Die SchwertLegende
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 101 von Jason Dark, erschienen am 08.08.1989, Titelbild: Peter G...
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Die SchwertLegende
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 101 von Jason Dark, erschienen am 08.08.1989, Titelbild: Peter Goodfellow
Die Waffe war etwas Besonderes. Sie lag versteckt in den Eisregionen der Arktis. Nur ein besonders mutiger Mensch war in der Lage, sie zu finden. Zwei Männer machten sich auf den Weg, um das Zauberschwert zu finden: Yakup Yalicinkaya und ich. Nur mit dieser Waffe konnte Shimada, der Ninja des Teufels, besiegt werden. Viele schon hatten versucht, das Schwert zu finden. Sie waren gescheitert. Wir fanden die Waffe. Doch der Preis war zu hoch...
Die Toten schrien! Oder wimmerten ihre Seelen nur so erbärmlich, als würde ein Sturmwind durch die Löcher eines alten Gemäuers wehen und sich in den Spalten und Ritzen fangen? Es waren schlimme, leise, dennoch grauenhafte Schreie, die sich in das Hirn des Ruhenden hineinbrannten und dafür Sorge trugen, daß er nicht mehr schlafen konnte. Die Schreie brachten eine Botschaft, eine Warnung. Sie wollten den Liegenden aufrütteln und dafür sorgen, daß er keine Ruhe mehr fand. Der Körper lag gestreckt auf dem einfachen Lager, äußerlich ruhig, innerlich jedoch unter Druck stehend, denn das Geträumte zeichnete sich auf dem Gesicht des Mannes ab. Nicht das Bild, nur die Qualen, die er im Schlaf durchlitt. Da zitterte der Mund, da perlte Schweiß auf der breiten Stirn und dem dunkelblonden Haar. Die Wimpern zuckten, die Lider flatterten. Manchmal drang über die Lippen ein leicht pfeifendes Geräusch, wenn der Mann ausatmete. Im Schlaf durchlebte er einen Schrecken, der in den Tiefen seiner Seele geboren wurde und der ihn peinigte wie eine Folter. Die Schreie verwehten allmählich, statt dessen erschienen Bilder vor seinem geistigen Auge. Sie schälten sich aus einer tiefen, dunklen Schüssel hervor, drangen wie lange, schwarze Nebelbänder an die Oberfläche und formierten sich zu einem unscharfen Bild. Eine weite Szenerie. Kalt, weiß, schneebedeckt, mit gewaltigen Bergen im Hintergrund. Vögel schwebten über die Fläche hinweg. Große, schwarze Tiere, eine Mischung aus Adlern und Raben, so jedenfalls kamen sie dem Träumenden vor. Die Vögel wirkten wie Boten des Schreckens und der Finsternis. Aus einer anderen Welt stammend, waren sie in diese reale hineingetaucht, um auf die Suche nach irgendwelchen für den Schlafenden nicht erkennbaren Dingen zu gehen. Manchmal jagten die Vögel pfeilartig dem schnee-und eisbedeckten Erdboden entgegen, pickten mit ihren langen Schnäbeln in irgendwelche Löcher oder Spalten und holten ihre Beute hervor. Da hingen dann lange, blutige Fetzen aus ihren Schnäbeln wie flatternder Stoff. Die Vögel stiegen wieder in den Himmel, öffneten die Schnäbel weit, so daß die Fleischstücke hineingleiten konnten. Ihr Fluggebiet war begrenzt. Sie zogen ihre Kreise über einem ganz bestimmten Gebiet der eisbedeckten Landschaft, doch den wahren Grund für dieses Verhalten konnte der Schlafende nicht erkennen. Der Traum zeigte ihm nur die weiße Weite dieser so menschenfeindlichen Landschaft.
Und doch mußte es Leben geben. Unter dem Eis, im Boden oder dort, wo sich die Vögel aufhielten. Der Traum nahm an Deutlichkeit zu. Die Botschaft verdichtete sich. Im Unterbewußtsein wußte der Schlafende bereits, daß diese Weite eine große Rolle in seinem Leben spielen würde. Etwas tat sich dort, war für ihn eminent wichtig. Im Schlaf verfolgte er den Flug der Vögel. Die schwarzen Todesboten ließen sich durch nichts aufhalten. Die Ruhe glich einem majestätischen Schauspiel, das sich schließlich immer mehr auf einen Punkt oder Ort hin verlagerte. Auch der Schlafende konnte »sehen«. Zuerst war es nicht mehr als ein dunkler Fleck in der Weite der Eiswüste. Allmählich jedoch bekam es Konturen. Nicht nur Breite und Länge entstanden, es schob sich auch in die Höhe. Ein Berg? Wenn ja, dann hatte es die Kälte bei ihm nicht geschafft, ihn mit Eis vollständig zu bedecken. Nur an den Rändern schimmerte das gefrorene Wasser manchmal wie blaue Augen, die müde in den Himmel zu starren schienen. Diese Szene »erlebte« der Schlafende immer intensiver. Die Botschaft war an Deutlichkeit nicht mehr zu übertreffen. Der Mann auf dem einfachen Bett konnte plötzlich erkennen, um was es sich bei dem Gegenstand in der Einsamkeit der Eiswüste handelte. Es war eine graue Pyramide aus auf- und übereinan-dergeschichteten Steinen, die von den schwarzen Totenvögeln bewacht wurde. Unten sehr breit gebaut und an den Rändern ausufernd, sich nach oben hin verengend, so daß sie an ihrem Ende eine Kappe aus Steinen bilden konnte. Das flache Gestein war derartig auf-einandergeschichtet worden, daß sich Lücken hatten bilden können, wobei eine besonders groß war. In ihr steckte der Gegenstand, der wie ein einsames Zeichen inmitten der Eiswüste wirkte. Schlank ragte er aus der Spitze der Steinpyramide hervor. Das kalte Licht spiegelte sich matt auf dem Gegenstand, dessen Griff aussah, als sei er mit Blattgold überzogen worden. Ein Griff in Form eines Kreuzes, eben ein Schwertgriff. Und genau dieser Gegenstand steckte zu mehr als zwei Dritteln seiner Größe innerhalb der Steinpyramide. Es war nicht nur irgendein Schwert, es war das Schwert, die Waffe, auf die es ankam. Urplötzlich erwachte der Schlafende. Er setzte sich auf; ein Schrei wehte aus seinem Mund. Erschreckt und wissend zugleich. Ja, der Traum hatte es ihm verdeutlicht. Plötzlich wußte er Bescheid. Es war das Schwert der Sonnengöttin Amaterasu! ***
Yakup Yalcinkaya senkte den Kopf und preßte die Hände gegen die Wangen. Er blieb auf dem harten Lager sitzen, der Traum war einfach zu intensiv gewesen, um mit ihm so einfach fertig zu werden. Yakup wußte genau, daß ihm die Sonnengöttin Amaterasu eine Botschaft hatte zukommen lassen wollen. Es ging um ihre Waffe! Sie allein konnte es schaffen, die lebende Legende Shimada aus dem Weg zu räumen. Nur sie und keine andere. Keine andere Waffe würde so etwas fertigbringen, nur das Schwert der Sonnengöttin Amaterasu. Yakup wußte dies. Immer wieder hatte er versucht, das Schwert zu finden. Bisher war es ihm nicht gelungen, das Versteck herauszufinden, nun wußte er Bescheid. Seine Hände sanken nach unten, der Körper streckte sich. Hochaufgerichtet hockte er auf der Bettkante und dachte über den Traum nach. Seine Lippen bewegten sich dabei, sehr leise, nur für ihn hörbar sprach er den Namen des Schwertes aus. Es hatte einen bestimmten Namen bekommen. Die Japaner nannten es Kusana-gi-no-tsurugi, das Schwert, das Gras schneidet. Es war die Angriffswaffe der Göttin gewesen, den Fächer hatte sie derweil als Abwehrwaffe benutzt. Sie besaß das Schwert nicht mehr. Sie war in das Dunkle Reich gestoßen worden, wo ihre Macht Grenzen gefunden hatte. Ihre Gegner, zu denen Shimada, der Samurai des Satans oder die lebende Legende gehörte, waren stärker gewesen als sie, und auch der Sturmgott Susanoo hatte einiges zu ihrer Verbannung beigetragen. Das Schwert allerdings war nicht in die Hände ihrer Freunde gefallen. Wer es versteckt hatte und an welchem Ort genau, das wußte niemand. Nur Yakup hatte es im Traum gesehen. In einer Wüste aus Eis, in einem menschenfeindlichen Gebiet, hatte es seine Heimat gefunden. Yakup erhob sich. Er war ein hochgewachsener Mann, mit einem Körper, den man als ideal bezeichnen konnte. Ein Kämpfer durch und durch, ein Ninja, ein Meister auf diesem Gebiet, obwohl er kein Japaner war, sondern Türke und in einem Kloster in den Bergen östlich von San Francisco lebte. Breite Schultern, schmale Hüften, ein kantiges Gesicht mit sonnenbrauner Haut und einer Haarfarbe, die so gar nicht zu ihm passen wollte. Ebensowenig wie die strahlend blauen Augen unter den ebenfalls hellen Brauen. Yakup trug ein dunkles Hemd, das bis über seine Hüften fiel. Die dunkle Hose paßte ebenfalls dazu. Er wirkte in dieser Kleidung wie ein lebender Schatten. Das alte Kloster wurde nicht nur von ihm bewohnt. Yakup hatte in den letzten Jahren so etwas wie eine Ninja-Schule eingerichtet. In den Räumen bildete er die Männer aus und brachte ihnen nicht nur die
Technik des Kampfes bei, er sorgte auch dafür, daß die innere Einstellung stimmte, denn in einem gestählten Körper mußte ein positiver Geist leben. Es ging ihnen nicht um die Gewalt, sie waren friedlich. Wurden sie aber angegriffen, dann schlugen sie auch zurück. Das hatte Yakup in der Vergangenheit mehr als einmal beweisen müssen, vor allen Dingen in der Zeit, als Jane Collins, die Detektivin, bei ihm gewohnt hatte. Sie hatte sich einsam gefühlt, und sie war wieder zurück nach London zu John Sinclair gegangen. Dort lag ihre Welt, und nur dort fühlte sie sich wohl. Ihr Weggehen hatte Yakup schwer getroffen, doch er hatte sich daran gewöhnt und es mit Würde getragen. Der Ninja verließ seine schlichte Liegestatt. Überhaupt gab es in dem Kloster keinen Prunk. Alles war schlicht eingerichtet worden, angefangen bei den Trainingsräumen bis hin zu den Kammern, die als Schlafstätte dienten. Vor einem schmalen Fenster blieb Yakup stehen. Er dachte auch über die Stimmen nach, die er gehört hatte. Es waren Schreie gewesen, und er wußte, wer sie ausgestoßen hatte. Noch unter den offiziellen Kellerräumen und nur erreichbar durch einen Schacht lagen die Toten, die Vorgänger, die Gründer des Klosters. Beerdigt und hingelegt in einem Baum, dessen Geäst die Leichen hielt. Sie waren es, die sich aus dem Jenseits gemeldet hatten, ihre geisterhaften Stimmen hatten Yakup die Träume geschickt, und er wußte auch, daß es grundlos geschehen war. Das Fenster war nicht geschlossen. Von der Bucht, nicht sichtbar für ihn, wehte der kühle Nachtwind. Er drang über die Kuppen der Berge hinweg, glitt durch die Täler und Canyons und erreichte auch das Gesicht des Kämpfers. . Yakup blieb stehen und wirkte wie jemand, der dem Wind nachlauschen wollte. Er schaute in den nächtlichen Himmel, wo hell funkelnde Sterne ihm Grüße zuschickten, wo der Mond wie eine Gondel stand und wirkte, als hätte man sie aus der Schwärze herausgeschnitten. Die Luft war klar in dieser Nacht, und sie war erfüllt von einem geheimnisvollen Raunen und Wispern, voll von einer Botschaft, die über weite Entfernungen getragen wurde. Yakup überkam der Eindruck, als hätten sich ihm Welten geöffnet, als wären Grenzen zu anderen Dimensionen verschwunden, damit die metaphysischen Kräfte sich freie Bahn verschaffen konnten. Es war eine Nacht, die den sensiblen Menschen gehörte. Wo sie fühlten, tasteten, nach Botschaften aus dem All lauschten und wußten, daß die nicht faßbaren Dinge in die realen übergingen und sich zu einem Wirrwarr vereinigten.
Yakups Augen verengten sich. Er stand wie ein Denkmal vor dem Fenster und rührte sich nicht. Sein Blick streifte in die Weite des Himmels hinein, er spürte auf dem Rücken den gelinden Schauer und das Herzklopfen. Da war etwas für ihn bestimmt. Nicht allein der Traum, es gab eine Sache, die er nicht erklären konnte, die jedoch vorhanden war. Möglicherweise eine Gefahr. Yakup senkte den Kopf und schaute in die Gärten des Klosters hinein. Sie umgaben den Bau mit seinen alten wuchtigen Mauern wie eine schützende Landschaft. Die Ninja ernährten sich autark, das heißt, sie lebten von dem, was sie in ihren Gärten anbauten. Das Wasser der unterirdischen Quellen wurde in Gräben geleitet, zur Bewässerung der Felder. Die Wege zwischen den Feldern wirkten wie mit dem Lineal gezogen. Hin und wieder bewegten sich dort Gestalten, die sich manchmal kaum von der Finsternis abhoben. Es waren die Wächter, die um das Kloster herumpatrouillierten. Sicher konnten die Männer nie sein. Es hatte Banden gegeben, die das Kloster angegriffen hatten, gefährliche Kämpfe mit mörderischen Samurais und japanischen Yakuza-Killern, die sich zur Elite der ostasiatischen Mafia zählten. In der letzten Zeit allerdings hatten sie Ruhe gegeben, so lagen relativ stille Monate hinter den Ninja. Einer der Wächter erschien lautlos, als er um einen kleinen Vorbau herumging. Er war bewaffnet. Aus seiner Nackenscheide schaute der Griff des Ninjaschwerts hervor. Im Gürtel steckten zwei Messer und in einer kleinen Tasche die Shuriken, die Wurfsterne, die nur von Meistern ihres Fachs beherrscht wurden. Der Wächter blieb plötzlich stehen. Eigentlich hätte er seinen Weg fortsetzen müssen. Daß er nicht mehr weiterging, mußte einen Grund haben. Yakup, der alles beobachtete, spannte sich. Sein sportlich gestählter Körper wirkte plötzlich wie ein Drahtgeflecht, das jeden Augenblick zerreißen konnte. Etwas kroch seinen Rücken hinab. Der Speichel sammelte sich in seinem Mund zu einer klebrigen Lache. Nicht grundlos war der Wächter stehengeblieben. Ahnte er eine Gefahr? Yakup wollte ihn schon ansprechen, als der Mann unter ihm weiterging. Jetzt mit noch vorsichtigeren Schritten und sich dabei immer wieder umschauend. Aus seiner Höhe zischte Yakup dem Bruder etwas zu. Der hatte ihn schon beim erstenmal gehört. Er drehW sich auf der Stelle und schaute
an der Klostermauer hoch, wo sich die Gestalt des Türken im offenen Fenster abmalte. »Was hast du?« Der Wächter breitete für einen Moment die Arme aus. »Ich weiß es nicht, Yakup, ich kann es nicht fassen. Etwas ist hier in der Nähe. Ich kann es nur fühlen.« »Gefahr?« »Vielleicht, doch ich hörte die Stimmen der Toten nicht.« Das Gesicht des Sprechers glänzte bleich im Mondlicht, als er in die Höhe schaute. Yakup nickte ihm zu. »Ich werde zu dir herunter kommen. Warte auf mich!« »Es ist gut.« Yakup zog sich zurück. Er schaute auf die Uhr. Mitternacht war längst vorüber, die erste Morgenstunde ebenfalls. Noch lag die Nacht schweigend über dem Land, dennoch war sie erfüllt von Botschaften und einer nicht zu unterschätzenden Gefahr. Während des Schlafs legte Yakup die Waffen ab. Nun nahm er sie wieder an sich. Sein Schwert steckte er in die Nackenscheide, er hängte sich den Beutel mit den Shuriken um, verzichtete allerdings auf seine Messer und auch auf den Bogen. Vorsichtig öffnete er die Zellentür — nichts anderes waren die Räume — und trat hinaus in den schmalen, kahlen Gang. Am Ende des Ganges stand eine Gestalt. Hochaufgeschossen, aber noch jugendlich. »Ich konnte nicht schlafen, Yakup, es tut mir leid.« Der Junge kam langsam näher und hob wie bedauernd die Schultern. Er gehörte zu Yakups besonderen Schützlingen. Ali stammte aus Nordafrika, war Waise und hatte sich entschlossen, bei Yakup zu bleiben, um von ihm ausgebildet zu werden. Gemeinsam hatten sie schon einige Gefahren überstanden. Ali war ein sehr gelehriger Schüler, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Er hatte sich voll und ganz auf seine Aufgabe konzentriert, was Yakup sehr viel Freude bereitete. »Weshalb kannst du nicht schlafen?« Ali hob die Schultern. »Ich kann dir den Grund nicht nennen. Etwas ist anders in dieser Nacht.« »Das spürte ich auch. Hattest du Träume?« »Nicht direkt. Es war eine innere Unruhe vorhanden.« Sein Blick glitt über Yakups Waffen. »Du trägst das Schwert und auch die Wurfsterne? Sind Feinde in der Nähe?« Der Ninja lächelte schwach. »Das weiß ich nicht, Ali, aber mir ging es fast wie dir. Nur habe ich Botschaften empfangen. Jemand schickte mir einen Wahrtraum.«
»Um was ging es?« »Um das Schwert der Amaterasu. Um die Waffe, mit der wir Shimada vernichten können.« Alis Augen glänzten. »Weißt du, wo es sich befindet?« »Ja, im ewigen Eis. Dort habe ich es gesehen, wie es mit dem Griff aus einer Steinpyramide hervorragte. Es war ein Traum, der sich erfüllen wird, Ali. Davon bin ich überzeugt.« »Willst du nicht die Krone mitnehmen?« »Nein, mein Freund, so schlimm ist es nicht.« Die Krone der Ninja war etwas Besonderes. Man konnte sie als eine Tarnkappe betrachten, denn wer sie trug, der schaffte es, sich unsichtbar zu machen. Es hatte um die Krone wilde Kämpfe gegeben. Asmo-dis hatte sie ebenso besitzen wollen wie Shimada. Lachender dritter jedoch war schließlich Yakup gewesen, auch wenn ihn der Kampfeinen Finger gekostet hatte. An der linken Hand fehlte der kleine Finger. »Soll ich mit dir gehen?« Yakup lächelte. »Nicht nötig. Draußen werden genügend Freunde sein, die mir zur Seite stehen.« »Gut, ich schaue vom Fenster aus zu. Und die anderen soll ich auch nicht warnen?« »Bitte nicht. Laß sie schlafen. Sie haben ihre Nachtruhe verdient. Wenn es zu gefährlich wird, werde ich schon Alarm schlagen.« »Ja, es ist gut.« Yakup schob sich an Ali vorbei. Er ging bis zum Ende des Ganges durch und drehte sich dort nach rechts, wo die Stufen einer gewundenen Steintreppe in die Tiefe führten. Es war n ie d unkel im Kloster. An den Wänden brannten Talglichter. Sie gaben ihren beruhigenden Schein ab. Zwar wirkte das Kloster wie von der Außenwelt abgeschitten, elektrischen Strom gab es dennoch und auch ein Telefon, denn manchmal war es sehr wichtig, daß Yakup mit bestimmten Freunden Kontakt aufnehmen mußte. Und die wohnten zumeist in Übersee, wie in London. Er schritt die Treppe hinab. Niemand kam ihm entgegen. In der großen Halle blieb er für einen Moment stehen und schaute sich um. Hier brannte kein Licht. Hinter den Fenstern lag die Dunkelheit der Nacht, hin und wieder unterbrochen vom Reflex eines Lichtfunkens, der von den Sternen stammen konnte. Auch als Yakup durch die Halle ging, spürte er keine Gefahr. Es war wie immer. Eine dichte, nächtliche Stille lag zwischen den Wänden und schien sich an den dunklen Scheiben der Fenster festkrallen zu wollen. Yakup öffnete die Für. Er trat hinaus in die Kühle und in den frischen Wind, der ihn umschmeichelte.
