Nr. 121
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Nr. 121
Die Schwelle zum Nichts Es geschieht in ferner Vergangenheit - ein Sternenvolk überschreitet die Grenze der Dimensionen von Kurt Mahr
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Ende November des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte äußerst turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig bewiesen. Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Von den üblichen Geplänkeln und Reibereien an den Grenzen des Imperiums abgesehen, gibt es nach der erfolgreichen Ausschaltung des Plasma-Mutanten gegenwärtig keine Schwierigkeiten für die Menschen und die mit ihnen verbündeten Sternenvölker. Man hat also allen Grund, mit Optimismus in die Zukunft zu schauen. So glaubt man wenigstens, denn man weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einem Ereignis, das sich, obwohl es sich fern von der Erde und in ferner Vergangenheit abspielte, in zunehmendem Maße auch auf die Menschheit selbst auszuwirken beginnt. Alles begann in dem Augenblick, da ein fremdes Sternenvolk die Grenze der Dimensionen überschritt – DIE SCHWELLE ZUM NICHTS …
Die Schwelle zum Nichts
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Die Hautpersonen des Romans: Possert Egk Flangkort - Ein Biophysiker macht eine furchtbare Entdeckung. Poola Sangtru - Flangkorts Lebensgefährtin. Sagnin Lorafa - Eine Versuchsperson verschwindet. Napral Egk Simenk und Gernok Egk Subra - Mitglieder des Regierenden Rates von Toulminth. Timpeh - Ein Mann aus dem Krankenland.
1. Durch ein großes Fenster beobachtete Possert Egk Flangkort die Versuchsperson. Sie saß in einem Sessel, dessen Form die ideale Mischung von Bequemlichkeit und körperlichem Stimulus darstellte. Der Sessel stand in einem Raum, der mit erlesenem Geschmack eingerichtet war. Von der anderen Seite war das Fenster, durch das Flangkort blickte, nicht zu sehen. Seine Stelle wurde von einem Bild eingenommen, das die Versuchsperson mit Interesse studierte. Die Versuchsperson war Sagnin Lorafa, die intelligenteste Frau, die Flangkort je kennengelernt hatte, aber eben doch eine Frau, wodurch das Experiment bedeutend vereinfacht wurde. Flangkort drehte an einem Stellknopf. Auf beiden Seiten des Fensters wurde Musik hörbar, eine Folge wohltönender Harmonien, die Beruhigung ausstrahlten und gleichzeitig zum Nachdenken anregten. Auf den Skalen seiner Meßgeräte las Flangkort die Reaktion seiner Versuchsperson auf die allmählich lauter werdende Musik ab. Sagnin Lorafa war von der eigenartigen Melodie angetan. Sie gefiel ihr. Ihr Interesse wandte sich von dem Bild ab und der Musik zu. Zusätzliche emotionelle und logische Zentren ihres Bewußtseins wurden aktiviert. Sie näherte sich dem Punkt, an dem das menschliche Dasein bei körperlichem Wohlbefinden, dem Gefühl wohliger Geborgenheit und aktivem Bewußtsein, den Zustand höchster Vollkommenheit erreicht. Und dann geschah es. Plötzlich begannen Sagnin Lorafas Umrisse zu verschwinden. Die Gestalt der Frau verwandelte sich in ein nebelhaftes, konturloses Gebilde, das einen
Atemzug lang über dem Sessel zu schweben schien und kurz darauf verschwand. Fassungslos starrte Possert Egk Flangkort durch das große Fenster. Nicht, daß er einen solchen Ausgang seines Experiments nicht erwartet hätte. Jetzt jedoch, da er ihn vor Augen hatte, erschien er ihm so ungeheuerlich, daß er eine Zeitlang seinen Augen nicht traute, sie immer wieder zusammenkniff und von neuem öffnete, bis er ganz sicher war, daß Sagnin Lorafa tatsächlich nicht mehr in dem Sessel saß. Er schaltete die Musik ab. Ein wenig unsicher erhob er sich und öffnete die Tür, die in den Versuchsraum führte. In der Luft lag ein Hauch des Parfüms, das Sagnin Lorafa bevorzugt hatte. Der Sessel war noch warm von der Berührung ihres Körpers. Aber Sagnin selbst war unwiderruflich verschwunden. Possert Egk Flangkort fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es war eine Geste der Hilflosigkeit. Er hatte den Versuch angestellt, um die Richtigkeit einer wissenschaftlichen Hypothese zu beweisen. Das war ihm gelungen. Aber jetzt, da sich die Hypothese als richtig erwiesen hatte, erschrak er vor der ungeheuren Gefahr, der sich die Bewohner dieses Planeten ahnungslos näherten. Oder interpretierte er die Dinge falsch? War, was er für eine Gefahr hielt, vielleicht eine natürliche Entwicklung, die den Menschen, nachdem er einen gewissen Status erreicht hatte, auf ein Niveau noch höherer Vollkommenheit überführte – eine Entwicklung also, gegen die der Mensch sich nicht sträuben sollte? An dieser Stelle geriet Possert Egk Flangkort, der schon immer für die Einheit von Wort und Gedanken plädiert hatte, in einen semantischen Konflikt. Der Status nämlich, den der Mensch erreichen mußte, bevor sich die von Flangkort ge-
4 fürchtete Entwicklung vollzog, war der Status der Vollkommenheit. Vollkommenheit jedoch war ein absoluter Begriff, der sich nicht steigern ließ. Der Begriff »höhere Vollkommenheit«, den er soeben in Gedanken geprägt hatte, war in Wirklichkeit ein Unsinn. Jede Entwicklung, die vom Status der Vollkommenheit aus weiterführte, schloß automatisch den Verlust der Vollkommenheit in sich. Es war ähnlich, wie wenn einer auf dem Nordpol eines Planeten stand: es war ihm unmöglich, weiter nach Norden zu gehen. Davon ausgehend, war Flangkort gezwungen, die Entwicklung, die auf den Status der Vollkommenheit folgte, in der Tat für gefährlich und bedrohlich zu halten. Vor allen Dingen, da er nicht wußte, welchen Zustand diese Entwicklung zum Resultat haben würde. Er hatte Sagnin Lorafa, die ideale Versuchsperson, in den Zustand der Vollkommenheit versetzt, dem sie, wie fast alle anderen Bewohner dieser Welt, ohnehin schon ziemlich nahe gewesen war. Als die Vollkommenheit eintrat, war Sagnin verschwunden. Sie befand sich nicht mehr auf dieser Welt. Sie war in ein übergeordnetes Kontinuum aufgestiegen. Sie war unsichtbar geworden für die Menschen, die der Vollkommenheit zwar nahe waren, sie aber noch nicht erreicht hatten. Was empfand Sagnin Lorafa in diesem Augenblick? War sie glücklicher als zuvor? Das konnte nicht sein. Denn der Zustand der Vollkommenheit war ihr ja genommen worden. War sie glücklicher als wenige Augenblicke vor ihrem Verschwinden, als der Zustand der Vollkommenheit noch nicht ganz erreicht war, als an der Vollkommenheit noch ein winziges Quantum fehlte? Auch unwahrscheinlich; denn der Vorgang des Verschwindens war so drastisch, daß er auch im Befinden der Verschwundenen eine grundlegende Änderung erzielen mußte. Also, schloß Possert Egk Flangkort, ist es besser, kurz vor dem Erreichen des Zustandes der Vollkommenheit innezuhalten. Flangkort war Theoretiker. Er kannte das
Kurt Mahr Ziel, das er erreichen wollte. Über die Mittel, deren er bedurfte, über die Taktik, die er anzuwenden hatte, würde er sich später den Kopf zerbrechen.
* Auf dem Planeten Toulminth, dem vierten von sieben Satelliten, die die Sonne Ovendeno umkreisten, waren Astronomie und Astrophysik seit Tausenden von Sonnenumläufen wohletablierte Wissenschaftszweige. Die Bernaler – so nannten sich die Bewohner des Planeten – wußten, daß ihr Sonnensystem Bestandteil eines übergeordneten Systems war, einer Sterneninsel, die die Form einer flachen Scheibe hatte und mit mehreren Spiralarmen weit in den Weltenraum hinausgriff. Die Bernaler wußten auch, daß die Sonne Ovendeno unweit des Zentrums dieser Scheibe lag, inmitten des Gebietes größter Sternendichte, die diese Sterneninseln aufzuweisen hatten. Seit Jahrtausenden beherrschten die Bernaler die Raumfahrt – ohne daß sich jedoch seit den Tagen der Raumfahrtpioniere auch nur ein einziger Bernaler jemals von der Oberfläche seines Planeten bis auf nennenswerte Distanz gelöst hätte. Denn in den Tagen der Pioniere war offenbar geworden, daß die Bernaler die harte Korpuskularstrahlung, die von Ovendeno und den benachbarten Sonnen in überreichem Maße ausging, nicht vertrugen. Die Absorption selbst geringer Strahlungsmengen verursachte im Körper des Bernalers drastische Umschichtungen, die in kürzester Zeit zu Krankheit oder Tod führten. Es war bezeichnend für die Mentalität der Bernaler, daß sie von den beiden Alternativen, entweder auf die bemannte Raumfahrt gänzlich zu verzichten oder riesige schwer gepanzerte Raumschiffe zu bauen, die erstere gewählt hatten. Denn nach bernalischer Logik mußte zwischen dem Wert des Ziels und dem Aufwand, der nötig war, um es zu erreichen, eine Relation bestehen. Da man aber den Wert der Erkenntnisse, die mit Hilfe der bemannten Raumfahrt zu erzielen waren, nicht
Die Schwelle zum Nichts kannte und auch nicht abschätzen konnte, ließ sich kein Aufwand errechnen, der dem Wert des Zieles entsprochen hätte. Also verzichteten die Bernaler darauf, sich selbst in den Raum hinauszubegeben. Die bernalische Raumfahrt war vollrobotisiert. Schon früh in ihrer Geschichte hatten die Bewohner des Planeten Toulminth zu politischer Einheit gefunden. Die Oberflächengestalt von Toulminth, die nur einen einzigen riesigen Erdteil aufwies, hatte dazu beigetragen. Kriege hatte es auf Toulminth schon seit Jahrtausenden von Sonnenumläufen nicht mehr gegeben. Dafür waren andere Probleme aufgetaucht, das der zunehmenden Industrialisierung zum Beispiel, in deren Verlauf das Land seiner natürlichen Schönheit beraubt, die klaren Bäche und Flüsse verschmutzt und die Luft mit schädlichen Gasen angereichert wurden. Oder das Problem der Überbevölkerung, der Alptraum einer Welt, die auf jedem Quadratmeter bewohnbarer Oberfläche mehrere Menschen zu erhalten hatte. Die Bernaler hatten alle diese Probleme gelöst. Durch logisches Überlegen hatten sie sich selbst davon überzeugt, daß Umwelt und Lebensstandard miteinander in Beziehung standen und daß der Lebensstandard sich nur bis zu einer gewissen Grenze steigern ließ. Mit Hilfe dieser Erkenntnis hatten sie das Ausmaß bestimmt, bis zu dem die Industrie wachsen durfte, und genau an dieser Grenze hatten sie das Wachstum angehalten. Sie hatten ebenso verstanden, sich klarzumachen, daß die natürlichen Instinkte des Menschen Selbsterhaltungs und Fortpflanzungstrieb, nur solange vonnutzen waren, als für den Bestand der Gesellschaft oder der Art Gefahr existierte. Da es keine der beiden Gefahren mehr gab, hielten es die Bernaler für vernünftig, diese Instinkte zu unterdrücken. Sie hörten auf, für die Verteidigung von Toulminth gegen hypothetische Angreifer Geld auszugeben, und sie verzichteten darauf, weiterhin wie Tiere einem Drang nachzugeben, dessen Streben nur auf die Befriedigung seiner selbst abzielte. Im Laufe
5 der Zeiten hatte sich die Zahl der Bewohner des Planeten Toulminth auf knapp eine Milliarde eingependelt. Soviel konnte die paradiesische Welt mühelos ernähren, und auf ihrer Oberfläche war genügend Platz, so daß die Menschen Bewegungsfreiheit hatten und nicht in der unwürdigen Enge großer Städte zu wohnen brauchten. Es gab keine Armut auf Toulminth. Jeder hatte zumindest das, was er brauchte. Die Technologie war so weit fortgeschritten, daß menschliche Arbeitskräfte für die Bewältigung alltäglicher Aufgaben nicht mehr gebraucht wurden. Das Volk der Bernaler war zu einem Volk von Forschern geworden, in dem jeder, frei von den Bürden des vortechnischen Alltags, seinen Verstand einsetzen konnte, um der Natur ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Die Befreiung von aller materiellen Sorge hatte bei den Bernalern nicht, wie in anderen Fällen beobachtet, zur Dekadenz geführt. Den Bernalern eigen war eine geistige Regsamkeit, eine unersättliche Wißbegierde, die die Stagnation behinderte. Es gab gesellschaftliche Schichtungen auf Toulminth. Während die unteren Strata sich damit beschäftigten, die existierende Technik zu verbessern, also etwa Motoren zu entwickeln, die noch leistungsfähiger und noch dauerhafter waren als alles bisher dagewesene, richten die oberen Schichten ihr Augenmerk auf die Erforschung noch unerschlossener Wissensgebiete. So hatte zum Beispiel schon seit langem der Verdacht bestanden, daß dieses vierdimensionale Kontinuum aus Raum und Zeit, in dem sich Sonnen und Planeten befanden und das die robotgesteuerten bernalischen Raumschiffe durchkreuzten, in ein übergeordnetes Gebilde eingebettet sein müsse, in dem andere Naturgesetze galten als im bekannten Raum. Einer von Possert Egk Flangkorts besten Freunden, Sigmar Kjellon, befaßte sich besonders mit dieser Hypothese und behauptete, die Bernaler würden eines Tages ohne Zuhilfenahme von Raumschiffen von Weltenkörper zu Weltenkörper reisen können, indem sie sich mit Hilfe einer geeigneten Maschinerie durch je-
6 nes übergeordnete Kontinuum, den sogenannten Hyperraum, bewegten. So war Toulminth zu einer Insel der Vollkommenheit geworden. Eine paradiesische Welt, bewohnt von Menschen, die durch logisches Denken und aus der Erkenntnis des Notwendigen eine Gesellschaft geschaffen hatten, die nahezu frei von Fehlern war. Natürlich ließ sich das Unvollkommene nicht völlig ausrotten. Die Statistik wollte es, daß hin und wieder Menschen geboren wurden, die an der Vollkommenheit zerbrachen, in ihr in pathologischer Verdrehung den Gipfel der Unvollkommenheit sahen. Den meisten dieser Unglücklichen konnte mit Mitteln der hochentwickelten Neurologie und Psychiatrie geholfen werden. Diejenigen, bei denen kein Mittel verfing, sonderte man ab und brachte sie in einem Gebiet unter, das die Bernaler »das Krankenland« nannten. Die Regierung des Planeten Toulminth bestand aus Wissenschaftlern – eine nahezu triviale Feststellung, da sich jeder erwachsene Bernaler mit Recht einen Wissenschaftler nennen konnte. Die an der Regierung Beteiligten bildeten eine lockere Organisation, die in Funktion trat, wann immer es erforderlich war, und deren Mitglieder das Recht hatten, zwischen ihrem Vor- und Familiennamen das Bestimmungssymbol »Egk« zu tragen. Possert Egk Flangkort war seit vielen Jahren Mitglied des regierenden Gremiums. Von Haus aus war er Biophysiker und beschäftigte sich mit der Erforschung der Zusammenhänge zwischen der belebten und der unbelebten Welt. Im Verlauf dieser Forschungen war ihm der Verdacht erwachsen, daß der Zustand der Vollkommenheit, auf den die bernalische Zivilisation zusteuerte, keineswegs so eindeutig erstrebenswert sei, wie man allgemein glaubte. Schon von der Logik her bereitete es Schwierigkeit, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn die Vollkommenheit einmal erreicht sei. Entfiel für den vollkommenen Menschen nicht jegliche Triebkraft für weitere Betätigung? Possert Egk Flangkort jedoch sah eine
Kurt Mahr noch weitaus größere Gefahr. Die Lehre von den Zusammenhängen zwischen belebter und unbelebter Welt, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Hauptsache von Flangkort selbst weiterentwickelt worden war, schien darauf hinzudeuten, daß diese Zusammenhänge sich für einen Menschen oder gar eine Gesellschaft in dem Augenblick, in dem der Punkt der Vollkommenheit erreicht wird, auf drastische Weise ändern. Es war, als sei die bisherige Welt für den nun Vollkommenen zu klein geworden, als enthielte seine Vollkommenheit einen Sprengstoff, der in diesem Augenblick zur Detonation gebracht wurde und die Grenzen des bisherigen Lebensbereiches zerfetzte. Um sich für diese Theorie einen Beweis zu verschaffen, hatte Flangkort den Versuch mit Sagnin Lorafa angestellt. Nun war er seiner Sache sicher. Er mußte jetzt darangehen, der Welt von seiner Entdeckung Kunde zu geben. Die bisherige Entwicklung der bernalischen Zivilisation mußte angehalten oder auf einen anderen Kurs gebracht werden. So wie bisher durfte es auf keinen Fall weitergehen.
* Sigmar Kjellons Haus lag in einem Hain rotblauer Sugub-Bäume. Es hatte die typische Schüsselform bernalischer Architektur, eine sanfte Wölbung, im Zenit etwa zwölf Meter hoch, mit den Schüsselrändern auf dem Boden ruhend. Nach Südwesten hin hatte Kjellon einen würfelförmigen Vorbau errichten lassen, dessen rückwärtiger Teil mit der Schüssel verschmolz. Das Gebäude war in irisierender, grünlichgelber Farbe ausgeführt und bildete einen farbenprächtigen, jedoch harmonischen Gegensatz zu dem Sugub-Wäldchen. Im innersten Raum des Hauses, der großen Kuppelhalle, in der Sigmar Kjellon seine Forschungen betrieb, saßen der Hausherr und Possert Egk Flangkort einander gegenüber. »Ich sehe keine Möglichkeit«, erklärte
Die Schwelle zum Nichts Sigmar, »daß der Hyperraum jemals die Heimat des Menschen werden könnte. Die menschlichen Sinnesorgane sind nicht dafür geschaffen, sich mit einem übergeordneten Kontinuum auseinanderzusetzen. Der Mensch, der unversehens in den Hyperraum versetzt würde und sich eine Zeitlang darin aufhalten müßte, könnte seine Umgebung überhaupt nicht wahrnehmen. Er würde in einem finsteren Abgrund schwimmen oder meinetwegen in einem milchigweißen, konturlosen Nichts.« Er sah seinen Besucher aufmerksam an. »Was bewegt dich zu dieser Frage, mein Freund?« wollte er wissen. Possert beschloß, seine Karten auf den Tisch zu legen. »Ich befürchte, daß die bernalische Gesellschaft in Kürze gezwungen sein wird, sich mit einem neuen Lebensraum vertraut zu machen. Nach meiner Ansicht wird dieser Raum ein übergeordnetes Kontinuum sein, etwa wie der Hyperraum, den zu erforschen du dich bemühst.« Er schilderte dem Freund seine Überlegungen. Possert brauchte sich nicht mit langatmigen Erklärungen grundlegender Dinge aufzuhalten. Sigmar folgte ihm mühelos. Possert sprach fast eine Stunde lang. Als er geendet hatte, herrschte zunächst Schweigen. »Das ist eine erschreckliche Theorie«, sagte Sigmar schließlich. »Aber eben doch nur eine Theorie. Nach meiner Ansicht werden wir den Zustand der Vollkommenheit niemals erreichen.« Er sah auf und lächelte spöttisch. »Merkwürdig, wie man immer versucht ist zu sagen: den Zustand der vollständigen Vollkommenheit. Als ob es eine unvollkommene Vollkommenheit gäbe! Wir werden ihm immer näher kommen etwa so, wie die Experimentalphysik dem absoluten Nullpunkt der Temperaturskala beliebig nahekommen kann, ohne ihn jedoch jemals zu erreichen. Und dieses letzte Stückchen, das uns von der Vollkommenheit trennt, wird dazu beitragen, daß deine Befürchtungen nicht wahr werden.«
7 Er sah Possert Egk Flangkorts große, braune Augen mit dem Ausdruck resignierender Trauer auf sich gerichtet. »Aber irgendwie kann ich dich damit nicht überzeugen, wie?« fragte er. »Nein, dazu ist es zu spät«, antwortete Possert. »Ich habe mich überzeugt, bevor ich zu dir kam.« »Überzeugt? Wovon?« »Von der Richtigkeit meiner Hypothese. Von der Richtigkeit der Befürchtung, daß der Mensch, der den Zustand der Vollkommenheit erreicht, dieses Universum verläßt und in einen anderen Raum, eine andere Zeit übertritt.« Sigmar Kjellon war sichtlich überrascht. »Wie kannst du dich überzeugt haben? Du meinst, du hast …« Die Bestürzung ging mit ihm durch. Er fand die richtigen Worte nicht mehr, den Satz zu vollenden. »Jawohl, ich habe ein Experiment durchgeführt, mit einem Menschen«, bestätigte Possert. »Ich habe Sagnin Lorafa meine Sorgen vorgetragen. Sie wollte mir ebensowenig glauben wie du. Sie bot sich selbst als Versuchsperson an. Sie wollte mir beweisen, so sagte sie, daß ich mich unnötig sorge. Du kennst Sagnin. Sie ist eine der klügsten Frauen, die unsere Gesellschaft jemals hervorgebracht hat. Aber sie ist eben eine Frau, und bei Frauen spielen im Gesamthaushalt des Bewußtseins die Emotionen eine wenigstens ebenso große Rolle wie logische Vorgänge, im Gegensatz zum Mann, bei dem die logischen Prozesse im Vordergrund stehen. Eine Frau von Sagnins Kaliber war also das ideale Objekt für einen Versuch, in dessen Verlauf die Versuchsperson den Zustand der Vollkommenheit erreichen sollte.« Er zögerte. »Sprich weiter!« forderte Sigmar ihn auf. »Der Versuchsraum war eine wahre Idylle – eingerichtet nach den neuesten Erkenntnissen der Oikopsychologie, wie geschaffen für jemand, der vollkommen werden wollte. Sagnin war dem Experiment gegenüber aufgeschlossen. Ihre Seele befand sich im Gleich-
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Kurt Mahr
gewicht. Es war alles sehr leicht und ging sehr schnell. In dem Augenblick, in dem ich die Musik zu spielen begann, die dem emotionellen Sektor in Sagnins Bewußtsein genau das Idealmaß an Stimulus bot, war der Zustand der Vollkommenheit erreicht.« »Und was geschah dann?« fragte Sigmar, seiner Erregung kaum mehr Herr. »Sie verschwand«, antwortete Possert traurig. »Sie löste sich einfach auf und war nicht mehr zu sehen.« Er sah, wie sich im Gesicht des Freundes eine merkwürdige Veränderung vollzog. Der Ausdruck der gespannten Wißbegierde wich und wurde durch einen anderen ersetzt, eine Mischung aus Staunen, Unglauben und Abscheu. Possert erschrak. Er hatte sein Experiment bislang nur von der Warte des Wissenschaftlers aus betrachtet. Es war ihm nicht eingefallen, einen anderen Standpunkt als den des Forschers zu beziehen. Aus Sigmars Gesicht jedoch sprang unverhohlen moralische Entrüstung. »Aber das ist Mord!« stieß Sigmar Kjellon hervor.
2. Auf diese Weise geschah es, daß gerade der Beweis für die Richtigkeit seiner Hypothese mit dem Possert Egk Flangkort die Menschheit von der Existenz einer drohenden Gefahr überzeugen wollte, ihn daran hinderte, den Menschen seine Sorgen auseinanderzusetzen. Denn wer seine Theorie hörte, der verlangte nach einem Beweis, und wer von dem Beweis erfuhr, der prallte in moralischer Entrüstung vor Flangkort zurück, weil er das Experiment, in dessen Verlauf Sagnin Lorafa verschwunden war, für ein verantwortungsloses Unternehmen hielt. Flangkort bedrückte dieser Umstand. Noch trauriger jedoch war er über den Verlust der Freundschaft mit Sigmar Kjellon. Sigmar hatte ihn an jenem Nachmittag gebeten, sein Haus unverzüglich zu verlassen, und ihm zu verstehen gegeben, daß er nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, solange er
sich von dem Verdacht, ein Mörder zu sein, nicht reingewaschen hatte. Hier spiegelte sich ein typischer Zug der bernalischen Mentalität. Sigmar Kjellon war für sich der Meinung, daß Flangkort einen Mord begangen habe. Die Regeln der Gesellschaft erforderten jedoch, daß als Mörder nur derjenige betrachtet werden könne, der von einem ordentlichen Gericht des Mordes überführt worden war. Kjellon ordnete sein eigenes Empfinden den Gesellschaftsregeln unter. Er war bereit, die Freundschaft mit Possert Egk Flangkort fortzusetzen, sobald Flangkort sich von einem Gericht hatte bestätigen lassen, daß er in Zusammenhang mit Sagnin Lorafas Verschwinden ohne moralische Schuld sei. Possert Egk Flangkort tat das einzige, was ihm in dieser Lage übrigblieb: Er beantragte eine außerordentliche Sitzung des Regierenden Wissenschaftsrates und bezichtigte sich im Verlauf dieser Zusammenkunft selbst des Mordes. Daraufhin trat, da es sich um ein Mitglied des Regierenden Rates handelte, das Oberste Gericht zusammen und eröffnete ein Verfahren gegen Possert Flangkort, der von der Teilnahme an den Geschäften des Rates für die Dauer des Verfahrens suspendiert worden war. Die Verhandlung war öffentlich. Jedermann hatte das Recht, sich an den Besprechungen zu beteiligen und entweder für oder gegen den Angeklagten zu sprechen. Flangkort war ein angesehener Mann. Es fanden sich viele, die zu seinen Gunsten sprachen, aber kein einziger, der das Wort gegen ihn erhob. Flangkort selbst schilderte den Richtern seine Unbefangenheit. Er wies darauf hin, daß niemand zum Mörder gestempelt werden dürfe, solange der Tod seines Opfers noch nicht eindeutig festgestellt worden sei. Sagnin Lorafa jedoch war verschwunden. Es ließ sich nicht feststellen, ob sie noch lebte oder im Verlauf des Experimentes den Tod gefunden hatte. Flangkort unterzog sich freiwillig einem psychologischen Verhör. Es wurde festgestellt, daß er tatsächlich in völliger Arglosigkeit gehandelt hatte. Es gab keinerlei schrift-
Die Schwelle zum Nichts lichen Beweis dafür, daß Sagnin Lorafa sich mit der Verwendung ihrer selbst als Versuchsperson einverstanden erklärte hätte. Aber das Verhör machte deutlich, daß Possert Flangkort auch jetzt noch keinerlei Zweifel daran hatte, Sagnin habe sich freiwillig zur Verfügung gestellt, weil sie eben sicher gewesen war, daß der Versuch ein Mißerfolg sein würde. Es kam, wie es kommen mußte: Das Oberste Gericht konnte an Possert Flangkort keine Schuld finden und sprach ihn frei. Er wurde in den früheren Status zurückversetzt und durfte von dem Augenblick an, in dem das Urteil rechtskräftig wurde, das Bestimmungssymbol »Egk« wieder im Namen tragen. Er war somit rehabilitiert, und wenn ihm daran gelegen wäre, hätte er die Beziehungen zu seiner Umwelt an dem Punkt wiederaufnehmen können, an dem sie bei Bekanntwerden seines fatalen Versuches abgebrochen worden waren. Aber daran lag Possert Egk Flangkort nun nichts mehr. In den Tagen des Gerichtsverfahrens hatte sich die Entwicklung der bernalischen Zivilisation dem Punkt genähert, an dem sie den Zustand der Vollkommenheit erreichte. Es war Flangkorts Aufgabe, wenn er schon die Menschen nicht von der Nähe der Katastrophe überzeugen konnte, aus eigenen Kräften dafür zu sorgen, daß der kritische Punkt niemals erreicht wurde.
