: - wieder einer, der die Geschichte so präpariert, dass sie uns morgen den Hintern aufreißt. Wo soll ich denn noch hin? Muss ich mir noch die Luft zum Atmen erbetteln? - und weil Bayer diese Geschichte kurz vor Videla & Co. auch noch erfolgreich verfilmte; wobei sich die Darsteller schon unter den harten Augen der Militärs und dem probeweisen Durchladen von Gewehren hatten kleiden und schminken, das Drehbuch und alle Regieanweisungen memorieren müs sen, während ihnen der Wind Patagoniens immer wieder die Münder füllte, hungrige Raubmöwen auf sie herabstießen und eine Gruppe von Pinguinen, aus der Antarktis abgedriftet, lär mend wie neugierige Besucher in den zerzausten Kulissen herumlief. Unter diesen ungünstigen Vorzeichen hatte Bayer die Bom bendrohung in seiner Wohnung in Belgrano schon erhalten, bevor Silvina in unserem Haus in San Telmo sagte Da unten steht einer. Um keine Zeit zu verlieren, war er in das Land geflüchtet, von
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dem er einzig die Sprache bewahrt hatte und eine angeseng te Fleischgabel seiner Großmutter. Bei dieser beschleunigten Bewegung hatte er, wie üblich, alles verloren. Und neben Tee geschirr und einem schlecht überkronten Zahn in der Eile auch noch die eigene Ehe zerbrochen. Wir Asylanten, die wir von den Innenministern so über die deutschen Lande verteilt worden waren, dass wir keinem Deutschen unangenehm auffallen konnten, hatten ihn nicht zu unserem Sprecher gewählt. Aber er war es, wie selbstverständlich. Ele gant und geschliffen redend, aber meist einen kleinen Tropfen an der Nase. Der und ein gebeugter Rücken zeigten, dass er sich das Leben nicht leicht gemacht hatte und vorzeitig gealtert war. Es war ein Tropfen, der nie fiel und im Gegenlicht glitzerte wie ein Brillie. Gib mir wenigstens ein paar Stichworte, wenn du mich schon wie einen Plüschbären mitnimmst sagte ich im Paternoster des Westdeutschen Rundfunks, zwei Angestellte in Anzügen und mit Brötchentüten neben mir, die auch in einem großen Mö belhaus hätten arbeiten können. Es geht um die Toten von Mercedes-Benz. Diese vierzehn Betriebsräte, die spurlos verschwunden sind. Du weißt Bescheid? Natürlich erinnerte ich, dass auch das Mercedes-Werk in Gon zález Catán bei Buenos Aires die Konjunktur ebenso genutzt hatte wie die Katholische Kirche: auch Mercedes-Benz Argen tina hatte Mitarbeiter denunziert, Adressen geliefert, Beschrei bungen von Personen, die daraufhin, wie Strichmännchen, die von einer Tafel gewischt werden, spurlos verschwanden.
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Die beiden Möbelverkäufer in dem rumpelnden Paternoster ne ben uns hatten sich versteift. Vielleicht misstrauen sie dieser etwas altmodischen, aber doch wohl sicheren Beförderungsart schon länger, dachte ich, und beschloss, sie nicht weiter zu be achten. Schließlich war ich hier der Dichter, nichts weiter. Ein Dichter guckt zu, mehr tut er nicht. Es gibt hier einen Hauptabteilungsleiter, einen Dr. Heinz Knillerz, der hat diese Sendung aus dem Programm ge nommen. Es ist ihm nicht gelungen, in ihr auch nur einen einzigen Fehler zu finden. Um seinem Auftrag zu genügen, hat er deswegen bloß gesagt, das müsste alles netter for muliert werden. Stell dir so einen Versager in dieser Position nur mal vor! Die beiden Möbelverkäufer verließen beschleunigt, auffallend verschreckt den Paternoster, als hätten sie in Osvaldo, schwarz gekleidet wie er war, Zorro den Rächer erkannt und in mir den Mann, der ihm die Waffen nachlädt; während ich mir vorzustel len versuchte, alles grundsätzlich netter zu formulieren, Denun ziation und Verhaftung, die Folter, die Sedierung, den Abwurf über der See, den Aufschlag, den Tod. Alles das vierzehn Mal. Es klappte nicht. Ich war überfordert und versteifte mich und wusste jetzt schon, dass ich in dieser Talkshow eine jämmer liche Figur abgäbe. Sie hatten einen Moderator aufgeboten, der alles konnte, wie ein Schweizer Messer. Wenn er nicht in Studio 3 moderierte, kochte er in Studio 2, bevorzugt Fisch und Gemüseaufläufe, kalorienarm und ohne Salz. Sagte er. Und imitierte mit Atemab luft, wieselflinker Zunge und Lippen auch schon aufkochende Sauce und abgelöschten Schweinebraten; denn wenn es we der etwas zu moderieren noch öffentlich und beispielhaft ge
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sund zu kochen gab, produzierte er mit vollem Körpereinsatz Geräusche fürs Hörspiel: den Urwald bei Nacht; die Liebe auf der Campingliege; die Grillparty auf einem Balkon im verfal lenden Havanna (das Salz des Meeres und die Verrottetheit des Bärtigen selbst und seines Systems fressen hörbar an den Eisenträgern und der Betonummantelung, ein malmendes Grundgeräusch, das sich durchs ganze Haus und durch alle Szenen des Hörspiels zieht). So einer war das. Er war reichlich schwammig und gänzlich unauffällig, eigentlich nur ein Fleck im Auge, eine Sehstörung mit gelber Krawatte und schmalem Schnäuzer, aber er konnte alles. Beim Betreten des Studios verlangte ich als Boxexperte, um etwas Boden zu gewinnen, er möge bitte probeweise das Geräusch eines rechten Schwingers nachmachen, der den Kieferknochen bricht. Aber das konnte er nicht. Oder er nahm es persönlich, plötzlich abgrundtief misstrauisch, und wollte nicht. Außerdem war er sofort mit dem kleinwüchsigen Professor be schäftigt, der sich immer wieder nervös die Manschetten zupfte. Aber als ihm das dreiköpfige Mikro, das doch uns allen dienen sollte, eigens näher gerückt war, ja mundnah – nun gut, der Mann war kleinwüchsig und fast schon ein Behinderter – da war er nicht mehr aufzuhalten. Und Osvaldo und ich merkten, dass dieser Professor alles wusste über das Mercedes-Werk in González Catán. Oder dass ihm die Konzernleitung in Stuttgart alles Wichtige und einzig Wahre in seine Kölner Studierstube geschickt hatte, obwohl er mehrfach Argentinien mit Brasi lien verwechselte und Uruguay mit Bolivien, was er wiederum dort ansiedelte, wo sich Panama herumdrückt. Aber letztlich waren das Kleinigkeiten; schließlich redete er von den großen Linien der Weltwirtschaft und den Vorzügen der neuen LKW
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Baureihe mit Unterflurmotor und Einspritzpumpe, die selbst Palmöl verkraftet, vergorenen Mais, sauer gewordenen Ba nanenbrei und demnächst sogar Urin, leicht verdünnt. Sagte er. Mit einem nur kurzen Blick auf seine Notizen, die er mit der Rechten abschirmte. Wirklich, dieser kleinwüchsige Akademiker, der sich jetzt die Brille rückte, hielt alle Lateinamerikaner für Eingeborene, frisch entdeckt. Und schnell merkte ich, dass ich hier völ lig verloren war. Mit meinem noch mangelhaften Deutsch ohnehin, aber bei diesem LKW-Feuerwerk und dieser Weltwirtschaft auch mit allem anderen, was ich war, ein schließlich der Erinnerungen an mein eigenes Land, das mich zwar schwer angeschissen, das ich aber doch geliebt hatte, immer und irgendwie. Und ich sah auf Osvaldo, der wie versteinert wirkte. Der Professor nahm sich jetzt die Brille ab und musterte mich scharf mit einem Auge. Das zweite war tot und milchig. Er ta xierte mich, weil ich hier der Jüngste war und weil ihm die Er fahrung mit seinen Studenten wohl sagte, dass ich am ehesten derjenige sein könnte, der ihm unverhofft was auf die Backe gäbe. Mich störte dieses eine stechende Auge, mehr noch das tote, milchige, und ich suchte Halt bei meiner Nachbarin. Schließ lich war sie die Urheberin des Ganzen hier, die Autorin. Eine Dr. Gaby Dingsbums, ein Allerweltsname, den ich schon wieder vergessen hatte. Eine ältere Frau mit verrauchter Stimme und einem Gesicht, das vom Leben oder vom Nachdenken, viel leicht auch von Niederschlägen und unbändigen Hoffnungen, von Verlorenheit vielleicht und zuviel Whisky gezeichnet war und das mir gefiel. Es gefiel mir gut. Ein schmaler, aber hung
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riger, karmesinroter Mund. Ich hatte noch nie eine so viel ältere Frau geliebt und versuchte, einen Blick auf ihre Knie und Beine unter dem Studiotisch zu werfen: alles noch Klasse. Gebraucht, aber Klasse. Auf dem linken Knie ein interessanter blauer Strie men in Richtung Oberschenkel. Es stimmte, ich hatte lange kein Weib mehr gehabt und war reichlich spitz. Erst als sie jetzt zu reden begann, zögernd erst und dann flüs siger, mit tiefer, rauchiger Stimme, merkte ich, dass sie weder Gaby Dingsbums hieß noch die Autorin war. Sie hatten einfach vergessen, die Autorin einzuladen, deren zunächst verhinderte Sendung wir mittels geziemend ausgewogener Diskussion wie der ins Programm befördern sollten. Diese Frau, die meine Begehrlichkeit längst bemerkt hatte und jetzt leicht die Knie öffnete, war eine enge Freundin von Han nah Arendt. Das erwähnte sie nebenbei, aber nicht ganz ohne Eitelkeit. Expertinnen beides in Sachen deutscher Faschismus. Die eine war berühmt, die andere saß neben mir. Wenn sie die Berühmte in New York besuchte, ging sie jeden Morgen mit de ren Mann zwei lange Blocks weit, um die „New York Times“ zu kaufen, die auch der Bote hätte bringen können. Aber dort gab es einen Kioskbetreiber, der ein Überlebender war. Sagte sie, nebenbei. Sie konnte das Land, das ich einst geliebt hatte, exakt mit sei nen Koordinaten orten. Sie kannte das Haus, das Eichmann zuletzt bewohnt hatte, bevor die israelische Luftcharter über ihn kam. Sie memorierte selbst seinen angenommenen Namen auf der Gehaltsliste von Mercedes-Benz Argentina. Sie redete jetzt und redete und stieg ungehindert und stolperfrei immer höher wie auf der Leiter einer Bibliothek, bis sie bei den Gesammelten Werken Hegels war, sodass ich zunächst reichlich Gelegenheit
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hatte, ihre kleinen Brüste zu betrachten, die inzwischen groß zügig geöffneten Schenkel, dann aber doch den Moderator zu mustern begann, ob der nicht den Pfiff eines Schiedsrichters zu imitieren gedachte mit seinem reichhaltigen Repertoire. Aber nichts. Sie redete und redete. Und Osvaldo sagte noch immer nichts. Dann sah sie mich an. Eine dünne Fahne ihres herben Par füms wehte herüber, unterlegt mit einem Hauch Whisky. Sie stieß mich an. Und ich begriff endlich, in welcher Zwangslage sie seit langem mit ihrem hungrigen, karmesinroten Mund und mit ihrem schon älteren, aber umso verlangenderen Körper steckte. Sie saß jetzt seit langem allein und unrettbar verloren im Gefängnis ihrer Kompetenz und im Sumpf des deutschen Faschismus, Entrinnen unmöglich, Rettung von nirgendwo, keinerlei Hoffnung auf Gesellschaft in Sicht. Wirklich, ausgerechnet von mir und meiner Jugend, inzwi schen hatte ich neue Zähne, wollte sie gerettet werden. Ich sollte erzählen als einer, der jung war und sich glücklich befreit hatte von diesem Buenos Aires, das ein zerbrochener Traum von Aufbruch und Weite und gelungener Emigration war. Ich sollte als ein Davongekommener reden und ihr den Arm rei chen und sie befreien aus diesem Käfig, den sie sich selbst mit ihrer Kompetenz errichtet hatte und in dem die Deutschen sie jetzt hielten. Und jedes Mal, wenn sie ihr ein Hirsekorn hin warfen, musste sie singen. Eine Jüdin, die alles aufgearbeitet hatte und alles wusste und alles zu erzählen verstand, der sie aber auch jederzeit ein schwarzes Tuch über den Käfig werfen konnten. Und schon war ihr Tag zu Ende. Es herrschte Ruhe und erneut finstere Nacht. Und nie war natürlich völlig auszu schließen, dass mal jemand durch den Käfig griff und dem Vö gelchen den Hals umdrehte.
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Ich überlegte, verkrampfte, und prompt fiel mir überhaupt nichts ein. Auch hatte ich mir geschworen, mich nicht an den Geschichten unserer Toten und Verschwundenen zu vergrei fen. Es waren ihre Geschichten. Silvina und ich hatten die Liebe verloren, ich alle Zähne, und ihr war, als sie mit ihr Ertrinken spielten, der linke Oberschenkelhals gebrochen worden: ver glichen mit den Verlusten der anderen waren unsere kaum der Rede wert. Dann fiel mir wenigstens eine meiner Lieblingsideen wieder ein, die nämlich, dass eine wahre Geschichte erst mit dem Tod des Erzählers zu Ende ist. Und ich fing von Rodolfo Walsh an. Ich referierte Teile seines Offenen Briefes, den er zum ers ten Jahrestag von Videla & Co. verfasst hatte. Ich schilderte, wie mehr und mehr Verfügungsmasse von Argentinien, ton nen- und hektarweise, in den Tresoren der Deutschen Ban ken gelandet war. Ich zählte die Fregatten und Zollkreuzer auf, die im Hamburger Hafen gebaut wurden, die U-Boote und die Panzer, die auf ihre Verschiffung warteten. Ich verwies auf die stille, aber nachhaltige Ausstrahlung der Gräfin Zichy-Thys sen und ihrer Söhne Federico und Claudio Graf Zichy-Thys sen. Ich redete natürlich von der Picana, der Verstümmelung, der Sedierung, dem Abwurf über dem Meer, den Toten auch, die in Uruguay angetrieben worden waren mit Gesichtern, denen die Wasservögel die Augen ausgepickt und Wangen und Lippen weggefressen hatten, und ich tat alles das wie in einem erotischen Schub, ja ich sprach flüssiger und klarer als je zuvor in meinem noch holprigen Deutsch, weil ich dieser Frau helfen wollte in ihrem Gefängnis. Weil ich sie begehrte. Weil sie eine von uns war. Und weil ich gern nachher mit ihr ins Hotel Flamingo gefahren wäre und mit ihr gevögelt hätte, auch das –
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(es stimmte, genau hier stockte ich, und der Mo derator sah mich an wie den Mann, der endgül tig den Faden verloren hat. Aber es war nur ein Gedankenblitz, ein Verdacht, dem ich nachging: hatte die ESMA mein Verhältnis zur Gewalt grund sätzlich verändert? Hatte ich die Erotik der Gewalt entdeckt? Oder war ich bloß offener geworden für den Zusammenhang von Gewalt und Begehren, über den ich mir zuvor wenig Gedanken gemacht hatte?) - und ich endete damit, dass Rodolfo ja nun ein extrem erfah rener Mann des Untergrundes war, der jede Nacht selbst noch die Geräusche des Windes ums Haus analysierte und das Pfei fen der Mäuse im Haus, bevor er sich schlafen legte. Und ich äußerte den Verdacht, dass er am Tage seines Todes bereits sehr wohl gewusst habe, dass er verraten worden war. Und dass er auch deswegen die Colectivos zwischen Sarandí und Entre Ríos angesteuert hatte, um seinen Brief in der Stadt zu verteilen. Denn natürlich wusste er, dass er mit seinem Tod dem Brief eine besondere Bedeutung verlieh; ja dass sein eige ner Tod der letzte, nicht geschriebene, aber notwendige Absatz dieses Briefes war. Sein Tod schrieb den Brief weiter, immer weiter. Das sagte ich. Und war ganz zufrieden mit dem, was ich gesagt hatte. Die Frau mit dem hungrigen Mund aber sah mich missbilligend an. Sie war enttäuscht. Ich hatte ihr nicht geholfen, sie war mir entglitten. Na ja, die Literaten … sagte sie nur etwas gedehnt und griff nach ihren Zigaretten, was ihr aber bloß den Moderator ein handelte, der blitzschnell aus seinem Gesicht ein Verbots
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schild machte, die Literaten … sagte sie noch einmal mit ihrer tiefen, brüchigen Stimme aus der Einzelzelle ihrer Kompetenz und legte die Zigaretten weg wie ertappt. Und wieder einmal drohten die Gedankengebäude von Hegel sowie der Kom manditisten Marx & Engels mich zu erdrücken, so gewaltig waren sie im Mund dieser Frau und unerschütterlich – obwohl einzelne Diebe ja immer wieder Steine aus dem Fundament gelöst und daraus Wurfgeschosse gemacht hatten. Da war ich platt und schwieg. Jetzt aber warf Osvaldo die Leinen los. Er löste sich von der Kaimauer, Blaulicht auf der Brücke, ein Mann am Maschi nengewehr vorne am Bug, er fuhr die Motoren hoch und preschte auf die Hafenausfahrt zu, um draußen, zwischen den treibenden Inseln, diesen rostigen Kutter zu stellen. Ein Spitzel im Hafen hatte ihm alles gesteckt: Die Laderäume platzten von Heroin, an Deck stapelten sich, sauber verpackt in Kisten mit kyrillischer Schrift, 10.000 Kalaschnikows, in der Kombüse drängten sich 13 junge französische Nonnen aus Haiti, die zu Huren gemacht werden sollten sowie sie ben schwarze Kinder Nicaraguas für die Päderasten dieses Küstenabschnittes, und auf dem Vordeck stand ein Käfig mit gut dressierten Pekinesen aus Hongkong für die Lieb haber des Hundeficks: ein Kutter aus der Hölle also, und ich wusste, da draußen, zwischen den treibenden Inseln, würde es gleich ein Gemetzel geben. Und später käme das Boot in langsamer Fahrt zurück, an Steuerbord zerschrammt, die Brücke leicht zerschossen, ein verletzter Funker an Bord und alle Nonnen und Kinder, aber der Kutter wäre versenkt mitsamt seinem Kapitän, der ein argentinischer Capitán de Navío gewesen war, bevor er, ein letztes Gebet auf den Lip pen, zu den Fischen absank.