Es war April; ein wunderschöner Frühling lag bereits hinter ihnen. Es hatte sogar sommerliche Temperaturen gegeben, in den letzten Tagen jedoch war es wieder abgekühlt. Der Ninja dachte an seinen Traum. Wieder sah er die Steinpyramide inmitten des ewigen Eises und glaubte sogar, die eisige Kälte zu spüren, die von dieser Landschaft ausging. Es war nicht die äußere Kälte, die bei ihm einen Schauer hinterließ, sondern die innere. Yakup fühlte sich nicht sehr wohl, keine Mauer schützte ihn mehr. Irgendwo in seiner Umgebung mußten sich die Gefahren verdichtet haben. Yakup gehörte zu den Menschen, die sich lautlos bewegen konnten. Diese Fähigkeit wandte er jetzt an. Seine Schritte waren kaum zu hören, er schien zu schweben, als er dicht an der Mauer entlangging, um die Gärten zu erreichen, wo der Wachtposten auf ihn wartete. War diese Nacht anders? Hatte sich tatsächlich etwas verändert? Yakup besaß eine sehr sensible Ader, einen sechsten Sinn für Gefahren. Erlauschte, er horchte nach innen — und spürte plötzlich das Prickeln in seinen Adern. Gefahr! Der Türke ging schneller. Er umrundete einen Komplex, konnte einen Teil der Felder überblicken und hätte längst den Wächter erkennen müssen. Er sah ihn nicht. Yakup konnte sich nicht vorstellen, daß sich der Mann verborgen hielt. Es mußte etwas passiert sein. Seine Unruhe verdichtete sich. Das paßte alles zusammen. Zunächst der Traum, dann dieses Verschwinden des Freundes. Yakup beschleunigte seine Schritte. Er lief an der Mauer entlang, wo sich auch das Fenster zu seinem zellenartigen Zimmer befand. Über einen schmalen Weg lief er nach links, um urplötzlich abrupt stehenzubleiben. Vom Boden her zeichnete sich eine dunkle Gestalt ab. Sie rührte sich nicht mehr. Den Umrissen nach zu urteilen, konnte es sich nur um einen Menschen handeln. Der Wächter! Yakup hatte keinen Zweifel mehr, daß es sich bei dieser Gestalt um den Freund handelte. Obwohl er nachschauen wollte, ließ er sich Zeit. Sicherheit kam zuerst, und er schaute sich um, ob möglicherweise noch eine Gefahr in der Nähe lauerte. Das war nicht der Fall. Sosehr er sich auch bemühte, einen Feind konnte er nicht entdecken. Neben dem Wächter blieb er stehen. Der Mann lag nicht ausgestreckt. Er hatte die Beine etwas angezogen, als hätte er sich noch im letzten Augenblick abstützen wollen. Auch der Kopf kam ihm vor, als hätte er ihn
bewußt in seinen angewinkelten Armen vergraben, um das Gesicht zu schützen. Yakup, der neben dem Bewegungslosen kniete, berührte das rechte Handgelenk und drückte den Arm weg. Dann sah er das Gesicht. Nein, es war kein Gesicht mehr. Wo es sich einmal befunden hatte, schimmerte das rohe Fleisch... *** Ein anderer hätte vielleicht geschrien, geheult, getobt und noch mehr getan. Yakup Yalcinkaya aber blieb unbeweglich sitzen. Nur seine Gesichtszüge verhärteten sich dermaßen stark, als hätte jemand kleine Steine unter seine Haut geschoben. Das Gesicht sah furchtbar aus, er wollte nicht mehr hinschauen, nur stellte er sich die Frage, wer sich dafür verantwortlich zeigte. Wer hatte das Gesicht dieses Menschen dermaßen stark bearbeitet? Er richtete sich vorsichtig auf, den rechten Arm halb erhoben und angewinkelt, damit seine Hand blitzschnell den Griff der aus der Nackenscheide stoßenden Waffe umklammern konnte. Nichts tat sich. Nur der Wind wehte vom Meer. Dunkel wie ein gefärbtes Tuch lag über ihm der Himmel. In der Ferne grüßten die Berge. Sie sahen aus wie ein schwarzes Meer, dessen Wellen erstarrt waren. Und doch lauerte der Tod in der Nähe ... Heimtückisch und grausam hatte er zugeschlagen. Unhörbar, was selbst Yakup ein unruhiges Gefühl bereitete. Sein Blick glitt an der Klostermauer hoch. Die dunklen Fenster sahen aus wie schmale Eingänge zu Nischen, in denen Tote lauerten. Die Luft war kühl. Sie schmeckte nach Staub und einer gewissen Frische, die von den Feldern herkam. Nein, es war keine Gefahr zu sehen. Er ging zwei Schritte zur Seite. Wieder fiel ihm sein Traum ein. Die Wüste aus Eis, die Pyramide, der Griff des Schwertes, das alles stand plastisch vor seinen Augen. Dann hörte er ein Geräusch. Nicht sehr laut, kaum zu identifizieren, als hätte jemand eine Decke über ihm ausgeschüttelt. Yakup blickte in die Höhe. Ein Schatten huschte über ihm hinweg. Auf einmal fiel ihm ein, was er vergessen hatte. Es waren die Vögel gewesen, die als schwarze Todesboten die Pyramide inmitten der Eisfläche umkreist hatten. Und dieser Schatten war ebenfalls ein Vogel.
Schwarz, mit großen Schwingen, die sich fast träge bewegten. Das Tier glitt an der Klostermauer entlang, als hätte es sich dort ein Ziel ausgesucht. Tief atmete Yakup durch. Ein Verdacht war in ihm aufgekeimt. Er dachte an das Gesicht des Toten und erinnerte sich an seinen Traum, wo die Vögel mit ihren spitzen Schnäbeln etwas aus der Pyramide hervorgeholt hatten. Paßte das nicht zusammen? Diesmal war der Vogel verschwunden. Er schien in eines der Fenster geflogen zu sein. Yakup wußte auch, daß bestimmte Tierarten Vorboten des Unheils sein konnten. Aber mit einem Vogel wäre der Wächter bestimmt fertig geworden. Einer besaß längst nicht die Kraft, um ihn zu töten. Der Gedanke war kaum in ihm aufgeflammt, als er den Sturm hinter sich vernahm. Ein dumpf klingendes Brausen, als wäre vom Boden her etwas Gewaltiges hervorgestiegen. Yakup flirrte herum. Da sah er sie. Sie hatten sich auf den Feldern und großzügig angelegten Beeten verborgen gehabt, waren nun aufgestiegen und flogen in einer gefährlich tiefen Lage und genau in der Formation eines Pfeils auf den einsamen Ninja zu. Ein kurzer, abgehackt klingender Kampfschrei drang aus dem Mund des Türken. Dann zog Yakup sein Schwert! *** »Geschafft!« sagte Suko und grinste mich an, als er den Wagenschlag öffnete und als erster seinen diamantschwarzen BMW 535i verließ. »Das kannst du mal laut sagen!« erwiderte ich und kroch ebenfalls aus dem Fahrzeug. Ich war froh, die Beine ausstrecken zu können, auch wenn ich dabei den verschmierten Boden der Tiefgarage berührte, wo Suko seinen Parkplatz besaß. Hinter uns lag ein Arbeitstag, den ich so schnell wie möglich vergessen wollte. Keine Action, kein sich Herumschlagen mit irgendwelchen dämonischen Gestalten, nein, nur die verfluchte Büroarbeit, kurz von einer Mittagspause unterbrochen, wobei mir das Essen auch nicht geschmeckt hatte, weil ich immer an die Akten hatte denken müssen. Suko war es nicht anders ergangen. Er hatte es jedoch mit Fassung ertragen. Möglicherweise lag es an seiner asiatischen Mentalität, daß er es so aufnahm. Wie immer fühlten wir uns beide in dieser muffigen und nach Abgasen stinkenden Tiefgarage äußerst unwohl. Es war ein düsterer Ort, der sich
für Überfälle eignete, auch wenn die Garage durch eine Tür verschlossen war. Das allerdings hatte Dämonen oder dämonische Wesen noch nie von einer Attacke abhalten können. Diese Tiefgarage hätte Romane erzählen können. Ich schritt als erster zum Lift, reckte mich dabei und schüttelte während des Gehens die Beine aus. Der Lift war unterwegs, wir mußten noch warten. »Na, was hast du heute vor?« fragte Suko. Ich kannte die Tonlage seiner Stimme und schielte ihn mißtrauisch an. »Sag bloß, du willst noch etwas unternehmen?« »Warum nicht?« »Nein, ich . . .« . »Ich könnte jetzt ein Training vertragen. Ich glaube! ich verziehe mich noch für zwei Stunden in die neue Karateschule. Solltest du auch machen, Alter.« »Ich habe heute Karate im Büro gehabt und mit den Papieren gefightet. Das reicht mir.« »Das ist kein Vergleich, John.« Suko schlug mir auf die Schulter. »Stell dich nicht an wie ein Mädchen. Wir üben etwas, gehen anschließend in die Sauna und essen danach.« »Toll, dann tankst du wieder die Kalorien, die du zuvor ausgeschwitzt hast.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seinen Brustkorb. »Na und? Ich kann es mir erlauben.« »Meinst du?« »Aber sicher.« Eigentlich hatte er recht. Ich war blöd, wenn ich mich so hängen ließ. Nach dem Aktenstaub tat es bestimmt gut, sich so richtig zu regenerieren, auch wenn es in einem Sport- und Fitneßcenter war, wo die Post so richtig abging. Suko hatte mir davon vorgeschwärmt und auch von den weiblichen Besuchern gesprochen, die sich dort tummelten. Da konnten Singles schon Kontakte anknüpfen. Er grinste. »Blut geleckt?« »Bin ich ein Vampir?« »Noch nicht.« Als er mein Gesicht sah, fügte er sofort eine Entschuldigung hinzu. »Sorry, ich vergaß, daß deine Mutter . . .« »Schon gut, Suko.« Es war tatsächlich mein großes Problem, das mich seit einigen Wochen belastete. Meine Mutter befand sich in den Klauen eines Vampirs. Will Mallmann war zu diesem Blutsauger geworden und hatte sich zu einem gewaltigen Gegner und großen Feind entwik-kelt. Ein Supergegner, einer, den ich mit dem Schwarzen Tod auf eine Stufe stellen konnte.
Mallmann hatte es durch Tricks und mit einer nahezu teuflischen Schläue verstanden, uns immer wieder an der Nase herumzuführen. Endlich kam der Lift. Er hielt, die Türen schwangen zurück. Ich ließ Suko den Vortritt, der die leere Kabine betrat. Mit hängendem Kopf folgte ich. Mein Freund war auf die Rückwand zugegangen, wo er sich umdrehte. Ich sah sein Gesicht und erkannte, wie es erstarrte. »John, ich .. .« Mit einem Sprung warf ich mich nach rechts. Etwas huschte an mir vorbei, auch an Suko. Eine Handbreit neben seinem Fuß prallte es zu Boden. Es war ein Pfeil! Bevor ich mich noch umdrehen und meine Waffe ziehen konnte, hörte ich eine Frauenstimme. »Darf ich mitfahren?« Die Stimme gehörte Shao, Sukos verschwundener Partnerin! *** Sie kam, sie trat ein, und sie sah aus wie immer. Oder wie nach ihrem Verschwinden. Wer sie zum erstenmal sah, mußte Furcht vorder Person mit den schwarzen Haaren und der ebenfalls schwarzen Halbmaske bekommen. Die Maske bedeckte die obere Hälfte ihres Gesichts und ließ nur die Schlitze für die beiden Augen frei, wobei die untere Gesichtshälfte so aussah wie immer, mit dem etwas breiten Mund und den geschwungenen Lippen. Ich rückte etwas zur Seite, um Shao Platz zu schaffen. Auch für Suko, der es kaum fassen konnte, seine Partnerin wiederzusehen. Shao hatte nicht mehr bei ibm bleiben können, weil sie gebraucht wurde. Sie war in der langen Ahnenreihe der Sonnengöttin Amaterasu die letzte, und sie mußte sich bereitmachen, um gegen die Boten der Finsternis zu kämpfen. Gleichzeitig sah sie sich auch als Beschützerin der Sonnengöttin an und war deshalb in ihr Reich geholt worden. Suko und Shao fielen sich in die Arme. Ich sah, wie es in den Augen meines Freundes feucht glänzte. Er liebte diese Frau, sie liebte ihn, möglicherweise kamen sie wieder zusammen, wenn Shaos Aufgabe beendet war. Wann dieser Zeitpunkt ein trat, konnte niemand sagen. Ich hatte den Knopf gedrückt, der uns in die zehnte Etage brachte, wo unsere beiden Apartments lagen. Unterwegs stoppte der Lift zum Glück nicht, denn Shao bot in ihrem Aufzug schon ein fast filmreifes Bild. Es lag nicht allein an ihrer außergewöhnlichen Kleidung, auch die Waffe, mit der sie bestückt war, konnte man als ungewöhnlich bezeichnen. Eine gewaltige Armbrust, die an einem Riemen auf ihrem Rücken hing. Die dazugehörenden Pfeile befanden sich in einem Köcher und schauten über den Rand hervor.
Es war eine klassische Waffe, die aus Bügel, Sehne, Schaft, Bolzenrinne und Drücker bestand. »Soll ich dich fragen, ob du bleibst?« erkundigte sich Suko mit Zitterstimme. »Lieber nicht.« »Du hast für dein Kommen also einen Grund gehabt?« »So ist es.« »Welchen?« »Ich erzähle es euch später. Laß uns erst mal in unsere Wohnung gehen.« Daß sie unsere sagte, ließ Suko strahlen. Bewies es ihm doch, daß Shao die Partnerschaft nicht aufgegeben hatte. Als der Lift stoppte, schob ich meinen Kopf durch den Spalt und schaute in den Gang. Es war nicht gut, wenn Shao gesehen wurde, doch der Flur war leer. »Ihr könnt. . .« Shao und Suko verließen den Lift. Der Inspektor ging schon vor. Als er an mir vorbeihuschte, sah ich das erlösende Lächeln auf seinen Gesichtszügen. Rasch schloß erdieTürauf. Schräg gegenüber verließ ebenfalls jemand die Wohnung. Ein kleines Mädchen, das große Kulleraugen bekam. »Mann, wie siehst du den aus?« Shao lächelte. »Gefällt es dir?« »Nee.« »Mir auch nicht.« Die Kleine lief zurück in die Wohnung und rief nach ihrer Mutter. »Mummy, du mußt mal kommen, bitte! Hier läuft eine Frau herum, die hat sich verkleidet.« Die Mutter erschien sehr schnell. Nicht schnell genug, denn Shao und Suko waren bereits verschwunden, sie sah nur mich. »Wer oder was soll hier herumlaufen?« »Nichts.« »Aber meine Tochter sagte doch . ..« Ich hob die Schultern. »Sie wissen ja, wie Kinder sind. Die bilden sich gern etwas ein.« »Im Prinzip haben Sie recht. Trotzdem . . .« Kopfschüttelnd drehte sie sich um und verschwand. Suko und Shao saßen wie ein junges Liebespaar auf der Couch, wobei er einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Beide waren froh und lächelten. »Na?« fragte ich. »Alles klar? Darf ich euch etwas zu trinken bringen?« Sie wollten Wasser. Das nahm ich auch und setzte mich den beiden gegenüber. Da Suko keine Frage stellte, übernahm ich dies. »Aus Spaß bist du sicherlich nicht gekommen, oder?«
»Nein, John.« Shao nahm die Halbmaske ab und wischte über ihr feingeschnittenes Gesicht. Das Leder knarrte etwas, als sie sich vorbeugte. Jacke und Hose bestanden aus diesem Material. Die Füße steckten in weichen Schaftstiefeln. »Amaterasu?« »Auch. Tatsächlich aber geht es um das Kusanagino-tsurugi, das Schwert, welches Gras schneidet.« »Hm!« dachte ich und hob die Schultern. Auch ein dummes Gesicht, denn Shao lachte leise. »Kennst du es auch nicht, Suko?« »Daß es ein Schwert ist, weiß ich inzwischen und möchte fragen, ob es das Schwert ist.« »Ja, Suko, es ist das Schwert, mit dem Shimada besiegt werden kann. Eigentlich gehört es Amaterasu.« »Dann ist ja alles kar.« »Nichts ist klar. Das Schwert ist in Gefahr. Shimada hat sein Versteck herausgefunden, wie mir scheint. Er ist noch nicht hingekommen, aber er läßt es bewachen und verteidigen.« »Wo können wir es finden? In einer anderen Dimension? Oder in Shimadas Burg, mit der es ihm gelingt, die Dimensionen und Zeiten zu durchwandern?« »Nein, John, es befindet sich in dieser Dimension und auf dieser Welt. So ungewöhnlich es sich anhört.« Ich lachte leise. »Das ist es in der Tat. In dieser Welt? Na ja, sie ist groß.« »Was sollen wir dabei?« fragte Suko. »Da muß ich etwas weiter ausholen. Es geht auch nicht nur um euch, sondern um einen Freund, der ebenfalls das Schwert besitzen will. Ihr wißt, daß ich Yakup meine.« Wir nickten. »Amaterasu hat auf mentalem Weg Verbindung mit Yakup aufnehmen können. Sie ist eingedrungen in seine Träume und hat dort von dem Schwert berichten können. Diese Waffe befindet sich an einem Platz, den man auch mit dem Begriff Hölle umschreiben kann. Es ist tatsächlich eine gefährliche Hölle, jedoch anders als die, wie wir kennen, versteht ihr? Man spricht von der Weißen Hölle.« »Der Kälte also?« »Richtig.« »Und weiter?« »Auf dieser Erde existieren nur wenige Orte, wo sich die Weiße Hölle befindet. Das ist einmal die Arktis und zum anderen die Antarktis.« »Können wir uns den Ort jetzt aussuchen?« »Nein, das geht nicht. Ich kann euch sagen, daß ihr das Schwert in der Arktis finden könnt.«
»Wunderbar!« rief ich leicht sarkastisch. »Dann brauchen wir nur in Richtung Nordpol fahren und es holen. Einfacher geht es nicht — oder?« Shao nickte. »Es gibt da schon einige Hindernisse. Wie gesagt, Shimada hat auch herausgefunden, wo sich die Waffe befindet und läßt sie bewachen.« »Warum holt er sie nicht selbst?« fragte Suko. »Das schafft er zu seinem Pech nicht, weil um das Schwert herum noch eine Gegenmagie aufgebaut ist. Es hat sich also ein Gleichgewicht der Kräfte gebildet.« »Das wir einreißen können?« »Nicht nur ihr, Suko, auch Yakup. Er ist allerdings derjenige, der in einer großen Gefahr schwebt. Shimada weiß, daß Amaterasu ihm ihr Wissen gesandt hat. Er befindet sich in Gefahr. Ich schätze, daß Shimada ihn zuerst ausschalten will.« »Danach sind wir an der Reihe, wie?« »Wenn ihr euch um die Waffe kümmern wollt, sicherlich«, erklärte Shao mir. Ich schaute Suko an, er wich meinem Blick nicht aus. »Natürlich werden wir ihm zur Seite stehen.« Shao lächelte. »Auch in der Kälte?« »Wenn du dabei bist«, sagte Suko, »macht es mir überhaupt nichts aus.« »Ich werde dabei sein, aber auch ich muß der abwehrenden Magie Tribut zollen. Ich kann nur im Hintergrund agieren. Shimada wird alles daransetzen, daß Yakup diese Waffe nicht bekommt.« »Was heißt das konkret?« fragte ich. »Er muß damit rechnen, schon im Kloster angegriffen zu werden.« »Weiß er denn Bescheid?« »Durch die Träume.« Ich schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Weiß er, daß er in einer akuten Gefahr schwebt?« »Ich glaub' es nicht. Shimada ist raffiniert. Er wird seine 'Todesboten schicken.« Shaos Gesicht wurde sehr ernst. »Ihr wißt selbst, zu was er fähig ist.« »Und wir sollen ihn beschützen«, sagte Suko. »Nicht nur das, Suko. Ihr beide sollt ihm helfen, das Schwert zu finden.« »In der kalten Arktis?« hakte ich nach. »Da friere ich ja jetzt schon.« Suko winkte ab, als er Shaos überraschten Blick bemerkte. »Hör nicht auf ihn. Wenn es hart auf hart kommt, ist er dabei. Ich frage mich nur, wo wir suchen sollen. Die Arktis ist verflixt groß.« »Das Gebiet liegt im Nordosten. Es gehörte zu Kanada, wenn ich recht informiert bin. Es ist fast unbewohnt. Man kommt mit dem Schiff nicht bis ans Ziel und muß sich auf die einheimischen Helfer, die Eskimos, verlassen.«
»Das wird nicht einfach sein, fürchte ich.« »Wir müssen es versuchen, John.« Ich schaute auf die Uhr. »Okay, ich werde mal rübergehen und mit Sir James reden.« Mein Grinsen sagte Shao und Suko genug. »Laßt euch jetzt nur nicht stören.« »Keine Sorge, John, wir wissen schon, was sich gehört.« »Hoffentlich«, erwiderte ich im Weggehen und dabei auch ziemlich eindeutig zweideutig. Die Arktis also. Daß es längst ein Fall für uns war, davon ging ich aus. Shao war nicht grundlos erschienen. Zudem hatte Yakup Yalcinkaya, unser türkischer Ninja-Freund, jahrelang nach einer Waffe gesucht, mit der die lebende Legende besiegt werden konnte. Shimada war brandgefährlich. Er lebte in einem Zeitenschloß, das er tatsächlich durch die Zeiten steuern und damit Dimensionen überwinden konnte. Unter seiner Knute standen Samurai-Zombies bereit oder andere Geistwesen aus der japanischen Mythologie. Shimada war der Dämon mit den kalten Augen. Allein sein Blick konnte Angst und Schrecken verbreiten. Aufgestiegen aus einem geheimnisvollen See, hatte er es innerhalb kurzer Zeit geschafft, eine Herrschaft des Schreckens zu errichten. An das ganz große Ziel, die Vernichtung der Sonnengöttin, war er noch nicht herangekommen, aber er fand, wenn es brenzlig wurde, noch Schutz bei der mächtigen Dämonin Pan-dora, die ebenfalls als große Unheilbringerin bekannt war. Wenn ich mir das alles durch den Kopf gehen ließ, standen die Chancen für uns nicht eben günstig. Sir James traf ich im Büro an. Es war für ihn noch zu früh, in den Club zu gehen. Zudem kam er mir regelrecht aufgeräumt vor. »Na, wie haben Sie denn den Tag überstanden?« erkundigte er sich leutselig. »Mehr schlecht als recht, Sir. Ich brauche dringend eine Abkühlung, wenn ich ehrlich sein soll.« »Dann gehen Sie unter die kalte Dusche.« »Es kann sein, Sir, daß mir die nicht kalt genug ist.« Er räusperte sich. Bei der nächsten Frage klang die Stimme schon anders. Gewohnt nachhallend und lauernd. »Sie rufen nicht grundlos an und sprechen auch nicht ohne Motiv von Ihrer Abkühlung.« »Nein, Sir, wir müßten in die Arktis.« »Aha.« Pause. Dann: »Zu den Eskimos?« »So ähnlich.« »Und was wollen Sie dort? Ihnen Kühlschränke verkaufen?« Der Alte war sogar witzig. »Nein, nicht gerade, möglicherweise einheizen.« »Kommen Sie zur Sache, John!«
Das kam ich auch. Wie immer, so hörte Sir James auch diesmal sehr genau und schweigend zu. Er wußte, daß es schlecht war, mich zu unterbrechen. Eine Entscheidung konnte er später noch treffen. »Das also war alles?« »Richtig, Sir.« »Finden Sie den Fall als so dringend, daß Sie trotz Ihrer Schwierigkeiten von London wegwollen?« »Ich weiß, Sir, Sie denken an meine Mutter. Aber ich habe einen Job zu erledigen und kann nicht warten, bis Mallmann sich meldet und nach dem Blutstein verlangt.« »Da gebe ich Ihnen sogar recht. Nun ja, wenn Sie es verantworten können, fahren Sie. Shao ist bestimmt nicht gekommen, um Ihnen einen Bären aufzubinden.« »Das kann man wohl sagen.« »Haben Sie sich erkundigt, wie Sie in dieses Gebiet gelangen?« »Von Frisco aus. Da könnte uns mal wieder die NATO nebst Ihrer guten Beziehungen behilflich sein, Sir.« »Ja, das ginge schon — im Notfall.« »Das ist einer.« »Sie hören von mir. Bleiben Sie in der Wohnung?« »Natürlich.« »Dann bis später vielleicht. Ansonsten werde ich Ihnen morgen früh Bescheid geben.« Ich legte den Hörer wieder auf und sah, daß Schweißflecken zurückgeblieben waren. Obwohl ich noch nicht unmittelbar mit dem Fall zu tun hatte, lag er mir jetzt schon im Magen. Ich wurde einfach das Gefühl nicht los, daß wir in eine gigantische Falle hineinliefen oder in der großen Auseinandersetzung zermalmt werden konnten. Shimada! Wenn ich die Augen schloß und darüber nachdachte, bekam ich den Eindruck, diesen Namen wie mit Feuer in der Luft gezeichnet zu sehen. Diese fürchterliche, eingepackte Gestalt mit ihren kalten, blauen, sehr grausamen Augen und einem Schwert, das in der tiefsten Jigoku, der Hölle, geschmiedet worden war. Eine Waffe, wie es sie schlimmer kaum gab. Sie zerschlug alles, was sich ihr in den Weg stellte. Shimada räumte richtig auf. Dann blieben Tod, Grauen und Blut zurück. Er war der große Schnitter im Schattenreich der japanischen Mythologie. Auch spielte ich mit dem Gedanken, in Frisco anzurufen, ließ es dann bleiben, weil ich nicht unnötig die Pferde scheu machen wollte. Wenn es uns allerdings mit vereinten Kräften gelang, das Schwert zu finden, dann sah alles ganz anders aus. Dann konnten wir uns Shimada stellen und seiner Waffe Paroli bieten. Versteckt in der Arktis!