* Die Gebäude des Pumpwerk-Komplexes waren wie finstere Schatten, die aus der Finsternis aufragten, um den Wanderer zu schrecken. Hoch oben im Firmament glitzerte silbern die winzige Scheibe eines der beiden Monde, die den Planeten Toulminth auf seinem Weg um die Sonne Ovendeno begleiteten. Die Helligkeit des Scheibchens reichte kaum aus, um einen mageren Schatten des Wanderers auf das üppig wuchernde Gras zu zeichnen. Possert Egk Flangkort blieb stehen und wandte sich um. Nachdenklich beobachtete
9 er die Spur seiner Schritte, eine gerade, dunkle Linie, die sich durch das dichte Gras bis an den Rand des Blickfeldes zog. Der Tau würde das Gras wieder aufrichten und selbst wenn am Morgen noch einige Halme geknickt blieben, so würde doch ein weiterer Tag vergehen, bevor die Leute, die für solche Dinge zuständig waren, bemerkten, was hier am Pumpenwerk vorgefallen war. Bis die Inspektoren hier erschienen, würde auch der letzte Halm seine ursprüngliche Lage wieder eingenommen haben, und niemand kam auf die Idee, daß es ausgerechnet Possert Egk Flangkort gewesen sei, der sich nächtlicherweise an den Pumpen zu schaffen gemacht hatte. Flangkort schritt weiter. Er bewegte sich auf das größte der Gebäude zu. Es bestand aus einem würfelförmigen, fensterlosen Klotz und war allein durch seine Form als reines Zweckgebäude ausgewiesen. Auf seinem Weg spürte Flangkort plötzlich ein leises Kribbeln auf der Haut, als wären dort einen Atemzug lang Hunderte winziger Insekten aktiv geworden. Da wußte er, daß er eines der Warnfelder durchschritten hatte, die die Roboter im Innern der Gebäude auf die Ankunft eines Besuchers hinwiesen. Flangkort umrundete den Würfelklotz, bis er die Nordseite erreichte, auf der wie gewöhnlich die einzige Tür lag, die ins Innere des Bauwerks führte. Dort wurde er bereits erwartet. Aus der Dunkelheit glitt die unförmige Gestalt eines Roboters auf ihn zu. Die Bernaler hatten niemals das Bedürfnis empfunden, ihre Maschinenwesen sich selbst nachzubilden. Bernalische Roboter hatten ein Äußeres, das ihrem Verwendungszweck, ihren Aufgaben entsprach. Dieser hier war ein übergeordneter Robot, eine Aufsichtsmaschine. Ihr Körper bestand aus einer Kugel, die etwa die Ausmaße eines menschlichen Schädels hatte. Aus dieser Kugel drangen zu Dutzenden biegsame Tentakel, die an den Enden mit feinen, empfindlichen Greifwerkzeugen ausgestattet waren. Die Kugel schwebte im Innern eines künstlichen Schwerefeldes. Die
10 Greifarme trieben ziellos hin und her wie die Fäden einer Qualle in der Meeresströmung. »Ich darf dich nicht einlassen«, erklärte der Robot, nachdem er den nächtlichen Wanderer gestellt hatte. »Du weißt das, nicht wahr?« Possert Egk Flangkort machte eine bejahende Geste. Er tat das mit Absicht. Er wußte, daß Roboter optische Eindrücke schwerer verarbeiten konnten als akustische. Er war darauf aus, das Maschinenwesen zu verwirren. Indem er mit Gesten anstatt mit Worten antwortete, kam er diesem Ziel näher. »Ich frage mich, warum du mich nicht einlassen darfst«, sagte er. »Es ist in deinem Programm so verankert, nicht wahr?« »So ist es«, bestätigte der Robot. »Aber du weißt, daß Programme die in Rechenmaschinen und Robotern gespeichert werden, keinen Endgültigkeitsanspruch haben? Sie können durch neue Entwicklungen der Logik oder anderer Wissenschaftsbereiche ungültig gemacht werden, ist das richtig?« »Auch das ist richtig.« »Nun, dann will ich dir erklären, daß sich vor wenigen Stunden eine neue Erkenntnis ergeben hat, wonach es unsinnig ist, den Bewohnern dieser Welt das Betreten von Pumpenwerken zu untersagen. Man hat erkannt, daß man, als man das Verbot erließ, von falschen Voraussetzungen ausging.« »Darum kann ich mich nicht kümmern«, wies der Roboter Flangkorts Darlegung zurück. »Sobald man im Hauptwerk von dieser Erkenntnis weiß, wird meine Programmierung geändert werden. Bis dahin aber …« »Du sprichst wie eine Maschine, die du ja auch bist«, fiel Possert Egk Flangkort ihm ins Wort. »Wie kann das Gültigwerden einer neuen Erkenntnis dadurch hinausgezögert werden, daß zwischen dem Erkennen und dem Augenblick, in dem die Erkenntnis allen Betroffenen mitgeteilt wird, eine gewisse Zeit verstreicht? Bist du nicht meiner Ansicht, daß eine neue Erkenntnis in dem Augenblick Gültigkeit erlangt, in dem sie gewonnen wird?«
Kurt Mahr Der Robot durchsuchte sein Gedächtnis nach einer Vorschrift oder einem Präzedenzfall, mit dessen Hilfe er Flangkorts Frage beantworten konnte. »Du hast in der Tat recht«, erklärte er schließlich. »Dann bekennst du also, daß das Verbot gegen das Betreten der Pumpenstation infolge der jüngst gewonnenen Erkenntnis jetzt schon gegenstandslos ist – und nicht erst, wenn deine Programmierung geändert wird.« Der Robot, logisch in die Enge getrieben, hatte keine andere Wahl als zu sagen: »Ja, ich bekenne.« »Dann öffne die Tür und laß mich eintreten!« Ein Stück der Wand des finsteren Würfels wich beiseite. Grelles Licht fiel durch die Öffnung. Halbgeblendet gewahrte Possert Egk Flangkort einen Wirrwarr blanker, glitzernder Maschinen. Dumpfes Summen ging von der Gesamtheit der Aggregate aus. Flangkort trat ein. Der Robot schwebte hinter ihm her. »Ich interessiere mich für den Mischkessel«, sagte der nächtliche Besucher. »Zeig ihn mir!« Der Robot glitt vorneweg. Im Hintergrund der riesigen Halle, die den Großteil des Würfelinnern ausmachte, erhob sich eine gewaltige metallene Trommel, in deren Wandung an verschiedenen Stellen Fenster eingelassen waren. Hinter den Fenstern quirlte und sprudelte es. In dieser Trommel mischten sich Frischwasserströme aus einem halben Dutzend natürlicher Quellen, jede mit ihrem eigenen, besonderen Gehalt aus Mineralen, Vitaminen und Spurenelementen. Erst die Mischung der Quellen erzeugte Wasser von jener unübertrefflichen Qualität, mit der die Speisen und Getränke-Zubereitungsanlagen zu operieren gewohnt waren. »Ich beabsichtige, eine Probe zu entnehmen«, erklärte Flangkort. »Zeig mir, wie das gemacht wird.« »Das ist eine ganz und gar ungewöhnliche
Die Schwelle zum Nichts Bitte«, antwortete der Robot. »Willst du die Zusammensetzung des Mischwassers wissen? Dann brauchst du nur die Analysegeräte abzulesen. Sie sind hier auf der Seite …« »Nein, ich möchte eine Probe aus dem Kessel kosten«, beharrte Flangkort. Der Robot sah keine andere Möglichkeit, als seinem Wunsch zu entsprechen. Er glitt an der Wandung des Tanks hinauf bis zu einer Stelle, die durch die Leuchtschrift Probenentnahme gekennzeichnet war. Dort befand sich eine kleine Schleuse, durch die Probensonden, die sich ständig im Innern des Tanks befanden, entnommen werden konnten. Der Robot hantierte dort eine Zeitlang, dann kehrte er mit einem kleinen, wassergefüllten Behälter zurück und reichte ihn Flangkort. Der Wissenschaftler öffnete den Behälter, beäugte seinen Inhalt und ließ sich dann, ohne daß er den Behälter anders als mit der Hand berührte, eine Wasserprobe in den geöffneten Mund träufeln. Er schluckte und machte ein befriedigtes Gesicht. »Ein vorzüglicher Geschmack«, bemerkte er. Dabei hielt er den Behälter unschlüssig zur Seite, und der Roboter bemerkte nicht, daß er aus der freien Hand blitzschnell einen winzigen Gegenstand ins Innere des Behälters fallen ließ. Schließlich reichte er die Sonde zurück. »Du kannst sie wieder an Ort und Stelle bringen«, sagte er. »Sie muß zuerst desinfiziert werden«, widersprach der Robot. »Ich habe sie nur äußerlich berührt«, widersprach Flangkort. Der Robot gab sich damit zufrieden. Eine äußerliche Desinfizierung wurde ausgeführt, indem er die Sonde durch die Sondenschleuse einbrachte. Es gab eine automatische Vorrichtung für diesen Zweck. Die Sonde verschwand durch die kleine Schleusenöffnung. Possert Egk Flangkort sah es deutlich. Dann kam der Robot wieder herabgeglitten. »Ich möchte jetzt gehen«, sagte Flangkort.
11 Das Maschinenwesen schwebte vor ihm her auf den Ausgang zu. Die Tür öffnete sich selbständig. Flangkort trat hinaus in die Nacht, und der Robot folgte ihm, wahrscheinlich um zu sehen, ob der nächtliche Besucher das Gelände des Pumpenwerks auch wirklich verlasse. Possert Egk Flangkort tat ein paar Schritte in die Nacht hinein. Dann blieb er stehen, drehte sich um und tat etwas gänzlich Außergewöhnliches. Er zog eine Waffe aus der Tasche, ein Teufelsgerät, wie es auf ganz Toulminth nur noch in wenigen Exemplaren existierte, einen Energiestrahler. Er richtete den Lauf der Waffe auf den Roboter und drückte ab. Es gab ein scharfes, fauchendes Geräusch und dann einen dumpfen Knall. Der Roboter zersprang in Tausende von roten Funken.
* Poola Sangtru war eine Frau von hinreißender Schönheit und seit drei Jahren Possert Egk Flangkorts engste Gefährtin und Vertraute. Possert und Poola hatten einen Sohn, Jondar, jetzt zwei Jahre alt, der im Haus seiner Mutter lebte. Man hatte versucht, ihn abwechselnd auch bei Possert wohnen zu lassen. Aber Possert Egk Flangkort war zu sehr mit den Problemen seines Forschertums beschäftigt, als daß er dem kleinen Jungen die Zeit hätte widmen können, die ein junges Menschengeschöpf in diesem Alter beanspruchte. An diesem Abend war Possert ohne Einladung in Poolas Haus erschienen. Förmlichkeiten gab es zwischen den beiden schon lange nicht mehr. Poola begrüßte ihren Besucher liebevoll und führte ihn in einen abseits vom Zentrum des Hauses gelegenen Raum, in dem sie Possert bei seinen Besuchen zu bewirten pflegte. An dem Verhältnis zwischen Poola und Possert hatte sich durch den Mordprozeß nichts geändert. Poola war mehr als jeder andere davon überzeugt gewesen, daß an dem Wissenschaftler keine Schuld haftete.
12 »Ich habe Sorgen, Poola«, eröffnete er die Unterhaltung an diesem Abend. »Geht es immer noch um deine Forschungen?« fragte sie. »Um die Angst, daß die Zivilisation von Toulminth plötzlich verschwinden wird, oder umschlagen, wie du es nennst?« »Ja, Poola, darum geht es. Die Zeit wird knapp, und ich kann die Menschen nicht überzeugen.« Poola lächelte. »Du hast den ganzen Tag gearbeitet und gegrübelt, nicht wahr?« erkundigte sie sich zärtlich. »Du hast Hunger und Durst. Ich werde etwas für uns herrichten.« Sie dachte eine Zeitlang nach. Dann sprach sie Worte, die Namen von Speisen und Getränken, vor sich hin. Ein akustischer Servo nahm den Klang ihrer Stimme auf und verarbeitete ihn zu elektronischen Informationen, die er an eines der nahegelegenen Nahrungszentren weiterleitete. Kurze Zeit später wurde der große Eßtisch im Hintergrund des Raumes aktiv. Durch die umfangreiche Säule, auf der der Tisch ruhte, wurden die Speisen und Getränke ausgefahren, deren Namen Poola kurz zuvor genannt hatte. In der Zwischenzeit war Possert Egk Flangkort die Einzelheiten seines Planes noch einmal durchgegangen. Am frühen Morgen dieses Tages, lange vor Sonnenaufgang, hatte er die Sporenkultur in die Wasserversorgung eingeführt. Es handelte sich um eine winzige Kultur, die aus nicht mehr als einem Dutzend Organismen bestand, zu wenig also, als daß die Analyseautomatik daran hätte Anstoß nehmen können. Seitdem war mehr als ein halber Tag vergangen. Im Laufe der Stunden, besonders im warmen Innern der Rohmaterialien, aus denen die Speisen hergestellt wurden, hatten die Sporen Zeit gehabt, sich zu vermehren. Sie würden in jedem Produkt der Nahrungszentren, die von diesem einen Pumpenwerk aus versorgt wurden, in ausreichender Konzentration vorhanden sein. Er setzte sich mit Poola zu Tisch. Die Un-
Kurt Mahr terhaltung floß weiter, während sie aßen. Possert hatte längst bemerkt, daß auch Poola seine Befürchtungen bezüglich der Zukunft der bernalischen Zivilisation nicht teilte. Aber obwohl sie wußte, daß ihm ihre Einstellung kein Geheimnis war, fuhr sie feinfühlig fort, sich für seine Forschungen und für seine Sorgen zu interessieren. »Hast du dir schon einmal auszumalen versucht«, erkundigte sie sich, »daß der Zustand, in den wir alle nach deiner Ansicht in Kürze versetzt werden, womöglich noch angenehmer sein kann als unser bisheriges Leben?« Possert machte eine verneinende Geste. »Wie kann er das?« antwortete er mit einer Gegenfrage. »Da er doch auf den Zustand der Vollkommenheit folgt, kann er nur ein Zustand der Unvollkommenheit sein.« »Das ist es!« rief Poola aus und machte ein Gesicht, als sei ihr soeben eine äußerst wichtige, überraschende Erkenntnis gekommen. »Das Schicksal, die Vorsehung oder wie immer auch du die Macht nennen willst, die über uns wacht, erbarmt sich unser. Sie hat erkannt, daß wir verloren wären, sobald wir den Zustand der Vollkommenheit erreichen. Vollkommenheit bedeutet den Wegfall jeglichen Antriebs zur Weiterentwicklung. Das läßt das Schicksal nicht zu. Also versetzt es uns, sobald wir die Vollkommenheit erreicht haben, in einen Zustand frischer Unvollkommenheit, so daß wir von vorne anfangen können!« Possert wischte ungeduldig mit der Hand durch die Luft. »All ihr Ungläubigen«, widersprach er ihr, »begeht den einen Fehler, daß ihr die bevorstehende Umwandlung wie einen harmlosen, philosophischen Prozeß zeichnet. Das ist sie jedoch nicht. Sie wird grausame physikalische Wirklichkeit sein, ein Übergang in ein anderes Kontinuum, von dem wir noch nicht einmal wissen, ob es uns überhaupt ausreichende Lebensmöglichkeiten bietet. Was, wenn wir darin umkommen müssen?« Poola lächelte nachsichtig.
Die Schwelle zum Nichts »So grausam wird das Schicksal nicht sein«, wies sie Posserts Vorstellung zurück. »Das ist euer zweiter Fehler«, sagte Possert. »Ihr glaubt, daß über allem Geschehen eine zwar unberechenbare, aber doch zumeist gütige Macht regiert, die letzten Endes darauf sehen wird, daß uns Bernalern nichts passiert. Was aber, wenn es eine solche Macht nicht gibt? Wenn der Mensch in Wirklichkeit nur den Launen der Natur unterliegt, die in Wirklichkeit wiederum keine Launen sind, sondern statistische Zuckungen, von denen sich nicht vorhersagen läßt, wie sie das Dasein des Menschen beeinflussen werden?« Poola wollte antworten, aber plötzlich trat ein gequälter Ausdruck in ihr Gesicht. Von einem Augenblick zum andern wurde sie leichenblaß. Ihre von Natur großen Augen wurden noch größer. Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn, und ihr Atem ging hastig, stoßweise. »Possert …«, stieß sie hervor, »… mir ist … so schlecht!« Er sprang auf, um ihr zu helfen. Aber bevor er noch die andere Seite des Tisches erreichte, griff dasselbe Phänomen nach ihm. Der Magen schien sich zu heben. Das Atmen fiel ihm schwer. Er fühlte beißende Kälte in sich aufsteigen, und dennoch begann er im selben Augenblick zu schwitzen. Er eilte auf Poola zu, aber bevor er sie erreichte, versagten ihm die Beine den Dienst. Er fiel vornüber und stürzte bewußtlos zu Boden.
3. Es war die erste Epidemie seit Menschengedenken. Insgesamt 62.000.000 Menschen fielen ihr zum Opfer – nicht etwa, indem sie starben, sondern einfach dadurch, daß sie zunächst einen halben Tag bewußtlos waren und danach weitere zwei Tage mit Anfällen akuter Übelkeit zu kämpfen hatten. Die Ärzte erkannten rasch, daß es sich trotz der erschreckend heftigen Symptome nur um eine recht harmlose Krankheit handelte, deren
13 Erreger der Körper beizeiten aus eigener Kraft Herr werden würde. Trotzdem bedeutete die Epidemie so etwas wie eine Katastrophe. Es fiel ihr kein einziges Menschenleben zum Opfer; aber sie bewies den Bernalern, daß sie nach wie vor unter der Knute der unbarmherzigen Mutter Natur standen, der sie schon seit langem entronnen zu sein glaubten. Eine eingehende Untersuchung ergab, daß die ersten Krankheitssymptome in allen Fällen nur wenige Minuten nach der Einnahme einer Mahlzeit aufgetreten waren. Die Produkte der Nahrungszentren wurden daraufhin untersucht, und man stellte fest, daß sie ein Gewimmel von Mikroorganismen enthielten, die für die Infektion verantwortlich waren. Es handelte sich um eine Sporenart, die in der Natur nicht vorkam. Sie mußte im Labor gezüchtet worden sein oder sich unter den besonderen Bedingungen des Nahrungsversorgungssystems im Laufe der Zeit selbst gebildet haben. Der Findigkeit der mit der Untersuchung Beauftragten blieb nicht lange verborgen, daß nur gewisse Versorgungszentren von Sporen infiziert waren und daß alle diese Zentren das Wasser, das in Nahrung und Getränken verarbeitet wurde, aus ein und derselben Pumpenstation bezogen. Daraufhin inspizierte man das Pumpenwerk und entdeckte zunächst die Überreste eines Aufsichtsroboters, der offensichtlich auf höchst ungewöhnliche Weise zu Tode gekommen war. Während die Robotreste den zuständigen Laboratorien zugeleitet und dort untersucht wurden, überprüfte man das Pumpensystem und die Qualität des Wassers, das von diesem Werk gefördert und gemischt wurde. Man fand keinerlei Anlaß zu Beanstandungen. Die Maschinen arbeiteten einwandfrei, und das Wasser enthielt keine außer den gewünschten Beimengungen. Inzwischen war man bei der Untersuchung der Robotreste zu einem sensationellen Ergebnis gelangt: Der Roboter war erschossen worden. Mit einer Strahlwaffe. Dadurch erhielt der Vorfall ein völlig neues
14 Gesicht. Offensichtlich hatte man es hier nicht mit einer natürlichen Entwicklung zu tun, sondern mit einem Attentat. Ein Wahnsinniger – anders konnte es nicht sein – hatte eine Mikrobenkultur in das von der Pumpenstation geförderte Wasser eingeführt. Eine Welle ungeheurer Empörung lief durch die Bevölkerung. Wie konnte es geschehen, daß ein derartig gefährlicher Wahnsinniger sich in Freiheit befand? Warum hatten ihn die Zuständigen nicht rechtzeitig als irrsinnig erkannt und ihm entweder die entsprechende Behandlung angedeihen lassen oder ihn ins Krankenland verwiesen? Es hagelte Anfragen. Das Hauptanliegen der erschreckten Bürger war ohne weiteres offenbar: Der Wahnsinnige mußte auf dem schnellsten Wege gefaßt und auf die eine oder andere Art und Weise unschädlich gemacht werden. Genau das aber hatte Possert Egk Flangkort bezweckt. Dadurch, daß er die Bernaler verstörte, hemmte er sie auf dem Weg zur Vollkommenheit. Denn das war ja seine einzige Sorge, sein einziges Streben: Sein Volk am Erreichen der Vollkommenheit zu hindern. Allerdings zog er die Möglichkeit in Betracht, daß ihm dies auf die Dauer nicht gelingen werde. Er begann, eine Alternative zu entwickeln, und dabei wurde sein Denken in merkwürdige Bahnen gelenkt. Er stellte sich vor, daß es anderswo im All Sternenvölker gebe, die eines Tages vor demselben Problem stehen würden wie heute die Bernaler. Noch hatten die bernalischen Robotraumschiffe Kunde von der Existenz eines solchen fremden Volkes nicht gebracht. Aber das hatte wenig zu bedeuten. Die Robotfahrzeuge hatten bisher nur einen winzigen Sektor des sichtbaren Weltenraumes durchforscht. Obwohl Spuren fremder Intelligenzen bislang noch nicht gefunden worden waren, gab es in den Kreisen bernalischer Wissenschaftler keinen Zweifel, daß sie, wahrscheinlich in Hunderten oder sogar Tausenden verschiedener Arten existieren müßten. Wenn er schon, so folgerte Possert Egk
Kurt Mahr Flangkort, seinem eigenen Volk nicht helfen konnte, so sollte er wenigstens den anderen, die eines Tages auf denselben Punkt zusteuern würden, eine Warnung zukommen lassen. Da er aber nicht wußte, wo sich die, die er warnen wollte, befanden, mußte die Warnung selbst in Hunderttausenden oder Millionen von Exemplaren nach allen Richtungen hin ausgestreut werden, damit wenigstens eines davon irgendwann in der Zukunft einmal den Adressaten erreichte. Flangkort zog, was den Mechanismus der Warnung anging, eine Reihe verschiedener Möglichkeiten in Erwägung. Er konnte zum Beispiel einen Funkspruch abstrahlen, dessen Wellenfront sich kugelförmig im Raum ausbreiten und im Laufe der Zeit bis an den Grenzen des Universums vordringen würde. Gegen diese Methode sprach, daß die Energie, die dem unbekannten Adressaten zum Empfang des Spruches zur Verfügung stand, immer geringer wurde, je weiter die Sendung ins All vordrang. Außerdem hätte zuerst eine Symbolik entwickelt werden müssen, die von jedem intelligenten Wesen gleich welcher Herkunft, in gleicher Weise entziffert und gedeutet wurde. Und schließlich war ein Funkspruch, wenn er auch noch so oft wiederholt wurde, ein kurzzeitiger Vorgang, der mit ungeheurer Geschwindigkeit am Empfänger vorbeizog und nicht durch dauernde Gegenwart den, an den er gerichtet war, zum Nachdenken anregte. Diese und ähnliche Schwierigkeiten überwand Possert Egk Flangkort schließlich durch eine Idee, die mit Recht genial genannt werden mußte. Zu ihrer Durchführung bedurfte er allerdings eines gut ausgerüsteten Labors. Sein eigenes wäre für diesen Zweck schlechthin ideal gewesen. Aber da er nun schon einmal die Möglichkeit eines Fehlschlages seines jetzigen Unternehmens in Erwägung gezogen hatte, blieb er dabei nicht stehen, sondern erachtete es weiterhin auch als möglich, daß man ihn als den Urheber der jüngsten Unruhen ertappte und festnahm. In diesem Fall war an eine Benutzung des eigenen Labors nicht mehr zu denken.
Die Schwelle zum Nichts Er begann also, sich ein Versteck einzurichten. Unter einem Decknamen erwarb er ein Haus weit draußen im dünnbesiedelten Land. Im Lauf der folgenden Tage und Wochen kaufte er hier und dort, so daß sich bei einer Nachforschung kein Zusammenhang ergeben konnte, die dringendst notwendigen Geräte und installierte sie in seinem »Ausweichlabor«, wie er es nannte. Über all das vergaß er jedoch sein ursprüngliches Vorhaben nicht. Er fuhr fort, die Bernaler an der Erlangung der Vollkommenheit zu hindern.
