Francis Durbridge
Die Schuhe
Inhaltsangabe Weil er seine Verlobte, das Mannequin Lucy Staines, ermordet haben soll, i...
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Francis Durbridge
Die Schuhe
Inhaltsangabe Weil er seine Verlobte, das Mannequin Lucy Staines, ermordet haben soll, ist der begabte junge Architekt Harold Weldon zum Tode verurteilt worden. Seine Schuld scheint erwiesen, zumal sich kurz vor dem Verbrechen ein heftiger Streit zwischen den Verlobten unter Zeugen abgespielt hat. Aber liegt der Fall wirklich so einfach? Mike Baxter, Kriminalschriftsteller und rühmlich bekannter ehemaliger Kriminalreporter, hegt sehr starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kronzeugin. Zwei weitere Frauenmorde ereignen sich unter ähnlichen Umständen wie der erste – ein Beweis dafür, daß der wirkliche Täter noch frei herumläuft.
Printed in Western-Germany Einmalige Sonderausgabe mit Genehmigung des Gebrüder Weiß Verlages München/Berlin Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln • fgb Schutzumschlag: Roberto Patelli Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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W
as die Presse und Öffentlichkeit betraf, war der Fall Weldon abgeschlossen. Harold Weldon, ein vielversprechender Architekt von knapp dreißig Jahren, war angeklagt und für schuldig befunden worden, seine Braut, ein Mannequin namens Lucy Staines, erwürgt zu haben. Ein Gnadengesuch an den Innenminister war eingereicht, geprüft und verworfen worden. Da Mordprozesse nie langweilig sind, hatte auch der gewaltsame Tod eines so schönen und jungen Mädchens wie Lucy Staines einige Aufmerksamkeit hervorgerufen. Wenn der Fall dennoch zu keinen Schlagzeilen in den Massenblättern geführt hatte, so deswegen, weil gerade eine besonders beunruhigende internationale Krise und wichtige Tagesereignisse Vorrang hatten. Vielleicht hätte der Fall Weldon etwas mehr Platz auf den Titelseiten der Zeitungen erhalten, wenn gewisse mysteriöse Elemente dabei zutage getreten wären – etwa eine fehlende Leiche, eine aufregende Menschenjagd durch Stadt und Land oder andere geheimnisvolle Rätsel und Spuren, die den Appetit von Amateurdetektiven wecken konnten. Im Falle Weldon aber gab es nichts von alledem. Es war einer der typischen Kriminalfälle, die im Augenblick der Entdeckung auch schon gelöst sind. An einem Sommerabend hatten Zeugen Weldon und seine Braut vor dem Besuch des Theaters bei einem lautstarken Streit beobachtet. Wenige Stunden später fand man die Leiche des Mädchens auf 1
einem Ruinengrundstück in Soho; eine Zeugin hatte Weldon kurz nach der ärztlich festgestellten Todeszeit in wilder Flucht vom Tatort weglaufen sehen. Harold Weldon wurde sofort verhaftet; die Zeugin erkannte ihn bei der Gegenüberstellung ohne jeden Zweifel auf Anhieb wieder. In einem Taschentuch, das er leichtsinnigerweise in der Tasche eines Anzugs hatte stecken lassen, den er auffallend eilig zur Reinigung gebracht hatte, fand die Polizei Blutflecke. Auch das Alibi des Angeklagten hielt der polizeilichen Überprüfung nicht stand. Vielleicht wäre die Gerichtsverhandlung für den jungen Architekten günstiger verlaufen, hätte er vor Gericht eine etwas bessere Figur abgegeben. Weldon hatte sich indessen nahezu Mühe gegeben, sich mit jedem anzulegen. Die aggressive und sarkastische Art, mit der er vor Gericht auftrat, hatte ihm nicht nur die Sympathien des Richters, der Geschworenen und der Öffentlichkeit total verscherzt, sondern auch die Arbeit seines Verteidigers empfindlich gestört. Häufige Zornesausbrüche während der Verhandlungen halfen ihm natürlich nicht, seine Unschuld zu beweisen; sie gossen nur noch Öl auf das Feuer des Staatsanwalts. Hier steht vor Ihnen – so konnte der Staatsanwalt mit Nachdruck feststellen – der Prototyp eines nur von sich selbst überzeugten jungen Mannes, der unfähig ist, seine gewalttätigen Emotionen zu zügeln. Das Urteil stand eigentlich von vornherein fest, und für das von Verteidiger Jaime Mainardi eingereichte Gnadengesuch fand sich nicht die geringste Unterstützung in der Öffentlichkeit. So war dann schließlich das Hinrichtungsdatum festgesetzt worden, und man schickte sich an, die Akte, die Harold Weldons kurze und stürmische Lebensgeschichte enthielt, für immer zu schließen. Das war genau die Situation, als Mike Baxter, Kriminologe und einst gerühmter Kriminalreporter des Londoner Zeitungsviertels Fleet Street, an diesen Fall herankam. Obwohl im Prinzip an allen Aspekten der Verbrechen interessiert – bildeten sie doch die Sub2
stanz seiner Zeitungsartikel und Bücher, die ihm ein ansehnliches Einkommen verschafften –, hatte Baxter diesen Fall nur oberflächlich verfolgt. Sein Verleger und sein literarischer Agent drängten ihn, endlich das Buch zu beenden, das schon längst hätte erscheinen sollen, und seine Frau Linda bedrängte ihn, einen schon überfälligen Urlaub anzutreten. Als eines Morgens das Telefon läutete, während er gerade dabei war, das Schlußkapitel auf der Schreibmaschine zu tippen, überhäufte er in Gedanken seine Frau mit milden Vorwürfen wegen ihrer Abwesenheit, die ihn zwang, selbst zum Telefonhörer zu greifen. »Hier Conway und Racy«, flötete eine gezierte weibliche Stimme. »Wer?« murmelte er. Der Name klang nach einem Büro für Wettannahmen. Mike machte sich nichts aus Wetten, es sei denn, er hatte einen todsicheren Tip. »Ist dort die Wohnung von Mrs. Baxter?« fragte die Stimme weiter. »Meine Frau ist im Augenblick nicht zu Hause«, antwortete Mike höflich. »Oh, wie schade… Würden Sie dann vielleicht so liebenswürdig sein und der gnädigen Frau etwas ausrichten?« »Ich bin sehr beschäftigt. Können Sie nicht später noch einmal anrufen?« Mike war inzwischen klargeworden, daß die Schneiderin seiner Frau aus der Bond Street am Telefon war. Die überschwenglich liebenswürdige Stimme in der Leitung nahm einen leicht pikierten Ton an. »Ich … mir scheint, Sie haben mich nicht richtig verstanden, Mr. Baxter… Hier ist die Firma Conway und Racy in der Bond Street…« »Also gut, wenn es dringend ist«, seufzte er. »Aber machen Sie es bitte kurz.« In diesem Augenblick hörte er, wie die Tür seines Arbeitszimmers geöffnet wurde. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß Linda nach Hause gekommen war. 3
»Könnte die gnädige Frau morgen nachmittag zur letzten Anprobe kommen?« erklang es am anderen Ende der Leitung. »Vielleicht würde es der gnädigen Frau um drei Uhr passen?« »Ganz bestimmt«, antwortete Mike hastig. »Ich werde es ihr ausrichten.« Als er auflegte, setzte Linda sich in den Ledersessel gegenüber seinem Schreibtisch und sah ihn forschend an. »Was ist los, Mike? Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.« »Ach, nichts Besonderes, Liebling. Ich versuche nur gerade, mir auf ehrliche Art und Weise mein Brot an der Schreibmaschine zu verdienen, und muß dabei laufend Telefonanrufe deiner Friseuse, Schneiderin und sonstiger Geschäftsleute entgegennehmen. Conway und Racy erwarten dich morgen nachmittag um drei Uhr zur letzten Anprobe.« »Aber Darling! Das ist mein neues Kleid, das ich mir extra für – du erinnerst dich doch hoffentlich? – für den Urlaub habe machen lassen. Ich hoffe, du denkst an unsere Abmachung, übermorgen zu fahren.« »Jawohl, meine Liebe. Ich denke daran!« Irgend etwas an seiner Tonart ließ sie aufhorchen. »Darling – es bleibt doch bei unserer geplanten Reise nach Südfrankreich?« »Aber ja doch, Liebling.« »Das klingt nicht gerade begeistert. Jetzt sieh mich mal bitte ganz fest an und gib mir dein feierliches Versprechen –« »Wenn du mir nur ein paar Stunden ungestörter Konzentration auf dieses längst fällige Opus meiner Feder lassen würdest, dann könnten wir es gerade noch schaffen«, fiel er ihr ins Wort. Linda stand auf, beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn. »Entschuldige, Darling; ich werde dich nicht länger stören. Ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, wenn wir rechtzeitig reisefertig sein wollen.« 4
Als sie sich zum Gehen wandte, klopfte es an die Tür, und Mrs. Potter, die Haushälterin, kam herein. »Entschuldigen Sie, Mr. Baxter. Draußen ist ein Herr, der Sie sprechen möchte.« Mike seufzte vernehmlich. »Jetzt weiß ich auch, warum Charles Dickens niemals seinen Edwin Drood beendet hat. Wer ist es, Mrs. Potter?« Anstelle einer Antwort reichte ihm die Haushälterin eine Visitenkarte. »Hector Staines, stellv. Verkaufsdirektor Kean Brothers«, las Mike laut. »Bauen die nicht Kühlschränke? Sagen Sie ihm: wir hätten schon zwei, Mrs. Potter.« »Wenn Sie mich fragen, Sir, so glaube ich nicht, daß der Herr Ihnen etwas verkaufen will. Er spricht gar nicht wie ein Vertreter. Der Herr scheint furchtbar durcheinander zu sein und sagt, er müsse Sie unbedingt sprechen. Es gehe um Leben und Tod, sagt er.« Mike hob verwundert die Augenbrauen. »Das hat er gesagt? Wie sieht er denn aus?« »Es ist wirklich ein feiner Herr. Groß und schlank, graues Haar, mit etwas starrem Gesicht. Er geht an einem Stock – sieht so aus, als ob er ein steifes Bein hätte.« Mike wechselte einen Blick mit seiner Frau, seufzte tief und schob dann die Schreibmaschine zur Seite. »Heute ist mir offensichtlich keine ruhige Arbeit vergönnt. Also, dann lassen Sie ihn in Gottes Namen herein, Mrs. Potter.« »Was meinst du – soll ich bleiben?« fragte Linda. »Es wäre vielleicht besser – nur für den Fall, daß er seinen Stock gebrauchen sollte, wenn ich mich weigere, noch einen Kühlschrank zu kaufen.« Die Beschreibung, die Mrs. Potter von dem Besucher gegeben hatte, war zwar wie immer respektlos, aber zutreffend. Ein kultivierter Mann, Exschüler einer der bekannten Privatschu5
len, schoß es Mike durch den Kopf, als er seinem Besucher die Hand schüttelte – so gar nicht der Typ eines Vertreters. Und anscheinend war er, wie Mrs. Potter richtig bemerkt hatte, ›furchtbar durcheinander‹. »Verzeihen Sie bitte, wenn ich so formlos hier hereinplatze«, begann Staines mit einer steifen Verbeugung gegenüber Linda, »aber es handelt sich wirklich um eine Angelegenheit von größter Dringlichkeit.« »Was kann ich für Sie tun?« fragte Mike mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Ich komme sofort zur Sache, da Sie offensichtlich sehr beschäftigt sind.« »Das ist er«, bestätigte Linda bedeutungsvoll. Mike sah sie zurechtweisend an und bot seinem Besucher einen Stuhl an. Der ältere Herr schüttelte den Kopf und begann nervös im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Hinken war kaum zu erkennen. »Ich weiß nicht, ob Sie während der letzten Wochen die Zeitungen verfolgt haben, Mr. Baxter?« »Nicht genug, um etwa wegen der internationalen Lage kein Auge schließen zu können. Die wird sich bald wieder beruhigen.« »Ich meine nicht die große Politik, sondern den Fall Weldon. Man wird einen Unschuldigen hängen.« »Wen meinen Sie?« »Harold Weldon.« Mike warf einen schnellen Blick auf die Visitenkarte in seiner Hand. »Einen Augenblick mal … stehen Sie in irgendwelchen Beziehungen zu Weldon?« »Ja, Lucy Staines war meine einzige Tochter«, antwortete der Besucher ruhig. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen im Zimmer. Dann sagte Mike: »Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch der 6
Hauptzeuge gegen Weldon. Hat nicht gerade Ihre Aussage zu seiner Verurteilung beigetragen?« »Ich bin mir dessen bewußt, wie paradox das heute klingen muß«, antwortete der ältere Herr. »Aber das ist es ja gerade, was alles so schwierig macht. Ich empfinde für den jungen Mann keine großen Sympathien; ich glaube aber nicht, daß er meine Tochter umgebracht hat. Jedenfalls nicht mehr.« »Augenblick bitte, Mr. Staines. Bevor wir mit unserem Gespräch fortfahren, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich keinerlei offizielle Beziehungen zu Scotland Yard unterhalte. Sollten Sie neue Beweise haben, aufgrund deren Sie Weldon jetzt für unschuldig halten, dann ist es Ihre Pflicht, sofort zur Polizei zu gehen.« Staines' starre Gesichtszüge nahmen plötzlich einen verzweifelten Ausdruck an. »Gerade das geht nicht, Mr. Baxter! Ich verfüge nicht über neue Beweise, zumindest nicht über nennenswerte.« »Darf ich dann fragen, weshalb Sie trotzdem zu mir gekommen sind?« »Weil ich einfach nicht mehr glaube, daß Weldon der Mörder ist.« »Soweit ich mich erinnere, ist in einem fairen Gerichtsverfahren ein klares Urteil gesprochen worden.« »Geschworene können sich irren. Das ist schon oft so gewesen. Aber das stellt sich in den meisten Fällen erst heraus, wenn es zu spät ist.« Mike nickte nachdenklich. »Stimmt. Allerdings fürchte ich, der Innenminister wird sich aufgrund einer bloßen Intuition Ihrerseits kaum bereit finden, den Fall wieder aufrollen zu lassen. Was haben Sie denn für Anhaltspunkte? Es muß doch irgend etwas geben, wo man mit neuen Ermittlungen beginnen kann, sonst hätten Sie sich wohl nicht die Mühe gemacht, mich aufzusuchen.« »Wahrscheinlich ist es mein Gewissen, das mich antreibt, Mr. Baxter. Wer seine einzige Tochter verliert, dem bricht die Umwelt 7
wie ein Kartenhaus zusammen. Ein solcher Schock ist einfach unbeschreiblich.« »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Linda mitfühlend. »Sobald der Schock nachläßt, kommt es zu einer furchtbaren Reaktion – zu einem dringenden Verlangen, um sich zu schlagen, zu einem brennenden Rachedurst. Im Innern schreit eine Stimme: ›Jemand muß dafür zahlen‹.« Wieder herrschte angespannte Stille, die Mike mit der ruhigen und klaren Frage unterbrach: »Wollen Sie damit etwa sagen, Sie hätten gegen Ihren damals angehenden Schwiegersohn falsches Zeugnis abgelegt, Mr. Staines?« »Großer Gott, nein! Ich habe die Wahrheit gesagt, wie ich es geschworen hatte, und alle mir gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet.« »Die Wahrheit – so wie Sie sie damals sahen?« »Seit dem Urteilsspruch habe ich viele Nächte wach gelegen und mir Sorgen un den jungen Mann gemacht, der jetzt in der Todeszelle sitzt und auf den Henker wartet. Und mein Gewissen quält mich – war es meine Aussage, die ihn dorthin gebracht hat? Meine Tochter lebt nicht mehr, niemand kann sie mir zurückbringen … aber habe ich das Recht, das schon geschehene Unglück durch einen weiteren Todesfall noch zu verschlimmern?« »Sicherlich«, sagte Mike, der seine Worte sorgfältig wählte, »haben Sie sich nichts vorzuwerfen. Schließlich haben Sie nur Ihre Pflicht getan, so unangenehm das auch gewesen sein mag.« »Das habe ich mir auch schon einzureden versucht; es hat aber nichts geholfen. Ich werde diese quälenden Gedanken nicht mehr los.« Linda und Mike sahen sich betroffen an, als Mr. Staines sein Gesicht in den Händen verbarg. Linda beendete das bedrückende Schweigen: »Mr. Staines, mein Mann und ich sind in letzter Zeit ziemlich beschäftigt gewesen, so 8
daß wir die Gerichtsverhandlung nicht im einzelnen verfolgen konnten. Würden Sie uns bitte etwas genauer informieren, was in der Mordnacht geschah?« Staines hob den Kopf. Schmerz und Gram standen deutlich in seinem Gesicht. »Harold und Lucy waren seit sechs Monaten verlobt und wollten im Frühjahr heiraten. Sie sahen sich ziemlich oft, soweit es ihre Berufe zuließen. Harold ist Juniorpartner in einem Architektenbüro. Ich schätze seine Entwürfe nicht sehr, weil sie mir zu modern sind. Lucy verdiente ihren Lebensunterhalt, wie Sie vielleicht wissen, als Mannequin. Sie liebte ihre Arbeit und hing an ihr, wie er an der seinen. An dem Abend, an dem sie ermordet wurde, hatten sich die jungen Leute zum Abendessen mit anschließendem Theaterbesuch verabredet. Harold kam gegen sechs Uhr, um Lucy abzuholen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß meine Tochter und ich zusammenwohnten, seit meine Frau verstorben war. Ich holte ihnen etwas zu trinken und ging dann nach oben. Dabei hörte ich sie erregt sprechen, und bald wurde mir klar, daß das junge Paar in einen handfesten Streit verwickelt war. Es war nicht die erste Auseinandersetzung.« »Konnten Sie hören, wovon gesprochen wurde?« »Geschrien, nicht gesprochen.« »Und worum ging es bei diesem Streit?« »Es war eigentlich stets dasselbe; Harold wünschte, Lucy sollte sofort nach der Heirat ihren Beruf aufgeben. Sie weigerte sich, denn sie liebte nicht nur ihre Arbeit, sondern auch das damit verbundene Geld. Ihre Firma zahlt sehr gut. Lucy bestand immer darauf, auch nach der Eheschließung weiterzuarbeiten. Das war ein wunder Punkt in ihren Beziehungen, und keiner von beiden wollte nachgeben. Lucy war stets ein selbstbewußtes, unabhängiges Mädchen; Harold aber ist viel zu sehr von sich überzeugt, als daß er die Ansichten eines anderen akzeptieren könnte. Es war ein häßlicher Streit, und ich war froh, als die beiden endlich das Haus verließen, 9
um ins Theater zu gehen, das heißt zunächst zum Abendessen.« »Um welche Zeit war das?« »Etwa um Viertel vor sieben Uhr. Es stellte sich später heraus, daß sie von einigen Bekannten im Restaurant und von einigen anderen auch im Theater gesehen wurden. Anscheinend hatten die beiden sich noch nicht wieder vertragen. Es muß ein unangenehmer Abend gewesen sein. Den Rest der Geschichte werden Sie wohl kennen. Am frühen Morgen des folgenden Tages fand die Polizei Lucy erwürgt auf einem Ruinengrundstück in Soho. Harold versuchte, ein Alibi zu erfinden, doch konnte er die Polizei nicht irreführen. Er mußte seine erste Behauptung widerrufen und war völlig außerstande, eine befriedigende Erklärung über seinen Aufenthalt zwischen dem Verlassen des Theaters und der Mordzeit zu geben.« »Ich glaube mich zu erinnern, wie er sich wegen seines Alibis in ein Netz von Widersprüchen verwickelt hat«, warf Mike ein. »Mr. Staines – darf ich Sie etwas fragen?« sagte Linda interessiert. »Hatte Ihre Tochter andere gute Freunde?« »Falls Sie damit fragen wollen, ob sie sich noch mit anderen jungen Männern eingelassen hat, so ist die Antwort entschieden ›nein‹«, erwiderte Staines. »Weldons Winkeladvokat hat etwas Ähnliches zu unterstellen versucht, konnte aber keine Beweise dafür erbringen.« »Ich dachte eigentlich mehr an Freundinnen.« »Ach so. Doch, sie war ziemlich eng mit einem jungen Mädchen befreundet, das ebenfalls in der Bond Street als Mannequin arbeitet.« »Wissen Sie, wie das Mädchen heißt?« fragte Mike. Staines schien einen Augenblick zu überlegen, wobei er sein Taschentuch hervorholte und sich damit die Augenbrauen abtupfte. »Ich glaube, sie heißt Peggy Bedford oder so ähnlich.« Linda führte das Gespräch weiter. »Sie haben eben die Bond Street erwähnt. Haben die Mädchen dort für eines der größeren Modegeschäfte gearbeitet?« 10
»Für Conway und Racy.« »Wie seltsam«, murmelte sie. Staines jedoch, der sich erhob, anscheinend um zu gehen, verlor seinen Stock und überhörte diese Bemerkung, weil Linda sich bückte, um den Stock aufzuheben. »Sie werden bestimmt das Gefühl haben, ich vergeude Ihre Zeit, Mr. Baxter«, sagte Staines dann. »Aber ich mußte das alles einmal loswerden. Ich kann nachts nicht mehr schlafen!« »Sie haben mir aber wenig mitgeteilt, woran man anknüpfen könnte. Selbst wenn ich Zeit hätte, was nicht der Fall ist, wüßte ich kaum, wo ich den Hebel ansetzen sollte.« »Sie könnten zunächst herauszufinden versuchen, wer L. Fairfax ist«, erwiderte der alte Mann unvermittelt. »L. Fairfax? Wer ist das?« »Die Person, mit der Lucy am 12. Mai eine Verabredung hatte. Man fand die Eintragung in ihrem Notizbuch.« »Die Polizei weiß hiervon?« »Es kam bei der Verhandlung zur Sprache. Die Bemühungen der Polizei, ihn zu finden, waren aber recht kläglich; niemand schien daran wirklich interessiert zu sein. Alles wäre vielleicht anders gelaufen, wenn der 12. Mai ihr Todestag gewesen wäre. Da es aber einige Tage danach war, fand wohl niemand die Eintragung bedeutsam.« »War die Notiz von ihr geschrieben?« »Ja. ›L. Fairfax. 8.30 Uhr‹ lautete sie.« »Und an der Identität der Handschrift besteht kein Zweifel?« »Nicht der geringste.« »Also gut. Tja, wenn Sie wirklich glauben, uns alles erzählt zu haben, Mr. Staines…« Mit einem Blick auf die Uhr stand Mike auf. Staines warf ihm einen scharfen Blick zu und schien drauf und dran, noch etwas zu sagen. Dann besann er sich jedoch anders, verneigte sich höflich vor Linda und verabschiedete sich. »Welchen Eindruck hast du von ihm?« fragte Linda kurz danach 11
beim Essen. »Was hältst du von ihm?« konterte Mike grinsend. »Ach, nun komm schon! Ich habe zuerst gefragt. Obwohl Staines, wenn du mich schon fragst, mir etwas unsicher vorkam.« »Interessant. Und was erschien dir vorhin so merkwürdig?« »Hast du nicht gemerkt, wie er sich gewunden hat, als ich ihn nach den Freunden seiner Tochter fragte? Es war fast so, als hätte man ihn gefragt, wie hoch er sein Bankkonto überzogen habe.« Mike nickte nachdenklich. »Gut beobachtet. Wenn ich an diesem Fall interessiert wäre«, er hob wegen des alarmierten Gesichtsausdruckes seiner Frau abwehrend die Hand, »ich sagte nur wenn. Also, wenn ich daran interessiert wäre und nicht so recht wüßte, wo ich anfangen sollte, dann würde ich eine kleine Unterhaltung mit Miß Peggy Bedford herbeiführen, der Angestellten jenes renommierten und entsprechend sündhaft teuren Modesalons in der Bond Street.« Linda lachte. »Du weißt ganz genau, daß ich dort für morgen nachmittag drei Uhr verabredet bin. Nun wirst du natürlich auf einmal den galanten Ehemann spielen und darauf bestehen wollen, mich dorthin zu fahren und auch wieder abzuholen.« »Darling – jetzt wirst du aber bösartig. Ich habe nur gesagt, wenn ich an diesem Fall interessiert wäre.« Mike tat so, als konzentrierte er sich ganz auf das Dessert, nahm aber dann das Gespräch wieder auf: »Übrigens gibt es da noch jemanden, dem ich einige genau gezielte Fragen stellen würde, und das ist Mr. Staines selbst. Der Grund, den er für seinen Besuch bei uns angab, war zu einfach und nicht stichhaltig genug. Und dann: Entsinnst du dich noch, wie er sich ausdrückte, als wir über seine Aussage vor Gericht sprachen?« »Ja, ich weiß. Er sagte: ›Ich habe die Wahrheit gesagt, wie ich es geschworen hatte.‹« »Das war aber noch nicht alles. Staines fügte noch hinzu: ›Auf alle mir gestellten Fragen‹, wenn ich mich recht erinnere.« 12
Mike hatte den letzten Satz mit besonderem Nachdruck gesprochen und beobachtete seine Frau, um die Wirkung festzustellen. »Einen Moment mal! Du meinst, er antwortete nur auf das, was er von uns gefragt wurde?« »Genau das ist es! Vielleicht ziehen wir voreilige Schlüsse; aber Hector Staines erweckt bei mir den Eindruck eines Mannes, der mit sich selbst nicht im reinen ist, nicht mit seiner inneren Stimme, nicht mit dem, was er uns erzählt und was er nicht erzählt hat. Meiner Ansicht nach ist es gerade das letztere, was seinen inneren Frieden so stört. Warum sollte er sonst ausgerechnet zu mir kommen, statt in letzter Stunde zu Weldons Anwalt oder zur Polizei zu gehen?« »Das liegt doch auf der Hand; er hat nichts Konkretes, mit dem man was anfangen könnte. Jedes Kind weiß, daß es Harold Weldon nichts nützen würde, wenn man seine vermutete Unschuld in die Welt hinausschreien würde. Man muß schon einige Tatsachen als Ausgangsbasis haben. Staines kann keine aufbieten, deshalb ist es für ihn auch sinnlos, zur Polizei zu gehen.« »Zum Teil magst du recht haben. Aber nehmen wir einmal – rein theoretisch – an, Staines habe die Polizei deshalb nicht aufgesucht, weil er selbst Angst vor ihr hat. Ich weiß, das ist eine bloße Vermutung; aber unterstellen wir dennoch, daß er sich davor fürchtet, es könnten dabei zu viele Medaillen umgedreht und zu viel persönliche Geheimnisse durchgeschnüffelt werden.« Linda brach in helles Lachen aus. »Ach Liebling, du mit deinen voreiligen Hypothesen. Und dann – der gewisse Glanz in deinen Augen, den mag ich jetzt durchaus nicht. Frühstücke erst und denk dann an den Manuskript-Ablieferungstermin deines Verlegers, damit wir in Urlaub fahren können. Der Fall Weldon ist nichts für dich.« Mike grinste vor sich hin und wandte sich wieder seinem Teller zu. Beim Kaffee, den Mrs. Potter später hereinbrachte, fragte er ganz beiläufig: »Hast du heute nachmittag etwas Besonderes vor?« 13
Linda fauchte ihn ärgerlich an. »Ich weiß ganz genau, was du damit einfädeln willst. Und du weißt auch, daß ich tausend Dinge zu erledigen habe. Packen beispielsweise.« »Wenn ich an den winzigen Bikini denke, den du in Cannes zu tragen gedenkst, kann ich nicht verstehen, daß du so viel Zeit zum Packen brauchst.« Linda legte die Stirn in Falten. »Verlieren wir keine Zeit mit dieser Plauderei, Darling. Was willst du von mir?« »Es ist nur so ein plötzlicher Einfall. Du könntest unseren alten Freund Sammy Spears von der Tribune anrufen und versuchen, aus ihm etwas über den Fall Weldon herauszuholen.« »Sammy Spears?« »Ja, meine Liebe. Er ist immer noch der Star unter den Kriminalreportern, ganz bestimmt hat er auch über diesen Fall berichtet. Und – erröte nicht gleich – schließlich war er doch früher einer deiner glühendsten Verehrer, Liebling.« »Sammy Spears war nur –« »Prächtig! Also übernimm deinen Teil der Arbeit und sieh zu, daß du viel aus ihm herausquetschen kannst. Dann brauche ich nicht meine Zeit damit zu vergeuden, in den Redaktionsarchiven der Fleet Street herumzuwühlen.« »Was hoffst du denn von Sammy Spears zu erfahren?« »Ich bin nicht ganz sicher. Sammy ist ein guter Journalist und ein verdammt heller Kopf. Mich interessiert brennend, was er von der Sache überhaupt hält. Ich möchte soviel wie möglich wissen: die Tatsachen und Gerüchte, jede private Eingebung oder Schlußfolgerungen, zu denen er selbst kam, über die er aber nicht schreiben konnte. Laß dir vor allem erzählen, was er von den Hauptfiguren des Falles hält.« »Und wenn Sammy sagt, Weldon hätte die verdiente Strafe bekommen?« »Dann verlasse ich mich auf sein Urteil und rühre keinen Finger 14
in dieser Sache.« Der Abend war bereits hereingebrochen, als Mike sich gerade einen Martini Dry mixte und Linda etwas atemlos in ihre Wohnung in der Sloane Street zurückkehrte. »Möchtest du etwas trinken, Darling?« fragte Mike. »Nein, danke. Ich hatte bei Sammy schon mehr als meine Tagesration intus. Du weißt doch, wie das so mit meinen ehemaligen Kollegen ist. Erst nach einer halben Stunde bei El Vino lockert sich bei denen die Zunge.« Mike lächelte spöttisch. »Wie lange, sagtest du?« Linda lächelte etwas schuldbewußt. »Eindreiviertel Stunden. Ich sagte mir, das nutzt du mal richtig aus, weil du mir ja ausdrücklich erlaubt hattest, mit einem früheren Verehrer auszugehen –« »Da kommt bei dir eine Form weiblicher Logik zum Vorschein, die auf mich etwas verblüffend wirkt. Hast du nun Sammy bewegen können, über den Fall Weldon zu sprechen?« »Ja.« Linda seufzte schwer und zündete sich eine Zigarette an. »Was soll denn dieser dramatische Seufzer?« »Weil ich in meinem Inneren einen Kampf mit meinem Gewissen ausfechte. Was Sammy erzählte, war nicht gerade das, was ich hören wollte. Für dich wird es leider ein gefundenes Fressen sein.« »Ich bin ganz Ohr.« »Die Informationen sind natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; deswegen konnte Sammy auch kein einziges Wort darüber schreiben. Er hätte sonst riskiert, sich diverse Verleumdungsklagen einzuhandeln. Um es vorwegzunehmen: Seiner Ansicht nach war es ein glattes Fehlurteil.« Mike stieß einen Pfiff aus. »Das ist eine schwerwiegende Feststellung, vor allem, wenn sie von Sammy stammt. Erzähle weiter, du machst mich neugierig.« 15
»Genau das hatte ich befürchtet; nun wirst du dich Hals über Kopf in die Sache stürzen«, antwortete Linda und seufzte erneut. »Und nun kann ich dir wohl nicht schnell genug alles erzählen. Ich kenne dich doch. Also hör zu: Warum es ein Fehlurteil war? Zunächst einmal wegen des Richters, der schon recht senil gewesen zu sein scheint und längst hätte pensioniert werden müssen. Auch von den Geschworenen hatte Sammy den Eindruck, daß sie ungewöhnlich primitiv gewesen seien. Den Vogel aber scheint Jaime Mainardi, der Verteidiger, abgeschossen zu haben. Sammy meint, der Mann habe den Fall vollkommen verkorkst. So etwas kann er natürlich nicht in der Zeitung schreiben, doch scheint es wirklich so, als hätte es während der ganzen Verhandlung latente Gegensätze zwischen Mainardi und Weldon gegeben.« »Zwischen Verteidiger und Angeklagtem? Das ist wirklich ungewöhnlich.« »Ist es auch. Man setzt doch voraus, daß die Staatsanwaltschaft den Degen mit dem Angeklagten und seinem Verteidiger kreuzt, aber nicht, daß die beiden, die auf derselben Seite des Gerichtssaales sitzen, sich in der Wolle haben! Allgemein scheint man zwar in Weldon einen unangenehmen Querulanten zu sehen, was jedoch nichts daran ändert, daß er vor Gericht außerordentlich unfair behandelt worden ist. Mainardi muß ein eingebildeter Fatzke sein, der während der ganzen Verhandlungsdauer eine Schau abgezogen hat, ohne Rücksicht darauf, daß dies seinem Klienten schadete, meint Sammy.« »Da muß es ja interessant sein, sich einmal kurz mit diesem Herrn Mainardi zu unterhalten«, erwiderte Mike. »Das hat Sammy auch gesagt. Das Büro von Mainardi befindet sich drüben in der Chancery Lane«, fuhr Linda mit resignierter Stimme fort, wobei sie in ihrer Handtasche nach einem Zettel suchte. »Sammy hat die Adresse für dich aufgeschrieben.« Mike nahm den Zettel aber nicht an sich. »Danke, die Adresse 16
habe ich mir inzwischen selbst herausgesucht. Starr mich nicht so finster an, Liebling. Ich hatte meine Schreibarbeit beendet und mußte doch mit etwas die Zeit ausfüllen, während ich so lange auf dich wartete.« »Mike Baxter! Du hast mir fest versprochen, dich nicht in diesen Fall hineinziehen zu lassen«, erinnerte sie ihn. »Das werde ich auch nicht, Liebling. Du kannst ruhig weiter deinen Bikini für Cannes einpacken, und ich mache hier mit allem Schluß, sobald ich noch ein paar Kleinigkeiten erledigt habe.« Mike ging zum Telefon hinüber und wählte eine Nummer. »Du erwartest doch nicht etwa, zu so später Stunde noch einen Anwalt in seinem Büro zu erreichen?« fragte Linda. »Bestimmt nicht. Den nehme ich mir morgen früh vor.« »Wen rufst du denn an?« »Ach, nur ein kurzes Gespräch mit Kriminaldirektor Goldway«, antwortete Mike. Als er die vertraute Stimme im Hörer vernahm, sagte er: »Guten Abend. Bist du es, John? Hier Mike Baxter. Entschuldige, wenn ich dich zu dieser Stunde noch störe. Aber vielleicht kannst du mir in einer kleinen Sache helfen? Könntest du durch eine deiner Dienststellen nachforschen lassen, wo es eine Kneipe, ein Hotel, einen Klub oder sonstigen Treffpunkt namens Lord Fairfax gibt? … Sagen wir im Umkreis von etwa fünfzig Meilen um London? … Das läßt sich jetzt schlecht erzählen, aber ich wäre dir dankbar, wenn du mir morgen früh fünf Minuten deiner kostbaren Zeit opfern könntest… Prächtig! … Darf ich dich vorher anrufen? … Herzlichen Dank. Schönen Abend noch.« Mit leicht ironischer Stimme fragte Linda: »Du hast inzwischen allerhand Denkarbeit geleistet, nicht wahr, Liebling? Und während der ganzen Zeit hoffte ich, du wärst mit deiner Arbeit beschäftigt, damit das letzte Kapitel deines Romans fertig wird.« »Das Buch ist fast fertig. Und was diese Idee mit L. Fairfax betrifft, so ist das eine ziemlich weither geholte Vermutung, bei der 17
wahrscheinlich nichts herauskommen wird. Aber ich fragte mich, ob es nicht besser wäre, statt in einem Volk von fünfzig Millionen Seelen nach einem geheimnisvollen Herrn namens L. Fairfax zu suchen, lieber einen Treffpunkt dieses Namens ausfindig zu machen – etwa eine Kneipe oder ein Hotel, wo Lucy Staines sich für den 12. Mai um 8.30 Uhr verabredet hatte.« »Das klingt ziemlich logisch.« »Und wenn dabei nichts herauskommt, um so besser. Dann gibt es in der ganzen Sache für mich nichts mehr zu tun. Habe ich recht?« »Diese Art zu argumentieren kommt mir irgendwie bekannt vor, Mr. Baxter. Jedesmal, wenn du zu schnauben anfängst wie ein altes Kavalleriepferd beim Klang der Trompeten, dann weiß ich genau, was mir bevorsteht. Du bist bereits drauf und dran, dich in die Sache hineinziehen zu lassen.« »Aber Darling, du fährst mir zu schnell. So weit ist es noch lange nicht. Alle sind sich doch darüber einig, daß der Fall Weldon abgeschlossen ist.« Linda gab einen undefinierbaren Laut von sich, und ungläubig sagte sie: »Ich weiß doch, wie du es genießt, den seltsamen Außenseiter zu spielen.«
2
M
ike Baxter kam von der Chancery Lane her und suchte im Verkehrsgewühl nach einem Taxi. Es war ein wunderschöner Sommermorgen, doch konnte er in seiner augenblicklichen Stim18
mung keinen Gefallen an dem herrlichen Sonnenschein finden, der auf den roten Doppeldecker-Omnibussen glänzte und die Schaufenster längs der Straße in warmes und helles Licht hüllte. Sein Gespräch mit Rechtsanwalt Jaime Mainardi war kurz und aggressiv gewesen. Nur mit Mühe hatte Mike dabei sein Temperament zügeln können. Sammy Spears hatte schon recht – dieser Mann war ein aufgeblasener Gernegroß, und man hätte ihm nicht die Verteidigung eines so schwierigen Klienten wie Harold Weldon anvertrauen dürfen. Mike hatte nicht die geringste Ahnung, ob Weldon wirklich des Mordes schuldig war. Aber Mike war nach diesem kurzen und unerfreulichen Gespräch mit dem Anwalt Weldons geneigt, sich zumindest einem Punkt der Theorie von Sammy Spears anzuschließen, wonach man den Angeklagten außerordentlich unfair behandelt hatte. Am meisten war Mike davon überrascht, wie völlig selbstverständlich der Verteidiger das Schicksal seines Klienten hinnahm. Natürlich mußte es für einen Anwalt bitter sein, in einem Fall nichts erreicht zu haben; aber hier ging es schließlich nicht um eine Ehescheidung oder eine Beleidigungsklage. Die Todesstrafe war verhängt worden, und das Leben eines Menschen hing an einem dünnen Faden. Mike hatte erwartet, zumindest Spuren von Bedrückt sein in Mainardis Anwaltsbüro festzustellen, stieß aber nur auf bequeme Gleichgültigkeit. Inzwischen war es ihm gelungen, ein Taxi anzuhalten. Er gab dem Fahrer Scotland Yard als Fahrtziel an. In seinen Ohren klang immer noch der erstaunlich unbekümmerte Abschluß seines kurzen Gesprächs mit Rechtsanwalt Mainardi, das dieser mit den Worten beendete: »Wirklich, Mr. Baxter – Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht viel Zeit widme. Ich bin Geschäftsmann wie jeder andere auch und verdiene mein Brot, indem ich Erläuterungen neuer Klienten zu ihren Fällen entgegennehme, aber nicht mit Versuchen, Klienten zu trösten, de19
ren Fälle ich leider verloren habe.« Und dann krönte dieser Kerl sein niederträchtiges Verhalten noch mit der unverschämten Frage, ob er wohl bald mit der Anweisung der Anwaltsgebühren rechnen könne. »Zweifellos werden Sie Ihr Geld noch bekommen, bevor man Weldon den Strick um den Hals legt«, hatte Mike ihn angefahren. Der Advokat hatte gestenreich seine Hand an die Stirn gelegt, als fühle er sich durch diese scharfe Reaktion Baxters beleidigt. »Entschuldigen Sie die Bemerkung, Mr. Baxter, aber ich kann überhaupt nicht verstehen, welches Interesse Sie jetzt noch an diesem Fall haben können.« »Was mich anbetrifft, so beginne ich jetzt überhaupt erst zu verstehen«, hatte Mike erwidert. »Auf Wiedersehen!« Während das Taxi sich seinen Weg durch das Verkehrsgewühl nach Whitehall bahnte, zwang Mike sich zur Ruhe. Die Tatsache, daß Weldons Verteidigung in den Händen eines so unfähigen Rechtsanwaltes gelegen hatte, war natürlich noch längst kein Beweis für die Unschuld des Angeklagten. Dasselbe Urteil hätte auch angesichts einer glänzenden Verteidigung gefällt werden können. Nun merkte Mike, wie er zusehends tiefer in diesen Fall hineingeriet. Er verspürte das Bedürfnis, mit Harold Weldon persönlich zu sprechen. Als er das Taxi bezahlt hatte und Scotland Yard betrat, fragte er sich, ob Kriminaldirektor Goldway wohl einen Besuch im Gefängnis Pentonville arrangieren würde. Nach den üblichen Formalitäten wurde Mike zu Goldways Zimmer hinaufgeführt, von dem aus man einen weiten Blick über den Fluß ins Freie hatte. Der schlanke, weißhaarige und distinguiert auftretende Kriminaldirektor telefonierte gerade, als Mike eintrat; er schenkte ihm ein freundliches Lächeln zur Begrüßung und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Nach dem Telefongespräch stand Goldway auf und schüttelte Mike die Hand. Dann bot er ihm 20