Ich schüttelte den Kopf, als ich daran dachte. In jedem anderen Teil der Welt hätte ich es vermutet, nur nicht dort oben, wo die Kälte barbarisch war, auch im April. Da ich momentan nichts zu tun hatte, kramte ich den Atlas hervor und schaute mir Kanada auf der Karte an. Verglichen mit Großbritannien war dieses Land ein Riese, größer als die USA. Besonders im Norden und Nordosten waren dem Festland zahlreiche Inseln vorgelagert, wobei Baffin Island die größte war. Dort irgendwo mußten wir wahrscheinlich hin. Die Orte, die es auf der größten Insel gab, konnte man mit der Lupe suchen. Selbst mit einem Geländefahrzeug würde man dort kaum weiterkommen. Es war schon besser, sich auf den Hundeschlitten oder ein Flugzeug zu verlassen. Als ich den Atlas zuklappte, hatte meine Stirn nicht weniger Sorgenfalten bekommen. Die verschwanden auch nicht, als Suko schellte. Er war allein. »Wo ist Shao?« Traurig hob mein Freund die Schultern. »Sie ist wieder gegangen.« »Weshalb?« »Sie vernahm den Ruf der Sonnengöttin. Es ... es muß sich etwas tun.« Er ging an mir vorbei und durchquerte den Flur in der Länge. »Und wir sitzen hier, ohne eingreifen zu können.« Ich winkte ab. »Keine Sorge, unsere Zeit wird kommen.« Ich schlug den Atlas wieder auf und zeichnete die ungefähre Umgebung mit dem Zeigefinger nach. »Das wäre unser Einsatzgebiet.« Suko nickte. »Wie Sibirien.« »So ähnlich.« »Was sagt Sir James?« Ich kam mit einer Büchse Bier aus der Küche zurück und riß die Lasche auf. Das Zeug strömte als Schaum hervor. »Rate mal.« »Weiß ich nicht.« »Er hat zugestimmt.« »Sofort?« »Ja.« Ich trank einen Schluck und sprach dann weiter. »Du kannst sagen, was du willst, doch irgendwo hat der Alte ein gewisses Feeling. Der weiß genau, wann es rundgeht und wann nicht. Du kannst schon mal anfangen, die warme Unterwäsche rauszulegen.« »Wann fliegen wir denn?« »Keine Ahnung. Sir James will noch anrufen. Wahrscheinlich werden wir uns auf die NATO verlassen müssen. Dort oben gibt es auch Stützpunkte. Wie werden wir dann weiterkommen . . .?« Ich hob die Schultern. »Jedenfalls nicht per Anhalter.« »Mit dem Hundeschlitten.« »Das befürchte ich auch.«
Suko schaute zum Fenster, als er sagte: »Shao war ziemlich geschockt. Sie hat alles sehr ernst genommen.« »Richtig, Suko. Ich kann mir auch kaum vorstellen, daß ich anfange zu lachen.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu. »Glaubst du, daß wir es packen, Alter?« »Ich hoffe es.« Mein Zeigefinger deutete auf ihn. »Wenn es der Fall sein wird, kann Shimada sich ebenfalls warm anziehen.« »Falls es ihn dann noch gibt.« »Das wäre nicht schlecht. ..« Yakup hatte das schleifende Geräusch, das beim Ziehen des Schwerts entstand, noch im Ohr, als ihn die ersten Vögel fast erreicht hatten. Yakup wunderte sich über die Größe der Tiere, die Breite der Schwingen, die teilweise glänzten, als hätte man sie schwarz angestrichen. Er hörte aus dem Fenster über sich laute Rufe und erkannte Alis Stimme. Wahrscheinlich würde sein Schüler die anderen Ninja alarmieren, damit sich alle gemeinsam stellen konnten. Die Kunst des Schwertkampfes beherrschte Yakup wie kaum ein zweiter. Hinzu kamen seine außergewöhnlichen Kräfte, seine Körperbeherrschung und die artistische Gewandtheit, die ihn auszeichneten. Die Klinge schien kaum Gewicht zu besitzen, als Yakup sie mit gezielten Schlägen führte. Er hörte das Klatschen, als der Stahl die Körper der Vögel durchtrennte. Er schlug im Kreuz, blieb dabei auf der Stelle stehen, ließ die Waffe vor und über seinem Kopf wirbeln und erreichte tatsächlich einen Angriffsstopp. Die Vögel zogen sich zurück. Sie flogen einen Bogen und stiegen der Klostermauer entgegen, um dort ihre Plätze oder Angriffspunkte finden zu können. Aus dem Kloster wehten die ersten Rufe nach unten. Eine Alarmglocke war von Ali angeschlagen worden. Vor Yakup wirbellen noch immer Reste. Federn sanken taumelnd zu Boden und fielen zwischen die Körperhälften der mordlustigen Dämonenvögel. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er sechs dieser veränderten Tiere erledigen können. Ein guter Erfolg für den Anfang. Yakup lief einige Schritte vor, drehte sich erst dann um, weil er so einen besseren Blickwinkel besaß. Die unheimlichen Vögel waren kaum noch zu erkennen. Geschickt hatten sie die Deckung und die Schatten der Klostermauern ausgenutzt. Aus einem Nebeneingang erschienen drei Ninja mit kampfbereiten Waffen. Einer von ihnen hob blitzschnell den Arm, als einer der Vögel schräg über ihm vorbei wischte.
Etwas Blitzendes raste durch die Luft — und traf. Es war einer der Wurfsterne, der das gefährliche Mordtier aus der Luft holte und zu Boden fallen ließ. Dieser Tod wirkte auf die anderen Tiere wie ein Zeichen. Plötzlich löste sich der Schwärm von der Außenmauer und stieg steil dem dunklen Nachthimmel entgegen. Selbst gezielt geschleuderte Wurfsterne konnten sie nicht mehr erreichen. Der erste Angriff war abgewehrt worden, hatte aber ein Menschenleben gekostet, und Yakup spürte den heißen Zorn in seinem Innern, obwohl er äußerlich unbewegt blieb, als er sich mit gemessenen Schritten dem toten Freund näherte, sich bückte und ihn wie ein Kind aufhob, um es über seine Arme zu legen. Mit dieser stummen Last näherte er sich dem Haupttor des Klosters, das ihm aufgehalten wurde. Die Ninja hatten sich in der Halle versammelt und eine Gasse aus Menschenleibern geschaffen. Ihre Gesichter wirkten starr. Fackeln waren angezündet worden. Ihr zuckendes Licht untermalte die Szenerie mit einem gespenstischen Schein. Jemand hatte eine flache Bastmatratze herbeigeholt und sie in die Mitte der Halle gelegt. Auf der Matratze fand der Tote seinen Platz. Yakup blieb, beobachtet von den anderen, für eine Weile vor dem Toten stehen, bis er sich verneigte. Die übrigen Ninja taten es ihm nach. Auch sie beugten ihre Köpfe und nahmen auf diese Weise Abschied. Jeder wartete auf eine Erklärung ihres Anführers, doch keiner wagte, Yakup zu drängen. Daß er zu dem Angriff etwas sagen würde, stand fest. Er ging über den blanken Steinboden und blieb so stehen, daß er die Ninja im Auge behalten konnte, die sich im Halbkreis vor ihm aufgebaut hatten. »Der Tod unseres Bruders hat uns alle schwer getroffen. Wir werden um ihn trauern, aber er muß uns auch eine Warnung und gleichzeitig eine Mahnung sein. Die Feinde schlafen nicht. Sie haben uns in einer trügerischen Sicherheit gewiegt, damit sie um so heimtückischer und grausamer ihren Angriff vorbereiten konnten. Ich habe in dieser Nacht einen Traum gehabt, den mir eine große Helferin schickte. Es war die Sonnengöttin Amaterasu. Sie, die sie selbst leider hilflos ist, schickte mir in meinen Träumen die Information, die ich brauche, um die Waffe zu finden, mit der wir es schaffen können, Shimada zu besiegen. Es ist das Kusa-nagi-no-tsururi, das Schwert, welches Gras bezähmt. Nur mit dieser Waffe sind wir Shimadas Klinge gleichwertig. Aber ich muß es erst finden. Im Traum sah ich sein Bild. Der Griff ragte stolz aus einer Pyramide aus Stein, die wiederum von den schwarzen Vögeln, Shimadas Todesboten, umflattert wurde. Sie selbst bewachen das Schwert, ohne es aus der Steinpyramide ziehen zu können. Ich werde die
Pyramide suchen, ich werde sie finden und mit dem Schwert zurückkehren. Dieses Versprechen gebe ich euch!« Die Gesichter der Ninja blieben starr. Sie hatten Fragen, doch nur Ali wagte es, eine zu stellen. »Wo willst du das Schwert finden, Yakup?« »Die Pyramide steht in einer menschenfeindlichen Gegend, versteckt im ewigen Eis des Nordens. Dort muß ich hin, aber ich werde nicht allein gehen . . .« Arme reckten sich in die Höhe. Jeder wollte mit Yakup ziehen, der aber lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Nein, nicht ihr. Das Kloster ist wichtig. Ihr werdet es bewachen müssen. Ich werde wahrscheinlich nicht allein gehen, denn ich habe Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Wenn die für einen Freund Zeit finden, werden sie kommen und mich begleiten. Es ist meine einzige und wahrscheinlich letzte Chance, das Schwert zu bekommen.« »Wie willst du es machen?« fragte jemand aus der Runde. »Du weißt selbst, daß Shimada ein Dämon ist, der tausend Tricks kennt. Er wird dich narren, er wird dich . . .« »Ich kenne sein Todesschloß. Wahrscheinlich wird es uns auch begegnen, damit muß ich rechnen.« Er nickte seinen Freunden zu. »Ich werde jetzt zurück in meine Zelle gehen. Haltet die Totenwache und betet, daß seine Seele den richtigen Weg findet. Dieser Bruder wird uns sehr fehlen. Er hat seine Pflicht erfüllt, wie es die alten Traditionen vorschreiben, und ist gestorben.« Yakup beugte sich noch einmal zu der Leiche hinunter. Er streifte mit den Fingerkuppen über deren Gesicht, eine teilnahmsvolle Geste des endgültigen Abschieds. Ohne sich noch einmal umzuschauen, ging er durch die Halle und die Treppe hoch. In seiner Kammer eingetroffen, stellte er sich vor das Fenster, hinaus in die Nacht und deren dunklen, sternenübersäten Himmel zu schauen. Wie eine dichte Wand lag er über ihnen. Keine Wolke riß die glatte Fläche auf. Er schaute nach Norden, denn dort lag sein Ziel. Im ewigen Eis, dicht am Pol, würde er das Schwert finden. Dabei war Yakup fest davon überzeugt, daß ihm Amaterasu, die Sonnengöttin den richtigen Weg zeigen würde. Sehr langsam und bedächtig drehte er sich um. Er öffnete die Türen eines schlichten Schranks, wo sich seine Waffen befanden. Messer, Wurfsterne, auch ein harter Kendostock hatte dort seinen Platz gefunden. Das alles übersah der Ninja, ihm war etwas anderes viel wichtiger.
Auf einem schlichten Holzbrett stand ein eiserner Gegenstand, um den Shimada und der Teufel hart gekämpft hatten. Es war die Krone der Ninja, die ihren Träger unsichtbar machte. Beinahe respektvoll holte Yakup die Krone hervor, setzte sie nicht auf, sondern stellte sie ab, um anschließend zu zwei Gegenständen zu greifen, die zusammengehörten und ein Paar bildeten. Es waren Handschuhe! Als Yakup sie sah, mußte er an den alten Shaolin-mönch Lin Cho denken, der den Drachengott beschworen und ihm vieles geopfert hatte, nur um diese Handschuhe zu bekommen. Sie sahen ungewöhnlich aus, waren dünn und pechschwarz. Jedoch nicht überall. Auf den Außenseiten zeichnete sich innerhalb eines blutroten Kreises das Zeichen des Drachen ab. Eine Riesenechse mit einem langen, peitschenartigen Schwanz, der über dem Rük-ken des Tieres lag und bis zum Kopf reichte, wo der Mund offenstand und schon einem kleinen Schlund glich, aus dem jeden Moment Feuer strömen konnte. Die Handschuhe waren als Waffen gedacht. Der alte Shaolin hatte sie ihm überlassen, aber es waren besondere Waffen. Man konnte mit ihnen kämpfen — und heilen. Töten nicht, nur zur Abwehr wurden oder durften sie benutzt werden. Ihre alte Magie sorgte gleichzeitig dafür, daß diese Handschuhe Wunden heilten, sofern diese an einem Körper des Menschen zu sehen waren. Yakup hatte gegen Shimada gekämpft. Im Tempel des Drachen hatten sich die beiden gegenübergestanden, Shimada am Boden liegend, doch er hatte den Dämon damals nicht vernichten dürfen, denn dann wäre die Heilkraft der Handschuhe verloren gewesen.* Ähnlich verhielt es sich mit Sukos Stab. Auch in ihm lebte eine magische Kraft, die nicht zum Töten eines Lebewesens mißbraucht werden durfte. Damals hatte Shimada die Lage eiskalt ausgenutzt. Es wäre ihm, dem Geschlagenen, fast noch gelungen, Shao zu enthaupten, aber der alte Shaolin Lin Cho hatte sich dazwischen geworfen und war an Shaos Stelle geköpft worden. Die Krone, das Schwert, die Handschuhe und die Wurfsterne, das wollte er mit in die Eiswüste nehmen. Jemand klopfte gegen die Tür und unterbrach die Gedanken des blonden Türken. Er wußte, wer Einlaß begehrte und sagte deshalb: »Tritt näher, Ali.« Sein junger Schützling öffnete die Tür, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. »Darf ich wirklich, Yakup?«
* Siehe John Sinclair Nr. 486 - 487
»Bitte.« Ali schloß die Tür. Er hatte die Waffen längst erkannt, die Yakup mit auf die Reise nehmen wollte. »Werden sie dir helfen?« fragte er mit leiser Stimme. »Ich hoffe es, mein Freund.« »Und die anderen müssen mit? John und Suko . ..« »Vielleicht, ich habe mich mit ihnen noch nicht in Verbindung gesetzt. Ich würde sie allerdings gern dabeihaben.« »Auch mich?« Hoffnung leuchtete in Alis Augen. Sie verlosch, als er sah, daß Yakup den Kopf schüttelte. »Nein, Ali, du wirst im Kloster bleiben und den anderen Freunden dabei helfen, es zu bewachen.« Der Junge zuckte zusammen. Es sah so aus, als wollte er widersprechen, dann senkte er den Kopf und nickte dabei. »Vielleicht ergibt sich noch eine Gelegenheit.« »Das bestimmt, Ali.« »Ich bin auch nicht nur deswegen gekommen.« »Gibt es einen anderen Grund?« »Ja, es ist die Unruhe.« »Wie meinst du das?« Ali schaute zum Fenster und bewegte die Schultern. »Die Vögel sind noch nicht weg!« flüsterte er. »Jeder weiß es, jeder spürt es. Sie beobachten das Kloster, sie halten es unter Kontrolle. Es kommt uns vor, als wollten sie einen zweiten Angriff führen. Sie haben mich geschickt, um deine Meinung zu erfahren.« Yakup lächelte. »Ich bin eurer Meinung, Ali. Es kann sein, daß sie es wieder versuchen werden.« »Jedenfalls wird sich keiner von uns zur Ruhe legen. Wir alle werden in der Nacht wachen. Aber du mußt schlafen, wenn du eine lange Reise vor dir hast.« Yakup lächelte und legte Ali eine Hand auf die Schulter. »Wir werden sehen, mein Freund. Sage den anderen Brüdern, daß ich mich gefreut habe über ihre Besorgnis. Sage ihnen auch, daß ich den anderen Weg gehen muß. Wenn die lebende Legende besiegt werden kann, dann nur durch das Schwert, welches das Gras bezähmt. Bei anderen Waffen kann er mir überlegen sein. Ich habe die Handschuhe gegen ihn eingesetzt, doch mit ihnen kann ich mich nur verteidigen, ich darf ihn nicht vernichten, ich darf nicht töten. Verteidigen und heilen, der Drachengott war sehr, sehr weise.« Ali lächelte seinem väterlichen Freund zu, drehte sich um und ging. Yakup schaute ihm nach. Fr war stolz auf den Jungen, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Ali den gleichen Weg einschlagen wollte wie er und sich damit für das Kloster entschied. Fr war noch zu jung, zuviel konnte geschehen. Man sollte ihm nicht jetzt schon die Fesseln anlegen, ihm auch hin und wieder freien Lauf lassen.