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Osvaldo, der in das Land seiner Sprache zurückgekehrt war (immer hatte ihn die angesengte Fleischgabel an die Großmut ter erinnert, ihren gewaltigen Körper, mit dem sie still, zäh und listig alles umfangen und neutralisiert hatte: die Männer, die Ob rigkeiten, die Flöhe im Bett des kleinen Osvaldo und selbst die gröbsten Vorurteile der Nachbarn, sodass unter ihnen schließ lich nur ein einziger, aber tödlicher Denunziant gewesen war) wusste schließlich genau, mit welchem Kaliber er hier zuerst schießen sollte: Als wir mit dieser kleinen Delegation von Bittstellern zu Helmut Schmidt ins Bundeskanzleramt kamen, da zog er sich nach fünf Minuten in aller Ruhe eine Linie. Das fanden wir schon sehr souverän. Keiner von uns stand auf dem Zeug, aber wir fanden das ausgesprochen souverän für einen Politiker diesen Ranges: aus einer silbernen Dose klopfte er sich eine Linie auf den Handrücken, richtete sie noch einmal mit dem kleinen Finger der Rechten aus und zog sich alles in die Nase sagte Osvaldo als erstes, unver mittelt, einfach so: bei uns ist Koks weiß, hier war er braun. Aber wir wussten ja schon, dass in Deutschland manches ganz anders ist. Der Moderator, der doch eigentlich alles konnte, war perplex. In diesem Köln damals hatte einer, der so direkt vom Regierungs chef zu reden anhob, und noch dazu von ihm als einem ganz souveränen Mann, freies Feld. Und Osvaldo steigerte schnell die Drehzahl. Denn seiner kleinen Delegation waren nur zwan zig Minuten Audienz gewährt worden. In dieser Zeit musste er Helmut Schmidt davon überzeugen, ein paar Hundert argenti nischen politischen Gefangenen jene Gastfreundschaft zu ge währen, die Videla & Co. gerade mit einem Dekret gestatteten: hatten sie doch erklärt, ab sofort jeden politischen Gefangenen
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ausreisen zu lassen, der ein aufnahmebereites Exilland nach weisen könnte. Und Helmut Schmidt dachte nach. Es war schön zu sehen, wie er verschärft nachdachte. Sagte Osvaldo. Mit seinem markanten Gesicht eines Mannes, der in frühen Jahren schon den Stadtstaat Hamburg vor dem Untergang im Hochwasser bewahrt hatte, dachte er nach. Er dachte über Strategie nach, denn er war bekannt als guter Stratege. Sagte Osvaldo hier. Und er dachte über Taktik nach, denn er war berüchtigt als schlauer Taktiker. Und dann zog er sich zu unser aller Staunen schon die zweite Linie, sagte Osvaldo und wollte sich gewun dert haben, wie dieser Mann bei dem Rhythmus so über den Tag kam mit seiner tückischen Droge. Aber als Helmut Schmidt dann lange genug geschwiegen und gedacht hatte und endlich redete, war er nicht nur von erstaunlicher, sondern auch bestür zender Klarheit.
Denn jetzt zählte er die Toten auf, die gerade in seinem eigenen Land herumgelegen hatten: den Kapitän einer Boeing der Luft hansa, einen Generalbundesanwalt, einen Präsidenten der Ar beitgeber und der Deutschen Industrie … die machen bei uns doch jetzt schon alles nach, was ihr ihnen vorgemacht habt, wollte da Osvaldo gehört haben, während Helmut Schmidt wei tere Leichen aufzählte, die herumgelegen hatten und alle Ge setze, die er jetzt schon bis über die Grenze der Belastbarkeit hinaus hatte biegen und beugen müssen, und jetzt war ich an der Reihe, perplex zu sein, erinnerte ich mich doch Wort für Wort an jenes Telefonat zwischen Hersh und meinem Vater, in dem Hersh von seiner Terrasse in Tel Aviv zurückgebrüllt hatte: Schrei nicht so, die hier brauchen das nicht zu hören. Die machen jetzt schon alles nach, was von drüben kommt! …
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und am Schluss unserer kleinen Unterredung, sagte Osvaldo, drohte der Kanzler uns noch mit der Katastrophe seiner eige nen Opposition, in deren Reihen es mindestens einen gab, der jetzt schon die inhaftierten, aber noch nicht verurteilten mutmaß lichen Täter erschießen lassen wollte, einen nach dem anderen, jede Stunde einen, damit endlich wieder Ruhe sei im Land. Und dann, sagte Osvaldo, schnüffelte er ein letztes Mal am Handrücken, auf dem noch winzige Krümel seiner Droge la gen. Und sagte, immer noch mit dieser erstaunlichen Klarheit und Souveränität, die uns nach wie vor begeisterte, dass er eben leider zur Zeit in einem tragischen Dilemma stecke, in dem notwendigerweise alles, was er mache, falsch sei. Aber noch falscher sei es, gar nichts zu tun. Und deswegen könne er allenfalls zu zwei Fußballmannschaften ja sagen, mit Hilfs kräften, versteht sich, also vom Vereinsvorstand bis zum Platzwart, sagen wir mal, sagte er, sagte Osvaldo, und schnell und sichtbar rechnete er hoch und nahm kurz die Finger zu Hilfe, blickte auf eine Akte vor ihm und dann, noch immer rechnend, zur Decke und kam auf die Zahl 51. Genau einundfünfzig Ge fangene könne er aufnehmen in dieser bedrängten Lage und keinen mehr. Sagte er. Nach sorgfältigst durchzuführender Sicherheitsüberprüfung in jedem einzelnen Fall, was naturge mäß Monate in Anspruch nehmen kann. Sofern die Argenti nier mitspielen und Besuch und Befragung der Gefangenen durch Personal der Deutschen Botschaft zulassen. Sagte Os valdo in Studio 3 vor dem noch immer perplexen Moderator, der aber jetzt doch die Lippen rundete wie zu einem Abpfiff, einer Ermahnung wenigstens zu sauberem Spiel – und wir hatten bescheiden wenigstens an die Mannschafts stärke einer einzigen der Fregatten gedacht, die gerade im Hamburger Hafen gebaut wurden und der Werft das Über
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leben sicherte, denn unsere Gefängnisse waren ja voll wie Sardinendosen auch von präventiven Häftlingen. Und von den Tausenden namenloser Gefangener in den rund 60 geheimen Folterzentren hatten wir noch gar nicht geredet sagte Osvaldo noch –
- und jetzt drängelte der kleinwüchsige Professor, der wieder die Brille abgenommen hatte und sein eines stechendes Auge, wie einen Dartpfeil, abwechselnd auf den Moderator und auf Osvaldo warf - und die Frau neben mir stieß mich mit dem Knie an, sie hatte das Rasseln von Schlüsseln gehört, das Geräusch von Eisen wenigstens, das mit einer Nagelfeile bearbeitet wird
und ich hätte dem Kanzler noch vorschlagen wollen, dass angesichts dieses tragischen Dilemmas die Bundesrepublik doch eine unbewohnte Insel der Kleinen Antillen mieten könnte, einen Küstenstreifen Mauretaniens. Pachtland, eine Fahne hissen und fertig, so etwas. Aber da waren die zwan zig Minuten endgültig um und alles entschieden. Es blieb bei 51, die von Gefangenen zu Geretteten gemacht wurden, und basta. Die vielen anderen Gefangenen waren alle zur falschen Zeit geboren worden. Also bitte Herrschaften, zurück zu unserem Thema, kom men wir noch mal aufs christliche Abendland zu sprechen mahnte hier der Moderator an. Wenn ich Hegel richtig interpretiere … konnte die Frau Doktor neben mir aus dem Gefängnis ihrer Bibliothek gerade noch
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sagen, da ging in allen Fluren und Stockwerken dieses Kölner Funkhauses der Alarm los. Bombendrohung. Evakuierung. Alle auf den Wallraffplatz. Wir schoben uns in den Flur im 4. Stock, die Gefangene ließ ihre Zigaretten liegen, der Professor sein Herrentäschchen, der Paternoster stand still, und Osval do wischte sich im Treppenhaus Speichel aus den Mundwin keln. Ich wusste, der bildete sich immer dann, wenn er mitten in voller Fahrt die Leistung der Maschinen ganz plötzlich hatte zurücknehmen müssen. Die Sendung ist jetzt natürlich im Eimer. Aber ich kenne diese Gaby Weber. Ein Jagdterrier. Mercedes hat ihr sogar schon einen Anstellungsvertrag angeboten. Anstellung und Beißkorb, aber nichts. Wenn die sich mal in eine Wade ver bissen hat, lässt sie nicht mehr los sagte er. Ich war jetzt wohl über Gebühr sensibilisiert; denn ich erwar tete, während wir beschleunigt vom 4. in den 3. und vom 3. in den 2. Stock abstiegen, eine weitere Schuldzuweisung per Lautsprecher: auch das mit den Bomben haben sie von euch gelernt oder auch das machen sie euch jetzt nach, aber es kam nichts als ein hohles Lautsprecherknacken. Und noch eins dann. Hast du wirklich nicht gewusst, was Schnupftabak ist? fragte ich Osvaldo im 2. Stock. Doch, natürlich. Nach dem Tod meines Großvaters hatte Großmutter noch einen Altersgeliebten. Der schnupfte. Und Großmutter tobte, weil er sich in die besten Taschentücher schneuzte. Das war mercerisierte Baumwolle, teurer Stoff, und die braune Soße ging da nicht mehr raus sagte Osvaldo, da waren wir schon im Erdgeschoss und strömten durch die
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Flügeltüren auf den Wallraffplatz, auf dem bereits große Teile der Belegschaft versammelt waren. Ich staunte: es waren gelassene, ja fast fröhliche Menschen. Diese Kölner schienen nichts ernst nehmen zu können. Dann erst begriff ich: es war ganz neu für sie. Und neu war auch, dass sie, die vereinzelt in den Waben eines Funkhauses arbeiteten, sich einmal begegneten. Einzelne versuchten sich sogar anzu fassen, wie man eine große Puppe prüft, scheu noch und reich lich unbeholfen, sie hatten das wohl von uns im TV gesehen und ahmten es jetzt nach. Auf dem Platz stand ein einzelner Baum. Er schien krank zu sein von der innerstädtischen Luft, der leckenden Kanalisation und war bis zur Halskrause bandagiert. Ahorn, vermutete ich. Seit Misiones hatte sich mein Verhältnis zur Natur etwas ab gekühlt. Davor saß auf einem Klappstuhl ein einzelner Mann und spielte. Er spielte Akkordeon. Tangos. Und ich natürlich wie eine hungrige Fliege sofort hin. Er sang nicht, er spielte nur, wobei er mit dem Oberkörper je weils weit dem Ein- und Ausatmen seiner Quetschkommode folgte. Der Mund war halb geöffnet, er hatte große, schrecklich schief gewachsene Zähne. Er war noch jung, aber hatte schon ein uraltes Gesicht. Ein Eselsgesicht. Das Leben hatte Furchen gegraben wie der Platzregen in Lehm. Ich hatte selten ein so hässliches Gesicht gesehen. Jetzt stand ich vor ihm und sah ihm in die Augen: ich woll te wissen, wer er wirklich war. Er sah durch mich hindurch, an mir vorbei, er spielte. Er war das, was er spielte, das und nichts anderes war er. Er spielte den Regen und den Wind, die Verlorenheit und die Erbärmlichkeit, er wurde ruhiger und
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zärtlicher und spielte die Liebe und den Tod der Liebe: er spielte das Leben, er spielte hier um sein Leben, und wenn er mit diesem Spiel hier auf dem Platz, vor dem kranken Ahorn, sein Leben nicht gewänne, dann wäre es sein Tod. Und des wegen war sein hässliches Gesicht eines Esels auch ein schönes Gesicht. Es war hässlich, und es war sehr schön. Ich fragte ihn auf Spanisch nach seinem Namen. Er schien mich zu verstehen, aber nicht antworten zu wollen. Ein Illegaler wahr scheinlich, keine Papiere. Da fragte ich ihn auf Guaraní. Etwas wie Wetterleuchten zuckte über das Gesicht. Er sah mich an, öffnete dann weit den Mund. Ich sah ihm bis zum rosa Zäpfchen in den Rachen. Dadrunter lag der Stummel einer Zunge. Sie hat ten ihm die Zunge rausgeschnitten. Er spielte den Tango von dem Mann, dem sie die Zunge rausgeschnitten hatten. Inzwischen drängten sich mehr und mehr Leute um uns, Pas santen, Einkäufer, Mitarbeiter des Funkhauses. Sie hörten, wie die Quetschkommode ein- und ausatmete, sie hörten die harten und dann wieder weichen Tangos, sie sahen das hässliche Gesicht eines Esels, das in seinem Schmerz und nach dem Schmerz sehr schön wurde, und ich sah, wie sich ihre eigenen Gesichter dabei veränderten. Ich würde es nie schaffen, Gesichter mit einem meiner Texte, die ich legte wie das Huhn ein Ei, so zu verändern. Das kann nur Musik. Und das Gesicht dieses Guaraní, der hässlich war wie ein Esel. Und da liebte ich alle die Gesichter dieser Kölner, die sich anrühren ließen und die etwas hörten, was ihnen ihr Leben lang gefehlt hatte. Auch ihre Gesichter wurden dabei schön. Und ich sagte mir: wenn dem so ist, dann kannst du gut hier bleiben. Ja, dann bist du sogar ganz richtig hier.