eine Zigarette an und erkundigte sich, wie es Linda gehe. Da Mike wußte, welch umfangreiches Arbeitspensum Goldway stets zu erledigen hatte, kam er sofort zur Sache. Er berichtete über den Besuch von Hector Staines, der das Interesse für den Fall Weldon in ihm geweckt hatte. »Ich weiß selbst, John, daß damit noch nicht viel anzufangen ist. Aber ich habe nun einmal meine Nase in den Fall gesteckt und komme jetzt nicht mehr davon los.« »Das ist, solange ich dich kenne, eine chronische Schwäche von dir, Mike«, erwiderte Goldway mit wohlwollendem Lächeln. »Allerdings sind wir oft froh über deine wertvolle Mitarbeit gewesen; also spricht nichts dagegen, wenn wir dir auch mal behilflich sind. Doch muß ich aus formalen Gründen darauf hinweisen, daß der Fall für uns abgeschlossen ist.« »Natürlich. Aber für einen Kriminologen wie mich ist kein Fall jemals ganz abgeschlossen. Wir streiten uns ja noch heute über einige Urteile aus dem 18. Jahrhundert. Im Falle Weldon hat aber der Verurteilte noch ein bis zwei Wochen zu leben.« »Stimmt. Gehen wir also davon aus, daß dein Interesse rein akademischer Natur ist. Und nun zu deiner Rückfrage wegen Lord Fairfax: Ich habe einige Mitarbeiter darauf angesetzt, und wenn so ein Laden existiert, werden sie ihn finden. Ich meine, bis heute abend sollten wir eine definitive Antwort haben.« Mike blickte sein Gegenüber bestürzt an. »Bis jetzt also noch keine Nachricht? Und ich hatte so gehofft, endlich einen Ansatzpunkt in die Hand zu bekommen. Angenommen, meine Theorie stimmt und Fairfax ist eine Kneipe oder eine andere Art von Treffpunkt, also keine Person, da wäre es doch interessant, herauszufinden, wen Lucy Staines dort treffen wollte. Meinst du nicht auch?« »Schon möglich. Aber an deiner Stelle würde ich nicht allzuviel darauf setzen. Einen Besuch im Gefängnis kann ich für dich arrangieren, wenn du unbedingt willst – obwohl du dort nicht gerade ei21
nem Charmeur begegnen wirst. Der Mann hat geradezu ein vollendetes Talent, sich alle Leute zum Feind zu machen. Aber es gibt noch jemanden, mit dem du vielleicht sprechen solltest und der dir nützlich sein könnte.« »Wer ist das?« »Detektiv-Inspektor Charles Rodgers. Er hat damals den Fall bearbeitet.« Goldway griff zum Haustelefon. Zu Mike gewandt, meinte er dann: »Erwarte aber nicht, daß er entzückt sein wird, deine Bekanntschaft zu machen. Der Mann ist sehr beschäftigt und steckt im Augenblick bis über beide Ohren in der Untersuchung einer Messerstecherei mit tödlichem Ausgang. Vielleicht hat er ein paar Minuten Zeit für uns.« Rodgers erschien wenige Minuten nach Goldways Anruf. Als Mike ihn begrüßte, hatte er sofort den Eindruck, einem zähen, hartgesottenen, aber auch fähigen Mann gegenüberzustehen, der Mitte Vierzig war und sich wenig um seine Kleidung kümmerte. Goldway beendete die Vorstellung mit den Worten: »Wie ich schon sagte, hat Rodgers den Fall Weldon bearbeitet.« »Von Anfang an, Inspektor?« fragte Mike. »Ja.« »Hm. Mein großes Handicap ist, daß ich die Gerichtsverhandlung nicht verfolgen konnte und daher die Einzelheiten nicht kenne. Ich weiß von Staines, daß Weldon und seine Verlobte an dem Abend heftig miteinander gestritten hatten und daß sie dann zum Abendessen und anschließend ins Theater gingen. Was ist danach nun wirklich geschehen?« Rodgers verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die Verdruß und Ärger über Zeitdiebstahl erkennen ließ; ostentativ blickte er auf seine Uhr. Goldway schaltete sich vermittelnd ein: »Diese Unterredung wird kaum mehr als fünf Minuten Ihrer Zeit beanspruchen, Inspektor. Mike Baxter ist ein alter Freund von mir. Er weiß auch, wie sehr ge22
rade Sie in Zeitdruck sind.« Rodgers gab einen undefinierbaren Laut von sich und strich mit der Hand über sein kurzgestutztes Haar. »Ich will mich kurz fassen«, begann er. »Weldon und Lucy Staines verließen das Theater bereits vor dem Ende der Vorstellung, etwa gegen zehn Uhr. Nach Weldons erster Aussage erreichte der Streit dann vor der Tür des Theaters seinen Höhepunkt. Lucy wandte sich von Weldon plötzlich ab und ging einfach fort. Weldon will dann in seinen Wagen gestiegen und nach Hause gefahren sein. Er sagte – und ich weise darauf hin, daß dies seine erste Aussage war – er sei gegen halb elf Uhr zu Hause angekommen.« »Weldon teilte in der New Cavendish Street eine Wohnung mit einem Freund namens Victor Sanders«, warf Goldway ein. »Sanders konnte aber Weldons Angaben nicht bestätigen«, fuhr Inspektor Rodgers fort. »Er sagte uns, Weldon sei erst gegen halb zwölf Uhr heimgekommen. Wir nagelten Weldon darauf fest, und er änderte sofort seine Aussage, indem er nun behauptete, daß er sich um zehn Uhr von Lucy vor dem Theater getrennt habe, ein bißchen durch West End gefahren sei, dann seinen Wagen am St. James Square geparkt habe und noch etwas spazierengegangen sei. Kurz nach Mitternacht will er dann wieder zu seinem Wagen zurückgekehrt sein. Das wäre ein Spaziergang von rund zwei Stunden. Erst dann will er nach Hause gefahren sein. Niemand hat ihn oder den Wagen gesehen.« »Mit anderen Worten: Er konnte nicht überzeugend nachweisen, wo er sich zwischen zehn und halb ein Uhr aufgehalten hatte«, sagte Mike. »So ist es«, bestätigte Goldway. »Nach einwandfreien ärztlichen Gutachten steht fest, daß der Mord innerhalb dieser Zeitspanne verübt wurde. Berichten Sie weiter, Inspektor.« »Zwei Tage nach dem Mord schickte Weldon einen Anzug zum Reinigen und Bügeln. Ich suchte die Reinigungsanstalt auf und fand 23
in einer der Taschen ein blutbeflecktes Taschentuch. Laut Analyse unseres Labors handelt es sich um die gleiche Blutgruppe, die auch das Mädchen hatte. Weldon gab zu, daß es sein Taschentuch sei, konnte aber die Flecken nicht erklären.« »Lucy Staines ist aber doch erwürgt worden, soviel ich weiß.« »Ja, aber offenbar erst nach vorausgegangenem Kampf. Auf einer Gesichtshälfte des Mädchens fand sich ein böser Kratzer, von dem das Blut stammen muß.« »Wer hat die Leiche entdeckt, Inspektor?« »Eine Frau namens Nadia Tarrant. Sie wohnt am Soho Square. Als sie kurz nach Mitternacht ihren Heimweg über das Ruinengrundstück abkürzen wollte, kam ein Mann aus dem Schatten gestürzt, stieß sie zur Seite und lief dann die Greek Street entlang. Sie konnte den Mann so gut beschreiben, daß wir daraufhin Harold Weldon mit mehreren Männern zusammen in eine Reihe zur Identifizierung stellten. Sie hat ihn ohne jedes Zögern sofort wiedererkannt. Außerdem fanden wir Weldons Fingerabdrücke an der Handtasche von Miß Staines, die auch noch eine Geldbörse mit fünf Pfund und eine goldene Puderdose enthielt. Außerdem trug Lucy Staines einen hübschen kleinen Diamantenclip.« »Fehlte sonst etwas?« fragte Mike. »Nichts. Daher konnten wir ja auch Raubüberfall als Tatmotiv ausschließen.« Goldway unterbrach Rodgers, als dieser sich eine Zigarette anzündete. »Seltsamerweise fehlte aber ein Gegenstand. Der scheint jedoch nicht von Bedeutung zu sein.« »Was war es denn, John?« »Ein Schuh.« Rodgers blies eine Rauchwolke in die Luft und nickte. »Ach ja, das hatte ich vergessen. Sie trug nur am rechten Fuß einen Schuh. Den anderen muß sie während des Kampfes verloren haben. Seltsamerweise haben wir ihn nirgends gefunden.« 24
Mike schloß nachdenklich die Augen. »Höchst eigenartig, daß ein Mörder einen solchen Gegenstand mitnimmt. Was kann er mit einem einzelnen Schuh anfangen? Außerdem ist das doch ein verdammt heißes Beweisstück gegen ihn.« Als Inspektor Rodgers wieder auf seine Uhr sah, fügte Mike hastig hinzu: »Sie haben mir großzügig Ihre Zeit gewidmet, Inspektor. Vielen Dank, daß Sie mich so umfassend informierten.« Rodgers nickte nur oberflächlich und verließ mit einem kurzen Gruß das Zimmer. Mike verabschiedete sich von Goldway und ließ sich von einem Taxi zur Tankstelle fahren, wo sein Jaguar abgeschmiert wurde, und fuhr dann zurück zur Sloane Street, worauf Mrs. Potter ihm ein kaltes Essen servierte, das Linda vorbereitet hatte. Am Nachmittag verbannte er alle Gedanken über den Fall Weldon und arbeitete zwei Stunden intensiv an seinem Buch. Die einzige Unterbrechung ergab sich durch einen Telefonanruf von Linda, die ihm mitteilte, daß er nicht auf sie zu warten brauche und sie kurz nach drei Uhr im Modesalon Conway und Racy abholen möchte. Es war hoffnungslos, einen Parkplatz in der Bond Street zu finden. Schließlich erspähte Mike eine Parklücke am Hanover Square und schoß wie ein Rugby-Flügelstürmer darauf zu, wobei er zwei anderen Lückensuchern nur mit Frechheit und durch die stärkere Beschleunigung seines Wagens das Nachsehen gab. Bis er dann zu Fuß bei Conway und Racy angelangt war, hatte Linda die letzte Anprobe eines zweiteiligen grauen Kleides beendet, das ihrer Ansicht nach in Cannes, besonders bei den Damen, Aufsehen erregen würde. Es sollte schon am nächsten Tage geliefert werden, und Mike dachte daran, daß die Rechnung, weil nur er sie zu Gesicht bekommen würde, weniger aufsehenerregend, für ihn aber 25
aufregend genug sein werde. »Hast du etwas bei Scotland Yard erreicht?« fragte Linda, als sie aus der Umkleidekabine kam. »Ja und nein.« »Du siehst so niedergeschlagen aus. Hat man den ›Lord Fairfax‹ nicht ausfindig gemacht?« Mike schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nur das. Mein kurzes Gespräch mit Mainardi hat schon gereicht, um mir den ganzen Tag zu verderben. Ich erzähle dir das alles ausführlicher, sobald es mir gelungen ist, dich dort an der Hutabteilung vorbei und aus diesem sündhaft teuren Modesalon bugsiert zu haben.« Linda kicherte wie ein junges Mädchen und griff ihn am Arm. »Zu spät, Darling. In der Hutabteilung war ich schon.« Mike stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Was hast du gekauft? Zwei Federn und einen Hauch von Schleier direkt aus Paris, wie?« »So schlimm ist es wirklich nicht, ehrlich.« Linda wandte sich mit fragenden Blicken an eine gutaussehende Direktrice Ende der Dreißig, die diensteifrig in der Nähe herumstand. Offensichtlich hatte sie Linda bei ihrer Ausstattung beraten. Sie schenkte Mike ein breites Lächeln, bei dem eine Menge schneeweißer Zähne und viel glänzender Lippenstift zum Vorschein kamen. Linda stellte sie Mike als Miß Long vor. »Ich bin sicher, der Hut wird Ihnen gefallen, Mr. Baxter. Er steht Ihrer Gattin ausgezeichnet, sehr distingué.« »Als Expertin müssen Sie das ja wissen«, antwortete Mike. »Übrigens, Miß Long – ist bei Ihnen nicht eine junge Dame namens Peggy Bedford tätig?« Miß Long zögerte eine Sekunde und antwortete dann: »Ja. Sie arbeitet in der Wäscheabteilung.« »Ließe es sich einrichten, daß ich sie mal kurz spreche?« »Aber selbstverständlich, Mr. Baxter. Nur ist sie heute leider nicht 26
da.« »Ist sie krank?« »Bestimmt nicht. Mir ist nichts davon bekannt.« »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die junge Dame antreffen könnte?« Schatten des Zweifels breiteten sich auf dem Gesicht der Direktrice aus, so daß sich Linda einschaltete: »Sie brauchen wirklich keine Bedenken zu haben, Miß Long. Sollte das Mädchen zu attraktiv sein, werde ich meinen Mann schon kurz genug an der Leine halten.« Miß Long gab ein nervöses Lachen von sich. »Es ist natürlich etwas ungewöhnlich. Aber unter den gegebenen Umständen sehe ich natürlich keinen Grund, warum ich Ihnen die Adresse nicht geben sollte. Miß Bedford bewohnt ein Appartement in den Plymouth Mansions, gleich hinter der Baker Street. Wahrscheinlich wird sie jetzt dort sein. Unsere Mannequins arbeiten oft zu unregelmäßigen Zeiten.« »Sehr liebenswürdig von Ihnen, schönen Dank. Übrigens – war Peggy Bedford nicht eine enge Freundin von Lucy Staines?« Miß Longs Gesichtsausdruck wandelte sich. »Von … ja, das stimmt. Das ist eine fürchterliche Geschichte! Und für unseren Salon war es nicht gerade … oh, entschuldigen Sie mich bitte. Das Haustelefon klingelt für mich. Auf Wiedersehen, Mrs. Baxter. Und angenehme Ferien!« Draußen in der Bond Street nahm Mike seine Frau am Arm und führte sie zu dem am Hanover Square geparkten Wagen. »Fahren wir direkt nach Hause, Liebling?« fragte Linda. »Mehr oder weniger. Mit einem kleinen Umweg durch die Baker Street, wenn es dir nichts ausmacht.« »Zu Peggy Bedford also. Was hoffst du denn von ihr zu erfahren?« »Vielleicht kann sie uns etwas darüber sagen, wer oder was L. Fair27
fax ist – vorausgesetzt, daß meine Vermutung zutrifft. Zumindest aber sollte sie imstande sein, mir einen Einblick in die Gewohnheiten und Interessen von Lucy Staines zu geben, vielleicht weiß sie auch etwas über die Kreise, in denen Miß Staines verkehrte.« Mike und Linda fuhren zur Baker Street, wo es ihnen erst nach einer längeren Sucherei gelang, Plymouth Mansions zu finden. Das Appartementhaus war ein imposantes Gebäude, in einiger Entfernung vom Lärm der Hauptstraße erbaut. Linda machte große Augen, als sie aus dem Wagen stieg und den mit enormem Kostenaufwand errichteten eleganten Eingang bewunderte. »Ein recht vornehmes Haus für ein Mannequin, meinst du nicht auch?« fragte Mike, während er die Namensschildchen der Hausbewohner in der großen Eingangshalle durchging. »So überraschend finde ich das eigentlich nicht. Staines sagte doch, daß die Mädchen gut verdienen.« Schnell fand er den gesuchten Namen. »Hier steht Peggy Bedford, sie wohnt im Appartement Nr. 37. Nehmen wir den Lift, damit du nicht drei Treppen steigen mußt.« Ein unwirsch dreinblickender Pförtner nahm sich ihrer an und fuhr sie hoch. Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung des Korridors, von dem Appartement Nr. 37 abging, und fuhr wieder nach unten. Mike drückte auf den Klingelknopf. Nichts rührte sich, keine Schritte näherten sich der Tür. Nach einer Weile klingelten sie nochmals. Dann beugte sich Linda vor, um durch das Schlüsselloch zu sehen. »Merkwürdig«, murmelte sie. »Es ist mit Papier oder Stoff verstopft.« Sie ließ sich auf die Knie nieder und roch an dem Türrand. Dann rief sie aufgeregt: »Mike, ich glaube, es riecht nach Gas.« Mike kniete ebenfalls nieder und bestätigte ihre Vermutung. »Los, Linda! Schnell! Hol den Pförtner. Er soll einen Hauptschlüssel mit28
bringen.« Während Linda davonlief, versuchte Mike mit seinem ganzen Körpergewicht die Tür einzudrücken. Sie war jedoch solide gebaut und widerstand seinen Bemühungen. Wenige Sekunden später hörte er, wie die Tür des Fahrstuhls aufging und Linda den Flur entlanggerannt kam, den Schlüssel in der Hand. »Der Esel weigerte sich, mir den Schlüssel zu geben. Da habe ich ihn mir einfach geschnappt und bin losgelaufen. Ich habe ihm noch zugerufen, er solle nach einem Krankenwagen telefonieren.« »Gut gemacht! Hol tief Luft und halt den Atem an – es geht los.« Ein Taschentuch vor Mund und Nase, stieß Mike die Tür weit auf und bahnte sich dann seinen Weg zu einem verschwommen sichtbaren Fenster. Er riß es weit auf und sah dann, daß er sich in der Küche befand. Alle Hähne des Gasherdes standen weit offen, und er schloß sie schnell. Als er sich umdrehte, trat sein Absatz auf etwas Weiches. Es war die Hand einer Frau, deren Körper halb unter einem Küchentisch lag. Hustend stürzte er zunächst noch einmal zum Fenster, um frische Luft einzuatmen. Dann eilte er zu der Bewußtlosen und hievte ihren Körper hoch. Halb erstickt und hustend, zog er sie durch den Vorraum hinaus in den Korridor, wo er mit Lindas Hilfe Wiederbelebungsversuche begann. »Halte ihren Kopf hoch, Darling. Hoffentlich kommt der Krankenwagen bald!« »Ob sie schon tot ist?« »Viel wird nicht mehr fehlen.« Aufgeregte Stimmen und Schritte näherten sich. Eine kleine Gruppe Neugieriger, voran der Portier, kam herbeigerannt. »Haben Sie nach dem Krankenwagen telefoniert? Ist ein Arzt in der Nähe?« rief Mike und hielt die Leute von dem Mädchen zurück. Der Portier brummte etwas Unverständliches, was die Frage be29
antworten sollte. »Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte Linda ihn. Der Hausmeister nickte, und sein Adamsapfel wanderte zuckend auf und ab. »Das ist die Bedford, das Flittchen von Nr. 37. Hatte schon lange damit gerechnet, daß sie eines Tages ein böses Ende nehmen würde.« »Das hat uns jetzt nicht zu kümmern!« rief Mike. »Helfen Sie mir lieber, das Mädchen an die frische Luft zu tragen. Los! Fassen Sie schon zu!« Während der Portier immer noch etwas vor sich hinbrummte, halfen andere, hilfsbereite Hände, das Mädchen in den Fahrstuhl und unten ins Freie zu tragen. Beim Klang der Sirene des heranbrausenden Ambulanzwagens fragte Mike: »Was hat dieser Esel von Portier da immer vor sich hin gebrummt? Fehlt irgend etwas?« »Das kann man wohl sagen«, antwortete Linda und blickte bedeutungsvoll auf die leblose Figur vor ihnen. Er folgte ihrem Blick. Das Mädchen trug nur einen Schuh.
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ief in Gedanken versunken fuhren Mike Baxter und Linda zu ihrer Wohnung zurück und waren nicht gerade erfreut, einen Besucher vorzufinden. Mrs. Potter entschuldigte sich. »Hab' versucht, ihn wegzuschicken, wirklich! Aber er wollte sich nicht vom Fleck rühren. Na, dann habe ich ihn eben ins Arbeitszimmer geführt.« 30
»Schon gut, Mrs. Potter. Wie, sagten Sie gleich, heißt der Herr?« »Mr. Victor Sanders, stellte er sich vor. Ich hab' ihn nie zuvor gesehen und…« »Kennst du ihn, Mike?« unterbrach Linda den Redeschwall der Haushälterin. »Den Namen habe ich heute früh zum ersten Male gehört. Das könnte der Bursche sein, der mit Weldon zusammen eine Wohnung in der New Cavendish Street teilte. Also gut, Mrs. Potter. Führen Sie ihn herein.« Der Besucher, den die Haushälterin ins Zimmer geleitete, war groß und drahtig, auffallend gut gekleidet und sehr selbstbewußt. Seine Stimme klang für die Größe des Zimmers unnatürlich laut. »Mein Name ist Victor Sanders«, begann er und fixierte Mike mit einem durchdringenden Blick. »Ich bin überzeugt, Ihre Zeit ist ebenso kostbar wie die meine. Deshalb will ich gleich zur Sache kommen.« »Einen Augenblick noch«, unterbrach Mike ihn ruhig. »Darf ich Sie vorher meiner Frau vorstellen?« Sanders machte eine halbe Drehung in Richtung Linda, nickte kurz und sprach sofort weiter. Es lag auf der Hand, daß er auf die Anwesenheit einer Frau keinen Wert legte. Sein Benehmen entsprach dem eines Obersten auf dem Feldherrnhügel. Es war schwer zu sagen, ob die Rötung seines Gesichtes eine Folge lautstarken Redens oder zu vielen Trinkens war. »Baxter – soweit ich informiert bin, haben Sie heute früh mit Inspektor Rodgers über den Fall Weldon gesprochen.« »Sie sind bemerkenswert gut unterrichtet, Mister Sanders«, entgegnete Mike mit nachdrücklicher Betonung der Anrede. »Ich lasse es mir angelegen sein, mich über alles zu informieren, was möglicherweise für den Fall Weldon von Bedeutung sein könnte.« »Wirklich? Das interessiert mich sehr.« 31
Sanders nickte arrogant. »Wie Sie wissen werden, teilte Weldon die Wohnung mit mir, bis sich dieser Mordfall ereignete. Ich kenne ihn ziemlich gut und habe eine Theorie über den Fall, die Sie zur Aufmerksamkeit nötigen wird.« »Da wäre doch eher Inspektor Rodgers der Mann, an den Sie sich wenden sollten, Mr. Sanders.« Sanders machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mit dem habe ich meine Theorie längst diskutiert. Der Mann ist viel zu engstirnig, um über seine Nasenspitze hinaus sehen zu können.« Mike nahm den Inspektor in Schutz. »Bei aller Fairneß muß ich Ihnen sagen, daß Ihr Urteil nicht meinem Eindruck von dem Inspektor entspricht. Er schien mir ein sehr pflichtbewußter und –« Sanders schnitt ihm ungeduldig das Wort ab, »Hector Staines hat Sie doch gestern besucht, nicht wahr, Baxter?« »Haben Sie etwa hinter dem Vorhang gestanden?« konterte Mike leicht gereizt, trotz seines Bemühens, sich Zurückhaltung aufzuerlegen. »Staines hat Ihnen gewiß auch von der Eintragung im Notizbuch erzählt und –« »Was wissen Sie von dem Notizbuch?« warf Linda ein. Sanders bedachte sie mit einem kalten Blick, der kaum zu seiner dröhnenden Redeweise paßte. »Lucy Staines hatte eine Verabredung mit einem Manne namens Fairfax, und zwar am 12. Mai um 8.30 Uhr.« »Das weiß man noch nicht genau«, erwiderte Mike. »Unsinn! Das steht doch schwarz auf weiß im Notizbuch.« »Die Worte stehen dort, gewiß.« »Lassen wir doch die Haarspalterei, Baxter. Ich sagte Ihnen doch schon, meine Zeit ist kostbar.« Linda wollte ein Wort der Verärgerung anbringen, doch Sanders redete einfach weiter, ohne sie überhaupt zu beachten. »Meine Theorie ist, daß Lucy Staines eine Affäre mit diesem Fairfax hatte und 32
daß er ihr an jenem Abend zum Theater gefolgt ist.« »Das ist eine bloße Vermutung. Haben Sie Beweise?« Sanders lächelte selbstgefällig und griff nach seiner Brieftasche, aus der er einen Brief hervorholte. »Hier, lesen Sie das!« fuhr er Mike an. »Der kam mit der Nachmittagspost. Wie sie sehen, ist er in Como in Italien aufgegeben, und zwar vor vier Tagen.« Mike nahm den Brief und sah sich die Adresse an. »Er scheint aber an Mr. Weldon adressiert zu sein und nicht an Sie, Mr. Sanders.« »Stimmt. Aber wir haben dieselbe Adresse, und Harold ist im Gefängnis. Da habe ich ihn natürlich geöffnet.« »Natürlich!« echote Linda. Mike zog den Luftpostbrief aus dem Umschlag hervor und las den mit der Maschine geschriebenen Inhalt: Lieber Harold, jetzt ist also alles vorbei, und man hat Dich verurteilt. Ich frage mich, ob Du wirklich Lucy Staines ermordet hast? Wir haben uns nur einmal gesehen – vor langer Zeit. Ich nehme an, Du hast es vergessen. Ich hörte von dem Mord, las die Zeitungsberichte und sah Lucys Foto. Da sagte ich mir: ›Sieh mal einer an – es hat dem Herrn gefallen, diese Lucy, ein so liebenswertes Geschöpf…‹ Aber so leicht war mit ihr nicht umzugehen, nicht wahr? Ich frage mich, ob Du nur der Unglückliche bist, den sie sich dafür ausgesucht haben. Ich frage mich! Fehlte ihr ein Schuh, Harold? Frage mal bei der Polizei nach, es könnte die Sache wert sein. Viel Glück, Harold … der Himmel weiß, wie nötig Du es hast. L. Fairfax Mike reichte Linda den Brief und sah dann Sanders nachdenklich an. »Warum haben Sie das mir gebracht und nicht Inspektor Rod33
gers?« »Der Mann ist unfähig; das sagte ich Ihnen doch schon. Er würde ihn entweder ignorieren oder mich fragen, ob ich ihn selbst geschrieben hätte.« »Haben Sie ihn geschrieben, Mr. Sanders?« Sanders reagierte mit einem abgrundtiefen Seufzer der Ungeduld und Verzweiflung. Mit einem Griff nach seinem Hut und den Glacéhandschuhen verabschiedete er sich. »Ich lasse den Brief bei Ihnen, Baxter. Ist er wichtig – und ich glaube, er ist es –, dann werden Sie schon mit der Situation fertig werden. Von Ihnen erwarte ich tatkräftiges Handeln, nicht diese faulen Ausreden und die Untätigkeit, die man leider von der Polizei gewöhnt ist. Und jetzt wollen Sie mich bitte entschuldigen, ich habe noch eine andere Verabredung. Sie kennen meine Wohnadresse; meine Telefonnummer steht im Fernsprechbuch, falls Sie Verbindung mit mir aufnehmen wollen. Guten Tag!« Als er gegangen war, grinste Mike zu Linda hinüber, die ihre Lippen wütend zusammengepreßt hatte und nicht mehr an sich halten konnte. »Darling! Warum, um Gottes willen, hast du das mitgemacht?« »Was mitgemacht?« »Der behandelte uns doch wie frisch eingezogene Rekruten auf dem Kasernenhof. Das ist der arroganteste Kerl, der mir je über den Weg gelaufen ist. Warum, zum Teufel, hast du ihn nicht einfach vor die Tür gesetzt?« »Die Versuchung dazu war groß, das kann ich dir versichern. Andererseits war ich gespannt, zu beobachten, wie weit sein Selbstbewußtsein es noch treiben würde.« »Das dürfte kaum eine Grenze kennen. Ist dir nicht aufgefallen, daß er dich kaum einen Satz zu Ende sprechen ließ?« »Natürlich, und gerade das fand ich interessant. Er war offensichtlich nicht hierhergekommen, um von mir etwas zu hören. Das war 34
nicht der Zweck seines Besuches.« »Was war es denn?« »Sanders erinnerte mich an einen Schauspieler, der in bestimmten Stücken eine nette kleinere Szene zu spielen hat, die ausschließlich dem Zweck dient, dem ganzen Handlungsablauf etwas mehr Auftrieb zu geben. Sanders' Rolle bestand nun darin, diesen Brief abzuliefern. Hast du ihn gelesen?« »Aber ja. Ich kann aber nichts damit anfangen. Was soll der Hinweis auf den fehlenden Schuh?« »Das ist eine Tatsache. Als man Lucy Staines ermordet auffand, fehlte ihr ein Schuh. Kriminaldirektor Goldway hat mir das heute früh bestätigt.« »Ist das nicht ein recht seltsames Zusammentreffen, daß auch bei Peggy Bedford ein Schuh fehlte, als wir sie vorhin aus der Wohnung trugen?« Mike nickte. »Es wäre wichtig, zu wissen, was Fairfax damit meint, wenn er schreibt: ›Ich frage mich, ob du wirklich Lucy Staines ermordet hast… Ich frage mich, ob du nur der Unglückliche bist, den sie sich dafür ausgesucht haben.‹ Wen mag er wohl mit ›sie‹ meinen?« »Die Polizei, oder vielleicht die Staatsanwaltschaft.« »Möglich. Oder einen anderen, vielleicht eine ganze Bande oder sonstige Gruppe. Fairfax will damit wohl andeuten, daß man Weldon die Tat eines anderen angehängt hat.« Als er Lindas ungläubigen Blick bemerkte, argumentierte Mike sofort weiter. »Ja, Linda, da sind schon viel seltsamere Dinge passiert. Immerhin scheint dieser Brief meine kleine Theorie über ein Restaurant oder einen Treffpunkt namens Lord Fairfax endgültig begraben zu haben. Mix uns jetzt ein paar Martinis, Liebling – nicht zu stark.« Linda nickte. »Mrs. Potter wird sicher etwas Eis im Schrank haben.« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen, nahm den Hörer ab und winkte ihrem Mann. »Es ist Inspektor Rodgers.« 35
»Guten Abend, Inspektor«, begrüßte Mike ihn. »Ich trug mich gerade mit dem Gedanken, Sie anzurufen.« »Ich fürchte, ich kann nicht mit Neuigkeiten aufwarten«, erklang die sachliche Stimme des Kriminalbeamten. »Das Krankenhaus ist nicht gerade auskunftsfreudig; ich schätze aber, daß die Bedford gerade noch davonkommen wird. Sobald ich etwas Definitives höre, werde ich Sie verständigen. Deswegen rufe ich aber nicht an. Wir haben soeben das gesuchte Lokal ausfindig gemacht, den ›Lord Fairfax‹.« Mike überhörte den ironischen Klang seiner Stimme und bat um Einzelheiten. »Es liegt in einem kleinen Dorf sechs Meilen von Farnham entfernt. Der Ort nennt sich Westerdale.« »Westerdale. Vielen Dank, Inspektor.« »Werden Sie hinfahren?« »Ich glaube schon – wenn Sie nichts dagegen haben?« »Gewiß nicht, es erspart mir eine Reise. Ich würde es selbst übernehmen, habe aber im Moment zuviel andere Sachen zu erledigen. Würden Sie mich bitte informieren, sobald sich etwas Interessantes ergeben sollte?« »Selbstverständlich. Vielen Dank für den Hinweis. Guten Abend.« Mike legte auf und lächelte seine Frau an. »Die ersten Fortschritte zeichnen sich ab. Noch vor einer halben Stunde hatten wir nicht einen einzigen Fairfax, und jetzt gleich zwei: einen Mann in Como und ein Lokal bei Farnham.« »Und wer steht als erster auf deiner Besucherliste? Wozu frage ich eigentlich – als ob ich das nicht wüßte!« bemerkte Linda sarkastisch und stellte den Gin und Wermut mit einem Stoßseufzer beiseite. Mike hüstelte verlegen. »Ja, natürlich… Ich weiß schon, was du meinst. Aber Westerdale liegt nun einmal näher, meinst du nicht auch, Liebes? Bitte doch Mrs. Potter, uns schnell einen Imbiß zu richten. Inzwischen werde ich den Wagen aus der Garage holen.« 36
»Warum fahren wir nicht sofort?« »Fährt sich besser, wenn der Spitzenverkehr nach Büroschluß abgeflaut ist. Unterwegs fahren wir lange Strecken geradeaus, da kann ich feststellen, ob die Werkstatt gute Arbeit geleistet hat. Es gibt doch nichts Schöneres, als mal so einen kleinen Ausflug aufs Land.« Linda zog ein mürrisches Gesicht und ging Mrs. Potter suchen. Gegen Abend fuhren sie los. Linda war erstaunt, als Mike den Weg zur Cavendish Street einschlug, statt direkt zum südlichen Stadtausgang zu fahren. Als Mike am Bürgersteig parkte, fragte Linda: »Wollen wir etwa diesen arroganten Knülch aufsuchen? Dann bitte ohne mich.« »Du brauchst auch nicht mitzukommen, Liebling. Kaufe dir eine Zeitung und achte inzwischen auf den Wagen. Wenn Sanders zu Hause ist, dauert es nur eine Minute.« Linda kaufte sich eine Abendzeitung und überflog sie ohne besonderes Interesse, bis ihr Blick an einer groß aufgemachten Schlagzeile auf der Titelseite haften blieb: ›Mannequin unternimmt Selbstmordversuch‹. Unter einem Foto von Peggy Bedford schilderte ein kurzer Bericht, wie das Mädchen am Nachmittag in einem mit Gas angefüllten Zimmer ihres Luxusappartements in der Baker Street aufgefunden worden war. Besorgt las Linda den Text, um festzustellen, ob ihr und ihres Mannes Namen erwähnt wären. Erleichtert stellte sie fest, daß Inspektor Rodgers sein Versprechen gehalten und sie vor überflüssiger Publizität bewahrt hatte. In dem Bericht war der griesgrämige Portier der Held des Tages. Der phantasiebegabte Journalist hatte ihn in einen mutigen Riesen verwandelt, der mit einem Stoß seiner massigen Schultern die Wohnungstür aufgebrochen und sofort Erste-Hilfe-Versuche angestellt hatte. Linda lächelte und ging gelangweilt auch die anderen Seiten durch. Die internationale Krise schwelte noch immer, und Linda 37
begann sich gerade für die letzten Neuigkeiten der Geschichte des entführten Pudels eines Fernsehstars zu interessieren, als Mike mit einem ziemlich großen Umschlag aus Sanders' Wohnung kam. »Ich hab' es!« rief er und setzte sich auf den Fahrersitz. »Was hast du?« »Ein gutes Foto von Lucy Staines. Es war in einem Rahmen neben Weldons Bett. Sanders weigerte sich, es mir mit dem Rahmen zu geben, und als er gerade nicht hinsah, entfernte ich es. Das Bild könnte uns eine gute Hilfe sein, wenn wir die Beziehungen des Mädchens zu diesem Lokal erkunden. So, und nun wollen wir mal sehen, was der Wagen hergibt.« Bis sie den letzten Teil der Strecke hinter sich hatten, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen, so daß es einige Schwierigkeiten bereitete, das gesuchte Dorf Westerdale in dem dünn besiedelten Gebiet zu finden. »Wo mag erst die Kneipe liegen, wenn es schon so schwer ist, das Kaff Westerdale zu finden«, sagte Mike. Als sie schließlich den ›Lord Fairfax‹ aufgestöbert hatten, entpuppte sich dieser als ein einziger Raum, der zugleich als gute Stube und öffentlicher Ausschank diente. Über einem offenen Kamin war altes Pferdegeschirr montiert. Der Wirt war ein Hüne von Gestalt. Mit seinen hellen Augen, klein wie Kieselsteine, blinzelte er sie mit unverhüllter Neugier an, als sie das Lokal betraten. Nach freundlicher Begrüßung fragte er: »Was darf ich Ihnen bringen?« »Gin mit Soda, bitte.« »Mit Vergnügen, Sir. Dürfen es zwei sein?« »Drei, wenn Ihnen das nichts ausmachen sollte.« »Keineswegs, Sir. Wird mir eine Ehre sein.« Mike setzte sich zu Linda an den Tisch am Fenster. Während sich der Wirt hinter dem Schanktisch um die Getränke bemühte, rief er zu ihnen hinüber: »Sie haben da aber einen tollen Wagen, Sir, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ich habe 38
immer von einem stahlblauen Jaguar geträumt, falls ich je zu Geld kommen sollte. Sie kommen sicher von weither – vielleicht aus London?« »Genau erraten; direkt von London.« »Hatte es mir gedacht. War zufällig im Hof, als Sie einbogen.« Linda tat so, als wäre ihr Feuerzeug hinuntergefallen, und bückte sich, um es aufzuheben. »Dem entgeht offenbar auch gar nichts«, murmelte sie von unten herauf zu Mike. »Mein Name ist Turner … Johnny Turner«, fuhr der Wirt fort, während er sorgfältig drei volle Maß Gin einschenkte und eine Zitrone zu schälen begann. »Ich erwähne es nur, falls Sie in der Dunkelheit den Namen über der Tür nicht gesehen haben sollten.« »Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Turner. Ich bin Mike Baxter, und das ist meine Frau Linda.« Die zwei Kieselsteine glänzten vor lebhaftem Interesse. »Doch nicht etwa der Mike Baxter, der diese aufregenden Zeitungsartikel schreibt?« »Doch, der bin ich. Damit verdiene ich meine Brötchen.« »Und gar nicht so schlecht, möchte ich wetten. Ich lese Ihre Artikel immer mit Begeisterung, Sir. In einen so verlassenen Ort wie diesen verirren sich nicht oft berühmte Leute. Ich hoffe, Sie werden mir die Ehre eines Drinks auf Kosten des Hauses erweisen.« Seine massige Gestalt wogte ihnen mit glattem Lächeln entgegen. Auf dem Tablett schwankten drei Gläser und drei Flaschen Soda. Dann prosteten sie sich gegenseitig zu. Turner erging sich sofort in einem langatmigen Bericht darüber, wie einst ein berühmter Schriftsteller zufällig den ›Lord Fairfax‹ besucht hatte. Lächelnd beendete er dann seine Erzählung mit den Worten: »Der Herr suchte damals nach einem passenden Milieu für eine seiner Geschichten, nach einem Ort wie diesem hier, ruhig und abseits der verkehrsreichen Straßen.« »Wir suchen zwar keinen Ort der Handlung für eine Geschichte, 39
Mr. Turner, aber wir würden gern für einen Augenblick Ihr Gedächtnis auf die Probe stellen, wenn Sie nichts dagegen haben«, erwiderte Mike und holte den Umschlag mit dem Foto von Lucy Staines hervor. »Sagen Sie bitte, haben Sie dieses Mädchen jemals hier bei Ihnen gesehen?« Sie beobachteten den Wirt, als seine wässerigen Augen das Foto betrachteten. Als er ihnen dann das Bild zurückreichte, klang ehrliches Bedauern in seiner Stimme: »Das ist doch Lucy Staines, nicht wahr?« »Kennen Sie sie etwa?« rief Linda erregt. Turner schüttelte betrübt den Kopf. »Nicht persönlich. Sie ist niemals hiergewesen, das weiß ich bestimmt.« »Aber wie –« »Ganz einfach. Während des Prozesses ist ihr Bild doch in den Zeitungen veröffentlicht worden. Wäre sie jemals hiergewesen, dann wüßte ich das so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Der Kerl, der sie ermordet hat, wird ja wohl demnächst gehängt, nicht wahr?« Mike nickte enttäuscht und leerte sein Glas. Die lange Fahrt war also umsonst gewesen, und jetzt mußten sie aus Höflichkeit noch eine zweite Runde trinken, die der offensichtlich gesellschaftshungrige Turner ihnen aufdrängte. Eines stand fest: Wäre Lucy Staines jemals im Umkreis einer Meile von ›Lord Fairfax‹ gewesen, die scharfen Augen dieses Mannes von so unersättlicher Neugier und von so ausgeprägter Beobachtungsgabe hätten sie todsicher entdeckt. Physische und geistige Ermattung setzte bei Mike und Linda ein, so daß sie noch eine Weile Turner das Wort überließen, bis sie glaubten, aufbrechen zu können, ohne die Gefühle des gastfreundlichen Wirts zu verletzen. Er ließ sie nur widerwillig gehen und begleitete sie mit vielen guten Wünschen bis zur Tür. Im Wagen drehte Mike gerade den Zündschlüssel um und lauschte auf das ruhige Summen des Motors, als Linda ihm einen schar40
fen Rippenstoß gab und auf den Rückspiegel zeigte. Sie sahen Turner auf sich zuwatscheln; er winkte heftig mit einer Zeitung. »Sag ihm, er kann sie behalten«, erklärte Linda schläfrig, als Mike zum Seitenfenster hinaussah. »Schon gut, alter Junge – schönen Dank. Wir brauchen die Zeitung nicht mehr!« rief Mike. Turner schüttelte den Kopf und rang nach Atem, während sein massiger Leib wie Gelatine wabbelte. »Das … das ist es nicht … weswegen ich Ihnen nachgerannt bin. Dieses Bild hier … sehen Sie mal!« Er schlug die Zeitung auf und tippte mit dem Zeigefinger auf den Bericht über Peggy Bedford. »Die Kleine hier, die ist schon im ›Fairfax‹ gewesen.« »Sie war hier bei Ihnen? Wissen Sie das genau?« fragte Linda erregt. »Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. In diesem Sommer sogar mindestens dreimal. Ich dachte mir, das würde Sie vielleicht interessieren. Als ich dann las, daß sie im selben Geschäft gearbeitet hat wie das ermordete Mädchen, nach dem Sie mich fragten, bin ich Ihnen schnell nachgelaufen. Hier steht es doch … ›man nimmt an, die beiden waren eng befreundet‹. So ein Zufall, daß Sie die Zeitung liegen ließen.« »Sie haben wirklich ein phantastisches Gedächtnis«, lobte ihn Mike. »Können Sie sich noch an Einzelheiten erinnern – wie sie angezogen war, mit wem sie hier war, was sie trank?« »Wie sie angezogen war?« wiederholte Turner, sichtlich bemüht sich zu erinnern. »Ziemlich wenig, würde ich sagen. Was sie trank? Reinen Gin, und so viel, als flösse er direkt aus der Wasserleitung. Ich habe schon viele Leute erlebt, die ausgesprochene Gintrinker waren. Die Kleine aber schlug sie alle. Und mit wem sie hier war, fragten Sie. Immer mit demselben Kerl. Es war ein Mann mit einem Pokergesicht, unauffällig angezogen, graues Haar – alt genug, um 41
ihr Vater sein zu können. Im Falle von Peggy wird er wohl so etwas wie ›der reiche Onkel‹ gewesen sein. Beim Gehen benutzte er einen Stock, weil er ein wenig hinkte. Wenn ich es mir heute recht überlege, paßte er überhaupt nicht zu ihr.« Mike blinzelte Linda gutgelaunt zu und rieb sich die Hände. Mr. Turner genoß diesen Augenblick sichtlich mit großem Vergnügen.