Yakup dachte darüber nach, ob er nicht auch das Kloster als eine Fessel ansah. Nein, das war es nicht. Er leitete diesen Posten in den Bergen Kaliforniens. Nie würde er sich in einer Großstadt zurechtfinden. Hin und wieder unternahmen sie Trips nach Frisco. Nur war Yakup jedesmal froh, wenn er dem Trubel entrinnen konnte. Daß die Ninja Wache halten würden, war nicht zu sehen. Kein Kämpfer patrouillierte um das Gebäude. Sie alle waren hinter den Mauern geblieben, um dort eine Deckung gegen die heranfliegenden Todesboten des Shimada zu haben. Im ewigen Eis stand die Pyramide, aus dem Amate-rasus Schwert herausragte. In einer Weite, die schon unendlich war, in der alles verloren gehen konnte. Auch Menschen. Erfroren, verhungert. Körper, die vielleicht nach vielen Jahren erst durch einen Zufall entdeckt wurden, eingeklemmt zwischen mächtigen Bergen aus gefrorenem Wasser. Wie sollte er das Ziel da finden? Vielleicht den schwarzen Totenvögeln nacheilen, die das Schwert bewachten, ohne es Shimada je übergeben zu können, da es durch eine andere Magie oder Kraft geschützt wurde? Es war unter Umständen die einzige Möglichkeit. Wenn er sich allerdings mit seinen Londoner Freunden zusammensetzte, konnte es sein, daß diese noch eine Chance wußten. Yakup wollte vor seiner Abreise in London anrufen und mit John Sinclair reden. Er war wieder an das Fenster getreten. Sein Blick durchstreifte die Dunkelheit der Nacht. Er mußte zugestehen, daß Ali recht behalten hatte. Die Vögel waren noch vorhanden. Er sah die Tiere mit den sich langsam bewegenden Schwingen, wie sie in großer Höhe ihre Kreise zogen. Sie wirkten wie künstliche Geschöpfe, die jemand durch Hilfe einer Fernbedienung fliegen ließ. Unheimliche Wächter, geschickt von Shimada, ausgesandt von seinem unheimlichen Todesschloß, der Festung, die die Zeiten durchwehen konnte. Schräg vor ihm schwebte ein schwarzer Vogel. Seinen Kopf mit den kleinen Augen direkt auf das Fenster gerichtet, als wollte er im nächsten Augenblick hineinfliegen. Yakup beobachtete ihn. Etwas kam ihm an diesem Tier nicht geheuer vor. Den Grund konnte er nicht sagen. War es vielleicht dieses abwartende Verhalten? Das Zögern und . . . Etwas zischte heran. So schnell, daß Yakup es mit den Blicken kaum verfolgen konnte. Ein Schatten nur, schmal und langgestreckt, der sein Ziel fand und den Vogel durchbohrte. Selbst Yakup hatte damit nicht gerechnet. Seine Augen weiteten sich für einen Moment. Er schüttelte den Kopf, weil er es kaum glauben konnte,
denn von seinen Freunden hatte bestimmt keiner Pfeile gegen den Vogel geschossen. Es sah so aus, als wollte sich der schwarze Vogel noch in der Luft halten, dann aber fiel er nach unten, als wäre er von einer Schnur gezogen worden. Yakup verfolgte seinen Weg. Er sah nicht, wie er aufschlug, aber sein empfindliches Gehör nahm die Schritte wahr, die sich von der Seite dem Ort näherten, wo der tote Vogel lag. Die Gestalt war keiner seiner Brüder. Sie trug eine andere Kleidung und winkte zu ihm hoch. »Wer bist du?« rief Yakup in die Tiefe. »Darf ich eintreten?« fragte Shao. Der Türke stand auf dem Fleck, als hätte man ihn angeleimt. Er bewegte nur die Augen, schloß sie, öffnete sie wieder, doch das Bild verschwand nicht. Shao war da! »Du?« hauchte er. »Ja, ich bin es.« »Wie kommst du hierher?« »Vielleicht haben mir Shimadas Totenvögel den Weg gewiesen oder die Magie der Amaterasu. Ich weiß, daß die Zeit knapp ist, wenn wir reden wollen. Er hat seine Vögel geschickt, um dich zu beobachten. Mir hat die Sonnengöttin eine Nachricht hinterlassen, über die ich mit John Sinclair und Suko sprach.« »Warte, ich hole dich.« Yakup eilte die Treppen hinab in die Halle, wo vier Brüder im Kerzenschein bei ihrem toten Kameraden die Ehrenwache hielten. Niemand sprach ihn an, als er das Tor öffnete. Nur die Blicke der Ninja folgten ihm. J Shao betrat das Kloster, das nur äußerst selten den Besuch einer Frau sah. Sie trug wie immer ihre dunkle Kleidung und die Halbmaske vor dem Gesicht. Die Armbrust hatte sie über die Schulter gehängt. Die Pfeile steckten wieder in dem Köcher und ragten mit ihren Enden über die Schulter hinweg. Sie lächelte, als sie ihre Maske zurückschob. Yakup und sie umarmten sich. »Ich freue mich, daß du den Weg zu mir gefunden hast«, sagte er mit ehrlich klingender Stimme. Shao schaute ins Leere. »Ob es eine so große Freude bleiben wird, wage ich zu bezweifeln.« »Was ist geschehen?« »Ich werde dich bitten müssen, das Kloster zu verlassen. Ich bin nicht zu dir gekommen, weil ich dich einfach besuchen möchte, nein. Ich habe
sehr wohl meine Gründe gehabt. Es gibt im Leben Ereignisse, vor denen kann man nicht davonlaufen.« »Du denkst an das Schwert, welches Gras bezähmt?« Shao nickte. »Diese Waffe gehörte einst der Sonnengöttin Amaterasu und ist versteckt im ewigen Eis des Pols.« »Ich weiß es!« Shao blickte den Türken überrascht an. »Woher hast du deine Informationen?« Yakups Gesichtszüge zerflossen, als er den Mund zu einem Lächeln in die Breite zog. »Manchmal bekomme auch ich bestimmte Botschaften. Im Traum nahm die Göttin Kontakt zu mir auf.« »Dann hat es doch geklappt?« »Du wußtest davon?« Shao strich über seine Wange. »Vergiß nie, daß ich die letzte in der langen Ahnenreihe bin. Aber deswegen bin ich nicht gekommen, um dir dies zu sagen. Es gibt einen anderen Grund.« »Die Vögel?« Shao schüttelte den Kopf. »Sie sind Shimadas Boten, das wissen wir genau. Sie werden uns auch weiterhin unter Kontrolle halten und ihm melden, was wir unternehmen. Er kann an die Waffe nicht herankommen, denn sie wird durch eine starke Gegenmagie geschützt. Wenn es uns jedoch gelingt, sie aus den Steinen hervorzuziehen, wird Shimada mit seiner gesamten Grausamkeit, zu der er fähig ist, zuschlagen. Dann bist du gezwungen, das Schwert zu verteidigen. Traust du dir das zu, Yakup?« »Ich habe schon gegen Shimada gekämpft. Ich fürchte mich nicht vor ihm.« »Das weiß ich. Dennoch solltest du ihn auf keinen Fall unterschätzen. Shimada schafft es noch immer, mit seiner Festung durch die Zeiten zu reisen. Fr kann damit jetzt hier sein und im nächsten Augenblick in der anderen Dimension. Zum Glück ist es ihm nicht möglich, Amaterasu zu vernichten. Trotz ihrer Gefangenschaft im Dunklen Reich befindet sie sich unter einem Schutzmantel, es sind also ausgleichende Kräfte vorhanden. Besitzt Shimada aber die Klinge, dann kann er mit dieser Waffe den Schutzmantel zerstören und Amaterasu vernichten.« »Hat er es noch nicht versucht?« Shao hob die Schultern. »Natürlich. Er ist ein Dämon, der nie aufgibt, der nicht aufgeben kann. Nur traut er sich selbst nicht an die Pyramide heran. Er besitzt Helfer, die wir ebenfalls kennen. Seine Vögel umkreisen das Gebilde. Sie versuchen, die Magie zu zerstören, den Ring aufzuweichen. Vielleicht wird es ihnen mal gelingen, jedenfalls sind sie dabei. Nur müssen wir schneller sein als sie.« Yakup hatte verstanden und trotzdem noch Fragen. »Dann wirst du mit uns fahren?«
»Nein«, erklärte Shao. »Mein Platz ist woanders. Den Kampf um das Schwert möchte ich euch allein überlassen. Ich bleibe im Hintergrund, um notfalls eingreifen zu können.« »Und was ist mit John und Suko?« »Sie wissen Bescheid.« Yakup staunte. »Du?« hauchte er. Die Chinesin nickte. »So ist es. Ich habe sie bereits informiert, und sie werden kommen, um dir zu helfen, das Schwert aus der Steinpyramide zu ziehen.« Yakup schaltete schnell. »Wenn es so ist, dann stehen ihnen und auch mir andere Möglichkeiten zur Verfügung, um unser Ziel erreichen zu können.« »Das stimmt.« Yakup ballte die Hände. »Wann kann ich sie erwarten?« Shao lächelte. »Sehr bald schon. Sie werden dich bestimmt von Frisco aus informieren.« Der Türke nickte. »Ja, das denke ich auch«, flüsterte er. Er schnitt ein anderes Thema an. »Ich bin ein schlechter Gastgeber, Shao. Möchtest du etwas trinken?« »Wenn es geht, dann Tee.« »Ich werde schauen, ob er heiß ist.« Yakup sah, wie Shao den Toten anschaute. »Er hat versucht, sich den Totenvögeln entgegenzustemmen. Leider waren sie stärker.« Shao nickte. »Ich weiß es. Diese Vögel sind schlimm. Shimada hat sie mit seiner Magie aufgepumpt. Sie gehorchen und töten, wenn er es befiehlt. Sie bringen den Schrecken, den Tod, sie beobachten für ihn. Sie sind mit ihm fest verbunden.« »Was steckt hinter ihnen?« »Die Seelen der kleinen Dämonen sind in ihre Körper gefahren. Shimada wird sich immer auf sie verlassen können.« Shao räusperte sich. »Ich werde den Tee woanders zu mir nehmen, da ich die Totenruhe deines Bruders nicht stören möchte.« »Danke.« Die Chinesin folgte Yakup quer durch das Kloster in die geräumige Küche, wo in einem großen Steinofen noch Glut wie dicke rote Augen lag. Yakup fachte sie an, legte Holz auf die Flammen, die bald größer wurden und ihre Hitze gegen das Unterteil des Kessels strahlten, wo frisches Quellwasser erhitzt wurde. Shao hatte an dem einfachen Tisch Platz genommen und beide Handflächen um ihre Wangen gelegt. Sie wirkte plötzlich müde und auch schutzbedürftig. »Was hast du?« fragte Yakup, als er sich zu ihr setzte. »Es ist manchmal nicht einfach«, erklärte die Chinesin. »Es ist wirklich nicht leicht, ein Schicksal zu ertragen, das einem Menschen aufgezwungen wurde.«
»Ich weiß.« »Du hast die Einsamkeit des Klosters freiwillig gesucht. Das war bei mir nicht der Fall. Ich habe mir nicht ausgesucht, die letzte Person in der langen Ahnenreihe zu sein. Bei mir ist alles anders gekommen, da hat das Schicksal zugeschlagen, es hat mich eingeholt, wenn du verstehst, was ich meine.« »Sicher.« »Ich mußte den Menschen, den ich liebe, verlassen. Hin und wieder kann ich ihn sehen, um festzustellen, daß dieser Mensch ebenso leidet wie ich. Wir stecken beide in einem Kreislauf, den wir nicht unterbrechen können. Vielleicht gelingt es uns erst dann, wenn Ama-terasu endgültig befreit ist. So lange muß ich bleiben.« Yakup erhob sich, um nach dem Wasser zu schauen. Es kochte. In zwei Schalen verteilte er die hellgrünen Teeblätter, goß das Wasser hinein und ließ den Tee einige Minuten ziehen. Die Tassen standen vor den beiden so unterschiedlichen Menschen. Der Duft des Tees breitete sich in der Küche aus und schwebte als unsichtbare Wolke der Decke entgegen. Talglichter spendeten etwas Helligkeit. Die meisten Teile der Küche lagen im Schatten. Sie probierten den Tee. Er war heiß, stark und besaß einen leicht bitteren Geschmack. Dazu löschte er den Durst, darauf kam es Shao und Yakup an. »Ich werde meine Handschuhe mit auf die Reise nehmen. Hinzu die Krone der Ninja.« Shao nickte. »Das ist gut.« »Wen wird Shimada aufbieten?« Die Chinesin ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie trank einen Schluck Tee und legte den Kopf zurück, so daß die warme Flüssigkeit in ihre Kehle rinnen konnte. »Ich kann es dir nicht sagen. Er kann Legionen von Dämonen aufstellen. Du kennst die Festung, in die er sich zurückzieht. Du weißt, daß er mit ihr nicht nur reisen, sondern sie auch verändern kann. Sie kann andere Zustände einnehmen. Einmal groß wie ein Berg, dann wieder klein wie eine Streichholzschachtel. In ihr ist nichts gleich. Sie besteht im Innern aus Fallen, Spiegeln und versteckten Gängen. Aus Mauern, die zusammenrücken und Menschen zerquetschen können. John Sinclair und Suko haben dies schon erlebt und sind entkommen. Shimada und seine Festung sind stets für eine tödliche Überraschung gut.« Yakup nickte. »Lange habe ich sie und auch ihn nicht gesehen. Er hatte sich zurückgezogen.« »Aus gutem Grund, denn er mußte seinen Platz erst aufbauen. Er hat alles genau durchdacht. Er ist raffiniert, er ist . . .« Sie verstummte und
nahm auch ihre Hände von der Schale weg. Dabei setzte sie sich kerzengerade hin. »Was hast du?« Shao schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen, aber etwas hat sich verändert.« »Bitte, du . . .« Shao stand auf. Trotz ihrer langsamen Bewegungen wirkte sie geschmeidig. Sie hob den linken Arm etwas an. Es sah so aus, als wollte sie einen Pfeil aus dem Köcher holen, ließ es dann bleiben und schob sich an der Vorderseite des Tisches vorbei. Als sie Yakups Hand an ihrer I lüfte spürte, blieb sie stehen. »Ich spüre, daß er nicht mehr weit entfernt ist«, flüsterte sie. »Diesmal sind es nicht allein die Todesboten.« »Shimada?« »Ja.« Yakup blieb keine Sekunde länger sitzen. Er glaubte Shao. Plötzlich zeigten auch seine Gesichtszüge eine gewisse Härte, die sich ebenfalls in den Augen widerspiegelte. »Ich möchte nach draußen!« flüsterte Shao. »Du willst ihm gegenübertreten?« Sie hob die Schultern. »Zumindest möchte ich wissen, ob ich recht behalten habe.« Schritte näherten sich der Küche. Einer der Ninja erschien. Er wollte sich entschuldigen, doch Yakup winkte ab. »Was hast du zu berichten?« »Das Böse lauert vor uns. Es ist in der Nähe. Wir . . . wir haben es sogar sehen können.« »Draußen?« »Ja, Bruder.« »Ich komme.« Yakup startete mit langen Sätzen. »Moment noch!« rief er von der Tür her Shao zu. »Ich werde etwas holen.« Er huschte zurück in die Halle, wo die Ninja Totenwache hielten und noch seine Waffen lagen. Mit ihnen kehrte er zu Shao zurück. »Wir nehmen einen kleinen Ausgang!« flüsterte er ihr zu. Shao folgte Yakup in die Dunkelheit des Klosters hinein. Nicht überall brannten Lampen, in einigen Gängen war es finster. An den Wänden schienen die Schatten regelrecht gefroren zu sein. Die schmale Tür lag in einem Seitentrakt, wo sich auch die Kampfräume und die Duschen befanden. Yakup öffnete sie sehr vorsichtig. Unter seinen linken Arm hatte er die Krone der Ninja geklemmt, über die Hände die Handschuhe gestreift. Auf den Außenseiten glänzten die roten Drachen, als wären sie mit Blut gemalt worden.
Der Wind war kühl, der gegen ihre Gesichter streifte. Sie besaßen beide einen guten Blick in die Ebene hinein, sogar bis hin zu den starren Wellen der Berge. Dazwischen aber sahen sie es. Eine blaue, unheimliche Wand. Ein Gebilde, das aus mächtigen Mauern, Türmen und Zinnen bestand, in Bodennähe umhüllt von dicken, ebenfalls dunkelblauen Nebel wölken. Uber das Dach hinaus aber ragte etwas wie eine riesige Skulptur, in der Farbe nicht anders. Ein Kopf, ein Gesicht, verdeckt bis über die Nase, als hätte sich jemand blaue Tücher davorgebunden. Die Augen blieben frei. Sie schauten wie grausam-kalte Ovale gegen das Kloster und über das Schloß hinein, wobei nicht zu erkennen war, ob das Schloß und Shimada nicht zusammengehörten. Vielleicht bildeten sie sogar eine Person. Vor der Festung schwebten die schwarzen Totenvögel, als wäre ein Maler dabei, ständig ihre Umrisse zu erneuern. Sie bewegten sich nur sacht, manche überhaupt nicht. Die standen in der Luft wie an langen Bändern hängend. »Er ist da!« flüsterte Yakup. »Er hat es tatsächlich gewagt, zu uns zu kommen.« »Was willst du tun?« Yakup Yalcinkaya lächelte. »Soll ich denn etwas tun?« »Ich kenne dich«, flüsterte Shao. »Du kannst es nicht hinnehmen, daß Shimada in dein Reich eingedrungen ist und sich dabei noch so offen präsentiert.« »Das stimmt auch.« »Sei vorsichtig«, warnte sie. »Sei nur vorsichtig, Yakup! Kr kann bewußt provozieren. Er will dich ausschalten, er will . . .« Shao sprach bereits ins Leere. Yakup war unsichtbar geworden! *** Das wußte Shao, das wußte auch er. Nur fühlte sich der Ninja nicht wie ein Unsichtbarer. Es hatte sich für ihn nichts verändert. Yakup schwebte nicht über dem Boden, sein Körper war auch nicht in Atome oder Moleküle aufgelöst worden, um sich mit der Luft zu vermischen. Nein, er kam sich vor wie ein normaler Mensch, nur eben, daß er für andere nicht mehr sichtbar war. Shao starrte in die Leere hinein. Sie konnte nur mehr ahnen, wo sich Yakup befand. Doch sie ging davon aus, daß sich der Ninja auf das Schloß zubewegte.
Das war gefährlich! Nicht grundlos hatten sie über die Festung gesprochen, die so grausam und unheimlich sein konnte. Wer sich einmal in ihr verirrt hatte, kam nicht wieder heraus. »Yakup . . .!« Ihr Ruf verwehte. Bestimmt war er gehört worden, doch der Ninja ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen. Daß Shimada vor seinem Kloster erschienen war, empfand er als eine persönliche Beleidigung. Zuerst dachte Shao, es wäre der Wind, der raunend über das Mauerwerk strich, dann hörte sie genauer hin und erkannte die Stimmen der übrigen Ninja. Die Männer standen an den Fenstern und beobachteten die Festung. Auch sie wußten nicht, was sie unternehmen sollten. Leise Schritte näherten sich der Chinesin. Wie ein Geist erschien Ali. Shao sah ihn, als sie sich umdrehte. Trotz der Dunkelheit erkannte sie die Sorgenfalten auf dem Gesicht des Jungen. »Er ist gegangen«, erklärte sie. Ali schaltete schnell. »Mit der Krone?« »Ja.« Der dunkelhaarige Junge schluckte. »Das kann so gefährlich werden«, sagte er leise. »Shimada ist grausam, seine Festung ist eine Falle. Yakup wird keine Chance haben.« »Er konnte nicht anders handeln, denn er wäre sich wie ein Feigling vorgekommen, wenn er länger hier gewartet hätte. Das ist eben das Schlimme daran. Shimada schafft es immer wieder, Menschen zu Handlungen hinzureißen, die sie eigentlich bereuen müßten.« »Was willst du tun? Hinterher?« »Ich weiß es noch nicht.« »Auch du hast Furcht, nicht?« Shao lächelte. »Wohl ist mir nicht. Es kann sein, daß er alles damit zerstört. Ich denke an die Worte der Sonnengöttin. Amaterasu hat mich stets davor gewarnt, die Festung zu betreten. Hüte dich vor der Todesfalle! hat sie gesagt.« »Ich könnte dich begleiten, Shao.« Die Chinesin lachte. »Das ist gut gesagt, aber du solltest davon Abstand nehmen. Außerdem weiß ich nicht, ob ich gehen werde. Ich muß an meine Aufgabe denken.« »Dir glaube ich, daß du nicht feige bist.« Ali nickte. »Ich gehe zu den anderen, um ihnen zu berichten.« »Gut, tu das. Aber unternehmt bitte nichts.« Der Junge verschwand lautlos, während Shao zwei Schritte nach vorn ging und dabei versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Zu erkennen war nichts. Nur die tiefblauen Umrisse der unheimlichen Festung zeichneten sich ab und darüber ein Teil des gewaltigen Gesichts mit den grausamen Augen,
deren Pupillen ebenfalls in einem tiefen Blau strahlten und aussahen wie die Eingänge zu Höhlen. Shao kam sich plötzlich einsam und verloren vor. In ihr steckte die Gewißheit, daß im Buch des Schicksals eine Seite umgeschlagen worden war, um ein neues Kapitel zu beginnen, was sich auf sie nicht eben positiv auswirkte. Shao focht einen inneren Kampfaus. Sollte sie gehen, sollte sie es bleiben lassen? Inzwischen war Yakup seinen Weg gegangen. Er steckte innerlich voller Kraft. Woher er sie nahm, war sein Geheimnis, aber er hatte lange Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie er reagieren würde, wenn er Shimada gegenüberstand. Er wollte nicht kneifen, er wollte kämpfen, er wollte ihn stellen, mit seinem Schwert, mit seinen Handschuhen, deren wundersame Kraft Wunden heilte. Den Weg kannte er genau. Yakup war ihn schon oft geschritten. In diesem Fall jedoch überkam ihn der Eindruck, durch ein fremdes Land zu gehen, das er zum erstenmal in seinem Leben betreten hatte. Er sah die Vögel, die sich mit träge wirkenden Flügelschlägen durch die Luft bewegten und so wirkten, als würden sie überhaupt nichts von der Veränderung merken. Yakup zog sein Schwert. Zu sehen war die Bewegung nicht, nur ein schleifendes Geräusch begleitete ihn für einen winzigen Augenblick. Mit der schmalen Ninja-Waffe in der Hand fühlte er sich wohler. Dieses Schwert besaß keine Ähnlichkeit mit den Waffen, wie sie die Krieger und Ritter im hohen Mittelalter getragen hatten. Es war schmaler, von der Klinge her leicht gebogen, aber nicht weniger wirkungsvoll. Könner, die es führten, sahen aus, als würden sie damit spielen, bis ein Gegner tot oder verletzt zu Boden fiel. Die Festung rührte sich nicht. So stark sie sich in ihrem Innern verändern konnte, so wenig zeigte sich dies an den Außenmauern. Sie sahen aus, als wären sie für alle Ewigkeiten gebaut worden, um den Weg durch die Zeiten zu überstehen. Es gab keine Fenster, nicht einmal Luken, dennoch würde der Besitzer der Festung nach draußen schauen können, denn Hindernisse existieren nicht für ihn. Jeder Stein war gefüllt mit einer Jahrtausende alten Magie. Manchmal veränderte sie sich zu einer Pagode, so daß ihre fernöstliche Abstammung auch äußerlich dokumentiert wurde. Der hatte noch die Feuchtigkeit des letzten Regentages geschluckt. Yakup spürte die Nässe, an einigen Stellen war es auch glatt, und er merkte, daß ihn die Festung regelrecht lockte. Es war deren Ausstrahlung, die ihn erreichte. Sie schien ihn zu bitten, näher zu kommen und zu versuchen, die Geheimnisse zu ergründen. Yakup hörte nicht auf seine innere Stimme, die ihn warnte, dem Bau
nicht zu nahe zu kommen. Was er anderen entsagte, galt für ihn nicht. Er ging den harten, den schlimmen und direkten Weg ans Ziel. Niemand sah ihn. Weder seine zurückgebliebenen Brüder noch diejenigen, die sich hinter den blauen Mauern aufhielten. Dennoch war er fest davon überzeugt, daß Shimada sein Näherkommen spürte. Noch stand sein Gesicht über der Festung. Die kalten, blauen Augen blickten ins Leere oder in die Weite des Himmels über Kalifornien. Die schweren, gefiederten Todesboten segelten lautlos über den unsichtbaren Ninja hinweg. Sie gaben nicht einmal ein Krächzen ab, nur ihre matten Flügelschläge waren zu hören. Der Nebel quoll Yakup wie dicke Tintenwolken entgegen. Er rollte lautlos über den Boden, kam wie ein Gespenst und erreichte auch ihn, den nicht Sichtbaren. Der Ninja spürte, daß dieser Nebel anders war als ein normaler. Er diente mehr als Schutz, wobei er gleichzeitig angefüllt mit einer Botschaft war, die den Ankömmling auf gewisse Art und Weise warnte, das Schloß zu betreten. Daraus machte er sich nichts. Die letzten Yards legte er zurück, um vor der Mauer anzuhalten. Er konnte sie sehen. Die anderen hingegen sahen ihn nicht, wer immer sich auch hinter der blauen und nie ganz ruhig stehenden Wand aufhalten mochte. Die einzelnen Steine kamen ihm vor, als würden sie vibrieren. Sah das Schloß oder die Festung aus der Distanz, auch mächtig und unüberwindbar aus, so stimmte das nicht mehr. Es öffnete sich nicht einmal eine Lücke oder ein Tor. Yakup schritt auf die Mauer zu und kurzerhand hindurch, ohne aufgehalten zu wer-j den. Jetzt stand er in der Festung. f Umgeben von den künstlichen und magischen Mauern einer weiten Halle, deren Dimensionen kein Ende zu nehmen schienen und in die Unendlichkeit hineinführten. Eine Weite, wie man sie dort nie vermutet hätte. Ein unbehagliches Gefühl strich über seinen Rücken. Er ging, er war nicht zu sehen, nur seine Schritte klangen nach. Auch der Untergrund schimmerte blau. Es war nicht zu erkennen, aus welch einem Material er bestand, die Fläche war sehr gerade und glatt. Nicht eine Fuge war auf ihr zu erkennen. Yakup wußte, daß er sich nicht täuschen lassen durfte. So groß das Schloß auch wirkte, einen Moment später konnte es sich, wenn Shimada es wollte, verändern. Der Ninja stoppte seine Schritte. Er drehte sich und schaute zurück. Eigentlich hätte er die Mauer noch sehen müssen; sie allerdings war verschwommen und zitterte, als würde sie unter starken Stromstößen leiden.