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Nachschrift, Februar 2005 Ich hätte mir den Namen des Quetschkommoden-Spielers aufschreiben lassen sollen. Es ging nicht, er spielte und brauchte seine Hände. So habe ich ihn nie mehr getroffen und oft vermisst. Mir fehlt auch der Name des Nachfolge-Kanzlers von Helmut Schmidt. Es war dieser umfangreiche Mann, der einen Fuß ins Buch der Geschichte setzen wollte, aber kurz davor strauchelte und fiel. Im Wesentlichen ist mir von ihm nur sein Staatsbesuch in Buenos Aires in Erinnerung, kaum hatten sich die Militärs von der Plünderung des Landes verab schiedet. Mit der Schüchternheit noch ungeübter Demokraten wurde er da um Stornierung der Verträge für alle die teuren Fregatten und Korvetten gebeten. Argentinien war pleite, die Töpfe leer und der Hunger groß. Aber der Kanzler sagte Nein. Oder Nö. Oder Nee. Da er aber nur Pfälzisch sprach, was dem Bittsteller wie Njet klang, erschrak dieser maßlos über die Antwort, hatte er doch offensichtlich während der Militär diktatur überhaupt nicht mitgekriegt, dass die Russen bis zum Rhein vorgedrungen waren und die ganze Bundesrepublik kommunistisch war. Und der hohe Gast drehte sich um, stapfte durch eine kleine Urinpfütze, die unglücklicherweise direkt hinter ihm im milden
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Abendlicht schillerte (leichter Wind lag auf ihr), rammte mit sei nem mächtigen Körper, etwas verärgert über das Gemisch aus Elend und Unwissenheit, das ihn hier umgab, einen seiner Leib wächter und verschwand.
15 Der Wirt Fiddy hatte seine Jugendliebe aus dem Nachbarhaus in der Balthasarstraße geheiratet. Die Frau wuchs sich schnell zu einem regelrechten Baum aus. Als sie sich noch weiter verzweigen und endlich Früchte ansetzen wollte, merkte sie, dass Fiddy taube Eier hatte. Da verließ sie ihn. Abends und bis spät in die Nacht hatte Fiddy als Rettungsring die Gäste seiner Kneipe. Aber wenn er allein war, fürchtete er sich vor allem: vor den Glockenschlägen nach Mitternacht, die ihm sein glücklos verrinnendes Leben anzeigten. Vor der Morgendämmerung, aus der sich alles noch grausamer her ausschälte. Und wenn er gegen Mittag in den Rasierspiegel sah mit dem harten Licht von 2 x 75 Watt, dann fürchtete er sich auch vor sich selbst. Daher war Fiddy, dem früh die Haare ausgingen und der Bauch ansetzte, auf den Ausweg mit den Philippinas verfal len. Jung mussten sie sein, ungebraucht. Wie seine Jugendliebe einst gewesen war. Fiddy gab den Vater, den Chef und den Liebhaber. Er war nicht mehr allein, und er war glücklich. Die ersten vier Philippinas futterten sich eine Weile bei ihm an, die fünfte kurierte nebenher noch die Infektion durch einen tropischen Virus aus und eine entzündete Gallenbla se, die sechste, die am längsten blieb, begann eine Lehre als Rechtsanwaltsgehilfin in der Neusser Straße und beendete sie mit Auszeichnung, dann verschwand auch sie. Da hatte Fiddy vor ausgesuchten Stammgästen geweint. Dann aber gedroht, ihnen die Kneipe genauso unverhofft 223
unter dem Hintern zu schließen, wie diese letzte verschwun den war. Er würde nur noch über der Kneipe vor dem TV in der Wohnung sitzen, die offene Bierleitung direkt neben sich, und sich mit Kartoffelchips, gesalzenen Erdnüssen und Gummibärchen vollstopfen, bis ihn die Feuerwehr per Kran aus dem Fenster hieven müsste. Schließlich aber nahm er doch wieder Vernunft an und verfiel auf Elektronik. Die gab‘s inzwischen reichlich. Sie konnte sich nicht wehren, und weglaufen tat sie auch nicht. Sein neuestes Spielzeug war Hausfunk, den er auch noch auf Damen/Herren installieren wollte. Ein Terminal stand seit gestern auf dem Antikimitat von Schreibtisch, an dem Kleefisch saß. Er blinkte Dauer. Er zwitscherte sogar wie ein Rotkehlchen, wenn er nur scharf genug angesehen wurde. Jetzt spielte er die ersten Takte von Komm in mein blaues Himmelbett, was Fiddy, mutterlos aufgewachsen – Mama bediente in einem Wohnwagen den Autostrich am Auto bahnzubringer Königsforst, und eine der Nächte war für sie gar nicht gut ausgegangen - in den nackten Morgenstunden zu hören pflegte, bevor er endlich ins Koma fiel. Hier unten sitzt einer, der dich sprechen will. Einer mit Lederhand? fragte Kleefisch. Was wird denn gewünscht, Leder links oder Leder rechts? fragte Fiddy rück. Rechts. Nein, seh ich nicht. Nur Altersflecken.
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Soll hochkommen, wenn er Arbeit für mich hat. Der ist schon wieder auf dem Platz festgewachsen, den er früher immer hatte. Ein Spätheimkehrer? Will ich nicht so direkt sagen. Schließlich hast du ihn hier rausgeschmissen. War aber mal dein Freund. Freunde gibt’s nicht. Sagst du. Also komm gefälligst. Natürlich, es war Egbert Poggenpohl. Der Mann, mit dem Fiddy sich bis zu seinem Wegzug aus Köln hätte rühmen können, die bundesweit einzige Kneipe mit Lohnschreiber zu führen. Aber wie so oft, hatte auch er den wahren Wert von Kultur erst erkannt, als sich die Pforte des evangelischen Al tenheimes in Hann.Münden hinter Poggenpohl schloss und jetzt nur gelegentlich von ihm, und das noch unwillig, wieder aufgestoßen wurde. Poggenpohl hatte hier Rentenanträge, Mietverträge und Mahnschreiben geprüft, aber auch und vor allem Briefe ge schrieben: an böse gewordene Kinder, rüde Vermieter, hart näckige Gläubiger. Und immer wieder Briefe, mit denen seine Auftraggeber nicht selten auch schon weißköpfige Damen um eine letzte Liebe ersuchten, die nicht weniger innig als die erste wäre, nur selbstverständlich unendlich viel verständiger. Die letzte Liebe sollte alle Verletzungen heilen, die im Laufe eines langen Lebens die Paarungen verursacht hatten. Und sie sollte dem Leben des Auftraggebers einen letzten Sinn geben, 225
an dem er jetzt doch, zerrieben vom Rentengefälle, den Kir chenaustritten, der sich ankündigenden Erektionsschwäche und der Angst vor dem Tod, mehr und mehr zweifelte. Poggenpohl saß, wie einst, am Tisch vor der Küchendurch reiche. Schwarze Hose, graues Jackett, schwarzer Rollpulli, ein neuer, weißer Schnäuzer unter der Nase, in dem etwas Feuchtigkeit glitzerte; dünnes, weißes Kopfhaar, das als Lohnschreiber noch gelb-grau gewesen war und durch das jetzt die rosane Kopfhaut eines gepflegten Greises schimmerte und eine Blutbahn, auf Trab gehalten durch allerlei keusche Mittel, leise pochte. Zwischen den Beinen hielt er einen Stock mit versilbertem Knauf, der stark nach echtem oder gut imi tiertem Ebenholz der Tropen aussah. Und schon dachte Kleefisch, der noch die ganzen Blätter von Carlos im Kopf hatte, an einen Rinderbaron. Den Se nior. Osvaldo Lieberman. Wie er für alle seine vierunddrei ßig Kinder in Öl gemalt werden will. Damals dagegen, als Lohnschreiber und Mieter der Dachmansarde, hatte er Pog genpohl davon abhalten müssen, hier mit blauer Jeansjacke, gelbem Pulli und weißen Socken aufzutauchen. Und jetzt stand vor ihm nicht etwa ein gewöhnliches, nässendes Glas Kölsch, sondern eine Schale mit Martini, in dem eine Olive schwamm. Meine Güte sagte Kleefisch da, neues Image? Dein Glück, dass du es so siehst. Wenn du jetzt gesagt hättest »Bruder, wie mir das Herz aufgeht!«, dann hätte ich dir glatt eine reingehauen. Mit dem Alter werde ich nämlich zuneh mend radikaler.
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Na ja, die Literaten … sagte Kleefisch nur, weil er auch das noch von Carlos im Kopf hatte. Er kriegte diesen Kopf noch nicht klar. Oben in seinem Büro war eine Wirklichkeit, hier unten bei Fiddy wieder eine ganz andere. Und keiner kann mir sagen, was wirkliche Wirklichkeit ist. Das ist ähnlich verwirrend wie diese Sache mit den Galaxien. Keiner kann erklären, wo genau wir in der ganzen Suppe treiben. Und wann es aufhören wird mit uns. Ja. Ich wäre mit kleinem roten Teppich unter dem Arm zum Bahnhof gekommen, wenn du was gesagt hättest. Taxi. Mercedes-Diesel. Fuhr einen Schnitt von 140 beschied ihn Poggenpohl nur knapp. Von deinem Märchenstädtchen bis Köln und zurück? Lotto gewinn? Früher, hier in Köln, in deiner strammen Jugend, hast du immer gelästert über Toto/Lotto. Was ist los? Du also sitzt jetzt auf dieser verdammten Kiste, die bislang allen Unglück gebracht hat sagte Poggenpohl nur. Er sagte es langsam und so, wie jemand bloß einen ersten matten Ab glanz dessen zeigt, was er wirklich kann. 1:0 für dich. Wie, verdammt, hast du das in deinem Alten heim erfahren? Von Fiddy? Andrea? Du hast mich immer unterschätzt. Dieser Fehler zieht sich wie eine hässliche Schleimspur durch dein ganzes Leben. Dieser Carlos war nun mal einer aus meiner Zunft. Der Hillebrand ist es noch. Und Silvina auch. 227
Den Elfmeter halte ich. Und wo ist Hillebrand? Und wo Silvina? Hillebrand ist ein Hasenherz. Wie ich. Dem ist augenblick lich Köln zu heiß. Polizei verträgt er gar nicht, selbst das Outfit von Krankenschwestern ist ihm inzwischen zuviel. Silvina hat in ein paar Tagen einen Auftritt als Sängerin hier in Köln, nach dem Endspiel der Fußball-WM. Vor wichtigen Auftritten sitzt sie bis zu zwei Wochen in ihrer Wohnung. Kein Telefon, keine Klingel, nichts. Sie meditiert. Meditiert sagte Kleefisch. Meditiert wiederholte Poggenpohl. Und hat am Schluss, viel leicht, ein neues Lied. Einen Tango. Sie nennt es Milonga. Oder Bolero. Milonga sagte Kleefisch und drehte ein frisches SchweppesGlas, dessen Inhalt damit auch nicht besser wurde. Bolero sagte er. Ein Unterschied zwischen Tango und Milonga war dem Glas nicht anzusehen, ein Bolero nicht einmal andeutungsweise zu erkennen. Am Rand entdeckte er jetzt Spuren von Lippen stift und stellte es auf den Nachbartisch. Fiddy ließ stark nach. Auch Fiddy brauchte dringend eine Frau. Aber mit den vielen Minderjährigen aus Südostasien hatte er sich verausgabt. Du bist doch noch besser drauf, als ich dachte. 228
Mein Kopf ist nach wie vor der reinste Mutterkuchen. Und in diesem Altenheim bin ich jetzt schwer im Geschäft. Ein letztes Großprojekt. »Dein war mein ganzes Herz – Trivi alroman.« Den schreibe ich mit den Bewohnerinnen. Und mit den Toten. Auch Carlos hat gewusst, dass die Toten un erbittlich sind, wenn‘s ans Erzählen geht. Richtig gefragt, re den die am Stück. Später. Erst die Kiste sagte Kleefisch. Was weißt du über de ren Inhalt? Warum ist dieser Fernando so scharf darauf? Was schreibt Carlos vom Mario Lieberman? Hat der eine den an deren erpresst, und mit was? Es ist schon erstaunlich, wie interessant ich plötzlich für dich bin. Die Kiste. Das Projekt. Die fünftausend Gefangenen/Verschwundenen in der ESMA waren in der Hölle. Für einen Schriftsteller ist die Hölle eine gute Geschichte. Ursprünglich wollten Carlos und ich zusammen die Toten erzählen lassen. So haben wir uns beim Hillebrand kennen gelernt. Er wollte seine Toten in Argentinien zum Sprechen bringen, diese Evita, den Pater Beltrani, den Rodolfo Walsh, den Osvaldo Lieberman, ich die Hiesigen. Auch deine Mama auf dem Westfriedhof gehört dazu, weil sie mal im Marienkrankenhaus gearbeitet hat, zusammen mit dieser Roswitha Niekisch. Da müsste ich erstmal vorsichtig bei ihr anklopfen. Jetzt, in ihrer Urne, ist sie natürlich was beengt. 22
Selbstverständlich. Ich würde auch ein paar Bohnen Kaffee mitbringen. Egbert, die Kiste. Erst das Projekt. Schließlich ist das mein letztes Kind sagte Poggenpohl, schob mit dem kleinen Finger der Linken die Olive in der Martini-Schale zur Seite und nahm einen sehr kleinen Schluck. Siehst du, Kleefisch, es ist doch so: die Sterbenden kacken sich ein. Aber wenn es dir gelingt, den Lebenden ans Herz zu fassen, dann geht ihnen die Zunge über. Das ist das Pro jekt. Da Carlos nicht mehr konnte, denn mit diesem Loch im Kopf war er doch stark eingeschränkt, habe ich mich auf die Lebenden konzentriert. In meinem Heim leben fast nur Witwen. Auf die rätselhafte Art der Frauen werden sie viel älter als die Männer. Aber ihre emotionalen und sexuellen Energien sind noch immer beträchtlich. Habt ihr in der Kiste schon diese Schlüsselstelle mit Osvaldo Lieberman gefunden, der mit seinem Chevro let durch die Pampa fährt? Schlüsselstelle? Das ist philologisch gesprochen, Kleefisch, und meint »Kernund Angelpunkt«, gewissermaßen die Zentralheizung vom Ganzen. Da heißt es, das kann ich Wort für Wort und selbst im Schlaf: Die Witwen traten ans Fenster, lifteten ein wenig die Gardine und bereiteten sich darauf vor, gegrüßt zu
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werden. Und tatsächlich, jedes Mal lüpfte der Fah rer beim Vorbeigleiten den Strohhut. Er winkte ihnen zu. Er bat um Bestätigung für sein Tun, Hilflosigkeit und die Bitte um Erbarmen in den Augen – aber da gönnten ihm die Witwen nur einen weiteren klaren, völlig unerbittlichen Blick: sie würden niemandem je mals verzeihen, und er selbst würde mit all seinen fri schen, noch taufeuchten Blüten nie die eigene Leere füllen.
