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DIE S KLAVINNEN VON K ARDON 1
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J. F. Bone
DIE S KLAVINNEN VON K ARDON 1
Bastei SF-Taschenbuch Nr. 20 - Bastei Verlag - ©1972 Deutsche Erstveröffentlichung
ISBN 3-404-00030 7
ebook 2004 by meTro
Die Sklavinnen von Kardon 1 J.F. Bone Jack Kennon griff sofort zu, als die mächtige Outworld Enterprises einen Veterinär zur Seuchenbekämpfung suchte. Das Gehalt war enorm. Und Kardon war ein Planet, der nur von der Landwirtschaft lebte. Man versprach ihm ein Paradies. Doch als der erste »Tierkadaver« vor ihm auf dem Seziertisch lag, fiel ihm das Skalpell aus der Hand. Der »Kadaver« war ein wunderschönes Mädchen, das sich nur durch eine anatomische Einzelheit von einer menschlichen Frau unterschied. Jetzt wußte er, warum die »Herden« von Kardon auf dem Nachbarplaneten so reißenden Absatz fanden. Viele reiche Männer hielten sich ganze Harems von diesen »Tieren«. Hier wurden sie gezüchtet, gekreuzt und mißhandelt. Trotzdem verwöhnten diese sanften Geschöpfe ihre Herren nachts mit Liebeswonnen. Dieses Paradies war die Hölle. Und jeder, der sich in ein »Tier« verliebte, wurde unbarmherzig bestraft.
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt!
J. F. Bone
DIE SKLAVINNEN VON K ARDON l Science-fiction-Roman BASTEI
BASTEI
VERLAG BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 20
Amerikanischer Originaltitel: e Lani People
Deutsche Übersetzung: Jutta Leder
© Copyright 1962 by Bantam Books, Inc. Deutsche Lizenzausgabe 1972:
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Printed in Western Germany Titelillustration: Eddie Jones
Grafische Gestaltung: Rosemarie Roden
Gesamtherstellung: Moritz Schauenburg KG, Lahr/Schwarzwald ISBN 3-404-00030 7
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ie in dem »Fachblatt der Medizinischen Wissenschaften von Kardon« unter der Rubrik »Freie Stellen« erschienene Anzeige stach durch ihre Umrandung hervor wie ein Diamant aus einem Haufen Kieselsteine. »Veterinär für Tierzuchtstationen gesucht«, hieß es da, »ledige jüngere Personen mit frischem Diplom bevorzugt. Geboten werden freie Kost und Logis in gut eingerichteter Station, Fünahresvertrag mit Verlängerungsmöglichkeit, Anfangsjahresgehalt 15.000.–, Erhöhungen vorgesehen. Bewerbungen mit den entsprechenden Unterlagen sowie Angabe von Alter und Ausbildung bitte an diese Zeitschrift richten. Postfach V – 9«. Jack Kennon las die Anzeige zweimal. Da mußte doch ein Haken dabeisein! So ein hohes Gehaltsangebot – da stimmte etwas nicht. Fünfzehntausend im Jahr war selbst auf Beta ein Spitzengehalt und noch nie einem Bewerber mit frischem Diplom geboten worden. Und eine Inflation war schließlich auch nicht ausgebrochen; die Finanzlage des Planeten Kardon war ausgezeichnet. Das hatte er gleich nach seiner Landung hier erfahren. Falls hier etwas nicht in Ordnung war, dann jedenfalls nicht die Währung. Der Kurs stand 1,2 zu 1 Betan. --
Ein Fünahresvertrag bedeutete also fünfundsiebzigtausend. Wenn er dreitausend im Jahr für den Lebensunterhalt verbrauchte, blieben ihm immer noch sechzigtausend. Genug Anfangskapital für eine Klinik. Keine Bank würde ihn mit so viel Bargeld abweisen. Kennon lächelte. Jedenfalls müßte er den Job erst haben, bevor er begann, das Geld auszugeben. Sein Guthaben betrug noch 231 Betan sowie etwas Kleingeld. Ferner besaß er ein Diplom in Veterinärmedizin, einige Bücher, ein paar Geräte und schließlich noch einen Raumfahrerschein. Wenn er sparsam lebte, konnte er einen Monat lang hier überstehen. Und wenn er trotz seiner Bemühungen keinen Job auf diesem Planeten finden würde, blieben ihm immer noch sein Raumfahrerschein und eine andere Welt. Eine andere Welt! Über sechstausend Planeten gab es in diesem Planetenverband. Rechnete man zwei Monate pro Planet, ohne die Reisezeit zu berücksichtigen, würde man mehr als eintausend galaktische Standardjahre brauchen, um sie alle aufzusuchen. Er würde also höchstens fünfhundert von ihnen erreichen. Der Wohnbereich des Menschen war zu groß geworden; die Zeit reichte nicht mehr aus, alle Möglichkeiten zu erschöpfen. Aber man konnte keinen gewissen Standard voraussetzen und sich umsehen, bis man eine passende Position fand. Wer allerdings seine Ansprüche zu hoch schraubte, hatte keine große Auswahl mehr. Trotz des chronischen Mangels an Veterinärmedizinern im Bund --
waren die meisten Ärzte der älteren Generation den frisch graduierten Männern gegenüber voreingenommen. In den meisten Anzeigen des Fachblattes konnte man lesen »Staatliches Gehalt geboten«, was nicht mehr als eine glatte Erpressung bedeutete – ein aalglatter Versuch, soviel wie möglich für sowenig wie möglich herauszuschlagen. Kennon verzog sein Gesicht. Er müßte verrückt sein, wenn er sein Wissen für sechstausend im Jahr verkaufen würde. Laborsklave – das wäre er dann. Von diesen Anzeigen gab es mindestens ein Dutzend im Fachblatt. Nun gut, er würde sich auch um diese Stellen bewerben, aber er würde achttausend fordern und alle Vergünstigungen. Acht Jahre auf der Hochschule und dann noch zwei Jahre als Assistent waren schließlich ihr Geld wert. Er rückte seinen Stimmenschreiber vor der Panoramawand zurecht und begann, eine Reihe von Briefen zu verfassen. Seine Stimme bildete zu dem sanften Summen der Maschine einen harten Kontrast. Während er diktierte, fiel sein Blick durch die Panoramawand. Albertsville war eine schöne Stadt – noch zu jung, um Slums aufzuweisen, und zu neu, um an Menschen zu ersticken. Die weißen Gebäude sahen in dem warmen gelblichen Sonnenlicht wie riesige Butterwürfel aus. Die Stadt döste in der Mittagsglut vor sich hin. Sie lag im Zentrum eines schüsselförmigen Tals. Die bewaldeten Hügel ringsum deuteten darauf hin, daß Kardon noch wenig entwickelt war – eine dünnbesiedelte Welt, die noch nicht das Stadium eines explosiven --
Bevölkerungswachstums erreicht hatte. Das war kein Nachteil. Im Gegenteil, Kennon sagte das zu. Das Leben auf einem so unterentwickelten Planeten wie diesem konnte sicher angenehm sein. Kardon war zweifellos primitiver als Beta; aber der Bund hatte Kardon auch erst vor kaum 500 Jahren erschlossen. In einer derart kurzen Zeit konnte man auf keinen Fall alle Bequemlichkeiten einer Zivilisation erwarten. Dieses Ziel erforderte eine hohe Bevölkerungsdichte, und Kardon hatte kaum mehr als 200 Millionen Einwohner aufzuweisen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis diese Welt den Status I erreicht haben würde. Aber immerhin, auch ein Planet des Status II hatte seine Vorteile. Was ihm vielleicht an kulturellen Errungenschaften fehlte, machte er wett durch bessere Aufstiegsmöglichkeiten und größere Ellenbogenfreiheit. Ein durchschnittlicher Betaner hätte diese Welt hier verachtet, aber Kennon war kein Durchschnittsbetaner, obgleich er auf den ersten Blick wie ein typischer Vertreter der medizinisch-technologischen Zivilisation wirkte: langbeinig, kurzer Rumpf, blond mit dem typisch betanischen Augenschnitt, schwere Lider und buschige Brauen. Aber er unterschied sich durch seinen Lebenslauf und seine Jugenderfahrungen von den typischen Vertretern seiner Rasse. Sein Vater war Kommandant eines Raumkreuzers, und Kennon hatte seine Jugendjahre im Weltraum verbracht. Für Kennon, der an die zeitlosen Schrecken des Hyperraums gewöhnt war, mußte natürlich jeder lebensfreundliche Planet wie --
ein Paradies erscheinen, wo man frische, ungefilterte Luft atmen und der Blick meilenweit schweifen konnte, ohne auf Stahlschotten und Panzerplatten zu stoßen. Auf den Planeten gab es Raum, Weite und Erde, in der man Wurzeln schlagen konnte. Nach der beängstigenden Enge eines Hyperkreuzers war jede natürliche Welt eine wahre Erlösung. Kennon seufzte, beendete seine Briefe und gab sie dann in die Rohrpost. Dieses Mal würde er hoffentlich mit seinen Bewerbungen Glück haben.
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ie Antwortbriefe kamen überraschend schnell. Gemessen an dem langsameren Arbeitstempo auf Beta hätte Kennon die Antworten frühestens nach einer Woche erwartet; hier aber bekam er bereits 24 Stunden später neun seiner Bewerbungen zurück. Fünf davon trugen den Vermerk, den er erwartet hatte: »Vielen Dank; aber wir fürchten, Ihr Gehaltswunsch ist ein wenig zu hoch, wenn man Ihre mangelnde Erfahrung berücksichtigt.« In drei Briefen wurde er gebeten sich vorzustellen. Das letzte Schreiben steckte in einem besonders auffälligen Umschlag. – Das war die Antwort von Postfach V-9. Wäre es möglich, daß Dr. Kennon morgen vormittag 10 Uhr im Büro der Outworld Enterprises vorsprechen und diesen Brief sowie weitere Unterlagen mitbringen könnte? Und ob das möglich war! Kennon --
lächelte. Die Adresse, Central Avenue Nr. 200, war nur ein paar Häuserblocks entfernt. Er konnte das Haus von seinem Fenster aus sehen – ein hohes, helles, funktionelles Gebäude aus Metall und Kunststoff, das die anderen Häuser der Straße weit überragte. Kennon nickte zufrieden. Eines stand fest. An dem nötigen Kleingeld schien es diesen Leuten nicht zu fehlen. Das Mädchen am Empfang nahm seine Identitätskarte und den Brief entgegen, warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte beides in eines der Fächer hinter sich. »Es wird nur einen Augenblick dauern, Doktor«, bemerkte sie. »Wollen Sie bitte Platz nehmen?« »Danke«, antwortete Kennon. Der Augenblick konnte sich auch über eine Stunde hinziehen. Aber das Mädchen behielt recht. Es dauerte wirklich nur eine Minute. Mit einem Klicken warf die Rohrpost eine Kapsel auf den Tisch. Das Mädchen öffnete sie und nahm Kennons ID sowie ein kleines gelbes Plastikrechteck heraus. Erstaunt starrte sie auf die Plastikkarte. »Bitte, Doktor. Nehmen Sie Aufzug 1 und stecken Sie die Karte in das Lesegerät. Sie werden dann in die gewünschte Etage gebracht. Die für Sie zuständigen Stellen befinden sich links am Ende des Ganges. Sie werden alle anderen für Sie nützlichen Informationen auf der Karte finden.« Sie blickte ihn mit einer seltsamen Mischung von Verwirrung und Respekt an, während sie ihm den Inhalt der Kapsel überreichte. Kennon murmelte ein paar zustimmende Worte, --
nahm die Marke und seine Kennkarte wieder an sich und trat in das Schwerefeld des Aufzuges. Für einen Moment empfand er den üblichen Druck, während er von dem künstlichen Schwerefeld hinaufgehoben und dann vor einem mit dicken Teppichen ausgelegten Korridor abgesetzt wurde. Direktionsetage, dachte Kennon, und folgte der Wegbeschreibung des Mädchens. Kein Wunder, daß sie ihn überrascht angesehen hatte. Aber was sollte er eigentlich hier? Die Stellung eines Veterinärs war doch nicht bedeutend genug, daß sich ein Direktor damit beschäftigte. Die Personalabteilung hätte ebensogut die Einzelheiten seiner Bewerbung behandeln können. Er zuckte die Achseln. Vielleicht waren Veterinäre auf Kardon besonders knapp und wichtig. Er wußte ja so gut wie nichts von den Verhältnissen auf diesem Planeten. Kennon öffnete am Ende eines Ganges die Tür, betrat den kleinen Empfangsraum, lächelte etwas unsicher die junge Dame hinter dem Schreibtisch an und erhielt ein strahlendes Lächeln als Antwort. »Sie können gleich hineingehen, Dr. Kennon. Mr. Alexander erwartet Sie bereits.« Mr. Alexander! Der Unternehmer persönlich! Verblüfft blickte Kennon auf die junge Frau, die die Sprechanlage auf ihrem Tisch betätigte. »Sir, Dr. Kennon ist hier«, sprach sie hinein. »Schicken Sie ihn zu mir«, antwortete eine ruhige Stimme. Alexander X. M. Alexander, Präsident der Outworld --
Enterprises, war ein schlanker, dunkler Mann in den frühen Sechzigern und mit fast wolfsartigem Aussehen. Er musterte Kennon mit einer raubtierhaften Aufmerksamkeit, die merkwürdig beunruhigend wirkte. Dieser Blick vereinte in sich das analytische Abschätzen des Pathologen mit der Neugier des Psychiaters und der Rücksichtslosigkeit eines Fleischers. Kennon begriff, daß er Alexander zu jung eingeschätzt hatte. Solche Augen hatte nur ein erfahrener Unternehmer. Kennon spürte den anerzogenen Respekt vor einer Autorität in sich aufsteigen, doch er kämpfte ihn verbissen nieder. Er wußte, daß eine solche Schwäche in der bevorstehenden Unterredung nur schädlich sein konnte. »Sie sind also Dr. Kennon«, sagte Alexander. Seine Aussprache war akzentfrei. »Ich hätte Sie mir älter vorgestellt.« »Offen gesagt, Sir, ich Sie mir ebenfalls«, erwiderte Kennon. Ein wohlwollendes Lächeln überzog Alexanders Gesicht und legte die scharfen Linien seiner Züge in freundliche Falten. »Geschäftlicher Erfolg, Dr. Kennon, ist nicht nur mit Alter verbunden.« »Und auch der Titel eines Veterinärmediziners nicht«, erwiderte Kennon. »Stimmt. Aber bei einem Betaner stellt man sich in der Regel ein altes, gesetztes Wesen vor.« »Unser Planet ist zwar alt – doch es gibt auch bei uns junge Generationen.« - -
»Eine Tatsache, die wir Fremden uns nur schwer vorstellen können«, sagte Alexander. »Ich hielt Beta immer für eine Welt, deren Gesellschaft unter der Last ihrer Traditionen starr und unbeweglich geworden ist.« »Da irren Sie sich«, sagte Kennon. »Obwohl wir von unserer kulturellen Entwicklung her introvertiert sind, gibt es in unserer Gesellschaft viel Dynamik.« »Was hat Sie eigentlich hierher an den Rand der Zivilisation verschlagen?« »Ich habe nie behauptet, ein typischer Betaner zu sein«, lächelte Kennon. »Ich glaube, ich bin wohl eher eines der sprichwörtlichen schwarzen Schafe.« »Das allein kann es nicht sein«, erwiderte Alexander. »Ihre Jugendjahre haben Sie wahrscheinlich stark beeinflußt.« Kennon blickte den Unternehmer durchdringend an. Wieviel wußte der Mann eigentlich über ihn? »Vielleicht«, sagte er dann beiläufig. Alexander machte ein zufriedenes Gesicht. »Trotz Ihrer Kindheitserlebnisse müssen Sie einen atavistischen Zug in sich haben – ein Erbe Ihrer abenteuerlustigen irdischen Urahnen, die Beta einst besiedelten.« Kennon zuckte die Schultern. »Vielleicht haben Sie recht. Das weiß ich natürlich nicht. Ehrlich gesagt, darüber habe ich auch noch nie nachgedacht. Ich glaubte einfach nur, daß mir eine unterentwickelte Welt mehr Möglichkeiten bieten könnte.« »Das tut sie«, antwortete Alexander. »Aber sie erfordert auch mehr Arbeit. Wenn Sie sich einbilden, daß Sie - -
hier mit einem Minimum an körperlichem Aufwand durchkommen wie auf den Zentralplaneten, dann werden Sie eine böse Überraschung erleben.« »So naiv bin ich nicht«, sagte Kennon. »Aber trotzdem glaube ich, daß unsere Technik sich auch auf einer neuen Welt durchsetzen wird.« Alexander lächelte amüsiert. »Sie gefallen mir«, sagte er abrupt. »Lesen Sie das und überlegen Sie sich, ob Sie Lust haben, für mich zu arbeiten.« Er fischte ein Vertragsformular aus einem Stoß Akten von seinem Tisch und schob es Kennon zu. »Dies ist nur unser Standardvertrag. Nehmen Sie ihn mit in Ihr Hotel und prüfen Sie ihn. Ich erwarte Sie morgen zur gleichen Zeit.« »Warum Zeit verlieren?« fragte Kennon. »Die SchnellLese-Methode stammt von Beta. Ich kann Ihnen meine Entscheidung in 15 Minuten sagen.« »Hm. Natürlich. Lesen Sie den Vertrag hier, wenn Sie möchten. Ich liebe auch schnelle Entscheidungen – je schneller, um so besser. Setzen Sie sich, junger Mann, und lesen Sie. Melden Sie sich, wenn Sie fertig sind.« Er wandte sich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch zu, und in Sekundenschnelle hatte er die Anwesenheit Kennons vergessen. Sein Gesicht nahm den trancehaften Ausdruck eines trainierten SchnellLesers an. Kennon sah, wie Stöße von Papier durch Alexanders Hände glitten, um auf einem anderen Aktenstapel am Ende des Schreibtisches zu landen. Der Mann täte - -
besser daran, schoß es Kennon durch den Sinn, die Akten von seinen Angestellten auf Mikrofilm übertragen zu lassen, wo er sie dann jederzeit mit einem Projektionsgerät abrufen könnte. Das sollte man später mal vorschlagen. Jetzt jedenfalls ließ er sich erstmal in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen. Die Stille wurde nur durch das Rascheln der Papierseiten unterbrochen, die die beiden Männer mit versunkenen Gesichtern in fast mechanischer Gleichmäßigkeit wendeten. Schließlich blätterte Kennon die letzte Seite um, verharrte einen kurzen Moment, blinzelte und vollführte die nötige geistige Gymnastik, um seinen Zeitsinn wieder zurückzuholen. Er bemerkte, daß Alexander noch immer in seiner autohypnotischen Trance versunken war. Also wartete er, bis Alexander den Aktendeckel geschlossen hatte, um dann vorsichtig Alexanders Konzentration zu durchbrechen. Mit leerem Blick sah Alexander auf, um dann den gleichen geistigen Prozeß zu durchlaufen, den Kennon vor wenigen Minuten hinter sich gebracht hatte. Sein Blick wurde konzentrierter, streng und wachsam. »Nun?« fragte er. »Was halten Sie davon?« »Ich glaube, daß es das unverschämteste und hinterlistigste Vertragswerk ist, das ich je gelesen habe«, sagte Kennon unverblümt. »Wenn das alles ist, was Sie anbieten können, würde ich den Job nicht mit der Zange anfassen.« Alexander lächelte. »Ich sehe, Sie haben auch das Kleingedruckte gelesen«, sagte er leicht amüsiert. »Sie - -
haben also was gegen den Vertrag?« »Jeder vernünftige Mensch würde ihn ablehnen. Nicht im Traum unterschreibe ich diese verdammten Verpflichtungen, nur um einen Job zu bekommen. Es wundert mich nicht, daß Sie es schwer haben, kompetente Leute zu engagieren. Wenn alle Ihre Verträge so aussehen, frage ich mich, weshalb überhaupt noch jemand für Sie arbeitet.« »Wir bekommen von unseren Angestellten keine Beschwerden«, antwortete Alexander steif. »Wie sollten Sie auch? Wenn sie erst einmal diesen Vertrag unterschrieben haben, können Sie ihnen jederzeit den Mund stopfen.« »Es gibt mehr Bewerber für diesen Posten«, sagte Alexander. »Nehmen Sie einen von denen. Ich bin nicht mehr interessiert.« »Ein Raumfahrerschein ist eine feine Sache«, sagte Alexander beiläufig. »Das ist ein Trumpf im Ärmel. – Außerdem hatten Sie noch drei andere Stellenangebote. Alle sind gleich interessant; nur daß man Ihnen eben nicht 15.000 Mäuse im Jahr zahlt.« Kennon schaltete sofort. Alexanders Schnüffler waren verdammt gut. Geradezu unheimlich gut. »Meine Anerkennung, Dr. Kennon. Es gefällt mir, daß Sie diesen Vertrag ablehnen. Offen gesagt, ich könnte mich nicht entschließen, Sie einzustellen, wenn es anders wäre.« »Wie bitte?« - -