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ls der Wagen aus dem Hof hinauskurvte und in Richtung Guildford davonschoß, sagte Linda kopfschüttelnd: »Wie Turner richtig feststellte, paßte der alte Staines ganz und gar nicht zu ihr. Peggy Bedford könnte ohne weiteres seine Tochter sein.« »Aber das ist doch alles überhaupt nicht möglich. Er war es doch, der unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf den ›Lord Fairfax‹ lenkte. Wenn er die Bedeutung der Eintragung im Notizbuch seiner Tochter Lucy kannte, wozu gab er mir dann den Fingerzeig auf diese Spur? Das reimt sich doch alles nicht zusammen. Turner muß etwas durcheinandergebracht haben, obwohl mir seine Beobachtungsgabe geradezu phänomenal vorgekommen ist. Der alte Knabe wüßte noch genau, welche Lippenstiftfarbe du heute aufgetragen hast, wenn wir ihn in einem Jahr besuchen und danach fragen würden.« Linda lachte. »Das weiß er bestimmt noch. Aber laß den guten Staines nicht so voreilig aus dem Spiel, Liebling. Ist dir nicht die Verlegenheit aufgefallen, als er den Namen Peggy Bedford uns gegenüber aussprach? Es war fast so, als handelte es sich um einen Namen, den man in guter Gesellschaft besser nicht erwähnt. Ich 42
habe dich schon einmal darauf aufmerksam gemacht. Und noch etwas: Wie war doch gleich die Anschrift der Kühlschrankfirma auf Staines' Visitenkarte?« Mike überlegte kurz. »Keane Brothers, Guildford. Du hast recht. Das ist nur ein paar Meilen von hier. Es liegt auf der Hand, daß Staines einige Abstecher nach Westerdale gemacht hat, zumal das Dorf abseits genug liegt und als stiller Winkel für private Abenteuer bestens geeignet ist. Und trotzdem reimt es sich noch immer nicht zusammen. Staines hätte sich doch selbst verraten, indem er meine Aufmerksamkeit auf die Eintragung im Notizbuch lenkte. Er hat die Sache doch überhaupt erst in Gang gebracht.« Linda schwieg eine Weile und fragte dann: »Mike, entsinnst du dich noch des Hotels, in dem wir im vorigen Monat mit den Battsons zu Mittag gegessen haben?« »Ja. War es nicht der ›Weiße Bock‹?« »Nein, es war der ›Weiße Engel‹. Und wie heißt diese uralte Kneipe nahe der Hammersmith-Brücke, in der wir manchmal bei unseren Spaziergängen am Fluß eingekehrt sind?« »Du meine Güte, das weiß ich doch nicht. Was soll denn diese Fragerei –« »Du hast doch in der vorigen Woche mit John Goldway einen Dämmerschoppen getrunken. In welchem Lokal war das?« »Aber Linda, denkst du etwa, ich sehe mir jedesmal das Namensschild des Gasthauses an, wo ich etwas trinke? … Ach so, kapiere endlich, worauf du hinaus willst. Da könntest du recht haben.« »Das habe ich sicherlich. Wenn man nicht gerade ein notorischer Kneipenbesucher ist, dürfte sich höchstens einer von zehn Leuten den Namen der Lokale ansehen und merken, bevor er hineingeht.« »Soweit ganz gut. Aber wie soll uns das weiterbringen? Es gibt verschiedene Gründe, warum Staines die Gesellschaft eines Mannequins aus der Bond Street suchen könnte – der ›reiche Onkel‹ dürfte dabei der wahrscheinlichste sein. Aber vergiß nicht, daß Peggy 43
mit seiner Tochter Lucy befreundet war. So unnatürlich wäre das Verhältnis ja nun auch nicht.« »Mike, manchmal bist du zu großzügig, um realistisch zu sein. Ich bin davon überzeugt, daß ich Peggy Bedford richtig eingeschätzt habe – nenne es meinetwegen weiblichen Instinkt. Nachdem wir nun immerhin die Gaststätte ›Fairfax‹ gefunden und mit allen ihren interessanten Gegebenheiten studiert haben, könnten doch auch hinter dem Fairfax-Brief Dinge stecken, deren Bedeutung uns bisher noch unbekannt ist.« »Gut. Aber dann verzeih mir auch den Verdacht, daß dieser Brief eine Fälschung ist.« Linda mußte lachen. »Du hast anscheinend heute einen deiner besonders vorsichtigen Tage, mein Lieber. Nehmen wir einmal an, der Brief ist eine Fälschung. Was könnte Sanders dann bewogen haben, dich aufzusuchen?« Mike schüttelte verwirrt den Kopf. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht ist Sanders aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Staines – sein Gewissen könnte ihn angetrieben haben, etwas für Weldon zu tun, während andererseits sein Privatleben keine allzu tiefschürfenden Nachforschungen vertragen würde, vor allem nicht seitens der Polizei. Ich weiß vorerst nichts, jedenfalls bis zu diesem Stadium der Entwicklung. Ich werde einige Zeit darauf verwenden müssen, um etwas über das Privatleben dieser beiden Herren zu erfahren. Vielleicht kann mir Harold Weldon einige Aufschlüsse geben. Er muß beide recht gut gekannt haben. Kriminaldirektor Goldway hat es einrichten können, daß ich morgen früh ins Pentonville-Gefängnis zu Weldon fahren kann.« Linda durchzuckte es. »Das ist eine Fahrt, bei der du nicht mit mir rechnen kannst.« »Du bist auch nicht eingeladen«, entgegnete Mike hämisch grinsend. 44
Bevor er am nächsten Morgen zum Gefängnis fuhr, entschloß sich Mike, Hector Staines anzurufen. Er wählte die Nummer in Guildford, wurde von der Telefonzentrale jedoch an eine Londoner Nummer verwiesen. Es schien, daß Staines sich gerade um die in der City befindlichen Geschäfte seiner Firma kümmerte und in Bayswater wohnte. Staines' Stimme klang diesmal nicht ganz so gepreßt und unpersönlich, wie Mike sie in Erinnerung hatte. Obgleich der Mann versuchte, seine Gefühle zu verbergen, entging Mikes Ohr doch nicht der Unterton seiner inneren Erregung. Er brauchte nicht lange, um hinter die Ursache zu kommen. »Ich bin heute früh im Krankenhaus gewesen, Mr. Baxter. Man ließ mich nicht mit P… mit Miß Bedford sprechen. Es ist entsetzlich.« »Ist sie immer noch bewußtlos?« »Ja. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was sie zu diesem Schritt treiben konnte. Sie war doch immer so voller Lebensfreude.« »Das glaube ich Ihnen gern, Mr. Staines. Übrigens wollte ich Sie noch fragen: Miß Bedford war doch nicht nur mit Ihrer Tochter, sondern auch mit Ihnen recht gut befreundet, nicht wahr?« »Wie bitte? Was sagten Sie eben? Peggy … Miß Bedford meine Freundin? Das ist eine grobe Übertreibung. Ich habe sie nur ein paarmal getroffen.« »Wann sind Sie zum letzten Male mit ihr im ›Lord Fairfax‹ gewesen?« fragte Mike geradeheraus. Eine peinlich berührende Pause trat ein. Als Staines endlich antwortete, klang seine Stimme schwach und fast weinerlich. »Der Lord … was? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Aber Mr. Staines. Der ›Lord Fairfax‹ ist ein kleines Lokal nicht weit von Farnham – ein altes Pferdegeschirr hängt dort über einem Kamin; der Wirt ist auffallend korpulent. Das Nest heißt Wester45
dale.« »Ach so. Das Lokal meinen Sie. Ich … ich hatte keine Ahnung, wie die Gaststätte hieß. ›Lord Fairfax‹, sagen Sie? Wie seltsam!« »Das ist es bestimmt. Und nun können Sie mir vielleicht sagen, wen Ihre Tochter am 12. Mai und 8.30 Uhr dort treffen wollte. Diese Eintragung in ihrem Notizbuch werden Sie doch wohl nicht vergessen haben.« »Du lieber Himmel! Das ist mir ganz neu. Ich verstehe das nicht.« »Aber Sie geben doch zu, mit Peggy im ›Fairfax‹ gewesen zu sein?« »Mein lieber Mann, ich gebe zu – wie Sie es grob formuliert haben – daß ich einmal in Westerdale –« »Einmal oder mehrere Male?« »Hören Sie bitte auf, mich auf diese Weise festnageln zu wollen; das ist ganz unnötig. Ich habe einfach nicht bemerkt, wie das Lokal hieß. Im übrigen habe nicht ich Peggy dorthin geführt, sondern sie hat mich dahin gelotst. Ich traf sie eines Tages rein zufällig in Farnham, wo sie einer Kundin ein Kleid ablieferte. Unser Hauptbüro befindet sich in Guildford, und daher war ich dort in der Nähe. Ich fahre jede Woche einmal nach Guildford.« Nach kurzer Pause fügte Staines betont hinzu: »Es war tatsächlich ein reiner Zufall.« Überzeugen konnte Mike das nicht, aber er wollte jetzt nicht weiter darauf eingehen. Staines sprach erregt weiter: »Ich muß schon sagen, daß ich absolut nicht verstehe, wieso Peggy nicht die Bedeutung der Eintragung in Lucys Notizbuch erkannt hat.« »Haben Sie ihr diese Notiz gezeigt?« »Natürlich, und zwar kurz vor der Gerichtsverhandlung. Sie behauptete, sie sage ihr gar nichts.« Peggy Bedford konnte sehr wohl gelogen haben, dachte Mike. Wahrscheinlich war sie es gewesen, die das Zusammensein mit Lucy Staines in dem Lokal in Westerdale kurz vor dem Mord arrangiert hatte. Welchen Zweck das Treffen haben sollte und warum die Bed46
ford gelogen hatte, das konnte Mike nur erraten. Da aus Staines kaum weitere Informationen herauszuholen waren, verabschiedete sich Mike und legte auf. Als er gerade das Zimmer verlassen wollte, klingelte das Telefon. Es war Inspektor Rodgers, der wieder ohne Umschweife zur Sache kam. »Das Krankenhaus hat mich soeben unterrichtet, daß Peggy Bedford gestorben ist.« »Das arme Kind! Hatte sie das Bewußtsein wiedererlangt?« »Leider nein. Ich wünschte, wir hätten ihr noch ein paar Fragen stellen können.« »Hat sich der fehlende Schuh inzwischen aufgefunden?« »Nein, aber wir werden ihn finden, darauf können Sie sich verlassen«, antwortete Rodgers kurz und legte auf. Es gibt wenige Plätze auf dieser Erde, die noch deprimierender wirken als Ihrer Majestät Gefängnis in Pentonville. Mike fröstelte, als der Wärter ihn durch hallende Korridore aus Beton und Stahl zur Zelle von Harold Weldon führte. »Wie verhält er sich?« fragte Mike leise, als sie sich seiner Zelle näherten. »Den Umständen entsprechend ziemlich gut, Sir. Er hat sehr viel gelesen. Die meisten Bücher, die er verlangt hat, sind für mich zu hoch. Aber die Lektüre scheint ihm die Ruhe zu geben. Wenn ich so nachdenke, haben wir eigentlich wenig Ärger mit Todeskandidaten, jedenfalls nicht in diesem Stadium.« Der Wärter holte einen schweren Schlüssel hervor und schloß die Zelle auf. »Sie haben Besuch, Mr. Weldon«, sagte er. Der erste Eindruck, den Mike von Weldon hatte, war etwas verzerrt und ließ ihm den Zelleninsassen wie einen Eremiten erscheinen. Es war ein abgemagerter und schlaksiger Eremit mit langer, 47
leicht gebogener Nase, mit ungepflegten Haarsträhnen, die ihm in die Stirn hingen und seine feindselig dreinblickenden grauen Augen zum Teil verdeckten. »Wenn Sie auch ein Pfaffe sind, dann können Sie sich augenblicklich wieder auf Ihre Kanzel zurückziehen!« Seine Stimme war nasal und artikuliert, aber ohne jedes Bemühen, freundlich zu wirken. »Ich bin kein Geistlicher«, erklärte Mike mit ruhiger Stimme. »Mein Name ist Mike Baxter, und ich bin ein persönlicher Freund von Kriminaldirektor Goldway und Inspektor Rodgers.« »Wie reizend für Sie. Da bewegen Sie sich ja in exquisiten Kreisen. Wären die Herren auch meine Freunde gewesen, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht hier sein. Was wollen Sie?« »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Aus welchem Grunde?« Der Gefangene war aufgestanden und lehnte mit gekreuzten Armen in einer Ecke seiner Zelle, wobei er Mike mit unverhohlenem Argwohn und Mißtrauen anstarrte. Plötzlich fragte er: »Wie war doch Ihr Name?« »Mike Baxter.« »Der Journalist?« »Ja.« »Ah, jetzt verstehe ich!« Seine blassen Augen glitzerten bösartig, und die beißende Tonart, in der er bisher gesprochen hatte, verdichtete sich zu nicht mehr zu überbietender schneidender Verachtung. »Wollen wohl herumschnüffeln, ob Sie nicht meine Memoiren aus erster Hand erwerben können, was? ›Die rasende Bestie in der Abgeschlossenheit der Zelle, das Zeichen des Todes in den Augen klar erkennbar…‹ Nun, ich kann Ihnen ja den Gefallen tun und eine kleine Raserei veranstalten, damit Ihre Leser nicht enttäuscht werden. Wieviel darf es denn sein? Für zehn Cent oder mehr?« »Sie vergeuden meine Zeit«, herrschte Mike ihn an. Der besondere Klang von Mikes Stimme brachte Weldon zum 48
Schweigen. Mike sprach mit kühler Stimme weiter: »Ich habe nur zwei Fragen an Sie, dann können Sie wieder den wilden Mann spielen. Haben Sie Lucy Staines ermordet?« Weldons Lippen verzogen sich zu einem sardonischen Lachen. »Lesen Sie denn keine Zeitungen? Da stand doch alles drin. Natürlich habe ich Lucy umgebracht. Es war meine Freudsche Art, ihr meine Liebe zu beweisen. Ich verlor die Beherrschung in einer öffentlichen Unterhaltungsstätte, damit es auch jeder gut sehen konnte, überredete sie dann, mir zu einem schön abgelegenen Ruinengrundstück zu folgen. Dort saß ich mit ihr ein bis zwei Stunden herum bis die Mitternacht mit dem Schrei des Käuzchens gekommen war, erwürgte sie dann und nahm mir noch eine Blutprobe von ihr als schauriges Andenken mit. Es war alles so einfach und ohne Komplikationen. Ein rothaariges Weibsbild namens Nadia Tarrant sah mich bei der Tat oder war zumindest Zeugin, wie ich geräuschvoll und auffällig vom Soho Square davonlief. Ich trug besonders genagelte Schuhe, damit sie mich auch auf keinen Fall übersehen oder überhören konnte.« »Aber diese Frau hat Sie doch erkannt – am nächsten Tag bei der Gegenüberstellung.« Weldons Stimme wurde zu einem verächtlichen Schnarren, als er antwortete: »Wenn Sie diesem Miststück genug Geld in die Hand drücken, würde sie auch schwören, Brigitte Bardot sei ihre eigene Großmutter.« »Und weiter?« fragte Mike ungeduldig. »Lassen Sie mich mal nachdenken. Was habe ich dann noch angestellt? Ach ja, nur damit auch alles glatt und einfach wurde, hatte ich kein Alibi. Die Blutgruppe paßte auch; und vor den Hütern des Gesetzes machte ich zwei Aussagen, die einander in höchstem Maße widersprachen und verdammt unglaubhaft waren. Das wäre wohl alles. Einer Ihrer Kollegen hat es ja mit geradezu erregender Origi49
nalität formuliert – ›ein Fall, der von A bis Z völlig klar liegt‹.« »Ich verstehe.« »Sie haben Ihre zweite Frage noch nicht gestellt. Meine Zeit ist nämlich auch beschränkt«, grinste Weldon höhnisch. »Neun Tage und ein paar Stunden, um genau zu sein.« »Entschuldigen Sie«, murmelte Mike, obwohl er sich nicht ganz darüber klar war, wofür er sich entschuldigte. »Die andere Frage ist einfacher: Haben Sie einen Schuh von Lucy mitgenommen?« Weldon kehrte ihm den Rücken zu und lachte wieder. »Der fehlende Schuh! Welchen Spaß die Presse doch damit schon gehabt hat!« Er drehte sich ruckartig wieder Mike zu, die blassen Gesichtszüge erneut von Verachtung und Trotz gezeichnet. »Natürlich habe ich ihn gestohlen. Ich bin doch leidenschaftlicher Sammler von Frauenschuhen. Zu Hause habe ich ganze Regale voll davon.« Dann setzte er eine Miene stupider Schlauheit auf und trat ganz nahe an Mike heran. »Sind Sie zufällig auch Sammler? Ich würde Ihnen gern ein paar meiner besten Stücke zeigen – vielleicht könnten wir einen Tausch machen?« »Verdammt noch mal! Hören Sie endlich auf, den Clown zu spielen. Haben Sie den Schuh mitgenommen?« »Ich sage Ihnen doch schon ständig, daß ich es getan habe.« »Warum?« »Man begeht doch nicht jeden Tag einen Mord. Das war nun mal eine besondere Gelegenheit, und da habe ich den Schuh als Andenken mitgenommen.« »Den linken oder den rechten?« »Wie bitte?« »Nur ein Schuh fehlte. Welchen haben Sie mitgenommen, den linken oder den rechten?« Einen Augenblick lang konnte Weldon seine theatralische Haltung nicht aufrechterhalten. Er kniff die Lippen zusammen, zuck50
te mit den Schultern und sagte dann: »Den linken.« »Falsch!« konterte Mike. »Wirklich?« »Es war der rechte Schuh, der fehlte.« »Sind Sie sicher?« Mike beschäftigte sich damit, eine Zigarette anzuzünden, die er dem Gefangenen anbot. Weldon schüttelte ablehnend den Kopf. Der Wortwechsel über den Schuh war zwar blitzschnell verlaufen, doch hatte Mike jede Reaktion seines Gegenübers genau beobachtet. Weldons vollkommene Gleichgültigkeit im Ton war etwas, was kein wirklich Schuldiger je hätte in dieser Form hervorbringen können. Mike spürte in sich die Überzeugung aufwallen: Das einzige, dessen dieser Mann sich schuldig gemacht hatte, war persönliches Pech und sein ausgesprochenes Talent, sich in aufreizender Weise andere zum Feinde zu machen. Deshalb sprach Mike jetzt mit fast flehendem Drängen zu ihm: »Hören Sie mir zu, Weldon, und um Gottes willen, hören Sie mir genau zu! Wir haben nicht mehr viel Zeit, weder Sie noch ich. Wenn Sie nur noch neun Tage und ein paar Stunden haben, bis…« »Ich an meinem Halse aufgehängt werde, bis ich tot bin.« »– dann habe ich nur genau die gleiche Zeit für den Versuch, Ihnen zu helfen.« »Da geben Sie mir aber Rätsel auf«, unterbrach ihn Weldon. »Warum wollen Sie mir überhaupt helfen? Dieser schleimige Mainardi hat Sie doch ganz gewiß nicht geschickt? Ich möchte wetten, der hat nicht einen einzigen Gedanken an mich verschwendet, ausgenommen vielleicht die Frage, wann er seine fetten Anwaltsgebühren einkassieren kann.« »Sie haben ja hellseherische Fähigkeiten.« »Dann haben Sie ihn also wirklich gesprochen?« »Ja.« »Und was halten Sie von ihm?« 51
»Ich war nicht gerade beeindruckt.« »Eins zu Null für Sie, Mr. Baxter. Vielleicht hätte ich besser Sie zum Verteidiger bestellen sollen.« »Ich bin kein Rechtsanwalt.« »Das nicht, aber ein erfolgreicher Journalist.« »Ich habe nicht die Absicht, auch nur eine einzige Zeile über Sie zu veröffentlichen, Weldon. Der einzige Grund für meinen Besuch ist meine ehrliche Absicht, Ihnen zu helfen. Es gibt nur einen einzigen Weg, Ihren Kopf zu retten – ich muß herausfinden, wer Lucy Staines ermordet hat. Haben Sie denn überhaupt keine Vermutung?« Weldon zuckte mit den Schultern, war jetzt jedoch ruhiger. »Nicht die geringste. Natürlich habe auch ich darüber nachgedacht – was, zum Teufel, tat sie zu so später Stunde am Soho Square und so weiter. Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden habe, ist die, daß es sich um eines der vielen sinnlosen Verbrechen seitens irgendeines gesichtslosen Banditen ohne jedes Motiv handelt, nicht einmal Raub oder Sex.« Mike schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an gesichtslose Killer oder Verbrechen ohne Motiv. Bekomme ich nur einige wenige Tatsachen in die Hand, werde ich den Fall lösen. Aber ohne Lehm kann man keine Ziegel brennen, und die einzigen Lehmbrocken, die ich bisher habe, sind Hector Staines und Victor Sanders.« Weldon starrte ihn ungläubig an. »Sie wollen doch nicht etwa die beiden verdächtigen? Das wäre ja verrückt!« »Mag sein, daß die beiden nicht schuldig sind, doch bin ich verdammt sicher, daß beide etwas vor mir verbergen. Und Peggy Bedford tat dies auch, nur bin ich da leider nicht schnell genug gewesen.« »Was soll das heißen? Ist Peggy etwas passiert?« Weldon sah leicht besorgt aus, doch ließen seine Augen keine Gefühlsregung erkennen. 52
»Ja, sie hat gestern Selbstmord begangen. Sie hatte alle Fenster und Türen ihrer Wohnung abgedichtet und dann den Gashahn aufgedreht.« Weldon vergrub die Fingernägel in den Handflächen, bis die Knöchel weiß wurden. »Das ist ja furchtbar«, murmelte er. »Sind Sie ganz sicher, daß es so war?« »Ja, warum?« »Ach, es ist nur, weil … wissen Sie, von Peggy hatte ich eigentlich nie den Eindruck, daß sie morbid oder für Depressionen anfällig war. Eigentlich sogar ganz das Gegenteil. Was man auch immer über sie sagen kann, fest steht, daß sie dem Leben stets die besten Seiten abzugewinnen wußte.« Mike hob fragend die Augenbrauen. »In gewisser Weise bin ich gar nicht so überrascht, daß sie kein normales Ende gefunden hat. Doch hätte ich niemals geglaubt, daß sie selbst Schluß machen würde«, fuhr Weldon fort. »Wollen Sie damit andeuten, daß jemand sie ermordet haben könnte?« Weldon runzelte die Stirn. »Über die Umstände ihres Todes weiß ich nur das, was Sie mir eben erzählt haben. Doch würde ich die Möglichkeit nicht ganz ausschließen.« Mike dachte über diese Bemerkung einen Augenblick nach und sagte dann: »Es wird Ihnen bestimmt schon zum Halse heraushängen; aber könnten Sie mir nicht trotzdem einen haargenauen Bericht darüber geben, was in der Nacht, in der Ihre Verlobte ermordet wurde, wirklich geschah?« Weldon seufzte müde und schob sich mit einer Handbewegung die Haarsträhne aus den Augen. »Also nochmals in die Tretmühle. Na schön … wenn es Ihrer Ansicht nach nützlich sein kann… Lucy und ich stritten miteinander; sie ließ mich vor dem Theater stehen, und ich ging zu meinem Wagen. Dann fuhr ich etwa eine Stunde kreuz und quer durch die Stadt, parkte dann am St. James Square 53
und ging spazieren.« »Warum?« »Weil ich wegen des Streites erregt war und im Zorn Dinge zu Lucy gesagt hatte, die ich hinterher bedauerte. Ich wollte mich beruhigen, aber auch über unsere geplante Heirat nachdenken. Deshalb bin ich eine lange Strecke gelaufen, bis zum Victoria and Albert Museum. Dann ging ich denselben Weg wieder zurück, stieg in meinen Wagen und fuhr nach Hause. Dort bin ich gegen halb ein Uhr angekommen.« Mike sah Weldon an und zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht gerade ein gutes Alibi.« »Es sollte ja auch niemals eins sein. Hätte ich es gebraucht, würde ich mir bestimmt etwas Besseres ausgedacht haben.« »Das haben Sie doch auch!« »Wie meinen Sie das?« »In ihrer ersten Aussage vor der Polizei haben Sie erklärt, Sie wären um halb elf Uhr nach Hause gekommen.« »Ach das. Dumm von mir, wirklich. Ich hatte wohl den Kopf verloren. Die Nachricht, Lucy sei erwürgt worden, hatte mich völlig durcheinandergebracht.« »Das kann ich begreifen. Und was ist mit dieser Nadia Tarrant? Als die Sie aus der Reihe der zur Identifizierung aufgestellten Männer als Täter bezeichnete – hatten Sie die Frau je zuvor gesehen?« »Nein, danke. Bin nie ein Freund des Possentheaters gewesen. So etwas liegt mir nicht.« »Warum Possentheater?« »Sie haben in der Schule nicht richtig aufgepaßt, Baxter. Nadia Tarrant spielte die Hinterbeine eines Pferdes oder so etwas Ähnliches auf einer Vorstadtschmiere. Das kam bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache. Sie war so sehr nach einer Rolle auf den Brettern aus, die die Welt bedeuten, daß sie geschworen hätte –« »Ich weiß: ›daß Brigitte Bardot ihre eigene Großmutter sei‹! Also, 54
ich sehe schon – es könnte vielleicht der Mühe wert sein, sich einmal kurz mit ihr zu unterhalten, sobald ich Zeit habe. Noch eine Frage: Sind Sie jemals in einer Kneipe namens ›Lord Fairfax‹ gewesen, oder hatten Sie geplant, dorthin zu gehen?« »Mein lieber Mann, ich bin in meinem Leben in tausend Kneipen gewesen. Erwarten Sie von mir, daß ich mich an alle erinnere?« »Das nicht. Aber erweckt der Name ›Lord Fairfax‹ bei Ihnen keine Assoziationen?« Weldon schüttelte den Kopf. »Nichts, gar nichts.« »Kennen Sie auch keine Person namens L. Fairfax?« »Nein … warten Sie mal … stand nicht so ein Name in Lucys Notizbuch?« »Ja, und haben Sie den Namen nie zuvor gehört, bevor er in der Verhandlung erwähnt wurde?« »Niemals.« Mike holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr den Brief, den Victor Sanders ihm gebracht hatte. »Lesen Sie das und sagen Sie mir dann, was Sie davon halten.« Weldon überflog den Brief und las ihn dann nochmals sorgfältig. Dann verzog er das Gesicht und warf ihn in Mikes Schoß. »Noch so ein komischer Vogel, der sich über einen fehlenden Schuh Gedanken macht. Der Brief ist doch an mich gerichtet; wie kommen Sie an ihn?« »Ihr Freund Sanders öffnete ihn und brachte ihn mir.« Weldon kicherte vor sich hin. »Sanders ist ein guter Kamerad; aber er vergeudet seine Zeit. Mit dem Ding da könnte man doch nicht einmal einen Dorftrottel an der Nase herumführen.« »Sie meinen, er ist gefälscht?« »Natürlich. Sie etwa nicht?« »Möglich, dann bleibt aber immer noch die Frage offen, warum Sanders sich die Mühe gemacht hat, das da zusammenzubrauen – wenn er es selbst getan hat.« 55
»Die Antwort liegt doch auf der Hand. Er ist ein treuer, alter Kumpel, wenn auch ein wenig schwierig. Er hat nur versucht, mir zu helfen.« »Auf welche Weise denn?« »Indem er einfach neues Interesse für mich erweckt. Schließlich ist es doch bei Ihnen gelungen. Eins zu Null für Victor.« »Schon richtig«, gab Mike zu. »Genauer gesagt, war es jedoch Hector Staines, der mich in diesen Fall hineingezogen hat. Wie stehen Sie zu ihm?« »Mein Schwiegervater in spe war es? Ach, wir kamen miteinander aus. Er ist ja etwas steif, Kavalier der alten Schule. Manchmal haben wir hart wegen irgendwelcher Entwürfe gestritten. Bei ihm scheint die Architektur mit dem König-Albert-Denkmal ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht zu haben. Sonst ist er aber ein anständiger alter Knabe.« »Und was ist mit seinem Sexualleben?« fragte Mike geradeheraus. »Hat er ein Faible für junge Mädchen?« »Der alte Hector?« Weldon schien amüsiert. »Ich weiß nicht, ob er überhaupt den Unterschied zwischen einer Frau und einem Kühlschrank kennt. Seit zwanzig Jahren ist er Witwer – eine Stütze der Kirche, Stütze der lokalen Gesellschaft. Der war überhaupt für alles eine Stütze.« »Ist das nicht gerade der Typ, der allzuoft –« Weldon winkte energisch ab. »Aber nein! Wirklich nicht! Da sind Sie auf dem Holzwege, alter Junge. Hectors einziger Fehler ist, daß er stets schwach bei Kasse war. Er besitzt überhaupt kein Talent zum Geldmachen. Trotzdem ist er ein netter Kerl.« Mike ging langsam zur Tür. »Sobald ich etwas Konkretes in Händen habe, lasse ich mich wieder blicken«, versprach er. »Versuchen Sie es einmal mit diesem Weibsstück Tarrant«, riet Weldon. »Vielleicht können Sie die Frau überreden, endlich mit dem Theaterspielen aufzuhören und die Wahrheit zu sagen.« 56
»Das werde ich auch, Weldon. Und noch etwas: Sollten Kriminaldirektor Goldway oder Inspektor Rodgers Sie aufsuchen – oder sonst jemand in dieser Angelegenheit – dann verlieren Sie nicht wieder die Beherrschung und seien Sie nicht so rüpelhaft. Verstehen Sie? Ich kann Ihnen im Augenblick nichts Positives versprechen; aber todsicher werden Sie nur negativen Erfolg haben, wenn Sie fortfahren, sich Leute zu Feinden zu machen, die Ihnen helfen wollen.« »Ich werde von nun an eifrig jeden Abend das Lehrbuch von Dale Carnegie ›Wie man im Leben Erfolg hat‹ studieren, Daddy.« »Sie könnten Schlimmeres tun.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Mike wandte sich zum Gehen. An der Tür sagte er beiläufig über die Schulter: »Übrigens, wenn Sie nochmals wegen Lucys Schuh befragt werden, dann halten Sie besser den Mund und sagen gar nichts. Sie können zu gut raten.« »Wie meinen Sie das?« »Es war wirklich der linke Schuh, der fehlte.«
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ike Baxter erschien nur wenige Minuten später als Kriminaldirektor Goldway zum verabredeten Mittagessen. Goldway hörte mit unverbindlichem Schweigen zu, als Mike ihm über sein Gespräch mit Harold Weldon berichtete. »Du mußt mich richtig verstehen, John. Weldon an sich ist mir nicht gerade sympathisch, aber ich bin ziemlich fest davon über57
zeugt, daß er Lucy Staines nicht ermordet hat. Er ist auch viel zu intelligent, als daß er sich nicht ein besseres Alibi zusammengezimmert hätte, wenn er sie tatsächlich in einer Aufwallung von Leidenschaft erwürgt haben sollte.« »Du bewegst dich da auf verdammt dünnem Eis, Mike«, unterbrach ihn Goldway. »Vorsätzliche Verbrechen und Verbrechen, die aus dem Affekt begangen werden, bedingen zwei verschiedene Arten von Alibis. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Ansicht, gerade weil er kopflos wurde und die Selbstbeherrschung verlor, was dann zum Mord führte, habe er dieses schwache Alibi vorgebracht.« Mike schüttelte hartnäckig den Kopf. »Mag sein, daß er ein Mensch ist, der in einer nervlichen Aufwallung irrational handelt. Bis zu dem Zeitpunkt aber, zu dem er am nächsten Tag von der Polizei abgeholt wurde, hätte er sein Gemüt abkühlen und sich etwas Glaubwürdigeres ausdenken können; dazu hatte er wirklich Zeit genug. Nein, John, ich setze auf Weldons Unschuld, so unangenehm der Bursche auch sonst gewiß ist. Denk doch allein an die Falle, die ich ihm mit dem fehlenden Schuh stellte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, welcher Schuh bei der Leiche fehlte. Hätte er mir widersprochen, als ich ihm den falschen nannte, dann hätte ich ihn ertappt. Aber er wußte von nichts; außerdem war ihm das auch völlig gleichgültig. Und gerade damit hat mich sein Verhalten fest überzeugt.« »Auf dein Urteil kann man etwas geben, Mike; schließlich hast du schon oft genug recht behalten«, erwiderte der Kriminalbeamte mit leichtem Augenblinzeln. »Diesmal scheinst du mir aber doch auf einer falschen Fährte zu sein. Das Beweismaterial gegen Weldon ist einfach überwältigend. Selbst wenn ich es wollte – ich bezweifle sehr, daß es überhaupt einen Weg gibt, dir dabei behilflich zu sein. Der Fall ist amtlich abgeschlossen.« »Für mich ist er erst fünf Minuten vor der Hinrichtung Weldons abgeschlossen.« 58
»Da stehen dir genau neun Tage zur Verfügung; du wirst dich mächtig beeilen müssen.« »Ich weiß.« Mike legte die Serviette hin und stand auf. »Entschuldige mich bitte, wenn ich den Nachtisch auslasse. Hast du inzwischen die Adresse von dieser Tarrant ausfindig machen können?« Goldway nickte, kramte in seiner Jackentasche und brachte einen Zettel zum Vorschein. »Falls es dir weiterhilft, könnte ich inoffizielle Erkundigungen über sie einziehen lassen«, erbot er sich. »Danke, nein. Zunächst werde ich sie mal selbst beschnuppern. Sollte Hilfe notwendig sein, werde ich mich an dich wenden, damit wir den Druck etwas verstärken können. Herzlichen Dank für das ausgezeichnete Mittagessen, John. Auf Wiedersehen!« Mike verließ den Klub und fuhr zu einem Café, in dem er sich mit Linda verabredet hatte. Als er sie an ihrem Tisch fand, setzte er sich erst gar nicht zu ihr. »Für eine Tasse Kaffee wirst du wohl noch Zeit haben«, sagte sie. »Leider nein. Ich werde dir auf dem Wege zu dieser Tarrant alles erzählen.« Während sie durch das dichte Verkehrsgewühl am Trafalgar Square fuhren, gab er Linda einen kurzen Bericht über seine Eindrücke von Weldon und sein Gespräch mit Goldway beim Essen. »John sind natürlich die Hände gebunden; das muß ich berücksichtigen. Aber er hat mir doch zwischendurch angedeutet, daß er uns in aller Stille helfen werde, wenn wir über etwas von Bedeutung stolpern sollten.« Linda nickte. »Er ist schon ein guter Kerl, auch wenn er zu meinem Leidwesen die Verschiebung unserer Ferien fördert. Übrigens, da wir gerade davon sprechen, daß wir über etwas Bedeutendes stolpern könnten – ich habe heute unseren Freund, den Oberst mit dem roten Gesicht, beim Mittagessen gesehen.« »Sanders? Was soll daran bedeutsam sein?« »Die Gesellschaft, in der er sich befand.« 59
»Männlich oder weiblich?« »Weiblich.« »Gut für den alten Victor. Für so menschlich hätte ich ihn gar nicht gehalten. Hoffentlich hat es ihm Spaß gemacht.« »Das ist es ja gerade – meiner Ansicht nach nicht. Eine Frau weiß instinktiv, wer bei einem anderen Paar der aktivere Teil ist. In dieser Gesellschaft machte Sanders eine recht schlechte Figur.« Mike lachte. »Pech für ihn. Was für einen Geschmack hat er denn?« »Ich brauche sie dir nicht zu beschreiben, wenn du erfährst, wer es war.« »Bitte, mach es nicht so spannend. Also, wer war es?« »Irene Long«, antwortete Linda lakonisch. »Wer?« Mike kurvte scharf ein, um sich einen Platz in der anderen Fahrspur zu sichern und rechtzeitig zum Soho Square abbiegen zu können. »Wer, zum Teufel, ist Irene Long?« »Paß auf, Liebling! Der Radfahrer dort! Ich bin überzeugt, der hängt noch an seinem Leben… Du erinnerst dich nicht an Irene Long? Sie arbeitet bei Conway und Racy. Das ist die Dame, die mich bei meinem Kleid beraten und mir diesen entzückenden Hut verkauft hat.« »Ach, die Modepuppe meinst du! Ja, die Blondine mit dem auffälligen Make-up und dem großen Mund. Wie interessant! Die beiden müssen doch ein seltsames Paar abgegeben haben.« Linda lächelte. »Ist das alles, was du davon hältst? Und ich bildete mir ein, du würdest froh sein, endlich über etwas nachdenken zu können.« Mike lächelte und antwortete trocken: »Ach, Liebes, ich habe ja auch so wenig im Kopf…« Er bog in die gesuchte Straße ein, hielt kurz an und studierte die Hausnummern. »Es muß auf dieser Seite sein.« Kurz darauf fanden sie das Haus und dicht daneben auch eine 60