Poggenpohl hatte beim Zitieren die Stimme gehoben und seinen Stock mit dem Silberknauf, dieses sorgfältig imitierte oder tatsächlich echte Ebenholz der Tropen, auf und nieder bewegt, sodass zwei am Tresen die Köpfe gedreht und spitze Ohren gemacht hatten. Ein Blick von Kleefisch, und sie brü teten wieder unbeteiligt vor sich hin. Siehst du, Kleefisch, damit stoße ich die Witwen an. Und sie reden und reden, über Liebe und ihren Verrat, über Be gehren und Erfüllung, und je länger sie reden, umso jünger und schöner werden sie, Rosenbäckchen plötzlich wieder alle, auch wenn ihnen dabei der letzte Zahn ausfällt und zwischendurch der Schließmuskel versagt und die Heimlei tung schon mit spitzem Bleistift nachrechnet, wann ihr Bett endlich frei wird. Verstehst du, welche Dimension ich damit anpeile? Denn es ist natürlich ein Projekt mit Dimension. Poggenpohl schluckte trocken, zweimal, ein drittes Mal, er hatte sich mit dieser Aussicht etwas aufgeregt. Was denn für eine Dimension? fragte Kleefisch, und fühlte sich nach einer Weile, in der keine Antwort kam, selbst etwas einfach, fast tumb, aber er war nun mal beruflich ans genaue Fragen gewöhnt, fast eingesperrt darin. 231
Ich will dich jetzt nicht überfordern sagte Poggenpohl schließlich. Na ja, deine Frauen sagte Kleefisch bloß, ich such aber nach den Toten in der Kiste. Und nach dem Täter. Diese Kiste sagte Poggenpohl und entdeckte auch an sei ner Martini-Schale eine Verunreinigung. Er wischte sie mit nassem Daumen weg und nahm einen weiteren, winzigen Schluck von einem Getränk, das er nicht mochte, das er aber angemessen hielt für einen Mann, der ein letztes großes Projekt verfolgt, eines mit Dimension. Dann strich er sich mit dem Rücken des Zeigefingers den weißen, noch neuen Schnäuzer, an dessen Spitzen die Haut gerötet und leicht ent zündet war ähnlich wie bei Hemingway, der freilich noch viel stärker unter Bartflechte gelitten hatte. So stark, dass sie ein Grund mehr für seine Abstürze war. Am Ende der Flintenlauf im Mund. So ein Schuss bläst den ganzen Kopf weg und lässt der Totenmaske keine Chance. Wenn Egbert Poggen pohl an Hemingway dachte, vermied er für die Dauer des Denkens und noch eine Stunde danach, in den Spiegel zu sehen: er stellte sich dann ganz ohne Kopf vor und erschrak so über sich, dass er zitterte. Also die Kiste sagte Kleefisch. Hillebrands Schatzkiste. Vor der er sich fürchtet wie ein auf rechter Mann nur den Tod. Seine Lebensaufgabe ist es, aus dieser Kiste die drei Bücher zu machen, Carlos Komplett. Und er weiß genau, dass er sein Idol Carlos damit ruiniert. Denn dieser Carlos war am Schluss ein Versager. Versoffen. Verhurt. Koksabhängig. Geschüttelt von schizophrenen Schüben. Und er hat seinen Stiefbruder Mario immer wieder erpresst. Er hat 232
nichts mehr geschafft. Nicht einmal den Tod dieses Admirals hat er zu organisieren verstanden, der auf seinem weißen La ken doch die ganzen Jahre sowieso schon eine Leiche ist. Und dabei hat er Silvina immer wieder verloren, die er gerade mit dem Tod des Admirals gewinnen wollte. Silvina? Sie war es, die diesen Massera töten wollte. Aber sie konnte es nicht allein. Und schließlich hat es niemand geschafft. Der Kerl liegt ja immer noch auf seinem weißen Laken, zerrüttet vom Schlaganfall. Wenn er wirklich nicht bloß Theater spielt, um endgültig straffrei zu bleiben. Kleefisch stippte nachdenklich einen Finger in die MartiniSchale und leckte ihn ab, eine eigentlich verbotene Erinne rung an alte Tage. Dann trank er sein neues Schweppes-Glas aus, schnell, mit Schlucken wie ein Pferd, und winkte Fiddy nach mehr. Das Trinken würde nie normal werden. Als würde der ganze Fall, an dem ich sitze, in dieser Kiste stecken. Verglichen mit mir bist du eben ein Analphabet. Du hast immer die Schrift unterschätzt. Carlos hat ein großes Werk hinterlassen, da steckt alles drin. Aber dann, plötzlich, war er alle. Er war eben jemand, der nicht zum Mörder taugte. Er taugte bloß dazu, ermordet zu werden. Und Fernando, der mit der Lederhand? Die Kiste, steht alles in der Kiste.
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Um mir das zu sagen, fährst du per Taxi von Münden nach Köln und jetzt wieder zurück? Reine Parallelität. Es ist nämlich so: weil ich jetzt mit die sem Projekt gerade im inneren Aufwind bin, da fühlte ich mich endlich stark genug, dir zu sagen, dass ich dich verraten habe. Du mich? Ich bin damals nicht wegen dieses wirklich sehr leichten Schlag anfalles weggezogen. Ich kannte Carlos, und ich habe geahnt, wie er enden würde. Ich hatte Angst. Und konnte nicht mit dir darüber reden, denn ich wusste, wie du auf diesen Mario Lieberman fixiert bist. Ich bin damals regelrecht abgehauen. Ich hatte Angst, vor allem und jedem, auch vor dir. Ich hätte das merken müssen. Jetzt steht‘s doch 2:0. Aber ich habe dich auch verraten. Du mich? Du hast dich hier immer hungrig über meine Klienten herge macht. Das stank mir. Ich wollte das nicht mehr. Als Erzähler nimmt man, was man kriegen kann. Gute Ge schichten sind nun mal rar. Da habe ich Fiddy gedrängt, dich an die Luft zu setzen. Poggenpohl polierte erst mit der Rechten den Silberknauf sei nes Stockes, fuhr sich dann mit dem Zeigefinger hinter die Brille und rieb sich länger ein Auge. 234
Jetzt steht‘s 2:1 sagte er dann. Wir sind fast quitt. Eigentlich wäre das der Punkt für einen neuen Anfang. Wir haben uns nie gesagt, dass wir eigentlich Freunde sind, oder? Und jetzt, wo du wieder mit deiner Familie umgehst, da wirkt die viel leicht auf dich so beruhigend wie die Kuh, die zum Bullen gestellt wird. Tochter, nicht Familie. Und Andrea ist keine Kuh. Die ist schöner als Paris. Selbstverständlich. Immer schon meine Rede. Also? Und plötzlich wussten beide nicht, was zwei alte Männer wie sie jetzt tunlichst machen sollten. Dann stießen sie mit ihren Gläsern an, mit der Martini-Schale der sehr alte, mit dem Schweppes-Glas der auch schon alte. Beide mit Getränken, die sie nicht wirklich mochten.
16 C 5674 ff o.O., datiert August 2005 Übers. aus d. Guaraní: Th. Hillebrand Endspiel II Die Kranich-Linie, die sich rühmt, eine der besten Fluggesell schaften der Welt zu sein, bucht ihre Langstreckenflüge genau so rücksichtslos über wie die marode Aerolineas Argentinas, und beide zusammen sind in der Hinsicht nicht besser als der Schrottflieger aus Turkmenistan, der mit halbleeren Tanks, ka tastrophalem Übergewicht und betrunkenen Piloten abhebt. Also pumpten wir Latinos uns im Airport Frankfurt/Main mit dieser Empörung voll, die uns längst in den Genen steckt, und machten Krach, als seien wir schon zu Hause. So wurde ich immerhin auf einen Fensterplatz in der Business Class hochge stuft, während Mario Lieberman in den Katakomben der Touris tenklasse verschwand, eingezwängt zwischen zwei brüllenden Kleinkindern wie ein gewaltiger roter Luftballon. Wieder einmal hatte uns der Richter Juan Sanpedro zitiert, der jetzt seit Jahren im Labyrinth der Erbschaftsanfechtung herumirrte: je schlechter es meinem Geburtsland ging, umso mehr Würmer durchpflügten den Friedhof, und überall auf den Zaunpfählen saßen Raben. Selbst aus Landesteilen, die Os valdo nicht einmal im Traum besucht hatte, meldeten sich Kin der, nachtschwarz und mit Kulleraugen die einen, quittengelb und schlitzäugig wieder andere, und wollten von ihm gezeugt worden sein. Immer aufs neue verlangten Anwälte Honorare und Spesen, allen voran die Kanzlei Vicente Batista & Cie. Und 236
immer schmerzhafter bohrte die greise Roswitha Niekisch in Köln-Brück ihrem Sohn Mario diesen einen gichtigen Finger in die Weichen Junge, hol dir endlich diese Insel, dein toter Vater schuldet sie uns! Wir waren beides Getriebene. Hinter ihm stand diese Greisin, die noch immer eine Insel wollte, die Osvaldo nie besessen hat te; hinter mir Silvina, mit der ich wieder schlief. Noch immer war sie ein Kunstwerk und wie aus Porzellan. Ich liebte sie, wenn sie sang: rauh und kehlig, hart und verworfen, dann wieder vol ler Zärtlichkeit für ein Land und seine Menschen, eine Zärtlich keit, die umso schöner war, als sie nach all dem Geschehenen unbegreiflich blieb. Dank Gesangsunterrichtes an der Rheinischen Musikhoch schule war ihre Stimme jetzt voll entwickelt und füllte sich, bald ein randvolles Gefäß, mit der Bitterkeit ihres Lebens und der Schwärze der Nacht und dem Streulicht dessen, was uns an Hoffnung blieb. Wenn dieser Mund, der so herrlich sang, mein Glied umschloss, wenn sie es einspeichelte und küsste und leckte und massierte und ich mich endlich ergoss, wenn ich meinen Samen über ihre Zunge und über ihre Lieder strich wie der Fisch über den Laich, war ich ihr hörig. Ich trank ihre Schei denflüssigkeit, aber ich hätte, auf Verlangen, auch ihren Urin getrunken. Sie war meine einzige Frau, ihr war ich verfallen. Sie war mei ne Vergangenheit und mein Land. Und das, obwohl dieser früh schon ausgeprägte, aber zunächst noch leichte Zug zum Nymphomanentum sehr viel stärker geworden war: inzwischen schlief Silvina mit jedem. Silvina war eine Frau mit uterinem Feuer geworden, kostenlos zu haben für jeden, der ihr gefiel. Zuweilen kam es zu einer hässlichen Szene, wenn ich Reste eines ihrer Liebhaber in der Wohnung am Neusser Wall fand: der Horror einer weißen Männer-Unterhose, hinten der braune
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Reiter, vorne verkleckerte Tropfen, und dann noch halblanges Bein. Da ging ich zum Messerblock in der Küche und wog eines dieser Dinger in der Hand. Ich stellte mir vor, es in Silvinas Brust zu versenken. Der Mörder klopfte in meinem Kopf und wollte raus. Wenn ich mir an die Schläfe griff, konnte ich ihn berühren, haben wir ihn doch alle stets griffbereit. Ich versuchte, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Silvina nicht aus Achtung vor den Männern mit sovielen schlief, sondern aus der Verach tung. Und dass sie auf diese Art, von Verachtung zu Verachtung, zwischen den Auftritten mit ihren Liedern, überlebte. Jedenfalls war ich nie mehr auf Koks oder Alkohol, wenn ich zu ihr ging, und wenn ich nicht schrieb, war ich das oft. Ja, ich hatte mich dem Zeug als neuer Heimat ergeben, ich ging darauf wie auf einem Teppich, denn Köln war mir fremd geblieben und trug mich nicht. Und ich schrieb, um dem Zeug wenigstens phasen weise zu entrinnen. Ein Wettlauf, bei dem mein Atem immer kürzer wurde. Ich sah mir zu, wie ich lief. Einer wie ich sieht sich und den anderen zu. Er singt ein bisschen, dann stürzt er ab. Silvina auch war es, die nach wie vor »El Negro« getötet ha ben wollte. Längere Zeit hatte er uns in Ruhe gelassen. Er war zu lebenslang verurteilt worden; obwohl das für einen wie ihn keine Zelle, sondern goldener Käfig mit Ordonnanz, Swimming Pool und 900 qm Parkfläche drumherum bedeutete: da wurde er gehalten wie ein alter, seltener Hirsch. Dann aber griffen die Wähler in ihrem Verlangen nach Heilung und mit ihrer uralten Enttäuschung und Wut zur stärksten Dro ge, die ihnen geboten wurde, stärker noch als Crack und der ihr eigene Geruch nach Scheiße von schwerem Parfüm über deckt. So spülten sie mit einer Mehrheit von 49% den Spross der syrischen Mafia Carlos Saul Menem mit seinen Koteletten der Hilfskraft eines Spielsalons, seinen Ferraris und seiner Schönheitskönigin in den Präsidentenpalast.
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Es gibt Stimmen, die diesen Zug zum Niederen eines ganzen Kontinentes mit dem Einfluss der stratossphärischen Höhen strömung erklären wollen, mit Erdmagnetismus, interstellarer Strahlung, Sonnenflecken und Sternenstaub; denn Tatsache ist, dass er bereits hoch im Norden regelmäßig Opfer fordert, wo Schauspieler von B-Movies, Alkoholiker, Bodybuilder, Got teskrieger und auf unterschiedliche Art sexuell Abweichende ins Amt gewählt werden. Wir jedenfalls hatten jetzt einen Dro genbaron, Geldwäscher, Waffenschieber in großem Stil nach Kroatien und Ecuador, der selbst seinen eigenen Sohn, der ihm in die Quere kam, über die Klinge springen ließ oder die auf ihn gerichtete Klinge nicht abwehrte. Und er steuerte uns nicht nur zielgerichtet auf einen weiteren Abgrund zu, er küsste »El Negro« auch und wusch ihm die Füße – für wieviel Millionen? – und entschuldete ihn und ließ ihn frei. Und jetzt war es Silvina, die mich mit starrem Finger in die Seiten stieß Töte ihn, du hast es bei unserer Mutter versprochen, töte ihn! hörte ich jedes Mal, wenn ich mit ihr schlief, wie Mario Lieberman bei jedem seiner Besuche in diesem Behelfsbau in Köln-Brück von Roswitha Niekisch hörte Junge, hol dir endlich diese Insel, dein toter Va ter schuldet sie uns! So kamen wir zusammen, mein Halbbruder Mario und ich. Lan ge hatte ich den Kriminaldirektor gemieden, allein sein Beruf war mir suspekt und weckte Erinnerungen an die Policía Fe deral. Auch hatte er einen sehr eigenen, leicht ranzigen Kör pergeruch, den er mit Deospray und Aftershave zu überdecken suchte, und in seinen hellen, fast gelben Augen glaubte ich eine alte Verderbtheit entdeckt zu haben, die ich nie orten konnte: er hatte schnelle, kluge Augen, die immer schon woanders wa ren, bevor ich sie wirklich zu lesen verstand. Aber schließlich waren wir beide Abhängige: er von dieser Roswitha Niekisch und ihrem Finger, ich von einer Liebe, für die ich töten sollte. Wir umkreisten uns, machten Finten und Ausfälle, und als »El Ne gro« erneut angeklagt wurde, dieses Mal wegen Kindsraubes,
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der nicht unter die großzügig gewährte Entschuldung fiel und er, der sich seit langem die Haare schwarz färbte, einen Schlag anfall erlitt oder erfolgreich vorgab, einen erlitten zu haben und auf seinem weißen Laken in der Wohnung in Palermo Chico vor sich hindämmerte, da behauptete ich, ihn und diese Woh nung und seine weißen Laken viel genauer zu kennen, als ich es wirklich tat. Und Mario Lieberman gab vor, mit seinen Fachkenntnissen aus der Kölner Abteilung von Mord & Co. viel selbstloser sein zu wollen, als er es war; denn ich wusste, ich würde für alles zahlen müssen. So saßen wir endlich in einem Boot und ruderten im Takt. Gefangene waren wir beide. Und wenn ich es genau betrachtete, war ich noch zusätzlich sein Gefangener, denn ich hatte mich ihm offenbart. Der Passagier im Sessel neben mir, mittleres Alter, schütteres Haar, brauner Anzug, ein paar aus der Nase ragende Härchen, hatte sich bislang mit einem sehr kleinen Laptop beschäftigt, dessen Monitor er mit der Hand abschirmte. Ich tippte auf ei nen Porno. Aber dann sah ich es doch: Zahlen, Kurse, Tabellen, aha, der Mann geht mit Geld um, das ihm nicht gehört. Und schon klappte er die Kiste zu. Holte aus einem Täschchen erst ein Nasenspray gegen die trockene Kabinenluft tschitty tschitty rein damit, dann Augentropfen gegen den in der Kabine erhöh ten Druck, dann zwei Pillen, die er mit dem Schluck aus einem silbernen Flachmann nahm, dann eine Augenbinde, die er sich auf dem Knie zurechtlegte – wirklich, dieser unauffällige, sich für die Nacht rüstende Mann saß öfter hier, als er neben seiner Frau im Ehebett lag. Heuschrecke? Wie? Sie sind also eine der gefürchteten Heuschrecken.