* Napral Egk Simenk war zutiefst besorgt. Als Vorsitzender des Regierenden Wissenschaftsrats war er in erster Linie dafür verantwortlich, daß der Wahnsinnige, der zweiundsechzig Millionen Menschen mit einer heimtückischen Sporenkultur vergiftet hatte, gefaßt wurde. Seit drei Tagen waren die Behörden auf der Suche, und noch gab es keine einzige Spur. Es war spät am Abend. Napral Egk Simenk hatte den Tag damit verbracht, sich mit anderen Mitgliedern des Regierenden Rates zu besprechen und den Behörden, die die Suche betrieben, Anweisungen zu geben. Im Laufe des Morgens hatten Truppen der freiwilligen Polizei den nördlichen Teil des Krankenlandes durchgekämmt und jeden verhört, der ihnen in die Finger fiel. Das Ergebnis war gleich Null gewesen. Die Kranken wußten nichts von der Seuche und hatten keine Ahnung, wer sie hervorgerufen haben könnte. Diese Erkenntnis bedrückte Napral Egk Simenk mehr noch als alles andere. Solange man den Attentäter unter den Kranken vermuten konnte, ließ sich das Seuchenunglück von einem Versagen der Sicherheitsvorkehrungen ableiten, die an den Grenzen des Krankenlandes installiert waren und dafür zu sorgen hatten, daß kein Kranker das Reservat verließ. Jetzt jedoch gewann es den Anschein, als sei der Wahnsinnige einer von denen, die in Freiheit lebten
15 ein Mitbürger, der seinen Irrsinn hinter einem scheinbar normalen Äußeren verbarg und um so gefährlicher war, als niemand sich traute ihn zu verdächtigen. Napral Egk Simenk saß in der geräumigen Innenhalle seines Hauses. Er war Philosoph, einer jener Menschen, die den Sinn des Lebens zu enträtseln suchen. An diesem Tag jedoch hatte ihn die Philosophie schändlich im Stich gelassen. Hinter dem Attentat des Wahnsinnigen verbarg sich einfach kein Sinn. Simenk hatte die Beleuchtung gedrosselt. In der großen Halle herrschte ein samtenes Halbdunkel, in dem die Umrisse der Gegenstände sich aufzulösen schienen und an Wirklichkeit verloren. Plötzlich hörte Simenk hinter sich ein Geräusch. Verwundert drehte er sich um. Angst empfand er nicht. Auf Toulminth gab es keine Gesetzlosigkeit und somit auch keinen Anlaß, sich vor ihr zu fürchten. Zunächst sah Simenk nichts. Dann jedoch glaubte er die Silhouette eines Menschen zu erkennen, die sich gegen den ein wenig helleren Hintergrund abzeichnete. »Wer ist da?« fragte Simenk mit lauter Stimme. Die Silhouette bewegte sich, wurde größer und deutlicher, kam näher. Napral Egk Simenk erkannte die in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt eines Mannes. Auf dem Schädel trug er eine schwarze Kappe, und das Gesicht war durch eine Maske verdeckt, die Schlitze für Augen und Mund sowie zwei Nasenlöcher besaß. Noch immer empfand Napral Egk Simenk keine Furcht. Aber er war verwundert über den ungewöhnlichen Besuch. »Wer bist du und was willst du?« fragte Simenk mit ruhiger Stimme, jedoch so, daß seine Mißbilligung des unerwünschten Besuches deutlich herauszuhören war. »Wer ich bin, tut nichts zur Sache«, antwortete der Maskierte. »Und was ich will, das kannst du dir denken!« Überraschung leuchtete aus Simenks Augen. Die Stimme war verstellt, das hatte er beim ersten Wort schon gemerkt. Warum
16 aber hatte der Fremde es nötig, seine Stimme zu verstellen? Nur, damit man sie später nicht wiedererkannte? Oder vielleicht, weil sie in ihrem normalen Klang Napral Egk Simenk vertraut war? »Denken?« sagte Simenk. »Nichts kann ich mir denken!« »Ich will dich!« erklärte der Vermummte. »Mich …?« Jetzt erst dämmerte Simenk eine Ahnung von der Größe der Gefahr, in der er sich befand. »Du willst … mich … gefangennehmen?« stieß er hervor. »Die Umstände erfordern es«, bestätigte der Schwarze. »Du bist wahnsinnig!« brach es aus Napral Egk Simenk hervor. »Dein Geist ist verwirrt! Du bist krank …!« Und während er diese Worte hervorsprudelte, kam ihm eine weitere Erkenntnis. Der Wahnsinnige! Das mußte er sein! Derselbe Mann, der zweiundsechzig Millionen Mitmenschen skrupellos vergiftet hatte! Er war plötzlich ganz ruhig. Wenn er wirklich einen Irrsinnigen vor sich hatte, dann nützte ihm die Empörung nichts. Im Gegenteil, er mußte sich so leger wie möglich geben, um den Verrückten nicht zu reizen. »Du bist es also …!« murmelte er. »Wer bin ich?« forderte der Maskierte. »Derselbe, der die Leute vergiftet hat!« »Davon weiß ich nichts«, behauptete der Vermummte, aber seine Stimme hatte nicht jenen sicheren Klang, an dem man die Wahrheit erkennt. »Du mußt dich behandeln lassen«, bat Simenk. »Es gibt Ärzte, die dir helfen können, wieder ein normaler Mensch zu werden. So, wie du bist, stellst du für dich selbst und deine Mitmenschen eine schwere Gefahr dar …« »Gib dir keine Mühe, Napral Egk Simenk!« klang es da spöttisch unter der Maske hervor. »Ich bin nicht wahnsinnig, und eines Tages wird diese Welt mir bestätigen müssen, daß ich tatsächlich unter einer Herde von Blinden der einzig Sehende war.«
Kurt Mahr Sein Umhang geriet in Bewegung. Eine bleiche Hand erschien, und in der Hand ruhte ein kleines Gerät, bei dessen Anblick Simenk die Augen weit aufriß. »Und jetzt müssen wir gehen«, sagte der Fremde mit dumpfer Stimme. »Hab keine Angst, es wird dir nichts geschehen. Es geht alles ganz schmerzlos …« Es gab ein leises »Klack!«, und in derselben Sekunde fühlte Napral Egk Simenk einen leichten Stich hoch in der linken Schulter. Es wallte heiß in ihm auf. Es dröhnte und pochte im Schädel. Simenk verlor das Bewußtsein.
* Eine Stunde nach Mitternacht fuhr Gernok Egk Subra mit dem Aufzug von der Büroebene des Behördenzentrums hinab in die unterirdische Garage, in der er seinen Gleitwagen abgestellt hatte. Er war besorgt und verwirrt. Vor kurzer Zeit war es der biophysikalischen Abteilung gelungen, die Struktur der seuchenverursachenden Sporen zu entschlüsseln und damit die Bedingungen zu erkennen, unter denen die Sporen erzeugt worden sein mußten. Das war eine äußerst wichtige Erkenntnis, denn sie ermöglichte einen Schluß auf Art und Qualität der Einrichtung des Labors, in dem der wahnsinnige Seuchenattentäter die Sporen hergestellt hatte. Gernok Egk Subra, der mit den biophysikalischen Aspekten der Suche nach dem Irrsinnigen betraut worden war, da Possert Egk Flangkort, der sonst diesen Posten ohne Zweifel übernommen hätte, krank darniederlag, hatte sofort versucht, sich mit Napral Egk Simenk, dem Vorsitzenden des Regierenden Wissenschaftsrats, in Verbindung zu setzen. Die Entdeckung war so wichtig, daß die notwendigen Konsequenzen ohne Zögern daraus gezogen werden mußten. Simenk hatte sich jedoch nicht gemeldet. Auch ein Rundruf hatte keinen Erfolg gebracht. Da bekam es Gernok Egk Subra mit der Angst zu tun. Konnte Simenk etwas zugestoßen sein?
Die Schwelle zum Nichts Subra wollte sich überzeugen. Er unternahm es selbst, zu Simenks Haus hinauszufahren. Simenk wohnte knapp zweihundert Kilometer vom Behördenzentrum entfernt. Das war eine Fahrzeit von einer Viertelstunde, wenn er nichts überstürzte. Subra stieg in sein Fahrzeug und schaltete das Triebwerk ein. Gedankenverloren wählte er die Zieladresse und lehnte sich danach in seinem Sessel bequem zurück, um den Autopiloten die Steuerung des Wagens zu überlassen. Die schwarze Gestalt, die in unmittelbarer Nähe seines Parkplatzes hinter einer Säule lauerte, bemerkte er nicht, sah auch nicht, wie sie sich wenige Augenblicke nach seinem Start in ein anderes Fahrzeug schwang und die unterirdische Garage mit hoher Geschwindigkeit verließ. Subras Gleiter ging auf eine Flughöhe von knapp fünfhundert Metern. Das war eine sichere Bodenentfernung; da es zwischen dem Behördenzentrum und Napral Egk Simenks Wohnort keine Erhebungen von mehr als dreihundert Metern gab. Mit hohem Tempo rauschte das schnittige Fahrzeug durch die Nacht. Aus der Tiefe heraus leuchteten die bunten Lampen, mit denen die einzelnen Häuser markiert waren, jeweils zwölf Lampen pro Haus, die mit Farbe und Anordnung einen Kode ergaben, aus dem man den Eigentümer des Gebäudes erkennen konnte. Gernok Egk Subra überließ sich seinen Gedanken. Die Suche nach dem wahnsinnigen Attentäter war eine anstrengende Beschäftigung, die an den Nerven zehrte. Die Seuchenopfer kamen erst jetzt, nach mehr als drei Tagen, langsam wieder auf die Beine. Es hatte keine Todesopfer gegeben, wie von den Medizinern vorausgesagt worden war. Und trotzdem galt der Vorfall in Gernok Egk Subras Augen als eine Katastrophe ersten Ranges. Subra, ein verhältnismäßig junger Mann und das zweitjüngste Mitglied des Regierenden Rates, hatte gern an die Vollkommenheit des Gesellschaftssystems geglaubt, in dem er lebte. Er war Geschichtswissenschaftler und wußte, daß es in der Vergangenheit des bernalischen Volkes
17 Zeitabschnitte gegeben hatte, in denen die Menschen hilflos dem Wüten der Natur ausgeliefert waren, in denen sie untereinander blutige Kriege führten, in denen soziale Ungerechtigkeit zum Nährboden grausiger Verbrechen wurden. Das alles lag weit in der Vergangenheit. Der Bernaler hatte gelernt, die Natur zu beherrschen. Es gab keine unheilbaren Krankheiten mehr, keine Kriege, keine Überschwemmungen, keine tödlichen Wirbelstürme mehr. Der Mensch hatte seine Umwelt und sich selbst in den Griff bekommen. Und jetzt? Bedurfte es wirklich nur eines Wahnsinnigen, um den Zustand der Vollkommenheit als einen Traum zu entlarven? War das Erreichte wirklich auf so unsicherem Boden gebaut, daß ein einziger Kranker es mühelos zum Einsturz bringen konnte? Soweit war er in seinen Gedanken gekommen, da sah er aus dem Augenwinkel tief unter sich eine Kombination von Positionslampen, die ihm bekannt vorkam. Er schrak auf und sah genauer hin. Tatsächlich: dreimal weiß, zweimal gelb, viermal grün und dreimal blau, zu einem Halbkreis mit darin eingeschlossenem Pfeil angeordnet. Das war sein eigener Kode! Der Gleiter flog soeben über Gernok Egk Subras Haus! Subra war zunächst verwirrt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Autopilot vom Kurs abgekommen war. Sein Haus jedoch lag nicht einmal annähernd in der Richtung, die er vom Behördenzentrum zu Simenks Wohnsitz hätte fliegen sollen. Er prüfte die Kontrollen. Sie waren ohne Ausnahme in Ordnung und wiesen darauf hin, daß das Flugsystem einwandfrei funktionierte. Das brachte ihn noch mehr in Verwirrung. Er drückte den Knopf des Fahranzeigers und wartete darauf, daß die Landkarte des Gebietes, über dem er flog, auf dem kleinen Bildschirm erschien, und dabei bekam er die erste Ahnung, daß an diesem nächtlichen Ausflug noch mehr falsch war als nur der Kurs, auf dem er sich bewegte. Der Bildschirm blieb dunkel. Die Elektronik reagierte nicht auf die Betätigung des
18 Schalters, auch nicht, als Subra den Versuch mehrere Male wiederholte. Allmählich bekam er es mit der Angst zu tun. Wer mochte wissen, was sonst noch nicht funktionierte. Wer mochte wissen, wo der Autopilot mit ihm hin wollte! Er griff nach dem Mikrophon der Funkanlage. Die Anlage sollte sich, sobald er das Mikrophon aus der Halterung löste, selbsttätig einschalten. Aber sie tat es nicht. Das grüne Kontrollicht, das beim Einschalten aufleuchten sollte, blieb dunkel. Panik griff nach Gernok Egk Subra. Er hieb mit der geballten Faust auf die Taste, die den Autopiloten desaktivierte und ihm das Steuer in die eigene Hand gab. Er rechnete schon gar nicht mehr mit einem Erfolg. Und sein Pessimismus erwies sich als gerechtfertigt: Der Autopilot zeigte keinerlei Reaktion. Er ließ sich die Steuerung des Gleitwagens nicht abnehmen. Subra resignierte. Noch saß ihm die Panik in der Kehle, aber sein Bewußtsein war diszipliniert genug zu erkennen, daß er aus eigener Kraft an seiner Lage vorläufig nichts zu ändern vermochte. Er lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen. Noch bewegte sich das Fahrzeug in konstanter Höhe und auf geradem Kurs. Vielleicht war die Lage längst nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hatte lediglich eine Fehlschaltung im Innern des Autopiloten zur Speicherung einer falschen Zieladresse geführt, an der das Fahrzeug seinen Passagier korrekt und unverletzt absetzen würde. Etwa eine Stunde verging. Da merkte Subra, wie das Fahrzeug sich nach vorne zu neigen begann. Erschreckt fuhr er auf, aber schon nach wenigen Sekunden war ihm klar, daß es sich nur über die bei jedem Landevorgang üblichen Gleitneigung handelte. Es war finster draußen. Seit fast einer halben Stunde hatte er keine Positionslampe mehr zu sehen bekommen. Er war, vom Behördenzentrum kommend, über sein Haus, also in allgemein südlicher Richtung geflogen. Wenn die Geschwindigkeitsanzeige stimmte, dann hatte er in dieser Stunde knapp
Kurt Mahr achthundert Kilometer zurückgelegt. Er befand sich also nicht mehr weit von der Grenze des Krankenlandes entfernt. Der Wagen setzte auf. Mit einem Seufzer der Erleichterung öffnete Gernok Egk Subra das Luk und stieg aus. Die Nachtluft war warm und weich und von den Gerüchen der Natur erfüllt. Subras Augen hatten sich im Verlauf des Fluges an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah die dunklen Schatten von Büschen und Bäumen, und weit im Hintergrund den Umriß eines großen Hauses. Es mußte ein uraltes Gebäude sein. Es hatte nicht die flache Schüsselform der modernen bernalischen Architektur, sondern die Gestalt einer hohen Kuppel, fast schon einer Halbkugel. So hatte man vor eintausend Jahren gebaut. War das das Ziel, als das der Autopilot seine Angaben interpretiert hatte? War das alte Haus in den Adressenlisten des Funkleitsystems überhaupt verzeichnet? Plötzlich sprach aus der Dunkelheit eine dumpfe Stimme auf ihn ein. »Gernok Egk Subra, komm hierher!« Er fuhr herum, versuchte, mit den Augen die Finsternis zu durchdringen, die sich unter einer Gruppe hoher, dicht belaubter Bäume ausbreitete, und gewahrte schließlich die Gestalt eines Mannes. Wie unter einem fremden Zwang setzte er sich in Bewegung und schritt auf den Unbekannten zu. »Wer bist du? Und was willst du von mir?« Der Fremde lacht halblaut. »Es scheint, ich bekomme in dieser Nacht nur diese beiden Fragen zu hören.« Er beantwortete sie nicht. Subra hörte plötzlich ein Geräusch, das wie »Klack!« klang. Dann spürte er im Arm einen milden Schmerz wie von einem Nadelstich. Die Beine versagten ihm plötzlich den Dienst. Er stürzte vorwärts und verlor das Bewußtsein.
4. Die Folgen der Seuche waren noch nicht überwunden, die Rekonvaleszenten schlichen noch immer auf wackligen Gliedmaßen
Die Schwelle zum Nichts daher, da hatte Toulminth schon seine zweite Sensation. Zuerst sickerten die Nachrichten nur spärlich durch, meist in Form von Gerüchten, und die Zahlen, die dabei genannt wurden, wechselten von Mal zu Mal. Aber am Abend des vierten Tages nach dem Ausbruch der Seuche stand das Ungeheuerliche endlich unverrückbar fest: Von den fünfunddreißig Mitgliedern des Regierenden Wissenschaftsrats waren einundzwanzig spurlos verschwunden. Auf Toulminth hielt man den Atem an. Die zögernde Verbreitung der Nachrichten entpuppte sich als eine Folge des unglaublichen Geschehens: Der für die Nachrichten verantwortliche Rat gehörte ebenfalls zu den Verschwundenen. Es hatte sich nur mit Mühe jemand finden lassen, der bereit war, den Rat zu vertreten, die Nachrichten zu sammeln und sie zu verbreiten. Die Bernaler standen vor einem Rätsel. Schlimmer noch: Es entstand ein Zustand der Verwirrung, bei der jedermann die Hände in den Schoß legte und auf Anweisungen »von oben« wartete, dabei übersehend, daß es oben nicht mehr viele Leute gab, die Befehle erteilen konnten. Drei Fünftel des Regierenden Rats waren verschwunden. Von den anderen hatten viele noch mit den Folgen der Krankheit zu kämpfen. Niemand wußte, was er tun sollte, und es verging eine ganze Nacht, bis sich die Behörden soweit organisiert hatten, daß mit einer planmäßigen Untersuchung des unerklärlichen Vorfalls begonnen werden konnte. Zunächst versuchte man zu erfahren, wann die Verschwundenen zum letzten Mal gesehen worden waren. Im Laufe der Nachprüfungen stellte sich heraus, daß Napral Egk Simenk, der Vorsitzende des Regierenden Wissenschaftsrats, anscheinend der erste gewesen war, der verschwand. Das medizinische Datenzentrum hatte die Erlaubnis zur Untersuchung der Daten erteilt, die von den Diagnostik-Monitoren in Simenks Haus aufgenommen und an die Datenbank weitergeleitet worden waren. Daraus ergab sich, daß die Monitoren etwa vier Stunden vor Mitter-
19 nacht die letzten Aufzeichnungen gemacht hatten. Um diese Zeit mußte Simenk das Haus also verlassen haben. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen, noch war er wieder im Innern des Hauses aufgetaucht. War Napral Egk Simenk der erste Verschwundene, so bildete Odna Egk Protim das Endglied der Kette. Sie, eine der beiden Frauen im Regierenden Rat, hatte die Nacht im Haus ihres Gefährten verbracht und war von diesem gegen Mitte des Morgens verabschiedet worden. Sie hatte, so sagte er, zuerst nach Hause und dann zum Behördenzentrum fahren wollen. Zwischen dem Verschwinden des ersten und letzten Vermißten waren also vierzehn Stunden vergangen. Manche waren nur so verschwunden, andere mitsamt Fahrzeug, so zum Beispiel Gernok Egk Subra, der Geschichtsexperte. Auch die Verteilung der Orte, von denen die einzelnen Personen verschwunden waren, ermöglichte keinen tieferen Einblick in die Zusammenhänge des Geschehens: Etwa die Hälfte der Betroffenen, vermutete man, war geradewegs aus ihren Wohnungen verschwunden, die anderen hatte das Schicksal während irgendeiner Besorgung ereilt. Es gab keinen Hinweis, ob es sich bei dem Ganzen um einen Zufall, um ein Unglück oder ein geplantes Unternehmen handelte, und falls die letzte Vermutung richtig war, auf wen die Planung zurückging, auf die Verschwundenen selbst oder auf einen geheimnisvollen Attentäter, der die Leute hatte verschwinden ssen. Die Unsicherheit verwandelte sich rasch in Angst. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit hatten die Bernaler erlebt, wie die Beschaulichkeit ihres Daseins bis in die Grundfesten erschüttert wurde. Man begann, schwarz zu sehen. Immer öfter hörte man in diesen Stunden die Ansicht, das, was man jetzt erlebe, sei nur der Anfang einer katastrophalen Entwicklung. Und dann wurde noch ein anderes Gerücht laut. Bei der Seuche, die zweiundsechzig Millionen Menschen drei Tage lang in ihrem Bann gehalten hatte, handelte es sich um die Tat eines Wahnsinnigen. War es nicht plau-
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sibel, daß auch das Verschwinden der einundzwanzig Ratsmitglieder auf die Tätigkeit desselben Wahnsinnigen zurückging? Die Gestalt eines Dämons begann, das Denken der Bernaler zu beherrschen, die Silhouette eines teuflisch schlauen Verrückten, der es sich zum Vorsatz gemacht hatte, Unheil unter die Bewohner von Toulminth zu streuen.
* Possert Egk Flangkort war mit seinem Erfolg zufrieden. Wer Toulminth heute sah, der würde nicht glauben, daß es noch vor vier Tagen eine paradiesische, zufriedene Welt dicht am Rande der Vollkommenheit gewesen war. Die Menschheit befand sich in Aufruhr. Und jedes Quant Unruhe entfernte sie weiter vom Zustand der Vollkommenheit. Nicht, daß es Flangkort leichtgefallen wäre, dies zu erreichen. Die Entführung der einundzwanzig Mitglieder des Regierenden Wissenschaftsrats war eine Strapaze ersten Ranges gewesen. Er hatte sich eine Liste angefertigt, nach der er vorgegangen war, mit den wichtigsten Leuten an erster Stelle. Die vierzehn übrigbleibenden Räte, zu denen er selbst gehörte, waren die weniger wichtigen Mitglieder des Regierenden Rates. Er hatte alle die geschnappt, die eine wichtige Funktion innehatten. Viele hatte er zu Hause angetroffen, wie Napral Egk Simenk. Er hatte sie mit einer Lähmungswaffe bewußtlos geschossen und aufgeladen, manchmal bis zu sechs Mann bei einer Fuhre. Das war schnell gegangen. Aber da gab es andere Fälle, wie zum Beispiel den Gernok Egk Subras. Er war bis nach Mitternacht im Behördenzentrum gewesen, und die einzige Weise, wie Flangkort sich seiner hatte versichern können, war, die elektronische Einrichtung seines Gleitwagens zu manipulieren. Der Autopilot wurde so eingestellt, daß er nur zu dem einen Ziel fuhr, das Flangkort in seinen Speicher gegeben hatte. Kartenleser, Funkgerät und Selbstfahrmechanismus wurden unbrauchbar gemacht. Gernok Egk Subra und andere wa-
ren ihm planmäßig in die Falle gegangen. Das allerdings war eine zeitraubende Angelegenheit gewesen. Stets hatte er warten müssen, bis sie ihren Wagen bestiegen, und war ihnen dann mit Höchstgeschwindigkeit vorausgeeilt, um sie am Ziel empfangen zu können. Seine Verkleidung hatte er kein einziges Mal abgelegt. Keiner der Entführten wußte zu diesem Zeitpunkt, daß er nicht das einzige Opfer des Entführers war. Den Ort, an dem die Verschwundenen untergebracht waren, hatte Possert Egk Flangkort schon vor langer Zeit durch Zufall entdeckt. Es handelte sich um ein uraltes, längst verlassenes Haus, das vor etwa fünfzehnhundert Jahren einem reichen Eigenbrötler als Domizil gedient hatte und nicht weit von der Grenze des Krankenlandes entfernt lag. Das Innere war verwahrlost, aber die Hülle des Hauses war gut erhalten, und die elektronische Einrichtung funktionierte noch so gut wie vor anderthalb Jahrtausenden. Das Haus war riesig und hatte eine Unzahl von Räumen. Es hatte Flangkort keine Schwierigkeiten bereitet, jedes seiner Opfer in einem gesonderten Zimmer unterzubringen. Bevor er mit der Serie der Entführungen begann, hatte er durch Einnahme eines Medikaments zunächst seine Gesundheit wieder voll hergestellt. Er hatte selbst an der Seuche erkranken müssen, um über allen Verdacht erhaben zu sein. Da jedoch die Krankheitserreger sein eigenes Erzeugnis waren, war er auch derjenige, der am besten wußte, wie der Krankheit beizukommen sei. Er war schon wieder gesund gewesen, als andere Kranke kaum aus dem Zustand der Bewußtlosigkeit erwacht waren. Die DiagnoseMonitoren in seiner Wohnung hatte er über sein Befinden getäuscht. Sein umfangreiches Wissen auf dem Gebiet der Elektronik war ihm bei diesem Unternehmen trefflich zustatten gekommen. Trotz des durchschlagenden Erfolgs hatte er jedoch seinen Alternativplan nicht vergessen. Die Entführung der Ratsmitglieder diente einem doppelten Zweck. Zunächst sollte sie Entsetzen auslösen, die Selbstzu-
Die Schwelle zum Nichts friedenheit der Bernaler erschüttern und den Vormarsch in Richtung Vollkommenheit aufhalten. Zweitens aber hatte Possert Egk Flangkort mit den einundzwanzig Ratsmitgliedern die Creme der bernalischen Wissenschaft in seine Hand gebracht. In den Köpfen dieser einundzwanzig Männer und Frauen ruhten mehr als achtzig Prozent allen Wissens, das in diesen Tagen menschlichem Bewußtsein zugänglich war. Wenn er diesen ungeheuren Wissensbetrag kondensieren, wenn er ihn in eine winzig kleine Kapsel pressen konnte, dann würde diese Kapsel alles enthalten, was ein Fremder jemals über die bernalische Zivilisation zu wissen begehren konnte. Etwas Ähnliches hatte Possert Egk Flangkort im Sinn. Während die Gefangenen bewußtlos lagen, hatte er jedem einzelnen von ihnen ein winziges Stück Gewebe entnommen. Die Gewebeproben bewahrte er, sorgfältig verpackt und vor Zerfall geschützt, in demselben Haus auf, in dem sich auch die Gefangenen befanden. Von dort würde er sie holen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Vorerst jedoch war es nicht soweit. Seine Aktion ging weiter. Die Bernaler mußten noch stärker erschüttert werden. Zuerst sollten sie erfahren daß die einundzwanzig Mitglieder des Regierenden Wissenschaftsrates nicht aus eigenem Antrieb verschwunden, sondern entführt worden waren. Und danach sollte der Schlag erfolgen, der die Entwicklung der bernalischen Gesellschaft auf einen Kurs brachte, der von der Vollkommenheit fort anstatt auf sie zu führte.
* Der übernächste Tag brachte die Sensation: Napral Egk Simenk kehrte zurück. Halb verhungert, verwahrlost, kaum noch bei Kräften torkelte er durch die Tür eines Hauses im Süden des Behördenzentrums. Er mußte seinen Namen nennen, in seinem bedauernswerten Zustand hätte ihn sonst niemand erkannt. Man brachte ihn sofort in
21 ärztliche Obhut. Vorläufig wurde nur ein Bruchteil seiner Geschichte bekannt. Ein Unbekannter, schwarz vermummt und maskiert, war in jener Nacht in Simenks Haus eingedrungen und hatte ihn gefangengenommen. Simenk war überzeugt, daß es sich um denselben Mann handelte, der die Seuche verursacht hatte. Er hatte Simenk bewußtlos gemacht, indem er ein wahrscheinlich mit Nervengift getränktes Projektil auf ihn abschoß. Einen Tag lang hatte sich Simenk in einer finsteren Zelle in einem unbekannten Gebäude befunden. Einmal war ihm durch eine Klappe in der Zellentür Nahrung gereicht worden. Seinen Entführer hatte er nie wieder zu sehen bekommen. Zu Beginn des zweiten Tages seiner Gefangenschaft war die Klappe an der Tür von neuem geöffnet worden. Er war nach vorne getreten in der Hoffnung, abermals etwas zu essen und zu trinken zu erhalten. Statt dessen war eine Hand erschienen, die eine Waffe hielt. Ehe er sich's versah, hatte ihn zum zweitenmal ein vergiftetes Geschoß getroffen. Als er wieder aus der Bewußtlosigkeit erwachte, lag er in einem Park im Schatten eines Baumes. Aufs Geratewohl war er losmarschiert und hatte schließlich das Haus erreicht, in dem man sich seiner annahm. Bei dem einen Rückkehrer blieb es nicht. Einer nach dem anderen trafen sie alle wieder ein. Es war ein Prozeß, der sich über mehr als zwanzig Stunden erstreckte. So verschieden auch die Umstände gewesen sein mochten, unter denen sie in Gefangenschaft geraten waren, das weitere Schicksal bis zum glücklichen Ende war in allen Fällen nach ein und demselben Muster geformt: Aufenthalt in einer finsteren Zelle, einmal eine Mahlzeit, beim zweiten Mal einen lähmenden Schuß, Erwachen irgendwo in der Landschaft, nicht allzu weit von einem Anwesen entfernt, das sie trotz ihrer Schwäche noch aus eigener Kraft erreichen konnten. Wer erwartet hatte, daß das Bekanntwerden der Umstände, unter denen sich diese großmaßstäbliche Entführung abgespielt hatte, im Lande einen Sturm der Empörung
22 auslösen würde, der sah sich getäuscht. Zu sehr waren die Bernaler an ein sorgloses, von Gefahren befreites Leben gewöhnt, als daß ihnen die Vorgänge der vergangenen Tage nicht eine tiefe, fast abergläubische Furcht eingejagt hätten. Es regten sich Stimmen, die behaupteten, das Leben in Fülle und Sorglosigkeit habe die Götter beleidigt – Götter, an die im Verlauf der vergangenen fünftausend Jahre fast kein einziges Gebet mehr gerichtet worden war. Die Seuche und die Entführung der einundzwanzig Ratsmitglieder, das seien Zeichen der Götter, Warnungen sozusagen, von dem bisherigen Leben abzulassen und einen anderen Weg einzuschlagen. Derartige Meinungen grassierten zumeist in den unteren Bevölkerungsschichten. Weiter oben sah man die Dinge anders; aber man sah auch, daß das Volk unruhig wurde und daß etwas getan werden müsse, um dem plötzlich wiederauflebenden Aberglauben Einhalt zu gebieten. Dazu war in erster Linie und vor allen Dingen notwendig, daß man des Irrsinnigen habhaft wurde, der für die Seuche und die Entführungen verantwortlich war. Obgleich es keinerlei Beweis dafür gab, daß beide Vorkommnisse von ein und derselben Person ausgelöst worden waren, zweifelte daran jedoch niemand. Die Behörden entwickelten eine fieberhafte Aktivität. Überall im Land wurde nach Spuren des vermeintlich Wahnsinnigen gesucht. Unter den Entführten gab es jedoch nur zwei, die den Suchern bei ihrem Vorhaben behilflich zu sein vermochten: Napral Egk Simenk, der fest daran glaubte, daß er die Stimme des Entführers wiedererkennen könne, wenn ihm nur genug Stimmproben vorgespielt wurden, und Gernok Egk Subra, der genau wußte, daß sein manipuliertes Gleitfahrzeug, das übrigens unweit seines Wohnsitzes leer aufgefunden worden war, ihn vom Behördenzentrum auf dem Weg zum Versteck des Unbekannten direkt über sein eigenes Haus hinweggeführt hatte. Mit diesen Auskünften ließ sich etwas anfangen, aber nicht so schnell, wie es die Be-
Kurt Mahr hörden gern gehabt hätte. Den Spuren nachzugehen, das erforderte Zeit. In diesen Tagen ereigneten sich auf Toulminth zum ersten Mal seit vielen Jahrtausenden wieder die ersten Nervenzusammenbrüche. Ihre Opfer waren ausschließlich Leute, die mit der Suche nach dem unbekannten Wahnsinnigen zu tun hatten. Aber all das, was sich bisher zugetragen hatte, war nichts im Vergleich mit dem nächsten Anschlag des Irrsinnigen. Diesmal ließ er die Menschheit vorher wissen, was sie erwartete.