Derjenige, auf den es ihm ankam, ließ sich nicht blik-ken. Aber Yakup wollte ihm gegenüberstehen. Er fürchtete sich auch nicht davor, daß Shimada ihn töten könnte. Dieser mächtige Dämon brauchte ihn. Er war schlau genug, um zu wissen, daß nur Yakup und seine Freunde ihm den Weg zur steinernen Pyramide in der Arktis zeigen konnten, damit er sich das Schwert der Sonnengöttin unter den Nagel reißen konnte. Yakup, noch immer unsichtbar, öffnete den Mund. Dann rief er laut und kräftig den Namen des Dämons. »Shimada .. .!« Seine Stimme hallte. Es war keine Wand vorhanden, die ein Echo hätte zurückwerfen können. Der Klang verlor sich irgendwo in der nicht meßbaren Ferne des Schlosses. Die Antwort blieb aus. »Hast du mich nicht gehört, Dämon? Ich bin gekommen, um gegen dich anzutreten. Du hast dich auf mein Gebiet gewagt, das kann ich nicht hinnehmen . ..« Shimada reagierte. Über Yakup entstanden Lichtblitze. Kurz nur, aber sie hatten etwas hinterlassen. Kugelartige Gebilde, verformt und verzerrt zu bunten, schrecklichen Fratzen mit weit aufgerissenen Mäu-lern, aus denen lange Zungenfäden schlugen, starrten ihn an, bewegten sich im Zickzack und jagten ihm plötzlich entgegen. Yakup kannte sich mit den Kugeldämonen des alten Japans aus. Es waren widerliche Gestalten, die aus der Jigoku stammten und sich von Menschen ernährten. Als der erste Kopf ihn fast erreicht hatte, tauchte der Ninja zur Seite. Aus dem Unsichtbaren schlug er zu. Das Schwert war nicht zu sehen, es entstand nur ein sausendes Geräusch, als die Klinge durch die Luft fuhr und das Gesicht des Kugeldämons genau in zwei Hälften teilte. In einer farbigen Rauchwolke vergingen sie. Die beiden anderen Köpfe huschten über ihn hinweg. Yakup lauschte noch ihrem grellen Lachen nach, dann hatte sie die blaue Dunkelheit der Festung verschluckt. Der einsame Kämpfer lachte laut. »Ist das alles, was du zu bieten hast, Shimada?« Diesmal bekam er keine Antwort, dafür hörte er das ihm schon bekannte Klatschen der Schwingen, als sich die Vögel durch die Wand schoben und in die Festung flogen. Sie blieben in respektvoller Entfernung, beobachteten nur. Plötzlich zitterte unter Yakup der Boden. Er sprang unwillkürlich zur Seite, doch auch dort erwischte ihn das Zittern. Es gab wohl keine Stelle, die davor sicher wäre.
Als Unsichtbarer drehte Yakup sich. Er wollte den Grund für das ungewöhnliche Verhalten des Bodens herausfinden. Aber was war in dieser Festung schon normal? Die Totenvögel flatterten, auch sie spürten die Veränderung, und Yakup, der zurückblickte, hatte erkannt, daß sich die Umrisse verschoben. Wo er durchgegangen war, stand die Schwärze wie eine finstere Wand. »Ninja ...!« Ein scharfer, langgezogener Ruf erreichte ihn. »Du bist unsichtbar, aber in meiner Welt. Ich spüre dich, ich bin hier der Herr, ich halte dich gefangen!« Die Stimme des Dämons Shimada war in Yakups Rücken aufgeklungen. Als er sich drehte, nahm er mit der linken Hand die Krone vom Kopf. Für einen Moment flimmerte genau die Stelle, wo er stand, dann traten seine Umrisse hervor, er wurde sichtbar. Und er sah Shimada! Die Festung hatte sich tatsächlich verändert. Wenn Yakup nach vorn sah, dann schaute er hinein in einen langen, schlauchartigen Gang, an dessen Ende sich, im weißblauen Licht stehend, die Konturen einer Gestalt abmalten. Dort stand Shimada! Er sah aus wie eine Figur tief im Hintergrund der Bühne. In einer schmalen, langen, leicht angeschrägten Perspektive malte er sich dort ab wie ein tiefblaues Denkmal. Shimada rührte sich nicht, er trug auch äußerlich keine Waffe. Nur das hellere Licht zeichnete die blaue Gestalt scharf nach, so daß sie für Yakup auch auf diese Entfernung hin zu erkennen war. Der Ninja hob sein Schwert. »Komm her!« rief er laut. »Komm her und kämpfe!« Der Dämon lachte ihm entgegen. »Weshalb sollte ich dich jetzt schon töten? Es reicht, daß meine Falle zugeschnappt ist. Ich wußte genau, wie ich provozieren kann. Wenn du die Festung siehst, mußt du einfach kommen, verstanden? Fs ist ein innerer Drang, der dich überfällt. Du bist ein Ninja, du hast dich den Gesetzen dieser Kaste unterworfen, und du wirst sie immer einhalten müssen. Ich darf dich in meinem Reich als einen Helfer begrüßen?« Diesmal lachte Yakup. Fr schüttelte sich dabei, als wollte er Wassertropfen abschleudern. »Helfer? Ich soll einem Dämon helfen?« »Das wirst du, Ninja. Wie gesagt, es gibt gewisse Gesetze, denen wir uns beugen müssen.« »Was erwartest du?« »Das Schwert der Sonnengöttin. Die alte Schwert-Legende, die vor langer, langer Zeit geschrieben wurde, soll endlich ein Ende finden. Ich will das Schwert!« »Dann hole es dir!«
Shimada breitete die Arme aus. Alles sah aus, als würde sich eine Puppe bewegeö^Auch ich bin an Regeln und Gesetze gebunden!« erklärte er laut und deutlich. »Aus diesem Grunde muß ich meine Pläne in bestimmte Bahnen lenken, und du wirst dabei mein Führer sein.« »Dazu gehören zwei!« »Das weiß ich. Nur wird dir nichts anderes übrigbleiben, mein Freund. Diese Festung ist ein Teil von mir. Sie ist konzentrierte Magie eines fernöstlichen Reiches, sie gehört und gehorcht mir. Du kannst tun und lassen, was du willst, aber du wirst mir gehorchen müssen, Ninja. Du erkennst schon sehr bald, wie ohnmächtig du mir gegenüberstehst, auch wenn du es mit deinem Schwert versuchst, wie schon einmal, als wir uns in der Höhle des Drachen gegenüberstanden. Ich habe überlebt, ich und meine Festung sind wieder da!« Es waren Worte, die Yakup nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Daß Shimada Macht besaß, dokumentierte er in den folgenden Sekunden. Das Zittern des Bodens begann wieder. Diesmal sprang der Ninja-Kämpfer nicht zur Seite, da es sowieso keinen Sinn hatte. Er blieb stehen und bekam mit, wie sich die Umgebung veränderte. Yakup wußte um die Funktion der Festung ungefähr Bescheid. Ihm war nicht alles bekannt, doch er hatte erlebt, wie sich die inneren Räume verändern und zu Fallen werden konnten. So auch hier. Shimada hielt sich an dergleichen Stelle auf. Aber vor ihm bewegte sich der Boden. Erstieg allmählich an, als wollte er sich zu einer großen Wand hochschieben. Für Yakup wurde es Zeit. Er drehte sich, um aus dem Schloß zu entkommen. Ein Schrei fegte aus seinem Mund, denn er war direkt gegen ein hartes Hindernis gerannt. Eine nicht erkennbare Wand hatte ihn aufgehalten und schmetterte ihn fast zurück, da sie sich noch in der direkten Vorwärtsbewegung befand. Yakup schleuderte seine Arme in die Höhe. Er fiel auf den Rücken, rollte sich jedoch sofort herum und sprang mit einem geschmeidigen Satz auf die Füße. Er lief nach vorn. Es blieb ihm als einzige Chance. Angriff war in diesem Fall die beste Verteidigung. Im Hintergrund stand Shimada. Das weißliche Licht umgab ihn wie ein harter Schleier. Er hatte einen Arm ausgestreckt und wies auf den Ninja. Yakup rannte vor. Er duckte sich dabei. Nach wenigen Schritten schon kam er nicht mehr weiter. Es war der in Bewegung geratene Boden, der ihm entgegenkam und zu einer Wand wurde.
Yakup prallte dagegen. Er schüttelte sich, huschte nach rechts, danach in die andere Richtung und suchte verzweifelt eine Lücke. Die war nicht vorhanden. Im Gegenteil — denn die hochgehobene Wand kippte über ihm zusammen. Der Ninja rammte sein Schwert in die Höhe. Mit der Klinge wollte er sich einen Weg in die Freiheit freischlagen, auch das schaffte er nicht, denn die Festung war stärker. Sie drückte ihn nieder. Yakup spürte die Härte auf seinem Rücken. Fr kam sich vor wie in einem Loch, dessen Wände von allen Seiten immer mehr zusammenrückten. Vielleicht blieben ihm noch Sekunden, mehr jedoch nicht. Da öffnete sich der Boden. Urplötzlich fiel er unter ihm weg. Yakup raste wie ein Stein in die Tiefe. Aus welchem Grund er dabei die Krone der Ninja gegen seinen Kopf preßte, wußte er selbst nicht Die Gestalt verschwand. Daß sie trotzdem noch vorhanden war, konnte Shi-mada hören, denn der Schrei des Ninja wehte in einen Schacht hinein, der ins Nichts führte... *** Shao wußte, daß sie gegen ihr Gefühl handelte, aber sie mußte der Disziplin Tribut zollen. Sie durfte sich einfach nicht gehenlassen und auf das Schloß zurennen, hinter dessen Mauern Yakup Yalcinkaya verschwunden war. Waren es Minuten, Sekunden oder Stunden? Der Zeitbegriff existierte für Shao nicht mehr, nur die Hoffnung, daß der Ninja es vielleicht doch schaffte und wieder zurückkehrte. Nein, er kam nicht. Das Todesschloß hatte ihn geschluckt wie ein ausbruchsicheres Gefängnis. Was sich hinter dessen Mauern abspielte, war für Shao nicht zu erkennen. Sie sah und hörte nichts. Nur die verdammten Totenvögel zogen vor der Festung ihre Kreise, als wären sie Wächter. Einige Male war Shao bereit, einen Pfeil aufzulegen und gegen die Tiere zu schießen. Sie ließ es bleiben, da es keinen Sinn hatte, nach ihnen zu zielen. Sie hätte den einen oder anderen zwar vernichten können, aber trotzdem nichts erreicht. »Er kommt nicht zurück, er kommt nicht wieder. Ich spüre es genau!« Alis rauhe Stimme klang hinter ihr auf. Der Junge hatte es im Kloster
nicht mehr ausgehalten. Er brauchte jetzt Schutz und faßte nach der Hand der Chinesin. Shao spürte, daß die Finger des Jungen kalt waren. »Warte noch«, sagte sie wider ihrer eigenen Überzeugung. »Vielleicht kehrt er noch zurück. So einfach läßt Yakup sich nicht unterkriegen.« »Nein, Shao, nein. Ich kenne das. Ich kenne das genau. Ich merke, wenn es nicht richtig läuft.« Sie erwiderte nichts. Im Prinzip hatte Ali recht. Yakup hätte sich nicht in Gefahr begeben sollen. Es war einfach sein Fehler gewesen, auf die Festung zuzulaufen. Irgendwie verständlich, wie Shao zugeben mußte. Shimada hatte den Ninja bis aufs Blut gereizt. Dieser Dämon wollte den Tod und die Vernichtung. Es gab für ihn kein anderes Ziel. Yakup in seiner Gefangenschaft, das brachte ihn einen großen Schritt näher an das Schwert der Sonnengöttin heran. Das Gesicht hinter der Festung verschwand. Ein lautloser, unheimlicher Vorgang. Es tauchte durch das Dach, als wäre dies als Hindernis überhaupt nicht vorhanden. Wieder schaffte es Shimada, die Magie voll und ganz auszuspielen. »Jetzt hat er ihn in den Klauen!« hauchte Ali. »Ich ... ich spüre es genau. Die Festung, sie lebt!« Er wollte seine Hand Shaos Fingern entziehen, dagegen hatte sie einiges. Ali sollte nicht los- und in eine Falle hineinrennen. »Du bleibst!« »Aber Yakup!« »Wir wissen, was er tut!« Auch Shao fiel es immer schwerer, die Disziplin zu wahren. Aber sie mußte sich einfach den alten Gesetzen fügen. Ohne diese Räson wäre sie längst verloren gewesen. Viele der Ninja hielt es nicht mehr hinter den Mauern. Sie hatten das Kloster verlassen. Wie eine kleine, bewaffnete Armee standen sie vor dem Gebäude und-schauten der geheimnisvollen Festung entgegen, die vor ihnen stand, als wäre sie für die Ewigkeit gebaut worden. Das war sie längst nicht. Alle sahen, wie sich ein Schein über die Mauern legte und diese so aussehen ließ, als würden sie anfangen zu zittern. Einen Moment später zog sich das Gebäude regelrecht zusammen. Es verkleinerte sich, der Nebel nahm an Dichte zu, stieg an den Mauern hoch und nahm den Zuschauern die Sicht. Ali hielt es nicht mehr aus. Mit einer heftigen Bewegung riß er sich los. Shao erwischte ihn auch nicht mehr, als sie nachgriff. So rannte der Junge der Festung entgegen und brüllte Yakups Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Die Festung aber zog sich noch stärker zusammen; der Nebel nahm an Dichte zu.
Dann war der Bau verschwunden! Ali torkelte weiter. Als er stehenblieb, warf er die Arme hoch und schüttelte den Kopf. Danach sank er auf die Knie, ohne sich in den folgenden Sekunden wieder zu erheben. Sehr langsam ging Shao auf den Jungen zu. Sie hörte ihn leise murmeln und weinen. Den Kopf hielt er tief gesenkt, die Schultern zuckten, er trauerte um seinen erwachsenen Freund. Shao legte ihm die Hand auf die Schulter. Ali blickte nicht einmal hoch. Dafür sah die Chinesin über ihn hinweg zu den übrigen Ninja, die sich in fast einer Reihe vor dem Kloster aufgebaut hatten. Sie rührten sich nicht, ihre Schwerter schimmerten in einem matten Glanz, der die Finsternis durchbrach. Auch sie waren geschockt, aber sie hatten sich ebenfalls an die Regeln halten müssen. Kein Angriff auf Shi-madas Todesschloß. Dessen Magie und Kraft war einfach zu mächtig. Mit schleppenden Schritten ging Shao den Männern entgegen. Sie blickten die einsame Frau starr an, die dicht vor ihnen stehenblieb und nickte. »Ich möchte mich bedanken, daß ihr gewartet und nicht in das Schloß hineingegangen seid.« Einer trat aus der Reihe vor. »Weshalb ist er hingelaufen? Kannst du es uns sagen?« »Er wollte gegen Shimada antreten. Er konnte es nicht überwinden, daß dieser Dämon es wagte, sein Todesschloß in diese Gegend zu stellen. Versteht ihr?« »Wir hätten ihm helfen können.« »Das sah er anders. Yakup wollte nicht, daß ihr euch in Gefahr begebt. Ihr müßt ihn da begreifen, Freunde.« Sie hoben die Schultern, enthielten sich eines Kommentars, nur der Sprecher fragte: »Wo könnte er sein? Was wird Shimada mit ihm vorhaben? Kennst du dich aus?« »Ich glaube nicht, daß er ihn töten wird«, sagte Shao. »Nein, das bestimmt nicht. Er wird ihn benutzen wollen, um an das Schwert der Sonnengöttin heranzukommen. Die Schwert-Legende muß endlich zu Ende geschrieben werden. So sieht es aus.« »Willst du etwas dagegen tun?« »Ja.« »Kannst du es auch?« Shao schaute in das unbewegliche Gesicht des Ninja. »Ich werde es versuchen. Ob ich allerdings damit gewinne, ist eine zweite Sache. Jedenfalls muß ich ihn zurückholen.« »Aber nicht allein?«
»Nein, seine Freunde in London wissen Bescheid. Sie ahnen nur nicht, daß sie ohne Yakup fliegen müssen. Ich werde sie anrufen müssen. Ihr habt Telefon?« »Ja. In seinem Zimmer.« »Laß mich hin.« Shao ging und schaute am Eingang noch einmal zurück. Ali hatte sich wieder erhoben. Wie eine verlorene Figur wirkte er auf der flachen Weite der Felder. Die Chinesin betrat das Schloß mit wenig guten Gedanken. Ihrer Ansicht nach hatte es Yakup übertrieben. Er hätte in diesem Fall mehr Disziplin beweisen müssen. Sie dachte auch an das Sprichwort, das da hieß: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Hoffentlich traf es nicht auf Yakup Yalcinkaya zu... *** Wieder einmal hatten wir erlebt, wie klein die Welt im Zeitalter des schnellen Überschallreisens doch war. Von London bis nach New York in knapp drei Stunden. Dort umsteigen, dann in Richtung Norden, wo uns das unendlich weite Kanada erwartete. Wir flogen im Militärjet über die Provinz Quebec hinweg. In Fort Chimo wurde zwischengelandet und aufgetankt. Weiter ging der Flug über das Wasser hinweg in Richtung Baffin Island. Für mich stand dieser Fall unter keinem guten Stern. Von Shao hatten wir erfahren müssen, daß Yakup verschwunden war. Shimadas Todesschloß, mit dem auch wir schon unsere nicht eben freundliche Bekanntschaft gemacht hatten, trug dafür die Verantwortung. Es hatte unseren stürmischen Freund gefangen. Normalerweise hätte er kaum eine Chance gehabt, dieser Festung zu entfliehen, doch Shao hatte uns trotz allem Mut gemacht, denn sie rechnete damit, daß Shimada Yakup als eine Art Geisel behalten wollte, um an das Schwert heranzukommen. Wo wir die Waffe suchen sollten, das wußten die Götter. Wir mußten uns da auf Shao verlassen, die irgendwann mit uns in Kontakt treten wollte. Baffin Island. Diese gewaltige Insel im nördlichen Eismeer kannte ich nur vom Hörensagen. Kalt, menschenleer, viel Natur, Wasser und natürlich Schnee und Eis, auch im April. Der Jet setzte zur Landung an. Ich war auf dem Flug eingeschlafen und fühlte mich nicht so kaputt, als wir ausstiegen und einen Vorgeschmack von dem bekamen, was uns erwartete.