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Nehmen Sie lieber auch einen Schluck. Ist guter Stoff aus Irland. Er goss vorsichtig die silberne Kappe voll und gab sie mir. Die Rechte zitterte mir noch von gestern, ich stützte sie mit der Lin ken. Der Stoff war wirklich gut. Schuldenberater sagte er. Übrigens haben Sie schon über Pa ris angefangen zu schnarchen. Die trockene Luft sagte ich. Was gibt’s denn bei uns noch zu beraten? Na ja sagte er und goss sich die Kappe vorsichtig voll trotz einer Turbulenz, die vorn in der Küche ein paar Teller scheppern ließ, es stimmt schon, ihr seid ziemlich beratungsresistent, und zu ho len ist nicht mehr viel. Inzwischen gehört uns fast alles. Den Rest haben sich die Spanier geschnappt: Öl und Erdgas, das Telefon, den Strom, die Banken, Aerolineas Argentinas. Wer jetzt bei euch noch Geld hat, der kauft bei uns die Schulden auf, die er selbst hat. Die anderen leben wie Lehnsbauern: säen aus und bringen die Ernte ein, die ihnen sofort weggenommen wird. Dieser irische Stoff ist wirklich gut sagte ich. Destilliert mein Schwager in Irland, eine kleine, aber sehr feine Anlage. Liebt nur leider ein bisschen zu sehr seinen eigenen Stoff. Jetzt ist die Leber hin. Ach je sagte ich und nahm einen weiteren Schluck. Also Beratung. Ohne zynisch sein zu wollen: ich berate ein Ministerium, wie man trotz der Schulden noch den Anschein erweckt, handlungsfähig zu sein. Obwohl man es natürlich überhaupt nicht mehr ist.
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Natürlich sagte ich, als hätte ich die Materie genauso durch schaut wie er. Nehmen Sie ruhig noch einen, ich hab noch mehr. Später. Meine Frau mit ihrem großen Herzen liegt mir ewig in den Oh ren: berate lieber die Kleinen, die mit eingefallenen Wangen vor den Banken stehen und an den Gittern rütteln. Das hat sie näm lich im Börsentipp von RTL gesehn. Und, tun Sie‘s? Würde mich meinen Job kosten. Und es ist aussichtslos. Denn noch immer denken die, der Kreislauf der Finanzen bestehe aus dem Austausch von Koury-Muscheln. Koury-Muscheln? Wissen Sie nicht, dass früher in Afrika und in großen Teilen Asi ens alles mit Koury-Muscheln verrechnet wurde? Ich schreibe. Ich gucke mehr nach innen. Ihrer Hand nach zu urteilen, müssen Sie da fürchterliche Din ge sehen sagte er. Dieser bisher eher unauffällige Mann hatte doch die Zähne eines Frettchens. Es ist ja so: Die haben alle noch nicht begriffen, dass Wäh rungen nichts als ein Versprechen sind. Dass Gelder elektro nisch bewegt werden. Deswegen rütteln die an den Gittern: die wollen ihre Koury-Muscheln wieder haben. Und deswegen neulich, bei der großen Pleite, auch die Legende, zwanzig Last wagen seien nach Ezeiza gefahren und per Luftcharter seien
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dort alle ihre Ersparnisse außer Landes geflogen worden. Am Tag darauf waren sie schon bei 360 Lastwagen, stellen Sie sich mal diese lange Schlange vor. Es sind eben noch Vorstellun gen aus der Steinzeit, was soll ich da beraten? Mario Lieberman ließ sich in diesem zerschlagenen, schwarz gelben Peugeot-Taxi sehr vorsichtig auf den Rücksitz fallen, aber saß auch schon auf der Achse. Die Gänge krachten, die Lenkung hatte Spiel, und der Fahrer pumpte mehrmals mit dem Bremspedal, als wir von der Autobahn in die 9 de Julio einbo gen, wo sich schon weit vor dem Obelisken das Blech staute. Es gab genug davon, meist kaputte Schlitten, und ich fühlte mich in einem alten Film, der gleich reißen würde. Unsere Wagen sind alle zwanzig Jahre und drüber sagte der Fahrer, als er endlich stand. Ford: dicht gemacht und mit der Krise abgehauen. Chevrolet: abgehauen. Sind alle abgehauen. Aber sehen Sie sich diese Menschen da an: gerade haben sie alles bei den Banken verloren, und schon gehen sie wieder rein. Die haben kein Gedächtnis, nichts. Es war ein älterer Mann mit großem, länglichem Schädel, auf dem kreuz und quer ein paar Haare lagen wie verschüttetes Stroh. Er sprach dieses einst gepflegte, dann versunkene und verwilderte Deutsch seiner Eltern, deren Gräber er zuweilen besuchte. Und schon sagte er auch: Mein Vater hat mir immer von Hamburg vorgeschwärmt. Der große Hafen. Aber selbst bin ich nie rausgekommen. Er war eindeutig einer von uns, und ich war in einem ganz alten Film. Mario L. neben mir schlief schon wieder. Beim Ausatmen wölbte sich regelmäßig die Unterlippe vor und ließ mit einem
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kleinen Plop die Luft ab. Irgendetwas war undicht an dem Mann. Und er gehörte zu jenen, die auf Knopfdruck schlafen können. Wie »El Negro« früher. Ich stellte mir vor, wie seine Mutter, die vergreiste Roswitha Niekisch, auf dem Totenbett zu ihm sagte Schlaf Bübchen, schlaf! und er überzeugte sich noch einmal, dass seine Dienstwaffe gesichert war, dann schlief er auf seinem Stuhl neben der Sterbenden in KölnBrück ein. Der Fahrer wurde unruhig und drehte mehrmals seinen gro ßen, länglichen Kopf. Es war der Kopf eines Gnus. Wirklich, der Mann sah aus wie ein stilles, gutmütiges Gnu. Dicht links von uns schob sich langsam ein Wagen mit zwei groß en, auf der Ablage montierten Lautsprechern vorbei, aus denen Afrobeat dröhnte. Die Bässe schlugen ein wie Granaten. Auch das war eine alte Mühle mit fleckigem und zerkratztem Lack, der einst Schokobraun gewesen sein mochte. Ich erschrak. Ich rollte die Zehen in den Schuhen ein, als ich hinten, unter dem Kofferraumdeckel, den zur Hälfte abgefallenen Schriftzug sah: ein Ford Falcon 6 Zylinder, wie ihn die Eingreiftrupps mit Vorlie be gefahren und Fernando sie ihnen in den guten Stadtteilen besorgt hatte, ihnen und den Offizieren und deren Geliebten weiblichen und männlichen Geschlechts; wie er sie hatte um spritzen und warten und auftanken und waschen und von den üblichen Verunreinigungen solcher Nutzung hatte säubern lassen, als da sind: Blutspritzer und Erbrochenes; Kot natürlich und gelegentlich auch Hirnmasse; und nur selten ein paar Sa menflecke oder ein kleiner, verlorener Slip, rotweiß gepunktet oder himbeerfarben, der hier von einer etwas befremdlichen Art von Zärtlichkeit kündete. Ein schöner Tag heute. Uns fehlt nur die Frau rief der Beifahrer, ein Junge, ärmellos und tätowiert.
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Nimm die Hand. Wir sind zur Zeit alle arm dran rief der Fahrer und zog zwei Wagenlängen auf den Obelisken vor. *** Hier also lag er auf seinem weißen Laken: »El Negro«, Kampf name Cero. Er sah zur Decke. Der italienische Psychiater Tatarelli bewegte den Zeigefinger vor seinen Augen, sie folgten ihm mit Verzö gerung. Er richtete sie auf mich, auf den Übersetzer und auf den Forensiker dann, die uns der Richter Montenegro beige ordnet hatte, weil sich die Angehörigen zunächst über Wochen diesem Besuch verweigerten. Tatarelli sollte mit dem Versuch eines kleinen Gespräches überprüfen, ob dieser jetzt 81jährige Mann tatsächlich, wie die argentinische Justiz behauptete, nicht in der Lage war, sich vor einem römischen Gericht wegen des Verschwindenlassens und der mutmaßlichen Ermordung der italienischen Staatsangehörigen Angela Aletta, Giovanni und Susana Pegoraro zu verantworten. Mario Lieberman hatte diese Möglichkeit für mich aufgetan. Und ich hatte mich in der Wohnung in Palermo Chico als ein »Bekehrter« vorgestellt, dem Admiral zu Dank verpflichtet. Ich hatte von einer kleinen Spinne berichtet, die wir Tag für Tag gemeinsam bei ihrer Arbeit beobachteten. Ich hatte das Leben der kleinen Spinne sehr viel länger gemacht, als es gewesen war. Sie hatten mir zugehört wie einem, der von hellen, fast glücklichen Tagen erzählt. Und so wollten sie auch den Kran kengymnasten akzeptieren, den ich ihnen vorschlug: Eduardo Zamora, tatsächlich ein einfacher Masseur aus der Boxszene und früher selbst aktives Halbschwergewicht. Er beherrschte noch immer den tödlichen Schlag, der die Halswirbel knacken lässt. Ihm hatten Fernando und ich bereits eine erste Rate da für bezahlt, dass er »El Negro« tötete. Eduardo war in solchen
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Nebentätigkeiten erfahren, er hatte kleine, gebrauchte Dollarscheine verlangt, die wir ihm in einem Verbandsköfferchen des Roten Kreuzes lieferten. Tatarelli versuchte ein einfaches Gespräch in Gang zu setzen, vergeblich. »El Negro« sah wieder von einem zum anderen. Es war nicht zu erkennen, als was er uns wahrnahm, dann blieben die Augen auf die Wand fixiert, an der eine Stubenfliege saß. Ich wusste, »El Negro« hat es mit Kleinlebewesen. Es war die grüne Zikade, die alles entschied. Plötzlich war sie wieder da, ich kriegte sie nicht mehr aus dem Kopf. Ich war, noch ganz ohne Zähne, wieder die erste Nacht in unserem Haus in San Telmo. Ich wurde von Klopfgeräuschen wach. Ich versuchte, ein Messer in der Hand, die Geräusche im Haus zu orten. Als ich endlich zwischen Fenster und hölzerner Jalou sie die große, grüne Zikade entdeckte, griff ich sie, betrachtete ihre hässlichen, vorgewölbten Augen, versuchte zu ergründen, als was sie mich wahrnahmen, kam nicht dahinter, und brach, während mir das Herz bis zum Hals schlug, ihren trockenen Körper mittendurch wie ein Stück Holz. Es war, mit Ausnahme von erschlagenen Mücken und ein paar zerquetschter Wanzen, das einzige Lebewesen, das ich je getötet habe. Und hier war sie jetzt wieder. In meinem Kopf und auf dem weißen Laken vor mir. Aber ich war ein anderer als damals, in dieser ersten Nacht in dem Haus in San Telmo. Ich hatte neue Zähne. Ich führte ein anderes Leben jenseits des Meeres. Ich war kein Gefangener mehr. Und der Mann auf dem weißen La ken vor mir war nicht mehr »El Negro«. Es war einer, der ein mal »El Negro« gewesen war. Es war ein Greis, der einen Berg von Leichen zu verantworten hatte und der jetzt auf eine Wand starrte, an der eine Stubenfliege saß. Wenn ich ihn töten ließe, dann bliebe ich sein Gefangener. Und da ging ich. Grußlos und als Versager, aber als fast freier Mann.