* Possert Egk Flangkort hatte lange mit sich gerungen, bevor er bereit war, die häßliche Tat zu begehen. Er war zweimal zum Verbrecher geworden – aber das waren kleine, unerhebliche Verbrechen gewesen, im Vergleich zu dem, das er jetzt auszuführen beabsichtigte. Diesmal würden Menschen ums Leben kommen. Der Anschlag, das wußte Flangkort, ließe sich durchführen, ohne daß Menschen dabei zu Schaden kamen. Er brauchte seine Warnung nur präzise genug zu formulieren, dann würde das Gebäude zum kritischen Zeitpunkt geräumt werden. Er hatte diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und in ihr, als er sich halb schon für sie entschlossen hatte, eine Art metaphysischen Trostes gefunden. Aber das Gewissen – ausgerechnet das Gewissen! – ließ ihm keine Ruhe. Es war seine Aufgabe, die Bernaler so zu erschüttern, daß sich ihr Gesellschaftssystem radikal von dem Kurs entfernte, der zur Vollkommenheit führte. Nur auf diese Weise war die bernalische Zivilisation überhaupt zu retten. Das drastischste Mittel wäre gewesen, einen Krieg zu entfachen, in dem die eine Hälfte des Volkes gegen die andere antrat und die beiden Parteien einander bis zur Erschöpfung zerfleischten. Ein Krieg jedoch ließ sich so ohne weiteres nicht vom Zaun brechen. Seine Vorbereitung erforderte Zeit, soviel Zeit womöglich, daß inzwischen die
Die Schwelle zum Nichts Erreichung der Vollkommenheit eingetreten wäre. Aber eine drastische Maßnahme war ohne Zweifel vonnöten. Etwas mußte geschehen, das die Bernaler nachhaltig das Fürchten lehrte. Ein Ereignis mußte eintreten, das den Bewohnern von Toulminth heilige Angst einjagte, die sie von da an auf Schritt und Tritt begleiten sollte. Nichts aber war mehr geeignet, Furcht zu erzeugen, als der gewaltsame Tod eines Menschen. Dieses also war das Mittel, zu dem Possert Egk Flangkort greifen mußte, selbst wenn er über der Schuld, die er damit auf sich lud, zugrunde gehen mußte. Später, viel später, wurden seine Aufzeichnungen gefunden – von einem Volk, das nicht das seine war und das seine Sprache erst mühevoll erlernen mußte. An diesem Tag hatte Possert Egk Flangkort in die Aufzeichnungen gesprochen: »Ich bin der erbarmenswerte Held der klassischen Tragödie. Mir ist eine Aufgabe zugefallen, die ich bewältigen muß. Eine Pflicht, die ich auf mich nehmen muß, bei der es um das Weiterbestehen unseres Volkes und unserer Kultur geht. Aber die Erfüllung dieser Pflicht bringt es mit sich, daß ich Schuld auf mich lade: Ich muß Menschen töten. Ich habe versucht, mich in diesem Teufelskreis zurechtzufinden, in dem ich nicht glücklich werden kann, ohne mich zutiefst unglücklich zu machen. Ich habe versucht abzuwägen. Das Schicksal, das meinem Volk droht, wenn ich nicht sofort handele, schließt den Untergang dieses Volkes nicht unbedingt ein. So, wie ich es sehe, wird es nur zu einer drastischen Veränderung der Umwelt kommen, zu einem Umschlag in ein übergeordnetes Kontinuum. Ob dieser Umschlag für Menschen unserer Gestalt und Struktur tödlich ist, kann von hier aus unmöglich gesagt werden. Wenn aber, so folgere ich, noch gar nicht feststeht, ob Menschen bei dem, was uns bevorsteht, ernsthaft zu Schaden kommen werden, woher nehme ich dann das Recht, Men-
23 schen zu töten, nur um das Bevorstehende abzuwenden? Ich kann auf diese Frage keine Antwort finden. Das wundert mich nicht. Auch die Helden der alten Tragödie fanden keine. Ich habe keine Rechtfertigung für das Töten, und dennoch muß ich töten. Der, der die Welten lenkt – wenn es ihn überhaupt gibt! – sei meiner armen Seele gnädig!«
5. Gegen Mittag wurde dem Wissenschaftler Gernok Egk Subra eine Sendung zugestellt, die ein Magnetband enthielt. Die Sendung war an den »Rat für Nachrichten und deren Verbreitung« gerichtet, wandte sich also an Subra in seiner offiziellen Funktion als Mitglied des Regierenden Wissenschaftsrats. Eine Inspektion des Bandes enthüllte, daß es sich um ein einfaches Band für akustische Aufzeichnungen handelte. Ein Absender war nicht angegeben. Die Sendung war auf dem üblichen Wege durch Rohrpost in Subras Büro gelangt. Subra, durch die Vorgänge der jüngsten Tage argwöhnisch gemacht, übergab die Umhüllung des Päckchens und die Kapsel, in der das Band ruhte, den zuständigen Behörden. Aber auch die konnten den Absender nicht ausfindig machen. Er hatte keinerlei Spuren hinterlassen. Gernok Egk Subra hörte schließlich das Band ab. Schon die ersten Worte der wohlmodulierten männlichen Stimme flößten ihm Furcht ein. »Diese Nachricht enthält die Warnung vor einem Unglück, das das Volk der Bernaler in Kürze treffen wird, um es für seinen Hochmut zu strafen. Dieses Band ist an dich, Gernok Egk Subra, gerichtet, damit du es über die Nachrichtenstationen verbreiten und den Inhalt der Warnung den Bernalern zur Kenntnis geben kannst …« Während das Band sich abspulte, fertigte ein zweites Aufnahmegerät eine Kopie an. Subra unterbrach an dieser Stelle die Wiedergabe und sandte die soeben angefertigte Kopie ins Labor, damit man dort eine akusti-
24 sche Analyse der Stimme anfertige. Vielleicht war das der Hinweis, den Napral Egk Simenk brauchte, um den unheimlichen Attentäter zu identifizieren. Während sich die Laboranten an die Arbeit machten, hörte Gernok Egk Subra die merkwürdige Botschaft zu Ende. Was der Unbekannte ihm zu sagen hatte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Die Natur ist die Herrin alles Lebens. Das Volk der Bernaler aber hat sich gegen die Gesetze der Natur versündigt. Seit Tausenden von Jahren lebt es in einem unnatürlichen Zustand, nur mit sich selbst beschäftigt, eigenbrötlerisch, selbstsüchtig in verschwenderischem Wohlstand und scheinbarem Frieden. Nun jedoch ist die Geduld der Natur am Ende. Sie hat erkannt, daß die Bernaler ohne Anstoß von außen nicht auf den richtigen Weg zurückfinden werden. Also hat sich die Natur entschlossen, diesen Anstoß zu liefern, auf daß das Volk der Bernaler erkenne, daß es nicht weiterhin gegen die Gesetze der Meisterin verstoßen kann. Hört, ihr Bernaler, was geschehen wird: Unter den Einrichtungen, die ihr geschaffen, unter den Denkmälern, die ihr eurer Hoffart gebaut habt, gibt es eines, das euch besonders teuer ist, das ihr für besonders wichtig haltet. Noch heute, in der Zeit nach Sonnenuntergang, wird es vernichtet werden. Es wird keine Spur davon übrigbleiben, nur ein Loch im Boden. Ihr aber, ihr Hoffärtigen, deutet dieses Zeichen richtig! Die Geduld der Meisterin Natur ist am Ende. Geht in euch! Besinnt euch, auf daß ihr den wahren Frieden erlanget!« Gernok Egk Subra hörte das Band mehrmals ab. Dann entschloß er sich, die Warnung über die öffentlichen Nachrichtenstationen ausstrahlen zu lassen. Die Verantwortung, die er übernommen hätte, wenn er die Botschaft verheimlicht hätte, erschien ihm zu groß. Er setzte sich mit Napral Egk Simenk ins Einvernehmen, der seine Entscheidung billigte. Er war, was den Inhalt der
Kurt Mahr Mahnung anbelangte, ebenso erschüttert wie Subra und stimmte mit diesem darin überein, daß es sich bei dem Verfasser der Botschaft um denselben Wahnsinnigen handeln müsse, der zuvor die Seuche verursacht und die Mitglieder des Regierenden Wissenschaftsrates entführt hatte. Gernok Egk Subras gewichtigste Hoffnung, die Stimme des Sprechers identifizieren zu können, erwies sich in Kürze als unberechtigt. Im Labor wurde ermittelt, daß es sich bei der männlichen, vorzüglich modulierten Stimme um das Erzeugnis eines Sprechgeräts handelte.
* Die Tätigkeit der Behörden steigerte sich im Laufe des Nachmittags bis zum Niveau der Panik. Die Warnung des Unbekannten war mehrmals ausgestrahlt worden. Aus der Bevölkerung meldeten sich Tausende, die zu wissen glaubten, auf welche Institution der Anschlag verübt werden sollte. Die Behörden gaben sich Mühe, jeden einzelnen Anruf aufzunehmen und auf Plausibilität zu untersuchen. Trotzdem wußte man eine Stunde vor Sonnenuntergang noch nicht mehr, als daß es sich bei dem Ziel des Attentats wahrscheinlich um ein Gebäude handeln müsse. Völlig ungelegen kam den an der hektischen Aktivität Beteiligten eine überraschende Entdeckung, die ein Team von Ärzten gemacht hatte, das mit der Behandlung der von dem wahnsinnigen Kidnapper entführten Personen betraut war. Fast alle Behandelten waren inzwischen entlassen worden und an ihre Arbeitsplätze oder in ihre Wohnungen zurückgekehrt. Nur ein Mitglied des Regierenden Rates, ein alter Mann, dem die Strapazen besonders zugesetzt hatten, befand sich noch in der Obhut der Ärzte. Bei einer sorgfältigen Untersuchung hatten die Mediziner im Rücken des Mannes einen winzigen, etwa zweieinhalb Tage alten Einstich festgestellt. Fünf oder sechs Stunden später hätte sich die Haut über dem en-
Die Schwelle zum Nichts gen Einstichkanal wieder geschlossen, und die Verletzung wäre unsichtbar gewesen. Da der Patient nicht sagen konnte, woher der Einstich stammte, mußten die Ärzte annehmen, daß er ihm beigebracht worden war, während er in der Gefangenschaft des Attentäters bewußtlos lag. Sie forschten weiter und entdeckten, daß der Kanal quer durch das Gewebe bis zu einem Rückenmarkswirbel verlief. Er hatte die Wandung des Wirbels durchdrungen und endete in einer kleinen, mit Rückenmarksflüssigkeit gefüllten Höhlung. Anscheinend war dieser Höhlung eine Probe der Flüssigkeit entnommen worden. Die Ärzte gaben sofort Alarm. Widerstrebend erkannten die mit der Verhütung einer Katastrophe beschäftigten Entführungsopfer, daß hier in aller Eile gehandelt werden mußte, wenn man Aufschlüsse erlangen wollte. Sie stellten sich den Ärzten, und in der Tat wurde festgestellt, daß jeder der Männer und Frauen einen ähnlichen Einstich im Rücken hatte wie der alte Mann, auf dessen Verletzung die Mediziner zuerst aufmerksam geworden waren. Das war eine verblüffende Erkenntnis, die den Hinweis auf eine Spur zu enthalten schien, auch wenn man ihn bislang noch nicht gefunden hatte. Was wollte der Wahnsinnige mit einundzwanzig winzigen Proben Rückenmarksflüssigkeit? Woher bezog er die Fachkenntnis und die Geräte, die nötig waren, um eine solche Probenentnahme ohne Gefahr für den Patienten durchzuführen? An der Gesundheit der Opfer hatte dem Unbekannten offensichtlich sehr viel gelegen. Nirgendwo war mehr Flüssigkeit entnommen worden, als der Körper des Patienten ohne Schaden abzugeben vermochte. Konnte man angesichts dieser neuen Entdeckung die Hypothese überhaupt noch aufrechterhalten, daß es sich bei dem Attentäter um einen Irrsinnigen handeln müsse? Mit diesen Gedanken schlugen sich die Verantwortlichen herum, als die Sonne unterging.
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* Gegen Mittag hatte Possert Egk Flangkort sich dorthin begeben, wo sein entscheidender Schlag landen sollte. Er fiel nicht auf. Tagsüber arbeiteten viele Menschen in diesem Gebäude, und es gab einen ständigen Besucherstrom, hauptsächlich Forscher, Wissenschaftler, die nach Informationen suchten, die auf gewöhnlichem Wege nicht zu erhalten waren. Flangkort kannte sich hier aus. Er war schon oft hier gewesen. Man kannte ihn und begrüßte ihn voller Respekt. Etwa zwei Stunden hielt er sich in dem modernen Kuppelbau auf. Er hatte an vielen Stellen zu tun, und wenn er unbeobachtet war, deponierte er in sicheren Verstecken kleine Sprengkörper, die kugelförmig waren und einen Durchmesser von nicht mehr als drei Zentimetern hatten. Er war sicher, daß sie nicht gefunden werden würden – selbst wenn der Regierende Wissenschaftsrat sich dazu entschloß, bei Bekanntwerden der Warnung sämtliche wichtigen Gebäude durchsuchen zu lassen, ein Unterfangen, zu dem ihm allerdings weder Zeit noch Leute genug zur Verfügung standen. Nachdem er sich dieser Aufgabe entledigt hatte, fuhr er auf Umwegen zu jenem uralten Haus, in dem er vor fast anderthalb Tagen die Entführten versteckt hatte. Dort warteten, sachverständig verpackt, die einundzwanzig Proben, die er dem Rückenmark der Gefangenen entnommen hatte. Er lud fünfzehn davon in sein Fahrzeug und fuhr zu seinem Versteck, das er mittlerweile fast vollständig eingerichtet hatte. Die übrigen sechs Proben ließ er einstweilen zurück. Er war nicht sicher, ob er sich überhaupt jemals mit ihnen werde beschäftigen können. Das hing davon ab, wieviel Zeit ihm noch blieb. Auf jeden Fall waren die fünfzehn Proben, die er jetzt mit sich brachte, die wichtigsten, und die anderen sechs waren, wie Flangkort meinte, in dem alten Haus vorzüglich aufgehoben.
26 Am frühen Nachmittag kehrte er nach Hause zurück. Unterwegs hörte er zum ersten Mal die Warnung des unbekannten Attentäters, die von den Nachrichtenstationen ausgestrahlt wurde. Er änderte sofort den Kurs, wie er es von vornherein vorgehabt hatte, um zum Behördenzentrum zu fliegen, wo ohne Zweifel der Regierende Wissenschaftsrat zu einer Sondersitzung zusammentreffen würde. Im Kreise der Wissenschaftler sah er nur besorgte Gesichter. Es wurden Krisenstäbe gebildet. Possert Egk Flangkort verstand es, sich von der Mitarbeit in den Stäben zu befreien. Er, als einer der angesehensten Mitglieder des Regierenden Rates, brauchte keine Sonderaufgabe zu übernehmen. Er blieb dem Regierenden Rat selbst zugeordnet, der als Koordinator für die Tätigkeit der verschiedenen Stäbe fungierte. Es war für ihn äußerst interessant, den Gedankengängen der anderen Wissenschaftler zu folgen und dabei festzustellen, daß für ihn keinerlei Gefahr der Entdeckung bestand. Sie suchten immer noch nach einem Wahnsinnigen, und solange sie von diesem Denkschema nicht abließen, brauchte er keine Sorge zu haben. Die Entdeckung, die die Ärzte am späten Nachmittag machten, versetzte ihm allerdings einen gelinden Schock. Er hatte nicht damit gerechnet, daß die Einstiche entdeckt werden würden, durch die er seinen Opfern Proben der Rückenmarksflüssigkeit entzogen hatte. Er beruhigte sich jedoch bei der Erkenntnis, daß diese Entdeckung für die Suche nach dem Attentäter nur von geringer Bedeutung sein würde. In kurzer Zeit würden sich die Bernaler mit einer neuen, viel schwerer wiegenden Katastrophe befassen müssen. Nach Sonnenuntergang begann das große Warten. Es gab nichts mehr zu tun. Die Frist war abgelaufen. Mehrere Mitglieder des Rates verabschiedeten sich, um nach Hause zu gehen und von dort aus die Entwicklung mitzuverfolgen. Possert Egk Flangkort gehörte zu diesen Männern. Drei Stunden vor Mitternacht kehrte er in
Kurt Mahr sein Haus zurück. Er aß ein wenig zu Abend, ohne Appetit, und nahm sodann das kleine Funkgerät zur Hand, mit dem er die versteckten Sprengkörper zur Detonation zu bringen gedachte. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.
* Es wurde nicht viel gesprochen im großen Sitzungssaal des Regierenden Wissenschaftsrates. Die Stimmung war bedrückt. Nur fünf Mitglieder waren noch zugegen, unter ihnen Napral Egk Simenk, der Vorsitzende, und Gernok Egk Subra, verantwortlicher Rat für Nachrichtenverbreitung. »Ich habe nachgedacht«, sagte Simenk plötzlich. Es war eine mehr oder weniger lächerliche Feststellung; denn Nachdenken – das war alles, womit sie sich im Laufe der vergangenen Stunden hatten beschäftigen können. Aber Simenk fuhr fort: »Nach meiner Ansicht haben wir einen schweren Fehler begangen, als wir aus dem ersten Attentat des Unbekannten schlossen, er müsse wahnsinnig sein, und seitdem nie wieder von diesem Gedanken loskamen.« Gernok Egk Subra blickte ihn erstaunt an. »Aber gewiß doch kannst du nicht annehmen, daß ein Mann, der solche Taten verübt, geistig normal ist?« Simenk wiegte unschlüssig den Kopf und sah mit großen, sorgenvollen blauen Augen vor sich hin. »Was nennen wir geistig normal?« fragte er halblaut. »Es sollte eigentlich für geistige Normalität nur ein Kriterium geben, nämlich das normengerechte Funktionieren des Bewußtseins. Abweichungen von der Norm werden durch physische oder chemische Anomalien im Gehirn oder sonstwo im Nervensystem hervorgerufen. Nur derjenige, an dem solche Anomalien einwandfrei festgestellt werden, sollte geisteskrank genannt werden.« »Soweit ich weiß, ist das eben das einzige Kriterium, nach dem wir uns richten«, be-
Die Schwelle zum Nichts merkte Gernok Egk Subra. Simenk machte eine verneinende Geste. »Aber nein, so ist es eben nicht! Wir nennen den Attentäter wahnsinnig, ohne daß wir Gelegenheit hatten, ihn zu untersuchen …« »Dessen bedarf es nicht«, widersprach Subra. »Seine Taten sprechen deutlich genug. Es sind die Taten eines Wahnsinnigen.« Simenk verlor die Ruhe nicht. »Du bist erregt«, hielt er dem Jüngeren zugute, »daher kann es leicht geschehen, daß deine Gedanken sich im Kreise drehen. Aber ist es nicht so, daß wir den Unbekannten zum Wahnsinnigen gestempelt haben, nur weil er Dinge tat, die keiner von uns jemals tun würde? Ist es nicht so, daß wir ihn irrsinnig nennen, nur weil er anders handelt als wir? Er ist ein Außenseiter. Seiner Drohung können wir entnehmen, daß er mit unserer Gesellschaftsordnung nicht einverstanden ist. Er bemüht sich, sie zu ändern. Um dieses Ziel zu erreichen, muß er ungewöhnliche Methoden anwenden. Es soll ein jeder in sich gehen und sein Gewissen erforschen. Ist es nicht wahr, daß wir den Unbekannten nur deswegen für wahnsinnig halten, weil er ein Gegner unseres Gesellschaftssystems ist?« Er erhielt darauf keine Antwort. Ehrlichkeit war nach dem ungeschriebenen Moralkode der Bernaler eine der höchsten Tugenden. Simenks Aufforderung wurde befolgt. Man ging in sich. Man suchte zu erforschen, ob Simenks Behauptung etwa wahr sein könne. »Seht euch an, was er bisher getan hat«, fuhr Simenk inzwischen fort. »Er hat eine Seuche geschaffen – mit Hilfe eines Erregers, den er zuvor synthetisch herstellen mußte. Welcher Wahnsinnige bringt eine solche Leistung zustande? Er hat einen Erreger gewählt, der Menschen zwar krank macht, sie aber nicht tötet. Spricht das nicht für moralisches Empfinden? Und weiter! Er hat einundzwanzig Menschen entführt, gewiß nicht die Dümmsten unter den Bernalern, ohne daß einer der Entführten zu sagen wüßte, von wem er gefangengenommen wurde oder wo er sich während seiner Ge-
27 fangenschaft aufhielt. Dazu gehört strategisches und taktisches Geschick, Fähigkeiten, die ein Irrsinniger normalerweise nicht besitzt oder zumindest nicht konsequent anwenden kann. Und dann die Entnahme der Probe aus dem Rückenmark. Dahinter stecken Wissen und Erfahrung – und eine sichere Hand! Auch hier wiederum keinerlei Hinweis auf eine Geistesstörung, eher auf ein hohes Maß an Wissen. Nein, Freunde, wir haben es nicht mit einem Wahnsinnigen im pathologischen Sinne zu tun. Und dadurch, daß wir uns an diese Idee klammerten, haben wir wahrscheinlich wichtige Hinweise übersehen und unsere Suche in völlig falsche Bahnen gelenkt.« Schließlich raffte sich Gernok Egk Subra doch noch zum Widerspruch auf. »Aber diese Warnung, die er uns hat zukommen lassen! Doch sicherlich das Produkt eines Verrückten … oder meinst du nicht?« »Eines Schwärmers vielleicht«, antwortete Napral Egk Simenk »aber nicht eines Geistesgestörten. Nein, ich sage euch, was der Mann bezweckt. Er will, daß wir an seinen Wahnsinn glauben. Er rechnet damit. Denn indem er seinen Handlungen den Anschein des Irrationalen gibt, pflanzt er Furcht in die Herzen der Menschen. Er will, daß wir Angst haben. Er legt es darauf an, daß wir uns ständig vor ihm fürchten als vor einen skrupellosen, unberechenbaren Ungeheuer, das zu jeder Zeit, an jedem Ort wieder zuschlagen kann. Damit erschüttert er unser Selbstvertrauen, das er in seiner Warnung so lauthals anprangert. Damit gibt er unserer Gesellschaft zu verstehen, daß sie längst nicht so vollkommen ist, wie sie zu sein glaubt.« Gernok Egk Subra mußte zugeben, daß diese Behauptung manches für sich hatte. Er kam jedoch nicht dazu, darauf einzugehen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und unter dem hohen Torbogen erschien die Gestalt einer jungen Frau von beeindruckender Schönheit. Sie sah sich zögernd um. Da erhob sich Napral Egk Simenk, schritt auf sie zu und be-
28 grüßte sie höflich. »Sei uns willkommen, Poola Sangtru! Es muß ein ungewöhnlicher Anlaß sein, der dich in dieser Stunde der Not zu uns bringt.« Köpfe ruckten auf, als der Name genannt wurde. Das also war Poola Sangtru, Possert Egk Flangkorts Gefährtin, von deren unübertrefflichen Schönheit das Gerücht in glühendsten Worten zu berichten wußte. Ja, sie war schön! Man konnte es Flangkort kaum übelnehmen, daß er ihr – wie das Gerücht wissen wollte – das Versprechen abgenommen hatte, während der Zeit, in der sie seine Gefährtin war, die Öffentlichkeit möglichst zu meiden. Von Napral Egk Simenks Hand geleitet, betrat die schöne Frau den Saal. Sie wirkte unsicher, ein wenig verstört. Haltlos glitt ihr Blick über die Männer, die am Tisch saßen. Mechanisch glitt sie in den Sessel, den Simenk ihr galant bereitstellte. Erst jetzt schien sie sich der Frage zu erinnern, mit der sie an der Tür begrüßt worden war. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und erklärte mit matter Stimme: »Ja, ich bin gekommen, um euch eine Beobachtung mitzuteilen … einen furchtbaren Verdacht!« Fünf Augenpaare ruhten auf Poola Sangtru, die den Blick starr vor sich hin auf die Tischplatte gerichtet hielt. War das der Augenblick, auf den sie alle gewartet hatten? Kam jetzt die Aufklärung der ungeheuerlichen Verbrechen, die der unbekannte Attentäter begangen hatte? Poola Sangtru war es, die vor ihnen saß. Bedeutete das, daß Possert Egk Flangkort etwas mit der Sache zu tun hatte? Die Wißbegierde der Männer des Regierenden Wissenschaftsrates wurde grausam enttäuscht. »Sprich, meine Freundin!« hatte Napral Egk Simenk die Frau gerade aufgefordert, da war aus der Ferne plötzlich ein Rumoren zu hören, das sich in Sekundenschnelle zu dröhnendem Donnern steigerte. Der Boden zitterte. Es knisterte in den Wänden. Das Licht flackerte.
Kurt Mahr Mit bleichem Gesicht sprang Gernok Egk Subra auf. »Der Anschlag …!« schrie er mit gellender Stimme.