Von der Frobisher Bay her wehte uns Eis entgegen. Der Wind stach in die Gesichter. Ich drehte schnell den Kopf zur Seite, damit er mich am Nacken erwischte. Hier nutzten auch die gefütterten Jacken nichts. Man würde uns sicherlich mit anderer Kleidung versorgen. Auf dem Flugfeld wartete bereits ein Jeep. Im Hintergrund malten sich graue Baracken unter einem blauen Himmel ab. Es war nicht klar und auch nicht diesig, mehr ein Mittelding zwischen den beiden Zuständen. Eine Sonne entdeckten wir nicht, zum Glück brachte der Wind auch keinen Schnee mit. Der Fahrer grüßte, als er uns sah und meinte grinsend: »Willkommen am Ende der Welt.« »Ist das das Ende?« fragte Suko. »So ungefähr.« »Und Sie halten es hier aus?« »Noch vier Wochen, dann werde ich in eine wärmere Gegend versetzt. Das wird ein Fest.« »Wohin fahren Sie uns?« erkundigte ich mich. »Captain Farrell wird Sie begrüßen. Von ihm erfahren Sie alles weitere.« »Okay.« Wir stiegen ein und tollten über die Air Base. Über uns jagten vier Militärmaschinen hinweg. Sie flogen dicht nebeneinander. Mir wurde etwas schummrig, als ich an die jüngsten Abstürze dachte. Uns gelang außerdem ein Blick auf die Frobisher Bay, eine breite Bucht, die wie eine ausgestreckte Hand in das Innere der Insel hineinstieß. Das sich durch den Wind bewegende Wasser zeigte eine grünblaue Farbe. Wellen sahen aus wie klare, kleine Hügel, bedeckt mit Schaumkronen. Man hatte die Air Base teilweise vom Schnee befreit, außerhalb lag die weiße Pracht wie gemalt. Eisschollen trieben zudem träge durch die Bay. Am imponierendsten aber waren die Eisberge, die schwimmenden Gletscher, die unter dem sanften Licht des kurzen Tages daherglitten, als würden sie auf Kufen durch das Wasser geführt. So grandios sie sich dem Auge des Betrachters zeigten, so gefährlich waren sie auch, denn der meiste Teil lag unter Wasser und war schon für manches Schiff zu einer tödlichen Falle geworden. Da wir dicht an der Küste entlangfuhren, konnte ich sie gut beobachten. Sie faszinierten mich. Kunstvolle Gebilde, als hätten mehrere Menschen zugleich ihre Kreativität an diesen schwimmenden Eismonstren ausgelassen. Manche sahen aus wie einfache Berge. Andere wiederum standen kurz vor dem Sterben. Da hatte das warme Wasser dicht unter der Oberfläche regelrechte Ovale oder kleine Buchten in das Eis hineingeschnitten. Die Reste standen über wie tropfende Riesennasen, die irgendwann abfallen und dabei regelrecht
explodieren würden. Tonnen von Eis würden dabei ins Meer stürzen und als Schollen weitertreiben. Der Fahrer lachte, weil er unsere Blicke bemerkt hatte. »Die sind schon stark, unsere kleinen Freunde, wie?« »Das können Sie sagen.« »Wenn Sie mal länger hier sind, gewöhnt man sich daran.« Er winkte ab. »Da verfluchen Sie die Dinger oft.« Wenig später wurde uns die Sicht auf die See durch die Bauten genommen. Barackenähnliche Gebäude, mal ein oder mal zwei Stockwerke hoch. Auf den flachen Dächern schimmerten die Antennen. Ein Tower überragte alles. Hinter uns setzten mit einem wahren Donnergetöse zwei Maschinen zur Landung an, während wir auf einen Parkplatz rollten, ausstiegen, und auf eine Glastür zuschritten, vor der zwei Posten Wache hielten. Sie grüßten, als wir an ihnen vorbei schritten und in eine künstliche Heizungswarme traten. Ich nahm die Sonnenbrille ab und ging neben Suko her auf eine hell gestrichene Tür zu, die auch unser Fahrer ansteuerte, klopfte und erst das >Come in< abwartete, bevor er eintrat und uns bei Captain Farrell meldete. »Ja, schon gut, Clinton. Lassen Sie die Herren zu mir.« Der Captain war ein ziemlich kleiner, dunkelhaariger Mann. Die Mütze hatte er abgenommen. Sie lag auf einem Schreibtisch direkt neben der Lampe. »Willkommen bei uns, Gentlemen.« »Auch am Ende der Welt?« fragte Suko. »Wieso?« »Wir hörten, daß wir uns hier am Ende der Welt befinden sollen.« Farrell lachte. »Da haben Sie gar nicht mal so unrecht. Manchmal kommt es mir auch so vor. Aber nehmen Sie doch Platz, bitte.« Er deutete auf eine Sesselgruppe mit braunem Cordüberzug. Der Captain wartete, bis wir saßen, ließ sich ebenfalls nieder und strich seine Hosenbeine glatt. Kaffee wurde von der Ordonnanz serviert. »Es ist doch recht — oder?« Wir nickten, dann lächelte der Captain und schüttelte den Kopf. »Ich habe hier schon viel erlebt, aber Sie haben mich etwas aus der Fassung gebracht.« »Weshalb?« fragte ich. Er nahm erst einen Schluck Kaffee. Auch wir tranken. »Nun ja, Sie sind praktisch bei uns hereingeschneit, und ich weiß nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll.« »Wir möchten uns nur ein wenig umschauen.« »Als Fremde, auf Baffin Island, einer er kältesten Ecken der ganzen Welt.« »Richtig.«
»Das mag begreifen, wer will, ich auf keinen Fall. Nein, ich sehe das anders. Wenn zwei Männer wie Sie hierherkommen, haben sie einen geheimen Job. Sie besaßen alle Verbindung, die NATO hat gespurt. Wollen Sie hier Agenten jagen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist keine Spionageoder Agentensache, Captain.« »Was dann?« rief er. »Wir möchten etwas suchen und auch finden.« Er lachte leise. »Wissen Sic beide eigentlich, wie groß Baffin Island ist?« »Wir sahen es uns auf der Karte an.« Er winkte ab. »Hören Sie auf, Mr. Sinclair, das ist kein Vergleich. Das konnten Sie nicht ernst gemeint haben. Baffin Island ist fast unbewohnt. Es gibt einige Orte an der Küste, im Innern finden Sie nur Landschaft, Eis, Schnee, Berge, eine Tundra wie auch in Sibirien. Es liegt noch alles unter dem Eis vergraben. Wenn es getaut ist...« »Sind wir nicht mehr hier«, meinte Suko trocken. »Kann ich mir vorstellen.« Er grinste. »Vielleicht liegen Sie selbst bald als steifgefrorene Tote hier rum. So etwas haben wir nämlich auch schon erlebt. Aber lassen wir das. Allein kommen Sie nicht weiter. Wo wollen Sie überhaupt hin?« »Die Frage ist gut«, murmelte ich. »Zu gut?« »Beinahe. Wie gesagt, wir suchen etwas. Ich kann Ihen nur sagen, daß es sich um eine Steinpyramide handelt.« Farrell runzelte die Stirn. »Können Sie etwas von der Höhe des Monuments sagen?« »Monument ist gut. Sie dürfen sie nicht vergleichen mit den Pyramiden in Ägypten. Ich weiß nicht, wie hoch sie ist.« »Es wäre mir auch neu, wenn wir so etwas hätten. Aber ich bekam Anweisung, Ihnen eine Maschine zur Verfügung zu stellen, nebst einem Piloten.« »Ja.« »Beides bekommen Sie. Zu dem Piloten muß ich Ihnen noch etwas sagen. Er heißt Chinok, ist Kanadier und gleichzeitig Einheimischer, ein Eskimo also. Er wird Ihnen auch sagen können, welche Ausrüstung Sie benötigen werden.« »Befindet er sich auf der Base?« fragte Suko. »Natürlich.« »Wann können wir starten?« »Sie haben Glück, daß Sie früh angekommen sind. Wenn Sie wollen, in einer Stunde. Nur sage ich Ihnen, daß Sie es in einem Tag nicht schaffen werden, auch nur ein Drittel dieser gewaltigen Insel zu erkunden. Denken Sie daran, daß es früh dunkel wird. Vergessen Sie Europa und dessen Frühling.« Der Captain stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. »Da ist noch etwas, das ich nicht verstanden habe. Mich
rief vor etwa einer Stunde jemand an, eine Frau.« Er drehte sich zu uns und hielt einen Zettel in der Hand. »Und weiter?« fragte Suko. »Diese Frau, die ihren Namen nicht sagte, gab mir eine Nachricht durch. Sehr knapp, aber prägnant, wobei Sie meine Erklärungen vorhin vergessen können. Die Suche nach dieser Pyramide ist eingeschränkt worden. Zumindest kennen wir jetzt das Gebiet. Südlich des Amadjuak Lake und nördlich der Wind Hills, so nennen wir die Berge dort, sollten Sie nach dem Ziel suchen.« »Danke.« Der Captain war überrascht. »Mehr sagen Sie nicht?« »Nein.« »Sie wollen nicht wissen, wer die Frau . . .?« »Captain, wir können uns denken, wem wir die Information zu verdanken haben. Außerdem haben Sie recht. Wir brauchen die Insel nicht abzusuchen. Können wir dort mit einem Flugzeug landen? Das interessiert uns viel mehr.« »Fragen Sie Chinok. Ich lasse ihn herkommen.« Far-rell griff zum Hörer eines Telefons, und ich sah, wie Suko mir grinsend zuzwinkerte. Shao hatte gute Arbeit geleistet, denn keine andere als sie mußte die Anruferin gewesen sein. »Sie können sich gratulieren«, sagte er nach unserem Gespräch. »Chinok ist einer der besten Piloten, die ich kenne. Kein Jet Flyer, aber er kennt sich aus.« »Wie ist denn die Maschine?« fragte Suko. Farrell strich über sein Kinn. »Der Gegend angepaßt. Das Ding landet fast überall. Er hat einziehbare Kufen, die man als Schwimmer nehmen kann, wenn Sie gezwungen sirrerTauf dem Wasser zu landen. Zwar sind die Seen noch zugefroren, an einigen Stellen allerdings ist das Eis um diese Zeit schon recht dünn, so daß die Gefahr des Einbrechens besteht. Deshalb die Schwimmer.« Es klopfte. Sekunden später lernten wir Chinok kennen. Er war ein Einheimischer, das wußten wir. Allerdings schienen sich unter seinen Vorfahren auch Seehunde befunden zu haben, allein sein dichter und an den Seiten weit nach unten hängender Bart deutete darauf hin. Sein Alter war schwer zu bestimmen, trotz der zahlreichen Falten in der dunklen Haut. Das pechschwarze Haar trug er lang und ihm Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Er war kleiner als ich, dafür muskulös und hatte ein breites Kreuz. »Das sind die beiden Inselhüpfer, von denen ich dir erzählt habe, Chinok. Sieh mal zu, daß du klarkommst.« Er reichte uns die Hand. Zuerst Suko. Die beiden mochten sich, das merkte ich. Es war auch gut. Wir mußten uns in dieser Einöde auf einen Piloten verlassen können.
Mir gab er auch die Hand. Ich hatte das Gefühl, in einer Knochenmühle zu stecken, ließ mir aber nichts anmerken und preßte nur die Zähne zusammen. »Wir nennen uns am besten beim Vornamen«, schlug der Einheimische vor. Er hatte eine tiefe und auch leicht gutturale Stimme. »Das Land schreit nicht nach Förmlichkeiten. Hier muß sich einerauf den anderen verlassen können. Das ist nun mal so.« »Ich weiß«, erwiderte ich und rieb meine Rechte. »Sagen Sie mal, waren Sie früher Knochenbrecher?« »Das nicht, aber ich habe mit Walrossen gerungen. Da braucht man Kraft. Zudem weiß ich nicht, wohin die Reise geht. Die Insel ist ziemlich groß, manchmal zu groß.« »Es hat sich etwas geändert«, erklärte Farrell. »Das Zielgebiet liegt fest.« »Gut — und wo?« »Nördlich der Wind Hills und südlich des Amadjuak Lake.« Der Walroßbart geriet in Bewegung, als Chinok seinen Mund verzog. »Auch das ist nicht gerade klein. Was sucht ihr denn da?« »Eine Pyramide«, erwiderte Suko. Chinok nickte, dann schnellten seine dichten Augenbrauen ruckartig in die Höhe. »Pyramide?« wiederholte er. »Sind die nicht in Ägypten?« »Das habe ich auch gesagt«, meinte der Captain. »Stimmt. Auch hier soll es eine Pyramide geben.« Ich lächelte gequält. »Leider nicht so groß.« »Wir müssen also suchen.« »Sicher.« »Das wird nicht einfach sein. Das Gelände direkt am See ist dicht bewaldet. Dahinter aber ist Tundra. Erst am Fuße der Berge hört diese Ebene auf.« »Das wird sie sein.« Chinok nickte. »Wir sollten starten, damit wir es schaffen bis zum Dunkelwerden.« »Moment«, sagte ich. »Da wäre möglicherweise noch etwas. Wir sollten uns schon auf eine Übernachtung einrichten.« »Das habe ich nicht gewußt«, sagte Farrell. »Wir auch nicht, aber ändert es etwas?« »Nein, eigentlich nicht, überhaupt nicht, meine ich. Es hängt nur mit der Ausrüstung zusammen.« »Ist alles in der Maschine, Sir.« »Wenn Chinok das sagt, können Sie sich darauf verlassen«, erklärte der^Captain. Ich nickte dem Piloten zu. »Dann können wir wohl abdampfen.« »Sobald Sie ausgerüstet sind. In der Kleiderkammer wird sich das Richtige finden.« Wir verabschiedeten uns von Captain Farrell, der uns einen guten Flug wünschte. Als wir hinausgingen, hörten wir noch seinen Kommentar.
»Pyramiden auf Baffin Island. Ich glaube, die Leute spinnen sich manchmal was zusammen.« Ich war davon überzeugt, daß wir nicht spönnen. Aber Chinok schien uns nicht so recht zu glauben. »Habt ihr den Alten auf den Arm genommen, oder stimmt das mit der Pyramide?« »Es stimmt«, bestätigte Suko. Der Pilot lachte auf. »Ihr macht mich direkt neugierig. Und ich habe gedacht, die Insel zu kennen.« Er hob die Schultern. »Wahrscheinlich lernt man nie aus...« *** Wir starteten. Die dicken Jacken hatten wir nur über die Schultern gelegt. Sie waren innen mit Fell gefüttert und noch wattiert. Da konnte so schnell keine Kälte durch. Der Gesichtsschutz, mehr eine Maske, steckte in unseren Taschen. Piloten hatten wir schon viele erlebt. Gute und auch weniger gute. Chinok aber setzte neue Maßstäbe. Rechts von uns sahen wir die Bay, in der auch einige Schiffe lagen, unter anderem zwei Eisbrecher. Breite Schollen trieben wie glitzernde Plateaus über die Wasserfläche. Vögel wischten in Schwärmen über das Wasser hinweg und schnappten im Flug nach Fischen, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten. Boote schaukelten in einem kleinen Hafen. Wie mächtige Drohungen trieben die weißen Giganten vorbei, wobei sie mich an Burgen und Prachtschlössern erinnerten. Klar stachen sie von der grünblauen Farbe des Meeres ab. Das Wasser war noch in Ordnung, die Luft ebenfalls, und ich sah auch keine Tanker. Schon beim ersten Anblick des Wassers hatte ich an das verdammte Unglück vor der Küste Alaskas denken müssen, als das Ol aus einem Supertanker geflossen war und die Umwelt auf Jahrzehnte brutal zerstört hatte. Eine unbändige Wut auf diese Kerle erfaßte mich. Man hätte sie selbst mit den Köpfen in den Ölschlamm stecken sollen. Hoffentlich geschah so eine Umweltkatastrophe nie wieder. Chinok war aufgefallen, daß wir angestrengt aus dem Fenster schauten. Er drehte sich auf seinem Pilotensitz um. »Ein kleines Paradies, nicht wahr?« »Das kannst du wohl sagen.« Er nickte uns beiden zu. »An manchen Tagen bete ich, daß es auch so bleibt.« Wenig später änderten wir den Kurs in Richtung Westen. Das Meer blieb zurück. Vor und unter uns lag das Innere von Baffin Island. Das Wetter
besserte sich. Der Himmel nahm an Klarheit zu. Wir sahen sogar die Sonne, die ein mit Eis und Schnee bedecktes Gebirgs-panorama in weiter Ferne erscheinen ließ. Alles erschien wie verwandelt. Eine geheimnisvolle Welt des gleißenden Lichts tat sich uns auf. Angefüllt mit tiefblauen, türkisfarbenen und hellweißen Farben und umpackt von der heroischen Einsamkeit des Nordens. Dieser erst kurze Flug kam mir bereits so gewaltig vor, daß er mich von den wahren Problemen ablenkte. Ein Schwärm gewaltiger Vögel begleitete uns, bevor er dann zum Meer hin abdrehte. Es waren nicht ShimadtisT-odesboten, sondern majestätisch wirkende Albatrosse, die sich in den Aufwinden ungemein wohl fühlten und sich von ihnen oft wochenlang weitertragen ließen. Eine wunderbare Welt, auch wenn sich die Vegetation unter der harten, weißen Decke verbarg. Die weiße Fläche besaß auch große Flecken. Da wirkte sie manchmal wie aufgerissen. Selbst aus dieser Höhe erkannten wir die zahlreichen kleinen und großen Seen, auf denen eine noch dünne Eisschicht lag, unter der sich dunkel das Wasser abzeichnete. Menschen konnten wir aus dieser Höhe nicht entdecken. Möglicherweise war auch niemand unterwegs. Suko fragte unseren Piloten danach. Wir sahen, wie Chinok die Schulter hob. »Nein, Freunde, hier ist es ruhig. Wenn ihr Menschen sehen wollt, müßt ihr euch eher an der Küste aufhalten.« »Und Trapper?« »Ja — die gibt es noch. Aber meist in den Wäldern.« Der Pilot mußte den Kurs etwas ändern. So glitt das mächtige Eispanorama des Gebirgsstocks an unserer rechten Seite, also im Norden, vorbei. Der Himmel hatte jetzt eine ungemein klare und strahlende Bläue angenommen. So etwas kannte ich von unseren Breiten her nicht. Dieses überflutende Licht, das sich mit einer wahren Pracht verteilte, irgendwo gebrochen wurde und in den Farben des Spektrums klar und rein leuchtete, als wollte es uns, den Gästen hier, ein besonderes Panorama bieten. Zwei Motoren besaß die Maschine. Beide liefen ruhig. Sie würden auch nicht einfrieren, hatte uns Chinok vor dem Start versichert. Wer sich einmal an die Fluggeräusche gewohnt hatte, den überkam eine große Ruhe. Jedenfalls erging es mir so. Nach Wolken hielt ich vergeblich Ausschau, der Himmel blieb klar, rein und blau. Mit 200 oder 250 Meilen Entfernung mußten wir schon rechnen, um in das Zielgebiet zu gelangen und dort herumkurven zu können. Für den direkten Tiefflug war die Maschine zwar nicht geeignet, wie uns Chinok versichert hatte, aber er würde so weit nach unten gehen wie eben möglich. Allmählich verschwanden die Berge im Norden, wir holten die Ferngläser hervor und richteten sie in die 'Tiefe.
Das hatte Chinok mitbekommen. Er lachte leise. »Noch sind wir nicht da.« »Vielleicht haben andere das gleiche Ziel wie wir«, gab ich ihm als Antwort. »Ist die Pyramide so etwas Außergewöhnliches?« »Und ob.« »Erzähle mal, John.« »Vielleicht später.« Nein, es war nichts zu sehen. Weder am Himmel noch auf dem Boden. Unter uns lag eine Welt des Schweigens, eingepackt in Schnee, Kälte und bläulichgrün schimmerndem Eis. Ich hatte den Eindruck, durch eine gewaltige breite Schlucht zu gleiten. Im Norden sahen wir die Berge noch sehr schwach, im Süden erschienen die starren Wellen ebenfalls. Dort mußte auch der gewaltige Amadjuak Lake liegen, eben unser Ziel. Mehr als eine Viertelstunde verging, ohne daß einer von uns einen Kommentar abgab. Schließlich war es soweit. Suko entdeckte den See oder dessen südlichen Ausläufer als erster. Er wies mich daraufhin und bekam von Chinok ebenfalls recht. »Ja, das ist das Ziel.« »Zwischen ihm und den Bergen müßte die Pyramide zu finden sein.« Der Pilot fing wieder an zjj-fachen. »Meine Güte, du hast gut reden. Na ja, du wirst gleich erkennen, was du dir da aufgebürdet hast, Freund.« Wir verloren an Höhe. Nahe der Berge entdeckte ich auch Wolken. Sie sahen aus, als wären sie an den Flanken in die Höhe geklettert, um sich auf den Spitzen zu sammeln. »Ein schlechtes Zeichen?« fragte ich Chinok. »Du meinst die Wolken?« »Ja.« Er bewegte seine Schultern unter dem Leder der braunen Fliegerjacke. »Das kann man nie so sagen. Leider hängen sie etwas tief. Mit einem Sturm müssen wir rechnen.« Ich schluckte. »Wann ungefähr.« »Morgen oder in der Nacht. Auf die Stunde genau kann ich das nicht voraussagen.« »Danke.« Wir näherten uns dem Seeufer. Aus der Höhe gesehen, konnte ich über die Größe der Wasserfläche nur staunen. Sie kam mir schon vor wie ein kleines Meer. Noch immer zeigte sich kein Ort, keine Ansiedlung. Die Einsamkeit war auf dieser Insel total. »Soll ich noch tiefer gehen?« fragte Chinok. »Das wäre nicht unübel.« »Für euch mache ich doch alles. Sightseeing, ohne einen Cent zu bezahlen.«
»Wir spendieren dir später eine Wanne Pudding.« »Aber mit Whiskygeschmack.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Ich starrte wieder durch das Fenster. Da die Scheibe von innen beheizt wurde und die warme Luft hochstieg, hatte sich kein Eis bilden können. Unsere Sicht war praktisch ungetrübt. Ein dichter Waldrand umgab das Seeufer. Die Bäume wirkten durch ihre auf den Ästen und Zweigen liegende Eisschicht wie eingefroren. Sie boten skurrile Anblicke. Sogar Tiere entdeckte ich. Zum erstenmal huschten Vierbeiner unter uns her. Eine kleine Horde von Rentieren nahm vor dem Dröhnen der beiden Motoren Reißaus. Die Pyramide hätte ich lieber gesehen. Ich ließ das Glas wandern, schaute nicht mehr von oben gegen die Baumwipfel, sondern über sie hinweg und suchte dabei den Himmel ab, ohne es eigentlich zu wollen. Die schwarzen Punkte fielen mir auf. Sie standen nicht in der Luft, auch wenn es für einen Moment so aussah. Die Punkte bewegten sich, flogen Kreise, große Ovale, und da ich gegen dunkle Vögel allergisch war — Shao hatte von ihnen berichtet —, machte ich Suko auf meine Entdeckung aufmerksam. Der Inspektor drehte sich ebenfalls. Er schaute in die Richtung. Als er das Glas sinken ließ, zeigte seine Stirn ein kleines Muster auf querliegenden Falten. »Denkst du das gleiche wie ich?« fragte ich leise. Er nickte. »Shimadas Todesboten.« »Dann sind wir richtig.« Mein Freund räusperte sich. »Ich bin nur gespannt, was die Tierchen vorhaben. Zum Spaß fliegen sie wohl nicht in der Luft umher.« »Dann sind es seine Kundschafter.« »Hoffentlich«, erwiderte Suko, wobei er ein bedenkliches Gesicht zog. Das Faltenmuster auf seiner Stirn grub sich noch tiefer in die Haut. »Wieso?« fragte ich. »Was macht dich so sauer?« »Diese netten Tierchen können bestimmt auch angreifen. Wenn wir bruchlandenTriaben wir auch aus dieser Höhe keine Chance. Das meine ich. Vögel, die in Propeller rasen, es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas über die Bühne läuft.« Da hatte er recht. Ich grinste schief. »Was ich so oft an dir bewundere, ist die Tatsache, daß du mit wenigen Worten anderen Personen einen ungeheuren Mut machen kannst.« »Das ist eben meine Spezialität.« Chinok hatte mitbekommen, wie leise wir uns hinter ihm unterhielten. Er wollte ebenfalls Bescheid wissen, drehte sich um und fragte: »Verdammt noch mal, was flüstert ihr denn so?« »Wir sprechen über die Vögel«, sagte Suko. »Hast du sie auch gesehen?«
»Du meinst die dunkle Rotte?« »Klar. Ist das normal?« »Vögel gibt es in dieser Region genug, vor allen Dingen Seevögel.« »Wir befinden uns nicht über dem Meer.« »Das ist hier egal. Es gibt auch Wasservögel, die Ausflüge unternehmen. Aber du hast recht, Partner. Die schwarzen Tierchen sind in dieser Anhäufung schon ungewöhnlich.« »Den Eindruck hatten wir auch.« »Hängt es mit eurer Pyramide zusammen?« Unser Pilot gehörte zu den Schnellmerkern. »Das kann sein.« »Sind sie gefährlich?« »Sie könnten es werden«, sagte Suko. »Bist du schon mit deiner Mühle in einen Vogelschwarm gekommen?« »Fast.« Chinok lachte kratzig. »War nicht gerade ein gutes Gefühl, wißt ihr?« »Aber landen konntest du doch?« »Halb.« Ich hatte mich an dem Gespräch nicht beteiligt und die Tiere durch mein Fernglas beobachtet. Es gab in der Rotte keins, das einen helleren Körper gehabt hätte. Nur Tiere mit dunklem Gefieder bewegten sich durch die klare Luft. Von der Pyramide hatte ich zwar noch nichts gesehen, dachte trotzdem schon darüber nach, ob es nicht besser war, wenn wir uns zu einer Landung entschlossen, da immer mehr dieser Tierchen erschienen. Wegfliegen konnten wir ihnen auch nicht, denn wir mußten uns in diesem Gebiet aufhalten. Unter der Maschine glitt ein endloser weißer Teppich hinweg. Schnee und blankes Eis, allerdings nicht glatt, wie ich jetzt erkennen konnte, sondern dem Gelände angepaßt, mal hügelig, mal sperrig und auch von Buschinseln bewachsen, auf denen ebenfalls eine glitzernde Eisschicht lag. An der rechten Seite erschien ein Waldsaum, den See sahen wir nicht mehr, der lag längst hinter uns. »Jetzt sind sie weg!« meldete Suko. Er schaute mich dabei an. Sein Gesicht sah nicht glücklich aus. »Freust du dich nicht?« »Nein, John. Ich habe eher das Gefühl, reingefallen zu sein. Die Vögel erscheinen wie aus dem Nichts. Sie schaffen es, größere Entfernungen zurückzulegen, ohne normal fliegen zu müssen. Das heißt, sie können auf magische Art und Weise transportiert werden. Sie überwinden Grenzen wie im zeitlosen Sprung. Shi-mada hält sie alle unter Kontrolle. Sie sind seine Boten und . . .« »Du redest dich langsam ein.« Der Inspektor grinste. »Keine Sorge, ich wollte dir nur von meinen Befürchtungen erzählen, die ich habe.« »Zu recht!« »Wieso?«
Suko gab keine Antwort mehr, denn er zuckte plötzlich zurück. Nicht grundlos, wie Geister waren plötzlich die Vögel dicht vor der Außenhaut der Maschine aufgetaucht. Schwarze, flatternde Todesboten, die sich gegen den Rumpf warfen, davongeschleudert wurden, zu Boden kippten, sich unterwegs allerdings wieder erholten und einen erneuten Angriff starteten. Chinok hörten wir fluchen. Er war ein hervorragender Pilot, doch fluchen konnte er ebensogut. Er schrie sich die Lunge aus dem Leib und brüllte die Vögel an, als könnten diese ihn schon hören und würden sich nach ihm richten. Das taten sie nicht. Suko und ich hatten sie als Einzelpaare gesehen. Vor uns erschienen sie als Rotte. Und dann waren sie abgebrüht. Es spielte für sie keine Rolle, ob sie starben oder nicht. Sie rasten hinein in die Propeller. Für eine winzige Zeit vermischten sich Blut, Federn und Fleischstücke um die rasenden Flügel. Die magisch geleiteten Vögel wurden wie von scharfen Messern zerhackt, doch es flogen ständig neue heran. »Verdammt, ich muß runter!« schrie Chinok. »Egal wie. Die bringen uns sonst zum Absturz.« »Dann tu es.« »Okay.« Wir verloren schlagartig an Höhe. Dabei hatte ich das Gefühl, in den Boden zu sacken. Mein Magen schnellte in Richtung Kehle. Wir flogen trotzdem noch weiter, ein Schütteln durchtoste das Flugzeug. Ich sah den Boden schwankend näher kommen, da Chinok den Vogel nicht mehr in einer Linie halten konnte. Ich sah auch die Vögel. Als schattenhafte Todesboten umschwirrten sie die Maschine. Was war es für ein herrliches Geräusch gewesen, als die Propeller und Motoren noch ruhig und regelmäßig liefen. Davon konnte ich nur noch träumen. Mittlerweile hörte ich das abgehackt klingende Geräusch, ein Stottern und Schlagen und sah auch noch das Blut der Vögel, das sich auf der großen Sichtscheibe des Cockpits verteilte. Die Maschine bekam einen heftigen Stoß, als hätte sie eine Hand von hinten geschoben. Wir flogen in die Gurte, irgendwo kreischte jemand wie am Spieß, dabei war es nur die Technik, die protestierte. Chinok bewahrte noch den Humor. Er hockte geduckt auf seinem Pilotensitz. »Freunde, jetzt könnt ihr beten. Entweder zu Manitou, zum großen Zampano oder zu mir. Sucht es euch aus.« Wir hielten uns nur an den Lehnen fest. Der Horror war urplötzlich gekommen. Ihn auszugleichen, war fast unmöglich. Immer wieder warfen sich die dunklen Körper der Tiere gegen die Außenwand. Ich schielte dem Boden entgegen.