Parklücke. Linda stieg aus und starrte auf das schäbige Gebäude. Naserümpfend fragte sie dann: »Sind wir hier auch richtig, Mike? Das sieht doch so aus, als wären hier nur Büros. Hier wohnt doch bestimmt niemand.« »Das will ich nicht sagen. In Gebäuden dieser Art gibt es gewöhnlich im Hinterhaus ein paar Löcher, die als Wohnungen vermietet werden. Nadia Tarrant war ja nur eine Komparsin bei einem Schmierentheater; ihr Geld wird also kaum für eine bessere Wohnung reichen.« Neben einem schmutzigen und unregelmäßig beschnittenen Stückchen Pappe, auf das fast unleserlich ein Name gekritzelt war, entdeckte Linda einen verrosteten Klingelknopf. »Ich glaube, hier ist es«, sagte sie. »Drück nur drauf; das werden wir gleich wissen.« Linda drückte auf den Knopf, doch gab die Klingel keinen Ton von sich. Auch der zweite Versuch blieb ohne Erfolg. »Ich wäre wirklich überrascht gewesen, wenn das Ding funktioniert hätte«, meinte sie. Mike gab nur einen unartikulierten Laut von sich. »Der Fahrstuhl ist auch nicht in Ordnung. Wir werden die Treppen hochsteigen müssen.« Sie kletterten drei knarrende Treppen empor, bis sie an eine Tür kamen, deren Farbe abblätterte und die nur leicht angelehnt war. Auf einem Stückchen Papier stand: Nadia Tarrant und darunter Varietekünstlerin. Ein Klingelknopf war an der Tür nicht vorhanden. Mike und Linda erschraken einen Moment, als drinnen plötzlich das Telefon zu schrillen begann. Niemand schien sich zu beeilen, den Hörer abzunehmen. Mike zuckte mit den Schultern und klopfte zwei- bis dreimal kräftig an die Tür, ohne daß jemand antwortete. Sie warteten noch, bis das Telefon schwieg. Dann stieß Mike die Tür ganz auf. 61
Ein fürchterlicher Mief kam ihnen entgegen; ein Geruch von nicht gelüfteten Betten, gemischt mit dem Duft von vergossenem Kakao neben einem Gaskocher und feuchter Wäsche, die quer durch den Raum zum Trocknen aufgehängt war. Auf den ersten Blick schien es ein typisches Wohn-Schlaf-Zimmer zu sein, in dem eine ungewöhnlich schlampige Frau hauste. Mike sah sich im Zimmer um, wobei sein Blick auf eine Reihe vergilbter Fotos und Theaterzettel an den Wänden fiel – Zeugnisse von Miß Nadia Tarrants einstiger Karriere beim Vorstadttheater. Den Bildern nach zu urteilen, mußten es schon etliche Jahre her sein, seit sie zum letzenmal auf der Bühne gestanden hatte. Es war nur schwer zu sagen, welche der nur noch verschwommen erkennbaren Figuren Nadia Tarrant sein mochte, obwohl die große, kolorierte Fotografie eines vollbusigen Mädchens mit roten Haaren und schwarzen Netzstrümpfen Mike besonders auffiel und ihn an die Vorkriegszeit erinnerte, in der die Farbfotografie noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte. Als er nähertrat, um das Foto genauer zu betrachten, fragte Linda: »Mike, können wir denn hier einfach so herumschnüffeln?« Mikes Antwort wurde durch das erneute Läuten des Telefons unterbrochen. Seine Körperhaltung versteifte sich; er blickte zu Linda hinüber und sagte dann: »Nimm mal ab.« Sie streckte die Hand aus, zögerte aber noch. »Nun mach schon! Irgend etwas muß ich über diese Frau erfahren. Das Risiko lohnt sich.« »Aber Mike, wir können doch nicht einfach –« »Wir können! Nimm ab und hör einfach zu. Sage nicht, wer du bist.« Linda seufzte und nahm mit zitternder Hand den Hörer ab. Die Stimme, die dröhnend durch die Leitung klang, war sofort zu erkennen. »Ist dort Gerard 73 11?« »Ja.« 62
»Ist dort Nadia Tarrant?« fragte die kräftige Stimme von Victor Sanders. Linda blickte fragend ihren Mann an, der ihr durch Zeichen eilig zu verstehen gab, sie solle weitermachen. »Warum haben Sie sich vorhin nicht gemeldet? Ich habe schon vor fünf Minuten angerufen. Wollen Sie etwa faule Tricks bei mir versuchen?« »Ich war fortgegangen«, antwortete Linda mit rauher Stimme aufs Geratewohl, wie Nadia Tarrant vielleicht sprechen mochte. »Also, was ist mit der Sache Bannister? Bekomme ich endlich den dritten Schuh?« bellte Sanders ins Telefon. »Hallo… Sind Sie noch da?« »Ja.« »Also, dann dalli, Frau. Verstehen Sie mich? Ich brauche den dritten Schuh. Und keinerlei Faxen! Das möchte ich mir ausgebeten haben.« »Ja, geht in Ordnung.« Am anderen Ende hörte man das Klicken des aufgelegten Hörers. Mike hatte sein Ohr an den Hörer gelegt und so dem seltsamen Dialog gelauscht. Linda zitterte leicht und hielt ihre Hand auf das Telefon, als müsse sie sich daran festhalten. »Victor Sanders«, flüsterte sie. »Was, um Himmels willen, mag das bedeuten, Mike? Was hat der mit dieser Sache zu tun?« Sie blickte sich in dem düsteren Zimmer um. Mike nickte. »Jetzt will er den dritten Schuh«, sinnierte er laut. »Möchte auch wissen, was das zu bedeuten hat.« »Und was meint er wohl mit der Sache Bannister. Bannister? Sagt dir der Name etwas?« »Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Übrigens – du warst prächtig, Linda. Ob Sanders wohl deine Stimme erkannt hat?« Linda sagte: »Ich habe mich ja bemüht, sie zu verstellen«, brach 63
dann aber mitten im Satz ab. »Mike, da kommt jemand die Treppe herauf!« Sie warteten außerhalb des Blickfeldes der offenen Tür, die nun weit aufgestoßen wurde. Eine Frau mit einem riesigen Busen, Ende der Vierzig, und mit flammend rotem Haar von fast unmöglicher Tönung stand im Türrahmen und starrte sie wütend an. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte sie mit tiefer Stimme. »Sind Sie Miß Tarrant?« fragte Mike höflich. »Ja. Wer hat Ihnen erlaubt, hier so einfach einzudringen?« »Die Tür war offen, wir –« »Ich weiß, daß ich sie nur angelehnt hatte, weil ich nur mal schnell nach unten gelaufen bin, um mir etwas von einer Nachbarin zu borgen. Was soll das? Antworten Sie!« »Entschuldigen Sie, Miß Tarrant; aber wir haben unten geläutet, und als sich niemand meldete –« »Da sind Sie einfach hier hereinmarschiert! Nun, marschieren Sie ja sofort wieder hinaus, Sie beide, 'raus mit Ihnen, bevor ich die Polizei rufe!« Linda machte eine Bewegung zur Tür hin, doch Mike hielt sie zurück. Er lehnte sich gegen den Abwaschtisch und begegnete dem aggressiven Blick der Frau mit einem Lächeln. »Mein Name ist Baxter, Mike Baxter. Und das hier ist meine Frau. Ich bin ein Bekannter von Inspektor Rodgers«, fügte er noch hinzu. »Und wenn schon. Was soll's?« »Wir wollten uns nur ganz kurz mit Ihnen unterhalten. Das ist alles.« Die Frau starrte ihn argwöhnisch an. »Das wollten Sie also. Wirklich? Nun, da haben Sie Pech. Ich will nämlich gerade fortgehen.« »Es wird nicht lange dauern, Miß Tarrant. Höchstens drei oder vier Minuten.« Die Frau zögerte und blickte auf ihre Armbanduhr. »Tut mir leid, geht nicht. Ich bin in einem Café beschäftigt und schon zu spät 64
dran.« »In welchem Café? Ich denke, Sie arbeiten auf der Bühne.« »Ich habe gerade eine Pause zwischen zwei Engagements, wenn Sie das überhaupt etwas angeht. Ich arbeite, wo ich will, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen, Sie Oberschnüffler!« Mike entschuldigte sich wieder höflich und wandte sich dann an Linda. »Also dann komm, Darling. Wir wollen Miß Tarrant nicht belästigen. Ich werde die Sache Inspektor Rodgers erklären. Wahrscheinlich war sein Vorschlag ohnehin nicht der beste.« Er ging mit großen, energischen Schritten an der Frau vorbei zum Flur. »Moment mal!« rief sie. Als er eine halbe Wendung machte, sagte sie: »Ich war vielleicht etwas grob. Aber Sie können ja auch nicht so ohne weiteres in die Privatwohnung anderer Leute eindringen. Und ich hatte auch noch keine Zeit zum Aufräumen. Also, was wollen Sie?« Mike kam ins Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. »Nur ein paar Worte über den Fall Weldon, das ist alles. Wir wollen natürlich nicht, daß Sie zu spät zur Arbeit kommen.« Die Frau verzog das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse. »Das ist ja zum … schon wieder der Fall Weldon. Du lieber Himmel, ich kann diesen Namen einfach nicht mehr hören. Ich habe es satt!« »Das kann ich verstehen. Aber Sie waren eine so wichtige Zeugin, daß es wohl leider unvermeidlich sein wird –« Sie warf sich in Positur. »Was heißt hier wichtig! Ich war die Hauptzeugin.« »Richtig. Sagen Sie, Miß Tarrant – wo arbeiten Sie jetzt?« »Bei Farnalio in der Greek Street.« »Kamen Sie von Farnalio zurück? Ich meine in der Nacht, in der Sie Weldon sahen?« »Ja.« »Es war kurz nach Mitternacht?« 65
»Fragen Sie mich, oder sagen Sie es mir?« fuhr sie ihn an. Mike lächelte entschuldigend. »Ich frage Sie.« »Ja. Es war kurz nach zwölf Uhr. Ich sah ihn von dem Ruinengrundstück weglaufen, er kam direkt auf mich zu.« »Und Sie sind sicher, daß es Weldon war?« »Natürlich bin ich das. Denken Sie, ich hätte sonst im Zeugenstand die Hand gehoben und –« »Was hatte er an? Können Sie sich noch erinnern?« Die Frau zögerte einen Augenblick. »Nein, ich erinnere mich nicht. Hören Sie – ich habe diesen Quatsch schon ein dutzendmal erzählt. Ich sah Weldon, habe das der Polente gemeldet und ihn aus der Reihe der von ihr aufgestellten Männer sofort wiedererkannt. Was wollen Sie noch mehr?« Linda unterbrach unerwartet den Dialog. »Da müssen Sie aber ein sehr gutes Gedächtnis für Gesichter haben, es sei denn, Sie hätten ihn vorher schon einmal gesehen gehabt.« Die Augen der Frau verengten sich zu einem Schlitz, als wittere sie eine Falle. »Wie meinen Sie das?« fragte sie argwöhnisch. »Ich frage mich nur, ob Sie Weldon nicht schon einmal gesehen hatten, bevor er in jener Nacht mit Ihnen fast zusammenstieß.« »Nun hören Sie mal! Als ob ich mich mit dieser blasierten Bande abgeben würde! Jetzt ist aber Schluß! Ich muß um vier Uhr meinen Dienst antreten, also…« Mike nickte. »Wir wollen Sie auch nicht länger aufhalten. Nur noch eine letzte Frage: Als Weldon so plötzlich vor Ihnen auftauchte, hat er da etwas gesagt?« Wieder zögerte sie, und wieder spähten die verengten Augen nach einer möglichen Falle. Schließlich murmelte sie eine verneinende Antwort. »Sind Sie sicher?« bedrängte Mike die Frau. »Was heißt sicher? Wenn er etwas gesagt hat, so habe ich es nicht gehört.« 66
»Aber haben Sie vor Inspektor Rodgers nicht ausgesagt, er habe etwas gesagt, nur hätten Sie es nicht verstehen können?« »Ich … ich weiß nicht mehr genau, was ich der Polizei gesagt habe.« Mike lächelte ironisch. »Nein? Aber Sie haben doch sonst ein so ausgezeichnetes Gedächtnis, Miß Tarrant.« »Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Und auch Ihres werde ich nicht so schnell vergessen, darauf können Sie Gift nehmen«, fauchte sie ihn an. »Verstehe. Also, soweit Sie sich erinnern können, hat Weldon nichts gesagt. Er stieß Sie zur Seite –« Sie nickte widerwillig. »Aber ganz offensichtlich konnten Sie ihn dabei gut sehen?« »Natürlich, ich habe ihn doch identifiziert, oder nicht? Wie hätte ich das tun können, wenn ich ihn nicht gut gesehen hätte?« »Ja, wirklich. Wie hätten Sie?« erwiderte Mike nachdenklich. Nadia Tarrant setzte zum Sprechen an, besann sich dann aber und trat zur Seite, damit Mike und seine Frau zur Tür gehen konnten. »Nun aber 'raus hier! Ich muß mich jetzt sehr beeilen. Darf ich Ihnen einen Schlüssel mitgeben, falls Sie wieder einmal das Bedürfnis haben, mir einen Besuch abzustatten?« Als sie aus dem Hause traten und zum Wagen gingen, gab Linda einen leisen Pfiff von sich, der teils Erleichterung, teils Verlegenheit ausdrückte. »Nun, wohin hat uns dieser Besuch gebracht?« »Ich bin nicht ganz sicher«, erwiderte Mike. »Wahrscheinlich zwei Schritte vor und einen zurück. Im Augenblick verwirrt mich völlig die Geschichte mit Sanders. Was diese Xanthippe betrifft, so hat Weldon vollkommen recht – die würde ihre eigene Mutter verkaufen, wenn ihr jemand fünf Shilling dafür gäbe.« »Falls sie überhaupt ihre Mutter jemals gekannt hat«, bemerkte 67
Linda trocken, als sie in den Wagen stiegen. »Und was machen wir jetzt?« Mike fuhr langsam an und sagte halb abwesend: »Ich muß ein paar Telefongespräche führen. Der Kriminaldirektor hat mir versprochen, die Tarrant notfalls unter Druck zu setzen. Es ist möglich, daß dieser Fall schneller zu lösen ist, als wir dachten.« »Und wie?« »Indem wir herausfinden, wer sie bestochen hat, Harold Weldon bei der Gegenüberstellung zu identifizieren. Wahrscheinlich hat man ihr vorher Fotos von Weldon gezeigt.« Als Mike und Linda in ihrer Wohnung eintrafen, hatte sich ihr Optimismus zusehends verringert. Inspektor Rodgers wartete in der Halle, wo er flott mit Mrs. Potter plauderte. Als die Baxters kamen, versteifte sich seine Haltung. »Ich habe heute früh Weldon im Gefängnis besucht, Inspektor«, berichtete Mike. Rodgers nickte. »Mein Chef hat es mir erzählt. Was halten Sie von ihm, Mr. Baxter?« »Er ist nicht gerade ein Allerwelts-Liebling; aber ich bin jetzt davon überzeugt, daß er seine Verlobte nicht ermordet hat.« Der Inspektor zwang sich offensichtlich dazu, geduldig zuzuhören. »Eine interessante Ansicht, Mr. Baxter; doch werden Sie wohl kaum erwarten, daß ich ihr zustimme.« Baxter berichtete, wie er Weldon die Falle mit dem fehlenden Schuh gestellt hatte, und erläuterte dann seine Vermutung, warum Weldon es versäumt habe, sich ein besseres Alibi zu verschaffen. Rodgers lächelte skeptisch. »Und das ist alles, worauf Sie aufbauen können, Mr. Baxter?« »Durchaus nicht; es gibt noch einen Anhaltspunkt. Wir haben soeben die Zeugin besucht – die einzige Zeugin – die Weldon identifiziert hat. Ich würde es begrüßen, wenn Sie diese Frau mit harten Fragen etwas in die Zange nehmen könnten.« Mike machte eine er68
wartungsvolle Pause. Der Inspektor hob abwehrend die Hand. »Wen wollen Sie besucht haben?« »Nadia Tarrant natürlich. In ihrer Wohnung in Soho.« Der Inspektor schüttelte düster den Kopf. »Da muß Ihnen aber jemand einen bösen Streich gespielt haben. Ich komme gerade aus Surrey, wo es einen neuen Mord gegeben hat. Der Himmel mag wissen, wer Sie in Soho zum Narren gehalten hat; aber die Frau, die wir in einem Wäldchen wenige Meilen von Farnham tot aufgefunden haben, war ohne jeden Zweifel Nadia Tarrant. Ich selbst habe sie identifiziert.« »Aber das ist doch unmöglich!« rief Linda erregt. »Wir haben doch eben noch mit ihr gesprochen. Ein grobes Weibsbild Ende Vierzig, mit rotgefärbtem Haar. Nicht wahr, Mike?« Mike zerdrückte die nicht angezündete Zigarette zwischen den Fingern und schüttelte müde den Kopf. »Darling, der Inspektor hat die Mordkommission geleitet, die den Fall Weldon bearbeitete. Wenn er sagt, er hätte die Zeugin Tarrant ermordet im Walde bei Surrey gesehen, dann hat sie auch dort gelegen, und sie hat nicht mit uns in Soho gesprochen. Man hat uns 'reingelegt.« »Da sind Sie aber anscheinend einer bemerkenswert geschickten Mystifikation zum Opfer gefallen«, bemerkte Rodgers zum Trost. Mike zuckte mit den Schultern. »Ob geschickt oder nicht – wir beide hatten die Tarrant nie zuvor gesehen. Wir waren ja nicht bei der Gerichtsverhandlung.« »Das stimmt«, pflichtete der Inspektor bei. »Immerhin – nach der Beschreibung, die Mrs. Baxter eben gegeben hat, ist es nicht weiter überraschend, daß Sie die Person für echt gehalten haben.« Er stand auf. »Ich sollte jetzt wohl lieber schnell nach Soho fahren, um diese Betrügerin zu vernehmen. Kommen Sie mit, Mr. Baxter?« »Sehr gern, wenn ich Sie dabei nicht störe.« »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir bei der Identifizie69
rung dieser Frau helfen könnten. Übrigens: Beinahe hätte ich im Zusammenhang mit dem neuen Mord in Farnham vergessen, Ihnen zu sagen, daß derjenige, der die echte Nadia Tarrant ermordete, einen ihrer Schuhe mitgenommen hat.«
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I
nspektor Rodgers' Fahrer kannte alle Abkürzungen im Londoner Straßennetz, und so brauchten sie nur kurze Zeit für die Fahrt zum Soho Square. Trotzdem kamen sie zu spät. Das wurde ihnen sofort klar, als sie die Tür zur Wohnung öffneten. Der Vogel war ausgeflogen, hatte aber noch ausreichend Zeit gehabt, zuvor alles gründlich zu durchsuchen. Der Raum sah aus, als wären Bulldozer rücksichtslos kreuz und quer hindurchgefahren. »So dürfte es wohl nicht ausgesehen haben, als Sie vorhin hier waren?« bemerkte der Inspektor. »Unaufgeräumt und schmutzig, ja. Aber nicht so wüst wie jetzt«, bestätigte Mike. »Das bedeutet, die Frau hat nicht viel Zeit gehabt, nach dem zu suchen, was sie haben wollte, als Sie und Ihre Gattin sie hier überraschten.« »Glauben Sie, die Frau ist schon vor uns hier gewesen?« »Es scheint so, da vieles dafür spricht. Die Tür stand offen, wie Sie mir erzählten. Sie muß Sie die Treppe heraufkommen gehört haben. Es liegt ja kein Läufer auf den Stufen.« »Wir müssen unsere Ankunft auch ziemlich lautstark angekündigt haben«, stimmte Mike dieser Vermutung zu. 70
»Richtig! Die Frau hörte Sie kommen, unterbrach ihre Suchaktion, schlich in den Flur hinaus und versteckte sich gleich um die Ecke, aber noch in Hörweite. Aus Ihrer Unterhaltung dürfte sie sogar entnommen haben, daß Sie Nadia Tarrant gar nicht kannten. Sie muß es sehr eilig gehabt haben, die Durchsuchung des Zimmers fortsetzen zu können. Dabei entschloß sie sich, Sie abzuwimmeln, indem sie sich selbst als Nadia Tarrant ausgab. Den gefärbten Haaren und ihrer intimen Kenntnis des Falles Weldon nach zu urteilen, muß sie Nadia Tarrant sehr genau studiert haben. Sie hätte wohl jeden an der Nase herumgeführt, der nicht bei der Gerichtsverhandlung zugegen war, und wahrscheinlich auch einige, die dort waren.« Mike nickte, war jedoch ein wenig verlegen, weil er sich hatte düpieren lassen, wenn auch der Inspektor das entschuldbar fand. Während er sich in dem Tohuwabohu des Zimmers umsah, meinte er: »Wir sollten wohl besser nichts anrühren?« Der Inspektor nickte. »Richtig, vielleicht finden wir ein paar brauchbare Fingerabdrücke. Abgesehen davon, daß die Frau sich für eine andere Person ausgegeben hat, handelt es sich ja noch um einen einwandfreien Fall von Einbruch.« Rodgers ging zum Telefon hinüber und führte ein kurzes Gespräch mit seinem Büro. Mike zündete sich eine Zigarette an und hielt auch Rodgers sein Etui hin. Als dieser das Telefonat beendet hatte, sagte Mike: »Ich gäbe was dafür, wenn ich erfahren könnte, was sie hier gesucht hat.« Rodgers lächelte dünn. »Das dürfte doch kaum schwer zu erraten sein. Vielleicht einen Damenschuh.« Mike riß verwundert die Augen auf. »Wie kommen Sie darauf?« »Es scheint doch in den bisherigen Rahmen zu passen, meinen Sie nicht auch?« Nach kurzem Zögern entschied sich Mike dafür, den Inspektor über den Telefonanruf zu informieren, den Linda von Sanders entgegengenommen hatte. »Sanders wollte wissen, wann er endlich den dritten Schuh bekomme«, schloß er seinen Bericht. 71
»Das sagte er?« murmelte Rodgers und rieb sich mit der flachen Hand über seinen Bürstenhaarschnitt, was er stets tat, wenn er intensiv nachdachte. Trotz seiner kräftigen Statur sah er müde und abgespannt aus. Als Mike geendet hatte, sagte er: »Ich habe nun schon zwei Mordfälle zu bearbeiten, den einen von heute früh in Farnham, und dann die Messerstecherei, bei der es auch zu einem Mord geführt hat. Sie werden verstehen, daß ich mich nicht gerade nach weiterer Arbeit sehne und es auch nicht eilig habe, den Fall Weldon wieder aufzurollen. Ich gebe aber zu, daß es jetzt einige Dinge gibt, die mich nachdenklich machen. Die Sache mit Sanders zum Beispiel. Während der Verhandlung erschien er mir als ein ehrenwerter Mann. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher.« »Ist er verheiratet?« »Nein. Er scheint aber ziemlich viel für das schöne Geschlecht übrig zu haben, und umgekehrt die Frauen auch für ihn. Sanders ist im Krieg mehrfach ausgezeichnet worden. Von seinem Vater hat er ein schönes Vermögen geerbt.« »Womit verdient er denn seinen Lebensunterhalt?« »Er hat es anscheinend nicht nötig, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Soweit wir feststellen konnten, genießt er sein Leben, reist viel und betätigt sich als Amateurfotograf. Einige seiner Aufnahmen, die ich zu Gesicht bekommen habe, waren immerhin von beachtlicher Qualität.« Mike überlegte einen Augenblick. »Was glauben Sie wohl, was er meinte, als er den Namen Bannister erwähnte? Ist dieser Name jemals im Prozeß Weldon vorgekommen?« Rodgers schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht. Ich will mich aber noch mal erkundigen.« Beide Männer wandten den Kopf, als sie leise Schritte auf den Treppenstufen hörten. »Vielleicht einer von Ihren Leuten?« fragte Mike. Der Inspektor legte hastig den Finger an die Lippen und flüster72
te: »Kein Polizist schleicht so die Treppe 'rauf.« Die Schritte machten an der Biegung des Treppengeländers halt und bewegten sich dann zögernd auf die halboffene Tür zu. Mike und Rodgers verhielten sich ruhig und blieben außer Sicht. Dann klopfte es an die Tür. Eine junge männliche Stimme rief: »Nadia, carissima! Ich bin es, Luigi. Kann ich hineinkommen?« Rodgers bewegte sich blitzschnell zur Tür und riß sie ruckartig auf. Ein magerer blasser junger Mann mit vollem und gelocktem schwarzem Haar und südländischem Aussehen starrte sie einen Augenblick erschrocken an, drehte sich dann aber blitzschnell um und wollte die Flucht ergreifen. Rodgers sauste hinterher, faßte den Flüchtigen am Rockkragen und schob ihn vor sich her zurück in die Wohnung. »Warum hattest du es denn so eilig, mein Junge?« Der Bursche stammelte etwas in italienischer Sprache. »Du wolltest doch hier in die Wohnung. Wozu?« fragte der Inspektor eindringlich. »Ich wollte Nadia besuchen. Wo ist sie?« Er blickte verwirrt auf das Chaos im Zimmer. »Was ist geschehen? Ist Nadia etwas passiert?« »Nun setz dich mal, mein Sohn. Wir werden uns kurz unterhalten. Wie heißt du? Luigi ist doch sicher nur dein Vorname? Nun erzähl uns mal, wer du bist und was du tust.« Der junge Mann ließ sich aufs Bett fallen und warf scheue Blicke um sich. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, begann er mit leiser Stimme: »Ich heiße Luigi Saltoni und bin Kellner in Leonardos Restaurant, nicht weit von dem Lokal, in dem Nadia arbeitet. Meine Arbeitserlaubnis ist in Ordnung; ich kann sie Ihnen zeigen, wenn Sie sie sehen wollen.« Rodgers lächelte und zeigte sich ungewöhnlich sanft. »Das freut mich zu hören, Luigi. Und ich nehme an, Nadia Tarrant ist deine Freundin. Stimmt's? Wir hörten vorhin, wie du draußen ›carissima‹ 73
riefst. Du brauchst also keine Zeit damit zu verlieren, so zu tun, als wärt ihr nur flüchtig bekannt. Wann hast du sie zum letztenmal gesehen?« »Gestern abend. Wir aßen zusammen in meiner Wohnung. Ich wohne in der Meryl Street, nicht weit vom Euston-Bahnhof. Sagen Sie bitte: Ist etwas geschehen?« Nach und nach holte der Inspektor alle Informationen aus dem Italiener heraus, die er brauchte, und machte sich dabei Notizen. Als Kriminalbeamte von Scotland Yard eintrafen, um das Zimmer zu inspizieren, blickte er kaum auf, während er ihnen ein paar Anweisungen gab. Ohne anzudeuten, daß Nadia Tarrant ermordet worden war, testete Rodgers das Alibi des Italieners durch ein geschicktes Fragespiel und schien damit zufrieden zu sein. Dann erst sagte der Inspektor dem jungen Mann, daß Nadia tot sei, und beobachtete seine Reaktion. Luigi war wie vom Blitz getroffen und fing in Sekundenschnelle zu weinen an. Der Inspektor zündete sich eine Zigarette an, die Mike ihm angeboten hatte, und ließ dem Burschen etwas Zeit, sich zu beruhigen. Dann erklärte Saltoni mit leiser und brüchiger Stimme: »Ich habe schon lange gefürchtet, daß Nadia einmal etwas zustoßen würde. Sie war in irgendeine dunkle Sache verwickelt, über die sie mir aber nichts erzählen wollte. Ich glaube, jemand hat sie erpreßt.« Rodgers beugte sich vor und sah den Burschen scharf an. »Das ist ja sehr interessant. Hast du sie etwa erpreßt? Antworte!« Der Italiener starrte ihn entgeistert an. »Ich? Mamma mia, nein! Mein Ehrenwort, nein!« »Hat sie dir jemals Geld für … sagen wir für bestimmte Dienste gegeben?« Saltoni sah den Inspektor verwirrt und ängstlich an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ja, neulich hat sie mir zehn Pfund geliehen, als ich Schulden gemacht hatte. Deshalb bin ich ja heute hierhergekommen. Ich wollte ihr das Geld zurückgeben.« 74
Der Inspektor streckte sofort die Hand aus. »Zeig mal deine Brieftasche.« Saltoni zückte sie, ohne zu überlegen. In der Brieftasche befanden sich dreizehn Pfund, davon lagen zehn gesondert. Rodgers nickte und gab sie ihm zurück. An den Inspektor gewandt, fragte Mike: »Darf ich eine Frage stellen?« Rodgers stimmte zu. »Luigi, hast du jemals von einem Mann namens Bannister gehört?« Der Italiener überlegte kurz und verneinte die Frage. Nun setzte der Inspektor das Verhör fort. »Erzähl uns jetzt, wie du Nadia Tarrant kennengelernt hast.« »Das war an einem freien Nachmittag. Ich erinnere mich noch genau, weil es gerade an meinem Geburtstag war. Ich war allein und fühlte mich sehr verlassen, hatte kein Geld, keine Freunde. Als ich so durch die Straßen schlenderte, sah ich eine Bücherei und dachte mir, vielleicht haben die auch Bücher in italienischer Sprache.« »Welche Bücherei war das?« »Die in der Tottenham Court Road. Dort traf ich dann Nadia. Sie sprach etwas Italienisch, weil sie längere Zeit mit einem Zirkus in Italien gewesen war. Wir kamen ins Gespräch, und sie lud mich hier in ihre Wohnung ein. Später wurden wir dann … sehr gute Freunde.« »Na gut.« Der Inspektor überlegte einen Augenblick und klappte dann sein Notizbuch zu. »Für heute soll es genug sein. Gib dem Sergeanten hier deine Adresse an und melde dich in meinem Büro. Der Sergeant wird dir sagen, wo ich zu erreichen bin.« Saltoni schluckte erschrocken. »Im Polizeipräsidium? Warum? Ich habe Ihnen doch alles erzählt.« »Mag sein. Morgen früh gehen wir alles noch einmal durch und dann mußt du deine Aussage unterschreiben. Jetzt habe ich keine Zeit mehr.« Saltoni war sehr aufgeregt. Der Gedanke an die Vorladung in das 75
Polizeipräsidium beunruhigte ihn sehr. »Inspektor, Sie irren sich. Ich war … ich stand nicht in engen Beziehungen zu Nadia. Sie war sehr nett zu mir, aber wir haben uns nicht oft gesehen. Nicht so oft, wie ich eigentlich wollte. Ich meine, in letzter Zeit ist sie mir immer aus dem Wege gegangen. Ich hatte Angst um Nadia, sie war in eine böse Sache verwickelt.« »Worin war sie verwickelt?« unterbrach ihn Mike scharf. Er sah, daß der Inspektor wegen seiner Frage die Stirn runzelte, doch glaubte er die günstige Gelegenheit nutzen zu müssen, da es unwahrscheinlich war, daß die Polizei ihn auch während der amtlichen Vernehmung des Burschen zugegen sein lassen würde. Nadia Tarrant, die vitale und zweifellos fragwürdige Zeugin, die Harold Weldon so sehr geschadet hatte, war tot, und so war eine aussichtsreiche Möglichkeit für Nachforschungen plötzlich nicht mehr gegeben. Saltoni stellte also das einzige Bindeglied zu ihr dar. Mike mußte das mögliche Mißfallen des Inspektors in Kauf nehmen. »Woher weißt du, daß sie in eine böse Sache verwickelt war?« fragte er. Saltoni zuckte mit den Schultern und kniff verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Das ist schwer zu sagen. Es gab Zeiten, da verschwand sie einfach, tage- oder wochenlang. Wenn sie dann zurückkam, wollte sie niemals sagen, wo sie gewesen war.« »Hast du mal etwas vom Fall Weldon gehört?« Saltoni nickte. »Du weißt, daß Miß Tarrant eine wichtige Zeugin in dem Prozeß war?« »Ja.« »Und du weißt, daß Weldon zum Tode verurteilt wurde?« »Das stand in den Zeitungen.« »Nun höre mal gut zu, Luigi. Ich habe gar nichts gegen dich. Ich versuche nur, Harold Weldon zu helfen, weil ich ihn für unschuldig halte und er nicht für etwas gehängt werden darf, was er nicht 76
getan hat. Hat Nadia mit dir jemals über Weldon gesprochen?« »Nein. Aber ich habe sie danach gefragt, als die Gerichtsverhandlung zu Ende war. Ich hatte nämlich Angst.« »Angst? Wovor?« Saltoni blickte ausweichend zur Seite. »Weshalb?« fragte Mike beharrlich. »Weshalb hattest du Angst? Los, nun sag's schon.« Saltoni zögerte noch etwas, aber dann platzte es aus ihm heraus: »Es ist nur … weil sie in der Nacht bei mir war, als sie angeblich Harold Weldon gesehen haben will und beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre.« »…Nur, sagt der Bursche. Haben Sie das gehört, Inspektor!« Mike wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Rodgers, der sich wieder gesetzt hatte. »Wo war sie denn damals?« fragte Mike. Saltoni sprach die nächsten Worte wie ein bockiger Schuljunge, der nach längerem Drängen endlich mit der Wahrheit herausrückt. »Sie kam vom Café direkt zu mir… Sie ist erst nach ein Uhr nachts gegangen.« Er machte eine Pause und fuhr auf Drängen von Mike fort: »Als ich ihr das später vorhielt, sagte sie, ich müsse mich irren, es sei halb zwölf Uhr gewesen… Aber ich habe mich nicht geirrt. Ich habe nämlich auf die Uhr gesehen; es war später, viel später.« Mike wandte sich an den Inspektor. »Hat nicht Nadia Tarrant – ich meine jetzt die richtige, also nicht die Betrügerin – in einem Restaurant in der Greek Street gearbeitet?« »Das hat sie.« »Aber entweder Sie oder Kriminaldirektor Goldway haben mir gesagt, sie habe in der Mordnacht das Restaurant zehn Minuten vor ihrer Begegnung mit Weldon verlassen; genauer gesagt, so gegen Mitternacht.« Rodgers nickte. »Sie hat das Restaurant etwa um diese Zeit verlassen. Ich habe das während der Untersuchung selbstverständlich nachgeprüft.« 77
Saltoni unterbrach ihn und wandte sich an Mike. »Aber sie ist nicht direkt nach Hause gegangen. Sie kam zu mir.« »Sie kam also gleich zu dir in die Wohnung in der Nähe vom Euston-Bahnhof? Da kann sie doch Weldon überhaupt nicht getroffen haben. Und du sagst, sie hätte dich erst um ein Uhr früh verlassen, Saltoni?« »Ja.« »Mit anderen Worten: Nadia Tarrant hat Weldon in der fraglichen Nacht überhaupt nicht gesehen, nicht wahr?« Saltoni rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, nickte aber zustimmend. Mike sagte zu Rodgers: »Ich glaube, Saltoni sollte eine schriftliche Aussage machen, Inspektor. Je eher, desto besser. Das kann Weldon das Leben retten.« »Ich muß zugeben, daß dies eine ernste Angelegenheit ist«, erwiderte Rodgers. »Ich glaube auch nicht, daß wir warten können, bis…« Er wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Einer der Beamten nahm das Gespräch entgegen, lauschte kurz und reichte dann Rodgers den Hörer. »Es ist für Sie, Sir. Ich hatte Bescheid hinterlassen, wo Sie zu erreichen sind.« Rodgers nahm den Hörer. Es folgte eine einsilbige Unterhaltung, der nichts zu entnehmen war. Als Mike sich abwandte, merkte er, daß Saltoni seine Aufmerksamkeit erwecken wollte. Er bemühte sich, ihm mit den Augen eine Botschaft zu übermitteln, ohne ein Wort zu sagen, offensichtlich hatte er Angst vor den anwesenden Polizeibeamten, und es war klar, daß Saltoni Mike etwas unter vier Augen mitteilen wollte. Mike nickte leicht, und bald nachdem Rodgers aufgelegt hatte, verabschiedete er sich von dem Inspektor und verließ das Haus. Auf der Straße winkte Mike freundschaftlich dem Fahrer von Rodgers zu und ging dann mit energischen Schritten in Richtung 78
Charing Cross Road. Als er sich einwandfrei außer Sicht glaubte, bog er in einen Torweg ein und wartete. Ein paar Minuten später fuhr der Polizeiwagen vorbei; der Inspektor saß allein darin. Vorsichtig ging Mike zum Hause von Nadia Tarrant zurück. Saltoni lungerte an einer Straßenecke herum. Da die Möglichkeit bestand, daß der Italiener überwacht wurde, rief Mike ein vorbeifahrendes Taxi an und gab dem Fahrer Weisung, langsam an der Stelle vorbeizufahren, an der Saltoni stand. Als das Taxi mit dem Burschen auf gleicher Höhe war, rief Mike, der das Seitenfenster heruntergelassen hatte, ihn an. Saltoni glitt schnell und geschmeidig wie eine Katze auf den rückwärtigen Sitz. »Du wolltest mich sprechen?« fragte Mike, während das Taxi schneller davonfuhr. Saltoni nickte eifrig. »Ja, ich habe vorhin gehört, daß Sie nicht von der Polizei sind. Der Sergeant sagte mir, Sie schreiben für Zeitungen. Ist das wahr?« »Ja. Aber wenn du etwas auf dem Gewissen hast, solltest du lieber zur Polizei gehen. Oder hoffst du, mir ein paar Informationen verkaufen zu können?« »Verkaufen?« Saltoni blickte verdutzt und schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich bestimmt nicht.« »Was willst du denn?« »Ich möchte nur wissen … was geschieht morgen auf dem Polizeipräsidium? Was werden sie mir tun? Ich habe Angst!« »Du brauchst nur die Wahrheit zu sagen, Saltoni; dann hast du nichts zu befürchten. Man wird dich nicht schlagen, um auf ungesetzliche Weise irgendein Geständnis aus dir herauszuholen, falls du das fürchtest.« »Aber vergessen Sie nicht, Sir … ich bin Ausländer. Sie wissen ja gar nicht, wie das ist, wenn man auf jeden einzelnen Schritt genau achtgeben muß. Ich kann es mir nicht leisten, in irgend etwas verwickelt zu werden.« 79
