Z U D IESEM B UCH
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R OMAN «D IE S CHWESTERN MATERASSI» (1934) ist eines der grandiosesten und zugleich liebenswü...
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Z U D IESEM B UCH
D ER
R OMAN «D IE S CHWESTERN MATERASSI» (1934) ist eines der grandiosesten und zugleich liebenswürdigsten Werke der modernen italienischen Literatur. Aldo Palazzeschi erzählt eine traurige Komödie: die Geschichte einer Hörigkeit aus erotischer Zuneigung und Weltfremdheit. Teresa und Carolina haben ihren Neffen Remo, eine ‹Erscheinung von heiterer Schönheit›, an Kindes Statt bei sich aufgenommen. Während Remo in den Tanten nur ‹dressierte Affen› sieht, weckt er in ihnen, den altjüngferlichen Schwestern, mehr als mütterliche Gefühle, und selbst die Magd Niobe ist entzückt, einen jungen Mann in ihrer Obhut zu haben. Doch dieser Waisenknabe macht nicht allein wegen seiner strahlenden Augen von sich reden: er ist auch ein mit allen Wassern gewaschener Tunichtgut. Bald schon erkennt er die Schwächen seiner Wohltäterinnen und nutzt sie immer schamloser, immer erpresserischer aus. Innerhalb von acht Jahren gelingt es ihm, den berühmten Stickerinnen von kostbaren Brautausstattungen und hochfeiner Unterwäsche die allerletzten Ersparnisse zu entlocken. Am Ende sind sie arm wie zwei Kirchenmäuse, aber Remo ist gerissen genug, um für sich ein weitaus angenehmeres Schlupfloch zu finden. Obwohl Teresas und Carolinas Geschichte tragisch ist, erweist sich Palazzeschis außerordentliche Erzählkunst gerade in der Heiterkeit, mit der er ihr ‹ganz
natürliches Drama› in Szene setzt. «Darin liegt seine ganze Größe», schrieb Elio Vittorini, «zu zeigen, wie der seltsame Fall, das merkwürdige Ereignis, das Närrische eines Augenblicks, das Groteske einer Haltung keineswegs Abnormitäten sind, sondern ein Ausweg, auf dem die Seele des Menschen aus Konvention und Gewohnheit, aus der Mechanik des Alltags flüchtet.»
ROWOHLT JAHRHUNDERT HERAUSGEGEBEN VON BERND JENTZSCH BAND 5
A LDO P ALAZZESCHI
DIE SCHWESTERN MATERASSI R OMAN
A US DEM I TALIENISCHEN ÜBERSETZT VON H ELENE M OSER
R OWOHLT
T ITEL DER I TALIENISCHEN O RIGINALAUSGABE: L E SORELLE M ATERASSI V ERÖFFENTLICHT IM R OWOHLT T ASCHENBUCH V ERLAG GMBH , R EINBEK BEI H AMBURG , M AI 1987 F ÜR DIE D EUTSCHE Ü BERSETZUNG C OPYRIGHT © 1966 BY B ENZIGER V ERLAG , Z ÜRICH UND K ÖLN F ÜR DEN I TALIENISCHEN O RIGINALTEXT C OPYRIGHT © 1960 BY A RNOLDO M ONDADORI E DITORE S. p. A., M ILANO U MSCHLAGGESTALTUNG P ETER W IPPERMANN (F OTO DES A UTORS : A RNOLDO M ONDADORI E DITORE) S ATZ G ARAMOND (L INOTRON 202) G ESAMTHERSTELLUNG C LAUSEN & B OSSE , L ECK P RINTED IN G ERMANY 1480-ISBN 3 499 40005 7 S CAN BY P ÁRDUC
ö 2002
WENN
MAN SIE SO ANSAH WA ren sie nichts weiter als drei halbe Zitronen, ausgepreßt und in den Kehrichtwinkel geworfen. Verkauft die Häuser, verkauft der Bauernhof, erschöpft, bis zum letzten Groschen die Reserven, dahin bis auf den letzten die Kunden.
S ANTA M ARIA A C OVERCIANO
S ANTA MARIA A COVERCIANO IST NOCH NICHT EIN-
mal ein kleines Dorf, sondern nur ein Kirchspiel. Zur Not könnte man schon so etwas wie ein Dorf daraus machen: eine Kreuzung von Straßen bildet einen schrägen Platz, an dem ein Franziskanerinnenkloster steht, von einer hohen Mauer umgeben, die an der Ecke unter einem schlichten, kleinen Holzdach, in Marmor gemeißelt, das Bild des heiligen Franziskus zeigt und eine Tafel, die daran erinnert, daß in jenem Kloster einige Jahrhunderte lang das Kleid des Heiligen aufbewahrt wurde. Dann ist da noch ein immer verschlossenes Landhaus, von einer runden Mauer behütet, weit zurückliegend und von hohen Bäumen umgeben, wie eine alte Dame im Lehnstuhl, mit weitem Rock und Haube. Und davor, fast an der Straße, eine kleine, moderne Villa, kokett, ein bißchen frech, die wie eine anmaßende und boshafte Schwiegertochter nach der strengen und mürrischen Schwiegermutter hinüberspäht und ihr aus einem kleinen weißen Gittertor, das mehr zur Schau stellt als verbirgt, Rosen wie Finger entgegenstreckt. In eine Ecke gedrückt neben der Villa ein Kirchlein mit einer Vorhalle aus einem einzigen Bogen, das dich aus seinem Winkel unaufdringlich in seine Stille locken möchte. Wenig oberhalb bildet ein Block von Häusern ein Viereck, das an ein Kloster erinnert; gegen die Straße durch die Mauer abgeschlossen und nur durch ein großes, hölzernes Eingangstor unterbrochen, das dazu bestimmt ist, immer geschlossen zu bleiben, weil sich die Bewohner einer kleinen Pforte dane9
ben bedienen, die immer offensteht, ähnlich einer Ladentür, deren Schlüssel verlegt worden ist. Der rückwärtige Teil dieses Gebäudes besteht aus einem dreistöckigen Haus, das etwas von einem Bienenstock an sich hat wie alle Häuser armer Leute, und die Seitenflügel, die bis an die Mauer heranreichen, schmal und lang, haben nur zwei Stockwerke. Es fällt einem sofort auf, daß dieses Gebäude nach und nach errichtet wurde und daß der südliche Flügel viel älter und nicht nur von anderer, mehr herrschaftlicher Bauart mit Resten von ornamentaler Würde ist, sondern daß seine Fenster anstatt auf den Hof auf die Felder hinausblicken, nach Süden gegen Florenz zu. Es fällt auch auf, daß dieser Bau dem Hof verächtlich den Rücken wendet und nur ein einziges Fenster dort läßt, das eines rückwärtigen Hausflurs, vielleicht nur eingesetzt, damit man einmal flüchtig hinausschauen kann. Dieser vornehme Hausteil besitzt seinen eigenen Eingang von der Straße her, ein immer halbgeöffnetes und vom Rost zerfressenes weißes Gittertor. Die Hauptstraße, die dieses Gebäude streift und den beschriebenen Platz bildet, führt von Florenz zu der MensolaBrücke und nach Settignano und heißt Via Settignanese; die andere, kleinere, die zwischen der Villa und dem Franziskanerinnenkloster hinuntersteigt, führt hingegen nach Maiano, zu seinen Steinbrüchen und prächtigen Landhäusern. Darüber ragt eine wirkliche Burg empor, die Poggio Gherardo heißt. Die Bewohner des Ortes und jene, die mit ihm vertraut sind, nennen ihn einfach Santa Maria; die Städter hingegen, fortschrittlicher und nicht so intim, Coverciano. Nachdem nun so gut als möglich die Lage dieser Örtlichkeit beschrieben wurde, drängt es mich, hinzuzufügen, daß sie zwischen zwei Flüßchen liegt, dem Africo und der Mensola, von denen das erste von Fiesole herunterkommt und das zweite von Vincigliata. Rinnsale, in denen Mond und Sonne kaum einen zwischen den Gräsern verborgenen Faden auf10
glänzen lassen, die jedoch bei Gewittern plötzlich bedrohlich aufgewühlt daherrauschen, in Wut geraten, überschäumen, und nach einer Stunde ist nichts mehr da, genau wie bei Kindern, die, nachdem sie einen großen Wirbel und Lärm gemacht haben, einschlafen. Nicht von ungefähr habe ich diese beiden Bäche genannt. Es ist der Ruhm dieser Hügel, daß sie an die Großen der Geschichte erinnern, an Fürsten und Könige, Gelehrte, Künstler, die dort gewohnt und gewirkt haben, die dort Ruhe oder Eingebung suchten, Vergessen, Kraft, Heiterkeit oder Flucht aus dem Alltag, Einkehr in die Vergangenheit oder Kraft für die Zukunft, ein Ort der Freude wie des Schmerzes ... ich will nur sagen, daß zwischen diesen beiden Flüßchen vielleicht das Haus stand, wo Giovanni Boccaccio seinen «Decamerone» erlebte oder ihn träumte und für uns niederschrieb, das weiß man nicht genau. Niemand kann mit Bestimmtheit den Ort angeben, ein Grund, warum es in dieser Gegend mehrere Häuser Boccaccios gibt.
D IE S CHWESTERN M ATERASSI
U ND
JETZT , DA ICH DIE L ANDSCHAFT SO GUT WIE möglich beschrieben habe, will ich anfangen festzustellen, welches die Dinge sind, die unsere Neugier erregen, wenn wir diese Häuser betrachten, die sich Santa Maria a Coverciano nennen. Abgesehen von allzu vielen vorbeikommenden Dingen, die diesen Flecken nur flüchtig angehen, besser gesagt gar nie berühren, wird die Aufmerksamkeit von etwas gefesselt, das diese Häuser wirklich und ganz nahe, im Herzen sogar, angeht, und das ist das häufige Anhalten von herrschaftlichen Autos an dem immer halboffenen Gartentor jenes Hauses, das bereits geschildert wurde. Solches Anhalten dauert so lange wie ein Anstandsbesuch und nicht selten wie ein Freundschaftsbesuch, wie ihn Damen der sogenannten großen Welt einander abzustatten pflegen. Schon zur Zeit der Pferdekutschen konnte man an jenem Gartentor ein ungeduldig stampfendes Gespann stattlicher Rappen oder Brauner bewundern, das blank und glänzend, mit rosigen Nüstern, stolz auf sein kostbares Geschirr und in den Zaum beißend, dastand und das von nicht geringerer Wirkung war als heutzutage ein Auto mit Luxuskarosserie. Noch eine weitere Beobachtung wird dem erfahrenen Auge nicht entgehen können, nämlich die grundverschiedenen Personen, die an jenem Tor dazumal den alten Kutschen wie heute den hochmodernen Autos entstiegen. Damen in voller Reife, in Begleitung eines jungen Mädchens, von untadeliger, dem Alter und der Figur angemessener Eleganz, zu deren poetischer Beschreibung man gewohn-
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heitsmäßig zu einem Bild aus der Blumenwelt greift: die Rose mit der Knospe. Aber wenn die Mutter, um bei der ritterlichen und galanten Ausdrucksweise zu bleiben, den eigenen Zustand der vollerblühten Rose zur Schau trägt, so zeigt die Tochter den einer wissenden Lilie, für die das Ende ihrer blendenden Weiße gekommen ist, um bei der keuschen und zarten Sprache zu bleiben. Eine weitere Kategorie der Besucher ist die der älteren, ja geradeheraus gesagt alten Damen, alt, außer an Jahren, aus eigener Entscheidung, häßlich und runzlig, die nichts tun, um das grausame Werk der Natur und das unerbittliche der Zeit an ihren Gesichtern und Gestalten zu mildern oder zu verbergen. Nein, sie nehmen vielmehr das Alter vorweg, indem sie seinen verheerenden Folgen fröhlich entgegeneilen; mit einer so unscheinbaren und dunklen Kleidung und mit einer so übertriebenen Gleichgültigkeit gegen die jeweiligen Moden, daß sie herausfordernd wirken. Mehr als einen zur Schau getragenen Verzicht verkörpern gewisse Frauen im Alter einen so entschiedenen Protest, eine Schmähung gegen die anderen, gegen die Zeit und den Zauber der Schönheit und der weiblichen Reize, daß man sich wundert, sie so glänzenden und schönen Wagen entsteigen zu sehen. Man würde sich viel weniger wundern, sie am frühen Morgen mit der Markttasche oder dem Korb vom Metzger zum Gemüsehändler, vom Krämer zum Drogisten schlurfen zu sehen oder planlos umherirrend an einer gewissen Stelle das Taschentuch aus dem abgewetzten, fleckigen Handtäschchen ziehen, um ihr verschämtes und ehrbares Elend zu beweinen. Zuweilen, der Fall ist jedoch seltener, sieht man einen bedeutend aussehenden Prälaten der Straßenbahn entsteigen und in dieses Tor eintreten; von einer Bedeutung, die in der Würde der aus Zurückhaltung und Gemessenheit bestehenden Haltung sichtbar wird und zugleich in einem Aufblitzen violetter Seide zwischen Rock und Kragen. Oder es kann auch, man weiß nicht woher, eilig ein junger Priester heraus13
kommen, der außer dem Rot der Wangen noch ganz schwarz ist wie eine große Brummfliege. Wenn man in diesem Augenblick irgendwo den spitzen Stachel der Neugier verspüren sollte, so muß man sich fragen, wer in einem alten Haus im Hinterland von Florenz, von ländlichem, bescheidenem Aussehen, das so hervorragende und verschiedenartige Personen anzuziehen vermag, wohnen könnte. Vielleicht mag man da an die hohe Kunst einer Hausherrin denken, die imstande ist, Leute zu vereinigen, die einander nach Alter und Lebensweise so ferne sind, und imstande, unsere brennende Neugier und unsere Bewunderung herauszufordern. Und ebenso geschieht es, daß, wenn plötzlich in der Nähe des Hauses eines jener Autos hält, die Dame oder der Chauffeur eine Frau oder ein Kind, die unterwegs sind, immer um die gleiche Auskunft bitten: «Können Sie mir sagen, wo die Schwestern Materassi wohnen?» Und sie haben den Namen noch nicht ausgesprochen, als sich schon alle Hände ohne Zögern ausstrecken und auf das weiße, vom Rost zerfressene, immer halboffene Tor deuten, auf dessen Pfosten zwei Löwen aus Terrakotta sitzen, die an Zahmheit alle Haustiere übertreffen; sie sehen eher wie zwei alte Frauen aus, die in der Dämmerung des Sommerabends miteinander plaudern, mit verwüsteten, vor Kurzatmigkeit halboffenen Mündern. Zu wem könnten sie auch sonst an diesem Ort gehen, wenn nicht zu ihnen, alle diese feinen Leute? Wenn man durch das Gartentor eingetreten ist, befindet man sich in einer kleinen Allee, auf die sich die Fenster des niedrigen, langgestreckten Hauses öffnen, das im ersten Stock fünf ebensolche Fenster mit grünen Jalousien aufweist, drei in der Mitte gruppiert und in einigem Abstand an den Seiten die anderen zwei; vier im Erdgeschoß, genau unter den anderen, mit leichten weißen Eisengittern statt der Jalousien und wie die des Gartentors vom Rost zernagt. In der Mitte, über drei ebenfalls abgebröckelten Steinstufen, ist die Tür, 14
mit einem runden Fenster und einer großen grünen Jalousie versehen, die auf zwei Schienen läuft. Vor dem Haus stehen auf einem niedrigen Mäuerchen wenige und nicht besonders ansehnliche Blumentöpfe ohne Symmetrie herum, und man sieht, daß sie in einer vernachlässigten Weise zum Ganzen gehören; denn sie verraten nicht jene so sichtbare Liebe der Hausfrauen, die ihnen ein Gesicht und eine Stimme leiht wie menschlichen Wesen, vielmehr ein nicht von Dürftigkeit, sondern ein von ernsteren und vordringlicheren Pflichten verursachtes Vergessensein. Acht oder zehn Meter hinter dem Mäuerchen ist ein Stück Erde, weder Feld noch Garten, auf dem alte Lindenbäume mit ihren nicht gerade üppigen Kronen dem in voller Mittagssonne liegenden Haus weder Luft noch Licht wegnehmen. Im Hintergrund ist ohne weitere Überleitung der Acker zu sehen mit seinen Reihen nackter Pappeln, an denen sich wie an männlich-rauhen Armen die Weinreben mit weiblichschmachtenden Gebärden halb widerstrebend, halb hingebungsvoll zäh anzuklammern oder kraftlos hin und her zu schwanken scheinen. Nicht nur daß das Gartentor immer, auch nachts, offensteht, sondern von den frühen Morgenstunden bis zum Dunkelwerden bleibt auch die Glastür mit der grünen Jalousie einen großen Teil des Jahres über offen und gibt einen großen Eingangsraum frei, der außer ihr noch zwei sie eng flankierende Fenster hat. Es ist notwendig, dieses Zimmer genau zu betrachten, das, kann man sagen, die Hauptszenerie, die Basis unserer Handlung darstellt. Ein großer Schrank aus gutem Nußbaum an der linken Wand, wenn man eintritt, hoch und breit, aber ohne Verzierungen, würde an ein Gardeobezimmer denken lassen; während im ersten Teil der Stirnwand, neben dem Fenster, ein Konsoltisch, ebenfalls aus Nußbaum, mit einem Spiegel im geschnitzten Rahmen den Gedanken zu einem Empfangssa15
lon lenkt und daneben an derselben Wand eine Kommode mit weißer Marmorplatte das Bild eines Schlafzimmers vor uns aufblitzen läßt; während an der Wand im Hintergrund ein niedriges und sehr geräumiges Sofa wie eine Wanne uns nicht an ein Badezimmer denken läßt, sondern gleichfalls an einen Empfangssalon von großer Traulichkeit und Freundlichkeit; bis uns ein viereckiger Tisch aus einfacherem Holz, sehr groß und mit gedrechselten Beinen, auf dessen Mitte von der Decke eine alte, von Kerzenleuchtern umgebene Petroleumlampe herabhängt, an der unterhalb drei elektrische Lämpchen angebracht sind, von einer vor den dampfenden Schüsseln sitzenden patriarchalischen Familie von zwölf Köpfen träumen läßt. Über dem Sofa hängt ein zweiter Spiegel im Goldrahmen und über der Kommode ein Öldruck, der vor einem Hintergrund von dunklem, bedrohlichem Grün einen weißleuchtenden Christus auf der Rast darstellt, der von oben nachdenklich und mild auf das Panorama von Jerusalem niederblickt. Unter den zwei Fenstern je ein kleines Tischchen, eines rund und das andere oval. Angesichts dieses enzyklopädischen Zimmers wäre es nicht leicht, Meinungen und Mutmaßungen zu äußern, wenn nicht eine deutlich ersichtliche Sache mit einem Schlag sein wahres Wesen enthüllen würde. Auf dem Sofa wie auf den Lehnstühlen und Sesseln, welche die Einrichtung vervollständigen, auf Schachteln, Schächtelchen und großen Kartons, wo immer eine Möglichkeit zum Hinlegen ist, sieht man überall das gleiche: in Stücken und Fetzchen, in ganzen Rollen, in Rechtecken und Streifen, ausgebreitet oder zu Bergen aufgehäuft: Leinen, Musselin, Schleierstoff, Tüll, Krepp, Schnüre, Schnürchen, Bänder, Seiden, großenteils weiß oder in zarten Farben, zum geringeren Teil in lebhafteren Farben. Obwohl die Möbel in großer Zahl und beängstigenden Ausmaßen vorhanden sind, befinden sich in dem Raum, der rings um den Tisch frei bleibt, oder an die Wand gelehnt, Stickrahmen, vergrämt mit dem Gesicht zur Mauer gekehrt oder keck 16
zur Schau gestellt, von allen Arten und Ausmaßen, und auf jedem derselben ist ein weißes Stück Stoff mit besonderer Sorgfalt ausgespannt. Sie lassen das Zimmer wie eine Bühne vor oder nach der Vorstellung erscheinen, während sie uns, ohne Furcht vor Mißverständnissen, die Anwesenheit fleißiger und tätiger Stickerinnen bekunden. Aber um die Bezeichnungen genauer zu bestimmen, und wenn auch das Sticken ihre eigentliche Spezialität ist, für die sie weitverbreiteten Ruf und festbegründetes Ansehen genießen, so muß ich sagen, daß die Schwestern Materassi offiziell, wie auf dem Kopf ihrer Rechnungen zu lesen, Weißnäherinnen sind: Schwestern Materassi, Weißnäherinnen — Brautausstattungen. In der Nähe jener in der schönen Jahreszeit immer offenen Fenstertür oder hinter den geschlossenen Scheiben und mit dem einzigen Komfort eines Wärmtopfes unter den Füßen während der kalten Jahreszeit sitzen sie einander gegenüber, auf die Stickrahmen herabgebeugt, die Köpfe hebend und einander nähernd, um Zustimmung zu empfangen oder sich zu verständigen, von den ersten Stunden des Tages bis zum Dunkelwerden; über den Stickrahmen hängen zwei starke Lämpchen, tagsüber hoch wie eine Frucht über ihren Köpfen, die, sobald das Tageslicht schwächer wird, herabgezogen werden; sie stehen vor dem großen Tisch und runzeln die Stirn über dem sicheren Weg der Scheren, auf den sie ihre Gedanken bei der Tätigkeit des Schneidens richten; mit gesenktem Kopf sitzen sie an den zwei Fenstertischen, um zu zeichnen. Zu der Zeit, wo diese Erzählung beginnt, hatten Teresa und Carolina, die zwei Schwestern Materassi, die Fünfzig erreicht, im Abstand eines Jahres voneinander, vielmehr möchte ich sagen, sie waren rittlings darüber, denn die Fünfzig stand zwischen der einen und der anderen. Von kräftiger und beinahe großer Statur, war Teresa eine starke, energische Person; und wenn ihr Gesichtsausdruck und die Haltung auch oft die Anstrengung verrieten, so verbargen sie doch immer die Müdigkeit. Ihr Haar, noch glän17
zend schwarz und einfach frisiert, auf dem Scheitel etwas hochgekämmt, ließ die wenigen eingestreuten weißen Fäden, die an den Schläfen dichter waren, hervortreten. Die großen schwarzen und sehr tiefliegenden Augen waren von dunklen Schatten umgeben, die sich auf der Haut des Gesichtes verloren, welche mehr eingetrocknet als verblüht und von der ursprünglichen Olivenfarbe in ein verstaubtes Grau übergegangen war. Alles an ihr verriet die Anstrengung einer schweren und tapferen Existenz und eine Weiblichkeit, die begraben war wie eine vergängliche Freude oder ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Weiblichkeit, die nur in seltenen und kurzen Augenblicken der Ruhe wieder erschien und ihr jetzt nicht mehr durch die Notwendigkeit, sondern durch eine Gewöhnung des Denkens und der zur Regel gewordenen harten Arbeit versagt war. Im Gegensatz zu der Schwester hatte Carolina ihre äußere Weiblichkeit unversehrt bewahrt, die sich mit dem Verblühen der Erscheinung und durch das abgeschlossene Leben allmählich verdünnt hatte, bis sie zum Schmachten oder zur Zimperlichkeit geworden war. Obwohl sie es kaum war, wirkte sie viel kleiner als die Schwester, zarter, vor allem aber biegsamer; und auch unter der Last der angespanntesten Arbeit bewahrte sie eine schlangenartige Elastizität dadurch, daß sie oft dem Verlangen nachgab, sich in der Taille zusammenzupressen, da und dort zu betasten, selber zu fühlen, sich über etwas auszustrecken und dann wieder zusammensinken zu lassen, sich damit eine illusorische und zeitweilige Frische zurückzugeben; so daß sie wie mit Stecknadeln an jeder Bewegung, jedem Ausdruck festgehalten erschien. Vor allem aber drehte und wendete sie sich beim Erscheinen einer Person, und um so mehr, je wichtiger und angesehener diese war, der die Schwester hingegen geradeaus ins Gesicht sah, ohne Stolz, aber mit der Sicherheit dessen, der gewohnt ist, zu verhandeln und aufmerksam zuzuhören, schnell zu verstehen und verstanden zu werden. Carolinas gekünstelte Schmieg18
samkeit des Körpers ließ sie zerbrechlich erscheinen; sie war jedoch sehr stark. Sie hatte seidiges, dichtes kastanienbraunes Haar mit blonden Reflexen, das sie immer wieder anders aufsteckte, wobei sie sich zu Bewegungen von affektierter, schmachtender Grazie zwang. Obwohl die silbernen Fäden auf ihrem Kopf zahlreicher waren als auf dem ihrer Schwester, waren sie nur aus allernächster Nähe sichtbar, da sich das Silber noch gut mit der alten Vergoldung mischte. Die hellen Augen, nicht mehr himmelblau, sondern lavendelfarben, waren zwei blasse Scheiben, die nirgends haftenblieben; sie drückten nicht den geringsten Willen aus, und wenn sie einen ohne Tiefe ansahen und den Blick mit einem Lächeln der aufgeworfenen, vollen Lippen begleiteten, erweckten sie den Eindruck, als ob sie sich selber in einem Spiegel beobachten und dabei das Wohlgefallen an der eigenen Schönheit und Überlegenheit unterdrücken würden, nicht aus Bescheidenheit, sondern um sie voll zu genießen. Das Gesicht war blaß und weich, von einer Blässe und Weichheit, die von der anstrengenden Arbeit herrührten. Über den Unterschied durch diese äußere Weiblichkeit hinaus wirkte sie neben ihrer Schwester um mehrere Jahre jünger; dabei war es nur eines. Der Zufall oder aber noch mehr als der Zufall die Wechselfälle des Lebens und, genauer gesagt, die der Familie hatten sie unlösbar verbunden und als alte Jungfern gewollt. Gegen den Zusammenbruch dieser Familie hatten sie zuerst einen Damm errichtet, dann war daraus eine feste Stütze und schließlich ein hohen Lobes würdiger Wiederaufbau geworden. Der von ihnen bewohnte Besitz war ein altes, ländliches Herrenhaus, keine Villa und auch kein Haus armer Leute, was sowohl aus der Geräumigkeit als auch aus der Anordnung der Zimmer ersichtlich war; und in seinem Nebenflügel, aber mit Eingang durch ein eigenes Tor auf einem Seitenweg, hatte der Pächter eines ihnen gehörenden sehr großen und ertragreichen Bauernhofes Wohnung und Stallungen. 19
Auf der Seite der Hauptstraße, innerhalb der klösterlichen Mauer, bildeten die zwei Flügel der bereits beschriebenen Häuser mit ihrer Rückseite einen geräumigen Hof, mit einem Brunnen in der Mitte, bescheiden, aber sauber. Im ganzen beherbergten sie vierzehn Familien von anständigen und ordentlichen kleinen Leuten: kleine Krämer, Angestellte, bessere Arbeiter, bei denen nichts von Dürftigkeit oder Unordnung zu finden war. Es wird kein Fehler sein, auch noch ein paar Worte über dieses Besitztum und den klug angelegten Bau zu sagen, ein Werk des Großvaters unserer Schwestern von Vaterseite, der zu seiner Zeit Gutsverwalter im Dienst einer Adelsfamilie in dieser Gegend gewesen war und mit den Ersparnissen eines nüchternen und arbeitsamen Lebens zuerst das Haus mit dem Bauernhof erworben und darin seinen eigenen Wohnsitz errichtet hatte und dann mit den Erträgnissen daraus in drei Etappen daneben die große Häusergruppe zum Vermieten erbaut und damit im ganzen einen erfreulichen und ansehnlichen Besitz geschaffen hatte. Es kam jedoch so, daß der einzige Sohn des redlichen und arbeitsamen Mannes, der Vater unserer Stickerinnen, nicht den Spuren der väterlichen Weisheit folgte, sondern sich darin gefiel, ganz andere Wege einzuschlagen; und das, wohlgemerkt, nicht nur mit der Zustimmung oder dem Gewährenlassen des Vaters, sondern zu seiner innerlichen und uneingestandenen Bewunderung. In großzügigen und während seiner besten Jugendjahre zunehmend verbesserten Verhältnissen aufgewachsen, war er die ganze Freude und der Stolz des alten Vaters, der diesen einzigen Sohn in reifem Alter bekommen und für sich selber mit jedem weltlichen Vergnügen bis zur Tyrannei gegeizt hatte. Es war dessen Ehrgeiz und zugleich seine Schwäche gewesen, den Sohn auf ganz andere Art heranwachsen zu sehen, genau umgekehrt: leichtsinnig, gedankenlos, launisch, verschwenderisch, ohne Willen zu arbeiten, und je mehr er zum Mann wurde, um so gieriger nach 20
allen jenen Verlockungen, die seine Zeit zu bieten hatte. Als ob ein Wettstreit zwischen Sohn und Vater entbrannt wäre, für den einen im Ausgeben, den anderen im Bezahlen. Und je tadelnswerter das Verhalten des ersteren war, ein um so größeres geheimes und uneingestandenes Vergnügen schien es dem zweiten zu bereiten. Bis er endlich nach dem Tod des Vaters, der in seiner letzten Lebenszeit die Größe seines Irrtums gegenüber dem Sohn eingesehen hatte, ohne sich ihm widersetzen zu können, heruntergekommen bis zum Ruin und noch nicht alt, nach fünf traurigen Jahren fortschreitender Krankheit starb, eine Frau zurückließ, die ihn nur um wenige Jahre überlebte, vier Töchter und einen Besitz, so mit Schulden und Hypotheken belastet, daß er der Familie gerade noch erlaubte, ihn als Wohnung zu benutzen. Solche Zügellosigkeit des Vaters, zusammen mit dem stillen Leid der Mutter, einer sanften und unterwürfigen Person, die ein Leben voll Sorge und Entsagung, voll Demütigungen geführt hatte, bis sie endgültig verkümmerte, ließ die Töchter klug und ruhig heranwachsen, der Härte des Lebens und seinen Kämpfen zugewandt, leiderfahren, arbeitsam, ohne alles Verlangen nach Freude; so als ob sie nie ein anderes Gebot vernommen hätten, als das Unrecht des Vaters in moralischer und materieller Beziehung wiedergutzumachen. Als sein letzter Augenblick nahte und der durch den völligen Ruin jähzornig gewordene Mann auf dem Grunde seiner Seele kein Wort der Güte oder der Ergebung mehr gefunden hatte, als sich seine Augen im Schatten des Todes schon verdunkelt hatten, scheuchte er die Frau von seinem Bett hinweg und schrie sie an: «Du bist das, du Sau, die mir so dunkel macht!» Es war der Abschiedsgruß des Gatten und Vaters. Teresa und Carolina hatten schon frühzeitig in Florenz die Schule einer berühmten Meisterin der feinen Weißnäherei besucht und von Anfang an ganz besondere Anlagen gezeigt, die erste für die Zuschneiderei, die zweite für das Zeichnen und Sticken; so daß sie, kaum über zwanzig, nachdem sie sich 21
in ihrem Haus eingerichtet hatten, ein neues Leben aufbauen, für den verarmten und kranken Vater sorgen und das Schicksal der Familie vom Rand des Abgrunds zurückhalten konnten. Sie waren noch nicht 30 Jahre alt, als der Vater starb, und schon im sicheren Aufstieg zu einer Position, die sie zum Vorbild und Gegenstand der Bewunderung für die anderen und zur innerlichen und berechtigten Genugtuung für sie selber werden ließ. Allein geblieben, konnten sie in wenigen Jahren atemloser Arbeit, unterstützt durch den Rat einiger guter und uneigennütziger Menschen, mit einer ersten Anstrengung, der schwersten, die Loslösung des Besitzes aus den Fesseln der Hypotheken auf Haus und Hof einleiten, eine Befreiung, die nach jenem Schritt immer rascher und leichter vonstatten ging, bis sie wieder wie von selbst in ihren Besitz übergingen. Die eigentliche Näherin war Teresa, und sie galt zu jener Zeit auf diesem Gebiet als die beste, die geschätzteste in der ganzen Stadt, so sehr, daß man sie von allen Seiten aufsuchte, obwohl sie so abgelegen wohnte und ständig Arbeit abweisen mußte. Keine junge Dame aus vornehmer oder reicher Familie, keine Tochter von Industriellen oder Kaufleuten, die nicht in ihrer Aussteuer, wenn nicht alles möglich war, wenigstens ein paar Stücke haben wollte, die aus jenen berühmt gewordenen Händen hervorgegangen waren. Die Aussteuern wurden ein oder zwei Jahre im voraus bestellt, und unter einem halben Jahr wurde keine Bestellung angenommen. Das überraschendste war, zu sehen, wie die Moden ohne Verzögerung in einen abgelegenen und bescheidenen Winkel des flachen Landes gelangten und wie in der Werkstätte jenes bizarren Zimmers von jenen Frauen, deren Äußeres nicht die leiseste oder entfernteste Vermutung von Moden und eleganten Dingen andeutete, die Neuheiten mit feinstem Empfinden für das Passende und den guten Geschmack aufgenommen, kritisiert, gesichtet, ausgearbeitet wurden. Carolina führte die Weißstickereien aus und unterstützte 22
damit die Schwester in einer Arbeit von größerem Umfang und schnellerem Gewinn, indem sie sich auf die Ausführungen von solcher Zierlichkeit und Feinheit, von solcher Kunstfertigkeit auf ihrem Gebiet spezialisierte, daß sie den schärfsten Beurteiler in Erstaunen setzte. Es gab keinen Stich auf dieser Welt, der ihr unbekannt war und auf dessen Ausführung sie sich nicht verstand oder den sie, einmal gesehen, nicht nachzumachen imstande gewesen wäre, so daß sie also alte Spitzen und Schleier, Stickereien aller Epochen beurteilen und ausbessern konnte. Wie die Schwester der Wille, der anordnende Geist war, so war Carolina die Künstlerin. Von den ersten Jugendjahren an hatte sie, wie die Schwester für das Zuschneiden und Nähen der Wäsche, die Anlage für die Verzierung, das Talent zum Zeichnen, das feine Empfinden für die Farbe gezeigt. Seinen Gipfel erreichte ihr Können in der Seiden- und Goldstickerei: kirchliche Paramente, Fahnen, Standarten, Flaggen. Damit erklärt sich das Erscheinen von Priestern und frommen Damen, die dem Auto entstiegen, wenn sie ein Geschenk für die Kirche, einen Bischof oder Kardinal zu machen hatten. Denn auf diesem Gebiet brachte sie Wunderwerke zustande, die den Vergleich mit den besten Stücken aushielten, die in den Glaskästen der Museen und Galerien zu bestaunen waren und die sie von Jugend an mit außergewöhnlicher Begabung studiert hatte. Wenn Carolina eine Arbeit zu vollenden hatte, ein priesterliches Parament, eine Standarte, eine patriotische Fahne, dann ließ Teresa die Hemden und Höschen liegen, nahm gleichfalls Seide, Gold und Silber zur Hand und half der Schwester mit der Unterordnung der Schülerin, der Ausarbeiterin; und ebenso machte es Carolina, wenn sie der Schwester bei einer wichtigen Aussteuer half, soweit es die Modelle und die Näharbeiten betraf, auf welche die Verzierung abgestimmt werden mußte. Wie ich euch schon gesagt habe, wiesen sie täglich Arbeit ab oder übernahmen sie für unbestimmte Termine, da sie nie 23
eine Schule begründen oder gar nach Florenz übersiedeln wollten, um dort eine Werkstatt großen Stils aufzumachen, wie es von allen Seiten gewünscht wurde. Außer dem einen oder anderen jungen Mädchen aus der Nachbarschaft, das aus Gefälligkeit aufgenommen wurde, meistens eine Mieterin, die sie wie jemand aus der Familie unterwiesen hatten, oder einer vertrauenswürdigen alten Arbeiterin, die sie in Notfällen kommen ließen, hatten sie keine weitere Unterstützung gesucht, und was eine Verlegung nach Florenz betraf, so dachten sie gar nicht daran, solange alle sie dort aufsuchten, wo sie geboren waren und wo sie immer gelebt hatten. Darin bestand im wesentlichen das Geheimnis des Erfolges: die Arbeit war ganz die ihrer erfahrenen Hände, in jedem Stich untadelig, gleichmäßig, das, was für sie eine unendliche Mühe bedeutete. In früheren Zeiten, als es noch jene Art von Verhältnissen gab, war unter ihrer Kundschaft auch die eine oder andere berühmte und verschwenderische Mätresse gewesen, eine Gattung, die ich vorher ausgelassen habe, da ich sie für etwas Fremdartiges, außer der Norm Liegendes hielt, sehr vorteilhaft jedoch für unsere Schwestern, denn die erwähnten Damen trieben einen großen Aufwand an luxuriöser Wäsche, ohne auf die Kosten zu achten, da ihre Einnahmen mühelos und reichlich waren. Es konnte vorkommen, daß in dem Salon, der Werkstatt und Laden zugleich war, die große Dame und die Fromme und sogar der Priester mit einer von ihnen zusammentrafen, die einen wegen der Schmuckgewänder des Geistes, die andere wegen der des hinfälligen Körpers, die sie, um dessen unendliche Hinfälligkeit noch mehr zu betonen, immer noch zarter, geradezu durchscheinend haben wollte. In solchen Situationen blieb Teresa unbewegt, Herrin der Lage, die nie einen Punkt aus dem Auge verlor: den Vorteil des eigenen Unternehmens. Carolina drehte und wendete sich in solchen außergewöhnlichen Fällen unablässig hin und her, als ob die anderen nur zu dem einzigen Zweck da wären, 24
sie zu bewundern. Die Dame wurde bei einem solchen Zusammentreffen ausweichend, hochmütig, zerstreut und vor allem kurzsichtig, von einer so plötzlichen Kurzsichtigkeit, daß sie ein so kleines Ding wie die andere Kundin neben ihr nicht wahrnehmen konnte. Die Fromme dagegen hatte sich mit einem Schlag in sich selbst zurückgezogen, nach Art des Igels, der beim geringsten Geräusch zur stachligen Kugel wird; anschließend war sie verschwunden. Und der Priester, der vielleicht dachte, daß der Herr eines Tages auch ihr Herz berühren würde, hatte sie in Voraussicht jener künftigen Erschütterung wohlwollend betrachtet. Gewisse Begegnungen bildeten ein besonderes Kapitel in der Geschichte unserer Schwestern. Aber das Herzstück dieser Kapitel stellte eine Reise nach Rom dar, die zu ihrer Zeit ein so großes Ereignis war, daß das Dorf darüber in Aufruhr geriet: die ganze Pfarre von Santa Maria sprach noch viele Monate lang davon. Nachdem sie ein Meßgewand für einen Kurienkardinal angefertigt hatten, das bis in die Vorzimmer Seiner Heiligkeit höchste Bewunderung fand, wurde den beiden Schwestern durch Vermittlung des Kardinalerzbischofs von Florenz mitgeteilt, daß der Heilige Vater sie zusammen mit einer Gruppe weniger Personen in Privataudienz empfangen würde. Diese Nachricht brachte die Nachbarschaft außer sich. Vom Pfarrer bis zum letzten Gemeindemitglied kam alles zu der Fenstertür, wo die beiden Schwestern, ganz von ihrer Reise erfüllt, wie sonst arbeiteten. «Die Materassi in Rom! Vom Papst empfangen!» Alle wollten wissen, ob es wahr sei, ob sie hinfahren würden und wann, vor allem aber, was sie anziehen würden, da jeder wußte, daß man ein besonderes Kleid braucht, um beim Papst vorgelassen zu werden. Auch die kraftvolle Teresa hatte in jenen Tagen die so hart errungene und bewahrte Ruhe verloren. Carolina bekam Krisenzustande, in denen sie weinte und sich fast fürchtete. Sie fühlte, daß die Füße sie im letzten Augenblick nicht mehr 25
tragen würden und daß sie nur in Rom ankommen würde, um ohnmächtig umzusinken. Sie litt an phantastischen Vorstellungen, hatte Schlaf und Appetit und sogar die Lust zum Arbeiten verloren. Um sich von dieser Aufregung abzulenken, beschlossen sie, dem Papst ein Geschenk zu bringen, eine prachtvolle Stola, an der sie während jener Zeitspanne, die sie von der Abreise trennte, gemeinsam Tag und Nacht arbeiteten. Carolina entwarf die Stola in strenger, klassischer Schönheit, die auf der rechten Seite einen Christus am Kreuz und auf der linken einen heiligen Petrus zeigte. Einen Monat lang sprach die Weiblichkeit der Nachbarschaft von nichts anderem als von der Stola und dem Besuch. Ob sie damit fertig würden, wenn sie auch den ganzen Tag und einen großen Teil der Nacht daran arbeiteten? Wie der Christus wohl aussehen würde? Das Blut der Wunden? Und das Schwierigste: das Gesicht des heiligen Petrus. Beinahe, als ob sie alle die Arbeit auszuführen hätten. Diese Stola durfte man mit Recht das Meisterwerk der Schwestern nennen. Carolina nahm in diesem Monat drei Kilo ab; und dann war der Christus fertig und auf der anderen Seite der Heilige mit den großen, klaren, zum Himmel blickenden Augen. Von einem Prälaten aus Florenz begleitet und zugleich mit zehn oder zwölf anderen frommen Frauen näherten sie sich an einem Junimorgen von tiefem und gleichmäßigem Blau, zitternd wie erschreckte Tauben und auf einer Droschke schwankend, die über das Pflaster des Platzes hüpfte wie über das Kiesbett eines Flusses, schwarz gekleidet und den Schleier in die Stirn gezogen, dem apostolischen Palast; aller Mut hatte sie verlassen, und je näher sie ihm kamen, um so mehr wuchs in ihnen das Gefühl, von dem gewaltigen Schlund jenes majestätischen Bauwerks verschlungen zu werden. Mit einer anderen, gleichfalls von einem Prälaten begleiteten Gruppe wurden sie eingelassen, zugleich mit einer 26
Gruppe von Priestern, die für sich standen. Sie wurden in die Benediktionsaula geführt und warteten nun auf den Augenblick, wo sich die Tür öffnete, durch welche der Papst erscheinen sollte und auf die alle starrten und kaum mehr zu atmen wagten. Mit einemmal ging die Tür mit solcher Leichtigkeit auf, als ob sie ein Pappdeckel gewesen wäre, und ein Lichtbündel kam aus dem anderen, von der Sonne durchleuchteten Saal. Dort erschien Seine Heiligkeit. Es war Pius X., und es war der Juni, welcher dem europäischen Weltbrand vorausging. Der Greis mit dem silberweißen Haarbüschel, das unter dem Käppchen hervordrang, dem rosigen und voll väterlicher Liebe lächelnden Gesicht begann nach der Reihe an jedem seiner im Halbkreis knienden Besucher vorüberzugehen, wobei er zu jedem einige Worte sprach und den höchsten Segen dieser Erde erteilte. Als der Prälat sagte, daß sie die zwei Stickerinnen aus Florenz wären, welche die Seiner Heiligkeit zum Geschenk überbrachte Stola angefertigt hätten, nahm er mit einer zarten Bewegung ihre Hände in die seinigen, um sie zu sehen, indes er zu beiden sagte: «Brav, brav, gut.» Die armen Wesen, die da vor ihm knieten, konnten nichts weiter als weinen, aber nachdem Teresa, von Schluchzen unterbrochen, die Kraft zu sprechen gefunden hatte, nahm sie einen Anlauf: «Für die Seele unseres Vaters! Für die Seele unserer Mutter!» Und der Papst lächelte nachdrücklicher und nickte, nachdem jene, da das Eis einmal gebrochen war, Miene machte fortzufahren: «Für unsere Schwester von Ancona! Für die von Florenz! Für alle Bewohner unseres Dorfes!» Und der Papst stimmte kopfnickend zu und gab zu verstehen, daß der Segen auch für die gültig wäre. Carolina, die nicht imstande gewesen war, den Mund auf zutun, aber verwundert vernommen hatte, was die Schwester zu erbitten wagte, brach nun, da sie den ihrigen einmal geöffnet hatte, in den Ruf aus: «Niobe!» Worauf der Papst mit einem so offenen Lächeln, daß sein roter Mund sichtbar wurde, dem ein paar Zähne fehl27
ten, das Gesicht Carolinas zwischen die Hände nahm, wie bei einem Kinde. «Für alle, für alle», sagte er zu ihr, bevor er weiterging. Zu jener Zeit, da diese Erzählung beginnt, waren die Schwestern Materassi 50 Jahre alt. Auf dem Gipfel ihrer beruflichen Laufbahn und aller ihrer geheimen und eingestandenen Wünsche angelangt, seit einigen Jahren wieder im vollständigen Besitz ihres väterlichen Grundstücks, dessen Erträgnisse genügt hätten, ihnen ein behagliches Auskommen zu sichern, arbeiteten sie weiter mit der fieberhaften Eile schlechter Zeiten; nie dachten sie an ein anderes Leben, so als hätten sie das von ihren zarten Fingern bewirkte Wunder nicht bemerkt und als bestünde das Ziel nicht darin, Ruhe und ein ihnen gebührendes Ansehen zurückzugewinnen. Sie waren so weit gekommen, fast unbemerkt Geld anzuhäufen, ohne den Wert zu kennen und die Lust daran zu fühlen, sowohl an ihrer Arbeit als auch an den Erträgnissen ihres Besitzes, von welchen sie keinen Groschen ausgaben. Man hätte sagen können, daß es nunmehr, da sie einmal vor ihren Karren gespannt waren, die Arbeit war, die sie antrieb, ohne daß sie sich von ihr hätten frei machen können. Daran hatten sie auch nie gedacht, wie sie auch nie daran gedacht hatten, sich von diesem Leben frei zu machen oder seinen Rhythmus zu verlangsamen, um einen Augenblick der Ruhe, des Behagens und der Freude zu genießen, sich ein Vergnügen, eine Ablenkung zu gönnen, eine kleine Reise zu machen, in einer weniger angespannten Weise zu arbeiten. Die Härte ihrer Arbeit war ihr eigentliches Wesen geworden, das zum Endzweck gewordene Mittel. Wenn dieser Gedanke je in ihnen aufgeblitzt wäre, so würden sie diese Leere empfunden und sich wohl zum erstenmal unglücklich gefühlt haben, als ob mit dem erreichten Ziel alles zu Ende wäre, und sie hätten mit leeren Händen dagestanden. Hier, in diesem beschriebenen Zimmer, war ihr ganzes Leben, in einem Chaos von Seiden, Schleiern, Bändern, Wä28
schestoffen und Stickrahmen, von Schachteln, Scheren und Nadeln, in den herrschaftlichen Autos, die vor der Tür hielten, in jenen Besuchen wohlhabender und wichtiger Leute und deren Drängen und Bitten, bedient zu werden. Unermüdlich gingen sie diesen Weg, und man kann sagen, eher eiliger als langsamer. Das war ihr Ziel, über dem sie die Welt vergessen hatten und - daß sie Frauen waren. Sie waren zwei versteinerte Mädchen, von einer Weiblichkeit, deren Spuren nur der erfahrene Beobachter entdecken konnte, selten und undeutlich wie Irrlichter, aus der Asche aufflackernde Flammen, die matt und trügerisch wieder darunter verschwinden. Bei ihnen lebte noch eine Schwester, Giselda, etwa vierzehn bis fünfzehn Jahre jünger, welche dieses Drama verkehrt herum erlebt hatte. Von den vier Schwestern war sie die hübscheste gewesen, fast schön zu nennen. Sie hatte den häuslichen Herd in der dunklen Zeit der Unordnung nicht gekannt, da sie damals noch zu klein gewesen war, um bewußt darunter zu leiden, und erst erblüht, als die Schwestern bereits, allein geblieben, siegreich mit dem Wiederaufbau der Familienexistenz begonnen hatten. Sie hatte keine Arbeit im eigentlichen Sinne gelernt, denn die Schwestern hatten es vorgezogen, sich lieber nicht mit ihr zu befassen, denn das hätte sie nur Zeit gekostet; sie verlangten auch dann keine Hilfe von ihr, wenn ihnen die Arbeit über den Kopf wuchs, sei es, weil sie mit dem nicht zufrieden waren, was Giselda machen konnte, sei es, um sich selber allmächtig zu fühlen. Über ihre Unfähigkeit lächelten sie gutmütig und betrauten sie nur mit leichten und wenig wichtigen Aufgaben: nach Florenz zu gehen, um Aufträge und Einkäufe zu erledigen, zwischen Lieferanten und Kunden das Material und die Botschaften hinund herzutragen, die fertige Arbeit abzuliefern - Dinge, die Giselda aufs beste besorgte, da sie sicher auftrat, intelligent und lebhaft war. Sie hatten auch keine Eifersucht auf ihre Jugend und Anmut gezeigt, da sie sie immer mehr als Tochter denn als Schwester betrachtet hatten und auf ein solches Ge29
fühl und die eigene Großmut gegen sie stolz waren. Bis ein Ereignis, von jenen aus dem Leben verbannten Wesen nicht vorhergesehen und doch so natürlich, mit einem Schlag die liebevollen Gefühle in Eifersucht und Mißtrauen verkehrte. Giselda war zwanzig Jahre alt und in der Fülle ihrer mädchenhaften Blüte, als sie eines Tages den Schwestern eröffnete, daß sie sich verlobt hätte und heiraten wolle. Den Kopf vom Stickrahmen erhoben, schauten jene, bevor sie sie ansahen, einander erstaunt und verblüfft an, verwirrt wie bei der Ankündigung der unwahrscheinlichsten und im Grunde unerwünschtesten Sache. Sie hätte sich mit einem jungen Mann aus bester Gesellschaft verlobt, sagte sie, reich, schön und elegant, und er würde ins Haus kommen, um offiziell bei der Familie um sie zu werben. Diese mit einer gewissen triumphierenden und herausfordernden Keckheit von Giselda ausgesprochene Mitteilung genügte, daß sich ein Eisgraben zwischen den drei Frauen auf tat; der Same einer Zwietracht war ausgestreut, die bestimmt war, auszubrechen und für immer fortzuleben. Und da Giselda mit ihrem weiblichen Instinkt den schlecht verhehlten Groll der Schwestern erkannt hatte, schlug sie, anstatt sich fügsam zu zeigen, um sie zu besänftigen, anstatt die Sache in ihren Augen zu verkleinern, indem sie sie in Befürchtungen und Unsicherheiten eingehüllt darstellte, sich schwach zeigte und Rat und Schutz erbat, den Ton der Sicherheit und Überlegenheit an, den ihr der Sieg gab. So geschah es, da ihre Gefühle die der beiden Schwestern verhärteten und die Gefühle der Älteren wiederum die der Jüngeren, daß Uneinigkeit und Zwietracht schließlich zum vollen Ausbruch kamen, als man erfuhr, daß dieser in Frage stehende junge Mann, reich, schön, elegant und aus bester Gesellschaft, am allerwenigsten für das Gelingen einer Ehe und der künftigen Grundlagen einer Familie tauglich war. Es handelte sich vielmehr um einen üblen Burschen, der bereits die schlimmsten Beweise geliefert hatte, liederlich, gewalttätig, unfähig zu ernster Arbeit, einen Menschen, der immer ein ausschweifendes und skrupelloses Leben 30
geführt hatte und für den die Ehe nichts weiter bedeuten konnte als ein neues Abenteuer. Von allen Seiten kamen schlechte Auskünfte. Aber wie vorhin gesagt, hatte sich das Verhältnis zwischen den Frauen verschlechtert, und als die Schwestern ihr, frei von jener uneingestandenen weiblichen Eifersucht, offen, einzig und allein in ihrem Interesse, abrieten und sich dabei auf all das Unheil beriefen, dessen Zeugen und Opfer sie von ihrer Kindheit an gewesen waren, nahm Giselda die Ratschläge einfach für Eifersucht, die sich unter dem Deckmantel der Fürsorge und Weisheit zu dem Ziel verstecke, den untergründig von den alten Jungfern gegen das glückliche Mädchen gehegten Haß triumphieren zu lassen. Dazu stammte dieser Verlobte aus ganz anderen Verhältnissen, und man konnte ihn auch nicht mit Giseldas Vater vergleichen, den sein Erzeuger so lange Zeit hindurch in seiner Liederlichkeit unterstützt hatte, als ob das Ehrensache gewesen wäre, und ihm dazu noch ein Vermögen zum Vergeuden hinterließ. Nein, in diesem Fall hatte ihn die Familie nach endlosen Kämpfen und Leiden seinem Schicksal überlassen. Giselda heiratete; aber diese fünfjährige Ehe stellte sich nach einem Glück von wenigen Monaten bald als das heraus, was ihre Schwestern vorausgesagt hatten; und so öffnete sie, nachdem sie alle Demütigungen, Entbehrungen und Bitterkeiten, selbst Hunger, ertragen hatte, mit gebeugtem Stolz und vom Schmerz erstickter Stimme den Schwestern ihr Herz. Beim Anhören des Geständnisses erlosch aller Groll. Als die Glückliche und Starke hatten sie sie bekämpft, der Unglücklichen und Besiegten kamen sie mit Güte entgegen und wandten ihr aufs neue ihre Zuneigung und Großmut zu. Nach fünf Jahren der Leiden und Kümmernisse kehrte Giselda für immer unter ihr Dach zurück, indes der Ehemann auch aus der Stadt verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Frau, die durch zwanzig Jahre in jenem heimgesuchten und trübseligen Haus die Sorglosigkeit und das Glück dargestellt hatte, stellte nun das Leid dar. Wieder dahin zu31
rückgekehrt, war sie düster und schweigsam geworden, abgemagert, mit verblühtem, welkem Gesicht; sie hatte alle Anmut und Farbe verloren, fast als ob sich unter ihrem Äußeren mehr als die innere Enttäuschung und Niederlage ihre in Haß gegen den Mann verwandelte Liebe verbergen würde, von dem sie erniedrigt und weggeworfen worden war. Sie war hart geworden, die Lippen kannten nur noch ein bitteres oder spöttisches Lächeln, und sie konnte auch die Mißgunst gegen die siegreichen Schwestern nicht verbergen, die recht gehabt hatten und bei denen sie nun seit zehn Jahren wieder lebte. Jetzt lebte sie bei ihnen nicht als Herrin, denn alles gehörte ja ihnen, noch mit dem Recht, das ihr einstmals der Leichtsinn und die Fröhlichkeit gegeben hatten; anderseits aber auch nicht wie eine Dienerin, denn sie behandelten sie gut, mit Achtung, und wenn sie sie baten, etwas zu tun, geschah es in der freundlichsten und höflichsten Weise, was für ihren getretenen Stolz die größte Demütigung bedeutete. Ihre Stellung war falsch, falsch der Ton des Lebens, des Sichbewegens und Sprechens: ein Wesen, das nirgends recht hinpaßte, am falschen Platz war, unfähig, sich ein selbständiges Leben aufzubauen oder sich sein Brot zu verdienen. Teresa und Carolina dagegen hatten in ihren Gefühlen für die Arme und Besiegte längst vergessen, daß Giselda von einem schönen und abenteuerlichen jungen Mann begehrt worden war — von einem jener Art, die allen Mädchen in jedem Alter nachts in ihren Träumen mit geschlossenen oder offenen Augen erscheinen -, den Giselda mit einer verfehlten Rechnung zu dem zu machen glaubte, wie sie ihn allen Leuten und allen Auskünften und Voraussagen zum Trotz haben wollte. Das eingetroffene Unglück hatte die Schärfe dieses Grolls gemildert und noch mehr das, was die Unglückliche hatte ertragen müssen, bevor sie sich ergab und bis sie die Kraft fand, ihr Herz zu öffnen, weil sie die zum Leiden nicht mehr hatte. Nun war sie beim Verzicht und Haß angelangt, den die geschlossenen, blassen Lippen durchscheinen ließ. 32
Sie wirkte als Verwalterin der Häuser; ihre Übellaunigkeit und Verbitterung waren gerade das richtige, um ohne Schwäche alles zu verwalten. Den Stundungsgesuchen der geringfügigen Mieten der weniger glücklichen und häufig von Unglück und Krankheiten heimgesuchten Mieter gab sie so selten als möglich nach; wie auch im Ablehnen von Instandsetzungsarbeiten, die jene gar zu leicht forderten. Sie trat als Verwalterin auch bei der vornehmen Kundschaft auf, die, wenn es ans Bezahlen ging, nicht immer vornehm ist. Sie verwaltete den Bauernhof- die Bauern wollen bekanntlich eine gute und umsichtige Verwaltung zum gegenseitigen Nutzen; sie machte die Abrechnungen für die Milch, für das Gemüse, die fast jeden Tag nach Florenz auf den Markt gebracht wurden. In diesem Anwesen brachte der Gartenbau ungleich mehr ein als die Ernten, die sich auf ein wenig Korn und Wein beschränkten, einen Landwein, der nicht besonders gehaltvoll war. An all diesen Leuten ließ Giselda ihre Verstimmung aus, die sie eigentlich gegen ihre Schwestern hegte, an denen sie sie nicht unmittelbar auslassen konnte; denn die Schwestern hätten gewiß in ihrer vollen und ruhigen Sicherheit darüber herzlich gelacht und sie damit noch mehr gedemütigt; und ohne sich dessen bewußt zu werden, lachten sie insgeheim darüber, denn diese Mißstimmung Giseldas war ja durchaus zu ihrem Vorteil. Sie machte die notwendigen Einkäufe und Besorgungen in Florenz und ermöglichte ihnen damit, sich keinen Augenblick und aus keinem Grund zu entfernen, genau wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Aber in was für einer anderen Gemütsverfassung ging die Ärmste jetzt durch die Straßen der Stadt! Sie konnte sich nicht einmal mehr an ihre Mädchenzeit erinnern, die ihr in weiter Ferne zu liegen schien, fast so als ob sie alt geworden wäre, um nicht an Verbitterung zugrunde zu gehen. Im Haus verrichtete sie die weniger anstrengenden Arbeiten, räumte die Zimmer im oberen Stockwerk auf, das eigene und das der Schwestern, hielt den ganzen ersten Stock in guter Ordnung und im Erdgeschoß den Empfangssalon, wohin die vorneh33
men Damen zur Anprobe geführt wurden. Niemals aber setzte sie sich zu den Schwestern, um zu arbeiten, und nicht einmal, wenn die Arbeit fertig war, half sie ihnen beim Bügeln; diese waren durchaus imstande, eine Stunde vor dem Morgengrauen aufzustehen und sich nach Mitternacht niederzulegen, um jene heikle Arbeit auszuführen, die sie für sehr wichtig hielten, fast als ob ihr laut höherer Anordnung jede Einmischung in die Arbeit verboten wäre. Sie hielten von ihr als Arbeiterin nichts, und sie, ohne es zeigen zu wollen, verachtete jene Arbeit, aus der ihre Schwestern sich in Ermangelung von etwas Besserem eine Religion gemacht hatten. Für die grobe Arbeit war Niobe da, eine alte Magd. Alt nur sozusagen, denn sie war gleich alt wie die Herrinnen, in deren Dienst sie seit zwanzig Jahren stand. Da sie aber auf alle persönlichen Träume verzichtet hatte, konnten ihre fünfzig leicht mit sechzig verwechselt werden. Niobe war von guter Gemütsart; obwohl ihr Mund viele Zahnlücken aufwies, lächelte er beständig. Sie hatte wenige und graue Haare, die sie auf dem Kopf und an den Schläfen zu einer Frisur zurechtgemacht hatte, wie sie schwer arbeitende Frauen zu tragen pflegen. Klein und gedrungen, mit den Jahren dicker und beinahe unförmig geworden, mit schwerfällig zitternden Rundungen. Es gab kein Wort, keine Handlung oder schlechte Laune, die sie hätten beleidigen können. Wie ein guter Esel beugte sie den Rücken, da sie wußte, daß er zum Tragen geschaffen war, und er trug alles ohne Murren oder ein Zeichen von Auflehnung oder Müdigkeit. Die Schwestern waren ihr von Herzen zugetan, wenn sie sie auch wegen ihres armseligen Äußeren und ihrer stumpfen Gutmütigkeit mit Herablassung behandelten. Auch Niobe hatte ihre Geschichte, eine recht außergewöhnliche Geschichte, von der die Welt nur einen Teil kannte. Nicht daß diese von unerhörten Ausmaßen gewesen wäre, es war ein ganz natürliches Drama. Nein, die Herrin34
nen wollten es so wahrhaben, und die Magd hatte sich ihnen zu Gefallen für eine solche verzeihende Haltung dankbar erwiesen. Die Schwestern bedienten sich dieser Verzeihung wie einer liebevollen und vertraulichen Erpressung, deren Preis ein kleines Lächeln oder Räuspern war, irgendeine Bemerkung, die nur sie allein verstehen konnte. Und im Grunde lächelte sie, so armselig sie war, mehr über ihre Naivität als über die eigenen Taten; es machte ihr nicht das geringste aus, erpreßt zu werden, und sie wäre durchaus bereit gewesen, wenn sie es gewollt hätten, auch noch mit dem Rest herauszurücken. In ihrem Dorf im Valdarno war die arme Niobe, Tochter sehr armer Leute, gezwungen, bei den Bauern als Haus- und Kindsmagd zu dienen. Im Alter von fünfzehn Jahren war sie von einem verheirateten und nicht mehr ganz jungen Pächter ins Unglück gebracht worden, wie man so sagt. Daraufhin wurde sie, nachdem die Geschichte vertuscht worden war, nach Florenz geschickt. Vertuschen soll in diesem Fall heißen, daß heimlich davon geredet wurde bis zum Überdruß, bis zur Erschöpfung der Neugier, die sich an gewissen Orten nicht so bald erschöpft, weil sie keinen anderen Gegenstand als Ersatz hat, und mit einer tausendmal größeren Lust, als wenn man mit lauter Stimme reden kann, mit der die weniger interessanten oder langweiligen Dinge gesagt werden. Dies war der allen bekannte Teil ihrer Geschichte, für den ihr alle volle Absolution erteilten, mit einem Anhang von Beschimpfungen und Schmähungen an die Adresse des Unholds, des Unmenschen, des schändlichen Kerls, der ein unwissendes und unschuldiges Kind mißbraucht hatte. Der andere Teil dagegen, dessen Verwahrerinnen im Dorf nur die Materassi waren und der auch Giselda nicht bekannt war, die sich wenig um die Angelegenheiten Niobes scherte, sowenig wie es sich die zwei alten Jungfern gar nicht vorstellen konnten, bestand darin, daß einmal in Florenz, wo sie in der Odyssee der Dienenden von einem Haus zum anderen wanderte, in ihrem 35
23. Jahr der Schoß Niobes, wie acht Jahre zuvor im Dorf aus ländlichen Ursachen, seinen Umfang wiederum veränderte, diesmal aus städtischen Ursachen, oder auch nichtstädtischen, wenn ihr wollt, und die in jenem diskreten Schatten verblieben, in dem auch wir sie lieber lassen wollen. Wegen des Ansehens der Familie mußte dieser zweite Fehltritt ein Geheimnis bleiben. Denn das Dorf, das für die Fünfzehnjährige Mitleid und Nachsicht in reichstem Maße gehabt hatte, würde sich angesichts des zweiten Palles anders verhalten haben. Niemand konnte Niobe, die nunmehr in den Geheimnissen des Lebens erfahren und in einem vollkommen verantwortlichen Alter war, ein «da capo» zugestehen. Aber nicht nur das, auch viel von der auf dem ersten Verführer lastenden Verantwortung wäre damit von diesem abgefallen, auf dem, obgleich niemand wußte, wer er war, die Verfemung und die Last der Beschimpfungen bleiben mußten. Die eigentliche Wahrheit ist folgende: diese einfache, dumpfe, armselige Kreatur hatte von Natur aus eine starke Sinnlichkeit mitbekommen, die früh geweckt worden und dann unter der Asche lebendig geblieben war. Vor der Zeit in einem mühseligen Dienstbotenleben verbraucht, ließ die leichte Beute der Männer mit einem Blick, in dem noch unbestimmt das Verlangen brannte, den erfahreneren Beobachter erkennen, daß ihr physischer Verfall, ihre Gutmütigkeit und ein Grundbestand an natürlicher Weisheit sie zum Verzicht geführt hatten, aber nicht so weit, die Augen gänzlich zu verschließen. Ein verzücktes Lächeln, das sie nicht zu beherrschen vermochte und das nur ein halber Seufzer oder ein nicht zu unterdrückender und immer gleicher Ausruf unterbrechen konnte: «Ein schöner Schwarzer, bei Gott!», wenn sie einen braunen, starken Burschen erblickte oder von ihm reden hörte, war der äußerste und einzige Herzenserguß der Sünderin. Man versteht, daß die Schwarzen ihre starke Seite gewesen waren... und auch ihre schwache. 36
Bei einem derartigen Ausruf, über dem die Nachsicht der Herrinnen mit Heiterkeit stand, rümpfte Giselda die Nase, nachdem sie der Magd einen Blick des Zornes und Widerwillens zugeworfen hatte. Ein «schöner Schwarzer» hatte auch sie so viele Tränen gekostet und allzuviel Erniedrigung für ihren Stolz, als daß sie mit Sympathie und Bewunderung davon sprechen hören konnte. Zwar hatten sich auch bei der armen Niobe die Schwarzen nicht gut benommen, aber dennoch konnte sie ihnen nicht gram sein, und ihre lebhaften Augen wurden bei jenem Anblick oder der bloßen Erinnerung weißglühend. Teresa lächelte von oben herab, halb schamhaft, halb belustigt; Carolina fühlte, wie sie bei dieser Freude eine seltsame Schwäche durchrann, die das alte Mädchen zu verbergen suchte und von der sie nicht wußte, was sie zu bedeuten hatte, und die von der Kehle immer weiter hinabglitt und die ganze Person in Schwingungen versetzte. Wenn sie auch die Schwäche verbergen konnte, so konnte die Ärmste doch ihren Verlauf nicht verbergen. Die zwei Stickerinnen rührten sich nie von ihrem Näharsenal weg, um das sich in achtungsvoller und angemessener Entfernung alles übrige bewegte: die Magd, die Schwester, die Dorfbewohner, die kamen, um sie zu begrüßen, und von denen sie einen bemerkenswerten Abstand zu halten verstanden, indem sie antworteten, ohne den Kopf vom Stickrahmen zu erheben, höflich und zurückhaltend wie zwei Königinnen vom Thron herab. Wer gar ein Kind auf dem Arm hatte, wagte sich nicht über die zweite Stufe vor der Tür hinaus oder setzte sich nieder wie am Fuß eines Altars; und dem Kind war nur erlaubt, mit den Händen zu deuten, denn die Mütter flößten diesem Hindeuten wie in der Kirche Schweigen und Ehrfurcht ein. Den Schwestern mißfielen kurze, ergebene Besuche durchaus nicht, welche die Nachbarschaft an ihrer Tür abstattete und sie dabei über so viele kleine Dinge auf dem laufenden hielt, die dazu dienten, sie in guter Stimmung 37
zu erhalten, ohne sie abzulenken: pikante Nachrichten, das Neueste vom Tag, Liebesgeschichten am Horizont oder im vollen Mittag, Knoten, die sich schürzten oder auflösten, Verlobungen, die den heiligen Bund vorwegnahmen, weil bereits ein starker Vorschuß auf das Kapital genommen war, der sich im Verlauf einiger Monate nicht mehr verheimlichen ließ; kurzum, Klatsch und Tratsch, bei dem die Schwestern taten, als ob sie ihn mit Würde kurz von sich wiesen, nachdem sie sich bis ins kleinste informiert hatten. Die Schwiegertöchter ließen sich über ihre Schwiegermütter aus, und diese sparten nicht mit giftigen Pfeilen an deren Adresse. Zwischen den streitenden Parteien übernahmen die Schwestern sogleich die Rolle des Friedensstifters. Während sie taten, als ob sie es nicht beachteten, bemerkten sie die Abwesenheiten, die zu seltenen Besuche. Sie fragten, ob diese oder jene krank sei, sich nicht wohl fühle und warum sie sich denn so lange nicht mehr habe sehen lassen. Von Zeit zu Zeit erschien im Halbdunkel unter der Tür des großen Zimmers Niobe. Die Tür war ihr gewohnter Rahmen, und sie blieb dort zuhörend oder nach einer Neuigkeit fragend, bestätigte ein Gerücht, fügte von sich aus eine kleine Auskunft hinzu und gab ihr Urteil in dem Ton ab, der so recht zu ihr paßte, die Dinge eben laufenzulassen: reg dich nicht auf, das Leben ist kurz... Worauf die Schwestern, gemeinsam den Kopf hebend, einen verständnisinnigen Blick wechselten: Zu ihrer Zeit hat sie die Dinge nur zu sehr laufenlassen, und wie das Leben war, wußte sie wohl. Aber über diese scherzhaften Beiläufigkeiten hinaus schienen die Frauen während der Arbeit kein Geschlecht zu haben und die Dinge, die den anderen passierten, einer anderen Welt anzugehören, über die man mit Abstand, ohne Interesse spricht oder scherzt. Ihre Urteile und Bemerkungen waren immer großmütig und nachsichtig, ohne einen Schatten von Beteiligung. So kam es, daß alle die Schwestern Materassi mit gutem Grund und ohne 38
Ausnahme für Frauen von legendärer, unwahrscheinlicher Tugend hielten. Wenn man aber, während irgendein Weiblein da war und redete, das Motorengeräusch eines Autos hörte, löste sich die Besucherin auf wie Nebel in der Sonne; und wenn sie nicht rechtzeitig genug hatte verschwinden können, so drückte sie sich mit ihrem Kind an der Brust an die Wand und verneigte sich unterwürfig beim Vorüberkommen erlauchter Besucherinnen. Diese demütige Huldigung wurde dann von den zwitschernden Damen lachend erwidert. Um die Schwestern Materassi als Frauen zu sehen, mußte man sie fern von der Arbeit überraschen, außerhalb dieses Zimmers. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen, denn obwohl sie fromm waren, hielten sie die Sonntagsruhe nur zur Hälfte ein. Am Sonntagmorgen, wenn es zum zweitenmal geläutet hatte, huschten sie zu jeder Jahreszeit mit einem Schal auf dem Kopf und im Hauskleid unter einem schwarzen Mantel in die erste Messe und blieben dann bis nach ein Uhr an der Arbeit, bis Niobe kam, um sie zu Tisch zu rufen. Nach dem Essen, das sich mit einer an den übrigen Tagen unbekannten Behaglichkeit abspielte, stiegen sie in ihr Schlafzimmer hinauf, und dort eingeschlossen, verwendeten sie, ohne sich dessen mehr bewußt zu werden, den ganzen Nachmittag dazu, ihre Weiblichkeit wieder auszugraben. Sie begannen mit der Pflege und Reinigung des Körpers, die an den übrigen Tagen vernachlässigt oder zu flüchtig vorgenommen wurde; mit dem Wechsel der Wäsche von einer übrigens klösterlichen Strenge, welche Niobe auf den zwei Seiten des großen Bettes für sie ausgebreitet hatte und die sie außer Haus von einer einfachen Näherin anfertigen ließen. Sie dachten nicht daran, ein Hemd für sich selber zu machen, noch hatten sie je daran gedacht, auch den eigenen Körper mit den Raffinessen ihrer Kunst zu schmücken. Vielleicht hätten 39
sie bei diesem Gedanken das Kreuz geschlagen, als ob jenes eine andere Welt wäre, die Welt der Seele, die nichts mit ihren Personen zu tun hatte. Wenn man sie während gewisser Hantierungen reden hörte, konnte man sie für zwei andere Frauen halten, nicht jene in dem mit Stoffen und Stickrahmen angefüllten großen Zimmer im unteren Stockwerk; auch ihre Übereinstimmung schien zu Ende zu sein. Man hörte sie einander widersprechen, nicht mehr herzlich, nicht mehr die eine der anderen vorbehaltlos untergeordnet, sondern bereit, sich aneinander zu messen, bereit zu Kritik und Spott, vielleicht auch zu Grausamkeit. Man konnte merken, wie das eigene Ich gegeneinander ausgespielt wurde. Es war ohne weiteres anzunehmen, daß jene musterhaften, außergewöhnlich starken, tugendhaften und strebsamen Frauen, die ein leuchtendes Beispiel vollkommener Verschmelzung gegeben hatten, fern von der Arbeit das Schicksal aller anderen Schwestern dieser Erde teilten. Sie waren nämlich alles andere als nachgiebig und unterwürfig, sondern vielmehr aufrührerisch, boshaft, neidisch, unverschämt, geschwätzig, voll Eifersucht aufeinander, und bei alledem liebten sie einander von Herzen und blieben Schwestern. Wenn diese persönliche Pflege vollzogen war, welche die eine in der einen, die andere in der anderen Ecke des geräumigen, niedrigen Zimmers vornahm, das schon den Großeltern gehört hatte und ihnen als jungen Mädchen nach deren Tod zugewiesen worden war und in dem ein riesiges, quadratisches Ehebett auf vier Säulen aus Nußbaumholz stand, das etwas Keusches bewahrte, und mehr noch Heiliges als Keusches, wie ich sagen möchte, begannen sie den Schrank und die Kommode zu öffnen, wobei es ihnen sichtlich unangenehm war, bei bestimmten Handgriffen zusammenzutreffen, vor allem bei der Kommode, wo jede zwei Schubladen belegt hatte. Da Carolina die zwei unteren hatte, ließ sie ihren Ärger über diese Zurücksetzung deutlich merken. Oder wenn die 40
eine beim Darangehen die Schublade der anderen offen fand, so daß sie ihr den Weg versperrte, schob sie sie barsch, schier zornig wieder zu, stieß sie ohne Rücksicht einfach hinein. Waren das dieselben, die in dem Zimmer zu ebener Erde wie ein einziges Wesen erschienen? Die eine am Mund der anderen hängend? Die einander die Schritte ersparten, sich gegenseitig anboten, einander zuvorkamen und fortgesetzt Dienste erwiesen? So weit, daß sie eine Nadel oder einen Faden suchten, den Fingerhut oder einen Knopf aufhoben und einander so weit ergeben waren, wie es für den gemeinsamen Sieg notwendig war? Welches war das echte Gefühl, welches, was sie in ihrem Näharsenal zeigten oder an den anderen Orten, während der seltenen Intervalle, in denen sie zwei Frauen wurden wie alle anderen? Aus dem Schrank und der Kommode begannen sie sagenhafte Dinge herauszuzerren und wieder hineinzustopfen, Kleider, viele Jahre alt, Schärpen, Schleifen, Schleier, Kragen und Pelerinen, die sie als junge Mädchen getragen hatten oder die der Großmutter und der Mutter vor 40 oder 60 Jahren gehört hatten, ein Teil ihrer Brautausstattung gewesen waren oder weiß Gott wie sonst hierhergekommen waren. Jäckchen mit Flittern, Boleros aus Plüsch, Haarnadeln und Kämme, von denen sie nicht einmal wußten, wo sie herkamen, so wenig kümmerten sie sich darum und so unerfindlich war ihre Herkunft. Sachen, die kein Mensch auf der Welt zu tragen gewagt haben würde und die in dem Augenblick, da sie sich damit schmückten, eine entscheidende Bedeutung annahmen. Sie schmückten sich damit wie mit kostbaren und hochmodischen Dingen, die jedermann in Entzücken versetzen mußten. Eine Tatsache, die klar erkennen läßt, daß sie nicht nur außerhalb des Lebens, sondern ebenso außerhalb der Zeit standen. Nachdem sie sich die Taille und den Hals mit Schleifen, die Brust mit irgendeinem anderen Plunder, den Kopf mit Haarnadeln und funkelnden Kämmen geschmückt hatten, fingen 41
sie um die Wette an, sich das Gesicht zu pudern, als ob sie sehen wollten, wer es am besten und am meisten könnte; wenn sie dann eingemehlt waren wie Fische vor dem Backen und nachdem sie vor dem Spiegel tausend Grimassen und Drehungen gemacht und ihre Figur, die sie nach sieben Tagen wiedersahen, nach allen Seiten betrachtet hatten, pflanzten sie sich nebeneinander, Ellbogen an Ellbogen, die Arme auf das Fensterbrett gelegt, am Fenster auf. Was mochte der Gegenstand ihrer Gespräche sein? Bei irgendeinem anderen Paar unverheirateter Frauen wäre das leicht zu erraten gewesen; aber bei diesen beiden, wer hätte es sagen können? Nun, ob ihr es glaubt oder nicht: die Liebe war es. Jenes Fenster ihres Schlafzimmers war das einzige im Haus, das auf die Straße hinausging; auf eine Straße, die bekanntlich mit wenigen Schritten zu anmutigen und reizvollen Hügeln führt, wie dem von Settignano, die dichtbesiedelt sind, oder auch zu entfernteren, wie dem von Vincigliata. Dort stehen weder Häuser noch Villen, sondern rings um die Burg dehnt sich ein Wald aus, der zu ihr gehört, mit karger Vegetation, die auf Geröll und Felsen wächst, dem Wanderer geöffnet und gastlich durch die tausend Unebenheiten des Bodens, vor allem die Höhlen der verlassenen oder noch im Abbau befindlichen Steinbrüche, die der Liebe und ihren endlosen Heimlichkeiten und Freuden so günstig sind. Am Sonntag also bewegte sich auf jener Straße unter dem Fenster unserer Schwestern eine Prozession von Paaren und Pärchen, die ihre Schritte dort hinauf lenkten, unsicher und zaghaft oder auch sicher und nur von Verlangen erfüllt. Man darf nicht glauben, daß alle diese vielen Paare aus jungen und schönen oder wenigstens frischen Geschöpfen bestanden, welche die überschäumende Jugend ihrer zwanzig Jahre zur Schau trugen, die so reich an Freude ist, daß sie auf Schritt und Tritt davon verschenkt und ausstreut, ohne es selbst zu merken; sondern da gab es alle möglichen, jeden Alters und zuweilen von solcher Form und solchem Mißverhältnis, daß 42
sie nichts weiter als ein wenig Duldung oder Heiterkeit aussäten, da die Liebe in jeglicher Gestalt niemals traurig ist. An jenem Fenster blieben die Schwestern bis zum Dunkelwerden und darüber hinaus, und nur zögernd trennten sie sich davon und redeten von einer nicht vorhandenen amourösen Vergangenheit, die sie, vom Vorüberziehen der Paare angeregt und getrieben, bis ins Absurde aufblähten und bis zur Rivalität herausstellten. Ihre Liebesgeschichten waren nicht deswegen nicht vorhanden, weil alle die beiden Schwestern zurückgestoßen oder keiner sie begehrt hätte; daß wir uns recht verstehen: Sie waren nicht häßlicher als so viele andere, die einen Mann bekommen, und bei ihren Verhältnissen hätten sie beide eine Partie machen können; es war ihre absolute Unaufmerksamkeit, die sie hatte ledig bleiben lassen, indem sie ihren Stolz und Ehrgeiz auf eine andere Ebene verschob. Die Schuld lag ausschließlich bei ihnen und nicht, wie Giselda boshafterweise sagte, weil nicht einmal der Teufel sie haben wollte. Es lag ganz an ihnen und ihren besonderen Verhältnissen, denn einen Armen hätten sie nicht genommen, und ein Herr von Stand seinerseits hätte sie nicht genommen. Sie hatten sich unbewußt abseits gestellt. Keiner hatte sich genähert, weil es ihnen am Fluidum fehlte, an der Übereinstimmung, an der Aufmerksamkeit. Keiner hätte gewußt, wie es anfangen, wie ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil er sicher war, bei diesen nicht anzukommen. Keine der Schwestern würde ihn beachtet haben, keine hätte Zeit gehabt, ihn anzuhören, oder würde, aus den Wolken fallend, nur die Achseln gezuckt haben. Aus der Sache war also nichts geworden, weil nichts daraus werden konnte. Das schönste aber war, daß sie dennoch in überstürzter Folge Namen von Männern aufzählten: Guglielmo, Gaetano, Raffaello... Als ob sie sich damit gegenseitig übertrumpfen wollten, ein unanfechtbares Dokument und eine Überlegenheit zu zeigen, die andere außer Gefecht setzen. Teresa pflegte von dem Sohn eines Advokaten zu sprechen, 43