6. Es war ein Schauspiel von grausiger Schönheit. Im Augenblick der Detonation erschien es, als hätten sich die Umrisse des hell erleuchteten Gebäudes ruckartig verändert, als hätte die Luft plötzlich eine neue, weniger durchsichtige Qualität angenommen. Dann erloschen drinnen die Lichter und an ihrer Stelle erschien grelle rötliche Glut, die aus dem Boden schoß und das mächtige Bauwerk auf dem Rücken trug. Schneller als das Auge zu folgen vermochte, schoß die Glut in die Höhe, wirbelte Qualm nach oben und verbarg die zerbröckelnden, zerschmelzenden Überreste des Bauwerks. Heulend und fauchend fiel der heiße Wind über das Land her. Von der Stätte der Explosion sich ausbreitend, raste er über die Ebene, bog Büsche und Bäume vor sich zu Boden, wirbelte Staub auf und jagte den Menschen Furcht ein. Inzwischen war die hellrote Feuersäule bis in den Himmel gewachsen. Noch während sie wuchs, verwandelte sie sich in weißen Dampf, der von innen heraus beleuchtet zu sein schien. In der Höhe begann der Dampf sich auszubreiten, und das Gebilde nahm die Form eines riesigen, nur noch matt leuchtenden Pilzes an, dessen Stamm aus dem Bogen wuchs und dessen Krone bis an die Grenze des freien Weltraumes zu reichen schien. Possert Egk Flangkort hatte sich dazu zwingen müssen, das Schauspiel anzusehen. Es war ein Teil seiner Sühne, daß er Augenzeuge des Unglücks wurde, in dem durch seine Schuld unschuldige Menschen den Tod fanden. Sein Haus lag knapp zwanzig Kilometer von dem Gebäude des Allgemeinen Rechenzentrums entfernt, dem sein Anschlag galt. Der Dampfpilz der Kernexplosion war mit schmerzhafter Deutlichkeit zu
Die Schwelle zum Nichts sehen. Vom Tosen des Sturmes geschüttelt, kehrte der Wissenschaftler schließlich ins Innere des Hauses zurück. Die Tat war geschehen. Sie ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Zur Nachtzeit hielten sich gewöhnlich vier Mann im Kuppelbau des Rechenzentrums auf. Sie überwachten die automatische Tätigkeit der Rechner, die in der Nacht Routinearbeit verrichteten. Diese vier Mann hatten den Tod gefunden. Possert Egk Flangkort hoffte inbrünstig, daß sie nicht gerade in dieser Nacht zufällig noch andere Leute im Rechenzentrum befunden hatten, oder in unmittelbarer Nähe des Gebäudes, wo die Wucht der Explosion immer noch tödlich gewesen sein mußte. Schweigsam, niedergeschlagen verabreichte sich Possert Egk Flangkort ein Beruhigungsmittel, das seine flatternden Nerven besänftigte. Dann rief er das Behördenzentrum an. Er ruhte nicht eher, als bis Napral Egk Simenk selbst in dem Videokubus erschien, dessen Umrisse bei eingeschaltetem Gerät durch flimmernde, lumineszierende Linien bezeichnet wurden. »Was war es?« fragte Possert Egk Flangkort, als Simenks behäbige Gestalt im Innern des Kubus erschien. »Das Rechenzentrum«, antwortete der Vorsitzende. Er war bleich, und die weiten dunklen Augen spiegelten das Entsetzen über das ungeheuerliche Geschehen. Flangkort schien zu erschrecken. »Menschen …?« fragte er. »Vier«, antwortete Simenk. »Die übliche Nachtwache. Man muß annehmen, daß sie tot sind.« Flangkort sah vor sich hin zu Boden. »Braucht ihr meine Hilfe?« wollte er wissen. »Nein, danke«, wurde ihm geantwortet. »Hier kann niemand mehr helfen.«
* Als der erste Schreck sich gelegt hatte,
29 stand Poola Sangtru unsicher auf. »Ich komme zur ungelegenen Zeit«, sagte sie leise. Draußen heulten immer noch die Alarmsirenen. »Du kommst im richtigen Augenblick!« widersprach Simenk der schönen Frau. »Ich bitte dich zu bleiben. Wir wollen uns miteinander unterhalten. Bitte hab Geduld. Es gibt ein paar Dinge, die ich regeln muß!« Er eilte hinaus. Die anderen Räte folgten ihm. Poola blieb allein zurück. Von den wachhabenden Offizieren der Freiwilligen Polizei erfuhren Napral Egk Simenk und seine Begleiter die Hiobsbotschaft: Das Rechenzentrum war in die Luft geflogen. Das also war es, was der Attentäter gemeint hatte: Die Einrichtung, der die Bernaler besondere Bedeutung beimaßen, war die Ansammlung von elektronischen Rechnern und Speichern, die man im modernen Kuppelbau des Rechenzentrums untergebracht hatte. In den Speichern hatte die umfangreichste Datenbank aller Zeiten geruht, ein Werk vieler Jahre, auf das seine Schöpfer ebenso stolz waren wie auf die summenden Maschinen der Rechner, die die Datenbank bediente. Es gab nichts mehr zu retten. An der Stelle des Kuppelbaus gab es einen flachen, breiten Trichter, wie es der Unheimliche versprochen hatte. In zwei Kilometern Entfernung von der Explosionsstätte hatte die Druckwelle einen Mann zu Boden geschleudert und leicht verletzt. Sonst war niemand zu Schaden gekommen – außer den vier Männern der Nachtwache, die sich im Innern des Gebäudes aufgehalten hatten und im Augenblick der Explosion den Tod gefunden haben mußten. Napral Egk Simenk bewegte sich wie ein Träumender. Seit Menschengedenken hatte es auf Toulminth keinen von Menschen verursachten Fall gewaltsamen Todes mehr gegeben. Wie lange war es her, seit er von dem Attentäter als einem Mann gesprochen hatte, der zwar mit der herrschenden Gesellschaftsstruktur nicht einverstanden, aber im Grunde genommen doch human und keines-
30 wegs wahnsinnig war? Nicht einmal eine Stunde! Und er, ausgerechnet er, Napral Egk Simenk, hatte sich zum Verteidiger des Mannes gemacht, dessen skrupellosem Wirken soeben vier unschuldige Menschen zum Opfer gefallen waren! Auf dem Rückweg zum Sitzungssaal wurde er angehalten. Possert Egk Flangkort verlangte ihn zu sprechen. Simenk betrat die Sprechzelle und versicherte dem Erschütterten, daß seine Hilfe nicht benötigt werde. Niemandes Hilfe wurde gebraucht, denn es gab nichts mehr zu helfen. Er gab Subra einen Wink. Subra verstand und brachte Poola Sangtru, die auf die Rückkehr der Ratsmitglieder wartete, in einen kleinen Nebenraum. Nach einer Weile fand sich auch Simenk dort ein. Die übrigen Räte waren gegangen, um sich die Unglücksstätte anzusehen. »Fürchterliches ist geschehen, meine Freundin«, sagte Simenk mit sorgenvoller Stimme, als er sich setzte. »Menschen sind ums Leben gekommen, von der Hand eines Attentäters, den ich vor kurzer Zeit noch mit meinen eigenen Worten in Schutz genommen habe!« Er warf Gernok Egk Subra einen um Verzeihung bittenden Blick zu. Simenk fuhr fort, die Katastrophe zu schildern. Es war ihm, als mache er auf Poola Sangtru wenig Eindruck, als leide die junge Frau an einem Kummer, der viel tiefer ging, ihr Herz unmittelbar traf als die Nachricht von der Explosion des Rechenzentrums und dem Tod der vier Männer. Plötzlich begann sie zu sprechen. Mit dumpfer Stimme brachte sie Worte hervor, die Simenk und Subra zunächst nicht verstanden. Sie sprach wie ein Automat, dessen Sicherung plötzlich versagt hat, unaufhörlich, immer mit dem gleichen düsteren Tonfall. »Er war nicht da«, sagte sie. »Er hätte krank darniederliegen sollen wie wir anderen auch, aber er war nicht da. Ich selbst konnte mich kaum auf den Beinen halten; aber die Sehnsucht nach ihm war größer und stärker als die Krankheit. Ich hatte versucht,
Kurt Mahr ihn anzurufen, und keine Antwort bekommen. Die Anlage war abgeschaltet, als wünsche er nicht gestört zu werden. Das verwunderte mich. Er wußte doch, daß auch ich krank war. Er konnte sich doch vorstellen, daß ich mit ihm zu sprechen wünschte. Da nahm ich ein Medikament, das mir für wenige Stunden genug Kraft verlieh, daß ich wenigstens aufrecht stehen konnte. Ich kletterte in meinen Wagen und fuhr zu seinem Haus hinüber. Er war nicht da. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. War er nicht ebenso krank wie ich? Und warum hatte er seine Bildsprechanlage abgeschaltet? Sollte jedermann vermuten, daß er, wie andere Kranke auch, auf seinem Lager ruhte und nicht gestört werden wollte, während er sich in Wirklichkeit irgendwo draußen herumtrieb? Ich wartete. Ich bugsierte meinen Wagen in ein Versteck und wartete. Es war kurz vor Mitternacht, als ich kam, aber erst spät am nächsten Morgen bekam ich ihn zu sehen. Er war die ganze Nacht fort gewesen. Jetzt erst kehrte er heim. Ich hatte plötzlich kein Verlangen mehr danach, mich ihm zu zeigen. Die Wirkung des Medikaments war längst gewichen. Ich sah dunkle Nebel und Schleier vor den Augen. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr genau. Irgendwie muß ich es geschafft haben.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Ich wagte es nicht. Das war die Nacht, in der einundzwanzig Mitglieder des Regierenden Wissenschaftsrats entführt wurden.« Napral Egk Simenk empfand ein unwirkliches Gefühl des Grauens, als er erkannte, wer der Mann war, über den sie sprach. Ihr Gefährte, einer der angesehensten Männer des Landes, selbst Mitglied des Regierenden Rates. »Und dann diese Botschaft heute nachmittag«, begann Poola Sangtru von neuem. »Ich kenne seine Sorge. Er fürchtet, daß die bernalische Zivilisation in Kürze einen Grad der Vollkommenheit erreichen wird, der eine drastische Veränderung unserer Umwelt
Die Schwelle zum Nichts hervorruft. Wir werden in ein übergeordnetes Kontinuum geschleudert, so drückt er sich aus. Er fürchtet sich davor. Er meint, es sei das Ende unserer Welt, das Ende unserer Kultur. Ich verstehe das nicht. Ich kann nicht glauben, was er sagt. Es scheint so unvernünftig, daß die Natur sich darum kümmern sollte, ob eine Zivilisation mehr oder minder vollkommen ist. Daß es Naturgesetze geben sollte, die auf den Grad der Vollkommenheit einer Kultur reagieren. Er aber glaubt an seine Hypothese, und er fürchtet sich vor dem, was kommt. Er will das Volk der Bernaler vor dem Untergang bewahren. Mit Worten erreicht er das nicht. Niemand glaubt ihm, niemand nimmt ihn ernst.« Sie sah auf und blickte Napral Egk Simenk fest in die Augen. »Hörst du, was ich sagte?« fragte sie in flehendem Tonfall. »Wenn man dasselbe in andere Worte kleidet, wenn man ›Vollkommenheit‹ durch ›Frevel an der Natur‹ ersetzt, kommt dann nicht dasselbe heraus, was wir alle heute nachmittag von den Nachrichtenstationen gehört haben?« Erschüttert machte Simenk das Zeichen der Zustimmung. Er blickte vor sich hin. Lange Zeit fand er keine Worte. Als er schließlich zu sprechen begann, klang seine Stimme spröde, als sei eines seiner Stimmbänder zersprungen, und die Worte kamen ihm nur schwerfällig über die Lippen. »Ich höre, was du sagst, meine Freundin. Es ist keine Gewißheit, die du hast, sondern nur ein Verdacht. Daran müssen wir denken und dürfen den Kopf nicht verlieren. Wichtig ist, daß wir zunächst herausfinden, ob deine Vermutungen sich rechtfertigen lassen.«
* Unter ihnen glitt das grüne Land dahin. Wälder wechselten mit Parks und die Häuser darin waren bunte Tupfen, die der Landschaft das Aussehen eines Spielplatzes verliehen, den Kinder sich gebaut hatten. »An meinem Gleitwagen wurden ver-
31 schiedene Manipulationen vorgenommen«, sagte Gernok Egk Subra, »aber das Meßgerät für Fluggeschwindigkeit funktionierte anscheinend einwandfrei. Wenigstens war es in Ordnung, als der Wagen in der Nähe meines Hauses aufgefunden wurde, während alle anderen Fehlfunktionen noch vorhanden waren.« Er zeigte auf das Meßinstrument. »Ich bewegte mich mit derselben Geschwindigkeit. Ich kam nicht direkt über mein Haus, sondern ein wenig seitwärts. Es blieb links von mir liegen …« Er sah zum Fenster hinaus und beobachtete eine Buschgruppe. Dahinter lag sein Haus. Er hatte den Kurs korrekt eingerichtet. Etwa in derselben Entfernung wie damals glitt er über das gepflegte Anwesen hinweg, die Gruppe der Markierungslampen, die jetzt allerdings, am Tag nicht eingeschaltet waren. An ihrer Stelle dienten bunte Farbtupfen auf dem Dach des Hauses zur Identifizierung. Napral Egk Simenk, sein Begleiter, sah starr geradeaus. Der Alte schien im Laufe der Nacht ein anderer geworden zu sein. Kein Lächeln zeigte sich mehr auf seinen Lippen. Er sprach nicht mehr als unbedingt nötig. Seine blauen Augen hatten den stumpfen Glanz der Bitterkeit. Die Lippen bildeten einen schmalen Strich, hart aufeinandergepreßt, als hätten sie darüber zu wachen, daß dem Mund kein unnötiger Laut entschlüpfte. Gernok Egk Subra behielt die bisherige Geschwindigkeit bei, bis seit dem Start vom Behördenzentrum nahezu eine Stunde abgelaufen war. Dann trieb er den Wagen auf eine Höhe von fünfzehnhundert Metern und begann zu kreisen. Die Stille in der kleinen Kabine ging ihm auf die Nerven. Simenk mochte es halten, wie er wollte, er jedenfalls, Subra, mußte reden. »Es war ein großes Haus von einer Form, wie man sie vor mehr als tausend Jahren liebte. Es gab ein paar vereinzelte Bäume ringsherum, aber keinen dichten Bewuchs, unter dem das Gebäude sich etwa verstecken
32 könnte. Ich meine …« Er unterbrach sich mitten im Satz. Die Hand deutete durch die Frontscheibe schräg nach unten. »Da ist es!« stieß Subra hervor. Er drückte den Gleiter grob nach unten. Mit beängstigender Geschwindigkeit kam die Erde dem Fahrzeug entgegen. In fünfzig Meter Höhe fing Subra den Wagen geschickt ab und setzte hinter einem übermannshohen Gebüsch zur Landung an. Etwa zweihundert Schritte vorab ragte die hohe Kuppel des Hauses über den tropisch wuchernden Bewuchs. Mit einer Bewegung, die Entschlossenheit ausdrückte, griff Napral Egk Simenk in den Gürtel seines Gewandes und brachte eine Waffe zum Vorschein, einen Schocker, der vergiftete Nadeln verschoß. Der Mann, der ihn vor knapp vier Tagen entführt und hierhergebracht hatte, mußte eine ähnliche Waffe benützt haben. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte er grimmig. »Possert Egk Flangkort befindet sich nicht in seinem Haus. Es ist möglich, daß er sich hier ein ständiges Versteck eingerichtet hat.« Aus der Nähe und am Tage war deutlich zu erkennen, daß das Haus uralt sein mußte. Die Kuppel war aus synthetischem Material hergestellt, das im Laufe der Zeit Risse bekommen und abzublättern begonnen hatte. Die beiden Männer näherten sich dem alten Gebäude vorsichtig und unter Ausnutzung aller Deckungsmöglichkeiten. Sie schritten die Peripherie ab und fanden keine Spur, die darauf hinwies, daß jemand sich vor kurzem hier aufgehalten hatte. Schließlich betraten sie das Innere des Gebäudes. Die Anlage war ziemlich unübersichtlich, jene winklige, geheimnisvolle Innenarchitektur, wie sie vor zehn, elf und mehr Jahrhunderten in Mode gewesen war. Aber schließlich erreichten die beiden einen schmalen Gang, in dessen rechter Wand Tür an Tür lag. Es schien, als seien die Räume hinter den Türen früher als Tierkäfige benützt worden, denn im Unterteil einer jeden
Kurt Mahr Tür gab es eine Klappe, die nur von außen geöffnet werden konnte. Napral Egk Simenk und Gernok Egk Subra sahen einander bedeutungsvoll an. »Hier war es!« sagte Simenk. »Hinter diesen Türen haben wir gesteckt!«
* Possert Egk Flangkort stürzte sich kopfüber in die Arbeit. Es gab keinen logischen Grund, dies jetzt zu tun; denn nach seinem jüngsten Anschlag herrschten im ganzen Lande Bestürzung, Verwirrung und Furcht. Die Tätigkeit der abergläubischen Sekten in den unteren Bevölkerungsschichten hatte sprunghaft zugenommen. Es sah so aus, als habe Flangkorts Methode Erfolg, und wenn dem wirklich so war, dann brauchte er den Alternativplan nicht mehr, zu dessen Ausführung er sich das Versteck weit im Süden eingerichtet hatte, und die Arbeit, der er sich nun mit Verbissenheit hingab, war nutzlos. Aber er brauchte sie. Ob sie sinnlos war oder nicht – sie half ihm, sich abzulenken. Sie ließ ihn die peinigenden Selbstvorwürfe vergessen, mit denen er sich nach der Explosion des Rechenzentrums eine ganze Nacht lang gequält hatte. Sie war ein Narkotikum, das den Schmerz lindern und ihm über die Zeit hinweghalf, in der die Qualen seines Gewissens so intensiv waren, daß er sie bei gesundem Verstand nicht hätte überstehen können. Das Projekt, an dem er arbeitete, fußte auf einer Entdeckung, die er im Laufe langjähriger biophysikalischer Studien gemacht hatte. Bei dem Versuch, den Zusammenhang zwischen individuellen Genen und gewissen Eigenschaften seiner Versuchstiere zu erforschen, war ihm aufgefallen, daß es an zentraler Stelle in einem Chromosom ein Gen gab, das nichts mit den Körperfunktionen des Versuchstiers zu tun hatte und eigentlich völlig überflüssig zu sein schien. Mutation dieses Gens führte bei Tieren, die aus derart behandelten Keimzellen entstanden waren, zu keinerlei Veränderung gegenüber norma-
Die Schwelle zum Nichts len Tieren. Possert Egk Flangkort weigerte sich jedoch zu glauben, daß die Natur ein ganz und gar überflüssiges Gen geschaffen haben sollte, und setzte seine Versuchsreihe mit höher entwickelten Tieren – bisher hatte er primitive Insekten verwandt – fort. Auch dann jedoch ließ der Erfolg noch einige Zeit auf sich warten. Erst als Flangkort sich bis zu den Primaten, affenähnlichen Verwandten der Bernaler, vorgearbeitet hatte, erzielte er durch Mutation dieses rätselhaften Gens zum ersten Mal einen beobachtbaren Effekt. Ein junges Tier, das aus zwei in gleicher Weise behandelten Keimzellen in der Retorte entstanden war, litt offensichtlich an Bewußtseinsstörungen. Damit war das Rätsel der bisherigen Mißerfolge gelöst: primitive Insekten, ja selbst Vertebraten bis zu ziemlich hohen Entwicklungsstufen hinauf besitzen kein Bewußtsein in dem Sinne, wie das menschliche Bewußtsein verstanden sein wollte, und wo es kein Bewußtsein gab, da ließ sich selbstverständlich auch eine Bewußtseinsstörung nicht erzielen. Durch diese Erkenntnis aufmerksam gemacht, befaßte sich Possert Egk Flangkort nun noch eingehender mit diesem einen Gen. Er erschuf aus zwei Keimzellen, in denen das Gen völlig entfernt worden war, ein Geschöpf, das nur wenige Stunden lebensfähig war. Es war ein Nichts, ein Gemüse, das stumpfsinnig und jeder Initiative bar vor sich hin brütete und darüber sogar das Atmen vergaß, so daß der Körperhaushalt in Aufruhr geriet und nach kurzer Zeit der Tod durch innere Vergiftung eintrat. Das Geschöpf, schloß Flangkort, hatte kein Bewußtsein besessen. Es war eine leere Hülle gewesen, unfähig zu funktionieren. Er nannte das geheimnisvolle Gen das »Bewußtseins« oder »Ur-Gen«. Er isolierte es und erforschte seine Struktur. Er gewann die Erkenntnis, daß das Bewußtsein eines Wesens in der Molekülstruktur dieses Gens eindeutig gespiegelt sei. Er fand, daß er, wenn er eine Person mit seinem eigenen UrGen erschaffen könne, ein Wesen erzeugt
33 haben würde, dessen Bewußtsein dieselbe Struktur besaß wie das seine. Und er blieb dabei nicht stehen. Er erzeugte sein eigenes Ur-Gen auf synthetischem Wege und begann, es zu verändern. Er vervollkommnete es, bis es nicht nur die Struktur seines Bewußtseins, sondern auch die Grundzüge seines Wissens widerspiegelte. Damit hatte er einen Informationsträger allererster Güte geschaffen. Natürlich war es nicht so, daß das modifizierte Ur-Gen Possert Egk Flangkorts umfangreiches Wissen tatsächlich enthielt: Dazu war es zu klein und besaß nicht genug Speichervermögen. Aber dieses Gen, in zwei Keimzellen eingepflanzt, würde nach Vereinigung der Zellen zur Entstehung eines Wesens führen, dem im Laufe des Wachstumsprozesses Flangkorts Wissen sozusagen wie Erinnerungen zufiel. Ohne zu lernen, würde es in seinem Gehirn Wissen ansammeln, bis schließlich alle Kenntnisse, die Flangkort besaß, in dem Bewußtsein des Versuchsgeschöpfes sozusagen kopiert waren. Als letztes brachte Possert Egk Flangkort an dem Ur-Gen eine weitere Modifikation an: Er versetzte es in die Lage, sich in geeigneter Umgebung, also etwa im Innern einer Zelle, rapide zu vermehren und das ursprünglich vorhandene Ur-Gen zu verdrängen: Ein einziges seiner modifizierten UrGene, in den Körper eines anderen Menschen eingebracht, würde innerhalb kürzester Zeit dazu führen, daß der Infizierte sein eigenes Ich verlor und statt dessen die Bewußtseinsstruktur Possert Egk Flangkorts annahm. Zu den Kenntnissen, die in seinem Gehirn aufbewahrt wurden, würden sich im Laufe der Zeit diejenigen gesellen, die Flangkort besessen hatte. Solcherart war der Informationsträger, den Flangkort in Millionen von Exemplaren nach allen Richtungen ins Weltall zu entsenden gedachte, damit er eines Tages irgendwo von dem Angehörigen eines fremden Sternenvolks aufgenommen würde und dann von dem Schicksal kündete, das dem un-
34 glückseligen Volk der Bernaler zugestoßen war. Nur, hatte Flangkort beschlossen, war es wenig sinnvoll, nur eine einzige Art von Informationsträger auszusenden. Dem Fremden, der in ferner Zukunft mit den ausgesandten Ur-Genen konfrontiert wurde, mußte die Möglichkeit geboten werden, nicht nur einen einzelnen Aspekt, sondern das ganze breite Spektrum bernalischen Denkens kennenzulernen. Darum hatte Possert Egk Flangkort einundzwanzig Personen, die er für die fähigsten Köpfe seines Volkes hielt, Proben von Rückenmarksflüssigkeit entnommen, aus denen er die Struktur der U-rGene dieser Personen ableiten konnte. Er hatte sich einige zusätzliche Modifikationen ausgedacht und würde, wenn ihm noch Zeit dazu blieb, insgesamt achtundvierzig verschiedene Ur-Gene herstellen – darunter zwei Modifikationen seines eigenen –, millionenfach reproduzieren und dann auf ihre lange Reise schicken. Jetzt, da er mit der Arbeit begonnen hatte, kam ihm zu Bewußtsein, daß sich unter den Ur-Genen, mit denen er sich befaßte, bislang noch kein Spezimen aus einem weiblichen Körper befand. Das war ein deutlicher Mangel seines Projekts, jedoch einer, dem rasch abgeholfen werden konnte. Unter den sechs Proben, die im Kuppelhaus zurückgeblieben waren, befand sich die Odna Egk Protims, der einzigen Frau, die Flangkort entführt hatte. In der Nacht verließ er sein Versteck und fuhr zum Kuppelhaus hinüber, eine Entfernung von knapp vierhundert Kilometern. Er landete unmittelbar vor dem Haupteingang und betrat unbefangen das alte Gebäude, in dessen Innerem die Beleuchtung selbsttätig ansprang, als er über die Schwelle trat. Das Versteck der Proben befand sich im Hintergrund des Hauses. Possert Egk Flangkort durchschritt die große Halle, den einzigen übersichtlichen Raum des alten Gebäudes und gelangte schließlich in eine schmale Seitenkammer, die ein Kühlaggregat enthielt. Im Innern des Aggregates waren die Behälter mit den Proben untergebracht.
Kurt Mahr Flangkort hielt sie einzeln gegen das Licht und las die Beschriftungen, bis er den gefunden hatte, der Odna Egk Protims Namen trug. Er schob den Behälter in die Tasche, schloß die Tür des Kühlaggregates und wollte sich auf den Rückweg machen. Da fiel ein Schatten in die kleine Kammer. Flangkort wirbelte herum. Aus schreckgeweiteten Augen starrte er auf den Mann, der sich vor der Tür aufgebaut hatte und ihm den Ausgang versperrte. Der Schreck war so gewaltig, daß ihm die Beine zu zittern begannen. Der Mann hielt eine Waffe auf ihn gerichtet, einen Nadler, der mit Nervengift präparierte Projektile verschoß. Possert Egk Flangkort war waffenlos. »Meine Geduld hat sich ausgezahlt!« sagte Napral Egk Simenk mit ruhiger Stimme. »Dein Spiel, Possert Flangkort, ist aus!«
7. Es wurde ein Prozeß, an dem die ganze Welt teilnahm. Die aufgestaute Empörung einer Milliarde Bernaler entlud sich über Possert Flangkorts Haupt. Er selbst machte vom ersten Augenblick an keinen Versuch, die ihm zur Last gelegten Missetaten zu leugnen. Er gestand ein, die Seuche verursacht zu haben. Er gab zu, daß er einundzwanzig Mitglieder des Regierenden Wissenschaftsrates entführt und über einen Tag lang gefangengehalten habe. Und er leugnete nicht, daß er es gewesen war, der das Rechenzentrum mit Hilfe kleiner FusionsSprengkapseln in die Luft gesprengt und dabei vier Menschen getötet hatte. Aber auf eines verzichtete er nicht: Er legte dem Gericht die Gründe dar, die ihn zu diesen Handlungen bewogen hatten. Immer wieder von neuem sprach er die Warnung aus, die bislang niemand hatte hören wollen und die auch jetzt noch jeder für närrisch hielt: Die Zivilisation der Bernaler näherte sich einem kritischen Punkt. Sie stand unmittelbar davor, in den Zustand der Vollkommenheit einzutreten. Vollkommenheit aber war ein unnatürliches Ding. Sie war
Die Schwelle zum Nichts nicht stabil, sie hatte keine Existenzberechtigung. Die Natur würde automatisch dafür sorgen, daß dieser widernatürliche Zustand beseitigt wurde. Wie aber konnte die Natur solches verbringen? Indem sie den Fremdkörper, der in dem ihm angestammten Lebensbereich den Zustand der Vollkommenheit erreicht hatte, in einen anderen, höheren Lebensbereich versetzte, in ein übergeordnetes Kontinuum, in dem die Zeit nichts anderes war als eine von vier Wegkoordinaten. Flangkort zweifelte daran, daß die Menschen nach dieser Veränderung ihre neue Umgebung überhaupt wahrnehmen könnten, und stützte sich dabei auf die Aussagen seines ehemaligen Freundes Sigmar Kjellon, der behauptete, daß die Sinnesorgane des Menschen der Dreidimensionalität verhaftet seien und in einem übergeordneten Raum kläglich versagen müßten. Possert Flangkort malte die Zukunft in erschreckenden Farben. Er schilderte den Bernalern ihre neue Umgebung, in der sie weiter nichts wahrzunehmen vermochten als ein wesen und konturloses Flimmern, das sogenannte Zeitflimmern, wie er es getauft hatte. Er schilderte ihr zukünftiges Leben als das Leben von Haltlosen, die ziellos in einem unendlichen Abgrund umhertrieben, Zeitnomaden, deren Dasein keinen Sinn mehr hatte. Flangkorts temperamentvolle, beschwörende Ausbrüche waren nur zum Teil von der Hoffnung bestimmt, er könne seine Mitmenschen zu guter Letzt doch noch zur Besinnung bringen. Im übrigen aber ging es ihm um zwei Dinge, die jetzt, da er für das Gelingen seines ursprünglichen Vorhabens kaum noch Erfolgsaussichten sah, seine Handlungen nicht aus Verantwortungslosigkeit oder aus purer Freude am Verbrechen entstanden interpretiert wurden. Er mußte die Richter überzeugen, daß er aus echter Sorge gehandelt hatte – auch wenn die Sorge vom Gericht als eine an Manie grenzende Schwärmerei betrachtet wurde. Denn nur wenn er ein von Eigensucht oder gesellschaftsschädlichen Ingredienzen freies Motiv vorweisen konnte, würde man ihm den
35 Status eines Schuldigen Zweiten Grades zugestehen, der selbst darüber entscheiden konnte, ob er sich psychophysischer Behandlung unterziehen oder ins Krankenland abgeschoben werden wolle. Und zweitens sorgte Flangkort dafür, indem er immer und immer wieder auf seine Beweggründe zurückkam und nicht nur die Richter und Beisitzer, sondern auch das Publikum in Diskussionen verwickelte, daß man ihm naheliegende Fragen, wie zum Beispiel, was er mit den Rückenmarksproben vorgehabt habe und wohin die anderen fünfzehn Proben geraten seien, erst gar nicht stellte. Wenn es ihm gelang, ins Krankenland geschickt zu werden und nicht nur sein heimliches Versteck, sondern auch seine Absicht geheimzuhalten, dann ließ sich wenigstens sein Alternativplan verwirklichen. Er würde zwar den Bernalern nicht mehr helfen. Aber vielleicht würde er irgendwann in ferner Zukunft einmal verhindern, daß ein anderes Sternenvolk demselben Schicksal zum Opfer fiel. Possert Flangkort war auf der ganzen Linie erfolgreich. Der Prozeß dauerte insgesamt einen halben Monat und endete mit der Einstufung des Angeklagten in die Kategorie der Schuldigen Zweiter Klasse. Er habe, so hieß es in der Urteilsbegründung, nicht aus niederen Motiven, sondern aus falsch, nahezu schizophren verstandenem Verantwortungsbewußtsein heraus gehandelt. Possert Flangkort erklärte sich mit dem Urteil sofort einverstanden und bat um Abtransport ins Krankenland. Er verbrachte eine letzte Nacht in einer bequemen Zelle des Gefängniskomplexes und wurde früh am nächsten Morgen weit im Süden seiner ehemaligen Wohngegend über die unsichtbare Grenze des »verbotenen Landes« abgeschoben. Er machte den Eindruck eines zerknirschten, unter der Last seiner Schuld fast zusammenbrechenden Menschen. Niemand ahnte, welch unbändige Willenskraft noch immer in ihm steckte, mit welch unerbittlicher Hartnäckigkeit er bereits in der Sekunde, in der er dem Transportfahrzeug entstieg, an
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Kurt Mahr
der Verwirklichung seines nächsten – und letzten – Projektes zu arbeiten begann.