»Dieser Vertrag ist ein Sieb. Er sortiert die Sorglosen aus, die Dummen und Unfähigen. Ein Mann, der so etwas unterschreibt, bekäme in meinem Betrieb keinen Platz.« Alexander mußte über Kennons Fassungslosigkeit lächeln. »Ich merke schon, Sie haben noch keine Erfahrungen mit solchen Verträgen.« »Stimmt«, gab Kennon zu. »Auf Beta sind die Verträge vorgeschrieben. Die medizinisch-psychologischen Experten überwachen sie.« »Andere Welten, andere Sitten«, bemerkte Alexander. »Aber sie haben alle das gleiche Ziel. Wir hier sind nicht so zivilisiert. Wir verlassen uns mehr auf den persönlichen Eindruck.« Er nahm einen anderen Vertrag aus seiner Schreibtischschublade. »Schauen Sie sich das mal an. Ich glaube, der ist besser.« »Wenn Sie erlauben, möchte ich ihn gleich lesen«, sagte Kennon. Alexander nickte. »Er klingt ganz gut«, sagte Kennon dann, »außer Artikel zwölf.« »Sie meinen die Klausel mit den persönlichen Privilegien?« »Ja.« »Dieser Vertrag steht. Unterschreiben Sie ihn, oder lassen Sie es.« »Dann lasse ich’s«, sagte Kennon. »Vielen Dank für Ihre Bemühungen.« Er erhob sich, lächelte Alexander zu und wandte sich zum Ausgang. »Nicht nötig, daß Sie - -
Ihrer Empfangsdame Bescheid sagen. Ich finde schon allein hinaus.« »Einen Moment noch, Doktor«, sagte Alexander. Er lehnte hinter seinem Schreibtisch und streckte Kennon die Hand entgegen. »Noch ein Test?« fragte Kennon. Alexander nickte. »Der entscheidende Test«, sagte er. »Wollen Sie den Job?« »Natürlich.« »Ohne mehr darüber zu wissen?« »Der Vertrag sagt alles. Er legt meine Aufgaben fest.« »Und Sie glauben, sie erfüllen zu können?« »Ich bin davon überzeugt.« »Ich stelle noch mal fest«, sagte Alexander, »daß Sie keine Einwände gegen die anderen Bestimmungen haben.« »Nein, Sir. Sie sind zwar ziemlich hart; aber für dieses Gehalt, glaube ich, muß man Ihnen diese Konzession zugestehen. Natürlich haben Sie ein Recht, Ihre Interessen zu schützen. Aber der Artikel zwölf ist eine echte Verletzung der Menschenwürde. Außerdem verstößt er gegen die Peeper-Gesetze. Ich würde niemals einen Vertrag unterzeichnen, der diese Gesetze nicht achtet.« »Das ist ein starkes Wort.« »O nein, das ist eine Selbstverständlichkeit«, korrigierte Kennon. »Ich würde niemals Einwände dagegen haben, daß man mir nach Auslaufen des Vertrages alle Erinnerungen an die Arbeit bei Ihnen auslöscht. - -
Aber bis dahin gibt es keine Psycho-Pharmaka, keine Lügendetektoren, keine Erinnerungsblocker und keine Untersuchungen außer der normalen regelmäßigen Psychogramme. Urlaubswünsche werde ich gern mit Ihnen besprechen und sie so einrichten, daß ich Ihr Programm nicht störe. In Notfällen würde ich meinen Urlaub sogar unterbrechen. Aber das ist auch das äußerste, was ich Ihnen zugestehen kann.« Kennons Stimme klang lustlos. »Sie sehen doch wohl ein, daß ich Ihnen ohne Artikel Zwölf eine ganze Menge persönlicher Freiheiten einräumen müßte«, sagte Alexander. »Und wie kann ich meine persönlichen Interessen schützen?« »Ich werde den Knebelparagraphen unterschreiben«, sagte Kennon, »wenn Sie präziser formulieren, über welche Betriebsgeheimnisse ich zu schweigen habe.« »Akzeptiert«, sagte Alexander. »Betrachten Sie sich als eingestellt.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Machen Sie einen 2-A-Standardvertrag für Dr. Jack Kennons Unterzeichnung bereit. Und fügen Sie zwei Klauseln hinzu, einen kompletten P-P – ja, keine Abänderungen – und eine Sicherheitsbestimmung, Formblatt 287-C. Ja – richtig. Und streichen Sie alle Klauseln von Artikel 12, die mit den Peeper-Gesetzen kollidieren. Ja. Und machen Sie den Vertrag sofort fertig.« Er drückte einen anderen Knopf. »Nun, das war’s. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen.« »Ich glaube schon«, meinte Kennon. »Wissen Sie, Sir, ich hätte meine Forderungen in dem letzten Punkt sogar - -
zurückgeschraubt, wenn Sie mir die Pistole auf die Brust gesetzt hätten.« »Ich weiß«, erwiderte Alexander gelassen. »Aber die Konzessionen, die ich Ihnen abgerungen hätte, wären viel unwichtiger gewesen als die Tatsache, daß Sie sich dann bei uns unglücklich gefühlt hätten. Ich will Sie gern als Mitarbeiter haben. Deshalb soll Ihnen die Arbeit hier auch Freude machen.« »Jawohl«, sagte Kennon. Natürlich verstand er überhaupt nichts und blickte den Unternehmer nur verwirrt an. Alexander konnte doch nicht so naiv sein, wie er tat. Objektivität und Menschenfreundlichkeit waren ja sehr nette und auch nützliche Charakterzüge, aber in der Schlangengrube des galaktischen Handels blieben nur eisenharte Manager am Leben. Die interplanetarischen Handelspiraten hätten Mr. Alexander schon längst das Fell über die Ohren gezogen und die Reste seiner Handelsgesellschaft unter sich aufgeteilt, wenn der Mann nicht raffiniert gewesen wäre. Outworld war eine angesehene Firma. Das konnte man jedenfalls den Handelsberichten entnehmen. Alexanders Oberfläche war jetzt wieder perfekt, hochglanzpoliert und undurchdringlich wie die Duriliumkanzel an einem modernen Raumkreuzer des Bundes. »Verraten Sie mir mal bitte, Sir«, sagte Kennon, »weshalb Sie mich für den richtigen Mann halten.« »Sie sind der Bewerber, der seine Extrawünsche am zähesten verteidigte«, antwortete Alexander amü- -
siert. »Außerdem habe ich nichts zu verbergen. Es gibt mehrere Gründe für meine Wahl. Sie kommen aus einer Welt, der der Ruf moralischer Integrität vorauseilt. In ethischer Beziehung sind Sie für uns kein Risiko. Außerdem sind Sie das Produkt eines der besten Erziehungssysteme der Galaxis – und Sie haben bereits eine Probe Ihrer Intelligenz zu meiner Zufriedenheit abgegeben. Sie haben mir bewiesen, daß Sie kein rückgratloser Jasager sind. Außerdem lieben Sie das Risiko und das Abenteuer. Nicht einer unter Millionen Ihrer Mitbürger hätte das unternommen, was Sie getan haben. Kann ein Unternehmer noch mehr von einem vorgesehenen Mitarbeiter erwarten?« Kennon seufzte und gab es auf. Alexander drosch Phrasen. Offensichtlich wollte er nicht mehr sagen. »Alles, was ich hoffe«, fuhr Alexander leutselig fort, »ist, daß Sie Outworld Enterprises genauso attraktiv finden wie Ihr Vorgänger Dr. Williamson. Er arbeitete bis zu seinem Tod im letzten Monat bei uns – genauer gesagt, 100 Jahre lang.« »Er starb verhältnismäßig jung, nicht wahr?« »Nicht ganz, er war schon ungefähr 400 Jahre alt, als er in unsere Firma eintrat. Mein Großvater war äußerst konservativ. Er zog ältere Männer vor, und Old Doc war ein Mann nach seinem Geschmack – ich muß zugeben, es war eine gute Wahl. Er war sein Gehalt wert.« »Ich werde versuchen, genauso gut zu sein«, sagte Kennon, »aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß ich - -
nicht die Absicht habe, so lange bei Ihnen zu bleiben. Ich möchte eine eigene Tierklinik aufbauen.« Alexander zuckte die Schultern. »Vielleicht ändern Sie noch Ihre Absichten, wenn Sie bei uns arbeiten.« »Vielleicht. Aber ich bezweifle das.« »Sprechen wir noch einmal darüber in fünf Jahren«, meinte Alexander. »Hier ist Ihr Vertrag.« Er lächelte die hübsche Sekretärin an, die einen Stoß Papiere hereinbrachte. »Die Klauseln habe ich hinzugefügt, Sir«, sagte das Mädchen. »Sehr gut. – Bitte, Doktor!« »Sie haben doch nichts dagegen, daß ich den Vertrag noch einmal überprüfe?« »Nein. Aber wenn Sie ihn durchgelesen haben, legen Sie ihn bitte auf den Schreibtisch – außer der Kopie für Sie natürlich.« Alexander malte seine Unterschrift unter jeden der Verträge und sagte: »Bitte stören Sie mich jetzt nicht länger. Ich werde mit Ihnen in Kontakt bleiben. Hinterlassen Sie im Hotel, wo Sie sind.« Er sah auf die Papiere vor sich, blickte dann auf und sagte: »Sie scheinen mir ein vorsichtiger Mann zu sein. Ich hoffe, Sie bleiben das auch, sobald Sie diesen Raum verlassen.« Kennon nickte, und Alexander wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
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III
»I
ch hätte gestern noch nicht geglaubt, daß ich heute schon hier landen werde«, sagte Kennon und blickte auf die gelbe Wasserfläche der XantlineSee hinunter, während das Luftschiff mit gemächlichen tausend Stundenkilometern auf der mittleren Verkehrsebene dahinglitt. Stundenlang flogen sie nun schon durch die äquatorialen Luftschichten, und nichts rührte sich dort unten auf dem Meer. »Wir müssen uns beeilen, um unseren Magengeschwüren zuvorzukommen«, sagte Alexander verkniffen. »Außerdem wollte ich eine Weile den Büros in Albertsville entfliehen.« »Drei Stunden Frist, um meinen Job anzutreten«, sagte Kennon, »das war fast zu knapp.« »Sie hielt doch nichts in der Stadt zurück. Mich auch nicht, jedenfalls nichts Wichtiges. Es gibt genügend Frauen dort, wo wir hinwollen, und ich brauche Sie in Flora, nicht in Albertsville. Außerdem kann ich Sie so schneller hinbringen, als wenn Sie auf einen Transport der Firma warten müßten.« »Flora muß ja ein gottverlassenes Nest sein, nach der leergefegten See unter uns zu urteilen«, murmelte Kennon. »Stimmt. Es liegt abseits der üblichen Verkehrslinien. Der Handelsverkehr spielt sich hauptsächlich auf der südlichen Hemisphäre ab. Auf der nördlichen gibt es fast nur Wasser. Außer Flora und den Otpens werden - -
Sie im Umkreis von dreitausend Kilometern kein Land entdecken. – Ah! Jetzt dauert’s nicht mehr lange. Dort sind die Otpens!« Alexander deutete auf einen Fleck am Horizont. Er löste sich bald in winzige Inselchen auf, die unter ihnen dahinzugleiten schienen. Kennon warf einen Blick auf eine der etwas größeren Inseln. Er sah grauen Beton, ein Fleckchen grüner Bäume und einen weißen Küstenstreifen, gegen den das gelbe Wasser seine Schaumkronen warf. »Ein einsamer Ort«, murmelte er. »Fast alle sind so verlassen. Zwei Stützpunkte, Warnstationen und automatische Abfangjäger befinden sich hier, die unser Eigentum schützen sollen. Sehen Sie – dort liegt Flora.« Alexander deutete jetzt auf einen Landstrich, dem sie sich näherten. Flora war ein weites grünes Oval, etwa zweihundert Kilometer lang und über hundert breit. »Ist es nicht hübsch hier?« fragte Alexander, während sie die niedrige Hügelkette und einen hohen, erloschenen Vulkan am östlichen Rand der Insel überflogen. Sie schwebten jetzt über einem breiten, grünen Tal, das übersät war mit Feldern und Obstgärten. Dazwischen sah man Häuser mit roten Dächern, deren Zweck augenfällig war. »Unsere Farmen«, erklärte Alexander überflüssigerweise. Das Luftschiff überflog einen ziemlich breiten Fluß. »Das ist der Styx«, fuhr Alexander fort. »Mein Großvater gab ihm diesen Namen. Er war ein Liebhaber der Antike. Er verbrachte viel Zeit mit dem - -
Lesen von Büchern, von denen die meisten Bewohner hier nie etwas gehört hatten. Bücher wie die >Ilias< und >Vom Winde verwehthe, hallo< sagen!« Sie lächelte. »Ich bin Kupferglanz – wollen Sie auch meinen Stammbaum sehen?« »Nein, er würde mir wenig sagen. Wirst du Kupfer oder Glanz gerufen? Oder beides?« »Nur Kupfer, Sir.« »Gut, Kupfer, gehen wir.« Der Körper der toten Lani lag wächsern im unbarmherzigen, fluoreszierenden Licht auf dem Stahltisch. Sie war fast noch ein Kind gewesen. Kennon empfand einen Anflug von Mitleid. So jung mußte das arme Ding sterben. Während Kennon den Kadaver betrachtete, wurde ihm noch ein anderes Gefühl bewußt. Es war unter seinen Studienkollegen ein offenes Geheimnis gewesen, daß er sich geweigert hatte, Humanmedizin zu belegen. Er hatte einen ausgesprochenen Widerwillen davor, Leichen sezieren zu müssen. - -
Bis zu den Sarcoplasma-Modellen ging es ja noch, aber wenn er an echtem Fleisch herumschnibbeln mußte, kehrte sich ihm der Magen um. Beim Anblick dieses toten Homoniden trat ihm wieder kalter Schweiß auf die Stirn, und die gleiche Übelkeit überwältigte ihn, die ihn vor acht Jahren bewogen hatte, nur Veterinärmedizin zu studieren. Doch er kämpfte diese Empfindung nieder, trat an den Tisch und begann mit der Untersuchung. Gelbsucht und ein geschwollener Bauch – alles andere schien völlig normal. Zugleich wußte er genau, daß er nicht in der Lage sein würde, das kalte Fleisch mit einem Skalpell zu berühren. Es war zu menschlich – zu sehr wie sein eigenes Fleisch. »Sind Sie bereit, Doktor?« Die Lani stand am anderen Ende des Tisches. »Soll ich den Kadaver öffnen?« Kennons Magen krampfte sich zusammen. Natürlich! Er erinnerte sich wieder. Kein Pathologe schnitt ja selbst. Er begutachtete nur. Das könnte er natürlich tun. Denn es war die Berührung, nicht das Visuelle, das ihm so widerstrebte. Er nickte. »Den Bauch zuerst«, sagte er. Die Lani durchtrennte die Haut und die Muskulatur mit schnellem, sicheren Schnitt. Ein ausgezeichneter Prosektor, dachte Kennon. Er deutete auf die geschwollene Leber, und die Lani legte geschickt das Organ frei. Die Todesursache war sofort klar. Die Tote war an Leberegeln gestorben. Es war das Schlimmste, das er je gesehen hatte. Der Gallengang war dick, verkalkt und mit unzähligen graugrünen, blattförmigen Trematoden verstopft. - -
»Sehen wir uns noch die andern an«, sagte Kennon. Zwei weitere Kadaver bestätigten die Diagnose. Abgesehen von kleineren Unterschieden war die Todesursache die gleiche. Kennon entnahm einige Egel und legte sie für eine genaue Untersuchung beiseite. »So – das war’s«, sagte er. »Du kannst jetzt aufräumen.« Er hatte das »Verbrechen« aufgedeckt. Damit entwickelte sich das Problem zu einem faszinierenden Kriminalfall. Er mußte weitere Morde verhindern, dieses Verbrechen rekonstruieren, den modus operandi herausfinden, die Spur der Egel bis zu ihrer Herkunft zurückverfolgen und das Verbrechen verhindern, bevor weiterer Schaden angerichtet werden konnte. Es mußten Fotografien und Raumdias gemacht werden. Die Parasiten mußten bestimmt und ihre Anfälligkeit für therapeutische Maßnahmen herausgefunden werden. Außerdem mußte ihr Lebenszyklus erforscht werden und die Art und Weise, wodurch sie in den Körper ihres Gastgebers gelangt waren. Das alles war nicht leicht, denn bei diesen Trematoden handelte es sich wahrscheinlich um die sehr anpassungsfähige Art Hepatodirus hominis. Diese Gattung glich sich stets dem Wirt an, in dem sie als Parasit lebte. Kennon blickte vom Mikroskop auf und nahm sich die Illustrationen zum Text der parasitologischen Abhandlung vor. So sehr auch die Gattung Hepatodirus ihren Lebenszyklus zu ändern vermochte, so blieb doch die geschlechtsreife Form immer gleich. Die Anordnung - -
der Saugnäpfe und die Genitalorgane waren ganz typisch. Old Docs Nachschlagwerke über Parasiten reichten gerade aus, um die Diagnose zu stellen. Kennon mußte also auf seine eigenen Fachbücher warten. Bis dahin konnte er nur die Grundbehandlung verordnen. Er seufzte und stand auf. Morgen wartete auf ihn ein anstrengender Tag. Hinter ihm öffnete sich eine Tür, und Kupfer schlüpfte leise ins Büro. Neugierig und mit einem leichten Lächeln sah sie ihn an. »Was gibt’s?« fragte Kennon. »Wollen Sie jetzt das Autopsieprotokoll ausfüllen? Es ist so üblich.« »Es ist auch üblich, an die Tür zu klopfen, bevor man eintritt.« »Ja? Old Doc war das egal.« »Ich bin nicht Old Doc.« »Nein, das stimmt«, gab sie zu. »Sie sind viel jünger und sehen viel besser aus. Old Doc war ein dicker, grauhaariger alter Mann.« Sie verstummte und sah Kennon abschätzend an. Ihr Gesichtsausdruck ähnelte dabei dem von Eloise wie ein Ei dem anderen. »Ich glaube, ich arbeite gern für Sie, wenn Sie genauso nett sind, wie Sie gut aussehen.« »Du hast einem Mann nicht zu sagen, daß er gut aussieht«, fuhr er sie scharf an. »Warum nicht?« »Das tut man nicht.« - -
»Sie sind ein komischer Mensch«, sagte sie. »Old Doc fand nichts dabei, wenn man ihm sagte, daß er gut aussieht.« »Das ist was anderes. Er war ein alter Mann.« »Wo ist da der Unterschied?« »Ich jedenfalls mag es nicht«, sagte Kennon und ließ es dabei. Sie wurde ernst. »Tut mir leid, Doktor. Ich werde es nicht wieder sagen.« Sie sah auf ihn hinab, den Kopf zur Seite geneigt. »Ich glaube, ich muß noch eine Menge von Ihnen lernen. Sie sind ganz anders als Old Doc. Er hat mich nie so angefahren.« Kennon blinzelte. »Übrigens noch eins«, fuhr sie fort. »Die Vorschriften besagen, daß nach jeder Kadaveröffnung umgehend Bericht erstattet werden muß. Wenn es sich um Lanis handelt, müssen alle Autopsiebefunde in das Totenbuch eingetragen werden. Herr Blalok legt großen Wert auf ordentliche Berichte.« Sie zog einen Stuhl neben den Schreibtisch, setzte sich und schlug ihre langen Beine übereinander. Kennon schluckte trocken. Diese Situation war unmöglich. Wie konnte er im Namen von Sir Arthur Fleming einen kühlen, sachlichen Bericht diktieren, wenn ihm eine nackte Rothaarige gegenüber saß? »Sieh mal«, sagte er. »Ich brauch’ dich jetzt nicht. Ich kann einen Stimmenschreiber benutzen. Du kannst das Material dann später an dich nehmen und übertragen.« Sie war enttäuscht. »Sie mögen mich nicht«, sagte sie, - -
und ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen. »Old Doc hat niemals …« »Oh – dieser verdammte Old Doc!« fuhr es Kennon heraus. »Hör auf mit dem Flennen – oder geh hinaus. Noch besser: Geh hinaus und hör auf zu flennen!« Sie fuhr hoch und flüchtete aus dem Raum. Kennon fluchte. So konnte es nicht weitergehen! Er war ausfallender gewesen als nötig. Aber dieses Mädchen – nein, diese Lani – hatte ihn durcheinandergebracht. Er schämte sich. Er hatte sich eher wie ein Wilder anstatt wie ein Mitglied der ältesten Zivilisation in der Galaxis benommen. Nicht mal einen Hund würde er so anschreien. Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er übermüdet. Gewiß, er war irritiert gewesen. Unbekleidete Weibchen zu betrachten, die sich von menschlichen Frauen kaum unterschieden, trug nicht dazu bei, kaltes Blut zu bewahren. Er fragte sich, ob seine Erbitterung berechtigt oder nur ein Verteidigungsmechanismus war. Erst Eloise und jetzt diese! Verdammt! Er fühlte sich umzingelt und gefangen. Der Grund war nicht, daß er lange keinen Kontakt zu Frauen gehabt hatte. Das lag erst eine Woche zurück. Er lächelte, als er an die Blonde von ule an Bord des Kreuzers dachte. Das war eine echte Frau – selbst wenn ihre Ohren spitz und ihre Arme zu lang gewesen waren. Sie bedrängte einen Mann nicht, sie ließ ihn werben. Er lächelte. Das war der Grund. Er befand sich hier in der Defensive. Er war es, dem nachgestellt wurde. Sein - -
männliches Ego revoltierte. Er zuckte die Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Autopsiebericht zu. Es war hoffnungslos, er konnte sich nicht konzentrieren. Er schrieb ein paar Notizen nieder und knallte dann alles auf den Tisch. Morgen ist noch Zeit genug, dachte er. Was er jetzt brauchte, war ein harter Drink und acht Stunden Schlaf.