der vor 30 Jahren in jener Gegend in der Sommerfrische gewesen und später der beste Rechtsanwalt von Florenz geworden war; auch von einem anderen, der mit viel Glück eine bekannte Industrie von Haushaltsartikeln aufgebaut hatte und damit reich und angesehen wurde. Und von einem dritten, der nach Amerika ausgewandert war und dort durch Herstellung von Nudeln Millionen gescheffelt hatte. Sie verstieg sich zu Einzelheiten und machte damit die Möglichkeit glaubhaft, die Frau eines dieser Männer geworden zu sein, indem sie Details und Erklärungen lieferte und begründete, aus welchen Ursachen die Heirat schließlich doch nicht zustande gekommen war, als ob sie am Vorabend der Hochzeit zu Wasser geworden wäre; aber immer mit dem Ende, daß einzig und allein diese für den mißglückten Abschluß verantwortlich gewesen sei. Carolina zeigte sich in ihren Erzählungen von der Brutalität der Männer besessen. Je ferner sie davon gewesen war und je weiter sie sich davon entfernte, um so mehr wuchs jenes Bild in ihrer jungfräulichen Phantasie, und beim bloßen Gedanken daran zitterte sie und war davon aufgewühlt, als ob jene Dinge, die nie geschehen waren, sich am Tag zuvor ereignet hätten. Nachdem sie sich einem Arztsohn nach sehr lebhaftem Kampf verweigert, hätte jener eines Abends auf sie gewartet und sie mit Gewalt überfallen und in einer Aufwallung des Begehrens in eine Hecke geschleudert. Sie erzählte, wie sie durch ein Wunder dem Griff des Wahnsinnigen entkommen, darauf in Krämpfe verfallen wäre und die ganze Nacht in fieberhafter Erregung verbracht hätte, verletzt und von den Dornen der Hecke durchbohrt. Sie beschrieb genau die Stelle, wo sich der brutale Überfall und der wütende Kampf abgespielt hatten, den Tag auch und die Stunde; aber alles war nicht wahr. Von einem Gespräch hatte ihre Phantasie im Verlauf so vieler Sonntage die Dinge bis zu diesem Abschluß weitergeführt, indem sie es zu einer richtiggehenden Vergewaltigung, einem Räuberstück, zum Martyrium wer44
den ließ, und immer mit der Absicht, die Geschichte noch weiter wachsen zu lassen. So wie wahrscheinlich jene spektakulären beruflichen und industriellen Erfolge der Liebhaber der Schwester gewachsen waren, da immer wieder eine Einzelheit hinzugefügt worden war wie bei einem Kunstwerk. Jede der Schwestern aber wußte, daß all das nicht der Wahrheit entsprach oder wieviel Übertreibung zumindest dabei war, und blieb bei der Erzählung gleichgültig, kühl, ausweichend; wobei sie sich aber wohl davor hütete, sie auf die Wirklichkeit herabzudrücken, nur um die Erzeugnisse der eigenen Phantasie nicht zu gefährden. Beim Zuhören trug ihr Mund eine Grimasse des Widerwillens zur Schau, so als ob die andere von schmutzigen und übelriechenden Dingen erzählen würde. Sie zogen durch ihre Gespräche Wesen, die nicht viel mehr als in der Einbildung lebten und zu ihnen gehörten: Sommergäste, kaum gekannte Leute von überragender Begabung und Energie, stark und unternehmend oder brutal und wild, seit Jahrzehnten verschollen, ganz auf einen ungeheuren Erfolg hinzielend oder mit einer bestialischen Tat endend. Gefühle, Anstrengungen, Zärtlichkeiten befriedigten sie nicht, wenn sie nicht zu diesem Ziel führten. Bis Carolina als Schlußnummer sich daran erinnerte, daß, als sie sich mit einem jungen Mann von gutem und feinem Aussehen mit voller Zustimmung aller verheiraten sollte, im letzten Augenblick ein Freund des Hauses zu ihrer Mutter gelaufen kam, um ihr mitzuteilen, daß der erwählte junge Mann einen sehr schwerwiegenden Fehler habe, einen von jenen, wegen dem es Pflicht des guten Bürgers ist, die Familien in Kenntnis zu setzen, und wenn das nicht geht, die Kirche. Die Kirche bezeichnet das als kanonisches Ehehindernis, ein Grund, warum sie die Eheschließung drei Sonntage hintereinander von der Kanzel verkündet, und jeder Pfarrangehörige, der etwas davon weiß, muß wahrheitsgemäß darüber aussagen, damit die Ehe gültig wird. Ein Fehler von der Art, 45
über die man nicht sprechen kann, der aber letzten Endes nicht so traurig sein konnte, da alle Männer der Nachbarschaft darüber lachten und auch der größte Teil der Frauen, die älter oder erfahren waren. Ein Fehler, der das Gespräch mit vielsagenden Verschweigungen beginnen und in Gelächter enden ließ und wegen dem der arme Tropf keine Frau nehmen konnte. Auch das war gar nicht wahr. Der fragliche Mann hatte vor 25 Jahren in der Gegend gelebt, und die Leute hatten in diesem Sinn über ihn geflüstert und gelacht, mit wieviel Grund, ist nicht leicht zu wissen, aber er stand nicht in der leisesten Beziehung zu Carolina, auch wenn sie ihn gekannt hatte wie alle anderen. Es war ihre Phantasie, die sie dahin brachte, sich zu seinem Opfer zu machen und nur durch ein reines Wunder seiner verhängnisvollen Umarmung entgangen zu sein. Die Schwester ließ sie reden, und anstatt sich kalt oder teilnahmslos zu verhalten, griff sie nach und nach in die Erzählung ein, nickte und ermunterte die andere zu ihrer Beschreibung. Ja, wenn schon ein Mann sie haben sollte, war es eben dieser, den sie ihr zu gönnen schien. Die Wahrheit war, daß alle beide die Männer nur vom Hörensagen kannten, vom unbestimmtesten und entferntesten Hörensagen. Die Pärchen zogen unterdessen eng aneinandergeschmiegt vorbei, als frören sie, dabei war es brütend heiß. Sie drängten sich aneinander, als ob nicht einmal die Hitze im Hochsommer genug wäre. Alle warfen einen flüchtigen Blick auf die zwei Schwestern, die ohne Zaudern ihre Prüfung vornahmen, indem sie ganz allgemein die Frauen häßlich, unsympathisch und schlecht angezogen fanden. Mit den Männern dagegen waren sie nachsichtig, bereit, die Vorzüge der Figur oder des Gesichts anzuerkennen, der Art zu gehen und sogar bloß der Augen, der Zähne, der Haare, der Stimme, die Breite der Schultern oder den gutsitzenden Anzug. Was ihnen aber im46
mer unerklärlich blieb, war dies, daß ein schöner oder doch sympathischer oder zumindest eleganter junger Mann sich in eine Fratze, eine Zierpuppe, eine angezogene Bohnenstange verlieben konnte, in eine alte Larve, einen platten Mund, in ein dürres Gestell, in ein böses und widerwärtiges Gesicht. Wie kann man sich nur in so etwas verlieben! Das war ihr gemeinsames Endergebnis. Mit den Frauen waren sie erbarmungslos. Auch wenn sie schön und zierlich waren. Sie wollten einen häßlichen Fehler an ihnen finden, um sie vernichten, herabsetzen, zu Staub verwandeln zu können; sie mußten also zumindest böse sein. Und wenn man dabei bedenkt, daß sie den gleichen Frauen Hemden und Höschen nähen mußten! Und wie schön sie diese nähten, mit welch unübertrefflicher Feinheit, Eleganz, mit welchem Schick, und darüber die Personen und alle Mißgunst vergaßen; denn sonst hätten sie ihnen alles schlecht und schief gemacht, um ihnen weh zu tun, unförmig, um sie häßlich, plump und lächerlich zu machen. «Zu einem Schönen gehört eine Häßliche, das weiß man ja.» «Dieser Besen, wo mag sie ihn nur aufgegabelt haben?» «So eine Larve, die wird ihm schon Hörner aufsetzen!» «Die hellen Augen betrügen Christus und alle Heiligen.» «Hast du dieses Klappergestell gesehen?» «Sie ist ganz aus dem Leim gegangen, schaut aus wie eine Haspel.» «Die dicken Lippen, man könnte Schmorfleisch davon machen.» «Hast du diese Pfoten gesehen?» «Sie wird ein Küchentrampel sein.» Und wenn es unmöglich war, das Mädchen herunterzusetzen, weil es tatsächlich hübsch war: «Natürlich ist sie angemalt, wasch ihr das Gesicht ab und sag mir, was übrigbleibt.» «Die möchte ich einmal früh am Morgen sehen, wenn sie aus dem Bett steigt.» 47
Es war eine einzige Tirade gegen die Frauen und eine wohlwollende Würdigung der Männer, an welchen sie, ob schön oder häßlich, immer etwas zu bewundern fanden. Die Vorübergehenden aber, alle ohne Ausnahme, hielten manchmal kaum das Lachen zurück oder öfter auch nicht. Es war auch wirklich fast unmöglich, beim Anblick der zwei aufgedonnerten Gestalten am Fenster nicht zu lachen. Nur die Männer, die mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren, bemerkten sie nicht einmal, wenn sie auch hinsahen. Wenn sie sie aber bemerken mußten, war das Wort Vogelscheuchen das einzige Ergebnis ihres flüchtigen Interesses. Oder sie sahen sie eben als zwei törichte alte Weiber, die sich in einem respektablen Alter noch schön machen und wie junge Mädchen gebärden wollten. Sie wußten ja nichts von der Tugend und der sauren Arbeit, die den wenigen Stunden solch bescheidener Leichtfertigkeit vorausgingen, und von dieser trübseligen und bizarren Rückkehr zur Weiblichkeit. Aber die Schwestern waren so von sich und ihrem Vergnügen erfüllt, daß sie von dem unfreundlichen Urteil gar nichts merkten. Nur ihre Mieter grüßten sie beflissen, kamen unter das Fenster, um ihnen ihre Aufwartung zu machen, blieben beim Fortgehen oder Nachhausekommen einige Augenblicke stehen. Sie erwiderten nicht wie an den anderen Tagen von oben herab, ohne überhaupt hinzusehen, sondern mit weltgewandten Verbeugungen, wie zwei Damen in einer Theaterloge oder in der Oper, leutselig, heiter, gesprächig; wer sie immer so gesehen hatte, dem fiel das Bizarre ihrer Aufmachung nicht mehr auf, oder er sagte sich, daß die armen Geschöpfe eben so angezogen waren, weil sie nicht einmal wußten, was sie anhatten oder gar was sie hätten anziehen sollen. Mancher erkannte gewisse Sachen wieder, die er vor Jahrzehnten an der Großmutter und an der Mutter gesehen hatte. Eine besondere Merkwürdigkeit bestand darin, daß über dem Fenster, an dem sie sich zeigten, die Mauer nicht mit dem 48
Dach abschloß wie bei allen Häusern dieser Gegend, wo die Dächer den Dörfern oder der Stadt das Gepräge geben, sondern in der horizontalen Linie eines glatten weißen Mäuerchens wie das eines kleinen arabischen Hauses, ungewöhnlich in der Tat, auf dem zwei kleine Vasen aus Terrakotta mit Agaven standen, die unzerstörbar waren und unfähig zu wachsen, verkümmert und klein, was die lächerliche Wirkung erhöhte. In der Morgenfrühe des Montags, wenn sie zu ihrer Arbeit zurückgekehrt waren, mit den großen weißen Schürzen und den Brillen mit dicken Gläsern, waren alle Vergnügungen und Freuden des Sonntags vollständig vergessen. Sie waren zwei andere Frauen: keine Spur von Tand oder Verzierung noch von Puder auf den Gesichtern. Ihr Leben war dieses hier, ganz und gar; ihm hatten sie sich verschrieben, indem sie sich von dem anderen entfernten, von dem eigentlichen Leben, das nunmehr für sie zur Komödie geworden war, das nichts Wirkliches an sich hatte. Wer hätte es für möglich gehalten, daß Frauen mit feinem Empfinden für die weiblichen Moden von hohem Rang, wenn auch bei Bekleidungsstücken von untergeordneter Bedeutung, jedoch nicht zweitklassiger Feinheit und Geschicklichkeit, mit der Fähigkeit, deren zarteste Schattierungen zu erfassen und zu verstehen, welche die elegantesten Damen ihrer Zeit an sich vorüberziehen sahen, einen Nachmittag an diesem Fenster an der ländlichen Straße verbringen würden, so phantastisch aufgeputzt, daß sie wie zwei Komödiantinnen aussahen, und in Gesprächen, die so weit von der Wirklichkeit entfernt waren, in der sie mittendrin steckten? Noch aus einem anderen Bereich hatten sich die Ärmsten ausgeschlossen, ohne es zu merken. Auf dem Land geboren und aufgewachsen, Besitzerinnen eines sehr ausgedehnten, ertragreichen und zu teurem Preis zurückgewonnenen Bauerngutes, empfanden sie für das Land keine Spur von Begeisterung oder Interesse; vielmehr hielten sie Feldarbeit für 49
schmutzig und niedrig, sie verachteten sie. Diesen Fehler hatten sie zum großen Teil von ihrem Vater geerbt, der, in guten Verhältnissen von einem wirklichen Bauern abstammend und vom Glanz des städtischen Lebens angezogen, von Kindheit an den Ursprung des eigenen Wohlstandes verachtet hatte. Gerade deswegen aber hätten sie, nachdem das Glück einmal untreu geworden war, so klug sein müssen, von neuem aus der Weisheit des Großvaters zu schöpfen. Aber vielleicht müssen wir auch diesmal die Arbeit dafür verantwortlich machen, welche alle übrigen Möglichkeiten der Energie aufgesaugt und für den Rest des Lebens nur mehr Schatten und Schlacken übriggelassen hatte. Teresa hielt die Zeit für schlecht angewendet, die man für den Besuch und die Verwaltung des eigenen Landbesitzes aufwendete. Wenn Fellino, der Bauer, mit ihr über die Angelegenheiten des Hofes zu sprechen hatte, antwortete sie ihm rundheraus, er möge sich an Giselda wenden, da sie sich nicht damit befassen könnte, während der Bauer selbstverständlich lieber mit der Herrschaft selbst verhandelt hätte. An Carolina wurden gewisse Anfragen von seiten Fellinos gar nicht erst gerichtet, denn er wußte wohl, daß die Gutsherrin ihm kein Gehör schenken würde. Durch halsbrecherische Verrenkungen würde sie ihm zu verstehen gegeben haben, daß sie einer Welt angehörte, die nicht die der Kohlköpfe und Rüben war, und daß es nicht angebracht war, sie mit solchen Dingen zu belästigen. Giselda war von unmöglichem Charakter und von höchster Interesselosigkeit für die Dinge, die sie verwaltete. Je nach Tagen oder Launen wurden die Vorkehrungen schlagartig beschlossen oder abgelehnt, ohne weiteres Hinundherreden, ohne auf Gründe zu hören, ins Endlose hinausgeschoben, ohne Warum und mit schwerem Schaden, wobei sie die Früchte ihrer Übellaunigkeit und Verbitterung auf den Bauern und das Gut zurückfallen ließ. Mochte die Welt darüber zugrunde gehen, kein Mensch war imstande, sie von einem 50
Entschluß abzubringen, wenn dieser auch den ungeheuerlichsten und offenkundigsten Irrtum darstellte. Da es sich um ein Landgut handelte, das zum größten Teil mit Gemüse bebaut wurde, erwies sich die häufige Düngung des Bodens als notwendig. Der alte Gutsverwalter hatte, als er daranging, zwei Reihen von Kleinwohnungen hinter seinem Herrenhaus zu bauen, sicher daran gedacht, daß vierzehn bezahlende Familien im Verlauf eines Jahres eine nicht zu verachtende Summe einbringen; aber zugleich hatte er an eine andere Sache gedacht, an die nicht jeder denken würde, nämlich daran, daß vierzehn Familien von einem im allgemeinen kinderreichen Schlag eine zweite Miete entrichten würden, ohne es zu merken, die durch gewisse dunkle Leitungen und Sammelbecken fließt, die er in umsichtiger Weise hatte anlegen lassen und die zu nennen nicht fein wäre, die sich jedoch alsbald auf dem Weg über die Kohlköpfe und Rüben in klingenden und glänzenden Reichtum umwandelte. Er war ein Mann, der mit den Füßen auf dem Boden stand, und redete über gewisse Dinge mit Einfachheit, ohne sich hin und her zu wenden, ohne die Nase zu rümpfen oder den Mund zu verziehen. So kam es, daß Fellino, wenn er diesen Segen in die Furchen in nächste Nähe des Hauses gießen sollte, nie die richtige Stunde erriet, um es zu tun, denn die empfindlichen Herrinnen wurden wütend und wiesen darauf hin, daß jeden Augenblick die Damen kommen konnten: die Herzoginnen, Marquisen, Gräfinnen, die geistlichen Würdenträger und die Mätressen. Und dann, weil auch sie, die nicht zu diesen Kreisen gehörten, den Gestank nicht riechen wollten. Es gab keine Stunde, die recht war, denn im Frühjahr und im Sommer, wenn mit dem Gemüse viel zu tun ist, gab es auch mit den Hemden und Höschen viel zu tun, und sie waren durchaus imstande, schon um drei Uhr morgens zur Arbeit herunterzukommen, so daß der Unglückliche, um die Erde zu düngen, die ungewöhnlichsten Gelegenheiten ausnützen mußte: 51
den Mondschein oder heimlich den Sonntagnachmittag, während die Herrinnen im Fenster an der Straßenseite lagen. Wenn dann schließlich der Gestank bis zu ihren Nasen drang, fuhren sie bitterböse und giftig auf und brachten dabei alle Schleifen und Flitter ihres Aufputzes in Gefahr. Aber erst dann, wenn Fellino schon getan hatte, was er tun mußte. Der Bauer hatte seinen eigenen Eingang in einer Seitenstraße; wehe, wenn etwas von ihm zu den Herrinnen gekommen oder bei ihnen durchgegangen wäre, wenn jemand von seiner Familie aus Versehen oder irgendeinem anderen Grund sich ihres Eingangs bedient hätte, der im übrigen bescheiden und in schlechtem Zustand war, aber den die Damen benutzen mußten. Die Frauen aus den Mietshäusern waren wohl bei ihnen zugelassen, sozusagen wie ein notwendiger Chor, sie legten offenbar sogar Wert darauf, und als Zeichen der Entschuldigung lächelten sie gutmütig, wenn eine ankommende Dame sie in die Flucht jagte, aber den Bäuerinnen war es verboten. Die Schwestern haßten die Gerüche des Landes, sie wichen mit Verachtung dem Geflügel aus. Sie wollten nichts von Hühnern wissen, fanden sie schrecklich dumm, widerwärtig, unsympathisch, in einer kindischen Art; sie hatten vor Ochsen eine unvernünftige Angst, schauten auf einen Ackergaul mit Verachtung oder Mitleid und betrachteten den Esel als ein tadelnswertes, unanständiges Tier. Wenn sie am Tag der Weinlese, gegen Ende September, am späten Nachmittag unter den Traubenpflückern erschienen, lud der Bauer zu diesem Anlaß ihre Mieter und andere Bekannte aus der Nachbarschaft ein. Alle liefen ihnen um die Wette entgegen, um sie herzlich zu begrüßen und zu ehren. Sie verließen kaum den Fußpfad, auf dem sie mit Mühe dahinschritten, besonders Carolina, und wenn sie herabstiegen, um über die Erdschollen zu gehen, waren sie alle Augenblicke in Gefahr zu fallen, und alle mußten sie geleiten und stützen. Sie ließen ein paar Trauben in einen Korb fallen, wie einen 52
Ritus von plebejischem Charakter, den sie zu vollziehen geruhten, und da sie nicht imstande waren, sich selber oder auch den Korb zu halten, den irgendeiner sich zu tragen erbot, der ihnen als Läufer und Schleppenträger folgte, ließen sie gleich wieder alles liegen und stehen, um mit sichtlicher Glückseligkeit in ihr Reich zurückzukehren. Sie fanden kein Ende mehr damit, sich die Kleider abzuputzen und die Schuhe von der Erde zu säubern und sich irgendeinen Schmutz wegzuzupfen, irgend etwas Unangenehmes, das sich unvermeidlicherweise angeheftet haben mußte. Und dann flüchteten sie an den beschützenden Busen Niobes, die sie mit weit ausgebreiteten Armen als Heimkehrer von der mühseligen Expedition empfing. Sie nahmen auch die Einladung zum Abendessen und der bei allen Weinlesen üblichen Geselligkeit nicht an, bei der sich die Landleute, nachdem sie gut gegessen und getrunken haben, einer einfachen, mit gepfefferten Scherzen und saftigen Reden ausgeschmückten Fröhlichkeit hingeben. Mit der Entschuldigung, daß sie am Morgen zeitig aufstehen müßten, ließen sie sich nicht blicken. Es lag ihnen allzuviel daran, zu zeigen, daß sie eine Welt bildeten, die mit der der Bauern nichts gemein hatte. Carolina, die tatsächlich unfähig war, auf den Erdschollen zu gehen, fiel schließlich hin und rief ein Durcheinander von Gelächter und Hilfeleistungen hervor; und wenn sie vom Weg aus einen reifen Pfirsich oder eine herausragende und und in Reichweite hängende Feige sah, tat sie, als ob sie danach haschte, und hielt sie, bevor sie sie pflückte, für einige Sekunden fest, so daß man meinte, sie wolle sie, statt zu betasten, auspressen. Dabei ließ sie nicht die Absicht erkennen, zu fühlen, ob die Frucht reif war, sondern die seltsame Verwirrung, die ihr aus dieser Berührung kam, in der sie zögernd, mit halbgeschlossenen Augen verharrte und sich einem Erschauern und einem Fluidum überließ, das, von der Frucht ausgehend, ihren Körper durchrann. Bis sie, aus der 53
flüchtigen Versunkenheit erwachend, sich entschloß, sie zu pflücken, um sie zu essen oder noch eher sie, einmal gepflückt, mit einem gezierten Lachen fortzuwerfen. An einem einzigen Tag des Jahres verließen die Schwestern Materassi die Arbeit, nicht wegen eines Gebotes, sondern zu ihrem eigensten Vergnügen: am Tag des heiligen Franziskus, um sich zum Jahrmarkt von Fiesole zu begeben. Sie hegten eine besondere und zärtliche Verehrung für den Heiligen der Armen, und so gegenwärtig war er ihrem Denken, daß sie ihn als lebendig unter sich empfanden und lieben konnten, ohne jene Scheu oder Furcht, welche Heilige einflößen. Er war der Heilige des Herzens, zu dem sie redeten wie zu einem Freund oder Bruder, den sie eher an ihrer Seite sahen als fern auf einem Altar. Und Carolina, die ihren Geist förmlich ausgepreßt hatte, um das Bild aller Heiligen mit Seide darzustellen, gleichsam ob der Erhabenheit des Auftrages den Atem anhaltend, hatte an der Darstellung des Armen von Assisi vertrauensvoll gearbeitet; und wie sie ihn auf einer Leinwand ohne Gold und Silber allmählich aus der Nadel hervorgehen sah, war sie bis zu Tränen gerührt gewesen. Um ein Uhr, wie am Sonntag, legten sie die Arbeit nieder, aßen ein paar Bissen in einer Eile, wie sie noch der Jugend eigen ist, kleideten sich mit weniger Gesuchtheit an, als wenn sie am Fenster bleiben mußten, mit weniger Firlefanz, aber doch mit einem gewissen Aufwand, der nichts mit der Mode des Tages zu tun hatte. Wenn die Gesellschaft beisammen war, im voraus aus den Hausbewohnern ihrer Wahl zusammengestellt, die frei waren und mitgehen wollten, mit vielen Kindern, etwa 20 oder 25 Personen, begannen die braven Schwestern den steilen Anstieg, um zu dem Jahrmarkt dort oben zu gelangen, ein wenig wie verfolgt oder wie zu einer Eroberung ausziehend; sich in eine Gefahr stürzend, die ihnen tatsächlich drohte, so unerfahren wie sie im Weg und im Gehen unter anderen Leuten waren. 54
Einmal unter der lärmenden, fröhlichen Menge angekommen, blieben sie zwei Stunden lang betäubt, fassungslos zwischen den Karren mit Waffeln und Strohhüten, den Spielsachen und anderem Tand, den langen Reihen gebratener Hühner auf dem blanken Erdboden, dem Lärm der Trompeten und Glocken, außerstande, eine Silbe zu sprechen oder überhaupt zu antworten, wenn sie gefragt wurden, nur immer alles mit verzauberten Augen betrachtend und vom Durcheinander und dem Lärm überwältigt. Es gab keine zwei anderen Stunden im Jahr, in welchen ihre Persönlichkeit bis zu diesem Grad gedämpft wurde, nicht einmal während der Zeit der Sonntagsmesse. Endlich, von dem Getöse betäubt, von dem Getümmel vorwärts gestoßen, traten sie bei Einbruch der Dämmerung den Rückweg an, auf dem sie in dem Maße, wie sie sich von Fiesole entfernten, nach und nach die Munterkeit des Hinwegs wiederfanden, die vom Glanz des Festes erstickt worden war. Auf der Straße von Maiano, an den Mauern und Gittern der vielen Villen entlang, beim Schein der Mondsichel oder der letzten Röte eines schönen, herbstlichen Sonnenuntergangs wurde das Lachen und Singen der Gesellschaft immer lauter und gab den während zwei Stunden des Schweigens in Fiesole eingesaugten Lärm wieder von sich. Hinkend vor Müdigkeit, erschöpft, bedrängt von den Nachbarn und den Kindern, die alle Scheu verloren hatten und sie bei den Armen packten, an ihnen zerrten und sie hin und her zogen, sie zum Laufen oder Stehenbleiben zwangen und sich sogar unter Geschrei und Lachen wie beim Fangenspielen auf sie stürzten, genossen sie diese Stunde, dieses Sichgehenlassen, das sie den anderen gleichmachte. Carolina hatte immer etwas unterwegs verloren, mindestens einen Absatz, oder kehrte mit durchgelaufenen, zerrissenen, offenen Schuhen heim. Ein Häkchen war ihr abgerissen, oder die Öse war zerbrochen, und beinahe hätte sie den Unterrock verloren, den sie mit den Händen festhielt; ein 55
Strumpfband war ihr gerissen oder ein Knopf an der Hose abgesprungen, und sie verlor alles, wenn sie es nicht festhielt. Halbtot ließen sie sich aufs Sofa fallen. Da es keine Beine gab, die weniger als die ihrigen ans Gehen gewöhnt waren, verließ sie die Kraft, die sie bis hierher aufrecht gehalten hatte, mit einemmal, wenn sie angekommen waren, und machte einem völligen Zusammenbruch Platz. Niobe, die am Gitter stand und ihre Hühner kannte, hielt sich für alle Möglichkeiten bereit. Wenn sie einmal auf dem Sofa waren, die eine an die andere gelehnt, warf sie sich zu ihren Füßen nieder, um sie von den Schuhen zu befreien, sie am Hals und an der Taille aufzuschnüren; sie griff ihnen unter die Röcke, um sich zu vergewissern, daß sie noch warm waren; sie begann ihnen Massagen oder kalte Umschläge zu machen, sie an Puls und Schläfen mit Essig und Kampfer einzureihen, bis zu dem Augenblick, wo sie anfingen, schwache Seufzer auszustoßen und die Augen einen Spalt weit öffneten; Seufzer, die zu Klagelauten wurden, wenn sie wieder ins Leben zurückkehrten und einen Schluck Wasser nahmen, in das Niobe ein paar Tropfen Orangenblütenessenz geträufelt hatte. Jede Bewegung war ein Stich, ein Schmerz; sie versuchten aufzustehen, um ins Schlafzimmer hinaufzusteigen. «Ach! Ach!» seufzten sie, sich nach allen Seiten wiegend, ausgerenkt und die Beine nachschleppend. Diese Frauen hatten sich aus der Arbeit eine eiserne Disziplin gemacht, den einzigen Zweck ihres Lebens, und ich möchte zu sagen wagen, ihre Religion, die sie nur am Nachmittag des Sonntags verließen, um einem göttlichen Gebot zu gehorchen, oder für eine Stunde, vielleicht und ohne Begeisterung, um an einem Fest teilzunehmen, wie es die Weinlese auf dem eigenen Hof war; und nur einmal im Jahr aus freien Stücken, um zu einem traditionellen ländlichen Fest zu gehen, das in der ganzen Umgebung berühmt war, weil Fiesole die Königin dieser Gegend ist; zu dem sie wahrscheinlich Vater und Mutter, viel56
leicht schon der Großvater, als Kinder immer geführt hatten; bescheidene, vorn Kalender bestimmte Ruhepunkte, welche die Arbeit nicht im geringsten beeinträchtigten. Aber in ihrem Leben gab es noch ein Ereignis, das durchaus natürlich und unbedeutend erscheinen mag, dessentwegen sie aber die Arbeit für eine kurze Zeitspanne im Stich ließen, zehn oder fünfzehn Minuten im höchsten Fall, aber gleichsam einem Befehl, einem Anruf von außen her folgend, unbekannt, blitzartig, dem man sich unmöglich entziehen kann, und mit einer Entschlossenheit, die uns überrascht, die etwas von Unhöflichkeit, von Anmaßung an sich hat. Auf den schönen Hügeln von Settignano und Vincigliata verschwinden nicht nur die Verliebten im Wald, sondern machen auch die in Florenz stehenden Regimenter ihre Übungsund Instruktionsmärsche; in Gruppen, ohne allzuviel Geräusch, in Abteilungen oder Kompanien mit Trommeln und ein paar Trompeten, und nicht selten in ganzen Regimentern, mit klingendem Spiel und dem Oberst und seinem ganzen Stab an der Spitze. Bei der ersten Ankündigung des Trompeters von weitem, oder mit dem Gehör des Wildes das Rascheln der Schritte wahrnehmend, den Schall der schon nahen Stimmen und noch häufiger die ersten Töne des Gesangs, denn die Soldaten singen immer auf dem Wege vaterländische Hymnen, sehnsüchtige oder gefühlvolle Lieder, fast als ob der Verbrauch einer zweiten Energie ihre Anstrengung verringern würde; sie singen, weil sie zwanzig Jahre alt sind und so viel Kraft in der Brust haben, die heraus muß, und statt zwei Dingen könnten sie drei auf einmal tun - da sprangen nun unsere Schwestern jedesmal auf, liefen ans Gartentor, warfen im Lauf die Fäden von der Schürze oder irgendein Stückchen leichten Stoffes weg, reckten den Hals und die Taille empor, strichen sich das Haar zurecht und hörten damit nicht auf, bis die Truppen an ihnen vorbeizuziehen begannen. Carolina legte den Stickrahmen nieder, lief zum Spiegel auf 57
dem Konsoltisch und führte dort, vor Ungeduld zitternd, eine Reihe von Bewegungen aus, die dazu dienten, den Körper unter der Schürze immer noch elastischer und schlanker zu machen. Es muß anerkannt werden, daß die Infanteristen die Schwestern bemerkenswert kühl ließen, und wenn auch nicht ganz gleichgültig, so blickten sie ihnen frei und unbefangen ins Auge. Alle diese Männer, die ein bißchen plump in der Marschuniform daherkamen, im Gleichschritt unter der Last des Tornisters oder unlustig in feldmäßiger Gangart, ließen sie Herrinnen ihrer selbst und der eigenen Blicke bleiben. Man hätte sagen können, daß sie den Salat eher wählerisch auslasen. Und außer bei dem einen oder anderen Leutnant von gerader und beweglicher Figur und gut angezogen wurde bei ihnen keine Beunruhigung sichtbar. Anders wurde die Situation, wenn es sich um eine Abteilung des Ingenieurkorps handelte, von jungen Leuten guter Herkunft, Städtern im allgemeinen, was deutlich aus dem Gang zu erkennen war, aus der Art zu schauen oder zu lächeln, zu singen, aus der Wahl der Lieder, der Anmut einer Bewegung oder eines galanten Wortes, das sie an ein weibliches Wesen richteten, oder wie sie einen Kuß andeuteten, aus den lebhaften, mit städtischer Unbefangenheit abschätzenden Augen. Aber das merkwürdigste Schauspiel bot sich beim Vorbeimarsch eines Kavallerie- oder Artillerieregiments. Die Eleganz und Gewandtheit der Männer zu Pferd, die kraftvolle Haltung derer, die auf den Wagen saßen oder auf den von ihnen gezogenen Kanonen, die Erschütterung, die sie hervorriefen, der betäubende Lärm; der gewaltige Brustkorb der Kanoniere, ihre breiten Schultern und die Ruhe ihrer Mienen, bedingt durch die Macht über jene Vernichtungsmaschinen; selbstsichere, männliche, kräftig gebaute Burschen, langsam in den Bewegungen, sparsam mit Gesten, übten auch die ländlichen Ursprung verratenden eine seltsame Macht auf die Zuschauerinnen aus. 58
In solcher Verwirrung stiegen Teresas Blicke zu den hohen Dienstgraden auf, an ihnen, obgleich Frau und unverheirateten Standes, die Macht ihrer eigenen Möglichkeiten messend. Sie blickte verzückt zu dem Obersten auf oder auch zu einem Hauptmann in voller Reife, aber in solch prangender Männlichkeit, daß er ihre Augen mit einem Blick blendete. Diese Festigkeit und Sicherheit, diese Haltung der Befehlsgewalt und Gesundheit zogen sie mit Macht an. Sie war selbst ein kraftvoller Geist, und der Gedanke, eine andere Kraft zur Seite zu fühlen, nicht um sich ihr anschmiegend und passiv hinzugeben, sondern um sich mit dieser zu verschmelzen, sich gegenseitig in einer Solidarität zu verstehen und zu achten, die zur Zärtlichkeit wird, dieser Gedanke zwang sie, sich an irgend etwas festzuhalten: an einer Eisenstange des Gartentors, an der Hauswand. Carolina dagegen, sensibler und zarter, konnte den Anblick dieser blutvollen Mannskerle mit dem kecken und brutalen Aussehen nicht ertragen, die, an den Leib der Pferde gepreßt, gewaltige Schenkel zeigten, massiv wie Säulen, und eine Miene der Autorität und Sicherheit, vor allem aber der Sattheit, daß ihr Schreckensschauer über die Haut liefen. Ihre schiffbrüchigen Augen klammerten sich an ihren Rettungsbalken: die blauen und ein wenig von Melancholie verschleierten Augen irgendeines kleinen Leutnants oder auch an die schwarzen und glühenden des aufgeblasensten Feldwebels, die um Zärtlichkeit auf dieser Erde flehten und um Gelegenheit, die eigene zu verschenken, ohne Berechnung und Maß. Da sich zu den Schwestern auch Frauen und Mädchen aus den Mietshäusern gesellten, schleuderten die Soldaten scherzhafte und gierige Blicke auf sie und riefen damit Lächeln, Ausrufe und Gelächter der Mädchen hervor, ruhige und zufriedene Blicke der reifen Ehefrauen, Heiterkeit der Alten; sie schleuderten Komplimente, Spaße, heiße oder anzügliche Worte, Grüße und warfen Kußhände, mit aufblitzenden weißen Zähnen lachend und Unruhe, Heiterkeit und 59
Verwirrung in der Gruppe der Frauen hervorrufend; und das alles mit so viel großartiger Freigebigkeit, wie sie eben zur Jugend gehört, daß man glauben mochte, von diesem Überfluß sei genug für alle da, auch für die Häßlichen, auch für die Alten. Hinter den Gitterstäben - sie ließ sich nicht unmittelbar auf der Straße sehen - glänzten die Augen Niobes, die ihr jugendliches Feuer wiedergefunden hatte. Sie hatte keine Vorliebe für bestimmte Typen oder Dienstgrade und scheute sich auch nicht, allen, vom ersten bis zum letzten, ins Gesicht zu schauen; vom Oberst bis zum Offizier'sburschen gefielen ihr alle ohne Vorbehalte, und sie brachte es auch nicht fertig, den einen oder anderen Ausruf zu unterdrücken: «Was für Augen! Stramme Kerle! Diese Beine! Die Schultern! Ein schöner Schwarzer, bei Gott!» Giselda nahm am Vorbeimarsch der Truppen keinen Anteil, und wenn der Zufall sie beim morgendlichen Saubermachen in das Zimmer der Schwestern führte, während die Soldaten vorüberzogen, ging sie aus dem Zimmer und schlug die Tür zu, um nicht einmal den Lärm zu hören, oder schloß das Fenster mit solcher Gewalt, daß die Scheiben klirrten. «Abscheuliche Gesichter!» stieß sie hervor. Die Soldaten aber, zum Spaß mehr von dem herausgefordert, der sich zurückzieht, als von dem, der friedlich mittut, schleuderten ihr eine wahre Salve von Zurufen und Anspielungen nach. «Verbrecher! Alle ins Zuchthaus!» Ohne sich darum zu kümmern, daß ihre Haltung von den Schwestern bemerkt wurde, die bewundernd dastanden und für die sie bei sich selber Worte des Abscheus hatte: «Dumme alte Frauenzimmer! Alberne Gänse!» Wegen eines Mannes, der sich schlecht gegen sie benommen hatte, stand sie mit allen Männern auf Kriegsfuß; sie wußte nichts von der heiteren Gutherzigkeit Niobes, gegen die sich die Männer im einzelnen Fall in sehr fragwürdiger Weise benommen hatten, der es aber, wenn sie an alle insgesamt dachte, vorkam, als hätten sie sich benom60
men, wie es besser nicht möglich war. Sie fühlte, wie sie weich wurde, wieder jung und im Besitz ihrer Reize, und im Grund ihres Herzens tat es ihr nur leid, daß sie sich nicht noch schlechter benommen hatten, daß das schlechte Benehmen zu bald aufgehört hatte und daß sie nicht noch einmal von vorne anfangen konnte. Unbeirrt bewahrte sie ihre Liebe für sie, ein unfruchtbares Verlangen, das ihren immer noch jungen Augen so viel Freude und ein Aufblitzen des Glücks gab, wenn sie sie vorüberziehen sah. Wenn Teresa und Carolina mit Niobe wieder hineingingen, schauten sie sie an und tauschten dabei ein verschmitztes Lächeln: wegen dem, was alle wußten, wegen dem, was sie wußten und die anderen nicht wissen durften, aber noch mehr wegen dem, was sie allein wußte, und es war nicht der geringere Teil für sie, wenn sie das Vorüberziehen der Soldaten als einer geheimnisvollen und furchteinflößenden Rasse beobachtete, sie, die genau wußte, wie diese Rasse war.
REMO
S O GINGEN DIE TAGE DER SCHWESTER IN DEM STIL-
len Dorf dahin und in dem Haus, das durch ihr Verdienst zu einer friedlichen Heimat geworden war, als ein neues Ereignis den Rhythmus verändern und seinen Gang verrücken sollte. Wir sagten am Anfang der Erzählung, daß es vier Schwestern waren, von denen wir bis zu diesem Augenblick drei kennengelernt haben. Sehen wir nun, was es mit der letzten auf sich hatte, Augusta, der dritten dem Alter nach, deren Geschichte weder allzu lang noch allzu erheiternd ist. Obgleich sie einen verheißungsvollen Namen trug, war ihr Dasein bescheiden und farblos. In Zeiten des Unglücks aufgewachsen, war sie sechs Jahre jünger als Teresa und fünf als Carolina. Als sie zur Welt kam, hatte sie keine rosenumkränzte Wiege gesehen wie die Schwestern, sondern bereits die Anzeichen des Sturms am verdüsterten Familienhimmel. Weniger intelligent als diese, nicht ehrgeizig und unternehmungslustig, nicht schön und lebhaft wie die danach gekommene Giselda, war sie zwischen den anderen unbeachtet geblieben und hatte sich von Jugend auf an ein graues Leben als Hilfsarbeiterin in einer Schuhfabrik gewöhnt. Sie hatte keine besonderen Wünsche für ihr eigenes Leben oder Träume für ihre eigene Person gekannt, hatte einen kleinen Eisenbahner geheiratet, einen gutmütigen Burschen, der aus Rom stammte und mit dem sie sich bald nach der Hochzeit in Ancona niederließ. Und wie sie zuvor wegen ihres Wesens im Schoß der Familie unbeachtet geblieben war, so war sie, einmal in der Ferne, beinahe vergessen worden. Man denkt nicht, daß je62
mand etwas brauchen könnte, der nie etwas verlangt hat. Die Schwestern wußten ja, daß es Augusta in Ancona gut ging und daß sie ihr Auskommen hatte und in ihrem Heim abwechselnd den häuslichen Verrichtungen und ihrer alten Tätigkeit als Hilfsarbeiterin nachging. Sie schickten sich zweimal im Jahr zu den Feiertagen an Weihnachten und Ostern wenige allgemeine und immer ungefähr die gleichen Sätze, wie es Leute tun, die nicht gewohnt sind, Briefe zu schreiben, und bei denen die Herzenswärme und Mitteilsamkeit von der Schwierigkeit des Schreibens für den dieser Übung Ungewohnten tyrannisiert werden, wenn nicht billige Rhetorik an ihre Stelle tritt, die mit Gemeinplätzen und schwulstigen oder von frommer Ergebung triefenden Phrasen gleichwohl, wenn auch den verschiedenartigsten und unwahrscheinlichsten Umständen angepaßt, nichts mit dem wahren Empfinden des Schreibers zu schaffen haben. Aber die arme Augusta war weit davon entfernt, dem Zauber der Worte zu unterliegen, und ihre Briefe lassen sich mit Leichtigkeit etwa wie folgt zusammenfassen: «Meine lieben Schwestern! Ich schreibe Euch, um Euch zu sagen, daß ich nichts zu sagen habe, aber daß es mir zur Zeit gut geht und ebenso meiner Familie, die auch mit mir grüßt und Euch fröhliche Ostern wünscht, in der Hoffnung, daß es bei Euch mit Gottes Hilfe ebenso.ist.» Gott fehlt in bestimmten Fällen nie, er ist das Zufluchtswort und im Satz wie der Pfahl für die Rebe und wird besonders bei Schwierigkeiten herbeigezogen, auch wenn es kleine Schwierigkeiten sind, wie die, ein paar Silben auf einem Blatt Papier zusammenzubringen. Die Schwestern ihrerseits antworteten sehr kurzgefaßt, Briefe von anderthalb Seiten, und wenn sie bis auf zwei Seiten kamen, waren sie von kümmerlichem Inhalt und mit gegen das Ende zu künstlich auseinandergezogenen Buchstaben. Sie begannen damit, sich für ihr Schweigen zu entschuldigen, und beteuerten gleichzeitig den besten Willen, öfter und länger zu schreiben, der jedoch immer von den drängenden 63
Geschäften durchkreuzt würde, und auf die verflixte Arbeit schoben sie die ganze Schuld an dieser Kürze und diesem Schweigen. Und auch dies war nur zum Teil wahr, denn lieber hätten sie sieben Hemden genäht, als eines beim Beschreiben von zwei kurzen Seiten durchzuschwitzen. Und immer kreuzten sich Einladungen oder Versprechungen von Besuchen, die nie gemacht wurden, da die eine anführte, daß sie sich nicht von der Familie entfernen könnte, und die anderen nicht von der Arbeit; aber vor allem schreckte sie die Länge der Reise, von der sie phantastische Vorstellungen hatten und von der ihnen eine Einzelheit bekannt war, die sie erstarren machte: daß man, um nach Ancona zu kommen, in Faenza umsteigen muß. Was war dieses Ancona eigentlich, wegen dem man umsteigen mußte, wo man doch nach Rom überhaupt nicht umzusteigen brauchte? Ein tiefer Seufzer begleitete seinen Namen. Arme Augusta, wohin war sie geraten! Das war es, warum sie nie einen kleinen Besuch in Santa Maria machte. Nur ein einziges Mal gab es einen lebhaften Briefwechsel; drei Jahre nach der Hochzeit, bei der Geburt eines Knaben. Augusta teilte den Schwestern zuerst die Schwangerschaft mit, dann gleich nach der Entbindung die Geburt des Kindes. Und diesmal antworteten die Schwestern mit liebevoller Ausführlichkeit und schickten zu seiner Zeit für das erwartete Kleine ein Paket mit reizenden Dingen: Häubchen und Kleidchen, von ihnen selbst ausgewählt oder angefertigt und von hochherrschaftlicher Raffinesse. Als das vorbei war, hatten die Briefgepflogenheiten den leeren und feierlichen Rhythmus wiederaufgenommen. Augusta, die von zu Hause fortgegangen war, als die Schwestern am Anfang ihres mühsamen und vom Glück begünstigten Aufstiegs standen, wußte nicht einmal, auf welcher Stufe des Glücks sie angelangt waren, daß sie den alten Besitz der Familie, und zwar vollständig, zurückerobert hatten; denn die Schwestern waren der Ansicht, daß es nicht schicklich ist, in Briefen von Geldange64
legenheiten zu sprechen. Im Grunde hielten sie es für eine Vorsichtsmaßregel, vor den armen Verwandten das Wohlergehen und die Reichtümer nicht an die große Glocke zu hängen. Augusta ihrerseits würde sich wohl gehütet haben, Fragen zu stellen, die indiskret wirken könnten; sie war immer so still und zurückhaltend und zugleich unabhängig von ihnen gewesen, daß sie erst wenige Monate vor der Hochzeit den Schwestern ihre Verlobung und den bevorstehenden Entschluß ankündigte, so daß jene kaum Zeit hatten, ihr ein Brauthemd zu nähen. Und auch die Hochzeit war bescheiden und farblos, sie ließ sie gleichgültig wie ein beliebiges Ereignis; ohne Bedeutung, ohne die natürlichen Eif ersuch tsgefühle, welche die von Giselda einige Jahre später hervorrufen sollte. Aber diese Schwester, die so wenig Platz in ihrem Dasein beansprucht hatte, nahm auf einmal viel ein, zufolge jener wunderbaren Schicksalsfügungen, die über unseren Häuptern hängen, ohne daß wir es wissen. Sie wurde Witwe und blieb in Dürftigkeit zurück, und nach kaum einem Jahr der Witwenschaft wurde sie von einer hitzigen Krankheit erfaßt und starb nach wenigen Tagen gleichfalls. Teresa und Carolina hatten bereits aus der Ferne ihre Anteilnahme an diesem traurigen Fall und ihre Großmut gezeigt und die Art und Weise erwogen, wie sie ihr am besten helfen könnten, indem sie die Einladung wiederholten, nach Florenz zu kommen, dort könnten sie ihr Unterkommen und Beistand bieten und ihr bei der Schaffung einer neuen Existenz helfen. Inzwischen hatte die arme Frau wieder eine Stelle in einer Schuhfabrik angenommen, da ihr die Heimarbeit nicht genug zum Leben eingebracht haben würde. Als sie nun die Nachricht von ihrer schweren Erkrankung erhielten und sich zur Abreise entschlossen, kamen sie gerade noch recht, um sie sterben zu sehen. Beim Erscheinen der Schwestern, die sie seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, erhellte sich das Antlitz der 65
Sterbenden; es schien, als ob sie ein Wort sagen wollte, das auszusprechen ihr der Mut fehlte. Bescheiden und schüchtern im Leben, verhielt sie sich ebenso im Angesicht des Todes;, aber da ihr das Herz von dieser Sorge überquoll und sie fühlte, wie ihr das Bewußtsein schwand, erfaßte sie, den Blick von Tränen verschleiert und mit einem Schluchzen, das ihr die Kehle zuschnürte, die Hand der Schwestern und sagte zweimal einen Namen: «Remo! Remo!» Und drückte sie, wie man eine liebe Hand zum letzten Abschied drückt. Sie ließ einen Sohn von vierzehn Jahren zurück, der entweder nach Rom zu der zahlreichen und in ungeordneten Verhältnissen lebenden Verwandtschaft des Mannes, mit der sie die Verbindung eingeschränkt hatten, geschickt oder in einem Waisenhaus untergebracht werden sollte. Sie fühlte, daß sie ihn schlecht versorgt zurückließ, und ihr Sterben wurde von diesem Gedanken belastet. Bei dem beruhigenden «Ja», mit dem jene nacheinander, von tiefem Mitleid erfaßt, antworteten, leuchtete das Gesicht der armen Sterbenden auf, und sie neigte den Kopf zur Seite, wie um zu schlafen. Erschüttert von der Größe des Todes und mit der Schwester zu einer Einigung gekommen, die sie im Leben nie erreichen konnten, wiederholten die Frauen sich selber nachdrücklicher dieses so spontan ausgesprochene Ja. Die Worte der Sterbenden sind nicht so leicht zu vergessen noch unsere in jener Stunde gemachten Versprechungen. Sie begannen verwirrt in dem kalten, leeren Zimmer umherzuschauen, es war ärmlich, fast ohne Möbel, elend. Und dann Remo anzuschauen und immer wieder anzuschauen, der, mitten im Zimmer dastehend, regungslos, nicht verzweifelt, auch nicht schüchtern, so als ob er ohne den Willen sei, der uns handeln läßt, sie mit zwei schwarzen großen Augen von einem mit diffusem Licht überglänzten Oval ohne Herausforderung ansah, langsam in der Bewegung und weder neugierig noch verwundert auf dem Objekt ruhend, abwar66
tend, unschlüssig, mit einer verwirrenden Klarheit und Ruhe, die ein beweglicher und lebhafter Blick nicht gehabt hätte. Der Knabe schien aus eigenem, frühreifem Instinkt zu fühlen, welchen Einfluß die Augen auf die Menschen ausüben, indem sie ohne die geringste Anstrengung, vielmehr mit einer ganz natürlichen Einfachheit eine Herrschaft errichten, so daß es für ihn ein leichtes war, durch seine unglückliche Lage und diese Anziehungskraft ihr Gefühl zu lesen und ihre Absichten zu entdecken und dabei die eigenen vollkommen geheimzuhalten. Diese wunderbaren Augen waren von langen, dichten Wimpern umrahmt, die, einmal vereinigt, als Siegel eine winzige Hecke davor bildeten; und von seidigen, glänzenden und dichten kohlschwarzen Brauen gekrönt, von hohem und edlem, elegantem Schwung, die ihre Schönheit und Tiefe zur Geltung brachten. Als der Liebesdienst an der Schwester vollzogen war, reisten Teresa und Carolina wieder nach Florenz ab. Seit dem Augenblick, wo sie am Bett jener Ärmsten das großmütige Ja gesprochen hatten, wonach sich diese vertrauensvoll den Armen Gottes zu überlassen schien, fühlten sich die beiden Schwestern als Beute einer unbekannten Verwirrung, die stufenweise zunahm, wenn sie den Neffen beobachteten, der sich schweigsam verhielt, nicht aus irgendeinem ersichtlichen Grund, sondern beinahe, als wäre in der jungen Seele so viel Weisheit, die ihm riete, daß es für den Augenblick in seinem Fall nichts gab, als zu schweigen und zu warten. Das vermehrte ihre Unruhe ins Ungemessene. Es wäre ihnen lieber gewesen, sie hätten ihn weinen und verzweifeln sehen, um ihn zu trösten und selbst eine entschiedene Haltung einzunehmen, die ihrem Wesen und Charakter entsprach. Sie schrieben es einer natürlichen Schüchternheit zu, obwohl das Aussehen des Jungen nicht darauf schließen ließ. Oder war es die Zurückhaltung, die er sich in männlicher Weise auferlegte, um sich nicht einer fassungslosen Verzweif67
lung hinzugeben vor Leuten, die er nie gesehen hatte? Auch dies war denkbar, und sie wären sehr froh gewesen, sie hervorrufen zu können, und hätten gerne alle Folgen ertragen, nur um sich auf einem vertrauten Boden zu finden. In manchen Augenblicken, während in ihnen das innere Unbehagen eines solchen Zustandes wuchs, schien es, daß der Knabe sie mit Neugier beobachtete und eher als komisch beurteilte und das Lachen zurückhielt, weil er keine Lust dazu hatte, nicht infolge einer besseren und anständigen Erziehung. Auch jenen Verdacht des Lachens hätten sie gerne herausgefordert, ihn lachen sehen, unmäßig, schamlos; sie hätten mit ihm gelacht, da sie nicht im entferntesten den Verdacht hegten, über sich selber zu lachen, denn nie war in diesen Köpfen der Verdacht aufgeblitzt, ob man nicht vielleicht gar über ihre verehrten Personen lachen könnte. Im Grunde hätten ihnen Verzweiflung und Heiterkeit gleich viel gegolten; was sie nicht wollten, war, im Ungewissen zu bleiben. Einmal im Zug, angeregt von der Fahrt, abgelenkt durch die Landschaft, die sie nicht einmal sahen, obgleich sie ihren Einfluß unbewußt verspürten, gewannen sie, je weiter sie sich von der Zone des Schmerzes entfernten, dessen Last sie immer weniger bemerkten, zum Teil ihre Sicherheit und ihr gewohntes Aussehen zurück, ihre Manieren alter Mädchen in den Ferien. Wenn sie den Jungen beobachteten und in manchen Augenblicken, da sie an das Geschehene gewissermaßen nicht mehr dachten, fragten sie sich, wieso er zwischen ihnen sei, was er da mache, zur selben Zeit, da die Wirklichkeit dieser Tatsache sie in Verlegenheit setzte, die sein ruhiger und durchdringender Blick noch vergrößerte. Gewöhnt an den Ernst der Mutter, die von aller Leichtfertigkeit und weiblichen Koketterie frei war, an das schwarze Kleid, das sie seit einem Jahr mit einer nicht geringen Last von Leid und Sorgen trug, an den strengen und ein wenig müden Gang, an die graue Sanftheit und an die Liebe einer in alle Wechselfälle und in die Armut ergebenen Frau, an die Eintö68
nigkeit eines Lebens ohne Behaglichkeit und Vergnügen, betrachtete er diese Frauen, ohne seine Gedanken durchblicken zu lassen und ohne von vornherein zu versuchen, ihr Wohlwollen durch heuchlerische oder schlaue Worte und Gebärden zu gewinnen. Sie wurden durch seine Gegenwart und seinen Blick, ohne es zu merken, zur Freude erregt und dazu, weiblicher zu sein, in der verschrobenen Art dessen, der nicht daran gewöhnt ist, so wie sonntags am Fenster an der Straße nach Settignano; während im Innern das Verlangen wuchs, ihm eine Menge beruhigender Dinge zu sagen, um ihn zu erfreuen. Ihm gleich zu sagen, daß sie ihn gern haben würden, daß er bei ihnen leben würde wie bei der Mutter: «Arme Augusta, ach, ach!» Da die zwei Schwestern einander die Gedanken von den Augen ablasen, seufzten sie zugleich: «Geradeso wie bei ihr»; sie würden ein «besser» zurückhalten, das der Knabe mit einem ebenso kurzen wie wirksamen Heben der Augenbrauen gesagt hätte, ohne daß auch er nötig gehabt hätte, sich auszusprechen, und ohne sie zu dem wenig höflichen Eingeständnis zu zwingen. Ihn davon in Kenntnis setzen, daß ihr Haus ein Palast sei im Vergleich zu der elenden Hütte, aus der er gekommen war, ein bequemes und gesundes Herrenhaus, gut eingerichtet, wo nichts fehlte; mit einer Magd, die putzte und das Frühstück, das Mittag- und Abendessen zubereitete, die Wäsche wusch und der auch er anordnen konnte, wenn er etwas brauchte. Sie wurden von einem glühenden Drang getrieben zu geben, diesem vom Himmel unter sie gefallenen Neffen zu geben, der in ihr vertrocknetes Gemüt so viel Verwirrung brachte. Daß er in Santa Maria Spielgefährten finden würde, Kinder braver Leute, ordentlicher Leute, ja, aber zu einfach im Vergleich zu ihm... Das Wort, das den zwei alten Mädchen auf den Lippen brannte, war, ihm zu sagen, daß sie reich waren: reich, jawohl, daß sie nicht nur keinen Heller von dem Ertrag ihrer Besitzungen ausgaben, von dem sie bequem leben könnten, sondern daß sie auch einen guten Teil von dem 69
zurücklegten, was sie aus der Arbeit einnahmen... Um die Überraschung der Ankunft nicht zu mindern, war es besser, alle diese Mitteilungen zu verschweigen. Sie beschränkten sich darauf, halb schlau und halb sibyllinisch zu lächeln, was über die innere Verwirrung hinaus ihren Gesichtern einen Stempel geringer Ernsthaftigkeit und sehr geringer geistiger Zuverlässigkeit aufdrückte und was der Knabe offenbar ebenso beobachtete wie die vorüberfliehende Landschaft, aber vielleicht mit größerer Intensität, besonders Carolina, die neben ihm saß und alle Augenblicke wegen der Hitze pustete, in den ersten Tagen des Dezembers, und sich mit ihrer ganzen Person in der inneren Gärung hin und her warf, von der sie sich erfaßt fühlte. Der Junge schaute sie an, und von Zeit zu Zeit schaute er durch das Zugfenster auf die Landschaft hinaus, von ihr erfüllt, ohne jedoch die Ruhe zu verlieren; nicht mit jener eindringenden und unzähmbaren kindlichen Begierde, sondern als ob er sie schon hundertmal gesehen und wiedergesehen hätte; es war die erste Reise, die er machte, und er erlebte sie mit der ruhigen Befriedigung, die aus dem erfahrenen Auge des Reisenden blickt. Die Frauen dagegen schauten nicht hinaus, es lag ihnen nichts daran, etwas zu sehen; sie schauten einander an oder schauten miteinander aufmerksam den Neffen an und waren doch auch keine erfahrenen Reisenden; mit ihren respektablen 50 Jahren war es die zweite Reise, die sie machten. Die Reisen stellten unerhörte, nahezu unmenschliche Prüfungen dar und waren Quelle der völligen Umwälzung des ganzen Seins; kein Organ ihres Körpers funktionierte mehr richtig, und sie lebten wie im Fieberdelirium; sei es, daß sie nach Rom reisten, um zu Füßen des Heiligen Vaters niederzuknien, nachdem sie ihm eine Stola geschenkt und für einen Kardinal ein Meßgewand gestickt hatten, oder daß sie eilten, um eine gute, brave Schwester sterben zu sehen und nach wenigen Tagen mit einem vierzehnjährigen Knaben zurück70
zukehren, der das erstaunlichste Objekt darstellte. Hätten sie sich acht Tage zuvor wohl vorstellen können, mit ihm in diesem Zug zu sitzen? Welche Überraschungen bereitet doch das Schicksal, und gerade dann, wenn wir im Vertrauen dahinleben, daß hinter unserem Rücken nichts geschieht. Die Geister waren in Verwirrung, und von Zeit zu Zeit sprachen die Lippen ein «Arme Augusta, ach, ach!», aus dem allmählich ganz einfach ein «Ach, ach!» wurde und an die Menschen erinnerte, die beim Rosenkranzbeten aus eingefleischter Gewohnheit antworten, und die unveränderlichen Worte kommen ihnen von selber so matt auf die Lippen, daß sie, kaum geboren, schon wieder dort ersterben, aber sie werden, auch ohne ausgesprochen worden zu sein, genau verstanden. Von der Reise nach Rom, in jenen drei Tagen, da sie sich dort aufgehalten hatten, war eine Erinnerung an Säulen zurückgeblieben: Säulen zwischen Säulen, Säulen in Reihen, aufrecht dastehende, umgestürzte, Säulen über Säulen; halbe Säulen, Stücke von Säulen, liegende Säulen, die sich ausruhen, hingestreckt, in Stücke geschnitten wie jene Frauen auf den Jahrmärkten, die in Koffer gelegt werden. Sie hatten sich in einem Wald von Säulen verloren, in dessen Tiefe, wie um ihnen nach einem unruhigen, quälenden Traum den Frieden des Herzens zurückzugeben, die sanfte weiße Gestalt des segnenden Papstes erschienen war. Ohne den Fuß auf die Erde zu setzen, war sie aus dem Blau in das aus einem anderen, von der Sonne überfluteten und mit Wandteppichen, Malereien und prachtvollen Vergoldungen bedeckten Saal kommende Licht herabgestiegen. Und dann die väterliche Geste, der milde Ausdruck beim Segnen der Gläubigen und die ein wenig klanglose, ferne Stimme, nicht aus körperlicher Schwäche, sondern aus einer Güte, die nicht mehr von dieser Erde ist. Als man sie dann vor die Überreste des kaiserlichen Roms und an den Eingang zum Kolosseum führte, sagte der sie begleitende Priester, daß die alten Römer sich 71
damit vergnügt hätten — auch die Frauen, auch die großen Damen -, die Gladiatoren unter sich kämpfen zu sehen, bis sie einander töteten, oder mit den wilden Tieren, bis sie diese töteten oder von ihnen zerrissen wurden, und daß auch die zum Tode verurteilten ersten Christen so behandelt wurden. Da flohen sie, aus der Betäubung jener Tage erwachend, und bekreuzten sich immer und immer wieder, und man konnte sie nicht bewegen hineinzugehen, sondern sie blieben draußen, kehrten dem Monument den Rücken und murmelten Undeutliches vor sich hin. Sie wollten auch weiter nichts mehr von jenem antiken Rom sehen, das sich in einem Bild verabscheuenswerter Grausamkeit auflöste. Und immer, wenn sie sich an das Kolosseum erinnerten, machten sie das Kreuzzeichen und beteten zu Gott, daß er den heiligen Greis auf seinem Stuhl recht festhalten möge und daß aus jenen Ruinen keine so gottlosen Sitten wiedererstehen möchten. Von der Reise nach Ancona dagegen verblieb den Ärmsten die Erinnerung, ins Innerste der Erde eingedrungen zu sein der Weg, der von Florenz nach Faenza führt, enthält 48 Tunnels -, durch einen ganz schwarzen Gang, der sie zu einem Zimmer geführt hatte, wo der Tod in seinem ganzen Jammer, in seinem ganzen Elend war. Das Auftauchen des Adriatischen Meeres, das sie an einem regnerischen Abend gegen Ende November für einen Augenblick gesehen hatten, war eine düstere Offenbarung und traurig die Stimme des Meeres, die sie zum erstenmal vernahmen, ähnlich der einer riesigen grauen Blechplatte, die hinter einem dunklen Vorhang von einer unbekannten Hand bewegt wird, um Schrecken einzujagen. Nun erfolgte die Rückkehr wenige Tage später an einem feuchten Morgen, an dem der Regen hin und wieder von Ungewissen Aufhellungen abgelöst wurde, einer zwischen den Wolken umherirrenden Rosenfarbe, und sie verlief in einer Gemütsverfassung, die nicht die nötige Ruhe zum Schauen und Genießen ließ. 72
Der Aufenthalt in Faenza mit dem Umsteigen brachte diesen Stand der Dinge in merklicher Weise zur Reife. Als sie sich nach der wilden Flucht der Umladung in den neuen Zug, der sie nach Florenz zurückbringen sollte, wieder eingerichtet hatten, stießen sie gleichzeitig einen tiefen Seufzer aus, der das Vorhandensein der Lungen in der erschöpften Brust wieder spüren ließ, und sahen den Bahnsteig entlang, als ob ihnen der Feind auf den Fersen wäre. Teresa setzte sich in die Ecke ans Fenster, und in die Ecke gegenüber setzte sich Remo neben Carolina, die ihm den besseren Platz überließ. Und da der Mittag nahe war und in der Bahnhofshalle Jungen mit Proviantbeuteln auf und ab liefen - sie liefen, um die Illusion des fertigen und warmen Mittagessens zu erwecken, das nicht kalt werden sollte -, dachte Teresa, daß der Junge Hunger haben müßte und daß dies der passende Augenblick wäre, um sich zu versorgen. Nach einem Austausch von Blicken ohne Worte sagten die Schwestern zueinander, daß sie keine Lust zum Essen hätten: «Für mich... für mich... pah!», ob man nicht zwei nehmen solle, das sei auch noch zuviel; zwei zu dritt. Teresa brach die herkömmliche Beratung kurz ab, die dem Neffen nicht entging, und um ihm sogleich eine Vorstellung von ihrer Großzügigkeit zu geben, nahm sie dem Mann drei Beutel ab, nicht ohne sich über den Preis zu entsetzen. So ein Sündengeld... Über diesen Punkt konnte sie sich nicht zurückhalten, aber mit der resignierten und überlegenen Miene dessen, der aus langer Erfahrung weiß, daß man sich in gewissen Fällen rupfen lassen muß. Mit ganz derselben Summe hätte Niobe ein Essen für zwölf Personen auf den Tisch gestellt. Da Remo zu dieser Stunde in seinem Innern eine gewisse Mahnung verspürte, zeigte er sich dem Gedanken Teresas sogleich geneigt, und während er das Manöver beobachtete, ohne sich einzumischen, lächelte er Carolina zu, die ihn fragte, ob er nicht zufällig ein bißchen Appetit verspürte, lächelte mit sehr sichtbarer Zustimmung. Er lächelte, die Lip73
pen in einer flüchtigen Bewegung des Mundes kaum öffnend, dessen Üppigkeit durch die vollkommene Form rein wirkte. Von einer unter der Nase und über dem Kinn durch eine leichte Furche geteilten Schicht ausgehend, wurden seine sich kräuselnden Lippen merklich voller und boten der purpurroten Oberfläche Raum genug, die leicht geöffnet Zähne von bezaubernder Regelmäßigkeit und Weiße sehen ließ. Die Mundwinkel hoben sich nur wenig, um das Lächeln zu bilden, das mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung das Gesicht erhellte. Der Blick des Jungen war in vollkommener Harmonie mit dem Lächeln und erzielte große Wirkung mit Mitteln, die dem Beobachter entgingen. Er brachte einen auf den Gedanken, dieses Phänomen lange studiert zu haben, um aus der eigenen Physiognomie das höchste Ergebnis mit der geringsten Anstrengung zu erreichen. Die Wahrheit ist, daß in ihm noch gar nichts Gekünsteltes war, sondern allein die Natur, die er gut studiert hatte. So daß das zweimalige Lächeln, zuerst des freudigen Zustimmens, dann des Dankes, bereits für die Frauen ein Lohn war, von dem sie sich geschmeichelt und gefesselt fühlten. Für einen vierzehnjährigen Knaben war Remo so gut und harmonisch entwickelt, daß er leicht für sechzehn gelten konnte; sowohl der Gestalt wie auch dem Gesichtsausdruck und dem gesetzten Wesen nach, das nicht nur momentan oder aus Schüchternheit so wirkte. Nichts war an ihm von der ungeordneten Kraft, welche die Bewegungen des Knaben unharmonisch, unbesonnen macht, dem Ungestüm des Blutes und nicht der noch ungeformten Vernunft folgend; er zeigte in jeder Bewegung eine angeborene Selbstüberwachung, und sein Benehmen war das eines jungen Menschen, der im Gefühl der beginnenden männlichen Würde sich bereits unter den Erwachsenen zu bewegen weiß, um dann aber wohl auch mit seinen Altersgenossen ungehemmt die Zügel schießen zu lassen. Bei diesem Lächeln war Carolina nicht mehr fähig zu wi74
derstehen, und vielleicht um die Stärke des eigenen Impulses vor sich selbst zu rechtfertigen oder um sich aus dem Wirrsal von Empfindungen zu befreien, die ihr Herz bedrängten, umarmte sie den Knaben und küßte ihn auf den Mund. Aber statt ihr den Kuß zurückzugeben, überließ dieser seinerseits den Mund der Frau, ohne Miene zu machen, ihn zurückzuziehen, sondern bereit, ihn nach Belieben darzubieten. Sie war es, die bei dieser sich hinziehenden Berührung eine unbekannte Verwirrung verspürte und sich verlegen zurückzog, immer noch auf seinen gleichmütig gebliebenen Mund blickte, fast als ob der Zärtlichkeitsausbruch für den Jungen einen mechanischen Akt dargestellt hätte, ohne das mindeste tiefere Gefühl und ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Carolina hingegen hatte sich, von einem Schwindel erfaßt, fortgerissen gefühlt und war ganz rot geworden. Sie zog das Taschentuch heraus, fächelte sich Luft zu, trocknete sich die Stirn, die Augen und fächelte, sich auf den Polstern windend, immer weiter, mit einem zweimaligen: «Ach! Ach!», von dem wir nicht wissen, ob sie noch «Arme Augusta» dazu sagen wollte. So daß die Schwester, die dieses merkwürdige Phänomen bemerkte und ihren Blick, von dem Manöver mit dem Essensbeutel abgelenkt, unruhig nach den in den entgegengesetzten Ecken des Abteils sitzenden Reisenden wandte, zwei von jenen wohlgenährten Kerlen, die man durch die Romagna reisen sieht, den Mantel umgehängt, das Gesicht von Herzen zufrieden und den Bauch noch zufriedener als das Herz; und man weiß sofort, daß sie Männer ländlicher Geschäfte sind, Weinhändler, Getreide- oder Viehhändler, bei deren Anblick Carolina, die vorher rot war, blaß wurde, als träte an die Stelle eines unbestimmten Gefühls der Schani eines der Furcht, immer aber unbekannt. Die Essensbeutel füllten diese Lücke aus. Sobald Remo im Besitz des seinigen war, begann er mit der Munterkeit der Jugend darin herumzusuchen; und nach einer blitzschnellen Bestandsaufnahme machte er sich über die 75
Speisen her, was erst dann ersichtlich wurde, als er, nachdem er einen Apfel aus dem Beutel gezogen hatte, anfing, ihn mit der Schale, sehr manierlich, aber entschlossen hineinbeißend, zu verzehren, während die Frauen noch bei den Anfängen ihrer Untersuchungen standen. Sie wühlten und wühlten immer noch in dem Beutel und machten finstere Gesichter bei jedem Ding, das sie herausfischten. Sie hielten es schnell an die Nase und unlustig an die Lippen, um es bei der ersten Berührung wieder zurückzuziehen; sie verzogen den Mund bald nach rechts und bald nach links und machten sich gleichzeitig die eine zum Spiegel der anderen. Jetzt hielten sie das Ding eng umschlossen, rund, locker umschlossen, waagrecht, verweigerten die Aufnahme: ein Übereinkommen; und um den Ekel herauszulassen, das einzige, was hineingefunden hatte, schoben sie die Unterlippe vor, so wie Wasserspeier, die an einem Brunnen das Wasser herauslassen. Ein wenig, um nicht gierig zu erscheinen, sondern heikel und wählerisch, und weil sie tatsächlich keine Lust zum Essen hatten; aber noch mehr, weil sie, nicht gewohnt, außer Haus zu essen, jedem Bissen mißtrauten, der nicht aus Niobes Händen kam. So daß Remo, als er den eigenen Anteil verschlungen hatte und die überschaubare Lage beobachtete, forschende Blicke in die zwei Beutel warf, die von den Frauen auf den Knien gehalten wurden wie ein Säugling, der jeden Augenblick ein kleines Geschenk machen kann, das er noch nicht anzukündigen imstande ist. Diesen Blicken zufolge begannen sie, ihm einzelne Stücke ihres Beutels anzubieten, bis sie sich von ihm befreiten, um ihn ihm ganz zu überlassen. Ein Angebot, das ungeheuchelte Freude auslöste. Carolina bemerkte, daß sein Haar tiefschwarz und glänzend, in regelmäßigen, deutlich hervortretenden großen Wellen gut frisiert war, mit Anmut und Einfachheit der Form des Kopfes folgend, und daß sein Anzug, obwohl aus einem schlechten Stoff und unbeholfen genäht, die schöne Bildung 76
und das Ebenmaß eines kräftigen und eleganten Körpers nicht verbergen konnte. Alle diese Beobachtungen wurden in Gedanken an Florenz, an Santa Maria, an Niobe gemacht und traten an die Stelle jener, die sich in Form von Seufzern noch nach Ancona richteten, das im Geschwindschritt ferner rückte: «Ach! Ach!» Die Seufzer «Arme Augusta» wurden zu einem immer kürzeren, schier unwahrnehmbaren, schwachen Aufschrei. Der Rosenkranzbeter war jetzt endgültig eingeschlummert und gab nur noch gewisse Laute von sich, die die eingefleischteste Gewohnheit dem Schlaf zu entreißen fähig ist. «Arme Augusta! Ach! Ach!» Um sie dafür zu entschädigen, daß sie arm und gut und unglücklich geblieben war, wie jemand, der vom Leben keine anderen Freuden kennt als Entsagung und Pflicht: «Arme Augusta! Ach! Ach!» Gutes Geschöpf, immer vom Unglück verfolgt, bis ans Ende. Und sie beschlossen die Seufzer mit einem «Santa Maria!», wobei sie den Neffen anschauten und sich nur mit Mühe davon zurückhielten, jene Worte hinzuzufügen, die ihnen wie ein unwiderstehliches Prickeln durch den ganzen Körper liefen. Als Remo diesen Namen aussprechen hörte, lächelte er mit den halbgeöffneten roten Lippen und entsandte aus den Augen Scheinwerferstrahlen von Licht, die ohne Wärme waren oder, genauer gesagt, die anderen erwärmten, aber ihn selber nicht; eine Augenbraue kaum hebend oder einen Mundwinkel kaum verziehend, lächelte er bei diesem Namen, bei dem es ihm schien, als sollte er in einem Nonnenkloster landen. «In Santa Maria, da wirst du sehen...», wiederholten die anderen, da sie nicht mehr an sich halten konnten. «Da wirst du Giselda sehen, wirst Niobe sehen.» Diese Namen, lauter weibliche, bestärkten seine jugendliche Vorstellung noch mehr. «Da wirst du schauen, im Sommer, wieviel Obst es auf dem Bauernhof gibt!» Geradeso wie im Garten der Klosterfrauen. Er sah eine nach der anderen aufmerksam an, um zu begreifen, was ihm aus ihren Mündern verkündigt wurde: «Wieviel 77
Obst auf dem Bauernhof!» Das Wort Obst erhellte sein Gesicht und machte es lächeln. In einem Tunnel, der nicht mehr enden wollte, wurde Carolina zum zweitenmal von der Zärtlichkeit überwältigt, sie umarmte ihn, küßte ihn, drückte ihn an sich; zunächst, weil sie nicht mehr widerstehen konnte, aber gleichzeitig, um zu erfahren, ob sich jenes geheimnisvolle Gefühl wiederholen würde, das sie zuvor in Verwirrung gebracht hatte, als sie den Neffen an der Station von Faenza umarmte; genauso, sogar noch stärker. Und wie damals bot der Knabe ihr die Lippen dar, die er kaum bewegte, ohne zu küssen; so daß sie sich noch schneller zurückgezogen haben würde, wenn nicht die Dunkelheit des Tunnels sie beschützt hätte. Bei der Wiederholung dieser Handlung blickte Teresa die Schwester verwundert an, stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf und sah nach der anderen Seite zu den beiden hin, die, in ihre praktischen Gespräche vertieft, weit davon entfernt waren, sich um sie zu kümmern. Sie fuhren nach Florenz, um Schweine zu verkaufen. In Santa Maria tat Remo zur großen Freude der Tanten, die ihm so viele, unendlich viele Dinge zu zeigen hatten, nichts anderes als schauen. Er sprach wenig, und darüber waren die Frauen nicht so erfreut. Sie hatten sich Äußerungen der Freude und des berechtigten Stolzes erhofft beim Anblick von Dingen, die ihm nicht unerfreulich sein mußten und die in gewisser Weise anfingen, ihm zu gehören. Aber die Schüchternheit und vor allem der Schmerz hinderten ihn, sich mitzuteilen, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie schoben die ganze Schuld auf die Schüchternheit und auf den Schmerz, von denen die erstere nach und nach verschwinden und der zweite durch den natürlichen Lauf des Lebens und der Dinge sich beruhigen würde. Remo redete wenig und schaute viel, während um ihn herum die Erzählungen von der berühmten Reise, von den 78
48 Tunnels kein Ende nahmen. Das Umsteigen in Faenza, mit der Angst, den Zug zu verfehlen und weiß Gott wo zu landen; wie oft hatten sie erschrocken gefragt: «Ist dies der Zug nach Florenz? Ist er es wirklich? Fährt er wirklich nach Florenz?» Bis endlich der Zugführer gepfiffen und der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, um von neuem in jene höllischen Tunnels einzudringen. Die Ankunft in Ancona, die feuchte und kalte Nacht, das ganz schwarze Meer und wie es rauschte, daß einen gleich die Gänsehaut überlief: die Katastrophe. Nach einem Abstand von viereinhalb Jahren und in anderen Farben lebten in Santa Maria die Wunder des römischen Besuches wieder auf: der Besuch beim Heiligen Vater und dann jene schamlose Messalina und die Vestalinnen, die sich damit belustigt hatten, die Christen von den wilden Tieren zerrissen zu sehen, und dann: «Für alle, für alle.» Bei der neuen Reise - welche Schicksalsfügung - hatte sich ein anderes zweimal wiederholtes Wort eingeprägt: «Remo, Remo!» Um den guten Namen der Familie zu schonen, milderten sie die elenden Verhältnisse, in denen sie die Schwester gefunden hatten. «Sie wohnte in einem Häuschen... in einem netten Häuschen...», aber sie wußten recht gut, wie dieses nette Häuschen in Wirklichkeit aussah. Bei Giselda, bei Niobe, bei den Bauern, bei der ganzen Nachbarschaft, die herbeigelaufen war, um etwas von der armen Augusta zu hören, an die sich die Älteren und ihre Altersgenossen sehr gut erinnerten: wie sie ausgesehen hatte, wie ihr Charakter war; und man rief sich ihre Erscheinung ins Gedächtnis zurück, rühmte ihre Güte, ohne Makel, ohne Vorbehalte, und die sich jetzt, nach dem Tod, zu unerreichbaren Gipfeln erhob, ihre Ergebung in das immer widrige Schicksal, die Melancholie, die über ihrem Gesicht lag, als ob ihr von Geburt an der bittere Urteilsspruch auf die Stirn geschrieben gewesen wäre. Die Jungen, die Jüngsten, die sich nicht an sie erinnerten oder sie nicht gekannt hatten, die Kinder, hatten den Eindruck, als ob sie von einer himmlischen Gestalt, einer Heiligen sprechen hörten. Und 79
dann Seufzer, Erinnerungen, Anrufungen, Augen zum Himmel, gefaltete Hände. Es geht immer so, auch bei denen, um die sich im Leben kein Mensch gekümmert hat, in der Stunde des Todes gibt es einen Augenblick der Aufmerksamkeit; und auch wenn sich kein Hund vom Fleck gerührt hätte, um sie mit dem Schwanz zu grüßen, wenn einer mit den Füßen voran vorübergetragen wird, entblößen alle respektvoll das Haupt. Aber für den Augenblick wollen wir nicht im weichen Boden versinken. Alle eilten herbei, um Remo zu sehen, den Sohn, das, was auf Erden von so viel Tugend, von all ihrer Güte zurückgeblieben war. Aus ihrer Verpflichtung als Gäste, aus der Verpflichtung gegen die Verstorbene und wegen der ausgezeichneten Beziehungen, die sie mit den Schwestern verbanden, fühlten sich alle mit einem ganz besonderen Antrieb zu dem Jungen hingezogen. Dann trat allerdings eine gewisse Verwirrung und Stille ein, als Remo diese Wärme, diese Überfülle und Ergüsse der Sympathie und der Zuneigung nicht mit Wärme erwiderte und mit vollkommener Ruhe, ohne sich einen Millimeter von seinem Platz zu rühren, beobachtete. Von seiner Haltung abgekühlt, freuten sie sich jedoch mit den Wohltäterinnen, weil sie sich mit dem Empfänger der Wohltaten nicht so freuen konnten, wie sie gerne gewollt hätten, da er bei diesem Soll und Haben nicht in befriedigendem Grad mitmachte. Der eine oder andere flüsterte auch boshaft und hinter vorgehaltener Hand, daß das gute Werk für die zwei Schwestern ebenso groß sei wie das Opfer gering, und fügte hinzu, daß ein Mund mehr im Haus Materassi geradesoviel bedeute, als wenn man einer Katze ein Haar ausreiße. Wieder ein anderer rief in geheimnisvollem Ton aus: «Das reißt hier ein Loch hinein, das reißt ein Loch hinein», womit er sagen wollte, daß alles Unglück hierhin ziele, auf die Schultern der Schwestern. Remo sprach wenig, und je mehr sich rings um ihn das Geschwätz entzündete, um so weniger redete er und schaute viel. Er verharrte in unbeteiligter Ruhe, ohne sich um das Ge80
rede, um die Beteuerungen des ganzen Dorfes zu kümmern, ohne aus einem bereits entwickelten männlichen Empfinden heraus seine Stellung aufzugeben; er mischte sich nicht ein und zog sich auch nicht zurück, beobachtete schweigsam und behielt bei alledem mit natürlicher Anmut seine Meinung für sich. Und da die anderen nicht wußten, woran sie waren, beteuerten sie, daß sie seine Schüchternheit und Zurückhaltung nicht verletzen, den Schmerz nicht stören wollten, von dem sie ihn erfaßt, durchdrungen, erfüllt glaubten. Remo verstand sich so wohlerzogen zu benehmen, daß er auf bestimmte, flüchtige Annäherungen, wie sie bei den Männern von Jugend auf üblich sind, wenn sie merken, daß irgendwie Gefahr im Verzug ist, nicht reagierte; wie der ganze Mensch wußten sich auch die Hände zu beherrschen, und schließlich starrten ihn alle forschend an und fragten sich ernstlich, was für ein Kerl er eigentlich sei, ob er wirklich der Mutter gleiche - «Arme Augusta! Ach! Ach!» - und worin; und nachdem sie ihn von oben bis unten inspiziert hatten, kamen sie zu dem Schluß, außer denen, die sogar imstande waren, Ähnlichkeiten zwischen einem Stier und einer Raupe herauszufinden, daß er der Mutter nur im Charakter gleiche, jawohl, im zurückhaltenden, verschlossenen, ruhigen, schüchternen Charakter... Die Tanten beobachteten ihn jedoch und fürchteten, daß er sich in einer neuen Umgebung, unter unbekannten Leuten verloren fühlte; daß er sich schämte, litt, sich nicht wohl fühlte oder Angst hätte, sich zu äußern; und da sie seine Gedanken aus den Blicken zu erraten glaubten, gaben sie ihm Informationen über Informationen. Wer die oder der wäre, wessen Tochter, Sohn oder Mutter sie oder er wäre, wie viele Kinder da wären, was für einen Beruf sie hätten, um ihm das Bewußtsein der Macht und Vertrautheit zu vermitteln. Er schaute die Dinge mit dem gleichen Interesse an wie die Menschen: Türen, Fenster, Pflanzen, ohne daß er sich irgend etwas anmerken ließ. Nur die Stickrahmen der Tanten erweckten seine Neugier, 81
