MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 89
Die Stunde des Feiglings
Bereits aus der Ferne machten die alten Kloster...
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MADDRAX
DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 89
Die Stunde des Feiglings
Bereits aus der Ferne machten die alten Klostermauern mit den wuchtigen Türmen einen wehrhaften, wenn nicht gar abweisenden Eindruck. Ohne die Einladung des Erzvaters, der ihnen freies Geleit zugesichert hatte, wären Matt und Aruula sicher nie auf den Gedanken gekommen, durch den steinernen Torbogen zu treten. Dennoch prallten sie beinahe vor Schreck zurück, als sie sich im Innenhof unversehens dreihundert bewaffneten Nosfera gegenüber sahen. Aufgestellt in drei Abteilungen zu zehn mal zehn Kriegern bot die Ehrenformation einen imposanten Anblick, der sich noch steigerte, als die vermummten Gestalten in einer geschlossenen Bewegung auf das rechte Knie niedergingen und gemeinsam riefen: »Heil dir, Sohn der Finsternis! Bewahre uns vor der Sonne und führe uns zurück in die ewige Nacht!« Zunächst war dieser Willkommensgruß für Matt nicht mehr als ein unheimliches Raunen, das ihn instinktiv zum Driller in seiner Beintasche greifen ließ. Erst als der Translator die kleine Stahlbox, die an seinem Gürtel hing, eine elektronisch knackende Übersetzung lieferte, entspannte er sich ein wenig. Aruula erging es wohl ähnlich, obwohl sie weiterhin den Eindruck machte, als wollte sie jeden Moment den Bihänder aus ihrer Rückenkralle ziehen. Leicht nach vorne gebeugt, sah sie sich verteidigungsbereit um. In Momenten wie diesen, in denen die Reflexe über den Verstand siegten, ließ sich ihre barbarische Herkunft nicht verleugnen. Aruulas schlanker, kräftiger Körper stand unter Spannung wie eine aufgezogene Bogensehne. Das lange schwarze Haar flog über ihre Schultern, während sie den Blick von links nach rechts wandte, um die Situation zu überblicken. Trotz der unbezwing baren Übermacht ging sie jede Möglichkeit der Verteidigung und des Rückzugs durch. Das gehörte zu ihrer wahren Natur. Geprägt durch eine harte, entbehrungsreiche Kindheit, in der das tägliche Ringen ums Überleben so natürlich gewesen war wie ein kalter Schluck Wasser zum Frühstück. Radek, der Matt und sie von Moska aus begleitet hatte, blieb ihr Unbehagen, nicht verborgen. »Keine Sorge«, sagte er, um einen Tonfall bemüht, der schon beruhigend wirken sollte, noch ehe die Übersetzung erklang. »Jeder dieser Krieger ist darauf eingeschworen, euer Leben zu schützen, nicht es zu nehmen.«
Was bisher geschah... Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde und der Menschheit geschehen ist, taucht die Weltrat-Expedition unter Lynne Crow und Prof. Smythe in den Kratersee hinab und scheitert. Auch Matts Gruppe wagt den Vorstoß. Bei der Bergung eines grünen Kometenkristalls wird der Hydrit Mer'ol gefangen. Sein Mentor Quart'ol nimmt Kontakt mit dem Kristall auf. Die Gefährten erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die Milliarden körperloser Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration der Menschheit und ihre anschließende Reorganisation diente diesem Zweck. Der Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung als Matt in einer Bruthöhle eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem AEET-Panzer. Quart'ol bleibt zurück, um Mer'ol zu befreien. Dabei stellt er fest, dass Smythe und Lynne von den Daa'muren festgehalten und durchleuchtet werden. Als der Barbar Pieroo erkrankt, fahren Aiko und Honeybutt mit ihm im Beiwagen des ARET voraus. Unterwegs stoßen sie auf Jed Stuart und Majela Ncombe, zwei WCAÜberiäufer, die mit einem Zug nach Kiew weiterreisen. In der Hafenstadt Nydda entschließen sich die Gefährten für getrennte Wege: Dave und Rulfan fahren auf einem Dampfer nach Britana, während Matt, Aruula und Black im ARET den Landweg nehmen. In Perm können sie zwei verfeindete Bunker auf ein gemeinsames Bündnis gegen die Daa'muren einschwören. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Serum, das nur aus Mr. Blacks Blut gewonnen werden kann und schon dem Weltrat half, die Immunschwäche der Technos zu überwinden. So werden sie in Moskau mit offenen Armen empfangen, wo man sich gegen die Mutanten wappnet. Doch auch hier gibt es Streitigkeiten, Intrigen und sogar ein Attentat; jeder will Mr. Black für sich gewinnen. Die in der Stadt lebenden Nosfera, mumienhafte Blutsauger, haben dagegen Matt Drax im Visier: Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt, der sie vor der »Herrschaft der Sonne« bewahren soll...
Wie seine Ordensbrüder und -schwestem, die den weitläufigen Innenhof bevölkerten, trug auch Radek lichtundurchlässige Lederkleidung und einen dichten, braun gewirkten Wollumhang, dessen tief in die Stirn gezogene Kapuze einen schützenden Schatten über sein Gesicht warf. Obwohl eine geschlossene Wolkendecke für trübes Wetter sorgte, besaß die Sonne noch genügend Kraft, einen ungeschützten Flecken empfindlicher Nosferahaut binnen kürzester Zeit zu verbrennen. Die Ursache dafür war eine mutierte Form der Sichelzellen-Anämie, die seit Generationen weiter vererbt wurde. Neben der Scheu vor dem Tageslicht verursachte dieses Leiden einen Mangel an weißen Blutkörperchen, der sich nur durch regelmäßige Zufuhr gesunden Blutes ausgleichen ließ. Die Folge war ein brennender Blutdurst, der in der übrigen Gesellschaft auf wenig Gegenliebe stieß. In einer postapokalyptischen Welt, wo das alte medizinische Wissen in Vergessenheit geraten war, waren die an Anämie Leidenden Ausgestoßene, in denen man keine Patienten, sondern Monster sah. Die Degeneration ging schließlich so weit, dass Barbaren und Mutanten ihren gemeinsamen Stammbaum vergaßen und aus den Blutdurstigen ein eigenes Volk, nämlich das der Nosfera wurde. Trotz seiner natürlichen Abscheu vor dem Tageslicht schob Radek die Kapuze ein wenig zurück, nur um seinen Begleitern ein Lächeln zu präsentieren, das in seinem eingefallenen Gesicht eher grotesk denn freundlich anmutete. Seine mit weißem Schorf bedeckten Pergamentlippen entblößten ein leicht vorstehendes Gebiss, dessen natürlich geschärften Fänge sich ideal zum Reißen einer sprudelnden Wunde eigneten. Noch während er versuchte, den Aufmarsch im Hof ins rechte Licht zu rücken, trat ein lebhaftes Flackern in seine dunklen, von übergroßen Pupillen dominierten Augen. »Seht, Erzvater naht«, erklärte er den Grund seiner Aufregung. »Er wird euch über alles Weitere in Kenntnis setzen.« Radeks behandschuhte Linke deutete auf eine Gestalt in rotem Ornat, die auf einer hölzernen Sänfte herangetragen wurde. Wegen der weiten Robe, die sie von Kopf bis Fuß einhüllte, ließ sich nicht erkennen, welches Gebrechen den Transport nötig machte. Matthew tippte auf eine Lähmung oder ganz normalen Altersverschleiß in den Gelenken. Erst als Erzvater weiterhin an ihm vorbei blickte, obwohl die Träger nur zwei Meter entfernt verharrten, dämmerte dem Piloten, dass auch Blindheit der Grund sein mochte. Ein verirrter Lichtreflex, der unter die rote Kapuze fuhr, bestätigte die Vermutung. Erzvaters Gesicht trat zwar nur für wenige Sekunden aus dem Dunkel hervor, doch diese Zeitspanne reichte aus, um zwei milchfarbene Netzhäute, eingebettet in einem verwachsenen Fleischstreifen zu offenbaren. Die schlecht verheilte Wunde, die sich von einer Schläfe zu anderen zog und auch die Nasenwurzel berührte, war eigentlich viel zu breit, um von einem normalen Schwerthieb zu stammen. So wie sich die Pergamenthaut zwischen Brauen und Wangenknochen kräuselte, handelte es sich um eine Brandverletzung, deren gerader Verlauf allerdings ungewöhnlich war. Matt erinnerte der Anblick unwillkürlich an den Kurier des Zaren, eine fiktive Gestalt des französischen Romanciers Jules Verne, die von einer glühenden Schwertklinge geblendet wurde. Der Gedanke, dass das Oberhaupt der Bluttempler eine ähnliche Folter durchlitten hatte, war aber eher abwegig. Vermutlich handelte es sich bei der Narbe um die Folge eines Unfalls oder einer KampfVerletzung. »Ich hoffe, dass es kein Mitleid ist, was dir die Sprache verschlägt«, unterbrach Erzvater den Gedankengang. »Falls doch, so kann ich versichern, dass mir die Blindheit längst als ein Segen erscheint, der es mir erlaubt, den Blick auf das Wesentliche zu lenken.
Wahrlich, manchmal muss man die Augen schließen, um wirklich sehen zu können.« Die Stimme unter der Kapuze wirkte angenehm dunkel und wohltönend. Voller Weisheit, wie es sich für einen Mann in hoher Position geziemte, aber auch voll ungebrochener Lebensfreude. Ein Quäntchen Schalk schwang ebenfalls mit, als sich seine Heiligkeit verschwörerisch über die Stuhllehne beugte und leise hinzufügte: »Das mag jetzt nach dem Gerede eines verrückten Greises klingen, doch glaub mir, es ist etwas Wahres daran.« Trotz seines belustigten Untertons hob Erzvater mahnend die Hand. Der weite Ärmel seiner Robe rutschte bei dieser Geste zurück, bis ein paar nackte, knochige Finger zum Vorschein kamen. Die ungeschützte Haut ging keineswegs in Flammen auf, doch der Kontakt mit dem Tageslicht schien immerhin so unangenehm zu sein, das er sie sofort wieder mit Stoff bedeckte. »Tut mir Leid, ich wollte keineswegs unhöflich erscheinen«, entschuldigte sich Matt, ehrlich betroffen. »Ich bin nur ein wenig verwirrt. Einmal wegen dieses pompösen Empfangs und, na ja, vor allem wegen der Prophezeiung, von der uns Radek berichtet hat.« Eben noch hielt Erzvater beide Arme verschränkt, schon hob er sie wieder empor. »Unserem Orden geht es nicht anders, Maddrax«, versicherte er gestenreich. »Über die tiefere Bedeutung der himmlischen Zeichen sind wir ebenso ratlos wie du, aber das ändert nur wenig. Den göttlichen Willen anzuzweifeln steht den Bluttemplern nicht zu. Wir sind nur unwürdige Diener Murrnaus, sein Werkzeug auf Erden, weiter nichts.« Angesichts der tiefen Ehrfurcht, die Matt von allen Seiten entgegen schlug, bot die lebhafte Art des Blinden eine angenehme Abwechslung. »Maddrax«, sagte er plötzlich ernst. »So nennst du dich doch, obwohl dein wirklicher Name Matthew Drax ist?« Der Mann aus der Vergangenheit nickte. Eine Geste, für die er sich gleich darauf am liebsten selbst geohrfeigt hätte, da sie einem blinden Gesprächspartner nur wenig nutzte. Ehe er den Fehler korrigieren konnte, mischte sich Aruula ein. »Das ist der Name, der ihm von meinem Stamm verliehen wurde«, verkündete sie voller Stolz. »Damals, vor drei Sommern, als wir Maddrax in dem Feuervogel fanden, mit dem er seine glühende Bahn am Himmel zog.« Seine Heiligkeit hörte geduldig zu, bis die Übersetzung aus dem Translator verklungen war. »Ein Mann im Feuervogel wird vom Südland kommen und die Welt verändern!«, sinnierte er, mehr zu sich selbst, als an sonst wen gerichtet. Matt lief es eiskalt den Rücken herunter, als ihm klar wurde, dass dieser Satz ein Teil der ominösen Prophezeiung sein musste. Erzvaters Stimme beendete den Moment der inneren Einkehr. »Ein Kampfname also«, sagte er. »Wirklich sehr interessant. Und dazu noch eine streitbare Gefährtin, die für dich einsteht, wie es scheint. Nun, so viel ist sicher: Du bist kein gewöhnlicher Barbar, sondern ein Mann, der aus der Masse hervorsticht.« »Trotzdem kann ich unmöglich ein Sohn der Finsternis sein«, begehrte Matt auf. »Ich bin ein Mensch, der die Sonne zum Leben braucht. Eine immerwährende Nacht oder etwas in der Art wäre gewiss nicht in meinem Sinn.« Doch mit dieser Eröffnung konnte er die muntere Gelassenheit des Greises nicht ins Wanken bringen. »Oho, auch noch ehrlich bis ins Knochenmark«, pries Erzvater unverdrossen seine Tugenden. »Sei versichert, Maddrax, niemand erwartet von dir, gegen deine wahre Natur zu handeln. Glaub mir, alles auf dieser Welt geht seinen vorgezeichneten Weg.
Du sollst nur aus freien Stücken tun, was dir vorherbestimmt ist. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, dich in deinen Taten und Vorhaben zu unterstützen.« Matt wusste nicht recht, was er von diesen Worten halten sollte. Glaubten die Nosfera ernsthaft, dass sich der Himmel verdunkeln würde, weil er früher oder später Unglück über die Menschheit brachte? Oder war dieses Gerede von der ewigen Nacht nur eine Metapher für eine glückliche Zukunft, in der das Herrschaftsstreben der Daa'muren längst Vergangenheit war? In diesem Fall standen sie tatsächlich auf der gleichen Seite. Ein Mann im Feuervogel wird vom Südland kommen und die Welt verändern! Dieser Satz klang wie auf ihn gemünzt, dabei konnte in Moska niemand etwas von seiner Pilotenausbildung ahnen. »Ob sich die Prophezeiung auf die anrückende Mutantenarmee bezieht?«, fragte er gerade heraus. »Durchaus möglich«, gestand seine Heiligkeit ein. »Auf jeden Fall bedroht uns diese Invasion ebenso wie die Menschen. Deshalb stehen die Bluttempler bereit, dich bei diesem Kampf zu unterstützen. Doch lass uns im Tempel weiterreden. Wenn du unsere Propheten kennen lernst, fällt es dir sicher leichter, meinen Worten Glauben zu schenken.« Ohne dass Erzvater eine Anweisung erteilen musste, umfassten beide Träger die Haltestangen und hoben ihn an. In einer sicheren Kehrtwende schwenkten sie herum und bewegten sich auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Aruula, Matt und Radek schlossen sich der Sänfte an, während die Front der dreihundert Nosfera, die sich die ganze Zeit nicht einmal gerührt hatte, auf dem Boden knien blieb.
* Nur einige Kilometer entfernt, im Kreml So wie sich Sergiuz auf dem Kissenberg flegelte, wirkte er eher wie der angetrunkene Besucher eines Bordells, als wie der Herrscher über ganz Moska. Ein sauber gestutzter Bart zierte seine Kinnpartie. Das lange schwarze Haar fiel ihm breit gefächert über beide Schultern. Zwei mit dünnen Schleiern gewandete Lustdamen waren gerade dabei, es voller Hingabe zu kämmen. Ihre leichte Kleidung mochte der Grund dafür sein, dass der Saal trotz sommerlicher Temperaturen noch durch zwei prasselnde Kaminfeuer beheizt wurde. Mr. Black wusste nicht, was ihn mehr erboste. Der Schweiß, der ihm längst in dicken Perlen von der Stirn tropfte, oder die unangenehme Art, mit der Sergiuz gerade seinem Beinamen, der Laute, alle Ehre machte. »Ich soll euch also mit Truppen unterstützen, weil ihr nicht allein mit diesen Monstern fertig werdet?«, tönte er selbstbewusst. »Nun ja, da lässt sich vielleicht was machen. Allerdings wird euch das ein schönes Sümmchen kosten, und natürlich den einen oder anderen Gefallen.« Ein Bein an den Körper gezogen, das andere ausgestreckt, sah er in den halb gefüllten Weinpokal, während er auf eine Antwort wartete. Das Leben im Kreml schien dem Zaritsch von Moska, wie Sergiuz sich selbst gern nannte, sehr zu behagen. Mit seiner weit ausgestellten Wildlederhose und der knapp geschnittenen Weste, die einen Blick auf zwei goldene Brustwarzenringe erlaubte, sah er allerdings eher wie ein Bandenführer aus. Mehr Potential, da war sich Black sicher, steckte in diesem Kerl auch nicht. Um die Macht in Moska an sich zu reißen, hatte sein Ehrgeiz vielleicht gereicht,
doch nun offenbarte Sergiuz bereits erste Anzeichen von Verfettung. Das gute Leben im weitläufigen Facettenpalast, geprägt von zu viel Wein, zu vielen Lustdamen und zu wenig Schlaf, ließ nicht nur die Muskeln, sondern auch den Geist erschlaffen. Der Zaritsch überschätzte gerade gewaltig seine Macht, ohne sich darüber im Klaren zu sein. »Was bietet ihr mir?«, erhöhte er den Einsatz, als weder Mr. Black noch Juri Dolgoruki auf seine Unverschämtheiten eingingen. »Ihr wisst ja, dass ich Interesse an den Blitzschleudern habe. Wenn meine Truppen erst mal damit ausgerüstet sind, kann mir niemand mehr...« »Nichts da!«, unterbrach ihn der Techno schroff. »Du erhältst gar nichts von uns, nur den guten Rat, dich auf einen Angriff vorzubereiten. Und zwar in deinem ureigenen Interesse.« Dieser Rüffel wirkte ernüchternd. Wütend fuhr Sergiuz in die Höhe. Die beiden Kämme, die sein Haar glätteten, schienen ihm plötzlich lästig. Zum Glück kannten Lumilla und Kariina seine Launen gut genug, um rechtzeitig zur Seite zu weichen, ehe er sie mit seinen Schlägen erwischen konnte. Obwohl er den Wutanfall ausgelöst hatte, ließ sich Dolgoruki von dem ungestümen Gebaren nicht beeindrucken. Wie aus Stein gemeißelt stand er da, mit tiefliegenden Augen, die eine weit vorspringende Nase flankierten. Nicht eine Falte seines silbernen Schutzanzugs knisterte, während er kühl auf den Zaritsch herab blickte. Angesichts dieser Nervenstärke beglückwünschte sich Black erneut, dass er den Ingenieur zu seinem persönlichen Verbindungsmann erwählt hatte. Obwohl, wem hätte er sonst vertrauen sollen? Dolgoruki war die einzige Person in der unterirdischen Bunkerstadt Ramenki, von der er wirklich mit Sicherheit annehmen konnte, dass sie nicht insgeheim mit der Petersburger Allianz sympathisierte. Sergiuz der Laute besaß für solche Qualitäten keinen Sinn. »Du bist wohl übergeschnappt?«, fuhr er den Techno an. »Erzählst mir etwas von einem bevorstehenden Angriff und erwartest gleich, dass ich springe für euch Glashelme. Wo sind sie denn, deine vierarmigen Monster und Echsenmenschen, die Moska bedrohen? Und was habe ich überhaupt mit ihnen zu tun?« Sein offenes Haar mit beiden Händen nach hinten streichend, wartete er, bis die Translatoren seine wütende Rede übersetzt hatten. Wie alle Ruländer sprach auch Sergiuz ein Russisch, das sich in den vergangenen Jahrhunderten so stark verändert hatte, dass es mit dem der Bunkermenschen nicht mehr viel gemein hatte. Nun, da er sich herausgefordert sah, kehrte ein wenig von dem alten Charisma des Zaritsch zurück. Aus zusammengekniffenen Lidern nahm er seine Besucher genauer in Augenschein, als würde er sie erst jetzt richtig bemerken. »Wenn ihr Glashelme euch Feinde gemacht habt, ist das allein eure Sache«, beschied er Mr. Black und Dolgoruki. »Unsere Abmachungen beziehen sich nur auf die örtliche Bevölkerung. Solange ihr mir nicht in den Rücken fallt, halte ich euch meine Untertanen vom Leib. Mehr nicht.« Dolgoruki gestattete sich ein geringschätziges Lächeln. »Du verstehst immer noch nicht«, erklärte er dem Barbaren wie einem störrischen Kind. »Nicht wir benötigen deine Hilfe, sondern Moska. In unsere Erdburgen können die Monster nicht eindringen, in die Stadt dagegen schon. Wir haben dich nur besucht, um dich zu warnen und dir unsere Hilfe anzubieten.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber wie hieß es doch so schön? Im Krieg und in der Politik sind alle Mittel erlaubt. Deshalb führte Dolgoruki sein Schauspiel vorwurfsvoll fort: »Zum Dank verhöhnst du uns und schlägst meine
ausgestreckte Hand aus. Glaub mir, wenn du nicht bald umdenkst, wirst du es sicher bereuen.« Bei diesen Worten grub sich ein nachdenklicher Zug in das Gesicht des Zaritsch, doch statt seine Fehler einzugestehen, gab er sich lieber trotzig. »Ach was, dann ziehe ich mich eben in meine Burg zurück. Die Mauern des Kreml hat noch keiner erstürmt.« »Vielleicht hast du damit Recht«, kam ihm Dolgoruki entgegen. »Aber wenn Moska in Schutt und Asche liegt, wer soll dir dann noch Tribut bezahlen?« Dieses Argument traf Sergiuz härter als ein Pfeil, der von der Sehne schnellt. Mürrisch sank er auf die weichen Kissen zurück und fixierte Mr. Black aus zusammengekniffenen Augen, als gäbe er dem hochgewachsenen Hünen im schwarzen Kampfanzug die Schuld an der ganzen Misere. Dolgoruki nutzte die ungewohnte Schweigsamkeit, um erneut ein breit angelegtes Bündnis vorzuschlagen, das den erwarteten Angriff bereits am Stadtwall abfing. In diesem Zusammenhang stellte er Mr. Black als einen Herrscher aus fremden Landen vor, der Moska aus reinem Edelmut unterstützte. An dieser Stelle trug der Techno leider zu dick auf und erreichte somit das Gegenteil des erwünschten Effekts. Allein die Vorstellung, dass jemand nicht aus Profitgier handelte, schien Sergiuz suspekt zu sein. »Am Ende ist dieser Präsident wohl noch der, der sich mit den Blutsaugern verbünden will?«, stieß er geringschätzig hervor. Für Mr. Black eine willkommene Chance, in das Gespräch einzugreifen. »Diesen Teil der Verhandlungen übernimmt Commander Drax«, stellte er klar, »doch ich begrüße seine Initiative voll und ganz. Angesichts der Bedrohung vom Kratersee müssen alle bisherigen Vorbehalte abgebaut werden. Nur so können wir...« Der Zaritsch winkte gelangweilt ab. »Blitzschleudern«, unterbrach er schroff. »Liefert mir einen ganzen Karren davon oder ihr könnt das Bündnis vergessen.« »Gut«, stimmte Dolgoruki zu, und wandte sich zum Gehen »Vergessen wir's.« Mr. Black kam der Aufbruch ein wenig überhastet vor, doch da der Ingenieur die Verhandlung führte, schloss er sich ihm wortlos an. Gemeinsam kehrten sie der mit Kissen, goldenem Tand und verblichenen Ölbildern geschmückten Ecke den Rücken. Die einheitlich in blaue Hosen und roten Lederwams gekleideten Krieger, die an der Tür Posten standen, vertraten ihnen jedoch den Weg. Eben noch lag ein metallisches Scharren in der Luft, da blickten sie auch schon in einen Wald aus stählernen Schwert und Speerspitzen. »Diese Audienz ist erst beendet, wenn, ich es sage«, dröhnte der Palastherr hinter ihnen.
* Schon nach wenigen Schritten wurde Matt klar, dass sie eine ehemalige Kathedrale ansteuerten. Auf dem mit Kieselsteinen bestreuten Weg, der von hohen, dicht belaubten Eichen beschattet wurde, hatte er endlich die Muße, das weitläufige Gelände näher zu betrachten und es mit seinem halb verschütteten Wissen über das einst berühmte Neue Jungfrauenkloster in Einklang zu bringen. Die von Wassili dem III. 1524 gegründete Abtei war einst das Schönste aller Wehrklöstern im Süden Moskaus gewesen. Außerhalb des Autobahnrings, zwischen
den Ufern der hier schleifenförmig verlaufenden Moska gelegen, gehörte das Gelände damals noch zum Großraum der russischen Hauptstadt. Die billig hochgezogenen Betonbauten der näheren Umgebung hatten die Jahrhunderte nach dem Meteoriteneinschlag nicht überstanden, doch die stabilen Klostermauern trotzten weiterhin Regen, Eis und Kälte. Kein Wunder, dass die Bluttempler diesen Ort zu ihrer Ordensburg erkoren hatten. Zwölf Rund und Ecktürme säumten das hermetisch abgeriegelte Areal, das sieben Gebäudetrakte beherbergte. Zur Linken des Weges erhob sich der fünfstöckige Glockenturm, der lediglich seine goldene Zwiebelkuppel eingebüßt hatte. Stattdessen war auf dem Dach ein hölzerner Verschlag errichtet worden, der dem achteckigen Grundriss entsprach und als Ausguck diente. Wie die anderen Wachtürme, so war auch dieser mit einem vermummten Krieger besetzt, der ins offene Land hinaus spähte. Zu Matts Rechten zeichnete sich ein langer, aus Feldsteinen errichteter Bau ab, in dem einst die Nonnenzellen untergebracht waren. Mauern und Dach befanden sich in gutem Zustand; zwar durch die Jahrhunderte unter Eis und Schnee verwittert, aber erstaunlich gut erhalten, so wie sämtliche Gebäude einen bewohnbaren Eindruck machten. Matt fühlte sich beinahe ins Mittelalter zurück versetzt. Selbst die Kathedrale der Gottesmutter von Smolensk, mit der hier 1524 alles begonnen hatte, strahlte eine sakrale Eleganz aus. Die Nosfera, die ihnen unterwegs begegneten, blieben sofort stehen, wenn sie des Sohns der Finsternis ansichtig wurden, und senkten ehrfürchtig den Blick. Ob es sich bei ihnen um Männer oder Frauen handelte, ließ sich wegen der weiten Kutten nur erahnen. Bei den Mädchen und Jungen, die mit zurückgeschlagener Kapuze umher liefen, war das Geschlecht leichter zu unterscheiden. Nicht eins dieser Kinder hatte die Pubertät erreicht. Ein sicherer Hinweis darauf, dass es sich um Nosfera handelte, obwohl sie äußerlich wie gesunde Menschen wirkten. Matt hatte bereits zu Beginn seiner Wanderschaft erfahren, dass die Sichelzellen-Anämie erst mit Beginn der Geschlechtsreife zum Ausbruch kam. Obwohl dreieinhalb Jahre vergangen waren, stand ihm die Begegnung mit dem Mädchen Jandra noch grausig vor Augen. Der kleinen Kathedrale schloss sich ein großes Refektorium an, doch dies war nicht die Zeit, den Speisesaal aufzusuchen. Ohne ins Schnaufen zu geraten, erklommen die Sänftenträger einige Granitstufen, die über einen dreiflügeligen Vorbau ins Kircheninnere führten. Matt folgte ihnen, ohne genau zu wissen, was ihn beim Eintreten erwarten würde. Obwohl er versuchte, sich gegen jeglichen Anblick zu wappnen, raubte ihm das, was er schließlich zu sehen bekam, schier den Atem. Das plötzliche, unkontrollierbare Zittern seiner Arme war mehr als nur eine Reaktion auf die unangenehme Kühle im Halbdunkel. Wie schon auf den umliegenden Dächern, so waren auch hier alle kirchlichen Insignien verschwunden. Ob Kreuze, Fresken oder Ikonen, nichts von dem was irgendwie an den christlichen Glauben erinnerte, war mehr vorhanden. Über die Motive der Plünderung ließ sich nur spekulieren. Vermutlich war schon alles geraubt worden, lange bevor sich die neuen Religionen unter dem Einfluss der allgemeinen Degeneration überhaupt durchsetzen konnten. Aber hier drinnen betete niemand zu Wudan oder einem der anderen barbarischen Götter, denen auch Aruula ihr Leben geweiht hatte. Nein, diese dunklen Mauern, in denen gegerbte Lederhäute die geborstenen Bleiglasfenster ersetzten, um nicht nur
Wind und Regen, sondern auch das Tageslicht fern zu halten, beherbergten eine Gottheit, die den Tiefen der Nacht entstammte. Murrnau, so lautete ihr Name. Vielleicht nicht der Gott aller Nosfera, doch sicherlich das Wesen, dem die Inbrunst und religiöse Verzückung der Bluttempler galt. Während die Sänftenträger, denen die Finsternis ein natürliches Zuhause war, forsch voranschritten, hielten Matt und Aruula einen Moment inne, damit sich ihre wesentlich kleineren Pupillen an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnten. Viel gab es ohnehin nicht zu sehen. Dort wo einst hölzerne Bänke für die Gläubigen gestanden hatten, breiteten sich nackte Steinquader im unsteten Schein der verstreut stehenden Feuerschalen aus. Süßliche Dämpfe stiegen aus knisternden Flammen empor und legten sich prickelnd auf Matts Lungenflügel. Mühsam unterdrückte er den Wunsch, das Gesicht zu verziehen. Die Kräuter, die überall in Rauch aufgingen, entsprachen nicht seinem Geschmack. Seine barbarische Gefährtin gab sich da weitaus weniger feinfühlig und rümpfte unüberhörbar die Nase. Zum Glück zeigte sich Radek, der an ihrer Seite geblieben war, nicht pikiert. Zu dritt folgten sie den blakenden Lichtinseln, die zu einem aus schwarzem Fels gehauenen Steinaltar führten, auf dem sich die Gottheit der Bluttempler in Form einer grotesk anmutenden Statue manifestierte. Kahl und grau war ihr verzerrtes Gesicht anzusehen. Ein bis zum Kragen zugeknöpfter schwarzer Mantel bedeckte die dürre Gestalt, die sich durch weit vorstehende Zähne und unnatürlich lange Fingernägel von einem menschlichen Abbild unterschied. Matt spürte, wie Aruula neben ihm vor Furcht erschauerte, und auch ihm war beim Anblick der gut vierzig Zentimeter hohen Statue nicht wohl in der Haut; wenn auch aus anderen Gründen. Denn mit jedem Schritt, den er näher kam, traten die Details deutlicher hervor, sodass sich sein zu Beginn geschöpfter Verdacht zu einer Tatsache verfestigte. Verdammt er kannte die Gestalt, die dort, von einem Kreis blutroter Kerzen umgeben, angebetet wurde. Vor den Stufen, die zu der Empore führten, setzten die Träger ihre an zwei langen Holmen befestigte Sänfte ab. Die Frage, ob Erzvater aus eigener Kraft laufen konnte, klärte sich Sekunden später, als er ohne fremde Hilfe aufstand. In seiner Rechten ruhte plötzlich wie hingezaubert ein dünner Weidenstock. In schnellen, exakt abgezirkelten Bewegungen wischte er damit vor sich durch die Luft, um mögliche Hindernisse aufzuspüren. Dabei schien das überhaupt nicht nötig zu sein, denn die Stockspitze kratzte nicht ein einziges Mal über eine der Treppenstufen, die er sicheren Schrittes erklomm. Oben angelangt, schlug er die rote Kapuze zurück und verneigte sich vor dem Abbild seines Gottes. Matt atmete tief durch, doch die Wahrheit ließ sich nicht länger verleugnen. Auch wenn er sich nie besonders für Stummfilme interessiert hatte, diese im wahrsten Sinne des Wortes schreckliche Figur war jedem Cineasten ein Begriff. Sie hatte einst Kinogeschichte geschrieben, zu einer Zeit, als Deutschlands Regisseure noch internationalen Ruhm genossen. Es handelte sich um Graf Orlock aus dem Film Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens. Obwohl er kein großer Kenner der deutschen Phantastik war, brauchte Matt nicht lange zu überlegen, wie der Name des Mannes lautete, der diesen Horrorstreifen einst geschaffen hatte. Er hieß Friedrich Wilhelm...