VII
K
ennon hielt kurz bei Blaloks Haus und belichtete von den Krankheitserregern. Blalok sah finster vor sich hin. »Wir hatten noch niemals Leberegel«, knurrte er, »warum sollten sie gerade jetzt auftreten?« »Sie sind eingeschleppt worden«, sagte Kennon. »Aber was mich beunruhigt, ist die Tatsache, daß Dr. Williamson sie übersehen konnte.« »Der alte Mann war senil«, sagte Blalok. »Die letzten sechs Monate seines Lebens war er fast blind. Bestimmt hat er die meiste Arbeit seinen Assistenten überlassen, und die werden sie übersehen haben.« »Möglich, aber die Symptome mußte man sofort erkennen. Auf jeden Fall kennen wir jetzt die Schuldigen.« »Schuldigen?« »Hepatodirus hominis – der auf Menschen lebende Leberegel. Dieser kleine, trickreiche Bursche folgt dem Menschen überall hin.« - -
»Gott sei Dank ist das Ihr Problem, nicht meines. Das einzige, woran ich mich im Zusammenhang mit Leberegeln erinnern kann, ist, daß sie schwer auszurotten sind.« »Besonders diese Art.« »Wir können darüber später sprechen. Mr. Alexander ist jetzt drüben in Ihrem Haus. Wahrscheinlich sucht er Sie schon.« »Wo ist Jordan?« »Er ist zur Station Vierzehn gegangen. Wir sehen ihn ja morgen.« »Na, dann gute Nacht für heute«, verabschiedete sich Kennon. »Ich bin f roh, daß Sie hier sind. Das nimmt mir eine große Last ab. Gute Nacht.« Blalok winkte ihm zu. Er ließ das Licht brennen, bis Kennon den Weg zu seinem Haus gefunden hatte. Alexander saß in einem schweren Polstersessel und lauschte einer Symphonie vom Stereoband. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Gesicht friedlich. Eine ältere Lani stand neben ihm. Der Anblick wirkte idyllisch. Als die Homonide Kennon erblickte, entfuhr ihr ein erstaunter Ausruf. Alexander schlug die Augen auf. »Oh – Sie sind es«, sagte er. »Keine Angst, Kara – es ist euer neuer Doktor.« Kara lächelte. »Sie haben mich erschreckt«, sagte sie. »Ich träumte.« »Im Stehen?« warf Alexander träge ein. - -
»Ich hätte Sie sofort erkennen müssen, Doktor. Man spricht überall von Ihnen, seit Sie hier eintrafen.« »Die Lanis wissen besser, was hier vorgeht, als unsereiner.« Alexander lächelte. »Der Tratsch blüht. Also – was ist los?« »Leberegel!« »Hm – nicht gut.« »Ich hoffe, ich kann schnell eingreifen. Den Berichten zufolge sieht es nicht so aus, als ob wir sie schon lange hier haben.« »Hoffentlich haben Sie recht. Wie lange wird es dauern?« »Einige Monate, vielleicht ein Jahr. Das kann ich noch nicht sagen. Aber ich tue natürlich mein Bestes, sie auszumerzen. Leberegel sind allerdings schwer unter Kontrolle zu bringen.« »Hepatodirus?« Kennon nickte. »Das ist doch ein Parasit von einer anderen Welt, nicht wahr?« »Ja. Er stammt von Santos, hat ursprünglich auf den Varls gelebt, doch dann gefielen ihm die Menschen besser. Jetzt kommt er schon auf hundert verschiedenen Planeten vor und breitet sich immer noch weiter aus. Er ist ein wirklich schlaues Biest, benimmt sich fast intelligent. Trotzdem kann er besiegt werden.« »Gut, beginnen Sie gleich mit Ihrem Kampf.« »Ja, morgen früh.« »Ich wußte ja, daß Sie der richtige Mann sind. Kara, mix dem Doktor einen Drink. Wir brauchen jetzt ei- -
nen Nachttrunk. Dann werde ich nach Hause gehen und mir das Gezeter von Henry und Anne wegen des armen, mißhandelten Douglas anhören. Und morgen geht’s zurück nach Albertsville. Pflicht und Geschäfte rufen!« Kennon stellte mit Erstaunen fest, daß Alexander angetrunken war. In seinem Schwips gab er sich viel freundlicher als sonst. Wenn man dem alten Sprichwort glaubte, daß der Alkohol den wahren Charakter eines Mannes aufdeckt, dann mußte Alexander im Grunde ein ganz netter Mann sein. »So – das ist also Ihr Zuhause für die nächsten fünf Jahre«, sagte Alexander. »Acht Wohnräume, zwei Bäder, einen Frischluftraum und drei Lanis, um alles in Ordnung zu halten. Sie haben’s geschafft.« »Vielleicht. Wir werden weitersehen, wenn wir die Egel angehen. Was mich betrifft, ich glaube bestimmt nicht, daß ich eine leichte Zeit vor mir habe. Morgen stecke ich schon bis zum Hals in Schwierigkeiten, um Ihren Profit zu retten.« »Sie schaffen es schon. Ich vertraue Ihnen.« »Ich glaube immer noch, daß Sie einen Humanmediziner hätten einstellen sollen.« »Das hätte ich mir nicht leisten können«, meinte Alexander. »Nicht wegen des Geldes; aber ein Humanmediziner hätte das Zugeständnis bedeutet, daß Lanis menschenähnlich sind. Dabei haben wir so viel Mühe auf uns genommen, das Gegenteil zu beweisen.« Unruhig rutschte er in seinem Sessel herum. »Natürlich hat das - -
auch seine Hintergründe.« »Daran zweifle ich nicht.« »Vielleicht sollte ich sie Ihnen erklären. Sie reichen etwa vier Jahrhunderte zurück. Nachdem Großvater, der ein gerissener Geschäftsmann war, sich diese Insel gesichert hatte, begann er sich um die überlebenden Lanis zu kümmern. Er wollte nicht des Völkermordes angeklagt werden; denn die Lanis waren ja in ihrer Erscheinung sehr menschenähnlich. Deshalb ließ er seinen Mediziner ein paar Autopsien vornehmen, und der Arzt erklärte, daß zwar eine gewisse Ähnlichkeit bestehe, Lanis aber zweifellos keine Menschen seien. Für Großvater reichte dieses Gutachten zunächst. Doch später bestand er auf das Urteil einer Fachkommission. Diese trat in Halsey zusammen. Die Sitzung war zwar nicht öffentlich, aber das Gerücht kam in der Öffentlichkeit auf, Großvater wolle die Wahrheit vertuschen. Die Sache kostete ihn mehr als 800 Ems, und die Gerüchte verstummten erst, als die Laborergebnisse vorlagen und die Lanis zu tierischen Wesen erklärt wurden. Großvater besaß nun unanfechtbare Entdecker- und Besitzrechte. Sie hatten ihn wirklich durch die Mangel gedreht. Großvater stellte einige Lanis zur Verfügung, und drei von der Kommission berufene Ärzte untersuchten sie so gründlich, wie das überhaupt ging. Ihr Bericht ist so ausführlich, daß man ihn geradezu klassisch nennen kann. Jeder, der die Lanis studieren will, sollte ihn lesen. Die Kommission fällte die vorläufige Entscheidung, daß die - -
Lanis keinen menschlichen Status beanspruchen dürfen. Damit ausgestattet, konnte Großvater weitere Tests an einer Gruppe weiblicher Lanis anstellen lassen. Das dauerte über zwei Jahre, und die Tests fielen alle negativ aus. Darauf erwarb die Familie Alexander die Insel Flora, die Otpens und das Recht, Lanis zu züchten.« Alexander stand auf. »Soweit das Wichtigste in Kürze. Die Berichte finden Sie in der Bücherei, falls Sie etwas nachschlagen wollen.« »Weshalb sollte ich?« »Nur um zu erkennen, daß wir ehrliche Leute sind.« Damit ging er zur Tür, öffnete sie und verschwand in der Nacht. Kennon sah Alexander nach, als er die Stufen hinunterstieg. Er bewegte sich etwas unsicher. Einen Augenblick lang überlegte Kennon, ob er ihn nicht nach Hause begleiten sollte. Doch wenn Alexander Hilfe brauchte, würde er das schon erwähnt haben. Er kannte Alexander noch nicht gut genug, um den Beschützer zu spielen. Er ging wieder in den Wohnraum zurück. Das Stereoband spielte eine sanfte, sentimentale Weise, als sich Kennon in den Sessel fallen ließ, in dem vorher Alexander gesessen hatte. Es war ein turbulenter Tag gewesen. Er war erschöpft und verwirrt zugleich. Er hatte keine Präzedenzfälle, nach denen er sich richten konnte. Weder seine Studien noch seine Reisen hatten ihn für diese Situation vorbereitet. Dem Gesetz und den biologischen Erkenntnissen nach waren die Lanis keine Menschen. Aber sie waren - -
intelligente, aufrecht gehende, zweibeinige Säugetiere, deren Morphologie der menschlichen so sehr glich, daß es ausgeklügelter Tests bedurfte, um ihren Status zu bestimmen. Als Betaner aber mißtraute Kennon der Exaktheit dieser ausgeklügelten Tests. Aber der Bund mußte sich auf diese Tests verlassen. Auf ihnen basierte das Bewußtsein der Einheit innerhalb des expandierenden Lebensbereichs der Menschheit. Von Anfang an, als die Menschheit sich über ihr Planetensystem hinaus auszudehnen begann, war es klar gewesen, daß die Menschen einander beistehen oder untergehen mußten. Der Geist der Zusammenarbeit gegen die Feindseligkeit fremder Welten und Kulturen überwand die alten Rivalitäten auf der Erde. In diesem Sinne waren alle Menschen Brüder. So wurde der Bund geboren, und das aus der Notwendigkeit heraus geschaffene Konzept erstarkte in tausend Kämpfen auf tausend feindlichen Welten. Und endlich entwickelte es sich zu der einzigen Form von zentraler Autorität, die der Mensch akzeptierte. Doch nicht in Form einer Regierung, sondern einer Geisteshaltung. Die Menschheit erkannte sie wie die Regeln eines Familienrats an. Der Bund setzte gewisse Gesetze fest, versuchte aber nicht, ihnen gewaltsam Geltung zu verschaffen. Das war auch gar nicht nötig. Der Bund entschied Streitfälle, nahm neue Welten auf und organisierte gemeinsame Anstrengungen zur Abwehr gefährlicher Feinde. Das war alles. Doch innerhalb seines Bereichs war die Autorität des - -
Bundes unangreifbar. Für die Mitgliedschaft im Bund gab es nur eine Bedingung – die Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse. So dekadent oder primitiv eine Bevölkerung auch sein mochte: Sie gehörte automatisch zum Bund, wenn sie als menschlich galt. Sie war dann ein freier und gleichberechtigter Partner. Kennon bezweifelte, daß jemals eine nicht menschliche Rasse in diesen Kreis der Auserwählten aufgenommen worden war. Bei einzelnen Individuen mochte es anders sein. Ein kupierter Lani könnte zum Beispiel sicher als Mensch durchgehen; doch nicht die Rasse der Lanis. Deshalb waren sie und ihre Welt eine begehrte Beute. Sie wurden angegriffen und unterjocht. Die Nicht-Menschlichkeit zu beweisen, war selten ein Problem. Die meisten fremden Lebensformen wirkten eindeutig fremdartig. Aber einige – wie die Lanis – schienen den Menschen so ähnlich, daß ihr Status nicht nur durch die Morphologie geklärt werden konnte. Deshalb hatte man den Menschlichkeitstest entwickelt. Grundsätzlich basierte dieser Test auf der eorie, daß verwandte Arten sich miteinander kreuzen lassen. Das war, durch verschiedene Versuche auf jeder bewohnten Welt im Bund bewiesen. Was für Veränderungen d’ Menschheit seit ihrem Auszug von der Erde auch erlebt hatte, sie hatten nicht an der Tatsache gerüttelt, daß man sie nicht mit fremden Rassen kreuzen konnte. Menschen konnten sich nur mit Menschen paaren, nicht aber mit Nicht-Menschen. So einfach war der - -
Test. Was noch wichtiger war: Jedermann konnte diesen Test begreifen. Es gab keine einfachere Definition der Menschlichkeit. Doch war dieser Test auch exakt? Kennon war dessen nicht so sicher. Die Formulierung des Tests stammte von Wissenschaftlern, also von Leuten, die etwas erst dann anerkennen, wenn es bewiesen ist und nicht mehr die Spur eines Zweifels an ihm haftet. Schließlich war die menschliche Rasse erst seit sechstausend Jahren in der Raumfahrt tätig, und diese Zeit reichte nicht aus, um echte Unterschiede entstehen zu lassen. Allerdings, äußerliche Abweichungen hatten sich bereits entwickelt, und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann auch genetische Veränderungen eintraten. Und was geschah dann? Das wußte niemand zu sagen. Das interessierte auch niemand, außer vielleicht wenige weitsichtige Menschen. Die Betaner gehörten dazu. Sie zogen sich langsam vom Rest der Menschheit zurück, denn die Strahlung ihrer Sonne hatte bereits bei den Betanern Mutationen hervorgerufen. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten – eine festere Haut und Verschwinden der Körperbehaarung; doch für die Wissenschaftler und die Bewohner von Beta besaßen sie große Bedeutung. Schon in einigen Generationen würde ein Betaner außerhalb seiner Welt zu einer Rarität werden, und in einigen tausend Jahren würde Beta nur noch von Menschen bewohnt sein, die sich bereits zu weit von der Grundform fortentwickelt - -
hatten, um sich noch mit ihr vermischen zu können. Natürlich konnte sich bis dahin auch der Bund verändert haben, doch das war nicht sicher. Die Geschichte hatte dagegen gezeigt, daß die Menschen mit ihren Mutanten sehr rauh umgingen. Also mußte man sich auf Beta vorsehen. Kennon fragte sich, ob es noch andere Welten mit dem gleichen Problem im Bund gab. Wahrscheinlich gab es Planeten, auf denen die Mutationen noch weitergegangen waren als auf Beta. Es verging kaum ein Jahr, in dem nicht irgendeine neue Welt dem Bund beitrat. Viele von ihnen hatten sich in ihrer Enklave weiterentwickelt seit jener großen kulturellen Explosion während des ersten Jahrtausends, als kleine Kolonistengruppen sich zu unbekannten Welten aufmachten, um neue Heimstätten zu gründen. Einige von ihnen waren erst vor kurzem wiederentdeckt worden. Doch bis jetzt hatte noch keine dieser Enklaven Schwierigkeiten gehabt, ihre menschliche Abstammung zu beweisen. Auch die Lanis konnten Abkömmlinge von einer dieser versprengten Kolonistengruppen sein. Das erklärte wohl die große Sorgfalt der Kommission, die mit diesem Fall betraut worden war. Doch die Lanis hatten den Test nicht bestanden und waren deshalb zu Tieren erklärt worden. Vielleicht hatten sie schon früher mutiert. Die Lanis wären dann ein Musterfall, der den ganzen Bund bis in seine Grundfesten erschüttern und eine Neufestsetzung der Kriterien für die Menschheit erfordern würde. - -
Kennon mußte lächeln. Er war wirklich ein feiner Angestellter. Kaum einen Tag tat er seinen Job, da träumte er schon davon, wie er seinen Arbeitgeber ruinieren, die Grundlagen der Zivilisation erschüttern und zehntausend Milliarden Menschen zwingen konnte, ihre angenehmen Lebensgewohnheiten und ihren Glauben an die Unveränderbarkeit des Menschen aufzugeben. Er war wirklich ein unheilbarer Romantiker.