und er lächelte darüber; Dinge, die ihm bizarr vorkamen. Wie zwei seltene Tiere schaute er die Frauen an, die in den großen, weißen Schürzen so ganz anders waren, mit ihren Brillen mit den dicken Gläsern vom Morgen bis zum Abend über die Stickrahmen gebeugt, gänzlich darin aufgehend, Hemden und Höschen für die Damen zu machen, Hemdhosen und Unterröckchen. Seine nur dem Anschein nach kindliche Neugier verbarg eine weitaus tiefere, ungeformte. Wenn er sich mit den Tanten und Niobe allein in jenem Zimmer befand, blickte er halb träumerisch, halb zufrieden um sich, wie einer, der, vom Himmel fallend, wieder zu Bewußtsein und zu Kraft kommt und merkt, daß er gut gefallen ist, zwischen jene beinahe geheimnisvollen, rätselhaften Kleidungsstücke, von denen das Zimmer überquoll; er spürte, daß er weich gefallen war, und freute sich innerlich darüber. Das Interesse, mit dem er die Dinge auf den Tischen ansah oder ihre Herstellung verfolgte, lenkte die zwei Frauen, die mit ihren grotesken Geräten einen einzigen Leib bildeten, ein wenig von ihrer strengen Ordnung ab, brachte sie zum Lachen und zog ihre wachsamen Gedanken zum erstenmal davon ab. Er beugte sich über ihre Schultern, um die Zeichnung zu sehen, die Stickerei zu erraten, und wenn sie den Hals und das Gesicht von jenem frischen, nach Früchten duftenden Atem gestreift fühlten, wie er der Jugend eigen ist, überkam sie ein unbekanntes und ungeahntes Wohlgefühl, das eine flüchtige Trunkenheit, einen leichten Schwindel gab. Eines Tages brachte Remo sie mit einer deutlich enthüllenden Geste in größere Verwirrung, als alle Worte es vermocht hätten: er nahm ein rosa Höschen vom Tisch, das fertig und zum Bügeln hergerichtet war, und hob es zwischen den Fingern in die Höhe, so daß es schien, als wollte er es im Licht zeigen. Die Frauen hörten auf zu arbeiten und hielten sich vor Lachen den Bauch. Mit neuen Augen und in jenen Händen gesehen, wurde der Gegenstand auch für sie neu, als sähen sie die Dinge zum erstenmal, die sie seit mehr als 30 Jahren 82
schufen und von denen sie umgeben waren. Carolina, mit Fäden übersät, hatte den Stickrahmen zu Boden gestellt und versuchte, ihm das Höschen aus den Händen zu reißen, aber in dem Augenblick, da sie ihn erwischt hätte, flüchtete der Knabe gewandt, um sich mit dem ausgebreiteten Höschen an einer anderen Stelle des Zimmers aufzupflanzen; und er ließ sie so lange um den Tisch herumlaufen, bis er ihr es, des Spieles müde, zurückgab. Von einer Zärtlichkeitsanwandlung übermannt, schlang Carolina ihm die Arme um den Hals und küßte ihn wie seinerzeit im Zug, worauf sie sich in Verwirrung zurückzog. Remo erwiderte nicht etwa mit einem raschen, frischen Kuß oder ließ sich zerstreut und flüchtig nach Art der Kinder küssen, die, ohne es auch nur unbestimmt zu ahnen, ihre Frische und Reinheit verschenken; sondern er gab den Mund hin und machte auch keine Miene, ihn zurückzuziehen, so als ob er einen Gegenstand zum Küssen überlassen hätte und nicht einen Teil von sich selber. Es war dieses unbekannte und seltsame Gefühl, das sie trieb, ihn zu umarmen, und sie zog sich weitaus verwirrter zurück, als wenn er ihren Kuß erwidert hätte. Als Teresa sah, wie sich die Geschichte vom Zug wiederholte, begann sie, die bei diesem Vorgang aufgehört hatte zu lachen, ärgerlich und ungeduldig mit den Füßen zu stampfen. Auch sie konnte sich die Störung nicht erklären, die der Anblick jenes zärtlichen, gesitteten und unschuldigen Vorgangs in ihr hervorrief. War es einer fünfzigjährigen Tante, welche die Obliegenheiten der Mutter übernahm, demnach nicht erlaubt, den Neffen zu küssen, den man noch als Kind betrachten konnte? Mitten in diese Verwirrung platzte Niobe hinein. Remo betrachtete auch Niobe mit Neugier, aber ihr lächelte er, wenn es die Tanten nicht sahen, schon entschlossen zu, und wenn es nicht so gewesen wäre, daß seine Augen nie einen gewöhnlichen Ausdruck zeigten, hätte man sagen können, daß er ihr verständnisinnige Blicke zuwarf, welche die Magd, unfähig, sich zu beherrschen, mit den ihrigen erwi83
derte. Das einfältige Herz war unfähig, sein Gefühl zu verbergen und die Freude, die die Gegenwart des jungen Herrn in ihm erweckte. Und Remo hatte, als er das Haus betrat, mit jenem in den Kindern sehr entwickelten Instinkt, dorthin zu laufen, wo Sympathie für sie entsteht, im Flug das Anerbieten erfaßt, das ihm von dieser Seite entgegenkam. Niobe war seine erste Eroberung gewesen. Sein Erscheinen war für die Magd ein Trost gewesen, diese durch ein Wunder mitten unter so viele «Unterröcke» herabgeschneiten Hosen gaben ihr ein neues Lebensgefühl. Außer ihren Herrinnen, die sie durch ihre großartige Arbeitsleistung zu männlicher Würde erhoben sah, betrachtete sie die Frau im allgemeinen als geringe Ware und nur den Mann als des Respekts und der Achtung würdig. Darum hatte sie Remo, und das ohne Zögern, ihre Freundschaft angeboten, stolz darauf, ihm zu dienen und ihm nützlich zu sein. Das einzige Wesen, das Remo mit Mißtrauen, unsicher und ernst betrachtete, war Giselda. Da sie in diesem Haus die Unzufriedenheit, den Widerspruch darstellte, hatte Giselda sich nicht nur aller zärtlichen Äußerungen enthalten, sondern als sie sah, welche Wendung die Dinge nahmen, hatte sie einige weise Ratschläge einsickern lassen. Sie sagte, daß man bei dem Jungen die feste Hand anwenden müsse, eine weniger ergebene und nachsichtige Haltung, wenn man einen nützlichen und anständigen Menschen aus ihm machen wolle, daß gewisse, übertriebene Besorgnisse, gewisse Zimperlichkeiten unnütz und schädlich seien. Die Schwestern taten, als hörten sie auf sie, nickten ausweichend zu ihren Beteuerungen: «Ja... schon... freilich... natürlich...» und wechselten dabei beredte Blicke: Die feste Hand hätte man bei ihr gebrauchen sollen; sie hätte allen Anlaß dazu gegeben und nicht der Neffe, der keinen gab. Der «nützliche und anständige Mensch» war damals nicht in ihren Plänen gewesen, wie es schien, da sie sich genau nach der anderen Seite gewendet hatte, allen guten Ratschlägen zum Trotz. 84
Jene kecke und glückliche Abreise Giseldas mit zwanzig Jahren, mit dem abenteuerlichen, schönen und gutangezogenen Mann hatte chronische Krämpfe in der Gallenblase der Schwestern hinterlassen. Und man versteht sofort, daß Teresa und Carolina nur schon bei der Andeutung eines solchen Widerstandes ihre Aufopferung für den Knaben verdoppelten. Niobe betrachtete Giselda als ein Zwitterding zwischen Dienerin und Herrin. Bekanntlich versteht es niemand besser als die Dienstboten, die falschen Herren, die halben Herren, jene, die nicht Fisch und nicht Fleisch sind, zu verachten und außer Gefecht zu setzen. Sie hielt nicht nur unbedingt zu den wahren Herrinnen, sondern ging ihnen mit fliegenden Fahnen voran, indem sie ihr Bestes an Beweisen der Liebe und Sorge für den Jungen gab, der sie, wenn es die Tanten nicht sahen, mit seinem strahlendsten Lächeln ansah. Viele Neuerungen hatten die Tanten bei der Ankunft des Neffen eingeführt. Man aß nicht mehr in der Küche, wie sonst immer, sondern im Eßzimmer, wie an den Sonntagen, mit einem schönen Tischtuch und den besten Bestecken; und statt hastig den Bissen hineinzuschlingen, aß man mit bürgerlicher Behaglichkeit und plauderte dabei von diesem und jenem, und nicht bloß von Hemden und Hosen. Man sprach über das Essen, über die Geschicklichkeit Niobes, die, wenn sie den Speisezettel für den nächsten Tag machte, unvermerkt alle Dinge einfließen ließ, die Remo gerne aß. Die Tanten, die es genau merkten, ließen sie jedoch gewähren und stellten sich dumm. Und eines Tages, als sie ihn bei Tisch fragten, ob ihm die Beefsteaks schmeckten, antwortete er mit einem so überzeugenden «Und ob!», daß die Frauen einen Riesenspaß hatten. Diese männliche Antwort ließ Teresa an das weißrosa Häubchen denken, das sie für Remo gemacht hatten, als er zur Welt kommen sollte, und Carolina, die bei der Erinnerung aufgesprungen war, baute mit ihrer Serviette eine Art Turban auf Remos Kopf auf, der stillhielt wie eine Puppe, um 85
sich zuerst herausputzen und dann bewundern zu lassen. Von der Zärtlichkeit der großen Augenblicke überfallen, preßte Carolina ihn in ihre Arme und gab ihm einen Kuß, den er erwiderte. Teresa lachte ein wenig über den Turban, ein wenig stampfte sie mit dem Fuß auf wegen der Küsse, die sie so irritierten, ohne daß sie wußte warum, genauso wie sie nicht wußte, warum sie die Schwester verwirrten; vielleicht weil Remo der Figur und dem Ernst des Benehmens nach schon ein zu männliches Aussehen hatte, um ihn wie ein Kind zu behandeln, oder war es wegen einer Spur von beginnendem Flaum auf der Oberlippe? Giselda, die den Mund beim Essen nicht zum Reden aufgemacht und auch während der Turbanszene nicht gelacht hatte, erhob sich, nachdem sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, und verließ wortlos das Zimmer. Und Niobe, die an die Tür gekommen war, um die Fröhlichkeit der Herrinnen soweit als möglich mitzugenießen, machte hinter dem Rücken Giseldas, als diese kaum die Schwelle überschritten hatte, ein paar Grimassen. Die erste Sorge für den Gast bestand darin, ihm zu essen zu geben, indem sie ihn vollstopften, bis er nicht mehr konnte, immer in der Angst, daß er noch nicht satt genug sei. Und in diesem Punkt begegneten sie sofort einer Übereinstimmung und einer rückhaltlosen Aufgeschlossenheit, denn er war bereit, auf diesem Gebiet alle Proben zu bestehen. Dann galt es, die Grade der Beziehungen zur Nachbarschaft festzulegen. Alle sollten ihn als einer höheren Klasse zugehörig behandeln, und die anderen Knaben, die des Bauern wie die der Mieter, sollten «Sie» zu ihm sagen, und «Sie» sollte er von allen genannt werden, ohne Ausnahme. Jener Abstand, den sie für sich nicht einzuhalten vermocht hatten, denn die Nachbarschaft behandelte sie nach einer respektvollen Einleitung, einem untertänigen Gruß, nach und nach im Verlauf der Unterhaltung mit familiärer Vertraulichkeit. Da hieß es ganz einfach «Teresa und Carolina» oder «die Materassi», ohne et86
was davor zu setzen, und nie «Fräulein», wie es ihnen erwünscht gewesen wäre: «die Fräulein Materassi». Aber die Leute auf dem Dorf und in den Vorstädten geben wenig auf Formen, das weiß man; sie sind einfach im Umgang, auch schon deshalb, weil sich im nahen Zusammenleben die Vertraulichkeit schnell herausbildet. Einen derartigen Abstand wollten sie nun bei dem neuen Familienmitglied respektiert wissen. Auch darüber äußerte Giselda ihre eigene Meinung, indem sie es als eine Ungereimtheit bezeichnete, solche Unterschiede unter den Leuten hier aufrechtzuerhalten. Unter Kindern würden solche Flausen überhaupt von selbst vergehen; das wären Dinge, über die die Hühner lachen müßten. Worauf Teresa die Serviette auf den Tisch warf und in autoritärer Weise erwidert hatte, daß die Hühner lachen könnten, soviel sie wollten, daß aber sie in ihrem Hause täte, was sie für richtig hielte. Sie wiederholte das «mein» zweimal und sah sie dabei finster an. Carolina hatte nichts weiter getan, als die Antwort der Schwester mit angedeuteten Jas bekräftigt. Und Niobe machte die Gebärde des Halsumdrehens beim Huhn, was sagen wollte, daß sie recht gut wüßte, wie man den Hühnern die Lust zum Lachen austreibt. Sie schüttelte und bewegte den Kopf hin und her, um Remo begreiflich zu machen, daß die da oft genug mit dem linken Fuß aus dem Bett steige und daß man nicht auf sie zu hören brauchte, weil sie in diesem Haus soviel wie nichts gelte. Das wegen der Anwesenheit des Neffen ins Wohnzimmer verlegte Mahl endigte häufig in solchen etwas scharfen Streitgesprächen. All diesen bemerkenswerten Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, die ihn nahe angingen, setzte Remo eine heitere Ruhe entgegen und tat dabei, als ob er nicht einmal verstehen würde, bis zu welchem Punkt ihn jene häuslichen Wortgefechte beträfen. Da er bald begriffen hatte, welchen Vorteil die unbeugsame Opposition Giseldas für ihn bedeutete, begann er die dritte Tante mit der Miene eines zu 87
betrachten, der mit größter Gemütsruhe in der Stunde der besten Verdauung ein Liedchen vor sich hin summt; er hielt sie auf die anmutigste Art zum besten, um sie soviel als möglich zur Feindin zu haben und um den verhängnisvollen Fall zu vermeiden, sie von einem Augenblick zum anderen besänftigt zu sehen. Man hatte Remo das ehemalige Schlafzimmer der Eltern angewiesen, das nach ihrem Tod keine der Schwestern hatte nehmen wollen und das in einer Atmosphäre der Erstarrung unberührt geblieben war. Sein Fenster ging auf die Felder hinaus und war genau über der Küche gelegen, die wie alle Räume des Erdgeschosses mit einem weißen, rostzerfressenen Fenstergitter versehen war. Die Zufriedenheit des Knaben war offensichtlich; das Zimmer war das schönste und geräumigste im ersten Stock, mit Möbeln aus bestem Holz, die der brave Gutsverwalter für die Hochzeit des Sohnes hatte anfertigen lassen. Da gab es ein großes Bett mit einem Baldachin aus blauem Damast, auf eisernen Säulen, die in vier vergoldeten Pinienzapfen endeten. Remo war selig, sich in diesem Bett ausbreiten zu können, wo bequem drei Personen hätten schlafen können. Unter dem Baldachin mit seinen Vergoldungen wanderten seine ersten Blicke am Morgen und seine letzten am Abend vor dem Einschlafen lange umher. Das seltsame Bett verhalf seinem kindlichen Geist zu einem märchenhaften Traumzustand, solange er wach war, und bereitete das Feld für die wirklichen Träume von einer lebendigen, wenn auch gleicherweise märchenhaften Wirklichkeit. Unter den Enthüllungen in bezug auf den Charakter des Jungen, nach welchen die vier Frauen mit unterschiedlichem Sinn, aber mit gleicher Intensität spähten, war die Unersättlichkeit an Wasser die erste, die ihre Phantasie beschäftigte. An dem Krug, den ihm Niobe immer gefüllt in sein Zimmer stellte, und einem zusätzlichen Eimer hatte er nicht genug, und die Schüssel war ihm zu klein, um sich nach Herzenslust 88
waschen zu können. So daß er, kaum aufgestanden, in die Küche hinunterkam, einen Zuber vor die kleine Tür trug, die auf das Feld hinausging, und mit nacktem Oberkörper und auf dem nackten Boden, mitten in der winterlichen Jahreszeit nicht mehr aufhörte, sich die Arme und den Hals, die Brust und die Schultern immer und immer wieder abzuspülen. Das gleiche tat er, wenn er erhitzt nach Hause kam. Niobe war die erste, eine solche Gewohnheit zu bewundern, und sosehr ihr die Sache gefiel, war sie nicht imstande, die Freude ganz für sich zu behalten. Sie wollte den Herrinnen, und zwar in den kleinsten Einzelheiten, erzählen, in welcher Weise sich allmorgendlich die Körperpflege des Neffen abspielte. Und da das Wasser in jenem Haus noch nie eine dringende Notwendigkeit gewesen war, außer zum Trinken, erblaßten sie, staunten und wurden zugleich von Sorge erfaßt. Könnte er sich nicht auf diese Weise einen Schnupfen holen oder, noch schlimmer, eine Lungenentzündung? Niobe wußte sie über diesen Punkt zu beruhigen, beschrieb die Kühnheit des Körpers, der solche Übung ausführte, den Ausdruck von Kraft und Glück, den das Gesicht zeigte, wenn er sich fest abschrubbte, bis sich die Haut rötete, und wies darauf hin, daß, wenn dies seine Gewohnheit sei, sie nicht nur keine Ursache von Krankheiten sein konnte. Nein, sie würde ihn eher davor bewahren und abhärten, daß er allen Winden und Stürmen trotzen konnte. Bis beim ersten Abnehmen der winterlichen Kälte der Knabe eines Morgens die Magd plötzlich fragte: «Wo ist denn der Fluß?» Durch diese Frage mißtrauisch gemacht, antwortete sie, daß hier kein Fluß wäre, dann setzte sie hinzu: «Und was wollen Sie zu dieser Jahreszeit mit dem Fluß machen?» - «Das weiß ich», antwortete er, «im Frühling, wenn es nicht mehr kalt ist», und fügte hinzu: «Es hat nichts zu sagen.» Er begriff, daß er sich zu weit hervorgewagt hatte. Natürlich war er beim Streifen über Felder und Wege im Umkreis des Dorfes auf die zwei Bäche gestoßen, den Africo und die Mensola, in denen das Wasser nur im Augenblick 89
des Gewitters dahinschießt und eine halbe Stunde danach keine Spur mehr davon zu sehen ist. Entlang den zwei Bächlein bleiben dann kaum Pfützen, die mit knapper Not für die Frösche zum Baden reichen. Etwas anderes fiel unseren Frauen noch auf, die zum erstenmal in Berührung mit der männlichen Jugend kamen: Nach wenigen Morgen bediente sich Remo, um in die Küche zum Waschen herunterzukommen, nicht der Treppen, sondern fand das Fenster für den kürzeren und geeigneteren Weg; entlang dem Gitter von Niobe, die dabei war, die Milch zu kochen, und die, als sie jenen Schatten von oben herabkommen und sogleich verschwinden sah und nicht Zeit gehabt hatte, zu sehen, wer es war, schrie: «Heilige Jungfrau!», mit dem letzten Mundvoll Atem, der ihr im Hals geblieben war. Und die Milch lief über, natürlich. Ein Dieb? Ein Gespenst? Eine warnende Erscheinung? Der Teufel, der sie holen wollte? Und als sie Remo an der Tür erblickte, mit seinem unerschütterlichen Gesicht, rief sie mit dem ersten Atem, der zurückkam: «Potztausend! Haben Sie mich aber erschreckt... und die Milch ist mir in die Asche gelaufen.» Dann, als sie die Stimme wiederfand: «Und wenn Sie sich an diesem Gitter aufspießen?» Remo lächelte. Am nächsten Morgen stand Niobe in wohlgefälliger Erwartung bereit. Sie wartete von einem Augenblick zum anderen auf die Erscheinung von oben, während sie den Kaffee und die Milch bereitete, aber sie war vorsichtig wegen der Milch und vorsichtig auch mit der Enthüllung der neuen Entdeckung gegenüber den Herrinnen. In einem günstigen Augenblick erzählte sie das Ereignis aber doch, nur weil sie nicht mehr widerstehen konnte. Teresa zeigte sich besorgt, weil der Knabe sich beim Herunterfallen weh tun könnte, und Carolina fiel in Krämpfe wegen jener verwünschten Gitterlanzen, von denen er durchbohrt werden konnte; aber in den Augen Niobes lasen sie, daß sie es besser wußte, da sie beurteilen konnte, mit welcher Gewandtheit diese Übung ausgeführt wurde: «Der spießt 90
sich nicht auf... der fällt nicht... Sie können ganz ruhig sein, Sie brauchen sich nicht zu ängstigen...» wiederholte sie in schleppenden Worten. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie es auch recht gerne sehen würden. Und am nächsten Morgen warteten sie, mit Niobe zusammen, in den Treppenverschlag neben der Küche eingeschlossen, der als Besen- und Speisekammer diente, durch ein Fensterchen spähend, ängstlich und neugierig. Aber da Remo von Natur aus zu überraschenden Handlungen neigte, kam er an jenem Morgen langsam und gesetzt, bereits gewaschen und fertig angezogen, die Treppe herabgestiegen, und da er die Tanten nicht wie sonst in ihrem Zimmer fand, betrat er die Küche und begann, vor der Tür der Speisekammer stehenbleibend, wo sie versteckt waren, mit Niobe zu reden. «Und die Tanten? Wo sind die Tanten? Sind sie noch nicht bei der Arbeit? Sind sie noch nicht heruntergekommen?» Er wußte, daß sie sonst um diese Zeit immer da waren. Er machte auch keine Anstalten, von der Tür wegzugehen, und schaute dabei auf Niobe, die das Lachen kaum verbeißen konnte. Kaum war er hinausgegangen, so ließ sie ihre Herrinnen entwischen, und sie rannten zu ihren Stickrahmen wie ein paar gejagte Katzen. Aber bald darauf konnten auch sie die Gewandtheit des Neffen bewundern, und einen Schrei zurückhaltend, um ihn nicht zu erschrecken, konnten sie dem Abstieg beiwohnen, ohne sich verstecken zu müssen. Remo wollte dann ihnen zu Ehren ganz schnell wieder hinaufsteigen, um zu zeigen, daß er nicht nur herunter-, sondern auch hinaufsteigen konnte, und einmal oben, war er im Handumdrehen wieder unten. Die Frauen blickten einander atemlos an. Aber auch dies wurde zum üblichen Geschehen, und man sprach bei Tisch davon. Remo schaute die Tanten an, lächelte der einen und der anderen zu, um sie zu versichern, daß dieses Haus zu ersteigen ein einfaches Unternehmen sei, eines für Anfänger. Er erklärte, wie man von jeder Seite ohne Schwierigkeit hin91
auf- und heruntersteigen konnte; so daß die Ärmsten anfingen, verwirrt nach oben und nach unten zu schauen, da sie nicht mehr wußten, in welcher Richtung der Neffe erscheinen oder verschwinden würde. «Gut, gut», schnitt Giselda mit ernster Stimme kurz ab, «wir werden dich Feuerwehrmann werden lassen.» Worüber der Knabe sich weder gekränkt noch verwundert zeigte. Es sah sogar aus, als ob er einen solchen Vorschlag als einen Beruf nach seinem Geschmack aufnähme. Teresa warf der Schwester von der Seite einen stechenden, vernichtenden Blick zu, ohne etwas zu sagen: Die macht den Mund nur auf, um Dummheiten oder Bosheiten zu sagen. Carolina schaute sie an und reckte sich dabei in der Taille, daß ihre Statur zu doppelter Größe aufwuchs: Ja... Feuerwehrmann... Arme Unglückliche, du wirst schon sehen... Behalt ihn für dich, deinen Feuerwehrmann. Obgleich darüber noch nichts Genaueres gesprochen worden war, versteht es sich, daß sie für den Neffen bereits mit den höchsten Plänen liebäugelten. Remo begann allmählich öfter abwesend zu sein, viele Stunden nacheinander auszubleiben. Man konnte nicht erfahren, wo er war und mit wem zusammen, wo er gewesen war und wo er herkam. Seine Antworten waren ebenso ruhig wie verschwommen, nichtssagend, ausweichend; er verstand geschickt die Tatsache auszunützen, daß er neu in der Gegend war, um gewisse Berichte zu geben, aus denen nicht leicht zu erraten war, wo und wie er die Stunden verbracht hatte. Er beschrieb Orte und Personen in so widersprechender Weise, daß unter den Frauen die lebhaftesten Erörterungen entbrannten. Plötzlich schien das Rätsel gelöst, da fügte er eine Bemerkung, eine Einzelheit hinzu, die alles wieder ins Dunkel zurückstieß: das Geheimnis wurde undurchdringlich. Zur Stunde der Mahlzeiten sah man ihn mit löblicher Pünktlichkeit erscheinen, aber was Erklärungen betraf, so befand man sich immer im Ungewissen. 92
Die Tanten spürten, daß dies nicht richtig war, und das Gefühl für die Verantwortlichkeit gegenüber dem Verwaisten erwachte, die Pflicht, sich ernstlich mit ihm zu befassen. Aber wie konnten sie das, bedrängt wie sie waren von einer Arbeit, die keinen Stillstand erlaubte? Die geringe Sympathie Giseldas verhinderte es, daß man sie mit der Sorge um Remo betraute, sie, die als einzige Zeit gehabt hätte. Alles wurde also auf die Schultern Niobes abgeladen, die von früh bis spät beschäftigt und, sagen wir es ruhig, auch nicht die beste Erzieherin war, sowohl der großen Unwissenheit als auch der grenzenlosen Gutmütigkeit wegen, und mehr noch wegen der dem jungen Mann deutlich gezeigten unbedenklichen und unbeschränkten Sympathie. Tatsächlich begann sie auch alsbald mit dem kleinen Spiel des Bemänteins von Streichen und Gaunereien, immer mit dem Hinweis, daß er bei den Bauern auf dem Hof sei oder beim Spielen mit den Kindern vom Mietshaus; auch dann, wenn sie selber nicht die blasseste Ahnung hatte, wo er sich aufhielt, und darüber in Sorge war. Dazu noch die Verwirrung und das Neue, das Remo in die Familie gebracht hatte, indem er wie ein Meteor zwischen die vier Frauen hereinplatzte. Der Knabe war in den allerersten Dezembertagen gekommen, und gleich zu Anfang hatte sich in der Bestürzung durch den tragischen und unerwarteten Tod der Schwester niemand um seine Angelegenheit kümmern können; dann war Weihnachten gekommen und hatte jede Initiative hinausgeschoben; das Schuljahr war schon zur Hälfte vorbei... man mußte seine Papiere von Ancona kommen lassen, und es dauerte eine Weile, bis sie in Ordnung und vollständig waren. Aus ihnen ging hervor, daß er nicht einmal das Abschlußzeugnis der unteren Elementarstufe besaß, sondern mit knapper Not die dritte Klasse hinter sich gebracht hatte. Um ihm nicht die Schuld zuzuschieben, kamen sie zum Schluß, daß so etwas nur in Ancona möglich war. Als sie ihn dann fragten, was er denn in dieser schrecklichen Stadt getan hätte, erwiderte er 93
knapp und mit männlicher Würde: «Beim Mechaniker gearbeitet.» «Beim Mechaniker...» Die beiden Schwestern warfen dieses Wort längere Zeit zwischen den Lippen hin und her, das sie nicht gewillt waren hinunterzuschlucken, sondern mit Anstand auszuspucken, wenn niemand ihnen zusah. «Beim Mechaniker...» Dieses Wort enthüllte den Stand der Dinge immer mehr, rief die dunkle Reise in die Erinnerung zurück, beleuchtete das Bild des Elends von Ancona immer besser, und die Sterbeszene wurde immer tragischer und eindrucksvoller: «Remo! Remo!» «Nun ja», beendigten sie das Gespräch abschließend und breiteten einen diskreten Schleier darüber. «Der Mechaniker... in der Werkstatt... nun ja.» Sie redeten nicht mehr darüber, aber man versteht, daß auch jene Bezeichnung zu der Vergangenheit des jungen Mannes gehörte, in die man besser nicht weiter eindrang. «Ein Schlosser?» sagten sie dann gleichzeitig, als sie betroffen und nachdenklich in ihrem Zimmer waren. «Ein Schlosser?» wiederholte Carolina, das Wort im Leeren abwägend, und Teresa fügte hinzu, es aufspießend und für immer am Boden festnagelnd wie ein giftiges Tier unter dem Fuß: «Ach was!» Ein paar Tage hindurch gab es um das Haus herum ein geheimnisvolles, außergewöhnliches Hin und Her: heimliche Unterhaltungen, brüsk unterbrochene Gespräche, abgebrochene Sätze, Austausch von Briefen und Botschaften, Aufträge, die Giselda in Gestalt beschriebener und festversiegelter Papiere anvertraut wurden, und schließlich eine offizielle Ankündigung. Am nächsten Sonntag würde Santa Maria einen Besuch von großer Wichtigkeit erhalten, der nichts zu tun hatte mit den gewöhnlichen wegen der Hemden und Höschen und für den sogar das Arbeitszimmer frei gemacht und in Ordnung gebracht und der gute Salon ausgekehrt und abgestaubt wurde, den man geöffnet hatte, um mit einer Luft und einem Licht wie in der Kirche vor dem Gottesdienst zum 94
Empfang bereit zu sein und einem leisen Duft von Petroleum, mit dem der Fußboden geölt worden war, was den mehr noch mystischen als feierlichen Anblick noch hob. Endlich war sehr sorgfältig und ohne zu sparen eine Erfrischung bereitet worden. Wer sollte denn um die dritte Nachmittagsstunde dieses hellen Sonntags Ende März kommen? Das Mittagessen wurde in Eile verzehrt und schon um halb eins aufgetragen, eine halbe oder gar Dreiviertelstunde früher als gewöhnlich; und mit ungewohnter Hast wurde der Tisch abgedeckt, das Wohnzimmer durch die Hand Giseldas wieder in Ordnung gebracht, während man in der anstoßenden Küche schon in den Schüsseln das Geklapper der Bestecke hörte: Niobe spülte geräuschvoll und noch kauend ab. Remo stand über diesem außergewöhnlichen Umtrieb und fügte der ihn umgebenden Feierlichkeit noch eine Prise Geheimnis hinzu, indem er seine Ruhe bewahrte, die allzu ausdrucksvollen Blicke ohne Neugier erwiderte und tat, als ob er gewisse von den Tanten gesagte und nicht gesagte Worte nicht hörte, vorzeitig abgebrochene, sibyllinische Sätze, die durchscheinen ließen, daß alle diese Vorbereitungen ausschließlich seinetwegen gemacht worden waren. Kaum war der letzte Bissen verschlungen, als die Schwestern schon in ihr Zimmer eilten, um sich dort einzuschließen wie an allen anderen Sonntagen, aber an jenem Tag mit anderen Gedanken. Sie schärften dem Neffen ein, daß er den blauen Anzug anziehen und sich vor drei Uhr bereit halten sollte. Sie hatten nicht gewollt, daß der Knabe wegen der Trauer für die Mutter in Schwarz ginge; sie ließen ihm bei einem jungen Mann in Ponte a Mensola, der bei einem guten Schneider in Florenz gelernt hatte, zwei Anzüge machen, einen grauen aus Flanell und einen aus schönem blauem Kammgarnstoff, beide mit kurzen Hosen und dazu wollene Kniestrümpfe, in denen die Blicke auf schlanke und gerade Beine fielen. Er trug eine schwarze Seidenkrawatte und am linken Arm einen 95
Trauerflor, um die Achtung vor seinem Zustand zu gebieten, mehr eine Mahnung für die anderen als für ihn selbst. Remo war der erste, der herunterkam, ja wir möchten sagen, er war noch nicht ganz oben, als er schon wieder unten war, schön, elegant, mit wohlfrisiertem, glänzendem Haar, ohne jede Initiative, ohne jeden Willen, sich nur so auf der dritten Stufe der Tür wiegend. Auch die arme Niobe verrichtete an jenem Tag Wunder; kurz nach zwei Uhr war die Küche so in Ordnung, daß sie einer Besichtigung standhalten konnte. Nachdem sie dann in ihrer daneben liegenden Schlafkammer verschwunden war, kam sie sauber gestriegelt daraus hervor, ohne daß ihr ein Haar in den Nacken oder über die Ohren gefallen wäre, und mit einer schönen, gestreiften Schürze, an der die Bügelfalten genau zu sehen waren und die für die Dienerin die Galauniform darstellte. Mit dem Besen in der Hand kam sie dorthin, wo Remo war, und kehrte nur ganz leicht ein letztes Mal über die Stufen und vor der Tür, den gepflasterten Weg entlang bis zum Tor und davor; und immer oberflächlicher, je weiter sie sich entfernte, beinahe als ob der Besen sich in ihrer Hand in einen Fächer verwandelt hätte. Letzte Pinselstriche einer außergewöhnlichen Erwartung, bis sie beim Kreischen der Trambahn auf den Schienen an einer fernen Kehre davonlief, um den Besen in der Küche zu verstecken, den Herrinnen zurufend, daß die Trambahn käme. Dann kehrte sie, die Schürze immer besser entfaltend und streichelnd, wie ein Tischtuch auf dem Tisch, und das Jäckchen sorgfältig zurechtzupfend wie ein Vogel die Federn, an die Türe zurück. Obgleich die Tanten ihr möglichstes getan hatten, waren sie einige Minuten vor drei Uhr noch nicht heruntergekommen. Die Gemächlichkeit jener sonntäglichen persönlichen Pflege war der Ausgleich für so viel Eile, die sie im ganzen übrigen Leben haben mußten. Und als das Kreischen der Trambahn sich an der zunächst liegenden Biegung hören ließ, 96
stürzten sie herunter, rauschend, schillernd, schäumend, gepudert und aufgeputzt, wie es besser nicht möglich war. Was deutlich machte, daß sie nicht die Arbeit an der eigenen Person unterbrochen hatten, die wahrscheinlich schon seit einiger Zeit beendet war, sondern die Selbstbewunderung, von der sie nicht so leicht loskamen. Remo, der bereits an gewisse Verwandlungen und an gewisse Toiletten der festlichen Anlässe gewöhnt war, schaute sie nicht mehr mit dem Interesse an wie damals im Zug, als er mit ihnen nach Florenz gekommen war. An jenem Tag.wäre so viel zu bewundern gewesen, daß die Zeit das einzige war, was fehlte. Das Kreischen der Trambahn, das immer eindringlicher geworden war, wurde wenige Schritte vor dem Gartentor kurz unterbrochen, wo Niobe stand und, in der Luft herumfuchtelnd, rief: «Die Direktorin! Die Direktorin!» Teresa und Carolina stürzten in ihrem ganzen Aufputz hinaus, dem Gast entgegen. Zuerst stieg ein junges Mädchen mit dem roten und runden Gesicht eines Azarolapfeis aus; sie trug keinen Hut und ließ einen sehr schönen tiefschwarzen Zopf sehen, der, um das runde Köpfchen geschlungen, ihre Frisur eines Institutszöglings bildete. Ein Mädchen, das auf den ersten Blick der Figur und dem Gesichtchen nach eine Fünfzehnjährige sein konnte; bei genauerer Betrachtung erhöhte sich die Rechnung allerdings bedeutend: sie war genau neunundzwanzig. Eine kleine Dienerin, man sah es sofort, manierlich und schlau, schnippisch vielleicht, jedenfalls aber zimperlich. Nachdem sie vom Trittbrett heruntergeglitten war, stellte sie sich mit ausgebreiteten Armen auf, um mit Hingabe ihre Herrin aufzufangen. Auch Teresa vor dem Trittbrett öffnete die Arme, auch Carolina und auch Niobe hinter allen machte die Gebärde des Öffnens. Nur Remo blieb mit hängenden Armen stehen. Der Wagen schien in sich selbst zurückzukehren und sich dann zu neigen wie eine Henne, wenn sie das Ei niederlegt, um den 97
nicht unbeträchtlichen, über und über schwarzen Inhalt zu gebären. «Teresa!» «Beatrice!» «Carolina!» Kaum war die Dame auf dem Boden, bums, schien die Erde zu wanken, und die Trambahn, einige Zentimeter über die Schienen emporgehoben, nahm leicht und rasch ihr lang hingezogenes Kreischen wieder auf. «Wie gut du aussiehst!» «Du auch.» «Du auch.» «Nach so vielen Jahren!» «Wahrhaftig.» «Was für ein Ereignis!» Nachdem sie einander angeschaut und wieder angeschaut hatten, wiedergefunden und wiedererkannt, traten die Frauen durch das von Rost zerfressene weiße Tor ein, das immer nur zur Hälfte offenstand, auch wenn die Direktorin durchgehen sollte. Alle paar Schritte blieb sie stehen und hielt auf diese Weise die ganze Gesellschaft auf, die sie wie eine Glucke überragte, besser gesagt, wie eine Truthenne. Die Direktorin blickte um sich, blickte nach unten, nach oben, in die Ferne, um wieder von der Örtlichkeit Besitz zu nehmen, und man hätte sagen können, sogar von der Luft, da sie lange und geräuschvoll atmete, Atemzüge, die weit hinabstiegen, wo sie eine Hand hinpreßte, als ob sie auf einen Knopf drücken würde. Dann nahm sie aufs neue mit den Freundinnen Kontakt auf, faßte sie an den Armen und nannte sie dabei «Töchter», zuerst «Töchter» und dann «meine Töchter». Tonina, die kleine Dienerin, wurde mit Niobe spazieren geschickt. Diese Idee fand sogleich den Beifall der Direktorin, die von der Höhe der dritten Treppenstufe herab antwortete: 98
«Ja, ja, du kannst gehen, geh, Liebe, geh nur...» Sie traten in das Haus. Ihre «Ja» waren nicht irgendwelche «Ja», sondern wohlabgewogene, und sie stiegen von jener Höhe herab, begleitet von einem Lächeln, das stufenweise geübt war wie die Worte und die bereits sichtbaren langen, gelben, wurmstichigen Zähne Bajonetten gleich aufpflanzte. Sie betraten den Salon. Die Direktorin betrachtete das Zimmer, und es war, als wollte sie es in der mit Petroleum parfümierten und für sie bereiteten kirchenähnlichen Luft einatmen. Sie war zwei oder drei Jahre älter als die Schwestern, aber ob es nun an ihrem Körperbau oder mehr noch an der Großartigkeit des Auftretens und Sprechens lag, jedenfalls waren die Ärmsten, vor allem Carolina, neben ihr zu zwei schüchternen kleinen Mädchen geworden, schon durch die zuvorkommende und dienstbereite Haltung. Sie mußte rechts von Teresa auf dem Kanapee Platz nehmen, und in den zwei Lehnstühlen, die es flankierten, in dem einen Carolina nahe bei der Schwester und ganz dem Gast zugewendet, im anderen Remo neben der Direktorin, die noch nicht das Wort an ihn gerichtet hatte. Sie knöpfte sich den weiten Umhang am Hals ein wenig auf, einen ganz schwarzen Umhang, der einen beinahe talarartigen Mantel umhüllte und aus dem die Arme, wenn sie hervorkamen, eine weite und großartige Bewegung vollführen konnten; dabei wurde ein schwarzes Schnürchen sichtbar, an dem die von weißem Metall umränderte und zwischen zwei Knöpfen des darunterliegenden Jäckchens auf der Höhe des Busens steckende Brille hing. Als sie zu sprechen begann, schob sie auch den Hut zurück, eine Art von hohem, rundem Schornstein, tiefschwarz, mit Schleifen, Federn und Schleier, den man weder als in der Mode noch außer ihr bezeichnen konnte wie jene, welche die Materassi trugen, sondern nur als hoheitsvoll. Der Entschluß, ihn auf dem Kopf nach hinten zu 99
schieben, wurde bestimmt nur gefaßt, um das große, breitflächige Gesicht besser hervorzuheben, das mit einer monumentalen Nase versehen war, die darin eine Parabel beschrieb, und das mit der korkartigen, schwammig werdenden Haut dem Mikroskop gewisse Panoramen von Bergen und Hügeln zeigen mußte wie eine Mondlandschaft. «Erinnerst du dich noch?» «Denkst du noch daran?» Es stellte sich heraus, daß die eigentliche Freundin Teresa war, aber im Grunde waren es beide. Die Direktorin wurde zur, immer relativen, Vertraulichkeit durch den kräftigeren und entschiedeneren Ton Teresas angeregt. Carolina nickte bloß, sagte zu allem «Gut» und zu allem «Ja» und wurde so einer gurrenden Taube ähnlich, aber selbstverständlich war es die Direktorin, die alles sagen mußte, und es gab keine Frau, die imstande war, sie im Fragen und Antworten zu übertreffen, alles von selbst und mit so gut modulierender Stimme, daß man glauben konnte, sie antworte dem Fragesteller. «Nach so vielen Jahren haben wir uns wiedergesehen!» «Wer hätte das je gedacht?» «Tatsächlich.» «Kaum hatte ich deinen Brief gelesen, sagte ich, ich gehe hin, ich gehe selbst hin, ich will an einem Sonntagnachmittag hingehen. Was wollt ihr, meine Töchter, auch ich bin im Gefängnis wie ihr, auch am Sonntagvormittag muß ich in die Direktion gehen, da gibt es Briefe zu öffnen, zu erledigen, da sind so viele Dinge, ich habe nur diese wenigen Nachmittagsstunden für mich.» Wenn sie das eigene Gefängnis dem der Schwestern gleichstellte, so ist leicht einzusehen, daß sie ein nicht unbedeutendes Zugeständnis machte, denn das ihrige als Direktorin einer Volksschule war ein vornehmes Gefängnis im Vergleich zu dem der Hemden- und Hosennäherinnen. Sie war die Tochter eines Postbeamten und hatte die Kindheit und die erste Jugend bis zu 23 Jahren in einem Haus in 100
Borghetto, zwischen Ponte a Mensola und Santa Maria, verlebt; sie hatte die Laufbahn der Lehrerin eingeschlagen. Dann war die Familie nach Florenz gezogen. Erinnerungen an das Leben jener Zeiten wurden wachgerufen: die Familie der Materassi, die Familie Squilloni. Einige gemeinsam unternommene Ausflüge auf die Hügel, ein paar in dem einen oder anderen Haus verbrachte Abende und ein berühmtes Topfschlagen mit Carolina, die sich die Binde herabgerissen hatte, ohne überhaupt den Schlag zu probieren, ohne vor lauter Angst einen einzigen Schritt zu machen, als sie die Binde um die Augen hatte. Teresa dagegen hatte die notwendigen Schritte gemacht, aber sie war ganz krumm gegangen, und als sie glaubte, den Topf zu schlagen, hatte sie den schicksalhaften Schlag in die Luft getan. Schließlich war die zukünftige Direktorin an die Reihe gekommen, die in ihrer Eigenschaft als Tochter des Hauses die letzte sein mußte, die den Schlag versuchte. Sie war sicheren Schrittes bis vor den Topf gegangen, an den richtigen Punkt, als ob sie keine Binde vor den Augen hätte, und mit einem gehörigen Schwung hatte sie dem Topf einen solchen Schlag versetzt, daß alle Karamellen und Schokoladenstückchen auf einmal herausgefallen waren, und ohne daß sie von den Scherben getroffen wurde. Die Gestalten der Eltern wurden heraufbeschworen, die Großeltern, alle Materassi, alle Squilloni - alle tot. «Ach!» «Oh!» «Ja, ja.» Und nach den fröhlichen Dingen, den wenigen, gedachten sie der traurigen, der vielen, der Schicksalsschläge, so vieler, der Leiden, alle wurden erwähnt. «Ja, ja...» «Nun...» «Aber...» Das Haus wurde in die Erinnerung zurückgerufen. 101
«Willst du es wiedersehen?» Mit gesenktem Kopf, aber immer gegenwärtig und wachsam, gab die Direktorin keine Antwort. «Willst du es wiedersehen? Man geht über das Feld, es sieht uns kein Mensch.» Den Oberkörper aufrichtend, aber den Kopf noch gesenkt, schwankend, ließ die Direktorin ihr «Nein... nein... nein... nein, nein, nein» so stufenweise vernehmen, daß die Worte ihr gleichsam über das Kleid hinunterfielen, die sie mechanisch mit der Hand wegzupfte. Sie wollte es nicht wiedersehen, nein, aber eine solche Loslösung war nicht Gleichgültigkeit, das verstand man wohl. «Nein... ich bin vor zwei Jahren vorbeigekommen, da war ich mit der Kommission in Settignano, um Prüfungen abzunehmen.» «Warum bist du nicht vorbeigekommen?» «Ich war nicht allein, ich war mit dem Inspektor zusammen.» Remo hatte den Mund nicht auf getan und benahm sich mit musterhaftem Anstand. Bei all diesem Seufzen, Lächeln, Gelächter, Beschwören hatte er nur bemerkt, daß die Zähne der Direktorin jene der Tanten zur Geltung brachten; er hatte es bemerkt, als sie zu lachen aufgehört hatten, um von einem heiteren Thema zur Melancholie überzugehen, und die Zähne bei allen dreien draußen geblieben waren, als ob sie vergessen hätten, sie in den Mund zurückzunehmen. Dieser merkwürdige Knabe, der, und zwar ohne Zögern, begriffen hatte, daß er gut zwischen die Hemden und Höschen gefallen war, hatte bereits eine andere wichtige, wesentliche Sache begriffen: daß diese alten Stuten, auch wenn sie die Zähne zeigten oder aus Vergeßlichkeit draußen ließen, nicht da waren, um zu beißen; und wenn sie den Hafer verzehrten oder den Mund aufrissen, um zu wiehern, blieb er unerschütterlich. Er erschrak auch nicht über ihre ständig wachsende Zahl, sondern zeigte sich hocherfreut darüber, sie wachsen zu sehen. 102
Nun wurden sie sentimental. «Was willst du, wir... du wirst begreifen...» Sie sagten es gleichzeitig, die zwei Schwestern, die eine mit der Stimme, die andere mit den Augen: «Wir haben nichts als die Arbeit... so sind wir eben hier.» In dem Augenblick, wo sie es einer dritten Person gegenüber hätte bestätigen sollen, verschwand die starke und wilde Schar der Alfredos, Gaetanos, Raffaellos und Guglielmos samt ihren unschätzbaren Vorzügen und absurden Mängeln, verschwand wie eine Handvoll Feiglinge, sobald der erste Pulvergeruch in der Luft ist. «Ich weiß... ich weiß...» Die Direktorin hatte von ihrer Geschicklichkeit, von ihren Erfolgen gehört, kannte ihr wohlverdientes Glück: «Brav, sehr gut, ich weiß, ihr seid außergewöhnlich.» Aber nicht so wie sie. «Weißt du, mit wem vor einiger Zeit viel von euch gesprochen wurde? Erinnerst du dich an Bettina Risaliti, jetzt Tirinnanzi? Sie kam oft am Sonntag zu uns, im Sommer... Sie hat schon große Kinder, alle sind meine Schüler gewesen, drei Knaben und ein Mädchen, das im Mai heiraten soll, und als von der Aussteuer die Rede war, wurde euer Name erwähnt, aber sie sagte, daß ihr für ihre Mittel zu hoch seid, zu soviel reicht es bei ihr nicht.» «Ach! Ach!» Die Materassi erinnerten sich nicht an Bettina Risaliti, wußten auch nicht, daß sie Tirinnanzi geworden war, Frau eines beinahe berühmten Delikatessenhändlers, aber bei der Anerkennung ihres eigenen Ranges neigten sie das Haupt mit Bescheidenheit. Die Arbeit hatte sie von allen weggebracht, sagten sie abschließend, und hatte sie auch die Erinnerung an so viele, viele Dinge verlieren lassen. Sie waren Näherinnen, Stickerinnen, das war alles, und so mußten sie sterben. «Nunmehr...» Dieses «nunmehr» jedoch war in der Art, wie es ausgesprochen wurde, nicht endgültig; für den, der die Töne und Schat103
tierungen der Sprache versteht, war im Grunde ein Lichtpünktchen geblieben, das auch größer werden konnte. Das «nunmehr» bezog sich auf ihren Willen, sie hatten sich vom Leben freiwillig ausgeschlossen, und genauso würde es auch bleiben. Die Direktorin dagegen bewahrte in ihrer Geschichte ein Drama in starken Farben: Sie war wenige Tage vor der Hochzeit von einem jungen Lehrer, einem Kollegen, verlassen worden, der verschwand und sie mit der bereitliegenden Aussteuer und den fertigen Papieren zurückließ. Man hatte auch den wahren Grund des unerwarteten Verlassens von sehen dieses Schurken nie erfahren können. Und da die Schwestern dieses Drama wohl kannten, das sich vor 30 Jahren, als sie noch in der Gegend wohnte, abgespielt hatte, so brauchte sie nicht viel mehr zu sagen. «Du entsinnst dich noch, ja?» sagte sie mit hoheitsvoller Stimme beruhigend und den Kopf hin und her wiegend und blickte Teresa in einem Augenblick der Erschlaffung an, von dem man wohl spürte, daß sie die Zügel in der Hand hatte, die sie im Augenblick wieder fest in den Griff bekommen konnte. Doch nein, nein, nachdem sie sich einmal auf weiches und schlüpfriges Terrain gewagt hatte, gefiel es der guten Dame, noch darauf weiterzugleiten. «Leider!» erwiderte Teresa. «Mein Gott», setzte Carolina hinzu. «Er ist in Rom, jawohl, Schuldirektor.» Das war die Erklärung der providentiellen, wenngleich tragischen Flucht. Ein Direktor und eine Direktorin! Ist das überhaupt möglich! Habt ihr schon einmal zwei Napoleone gesehen, die zusammen leben? Das ist eine ungeheuerliche, unmenschliche, närrische Sache, über die man nicht einmal lachen kann. «Hast du ihn nicht mehr gesehen?» wagte Teresa zu fragen, da ihr die Gestalt des entwichenen Flüchtlings in die Erinnerung zurückkehrte. 104
«Ja, einmal in Florenz, vor fünf Jahren. Er war einige Tage da, beim Tod seiner Mutter. Ich begegnete ihm auf der Straße, er ist sehr verändert, fast unkenntlich, er hat ganz weiße Haare. Es war das Blut, das mich ihn wiedererkennen ließ, ich fühlte, wie es mir ganz nach oben stieg und dann ganz hinunter.» Sie schüttelte sich innerlich ab, dann bäumte sie sich unerwartet auf. «Aber ich ging erhobenen Hauptes an ihm vorbei.» «Im übrigen... was willst du...» Diese abgebrochenen Worte Teresas hätschelten in unbestimmter Weise eine mögliche, wenngleich verspätete Wiedergutmachung. «Aber er hat ja eine Frau!» schrie die Direktorin auf und schnitt Teresa jede Möglichkeit ab, weiterzureden. «Er hat eine Frau!» skandierte sie und riß dabei Mund und Augen so weit auf, daß sie zu ebenso vielen Kreisen wurden, die sich, vom Gesicht ausgehend, ausbreiteten und die Zwischenrednerin erfaßten und verschlangen. «Acht Kinder, acht, acht, versteht ihr?» Von den vier Seiten des Zimmers kam die Bestätigung dieser Zahl zurück: acht! acht! acht! acht! Wenn Niobe dagewesen wäre, würde sie «Prost!» gerufen haben. Und wenn der Respekt und die Scheu vor der Direktorin ihr Schweigen auferlegt hätten, so würde sie dennoch «Prost!» gesagt haben, mit dem Kopf, mit den Schultern, mit den Armen, mit den Händen, mit einem Fuß. Die einfachen Leute brauchen nicht den Mund, um zu reden, und ihr gefielen eben jene gar zu gut, die sich ohne Knauserei immer weiter fortpflanzen. Teresa und Carolina blickten die Freundin verwirrt und erschrocken an und blickten dann einander an, ohne zu wissen, was es da noch zu sagen gab. «Acht Kinder.» So viel Qual des Leibes, die jener Rohling ihr durch seine niederträchtige Flucht erspart hatte, war in ihrem Gehirn zu ebensoviel Autorität geworden. 105
Nach diesem Intermezzo kam man zur Gegenwart, zu der Reise nach Ancona, zu den 48 Tunnels: «Arme Augusta! Ach! Ach!» Die Direktorin erinnerte sich nicht mehr an Augusta, die zur Zeit der Freundschaft mit den Schwestern noch ein Kind gewesen sein mußte, sie erinnerte sich nicht an sie, scheute sich auch nicht, es zu erklären. Der Tod der armen Frau, die Heimkehr mit dem Neffen, bis sich schließlich alle Blicke und lächelnden Mienen der drei Frauen auf Remo zusammenfanden. Man senkte die Stimme, als man gestehen mußte, daß ein Knabe von vierzehn Jahren, körperlich so kräftig, nicht einmal das Abschlußzeugnis der Volksschule besaß, sondern gerade noch die dritte Klasse besucht hatte. Hier aber schwang sich die Direktorin über alle Höhen hinaus: ihre eigenen, schwindelnden und die des ziemlich in Verlegenheit setzenden Palles. Sie ließ die Schwestern sprechen, unterwürfig, schamvoll, erschreckt über die Manöver, die sie mit dem imposanten Schornstein vollführte, wenn sie mit Großartigkeit nickte, so als ob so viel Scham und Furcht mehr als gerechtfertigt wären und ihr geschuldet würden; dann wendete sie sich stirnrunzelnd dem Schuldigen zu und begann ein Lächeln anzudeuten, in dem alle undurchdringlichen Rätsel, alle Geheimnisse, die Zaubermacht der Autorität enthalten waren und aus dem der Knabe alle Urteile, alle Erklärungen, alle Vorwürfe und auch alle Verheißungen herauslesen konnte. Schließlich fing sie an, in auf- und absteigenden Skalen zu lachen, die wirklich meisterhaft ausgeführt waren: breite, schmale, breite, die schmal endeten, enge, die immer breiter wurden, fallengelassene, wiederaufgenommene, sie schlug sich mit der Faust auf die Knie und schob die Trophäe der Autorität noch weiter nach hinten, so daß die Schwestern wie erstarrt dasaßen. Die Direktorin wollte nun den Namen wissen. «Remo, gut, das gefällt mir, ausgezeichnet, besser Remus als Romulus, der, wenn er auch Rom gegründet hat, den Bru106
der umbrachte; er hätte Rom gründen sollen, ohne jemanden umzubringen, das wäre besser gewesen. Meint ihr nicht auch?» schloß die Direktorin. Die Schwestern sagten: «Ja, ja», und hörten zu; man merkte, daß die Geschichte nicht ihre starke Seite war, und was Remo angeht, so wissen wir ja nunmehr, wie es um seine Gelehrsamkeit stand. Dann begann sie, wie der Kämpfer, der, seiner eigenen Kraft und Tüchtigkeit sicher, in die Arena niedersteigt, mit Natürlichkeit seine Glieder zu bewegen anfängt, mit denen er vor der erstaunten Menge das Wunder vollbringen wird: «Ah, junger Mann, mit vollen vierzehn Jahren, so groß und stark, habt Ihr noch nicht einmal die Volksschule absolviert und schämt Euch nicht? Und habt noch den Mut, vor mir zu stehen?» Sie lachte, die Direktorin, sie lachte. Das verblüffendste war, daß Remo angesichts dieses Artilleriefeuers gleichmütig blieb, mit einem leisen Lächeln um die Lippen, wie damals, als er gerade nach Santa Maria gekommen war und, um sich blickend, nichts als Hemden und Höschen gesehen hatte. Als intelligenter Knabe, der er war, hatte er damals den Artikel begriffen, jetzt begriff er die Gattung. In Schlangenwindungen erschöpfte die Direktorin ihr Gelächter, dessen Bedeutung eine ganz andere war, als die Freundinnen vermuten konnten. Was für sie die Ursache so großer Scham und Furcht war, brachte diese nur zum Lachen, und wirklich von Herzen, da es für sie nur eine Kleinigkeit bedeutete. Remo zur Volks schulreife führen war für sie soviel, wie wenn ein Elefant ein Zuckerkügelchen verspeist. Im vergangenen Oktober hatte sie einem jungen Mann von neunundzwanzig Jahren das Abschlußzeugnis gegeben, anderen von vierundzwanzig, sechsundzwanzig, zwanzig, achtzehn, so etwas kam alle Tage vor, und ein paar Jahre zuvor hatte sie es einem Alten von dreiundsechzig gegeben. «Dreiundsechzig», wiederholte sie, damit sie die Zahl richtig hörten und sich nicht im geringsten schämten. Ein sehr ge107
nauer und umständlicher Herr wollte ihn ohne dieses Dokument nicht als Portier anstellen. Bei der schriftlichen Prüfung mußte der Ärmste mit den anderen Schülern einen Aufsatz über folgendes Thema schreiben: «Peterchen geht mit der Mutter spazieren und erlebt eine rührende Szene», und er machte seine Sache ausgezeichnet. Aber für die mündliche Prüfung hatte die Direktorin ihren festgesetzten Plan, den sie eifersüchtig auf der Höhe ihrer eigenen Vollkommenheit hütete und auf den sie ungemein stolz war. Als der Prüfling vor der Kommission erschien und, da er ein wenig an Gicht litt, schief daherkam, schauten sich die Kommissare sprachlos an, da sie nicht wußten, worüber sie ihn befragen und wo sie anfangen sollten. «Die Geschichte, die Geschichte», suggerierte die Direktorin mit der Frische von Wasser, das aus der Quelle hervorsprudelt. «Die Geschichte», wiederholte sie, wie vor der Kommission. Es war ein überwältigender Erfolg. Der brave Mann war hinter der Kutsche nachgelaufen, die Canapone trug, als er am 27. April 1859 Florenz verließ. Er war unter den jungen Männern, die riefen: «Fort! Hinaus! Er soll gehen! Hinaus!» Die ganze Via Bolognese entlang. Und Canapone erwiderte: «Seht ihr denn nicht, was ich tue? Was meint ihr? Da bin ich ja, ich gehe fort, ich gehe fort, seid ihr jetzt zufrieden?» Und die anderen drängten tanzend und springend der Kutsche nach. «Hinaus! Hinaus!» Während die Frauen ihm weinend aus den Fenstern zuriefen: «Armer Leopold! Armer Babbo! Auf bald! Auf bald!» - «Auf bald, auf bald!» antwortete der Großherzog zurückgrüßend, aber als er um sich blickte, preßte er den Mund zusammen: «Vielleicht, aber ich glaube nicht daran... Mag sein, aber ihr seht mich wohl nicht wieder!» Als er dann noch sagte, daß er Viktor Emanuel gekannt und Giuseppe Garibaldi die Hand gedrückt hätte, sprang die Kommission auf, und sie gaben ihm das Zeugnis «cum laude». An diesem Punkt schwieg sie, die Direktorin, und begann in die Tiefe hinabzuschauen... noch weiter... aber nicht in 108
die Tiefe des Zimmers, ihr Blick ging über alle Mauern hinaus. Und in der Tat, als sie, die Zähne wieder hereinnehmend, nicht ganz, weil der Mund sie nicht ganz unterzubringen vermochte, und die Augen halb schließend, da hinunterblickte, da hinunter... war sie nicht mehr die Direktorin einer Volksschule, sondern keiner wußte, wo ihre Direktion anfangen noch wo sie enden mochte. Dann machte sie, mit den Fingern auf dem Schenkel trommelnd, eine kleine Rechnung: «April, Mai, Juni... Zeit genug» und nannte einen Namen: «Calliope, Calliope Bonciani-erinnert ihr euch an Calliope?» Die Ärmsten erinnerten sich auch nicht an Calliope, aber sie sagten ja, ja und taten, als ob sie sich undeutlich erinnerten. «Sie kam immer nach Borghetto mit der Mutter, sie ist schon seit einigen Jahren im Ruhestand, und die Mutter ist noch am Leben; zweiundneunzig Jahre», skandierte die Direktorin, welche die Zahlen im Gespräch wie Teile von außerordentlichem Wert verkündete. «Zweiundneunzig», skandierte sie lauter. Schade, daß Niobe mit Tonina draußen auf dem Bauernhof war, niemand hätte sie hindern können, auf diese Zahl zu antworten: «Donnerwetter noch einmal!» Da das Leben so schön war, hätte sie einen Ausruf des Beifalls und der Solidarität für die nicht zurückhalten können, die es bis zum letzten auskosten. Calliope war eine weitere Blume, ja die schönste Blume des Straußes. Der Grund, warum sie unvermählt geblieben war, gereichte ihr zur hohen Ehre. Sie hatte den Verlobten durch die Cholera von Neapel im Jahre 1884 verloren, die ausgebrochen war, als er seinen Militärdienst in jener Stadt ableistete. Nachdem er sich in der traurigen Epidemie in großmütiger Weise eingesetzt hatte, war er ein Opfer der Nächstenliebe geworden. Calliope, schön und jung, wollte nichts mehr davon wissen, ihr Herz einem anderen Mann zu schenken, und wie so viele schöne und romantische Kreaturen des vergangenen Jahrhunderts blieb sie ihm über den Tod hinaus treu. Auf 109
ihrer Kommode war ein schönes Bild des jungen Mannes in der Uniform der Bersaglieri mit den prächtigen Federn auf dem Hut, die ihm bis auf die Schultern herabwallten. Vor ihm waren ständig Blumen und ein Lichtchen. «Zweiundneunzig!» Die Direktorin wiederholte noch einmal die Jahre von Calliopes Mutter. «Wenn ihr sie auf der Straße sehen würdet! Ein Quirl, ein Pfefferkörnchen. Es geht ihnen gut, aber ihr werdet verstehen, es ist immer angenehm, eine Kleinigkeit zu verdienen, und dann hat sie ja nichts zu tun. Was für eine Lehrerin! Immer bei den Jungen und in den Oberklassen: die fünfte, wie ich sie hatte, wie ich.» Obwohl sie nicht Direktorin geworden war, erntete Calliope ihre ganze Hochachtung. Sie setzte hinzu, daß die wahren Lehrerinnen sich bei den Knaben und in den Oberklassen auszeichnen: die fünfte! Wie sie und Calliope. Carolina wagte eine zitternde Frage: «Sind die Knaben besser als die Mädchen?» Die Direktorin rollte die Augen mit erfahrenem Ausdruck. Sie war der gleichen Meinung wie Niobe! Obgleich das männliche Geschlecht auch bei ihr eine kleine offene Rechnung hinterlassen hatte, waren sie immer besser als die Mädchen. Sie sagte, daß die Knaben immer wissen, was sie wollen, und wenn sie etwas anstellen, so weiß man, wie und warum sie es tun, sie sind lebhaft, laut, unruhig, oft die reinsten Teufel, aber sie sind offen, man kann sie mit großer Leichtigkeit bis auf den Grund durchschauen; wenn man sie einmal kennt und zu nehmen weiß, kann man mit ihnen machen, was man will. Die Mädchen dagegen sind ruhiger, respektvoll, gesetzt, folgsam, aber sie haben häufig etwas im Hinterhalt und bringen es zum Vorschein, wenn du es am wenigsten erwartest; man weiß nie genau, was hinter den Mädchen steckt, du glaubst sie ganz zu haben und bemerkst am Ende, daß du tatsächlich gar nichts hattest. Arme Frauen, niemals wird eine andere Frau die Verteidigung eures Geschlechts übernehmen. 110
«Also: April, Mai, Juni... zwei Stunden jeden Vormittag...» Und nun zu Remo gewendet, mit hochaufgerichtetem Haupt und erhobener Hand: «Aber dann heißt es lernen, die verlorene Zeit nachholen, die Fehler wiedergutmachen», schloß sie streng, «mein lieber Herr.» Nachdem das Problem mit solcher Einfachheit gelöst war, erhoben sich Teresa und Carolina, von der Last befreit, die sie seit vielen Tagen niedergedrückt hatte, gleichzeitig mit einem Satz und eilten zu dem im Halbdunkel stehenden Tisch, wo die Erfrischungen bereitstanden. Sie boten der Direktorin zuerst eine Orangeade an; diese hatte, während die Schwestern zu dem Tischchen geeilt waren, die Brille aus dem Jäckchen gezogen und aufgesetzt: sie wollte sehen, was sie schlucken sollte; es war ein Vino Santo von 1907 (man war im Jahre 19) mit Biskuits und dazu feinste belegte Brötchen. Die Direktorin zeigte sich über die Aufmerksamkeit erfreut und nahm unter vielem und vielfach wechselndem Lächeln den Wein und die Süßigkeiten entgegen, und da sie nun gesehen hatte, um was es sich handelte, steckte sie bald die Brille in das Jäckchen und widmete sich der Sache, ohne weiter hinzusehen. Als dann der Augenblick gekommen war, «Genug» zu sagen, begann sie abzulehnen, indem sie die Arme verschränkte und den Kopf zurückbog: «Nein, nein, es ist unmöglich.» An diesem Punkt schaltete sich Remo ein. Nachdem er vorsichtig und ohne Schüchternheit zu zeigen, ein Tablett vom Tisch genommen hatte, hielt er es der Direktorin hin. Diese lehnte sich auf dem Kanapee zurück. Alle Federn auf ihrem Kopf sträubten sich zugleich, wie bei einem Hahn, der den Rivalen vor sich hat, sie riß die Augen auf, öffnete den Mund, zeigte die Zähne, um den Kecken zu verschlingen. Aber er hatte keine Angst vor jenen Bissen, er kannte den Charakter der alten Stuten und verstand mit ihnen umzugehen. «So, du wagst der Direktorin einen Biskuit anzubieten, die zu den Tanten so oft nein gesagt hat? Du getraust dich?» 111
Dann schien der in beleidigter Haltung aufgerissene Mund ein Lächeln zu formen; vor Freude konnte sie sich nicht mehr halten, gab nach, lächelte und verschlang schließlich das Biskuit. Ja, ja, von ihm ließ sie sich noch ein weiteres Biskuit geben, von den Freundinnen dagegen nicht, nichts von jenen, aber von ihm nahm sie es und schlang es hinunter. Die Übung wurde zu verschiedenen Malen wiederholt, nach immer kühneren Angriffen und lärmenderen Kapitulationen. Und auch ein Tröpfchen ließ sie sich noch einschenken, nachdem sie zu den Freundinnen gesagt hatte, daß es ihr schaden würde. Aber jene, statt eifersüchtig zu werden, strahlten vor Wonne über den Erfolg ihres Neffen. Noch ein Tröpfchen von dem zukünftigen Volksschulabsolventen und noch ein Biskuit. Und Remo sah dabei nicht im mindesten verlegen oder bittend drein. Ach was! Er bot mit der Sicherheit des abgeschlossenen Geschäfts an, wenngleich er wußte, daß er warten mußte, seine Miene blieb undurchdringlich. Eine dieser kleinen Szenen wurde durch das Erscheinen von Niobe mit Tonina an der Tür des Salons unterbrochen. Das Gesicht Niobes erhellte sich. Sie begriff, daß alles aufs beste verlief, die Direktorin war nicht umsonst nach Santa Maria gekommen, während Tonina in großer Verwirrung und mit Feuereifer immer wiederholte: «Signora, Signora, sehen Sie, ach, so schauen Sie doch!» Ihre Arme waren beladen und beladen auch die Arme Niobes: Blumen, Früchte, Kopfsalat, Endiviensalat, mit der Wurzel ausgestochene Zichorie, Lattich, alles, was die Direktorin gern hatte (sicher war auch etwas dabei, was Tonina mochte), Samen und Pflanzen für das Gärtchen der Direktorin, grüne Zweige, jawohl, weil ihr auch die Zweige so gut gefielen. Die schlaue Niobe hatte Tonina ausgeforscht und sie mit allem beladen, was der erhabenen Herrin erwünscht sein konnte. Man verstand schon, daß dies nur ein Vorschuß war. Die Direktorin würde noch andere Sachen ins Haus kommen sehen, wahrscheinlich noch viel bessere, das ganze Frühjahr und den Sommer über. 112
Zum zweitenmal zog sie die Brille aus dem Jäckchen und setzte sie mitten auf die monumentale Nase: sie wollte sehen, was sie forttrug, während sie mit lauten Verwunderungsusrufen und Protesten begann, und Tonina wiederholt beteuerte: «Ich wollte nicht, sie wollte es mir geben.» Die ganze Gesellschaft blieb beim Hinausgehen in dem Arbeitszimmer stehen, das in aufgeräumtem Zustand fast nicht wiederzuerkennen war mit den ordentlich aufgestapelten und auf den Tischen verteilten Stoffen und den mit dem Gesicht der Wand zugekehrten Stickrahmen. Die Direktorin wollte etwas sehen. «Alle Welt weiß, daß ihr goldene Hände habt. Es ist stadtbekannt, wie tüchtig ihr seid...» Teresa zeigte ihr einige Hemden, Höschen und Hemdhöschen, die zur Aussteuer einer Contessina gehörten, die im kommenden April heiraten sollte, und dann die einer sehr üppigen und nicht mehr jungen Baronin. Die Direktorin, die bei der Bewunderung der Aussteuer der Contessina über die erlesene Feinheit der Arbeit in Verzückung geraten war, konnte, als man zu der Baronin kam, nicht mehr an sich halten und platzte vor Lachen wegen der ungeahnten Ausmaße jener Hemden und Hosen. Das war also die Wäsche, welche die Frauen trugen? Teresa, die sich bis zu diesem Augenblick schüchtern und unterwürfig verhalten hatte, lächelte jetzt, wo es um die eigene Ware ging, ohne zu antworten und ohne ein Gespräch überhaupt aufzunehmen. Jetzt war sie die Direktorin, und mit einer höflichen und nachsichtigen Miene der Selbstgefälligkeit ließ sie die andere ihre Anklagen vorbringen. Aber Carolina als die Naivere mischte sich ein: «Und sie werden immer weniger, immer noch kürzer und kleiner, verstehst du, bei den Kleidern, die man heute trägt, müssen die Dessous auf ein Nichts verkleinert werden, man muß sie verschwinden lassen.» 113
«So? Noch kürzer? Gut. Das ist die Wäsche der modernen Frauen? Gut so. Bravo! Schamlos! Lächerlich und unanständig!» Sie krächzte ein satanisches Gelächter, als sie bemerkte, daß die Höschen der Baronin entschieden weiter als lang waren. Man konnte sich denken, daß unter jenem schier talarartigen Gewand lange Unterhosen aus der Zeit vor 30 Jahren sein mußten, aus der wegen des unseligen Verlassens unberührt gebliebenen Aussteuer, die mit ihren Stickereispitzen sicher bis zu den Knöcheln reichten. An diesem Punkt wollte sie die Freundinnen von so viel Liederlichkeit entlasten, indem sie die ganze Schuld auf die modernen Frauen schob und auf die Verrückten, von denen die Moden geschaffen werden. «Ihr armen Dinger habt keine Schuld daran, das weiß ich, keine Schuld, ihr habt recht, wenn ihr es so macht, ihr müßt es tun, es ist euer Beruf, das versteht sich; aber wenn ich einer von diesen Ehemännern wäre und die Frau käme mir in einem solchen Aufzug unter die Augen, ich würde einen Stock nehmen ...» Mit der Hand machte sie die Bewegung des Durchhauens. Sie hatte keine Ahnung, die Direktorin, es war nicht der Stock, der vielleicht unter solchen Umständen einschritt; sie bewies auch nicht gerade ein gutes Gedächtnis, denn sie vergaß im gleichen Augenblick, daß sie bei den langen Unterhosen stehengeblieben war. Teresa hatte Carolina zugezwinkert, um das Gespräch abzubrechen, und jene war an den Schrank geeilt und zog ein Meßgewand hervor, das schon aufgezeichnet und zum Teil gestickt war und bei dessen Anblick die Freundin vor Begeisterung außer sich geriet. Sie zeigte ihr noch einen schwarzen Schal, auf dem sie eine Stickerei nach chinesischen Originalzeichnungen ausführte und an dem sie dann und wann einmal arbeitete, denn obwohl er gut bezahlt wurde, lohnte er die unabschätzbare Mühe nicht. Die Direktorin zeigte sich neugierig. 114
«Wieviel geben sie dir für eine solche Arbeit?» «Ich habe 3000 Lire verlangt, und sie haben nichts dagegen eingewandt.» «Und wie lange brauchst du zu der Arbeit?» «Vielleicht zwei Monate, wenn ich ohne Unterbrechung daran arbeite, aber so, wie ich es mache... mindestens ein Jahr.» An der Schwelle angekommen, um die erste Stufe hinabzusteigen, wandte die Direktorin sich nach Remo um und erhob die mahnende Hand: «Und wenn du an eine Frau gerätst, die ein so kurzes Hemd und so kurze Hosen anhat, jag sie fort oder nimm einen Stock.» Remo lächelte. Und für jenen Tag war das ihr letzter Irrtum. Dieser außerordentliche Sonntag wurde durch einen außerordentlichen Entschluß gekrönt: da Remo mit den Unterrichtsstunden bei Signorina Calliope sofort anfangen mußte, wurde beschlossen, ihm ein Fahrrad zu kaufen, damit er schnell hinkäme; das erwies sich als unbedingte Notwendigkeit. Sie beschlossen, sich am nächsten Morgen nach Florenz zu begeben, alle drei (eine Tatsache, die das ganze Dorf in Erstaunen versetzte), nachdem Remo versichert hatte, daß er sich auf Fahrräder verstünde und wüßte, welche Marke den Vorzug verdiente. Und hier geschah etwas höchst Merkwürdiges! Remo kannte sich in der Stadt genau aus; da er aber nie dort gewesen sein konnte, weil nie jemand daran gedacht hatte, ihn hinzuführen, gab er sich große Mühe, es nicht merken zu lassen. Die Tanten führten ihn dorthin, wo sie glaubten, daß es am besten sei, aber er wußte ja, wohin man gehen mußte, um das Rad zu suchen, das ihm gefiel. Und schließlich gelang es ihm, sie genau dorthin zu bringen, ohne daß sie etwas merkten. Sie kehrten dann noch im Cafe Bottegone ein, um eine Schokolade mit Brioches zu nehmen. Remo führte sein schö115
nes Fahrzeug an der Hand, wobei er es immerzu mit dem Wohlgefallen eines Liebhabers anschaute. Und als die Tanten die Trambahn nach Settignano bestiegen hatten, stieg er aufs Rad, das noch ohne Nummer war, und fuhr daneben her, überholte, ließ sie vorausfahren und holte sie wieder ein, zum großen und schlecht verhehlten Jubel der Tanten, die ihm mit den Blicken folgten, wie er so leicht und geschickt zwischen den Leuten dahinfuhr, und selig waren, in so liebenswürdigem Geleit zu reisen. Und wenn die Trambahn hielt, führte er in der Wartezeit Schwenkungen aus oder hielt an und stützte sich mit der Hand gegen die Wagenfenster direkt hinter dem Rücken Carolinas, die ihre Freude nicht verbergen konnte und sich bei dieser idealen Berührung hin und her wand und, um es nicht merken zu lassen, zu der Schwester sagte, daß sie aus Angst vor einem Strafmandat zittere. Aber die Augen Remos wußten auch mit Fahrrädern ohne Nummer durchzukommen. Mit der Zeit hatte Teresa die Gewohnheit angenommen, eine unwiderstehliche Sucht, den Neffen bei den Leuten bekannt zu machen und vor allem bei der vornehmen Kundschaft, wobei sie von allen Anerkennung und Zustimmung einheimste, sowohl für das gute Werk als auch weil Remo sich sehen lassen konnte; in seinem grauen Flanellanzug sah er wirklich gut aus; mit schön gekämmtem, glänzendem Haar, nicht einmal beim Spiel kam er in Unordnung, er verstand in jedem Fall seine Linie zu wahren, und man konnte ihn beruhigt jederzeit vorführen. Sie erzählte von dem Unglück, das den armen Jungen betroffen hatte, und schob sich die Schuld zu, daß er wegen der Trauer um die Mutter nicht in Schwarz sei. Die Damen sprachen ihre Komplimente aus sowohl für die edelmütigen Tanten wie für den verheißungsvollen jungen Mann und die Frommen für das gute Werk, das sie taten, und wofür der Herr sie im anderen Leben belohnen würde - ohne Remo eines Blickes zu würdigen.
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Wenn der Neffe sie lange ansah, mußte Teresa die Augen abwenden. Carolina dagegen, von einer Regung erfaßt, der sie nicht widerstehen konnte, umarmte und küßte ihn schließlich, eine Sache, die sie verwirrte, ohne daß sie begriff warum. Man muß bedenken, daß das fünfzigjährige alte Mädchen zum erstenmal ein männliches Wesen küßte, wenn es auch noch ein Jüngling war. Bis dahin hatte sie nur solche geküßt, die viel jünger waren als er, Kinder von fünf oder sechs Jahren oder wenig darüber, und ihr Kuß drückte die ganze Unschuld und Liebenswürdigkeit ihres jungfräulichen Wesens aus. Sie wäre entsetzt gewesen, wenn jemand ihr die ferne und verworrene Herkunft jener Regungen erklärt hätte. Teresa verbarg ihren Ärger bei jener Gebärde nicht, die sich wiederholte und die sie in unerklärlicher Weise das schickliche Maß überschreitend fand. Aber es schien, als ob Remo alles täte, um mit ihr im Halbdunkel des Stiegenhauses zusammenzutreffen. Er zögerte in jener Dunkelheit, wenn sie vorüber mußte, folgte ihr im Abstand, bis sie ihn einmal, als er sie in solcher Dunkelheit seine Augen spüren ließ, nahm, an sich drückte, ihn lang und fest küßte. Der Knabe überließ ihr den Mund. Sie aber ging nach dem Kuß in höchster Verwirrung in ihr Schlafzimmer und schloß sich dort ein, und von da an ließ sie nie mehr ein solches Verlangen in sich aufkommen. Sie dachte sogar, ob sie von jenem Geschehen nicht in der Beichte sprechen sollte, aber sie sprach nie davon und ärgerte sich auch nicht mehr, wenn Carolina, den Antrieben des Herzens folgend, den Neffen vor allen küßte. Remo jedoch, der sich der Zeit und des Ortes erinnerte, legte es mit überraschendem Geschick darauf an, an der dunkelsten Stelle der Treppe allein mit ihr zusammenzutreffen, was für Teresa eher ein Vorwurf als ein Zeichen der Liebe war. So gingen der Winter und der Frühling im Haus der Tanten vorüber. Zu Niobe waren indessen aus der Nachbarschaft einige 117
Klagen gedrungen. Eine andere Fähigkeit Remos kam an den Tag: Er raufte mit meisterlicher Kraft und Gewandtheit. Und was das Phänomen noch ungewöhnlicher machte, war, daß er, während der Gegner sich vor Zorn und Wut erhitzte, nicht nur ruhig, gleichmütig, in gefaßter Haltung verblieb, sondern lächelte, als wenn sie ihm Liebkosungen oder Bonbons zum Knabbern angeboten hätten. Je besser der Schlag saß, um so ruhiger lächelte er, was die Wut des Gegners erhöhte und zugleich die der Anverwandten, die mit der Zeit auch dahinterkamen. Bevor die Mütter aus der Nachbarschaft, die Großmütter, Schwestern oder Tanten mit den Hausherrinnen darüber sprachen, vor denen sie sich scheuten, redeten sie mit Niobe, wobei sie über das Feld an die Küchentür kamen, ohne daß jene etwas davon merkten. «Das eine Auge bringt er gar nicht mehr auf.» «Er kann einen Arm nicht bewegen.» «Die Backe ist geschwollen.» «Er ist ganz voll blauer Flecken.» «Ein Zahn wackelt.» «Er hat ihn so verprügelt, daß er wieder den Husten bekommen hat, der arme Kerl; vor zwei Jahren hat er Brustfellentzündung gehabt.» Denn der Sohn der Augusta oder, besser, der junge Herr, wie sie sagen sollten, aber sie sagten es ungut, spöttisch, hämisch, zornig, der junge Herr, und der eine oder andere setzte hinzu: der junge Herzog, der Erbprinz, er spielte ihnen allen übel mit. Bis eines Tages Remo, der zur Stunde der Mahlzeiten für gewöhnlich gesittet und pünktlich erschien, mit einer großen, dunklen, dicken Beule um ein Auge herum ankam, sicheres Zeichen einer stürmischen Rauferei. Aber er trug die Beule mit viel Unbefangenheit und so gut, daß es wirklich war, als ob er sie nicht hätte, so daß man ihn gar nicht danach zu fragen brauchte.
P ALLE
PALLE!