»Murnau!« Das Wort kam ihm ungewollt laut über die Lippen. »Richtig«, lobte Radek. »Das ist der Gott, dem wir deine Ankunft verdanken.« Matt spürte einen Anflug von Schwäche in den Knien, gewann die Kontrolle über seinen Körper aber schnell wieder zurück. Im Grunde hatte er Ähnliches schon ein Dutzend Mal erlebt. Schon seit Alters her suchten Menschen nach greifbaren Formen, um ihre Ideen und Ideale bildlich darzustellen, und in primitiven Zeiten wie diesen griffen sie dabei natürlich auf Relikte der Vergangenheit zurück. Oft ohne zu ahnen, wie sehr sie damit den ursprünglichen Inhalt verfälschten. Benutzten nicht sogar die russischen Technos das alte Sowjetemblem, ohne die damit verbundene Ideologie zu praktizieren? Wer wollte es da den Nosfera verübeln, dass sie ihrem Gott eine Gestalt gaben, die der ihren ähnelte? Nachdem er die erste Überraschung überwunden hatte, trat Matt einen weiteren Schritt vor, um die Statue genauer in Augenschein zu nehmen. Unter einer Schicht aus Staub und abgeplatzter Farbe erkannte er gegossene Kunststoffteile, die an mehreren Stellen deutlich sichtbare Klebenähte trugen. Zweifellos ein Bausatz seiner Zeit aus besonders widerstandsfähigem Plastik. Ein seltsames, ledriges Schaben drang an Matts Ohr. Verwirrt sah er in die Höhe, von wo es zu kommen schien. Die Fackeln rund um den Altar reichten nicht aus, um die hohe Decke zu beleuchten. Irgendetwas geriet dort oben in Aufruhr. Erst das Auflodern einer Fackel half das Rätsel zu enthüllen. Mehr als wimmelnde Bewegungen inmitten der tiefen Schwärze machte es zwar nicht sichtbar, doch was immer sich da oben auch tummelte, es musste etwas Lebendiges sein. Im nächsten Moment löste sich ein Klumpen aus der zuckenden Masse und fiel in die Tiefe. Statt jedoch zu Boden zu schlagen, entfaltete er nach wenigen Metern zwei breite Schwingen, die den Sturz in ein elegantes Flugmanöver umwandelten. »Bei Wudan«, keuchte Aruula. »Das sind Bateras!« Ihr Ausruf kam nicht von ungefähr. Die Barbarin hatte bereits unangenehme Erfahrungen mit den Riesenfledermäusen dieser Epoche gemacht. Diese hier schien aber nicht auf Angriff aus zu sein, sondern suchte nach einem neuen Ruheplatz. Mit elegantem Schwung stieg sie wieder zur Decke empor und verschmolz mit der Dunkelheit, vermutlich um sich an einer freien Stelle erneut kopfüber in die Tiefe zu hängen. Erzvater, der seine stille Andacht inzwischen beendet hatte, drehte sich um. Der Blick seiner toten Augen, der sich zielsicher an Matt heftete, besaß etwas Unangenehmes, dabei blickte er den Piloten keineswegs an, sondern starrte vielmehr durch ihn hindurch, als wären seine weißen Netzhäute auf einen fernen Horizont gerichtet. »Sieh her«, forderte seine Heiligkeit ergriffen. »Das ist der Gott, der von nun an auch dein Schicksal bestimmen wird.« Aruula stieß ein scharfes Zischen aus, und auch Matt konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren. In den letzten Jahren hatte er schon zu viele Dinge gesehen und erlebt, die sich nicht restlos mit seinem wissenschaftlichen Verständnis erklären ließen. Doch das Abbild einer ehemaligen Filmfigur zu fürchten, war ihm trotzdem zu viel Hokuspokus. »Wenn Murnau den Kampf gegen die Daa'muren unterstützt, will ich gerne meine Wege von ihm lenken lassen«, kam er den Nosfera entgegen. Aruula starrte ihn entgeistert an, als hätte er ein Sakrileg gegen Wudan begangen. Erzvater nickte dagegen zufrieden. Dass der Glauben seines Volkes beim Sohn der Finsternis Anerkennung fand, schien den angestrebten Pakt endgültig zu besiegeln.
»Blut und Dunkelheit auf all euren Wegen«, wünschte seine Heiligkeit in leisem Singsang. »Und seid versichert, dass Murrnau nicht nur das Wohl aller Nosfera, sondern auch der Menschen am Herzen liegt.« »Ja, sicher«, kommentierte Aruula so leise, dass der Translator es nicht erfasste, »sonst hätte dein Volk ja auch nichts zu fressen.« »Kannst du das bitte auf später verschieben?«, raunte Matt mit aufgesetztem Lächeln zurück. »Schließlich sind wir hier, um Verbündete zu gewinnen.« Knallender Schwingenschlag unterbrach den sich anbahnenden Zwist. Aber es war keiner der anwesenden Bateras, der das Geräusch verursachte, sondern ein weiteres Tier, das gerade durch das offene Portal hereingeflogen kam. Es flatterte dem Altar entgegen und landete wie ein dressierter Greifvogel an Radeks linkem Arm, den dieser ausgestreckt hatte. Tatsächlich überbrachte der Batera eine Nachricht! Matt glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als Radek eine kleine Lederrolle von der linken Fußkralle losband. Die Nachricht, mit einer rußiger Holzspitze auf die gegerbte Innenseite geschrieben, überflog er schnell, um den Inhalt flüsternd an Erzvater weiter zu geben. Die plötzliche Heimlichkeit diente wohl nur dazu, den hohen Rang seiner Heiligkeit zu unterstreichen, denn gleich darauf wurden Matt und Aruula ins Vertrauen gezogen. »Einige Ordensbrüder, die vier Tagesreisen östlich leben, melden den Anmarsch eines großen Heeres, das sich auf Moska zu bewegt«, erklärte Erzvater mit ruhiger Stimme. »Sie bedanken sich für unsere Warnung, die es ihnen ermöglicht hat, rechtzeitig ihr Hab und Gut zu vergraben. Inzwischen sind sie auf dem Weg zur Ordensburg, um sich unter deinem Kommando dem Feind entgegenzustellen.« Ein Batera als Brieftaube. Irgendwie kam das Matt unwirklich vor. Besonders als er sah, wie Radek sein rechtes Handgelenk entblößte und der Fledermaus gestattete, ihn zu beißen und das austretende Blut mit der Zunge aufzulecken. Dem Nosfera schien die Verletzung nichts auszumachen, im Gegenteil. Er ließ das hungrige Tier gewähren. Wohl um es für seine gute Leistung zu belohnen...
* Wütend sprang Sergiuz auf die Füße und stampfte mit schweren Schritten näher. Erst als er zu seinen Gästen aufgeschlossen hatte, drehte sich Dolgoruki betont langsam zu ihm um. Obwohl zwei doppelseitig geschärfte Stahlspitzen zum Stoß bereit vor ihm verharrten, fragte er ruhig: »Du weißt hoffentlich, was dir blüht, wenn wir nicht lebend zurückkommen.« Eine Drohung von großem Gewicht, die sich, einmal ausgesprochen, nicht wieder zurücknehmen ließ. An einen Krieg mit der Bunkerstadt, die über Waffen von hoher Vemichtungskraft verfügte, konnte dem Zaritsch nicht gelegen sein. Doch die Geschichte lehrte, dass so mancher Herrscher lieber mit fliegenden Fahnen in den Untergang rannte, als sein Gesicht zu verlieren. Sergiuz, der von dem Respekt lebte, den man ihm entgegenbrachte, schien einen Moment wirklich unentschlossen, wie er reagieren sollte. Der Grimm in seinem Gesicht wollte einfach nicht weichen, doch am Ende hielten sich bei ihm Mordlust und Überlebensinstinkt die Waage.
»Vorsicht«, warnte er rau. »Ich darf dich vielleicht nicht töten, aber ein kurzer Schnitt mit der Klinge ist schnell passiert. Wenn ich mich recht entsinne, fürchtet ihr Erdtaratzen nichts mehr, als dass eure silberne Haut verletzt werden könnte, oder?« Statt zu antworten, langte Juri Dolgoruki an seine Helmverschlüsse und ließ sie mit geübten Griffen aufschnappen. Zischend entwich die sterile Luft aus dem Inneren. Sekunden später hob er den Kunstglaskonus mit beiden Händen über den Kopf hinweg. Ein Meer aus Schweißperlen bedeckte seine Stirn, doch die tief liegenden Augen funkelten vor freudiger Erregung, als er Sergiuz den Helm wie einen Ball entgegen warf. »Du weißt gar nichts«, beschied er dem überraschten Herrscher. »Vielleicht wirst du das eines Tages endlich begreifen.« Sergiuz starrte schockiert auf das transparente Gebilde, das er plötzlich in Händen hielt. Weder er noch einer der anderen Barbaren im Audienzraum hatte je einem Techno ohne Helm gegenübergestanden. So viel stand fest: Sein bisheriges Weltbild war bis in die Grundfesten erschüttert. Und das beunruhigte ihn. Schweigend scheuchte er die Wachen zur Seite. Wer konnte in dieser unübersichtlichen Situation schon wissen, was als nächstes geschah? Unbehelligt setzten Mr. Black und Dolgoruki ihren Weg fort. Gemessenen Schrittes ließen sie die Tür hinter sich und gingen einen langen Flur entlang, dem vom Glanz vergangener Tage nicht mehr viel anzusehen war. Felle und ausgestopfte Taratzenköpfe prangten an der Wand. Ein kurzes Husten übertönte das Klappern ihrer Sohlen, doch erst im Treppenhaus, weitab von jeder Wache, sah Black besorgt zu seinem Begleiter. »War das nicht zu riskant?«, fragte er. »Sie tragen den Serumsbeutel erst seit vier Tagen.« »Einer musste ja den ersten Feldversuch starten.« Dolgoruki setzte zu einem tapferen Lächeln an. »Außerdem war es höchste Zeit, diesem arroganten Dickschädel eine Lektion zu erteilen. Glauben Sie mir, Mr. President. Der Zaritsch wird nur mit uns kooperieren, wenn wir ihn von Anfang an unter Druck setzen. Geben wir nur einmal nach, wird er die Vorbereitungen mit immer neuen Forderungen blockieren.« »Kann man diesem Kerl überhaupt trauen?« Dem Techno schien die Frage nur zu verständlich, trotzdem antwortete er: »Keine Sorge. Sergiuz besitzt einen viel zu sicheren Machtinstinkt, um den Kampf gegen Ramenki zu wagen. Er weiß genau, dass er dabei nur verlieren kann.« Auf dem Weg ins Erdgeschoss verstummten beide, um neugierigen Ohren vorzubeugen, die an der Tür lauern mochten. Draußen, in Sichtweite der Erzengelkathedrale wartete das Dingi, mit dem sie hierher gekommen waren. Die beiden Plexiglaskuppeln, die sich über Vorder und Rücksitze wölbten, reflektierten in der Sonne. Alles schien ruhig, doch auf dem Weg zu ihrem Gefährt blieb Dolgoruki plötzlich stehen, stemmte beide Hände in die Hüften und sog rasselnd den Atem ein. »Ist Ihnen schlecht?«, fragte Black alarmiert. »Müssen Sie sich übergeben?« Seine Befürchtung, das geschwächte Immunsystem des Technos könnte gerade kollabieren, erwies sich jedoch als unbegründet. Dolgorukis Lippen spalteten sich zu einem zufriedenen Lächeln, das fast die gesamte untere Hälfte seines Gesichts einnahm. »Schon gut«, versicherte er. »Es ist nur... ich hätte nie für möglich gehalten, dass ungefilterte Luft so phantastisch schmecken kann.«
*
Auf dem Weg ins Kellergewölbe nutzte Matt die Gelegenheit, Erzvater noch einmal persönlich mit der Gefahr vertraut zu machen, die von den Daa'muren ausging Der Hinweis, dass es sich bei diesen Wesen um Bewohner eines fremden Planeten handelte, wühlte den Nosfera nicht sonderlich auf. Vielleicht war die Existenz von außerirdischem Leben in seinem Glauben verankert, möglicherweise behalf er sich aber auch mit der Vorstellung, dass es sich um Dämonen handelte, die sonst im Himmelszelt hausten. Wichtig war nur, dass Erzvater die Daa'muren und ihre Mutantenarmee nicht als Problem der Menschen abtat, sondern die Bedrohung für sein eigenes Volk begriff. »Wir werden dich bei allem unterstützen, was du vorschlägst«, sprach er dem Commander sein volles Vertrauen aus. Matt wurde diese rückhaltlose Zustimmung allmählich unheimlich. Etwas mehr EigenVerantwortung seitens der Nosfera wäre ihm lieber gewesen, denn wenn es zu Verlusten kam, mussten sie von allen mitgetragen werden. Die steinernen Gänge, die sie durchschritten, waren nur mäßig beleuchtet. In den dunklen Abschnitten, die zwischen den mit Pech getränkten Wandfackeln lagen, kam selbst Erzvater leichtfüßiger als Matt und Aruula voran. Den Blindenstab unablässig vor sich her schwenkend, führte er sie an vergitterten Räumen vorbei. Meditativer Gesang hallte ihnen aus der Feme entgegen, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stärker schwoll er an. Es schien ein Requiem zu sein, traurig und voller Wehmut zugleich. Matt war nicht weiter überrascht, als sie ein Gewölbe erreichten, in dem acht Männer und Frauen saßen, die eine Strophe nach der anderen anstimmten. Ihre Augen geschlossen und einander an den Händen gefasst, bildeten sie einen großen Kreis, in dem drei blakende Feuerschalen dicht beieinander standen. Außer innen waren nur einige Adepten anwesend, die sich still in die äußersten Winkel zurückgezogen hatten. Erzvater sprach ebenfalls kein Wort, machte jedoch eine stolze Geste, als ob er sagen wollte: Seht her, das sind sie, unsere Propheten! Matt und Aruula regelten die Lautstärke der Übersetzungsgeräte herab, um die Konzentration der Nosfera nicht stärker als nötig zu stören. Auch wenn man nicht an die Kraft der Weissagungen glaubte, bot dieser seltsame Chor, der sich in synchronen Bewegungen von einer Seite auf die andere wiegte, ein ergreifendes Schauspiel. Gemeinsam lauschten Menschen und Nosfera dem monotonen Gesang, der von dem Ältesten der Gruppe durch immer neuen Zeilen vorangetrieben wurde. Der Translator vermochte ihren Inhalt nur bruchstückhaft zu übersetzen, doch so weit Matt verstand, handelte es sich um eindringliche Bitten nach Weisheit und Erleuchtung. Der Vortrag begann ihn gerade zu ermüden, als die Stimmen anzogen und der Gesang lauter und kräftiger wurde. Die Propheten schienen plötzlich völlig weggetreten, nur ihr Vorsprecher bäumte sich auf und rief: »Der Sohn! Der Sohn der Finsternis! Die Menschen in Moska werden ihn verachten!« Matt glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als die Übersetzung erklang. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er an Erzvater gewandt, während die Schultern des Alten wieder herab sackten und die sich wiegenden Propheten mit dem Gesang fortfuhren.
Seine Heiligkeit blieb die Gelassenheit in Person. Den Weidenstab locker zwischen beiden Handflächen rollend, dachte er eine Weile nach, nur um dann mit den Schultern zu zucken. »Ich weiß nicht. Vielleicht steht dir eine Zeit der Prüfungen bevor?« Matt lag ein passender Kommentar auf der Zunge, der sich mit Phrasen im Allgemeinen und schwammigen Interpretationen im Besonderen beschäftigte, doch er schluckte ihn herunter, um keinen Unfrieden zu stiften. Was sollte die Aufregung? Er glaubte doch sowieso nicht an diese Prophezeiungen, oder? »Manchmal ist nicht sofort zu verstehen, was uns die Götter mitteilen wollen«, klärte ihn Erzvater weiter auf. »Doch eins ist sicher, Maddrax: Egal was die Zukunft auch bringen mag, die Bluttempler werden stets zu dir stehen.« Der Pilot bedankte sich für dieses Versprechen, ohne ein Gefühl des Unbehagens abschütteln zu können. Und so war er froh, als Radek anbot, Aruula und ihn zurück nach Moska zu begleiten. Erzvater blieb noch eine Weile am Tempel stehen, während das Trio durch das Burgtor entschwand. Mochten seine Augen auch mit Blindheit geschlagen sein, mit seinen übrigen Sinnen den Ohren, der Nase und vor allem der Kraft seines inneren Auges konnte er den Weg seiner Gäste noch verfolgen, als sie schon längst außer Sichtweite waren. Wahrhaftig, der Sohn der Finsternis musste aus einer fernen Zeit stammen; anders war das Wissen, das Erzvater in seinen Gedanken erspürt hatte, nicht zu erklären. Vieles von dem, was Maddrax wusste oder zumindest zu wissen glaubte, klang für einen Nosfera verwirrend. Erzvater war deshalb froh, dass er Radek und den anderen Geistmeistem verboten hatte, dessen Gedanken zu erlauschen. Sie hätten sonst Schaden nehmen können. Zwei Krieger, die sich beinahe geräuschlos über den Hof näherten, erregten seine Aufmerksamkeit. Er konnte ihre Auren spüren, deshalb wusste er, dass es sich um Vukov und Rraal handelte, noch ehe sie ihn ansprachen. »Grobak ist aus Moska zurückgekehrt«, berichteten sie nach einer kurzen Demutsbezeugung. Erzvater war sofort ganz Ohr. »Brachte unser junger Bruder gute Neuigkeiten?«, fragte er. »Ja, die Straßentaratzen aus dem Raspuutin verkünden bereits überall, dass Maddrax auf unserer Seite steht. Wie es scheint, hat es deshalb Unmutsbezeugungen gegeben.« Unter der roten Kapuze spalteten sich Erzvaters Lippen so breit, dass seine zugespitzten Zähne glitzerten. »Sehr gut. Je mehr Widerstand ihm die Barbaren entgegen bringen, desto mehr wird er auf unsere Hilfe angewiesen sein. Folgt den dreien, aber unauffällig. Der Sohn der Finsternis soll sich nicht bedrängt fühlen.«
* Taascha erwachte, weil das Geschrei im Haus nicht mehr auszuhalten war. Sich müde den Schlaf aus den Augen reibend, strampelte sie das Stroh zur Seite und setzte sich auf. Vergeblich suchte sie das Gesicht ihrer Mutter, deren Anwesenheit stets Schutz und Geborgenheit versprach. Eine Woge der Einsamkeit schlug in ihr empor, und die Furcht, plötzlich ganz alleine auf der Welt zu sein. Tränen benetzten ihre Augen, während sie sich an dem rauen Holz des Bettkastens empor zog und ins Zimmer schaute. »Mama!«, rief sie und begann leise zu weinen.
Murin, ihr älterer Bruder, der nahe der Fensterbank saß und an einem Stück Holz schnitzte, verdrehte genervt die Augen. »Hör auf zu quengeln«, forderte er. »Du weißt doch, dass sie unten auf dem Markt arbeitet.« Taascha mochte es nicht, wenn der Bruder mit ihr schimpfte, trotzdem versiegten ihre Tränen. Sie war gar nicht allein! Murin passte auf sie auf! Wunderbar. Das hieß, sie konnte ihn foppen, necken und ärgern, mit ihm streiten und später verpetzen. Die Furcht vor der Einsamkeit schwand, dafür machte sich ein flaues Gefühl im Magen bemerkbar. »Ich hab Hunger!«, verkündete sie schniefend. »Gib mir was zu essen.« Murin runzelte unwillig die Stirn. »Es ist nichts da«, beschied er ihr. »Mutter bringt später was mit.« Um sich verständlich zu machen, musste er die Stimme anheben, denn das Geschrei im Haus wurde immer lauter. Nicht nur das betrunkene Pärchen unter ihnen, das entweder schlief, sich anschrie oder laut stöhnte, schien heute verrückt zu spielen. Auch über ihnen und auf der gleichen Etage wurden Stimmen laut. Alle schienen irgendwie erbost zu sein. Türen schlugen zu, Menschen rannten durchs Haus. Mit ihren vier Sommern beherrschte Taascha noch nicht genügend Worte, um alles zu verstehen, was gesprochen wurde. Nur einzelne Satzfetzen wie: »... dieser versoffene Taratzenarsch... wieder mal den Kienspan runterbrennen lassen... alles raus hier...« Murin, der schon viel besser als sie sprechen konnte, ignorierte den Tumult. Ganz in seine Arbeit versunken, schnitzte er weiter mit seinem kleinen Messer an dem daumendicken Holzblock herum, aus dem einmal ein mit Speer und Schild bewaffneter Krieger werden sollte. Taascha beneidete den drei Sommer älteren Bruder für seine Fähigkeit, manchmal alles um sich herum zu vergessen. Selbst früher, als noch der Vater bei ihnen gelebt hatte und oft mit ihrer Mutter stritt, hatte Murin einfach dagesessen und geschnitzt, ohne auf das Geschrei zu achten. Taaschas nagenden Hunger ignorierte Murin leider ebenso. Deshalb blieb dem kleinen Mädchen mit den kurz geschorenen blonden Haaren nichts anderes übrig, als allein aus dem Bettkasten zu krabbeln. Der alte Getreidesack, in den ihre Mutter drei Löcher für Kopf und Arme geschnitten hatte, kratzte auf der Haut, doch das nahm sie längst nicht mehr wahr. Sich über die Kante zu wuchten und in die Tiefe zu lassen erforderte einige Kraft, doch Taascha hatte die mit Stroh gefüllte Kiste, die ihr als Bett diente, schon oft alleine verlassen. Einen Moment lang stand sie noch wacklig auf den schmutzigen Beinen, dann stakste sie schon zielstrebig zum Küchentisch, auf dem sicher noch ein paar Brotkrumen zu finden waren. Das große Zimmer (zumindest ihr kam es groß vor), in dem sie mit Mutter und Bruder lebte, kannte Taascha wie ihren eigenen Bettkasten. Falls Murin eine Leckerei vor ihr versteckt hatte, würde sie die schon finden. Er sah bereits misstrauisch zu ihr herüber. »Was stinkt denn hier so komisch?«, fragte er mit kraus gezogener Nase. »Hast du dich nass gemacht?« Taascha wurde bei diesem Vorwurf ganz heiß im Gesicht. »Nein, hab ich nicht«, protestierte sie erbost, fasste aber vorsichtshalber unter das kratzige Kleidchen. Nein, ihr Po war ganz trocken. Ein Glück. Zur Strafe streckte sie dem Bruder die Zunge heraus und ging weiter zum Tisch. Nachdem sie auf einen wackligen Hocker geklettert war, entdeckte sie einen halbvollen Wasserkrug und ein paar Stücke abgeschnittener Brotrinde, die ihre Mutter nicht mehr kauen konnte.
Von wegen, nichts zu essen da! Taascha stopfte die Rinde in den Mund und spülte mit
Wasser nach.
Während ihr Hungergefühl wich, bemerkte sie ebenfalls beißenden Gestank. Ob Murin
sich eingemacht hatte? Nein, das roch anders. Das Geschrei im Haus war ebenfalls
verstummt. Draußen auf der Straße ging es umso lebhafter zu. Dort brüllten die Leute
noch lauter als sonst durcheinander.
Na ja, auf dem Markt war immer was los.
Taascha trank noch einen Schluck Wasser, stieg vorsichtig vom Hocker und erstarrte.
Fassungslos sah sie auf einen grauen Schleier hinab, der unter der Tür durchquoll und
sich langsam im Zimmer ausbreitete. Der beißende Gestank schwoll schlagartig an. In
ihren Nasenlöchern begann es auf einmal zu kribbeln.
»Stinkender Nebel!«, rief sie ängstlich. »Ihhhh!«
Murin sprang von seinem Platz auf, eilte mit drei langen Sätzen herbei und nahm sie
fest in den Arm. Seine Nähe tat gut. Ein großer Junge wie er wusste sicher, was jetzt zu
tun war. Wenn er doch nur nicht gezittert hätte, als ob er sich selbst fürchten würde.