VIII
»A
ufstehen, Doktor, sechs Uhr!« Eine freundliche Stimme drang in Kennons Traum. Er öffnete ein Auge und sah sich im Raum um. Für einen Augenblick verwirrte ihn die Umgebung, dann kam die Erinnerung wieder. Unbehaglich sah er sich um, woher die Stimme kam. »Um sieben geht’s los mit den ersten Verabredungen. Ein voller Terminkalender erwartet Sie.« Dann fuhr die Stimme fort: »Tut mir leid, Sir, aber Sie müssen aufstehen.« Die Stimme klang nicht sehr gnädig. Sie mußte vom Kopfende des Bettes kommen. Mit leisem Protest wälzte sich Kennon herum und suchte seinen Quälgeist. Er war bestürzt, denn neben seinem Bett stand Kupfer, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht. Sie sah frisch und munter aus und so aufregend wie noch nie. Das ist nicht in Ordnung, dachte Kennon bitter, daß - -
man von einer nackten Homoniden aus süßen Träumen gerissen wird. »Was machst du hier?« fragte er. »Ich muß hier sein«, antwortete Kupfer. »Ich bin Ihre Sekretärin.« Sie lächelte und streckte ihren Körper. Kennon verstummte. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragte sie. Einen Augenblick war er versucht, ihr zu sagen, was nicht stimmte – aber er hielt den Mund. Sie würde ihn sowieso nicht verstehen. Aber etwas anderes wollte er bei dieser Gelegenheit gleich richtigstellen. »Sieh mal, junge Dame –« begann er. »Ich bin keine Dame«, unterbrach ihn Kupfer, bevor er fortfahren konnte. »Damen sind menschlich. Ich bin eine Lani.« »Ja gut«, knurrte Kennon, »Lani oder Mensch, was soll’s? Aber mußt du deshalb in das Schlafzimmer eines Mannes einbrechen und ihn mitten in der Nacht wekken?« »Ich bin nicht eingebrochen«, sagte sie, »und es ist nicht mitten in der Nacht. Es ist morgens.« »Na gut – dann ist es eben morgens, und du bist auch nicht eingebrochen. Wie, zum Teufel, kommst du aber dann hier herein?« »Ich schlafe nebenan«, sagte sie und deutete mit dem Daumen auf eine offene Tür in der Seitenwand. »Ich habe mich dort aufgehalten, seit Sie mich in der Nacht fortschickten«, erklärte sie. Diese Erklärung ließ Kennon kalt. Er mußte an - -
das Gerücht von den Bewohnern auf Santos denken. Vielleicht würde er es irgendwann tun, aber noch nicht jetzt. Die Gewohnheiten eines langen Lebens konnten nicht über Nacht überwunden werden. »Schön, du hast mich also jetzt geweckt«, sagte er, »und nun kannst du gehen.« »Warum?« »Ich möchte mich anziehen.« »Ich werde Ihnen helfen.« »Das wirst du nicht. Ich bin durchaus imstande, für mich selbst zu sorgen. Ich ziehe mich schon seit Jahren selbst an und bin es nicht gewöhnt, daß mir jemand dabei hilft.« »Mein Gott – aus welcher seltsamen Welt kommen Sie nur! Hatten Sie noch nie eine Lani gehabt?« »Nein.« »Sie Armer.« Ihre Stimme klang merkwürdig teilnahmsvoll. »Es gab also niemand, demgegenüber sie sich wie ein Gott fühlen konnten? Niemand, der Sie bediente? Niemand, der Ihnen den Rücken schrubbte?« »Jetzt reicht’s«, sagte Kennon. »Ich kann mir meinen Rücken selber waschen!« »Wie denn? Sie können ihn ja nicht erreichen.« Kennon knurrte. »Gab es keine Lanis auf Ihrer Welt?« »Nein.« »Kein Wunder, daß Sie Ihre Welt verließen. Es muß dort sehr primitiv gewesen sein.« »Primitiv!« Kennons Stimme klang beleidigt. »Beta - -
besitzt die am höchsten entwickelte Zivilisation im Bund.« »Aber dort gibt es keine Lanis«, sagte sie geduldig »Also muß es primitiv sein« »Halstead, Fleming und Ochsner!« fluchte Kennon. »Glaubst du das wirklich?« »Natürlich, das ist doch offensichtlich. Sie können unmöglich als zivilisiert gelten, wenn Sie nicht auch Verantwortung für anderes intelligentes Leben tragen. Bis Sie diese Verantwortung nicht übernehmen, sind Sie nur das Mitglied einer herrschenden Rasse, nicht einer zivilisierten.« Kennon blieb die Antwort im Hals stecken. Erstarrt blickte er sie an, und was er sagen wollte, blieb unausgesprochen. »Das aus dem Mund einer Homoniden …« murmelte er. »Was meinen Sie?« fragte Kupfer. »Ist schon gut«, sagte Kennon unwirsch. »Laß mich allein – geh, zieh dir was an! Du regst mich auf!« »Ich werde gehen«, sagte Kupfer, »aber Sie müssen sich an den Anblick gewöhnen. Nur Hausangestellte tragen Kleidung.« Sie runzelte die Stirn, und zwei steile Falten teilten ihre dunklen Brauen. »Ich habe niemals verstanden, warum die im Haus arbeitenden Lanis so verunstaltet werden, aber es wird schon einen Grund dafür geben. Menschen tun selten etwas ohne Grund.« Kennon schüttelte den Kopf. Entweder war sie völlig unwissend, was er bezweifelte, oder sie war bis zu den Ohren programmiert. Doch ihre scharfe Bemerkung - -
über Zivilisation war nicht das Produkt eines programmierten Gehirns. Warum zerbrach er sich den Kopf über ihre Ansichten? Sie waren nicht wichtig, sie war eben kein Mensch. Er schüttelte den Kopf. Das war Haarspalterei. Die Tatsache, daß sie kein Mensch war, hatte nichts mit der Bedeutsamkeit ihrer Ansichten zu tun. »Es wird sicher einen Grund geben«, stimmte er zu. »Aber ich kenne ihn nicht. Ich bin hier noch nicht lange genug, um auch nur irgend etwas über die Dinge zu wissen.« Sie nickte. »Das ist natürlich etwas anderes«, gab sie zu. »Viele der neueingetroffenen Männer sind zunächst darüber schockiert, daß wir Lanis nackt sind, aber sie gewöhnen sich schnell daran. So wird es Ihnen auch ergehen.« Sie lächelte ihn an und drehte sich um. »Sie müssen eben immer wieder daran denken«, setzte sie hinzu und blickte über die Schulter, während sie den Raum verließ, »daß wir keine Menschen sind. Wir sind nur ein zweibeiniges Haustier.« Lag in ihrer Stimme nicht Ironie? Kennon war sich nicht sicher. Er seufzte erleichtert und zugleich erbittert, sprang aus dem Bett und begann sich anzuziehen. Er würde also heute auf die Dusche verrichten. Er wollte nicht, daß Kupfer erschien, um ihm den Rücken zu schrubben. Im Augenblick war ihm wirklich nicht danach. Vielleicht würde er sich mit der Zeit daran gewöhnen. Vielleicht mochte er es dann sogar. Jetzt jedenfalls war er noch nicht so weit akklimatisiert. »Herr Blalok hat angerufen«, sagte Kupfer, als sie den - -
Frühstückstisch abräumte. »Er läßt ausrichten, daß er bereit ist und Sie abholen kommt. Er möchte Ihnen den Operationsraum zeigen.« »Wann hat er angerufen?« »Vor zehn Minuten. Ich sagte ihm, daß Sie frühstückten. Er sagte, er würde dann warten.« Sie entfernte sich zur Küche. »Das ist ja alles wie ein Alptraum«, murmelte Kennon, während er in den Umhang schlüpfte. »Mir ist so, als wenn ich jeden Moment aufwachen müßte.« Er betrachtete sich im Ankleidespiegel. »Es ist alles so unwirklich: die Anzeige, der Vertrag, diese unmögliche Insel, wo Homonide wie Vieh gezüchtet werden.« Er zuckte mit den Schultern, und sein Spiegelbild tat das gleiche. »Aber trotzdem ist das Wirklichkeit. Ich frage mich nur, wie ich das fünf Jahre lang ertrage. Vielleicht nicht sehr gut«, murmelte er weiter. »Ich spreche schon mit mir selbst. Und ganz ohne mein Zutun hat es diese Lani Kupfer fertiggebracht, daß ich mich wie ein Mann von Sark fühle.« Der Gedanke an Sark stimmte, dachte er. Auf jener elenden, unterentwickelten Welt wurden die Frauen fast wie Sklaven gehalten. Von Geburt an standen sie unter einer eisernen Zucht, die nur dazu diente, den herrschenden Männern ergebene Gespielinnen heranzuziehen. Sicher war das der Grund, weshalb Sark so unterentwickelt blieb. Denn nachdem die Männer ihre häusliche Ruhe erreicht hatten, wollten sie nichts mehr tun, was diese Ruhe stören konnte. Und da die Frauen - -
auf Sark unter keinen Umständen ihren Herrn mit der Forderung langweilen würden, bessere Mausefallen zu produzieren oder mehr Geld herauszurücken, war die technische Entwicklung auf Sark praktisch zum Stillstand gekommen. Zum Aufbau einer Zivilisation brauchte man eben zwei aktive Geschlechter. Na schön, dachte Kennon, eine Meinung zu vertreten, war immer noch eines der wichtigsten menschlichen Vorrechte. Doch kein Einwohner einer zivilisierten Welt hatte das Recht, seine Moral einem anderen gegen dessen Willen aufzuzwingen. Er selbst tat wohl gut daran, seine gegenwärtige Lage hinzunehmen und damit zu leben, anstatt die Moralvorstellungen von Beta auf verständnislose Lanis anzuwenden. Seine Aufgabe war, Tierkrankheiten zu behandeln. Was mit den Tieren vorher oder nachher geschah, ging ihn nichts an. Das war Sache von Alexander und dessen Gewissen. Blalok wartete schon auf ihn. Er saß hinter dem Lenkrad eines kastenförmigen, robust und tüchtig wirkenden Vehikels, das hinter dem Haus im Leerlauf ratterte. Er begrüßte Kennon lächelnd, als dieser auf ihn zutrat. »Es wird Zeit, daß Sie sich sehen lassen«, sagte er. »Sie werden schon noch merken, daß man hier zeitig aufsteht. Wir arbeiten hauptsächlich früh am Morgen und spät am Nachmittag. Während des Tages ist es fast zu heiß zum Atmen, geschweige denn zum Arbeiten. Gehen wir! Wir müssen die Außenstationen besuchen.« - -
Kennon stieg in den Wagen, und Blalok startete. »Ich dachte mir, wir nehmen heute besser den Jeep«, sagte er. »Sie sind zwar nicht sehr bequem, aber praktisch.« Er lenkte den Wagen auf die kurvige Straße, die zur Krankenstation und zum Komplex der rotgedeckten Gebäude führte. »Diese Egel«, begann er das Gespräch, »haben Sie schon Vorstellungen, wie Sie gegen diese Parasiten vorgehen werden?« »Noch nicht. Ich muß mich hier erst umsehen. Das erfordert mehr Detektivarbeit als medizinische Fähigkeiten.« »Detektivarbeit?« »Ja – wir kennen zwar den Erreger, aber um gegen ihn anzugehen, müssen wir seine Herkunft feststellen, seinen modus operandi kennen und vor allem die Gefährdeten vor ihm schützen. Falls wir das nicht tun, können wir hundert Jahre lang behandeln, ohne die Krankheit eindämmen zu können. Wir müssen modernste kriminalistische Taktiken anwenden – die Quelle verstopfen. Mit anderen Worten: Wir müssen die Egel vernichten, bevor sie überhaupt Lanis befallen können.« »Old Doc sprach nie darüber«, bemerkte Blalok. »Weil er davon nichts wußte. Ich saß gestern nacht über den Zuchtbüchern und fand keinen Eintrag über Trematoden oder etwas, das nach Parasitenbefall hätte aussehen können.« »Warum nicht?« »Meine Vermutung ist, daß bisher keine Lanis an diesen Parasiten gestorben sind.« - -
»Und dieser Parasit attackiert auch Menschen?« »Vorzugsweise«, sagte Kennon. »Es ist seltsam, das gebe ich zu, weil der Parasit von Santos stammt, soweit wir das wissen. Man vermutet, daß die Varls die Parasiten als Waffe züchteten, bevor sie von uns besiegt wurden.« »Aber wie kommen die Egel hierher?« »Das weiß ich nicht. – Vielleicht haben Sie einen Mann aus Santos engagiert, oder jemand, der bereits infiziert war.« »Wir hatten hier einen Mann aus Santos, Joe Kryla. Wir mußten ihn bald wieder entlassen. Er war Nudist. Das machte auf die Lanis einen schlechten Eindruck. Aber das liegt schon ein Jahr zurück.« »Das ist genau die richtige Inkubationszeit für eine Seuche. Die tödlichen Fälle treten gewöhnlich erst auf, wenn ein größeres Gebiet befallen ist.« »Das ist ja schrecklich!« »Ja, aber etwas spricht zu unseren Gunsten. Die Lanis sind in Herden zusammengefaßt. Bis jetzt scheint es außerhalb der Hügelstation keine Krankheitsfälle zu geben. Wenn wir Quarantäne verhängen und schnell arbeiten, können wir vielleicht noch die Krankheit eindämmen, bevor sie sich als Seuche über die ganze Insel ausbreitet.« »Gut. Wie sehen Ihre nächsten Maßnahmen aus?« »Ich werde die Lanis behandeln, die schon Krankheitssymptome aufweisen. Auf der Krankenstation muß es doch ein paar Trematox-Kapseln geben. Und wenn nicht, besorgen wir sie. Die kranken Lanis isolie- -
ren wir in der Station und behandeln sie dort. Nachdem wir jetzt die Ursache kennen, dürften keine weiteren Todesunfälle mehr auftreten.« »Old Doc hat nie auf der Krankenstation behandelt«, brummte Blalok. »Ich bin nicht Old Doc.« »Aber das bringt ja unsere ganzen Pläne durcheinander! Wir brauchen die Krankenstation, um die für den Markt bestimmten Lanis noch fertig auszubilden.« »Wieso?« »Die anderen Quartiere sind schon überbelegt«, sagte Blalok mit einer Spur von Mißmut in der Stimme. »Die Lanis, die dort untergebracht sind, sind gesund, nicht wahr?« fragte Kennon. »Natürlich.« »Dann bringen Sie sie fort!« »Aber ich sagte Ihnen doch …« »Nichts haben Sie mir gesagt. Die Krankenstation wird für Kranke gebraucht, nicht als Ausbildungscenter. Vielleicht hat Old Doc nur ambulante Behandlungen durchgeführt. Ich mache das anders. Ich arbeite in der Station. Auswärts stelle ich nur Diagnosen, impfe oder behandle Notfälle. Alle anderen Krankenfälle kommen in die Station.« »Wir können das nicht ohne Jordan und den Abteilungsleiter veranlassen.« »Das ist nicht meine Sache«, sagte Kennon. »Ich will nur meine Arbeit so gut wie möglich erledigen. Die Gesundheit ist wichtiger als die Bequemlichkeit irgendei- -
nes Bosses oder Verwalters. Also sorgen Sie als Verwalter dafür, daß meine Anordnungen befolgt werden.« »Sie haben die Autorität«, gab Blalok zu. »Aber ich rate Ihnen, treten Sie leise.« »Das kann ich nicht«, sagte Kennon. »Wir müssen die Seuche eindämmen, solange noch Zeit dazu bleibt. Wir können nicht kostbare Stunden damit vertrödeln, auf der Insel mit Trematox-Kapseln und Fieberthermometern herumzulaufen. Außerdem werden Sie die Vorteile meiner Methode schon bald erkennen.« »Das hoffe ich«, betonte Blalok und hielt jetzt vor der Krankenstation. »Ich vermute, Sie wollen sich ein paar Sachen holen.« »Ja«, sagte Kennon. »Ich bin in einer Minute zurück.« Kennon rutschte vorn Beifahrersitz. Blalok sah ihm mit einem merkwürdigen Blick nach. Aus der einen Minute wurden fast zehn, ehe Kennon zurückkehrte. Ihm folgten zwei Lanis mit Gepäckstücken, die sie auf den Rücksitz des Jeeps verstauten. »Ich mußte ein bißchen umorganisieren«, entschuldigte sich Kennon. »Wollen Sie die mitnehmen?« fragte Blalok und wies mit dem Daumen auf die beiden Lanis. »Jetzt nicht. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen eine Ambulanz herrichten. Damit werden sie den ganzen Tag über zu tun haben.« Blalok grunzte und ließ die Turbine an. Er legte einen Hebel um, und der Jeep hob vom Boden ab. »Mit dem Jeep kann man also auch fliegen«, bemerkte - -
Kennon. »Ich hatte mich schon gewundert, warum dieses Ding so unförmig aussieht.« »Es ist ein Mehrzweckfahrzeug«, sagte Blalok. »Sie werden hier für alle schnellen Transporte gebraucht. Die meisten der Straßen sind sehr schlecht.« Er kuppelte ein, und der Jeep begann sich vorwärtszubewegen. »Wir werden quer über Land fliegen«, erklärte er. »Die Hügelstation ist ziemlich weit entfernt – die entlegenste Station, seit wir Olympus verließen.« Ein Luftstrom fuhr über den Jeep hinweg, als Blalok Gas gab und den Antrieb auf Automatik umstellte. »Sie bekommen so einen ziemlich guten Überblick, was wir hier alles machen«, rief er, um den Lärm der Maschine zu übertönen. »Sehen Sie mal, dort unten!« Sie überflogen eine Reihe von eingezäunten Viehweiden. Kennon war von der Größe dieser Anlage beeindruckt. Aus der Substratosphärensicht von Alexanders Schiff war es ihm nicht so groß erschienen. Aber jetzt, dicht über dem Boden, wirkte alles gewaltig. Grüne Kornfelder, weite Obstplantagen, ausgedehnte Gärten. Plötzlich mußten sie einem mächtigen Luftschiff ausweichen, das gerade vor ihnen aufstieg. Auf den Feldern arbeiteten Dutzende von braunhäutigen Lanis, die in ihrer Tätigkeit innehielten, hinaufsahen und winkten, als der Jeep über sie hinwegflog. Sie ließen jetzt verstreute Ansammlungen von Farmgebäuden und niedrige, barrakkenähnliche Stationen hinter sich. »Auf jeder dieser Stationen arbeiten ungefähr zwanzig Lanis«, erklärte Blalok. »Sie stehen unter der Aufsicht - -
eines Stationsleiters.« »Ist der Leiter ein Farmer?« »Natürlich. Gewöhnlich besitzt er ein Diplom von einer Landwirtschaftlichen Schule. Darunter sind auch Nachkommen der ersten Pioniere, die mit dem Großvater von Mr. Alexander hierhergekommen sind. Die meisten unserer Stationsleiter haben Familie. Wir sind der Meinung, daß Frau und Kinder auf einen Mann ausgleichend wirken – und es hält ihn natürlich auch davon ab, mit den Lanis Dummheiten zu machen.« Eine Reihe von eingezäunten Weiden mit Hunderten großer, grau-weißer Vierfüßler darauf, glitt unter ihnen dahin. »Vieh?« fragte Kennon. »Ja – stammt von der Erde. Deshalb sind sie auch so groß. Wir haben auch Schafe und Schweine, aber nicht hier.« »Gibt es auch Tiere von dieser Welt?« »Ein paar – auch einige von anderen Planeten. Aber sie sind Luxusware.« Blalok kicherte. »Glaubten Sie, daß die Lanis unser wichtigstes Exportgut sind?« Kennon nickte. »Sie sind nur ein Posten in unserem Sortiment. Landwirtschaft – Landwirtschaft nach irdischen Maßstäben – ist unsere größte Einnahmequelle. Die Lanis sind hauptsächlich deshalb so wertvoll, weil sie die Produktionskosten niedrig halten. Sie alle arbeiten hier auf der Insel. Wir verkaufen nicht mehr als hundert Stück pro Jahr. Das sind nicht einmal fünf Prozent der Lanis. - -
Und die wir verkaufen, sind zu leicht oder zu zart für die Landwirtschaft.« »Wo haben Sie denn Ihren Markt für all Ihre Produkte?« »Auf unserer Welt hier leben 200 Millionen Menschen, und innerhalb der Reichweite unserer Raumfrachter sind es einige Milliarden. Wir können weit billiger produzieren als unsere Konkurrenten, und wir können selbst vollautomatisierte Produktionsstätten unterbieten.« Blalok machte eine Pause und fuhr dann fort: »Es gibt gewisse Dinge, die ein Computer nicht so gut ausführt wie die Natur. Dazu gehörten auch menschliche Nahrungsmittel. Für ein Steak ist ein Mann bereit, zwei Geldpunkte zu bezahlen, obwohl er für einen halben einen Chlorella-Fleischersatz bekommen könnte. Aber er wird immer das Steak vorziehen. Dasselbe gilt für Obst, Gemüse und Gartenerzeugnisse. Die menschlichen Eßgewohnheiten haben sich nur dort, wo es nicht anders ging, gewandelt. Der Mensch verzichtet nur im Notfall auf natürliche Nahrungsmittel.« Blalok sah Kennon an und setzte hinzu: »Wir machen der Großindustrie mit ihren Algenkulturen und synthetischen Nahrungsmitteln ganz schön zu schaffen.« »Aber trotzdem sind es doch Delikatessen, mit denen Sie handeln«, warf Kennon ein. »Na, Sie haben doch auch schon Synthetiks gegessen«, erwiderte Blalok. »Was schmeckt Ihnen denn besser?« Kennon mußte zugeben, daß Blalok recht hatte. Auch - -
er bevorzugte die natürlichen Produkte. »Wenn Ihr Handel so ertragreich ist, weshalb verkaufen Sie dann Lanis?« fragte Kennon. »Das will unsere Boß-Familie so. Und da wir zu viele Lanis vom Exporttyp haben, schadet uns der Aderlaß auch nicht. Als Dienstpersonal behalten wir genügend Lanis zurück. Die anderen sind sowieso nicht rentabel. Da ist es nur logisch, sie zu verkaufen. Jetzt wird aber unser Boß bedrängt, mehr Lanis vom Exporttyp zu züchten, und das gefällt mir nicht. Das schmeckt zu sehr nach Sklaverei.« »Sie stammen doch von Myst, nicht wahr?« fragte Kennon. »Ja. Aber deshalb muß ich nicht Anhänger der Sklaverei sein. Ich weiß, diese stiernackigen Wirtschaftsbosse vom Bund nennen unser System wirtschaftliche Sklaverei, und ich gebe zu, es geht bei uns ziemlich rauh her. Aber das bedeutet nicht, daß wir unserem Unternehmer leibeigen sind. Es ist zwar nicht leicht, seine Stellung zu wechseln, aber es ist möglich. Ich habe es getan und andere auch. Die Situation bei uns ist nicht hoffnungslos.« »Aber für die Lanis ist sie es«, meinte Kennon. »Natürlich. Und deshalb müssen sie beschützt werden. Ein Lani hat sonst einfach keine Chance. Ohne uns können sie nicht einmal als Rasse überleben. Technisch sind sie völlig unbegabt. Und sie leben nicht lang genug, um die moderne Zivilisation zu begreifen. Diese armen, hilflosen Homoniden in die menschliche Gesellschaft hin- -
auszuschicken, wäre ein Verbrechen. Deshalb ist es unsere Pflicht, sie zu beschützen, selbst wenn wir sie ausbeuten.« »Das ist das Schicksal des Menschen, nicht wahr?« sagte Kennon und wiederholte bitter das alte Klischee. »Genau.« Blalok wurde ernst. »Ich wünschte, ich hätte Mut genug, um dem Boß die Wahrheit zu sagen. Aber bei mir reicht’s eben nicht. Ich habe hier einen guten Job, eine Frau und zwei Kinder, und ich will mir nicht meine Zukunft versauen.« Blalok warf einen Blick nach unten. »So, wir sind da«, meinte er und ließ den Jeep sinken, mitten hinein in das Zentrum einer Gebäudegruppe, die strahlenförmig angelegt war und sich um einen Mittelpunkt herum gruppierte. »Donnerwetter, ein großer Ort«, wunderte sich Kennon. »Natürlich«, erwiderte Blalok. »Dies ist die Zuchtstation für unsere Lanis. Ihre Kapazität beträgt mehr als tausend Stück pro Jahr. Natürlich lassen wir sie nicht auf Hochtouren laufen, sonst wäre Flora schon übervölkert. Die Anlage ist längst nicht ausgelastet. Sie kann mindestens vierzigtausend Stück aufnehmen. Der alte Alexander hatte große Pläne.« »Ich frage mich nur, was er mit so vielen Lanis vorhatte?« fragte Kennon. »Das weiß ich auch nicht. Der Alte hat nie jemand in sein Vertrauen gezogen.« Nachdem der Jeep gelandet war, kam Jordan heran und begrüßte sie: »Ich warte schon seit einer halben Stunde auf Sie. Ihr Büro hat gemeldet, daß Sie un- -
terwegs seien. Gut, daß Sie gekommen sind, Doc. Ich bin mit Hank Allworth, dem hiesigen Stationsleiter, die Berichte durchgegangen.« Jordan streckte ihm die Hand entgegen. »Sie stammen wohl von der Erde, was?« fragte Kennon, als er die ausgestreckte Hand ergriff. Diese Geste war so alt wie die Menschheit, doch ihre rituelle Bedeutung war längst verlorengegangen. »Nein, ich stamme vom Mars«, erwiderte Jordan. »Aber wir haben dort die gleichen Sitten wie auf der Erde.« »Sie leben hier sehr weit von Ihrer Heimat entfernt«, meinte Kennon. »Auch nicht weiter als Sie, Doc.« Jordan winkte unruhig, als er fortfuhr: »Aber wir können später über unsere Heimat reden. Jetzt sollten Sie lieber mit ins Büro kommen. Ich bin auf etwas sehr Merkwürdiges gestoßen.«
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IX
»A