PALLE! PALLE! So HÖR DOCH, PALLE! PALLE,
komm!» Im Umkreis von Santa Maria konnte man diesen Namen nicht selten hören, mit Ausdauer und in einem Ton gerufen, dem die Erscheinung dann in keiner Weise entsprach und die auch keine so hervorragende Stellung einnahm, um so viel Interesse zu erregen. Das schönste aber ist, daß dieser Palle dieses Interesse mit weitaus weniger Beflissenheit und geringerem Verlangen erwiderte. Meistens würdigte Palle diese Rufe nicht nur keiner Antwort, sondern er wandte sich überhaupt nicht um, und man mußte ihm nachlaufen. «Zum Kuckuck mit Palle! Dieser verwünschte Palle!» Palle ist einer jener Spitznamen, deren man sich gerne bedient, um die Personen farbiger, malerischer darzustellen und sie damit besser zu benennen als mit dem Namen des Zivilstandes, und zwar mit Zustimmung des Wiedergetauften, der sich wohl hüten würde, einen solchen Tausch übelzunehmen. Palle war ein kurzgewachsener junger Mann, man kann schon sagen klein, aber so stämmig und mit rundem, starkem Brustkorb, daß er gleichwohl imponierend wirkte. Er hatte breite Hände und kurze, leicht gekrümmte Beine, aber nicht in X-Form, was ein Zeichen von Schwäche ist, sondern nach außen gekrümmte, sogenannte O-Beine, sehr kräftig; und einen lässigen, wiegenden Gang, der ihre Standfestigkeit verstärkte. Wenn er sie nicht brauchte, steckte er die Hände in die Tasche. Er trug eine Mütze mit in die Stirn hereingezogenem 119
Schild, und es passierte nicht oft, daß er sie abnehmen mußte. Niemand hätte es fertiggebracht, ihn zum Tragen eines Hutes zu bewegen, der auf seinem Kopf auch lächerlich ausgesehen hätte. Unter dem Mützenschild waren zwei helle, sehr helle, pfiffige und gutmütige Äuglein; und die unter der Mütze ganz verborgenen blonden und struppigen Haare, ohne alle Schmiegsamkeit, starr, ließen auf eine nachlässige Pflege schließen. Das blasse Gesicht von noch nicht mannbarem Aussehen, trotz seiner 22 Jahre, ließ oft verstreute, schwache Goldfünkchen rings um ein Lächeln aufglänzen, das wie die Äuglein gutmütig und schlau zugleich war. Aber vor allem anderen fiel an Palles Erscheinung die körperliche Kraft und die männliche Ruhe ins Auge, durch jenen wiegenden Gang, der ihn, seine Energie und sein Temperament verbergend, träge erscheinen ließ. Wenn ihn jemand Belisario gerufen hätte, das war sein wirklicher Name, so würde er ganz bestimmt nicht geantwortet haben. «Palle, Palle! Hör doch, Palle! Komm her, Palle!» Besonders häufig aber waren diese Rufe und dieser Name in der Nähe des Hauses Materassi zu hören. Man hörte sie aus einer offenen Tür oder einem Fenster, zwei oder drei Schritt außerhalb des Gartentores auf der Straße, hinter dem jungen Mann her, und mit solcher Eilfertigkeit, daß man hätte meinen können, Palle würde davonlaufen; aber der dachte nicht daran. Er lief weder, noch antwortete er auf die Rufe, sondern blieb stehen, mit lauschend geneigtem Kopf, mit einer Miene, als ob er sich losmachen wollte und im voraus wüßte, was man ihm sagen würde. Als Remo vor acht Jahren, noch ein Knabe und erst seit wenigen Monaten in Santa Maria, eines Tages heimkam und ein blutunterlaufenes Auge zeigte und verschiedene blaue Flecke verbarg, die er wohlweislich nicht sehen ließ, obgleich die Tanten eine dringliche Untersuchung eingeleitet hatten, da erfuhr nie ein Mensch, daß diese Beule den kurzen, dicken Händen Palles zu verdanken war, der zu jener Zeit ebenfalls 120
vierzehn Jahre zählte. Auch die Mutter Palles konnte nie erfahren, woher die grünen, roten und veilchenblauen Beulen stammten, mit denen der Sohn eines Abends nach Hause gekommen war. Aber als ob zwischen den zwei Halbwüchsigen ein ausdrückliches Einverständnis herrschen würde, hielten beide mit Charakterstärke die Ursachen und Folgen einer gewaltigen Schlägerei geheim, die keinen Zuschauer gehabt hatte. Wie schon gesagt, hatte Remo als Neuankömmling am Ort, als er gewissen feindseligen oder argwöhnischen Äußerungen begegnete, die sich ganz natürlicherweise gegen einen richten, der sich nicht einfach überwältigen lassen, sondern durchsetzen will, nacheinander aus geringfügigen Anlässen mit allen seinen Altersgenossen Händel gehabt, er hatte alle verprügelt, und alle hatten es sich gefallen lassen. Niobe war kaum noch imstande, die ringsum durch die Anwesenheit des Knaben angewachsene Unzufriedenheit einzudämmen, wovon die Tanten nicht die geringste Ahnung hatten, da er zu Hause ihnen gegenüber das korrekte und unbefangene Benehmen des wohlerzogenen jungen Mannes zeigte. Sagen wir es nur ruhig, sie hätten auch den Kopf wie ein paar Vipern aufgerichtet, wenn jemand Klagen vorgebracht oder etwas Böses über Remo gesagt hätte. Aber Palle lauerte dem Fremden auf, er wartete auf eine Gelegenheit, um ihm zu zeigen, wie die geballten Fäuste in Santa Maria schmeckten. Er fühlte, daß die Gerechtigkeit und die Ehre des Dorfes in seinen Fäusten lag. Und als die Gelegenheit gekommen war, ließ er sie sich nicht entgehen. Der gewandte und elegante Remo und der starke Knirps griffen sich mit Heftigkeit an, und zum erstenmal gab Remo nicht nur, sondern er mußte auch einstecken. Und da es, ohne daß einer vom anderen gewußt hätte, ihre Taktik war, zu schweigen, erwachte am darauffolgenden Tag zugleich in ihnen das Verlangen, sich wiederzusehen, und sie suchten einander aufs neue, wobei sie zuerst finster und drohend beisammenstan121
den, ohne den Mund aufzutun, beinahe als ob der Streit von einem Augenblick zum andern wieder aufflammen sollte; aber es war die Finsternis dräuender Wolken, die sich bald auflösen sollten; und nachdem sie sich aufgelöst hatten, brach ein offenes Lächeln der Sympathie von beiden Seiten auf. Die kühnen Kämpen hatten sich bereits gern. Aus der Kraftprobe waren Achtung und Zuneigung hervorgegangen, aus diesen das Einverständnis und die Freundschaft, die unter alle Rivalität, allen Groll den Schlußstrich zogen. Von jenem Tag an suchten sie einander auch immer wieder und suchten die Gesellschaft der anderen nicht mehr, mieden sie sogar absichtlich. Die Tanten zeigten sich von einer derartigen Vorliebe nicht erbaut, ganz im Gegenteil. Palle war keiner ihrer Mieter und gehörte der besitzlosen Klasse an; er wohnte mit seiner Mutter nicht weit weg in einem ganz ärmlichen Haus. Sie hatten nur eine Kammer im Erdgeschoß mit einem elenden Loch, das als Küche diente, und man überließ sie ihnen fast um Gotteslohn. Die Mutter war Witwe eines an Lungenentzündung verstorbenen Fuhrmannes und ging zum Waschen in eine Anstalt, wo zurückgebliebene, halbblöde und schwachsinnige Kinder erzogen wurden. Dort bekam sie außer dem geringen Lohn noch das Mittagessen. Wenn sie am Abend nach Hause kam, machte sie sich daran, für sich und den Sohn eine Suppe zu kochen; einen Teil davon ließ sie ihm in einem kleineren Topf für den nächsten Tag zurück, wenn sie beim Waschen war. Von der Anstalt brachte sie Brot mit, Brocken, aus denen sie Suppe machte, Reste von Speisen, die ihr die Schwestern schenkten, minderwertiges Obst, Abfall von Gemüse. Ihre dürre Gestalt, die in dem taktmäßigen Gang die Sehnen des ganzen Körpers zeigte und ahnen ließ, erinnerte an ein altes Zugpferd, dem die Mühsal der Arbeit die Glieder in den Zustand von Holz und Stricken umgewandelt hat. Palle liebte die Mutter mit Inbrunst. Sie hätte ihm befehlen können zu sterben, er hätte keinen Augenblick gezögert. Sie 122
hätte ihn vor allen Leuten schlagen können, er würde sich nicht entzogen noch eine Äußerung der Auflehnung von sich gegeben haben. Er lauschte mit Ehrfurcht auf die wenigen Worte, die aus dem Mund dieser ungebildeten und unwissenden Frau kamen. Die Mutter richtete keine Ermahnung an den Sohn, keinen Vorwurf, keinen Rat, sie tadelte ihn niemals. Ohne sich zu einer Gebärde der Zärtlichkeit, einer Liebkosung, einem Kuß, einem Lob, einem liebevollen Blick angetrieben zu fühlen, liebte sie ihn mit jener Stärke, deren höchster Ausdruck das Schweigen ist. Ihrem Empfinden nach war er, ohne langes Überlegen, vollkommen, unfähig der Bosheit oder Ungerechtigkeit, jemandem zu schaden oder zu lügen; sie wäre wild geworden, um ihn zu verteidigen, wenn er angegriffen wurde. Die Hände in der Tasche, den Kopf wiegend, ging Palle oft am Abend fort, um auf sie zu warten, wenn sie von der Arbeit kam. Vor dem Tor der Anstalt erwartete er sie, an die Mauer gelehnt; wenn sie ein Bündel hatte, nahm er es ihr ab, und ohne Begrüßung oder ein weiteres Wort begann er neben ihr herzugehen, zu Boden sehend und den Körper hin und her wiegend wie einer, der etwas sucht. Die Mutter ging mit vorgestrecktem Kopf dahin und stemmte die Hüften an wie ein altes, müdes Pferd. Zu Hause angekommen, machte sie Feuer, er blieb an dem kleinen, an die Wand gerückten Tisch sitzen und verfolgte, mit der Mütze auf dem Kopf, alle ihre Bewegungen, stand auf, um ihr einen Gegenstand hinzureichen, ohne daß sie es verlangt und ihm irgendwie dafür gedankt hätte. Sie wechselten mehr abgerissene Silben als Worte oder nur die gewohnten Worte, bis er im richtigen Augenblick die zwei Teller auf den Tisch stellte, daneben den Löffel, das Trinkglas. Dann nahm er das Brot aus dem Küchenkasten, ging an den Brunnen, um die Wasserflasche zu füllen; dann setzten sie sich einander gegenüber, aßen miteinander. In der schönen Jahreszeit ging Palle noch ein wenig aus, wäh123
rend die Mutter aufräumte. Im Winter gingen sie gleich schlafen. Tagsüber schlenderte Palle in der Gegend umher, ohne mit jemandem befreundet zu sein, ohne sich mit den anderen zu unterhalten, er sah den anderen beim Spielen zu, ohne Neid und ohne sich in ihre Freude einzumischen; die Armut hatte ihn früh verständig werden lassen, und unter den bessergestellten Altersgenossen, die sich den Luxus erlauben konnten, lange Kinder zu bleiben, war er ein frühreifer Mann. Man sah ihn auf der Dorfstraße auftauchen, an der Ecke des schmalen Weges, der zu seinem Haus führte, in der Art, wie ein Hase aus der Hecke hervorflitzt, und in der gleichen Art verschwinden. Er war schlecht gekleidet, für gewöhnlich mit abgelegten Sachen, mit Jacken, die für seine Figur zu groß oder zu klein und recht und schlecht gerichtet waren; und mit groben, erdigen Schuhen mit genagelten Sohlen. Von Zeit zu Zeit ging er nach Hause, öffnete das Schränkchen, schnitt sich ein Stück Brot ab, träufelte ein paar Tropfen Öl und Essig darauf, streute etwas Salz darüber; oder es gab auch einmal ein Stückchen Thunfisch dazu, eine Sardine, eine Scheibe Mortadella, dann begann er zu essen oder verzehrte die letzten Löffel von der Suppe, die im Topf zurückgeblieben war; dann ging er zum Trinken an den Brunnen an der Straße nach Settignano. Er war so aufgewachsen. Zum Lernen war er nicht fähig gewesen; mit unendlicher Mühe und unter noch größerer Nachsicht hatte er es fertiggebracht, das Zeugnis der dritten Klasse zu erlangen; er konnte nicht schreiben, und vor einem bedruckten Blatt verrieten Augen und Mund die Schwierigkeit und die Verwirrung im Chaos der Worte. Es war nicht Bosheit oder schlechter Wille, daß er nichts hatte lernen können, sondern angeborene Unfähigkeit. Er war der Sohn von zwei Analphabeten, Leuten, die kaum sprechen konnten. Die Mutter hatte ihm nie Vorwürfe gemacht oder ihn zum Lernen gezwungen; sie hatte sich ohne Bitterkeit mit ihrem Schicksal abgefunden und die Achseln gezuckt, da sie 124
im voraus wußte, daß der Sohn eines Tages mit seinen Händen arbeiten würde wie sie, wie der Vater; und da auch sie weder lesen noch schreiben konnte, erschien es ihr natürlich, daß er jene schwierigen und verworrenen Dinge nicht hatte lernen können... Darum war er auch nicht unglücklich, wenn er allein war, und litt auch nicht darunter, wenn er von den Altersgenossen beiseite geschoben wurde. Tag für Tag ging Palle bis zur Mensola-Brücke und blieb vor dem Eingang zu dem Mechaniker stehen, der ihm versprochen hatte, ihn einzustellen, sobald er es für möglich hielt; er stand da und blickte dem Mann unter dem Mützenschirm hervor in die Augen, in der Art, wie der auf dem Boden kauernde Hund den Herrn anschaut und damit ihm seine Zuneigung und Ergebenheit bestätigt, um ihn an das Versprechen zu erinnern und sich zu vergewissern, daß er es nicht vergessen hätte; auf ein Zeichen wartend, um aufzuspringen, wie der Hund, ein Zeichen, das ihm sagen würde: komm, zieh deine Jacke aus, fang an zu arbeiten. Er war hingerissen von den Fahrzeugen, von allen Fahrzeugen, vom schönsten Auto bis zum verlottertsten Fahrrad; er ging um sie herum, bückte sich, um sie zu betrachten, blieb mit den Händen in den Taschen stundenlang verzückt davor stehen, als wollte er ihnen ein Geheimnis entreißen. Zuweilen ließ ihn der Mechaniker eine grobe Arbeit machen, Gegenstände transportieren, sie an ihren Ort bringen, ihm bei der Arbeit ein Stück halten, und belohnte ihn mit ein paar Soldi oder mit einem Wort, das die Hoffnung neu bestärkte. Daß Remo sich den zum Freund ausgesucht hatte, diesen armen, kindischen Burschen, diesen ungeschliffenen Tölpel, mit diesem Aufzug, das war ein Brocken, den die Schwestern Materassi nicht hinunterschlucken konnten. Man durfte nicht daran denken, daß, ohne allzu weit zu laufen, unter den Mietern ein paar junge Leute seines Alters gewesen wären, Söhne eines Steuerbeamten, der Sohn eines Maurermeisters, die fleißig lernten und Aussicht hatten, einmal ordentliche 125
Leute in guten Positionen zu werden und die jetzigen Verhältnisse ihrer Familien weit hinter sich zu lassen. Um sie hatte sich Remo nur insofern gekümmert, als er ihnen in großzügiger Weise Püffe zukommen ließ. Nicht genug damit, aber in einer kleinen, gemieteten, sehr bescheidenen Villa auf dem Weg zum Salvatino wohnte ein Graf aus Venedig, der seit vielen Jahren in Florenz ansässig war. Wenn man sagen konnte, daß er mit den Finanzen auf dem Tiefpunkt angekommen sei, so ließ sich das gleiche nicht von der angeborenen Würde und Höflichkeit sagen, worin er auf dem Gipfel geblieben war. Die Materassi kannten ihn, er nannte sie «Fräulein» und nicht wie die gewöhnlichen Leute «Teresa und Carolina» oder gar «die Materassi», sondern «Fräulein Materassi». Und wenn er mit ihnen sprach, sagte er: «Wie Sie befehlen, Ihr Diener, ich bin Ihnen verbunden, meine Hochachtung, beste Empfehlungen, Ihr Herr Neffe.» Seiner bevorzugten Stellung nach hätte Remo der Freund der Söhne des Grafen werden können, die ebenfalls junge Leute etwa seines Alters waren. Aber noch etwas Besseres, der Graf hatte auch eine Tochter von zwölf Jahren, reizend, wer weiß... wer weiß, ob ihm nicht eines Tages, um jene in Nöten befindliche Krone wieder ein bißchen in die Höhe zu ziehen, gewisse solide Werte zustatten gekommen wären, über die sie verfügen konnten, das Haus und der Bauernhof und die Banknoten, die sie so nach und nach bei der Sparkasse hinterlegten. Ganz eins mit dem Grafen werden, sie selber auch halbe Gräfinnen werden... An diesem Punkt fühlte Carolina das Bedürfnis, hinzuzufügen: «Was für eine Aussteuer müßte diese Braut bekommen!» Und Teresa, die aufgestanden war, erhob eine Hand und schloß, fast als ob sie dem Universum gegenüber eine Drohung aussprechen wollte, mit finsterem Blick: «Nicht einmal die Königin!» Sich mit diesem ungehobelten Dummkopf Palle einzulassen, der eine Mutter hatte, mit der man nicht einmal richtig reden konnte, die mehr mit einem Grunzen antwortete als 126
mit Worten. Etwas anderes als «beste Empfehlungen» und «meine Hochachtung»! Ein zerlumpter Kerl, der immer allein war, weil niemand mit ihm zusammen sein wollte. Wenn sie ihn nach dem Warum fragten, antwortete Remo nur: «Mir gefällt Palle», und zu ihm sagte er: «Komm, Palle, los, Palle, gehen wir.» Palle hütete sich wohl, etwas zu erwidern, und der andere sah nicht einmal hin, nachdem er den Namen ausgesprochen hatte, er wußte, daß er ihn ohne Zögern neben sich hatte. Er konnte einfach nichts ohne ihn unternehmen, was es auch sein mochte. Und es geschah selten, daß er ihm den Plan dafür auseinandersetzte, es war für keinen von beiden nötig, darüber zu verhandeln, es genügte, es zu tun; außer wenn die Idee spontan mit lauter Stimme geäußert wurde, wenn sie beisammen waren. Aber für gewöhnlich brauchten sie nur wenige Worte, die für ihre jugendlichen Unternehmungen unerläßlichen; und gewisse Anregungen kamen schlagartig und wurden schlagartig verstanden und aufgenommen. Das war Palle, zum Gefährten und unzertrennlichen Freund Remos geworden, von dem wir acht Jahre zuvor nur eine geheimnisvolle, dunkle Spur rings um eines seiner Augen kannten. Und um zu Remo zu kommen, etwas von ihm zu erfahren, sich soweit als möglich in sein Leben einzudrängen, geschah es, daß mit der Hartnäckigkeit der Orte, an denen das Leben träge dahinfließt, alle nach ihm riefen: «Palle! Palle!»
TERESA UND CAROLINA SEHEN ZU , GISELDA SINGT , NIOBE GEHT ZUR WEINLESE
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ser acht Jahre die Tanten in bezug auf den Neffen hindurchgegangen waren. Zuerst glaubten sie, daß das Glück des jungen Mannes ausschließlich durch ernste, geregelte und lange Studien zu erreichen sei, denen er sich mit unbeugsamem Willen unterziehen würde, beglückt, die Mittel zu nutzen, über die seine Adoptivfamilie verfügen konnte. Man hätte sagen können, daß die guten Schwestern, bei denen die Arbeit die Oberhand über jede andere Macht gewonnen hatte, zum erstenmal einen Augenblick dazu verwendeten, ihre eigenen Rechnungen aufzustellen, statt jener der Kundinnen, hinter sich zu schauen, um erstaunt gewahr zu werden, daß ihre Geldmittel beträchtlich genug waren, um sich viele Dinge zu erlauben. Nicht um selbst in einer menschlicheren Weise zu leben, indem sie in einem weniger fieberhaften Rhythmus arbeiteten und sich dann und wann eine Stunde der Ruhe und des Friedens, des Vergnügens gönnten, eine Ablenkung, eine Zerstreuung; nein, aber um aus diesem vom Himmel zugefallenen Knaben einen angesehenen und ordentlichen Bürger zu machen. Und da es von den ersten Tagen an unschwer zu erkennen war, wie groß die Begeisterung des Knaben für die Mechanik war und wie freimütig er es bekannte, so beschlossen sie übereinstimmend, einen Ingenieur aus ihm zu machen, einen Maschineningenieur; einen Konstrukteur von Maschinen, von Schiffen vielleicht; wenngleich sie vom Meer 128
eine höchst phantastische Vorstellung hatten; einen Mann, der eines Tages an der Spitze einer Fabrik, einer Werft stehen würde, über Tausende von Arbeitern gebieten, eine neue Maschine erfinden oder wenigstens die vorhandenen vervollkommnen würde, millionenreich, der Abgeordneter, Senator, Minister werden würde, wahrscheinlich. Teresa baute diese Träume auf, während Carolina sie mit Einzelheiten ausschmückte; sie stickte geradeso an ihnen herum, wie sie es an den Ausschnitten der Hemden und an den Hosenbündchen tat, die ihr die Schwester zugeschnitten hinreichte; dann und wann fühlte sie sich von Schauern überrieselt, von einem Schwindelgefühl erfaßt, das sie emporhob. Sie schauten von der Arbeit nicht auf, verlangsamten ihre Anstrengung nicht, außer um das Panorama der aufkeimenden Sehnsüchte und Hoffnungen zu genießen. Aber ach, Remo liebte eine andere Mechanik, die er mit Palle in einem Raum hinter dem Haus ausübte, den sie dem Bauern nicht ohne große Schwierigkeiten abgerungen und in eine Garage, Werkstatt, Werft umgewandelt hatten, und wo man die verschiedensten Werkzeuge und Apparate, in bester Ordnung gehalten und eifersüchtig gehütet, bewundern konnte, bis zu einem kleinen Motor, der an Booten zu befestigen war und an dem sie seit längerer Zeit mit Hingabe arbeiteten. Wer hatte den einen wie den anderen jene wenn auch rudimentäre Mechanik gelehrt? Niemand. Durch die glühende Leidenschaft offenbarte sich ihnen die Wissenschaft Tag um Tag von selber. Nachdem, nicht ohne Schmerz, die Hoffnung auf den Konstrukteur, den Ingenieur, den Erfinder von Maschinen zunichte geworden war, stiegen sie zu erreichbareren Flügen herab, zu einer Gewerbeschule, aus der ein großer Organisator, ein Mann geringerer Wissenschaft, aber weitaus höherer praktischer Fähigkeiten hervorgehen würde, der gleichwohl einen Gipfel erreichen konnte, indem er die Wege abkürzte, sich der Last eines endlos langen und schweren Studiums ent129
zog, zu dem er keine Neigung zu haben schien. Teresa versicherte, daß die großen Männer keine ordnungsgemäßen Studien gemacht hatten und daß aus den Universitäten die Mittelmäßigen, die Büffler hervorgingen; und daß in Italien wie in Amerika Männer, die kaum ihren Namen schreiben konnten, zu schwindelnden Gipfeln gelangt waren. Carolina dachte ebenso, sie sagte, daß Remo das Auge des Praktikers besäße, und darin hatte sie vielleicht nicht so unrecht, des Mannes der Praxis und der Tat, und nicht das des Büfflers; der Mann, der eine Welt aus dem Nichts zu schaffen versteht, ohne eine andere Hilfe als den eigenen Willen und die eigene Tüchtigkeit. Das jagte ihr Schauer über den Leib und ein noch stärkeres Schwindelgefühl als sonst. Aber allmählich wurde auch die breite Heerstraße der Industrien kleiner, wurde zur Gasse, zur Sackgasse, zum Boden eines Sacks, auf dessen Grunde sich regungslos der Neffe samt den Tanten befand. Hier galt es herauszukommen und die Ziele auf ein vernünftiges Gebiet zu verlegen. Remo sollte eines Tages Herr des Gutes und der Häuser werden, die einen guten Ertrag einbrachten, sowie einer gewissen Summe, mit der er den Besitz vergrößern könnte: sie wußten, daß es ein leichtes sein würde, neue Grundstücke in der Umgebung zu erwerben; da bekannt war, daß sie Geld genug hatten, war man gekommen und hatte ihnen solche angeboten, sie hätten noch einen weiteren Hof dazukaufen können, in der Folge weitere zwei, aber sie hatten sich wohl gehütet zuzugreifen, da sie sich mit dem Land nicht befassen konnten und auch nicht die geringste Lust dazu hatten. Nun bedauerten sie es beide und sahen in dem jungen Mann den künftigen Landwirt, wie der Großvater einer gewesen war, ein einfacher Bauer, und sie sagten es nicht einmal leise, obwohl es die anderen ausposaunten, der es fertiggebracht hatte, aus dem Nichts ein kleines Vermögen zu schaffen; aus diesem war es leicht, ein großes zu machen. Ein unabhängiger Landwirt, kein unselbständiger, mit modernen Einrichtun130
gen, wie man sie in dieser Gegend noch gar nicht kannte. Wenn sie mit den reichen Kundinnen sprachen, so fragten sie mit großer Vorsicht und falscher Scheu, wer der Herr Verlobte sei, jener Glückliche, den zu bezaubern oder den Zauber immer frisch zu erhalten auch sie sich alle Mühe gaben; gewiß von Adel, und oft hörten sie auch die Antwort, daß er Grundbesitzer wäre und seine Güter in dieser oder jener Provinz hätte, daß er sich mit Landwirtschaft beschäftigte, daß er landwirtschaftliche Einrichtungen mit Viehzucht hätte. In Santa Maria unbekannte Kulturen einführen, große Meiereien begründen zur Herstellung von Butter und Käse. Zum Anbau von Frühgemüsen mit Treibhäusern, ein neuer Traum, in dem die Phantasie um sich griff, bis sie den Neffen als Besitzer ganzer fruchtbarer Ebenen sahen. Ohne den Kopf vom Stickrahmen zu erheben, schmiedeten sie gemeinsam Pläne, und ihr Denken und Sinnen war auf ein und denselben Ton abgestimmt. Sie bereuten, das Land immer so wenig geliebt zu haben, den guten Fellino mit seinen schlechten Gerüchen und sein nicht weniger schlecht riechendes Vieh immer in respektvoller Entfernung von sich gehalten zu haben; und sie vergaßen für einen Augenblick das äußerst geringe Ansehen, in dem eine Kuh und ihr Kalb bei ihnen stand, und in welcher Mißachtung ein armes Maultier, und daß sie nicht einmal die Hühner vor ihrer Tür sehen wollten und diesbezüglich eine strenge Weisung erteilt hatten. Wenn sich jetzt zufällig eine Henne hergewagt hätte, so würden sie sie nicht fortgejagt, sondern ihr ein paar Brotkrumen gegeben haben. Remo wurde auf die Landwirtschaftsschule geschickt, und diesmal begleitet von Empfehlungen angesehener Stellen und dem Interesse amtlicher Persönlichkeiten. Jeden Herbst gab es ein neues Projekt, einen neuen, sorgfältig ausgearbeiteten Plan, unter den großartigsten Vorzeichen angefangen, und wenn der nächste Sommer kam, war alles wieder zu Wasser geworden. Die Schuld an dem Mißerfolg 131
wurde zuerst auf den Neffen geschoben, der keine Lust zum Studieren hatte, und dann auf die Professoren, die nicht unterrichten konnten, auf die schlecht organisierten Schulen. War es denn möglich, daß ein Junge nicht vorwärtskommen konnte, dem nach nur dreimonatiger Vorbereitung einstimmig das Abschlußzeugnis der Volksschule erteilt worden war, mit allen Ehren von seiten der Lehrkräfte und der Direktorin einschließlich eines beinahe historisch gewordenen Essens, an dem nicht nur die Direktorin und Calliope Bonciani teilgenommen hatten, sondern auch deren Mutter mit 92 Jahren, die Signora Cherubina, die in ihrer Jugend Modistin gewesen war. Sie kam in einem flohfarbenen Kleid nach Santa Maria, mit einer Mantille aus Spitzen und Jett, die am Halse mit einer schönen, goldgefaßten Kameenbrosche aus Koralle, einem Hochzeitsgeschenk, zusammengehalten wurde, auf der eine Szene aus der Sintflut dargestellt war. Und auf dem weißhaarigen Kopf mit drei schwarzen, schneckenförmig angeordneten Rollen, die aussahen, als ob sie vergessen hätten, weiß zu werden, ein schwarzer Kopfputz wie ein Tintenwischer. Ja, man kann sagen, daß sie zwei Tintenwischer nach Santa Maria mitgebracht hatte, einen auf dem Kopf und einen auf den Schultern. An jenem idyllischen und denkwürdigen Tag hatte dieser Quirl, dieser Kreisel, dieses Pfefferkörnchen, dieser Mausdreck von einer Signora Cherubina, mit der Nase und dem vorspringenden Kinn, die sich ein wenig pickten und ein wenig miteinander flirteten, dem von Niobe mit meisterlicher Kunst bereiteten Mahl alle Ehre angetan, das von Tonina serviert wurde, die sich allmählich aus einem Apfel in eine Kirsche verwandelt hatte. Die Signora Cherubina hatte während des ganzen Essens Geschichtchen und Witze erzählt, so daß sie die Direktorin in den Schatten stellte, deren Beredsamkeit an jenem Tag getrübt war; sie schien sich eine Stunde wohltätiger und süßer Ruhe zu gönnen, erhellt von einem unauslöschlichen Lächeln, wie der Riese, nachdem er den Mann, den Löwen oder Stier bezwungen hat, im Gras 132
ausgestreckt wie ein Kind mit Käfern und Schmetterlingen spielt. In jener großartigen Stunde hatte Niobe sich darauf beschränkt, mit respektvoller, freudiger Anteilnahme festzustellen, daß die Signora Cherubina von ihrem Schöpfer gute Abzugsleitungen mitbekommen hatte, worauf die rüstige alte Dame erwidert hatte, daß sie in der Jugend an Magenbeschwerden gelitten hätte und die Ärzte sich nicht mehr zu helfen wußten. «Ein Teufelsweib! Die wäre gefährlich geworden, wenn ihr der Herr nicht das Magenleiden geschickt hätte!» Das dachte Niobe aber nur und sagte es nicht, aber sie dachte es auf ihre Weise, so farbig, daß wir es sagen können, ohne Furcht, fehlzugehen. Der neue Traum erhellte alles mit neuem Licht, alles lächelte wieder, bis zur neuen Katastrophe. Bei all dieser Grübelei ist das interessanteste, daß Remo weiterhin ein untadeliges Benehmen an den Tag legte: nicht nur, daß er sich nicht gegen die Kursänderungen auflehnte, sondern er nahm den neuen Weg, nicht mit Begeisterung, die nicht in seinem Charakter lag, aber doch mit musterhafter Bereitwilligkeit auf, einer kühlen Bereitwilligkeit, die von den Tanten als richtiggehender, tiefer, männlicher Entschluß genommen wurde, der keiner Beteuerungen und Zierereien bedurfte; so daß sie also jedesmal mit großer Erleichterung sicher waren, den Anfang des Knäuels gefunden zu haben, den richtigen Weg. Und wenn sich dann auch das neue Projekt wieder zerschlug, wurde er ausweichend, geheimnisvoll, undurchdringlich; er schaute lange vor sich hin, wie einer, der scharfsinnig die Zukunft erforscht, um zu einem außergewöhnlichen Ergebnis zu gelangen. Was wiederum die Gemüter der Frauen in der Schwebe erhielt, die in seinen Augen so viel Willen und Scharfsinn lasen und eine Zuversicht, die nicht lügen konnte; und zugleich die Ruhe und Sicherheit eines Menschen, der vom ersten Augenblick an das in sich hat, was mit so viel Mühe gesucht wird. Sie fühlten sich in ihrem Streben und Suchen aus dem Konzept gebracht. 133
Die landwirtschaftlichen, gewerblichen und wissenschaftlichen Schulen hatten sich in herrliche Spaziergänge aufgelöst, die mit Palle durch die Straßen von Florenz und in die Dörfer der Umgebung unternommen wurden, zum Arno, in die Cascine, zu allen Arten von Spielen oder an Orte, wo man die Autos studierte und die wohltätigen Wirkungen der Pflanzen genoß, den erquickenden Schatten und die saftigen Früchte ohne ein Bedürfnis, in die Schule zu gehen, und wo man vor allem lernte zu leben. Während er die Schule in den hintersten Winkel seiner Gedanken schob, sagte er, wenn er gefragt wurde, eifrig zu allen: «Ich werde Ingenieur, ich studiere Technik, ich bin auf der Gewerbeschule, ich bin auf der Landwirtschaftsschule, ich werde Landwirt», so als ob er auf dem besten Weg wäre, der erste aller Ingenieure, aller Industriellen, aller Landwirte zu werden. Nacheinander waren alle Träume, Pläne und Projekte mit der Selbstverständlichkeit und Heiterkeit der Puppen in den Schießbuden unter den wohlgezielten Schüssen und dem Gelächter der Zuschauer kopfüber umgefallen. Verwirrt, betäubt, unfähig, einen neuen Plan aufzustellen, bekamen die Tanten plötzlich Nervenkrisen, verloren die Ruhe: sie schrien, weinten, machten dem Neffen Szenen, überschütteten ihn mit Beschimpfungen, Schmähungen, drohten, sich nicht mehr um ihn zu kümmern, ihn in die Werkstatt zu stecken, ihn eine Arbeit armer Leute machen zu lassen, als Packträger, wie sein Vater einer gewesen war, oder Fuhrmann, wie der Vater seines würdigen Freundes Palle. Sie hatten keine Verpflichtungen gegen ihn, und was sie taten, geschah aus purer Gutherzigkeit, nicht aus Pflicht. Zu diesen Wutausbrüchen lächelte Remo kaum merklich, aber er lächelte so friedfertig und vor allem so gut, daß sie in seinem Lächeln zu lesen glaubten, daß ihn die Drohung, ihn im Stich zu lassen und sich nicht mehr um ihn zu kümmern, nicht im mindesten erschreckte und daß er ohne ein Wort des 134
Vorwurfs oder der Bitte auch von selber gehen würde: sie würden ihn verschwinden sehen. Und soweit durfte es nicht kommen. Sobald der Gedanke auftauchte, den Neffen zu verlieren, wandte sich ihr Zorn gegen Palle, er wenigstens sollte büßen, er mußte gehen. Er sollte ihn laufenlassen, sie hatten nicht vor, zwei Nichtstuer von dieser Sorte zu erhalten... Ein Faulpelz, der sich mit der Mütze auf dem Kopf an den Tisch gesetzt haben würde, wenn ihm keiner sagte, daß er sie abnehmen sollte. Man muß nämlich wissen, daß Palle sich durch die unbesiegbare Kunst Remos hier eingeführt hatte, zum Essen und Trinken, vor allem, wenn die Mutter am Vormittag nicht zu Hause war, und wenn es sein mußte, auch zum Schlafen. Die Mutter daheim war keineswegs traurig oder bestürzt, ihn nicht bei sich zu haben, sondern lebte glücklich, da sie wußte, daß der Sohn brave und gute Leute gefunden hatte, die ihn mochten, und da sie ferner wußte, wie sehr er solche Zuneigung verdiente. Zur Zeit des Mittagessens, wenn Palle am Gartentor stehenblieb, unfähig, weiterzugehen, bereit, nach Hause zu laufen und sich ein Stück Brot zu holen, sagte Remo lachend: «Los, Palle, komm, Palle, es geht zum Essen.» Als sich auch der Zorn erschöpft hatte, nachdem die Einbildungskraft erschöpft war, verblieben die zwei Schwestern in abwartender Haltung, und sie sahen einander unsicher an, als ob sie sagen wollten: Man wird sehen. Und nachdem sie die Ruhe einigermaßen wiedergefunden hatten, begannen sie den Neffen in der gleichen Haltung anzusehen, ohne die alten Absichten noch den darauffolgenden Groll. Man wird sehen, drückten ihre Blicke aus, wenn sie ihn anschauten, wie sie einander anschauten, ohne etwas zu sagen: Man wird sehen. Remo aber, der sich den vorhergegangenen Erfahrungen nie entzogen hatte und die neue Haltung als einen neuen Weg nahm, zeigte sich davon überzeugt, befriedigt, seiner sicher; und auch diesmal, da er das Spiel mitmachte, als wäre die 135
letzte Entscheidung immer die beste, bot er mit der Bereitwilligkeit seiner gewohnten Gelassenheit den angenehmsten Anblick und schien den Tanten zu antworten: Seht nur. Der Entschluß zu sehen, der im Augenblick so leicht erscheint, ist jedoch nicht so leicht, wie man denkt oder glaubt, und er wurde in der Tat erst nach vielen anderen gefaßt: als der vom Suchen müde Geist sich ausgelaufen, leer fühlte, und beinahe war er kein Entschluß, sondern die Unfähigkeit, noch weiter über die Angelegenheiten des jungen Mannes nachzugrübeln, die Ereignisse mit tausend großartigen Plänen oder Phantasien herauszufordern, die nur dazu gut sind, den Frieden der nächtlichen Ruhe und den tagsüber für die Arbeit nötigen zu rauben. Als man einmal aufgehört hatte, mit lauter Stimme und mit Händen und Füßen und ohne ein praktisches Ergebnis die Ereignisse zu sich herzurufen, gingen die Ereignisse mit der größten Natürlichkeit von selber voran. So geht es immer. Es war ein höchst merkwürdiges Phänomen: Solange die Frauen sich mit hundert Träumen, Plänen und Phantasien beschäftigten, sahen ihre von Ungeduld versperrten und von der Bestürzung umnebelten Augen nichts außer dem Zusammenbruch der Träume und Phantasien; ihre Anstrengung blieb unfruchtbar, und die Bestürzung war durch die Tatsache verursacht, daß sie erst, als sie die Hände ruhen ließen, viele Dinge zu sehen begannen. Von Palle kannten wir nur eine geheimnisvolle und dunkle Spur rings um ein Auge Remos, diesen hingegen haben wir auf dem besten Weg gesehen, ein schöner, gewandter und kraftvoller Mann zu werden, den nicht so leicht jemand unterkriegen konnte. Niemand jedoch hätte ahnen können, bis zu welchem Punkt die außergewöhnliche Schönheit und schlichte Eleganz dieses jungen Mannes gelangen konnte. Seine Gesichtszüge, die wir schon an ihm kennen, waren gereift und hatten eine Harmonie der Farben und des Eben136
maßes erreicht, die bei einem Menschen selten anzutreffen sind. Groß, ohne lang zu wirken, lösten sich seine Glieder in Bewegungen von einer männlichen Anmut, die nie ins Raffinierte oder Plumpe ausartete; alle Muskeln des Körpers waren wohlentwickelt, ohne ihre Durcharbeitung hervortreten zu lassen. Was aber den Beobachter am meisten in Erstaunen setzte, war die klassische Schönheit des Gesichts unter dem dunklen, welligen und glänzenden Haar; eines Gesichts von ausgeprägtem und aristokratischem, geistigem Oval, auf dem der Hauch der Jugend endlos verweilte und die Haut von blühender Frische war, ohne die Kraft des Blutes durchscheinen zu lassen; die Farbe des Blutes hatte nur der Mund, dessen Lippen durch die vollkommene Bildung, obgleich voll und üppig, nicht fleischig wirkten. Daher wird uns die Tatsache nicht verwundern, daß zwei arme Weiblein sich an ihm nicht satt sehen konnten. Die von scharfgezeichneten, glänzenden Brauen überwölbten Augen Remos waren groß und klar, das Weiße darin rein; und nur die Schönheit ließ sie sanft erscheinen, da sie ihnen den Ausdruck der Gleichgültigkeit nahm; wenn man sie ansah, spürte man, daß sie den Blick nicht warm erwiderten, sondern die Wärme der Sympathie aufnahmen, ohne sie zurückzugeben, ohne auch nur eine Frage auszudrücken. Man hätte sagen können, daß er, um die Harmonie der Person nicht zu stören, jeden Ausbruch äußerer Vitalität vermied; die Augen blickten niemals verlangend, wenn sie einen auch fest anschauten, und sie behielten ihr Leuchten um so mehr, je verlangender die Blicke auf sie gerichtet waren. Alle diese unter ihren Augen erblühten und herangereiften Dinge schienen die Tanten nun zum erstenmal zu sehen, und zwar mit offenkundiger Befriedigung, nachdem sie ihre alten Grillen von der Landwirtschaft, der Mechanik und der Industrie aufgegeben hatten. 137
Zuweilen, wenn sie über ihre Arbeit gebeugt dasaßen, dachten beide an das gleiche, und wenn sie für einen Augenblick den Kopf hoben, verstand die eine den Gedanken der anderen, der sich auf diese außerordentliche, traumhafte Tatsache des auf geheimnisvolle Weise in ihr Haus gekommenen Knaben richtete, der mit unbegreiflicher Schnelligkeit zu einem schönen, starken, eleganten jungen Mann geworden war, der das Interesse aller auf sich zog. Sie scheuten sich, ihren Gedanken zu äußern, und endlich sagte die eine: «Um wieviel Uhr kommt Remo heim?» Und die Schwester antwortete: «Um ein Uhr.» Es war eine unnütze Frage, aber es war unmöglich, den Mund aufzutun, ohne von ihm zu reden, und der praktische Grund war eine unschuldige kleine Ausrede, denn sie wußten genau, um wieviel Uhr er heimkommen würde. Er sprach wenig, zerbröckelte und überflog die Worte, abgerissen, kurz; er erhob die Stimme nie und bediente sich mit Vorliebe in raffinierter Weise der Abkürzungen: anstatt die Tanten mit ihren ganzen Namen zu nennen, pflegte er sie mit anmutiger Falsettstimme zu rufen: Zi' Te, Zi' Ca, oft in den witzigsten Variationen und Tonarten. Und Niobe nannte er Nini, Bebe oder auch bloß Ni. Wenn es den Herrinnen über die Maßen gefiel, von der Stimme Zi' Te, Zi' Ca genannt zu werden, so zerfloß die Dienerin förmlich, wenn sie sich Nini oder Bebe gerufen hörte oder auch nur einfach Ni. Ihre gewohnten Namen, die sie immer auf die gleiche Weise und von jedem ausgesprochen hörten, wurden auf diese Weise aus seinem Mund zur nie gekannten Köstlichkeit und besaßen die Macht, sich als ein anderes Selbst empfinden zu lassen, als drei neue Frauen. Er ließ sich nie zu einem Gelächter hinreißen, ging nie über das Lächeln hinaus; man kann sagen, daß er nicht einmal dahin kam, denn er erreichte es schon mit der geringsten Bewegung der Lippen, wobei er das Wunder einer vollkommenen 138
Zahnreihe aufblitzen ließ. Und sein Gesicht war ganz erhellt, als täte er nichts anderes als lächeln. Es war unmöglich, wenn man ihn ansah, seine Gedanken auch nur im entferntesten zu erraten, und das ohne eine Spur von Verdüsterung oder Traurigkeit, mit elementarer Reinheit, und wenn überhaupt, mit einer innerlichen, gehaltenen und gefaßten Selbstzufriedenheit und jenem ganz leichten Ton von Neckerei, der, indem er die anderen kennt, ganz genau den Wert der eigenen Möglichkeiten ermißt. Waren die Gedanken hinter dieser wohlgebildeten Stirn abwesend, oder verbargen sie sich, um die Harmonie und Frische des Gesichts nicht zu trüben? In seiner ganzen Haltung war diese äußerliche Wärme und diese innerliche Kälte, als lebe der Geist isoliert, und er tat auch nichts, um ihn aus einer solchen Isolierung zu befreien, sondern fühlte sich vielmehr sicher darin. Eine Kälte, die ein Gefühl der Unsicherheit auslöste, nachdem sie angezogen hatte, die erstarren machte, nachdem sie entflammt hatte. Hinzufügen möchte ich noch, daß Remo mit der körperlichen Schönheit und Eleganz die Vornehmheit des geborenen Herrn in der Kleidung verband, so daß die Tanten sich seit seinem Kommen, ohne viel darüber zu reden, dazu angetrieben fühlten, ihn gut zu kleiden, was ihnen ganz natürlich erschien, und die Rechnungen des Schneiders und des Hemdenmachers zu bezahlen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Von dem Augenblick an, da sie beschlossen hatten, zuzusehen, hatte die Sache aber größere Ausmaße angenommen, wie leicht zu verstehen ist. Folglich waren auch die Rechnungen größer geworden, so daß sie es manchmal vorgezogen hätten, nicht zu sehen, aber jetzt war es nicht mehr möglich, die Augen zu verschließen. Er verstand den Anzug und den Hut großartig zu tragen, sich die Krawatte zu binden. Er verstand die Stoffe in der richtigen Farbenzusammenstellung zu wählen : in seiner Kleidung war immer eine Harmonie, die nicht so sehr aus einem Studium als aus einem Instinkt kam, aus 139
einer angeborenen und leicht nachlässigen Anmut. Er war tatsächlich sehr rasch in der Auswahl, ohne lang herumzusuchen und seine Entschlüsse wieder zu ändern, wie es Art der Frauen ist; und er hätte sich ja endlos dabei aufhalten können, da er sonst nichts zu tun hatte. Auch beim Schneider war er rasch beim Anprobieren eines Anzugs, einmal drinnen, führte er bestimmte Bewegungen aus, die darauf hinzielten, ihn mit dem ganzen Körper zu besitzen, so daß er ihm nach den verschiedenen Richtungen nachgab; er straffte sich also, stemmte die Füße mit halbgeöffneten Beinen auf, schob die Hände in die Taschen der Jacke und der Hose, warf im allgemeinen einen Blick darauf, regte eine Verbesserung an, feuerte ihn hin, wie einer, der dringende Geschäfte hat, die auf ihn warten — der Anzug paßte. Er war rasch in jeder Bewegung, aber in einer vor allen wurde seine Schnelligkeit unwahrscheinlich, im Ausziehen. Es war unmöglich, dem Ablauf seiner Bewegungen zu folgen, man sah ihn angezogen vor sich, und im nächsten Augenblick stand er nackt da. Eine außergewöhnliche Gewandtheit, die er mit unbewußter Koketterie praktizierte und zur Schau stellte, wenn er unter anderen jungen Leuten in den Vereinigungen für Sport oder Leibesübungen war, und die zu Hause eine einzige Person zu ihrer Überraschung sehen und bestaunen konnte: Niobe. Ob er auch erst um zwei Uhr nachts nach Hause kam, das war im allgemeinen seine Zeit, oder um drei Uhr, vier oder fünf Uhr, was gelegentlich vorkam, Remo stand um neun Uhr auf, nicht später. Er brauchte keine lange Ruhe, um seine Kräfte zu erneuern, und ruhte auch unterwegs nie. Niobe brachte ihm dann zwei Eimer mit kaltem Wasser ins Schlafzimmer und wenig später das Frühstück, das er im Schlafanzug verzehrte oder manchmal aus frischer Eßlust noch ins Frottiertuch eingewickelt, mit dem er sich fertig abtrocknete, vorher die Zigarette aus dem Mund nehmend. Bei dem Milchkaffee und den Buttersemmeln lag immer auch das schönste 140
Obst, über das er seiner Freude mit kindlichem Jubel Ausdruck gab. Er war gewohnt, zu jeder Jahreszeit bei weitgeöffnetem Fenster zu schlafen; Niobe hatte, wenn sie am Morgen hineinkam, das Zimmer schon vom Gewitterregen überschwemmt vorgefunden, das Wasser in den Krügen gefroren oder Schnee auf dem Boden. Und immer nackt unter den Decken. Kaum war Niobe draußen, nachdem sie die Eimer hingestellt hatte, sprang der junge Mann aus dem Bett, stieg in das große Zinkbecken, das tagsüber an der Wand aufgehängt blieb, und mit einem großen Schwamm nahm er sein Bad in der Weise, daß er sich den Körper immer und immer wieder mit kaltem Wasser überschwemmte und schnell mit einem kleinen Stück Seife drüber hinfuhr. Er trocknete und klopfte sich nach allen Seiten ab und machte dabei Übungen und Schwenkungen: Bad und Übungen, die eine Stunde später im Ruderverein oder an anderen Treffpunkten dieser Art wiederholt werden konnten, die er eifrig besuchte. Dann schlüpfte er in ein Paar Strohpantoffeln und ging, nachdem er die Zigarette angezündet hatte, sich weiter klopfend und reibend, im Zimmer umher und machte dazwischen Sprünge, Übungen und turnerische Kunststückchen. An diesem Punkt erschien Niobe zum zweitenmal und brachte Kaffee, Milch und Obst und bald darauf ein drittes Mal mit dem kleineren Krug voll heißen Wassers zum Rasieren. Es war vorgekommen, daß die Magd im Hin und Her dieser drei Gänge, ohne daß Remo von ihr weiter Notiz nahm, gelegentlich und rein zufällig die Phasen der beschriebenen morgendlichen Tätigkeit erhascht hatte, die sich in weniger als einer Stunde abspielte, dergestalt, daß sie diese, ohne die Phantasie anzustrengen, einwandfrei rekonstruieren konnte. Beim Kommen und Gehen, zu früh kommend und zu spät hinausgehend, und gelegentlich durch einen Spalt in der Tür, die sie nicht einklinken konnte, weil sie die Hände voll hatte; 141
wovon Remo, mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, nicht die entfernteste Ahnung hatte. Obwohl ihm ein vorhergegangenes Knarren, der schlecht verheimlichte Tritt der beleibten Magd oder ein verzögertes Schließen der Tür nicht entgangen sein konnte. Dies war die Seite, welche die Herrinnen ihres höheren Ranges wegen nicht sehen konnten, die Dienerin dagegen, ihres niedrigen Ranges wegen, ganz genau wahrnahm. Aber da Niobe die Freude, die ihr dieser Dienst verschaffte, nicht verheimlichen konnte, hatte sie sich zuweilen vor ihnen den einen oder anderen Ausruf entschlüpfen lassen, ein Bild, einen Vergleich, ein hingeworfenes Wort, das ihr aus dem Herzen gekommen war, nur darauf bedacht, die Kraft und körperliche Schönheit des jungen Mannes zu preisen, wozu sie verständnisinnig gelächelt hatten, in dem Gedanken, daß es sich zum großen Teil um ein Ergebnis mehr noch ihrer Phantasie als ihrer Neugier handeln dürfte. Phantasie einer Frau, die eine sehr tadelnswerte Vergangenheit hatte, denn ihnen gegenüber hatte sich der Neffe immer in mustergültiger Weise korrekt benommen, und wenn er manchmal aus einem dringenden Grund im Schlafanzug heruntergekommen war und sich in ihrem Zimmer aufgehalten hatte, so war sein Benehmen in diesem Anzug von so natürlicher Zurückhaltung, als ob er zum Ausgehen angezogen gewesen wäre. So blieben also den Ärmsten, wohin sie auch schauen mochten, immer noch viele Dinge zu sehen übrig. Das Kurioseste aber war, da die Schwestern Giselda damit betraut hatten, seine Garderobe zu überwachen, weil es sich um wertvolle Sachen handelte, die eine verständige Pflege brauchten, daß die Arme des öfteren in Versuchung geriet, sie in einem Wutanfall mit eigenen Händen zu zerfetzen, vor allem die Hosen. Seit sie einen Haß auf das männliche Geschlecht hatte, konnte sie den Anblick von Männerhosen nicht mehr ertragen, die Berührung mit ihnen versetzte sie in Raserei, und da sie nun gezwungen war, sie zu pflegen, kam 142
es vor, daß sie sie so zerknitterte und hin und her zerrte und schier zerriß, daß sie alles wieder sorgfältig aufbügeln mußte, was ihr das uneingeschränkte Lob der Schwestern eintrug. Und wenn sie wegen der bereits erwähnten Obliegenheiten an der Tür vorbeigehen oder das Zimmer betreten mußte, wo Remo sich am Abend umzog, um nach Florenz zu gehen oder von dort zurückkommend, war er vor ihr nackt stehengeblieben, wie ihn Gott erschaffen hatte, gleichmütig, ohne eine Andeutung von Respekt oder Schani, mit derselben Gleichgültigkeit, die er einem anderen Mann gegenüber an den Tag gelegt hätte; oder noch schlimmer, die eigene Nacktheit in herausfordernder, beleidigender, trivialer Weise zur Schau stellend. Erzürnt den Rücken kehrend, hatte sich Giselda bei diesem Anblick, dem sie sich nicht hatte entziehen können, Gift und Galle spuckend, entfernt: «Abscheuliches Schwein! Unanständiger Kerl! Lump!» Und der Gipfel von allem war, daß sie sich bei niemand beklagen und dabei die Wahrheit, den Grund ihrer gerechten Entrüstung bekanntmachen konnte, denn da Niobe wegen des Türspalts, den wir bereits flüchtig erblickten, ein schlechtes Gewissen hatte und nicht wußte, wieweit Remo es gemerkt haben konnte, war sie auf der Seite des Unrechts, und wie! Die Sache wäre zum Anklagepunkt gegen sie geworden, und zu Recht, wonach ihr nichts übriggeblieben wäre, als zur rechten Zeit in das Zimmer hinein- und wieder herauszugehen, die Tür rechtzeitig zu schließen, und wenn sie es nicht tat, würde er nach der unfreundlichen Zurechtweisung darauf bedacht gewesen sein, es selbst unverzüglich zu tun: sie zur rechten Zeit hereinkommen und zur rechten Zeit hinausgehen zu lassen, was die alte Magd nicht im geringsten reizte, die nichts Besseres wünschte, als auf der gegenwärtigen Basis zu verbleiben. Giselda würde auf dieser Seite keinen günstigen Boden für ihre Vorstellungen gefunden haben! Niobe würde sich zur Verteidigung des jungen Mannes erhoben und mit Gerechtigkeit laut seine Unschuld und Schamhaftigkeit verkündet haben. 143
Und erst die Schwestern, bei denen er auch im Schlafanzug ein Benehmen gezeigt hatte, das aller Welt zum Vorbild dienen konnte, ein Benehmen, das einer Jungfrau wohl angestanden hätte... sie würden sich wie zwei wilde Tiere auf sie gestürzt haben. Arme Giselda, für sie gab es nur einen Weg: schweigen, immer schweigen. Und etwas noch Komischeres muß hinzugefügt werden, nämlich daß das strenge, jungfräuliche Benehmen des Neffen, das einem Mädcheninstitut zum Vorbild dienen konnte, man weiß nicht wie, den jungfräulichen Tanten im umgekehrten Sinn als Beispiel gedient und sie ein wenig von jener Strenge und Zurückhaltung hatte verlieren lassen, die stets die unbeugsame Regel ihres Lebens gewesen waren. Es war nämlich vorgekommen, daß Niobe oder Giselda, die wegen irgendeiner notwendigen Sache an ihre Schlafzimmertür geklopft hatten, während sie dort eingeschlossen waren, als Antwort ein durchdringendes Geschrei vernahmen: «Es geht nicht! Man kann nicht herein! Nicht hereinkommen! Ich bin nackt! Ich bin im Hemd! Ich habe nur Hosen an!» Als ob einer hineinwollte, um ihnen Gewalt anzutun oder sie mit einem Dolch zu durchbohren. Sie waren aber gar nicht nackt oder auch nur teilweise, so daß sie sich jedermann hätten zeigen können, oder sogar vollständig angezogen und kramten in der Kommode, und wer hereinwollte, war niemand als Giselda oder Niobe. Wenn sie aber wirklich nackt waren und sich scheuten, gesehen zu werden, fühlten sie einmal drinnen den Drang zu rufen: «Wir sind nackt! Wir sind im Hemd! Wir haben nur Hosen an!» Warum eigentlich? Fern waren die Tage, da die Schwestern bei der gemeinsamen Arbeit von der Zukunft des Neffen geträumt hatten; er war eine gegenwärtige und bedrängende Wirklichkeit geworden, und obwohl er es ausgezeichnet verstand, sein Gewicht nicht spüren zu lassen, machte sich das Gewicht spürbar. Aber seine Gegenwart, die beruhigende Wirkung seiner Person löste mit äußerster Einfachheit Situationen, die für unlös144
bar gehalten wurden. Und indem er sich seiner Person auch im negativen Sinn bediente, verstand er es, im rechten Augenblick zu verschwinden und im rechten Augenblick wieder zu erscheinen. Remo hatte es nicht nötig, zu sprechen noch sich in Erinnerung zu bringen oder sich zu verteidigen, er pflegte wenig mit den Frauen zu sprechen, die er in einem Zustand der Erregung und Ungewißheit hielt, dem er seine himmlische Gelassenheit entgegensetzte, und denen gegenüber, die sich von früh bis spät um die Existenz abschinden, äußerte er nebenbei immer die Meinung, daß das Leben leicht sei, und lächelte über die Nutzlosigkeit ihrer Plackerei. Dieser Knabe, in Ancona von zwei armseligen Arbeitern geboren, der Vater stammte aus Rom und die Mutter aus Florenz, als Kind sich selber überlassen, der sich nicht zum Studium bequemen wollte, als fühlte er die Vergeblichkeit einer solchen Bemühung, besaß nicht nur die natürliche Intelligenz, sondern einen Sinn für das außergewöhnliche Leben, und da er aus Instinkt wußte, daß das Leben hart und schwer ist, begann er das Gegenteil zu behaupten, indem er das seinige auf dem neuen, unfehlbaren Grundsatz aufbaute und sich im selben Maße überzeugte, wie er die anderen von dieser Behauptung überzeugte. So war es ihm leichtgefallen, viele Dinge zu erlangen, indem er mit geschickten Schlägen alle Schwierigkeiten zu Fall brachte, die sich ihnen entgegenstellten, und es darüber hinaus offen zeigte. Als er mit achtzehn Jahren von den Tanten, aber ohne zu drängen, ein teures Motorrad verlangt hatte und jene sich zuerst geweigert und dann den Kauf hinausgeschoben hatten, hörten sie am nächsten Tag an ihrem Gartentor die Hupe des neuen Fahrzeugs und den Lärm seiner kräftigen Kolben; und so viele Nachforschungen sie auch anstellten, sie erfuhren nie, woher das Geld gekommen war. So folgten auf die ersten kummervollen Stunden des Wartens auf Remo, der in der Nacht nicht nach Hause kam, jene noch kummervolleren durch das, was Remo beim Nachhausekommen mitbringen könnte. 145
Dieses Geheimnis, das um die Erscheinung von heiterer Schönheit wob, brachte die Frauen immer aufs neue aus der Fassung. Qualvoll und lang waren sie gewesen, jene ersten Stunden des Wartens, in denen der junge Mann angefangen hatte, sich in den nächtlichen Stunden vom Nest zu entfernen. Zuerst war die heimliche Angst über sie gekommen, es könnte ein Unglück geschehen sein. An jenem Fenster, wo die Schwestern schon seit so langer Zeit nicht mehr am Sonntagnachmittag verweilten, um sich anstaunen zu lassen und die Prozession der Liebespaare zu den Hügeln zu bewundern, hatten sie bis zum Morgengrauen ausgeharrt, zusammen mit Niobe, die von Zeit zu Zeit zur Zimmertür hereinschaute - «Ist etwas zu sehen?» -, um sie der Vernünftigkeit des jungen Mannes zu versichern, dem nichts Schlimmes passiert sein konnte, seiner Tüchtigkeit: er verstand seine Sache und war imstande, sich in jeder Lage zu helfen, und daß an der Verspätung nur die endlosen Unterhaltungen mit den Kameraden schuld seien, da sie von Autos sprächen, von Rennen, von Wettkämpfen, von Spielen; Sachen, bei denen die jungen Leute nicht mehr merken, wie die Zeit vergeht, und auf einmal ist es Abend oder schon Morgen; und bei denen sie nicht nur keinen Schlaf mehr spüren, sondern auch keinen Hunger. Sie forderte sie schließlich auf, sich ins Bett zu legen und zu schlafen zu versuchen, denn sie hätten die Ruhe nur zu nötig, sonst würden sie gar noch krank werden. Jene antworteten nicht einmal, sie wollten ihre Qual bis zur Neige durchleben, bis ans Ende. Sie dachten an Tragödien, an die verwickelten Abenteuer, auf deren Grund immer die Liebe und der Tod waren. Wo war er hingegangen und mit wem? Wer hatte ihn gesehen? Mit Palle, immer mit Palle, er war mit Palle weggegangen: «Mit diesem verwünschten Palle, mit diesem abscheulichen Kerl von einem Palle.» Palle war an allem schuld, er wurde verantwortlich gemacht: «Zum Teufel mit Palle!» Niobe ging zu Palles Mutter, weckte sie auf, um 146
zu erfahren, ob er schlief: - nutzlose Reise. Wenn Remo nicht da war, war es überflüssig, nach Palle zu suchen. Und die Mutter zeigte sich über die Tatsache nicht im geringsten besorgt, in ihrem Herzen war vielmehr Vertrauen und Ruhe, wo immer er sein mochte; wenn er draußen war, mußte es so sein, war es gut so, welche Stunde es auch sein mochte. Die Stunde hatte für sie nicht die geringste Bedeutung, sie dachte auch nicht an die Möglichkeit, daß Gott sie schlagen wollte, indem er ihm ein Unglück zustoßen ließ, ausgeschlossen. Auf Gott und auf den Sohn gründete sich ihr einziger Glaube. Diese ganze Unruhe und Aufregung, dieses zimperliche Getue, dieses Hinundherschicken der Magd nur zum Schwatzen, waren für sie Schrullen reicher Leute, ein Luxus, den sie sich nicht erlauben durfte. Es war gut, wo er war, wo auch immer er war, es mußte so sein, und nichts Böses konnte ihm zustoßen. Wenn man ihn ihr eines Tages infolge eines schicksalhaften Unglücks entseelt heimgebracht hätte, würde sie ihn auf die Arme genommen haben, ohne eine Träne, ohne einen Schrei der Auflehnung, im Schmerz versteinert. Niobe ging wieder und schüttelte den Kopf, obgleich sie, wenn auch in anderem Sinn, der gleichen Meinung war. Die Schwestern Materassi hingegen gerieten bei diesem Bericht, bei diesem blinden Glauben in helle Wut. Sie sagten, daß jene Frau ein törichtes Weib sei, eine Blödsinnige, ein Trottel, eine Verrückte, eine Schwachsinnige, ein Stück Dreck, unfähig, irgend etwas für irgend jemand zu empfinden, daß sie vor lauter Hemdenwaschen für die Dummen selbst dümmer als diese geworden sei. «Wie kann man in Ruhe leben, wenn man solche Nichtsnutze bei Nacht und Nebel draußen in der Welt herumstreunen weiß? Was für glückliche Leute! Einen solchen Charakter müßte man haben.» Was für eine Vorstellung sie übrigens von der Welt und der Nacht hatten, ist eine Frage, die uns zu weit führen würde. Beim Nachhausekommen hatte Remo an ihnen vorbei müssen: hart, noch über die Arbeit gebeugt in dieser beinahe 147
morgendlichen Stunde, ihre Qual in einem eisigen Schweigen zur Schau tragend, taten sie, als ob sie ihn nicht bemerkten, seine Gegenwart, von der sie bis in den letzten Blutstropfen erfüllt waren. Oder streng den Kopf erhebend und sich ihm zuwendend, um die von der nächtlichen Arbeit und vom Weinen geröteten Augen zu zeigen, ohne den Mund zu öffnen. Sie waren hinter den Jalousien geblieben, die das Licht durchsickern ließen, als einziges Zeugnis von ihnen und ihrem Zustand, oder je nachdem waren sie auch zusammen und in Auflösung heruntergekommen, halbnackt, zerrauft, hatten eine fürchterliche Szene gemacht und sich schreiend und weinend auf ihn gestürzt; sie hatten ihn mit Beschimpfungen überschüttet, mit Schmähungen und Drohungen, um ihn etwas von dem leiden zu lassen, was sie hatten leiden müssen. Alle Tonarten hatten sie versucht, alle Saiten angeschlagen, um zu seinem Herzen zu gelangen, alle Wege ausprobiert. Man hatte den Eindruck, daß der junge Mann nicht im entferntesten an jene Leiden glaubte, daß er die Szene, in welcher Art sie sich auch abspielte, als natürliche, unvermeidliche Tatsache hinnahm, als eine Übung, der er sich einfach unterzog. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie, wobei er zu verstehen gab, daß alle seine Fähigkeiten in ihr zusammenliefen, jeder Gedanke; in ihren bläulichen Windungen, die mit solcher Zierlichkeit zur Decke aufstiegen und träumerisch gaukelnde Bilder in die Luft malten. Er blickte geduldig um sich, mit Natürlichkeit und jenem Anstand, der wartet, bis der andere eine körperliche Funktion erledigt hat, die aufzuschieben unmöglich ist. Er ließ diesen Zorn sich entladen, ohne Interesse, ohne den Versuch, mit einer Silbe sein Toben zu beschwichtigen, oder er tat, als sähe er das Licht nicht, das aus dem Schlafzimmer durch die Jalousien sickerte. Und je mehr sich die Szene erschöpfte, um so mehr schien er ihnen gegenüber als Gläubiger dazustehen. Wenn der Zorn verraucht war, kamen die Fragen, ob er gegessen hätte? Ja, Remo hatte immer gegessen. Das paßte 148
den Frauen offensichtlich nicht. Sie würden es lieber gesehen haben, wenn sich die arme Niobe zu dieser Stunde abgehetzt hätte, um das Geschirr aus dem Schrank zu reißen und den Tisch zu decken, Feuer zu machen, um ein bißchen Suppe zu wärmen und Eier zu kochen. Nach der tragischen Szene hätte dieser Tumult zu verbotener Stunde gut gepaßt, diese Störung, um ihm zu essen zu geben. Ein Abendessen, das mit einer Tragödie als Vorspeise begonnen und beim Obst mit schlecht verhehlter Zärtlichkeit geendet hätte. Sie fühlten sich durch das Fehlen dieses zweiten Teils beeinträchtigt, das erhielt sie in einer neugierigen Erregung: sie wären gerne noch Opfer gewesen. Was tat er denn, wohin ging er, wo aß er, wenn er so viele Stunden fortblieb ? Der Unordnung im Gemüt der Tanten setzte der Neffe die vollkommene Ordnung in seinem eigenen entgegen. Er hatte gegessen und wollte gern zu Bett gehen, weil Zeit zum Schlafen war. Er war keineswegs betrunken, da er nur Wasser trank und zum Essen ein Glas Wein, aber nicht immer. Es war sehr schön, ihn ein Glas Wasser hinuntergießen zu sehen, mit der Frische und Klarheit der Flüssigkeit, die er hinunterschluckte. Seit die Tanten beim «Zusehen» waren, hatten sie auch diese gesunde Gewohnheit bewundern können. Er war im Vollbesitz seiner selbst und seiner geistigen Klarheit. Er trällerte, zündete sich eine zweite Zigarette an und verabschiedete sich im gewohnten Falsett von den Tanten: «Zi‘ Te, Zi' Ca», als ob es Mittag gewesen wäre statt zwei oder drei Uhr nachts. Hinter verschlossener Schlafzimmertür sprachen die Frauen mit leiser Stimme flüsternd weiter über das Vorgefallene, ließen auch Niobe an der Debatte teilnehmen, taten aber nichts anderes, als ihr das Wort im Mund abschneiden und ihr Schweigen gebieten, weil sie zu laut redete. Sie wandte alle Mittel auf, um den Frieden wiederherzustellen. Und als die frühe Morgenstunde zum Nachhausekommen zur Regel geworden war und die Tanten den Neffen weder am 149
Fenster noch arbeitend mehr erwarteten und auch nicht die leiseste Bemerkung über dieses Phänomen wagten, war es des öfteren geschehen, daß sie gegen zwei Uhr plötzlich durch das Geräusch von einem oder zwei Autos geweckt wurden, die mit großem Lärm an ihrem Gartentor hielten und aus denen bis zu acht oder zehn junge Männer stiegen, die Remo in das Heiligtum der Hemden und Hosen eintreten ließ. Dann weckte er Niobe auf, die sich den Unterrock zuhakte und die Haare glattstrich und dann schnaufend erschien, in der heroischen Haltung dessen, der einem ernsten Wagnis die Stirn bietet. Es ging darum, sie an den Tisch zu setzen und ihnen zu essen zu geben. Und da sie in diesem Gesicht und in dieser Unruhe die beste Verheißung für das Gelingen der Unternehmung lasen, begannen sie sie zu umarmen und von einem zum anderen weiterzugeben, sie packten sie am Kragen und hoben sie im Triumph hoch. Die Ärmste wand sich hin und her und rief: «Laßt mich doch los! Laßt mich gehen! Laßt mich los, wenn ihr etwas zu essen wollt! Ihr Sapperloter, wenn ihr mich nicht loslaßt, bleibt euch der Schnabel sauber!» Dieses Argument wirkte so überzeugend, daß sie sie augenblicklich unter frenetischem Beifall freiließen. Sie breitete in fieberhafter Eile ein Tischtuch aus, stellte jedem von diesen Besessenen einen Teller hin, ein Besteck, ein Glas. Der eine oder andere zeigte sich zutunlicher, bewies seine Höflichkeit, indem er ihr half, die Gegenstände auf dem Tisch zu verteilen; und sie lachte und fühlte ihr Herz größer werden als das Haus. Das Ungestüm und die Herzlichkeit dieser Zwanzigjährigen ließen sie vor Glückseligkeit zerspringen, sie hätte noch ganz andere Dinge für sie getan, ihr Toben begeisterte sie ebenso, wie es sie zwang, sich loszureißen und die Ohren zuzuhalten. Keiner fragte sich, ob es in diesem Haus erlaubt sei, zu einer solchen Stunde so viel Lärm zu machen. Keiner sagte, daß sie nicht schreien, daß sie leiser sein sollten: es schien eine ausgemachte Sache, daß sie so viel Krach schlagen müßten als nur möglich. Und wenn zufällig ein Neuling in diesem Kreis 150
Remo fragte, ob sie nicht mit dieser Aufführung lästig fallen und jemanden aufwecken oder am Schlafen hindern würden, antwortete Remo: «Ach was! Im Gegenteil, macht nur weiter, brüllt, soviel ihr wollt, die Tanten haben einen festen Schlaf, sie würden nicht einmal aufwachen, wenn eine Kanone losginge. Ihr braucht keine Rücksicht zu nehmen, hier kann man schreien, soviel man mag.» Palle war zum Bauern gelaufen und hatte ihn aufgeweckt, um sich im Auftrag des Herrn zwei Laibe Brot und Eier geben zu lassen, wenn nicht mehr genug im Haus sein sollten, und als er mit den Broten unter den Armen wiederkam, trugen sie ihn im Triumph durch das Zimmer, stellten ihn mitten auf dem Tisch nieder, improvisierten für ihn eine Ovation mit Ansprache und forderten ihn auf zu antworten, Beifall klatschend, als ob er schon gesprochen hätte. Sobald es ihm möglich war, sprang er wie ein Hase herunter, um in die Küche zu laufen und die Weinflaschen zum Gebrauch herzurichten; und als er mit den Flaschen wieder erschien, in jedem Arm eine, und sich anschickte, sie auf dem Tisch zu verteilen, empfing ihn ein Geschrei, daß man es bis nach Florenz hören konnte. Remo wühlte in der Speisekammer, um irgend etwas zu entdecken, das man in der Wartezeit knabbern könnte, ein Stückchen Eierkuchen, ein paar übriggebliebene Fleischklößchen. Dann kam Niobe mit einer riesigen Platte voll Schinken und aufgeschnittener Wurst. Da brach das Ungewitter los. Und während sich die Gesellschaft auf den Segen stürzte, drang in den mit der Beschäftigung der Münder leiser gewordenen Lärm aus der Küche das Geräusch der Backschaufel: Niobe hatte das Feuer entfacht und bereitete einen Eierkuchen aus so viel Eiern, wie sie hatte zusammenkratzen können. Und sobald der Schinken und die Wurst in kürzester Zeit verschlungen waren und der Lärm durch die Verfügbarkeit der Münder wieder allmählich anschwoll, begannen sie aufzustehen und in die Küche zu laufen, wo der Eierkuchen eine schöne, goldene Farbe annahm. Die arme Magd mußte sich noch ein bißchen drehen und winden, um ihre Aufgabe 151
glücklich durchzuführen. «Diese Jugend!» Und dann kehrten sie in das Eßzimmer zurück, um die neue Ankunft anzumelden. Die Unholde würden zu dieser beinahe morgendlichen Stunde Steine verschlungen haben. Sie aßen wie die Wölfe, und es war kaum möglich, sie nach der Reihe zu bedienen, so ungeduldig und unruhig waren sie. Sie raubten einander die Sachen vom Teller und warfen im Kampf davon auf den Fußboden; das Speisezimmer wurde zum Schweinestall. Im ganzen Haus blieb kein Ei und keine Brotkrume mehr übrig und auch nicht das kleinste Restchen von etwas Eßbarem. Remo pflegte zu seinen Freunden und zu denen, die ihn fragten, wo er zu Hause wäre, zu sagen: «Ich wohne in Santa Maria, kommt und seht, ich dressiere meine Affen, ich richte meine Papageien ab, kommt nach Santa Maria, kommt und schaut euch meine abgerichteten Papageien, meine dressierten Affen an.» Nach und nach hatte er seine Freunde auch den Tanten vorgestellt, die mit Autos oder Motorrädern alle Gelegenheit gehabt hatten, zu ihm zu kommen. Es ist nicht leicht zu beschreiben, mit welcher Freude die Tanten solche Besuche aufnahmen: die Freunde Remos waren alle hübsche und kräftige Burschen, gewandt, kühn, sportlich, gut angezogen und gut für das Leben gerüstet; es schien, als ob er sie sich zu dem Zweck ausgewählt hätte, um mit Ehre über alle zu triumphieren, denn keiner konnte es mit ihm aufnehmen, alle hatten irgendeinen Mangel, einen Fehler, etwas, das sie in weitem Abstand unter ihm hielt und das die Schwestern in ihren Erörterungen herausfanden und hervorhoben. Den Tanten ihres Freundes gegenüber benahmen sich die jungen Leute ungezwungen, aber anständig und legten eine Wohlerzogenheit an den Tag, welche die Galanterie streifte. Das arme, erdfarbige und verstaubte, durch die Mühsal der Arbeit zusammengeschrumpfte Gesicht Teresas war, wenn sie mit ihnen sprach oder ihnen zuhörte, von einem Licht erhellt, das ihre Lippen ganz leise zittern machte; und Carolina, die den Blick der heillosen Burschen nicht lange aushaken konnte, 152
begann sich, um ihre Würde ringend, auf dem Stuhl hin und her zu winden. Windungen, die mit denen Niobes nichts zu tun hatten, die sich nur wand, wenn sie sich von jenen Teufeln gepackt und bedrängt fühlte, die sie einander übermütig und zärtlich aus den Armen rissen. Für die sensiblere Carolina genügten die Augen, um sie in Windungen zu versetzen. Palle fungierte als Laufbursche und Kellner. Er stieg in den Keller hinab, um noch eine Flasche zu holen, pendelte zwischen Küche und Eßzimmer, zwischen Eßzimmer und Speisekammer hin und her; und von Zeit zu Zeit setzte er sich auch hin, um mit den Gästen zu essen, die ihn zur Zielscheibe von tausend Scherzen nahmen, in denen im Grunde die Freundschaft und die Gleichheit mit einem in äußerlicher und gesellschaftlicher Hinsicht unter ihnen stehenden jungen Menschen war. Er war durchaus imstande, auf den Acker hinauszulaufen und dort im Dunkeln nach dem frischen, von der Nacht feuchten Feldsalat zu suchen, den die jungen Leute als höchsten aller Leckerbissen schätzten. Was aber ging im Obergeschoß des Hauses in jenen der Ruhe und dem Schweigen heiligen Stunden vor? Sobald sie das Summen der Autos hörten, sprangen die zwei Schwestern aus dem Bett, ohne Licht zu machen, behutsam öffneten sie das Fenster und begannen hinter den Jalousien hervorzuspähen; nachdem sie dann einen Unterrock angezogen hatten und mit den nackten Füßen in die Schuhe geschlüpft waren und, wenn es kalt war, sich fest in einen Schal gehüllt hatten, gingen sie ganz leise hintereinander im Dunkeln aus dem Zimmer, sich an der Hand haltend; den Gang entlang, mit angehaltenem Atem, um kein Geräusch zu machen, kamen sie bis zum obersten Treppenabsatz und blieben bebend dort stehen; wie das Herz der Vögel pochte ihnen das Herz, wenn sie sich über das Geländer beugten, um keinen Augenblick jener Szene zu versäumen, die sie aus den Stimmen und Geräuschen und der eigenen, lebhaften Einbildungskraft rekonstruierten: 153
«Hör zu, Massimo!» «Vasco!» «Sergio ist auch da!» «Franco!» «Bruno!» «Alfredo, er ist auch da!» «Renzo!» «Gastone!» «Jim!» Mit der Zeit erkannten sie sie alle an der Stimme. «Wer ist denn der da?» «Ja... den kenne ich nicht.» Die Stimme Remos ließ sie verstummen. «Sie sind in die Küche gegangen.» «Sie haben Niobe umarmt.» «Hör doch, so höre nur!» «Sie haben sie am Kragen gepackt!» «Hörst du, wie sie kreischt, daß sie sie loslassen sollen?» «Sie hat den kalten Aufschnitt gebracht.» «So ein Durcheinander!» «Jetzt fangen sie zu essen an.» «Sie hat den Eierkuchen gebracht.» «Hörst du Palle? Palle ist auch da.» «Warum, hast du vielleicht gemeint, daß er nicht da ist?» Sie harrten bis zum Schluß oben an der Treppe aus. Keiner von den jungen Leuten hätte es gewagt, da hinaufzusteigen, der ganze Umtrieb war auf die Küche und das Eßzimmer begrenzt und vielleicht noch bis zur Kammer Niobes, wo man die Schale noch sah, aus der die Magd herausgeschlüpft war, um ihnen zu Diensten zu sein. Nun muß man wissen, daß gerade über dem Eßzimmer, wo die jungen Leute ihren Appetit und ihre Lustigkeit austobten, das Schlafgemach Giseldas war, die sich, nachdem sie bei ihrem Kommen aus dem Schlaf aufgeschreckt war, vor Zorn krümmte, daß so etwas geduldet wurde. «So eine Unanstän154
digkeit! Abscheulich!» Sie machte Licht, schaute auf die Uhr. «Zwei Uhr, zwei Uhr nachts. Um zwei Uhr ein solcher Heidenlärm! Das ist vom Gesetz verboten. Muß man sich denn eine derartige Schweinerei gefallen lassen?» Aber sie hätte sich wohl gehütet hinauszugehen, um ihnen Vorstellungen zu machen oder irgendein Lebenszeichen zu geben. Und wenngleich sie nicht genau wußte, was vorging, stellte sie sich die Gesichter der Schwestern und der Magd um diese Zeit vor; ihre nunmehr erfahrene Witterung riet ihr, nicht aufzustehen, nicht hinauszugehen, sich nicht zu rühren, sich in keiner Weise einzumischen, und sie riet ihr gut: «Und diese törichten Frauenzimmer, einen derartigen Radau zu erlauben!» Wenn die jungen Leute durch das große Zimmer gingen, redeten sie leiser; jene von den Frauen in der Mitte liegengelassenen Arbeitsgeräte flößten ihnen Respekt und Scheu ein; sie betrachteten sie, ohne zu schreien und ohne zu lachen. Zuweilen blieben sie entzückt vor einer schönen Stickerei in Seide und Gold stehen, sie brauchten nur ein weißes Tuch aufzuheben, um sie bewundern zu können; scheu mit zwei Fingern hoben sie es auf und schauten mit kindlichem Staunen, nur flüsternd, eine Traube aus den sich aus den Schultern und Hälsen vorstreckenden Köpfen bildend; und mit größter Zartheit deckten sie sie wieder zu, als ob sie ein schlafendes Kind wäre. Aber als ein anderes Mal Remo aus einer Schublade ein Hemd oder ein Paar hauchfeiner rosa oder himmelblauer Höschen hervorzog, ausgebreitet und in die Höhe gehalten und gesagt hatte, daß sie einem achtzehnjährigen und sehr schönen Mädchen gehörten, das in wenigen Tagen heiraten sollte, war der ganze Respekt vor dem Ort und der Arbeit beim Teufel, und wieder brach das gleiche Indianergeheul los wie im Eßzimmer. Vor den von Remo ausgebreitet gehaltenen Höschen war Sergio niedergekniet und wollte sie andächtig küssen. Und auf einmal hatten alle seine Geste nachgemacht und sich vor den Höschen 155
niedergekniet, die sie küssen wollten, indes Remo sie noch immer in verzückter Haltung ausgebreitet hielt. «Was machen sie denn, was machen sie denn, hörst du etwas?» Das Geschrei schien die Mauern sprengen zu wollen: Anreden, schmückende Beiworte, Ausrufungen begleiteten den Ritus. «Sie haben ein Paar Höschen herausgezogen!» sagte Carolina, die sich über die Szene klar wurde. «Es sind die von der Contessina Del Piatta.» «Das ist Remo, der sie hergezeigt hat.» «Dieser Strolch!» Nachdem sie die winzigen der Contessina wieder zurückgelegt hatten, zogen sie die einer Marchesa von ganz anderen Ausmaßen hervor. Eine Salve von Ausrufen, Pfiffen und Protesten brach los. «Das sind die Hosen der Marchesa Stroppa Guioni», sagte Carolina auf dem Gipfel der Seligkeit, indem sie an ihre eigenen Maße dachte. Auch Teresa hielt sich den Bauch vor Lachen, als sie an jenes Wäschestück dachte. Niobe, mitten unter den Burschen, spuckte ihren letzten Zahn aus. Da sie sonst nichts tun konnte, biß Giselda in die Bettdecke. «Darf denn so etwas um diese Zeit sein? Ist niemand da, der die Polizei ruft? Man müßte an die Sektion schreiben.» Sie machte das Licht wieder an, schaute auf die Uhr. «Vier Uhr. Eine Tollheit, die keine Grenzen mehr kennt! Zum Abschießen!» Bis Remo endlich die Freunde verabschiedet hatte, die abfuhren, nachdem sie mit ihrem Gehupe noch die übrige Nachbarschaft aufgeweckt hatten, und sich in sein Zimmer zurückzog, um zu schlafen. Und Niobe, die das Schlachtfeld unberührt verließ, das ihre Arme in ein paar Stunden erwartete, stieg, ehe sie für kurze Zeit in ihr eigenes Gehäuse zurückkehrte, noch hinauf, um den Herrinnen Bericht zu er156
statten, die ihr verzückt lauschten, geblendet, bei jedem jener Namen mit den Augen blinkend: «Corrado, Franco, Bruno, Massimo, Renzo, Gastone, Alfredo, Sergio, Jim...», die mit dem Zauber von Blumen auf den alten Lippen erblühten, und immer wieder: Remo, Remo, Remo... Die zwei Schwestern schliefen in einem Zustand der Berauschtheit wieder ein, der ihnen einen wollüstigen Schlaf schenkte, einen süßen Halbschlummer, als ob sie unbekannte Hände über ihren Körpern spürten, kosend, tastend und sie in einem schwachen, fernen Stimmengewirr sanft einschläfernd. Giselda, die nunmehr voller Zorn und bis zum Platzen nervös war, konnte nicht mehr einschlafen, wälzte sich im Bett hin und her, biß in die Decke, fletschte die Zähne. «Nicht einmal schlafen kann man in diesem schändlichen Haus.» Es muß mit rechtmäßigem Stolz anerkannt werden, daß in diesem Land alle für die Schönheit empfänglich sind; gegenüber einem jungen Mann von schöner, edler Haltung, mit einem Gesicht von ungewöhnlicher Harmonie, der die Kleidung mit Eleganz und Ungezwungenheit zu tragen versteht, sind sogar der Hemdenmacher und der Schneider selbstverständlich bereit, ihm ihre Waren anzuvertrauen und sich mit der Bezahlung bis zur Unwahrscheinlichkeit zu gedulden. Der Schneider Remos machte für ihn darüber hinaus auch noch ganz besondere Bedingungen, Stundungen und Regelungen bei den Rechnungen, erhebliche Abzüge. Remo stellte eine nicht zu unterschätzende Reklame dar, er war der Mittelpunkt einer wenngleich glänzenden, so doch nicht leicht definierbaren Korona junger Leute, die bestimmt keine vorbildlichen Arbeiter waren und sich auch nicht bemühten, es so bald wie möglich zu werden. Es muß sogar gesagt werden, daß sie alle ohne einen eigentlichen Beruf waren und aus anständigen Familien, die aber zu mittelmäßig und bescheiden für ihre Ansprüche und ihre in keinem Verhältnis zu ihren Mitteln stehende Lebenslust waren. So daß sie, wenn auch nicht gerade schlechter Handlungen fähig, doch jederzeit 157