Sehr tief lag er nicht mehr unter uns. Vielleicht zehn Yards, das war alles. Einen Vorteil hatten wir trotzdem auf unserer Seite. Soweit ich erkennen konnte, war der Boden relativ eben. Wir würden keinen großen Ärger bei der Landung bekommen. Die Maschine konnte nicht auseinanderbrechen. Hoffentlich nicht.. . »Siehst blaß aus«, meinte Suko gallig. »Geht es dir etwa nicht gut, alter Junge?« »Es ging mir schon mal besser.« »So sind die Zeiten .. .« »Achtung!« rief Chinok. »Haltet euch fest, ich lande.« Ja, wir landeten. __^ Es war wie Achterbahnfahren. Wir hingen vorgebeugt auf unseren Sitzen und hatten uns geduckt. Den ersten Bodenkontakt bekamen wir am besten mit. Ich glaubte, das ausgefahrene und verstärkte Fahrgestell heulen zu hören, der Aufschlag drückte uns nach vorn, der Gurt hielt, wir flogen wieder zurück, hoben noch mal ab und bekamen abermals Kontakt. Die Räder rutschten weiter, der Vogel blieb auf dem Boden. Chinok sprach mit ihm wie mit einem Kind. Er sah die Maschine als Mensch an, der gehorchen mußte. Ob er das in seinem und unserem Sinne tat, wußten wir nicht. Jedenfalls rutschten wir weiter und nicht allein geradeaus, denn plötzlich drifteten wir nach rechts ab und drehten uns. Aus der Rutschpartie wurde eine regelrechte Himmelfahrt. Ungewollt gerieten wir in den Kreisverkehr. Schnee und Eis bildeten Wolken, als diese vom Boden hochgerissen wurden. Sie umwirbelten die Maschine wie ein weißes Gespenst, hämmerten gegen die Scheiben, den Rumpf, der auch die Schläge härterer Schollen mitbekam, sie aber abfing. Während der Drehungen bog sich die Maschine durch, als wollte sie vor irgendwelchen Mächten in die Knie gehen. Etwas kreischte langgezogen. Ich dachte dabei an allmählich reißendes Metall, bis mir klar wurde, daß Chinok dieses Geräusch ausgestoßen hatte. Er verwandelte das Kreischen in Worte. »Wir schaffen es . . .!« Dann lachte er hoch und gurrend. »Verdammt, wir schaffen es.« Zugleich mit Suko richtete ich mich auf und schaute nach vorn. Nicht, daß Chinok bequem auf seinem Sitz gehockt hätte, er schüttelte sich wie Alf in seinen Glanzzeiten, wenn dieser sich darüber amüsierte, daß mal wieder eine Katze verschwunden war. Sehen konnten wir nichts. Noch immer umwirbelten uns Wolken aus feinem Schnee und Eis. »Was ist denn?« rief Suko. »Ich lasse den Vogel jetzt ausrollen.« »Dann steigen wir aus.«
»Ja. Allerdings will ich euch keine großen Hoffnungen machen, was den Start angeht. Es könnte sein, daß es Schwierigkeiten gibt. Aber das ist nicht tragisch. Die 250 Meilen reiten wir auf einer Socke ab.« Er lachte laut. »Seid ihr schon im Schnee gewandert?« »Ja, im Hyde Park«, erwiderte ich. »Wie schön. Dann wißt ihr ja Bescheid.« Ich gab keine Antwort mehr. Aber ich hatte es kommen sehen, daß etwas schieflaufen würde. Es war wirklich zum Heulen. Nicht nur, daß wir Ärger mit irgendwelchen dämonischen Kräften hatten, nein, es kam auch noch die halbe Bruchlandung hinzu. Chinok drehte sich um und verließ seinen Sitz. Gebückt schaute er uns entgegen. »Wenn ihr wollt, könnt ihr die Mühle jetzt verlassen, Freunde. Draußen ist der Tisch gedeckt.« »Mit toten Vögeln, wie?« Chinok hob die Schultern. Diesmal grinste er nicht. »Das verstehe ich auch nicht. Ich habe sie gesehen, sie waren verdammt aggressiv, und das wiederum kommt mir mehr als spanisch vor. Wieso können die Vögel sich derartig verhalten? Habt ihr eine Erklärung?« »Das kann mit der Pyramide zusammenhängen.« »Meint ihr.« »Bestimmt.« Chinok saugte die Luft durch die Nasenlöcher ein. »Okay, ich finde mich damit ab, daß wir eine Pyramide suchen. Mit rechten Dingen geht das meiner Ansicht nach nicht zu.« »Da hast du recht«, sagte Suko. Chinok wollte mehr wissen. »Was ist es dann?« »Magie.« »Ach so — ja . . . hä?« Er schüttelte den Kopf. »Was hast du da gesagt? Magie soll es sein?« »Sicher.« »Und daran glaubt ihr?« »Du nicht.« »Doch.« Er wischte durch sein Gesicht. »Scheiße, wenn das Kräfte sind, die man nicht kontrollieren kann, sehen wir schön dumm aus.« Er hob die Schultern. »Es nutzt alles nichts, wir müssen raus. Zieht euch warm an, sonst kommt Luft dran.« Die Einstiegstür klemmte etwas. Zum Glück war die Maschine nicht so stark beschädigt worden, daß der Tank ein Leck bekommen hatte und Treibstoff auslief. »Verdammt, komm schon!« Der Pilot trat gegen die Tür und hatte Erfolg damit. Sie schwang nach außen. Augenblicklich wehte uns eisige Luft Schneeflocken entgegen. Suko und ich hatten die dicken Jacken übergestreift. Auch Chinok trug nicht nur seine Fliegerjacke. Darüber hatte er einen dicken Pelzmantel
gezogen und war dabei, eine schwere Armeepistole zu verstauen. »Ohne das Ding ist man hier hilflos.« »Klar.« »Ich steige zuerst aus«, sagte er und verließ die Maschine. Wir schoben uns vor, hörten seine Stimme, dann einen wilden Fluch. »Los, kommt raus! Das ist unbegreiflich. Scheiße auch, das muß man gesehen haben.« Wir ahnten Schlimmes, als wir die Maschine verließen. Leider wurden unsere Befürchtungen noch übertroffen... *** Der aufgewirbelte Schnee war wieder zu Boden gefallen, die Sicht gut. Es war Chinok nicht um seinen Vogel gegangen, der etwas schief gelandet und zur linken Seite hin weggeknickt war, ihm hatte die übrige Szenerie einen Schrecken eingejagt. Es hing mit den schwarzen Vögeln zusammen. Für uns waren es die Todesboten Shimadas. Sie hatten für diese ungewöhnliche Landung gesorgt, waren jedoch nicht weitergeflogen, sondern hatten auf der weißen Fläche ihren Landeplatz, gefunden. Sie hoben sich mit ihren schwarzen Körpern sehr deutlich davon ab, und sie hatten sich zu einem großen Halbkreis zusammengefunden, um uns genau beobachten zu können. Es war schon beeindruckend, wie sie sich verteilt hatten und nicht allein auf dem Boden hockten, sondern die Landeplätze in der Umgebung gefunden hatten. Büsche, kleine Bäume, auch Sträucher hatten sie sich ausgesucht, um uns anstarren zu können. Im Hintergrund schimmerte das weiße Panorama der Berge mit ihren zackigen Graten, den Felsspitzen und den sattelartigen Einschnitten. Wir befanden uns in der Ebene zwischen den Bergen und dem Amadjuak Lake. Ich sprang vor Suko zu Boden. Der Schnee stob hoch, als ich mit beiden Füßen hineinglitt. Suko landete neben mir, gemeinsam schauten wir Chinok an, der den Kopf schüttelte. »Die sehen aus, als wollten sie uns umbringen und würden nur auf den richtigen Zeitpunkt warten.« »So ähnlich ist es auch.« Er schaute mich an. »Du weiß mehr.« »Wir wissen mehr.« »Und was?« Ich wischte mir Schnee aus dem Gesicht. »Mach dich darauf gefaßt, Chinok, daß du Dinge erleben wirst, die in den normalen Kreislauf einfach nicht hineinpassen.« »Gut. Außergewöhnliche?«
»Magische.« Er lachte nicht, er grinste nicht einmal, schaute die lauernden Vögel an, nickte und gab dann erst eine Antwort. »So langsam glaube ich es selbst, Freunde. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das will in meinen Schädel nicht rein.« »Es ist aber so.« »Was veranlaßt die Vögel uns anzugreifen?« Ich hob die Schultern. »Sie werden geleitet. Ein mächtiger Dämon steht hinter ihnen und hat die Kontrolle übernommen. Das ist eigentlich alles. Mehr . . .« »Wer?« »Shimada.« »Kenne ich nicht.« »Sei froh.« »Wollt ihr die Pyramide trotzdem suchen?« erkundigte er sich. »Natürlich«, antwortete Suko. »Sie ist wichtig, denn sie hat mit diesem Dämon Shimada zu tun. Wenn wir sie finden, können wir einiges in Bewegung setzen und dafür sorgen, daß dieser Dämon es nicht schafft, seine Pläne durchzusetzen.« »Gut gesprochen.« Chinok strich über seinen Seehundbart. »Aber wartet auf mich. Ich muß mir erst mein Schätzchen anschauen, ob ihm auch wirklich nichts passiert ist.« Das Schätzchen war der Flieger. Chinok untersuchte besonders das Fahrgestell, denn es mußte fehlerfrei funktionieren, falls wir jemals wieder von dort wegkommen wollten. Uns interessierten Shimadas Todesboten. Bevor wir unseren Platz verließen, überprüften wir die Waffen. Wir hatten einiges mitgenommen, unter anderem trug ich auch den Bumerang bei mir. Er ging in einer gekrümmten, schmalen, taschenartigen Scheide, deren Riemen sich quer über meine Schulter spannte. Mit der Beretta, dem Silberdolch und dem Kreuz war ich ebenfalls ausgerüstet. Chinok tauchte wieder auf. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er dachte. »Wie ist es gelaufen?« fragte Suko. »Nicht besonders. Die Hydraulik hat etwas abbekommen. Wenn wir starten, stehen die Chancen fünfzig zu fünfzig.« »Das geht ja noch.« »Optimist, wie?« »Hin und wieder.« Der Pilot deutete nach vorn. »Auch bei den netten Tierchen. Einige von ihnen kleben an der Scheibe und am Rumpf. Schaut euch mal die Propeller an. Ich hoffe nur, daß sie nicht verbogen sind, dann sähen wir lecker aus.«
»Das kommt später.« »Willst du die Vögel abknallen?« »Nein«, sagte Suko. »Wir könnten sie möglicherweise benutzen. Vielleicht zeigen sie uns den Weg.« Chinok schaltete schnell. »Zur Pyramide?« »Ja.« »Da bin ich mal gespannt.« Meine Überlegungen drehten sich um ganz andere Dinge. Ich wußte, wie gefährlich Shimada war. Wir konnten ihm eventuell Paroli bieten, aber Chinok nicht. Deshalb schlug ich ihm vor, am Flugzeug zu bleiben und auf uns zu warten. »Ach nein. Wie lange denn?« »Die Nacht über.« Er tippte gegen seine Stirn. »Das glaubt ihr doch selbst nicht. Wenn ich euch allein laufenlasse, werdet ihr irgendwann von der Schneewüste geschluckt.« »Wir sind ziemlich unverdaulich«, sagte ich. »Kommt nicht in die Tüte, Freunde. Ich bleibe euch auf den Fersen, das ist klar.« »Wie du willst, aber mach dich auf einige böse Überraschungen gefaßt, mein Junge.« »Wird schon schiefgehen.« Er deutete nach vorn. »Ihr habt keine Ahnung, wo sich die komische Pyramide befindet?« »Nein.« »Das ist schlecht.« Chinok überlegte einen Moment. »Wenn ihr mich fragt, so würde ich nicht in Richtung See gehen. Dort geraten wir in einen Wald, da hätte sie keinen Sinn.« »Richtig.« »Dann in Richtung Berge.« »Du kannst vorgehen«, meinte Suko. Das tat Chinok noch nicht. Er prüfte zunächst die Festigkeit des Schnees. »Laufen kann man. Nur wäre es besser, wenn wir Schneebretter hätten. Ich habe ein Paar in der Maschine.« »Das ist zu wenig.« »Dann verzichte ich auch. Moment noch.« Er stieg wieder ein. Mit einem gefüllten Rucksack kehrte er zurück. »Darin ist so einiges, was wir gebrauchen können. Proviant für den Notfall, Tabletten, Verbandskasten, eine Signalpistole. Wenn wir zu lange wegbleiben, wird man uns suchen, dann schickt die Air Base Flugzeuge.« »Wunderbar.« »John, du bist etwas zu optimistisch. Ich habe vorhin von einer Veränderung des Wetters gesprochen. Hast du schon einen Schneesturm in der Arktis erlebt?« »Nein.« »Dann sei froh.« Mit dieser nicht gerade aufmunternden Antwort setzte er sich in Bewegung, in Richtung der verschneiten Bergkette. ..
Es war ein fürchterliches Fallen in eine bodenlose Tiefe. Hinzu kamen die Gedanken, die er gar nicht wollte, mit denen er sich jedoch zwangsläufig beschäftigen mußte, weil sie ihm sein mächtiger Gegner Shimada geschickt hatte. Längst hatte Yakup eingesehen, daß es ein Fehler gewesen war, die Festung zu betreten. Sie wurde von Shimada nicht nur beherrscht, Yakup ging mittlerweile sogar davon aus, daß der Dämon, und sein Todesschloß so etwas wie ein und dieselbe Person waren. Die Schatten hatten ihn nicht erdrückt. Nur fragte er sich, ob die Lösung, die sich Shimada für ihn ausgesucht hatte, eine bessere war. Erzog ihn hinein in einen stockfinsteren Schacht, in eine Welt, die von ihm beherrscht wurde, die er verändern konnte, wie es ihm gerade einfiel. Er konnte Todesfallen schaffen oder es sein lassen. Er spielte eben mit seinen Opfern. Die Zeit gab es nicht mehr. Die Tiefe besaß für ihn die Eigenschaft der Zeitlosigkeit. Hier war alles anders. Vor allen Dingen paradox. Er tauchte hinein in die Leere und glaubte trotzdem, daß er von unsichtbaren Händen geführt wurde, um nur das zu tun, was der Herrscher dieser Welt befahl. Ob er sich noch im Schloß befand oder in dessen Umkreis, war nicht klar herauszufinden. Jedenfalls hatte er Shimadas Welt nicht verlassen. Seine Waffe hielt er noch immer fest. Er kam sich vor wie eine Puppe, von Gewalten umgeben, auf die er keinen Einfluß besaß. Er trieben Nichts, im Meer der Zeit, er raste in die Tiefe und schwebte gleichzeitig. Ein Paradoxon hob das andere auf. Das war eben die Magie in höchster Potenz. Manchmal lag er auf dem Rücken. Da kam er sich vor wie eine Feder, die geschüttelt wurde, schaute dabei in die Höhe, ohne einen Lichtstrahl erkennen zu können. Die tiefblaue Schwärze umgab ihn wie ein dichtes Tuch, das alles ausfüllte. Oder hatte ihn kein Schacht verschluckt? Befand er sich möglicherweise noch dort, wo er Shimada getroffen hatte? War nur die Umgebung eine andere geworden, aber er nicht? Yakup war darauf getrimmt, Fragen zu stellen, nach Dingen zu forschen, ym Wahrheiten herauszufinden. Das tat er in diesem Fall auch, nur konnte er sich selbst keine Antwort geben, und er bekam auch keine geliefert. Plötzlich packte ihn ein Sog. Er hatte nicht herausfinden können, woher er gekommen war. Jedenfalls konnte er sich ihm nicht entgegenstemmen. Der Wind erwischte ihn voll und schleuderte ihn um die eigene Achse, so daß er in eine Rolle hineinglitt, sich noch einmal überschlug und wieder die normale Lage einnahm.