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Links von der Tür stand ein kleines Bücherregal. Aus alter Ge wohnheit überflog ich ein paar Titel. Ein Buch stand vor und quer, es verdeckte ein halbvolles Glas. Ich griff danach und roch daran. So wie ich zur Zeit trainiert war, wusste ich sofort: Gin. Guter Stoff. »El Negro« hatte nie Dreck getrunken. *** Wenn Pater Beltrani noch mitteilsam gewesen wäre, dann hätte ich von ihm gehört Der Herr ist Dir noch rechtzeitig in den Arm gefallen, mein Junge oder wenigstens kurz und bündig, wie er nun einmal war Bete, mein Sohn, es war der Herr. Aber der Pater hatte ja nichts mehr zu sagen. So blieb ich allein mit der Katastrophe, versagt zu haben und nichts als ein schwacher, guter Mensch zu sein. Silvina machte wieder dicht, ich durfte sie nicht einmal mehr be rühren. Bei ihr fehlten mir alle Argumente, denn sie war die ein zige, der ich vom Gin erzählt hatte. Und messerscharf schloss sie aus diesem hinter einem Buch versteckten Glas, dass »El Negro« den Dämmerzustand eines Greises, in dessen Schä del Nebel wallen, nur vortäuschte, denn wenn der immer noch saufen kann, dann ist der wenigstens zeitweise klar im Kopf. Mario Lieberman nahm alles mit großer Gelassenheit auf. Ich wunderte mich, bis in Köln dieser Eduardo Zamora vor meiner Tür stand und noch einmal Kasse machen wollte, bevor er zu rückflog. Der hatte gerade im Auftrag von Mario L., der sich da von eine ruckartige Beschleunigung seiner Karriere versprach, in der Parkanlage Ebertplatz eine junge Türkin ins Genick ge schlagen und kurz darauf in einer Grünanlage der Inneren Kanal straße eine Marokkanerin, sodass mehr und mehr aufgebrachte Muslime ins sonst doch ruhige, gelassene, ja auf angenehme Art schläfrige Köln geströmt waren und Mario L. reichlich aufzu klären hatte. Für ihn war der Tod der beiden jungen Frauen ein
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gut gedüngtes Frühbeet. Da wusste ich, zu was er mich miss braucht hatte und dass ich sein Gefangener blieb. Aber dank des Besuches dieses früheren Halbschwergewichtlers war er auch meiner. Noch immer ruderten wir im selben Boot, angeket tet jetzt beide. Die Galeere der Stiefbrüder. Fernando, der sich bei unserem fehlgeschlagenen Projekt um die Finanzen gekümmert hatte, verfiel zunächst in eine wei tere seiner Depressionen. Die suchten ihn seit dem Untergang des Kreuzers »Belgrano« heim, bei dem ihm die rechte Hand zerquetscht worden war. Seitdem beschäftigte ihn die Marine in einem Archiv, in dem er immer wieder Schiffsmeldungen zu sortieren hatte, die längst von Mäusen zerfressen waren. Zu weilen aber stieß er hier auf Blätter, die ihn aufheiterten. Dann rief er mich an und erzählte mir von Geisterschiffen und Piraten und allen jenen seefahrenden, räuberischen Nationen, die sich insgeheim, verschlungen von Nebel und Nacht, bedroht von Treibeis, Spähersatelliten und dem ewigen Huhn in Aspik aus der Kombüse, um die Unterwasserschätze der Antarktis balgen, während ihre Botschafter im hellen Licht New Yorks vorgeben, einvernehmlich das eine und andere grundlegende Problem der Menschheit lösen zu wollen, beispielsweise das des Hungers. Dabei lachte Fernando sogar am Telefon. Er, der aus Neigung und Schulung so Brave, zeigte noch einmal etwas von jener Aufmüpfigkeit, mit der wir einst zusammen im Chevrolet hatten abhauen und unser eigenes Land und uns selbst erkunden wol len. Ich nutzte das, um ihm zu sagen die nächste Depri vermei dest du nur, wenn du vorher die Sau rauslässt, so etwas oder etwas dieser Art sagte ich ihm, oder ich sagte du siehst doch, was der Gehorsam dem Roberto gebracht hat. Da war nicht bloß sein Mercedes mit Auflieger und Kran weg, da war er auch sein Leben los! Aber damit war ich auf einen ganz empfind lichen Zahn gestoßen. Und ich begriff, dass Fernando diesen Roberto, an dem wirklich wenig bis nichts Liebenswertes war
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– ein Knecht, der Herr sein wollte - trotz allem geliebt hatte. Viel leicht aber liebte Fernando auch bloß aus Anstand und bildete sich die Liebe nur ein. Dann schlitterte Fernando der Brave doch in eine mittlere Katastrophe, wie sie sich zu dieser Zeit nur in Buenos Aires ereignen konnte. Er geriet an einen jungen Journalisten. Und Fernando gab lange nicht alles, aber doch genug von dem preis, was er in der ESMA erlebt hatte, dorthin für drei Mo nate abkommandiert im Zuge eines Rotationsverfahrens, mit dem die Marine bestrebt war, möglichst viele ihrer Mitglieder in den Schmutz einzubinden. Fernando erzählte nicht von Fol ter und Mord, nicht von Verstümmelung und Picana, nicht von den Schwangeren, die unmittelbar nach der Entbindung getö tet wurden: Fernando erzählte dem Journalisten, der für drei dieser kleinen, fast in Hühnerställen betriebenen Radios in der Provinz in Mendoza und Tucuman arbeitete, von den Stadt teilen und Straßen, in denen er Ford Falcons aufspürte und rauben ließ; vom Handel mit Elektrogeräten, Schmuckstücken, doppelt geschliffenen Brillen deutscher Produktion, von einzel nen Bibliotheken, Grundstücken und Wohnungen. Fernando erzählte vom alltäglichen Leben im Schmutz der ESMA, es waren auch Küchengerüchte und Latrinensprüche dabei. Und schließlich, weil dieser junge Journalist aus der Provinz, Men doza und Tucuman, zuzuhören und ihn zu ermuntern verstand, und weil Fernando gerade an diesem Tag so einen Mann brauchte, erzählte er auch, wie er am Ende die Verlegung von 15 Gefangenen zu beaufsichtigen hatte. Gefesselt und mit Ka puzen, bereits sediert, wurden sie auf einen Lastwagen ver laden, der sie zum Militärflugplatz fuhr. Von dort würden sie an diesem Mittwoch mit einer Fokker abheben und über dem Meer abgeworfen werden, denn Mittwoch war Abwurftag. Und da, und dieser junge Journalist fragte so behutsam und verständig nach, ganz ungewöhnlich verständig für sein Alter,
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da vor dem Lastwagen, da hatte Fernando sich eingenässt. Er gab jetzt sogar Details preis, die er die ganzen Jahre vor sich selbst versucht hatte zu verstecken. Er sagte diesem jungen Mann, und der sendete es in Mendoza und Tucuman in seinen kleinen, fast im Hühnerstall betriebenen Radios ich habe leider ein ungehörig großes, mich sehr belastendes Geschlechtsor gan, und auch meine Blase ist größer als normal. Die ganze Hose war nass, es lief mir aus einem Bein. Ich war ein Mari neoffizier, der sich vor den Gefangenen einpinkelt. Ich war Te niente de Corbeta und lief regelrecht aus. Es gab nichts mehr zu verstecken, die Pfütze neben meinem linken Schuh, und ich wusste, ich bin erledigt. Ich brauche eine Kugel, das ist alles, was ich noch brauche: eine Kugel. Warum schießt mir denn jetzt keiner eine Kugel in den Kopf! Fernandos Geschichte sprang aus den Hühnerställen der Provinz nach Buenos Aires über. TV und Zeitungen suchten ihn, aber da war er bereits abgetaucht: die Marine hatte alles dementiert und ihn wegen Verleumdung ausgestoßen. Er war seinen Rang los, er hatte das verloren, was er noch immer unerschütterlich die Ehre nannte, und seine Altersversorgung war futsch. Eine Weile versteckte er sich in einem Zimmer des 6. Stockes von Susimil, die gerade mit dem Gedanken spielte, aus Altersgründen ihren Betrieb zu verkaufen und mir ihr Le ben zu erzählen von den ersten Nächten mit dem gelegentlich durchaus zärtlichen Meyer Lansky in Havanna bis heute, dann wartete er die letzten Windböen in Misiones ab. Als sich alle Turbulenzen verflacht zu haben schienen, trat er nachts aus einem Kino der Corrientes und wurde von drei Ty pen zusammengeschlagen. Sie brachen ihm den Kiefer und drei Rippen, jeder eine, die mussten das geübt haben. Und sie quetschten ihm die Eier, sodass eine Notoperation fällig wurde und Fernando seitdem ein Mann ohne Eier ist.
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Da er gut deutsch spricht, ja es auf Verlangen selbst noch mit der rheinischen Tönung seines Ziehvaters färben kann, was nun wirklich jedem Satz die Bedeutungsschwere nimmt und ihn hier zu einem idealen Händler macht, konnte ich ihn überreden, übers Meer zu kommen. Jetzt hat er am Rand des Hamburger Hafens eine aufgegebene Tankstelle gepachtet. Er kauft klei ne, gebrauchte Schiffsmotoren an, die er nach Argentinien ver frachtet. Manchmal gelingt es ihm, einen einwandigen Tanker aufzukaufen oder einen durchgerosteten Frachter, einen Kut ter oder ein Küstenmotorschiff, die er verschrotten lässt. Das ist mein Halbbruder Fernando Wurtler, Sohn Osvaldos und Susimils, mein Freund. Fernando, der durch Erziehung und Schulung Brave, der schon kurz nach der Geburt mit seinem Versprechen eines prächtigen Geweihs auffiel, sodass die Männer anerkennend mit den Zungen schnalzten und selbst reife Frauen kicherten und vom lauen Badewasser zu träumen begannen; Fernando, dem dieses Geweih freilich immer alle Hoffnungen auf Ehe und Familie, auf Kinder- und Enkelsegen zerschlug. Ich blieb aus Überzeugung allein, mein Freund Fer nando aber aus Not. *** Nach dem Anschlag auf ihn musste keiner Susimil sagen, dass eine Mutter immer alles für ihren Sohn tut. Sie wehrte sich gegen die Marine mit dem, was sie über ei nen Teil ihrer Offiziere wusste, und das tat sie mit ihrem schon immer losen Mundwerk. In der Stadt begannen Geschichten zu kreisen, verdichteten sich zu kleinen Lawinen aus Schlamm und Geröll, und mit ihrem Abgang ins Tal wurden aus den eben noch Helden der Seestreitkräfte, die vor den Malvinen bloß ei nen strategischen Rückzug vor der die gesamte Menschheit gefährdenden Atomtechnik der Margaret Thatcher gemacht hatten, ein ganzer Offiziersjahrgang von Perverslingen. Susimil
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nannte nach und nach Namen und sexuelle Gepflogenheiten, die selbst mir, der ich mich doch im Angebot des 5. und 6. Stockwerkes der Calle Libertad auskannte, ausgesprochen erwähnenswert erschienen. Es musste mal gesagt werden. Und Susimil, aufgebracht wie nie, sagte rücksichtslos alles. Sie nannte Namen und Ränge, sie schilderte Sex mit Hunden und Meerkatzen und immer wieder Szenen eines Sexspiels, das unsere Verteidiger des christlichen Abendlandes in Naziuni formen genossen hatten. Sie trat immer wieder neue kleine Lawinen aus Schlamm und Geröll los, die donnernd zu Tal gingen, bis im Empfangszimmer des 5. Stockwerkes der Calle Libertad eine Bombe explodierte und ihr ganzer Betrieb ausbrannte. Leicht verletzt wurden da bei mit Splitterwunden die Peruanerin Luz Villegas, genannt Pfauenauge, und die Domina Estela aus San Salvador. Susi mil selbst war zunächst verschüttet worden durch eine herab brechende Zwischendecke. Seitdem war sie gelähmt, auf Rollstuhl und Betreuung angewiesen. Ich traf sie erst wieder, als der Richter Juan Sanpedro einen letzten Versuch machte, die Scherben der Erschaftsanfechtungen zusammenzukehren und feststellte, dass so gut wie nichts mehr übriggeblieben war, ja dass Gebühren und Spesen, Honorare, kulturell und klima tisch bedingter Schwund und der eine und andere Zahn der Justiz selbst in allem geschlemmt hatten wie die Würmer im Kadaver. Es stimmt schon, eigentlich hatte ich dir meine Geschichte ver sprochen sagte sie in ihrem einfachen, handbetriebenen Roll stuhl im Essraum dieses Pflegeheimes in Palermo Hollywood, in dem gerade mit viel Geklapper die Reste einer Kaffeetafel abgeräumt wurden. Sie zupfte eine rotblau karierte Decke zu recht, um ihre Spinnenbeine zu verbergen. Am linken Bein, ein Hanfstengel inzwischen, nicht mehr, war der milchige Strumpf gerutscht und kringelte sich auf dem Knöchel.
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Ich wollte dir alles erzählen. Vom Malecón in La Habana, ach herrjeh diese herrlichen Wellen, von meinen Nächten im Hilton mit Meyer Lansky, diesem anfänglich so großzügigen Liebha ber und dann so bösartigen Schwein, bis zu diesem großen Knall hier in der Libertad. Aber dann habe ich sie getroffen. Sie zeigte auf eine Frau, die am Tisch saß und geschrieben hatte und jetzt aufstand. Es war eine Gaby Weber. Ich erinnerte mich an diese unglücklich verlaufene Geschichte im Funkhaus in Köln, die Bombendrohung und Evakuierung, den Akkordeon spieler auf dem Wallraffplatz, dem die Zunge rausgeschnitten worden war und den ich leider nie mehr aufgespürt hatte. Tut mir leid für dich, aber sie hat sich anders entschieden sagte sie. Dabei lächelte sie etwas, aber nicht viel. Sie war wohl eine Frau, die nicht viel lächeln konnte. Sie sah aus wie eine dieser kleinen Rammen, mit denen unter explosionsartigem, rhyth mischen Krach beim Straßenbau der Boden verdichtet wird: ein harter Kopf, in dem es zündet und sprüht, und nach unten wird es zunehmend kompakter. Nicht liebloser, nein, das nicht, aber eben kompakter. Mir auch sagte ich, gute Geschichten sind rar. Und mir kommt es gelegen sagte sie. Mit dieser Mercedes-Ge schichte bin ich bei euch verbrannt. Keiner will mehr was von mir. Was soll ich machen, in meinem Alter schon in Rente gehen? Ja sagte ich, ist schon gut. Sie waren zu zweit. Zwei Frauen. Da gab es für mich nichts mehr zu sagen.
17 Noch immer war Kleefisch auf Schüsse dressiert wie ein Jagdhund. Um 22:07 Uhr schreckte er von dem kleinen Sofa auf, das in seinem Büro unter dem Fenster zur Neusser Straße stand. Er fluchte, wischte sich mit dem Handrücken etwas Rotz weg, der ihm im Schlaf aus der Nase gelaufen war, fuhr sich durch die Haare und hörte, wie der Kerl mit seiner alten, selbst zu sammengebastelten Harley Davidson langsam, aber mit der Gewalt eines abschwellenden Gewitters über Arizona oder den texanischen Rinderweiden in Richtung Agneskirche fuhr. Wellen, die abebbten. Jetzt musste er schon hinter der Kreuzung Innere Kanalstraße sein und würde noch eine ki lometerlange Spur durch die Nacht ziehen. Das war ein über 75jähriger Rentner, der sich spätabends in die Kampfmontur eines belgischen Fallschirmjägers zwängte, sich einen Helm der Nationalen Volksarmee der DDR unter dem Kinn festzurrte und langsam, aber mit dem Donnerge töse eines apokalyptischen Rächers durchs Viertel kurvte. Zu reden war mit dem Mann nicht. Er lebte allein, hinten raus in der Balthasarstraße, mit einem alten, von der Staupe ge plagten Schäferhund und einem Aquarium voller friedlicher Guppys und Mollies. Er sprach nicht, ging mit niemandem um, eine stille Hypothek des Viertels. Einer, der nur dann und wann diese eine Fehlzündung verursachte und diese eine Spur durch die Nacht zog wie andere eine Blutspur. Dann versank er wieder still in sich wie ein Baumstumpf oder eine Stinkmorchel im Wald. 254
Die Tochter Andrea saß blass, mit offenem, verwirbelten Haar und im roten Slip neben der Kiste und las. Die Mutter hatte mit diesem Unsinn angefangen, die Tochter machte es nach: häusliche Bequemlichkeit hieß, sich in Unterhosen in der Wohnung bewegen. Kleefisch hatte das nie verstanden. Als der Hintern seiner Frau absank und immer trauriger wur de, hatte er allen Geschmack an Unterhosen verloren. Wenn er sich beklagte, fielen gleich zwei Frauen über ihn her und machten ihn mit Wo soll ich denn sonst, wenn nicht hier die eine und Paps, du bist ja so schrecklich rückständig die ande re zu diesem Imam drei Reihenhäuser weiter, der, Pistazien kerne knackend und von Pfefferminztee umweht, mit seinem schrecklichen Zeigefinger Frau und zwei Töchter im Staub von Erbsen und Linsen und der Klebrigkeit von getrockneten Datteln gefangen hielt und von dem Kleefisch stets argwöhn te, dass ihn doch die Dämonen quälen: im Speicherraum der Moschee, wo die Motten in Teppichresten schlemmen, die Mäuse sich von gestapeltem altarabischen Druckwerk nähren und dessen blindes Fenster nach Westen weist, dorthin, wo die neue Müllverbrennungsanlage steht – dort schütteln ihn die Dämonen so, dass er mit seinem schrecklichen Finger im mer wieder an den Schenkeln der dreizehnjährigen Schön heiten aus Anatolien entlangfährt und ihn schließlich in ihren Mustöpfchen versenkt. Schon gut, ich zieh mich gleich wieder an. Aber den ganzen Tag dieses enge Leder, das geht nicht. Dann kauf doch nicht solchen Scheiß. Ich hab jetzt fast alles über diesen Fernando zusammen. Den hat Carlos wirklich geliebt. Den und diesen Pater Beltrani.