uf dieser Station gibt es zwölf Abteilungen«, begann Jordan. »Zur Zeit werden zwei Abteilungen zur Zucht verwandt, die übrigen zehn dienen der Reifung. Wir lassen die Jungen alle Abteilungen durchlaufen. In jeder Abteilung bleiben sie ein Jahr, bis sie elf sind. Dann werden sie nach den verschiedenen Typen sortiert und noch ein Jahr einer Spezialerziehung unterworfen. Danach kommen sie entweder auf die Farmen, zur Hausarbeit oder zum Export. Und jetzt kommt das Seltsame: In den Abteilungen eins bis neun hat es keine Krankmeldungen gegeben. Die meisten Kranken stammen von der Abteilung zehn. Nur zwei Fälle kommen von der Erziehungsstation.« »Das ist gut«, erklärte Kennon. »Der Parasit kann sich noch nicht weit verbreitet haben. Wir können ihn noch isolieren, falls nicht – sagen Sie, wieviel Erziehungszentren gibt es?« »Drei«, erwiderte Jordan. »Wir müssen über die Stationen eine Quarantäne verhängen«, erklärte Kennon. »Und zwar sofort. Nichts darf hinein- oder herausgelangen, bis wir alles geprüft und entsprechende Vorsorge getroffen haben.« Jordan sah Blalok fragend an. »Er ist hier der Boß«, meinte Blalok. »Also tun Sie, was er sagt. Das ist sein Problem.« »Weshalb die Quarantäne?« fragte Jordan. »Ich brauche ein paar infizierte Lanis. Wir können - -
sie mit Antigen herausfinden und ihnen dann Trematox verabreichen.« »Hat die Konzentration der Fälle in Abteilung zehn etwas zu bedeuten?« fragte Jordan. »Blalok hat mir berichtet, daß es einen Mann von Santos in Ihrer Abteilung gab«, stellte Kennon statt einer Antwort fest. »Ja. Das war Joe Kryla. Er leitete übrigens die Abteilung zehn.« »Das ist ein Hinweis. Sehen wir uns einmal an, worin sich diese Abteilung von den anderen unterscheidet.« »Weshalb?« »Ich will es Ihnen gern sagen, aber Sie begreifen es vielleicht nicht«, meinte Kennon. »Lassen wir es drauf ankommen.« Kennon lachte. »Na schön, wie Sie meinen. Unser Parasit ist ein Plattwurm, ein Trematode, und wie alle Trematoden hat er einen dreistufigen Lebenszyklus, ist jedoch nicht an bestimmte Wirtstiere gebunden. Dieser Egel kann sich immer anpassen. Er muß zwar seinen Lebenszyklus durchlaufen, doch die Wirtstiere müssen nicht Schnecken, Fische oder Schalentiere sein. Jeder Kaltblütler ist ihm recht. Wir haben es mit einer Variante von Kardon zu tun, die sich an ganz bestimmte Zwischenwirte gewöhnt hat. Der letzte Wirt ist entweder ein Mensch oder ein Varl. Jetzt hat sich der Egel auch noch an Lanis gewöhnt, und diese sind sogar offensichtlich besonders anfällig. Varls kann der Egel - -
nicht umbringen, und Menschen auch nur in seltenen Fällen, doch Lanis sind offenbar nicht widerstandsfähig. Einen solchen Befund wie bei unseren Lanis habe ich noch niemals gesehen. Ihre Leber wimmelt nur so von Egeln.« Kennon unterbrach sich und sah Jordan an. »Konnten Sie mir folgen?« fragte er. »Nur schwer«, erwiderte Jordan. »Sie setzen bei mir zuviel Wissen voraus.« »Ich habe Sie gewarnt«, erwiderte Kennon. »Na schön. Mich interessiert nur eines: Wie wollen Sie gegen die Parasiten vorgehen?« »Es gibt nur einen sicheren Weg. Man muß den Lebenszyklus unterbrechen. Diese Methode ist schon ein paar tausend Jahre alt, aber noch immer gut.« »Na schön, dann fangen wir doch damit an.« »Bärenbraten kann man erst essen, wenn man den Bären gefangen hat«, erklärte Kennon. »Wie bitte?« »Wir müssen erst einmal den Lebenszyklus des Parasiten genau kennenlernen, ehe wir ihn unterbrechen können. Und seine ersten Zwischenwirte müssen wir aus ein paar hundert Kaltblütlern heraussuchen.« »Können wir ihn nicht an einer anderen Stelle pakken?« »Doch, und zwar im Körper des letzten Wirts. Aber dort können wir ihn nicht ausrotten.« »Weshalb nicht?« »Der Parasit wird in Larvenform überleben und genügend Lanis damit infizieren, bis sich wieder geschlechts- -
reife Tiere entwickelt haben. Wir müssen den oder die Zwischenwirte vernichten. Nur so können wir ihn endgültig ausrotten.« Jordan kratzte sich am Kopf. »Das klingt kompliziert.« »Das ist es auch. Es ist sogar so kompliziert, daß, wenn die Egel erst einmal zu zahlreich sind, man sie praktisch nicht mehr ausrotten kann.« »Sie glauben, daß das bei uns noch möglich ist?« »Wir müssen es immerhin versuchen. Aber zuvor verlangt das einige Detektivarbeit.« »Wo fangen wir also an?« »In der Abteilung zehn. Die werden wir uns mal genau ansehen. Dann untersuchen wir die Nahrung und die Lebensgewohnheiten der Lanis. Danach muß jeder einzige Lani unter die Lupe genommen werden. Schließlich muß man den Lebenszyklus des Parasiten aufspüren. Wenn wir Glück haben, werden wir irgendwo einen schwachen Punkt finden.« »Da haben wir wirklich viel vor«, warf Blalok ein. »Es geht leider nicht anders. Dabei haben wir noch Glück, daß wir uns auf einer isolierten Insel befinden. Wir sollten eigentlich mit dem Parasiten fertig werden.« »Was glauben Sie? Wie lange wird es dauern?« »Kommt darauf an, wie gut sich der Egel schon eingenistet hat. Sechs Monate wird es bestimmt dauern. Aber in dieser Zeit werden wir es schon schaffen.« »Das hoffe ich«, brummte Blalok. »Also auf, ans Werk«, sagte Kennon. - -
»Hoffentlich wird unser Programm dadurch nicht zu sehr gestört«, warf Jordan ein. »Natürlich wird es das«, versetzte Kennon. »Da kann ich nichts dran ändern. Sie müssen verstehen, daß Sie hier ein ernstes Problem vor sich haben. Ihre gesamte Arbeit kann dadurch gefährdet werden. Sie haben nur eine Wahl: Entweder jetzt das Programm unterbrechen oder später die Katastrophe erleben. Halbe Maßnahmen haben keinen Sinn.« »Ich verstehe nur nicht, weshalb wir nicht einfach Abteilung zehn isolieren«, meinte Jordan. »Das ist nicht genug«, erklärte Kennon sehr bestimmt. »Wir können nicht genau feststellen, wie weit sich der Parasit schon ausgebreitet halte, bevor die ersten Todesfälle auftraten. Unsere Tests auf Leberegel sind noch nicht perfekt. Entweder wir arbeiten alle zusammen an diesem Problem, oder das ganze Programm bricht zusammen. Sehen Sie sich doch den Bericht an! Vor sechs Monaten gab es noch keinen Todesfall mit diesem Befund. Vor fünf Monaten erkrankten Old Doc und zwei Lanis. Vor vier Monaten starben zwei der Lanis, und Old Doc war bereits zu krank, um noch etwas unternehmen zu können. Vor drei Monaten starben Old Doc und die dritte Lani, und noch vor Ablauf des Monats folgten zwei weitere Lanis. Vor zwei Monaten starben sechs Lanis, im letzten Monat acht, und in diesem Monat sind es auch schon bereits vier, obwohl wir noch zwei Wochen vor uns haben. Die ersten Todesfälle - -
ereigneten sich in dieser Station, doch in diesem Monat kommen noch zwei von anderen Stationen hinzu. Folglich wird sich die Seuche in sechs Monaten auch auf alle anderen Stationen ausgedehnt haben, wenn wir nichts unternehmen. Und die Todesfälle werden immer zahlreicher. Anscheinend wissen Sie nicht, was es heißt, mit Parasiten zu leben. Ich will es Ihnen sagen. Es ist alles andere als angenehm!« Blalok zuckte die Schultern. »Sie brauchen sich nicht aufzuregen«, meinte er. »Schließlich sind Sie der Arzt. Wir werden mit Ihnen zusammenarbeiten.« Jordan nickte. »Das werden wir«, versicherte auch er. »In allen Dingen.«
X
E
s muß doch eine ganz besondere Vorsehung geben, die sich speziell um junge Tierärzte kümmert, dachte Kennon, während er die Monatsberichte von den einzelnen Stationen durchging. Seit dem Zeitpunkt, da er mit Jordan und Blalok seine Maßnahmen festgelegt hatte, gab es von Seiten des Produktionsstabes keine Schwierigkeiten mehr, und während der letzten vier Monate hatte auch der Hepatodirus keinen weiteren Ärger mehr gemacht. Dieser ungebetene Gast war offensichtlich vertrieben worden. Der Parasit beschränkte sein Auftreten auf die Hügelstation. Im Trainingsgebiet war er nicht anzutreffen. Als Zwischenwirt diente ihm, - -
wie sich herausstellte, ein kleines Amphibium, das mit handelsüblichem Insektizid bekämpft werden konnte. Durch systematische Behandlung und Abkochen aller Nahrungsmittel konnte die Ansteckungsgefahr beseitigt werden, und nach sechs Monaten intensiver Nachforschung und Quarantäne war Kennon sicher, daß sie die Seuche besiegt hatten. Die letzten vier Berichte bestätigten ihn in dieser Ansicht. Kennon lehnte sich in seinem Sessel zurück und seufzte. Endlich hatte er auch Blalok von der Richtigkeit seines Vorgehens überzeugt. Die Krankenstation arbeitete jetzt so, wie es für eine Krankenstation angemessen war. Ein Stab von insgesamt zwölf Lanis war auf den einzelnen Abteilungen tätig. In der Tat arbeitete die Station so gut, daß die einzelnen Stationsleiter von allen Teilen der Insel ihre kranken Tiere hierherbrachten, anstatt sie selbst zu behandeln oder ambulante Behandlung anzufordern. »Hallo, Doc«, grüßte Blalok und steckte den Kopf zur Tür herein. »Sind Sie beschäftigt?« »Im Augenblick nicht«, erwiderte Kennon. »Haben Sie ein Problem?« »Nein. Ich dachte nur, ich schau mal vorbei, um Ihnen zu gratulieren.« »Wofür gratulieren?« »Daß Sie das erste Jahr überlebt haben.« »Daran fehlen ja noch zwei Monate.« Blalok schüttelte den Kopf. »Wir sind doch nicht auf Kardon«, erklärte er. »Unser Jahr hier hat nur dreihun- -
dertundzwei Tage, zehn Monate a 30 Tage sowie zwei zusätzliche Tage am Jahresende.« Kennon zuckte die Schultern. »Mein Vertrag rechnet nach galaktischem Standard. Ich habe also noch zwei Monate vor mir. Aber wie kommen Sie hier zu einem Jahr mit nur zehn Monaten? Die meisten anderen Planeten haben doch zwölf Monate, unabhängig von der Zahl der Tage.« »Der alte Alexander schätzte Dreißig-Tage-Monate.« »Darüber habe ich mich auch schon gewundert.« »Sie werden noch mehr seltsame Dinge auf Flora vorfinden, wenn Sie sich erst besser hier auskennen.« »Mich hat dieses >Jahr< ganz schön geschafft«, gestand Kennon. »Ich glaubte, als ich hierherkam, ich hätte es hier nur mit den Lanis zu tun.« »Ja, das sahen Sie nicht ganz richtig. Mit Ihnen hat man es ja nicht schwer. Sie sind intelligent und kooperativ.« Kennon grinste und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Diese verdammte Hitze und ihre verdammte Sturheit haben mich fast zum Wahnsinn getrieben.« »Sie hätten eben auf das Impfprogramm verzichten sollen.« »Das ging nicht. Mit Ihren Schweinen hatten Sie ja bisher Glück. Aber bei den Schafen und dem anderen Vieh war die Impfung dringend nötig. Man wird Syprophyten nicht anders los, so sauber man auch die Tiere hält. Auf einer Weide gibt es immer Ansteckungsmöglichkeiten. Und die alte Wahrheit, daß - -
Vorbeugen besser sei als Heilen, gilt gerade bei der Viehhaltung.« »Ich habe ein paar gute Neuigkeiten für Sie«, warf Blalok ein. »Deshalb bin ich vorbeigekommen. Wir werden wieder eine neue Tierart zur Behandlung und Impfung hereinbekommen.« Kennon stöhnte. »Worum handelt’s sich denn diesmal?« »Um Geflügel.« Blaloks Ton drückte seinen ganzen Mißmut aus. »Ich selber hält’s ja für Dreck, aber Alexander meint, damit ließe sich was verdienen. Irgend jemand hat ihm erzählt, daß Hühner von allen Haustieren die besten Futterverwerter sind. Jetzt basteln wir erst einmal eine Versuchsstation mit Eiern, einem Brutapparat und ein paar zusammengebrochenen Bratrosten, auf denen wir die Idee ausprobieren können. Unser Boß ist immer scharf auf neue Ideen, um die Produktion zu steigern. Er vergißt nur immer die Arbeit, die nötig ist, um eine neue Abteilung aufzubauen.« »Sie haben ja so recht. Da muß ich also jetzt Pullorum, Ornithosis, Leukosis und wer weiß wie viele andere osisse und -itisse noch auftreiben. Geflügelkrankheiten waren noch nie meine Stärke. Ich wäre froh, wenn ich nichts mit ihnen zu tun bekäme.« »Mir geht’s genauso«, stimmte Blalok zu. »Ich sehe nichts weiter als Schwierigkeiten auf uns zukommen.« Kennon nickte. »Und dabei hat er noch etwas übersehen«, fuhr Blalok fort. »Geflügel braucht konzentriertes Futter. Wir müs- -
sen also eine Futtermühle bauen.« Kennon lachte. »Wenn er die Rechnungen sieht, wird er Augen machen.« »Er glaubt, wir können unsere hiesigen Arbeitskräfte dafür benutzen«, erklärte Blalok düster. »Er vergißt nur dabei, daß Lanis technische Idioten sind.« »Man kann sie doch anlernen.« »Vielleicht, aber das ist nicht leicht. Und außerdem steckt Allworth, der einzige Mann mit Erfahrung in Futtermühlen, bis über die Ohren in seiner Arbeit auf der Hügelstation, seit diese ausgebaut wurde.« »Den Grund dafür habe ich nie begriffen. Wozu brauchen wir mehr Lanis, wenn wir doch Schwierigkeiten von der Anti-Sklaverei-Gesetzgebung zu befürchten haben?« »Wußten Sie das nicht? Die Schwester von unserem Boß hat sich doch endlich entschlossen, zu heiraten. Sie hat irgendeinen muskelbepackten Kerl vom Planeten Hals gefunden, der ihr gefällt. Allerdings findet sie seine strenge Moral sehr hinderlich.« Blalok lachte. »Ich dachte, Sie wären der erste, der davon erfährt. War sie nicht auch einmal an Ihnen interessiert?« Auch Kennon mußte lachen. »So kann man es nennen. Sie war so an mir interessiert wie ein Hund an einem Beefsteak. Nur gut, daß uns die Sache mit den Leberegeln dazwischen kam, sonst wäre ich schon längst gekaut und verschluckt worden. Das ist eine Frau, die einem Angst machen kann.« »Es gibt schlimmere Dinge«, entgegnete Blalok. »Wenn - -
ich die Schwester vom Boß hinter mir wüßte, würde ich mir keine Sorgen mehr machen.« Allerdings, dachte Kennon grimmig. Jener erste Monat war einer der schlimmsten gewesen, den er je erlebt hatte. Zwischen Eloise und den Leberegeln war er fast zusammengebrochen, und am Ende hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, sich nach einem anderen Job umzusehen. Doch Alexander hatte sich außerordentlich verständnisvoll gezeigt und sich geweigert, seiner Schwester Bitten um den Skalp eines Betaners nachzugeben. Und dafür schuldete er, Kennon, seinem Boß zweifellos Dank. »Sie können froh sein, daß Sie die Dame nie kennengelernt haben«, erklärte er Blalok. »Kommt darauf an, was Sie meinen«, spottete Blalok und ging zur Tür. Doch dieser letzte Schuß ging weit an seinem Ziel vorbei. Kennon hatte nichts begriffen und sah ihm verständnislos nach. »Ja, wenn Sie von Myst stammten!« setzte Blalok hinzu. »Auch die Kenntnis unserer heiligen Bücher würde Ihnen viel nützen.« Mit dieser vagen Bemerkung verschwand der Oberaufseher. »Das war wohl eine boshafte Anspielung«, murmelte Kennon. »Aber meine Schulbildung reicht dazu nicht aus. Ich begreif nicht, was er meint.« Er zuckte die Schultern und drückte den Rufknopf für Kupfer. Dieser Bericht mußte dem Stoß, der schon fertig vor ihm lag, hinzugefügt werden. Der Boß legte großen Wert darauf, seine Berichte rechtzeitig zu bekommen. Kupfer beobachtete Kennon, während er den Begleit- -
brief diktierte. Er war jetzt ein Jahr hier; aber sie waren sich nicht nähergekommen. Und er war nicht nur jung und gutaussehend; er war auch gütig zu ihr. Dieser Zustand tat ihr weh. Andere Lanis hatten ihr von Männern erzählt, und was diese alles mit ihnen anstellten. Selbst ihre alte Lehrerin auf der Hügelstation hatte ihr Ratschläge gegeben, als Herr Allworth ihr das winzige V auf den Schenkel tätowierte, das sie zum Veterinärstab bestimmte. Und als Old Doc sie von der Trainingsstation zur Krankenstation brachte und ihr den Schwanz kupierte, war sie überzeugt, daß sie eine der Glücklichen sein könnte, die menschliche Liebe kennenlernen würden. Aber Liebe bedeutete doch nicht Schmerz in Brust, Bauch und Schenkeln, auch nicht unerfülltes Verlangen, das sie nicht mehr schlafen ließ. Liebe war schön und erregend. Sie konnte sich noch an jedes Wort erinnern, das ihre Lehrerin gesagt hatte. »Meine arme Kleine«, hatte die alte Lani begonnen. »Du trägst jetzt das Zeichen vom Doktor. Und bald wird man keinen Unterschied mehr zwischen dir und den Menschen bemerken. Du wirst wie unsere Herren aussehen, wirst an ihrer Arbeit teilhaben. Und es wird die Zeit kommen, wo du in ihren Augen Gnade findest. Dann wirst du Liebe kennenlernen« »Liebe«, die gebrechliche Stimme klang sanft in Kupfers Ohren, »dieses Wort ist uns jetzt fremd. Es ist nur den wenigen bekannt, die unseren Herren direkt dienen. Das war nicht immer so. Die Älteren unter uns - -
wußten von der Liebe, bevor der alte Alexander kam. Unsere Jungen waren mehr die Frucht der Liebe als das Produkt der Kenntnisse unserer Herren. Aber du wirst die Blüte kennenlernen, selbst wenn du die Frucht nicht gebären kannst. Du wirst jetzt die Welt des Bitter-Schönen betreten, die die Alten noch kannten, die uns aber jetzt versagt ist. Aber vergiß niemals, daß du eine Lani bist. Ein Mann kann zu dir freundlich sein – er kann dich nett behandeln – er kann dir Liebe geben. Trotzdem bist du ihm niemals gleich, noch kannst du dich an ihn binden, denn du bist nicht menschlich. Du bist nicht seine natürliche Gefährtin, du kannst seine Kinder nicht gebären und du kannst nicht an allem teilhaben. Du kannst nur zustimmen. Also, wenn die Liebe kommt, greif zu und erfreue dich daran, aber versuch nicht, Besitz zu ergreifen, denn Herzweh liegt näher als Glück. Es ist eine Welt des Herzwehs, mein armes Kleines, in der du dich nach etwas sehnen wirst, was du nicht haben kannst.« Nach etwas sehnen, was man nicht haben kann! Kupfer kannte dieses Gefühl. Sie kannte es, seit Kennon vor einem Jahr an jenem Abend in ihr Leben getreten war. Es war in ihr gewachsen, bis es überwältigend groß geworden war. Er war freundlich – ja. Er war gelegentlich streng. Doch er hatte ihr nicht mehr Zuneigung als einem Hund entgegengebracht. Weniger – denn einen Hund würde er gestreichelt haben, sie berührte er nicht einmal. Er lachte, aber sie nahm nicht daran teil. Er brauchte - -
sie, aber nur so wie ein Handwerker sein Werkzeug braucht. Sie gefiel ihm, und manchmal ließ er sie an seinen Problemen und Erfolgen teilnehmen, manchmal auch an seinen Mißerfolgen, aber er liebte sie nicht. Niemals hatte sie den strahlenden, fiebernden Blick gespürt, den er Eloise schenkte, in der Zeit, als sie zu ihm kam. Den Blick, den Männer Frauen schenken, die in ihrer Gunst stehen. Hätte er sie doch nur einmal mit diesem Ausdruck angesehen. Sie wäre selbst durch glühendes Feuer zu ihm gekommen. Kupfer sah ihn über die Tischecke an, betrachtete sein blondes Haar, die gebräunte Haut, das energische Kinn, die weichen Lippen und die lange gerade Nase. Sie betrachtete die schmalen Augen, die unter dichten Brauen lagen, und die schlanken Hände, die in den Papieren blätterten. Seine Nähe bereitete ihr körperliche Schmerzen, denn trotzdem blieb er unendlich fern. Sie fragte sich, wie sich seine Hände anfühlen würden. Er hatte sie einmal berührt, und das hatte sie wie heißes Eisen durchglüht. Stundenlang hatte sie es gespürt. Jetzt blickte er auf. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie würde für ihn sterben, wenn er nur einmal über ihre Haut oder ihr Haar streichen würde. Kupfers Empfindungen standen in ihrem Gesicht zu lesen wie in einem Buch, dachte Kennon. Man mußte kein Psychologe sein, um ihren Seelenzustand zu deuten. Die Sache wäre komisch, wenn sie nicht so traurig bliebe. Denn was Kupfer wollte, konnte er ihr nicht geben. Wäre - -
sie ein Mensch, dann gäbe es keine Probleme. Die Moral von Beta verbot ihm jeden Kontakt mit ihr. Doch wenn er sie ansah, verstummten diese Bedenken. Er war ein Mensch, Mitglied der herrschenden Rasse. Sie dagegen war ein Tier, eine Homonide, dem Menschen ähnlich, aber nicht gleich. Man konnte sie mögen, aber niemals lieben. Das wäre Bestialität. Allerdings unterschied sein Körper weniger genau als sein Geist und reagierte auf ihre Nähe. Kennon seufzte. Er empfand gemischte Gefühle, die er nicht analysieren konnte. In gewisser Weise war das Poesie – eine Lyrik, die von der Freude des Fleisches sang. Ein unbestimmtes Sehnen steckte in ihm, ein merkwürdiges Unbehagen. Wieder seufzte er. »Ja, Sir? Möchten Sie etwas?« fragte Kupfer. »Ich könnte einen Kaffee gebrauchen«, erwiderte er. »Diese Berichte schaffen mich.« Die Banalität amüsierte ihn. Er saß hier, dachte an Kupfer und verlangte Kaffee. Im stillen mußte er lächeln. Es gab für ihn nur eine Alternative, nämlich Kupfer wegzuschicken. Doch das konnte – oder wollte – er nicht tun. Kupfer kehrte mit einer Tasse dampfenden Kaffees zurück und stellte sie vor Kennon hin. Sie selbst hielt Kaffee für ein abscheuliches Getränk. Sie hatte es einmal probiert, aber die Bitterkeit und Hitze hatten ihren Ekel erregt. Nein, das war kein Getränk für Lanis, dessen war sie sicher. Kennon jedoch schmeckte der Kaffee. Er sah sie an und lächelte. Er war zufrieden mit ihr. Vielleicht würde - -
sie doch Gnade in seinen Augen finden. Die Hoffnung lebte allzeit in ihr, eine Hoffnung, die zugleich Furcht und Gebet war. Falls es soweit käme, würde sie wissen, was sie tun müßte. Kennon sah auf. Auf Kupfers Gesicht zeichneten sich Furcht und Schmerz ab. Niemals zuvor hatte er etwas Schöneres und zugleich Traurigeres gesehen. Unabsichtlich legte er die Hand auf ihren Arm. Sie zuckte zusammen, ihre Muskeln spannten sich unter seiner Berührung. Es war, als ob seine Finger einen galvanischen Stromstoß übertrugen. »Was ist los, Kupfer?« fragte er leise. »Nichts, Doktor. Ich bin nur aufgeregt.« »Weshalb?« Da war sie wieder, die ruhige, freundliche Neugier, die ihr schlimmer schien als ein Bad im Eiswasser. Ihr Herz setzte aus, sie erschauerte. Sie würde niemals ihre Wünsche stillen können. Er war kalt, so kalt. Er sah nicht, was mit ihr los war. Es kümmerte ihn auch nicht. Das also war ihr Los. Aber sie wollte ihm wenigstens einmal die Wahrheit sagen. Danach könnte er mit ihr tun, was er wollte. »Das ganze Jahr über hatte ich gehofft, daß Sie mich richtig ansehen würden. Und daß Sie mich nicht als eine Lani, sondern als eine Geliebte betrachten würden.« Die Worte sprudelten aus ihr heraus, überschlugen sich fast. »Ich hoffte, Sie würden mich begehren und mich mit in jene Welten nehmen, die wir nicht kennen, wenn Ihr sie uns nicht zeigt. Ich hatte es so sehr gehofft, aber viel- -
leicht war das falsch. Sie sind so sehr Mensch – und ich bin es nicht.« Die letzten Worte waren voller Traurigkeit und Sehnen nach Menschwerdung. »Mein armes Mädchen«, murmelte Kennon. Sie sah ihn an, aber ihr Blick blieb nicht auf seinem Gesicht, denn seine Hände lagen auf ihren Schultern, und seine Nähe verschlug ihr den Atem. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihre eigene harte Stimme: »O Sir – bitte, Sir!« Die Hände entfernten sich und hinterließen nichts als Leere. Ihr Herzschlag wurde langsamer, der rosa Schleier vor ihren Augen verschwand, und sie konnte sein Gesicht klarer sehen. Eine Welle von Schreck und Triumph überflutete sie, denn sein harter, heller Blick verschlang sie, seine Lippen über den weißen Zähnen, seine bebenden Nasenflügel sagten ihr, daß er genauso hungrig nach ihr verlangte wie sie nach ihm. Und da endlich wußte sie – und dieses Wissen ließ ihre Glieder weich werden wie Wachs –, daß sie endlich Gnade gefunden hatte in seinen Augen.