Yakup erreichte eine senkrechte Haltung, rechnete mit einem weiteren Absacken oder Fallen, was jedoch nicht geschah. Er konnte stehen. Ob der Boden unter ihm fest war oder nicht, war in dieser Finsternis nicht herauszukriegen. Jedenfalls stand er, vielleicht im leeren Schacht. Magie macht alles möglich. Er tastete sich ab. Es war bezeichnend für den Ninja, daß er auch in Situationen wie dieser an seine Waffen und an den Kampf dachte. Wer davon ausging, daß sich Yakup aufgegeben hatte, der irrte sich gewaltig. Solange er lebte, würde er kämpfen, und irgendwie sehnte er sich Shimada sogar herbei. Der hielt sich zurück. Er schickte auch keinen seiner Diener vor, sondern ließ seinen Feind im Dunkeln. Yakup wurde gebraucht, das stand fest. Shimada wollte, daß er die Pyramide entdeckte und das Schwert entnahm. Yakup brauchte sich um die schützende Magie keine Sorgen zu machen, sie tat ihm nichts. Bei Shimada war es etwas anderes. Auch in den dämonischen Welten geschah nichts ohne Grund. Der Fall war durch irgendeine Kraft gestoppt worden. Möglicherweise glaubte Shimada auch, Yakup genügend durcheinandergebracht zu haben. Da sollte er sich irren. Der Ninja hatte nichts von seiner Kampfkraft verloren, er war motiviert bis in die Zehenspitzen, hielt sein Schwert fest und bewegte es einige Male blitzschnell und kreisend über dem Kopf, weil er herausfinden wollte, wie reaktionsschnell er letztendlich noch war. Yakup lächelte kalt. Er konnte mit sich durchaus zufrieden sein. Einige andere würden sich auch wundern. Nun gelang es ihm auch, sich auf seine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren. Er testete die Temperatur. Es war nicht warm und auch nicht kalt. Eine angenehme laue Luft hielt ihn umfangen, streichelte seine Haut. Er dachte an Shao. War sie wenigstens so vernünftig gewesen und hatte die Festung nicht betreten? Es reichte aus, daß Shimada ihn in seine Welt gezogen hatte, aus der es normalerweise kein Entrinnen mehr gab. Yakup besaß einen ausgezeichneten Instinkt. Obwohl die Dunkelheit gleichmäßig geblieben war, spürte er doch, daß sichijtwas verändert hatte. Einen Grund konnte er nicht erkennen, es war einfach das Gefühl, das ihn nicht loslassen wollte. Er blickte nach rechts und links, schaute auch in die Höhe, sah aber nur die Dunkelheit, durch die der unsichtbare Strom glitt. Dann erreichte ihn die Stimme. Es war ein Ruf, der trotzdem nur aus geflüsterten Worten bestand. Allerdings hatte Yakup längst herausgefunden, wer etwas von ihm wollte. Sein Erzfeind.
Die Stimme war überall. Von allen Seiten erreichte sie ihn, ohne daß sich der Sprecher zeigte. Das unheimliche Gebiet, in dem sich Yakup aufhielt, war erfüllt von diesem Klang, der ihm schon einen leichten Schauer über den Rücken rieseln ließ. »Du bist noch immer in meiner Welt, Ninja. Du wirst auch hier bleiben, und ich werde dafür sorgen, daß du nur dann herauskommst, wenn du tust, was ich verlange.« »Bitte, versuch es!« Ein Lachen erreichte mich. »Nein, Ninja, nein, so einfach lasse ich mich von dir nicht überzeugen. Deine Meinungsänderung ist mir zu schnell gekommen. Ich sage dirnur, daßdas Schwertauf dich wartet. Ja,es wartet auf dich, um von deiner Hand aus der Steinpyramide gezogen zu werden. Das ist alles.« »Und wenn ich es nicht schaffe?« rief Yakup. »Ich kenne die Sonnengöttin nicht gut genug. Ich weiß nicht, ob sie mir vertraut.« »Sie vielleicht nicht, aber du hast deine Freundschaften. Ich denke da an Shao.« »Soll sie mir zur Seite stehen?« »Sie wird es müssen.« »Wieso?« Der Ninja hatte die Frage umsonst gestellt, denn er bekam keine Antwort mehr. Wieder umgab ihn die Stille, an die er sich nicht gern gewöhnte. Er wollte selbst etwas unternehmen und versuchen, einfach weiterzugehen, als es geschah. Aus dem Hintergrund und gleichzeitig von unten und oben erschienen große, bleiche Flecken, die wie abgerissene Leinwände aussahen, auf denen sich allmählich etwas hervorkristallisierte, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Gesichtern aufwies und ansonsten den geisterhaften Zeichnungen von verwesenden Leichen glich. In ihrer Bleichheit wirkten sie erschreckend. Sie sahen so aus, als würden sie von hinten herbeigeschoben, um sich dem Betrachter immer deutlicher zu präsentieren. Es waren fürchterliche Gesichter. Bleiche, graue Haut, an vielen Stellen des Kopfes schon abgefallen oder nach unten hängend wie eine alte Tapete. Obwohl die Gesichter sich bereits in einem schlimmen Stadium der Verwesung befanden, konnte Yakup erkennen, daß es sich bei ihnen um Asiaten handelte. Vielleicht ehemalige Freunde des hier herrschenden Dämons, die für alle Zeiten in der Festung gefangen waren. Die Gesichter bewegten sich. Münder zuckten, bildeten Höhlen. Augen, wenn noch vorhanden, drehten sich dermaßen stark, daß sie aussahen, als würden sie in verschiedene Richtungen schielen. Hände erschienen von irgendwoher, griffen hinein in dünne Haare und sahen so aus, als wollten sie die Fäden einzeln ausreißen.
Wenn es jemals den Begriff >stumme Schreie< gegeben hatte, dann traf er hier zu. Yakup hatte den Eindruck, als wollten ihm diese Wesen ihre Qual entgegenrufen, ohne es jedoch_schaffen zu können. Er hob sein Schwert an. Es konnte das beste sein, wenn er sie erlöste. Unter den Köpfen schwebten die Körper wie seichte Nebelstreifen im Wind. Mit einem Hieb würde er mehrere Köpfe erwischen können und Shimada gleichzeitig zeigen, daß es so einfach nicht war, ihn zu vernichten. Schräg schlug er zu — und hieb ins Leere! Die Gesichter verschwanden innerhalb von Bruchteilen von Sekunden. Sie waren eingetaucht in die Schwärze und drangen aus ihr auch nicht mehr hervor. Aus — vorbei . . . Der Ninja holte tief Luft. Er wartete auf eine Reaktion des Dämons, die wieder nicht erfolgte, denn Shimada ließ sich Zeit. Erst nach einer Weile hörte er wieder seine Stimme. »Hast du sie gesehen, Ninja? Es sind diejenigen, die sich gegen mich gestellt haben. Jetzt sind sie in meiner Festung gefangen. Sie leben, aber sie sind schon tot.« »Weshalb hast du sie mir gezeigt?« »Ich wollte, daß du siehst, welches Schicksal auch dir blühen wird, wenn du mir nicht gehorchst.« »Ich bin nicht sie.« Sein Optimismus war nach wie vor ungebrochen, denn er dachte daran, daß er nicht nur sein Schwert besaß. Auch andere Waffen verliehen ihm eine nicht zu unterschätzende Kraft, wie eben die Wurfsterne, die Krone der Ninja und auch die beiden Handschuhe, mit denen er die großen Attacken abwehren konnte. »Wir werden sehen ...« Shimadas Stimme verklang. Yakup war wieder allein, aber es tat sich etwas um ihn herum. Bewegungen selbst konnte er nicht erkennen. Er spürte nur das leise Vibrieren. Die Dunkelheit stand nicht mehr so dicht wie sonst. Sie war aufgelockert worden. Durch was? Plötzlich drückte etwas gegen seinen Rücken. Es war eine für ihn nicht erkennbare Kraft, der er allerdings nicht entgegensetzen konnte. Yakup wurde nach vorn gepreßt, verlor für einen Moment die Übersicht und fand sich plötzlich woanders wieder. Da waren Lichter . . . Sie blinkten nicht, sie wirkten wie Laternen im Nebel, die in einer nicht mehr meßbaren Ferne schimmerten und bleiche Grüße herüberschickten. Ein unheimliches, geisterhaftes Licht, über dessen Ursache sich Yakup nicht im klaren war.
Das Licht nahm an Größe zu. Nicht Yakup ging ihm entgegen, die Lampen schwebten auf ihn zu und beleuchteten plötzlich seine Umgebung. Er verstand es nicht, er konnte es sich nur so erklären, daß die Magie der Festung wieder einmal zugeschlagen und dafür gesorgt hatte, daß er sich in einem anderen Teil befand. Er war dort förmlich hineingedrängt worden, stand möglicherweise zwischen den Mauern, die auch nach außen wiesen. Yakup sah, wie sich die Finsternis auflöste. Auch dies kam ihm wie ein Phänomen vor. Als würde schwarzer Nebel in die Höhe getrieben oder ein Vorhang angehoben, so und nicht anders sah dieses Phänomen aus. Eine Halle erschien. Vier hohe Wände umgaben ihn. Fenster sah er nicht, nurdicke Mauern, die mitZeichnungen verziert waren. Schrecklich bunte Bilder irgendwelcher dämonischer Malerein. Monster, Menschen, Tiere, manchmal alle drei zusammen, bildeten die Motive. Yakup kannte sich in der japanischen Mythologie aus, ohne allerdings sämtliche Namen der schrecklichen Geschöpfe zu wissen. Sie alle waren Hilfsdämonen, die einem Höheren zur Seite standen, ihm dienten und ihn bedienten. Lebten sie, oder blieben sie ruhig? An den Wanden tat sich vorläufig nichts, und auch in der großen Halle war er das einzige Lebewesen. Unter seinen Füßen befand sich jetzt ein harter Steinboden, auf dem seine Schritte Echos hinterließen, wenn er ihn mit den Sohlen berührte. Echos, die geisterhaft hohl durch die Halle klangen und irgendwo im Hintergrund verwehten. Was sollte das? Yakup durchschritt die Halle. An der schmaleren Seite vor sich entdeckte er eine Tür. Sie bestand aus Holz, das mit grünem Japanlack überstrichen worden war und einen spiegelartigen Glanz bekommen hatte. Die Tür lockte ihn. Er wußte nicht, was er dahinter finden würde. Vielleicht die normale Welt, vielleicht auch einen Abgrund, es konnte alles sein. Yakup sah keine Klinke und keinen Knauf. Einen Riegel oder Balken entdeckte er ebenfalls nicht. War die Tür offen? Prüfend wog er sein Schwert in der Hand, als er das rechte Bein hob und mit der Sohle gegen die für trat. Ein dumpfes Echo schwang ihm entgegen. Gegendruck bekam er nicht. Die Tür schwang leicht nach innen.
Kalte Luft wehte ihn an. Graue Dunkelheit lag wie festgebacken hinter der Tür. Doch eine Gestalt zeichnete sich ab. Es war Shimada! Er hatte die Arme vorgestreckt. Auf seinen Handtellern lag ein Gegenstand, der Yakup erschreckte. Es war ein Kopf. Shaos Schädel. Und den schleuderte der Dämon blitzschnell auf den Ninja zu . .. Daß Kälte beißen konnte, hatten wir schon sehr bald bemerkt, als wir uns über die weiße Schnee- und Eisfläche bewegten. Es waren nicht nur die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, die uns zu schaffen machten, hinzu kam noch der beißende Wind, der über die Berge wehte und die Ebene davor ausfüllte. Er fuhr wütend und beißend gegen unsere Gesichter und schaffte es sehr schnell, uns die Tränen in die Augen zu treiben, obwohl wir uns dick eingepackt hatten. Die gefütterten Kapuzen ließen uns aussehen wie übergroße Zwerge, wenn wir gebückt gingen und uns gegen den Wind anstemmten. Zum Glück hatten wir das richtige Schuhwerk angezogen. Das Profil der Sohlen sorgte auch im Schnee für einen einigermaßen festen Stand, wobei es allerdings gefährlich wurde, wenn wir über Eis gingen. Da war das Ausrutschen nicht immerzu vermeiden. Chinok stampfte vor. Einige Male hatte er sich schon umgedreht, um zu sehen, wie wir zurechtkamen. Es war zwar keine Freude, durch die Einsamkeit zu marschieren, aber ich beschwerte mich nicht. »Ein Sturm ist das noch nicht!« rief Chinok und lachte dabei gegen den Wind. »Nur das normale Lüftchen. Was meint ihr, wenn es hier mal aufbraust. ..« Wir trugen als Mundschutz ein weiches Tuch. Es dämpfte den Klang der Stimmen. Deshalb mußten wir laut rufen, um uns bemerkbar zu machen. Wir hatten trotzdem die dunklen Brillen aufgelassen, auch wenn wir die Gläser hin und wieder von Schneeflocken befreien mußten. Noch hatten wir die verfluchte Pyramide nicht entdeckt. Flach und weit lag die Ebene vor unseren Augen. Dabei hätte sich ein Gebilde abzeichnen müssen. »Hoffentlich seid ihr da keinem Bluff aufgesessen!« rief unser neuer Freund. »Ich sehe nichts.« Im relativen Schutz einer kleinen Mulde waren wir stehengeblieben und legten eine kleine Pause ein. Ich reinigte meine Brille; Chinok wischte über seine Stirn. »Hat man euch denn nicht gesagt, wo das komische Ding ungefähr zu finden ist?« »Nein.« »Dann wäre ich an eurer Stelle nicht gefahren«, erwiderte der Pilot. Ich hob die Schultern. »Was willst du machen? Job ist Job.« Erschaute uns schief an. »Wirklich ein komischer Job für zwei Bullen.«
»Na, na«, beschwerte sich Suko. »Ein bißchen netter, wenn ich bitten darf.« »War nicht so gemeint.« Chinok schaute in den Himmel. »Wißt ihr, was mir fehlt?« Suko nickte. »Das ist nicht schwer zu erraten. Wahrscheinlich die kleinen Vögelchen.« »Genau.« »Du kannst sie ja herbeipfeifen.« »Nicht mehr nötig«, sagte ich und deutete ebenfalls in die Höhe, wo durch die graublasse Luft einer dieser schwarzen Totenvögel flog und über unsere Köpfen hinwegschwebte, ohne uns zu beachten. Chinok wollte ihn erschießen. Bevor er seine Pistole aus dem Gürtel gezogen hatte, war das Tier verschwunden. »Also doch«, sagte er. Ich grinste schief. »Glaubst du etwa, daß die uns außer Kontrolle lassen?« »Allmählich glaube ich euch.« »Hast du das vorher nicht?« »Nicht direkt.« Er schaute wieder gegen den Himmel. »Ich glaube, wir sollten uns auf die Socken machen, sonst bricht die Dunkelheit herein. Da finden wir dann nichts mehr.« Wir hatten schon einige Meilen zurückgelegt. Jedenfalls konnten wir unser Flugzeug nicht mehr sehen. Allerdings hatten wir auch nicht den Eindruck, daß wir uns den Bergen genähert hätten. Sie wirkten noch immer sehr weit entfernt. Wieder ging Chinok vor und kletterte als erster den Rand der kleinen Mulde hoch. Breitbeinig blieb er stehen, den Wind im Nacken. Er schaute über die weiße Fläche hinweg und machte auf mich den Eindruck eines Mannes, der in der Ferne etwas entdeckt hatte, das ihm nicht behagte. »Fehlt dir war?« »Kaum.« Dann nickte er. »Es ist gut, daß wir die Mulde an dieser Seite verlassen haben. Schau mal.« Er streckte Arm und Finger aus, den Handschuh hatte er zuvor ausgezogen. Ich folgte der Richtung, konnte aber wenig sehen. Der Wind trieb Schneewirbel wie lange, dünne Schleier über den Untergrund und hielt sie in ständiger Bewegung»Nimm das Glas«, sagte Suko. Er hatte seines verstaut, ich nicht. Als ich es vor meine Augen setzte und an der Schärfeneinstellung regulierte, spürte ich plötzlich den Stich in der Brust. Schon beim ersten Hinschauen hatte ich das Glück der Tüchtigen gehabt und die Pyramide entdeckt. »Verdammt, das ist sie!« »Was?«
»Ja, Suko.« Ich reichte ihm das Glas, er schaute selbst hindurch und nickte. »Du hast recht. Es muß die Pyramide sein. Hier, Chi-nok, damit du nicht meinst, wir würden spinnen.« »So etwas hätte ich von euch nicht geglaubt.« Wir beobachteten ihn von der Seite her, bemerkten zunächst keine Reaktion bei ihm, sahen dann sein langsames Nicken und hörten, wie er zischend den Atem ausstieß. »Na.« Er ließ das Glas sinken. Vor Aufregung bewegte sich sogar sein Walroßbart. »Ihr habt recht«, erklärte er kehlig. »Verdammt, ihr habt recht. Tn dieser Scheiß-Einöde aus Eis und Schnee steht tatsächlich diese komische Pyramide. Und ich habe sie nie zuvor entdeckt.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist fast der perfekte Irrsinn, ist das. So etwas kann ich kaum glauben.« »Es stimmt aber.« »Klar, John, es stimmt. Aber wer stellt eine solche Pyramide auf? Und warum?« »Das werden wir schon herausfinden.« »Da war doch noch etwas«, sagte er leise. »Aus dem Steinhaufen ragte etwas hervor.« Ich nickte. »Der Griff eines Schwerts und ein Teil der Klinge. Das ist wie bei einem Eisberg. Das meiste davon ist in dem Stein verborgen.« »Ein Schwert also? Es wird immer mystischer.« »Das ist genau der richtige Ausdruck. Aber auch gefährlicher, Chinok. Vielleicht wäre es für dich jetzt besser, uns die Sache regeln zu lassen.« »Ich soll...« Er sprach nicht zu Ende. Dafür schüttelte er den Kopf. »Nein, das gibt es nicht. Ich werde mit euch gehen. Ich will, verdammt noch mal, wissen, weshalb jemand einen derartigen Steinhaufen in die Einöde stellt.« Er schaute uns lauernd an. »Zum Spaß doch sicherlich nicht — oder?« »Nein.« »Alles klar, Freunde«, meinte Chinok, »wir gehen hin und holen das Schwert heraus. Das habt ihr doch vor?« »Wenn das so einfach wäre . ..« »Der Vogel kehrt zurück«, sage Suko und lenkte uns von dem eigentlichen Thema ab. In der Tat glitt er wieder durch die Luft. Wir hatten ihn auf seinem Hinflug gesehen und konnten davon ausgehen, daß er jetzt von seinem Ziel, der Steinpyramide, zurückgekehrt war. Als Chinok wieder zu seiner Pistole greifen wollte, legte ich ihm eine I land auf den Unterarm. »Laß es mal, der hat den Weg bestimmt nicht grundlos gemacht.«
»Außerdem trägt er was in seinem Schnabel«, bemerkte Suko. »Irgendeinen Fetzen.« Der Vogel bewegte sich in einer für uns sehr günstigen Höhe. Es sah tatsächlich so aus, als gäbe es für ihn nur uns als Ziel. Er veränderte seine Richtung nicht, visierte die Mulde an und hatte sie kaum erreicht, als er einen beinahe menschlich klingenden Schrei ausstieß, dabei den Schnabel öffnete und etwas zu Boden fallen ließ. Es landete dicht vor unseren Füßen. Chinok bückte sich am schnellsten, zögerte jedoch, das Teil hochzuheben, und zuckte zurück. »Verdammt!« zischteer. »Das ist... das ist ein Stück blutiger Haut!« Selbst dieser abgebrühte Pilot war bleich geworden. Suko und ich schauten ebenfalls nach und stellten fest, daß er sich nicht getäuscht hatte. Aus dem Vogelschna-bcl war ein Hautfetzen vor unsere Füße gefallen. »Ein Zeichen?« fragte Suko. Ich hob die Schultern. »Nun ja, wir wissen nicht einmal, wovon die Haut stammt.« »Ich tippe auf einen Menschen«, sagte Chinok. »Das ist nicht gesagt, mein Freund. Die Haut kann auch von einem Tier stammen.« »Dafür ist sie zu hell.« Chinok schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur wüßte, wo dieser verfluchte Geier die herhat. Da .. . da sind doch keine Gräber.« »Vielleicht ist die Pyramide ein Grab!« meinte Suko. »Möglicherweise hat man dort jemanden begraben und mit Steinen überdeckt. Wir müssen auch damit rechnen.« Ich stand meinem Freund bei. »Das ist für mich sogar wahrscheinlich.« »Moment mal«, sagte Chinok. »Dann könnte es ja sein, daß auch das Schwert nicht in den Steinen, sondern in einem Körper steckt, wenn die Klinge gut durch die . . .« Er winkte ab. Es paßte ihm nicht, darüber zu reden. Auch uns ging es quer, nur mußten wir uns den Problemen stellen. Wir waren wegen der Pyramide gekommen. Shao hatte uns nicht grundlos alarmiert. Ich konnte es mir noch immer nicht recht vorstellen, daß Shimada über diese einsame Gegend herrschte. Aber sein Geist war vorhanden, seine Augen ebenfalls, denn still und heimlich waren wieder die schwarzen Totenvögel zurückgekehrt, die ihre langen Kreise über unsere Köpfe zogen. Auch der Pilot hatte sie entdeckt. »Verdammt noch mal, da sind sie wieder.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Jedem einzelnen Geier sollte man den Hals herumdrehen.« Ich schlug ihm auf die Schulter. »Zuvorsehen wir uns die Pyramide aus der Nähe an.« »Darauf warte ich schon.«
Ohne Glas konnten wir sie zwar nicht deutlich erkennen, wir wußten dennoch, wo sie sich befand, denn die schwarzen Totenvögel schwebten wie Wächter über ihr. Sie hatten sich zu einer Formation zusammengefunden, einem in der Luft stehenden Dach aus Vögeln. So besaßen sie den besten Überblick. Wind wühlte wieder die Schneeflocken in die Höhe. Wieder zog ich den Mundschutz hoch. Zu dritt näherten wir uns dem Ziel auf dem direkten Weg. Wolkenverhangen zeigte sich der Himmel. Chinok gefiel das Wetter überhaupt nicht. Immer öfter schaute er gegen den Himmel und schüttelte den Kopf. »Das ist blöd«, sagte er. »Wir geraten in den Sturm. Der taucht früher auf, als ich es gedacht habe.« »Bis dahin haben wir das Schwert«, sagte Suko. Ich schaute ihn von der Seite an, sah sein Grinsen und hörte seine Frage: »Glaubst du wohl nicht dran?« »Erst wenn ich es in der Hand halte.« »Vielleicht sollst du es nicht bekommen. Ich kann mir vorstellen, daß es mehr für Shao gedacht ist. Sie und Yakup könnten Shimada Paroli bieten.« »Ich rechne damit, daß er kommt.« »Bestimmt.« Entfernungen waren für einen Dämon wie ihn kein Hindernis. Er hockte in seiner blauen Festung, die ihn über Zeiten und Dimensionen hinwegtransportierte. Wenn er erschien, dann sicherlich auch mit seiner verdammten Burg. Davor fürchtete ich mich zwar nicht, wohl war mir aber auch nicht. Es lief alles etwas >schräg