»Verwickelt? Das bist du doch schon längst«, entgegnete Mike scharf. »Mamma mia, si! Aber … glauben Sie, Mr. Baxter, ich habe mich in dieser Sache richtig verhalten? Hätte ich schon damals, als ich wußte, daß Nadia nicht die Wahrheit sagte, zur Polizei gehen sollen?« »Warum hast du es nicht getan?« »Nadia warnte mich. Sie wollte es dann dem Arbeitsministerium melden, und ich hätte das Land verlassen müssen, sagte sie.« »Unsinn! Hättest du bei der Polizei die Wahrheit gesagt, wäre die auf deiner Seite gewesen, und dir hätte nichts passieren können. Jetzt mußt du eine schriftliche Aussage machen, und es ist noch sehr zweifelhaft, ob man dir glauben wird.« »Das weiß ich. Deshalb habe ich ja auch Angst. Sie müssen mir helfen.« »Was erwartest du denn von mir?« »Der Inspektor ist doch ein Freund von Ihnen, und Sie haben sicher noch andere wichtige Freunde bei der Polizei. Wenn Sie denen sagen, daß Sie mir glauben und daß Sie bereit sind, für mich zu … wie sagt man … zu bürgen, daß ich die Wahrheit sage, dann brauche ich vielleicht nicht…« Saltonis Stimme sackte plötzlich ab und endete in konsterniertem Schweigen. Mike sah ihn durchdringend an, um sich eine Meinung zu bilden. Dann sagte er: »Saltoni – ich glaube, du weißt viel mehr, als du zugeben willst.« »Bestimmt nicht! Das schwöre ich. Bitte, Mr. Baxter, Sie…« »Worauf hatte Nadia Tarrant es denn abgesehen? Warum sagte sie aus, sie hätte Weldon in der Mordnacht gesehen? Wer hat sie bestochen?« »Ich weiß es nicht, ehrlich! Ich weiß es nicht!« »Du mußt doch eine Ahnung haben, irgendeinen Verdacht. Sie war doch schließlich deine Geliebte oder nicht? Denke doch ein80
mal nach. Wann war es, als du dir zum ersten Male Sorgen um sie machtest?« Nach kurzem Überlegen antwortete Saltoni: »Ich wollte sie eines Abends treffen. Aber sie sagte, es gehe nicht. Ihre Schwester sei krank, sagte sie. Sie müsse nach Aldershot fahren und sie besuchen. Vorher hatte sie noch nie von einer Schwester gesprochen, deshalb glaubte ich ihr nicht. Ich dachte mir, sie hätte etwas mit einem anderen Mann angefangen, war eifersüchtig und beschloß, ihr nachzugehen. Zweimal war ich aber nicht schlau genug; beim drittenmal hat es dann geklappt, und ich habe sie nicht aus den Augen gelassen.« »Und sie merkte nicht, daß du ihr nachgegangen bist?« »Nein, ich war sehr vorsichtig. Sie nahm die U-Bahn nach Hampstead. Dort ging sie in den Nachtklub La Pergola. Ich war dann sehr beschämt, weil sie sich nicht mit einem Mann traf, sondern mit einer Frau, mit der sie sich schon mehrmals bei Farnalio, wo sie arbeitete, unterhalten hatte. Auch da war etwas im Gange, was andere nicht wissen sollten. Jedesmal, wenn ich mich ihnen im Farnalio näherte, hörten sie mit der Unterhaltung auf. Das machte mich mißtrauisch.« »Und weiter?« »Als ich Nadia danach fragte, wurde sie wütend und schrie mich an, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« »Was für ein Lokal ist denn La Pergola? Vielleicht wollte deine Freundin sich dort nur um eine Stellung bewerben?« »Nein, nein! Dort hätte Nadia niemals arbeiten können. Das ist ein sehr vornehmes und teures Lokal. Sie war doch nur eine ungelernte Caféhauskellnerin.« »Glaubst du, sie hatte sich mit dieser anderen Frau dort verabredet?« »Ganz bestimmt. Die andere hat dort auf Nadia gewartet. Ich habe dem Portier ein Trinkgeld gegeben, und er erzählte mir, die 81
beiden hätten sich dort schon einmal getroffen.« »Schade, daß du den Namen der anderen Frau nicht weißt.« Saltoni warf ihm einen aufgeregten Blick zu. »Aber den kenne ich ja. Der Portier hat ihn mir genannt. Sie heißt Irene Long und arbeitet in einem vornehmen Geschäft in der Bond Street.« Mike setzte sich mit einem Ruck aufrecht. »Irene Long von der Firma Conway und Racy?« »Ja, das stimmt.« »Wie sieht sie aus? Beschreibe sie mir.« »Sie ist groß und schlank, etwa vierzig Jahre alt, hat blondes Haar, aber nicht echtes, glaube ich. Sie hat immer viel Lippenstift und Puder aufgetragen.« »Das ist sie, das stimmt.« »Kennen Sie die Frau, Mr. Baxter?« »Nicht so gut, wie ich es wünschte«, antwortete Mike. »Aber das läßt sich ja nachholen.«
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A
ls Mike nach Hause kam, empfing ihn seine Frau mit schelmischem Gesichtsausdruck. »Wie froh ich bin, daß du nicht ein paar Minuten früher hereingeplatzt bist. Ich hatte ein so reizendes Tête-à-tête mit Mr. Sanders.« Mike goß sich einen Drink ein, nach dem es ihn schon sehr verlangt hatte. »Wie nett für dich. Was wollte er denn? Hat er dich etwa als Nachfolgerin für Irene Long auserkoren?« Linda lachte, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Nein, das 82
nicht gerade. Doch schien er herausfinden zu wollen, ob ich ihn mit ihr im Restaurant gesehen hatte.« »Und hast du es ihm gesagt?« »Ja. Es hat ihn keineswegs umgeworfen. Er murmelte etwas in der Art von ›nur gute Freunde‹ und so weiter.« Mike schürzte die Lippen. »Ganz so harmlos dürfte es wohl nicht sein. Ich habe heute nämlich allerlei Interessantes über Irene Long erfahren.« »Laß mich doch erst einmal zu Ende berichten, Liebling. Ich bin nämlich ziemlich sicher, daß er eigentlich gekommen war, um herauszufinden, ob ich in der Wohnung der Tarrant seine Stimme am Telefon erkannt hatte. Er erzählte eine phantasievolle Geschichte von jemandem, der angeblich seine Stimme am Telefon seiner eigenen Wohnung nachgeahmt hätte. Bei ihm sei eingebrochen worden, und der Einbrecher sei dadurch in die Wohnung gelangt, daß er vorher die Hausverwalterin angerufen, sich mit verstellter Stimme als Sanders ausgegeben und sie aufgefordert habe, den Wohnungsschlüssel unter die Fußmatte zu legen.« »Das klingt recht dürftig«, bemerkte Mike. »Will er uns mit solchen Härchen etwa glauben machen, irgendein brillanter Mime sei unterwegs, der Gott und die Welt als Mr. Sanders anruft, und dazu ausgerechnet auch noch die Bleibe von Nadia Tarrant? Den Bluff könnten wir schnell platzen lassen, wenn wir nachprüfen, ob wirklich bei ihm eingebrochen wurde.« »Ich kann mir nicht denken, daß er dem freudig zustimmen würde.« »Das glaube ich auch nicht, doch ließe sich das unauffälliger machen. Mir scheint seine fade Ausrede ein ziemlich überzeugender Beweis dafür, daß es wirklich Sanders war, der bei der Tarrant anrief, daß er deine Stimme erkannt hat und jetzt deswegen besorgt ist.« »Es tut mir leid, mein Schatz; ich tat mein Bestes, um meine 83
Stimme zu verstellen, doch war ja nicht viel Zeit zum Üben.« »Macht nichts. Laß dir lieber erzählen, was ich über die verstorbene Nadia Tarrant und ihr Liebesleben in Erfahrung gebracht habe.« »Und was ist mit Irene Long?« »Nicht so hastig, Liebling. Es gibt so viel Neuigkeiten; nur schade, daß Harold Weldon uns dabei nicht zuhören kann.« Nach seinem Bericht über das Auftauchen von Saltoni und das, was Mike und der Inspektor aus dem Burschen herausgeholt hatten, funkelten Lindas Augen vor Aufregung. »Darling, das ist ja eine Wucht! Das entzieht doch der Anklage gegen Weldon das ganze Fundament. Die einzige Zeugin eine Betrügerin!« Mike wehrte mit der Hand ab. »Nicht so voreilig, Linda. Selbst wenn bewiesen werden kann, daß Saltoni die Wahrheit gesagt und Nadia Tarrant zur fraglichen Zeit wirklich sein Bett geteilt hat – und das wird reichlich schwierig sein, da sie tot ist –, gibt es noch viele andere komplizierte Probleme, die gelöst werden müssen, bevor die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt werden kann. Ich neige weiterhin zu dem, was ich heute früh zu Weldon gesagt habe: Der beste Beweis einer Unschuld ist, den wirklichen Mörder zu finden.« Linda seufzte tief. »Mit anderen Worten – eine volle Klärung des Falles à la Baxter, bis zum bitteren Ende.« »Bis zum bitteren Ende, Liebling. Es tut mir leid, und was man sonst so sagt, aber dieser Fall hat mich nun einmal gepackt. Ich muß und werde ihn lösen.« »Also dann – von mir aus! Wenn du so denkst und fühlst, Mike, lohnt es sich wohl kaum, mit dir zu streiten. Was ist denn nun mit Irene Long?« »Saltoni war der Liebhaber der Tarrant. Er hat mir einiges über sie erzählt. Es sieht ganz so aus, als hätten engere Beziehungen zwischen der toten Nadia Tarrant, die ja alles andere als ein Unschulds84
engel war, und unserer supereleganten Miß Long bestanden.« »Unmöglich!« »Das dachte ich zunächst auch. Aber hör bitte mal zu.« Mike berichtete über seine aufschlußreiche Unterhaltung mit Saltoni im Taxi, die Linda in Erstaunen versetzte, und ging dann zum Bücherregal, wo die dicken Bände des Londoner Fernsprechverzeichnisses standen. Schnell hatte er gefunden, was er suchte, und schrieb sich die Adresse auf einen Zettel. Er sah auf die Uhr. »Miß Long wohnt draußen in Chelsea. Wir wollen schnell etwas essen und sie dann in ihrem Bau in die Enge treiben. Einer privaten Unterhaltung mit dieser Dame am Arbeitsplatz gebe ich nicht viel Chancen. Da kann sie sich schnell mal in einer Umkleidekabine verstecken, bis wir fort sind. Das beste ist, wir nehmen dein neues Kleid zum Vorwand und besuchen sie in ihrer Privatwohnung. Behaupte einfach, an dem Kleid sei etwas nicht in Ordnung und du müßtest ihren Rat haben. Du hast ja immer noch die Ausrede, du hättest vor Ladenschluß nicht mehr ins Geschäft kommen können.« »Das klingt aber nicht sehr überzeugend. Meinst du, sie fällt darauf herein?« »Das braucht sie auch nicht. Die Hauptsache ist, ich kann meinen Fuß zwischen die Tür stellen, sobald sie aufgemacht hat.« Kurz vor acht Uhr abends fuhren die Baxters nach Chelsea, wo sie an Hand eines Stadtplanes den großen Wohnblock ausmachten, in dem Miß Long wohnte. Die Straße war schmal, und sie fanden nur mit Mühe einen Parkplatz. Mike hatte ihn gerade etwa hundert Meter von dem Hause, zu dem sie wollten, entdeckt, als Linda ihn erregt in die Seite stieß. »Mike, sieh dort! Ist das da drüben nicht Mr. Staines? Er geht eben um die Ecke.« Sie deutete auf eine leicht hinkende Gestalt. »Wahrhaftig, er scheint es zu sein!« sagte Mike erstaunt. »Wohnt er denn in dieser Gegend?« 85
»Nein. Wenn er in London ist, wohnt er draußen in Bayswater. Die Firma in Guildford hat mir seine Privatanschrift und Telefonnummer gegeben.« »Meinst du, er kam aus dem Haus, in dem die Long wohnt? Ob er sie etwa besucht hat?« Mike peilte die Lage der verschiedenen Gebäude und die Seitenstraße, in die Staines eingebogen war. »Es sieht verdammt danach aus. Wo soll er sonst gewesen sein? Es ist doch eine Sackgasse.« Während beide noch Staines nachblickten, sagte Linda: »Was ich dich schon lange fragen wollte, Mike: Glaubst du die Geschichte, die Staines über Peggy Bedford und den Besuch im ›Lord Fairfax‹ erzählte?« »Überzeugend war sie bestimmt nicht. Worauf willst du hinaus?« »Es fiel mir nur ein, daß die Kneipe etwa auf halbem Wege zwischen Guildford und Farnham liegt.« »Ja, das stimmt.« »Und die Firma, bei der Staines arbeitet, hat ihren Hauptsitz in Guildford?« »Auch das stimmt.« »Und wo hat man laut Rodgers die Leiche von Nadia Tarrant gefunden?« »In Farnham. Nicht schlecht, kluge Linda, gar nicht so schlecht.« »War dir das auch schon aufgefallen?« Mike klopfte ihr lächelnd auf die Schulter. »Der Gedanke ist mir wirklich schon gekommen. Nun sei nicht gleich so niedergeschlagen. Liebes; mit deinen Theorien liegst du doch meist richtig. Ich stimme mit dir überein, daß die Umstände nicht gerade für Herrn Staines zu sprechen scheinen, der Miß Long offenbar Besuche abstattet. Und sie selbst scheint eine Menge Leute zu kennen, die wir im Zusammenhang mit dem Fall Weldon selbst gern besser kennen möchten, beispielsweise Saltoni, Sanders und Nadia Tarrant.« Er öffnete die Wagentür und stieg aus: »Nimm dein Paket und 86
laß uns gehen.« Linda griff nach dem großen, eleganten Karton, in dem Conway und Racy das Kleid geliefert hatten, und dann überquerten sie die Straße zu dem Haus, in dem Miß Long wohnte. Nach dem Läuten brauchten sie nicht lange zu warten, bis Miß Long ihnen öffnete. Für einen Augenblick machte sie ein verdutztes Gesicht, fand dann aber sehr schnell wieder zu ihrer Maske beruflicher Aufmerksamkeit zurück, die sie den ganzen Tag über im Geschäft trug. Etwas lahm betete Linda her, was sie sich während der Fahrt als Entschuldigung ausgedacht hatte. »Verstehen Sie bitte, Miß Long – wir fahren in aller Kürze ins Ausland und die Zeit drängt. Sonst wäre es mir nicht im Traum eingefallen, Sie außerhalb der Geschäftszeit zu belästigen.« »Aber ich bitte Sie, Mrs. Baxter. Das macht an sich gar nichts. Ich stehe Ihnen selbstverständlich jederzeit gern zu Diensten. Es tut mir ja furchtbar leid, daß das Kleid nicht richtig sitzt; aber wie Sie sehen, ziehe ich mich gerade für ein Abendessen um, zu dem ich eingeladen bin, und ich bin schon recht spät dran. Zu jeder anderen Zeit hätte ich Ihnen sofort zur Verfügung gestanden. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich morgen früh sofort nach Öffnung unseres Salons um diese Angelegenheit kümmern werde.« Linda wußte nicht, wie sie reagieren sollte. »Das ist wirklich nett von Ihnen. Ich verstehe natürlich … ich … es tut mir leid, daß…« Sie brach mitten im Satz ab, in der Hoffnung, daß Mike ihr endlich zu Hilfe kommen werde. Miß Long schenkte Mike ihr glanzvolles Lächeln. »Ich kann die Sorge Ihrer Gattin voll und ganz verstehen, Mr. Baxter. Wir Frauen regen uns in punkto Kleidung oft über die belanglosesten Dinge auf. Wenn ein Rock nur um drei Millimeter falsch sitzt, fühlen wir uns nicht mehr wohl in ihm. Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht mehr hereinbitte.« 87
Als sie gerade die Tür schließen wollte, sprach Mike sie mit sanfter Stimme an: »Mir tut es auch leid, da ich gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit mit Ihnen einmal privat sprechen zu können. Über Nadia Tarrant übrigens.« Für einen kurzen Augenblick flackerte ein Schimmer von Furcht in ihren Augen; dann zeigte sie wieder ihr glattes, berufsmäßiges Lächeln. »Über wen bitte?« »Über Nadia Tarrant. Die Frau, die Harold Weldon im Mordfall Lucy Staines identifizierte. Sie erinnern sich an diesen Fall?« »Aber natürlich, Mr. Baxter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, weshalb Sie mit mir über diese Frau sprechen wollen.« »War sie nicht Ihre Freundin?« »Freundin? Du lieber Himmel, nein!« »Dann sagen wir lieber Bekannte. Vielleicht eine Geschäftsbekanntschaft?« »Ich fürchte, man hat Sie schlecht informiert, Mr. Baxter«, antwortete sie kühl. »Ich habe diese Frau nie in meinem Leben gesehen.« Ihre Tonart wurde zusehends zuversichtlicher, was im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Reaktion stand. Mike überlegte daher schnell, ob er noch weiter beim Thema bleiben sollte. Es schien nicht viel dabei herauszuspringen, solange Miß Long ihn und seine Frau zwischen Tür und Angel abfertigte. »Schade«, gestand er. »Ich hatte gehofft, Sie würden in der Lage sein, mir bei meinen Nachforschungen zu helfen.« »Das tut mir leid«, antwortete sie steif. Als sie sich zum Gehen wandte, drehte Linda sich noch einmal um und sagte ganz beiläufig: »Ah, Miß Long, Sie könnten mir helfen, eine Wette zu gewinnen. Mein Mann und ich haben vorhin gerade eine Wette abgeschlossen. Er schwört Stein und Bein, er hätte eben Mr. Staines aus diesem Haus kommen sehen. Ich sagte ihm, er leide an Halluzinationen. Wer hat nun recht?« 88
»Mr. Staines?« fragte sie mit einer Stimme, die zugleich scharf und unsicher klang. »Meinen Sie Lucys Vater?« »Ja.« »Der war bestimmt nicht hier. Ich bin eben erst nach Haus gekommen, und vor Ihnen hat niemand geschellt.« »Siehst du, Liebling«, rief Linda triumphierend. »Wie oft habe ich dir gesagt, du solltest endlich mal zum Optiker gehen.« »Das werde ich wohl auch tun müssen«, erwiderte Mike, der sich ihrem Ton anpaßte. »Komisch – ich hätte geschworen, ihn hier gesehen zu haben.« Miß Long, die inzwischen wieder zu ihrer Haltung zurückgefunden hatte, lächelte unbestimmt. »Allmählich fange ich auch an zu glauben, daß Sie sich Sachen einfach einreden, Mr. Baxter. Jetzt muß ich mich aber beeilen! Und morgen früh, Mrs. Baxter, stehe ich Ihnen dann zur Verfügung. Guten Abend.« Auf dem Wege zum Wagen erklärte Linda ärgerlich: »Das war aber das letzte Mal, daß ich mich für so etwas hergebe, Mike. Ich kam mir vor wie ein Steuereinzieher, dem man eine falsche Adresse angegeben hat.« »Ah, was bist du empfindlich, Liebling! Du mußt dir eine dickere Haut zulegen. Miß Long war ja nicht gerade außer sich vor Freude, uns zu sehen, meinst du nicht auch? Und was für eine unglaublich schlechte Lügnerin sie ist!« »Ich bin nicht sicher, daß sie gelogen hat.« »Wegen ihrer Bekanntschaft mit Miß Tarrant?« fragte Mike überrascht. »Da hat sie bestimmt gelogen. Wenn du ihr mit einer Hutschachtel auf den Kopf geschlagen hättest – erschreckter hätte sie kaum aussehen können. Ich glaube aber, sie sagte die Wahrheit, als sie behauptete, Mr. Staines nicht gesehen zu haben.« »Da magst du recht haben. Obwohl dieser Gedanke sie ebenfalls beunruhigt zu haben scheint. Vielleicht mag sie es nicht, wenn er 89
sich aus irgendeinem Grunde in ihrer Nachbarschaft herumtreibt.« Sie waren wieder am Wagen angelangt. »Bist du ganz sicher, daß es Staines war?« fragte Mike nochmals. »Ja. Du nicht?« »Doch, ziemlich. Ein weiteres Rätsel, das zu lösen ist. Das Dreieck hat jetzt vier Seiten.« »Was geometrisch unmöglich ist.« »Der Abend begann heute mit einem einfachen Dreieck, bestehend aus Victor Sanders, Irene Long und Nadia Tarrant. Alle drei sind miteinander durch eine ziemlich starke, wenn auch in ihrer Bedeutung noch nicht erkannte Linie verbunden. Und jetzt bahnt sich anscheinend auch noch Hector Staines mit aller Gewalt seinen Weg in dieses Dreieck. Das verstehe ich nicht.« »Ich sehe überhaupt keine geometrische Figur mehr, wenn du beispielsweise eine weitere Linie von Hector Staines zu seiner ehemaligen Freundin Peggy Bedford ziehst.« »Darling, deine Redensarten schaffen nur Unruhe und Depressionen; meine Stimmung ist ohnehin schon tief genug gesunken. Vielleicht gelingt Rodgers ein Durchbruch, wenn er morgen Saltoni vernimmt. Ich habe so eine Ahnung, daß Saltoni noch längst nicht alles gebeichtet hat.« Auch jemand anders schien diese Ahnung gehabt zu haben. Kaum waren die Baxters zu Hause, klingelte das Telefon. Linda hob ab, wurde leichenblaß und rief erregt nach Mike, der im Nebenzimmer einen Drink mixte. »Mike, schnell! Es ist eine furchtbare Stimme. ›Mr. Baxter, helfen Sie mir…‹ und dann folgte ein entsetzliches Stöhnen.« Mike kam gelaufen und riß ihr den Hörer aus der Hand. »Hallo? Hier Mike Baxter… Wer ist dort … Luigi? … Was ist geschehen? … Etwas lauter! Ich kann dich nicht verstehen… Was? … Man hat dich zusammengeschlagen? … Wo steckst du? Von wo aus telefonierst du? … Lauter, Mann! Euston sagst du? … Am Bahnhof? 90
… Ja, aber von welcher Telefonzelle aus? …« Mike fluchte und legte auf. »Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden. Saltoni … armer Teufel.« »Du meinst, man hat ihn zusammengeschlagen?« »Es klang ganz danach. Er befindet sich in einer Telefonzelle nahe dem Euston-Bahnhof… Du liebe Güte, da gibt es bestimmt ein paar Dutzend. Linda! Du bleibst am besten hier. Rufe Rodgers an und melde, was geschehen ist. Wenn dieser Bursche jetzt Angst bekommt und wieder aussteigt, besteht keine Hoffnung mehr, Weldon zu retten.« Er stürzte aus dem Zimmer. »Paß auf dich auf! Sei vorsichtig!« rief Linda ihm aufgeregt nach. Sie hörte nur noch das Zuschlagen der Tür und kurz darauf das Aufheulen des starken Jaguarmotors. Linda rief bei Scotland Yard an und fragte nach Rodgers. Nach einigem Hin und Her wurde sie schließlich mit ihm verbunden und berichtete ihm, was geschehen war. Rodgers fluchte kurz, aber heftig. »Danke. Ich nehme mich sofort der Sache an. Danke für den Anruf, Mrs. Baxter. Ein Krankenwagen wird sofort abfahren.« Linda legte auf und sah nach der Uhr. Es war beinahe zehn Uhr abends. Sie ließ sich von Mrs. Potter ein Rührei machen und stocherte nervös im Essen herum, als es ihr gebracht wurde. Voller Ungeduld wartete sie auf ein Lebenszeichen von Mike. Endlich, ihr schien es, als sei eine Ewigkeit vergangen, klingelte das Telefon. Die Leitung war so gestört, daß sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Linda? Hier Mike. Es hat sich noch etwas getan. Zieh dich bitte sofort um – das schwarze Kleid. Dann nimm dir ein Taxi. Ich erwarte dich am Fahrkartenschalter vom Euston-Bahnhof. Beeile dich!« »Kannst du mich denn nicht von hier abholen, Mike?« »Das geht leider nicht. Ich habe alle Hände voll zu tun. Nimm 91
das nächste Taxi.« »Also gut. Weshalb soll ich mich umziehen? Gehen wir aus?« »Ja. Ich erzähle dir alles später. Und nun beeile dich!« »Ich fliege ja schon. Wie geht es Saltoni?« »Was sagtest du?« »Ich fragte, wie geht es dem italienischen Kellner?« »Ziemlich schlecht. Darüber kann ich jetzt nicht sprechen. Also, bis bald!«
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ike sah ihr Taxi heranfahren, öffnete die Tür und bezahlte den Fahrer. Dann gingen sie zu seinem geparkten Jaguar. »Erzähle mir schnell von Saltoni«, drängte Linda. »Ist er übel zugerichtet?« »Ziemlich. Und er weiß auch nicht, wer ihn niedergeschlagen hat. Er glaubt, es seien zwei oder drei Mann gewesen, die ihn in einer dunklen Gasse nahe seiner Behausung überfielen. Bevor ich noch mehr aus ihm herausholen konnte, fiel er in eine neue Ohnmacht. Er war noch bewußtlos, als die Polizei eintraf, hatte vorher aber etwas über den Klub La Pergola gestammelt. Außerdem sagte er, und das war klar zu verstehen: ›Bannister ist der Mann, den Sie suchen.‹« »Bannister? Das ist doch der Mann, den Sanders erwähnte, als er in der Wohnung der Tarrant anrief. Mike – das ist ja alles furchtbar aufregend; jetzt sind wir endlich auf etwas Konkretes gestoßen. Hast du es schon Inspektor Rodgers mitgeteilt?« 92
»Dazu war noch keine Zeit. Ich hielt es für richtiger, ihn damit nicht auch noch zu belasten. Er war ohnehin schon über das neue Ereignis verärgert und machte sich Vorwürfe, daß er sich Saltoni nicht gleich am Nachmittag gründlicher vorgeknöpft hatte. Vorhin ist er mit dem armen Kerl zum Krankenhaus gefahren. Ich wette. er sitzt heute die ganze Nacht über am Bett des Italieners wie eine brütende Henne und wartet auf einen lichten Moment, um Fragen stellen zu können. Während ich auf dich wartete, hatte ich noch Zeit, den Kriminaldirektor anzurufen. Er schien aufzuhorchen, als ich den Klub La Pergola erwähnte, obwohl ihm der Name Bannister offensichtlich nichts sagte.« »Hat er angedeutet, warum La Pergola ihn interessiert?« »Die Polizei beobachtet diesen Klub schon längere Zeit. Und John Goldway hat angeregt, daß wir uns dort mit einem Mädchen namens Jo Peters treffen, das die Polizei als Klubmitglied eingeschleust hat. Wir warten auf die Dame oben an der Baker Street nahe dem Parktor und werden dann als ihre Gäste in das Etablissement La Pergola gehen.« »Hat diese Jo Peters eine reizvolle Figur?« »Darling – sie ist doch bei der Polizei! Ich würde mich nicht wundern, wenn sie 1,80 Meter groß wäre, Plattfüße und dazu Schultern wie ein Bügelbrett hätte.« Mike Baxters Vermutung erwies sich jedoch als nicht zutreffend. Das Mädchen, das am Ende des St. Regent Parks aus dem Schatten trat und schnell zu ihnen in den Wagen stieg, ähnelte eher einem Mannequin als einer plattfüßigen Gesetzeshüterin. Zu dritt fuhren sie direkt nach Hampstead. Die Kriminalbeamtin sprach mit leichtem amerikanischen Akzent; ihre Stimme klang etwas heiser. »Uns bleiben gerade noch zehn Minuten, um Sie ins Bild zu setzen«, begann sie lebhaft. »Ich heiße Jo Peters, und es soll dort für die anderen Gäste so aussehen, als wären wir alte Freunde. Deshalb sind Sie Mike und Linda für 93
mich, und ich bin Jo für Sie.« Sie lächelte Linda zu. »Nur so geht es, Linda. Der Kriminaldirektor hat mir einen Einblick in den Fall Weldon gegeben, ich weiß also, hinter was Sie her sind. Ich gelte im Klub als ein Mädchen, das sein Leben genießt und das eine Menge Geld hat und das von einem reichen Vater stammt, der sie sehr verwöhnt. Der La-Pergola-Klub ist nicht billig; man mußte mir daher einen ziemlich aufwendigen Deckmantel verschaffen. Als ich das letzte Mal für Kriminaldirektor Goldway in London tätig war, mußte ich in den Docks Obst von einem Händlerkarren verkaufen. Daher ist dieser Talmiglanz für mich mal eine angenehme Abwechslung.« »Sind Sie Kanadierin, Miß … pardon … Jo?« fragte Mike. Sie nickte. »Und nun zum Klub: Wir halten ihn schon seit Monaten unter ständiger Beobachtung – nicht so sehr wegen des Lokals selbst, sondern wegen der Typen, die dort verkehren. Der Klub als solcher ist in Ordnung; wir sind aber nicht so sicher, daß es auch alle seine Gäste sind.« »Haben Sie dort jemals einen Mann namens Bannister getroffen?« Sie schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich heute zum erstenmal gehört, als Goldway mich einweihte. Ihn suchen Sie doch wohl?« »Ja. Wer leitet den Klub, oder wem gehört er?« »Ein Bursche namens Corina, Charles Corina. Es lohnt sich, auf ihn besonders zu achten. Er ist so eine Art falscher Prinz, soll angeblich aus irgendeiner mitteleuropäischen Adelsfamilie stammen. Wir sind dabei, das herauszufinden. Hauptkennzeichen: träumerische Augen, schwarzhaarig, 37 Jahre alt, hervorragender Tänzer, leichter ausländischer Akzent. Er versteht es ausgezeichnet, mit allem und jedem fertig zu werden, ganz besonders aber mit Frauen – also aufgepaßt, Linda!« Linda lachte. »Ich bin ganz froh, daß bei dieser Geschichte auch mal für mich als weibliches Wesen etwas abfällt.« 94
Jo fuhr fort: »Lassen Sie sich durch diese Kriegsbemalung nicht täuschen.« Sie spielte verächtlich mit dem Perlenhalsband auf ihrer weißen Haut. »Das ist alles nur Leihgabe und gehört zur Maskerade. Wenn Sie mich erleben wollen, wie ich wirklich bin und wobei ich mich wohlfühle, müßten Sie einmal im Sommer zu uns nach Saskatchewan herüberkommen und zusehen, wenn ich mit Vaters Mähdrescher arbeite.« »Was ist denn die Hauptattraktion im Klub?« fragte Mike. »Die ist zweifellos der Manager Corina selbst. Das Essen ist gut, und die Bühnenshow auch. Aber an sich gehen alle nur hin, um Charly Corina zu sehen. Die Frauen drängeln sich regelrecht, um möglichst vorn zu sitzen, damit sie mit ihm tanzen können. Wenn dieser Bursche mich nicht so sehr an eine abgerichtete Schlange erinnern würde, wäre ich vermutlich selbst schon auf ihn hereingefallen. Gerechterweise muß man aber anerkennen, daß er hart arbeitet, um alle Gäste zufriedenzustellen. So gegen zwei Uhr morgens verschwindet er, ohne vorher verlauten zu lassen, daß er geht. Plötzlich ist er dann verschwunden. Zehn Minuten danach ist meist der ganze Laden totenstill wie eine leere Scheuer.« »Scheint ja ein bemerkenswert cleverer Mann zu sein. Wie deichselt er es eigentlich, nicht ständig in Scheidungsprozesse verwickelt zu werden? Nach Ihren Schilderungen muß er ja der perfekte Herzensbrecher sein«, bemerkte Linda. Jo lachte. »Dafür ist Charles viel zu gerissen. Die Technik, die er dabei entwickelt, ist wirklich beachtenswert. Ach, ich sehe, wir sind gleich da. Ich werde Sie ins Gästebuch eintragen müssen. Welchen Namen soll ich angeben?« »Wir wollen lieber auf Nummer sicher gehen – möglicherweise kennt uns jemand. Bleiben wir also bei Mr. und Mrs. Baxter.« Sie bogen in eine Seitenstraße ein und hielten vor einem Lokal, das in rosa und blauer Neonbeleuchtung den Namen La Pergola zeigte. 95
Die Innenräume wurden schwach rosafarben beleuchtet, und die Polster der Sessel und Sitzbänke waren in zartem Pastellblau gehalten. Eine gutgewachsene Blondine mit tiefem Dekolleté stand mit einem Handmikrophon auf der Bühne und gab für die Paare, die auf der winzigen Tanzfläche hin und her schwebten, kehlige Beteuerungen von Liebe und Sehnsucht von sich. Die Musik der südamerikanischen Kapelle war, was ihren Schmiß anbelangte, ausgezeichnet; der Raum brechend voll. Jo trug das Ehepaar als ihre Gäste ein und führte Linda dann in das den Damen vorbehaltene Séparée zur Auffrischung ihres Makeups. Mike schlenderte inzwischen lässig zur Bar, setzte sich auf einen der hohen Hocker und ließ von dort aus die Atmosphäre des von Rauchschwaden durchzogenen Lokals auf sich wirken. Er bestellte bei dem flachshaarigen Barmann, der dringend eines Haarschnitts bedurfte, Gin mit Soda und sog dann langsam an seinem Getränk, wobei er sich bemühte, die richtige Einstellung zu dem für ihn neuen Lokal zu finden. Da er keine Zigaretten bei sich hatte, ließ er sich ein Päckchen kommen und fragte dann den Barmann beiläufig: »Ist Mr. Bannister heute schon dagewesen?« »Wen meinten Sie, Sir?« Die Stimme des Barmanns hatte einen harten Akzent, den Mike entweder in Bayern oder in der Schweiz beheimatet glaubte. »Mr. Bannister.« Der Mann schüttelte ehrlich erstaunt den Kopf. »Ich kenne niemand dieses Namens, Sir.« »Sind Sie schon lange hier tätig?« »Ich arbeite hier, seit Mr. Corina den Klub leitet, Sir.« Es war einen Versuch wert gewesen. Mike war ziemlich überzeugt, daß der Barmixer die Wahrheit sprach. Er drehte sich auf seinem Hocker, um nach Linda Ausschau zu halten, und sah plötzlich Victor Sanders direkt ins Gesicht. Da es 96
hinter der Bar keinen Spiegel gab, hatte er nicht bemerkt, daß sich jemand unmittelbar hinter ihn gestellt hatte. Die beiden Männer begrüßten sich und schüttelten sich ziemlich förmlich die Hand. Sanders sah in seinem eleganten Abendanzug eindrucksvoll aus, der gut zu seiner ladestockartigen Figur und seinem militärischen Gehabe paßte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie hier auch Mitglied sind, Baxter«, bellte Sanders in gewohnter Lautstärke. »Bin ich auch nicht. Eine kanadische Bekannte hat uns hierher geschleppt.« »Geschleppt? Das klingt ja fast, als gefiele es Ihnen hier nicht.« »Ich würde mich sicher wohler fühlen, wenn ich passend angezogen wäre. Neben Ihnen komme ich mir recht schäbig vor.« »Da würde ich mir an Ihrer Stelle nichts draus machen. Sehen Sie sich doch einmal um – es sind eine Menge Leute im Straßenanzug da. Ah, hier kommt Irene. Darf ich Sie vorstellen?« Während Sanders sprach, hatte Mike aus dem Augenwinkel Irene Long auf die Bar zusteuern sehen. Mike ergriff ihre Hand und spürte, daß sie eiskalt war. »Wir haben uns heute schon einmal gesehen«, wandte Mike sich an Sanders. Irene war verlegen. »Ach ja, Victor. Ich vergaß dir zu erzählen, daß Mrs. Baxter zu mir in die Wohnung kam, als ich mich gerade zum Ausgehen fertig machte. Sie wollte mich wegen einer Änderung an ihrem neuen Kleid sprechen.« Sanders runzelte die Stirn, als sei er mit den Ausreden eines straffälligen Rekruten unzufrieden. »Eine recht ausgefallene Zeit für einen Besuch. Und dann außerhalb der Geschäftsräume?« Mike kam ihr zu Hilfe. »Meine Frau und ich fahren demnächst nach Südfrankreich, und Linda will verständlicherweise alle Paradestücke mitnehmen. Ich nehme an, es sind drei Millimeter Spitze zuviel oder etwas ähnlich Welterschütterndes.« 97