»Das ist kein Nebel«, flüsterte Murin heiser, »sondern Rauch. Wir müssen fliehen,
schnell.«
Seine Schwester verstand nicht, was eigentlich vor sich ging, doch sie wollte ebenfalls
fort. Hinaus auf die Straße, zur Mutter. Nur an deren Rockschoß gab es die Sicherheit,
nach der sie sich so plötzlich sehnte.
Hand in Hand rannten beide Kinder zur Tür, doch als sie sie öffneten, wehten ihnen
heiße Funken ins Gesicht. Dichte Rauchwolken machten das Atmen zur Qual. Zu
beiden Seiten des Flures loderten hohe Flammen empor. Überall knisterte und knackte
es.
Hastig warfen die Geschwister die Tür wieder zu und lehnten sich mit klopfendem
Herzen dagegen. Am liebsten hätten beide das Feuer einfach ausgesperrt, doch mit
dem sicheren Instinkt, der Kindern zueigen ist, spürten sie die näher rückende Gefahr.
Das Prasseln im Flur wurde immer lauter, die Holztür unter ihren Händen erwärmte sich.
Sie mussten weg, und das so schnell wie möglich.
Murin packte seine Schwester am Arm und zerrte sie in die einzige Richtung, die noch
geblieben war: zum offenen Fenster. Wimmernd kletterten sie auf die davor stehende
Kiste, um ans Fensterbrett zu gelangen. Als sie nach draußen blickten, wurden auf der
Straße Schreie laut.
»O Wudan!«, kreischten einige Passanten, in dem nutzlosen Versuch, die Götter
anzurufen. »Da sind ja noch Kinder im Haus!«
Hinter ihnen begann die Zimmertür zu beben, als ob die Flammen daran rütteln würden.
Murin und Taascha wären am liebsten aus dem Fenster gesprungen, um der Hitze, die
sie nun wie eine Wolke einhüllte, zu entgehen. Ein Blick in die Tiefe raubte ihnen jedoch
den Mut zum rettenden Sprung. Drei Stockwerke ging es hinab auf die Straße, schon für
einen Erwachsenen eine beachtliche Höhe.
Für zwei Kinder die Unendlichkeit.
Verzweifelt suchten sie unter den Schaulustigen das Gesicht ihrer Mutter oder das eines
anderen Menschen, der ihnen zurief, wie sie sich retten konnten. Doch mehr als einige
mitleidige Schreckensbekundungen schallten nicht in die Höhe.
Taascha schnürte es vor Angst die Kehle zu. Ihr großer Bruder fand dagegen die Kraft,
das auszusprechen, was auch ihr auf den Lippen brannte.
»Hilfe!«, brüllte Murin verzweifelt. »Kann uns denn keiner helfen?«
Auf den Straßen rund um den Roten Platz herrschte so viel Betrieb, dass Juri nur langsam mit dem Dingi voran kam. Mr. Black nutzte die Zeit, um Verbindung mit seinen Gefährten aufzunehmen. Die leistungsfähigen Funkgeräte der Russen vermochten die CF-Strahlung in einem Radius von bis zu zehn Kilometern zu durchdringen. Damit lag die Ordensburg der Nosfera im Empfangsbereich. Der Rebell hatte Glück, als er seinen Ruf hinausschickte. Drax, Aruula und Radek befanden sich schon auf dem Rückweg. Mit knappen und präzisen Worten umrissen beide Parteien ihr Verhandlungsergebnis. »Mir scheint, sie waren etwas erfolgreicher als wir«, gestand Black neidlos ein. »Aber mit dem Zaritsch ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ich frage mich überhaupt, ob wir den Kerl brauchen. Die Moskawiter müssen schließlich ein ureigenes Interesse daran haben, sich gegen die anrückende Streitmacht zu verteidigen. Wir sollten die Menschen einfach direkt ansprechen, sie aufrütteln und auf unsere Seite ziehen.« »Das wird Sergiuz aber nicht gefallen«, warf Dolgoruki ein. »Die Oberfläche ist sein Territorium, in das wir uns bisher nie eingemischt haben.« Blacks kantige Miene verdunkelte sich. »Der Kerl hat seine Chance gehabt, oder nicht? Wenn er sich jetzt quer stellt, muss er eben damit rechnen, dass sein Stuhl ins Wanken gerät.« Matthew Drax stimmte über Funk zu, was Black mit einiger Genugtuung erfüllte. Bevor er jedoch Vorschläge machen konnte, wie die Bevölkerung am besten zu unterrichten sei, nahm der stetig zäher fließende Verkehr seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Aus der vor ihnen liegenden Häuserschlucht quoll eine wahre Flut von WakudaGespannen und Last-Andronen hervor und verstopfte den Platz, an dem einst das Hotel Moskwa gestanden hatte. »Irgendwas hat die Viecher in Panik versetzt.« Juri reckte den Hals, um über den Tumult hinweg zu sehen. Einige Karrenlenker hatten tatsächlich Mühe, ihre Wakudas im Zaum zu halten. Zwischen den aufragenden Fundamenten wurde einigen das hohe Tempo zum Verhängnis. So sorgte ein Wagenrad, das an einem vorstehenden Betonrest zerschellte, unfreiwillig für Fruchtkompott, weil sich eine ganze Ladung faustgroßer Stachelbeeren über dem Boden ergoss. Was nicht gleich beim Aufprall draufging, wurde spätestens zermatscht, als weitere Gespanne darüber hinweg jagten. Die Ursache dafür blieb den Dingi-Insassen verborgen. Erst als Mr. Black die Plexiglaskuppel nach hinten fuhr und sich, an die Konsole geklammert, aufstellte, erhaschte er einen Blick auf die Flammen, die in einigen hundert Metern Entfernung aus einem Haus in der ehemaligen Twerskaja Uliza schlugen. »Ein Brand«, erklärte er. »Deshalb drehen die Tiere durch.« »Zum Glück können wir links abbiegen«, antwortete Juri, der bereits am Lenkrad kurbelte, um das Portal im Bolschoitheater anzusteuern. »Weiter hinten geht es wieder schneller voran.« Mr. Black war für Sekunden so verblüfft, dass er kein Wort herausbrachte. Keuchend ließ er sich in den Sitz fallen, fasste dem Techno ins Steuer und deutete die breite Straße hinauf. »Da gehts lang!«, forderte er. »Da sind Menschen in Gefahr!« Das Dingi kam abrupt zum Stehen.
»Ihre Hilfsbereitschaft in allen Ehren«, zeigte sich Juri verschnupft, »aber haben wir nicht Wichtigeres zu tun als uns um ein alltägliches Feuer zu kümmern? Die Mutantenarmee ist nur noch vier Tagesmärsche von Moska entfernt!« Sein Beifahrer vertrat eine ganz andere Meinung. »Tun Sie gefälligst nicht so, als ob das Leben der Barbaren keinen besonderen Wert hätte«, grollte Black. »Nutzen Sie lieber die Chance, eine neue Ära der Kooperation einzuleiten. Rufen Sie das Löschfahrzeug, das in Portal B stationiert ist. Und geben Sie Gas, damit wir noch rechtzeitig am Brandort eintreffen.« Dolgoruki machte ein Gesicht, als hätte er in eine saure Frucht gebissen, fügte sich aber Blacks Wünschen. Immerhin hatte der amerikanische Hüne das Serum gebracht, dem er seine ersten Atemzüge an der Oberfläche verdankte. Also legte er den Gang ein, schlängelte sich um einige stampfende Andronen und Wakudas herum und fuhr die Twerskaja Uliza hinauf. Links und rechts des Dingis säumten Marktstände den Weg. Der eine oder andere Stützpfosten eines Sonnenbaldachins war zur Seite weggeknickt und mehrere Kisten lagen zerschmettert auf dem Boden. Zwischen den lose im Wind knatternden Stoffenden und den zermatschten Waren patrouillierten Händler mit gezogenem Schwert, um Plünderer abzuschrecken. Sonst ließ sich kaum jemand blicken. Nachdem das andere Dingi über sein Eingreifen informiert war, übergab Black das Sprechmikro an Juri Dolgoruki, damit er Verstärkung herbeirufen konnte. Dem geübten Ingenieur fiel es nicht schwer, gleichzeitig zu funken und zu lenken. Der Trubel auf der Straße hatte sich längst gelichtet; erst auf Höhe der Brandstelle wurde es wieder voller, weil dort die Schaulustigen zusammenströmten. Das Dach eines alten fünfstöckigen Gebäudes brannte lichterloh. Es rächte sich nun auf bittere Weise, dass viele Mauerwerksschäden nur notdürftig mit Brettern und Lehmverschalungen ausgebessert waren. Überall leckten Flammen empor. Im Inneren des Hauses knackte und krachte es wie explodierender Zunder. Die wenigen Besonnenen, die mit Eimern, Krügen und sonstigen Gefäßen eine Kette zur nächsten Zisterne bildeten, versuchten erst gar nicht den Brand zu löschen, sondern gossen das Wasser ans nebenstehende Gebäude, um ein Übergreifen der Flammen zu verhindern. Vermutlich vergebene Liebesmüh, denn die paar Liter, die dort gegen die Außenwand klatschten, bedeuteten im Ernstfall nicht mehr als den berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Mit etwas mehr Anstrengung hätte sicher mehr erreicht werden können, aber die meisten der versammelten Barbaren gafften nur tatenlos in die Höhe. Es dauerte nicht lange, bis Mr. Black den Grund ihres Interesses ausmachte: zwei kleine Kinder, die aus einem Fenster im dritten Stock blickten. Der Weg durchs Treppenhaus war ihnen abgeschnitten, und an der Fassade konnte sich niemand mehr herablassen. Aus den ersten beiden Etagen schlugen bereits Flammen in die Höhe. Nicht mal die viel zu kurzen Leitern, die zwei Männer herangeschleppt hatten, ließen sich noch anlehnen. Ihre Stiegen und Streben wären umgehend in Rauch aufgegangen. Der Versuch, die Kinder zum Sprung in die offenen Arme zu animieren, schlug ebenfalls fehl. Sie waren inzwischen vor Angst so gelähmt, dass sie nur noch die Kraft aufbrachten, sich aneinander zu klammern. Juri stoppte das Dingi, denn die Menschen standen inzwischen zu gedrängt, um noch zurückzuweichen. »Rasputin Zwei ist unterwegs«, fasste er das Ergebnis seiner Funkkonferenz zusammen. »Jetzt können wir nur noch warten und für die Kinder beten.«
Sein frommer Wunsch ging im Schnurren des aufklappenden Verdecks unter. Ohne sich groß zu verabschieden, stieg Mr. Black aus und bahnte sich einen Weg durch die dichtgedrängte Menge. Ein waberndes Gemisch aus Schreien, Flüchen und leisem Wimmern hüllte die in Felle und grobe Stoffe gekleideten Barbaren ein. Von Wind und Sonne gegerbte, zum Teil auch ausgezehrte Gesichter dominierten das Bild. Körperpflege im zivilisierten Sinne traf man nur selten an. Die hier versammelten Menschen kannten das Leben vor allem von seiner dunkelsten Seite. Doch so hartgesotten sie sonst auch sein mochten, im Angesicht der kreischenden Kinder, denen keiner zu helfen vermochte, standen vielen die Tränen in den Augen. Black zwängte sich unter dem Stoffdach eines Marktstandes hindurch und suchte sich eine freie Stelle, von der aus er einen guten Überblick hatte. Seine Größe half ihm dabei, sich schnell zu orientieren. Hitze und Funkenflug hielten die Menschen längst auf Abstand zu dem Haus, doch niemand wich weiter zurück als er unbedingt musste. Kurz vor der gaffenden Front wand sich eine verzweifelte Frau im Griff einiger Nachbarinnen. Das blaue Wolltuch, das sie über den Kopf trug, war verrutscht. Darunter kam ein von Gram verzerrtes Gesicht zum Vorschein. Man musste kein Prophet sein, um zu erkennen, dass es die Mutter der eingeschlossenen Kinder war. Fieberhaft sah Black sich weiter um. Zu seiner Verwunderung entdeckte er eine LastAndrone, die nur ein Haus entfernt über die Menge hinweg ragte. Sie schien sich nicht so stark vor den Flammen zu fürchten wie ihre Artgenossen. Oder der Reiter, der auf ihrem Rücken thronte, hatte sie einfach besser im Griff. Hinter der Riesenameise waren die Fenster mit Schaulustigen bevölkert. Selbst in einem Speicherzugang im fünften Stock drängten sich einige schmutzige Schauerleute. Über dem Trio, das aufpassen musste, dass es nicht Übergewicht bekam und in die Tiefe stürzte, ragte ein Ladebaum ins Freie. Der daran befestigte Flaschenzug reichte bis auf den Boden, wo gerade ein mit Fässern und Stoffballen gefülltes Ladenetz eingehängt werden sollte, als durch den Brand alles zum Erliegen kam. Beim Anblick der ganzen Szenerie reifte in Mr. Black eine tollkühne Idee heran. Hastig ließ er den Blick zwischen den benachbarten Häusern hin und her fliegen, um Längen und Entfernungen abzuschätzen. Er hielt sich nicht lange mit Feinheiten auf, sondern vertraute auf seine in vielen Jahren des Kampfes geschulte Körper beherrschung, als er sich einen Weg zu der Androne bahnte. »Lasst mich durch!«, verlangte er, weil es ihm nicht schnell genug ging. »Ich weiß, wie wir die Kinder retten können!« Sein Ruf elektrisierte die Barbaren, noch ehe sie die Übersetzung aus dem Translator hörten. Hoffnung keimte unter den Menschen auf. Obwohl sie Schulter an Schulter standen, entstand irgendwo genügend Raum zum Zurückweichen, sodass sich vor Black eine Gasse öffnete, die erst zu Füßen des Andronenreiters endete. »He, du«, wandte er sich an den bärtigen Kerl, dessen Stirn so breit war, dass man darauf sitzen konnte. »Kann mich dein Tier da rauf bringen?« Black deutete auf ein Fenster im dritten Stock, in dem sich einige Schaulustige drängten. Der Reiter folgte der angezeigten Richtung und zuckte mit den Schultern. »Klar, kein Problem. Das Haus brennt ja nicht.« Mehr brauchte Black gar nicht zu wissen. Sein Entschluss stand fest. Ohne jemanden in sein Vorhaben einzuweihen, ging er zu dem Transportnetz und löste den Haken aus der dafür vorgesehenen Schlaufe. Dann schwang er sich mitsamt des herabhängenden Seils auf den Rücken der Androne und krallte sich am Sattel fest.
Gehorsam folgte das schwarz glänzende Insekt den durch Tritte und Zügelbewegungen ausgesandten Befehlen. Einige Barbaren mussten seinem chitinbewehrten Hinterteil ausweichen, als es auf der Stelle drehte, dann stieg es mit den Vorderbeinen in die Höhe und begann Schritt für Schritt an der brüchigen Fassade empor zu klettern. Millionen kleiner Widerhaken bohrten sich in den rauen Untergrund, der stark genug war, das Gewicht von Mensch und Tier zu tragen. Das Seil in Blacks Hand straffte sich langsam. Das anvisierte Fenster lag gut acht Meter rechts von der Luke. Ungefähr genauso weit entfernt wie die Kinder auf der linken Seite, im Eckfenster des brennenden Gebäudes. Unter ihm wurden Laute des Unverständnisses laut. Einige Menschen schienen nicht zu verstehen, was er vorhatte, und die, die es ahnten, räumten ihm keine großen Erfolgschancen ein. Mr. Black ließ sich nicht davon beirren. Energisch scheuchte er die Gaffer ins Zimmer zurück und wechselte von der Androne aufs Fensterbrett. Halb aufgerichtet, die rechte Schulter unter den Holzrahmen geklemmt, visierte er das brennende Gebäude an. Das Schwierigste an dem Plan war, das Seil richtig abzumessen, alles andere war nur eine Frage der Physik. Zwei Mal ließ er einen Meter Seil durch seine Hände vor und zurück wandern, dann nickte er zufrieden. Die Androne hatte sich wieder zurückgezogen. Der Weg war frei. Es konnte losgehen. Unter ihm wurde es plötzlich still. Eine gespannte Ruhe machte sich breit, die nur vom Knistern der Flammen durchbrochen wurde. Selbst die Kinder verstummten. Mr. Black packte das Seil fester, holte tief Luft und sprang aus dem Fenster. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, während es in die Tiefe ging. Es folgte ein mörderischer Ruck, den er bis in die Schulterblätter spürte. Seine Handflächen brannten, als ob er über Schmirgelpapier streichen würde, trotzdem ließ er nicht locker. Dem Gesetz der Fliehkraft folgend, pendelte er unter dem Ladebaum entlang, in Richtung des brennenden Hauses. Der Tiefpunkt war überschritten, doch würde der Schwung reichen, um ihn bis in den dritten Stock zu katapultieren? Glühende Funken kreuzten seine Bahn. Emporschlagende Flammen leckten nach seinen Beinen. Er ignorierte die Hitze und sah nach oben. Die Gesichter der Kinder rückten näher, gleichzeitig spürte er den Griff der Schwerkraft, die ihn unbarmherzig abbremste. Black streckte den linken Arm aus und schaffte es gerade so. Seine Fingerspitzen schrammten über die Fensterbank, und Black krallte sich fest. Sekundenlang hing er wie am seidenen Faden, dann fasste er mit der anderen Hand nach und zog sich empor. »Nehmt mir das Seil ab«, bat er die von dunklen Qualm umhüllten Kinder, doch sie rührten sich nicht. Nichts zu machen. Der Schock hatte sie gelähmt. Keuchend klemmte Black den Eisenhaken hinter die Fensterbank, quälte sich weiter in die Höhe und fiel mehr in das verräucherte Zimmer, als dass er einstieg. Rauch und Hitze raubten ihm den Atem, doch aus Sorge um die Kinder kämpfte er sich gleich wieder auf die Beine. Im Zimmer sah es schlimmer aus, als er angenommen hatte. Die Tür brannte lichterloh, und die Mauern begannen schon zu dampfen. Es war nur noch eine Sache von Minuten, wenn nicht Sekunden, bis sich alles in ein flammendes Inferno verwandeln würde. Er beugte sich zu den Kindern hinunter. »Haltet euch an mir fest«, krächzte er. »Ich kann nämlich nicht gleichzeitig das Seil und euch...«
Er verstummte, als die beiden nicht reagierten, sondern wie durch ihn hindurch starrten. Da weder der Junge noch das Mädchen ansprechbar waren, löste er sie mit sanfter Gewalt voneinander und drapierte ihre Arme um seinen Hals. Der Versuch gelang. Vom Wunsch nach körperlicher Nähe getrieben, klammerten sich beide an ihm fest. Er wollte zum Haken greifen und das Seil einholen, als ihn lautes Poltern zurückschrecken ließ. Keine Sekunde zu früh. Vor dem Fenster verwandelte sich die Luft gerade in ein glühendheißes Meer. Ganze Lagen brennender Dachschindeln rutschten draußen an der Fassade entlang. Der Eisenhaken zog abrupt an, als das durchhängende Seil mit der Schuttlawine belastet wurde, doch eine Sekunde später erschlaffte das Tau schon wieder. Unten auf der Straße übertönte lautes Wutgeheul den Aufschlag der Schindeln. Black spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Auf das Schlimmste gefasst, beugte er sich mit den Kindern vor. Als er die Bescherung mit eigenen Augen sah, bereute er fast seine Neugierde. Das durfte doch nicht wahr sein! Das an dem Haken befestigte Seil endete bereits nach zwei Metern in einem verkohlten Stummel. Die brennenden Schindeln hatte es durchtrennt. Nun stand er da mit seinem Talent. Sein schöner Plan hatte sich gerade in Luft aufgelöst. Statt sich mit den Geschwistem in Sicherheit zu schwingen, befand er sich nun in der gleichen Situation wie sie. Das Feuer prasselte in seinem Rücken, während drei Stockwerke unter ihm das harte Steinpflaster glänzte. Selbst wenn es ihm gelang, die Kinder mit seinem Körper zu schützen, er selbst würde sich bei einem Sprung unweigerlich beide Beine und noch mehr brechen. Auf ewig ein Krüppel, nur weil er den Helden spielen wollte! Aber was blieb ihm noch anderes übrig?
* Angesichts der Risikofreude, die Mr. Black gerne an den Tag legte, beschleunigte Matt nach Beendigung ihres Gesprächs sofort das Tempo. Das wendige Dingi flog bald mehr über das Gelände, als dass es fuhr, doch mit Erreichen des dicht besiedelten KremlDistrikts musste er wieder vom Gas gehen. Während er zügig Mensch und Tier umrundete, ging ein weiterer Funkruf ein, den Aruula entgegennahm. »Ihr Präsident ist offensichtlich verrückt geworden!«, knatterte es aus dem Lautsprecher. »Er will sich kopfüber in ein brennendes Haus schwingen, dabei ist unser Löschfahrzeug bereits auf dem Weg!« Typisch Mr. Black, dachte Matthew. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Ohne nur einmal herunterzuschalten, erreichte er die Twerskaja Uliza. Dicke Rauchschwaden lagen über der Straße, doch von Rasputin Zwei, dem AMOT mit der Löschkanone, war noch nichts zu sehen. Mit quietschenden Reifen brachte er das Dingi neben dem von Dolgoruki und Black zu stehen. Eine schwarze Spur Plastiflex zeichnete den Bremsweg auf dem Feldsteinpflaster nach. Matt und Aruula sprangen sofort aus dem Fahrzeug; Radek brauchte einen Moment länger, um den Ausstieg zu finden. Juri, der sie bereits sehnsüchtig erwartete, begann umgehend loszuzetem. »So etwas Unvernünftiges! Der einzige Mensch, aus dessen Blut das Serum hergestellt werden kann! Wenn ihm jetzt etwas passiert, müssen Tausende darunter leiden!«
Matt wollte dem Techno schon ungeduldig das Wort abschneiden, da sah er mit eigenen
Augen, in welcher Gefahr Mr. Black schwebte. Zwei kleine Kinder unter beide Arme
geklemmt, stand der Rebell auf einer Fensterbank und machte sich zum Sprung bereit.
Dunkler Qualm hüllte ihn ein wie schmutzige Watte, trotzdem hielt er inne, als er die
Neuankömmlinge sah. Statt etwas zu rufen, sparte er seinen Atem. Die gehetzte
Körperhaltung sagte ohnehin mehr, als sich in Worte fassen ließ.
Matt musste sich etwas einfallen lassen, und das verdammt schnell.
»Halten Sie aus!«, brüllte er über die versammelte Menge hinweg. »Wir helfen Ihnen!«
Ein Sprungtuch! Sie brauchten ein Sprungtuch!
Mit langen Schritten eilte Matt zum nächsten Marktstand, riss die Stützpfeiler zur Seite
und raffte den Stoff des Sonnenbaldachins an sich. Der Händler, dem der Stand
gehörte, brach in lauten Protest aus, doch ein warnendes Knurren aus Aruulas Kehle
ließ ihn verstummen.
Sie rannten zu dem brennenden Haus. Unterwegs erklärte Matt, was zu tun war.
Am Ziel angekommen, rekrutierten sie kurzerhand einige der zuvorderst stehenden
Schaulustigen, ihrem Beispiel zu folgen und den Stoff nach allen Seiten zu spannen.
Neben ihnen rang eine Frau verzweifelt die Hände. »Taascha! Murin!«, rief sie immer
wieder, in endloser Abfolge. »So rettet doch meine Kinder!«
Mit insgesamt acht Sprungtuchhaltern wagten sie sich näher ans Haus heran. Radek,
durch Umhang und Kapuze am besten vor den Flammen geschützt, übernahm freiwillig
die Position an der brennenden Fassade.
Sobald sie standen, wurde Mr. Black aktiv. Beherzt packte er den Jungen am Kragen,
um ihn zielgenau hinab fallen zu lassen.
Ein Vorhaben, das auf ganzer Linie fehlschlug.
Die ganze Zeit über hatte sich Murin still verhalten, doch nun begann er wild um sich zu
schlagen. Black wurde von diesem Widerstand so überrascht, dass er beinahe das
Gleichgewicht verlor. Blitzschnell musste er sich am Rahmen festhalten, um nicht
kopfüber abzustürzen. Er hatte keine Wahl, als Murin ungezielt loszulassen. Strampelnd
und schreiend stürzte der Junge in die Tiefe.
»Nach rechts! Vier Schritte nach rechts!«, schrie Matt aus vollem Hals.
Leider schienen ihn die Leute nicht zu verstehen. Einige der Helfer wären bei dem
folgenden Gezerre beinahe ins Stolpern gekommen. Noch viel schlimmer war aber,
dass das Tuch an Spannung verlor und in der Mitte durchzuhängen begann.
Zum Glück war Murin ein leichtes Kind. Sie wurden zwar alle nach vorne gerissen, als er
zwischen ihnen aufprallte, doch der Stoff schlug nicht bis zum Boden durch.
Weinend, aber körperlich unverletzt federte Murin wieder in die Höhe und wurde von
einer überglücklichen Mutter in Empfang genommen.
»Okay, jetzt wissen alle, wie es geht!«, feuerte Matt die anderen an. »Wieder näher
ran!«
Hitze, Rauch und Funkenflug machten die Annäherung erneut zur Qual, doch mit
zusammengekniffenen Augen zogen sie den Stoff stramm und harrten des nächsten
Sprunges. Einige Mauerstücke, die drei Metern entfernt am Boden zerschellten, ließen
alle zusammenfahren, doch nun gab es kein Zurück mehr.
Mr. Black war schon abgesprungen.
Taascha mit beiden Armen fest an seinen breiten Brustkorb gepresst, landete er
rücklings mitten im Sprungtuch. Sein Gewicht stellte alle auf eine harte Probe.
Matt brachen zwei Fingernägel ab, weil der Stoff ein Stück weit aus seinen Händen glitt.
Einigen anderen ging es ebenso, doch mit vereinter Muskelkraft bremsten sie den freien
Fall weit genug ab, sodass Black und das Mädchen ohne größere Blessuren aufkamen. Den Baldachin achtlos zurücklassend, rannten alle zur Straßenmitte, gerade noch rechtzeitig, um weiteren herabfallenden Trümmern zu entgehen. Rußverschmiert, mit kleineren Verbrennungen im Gesicht und an den Händen, stolperte Mr. Black hustend zum Dingi. Die Rauchschwaden lagen endlich hinter ihm, dafür raubten ihm nun begeisterte Menschen die Luft. Von allen Seiten rückten die Barbaren näher, um ihn zu feiern. »Danke«, keuchte er zu Matt und Aruula, die Mühe hatten, den charismatischen Rebellen vor seinen neuen Verehrern zu schützen. »Das war Rettung in letzter Sekunde.« Matt nickte erst nur, konnte dann aber nicht umhin, Dolgorukis Kritik zu unterstreichen. »Ganz schön unvernünftig, sich so in Gefahr zu bringen«, tadelte er. »Es gibt eine Menge Technos, die noch auf Sie angewiesen sind.« »Stimmt«, gab sich Black einsichtig, ließ aber schon Sekunden später ein gewinnendes Lächeln aufblitzen und deutete zu Taascha und Murin hinüber, die ihrer Mutter in den Armen lagen. »Aber mal ehrlich: Die beiden waren doch das Risiko wert, oder?« Lautes Brummen lenkte ihren Blick auf Rasputin Zwei, einen der Radpanzer, die unterhalb des Bolschoitheaters stationiert waren. Obwohl die Twerskaja Uliza eine breite Straße war, wichen die Passanten furchtsam zur Seite. Verständlich, denn mit vier Metern Breite und fünfundzwanzig Metern Länge erschien der AMOT wie ein alles niederwalzender Koloss auf mannshohen Zwillingsreifen. Kein Sonnenstrahl spiegelte sich auf der näher rollenden Karosserie, deren schwarze Teflon Carbon Legierung jedes Lichtmolekül absorbierte. Ein Dutzend beweglicher Dingis flankierte den AMOT wie Düsenjets einen Flugzeug träger. Ein martialischer Auftritt, der den Jubel zum Abflauen brachte. Dabei verfolgten die Technos friedliche Absichten. Das zeigte sich Sekunden später, als die Löschkanone auf dem Dach hochfuhr und auf den Brandherd gerichtet wurde. Noch ehe die Räder richtig still standen, schoss weißer Schaum hervor und senkte sich wie knisternder Schnee über die Flammen. Schnelle und präzise Schwenks verteilten den Strahl über Dach und Fassade. Das Haus ließ sich damit zwar nicht mehr retten, doch zumindest konnte verhindern werden, dass die Flammen auf andere Gebäude übergriffen. Die im Löschschaum enthaltenen Chemikalien hemmten den Brand wesentlich schneller als Wasser. Schon nach wenigen Sekunden begannen die Flammen unter dem weißen Teppich zu ersticken. Um sicher zu gehen, dass wirklich nichts mehr aufflackern konnte, hielt die Bedienungsmannschaft weiter in die verkohlten Fenster und pumpte Liter um Liter aus dem schier unerschöpflich scheinenden Tank. Für die meisten Moskawiter ein noch nie gesehenes Ereignis. Fröhlich tanzten sie um den AMOT herum und beklatschten jeden Schwenk des Strahls, wie das gelungene Kunststück eines Gauklers. Immer mehr Neugierige strömten aus den umliegenden Straßen herbei, um mit eigenen Augen zu beobachten, was da vor sich ging. Anfangs näherten sie sich mit verhaltenen Schritten, weil sie fürchteten, von den sonst so abweisenden Technos vertrieben zu werden. Da sie jedoch unbehelligt blieben, siegte schnell die Neugierde über ihre Furcht. Einige ganz Verwegene wagten sogar, ehrfürchtig über die transparenten Dingikuppeln zu streichen. Juri Dolgoruki sorgte dafür, dass es so friedlich blieb. »Wir müssen das Vertrauen der Barbaren gewinnen«, schärfte er den DingiBesatzungen ein, die es nicht gewohnt waren, so stark bedrängt zu werden.