* Das Krankenland war eine sorgfältig gesicherte Provinz, in der die Bernaler diejenigen unterbrachten, die sich mit der bernalischen Gesellschaft nicht abfinden wollten. Jene Menschen also, denen von Natur aus das Sehnen nach einem Leben in der Gesellschaft anderer Menschen fehlte, die Asozialen, die gegen die Gesetze verstießen, weil sie deren Wert nicht zu erkennen vermochten. Viele von diesen waren durch psychophysische Methoden heilbar. Man legte ihr verworrenes Bewußtsein trocken und ersetzte es durch ein neues, dessen wichtigster Bestandteil ein dem Behandelten bisher unbekanntes Verantwortungsgefühl seinen Mitmenschen gegenüber war. Das aber war nur möglich in solchen Fällen, in denen sich die Antipathie der Gesellschaft gegenüber im Laufe der Zeit entwickelt hatte, also nicht angeboren war. In anderen Fällen versagte die Psychophysik. Die aufgezwungene Änderung verdammte den Patienten zum Verlust seiner geistigen Fähigkeiten, zum Stumpfsinn und in schwerwiegenden Fällen sogar zum Tod. Solche Gewalt jedoch maßte sich die bernalische Kultur selbst über ihre aufsässigsten Mitglieder nicht an. Fälle dieser Art wurden ins Krankenland verbannt. Im Krankenland lebten die Verbannten ohne Aufsicht. Sie waren darauf angewiesen, irgendwie miteinander auszukommen. Die bernalische Gesellschaft übernahm keinerlei Verantwortung für ihr geistiges oder körperliches Wohlergehen, die über die Bereitstellung des absoluten Existenzminimums hinausging. So war das Krankenland zum Beispiel in die planetenweite Klimakontrolle mit einbezogen, die dafür sorgte, daß es auch im Reich der Verbannten keine Naturkatastrophen gab, durch die Menschenleben gefährdet werden konnten. Außerdem bestand eine Versorgungsleitung vom Behördenzentrum zu einem zentral ge-
legenen Punkt des Krankenlandes. Über diese Leitung wurden die Verbannten mit Proviant und anderen lebensnotwendigen Gütern versorgt. Wie sie sie untereinander verteilten, darum allerdings kümmerten sich die Behörden nicht mehr. So waren über die Zustände im verbotenen Land grausige Gerüchte im Umlauf. Man sprach von Mord und Totschlag, von gut organisierten Räuberbanden, die einander das Leben schwermachten und deren einziges Ziel darin bestand, möglichst viel der von den Behörden in regelmäßigen Abständen gelieferten Versorgungsgüter an sich zu reißen und mit dem erbeuteten Überschuß einen schwunghaften Handel zu treiben. Derartige Gerüchte, ob sie nun ganz, zum Teil oder auch überhaupt nicht auf Wahrheit beruhten, ließen die Behörden jedoch kalt. Sie waren für die Vorgänge im Krankenland einfach nicht verantwortlich. Für etwas anderes dagegen hatten sie um so gewissenhafter Sorge zu tragen: Daß keiner der Verbannten die Grenze des verbotenen Landes überschritt und etwa von neuem in Gegenden sein Unwesen zu treiben begann, in denen normale Menschen lebten. Wie die Behörden diese Pflicht wahrnahmen, war ihr eigenes Geheimnis, ein um so rätselhafteres noch dazu, als es an den Grenzen des Krankenlandes lediglich Hinweisschilder gab, bunte Leuchtzeichen, die in der Luft schwebten und auf die Nähe der Grenze hinwiesen, aber keine Barrieren oder Energieschranken, die den auf Flucht bedachten hätten aufhalten können. Possert Flangkort hatte sich darüber schon vom ersten Tag seines Prozesses an den Kopf zerbrochen. Er glaubte, das Geheimnis der Behörden zu kennen. Er glaubte zu wissen, welchem Trick sie ihre aufsehenerregenden Erfolge zu verdanken hatten, die sich zum Beispiel darin äußerten, daß noch kein Verbannter sich weiter als zwei Kilometer von der Grenze des Krankenlandes hatte entfernen können, bevor er wieder eingefangen werden konnte. Es mußte einen Mechanismus geben, der die Behörden so-
Die Schwelle zum Nichts fort von der Flucht eines Kranken in Kenntnis setzte. Ein Energie oder auch nur ein Warnschirm an der Grenze war es nicht. Dessen Anwesenheit hätte man optisch oder auf andere Weise bemerken müssen. Also mußte es etwas sein, das dem Kranken selbst anhaftete, irgendein Signalgeber, dessen Impulse von einem der Rechner im Behördenzentrum aufgefangen und ausgewertet wurden, so daß der Rechner Alarm geben konnte, sobald der Kranke die Grenzen des verbotenen Landes überschritt. Er war sicher, daß man ihm nicht etwa, während er schlief, irgendwie ein mikroelektronisches Gerät in den Körper operiert hatte. Etwas derart Primitives durfte es nicht sein, sonst wäre die Methode schon längst durchschaut worden. Flangkorts umfangreichem biophysikalischem Wissen fiel es nicht schwer, die plausibelste Erklärung zu finden. Er selbst hatte mehr als einmal mit jener eigenartigen Familie von Viren operiert, die die aus der Nahrung aufgenommene Energie in Form schwacher, elektromagnetischer Impulse wieder abstrahlte. Mehrere Generationen von Wissenschaftlern hatten versucht zu erforschen, auf welche Art und Weise diese von der Natur geschaffenen Mikrosender zur Übermittlung von Informationen verwendet werden könnten. Aber es blieb den Behörden vorbehalten – so schloß Possert Flangkort – den ersten praktischen Verwendungszweck für die seltsamen Kleinstlebewesen zu finden. Ohne Zweifel hatte er mit der Nahrung im Gefängnis eine kräftige Dosis dieser Viren zu sich genommen. Sie lebten in seinem Innern und sandten unaufhörlich elektromagnetische Impulse aus. Schädlich waren sie nicht. Ihr Nahrungsbedarf war gering, und sie gerieten nicht mit anderen Bakterien des Körperhaushalts in Konflikt. Sie waren einfach da und quäkten elektromagnetisch vor sich hin. Der Rechner im Behördenzentrum empfing ihre Impulse und wertete sie ortertechnisch aus. Sobald sich aus der Ortung ergab, daß der Verbannte die Grenzen des ihm zugewiesenen Bereichs überschritten hatte, griffen die Behörden zu.
37 Das Problem war, wie man sich der lästigen Viren entledigte. Auch dazu hatte Possert Flangkort schon einen Plan. Aber er brauchte einen zweiten Menschen, der ihm bei der Ausführung behilflich war.
* Er wanderte ziellos landeinwärts. Man hatte ihn etwa zwei Wegstunden südlich der Grenze abgesetzt. Das Gelände war wellig und nur mäßig dicht bewachsen. Er gab sich den Anschein eines unentschlossenen Wanderers, der sich mit seiner neuen Umgebung zunächst einmal vertraut machen will, bevor er eine bestimmte Richtung einschlägt. In Wirklichkeit wartete er darauf, daß sich die Verbannten für ihn zu interessieren begannen. Er rechnete damit, daß er binnen kurzem ihre Bekanntschaft machen werde. Im Gefängnis hatte man ihm alles abgenommen, was er nicht unbedingt brauchte. Nur die Kleidung war ihm geblieben. Aber seine Kleidung war von hervorragender Qualität, besser als alles, was die Behörden über den Versorgungskanal an die Verbannten lieferten. Er wußte, daß sie ihm das Gewand abzunehmen versuchen würden, und er war darauf vorbereitet. Knapp eine Stunde war er schon unterwegs, da entdeckte er, als er sich wie suchend umsah, auf einer grasbewachsenen Anhöhe die Gestalt eines Mannes, der sich blitzschnell zu Boden warf, als er Flangkort sich umdrehen sah. Flangkort tat, als hätte er nichts bemerkt, und schritt weiter. Er überquerte einen flachen Hügel und geriet auf der anderen Seite in eine Art Rille, die sich zwischen zwei Bodenerhebungen dahinzog. Er marschierte ein Stück weit die Rille entlang, dann schlug er sich seitwärts ins Gebüsch und wartete. Seine Berechnung erwies sich als richtig. Er lag noch keine fünf Minuten in seinem Versteck, da erschien über ihm, auf dem Kamm der Bodenerhöhung, eine zerlumpte Gestalt und spähte aufmerksam herab. Die Sonne traf den Mann von vorne. Flangkort
38 konnte ihn in aller Ruhe mustern. Er war ziemlich jung, gewiß nicht mehr als dreißig Jahre alt. Wenn die zerrissene Kleidung nicht gewesen wäre und der mißtrauische, ein wenig unstete Blick der Augen, hätte man ihn für einen gänzlich normalen Bürger halten können. Er blickte in die Rille, machte ein erstauntes Gesicht und schritt schließlich weiter in derselben Richtung, in der auch Flangkort sich bewegte hatte. Flangkort wartete noch eine Weile, dann erhob er sich aus der Deckung und marschierte den Weg zurück, den er gekommen war. Er drehte sich nicht um, um den Verbannten nicht mißtrauisch zu machen. Aber er war sicher, daß der Zerlumpte ihn schon nach wenigen Augenblicken gewahrt und ebenfalls eine Kursänderung um einhundertachtzig Grad durchgeführt hatte. Flangkort erinnerte sich an ein verwittertes Felsstück, das er vor kurzem passiert hatte. Es war mehr als mannshoch und bedeckte eine ansehnliche Fläche. In den Nischen und Schründen des Felsens boten sich vorzügliche Verstecke. Es war gewiß, daß der Verbannte diesen Felsen benützen würde, ihm aufzulauern, wenn er nur einen Hinweis darauf gehabt hätte, daß Flangkort auf seinem Weg in der Nähe des Steingewirrs vorüberkommen würde. Flangkort nahm sich vor, ihm einen entsprechenden Hinweis zu liefern. Er erklomm den flachen Höhenzug zu seiner Linken und schritt auf dem Kamm ein paar Minuten lang fort. Dann blieb er plötzlich stehen und sah sich um. Sein Verfolger schien vorsichtiger geworden zu sein. Flangkort konnte ihn nirgendwo entdecken. Er schaute auf das hügelige Land hinaus und schien jetzt erst die Felsgruppe zu entdecken, die von seinem Standort aus schräg hinter ihm lag. Auf dem geradesten Weg von ihr zu dem Höhenzug wuchs dichtes Gestrüpp, eine vorzügliche Deckung für den Verfolger, falls er sich den Felsen wirklich als Versteck aussuchte. Flangkort begann zu gestikulieren und in hastigen Worten mit sich selbst zu reden. Dabei deutete er einige Male in Richtung des Felsens. Schließlich,
Kurt Mahr nachdem er lange genug mit sich zu Rate gegangen war, stieg er von dem Höhenzug herab und bewegte sich gemächlich auf den Felsen zu. Während er scheinbar gedankenverloren dahinschritt, beobachtete er unter den Lidern hervor seine Umgebung. Einmal glaubte er, einen Schatten wahrzunehmen, der jenseits des Gebüsches auf den Felsen zuhuschte. Er war zufrieden. Sein Täuschungsmanöver hatte gewirkt. Er stand kurz davor, sich den Mitarbeiter zu verpflichten, den er für seine weitere Tätigkeit brauchte. In der Nähe des Felsens zögerte er mit dem Schritt, wurde langsamer. Der Zerlumpte hatte sich mit der Verfolgung soviel Mühe gemacht, daß er jetzt wahrscheinlich schon hochgradig nervös war. Flangkort trat hinzu und musterte eine der Nischen, die tief in den verwitterten Felsen eingegraben war. Da gewahrte er aus dem rechten Augenwinkel einen Schatten, der von der Seite her auf ihn zuflog. Er warf sich blitzschnell zu Boden. Der Angreifer schoß hoch über ihn hinweg und landete mit dem Bauch im Gras. Schon war Flangkort wieder auf den Beinen und setzte ihm nach. Er bekam den Mann beim Kragen zu fassen, riß ihn in die Höhe und schlug ihm die geballte Faust zwischen Hals und Schulter. Der Zerlumpte wurde zurückgeschleudert. Aber er gab nicht auf. Aus dem Sturz fing er sich zu einem neuen Sprung. Wie ein Raubtier warf er sich Flangkort entgegen. Flangkort stand fest und empfing ihn mit einem Tritt gegen die Brust. Aufheulend ging der Verbannte erneut zu Boden. Flangkort sprang ihm mit den Füßen ins Kreuz; aber der Mann war schneller. Er rollte sich beiseite und bekam den Wissenschaftler um die Knie zu fassen. Flangkort war keineswegs das, was man einen geübten Kämpfer nannte. In seiner hochentwickelten Kultur hatte die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft gegen einen physischen Angriff zu verteidigen, ihre Bedeutung verloren. Aber Flangkort besaß Umsicht und Ruhe. Er war nicht mit dem Herzen bei dieser Prüfung, sondern nur mit dem
Die Schwelle zum Nichts Verstand. Er beobachtete und reagierte blitzschnell. Und bei alledem verfolgte er einen Zweck: Er wollte dem Verbannten ein für allemal klarmachen, daß er der Überlegene war, daß der Zerlumpte keine andere Wahl hatte, als ihn als seinen Herrn und Meister anzuerkennen. Deswegen erlaubte er, daß der Kampf, dem er schon im Laufe der ersten Minute ein Ende hätte machen können, sich in die Länge zog. Wieder und wieder gab er dem Verbannten die Möglichkeit, sich von neuem zu erheben und von neuem gegen ihn anzustürmen. Nicht auf einmal, sondern Stück um Stück zertrümmerte er die Hoffnung des Zerlumpten, diese Prügelei zu seinen Gunsten zu entscheiden. Und bei jedem Vorstoß brachte er selbst einen schmerzhaften Schlag an und verwalkte den Unglücklichen, bis er halb bewußtlos am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Flangkort stieß ihm den Fuß in die Seite. »Wie heißt du?« fuhr er ihn an. »Timpeh …«, stöhnte der Zerlumpte. »Und weiter?« »Nur Timpeh … Herr!« »Also gut, Timpeh, du und ich, wir werden von jetzt an zusammenarbeiten. Ich werde dir sagen, was du zu tun hast.« »Ist … schon recht … Herr«, ächzte Timpeh.
8. Sie wanderten bis zu einem kleinen Fluß, den sie bei Sonnenuntergang erreichten. Timpeh kannte sich hier aus. Er humpelte, weil er sich bei einem seiner zahlreichen Stürze im Verlauf des Kampfes den Fuß verstaucht hatte, und die Haut seines Gesichts schillerte an mehreren Stellen in verschiedenen Farben. Aber er war ein widerstandsfähiger Bursche und hatte sich erstaunlich schnell von seiner Niederlage erholt. Er sprach Flangkort respektvoll mit »Herr« an und schien sich völlig in seine neue Rolle gefunden zu haben. Vor anderen Verbannten, meinte er, brauche Flangkort sich nicht zu fürchten. Kaum einer komme jemals so
39 weit nach Norden herauf. Er selbst war aus reiner Neugierde so weit gewandert, weil er wissen wollte, wie das Land in der Nähe der Nordgrenze aussah. Dabei hatte er zufällig die Landung des Gleiters beobachtet, mit dem Flangkort gebracht worden war. Die vorzügliche Kleidung des neuen Verbannten hatte es ihm angetan. Er wollte sie ihm abnehmen. Niemals aber hatte er, wie er wiederholt beteuerte, die Absicht gehabt, Flangkort zu töten. Er war seit mehr als zehn Jahren ein Verbannter. An das Leben außerhalb des Krankenlandes konnte er sich kaum mehr erinnern. Er wußte auch nicht zu sagen, ob es ihn dorthin zurückzog. Flangkort hatte ihm mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, daß er selbst nicht daran denke, im Krankenland zu bleiben. Dadurch war Timpehs Neugierde erregt worden – weniger, weil er Sehnsucht nach dem Land der Freien hatte, als weil er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Verbannter das Krankenland verlassen wollte, ohne sofort wieder eingefangen und zurückgebracht zu werden. Am Ufer des Flusses bereiteten sie ein kleines Lager. Flangkort machte einen Rundgang und entdeckte einen Busch mit dunkelroten, kleinen Früchten. Er sammelte ein Dutzend davon in seine Tasche und kehrte zum Lager zurück. Dann kniete er am Rand des Flusses nieder und formte mit beiden Händen eine Art Schüssel, in die die gesammelten Früchte zu ruhen kamen. Er tauchte die Hände ins Wasser, so daß die Wellen die Früchte überspülten. Mittlerweile war Timpeh hinzugekommen und sah ihm neugierig zu. Als er die Früchte in der Höhlung der Hände entdeckte, fuhr er entsetzt zurück. »Das ist Gift!« jammerte er. »Was willst du damit, Herr?« »Ich will die Früchte essen«, antwortete Flangkort. »Ich werde für kurze Zeit krank werden, und während dieser Zeit wachst du über mich, verstanden?« »Aber du wirst sterben, Herr!« protestierte Timpeh.
40 »Nicht, wenn du dich nach meinen Anweisungen richtest«, lächelte Flangkort. »Dann werde ich leben und dich aus diesem Land mit in das meine nehmen, wo die Menschen in Fülle leben und du soviel Reichtum ansammeln kannst, wie du willst. Sollte ich aber trotzdem sterben – nun, was ist dann verloren? Du nimmst dir meine Kleider, die du ohnehin haben wolltest, und die Sache ist vergessen.« Nachdem er die Früchte eine Viertelstunde lang gewässert hatte, verzehrte er sie eine nach der anderen. Timpeh sah ihm dabei zu, mit großen, verschreckten Augen. »In ein paar Minuten wird mich das Fieber ergreifen«, sagte Flangkort. »Ich lege mich hier unmittelbar neben das Wasser. Wahrscheinlich werde ich unruhig werden. Du mußt mich festhalten, damit ich nicht in den Fluß falle. Achte auf meine Augen. Jedesmal dann, wenn sich die Pupille hinter einem dünnen Schleier zu verbergen scheint, schöpfst du aus dem Fluß Wasser und gießt es über mich. Hast du das verstanden?« Timpeh machte schweigend die Geste der Zustimmung. Die Sache war ihm noch lange nicht geheuer, aber er würde gehorchen, das sah Flangkort ihm an. Das Versprechen auf das sorglose Leben außerhalb des Krankenlandes hatte ihn gewonnen. Der Wissenschaftler streckte sich am Ufer aus. Allmählich begannen die giftigen Früchte zu wirken. Das Fieber ermächtigte sich seiner. Er konnte die Umwelt nicht mehr deutlich wahrnehmen und schloß die Augen. Halb bewußtlos merkte er, daß ihm jemand des öfteren die Lider hochzog. Das war Timpeh, der sich überzeugen wollte, ob sich der Schleier schon gebildet hatte, auf den er achten sollte. Flangkort hatte wirre Träume. Er schwebte durch eine Welt von Feuer, und aus den Flammen tauchten bekannte Gesichter auf, um gleich darauf wieder zu verschwinden: Simenk, Kjellon … und Poola. Immer wieder Poola, mit traurigen, anklagenden Augen. Dann wieder wurde er in beißende Kälte getaucht, und die Flammen waren für kur-
Kurt Mahr ze Zeit verschwunden. Bald darauf wurden sie jedoch wieder sichtbar, und das grausame Spiel begann von neuem. Schließlich verließen ihn die Kräfte. Flammen und Kälte verschwanden in den Hintergrund seines Bewußtseins, und vor ihm waren nur noch Finsternis und Ruhe.
* Der grelle Schein der Sonne weckte ihn. Er öffnete die Augen vorsichtig. Neben ihm kauerte Timpeh mit kummervoller Miene. Flangkort fühlte sich matt und zerschlagen. Er hatte kaum noch genug Kraft, sich auf die Ellbogen zu stützen. Er zwang sich zu einem Lächeln, das Timpeh freudig erwiderte. »Es ist alles vorbei«, sagte Flangkort. »Ich kann das verbotene Land verlassen, und keiner wird mich wieder einfangen und zurückbringen.« Er hatte Mühe, Timpeh auseinanderzusetzen, was er meinte. Die Frucht des TedohApfels war dafür bekannt, daß sie in höchstem Maße giftig war. Der menschliche Körper reagierte auf das Tedoh-Gift mit einer abrupten Erhöhung der Körpertemperatur. Im unkontrollierten Fall war der Vergiftete rettungslos verloren, da die Temperatur seines Körpers im Handumdrehen Werte annahm, die annähernd halbwegs zwischen dem Gefrier und dem Siedepunkt des Wassers lagen. War jedoch Hilfe zugegen, so konnte die Temperatur des vergifteten Körpers durch äußerliche Anwendung von kaltem Wasser in solchen Grenzen gehalten werden, daß der Tod nicht mehr unausweichlich war. Dieses Risiko hatte Flangkort auf sich genommen. Er kannte seinen Gesundheitszustand und wußte, daß er sich auf die Widerstandskraft seines Körpers verlassen konnte. Der Erfolg gab ihm recht. Er hatte die Kur überstanden, und der mörderischen Temperatur im Innern seines Körpers waren sämtliche Bakterien und Viren zum Opfer gefallen, einschließlich der Mikroorganismen, die das verräterische elektromagnetische Signal erzeugte.
Die Schwelle zum Nichts Timpeh verstand nicht alles, was Flangkort ihm erklärte. Aber schließlich erklärte er sich bereit, dieselbe Tortur auch über sich ergehen zu lassen. Sein Gesundheitszustand gab in weit höherem Maße als Flangkorts Anlaß zu Besorgnis; aber auf der anderen Seite war Flangkort Sachverständiger, und wenn Timpehs unsachverständige Hilfe ihm vor dem Tod bewahrt hatte, dann mußte er, der Wissenschaftler, um so besser in der Lage sein, Timpeh vor Schaden zu bewahren. Sie sammelten ein weiteres Dutzend von Tedoh-Äpfeln. Sie wurden gewässert und Timpeh verzehrte sie standhaft. Kurze Zeit später begann das Fieber. Timpeh, wie zuvor Flangkort, lag unmittelbar am Rande des Gewässers. Flangkort wich keine Minute lang von seiner Seite. So oft es ihm nötig erschien, bedachte er den Fiebernden mit einem kräftigen Guß kühlen Wassers. Der Tag verstrich. Timpeh hörte schließlich auf, sich in Fieberträumen zu wälzen, und wurde ruhig. Er schlief mehrere Stunden. Flangkort prüfte mindestens fünfmal in der Stunde seine Temperatur und den Pulsschlag – mit seiner Hand, dem einzigen Instrument, das sie ihm gelassen hatten. Timpeh war auf dem Weg der Besserung. Er konnte es wagen, ihn eine Zeitlang sich selbst zu überlassen. Er strich am Flußufer entlang und sammelte Früchte, nicht giftige, wie bisher, sondern eßbare, kräftigende. Sie beide hatten eine tüchtige Mahlzeit nötig. Der Weg bis zu seinem Versteck war weit. Sie würden mehrere Tage unterwegs sein. Als er zurückkehrte, war Timpeh gerade dabei aufzuwachen. »Du hast es überstanden«, sagte Flangkort beruhigend. Timpeh trank aus dem klaren Wasser des Flusses. Das heftige Fieber hatte ihn vollständig dehydriert. Danach reichte Flangkort ihm von den Früchten, die er gesammelt hatte. Sie hielten eine ausgiebige Mahlzeit.