bereit waren, sich bietende günstige Gelegenheiten zu ergreifen und womöglich auch auf elegante Weise ein wenig nachzuhelfen; oder sich solche nicht entgehen zu lassen, falls sie sich boten, auch wenn sie von anfechtbarer Art waren. Sie betrieben verschiedene Sportarten, worin einige tatsächlich Meister waren, und begeisterten sich für alle ohne Unterschied, weshalb wir sie als junge Sportsmänner bezeichnen können. Sie schwärmten für Autos und hatten alle einen Wagen, schön oder häßlich, und bezeichneten sich als Vertreter, Vermittler, Vermieter von Autos. Wir können diese jungen Leute tatsächlich als Automobilisten bezeichnen, da sie das Automobil zu ihrem ausschließlichen Beruf machten. Der Schneider wußte, daß ihm eine ganze Masse ohne weiteres nachfolgen würde, wenn er anderswohin ginge, und daß er, wenn er sich gut mit ihm stellte, eine dauernde Anziehungskraft ausüben würde. Denn es sind nicht allein die Frauen, die sich von der Eleganz, dem Zauber des Luxus und der Mode mitreißen lassen, man muß auch an das Weibliche denken, das in einer nicht zu unterschätzenden Dosis im Mann steckt, wenngleich innerhalb der durch das Geschlecht gezogenen Grenzen. In der Tat erregte der junge Mann, wohin er kam, Bewunderung und Sympathien, auch deshalb, weil, wie wir in der Folge sehen werden, sein Verhalten gegen die männlichen Wesen ganz anders war als gegen die Frauen im allgemeinen, und auch für diese hatte er eine Rangordnung, die dem erfahrenen Auge nicht entgehen konnte. Im Umkreis von Santa Maria hatte nur eine einzige Person dem zu widerstehen verstanden: Giselda. Von seinem Einzug an hatte sie den Gast mit Mißtrauen betrachtet, vom ersten Tag an hatte sie sich in totaler Meinungsverschiedenheit mit den Schwestern gefühlt. Bis sie schließlich entmutigt, überwältigt, da sie keine Antwort auf ihre eigene Stimme fand, geschwiegen hatte, mit schwelendem Groll und in der Erwartung des Augenblicks, wo sie sich für das Schweigen und die 158
Demütigung entschädigen konnte. Der tiefste Grund dafür ist aber in der Tatsache zu suchen, daß sie ein für allemal vom Zauber der Schönheit und Jugend verführt worden und ihr davon eine unauslösliche Bitterkeit im Herzen zurückgeblieben war. Weil sie zu tief an dieser Krankheit gelitten hatte, war sie gegen ihre Ansteckung gefeit. Remo aber hatte jene dritte Tante vom ersten Tag an in ganz anderer Art betrachtet als die anderen. Sie hatte ihn sofort zurückgestoßen, er hingegen hatte sie immer weiter beobachtet, um zu sehen, ob es nicht einen Weg gäbe, zu ihr zu gelangen, ihre Feindseligkeit zu entkräften, deren Ursachen er nicht kannte. Sobald er merkte, daß er sie nicht nur nicht zu fürchten brauchte, sondern daß ihre Abneigung ihm reichliche Früchte eintrug, indem sie die Schwestern zum entgegengesetzten Übermaß antrieb, tat er alles, um sie sich rückhaltlos zur Feindin zu machen. Er behandelte sie mit Ironie, nannte sie «Madame» oder heuchelte Angst und Besorgnis um ihren Gesundheitszustand: «Hast du heute nacht schlecht geschlafen? Du siehst schlecht aus, ganz grünlich, ein leichtes Abführmittel würde dich vielleicht wieder in Form bringen, dir guttun»; er forderte sie offen heraus, behandelte sie verächtlich und beleidigend, wo er nur konnte. Aber sie, die das Spiel durchschaute, hütete sich dennoch, ihn zu reizen, überwand mühsam den eigenen Impuls, nahm alles hin und behielt alles für sich. Dann und wann hatte sie in der Nachbarschaft bei denen ein Echo gefunden, die der Macht der Tanten und dem Zauber des Neffen nicht so sklavisch ergeben waren; die hoffärtige Anmaßung, mit der jenes «Sie» befohlen worden war, das alle zu ihm sagen sollten, war manchem im Magen liegengeblieben, die von ihm mit solcher Gewandtheit und in überreichem Maß ausgeteilten Püffe und der konsequente Mangel an Interesse für alle außer Palle hatten da und dort Verstimmung hinterlassen: Funken des Hasses glommen unter der Asche. Aber in Gegenwart der Herrinnen hatte sich die Stimme der Auflehnung in Kriecherei verwandelt, wie 159
ihm gegenüber alle in Entzücken gerieten über die wunderschönen Schuhe, die sie putzen mußte, über den Anzug, das Hemd, die schöngebundene Krawatte. Der Groll und die Feindseligkeit verwandelten sich in Schmeichelei, das Murren in bewundernd geöffnete Münder. Aber Giselda, die im Grunde ihres Wesens von stolzer und nobler Art war, widerstrebte es, sich über das Ungemach, das ihr in der eigenen Familie widerfuhr, außerhalb Luft zu machen, und sie hatte nur dazu gegriffen, wenn sich ihr die Kehle vor Verbitterung und Einsamkeit zuschnürte. Zu Hause tat sie den Mund nicht mehr zum Reden auf, es machte den Schwestern zuviel Spaß, sie zurechtzuweisen, ihr ihre Freude zu zeigen, wenn sie genau das Gegenteil von dem taten, was sie für richtig gehalten hätte, etwas zu tun, das sie schrecklich ärgerte, ihre offene Feindseligkeit herauszufordern, sie in eine endgültige, äußerste, unmögliche Position zu bringen. Seit geraumer Zeit machte sie übermenschliche Anstrengungen, um sich nichts anmerken zu lassen; sie verbarg ihre Gedanken und verschloß sich ganz in sich, um sich keinen Niederlagen auszusetzen und dadurch zur Quelle allzu großer Heiterkeit zu werden. Was den Schwestern am meisten gefiel, war die Haltung der Überlegenheit und Geringschätzung, die Remo ihr gegenüber angenommen hatte; nichts machte ihnen mehr Spaß als die Beleidigung, die direkt von ihm kam und ihnen dadurch die Mühe ersparte, sie zu beleidigen. Auch Niobe, wenngleich von großmütigem und sanftem Wesen, gefiel im Grunde die Art, in welcher Remo das Amphibium, die Dienerin, die sie auch ein bißchen bedienen mußte, behandelte, die Hochmütige, die einen jungen Mann verachtete, wie es in der ganzen Gegend noch keinen gegeben hatte und auch keinen ähnlichen gab und der von allen bewundert wurde. Dem grimmigen Gesicht Giseldas zum Trotz blinzelte Niobe hinter ihrem Rücken Remo zu, stellte ihr immer heiteres dagegen, zwinkerte mit einem Auge und deutete das lange Gesicht 160
an. Mit einem Seufzer antwortete Remo der treuen Alten, die er sich in allen Gefahren nahe wußte, einem ironischen Seufzer, welcher der unbezwinglichen und so gut bezwungenen Festung galt und ihrem tapferen Widerstand, der für sie selber so schädlich oder nutzlos war wie segenbringend für ihn. Giselda, der die Stimme zu einer nutzlosen Fähigkeit für das gemeinsame Leben geworden war, begann jetzt, während sie im ersten Stock mit häuslichen Verrichtungen beschäftigt oder in ihr Zimmer eingeschlossen war, zu singen: sie sang oft und sang laut, entfaltete die Stimme und sang um so häufiger und um so besser, je mehr sie im unteren Stockwerk Sturm witterte. Sie sang alles mögliche, Lieder und Chansons, volkstümliche Arien und vor allem alte Melodien aus bekannten Opern. Was sie konnte und was ihr gerade einfiel, so daß sich zu dem Sturm im Erdgeschoß die lyrischen Töne des oberen Stockwerks gesellten. Man muß anerkennen, daß sie nicht schlecht sang; obgleich ungeschult, hatte sie keine üble Stimme, verstand sie mit Geschmack zu modulieren und sang ganz tonrein; und immer besser kam sie in Übung, so daß die Vorübergehenden auf der Straße angenehm berührt den Kopf hoben. Es ist nicht zu beschreiben, wie diese vermaledeite Singerei den Schwestern auf die Nerven ging; sie fühlten, wie ihnen der Atem bis in den Magen hinunterging, noch weiter hinunter, bis an die untersten Rippen; denn sie verstand es, den günstigsten Augenblick zu wittern, der selbstverständlich für die anderen der wenigst günstige war, und wußte, wie sie auf diesen Gesang lauerten, um darin eine gegen sie gerichtete Beleidigung zu finden, eine Spitze, einen Doppelsinn, eine Anspielung, die sich irgendwie auf sie bezog, einen versteckten Spott, um aufzufahren, ihr Schweigen zu gebieten, eine Verletzung ihrer Macht und Autorität. Nichts, niemals. Giselda wußte alles mit raffinierter Geschicklichkeit zu vermeiden, es war nicht möglich, sie auf der Tat zu ertappen, zu Fall zu bringen. Unglaublich, wie sie es anstellte, so vielen Gefah161
ren zugleich auszuweichen; sie verstand auf den Flammen zu wandeln, ohne sich auch nur einen Zipfel des Gewandes zu versengen. Es handelte sich um eine Aussprache, klein oder groß, wegen einer zu bezahlenden Rechnung, oder um eine lebhafte Szene wegen der Höhe und des überraschenden Eintreffens besagter Rechnung. Es handelte sich um Vorstellungen wegen der Belastung, die Palle im Haushalt bedeutete, der, da er sich nie von dem Freund trennte, immer beim Essen da war und dabei einen ausgezeichneten Appetit entwickelte; und auch außer Haus, das war den Tanten klar, bezahlte Remo für zwei. Während zu Hause die Mutter Palles vertrauensvoll wiederholte: «Herr, dein Wille geschehe immer und überall.» Sicher, gewiß, sie hatte recht, man konnte ihr nicht unrecht geben, sie konnte dem Herrn danken, sie konnte ihn walten lassen, denn wie er es machte, er machte es gut... Aus dem oberen Stock erhob sich die Stimme: «Wir sind Zigeunerinnen, kommen aus weiter Fern, jedem aus der Hand lesen die Zukunft wir.» Zu Anfang waren die Tanten, als Remo mit Palle Freundschaft geschlossen hatte, sehr gegen diese Vorliebe gewesen. Unter so vielen Jungen sich den unglücklichsten, vom Schicksal enterbten auszusuchen, den ungeschliffensten, plump, schlecht gekleidet, dem es in der Familie an der für einen jungen Menschen unentbehrlichen Pflege fehlte, der nichts als ein Taglöhner bescheidenster Sorte werden konnte... sie, die schon die kühnsten Pläne für die Zukunft des Neffen hatten. Aber die tiefe, echte Herzlichkeit, mit der Remo den Kameraden behandelte: «Komm, Palle, hör zu, Palle, los, Palle...» - er hatte für ihn eine Wärme in der Stimme wie für niemanden sonst -, und die Ergebenheit, mit der ihm der Gefährte 162
überallhin folgte, ließen sie unsicher werden, wenn sie ihm Vorhaltungen machen wollten; und da sie im übrigen mit der Eitelkeit urteilten, von der sie bereits durchdrungen waren, schwiegen sie verwundert und sahen in Palle nichts anderes als den Schatten des Neffen. Remo hatte sich einen Janitscharen erwählt, einen Gefolgsmann, einen Diener; das bestätigte seine Gewandtheit und Kraft nur noch mehr. Bis die Tatsache, daß er auch den Gefolgsmann am Tisch sitzen ließ, den Schatten, der zur Stunde der Mahlzeit in recht handfester Weise einen Körper annahm, eine langsam zur Gewohnheit gewordene Tatsache, sie neuerdings in Abwehrstellung brachte. Remo hatte sich angewöhnt zu sagen: «Komm, Palle, es geht zum Essen, heute ißt du mit mir.» Und jener nahm nach der Unsicherheit der ersten Tage an, ohne es sich zweimal sagen zu lassen, und sie selbst, da sie sahen, wie froh die beiden waren, beisammen zu sein, bekamen schließlich Geschmack an diesem nicht unerheblichen Familienzuwachs, an diesem Zusammensein, das ihr hastiges und frugales Mahl in eine Stunde der Erholung verwandelt hatte. Aber als sie bei der Abrechnung mit Niobe feststellen mußten, daß sich die Ausgaben für den Haushalt unversehens verdreifacht hatten, und bestürzt über dieses Phänomen, verwirrt, nachdenklich dasaßen, vernahm man aus dem ersten Stock: «O wäre ich erkoren, wenn sich mein Traum so erfüllte!... Ein Heer von tapfren Männern, von mir geführet...» Während die Mutter Palles verzückt immer wieder sagte: «Herr, dein Wille geschehe überall und immer.» Wie bereits angedeutet, könnte man vermuten, daß sehr ausgeprägte, natürliche Ähnlichkeiten die beiden jungen Leute zusammengeführt und beisammengehalten hätten, aber eine solche gewöhnliche und naheliegende Vermutung trifft in unserem Fall nicht zu. Die Ähnlichkeiten bringen häufig oberflächliche und vergängliche, von einer Gemein163
samkeit der Interessen genährte, zuweilen nur scheinbare oder treulose Freundschaften hervor, die tiefgehende Rivalitäten und Eifersüchte verbergen und leicht zu Enttäuschungen und Überraschungen führen. Hier trifft der Fall zu, daß eine Rivalität, die sich in einem Akt der Gewalttätigkeit erschöpft hatte, sie einander erkennen ließ und daß die natürlichen Verschiedenheiten sie geeinigt hatten und in einem einzigen Streben fest miteinander verbunden hielten: wagen, leben, um zu wagen; deutlich und bewußt abgezeichnet in dem einen, instinktmäßig, ungeformt in dem anderen. Remo war von großer körperlicher Schönheit und herrenmäßigem Benehmen, Palle wirkte unansehnlich und recht einfach, ja bescheiden, was ihn neben dem Gefährten, dem der kühne Mut aus den Augen sah, schüchtern erscheinen ließ; dabei war er kühner als dieser, stolz und selbstsicher. Remo mißfiel diese Plumpheit nicht, er liebte sie sogar, er tat nichts, um sie zu mindern oder abzuschleifen, er wollte, daß der andere soviel als möglich er selber sei. Palle aber blickte nicht neidisch auf den Anzug des Freundes, der ihm an diesem gefiel, der so sein mußte, aber er würde nichts getan haben, um einen solchen zu bekommen. In Remo war das Temperament des Befehlshabers, in Palle das des Untergebenen; der ganze Wagemut Remos mußte durch das Sieb der Berechnung passieren; Palles Wesen widerstrebte der Berechnung, sein Wagemut war uneigennützig, bei jedem Unternehmen gab er sich selber, ohne zu fragen, was er gäbe und was zu nehmen wäre, er mußte geben, aber um zu geben, brauchte er ein Gesetz, einen Führer, dem er folgen konnte, einen anderen, um sich selber auszudrücken. Sie waren wie der Soldat und der Offizier, nach dem festen Grundsatz, daß der eine befiehlt und der andere gehorcht; die Verschiedenheit der Aufgabe hat nur mehr eine praktische Bedeutung, es sind zwei Herzen, die zusammen für denselben Glauben schlagen, auf derselben Höhe des Geistes. Aber da die Schlacht das Leben war und die Kämpfer auf 164
diesem Feld Egoisten sind, und oft blinde, grausame Egoisten, war Remo für den Kampf bis an die Zähne bewaffnet, während der Gefährte waffenlos war; allein wäre er rettungslos verloren gewesen, zum Knecht geworden, zum Sklaven, zum Zugtier, wie der Vater und die Mutter. Der Reine brauchte den Erfahrenen, um zu siegen, und dem Erfahrenen tat es so gut, an seiner Seite jene Reinheit zu spüren, die seinen Mut verdoppelte. Remo liebte im Grunde niemanden als Palle; der als sein Knecht galt, stellte den besseren Teil seines Selbst dar. Die zwei jungen Menschen standen vor der Welt mit ihren langen, ebenen Straßen, auf welchen jene dahinfahren, die schöne Autos besitzen, die Glücklichen, die so viel Geld auszugeben haben und sie nach Belieben oder Laune wechseln können, bei allen Wettrennen dabeisein und die, obgleich aus einer gehobeneren Klasse, die gleiche Leidenschaft mit den Geringeren verbrüdert und, wie die Gottheit, sie geeint fühlen läßt. Sie standen vor der Welt mit ihren wunderbaren Geschwindigkeiten, deren Größe auch den Gedanken des Todes verschwinden läßt, ihren schwindelerregenden Rennen, ihrem Schnelligkeitsrausch. Sie atmeten in der Fieberatmosphäre, die von diesen erzeugt wurde, von den Erörterungen, von dem Bedürfnis, zu wagen, zu eilen, immer mehr zu eilen: der Wille, die Kraft, die Gewandtheit, alles, alles nur, um zu eilen. Palle war zu keiner Initiative fähig. Remo bedurfte eines, der ihm in der seinen folgte, für deren Verwirklichung er seinen Geist anstrengte; eines, der ihm zustimmte, ohne zu verhandeln. Die größte Freude für beide war es, zusammen zu schlafen. Palle zeigte sich glücklich, wenn Remo zu ihm sagte: «Bleib zum Schlafen da, bleib bei mir.» Ruhig und in dem gewaltigen Bett unter dem großen Baldachin aus himmelblauem Damast ein wenig zusammengerollt, blickte Palle mit den hellen Äuglein pfiffig umher und konnte kaum das Lachen verbeißen, wenn er sich fragte, wo er sei und was sol165
ehe merkwürdige Dinge zu bedeuten hatten. Und so lachend, schlief er ein in dem Gedanken, daß das erste Wort des Freundes am Morgen die Ankündigung eines Planes sein würde: was man tun sollte, wo man hingehen sollte; voller Freude, es gleich nachdem er die Augen geöffnet hatte, zu hören, ohne zu warten... ohne erst kommen und ihn abholen zu müssen. Genauso froh war der andere, gleich beim Erwachen den Expeditionsgefährten in der Nähe zu haben. Sie waren beide schweigsam, redeten mit allen Leuten wenig und mochten auch das viele Geschwätz nicht, im Gegenteil, es war ihnen lästig. Der eine machte sich davon mit seiner Kälte erzeugenden Haltung frei, der andere, indem er sich ihnen in kindlicher Weise entzog und denen mit Ellbogen und Schultern Püffe zur Antwort gab, die «Palle! Palle!» riefen, um die Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken, vor allem in die von Remo. Sie verstanden sich mit Gesten, mit abgerissenen Silben, mit Blicken, mit Worten ihres eigenen Jargons; und beide waren gern unter ihresgleichen, um von den gemeinsamen Interessen zu reden, sich zu informieren, Nachrichten zu bringen, zu erzählen und zu diskutieren. Bei Remo war die Zeit, die er den Frauen widmete, mit der Goldwaage bemessen, er sah sie kalt und gleichgültig an, wie ein Feld, das in der kürzestmöglichen Zeit zu erobern war. Palle fühlte sich unter den Frauen unbehaglich, so als ob ihre Unterröcke aus Pech wären, er konnte es kaum erwarten, sich loszumachen und davonzulaufen. Die Frauen machten ihn lachen und flößten ihm Furcht ein, er war so männlich, daß er kaum mit weiblichen Wesen zu sprechen wußte. Sie waren nicht sentimental, und auch die Sinnlichkeit war in ihnen nicht entwickelt. Die Liebe, die Palle für die Mutter hegte, war asketisch, nicht mehr von dieser Erde, sie bestand aus Hingebung und ließ keine Worte zu, und den Freund liebte er als einen Teil seines Selbst, wie er das Leben liebte. Der geschlechtliche Akt 166
war für Palle eine dem Körperlichen nach sehr einfache Sache, aber dem Geistigen nach so hoch, daß er nicht begreifen konnte, wie ihn die anderen mit solcher Ungeniertheit betrachten konnten; und wenn er gezwungen war, davon zu reden, wandte er das Gesicht ab und lachte, wie er sich bei Tisch ein wenig mit dem Arm verdeckte, um zu essen; und er wurde nur durch das Beispiel dazu verführt oder, besser, von der Strömung mitgerissen; er zog sich aus Männlichkeit nicht zurück, bewahrte aber bei allen Gelegenheiten ein instinktives Widerstreben und seine männliche Schamhaftigkeit. Das schien ihm eine Sache zu sein, die nicht mit solcher Leichtfertigkeit getan werden durfte, er konnte sein Unbehagen dabei auch nicht überwinden, sondern nur von zwei durch ein unauflösliches Band geeinten Kreaturen, denen sich das Geheimnis der Natur enthüllte. An dem Tag, wo er mit Anteilnahme zu einem jungen Mädchen gesprochen haben würde, wäre sie seine Frau geworden; er würde ein treuer Ehemann und ein guter Vater werden. Unter den Freunden Remos, unvoreingenommen, lebenserfahren, durchweg von bürgerlicher Herkunft, nahm Palle mit seinen Händen in der Tasche, der in die Stirn gedrückten Mütze und dem wiegenden Gang die Stelle des Hundes ein, er war immer da und war, als ob er nicht da wäre, er war ständig in Reichweite, wenn er da sein sollte, und wußte, daß er seine Anwesenheit nicht spüren lassen durfte, obgleich er immer zugegen war. Er nahm nicht mehr Platz ein als ein Hund und war zufrieden, wenn er pünktlich auf seinem Posten sein konnte. Von Zeit zu Zeit wurde er, wiederum Hund, zum Mittelpunkt der Gruppe, alle hatten für ihn Zuneigung und Zärtlichkeit, bis zum Katzenkopf, bis zur Umarmung und zum Bedürfnis, ihn zu streicheln. Genau wie der Hund. Er bot allen die runden und massiven Schultern dar und sein zugleich gutes und pfiffiges Lächeln. Die Andersartigkeit des Gefährten auf diesem Gebiet war gewaltig. Auch Remo wurde nicht von der Sinnlichkeit be167
herrscht, er beherrschte sie vielmehr in vollkommener Weise, aber er hatte ohne Zaudern erfaßt, welche Bedeutung die Frauen im Leben haben und welchen Einfluß er auf sie ausüben konnte und was sie in unserer Gesellschaft bedeuten. Er bewahrte die eigene Kälte in jedem Fall, eine rätselhafte Haltung und das kaum angedeutete Lächeln des Herrn. Auch von Remo bekam Palle dann und wann einen Katzenkopf, wenn ein Thema abgebrochen wurde, über das wegen der zu weiten Entfernung der Standpunkte nicht zu diskutieren war. Um sie im Einklang ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten zu sehen, mußte man sie vor einem Auto beobachten, wie sie sich daran zu schaffen machten, in seinem Innern, um den Motor zu reparieren, den Schaden, den Fehler zu entdecken, es wieder in Gang zu bringen; und da sie immer abgenützte, zusammengefahrene Wagen in den Händen hatten, stieg ihre Erfahrung zu unwahrscheinlichen Bewährungsproben auf. Sie waren imstande, jedem Kadaver auf Ungewisse Zeit das Leben zurückzugeben. Der Körper Palles war kein menschlicher Körper mehr, sondern eine Kugel, ein Rad, ein Bogen, eine Gabel, eine Achse, ein Balken, ein Bohrer, ein Hebel, ein Puffer... aus seinem Körper konnte er im Bedarfsfall alles machen. Der Körper Remos blieb in jedem Fall unveränderlich: er war immer ein prachtvoller, menschlicher Körper, der sich zeigt, biegt, wendet, löst, der durch die Bewegungen eine Seele ans Licht bringt. Auch das Auto wurde vom Menschen beherrscht. Palle war sein liebevoller, ergebener Diener und blieb es, auch wenn er es bestieg und in Gang setzte, seine Person stellte eine Notwendigkeit auf ihm dar. Für Remo dagegen war das Auto nicht ganz, solange sein Lenker noch nicht aufgestiegen war: es schien auf ihn zu warten, ihn zu rufen, wie eine schwermütige und einsame Frau auf den Geliebten wartet, und sobald er oben war, gab er sich ihm hin und wurde eins mit ihm, alle Kräfte liefen in seinem Kopf zusammen, und er blieb Herr darüber. 168
Um ihre Verschiedenheit und ihre Gemeinsamkeit zu erkennen, mußte man sie bei einem Rennen beobachten, auf der Piste oder auf der Straße, in der Luft oder auf dem Wasser. Um derartigen Rennen beizuwohnen, wo immer sie stattfanden, hatten sie Unbequemlichkeiten und Gefahren riskiert, alle unbekannten Möglichkeiten; sie waren mit allen Mitteln hingekommen, mit den abenteuerlichsten, mit Fahrzeugen in hoffnungslosem Zustand. Hier war es der Glaube, der die Herzen einigte. Vor einem Auto im Rennen senkten die Augen Remos die Wimpern so weit herab, bis sie zusammenstießen, bis sie wie ein Schatten zwischen den Lidern waren, als ob sie ein Fernrohr einstellen wollten, wenngleich der übrige Körper die lebhafte Spannung nicht zeigte. Die Augen Palles wurden immer kleiner, ganz klein, während er sich immer mehr krümmte, ganz in sich zurückzog: zwei Punkte, zwei Pfeile. Dieser Sinn des Lebens als Kampf war ihr Sinn, des Lebens in den Tag hinein, und er gab den beiden jungen Männern eine Möglichkeit des Heldentums, die für sie alltäglich, physisch, normal war und die sich unglücklicherweise nicht immer so bot, wie sie von ihnen erstrebt wurde. Wenn man es am nächsten Tag von ihnen verlangt hätte, wäre jeder zu großen und kühnen Taten fähig gewesen, die sie einzig mit dem Blick auf die Schönheit der Tat vollbracht hätten, ohne daß ein Schatten von Opfer oder Eigennutz ihren Geist gestreift hätte. Wenn die Freunde und Bekannten, die Familienangehörigen und Nachbarn für die Schönheit empfänglich sind und sogar Leute, die ihre eigenen Waren aufs Spiel setzen, so werden gewiß auch noch andere Personenkreise ein Auge für die Schönheit haben. Niemand wußte, wie es kam, daß Remo, der sich in seiner Umwelt immer und gegen alle ausweichend und uninteressiert zeigte, seit einiger Zeit und mit einer gewissen Beharrlichkeit die Kundschaft der Tanten im Auge behielt. Er tat, als ob er zufällig da sei, zeigte sich gleichgültig und zerstreut, 169
beobachtete aber dabei die verschiedenen Typen von Frauen, die wegen Bestellungen ins Haus kamen. Bei allem Respekt und aller Ergebenheit der Schwestern gegenüber ihren Kundinnen konnten sie es kaum erwarten, wissen zu lassen, wer jener junge Mann sei, der sich vor der Tür oder am Gartentor aufhielt und dabei an einem Auto herummanövrierte oder mit größter Unbefangenheit durch das Zimmer aus und ein ging. Ein Blick hatte genügt, daß sie sich berechtigt glaubten zu sprechen; ein Blick, der in den meisten Fällen lieber nicht von den Näherinnen aufgefangen worden wäre, die jedoch diesem jetzt mehr Interesse zuwandten als dem Gespräch über Hosen und Hemden. «Das ist unser Neffe.» «Der Sohn einer früh verstorbenen Schwester in Ancona.» «Er ist Vollwaise.» «Seit acht Jahren ist er bei uns.» Wenn Remo anwesend war, deutete er, ohne dies für eine richtige Vorstellung zu nehmen, vor der Dame und dem Fräulein eine Verbeugung an, die zugleich respektvoll und gleichgültig war, eine Pflicht, die man eilig erfüllt, da man sich ihr nicht entziehen kann. Und indessen beobachtete er mit großer Schnelligkeit die Typen, und wenn es möglich war, hielt er sich am Gartentor auf, nicht um sie beim Aus- und Einsteigen ins Auto zu sehen, er wandte sich nicht einmal nach ihnen um, sondern um ihnen Muße zu geben, ihn zu sehen. Er hütete sich aber wohl, einen Gruß zu wiederholen, sei es auch nur kalt und zerstreut, jetzt, wo es die Tanten nicht sahen; und gab damit zu verstehen, daß die vorige Huldigung diesen gegolten hatte, nicht den Damen; er unterbrach auch ein Gespräch mit Palle nicht, um sie zu grüßen. Und da er in dieser Kunst unübertrefflich war, konnte er, ohne überhaupt nur flüchtig hinzusehen, genau das Interesse abschätzen, das er in jenen erweckt hatte, die ihn mit den Gedanken wer weiß wo glaubten und so ausgiebig betrachteten, wie sie vorhin in Gegenwart der Tanten nicht konnten; es war auch nicht leicht festzustellen, wer ihn mit 170
größerer Eindringlichkeit studierte, die Tochter oder die Mutter. Die erstere, am Vorabend der Hochzeit, stellte vielleicht einen melancholischen Vergleich an und begnügte sich mit dem Bewundern, denn es gibt keine treue Gattin (ich möchte diesem Eigenschaftswort keine Zahlen hinzufügen, da ich die Statistiken nicht kenne), die nicht wenigstens mit den Augen den Ehegatten manchmal betrogen hätte. Wenn die geistlichen Herren kamen, stellten die Tanten Remo offiziell vor, und dieser erfaßte beflissen die Hand, die der Priester ihm mit Herzlichkeit bot, mehr Freund als Kunde. Sie sprachen miteinander von irgend etwas, Remo lächelte offen, wurde gesprächig, so daß sich die Tanten ansahen, um sich zu fragen, woher diese Beredsamkeit und Herzlichkeit kämen. Bei den Geistlichen wendete er eine besondere Taktik an, die nichts mit der für alle übrigen Kategorien gebrauchten gemein hatte und mit der er sich ganz bestimmt ihre Sympathie erwarb: er gab sich in einer gutmütigen Manier als der leichtherzige große Junge, derart, daß wenn die Frauen ihm nachlaufen mußten, um ihn nie zu bekommen, diese in dem sicheren Gefühl fortgingen, ihn im Flug erobert und mitgenommen zu haben, und dabei hatten sie nichts erobert. Wenn sie fortgingen, äußerten sie den Tanten gegenüber ihr Wohlgefallen: «Ein netter junger Mann, sympathisch, lebendig. Sie werden froh sein, ihn hier zu haben.» Sie fanden keine Antwort. Das Gesicht Teresas, das die Härte der Arbeiterin verloren hatte, wurde zu Wachs, das in der Wärme schmilzt, und Carolina schraubte sich fortwährend auf ihrem Stuhl herum, daß man fürchten mußte, sie könnte herunterfallen. Nur wenn die frommen Frauen kamen, ging Remo seiner Wege, ohne sich nur umzuschauen. Und jene ihrerseits sahen nicht nach rechts und nicht nach links und ließen an ein Kreuzzeichen denken, das durch die Begegnung zweier ungleichartiger Kräfte von der Luft erzeugt wurde. Im übrigen verstanden sich die Tanten auch an jenen zu rächen; sie ließen sie fünfzigmal kommen, um zu 171
hören, ob das bewußte Altartuch oder die bewußte Albe noch nicht fertig wären, worauf sie boshaft antworteten: «Nein, nein, es war noch nicht möglich, es zu machen.» Seit einiger Zeit war eine bizarre Kundin häufig zu den Stickerinnen gekommen, die in einer Villa in Settignano wohnte, eine russische Gräfin, welche der Revolution Lenins wie durch ein Wunder entronnen war und über die viele Gerüchte und phantastische Vorstellungen in Umlauf waren. Ihr Mann, ein Politiker des alten Regimes, war in der Revolution ermordet worden, und da der Gräfin ihre eigene Nationalität verlorengegangen war, hatte sie alle erworben: sie war zur Tochter des Völkerbundes geworden. Sie hatte dem Sturm entfliehen können, da sie bei seinem Ausbruch zufällig nach Paris abgereist war; zu jener Zeit besaß sie ein Haus in Paris, wo sie einen großen Teil des Jahres zubrachte, und anscheinend hatte sie ihre Reichtümer ganz oder zum großen Teil retten können, oder jene waren ihr auf flinken Füßen vorausgeeilt, denn sie besaß elegante Autos, eine Villa, hatte Dienstpersonal und führte ein luxuriöses und eigenwilliges Leben. Anstatt sich mit Damen und Herren von Adel zu umgeben, wie es ihr Rang vermuten lassen würde, umgab sie sich ausschließlich mit Jugend, männlicher, sportlicher Jugend. Man sah sie nie mit einer anderen Frau. Und wenn sie auch in materieller Hinsicht einem höllischen Wirbelsturm entgangen war, so hatte sich in ihrem Geist einer entfesselt, ebenso unerbittlich wie jener: die intellektuelle Frau war zur Sportfanatikerin geworden. Die Fußballspiele, Boxkämpfe, Springkonkurrenzen und Rennen aller Arten waren an die Stelle der tiefen Gedanken, der Seelenforschungen, der dichterischen Begeisterung und der lyrischen Harmonien getreten, hatten die gelehrten, glänzenden oder gewichtigen Diskussionen abgelöst. Sie bekannte sich frisch und fröhlich zu 39 Jahren, aber es war leicht einzusehen, daß die Gräfin an der Schwelle jenes vierten Bogens stehenbleiben wollte, nicht nach Art des 172
jammernden und flehenden oder sogar mißtrauischen, vorsichtigen Bettlers; auch nicht nach Art des Kindes, das bockt, heult und schreit, ohne zu wissen warum, und das man, wenn es sich einmal sträubt, nicht mehr vorwärtsbringen kann. Die Schwestern Materassi fertigten für sie aus dem feinsten Material ein von ihr selbst erfundenes, besonderes Wäschestück an, das «Lilienkombination» genannt wurde und eingeführt worden war, seit sich die Gräfin in Florenz niedergelassen hatte, zu Ehren der Wappenblume der gastlichen Stadt: ein Hemd mit angeschnittenem Höschen, das den Körper in Höhe der Brust und am Ansatz der Beine wie jener duftende Kelch umschloß, von dem es seinen Namen hatte. Aus dem Gruß zwischen Remo und der Gräfin entwickelte sich eine wirkliche und tatsächliche Unterhaltung. Sie begegneten sich alle Tage auf der Straße nach Settignano, Remo kannte die Dame vom Hörensagen, die ihn beharrlich ansah, ohne zu erreichen, daß sie einen Blick zurückbekam, da Remo, anstatt sie anzusehen, mit lebhaftem Interesse ihre Autos betrachtete, die sich sehr von jenen unterschieden, mit welchen er die gleiche Straße passieren mußte. Sie hatte ihn schon öfter in seinem Wagen überrascht, wie er sich eifrig bemühte, ihn in Gang zu bringen. Sie lachte, die Gräfin, lachte ohne Hemmung. Und Remo, statt den billigen Spott übelzunehmen, lachte mit ihr über die Armseligkeit seiner Hilfsmittel, da er sich doch als Vermittler und Vertreter von Automobilen ausgab; er nahm die Sache mit Humor, indes in ihm ein Entschluß reifte: für einen jungen Mann wie ihn wurde ein schöner Wagen zur Notwendigkeit, die Zeit der alten Kisten für 2000 oder 3000 Lire war vorbei, die nur seine und Palles Verliebtheit am Licht der Sonne zu erhalten vermochte; der Besitz eines respektablen Autos wurde notwendig wie das Brot. Diese Gedanken gingen Remo durch den Kopf, während er mit der Gräfin lachte. Aber als sie ihm unvermittelt den Vorschlag machte, sie nach Settignano zu begleiten, um ihre Villa zu sehen, war er mit ebensolcher 173
Unmittelbarkeit mit einer Ablehnung zur Hand, indem er anführte, daß er nach Florenz müßte. Die Heiterkeit der Dame wurde auf einen Augenblick unterbrochen, dann fuhr sie fort zu lachen, als ob nichts geschehen wäre; sie war nicht die Frau, die sich von Mißerfolgen unterkriegen ließ, sie lachte weiter, indes sie in ihren Wagen stieg und Remo in einer Weise grüßte, die nicht erkennen ließ, ob sie etwas von ihm mitnehmen oder ihm etwas von sich zurücklassen wollte. Im einen wie im anderen Fall schien Remo es nicht eilig zu haben, sowohl im Annehmen dessen, was ihm so großzügig angeboten wurde, als auch im Überlassen dessen, was man lachend von ihm forderte. Zwei Tage darauf war die Gräfin wieder da, wegen neuer kleiner Veränderungen an den Lilienkombinationen, von denen ihr die Materassi diesmal ein ganzes Dutzend anfertigen sollten. Remo war anwesend und wartete auf sie. Die Unterhaltung wurde wiederaufgenommen und auf ausgesprochen sportliche Themen gelenkt; und als die Gräfin wegfuhr, nahm Remo die Einladung an und stieg in ihr Gefährt, um sich nach Florenz zu begeben. Wieder zwei Tage und neuerlicher Besuch. Die Gräfin war da, alle Tage, und sie kam immer wieder, versteht sich, weil es ihr nicht gelang, die Basis der Begegnungen zu verlegen, eine neue zu schaffen. Wenn sie Remo sehen wollte, mußte sie ihn hier aufsuchen, an dem einzigen Ort, wo er sich einfangen ließ. Und wenn sie ihn beim Fortgehen einlud, nach Florenz mitzufahren, benützte er die Aufforderung mit aller Unbefangenheit und stieg in das Auto ein; wenn sie ihn aber drängte, nach Settignano mitzukommen, um ihre Villa zu besuchen, lehnte er schnell und entschieden ab, zum ständig wachsenden Mißvergnügen der Gräfin: er hatte zu tun, mußte in die Stadt fahren, wo er erwartet wurde, war schon spät dran und mußte sich beeilen, mußte Palle rufen, damit er den Bratenwender, die Lokomotive, die Kaffeemühle in 174
Schwung brächte, wie er lachend zu der Gräfin sagte, oder wenn Palle schon da war, stieg er rasch ein, nachdem er die Dame an ihren Wagen begleitet hatte. Während die Gräfin sich im Haus aufhielt, was sie immer auszudehnen trachtete, schlenderten Palle und Remo auf und ab, die niedrige Mauer entlang, wie zwei Wachtposten, und sprachen von Sport, ausschließlich von Sport, dem einzigen Thema, worüber man mit Remo ein Gespräch führen konnte und nunmehr auch mit der Dame, die bis zum Exzeß sportbegeistert war, nachdem sie, und ohne Bedauern, die Gebiete des Geistes verlassen hatte. Man konnte in ihrer Villa die berühmtesten und verschiedensten Sportgrößen des Tages antreffen, mit denen sie befreundet war: Ringkämpfer, Fechter, Boxer, Fußballspieler, Schwimmer, Ruderer, Taucher, Springer, Wasserball- und Korbballspieler, Radfahrer und Wettläufer, Flieger und Automobilisten. Sie übte gleichfalls einige dieser Tätigkeiten aus, focht, hatte ein Schwimmbecken im Haus und turnte vor dem Bad an den Ringen und am Barren. Aber das war nicht der einzige Grund, warum die scharfzüngigen Bewohner von Settignano ihre Villa das «Freizeitheim für Gymnastik» nannten. Sie versäumte kein Rennen, kein Spiel, keinen Wettkampf, und kein Ort und kein schlechtes Wetter konnten sie davon abhalten oder ihr angst machen. Im Verlauf des Spiels erhitzte sie sich so sehr, daß sie einmal einer anderen Frau in die Haare geriet. Als Wahlrömerin war ihr auch die Geste vertraut, am Ende eines Kampfes dem Sieger die Baskenmütze zuzuwerfen. Boshafte Leute sagten, daß, obwohl der Name mit dem Wappen und der Adresse der Gräfin darin war, nicht alle Mützen zu ihrem Herkunftsort zurückkamen. Und da einstmals in Paris ihr Haus von den berühmtesten Malern und Bildhauern, Musikern, Literaten und Philosophen besucht gewesen war, nachdem sie viele Jahre lang ihren Streitgesprächen präsidiert, die Qualen ihrer Gehirne geteilt, ihre Vertrautheit und Freundschaft genossen hatte, war es zufolge der bereits erwähnten Umwälzung, 175
durch die sie auf das andere Ufer übergegangen war, zur Tat, die alle Probleme löst, dahin gekommen, daß sie alle miteinander verwarf und die Künstler und ihresgleichen anödend fand und die Professoren und Philosophen samt ihren erfundenen Sittenlehren und pessimistischen Zweifeln «Vieux cocus» nannte. Keine bessere Philosophie als die mit Armen und Beinen in der freien Luft ausgeübte, bei der das Gehirn unversehrt bleibt, während alle übrigen von seiner Anschwellung herrühren. «Je suis grecque», beteuerte die Gräfin immer wieder und warf damit das ganze Gepäck ihrer Genfer Nationalität über Bord. «Je suis grecque», und sie setzte hinzu, daß die Italiener die natürlichen Erben der Griechen seien und die italienische Jugend die beste von allen sei, ausgeglichen «dans sä chaleur», und daß sie in der Toskana eine «formidable» Materie gefunden hätte. Sie hätte dort den Menschen schlechthin gefunden. Bestimmt mußte sie der arme Diogenes von drüben her mit Neid betrachten und mit ein bißchen Ärger, nachdem er mit seiner Laterne so lange umsonst gesucht hatte; er mußte, sich auf die Lippen beißend, sagen: «Da sieh nur einer an, wer ihn finden mußte.» Alle diese Gespräche spielten sich ab, während sie zu ungezählten Malen vor dem Haus auf und ab gingen, und sie zogen sich bei jedem Besuch noch mehr in die Länge. Anfangs hoben die Schwestern Materassi, sooft die zwei an der Tür vorbeigingen, mechanisch die Köpfe, ohne sich anzusehen; dann gewöhnten sie sich daran, sich gar nicht mehr umzuwenden und mit gesenktem Blick über der Arbeit zu bleiben, wie auch immer der Ton der Unterhaltung sein mochte, ob sie laut oder leise sprachen und wie auch immer die Temperamentsausbrüche und das schallende Gelächter der Dame waren. Man darf aber nicht glauben, daß sie sich daran gewöhnt oder sie mit friedfertiger Resignation ertragen hätten. Der schweigende Verdruß nagte an ihren Herzen, und ihr Ärger über jene Frau, ihre Art sich zu benehmen und vorzugehen, über ihre unverschämte Stimme und die lächerliche 176
Erscheinung wuchs beständig; aber auch über diesen Besuch, der nunmehr und ohne Scham den wahren Grund hinter der Ausrede der Hemden offenbarte. Während der Phasen dieser Gespräche fühlten sie sich bald wie in einen Eisschrank eingesperrt, bald wie in einem Backofen oder einer Bratpfanne. Wenn sich wenigstens vom ersten Stock herab Giselda hätte hören lassen! Aber nein! Sie sang nur, wenn sie still sein sollte, sie tat nie etwas, was den Schwestern angenehm gewesen wäre. Jetzt, wo ihre Stimme mit einer auf die Gelegenheit abgestimmten kleinen Strophe eine himmlische Intervention gewesen wäre, war sie stumm wie ein Fisch. Aber wenn sie auch den Kopf nicht hoben, fuhren sie wenigstens mit Bemerkungen dazwischen, sonst wären sie zerplatzt. Wenn die Gräfin leichten Herzens behauptete, daß sie 39 Jahre alt sei, rief Teresa aus: «Und die Wiege!» Und Carolina bekräftigte: «Unverschämte Person! Noch zwanzig dazu!» Und sie begannen ihre Äußerungen zu glossieren, als ob sie auf eine Litanei antworten würden: «Reizend, wenn sie rudert!» Wenn sie sagte, daß sie gern schwimme: «So ersaufe doch!» Oder wenn sie vom Fechten redete: «Wenn sie doch am Spieß steckenbliebe!» «Ich möchte sie gern springen sehen.» «Es wird sein, wie wenn ein Bär springt.» «Nein, wie ein Affe.» «Wenn sie nur den Hals bräche!» «Pfählen sollte man sie können.» «Verbrennen.» «Ja, aber zuvor gut einfetten.» Die Gräfin kümmerte sich jetzt überhaupt nicht mehr um sie und benahm sich, als ob sie in einem Cafe wäre, gönnte ihnen überhaupt keinen Blick und ging fort, ohne sie eines Grußes zu würdigen. Sie sprachen mit Remo über die Sache. Mit diesem Besuch mußte Schluß gemacht werden. Wegen des guten Rufes der 177
Familie mußte diese Frau verschwinden, und zwar unverzüglich. Remo antwortete in aller Einfachheit, daß ihn gewisse Besuche gar nichts angingen, und wenn die Gräfin sich lange aufhielte, wäre es nicht seine Sache, sie fortzuschicken, er wäre nicht der Herr und könnte nicht gegen jemand, der ihn mit Höflichkeit behandelte, mit Grobheit vorgehen. Da kamen die Tanten zu einem heroischen Entschluß: alle andere Arbeit beiseite legen, auch nachts arbeiten, um die Lilienkombination in so kurzer Zeit als möglich fertigzumachen und sich die lästige Kundin vom Hals zu schaffen. Im Verlauf einer Woche waren die zwölf Kombinationen fertig und wurden durch Giselda samt der Rechnung umgehend der Gräfin überbracht. Und da sie das vorige Mal 60 Lire für das Stück verlangt hatten, den beiderseitig vereinbarten Preis, berechneten sie ihr diesmal, um Händel anzufangen und einen Wortwechsel herauszufordern, bei dem sie sie erledigt hätten, 65 Lire. Am nächsten Morgen hielt das Auto der Gräfin, der Chauffeur stieg mit einem Paket und einem Briefumschlag aus, um die Rechnung mit einem entsprechenden Betrag zu bezahlen. Die Gräfin bezahlte, ohne über die Preiserhöhung auch nur ein Wort zu verlieren. In dem Paket war der Stoff für weitere zwölf Hemden, die diesmal in aller Ruhe angefertigt werden konnten, sie würde selbst kommen, um sich mit ihnen über die Zeichnung und die Stickereien zu besprechen. Die Schwestern Materassi standen sprachlos da, bestürzt, mit dem Geld und dem Stoff in den Händen, ohne mehr zu wissen, was sie tun sollten. Teresa quittierte die Rechnung mit sorgenvoller Miene, als ob sie ein schwerwiegendes Schriftstück unterzeichnete, und als sie dann allein waren, schauten sie einander an: «Was nun? Was ist da zu machen?» An jenem Tag mußte Remo nach dem Mittagessen, sobald Giselda fort war, die Tanten über ein wichtiges Thema unterhalten. Er war jetzt 22 Jahre alt geworden, es war Zeit, an eine konkrete Regelung seiner Verhältnisse zu denken, er hatte 178
Möglichkeiten in Aussicht, die er sich nicht entgehen lassen wollte: die Vertretung eines neuen, zu großem Erfolg bestimmten Automobils für Florenz. Aber um mit der Herstellerfirma in Verbindung zu kommen und sich durchsetzen zu können, mußte er selbst einen Wagen im Wert von 35 000 Lire haben. Von diesem Schritt hing seine Zukunft ab. «35000 Lire?» «In Raten zu bezahlen.» Die Schwestern hatten noch nie eine solche Ziffer mit soviel Einfachheit aussprechen hören. Die Ziffern waren in ihrem Leben mühselige und lange Etappen gewesen, wie Ersteigerungen von unzugänglichen Bergen, deren Gipfel sie mit dem vollständigen Opfer ihrer selbst erreicht hatten. Bis zu jenem Tag hatte es sich um 2000 oder 3000 Lire gehandelt, für eine Rechnung, die zu begleichen war, um der oder jener Notwendigkeit zu begegnen, für die täglichen Ausgaben: die Ziffer erschreckte sie, sie hatten nicht die Kraft, sich aufzulehnen noch sich zu weigern, sich gegen eine Forderung zu empören, die in einem solchen Mißverhältnis noch mehr zu ihrer Geisteshaltung als zu ihren Möglichkeiten stand. Sie neigten den Kopf, um ein Nein zu sagen, schmerzlich, ohne Stimme, fast als ob sie einen tödlichen Schlag erhalten hätten. «Macht nichts», erwiderte Remo ruhig, ergeben, «ich verstehe, ich verstehe, ihr habt recht, ich weiß es.» Darauf sagte er, zu Palle gewendet, daß er das Auto herrichten solle, weil er zwei Tage auswärts sei und, etwas wirklich Ungewohntes, allein wegfahren würde. In der Zwischenzeit ging er in sein Zimmer hinauf, um einen Koffer zu packen. Nachdem das Auto angekommen und der Koffer geschlossen war, wie groß war da das Erstaunen der Tanten, als sie ihn nicht in Richtung Florenz abfahren sahen wie sonst, sondern in entgegengesetzter Richtung auf der Straße nach Settignano. Sie hatten nicht einmal die Kraft, ihren Zweifel und jenen Namen auszusprechen. Zwei Tage vergingen in düsterem 179
Schweigen, in dem alle Fragen untergegangen waren, und Remo erschien wieder in Santa Maria, in einem prachtvollen Auto. Es war eine traurige Heimkehr. Anstatt Freude hervorzurufen, strahlte der Glanz des Autos Sorge und Schmerz in das Haus aus. Schweigen und Gleichgültigkeit auf der einen Seite, auf der anderen mit Schmähungen und Drohungen geladenes Schweigen. Nach zwei Tagen dieser Qual, dieses Schweigens, das auf der einen Seite immer schwerer, bleierner, auf der anderen immer luftiger wurde, war es der Neffe, der das Eis mit der gewohnten Natürlichkeit und mit einem beinahe süßen Lächeln auf den Lippen brach, von einer Süßigkeit allerdings, von der sich der Gaumen der Tanten besser nicht zu sehr verlocken lassen würde. «Also, kann man erfahren, was ihr von mir wollt?» Da sie sich eine solche Einleitung nicht erwarteten, schauten die Frauen einander bestürzt an und fühlten sich bereits ihrem Partner gegenüber verwirrt, der, da eine Antwort ausblieb, ruhig und die Silben deutlich betonend wiederholte: «Was wollt ihr von mir?» Sie schauten einander noch ein paarmal an, dann, als sie den Anfang gefunden zu haben glaubten, schauten sie ihn an. «Klarsehen», sagte Teresa, die aus der Verwirrung herausgefunden hatte und der Prüfung mit Stärke entgegentrat. «Über was?» «Wie du zu diesem Auto gekommen bist?» Remo ließ erkennen, daß er sich mit aller Geduld und einer guten Dosis Unterwerfung wappnen wolle, und sprach in überzeugendem Ton: «Ich brauche das Auto, ich habe es euch bereits gesagt, es ist mir unentbehrlich, ich muß eine Karriere anbahnen, eine Position schaffen, ich kann nicht mehr lange so weitermachen. Ich hoffe die Vertretung für den ganzen Bezirk von Florenz zu bekommen, für diesen oder einen anderen Wagen. Und übrigens... übrigens... auch wenn ich sie 180
nicht bekäme, würde das Auto seinen Dienst gleichwohl getan haben; ein schönes Auto ist wie ein schöner Anzug, es hat einen Wert, den ihr besser kennen müßtet als andere, und statt dessen beweist ihr, daß ihr nichts versteht, die Welt ist nun einmal so, ich hoffe an mein Ziel zu kommen.» «Und wie hast du es bezahlt?» Teresa war bereits auf dem Weg dieser Fragen mit anschließender Antwort, und Carolina starrte Remo gierig und funkelnd, bereits von seinen Behauptungen überzeugt, an. «Da ihr mir eure Hilfe verweigert habt, ist es keine Sache, die euch angehen könnte.» Jetzt erhob Teresa die Stimme, um dem Neffen zu verbergen, daß sie auf seine Seite übergegangen war. «Sie geht uns an, ja, mein Herr, sie geht uns an, und wie sie uns angeht, sie geht uns sehr viel an; da du zu unserer Familie gehörst, haben wir das Recht und die Pflicht, gewisse Dinge von dir zu erfahren.» Sie erhob die Stimme noch mehr. «Dies ist ein Haus ohne Geheimnisse, es ist immer so gewesen, wir sind ein offenes Buch, und man hat keine Lust, es zu ändern.» Sie wurde noch lauter. «Unser Leben ist immer am Licht des Tages gewesen. Das ist unsere Art und wird es immer sein.» Remo, der den genauen Punkt erfaßt hatte, wo die Tante die Brücke überschritten hatte, gewährte ihr jeden rednerischen Aufwand und beugte sich melancholisch unter eine Last, die soviel Kummer auf sein so schönes und glänzendes, wohlfrisiertes Haupt legte, das den Stempel des Jünglingsalters bis ins unendliche zu bewahren wußte. «Übrigens... ich muß es in Raten bezahlen. Bis morgen muß ich die erste Rate überweisen.» Er machte Miene, zu gehen und den von der Tante ausgestoßenen Erleichterungsseufzer nicht zu bemerken. «Dann ist das Auto also nicht bezahlt worden?» «Nein, bis zu diesem Augenblick nicht.» «Und du wirst die Summe morgen haben?» 181
«Ohne Zweifel.» «Und wo nimmst du sie her?» «Ich habe euch schon gesagt, daß euch das nichts angeht.» «Ich wiederhole dir, daß es uns sehr viel angeht, wir können keine unerlaubte Herkunft zugeben. Woher nimmst du das Geld, von der Russin von Settignano? Ist sie es, die die Autos bezahlt?» Remo antwortete nicht und sah ganz so aus, als ob er zu sich selber sagte: Na... so dumm ist die auch wieder nicht. Während er die Tanten das genaue Gegenteil glauben ließ. «Als freundschaftliches Darlehen kann man es von jedem annehmen.» «Aber nicht von der, von der nicht, nein, nein...» Der Gedanke an jene Frau brachte sie aus der Fassung, wie damals, als sie vor der Tür scherzend und lachend mit dem jungen Mann auf und ab ging. «Von der nicht, verstehst du, man nimmt kein Geld von gewissen Frauen, wir wissen wohl, was ihre Freundschaft zu bedeuten hat. Und wie wirst du es mit dem Zurückgeben machen?» «Sobald es mir möglich ist.» «Und wie hoch ist die erste Rate?» «12000 Lire», skandierte er mit aller Deutlichkeit. Wie vorhin bei der Mitteilung, daß der Wagen noch nicht bezahlt sei, war Teresa von dieser Ziffer noch einmal erleichtert. «Auf Wiedersehen, es ist spät, ich habe mich verspätet.» Remo lief rasch die Treppe hinauf und kam nach einigen Augenblicken wieder herunter. «Heute abend bin ich zum Essen nicht zu Hause, auf Wiedersehen», wiederholte er und durchquerte das Zimmer wie ein Pfeil. «Hör zu!» Bei dem Anruf Teresas blieb er an der Tür stehen, in der Haltung eines Menschen, der keine Zeit mehr zum Zuhören hat. «Höre!...Wenn es wahr ist, daß du das Auto brauchst, um 182
dir eine Existenz zu schaffen, um dir einen Weg zu öffnen-» Teresa sagte so, aber sie sah nicht, welcher Weg sich dem Neffen durch dieses Auto öffnen sollte, das ihm alles öffnete, um ohne Hindernisse und mit großer Geschwindigkeit spazierenfahren zu können - «wir haben beschlossen, es dir zu bezahlen. Übrigens, wenn du hättest studieren wollen, würden wir auch Geld für dich ausgegeben haben, das heißt, daß wir dir das Auto kaufen werden, aber unter einer Bedingung: daß du uns versicherst, mit dieser Frau nichts zu tun zu haben, ein junger Mann in deinem Alter kann keine Beziehungen zu Frauen dieser Sorte haben, wir wollen nichts mehr von ihr wissen, von ihrem Stoff, ihren Hemden, ihren Hosen, sie soll hingehen und sie sich nähen lassen, wo sie will, bei wem sie will, in der Hölle, wir schicken ihr alles zurück, wir wollen sie nicht bedienen, wir wollen sie nicht mehr sehen...» Man hätte meinen können, daß Teresa mehr als vom Preis des Autos von dem Gedanken an jene schreckliche Frau besessen war. Und Remo, der gewisse Dinge begriff, noch ehe sie geboren waren, schien mit der Entwirrung verwickelter Fäden beschäftigt zu sein, während seine Haltung entschlossen und gradlinig war; er schien sich in der Verstrickung eines verwickelten Verhängnisses zu verlieren, um schließlich, wie jemand, der eine Eingebung im Flug festhält, zu sagen: «Übrigens... ich kann ihr den Stoff selbst zurückbringen, das wird für alle der überzeugendste Beweis sein.» Teresas Augen funkelten bei dieser großartigen Idee vor Seligkeit, und Carolina streckte die Taille mit einem einzigen Ruck so in die Höhe, daß man hätte glauben können, sie wäre entzweigebrochen. Genau in diesem Augenblick war Palle mit dem neuen, glänzenden Wagen am Gartentor vorgefahren. «Gebt her», er nahm das noch unberührte Stoffpaket unter den Arm und schickte sich zum Fortgehen an. Dann blieb er stehen, kehrte in die Mitte des Zimmers zurück. 183
«Unter einer Bedingung.» Die Frauen zitterten beide aus Angst vor dieser von ihrer Vorstellung so weit entfernten Bedingung. «In einer halben Stunde bin ich wieder da, macht euch fertig, wir unternehmen eine Spazierfahrt, und heute abend müßt ihr mit mir in Florenz bleiben; wir essen miteinander zu Abend.» Und da sie ihn ansahen, ohne sich zu rühren, entsetzt, wie Soldaten, denen man vorschlägt zu desertieren, legte er das Paket mit dem Stoff weg, nahm sie um die Taille und zwang sie, sich zu erheben, stehen zu bleiben, indes er ihnen die Arbeit aus den Händen nahm und davonging. «Los, los... auf, schnell, in einer halben Stunde bin ich wieder da, macht euch fertig, laßt mich nicht auf euch warten.» Von der Tür her, die Hände an den Hüften, lachte Niobe, lachte übers ganze Gesicht und ließ lachend die beiden Fleischkegel tanzen, die sich an der Taille berührten, daß es aussah, als ob sie wie mit zwei ungeheuren, angeschwollenen Lippen auch damit lachte. «Bravo, gut so, so ist's recht.» Bei jener entschlossenen Geste, dem Funken gleich, der eine Revolte aufflammen läßt, indem er eine alte, ehrwürdige, für ewig und unfehlbar geltende Ordnung umstößt, wiederholte sie: «Gut so, so ist's recht, bravo!» Die Ärmsten entschlossen sich, die Treppe hinaufzusteigen, als ob einer hinter ihnen her wäre. Remo hatte das Paket mit dem Hemdenstoff wieder unter den Arm genommen und eilte zum Auto. Die Gräfin ließ etwas auf sich warten und befahl dem Diener, den Herrn in einen Salon zu führen. Remo weigerte sich, indem er große Eile vorgab. Er blieb im Vorraum stehen, mit dem Stoffpaket unter dem Arm, in der Haltung eines Lieferanten. Als die Gräfin erschien, war sie verblüfft, ihn in dieser Art und mit diesem Paket vorzufinden. 184
«Ich wollte eben heute zu Ihren Tanten gehen.» «Verzeihen Sie mir, Gräfin, und wollen Sie zugleich meinen Tanten verzeihen, die - wie soll ich sagen? - originelle, etwas verschrobene Frauen sind... Aber sie sind nun einmal so, die Ärmsten, und in ihrem Alter kann man sie nicht mehr anders machen. Sie stehen außerhalb des Lebens, haben nur die Arbeit gekannt, und das hat sie launisch gemacht, wunderlich, sie leiden an Verdüsterungen, an Phantasien... und da machen sie leicht einen Schnitzer. Aber es ist nicht ihre Schuld, sie sind gleichwohl gute Geschöpfe. Hier ist Ihr Stoff, sie sagen, daß sie sich nicht mehr imstande fühlen, diese Art von Wäsche anzufertigen, die zu kompliziert ist und so viel Aufmerksamkeit verlangt...» Remo sprach heiter und ironisch, mit einer Ironie, die er ganz auf die Tanten zurückfallen ließ und mit der er die Unverschämtheit maskierte, die in seiner Haltung und in seinen Worten war. Die Gräfin hatte, die wahre Bedeutung beider begreifend, allmählich zu lachen aufgehört, verbarg aber ihre Verstimmung sehr gewandt. «Das hat nichts zu sagen, lassen Sie es hier, legen Sie den Stoff nur hin, ich werde es anderswo machen lassen, es ist nicht wichtig...» Aber da sie nicht darauf verzichten wollte, in der Angelegenheit klarzusehen, suchte sie den jungen Mann, statt ihm eine scharfe Antwort zu geben, aufzuhalten, und da er sehr große Eile zeigte, begleitete sie ihn durch die Allee bis ans Tor der Villa. «Oh! Was für ein schöner Wagen! Ist er neu?» «Ganz neu.» «Endlich, bravo, so ist's recht... Haben Sie ihn jetzt gekauft?» «Vor zwei Tagen», antwortete Remo und verneigte sich dabei ein wenig, als ob er der Gräfin danken wollte. Wofür? «Ah! Sie wollen hoch hinaus, ausgezeichnet, Sie haben recht...» Jetzt sprach sie als Kamerad, mit männlichem Akzent: «Sie haben wirklich recht...» 185
«Wenn man kann... warum sollte man nicht?» «Jawohl, gewiß, gewiß.» «Es gibt Frauen, die viel für wenig haben möchten... oder für nichts...» Die Gräfin schaute ihn mit fragender Miene an. «Und es gibt solche, die alles geben für wenig oder nichts.» «Und Sie haben solche Frauen gefunden?» «Oh... was weiß ich, vielleicht.» «Dann freue ich mich wirklich von Herzen für Sie.» Die Gräfin hatte alles verstanden oder tat so, als hätte sie alles verstanden, und lachte. Sie lachten miteinander wie gute Kameraden. Übrigens, wenn er alles für nichts haben konnte, gab die Gräfin zu verstehen, daß auch sie vorzügliche Waren zu einem vorteilhafteren Preis finden konnte. Sie lachten beide. Sie waren jetzt zwei Männer, die von ihren Geschäften und Interessen reden, die gut vorwärtsgehen. «Aber am Ende geben auch sie etwas», schloß Remo im Ton höflichen Dankes, «auf indirekte Weise.» Die Gräfin lachte noch lauter. Remo unterbrach das Gelächter und verneigte sich zum Abschied. Nach dem Gelächter mit der Gräfin war das Gesicht, das den Stempel der Jugend so gut zu bewahren wußte, finster und stumm geworden, ähnlich dem eines Kindes, das die harten Wirklichkeiten des Lebens kennenlernt. Unterwegs sagte er nach einem langen Schweigen und einem tiefen Seufzer zu sich selbst, wobei er sich Palle zuwandte: «Ja, lieber Palle, das Geld ist ganz in den Händen der Alten.» Er sagte nichts weiter, fügte auch nicht hinzu, ob er wußte, wie man es machen müßte, um es in die der Jungen übergehen zu lassen; Palle sah ihn an und lachte, so als ob er gesagt hätte, daß zwei mal zwei vier ist, eine Sache, die er immer gewußt hatte, und er wußte nichts. Als kurz darauf Giselda die Schwestern strahlend und beschwingt in das schöne Auto steigen und sich kerzengerade und aufgeputzt hineinsetzen sah, mit einem Gefolge eines in 186
Bewunderung hingerissenen Volkes, hatte sie nicht die Kraft zu singen; sie hätte gerne gesungen, aber sie konnte nicht mehr, der Atem saß ihr wie ein Knäuel in der Kehle. Sie mußte dem Himmel danken, daß ihr noch so viel Durchgang geblieben war, daß sie atmen konnte. Und Niobe, die mitten unter dem jubelnden Volk zurückgeblieben und die einzige war, die den Mund wieder zubrachte, folgte den Herrinnen mit dem Blick und mit ausgestreckten Armen: «Gut so, so ist's recht, um so besser, man lebt nur einmal, genießt auch ihr etwas, ihr armen Alten!» Das schöne Auto hatte viele Dinge in Santa Maria verändert. Remo hatte damit in seinem Aufstieg einen sehr bemerkenswerten Sprung gemacht. Er war endlich auf seinem Niveau, in einem würdigen Rahmen. Und im würdigen Rahmen war auch Palle, der, wenn er es pflegte und damit manövrierte oder es geschäftig umkreiste, ohne irgendwelche Sorgen, nunmehr wie ein Beamter im Ruhestand war: mit diesem gab es keine Befürchtungen oder Überraschungen, und man brauchte auch nicht Blut zu schwitzen, um es in Gang zu bringen; bald war er der Liebhaber in Verzückung vor dem Gegenstand seiner Liebe und bald der Tempelhüter, bereit, mit Stricken jede entweihende Berührung abzuwehren. Die Tanten hatten die Welt kennengelernt, Theater, Cafes, Restaurants. Wenigstens einmal in der Woche führte Remo sie aus, damit sie sich unterhielten, er zwang sie zum Ausgehen, und sie waren darüber zum Platzen stolz. Teresa brachte die Kraft auf, sich an einen Tisch im Restaurant zu setzen, die Speisekarte zu lesen und zu bestellen. Carolina dagegen zitterten die Beine, und sie sagte ganz leise zu der Schwester. «Mach's du, mach's du, bestelle du. Ja, ja, es ist schon recht, es ist auch für mich recht.» Und sie waren nicht imstande, darüber hinaus eine Silbe hervorzubringen. Nur einen Ausruf konnten sie nicht zurückhalten, der sich immer gleich wiederholte: «Ist die dort eine solche? Sind die zwei dort solche?» 187
Und Remo wiederholte unabänderlich: «Aber nein! Was sagt ihr da? Ja, was glaubt ihr denn? Das sind zwei Fräulein. Das sind zwei Damen. Das ist eine anständige Dame.» «Aber...» Sie waren sprachlos. Sie sahen nicht aus, als ob sie überzeugt wären. Und bald darauf platzten sie wieder heraus: «Aber die doch, oder? Bei der wirst du nicht nein sagen. Der sieht man es zu sehr an.» «Aber nein! Nicht einmal im Traum», wiederholte Remo. «Bei der da wirst du es aber nicht leugnen können.» «Auch nicht. Das ist die Freundin jenes jungen Herrn, der bei ihr ist.» «Die Freundin? Was soll das bedeuten?» «Sie leben zusammen.» «Aha! Also ein liederliches Frauenzimmer!» «Und die da?» «Das ist eine Tänzerin. Sie tanzt im Imperial.» Sie schauten einander entsetzt an, dann ermannten sie sich, um sich wieder zurechtzufinden und die Vorstellung zu ertragen, daß auch sie für zwei liederliche Frauenzimmer, für zwei ausrangierte Tänzerinnen gelten könnten. Anstatt sie zu verstecken, sie in abgelegene oder bescheidene Lokale zu führen, brachte Remo sie in die vielbesuchten und hellerleuchteten, die er selbst immer besuchte und wo ihn viele kannten; und da sie nicht wußten, wer die Frauen waren, die er dabei hatte, grüßten sie ihn lachend oder machten große Augen: «Mit wem ist er denn da zusammen, weiß das jemand? Wer sind denn diese beiden Hexen? Wo sind die ausgekommen? Wo hat er sie aufgegabelt?», und starrten sie weiter wie seltene Tiere an. «Er hat seine Tanten dabei, das sind seine Tanten, er hat die Tanten zum Essen ausgeführt, er wohnt bei ihnen, sie leben beisammen.» Aber wenige Menschen haben einen Sinn für das Groteske bei den Frauen oder schenken ihnen nur eine ganz flüchtige Aufmerksamkeit, die sie ganz den schönen vorbehalten. Und er selbst informierte, wenn sie ihn danach fragten: «Das sind meine dressierten Af188
fen, von Zeit zu Zeit führe ich meine Affen ein wenig an die Luft. Ich bringe meine Papageien mit und lasse sie sehen; ich brauche Geld, ich will eine Jahrmarktbude aufmachen.» Und er, der so gut wußte, wie sich die Frauen kleideten, und dem die elegantesten, jüngsten und schönsten gefielen, gab ihnen nicht den kleinsten Rat, machte nie eine Bemerkung über ihre Frisuren, um sie ein bißchen weniger komisch zu sehen, es schien ihm vielmehr um so größeren Spaß zu machen, je mehr sie es waren. Er ließ sie rückhaltlos sie selber sein, wenn sie nur zufrieden waren, und raste mit ihnen im Sommer bis nach Viareggio und Montecatini. Die Gefangenen sahen die Welt, sahen, wo und wie sich die Frauen bewegten, die unter den Kleidern die Frucht ihrer Mühen, ihrer Liebe trugen und denen sie seit 40 Jahren mit blinder Treue dienten. Sie wurden davon geblendet und erschreckt, angezogen und entmutigt. Wenn sie nach Santa Maria zurückgekehrt waren und die Arbeit wiederaufgenommen hatten, sahen sie einander unsicher an, seufzten, gähnten zuerst, bevor sie wieder anfangen konnten. Wo war die Wahrheit? Sie schienen sich zu fragen. Jene bezaubernden und geheimnisvollen Fluchten, die ihnen die Augen öffneten, indem sie ihnen so viele Dinge zeigten, machten sie alt, nahmen die Frische, die Kraft, den Glauben fort; und sie fühlten sich bei der Arbeit gleichgültig, zerstreut, die Gedanken schweiften weit ab, und die Kundinnen mußten die Dinge wiederholen, um sich verständlich zu machen, jene Dinge, die sie immer verstanden hatten, noch ehe sie ausgesprochen waren. Sie lehnten mühsame Arbeiten ab und sahen nur auf den Nutzen, den größtmöglichen Nutzen, denn der Geldbedarf war groß und dringlich. Auch die Kundschaft änderte sich allmählich, es war nicht mehr die von einst, sie nahmen zweitrangige Arbeiten an, von mittelmäßigen Leuten, wählten die, an welchen schneller etwas verdient war, und verließen sich auf den Mangel an Urteilsfähigkeit und den zweifelhaften Geschmack einer weniger anspruchsvollen und erfahrenen 189
Klasse. Ihre Augen verlangten im übrigen durch immer stärkere Brillen, von den großen Abenteuern der Nadel dispensiert zu werden. Sie hatten Lehrmädchen aufgenommen, um sich helfen zu lassen, um eine größere Masse von Arbeit bewältigen zu können. Und sie behandelten die Arbeit mit Kälte, da sie ihre Last wie ein Joch empfanden, nur als die unentbehrliche Verdienstquelle. Früher würden sie sich gegen eine Ausführung gesträubt haben, die sie nicht in allen Einzelheiten für vollkommen, ihres Namens würdig erachtet hätten, sie würden einen unaustilgbaren Makel auf ihm gesehen haben; jetzt zuckten sie die Schultern und kamen zu dem Schluß, daß schon das zuviel war, was sie machten, und sie schienen sich darüber zu freuen, wie die anderen die Tricks, die Ausbesserungen und die Mängel nicht entdeckten, wie leicht es war, zu täuschen und eine nur scheinbare Schönheit als echt hinzustellen. Sie ließen sich von mittelmäßigen oder unerfahrenen Kräften helfen, behandelten die Arbeit wie eine Person, die man zu sehr geliebt hat, mit dem ganzen Sein, und für die in einem bestimmten Augenblick die Liebe erloschen ist; jene Person, an der kein Punkt, keine Gebärde zu entdekken war, die nicht schön und vollkommen gewesen wären, über die es keinen Zweifel geben durfte, keine Unsicherheit, keinen Verdacht, kein Urteil und auch von anderen nicht geduldet werden konnte. Jetzt war sie der Kritik preisgegeben, man betrachtete sie skeptisch, sie zeigte Falten und Runzeln, und es lag eine bittere Lust darin, sie zu erkennen, man sprach mit Fremdheit von ihr. Auch die Nachbarschaft war nicht mehr so wie früher, wenn die Schwestern am Fenster standen, um den Sonntagsspaziergang zu genießen, oder, um die Soldaten zu sehen, hastig ans Gartentor eilten; jetzt konnten die Truppen vorüberziehen, wie sie wollten, mit schmetternden Trompeten und rollenden Trommeln, patriotische oder sehnsuchtsvolle Lieder singend und das Haus mit dem Gewicht der Lafetten erschütternd. Seit Jahren gingen sie nicht einmal mehr nach Fie190
sole zum Fest am 4. Oktober. Jetzt wagte sich keiner mehr zum Gartentor herein ohne einen stichhaltigen Grund, nur um ein bißchen zu plaudern, denn der Empfang wie auch die Haltung des Besuchers hatte sich zu sehr verändert. Sie kümmerten sich auch nicht darum, was außerhalb ihres Hauses, das sie ganz in Anspruch nahm, geschah. Die Nachbarschaft huschte nur heraus, um sie im Auto wegfahren zu sehen, der Abstand war zu groß geworden. Seit Remo gekommen war, hatte sich dieser Abstand in zunehmendem Maße vergrößert. Remo war in der Nachbarschaft bei niemand beliebt; aber, wie die Starken immer, von allen gefürchtet und respektiert. «Die armen Materassi! Die armen Materassi!» So hieß es, wenn von ihm die Rede war und man sich fragte, wo er das Geld hernahm, um auf so großem Fuß zu leben, denn von Arbeit war überhaupt nicht die Rede. Aus jedem Wort brach durch die Abneigung und den Neid die Bewunderung hervor. Die Mädchen verglichen ihn mit den aufregendsten Filmhelden, und wer weiß, wie oft er wie ein blauer Prinz einen Platz in ihren Träumen einnahm. Sein Körper war von bezaubernder Plastik. «Die armen Materassi!» wurden sie nicht müde zu wiederholen. Und wenn sie sie im Auto fortfahren sahen: «Jetzt sind sie auf einmal närrisch geworden! Wie der Großvater!» sagten sie, wenn sie ihnen ihre Schwäche gegen den Neffen vorwarfen. «Wie der Vater!», wenn sie ihre eigenen Schwächen tadelten. Eine Stunde der Verwirrung und des Leichtsinns löschte gnadenlos 60 Jahre voll Leiden und Entsagung aus. Wenn aber Remo mit jemand ein paar Worte wechselte, hielt dieser es für eine persönliche Ehre, erzählte allen die mit ihm gehabte Unterhaltung und fügte noch viel aus eigenem hinzu, versteht sich, rühmte sich, ihn zu kennen, mit ihm sprechen zu können, mit ihm befreundet zu sein, mit ihm auf vertraulichem Fuß zu stehen. Etwas Dunkles schwebte seit einigen Tagen über dem Haus, verdichtete sich in geheimnisvoller, unsichtbarer Weise, und Niobe blieb es vorbehalten, es zu enthüllen und 191
mit unendlicher Behutsamkeit und vielen versteckten Andeutungen aus ihrer Hut in die der Herrinnen überzuführen. Zum erstenmal war Niobe vor den Wechselfällen des Lebens nachdenklich und ernst geworden. Bis eines Tages, als man mit der Abwesenheit Remos rechnen konnte und Giselda mit einer endlosen Liste von Bestellungen nach Florenz geschickt worden war, bei der kleinen Tür auf der Gartenseite ein junges Mädchen eingelassen und durch die Küche in das Eßzimmer geführt wurde. Die Atmosphäre, die sich um diese Erscheinung gebildet hatte, war so phantastisch, daß sie alle Möglichkeiten des Romans oder des Dramas rechtfertigte. Was die Phantasie aber am meisten erregte, war die wunderbare Schönheit des jungen Mädchens: eine stolze Erscheinung, hochgewachsen und blond, mit großen dunkelblauen Augen, roten Lippen und rosig überhauchten Wangen. Farben, für die man ohne Übertreibung, wie es manchmal geschieht, auf die Herrlichkeiten aller irdischen und himmlischen Gärten zurückgreifen kann. Die stolze Haltung und der schmerzliche Ausdruck des Gesichtes ließen sie wie eine Prinzessin erscheinen, die ein unglückliches Zusammentreffen gezwungen hat, im Kleid der Armut zu fliehen. Man ließ sie am Tisch niedersitzen, und ihr gegenüber setzten sich nebeneinander die Schwestern, aneinandergedrängt wie in einem Nest, als ob sie durch die körperliche Nähe die durch einen lähmenden inneren Zustand entzogene Wärme zurückerlangen und sich gegenseitig schützen wollten. Sie wußten auch nicht, wie ein Gespräch beginnen, das, wie man gleich begriff, nicht von dem Mädchen eingeleitet werden konnte. Man konnte sich unmöglich vorstellen, was für ein Wort aus diesem schönen, von einem schier fieberhaften Zucken bewegten Mund hervorgehen würde. Aber es war gerade sie, die begann, ohne eine Silbe zu sprechen. Sie senkte den Kopf noch tiefer, bis er mit dem Kinn die Brust berührte, in dem instinktiven Drang, ihn zu verbergen; 192
und ohne die Kraft zu haben, ihn mit den Händen zu decken, fing sie still zu weinen an, wobei sie sich bemühte, keinen Laut hören zu lassen, und erkennen ließ, daß sie die bis zu jenem Augenblick unterdrückten Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. «Also ist es wirklich wahr?» Als Antwort ohne Worte weinte das Mädchen noch heftiger und neigte die Stirn noch tiefer, und ihr Schweigen war ein Geständnis. Teresa kratzte sich den Kopf ringsum am Haaransatz, und diese Geste und Berührung brachten sie in die Wirklichkeit zurück, der sie gegenübertreten mußte. Carolina drängte sich an sie und preßte ihren Arm, wie die Kinder, die sich an, den Körper der Mutter hängen, wenn sie sich fürchten. ' «Schlimm, schlimm... ja, ja... sehr schlimm.» Im Grunde wußte Teresa nicht, was sie sagen sollte, in ihrem Inneren stießen die verschiedenartigsten Gefühle aufeinander, und da ihr ein Knäuel die Kehle versperrte, erzeugten sie darin ein Gemisch, aus welchem nur ungeschickte, abgehackte Worte ohne Logik hervorkommen konnten, ohne irgendeine Wirksamkeit auf den offenkundigen Ernst der Lage. «Sehr schlimm... sehr schlimm...» Und da sie Carolina weinen sah, machte sie alle Anstrengungen, um nicht mitzuweinen. «Auch wir sind zwei Mädchen...» Daß eine derartige Einleitung nicht den leisesten Schatten von Heiterkeit hervorrief, beweist mit Klarheit die Bedeutung des Palles. «Auch wir sind zwei Mädchen und sind auch jung gewesen, und niemand kann etwas über unsere Aufführung sagen, frage, wen du willst, nichts, weißt du, wirklich nichts, niemand kann etwas sagen, frage nur, ja, ja, frage nur...» In Wirklichkeit waren ihre Erklärungen ausweichend, neutral, nur um nicht zu schweigen, sie stellten das unentbehrliche Geräusch dar, um ein so gefährliches und untragbares Schweigen zu vermeiden. 193
«Man hat uns nie schwanger gesehen, nein...» Dieses Wort, das scheinbar nicht hatte kommen wollen, stellte, da es einmal heraus war, außerhalb von Zeit und Ort, wie es immer in solchen Fällen geschieht, die Verbindung mit der Logik her. «Jetzt ist die Bescherung fertig... Und was für eine Bescherung! Und man muß Abhilfe schaffen. Abhilfe... es ist, wie soll ich sagen... es ist ein Wort: Abhilfe... wie? Ich frage dich, vorwärts, nun? Sag es, wenn du den Mut hast, was soll man tun? Sag es du, denn ich weiß wirklich nicht, was man tun soll.» Die wachsende Schärfe zielte darauf hin, den unzusammenhängenden Worten einen Inhalt zu geben. «Wer etwas tut, der tut es für sich. Da wird zuerst gescherzt, und dann solche Folgen! Wie lange habt ihr denn schon etwas miteinander?» War es ihr unmöglich, oder hielt sie es im eigenen Interesse für besser, das Mädchen antwortete auf die sich immer mehrenden Befehle Teresas in keiner Weise. «Sich mit einem jungen Mann einlassen, der keine Position hat... Du hättest es doch wissen müssen, wie die Dinge stehen, bist achtzehn Jahre alt, kein Kind mehr... du hättest es wissen müssen... ja, prost! Was für Folgen... Wer etwas tut, tut es für sich.» Da sie nun den festen Punkt gefunden hatte, schien sie sich hinter diesen nicht gerade christlichen Grundsatz verschanzen zu wollen. «So ist es wirklich, hast du verstanden? So ist es. Man wird dich rufen lassen, wenn man dich braucht. Ich weiß nichts.» Sie erhob die Stimme gebieterisch: «Ich habe nichts gewußt, ich will nichts wissen. Ich will von gewissen Dingen nichts wissen.» Für einen Augenblick zeigte das Mädchen nur den Willen, nicht zu reagieren und sich zu beugen, soweit man sie beugen würde. 194
Einige Monate war sie bei ihnen gewesen, um das Sticken zu lernen, ihre erste Arbeiterin seit dem Tag, wo sie beschlossen hatten, sich helfen zu lassen; sie war das blühendste und schönste Mädchen in der Umgebung und schon in der ganzen Gegend für ihre Schönheit berühmt; jetzt machte sie zu Hause die eine oder andere kleine Arbeit auf eigene Rechnung. Sie war die Tochter eines Gärtners, eines armen Mannes, der ein Stückchen Land an der Straße nach Settignano in Pacht hatte. Er zog Gemüse und auch Blumen, hatte sich kleine, primitive Glashäuser gebaut; es waren arme Leute, die sich auf alle mögliche Weise abrackerten, um zu leben. Remo hielt im Sommer am Morgen oft vor der Tür des Hauses an, wo das Mädchen wohnte, und auf den dreimal wiederholten Hupenton kam der Vater heraus, ein Bruder, öfter aber das Mädchen selbst. Palle sagte lachend: «Blume», denn er, der auf dem Land geboren war, wo die Blumen etwas so Alltägliches sind, kannte die Namen der Blumen nicht und nannte sie ganz allgemein «Blumen» oder auch alle «Rosen», wie er alles «Perlen» nannte, was die Frauen als Schmuck tragen mochten, ob es nun wirkliche Perlen oder kostbare Steine waren oder solche aus Glas oder Porzellan von irgendwelcher Art und Farbe. «Blume», sagte Palle, und der Gärtner oder das Mädchen brachten Remo eine Gardenie, die er ins Knopfloch steckte und die Hand gleich wieder ans Steuer legte. Das war der einzige sichtbare Berührungspunkt, den Remo mit jener Familie hatte, nichts hätte einen solchen Fall vermuten lassen. Keiner in der Gegend hatte etwas davon gemerkt, daß die beiden miteinander im Einverständnis waren oder gar eine Liebschaft hatten; niemand hatte sie beisammen ertappt. Und in dieser Gegend ließ man sich gewisse Leckerbissen nicht entgehen, man war förmlich darauf versessen. Nicht nur das, aber während der Zeit, wo das Mädchen zu den Tanten zum Arbeiten gekommen war, hatte Remo nicht das geringste Interesse für sie gezeigt, was den Frauen nicht entgangen und ihnen ganz unwahrscheinlich vorgekommen war. Sie 195
hatten es der ungewöhnlichen Tugend des Neffen zugeschrieben, angesichts der aufreizenden Schönheit der Schülerin sowie der Achtung, die er vor sich selber und dem eigenen Haus und vor allem vor den Tanten hatte. Bürgerliche Tugenden, die der ganzen Welt zum Vorbild dienen konnten. Aber ihr müßt von einem anderen Brauch bei diesem so natürlichen und einfachen Handel erfahren, der euch bestimmt aus den Wolken fallen lassen wird, nämlich daß, während die aus der Stadt von ganzer Seele nach dem Land verlangen und soviel als möglich hinauszugehen trachten, um sich mit Poesie zu erfüllen - in Reihen, Schwärmen, Scharen, Gruppen, ganz besonders aber in Paaren gehen sie hinaus und zerstreuen sich in den lieblichen Wäldchen, am Ufer des Baches, auf dem Gipfel eines zur Begeisterung hinreißenden Berges oder in den lockenden, zur inneren Sammlung rufenden Höhlen wollen die Leute vom Land, die der Poesie satt sind, da sie all diese Schönheit vor der Haustür haben und sie bis zum Überdruß genießen können, ihr innerhalb der Stadtmauern frönen und verkriechen sich alle da drinnen, um dort der Liebe zu pflegen. Als Remo nach Hause kam, wurde er ins Eßzimmer gerufen und mußte sich auf den gleichen Platz setzen, wo vorhin das Mädchen gesessen hatte, an den Tisch, der zum Gerichtstisch geworden war. Am gleichen Platz, aber diesmal in selbstbewußterer Haltung, saßen die Tanten, bereit, ohne Zaudern zu beginnen. Obgleich es ihm unerwartet kam, erfaßte Remo blitzschnell den Gegenstand, von dem gesprochen werden sollte, dabei jedoch eine bewundernswerte Klarheit des Kopfes bewahrend. «Die Laurina ist hiergewesen», sagte Teresa unvermittelt und hart, mit verzerrtem Gesicht, das einen grausamen Ausdruck annahm, jenen Ausdruck, den es anzunehmen verstand, wenn eine Frau im Spiel war, die im Grunde gegen sie gefehlt hatte. 196