Irene Long entschuldigte sich mit nervösem Lächeln und verschwand in Richtung der nur für Damen bestimmten Räumlichkeiten. Mike und Sanders plauderten noch eine Weile, bis sich auch Sanders verabschiedete, um einen Bekannten zu begrüßen. Als Mike kurz danach mit Linda und Jo an einem reservierten Tisch saß, bemerkte er ganz beiläufig: »Während ihr Mädchen euch die Nase gepudert habt, hat es hier eine interessante neue Entwicklung gegeben: Victor Sanders und seine Dame sind hier.« »Ich weiß«, erwiderte Linda. »Ich sah dich mit ihm an der Bar sprechen, und in der Garderobe stießen wir auf Irene Long.« »Ist über die beiden hier etwas bekannt, Jo?« fragte Mike. Jo schüttelte den Kopf. »Sie sind reguläre Mitglieder, und ich habe sie schon oft hier gesehen. Die Dame sah eben allerdings etwas mitgenommen aus.« »Was hast du mit ihr angestellt, Mike? Etwa doch noch mit einer Hutschachtel auf den Kopf geschlagen?« »Gar nichts. Die Sache ist viel einfacher. Sie hatte ihrem Freund nichts von unserem heutigen Besuch bei ihr erzählt. Es schien ihm absolut nicht zu gefallen.« »Interessant. Und was hatte er selbst zu sagen?« »Praktisch dasselbe, was er dir heute nachmittag schon erzählte von einem Einbrecher, der seine Stimme imitiert hat. Da kein Stück seiner teuren Fotoausrüstung fehlt, nimmt er an, man habe es auf Weldons Wohnung abgesehen gehabt. Ich bleibe bei der Ansicht daß alles gelogen ist. Ihr hättet aber sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm erzählte, daß Nadia Tarrant ermordet wurde. Das hat ihm einen richtigen Schock versetzt. Und es gefiel ihm auch gar nicht, daß die Wohnung der Tarrant so gründlich durchsucht worden ist. Um das Unglück voll zu machen, erzählte ich ihm noch von dem fehlenden Schuh in Farnham. Ich möchte wetten, daß der heutige Abend für ihn verdorben ist.« »Kein Wort mehr«, warnte Jo. »Hier kommt der Märchenprinz 98
persönlich.« Mike hatte erwartet, Corina würde wie einer der gertenschlanken Gigolos der zwanziger Jahre aussehen, ein Typ, wie er einst im Kielwasser korpulenter und sexhungriger Witwen die Nachtlokale der Riviera bevölkerte. Corina war jedoch ein braungebrannter, muskulöser Typ mit unverkennbar aristokratischen Manieren. Sein ausländischer Akzent nahm ihm nichts von seinem beträchtlichen Charme. »Jo, Liebling! Sie sehen heute wieder hinreißend aus! Würden Sie mich bitte Ihren Freunden vorstellen?« »Guten Abend, Charles. Das wollte ich gerade tun.« »Guten Abend, Mrs. Baxter«, begrüßte er Linda und übernahm damit selbst die Vorstellung. Er verbeugte sich elegant und gab Linda einen formvollendeten Handkuß. »Es ist mir eine große Ehre, Sie hier begrüßen zu dürfen. Guten Abend, Mr. Baxter, es ist uns wirklich eine Ehre.« Mike schüttelte ihm steif die Hand. Es war offensichtlich, daß Charles vor der Begrüßung einige diskrete Erkundigungen eingezogen hatte. Corina verbeugte sich vor Jo, reichte ihr den Arm und entführte sie zur Tanzfläche. Die Baxters beobachteten die beiden mit neidischer Bewunderung. Mike sagte leise: »Es ist zwar sehr britisch, kein anständiger Tänzer zu sein, aber manchmal wünschte ich, mich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen zu fühlen, wenn ich einen Burschen wie Corina tanzen sehe.« Linda tätschelte ihm tröstend die Hand. »Aber nein, Darling. Du tanzt doch recht gut. Und viele Frauen sind allergisch gegenüber gut abgerichteten Schlangen, um mit Jo zu reden.« Mike winkte einem Weinkellner in rosafarbener Jacke und bestellte etwas zu trinken. »Dann laß dir bitte deine Allergie nicht zu sehr anmerken, wenn er dich zum Tanz auffordert. Tu so, als mache er 99
Eindruck auf dich, aber ohne zu übertreiben, denn der Bursche ist nicht auf den Kopf gefallen. Und was Bannister betrifft, solltest du erst im fortgeschritteneren Teil des Abends versuchen, etwas über ihn herauszubekommen.« Linda hielt sich an diese Weisung und wagte erst nach mehreren Tänzen mit Corina, beiläufig den Namen Bannister fallenzulassen. Später berichtete sie Mike und Jo darüber. »Ich fürchte, ich habe eine Niete gezogen. Er sagte zwar, er wolle seine Sekretärin beauftragen, die Mitgliederlisten durchzusehen, doch schätze ich, daß er alle Namen auswendig kennt. Und ich glaube auch nicht einmal, daß er mich nur hinhalten wollte.« Mike nickte und schien nicht übermäßig enttäuscht. »Macht nichts, es wird noch andere Gelegenheiten geben, nach Bannister zu forschen. Hast du Gelegenheit gehabt, das Gespräch auch auf den Fall Weldon zu bringen?« »Ja, auf Umwegen. Ich sprach von dem zufälligen Zusammentreffen mit Irene Long hier im Klub, erwähnte dabei natürlich mein neues Kleid und ihre Position bei Conway und Racy, und von da aus kam ich dann auf Peggy Bedford und Lucy Staines zu sprechen.« Mike schenkte neuen Wein ein. »Ergaben sich dabei Hinweise?« »Nicht die geringsten. Ich erwähnte auch Nadia Tarrant, nur um seine Reaktion festzustellen. Er war im höchsten Maße aufgebracht und behauptete, eine solche Frau würde niemals in einen gutgeführten Klub eingelassen. Als ich ihm dann sagte, man habe Nadia Tarrant hier mit Irene Long zusammen gesehen, wurde er sofort zugeknöpft.« Mike machte ein grämliches Gesicht. »Wir haben wohl zuviel erhofft, wenn wir erwarteten, der mysteriöse Mr. Bannister werde uns zu Gefallen hier einfach aufkreuzen und selbst das Scheinwerferlicht auf sich lenken.« Linda wandte sich fragend an Jo: »Können Sie sich noch erin100
nern, wer Sie hier im Klub eingeführt hat?« Jo überlegte einen Augenblick. »Ja, aber warum?« »Ich hoffe, sein Name war Toby Deacon«, sagte Linda. Jo schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht mit einem einzelnen Mann hergekommen. Wir waren eine ganze Gruppe, mit der ich völlig unbeachtet Einlaß fand. Es war aber kein Toby Deacon dabei; ich kenne ihn überhaupt nicht.« »Verdammt!« murmelte Linda und spielte bekümmert mit ihrem Weinglas. »Ich bin darauf hereingefallen.« »Worauf hereingefallen?« fragte Jo schnell. »Corina versuchte, mir eine Falle zu stellen – leider mit Erfolg. Er sprach von diesem angeblichen Toby Deacon in einer Weise, als wäre er ein enger Freund von uns dreien, und ich Dummkopf fiel prompt darauf herein. Ich gab vor, ihn auch zu kennen. Wie konnte ich nur so sorglos sein! Mike hatte mich extra gewarnt, den Burschen könne man nicht an der Nase herumführen.« Ihre Aufmerksamkeit wurde durch Vorführungen auf der Bühne abgelenkt. Dann tanzte Mike einige Male mit Linda und Jo. »Der Oberst und seine Freundin sind schon eine ganze Weile nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich habe ich ihnen den Abend verdorben«, sagte Mike. Jo blickte auf die Uhr, während sie im Kreis um die Tanzfläche schwebten. »Es ist gleich zwei Uhr. Passen Sie auf; Corina wird bald verschwinden.« Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrten, machte Linda einen verstörten Eindruck. Sie reichte Mike eine Karte mit der Bemerkung: »Ein Kellner brachte sie, während ihr getanzt habt. Es wird Ihnen nicht gefallen, Jo.« Die Mitteilung war einwandfrei in ausländischer Handschrift geschrieben, der Inhalt jedoch eindeutig:
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Lieber Mr. Baxter, ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Meine Anschrift ist South Audley Street No. 27b. Ich schlage vor, mich morgen nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr zu besuchen. Ergebenst Ihr Charles Corina PS. Ihre charmante Freundin von Scotland Yard brauchen Sie nicht mitzubringen.
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s war ein recht schweigsames und deprimiertes Trio, das zurück nach West End fuhr. »Der Abend war ein Reinfall von A bis Z«, begann Linda das Gespräch. »Dessen bin ich nicht so sicher«, erwiderte Mike. »Es ist natürlich schade, daß Charles meine Tarnung zerstört hat«, unterbrach in Jo. »Kriminaldirektor Goldway wird bestimmt wütend sein. Wo mag nur die undichte Stelle beim Yard sein? Es gibt bestimmt nicht viele dort, die Corina den Tip gegeben haben können. Und dann finde ich es auch merkwürdig, daß Corina seine Karten so offen auf den Tisch legt und zugibt, von meiner Tätigkeit für Scotland Yard zu wissen. Seltsam ist auch, daß er nicht nur bereit, sondern sogar darauf erpicht ist, sich mit Ihnen zu unterhalten.« »Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Jo«, stimmte Mike zu. »Ober102
flächlich gesehen, scheinen wir heute abend nicht viel erreicht zu haben. Und doch bin ich nicht ganz sicher, ob wir nicht in ein Hornissennest gestochen und es in Aufruhr gebracht haben. Es wird interessant sein, zu sehen, wer als erster gestochen wird. Wo darf ich Sie absetzen, Jo?« »Gleich an der nächsten Straßenecke. Von da aus sind es nur ein paar Häuserblocks bis zu meiner Wohnung. Sie brauchen sich wirklich nicht die Mühe zu machen, mich bis zur Haustür zu bringen.« »Sind Sie sicher?« »Ich möchte noch etwas Luft schnappen, ehe ich hineingehe. Danke für die Heimfahrt – es war ein netter Abend mit Ihnen. Ich meine es wirklich ehrlich.« »Es war reizend mit Ihnen, Jo«, antwortete Linda warmherzig. »Passen Sie gut auf sich auf.« »Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht«, ergänzte Mike die Mahnung. »Auf Wiedersehen, Jo, wir werden uns melden.« »Sie ist wirklich ein tapferes Mädchen; so ganz auf sich gestellt bei dieser schwierigen Tätigkeit«, bemerkte Linda, als der Wagen wieder anfuhr. »Ich glaube, sie kann schon auf sich aufpassen. Draußen in der Prärie wird man zu Härte und Zähigkeit erzogen.« Als Mike vor den Verkehrsampeln am Marble Arch die Geschwindigkeit herabsetzte, überholte sie ein Taxi und blieb für einen Augenblick auf gleicher Höhe mit ihnen. Linda setzte sich aufrecht hin, ging dann aber sofort hinter den breiten Schultern ihres Mannes in Deckung. »Kannst du mal schnell einen Blick auf die Frau neben uns im Taxi werfen?« flüsterte sie erregt. »Warum? Wer ist es denn?« »Mache es nicht so auffällig, damit sie uns nicht erkennt, Mike. Ich möchte schwören, daß sie das Double von Nadia Tarrant ist, dieses rabiate Weibsbild vom Soho Square. Aufpassen, jetzt kommt 103
Grün! He! Wohin fahren wir?« Statt einer Antwort bog Mike in die Bayswater Street ein, um dem Taxi zu folgen. Es war ein ziemlich neues Wagenmodell mit breitem Rückfenster, so daß die gut erkennbare Silhouette des einzigen Fahrgastes sie in auffallender Weise an die hartgesottene Rothaarige erinnerte, die sie am Nachmittag an der Nase herumgeführt und das Zimmer der Tarrant durchwühlt hatte. »Ich habe sie nur kurz gesehen und kann mich irren«, sagte Linda. »Doch könnte ich schwören, daß sie es wirklich ist.« Sie folgten dem Taxi einige Minuten lang, bis Linda rief: »Er biegt rechts ab.« »Versuch doch schnell, das Straßenschild zu lesen.« »Dafür ist es zu dunkel. Hier ist ein anderes Schild: Bolton Gardens – jetzt biegt er wieder ab. Es ist die Darlington Street.« »Seltsam, den Namen habe ich doch schon gehört«, begann Mike zu überlegen. »Achtung, er fährt an den Bürgersteig!« Mike trat rasch auf die Bremse und brachte seinen Wagen etwa dreißig Meter hinter dem Taxi zum Stehen. Als die Frau ausstieg und den Taxifahrer entlohnte, wurde im Licht der Straßenlaterne ein großer Kopf mit flammend rotem Haar sichtbar. Das Taxi fuhr davon. »Sie ist es! Jetzt besteht kein Zweifel mehr«, flüsterte Linda. »Sieh doch! Sie geht auf die andere Straßenseite.« »Soll ich dir mal etwas Interessantes erzählen?« begann Mike mit leiser Stimme. »In dieser Straße wohnt Hector Staines; auch seine Telefonnummer hat eine Bayswater-Vorwahl.« Die Frau vor ihnen holte einen Schlüssel aus der Handtasche und schloß die Haustür auf. »Hast du dir das Haus gemerkt?« »Ja, das mit den hohen Giebeln.« »Gut. Dann gehen wir jetzt wie Spaziergänger daran vorbei und merken uns die Nummer. Dort unten ist eine Telefonzelle. In der 104
können wir dann nachprüfen, ob Staines im selben Haus wohnt.« Sie stiegen aus und schlenderten an dem Haus vorbei, ohne stehenzubleiben. »2-9-2«, flüsterte Mike, als sie vorbeigingen, und Linda nickte. An der Telefonzelle angekommen, gingen sie hinein und blätterten im Fernsprechverzeichnis, um die Adresse von Hector Staines festzustellen. »Stafford … Stagg … Stainer … Staines … da haben wir ihn. Ich hatte recht: Hector Staines, auffällig, damit W. 2«, sagte Mike, wobei Linda ihm über die Schulter blickte. »Da ist er uns aber einige Erklärungen schuldig, wenn er wirklich mit diesem Weibsbild bekannt ist und…« Der Rest des Satzes ging im Stakkato einer Maschinenpistolengarbe unter. Glassplitter fielen irgendwo zu Boden, und der Motor eines Kraftwagens heulte auf. »Ducken!« rief Mike Linda zu und zog sie nach unten, während ein Wagen an der Telefonzelle vorbeiraste und mit quietschenden Reifen eine waghalsige Linkskurve schnitt. Es vergingen mehrere Sekunden, bis sie wieder aufstanden und sich darüber klar wurden, daß man gar nicht auf sie geschossen hatte. Die Glasscheiben der Telefonzelle waren unbeschädigt. Abgesehen von einigen Püffen und Beulen, die sie mitbekommen hatten – weil es wie Linda später lachend konstatierte, für zwei Erwachsene physisch unmöglich ist, sich in einer Telefonzelle am Boden zu verkrümeln – waren beide zwar zutiefst erschrocken, aber unverletzt. Mit ziemlich schlotternden Knien gingen sie zu ihrem Wagen zurück und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen. Sämtliche Fenster ihres Autos waren von Kugeln durchsiebt. Wer im Wagen gesessen hätte, wäre wohl kaum heil davongekommen. »Kriminaldirektor Goldway ist am Apparat und möchte Sie spre105
chen, Mr. Baxter«, sagte Mrs. Potter. »Guten Morgen, John… Danke, alles in Ordnung.« »Warum hast du mich heute nacht nicht gleich angerufen?« fragte Goldway. »Es war fast drei Uhr. Zu einer so unchristlichen Stunde wollte ich dich auf keinen Fall stören.« »Seid ihr beide unverletzt?« »Nicht eine Schramme. Natürlich sind wir nervlich ein bißchen durcheinander.« »Ein bißchen durcheinander dürfte leicht untertrieben sein. Ich habe mir vorhin deinen Jaguar angesehen. Den hat's vielleicht erwischt. Ein Glück, daß ihr nicht darin gesessen habt.« »Schönen Dank für die Blumen.« »Wir untersuchen gerade das Kaliber der Kugeln; ich werde dich über das Ergebnis unterrichten. Wahrscheinlich hast du keine Gelegenheit gehabt, die Pistolenhelden zu Gesicht zu bekommen?« »Nein, bei der Geschwindigkeit nicht. Es war alles vorbei, ehe wir überhaupt richtig wußten, was geschehen war. Außerdem gab es einen regelrechten Wettbewerb zwischen Linda und mir, wer zuerst am Fußboden war.« »Das will ich gern glauben«, erwiderte der Kriminaldirektor mit einem Anflug von jungenhaftem Kichern, fuhr aber sofort wieder in ernstem Ton fort: »Mike, ich habe den Bericht des Diensthabenden vor mir auf dem Tisch. Es gibt da einiges, was mir rätselhaft erscheint. Heute morgen habe ich leider dafür keine Zeit; ich würde dich aber gern am Nachmittag gegen drei Uhr aufsuchen. Paßt es dir?« »Selbstverständlich, John; oder sollen wir zum Yard kommen?« »Ich möchte lieber mit euch privat sprechen. Außerdem habe ich in eurer Gegend noch etwas zu erledigen. Wie war es denn im Klub La Pergola?« »Da habe ich eine Niete gezogen. Wir trafen immerhin ein paar 106
interessante Leute, und ich bekam einen dünnen Faden in die Hand, an dem man vielleicht weiterspinnen kann.« »Und wie machte sich die Eskorte, die ich euch mitgegeben hatte?« »Keine Klagen, John!« Goldway lachte. »Übrigens – hat Jo Peters sich schon bei euch gemeldet?« »Nein.« »Nun gut. Sobald sie es tut, laßt es mich wissen. Ich bin also gegen drei Uhr bei euch.« Mike legte auf und grinste zu Linda hinüber. »Diesem alten Fuchs entgeht aber auch nichts.« »Ist ihm die Lücke in unserer Geschichte aufgefallen?« »Und ob! Heute nachmittag wird das sicher seine erste Frage sein.« So war es auch. Kriminaldirektor Goldway trank die ihm von Linda angebotene Tasse Tee und fragte dann ohne Umschweife: »Was hattet ihr euch eigentlich um halb drei Uhr früh in Bayswater herumzutreiben? Das liegt doch nicht auf eurem Heimweg von Hampstead nach der Sloane Street. Aber verschont mich bitte mit dieser billigen Geschichte, ihr hättet gerade nach einem Abschleppwagen telefoniert, weil ihr mit dem Jaguar eine Panne hattet. Die Ausrede mag gerade noch für den Diensthabenden gut genug gewesen sein, aber nicht für mich.« »Wir waren aber in einer Telefonzelle«, betonte Mike hinhaltend. »Genau das war unser großes Glück!« »Ja, ich weiß. Aber ich möchte gern hören, was ihr um diese Zeit in der Darlington Street zu suchen hattet.« »Wir waren einer gewissen Dame mit fragwürdiger Herkunft auf der Spur und folgten ihr bis zum Haus von Hector Staines.« 107
»Die Bedeutung der Adresse war mir nicht entgangen«, bemerkte Goldway trocken. »Wer war die Dame?« »Ihren Namen kenne ich nicht, sie hat auf jeden Fall ein ausgezeichnetes Talent, als Double aufzutreten. Es handelt sich um das Weibsbild, das sich uns gegenüber in dieser miesen Bleibe in Soho als Nadia Tarrant ausgegeben hatte.« Goldway sah beide verwundert an. »Wirklich? Wo seid ihr denn ausgerechnet über die gestolpert?« Mike erklärte es ihm. »Das war es also. Und du warst der Ansicht, das sollte besser nicht in dem Protokoll stehen, das von dem Sergeanten aufgenommen wurde?« Mike zögerte eine Weile und wählte dann sorgfältig seine Worte, was den Kriminalbeamten veranlaßte, ihn interessiert zu mustern. »Ja, John. Ich bin der Ansicht, daß nicht alles im Protokoll stehen sollte.« Es entstand eine kurze, unangenehme Pause. Mike erschien die Theorie, die sich im Hintergrund seines Bewußtseins zu formen begann noch zu ungewiß. Goldway andererseits kannte Mike gut und hatte Vertrauen zu ihm; deshalb drängte er nicht auf eine klare Antwort und wechselte sofort das Thema. »Mike, ich habe so ein ungutes Gefühl wegen Jo Peters. Sie hat sich noch nicht wieder bei uns gemeldet, und wir haben sie den ganzen Tag über nicht erreichen können. Ist es möglich, daß sie während deiner Abwesenheit hier angerufen hat?« Mike sah seine Frau fragend an und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Wir sind fast den ganzen Tag über zu Haus gewesen, abgesehen von einem nutzlosen Besuch bei Conway und Racy. Auf jeden Fall aber würde Mrs. Potter das Gespräch angenommen und uns darüber informiert haben.« »Hm. Die Situation ist ziemlich beunruhigend. Jo sollte heute früh zur Dienststelle kommen und über euer gemeinsames Unter108
nehmen im Klub La Pergola Bericht erstatten. Als sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschien, beauftragte ich meine Sekretärin, sie anzurufen. Es meldete sich aber niemand. Etwas später habe ich einen Beamten zu ihrer Wohnung geschickt; er stellte fest, daß sie überhaupt nicht heimgekommen ist.« »Aber wir haben sie doch nach Hause gebracht!« protestierte Linda. »Unmittelbar bis zur Haustür?« »Nein, das nicht. Jo sagte, es seien nur noch ein paar Meter zu laufen.« Der Kriminaldirektor zog eine krause Stirn. »Wahrscheinlich besteht kein Grund zur Sorge. Jo ist ein cleveres Mädchen. Der Nachtportier hat aber mit Bestimmtheit erklärt, sie sei nicht nach Haus gekommen – er hatte bis sieben Uhr morgens Dienst. Außerdem steht fest, daß sie nicht in ihrem Bett geschlafen hat.« »Wie lange arbeitet Jo schon für Sie?« fragte Linda. »Seit etwa drei Jahren, aber nicht kontinuierlich. Sie hat beim Yard eine Sonderstellung.« »Arbeitet sie für Inspektor Rodgers?« »Nein, für die reguläre Kriminalpolizei überhaupt nicht«, erwiderte Goldway. Mike fiel auf, daß der Kriminaldirektor einer klaren Antwort ausweichen wollte, als er sagte: »Sie ist nur ihrer eigenen … Abteilung und mir persönlich verantwortlich.« »Was wollte sie überhaupt im Klub La Pergola?« Wieder zögerte Goldway. »Sie sollte ganz allgemein ein wachsames Auge auf diesen Klub haben.« Es klopfte an der Tür und Mrs. Potter kam herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Mrs. Baxter. Eben wurde für Sie ein Päckchen abgegeben. Ich fand es draußen vor der Haustür. Vor ein paar Minuten, als ich die Milchflaschen hinausstellte, war es noch nicht da.« Mrs. Potter übergab Linda eine sauber verpackte Schachtel. Die 109
Adresse war in großen Druckbuchstaben geschrieben und ließ keinen Schluß auf den Absender zu. »Haben Sie keine Ahnung, wer es dorthin gelegt hat?« »Nein, gnädige Frau. Der Bote hat nicht geklingelt.« Linda machte ein verdutztes Gesicht. »Wahrscheinlich ist es etwas, was wir bestellt haben«, meinte sie und griff nach der Schere, um den Bindfaden aufzuschneiden. Goldway hielt sie zurück. »Nicht so schnell, Linda«, warnte er. »Es hat schon Pakete von unbekannten Absendern gegeben, die beim Öffnen explodiert sind. Ich werde es lieber zum Yard mitnehmen und dort von Sprengstoffexperten öffnen lassen.« Linda schien nicht damit einverstanden und setzte zu einer Erwiderung an. In diesem Augenblick griff Mike nach dem Päckchen, hielt es einen Augenblick in beiden Händen, als wolle er fühlen, was darin war, und riß dann die Schnur auf. »Sei kein Narr, Mike!« rief Goldway. »Schon gut, John. Ich habe eine Ahnung, was da drin sein wird.« Als das Papier entfernt war, kam ein gewöhnlicher Pappkarton zum Vorschein. Mike hob den Deckel ab und starrte einen Augenblick schweigend auf den Inhalt. »Genau, was ich mir dachte«, erklärte er schließlich. »Wieder ein Damenschuh.« Goldway fragte interessiert: »Einer von Ihren, Linda?« Linda schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre der Fall. Erkennst du ihn, Mike?« »Ich fürchte, ja. Jo Peters trug gestern abend solche Schuhe.« Langes Schweigen lastete im Raum. Schließlich fragte Linda mit brüchiger Stimme: »Kann es das bedeuten, was ich befürchte, John?« »Auf jeden Fall ist es eine teuflische Botschaft. Wie schlimm die Sache ist, läßt sich aber noch nicht sagen«, bemerkte Goldway. Mike fiel ihm mit ungewohnter Schärfe ins Wort: »Als Lucy 110
Staines ermordet wurde, stahl man ihr einen Schuh. Als Peggy Bedford Selbstmord beging, fehlte ein Schuh. Und auch Nadia Tarrant fehlte ein Schuh, als man sie erwürgt im Walde von Farnham fand. In allen drei Fällen gehörten Tod und fehlender Schuh zusammen. Da sehe ich keinen großen Spielraum mehr für andere Möglichkeiten.« »Und doch gibt es ihn, Mike. Es besteht doch ein Unterschied«, ab Goldway zu bedenken. »In den von dir erwähnten drei Fällen fehlte der Schuh, und wir konnten ihn trotz aller Bemühungen nicht finden. Diesmal aber haben wir ihn. Der Schuh fehlt nicht; er liegt hier vor uns. Ich bin fest davon überzeugt, daß im Falle Jo Peters kein Mord damit verbunden ist – Gott gebe es, daß ich recht behalte! Dieser Schuh wurde zur Warnung geschickt. Und diese Warnung gilt vor allem auch Ihnen, Linda.« Mike gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt, wie mein Gespräch mit Charles Corina ausgehen wird.« Der Kriminaldirektor warf ihm einen fragenden Blick zu, und als Antwort reichte Mike ihm den Zettel, den Corina ihm im Nachtklub an den Tisch hatte bringen lassen. Beim Lesen der letzten Zeile lief Goldway vor Wut rot im Gesicht an. »Dann weiß dieser Corina also über Jos Auftrag Bescheid. Ich würde meine Pension opfern, wenn ich erfahren könnte, wie das durchgesickert ist.« »Vielleicht sagst du uns jetzt, warum Jo Peters auf den Klub angesetzt war?« Goldway warf Mike einen abschätzenden Blick zu, überlegte noch einen Augenblick und nickte dann zustimmend. »Du weißt, daß ich dir vertraue, Mike. Aber Vorsicht ist in unserem Beruf erste Voraussetzung. Nachdem aber nun die Katze aus dem Sack ist, hat es keinen Zweck mehr, die Tarnung von Jo dir gegenüber aufrechtzuerhalten. Sie wurde uns seinerzeit vom Zentralen Rauschgiftdezernat in Washington zugeteilt. Das ist die ›Abteilung‹, von der ich 111
vorhin sprach. Man ging einer Spur von Rauschgiftschmuggel nach, die über den Atlantik direkt zu Charles Corina zu führen schien. Wir haben aber bisher keine konkreten Beweise in die Hand bekommen, und jetzt sieht es ganz danach aus, daß wir den Burschen nicht mehr das Handwerk werden legen können.« »Rauschgift! Daran habe ich auch schon gedacht«, warf Mike ein. »Sage mal, John, wieviel von dem Zeug, rein wertmäßig, könnte man beispielsweise im Absatz eines Damenschuhs unterbringen?« »Ich sehe, worauf du hinaus willst, Mike. Ja, ich muß zugeben, das wäre durchaus eine Möglichkeit.« Die Baxters dachten geraume Zeit nach, um diese Wendung im Fall Harold Weldon zu verdauen. Linda nahm als erste das Gespräch wieder auf. »Könnte vielleicht auch Luigi Saltoni in den Rauschgiftschmuggel verwickelt gewesen sein?« »Das ist schon möglich.« »Wie geht es ihm denn jetzt?« »Noch ziemlich schlecht.« »Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn besuche?« fragte Mike. »Nein. Von mir aus, bitte.« »Als ich heute früh mit dem Krankenhaus telefonierte, wurde mir gesagt, er dürfe keine Mitteilungen erhalten und auch keine Besucher empfangen.« »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir wollen nicht riskieren, daß ihm erneut etwas zustößt. Diese Anordnung gilt aber nicht für dich, Mike.« Mrs. Potter klopfte an die Tür und meldete den Besuch von Hector Staines. »Was mag der Kerl nur wollen?« fragte Mike verärgert. »Führen Sie ihn ins Arbeitszimmer, Mrs. Potter.« Und zu Kriminaldirektor Goldway gewandt, sagte er: »Ich weiß nicht, was er mit diesem Besuch beabsichtigt; ich werde die Gelegenheit wahrnehmen und ihm 112
ein paar sehr offene Fragen stellen.« »Und die wären?« fragte Goldway. »Was er beispielsweise gestern abend bei Irene Long gewollt hat, sofern er sie tatsächlich besuchte. Wir sind ziemlich sicher, daß wir ihn in der Nähe ihrer Wohnung gesehen haben. Zweitens, warum er Peggy Bedford in dieses abgelegene Dorfgasthaus bei Farnham geführt hat. Und drittens interessieren mich seine Beziehungen zu dem rothaarigen Weibsbild, das sich uns gegenüber als Nadia Tarrant ausgegeben hat.« »Du wirst mich sicherlich auslachen«, schaltete sich Linda ein, »aber mein weibliches Gefühl sagt mir, daß Staines nichts auf dem Gewissen hat. Auf keinen Fall dürfen wir übersehen, daß er es war, der uns auf den Fall Harold Weldon aufmerksam gemacht hat. Ich werde jetzt mal den Versuch machen, diese drei Fragen statt seiner zu beantworten. Das würde sich nach meinem Dafürhalten so anhören: ›Ich, Hector Staines, besuchte Irene Long, weil sie mit meiner Tochter befreundet war und ich herausfinden will, wer Weldon den Mord angehängt hat.‹ Frage Nummer 2: ›Nicht ich habe Peggy Bedford in die Dorf kneipe Lord Fairfax geführt, sondern sie mich; daher habe ich überhaupt nicht auf den Namen des Lokals geachtet. Ich habe sie geliebt, oder ich hatte ein Verhältnis mit ihr; oder wie Sie wollen: sie war die Freundin meiner Tochter.‹ Dritte Frage: ›Von welchem rothaarigen Weibsbild sprechen Sie? Keine Frau, die Ihrer Beschreibung entspricht, hat mich gestern abend in der Darlington Street besucht. Sie müssen sich verdammt irren, Mr. Baxter.‹ Nun, was hältst du von diesen Antworten?« Mike war nicht gerade überzeugt von diesen Argumenten, schwieg aber. Kriminaldirektor Goldway erhob sich. »Ich gehe jetzt, ich habe kein Interesse daran, Staines zu begegnen. Solltest du es aber für notwendig erachten, werde ich Inspektor Rodgers beauftragen, Staines einem scharfen Kreuzverhör zu unterziehen.« 113
»Bevor du gehst, möchte ich dich noch um etwas bitten.« Mike holte aus einer Schublade ein Foto und reichte es Goldway. »Kennst du diesen Burschen hier?« Goldway betrachtete das Bild genau. »O ja. Das ist der verstorbene Larry Boardman, alias Leonard Bradley, alias … mindestens noch sechs andere Namen. Er war ein bekannter Juwelendieb, Betrüger und Hochstapler und starb kürzlich sonderbarerweise eines natürlichen Todes. Wo hast du das Foto her?« »Es war unter den persönlichen Sachen von Peggy Bedford in ihrer Wohnung. Ich ging nach ihrem Tode dorthin, und es gelang mir, den Portier zu überreden, mir aufzuschließen. Ich suchte nach dem fehlenden Schuh oder sonstigen Hinweisen. Dabei kam mir der Gedanke, dieses Bild könnte vielleicht wichtig sein.« »Du hast richtig vermutet. Wir haben inzwischen herausklamüsert, daß Miß Bedford einen weitverzweigten, zwielichtigen Bekanntenkreis hatte. Ihr Notizbuch war für uns eine wertvolle Offenbarung. Nein«, fügte Goldway lächelnd hinzu, »Bannisters Name stand nicht darin, dafür aber einige andere, die nach unserem internen Sprachgebrauch aus der ›obersten Schublade‹ stammen. Aber das hat mit unserem Fall hier nichts zu tun.« Goldway blickte auf seine Uhr. »Jetzt muß ich wirklich gehen. Ruf mich bitte an, wenn du etwas über Jo Peters erfährst. Dank für den Tee, Linda.« Mike begleitete ihn zur Tür und wollte gerade in sein Arbeitszimmer gehen, wo Hector Staines auf ihn wartete, als Linda ihn zurückhielt. »Moment noch, Mike. Ich habe vorher etwas mit dir zu besprechen.« »Worum handelt es sich, Darling?« »Spiel nur nicht den vollkommen Unschuldigen! Warum hast du mir nicht erzählt, daß du den Portier bestochen hast, um in Peggy Bedfords Wohnung zu kommen?« Mike grinste vor sich hin. »Vielleicht hoffte ich, noch rechtzeitig 114
meinen Namen aus ihrem Notizbuch wegradieren zu können.« »Dummes Zeug! Wer war Larry Boardman? Was hat er mit dieser Sache zu tun?« Mike wurde ungeduldig. »Wenn ich es wüßte, würde ich es dir sagen; aber meine Theorie nimmt nur ganz langsam Gestalt an. Sobald ich die Sache überblicken kann, werde ich dir schon alles erzählen. Bitte also etwas Geduld, meine Liebe! Ich habe so das Gefühl, daß der Fall Weldon sehr bald gelöst wird, jedenfalls schneller, als wir zu hoffen wagten. Corina ist der nächste auf der Besucherliste, sobald ich Staines abgewimmelt habe. Anschließend fahren wir ins Krankenhaus, um uns mit Saltoni zu unterhalten.« Linda räumte den Teetisch ab; fünf Minuten später hörte sie Staines gehen. Als Mike ins Zimmer kam, fragte sie ihn: »Nun, hast du deine drei Fragen abgeschossen?« »Jawohl, das habe ich.« »Und mit welchem Ergebnis?« »Es war fast so, als hättest du ihm vorher die Antworten eingetrichtert. Der alte Knabe verbirgt aber etwas vor mir. Er behauptet sogar, er hätte in der vergangenen Nacht keine Schüsse gehört, weil er gerade im Bad gewesen sei.« »Ja, manche Leute baden eben zu den seltsamsten Tages- oder Nachtzeiten. Was wollte er überhaupt hier bei uns?« »Die Polizei hat heute früh alle Bewohner seines Häuserblocks wegen der Schießerei vernommen. Offensichtlich wollte er mich davon überzeugen, daß er damit nichts zu tun habe.« »Vielleicht sagt er die Wahrheit.« »Und ich behaupte, daß er nicht einmal angefangen hat, die Wahrheit zu sagen«, fuhr Mike sie an. »Als ich ihn auf den ominösen Bannister festnageln wollte, sah er mich verständnislos an. Gestern nacht will er auch keine Besucher empfangen haben. Daher war es auch nicht notwendig, ihm zu erzählen, warum wir uns ge115
gen halb drei Uhr früh in seiner Nachbarschaft aufgehalten haben.« »Was hast du nun vor?« »Ich muß zu Corina. Und du kannst dir inzwischen noch mal Irene Long vornehmen.« Linda nickte. »Sie kann ja schließlich nicht den ganzen Tag Kaffeepause machen. Sei ja vorsichtig, wenn du mit diesem Sonnyboy zusammentriffst.« »Ich werde schon auf mich aufpassen. Wir treffen uns dann um fünf Uhr vorm Krankenhaus. Sage doch bitte Mrs. Potter, sie soll aufs Telefon achten, falls Jo Peters anruft.« Die Ausstattung der Zimmerflucht, die Charles Corina bewohnte, ließ jeden Besucher neidvoll erblassen. Mike hatte den Eindruck, er hätte sich in eines der Gemächer im Schloß Ludwigs II. von Bayern verirrt. Auf glänzend poliertem Parkettfußboden mit eingelegten Ornamenten lagen kostbare Läufer. An den cremefarbenen Wänden hingen alte Stiche von Marktplätzen und Rathäusern europäischer Städte. Auf wertvollen Stilmöbeln standen wunderbare Porzellanvasen und Figuren aus Delft, Meißen und Sèvres. In Leder gebundene Bände in mehreren Sprachen deuteten auf die vielseitigen geistigen Interessen ihres Besitzers hin. Zwischen den Kunstgegenständen befanden sich auch einige Silbertrophäen, die auf eine aktive Betätigung im Reitsport schließen ließen, und über dem Schreibtisch hing eine Fotografie, die Corina im Polodreß auf einem rassigen Schimmel zeigte. Dem aufmerksamen Beobachter enthüllten sich so die beiden Seiten der Persönlichkeit Corinas: die intellektuelle und die sportliche. Der Mann, mit dem er es hier zu tun hatte, war nicht der Typ des üblichen Nachtklubbesitzers oder Salonlöwen, gestand sich Mike. Corina bot etwas zu trinken an, was Mike jedoch dankend ablehnte. 116