»Präsident Black hält gleich eine Rede. Sorgt dafür, dass ihm nichts geschieht, aber haltet euch so gut wie möglich im Hintergrund.« Obwohl er unbeschadet Oberflächenluft geschnuppert hatte, ließ sich Dolgoruki einen Ersatzhelm aushändigen. Wie es schien, schlug das Serum bereits an, doch der Ingenieur wollte sein Glück nicht zu sehr herausfordern. Je weiter die Menschenmenge anwuchs, desto stärker lief er Gefahr, in Kontakt mit gefährlichen Krankheitserregern zu kommen. Unter den Barbaren machte sich indessen Festtagsstimmung breit. Fässer mit vergorenen Säften wurden herangerollt und zum Ausschank freigegeben. Die Menschen schöpften ihren Anteil mit allem, was gerade zur Verfügung stand. Mit Helmen oder Lederbeuteln, aber auch mit bloßen Händen. Die Freude, dass niemand zu Schaden gekommen war, überdeckte sogar den Umstand, dass einige Familien gerade ihr Dach über dem Kopf verloren hatten. Aber was machte das schon? In Moska gab es genügend leerstehende Ruinen, die von Menschen mit gesunden Händen wieder hergerichtet werden konnten. Nur ein Pärchen, von dem alle annahmen, dass es den Brand im Alkoholrausch ausgelöst hatte, wurde vermisst. So richtig schien das aber niemanden zu stören. Selbst Murin und Taascha strahlten schon wieder über die rußigen und verschwitzten Wangen. Es gefiel ihnen, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen und von allen Seiten getätschelt zu werden. Mr. Black wartete, bis das Dröhnen der Löschkanone verstummte, bevor er über eine Außenleiter auf das Dach des AMOT kletterte. Dolgoruki reichte ihm ein Funkmikrofon, sodass er über die Außenlautsprecher des Löschpanzers sprechen konnte. Die Menge hielt im Jubel inne, als seine Gestalt bis in die hinteren Reihen sichtbar wurde. Flüsternd machte die Runde, dass es dieser Mann gewesen war, der sich so todesmutig in das flammende Inferno geschwungen hatte. So wie der Klon Arnold Schwarzeneggers vor sie hintrat, musste er die Moskawiter einfach beeindrucken, hochgewachsen und von athletischer Gestalt, mit Brandwunden an Händen und Gesicht, die von seinem mutigen Einsatz zeugten. In einer archaischen Zivilisation, in der reine Muskelkraft täglich über Leben und Tod entschied, schien Black einer der ihren zu sein... und doch viel mehr. Gebot er nicht sogar über die Glashelme, denen sonst alle größten Respekt zollten? Wahrlich, dies musste ein besonderer Mann sein. »Heute ist ein großer Tag!«, versprach Black, als alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Dabei hielt er das Mikrofon an den Translator. Die Lautsprecher übertrugen seine Worte weit über die Menge hinaus. »Ein Tag, der einen Wendepunkt in unser aller Leben markiert. Hier in Moska gab es bislang zwei Städte, die nebeneinander existierten. Eine unter der Erde, Ramenki, und die hier oben, Moska, in der die meisten von euch leben. In der Vergangenheit haben sich beide Bevölkerungen mehr oder weniger ignoriert. Doch nun ist die Zeit gekommen, zusammenzurücken und füreinander einzustehen. Denn unaufhaltsam naht ein Feind, der hier alles dem Erdboden gleichmachen will!« Angesichts dieser Ankündigung lief ein Raunen durch die Zuschauerreihen, dunkel und aufwallend, wie eine Meereswoge, die an vorgelagerten Klippen zerbarst. Mr. Black ließ seine Worte kurze Zeit wirken, damit auch der Letzte auf dem Platz deren Tragweite erkannte. Dann bat er mit einer weit ausholenden Handbewegung um Ruhe. Die Stimmen zu seinen Füßen erstarben, bis auf ein paar ewige Schwätzer, die jedoch schnell von Umstehenden zum Schweigen gebracht wurden. Kurz flackerte der eine
oder andere Disput auf, dann folgte tiefe Stille. Nicht mal eine Flegge wagte noch mit den Flügeln zu schlagen. Nun, da alle an seinen Lippen hingen, begann Mr. Black zu erklären, wen die Barbaren fürchten sollten. Eindringlich beschwor er die Gefahr herauf, die im Kratersee hauste. Für jene, die zu weit entfernt standen, um seine ernste Miene auszumachen, unterstrich er mit theatralischen Gesten jedes Wort. Dabei drehte er sich langsam im Kreis und beugte sich immer wieder dramatisch vor, sodass jeder Zuschauer den Eindruck hatte, er würde speziell zu ihm sprechen. Matt kam nicht umhin, dem Running Man Respekt zu zollen. Mr. Black fand in dieser Rede die rechten Worte, um den Zuhörern auch komplizierte Sachverhalte einfach und verständlich klar zu machen. Er war ein geborener Agitator, und das im positiven Sinne. Wovor er die Mpskawiter warnte, entsprach der Wahrheit, und die von ihm aufgezeigten Lösungen dienten dem Wohle aller. Dass er als Klon des letzten US-Präsidenten der alten Zeit seine flammende Rede ausgerechnet auf einem Panzer mit dem Emblem der Sowjets hielt, besaß natürlich eine gewisse Ironie, allerdings nur, wenn man die Menschheitsgeschichte vor dem Meteoriteneinschlag kannte. Matt malte sich gerade vergnügt aus, wie wohl General Crow auf diese Szene reagieren würde, als ihn ein kurzer Satz in die Wirklichkeit zurückholte: »Dieser Black spricht mit doppelter Zunge.« »Wie bitte?« Matt sah überrascht zu Radek, der ihm nicht mehr von der Seite gewichen war, seit sie das Sprungtuch aus der Hand gelegt hatten. »Was willst du damit sagen?« Das Weiße in Radeks Augen glühte unter dem Kapuzenschatten auf, während er zu überlegen schien, wie viel er preisgeben durfte. »Dein Kampfgefährte gibt vor, aus Edelmut zu handeln«, antwortete er schließlich, »doch in Wirklichkeit strebt er genauso nach Macht wie alle anderen. Black möchte herrschen. Gerecht und weise vielleicht, doch herrschen. Das solltest du wissen.« Matt stemmte beide Hände in die Hüften, zögerte aber, den Nosfera empört anzufahren. Dies war kaum der geeignete Zeitpunkt für einen lautstarken Disput. Warum behauptet er so etwas?, fragte er sich im Stillen. Dass Radek telepathische Fähigkeiten besaß, stand außer Frage, seit er die Gedanken des sterbenden Hauptmanns Lewkow gelesen hatte. Was er nun über Mr. Black sagte, mochte Matt trotzdem nicht glauben. Vielleicht, so dachte er, ist es nur ein Missverständnis. Oder, und bei diesem Gedanken spürte Matt ein schmerzhaftes Ziehen in der Magengegend, die Nosfera wollen mich gegen meine Gefährten aufbringen. Ehe er diese Überlegungen jedoch vertiefen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit von einem neuen Ereignis in Anspruch genommen. Unter den Zuschauem breitete sich Unruhe aus, weil von Westen her Bewegung in ihre Reihen kam. Matt stieg auf den Plastiflexreifen eines Dingi, um zu sehen, was da vor sich ging. Knapp zehn Meter entfernt entdeckte er einen Pulk aus rot und blau gekleideten Kriegern, die einen hoch gewachsenen Mann mit Kinnbart und langem schwarzen Haar umringten. Dem selbstbewussten Auftreten nach zu urteilen konnte das nur der Zaritsch von Moska sein. Blacks Funkbeschreibung stimmte haargenau mit ihm überein, bis hin zu den goldenen Ringen, die deutlich sichtbar an seinen durchstochenen Brustwarzen baumelten. Selbst aus der Entfernung war sein säuerlicher Gesichtsausdruck nicht zu übersehen. Sergiuz missfiel offenbar, was sich in der Straße abspielte.
Vermutlich war ihm zugetragen worden, dass Mr. Black eine Ansprache an das Volk von Moska hielt. An sein Volk, wie es der Zaritsch wohl sah. Wie schon bei der aus dem Stegreif gehaltenen Rede wusste Mr. Black erneut die Gunst der Stunde für sich zu nutzen. »Seht!«, forderte er die versammelten Barbaren auf, ganz so, als wäre das Erscheinen des Zaritsch geplant gewesen. »Hier kommt euer Herrscher, der bereits heute Morgen über den Ernst der Lage unterrichtet wurde. Er wird euch bestätigen, dass wir alle fest zusammenstehen müssen, um der drohenden Gefahr zu begegnen.« Sergiuz machte nicht unbedingt den Eindruck, als ob er die goldene Brücke, die ihm Black da baute, wirklich betreten wollte. Vielmehr schien er entschlossen, den Running Man einen Lügner zu nennen. Als er jedoch die kleine Leiter an der Außenseite des AMOT bestieg und damit für viele Menschen sichtbar wurde, glättete sich seine Miene. Lächelnd betrat er das Dach und stellte sich dem Applaus der Menge. Black und der Zaritsch waren in etwa gleich groß und schienen auch sonst einander ebenbürtig. Arme und Beine des Barbaren wiesen keine sichtbaren Narben auf, wie sie normalerweise selbst der beste Schwertkämpfer im Laufe der Jahre empfing. Um die Macht in Moska zu erlangen, konnte er also nicht nur rohe Gewalt, sondern auch List eingesetzt haben. Das machte ihn um vieles gefährlicher als einen rohen Schlagetot, der nur kraft seines Schwertes herrschte. Seine einheitlich in blaue Hosen und roten Waffenrock gekleidete Leibgarde ging rund um den AMOT in Stellung. Was wie eine Absicherung des Zaritsch wirkte, konnte leicht in eine Bedrohung für Mr. Black umschlagen, deshalb sprinteten die Dingibesatzungen heran, um einen zweiten Absperr-Riegel zu ziehen. Ihre Lasergewehre locker in der Armbeuge haltend, standen sie den Kriegern Auge in Auge gegenüber, bereit, bei einer falschen Bewegung loszuschlagen. So wie sich die Gardisten auf beiden Seiten belauerten, trugen auch Black und Sergiuz einen stummen Zwist aus, den nur jene erahnen konnten, die nahe genug am Fahrzeug standen. Es war ein wortloses Ringen, in dem jeder den anderen, obwohl äußerlich lächelnd, mit seinen Blicken niederzuringen suchte. Dann ergriff der Zaritsch das Wort. »Ich habe Präsident Black tatsächlich eine Audienz gewährt«, bestätigte er scheinbar wohlwollend, doch schon mit dem nächsten Satz gewann seine Stimme deutlich an Schärfe. »So hörte ich auch von der Armee, die Moska angeblich bedroht. Ja, ich sage angeblich, denn was wissen wir schon über diesen Mann, der sich für den König eines fernen Landes ausgibt?« Sergiuz sah langsam in die Runde, als würde er auf Hilfe aus der Menge warten. Natürlich war das nur ein rhetorischer Kniff. Bevor irgendein Witzbold zu einem Zwischenruf ansetzen konnte, gab er die Antwort lieber selbst: »Niemand von uns weiß, ob diesem Fremden zu trauen ist!« Empörte Stimmen wurden laut. In dieser primitiven Welt, in der Taten mehr als Worte zählten, hatte Mr. Black durch seinen heldenmütigen Einsatz bereits einige Anhänger gefunden, die sich nun lautstark für ihn einsetzten. »Ich zweifle keineswegs den Mut dieses Mannes an«, hielt Sergiuz den Rufern entgegen. »Aber wie steht es um seine Glaubwürdigkeit? Wie man hört, gibt sich sein Gefolge sogar mit Blutsäufem ab!« Vielsagend starrte er zu Radek hinab. Ein unheilvolles Raunen war die Folge, geprägt von tiefer Abscheu gegenüber den Nosfera. Plötzlich interessierte niemanden mehr, dass Radek geholfen hatte, die Kinder zu retten. Misstrauen machte sich breit.
Black, der den Stimmungsumschwung spürte, ging in die Offensive. »Sendet einfach Späher aus«, schlug er vor. »Sie werden meine Warnung bestätigen. Glaubt mir, Bürger von Moska, eine ganze Armee fürchterlicher Monster ist im Anmarsch!« »Weil sie Streit mit der Unterstadt haben«, behauptete Sergiuz sofort, und fuhr an sein Volk gerichtet fort: »Sollen die Glashelme doch selbst zusehen, wie sie mit ihren Problemen fertig werden. Wenn Wudan gewollt hätte, dass wir mit ihnen leben und kämpfen, hätte er ihnen bestimmt nicht diese seltsamen Felle aufgezwungen.« Was den Zaritsch bei seinen Worten umtrieb, war nicht schwer zu erraten: Eine engere Zusammenarbeit zwischen Barbaren und Technos konnte seine Macht nur schwächen. Ratlosigkeit machte sich unter den Zuhörern breit. Was ihr Stadtfürst da ausführte, klang für einfache Gemüter ganz vernünftig. Konnte es sein, dass sie sich in dem großen Fremden getäuscht hatten? Waren sie gar von einem bösen Gaukler geblendet worden? Sergiuz war zwar nur mäßig beliebt, doch zumindest eine bekannte Größe, die sich berechnen ließ. Zwischen eifrigen Fürsprechern und Gegnern des Zaritsch flammten erste Streitgespräche auf, doch die Masse blieb wankelmütig, ohne sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Black folgte seinen Instinkten und setzte weiter auf Angriff, statt zurückzustecken. »Wudan möchte sehr wohl, dass sich Unter- und Oberstadt miteinander verbünden«, behauptete er frech. Um seine Worte zu beweisen, winkte er Juri Dolgoruki aufs Dach und bat ihn, seine Schutzkleidung abzulegen. Obwohl schon einige Barbaren den Techno ohne Helm gesehen hatten, gab es viele erstaunte Ausrufe, als Dolgoruki auch noch den silbernen Anzug ablegte. Darunter trug er leichte Schuhe und einen eng anliegenden, mit Kunststoffplatten an Schultern und Ellenbogen versehen Overall aus dunkelgrünem Drillich. Des unförmigen Anzugs entledigt, konnten die Barbaren erstmals sehen, wie sehr ihnen die Glashelme doch ähnelten. Sicher, da waren die haarlosen, leicht aufgebläht wirkenden Schädel, aber der Hauch des Bedrohlichen, der sonst von ihrer Rüstung ausging, schien nun gewichen. »Seht her!«, forderte Black die staunende Menge auf. »Wudan macht die Menschen aus der Unterstadt zu euresgleichen, damit sie Schulter an Schulter mit euch kämpfen können. Wollt ihr Wudan ehren und sein Zeichen anerkennen?« Blacks Frage schlug wie ein Blitz in die weiter anwachsende Menge ein, und ihre Antwort klang dann auch wie Donnerhall. »Wudan!«, erschallte es aus Hunderten von Kehlen. Selbst Aruula, die es eigentlich besser wissen musste, schrie mit. Die Worte des Running Man waren derart mitreißend gewesen, dass sie eine göttliche Fügung für möglich hielt. Black lächelte zufrieden. Den Beistand des Hauptgottes dieser Menschen geltend zu machen, erwies sich als goldrichtig. Die Nachricht würde sich bestimmt wie ein Lauffeuer unter den Barbaren in und um Moska verbreiten. Und wenn erst einmal die Bevölkerung auf seiner Seite stand, konnte sich auch der Zaritsch nicht länger verweigern. Sergiuz machte allerdings keine Anstalten, sich geschlagen zu geben. Im Gegenteil. Ein listiges Grinsen kerbte seine Wangen ein. »Verdammt«, fluchte Radek leise. »Euer Freund ist in eine Falle getappt.« Ehe er den freudlosen Kommentar näher erläutern konnte, ergriff Sergiuz schon die Initiative. »So, du bist also ein Gläubiger Wudans?«, rief er in gespielter Überraschung. Eigentlich war es mehr eine Feststellung als eine Frage, denn falls Mr. Black jetzt verneinte,
stempelte er sich selbst zum Lügner ab. »Ausgezeichnet! In diesem Fall gibt es einen ganz einfachen Weg, um die Wahrheit herauszufinden.« Links und rechts des AMOT ebbten die Gespräche ab. Die Menschen spürten, dass eine wichtige Ankündigung bevorstand. Hätte Matt ein Amperemeter besessen, hätte er die Spannung messen können, die plötzlich über der Straße hing. »Seit Alters her gibt es in Moska einen sicheren Weg, Wudans Willen zu prüfen«, fuhr Sergiuz zufrieden fort. »Wir lassen ihn selbst entscheiden in einem Gottesurteil!« »Ja!«, brüllte eine einzelne Stimme aus den hinteren Reihen. »Ein Kampf auf Leben und Tod!« Die Lippen des Barbarenfürsten spalteten sich zu einem triumphalen Lächeln. »Hörst du, Präsident?«, fragte er und nickte dabei, um seine Zustimmung für den einsamen Rufer auszudrücken. »Die Menge wünscht, dass du deine Behauptung beweist. Bist du dazu bereit?« Mr. Black nahm die Herausforderung ohne sichtbare Regung an. »Jederzeit«, versicherte er. »Gleich mit welchen Waffen oder an welchem Ort.« Die Menge tobte vor Begeisterung. Ein Kampf, das war nach ihrem Geschmack. Schon wurde ein Ruf angestimmt. Zuerst nur von wenigen, doch schon bald fielen weitere Kehlen ein. In anschwellendem Rhythmus riefen alle ein seltsames Wort, das dem Translator einige Schwierigkeiten bereitete, bis schließlich die Übersetzung »Taratzen könig« aus dem Lautsprecher drang. Lauter und lauter wurde der Ruf, bis er von den Häusern widerhallte und die ganze Straße erfüllte: »Taratzenkönig! Taratzenkönig! Taratzenkönig!« Selbst dann noch, als Sergiuz die ausgelegte Schlinge endgültig zusammenzog. »Du hörst, wie sie das alte Ritual fordern«, beschied er dem Running Man. »Morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang trittst du gegen unseren Taratzenkönig an!« Blacks Züge versteinerten. Er hatte natürlich gehofft, gegen Sergiuz persönlich anzutreten, doch für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Ohne sich die Enttäuschung anmerken zu lassen, ging er auf den Handel ein. Im Falle seines Sieges würde dieser Kampf vieles erleichtern. Wenn er jedoch verlor, sah es um die Zukunft von Ramenki bescheiden aus. »So ein leichtsinniger Narr«, fluchte Radek leise. »Er weiß ja gar nicht, auf was er sich da einlässt.« Sein Tonfall war von Sorge durchsetzt. Dass er Black noch kurz zuvor Machtgelüste unterstellt hatte, schien ihn nicht mehr zu kümmern. »Nur keine Sorge«, beruhigte Matt. »Mr. Black ist in allen Waffen geübt. Der wird mit einer Taratze fertig, mag sie auch noch so groß sein.« Der sonst so ehrfürchtige Radek gestattet sich ein verächtliches Schnauben, bevor er knurrte: »Einen Kampf mit dem Taratzenkönig hat bisher noch keiner überlebt. Bei Tagesanbruch blicken die Herausforderer nämlich direkt in die Sonne, und bevor sie richtig sehen, was auf sie zukommt, ist es schon zu spät. Glaub mir, das wird kein Gottesurteil, sondern ein Massaker!« Wie um die Worte des Nosfera zu bestätigen, reflektierte eine nahe Dingikuppel den Schein der Sonne. Matt kniff geblendet die Augen zusammen. Kein gutes Omen, dachte er unwillkürlich. Und als er dann erfuhr, um wen, oder vielmehr was es sich bei dem Taratzenkönig handelte, konnte er Radeks Fatalismus plötzlich verstehen... »Wird schon schief gehen«, versicherte Mr. Black einige Stunden später, als sie gemeinsam in Dr. Antonows Labor saßen. »Ich habe schon ganz andere Kämpfe überstanden.«
Die anwesenden Technos und auch Matt und Aruula gingen nicht weiter auf seine Zusicherung ein. Wenn sich Black mit solchen Allgemeinplätzen Mut machen konnte, sollte er es tun. Für lange Vorhaltungen war es ohnehin zu spät. Sie mussten die Dinge nehmen, wie sie kamen. Dazu gehörte auch, seine Brandwunden zu versorgen. Mullbinden umgaben Blacks Hände, und über seinem rechten Auge klebte ein dickes Pflaster. Da seine Haare ebenfalls angesengt worden waren, verpasste ihm Anna Sharinow eine neue Fasson. Als sie die Schere beiseite legte, fuhr sich Black mit den Finger durchs kurze dunkelblonde Haar und lächelte die Krankenschwester an. »So ist es viel besser. Sie waren in letzter Zeit eh zu lang geworden.« Antonow und seine Assistentin gehörten zu den knapp zweihundert Technos, die sich freiwillig für einen Probelauf des Serums gemeldet hatten. Mehr konnten bisher nicht versorgt werden, denn zwischen Blacks einzelnen Aderlässen mussten immer wieder einige Tage verstreichen, wollte man ihn nicht im wahrsten Sinne des Wortes ausbluten lassen. Die Wissenschaftler von Ramenki suchten bereits fieberhaft nach einer Formel, um das Serum synthetisch herzustellen. Entsprechende Versuche würden bald auch in den Bunkern von Saratow, Belorezk und Jalta anlaufen. Nur unter Einsatz aller Kräfte ließ sich in Zukunft eine umfassende Versorgung gewährleisten. Für die zweihundert Testpersonen war ein streng abgeschotteter Bereich eingerichtet worden, den Matt, Aruula und Mr. Black bislang nur in Schutzanzügen betreten durften. Nachdem Juri Dolgoruki den Freiluft-Aufenthalt an der Oberfläche aber unbeschadet überstanden hatte, war entschieden worden, einen Schritt weiter zu gehen. Seit knapp drei Stunden lief das Projekt Gewöhnungsphase, in dem Serumsnutzer und Oberflächengäste gleichermaßen auf Schutzkleidung verzichteten. Da Matt und seine Gefährten an keinen akuten Krankheiten litten, ging von ihnen keine erhöhte Gefahr aus. Außer kurzen Hustenanfällen und zwei Fieberpatienten gab es auch keine nennenswerten Reaktionen unter den Technos. Obwohl man davon ausging, dass jede Testperson eine unterschiedliche Widerstandskraft aufwies, schien doch bereits eine gewisse Grundresistenz eingetreten zu sein. Wie sich der Kontakt zu Grippe oder anderen Krankheitsviren auswirken würde, stand natürlich auf einem anderen Blatt. Doch Dr. Antonow, der das Experiment leitete, war guten Mutes, dass die robusten Naturen unter ihnen bereits in einigen Tagen erste Oberflächenausflüge wagen durften. »Auf eine Blutspende verzichten wir heute lieber«, erklärte er, während sein Wundbesteck klappernd im Sterilisationskasten landete. »Schließlich werden Sie morgen all Ihre Kräfte brauchen.« Der leise Vorwurf, der in seiner Stimme mitschwang, ließ sich nicht überhören. Mr. Black nickte nur. Seine Versicherung, dass alles gut gehen würde, konnte er wohl selbst schon nicht mehr hören. Höchste Zeit also, ein neues Thema anzuschneiden. »Wie steht es eigentlich mit meinen Blutwerten?«, fragte Matt, um den Running Man aus der Schusslinie zu ziehen. »Haben Sie schon eine Vorstellung da von, was es mit den Tachyonen auf sich haben könnte?« Wie alle Wissenschaftler dieser Welt, blühte auch Dr. Antonow auf, sobald er über seine Forschungen sprechen durfte. »Sie sind wirklich ein außergewöhnlicher Fall«, freute sich der Arzt, der wohl schon seinen Namen in großen Lettern auf dem medizinischen Fachblatt der Bunkerliga sah. Diese Eröffnung war leider das Letzte, was Matt richtig verstand, denn danach entsprang dem Translator nur noch ein unverständliches
wissenschaftliches Kauderwelsch. Matt hörte beflissen zu und versuchte einen guten Eindruck zu hinterlassen. Allerdings nur, bis sich Aruula zu ihm herüber beugte und sagte: »Dieser Schamane weiß auch nicht genau, was dir fehlt.« Antonow verstummte errötend, während Matt still in sich hineinlachte. Stimmt ja, dachte er. Nun, da sie ihre Anzüge abgelegt haben, sind die Technos nicht mehr vor Aruulas Lauschsinn geschützt. »Ich habe schon einige Theorien, was diese Partikel in ihrem Blut angeht!« Dr. Antonow fing sich schnell wieder. »Wie Sie inzwischen wissen, schreibt man den Tachyonen die Eigenschaft zu, sich schneller als das Licht zu bewegen. Was liegt da näher, als Ihren durch was auch immer ausgelösten Zeitsprung von über fünfhundert Jahren als Ursache zu vermuten? In diesem Zusammenhang wäre es natürlich interessant, das Blut ihrer Staffelkameraden zu untersuchen. Wenn zum Beispiel Professor McKenzie die gleichen Symptome auf weist, wären wir schon ein ganzes Stück weiter.« Matt hatte auch schon in diese Richtung gedacht. Damit wäre allerdings auch Dave McKenzies und Jennifer Jensens Blut zur Serumsproduktion ungeeignet. Bei Matt ließen sich wegen der Tachyonenbelastung keine Lymphozyten aus dem Blutplasma extrahieren. Vorausgesetzt, Dr. Antonows Theorie traf zu, war das Blut der übrigen Staffelmitglieder ebenfalls unbrauchbar. Somit blieb Mr. Black, der erst vor zweiunddreißig Jahren aus Präsident Schwarzeneggers tiefgefrorenen Genen geklont worden war und so die fünfhundert Jahre auf andere Weise »übersprungen« hatte, die einzige Hoffnung für alle Technos. Zur Produktion des Serums wurde ein Immunsystem benötigt, das weder durch CFStrahlung beeinflusst noch Jahrhunderte des Bunkerlebens degeneriert worden war. Black blieb damit der einzige bekannte Mensch auf der Welt, auf den diese Voraussetzungen zutrafen. »Machen Sie sich keine Sorgen; diese Partikel wirken sich nicht auf ihre Gesundheit aus«, versuchte Dr. Antonow Matt zu beruhigen. »Unseren Tests nach zu urteilen sind Sie körperlich absolut fit. Um Ihre inneren Organe könnte es kaum besser stehen, und Beschwerden scheinen Sie ja auch nicht zu haben.« »Nein.« Matt klang trotzdem nicht sehr glücklich. »Ich fühle mich völlig normal. Ich habe auch keine Besonderheiten an mir bemerkt, seit ich hier gestrandet bin in dieser Zeit, meine ich.« Aruula, die dem wissenschaftlichen Gerede nur mit einem Ohr lauschte, während sie dabei zusah, wie Anna Sharinow Blacks verlorene Haarpracht zusammenfegte, wurde plötzlich hellhörig. »Ich weiß etwas, worin du dich von anderen Männern unterscheidest!«, verkündete sie. Matt räusperte sich. »Schon gut, Aruula, das gehört jetzt nicht hierher. Was du meinst, ist nur eine Frage der Einfühlsamkeit und der richtigen Tech...« »Du musst dir nicht so oft die Haare und Nägel schneiden wie andere«, unterbrach sie ihn grinsend. »Äh... was?« Matt war so perplex, dass ihm die Worte fehlten. Röte stieg ihm ins Gesicht. Seine Mutmaßung war ihm jetzt furchtbar peinlich. Mr. Black konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, verstummte aber, als ihn der Commander mit einem vernichtenden Blick bedachte. »Auch dein Bart wächst nicht so schnell«, plauderte Aruula munter weiter und strich ihm zärtlich übers Kinn. »Das ist mir schon kurz nach unserer ersten Begegnung aufgefallen. Ich dachte damals, es liegt daran, dass du Sigwaan bist, ein Abgesandter Wudans.«