«Ja und?» erwiderte Remo, um den Gang des Prozesses abzukürzen. «Du weißt, was sie sagt?» «Ja, ich weiß es, vielmehr nein, ich vermute es.» «Ist es wahr?» «Ja.» Er sprach diese Silbe mit Sicherheit aus, indem er seine ganze männliche Verantwortlichkeit darauf stützte. Bei diesem «Ja», bei dieser sicheren Antwort schien Teresa zu Eis zu erstarren. Das schönste aber ist, daß wenige Tage zuvor die arme Laurina zu Eis erstarrt war, die, als sie unter Schluchzen zu ihm gesagt hatte: «Ich bin schwanger», die Antwort erhalten hatte: «Ich nicht», ohne ein weiteres Wort. Die Tränen waren ihr an der Wimper hängengeblieben, und das Gesicht war genauso geworden wie das der Tante. «Und was gedenkst du zu tun?» drängte Teresa mit Drohung in der Stimme. «Das, was jeder junge Mann von Ehre an meiner Stelle tun würde», sagte Remo mit der feierlichen Einfachheit der höchsten Entschlüsse. Es fehlte nicht viel, so hätten sie ihn gefragt, was für eine Pflicht das wäre. Wußten sie es nicht? Hatten sie es vergessen? Oder wollten sie nicht daran glauben? Aber sie fanden den Faden rechtzeitig wieder und erwiderten etwas verspätet, zerstreut und benommen: «Ja.» «Freilich.» «Gewiß.» «Natürlich.» Er ist ein junger Mann von Ehre, dachte Carolina, als ob sie sagen wollte: Da ist nichts zu machen. Indes Teresa den Kopf gegen den Felsen jener Rechtschaffenheit zu stemmen schien. Sie schoben den bewußten Satz noch immer im Mund hin und her, der nicht in den Geist eindringen wollte und den sie sich dennoch merken mußten, ähnlich wie das Kind, das die Aufgabe mit Mühe lernt: «Das, was jeder junge Mann von Ehre an meiner Stelle tun würde.» - Er ist ein junger Mann 197
von Ehre, dachte Carolina, da ist nichts zu machen. Und Teresa hatte noch immer den Kopf gegen den Felsen jener Rechtschaffenheit gerichtet. Es muß hervorgehoben werden, daß Remo in diesen Ausdruck eine gute Dosis Aufrichtigkeit gelegt hatte; im Grunde war er dem Leben gegenüber ein äußerst geschickter Hasardspieler, wie die Schachfiguren auch stehen würden, er fühlte die Kraft in sich, zu siegen. «Ja, ja.» «Gewiß.» «Natürlich.» Am nächsten Tag bekam Giselda eine neue, endlos lange Liste von Besorgungen, die sie in Florenz zu erledigen hatte. Zu den Materassi sollte der Pfarrer von Santa Maria kommen; er war noch sehr jung, nicht mehr als 25 Jahre, blond, mit hellen Augen, von jener evangelischen Milde und Fügsamkeit, die in der Ausübung der Pflicht hart und unbeugsam zu werden versteht. Unter zwei Damen in einer Nachbarvilla waren über ihn folgende Worte gefallen: «Ein Missionar ist das, ein Missionar!» hatte die eine ausgerufen, als sie ihn zum erstenmal sah, und die andere, die ihn auch zum erstenmal sah, hatte in flehendem Ton erwidert: «Er ist so nett, warum denn?» Remo kannte ihn gut, und wenn er ihn am Vormittag unterwegs traf, wo er auf die Straßenbahn wartete, bat er ihn einzusteigen, um ihn dorthin zu begleiten, wo er wollte. Die beiden jungen Männer saßen im Auto nebeneinander, unterhielten sich. Zwischen ihnen bestand ein Austausch von Freundlichkeit, ein Verlangen nach Herzlichkeit, man hätte sagen können, nach Verstehen; so fern sie einander auch im Geiste waren, gelang es ihnen doch immer, einander zu finden und ohne Beunruhigung beisammen zu bleiben, ohne Unbehagen, als wären sie zwei Pilger, die wissen, daß sie an das gleiche Ziel gelangen werden, obwohl sie auf so verschiedenen Wegen wandern. Wenn Palle ihn von weitem erblickte, 198
sagte er: «Der Geistliche.» Wie alle Blumen für ihn Rosen und alle Edelsteine Perlen waren, so waren alle Priester, vom bescheidensten Pfarrer bis zum Papst, Geistliche. Remo dagegen sagte: «Kommen Sie, kommen Sie, Herr Pfarrer, kommen Sie, steigen Sie ein», und nahm ihn voller Herzlichkeit in seinem Auto auf. «Wohin wollen Sie? Wohin darf ich Sie begleiten?» Das wichtigste und zugleich schwierigste war, daß kein Mensch von der Sache erfuhr, denn wenn der Skandal einmal da war, wurde jede Erörterung zwecklos. Nachdem er die Erzählung Teresas angehört hatte, konnte der junge Priester ein harmloses Lächeln nicht unterdrücken, das die tiefe Reinheit seines Herzens und die Einfachheit der Lösung bezeugte. Er dachte eine Weile nach, während die zwei Frauen an seinen Lippen hingen, aber dabei ließ er verstehen, daß ein solches Zögern nur der Ausdruck weltläufiger Höflichkeit war, wegen der besonders heiklen Art des Gegenstandes, und daß es die Antwort in keiner Weise beeinflussen konnte, und indem er sich mit heiterer Befriedigung auf die edle Äußerung des Neffen bezog, kam er zu dem Schluß, daß dies der wahre und einzige Weg sei, und zeigte sich sogleich bereit, einzeln mit den beiden jungen Leuten zu sprechen. Die Schwestern Materassi, welche die Rede mit «Freilich, ja, das ist wahr, natürlich, er ist ein junger Mann von Ehre» begleitet hatten und dabei eine Enttäuschung verbargen, die sie vor allem sich selber verbergen wollten, fuhren gleichzeitig auf, als der Pfarrer sich erbot, mit den jungen Leuten zu sprechen: Langsam, ganz langsam mit dem Reden, für den Augenblick wäre größte Zurückhaltung in der heiklen Angelegenheit erforderlich, größte Verschwiegenheit, es hätte noch Zeit mit dem Reden, es hätte keine Eile. «Wenn Sie wüßten... wenn Sie wüßten, Herr Pfarrer, gerade die hätten wir nicht gebraucht, die hat uns gerade noch gefehlt.» 199
Aber der Herr Pfarrer wußte alles und verstand alles und blieb lächelnd und unerschütterlich bei seiner Antwort, indes die Frauen weiter fragten und sich selber nach einem Warum fragten, auf das niemand eine Antwort wußte und auf das sie selbst nicht zu antworten wagten. Und warum konnte Niobe über eine so einfache und natürliche Sache nicht lachen, die sie aus eigener Erfahrung kannte und die so leicht wieder in Ordnung zu bringen war, warum? Am darauffolgenden Tag wurde der Doktor gerufen. Giselda verbrachte ihr Leben nicht mehr in Santa Maria, sondern in Florenz. Es ging ihr gar nicht nach Wunsch, der armen Giselda; jetzt, wo man das Repertoire hätte erschöpfen können, denn sie witterte etwas Verdächtiges hinter so vielen Besuchen, wurde sie nach Florenz geschickt, um nach unsinnigem Zeug zu suchen. Der Arzt war ein dicker und fröhlicher Mann von etwas über 50 Jahren, friedfertig, den nur die Dickköpfigkeit seiner Bauern aus der Ruhe bringen und zu Wutausbrüchen reizen konnte, deren Heftigkeit das einzige Ziel hatte, sie schnell zu erschöpfen; und sobald sie erschöpft waren, wurde er augenblicklich wieder ruhig, heiter, glücklich. Das war der Augenblick, wo er sich das Herz hätte stehlen lassen. Mit solcher Heiterkeit und Gutmütigkeit erfüllte er seine Pflicht bis zum Vergessen seiner selbst und des eigenen Vorteils. Als er im Bild war, begann er zu lachen, zu lachen mit seinem schönen, runden und rosigen großen Gesicht, das sich beim Gedanken an das Mädchen, das er gut kannte, erhellte. Schöne Mädchen übten, wie leicht zu verstehen, noch einen großen Zauber auf seine kraftvolle, reife Männlichkeit aus. Er kannte Remo und wußte, daß die Tanten wohlhabend waren, und er hielt nichts für natürlicher, als daß zwei durch die Heirat jene Sünde des darauf genommenen Vorschusses wiedergutmachten, was ihn lächeln machte und sein Herz mit väterlicher Zärtlichkeit erfüllte. «Es sind arme Leute, Sie wissen es, sehr arme, sie sind froh, 200
wenn sie das Essen zusammenbringen, es ist ein Mädchen, das kaum ein Hemd hat, kann man sagen...» «Aber Sie können es ihr machen, Sie machen ja so viele.» «Sie ist zwei oder drei Monate hier bei uns gewesen, um das Sticken zu lernen, jetzt arbeitet sie ein bißchen für sich selbst, aber nun... dazu gehört mehr, sie hat keine wirkliche Fähigkeit ... Kleinigkeiten, gerade so viel, um sich ein Kleidchen oder ein Paar Schuhe zu kaufen. Remo hat keine Position... im Augenblick tut er nichts... er beschäftigt sich mit Autos...» «Aber Sie sind reich.» «Nicht so, wie man glaubt», gab Teresa aufgebracht zurück. «Nun ja, aber es geht Ihnen gut.» «Nicht so gut, wie man sagt», erwiderte sie, immer noch mehr aufgebracht durch diesen Ruf des Reichtums, der ihr jetzt zum Nachteil wurde. «In dieser letzten Zeit haben wir so viele Ausgaben gehabt, so viele Ausgaben, wenn Sie wüßten, Herr Doktor... so viele Einbußen, wenn Sie eine Ahnung hätten... wir haben für so viele Bedürfnisse aufkommen müssen.,. Dieser Junge hat uns viel gekostet, viel... verstehen Sie?» Carolina, die den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen hielt, um verstehen zu lassen, daß sie alles billigte, daß das, was die Schwester sagte, Evangelium war, heilige Worte, fing an, mit dem Kopf große Jas anzudeuten, ohne die Augen zu öffnen, um zu zeigen, daß die Worte zweimal heilig waren, daß sie aber aus diesem Grunde auch ihr Gewicht hatten. «Der Verdienst ist nicht mehr so wie früher, die Leute verlieren allmählich den Geschmack an den feinen Sachen; schon seit einiger Zeit, man weiß nicht, wie, aber wenn sie nur wenig auszugeben brauchen, sind sie leicht zufrieden; und wir sind nicht mehr jung, die Kräfte nehmen täglich ab, wir können nicht mehr arbeiten wie früher einmal, wir brauchen Ruhe, wir sind müde...» 201
Man verstand nicht, warum Teresa sich in solchen Geständnissen erging, die den Kern der Frage nicht betrafen, so als ob sie ihn zu einem verborgenen Zweck verschieben, herumdrehen, wegschaffen und dann mit einem von Seiten des Doktors gewandelten Geist darauf zurückkommen wollte; ihr Tonfall war so überzeugend, daß sie einen erbarmen konnte. Aber der Doktor hörte weiter kopfnickend an, was ihm erklärt wurde, seine Ansicht jedoch nicht im geringsten änderte. Das Mädchen war, obgleich arm, eine brave und gute Tochter, zu allem noch sehr schön, und Remo verpflichtete sich mit lobenswertem Entschluß, sie zu heiraten. Zu diesem Punkt verschlossen die Tanten hermetisch den Mund, sie wagten nicht, das Gegenteil zu behaupten, behielten sich aber das Urteil vor, zum mindesten war sie gegen die Angriffe des Mannes zu nachgiebig gewesen. «Sehen Sie, lieber Doktor, auch wir sind Mädchen und sind auch jung gewesen wie alle anderen, und die Männer waren auch zu unserer Zeit da und suchten wie heute ihren Vorteil, wenn man sie machen ließ... und doch... uns kann niemand etwas nachsagen, gewisse Dinge konnten uns nicht passieren.» «Der Mann ist Jäger», mischte sich, den Kopf wieder erhebend und die Augen heroisch aufreißend, Carolina ein, die ihre Stimme bis dahin noch nicht hatte vernehmen lassen. Der Doktor betrachtete sie und fing wieder zu lachen an: «Und oft genug jagt er Hasen mit zwei Beinen.» Man verstand, daß das spaßhafte Element seinem innersten Geschmack entsprach. «Ehre... Ehre...» wiederholte Teresa, «ich weiß, Remo ist ein junger Mann von Ehre; ich bin die erste, ihn zu loben, und es freut mich sehr, daß es so ist, es wäre mir nicht recht, wenn es anders wäre, aber auch mit dieser verflixten Ehre darf man es nicht übertreiben.» So weit gekommen, wollten die Schwestern die ausdrück202
liehe Erklärung des Arztes nicht herausfordern, dem sie ihren Dank ausdrückten, nachdem sie ihm etwas zu trinken angeboten hatten; so daß sie diese im letzten Teil des Gesprächs, von vielen von Seufzern unterbrochenen: «Ja, doch... wir werden sehen, gewiß, natürlich...» begleitet, in der Schwebe, unausgesprochen und begraben ließen. Und sie fuhren fort, auf eigene Faust zu verzögern, zu suchen, Zeit zu gewinnen, um zu suchen. Was mochten sie wohl suchen? Denn sie schienen etwas zu suchen, während sie die verschiedenen Meinungen anhörten, in der gleichen Weise, wie der Vorsitzende des Gerichtshofes während eines Prozesses die Zeugen anhört. Und was suchte Niobe? Ja, auch Niobe suchte noch, suchte immer, sie äußerte keine Meinung wie der Pfarrer und der Doktor, aber sie suchte, wie die Herrinnen suchten, sogar mehr als sie. Und als sie ihr sagten, daß Remo die Laurina heiraten sollte, und es ihr sagten, um ihre Unsicherheit herauszufordern, um sich ihrer immer mehr zu versichern, hörte Niobe zerstreut zu und antwortete mit «Jawohl...» und «Ja...», in Gedanken wer weiß wo. Teresa faßte einen äußersten Entschluß, der sie eine nicht geringe Anstrengung kosten mußte: Giselda befragen. Wie konnte sie auf diese Idee kommen? Die Schwester an dem Familiengeheimnis teilhaben lassen, sie um ihren Rat bitten. Sie wußte aus Erfahrung, was unter einem schlechten Gestirn zustande gekommene Ehen waren, sie konnte ein weitaus zuverlässigeres Urteil abgeben als der Pfarrer und der Doktor. Nach den langen und wiederholten Fahrten nach Florenz saß auch Giselda an jenem Tisch im Eßzimmer vor den Schwestern, die gewissermaßen unter dem Beichtgeheimnis zu ihr sprachen. Während sie so nach und nach von dem Vorgefallenen erfuhr, leuchteten ihre Augen in einer bösen, bitteren Freude auf; sie war im tiefsten befriedigt, daß im Haus eine nicht wiedergutzumachende Sache geschehen war, daß Remo ein 203
junges Mädchen ins Unglück gebracht hatte. Und da es ihre unbedingte Überzeugung war, daß eine unter solchen Vorzeichen geschlossene Ehe keine glückliche sein konnte und daß das Mädchen vielleicht noch unglücklicher werden würde als sie selbst - alles, nur keine erzwungene Ehe mit einem jungen Mann dieser Sorte, begann sie zu fragen: «Und was denkt Remo davon?» «Remo ist, wie du weißt, ein junger Mann von Ehre, vielleicht sogar zuviel in diesem Fall, aber wir können ihm aus einer solchen Übertreibung keinen Vorwurf machen, es ist gut, daß es so ist, er hat, und zwar ohne Zögern, gesagt, daß seine Pflicht nur eine ist: heiraten, heiraten, und so bald wie möglich.» «Ah! Heiraten?» «So bald wie möglich», wiederholte Teresa. «So, so...» Giselda war von einer solch deutlichen Mitteilung verwirrt und zauderte, wie der Wanderer an einer Wegkreuzung, bevor er den einen einschlägt, um den richtigen nicht zu verfehlen. «Ah, heiraten, so, so...» wiederholte sie, um sich zurechtzufinden. «Und so bald wie möglich.» «Du wirst verstehen, ein junger Mann von Ehre kann nicht anders sprechen, es ist unsere Sache, die vernünftige Beurteilung zu übernehmen. Im Grunde ist er ein Knabe, ein Unvorsichtiger, ohne Lebenserfahrung, er hat sich von der Schönheit verlocken lassen, versteht sich, von der Leidenschaft hinreißen, wir sind es, die Verantwortlichkeiten in Ordnung bringen müssen.» «Ja, ja...» Giselda fühlte, daß ein Opfer an ihren Lippen hing, da sie aber in den Augen der Schwestern deutlich die Erwartung ihres Urteilsspruchs las, fühlte sie zugleich, daß dies der Augenblick war, um sich an Remo und an ihnen zu rächen, und nahm eine Haltung von großer Würde an. «Heiraten, natürlich heiraten, selbstverständlich, wer das Unheil angerichtet hat, muß es wiedergutmachen, heiraten... und so 204
bald wie nur möglich, es ist keine Minute zu verlieren. Wieviel Monate sind es denn schon?» «Zwei, wie es scheint.» Sie antworteten nicht und sagten kein Wörtchen, die Schwestern, sie fühlten im Tiefsten der Seele, daß sie log, um sie zu ärgern, und als sie, verschlossen, hart, fortgegangen war, sagte Carolina zornig: «Es wäre gescheiter gewesen, wenn wir ihr nichts gesagt hätten.» «Sie wird nicht reden, verlaß dich darauf, sie wird sich nicht getrauen zu reden.» Nun fehlte nur noch ihr Verdikt, und sie hielten es zurück, nachdem alle ein und dasselbe Urteil ausgesprochen hatten. Es blieb ihnen nur noch übrig, im Handumdrehen die Hochzeit Remos mit der Gärtnerstochter vorzubereiten, der sie die Hemden nähen mußten, damit sie heiraten konnte, denn die Familie wäre dazu nicht imstande gewesen. Teresa ging in der Unrast und dem Schmerz dessen umher, der, da er nicht weiterkämpfen kann, im Begriff steht, sich zu ergeben. «Wie sie es verstanden hat, sich ihn einzufangen...» sagte Carolina verzweifelt, die Gift und Galle spie. «Was für schamlose Weiber das sind...» Sie war wie im Traum. Und die Schwester hob den Kopf wie jemand, der die letzte Energie aus dem Grunde des eigenen Wesens heraufgeholt hat. «Man wird ja sehen, wer gewinnt», behauptete sie finster und drohend. Was Remo betrifft, so konnten wir nach der edlen Antwort, die er den Tanten gegeben hatte, nur einen zu Palle geäußerten, aber an sich selber gerichteten Satz auffangen, während sie nach Florenz fuhren: «Ach ja, lieber Palle, es gibt nicht nur alte Weiber auf dieser Welt, Teufel noch einmal!» Palle sah ihn an und lachte auf seine rasche und flüchtige Art. Ob er wußte, daß es auf dieser Welt nicht nur die alten Weiber gibt? Wenn man ihn ansah, schien er es ganz genau zu wissen, schon gewußt zu haben, bevor er auf die Welt kam, aber er wußte nicht einmal diese elementare Wahrheit. 205
«Immerhin... immerhin...» setzte Remo hinzu, noch immer zu sich selber, und fuhr schneller fort: «Man muß anerkennen, daß auch die alten ihre Sache ganz gut machen, man muß nur mit ihnen umzugehen wissen.» Er sagte nichts weiter, und Palle lachte wieder, mit noch schlauerer Miene, aber der Schlaue war nicht er, versteht sich. Die Materassi waren schweigsam, nachdenklich und verdüstert, und manchmal fühlten sie sich durch die Spannung des beherrschenden Gedankens fast am Ende ihrer Kraft. In gewissen Augenblicken der Erleichterung jedoch schienen sie das Dazwischentreten einer übernatürlichen Macht zu erwarten. Es war keine Zeit mehr zu verlieren, jeder Tag machte den Fall ernster. Es konnte ein Einschreiten der Familie des jungen Mädchens bevorstehen, in der angstvollen Erwartung konnte sie der Mutter oder dem Vater alles gestehen; es waren ältere Brüder da, die den Schuldigen überfallen konnten. Bei solchen Überlegungen steigerte sich die Unruhe der armen Frauen zu heftiger Erregung und förmlicher Qual. Auch Niobe war finster und verschlossen, ohne ein Lächeln, man sah sie auf geheimnisvolle Weise erscheinen und verschwinden, sie schien immer im Begriff, ein Wort zu sagen, und ging wieder weg, ohne etwas gesagt zu haben. Die Herrinnen hüteten sich wohl, sie zu fragen, wohin sie auch immer gehen und woher sie kommen mochte; sie konnten in ihren Mienen, die immer von sonnigem Glanz gewesen waren, nicht lesen und wollten sie auch gar nicht deuten, nicht erraten. Sie blickte zu Boden wie einer, der etwas sucht, dessen Verlust ihn zu sehr schmerzt; auch die sonst so mutige Frau hatte den Mut verloren; sie war eine andere Frau. Als sie den Kopf wieder erhob und ihr munteres Aussehen zurückgewonnen hatte, sahen sie die Nachbarn auf der Straße, in einem seidenen Kleid, das nicht von ihr war, versteht sich, sauber gewaschen und gekämmt, wie sie mit einem Köfferchen in der Hand auf die Trambahn wartete. 206
Wohin mochte Niobe wohl gehen? «Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!» antwortete sie denen, die herbeigelaufen waren, um sie zu begrüßen. «Auf Wiedersehen! Ich komme in zwei oder drei Tagen wieder, ich gehe nach Hause, zur Weinlese.» Und auch die Herrinnen am Gartentor standen da und sahen sie fortgehen und winkten ihr nach. «Sie geht zur Weinlese», wiederholten sie und gaben sich alle Mühe, zu lachen und fröhlich zu sein. «Sie geht in ihre Heimat, sie geht zur Weinlese.» Sie sahen sie fortgehen, als ob sie die genauen Gründe ihrer Reise von A bis Z gewußt hätten, aber sie wußten auch nicht mehr als die anderen und taten, als ginge sie wirklich zur Weinlese. «Auf bald! Auf Wiedersehen!» Als Niobe gesagt hatte: «Ich gehe», und ein Kleid verlangte, waren die Schwestern zum Schrank gestürzt, ohne sie auch nur zu fragen, wohin sie ginge und warum, so groß war das Vertrauen und die Hoffnung, die sie auf sie setzten; sie begriffen alles, ohne ein Wort zu verlieren. So kam es, daß sie, als sie mit den anderen sagten: «Sie geht zur Weinlese», und sich alle Mühe gaben zu lachen, soviel wußten wie die anderen und wirklich nicht wußten, warum sie lachten; sie wußten dagegen im Innersten, daß ihnen keinesfalls danach zumute war, obwohl sie immer weiterlachten. Und die Nachbarn, nunmehr an so viele seltsame Dinge gewöhnt, die seit einiger Zeit in dieser Familie vorkamen, sagten auch immer wieder, daß Niobe in ihre Heimat gegangen war, zur Weinlese, als ob dies eine feste Gewohnheit wäre, etwas, das alljährlich um diese Zeit geschehen wäre, und dabei hatte sie nie gesagt, daß sie irgendwo daheim wäre, und war in 30 Jahren nie auch nur einen einzigen Tag fort gewesen. Es waren sieben Tage der Angst, des bleiernen Schweigens, der Entmutigung und der unausgesprochenen Hoffnungen, auf deren Grund ein schwacher Lichtfunke war. Als sie wieder in Santa Maria erschien, wo sie eines Abends 207
beim Dunkelwerden aus der Trambahn stieg, war sie zum Bersten voll von etwas, das ihr zu den Augen, dem Mund, zur ganzen Person herauswollte und das sie bei sich behalten mußte. Und da sie denen, die ihr entgegenliefen und sie bedrängten, nichts von dem geben konnte, was sie drinnen hatte, einen Schatz von anderen Früchten sicherlich, gab sie ihnen von jenen, die sie außen hatte: sie war mit Weintrauben beladen wie eine Bacchantin, Ranken, fruchtschwere Zweige, Trauben, aus denen sie mit zahnlosem Mund hervorlachte und sich entlauben, abpflücken, abbeeren ließ und sich ihrerseits abzappelte, um jedem etwas zu geben, eine einzelne Traube oder mehrere zusammenhängende, Trauben von erster Qualität, saftig und süß, Trauben von den Hügeln, nicht wie die von Santa Maria, säuerlich und lauter Schalen. Die Freude war so groß, daß der ganze Hügel von Jubel erbebte. Wenige Tage darauf machte blitzschnell eine Nachricht die Runde: Die Laurina war Braut. Sie nahm einen jungen Mann von «da droben». Die von der unmittelbaren Umgebung, von den ersten Hügeln rings um die Stadt, Vorzugsplätze in dem großen Amphitheater, pflegen «da droben» zu sagen, um auf die anderen hinzuweisen, die dahinter sind, droben, viel weiter droben, und die oberen Ränge und die Galerie darstellen. Und sie sagen «da droben» in einem Sinn leichter Geringschätzung, geradeso wie die Damen auf den ersten Plätzen, um die nahe der Decke wie die Hühner auf der Stange hockende Masse zu bezeichnen, und sie rümpfen das Naschen um so mehr, genau wie diese, je höher man «da hinauf» gehen muß, wo die Leute grobe Schuhe haben, aber feine Köpfe. Ein nicht unschöner junger Mann, kräftig, von gutmütigem und für seine Herkunft nicht gar zu bäurischem Aussehen. Er war der Sohn eines Gärtners, der in einer Villa ganz da droben wohnte... in einer Villa, die schon mehr wie ein Feenschloß aussah. Die Hochzeit mußte in großer Eile gefeiert werden, weil der bewußte junge Mann einen Blumenladen mitten in der Stadt übernommen hatte und, um 208
mit der Arbeit anzufangen, die Mithilfe der Frau nicht entbehren konnte. Es war eine große und sehr fröhliche Hochzeit, ganz Santa Maria nahm daran teil, ausgenommen die Materassi, Remo und Niobe. Aber die Materassi und Remo wurden jetzt ohnehin als eine andere Klasse angesehen, um an plebejischen Hochzeiten teilzunehmen: die Aristokratie des Dorfes. Was aber Niobe betraf, so wußten alle, daß sie das Haus aus keinem Grunde verließ. Kein Mensch dachte mehr daran, daß sie es vor zwei Monaten sieben Tage lang verlassen hatte, um zur Weinlese zu gehen. Ein verständnisinniges Zwinkern ging zwischen der Dienerin und den Herrinnen hin und her, die gerade in jenen Tagen ein gewisses Blatt Papier unterschreiben mußten: eine erste Hypothek von 50000 Lire auf die Häuser. Dennoch glücklich und triumphierend nach einer gewonnenen Schlacht. Und es scheint, daß Laurina eines Abends, wenige Tage vor ihrer Hochzeit, Remo auf dem Weg anhielt, zu einer letzten Erklärung; aber von dem sehr kurzen Gespräch, das sich zwischen den beiden abspielte, kennen wir nur die letzten Silben, die ein Windstoß bis zu uns hergetragen hat: «Wirst du manchmal kommen und die Gardenie bei mir holen?» Ohne es zu merken, antwortete er genauso, wie er der sportlichen Gräfin geantwortet hatte, als sie ihn fragte, ob er solche gefunden hätte, die alles für nichts geben: «Ach ja... wer weiß... vielleicht.»
GISELDA ! NIOBE !
W IE
DER GROSSVATER, GENAUSO», SAGTEN DIE AL-
ten, wenn sie sich die Schwäche des Vaters gegenüber dem Sohn in die Erinnerung zurückriefen. «Der arme Alte, er hatte keine Augen bei dem, er hätte sich umbringen lassen. Was für ein unglückliches Haus! Da liegt ein Fluch darauf; die armen Materassi!» Und die Übelwollenden setzten hinzu, wenn sie sie ins Auto einsteigen sahen, um nach Florenz zu fahren: «Wie sie sich aufspielen!» Oder wenn sie Ausflüge in die modischen Sommerfrischen machten: «Das schöne Leben gefällt allen, das weiß man schon. Genau wie der Vater. Er ist übergeschnappt. Und sie sind jetzt auch vergnügungssüchtig geworden! Sie haben den Verstand verloren.» Alle kannten die kritische Lage, mit der sie seit einiger Zeit kämpften, und sie waren über die neuerlichen Hypotheken auf den Häusern auf dem laufenden: «Es ist verfluchtes Gut, es bleibt nicht in den Händen, es bleibt nicht.» Da man wußte, daß sie nicht mehr die absoluten Herrinnen waren, gerieten auch der Respekt und die bis dahin ausgeübte Autorität in Verfall. Die Mieter nahmen sie allmählich nicht mehr recht ernst, indes ihr Hochmut sich verdoppelte. Aber wenn Remo mit dem treuen Palle ankam oder abfuhr, standen sie mit offenen Mäulern bewundernd da; bei den Mädchen gingen die Namen der Filmhelden von Mund zu Mund: Rodolfo Valentino, Charles Farrel, Ramon Novarro oder Gary Cooper... und erst wenn sie im Triumph um die Ecke verschwunden waren, wurden wieder Randbemerkungen laut: «In diesem Haus ist immer Karneval... Es war einmal ein 210
Hund, der hieß Ausdauer. Aufs Ausdauern kommt es an... Die Fastenzeit wird auch bald kommen, verlaßt euch drauf.» Vor allem aber konnten sie es nicht mit ansehen, was für ein Glück dem Palle zugefallen war, der auch an all diesem Wohlleben teilhatte, er, den das alles gar nichts anging: «Er hat eine große Brustwarze gefunden. Mög Gott zum guten Speisen den rechten Weg uns weisen», zitierten sie abschließend. Und während die Besuche der Kundinnen immer spärlicher wurden, mehrten sich beständig die der Gläubiger, die Remo in der Stadt nicht erwischen konnten und ihn daher zu Hause in Santa Maria suchten, wo sie von den Tanten empfangen und mit Anzahlungen oder Versprechungen beschwichtigt wurden. Eines Tages, als eben das Mittagessen vorbei war, spielte sich die Szene ab, die ich euch beschreiben will. Wie immer in allen Familien ist dies die Stunde, in der sich die Polemiken, die Streitgespräche entzünden und entwikkeln, die Verstimmungen, der Groll, die Rivalitäten, die Eifersüchteleien entladen - als letzter Gang kommen die häuslichen Miseren auf den Tisch. Niemand würde daran denken, mit einer solchen Übung vor der Suppe anzufangen, oder wenn sie aus reinem Zufall und ohne wirkliches Interesse angefangen worden ist, dann genügt jene dampfende Erscheinung, um ihren Verlauf durch die Erzeugung eines rituellen, geheiligten Schweigens zu unterbrechen. Wenn aber der Leib seine Ordnung hat und so gut wie möglich angefüllt ist, dann scheint es, daß sich der Geist des schlechteren Teils, des Ballasts, entledigen will. Wie beglückend, sich Unverschämtheiten sagen zu können, nachdem man gut gegessen und getrunken hat, sich mit vollem Magen, wenn nichts anderes, unbedingt Notwendiges zu tun ist, irgendeine Kleinigkeit vorwerfen, die gegenseitigen Gebrechen, Eitelkeiten, Schwächen aufdecken; mitleidslos einander messen, die anderen das eigene Gewicht spüren lassen. Wenn man sich vereint und bei Kräften findet, ist dies der beste Augenblick. 211
Giselda war fort. Es war jetzt so, daß Giselda die Gewitter mit einem sehr scharfen Sinn in der Luft spürte, wie die Schweine die Trüffeln unter der Erde wittern. Sie war glücklich, verschwinden und das Feld für die Aktion räumen zu können, ohne ihre natürliche Entwicklung durch die eigene Anwesenheit zu beeinträchtigen oder zu stören. Die Schwestern im Kampf mit dem Neffen und sogar mit der Magd zurücklassen und sich darauf beschränken, vom ersten Stock herab eine gefühlvolle, pathetische, sehnsüchtige Melodie, vielleicht auch eine heroische oder komische, je nachdem, gerade in dem Augenblick hören zu lassen, wo die unten sich in der am wenigsten zum Genuß des schönen Gesangs geeigneten Stimmung befanden. Dergestalt, daß die bedeutungsvollen Wechselfälle der Familie sich mit musikalischer Untermalung abwickelten, wie in den Melodramen. Auch Palle war gegangen. Er verstand gleichfalls den richtigen Augenblick zu wittern, um sich zu drücken und in die Remise zu laufen, um das Auto zu putzen oder bereitzumachen. Immer, wenn es Streit, Wortwechsel oder lebhafte Szenen gegeben hatte, war die Miene Remos ruhig und lächelnd geblieben und hatte ein tiefes Gefühl der Kälte und Uninteressiertheit in seinem Gemüt widergespiegelt, wie auch das Ergebnis und die Ursachen sein mochten, ohne sich jemals wegen seiner Handlungen zu verteidigen und ohne je auf etwas zu bestehen, um das gesteckte Ziel zu erreichen, ja sogar zurückweichend, um es zu erreichen. An jenem Tag war sein Gesicht in drohender Weise verfinstert, hart, von einem offenkundigen Willen geprägt. Zum erstenmal zeichnete sich eine senkrechte Furche zwischen den Augenbrauen ab, als erster Bote der Zerstörung der jugendlichen Reinheit, die sich auf dem Gesicht des Mannes noch immer gehalten hatte. Man spürte, daß er, noch bevor er den Mund auftat, entschlossen war, den eigenen Willen mit Härte, mit Gewalttätigkeit, mit Grausamkeit durchzusetzen. 212
Das Gespräch drehte sich um eine gewisse, sehr erhebliche Schuld, die zu bezahlen war und wegen der hartnäckigen Anmahnungen kamen; es wurde dann auf die vielen, ständig anwachsenden gebracht, denen man genügen mußte. Remo zeigte sich gereizt, als ob er plötzlich die Last eines unerträglich gewordenen Zustands auf den Schultern verspürte. «Mit diesen Leuten und ihren Forderungen muß ein Ende gemacht werden.» Entschlossen, ihm mit Energie entgegenzutreten, schaute ihn Teresa fest an. «Sie kommen, um ihr Guthaben zu fordern», begann sie ruhig und ihre eigenen Geschütze verdeckend, dann fuhr sie sich ein wenig aufrichtend fort: «Ein Ende muß mit den in keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten stehenden Ausgaben gemacht werden, es muß damit aufgehört werden, Schulden zu machen, die wir nicht bezahlen können.» Der Neffe beobachtete sie und maß dabei ihren Widerstand im Verhältnis zur Absicht. «Und die da sind?» ließ er mit halb kindlicher, halb listiger Unbefangenheit herausgleiten. «Die da sind, muß man früher oder später bezahlen, sonst werden die anderen dafür sorgen, daß sie bezahlt werden.» «Nein.» «Was nein?» «Man muß sie alle miteinander bezahlen, da gibt es keine andere Abhilfe», buchstabierte er entschieden, «alle miteinander.» Teresa lachte bitter. «Alle miteinander?» Sie tat, als ob sie nur zögernd begriff. «Ah! Alle miteinander, jawohl, und womit?» «Es muß ein Ende gemacht werden mit der Schulden Wirtschaft, es hat schon zu lange gedauert, ich will nichts mehr davon hören.» Teresa sah ihn mit einer spöttischen Miene an, die den Zorn verbarg. «Ah! Jawohl... ja... es hat schon allzulang gedau213
ert, ja, ich weiß es, auch ich weiß es, daß es zu lang gedauert hat, jawohl...» Sie schaute ihn bitter und drohend an, böse. «Alle miteinander... und womit? Weißt du nicht, daß wir keinen Heller mehr haben, daß wir nichts mehr haben und daß die Häuser mit Hypotheken belastet sind?» «Eben darum muß man sie alle auf einmal bezahlen.» «Womit?» schrie sie wütend. «Mit einem Wechsel», erwiderte der Neffe ruhig. «Einem Wechsel?» Sie fühlte sich getroffen und aus der Fassung gebracht durch dieses schreckliche Wort, das seit 40 Jahren unter ihrem Dach nicht mehr ausgesprochen worden war, das in so jammervoller Weise ihre erste Jugend erfüllt hatte und das sie für immer verbannt glaubte: der Wechsel. Der Wechsel, der zu zahlen war: das graue Elend des Hauses unter seiner Drohung, die rotgeweinten Augen der Mutter. Wie oft hatte in ihrer Kindheit das traurige Wort auf dem Haus gelastet. Der kranke Vater, der Wechsel, der zu zahlen war. Die Mutter zog sich an, trocknete sich die Augen, ging nach Florenz, nachdem sie im Dorf bei Freunden und Bekannten von Tür zu Tür gegangen war, um den Protest zu vermeiden, den Besuch der Gerichtsvollzieher, die Pfändung. Und manchmal, wenn es ihr nicht gelungen war, das Geld rechtzeitig zusammenzukratzen, war der Wechsel in der Angst und Ohnmacht aller Familienmitglieder, der Mutter und der.armen Töchter, protestiert worden, während der Vater aus seinem Krankenstuhl hervor Verwünschungen und Flüche schleuderte. Aus jenem Leid hatten die Mädchen so viel Kraft zum Leben gezogen. Die Schreckgespenster der Kindheit standen aufs neue vor ihnen: die Hypotheken, die Wechsel, der Protest, die Pfändung, die Gläubiger, die Gerichtsvollzieher... sie schauten wieder zu den Fenstern und Türen herein, kamen wieder ins Haus, nahmen durch ein unerbittliches Verhängnis Gestalt an. 214
«In den 40 Jahren, da ich meinen Beruf ausübe, habe ich niemals einen Wechsel unterschrieben», schloß sie mit verzweifelter Entschiedenheit, verschanzte sich hinter dieser Behauptung wie am Rand des Abgrunds, «ich unterschreibe keinen Wechsel.» «Und doch ist er das einzige Mittel, das beste, das uns in diesem schwierigen Augenblick bleibt; danach werden wir uns erleichtert fühlen und aufatmen können. Die Schuldengeschichte wird zu Ende sein... wir werden keine mehr machen. Ich werde meine Stellung bekommen, endlich...» Er sprach ruhig, um einen unerschütterlichen Willen spüren zu lassen. Mehr als von der demnächstigen, hypothetischen Stellung des Neffen, die alle Tage erscheinen sollte und die man nie sah und auf die das Vertrauen zu sehr erschüttert war, wurde die Aufmerksamkeit Teresas von diesen Worten getroffen: «Wir werden keine mehr machen...» Also betrachtete er jene Schulden als gemeinsam gemachte, er schob den Tanten einen Teil der Schuld, der Verantwortung zu, sie waren mit am eigenen Ruin schuld, er behauptete es ungestraft; in seiner Verschweigung lag eine unausgesprochene Anklage, die er einreden, suggerieren wollte und die er dann mit lauter Stimme, ohne etwas zu verschweigen, verkündigt haben würde. Dennoch hatte Teresa in der Verwirrung durch diesen enthüllenden Satz noch die Kraft, sich zu behaupten. «Nie und nimmer, es ist eine Prinzipienfrage, ich würde mir eher den Hals abschneiden lassen als einen Wechsel unterschreiben.» Während dieser Szene starrte Carolina auf Remo; sie spürte, daß der Widerstand der Schwester vorübergehend war, und maß die ferne oder nahe Übergabe ab. Bald starrte sie ihn flehend an, bald verzog sie dabei den Mund zu Grimassen, die einen Strahl von blutigen Schmähungen anzukündigen schienen, oder mit einer Gier, die den bevorstehenden Angriff mit Kratzen und Beißen vermuten ließ, dann ließ sie sich wieder in die flehende Haltung zurücksinken. 215
Genau in diesem Augenblick zog Remo ein kleines, rechteckiges Papier aus der Tasche: den zu unterschreibenden Wechsel. Und bei seinem Erscheinen in den Händen des jungen Mannes erschien an der Tür des Eßzimmers Niobe und blieb mit in die Seiten gestützten Händen stehen, als wollte sie in dieser Haltung das Ereignis auf seinem Höhepunkt betrachten. Es war auch nicht leicht zu erkennen, ob ihr Dazwischentreten zugunsten des Neffen gemeint war oder ob sie kam, um den tapferen Widerstand der Tanten zu verstärken. Das Ganze begann die Feierlichkeit und zugleich die Mechanik einer Theaterszene anzunehmen, anstatt eine Szene des rauhen und einfachen Lebens zu bleiben, von der das Glück und die tatsächliche Existenz einer Familie abhing. «Ich unterschreibe nicht!» schrie Teresa aufspringend und mit immer stärkerer Betonung, während sie jenem Stückchen Papier, das aus den Händen Remos in die ihrigen übergehen sollte, den Weg versperrte. «Ich unterschreibe nicht», wiederholte sie, mit der Faust auf den Tisch schlagend, und richtete sich immer höher auf, um die Kraft der Worte, die Unbeugsamkeit des gefaßten Entschlusses spüren zu lassen. «Wir werden bezahlen, was wir für recht halten, wann und wie wir können, selbstverständlich, wir sind nicht verpflichtet, es zu tun, und für die Zukunft werden wir eine Warnung in die Zeitung setzen. Wir haben ausgegeben, was wir hatten, wir haben die Häuser und das Anwesen mit Hypotheken belastet, wir sind nicht bereit, deinetwegen betteln zu gehen, es wäre eine Todsünde, kein Mensch würde es uns verzeihen.» Sie stand auf, um aus dem Zimmer zu gehen. Carolina, die ihre Augen nicht von dem Neffen gewandt hatte, stand auf, ihn immer noch anstarrend, und wie um alles, was ihr Inneres für ihn und gegen ihn einschloß, über ihn auszuschütten, stürzte sie sich auf ihn und umschlang seinen Körper, drückte ihn mit aller Kraft und brach in Tränen aus. Remo machte keine abwehrende Bewegung: er ließ sich umschlingen. Ihn erschreckte weder die starke Manier bei 216
den Frauen noch die schwache, da er sich im Besitz der genauen Maße für die zwei entgegengesetzten Wege fühlte, die Ohnmächten und die Tränen, für die er undurchdringlich war. Er ließ sich umschlingen, ließ sich drücken. Carolina drückte ihn mit der Kraft der Verzweiflung. Sie kratzte ihn, und er ließ sich kratzen. Und als sie, seinen Kopf zu dem ihren herabziehend, seinen Mund suchte, überließ er ihn in der gleichen Weise wie vor zehn Jahren im Zug oder in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Santa Maria. Der Mund des Mannes gab sich noch mit derselben Kälte des Halbwüchsigen hin, verwirrend, aufwühlend. Und statt ihn in jener tiefen Verwirrung ihres ganzen Wesens loszulassen, drückte sie sich noch fester an ihn. «Weg! Weg! Weg!» brüllte Teresa in einem Anfall fassungsloser weiblicher Wut. «Weg! Weg!», indem sie die Schwester vom Körper des jungen Mannes wegriß. «Weg!» brüllte, kreischte sie. Ihre Stimme hatte alles Menschliche verloren, es war auch nicht zu erfassen, wieviel in ihr von praktischer Energie in diesen Schreien war und wieviel von jenem instinktiven, dunklen, unbewußten Groll, der sie im Zug aufstampfen ließ, im Tunnel, als Carolina den jungen Remo vor den Schweinehändlern aus der Romagna küßte. «Weg! Weg! Weg!» Es gelang ihr schließlich, sie von Remo wegzuziehen und mit Gewalt auf die Tür zuzustoßen, um mit ihr hinauszugehen, die eine von Verwirrung erfüllt, die andere von Wut. Aber Remo holte sie ein. Nachdem er bei dem Gefühlsausbruch passiv geblieben war, nahm er wieder seine grausame Miene an und schrie: «Es muß unterschrieben werden!» Diese Worte waren ein Peitschenhieb. Teresa wandte sich ihm mit weitaufgerissenen Augen zu, um auf ihn loszustürzen und nach ihm zu schlagen, wobei sie um sich blickte und nach einem Gegenstand suchte, den sie nach ihm schleudern konnte. Sie fühlte einen wütenden Drang, nach ihm zu schlagen, anstatt ihn verzweiflungsvoll zu umarmen wie die Schwester; ihre Verzweiflung war aktiv, 217
so sehr, daß der junge Mann sich spalten mußte, um den gegensätzlichen Gefühlen der Frauen standzuhalten. Aber nun hielt Carolina die Schwester fest, bemühte sich aufgeregt, ihr die Hände zu halten, um zu verhindern, daß sie ihn erreichte. Da aber richtete sich dieser auf, um sich auf sie zu stürzen und sie kampfunfähig zu machen und zu zeigen, daß er auf Gewalt mit Gewalt reagierte, wie auf die Ergüsse des Herzens mit der sentimentalen Hingabe. Er erwischte sie beide zugleich und hielt sie in den Armen fest, so daß sie handlungsunfähig waren; sein Druck ließ keinen Zweifel an der Stärke seiner Armmuskeln zu, als er sie aus dem Zimmer hinaus in die Küche drängte, während die eine sich losmachen wollte, um nach ihm zu schlagen, und die andere dagegen sie halten, damit sie nicht nach ihm schlagen konnte. Dann drehte er sie im Kreis herum, während Niobe, die sich der Gruppe zugesellt hatte, der Bewegung folgte, um gewissermaßen bald da, bald dort mit großer Beflissenheit nachzuhelfen, wie bei einem Möbelstück, das während des schwierigen Transports zu fallen drohte. Es war nicht recht zu erkennen, ob sie die Bewegung der Tanten begünstigen wollte, um sie von der Macht zu befreien, die sie umschlang und gegen ihren rechtmäßigen Willen in Bewegung setzte, oder die des Neffen, um sie dorthin zu treiben, wo er wollte. Er trieb sie auf diese Weise bis zu dem Treppenverschlag, der als Speisekammer diente, öffnete die Tür und stieß sie mit Gewalt hinein. Als sie begriffen, worum es ging, wehrten sie sich nicht mehr. Sie wurden in dieses widerliche Loch eingeschlossen soweit war es also gekommen. Da stürzte in der einen der ungestüme Drang zu schlagen zusammen und in der anderen das Bedürfnis, sich hinzugeben. Sie wurden eingekerkert und vielleicht zum Tod geführt, wie die Heldinnen der Lieder, der Geschichten, der Melodramen, der Tragödien. Vor der ungeheuerlichen Tatsache blieben sie ohne Bewußtsein, vernichtet. Sie ließen sich einschließen, beobachteten den Neffen, der, nachdem er das elektrische Lämpchen angezündet und 218
ein wenig Platz auf dem mit Töpfen und Flaschen vollgestellten kleinen Tisch frei gemacht hatte, den Wechsel darauflegte und daneben den Füllfederhalter. Die Frauen blickten erstaunt auf diese Vorkehrungen, bis der Neffe schließlich, ohne den Mund aufzutun und ohne ihnen einen Blick zu schenken, hinausging, die Tür mit dem Schlüssel zusperrte und den Schlüssel in die Tasche steckte. Niobe, die sich ohne eine bestimmte Absicht dem Getümmel zugesellt hatte, ging nicht von der Tür weg, wo die Herrinnen eingeschlossen waren und aus der kein Lebenszeichen kam, nachdem jene gehört hatten, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Die Magd schaute einmal mit kindlicher Bestürzung auf die Tür, und das andere Mal schaute sie Remo an und versuchte dabei zu lächeln, um ein beruhigendes Lächeln als Antwort zu erhalten, um das Spiel zu erraten, denn es konnte doch nur ein Spiel sein, daß er sie da eingesperrt hatte. Sie hatte es geschehen lassen, sie hatte ihre Macht nicht dagegengesetzt, in der Gewißheit, daß sich alles aufs beste lösen würde; sie konnte nicht glauben, daß ihren Herrinnen ein Haar gekrümmt würde, und nun, da sie in die Kammer eingesperrt waren, fühlte sie, wie sie ein kindliches Unbehagen beschlich. Sie hatte nicht aktiv in das Geschehen eingegriffen, weil sie dachte, wenn die Schulden gemacht worden waren, so halfen die Proteste wenig und machten nichts besser, die einzige Abhilfe war, sie zu bezahlen: den Wechsel unterschreiben. Deshalb war sie Zuschauerin geblieben. Ihr Instinkt gab ihr ein, dieser häuslichen Szene keine Hindernisse zu bereiten, welche sich unter den gegebenen Umständen so und nicht anders abspielen mußte und nicht so tragisch war, wie es den Anschein haben mochte. In dieser Überzeugung befestigte sie die Tatsache, daß Remo, nachdem er die Frauen einmal in die Treppenkammer hineingedrängt und eingeschlossen hatte, mit hartem Gesicht und einer Kraft in den Armen, der man sich nicht leicht entziehen oder widerstehen konnte, wieder 219
heiter und ruhig geworden war, lächelnd eine Zigarette angezündet hatte, in der Küche hin und her zu gehen begann und mit den Händen in der Tasche und gespreizten Beinen müßig unter dem kleinen Ausgang stehenblieb, der auf die Felder hinausging, den Horizont betrachtend und zierliche, bläuliche Kringel in die Luft blasend. Ich habe es gesagt, wiederholte Niobe zu sich selber, um die Unruhe zu bekämpfen, von der sie sich immer mehr durchdrungen fühlte, wenn sie auf die Tür blickte, wo die Herrinnen eingeschlossen waren, sie sind zwei Kinder, man muß sie so behandeln, da gibt es nichts anderes. Sie schaute Remo an und versuchte zu lächeln, ohne daß es ihr gelang, ein Lächeln von ihm erbettelnd, das ihr die Ruhe zurückgegeben, sie beruhigt hätte, daß es nur ein Scherz war: Sie sind keine vernünftigen Frauen, bei Gott; Schulden sind Schulden, und wenn man sie gemacht hat oder machen lassen, bei Gott, dann muß man sie bezahlen, zum Teufel auch. Da mußte man zuerst dran denken. Sie sind wirklich wie zwei Kinder. Und Remo, der resigniert durch das Zimmer schlenderte, sah ganz so aus, als ob er antwortete: Ich weiß, ich weiß, es ist eine lächerliche, kindische, widerwärtige, ekelhafte Geschichte; alles, was ihr wollt, aber was soll man tun, mit gewissen Leuten kann man nicht anders umgehen. Auf dieser Welt muß man alles Mögliche und Unmögliche machen, um sich durchzuschlagen, um zu leben. Fast als gehörten solche Zwischenfälle ausschließlich zu seinem Beruf, den er so gut als möglich zu versehen trachtete, als sei dies etwas, was er eher tat, um den anderen zu dienen, als für sich selber, und als bekäme er nur den gerechten Lohn für eine unangenehme Arbeit. Niobe schaute ihn an und begann, auf die kleine Tür deutend, mit großer Anstrengung dem jungen Mann zuzuzwinkern, um sich in einem lästigen Zweifel Mut zu machen: Sie unterschreiben, sie unterschreiben, versteht sich, und ob sie 220
unterschreiben, sie sind genau wie zwei Kinder, sie haben ihre Launen, man muß Nachsicht mit ihnen haben. Sie nickte, zwinkerte, aber sie hatte nicht die Kraft zu lächeln, sie brachte es nicht fertig; sie versuchte zu lächeln und konnte die Lippen nicht öffnen, sie taten ihr zu weh, die Muskeln hinderten sie daran. Und es ist nicht zu sagen, was für ein zweideutiges Aussehen ihr ernstes Gesicht bekam, als sie mit einem Auge blinzelte: Sie unterschreiben, sie unterschreiben; und von jetzt an würde Remo sich im Geldausgeben mäßigen, er würde Vernunft annehmen, wirklich arbeiten, nach jenem so natürlichen Austoben der ersten Jugend. Sie empfand im Herzen so viel Nachsicht für ihn, für die maßlose Lebensgier der jungen Leute, für ihren unbezwinglichen Überschwang, ihre Irrtümer und Torheiten; sie fühlte, daß das Schöne des Lebens ganz darin liegt und daß man verstehen muß, es zur rechten Zeit zu pflücken: Man ist nur einmal jung, ei, zum Kuckuck, danach bleibt einem nichts mehr, als sich zu erinnern. Und sie bedauerte in ihrem Herzen und ohne Grenzen ihre armen Herrinnen, die sich an nichts erinnern konnten als an Leiden und Mühsale. Aber was taten die zwei Schwestern in jener Kammer, wo sie zehn Jahre zuvor eines Morgens eine halbe Stunde ausgeharrt hatten, um den Neffen zu ertappen, der, anstatt die Treppe zu benutzen, zum Fenster hinausgestiegen war? Ob sie an jenem Tag auch hinter dem Fensterchen versteckt waren, um ihn herunterkommen zu sehen? Auch an jenem Tag eine halbe Stunde, und von drinnen kam kein Laut. Endlich wurde ein Flüstern in der Treppenkammer vernehmlich, ein Rauschen, ein paar abgerissene Worte, dann ein Weinen, ein Weinen fast wie von einem Kind. Carolina weinte. Ein Weinen, das sich allmählich erschöpfte und in unwahrnehmbaren Wellen erlosch. Und als es sich erschöpft hatte und das Schweigen wiederhergestellt war, kam eine klägliche, flehende Stimme, die aus unterirdischen Tiefen 221
hervorzudringen schien: «Giselda! Giselda!», mit einem langgezogenen «e», das kein Ende mehr nahm. Aus dem Fenster des ersten Stocks, aus dem sie hinausschaute, begann Giselda zu singen. «Giselda!» wiederholte die Stimme immer noch kläglicher. Aber Giselda konnte nichts hören, da sie ganz damit beschäftigt war, den Gesang nach Art der Nachtigallen zu modulieren; und sie schien wirklich in dieser ländlichen Stille wie eine Nachtigall, sie konnte den schwachen Ruf der Schwester nicht hören. «Giselda!» Der Ruf wiederholte sich, aber so schwach, daß man sich fragen mußte, ob der Rufende wirklich gehört werden wollte, und insbesondere von jemand, der mit lauter Stimme sang. Ob in der Stimme Carolinas die Hoffnung erstarb, gehört zu werden, oder ob die Furcht aus ihr sprach? Eine andere Stimme von drinnen, ebenso jämmerlich, aber stärker, ließ sich hören: «Niobe!» Niobe begann unruhig zu werden, sie konnte es fast nicht mehr aushaken; die Herrin rief sie, und sie mußte antworten. Sie schaute Remo erschreckt, ungeduldig an, aber dieser machte eine Bewegung, als ob er sie zurückhalten würde, wenn sie sich rührte, ihr den Weg versperren, welche Initiative sie immer ergreifen mochte. «Niobe!» wiederholte eine ganz dünne Stimme mit einem so langgezogenen und feinen Ton, daß er wie ein aus Glas gesponnener Faden war. Die stärkere aber wiederholte, auf einem Ton angelangt, der noch flehentliche Bitte war, aber Befehl sein wollte: «Niobe!» Was sollte sie tun? Sollte sie antworten? «Ich kann mich nicht rühren», antwortete sie, wie jemand, der sich nach einem Erdbeben noch lebendig unter Trümmern befindet oder unbeweglich gemacht in einem Haus, wo die Räuber, ehe sie ans Werk gehen, die Leute gefesselt und 222
geknebelt haben. «Ich kann nicht aufmachen, ich habe den Schlüssel nicht.» Ein langes Schweigen folgte, währenddessen bei Remo eine gewisse Spannung zu bemerken war. Kein Weinen, keine Geräusche, keine kläglichen Rufe. Im übrigen fehlte es in der Speisekammer nicht an dem, was zum Leben notwendig ist: es war Luft da und ein wenig Licht, natürliches und auch künstliches, und auch eine Sitzgelegenheit war vorhanden. Wein und Brot war da, Eier, Schinken und Wurst, auch Obst war da. Auch unter derartigen Umständen gestand der Neffe den Tanten eine ehrenvolle Behandlung zu. Auf diese We^se verging die zweite halbe Stunde. Remo ging weiterhin in der Küche auf und ab und rauchte viele Zigaretten, eine nach der andern. Seine Haltung war die angespannte und ruhige des Mannes in der Erfüllung seiner Pflicht. Plötzlich vernahm man Geräusche in der Treppenkammer, ein Ordnen von Körpern, dann zwei harte, feste, entschlossene, schier gewalttätige Schläge an die Tür. Der junge Mann schnupperte ein wenig in der Luft, zog entschlossen und rasch den Schlüssel aus der Hosentasche, öffnete, und nachdem er das Bild mit Kennerblick abgeschätzt hatte, trat er respektvoll zur Seite, um für den Durchgang der Tanten Platz zu lassen. Die Frauen, die regungslos und hinter der Tür stehend gewartet hatten, gingen hintereinander hinaus, Teresa erhobenen Hauptes, mit dem Höchstmaß der Verachtung auf das Höchstmaß der Verruchtheit antwortend. Sie war eine in die Hände des Gesindels gefallene Königin, die sich anschickt, Gericht zu halten, erstarrt, nicht mehr von dieser Erde, von edlem Stolz, von Würde erfüllt, den Mund zu einer Grimasse des höchsten Abscheus verzogen, und die dem Pöbel, der sie äußerlich in der Gewalt hat, nicht das mindeste von sich zugestehen will. So ging sie voran mit dem unterschriebenen 223
Wechsel in der Hand, dem einzigen und zerbrechlichen Band, das sie noch mit der Erde vereinte und das ihr nur eben an den Fingern hing wie am Zweig das dürre Blatt, das bei der leisesten Bewegung der Luft abfallen wird. Carolina, mit gesenktem Kopf, die Haare aufgelöst, die Arme kraftlos am Körper herabhängend, die Augen gerötet, die nicht mehr weinten, da sie alle Tränen verbraucht hatten, war dagegen die Magdalena, die ihrem Herrn über die Steine des Kalvarienbergs bis zum Gipfel folgen wird. Man versteht, daß Remo bei all diesem Jammer seiner Sache in bezug auf den Wechsel schon sicher war, der seine Ziffer unangetastet trug und am unteren Rand diese kleine Unterschrift: «Teresa und Carolina, Schwestern Materassi.» Er wollte ihn aus der Hand der Tante nehmen, aber das Stückchen Papier fiel, geradeso wie das tote Blatt, das sich vom Zweig löst, noch ehe es von jener unwürdigen Hand gestreift wurde. Nicht einmal diese Berührung war zwischen dem Neffen und der Tante: er mußte sich bücken, um es aufzuheben. «So!... Gut!... Oh, jetzt ist's richtig... sehr gut, ausgezeichnet.» Und von der Eile dessen erfaßt, der sehr dringende Geschäfte zu erledigen und nicht eine Minute zu verlieren hat, steckte er den Wechsel in die Brieftasche, schaute auf die Armbanduhr. «Sehr gut!», ohne sich im mindesten um die höchst tragische, so weit vom Gewohnten entfernte Haltung der Frauen zu kümmern, als ob sie das Allergewöhnlichste wäre, und so fern von der seinigen, die ganz Eile und praktisches Leben war. «Sehr gut, so, jetzt ist es Punkt vier Uhr, es ist keine Minute zu verlieren, ich fahre schnell nach Florenz, ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, um fünf Uhr bin ich wieder da, um euch abzuholen, Punkt fünf Uhr, gebt gut acht», wiederholte er, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. «Punkt fünf Uhr», er wußte, daß die Frauen auf sich warten ließen, «wir nehmen den Aperitif bei Narciso in den Cascine, dann 224
zum Abendessen nach Fiesole, dann in die Follie Estive, die Loge habe ich schon.» Es schien, daß die Frauen die Einladung und die frivolen Worte nicht einmal hörten, die in einer so ernsten Stunde wie eine Beleidigung klangen; und eine hinter der anderen, in dem bereits geschilderten Gefühl geeint, nahmen sie den Trauerweg wieder auf, indem sie sich zur Treppe begaben, sie wollten sich in ihr Schlafzimmer einschließen wie in den höchsten Augenblicken des Lebens, nachdem sie aus dem Gefängnis befreit waren. «Punkt fünf Uhr», wiederholte der Neffe enteilend, «ich bitte darum, laßt mich nicht auf euch warten.» Am Gartentor stand Palle mit dem Auto bereit. Diesmal jedoch fand nicht einmal Niobe eine derartige Einladung am Platz, und das hartnäckige Bestehen auf jener Verabredung für fünf Uhr erbitterte sie. Ja, freilich, um fünf Uhr, sonst nichts mehr, brütete Niobe in ihrem in Verwirrung geratenen Gehirn, das fehlte gerade noch, Narciso, Cascine, Follie Estivel Dabei wußte sie nicht einmal, daß die Armen einen Wechsel über 100000 Lire unterzeichnet hatten. Nicht einmal Giselda brachte es, bei all ihrer Bissigkeit, fertig, von sich aus noch einen Tropfen Gift in das Herz der Schwestern zu träufeln; sie schwieg würdevoll und fand die Unverschämtheit des Neffen grenzenlos. Jene Einladung war mehr beleidigend als zwecklos, schlechthin zynisch. Dieses Mal hatte der junge Mann jedes Maß überschritten. Arme Frauen, sie mußten zu sehr an ihre Angelegenheiten denken, jetzt, da der Abgrund sie mit dem letzten Schlag des Wechsels verschlungen hatte: Das fehlte uns noch: Fiesole und Cascine, Aperitifs und Abendessen, oder gar die Follie Estivel Überdies war die arme Niobe in Gewissensnöten, weil sie nicht ihr möglichstes getan hatte, um auf jeden Fall die widerwärtige Szene der Gefangenschaft zu verhindern: durch ihr passives Verhalten hatte sie sich zur Mitschuldigen des Neffen 225
gemacht und bereute es aus ganzer Seele. Die Stimmen der in der Treppenkammer eingeschlossenen Herrinnen durchbohrten ihr das Herz: Giselda! Niobe! Sie war genauso grausam gewesen wie die Schwester, noch viel grausamer, denn sie hatte sie in ihrer Eigenschaft als Dienerin verraten, verkauft. Nun, da der junge Mann nicht mehr da war, fühlte sie, daß es ihre Pflicht gewesen wäre, sich dem verbrecherischen Plan mit allen Mitteln zu widersetzen: kämpfen, sich Mann gegen Mann behaupten, schreien, Leute herbeirufen. Ihre durch den Zauber seiner Person hervorgerufene Ergebenheit gegen ihn erschien ihr als eine Schuld, eine wirkliche und tatsächliche Schuld gegenüber den in die Macht des Zügellosen und Gewalttätigen gefallenen Herrinnen. Sie war hingerissen worden, ohne es zu merken, ohne Zeit zum Überlegen zu haben, und merkte es zu spät; sie hätte den Mund aufmachen müssen, und wenn sie nicht die Kraft dazu fühlte gegenüber einer Ungerechtigkeit, einer Sache, die sie als unwürdig erkannte, so hätte sie die Unterzeichnung des Wechsels in jener unerlaubten, abstoßenden, gewalttätigen Form verhindern müssen. Alles sagte ihr: Geh, geh zu deinen Herrinnen hinauf, geh und rechtfertige dich, sag ihnen, wieso du deine Pflicht nicht getan hast, wieso du in dem Augenblick, wo sie dich brauchten, untätig geblieben bist, wieso du dich gegen eine Gewalttätigkeit nicht gewehrt hast, gegen einen strafbaren Frevel von seilen eines Zügellosen und seiner unrechtmäßigen Absichten. Geh und teile ihr Elend, wie du immer alle guten und bösen Stunden mit ihnen geteilt hast. Sie hatte nicht den Mut dazu. Sie fühlte sich schuldig und feig. Zum erstenmal fehlte ihr der Mut, erhobenen Hauptes vor sie hinzutreten. Sie fühlte sich feig und wartete, daß sie sie riefen, wie der Hund, der aus Furcht vor den Schlägen die Schwelle des Hauses nicht zu überschreiten wagt, bis endlich eine freundliche Stimme nach ihm rufen wird; aber jene dachten nicht einmal daran. Sie begann die vom Mittagessen her noch unaufgeräumte 226
Küche wieder in Ordnung zu bringen, die Teller und das Küchengeschirr abzuspülen. Über den Debatten zuvor und dann der Geschichte mit der Speisekammer war es vier Uhr geworden; im Herd war das Feuer nutzlos heruntergebrannt, das Wasser im Kessel hatte schon längst zu sieden aufgehört. Von Zeit zu Zeit horchte sie an der Tür, trippelte auf den Zehenspitzen bis an den Fuß der Treppe, aber die Herrinnen riefen sie nicht. Wer weiß, in was für einem Zustand sie waren, die Ärmsten, sie gaben kein Lebenszeichen. In ihr Herz drang immer tiefer eine scharfe Klinge ein, die klägliche Stimme aus der Treppenkammer, die sie schaudern ließ: Giselda! Niobe! Niemand hatte sich gerührt, um ihnen zu helfen. Sie war genauso treulos gewesen wie die Schwester, die sie wegen ihrer Treulosigkeit verabscheute - mehr als sie. In das Spülwasser fielen ihre Tränen: Giselda! Niobe! Sie hatte es gemacht wie jenes höllische Weib, das am Fenster sang, indes sie eine der schwersten Stunden ihres Daseins erlebten, eine Stunde der Todesangst, in die elende Kammer eingesperrt, Opfer einer verabscheuungswürdigen Erpressung. Giselda hatte nicht geantwortet wegen des Hasses, den sie gegen alle nährte, und sie hatte sich gestellt, als ob sie ihnen nicht zu Hilfe kommen könnte, sie, die sich für ihre Herrinnen hätte umbringen lassen; aus übertriebener Sympathie für den Spitzbuben, der für seinen materiellen Vorteil vor nichts zurückschreckte. Giselda! Niobe! - Wer würde ihr die Kraft geben, zu ihnen zu gehen? Wie würde sie ihre Blicke ertragen können? Dicke Tropfen fielen immer weiter. Sie hielt inne, begann sich die Hände an der Schürze zu trocknen und die Augen am Unterarm, horchte an der Tür, an der Treppe, aber sie hatte nicht den Mut hinaufzugehen und kehrte wieder zu ihrer Arbeit zurück. Warum riefen sie sie nicht? Und mehr als einmal blieb sie beim Abtrocknen einer Schüssel oder eines Trinkglases plötzlich stehen und hielt den Atem an... Es war ihr, als ob sie gehört hätte: Niobe!... Aber nein. Eine Täuschung. Jene Stimme war aus ihrer eigenen Qual gekommen, aus ihrer immer noch zu227
nehmenden Qual. Sie horchte weiter: Nein, nichts, es war die Stimme des Herzens, die ihr so viele Stiche versetzte. Im ersten Stock Grabesstille. Giselda hielt sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um nicht an den Geschicken der Familie teilzuhaben, und die Schwestern in dem ihrigen, ohne daß auch nur das geringste Lebenszeichen daraus hervorgedrungen wäre. Es hatte fünf geschlagen. Von Remo sah man nichts. Begreiflich, aller Wahrscheinlichkeit nach würde er nicht mehr kommen, sogar sicher. Er hatte wohl gedacht, daß es keinen Zweck hätte zu kommen, es wäre auch der Gipfel der Unverschämtheit gewesen zu kommen, um sie abzuholen, es war nur eine gewandte Phrase von ihm, ein leeres Gerede, um sein wahres und ganz anderes Empfinden zu verbergen; bestimmt hatte er es gemacht, um die Bedeutung des Unheils zu verringern, indem er selbst damit anfing, es nicht zu wichtig zu nehmen, damit die anderen es nicht wichtig nehmen sollten, es war sein gewohntes Spiel: Weil er ihre Schwere erfaßte, behandelte er die Sache auf leichte Art. Besser, besser so, besser sie in Ruhe zu lassen, die Ärmsten, in ihrem Schmerz, in ihrer Sorge wegen der Unterschrift auf dem Wechsel. Auf diese Weise zeigte er mehr Achtung für sie, ein gerechteres Verständnis nach dem angerichteten Unheil, und gab Vertrauen für die Zukunft. Nichts da mit Follie Estive, Sommertorheiten, Vernunft brauchte man, und viel, und nicht bloß für den Sommer, sondern auch für den Winter, für den Frühling, für den Herbst, für alle Jahreszeiten. Das würde der letzte Streich des nichtsnutzigen Burschen gewesen sein, der das Leben von nun an unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachten würde - besser, besser so. Und was die Vergangenheit betrifft, so würde schon alles wieder in Ordnung kommen, die Vergangenheit kann man immer wiedergutmachen, die Hauptsache ist, in Zukunft vernünftig zu werden. Als sie mit dem Abspülen und Abtrocknen fertig war, alles wieder aufgeräumt, die Küche ausgekehrt und das Fenster 228
wegen der Fliegen sorgfältig zugemacht hatte, schien sie entschlossen, zu den Herrinnen hinaufzugehen, um zu hören, ob sie nicht etwas wollten, ob sie etwas brauchten, ob sie sich nicht wohl fühlten und was sie für sie tun könnte; bereit, Vorwürfe und Rüffel entgegenzunehmen, die sie verdient zu haben glaubte, und sich zu rechtfertigen, wie es ihr das Herz eingab, weil sie nicht verhindert hatte, daß die Sache nach den unerlaubten Plänen des Schuldigen ablief. Aber an der untersten Treppenstufe blieb sie stehen, kehrte um, gewiß schliefen sie nach all diesem Durcheinander. Nach so vielen Aufregungen müssen sie schlafen, lassen wir sie in Ruhe, stören wir sie nicht. Im Grunde war diese Sorge eine Beruhigung für sie selber, für ihr unüberwindliches Unbehagen, sie wiederzusehen. Sie ging zur Tür, um auf das Geräusch des Autos zu horchen: Nichts. Besser, besser so, alles kommt von selber wieder in Ordnung, natürlich. Es schien wirklich, als ob die nach jener letzten Prüfung wieder in das Haus zurückgekehrte Vernunft zu wirken beginnen würde. Nichts von Vergnügen. Keine Rede davon. Ganz gewiß lagen sie auf ihrem Bett mit geschlossenen Augen, auch wenn sie nicht schlafen konnten, sie waren wie zwei kranke Kinder auf diesem Bett und hielten die Augen geschlossen, um nicht zu sehen, um nicht zu wissen, und taten, als schliefen sie, um sich von ihrer Aufregung zu erholen. Dann würden sie schließlich schläfrig werden und wirklich schlafen, ganz allmählich, ohne es zu merken, ein erquickendes Schläfchen würde die Genesung einleiten und ihre Rettung sein. Nach dem Aufwachen würde die Erinnerung an das häßliche Ereignis allmählich aus ihrem Geist verschwinden, alles andere kam von selber. Deswegen riefen sie nicht; es war besser, wenn man sie in Ruhe ließ. Und Remo, Remo vor allem, er schien jetzt doch Vernunft anzunehmen und eine andere Richtung einzuschlagen: das war das tröstlichste, damit man nicht neuen Sorgen entgegenging. Es war schon genug mit den bisher von ihm verursachten, er begann selbst zu begreifen, daß es zu viele waren und daß es Zeit 229
war, damit ein Ende zu machen, er hatte angefangen einzusehen und vielleicht auch zu bereuen, es konnte nicht anders sein. Wenn sie auch gedankenlos und leichtsinnig sind, die jungen Leute, so haben sie doch auch wieder ein gutes Herz. Während sie sich diesen tröstlichen Gedanken überließ, schreckte sie die Autohupe, die sie unter Tausenden herauskannte, auf; dann das Auto in großer Geschwindigkeit. Das ist er. Er ist es wirklich. Da gehörte schon allerhand Mut dazu, herzukommen. Und was wird er machen? Eine neue Szene vielleicht? Nein, nein, er kommt, um sich auszuruhen, er geht in sein Zimmer hinauf und ruht sich aus, legt sich aufs Bett, er muß schlafen, er kommt zum Schlafen, versteht sich. Das wäre schon der Gipfel der Frechheit, wenn er käme, um zu hören, ob sie Lust zum Ausgehen haben, zum Vergnügen, unter solchen Umständen: das wäre ein Vergnügen! Ausgehen, ja freilich, sonst nichts mehr! Sie ging auf das Gartentor zu, bereit, ihn über den Zustand der Ärmsten zu informieren, bereit, ihm die Unangebrachtheit seiner Einladung begreiflich zu machen, für den Fall, er hätte gewagt, darauf zu bestehen; zu allem bereit, zu jeder Art von Kampf für die Gerechtigkeit, um ihre Herrinnen zu schützen, um sich nicht ein zweites Mal entwaffnen oder überrumpeln zu lassen: Es ist Zeit, daß Schluß gemacht wird. Sie richtete sich auf, dehnte und reckte sich, daß ihre Massen bei der ungewohnten Bewegung ins Wackeln gerieten. Diesmal würden die Ereignisse sie nicht unsicher, untätig, wehrlos finden, man brauchte sie nur anzusehen. «Zi' Te, Zi' Ca...» Remo rief von der Straße her, während er aus dem Auto stieg, unter dem Fenster der Tanten, und ohne sich ihr zuzuwenden: «Zi' Te, Zi' Ca...» In seiner Stimme war die gewohnte Natürlichkeit, nur leicht vom Rosenschimmer einer lockenden Neckerei überhaucht. «Zi' Te, Zi' Ca», wiederholte er beim Eintreten in das Tor mit einem Ton von Eile. Als er auf Niobe traf, verlangte er von ihr ein Glas frisches 230
Wasser, weil er vor Durst verging, indes Palle auf der Straße geräuschvoll den Wagen in Richtung Florenz wendete. Die Magd, die ihm entgegengelaufen war, damit er zu rufen aufhörte, um ihm zu sagen, daß er die Unglücklichen nicht rufen sollte, die kein Lebenszeichen gaben und sich in weiß Gott was für einem Zustand befanden, daß er sie nicht aufwecken sollte, daß er sie in Frieden schlafen ließe, weil sie sehr wahrscheinlich schliefen, und wenn nicht, sich stellten, als ob sie schliefen, um nicht zu sehen, nicht zu wissen, um zu vergessen, was vorgefallen war, weil sie von niemand gehört werden wollten, weil sie keine Lust hatten, zu sprechen, irgendeinen Menschen zu sehen, deswegen hatten sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen... bei dem Befehl des Glases Wasser unterlag sie der instinktiven Gegenbewegung ihres dienenden Standes: der Herr verging vor Durst, und man mußte ihm zu trinken geben. Wie sie so bestürzt zwischen den zwei Bewegungen stand, der einen, die sie antrieb, ihm entgegenzutreten und ihm die Augen über die Tanten zu öffnen, und der anderen, die sie antrieb, ihm sofort zu trinken zu geben, weil er vor Durst verging, siegte die zweite. Sie lief in die Küche, um ein Glas zu holen. Das ist doch die Höhe, sie in dieser Weise zu rufen, nach dem, was geschehen ist, als ob nichts geschehen wäre, da gehört schon allerhand Frechheit dazu, dachte sie, während sie die Flasche füllte. Aber sind die Männer nicht alle so? Sie dachte weiter: Oder wenigstens, sind nicht gerade die so, die uns am besten gefallen? An den anständigen liegt uns im Grunde nichts, wir zerbrechen uns lieber den Kopf um diese Teufelskerle, es ist unser Schicksal, die sind es, die ihn uns verdrehen, und danach spielen sie uns übel mit. Diesmal aber hast du kein Glück, hast dich verrechnet, mein Lieber, kannst lange warten mit deinem Auto. Sie schenkte ihm das Glas Wasser an der Tür ein und blieb, ihn ansehend, mit der bereitgehaltenen Flasche stehen und wartete, bis er getrunken hatte, um anzufangen. Remo goß es mit einem Vergnügen hinunter, daß es eine 231
Freude war, ihm dabei zuzusehen. Die heitere Klarheit dieses Vorgangs war gleich mit der Klarheit des flüssigen Elements, das er in seine Kehle rinnen ließ. «Willst du auch trinken, Palle, hast du keinen Durst?» Palle, der sein Manöver ausgeführt und die Motorhaube abgedeckt hatte, war gerade dabei, den Motor zu untersuchen; er zog den Kopf heraus, wandte ihn herum und bejahte mit einem Nicken, und nachdem er das Auto wieder zugedeckt hatte, trat er näher, indes er schon von weitem die Bewegung machte, das Glas aus der Hand der Magd zu nehmen, die es wieder füllte. Er goß es begierig hinunter wie der Freund, aber das Wasser schien sich zu verbergen und schüchtern in seinen Hals hinabzugleiten, um nicht eine unbeholfene Bewegung sichtbar zu machen, welche die ganze Person verbergen wollte, mit der Schüchternheit, die ihn ein Wort andeuten ließ, das eher eine Entschuldigung war als ein Danke. Niobe wußte nicht, wie sie es anfangen sollte, aber sie wollte um jeden Preis ein Gespräch einleiten und angesichts dieses ebenso ungelegenen wie nutzlosen Abwartens zu einem Entschluß kommen. «Wissen Sie... sie haben sich im Schlafzimmer eingeschlossen und nicht einmal mich gerufen, Sie können sich vorstellen... sie antworten nicht, Sie werden verstehen... in einem solchen Zustand... sie haben nicht unrecht... Sie werden eingeschlafen sein, sie waren ja so müde, die Ärmsten... Sie haben sie doch gesehen, Sie haben sie ja selber gesehen, in welchem Zustand sie waren... was wollen Sie... oder haben Sie sie nicht gesehen?» Remo hörte zu und schaute sie an, als verstünde er die Bedeutung der Worte nicht, als redete sie in einer unbekannten Sprache oder führte wirre Reden, und andererseits ohne sich im mindesten betroffen zu fühlen. So daß Niobe, um sich verständlich zu machen, die Dosis erhöhte: «Sie werden begreifen ... sie können keine Lust haben, sich zu unterhalten, 232
spazierenzufahren, zum Abendessen auszugehen, in diesem Zustand, das ist doch leicht zu verstehen... Vielleicht ein andermal, wenn sie sich wohler fühlen, wenn ihnen der Zorn vergangen ist, für heute abend wird es gut sein, wenn Sie allein gehen.» Es war das erste Mal, daß sie mit dem jungen Mann in diesem Ton sprach. Remo sah sie an, und dann schaute er in die Runde, das weite Land, den Horizont und die von der Wärme jener letzten Tage eines herrlichen Maimonats rosig gefärbte Luft, berauschend mit ihrer Milde und ihren Düften; er sah die Magd an, ohne ihr auch nur mit einem Zeichen zu antworten. Er schien ihrer Rede nicht die kleinste Bedeutung beizumessen, rief jedoch nicht mehr und machte keine Miene, zu den Tanten hinaufzugehen; er blieb da auf der untersten Stufe vor der Tür stehen, mit den Händen in der Tasche, und wippte in abwartender Haltung auf den ein wenig auseinandergespreizten Beinen hin und her. Aus dem stummen Zimmer kam ein erstes Geräusch, dann ein stärkeres Geräusch, das Öffnen einer Tür, Stimmen und großes Rauschen über die Treppe hinunter. Niobe hielt den Atem an. O Gott, was geschieht? Jetzt gehen die Tragödien wieder an. Sie zitterte, zitterte bei dem Gedanken, die Herrinnen wiederzusehen, zitterte vor ihnen, vor dem Neffen, vor sich selber; sie zitterte um einen unmöglichen Stand der Dinge und machte sich Mut, um sich nicht ein zweitesmal überrumpeln zu lassen und bereit zu sein, dazwischenzutreten und sie zu verteidigen. Jetzt kam die Abrechnung für beide, für den Neffen und für sie. Nach reiflicher Überlegung hatten die Schwestern einen bestimmten Entschluß gefaßt, hatten sich beraten, hatten Zeit gehabt, ihren Plan zu formulieren, jetzt handelten sie, schritten mit Energie ein, ohne Erbarmen, trafen die nötigen Maßnahmen, kamen herunter wie zwei Rachegöttinnen in höchster Wut, jagten die Magd und den Neffen aus dem Haus, sie hatten alles Recht dazu... und allen Grund. Das Geräusch auf der Treppe war ungeheuer. 233
Sie zeigten sie alle beide beim Gericht an, auch sie als Mitschuldige, es handelte sich um eine regelrechte Erpressung mit tatsächlichem Festhalten von Personen - eine ungeheuerliche Sache, sie waren der Strenge des Gesetzes verfallen. Diese Geräusche und diese Stimmen auf der Treppe machten ihr den Kopf schwindeln, die Beine zittern, gerade in dem Augenblick, wo sie stark sein wollte, wo sie stark sein mußte. Und als die Schwestern gleichzeitig im Zimmer erschienen, wäre sie beinahe umgefallen. Noch nie waren sie so anmutig und schön in festlicher Gewandung erschienen. Teresa in Violett mit grünen Garnierungen und gelben Federn, und Carolina ganz in Himmelblau mit rosa Federn. Noch nie waren sie so aufgeputzt gewesen, mit so viel Krimskrams: klingelnd, glänzend und gepudert. Wenn sie auch unter dem Puder noch die eine die Spuren des Zornes und die andere die der Tränen verrieten. Mit Armreifen und Halsketten, mit Fächer, Lorgnette und Sonnenschirm, um den Sonnenuntergang in den Cascine oder in Fiesole zu genießen. Die Magd schaute sie an und hielt sich dabei nur mühsam aufrecht. «Oh, Niobe!» «Wo hast du dich denn verkrochen, darf man das wissen?» Sie lächelten ihr beide zu. Die Magd schnappte nach Luft, um eine Antwort herauszubringen, das Lachen ließ ihr den Bauch und die Lippen zugleich aufzucken, aber nur für einen Augenblick. Sie brachte kein Lachen zustande, hörte mit einem Schlag wieder auf, um es gleich wieder zu probieren. Und sie konnte ebensogut anfangen zu weinen, indem sie mit der Lippe und mit dem Bauch die gleiche Bewegung machte, ohne daß sie weinen konnte, wie sie auch nicht lachen konnte: vor ihr war etwas, das jede Lebensäußerung im Entstehen lahmte. Sie traute ihren Augen nicht. Waren das wirklich ihre Herrinnen? «Ich war in der Küche... ja, ja... oh... aufräumen... Geschirr spülen», stammelte sie verwirrt. «Recht so... recht so... Sie haben recht, wenn Sie sich ein bißchen zer234
streuen... da haben Sie eine gute Idee gehabt... es ist ein so schöner... so schöner Abend...» «Remo, Remo», zwitscherten die Tanten. «Wohin fährst du uns? Wohin soll's denn gehen?» «Ich habe es euch schon gesagt, meine Lieben», wiederholte Remo mit einschmeichelnder, zärtlicher Stimme, während er ihnen zum Auto voranging. «Zu Narciso in die Cascine, zum Aperitif, dann zum Abendessen nach Fiesole, und gegen zehn Uhr in die Follie Estive, die Loge habe ich schon, die Proszeniumsloge, die ihr gerne habt.» «Zu Narciso in die Cascine... zum Abendessen nach Fiesole ... und in die Follie Estive», wiederholten die Tanten, während sie in das Auto einstiegen und taten, als ob sie sich das einprägten, was sie schon wußten. «Und was gibt es in den Follie Estive? Was gibt es da?» «Da gibt es eine neue Revue: ‹Frauen, immer Frauen, im Himmel, auf Erden und im Meer›.» «Ah, ah, ah!» Viele Leute hatten sich ringsum angesammelt, um sie abfahren zu sehen: junge und alte Frauen, Kinder in Menge, die übliche Gruppe, die von den Abfahrenden jedesmal mit gesteigerter Würde verabschiedet wurde. Und dieselben, die hinter dem Rücken Glossen machten: «Wie der Großvater! Wie der Vater! Sie sind närrisch geworden!», standen mit offenem Mund da, um sie zu bewundern. In jenem Augenblick der Ungewißheit jedoch, welcher der Ingangsetzung eines Autos vorausgeht, und nachdem die Schwestern gesagt hatten: «Addio, Niobe, addio! Addio, Kinder! Addio, Leute!», da kam aus dem Fenster ihres Schlafzimmers eine Stimme wie der Schrei eines Raubvogels: «Kuppler!» Die Damen verstanden bei diesem Anlaß eine so noble Haltung zu bewahren, daß sie in keiner Weise merken ließen, den Zuruf gehört zu haben; und die Person, an die er gerichtet war und die rechtzeitig das Steuerrad herumgedreht hatte, ließ als prompte Antwort das Auto abfahren. Nur Palle 235
konnte ein unmerkliches Lächeln und eine kindliche Gebärde nicht unterdrücken, die daran erinnerte, wenn unter Knaben einer voll Wut den Gefährten einen Stein nachwirft und der, nachdem er ihm geschickt ausgewichen ist, mit einer spöttischen Bewegung antwortet. Niobe blieb, die Hände in die Hüften gestemmt, regungslos und verblüfft am Gartentor stehen. Die sonnige Kreatur begann Schatten vor sich zu sehen, nicht mehr gut zu sehen, nicht mehr mit jener wunderbaren Klarheit, mit der sie immer gesehen hatte und die aus ihrem Herzen gekommen war. Und wenngleich sie nicht genau wußte, was diese zwei Dinge waren, fragte sie sich: «War dies das Leben, oder wurde eine Komödie aufgeführt?» Das eine im anderen: beide Dinge zugleich.