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Weil der eine so schwach ist und weil sie den anderen haben verschwinden lassen sagt Kleefisch. Dieser Carlos war wirk lich ein Rohr im Wind. Wie mein Freund Poggenpohl. Die verstanden sich nicht umsonst so gut. Kleefisch hat wirklich Freund gesagt. Er stockt, geht schnell zum neuen Hausfunk, um Kaffee zu bestellen. Jetzt hat er das Gefühl, vor dieser Tochter im Slip ein Eigentor geschossen zu haben. Es ist wirklich schwierig: kaum sind diese Kinder erwachsen, wissen sie auch schon alles über die Väter. Und dann kacken sie ihnen auf den Kopf, genau dorthin, wo die kahle Stelle droht. Der Hausfunk blinkt nicht, er ist tot. Elektronisch betrach tet und niederfrequenztechnisch gesprochen ist dieser Fiddy noch immer ein Idiot. Kein Wunder, dass er diese ganzen Philippinas verloren hat, an denen er auch immer rumbastelte wie an Spielzeug. Und Kleefisch geht nach unten. Und trifft als erstes auf Rainer D., den früheren Schiffsführer. Der mit einer bescheidenen Ladung Marihuana auf dem Rhein unter wegs war, die in Basel mit Schweizer Schokolade verbacken werden sollte. Das machte aus ihm einen Häftling im moder nen Betonsilo von Köln-Ossendorf und später im alten Back steinbau von Werl. Dieses Werl, das hat ihn mitgenommen. Im Zuge einer Meuterei wurde ein Wärter erstochen. Alle Freizeitangebote waren ein Jahr lang gestrichen. Freitagmittag wurde eingeschlossen und fertig, bis Montagfrüh das Leben in der Dose. Jetzt hat er eine lichte Zweizimmer-Wohnung im Viertel und kann von der Küche aus ein Stück Himmel sehen. Und er hat drei Mädchen am Eigelstein laufen, von denen eine, genannt Monalisa, noch genauso summt, wie sie es in Kal kutta getan hat, wo die Lockrufe der Huren nachts als schö ne, wiewohl selbst elende, aber von den offenen Kochstellen 256
von unten angestrahlte Wolke aufsteigen und übers Elend der ganzen Stadt treiben, in der sich bis heute jeder fragt, wo ei gentlich Mutter Teresa ihr ganzes Geld gebunkert hat. Ich komm mit sagt oben Andrea, als sie hört, dass Kleefischens Rat im Hotel Flamingo wegen eines schwierigen Kunden ge fragt ist, der rechts eine Lederhand hat und zwischen den Bei nen eine gewaltige Apparatur. Dieser Freier, stark angetrunken, hat randaliert, weil Mona lisa sich sein Kaliber nicht antun wollte. Sie haben ihn mit einem Gläschen Likör nach altem Bauernrezept beruhigt, jetzt schläft er tief. Aber natürlich wollen sie nicht, dass die Streife kommt. Allein im früheren Zimmer von Carlos, dem Zimmer Nr. 6, würde noch jeder Drogenhund freudig an schlagen, und die Steuerfahndung, die, bedrohlich genug, eigentlich gleich um die Ecke an der Kette liegt, tut keinem Hotel dieser Art gut. Du bleibst hier, das ist dienstlich sagt Kleefisch. Du hast keinen Dienst mehr. Und gelesen habe ich sagt Andrea und schließt auch schon den Reißverschluss dieser schwarzen Lederhose, die Kleefisch immer für die Pelle einer Blutwurst hält. Er greift nach seiner Waffe im Schreibtisch, einer Glock 3, und erwartet den nächsten Streit. Aber dieses Mal erledigt die Tochter das mit den Augen. Mit einem Blick. Sie hat wirklich schöne, dunkle Augen. Erst im Hotel Flamingo streiten sie wieder, dieses Mädchen hat eben keine Ahnung, zu was so ein enttäuschter Freier 257
fähig ist. Aber hier hat sie sofort diesen Inder auf ihrer Seite, der für die Nachtschicht eingeteilt ist, ein Mann im langen, bestickten Hemd und ölig wie eine eingelegte Aubergine. Rainer D. dagegen hält sich aus allem raus. Der hat selbst eine Tochter, die irgendwo abgetaucht ist, der ist ein gebrannter Mann. Und so sitzt Kleefisch jetzt wie sein eigener Assistent auf einem unbequemen Holzstuhl vor der Tür von Zimmer Nr. 11 im 2. Stock dieses Flamingo, das Hersh Liebermann einst in der Wüste des Friedens aus bereits einmal vermau erten Ziegelsteinen errichten und erst später aufstocken ließ. Damals war alles einfach: pünktlich zur Schlüsselübergabe erklärten sich die Bauherren für ruiniert und zahlungsunfä hig. Der Wiederaufbau war eben in jeder Hinsicht und hun dertprozentig eine Sache der Handarbeiter. Kleefisch ist angespannt, die Ohren spitz wie Waldi. Frü her hätte er in dieser Lage zum Flachmann gegriffen. Einen Augenblick ist er versucht, diesem öligen Inder, der ihn von der Treppe aus beobachtet, einen Wink zu geben Mein Gott, dieser ganze Süden Indiens muss in Öl gebadet sein, Räu cherstäbchen und Ratten und Öl und diese hirnlos lächelnde Demut von Hunger und Heiligkeit, aber dann lässt er es, er ist doch ein gutes Stück weiter gekommen mit sich selbst. Au ßerdem hat er den Verdacht, dass jeder einzelne Inder immer schon weiter war als wir alle hier zusammen. Endlich hört er Gemurmel, die beiden da drin reden. Um 23:43 Uhr reden die immer noch. Da hält er es nicht mehr aus und öffnet vorsichtig die Tür. Dieser Fernando sitzt aufrecht im Bett, schwarze Kraushaare, ein längliches, etwas verquollenes Gesicht, das morgen wieder ein schönes Gesicht sein mag, Andrea sitzt auf der Bettkante, dreht sich zur Tür um und scheucht ihn weg wie eine Fliege. Nichts zu 258
machen, das hier ist ihre Partie. Und wieder sitzt er auf dem harten Stuhl und beobachtet den Inder, der jetzt nur noch ge legentlich auf der Treppe erscheint. Pass mal auf, dass du auf deinem ganzen Öl nicht ausrutscht, dir auf der Treppe das Genick brichst und als bloßer Kuhschiss wiedergeboren wirst sagt er ihm da, irgendwie muss er sich erleichtern. Erst um 00:22 Uhr ist es überstanden. Die erste Geburt seiner Tochter hat er auf einem Stuhl des Vinzenz Kran kenhauses in Nippes überlebt, unter einer schadhaften, klap pernden Lüftungsluke. Jetzt ist sie zum zweiten Mal geboren, und er hat sie endgültig an die Selbständigkeit verloren. Oder als Erwachsene gewonnen. Das ist jetzt egal, jedenfalls hat er um sein Mädchen gefürchtet, und jetzt ist er stolz auf diese Frau. Und merkt, wie das mit so einem Stolz ist: der stärkt, das ja. Und macht einsam. Denn zu teilen ist so ein Stolz mit niemandem. Als sie zurück ins Büro gehen, durch die Unterführung unter dem Ebertplatz, vergitterte Läden, ein einzelner Trinker in diesem ewig von der Pleite bedrohten, lichtlosen und schlecht gelüfteten Bistro, der Stricher Klaus-Dieter begegnet ihnen, der Kleefisch mit seinen Margeritenaugen grüßt und Andrea abschätzt, weil er sie für eine neue, junge Hure hält - da er fährt Kleefisch wenigstens, dass es Silvina war, seine Klientin, die bei Fernando alles losgetreten hat. Sie hat ihm Carlos’ Ge sammelte Schriften, den Inhalt der ganzen Kiste ausgemalt als eine einzige Anklage gegen Fernando. Und wenn ihm schon nicht die argentinische Justiz deswegen den Hintern aufreißt, dann würden es jetzt eben die Europäer tun. Denn die haben gerade die weltweite Gerechtigkeit entdeckt. Und benutzen sie als Mörtel, um ihr neues Haus zu bauen hat Fernando auf dem Bett seine Stiefschwester zitiert, sagt Andrea hier und 25
wiederholt sich die Sätze gleich noch einmal für sich selbst. Und auch diesen Satz von Silvina wiederholt sie, mit dem sie ihrem Halbbruder und letztem Miterben eingeheizt hat: Während du uns in der ESMA gefangen gehalten hast, woll ten sie hier das gute Verhältnis zu Argentinien nicht gefähr den. Aber jetzt lassen sie die Juristen los zum Aufwischen, und die reißen dir den Hintern auf. So sagt Kleefisch nur und dreht sich um. Klaus-Dieter folgt ihnen, der will tatsächlich sehen, wohin Kleefisch mit dieser neuen, jungen Hure geht. Klaus-Dieter ist nicht bloß Stricher, der spitzelt offensichtlich auch, er hat es schon länger geahnt. Das wird eine Aufgabe für Rainer D., dieser Junge ist hier im falschen Viertel. Und wie hast du ihn dann so schnell beruhigt? In der Kiste gibt es nichts Belastendes. Carlos hat ihn geliebt. Das habe ich ihm wieder und wieder gesagt, bis es endlich wie Honig runterging. Und dann hab ich ihn gebeten, mir sein Dings zu zeigen. Du hast – Ja, Paps, ich hab. Und ich hab ihm gesagt, dass es schön ist, aber eben leider viel zu groß. Es ist wirklich schön? hat er ge fragt. Ehrlich, es ist wirklich schön, hab ich gesagt, aber eben leider viel zu groß. Und da war er ganz ruhig. Dem hatte lange keine Frau mehr gesagt, dass es schön ist. Sie gingen schweigend bis zur Melchiorschänke, der Stricher hinter ihnen hatte genug gesehen und war verschwunden.
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Ich habe einfach so geredet, wie mir war sagte Andrea vor der Tür, die einen Spalt breit offenstand. Die Lüftung lief schlecht. Es war wohl dieses bisschen Ehrlichkeit. Siehst du, Paps, wenn du uns am Anfang gesagt hättest: es gibt da eine Frau. Ich muss mit der schlafen, sonst drehe ich durch. Mama wäre vor Schreck bestimmt erst mal auf den Hintern gefallen. Aber dann hätte sie verstanden. Denn du hast alles nicht mit dei ner Vögelei kaputt gemacht, du hast es mit deinen ewigen Lügen ruiniert.
18 Manchmal freut sich Kleefisch über sein Viertel. Weil es eben sein Viertel ist. Über Köln freut er sich selten. Köln ist schon groß wie die Welt, und die Welt gibt wenig Anlass zur Freude. Über das ganze Land freut er sich nie. Das ganze Land ist für ihn das Viertel, und drumherum ist Köln. Eingedenk einer Vergangenheit, über die er gerade wieder etwas gelernt hat, erleichtert ihn diese Vereinfachung ungemein. Aber jetzt, kurz vor dem Endspiel der Weltmeisterschaft 2006 freut er sich doch einmal über Köln und sogar über das Land. Natürlich hatte die Mehrheit seiner Bewohner gehofft, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft würde im Endspiel gegen Argentinien, Frankreich oder Italien zum Weltmeister der Ballkünstler gekürt und alle könnten feiern, dass nicht etwa nur diese eine Mannschaft, sondern das ganze Land und in dem ganzen Land jeder Einzelne nun Weltmeister der Ballkunst wäre. Das ging leicht in die Hose, es wurde ein ehrenvoller dritter Platz. Aber schon kurz nach dem entscheidenden Ball, den Leh mann trotz meisterhafter Parade nicht hatte abwehren kön nen (Muskelzerrung linker Oberschenkel, vier Tage und drei Nächte stechender Kopfschmerz, ausgehend von der kahlen Stelle, und allgemein die lauernden Schatten einer tiefen De pression im englischen Regen), gab es irgendwo in diesem 262
Land einen jungen Kreativen, der für gewöhnlich an seinem Schreibtisch über verkaufsfördernde Slogans für japanische Motorräder, Halbfett-Margarine und Dessous der Damen unterbekleidungsindustrie nachdachte. Er war es, der noch an diesem Abend, es war 23:12 Uhr und er hatte sich mit drei Whiskys beschleunigt, den Slogan Weltmeister der Herzen erfand. Das schlug ein und durch. Dieses Antibiotikum wirkte ganz unmittelbar fiebersenkend und keimtötend. Seine Wirkung war weitaus stärker als die eines Trostpflasters. Und der Ent scheid, es massenweise und flächendeckend zu verabreichen, war von so weitreichender Bedeutung, dass selbst ein derart erfahrener Sportreporter wie Carlos, hätte er noch gelebt und hätte er sich genauer in deutscher Gegenwartsgeschichte aus gekannt, als dies von einem Exilanten zu erwarten steht, es gewiss auch in eine Reihe gestellt hätte mit dem Beschluss, die Bundeswehr nicht atomar aufzurüsten, die Berliner Mauer zu schleifen und energiepolitisch verstärkt auf Erneuerbares zu setzen. Auch Kleefisch freute sich über das ganze Land, als er sah, wie dieser eine Slogan es schaffte, aus den vom Fieber geröteten und fleckigen Gesichtern die gelassenen und überaus freund lichen von Gastgebern und guten Verlierern zu machen, die glaubhaft versicherten, sich über alles gefreut zu haben: über so viele Fremde im Land, und über alle diese schönen Spiele. Ein einziger Slogan hatte über Nacht alles verändert. Selbst die unzähligen, wiewohl inzwischen von Sonne und Wind und Regen ziemlich mitgenommenen Fähnchen im Land schienen jetzt etwas anderes zu sagen, ja von Freude zu kün den über soviel Schönes und von Wehmut auch, dass es zu Ende war. 263
Kleefisch musste jetzt nur noch seine verschollene Klientin aufspüren und ihr die 2000 Flocken zurückgeben, für die er nicht wirklich gearbeitet hatte. Und natürlich wollte er noch immer dahinterkommen, wer ihm seinen besten Feind, den Kriminaldirektor Mario Lieberman mit einem diagona len Schnitt durch die großen Halsgefäße genommen hatte. In zwei Tagen war das Endspiel Italien : Frankreich, ab da könnte auch in Köln wieder von Schmutz geredet werden und kämen ihm die offiziellen Ermittler in die Quere. In dem griechischen Kneipen-Restaurant Saloniki in der Neusser Straße, kurz nach der Einmündung Kempener Straße war mit Plakaten und Handzetteln im Viertel für die Stunden nach dem Endspiel eine Tango-Nacht angekündigt mit einer Silvina Muller-Rosenthal. Spätestens da würde er also erleben, wie diese Silvina am Ende ihres letzten Liedes ihre Perücke in den Saal schleudert, wütend und verletzt, ver dorben und doch sehr zärtlich, wie von Carlos beschrieben. Und wenn sie sich unter dem aufbrausenden Beifall verneigt, wird das Licht auf ihrem kahlen Schädel gleißen wie auf einer Billardkugel. Als auch die Kölner noch mit der Polizeistunde 01:00 nachts entmündigt und wie unartige Kinder ins Bett geschickt wur den, war Kleefisch hier oft Gast gewesen. Die wechselnden Pächter ließen die Rollläden zur Straße runter und den Ne beneingang offen. Hier lümmelte selbst die nächtliche Streife der Grünen am Tresen, trank und biss niemanden, weder das eine und andere heimentlaufene Mädchen im Tresenraum noch die Spieler, die im angrenzenden Saal um hohe Beträge zockten. Samstags versammelten sich die Familien im Saal. Die Männer tanzten, die Frauen sahen den Männern zu, streng, schön, bitter und geschlossen wie Mandelkerne, 264
aber jede von ihnen mit einem eigenen, schwelenden Feuer in sich. Wenn die Musik plötzlich abbrach, bedeutete dies, dass zwei Gestalten in betont unauffälligem Grau in der Tür er schienen waren. Sie gingen langsam von Tisch zu Tisch und versuchten als wandelnde Fahndungsalben jedem ins Gesicht zu sehen: in Griechenland herrschten gerade die Obristen und füllten jene Inseln, die über kein Süßwasser verfügten, mit Gefangenen. In diesem Saloniki hatte Kleefisch 168 geheiratet und drei Tage lang gefeiert, bis auch der letzte Gast nicht mehr stehen konnte. Am vierten Tag freilich musste er die Braut suchen wie den Fisch, der doch noch aus dem Eimer gesprungen ist. Kurz darauf feierte hier der Fürst eines Zigeunerclans seine Hochzeit. Es war die Zeit, da noch nicht in Sinti und Roma unterschieden wurde. Es waren Zigeuner, und die waren jetzt unbequemer als je zuvor: fürchtete ein Teil der Kölner doch, sie könnten mitten auf der Neusser Straße von ihrer planmä ßigen und massenhaften Vernichtung reden, und das vor al len Kindern; und staunten alle anderen nicht schlecht, dass so viele von ihnen die planmäßige und massenhafte Vernichtung überlebt hatten und jetzt tagelang Hochzeit feiern konnten. Drei Tage lang parkten schwere Wagen aus halb Europa die Neusser und die angrenzenden kleinen Straßen zu, und mit der reich bemalten und beschnitzten Kutsche des Großvaters, die mit sechs Apfelschimmeln bespannt war, rollte das Braut paar in die Agneskirche. Kaum war der Spuk vorbei, hielten manche im Viertel den Johannes B. Kleefisch, der kurz zuvor drei Tage lang gefeiert hatte, mit seinen damals noch schwarzen, borstigen Haaren für den frisch verheirateten Zigeuner und fragten, an wen er 265
seinen schweren Studebaker verkauft habe. Und alle seine Untertanen und Mitganoven, die Pferdediebe und Kesselfli cker, die Diebe und Kindsräuber, und natürlich auch alle die se Frauen, die aus der Hand lesen und dabei gleichzeitig den Ehemännern den Samen abzapfen. Und Kleefisch musste sich wiederholt erklären. Es war eben die Zeit, da das Gedächtnis des Viertels noch nicht wieder auf Ausländer trainiert war und auf die schöne Vielfalt Europas schon gar nicht. Komm rein, ich warte seit Stunden auf dich. Du musst nicht schleichen rief Silvina in diesem Haus am Neusser Wall. Of fensichtlich war die Haustür per Video gesichert und sie hatte auf dem Monitor beobachtet, wie er zunächst den Dorn ins Schloss einführte, bevor er merkte, dass die Tür gar nicht ver riegelt war. Dieser Auftritt war also schon mal verpatzt. Und den Strauß Trockenblumen, den er eben noch aus einem Au tomaten in der Neusser gezogen hatte, stopfte sie achtlos in eine kleine, aber schwere Glasvase. Das Talent des Johannes B. Kleefisch für solche galanten Gesten, die anderen so lo cker gelingen wie sie Wasser lassen, war immer erbärmlich gewesen. Du hättest mich schon beim ersten Mal haben können. Wo rauf wartest du noch? sagte sie und legte eine zweite CD ins Gerät, damit auch Kleefisch endlich den Unterschied zwi schen Tango und Milonga begriff und nicht schon wieder al les in den Topf des gesungenen Bolero warf, den er noch dazu nach Andalusien verfrachtete, zu den Züchtern von Kampf stieren, dem Sherry von Jerez und der schwarzen Wut der Spanier auf die illegalen Marokkaner, die ihnen die Gewächs häuser bestellen. Wirklich, musikalisch und selbst geografisch war dieser Mann völliges Ödland.