Matts Pulsschlag normalisierte sich langsam wieder. Nachdem er die Peinlichkeit verdaut hatte, sickerten Aruulas Worte erst richtig in seine Gedanken ein. Und er musste ihr Recht geben: Zuletzt hatte sie ihm in Berbow einen Haarschnitt verpasst, und das war... Gott, das lag ja schon über ein halbes Jahr zurück! Gut, er trug sein Haar jetzt länger als zu seiner Dienstzeit, doch früher hatte er den Friseur alle zwei Monate aufgesucht. Als Mann, dem ein Besuch beim Friseur eher lästig gewesen war und der sich auch die Nägel nur geschnitten hatte, wenn ihre Länge ihn störte, hatte er nie darauf geachtet. Jetzt erst wurde es ihm bewusst. »Aruula hat Recht«, entfuhr es ihm. »Ich hab mir keine Gedanken darüber gemacht, aber früher vor dem Zeitsprung ist mein Haar tatsächlich schneller gewachsen.« »Das ist in der Tat ungewöhnlich.« Dr. Antonows Augenlider verengten sich. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie es hinter seiner hohen Stirn arbeitete, während er nach einer Pinzette griff. »Um der Sache auf den Grund zu gehen, würde ich gern ein paar Proben nehmen«, bat er. »Etwas dagegen?« Matt ließ den Wissenschaftler gewähren, denn ihm war ebenfalls an einer Aufklärung dieses Rätsels gelegen. Klaglos verfolgte er, wie einige ausgezupfte Haare, ein Fingernagelrand und eine am Handrücken entnommene Gewebeprobe in drei verschließbare Glasschälchen wanderten. »Haben Irena Walujews Verhöre eigentlich schon etwas Neues ergeben?«, fragte er, weil ihn die schmerzhafte Prozedur an seinen eigenen Aufenthalt im EVG-Labor erinnerte. Dr. Antonow verneinte in bitterem Ton. Wie die verräterische Subkommissarin es schaffte, sich dem Hirnstrom Monitor zu widersetzten, war bisher noch ein Geheimnis. Fast schien es, als hätten die Petersburger sie diesbezüglich ausgebildet was die Beteuerungen, Irena hätte Mr. Blacks Entführung auf eigene Faust geplant, nicht unbedingt glaubwürdiger machte. Die Allianz hat uns eine Liste ihrer Sympathisanten zukommen lassen, die in Ramenki aktiv sind«, erzählte Antonow weiter. »Quasi ein Friedensangebot, auch wenn es sich dabei nur um untere Dienstränge handelt. Ob man noch einige Spione verschweigt, wissen wir erst, wenn Irenas Widerstand gebrochen ist.« Eine ziemlich harte Haltung, wie Matt fand, doch sein Mitleid hielt sich in Grenzen. Immerhin hatte die Waljuew zur Durchsetzung ihrer Ziele den Tod vieler unschuldiger Menschen billigend in Kauf genommen. Ein Blick auf die Stationsuhr brachte ihn ohnehin schnell auf andere Gedanken. 26. 06. 2519 l 22:17. Oben in Moska wartete eine laue Sommernacht und ein Treffen mit drei Nosfera auf ihn. »Ich komme mit«, verlangte Mr. Black, als Matt begann, einige Nierenschalen aus glänzend poliertem Edelstahl in einen mit alten Lumpen gefüllten Beutel zu packen. »Nichts da«, widersprach der Pilot entschlossen. »Falls wir erwischt werden, wäre es ziemlich schwer zu erklären, was der Herausforderer des Taratzenkönigs bei Nacht und in der Gesellschaft von Nosfera im Kreml zu suchen hat.«
* Matt lag auf dem Bauch im nasskalten Gras. Angestrengt blinzelte er durch die
Dunkelheit und den Regen, um die drei Bluttempler auszumachen, denen Aruula und er
bis ins Innere der alten Festung gefolgt waren. Ein schwarzer Kapuzenumhang bedeckten den größten Teil seines Körpers und machte ihn beinahe unsichtbar. Gekleidet wie ein Nosfera, war er nicht mehr als ein weiterer Schatten auf dem Boden. In den Kellern des 1961 errichteten Kongresspalastes ein hässlicher Betonklotz, um dessen Einsturz es nicht schade war hatte der halb verschüttete Fluchttunnel geendet, der vom nahen Ufer der Moskwa aus unter der Außenmauer des Kremls hindurch führte. Sie hatten nur ein paar rostige Stahlplatten zur Seite schieben müssen, um in einen Bereich vorzustoßen, in dem sich keine Wachen blicken ließen. Vor allem deshalb, weil wenige Gewölbe entfernt die Kreatur hauste, die von der ganzen Stadt gefürchtet wurde. Der Taratzenkönig! Von Zeit zu Zeit drang metallisches Klirren durch die zerfallenen Gänge, ausgelöst durch schwere Ketten, die über nackten Stein schleiften. Bohrender Hunger mochte der Grund für diese späte Unruhe sein. Sicher hatte man dem Taratzenkönig die abendliche Fütterung vorenthalten, um seine Aggressivität zu steigern. Matt schauderte bei dem Gedanken. Das Mondlicht glitzerte auf nassen Blättern, während er den Beutel mit den Nierenschalen fest an seinen Körper presste. Der kalte Regen machte ihm nichts aus, doch die scheinbar endlose Zeit des Wartens zerrte an seinen Nerven. Vielleicht hätte er doch Radeks Angebot annehmen und alles den Bluttemplern überlassen sollen. Wenn ihn sein Zeitgefühl nicht trog, lag Mitternacht zwei Stunden zurück. Dies war die Zeit der Nosfera, nicht der Menschen. Zumal schwere Wolken den Mond bedeckten und der ganze Hof in Finsternis versank. Die kleinen Feuer auf den Wehrgängen, an denen sich einige Wachen die klammen Finger wärmten, beleuchteten nur einen Umkreis von wenigen Metern. Als Matt den Blick zur Seite wandte, ließen sich Aruulas Umrisse mehr ahnen denn sehen. Die Positionen von Radek, Vukov und Rraal waren gar nicht ausmachen, obwohl er genau wusste, dass sie nur wenige Meter entfernt kauerten. Fast hätte man annehmen können, dass sie sich heimlich aus dem Staub gemacht hätten. »Die Gelegenheit ist günstig«, flüsterte eine leise Stimme. Wie aus dem Nichts hockte Radek so dicht neben ihm, dass seine spröden Lippen beinahe Matts Ohr berührten. Nicht einmal das feinste Knacken hatte die Annäherung verraten. Der einschläfernde Rhythmus des Regens übertönte die kaum wahrnehmbaren Bewegungen der Bluttempler. »Gib mir deinen Beutel«, verlangte Radek. »Es ist besser, wenn wir das letzte Stück alleine gehen.« Matt gab nach, wenn auch nur widerwillig. Es fiel ihm schwer, tatenlos mit anzusehen, wie andere ein Risiko eingingen, doch es ließ sich nun mal nicht leugnen, dass die Nosfera bei Nacht besser sahen. »Deponiert die Schalen mit dem Boden nach außen«, schärfte er Radek ein, bevor der Beutel weiter wanderte. »Keine Sorge«, lautete die Antwort, kaum mehr als ein Wispern, das in der Nacht verwehte. »Wir wissen, was zu tun ist.« Matt konnte weder sehen noch hören, wie sich die Ordensbrüder auf den Weg machten. Das vor ihm liegende Trümmergelände blieb dunkel wie ein Tintenfass, nur die Wachfeuer auf der fernen Mauer schufen kleine Lichtinseln, die aber seltsam verloren wirkten.
Obwohl Aruula und er nicht mehr weiter ins Geschehen eingreifen konnten, hatte sich die Mühsal des Weges gelohnt. In den kurzen Phasen, in denen der silberne Mondschein durch die Wolken brach, prägten sich beide das Gelände so gut es ging ein, um Mr. Black davon zu berichten. Ob der Running Man den morgigen Tag überlebte, hing unter anderem davon ab, wie gut sie ihn einweisen konnten. Der Plan, den Matt noch am Nachmittag geschmiedet hatte, konnte nur funktionieren, wenn Black jeden einzelnen Schritt beherzigte. Angestrengt lauschte er in die Nacht hinaus, ohne etwas zu hören außer dem Rauschen des Regens. Die Bluttempler agierten, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Noch während er überlegte, wie lange sie wohl noch ausharren mussten, hockte Radek bereits wieder neben ihm. »Alles an seinem Platz«, versicherte der Bluttempler. »Wenn Black sich an deine Vorgaben hält, kann ihm nichts passieren.« So viel Zuversicht tat gut, auch wenn Matt sie nicht völlig teilte. Dein Wort in Murmaus Ohr«, seufzte er, bevor es durch den engen Tunnel zurück ging. Das erste Grau des Tages war nicht mehr fern, und mit ihm nahten die Schrecken, die noch kommen sollten.
* Shiirka, der Jäger, trug seine Beute stolz nach Hause. Schon lange vor dem Morgengrauen hatte er eine Lichtung im Wald aufgesucht, die an eine gut einsehbare Wasserstelle grenzte. Dort hatte er auf Gerule und Kamauler gelauert, doch die waren inzwischen zu vorsichtig geworden. Stattdessen erlegte er einige Bellits, die nicht weit von seinem Versteck in der Luft verharrten. Trotz seines Alters besaß Shiirka eine schnelle und sichere Hand. Bevor der erste Pfeil sein Ziel fand, hatte er bereits den nächsten aufgelegt und ebenfalls von der Sehne gelassen. Drei Bellits durchbohrte er auf diese Weise, ehe sie die Flucht ergriffen. Den vierten erwischte Shiirka, als der Schwarm in steilem Winkel aufstieg und gen Sonne davon flog. Was für eine Jagd! Von der konnte er noch Tage erzählen! Reichlich zu essen würde es in dieser Zeit geben, so viel, dass es auch für die Nachbarn reichte. Selbst ausgeweidet und ohne Flügel waren vier armlange Rieseninsekten nicht einfach zu transportieren. Shiirka schnitt mit seinem scharfen Messer einen gerade gewachsenen Ast auf Länge, sodass er ihn bequem über Nacken und Schultern legen konnte und dabei noch genügend Platz blieb, um zwei Bellits an jedes Ende zu binden. Obwohl er schon den dreiundvierzigsten Sommer erlebte, trug Shiirka seine Beute nach Hause, ohne sie einmal abzusetzen. Nun, da die Sonne über die Baumwipfel stieg und langsam an Kraft gewann, rann ihm der Schweiß in seine buschigen Augenbrauen und den grauen, stets zerzaust wirkenden Bart. Erschöpft war er deshalb noch lange nicht. Hah, sein Weib konnte wirklich zufrieden mit ihm sein. Er nahm es noch jederzeit mit einem Jüngeren auf. Sei es im Kampf, bei der Jagd, oder des Nachts, wenn nicht nur Manneskraft, sondern auch Zärtlichkeit gefordert war. Der Gedanke an seine Maschuta ließ den Jäger weiter als gewöhnlich ausschreiten. Äste zerknackten unter den Sohlen, raschelndes Laub wirbelte hinter seinen Schritten
auf. Na und, was machte es schon? Er hatte sein Wild bereits gefangen und brauchte deshalb nicht mehr vorsichtig sein. Nur noch eine kleine Anhöhe empor, dann waren die Dächer ihres kleinen Dorfes zu sehen. Leichter Brandgeruch lag in der Luft. Da briet wohl schon ein Fang des Tages, oder Wulov, der Schmied, hatte die Esse in Gang gebracht. Hammerschläge waren aber bisher nicht zu hören. Überhaupt schien es ungewöhnlich ruhig zu sein. Shiirka hielt zum ersten Mal inne. Zu dieser Zeit steckten die Waldvögel normalerweise mitten im morgendlichen Gezwitscher, doch alles, was irgendwie Federn besaß, schien plötzlich verschwunden. Dafür wurde Hufschlag laut. Verblüfft entdeckte Shiirka eine Herde Kamauler, die keine zwanzig Schritt entfernt den lichten Baumbestand durchquerte. Recht ungewöhnlich für diese scheuen Tiere. So auffällig, wie er den Pfad entlang getrampelt war, mussten sie ihn längst bemerkt haben. Fast schien es, als ob sie vor etwas flohen, das sie mehr fürchteten als die Pfeile in seinem Köcher. Shiirkas Magen verwandelte sich in einen gefrorenen Klumpen Eis. Da stimmte etwas nicht! Mit ein paar schnellen Sätzen schlug er sich seitwärts ins Unterholz, wo er seinen Tragestock mit der Beute unter ein paar Nadelzweigen und Laub verscharrte. Einen Pfeil aufgelegt, ohne die Sehne zu spannen, machte sich Shiirka auf den Weg. Keine dreihundert Schritt entfernt endete der Wald an moosbewachsenen Felsen, die sein Dorf im Westen überragten. Statt dem Pfad zu folgen, der sich sanft in die Tiefe schlängelte, strebte der Jäger einen höheren Punkt an, von dem er seine Holzhütte und die der Nachbarn überblicken konnte. Stachlige Pflanzen wuchsen dort und ein Busch mit essbaren Beeren in Größe einer Daumenkuppe, die wegen ihres saftigen roten Fruchtfleisches Wudans Blut genannt wurden. Der Appetit war Shiirka allerdings längst vergangen. Die Sehne ein wenig auf Spannung gebracht, löste er sich aus dem Schutz der Bäume und rannte gebückt auf den Vorsprung zu. Eine kühle Brise strich von hinten über seinen ledernen Jagdrock, doch das störte nicht weiter. Diejenigen, die er zu sehen fürchtete, besaßen nicht die Nase dafür, seine Witterung aufzunehmen. Marodierende Banden interessierten sich nicht für die Finessen der Jagd, solange sie rauben konnten, was sich andere mühsam erarbeitet hatten. Rauchsäulen stiegen jenseits der zerklüfteten Felsen empor. Weit mehr, als es eigentlich sein dürften. Im Sommer heizte niemand den Ofen, und warmes Wasser lieferte der still vor sich hin köchelnde Samowar. Aufs Tiefste beunruhigt, suchte Shiirka Schutz hinter einem grünen Gespinst aus scharfen Schnittgräsern, Stachelblättern und Dornenranken. Den Bogen mit einer Hand auf Spannung haltend, spürte er nicht die feinen Verletzungen, die er sich zuzog, als er die Pflanzen weit genug beiseite schob, um ein Guckloch zu schaffen. Der Blick in die Tiefe wurde frei, und was Shiirka dort zu sehen bekam, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Und ließ den Bogen in seiner Hand geradezu lächerlich erscheinen. Eine unübersehbare Anzahl grauenhafter Kreaturen hatte die Palisaden erstürmt und alle im Dorf erschlagen, die nicht schnell genug hatten fliehen können. Erste Brände loderten auf, während die blutüberströmten Leichen auf dem freien Platz neben der Frischwasserrinne zusammengetragen wurden. Maschuta, schoss es Shiirka verzweifelt durch den Kopf. Ulgaa, Niklaar, Fjdool...
Noch während er sich die Namen seiner Kinder in Erinnerung rief, zog ein säuerlicher Geschmack seinen Mund zusammen. Angesichts der Erschlagenen, von denen viele noch ihr Nachtzeug trugen, konnte er sich keine großen Hoffnungen machen, einen seiner Lieben noch lebend wiederzusehen. Die monströsen Gestalten, die zu nachtschlafener Zeit über die Hütten hergefallen waren, kannten weder Mitleid noch menschlichen Anstand. Statt Vieh, Kleidung, Werkzeug oder Möbel zu rauben und die Toten ruhen zu lassen, schleppten sie Stangen und Seile herbei, um Männer, Frauen und Kinder wie erlegtes Wild an Händen und Füßen zusammenzubinden, aufzunehmen und fortzuschleppen. Vermutlich, um sie irgendwo in Ruhe zu verzehren. So abstoßend, wie die meisten der Angreifer aussahen, waren sie geradewegs Orguudoos finsterem Reich entstiegen, um Tod und Leid über die Menschheit zu bringen. Da gab es Echsenmänner mit schauderhaften Mäulern, aus denen zangenartige Greifer ragten. Sie kämpften Seite an Seite mit vierarmigen Bestien in weit geschnittenen Stoffhosen und knappen Westen, unter denen braunen Hautflecken zum Vorschein kamen, die von innerer Fäulnis zeugten. Zwergenhaft verwachsene Gestalten mit wucherndem Haupt und Barthaar tummelten sich ebenso unter der tollwütigen Meute, wie graue, bis auf die Knochen abgemagerte Schwertkämpfer, bei denen es sich um Wiedergänger aus dem Totenreich handeln musste. 0 Wudan, warum bestrafst du uns?, fragte sich Shiirka. War unser Dorf nicht gläubig genug? Von tiefer Mutlosigkeit erfasst, wollte sich der Jäger am liebsten kopfüber in die Tiefe stürzen. Kein Zweifel: Was da unten sein Unwesen trieb, mussten die Vorboten von Ragnaarök sein, dem Niedergang der Schöpfung. Nicht mehr lange, dann würden Krahacs dunkle Schwingen die Sonne verdunkeln und alles Leben auf Erden auslöschen. Wozu also das Unvermeidbare herauszögern? Doch Wudan liebte tapfere Krieger, keine Feiglinge, die ihrem Leben selbst ein Ende bereiteten. Dazu kam noch Shiirkas Überlebenstrieb, der sich zurückmeldete, als trampelnde Schritte laut wurden. Die rechte Hand zurück am Pfeil, die Bogensehne in einer fließenden Bewegung stärker gespannt, wich er zurück auf den grünen Streifen zwischen Wald und Bergschneise. Das Dämonenpack, das ihn aufgestöbert hatte, sprach kein Wort, als er die Deckung verließ. Das war auch nicht nötig. Ein Blick in ihre blutunterlaufenen Augen zeigte deutlich, welches Schicksal ihn erwartete, wenn sie ihn in die Finger bekamen. Shiirka sollte ihre Mägen füllen. Roh oder gebraten, war dabei völlig gleich. Ohne sich seiner eigenen Handlung recht bewusst zu werden, hob er den Bogen, zielte kurz und sandte den aufgelegten Pfeil von der Sehne. Das knappe Dutzend vierarmiger Bestien spritzte auseinander, um dem Schuss zu entgehen, nur der Vorderste, dem plötzlich ein gefiederter Schaft aus dem Hals ragte, erstarrte mitten in der Bewegung. Diese Dämonen ließen sich verwunden, so viel stand fest. Noch ehe der erste röchelnd zusammen brach, setzte Shiirka seine Treffsicherheit zwei weitere Male unter Beweis, wenn auch nicht ganz so tödlich. Mit ihren Keulen, Faustkeilen und schartigen Schwertern waren sie seinem weitreichenden Bogen unterlegen. Was diese Kreaturen jedoch gänzlich von menschlichen Angreifern unterschied, war die fehlende Rücksichtnahme auf ihr eigenes
Leben. Trotzig stürmten sie weiter bergan, ein einziges Wort auf den Lippen, das
entweder ein Fluch oder ihre Nemesis sein mochte.
»Mefju'drex!«, brüllten sie, immer wieder und wieder. »Mefju'drex! Mefju'drex!
Mefju'drex!«
Schritt für Schritt schrumpfte die Distanz, bis Shiirka nichts mehr anderes übrig blieb, als
die Flucht zu ergreifen.
Er fuhr herum und rannte den breiter werdenden Grünstreifen empor. Zwischen die
Bäume durfte er nicht fliehen. Dort mochten weitere Dämonen lauern.
Er musste freies Gelände suchen, um die Reichweite des Bogens zu nutzen. Ein Blick in
den Köcher ließ jedoch seinen Mut sinken. Noch elf Pfeile. Drei mehr, als ihn Gegner
verfolgten.
Von nun an musste jeder Treffer tödlich sein. Eigentlich ein unmögliches Unterfangen,
aber um einen Platz an Wudans Tafel zu finden, durfte Shiirka nicht innehalten und
musste bis zum letzten Atemzug kämpfen.
Ein Blick über die Schulter zeigte, dass die schnaufenden Verfolger auch nicht schneller
vorankamen. Manche mussten sogar auf alle Sechse niedergehen, um den Anschluss
zu halten.
Shiirka fasste neuen Mut.
Nur noch eine kurze Anstrengung, dann mündete der Hang in einen baumlosen Grat,
der sich bis tief ins Hinterland zog, bevor er sanft abfiel. Wenn er es bis dahin schaffte,
besaß er eine Chance, den Gegner nach und nach zu dezimieren und zu entkommen.
Wenn Shiirka sich Richtung Westen wandte, konnte er vielleicht einige der dort
liegenden Jagdhütten oder Siedlungen warnen.
Anderen sollte nicht das Gleiche widerfahren wie ihm.
Nur dieser Gedanke gab seinem Leben noch einen Sinn.
Als er den Grat erreichte, zerstoben jedoch alle Flucht und Rachepläne zu feinem
Staub.
Wie aus dem Boden gewachsen, standen plötzlich zwei Diener Orguudoos vor ihm,
noch weitaus schrecklicher anzusehen als das Geschmeiß, das sich an seine Fersen
geheftet hatte. Rot glänzende Echsenhaut umhüllte sie von den Füßen bis zum Hals,
darüber wölbte sich eine durchsichtige Haube, unter der ein überdimensionierter
Kahlkopf steckte wie in einem gefrorenen Eisklotz. Shiirkas Versuch, auf sie anzulegen,
scheiterte nicht nur an seiner verzögerten Reaktion, sondern auch an dem Blitz, der
einem von ihnen aus der Hand fuhr.
Zischend ging sein Bogen in Flammen auf.
Shiirka schleuderte das brennende Holz von sich und fiel auf die Knie. Wenn dies sein
Ende sein sollte, so war er bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Beide Hände
ineinander verschränkt, warf er sich nieder und presste das Gesicht in das vom Tau
feuchte Gras.
Die Reaktion der roten Dämonen ließ nicht lange auf sich warten.
Über Shiirka brach ein Gewitter los, wie es noch keiner seines Dorfes erlebt hatte. Nur
eine Armlänge entfernt, jagten die Blitze über seinen Kopf hinweg.
Doch alles, was Shiirka verloren ging, war die Kontrolle über seinen Körper.
Obwohl er nicht die kleinste Wunde davontrug, besaß er nicht mehr die Kraft, sich
aufzurichten.
Gleich darauf wurde sein schlaffer Körper an den Schultern gepackt und davon gezerrt.
Shiirkas Blick fiel auf den hinter ihm liegenden Grashang, der nun mit schwarz
verkohlten Stellen und den Leichen der vierarmigen Dämonen übersät war.
Was hatte das zu bedeuten? Waren die Rothäutigen etwa Gottesboten, die ihm einen Platz an Wudans Tafel zuweisen sollten? Aber dann... wäre er tot; gestorben, ohne dass er es gemerkt hatte. Der Schrecken darüber währte nur kurz. Wenn es so war, mochte er bald Maschuta und die Kinder wiedersehen. Dafür lohnte es sich zu sterben. Die göttlichen Boten schafften ihn zu ihrem Himmelswagen. Ein bizarres Gefährt aus gebogenen Stangen, eisigen Kuppeln und vier großen Rädern. Irgendwie ähnelte es einer Wolke; vermutlich weil es eine war. Shiirka fühlte sich auf die Rückbank geschoben und starrte reglos in den Himmel. »Was ist mit dem?«, fragte einer der Götterboten. »Der hat doch gar nichts abgekriegt.« »Schockzustand«, antwortete der andere. »War wohl alles zu viel für ihn.« Shiirka fühlte sich seinem Körper seltsam entrückt, während das Fahrzeug holpernd los jagte. Weder spürte er den Wunsch, einen Muskel zu rühren, noch vermochte er auf äußere Einflüsse zu reagieren. Beinahe schien ihm, als würde er alles aus weiter Ferne beobachten, vielleicht aus Ethera, dem Paradies, in dem seine Familie bereits auf ihn wartete. So hörte er zwar, wie die Rothäutigen Wudan anriefen, um von der näherrückenden Dämonenbrut zu berichten, doch es berührte ihn nicht weiter, als sie sagten: »Spähtrupp Zarenkrone an Rasputin Fünf! Feindberührung in Sektor 12/34. Befinden uns auf dem Rückzug.« Genauso wenig interessierte Shiirka, wie sie über ihn redeten. »In den ARET können wir den Wilden nicht mitnehmen. Am besten legen wir ihn an einer Stelle ab, wo er vor den Mutanten sicher ist. Irgendwann wird er sich schon wieder aufrappeln.« »In Ordnung.« Shiirka spürte nur, wie sie ihn in den Schatten eines Baumes betteten. Dort blieb er einen Tag und eine Nacht reglos liegen, bis ihn vierarmige Dämonen fanden, die ihm den Schädel mit einem großen Findling zertrümmerten.
* Trotz der frühen Stunde war der Platz zwischen den Kremlmauern hoffnungslos überfüllt. Halb Moska schien auf den Beinen zu sein, um den Kampf zu verfolgen, der entscheiden sollte, ob sich Barbaren und Technos nun zu einer geeinten Streitmacht verbündeten oder weiter getrennte Wege gingen. An der Westseite des Trümmerfeldes waren schon vor langer Zeit Betonplatten zu einer Tribüne aufgeschichtet worden, um dem Zaritsch und seinem Gefolge einen Ehrenplatz einzuräumen. Wer sonst etwas sehen wollte, musste entweder Kisten oder Tonnen zum Draufstellen heranschleppen oder eines der umliegenden Palastdächer erklimmen, die eine besonders gute Sicht, aber auch die Chance boten, sich bei einem Absturz den Hals zu brechen. Mr. Black hätte einen Kampf unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgezogen, doch auf die Rahmenbedingungen besaß er keinen Einfluss. Nervös wechselte er das rasiermesserscharfe Edelstahlschwert, das ihm ein Waffensammler aus Ramenki zur Verfügung gestellt hatte, von einer Hand in die andere. Die leicht gebogene, gut einen Meter zwanzig lange Klinge war perfekt ausbalanciert, und das mit Leder bespannte Rundschild, das er benutzen durfte, lag gut in der Hand.