ZEIT IST GELD
ZWEI SCHWESTERN NEBST NEFFEN, EIN FÜHRER NEBST KÖNIG UND DIE LEKTOREN VON ROM
Zu DEN MÜNZEN, DIE DIE SCHWESTERN MATERASSI MÜHSAM VERDIENT.
...und für ihren Neffen um so leichter wieder ausgegeben haben, hat wohl auch jenes Hundert-Lire-Stück in Gold gehört, das 1923 geprägt wurde. Es zeigt auf der Kopfseite das Porträt von Viktor Emanuellll. und auf der Rückseite eine Axt mit Rautenbündel, die Fasces der Liktoren im alten Rom. Lektoren waren sozial niedrig stehende Amtsdiener und Begleiter höherer römischer Magistrate. Ihre Zahl richtete sich nach dem Rang der Amtsträger. Die Fasces, Rautenbündel und Beil, symbolisierten das Recht, zu züchtigen und die Todesstrafe zu verhängen. Zum hehren Symbol kam die handfeste Praxis: Die Liktoren gingen ihren Herren voraus und bahnten sich mit den Fasces den Weg durch die Menge. Zum Gedenken an den Marsch auf Rom wurden die Fasces von Mussolini als Abzeichen übernommen, und sie gaben seiner Bewegung auch den Namen: Faschismus. Der Faschismus in Europa ist überwunden, Gold als offizielle Währung ebenso. Geblieben sind die Lira und das Vertrauen in festverzinsliche Wertpapiere, die schon lange vor dieser Zeit erfolgreich waren: Pfandbriefe und Kommunalobligationen.
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PEGGY
R EMO
BRIEFE GESCHRIEBEN. ER hatte nur Karten geschickt mit herzlichen Worten, freundlichen Grüßen an die Tanten: «Es geht mir gut, wie geht es Euch? Ich denke viel an Euch.» Er war in Bologna gewesen, in Mailand, jetzt war er in Venedig, wo er den Sommer verbringen würde. Die Tanten drehten und wendeten diese Karten hin und her, studierten sie genau in allen Einzelheiten, versuchten ein Zeichen, einen Punkt, einen Flecken, die Briefmarke zu deuten ... sie brachten sie fast nicht mehr aus den Händen. Da aber auf jeder in einer Ecke geschrieben stand: «Grüße von Palle», war dies der einzige Punkt, den sie immer übersahen, wie sie es fertigbrachten, weiß man nicht; wie man auf der Straße bei einer Person, die man nicht grüßen will, so tut, als sähe man sie nicht, nachdem man sie nur zu genau gesehen hat. Alles hatte einen anerkannten Wert außer dieser Unterschrift, deren Wert sie nicht anzuerkennen beabsichtigten. Sie legten die Karten auf den Tisch oder auf den Stickrahmen und bewunderten während der Arbeit die Ansichten. Ob er Arbeit gefunden hatte, ob er endlich seine Angelegenheiten in Ordnung bringen konnte? Ob er gute Aussichten hatte, der arme Junge? Sie hatten ebenfalls mit Karten geantwortet, die sie an die verschiedenen, von ihm angegebenen Gasthöfe oder Hotels adressierten und die ihn baten, mehr zu schreiben, Nachrichten zu geben, sie über seine Pläne zu unterrichten, über seine Aussichten und das Leben, das er führte. Aber es war leicht einzusehen, daß er keine langen HATTE
NIE
LANGE
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Briefe schrieb, weil er den Tanten nicht viel Tröstliches zu erzählen hatte. Vor allem waren sie während seines Aufenthaltes in Mailand auf Nachrichten begierig gewesen. Sie wußten, daß Mailand eine Stadt mit Handel, mit großen Industrien ist, wo die Möglichkeit bestand, eine Stellung zu bekommen, sich eine Existenz zu schaffen; und als sie erfuhren, daß er von Mailand nach Venedig weitergereist war, fragten sie sich, wozu er dorthin gegangen sein mochte. Was für eine Arbeit würde er in einer Stadt finden, in die man nur geht, um Geld auszugeben? Um zu leben, um zu genießen? Ende Mai war er fortgegangen, zwei Tage nach der Gefängnisszene, und erst Mitte September erhielten sie einen Brief. Sie erbleichten, als sie ihn sahen, und öffneten ihn in solcher Erregung, daß sie den Umschlag zerfetzten und einander aus der Hand rissen, mehr aus dem Bedürfnis, ihn zu spüren, zu greifen, als aus der Ungeduld, ihn zu lesen. Auch Niobe zitterte in der Erwartung. Meine lieben Tanten, verzeiht, wenn ich Euch in all dieser Zeit nie ausführlich geschrieben habe, aber ich hatte Euch keine wichtigen Nachrichten mitzuteilen; und es war mir nur daran gelegen, Euch zu sagen, daß es mir gut ging, und zu erfahren, daß es auch Euch gut ginge. Heute schreibe ich Euch, um Euch meine Vermählung anzuzeigen. Ich habe mich mit einer jungen amerikanischen Dame verlobt, die ich hier in Venedig kennengelernt habe und in einigen Tagen nach Florenz bringen werde, damit Ihr sie kennenlernt. Wir werden nur wenige Tage in Florenz bleiben, die unbedingt notwendige Zeit für die Feier unserer Hochzeit, und dann gleich nach New York abreisen, wo meine Verlobte ihren Wohnsitz hat, um auch die Bekanntschaft ihres Vaters zu machen, der ein Industrieller in dieser Stadt ist. Peggy, die Florenz und seine malerische Umgebung sehr 238
gut kennt, sendet Euch zusammen mit mir einen herzlichen Gruß, dem ich eine besondere Umarmung hinzufüge. Euer Neffe Remo Die Enttäuschungen der ersten entschwundenen Hoffnungen, die ersten angstvollen Stunden des Wartens bei Tag und bei Nacht, wenn der abenteuerlustige und frühreife, dem Studium abgeneigte, zur Unabhängigkeit entschlossene junge Mann nicht nach Hause kam; die folgenschweren Liebesgeschichten, die um hohen Preis und mit vieler Mühe wieder in Ordnung gebracht werden mußten, die ständig anwachsenden und zu bezahlenden Schulden, bis zu dem Drama des in einer Speisekammer unterschriebenen Wechsels, nichts hatte sie so im tiefsten verwundet wie die Worte dieses kurzen Briefes. Man hätte sagen können, daß sie in diesem Augenblick begriffen, wie alle mit dem Neffen durchgemachten Wechselfälle, die Kämpfe und die Tragödien, keine wirklichen und eigentlichen Schmerzen waren, und daß sie zum erstenmal den nackten und tatsächlichen Schmerz erlebten. In so vielen Geschehnissen, was sie auch immer getan hatten, und auch jetzt, was er in der Ferne auch immer tat, hatten sie gefühlt, daß er ihnen gehörte; aus jenen wenigen kalten und gemessenen Worten spürten sie, daß er in die Hände einer anderen übergegangen war. Verlobt. Den Remo, der alles Mögliche und Unmögliche anstellte, hatten sie doch immer wieder verstehen, anerkennen können, nach Szenen, Zornund Wutausbrüchen, die den einzigen Zweck hatten, ihr Dazwischentreten zu reifen, um ihn zu retten und ihre Anhänglichkeit an ihn zu befestigen, ohne daß es ihnen bewußt wurde. Den verlobten Remo konnten sie nicht anerkennen, nicht verstehen. Etwas empörte sich in der Tiefe ihres Blutes, in der Tiefe ihres Wesens oder drang dort ein wie ein schneidendes Schwert. Verlobt. Alles wäre ihnen lieber gewesen als dieses Wort. Sie lasen den Brief immer und immer wieder: 239
«Eine junge amerikanische Dame, die ich hier in Venedig kennengelernt habe und in einigen Tagen nach Florenz bringen werde, damit Ihr sie kennenlernt.» Sie unterbrachen sich und schauten einander verloren, ratlos an, und plötzlich bäumten sie sich bei einem lästigen Gedanken auf, der ihren Schmerz durchkreuzte: es lag ihnen wirklich gar nichts daran, sie kennenzulernen, ganz und gar nichts. Sie pfiffen einfach darauf, die amerikanische junge Dame kennenzulernen. Als Remo zum erstenmal um zwei Uhr nachts acht oder zehn ungehobelte Burschen nach Santa Maria gebracht, das Haus aufgeweckt, die Speisekammer ausgeleert, das Eßzimmer und die Küche auf den Kopf gestellt hatte, war die hervorgerufene Verwirrung nicht so groß gewesen wie durch diesen Besuch, der sich selbstverständlich in der ruhigsten und höflichsten Form abspielen würde. «Sind die Amerikanerinnen schön?» hauchte Carolina in tiefer Betrübnis. «Sie sind wie alle anderen Frauen», antwortete Teresa (mit dem Wort Frauen schien sie in Bausch und Bogen eine Ware zu bezeichnen, Nahrungsmittel von reiner Notwendigkeit), «es gibt schöne und häßliche, und die häßlichen sind immer mehr als die schönen, das darfst du glauben, das ist überall auf der Welt gleich.» Wenn man sie aber gefragt hätte, wie alle Frauen auf der Welt, eine wie die andere, waren, so würde die Zahl der schönen nur durch ein System von sehr starken Brillen zu sehen gewesen sein. «Im allgemeinen sind sie reizlos.» Carolina begann sich hin und her zu drehen, um die eigenen Reize im Gegensatz zu der Reizlosigkeit der Amerikanerinnen ins rechte Licht zu rücken. Nun wurden die amerikanischen Kundinnen nacheinander durchgehechelt, die sie gehabt hatten, und die Amerikanerinnen, die in der Umgebung gewohnt oder von denen sie gehört hatten; aber die Musterung fiel nicht ermutigend aus, eher das Gegenteil. 240
«Es sind moderne Frauen», schloß Carolina. «Was verstehst du darunter?» «Sie sind nicht wie wir, die immer daheim sind, um zu arbeiten oder das Haus in Ordnung zu halten, sie sind emanzipiert, sie treiben Gymnastik, Sport, fahren Motorrad oder Auto, sie machen alles wie die Männer; und wenn ihnen ein Ehemann nicht mehr gefällt, sagen sie ihm ade und nehmen sich einen anderen.» «Schöne Sachen.» «Wir sind die Dummen.» «Wer weiß... auf dieser Welt kann man nie sagen, wer recht hat. Und wenn sie nicht reich sind und essen wollen, werden sie es eben machen wie wir, die amerkanischen Frauen. Und wenn sie kein Dienstmädchen haben, werden sie das Haus selbst saubermachen, sonst können sie im Dreck ersticken, die amerikanischen Damen.» Sie zog eine zimperliche Schnute. «...wir werden nur wenige Tage in Florenz bleiben, die unbedingt notwendige Zeit für die Feier unserer Hochzeit.» «Sie kommen hierher zur Hochzeit.» Carolina fühlte, wie sich ihr bei diesem Gedanken die Kehle zusammenschnürte, der Atem schwand. «... und werden sofort nach New York abreisen.» «New York...» Für die alten Mädchen verschlang der Name dieser Stadt alle lebendigen Wesen wie der des Todes. Sie wagten auch nicht zu fragen, ob die Braut reich wäre, sie wollten sich nicht gegenseitig die Bestätigung dieses Gedankens geben, der sie quälte. Sie fühlten, daß diesmal auch die unvergleichliche Niobe keinen Rat wissen würde: die Sache mußte wahr und nahe bevorstehend sein. Sie waren betäubt, als ob sie einen Keulenschlag mitten auf den Schädel bekommen hätten. Bei Tisch konnten sie nicht umhin, Giselda die Neuigkeit, welche die Lippen unmöglich zurückhalten konnten, mitzuteilen. 241
«Denk dir», sagte Teresa mit einer Ruhe, welche die innere Trostlosigkeit überdeckte, «Remo hat sich verlobt, er heiratet.» «Wen, eine Dirne?» «Ja, so wie du.» Giselda sagte nichts mehr, und sobald sie mit dem Essen fertig war, verschwand sie. Einige Tage später erhielten sie eine Ansichtskarte: «Meine liebsten Tanten, in den ersten Tagen der nächsten Woche werden wir in Florenz sein und gleich kommen, um Euch zu begrüßen; ich habe solche Sehnsucht, Euch wiederzusehen. Nehmt einstweilen Grüße von Peggy und eine Umarmung von mir.» In einer Ecke stand geschrieben: «Palle». «Was bedeutet denn dieser Name? Peggy... Peggy... Was soll das heißen?» «Was für ein lächerlicher Name!» «Wenn sie glaubt, daß wir ihr einen regelrechten Empfang bereiten, wird sie sich täuschen, die Ärmste, ich biete ihr nicht einmal ein Glas Wasser an, meinetwegen kann sie krepieren.» «Ich komme in Schlappschuhen herunter.» Drei Tage später erschien Remo tatsächlich wieder allein in Santa Maria und brachte das ganze Dorf in hellichte Aufregung. «Er ist allein.» «Er läßt sie nicht sehen.» «Er schämt sich.» «Wer weiß, ob sie nicht recht häßlich ist.» «Es wird eine Alte sein.» «Er nimmt irgendeine alte Schachtel mit Geld.» «Und dann sieht er zu, daß er sie wieder los wird.» «Ob es überhaupt wahr ist, daß er verlobt ist?» «Weiß Gott, was er zusammenphantasiert hat.» Nicht einmal Palle war dabei, den man hätte an der Jacke 242
zupfen können. Man verstand, daß Remo keine Zeit zu verlieren hatte. «Eine Amerikanerin.» «Jetzt, wo er sie bis aufs Mark ausgesaugt hat, geht er fort nach Amerika, um sein Glück zu machen.» «Arme Unglückliche!» «Die haben ihren Teil weg mit diesem Neffen.» «Jetzt haben sie die Bescherung.» «Jetzt sind sie die Lackierten.» «Das Übel, das man will, ist nie zuviel.» Als sie ihn so unverhofft ankommen sahen, konnten die Tanten ihre Bewegung nicht zurückhalten; sie weinten, sie küßten ihn, ohne Scheu, ohne Verwirrung, sie drückten ihn an sich und klammerten sich an die Frische seines Körpers. Er überließ sich ihnen ohne Rückhalt, um die tiefe Erregung sich austoben zu lassen. Und erst als sie sich allmählich erschöpfte, ließen sie ihn los, um ihn zu betrachten. Er war noch schöner geworden, frisch und elegant, mit sonnengebräunter Haut. Er begann mit der größten Unbefangenheit von seiner Heirat zu sprechen. Die Papiere sollten von Amerika kommen, und es würde noch mehrere Tage dauern, im übrigen war alles in Ordnung, und die Hochzeit sollte auf Wunsch der Braut in Santa Maria gefeiert werden, ja, auf dem Land. Mitten im Trubel der großen Städte geboren und aufgewachsen und das stürmische Leben liebend, erträumte sich Peggy für ihre Hochzeit eine Stunde voll mystischer Versenkung und Poesie; in Santa Maria erblickte sie die Einsamkeit, einen weltfernen, beinahe himmlischen Ort der Zuflucht, der für das Leben einer modernen, sportlichen Frau wie sie den Reiz des Andersartigen besitzen würde. Remo seinerseits sprach das Wort Hochzeit mit genau der gleichen Fröhlichkeit und Natürlichkeit aus, mit der man ein berühmtes Restaurant nennt, wohin man zum Mittag- oder Abendessen gehen will. 243
Die Tanten betrachteten ihn verwundert, als sie ihn auf solche Weise ein erhabenes und furchtbares, von Geheimnis umgebenes Wort aussprechen hörten, das immer wie eine schwere Wolke über ihren Häuptern geblieben war. «In Santa Maria?» entsetzten sie sich. «Hier?» «Ganz genau», wiederholte Remo mit einem schönen Lächeln, «und ihr werdet Peggy zum Altar begleiten.» «Nein.» «Nein.» «Ich nicht.» «Ich auch nicht.» «Was glaubst du denn?» «Aber nein!» So sagten die Frauen in einem Wirbel. «Wir können nicht, wir können nicht, was meinst du denn... eine Amerikanerin... und dann... es wird sich um ein ... sehr reiches Fräulein handeln... stelle ich mir vor...» «Ja... vielleicht sehr reich, ich weiß es nicht, sie ist die einzige Tochter eines Industriellen in New York, ihr Vater hat einen Kochtopf erfunden...» «Einen Kochtopf?» Sie fuhren beide in die Höhe. Auch Niobe an der Tür fuhr auf: «Haben die in Amerika am Ende noch gar keine Kochtöpfe gehabt?» «Einen mechanischen Kochtopf, einen ganz besonderen, ganz aus Metall, der in sieben Minuten das Rindfleisch kochen läßt und eine ausgezeichnete Suppe gibt.» «Diese Schweinehunde, und ich brauche zwei Stunden dazu.» «Sie sagt, daß er mit diesem Kochtopf das Geld nur so gescheffelt hat.» «Also ist sie ein sehr reiches Fräulein...» «Peggy bekommt von ihrem Vater regelmäßig Schecks. Er schickt ihr jeden Monat einen Scheck von über tausend Dol244
lars, aber nachdem er erfahren hat, daß sie sich verlobte und daß wir zu zweit waren, hat er angefangen, zweitausend zu schicken, doppelte Ration, ohne daß Peggy etwas gesagt hätte; und für die Hochzeit hat er einen Scheck außer der Reihe geschickt.» Tatsächlich wußte Remo nichts weiter von seiner Verlobten und hatte auch nichts getan, um mehr zu erfahren. In ihm war keine schmutzige Habgier gewesen, um sich eine Mitgift zu erangeln, keine schlaue Berechnung, die Zukunft war für ihn nie ein quälender Gedanke gewesen, und die Vergangenheit fiel in einen dunklen Schacht, dessen Deckel er nicht aufzuheben gedachte. Wichtig war nur die Gegenwart: der flüchtige Augenblick, und er war so recht dazu geboren, ihn zu pflücken, ihn mit Glanz zu leben; das, was in den schwarzen Schacht gefallen war, existierte nicht mehr. Peggy bekam Schecks, für den Augenblick wollte er nichts weiter wissen, es lag ihm nichts daran, etwas anderes zu wissen, er empfand kein Bedürfnis, egoistische Berechnungen anzustellen, mit widerwärtigen, ekelhaften Fragen nachzuforschen, in Vorausschau auf die Zukunft unendliche Verträge aufzudrängen - ach was! Er fühlte sich als Herr der Gegenwart. «Das Leben ist leicht», war sein Wahlspruch, und das war genug, um es sehr leicht, primitiv, elementar werden zu lassen. Seine Heirat hatte nichts mit Gewinnsucht zu tun, daran dachte er überhaupt nicht; die Schecks konnte man nicht zurückschicken, sie kamen von selbst. «Und hat sie keine Mutter mehr?» «Nein, der Vater ist seit vielen Jahren geschieden.» «Ach!» Teresa schien bei dieser Mitteilung zurückzuweichen wie jemand, der sich einen Finger oder einen Fuß verbrannt hat und sich den Schmerz nicht anmerken lassen will. Carolina schaute sie verständnisinnig an, um sie an ihre Rede zu erinnern: «Ich habe es dir ja gesagt, sie machen es alle so, die Amerikanerinnen, wenn sie von einem Mann genug haben: gute Nacht, da schicken sie ihn zum Teufel und neh245
men sich einen anderen. Wir sind dumme Dinger, sie lieben die Abwechslung.» Von der Tür her funkelten die Augen Niobes wie die einer Katze im Dunkeln. Es sah ganz danach aus, als ob sie das Benehmen der Amerikanerinnen billigen würde; auch sie war für die Abwechslung, wenn die Dinge nicht recht vorangingen. Im übrigen, da die Ernte so reich war, warum sich mit dem geringsten Teil begnügen? «Und sie ist... jung?» «Vierundzwanzig Jahre, wie ich.» «Und so jung reist sie allein herum?» «Sie hat zu reisen angefangen, als sie achtzehn Jahre alt war, sie kennt die ganze Welt. Dreimal ist sie in Italien gewesen, sie liebt Italien sehr, ihr Vater fühlt sich als Römer dem Geist und der Abstammung nach.» «Und du... natürlich...» Sie konnte diese Frage nicht recht formulieren. «Du hast dich... verliebt... und... liebst sie... selbstverständlich?» «Verliebt!» Remo ließ sich dieses Lachen entschlüpfen und verbesserte sich: «Freilich... gewiß, gewiß liebe ich sie, das versteht sich doch.» Er hatte noch nie so laut, so herzlich gelacht. In diesem Lachen lebte seine ganze Seele. Jenes Wort: Liebe hatte eine so grundverschiedene Bedeutung für ihn und für diese beiden, daß er lachen mußte, wenn sie miteinander davon sprachen, und sich nicht enthalten konnte, in aller Aufrichtigkeit darüber zu lachen. «Ja, gewiß...!» Noch nie hatte er so laut und so herzlich gelacht, noch nie war er beim Lachen so schön gewesen. Die Augen der drei Frauen strahlten. Sie hielten an sich, um nicht auf ihn loszustürzen und ihn ein zweites Mal zu umarmen. Ihre Körper hatten die Seele in diesem glühenden Funken wiedergefunden, der sie ganz durchlief; sie begannen unbefangen zu reden, erleichtert und ohne Anstrengung. «Ich und Peggy, wir sind zwei gute Freunde, die einander gefallen und verstehen, das ist alles, wir leben gut zusammen 246
und können ein erfreuliches, angenehmes Leben miteinander führen, wir lieben die gleichen Dinge, haben dieselben Neigungen und dieselben Abneigungen.» «Wir werden kommen, ja, wir werden zur Hochzeit kommen.» «Ja, ja», bekräftigte Carolina. Auch Niobe bejahte von der Tür her: «So ist's recht, bravo, Sie haben recht, wenn Sie hingehen. Ei, warum denn nicht, zum Donnerwetter!» «Ja, ja», antworteten sie bereitwillig, «ja, du wirst uns sagen, wann, denn es ist keine Zeit zu verlieren, wir kommen, wir kommen ganz bestimmt.» «Wann wird es sein?» Es hatte für die beiden jetzt etwas Verlockendes, diese Braut zum Altar zu geleiten. «In etwa vierzehn Tagen, glaube ich, sobald die Papiere da sind.» «Soso... vierzehn Tage... jawohl, ja...» Teresa traf im Geiste ihre Maßnahmen, und Carolina antwortete: «Soso... vierzehn Tage... jawohl, ja...» Sie begleiteten den Neffen zum Auto und blieben stehen, um ihn abfahren zu sehen, sich entfernen... verschwinden. Als sie darauf wieder ins Haus zurückkamen, konnten sie ein Lachen der Glückseligkeit nicht unterdrücken. «Sie ist reich, und er liebt sie nicht.» «Das konnte man sich ja denken.» «Ich hab's dir gleich gesagt.» «Er nimmt sie aus Berechnung.» «Das war leicht zu merken.» «Hast du gesehen, wie er lachte?» «Wir sind zwei gute Freunde... ja...» «... wir lieben die gleichen Dinge...» «Was für eine Liebe, he?» «... wir leben gut zusammen...» «...wenigstens vorläufig.» 247
«Jawohl.» «Und mir möchte er das erzählen.» «Uns kann er nichts weismachen.» «... Wir haben dieselben Neigungen...» «Den Kochtopf des Vaters.» «Eine schöne Liebe!» «Er nimmt sie wegen des Geldes.» «Das konnte man merken.» «Selbstverständlich.» «Da gehört nicht viel dazu, um das zu verstehen.» «Das ist ja ganz natürlich...» «Wie sie wohl sein wird?» Wie sie wohl sein wird? Es waren nicht allein die Tanten, die sich fragten, wie die junge Dame sein würde, die Remo sich zur Gattin erwählt hatte oder von der er sich zum Gatten hatte erwählen lassen, denn auch die Ungläubigen hatten schließlich geglaubt. Es ging nun darum, zu sehen, wie diese Frau war, über die so viele Zweifel, so viele Vorbehalte, so viele phantastische Vorstellungen im Umlauf waren. Und sobald sich das Gerücht verbreitete, daß Remo am folgenden Tag in den Nachmittagsstunden mit ihr ankommen sollte, war von Mittag an auf jener Straße ein ständiges Kommen und Gehen, ein Postenstehen, Zeichengeben, Winken, die Köpfe aus den Türen oder Fenstern strecken. Neugier und Ungeduld sprühten aus allen Ritzen. Wie mochte die Braut jenes jungen Mannes aussehen, der seit zehn Jahren das Dorf mit seinen Abenteuern erfüllte und der mit seiner Person das bezauberndste Schauspiel dargeboten hatte? Gewiß, es brauchte nicht viel, um zu verstehen, daß es nicht irgendein beliebiges Geschöpf sein konnte; Remo würde nicht in Gesellschaft eines schüchternen und verlegenen kleinen Mädchens erscheinen, das die Augen niederschlug, wenn man von ihm sprach oder das Wort an es richtete, und dem die Knie zittern würden, wenn es vor die 248
zukünftigen Tanten hintrat. Die Neugier war berechtigt; auf jeden Fall gab es etwas zu sehen. Und die Überraschung würde sogar noch größer gewesen sein, wenn der Mann, der so große Ansprüche gestellt und so viel Sicherheit und Dünkel gezeigt hatte, sich mit einem ganz bescheidenen und gewöhnlichen kleinen Ding begnügt hätte. Wenn sie häßlich war? Er hätte es dann gemacht wie die Brummfliegen, die nach so vielem Herumschwirren sich endlich auf ein gewisses Etwas setzen, das man nicht aussprechen darf. Wenn sie alt war? Ob er irgendeinen alten Hafen genommen hatte, des Geldes wegen, eine Vettel, nachdem er das der Tanten durchgebracht hatte? Freilich wußten alle zur Genüge, daß die Braut 24 Jahre alt war, aber es konnte ja eine von jenen jünger gemachten Alten sein, die unentwegt erzählen, daß sie zwanzig Jahre alt sind, wenn sie sechzig sind. Wenn sie hinkend, schief, bucklig, dick, taub, schwarz, gelb war? Es war nicht zu begreifen, warum sich niemand jene Frau normal aussehend vorstellte. Nur die Mädchen warteten, ohne etwas zu sagen; in ihren Herzen war ein Glaube, der nicht lügen durfte. «Es ist Greta Garbo! Es ist Greta Garbo!» riefen sie halblaut aus, als sie aus dem Auto eine sehr junge, hochgewachsene, schlanke Frau springen sahen, in einem kurzen schwarzen Wollkleidchen, das die Beweglichkeit eines im Tanz, in den jugendlichen Spielen, im Sport geübten Körpers erkennen ließ; und mit einem Filzhütchen von lebhaftem Rot, das die Pracht eines wohlondulierten und gepflegten Goldhaars zur Geltung brachte. Eine Beweglichkeit, die von den sterilen und pathetischen Verrenkungen'der armen Carolina himmelweit entfernt war. Die junge Frau blieb mitten auf der Straße stehen, um die Landschaft zu betrachten. Sie drehte sich langsam im Kreis und beobachtete dabei die Örtlichkeit und die Personen, die sie entsprechend ihrer jeweiligen eigenen Keckheit oder Schüchternheit aus respektvoller Entfernung betrachteten. In 249
die eine Seite stützte sie die Fläche der Hand, deren Finger etwas vom Gürtel entfernt die Zigarette hielten. «Es ist Greta Garbo! Es ist Greta Garbo!» Das Herz der Mädchen konnte nicht lügen: Rodolfo Valentino, Ramon Novarro, Charles Farrel, Gary Cooper konnten keine andere heiraten als Greta Garbo. Die übrigen blieben stumm, da es ihnen für den Augenblick nicht gelang, einen schwachen Punkt zu finden, die Risse, wo jener erste überwältigende Eindruck angreifbar war. Und da sie an ihren äußeren Eigenschaften nichts auszusetzen fanden, sprachen sie Zweifel über die moralischen aus: «Ob sie wohl ein anständiges Mädchen ist?» «Hm...» «Ob sie wirklich reich ist?» «Ob sie nicht eine von denen ist?» «Wo das viele Geld herkommen mag?» (Dabei hätten sie es genommen, woher es auch immer kam.) «Sie raucht, das ist nichts Rechtes, mir gefällt sie nicht.» Die Jungen dagegen wären auf alle Fälle gerne sie gewesen, ohne Vorbehalte. Und schon lenkte ein geheimer Instinkt ihren Arm, um jene graziöse Haltung beim Rauchen auszuprobieren. Die Tanten ließen sich nicht am Gittertor blicken und nicht einmal an der Tür. Sie zeigten keine allzu große Eile, der künftigen Nichte entgegenzulaufen, und wollten ihrem Besuch auch nicht die geringste Feierlichkeit zugestehen. Als die jungen Leute erschienen, hoben sie den Kopf von der Arbeit, nahmen in aller Ruhe die Brille ab und begrüßten sie ohne eine Spur von Rührung oder Begeisterung, fast als ob sie eine Kundin gewesen wäre. Nur die Arbeit, die sie nicht mehr liebten und die nunmehr die harte Notwendigkeit des Lebens darstellte, konnte ihnen noch so viel Kraft, so viel Sicherheit, so viel Schönheit geben. Sie fühlten es unbewußt, sie waren wie ein König auf seinem Thron, und sie klammerten sich in der Stunde des Unglücks an diesen, den weder Rivalität noch 250
Haß antasten konnten. Sie erhoben sich beide mit ruhiger und etwas träger Bewegung, ohne einen Schritt zu machen, kaum lächelnd, und in der Luft witternd, wie um eine Bestellung anzuhören. «Zi' Te, Zi' Ca», sagte Remo mit untertäniger Höflichkeit, befriedigt, die Verlobte den Tanten vorstellen zu können. Jede Art von Empfang hätte ihn in der gleichen, unveränderlichen guten Laune gefunden: die Tür vor der Nase zugeschlagen, ein Kübel Wasser auf den Kopf, ein Steinhagel ebenso wie ein ihm zu Ehren veranstalteter Ball. Und da bei der Tür hinten im Schatten jemand herausschaute, lenkte er die Frauen von einer allzu kühlen Begrüßung ab: «Nini», setzte er in einem Ausbruch von Fröhlichkeit hinzu, lief nach jener Seite und wiederholte, indem er Niobe an sich drückte, die sich weigerte, nach vorne zu gehen, «meine alte Nini» und hielt sie zärtlich fest. Mit einem flüchtigen Lächeln und Kopfnicken begrüßte Peggy auch die Magd. «Oh yes, all right.» Und sie schaute sich weiter im Arbeitsraum der Tanten um wie vorhin auf der Straße, als sie aus dem Auto gesprungen war, und ließ deutlich merken, daß sie mehr von den Orten und Dingen gefesselt wurde als von den Personen. Dann rief sie in einer plötzlichen Aufwallung von Zärtlichkeit aus: «Oh, verzauberte Affen!» «Nein, meine Liebe, nein», verbesserte Remo heiter und sanft, «gezähmt, nur gezähmt.» Er war wie ausgewechselt: aufmerksam, liebenswürdig, gesprächig; und da er begriff, wie schwierig es war, jene gegensätzlichen Kräfte zu verschmelzen, schaltete er sich immer wieder vermittelnd ein, Lücken ausfüllend, gefährliche Wendungen abbiegend. Er erklärte Peggy die Einrichtung des Hauses, den Beruf der Tanten, die hin und wieder boshafte Blicke und ein giftiges Lächeln tauschten: Jetzt bist du dran mit dem Gezähmtwerden, und vielleicht gelingt es uns. Sie 251
waren durch die Anwesenheit der Jungen weder bewegt noch verwirrt, sondern nur auf der Hut, sie wollten ihre feindseligen Gefühle verbergen, gaben sich eher leicht ironisch und mondän, wie sie es zwischen den Hosen und Hemden nie gewesen waren. In zehn Jahren hatten sie vieles gelernt. In ihrem Herzen war die Antwort Remos auf die wesentliche Frage: Er liebt sie nicht, er liebt sie nicht, er liebt sie nicht. Diese Worte pochten da drinnen wie ein Uhrwerk: Er liebt sie nicht, er heiratet sie aus Berechnung, und sie bewahrten sie eifersüchtig. Weder ihr noch ihm gegenüber durfte von dieser inneren Kraft, die ein Licht in ihre Seelen, in ihren Schmerz warf, durchscheinen: Er liebt sie nicht. Die Gegenwart des Opfers gab eine tiefe, bittere Lust; und sie hatten die doppelte Freude, sie zu verbergen, für sich zu behalten und dabei eine völlige Gleichgültigkeit zu zeigen, wie gegen Leute, die einen nichts angehen. Sie mochte sagen, daß sie Papageien oder Affen wären, ohne überhaupt zu wissen, was sie sagte, arme Närrin, der wahre Papagei war sie, die nicht einmal sprechen konnte, sie war der wahre Affe, der gezähmt werden sollte oder wahrscheinlich schon gezähmt war. Darüber hätten sie lachen können, lachen, vor Lachen platzen, und sie lachten nicht, damit sie nichts merkte, sie hüteten sich wohl zu lachen, um im Grund des Herzens doppelt lachen zu können, um sie nicht argwöhnisch zu machen, um sie leichter in den Sack, in die offene Palle hineinzubringen; sie lachten für sich, nur für sich: Hoffentlich macht er es dir zweimal so arg, wie er es uns gemacht hat, das sagten ihre ruhig und gleichgültig lächelnden Mienen. Dabei wären sie bereit gewesen, sich noch einmal das gleiche antun zu lassen. Wenn er eine Wurst aus dir machte, wäre es noch nicht einmal das, was dir gebührt. Remo zeigte der Verlobten das Haus: das Eßzimmer, den Empfangssalon, er führte sie in sein Schlafzimmer hinauf, wo sie sich lange und schweigend aufhielten, und nur als Peggy aus dem Fenster auf das Feld hinausschaute, konnte sie sich 252
nicht enthalten, beim Anblick der Bergketten auszurufen: «Oh, wie bezaubernd!» Mit warmer Stimme schilderte er die Geschicklichkeit der Tanten, die in der ganzen Stadt berühmt waren, die einfachen Gewohnheiten seiner Pflegefamilie, mit männlicher Sicherheit, ohne das Bedürfnis, etwas zu verbergen oder auch künstlich zu beschönigen, sondern er sagte die Dinge frei und offen, wie sie waren, worauf Peggy immer: «Oh yes, ach ja» antwortete und in glücklicher Stimmung das ländliche Idyll genoß. «Wirklich, all right.» Die Tanten folgten ihr mit ihrem unmerklichen Lächeln: Na ja, wirklich, was will sie denn... sie wird schon noch begreifen... jawohl, und wie!... das so gut das Licht im Grunde ihres Herzen überdeckte: er liebt sie nicht, er heiratet sie des Geldes wegen. Auch die Erfrischung konnte nicht einfacher sein. Niobe brachte ein kleines Tablett mit Weingläsern und ein Tellerchen mit ein paar Biskuits. Eine ganz andere Bewirtung als damals an einem fernen Nachmittag für die Direktorin Squilloni, als Remo das Abschlußzeugnis für die Volksschule erwerben sollte. «Das Fräulein wird gewohnt sein, zu dieser Stunde Tee zu trinken, aber uns schmeckt diese Brühe nicht, wir trinken ihn nie... uns ekelt davor.» «Puh, so ein Spülwasser!» «Wir sind nicht daran gewöhnt. Wir haben den Wein von unseren Hügeln, der so gut ist», auch die ethnische Rivalität ging angesichts der gefühlsmäßigen unter, «und uns ist er lieber als der Tee.» Worauf Peggy, die ihren Geschmack vollkommen teilte, erwiderte: «Spülwasser, yes.» Auch sie mochte den Tee nicht und zog den Wein vor, den sie mit sichtlichem Genuß trank. Die Schwestern blickten einander sprachlos an: «Sie muß eine Säuferin sein, vielleicht zieht sie deswegen in unserer Gegend herum, um zu saufen, soviel sie will, dort drüben dürfen 253
sie nicht trinken, sie ist eine Säuferin, ganz klar, schade, daß wir ihr nicht ein Täßchen Tee gemacht haben.» Peggy nahm mit Begeisterung ein zweites Glas an, das ihr nicht gerade gern und nur anstandshalber angeboten wurde und das sie mit den Worten hinunterkippte: «Sehr gut, yes.» «Oh!» Carolina konnte einen Ausruf nicht zurückhalten, indes die Zwiesprache ohne Worte mit der Schwester weiterging: Was habe ich dir gesagt? Sie ist eine Säuferin, sie trinkt und raucht, alles übrige kannst du dir denken. Tatsächlich hatte Peggy keinen Augenblick aufgehört zu rauchen; wenn eine Zigarette zu Ende ging, zündete sie damit eine andere an, indem sie aus einem Täschchen des hübschen Kleides, ähnlich wie bei einer Schürze, ein Zigarettenetui, so groß wie ein Gebetbuch, zog. In einem gewissen Augenblick bot sie den Tanten eine davon an. «Ach! Wie?» Teresa fuhr beleidigt hoch, als ob sie der Geste nicht traute. «Was? Ich rauchen?» Und Carolina sagte schleppend: «Nicht doch, aber was denken Sie, wir sind es nicht gewohnt, wir wissen nicht einmal, wie es geht.» Remo lachte, und mit ihm lachte Niobe. «Und übrigens, was wollen Sie, wir sind arm, wir können uns einen solchen Luxus nicht leisten, wir sind Arbeiterinnen... wie das Fräulein sieht.» «Oh yes», sagte Peggy wieder, nur mit ihrem eigenen idyllischen Erleben beschäftigt, das auch diese zwei Frauen in das Idyll einbezog, die ihr liebend gern die Fingernägel in die Haut gekrallt hätten; sie hatte keine Ahnung von ihrer wirklichen Verfassung. «Wir sind arm, wir sind Arbeiterinnen», wiederholte sie, die Silben betonend und den Satz hinziehend, in der Gewißheit, das Fräulein damit zu ärgern; dabei war es doch genau das, was ihr gefiel, und sie verlangte nichts Besseres. Was Remo angeht, so würde er genauso gelächelt haben, wenn sie ihr erzählt hätten, daß sie nachts mit Brecheisen und Dietrich umhergingen. 254
Peggy erklärte, daß auch ihr Vater in seiner Jugend nichts anderes als ein Arbeiter gewesen wäre, ein einfacher Arbeiter, tüchtig und intelligent, der mit der eigenen Arbeit und dem eigenen Verstand sein Glück gemacht hatte. «Mit dem Kochtopf», sagte Teresa boshaft. «Kochtopf, yes, sehr große Fabrik von Kochtöpfen.» Nach den Hemden und Hosen war er schließlich bei den Kochtöpfen gelandet. Man mußte anerkennen, daß Remo immer gut fiel. Dessenungeachtet entschloß er sich, diesen Besuch jetzt abzubrechen. «Weißt du, Peggy, es ist Zeit, wir müssen gehen, wir müssen viele Sachen erledigen.» Das Fräulein wollte die Kirche sehen, in der sie wenige Tage später getraut werden sollte; und als sie davorstand, in respektvoller Entfernung von vielen Neugierigen gefolgt und umgeben, zeigte sie sich von ihr begeistert, gerührt, und sagte, daß sie eine Hochzeit haben wolle, genauso, wie man sie auf dem Lande feiert, in Florenz. Remo, der bereits mit dem Pfarrer gesprochen hatte, antwortete: «Sobald wir die Papiere haben, meine Liebe, sei unbesorgt.» «Gewiß, yes.» Beim Auto wurde Palle von allen Seiten bedrängt, um etwas aus ihm herauszulocken: «Palle! Palle!» Um zu erfahren, was sie machten, wohin sie gingen, wo sie in Florenz wohnten und ob es wahr sei, daß sie so reich wäre. Der Bursche befreite sich mit Ellbogenstößen von dieser Ausfragerei, die ihm unleidlich war. Peggy blieb alle paar Schritte stehen und ließ den Blick rings umherschweifen, ganz langsam, die Hand in die Seite gestützt und die brennende Zigarette zwischen den Fingern, um den Duft des Idylls einzuatmen, in welchem sie in diesen letzten Septembertagen lebte. «Gefällt sie dir?» fragten die Schwestern einander, sobald sie allein waren. 255
«Mir nicht, und dir?» «Sie hat einen häßlichen Mund.» «Sie ist häßlich, wenn sie spricht.» «Und wenn sie lacht.» «So ein Mund!» «Die müßte immer still sein.» Es war das einzige, was man an jenem schönen Geschöpf aussetzen konnte, die allzu starken und wenig harmonischen Bewegungen des Mundes beim Lachen und Sprechen, die deutlich mehr als eine plebejische Abstammung eine angeborene Gewöhnlichkeit enthüllten und einen Mißton in das bewunderungswürdige Bild brachten. Und die Materassi hatten das unverzüglich herausgefunden. «Und dann, was für eine Art zu sprechen!» «Da könnte man ja Herzklopfen dabei bekommen.» «Weib und Ochsen aus dem eigenen Land», schloß Teresa entschieden. Niobe rückte die Dinge wieder zurecht. «Nun ja... es ist wirklich ein schönes Paar, er schwarz und sie blond, sie hat eine schöne Figur, sie ist kein häßliches Mädchen, wir wollen gerecht sein. Und dieses Haar! Ich habe es ja immer gewußt, daß ihm die Blonden gefallen.» Nun werden alle denken, daß nur eine einzige Person in Santa Maria die Braut Remos nicht sehen wollte: Giselda. So war es nicht, doch die Ärmste, die sich in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, wurde genau in dem Augenblick ertappt, wo sie mit größter Vorsicht aus einer Ecke des Fensters hervorspähte, um sie sehen zu können. Mit seiner bekannten Gewandtheit hatte Remo, der den Kopf genau in diesem Augenblick mit einem Ruck hob, sie zum Verschwinden gebracht. Wie bereits gesagt, wollte Peggy, um mit ihr zu sprechen, eine so florentinische Hochzeit als nur möglich, mit allen Gebräuchen, Zutaten und Beigaben des Landes. Und da sie sich keine auch nur annähernde Vorstellung von diesem Land und seinem Geist machen konnte, verwechselte sie die beiden Be256
griffe, indem sie eine ländliche Hochzeit für florentinisch hielt. Aus diesem Grunde wurde sie so florentinisch und so ländlich, daß kein Mensch in der ganzen Gegend je etwas Ähnliches gesehen hatte. Was Remo angeht, so kamen von seiner Seite keine Einwände, ihm war alles recht. Es leuchtet ein, daß für ihn die Frage des Schecks die einzige war, die keine Zugeständnisse erlaubte, über alle anderen waren die Auseinandersetzungen überflüssig. Nachdem sie die Schneiderin gefragt hatte, wie lang die Schleppe wäre, die von den Bräuten in Florenz im allgemeinen getragen würde, und jene ihr geantwortet hatte: «Höchstens vier Meter, nicht mehr», erwiderte Peggy trocken: «Acht Meter!» Und ihre Antworten waren von einer Art, die keine Einwendungen zuließ. Die Schneiderin beschränkte sich darauf, ihr zu verstehen zu geben, daß zwei Kinder nicht genügen würden, um sie ihr zu tragen. «Vier Kinder!» gab sie zurück, und sie sagte das «Vier» mit solchem Nachdruck, der vermuten ließ, daß vierzig oder vierhundert nicht die geringste Schwierigkeit bedeutet haben würden. Die Kirche wurde mit weißen Blumen ausgekleidet, mit Bündeln von Tuberosen, die prachtvolle Fontänen zwischen Hunderten von Kerzen bildeten. Der Duft war so stark, daß der bescheidene und hingerissene Zuschauer von einem Schwindel erfaßt wurde. Zwischen Africo und Mensola waren Beutel mit Konfekt im Überfluß verteilt worden, und reizende Becher aus Glas, Porzellan oder Silber. Und dem Pfarrer war ein gewisser Briefumschlag übergeben worden, damit auch die Ärmsten diesen denkwürdigen Tag in angemessener Weise feiern konnten. Der außer der Reihe von Amerika gekommene Scheck schien auch außer jeder Klasse zu sein. Remo hatte recht, wenn er sagte, daß das Leben leicht sei: sehr leicht, können wir ihm zustimmen, denn jetzt regnete es 257
Geld ohne Unterlaß vom Himmel. Er sprach nie von Einkommen, von Rechnungen oder Zahlen, von schmutzigen, brutalen und niedrigen Geschäften, in welchen der bessere Teil des Menschen aufgerieben wird und wogegen sich sein uninteressiertes, den Rechnungen und Zahlen abgeneigtes Wesen aufgelehnt hätte; und die Schecks kamen ja auch so. Die größte Schwierigkeit war die, eine gute Musik aufzutreiben. Da die städtischen, modernen und raffinierten Orchester, die dem erwünschten ländlichen Stil nicht entsprachen, nicht in Betracht kamen, war es nicht leicht, in den umliegenden Dörfern etwas Brauchbares zusammenzustöppeln. Settignano, das in vergangenen Zeiten eine ausgezeichnete Kapelle gehabt hatte, begnügte sich jetzt mit einer kleinen Blechmusik für die eine oder andere Trompeterei, die ein paar muntere junge Burschen, im Bersaglieri-Schritt auf dem Platz auf und ab laufend, machen können. An das stolze Fiesole konnte man nicht herantreten; die jahrtausendealte Rivalität mit den Dörfern, die es umgeben, hat nie eingeschlafene Empfindlichkeiten geschaffen, die auch Amerika nicht versöhnen kann und die beim geringsten Anlaß wieder erwachen oder ausbrechen, was so weit geht, daß man nicht einmal im letzten Augenblick um das heilige Öl zu ihm kommen würde. Nur in Compiobbi wurde eine richtiggehende Musikkapelle gefunden, die den Auftrag gemeinsam mit der schon vorher engagierten Blechmusik von Settignano übernahm. Zwischen Africo und Mensola hatte sich in den benachbarten Ortschaften das Gerücht von dieser außergewöhnlichen Hochzeit verbreitet. Remo war in der Umgebung so bekannt wie ein bunter Hund. Alle kannten ihn und kannten auch die Tanten gut, ihre Geschichte und Schicksale bis in die kleinsten Einzelheiten, so daß sich das Volk an jenem Morgen in Scharen nach Santa Maria ergoß. Die kirchliche Feier war auf elf Uhr festgesetzt, und bereits um neun Uhr begannen die Leute herbeizuströmen; sie standen in Gruppen beisammen und sprachen von dem einzig258
artigen Ereignis, das seit Menschengedenken in dieser Gegend unerhört war. Auf dem Platz und in den Gassen, im Umkreis der noch verschlossenen Kirche, von deren Tür ein roter Teppich ausging, der bis dorthin reichte, wo die Autos halten sollten, und auf den niemand den Fuß zu setzen wagte, als ob er Wasser oder Feuer wäre. Halb elf Uhr kam von Settignano auf einem Lastkraftwagen die Blechmusik und bald danach auf einem noch größeren die Kapelle von Compiobbi. Der Pfarrer hatte die Gartentür geöffnet, durch welche die Musiker ein und aus gingen, die in der Wartezeit ihre Instrumente untergestellt hatten, indes die Menge wuchs und sich vor der Kirche drängte und alle auf die Tür und den roten Teppich deuteten, der von jener ausging. Das Haus der Materassi wurde für die Neugier zum Palazzo della Signoria, man sprach von ihnen und ihrem Neffen. Zwei Fotoapparate auf hohen Gestellen waren bereit. Es fehlten nur noch die Tische der Waffelbäcker und die Hellseherinnen, und man hätte meinen können, daß an diesem Tag der Jahrmarkt in Santa Maria stattfand. Genau in diesem Augenblick führte ein großes, geschlossenes Auto, glänzend und hochelegant, mit einem Diener neben dem Chauffeur, seine Wendung in der Straße aus und trieb die dort versammelte Menge wie ein Windstoß auseinander. Es hielt vor dem weißen, rostzerfressenen Gartentor, das immer halb offengeblieben war, wenn die Gräfinnen, Marquisen und Herzoginnen, die geistlichen Würdenträger und die Mätressen hindurchgehen mußten, und das an jenem Tag für einen doppelt außergewöhnlichen Durchgang von beiden Seiten geöffnet war. Kaum hatte das große Auto angehalten und war der Diener ausgestiegen und neben dem Wagenschlag in wartender Haltung stehengeblieben, so umdrängte es die Volksmenge mit bienenartigen Bewegungen, um die Tanten einsteigen zu sehen, die nach Florenz fuhren, wo sich der Zug ordnen würde. Es war die erste Nummer des Tages und an Überraschung 259
nicht die geringste, denn nach kaum fünf Minuten, während alle noch über das Kleid und den Hut phantasierten, welche die zwei Schwestern tragen würden, über die Form und die Farbe, über die möglichen Garnierungen... ging ein Raunen in allen Tonarten, schlecht oder gar nicht unterdrückt oder geradezu ungebührlich, durch die Menge, die beinahe erschreckt zurückwich. Aus der Tür waren zwei als Bräute gekleidete alte Frauen herabgestiegen und schritten langsam, voll Würde auf das Gartentor zu. Die Materassi waren in Gewändern von feierlichem weißem Samt, ganz von einem langen, auf dem Kopf befestigten Schleier bedeckt und mit endlos langen Schleppen, mit denen sich Niobe, die hinter ihnen her lief wie der Hund, der mehrere Leute zugleich begrüßen will, abmühte, indem sie von der einen zur anderen lief, damit sie sich beim Gehen nicht darin verwickelten. Im Haar hatten sie Sträußchen von Orangenblüten, und Orangenblüten trugen sie am Gürtel, an der Brust und am Rocksaum. Es war nicht leicht, die von einer solchen Erscheinung hervorgerufenen Empfindungen zurückzuhalten. Sie näherten sich dem Auto in einer Haltung von höchster Würde, obgleich ihnen beiden die Beine zum Umfallen zitterten. Sie stiegen ein mit Gesichtern, die mehr grün als blaß waren, gespenstisch, fahl. Sie stiegen ein und versuchten dabei, mit Lächeln auf das höhnische Grinsen der Menge, auf das Gelächter und die Ausrufe zu antworten; dann mit noch edleren Blicken voll Verachtung, aber ohne Wirkung. Einmal eingestiegen, verschleierten sich die Augen Carolinas mit Tränen, während Teresa mit immer härter werdendem Gesicht aus dem Fenster blickte und der ausgelassenen Menge eine Grimasse andeutete. Die qualvoll verzerrten Muskeln des Gesichts hinderten sie an der Ausführung der ungehörigen Grimasse, was aber nichtsdestoweniger hinreichte, um den Ton der Verspottung zu dämpfen. Sie schien in diesem Augenblick den Flegeln das zu entgegnen, was sie der Schwester wenige Tage zuvor geantwortet hatte, um die Erörterung 260
kurz abzuschneiden: «Wir können die Orangenblüten tragen, wir schon, und mit erhobenem Kopf, die Braut aber, wer weiß...» Und um sie besser zu überzeugen, hatte sie hinzugefügt: «Und diese eingebildeten Dinger vom Dorf, die am Hochzeitstag schon schwanger sind.» Nun war die Sache so, daß Peggy im Grunde nicht einmal wußte, was sie tragen sollte noch was die anderen trugen; und das, was für die beiden alten Jungfern das Drama eines ganzen Daseins bedeutete, war für sie dagegen nur die unbedeutende Kleinigkeit von kaum einer Stunde. Es genügte ihr, das Möglichste zu tragen, mit kapriziöser Frische, und daß die anderen es ebenso machten; sie war nicht die Frau, in Sachen der Freiheit kleinlich zu sein. Sie wünschte sich nichts weiter als eine florentinische und ländliche Hochzeit. Es muß anerkannt werden, daß die Dinge zu diesem Ziel auf dem besten Weg waren. Was Remo betraf, so hätten die Tanten als Harlekine gekleidet kommen können oder wie unsere Urmutter Eva, die nichts von Schneiderinnen wußte, er würde nicht das geringste zu ihrer Kleidung bemerkt haben. Es wird gut sein anzufügen, daß in der Menge nach jener ersten und spontanen Regung der Überraschung eine Stimme laut geworden war, die zur Milderung der Heiterkeit beitrug, und zwar, daß bei den Hochzeiten der großen Welt auch die Damen des Gefolges weißgekleidet gehen und mit dem Schleier auf dem Kopf wie die Braut, in den allerhöchsten Kreisen, bei den Prinzessinnen und Königinnen. Irgendeiner versicherte, so etwas im Corriere della Domenica gesehen zu haben. Und sie zogen die Äußerungen einer wenig rücksichtsvollen Freude zum Teil wieder zurück, die von selten Teresas eine alles andere als prinzessinnenhafte und noch weniger königliche Antwort hervorgerufen hatten. Nachdem die Materassi abgefahren waren, flutete die Menge wieder zurück, um sich vor der Kirche aufzustellen, wo sie zwei Hecken entlang dem roten Teppich bildete, auf 261
den keiner den Fuß zu setzen wagte, und wartete auf jene elf Glockenschläge, die nie kommen wollten, obgleich sie so nahe waren. Und die Fotografen in der Höhe neben ihren mit einem schwarzen Zauberkünstlertuch bedeckten Apparaten. Bis endlich der Zug durch die Bewegung jener angekündigt wurde, die sich unter den Türen oder an den Fenstern und auf der Straße befanden, der wenigen, die sich, da sie das Haus oder den Laden nicht verlassen konnten, damit begnügten, ihn vorbeiziehen zu sehen, oder im letzten Augenblick noch davonliefen, um rechtzeitig dazusein. Und während an der Wegbiegung das erste Auto erschien, schmetterte die Blechmusik von Settignano los. Die Autos folgten einander in kurzen und gleichmäßigen Abständen, in Verbindung miteinander, und kamen im Paradeschritt ganz langsam näher. Im ersten, einem Zweisitzer und von ihm selbst gelenkt, saß Remo mit der Braut; und hinter ihnen hockte wie ein Uhu auf der Stange der treue Palle in einem schönen, leuchtend blauen Anzug, die taubengraue Mütze bis auf die Augen hereingedrückt wie gewöhnlich. Dann folgten drei gleich große Wagen, geschlossen und mit einem Diener neben dem Fahrer, in welchen die offiziellen Personen des Gefolges Platz genommen hatten. Im ersten vier Kinder zum Schleppetragen, im zweiten die Tanten allein und im dritten die aus den Freunden Remos gewählten Trauzeugen. Dann acht oder zehn verschiedene Wagen, große und kleine, geschlossene oder offene, in welchen die Freunde des Bräutigams waren, vier bis fünf in jedem Wagen. Alle in Zylinder und Cut, wie es der Würde der Zeremonie entsprach. Die Pforten der bekanntesten Konditoreien im Zentrum von Florenz hatten sich an jenem Morgen entvölkert. Die Fotografen machten, unter den schwarzen Lumpen auf und nieder tauchend, ihre Taschenspielerkunststücke. Von Frauen war niemand da außer der Braut und den Tanten oder, besser gesagt, drei Bräute, eine junge und zwei alte, 262
die ein neues Gefühl belebte und ihnen ihre Rolle zu spielen half. Sie trugen in ihrem Inneren ein Wort, das die Stütze und die Kraft war, die sie aufrecht hielt und ihre Schritte lenkte. Ihr jungfräuliches Weiß verbarg ein Wort aus Blut wie einen Revolver oder einen Dolch: Er liebt sie nicht, er heiratet sie aus Berechnung. Sie waren bereit, ihr zu folgen und zuzulächeln bis ans Ende, überall. Der wahre verzauberte Affe war sie, ohne es zu merken. Das gab ihnen die Kraft, ins Auto zu steigen und wieder auszusteigen, erhobenen Hauptes durch die Menge zu gehen, die bei ihrem Anblick das Lachen nicht unterdrücken konnte, feierlich drei Meter weißer Schleppe nachzuziehen und mit bösen Augen allen zu sagen: Es ist nicht wahr, glaubt es nicht, es ist nicht Ernst, es ist eine Heirat aus Berechnung, er liebt sie nicht, er hat es uns gesagt, er hat es zu verstehen gegeben, sie ist reich und deswegen die Braut, man weiß nicht einmal, wer sie ist. Als Peggy aus dem Auto stieg, warf sie die kaum angezündete Zigarette weg, die ein Gassenjunge, der sich zwischen den Beinen der Zuschauer durchdrängte, sogleich aufhob. Die Bewegung ließ einen Schauer durch die Menge laufen, die zum erstenmal eine von weißen Schleiern eingehüllte und mit weißen Blumen geschmückte junge Braut die Zigarette fortwerfen sah, als sie sich dem Altar näherte. «Man weiß ja, moderne Bräute», wisperte einer. Die Mädchen aber wiederholten hingerissen: «Sie kann rauchen, wo sie will.» Und mit dem Blick auf den Bräutigam flüsterten sie die Namen aller Helden, die ihre Träume bevölkerten. Die acht Meter Schleppe stellten ein ziemlich verzwicktes Problem dar: aus dem Auto aussteigen, eine Drehung ausführen und von den vier Kindern gehalten, zwei an jeder Seite, einen vorgeschriebenen Weg nehmen. Die Gewandtheit und Beweglichkeit der Trägerin wurden sichtbar, als sie mit schnellen Drehungen vor den verblüfften Gesichtern eine Art von Vorstellung gab, umgeben von etwa vierzig jungen Männern, die aus den Wagen springend mit ihren spiegelblanken 263
Zylindern einen Kreis um sie bildeten und sich in ihrer überschäumenden Fröhlichkeit und Kraft wie ein richtiggehendes Kaleidoskop um sie bewegten. Als Peggy dann beim Klang der Orgel unter dem gleichen erstarrten Staunen, wie es die Erscheinung eines unbekannten Gestirns am Himmel hervorrufen würde, an dem Betstuhl vor dem Altar ankam, reichte ihre Schleppe fast bis zur Tür der kleinen Kirche, die nur ein wenig länger war als diese. Die Menge wurde eingelassen und brach mit blindem Ungestüm herein, um sich ein Plätzchen zu ergattern, von dem aus etwas zu sehen war. Wenn es auch nicht gerade die angestrebte florentinische und ländliche Hochzeit war, so doch gewiß eine originelle Hochzeit. Über allem schwebte etwas, das auch den gröbsten kritischen Geist überraschen mochte. Peggy ließ unter dem engelhaften Gewand zu sehr die sportliche Frau und die vollendete Tänzerin ahnen; ihre in etwas übertriebener Weise zur Schau gestellte Versunkenheit ließ an gewissen Stellen blitzartig ihre Oberflächlichkeit durchscheinen, die Oberflächlichkeit dessen, der eine Rolle gar zu betont spielt. Das Gesicht von Palle, so gesammelt und streng, daß es drohend wirkte, und das der Tanten, fahl, verzerrt, mit einem schmerzlichen Lächeln, das sie im hochzeitlichen Kleid noch älter erscheinen ließ; und die Gegenwart von so viel jungem Mannsvolk, dem man sein Tun und Treiben nur zu deutlich ansah und von dem man unmöglich so viel Ernst und Ruhe erwarten konnte, wie es die Umstände erfordert hätten, und das auch, wenn es still und ruhig war, gleichwohl eine Explosion auslöste. Die unruhige Mannschaft war vollzählig; die nächtlichen Verschlinger der schönen goldgelben Eierkuchen, die Niobe wie durch Zauber zu bereiten wußte, schienen nicht nur darauf hinzudeuten, daß es keine ernste Sache war, ja nicht einmal eine wirkliche, würde ich sagen, dabei war sie so wirklich wie nur etwas. Das Florentinische und Ländliche, von einem organisiert, der we264
der florentinisch noch ländlich war, waren in dieses Endziel eingemündet. Man hatte das Gefühl, als ob alle unter dem feierlichen Gewand im Sportdreß wären, auch die Braut, auch die Tanten, und daß sie es von einem Augenblick zum anderen abwerfen und anfangen würden, Sprünge, Kapriolen und Turnübungen zu machen. Etwas, das zwischen der Operette und dem Zirkus war. Die Musikkapelle von Compiobbi stimmte den Triumphmarsch aus Aida an, dann begann die Messe, begleitet von den mystischen Klängen der Norma. Sowohl die Kapelle wie die Blechmusik versahen ihr Amt auf dem Platz und nicht in Verbindung mit der kirchlichen Feier, obgleich sie während derselben spielten. Die fotografischen Zauberkünstler hatten ihre Geräte an die Seiten des Altars befördert, und bald ließ der eine, bald der andere Blitze aufleuchten, die mit ihren Wundern zugleich in Erstaunen setzten und erschreckten. Inmitten all dieser Überraschungen und Störungen hatte sich nur eine einzige Person untadelig zu verhalten verstanden: Remo. Unbefangen, korrekt, elegant in dem wundervollen Cut, der seine Gestalt zur vollen Geltung brachte, hatte er nicht einen Augenblick der Verlegenheit oder Unsicherheit der Schalkhaftigkeit, der Gewöhnlichkeit; zuvorkommend und artig schritt er an der Seite seiner Braut, um sie zum Altar zu führen, und blieb voll Würde neben ihr stehen. Und beim Höhepunkt der Feier erfüllt von der Heiligkeit der Handlung, ohne sich irgendwie Verwirrung anmerken zu lassen. Zum Unterschied von den anderen war seine ganze Erscheinung in vollkommener Harmonie mit der Stunde und der Umgebung. Der amtierende junge Pfarrer, der ihn durch ein heiliges und unauflösliches Band mit seiner Braut vereinigte, betrachtete ihn, angezogen von seiner Person, von seiner Haltung, ja er schien einzig und allein von ihm angezogen zu sein, alles übrige ging ihn nichts an. Bei aller Verschiedenheit des Lebens und des Geistes hatte sich zwischen den beiden jun265
gen Männern ein Strom unausgesprochener oder kaum ausgesprochener Sympathie hergestellt, schüchtern, gegenseitig und unbesiegbar, die sich in dieser ernsten und süßen Stunde befestigte. Er war auf eine seltsame und edle Weise von der Haltung des jungen Mannes ergriffen, mehr als von all den anderen, welche die Kirche bis zum Erdrücken füllten, nur um zu sehen. Unmittelbar hinter den knienden Brautleuten waren in zwei vergoldeten Sesseln die Tanten, die, je nachdem es die Messe erforderte, saßen oder standen; ihre Gesichter drückten keine Spur von Rührung aus, sie hatten eine Droge in sich, die sie verwandelte, ein Narkotikum, das immer weiterwirkte, sie lächelten, statt zu weinen, ein giftiges Lächeln, das wie ein Brandmal auf ihren Gesichtern war. Sie schienen jeden Augenblick etwas zu erwarten unter der Menge, die sie anstarrte und ihrerseits von ihnen etwas zu erwarten schien: Glaubt nicht daran, es ist nur irgendein Possenspiel, es ist eine Hochzeit ohne Liebe, er heiratet sie aus Berechnung. Die Liebe... ja... die hat der Hund gefressen! Vor der Wandlung spielte die Musik auf dem Platz das Stück aus Rigoletto: Wenn ich an Festestagen betend im Tempel kniete, sah ich dort einen Jüngling in frischer Jugendblüte. Wirklich war es so, daß der schöne und schicksalhafte Jüngling sich dem Blick Peggys viele Tage nacheinander dargeboten hatte, wenn er in der türkischen Halle des Hotels Danieli in Venedig ein und aus ging; aber das ist eine Sache für sich. Das Volk wurde wegen der Enge in der kleinen Kirche immer unruhiger, und da der größte Teil hatte draußen bleiben müssen, vernahm man seine Unruhe ähnlich dem Rauschen 266
des Meeres. An einem Seitenaltar fielen Kerzen um und lösten eine gewisse Verwirrung aus. Wenn unter jener unruhigen und wunderlichen Menge, in welcher die Gemüter in der Spannung zwischen der Schönheit und Lieblichkeit der Feier und dem Ungewissen Hauch eines Skandals schwebten, eine einzige Person die Haltung sicherer Würde zu bewahren wußte, eine einzige sich dem eigenen besseren Empfinden überlassen hatte, so war es Niobe. Sie hatte sich durch das Pfarrhaus eingeschlichen und hinter dem Altar versteckt und weinte ungehemmt echte und aus der Tiefe kommende Tränen. Ihr nach Leben hungerndes Herz und ihre nach Schönheit verlangenden Augen weinten um zehn Jahre des Glücks, um eine zweite Jugend, die ihr der junge Mensch mit seiner bloßen Gegenwart im Haus zu geben vermocht und die nun für immer dahin war. Als die Feier zu Ende war, spielte die Kapelle von Compiobbi, vielleicht schon im Gedanken an die Becher, die darauf warteten, gefüllt zu werden, das Trinklied aus Traviata. Und die Zauberkünstler ließen noch einmal von der Höhe ihrer Gestelle aus die Köpfe unter den schwarzen Tüchern auftauchen und verschwinden. Und wenn das Programm der Blechmusik von Settignano auch etwas beschränkt war, so muß doch anerkannt werden, daß sie es mit einem außergewöhnlichen Schwung abwickelte. Hier vollbrachte die Posaune eine fundamentale Leistung. Indes stellte sich der Zug wieder auf, und die Hochzeitsgäste stiegen in ihre Autos ein. Peggy ihrerseits, an die ungestümen Rhythmen der Jazzmusik gewöhnt, fand diese Melodien großartig gespielt und das ländliche Idyll aufs beste erreicht. In allen Dingen sah sie etwas Schönes. Sie spürte, wie sie auf einer Woge von Empfindungen dahinschwamm, und war glücklich darüber, auch deshalb, weil sie sich sprungbereit fühlte, um wieder herauszukommen, sobald sie ihrer überdrüssig war; und sie merkte nicht, daß es gar nicht so war. Sie empfand eine tolle Lust, alle 267
zu umarmen und allen ein freundliches Wort zu sagen, eines von denen, die der Verlobte ihr für den Anlaß beigebracht hatte: köstlich, bezaubernd, ländlich, ursprünglich, bäuerlich, ländlich... und die sie in ziemlich großzügiger Weise aussprach. Ein unbändiges Verlangen überkam sie, alle zu umarmen und an alle Küsse auszuteilen oder wenigstens Süßigkeiten, auch an jene, die sie mit zusammengebissenen Zähnen ansahen, auch an die Tanten, die einen Dolch unter dem Weiß ihrer Gewänder und das Gift unter dem grünlichen Lächeln verbargen: Er liebt sie nicht, er nimmt sie aus Berechnung. Worte, die für sie unverständlich und in keine Sprache übersetzbar waren und über die sie, wenn man sie ihr in ihrer wirklichen Bedeutung hätte verständlich machen können, nur von Herzen gelacht hätte. Was für diese Frauen das Drama darstellte, in dem sie bis zum letzten Blutstropfen mitlebten, würde für sie einen neuen Grund zum Lachen bedeutet haben. Dem Zug, der sich langsam auf Florenz zu bewegte, schlossen sich die beiden Lastkraftwagen mit der Kapelle und der Blechmusik an, alle stehend, mit ihren Instrumenten und den Trambahnermützen; und unterwegs, bis zu den ersten Häusern der Stadt, spielten sie abwechselnd den Marsch aus Aida und das Trinklied aus Traviata. Dann kam wieder die Blechmusik von Settignano. Immer wieder das gleiche, aber mit immer zunehmender Kraft und Stärke des Ausdrucks. Als man den bewohnten Gegenden näher kam, schwieg der Zug und rückte nur unter dem Lärm der nicht mehr zu zügelnden jugendlichen Fröhlichkeit voran; überall veranlaßte er die Leute, stehenzubleiben und herbeizulaufen, und erregte auf dem ganzen Weg die lebhafteste Neugier. Die meisten glaubten, daß es sich um die Hochzeit einer Prinzessin handle, andere dagegen mutmaßten, daß die Königin des Marktes gewählt worden sei, und noch andere, daß ein Film gedreht würde. 268
Das Mahl wurde in zwei großen Sälen des Hotels abgehalten, wo das Brautpaar wohnte. Im ersten war dieses mit seinen Freunden und Angehörigen, im zweiten waren die Musikanten mit vielen anderen Leuten. Es war nicht so sehr ein fröhliches und herzliches, sondern vielmehr ein sehr lautes Mahl. Das Idyll war draußen auf dem Land geblieben, und kein Mensch dachte mehr daran. Die nur mühsam zurückgehaltene und auch in der Stunde der religiösen Feier nicht ganz gebändigte Freude der jungen Leute erfuhr bei den ersten Bissen eine natürliche Dämpfung, um dann nach wenigen Schlucken Champagner in einem Crescendo glückseliger Trunkenheit zu explodieren, in einem aus der Brust all dieser Zwanzigjährigen hervorbrechenden Schrei, der den Freund grüßte, mit dem sie so viele schöne Tage geteilt hatten. Am oberen Ende der ovalen Tafel saßen nebeneinander die Brautleute, und zur Linken Remos die Tanten. Teresa nahm ihren Platz neben dem Neffen mit leidlicher Ungezwungenheit ein, obgleich ihr Gesicht wie eine Kerze im Augenblicke des Verlöschens war. Carolina drängte sich erschreckt an sie, als ob sie sich zu verbergen und zu flüchten versuchte, von der Kälte überfallen, die das weiße, leuchtende Gewand auf ihr Gesicht zurückstrahlte. Man kann sagen, daß Remo sich zwischen drei Bräuten befand, aber er sah nicht aus, als ob sie ihm zuviel und von einer fragwürdigen Art wären, er teilte sich auf die glänzendste und natürlichste Art zwischen allen, so daß man glauben konnte, daß es noch viel mehr und von jeder beliebigen Sorte sein dürften. Dann kamen zwei dichte Spaliere von jungen Herren, etwa vierzig, auf jeder Seite zwanzig. Einige, die keinen Zylinder und Cut besaßen, waren gleich ohne weiteres zum Essen gekommen. Und am anderen Ende des Tischs, man könnte auch sagen am unteren, allein, ernst und in sich gekehrt, beinahe finster blickend, Palle, erfüllt von der Herrlichkeit, die über seinen Teller und seinen Becher hinwegzog, entschlossen, sich weder die Vielfalt noch den Geschmack entgehen zu las269
sen, und in jeder Weise den an ihn herantretenden Anforderungen gewachsen. Für die Tanten dagegen war es eine Qual, mit Gewalt ein paar Bissen hinunterwürgen zu müssen; wenn die Hände den Mund erreichten, zitterten sie sichtlich oder führten den Becher kaum an die Lippen und zogen ihn zurück, als fürchteten sie, auch nur ein paar Tröpfchen hinunterzuschlucken. Die Gesichter waren blaß, mit starren Augen und zusammengepreßten Lippen, unfähig, zu lächeln oder Remo in irgendeiner Weise zu antworten, der sich sehr geschickt zwischen seinen Tischnachbarinnen zu teilen verstand. Die Kraft, die sie bis dahin aufrecht gehalten hatte, war ihnen in dem Augenblick abhanden gekommen, da sie sich an diesen Tisch gesetzt hatten. Noch wenige Augenblicke, und sie würden in ihrem Brautkleid allein nach Santa Maria zurückgekehrt sein. Bei diesem Gedanken wären sie am liebsten verschwunden, hätten gewünscht, daß sich der Boden unter ihren Füßen auftun würde, um sie zu verschlingen. Noch wenige Augenblicke, und sie würden von Remo Abschied nehmen müssen, der mit seiner Frau nach Genua abreiste. Er würde sich einschiffen, nach Amerika gehen, vielleicht für immer. Sie dankten Gott, daß sie saßen, sie fühlten ihren Körper unfähig, sich in dieser letzten Prüfung aufrecht zu halten. Und in ihrem Innern war kein Groll mehr gegen irgend jemand, sie unterschieden auch keine Gestalten mehr, das Herz in der Brust war zu Stein geworden und der Kopf unfähig, sich aufrecht zu halten. Teresa starrte auf Palle am anderen Ende der Tafel, sie sah ihn in weiter Ferne und von Nebeln eingehüllt, sie klammerte sich an seine Erscheinung, wie sich der Schiffbrüchige an den nächstbesten Balken klammert, wenn ihn dieser auch nicht zu tragen vermag. Niemand hatte von ihm gesprochen, man hatte nichts gehört, was ihn betroffen hätte; es war klar, daß es mit dem Schlaraffenleben vorbei war und daß er in die Gleise seiner wirklichen Existenz zurückkehren müßte. Die Verbindung zwischen den zwei jungen Männern 270
war zu Ende, zu Ende ihre Freundschaft. Palle würde sich eine Stellung in irgendeiner Autowerkstätte suchen müssen, als Arbeiter oder Fahrer, er mußte sich unter das Joch aller übrigen Menschen beugen, indem er eine harte und normale Arbeit annahm. In der Nachbarschaft wurde er gefragt, was er tun würde, er antwortete keinem und zeigte sich in sein Schicksal ergeben. Sie beobachteten ihn, wie er aß, und wurden weich, kehrten in die Wirklichkeit zurück, der sie sich entfremdet, fern gefühlt hatten. Sie würden nach Santa Maria zurückkehren mit ihm, der zehn Jahre lang der unzertrennliche Gefährte ihres Neffen gewesen war, er war das, was von Remo und von jenen Jahren bleiben würde. Der bloße Anblick des wortkargen Burschen würde ihre Tage erhellen, die sie im Dunkel versinken sahen, sie würden ihn immer wieder sehen und zum Reden bringen, zum Erinnern, auch ihm mußte doch die Erinnerung an die eigene sorglose und glückliche Jugend teuer sein. In der Tat war zwischen Remo und Palle kein Wort über diese Angelegenheit gefallen, nichts war festgelegt und besprochen worden, die beiden Freunde hatten gegenseitig keine Andeutung über ihre Pläne und Absichten und Möglichkeiten gemacht. Palle war nicht der Mensch, zu fragen, und Remo wußte, daß der andere alles ohne Einwendung hinnehmen würde; er war wegen der Erledigung der für die Abreise notwendigen Papiere nicht befragt worden, man mußte stillschweigend annehmen, daß er in Florenz bliebe, alles deutete darauf hin; und es war logisch und richtig, daß er sich mit so viel Eifer diesem letzten Mahl an einer Tafel widmete, die ihm das Schicksal so lange Zeit hindurch mit seltener Freigebigkeit gedeckt hatte. Dieser Junge war der Rettungsbalken, der das Haupt Teresas noch aufrecht hielt, während Carolina ihre Kräfte schwinden fühlte; eine schmerzende Schläfrigkeit überfiel sie, ein Schwindelgefühl ließ sie alles von Nebel umhüllt sehen, und die Geräusche, die sich an ihren Ohren entfesselten, erschienen ihr ganz fern. 271
Sie blickten nicht mehr mit Eifersucht und Groll auf die Braut, sie waren nicht mehr fähig, sie wegen ihrer eigenen inneren Gewißheit zu verhöhnen; die tödliche Waffe war von selber gefallen. Sie sahen sie in weiter Ferne, unter einem Glas, alles sahen sie unter einem Glas, auch die Geräusche waren durch eine gläserne Wand isoliert, und nur der eisige Widerschein ihres Kleides ließ sie vor Kälte und Furcht zittern; vor Kälte und Furcht vor sich selber. Nun kamen die Trinksprüche, und es waren scherzhafte und anzügliche dabei, die sich gerade noch an der Grenze des Schicklichen hielten und die außer dem Lobpreis der Schönheit und Anmut der Braut, die nichts weiter zu erwidern wußte, als «Oh yes, all right», ohne etwas davon zu verstehen, darauf abzielten, den guten Stern hervorzuheben, der den jungen Bräutigam, ihren lieben Freund auf seinem Weg zu begleiten schien. Es geschah indessen, daß sie das eine oder andere dieser Worte festhielt, welche die Verlegenheit einer Erklärung ergaben, und die Schwierigkeiten, sie zum Schweigen zu bringen; denn genau wie die Kinder wiederholte sie, was sie einmal erfaßt hatte, hartnäckig und mit lauter Stimme. Auch die Materassi mußten immer und immer wieder mit den jungen Leuten anstoßen, die sie wie in einem Karussell um sich kreisen sahen, und während sie die Empfindung hatten, als würden ihre Körper von den Wogen hin und her geschleudert, suchten sie sich so gut als möglich an der Erscheinung Palles festzuhalten. Auch er lachte nicht und beteiligte sich nicht an dem Trubel und an dem Zutrinken, wenn er nicht dazu gezwungen war. In einem bestimmten Augenblick verließ Remo seinen Platz, mit dem Becher in der Hand, und am anderen Ende der Tafel angekommen, sagte er: «Salut, Palle» und hielt ihm dabei den Becher hin. Palle nahm den seinigen und stieß damit nur ganz leicht an den des Freundes, mit gesenktem Kopf und ohne ein Lächeln; darauf zog Remo, der die Hand 272
in die Tasche gesenkt hatte, ein blaues Büchlein daraus hervor, das er am Platz des Burschen auf das Tischtuch warf. Es war der Paß für Amerika. Ein einstimmiger Schrei wurde laut, der ganze Saal brach los: «Palle auch nach Amerika!» Aber Palle gab kein Zeichen, das sein inneres Empfinden verraten hätte: Überraschung, Befriedigung oder Rührung; er nahm das Büchlein vom Tischtuch weg und steckte es in die Tasche, genauso wie man die Zündholzschachtel einsteckt, nachdem man sie dem Nachbarn geliehen hat, damit er eine Zigarette anzünden konnte. «Unmöglich ohne Palle!» sagte Peggy, den Lärm übertönend, während die Schar der Freunde sich auf ihn stürzte, ihn umarmte, im Triumph hochhob und im Saale umhertrug: «Palle auch nach Amerika!» «Aber gewiß!» wiederholte Peggy auf dem Gipfel der Glückseligkeit: «Ohne Palle können wir nichts machen.» In dem anderen Saal, wo der fröhliche Lärm in dem Maß gewachsen war, wie sich die Flaschen geleert hatten, nahm die Blechmusik von Settignano ihre Arbeit wieder auf. Eine wahre Schwerarbeit für die Posaune. In großer Eile wurde die Tafel abgedeckt und der Saal ausgeräumt, die Stühle rings an den Wänden aufgestellt. Remo eröffnete den Tanz mit der Braut, die sich mit erstaunlicher Behendigkeit acht Meter Schleppe um den Leib zu winden verstand. Sie begann zu tanzen: Foxtrott, Tango und Rumba. Und da es denen, für die das Leben leicht ist, nie an etwas gebricht, erschienen in dieser Versammlung so vieler Männer, unter denen eine einzige des Tanzens fähige Frau war, man wußte nicht woher, wie aus dem Boden hervorgeschossen zehn oder zwölf Mädchen, die sich in das Tanzgewühl stürzten. Wie die alten Römer nach ihren wunderbaren Eroberungen, als sie sich unter lauter Männern befanden, hatten sie sich traurig und niedergeschlagen angesehen und beeilten sich nun, die Frauen zu rauben, ohne die es ihnen vorkam, als ob sie nichts erobert hätten. Die Freunde Remos machten sich 273
die Braut streitig, die tanzte, wie nur die Amerikanerinnen aus New York tanzen können. Die Materassi fanden sich in einem Winkel sitzend wieder, außerstande zu unterscheiden, was geschah. Sie zogen die in dem Gewühl arg mitgenommenen jungfräulichen Schleier um sich und flehten, von ihnen beschützt, verborgen zu werden. Die armen Augen unterschieden in dem Wirbel der Tänze nichts mehr: sie waren in einem Chaos von Stimmen und Bewegungen, einem wahren Hexensabbat, untergegangen, nachdem auch die letzte Stütze sie verlassen hatte. Auch Palle ging nach Amerika. Jetzt sahen sie Schatten, Schatten, die sich bewegten, vernahmen ein undeutliches Summen in den Ohren, unterschieden keine Gestalten mehr. Wie Schiffbrüchige nach einer letzten Anstrengung fühlten sie sich nunmehr untergehen, versinken. Wenn man ihnen gesagt hätte, daß sie aufstehen sollten, um fortzugehen, so hätten sie es nicht vermocht. Einige von den jungen Leuten kamen auf sie zu und sprachen mit ihnen, forderten sie auf, zu tanzen und fröhlich zu sein; sie konnten nicht einmal antworten, begriffen nicht, was sie und ihre Worte wollten, sie wurden nur im Nebel lachende Münder gewahr, und in ihren Gedanken tauchte die unheimliche Vision zweier als Bräute gekleideter, tanzender Leichen auf. Remo, dem nichts entging, auch wenn er sich gleichzeitig um viele Dinge kümmern mußte, erfaßte ihren Zustand, und nachdem er der unermüdlich tanzenden Peggy einige Worte ins Ohr geflüstert hatte, näherte er sich unter Ausnützung der zunehmenden Verwirrung besorgt den Tanten und beugte sich zu ihnen hinab, damit sie ihn in all dem Lärm hörten. Seine Nähe, sein Atem, der ihre Wangen streifte, riefen sie mit einem Zauberschlag aus der schmerzlichen Erstarrung ins Leben zurück. «Es ist schon vier Uhr, es ist besser, wenn ihr inzwischen fortgeht, sonst wird es zu spät, ich begleite euch, kommt.» 274
Peggy, ohne mit dem Tanzen aufzuhören: «Good bye! Good bye!» Sie schwenkte eine Hand in Richtung der Tanten: «Good bye! Good bye!» Aber die sahen sie nicht und konnten nicht antworten. Die zwei weißen Schatten entschwanden in jener rauchigen und dicken Luft, ohne daß es jemand merkte, entschwanden entlang der Wand, zwischen denselben ausgelassenen jungen Leuten, die sich so oft des Nachts an ihren Tisch gesetzt hatten, um den Schinken und die Wurst, die von Niobe hergezauberten goldenen Eierkuchen, den von Palle taufrisch im Dunkeln gepflückten Salat zu verschlingen: Corrado, Franco, Bruno, Massimo, Renzo, Gastone, Alfredo, Sergio, Jim... Auch diesmal hatte Remo die Situation gerettet; niemand hätte ihnen die Kraft geben können, hier von ihm Abschied zu nehmen, sie wären umgefallen. Draußen stand das Auto mit Palle bereit. Sie stiegen ein wie Fliehende, und Remo ließ den Wagen mit einer Geschwindigkeit dahinsausen, die schlecht zu der Aufmachung der Frauen paßte, die darin saßen und nun nichts mehr sahen als Schatten und Nebel, schwarze Schatten von tanzenden Körpern, weiße Schatten von Bräuten, die sich in jenen Nebeln auflösten. Die Abreise war auf fünf Uhr festgesetzt, es war vier Uhr vorbei, keine Minute zu verlieren. In wenigen Augenblicken waren sie mit ungesetzlicher Geschwindigkeit durch Florenz und die Straße nach Settignano gefahren und am Ziel. Remo hatte die Situation gerettet, und in dem Hinundhergerüttel der Fahrt, wo sie bei jeder Biegung von einer Seite zur anderen und übereinander fielen, fühlten sie sich, obgleich von jener qualvollen Betäubung erfaßt, mit ihm verbunden. In ihrem eigenen Haus würden sie von ihm Abschied nehmen, hier hatten sie keine Angst vor der Verwirrung und dem Schmerz wie unter so vielen Leuten. «Geh und verabschiede dich von deiner Mutter», sagte 275
Remo zu Palle, als er aus dem Auto stieg, «ich geh in mein Zimmer hinauf, ich muß etwas holen, das ich vergessen habe, und denk daran, daß wir nicht mehr als zehn Minuten Zeit haben.» Ins Haus eingetreten, legte er den Zylinder auf den Tisch und stürmte die Treppe hinauf, während die Tanten in der Mitte des Zimmers stehengeblieben waren, regungslos und zum Fenster hinaus in das sinkende Licht blickend. Remo war ins Zimmer hinaufgegangen, um etwas zu holen, das er vergessen hatte; was denn? Und doch stellte sich nicht heraus, daß er etwas vergessen hätte. Die Sachen, die ihm gehörten, waren alle in den vorausgegangenen Tagen in sein Hotel gebracht worden, und die von Niobe und den Tanten in den Möbeln und Schubladen durchgeführte Nachforschung war sehr sorgfältig gewesen. Er hielt sich genau zehn Minuten auf, wie er zu Palle gesagt hatte, der zu der nahe gelegenen Anstalt gelaufen war, um sich von der Mutter zu verabschieden. Man könnte über die von dem jungen Mann in jenem Zimmer, das ihn zehn Jahre lang mit solcher Liebe beherbergt hatte, verbrachten zehn Minuten einiges zusammenphantasieren. Wenn man annimmt, daß Remo hier nichts mehr zu tun und nichts zu holen hatte, so ist es sicher, daß er in jenen Minuten nachdachte. Aber es ist nicht leicht zu sagen, was Menschen in gewissen Augenblicken denken. Wir möchten vielmehr meinen, daß tatkräftige Männer, die für ein bewegtes und tätiges Leben geboren und deren Stunden immer von Ereignissen erfüllt sind, von Zeit zu Zeit auf ihrem Weg leere Stellen hinterlassen, kleine leere Räume, damit andere diese im rechten Augenblick füllen mögen. Sie, die ihre Zeit so gut mit sich selber auszufüllen wissen, ahnen, daß eine kleine, den anderen großmütig überlassene Zeitspanne viel mehr Wert haben kann, als wenn sie diese für sich selbst beanspruchten. Und die andern, die spüren lassen, daß ihnen ein solches Geschenk willkommen ist, werden über Jahre hinaus 276
damit leben. Aus diesem Grund sind solche leere Minuten für sie von unschätzbarem Wert. Als er eilig wieder herunterkam, näherte er sich den Frauen, die noch in der gleichen Haltung verharrten; er trat auf sie zu, drückte sie beide fest an sich. Sie ließen sich nehmen, umfassen und drücken, als ob sie zwei Puppen gewesen wären. Er küßte sie beide zweimal auf die Wangen. «Auf Wiedersehen, wir werden uns bald wiedersehen, wir werden nach Florenz zurückkommen, Peggy liebt Italien und Florenz so sehr, und dann... wer weiß...» In diesem «wer weiß» war der ganze Geist seines Lebens ohne Programm, und der Ton der Stimme war in diesem Augenblick von echtem Entgegenkommen und Anpassung an sie. «Das Leben ist nun einmal so», setzte er abschließend hinzu, und sogleich zu seinen eigenen Gedanken zurückkehrend: «Nicht wahr, Niobe?» Er umarmte auch Niobe und küßte sie. Die Frau an der Tür war wie ein Sack Lumpen in seinen Armen und blieb dort im Schatten stehen, das Gesicht in den Händen verbergend. «Auf Wiedersehen, meine Damen», sagte Palle, der das halbe Gesicht zur Eingangstür hereinstreckte und mit zwei Fingerspitzen das Mützenschild berührte. Auch diesmal hörten sie nicht und konnten nicht antworten. Als er so überstürzt aus dem Haus ging, wie er zuerst hereingekommen war, bemerkte Remo nicht, daß die Maurer das niedrige Mäuerchen vor dem Haus abgerissen und die Fundamente neu gemacht hatten, um darauf eine größere Mauer zu bauen. Die beiden stiegen rasch ins Auto, und Remo, der den Volant herumdrehte und zum letztenmal mit schwindelnder Schnelligkeit die Straße entlang steuerte, schien zu sagen: Man konnte nichts Besseres und nicht mehr tun. Und vielleicht hatte er recht. 277
Die zwei Frauen aber, nachdem sie von ihm umarmt und geküßt worden waren, fielen neben ihren Stickrahmen auf ihre Sessel. Dort blieben sie regungslos, erstarrt, ohne zu weinen, vor sich ins Leere blickend, in dem sie untergingen. Von diesem Augenblick an würden sie nur noch rückwärts blicken, um leben zu können. Aus dem Schatten der Tür, mit dem Gesicht in den Händen, ließ Niobe ihr stoßweise und tierhaftes Schluchzen hören, als einzigen Laut. Dann entschlossen sie sich, aufzustehen und mit automatenhaften Bewegungen ganz langsam ins Schlafzimmer hinaufzusteigen, um sich endlich auszuziehen, sich zu befreien, auszuruhen nach einem Tag, der allzusehr über ihre Kräfte gewesen war. Sie zogen in der Dunkelheit der Treppe die zur leeren Hülle gewordene lange Schleppe hinter sich her und verschwanden wie Gespenster. Einmal im Zimmer, wo sie sich, jede auf ihrer Seite, ans Bett gelehnt hatten, fühlten sie, daß sie nicht mehr die Kraft besaßen, jenes Kleid auszuziehen, sie empfanden ihren Körper wie aus Holz und das Kleid darauf zu einem weißen Pech geworden, einem Firnis, sie betasteten es kaum, streiften kaum mit den Fingerspitzen darüber hin, in der Gewißheit, sich nicht davon befreien zu können; sie fühlten sich ganz mit ihm verwachsen. So warfen sie sich aufs Bett. Es war beinahe dunkel. Vom Fenster her, auf dem Dach der Kirche und dem kleinen Glockenturm, zitterten die Flämmchen der Illumination, die den Festtag krönend beschloß.