»Sie wissen natürlich, warum ich Sie sprechen wollte«, begann Corina, wobei er sein Kognakglas hob und mit einer leicht angedeuteten Verbeugung auf das Wohl seines Gastes trank. Sein Akzent war nur schwach erkennbar und bildete einen Teil seines Charmes. Mike beschloß, sich unwissend zu stellen und es seinem Gastgeber zu überlassen, auf das eigentliche Thema zu kommen. »Nein, Corina. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Aber, aber, mein Lieber. Ich dachte, für einen Mann mit Ihrer Klarsicht sei das ganz offenkundig.« »Sie schmeicheln mir.« Corina lächelte. »Sie haben meine Nachricht erhalten?« »Deswegen bin ich hier.« »Sie haben mich mit Ihren Aktionen verärgert.« »Welche Aktionen?« »Warum haben Sie Ihre Wachhunde auf meinen Klub angesetzt? Ich hasse es, bespitzelt zu werden.« »Wachhunde? Meinen Sie Miß Peters?« »Genau das.« Mike zuckte mit den Schultern. »Das geht mich nichts an, Corina. Ich habe das Mädchen gestern zum erstenmal gesehen.« »Das habe ich schon aus Ihrer Gattin herausgeholt«, erwiderte Corina mit selbstgefälligem Lächeln. »Und ich kann mir nicht denken, wie Sie herausgefunden haben, daß Miß Peters mit Scotland Yard zusammenarbeitet.« »Sie bezieht von dort ihr Gehalt.« »Sind Sie sicher? Selbst wenn es so wäre, bezweifle ich, daß es ein fürstliches Gehalt ist. Aber lassen wir das – ich selbst gehöre nicht zur Polizei und habe nie zu ihr gehört.« »Warum schnüffeln Sie dann in meinem Tätigkeitsbereich herum?« »Ich glaubte, ich hätte das gestern abend ziemlich klargestellt, oder zumindest meine Frau. Ich suche einen Mann namens Banni117
ster.« »Ich versichere Ihnen, daß es im Klub kein Mitglied dieses Namens gibt.« »Außerdem würde ich es sehr schätzen, einige Informationen über die Beziehungen Nadia Tarrants zu Ihrem Klub zu erhalten.« Jetzt war Corina ehrlich entrüstet. »Wenn Sie und Ihr Freund, der Kriminaldirektor Goldway, sich wirklich einbilden, ich würde jemals einer Frau wie dieser Zutritt zu einem Eliteklub gestatten…« »Dann geben Sie also zu, sie zu kennen.« Corina parierte auf brillante Art. »Diese zweifelhafte Ehre ist mir bisher noch nicht widerfahren.« Wie alle Ausländer, die sich große Mühe gegeben haben, die englische Sprache zu meistern, war sein Wortschatz mit Ausdrücken gespickt, die kein Engländer normalerweise gebrauchen würde. »Ich bin jedoch imstande, englisch zu lesen. Soweit ich mich erinnern kann, war Nadia Tarrant die verkommene Komödiantin im Prozeß gegen Harold Weldon.« »Ja, sie war es. Die Vergangenheitsform habe ich eben absichtlich gewählt. Sie wurde nämlich gestern in einem Fluß bei Farnham ertrunken aufgefunden.« Mike hatte diese Falle bewußt gestellt. Nur der Mörder selbst und einige wenige mit der Untersuchung beauftragte Beamte wußten, daß sie im Wald erwürgt worden war. Corina fiel nicht darauf herein. »Warum geht sie auch so dicht ans Wasser, wenn sie nicht schwimmen kann.« Mike setzte zu seiner Hauptfrage an. »Ich bin nach wie vor daran interessiert, zu erfahren, was die Tarrant in Ihrem Klub in Begleitung von Irene Long zu suchen hatte.« Corina stöhnte leise. »Die Unterredung wird nun doch blöder, als ich gedacht hatte. Vielleicht haben Sie mich nicht richtig verstanden. Ich wiederhole nochmals: Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, ein so gewöhnliches Frauenzimmer in meinem Etablis118
sement zu dulden.« »Also gut. Wie Sie wollen! Kein Bannister, keine Tarrant. Wie steht es dann um einen jungen Mann namens Luigi Saltoni? Kennen Sie ihn?« »Nein, den auch nicht. Wer oder was ist Saltoni?« »Auch er ist im Zusammenhang mit dem Fall Weldon wichtig«, antwortete Mike ausweichend. »Ist das Ihr einziges Gesprächsthema?« »Stimmt genau: Der Fall Weldon und der Nachtklub La Pergola.« »Ich versichere Ihnen, Mr. Baxter – da gibt es keinen Zusammenhang.« »Es scheint aber doch einer zu bestehen. Saltoni hat ausgesagt, er habe Irene Long, die nach Ihren eigenen Worten Klubmitglied ist, zusammen mit Nadia Tarrant Ihr exklusives Haus betreten sehen.« »Dann ist Saltoni ein Lügner.« »Was noch zu beweisen wäre. Ich will Ihnen mal folgendes sagen, Corina: Wenn Sie wirklich ein so reines Gewissen haben, dann sollte es doch keinen Grund für Sie geben, mich in meinen Bemühungen, einen Unschuldigen vor dem Henker zu retten, zu behindern. Es sei denn, Sie fürchten, es könnte sich herumsprechen, daß zweifelhafte Gestalten Gäste Ihres Klubs sind. Sollte das der Grund sein, so verspreche ich Ihnen, mein möglichstes zu tun, um den Namen La Pergola aus allem herauszuhalten.« Corina antwortete in eisigem Ton: »Danke. Ich ziehe es vor, meine Public Relations selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin durchaus in der Lage, den guten Ruf meines Klubs auch ohne Ihre plumpe Hilfe zu schützen.« »Sie sollten Ihre Worte vorsichtiger wählen. Ich habe Ihnen meine Hilfe angeboten. Wenn Sie sich grundsätzlich weigern, mit mir zusammenzuarbeiten, kann ich auch offensiv werden.« »Ich bezweifle, daß Sie mir überhaupt schaden können«, konterte Corina verächtlich. 119
»So? Ich habe viele Freunde in der Fleet Street, Mr. Corina.« Corina kehrte ihm für einen Augenblick den Rücken zu, um sein Glas neu zu füllen. Als er sich umwandte, hatte er sich wieder vollkommen in der Gewalt. »Wissen Sie, Baxter, worüber ich mich bei diesem Hickhack am meisten ärgere?« »Woher soll ich das wissen?« entgegnete Mike. »Über Ihre fortgesetzten Unterstellungen, in meinem Hause könnten kriminelle Dinge vor sich gehen.« Mit seiner Hand wies er rundherum auf die Kunstschätze im Raum. »Taxieren Sie mich wirklich so ein?« Mike stand auf und schlenderte zum Kamin hinüber. »Gewandtheit auf dem Tanzparkett und Geschmack für Keramik, Corina, schließen doch noch lange nicht eine aktivere anderweitige Vergangenheit der betreffenden Person aus. Wie wäre es, wenn Sie nun aufhören würden, mich hinzuhalten, und mir sagten, wie Sie erfahren haben, daß Jo Peters mit dem Yard zusammenarbeitet?« »Ein Vögelchen hat es mir ins Ohr gesungen. Ich habe sehr viele Bekannte, das ist ein Vorteil meines Berufs.« »Hatte dieses Vögelchen auch einen Namen?« »Selbst wenn ich mich erinnern könnte, wäre ich nicht so naiv, Ihnen den zu nennen. Zunächst habe ich es selbst nicht geglaubt. Erst als die Polizei es mir ganz offiziell bestätigte –« Mike fuhr hoch und unterbrach ihn. »Die Polizei?« »Ja. Das ergab sich aus einer Lappalie. Ein Klubmitglied hatte einen Ring verloren. Die Versicherung meldete es Scotland Yard, und Inspektor Rodgers kam zu den üblichen Routineerhebungen zu uns.« »Und ich soll Ihnen nun abnehmen, Inspektor Rodgers hätte Ihnen frank und frei erzählt, Scotland Yard habe Miß Peters in Ihren Klub eingeschleust?« »Sie scheinen nicht zuzuhören, Baxter. So habe ich es nicht ge120
sagt. Rodgers war viel zu sehr damit beschäftigt, den diensteifrigen Untersuchungsbeamten zu spielen. Viel mehr als nur – und das ist einer seiner Aussprüche – ›dumm aus der Wäsche zu gucken‹ hat er nicht getan, als ich ihn nach Jo Peters fragte. Polizeibeamte sind nun einmal schlechte Schauspieler. Immerhin erhielt ich auf diese Weise die gewünschte Bestätigung für das, was mir vorher das Vögelchen ins Ohr gesungen hatte.« Beide Männer starrten sich mit unverhohlenem Mißfallen an, während Mike nach seinem Hut griff und leicht mit den Schultern zuckte. Die aalglatte Schlagfertigkeit Corinas entsprach seiner schlangenhaften Beweglichkeit auf dem Tanzparkett. Nur einmal im Verlauf des Gesprächs hatte Mike das Gefühl gehabt, einen Treffer gelandet zu haben, und zwar mit seiner Andeutung, er könne auch dafür sorgen, daß der Klub bös ins Gerede komme. Mike entschloß sich, noch einen Pfeil abzuschießen. »Ich habe versucht, mit Ihnen im guten ins reine zu kommen, Corina. Es geht aber auch auf andere Weise. Wenn Sie mir weiterhin Schwierigkeiten bereiten, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Klub in kleine Stücke auseinanderbricht. Die einzigen Gäste, die sich dann noch bei Ihnen aufhalten werden, dürften Journalisten und argwöhnische Polizeibeamte sein. Habe ich mich klar ausgedrückt? Außerdem verspreche ich Ihnen noch etwas: Sollte Jo Peters irgend etwas passiert sein oder noch zustoßen, dann werden Sie mich mit einer schweren Eisenstange vor der Leuchtreklame Ihres Hauses wiederfinden.« Corina war vor der Intensität der Emotion Mikes zurückgewichen. Mit forschem Bemühen, die Situation wieder in die Hand zu bekommen, hielt er Mike die Tür auf und verbeugte sich leicht, als Mike vorbeiging. »Was auch immer Miß Peters zustoßen sollte«, erklärte er, »das geht mich überhaupt nichts an. Ich bin an der jungen Dame einfach nicht interessiert.« 121
»Darauf wollte ich auch nicht hinaus, Corina!« fuhr Mike ihn barsch an. »Sie war an Ihnen interessiert.«
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er hat es heute fertiggebracht, dir deine gute Laune zu stehlen?« fragte Linda mit halb ängstlichem, halb scherzendem Blick. Sie ging an Mikes Seite die Stufen des St.-Matthäus-Krankenhauses hinunter. »War Corina zu grob, oder hat Saltoni dich stark aufgeregt?« »Die Antwort ist ein ›ja‹ auf beide Fragen. Corina brachte mein Blut zum Kochen, weil er arrogant war und mir nichts von Belang erzählte. Er schien zu glauben, ich sei dafür verantwortlich, daß sein Klub polizeilich beschattet wurde.« »Hast du ihn auf Jos Verschwinden angesprochen?« »Ja. Er tat überrascht und gab sich völlig gleichgültig. Ich glaube ihm nicht. Hinter seinem Charme verbirgt sich ein harter Kern.« »Und was war mit Saltoni?« Linda blickte über die Schulter noch einmal zurück zum Krankenhaus, das sie gerade verlassen hatten. Sie war zu spät gekommen und hatte Mike nicht mehr ins Zimmer des Italieners begleiten können. Mike fluchte. »Dieses kleine Stinktier ist jetzt schweigsam wie ein Grab.« »Du willst doch damit nicht etwa sagen, er ziehe seine Aussage zurück, daß Nadia Tarrant in der fraglichen Nacht bei ihm war?« »Doch, so ist es leider. Ich bin aber wegen einer ganz anderen Sache so wütend. Jemand ist bei Saltoni gewesen und hat ihn derart 122
unter Druck gesetzt, daß er nun Angst vor seiner Aussage hat.« »Er durfte doch gar keine Besucher empfangen. Wie war das möglich?« »An sich nicht. Außer der Polizei und dem Pflegepersonal hatte niemand Zutritt zu seinem Zimmer.« »Auf welche Weise hat man denn mit ihm Kontakt aufgenommen?« Mike und Linda waren inzwischen an ihrem Mietwagen angekommen. Während Linda sich ans Lenkrad setzte, fuhr Mike fort: »Allzu schwierig kann das nicht gewesen sein. Vielleicht war es eine Warnung, die er telefonisch bekam, oder eine Mitteilung auf einem Zettel, die unter dem Teller einer Mahlzeit lag. Ebensogut kann auch ein Krankenwärter oder eine Putzfrau bestochen worden sein. Es bedurfte ja keiner Gewaltanwendung, sondern der Übermittlung einer Drohung, daß ihm noch Schlimmeres zustoßen würde als das, was mit ihm bereits geschehen war, wenn er seine Aussage nicht zurückzöge. Ich war ein kompletter Narr, daß ich an diese Möglichkeit nicht vorher gedacht habe.« »Auf diese Tour geht uns nun der einzige Verbündete flöten«, bemerkte Linda bedrückt. »Dieser gerissene Mr. Bannister ist uns wirklich immer um einen Schritt voraus, sofern er wirklich hinter all diesen Machenschaften steckt.« »Zumindest scheint er über jede weitere Entwicklung bestens informiert zu sein.« Mike zündete sich eine Zigarette an. »Wie bist du übrigens mit Irene Long zurechtgekommen?« »Die hat vielleicht eine Schau abgezogen. Niemand ist so beschäftigt wie die arme Irene. Schließlich konnte ich den ganzen Tag wie ein vergessenes Hündchen hinter ihr durch den Laden laufen. Natürlich habe ich ihr ein paar Namen hingeworfen, so die von Staines und Corina; aber abgesehen davon, daß sie errötete, als ich Victor Sanders erwähnte, ist sie allem ausgewichen.« 123
»Das paßt haargenau in das Bild, das ich mir von ihr gemacht habe«, erwiderte Mike. Mit einem Blick auf das Armaturenbrett des Mietwagens fragte er dann: »Kannst du diese Karre überhaupt fahren?« »Aber gewiß doch, Sir«, flötete Linda mit einem bezaubernden Augenaufschlag. »Eine ausgebildete Chauffeuse gehört doch zum Mietvertrag. Wohin darf ich den Herrn fahren?« »Bitte zur Tottenham Court Road, Miß.« Linda wollte gerade anfahren, zögerte dann aber. »Sie, da drüben geht Rodgers ins Krankenhaus.« Mike riß die Wagentür auf, sprang heraus und rief dem Inspektor über den Parkplatz etwas zu. Rodgers drehte sich um und kam herüber. Er grüßte das Ehepaar höflich, gab sich aber den Anschein, sehr beschäftigt zu sein. »Sind Sie bei Saltoni gewesen?« fragte er. »Ja, knappe fünf Minuten.« »Wie geht es ihm?« »Er scheint heute an plötzlichem Gedächtnisschwund zu leiden«, bemerkte Mike trocken. »Heute kann er sich nicht mehr an das erinnern, was er uns gegenüber gestern nachmittag ausgesagt hat.« Rodgers murmelte etwas Unverständliches. »Will er etwa ableugnen, was er über die Tarrant gesagt hat?« »Ja, und zwar hartnäckig.« »Verdammt noch mal!« entfuhr es dem Inspektor. »Was mag er für einen Grund haben? Was meinen Sie?« »Für mich steht fest, daß ihm jemand durch Mordandrohung eine Todesangst eingejagt hat, daß er jetzt schweigt und Gedächtnisschwund vorgibt.« Rodgers nickte düster. »Ich hatte keine Zeit, ihn früher aufzusuchen. Seitdem ich ihn gestern abend hier bewußtlos einlieferte, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hatte aber Anweisung gegeben, niemand in sein Zimmer zu lassen.« 124
»Irgendwer ist aber trotzdem zu ihm vorgedrungen. Außerdem steht sogar ein Telefon in seinem Zimmer.« »Das Krankenhauspersonal hatte aber strikte Anweisung, keine Anrufe für ihn entgegenzunehmen oder weiterzuleiten. Telefonisch kann es also nicht geschehen sein. Er durfte auch keine Briefe oder sonstige Mitteilungen empfangen. Das wird eine strenge Untersuchung nach sich ziehen.« Er tippte an seinen Hut und wandte sich zum Gehen. »Gibt es etwas Neues über Jo Peters?« rief Linda ihm nach. Rodgers drehte sich um. »Leider nein. Der Kriminaldirektor erwähnte nur, daß sie sich heute nicht zum Dienst gemeldet habe. Übrigens, Baxter, wußten Sie, daß das Mädchen zum Yard gehört und den Klub La Pergola beschattete?« »Ja, das wußte ich, Inspektor.« Rodgers zog ein saures Gesicht. »Für mich war es neu. Es wäre besser, wenn die rechte Hand wüßte, was die linke tut.« »Jo hat aber nicht den Fall Weldon bearbeitet, Inspektor.« Rodgers schnaubte verächtlich. »Das ändert auch nicht viel an der Tatsache, daß nur ich nicht Bescheid wußte.« Mike und Linda sahen sich fragend an. Die Nachricht über Saltoni schien den Inspektor in schlechte Stimmung versetzt zu haben. Mike hielt dem Inspektor sein Etui hin und bot ihm eine Zigarette an. »Sie erwähnten eben, Sie hätten nicht gewußt, daß Jo für den Yard arbeitet. Hat Charles Corina das nicht kürzlich Ihnen gegenüber erwähnt?« »Corina? Der Nachtklubbesitzer?« »Ja.« »Nein. Wozu auch? Oder hat der etwa ebenfalls über die Peters Bescheid gewußt?« »Das hat er tatsächlich. Übrigens behauptet Corina, er hätte Sie gefragt, ob das Mädchen für den Yard arbeite.« »So, so! Und was soll ich im Laufe dieser Unterhaltung geantwor125
tet haben?« »Sie sollen eine ausweichende Antwort gegeben haben.« Ein grimmiges Lächeln huschte über das Gesicht des Beamten. »Ich gehe jede Wette ein, daß sie ausweichend war. Was für eine Phantasie diese Burschen doch entwickeln.« Damit war für Rodgers das Gespräch beendet. Er wandte sich um und ging mit zielstrebigen Schritten auf das Krankenhaus zu. Linda blickte ihm nach und schauderte beim Anblick seiner breiten Schultern etwas. »Ich bin nur froh, daß ich nicht im Kreuzverhör dieses Mannes stehe. Saltoni tut mir jetzt fast leid. Rodgers ist doch ein ziemlich hartgesottener Kerl, meinst du nicht auch?« »Gewiß. Aber das bringt sein Beruf nun einmal mit sich. Er kommt ja dienstlich fast nur mit rauhen und brutalen Typen zusammen. Wie ist es, Miß … würden Sie es sich jetzt angelegen sein lassen und diesen Luxuswagen in die Tottenham Court Road lenken?« »Gewiß, Sir.« Linda lachte herzhaft und schaltete die Zündung ein. »Da ich ja nur Chauffeuse bin, wird der Herr ja wohl kaum auf den Gedanken kommen, mir zu sagen, warum wir dorthin fahren?« »Zufällig handelt es sich um den Ort, wo Saltoni zum erstenmal mit Nadia Tarrant zusammentraf.« »Was ist denn daran so aufregend?« »Für die Begegnung von zwei Typen wie Saltoni und Nadia ist es wahrlich ein seltsamer Ort.« Linda sah ihn verdutzt an. »Das verstehe ich nicht. Sie tauschte vielleicht gerade ihre letzten Schundromane um und –« »Es handelt sich nicht um eine Leihbücherei, meine Liebe. Dort wird überhaupt keine Unterhaltungslektüre geführt, sondern nur Sachbücher. Soweit ich die Tarrant beurteilen kann, war sie kaum eine Frau, die eine gute Bibliothek ohne ganz besonderen Grund aufsuchte. Und den möchte ich gern herausfinden.« 126
Etwas abseits stehend, beobachtete Linda mit sichtlichem Vergnügen, wie Mike in der Bibliothek seinen ganzen Charme ins Feld führte, um eine ältliche und kühl aussehende Bibliothekarin für sich zu gewinnen. »Würden Sie wohl so liebenswürdig sein und mich darüber informieren, wie das Ausleihverfahren hier vor sich geht? Muß man überhaupt seinen Namen angeben, wenn man ein Buch entleihen will?« »Selbstverständlich.« »Und wie geht es dann weiter?« fragte Mike verbindlich. »Man schlägt im Katalog nach, entscheidet sich für ein Buch und schreibt dann den Buchtitel zusammen mit dem eigenen Namen auf einen Vordruck. Wir nehmen den Zettel und händigen Ihnen dann das Buch aus. Sie dürfen es allerdings nicht mit nach Hause nehmen, sondern müssen es hier im Lesesaal lesen.« »Ach so. Und was geschieht mit den Zetteln?« »An sich werden sie aufbewahrt.« »Das ist für mich das Interessanteste«, erklärte Mike. »Wissen Sie, eine Bekannte – sie ist ziemlich groß, vierzig Jahre alt und hat hellrotes Haar – hat hier am 14. April in einem Buch geschmökert. Sie kann sich nicht mehr an den Titel erinnern, empfiehlt mir aber dringend, es auch zu lesen. Meinen Sie, es wäre möglich, den Zettel herauszusuchen und…« »Ich weiß nicht … es ist etwas ungewöhnlich.« »Das gebe ich zu«, antwortete Mike. »Ich wäre Ihnen aber zu Dank verbunden, wenn Sie eine Ausnahme machen könnten.« »Also gut. Ich werde mal schnell nachsehen«, erwiderte die Bibliothekarin. »Das ist wirklich entgegenkommend von Ihnen.« »Aber ich bitte Sie! Wenn der Zettel noch da ist, werde ich ihn auch finden. Wie war der Name Ihrer Bekannten?« »Miß Tarrant. Miß Nadia Tarrant.« »Danke, Sir. Wenn Sie inzwischen Platz nehmen wollen…« 127
Während die Bibliothekarin zu den Karteikästen ging, fragte Linda leise: »Warum willst du den Namen des Buches wissen?« »Ich bin neugierig. Das ist alles.« »Aber warum? Ich kann nicht einsehen, daß es von Bedeutung sein kann, zu wissen, was sie gelesen hat. Es war vielleicht nur ekelhaftes Wetter, und sie kam hier einfach herein, um im Trockenen zu sein.« Mike lächelte. »Zufällig war an diesem Tag strahlendes Wetter.« Linda starrte ihn ungläubig an. »Du willst mir doch nicht etwa einreden, du wüßtest noch genau, was für Wetter an jedem Tag im April gewesen ist?« »Das war gar nicht notwendig. Ich habe Saltoni danach gefragt, der sich gut erinnerte, weil es sein Geburtstag war. Und das war es ja auch, was mein Gehirn zu einiger Denkarbeit anregte.« Die Bibliothekarin kehrte zurück und strahlte Mike schon von weitem an. Er beeilte sich, zu ihr an den Schalter zu kommen. »Sie haben Glück«, sagte sie. »Der Zettel ist da. Am 14. April hat Nadia Tarrant zwei Bücher verlangt. Das eine war Lehrbuch der Fotografie, ein bekanntes Fachbuch über das Fotografieren; das zweite war die Enzyklopädie der Sozialwissenschaften. Vielleicht haben Sie von diesem Buch gehört?« »Ist es das Werk, das Sir Ronald Bakerton herausgegeben hat?« »Ja, das ist es. Das Buch ist erst vor kurzem erschienen.« »Könnte ich mir beide Bände einmal ansehen?« Die Bibliothekarin machte ein unglückliches Gesicht. »Ich dachte mir schon, daß Sie danach fragen würden, und habe eben nachgesehen. Leider befinden sich beide Bände im Augenblick bei unserer Zweigstelle in Edgware.« »Ah, das macht nichts. Heute ist meine Zeit ohnehin knapp bemessen; ich werde an einem anderen Tage vorbeikommen. Sie haben mir sehr geholfen.« »Aber das war doch selbstverständlich, Sir.« 128
»Hat uns das nun einen Schritt weitergebracht, Liebling?« fragte Linda auf dem Heimweg. »Ich glaube schon. Die Bedeutung eines Fachbuches über Fotografie wird dir sicher nicht entgangen sein.« »Du zielst auf Sanders? Vielleicht ist es ein reiner Zufall, daß er ein eifriger Amateurfotograf ist.« »Mag sein.« »Und was soll das andere Buch – über Sozialwissenschaften?« »Darüber werde ich mir eine Meinung bilden, wenn ich Gelegenheit gehabt habe, es mir anzusehen. Nach Hause, Johann! Und schonen Sie die Pferde nicht!« »Warum halten wir nicht einfach an der nächsten Buchhandlung?« »Beide Bücher sind wahrscheinlich dicke und teure Wälzer, die ein Händler nicht so ohne weiteres am Lager hat. Außerdem ist es schon zu spät, Darling. Es ist schon nach sechs Uhr. Nein, wir können Zeit sparen, wenn wir morgen früh telefonieren. Ich werde mir die Bücher durch Boten zustellen lassen.« Linda und Mike waren kaum zu Hause angelangt, als das Telefon läutete. Es war Kriminaldirektor Goldway. »Ich versuche schon seit einer halben Stunde, dich zu erreichen… Du brauchst dich nicht zu entschuldigen … es ist etwas Wichtiges passiert. Wir haben Jo aufgegriffen.« »Aufgegriffen? Wie soll ich das verstehen? – Wo? Und wie geht es ihr?« »Sie ist etwas zusammengestaucht, lebt aber und wird bald wieder quicklebendig sein. Wir fanden sie heute nachmittag in der Nähe ihrer Wohnung, wo sie in einem Rauschzustand ziellos umherwanderte. Wir haben sie zunächst mal ins Bett gesteckt.« »In einem Rauschzustand? Wie meinst du das?« »Die Kerle haben sie mit dieser verdammten ›Wahrheitsdroge‹ vollgepumpt.« 129
»Weiß sie, wer es getan hat?« »Sie ist ziemlich sicher, wer dahintersteckt; aber im Augenblick kann man nichts unternehmen. Kannst du hierherkommen? Es wäre besser, wenn wir die Einzelheiten persönlich besprechen könnten. Vielleicht kannst du dann später, wenn Jo etwas geschlafen hat, noch mit ihr reden. Und dann sage bitte Linda, sie möchte sich in ihren besten Staat werfen. Ihr beide habt heute abend Dienst auf dem Tanzparkett.« »Etwa wieder in dem Klub von Corina, John? Du weißt doch, wir sind keine Mitglieder.« »Mach dir deswegen keine Sorgen, Mike. Das ist schon arrangiert.« Als sie am Abend zum Klub La Pergola fuhren, berichtete Mike seiner Frau ausführlich über sein Gespräch mit Goldway. »Es gibt also wirklich einen Mr. Bannister? Dann hat Saltoni nicht gelogen?« fragte Linda. »Ja, ein Bannister existiert. Wir wissen nur noch nicht, wie er aussieht. Irgend so ein Schurke warf Jo Peters einen Sack über den Kopf und verstaute sie wie ein Bündel in einem Wagen. Das muß wenige Minuten nach unserer Verabschiedung gestern nacht gewesen sein. Jo meint, es seien mindestens drei oder vier Kerle gewesen. Das Interessante ist, daß einer von ihnen ihr im Wagen die Pistole in die Rippen drückte und sie auszufragen begann. Der Kerl am Lenkrad schrie ihm daraufhin zu, er solle damit aufhören, und sagte dann: ›Mr. Bannister wird die Fragen steilen.‹ Jo glaubt nicht, daß den anderen die Preisgabe des Namens aufgefallen ist.« »Und wohin hat man Jo gebracht?« »Das weiß sie nicht, aber ziemlich weit aus der Stadt, falls die Burschen nicht im Kreis gefahren sind, um sie zu verwirren. Sie glaubt, daß es sich um ein einsames Landhaus handelt. Jo spürte Laub und Kies unter den Schuhsohlen und hörte von weither einen 130
Hund bellen. Sie ist ausgebildet, auf solche Dinge zu achten. Dann wurde sie in ein großes Zimmer geführt und vor eine grelle Lampe gesetzt. Die Fragen stellte ihr ein Mann, der eine Nylonmaske trug; er war aber nicht der Chef. Im dunklen Hintergrund des Zimmers saß jemand, der ständig konsultiert wurde. Er sprach sehr leise, und Jo konnte nicht verstehen, was er sagte; sie glaubt aber aufgrund der Stimme und eines Anflugs von Akzent sagen zu können, daß es ein Ausländer war.« »Corina!« »Möglich. Zu ihm würde auch das Thema des Verhörs passen. Immer wieder drang man mit der Frage auf sie ein, warum sie den Klub La Pergola beschattet habe. Sie stellte sich so dumm, wie es ging. Das haben die Kerle natürlich nicht geschluckt. Dann versuchten sie herauszufinden, ob sie wisse, wer Bannister ist, und ob sie auch Spuren im Fall Harold Weldon nachgegangen sei. Das hat sie glatt abgestritten. Die Burschen gerieten daraufhin in Wut und wurden etwas handgreiflich.« »Das ist ja fürchterlich. Dann hatte ich doch die richtige Ahnung, als ich mir gestern nacht um sie Sorgen machte.« »Als die Halunken merkten, daß sie auf die grobe Tour nichts bei ihr erreichten, verpaßten sie ihr ein paar Spritzen mit der ›Wahrheitsdroge‹. Unter deren Wirkung hat sie dann ausgepackt, daß sie für das Rauschgiftdezernat in Washington arbeite und Kriminaldirektor Goldway bei seiner Untersuchung des verbotenen Rauschgifthandels assistiere. Jo hatte den Eindruck, daß diese Enthüllungen bei den Gaunern nicht die geringste Unruhe hervorriefen. Deren Hauptinteresse bestand offensichtlich darin, zu erfahren, ob sie wisse, wer Bannister ist. Es scheint durchaus möglich, daß die Bande überhaupt nichts mit Rauschgift zu tun hat.« »Und wissen wir jetzt, warum sie uns einen der Schuhe von Jo schickten?« »Entweder um uns einen Schreck einzujagen, oder um uns vorzu131
machen, es bestehe ein Zusammenhang mit dem Fall Weldon. Das mag sich widerspruchsvoll anhören, aber es kann nur so oder so sein.« »Du hast Jo selbst noch gar nicht gesprochen?« »Nein, sie soll noch immer ziemlich benommen sein.« »Was hält denn Inspektor Rodgers von der Sache?« »Weiß ich nicht. Er war nicht anwesend, als ich mit John sprach. Der Kriminaldirektor wird ihn inzwischen sicherlich informiert haben. Ich nehme an, Rodgers wird heute abend auch in dem Klub sein.« »Und warum verhaftet die Polizei nicht einfach diesen Corina?« »Weil sie noch keine hieb- und stichfesten Beweise hat. Jo glaubt zwar, es sei Corina gewesen, der ihre Vernehmung durch einen Mittelsmann geleitet hat, doch ist das nicht sicher. Und vergiß bitte nicht, daß erst noch bewiesen werden muß, daß Bannister und Corina ein und dieselbe Person sind. Deswegen rücken wir jetzt dem Klub so hart auf die Pelle. Die Polizei hofft, daß sie Corina so viel Angst und Unsicherheit einjagen kann, daß er sich zu einer unvorsichtigen Handlung hinreißen läßt.« Linda verringerte die Geschwindigkeit, als der Wagen die Außenbezirke von Hampstead erreichte. »Und meine Rolle? Ich soll wohl viel- oder nichtssagende Andeutungen über deine Freunde in der Fleet Street fallenlassen?« »Ja. Meiner Ansicht nach ist das das einzige, womit man Corina aus dem Gleichgewicht bringen kann.« Der Abend ließ sich nicht gerade erfolgversprechend an. Nachdem sie fast eine Stunde am Tisch gesessen hatten, ohne daß Corina sich sehen ließ, wurde Mike ungeduldig. »Ich glaube, wir sehen uns mal etwas hinter der Bühne um.« Linda schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das ist mir heute hier alles viel zu ruhig«, meinte sie. 132
Mike trank sein Glas aus. »Wahrscheinlich hat man Corina verständigt, daß wir hier sind, und er läßt sich nun einfach nicht blicken.« »Denk bitte an die vier oder fünf Gorillas, die er als Leibwache hat. Du würdest niemals in sein Büro hineinkommen – oder aber nicht mehr heraus.« »Das werden wir gleich sehen, Darling«, sagte Mike und war im Begriff, sich zu erheben. »Moment mal. Da kommt Inspektor Rodgers. Er wird schließlich für die grobe Arbeit bezahlt; überlaß das lieber ihm.« Der Inspektor hatte sie sofort entdeckt und bahnte sich auf nicht gerade höfliche Weise einen Weg zu ihnen durch die Tanzpaare. »Er macht einen recht zufriedenen Eindruck, meinst du nicht auch?« fragte Linda. »Er hat sicher einen guten Grund dafür. Guten Abend, Inspektor. Gefällt es Ihnen hier?« Rodgers blickte sich verächtlich um. »Nur meine Berufspflicht kann mich in ein Lokal dieser Art bringen.« »Die Hauptattraktion des Klubs scheint sich heute einen freien Abend zu machen.« »Meinen Sie Corina? Der ist in seinem Büro. Ich habe ihn gerade besucht.« Rodgers zwinkerte mit den Augen. »Er scheint sich heute nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen.« »Hatten Sie eine Auseinandersetzung?« Rodgers verzog den Mund. »Sagen wir, er hat sich mit dem Fuß im Teppich verfangen und ist dabei ungeschickt gestolpert.« »Man kann eben kein Omelett backen, ohne vorher Eier zu zerschlagen«, erwiderte Mike. »Dieser aalglatte Bursche ist natürlich mit allen Wassern gewaschen«, fuhr der Inspektor fort. »Er hat nicht einmal zu verbergen versucht, daß er um Miß Peters' Entführung wußte.« »Das hat er von mir erfahren«, sagte Mike. 133
Rodgers strich sich mit der flachen Hand über den Bürstenhaarschnitt. »Sie haben ihm das erzählt? Wann?« »Heute nachmittag. Wir führten ein kurzes Gespräch in seiner Luxuswohnung in der South Audley Street«, antwortete Mike. »Weiß er, daß Jo wieder da ist?« fragte Linda. »Ja, ich habe es ihm mitgeteilt.« »Und wie hat er die Nachricht aufgenommen?« »Er zeigte sich nicht gerade überrascht. Corina überlasse ich jetzt Ihnen. Ich bin mit ihm vorerst fertig und muß gleich weg.« Schon im Gehen, fügte Rodgers noch hinzu: »Übrigens sitzen zwei Bekannte von Ihnen drüben in der Cocktailbar.« »Interessant. Und wer?« »Sanders und Miß Long. Sie scheinen einen Streit miteinander auszufechten. Und die Dame hat offenbar etwas zuviel intus.« »Haben Sie mit den beiden gesprochen?« »Nein. Vor zehn Minuten ging ich an ihnen vorbei. Sie haben mich nicht bemerkt.« »Haben Sie etwas bei Saltoni erreicht, Inspektor?« »Bis jetzt nicht. Aber das war nicht meine letzte Unterredung mit ihm. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.« Linda leerte ihr Glas und fragte: »Darf ich um diesen Tanz bitten, Mr. Baxter?« Mike lachte verschmitzt und führte sie zur Tanzfläche. »Bist du überhaupt nicht neugierig, was sich in der Bar tut?« »Eigentlich schon; der Abend war bisher recht langweilig.« Da das eine Ende der Tanzfläche an die Bar grenzte, konnten die Baxters, indem sie etwas länger auf der Stelle tanzten, Irene Long und den Oberst eine Weile beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. »Der Inspektor hat vermutlich recht«, flüsterte Mike seiner Frau ins Ohr. »Irene hat zuviel getrunken.« »Sie scheint schlechte Laune zu bekommen, wenn sie betrunken 134
ist. Und der Oberst möchte sie offensichtlich gern abwimmeln.« »Diese Absicht dürfte er schon länger haben. Sanders ist mir nicht gerade der Typ, der gern heiratet. Und bei Irene Long habe ich den Eindruck von Torschlußpanik. Hör dir nur ihre Stimme an.« Irene Long hatte ihr Glas auf den Tisch geknallt, und ihr streitbares Organ übertönte sogar die Musik, »…verdammt noch mal, wenn ich schon nicht mit Charles tanzen kann, dann bestell mir wenigstens etwas zu trinken.« »Irene! Reiß dich doch zusammen!« dröhnte die Stimme von Sanders gerade in dem Augenblick, als die Musik zu spielen aufhörte. Sanders sah sich im gleichen Moment unbehaglich um und erblickte die Baxters. Sein scharf geschnittenes Gesicht ließ Verlegenheit erkennen. Mike und Linda traten an die Bar und begrüßten die beiden Kampfhähne. »Diese Höhle ist heute abend stinklangweilig!« sagte Irene Long herausfordernd. Sanders schluckte nervös und versuchte, das drückende Schweigen zu überbrücken, weil die anderen Gäste neugierig auf sie starrten. »Irene ist ein wenig aufgebracht, weil Corina nicht hier ist. Sie zieht seine Art zu tanzen der meinen vor.« Sein Lachen klang gezwungen. »Victor, Liebling«, fuhr Irene mit ungedämpfter Stimme in ihrem Lamento fort, »du tanzt ja gar nicht, sondern marschierst von einer Ecke zur anderen, wie auf dem Kasernenhof. Zum Teufel, wo bleibt der Gin, den ich bestellt habe?« »Mr. Corina wird sicher später noch aufkreuzen«, meinte Linda beschwichtigend. »Später?« rief Irene Long um mindestens eine Oktave zu hoch. »Wieviel später kann es denn noch werden? Es ist schon fast Mitternacht, und er hätte schon vor etlichen Stunden hier sein sollen. Wenn Charles nicht mehr mit seinen Gästen tanzen will, dann soll 135