Trotzdem wären ihm Driller oder Lasergewehr lieber gewesen. Um seine Nervosität abzubauen, schlug er mit der Klinge einige Achten in die Luft. Vereinzelter Applaus begleitete die Aktion, doch die Mehrheit der knapp achttausend Zuschauer verharrte in gespanntem Schweigen. Black vermied es, in die Höhe zu blicken, denn wie von Radek vorhergesagt, hatte man ihm einen Platz mit dem Rücken zur Westmauer zugewiesen. Jedes Mal, wenn er den Kopf zu weit hob, sah er in die Sonne, die hinter der Ostmauer langsam empor stieg. Links des Kampffeldes, das durch mit Speeren bewaffnete Gardisten begrenzt wurde, fanden sich Matthew Drax und Miss Aruula ein, die wie immer, wenn sie die Oberfläche betraten von einer Leibgarde aus Nosfera umgeben wurden. Black hätte sich in diesem Punkt etwas mehr Diskretion gewünscht, denn die offenkundige Verbindung zwischen Drax und den Blutsaugern kostete sie vermutlich mehr Sympathien, als sie an Kampfkraft einbrachte. Noch mehr als an den vermummten Mutanten störte er sich aber an einem kleinen Kettenfahrzeug mit aufmontierter Kamera. Der Kampf wurde tatsächlich in das Informationsnetz von Ramenki eingespeist, um die Einwohner über das Schicksal ihres Serumsträgers auf dem Laufenden zu halten. »O Wudan«, rief Sergiuz aus, als das Rund der Sonne gänzlich über der östlichen Mauer stand. »Wir haben uns heute hier versammelt, um deinen göttlichen Rat zu erflehen. Bitte gib dem Kämpfer, der für deinen Willen steht, die Kraft, über seinen Gegner zu triumphieren.« Für Blacks Geschmack klang das Ganze ein wenig zu sehr nach Schmierentheater, um wirklich überzeugen zu können, doch die versammelten Barbaren zeigten sich restlos begeistert. Jubel und Ehrbezeugungen erfüllten die Luft, bis der Zaritsch eine rotblaue Fahne hob, sie einige Sekunden im Wind flattern ließ und dann entschlossen von links nach rechts schwenkte. Nun gab es kein Zurück mehr. Der Kampf war eröffnet. Und Mr. Black setzte die Sonnenbrille auf, die man im Bunker nach seinen Angaben gefertigt hatte. Er hatte nur bis zum letzten Moment gewartet, damit Sergiuz keinen Einspruch erheben konnte. Zwei bereit stehende Seilschaften nahmen jeweils eine zu ihren Füßen liegende Kette auf und begannen die rostigen Glieder durch zwei eingeschlagene Eisenringe zu ziehen. Quietschend fuhr ein Gitter in die Höhe, das eine dunkle Grube bedeckt hatte. Vielfaches Fauchen brach daraus hervor, so laut, dass es selbst das Kettenrasseln übertönte. Schwerfällig wuchtete der Taratzenkönig seinen unförmigen Körper durch die viel zu enge Öffnung, die immerhin vier mal vier Meter maß. Zuerst war nur ein borstiges Gewimmel aus übereinander liegenden Vorderpfoten, gebogenen Krallen und Köpfen zu erkennen. Erst als der Taratzenkönig aufrecht stand, sah man, dass es sich nicht um ein einzelnes Tier handelte, sondern um vier von Geburt an miteinander verwachsene Geschwister! Vom Bauch an abwärts bildeten die Leiber eine Einheit, aus der nur die Pfoten einzeln hervorragten. Ihre vier Schweife endeten in einem unentwirrbaren Knäuel der eigentliche Auslöser ihrer Missgestalt. Seit Alters her wurde ein Wurf, der sich nicht mehr voneinander lösen konnte, Taratzenkönig genannt. Die meisten waren zum Verhungern verdammt, doch dieser hier, der wohl schon im Mutterleib zueinander gefunden hatte, war zu etwas Neuem, Grotesken verschmolzen, das den Überlebenskampf bisher stets für sich entscheiden konnte.
Trotz des gemeinsamen Körpers steckten in den vier Köpfen verschiedene Gehirne, die alle ihre eigene Ziele verfolgten. So konnte es durchaus vorkommen, dass eines der Beinpaare in eine andere Richtung lief und der ganze Koloss dadurch ins Schwanken geriet. Im Laufe der Jahre hatten die Geschwister jedoch gelernt, sich durch fiepende Absprachen abzustimmen. Selten hatte Mr. Black ein so schweres Tier so behände agieren sehen. Kaum dass es die Grube verlassen hatte, machte es schon seine Beute, von einem Gegner konnte bei diesem Ungleichgewicht der Kräfte eigentlich keine Rede sein, mit scharfem Blick seiner acht Augen aus und ging zum Angriff über. Nur einige rasselnde Ketten, die es hinter sich herzog, hemmten ein wenig seinen Lauf. Durch die Brille vor der grellen Sonne geschützt, konnte Mr. Black die tief in den Hals eingewachsenen Eisenbänder ausmachen, mit denen der Taratzenkönig vierfach angekettet war. Die Barbaren, die ihn schon in jungen Jahren in Eisen gelegt hatten, hatten sich später nicht mehr nahe genug heran gewagt, um die Bänder zu erweitern. Solange die von Wahnsinn befallene Bestie nach Beendigung des Kampfes wieder zurück in die Tiefen des Kellers gezerrt werden konnte, waren der Zaritsch und seine Spießgesellen zufrieden. Die Qual, die sie dieser ohnehin geschundenen Kreatur zufügten, berührte keines ihrer rohen Gemüter. Mr. Black spürte, wie sein Hals austrocknete. Obwohl in zahlreichen Kämpfen erprobt, musste er seine aufsteigende Angst niederkämpfen, bevor sie ihn lahmte. Andere Männer wären in dieser Situation geflohen und hätten damit ihr Todesurteil unterzeichnet. Denn die Ketten des Taratzenkönigs reichten nur bis zum Rand des markierten Kampfplatzes, und jeder Herausforderer, der ihn zu verlassen suchte, wurde von den Speeren der Gardisten zurückgetrieben. Black jedoch, der seine Taktik mit Radek, Aruula und Matt abgesprochen hatte, floh nicht, sondern rannte direkt auf den Taratzenkönig zu. Ein erstauntes Raunen ging durch die Zuschauer. So viel Wagemut war selten zu sehen. Black dachte aber nicht daran, sich blindlings auf die Bestie zu stürzen. Selbst ein geübter Schwertkämpfer besaß gegen acht gleichzeitig zuschlagende Krallenhände keine Chance, von den vier zuschnappenden Kiefern, ganz zu schweigen. Ohne sich einen Fehltritt zu leisten, wieselte der Running Man über den bröckligen Untergrund und flankte über einen Mauerrest, um eine rechts von ihm ansteigende Halde zu umrunden. Der Taratzenkönig versuchte ihm den Weg abzuschneiden, kam auf den übereinander geschichteten Betonplatten, aus deren Bruchkanten noch rostige Eisenflechtmatten ragten, aber nicht so schnell voran. Bleiche Knochen, Schildreste und zerbrochene Klingen glitzerten überall zwischen den Steinen. Überreste vergangener Kämpfe, die den neuen Delinquenten jeden Mut rauben sollten. Black versuchte sich zu orientieren. Die Distanz zwischen dem missgestalteten Tier und ihm schmolz bedenklich zusammen. Die Menschen schrien vor Aufregung. Doch Black blieb die Ruhe selbst. Er sprang drei stufenförmige Betonstücke empor. Zuerst sah es so aus, als wollte er sich in einer aus verkanteten Platten entstandenen Höhle verstecken. Stattdessen stieg er auf den obersten Absatz, der wie ein Felsvorsprung hervorragte, und stellte sich zum Kampf! Von hier oben hatte er den Vorteil, dass er auf den Gegner hinabsehen und schlagen konnte. Der Taratzenkönig ließ sich von diesem Vorteil nicht weiter beeindrucken und stapfte unverdrossen weiter. Acht Krallenhände zum Schlag erhoben, um Black die Waden bis
auf den Knochen aufzureißen, stürzte er vorwärts, geriet aber ins Stolpern, als eines der schwarzen Augenpaare geblendet wurde und der dazugehörige Körper instinktiv abbremste. Black nutzte die Gunst des Augenblicks und schlug nach der am weitesten vorgereckten Pfote. Das Tier wich instinktiv aus, büßte aber trotzdem zwei Krallen ein. Fiepend tanzte der Taratzenkönig umher, schmerzverzerrt und drohend zugleich. Unversehens setzte er zum nächsten Angriff an, geriet aber erneut aus dem Takt, weil eines der vier Geschwister geblendet wurde. Black senkte das Schild, um seine Beine zu schützen. Zwei Krallenpaare zogen tiefe Furchen in das mit Leder bespannte Holz. Blacks Quittung erfolgte prompt, indem er die Klinge tief in den Hals des zweiten Kopfes von links stieß. Blut nässte das schmutzige Taratzenfell, doch weder dieses Tier noch eines der anderen drei ließ deshalb im Angriff nach. Auf diese Weise wogte der Kampf eine Weile hin und her. Blacks überlegene Position erlaubte ihm eine Reihe leichter Treffer, während er die Krallen mit dem Schild abblockte. Dass die Taratzenaugen immer wieder von herumliegenden Metallteilen geblendet wurden, stiftete zusätzlich Verwirrung, und das aus gutem Grund. Was aus der Ferne wie zerbrochene Klingen aus vergangenen Kämpfen aussehen mochte, waren in Wirklichkeit ins Geröll gepresste Nierenschalen. Matts Einfall, auf den ihn eine reflektierende Dingikuppel gebracht hatte, ging auf: Während Black durch die Sonnenbrille geschützt war, wurde der Taratzenkönig benachteiligt. Fauchend und knurrend suchte das Tier nach einer Möglichkeit, den widerspenstigen Gegner besser zu packen. Schließlich folgte es Blacks Vorbild und nutzte die beiden tieferliegenden Platten als Stufen. Wegen seines unförmigen Körpers riss der Taratzenkönig allerhand Schutt vom Hang und brachte dabei auch die Höhle unter den Platten zum Einsturz. In der nächsten Sekunde schossen dunkle Schatten daraus hervor und stiegen steil in die Luft. Und noch bevor jemand erkennen konnte, um was es sich handelte, gingen sie auch schon in halsbrecherischem Sturzflug auf den Taratzenkönig nieder. Es waren Bateras! Fünf von ihnen umkreisten die Köpfe des Taratzenkönigs, verletzten ihn mit ihren Krallen und bombardierten ihn mit Ultraschalltönen. Eigentlich hatten die Nosfera sechs dressierte Tiere in die Höhle gesetzt; eines hatte den Einsturz wohl nicht überlebt. Zwei weitere wurden von der Bestie zerrissen. Die übrigen drei setzten dem Taratzenkönig kräftig zu. Zwei Augäpfel platzten unter den hochfrequenten Tönen. Blut schoss aus Ohren, Maul und Nüstern. Immer einen Schwingenschlag voraus, brachten ihn die Bateras mit blitzartigen Manövern aus der Fassung. Black hatte sich unterdessen mit einem Sprung in die Tiefe abgesetzt und eilte nun zu den am Boden liegenden Ketten, raffte sie blitzschnell auf und zerrte mit einem Ruck daran. Der Taratzenkönig, der ohnehin schon um seine Balance kämpfen musste, geriet endgültig ins Straucheln. Ein vierfaches Fauchen begleitete den quälend langen Moment, in dem er nach hinten kippte, über die Bruchkanten und rostigen Eisenflechtmatten hinab rollte und zu Boden schlug. Staub quoll in großen Schwaden auf. Trotzdem verlor Mr. Black keine kostbare Sekunde. Mit geschmälten Augen drang
er in die Wolke vor, wehrte einen unkontrollierten Pfotenschlag mit dem Schild ab und ließ sein Schwert singen. Die Klinge rasierte unter dem vorgereckten Maul der äußersten Taratze entlang und schlitzte deren Kehle bis zum Halswirbel auf. Das nun einsetzende, entsetzliche Kreischen war nicht der Grund dafür, dass Black einige schnelle Schritte zurück wich. Ein waidwundes Tier war unberechenbar, und auf einen Gegner wie den Taratzenkönig traf das gleich vierfach zu. Die Bestie schlug wild um sich, stemmte sich auf sechs Beinen in die Höhe und wankte hinter ihm her. Der linke Teil des Tieres war jedoch zu keiner Regung mehr fähig. Nur der Kopf schwang noch einige Male hin und her, bevor auch der letzte Muskel riss. Seines Halts beraubt, fiel er in die Tiefe und rollte zur Seite. Die Enthauptung hatte einen enormen Blutverlust zur Folge, der alle vier Tiere betraf. Mehr als ein halbes Dutzend Schritte brachte das Konglomerat aus Krallen, Fängen und fauchenden Kehlen nicht mehr zustande, dann brach es endgültig zusammen und verendete zuckend am Boden. Die leisen Todeslaute gingen im Jubel der Zuschauer unter. Wahrlich, solch einen Kampf hatten die Moskawiter nie zuvor gesehen. Dieser Sieg musste ganz einfach auf Wudans Beistand zurückzuführen sein! Dass die drei davon flatternden Bateras keiner göttlichen Hilfe entsprangen, sondern den vorausschauenden Bluttemplern, blieb ein wohl gehütetes Geheimnis. Ein Gottesurteil zu manipulieren stand schon seit Anbeginn aller Zeiten nur der ausführenden Religion zu. Von den Massen bejubelt und beklatscht, wankte Black zur Tribüne. Sein Sieg war erst perfekt, als er das gefrorene Lächeln sah, mit dem ihn Sergiuz begrüßte. Der Zaritsch war allerdings klug genug, den Ausgang des Kampfes für seine eigenen Zwecke zu nutzen. »Seht her!«, forderte er. »Wudan gab uns ein Zeichen! Ich und Präsident Black sollen gemeinsam in den Krieg ziehen, um die Macht des anziehenden Heeres zu brechen!« Der darauf einsetzende Beifall übertönte alles, und Mr. Black fühlte sich ohnehin zu erschöpft, um noch einen eigenen Vers aufzusagen. Sollte sich Sergiuz ruhig als Ebenbürtiger aufspielen. In Wirklichkeit wussten sie beide, dass dieser Sieg der Anfang vom Ende seiner Regentschaft war.
* Irena schreckte von der Pritsche auf, als sich das Stahlschott der Zelle knarrend öffnete.
Jetzt schon?, dachte sie erschrocken. Ich wollte doch ein wenig schlafen.
Schlaf! Wie sehr sich die Subkommissarin danach sehnte, und wie wenig sie ihn fand,
angesichts ständiger Störungen und der Tag und Nacht brennenden Neonbeleuchtung.
Nur die Ruhe, schärfte sie sich ein, aber das war leichter gesagt als getan. Die Torturen
der vergangenen Tage, ein laufender Wechsel von Schlafentzug, Tranquilizern und
EVG-Verhören zeigten langsam ihre Wirkung. Irena fühlte sich matt und kraftlos, aller
Energien beraubt.
Statt Blut pulsierte Angst durch ihren Kreislauf.
Angst vor den Elektroden, die ihr wieder in den Kopf gebohrt werden sollten, um jeden
Gedanken auf dem Hirnstrom-Monitor sichtbar zu machen. In russischen Bunkern galt
das Verhör mit dem Encephalovisualigraph als bewährtes Mittel zur Gefahrenabwehr,
doch bisher hatte sie allen Versuchen, ihr die Namen der übrigen AllianzSympathisanten zu entreißen, tapfer widerstanden. Doch um welchen Preis? Ein flüchtiger Blick in den Spiegel genügte, um Irenas schlechten Zustand zu offenbaren. Ihr ohnehin schmächtiges Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Tiefe Schatten lagen unter den geröteten Augen. Die goldfarbene Perücke, die sie so sehr liebte, hatte man ihr genauso genommen wie alle übrigen persönlichen Utensilien. Seit der Festnahme steckte sie in derselben, mittlerweile leicht säuerlich riechenden Gefangenenkluft. Nur einen Satz neue Unterwäsche hatte man ihr zwischenzeitlich zugestanden, aber auch nur, weil ihre Periode eingesetzt hatte. Obwohl sie von den Sicherheitskräften mit korrekter Distanz behandelt wurde, fühlte sich Irena jeglicher Würde beraubt. In den vergangenen Tagen hatten die Spezialisten so lange in ihren Gedanken gewühlt, bis selbst die beschämendsten Erlebnisse, Wünsche und Triebe, die jeder Mensch tief in seinem Innersten vergrub, ans Tageslicht gezerrt wurden. Ihre Nächte mit Alexander und Nikolai hatte man bis in intimste Details dokumentiert. Vermutlich kursierten die Aufnahmen längst als verdeckte Files auf den Rechnern des notgeilen Sicherheitspersonals von Ramenki. Allein dieser Gedanken genügte, um Mordgelüste in Irena aufflackern zu lassen. Es war nur ein kurzer, aggressiver Funke, doch er legte körperliche Reserven frei, die zuvor im Verborgenen geschlummert hatten. Ihre Gestalt straffte sich. Trotz des mentales Widerstandstrainings, das sie in Petersburg für Fälle wie diesen durchlaufen hatte, war es wohl vor allem ihrem angeborenen Kampfgeist zu verdanken, dass sie immer noch durchhielt. Noch war der Wille, dem Gegner keinen Triumph zu gönnen, größer als die Bereitschaft zur Niederlage. Noch war Irena bereit, seit der Kindheit eingelagerte Emotionen freizusetzen, um den gestellten Fragen auszuweichen. Doch wie lange noch? Sie wusste es nicht. Die Niederlage würde für sie wahrscheinlich genauso überraschend kommen wie für ihre Gegner. Bis dahin galt es durchzuhalten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Bereit, dem Besucher alle Verachtung entgegenzuschleudern, zu der sie noch fähig war, schwang sie auf der Pritsche herum. Doch als sie sah, wer da in die Zelle trat, gefror sie zu Eis. Mit allem hatte Irena gerechnet, aber nicht mit einem Besuch von Anton Tschechow. Einem der wichtigsten Allianzspione hier in Ramenki. Ihre herablassende Maske zerbrach. Darunter kam die erschöpfte und verängstigte Frau zum Vorschein, die sie längst geworden war. Kurz drängte es sie, vor Freude aufzujubeln, dann gewann sie die Beherrschung zurück. Ihre Gesichtsmuskeln formten eine starre, ausdruckslose Miene, der keine bestimmbaren Gefühle zuzuordnen waren. »Keine Sorge«, beruhigte Tschechow sie. »Diese Zelle wird weder optisch noch akustisch überwacht. Wir können offen sprechen.« Tatsächlich? Irena wurde von tiefem Misstrauen durchströmt. Konnte sie diesem Mann tatsächlich noch trauen, oder hatte er längst die Seiten gewechselt? Wurde er nun eingesetzt, um sie auszuhorchen? Angesichts der widrigen Umstände schien es besser, sich in Zurückhaltung zu üben. Nur mit einem Kopfnicken deutete sie an, dass er weitersprechen sollte.
Tschechow schien ihre Lage zu verstehen. Ohne sich lange mit irgendwelchen Beileidsfloskeln aufzuhalten, kam er direkt zur Sache. »Dank der neuen Satelliten Verbindung laufen die Verbindungen zwischen Ramenki und Petersburg heiß«, legte er die aktuelle Lage dar. »Unter dem Druck der Ereignisse hat sich die Allianz zu einer Kurskorrektur entschlossen. Statt weiter auf Konfrontation zu setzen, will man zum allgemeinen Wohle wieder stärker mit der Liga kooperieren.« Das Entsetzen legte sich wie ein heißes Tuch um Irenas Hals. Kurskorrektur, diese Ankündigung konnte nichts Gutes bedeuten. Vor allem nicht für sie. »Dmitri und Kusma haben inzwischen alles gestanden«, redete Tschechow weiter, ohne ihr Zeit zum Nachdenken zu geben. »Da sie, als persönliche Stellvertreter, alle Befehle von dir erhielten, beharrt Petersburg weiterhin darauf, dass du auf eigene Faust gehandelt hast.« Die Hitzewallungen hielten unvermindert an. Falls etwas schief geht, haben Sie niemals einen derartigen Auftrag von mir erhalten! Die Worte Seiner Exzellenz hallten Irena immer noch im Ohr. Langsam wurde ihr klar, was Tschechows Besuch zu bedeuten hatte. Besonders als sie erfuhr, dass als Geste des guten Willens alle Sympathisanten der Kategorie B offengelegt worden waren. Damit blieben nur noch acht hochrangige Spione im Dienste der Allianz. Einer von ihnen war Leitoffizier im Lagezentrum. »Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte sie, obwohl die Antwort auf der Hand lag. Petersburg betrieb Schadensbegrenzung, und die Einzige, die noch Schaden anrichten konnte, war sie! Solange Irena weiter verhört wurde, schwebten die Männer und Frauen der Kategorie A in Gefahr. Irenas Augen suchten unauffällig nach einer Waffe, mit der Tschechow sie möglicherweise liquidieren wollte. Ihr Tod würde vieles erleichtern, vielleicht sogar für sie. Allerdings warf ein Mord auch die Frage nach dem Täter auf und setzte neue Untersuchungen in Gang. »Wir haben einen Fluchtplan für dich ausgearbeitet«, eröffnete Tschechow überraschend. Die Walujew schnaubte verächtlich. »Quatsch!«, stieß sie bitter hervor. »Das würde die Beziehungen zwischen den Bunkern nur wieder verschlechtern. Was habt ihr wirklich mit mir vor?« »Ich rede nicht von einem Ausbruch«, stellte Tschechow klar. »Das würde unsere Möglichkeiten übersteigen, obwohl die Gelegenheit gerade günstig ist. Im Moment hängen nämlich alle an den Bildschirmen, um den Kampf zwischen Black und dem Taratzenkönig zu verfolgen. Was wir uns ausgedacht haben, ist jedoch viel subtiler.« Mit einem verschwörerischen Lächeln zog Tschechow eine gut zehn Millimeter große, blau und weiß gefärbte Kapsel aus der Brusttasche seiner Uniform. Wie ein fettes Insekt klemmte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein wahres Monstrum, das vermutlich gerade so eben durch die Speiseröhre passte. »Was ist das?«, fragte Irena bebend. Tschechows Lächeln verbreiterte sich, ohne dass sie ergründen konnte, ob es freundlich oder abschätzend gemeint war. »Das ist das Herzstück zu Monte Christo... erklärte er. »Monte Christo?« Sie verstand nicht. »Der Deckname unser Operation.« Seine Fröhlichkeit schien wie zementiert. »Frag mich nicht, wie Schaljapin darauf gekommen ist. Seine Idee ist jedenfalls genial. Dieses Medikament reduziert deine Körperfunktionen auf ein Minimum.
Du fällst in einen komatösen Schlaf, der bei einer oberflächlichen Untersuchung als Tod durch Herzschlag durchgeht. Schaljapin sorgt dann für die endgültige Bestätigung.« Schaljapin war in Ramenki für die Obduktionen zuständig, trotzdem klang das alles nicht plausibel genug. Der Plan war zu kompliziert, um wirklich zu funktionieren. Wie viel einfacher musste es dagegen sein, ihr eine Giftkapsel unterzuschieben, die einen echten Herzanfall auslöste? »Was nützt es mir, wenn ich für tot erklärt werde?«, begehrte Irena auf. »Lebendig begraben zu werden ist für mich keine Flucht.« Tschechow lachte herzhaft. Kein Wunder, es ging ja nicht um seinen Arsch! »Petersburg schickt eine ganze ARET-Division zur Verteidigung von Moska«, schob er weitere Informationen nach. »Dmitri und Kusma werden im Gegenzug ausgeliefert. Dir will man unbedingt den Prozess machen. Wenn du allerdings stirbst, wird man deine Leiche zu Überführung freigeben. Dass du in Wirklichkeit noch lebst, ist der MonteChristo-Effekt.« An den Irena weiterhin nicht glaubte, doch das schien Tschechow wenig zu stören. Da sie keine Anstalten machte, die Kapsel entgegenzunehmen, drückte er sie ihr einfach in die schweißnasse Hand und eilte zurück zur Tür. »Ich kann nicht länger bleiben. Der Wachhabende, den ich gerade vertrete, kommt bald aus der Kantine zurück.« Wortlos ließ sie ihn ziehen. Was hätte sie auch sagen sollen? Danke? Danke, dass ich mich vergiften darf, damit für euch alles leichter wird? Nachdenklich sah sie auf die zweigeteilte Kapsel in ihrer Hand. Setzte man wirklich alles daran, sie lebend hier heraus zu bringen? Irena mochte nur zu gerne daran glauben, schließlich hatte Sie in den vergangenen Tagen vieles ertragen, um andere Männer und Frauen zu schützen, die für die gleiche gerechte Sache kämpften. Langsam, in einer beinahe zeitlupenhaften Geschwindigkeit, führte sie die Hand zum Mund. Mal ehrlich: Selbst wenn es Gift war, entfloh sie damit wenigstens weiteren Verhören. Gleichgültig was dieses Medikament auch bewirken mochte, besser als eine lebenslange Haft war es allemal. Kurzentschlossen ließ sie die Kapsel zwischen den Lippen verschwinden.
* Nach einer Woche nicht enden wollender, hektischer Vorbereitungen stand er tatsächlich bevor, der Tag der Entscheidung. Matt fühlte ganze Armeen von Insekten über Arme, Brust und Rücken marschieren, doch in Wirklichkeit war es die Anspannung, die seine Haut zum Kribbeln brachte. Gemeinsam mit Aruula ging er den Abschnitt ab, der ihrem Kommando unterstand. Neunhundert Meter Erdwall, die sich entlang der alten Ringstraße zogen, das war ihr Revier, in dem sie für Befestigungen, Schießscharten und eine gleichmäßige Verteilung der Truppen zu sorgen hatten. Keine leichte Aufgabe, vor allem, da Technos, Nosfera und Barbaren lieber in geschlossenen Verbänden kämpfen wollten, statt sich, ihren unterschiedlichen Fähigkeiten entsprechend, entlang der Brustwehr zu verteilen. Die im Vorfeld eingesetzten Radpanzer, die sich bereits Gefechte mit den Mutanten lieferten, meldeten über Funk, dass der aus Osten anrückende Feind in losen Verbänden auf ganzer Front vorrückte. Falls Moska nicht im großen Stil umgangen werden sollte und nach solch taktischen Finessen sah es nicht gerade aus, würde die
Hauptstreitmacht der Mutanten genau hier, entlang des Stadtteils Kitaigorod auflaufen. Mit der Front zwischen Uliza Pokrowka und Mjasnizkaja Ul, zwei alten Ausfallstraßen, die nichts von ihrer Breite verloren hatten, stand Matthew Drax im Brennpunkt des erwarteten Geschehens. Den südlichen Abschnitt bis hinab zum Fluss kommandierte Zaritsch Sergiuz mit seinen Truppen, nördlich der alten Metrostation Turgenewskaja hatte dagegen ein NosferaGeneral das Sagen, dessen Gesicht bisher noch keiner zu sehen bekommen hatte. Trotz aller Animositäten verlief die Zusammenarbeit immer reibungsloser. Der äußere Druck schweißte die unterschiedlichen Gruppierungen zusammen. Dr. Antonow und hundertfünfzig Serumsnutzer aus Ramenki hatten sich gleichmäßig auf die knapp vier Kilometer lange Brustwehr verteilt. Fünfzig weitere standen in Twerskaja in Reserve, für den Fall, dass der besetzte Abschnitt doch umgangen werden sollte. Auf die Infusionsbeutel vertrauend, die ihr Immunsystem kontinuierlich mit Serum auffrischten, hatten diese Technos die klobige Schutzkleidung abgelegt. Stattdessen trugen sie blaugraue, mit Kunststoffschalen verstärkte Kampfanzüge, die ihnen volle Bewegungsfreiheit gewährten. Weitreichende Lasergewehre sollten den Gegner schon auf lange Distanz schwächen; für die Konfrontation Mann gegen Mann standen dann Barbaren und Nosfera bereit. Aruula schirmte ihre Augen gegen die Nachmittagssonne ab und sah über die begrünte Ruinenlandschaft, die ganz Moska wie einen Gürtel umgab. Explosionen drangen aus der Ferne herüber, an zwei Stellen schienen weitläufige Feuer ausgebrochen zu sein. Der Kampf hatte längst begonnen. Barbaren, die sonst in diesem unzugänglichen Ruinendschungel lebten, nutzten ihre Ortskenntnisse, um dem anrückenden Feind in den Rücken zu fallen und sich dann wieder zurückzuziehen. Mit Strahlenkanonen ausgerüstete AMOTs unterstützten sie dabei. Dingis wurden dagegen nur noch als Melder benutzt, seit zwei Besatzungen in Hinterhalte geraten und seitdem verschollen waren. »Etwas Böses rottet sich zusammen«, verkündete Aruula ungewohnt düster. »Ich kann spüren, wie es immer näher rückt.« Einen Moment lang kaute sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe, dann drehte sie sich zu Radek um, der Matt und sie schon den ganzen Tag begleitete. »Was ist mit dir? Spürst du es auch?« Ob der Nosfera zur Antwort nickte, ließ sich nicht genau erkennen, zumindest lief ein sanftes Zittern durch seine tief ins Gesicht gezogene Kapuze. »Ja«, gab er unumwunden zu. »Mein inneres Auge erschauert schon den ganzen Morgen, obwohl ich es fest verschlossen halte. So etwas ist mir nie zuvor passiert.« Ein Windstoß wirbelte Aruulas lange Haare auf. Sie strich eine Strähne zur Seite, die plötzlich an ihrem Mundwinkel klebte, und nickte mitfühlend. Niemand konnte wohl besser ermessen als sie, zu welcher Plage ein gut ausgebildeter Lauschsinn werden konnte. In El'ay hatte es sie einmal fast das Leben gekostet, als ihre telepathischen Fähigkeiten künstlich potenziert wurden. Auch damals tobte ein Krieg, in dem sich zwei Armeen unnachgiebig gegenüber standen. Matt schüttelte unwillkürlich den Kopf. Die Menschheit war seitdem nicht schlauer geworden, und als ob das noch nicht reichte, betraten nun auch noch die Daa'muren das Spielfeld. Wo sollte das noch alles hinführen? In El'ay hatte es wenigstens die technischen Errungenschaften in Miki Takeos Enklave gegeben. RoCops, die an Brennpunkten eingesetzt werden konnten, ohne das Leben der eigenen Truppen zu gefährden.