XI
G
emischte Gefühle – wer das erfunden hatte, wußte nicht, was es bedeutete. Kennon stapfte die staubige Straße zur Station eins hinunter und versuchte, seinen inneren Konflikt in Aktion umzusetzen. Das war - -
natürlich sinnlos, denn sobald er wieder zur Ruhe käme, würde der Kampf zwischen Erziehung und Begierde von neuem beginnen. Wie er auch ausgehen mochte, das Ergebnis blieb unbefriedigend. So lange er sich darüber hinwegtäuschen konnte, daß er sich in Kupfer verliebt hatte, war alles in Ordnung. Doch jetzt wußte er, daß er sich verliebt hatte, wie das bei Mann und Frau üblich war, und das marterte ihn. Denn mit keinem Argument im ganzen Universum würde man sie als Mensch definieren können. Kupfer war eben nur menschenähnlich, und mit ihr zu leben, und sie zu lieben, bedeutete nicht nur Rassenmischung, was schon schlimm genug war, sondern eine tausendmal schlimmere Bestialität. Obgleich im ganzen Bund Rassenmischung ein fast unbekanntes Wort war und selbst Sodomie auf vielen Welten mit Homoniden-Bevölkerung nichts Böses bedeutete, hatten diese Begriffe doch für einen Betaner strengen moralischen Wert. Und, weiß Gott, er war nun einmal ein Betaner. Der ihm eingetrichterte Moralkodex, demzufolge der Gedanke an Mischehen oder Rassenmischung undenkbar schien, half ihm nicht weiter bei der Tatsache, daß er Kupfer liebte. Merkwürdig, dachte Kennon bitter, daß Menschen mit Tieren das tun konnten, was ihnen bei ihresgleichen durch Sitte und Gesetz verboten war. Seit Tausenden von Jahren, seit den Anfängen der Geschichte, als die Menschen Pferde mit Eseln kreuzten, um Maulesel zu erhalten, hatten sich auch Menschen verschiedener Rassen vermischt. Aber ein Betaner konn- -
te zwar Tier- und Pflanzenarten kreuzen, doch er schrak entsetzt vor dem Gedanken zurück, dieselbe Technik bei sich selbst anzuwenden. Was war eigentlich an einem menschlichen Wesen so unantastbar? Ärgerlich schüttelte Kennon den Kopf. Er wußte keine Antwort. Der Glaube an diese Unantastbarkeit steckte tief in ihm. Er war von Kindheit an in ihm aufgebaut worden und bildete jetzt eine starke Mauer, die ihn daran hinderte, das zu tun, was er gern wollte. Vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn er nicht von Beta abgestammt hätte. In den übrigen Teilen des Bundes spielten weder die Hautfarbe noch die Gesichtsform oder gar die Farbe von Haar und Augen irgendeine Rolle. Alle Menschen waren Brüder. Nur auf Beta, wo eine g-strahlige Sonne bereits kleinere genetische Veränderungen bewirkt hatte, blieb die Bruderschaft aller Menschen ein Lippenbekenntnis. Betaner waren andersartig, und von Geburt an lehrte man sie, die Andersartigkeit zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Die Verbindung eines Betaners mit einem Menschen außerhalb seiner Welt war zwar nicht direkt verboten, wurde aber so ungern gesehen, daß kaum ein Betaner die Mißachtung seiner Landsleute herausforderte. Und wenn es gar um Homonide ging … Kennon erschauerte förmlich; er konnte die Denkgewohnheiten eines ganzen Lebens nicht so einfach abschütteln. Trotzdem liebte er Kupfer, und sie wußte es! Das war noch schrecklicher. Er war aus dem Büro - -
geflohen, weg von dem freudigen Strahlen ihrer Augen, wie ein gebranntes Kind vor dem Feuer flieht. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Aber sein Körper und seine Gedanken waren ungeduldig. Auf Flora wurde man nicht unbedingt verachtet, wenn man mit einer Lani lebte. Viele vom Stab taten das, und niemand schien sie deshalb zu verachten. Ja selbst Alexander hatte sich zu einer mehr als platonischen Beziehung zur Lani Susy bekannt. Doch dies war weder eine Entschuldigung, noch würde es die kalte, leidenschaftslose Mahnung in ihm zum Schweigen bringen, die unaufhörlich Sodomie – Sodomie – Sodomie schrie. Die fünf Kilometer zur Station eins waren ihm wie im Flug vergangen. Überrascht sah er auf, als die weißen Wände und die roten Dächer der Station vor ihm auftauchten. »Großer Gott, Doktor! Was ist mit Ihnen los?« rief der Stationsleiter. »Sie sehen aus, als wäre Ihnen ein Geist begegnet. Und in dieser Sonne ohne einen Schutzhelm! Kommen Sie herein, bevor Sie einen Sonnenstich bekommen!« Kennon zuckte unlustig die Schultern. »Vor einem Sonnenstich habe ich die wenigste Sorge, Al«, antwortete er, ließ sich aber doch von Al Crothers ins Haus führen. »Merkwürdig, daß Sie gerade jetzt vorbeikommen«, sagte AI verwundert. »Vor fünf Minuten kam ein Anruf - -
von der Nachrichtenzentrale. Sie sagen, Sie möchten bitte zurückrufen, falls Sie hier vorbeischauen.« Kennon seufzte. »Auf dieser Insel kommt man vom Telefon nicht weg. Na gut, wo ist es?« »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Doktor. Wollen Sie sich nicht vielleicht doch einen Moment ausruhen?« »Vielleicht ist es ein Notfall«, unterbrach ihn Kennon. »Wahrscheinlich ist es einer, denn die Routinearbeit hätte ja der Stab regeln können. Also, wo ist das Telefon?« »Einen Moment bitte«, sagte die Telefonistin. Dann klickte es im Hintergrund ein paarmal. »Hier ist Ihr Gespräch«, fuhr sie fort, »bitte, Doktor.« »Kennon?« Eine nervöse Stimme krächzte aus dem Hörer. »Ja?« »Sie werden in Otpen eins benötigt.« »Wer spricht – und was gibt’s so Dringendes?« »Hier Douglas – Douglas Alexander. Die Lanis sterben! Ein Notfall! Vetter Alexander zieht uns die Haut über die Ohren, wenn wir diese Lanis sterben lassen!« Douglas! Kennon hatte ihn seit der Zeit, als sie sich in Alexandria kennengelernt hatten, völlig vergessen. Das war vor einem Jahr gewesen. Es schien ihm weit länger zurückzuliegen. Seit der Boß seinen Vetter auf den kargen Felsen im Osten von Flora verbannt hatte, war nichts mehr von ihm zu hören gewesen. Kennon lachte scharf und humorlos auf – Douglas hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. - -
»Schon gut«, sagte Kennon. »Ich komme. Was gibt’s denn?« »Sie sind krank.« »Das vermute ich«, schnaubte Kennon. »Sonst hätten Sie mich wohl nicht angerufen. Können Sie mir nichts Genaueres sagen?« »Sie erbrechen unaufhörlich und haben Durchfall. Einige hatten sogar einen Anfall.« »Gut«, sagte Kennon. »Ich bin schon unterwegs. Erwarten Sie mich in einer Stunde.« »Sie fahren also?« fragte Al und legte den Hörer auf. »Das ist das Schicksal eines Arztes«, stöhnte Kennon. »Voller Überraschungen. Leihen Sie mir Ihren Jeep?« »Ich fahre Sie hin. Wohin wollen Sie?« »Zur Krankenstation«, sagte Kennon. »Ich muß noch meine Taschen packen. Es ist sicher dringend.« »Sie sind ein harter Bursche«, meinte Al bewundernd. »Ich könnte in dieser Hitze keine fünf Kilometer ohne Hut laufen – und dann sofort wieder aufbrechen.« Kennon zuckte die Schultern. »Das ist nicht Härte, sondern Verpflichtung. Ich muß meine Arbeit tun. Mein Vertrag verlangt tierärztliche Hilfe, und nimmt keine Rücksicht auf persönliche Probleme. Erst kommt der Job. Und jetzt gibt’s eben Arbeit.« Kupfer ließ sich nicht blicken, als Kennon zurück in die Krankenstation kam. Dafür war er ihr dankbar. Er packte in Windeseile, warf die Taschen in den Jeep und brach in großer Hast auf. Er würde von Otpen aus anrufen. Er hatte jetzt einen triftigen Grund, sich möglichst weit - -
von Kupfer zu entfernen. Die Entfernung mochte die Sehnsucht zwar verstärken, aber für den Augenblick war ihre Nähe weit gefährlicher. Er drehte die stumpfe Nase des Jeeps in die Richtung des Berges Olympus, stellte die Automatik ein, gab Gas und versuchte, so gut es in dieser Enge ging, sich zu entspannen, während das kleine Fahrzeug in Höchstgeschwindigkeit auf die fernen Inseln zuglitt. Er war neugierig, denn noch niemals war er auf den Otpens gewesen. Er fragte sich, was ihn dort wohl erwarten würde. Otpen eins war eine winzige, baumbedeckte Felseninsel. Auf ihrem höchsten Punkt ragte eine sternförmige Festung auf. Doch im Gegensatz zu Alexandria war diese hier bemannt und in Abwehrbereitschaft. »Luftschiff!« krächzte eine Stimme aus dem Instrumentenbrett des Jeeps. »Geben Sie sich zu erkennen! Sie sind geortet.« Kennon drückte den IFF-Knopf. »Dr. Kennon von Flora.« sagte er. »Danke, Sir. Sie werden erwartet. Landen Sie auf dem markierten Platz.« Ein Teil des Daches zeigte ein grelles Gelb, während Kennon das Gebäude umflog. Er setzte den Jeep weich im Mittelpunkt des Platzes auf. »Verlassen Sie Ihr Fahrzeug«, knarrte der Sprecher. »Wenn Sie bewaffnet sind, lassen Sie die Waffen zurück.« »Ich pflege keine Kanone bei mir zu tragen«, schnauzte Kennon. - -
»Tut mir leid, Sir. Wir haben unsere Vorschriften. Das hier ist Sperrgebiet.« Kennon stieg aus dem Jeep und spürte auf seinem Körper das kribbelnde Tasten eines Suchstrahlers. Neugierig sah er sich auf dem flachen Dach der Festung um. Gewölbte Geschützstände und die häßlichen Schnauzen der großen Projektoren wiesen himmelwärts. Neben ihm zeichnete sich in der glatten Oberfläche des Daches das Rechteck einer Raketenabschußrampe ab. Hinter ihm ragte der Hauptturm in den abendlichen Himmel, gekrönt vom zarten Gespinst der Radarantennen, die in einer endlosen Bewegung den Himmel vom Zenit zum Horizont absuchten. Aus dem Turm trat jetzt ein Mann heraus. Er war groß, größer als Kennon. Die Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem enganliegenden Kampfanzug ab. Er hatte ein grobes Gesicht und trug eine Burkholtz – eine der wirksamsten tragbaren Waffen, die je erfunden worden waren. »Sie sind Dr. Kennon?« fragte der Soldat. »Das bin ich.« »Ihren Ausweis, bitte!« Kennon reichte ihn ihm, und der Mann studierte ihn mit routiniertem Blick. »Stecken Sie ihn wieder ein«, sagte er. »Folgen Sie mir bitte, Sir.« »Meine Taschen«, sagte Kennon. »Darum kümmert sich schon jemand.« Achselzuckend folgte Kennon dem Mann in den - -
Turm. Ein moderner Gravitationslift brachte sie in das Erdgeschoß. Sie passierten eine düstere Nachahmung der großen Empfangshalle von Alexandria, gingen durch eine Gleittür und dann einen langen Flur mit vielen Türen entlang. Eine Glocke schlug an. »Zurück!« rief der Soldat. »An die Wand! Schnell! In die Tür!« »Was ist los?« »Wieder mal eine Alarmübung.« Die Stimme des Soldaten klang gelangweilt. »Das ist zum Kotzen. Lieber möchte ich kämpfen, als diesen Stuß länger zu ertragen.« Ein Soldat und mehrere Lanis marschierten in geordneter Formation den Flug entlang. Stahl schlug auf Stahl, als sie um die Ecke bogen. Wenige Augenblicke später erklang das sanfte Winseln von Elektromotoren. Von irgendwo tief aus dem Innern der Anlage sandten auf Hochtouren arbeitende Generatoren ihre Schwingungen aus. Eine Sirene heulte kurz auf, dann schepperte wieder Metall und eine rauhe Stimme dröhnte durch die Flure: »Vierzehn Sekunden. Gut so. Sichert die Stationen.« Der Soldat grinste. »Das ist Rekord«, meinte er. »Wir können jetzt wieder weitergehen.« Der Flur endete an einer Tür, vor der zwei Posten standen. Sie sprachen kurz mit Kennons Führer, öffneten die Tür und ließen Kennon eintreten. Die pastellfarbene Einrichtung dieses modernen Büros bildete einen schreienden Kontrast zu dem Stahlgrau der Flure draußen. - -
Douglas Alexander stand hinter dem Schreibtisch. Er hatte sich nicht verändert. Sein dickliches Gesicht wirkte vor lauter Unsicherheit verstört, sein Blick unstet. Er fingerte an dem Griff einer kleinen Burkholtz herum, die an seiner Hüfte baumelte. Zwischen den Augen stand eine unschöne Falte. Er wirkte älter, und der grausame Zug in seinem Gesicht war jetzt ausgeprägter. Doch wie damals bei ihrem ersten Zusammentreffen zeigte er Furcht. »Ich weiß nicht, ob ich froh bin, Sie wiederzusehen, Kennon«, sagte er. »Aber ich glaube, ich muß es wohl sein.« »Wie geht es Ihnen?« fragte Kennon. »Bis heute nachmittag ganz gut. Es lief alles sehr schön.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich fürchte, Vetter Alexander bringt mich jetzt um. Aber ich kann das leider nicht verhindern.« Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Sie sind jetzt schon lange genug hier. Vielleicht können Sie mir helfen.« Er wirkte nervös, und setzte sich dann endlich hinter den Schreibtisch. »Wir haben Sorgen. Seit vier Stunden liegt die Hälfte unserer Lanis lahm. Das kam ganz plötzlich. Und wenn sie sterben …« Seine Stimme schwankte. »Gut – worauf warten wir? Lassen Sie jemanden meine Taschen holen. Dann werde ich sie mir ansehen.« »Muß das sein? Können Sie nicht ohne Untersuchung etwas verschreiben?« »Unmöglich.« - -
»Ich kann Ihnen aber sagen, was den Lanis fehlt.« Kennon lächelte. »Ich glaube nicht, daß das der richtige Weg ist. Selbst wenn Ihre Beschreibung stimmt, können Sie ja einen wichtigen Punkt übersehen haben.« Douglas seufzte. »Ich wußte, daß Sie das sagen werden. Nun gut – wir werden also unsere Karten auf den Tisch legen müssen.« »Sie können doch unmöglich glauben, daß ich Ihre Karten nicht schon kenne«, knurrte Kennon. »Sie haben hier männliche Lanis!« Douglas war starr vor Erstaunen. »Aber – aber woher wissen Sie denn das? Niemand außer der Familie war eingeweiht, und wir sprechen nie darüber. Hat Eloise Ihnen das verraten? Ich habe selbst gemerkt, daß Eloise seit dem Tag, als Sie eintrafen, scharf auf Sie war. Hat sie Ihnen das Geheimnis verraten?« Kennon schüttelte den Kopf. »Sie hat nie ein Wort darüber verloren.« »Aber wie konnte dann …« »Ich bin doch nicht dumm«, sagte Kennon. »Die Geschichte von der künstlichen Befruchtung hat mehr Löcher als ein Sieb. Diese Technik ist tausendmal erprobt worden. Und niemals ist man über die erste Generation hinausgekommen. Wenn Sie sie wirklich angewandt hätten, wären die Lanis schon lange ausgestorben. Haploide können sich nicht vermehren. Der einzige Weg, die diploide Anzahl der Chromosomen zu erhalten, ist, sie durch diejenigen zu ergänzen, die bei der Reifeteilung des Eies verlorengehen. Sie kön- -
nen die diploide Anzahl also erhalten, indem Sie unausgereifte Eizellen verwenden, aber dann wäre die Befruchtungstechnik weit komplizierter als die simplen Uterus-Injektionen, die Sie auf der Hügelstation anwenden.« Douglas starrte Kennon nur mit leerem Blick an. »Außerdem«, fuhr Kennon fort, »habe ich ein Mikroskop. Ich untersuchte Ihre sogenannte Befruchtungs-Lösung und fand Spermen. Spermen können nur von männlichen Tieren stammen. Mehr noch, die Männchen mußten von gleicher Art wie die Weibchen sein oder es konnte zu keiner Befruchtung kommen. Also mußte es männliche Lanis geben. Sie haben bei den Lanis auf der Hauptinsel künstliche Besamung angewandt. Und die strengen Sicherheilsmaßnahmen auf dieser Insel deuten doch darauf hin, daß Sie hier Ihre Samenstation haben.« Douglas hob die Schultern und spreizte resignierend die Finger. »Wahrscheinlich hat Old Doc genauso die Wahrheit herausgefunden. Denn obwohl wir sie ihm nie gesagt haben, wußte er Bescheid, ehe er hierher kam.« »Nur eines möchte ich gern wissen«, fuhr Kennon fort, »nämlich, wie Sie die Y-Chromosomen aus dem Sperma aussondern können.« »Wie bitte?« »Den Faktor für die Bestimmung des männlichen Geschlechts. Etwa die Hälfte der Spermien besitzt ihn, aber soviel ich weiß ist doch auf der Hauptinsel niemals ein männlicher Lani geboren worden.« - -
»Das ist ein Trick, der hier in unseren Labors vorgenommen wird. Ein Techniker könnte es Ihnen erklären. Das Verfahren nennt sich Elektro … Elektrodefrierung oder so ähnlich.« »Elektrodiaphorese.« Douglas nickte. »Ja, so heißt es wohl. Ich weiß allerdings nichts Genaues darüber. Einer von Großvaters Leuten hat es entwickelt. Wir folgen nur den Anweisungen.« Er zuckte die Schultern. »Na schön, wenn Sie das Geheimnis ohnehin kennen, brauche ich ja vor Ihnen die Kranken nicht zu verstecken. Kommen Sie mit und sagen Sie mir, was mit ihnen los ist.« Es war ein scheußliches Gefühl, zwischen den Reihen würfelförmiger Zellen mit vergitterten Fenster entlangzugehen. Sie erinnerten an historische Erzählungen, an die Gefängnisse der Vergangenheit, als noch Menschen von anderen Menschen wegen Vergehens gegen die soziale Ordnung eingesperrt wurden. Die Düsterkeit des Ortes war lähmend. Die männlichen Lanis mit ihrem eindrucksvollen Körperbau befanden sich in einem elenden Zustand. Sie würgten mit grünen Gesichtern und mußten sich fortwährend erbrechen. Der Gestank ihrer Ausscheidungen hing schwer in der Luft. Douglas keuchte und hielt sich ein Stück Tuch vor das Gesicht, und selbst Kennon spürte, wie sich ihm vor Sympathie mit den Kranken der Magen umdrehte. »Mann, Sie können doch die Kranken hier nicht einsperren!« explodierte Kennon endlich. »Lassen Sie die - -