* Mehr als einen Tag Ruhe wollte der unge-
41 duldige Flangkort sich nicht zugestehen. Am nächsten Nachmittag brachen sie auf, und gegen Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Nordgrenze des Krankenlandes gekennzeichnet durch bunte Leuchtzeichen, die in der Luft schwebten. Die nächsten Stunden waren voll verhaltener Spannung. Flangkort war seiner Sache ziemlich sicher; aber immerhin fußte die Gewaltkur, die er Timpeh und sich hatte angedeihen lassen, auf weiter nichts als einer Vermutung, und wenn die falsch gewesen war, dann würde in wenigen Minuten irgendwo aus der Dämmerung ein Behördenfahrzeug auftauchen, sie an Bord nehmen und wieder zurück ins verbotene Land bringen. Nichts dergleichen geschah jedoch. Flangkorts Methode war erfolgreich gewesen. Die Behörden hatten keine Möglichkeit, ihn und seinen Begleiter aufzuspüren. Mit neugewonnenem Selbstbewußtsein schritt er aus. Unterwegs erzählte er Timpeh von dem Leben, das ihn erwartete, sobald sie sein Haus erreicht hatten. Er schilderte es in bunten, freundlichen Farben, um die Begeisterung seines Begleiters zu wecken. Hin und wieder ließ er eine Bemerkung einfließen, die darauf hinwies, daß ihn wichtige Arbeiten erwarteten und daß er dabei auf Timpehs Hilfe rechne. Timpeh hatte nichts dagegen einzuwenden. Er sah ein, daß er für die Herrlichkeiten, die Flangkort ihm versprach, eine Gegenleistung zu erbringen hatte. Über Timpehs Schicksal wurde übrigens nicht gesprochen. Flangkort erfuhr nicht, warum der junge Mann in die Verbannung geschickt worden war. Da Timpeh nicht von selbst davon anfing, stellte auch Flangkort keine Fragen. Sie wanderten bei Nacht und versteckten sich und schliefen bei Tag. Das war die sicherste Methode, obwohl die Gegend in der Nähe des Krankenlandes fast kaum besiedelt war. Die Leute hüteten sich davor, hier zu wohnen. Wie leicht konnte es sein, argumentierten sie, daß die Behörden eines Tages doch einen der Ausreißer durch die Lappen gehen ließen, und dann hatte man einen
42 unkontrollierbaren Wahnsinnigen in der Gegend, dem alle möglichen Schandtaten zuzutrauen waren. Der Marsch dauerte insgesamt fünf Nächte und vier Tage. Sie lebten von Früchten und Beeren und verloren bei derart schmaler Kost fast ein Viertel ihres Körpergewichtes. Sie waren der Erschöpfung nahe, als sie schließlich am Ziel anlangten, und Flangkort sah sich gegen seinen Willen gezwungen, zwei weitere Ruhetage einzulegen, damit sie wieder auf die Beine kämen. In diesen zwei Tagen hörte er des öfteren Nachrichten und erfuhr dabei, daß sich die Lage auf Toulminth weitgehend wieder beruhigt hatte. Es war fast erschreckend festzustellen, daß über die Freveltaten des Mannes, der einer der bekanntesten Wissenschaftler und Mitglied des Regierenden Wissenschaftsrates gewesen war, überhaupt nicht mehr gesprochen wurde. Er war, kaum daß man ihn ins Krankenland abgeschoben hatte, schon wieder in Vergessenheit geraten. Die Nachrichten waren voll von dem unwichtigen langweiligen Kleinkram, mit dem sich eine Gesellschaft beschäftigte, die keine wirklichen Probleme hatte. Interessant wurde es nur, wenn die Rede auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse kam. In diesen zwei Tagen sah Possert Flangkort ein, daß sein Bemühen, die bernalische Gesellschaft nachhaltig aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihr damit den Weg zur Vollkommenheit zu verbauen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Er hatte die Elastizität der Gesellschaft unterschätzt. Die bernalische Zivilisation, aus ihrer Gleichgewichtslage entfernt, hatte die Tendenz auf dem schnellsten Wege wieder in diese Lage zurückzukehren – wie ein Gummiband, an dem ein Finger gezupft hatte. Es war dies ein Charakteristikum, das jeder Gesellschaftsordnung innewohnte; aber die Rückschnellkraft wurde um so stärker, je näher die Zivilisation sich dem Zustand der Vollkommenheit befand. Um Flangkorts Ziel zu erreichen, hätte es ungemein drastischerer Maßnahmen bedurft. Das Gummiband hätte zerschnitten, nicht nur gezupft
Kurt Mahr werden müssen. Der Tod von vier Unschuldigen war nichts, womit die Gesellschaft als Ganzes nicht im Handumdrehen hätte fertig werden können. Ein Krieg, ja, das wäre etwas anderes gewesen! Naturkatastrophen, denen Tausende, Zehntausende von Menschen zum Opfer fielen. Oder eine Seuche, die ganze Landstriche entvölkerte. Damit hätte sich etwas anfangen lassen. Aber Possert Flangkort, der schon wegen der vier Unschuldigen im Rechenzentrum tagelang mit sich gerungen hatte, wäre niemals in der Lage gewesen, solch fürchterliche Mittel auch nur in Erwägung zu ziehen. So waren denn Flangkorts Bemühungen an dem Beharrungsvermögen der beinahvollkommenen Gesellschaft gescheitert. Die Dinge waren ineinander verwoben. Eben weil er ein Mitglied dieser Gesellschaft war, hatte er die ultimaten Mittel, die zu einer dauerhaften Beunruhigung, zu einer nachhaltigen Störung des Gleichgewichts nötig waren, nicht benützen können. Ihm, dem nahezu vollkommenen Wesen, war es unmöglich, zu den barbarischen Methoden der Vorzeit zurückzukehren. Auf diese Weise schützte sich die Vollkommenheit: Sie nahm denen, die sich ihr näherten, die Möglichkeit, anders als in Richtung auf die Vollkommenheit hin zu wirken. Am zweiten Tag ließ sich Flangkorts Ungeduld nicht länger bezähmen. Er unterbrach das Mahl, dem Timpeh soeben mit großer Hingabe huldigte, immer noch fassungslos über die Wunder dieser Welt, und erklärte seinem verwirrten Mitarbeiter mit knappen Worten: »Wir dürfen die Arbeit nicht länger liegenlassen. Von jetzt an ist jede Stunde kostbar. Du wirst mir helfen, ein paar Instrumente fertigzumontieren. Danach laden wir sie auf das Fahrzeug, das ich in der unterirdischen Garage versteckt habe, und fahren los.« »Wohin?« fragte Timpeh verblüfft. »Zum Raumhafen, ein Raumschiff stehlen!« antwortete Flangkort.
Die Schwelle zum Nichts
* Die Gene ruhten in kleinen kapselförmigen Behältern. Sie waren höchst widerstandsfähige Mechanismen, denen außer übergroßer Hitze keine Macht der Natur etwas anzuhaben vermochte. Sie widerstanden mörderischen Drücken ebenso wie dem Vakuum des Weltalls. Der absolute Nullpunkt brachte sie nicht in Gefahr, und selbst harte Korpuskularstrahlung, solange sie nicht in katastrophalen Dosen auftrat, vermochte ihre Struktur nicht nachhaltig zu beeinflussen. Die Wandungen der Kapseln waren so beschaffen, daß sie sich bei der Berührung mit der Luftleere des Weltenraums von selbst durch Verdampfen auflösen würden. Dadurch wurden die Ur-Gene freigesetzt. Ein Robotraumschiff – eben jenes Fahrzeug, das Flangkort »zu stehlen« gedachte – würde die Kapseln mit insgesamt anderthalb Milliarden Ur-Genen bis an einen Ort weit außerhalb des Ovendeno-Systems bringen. An diesem Ort wurde das Fahrzeug, das bis dahin in den Bereich relativistischer Geschwindigkeiten vorgestoßen war, zur Explosion gebracht. Eine geformte Sprengladung beschleunigte den Behälter mit den Kapseln noch weiterhin und zerstörte ihn dabei. Die Kapseln kamen in Kontakt mit dem Vakuum des Weltalls und lösten sich auf. Die Ur-Gene jedoch trieben mit der Geschwindigkeit, die ihnen das Raumschiff und die Explosion vermittelt hatten, weiter durch den Raum, sich dabei fächerförmig ausbreitend, am Rand der Innenzone der Galaxis entlang. Possert Flangkorts ursprünglicher Plan hatte sich infolge seiner frühzeitigen Entlarvung nicht voll verwirklichen lassen. Die letzten sechs Gewebeproben hatte er nicht verwenden können. Die Ur-Gene in den Kapseln repräsentierten die Bewußtseinsstrukturen von sechzehn Menschen – seine eigenen und die von fünfzehn der insgesamt einundzwanzig Entführten. Durch Modifikationen hatte er die Zahl der Original-
43 Ur-Gene annähernd verdoppelt. Die Kapseln enthielten insgesamt einunddreißig verschiedene Arten von Ur-Genen. Während Flangkort die Kapseln füllte und einsatzbereit machte, bastelte Timpeh, von Flangkort sorgfältig instruiert, an einem Gerät, von dessen Verwendungszweck er wenig Ahnung hatte. Es handelte sich um den Behälter, in dem die Kapseln untergebracht werden sollten, und den damit verbundenen Kanister für die geformte Sprengladung. Die Ladungen, die zur Sprengung des Raumschiffs verwendet werden sollten, waren Fissionskörper derselben Art, wie Flangkort sie schon bei dem Anschlag auf das Rechenzentrum verwendet hatte. Sie konnten im Innern des Fahrzeugs verteilt und ohne Mühe mit einer automatischen Zündung versehen werden. Timpeh war ein williger Mitarbeiter. Er wußte wohl, daß Possert Flangkorts Absichten gegen das geltende Gesetz verstießen; aber darum war er ja eben ins Krankenland verbannt worden, weil er unfähig war, den Wert der geltenden Gesetze zu erkennen. Die Arbeit, die er jetzt verrichtete, war das Aufregendste, was ihm im Laufe der vergangenen zehn Jahre zugestoßen war. Dabei hatte er gut zu essen und eine bequeme Unterkunft. Das war alles, worum Timpeh sich kümmerte. Anderes ging ihn nichts an. Mitten in der Nacht brachen die beiden Männer schließlich auf. Der Gleitwagen, den Possert Flangkort vorsorglich bereitgestellt hatte, als er noch das »Egk« zwischen den beiden Namen trug, war bis an den Rand seiner Kapazität vollgeladen. Flangkort selbst setzte sich ans Steuer, denn Timpeh hatte in zehn Jahren Verbannung verlernt, wie man ein solches Fahrzeug bediente. Vorsorglich löste Flangkort den Autopiloten aus der Steuerung des Gleiters. Denn der Autopilot bedurfte bei seiner Tätigkeit der Unterstützung eines Verkehrscomputers, die in weitmaschigem Netz über das ganze Land verteilt waren, und Flangkort lag verständlicherweise nichts daran, einen elektronischen Rechner auf sein Fahrzeug aufmerk-
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Kurt Mahr
sam zu machen. Das Gelände für Raumfahrt und Raumfahrtforschung lag im Nordwesten, auf einer einsamen, menschenleeren Hochebene, mehr als fünfzehnhundert Kilometer von Flangkorts Versteck entfernt. Die Fahrt dauerte, da der Gleiter mit voller Last seine Fahreigenschaften nicht zur Gänze entwickeln konnte, fast drei Stunden. Schließlich kam das hellerleuchtete, riesige Feld des Raumhafens in Sicht. Faszinierend in der kühlen, technischen Eleganz ihrer Form erhoben sich von dem glatten Feld die schlanken Rümpfe von sechs Robotraumschiffen. Sie waren alle vom gleichen Typus: pfeilförmig mit Stabilisierungsflossen für die Durchdringung planetarischer Atmosphären, kreisförmig im Querschnitt und rund fünfzig Meter hoch. Weit im Norden lagen die Kontrolltürme und sonstigen Gebäude der Raumfahrtbehörde. Unerschrocken, weil er sich darauf verlassen konnte, daß niemand dort oben mit einem solchen Anschlag rechnete, landete Flangkort den Gleiter unmittelbar neben einem der sechs Raumschiffe. Er stieg aus und ging auf die Wandung des Raumfahrzeugs zu. Er öffnete eine Klappe, unter der eine mit Schaltknöpfen besetzte Tafel zum Vorschein kam. Auf den Druck eines der Knöpfe hin öffneten sich in der Verkleidung des Raumschiffs das Luk einer Schleuse. Befriedigt lächelte Possert Flangkort vor sich hin. »Wir können anfangen, Timpeh«, sagte er zu seinem Begleiter.
9. Das Raumschiff war von eigenartiger Konstruktion. Für Menschen bot es nur jenes Mindestmaß an Bequemlichkeit, das während seines Aufenthalts auf dem Raumhafen für die Wartung und die Unterbringung wissenschaftlicher Experimente und der dazugehörigen Geräte erforderlich war. Es gab einen engen, unbequemen Schacht mit einer starr eingebauten Leiter, die hinauf zum Bug des Fahrzeugs in den kleinen
Raum führte, der für die Experimentalgeräte gedacht war. Dort hinauf schafften Flangkort und Timpeh die Behälter mit den Kapseln und dem Kanister, der die geformte Sprengladung enthielt. Außerdem gab es ein paar beklemmend schmale Gänge, die vom Schacht aus in verschiedenen Höhen ins Innere des eigentlichen Raumschiffkörpers führten und den Zugang zu den der Wartung unterworfenen Aggregaten ermöglichten. In den untersten dieser Gänge deponierte Flangkort die mit einem Zeitzünder versehenen Fissionskörper. Er mußte darauf achten, daß keiner der Detonatoren allzu nahe an dem Behälter mit den Gen-Kapseln explodierte. Denn Hitze, wie sie bei der Detonation der Fissionskörper entstand, war das einzige, wodurch die Ur-Gene beschädigt werden konnten. Damit war alles erledigt, was an dieser Stelle getan werden konnte. Übrig blieb noch der zweite und schwierigste Teil des Unternehmens: Die Raumhafenkontrolle dazu zu veranlassen, daß das Raumschiff gestartet wurde. Flangkort und Timpeh kletterten in das Fahrzeug zurück. Flangkort war nicht sicher, ob ihr Aufenthalt in der Nähe des startbereiten Robotschiffs beobachtet worden war und ob, wenn doch, man aus dieser Beobachtung irgendwelche Schlüsse gezogen hatte. Für die Männer dort oben im Kontrollturm – mehr als zwei konnten es um diese Zeit schwerlich sein – mußte der Gedanke, daß sich ein Unbefugter widerrechtlich an den ihrer Obhut anvertrauten Raumschiffen zu schaffen machte, etwas Ungeheuerliches sein. Auf einen solchen Gedanken würden sie nie kommen. Solche Dinge traute man nur Kranken und Asozialen zu, und die waren im »verbotenen Land« sicher aufgehoben. Trotzdem beachtete Flangkort gewisse Vorsichtsmaßnahmen. Er flog nicht direkt auf die Kontrollgebäude am Nordrand des Raumhafens zu, sondern ging zunächst auf Westkurs, bis er den Lichtkreis der grellen Landefeldbeleuchtung verlassen hatte, und bog erst später nach Norden ein. Er suchte
Die Schwelle zum Nichts den VHF-Teil seines Funkempfängers ab, um zu erfahren, ob in diesem Frequenzbereich, der dem KurzstreckenInterkomverkehr vorbehalten war, gesprochen wurde. Er empfing einige verzerrte Sendungen, die offenbar aus weiter Ferne kamen, sonst nichts. Beruhigt nahm er Kurs auf den großen Kontrollturm, den einzigen, der zur Nachtzeit besetzt war. Er parkte den Gleiter abseits in der Dunkelheit. Es war still in dem Gewirr der kleinen und großen Gebäude, das sich um den Fuß des riesigen Kontrollturms herum ausbreitete. Hier arbeiteten tagsüber die Männer und Frauen der Raumfahrtforschung, und wenn ein wichtiges Projekt im Gange war, dann arbeiteten sie wohl auch des Nachts. Jetzt aber war alles ruhig. Ein paar Sonnenlampen brannten mit halber Kraft und ergossen ein bläuliches Dämmerlicht über die Szene. Hoch oben in der Dunkelheit, leuchtete es gelblich aus den Fenstern des Kontrollraumes im Turm. Der Zugang zum Turm stand jedem offen. Flangkort und Timpeh fuhren mit dem Aufzug hinauf. Das war der erste Aufzug, den Timpeh seit langer Zeit zu sehen bekam, und er bestaunte ihn gebührend. Oben landeten sie in einer kleinen, kreisrunden Halle, an deren Peripherie mehrere Türen in den eigentlichen Kontrollraum führten. Flangkort öffnete eine davon. Gelbe Deckenlampen spendeten trauliches Licht. Zwei Männer saßen in bequemen Sesseln an einem kleinen Tisch einander gegenüber. Es war eine anheimelnde Szene. Die Männer sahen auf, als Flangkort und Timpeh den Raum betraten. Es war ein fragender, interessierter Blick, den sie den beiden Eintretenden zuwarfen, ohne eine Spur von Angst, für die es in einer friedlichen Welt wie dieser nicht den geringsten Anlaß gab. Fangkorts Hand stach zum Gürtel hinab und kam mit dem kleinen Nadler wieder zum Vorschein, den er speziell für diesen Zweck angeschafft und in seinem Versteck deponiert hatte. In die Augen der beiden Kontrolleure trat ein ungläubiger Ausdruck. Sie sprachen
45 nichts; sie rührten sich nicht. Sie starrten nur auf die Waffe, unfähig zu begreifen, daß es Menschen geben sollte, die in der Nacht umhergingen, um andere mit der Waffe in der Hand zu bedrohen. Flangkort trat zwei Schritte vorwärts, so daß sein Gesicht im Lichtkreis der Deckenbeleuchtung erschien. »Ihr kennt mich?« fragte er barsch. Ihre Augen, ohnehin schon vor Schreck geweitet, wurden noch größer. »Flangkort …!« stieß der eine hervor. »Dann wißt ihr, was ihr von mir zu erwarten habt!« Es schmerzte ihn, daß er so bewußt und direkt auf die Grausamkeit anspielen mußte, die er bei der Zerstörung des Rechenzentrums an den Tag gelegt hatte. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht zu rufen: Nein, glaubt es nicht, ich würde euch kein Haar krümmen, selbst wenn ihr euch meinen Wünschen widersetztet! Aber er tat es nicht. Es stand mehr auf dem Spiel als sein Ruf. Er mußte sie erschrecken, damit sie ihm ohne Zögern gehorchten. »Es geht darum, ein Raumschiff zu programmieren und zu starten«, sagte er mit harter Stimme. »Los, macht euch an die Arbeit! Der erste, der muckt, bekommt einen vergifteten Pfeil ins Fleisch!« Sie gehorchten, mechanisch, benommen von dem Unglaublichen. Er diktierte ihnen die Kursdaten, er bezeichnete das Raumschiff, das gestartet werden sollte. Sie arbeiteten an der Konsole des Daten-Terminals. Der Navigationsrechner ermittelte aus ihren Daten die Kurswerte, die in den Bordrechner des Raumschiffs eingespeist werden mußten, und übermittelte sie dorthin. Das nahm nicht länger als zehn Minuten in Anspruch. »Starten!« befahl Flangkort. Einer der beiden wandte sich um und wollte protestieren. »Das geht nicht. Die Leute dort unten werden vor Schreck …« Der Nadler machte »Klack!« und der Mann fiel schlaff aus seinem Sitz. Der andere machte sich panikerfüllt an die Arbeit.
46 »Start, jawohl, sofort …!« murmelte er von Angst gepeitscht. Sekunden vergingen, da drang durch den Lichtschein, mit dem die Lampen das weite Landefeld belegten, ein grelleres Licht, eine blauweiße Glut, die aus dem Heck eines der Raumschiffe hervorbrach. Dröhnendes Grollen brachte die Luft zum Zittern und den Boden zum Vibrieren. Majestätisch langsam hob das Raumschiff ab. Eine Sekunde lang schien es wenige Meter über dem Boden stillzustehen, dann nahm es plötzlich Fahrt auf. Schneller, immer schneller schoß es in den Nachthimmel hinauf. Die Lichtflut, die aus seinem Heck hervorbrach, wurde zu einem grellen Punkt, zu einem schwach leuchtenden Funken und verschwand schließlich ganz. Der Lärm, der über den weiten Platz getobt hatte, verebbte. Flangkort trat ans Fenster und sah nach unten. Die Türen der kleinen Wohnhäuschen hatten sich geöffnet. Männer und Frauen, viele nur notdürftig bekleidet, umstanden den Turm und starrten entgeistert zur Kontrollzentrale hinauf. Er winkte Timpeh herbei. »Die Leute da unten werden uns aufhalten wollen«, sagte er ruhig. »Halt die Augen offen und paß auf, daß niemand uns unversehens einen Stein an den Schädel schleudert. Aber mach dir keine unnötigen Sorgen. Keiner von ihnen besitzt eine Waffe!« Timpeh war begeistert. Das war Abenteuer nach seinem Geschmack, in der Minderzahl und dennoch dem Gegner hoch überlegen. Sie ließen den Kontrolleur, der vor Furcht zitternd jede ihrer Bewegungen beobachtet hatte, unbeachtet zurück und fuhren mit dem Aufzug nach unten. Vor dem Ausgang drängten sich die Leute. Als sie Possert Flangkort erkannten und die Waffe in seiner Hand sahen, wichen sie entsetzt zurück. Timpeh bewegte sich seitwärts. Keine Sekunde lang ließ er die Menge aus dem Auge. Sein Blick flog immer wieder die Reihen der Neugierigen entlang. »Es besteht kein Grund zur Furcht!« ließ
Kurt Mahr Flangkort sich hören. »Wir haben dem Kontrollturm einen kurzen Besuch abgestattet und wollen uns jetzt wieder entfernen. Laßt uns ruhig gehen, und es wird keiner von euch zu Schaden kommen.« Sie hingen ihm an den Lippen, sogen jedes seiner Worte in sich auf. In ihren Augen war er der Entsetzliche, der Unberechenbare, der nur dadurch besänftigt werden konnte, daß man jedem seiner Befehle ohne Zögern gehorchte. Sie wichen zurück und ließen Flangkort und seinen Begleiter unbehelligt davongehen. Flangkort schwang sich hinter das Steuer des Gleiters. »Hier etwa«, sagte er zu Timpeh, »endet unsere Zusammenarbeit. Man wird nach mir jagen. Man wird mich wahrscheinlich fassen – wenn das, worauf ich warte, nicht vorher eintritt. Du mußt mich verlassen; denn dich kennt niemand. Allein bist du sicherer als an meiner Seite. In Kürze wird dir diese Welt gehören, dir und den wenigen anderen, die die Katastrophe überleben. Sag mir, wohin ich dich bringen soll, und ich werde dich dort absetzen.« Timpeh verstand nur die Hälfte von dem, was er hörte. Aber er begriff, daß es in der Umgebung seines Wohltäters sehr bald brenzlig werden würde. Er empfand Dankbarkeit für Possert Flangkort – aber nicht soviel Dankbarkeit, als daß er seinetwegen in das Krankenland hätte zurückkehren wollen. »Irgendwo ist gerade recht«, antwortete er. »Sobald nur ein paar Wälder in der Nähe sind, in denen es Früchte gibt, und vielleicht ein paar Häuser, in denen ich mir ab und zu etwas holen kann.« Flangkort machte die Geste der Zustimmung. Er war auf dem Weg zu Poola Sangtru. Irgendwo unterwegs würde er Timpeh absetzen.