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Sie saßen auf dem Teppich, der mit Kassetten und CDs be deckt war, einzelne Notenblätter dazwischen, hörten jetzt eine lange, von Silvina gesungene Milonga nach Texten von Carlos, und wieder fuhr Osvaldo Lieberman mit sei nem Chevrolet Station Wagon über Land, und er bewegte sich so über die weiten Flächen, wie es nur einer tut, dem hier alles gehört. Und wieder kreischten die Mütter, als sie die Staubwolke am Horizont sahen, schürzten die Röcke und stürzten in ihre niedrigen Häuser und schlossen die Töchter in den winzigen Speicherraum hinter der Küche ein oder stellten sie vor die Tür wie Milchkannen, die ge füllt werden sollten. Und wieder, so sang Silvina mit satter, rauchiger Stimme, die nie gleichbleibend war, sondern sich von Strophe zu Strophe, ja selbst von Wort zu Wort änderte, als sei alles voller Abgründe und jeder einzelne müsse von der Sängerin überwunden werden, notwendigerweise und ganz unbedingt, denn auf der Sohle jedes Abgrundes lauerte nichts anderes als der eigene Tod: und wieder glitt Osval do Lieberman an der ersten Witwe vorbei, und Silvina auf der CD sang, wie Osvaldo grüßte und ein klein wenig den Strohhut lüpfte, Hilflosigkeit und die Bitte um Erbarmen in den Augen, und Silvina, die jetzt auf dem Teppich lag und sich mit offenen, an die Decke gerichteten Augen zuhörte, verlagerte ihre langen, weißen Beine in dem kurzen Rock, Beine wie aus Porzellan, sie öffnete, fast wie im Schlaf, leicht die Schenkel, Schenkel wie aus Porzellan, sie trug keinen Slip, Silvina wuchsen keine Haare, sie war nackt und eben und wie aus Porzellan, Kleefisch sah ihr Geschlecht, die bereits geschwollenen Schamlippen, an denen Feuchtigkeit glitzerte, und es fuhr ihm ins Blut wie eine Droge. Er ging mit seiner Erektion ins Bad, um sich das Glied zu wa schen. Erst heute früh hatte er ihm eine Hautcrème appliziert 267
wegen zweier roter Flecke, die auf der Eichel nichts zu suchen hatten. Er zog sich aus und musterte dabei Tuben und Tübchen, Tie gel und Töpfchen Lait Corporel Body SPA Vichy Nutrilogie 1 Anthelios XL Fluid Extreme Acidostad gegen Lippenher pes, das war teils eine berufliche Deformation, teils aber auch ein altes Laster, bei dem er sich erregte und seine Schwellkör per mit Blut versorgte. Er zog vorsichtig eine Schublade auf, Waschlappen und Kosmetikbäusche, ein kleiner Vibrator, in einer zweiten Badeschlappen und Nagelset und erregte sich weiter: die kleinen Dinge setzten ihm den Körper der Frau zusammen, die er gleich mit seinen Händen, der Zunge, dem Glied endlich erkunden würde, den weißen Körper dieser Frau, die nackter war als nackt, nämlich ohne Haare und wie aus Porzellan. Er zog eine dritte Schublade auf in der Erwar tung, ein paar weitere dieser kleinen Dinge würden ihn noch mehr erregen, diese Frau wie aus Porzellan tief in seinen Kopf drücken dorthin, wo die Lust sitzt, denn schließlich sitzt die Lust im Kopf und nur das Blut und die Flüssigkeiten und die Mechanik im Glied, ja er schmeckte jetzt schon die Lust, sie schmeckte leicht nach Eisen und Gewürzkräutern, aber da fiel schlagartig die ganze Pracht zwischen seinen Beinen in sich zusammen: oben auf einem kleinen Stapel von Handtü chern, weiß und rosafarben, lag ein Dienstausweis. Der Aus weis des Herrn Kriminaldirektors Mario Lieberman. Dieser Mario Lieberman war bekannt dafür, dass ihn sein Dienstausweis und selbst seine Waffe auch bei den einsamsten und intimsten Verrichtungen begleiteten. Es gab unzählige Witze darüber. Jeder war sich sicher, dass Lieberman, einge hüllt in Sphärenklänge und kleine, wattige, rosenfarbige Wol ken, die an ihm zupften wie Zierfische, sogar vor der Pforte 268
des Himmels zunächst drohend den Ausweis gezogen hätte und dann erst, als es doch bloß der listig getarnte Eingang zur Hölle war, seinen Ballermann. Und den suchte Kleefisch jetzt im Bad. Er durchsuchte alles. Und fand nichts. Und zog sich wieder an. Und zögerte dann einen Augenblick, die Tür zu öffnen, weil er fürchtete, genau diese Waffe sei jetzt auf ihn gerichtet. Silvina hatte den Teppich mit Kissen ausgelegt und wandte ihm Rücken und Hintern zu. Sie war nackt und lag auf der rechten Seite, dort, wo der künstliche Oberschenkelhals nicht drücken konnte. Sie reckte ihm einen immer noch makel losen, sehr schönen Hintern entgegen, fest und umfangreich, er sah die Rosette, den Beginn der Schamlippen, sie wollte als erstes von hinten genommen werden, die Position, die er be vorzugte. Eine neue Milonga lief, inzwischen konnte auch er zwischen Milonga und Tango unterscheiden. Kleefisch ging zum Gerät und stellte es aus. Silvina, begehrenswert und verloren, drehte ihren Körper von der rechten auf die linke Seite, um ihn beobachten zu können. Dabei verzog sie das Gesicht und stöhnte leicht. Der gebrochene und jetzt künstliche Oberschenkelhals. Sie hat te feste Brüste mit großen Höfen, der flache Bauch mit sei nem versenkten Nabel, die Klitoris, das unbehaarte, feuchte Geschlecht. Mit was hast du in der Sauna in Bergisch-Gladbach gearbei tet? Mit Rasiermesser oder mit Skalpell? Silvina gab keine Antwort, setzte sich aber langsam auf. Und warum das ganze Theater mit mir? 26
Um Zeit zu gewinnen. Ich wusste, wie du auf diesen Lie berman fixiert bist. Du warst der einzige, der mir vor dem Auftritt übermorgen hätte gefährlich werden können. Jetzt bin ich es. Nein. Du bist scharf auf mich. Du willst mich. Du wirst mir einen Vorsprung geben. Ich weiß noch nicht, was ich tue sagte Kleefisch, schon an der Tür. Ich habe noch nie eine so schöne Frau in den Wind ge schossen. Aber ich habe auch noch nie eine Mörderin gefickt. Er sah eine Bewegung, einen Schatten, dann streifte ihn die kleine, aber schwere Glasvase mit den Trockenblumen an der Wange. Sie schlug gegen die Wand hinter ihm und zersprang. Er war wirklich ein Trottel. Er hätte wissen müssen, dass man nicht ungestraft mit Trockenblumen zu einer TangoSängerin geht. Unten zog er leise die Haustür hinter sich zu. Er hatte noch keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Auch hatte er noch nie einen seiner Klienten verraten. Da fiel im Haus der Schuss. Kleefisch zuckte im Gehen zusammen, als sei er in den Rü cken getroffen worden. Er hätte die ganze Wohnung nach Liebermans Dienstwaffe absuchen müssen, und er hatte es versäumt.
19 Der Rosenstock am Fußende des Grabes von Amalie Kleefisch auf dem Westfriedhof sah dieses Jahr besonders erbärm lich aus. Manchmal redete Kleefisch mit seiner Amalie, die vor ihm in ihrer engen Urne lag. Er redete halblaut und tat dabei so, als bete er. Er war sich selbst nicht sicher, ob es nicht doch eine Art von Gebet war. Mama sagte er jetzt, es war mal wieder ziemlich was los. Sei froh, dass du hier so friedlich liegen kannst. Und du sollst wissen, dass du die einzige Frau bist, die ich nie verraten habe. Na ja, fast nie. Er versuchte mit den Fingern, die Erde um den Rosenstock etwas zu lockern. Dann roch er es. Hundepisse. Abends führ ten die Hundehalter ihre Ersatzdomestiken und Nebenskla ven, ihre Reservelieben und Notgesellschafter, die Objekte ihrer Liebesgier und die Opfer ihrer Domestizierungswut, die vierbeinigen Zeugen ihrer Einsamkeit und ihrer Angst vor dem Tod hierher (so, Poldi, jetzt geh schön spielen), wo sie, gequält vom langen Tag in der engen Wohnung, endlich ausliefen wie schadhafte Eimer. Kleefisch richtete sich wieder auf. Mama, inzwischen nehm ich dir auch nicht mehr übel, dass du mir nie etwas über meinen Vater gesagt hast. Ja, ich bin froh darüber. Stell dir mal vor, das wäre auch so einer mit 271
einem Schnellfeuergewehr zwischen den Beinen gewesen. Und ich müsste in einem Sumpf von Halbgeschwistern leben, die sich ständig kannibalisieren. Er zupfte ein paar welke Blätter von dem Rosenstock, ent deckte dann die Blattläuse. Auch das noch. Läusebefall. Kauf einen neuen Stock, ich setz den rein sagte eine dunkle Stimme hinter ihm mit einem R, das nach Wodka im Was serglas klang, zum Frühstück, versteht sich, nach der schönen und tödlichen Ruhe, mit der einer in den Abgrund blickt, so etwas. Es war der Gärtner, ein Spätaussiedler aus Aserbeid schan. Er hatte eine Boxernase und kluge, dunkle Augen, die schon mehr als eine Geschichte durchschaut hatten. Es sind die vielen Hunde hier. Das macht der lange Frieden. Die Leute denken nicht mehr an ihre Toten, die haben bloß noch Hund im Kopf. Wir in den Bergen hatten nie Frieden. Wir konnten uns auch keine Särge für die ganzen Toten leis ten. Aber wir haben ihre flachen Gräber bewacht Tag und Nacht, verstehst du? – Trinken wir jetzt einen? Ich nicht mehr sagte Kleefisch, obwohl dein Speck und das Schwarzbrot zum Wodka, das Gürkchen dazu, schon ganz o.k. sind.
Zu guter Letzt Mit einigen Daten bin ich freier umgegangen als dies Zeit geschichtler tun. So wie dargestellt, sind alle Personen fiktiv. Das bedeutet aber nicht, dass alles fiktive Personen sind. Gaby Weber hängt noch immer an der Wade von MercedesBenz Argentina in González Catán. Sie untersucht zur Zeit einen Deal der Geschäftsleitung mit geraubten Kindern und die wirklichen Hintergründe der Entführung Adolf Eichmanns. Susimil hieß in Wirklichkeit Loretta. Sie entging unversehrt dem Anschlag in Buenos Aires und flüchtete nach Paris. Hier wurde sie wenig später im Abgang zur Métro Bonne Nou velle von Unbekannt mit einer Beretta 3R Kal. Parabellum erschossen. Für Anregungen, auch kleine Leihgaben danke ich: allen vor an Rodolfo Walsh. Und außerdem u.a.: Mauricio Rosencof, Horacio Verbitsky, Uki Goñi, Willi Achten, Horacio Vázquez-Rial, Amir Valle, Jorge Lanata, Peter-Paul Zahl, Daniel Chavarría, Alicia Dujovne Ortiz, Pablo Llonto, Ernesto Mal lo … P.F. Buenos Aires und Köln, April 2008
Bücher mit dem Kölner Kommissar Kleefisch Peter Faecke Die geheimen Videos des Herrn Vladimiro Kriminalbilder aus Peru und Deutschland Broschur, 400 Seiten, € 11,00 ISBN 78-3-3671-38- Dieses Buch endet so entschieden und konsequent, wie es insge samt ist: »Als er sich endlich umdrehte, sah er in die Mündung eines Revolvers.« (Amir Valle) Peter Faecke Die Geschichte meiner schönen Mama Roman Geb., 26 Seiten, € 15,0 ISBN 78-3-3671-0- Mir war, als hörte ich nicht die Geschichte eines Killers, sondern die eines berühmten Pianisten, eines Konzertgeigers, eines Meisters des Schachspiels, die doch alle wegen ihrer abstrusen Eigenarten und Unwägbarkeiten gefürchtet sind. (Kommissar Kleefisch) Peter Faecke Der Kardinal, ganz in Rot und frisch gebügelt Kriminalroman Geb., 200 Seiten, € 15,0 ISBN 78-3-3671-33-4 Und ich wusste, dass ich den Anderen, diesen Mörder in mir, der mir gefolgt war wie der scharfe Hund dem Herrn, würde töten müssen. (Buchhändler Tiefental)
Peter Faecke, geb. 140, lebt in Köln. Er war Rundfunkredak teur, Dozent, Entwicklungshelfer in Lateinamerika, Repor ter in Krisengebieten, veröffentlichte u.a. die Roman-Tetralo gie Das Kowalski-Projekt.
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Druck und Bindung:
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ISBN 78-3-3671-55-6
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