Lanis hier raus an die frische Luft! Hier würde ja selbst ein gesunder Mann krank.« Douglas sah ihn an. »Ich würde keinen von ihnen ungefesselt und ohne bewaffneten Wächter herauslassen. Diese Männchen sind die wildesten, raffiniertesten und gefährlichsten Tiere auf Kardon. Sie haben nur einen einzigen Gedanken im Kopf – nämlich zu töten!« Kennon schaute neugierig durch eine Gittertür auf einen der Lanis. Der Lani lag auf einer nackten Pritsche, eine muskulöse Gestalt mit einem zottigen schwarzen Bart, der sein Gesicht fast ganz verbarg. Sein Körper war mit Dutzenden von Narben übersät, und auf seinem kräftigen rechten Unterarm deutete ein rotleuchtendes Mal daraufhin, daß hier erst vor kurzem das Fleisch weggerissen worden war. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er stöhnte leise, während er sich den Bauch hielt. »Der sieht doch gar nicht so gefährlich aus«, meinte Kennon. »Passen Sie auf!« warnte Douglas. »Gehen Sie nicht zu nah ran!« Doch es war schon zu spät. Als Kennon die Gitterstäbe berührte, griff der Lani blitzschnell zu, packte mit der einen seiner riesigen Hände Kennons Ärmel und zog ihn gegen das Gitter, während die andere Hand nach Kennons Kehle griff. Mit eiserner Gewalt schlossen sich seine Finger um Kennons Hals. Kennon reagierte instinktiv. Seine Arme drückten die Eilbogen des Lanis nach außen. Er befreite sich von - -
dem Griff, sprang zurück und rieb sich seine aufgescheuerte Kehle. »Der Bursche ist nicht krank!« japste er, »der ist verrückt!« Der Lani starrte ihn durch die Gitterstäbe an. Auf seinem narbigen, bärtigen Gesicht stand die Enttäuschung über diesen mißlungenen Anschlag geschrieben. »Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Douglas. In seiner Stimme lag ein spöttische Kichern. »Er muß wirklich krank sein, sonst hätte er sie getötet. Auf seine Weise ist George ein gerissener Bursche.« Kennon sah wieder in die Zelle hinein. Der Lani blickte zurück und grunzte. Der knurrende Unterton in seiner Stimme ließ Kennons kurze Nackenhaare zu Berge stehen. »Dieser Bursche braucht eine Lektion«, sagte Kennon nachdenklich. »Sie wollen sie ihm verabreichen?« fragte Douglas. »Nicht gern, aber ich muß.« »Ha – Mann – Sie haben ja Angst!« schnaubte der Lani. Die Stimme klang heiser und rauh. »Alle Menschen fürchten mich. Die Lanis auch. Ich bin der Boß. Kommen Sie nur näher! Ich werde Sie töten!« »Sind alle so wie dieser Dummkopf?« fragte Kennon. »Er spricht wie ein mordlustiger Schwachkopf.« »Er ist nicht dumm«, meinte Douglas, »nur nicht erzogen.« »Warum ist er so mordgierig?« »Das ist anerzogen. Sein ganzes Leben hat er gekämpft. Von Kindheit an gab es für ihn nur eins; - -
in einer Umgebung zu zu überleben, wo jeder männliche Lani sein Feind ist. Sie sehen hier die Sublimierung der Individualität. Er kann mit keinem anderen Männchen auskommen. Er haßt sie und umgekehrt sie ihn. George ist ein Paradefall für völlige Hemmungslosigkeit.« Douglas lächelte unfreundlich. »Seine ganze Entwicklung ist gekennzeichnet durch das Fehlen jeder Disziplin. In seinen jüngsten Jahren glaubte seine Mutter, weil er ein Männchen war, sie sei von den Göttern bevorzugt. Sie verweigerte ihm nichts. Wir beobachteten kritisch, daß sie ihm alles gab, was er wollte. Sobald er laufen und für sich selbst sorgen konnte, wurde er streitlustig, selbstsüchtig und autoritär. Dann steckten wir ihn zu einem Dutzend anderer Lanis, die ähnlich veranlagt waren wie er.« Douglas grinste. »Sie sollten einmal sehen, was passiert, wenn so ein paar reißende Tiere gezwungen werden, in einer Gruppe zusammenzuleben. Das ist vielleicht lustig! Die kleinen Bestien hassen sich vom ersten Augenblick an, und wir stacheln sie dazu an, um jedes Spielzeug, jedes Essen und jeden Becher Wasser zu kämpfen. Sie können sich vorstellen, was da passiert. Anstatt zu teilen, will jeder der kleinen Egoisten für sich selbst soviel haben, wie er erraffen kann. Und wir bestrafen sie keinesfalls, was sie auch anstellen. Nur falls einer Anzeichen von Selbstlosigkeit zeigt, wird er beim ersten dieser Anfälle ernsthaft bestraft. Beim zweitenmal wird er ausgesondert. In allen anderen Dingen mischen wir uns nicht ein. So entwickeln die männlichen - -
Lanis ihre Persönlichkeit und ihre Muskeln. Wenn sich ein Lani seinen Genossen zu überlegen zeigt, bringen wir ihn in eine Abteilung von stärkeren Burschen, damit er lernt, was es bedeutet, Verlierer zu sein. In der Pupertät wird der Sexualtrieb durch uns gefördert. Wenn ein Männchen schließlich die Geschlechtsreife erreichte, haben wir so etwas wie George vor uns. Er ist ein starker Einzelgänger, autoritär und selbstsüchtig. Er ist ein kompletter Egoist und gäbe einen ausgezeichneten Boß ab.« »Aber ist er nicht im Umgang mit Menschen gefährlich?« fragte Kennon. »Ja, aber wir treffen unsere Vorsichtsmaßnahmen.« Kennon verzog das Gesicht. »Sie müssen das alles viel objektiver sehen«, sagte Douglas. »Wir versuchen, den widerstandsfähigsten Typ auszusuchen in der Hoffnung, daß diese Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben werden. Es gibt keinen besseren Weg der Auswahl als die natürliche Auslese. Wir beeinflussen ihre Umwelt so wenig wie möglich. Wir überlassen der Natur die Erziehung, bis die Lanis genug sind, um Samen zu spenden. Natürlich gibt es einiges, auf das wir keinen Einfluß haben. Dazu gehört auch die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten.« »Ist unter solchen Bedingungen nicht die Sterblichkeit sehr hoch?« fragte Kennon. »Nicht so groß, wie Sie vermuten. Sie beträgt zwanzig Prozent. Und vom Standpunkt des Managements aus - -
haben wir genügend Ersatz. Wir erhalten so das gleiche Ergebnis, als ob wir die Aufzucht intensiv betreiben würden. Nur ersparen wir uns dabei viel Arbeit. Männchen sind ziemlich potent, und wir brauchen ja nur ein paar Zuchtmännchen im Jahr.« »Das ist brutal.« »Stimmt, aber das Leben ist eben brutal. Außerdem ist diese Zuchtwahl für unsere Zwecke genau richtig. Wir nützen nur den Vorteil des natürlichen Trieblebens aus, um ein immer besseres Produkt zu erhalten. Großvater ist durch die Lektüre eines alten Buches auf diesen Gedanken gekommen. Dort stand etwas von den edlen Wilden, von der natürlichen Auslese und vom Überleben des Besten. Er fand es großartig und meinte, es gäbe nichts Besseres als den unbarmherzigen Wettbewerb, um die kräftigsten Individuen heranzuzüchten. Jahrhundertelang hatte er recht gehabt. Können Sie sich etwas Vollkommeneres als George vorstellen – natürlich vom physischen Standpunkt aus gesehen?« »Er ist ein prächtiges Tier«, stimmte Kennon zu und betrachtete den Lanis. »Aber mir scheint, Sie hätten ihm etwas Gehorsam anerziehen können!« Douglas schüttelte den Kopf. »Das würde einen Milderungsfaktor eingeführt und die Zuchtergebnisse eingeschränkt haben. Wir halten sie mit Betäubungsgas und Fesseln ganz gut in Schach. Es klingt zwar merkwürdig, aber diese Dinge verletzen nicht ihren Stolz und ihre Selbstachtung. Sie glauben, daß wir vor ihnen Angst haben. Das befriedigt ihr Ego.« - -
Kennon blickte den gefangenen Lani voller Zweifel an. »Das kann ja schwierig werden. Ich muß sie untersuchen und behandeln, aber wenn sie alle so mordlustig sind wie dieser hier …« »Sie müssen mit mir kämpfen«, unterbrach George voller Arglist. »Ich bin der Boß, und die andern haben das zu tun, was ich sage. Wenn Sie mich schlagen, sind Sie der Boß.« »Ist das richtig?« fragte Kennon. »Oh, das stimmt schon«, antwortete Douglas. »George ist der Anführer. Sollten Sie ihn besiegen, so sind Sie der Stärkste, bis ein anderer den Mut aufbringt, Sie herauszufordern. Aber er wird natürlich alles daransetzen, die Oberhand zu behalten. Er würde Sie töten.« Kennon starrte den großen Homoniden abschätzend an. George war ein riesiges Exemplar, mindestens fünf Zentimeter größer und fünfzehn Kilogramm schwerer als er selbst. Und er war ein einziges Muskelbündel. »Ich glaube nicht, daß ich die Herausforderung annehme, wenn ich nicht unbedingt muß«, meinte Kennon dann. Douglas seufzte auf. »Ich glaube, wir müssen Verstärkung holen, um diese Burschen unter Kontrolle zu bringen. Anders gehe ich da nicht hinein – und hier draußen kann ich sie nicht untersuchen.« »Oh, mit Betäubungsgas und Handschellen kriegen wir sie schon klein. Dazu brauchen wir keine Soldaten, das können wir selbst.« »Wie Sie meinen. Sie müssen wissen, was Sie tun.« »Das weiß ich auch«, erklärte Douglas zuversichtlich. - -
»Warten Sie hier, ich hole die Gaskapseln und das Gerät.« Damit drehte er sich um und ging zur Tür des Zellenblocks. Dort drehte er sich noch einmal um und mahnte: »Seien Sie vorsichtig!« »Keine Angst, das bin ich.« Kennon betrachtete durch die Stäbe hindurch den Homoniden George, der ihn mit haßerfülltem Blick anstarrte. Kennon spürte wieder einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. George weckte in ihm ein ursprüngliches Empfinden – eine elementare Abneigung, die stärker war als alle Vernunft. Und diese rief in ihm eine Reaktion der Nebennieren hervor, die alle Erziehung zur Zivilisation vergessen ließ. Ehe er George kennenlernte, hatte er geglaubt, die Lanis besäßen menschliche Züge. Doch wenn George ein typischer Vertreter seiner Art war, dann waren die Lanis fremdartige Wesen. Kennon spannte die Muskeln und starrte kalt in die haßerfüllten Augen hinter dem Gitter. Es mußte eine Genugtuung sein, dieses Monster zu einer formlosen Masse zusammenzuschlagen. Jahrtausende menschlicher Vorherrschaft und den Glauben daran, daß die menschliche Person unverletzlich sei, nährten seinen Zorn. Die wildesten Bestien auf zehntausend Welten hatten diese Lehre annehmen müssen. Und doch hatte dieses Tier Hand an ihn gelegt und ihn töten wollen. Ein kleiner Winkel seines Verstandes sagte ihm, daß er sich nicht vernünftig benehme, doch er mißachtete das. George mußte lernen, sich zu benehmen. - -
»Glaub ja nicht, daß ich Angst vor dir habe, du dummes Muskelpaket«, rief Kennon. »Mit dir werde ich noch fertig. Und wenn du noch einmal Hand an mich legst, schlage ich dich zusammen.« »Lassen Sie mich hier raus, dann bringe ich Sie um«, röchelte der Lani, »aber Sie sind wie alle Menschen. Sie kennen nur Pistolen und Eisen – keinen fairen Kampf.« Douglas kehrte mit einer Gaskapsel und Handschellen zurück. »So, wir sind bereit.« Er gab Kennon die Handschellen sowie einen Schlüssel für die Zellentür und zog seine Burkholtz. »Sehen Sie«, grollte der Lani. »Was habe ich gesagt? Menschen sind Feiglinge.« »Kennst du das hier?« fragte Douglas und richtete die Mündung der Burkholtz auf den Lani. »Ja. Das tötet«, knurrte George. »Allerdings«, bestätigte Douglas. »Also tritt zurück, mit dem Rücken an die Wand.« George knurrte, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Ich zähle bis drei«, erklärte Douglas, »wenn du dann nicht an der Wand bist, knall ich dich nieder. Also gehorch! Eins – zwei –« George zog sich in die entfernte Ecke der Zelle zurück. »Gesicht zur Wand!« Dann warf Douglas die Gaskapsel in die Zelle. Der dünne Behälter zersprang und gab eine Dampfwolke frei. George sank zu Boden. »Jetzt warten wir noch ein paar Minuten, bis sich das Gas verflüchtigt hat«, sagte Douglas. »Danach gehört - -
er Ihnen. Sie können hineingehen und ihm die Eisen anlegen.« »Ist er lange betäubt?« wollte Kennon wissen. »Etwa fünf Minuten. Danach hat er Muskelsperre.« Lächelnd setzte er hinzu: »Sie sind wirklich zu dumm. Sie wissen genau, wie das Gas wirkt, aber sie haben nicht Verstand genug, den Atem anzuhalten. Sie könnten uns noch viel mehr Ärger bereiten als jetzt schon. So, wir können jetzt sicher hineingehen.« Douglas ließ die Waffe sinken. Kennon schloß die Tür auf. Im gleichen Augenblick fuhr George herum; er stieß die Tür mit einer solchen Gewalt auf, daß Kennon vom blitzschnellen Angriff halb betäubt gegen die Wand des Ganges geschmettert wurde. George war offensichtlich nicht dumm, fuhr es Kennon in Sekundenschnelle durch den Kopf, denn er hatte den Atem die notwendigen zwei Minuten angehalten! Douglas riß die Waffe hoch und schoß, doch sein Ziel war zu schnell. George ließ sich zu Boden fallen und rollte zur Seite. Der violette Strahl zischte nur einige Zentimeter über seinen Körper hinweg und riß ein sechs Zoll großes Loch in die Rückwand der Zelle. Und dann sprang George den anderen Mann an. Die riesigen, unwahrscheinlich schnellen Hände des Homoniden entrissen Douglas die Waffe. Douglas schrie auf, doch dann schlossen sich Georgs Hände schon um seinen Hals. Gewaltige Muskeln traten auf den Unterarmen des Lani heraus. Man hörte ein leises, helles Knacken, - -
und dann sackte Douglas unter dem eisernen Griff, der ihn aufrechthielt, zusammen. »So«, grunzte George und ließ Douglas fallen. Er stieß die Tür zurück und kam heraus auf den Gang. »Sind Sie ein besserer Kämpfer?« fragte George und zog den Kopf zwischen die Muskelmassen seiner beiden Schultern. Kennon musterte ihn abschätzend und schwang die Handschellen in der Rechten. Diesmal griff der Lani nicht an. Er bewegte sich langsam, halb gebückt. Seine langen Arme hingen herunter. Kennon wich zurück und wartete auf das Flackern in den Augen des Homoniden, das ihn vor dem bevorstehenden Angriff warnen würde. Georges Gesichtsausdruck blieb unbewegt und zeigte die Zufriedenheit einer zum Töten erzogenen Bestie, der endlich Gelegenheit gegeben wurde, sich auszutoben. Kennon erschauerte; er hatte nicht gerade Angst, aber er war noch nie einem solchen Feind gegenübergetreten. Der Schauer legte sich ihm auf Magen und Brust. Sein Mund war trocken, seine Muskeln bebten, doch seine Konzentration ließ nicht nach. Sein Blick war starr auf Georges Augen gerichtet und suchte mit mikroskopischer Genauigkeit nach dem kleinsten Hinweis auf die Absichten des Lanis. Und dann griff George an. Seine Hände streckten sich nach Kennons Kehle aus, sein Gesicht war von Wut und Haß verzerrt. Kennon jedoch duckte sich unter den zugreifenden Händen hinweg und trieb seine linke Faust in Georges Magen, genau unter dem Brustbein. - -
Der Lani klappte zusammen und stieß pfeifend die Luft aus dem geöffneten Mund. Kennon rammte ihm das Knie unter das Kinn, stieß Georges Kopf zurück und schmetterte die Handschellen in sein bärtiges Gesicht. Blut schoß hervor, und George schrie auf. Eine seiner großen Hände packte die Fesseln und zog daran. Kennon ließ sie los und schoß George eine zweite Linke in die Rippen. Der Lani schlug mit dem Eisen nach Kennon, traf aber schlecht und kratzte lediglich Kennons Wange auf. Von dem Schlag auf seinen Solarplexus halb gelähmt, konnte George seine Bewegungen nur noch schlecht kontrollieren. Trotzdem kämpfte er weiter. Kennon packte eine seiner ausgestreckten Hände, drehte sich mit einer Beugung herum und schmetterte den Lani gegen das Gitter einer Zelle. Doch George ging immer noch nicht zu Boden. Er ist härter als ein Mensch, dachte Kennon. Kein Mensch könnte so viel einstekken. Er wich Georges taumelndem Ansturm aus und spürte fast einen Hauch Mitleid mit dem zusammengeschlagenen Homoniden. Der Kampf war nicht fair. Trotz seiner Stärke kannte George die Tricks eines solchen Kampfes nicht. Seine Reaktionen waren die eines Tieres: Anspringen, Packen, Beißen und Zerren. Selbst wenn er nicht krank gewesen wäre, hätte der Kampf kaum länger gedauert. Kennon versetzte dem Lani einen heftigen Judoschlag auf die Verbindungsstelle von Hals und Schulter. Brutale Stärke war eben kein Ausgleich für die hochentwickelte Technik, die jeder Raumfahrer lernen - -
mußte. Und Kennon beherrschte sie ausgezeichnet. Trotzdem dauerte es länger, als Kennon erwartet hatte, denn George war groß, er war stark, und er besaß Stolz, der ihn aufrechthielt und seinen zerschlagenen Körper vorwärtstrieb. Doch das Ende war unausweichlich. Kennon betrachtete seinen blutigen Arm, wo Georges Zähne ihn gefaßt hatten. Zwar war es nur ein Kratzer, doch es hätte schlimmer kommen können. George hatte jetzt seine Lektion erhalten. Kennon aber fühlte sich merkwürdig erniedrigt. Er seufzte, zerrte George in die Zelle zurück und verschloß die Tür. Dann wandte er sich Douglas zu. Das haßerfüllte Heulen der eingesperrten Lanis verstummte, als Kennon vorsichtig den wie leblos daliegenden Körper untersuchte. Douglas war nicht tot. Sein Genick war zwar ausgerenkt, aber nicht gebrochen. Trotzdem war sein Zustand ernst. Während Kennon noch über Douglas gebeugt war und sich fragte, wie er Hilfe herbeiholen könne, stürzten drei Wachen mit schußbereiten Waffen zur Tür herein. »Was ist hier los?« fragte der Anführer. »Die Alarmanlage zeigte, daß hier eine Tür offensteht.« Er erblickte den Körper am Boden – »Mister Douglas!« stieß er hervor. »Ich muß sofort den Kommandanten benachrichtigen!« Er griff zu seinem Sprechgerät und sagte ein paar hastige Worte. »Hier Arleson im Zuchtblock – Fluchtversuch – ein Unfall – Douglas Alexander – ja, richtig! Nein – nicht tot. Schicken Sie eine Bahre und Träger. Unterrichten Sie den Kommandanten. Ich wer- -
de hier die Untersuchung übernehmen.« Er wandte sich förmlich an Kennon. »Wer sind Sie – und was geschah hier?« fragte er. Kennon berichtete ihm alles. »Sie wollen sagen, Sie haben George geschlagen?« fragte Arleson. »Sehen Sie doch in seine Zelle, wenn Sie mir nicht glauben.« Der Wachmann tat es, drehte sich zu Kennon um und sah ihn aus seinen dunklen braunen Augen respektvoll an. »Das haben Sie getan? Mann, müssen Sie ein Schläger sein!« sagte er ungläubig. Zwei unbeteiligt aussehende, weibliche Lanis kamen mit einer Bahre herein, betteten Douglas’ Körper darauf und trugen ihn schweigend hinaus. »Douglas war ein Dummkopf«, bemerkte Arleson. »Er wußte, daß wir niemals ohne ausreichende Sicherung gegen diese Burschen vorgehen. Ich wundere mich, daß er so leichtsinnig war!« »Das verstehe ich auch nicht. Er meinte, Gas und Handschellen würden ausreichen.« »Er mußte es eigentlich besser wissen. Diese Lanis kennen die Gaskapseln viel zu gut. In der Zelle hätte George Sie getötet. Sie hätten sich nicht aus seiner Reichweite retten können.« Kennon zuckte mit den Schultern. Vielleicht hafte Douglas das gewollt. Darauf bekam er jetzt natürlich keine Antwort. Möglich, daß Douglas nur angeben woll- -