* »Flangkort, Flangkort, und immer Flangkort!« schrie Napral Egk Simenk so wütend,
Die Schwelle zum Nichts wie seit langen Zeiten kein Bernaler sich mehr gebärdet hatte. »Wo kommt der Mensch her? Hatten wir ihn nicht ins Krankenland verbannt? Verspricht uns nicht die Behörde, daß aus dem Krankenland niemand entkommen kann, ohne daß er nach wenigen Minuten schon wieder eingefangen wird?« Vor kurzer Zeit war im Behördenzentrum, wo sich der Vorsitzende des Regierenden Wissenschaftsrates zufällig aufhielt, die Nachricht eingetroffen, daß Possert Flangkort in Begleitung eines Unbekannten in den großen Kontrollturm des Geländes für Raumfahrt und Raumfahrtforschung eingedrungen war und die Besatzung dazu gezwungen hatte, eines der startbereit stehenden Raumschiffe zu zünden. Die beiden Attentäter waren unversehrt entkommen, da Flangkort, wie man hörte, eine gefährliche Waffe getragen und die Leute damit bedroht habe, und seitdem spurlos verschwunden. Im Behördenzentrum herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Man konnte sich nicht erklären, wie Possert Flangkort es fertiggebracht hatte, die Grenze des Krankenlandes zu überschreiten, ohne daß der mit der Überwachung der Verbannten beauftragte Rechner sofort Alarm geschlagen hätte. Diesmal jedoch gab es einen, der fest dazu entschlossen war, dem Spuk Possert Flangkort ein für allemal ein Ende zu machen, und müsse er zu diesem Zweck Flangkort auch eigenhändig erschießen: Napral Egk Simenk, den Vorsitzenden des Regierenden Wissenschaftsrats. Er mobilisierte die Behörden. Auch das letzte Mitglied der Freiwilligen Polizei wurde vom Ruhelager geholt und für die Suche nach Flangkort aufgeboten. Als die Meldung über Flangkorts unerwartetes Auftauchen vom Gelände für Raumfahrt eintraf, hatten der Wissenschaftler und sein Begleiter den Kontrollturm gerade verlassen und waren mit einem Gleitwagen davongeflogen. Es ließ sich also genau ausrechnen, innerhalb welches Umkreises um das Raumfahrtgelände die beiden Flüchtigen zu finden sein mußten. Sie konnten sich nicht schnel-
47 ler bewegen, als es das Triebwerk ihres Gleiters zuließ. Alle zwei Sekunden erweiterte sich der Durchmesser dieses Kreises um einen Kilometer, das entsprach der Höchstgeschwindigkeit eines modernen Gleitfahrzeugs. Es dauerte nur eine halbe Stunde, da hatte Napral Egk Simenk sämtliche Polizeireserven mobilisiert und auf den Weg gebracht, und weitere zwanzig Minuten, bis die Leute mit ihren Fahrzeugen auf Position waren. In diesen fünfzig Minuten konnte Possert Flangkort nicht mehr als achthundert Kilometer zurückgelegt haben. Sechzehnhundert Kilometer Durchmesser also hatte der Kreis, den die Polizei rings um den Raumhafen gebildet hatte und in dessen Innenraum die beiden Flüchtlinge sich ohne Zweifel noch befanden. Eine grimmige Zufriedenheit ergriff von Napral Egk Simenk Besitz, als er die letzte Positionsmeldung bekam. Diesmal hatte er sich von der Ratlosigkeit nicht unterkriegen lassen. Diesmal hatte er blitzschnell reagiert. Diesmal war Possert Flangkort gefangen, und sobald er ihn fest hatte, würde er dafür sorgen, daß sein unseliges Treiben für immer ein Ende fand. Jagdfieber packte den Vorsitzenden des Regierenden Rates. In Jahrzehnten hatte er nicht mehr diese prickelnde Erregung empfunden, die ihn jetzt beseelte. An der Wand des großen Sitzungssaales erschien die Projektion einer Landkarte, auf der der sechzehnhundert Kilometer durchmessende Kreis rings um den Raumhafen eingezeichnet war. Im Norden drang er weit bis in wüstes, unbesiedeltes Gebiet vor. Flangkort würde sich wahrscheinlich nicht dorthin wenden. Das Ödland bot ihm keine Existenzmöglichkeit. Weitaus wahrscheinlicher war, daß er in weniger unwirtlichem Gelände ein Versteck hatte, das er nach seinem Attentat auf den Raumhafen auf dem schnellsten Weg zu erreichen suchte. Die wahrscheinlichsten Fluchtrichtungen waren Süden und Südosten, da dort die Besiedelung am dünnsten war. Napral Egk Simenk unternahm es selbst, die Wachtposten über diesen seinen
48 Verdacht in Kenntnis zu setzen. Noch immer war unklar, was Possert Flangkort mit seinem Anschlag auf den Raumhafen bezweckt hatte. Der Verdacht lag nahe, daß er das Raumschiff, dessen Start von ihm erzwungen worden war, zuvor mit irgend etwas beladen hatte. Das war möglich, denn auf Toulminth rechnete niemand mit einem Attentat auf den Raumhafen, und die dort stationierten Fahrzeuge waren unbewacht. Wer jedoch befürchtet hatte, daß das Raumschiff mit einer Bombe bestückt und auf die Reise geschickt worden sei, um sich auf einen bestimmten Punkt auf der Oberfläche des Planeten zu stürzen, dessen Sorgen wurden bald zerstreut. Das Fahrzeug, so wies die Ortung aus, bewegte sich auf geradem Kurs auf die Grenzen des Ovendeno-Systems zu. Es war zu erwarten, daß es innerhalb der nächsten Stunde in den interstellaren Leerraum eindringen werde. Eine Stunde verging. Immer ungeduldiger wartete Napral Egk Simenk auf die erste Meldung, daß das Fahrzeug der Flüchtlinge gesichtet worden sei. Draußen stieg der junge Tag auf. Wenn Possert Flangkort einen einigermaßen geraden Kurs eingeschlagen hatte, dann mußte er längst auf den Kreis der Wachtposten gestoßen sein. Hatte er von dem Kesseltreiben Wind bekommen? War er mißtrauisch geworden und versuchte nun, im Innern des Kreises ein Versteck zu finden und zu warten, bis die Posten wieder zurückgezogen wurden? Da sollte er sich, das schwor Napral Egk Simenk, getäuscht haben. Wenn nötig, würde er die Polizisten ein ganzes Jahr lang auf ihren Posten belassen. Aber schließlich geschah es doch. Eine alarmierte Stimme meldete sich, es sei achthundert Kilometer östlich des Raumhafens ein Fahrzeug geortet worden, das bis auf wenige Kilometer an die Postenkette herankam, dann jedoch umkehrte und mit Höchstgeschwindigkeit die Flucht ergriff. Napral Egk Simenk glühte vor Jagdfieber. Der Fuchs hatte sich gezeigt! Zwar nicht da, wo er ihn erwartete, sondern in Richtung auf dichter besiedelte Gegenden, in Richtung auf das
Kurt Mahr Behördenzentrum. Die Geister des Alls mochten wissen, was er da wollte. Hauptsache, er hatte sich erst einmal sehen lassen. Triumphierend blickte Napral Egk Simenk in die Runde. »Ich möchte an Ort und Stelle sein, wenn der Mann geschnappt wird!« verkündete er. »Wer von euch dabeisein möchte, mag sich mir anschließen!«
* Fünfhundert Kilometer südöstlich des Raumhafens setzte er Timpeh ab. Er riet ihm, sich schleunigst ein Versteck zu suchen und es dort möglichst ein paar Tage lang auszuhalten. Danach, versprach er, sollte Timpeh die Welt gehören. Wenn er jedoch die Nase zu früh hervorstreckte, würde ihn die Polizei festnehmen und wieder ins Krankenland abschieben. Timpeh versprach, er werde sich an diese Weisung halten. Danach war Possert Flangkort allein. Der Morgen dämmerte. In geringer Höhe, mit geringer Geschwindigkeit, trieb Flangkorts Gleiter zunächst nach Nordosten, später nach Osten. Flangkort hatte keine Eile. Er spürte, daß der kommende Tag das Ende bringen würde, jenen Umschlag, vor dem er sich seit Monaten fürchtete. Er konnte nichts mehr daran ändern. Das Schicksal hatte sich festgelegt. Er hatte getan, was in der Macht eines Menschen stand. Er fragte sich, wie es sein würde. Er war schon immer davon überzeugt gewesen, daß der Umschlag wie ein Blitz aus heiterem Himmel herniedersausen und sämtliche Bernaler auf einmal treffen würde – mit Ausnahme derer, die aufgrund geistiger Mißbildungen nicht den erforderlichen Grad der Vollkommenheit erreicht hatten und ihn auch niemals erreichen würden. Es war nach seiner Meinung nicht Sache des einzelnen, den Umschlag je nach Vollkommenheitsstatus nur für sich herbeizuführen. Die Natur betrachtete das Ganze, und das Ganze war in diesem Fall die bernalische Menschheit. Sobald sie in ihrer Gesamtheit an der Schwelle
Die Schwelle zum Nichts der Vollkommenheit angekommen war, würde der Umschlag erfolgen und alle Menschen gleichzeitig erfassen. Dabei spielte es keine Rolle, ob dem einen oder anderen Individuum noch ein gewisses Maß an individueller Vollkommenheit fehlte. Er wurde einfach mitgerissen. Im Gegensatz dazu war es möglich und denkbar, daß ein einzelner durch eine besondere Kondition den Betrag an Vollkommenheit erbrachte, der nötig war, um den Umschlag für die Gesamtheit herbeizuführen. Es war wie ein Topf, der durch die Beiträge vieler Millionen Bernaler allmählich zum Überlaufen gebracht wurde. Kein einziges Wesen hatte die Macht, das Überlaufen zu verhindern. Wohl aber konnte ein einzelner durch einen besonders großen Beitrag das Überlaufen rascher herbeiführen. Auf jeden Fall stand die Stunde des Unheils unmittelbar bevor. Possert Flangkort hätte keine Beweise für diese Vermutung anbringen können, und trotzdem fühlte er sich seiner Sache so sicher, wie nur ein Mann sich fühlen kann, der sich so lange mit der Materie beschäftigt hat, daß er abseits aller Logik ein gewisses Gespür für sie entwickelte, eine Gewißheit des Ahnens, die der durch Beweise gesicherten, wissenschaftlichen Gewißheit gleichkam. Bevor es soweit war, wollte er Poola Sangtru noch einmal sehen, die Mutter seines Sohnes, die Frau, an der sein Herz hing. Er wollte den vergebenden Blick ihrer Augen sehen, wenn sie spürte, daß sie auf eine andere Daseinsebene hinübergezogen wurde, wie er es ihr vorhergesagt hatte, ohne daß sie jemals bereit gewesen wäre, ihm zu glauben. Er wollte in ihrer Nähe sein, wenn das Unglück geschah. Er wollte dafür sorgen, daß er einer der letzten war, die diese Welt verließen. Daß er überhaupt zurückbleiben könne, war eine vergebliche Hoffnung, die er nichtsdestoweniger mehrere Tage lang genährt hatte. Er war trotz seiner Verbannung, trotz seiner Missetaten noch viel zu sehr Mitglied dieser Gesellschaft, als daß das Unglück vor ihm
49 hätte haltmachen können. Er hatte sich nicht weit genug von den andern getrennt, als daß er zurückbleiben könnte. Aber er glaubte, daß der Vorgang, den er in Gedanken bislang als plötzlich und gleichzeitig und »mit einem Schlag« bezeichnet hatte, sich in Wirklichkeit über mehrere Minuten erstrecken würde und daß diejenigen als letzte in die neue Daseinsebene hinüberwechseln würden, denen an der individuellen Vollkommenheit am meisten fehlte. Er hatte sich mit Drogen versehen, die dafür sorgten, daß ihm im kritischen Augenblick soviel Vollkommenheit wie nur möglich abging. Auf diese Weise hoffte er, unter denjenigen zu sein, die diese Welt als letzte verließen. Soweit war er mit seinen Gedanken gekommen, da gewahrte er auf der kleinen Bildfläche des Orters plötzlich einen lichtstarken Reflex. Er mußte von einem zweiten Fahrzeug kommen, das in einer Höhe von rund dreihundert Metern reglos vor ihm schwebte. Er wurde aufmerksam. Hatten die Behörden wider sonstige Gepflogenheit diesmal so schnell reagiert, daß ihm der Weg abgeschnitten war? Aus dem Empfänger kam eine rauhe, aufgeregte Stimme: »Polizeifahrzeug achtnulldrei an unbekannten Gleiter! Bitte identifiziere dich, mein Freund!« Da riß Possert Flangkort seinen Wagen herum, drückte ihm die Nase nach unten und ging mit Höchstgeschwindigkeit wieder auf Westkurs.
10. »Dort zwischen den Hügeln ist er verschwunden«, meldete der Pilot des Polizeiwagens 803, als Napral Egk Simenk mit seiner Begleitung an der Stelle erschien, von der aus Possert Flangkorts Fahrzeug geortet worden war. Die Polizisten hatten sich auf eine Verfolgung nicht eingelassen. Sie hielten die Position, wie ihnen aufgetragen worden war. Simenks Augen blitzten. Er war in seinem
50 Element. Die Jagd nach einem Verbrecher war das, was er sich sein ganzes Leben lang gewünscht zu haben schien, ohne sich dieses Wunsches jemals bewußt zu werden. »Wir gehen nach unten!« erklärte er mit klarer, heller Stimme. »Wenn wir die Hügel absuchen, wäre es doch gelacht, wenn wir den Kerl nicht fangen!« Seine Begeisterung war ansteckend. Die vier Mitglieder des Regierenden Rates, die außer dem Piloten in seinem Gleiter Platz gefunden hatten, gaben erfreut das Zeichen der Zustimmung. Das Fahrzeug ging in den Gleitflug. Mit beachtlicher Geschwindigkeit kamen die stark bewaldeten Hügel näher. Dieser Wagen war Simenks Privatfahrzeug und der Pilot ein Mann, dem er sich schon des öfteren anvertraut hatte und der ihn verstand wie sonst kaum ein Mensch. Er fing den Gleiter erst ab, als rechts und links schon die Kuppen zweier Hügel weit in die Höhe ragten und der Grund des Tales nur noch einen Steinwurf weit entfernt zu sein schien. Mit hoher Geschwindigkeit brauste er die Windungen des Tales entlang, als hätte er den Flüchtigen schon vor sich, als sei er sicher, daß er hinter dem nächsten Felsvorsprung lauerte. Und er hatte Erfolg! Im gleißenden Licht der Morgensonne tauchte weit vorab plötzlich ein greller, metallischer Reflex auf. »Das ist er!« schrie Napral Egk Simenk. »Wir holen ihn uns!« Possert Flangkort schien mit einer direkten Verfolgung nicht gerechnet zu haben. Er hatte sich im Gewirr der bewaldeten Täler sicher gefühlt. Daran, wie sein Fahrzeug sich plötzlich aufbäumte und davonschoß, konnte man erkennen, welchen Schreck ihm der Anblick des Verfolgers eingejagt hatte. Flangkort war ein geschickter Pilot. Anstatt das Tal entlang zu fliehen, hob er den Wagen schräg nach oben und raste schräg die Flanke eines Hügels hinan. Noch bevor Simenks Fahrer die entsprechende Kurskorrektur hatte durchführen können, war er über den Kamm der Erhebung hinweg verschwunden.
Kurt Mahr »Los, los!« sagte Simenk. »Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren!« Er riß das Mikrophon an sich und sprach hastig hinein: »Possert Flangkort, hier ist Napral Egk Simenk! Deine Flucht ist sinnlos. Halt an und ergib dich!« Er horchte aufmerksam und gespannt; aber von Flangkort kam keine Antwort. Er wiederholte seine Aufforderung, und als Flangkort sich auch daraufhin nicht meldete, hängte er das Mikrophon wieder in die Halterung und wandte sich mit grimmigem Gesichtsausdruck an den Fahrer. »Du wirst ihn rammen, verstehst du? Du wirst ihn von der Seite her rammen, so daß er entweder landen muß oder abstürzt!« Der Pilot war Feuer und Flamme und ebenso empfanden Simenks Begleiter. Das Fahrzeug schoß an dem Hügel entlang hinauf und gelangte jenseits der Kuppe in ein anderes, noch tiefer eingeschnittenes Tal, dessen Sohle ein viel gewundener Bach entlangfloß. Weit vorab war Possert Flangkorts Maschine zu sehen. Der Pilot ging auf Höchstgeschwindigkeit. Fünfzig Meter über dem mit Steinen besäten Bachbett schoß er hinter dem Flüchtigen drein. Es sah aus, als habe Flangkort, obwohl er auf Simenks Anruf nicht geantwortet hatte, den Kampf aufgegeben. Er erhöhte seine Geschwindigkeit nicht, obgleich der Verfolger ihm mit rasender Schnelligkeit näher kam. Mit mäßigem Tempo glitt er die Windungen des Tals entlang, und der Abstand von Simenks Fahrzeug verringerte sich in jeder Sekunde um mehr als einhundert Meter. Napral Egk Simenk saß nach vorne gebeugt. Wie gebannt hielt er den Blick auf Flangkorts Gleiter gerichtet, fraß sich mit den Augen daran fest, als wolle er Flangkort hypnotisieren, ja nicht im letzten Augenblick noch ein Ausweichmanöver zu fliegen. Der Pilot verringerte die Geschwindigkeit. Er näherte sich dem Flüchtigen schräg von hinten, holte zu guter Letzt noch zu einer flachen Kurve aus, um Flangkort mit der stabil gebauten Bugspitze des eigenen Fahr-
Die Schwelle zum Nichts zeugs in die ungeschützte Seite des Gleiters zu treffen. Der Abstand schrumpfte weiter, noch zweihundert Meter, jetzt noch einhundert, achtzig, sechzig … »Wir haben ihn!« brach es da mit wildem Schrei aus Napral Egk Simenk hervor. »Er ist unser! Drauf …!« Dieses Übermaß an Begeisterung, das ungehemmte Jagdfieber der Verfolger, die Rücksichtslosigkeit, mit der Simenk und seine Begleiter sich diesem Unternehmen verschrieben – das waren gerade die drei Ingredienzen, das fehlende Quantum, die das Maß der Vollkommenheit vollmachten. In diesem Augenblick, in dem Simenks Pilot zum tödlichen Rammstoß ansetzte, erfolgte der Umschlag, vollzog sich das Schicksal des bernalischen Volkes, vor dem Possert Flangkort sich so lange gefürchtet hatte. Simenks Gleiter war plötzlich steuerlos, sein Inneres leer. Der Pilot Napral Egk Simenk, seine Begleiter – sie waren verschwunden, entmaterialisiert, in nichts aufgelöst. Im selben Augenblick aber begann auch das Verschwinden der Bernaler in anderen Gegenden, überall auf Toulminth. Es vollzog sich der Einmarsch des bernalischen Volkes in die vierte Dimension, in das »Zeitflimmern«.
* Als Possert Flangkort den Verfolger zum ersten Mal gewahrte, hatte er noch folgerichtig reagieren können. Aber als er den Gleiter auf der anderen Seite des Hügels nach unten drückte und dem Lauf des Baches zu folgen begann, da fing das Medikament an zu wirken, das er genommen hatte, um für sich selbst den Übergang ins Stadium des Zeitnomaden noch eine Zeitlang hinauszuzögern. Es war eine starke Droge, die er sich injiziert hatte. Sie führte zu schwachen Bewußtseinsstörungen von jeweils kurzer Dauer, lähmte sein Reaktionsvermögen und beeinflußte sein Gleichgewichtsempfinden. Unter diesen Bedingungen die Flucht im bisheri-
51 gen Tempo fortzusetzen, wäre einem Selbstmordversuch gleichgekommen. Flangkort drosselte die Geschwindigkeit auf einen Wert, bei dem es ihm möglich war, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. Er konnte nichts daran ändern, daß er auf diese Weise Napral Egk Simenk in Kürze in die Hände fallen würde. Aufmerksam, jedoch ohne Angst zu empfinden, beobachtete er die Manöver des Verfolgers. Er sah Simenks Gleiter von der Seite her heranschießen und begriff, daß der andere ihn rammen wollte. Aber unter dem Einfluß der Droge schien die Gefahr einem ganz anderen zu gelten, nicht ihm selbst. Er war quasi aus sich herausgetreten und beobachtete die Jagdszene als Unbeteiligter. Plötzlich war er hellwach. Er sah, wie sich die Silhouetten der Männer in Simenks Gleiter von einer Sekunde zur andern auflösten. Er sah, wie das Fahrzeug, das eben noch geradewegs auf ihn zugeschossen war, plötzlich den Bug nach unten neigte und wenige Meter unter seinem Gleiter hinwegschoß. Er sah Simenks Wagen im Wald verschwinden und Sekundenbruchteile später den Feuerball einer gewaltigen Explosion aufsteigen. Er spürte, wie sein Fahrzeug unter der Druckwelle kurze Zeit ins Schwanken geriet. Da begriff er, daß das Schicksal zugeschlagen hatte. Das Ende war gekommen. Die Bernaler verschwanden auf die nächsthöhere Existenzebene. Überall im Land fand in diesem Augenblick derselbe Vorgang statt: Menschen lösten sich auf, wurden zu nichts, verschwanden. Die, die später an die Reihe kamen als ihre Mitmenschen, mochten sich in diesen letzten Sekunden noch an die Warnung erinnern, die Possert Flangkort während seines Gerichtsverfahrens so oft und so eindringlich ausgesprochen hatte – wenn ihnen nicht vor lauter Schreck der Verstand stillstand. Vorsichtig lenkte Flangkort sein Fahrzeug herum. Unendliche Traurigkeit wallte in ihm auf. Er hatte Poola Sangtru noch einmal sehen wollen, bevor sie diese Welt verließen.
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Nun war ihm auch das versagt. Er flog mit mäßiger Geschwindigkeit aus dem Gewirr der Hügel hinaus. Draußen auf der Ebene lagen die qualmenden Wracks der Polizeifahrzeuge, die hier auf ihn gewartet hatten. Die Piloten waren verschwunden, die Gleiter führerlos abgestürzt. Immer weiter nach Osten flog Possert Flangkort, immer häufiger sah er unter sich Häuser auftauchen. Leere Häuser. Verlassene Häuser, in denen nie mehr der Schritt eines Menschen zu hören sein würde. Plötzlich dachte er an Timpeh. Würde er jetzt verstehen, was Flangkort gemeint hatte, als er versprach, die Welt werde in Kürze ihm gehören? Denn Timpeh besaß weder von Geist noch von Charakter her jenes Maß an individueller Vollkommenheit, das nötig war, an diesem Prozeß des Übergangs in die nächsthöhere Dimension teilzunehmen. Er nicht, und die meisten Bewohner des Krankenlandes ebenfalls nicht. Dazu würden hier und da noch einzelne andere kommen, die mit bisher unerkannten Imperfektionen belastet waren. Das war der Rest des bernalischen Volkes: Asoziale, Wahnsinnige, Kretins …
* Er landete in dem prächtigen Garten vor Poolas Haus. Er stieg aus. Es fiel ihm schwer, das Gleichgewicht zu wahren. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und kniff die Lider zusammen, bis der Anfall vergangen war. Er fragte sich, wie lange er noch durchhalten könne. Wieviel Minuten noch, bis die Wirkung der Droge soweit abgeklungen war, daß auch er schließlich das Maß an Vollkommenheit erreichte, das ihm den Anspruch auf den Status des Zeitnomaden verschaffte? Er starrte die herrlichen Blumen an, die in sorgfältig gepflegten Beeten rings um das Haus gepflanzt waren. Poola war schon immer eine Blumenliebhaberin gewesen. Den größten Teil ihrer Freizeit hatte sie dem Garten gewidmet. Was war mit den Blumen? Waren nicht auch sie vollkommen? Voll-
kommener noch als die Menschen, die sie gezüchtet hatten? Warum waren sie noch hier? Warum hatte das Schicksal nicht auch sie in jene fremde, unbeschreibliche Welt mit hinübergerissen, in die sie die Menschen versetzt hatte? War jene andere Welt ohne Blumen? Welch abscheuliche Vorstellung …! Seine Gedanken wanderten zu Jondar, seinem und Poolas zweijährigem Sohn. Wer hatte diese Welt zuerst verlassen, die Mutter oder der Sohn? Der arme Jondar! Sein kleiner Verstand würde nicht begreifen, was mit ihm geschah. Er würde Riesenängste ausstehen, bis er die Stimme seiner Mutter wieder hörte … wenn es da drüben, in der anderen Welt Stimmen und Ohren, sie zu hören, überhaupt gab! Mit schweren, langsamen Schritten durchquerte er den Garten und betrat das Haus. Über einen Rundgang hinweg gelangte er in die hohe, kühle Halle, deren halbtransparentes Dach das Sonnenlicht filterte und es in bunten, verschrobenen Kringeln auf den Boden malte. Auch hier der Duft von Blumen, das leise, ruhige Plätschern eines kleinen Brunnens: die Welt einer Frau. Plötzlich hörte er das Geräusch, einen Laut wie unterdrücktes Schluchzen. Elektrisiert horchte er auf. War da noch jemand im Haus? Er versuchte zu ermitteln, woher das Geräusch kam. Aber die Akustik der Halle führte ihn in die Irre. Er blieb stehen und rief: »Poola …?« Ein erstickter Schrei antwortete ihn. Ein Möbelstück fiel um. Dann hörte er das Geräusch rascher Schritte. Aus einer der vielen Türen kam Poola Sangtru, die Frau, die er längst in jener anderen Welt wähnte, aus der es keine Rückkehr gab. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Ungläubig starrte sie ihn an; aber als er die Arme ausbreitete, kam sie auf ihn zu. »Jondar ist verschwunden«, schluchzte sie, den Kopf gegen seine Brust gelehnt, »und dir habe ich … oh, so schweres Unrecht getan!«
Die Schwelle zum Nichts Er ließ sie reden. Es war wichtig für sie, daß sie sich den Kummer von der Seele redete. Er begriff, warum sie die große Reise noch nicht angetreten hatte. Was bei ihm die Droge bewirkte, das besorgte bei Poola Kummer und schlechtes Gewissen. Jondar, in seiner Kindlichkeit so vollkommen wie irgendeiner unter den Erwachsenen, war zusammen mit den anderen Bernalern verschwunden. Poola sorgte sich um ihn. Sie war stets eine zärtliche Mutter gewesen. Die Ungewißheit über Jondars Schicksal belastete sie bis an den Rand ihres Fassungsvermögens und entfernte sie noch weiter von der Vollkommenheit, die zum Übertritt in die neue Dimension erforderlich war. Der eigentliche Anlaß für ihr Zurückbleiben aber war ein anderer. Sie mußte, noch bevor Jondar verschwand, bemerkt haben, daß die große Reise der Bernaler begann, und in diesem Augenblick hatte sie erkannt, daß das bernalische Volk, besonders aber sie, Possert Flangkort bitteres Unrecht getan hatten, als sie ihn zum Schwärmer stempelten und sich über seine Befürchtungen lustig machten. In diesem Augenblick vollzog sich, wovor er sie immer wieder gewarnt hatte. Sie erinnerte sich an die vielen langen Unterhaltungen, in denen er ihr seine Sorgen auseinanderzusetzen versucht hatte, und an den geduldigen, gutmütigen, aber nichtsdestoweniger deutlichen Unglauben, mit dem sie ihm begegnet war. Die Erkenntnis, daß nicht sie, sondern doch Flangkort recht hatte, mußte sie im tiefsten Innern getroffen und aufgewühlt haben. Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie hinaus in den Garten. Er zeigte auf die Blumen, das grüne Land und die blaue, wolkenlose Glocke des Himmels. »Das war unsere Welt, Poola«, sagte er mit schwerer Stimme. »Denk in diesen letzten Augenblicken nicht mehr an das Unschöne der vergangenen Tage und Wochen. Nimm das Bild in dich auf und laß uns daran denken, wie glücklich wir hier waren – und wie glücklich wir auch in der neuen Welt sein werden, die auf uns wartet.«
53 Überrascht sah sie auf. »Du meinst …?« »Ich meine, daß wir auch in der neuen Welt weiterexistieren werden, als Individuum, wie wir es hier waren. Ich meine, daß es auch dort einen Platz für Freude und Glück geben wird. Unsere Welt war schön. Ich bin sicher, daß wir auch dort drüben Schönheit finden werden.« Sie lächelte beruhigt. »Ich habe einmal den Fehler gemacht, dir nicht zu glauben … aber nicht wieder. Du bist der Spezialist für neue Welten. Was du sagst, ist richtig!« Sie löste sich aus seiner Umarmung, ging ein Stück den Weg entlang. Er wollte ihr von seinem letzten Projekt erzählen, von den UrGenen, die er auf die Reise gebracht hatte, damit sie irgendwann in ferner Zukunft einmal andere intelligente Wesen vor dem warnen sollten, was den Bernalern widerfahren war. Aber er kam nicht mehr dazu. Vor seinen Augen vollzog sich das unglaubliche Schauspiel, dessen Augenzeuge er vor langen Wochen zum ersten Mal geworden war, damals, als Sagnin Lorafa aus seinem Experimentierraum verschwand. Poola löste sich auf. Ihre Gestalt wurde durchsichtig, die Umrisse verschwammen … und dann war nichts mehr da! Er hatte sie befreit. Er hatte ihr Kummer und Sorge genommen und dadurch ihre Vollkommenheit hergestellt. Und jetzt war nur noch er alleine übrig.
* Er wußte nicht, was er mit seinen letzten Minuten anfangen sollte. Jetzt, da Poola verschwunden war, hatte ihn die Ungeduld gepackt. Er wollte nicht länger hierbleiben. Er mußte ihr folgen, je eher, desto besser. Aber noch wirkte die Droge und hielt ihn in dieser Welt zurück. Was er über die andere Welt zu Poola gesagt hatte, war dazu bestimmt gewesen, Poola zu beruhigen. Es war kein Wissen, das er von sich gegeben hatte, sondern eine Hoff-
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nung, von der er nicht wußte, wie berechtigt sie war. Er hatte keinerlei Vorstellung von der neuen Welt. Er wußte nicht, wie Menschen sich in ihr zurechtfinden konnten. Er kannte ihre Gegebenheiten nicht und hatte in Wirklichkeit keine Ahnung, ob es dort, wie er gesagt hatte, Platz für Freude und Glück gebe. Aber er fuhr fort zu hoffen. Einmal hatte er Poola davor gewarnt, an das Schicksal als eine weise und gütige Macht zu glauben, die nicht zulassen werde, daß ihren Geschöpfen etwas Widriges zustieß. Jetzt aber begann er selbst mit dem Gedanken zu spielen, daß es doch unlogisch sei – und ungerecht! – wenn die Bernaler, nachdem sie in ihrem angestammten Universum den Zustand der Vollkommenheit erreicht hatten, nun in eine Welt versetzt würden, in der sie nicht zu leben, nicht glücklich zu sein und einer neuen Vollkommenheit entgegenzustreben vermochten. Dieser Gedanke, so wenig berechtigt er auch sein mochte, beruhigte ihn. Er kehrte ins Haus zurück. Er wollte dort auf sein Ende warten, wo er soviel Glück erlebt hatte. Er spürte, wie die Wirkung der Droge nachließ. Der Zeitpunkt war nicht mehr fern, da auch er die lange Reise antrat. Er suchte sich einen bequemen Sessel und überließ sich seinen Gedanken. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ihm plötzlich auffiel, daß sich mit seiner Umgebung eine merkwürdige Veränderung vollzog. Die große Halle war plötzlich lichter geworden, und die Helligkeit nahm noch zu – eine Helligkeit, die aus keiner erkennbaren Quelle stammte, denn die
Sonne malte nach wie vor die bunten Kringel auf den Fußboden. Er richtete sich auf. Er ahnte, daß der Augenblick gekommen war, und als Wissenschaftler wollte er jede Phase mit weit offenen Augen und wachem Verstand erleben. Es war, als habe sich schon jetzt der Ablauf der Zeit drastisch verändert, denn was er beim Verschwinden anderer als einen blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Vorgang erfahren hatte, das dehnte sich nun und zog sich in die Länge. Die Helligkeit wuchs. Sie blendete und verwischte damit die Umrisse der Gegenstände. Flangkort spürte ein merkwürdiges Prickeln. Er hatte plötzlich den Boden unter den Füßen verloren. Der Grund, auf dem er sich bewegte, war leicht und federnd. Das Gehen wurde zum schwerelosen Schweben. Lichtfäden durchzogen die Helligkeit, wesenlose Gebilde, scheinbar ohne Sinn und ohne Ziel. So sehr Possert Flangkort sich anstrengte, er konnte die Gegenstände in der Halle nicht mehr erkennen. Sie waren nicht mehr da. Er hatte seine Welt verlassen und war in die neue Dimension hinübergewechselt. Die Helligkeit blendete ihn nun nicht mehr; aber noch immer sah er weiter nichts als Licht und das merkwürdige Gewebe jener Fäden, die wiederum aus Licht bestanden. Und plötzlich hörte er Stimmen, vertraute Stimmen, die seine Sprache sprachen … ENDE
ENDE