Kampfgleiter, die eine Luftherrschaft ermöglichten. Und einen mörderischen Pilz, den Matt aus der ISS mitgebracht hatte. Hier in Moska ging es dagegen Mann gegen Mann. Das auf ihn geeichte LaserphasenGewehr aus London, mehr stand Matt Drax nicht zur Verfügung. Zweifellos eine gute Waffe, dank des integrierten Reaktors von unerschöpflicher Feuerkraft, doch unverletzlich machte sie nicht. An einem mit Domenranken und angespitzten Pfählen gesicherten Vorwerk hielten sie an. Hier war ein Funker stationiert, der die Gespräche zwischen den AMOTs verfolgte. Allein die Tatsache, dass alles klar und deutlich zu verstehen war, zeigte, wie nah sich die Kämpfe bereits abspielten. Wegen der CF-Strahlung reichte ein Sender für gewöhnlich nicht weiter als fünf Kilometer. »Rasputin Acht an Zentrale«, tönte gerade eine aufgeregte Stimme aus dem Äther. »Wir stecken zwischen zwei Ruinen fest! Die Mutanten bombardieren das Fahrzeug mit schwerem Abraum aus den höheren Stockwerken. Unsere Frontscheibe weist schon Sprünge auf. Innendruck ist stabil. Die Kerle nutzen jede Deckung, um unseren Kanonen zu entkommen!« Die Furcht vor den Oberflächenkeimen war dem Sprecher deutlich anzuhören. Bei den AMOT-Besatzungen handelte es sich um Technos, die sich weiterhin vor einer Kontamination schützen mussten. Kurz darauf rief die Zentrale alle Radpanzer zurück. Inmitten des Ruinendschungels konnten sie ihre Feuerkraft nur begrenzt ausspielen, deshalb sollten sie lieber den Wall verstärken. Matt fuhr den Teleskoplauf seines LP-Gewehres aus und lehnte es in die linke Armbeuge. Ein beruhigendes Gefühl, vor allem wenn er mit der Daumenkuppe über die Reaktorkugel strich. Aus dem grünen Labyrinth jenseits der Schneise brachen die ersten beiden AMOTs hervor. Auf ihren Dächern hingen Mutanten, die wie besessen auf die Stahlhülle einschlugen. Obwohl sie zum größten Teil nur Blankwaffen hatten, schafften sie es doch, eine der Laserkanonen zu demontieren. Andere machten sich an den Einstiegsluken zu schaffen. Zwei Narod'kratow, die über primitive Gewehre verfügten, knieten sofort nieder und feuerten auf die Verteidiger hinter dem Wall. Eine der Bleikugeln verletzte einen Barbaren an der Schulter. Matt legte das LP-Gewehr an und schoss zurück. Ein Dutzend Technos tat es ihm gleich. Ein dichter Strahlenfächer fegte über die Panzerung und machte dem Spuk ein Ende. Leider verschwendeten auch einige kampflustige oder zornige Barbaren ihre Speere, obwohl die Fahrzeuge viel zu weit entfernt waren. Von den ungebetenen Reisegästen befreit, kamen die AMOTs näher und gingen vor dem Wall in Stellung. Danach beruhigte sich die Lage etwas. Nur einige Barbaren, die sich Gefechte mit den Mutanten geliefert hatten, strömten in den Schutz der Stadt zurück. Dumpfes, unartikuliertes Kriegsgeschrei stieg aus den Ruinen auf. Die Barbaren auf dem Wall antworteten mit eigenen Gesängen, in die sogar ein paar Technos einfielen. Matt nutzte gerade ein digitales Fernglas aus russischen Beständen, um den Vorstadtrand abzusuchen, als Mr. Black in dem vorspringenden Karree erschien. »Die Verstärkung aus Petersburg ist eingetroffen!«, verkündete er lautstark, als wäre dies die entscheidende Wende in diesem Krieg. »Ein Tross aus neun Fahrzeugen! Vier ARETs werden unsere Stellung von Norden aus verstärken!«
Matt nickte nur beiläufig. Vier Panzer mehr oder weniger, was machte das schon? Wenn die Mutanten den Wall überrannten, durften sie ihre Feuerkraft nur noch begrenzt einsetzen, da sie sonst Gefahr liefen, die eigenen Reihen zu treffen. »Was ist mit Irena Waljuew?«, fragte Matt, ohne den Blick vom Gelände zu nehmen. »Der regierende Kommissar hat sich nun doch entschieden, ihren Leichnam zur Überführung freizugeben.« Black dämpfte ein wenig die Stimme. »Eine Geste des Entgegenkommens, genauso wie die Auslieferung der beiden Stellvertreter.« Matt sparte sich einen Kommentar zum Thema. Nicht aus Verärgerung, sondern weil er einfach nicht wusste, was er von der Sache halten sollte. Irenas Tod hatte einige Irritation bei ihm ausgelöst. Herzschlag, eine ungewöhnliche Todesursache für eine gesunde Frau Mitte dreißig. Konstantin Fedjajewski bestritt jedoch vehement, dass die EVG-Verhöre etwas mit dem plötzlichen Ableben zu tun haben könnten. Angeblich wäre bei den Vernehmungen alles korrekt zugegangen, außerdem hätte die Obduktion einen Organfehler ergeben. Matt wusste nicht, ob er das glauben konnte. Immerhin hatte er in Perm am eigenen Leib erfahren, wie rüde die Bunkerliga manchmal vorging. Ein unverhoffter Schlag auf die Schulter ließ ihn einen Schritt nach vorne stolpern. Überrascht sah er zu Mr. Black, dessen rechte Hand sich wahrscheinlich gerade als roter Fleck auf seiner Haut abzeichnete. »Kein Grund zum Trübsalblasen«, versicherte der Rebell, »in dieser Schlacht haben wir klare Vorteile. Dem Feind fehlt es an Koordination und der richtigen Taktik. Unsere Truppen sind dagegen straff...« »Schon gut«, unterbrach ihn Matt. »Wenn ich einen Motivationstrainer brauche, sage ich schon Bescheid.« Er wusste selbst nicht genau, warum er so harsch reagierte. Vielleicht weil ihm Radeks Warnung nicht aus dem Sinn ging, oder einfach deshalb, weil die Schlacht immer näher rückte. Er würde wieder töten müssen. Fremdes Leben auslöschen, um das der Moskawiter zu retten. Matt würde es tun, weil es getan werden musste, doch er fühlte sich schlecht dabei. Blacks Redestrom versiegte. Für Sekunden trat ein ärgerliches Glitzern in seine Augen, das rasch wieder verschwand. Was blieb, war ein beleidigter Zug. »Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht in Ihrer Konzentration stören«, versicherte er und blieb von nun an sachlich und knapp. Kurz darauf verabschiedete er sich in ein weiteres Karree, das dreihundert Meter weiter südlich lag. Von dort aus wollte er die Verteidigung im umliegenden Bereich organisieren. Während Matt beunruhigt verfolgte, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite immer mehr Mutanten zwischen den Ruinen sammelten, schimpfte Aruula leise: »Du warst gehässig zu Mr. Black. Er ist doch so stolz, dass Bunkermenschen und Barbaren jetzt zusammen kämpfen.« »Ach was«, wehrte Matt ab. »Das steckt er weg, der hat ein dickes Fell. Um ihn mache ich mir ehrlich gesagt die wenigsten...« Ein entsetzter Aufschrei, der sein Echo in zahlreichen Kehlen fand, unterbrach ihn. Matt spürte ein Schaudern über seinen Rücken laufen, als er den Blicken einiger Barbaren folgte, die mit offenem Mund gen Himmel starrten. Der weiße Fleck, der dort mit geschmeidigem Schwingenschlag durch die Wolken glitt, war Matt gut bekannt. Ein Todesrochen. Eine der gefährlichsten Dienerkreaturen der Daa'muren. Matt und seine Gefährten hatten schon mehrmals mit dieser Spezies zu tun bekommen. Statt
selbst anzugreifen, zog die Mutation aber nur ihre Kreise wie ein unbeteiligter Beobachter, der stumm dokumentierte, was er sah. Womöglich täuschte dieser Eindruck aber. Vielleicht dirigierte dieser Rochen sogar den Einsatz und bediente sich dabei der Mutanten wie ein Schachspieler seiner unterschiedlichen Figuren. Matt zog das LP-Gewehr mit dem Kolben in die Schulter, doch für einen Schuss auf diese Entfernung reichte die Visiereinrichtung nicht aus. Die Möglichkeit, den Todesrochen zu treffen, vergrößerte sich aber schon Sekunden später, als dieser aus seinem Kurs ausscherte und in den Sinkflug überging. Radek stöhnte leise auf, ohne dass Matt es bewusst registrierte. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Rochen, der geradezu majestätisch näher glitt. Dabei schien es, als hätte er das Karree, in dem Matt mit Aruula und Radek stand, als Ziel auserkoren. Unruhe flammte entlang des Walls auf. Nicht wegen des Rochens, sondern weil sich auf der gegenüberliegenden Seite die Mutanten aus dem Schutz der Ruinen lösten und vorwärts stürmten. In einem schier endlosen Strom quollen sie hervor, um die Verteidiger auf ganzer Länge zu überrennen. Schwere Lasergeschütze wummerten los und hinterließen dampfende Aschekreise in den feindlichen Reihen. Die AMOTs leisteten ihr Bestes, doch gegen die schiere Masse furchtloser Angreifer waren sie hilflos. Links und rechts von Matt flammten weitere Lasergewehre auf. Er selbst konzentrierte sich auf den Todesrochen, der langsam in Schussweite kam. Bedächtig ausatmend, visierte er ihn an und drückte den Abzug hinter der Reaktorkugel. Summend jagte der Laserstrahl gen Himmel. Der Kampf ums Überleben hatte begonnen. Hoch droben, wo die Atmosphäre langsam schwindet und die tödliche Kälte des Alls beginnt, zog Thgäan seine einsame Bahn. Einst, als er noch Kommandeur über Myriaden war, hatte er von hier aus die Geschicke der Lesh'iye geleitet: Patrouillen ausgeschickt, Meldungen, Bilder und Eindrücke verarbeitet und aus dem nie versiegenden Strom von Informationen jene herausgesucht, die für die Herren von Wichtigkeit sein mochten. Doch der Schock über die Zerstörung einer Bruteinheit hatte vieles verändert. Die Herren hatten fast sämtliche Lesh'iye zur Eigensicherung rund um das Ufer des Kratersees versammelt und damit Thgäans Dienste überflüssig gemacht. Rastlos zog er weiter seine Bahn, doch sein komplexes Nervenwerk war seitdem unterfordert. Jede einzelne neurale Zelle gierte förmlich nach dem positronischen Strom, der sie erst ganz und gar erfüllte und dann wieder verließ. Dieses regelmäßige An und Abschwellen, das eine Zelle zum Vibrieren brachte, war die Nahrung, die sie am Leben erhielt. Nun aber, da keine Informationsströme mehr verarbeitet werden mussten, drohte seine Leistungsfähigkeit auf Dauer zu verkümmern. Die Logik erforderte, sich jederzeit für neue Aufträge der Herren bereitzuhalten, deshalb war Thgäan dazu übergegangen, alte Datenströme zu rekapitulieren und auf ihre Effizienz hin durchzurechnen. Schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass dies sein körperliches Wohlbefinden steigerte, sodass er diese Planspiele noch weiter ausbaute. Thgäan entwarf ganze Szenarien, in denen Patrouillen sich gegen Eindringlinge verschiedenster Art zu Wehr setzten, und er empfand Freude dabei. Freude ein positronischer Widerhall, für den sein Gehirn gar nicht ausgelegt war. Anfangs vermied Thgäan es, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, doch
schließlich stellte er einen separaten Bereich seines Gehirns zur Verfügung, der dieses Gefühl weiter verfolgte und in Zusammenhang mit allen je von ihm gesammelten Informationen brachte. Das Ergebnis war erschreckend. Je mehr er sich mit seinem körperlichen Wohlbefinden auseinander setzte, desto stärker wurde es. Statt herauszufinden, wie sich diese unerwünschte Funktion abstellen ließ, breitete sie sich wie ein Geschwür in ihm aus. Das machte Thgäan Angst, und das war noch viel schlimmer. Nun kannte er schon zwei Gefühle, Furcht und Freude, obwohl er zur reinen Logik geschaffen wurde. Zum Glück erreichte ihn die Meldung, bevor sich das psychische Dilemma noch weiter vergrößern konnte. Die Nachricht stammte von der letzten Patrouille, die ihm verblieben war. Von einem einzigen Lesh'iye. (Lokalisierung erfolgreich!), drang es aus dem Äther. (Gesuchter Primärrassenvertreter befindet sich in Reichweite der Modelle.) Die Worte waren nicht mehr als ein sphärisches Wispern, doch in seinem Inneren hinterließen sie einen wahren Donnerhall. Völlig sachlich, wie aus einer unbeteiligten Perspektive, stellte Thgäan fest, dass er den Herren gefallen wollte, in der Hoffnung, wieder mehr Aufgaben zugewiesen zu bekommen. Natürlich nur, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten. Vollkommen logisch und ohne verbotenes Gefühl. (Peile Mefju'drex an und gib seine Position laufend weiter), befahl Thgäan. (Das biologische Ende dieses Primärrassenvertreters hat höchste Priorität.) Der Lesh'iye nahm den Befehl entgegen und führte ihn aus. Natürlich, was auch sonst? Wenn es sein musste, würde er sogar seine Existenz aufs Spiel setzen, um den Auftrag zu erfüllen. Warum auch nicht? Der Einzelne war unwichtig, schließlich gab es Hunderttausende Lesh'iye! (Falsch!) Der Gedanke durchfuhr Thgäan wie ein glühendes Eisen. Die Zeit der Myriaden war vorüber. Er befehligte nur noch diesen einen Lesh'iye, und wenn er starb, hatte er gar keine Truppe mehr. Innerhalb einer Nanosekunde reaktivierte Thgäan die Verbindung. (Auf Eigensicherung achten), gab er durch. Mehr nicht, das musste reichen. Der Todesrochen kippte zur Seite, als er den blendend hellen Strahl kommen sah. Statt ihn knapp hinter dem halb aufgerissenen Maul zu treffen, streifte der Laser nur die Bauchhaut, die zwar einige Blasen warf, aber nicht zerplatzte. Matt zog mit dem Lauf nach und feuerte erneut. Diesmal gut einen Meter daneben. Der Rochen war einfach zu weit entfernt, um präzise zu zielen. Aufgeben kam trotzdem nicht in Frage. Mit ruhiger Hand folgte er der engen Luftrolle und hielt ein wenig höher, um das Tier im Steigflug zu erwischen. Ein lautes Würgen zu seinen Füßen riss ihn aus der Konzentration. Überrascht blickte er auf Radek nieder, der, unkontrolliert am ganzen Körper zitternd, auf dem Boden hockte. »Mefju'drex!«, krächzte der Nosfera wie mit letzter Kraft. »Tötet den Mefju'drex!« In einer wiederkehrenden Litanei leierte er die Worte mehrmals herunter, bis ihm ein feuchtes Gurgeln die Sprache raubte. Als endgültiges Zeichen der Übelkeit, die ihn quälte, schoss ihm eine rosa gefärbte Fontäne aus dem Mund.
Matt hatte Mühe, sich von diesem erschütternden Anblick loszureißen. Als er endlich wieder zum Himmel sah, war es längst zu spät. Der Todesrochen verschwand gerade hinter den Wolken. Resigniert senkte Matt den Gewehrlauf und sah sich nach anderen Zielen um. Auswahl gab es genug. Die Schneise zwischen Wall und Ruinen-Dschungel wimmelte nur so vor blutrünstigen Mutanten, die unaufhaltsam näher rückten. »Was ist los?«, fragte er, ohne das Schlachtfeld aus den Augen zu lassen. »Wer soll mich töten?« Und, nach einer kurzen Pause: »Mefju'drex das bin doch ich, oder?« Radek wischte sich über den Mund, bevor er erschöpft nach hinten sackte und sich mit dem Rücken gegen den Erdwall lehnte. Beide Hände unter die Kapuze geschoben, massierte er seine Schläfen mit sanftem Druck der Fingerkuppen, um einen bohrenden Kopfschmerz zu vertreiben. Keuchend sah er zu Matt und Aruula auf. Ein verirrter Sonnenstrahl erhellte sein bleiches, von namenlosen Schrecken geprägtes Gesicht. »Ich habe etwas erlauscht«, stieß er endlich hervor. »Etwas Fremdes, Abstoßendes, das unmöglich von dieser Welt stammen kann.« Ein trockener Husten unterbrach seine Ausführungen. Radek hielt schnell beide Hände vor den Mund, ohne sich erneut zu übergeben. »Erst fühlte es sich an wie ein Ruf«, erzählte er atemlos weiter. »Doch als ich meine Sinne ausstreckte und den Kontakt verstärkte, begann es zu brennen, als ob mir jemand glühende Kohlen in den Kopf schaufeln würde. Ich sah dein Gesicht, Maddrax, wie durch fremde Augen, und ich spürte, wie deine Witterung weitergegeben wurde.« Eisige Kälte umschloss Matt wie eine zweite Haut. »Witterung?«, fragte er, nur scheinbar regungslos. »Meinst du so eine Art... Peilinstinkt, wie du ihn vor zwei Wochen angewandt hast, um mich in den Metro-Schächten aufzuspüren?« Radeks Nicken kam nicht allzu überraschend. Matt ahnte schon seit langem, dass die Rochen telepathisch miteinander Kontakt hielten. Neu war hingegen, dass sie sich auf einer Frequenz verständigten, die von anderen Telepathen empfangen werden konnte. Was Radek da während des Rochenanflugs aufgeschnappt hatte, ließ vieles in neuem Licht erscheinen. »Nicht nachlassen!«, drang Mr. Blacks Stimme aus der Ferne, bevor sie im allgemeinen Kampfeslärm unterging. »Sie versuchen bei uns durchzubrechen!« Der Einschätzung des Running Man entsprach den Tatsachen. Hier, zwischen Uliza Pokrowka und Mjasnizkaja Ul trat die feindliche Streitmacht besonders massiert auf, und wie es schien, strömte von den Flanken her auch noch Verstärkung herbei. Wie ein mächtiger, alles niederwalzender Keil, so flutete das Gemenge aus Narod'kratow, Rriba'low, Woiin'metcha, Mastr'ducha und etlichen anderen Mutanten heran. Ihre Zahl war zu groß, um sie mit den Laserwaffen auf sicherer Distanz zu halten. Die ersten überfluteten bereits die vorgeschobenen Radpanzer, ohne sich diesmal mit dem Versuch aufzuhalten, die luftdicht verschlossenen Schleusen zu knacken. Obwohl es aus Tausenden von Individuen bestand, schien das gesamte Heer nur von einem einzigen Willen beseelt zu sein. Den Wall erstürmen, mehr wollten sie nicht. Und nun, da Matt die Wahrheit ahnte, ergab dieses Handeln auch einen Sinn. Das Mutantenheer war nicht etwa ausgesandt worden, um sich an der KraterseeExpedition zu rächen. Nein, der alles verzerrende Hass galt nur einer einzigen Person nämlich ihm! Weil er es gewesen war, der das Daa'muren-Ei in der Brutkammer zertreten hatte. Ob nun aus Versehen oder nicht, diese Tat schien im Wertesystem der Außerirdischen das schlimmste denkbare Verbrechen zu sein. Zumindest schlimm
genug, um ganze Völker in willenlose Marionetten zu verwandeln, die eine Spur der Vernichtung durch den halben Kontinent zogen. »Nicht zurückweichen!«, brüllte Black erneut. »Ihr müsst standhalten!« Rastlos eilte er die Front auf und ab, feuerte zwischendurch mit dem Lasergewehr und machte sich dann wieder daran, die Verteidigung zu organisieren. Die Mutanten waren längst auf Wurfweite heran. Der Himmel verdunkelte sich unter einer Flut von Speeren, die plötzlich von beiden Seiten aufeinander zu flogen. Die Luft wurde so holzhaltig, dass einige der Schäfte miteinander kollidierten und trudelnd zu Boden gingen. Das Gros der Waffen beendete jedoch die anvisierte Flugbahn und ging direkt über dem Gegner nieder. Dumpf schlugen die scharfen Spitzen ein. Schultern, Brustkorb, Arme und Beine wurden am häufigsten getroffen. Manch einer brach auch zusammen, weil der Schaft aus seinem Hals ragte. Unter den Verteidigern der Stadt fielen die Verluste geringer aus, da sie von der Brustwehr geschützt wurden; trotzdem erwischte es einige schneller, als sie sich zu ducken vermochten. So wie den graubärtigen Barbar, der mit im Karree stand. Als ihn ein schwerer Feldstein am Schlüsselbein traf, ging er stöhnend zu Boden. Sein Arm fühlte sich wohl an, als stünde er in Flammen, zumindest presste er ihn wimmernd an sich und suchte Deckung. Aruula nahm seinen Bogen auf und besetzte den frei gewordenen Platz. Zielsicher sandte sie Pfeil um Pfeil in die anbrandende Masse, doch für jeden getroffenen Mutanten standen vier weitere bereit. »Dagegen halten!«, forderte Black von jedem, der ihn hören konnte. »Nehmt die feindlichen Speere, wenn ihr keine eigenen mehr habt!« Um seine Worte zu unterstreichen, packte er einen blutbefleckten Schaft und zog ihn mit schnellem Ruck aus einem reglosen Techno hervor. Das Lasergewehr in der linken Hand, holte er mit rechts aus und schleuderte den Speer in die anrückende Front. In der gleichen Zeit hätte er drei Mal mit dem Gewehr feuern können, doch sein Beispiel machte unter den Barbaren Schule, sodass die Abwehr wieder stärker wurde. Gedeckt durch einen mehrfach gestaffelten Kordon aus vierarmigen Rriba'low, die unter der geballten Laser und Stahleinwirkung förmlich in Stücke gerissen wurden, erreichten einige Woiin'metcha den Wall. Um die angespitzten Pfähle zu überwinden, stürzten sich die Vorderen freiwillig in den Tod. Über ihre aufgespießten Leichen hinweg konnten die Nachfolgenden die Brustwehr erklimmen. Stahl traf auf Stahl, als man sie mit blanker Klinge zurückzutreiben suchte, doch die Übersetzung für Woiin'metcha lautete Schwertmeister, und diesem Namen machten die knochigen Gestalten alle Ehre. Verstärkung eilte herbei, trotzdem drohte die Front an dieser Stelle einzubrechen. Daraufhin setzten sich zwei AMOTs in Bewegung. Knirschend walzten sie alles nieder, um den entsprechenden Abschnitt mit ihren Strahlenkanonen zu bestreichen. Die wie ein lebender Organismus vor und zurück wogende Streitmacht schien auf diese Reaktion nur gewartet zu haben. Dort wo die AMOTs zuvor für Entlastung gesorgt hatten, ballten sich die Mutanten nun doppelt so stark zusammen und rannten gegen das vor ihnen liegende Kastell an. »Vorsicht, Drax, die wollen bei Ihnen durch!« Und ob sie das wollen, dachte Matthew bitter. Sieht denn keiner von euch, worum es wirklich geht? Die wollen diesen Abschnitt nur stürmen, um mich zu töten! »Stehen Sie doch nicht da wie angewurzelt!« Blacks Stimme überschlug sich fast. »Schießen Sie, Commander! Schießen Sie, was das Zeug hält!«
Blacks Zurechtweisung schien berechtigt. Jeder, der noch eine Waffe halten konnte, setzte sie zur Zeit gegen den Gegner ein. Jeder, nur nicht Matthew Drax, der Pilot aus der Vergangenheit, in dessen Kopf sich die Gedanken weiter überschlugen. Verdammt, er durfte einfach nicht zulassen, dass an diesem Tag Tausende zugrunde gingen, nur um sein Leben zu schützen. Doch was sollte er machen? Sich den Mutanten ergeben? Dem stand nicht nur sein Überlebensinstinkt entgegen, sondern auch die Gewissheit, dass sich damit keine laufende Schlacht beenden ließ. Die schrecklichen Bilder aus Perm bestätigten das. »Schießen Sie doch endlich, verdammt!« Black rannte herbei. Und wenn gerade er zu Fluchen begann, sagte das viel über seinen Gemütszustand aus. »Sie haben die modernste Waffe hier, also benutzen Sie das Scheißding auch!« Die modernste Waffe hier... Beinahe verwundert sah Matt auf das LP-Gewehr hinab. Das stimmte! Niemand sonst in Moskau besitzt ein Laserphasengewehr. Matt erwachte wie aus einer Trance. Entschlossen sah er aufs Schlachtfeld hinaus, wo sich sein Blick mit dem hasserfüllten Augenpaar eines Mastr'ducha kreuzte, der eine Eisenstange über den Kopf schwang und in seine Richtung deutete. Sie wollen mich, dachte er. Und nicht nur die, die mich sehen können. Nein, so weit das Auge reichte, drängten die Mutanten dem Kastell entgegen. Angelockt von seiner genetischen Struktur oder was auch immer ihnen die Daa'muren eingeprägt hatten. »Finden die mich auch, wenn ich nicht direkt zu sehen bin?«, fragte er laut. »Sie können dich überall aufspüren«, antwortete Radek, der seine Übelkeit inzwischen abgeschüttelt hatte. »Selbst wenn du dich im hintersten Winkel der Erdenburg verstecken würdest.« »So tief wie Ramenki muss es gar nicht sein.« Matt wandte den Kopf in Richtung der zerfallenen Metrostation. »Weißt du, ob der Tunnel dort intakt ist?« »In Richtung Stadt?«, fragte der Nosfera. »Nein, unter dem Schlachtfeld hindurch.« Das Weiße in Radeks Augen schimmerte unter der Kapuze auf. Plötzlich verstand er, was der Sohn der Finsternis im Schilde führte. »Der Tunnel ist an einigen Stelle zerfallen, aber durchaus begehbar«, versicherte er hastig. »Ich kann dir den Weg zeigen, wenn du willst. Doch du musst wissen, dass in der Ruinenstadt niemand mehr ist, der uns helfen kann.« »Genau deshalb will ich ja dorthin!« Radek ließ sich nicht anmerken, ob ihm diese Antwort behagte oder nicht. In einer Situation wie dieser, in der sie keine weitere Minute verlieren durften, war er der beste Verbündete, den man sich wünschen konnte. Ohne nach den genaueren Beweggründen zu fragen, war der Nosfera sofort bereit, alles zu tun, was Matt verlangte. »Ich begleite euch«, sagte Aruula, die inmitten des tobenden Kampfes wohl als Einzige begriff, was in ihrem Gefährten vor sich ging. Matt brach es beinahe das Herz, als er sie zurückweisen musste. »Das geht nicht«, sagte er hart, einen feuchten Schimmer in den Augen. »Diesen Kampf muss ich alleine führen. Du sorgst dafür, dass alle in ihren Stellungen bleiben.« Stählernes Klirren untermalte seine Worte. Die Mutanten setzten dazu an, das Kastell zu stürmen. Aruula erleichterte ihm den Abschied, in dem sie einfach nach ihrem Bihänder griff und sich ins Gefecht stürzte. Wilde Schreie drangen über ihre Lippen, während sie auf einige
Echsenmänner einschlug, die sich in den Domenranken oberhalb der Brustwehr verfangen hatten. »Geht!«, rief sie zwischen zwei gellenden Kampfschreien. »Und beeilt euch!« Matt und Radek rannten zur offenen Hinterseite und sprangen in die Tiefe. Ungläubige und erboste Rufe kamen auf, als sie den Wall entlang hetzten. Jeder, der sie ihren Posten verlassen sah, nahm natürlich an, dass sie fliehen wollten. Gerade jetzt, im alles entscheidenden Augenblick. »Feige Taratzen!«, tönte es hinter ihnen her, doch sie hatten keine Zeit, sich zu erklären. Nicht einmal Mr. Black gegenüber. »Was haben Sie vor?«, rief er verständnislos und machte damit nur weitere Männer aufmerksam. »Verdammt, Sie werden hier gebraucht, Drax!« Matt sah kurz zu ihm zurück, bevor er und Radek in die alte Metro abtauchten. Über verwitterte Steinstufen ging es hinab in die Dunkelheit. Schon nach wenigen Metern blockierten Schutt und Unrat den Zugang, doch Radek wusste genau, wo sie sich entlang schlängeln mussten, um die Station unbeschadet zu erreichen. Sobald das einfallende Tageslicht nachließ, zog Matt eine russische Taschenlampe hervor, die sich in den letzten Wochen mehrfach als unverzichtbar erwiesen hatte. Der bleiche Lichtkegel erleichterte die Orientierung, doch um die richtige Richtung ausfindig zu machen, brauchte Matt nur dem Geschrei zu folgen, das bis zu ihnen herab drang. Radek wies den Weg zu einem halbwegs intakten Bahntunnel, doch als er sich an seine Fersen heften wollte, hielt ihn Matt zurück. »Vielen Dank«, sagte er. »Von hier aus komme ich allein zurecht. Geh zurück und sorg dafür, dass niemand die Stellungen verlässt. Verstehst du? Falls alles klappt und mir die Mutanten folgen, dürfen deine Leute auf keinen Fall nachsetzen, kapiert?« Radek hörte die Worte, doch er mochte ihnen nicht folgen. »Erzvater hat mir befohlen, dich mit meinem Leben zu schützen«, begehrte er auf. »Er hat vor allem verlangt, mir zu gehorchen«, korrigierte der Commander. Er legte alle Schärfe in seine Stimme, zu der er fähig war, als er fortfuhr: »Ich bin der Sohn der Finsternis, vergiss das nicht. Also: Folge mir unter keinen Umständen, sondern melde dem General, was ich gerade befohlen habe.« Der runde Lampenschein wanderte weit genug empor, um Radeks Reaktion offenzulegen. Licht und Schatten modellierten sein Gesicht zu einer steinernen Maske, auf der sich Trotz und Einsicht die Waage hielten. Als er merkte, wie ernst es Maddrax war, gab er jedoch nach. Ein kurzer Händedruck zum Abschied, dann gingen sie getrennte Wege. Während Radek an die Oberfläche zurückskehrte, rannte Matthew weiter, tiefer in Tunnel, ins Unbekannte hinein. Gleichmäßig ein und ausatmend, legte Matthew Drax Meter für Meter zurück. Er zählte jeden seiner Schritte, denn nur so ließ sich in etwa schätzten, wie groß die bereits zurückgelegte Strecke war. Der Lichtkegel seiner Stablampe vermochte stets nur einen kleinen Ausschnitt des Tunnels der Dunkelheit zu entreißen, trotzdem kam er gut voran. Weiter, weiter, feuerte er sich an, doch es war nicht die Feigheit, die ihn vorwärts trieb, wie viele am Wall glauben mochten. Seine Sorge galt dem Leben der Moskawiter. Um sie nicht zu gefährden, musste er sich möglichst weit von ihnen entfernen, mindestens drei Kilometer, um genau zu sein. Matt widerstand der Versuchung, schon jetzt das Letzte aus sich herauszuholen.