te. Nun gut, er würde dafür bezahlen. Ein paar Monate lang würde er ein steifes Genick haben. Vielleicht war das ganz gut so. Kommandant Mullins, ein schlanker, graugesichtiger Mann mit dem harten, kalten Blick des Berufssoldaten kam in den Gang, gefolgt von einem anderen Soldaten. Sein Blick flog über die Ruine, die einmal George gewesen war: die aufgerissene Lippe, die eingedrückte Nase, die geschwollenen Augen, die Schnitte und Beulen. Dann sah er Kennon an. »Raumfahrer – was?« fragte er. »Das sieht man auf einen Blick.« Kennon nickte. »Stimmt. Jetzt bin ich Stationsveterinär. Douglas hatte mich hergerufen. Er sagte, es sei ein Notfall.« Mullins nickte. »Ja, und warum behandeln Sie noch nicht?« »Ich muß die anderen erst untersuchen«, erklärte Kennon und deutete auf die Zellen. »Und ich möchte nicht noch einmal solchen Ärger erleben.« »Keine Angst. Das passiert nicht noch mal. Jetzt, wo Sie George besiegt haben, geschieht Ihnen gar nichts mehr. Sie sind jetzt der Leitbulle.« Mullins deutete auf die Zellen und lächelte kalt. »Die werden für eine Weile Ruhe geben. Fangen Sie am besten sofort mit Ihrer Arbeit an. Meine Männer werden Ihnen helfen.« Kennon ging noch einmal in das Büro Kommandanten, bevor er zur Hauptinsel abflog. - -
des
»Wie geht es Douglas?« fragte er. »Er lebt«, sagte Mullins. »Wir brachten ihn nach Albertsville – gut, daß wir ihn los sind. Was machen die Lanis?« »Es wird Ihnen bald bessergehen«, meinte Kennon. »Nur eine Futtervergiftung. Sie sollten Ihre Küche und Ihre Futterhändler überprüfen. Da stimmt irgend etwas nicht mit der Sauberkeit. Das kann Ihnen eine Menge Scherereien einhandeln. Ich habe auch noch andere Dinge zu beanstanden.« »Ich werde das untersuchen lassen und danke für den Hinweis«, sagte Mullins. »Setzen Sie sich doch, Doktor! Ihr Luftjeep ist erst in ein paar Minuten startbereit. Erzählen Sie mir etwas von der Hauptinsel. Wie geht es Blalok?« »Sie kennen ihn?« »Natürlich. Ich besuchte ihn früher oft. Aber seit dieser windige Bursche hier ist, traue ich mich nicht mehr weg. An einem einzigen Tag bringt er hier alles gründlich durcheinander. Sie sahen ja, was er in einer halben Stunde vollbracht hat. Eigentlich schulde ich Ihnen Dank, daß Sie mich von ihm befreit haben.« Mullins lachte. Kennon nickte nur. »Ich verstehe. Wir brauchten zwei Monate, um in Alexandria Ordnung zu schaffen, nachdem der Boß ihn hierher verbannt hatte.« »Ich habe davon gehört.« »Jetzt sind wir über den Berg. Es geht wieder voran.« »Hier wird auch bald wieder Ordnung herrschen«, - -
sagte Mullins. »Ich hoffe nur, der Boß schickt Douglas nicht wieder hierher. Douglas ist ein schwieriger Mann und zerstört alle Disziplin.« »Können Sie mir bitte erklären, falls Ihre Bestimmungen das nicht verbieten, warum Sie hier Ihre Klasse-II-Abwehrwaffen gefechtsklar halten?« fragte Kennon. Mullins zuckte die Schultern. »Das ist kein Geheimnis«, sagte er. »Vor fünfzig Jahren gab es hier einen Überfall. Die Konkurrenz versuchte, uns auszuschalten. Damals wurde Alexandria angegriffen und hat die Gegner in Schach gehalten. Aber unser Boß bekam es mit der Angst zu tun. Sie wissen doch, daß unsere Wettbewerbspositon auf der Arbeit der Lanis basiert. Unsere Konkurrenten wußten das nicht. Mit ihrer Intelligenz war es nicht so weit her. Damals hatten wir die Männchen noch hier draußen in einer Art Einzäunung gehalten. Diese Leute hätten uns bloß ein paar Dutzend Weibchen und mehrere Männchen zu stehlen brauchen, dann wären sie ins Geschäft gekommen. Aber sie taten es nicht. Statt dessen versuchten sie, ganz Alexandria zu zerstören. Natürlich hatten sie keine Chance. Und als der Kampf vorüber war, kam der Boß auf eine Idee. Da er noch die Baupläne von Alexandria besaß, errichtete er hier draußen ein Duplikat davon und gab ein paar Millionen für moderne Waffen aus. Jetzt wäre schon eine ganze Armee nötig, um uns zu schlagen.« »Aber garantiert das auch Ihre Sicherheit? Wissen - -
die andern jetzt über die Lanis Bescheid?« »Das ist eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Es würde ihnen aber auch nichts nützen. Sie können diesen Ort nicht einnehmen. Und ohne Männchen sind alle Weibchen auf Flora nicht wertvoll genug, um die Truppen zu bezahlen, die für einen Erfolg nötig wären.« »Das ist also der Grund, weshalb die Männchen isoliert leben.« »Es gibt noch einen anderen Grund – oder zwei Gründe. Einmal die physischen Eigenschaften der Männchen. Das beste Männchen ist zugleich ein gefährliches Tier. Sie besitzen noch so viel ursprüngliche Wildheit, daß sie sogar für die Arbeit unbrauchbar sind. Auch unsere Erziehungsversuche helfen da nichts. Der andere Grund ist geistiger Art. Die Weibchen auf der Hauptinsel glauben, daß wir Menschen für den Fortbestand ihrer Rasse verantwortlich sind. Dadurch können wir sie leicht leiten. Wir hätten mit ihnen auf Flora viel mehr Ärger, wenn sie die Wahrheit erfahren würden. Wir hatten ein paar Fälle, wo Weibchen für die Männchen einen Fluchtversuch organisierten. Aber das haben sie nur einmal gemacht«, meinte Mullins grimmig. »In der Tat, es geht hier lustig zu – nur nicht im Schlachthaus. Das ist die einzige unangenehme Arbeit auf Opten eins.« »Sie wollen doch nicht sagen …« Kennon stockte. »Doch. Was sollen wir sonst mit den alten Tieren machen?« - -
»Aber das ist doch Mord!« Mullins schüttelte den Kopf. »Es ist auch nichts anderes, als wenn man eine Kuh schlachtet.« »Hm«, meinte Kennon, »ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht, was mit den alten Lanis geschieht. Merkwürdig. Ich habe noch nie ein altes Exemplar gesehen; aber … Na ja – ich bin zu naiv.« »Sie werden schon noch darauf kommen«, sagte Mullins. »Die Lanis sind keine Menschen. Sie sind auch nicht so intelligent wie ein Varl von Santos. Es gibt natürlich Ausnahmen. Ich weiß, daß sie – abgesehen von ihrem Schwanz – so aussehen wie wir, aber das ist auch alles. Ich lebe jetzt schon zweihundert Jahre mit ihnen und weiß, was ich sage.« »Das sagte auch Alexander.« »Er muß es wissen. Er lebt sein ganzes Leben schon hier.« »Gut – aber noch bin ich nicht ganz überzeugt.« »Old Doc war es auch nicht – nicht bis zu seinem Todestag.« »Änderte er da seinen Sinn?« »Ich weiß nicht. Ich war nicht dabei. Aber Old Doc war ein eigensinniger Hund.« Kennon erhob sich. »Ich habe Ihren Leuten Anweisungen für die Behandlung gegeben«, sagte er. »Ich glaube, ich fliege jetzt besser wieder auf die Hauptinsel zurück. Ich muß noch ein paar Berichte fertigstellen.« Mullins lächelte. »Ich vermute, Sie billigen unser - -
Vorgehen nicht.« »Stimmt«, gab Kennon zu. »Aber ich habe ja einen Vertrag unterzeichnet.« Er wandte sich zur Tür und nickte den beiden Lanis zu, die draußen mit seinen Taschen auf ihn warteten. »Ich finde meinen Weg schon allein zum Dach«, sagte er. »Also – alles Gute«, verabschiedete ihn Mullins. »Wir rufen Sie an, wenn wir Sie brauchen.« »Tun Sie das«, antwortete Kennon. Er wollte nur noch fort, fort von diesem Ort, auf die Hauptinsel zurück. Er wollte Kupfer wiedersehen. Und wehe, wenn irgend jemand sie abschlachten wollte! Und wenn er hierblieb, bis sie an Alterschwäche einging! Niemand außer ihm sollte sie anrühren!
XII
K
ennon fragte sich, ob seine Kollegen von der Humanmedizin mit ihren Patienten auch so viel Mitleid hatten wie er mit den Lanis. Oder waren die Patienten für sie nur Träger gewisser Krankheiten, Parasiten oder Tumoren? Waren sie nur wirtschaftliche Ausbeutungsobjekte? Sicher nicht, dachte er. Die Menschlichkeit machte jeden Patienten zu einer Persönlichkeit. Doch Individualität war kein Aktivposten in der Veterinärmedizin. Hier ging es nur um Wirtschaftlichkeit. Die gewöhnlichen Haustiere wie Rinder, Schafe, Morks oder Schweine stellten kein Problem dar. Doch mit den - -
Lanis war es anders. Sie hatten Persönlichkeit, selbst wenn sie die unbestimmbare Qualität nicht besaßen, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Man konnte sie nicht mit leidenschaftsloser Objektivität behandeln. Das ging einfach nicht, und darüber ärgerte er sich. War es denn richtig, sie als Personen anzusehen? Trotz der Erfahrung der letzten Monate waren sie für ihn nicht zu einer gesichtslosen Masse oder Viehherde geworden. Würden nicht auch Menschen viel von ihren menschlichen Eigenschaften verlieren, wenn man sie über vierzig Generationen hinweg in Baracken getrieben und wie Vieh behandelt hätte? Dieser Gedanke war beunruhigend. Es war wohl besser, wenn er nicht so viel nachdachte, sondern abends vor Erschöpfung auf sein Bett fiel und traumlos schlief. Doch er hatte seinen Stab zu gründlich eingearbeitet. Jetzt konnten die Lanis die kleinen Routinebehandlungen und Labortests selbständig erledigen. Für ihn blieben bloß die ernsten Fälle. Er zwang sich wieder zu langweiligen Routine-Inspektionen, um die Zeit auszufüllen. Die Krankenabteilung war leer, die Inselbevölkerung erfreute sich bester Gesundheit. Doch in Kennon nagten immer noch Zweifel. Zwar war der erste Schock überstanden, doch fand er nicht wieder zur alten Ruhe zurück. Seitdem Kupfer erkannt hatte, daß er sie brauchte, erleichterte sie ihm das Leben auch nicht gerade. Im Gegenteil, sie zeigte sich auf provozierende Art unterwürfig, und das hätte sogar eine Marmorstatue erweicht. - -
Ihr weibliches Einfühlungsvermögen sagte ihr, daß er ihr früher oder später gehören würde. Sie konnte warten. Vor Kennon aber türmten sich unüberwindliche Hindernisse: moralische Überlieferungen, gesellschaftliche Verhältnisse und andere Verbote. In Kupfers Gegenwart schienen all diese Vorbehalte weniger gewichtig. Wahrscheinlich, dachte er sarkastisch, sind das die ersten Anzeichen für das Abbröckeln meiner Moral in dieser unnatürlichen Umgebung. »Ich werde alt«, gestand er Kupfer, während er gelangweilt das »Fachblatt der Medizinischen Wissenschaften von Kardon« in seinem Büro durchblätterte. »Es gibt nichts Wichtiges mehr zu tun.« »Sie können mir helfen«, schlug Kupfer vor und schaute von den Karteiblättern auf, die sie gerade sortierte. Er hatte ihr die undankbare Aufgabe zugedacht, alle Unterlagen zu ordnen. »Es gibt nichts Wichtiges mehr zu tun«, wiederholte er und schielte zu ihr hinüber. Aus diesem Winkel erschien ihm Kupfer verdammt verlockend. »Ich hätte einen Vorschlag«, meinte Kupfer ernst. »Ja, ich weiß, du steckst voller Vorschläge.« »Wie war’s, wenn wir zum Picknick hinausführen?« »Wie bitte?« »Picknick. Wir packen uns etwas zum Essen ein und fahren mit dem Jeep hinaus. Vielleicht in die Berge.« »Warum nicht?« stimmte Kennon ihr zu. »Das wird die Langeweile etwas unterbrechen. Geh ins Haus und sag Kara, sie soll uns ein Paket zurechtmachen. Wir - -
werden den Tag über fortbleiben.« »Schön. Ich habe diese schmutzigen, alten Karten auch satt.« Sie stand auf und ging an seinem Schreibtisch vorbei. Kennon konnte nur schwer den Wunsch unterdrücken, ihr einen Klaps zu geben. Dann war er aber doch über seine Beherrschung stolz, als er den erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hatte es erwartet, dachte er belustigt. Eins zu null für die Moral. Er lächelte. Wie auch immer die anderen Lanis sein mochten, Kupfer jedenfalls unterschied sich von ihnen. Sie war flink, intelligent, immer nett anzusehen und überraschte ihn mit ständig neuen Einfallen. Vielleicht hatten die anderen Lanis auch diese Eigenschaften. Aber er kannte keine anderen Lanis und wollte sie auch nicht kennenlernen. »Wir werden zum Olympus fahren«, schlug er vor. Kupfer sah ihn merkwürdig an. »Dort möchte ich lieber nicht hin. Das ist verboten.« »Ach was. Du bist abergläubisch.« Sie lächelte. »Sicher haben Sie recht – wie immer.« »Es ist ein Vorzug, ein Mensch zu sein. Auch wenn ich im Unrecht bin, habe ich recht.« Er lachte, als er ihren irritierten Ausdruck bemerkte. »Na los jetzt – und laß das Paket zurechtmachen!« »Ja, Herr und Gebieter. Ihr Sklave fliegt beschwingten Schrittes, um Ihre Befehle auszuführen.« Kennon grinste. Kupfer hatte bestimmt Old Docs Tagebuchergüsse gelesen. Er erkannte dessen blumenreichen Stil wieder. - -
Kennon setzte den Jeep auf einer Bergwiese in halber Höhe des friedlich aussehenden Vulkans auf. Es war still und kühl, und eine Brise trieb die sanfte Rauchfahne des Kraters von ihnen weg nach Westen hinüber. Kupfer packte gemächlich das Essen aus. Sie hatten schließlich sehr viel Zeit und waren auch noch nicht hungrig. »Machen wir doch einen kleinen Spaziergang«, schlug Kupfer vor. »Es scheint kühl im Wald zu sein, und vielleicht haben wir danach mehr Appetit.« »Eine gute Idee. Ein bißchen Bewegung täte mir ganz gut. Das Eßpaket sieht groß genug aus, um ein Pferd zu sättigen.« Sie schlenderten durch den Wald und stiegen langsam immer höher den Hang hinauf. Verfilzte Strauchgruppen lösten den Wald ab. Es gab hier keine Baumgrenze, die wie auf Beta am ewigen Schnee endete. Wie grüne Finger reckte sich die Vegetation zwischen den abgestorbenen Lavazungen empor, auf deren schwarzer, aufgewühlter und unfruchtbarer Oberfläche nichts gedeien konnte. Das ferne Summen von Insekten und die pfeifenden Rufe fliegender Säugetiere unterstrichen nur noch die Wildheit dieser Landschaft. Kaum vorstellbar, daß rund zwanzig Kilometer von diesem Vulkan entfernt die hochentwikkelten und ertragreichen Farmfabriken der Firma lagen. »Glauben Sie, wir könnten von hier oben aus die Krankenstation sehen?« fragte Kupfer. Sie war ein wenig außer Atem, da sie die dünne Bergluft nicht gewöhnt war. - -
»Wahrscheinlich«, erwiderte Kennon. »Es ist zwar eine ganz schöne Strecke bis Alexandria, aber die Station ist ja hoch und groß genug.« Er schaute Kupfer prüfend an. »Warum bist du außer Atem? So hoch sind wir doch noch gar nicht. Das Wohlleben hat dich ganz schön rundlich werden lassen.« Kupfer lächelte. »Vielleicht ist es auch das Alter.« »Unfug«, gab Kennon zurück. »Das ist nur Fett. Übrigens, du bist tatsächlich dicker geworden. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn du dir deine Figur erhalten willst, solltest du Diät halten.« »Sie sind so gut zu mir«, sagte Kupfer. »Da hast du verdammt recht. Bewegung tut der Taille gut, und außerdem bin ich gespannt, was uns dort erwartet.« Einen Kilometer weiter stießen sie auf eine Lavawand, die ihnen den Weg versperrte. »Oh – da kommen wir nicht weiter«, stöhnte Kennon. Er betrachtete die Felsen mit den messerscharfen Kanten. »Meine Füße würden das nicht aushalten«, sagte Kupfer. »Hier ist Schluß.« »Nein, nicht ganz«, rief Kennon aus, »dort ist ein Pfad!« Er deutete auf einen schmalen Graben. »Wollen mal sehen, wohin er führt.« Kupfer zögerte. »Ich möchte nicht weiter mitkommen«, sagte sie dann. »Er sieht furchtbar düster und eng aus.« »Ach, hör auf, du brauchst dich nicht zu fürchten. Komm!« Er ergriff ihre Hand, und sie folgte ihm zaghaft. - -
»Etwas an diesem Ort ängstigt mich«, murmelte sie furchtsam, als sich die hohen, schwarzen Wände über ihnen zu einem schmalen Spalt verengten, durch den man gerade noch den gelblichen Himmel sehen konnte. Der Pfad war überraschend eben und frei von Steinen. Die düstere, drückende Stille machte sogar Kennon zu schaffen, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Welche Kräfte hatten diesen rasiermesserscharfen Graben wohl aus dem harten Fels geschnitten? Es konnte eigentlich nur ein Erdbeben gewesen sein. Allmählich traten aber die Wände weiter zurück, und der Pfad öffnete sich auf eine öde Fläche voller grauer Vulkanasche, schwarzer Felsklumpen, verkrüppelten Baumresten und Gestrüpp. Sie war flach wie ein Tisch, kreisrund und maß knapp einen halben Kilometer im Durchmesser. Ein etwas größerer Krater lag etwa zweihundert Meter vor ihnen. Die Felsen wirkten wie von Feuersglut geschmolzen. Sie glitzerten im gelben Sonnenlicht. Und die Bäume und Sträucher, die den Rand der Senke säumten, waren verkrüppelt und in den phantastischsten Formen gewachsen. »Was ist denn das?« entfuhr es Kennon. »Seltsam – hier muß ein Meteor niedergegangen sein. Aber diese verkrüppelten Pflanzen? Das kann nur Radioaktivität sein.« Er betrachtete nachdenklich den Krater. »Möchte bloß wissen …« Kupfer war plötzlich leichenblaß geworden. »Nein!« stieß sie hervor. »Nein!« Kennon starrte sie verständnislos an. »Du weißt, was - -
das für ein Ort ist?« »Nein«, wich sie aus. Ihre Stimme klang unsicher. »Du lügst.« »Ich weiß es wirklich nicht«, beteuerte sie. »Ich habe nur eine Vermutung. Gesehen habe ich diesen Ort noch nie. Bitte, gehen wir weg.« »Du weißt also doch etwas«, bohrte Kennon. »Ich glaube, das ist die Hölle«, sagte sie leise. »Aus den Sagen erfuhr man nichts über die Lage des Ortes, aber die Beschreibung paßt hierauf – der Kreis des Todes.« »Sagen – welche Sagen? Und was für ein >Kreis des Todes