NICHTS ALS ERINNERUNG
PASTACALDI,
FLEISCHER VON DER MENSOLABrücke, der die erste Hypothek darauf gegeben hatte, war Eigentümer der Häuser geworden; und Eigentümer des Hofes... ratet einmal, wer Eigentümer des Hofes geworden war: Fellino, ja, er selbst, der Pächter der Materassi. Auf der Linie, wo das niedrige Mäuerchen mit den unansehnlichen Blumentöpfen vor dem Haus war, hatten sie eine zwei Meter fünfzig hohe Mauer errichtet, die beim Gartentor anfing, am Haus entlanglief, es einschloß und davor einen schmalen Gang bildete, dem ganzen Erdgeschoß Licht und Luft wegnehmend, das jetzt mit seinen rostigen Gittern wirklich wie ein Kloster aussah, um nicht zu sagen, wie ein Gefängnis. Auch die kleine Küchentür, die auf das Feld hinausging, war zugemauert worden. Teresa und Carolina sah man nur noch für eine halbe Stunde am Sonntag, wenn sie die erste Messe besuchten. Sie liefen eingemummt dahin, hielten den Kopf gesenkt oder schauten ostentativ geradeaus und taten, als ob sie niemand sehen oder kennen würden, um nicht gezwungen zu sein, ihre alten Mieter zu grüßen, die sie jetzt, da sie ruiniert waren, von oben herab ansahen. Aber diese ersparten ihnen ein gelegentliches Hüsteln oder ein unverschämtes Gekicher nicht, da sie hören und verstehen sollten, daß man sich mit ihnen beschäftigte, mit ihren Angelegenheiten, mit ihrem Unglück, ihrem Elend; und aus altem Groll ließ so mancher ein absichtliches und herausforderndes DER
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gemeines, beleidigendes Lachen hören. So vieles mußten sie anhören, laute Erörterungen des Geschehenen und des gegenwärtigen traurigen Zustands, nun, da niemand sie mehr fürchtete, weil sie über nichts mehr Herr waren, weil sie für niemand mehr Gegenstand des Neides und der Bewunderung waren, sondern des Mitleids. Vor allem nachts unter dem Fenster ihres Schlafzimmers, wenn sie zu Bett gegangen waren, damit die Ärmsten es hören mußten; und es war ihnen vortrefflich gelungen; unter ihren Decken erschauerten sie, verstopften sich nach einem Zornesausbruch die Ohren und befahlen sich Gott. Und noch Schlimmeres geschah: Irgendein unentdeckt gebliebener dreckiger Schurke hatte die Unverschämtheit gehabt, seine Bedürfnisse an ihrem Zaun zu verrichten, gerade dort, wo man vorbeigehen mußte, und zum Zeichen noch größerer Geringschätzung die Querstangen in gemeinster Weise besudelt. Die arme Niobe hatte eines Morgens die Steine und den Zaun selber abwaschen müssen, mit christlicher Demut und Geduld, ohne daß sie die Kraft gehabt hätte, eine Schmähung gegen den zu schleudern, der sich eine solche Schändlichkeit herausnahm; sie hatte nur die Augen erhoben, um Gott zu bitten, so viel sinnloser Bosheit einen Damm zu setzen. Und während sie ins Haus zurückgekehrt war, mit gesenktem Kopf, gedemütigt und beleidigt, hatte sie bei sich gemurmelt: «Mag sein, aber für mich ist es von einem Weibsbild.» Wir wollen den Deutungen Niobes nicht weiter nachgehen. Auf alle mögliche Art und Weise wurden sie verhöhnt und beleidigt. Und nicht so sehr für das, was sie andere hatten genießen lassen oder was sie ihrer Meinung nach selbst genossen hatten, sondern vor allem, weil sie gestürzt waren, weil sie besiegt waren, um sich für jene Zeit zu rächen, da sie obenauf, siegreich gewesen waren. Kein Vorwand vermochte sie ans Gartentor zu locken, kein Zuruf hätte sie am Fenster des Schlafzimmers erscheinen 280
lassen, das immer geschlossen blieb. Nur am Sonntagmorgen konnte man sie sehen, wenn sie in die erste Messe liefen, und sie litten darunter; am liebsten hätten sie sich von keiner Menschenseele mehr erblicken lassen, aber ein tiefeingewurzeltes Prinzip hinderte sie daran, sich dieser geistlichen Pflicht zu entziehen, die mitten in der Qual eine Erhebung bedeutete. Sie verließen das Haus mit schnellen Schritten in der grauen Dämmerung des winterlichen Morgens, die eine an die andere gedrängt, blieben die ganze Zeit der Messe auf den Knien und beteten, das Gesicht in den Händen verborgen oder den flehenden Blick auf den Altar gerichtet; dort, wo sie wenige Monate zuvor in dem prächtigen weißen Gewand, unter Schleiern und Orangenblüten, auf zwei goldenen, mit himmelblauem Damast bedeckten Sesseln sitzend, die Welt herausgefordert hatten. So zusammengekrümmt, schienen sie jene Schuld zu sühnen, für die sie um Vergebung flehten. Im Arbeitszimmer schlenderten sie ziellos von einem Tisch zum andern, von einem Möbel zum andern, wie um die Dinge zurechtzurücken oder mit den Gedanken anderswo Gegenstände zu suchen. Aus dem großen Schrank und der Kommode zogen sie Stoffstücke, die sie wieder zusammenlegten, nachdem sie sie auseinandergefaltet und mit einem kalten Blick abgeschätzt hatten, und teilnahmslos wieder zurücklegten. Bänder, Schnürchen, Spitzenreste, aus denen sie kleine Knäuel machten. Sie suchten und wußten dabei, daß es nichts zu finden gab. Es sah aus, als ob sie in den Schubladen eines verstorbenen armen Verwandten wühlten, dessen Habseligkeiten man nur der Form halber durchsieht, mit Achtung und Abstand und einem unbestimmten Widerwillen, ohne den geringsten Anreiz, da man im voraus genau weiß, daß nichts Wichtiges oder nichts Erfreuliches zu finden sein wird. Jedermann wußte, daß das, was sie taten, keinen notwendigen Grund hatte und, man kann sagen, völlig sinnlos war. Zuweilen hielten sie in dieser Hantierung inne und schau281
ten mit leeren Blicken um sich, in diesem Zimmer, das sie immer bis zum Bersten von sich selber erfüllt gewußt hatten und das nun leer geworden war, leer und unnütz groß. Sie setzten sich nieder, da sie für die Hände keine annehmbare Haltung fanden. Mit einem oder ein paar Fingern in die Haare fahrend, kratzten sie sich den Kopf und blieben dann regungslos sitzen, mit den toten Händen in der Schürze. An der Tür wurde Niobe mit herabhängenden Armen sichtbar; jene Arme, die sich zwischen der einen und der anderen Arbeit tatkräftig und bereit in die Seiten gestemmt hatten, jetzt hingen auch sie herab. Wenn man sie so ansah, waren sie nichts weiter als drei halbe Zitronen, ausgepreßt und in den Kehrichtwinkel geworfen. Verkauft die Häuser, verkauft der Bauernhof, erschöpft bis zum letzten Groschen die Reserven, dahin bis auf den letzten die Kunden. Giselda hatte verschiedene Fahrten nach Florenz unternommen, mit kleinen Gegenständen aus Gold und Silber und sogar mit solchen des häuslichen Gebrauchs, aus denen sie wenige Lire erlöst hatte. Jetzt gab es nichts mehr zu verkaufen außer den Möbeln und jenen Mauern, an die sie sich gefesselt fühlten wie Austern. Einmal von diesen getrennt zu sein, wenn man sie davon hätte losreißen können, würde die trostloseste Armut bedeuten, das wußten sie, aber sie konnten nicht einmal daran denken, fühlten aber, daß sie tot am Gartentor umgesunken sein würden, noch bevor sie es durchschritten hätten. Vor 30 Jahren beim Tod des Vaters waren die Verhältnisse der Familie nicht so trostlos; da waren viele Schulden zu bezahlen, aber auf den Häusern und auf dem Hof waren nur Hypotheken, und sie selbst waren jung, von Eifer und Zuversicht erfüllt, sie zurückzugewinnen, von Ehrgeiz, die eigene, wie ein Fieber überschäumende Kraft triumphieren 282
zu sehen; die Arbeit floß ihnen von allen Seiten zu, und sie mußten sie ständig abweisen. Wohin sie sich jetzt wendeten, sahen sie nichts als Asche. Über der Asche ferne und unerreichbare Trugbilder: stampfende Karossen, glänzende Automobile, die einst geheimnisvoll angezogen an ihre Tür kamen, die ihr Ansehen und ihren Stolz-ausgemacht hatten und durch die das arme, ländliche Haus Jahrzehnte hindurch wie ein Heiligtum der Arbeit und der Tugend erschienen war, als das es allen gegolten hatte. Nun eilten sie weit, weit weg über andere Wege, und der Gedanke vermochte sie fast nicht mehr zu erkennen, ihnen nicht mehr zu folgen. Diese Erinnerung versetzte sie in Zorn, ließ sie hart und böse werden. Alle jene Luxusfrauen, denen sie durch 40 Jahre mit Treue und leidenschaftlicher Hingebung dienten, hatten sie nach und nach verlassen, weil sie alt geworden waren, weil ihre erschöpften Augen keiner Wunderwerke mehr fähig waren und weil in den letzten Jahren die Arbeit nicht mehr der einzige Gedanke, der einzige Grund ihres Lebens gewesen war, weil sie von den Wechselfällen des Lebens müde und zerstreut geworden waren. Jene egoistischen Frauen waren nur zu ihnen gekommen, um zu nehmen, um mit ihren Wunderwerken zu prahlen, die sie ohne Opfer erwerben konnten, weil sie reich waren; jetzt, da sie diese Wunderwerke nicht mehr wiederholen konnten, ließen sie sie verhungern. Manchmal brachen sie in Empörung und Haß gegen sie aus, und von Zeit zu Zeit lauschten sie hinaus, aber vergebens. Gespenster, die über der Asche erschienen und verschwanden. Und über allem, wie die Schläge einer Totenglocke das Echo einer Stimme, die ihnen die Kehle zuschnürte, das Herz zerriß: «Zi' Te, Zi' Ca.» Aber allmählich löste sich diese bittere Qual in milde Wehmut auf, die ihnen die Wimpern feuchtete und lange Seufzer entlockte. Sie hatten Niobe, mit einem halben Laib Brot in der Schürze versteckt, nach Hause kommen sehen, mit ein biß283
chen Gemüse, ein paar Eier mit eifersüchtiger Besorgnis an die Brust gedrückt, aus Angst, sie zu zerbrechen, oder tapfer ein Bündel Holz tragend, das sie im Wald von Vincigliata gesammelt hatte. Im Haus war keine Kohle mehr. Die alten Mieter kosteten mit schlecht verhehlter Schadenfreude die Etappen des stufenweisen Absinkens aus, wie sie einstmals widerwillig den Aufstieg verfolgt hatten. Unterhalb der vor ihren Fenstern aufgerichteten Mauer, auf jenem sanften, der vollen Sonne ausgesetzten und vor den Nordwinden geschützten Hang - Fellino hatte die alten Linden gefällt, die ihre Augen von Kindheit an gesehen hatten, und die Axtschläge widerhallten in ihren Herzen, als ob aus diesem Holz ihr Sarg gezimmert würde - bereitete er den Boden für das Frühgemüse: die zarten Erbsen, die Radieschen und die ersten kleinen Kürbisse, und er fand kein Ende mit dem Düngen, um ihn fruchtbar zu machen. Die Unglücklichen, so stolz und zimperlich, als sie noch die Herrinnen waren, mußten jetzt sämtliche Fenster geschlossen halten, um den Gestank nicht zu riechen; und als ob es eine Strafe wäre, der sie sich durch eine Anordnung von höchster Stelle nicht entziehen durften, rochen sie ihn dennoch, weil der Gestank durch die Mauerritzen drang. Aber um nichts in der Welt hätten sie sich gegen den neuen Besitzer aufzulehnen vermocht, den sie erbittert haßten, und bevor sie von ihm oder ihren alten Mietern ein Stück Brot angenommen hätten, wären sie lieber vor Hunger gestorben. Sie hatten kein Recht, ihre Stimme hören zu lassen. In solchem Elend und in der Haltung vergeblichen Wartens und nach vielen Bemühungen von seiten Niobes um einen Ausweg war es eines Morgens so weit, daß nichts mehr zu essen im Hause war. Die Herrinnen schauten die Magd mit fragenden Blicken an, wie das kranke Kind die Mutter anschaut, da es nicht glauben kann, daß sie, die ihm für allmächtig gilt, nicht etwas tut, um es gesund zu machen; es schaut sie an, nicht als ob sein 284
Glaube wanken würde, aber sich fragend, warum sie nicht handelt. Die Magd, beschämt, vernichtet, bestürzt, schaute die Herrinnen liebreich und verheißend an, geradeso wie die Mutter, die weiß, daß das Letzte, was in ihrer Macht steht, ist, die eigene Machtlosigkeit zu verbergen, um nicht noch mehr zu entmutigen. Teresa starrte Niobe an und spähte dabei nach einem Wort von ihren Lippen; sie konnte nicht begreifen, warum es unter diesen Umständen noch nicht ausgesprochen worden war. Sie konnte es nicht begreifen, wenn sie auch noch fern davon war, an der Großmut ihres Herzens und ihrer völligen Hingabe zu zweifeln - sie suchte nach einem Warum. Sie faßte sich mit vieler Mühe ein Herz und brach das Eis. «Niobe, hör zu, komm her.» Ahnend, was aus dem Mund der Herrin kommen mußte, machte die Magd keine Miene näher zu treten, aus Verlegenheit wegen der Antwort. Und Teresa zitterte die Stimme, da sie die traurige Wirklichkeit des eigenen Zustands allzu offen darlegen sollte. «Was willst du, für uns ist das ein böser Augenblick, wir sind ohne Arbeit, du siehst es, aber die Arbeit wird wiederkommen, ganz bestimmt, wir werden nach Florenz gehen, unsere alten Kundinnen aufsuchen, uns in Erinnerung bringen, sehr vorteilhafte Bedingungen anbieten, wir werden uns damit begnügen, sehr wenig zu verdienen, jetzt... nur um zu leben, aber im Augenblick wissen wir wirklich nicht, was wir machen sollen; verzeih mir, wenn ich dich um einen Gefallen bitte, ich bitte dich darum, weil ich vor allem deines guten Herzens sicher bin, aber vor allem deshalb, weil ich die Gewißheit habe, dir zurückgeben zu können, was du mir geben wirst. In diesem Augenblick sehe ich keine Rettung als bei dir... du siehst, wie wir dran sind...» Die tapfere, freimütige und sichere Frau wagte dem Blick der Magd nicht zu begegnen; sie sprach, indem sie die Hände 285
wand und den Kopf gesenkt hielt. Die Magd, das arme Ding, ließ den ihren immer tiefer hinabsinken, wie einer, der schuldig ist und mit Recht Vorwürfe zu hören bekommt. Auch Carolina hielt im Augenblick der tiefsten Erniedrigung den Kopf gesenkt. Auf dem Grund allen Unglücks und aller Kämpfe war immer eine gigantische Kraft gewesen, die sie aufrecht gehalten hatte: der Gedanke an ihre zaubermächtigen Hände, der unbesiegbare, den niemand rauben konnte. Nun schwand diese Kraft dahin; die Hände hingen leblos an den Körpern herab, und sie wußten nicht einmal mehr, wohin damit. Das war die Wirklichkeit, die sie nicht annehmen konnten; der Rest war zu ertragen. Da ihr der Mut fehlte, einen Schritt vorwärts zu tun, öffnete die alte Magd die Arme, wie Christus in dem Augenblick, wo er sich kreuzigen ließ, ohne den Kopf zu erheben, um das Kreuz anzunehmen. Wie von einem Blitz getroffen, von einem erleuchtenden Funken, fuhr Teresa auf, und sich die Stirn haltend, schrie sie: «Du hast es ihm gegeben, du hast nichts mehr...» Sie verschwieg den Rest ihres Gedankens, der auf ihren Lippen erlosch: Und ich habe mich gefragt, warum du mir nicht schon deine Hilfe angeboten hattest. Sie schien sich in diesem Gedanken zu verirren, und als sie sich wiedergefunden hatte, fuhr sie leise, mit sanfter Stimme fort, mit einem unbestimmten Lächeln unter der Haut: «Du hast auch... keinen Groschen mehr, arme Niobe... deswegen hast du nichts gesagt... und ich habe es nicht begriffen... ich Dummkopf!» Sie blickte hilflos, wie im Traum, um sich, strich sich ein paarmal mit der Hand über die Stirn, wie wenn sie, von der Müdigkeit überwältigt, für ein paar Sekunden den Kopf erhob, um das Kommando über die eigene Person aufs neue zu übernehmen... Dann setzte sie sich nieder. Carolina stand noch immer mit gesenktem Kopf und den 286
Händen in der Schürze da, als ob die Szene sie nichts anginge, und ohne ein Zeichen des Verstehens gegeben zu haben. Aber Niobe trat ganz langsam näher, kam zu den Schwestern, nun da sie die Wahrheit kannten, und um sich ihnen näher zu fühlen, um mit größerer Wirksamkeit sprechen zu können, setzte sie sich mitten zwischen sie. «Sie wissen ja, daß ich von meinem Lohn fast nichts ausgegeben habe; auf der Postsparkasse hatte ich 10000 Lire. Sie wissen, daß ich von Zeit zu Zeit hinging, um etwas hinzubringen, erinnern Sie sich? Meinen Lohn habe ich ganz dorthin gebracht, kann man sagen, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, die ich zurückbehalten habe, um mir Schuhe oder eine Schürze zu kaufen und um nicht ganz ohne einen Groschen in der Tasche zu sein. Die ersten 5000 Lire habe ich ihm vor sechs Jahren gegeben, damit er sich das Motorrad kaufen konnte.» Die Schwestern erwachten gleichzeitig aus ihrer Erstarrung. «So ist das! Du hast sie ihm gegeben!» «Sie werden begreifen, Sie wollten nicht nachgeben, Sie haben auf Ihrem Nein bestanden, bis zum Schluß... Und ich, was hätte ich denn tun sollen?» Teresa sah Carolina mit einem Lichtstrahl in den Augen an, und Carolina sah die Schwester an, sie war wieder zu sich gekommen, und ihr Herz klopfte heftig. «Man hatte immer geglaubt, daß ihm dieses liederliche Weib das Geld gegeben hätte.» «Du hast es ihm also gegeben.» «Ja, 5000 Lire.» «Aber die Maschine kostete zehn.» «Den Rest mußte er auf Stottern bezahlen, damals hat er nichts weiter von mir verlangt. Und zwei Jahre danach, Sie erinnern sich, hat er es verkauft, um das erste Auto zu kaufen.» «Ich hab es dir ja gesagt, der hätte sich eher totschlagen lassen, als von den Frauen Geld zu nehmen.» 287
Im Reden durchdrang sie alle drei neue Kraft, sie rückten mit ihren Sesseln näher zusammen. «Und die anderen 5000 Lire mußte ich ihm geben, als er vor zwei Jahren plötzlich von Viareggio zurückkam; er sagte mir, daß es sich um eine Sache handelte, von der seine ganze Zukunft abhinge, eine Sache, die ihm sofort eine Existenz verschaffen würde. Sie werden verstehen... ich wollte so etwas nicht auf dem Gewissen haben, der arme Junge... Und im übrigen habe ich seit vielen Jahren nichts mehr auf die Post getragen, was wollen Sie... Die Ausgaben waren viele, da hätte man eine Münzerei im Keller gebraucht, anders als meine paar Kröten, und das Geld heraufholen, wie man den Wein aus dem Faß zapft.» «Das Motorrad hast du ihm bezahlt...» «Daran hatte ich nie gedacht... ich hatte so viele Vermutungen angestellt... Das war eine Sache, die mir viel Kummer gemacht hat, ich sage es, wie es ist, und als es sich um das neue Auto handelte, konnte ich einfach nicht mehr widerstehen.» Die Geschichte mit dem Motorrad war der einzige dunkle Punkt in ihrem Leben mit dem Neffen, und sie klärte sich wie durch einen Zauberschlag. Teresa atmete über diesen nie eingeschlafenen Zweifel auf. Das Motorrad, das der schöne Achtzehnjährige mit so viel Unbefangenheit ins Haus gebracht hatte, war eine dunkle Wolke an ihrem Horizont geblieben, jetzt atmeten sie unter einem sonnenüberfluteten Himmel auf. «Wie bei dem Auto, wo man fürchtete, daß er es sich von der da oben schenken lassen würde, der Gräfin.» «Ja, ja...» antwortete Niobe, die ihren gewöhnlichen Ton wiedergefunden hatte, «ja, ja... Sie kennen diese Frauen nicht; die Gräfin wollte nehmen und nicht geben, aber der Junge kannte sich schon aus; und er hat recht gehabt. Ihm hat auch das Junge und Frische gefallen, und nicht so eine alte Schachtel samt allen ihren Regatten.» «Dieses liederliche Weib.» 288
«Bei der gab es keinen Zweifel.» «Aber er hat es gleich erfaßt, daß sie auf den Gimpelfang ausging, die Gräfin.» «Warum hat er sie aber dann stundenlang vor der Tür auf und ab geschleppt?» «Na ja... er wird auch hier seinen Grund gehabt haben.» «Du wirst verstehen, einen anständigen jungen Menschen mit diesem skandalösen alten Frauenzimmer beisammen zu sehen, das ist keine Sache, die einer Familie gefallen kann; darum habe ich mich entschlossen, Schluß zu machen und das Auto zu kaufen.» «Dann so viele kleine Ausgaben. Sie werden verstehen, wer ausgeht, braucht viele kleine Dinge, um nicht hinter den anderen zurückzustehen.» Je länger sie redete, um so mehr fühlten sich die Schwestern aufleben, und Niobe gewann ihr ruhiges, lächelndes Aussehen zurück. «Was wollen Sie, unsere Leintücher sind so rauh, sie gehen für unsereinen, der sich mit dem Hemd ins Bett legt; wenn er auch mit dem Hemd geschlafen hätte, wollte ich nichts sagen, aber so ganz nackt... man konnte es wirklich nicht mit ansehen. Ich hatte ihm von jenen guten leinenen gekauft, die so leicht und frisch sind; es tat mir zu leid, wenn er in den groben, hausgemachten schlafen sollte, er hatte es wirklich nicht nötig, sich die Haut räudig zu kratzen, seine Haut war wie Elfenbein. Und wie er sich freute, als er es merkte! Denn er hätte ja kein Wörtchen gesagt, nein, er dachte nicht einmal daran, ich war es, die einsah, daß es so nicht gehen konnte. Ach was, wir wollen gerecht sein, es paßte auch nicht...» Die Schwestern hingen an ihren Lippen und starrten sie verzaubert an; und obgleich es unter dem Reden Mittag geläutet hatte, war es ihnen gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Sie hörten weder die Glocken mehr noch die Mahnung des Hungers. «Er war so gut, und wie er gewisse Feinheiten schätzte, wie 289
er zeigte, daß er sie begriff, er war wirklich zum Herrn geboren. Von Zeit zu Zeit hat er mir Fotos geschenkt, auch von Viareggio hat er mir welche geschickt.» «Ah, so, dir auch? Und warum hast du sie uns nicht gezeigt?» «Ich habe ja gewußt, daß Sie selbst so viele hatten...» Remo hatte die Gewohnheit, wenn er auf Reisen war, den Tanten Momentaufnahmen zu schicken, und die eine oder andere hatte er auch Niobe geschickt oder sie ihr persönlich gegeben. Aber während die Tanten die ihrigen allen Leuten gezeigt hatten, bis zum Überdruß, hatte Niobe die ihren verborgen gehalten. Sie schien etwas zu verheimlichen und lächelte verschmitzt. «Übrigens habe ich sie in der Kommode, ich kann sie holen.» Während die Schwestern dasaßen und einander lächelnd und träumerisch ansahen, kehrte sie bald mit den Fotos zurück; sie durchblätterten sie gemeinsam mit wachsender Neugier. Und Carolina, die sich nicht mehr zurückhalten konnte, stieg ins Schlafzimmer hinauf, um ihre zu holen, mindestens dreißig, und sie mit den anderen von Niobe zu vergleichen, die im ganzen nicht mehr als zehn waren. Sie breiteten sie auf dem Tisch aus. Jede erinnerte an ein Ereignis, einen Ort, einen Tag, einen Augenblick. Das Gespräch wurde sehr lebhaft, sie brachen in Ausrufungen und Gelächter aus, wie in glücklichen Zeiten, so als ob alle Sorgen und Schwierigkeiten, in denen sie steckten, gelöst wären. Vom Neffen zu reden und dabei seine Gestalt in den Momentaufnahmen zu betrachten, gab den Herzen neue Kraft, erhellte den Geist, es war, als ob er noch da wäre oder im nächsten Augenblick zum Essen kommen würde. Das erste, was in die Augen fiel, nachdem sie alle durchgeschaut hatten, war, daß auf denen der Tanten Remo immer vollkommen angezogen war; auf denen von Niobe war er im Bade- oder Ruderanzug, in Trikot und Turnhosen, in einer Gruppe mit anderen Rude290
rern oder mit Freunden und auch mit jungen Damen; auf Rollschuhen mit Palle oder auf einer Klippe. Die Schwestern konnten sich nicht satt daran sehen und machten Vergleiche mit den ihren, ganz besonders aber gefielen ihnen die neuen, von denen sie keine Ahnung gehabt hatten, sie äußerten ihre Verwunderung über die Schönheit und Breite der Schultern, den Schwung der Beine, das Ebenmaß des Körpers und des Kopfes, und daß die Kraft darin nie über die vornehme Eleganz und Harmonie vorherrschte. «Warum hast du sie uns denn nicht sehen lassen?» «Aber...» Niobe zauderte und verbarg etwas, das merkte man sofort, sie schaute die Herrinnen an, als ob sie jeden Augenblick in Lachen ausbrechen wollte. «Ich habe auch noch eine andere... wenn Sie sie sehen wollen...» «Wo ist sie?» Es schien, als ob die Magd sich genierte oder den Faden jener Neugier noch mehr anspannen wollte. Sie hielt eine Hand unter der Schürze versteckt. «Komm, laß sie sehen!» «Laß sie uns sehen, gib her.» «Warum willst du sie denn nicht sehen lassen?» «Warum hast du sie uns nicht gezeigt?» «Was ist denn so schlimm daran?» Sie zog die Hand heraus und legte eine Fotografie auf den Tisch, die viel größer war als die anderen. «Die hat er in einem Briefumschlag geschickt.» Auf dieser, die viel größer war als eine Postkarte, war Remo allein und nackt in einer ziemlich kurzen Badehose, so daß jede Einzelheit des Körpers in ihrer ganzen Schönheit zu erkennen war. Die Fotografie war am Rand des Wassers aufgenommen. Der junge Mann stand mit erhobenem Kopf vor der Sonne, deren lebendiges Licht die heitere Ruhe des Gesichts nicht zu stören vermochte, sondern ihn nur die Brauen leicht zusammenziehen ließ und ihm eine etwas unwillige 291
Miene gab, die ihm so gut stand. Im Hintergrund war das Meer. Teresa war wie geblendet, als ob sie selbst in die Sonne geschaut hätte. Carolina aber sprang nach einem Blick, der das Bild zu verschlingen schien, auf, als ob sie fliehen wollte, stieß einen Schrei aus und fiel wieder auf ihren Sitz zurück. Sie brauchten einige Minuten der Sammlung, bevor sie jenem Stückchen Papier entgegentreten konnten. «Er war wirklich so, da ist nichts zu sagen, ganz genau so», sagte Niobe zwischen Träumen und Wachen, während die Herrinnen verwirrt auf das Bild schauten. Sie wandten sich ihr zu. «Ich habe es schon gewußt, daß er so war.» Die beiden starrten noch gieriger darauf. «Sie werden verstehen, jeden Morgen mußte ich dreioder viermal ins Zimmer, wenn er sich wusch, oder mit dem Frühstück. Und dann, was wollen Sie, wenn er sich auszog, war nicht einmal so viel Zeit, um davonzulaufen, ja nicht einmal, um sich nach einer anderen Seite umzudrehen, gewissermaßen um amen zu sagen, auch wenn man nicht wollte, mußte man sehen. Er stand im Nu so da, wie Gott ihn geschaffen hatte; ich weiß nicht, wie er es machte, aber man muß schon sagen; daß er ihn wirklich gut geschaffen hat, ja...» schloß sie, indem sie das Bild zum Zeugen anrief. Während Carolina sich in diesen Erklärungen verlor, fand Teresa vor der Magd ein Lächeln, das ihr aus dem Herzen aufstieg, eine Woge echter Heiterkeit, wie sie sie seit langem nicht mehr verspürt hatte. Immer mehr wuchs das Erstaunen der zwei Schwestern, als sie einander die Aufnahmen weiterreichten und sie betrachteten. Von denen Niobes gingen sie zu den ihrigen über, um gleich wieder zu den anderen zurückzukehren, wo der junge Mann im Badeanzug oder als Ruderer abgebildet war; bis zur letzten, größten, auf der seine Nacktheit in 292
einer bezaubernden Deutlichkeit sichtbar wurde. Hier endeten die Forschungen, um wieder von vorne zu beginnen. «Und warum hast du sie uns nicht sehen lassen?» «Ach... ich weiß selbst nicht, was soll ich sagen... vielleicht, weil sie mir zu gut gefallen haben, muß ich gestehen, und dann glaubte ich, daß Sie Anstoß daran genommen hätten, obwohl nichts Böses dabei ist. Aber ich weiß, wie ängstlich Sie in gewissen Dingen sind, so zaghaft. Und dann habe ich auch gesehen, daß die Ihrigen anders waren als die meinigen...» Im selben Augenblick hörte man ein Geräusch auf der Treppe: Giselda kam herunter. Über all diesem Durchsehen und Erklären der Momentaufnahmen war es ein Uhr vorbei geworden, die Zeit zum Mittagessen. Es muß vorausgeschickt werden, daß Giselda, obwohl sie ihr keine Geständnisse oder genauen Erklärungen gemacht hatten, sich über die verzweifelte Lage im klaren war, mit der sich die Schwestern nach dem Verlust ihres ganzen Vermögens abkämpften; ihr Tisch hatte sich seit über einem Monat aus auf Borg gekauften oder geliehenen, von Niobe zusammengekratzten oder erbettelten Dingen zusammengesetzt, nicht aus der nächsten Nachbarschaft stammend, denn wie ich euch schon gesagt habe, lehnten die Frauen jede Art von Unterstützung ab, die von solchen kommen konnte, die ihre Mieter oder Untergebenen gewesen waren, denen sie früher Wohltaten erwiesen hatten und die nun in der Lage waren, ihnen zu helfen. Da sie spürte, daß sich das Drama rasch zuspitzte, kam Giselda mit edlen und großmütigen Absichten herunter, sie kam, um sich anzubieten, sich selbst den arm und alt gewordenen Schwestern zur Hilfe anzubieten; und obgleich sie ihnen die Schuld an ihrem Ruin zuschreiben mußte, fühlte sie, daß es sinnlos war zu hassen und anzuklagen und daß der Augenblick gekommen war zu handeln, ohne viel zu reden. 293
Sie war fünfzehn Jahre jünger und nicht von der schweren Arbeit verbraucht wie die anderen, sie fühlte in ihrem im Grunde edlen und nur durch die Widerwärtigkeiten verbitterten Herzen eine Verpflichtung und ein drängendes Bedürfnis, mit ihrem Eintreten und ihrer Anteilnahme die von ihnen durch viele Jahre empfangenen Wohltaten wenigstens zum Teil zu vergelten und in dieser Stunde zu vergessen, was in dem gemeinsamen Leben an Bitterem und Unerfreulichem gewesen war. Ihr Gesicht erschien von einem ungewohnten Frieden erhellt, geglättet, beinahe sanft, bereit, mit Ruhe zu reden, Pläne zu machen und Rat zu empfangen und den eigenen zur Verfügung zu stellen, um einen untragbaren Zustand zu lösen. Aber vor dem Bild, das sich ihr beim Eintreten in das Zimmer bot, wurde ihr blitzschnell klar, daß die drei Frauen in die Betrachtung der Fotografien versunken waren, mit denen der Tisch bedeckt war; das Blut schoß ihr in den Kopf, eine Flamme des Zorns und der Entrüstung durchzuckte sie, stürzte sie in einen Zustand des Deliriums und verkehrte ihr inneres Empfinden mit einem Schlag ins Gegenteil, eine Bewegung, die über ihre Kräfte ging, ja über ihre Vernunft. Nach allem, was geschehen war, nach der nicht mehr gutzumachenden Katastrophe, an der ausschließlich ihre unverzeihliche Schwäche schuld war und die sie aus einem Zustand des Wohlergehens in die äußerste Dürftigkeit gestürzt hatte, nach so vielen Tagen des Mangels und fast des Hungers, mit dem erloschenen Herd, der leeren Speisekammer und ohne einen Heller in den Taschen, gerieten die drei dummen Frauenzimmer vor den Fotografien jenes Halunken in Verzückung, der sie mit solcher Ungeniertheit in diesen elenden Zustand gebracht hatte, viel vergnügter um diesen Tisch, als wenn sie vor einer üppigen Mahlzeit gesessen wären ... «Was geht hier vor?» sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und blaß vor Zorn. Die drei Frauen hoben den Kopf in kampfbereiter Hal294
tung, da sie sich von jener harten und grausamen Stimme angegriffen fühlten. «Was tut ihr denn da, darf man das wissen?» «Was wir wollen.» «Wir sind dir keine Rechenschaft schuldig.» «Wäre es nicht Zeit zum Essen?» Sie schauten einander an unter jenem Blick, der wie die Klinge eines Dolches war. Sie hatten die Stunde und den Hunger vergessen, es hatte ein Uhr geschlagen, und sie wußten nicht, was sie antworten sollten. Die Fotografien hatten die Macht gehabt, sie über die Wirklichkeit hinauszutragen in einem glücklichen Traum, aus dem sie nicht geweckt werden wollten. Die grausame Stimme der Schwestern rief sie in die traurige Wirklichkeit zurück. Sie blickten einander an und fühlten sich von einer Empfindung des Hasses gegen sie erfaßt und durchdrungen, die sich in der Haltung des Richters vor ihnen erhob. «Wir haben keinen Hunger», sagte Teresa in spöttischem Ton, unbefangen und beinahe fröhlich. «Wir haben keinen Hunger», wiederholte Carolina affektiert. «Aber ich schon.» «Dann sorge nur dafür, daß du etwas bekommst.» Giselda wußte nicht mehr, was sie erwidern sollte, wie beginnen; das, was herauskommen mußte, war zuviel und drängte sich ihr im Hals so zusammen, daß es eher explodieren als herauskommen konnte. «Sorgen... sorgen... gewiß, gewiß werde ich dafür sorgen, aber für mich, nur für mich, verlaßt euch darauf, und bestimmt nicht hier, wo nicht einmal mehr ein Brocken Brot für einen Hund da ist. Gewiß werde ich dafür sorgen, und wie, und ich werde euch gleich zeigen, wie ich sorge, verlaßt euch darauf», sie sprach stoßweise, sprunghaft und keuchend, «ich werde als Dienstmädchen gehen, wie ich es bis jetzt bei diesen feinen Damen gemacht habe», sie verneigte 295
sich spöttisch, «bei diesen feinen Damen und ihrem würdigen Neffen», sie machte eine zweite rasche Verbeugung und spie Gift und Galle, «aber wenigstens wird man mir zu essen geben und den Lohn am Ende des Monats. Hier arbeitet man ja nur für die Schönheit der Herrschaften.» Sie lächelte unverhohlen und verneigte sich tief. «Die Dienstmagd machen und nichts haben außer unfreundlichen Gesichtern, und nichts zu essen - nein, nein, meine Lieben, nein, sucht euch eine andere, die euch den Dreck wegputzt, ich gehe, so Gott will. Hätte ich es nur früher getan, so wäre ich jetzt nicht so übel daran, pfui Teufel!» Sie schien auf die Schwestern losgehen zu wollen, um sie zu beißen, aber diese Bewegung löste sich in einem Schrei des Abscheus auf. «Pfui Teufel!» wiederholte sie, und ihre ganze Gehässigkeit lag in diesem Ausruf. Die drei ihr zugewendeten Frauen schienen auf sie losfahren zu wollen, um sie zu schlagen, aber ein krampfhaftes Zittern hielt sie zurück und ließ sie die Arme sinnlos bewegen. «Fort! Fort! Fort!» Sie konnten kein anderes Wort finden, während sie sie mit ausgestreckten Armen hinauswiesen: «Fort! Fort!» Anstatt ihre Wut zu steigern, riefen diese Wut und diese Drohungen bei Giselda den sarkastischen Ton eines giftigen Spottes hervor, und statt zurückzuweichen, schien sie sich vielmehr dem Ansturm ihrer Aufforderungen zu stellen. «Gewiß gehe ich, und wie, ich lasse es mir nicht zweimal sagen, da können Sie ruhig sein, meine Herrschaften, Sie tun recht daran, mich wegzuschicken, weil Sie kein Zimmermädchen mehr brauchen, denn auch das Zimmermädchen will sich den Magen füllen, wenn es Mittag schlägt, es muß sich den Magen füllen, das Zimmermädchen, und die Herrschaften haben selber noch nichts im Leibe, sogar wenn es schon ein Uhr und zwei Uhr vorbei ist.» «Hinaus aus unserem Haus! Hinaus! Fort!» «So erstickt doch in eurem Dreck!» Es fehlte nicht viel, und sie wären sich in die Haare geraten, 296
als Giselda zornbebend und wie vom Sturmwind getragen die Treppe hinaufrannte. Die Frauen blieben zitternd und bebend vor weißglühendem Zorn zurück, während man oben im Zimmer Giselda aufgeregt hin und her gehen, von einem Ende des Zimmers zum andern laufen, Gegenstände rücken, Stühle umwerfen, Schubladen mit Gewalt aufreißen und zuschieben hörte. Nachdem sich, nun da die wütende Schwester nicht mehr vor ihnen stand, ihr Zorn beruhigt hatte, sahen sich die drei Frauen noch von Zeit zu Zeit keuchend und dann tief aufatmend an und machten dann ihre im Nacken und an den Schläfen in Unordnung geratenen Haare wieder zurecht. Nun schauten sie die Fotografien an, aber teilnahmslos, bis die von Remo, nackt am Strand von Viareggio mit der Sonne auf dem Gesicht und dem Meer im Hintergrund, die Macht hatte, sie zurückzurufen; sie hatten sogar jetzt nach diesem heftigen Zwischenspiel die Kraft, sie mutig anzuschauen, ohne jene natürliche Scheu, von der Niobe sprach und die sie beim ersten Anblick erfüllt hatte. «Warum hast du sie uns denn nicht sehen lassen?» In das bis zur Unwahrscheinlichkeit verknotete Wirrsal versunken, lächelte die Magd nur ein wenig. So verging eine halbe Stunde trüben und unbehaglichen Schweigens in der Unsicherheit eines lästigen Wartens, immer mit gespanntem Ohr auf die Geräusche im oberen Zimmer lauschend, ohne es jedoch zeigen zu wollen. Jenes Schweigen, das einem ernsten und unvermeidlichen Ereignis vorausgeht, das man nur zum Teil überschauen kann, bis neuerdings ein großer Lärm auf der Treppe zu hören war. Giselda kam hastig herunter mit Hut und Mantel, in einer Hand einen Koffer und in der anderen ein großes, mit einem Strick zusammengebundenes Bündel. Sie durchquerte das Zimmer in höchster Erregung, der Zorn beflügelte ihre Schritte, und sie wandte sich nicht einmal nach den drei Frauen um, als ob sie sie nicht gesehen hätte. 297
Aber am Ausgang angekommen, wurde sie von einem neuen Wutausbruch befallen, den sie nicht bezwingen konnte, und nachdem sie den Koffer auf den Boden niedergestellt hatte wie jemand, der etwas vergessen hat und in Eile zurückkehrt, wandte sie sich um und machte ein paar Schritte, um sich auf sie zustürzen: «...dumme Gänse!» schrie sie. Und ihre Stimme war wie ein Ausspucken. Der Berg hatte die Maus geboren. Jene an der Tür gekommene Überlegung und der darauffolgende Vorstoß ließen die Krönung durch dieses bescheidene Schmähwort nicht voraussehen. Aber da Niobe sich ihr bei diesem Vorstoß mit geballten Fäusten entgegengestürzt hatte, um die Herrinnen zu verteidigen, schleuderte sie dieser noch ein paar Beschimpfungen ins Gesicht: «Vettel!... Vielfraß!» und drehte sich zweimal herum. Und nachdem sie den Koffer wieder aufgenommen hatte, machte sie sich davon. Die anderen verfolgten sie bis auf die Straße und schrien ihr nach: «Hinaus! Fort! Geh fort! Hinaus aus unserem Haus!» «Es ist höchste Zeit, bei Gott!» schrie Niobe wild. «Fort!» Das Geschrei, zuerst drinnen, dann draußen, hatte eine Menge Leute angelockt, die vor Neugier vergingen, zu erfahren und zu sehen, was in diesem Haus vorging, das nunmehr zu einer Quelle der Überraschungen geworden war. Aber nachdem Niobe mit großer Heftigkeit das Gartentor hinter der Scheidenden zugeschlagen hatte, rief sie den Herrinnen zu: «Halten Sie hier, halten Sie hier fest, bitte schön», indem sie ihnen das Tor mit den Händen zu halten gab, während sie sich anschickte ins Haus zu laufen, um den Schlüssel zu suchen. Die zwei Schwestern klammerten sich daran fest und hielten es mit solcher Gewalt zu, daß vier Männer sie nicht von der Stelle gebracht hätten. Sie wußten tatsächlich nicht, warum sie diese Querstangen so festhielten, ihre Nerven wa298
ren in höchster Erregung, die sie unbewußt an jenen Eisenstäben austobten, während Niobe nach dem Schlüssel suchte und während sie den Herbeigelaufenen und noch Herbeilaufenden Grimassen und Fratzen schnitten, die sie, regungslos und ohne einen Laut von sich zu geben, unentwegt erschrokken und eingeschüchtert von weitem anstarrten wie zwei wilde Tiere, die an den Gitterstäben des Käfigs rüttelten, um ihnen nachzulaufen und sie zu verschlingen. Die Kinder hielten sich an den Röcken der Mütter fest. «Sind wir euch etwas schuldig?» «Was habt ihr zu bekommen?» «Was wollt ihr, kann man es erfahren?» «Klatschbasen!» «Habt ihr uns noch nie gesehen ? Dann schaut uns jetzt an!» «Was gibt's da zu gaffen?» «Kümmert euch um eure Sachen!» «Schaut besser auf eure Töchter!» «Schwätzer!» «Kehrt vor eurer Tür, davor ist genug Dreck!» «Maulaffen!» «Dreckfinken!» «Ekelhafte Bande!» «Uns könnt ihr nichts nachsagen, wir sind anständige Frauen. Solche, wie wir sind, müßte es viele geben. Zwei solche gehörten in jedes Haus, aber ja... hm!... hm!» Teresa machte nach einem Räuspern Miene, auf die Herbeigelaufenen, die immer mehr wurden, zu spucken, und Carolina streckte eine Hand durch das Tor hinaus und machte ihnen eine lange Nase, hielt sich aber gleich wieder an den Querstangen fest. Die Leute wurden immer mehr, hielten sich in respektvoller Entfernung, waren aber außer Rand und Band vor Neugierde. «Ihr könnt uns anschauen, ja, schaut uns nur an, weil solche Frauen, wie wir sind, nicht mehr gemacht werden, und die Weiber im Dorf hier sind eine Herde Säue.» 299
Niemand wagte ein Wörtchen zu sagen oder einen Finger zu rühren. «Eselsgesichter!» Wirklich hatte das verblüffte Staunen jene Gesichter so in die Länge gezogen, daß sie keinen menschlichen Ausdruck mehr hatten. Niobe kam gelaufen, aber statt des Schlüssels, der mindestens seit einem halben Jahrhundert nicht mehr vorhanden sein mochte, brachte sie eine Kette mit Vorhängeschloß. Mit Gewalt schob sie die aneinandergedrängten Herrinnen weg, die noch immer weiterlärmten. Nachdem sie die Kette drei- oder viermal um die mittleren Querstangen gewunden hatte, steckte sie das Vorhängeschloß hinein und drehte den Schlüssel darin um, wobei sie ein letztes Wort an die Zuschauer richtete: «Stinker!» Und indem sie ihnen gleichzeitig mit dem Arm eine höchst pöbelhafte und unanständige Gebärde machte, begann sie die Schwestern ins Haus hineinzuschieben. Sie schlossen sich darin ein und schlugen die Tür mit solcher Wucht zu, daß man meinen konnte, alle Fensterscheiben bis zur letzten müßten herausfallen; dann begannen sie erleichtert aufatmend mit großen Schritten und nach allen Richtungen in ihrem Zimmer hin und her zu gehen, als ob sie es jetzt in ihrem vollen Besitz fühlten, wie sie es bis zu jenem stürmischen Moment nie gefühlt hatten. «Ach! Endlich! Ach! Oh!» Und sie reckten und streckten sich im selben Maße, wie sich ihre Lungen weiteten: «Ah! Oh!» Sie hatten alles verloren, sie hatten nicht einmal etwas zu essen, aber sie fühlten sich von der inquisitorischen Anwesenheit des feindlichen Zeugen, des grausamen Richters befreit; von dem Feind, dem Fremden. Sie hatten zum erstenmal das Gefühl, wirklich Herrinnen im eigenen Haus zu sein. Wie nach einem Schiffbruch, außer sich, staunend, mit vor Schrecken noch weit aufgerissenen Augen, sich den Kopf haltend, saßen die Schwestern jetzt vor dem Tisch, auf welchem 300
die Momentaufnahmen von Remo in vielerlei Aufmachungen und Posen verstreut waren. Die am Strand des Meeres von Viareggio ragte aus allen hervor. Ihre zu weit geöffneten Augen schlossen sich nicht mehr, sondern blickten starr auf einen Punkt, ohne in einem Augenblick von Kollaps irgend etwas zu unterscheiden. Niobe war der Held, der keine Ruhe kennt, weil er keine Anstrengung kennt. Wieder ins Haus zurückgekehrt, in dem ihr angemessenen Rahmen der Tür, betrachtete sie die Herrinnen mit einem Strahl von Licht im Blick, jenem lebendigen Licht, das sie auch in den verzweifelten Augenblicken nicht verließ. Sie betrachtete sie mit einem aufkeimenden Vertrauen, dessen Widerschein in ihren Augen immer mehr zunahm, wie das Licht der Sonne in der Morgenröte. Ein drängendes Verlangen zu sprechen erfaßte sie, man merkte, daß ihr ein Wort auf den Lippen brannte, das sie nicht mehr länger zurückhalten konnte. Nach einer Weile dieses erfüllten Schweigens hauchte Carolina, die nicht aufgehört hatte, auf den Tisch zu starren, mit dünner Stimme: «Warum hast du sie uns nicht sehen lassen?» «Nun!...» erwiderte Niobe, die ganz in ihre eigenen Gedanken vertieft war, und nur um etwas zu antworten. «Ich weiß selber nicht warum.» «Diese ist die größte von allen.» «Wir haben kein großes Bild von Remo, nur diese Momentaufnahmen.» Sie sprach kraftlos, wie von weit her, leise. «Übrigens kann man ja von den kleinen da eine Vergrößerung machen», setzte Niobe hinzu, um ein Thema zu beschließen, dem ihr Interesse nicht mehr zugewandt war. «Das ist wahr, ja, da hast du recht», fuhr Carolina mit schwindender Stimme fort. Teresa hörte der Unterhaltung zu und schaute mit ebensolcher Interesselosigkeit auf die Fotografien, in die eigenen drängenden, quälenden Gedanken versunken, bis sie diese, 301
sich ermannend, unterbrach: «Wie spät ist es denn eigentlich, weiß das jemand?» «Es ist in diesem Augenblick drei Uhr», antwortete Niobe, ohne noch etwas hinzuzufügen. Die Schwestern schauten sich betroffen an. Ein Gefühl der Furcht überkam sie, ein Anfang von Verzweiflung bei dem Gedanken, daß sie nicht gegessen hatten und im Haus nichts zu essen war, wenn sie auch nicht die geringste Spur von Hunger empfanden. Niobe begriff, daß dies der gegebene Augenblick war, sich einzuschalten, indem sie ihnen von der Tür her jenes Wort zuspielte, das ihr wie ein Edelstein im Auge glänzte und von dem sie sich ein tröstliches Ergebnis erwartete. «Hören Sie», leitete sie ein und trat dabei näher auf Teresa zu, «hören Sie, ich muß Ihnen etwas sagen... ich habe es Ihnen bis heute nicht sagen wollen, aber jetzt kann ich nicht mehr anders. Sie können im übrigen tun, was Sie meinen, versteht sich, aber ich bin sicher, auch wenn ich es falsch gemacht habe, daß Sie mich nicht schelten werden...» Teresa beobachtete sie mit neu erwachendem Interesse, indes Carolina zu den Worten der Magd schwach nickte, auf die ihr Vertrauen unerschüttert war. «Die Rosina, die Frau vom Bucce, verheiratet ihre Tochter im April, die Aussteuer haben sie fix und fertig, aber es scheint, daß sie zur Ergänzung gern wenigstens ein halbes Dutzend feiner Hemden hätten, solche, die wirklich mit Pfiff gemacht sind, und vielleicht auch noch die eine oder andere Kleinigkeit dazu, wenn es möglich wäre. Die Tochter macht eine gute Partie, er hat eine Bäckerei in Florenz, sie haben sich verliebt, als sie bei einer Schneiderin gearbeitet hat, die in seiner Nähe ist, sie kommt in eine Familie, wo etwas da ist, sie möchte auch Ehre einlegen, da hat sie recht, sie will nicht zurückstehen, sie hat auch Geld auf der Seite. Ich habe ihr gesagt, daß ich es ausrichten würde, aber daß ich von mir aus nichts versprechen könnte: Ich werde hören, ich werde 302
hören, ob es möglich ist. Es sind Bauersleute, gewiß aber schließlich und endlich ist ihr Geld genausoviel wert wie das von den feinen Damen. Die Sache ist die, daß Sie nicht für Bauersleute arbeiten, ich habe es der Rosina schon gesagt, sie weiß es. Mädchen, habe ich zu ihr gesagt, ich kann dir wirklich nichts versprechen; ihr wißt besser als ich, was für Arbeiten meine Frauen machen und was für eine Kundschaft sie haben, es sind hochherrschaftliche Sachen, keine Sachen für die gewöhnlichen Leute. Sie hat mir in den letzten Tagen Eier und Brot mitgegeben, sie hat mir auch eine Flasche Wein gegeben und eine Karaffe Öl, aber ohne Verpflichtungen, auf Wiedervergeltung ein anderes Mal. Sooft ich hinkomme, fragt sie immer wieder: Also?, und ich antworte ihr: Mädchen, also? Irgend etwas muß ich ihr antworten. Ich sage es Ihnen, weil ich muß, ich kenne sie, es sind Leute vom Ort, und das Geld können sie auch im voraus geben.» Zuerst runzelte Teresa bei dieser unerwarteten Rede die Stirn, und Carolina fing gleich an sich zu winden, um einer Sache auszuweichen, von der sie sich in lästiger Weise erfaßt fühlte, aber nach diesem so natürlich und berechtigten Zurückweichen hob die erstere den Kopf; sie fand den alten Stolz der an eine produktive Tätigkeit gewohnten Frau wieder. «Geh, geh, Niobe, geh nur zur Rosina, sage ihr, daß wir ihr die Hemden machen, sage ihr, daß wir auch das andere machen, daß wir ihr alles machen, was sie will.» Um nicht ein mögliches Bereuen oder Zurücknehmen der tapferen Zustimmung abzuwarten, lief Niobe davon wie ein Kind, das endlich den seit langem begehrten Gegenstand in Händen hat, und die Schwestern hörten sie im selben Augenblick das Tor losketten und öffnen, wo sie ja gesagt hatten. Sie folgten ihr mit den Blicken auf der Hauptstraße und auf einem Seitenweg bis zu dem Haus von Bucce, der seinen Hof fast bei der Mensola-Brücke neben dem Bach hatte. Nach einer Weile kam sie mit der Bäuerin zurück. 303
«Hier ist sie», sagte Niobe, als sie die Bäuerin den Schwestern vorstellte, «hier, das ist sie.» Und während sie anfingen zu reden, Vorlagen, Zeichnungen und Modezeitungen zu durchblättern, hörte man in der Küche bereits das Geräusch des Lebens, wo sich allmählich das Schweigen des Todes ausgebreitet hatte. Als die Rosina dann fortging, nachdem sie mit den Materassi besprochen hatte, was zu tun war, erschien Niobe lächelnd und rief sie zum Essen, wo sie ein schöner Eierkuchen mit Würstchen erwartete. Diese Nachricht verbreitete sich mit der Windeseile der unerhörten Dinge: die Materassi nähten die Hemden für die Tochter des Bucce. Im Umkreis des Hauses hob ein Gewimmel von Frauen und Mädchen an, ein Verhandeln mit leiser Stimme, ein Summen, ein Schwatzen über die Farben, über die Muster, über die Stickereien, über die Preisforderungen, und wie jene an den Umgang mit den großen Damen gewohnten Frauen die neue Kundin aufnehmen würden. Die Rosina vom Bucce, die Amelia vom Gozzo, die Regina vom Mezzanotte, die Luisina, die Maria, die Assuntina und die Cesira, die Armida und die Margherita und alle anderen... eine wahre Prozession, die sich mit der Zeit vom Haus des Bucce aus, zuerst schüchtern und dann mit zunehmender Dreistigkeit auf das Haus der Materassi zu bewegte. Alle Mütter, die Töchter zu verheiraten hatten, alle Töchter, die ihre Aussteuer herzurichten hatten. Teresa und Carolina wurden überfallen, belagert. Man hätte meinen können, daß alle diese Frauen nur auf ein Zeichen gewartet hatten, um sie zu überfallen. Und glaubt nur nicht, daß sie sich mit Arbeiten zufriedengegeben hätten, die ihrem einfachen Stand entsprachen, nie und nimmer, sie wollten sie in allem und jedem wie die Damen, oder man mußte ihnen wenigstens die Illusion verschaffen. Das war ihr Triumph und ihr höchstes Vergnügen, eine Frage der Ehre. Sie verlangten, daß jedes Stück das Etikett trug: «Sorelle Materassi», wie die anderen, und sie verlangten, daß die Rechnungen auf ihre Schreibnamen ausge304
stellt wurden und nicht auf die Hausnamen, die allen geläufig waren: Nichts da von Bucce, Gozzo, Cicche, Filze, Stoppa, Mezzanotte oder derartigem, sondern: an Signorina Rosa Cerotti, an Signora Lucrezia Porcinai, an Signora Regina Gambacciani, an Signora Argia Bracaloni... Mit ausführlich detaillierten Posten und gefolgt von Ziffern, die sie beim Fortgehen in aller Naivität buchstabierten; und wenn sie auch nicht lesen konnten, so hörten sie gleichwohl nicht auf, sie anzusehen und sich genießerisch in jenen Arabesken zu verlieren. Teresa aber, die früher verstanden hatte, die vornehme Kundschaft geschickt zu behandeln, wußte mit ebensolcher Meisterschaft auch mit dieser umzugehen und sie unfehlbar bei ihrer Eitelkeit zu fassen: «Ihr versteht euch auf die Feinheiten besser als die Damen, leichter kann man einer von ihnen etwas weismachen als euch.» Es war nicht so, aber die Lüge tat so gut und schadete keinem. Man mußte ihnen sagen, daß nur die Güter des Glücks sie von jenen unterschieden und daß im übrigen keinerlei Unterschiede bestanden. Und darauf verstand sich Teresa. «Was glaubt ihr, die Damen sind lauter äußerer Schein. Wascht ihnen das Gesicht ab und zieht ihnen die schönen Sachen aus, die sie anhaben, und dann werdet ihr sehen.» Sie begnügten sich mit kleinen Einnahmen, den neuen Leuten angemessen, und zugleich auch angemessen ihren so sehr herabgeminderten Möglichkeiten, die immer noch mehr abnahmen. «Jetzt... nur noch zum Leben.» Nur ein einziges Mal, in einem Augenblick der Entmutigung und Müdigkeit, warf Carolina die Arbeit weg und wand sich wie in einem Strudel. «Puh! Ich kann nicht mehr, mit all diesen gewöhnlichen Weibern!» Aber das waren die letzten Zuckungen aus einer Zeit, die nicht mehr existieren durfte. Teresa gab keine Antwort und nähte weiter, ohne den Kopf zu heben. Auch die Bäuerinnen machten der Kirche Geschenke für 305
die Rosenkranzmadonna, für die Sakristaninnen und die Prozessionsleiterinnen: ein Altartuch, einen Chorrock für den Pfarrer, ein Meßgewand oder einen Rauchmantel. Und einmal an die Veränderung gewöhnt, faßten sie Zuneigung zur neuen Arbeit. «Die armen Dinger», sagte Teresa, «sie kommen mit dem baren Geld in der Hand, und was man macht, ist ihnen alles recht. Wie oft haben uns die feinen Damen auf die Bezahlung warten lassen, nachdem sie uns schier die Haut abgezogen hatten, damit wir sie zufriedenstellten.» Noch eines muß erwähnt werden: Wie sie durch das Nähen der Wäsche für die Bäuerinnen und die Arbeiterinnen eines täglich in beängstigender Weise wachsenden Kreises ihre Kraft zurückgewonnen hatten, so war es ihnen auch gelungen, sich in der unmittelbaren Nachbarschaft wieder eine überlegene Position zu schaffen. Sie hätten sich eher umbringen lassen, als ihren früheren Mieterinnen ein Hemd zu nähen, und es ist nicht auszudenken, was sie geantwortet hätten, wenn die Frau des Fellino, ihre frühere Untergebene, mit einem derartigen Ansinnen dahergekommen wäre. Und ob ihr es glaubt oder nicht, diese Parteilichkeit war den Ausgeschlossenen im höchsten Grade unangenehm, die sich dadurch der übrigen Bevölkerung gegenüber benachteiligt fühlten. Der Fellino wäre so stolz gewesen, ihnen auf dem Weg über die Hemden und Hosen manches Sümmchen zurückgeben zu können, das tatsächlich einmal in ihre Taschen gehört hätte. «Ist unser Geld vielleicht schlechter als das aller anderen?» «Was haben wir ihnen denn getan, diesen eingebildeten Alten?» «Sind wir daran schuld, wenn es mit ihnen ein schlechtes Ende genommen hat?» «Sie hätten eben nicht so dumm sein sollen.» Es wurmte sie ganz gewaltig, daß sie nicht irgendwo eines jener fabelhaften Etikettchen «Sorelle Materassi» am Leib tragen konnten. Und die vor allem, die aus langer und täglicher 306
Erfahrung wußten, was ein solcher unter dem Kleid verborgener Name zu bedeuten hatte. «Was haben sie denn gegen uns, diese zwei alten Vetteln, diese triefäugigen Schlampen?» Und die Schwestern ihrerseits: «Eher würde ich mir die Augen ausreißen lassen, als einer von denen ein Hemd nähen.» «Nicht um 1000 Lire würde ich ihr eines nähen.» «Die Hand würde ich lieber aufrieben, das Gras mit den Zähnen ausreißen, vor Hunger sterben, bevor ich für eine von ihnen einen Stich machte.» Sobald es in der Geldschublade, wenn auch ohne allzuviel Lärm, wieder zu klingeln begann, riefen sie Niobe: «Schau, Niobe, den Lohn wie früher können wir dir nicht geben, wir sind zu arm, aber wenn du etwas brauchst, da ist das Geld, denk dir nichts dabei, es gehört uns allen dreien: das ist die gemeinsame Kasse.» Niobe floh empört, und bevor sie in der Küche verschwand, drehte sie sich an der Tür noch mal um und erwiderte: «Ich will wirklich nichts, ich brauche nichts, ich habe nichts zu bekommen, das wäre noch schöner, das käme mir vor, als ob ich es vom Altar wegnähme.» Dann tauchte in der zurückgewonnen Ruhe und in dem neuen Wohlsein ein erster Wunsch auf. «Wir haben kein großes Bild von Remo», seufzte Carolina ohne Ende. «Man kann eines von den kleinen vergrößern lassen, da ist nichts dabei», erwiderte Niobe, «das, was am besten kommt, was am besten gefällt.» Aber sie mochten sie noch so oft durchsehen, sie konnten sich nicht entscheiden, welches sie wählen sollten. Bis Niobe endlich die Polemiken kurz abschnitt und auch diesmal, wie der brave Esel den Rücken darbietet, um eine Last zu tragen, den ihrigen darbot, um sie den Schultern der Herrinnen abzunehmen. 307
«Das da», sagte sie entschlossen und den allgemeinen Wunsch zum Ausdruck bringend, «ist das schönste, das größte, und es wird am besten kommen.» Die Herrinnen sagten zuerst nein, aber es war ein zögerndes, schwankendes Nein; sie wendeten ein, daß es sich nicht schickte, in einem Haus lediger Frauen das vergrößerte Bild eines jungen Mannes in einer Badehose, und so kurzer noch dazu, zur Schau zu stellen. «Ach was!... Ach was!» erwiderte Niobe. «Das sind altmodische Ansichten. Sie haben von manchen Sachen keine Ahnung; die jungen Männer von heutzutage sind immer in Badehosen, das ist gesund für sie, es ist richtig, daß sie so erzogen werden, dabei werden sie gesund, schön und kräftig und gutherzig; wenn sie immer in Watte gewickelt werden und der Mutter am Rockzipfel hängen, werden sie schwächlich, gelbgesichtig, boshaft, unnatürlich, trübselig, und man weiß nie, was sie ausbrüten.» Dann griff sie zu einem unanfechtbaren Argument, um sie zu überzeugen: «Steht auf der Piazza della Signoria nicht etwa auch der David?» «Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Und doch, Niobe, wenn man den David anschaut, sieht man alles... und weiß nichts. Vielleicht, weil er aus Marmor ist, wirkt er nicht so.» «Kommen Sie... tun Sie mir die Liebe...» schloß sie, «lassen Sie mich machen. Sie wissen es selber, daß es gerade das ist, was wir brauchen.» Carolina fügte hinzu, daß Niobe recht hätte und daß eine Vergrößerung von den anderen nichts werden könnte, weil sie zu klein wären. Niobe ging selbst nach Florenz und ließ von einem Fotografen an der Piazza Santa Croce eine Vergrößerung machen, ungefähr zwei Drittel der natürlichen Größe, und diese wurde in ihrem Arbeitszimmer an der Mittelwand aufgehängt, unter Glas und in einem schönen Rahmen; so daß beim Eintreten der junge Mann aufrecht zwischen den beiden 308
Schwestern sichtbar wurde. Daneben zwei kleinere Bilderrahmen, die in geschickter Verteilung alle Momentaufnahmen von Remo an allen möglichen Orten und in allen möglichen Aufmachungen und mit den verschiedenen Freunden enthielten, mit Franco, Sergio, Massimo, Corrado, Renato, Piero, Bruno, Ettore, Alfrede, Jim... auch sie nunmehr fern an einem verlorenen Horizont, aber so nahe dem Herzen. Und beim Verteilen hatten sie es drei- oder viermal mit Absicht so eingerichtet, als ob es sich von selber ergeben hätte, daß dort, wo Remo neben ihm erschien, Palle zugedeckt wurde. «Dieser verfluchte Palle!» Die Bäuerinnen bewunderten das Bild rückhaltlos und wollten auch die kleinen in der Nähe und bei Licht sehen; sie nahmen die Bilder von der Wand und wollten Erklärungen über das haben, was sie darstellten, über die Orte und die Personen: Viareggio, Montecatini, Venedig, Rom, Bologna, Mailand... «Donnerwetter!» «Wie gut es ihm steht!» «Sehr gut, ja, wirklich sehr gut», mischte sich Niobe im rechten Augenblick ein. «Großartig!» «So ein feiner junger Mann.» «Wie gut er aussieht, wirklich wie ein Herr!» «Einen richtigen Herrn erkennt man auch in Unterhosen, meine Lieben», fuhr Niobe fort. Teresa und Carolina hätten sie am liebsten alle miteinander umarmt, und ihre Dankbarkeit ergoß sich ganz über die Hosen und Hemden. Sie stellten Vergleiche mit ihren eigenen Söhnen an, mit dem Soldaten, dem Rekruten, dem Fußballspieler, dem Läufer, dem Faustkämpfer... Auch sie waren immer in Badehosen. «Auch der meinige, wie der meinige, der meine ist auch so gewachsen, hat auch solche Schultern. Diese Beine solltet ihr sehen! Er kann sie nicht stillhalten. Auch der meine, wenn er zum Laufen geht. Auch der meine, wenn er kämpft. Den 309
meinigen muß ich allein schlafen lassen, weil er sogar in der Nacht Fußtritte austeilt, und die Brüder wollen nicht mehr mit ihm beisammen sein. Der meinige hat vier Medaillen gewonnen. Wenn ihr den in der Uniform sehen würdet!» Die Schwestern lächelten und gönnten der Kundschaft alle ihre Vergleiche, aber sie wußten es besser, und wenn sie allein waren, rückten sie die Dinge wieder zurecht: «Die armen Weiber, es sind ihre Söhne, sie haben recht, man darf ihnen nicht widersprechen.» «Ob sie sich getrauen würden, auch dort zu vergleichen, wo er angezogen ist?» Ihre Söhne mochten so schön und stark sein, wie sie wollten, aber dieser war eine Ausnahme, außer Diskussion. Und niemand fand etwas dabei, in diesem Zimmer das Bild eines jungen Mannes in einer Badehose zu finden. «Haben Sie es jetzt gesehen?» sagte Niobe. «Habe ich recht gehabt oder nicht? Und Sie haben Angst gehabt, daß es sich nicht schicken könnte. Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß Sie über gewisse Dinge nicht auf dem laufenden sind.» «Wenn die Damen noch gekommen wären, wer weiß», antwortete Teresa, «wer weiß, ob man es hätte lassen können. Wahrscheinlich hätten sie die Nase gerümpft und den Mund ein bißchen verzogen.» «Ja», fügte Niobe hinzu, «aber erst, nachdem sie die Augen richtig aufgemacht hätten.»
INHALT
Santa Maria a Coverciano 9 Die Schwestern Materassi 12 Remo 62 Palle 119 Teresa und Carolina sehen zu, Giselda singt, Niobe geht zur Weinlese 128 Giselda! Niobe! 210 Peggy 237 Nichts als Erinnerung 279