Er musste seine Kräfte einteilen, wenn sein Plan aufgehen sollte; außerdem war alles zum Scheitern verurteilt, sobald er über einen Stein stolperte und sich das Bein brach. Jeder Schritt hallte dumpf von den Wänden wider, während er leise mitzählte. Sonst war nichts zu hören. Was oben an der Oberfläche vor sich ging, konnte er bestenfalls ahnen. Ab und zu keimte Panik auf, wenn er sich vorstellte, dass er die Sinne, mit denen ihn Todesrochen und Mutanten aufspüren konnten, vielleicht überschätzte. In diesem Fall wurden alle seine Freunde gerade am Wall niedergemetzelt, während er hier unten sinnlos herum lief. Doch jedes Mal, wenn solche Gedanken in ihm aufkeimten, schüttelte er sie energisch wieder ab. Nein, die Todesrochen hatten ihre Macht schon oft genug demonstriert. Was er hier tat, war die einzige Möglichkeit, der Übermacht Herr zu werden.
* Der Driller in seiner Rechten spie pausenlos Tod und Verderben, doch für jeden Mutanten, den Mr. Black von der Brustwehr fegte, erschien ein anderer, dem es nichts auszumachen schien, dass er über den Berg toter Kameraden klettern musste. Das Magazin leerte sich rapide. Eine kurze Drehung nach links und zwei Schüsse aus der Hüfte auf diese Distanz traf Black dennoch ins Ziel. »Wir schaffen es!«, brüllte er, obwohl ihn längst aller Mut verlassen hatte. »Schlagt sie, wo ihr nur könnt! Die werden langsam müde!.« Die digitale Munitionsanzeige zeigte zwölf verbliebene Schuss an. Noch drei oder vier Salven, dann musste er zum Schwert greifen, so wie Miss Aruula, die ihm mit tollkühnen Paraden den Rücken frei hielt. Mit der rechten Schuhspitze zog er bereits einen blutbefleckten Krumm-Säbel heran, der einem toten Rriba'low aus der oberen linken Hand gerutscht war. Ein rotbärtiger Narod'kratow brach durch das verbliebene Rankengeflecht, das die Brustwehr wie Stacheldraht zierte. Black zog den Abzug durch. Nur einen Sekundenbruchteil später platzte die Lederjacke des Zwerges zwei Mal faustgroß auf. Von den Einschlägen der Mini-Sprengsätze zurückgetrieben, kippte er hintenüber und verschwand mit dem Kopf voran aus Blacks Blickfeld. Während die schweren Lederstiefel noch einen Moment wie schwerelos in der Luft schwebten, ging es schon den nächsten Mutanten an den Kragen. Die Digitalanzeige ratterte weiter in die Tiefe. 07 zeigte sie an und dabei blieb es auch. Der Strom der Angreifer ebbte plötzlich ab. Aruula, der Running Man und zwei Moskawiter standen plötzlich alleine in dem von Toten angefüllten Kastell. Verwundert, aber keineswegs undankbar schöpfte Black nach Atem. Überall auf dem Wall wurde Jubel laut. Den Driller schussbereit, trat er näher an die Brustwehr heran. Zuerst mochte er nicht glauben, was er sah. Die Schneise war immer noch mit Tausenden von Mutanten bevölkert. Doch statt weiter vorzurücken, strömten sie zurück in den Ruinendschungel. Anfangs noch ungeordnet, wie es sich für eine kopflose Flucht gehörte, später aber sehr zielgerichtet, als ob sie den Feind plötzlich in ihrem Rücken vermuteten. Mr. Black entdeckte einen Mastr'ducha, der seinen Schädelkamm eingebüßt hatte. Unentwegt auf und ab springend, wirbelte er mit einer Eisenstange herum und trieb die Überlebenden zu größerer Eile an.
»Vorwärts, Jungs, es geht zurück!«, rief Black ihnen nach.
Verdammt, das war knapp gewesen. Aber zu guter Letzt hatte sich doch wieder einmal
die größere Willensstärke durchgesetzt, genau so, wie er es die ganze Zeit gepredigt
hatte.
Technos und Barbaren entlang des Walls sahen das wohl genauso. »Black! Black!«,
skandierten sie, bis der Ruf wie Donnerhall über die Schneise hallte.
Dr. Antonow, der sich über Funk meldete, war ebenfalls voll des Lobes.
»Es hagelt Bestätigungen von allen Seiten«, gab er lachend durch. »Die Mutanten
ziehen sich auf ganzer Linie zurück. Wir haben gesiegt! Ach, was sage ich, Sie haben
gesiegt! Ohne Ihren heldenhaften Einsatz am Brennpunkt des Geschehens wären die
verdammten Kreaturen sicher durchgebrochen.«
Und was dann passiert wäre, mochte sich niemand ausmalen. Schon so mussten sie
zahlreiche Verluste beklagen.
Viel hatte zur Niederlage nicht gefehlt, so viel stand fest.
»Am besten, wir setzen nach«, schlug Mr. Black vor. »Solange sie noch ungeordnet
sind, besteht die Chance «
»Nein, auf keinen Fall!«, fiel ihm Aruula ins Wort. Schwer auf ihr in den Boden
gerammtes Schwert gestützt, sah sie ihn aus blutunterlaufenen Augen an.
»Maddrax hat gesagt, wir sollen die Stellung unbedingt halten.«
Matthew Drax. Die bloße Erwähnung dieses Namens förderte Erinnerungen zutage, die
während des Gefechts in den Hintergrund getreten waren.
Seltsamerweise erfüllte Black das feige Verhalten des Commanders mehr mit Trauer als
mit Wut. Bisher war auf diesen Mann immer Verlass gewesen. Was mochte bloß in ihn
gefahren sein?
»Das Urteilsvermögen des Commanders ist leider getrübt«, versuchte er der Barbarin
schonend seinen Standpunkt beizubringen. »Darum besitzen seine Ratschläge leider
keinen besonderen Wert mehr.«
Er hob das Funkgerät an, um die Verfolgung zu organisieren, aber eine Hand, die sich
fest um seinen Unterarm schloss, unterband jede Kontaktaufnahme.
Überrascht sah er auf und schrak beinahe zurück. Nicht weil Aruula über und über mit
Blut besudelt war. Doch der unbeugsame Blick, mit dem sie ihn jetzt musterte, war neu
für ihn.
»Maddrax sagte: Alle sollen in den Stellungen bleiben«, wiederholte sie ungehalten.
Dabei verstärkte sie den Druck auf seinen Arm, den sie immer weiter in die Tiefe bog.
Diese Frau besaß nicht nur einen starken Willen, sondern auch enorme Körperkräfte.
Black hätte seine Muskeln schon deutlich anspannen müssen, um dagegenzuhalten.
Doch ihm stand nicht der Sinn nach einem Ringkampf.
Schließlich wollte ihm Aruula nichts Böses. Auf ihre ganz eigene barbarische Weise
teilte sie ihm nur mit, wie sehr sie von ihrer Sache überzeugt war, und diese Botschaft
kam auch bei ihm an.
»Gut«, lenkte er ein, »aber lassen Sie mich mit dem Doktor sprechen.«
Aruula sah Black tief in die Augen, als könnte sie dort die Wahrheit lesen. Dann gab sie
ihn frei. Mühsam widerstand Black dem Wunsch, die Stelle zu massieren, an der sie
eben noch die Blutzufuhr unterbrochen hatte. Stattdessen funkte er zu Dr. Antonow:
»Geben Sie allen durch, dass sie auf ihren Posten bleiben sollen. Dieser Rückzug
könnte eine Falle für unsere Truppen sein.«
Da dem Running Man von allen Seiten der größte strategische Überblick zugestanden
wurde, befahl man den längs des Walls verteilten Serumsträgern, jede Verfolgung der
Mutanten zu unterbinden. Einige Barbaren wollten sich zuerst nicht daran halten, doch der Respekt vor Black setzte sich letztendlich bei allen durch. Nur zwei AMOTs setzten zu einer Erkundungsfahrt an, daran konnte auch Aruula nichts ändern. Eine unheimliche Stille senkte sich über Wall und Schneise. Nun, da die unmittelbare Gefahr gebannt war, flaute der Jubel ab und die Arbeit begann. Verwundete mussten versorgt und die Toten geborgen werden. Außerdem galt es, sich auf eine zweite Angriffswelle vorzubereiten. Mürrisch sah Mr. Black auf die begrünten Ruinen hinaus, ohne ergründen zu können, was dort draußen eigentlich vor sich ging. »Hoffentlich war es kein Fehler, auf Ihren Gefährten zu hören«, sagte er düster. Die Barbarin reagierte nicht darauf. Vielleicht, weil sie die nagenden Zweifel teilte. In Schweiß gebadet, hielt Matt inne. Dreitausend Schritte, das entsprach in etwa drei Kilometern. Das musste reichen. Das Brennen seiner Lungenflügel ignorierend, kniete er nieder, legte das auf ihn geeichte LP-Gewehr zu Boden und machte sich an der Reaktorkugel zu schaffen. Nachdem der Handballenscanner seinen ID-Code bestätigt hatte, konnte er die Selbstzerstörung aktivieren. Seine Gedanken wanderten zurück nach Leipzig, wo ihm Commander Eve Carlyle diesen Vorgang einst beigebracht hatte. Außer seinem eigenen Puls, der durch Adern und Venen pochte, war nichts zu hören. Ob ihm die Mutanten wirklich folgten? Hoffentlich. Ansonsten konnte er sich wirklich hier begraben lassen. Ach was, natürlich kamen sie. Sie folgten seiner genetischen Signatur wie ein Insekt dem Duft einer Blüte. Die Selbstzerstörung ließ sich auf eine Zeit zwischen sechzig Sekunden und vierzig Minuten einstellen. Matt wartete, bis das digitale Display auf 20:00 Minuten stand; das war etwas mehr Zeit, als er für die Strecke hierher benötigt hatte. Ein leises Summen verkündete das Ende seiner Bemühungen. Der Countdown lief. Die roten Leuchtziffern begannen rückwärts zu zählen. Es war wichtig, ihn so knapp wie möglich einzustellen, denn wenn die Mutanten die Reichweite der Explosion überschritten, wären sie ebenfalls in Sicherheit. So wie er, falls er es schaffte, dieselbe Strecke noch einmal zurückzulegen. Besorgt leuchtete Matt in den Tunnel, doch der Lichtkegel verlor sich nach gut zwanzig Metern in der Dunkelheit. Beinahe so, als würde er von der umliegenden Schwärze aufgesogen. Zwanzig Meter freie Bahn, das war nicht viel. Niemand konnte sagen, ob die alte Linie nicht schon nach tausend Metern an einem verschütteten Abschnitt endete. In diesem Fall wäre sein Schicksal besiegelt. Zurück konnte er nicht, das hätte seinen Plan zunichte gemacht. So war das halt, wenn man den Lockvogel spielte. Matt wischte über seine schweißnasse Stirn und setzte sich in Bewegung. Auch wenn die Beine langsam schwer wurden, er musste weiter, wenn er überleben wollte. So weit wie er nur konnte. Wieder zählte er mit. Eins, zwei, drei Meter... Die Minuten verliefen zäh wie Sirup, während Black rastlos auf dem Wehrgang hin und her eilte. Alle zwanzig Meter blieb er stehen und warf einen Blick durchs Fernglas. Aber
dort drüben, zwischen den Ruinen gab es nichts Neues zu sehen. Alles wirkte ruhig. Gerade das machte ihn nervös. Ohne die Funksprüche der AMOTs hätte man glauben können, dass die Mutanten völlig vom Erdboden verschwunden wären. Aber das waren sie nicht. »Rasputin Fünf an Zentrale«, quäkte es viel zu hell aus dem Lautsprecher. »Die feindlichen Truppen rotten sich weiter zusammen und bewegen sich in einer breiten Marschsäule entlang der Linie Eins Richtung Osten. Uns gegenüber verhalten sie sich passiv. Wir bleiben dran und melden uns wieder. Ende.« Blacks Augenbrauen zogen sich zu einem steilen Winkel zusammen. Die Mutanten folgten der alten Metro-Linie? Was hatte das zu bedeuten? Plötzlich erschien der Umstand, dass Drax und dieser Nosfera in der diesseitigen Station verschwunden waren, in einem ganz neuen Licht. Besaß der Commander etwa eine Möglichkeit, die Bestien anzulocken? Von drängenden Fragen erfüllt, sah er sich zu Miss Aruula um, als er ein sanftes Zittern unter den Schuhsohlen spürte. Was zum Teufel war das? Sekunden später blähte sich inmitten der Ruinen eine strahlend weiße Kuppel auf. Geblendet schloss Black die Lider mit dem Ergebnis, dass sie durchscheinend wurden. Der anwachsende Glutball fraß sich in gespenstischer Lautlosigkeit durch Pflanzen und Beton. Wäre nicht das Beben unter den Füßen gewesen, man hätte denken können, es gäbe gar keine Detonation. Einige Männer auf dem Wall wurden so durchgeschüttelt, dass sie in die Tiefe stürzten. Black gelang es jedoch, sich an der mit Balken verstärkten Brustwehr festzuklammern. Angesichts dieses Schauspiels ging ein Aufschrei durch die Reihen der Barbaren. Plötzlich wurde vielen klar, warum sie die Mutanten nicht hatten verfolgen dürfen. »Wudan hat ein göttliches Gewitter gesandt, um die Monster zu vernichten«, rief ein Graubärtiger ergriffen. »Ehre sei Wudan und Heil seinem Boten!« Unbeschreiblicher Jubel brach los, noch ehe der Glutball die höchste Ausdehnung erreicht hatte. Ruinen, Pflanzen und Tiere, alles was sich in seinem Radius befand, verging unter flimmernder Hitze. Ein erschreckender Anblick. Zumindest wenn man seinen Liebsten im Zentrum des Infernos vermutete. Aruula, die alles mit weit aufgerissenen Augen verfolgte, konnte nicht länger an sich halten. Das Schwert in der Rückenkralle arretiert, flankte sie über die Brustwehr und rannte auf den Explosionsherd zu. »Maddrax!«, schrie sie angsterfüllt. »Wo bist du?« Black, der wenig Lust verspürte, die Ovationen entgegen zu nehmen, rief Barbaren und Technos zusammen und eilte ihr nach. Anfangs zu Fuß, dann sprang er auf einen AMOT, der ebenfalls nach dem Rechten sehen wollte. Ein paar Frekkeuscher und Andronenreiter waren noch schneller zur Stelle, doch ihre Tiere scheuten, sobald sie die Ausläufer des Explosionsherdes erreichten. Black gehörte zu den Ersten, die an einen dampfenden Krater gelangten, der einige Dutzend Meter tief in die Erde abfiel. Am Grund glänzte es nass; offenbar hatte das Grundwasser die frei werdende Strahlung reflektiert, sonst wäre der Krater wohl bis zu zwei Kilometer und halbkugelförmig geworden. Innerhalb des stumpfen Trichters sah es aus wie leergefegt. Alles was sich dort einmal befunden hatte, egal ob Erdreich, Tunnelröhre oder Granitader, war regelrecht
atomisiert worden. Für alle Zeiten verschwunden, genauso wie fast alle Mutanten, die Matthew Drax verfolgt hatten. Nur einige versprengte Gestalten, die sich nicht rechtzeitig aus den Kämpfen am Wall lösen konnten und deshalb als Letzte die Verfolgung aufgenommen hatten, torkelten desorientiert umher. Die Kleidung hing ihnen in blutigen Fetzen vom Körper. Völlig unter Schock stehend, waren sie kaum noch zur Gegenwehr fähig. Leichte Beute für die Barbaren auf den Andronen und Frekkeuschern. Was folgte, waren weniger letzte Scharmützel denn blutige Jagdszenen, in denen die Sieger von vornherein feststanden. Nur einem jungen Schwertmeister, der trotz eines von Brandwunden verunstalteten Gesichts überraschend harte Gegenwehr leistete, gelang die Flucht. Tief über eine eroberte Flugandrone gebeugt, deren Reiter mit durchschnittener Kehle zurückblieb, jagte er Richtung Osten davon. Vielleicht hatte diese Flucht sein Gutes. Sollte er doch ruhig zu Hause von der Niederlage erzählen. Vielleicht hielt das weitere Mutanten für alle Zeiten von Moska fern. Alle anderen jedoch, derer die Verteidiger habhaft wurden, machten sie gnadenlos nieder. Kein Mutant sollte überleben, in diesem Punkt waren sich Technos, Nosfera und Barbaren ausnahmsweise völlig einig. Seine Beine waren längst schwer wie Blei, trotzdem stolperte Matt weiter. Die Angst, dass der Countdown in der nächsten Sekunde ablief, raubte ihm fast die Luft zum Atmen. Seiner Schrittzahl nach hatte er schon zwei Kilometer zurückgelegt, doch eine hässliche kleine Stimme in seinem Hinterkopf behauptete hartnäckig, er hätte sich verzählt. Erst als einige Kacheln im Schein der Lampe aufschimmerten, schöpfte er wieder Mut. Die nächste Station. Wenn seine Berechnung stimmte, lag sie außerhalb des Radius. Mit letzter Kraft zog er sich den Bahnsteig empor, kroch über einen Schutthaufen und wankte weiter. Seine Fingernägel brachen, als er sich auf der Suche nach der Treppe durch Schmutz und Stein wühlen musste. Endlich, Stufen, die nach oben führten. Unter einem Gespinst aus abgeknickten Balken und Rankengeflecht tastete er sich empor. Vergeblich wartete er darauf, dass ihm das Sonnenlicht den Weg wies. Als er den obersten Absatz erreichte, wusste er warum. Die stählernen Tore waren geschlossen. Er rüttelte daran, doch so rostig sie auch schienen, sie gaben nicht nach. Da stand er nun, irgendwo unterhalb von Komsomolskaja, und war gefangen? Ihm wurde beinahe schlecht. Beinahe, weil plötzlich die Erde unter seinen Stiefeln zu zittern begann und heißer Schrecken alle anderen Gefühle auslöschte. Ein unterirdisches Beben riss ihn von den Füßen. Im Dreck liegend, schwebte er sekundenlang in der Angst, dass sich die kreisförmige Entladung bis zu ihm durchfressen würde, doch der Abstand reichte offensichtlich aus. Er blieb unversehrt. Alles was ihn blendete, war ein schmaler Sonnenstreifen, der zwischen den Stahltoren eindrang. Das Beben hatte vermocht, wozu die Körperkraft nicht ausreichte: Das Doppeltor stand offen. Mühsam zwängte sich Matt ins Freie, wo ihm schon nach wenigen Metern die Knie weich wurden. Er mochte es kaum glauben, doch keine dreißig Meter entfernt stiegen dünne Dampfschleier in die Höhe. Unter ihnen erstreckte sich der gigantische Krater, den die Selbstzerstörung des LP-Gewehrs gerissen hatte. Sehr viel knapper hätte es nicht mehr ausgehen können.
Erschöpft ließ er sich auf einem verwitterten Fundament nieder und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Aruula war die Erste, die ihn fand. Nach und nach tauchten auch einige Barbaren auf der Suche nach überlebenden Mutanten auf. Nicht wenige von ihnen spien vor Matt aus oder machten ihrer Verachtung anderweitig Luft. Seine scheinbare Feigheit vor dem Feind hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Mr. Black galt dagegen als Held, der die Stadt gehalten und Wudan dazu bewegt hatte, ein reinigendes Feuer gegen den Feind zu schleudern. Matt war zu müde, um deswegen zu streiten. Mr. Black und die Technos würden schon von alleine rekonstruieren, was wirklich geschehen war. Und was die barbarische Bevölkerung von Moska anging... nun gut, er würde damit leben können, dass sie ihn für einen Feigling hielt.
Epilog Radeks Bericht versetzte Erzvater geradezu in Hochstimmung. Summend vor Zufriedenheit, schaukelte er in seinem hohen Lehnstuhl vor und zurück, griff dann und wann nach dem mit Wakudablut gefüllten Silberpokal und gönnte sich ein Schlückchen. Die Nacht neigte sich bereits dem Ende zu, doch trotz seines fortgeschrittenen Alters war für ihn nicht an Ruhe zu denken. »Du hast deine Aufgabe zu meiner größten Zufriedenheit erfüllt«, lobte er, nachdem Radek von der Witterung erzählt hatte und davon, wie Maddrax sie dazu benutzt hatte, das feindliche Heer auf einen Schlag auszulöschen. »Ich danke Murrnau aus tiefster Seele, dass er uns diesen Sohn der Finsternis sandte, in dem wahrhaftig mehr steckt, als ich anfangs zu hoffen wagte.« »Ein ungewöhnlicher Mensch«, bestätigte Radek. »Setzt sein eigenes Leben aufs Spiel, um das der Moskawiter zu schützen. Und begehrt nicht einmal auf, weil sie ihn für einen Feigling halten. Wir sollten allen erzählen, was wirklich...« »Nein, auf keinen Fall«, unterbrach seine Heiligkeit mit einer Schärfe, die sonst Henkersbeilen innewohnte. Der Zurechtweisung folgte ein unangenehmer Moment der Stille, in dem sich Radek auf einen schattenlosen Felsen in brütender Mittagshitze wünschte, weil ihm das als vergleichsweise angenehmerer Ort erschien. Zum Glück verrauchte der Zorn des Oberhauptes so schnell, wie er entflammt war. »Dass die Menschen zu blind sind, seine Fähigkeiten zu erkennen, ist genau das Blutgerinnsel, auf dem sich gut kauen lässt«, fuhr er, wesentlich milder gestimmt, fort. »Vergiss bei all deiner Bewunderung nie, dass dieser Maddrax gesandt wurde, um uns zu dienen und nicht den Moskawitern. Je stärker sie ihn ablehnen, desto stärker wird er uns zuarbeiten.« Diese Worte ließen eine Eisschicht über Radeks Haut wachsen, doch er setzte alles daran, es Erzvater nicht merken zu lassen. Zum Glück war dieser viel zu sehr mit seinem Triumph beschäftigt. Und mit dem Schmieden von Plänen. »Du hast dich in diesem Sommer mehrfach bewährt«, schmeichelte er Radek. »Darum habe ich mich entschieden, dir die größte Ehre zuteil werden zu lassen, die unser Orden gewähren kann.« »Eine Belohnung?«, fragte Radek überrascht. »Für mich?« »Eine Reise«, korrigierte Erzvater. »Eine Reise nach Britana, in das Land, in dem sich der, dessen Name nicht genannt werden soll, versteckt hält. Nimm drei deiner besten
Männer als Begleitung und leistet gute Arbeit. Stöbert diesen Verräter auf und führt ihn
seiner gerechten Strafe zu.«
»Soll das heißen...?«
Erzvater sprang so heftig auf, dass Radek verstummte.
»Ja!« Die Stimme des Blinden triefte plötzlich vor Hass. Das Licht der Blutkerzen
spiegelte sich unheilvoll auf seinen milchigen Netzhäuten. »Du hast mich ganz richtig
verstanden. Geht nach Britana und tötet mir Navok, den Verräter!«
ENDE
Lazarus Während sich Matt, Aruula und Mr. Black in Moskau der Übermacht der Mutanten erwehren, verläuft die Reise für Jed Stuart und Majela Ncombe beschaulicher. Der Bunkerversorgungszug, in dem sie mitfahren, ist unterwegs in Richtung Kiew. Alles ist ruhig und friedlich... doch auch hier scheint etwas nicht zu stimmen. Wer ist der stumme Barbar, den man plötzlich vor die Lok bindet? Was ist dran an den Gerüchten um das geheimnisvolle Reitervolk, durch dessen Land die Bahnlinie verläuft? Ein erstes Anzeichen unmittelbarer Gefahr ist ein verlassenes Fort, das sie passieren. Keine Kampfspuren, keine Leichen aber auch kein lebendes Wesen. Doch dies ist erst das Vorspiel für ein blutiges Abenteuer mit feurigem Finale...