er den Laden lieber gleich zumachen.« »Schade, daß Mr. Corina nicht da ist«, warf Linda ein. »Ich hatte mich ebenfalls auf einen Tanz mit ihm gefreut. Miß Long, wollen Sie es mal mit meinem Mann versuchen? Der hat Fred Astaire überhaupt erst das Tanzen beigebracht.« »Nun übertreibe nicht so stark, Darling«, protestierte Mike lachend, fing aber den ihm zugespielten Ball auf. »So alt bin ich denn doch noch nicht. Wenn es Miß Long mit mir mal versuchen will, bin ich gern bereit, das Risiko einzugehen.« Irene Long schoß ihm unter ihren künstlich verlängerten Augenwimpern einen Blick zu, der verführerisch sein sollte. Der von ihr gewünschte Effekt ging aber teilweise dadurch verloren, daß sich ihre Augen nicht mehr auf ein Ziel zu konzentrieren vermochten. »Sie führen mich in Versuchung, Mrs. Baxter. Ihr Gatte ist eine sehr attraktive Erscheinung. Da ich aber schon zu Victor nein gesagt habe –« Der Oberst erfaßte augenblicklich die günstige Gelegenheit. »Schon gut, altes Mädchen. Tanze nur. Meine alten Knochen haben für heute abend sowieso schon genug geleistet.« Mike verbeugte sich galant und reichte Irene seinen Arm. Sie nahm ihn mit großer Pose an. Schon eine Sekunde später war sie froh, daß er sie vor dem Stolpern bewahrte. Mike steuerte sie vorsichtig zwischen Tischen und Stühlen hindurch zur Tanzfläche. Sie kamen nicht recht in Schwung; Irene schien mit allen Körperreaktionen um einen halben Takt nachzuhinken. Nach und nach wurde sie langsam besser, und am Ende des ersten Tanzes waren ihre gemeinsamen Bewegungen einigermaßen rhythmisch. Als die Musik wieder einsetzte, fragte Mike sie: »Wollen wir es noch einmal wagen?« Sie stimmte eifrig zu. Glücklicherweise war jetzt ein Cha-Cha-Cha an der Reihe, einer der wenigen Tänze, die Mike wirklich beherrschte und Irene Long auch. 136
Am Ende dieses Tanzes stieß sie einen langen Seufzer der Befriedigung aus. »Ihre Gattin hat wirklich nicht übertrieben, Mr. Baxter«, lobte sie Mike, völlig außer Atem. »Sie sind aber auch nicht gerade eine Anfängerin, Miß Long«, gab Mike das Kompliment zurück. Erst nach dem vierten Tanz begann Miß Long, die während des Tanzens kaum sprach, doch etwas mit Mike zu reden. Er hörte aufmerksam zu und ermunterte sie zum Weitersprechen. Als es für ihn gerade interessant zu werden begann, setzte die Musik aus, und es wurde eine Bühneneinlage angekündigt. Enttäuscht geleitete Mike Irene Long, deren Augen übermäßig glänzten, zur Bar zurück, wo Sanders schon ungeduldig auf sie wartete. »Ich dachte schon, ihr wolltet die ganze Nacht durchtanzen«, bellte er. »Komm, Irene, wir müssen gehen.« Er ergriff ihren Arm und führte sie ungeachtet ihrer Proteste aus der Bar. Bevor sie dem Blickfeld entschwand, drehte Miß Long sich noch einmal um, winkte Mike spielerisch mit einer schlaffen Hand zu und schenkte ihm ein begehrendes Lächeln. »Huh!« platzte Linda heraus. Offenbar mußte sie sich sehr beherrschen, um nicht laut aufzulachen und den Anschein zu erwecken, eifersüchtig zu sein. »Ich hoffe doch, daß dieser Schaustellung ein lobenswertes Motiv zugrunde lag.« Mike wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und grinste erschöpft. »Du meine Güte! Schon lange habe ich nicht so hart arbeiten müssen. Aber es war die Strapazen wert. Endlich hat sich ihre Zunge gelöst.« »Ich will ja nicht in deine Intimsphäre eindringen; aber was hat sie denn nun wirklich preisgegeben?« »Zweierlei war interessant: Das eine lieferte mir eine endgültige Bestätigung, während mich das andere verblüfft und mir Rätsel aufgibt. Bestätigt ist, daß Staines sie wirklich nicht besucht hat. Ich 137
bin jetzt sicher, daß sie damals die Wahrheit sagte. Glücklicherweise kam sie von selbst auf dieses Thema, so daß sie nicht argwöhnen kann, ich wollte sie aushorchen.« »Hat sie etwas über Nadia Tarrant gesagt?« »Nein. Aber nun zu dem, was mich verblüfft. Sie ließ mir eine mysteriöse Warnung zukommen.« »Was für eine Warnung?« »Sie sagte wörtlich: ›Was auch immer geschieht, fahren Sie nicht nach Reading.‹« »Kennen wir jemand in Reading?« »Keine Seele. Ich werde es mir aber für alle Fälle merken. Ich versuchte, etwas mehr aus ihr herauszuholen. Sie wiederholte aber nur diese Worte und äußerte sich dann nicht mehr dazu.« Mike bestellte bei dem rothaarigen Barmixer neue Getränke und fragte Linda: »Und wie bist du in meiner Abwesenheit mit Sanders zurechtgekommen?« »Das ist wohl der langweiligste und eingebildetste Esel, der mir je über den Weg gelaufen ist. Von Konversation versteht der nicht mehr als ein steinerner Buddha.« »Laß dem armen Trottel Gerechtigkeit widerfahren – sicher war er nur verstimmt, weil seine Freundin sich hat vollaufen lassen.« »Mag sein. Die einzige Abwechslung war ein kurzer Blick, den wir beide auf Corina werfen konnten.« »Corina? War er hier im Lokal?« »Er steckte nur ganz kurz seinen Kopf durch die Hintertür, um diesem rothaarigen Prachtstück von Barkeeper dort einige Anweisungen zu geben. Er legte offensichtlich keinen Wert darauf, daß ihn jemand bemerkte.« »Schade, daß ich ihn nicht gesehen habe. Wir wollen mal schnell unsere Mäntel holen. Einen Besuch müssen wir noch machen.« »Was? Zu dieser nachtschlafenden Zeit? Wohin soll's denn gehen?« 138
»Zum Reigate House, Chelsea.« Linda machte große Augen und lachte. »Lieber Schatz, wenn du eine galante Verabredung mit deiner neuen Freundin hast, sollte ich lieber zu Hause bleiben.« Mike legte seinen Arm um ihre Taille. »Ich nehme dich ja als Anstandsdame mit, Darling.«
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ike drückte auf den Klingelknopf von Reigate House. Den gedämpften Flüchen des Hausmeisters nach zu urteilen, kam ihm diese Störung höchst ungelegen, und er gab auch nur ein kurz angebundenes »Ja?« von sich. »Sind Sie der Hausmeister?« fragte Mike mit betonter Höflichkeit. »Bin ich. Dan Appleby ist mein Name.« »Prächtig. Da haben wir ja Glück.« Mike strahlte Linda an, die ebenso freundlich nickte und dann dem brummigen Hauswart ein Lächeln schenkte, das Butter im Kühlschrank zum Schmelzen gebracht hätte. Selbst Dan Applebys frostiger Blick schien etwas aufzutauen. Appleby sah nun seine beiden Besucher prüfend an und fragte: »Was wollen Sie?« Mike hatte die Rangabzeichen auf der verblichenen und zerschlissenen Khakijacke bemerkt, die der Mann trug. »Oh, ich sehe, Sie haben in der Wüste gekämpft.« »Ja, Sir. Achte Armee«, antwortete der Mann stolz. Mike nickte bewundernd. 139
Der Hauswart öffnete die Tür zu seinem kleinen Aufenthaltsraum und bat das Ehepaar herein. Während Linda auf einem wackligen Lehnstuhl Platz nahm, ermunterte Mike den Mann, erst noch ein Weilchen über den Krieg in der Wüste zu plaudern, bevor er die Unterhaltung auf den eigentlichen Zweck seines Besuches lenkte. »Und jetzt muß ich Ihnen endlich erklären, warum wir Sie noch zu so später Stunde gestört haben, Mr. Appleby. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die ganze Sache streng vertraulich behandeln würden, da ich einige Auskünfte über einen Ihrer Mieter benötige.« Die Haltung des Hausmeisters, die während der Schilderung seiner Kriegserlebnisse merklich lockerer geworden war, versteifte sich wieder. Argwöhnisch fragte er: »Arbeiten Sie etwa für die Polente?« »Die Polizei? Um Himmels willen, nein! Es handelt sich um eine private Auskunft, allerdings von intimer Natur. Sie verstehen…« Mr. Appleby nickte und warf Linda einen wissenden Blick zu, als er fragte: »Also – um wen handelt es sich?« »Gerade das ist die Schwierigkeit. Ich bin nicht sicher, welchen Namen der Herr hier angegeben hat. Aber vielleicht können Sie mir sagen, wer in der Wohnung neben Miß Long und wer darüber und darunter wohnt?« Appleby überlegte einen Augenblick und antwortete dann. »Unter Miß Long wohnt niemand, und das Appartement nebenan ist im Augenblick nicht vermietet. Die Leute darüber sind Dänen und heißen Carvreed.« Das war nicht die Antwort, die Mike erhofft hatte; stirnrunzelnd fragte er: »Wie sehen die Carvreeds etwa aus?« »Jung und blond; beide ziemlich groß und schlank. Sehr nette Leute übrigens. Im Augenblick sind sie nach Dänemark in Urlaub gefahren.« »Und diese Wohnung der Dänen steht inzwischen leer?« »Nein, die ist untervermietet; an einen Mister Williams.« 140
Mikes Interesse stieg wieder. »Wie sieht denn dieser Herr aus?« Als Dan Appleby seinen beiden Besuchern eine recht genaue Beschreibung des älteren, leicht hinkenden und grauhaarigen Mr. Williams gab, der nur Hector Staines sein konnte, machte Linda ein verblüfftes Gesicht, während Mike ohne jedes Zeichen der Überraschung nickte. »Ist das der Mann, hinter dem Sie her sind?« fragte Appleby mit neugierigem Blick. Mike ging auf die Frage nicht ein. »Könnten Sie mir etwas Interessantes über diesen Mr. Williams sagen? Über seine Gewohnheiten; was er so treibt; wann er kommt; womit er sein Geld verdient und ob er Besucher hat?« Appleby konnte nur wenig berichten. Der neue Mieter schien sich nur wenige Stunden in der Woche im Appartement aufzuhalten und dann meistens abends. Er war ruhig und hatte gute Manieren. Dem Hausmeister war sein Verhalten jedoch etwas seltsam vorgekommen. Als Appleby seinen Bericht beendet hatte, zog Mike diskret einen Geldschein aus seiner Brieftasche und schob ihn unter den Aschenbecher auf dem Tisch. »Sie waren mir eine wertvolle Hilfe, Mr. Appleby«, sagte Mike, während er sich aus dem Lehnstuhl erhob. »Mein Klient ist ein großzügiger Mann und wird für diese Informationen sehr dankbar sein.« Applebys Interesse belebte sich schnell, als er die Banknote erblickte. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?« »An sich schon; aber ich wage kaum, Ihnen noch weitere Umstände zu machen…« »Von Umständen kann überhaupt keine Rede sein, Sir.« »Ob es wohl möglich wäre, daß ich mir eine der Wohnungen mal ansehe? Wenn Sie nicht die notwendige Vollmacht haben sollten, kann ich mich immer noch an –« 141
»Von Vollmachten verstehe ich nichts; aber ich habe einen Hauptschlüssel.« Wieder zwinkerte er Linda verständnisvoll zu. »Haben Sie an dem Appartement von Mr. Williams ein besonderes Interesse?« »Ja, das wäre ganz nützlich.« »Mike, ich verstehe das alles nicht«, flüsterte Linda, als der schwerfällige Hauswart davonschlurfte, um den Schlüssel zu holen. »Was soll dein Gerede von einem Klienten? Und warum wollen wir uns überhaupt das Appartement von Staines ansehen?« »Aber Darling – hast du es nicht mitbekommen? Unser neuer Freund nimmt an, ich sammle Material für einen Scheidungsprozeß. Lassen wir ihn bei diesem Glauben. Und was das Appartement von Staines betrifft, da bin ich wirklich neugierig.« Den Schlüssel in der Hand, kam Appleby zurückgeschlurft und pfiff leise die Melodie eines alten Volksliedes vor sich hin. Man hatte den Eindruck, als mache ihm die mitternächtliche Nachforschung von Mike einen Mordsspaß. Er fuhr mit ihnen im Lift zum vierten Stock und ließ sie in das von Staines gemietete Appartement ein. Hier empfing sie die muffige, unpersönliche Atmosphäre eines unbewohnten Raumes. Die wenigen persönlichen Habseligkeiten darin waren nicht gerade in sauberem Zustand. Hinter einem schweren Sofa, das an der Wand gegenüber dem Kamin stand, fand Mike, was er suchte. »Welches Zimmer von Miß Long liegt hier direkt darunter?« wandte er sich fragend an Appleby. »Das Wohnzimmer – genau wie hier.« Mike brummte etwas und wuchtete das schwere Sofa von der Wand weg. Dabei kam ein quadratischer Metallgegenstand von der Größe einer Kofferschreibmaschine zum Vorschein. Mike betätigte das Federschloß und ließ den Metalldeckel aufklappen. Der Hausmeister sah ihm über die Schulter zu. 142
»Teufel noch mal, ich weiß, was das für ein Ding ist«, rief der Hauswart aus. »Das ist so ein Abhörgerät, wie wir es in die Gefangenenlager einbauten, um zu hören, was die Fritzen sich zu erzählen hatten.« »Da haben Sie vollkommen recht, Mr. Appleby«, antwortete Mike, der ein Paar Kopfhörer herausnahm und die Aufschriften auf dem Gerät studierte. »Kein Wunder, daß Mr. Williams dieses Appartement nur in den Abendstunden besucht. Das dürfte die einzige Zeit sein, zu der im Stockwerk darunter eine Unterhaltung stattfinden wird, der man zuhören will.« »Du meine Güte, auf welche Tricks die Leute doch heute so verfallen. In der guten alten Zeit war das Leben doch viel einfacher. Hoffentlich hört meine Frau nichts davon; das würde ihr nur Flausen in den Kopf setzen.« Mike warf Linda einen schnellen Blick zu. Es gelang ihr, ernst zu bleiben. »Sie haben recht, Mr. Appleby. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« »Jetzt weiß ich auch, warum der alte Lustmolch keine Putzfrau in der Wohnung haben wollte. Er bestand darauf, alles selber zu machen. Dafür hat er mir allerdings jede Woche einen Schein in die Hand gedrückt, um ganz sicher zu gehen.« Mike stellte das Abhörgerät wieder sorgsam auf den alten Platz und schob das Sofa zurück an die Wand. »Wollen Sie denn nicht die Drähte herausreißen?« »Nein. Mein Klient würde nicht wollen, daß Mr. Williams erfährt, daß wir auf seine Lauschertätigkeit gestoßen sind. Vorläufig wollen wir ihm noch das Vergnügen lassen. Dabei verlasse ich mich ganz auf Sie, Mr. Appleby.« Mike zückte erneut seine Brieftasche und entnahm ihr eine Pfundnote. »Als ein Mann von Welt, der die Bedeutung der Worte ›Takt‹ und ›Diskretion‹ kennt, werden Sie sicher nichts von unserem kurzen Besuch hier verlauten lassen.« Die schwielige Pranke des Hauswarts umschloß mit geübtem Griff 143
den Geldschein, während er breitlächelnd antwortete: »Sie können sich auf mich verlassen, Sir.« Von unten her erklang das Geräusch einer laut ins Schloß fallenden Tür, gefolgt von Schritten in Irene Longs Wohnzimmer. Alle drei waren sofort alarmiert. Wie ein Souffleur auf der Bühne flüsterte Appleby: »Das ist Miß Long. Dem Geräusch nach sind es die Schritte einer Frau.« Mike lächelte. »Sie hätten Detektiv werden sollen.« »Die hat aber lange gebraucht, um dem Obersten gute Nacht zu sagen«, murmelte Linda. Appleby führte sie wieder aus der Wohnung, während Mike leise zu Linda sagte: »Um so besser für uns. Hoffentlich ist sie inzwischen wieder nüchtern geworden.« Linda sah ihn überrascht an und blickte dann auf die Uhr. »Willst du etwa jetzt noch zu ihr?« »Ich könnte mir wenige Gelegenheiten vorstellen, die günstiger wären«, antwortete Mike entschlossen. Der Mike Baxter, der Irene Long jetzt gegenüberstand, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem Charmeur, der eine Stunde zuvor mit ihr im Klub La Pergola getanzt hatte. Erschrocken stand sie an der offenen Tür und forderte die beiden nicht auf, hereinzukommen. Mike schob einfach die Tür weiter auf und marschierte, obwohl sie protestierte, an ihr vorbei in die Wohnung. »Aber, Mr. Baxter«, versuchte sie sein Vordringen zu stoppen, »es ist sehr spät, und für heute abend habe ich mehr als genug.« »Der Abend ist noch nicht vorbei, Miß Long. Setzen Sie sich.« »Das ist unerhört! Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Victor hat mir mehr zu trinken gegeben, als für mich gut war.« »Unsinn! Nicht Sanders ist der Anlaß für Ihr übermäßiges Trinken, Miß Long. Ihr Gewissen ist es, oder auch die nackte Angst! Im Augenblick sind Sie nüchtern wie ein Richter im Ornat, obwohl 144
Sie morgen sicher einen bösen Kater haben werden. Jetzt möchte ich zunächst mal eine Erklärung dafür, was die Warnung bedeuten soll, die Sie mir beim Tanzen gegeben haben. Was hat es zu bedeuten, daß ich nicht nach Reading fahren soll?« Irene Long sank verängstigt in einen Stuhl. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich habe ich in dem angesäuselten Zustand nur so dahergeredet. Ich habe wirklich nichts Besonderes damit gemeint.« »Hören Sie auf, solchen Quatsch zu reden! Ich werde jetzt die Wahrheit aus Ihnen herausholen, und wenn ich den Rest der Nacht hier sitzen muß.« »Dann rufe ich die Polizei!« begehrte sie auf, aber ohne große Überzeugungskraft. »Das bezweifle ich stark. Mit der Polizei möchten Sie doch wohl am allerwenigsten zu tun haben.« »Bitte, Mr. Baxter, glauben Sie mir doch!« Tränen traten ihr in die Augen, und nun sah sie so alt aus, wie sie wirklich war. Nichts war mehr von der feschen und tüchtigen Direktrice aus der Bond Street zu sehen. Vor den Baxters stand eine verängstigte und reichlich verblühte Blondine mittleren Alters. Linda empfand schmerzliches Mitleid mit ihr, doch Mike blieb hart. »Sparen Sie sich diese rührselige Tour, dafür ist es jetzt zu spät – in jeder Hinsicht.« Er setzte sich der weinenden Frau gegenüber und sah ihr voll ins Gesicht. »In weniger als einer Woche wird man Harold Weldon wegen Mordes an Lucy Staines zum Galgen führen. Diesen Mord hat er nicht begangen. Wollen Sie sich hier hysterischen Weinkrämpfen hingeben, während ein unschuldiger Mann sterben wird … ein Unschuldiger, den Sie vielleicht retten könnten?« »Ich … ich brauche etwas zu trinken.« »Nein, das brauchen Sie nicht! Für heute haben Sie schon mehr als genug.« 145
»Bitte, lassen Sie mich jetzt allein. Ich bin müde und muß ins Bett.« »Sie werden ja doch nicht schlafen können, dazu sind Sie viel zu aufgeregt. Warum sagen Sie nicht endlich die Wahrheit? Was wissen Sie vom Fall Weldon? Was verbergen Sie vor der Polizei und mir? Und warum sollte ich nicht nach Reading gehen?« Sie schluckte mehrmals und sagte dann: »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich riskieren konnte. Bitte lassen Sie mich jetzt in Ruhe.« Linda blickte Mike an; ihre Augen baten förmlich darum, die Frau nicht weiter zu bedrängen. Er nickte und stand auf. »Also gut, Miß Long. Wenn Sie nicht mitmachen wollen, dann geht eben alles auf Ihre Kappe. Diese Geschichte wird Ihnen noch viel mehr Aufregungen bringen. Als Gegenleistung für die Warnung, die Sie mir heute gegeben haben, will ich Ihnen auch einen Dienst erweisen: Achten Sie darauf, was Sie in diesem Raum sprechen.« Irene hob den Kopf und blickte ihn verwirrt an, wobei in ihrem Gesicht erneut Anzeichen von Furcht zu erkennen waren. Mit dünner und brüchiger Stimme fragte sie: »Wie meinen Sie das?« »Haben Sie den Mann schon einmal zu Gesicht bekommen, der die Wohnung genau über Ihnen gemietet hat?« »Mr. Carvreed?« »Nein. Der ist mit seiner Frau seit einiger Zeit in Dänemark. Die Wohnung ist für die Dauer seiner Abwesenheit untervermietet an einen Mann namens Williams, was übrigens nicht sein richtiger Name ist. Der Mann heißt Hector Staines.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« »Dann erkundigen Sie sich beim Hauswart.« Irene Long wandte sich verzweifelt an Linda. »Ist das wahr, Mrs. Baxter? Sie werden mich bestimmt nicht anlügen.« Linda war sehr blaß, aber ihre Stimme hatte echte Überzeugungskraft. »Keiner von uns will Sie anlügen, Miß Long. Wir wollen Ih146
nen doch nur helfen. Sie müssen vorsichtig sein und deshalb darauf achten, was Sie in diesem Raum sprechen, weil Hector Staines im Zimmer darüber ein Abhörgerät eingebaut hat. Er hat schon einige Zeit Ihre Unterhaltungen hier mitgehört. Um das zu erreichen, hat er die Wohnung von den Dänen gemietet.« Irene Long wollte etwas sagen, brachte aber keinen Laut hervor. Sie war in Ohnmacht gefallen. Mike und Linda hatten die vielfältigen Ereignisse des Tages völlig erschöpft; dennoch verspürten sie wenig Neigung, schlafen zu gehen. »Warum mag Staines wohl so großen Wert darauf legen, die Gespräche von Irene Long abzuhören?« fragte Linda. »Bestimmt nicht, weil sie im Schlaf spricht, worauf du dich verlassen kannst. Die Unterhaltungen mit ihren Besuchern sind es, die ihn interessieren, und wer diese Besucher sind.« »Meinst du, sie wird sich bald wieder erholen, Liebling? Sie sah verdammt mitgenommen aus, als wir von ihr gingen.« »Sie wird auch das überwinden.« »Du kannst manchmal sehr hart sein.« »Manchmal muß man das auch«, erwiderte Mike ernst. »Wenn Irene Long sich schon vor ein paar harten Worten fürchtet, hätte sie sich nicht in diese dunklen Machenschaften einlassen sollen. Sie kann von Glück sagen, daß ich mit ihr nicht so umgesprungen bin wie die Kerle mit der armen Jo Peters.« Linda nickte zustimmend. »Jetzt lasse ich sie bis morgen im eigenen Saft schmoren«, beschloß Mike die nächtliche Unterhaltung. »Nach einer schlaflosen Nacht wird sie vielleicht eher geneigt sein, endlich etwas zu zwitschern.«
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m Tage darauf hatte Mike sich gerade nach eingehendem Studium der beiden Fachbücher, die ihm die Buchhandlung inzwischen geliefert hatte, zu Linda ins Wohnzimmer gesetzt, als es an der Wohnungstür schellte und Mrs. Potter ihm kurz danach Mr. Corina meldete. Schon als Corina das Zimmer betrat, merkte man ihm die innere Spannung deutlich an. Seine Verbeugung vor Linda war nur angedeutet, und der Handkuß blieb aus. Zweifellos stand Corina noch unter dem Eindruck seines jüngsten Zusammentreffens mit Inspektor Rodgers, über das er verärgert berichtete. »Nichts hasse ich mehr, als mich von solchen stiernackigen Individuen herumstoßen zu lassen«, ereiferte er sich. »Ich habe dem Polypen gesagt, daß ich mich beim Polizeipräsidenten beschweren und die Presse über sein Verhalten informieren werde.« Mike zuckte mit den Schultern. »Rodgers hatte sicher nichts weiter im Sinn, als seine Pflicht zu tun, Corina.« »Pflicht! Der Mann scheint von Natur aus ein Sadist und Schläger zu sein! Der hätte schon längst wegen Unfähigkeit aus der Polizei ausgestoßen werden müssen. Von dieser Type lasse ich mich nicht zum Sündenbock stempeln.« »Übertreiben Sie nicht zu sehr?« fragte Mike. »Meines Erachtens hat Rodgers kaum Zeit, sich mit Sündenböcken abzugeben.« »Warum belästigt er mich dann so oft mit seiner blöden Fragerei?« »Aus dem sehr einfachen Grund, weil die Bande, die Jo Peters entführte, nur ein einziger Punkt interessierte: warum Jo Ihren 148
Nachtklub beobachtete.« »Interesse an meinem Klub? Ich bin doch der einzige Mensch, den das interessieren könnte.« »Eben!« Bei dieser leise ausgesprochenen Erwiderung sah Mike seinen Besucher scharf an. Corinas ungewöhnlich blasse, aber bewegte Gesichtszüge erstarrten bei dieser Antwort. Es kostete ihn große Mühe, sich zu beherrschen. Linda beendete das spannungsvolle Schweigen mit der Frage: »Ist das der einzige Grund, weshalb Sie meinen Mann aufgesucht haben, Mr. Corina?« »Keineswegs. Gestern nachmittag sprach ich mit Ihrem Gatten, wobei er mir einige Fragen über Nadia Tarrant stellte. Leider habe ich Sie, Mr. Baxter, dabei angelogen… Jeder von uns hat so seine kleinen Eitelkeiten. Ich wollte nicht zugeben, daß eine Frau wie diese jemals in ein Haus von der Reputation des La Pergola-Klubs Eingang gefunden habe.« »Sie war also dort? Und mit wem?« fuhr ihn Mike barsch an. »Mit Irene Long, wie Sie gestern schon sagten.« »Und warum haben Sie es gestern nicht schon zugegeben?« Corina kniff die Lippen zusammen, um seine Worte bedachtsam zu wählen. »Da konnte ich es leider noch nicht. Die Umstände sprachen dagegen – inzwischen haben sie sich geändert.« »Dann lassen Sie mal hören!« »Hätten Sie vielleicht einen Schluck zu trinken da?« Mike nickte und ging zur Hausbar hinüber. Corina dankte mit einer leichten Verbeugung und gewann schnell seine Fassung wieder. Er lockerte die messerscharfe Bügelfalte oberhalb des Knies und begann zu sprechen. »Nachdem ich gestern nacht den Klub verlassen hatte, telefonierte ich mit meinem ehemaligen Geschäftspartner. Ich sagte ›Geschäftspartner‹ und nicht ›Freund‹, bitte das zu berücksichtigen. 149
Sein Name ist Westerman, und er war mit Nadia Tarrant bekannt. Über Westerman hat sie damals auch Eingang in den Klub gefunden.« Corina nippte genießerisch an seinem Drink. »Mein Vorschlag wäre, Sie sollten einmal mit Westerman selbst sprechen. Er dürfte sicher bereit sein, Sie nach Zahlung eines geringen Honorars über Nadia Tarrant und ihre Beziehungen zu Irene Long näher zu informieren. Vielleicht ist er bereit, mit Ihnen auch über andere Dinge zu sprechen, die Sie zu interessieren scheinen.« »Das wäre zu überlegen«, erwiderte Mike nach kurzem Schweigen. »Genügt es, wenn ich mein Scheckbuch mitnehme, oder verlangt er eine Wagenladung voll Goldbarren?« Corina antwortete lächelnd: »Das müssen Sie schon mit ihm selbst ausmachen. Ich möchte nicht in diese Sache verwickelt werden. Ich habe Sie nur über Westermans Bereitschaft unterrichtet und mir erlaubt, gleich eine Verabredung für Sie zu treffen. Danach wasche ich meine Hände in Unschuld.« »Wann soll ich den Mann denn treffen?« »Heute abend um zehn Uhr. Paßt Ihnen das?« Mike warf Linda einen fragenden Blick zu. Sie nickte. »Also gut. Und wo treffen wir uns? Hier oder im Klubhaus?« »Weder – noch. Es ist leider auswärts, aber nicht weit – nur bis Reading.« Linda unterdrückte einen Ausruf der Überraschung, und im selben Augenblick fiel eins der leeren Gläser, die sie gerade auf ein Tablett stellte, klirrend zu Boden. Mike bückte sich, um sich seine nächsten Worte genau zu überlegen. Als er Corina wieder ins Gesicht sah, gelang es ihm, in ganz beiläufigem Ton zu fragen: »Kann denn Ihr guter Westerman nicht für etwa eine Stunde nach London kommen? Es ist nicht gerade sehr angenehm für mich, gegen zehn Uhr abends nach Reading und zurück zu fahren.« 150
»Das hatte ich auch schon angeregt. Aber Westerman wollte davon nichts wissen. Ich werde Sie persönlich dorthin fahren, um Ihnen die Mühe abzunehmen.« Mike überlegte kurz und nahm das Angebot dann an. »Also gut«, sagte Corina. »Ich werde Sie kurz vor neun Uhr hier abholen. Aber erzählen Sie bitte niemandem von diesem Arrangement.« »Das werde ich nicht tun, wenn Sie mir eine Frage offen beantworten. Als ich Sie wegen Nadia Tarrant befragte, logen Sie mich an. Haben Sie auch die Unwahrheit gesagt, als sie behaupteten, niemals etwas von Mr. Bannister gehört zu haben?« »Bannister? Nein, da habe ich die volle Wahrheit gesagt. Soweit ich mich erinnern kann, bin ich in meinem ganzen Leben niemals einem Mann dieses Namens begegnet.« »Es könnte ja ein angenommener Name sein. Was ist eigentlich mit diesem Burschen Westerman? Was heißt das, er sei einst Ihr Partner gewesen? Haben Sie gemeinsame Geschäfte gemacht?« »Ja, das haben wir. Wir betrieben etwas, was man vielleicht als Agentur bezeichnen könnte. Dann überwarfen wir uns – eine kleine Meinungsverschiedenheit, die gar nicht hätte zu sein brauchen. Etwas später machte ich mich dann selbständig und eröffnete den Klub La Pergola. Wieder etwas später erhielt ich einen Brief von Westerman mit der Aufforderung, nach Reading zu kommen.« »Aufforderung?« fragte Mike leise. »Das ist nun mal seine Art. Ich fuhr also nach Reading. Westerman sagte mir dann, ich sollte einige seiner Freunde in meinen Klub aufnehmen. Zwei von ihnen hatten sich bereits um die Mitgliedschaft beworben, waren jedoch von mir abgelehnt worden, weil sie nicht meinen für die Mitgliedschaft aufgestellten Ansprüchen genügten. Aus gewissen Gründen mußte ich jedoch dem Wunsch Westermans entsprechen und deswegen –« »Mit anderen Worten: Westerman hatte Sie in der Hand. Er hat 151
Sie also erpreßt?« Corina sah etwas unbehaglich aus, zuckte dann aber mit den Schultern. »In gewisser Weise schon. So gelangte auch Nadia Tarrant in den Klub und diese Gruppe von Mannequins, die ich lieber draußen gelassen hätte – Irene Long, Lucy Staines, Peggy Bedford und andere.« Linda lächelte. »Nun erzählen Sie nur nicht, daß auch Victor Sanders Mannequin war, Mr. Corina.« Er warf ihr einen kühlen Blick zu. »Victor Sanders ist eines unserer geachtetsten Gründungsmitglieder, Mrs. Baxter.« »Dem Vernehmen nach scheint Peggy Bedford eine recht flotte Biene gewesen zu sein«, warf Mike ein, »und vielleicht auch ihre Freundin Lucy. Miß Long jedoch scheint mir eine ehrbare Dame zu sein.« »Irene Long trinkt.« »Kommt das nicht dem Geschäft zugute?« »Bis zu einem gewissen Punkt schon. Sie geht aber zu oft darüber hinaus.« »War auch Harold Weldon Mitglied?« fragte Linda. »Nein. Er war ein paarmal bei uns. Ich kann mich aber nicht erinnern, mit wem.« »Mr. Corina«, nahm Linda wieder das Wort, »ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, daß dieser Westerman Ihren Klub als eine Art Hauptquartier benutzt haben könnte? Ich meine, wenn er schon mit dieser wüsten Nadia Tarrant in Verbindung stand –« »Genau das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte Corina etwas zu bereitwillig. »Ich stelle auch Überlegungen an, ob nicht Westerman die Entführung von Jo Peters veranlaßt haben könnte.« »Mit anderen Worten: Westerman könnte doch durchaus mit Bannister identisch sein!« gab Linda, ihre Aufregung nur mühsam verbergend, zu bedenken und sah zu Mike hinüber. Mike schien ohne jede Erregung zu sein; er wandte sich in ruhi152
gem Ton an Corina: »Wie wäre es mit einer weiteren aufrichtigen Antwort, da wir nun einmal dabei sind. Wer hat Ihnen wirklich erzählt, daß Jo zum Yard gehört?« »Westerman«, antwortete Corina prompt. »Um was für eine ›Agentur‹ handelte es sich bei Ihrer einstigen Partnerschaft mit Westerman?« »Wir importierten und exportierten verschiedene Produkte.« »Rauschgift zum Beispiel?« warf Mike blitzschnell ein. Corina war schockiert. »Rauschgift? Um Himmels willen, nein! Wer hat Ihnen denn dieses Märchen aufgetischt?« »Das war nämlich der Grund, weswegen Jo Ihren Klub zu überwachen hatte.« Corina sah zutiefst verstört aus. »Bei Scotland Yard stand Ihr Klub unter dem Verdacht, ein Verteilerzentrum für Rauschgift zu sein. Eine bestimmte Spur schien von jenseits des Atlantiks direkt zu Ihrer Türschwelle zu führen.« Corina schüttelte verwirrt den Kopf und erhob sich. »Dieser Verdacht ist geradezu absurd. Die Polizei hat offensichtlich nicht genug Material in der Hand, um etwas unternehmen zu können.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich muß jetzt gehen; ich habe noch eine andere Verabredung. Um neun Uhr hole ich Sie hier ab.« »Jawohl. Um neun Uhr.« Als Mike ins Zimmer zurückkehrte, nachdem er Corina hinausgeleitet hatte, warf Linda ihm einen fragenden Blick zu. »Nun? Wieviel von der Geschichte können wir glauben?« Mike sank müde auf einen Sessel und stützte den Kopf in beide Hände. »Lügen von A bis Z, wenn du mich fragst. Heute abend um zehn Uhr gibt es keinen Westerman. Im Fall Harold Weldon hat es auch niemanden dieses Namens gegeben. Corina ist von seiner Überlegenheit so überzeugt – und ich gebe zu, daß er kein Dummkopf ist –, daß er bei allen anderen Leuten von einem kindlichen Gemüt ausgeht.« 153
»Dann wäre also Corina unser eigentlicher Mann. Habe ich recht?« »Das habe ich nicht gesagt, Darling.« »Mein Gott, wie du mir wieder ausweichst. Mike, wer hat Lucy Staines ermordet? Weißt du es schon?« »Ich glaube ja.« »War es Harold Weldon?« »Nein.« »Und hat dieselbe Person auch Nadia Tarrant umgebracht?« »Ja.« Linda schwieg einen Augenblick und fragte dann bedächtig: »Sag mal, Mike – dieser Besuch in der Bibliothek, der hat uns doch ein gutes Stück vorangebracht, nicht wahr?« »Du hast inzwischen also auch die beiden Bücher studiert?« Linda, die in legerer Stellung im Sessel gehockt hatte, schoß ruckartig hoch, die Augen weit aufgerissen: »Darling – ich glaube, ich weiß, wer es ist!« »Meinst du, Linda?« »Ich fürchte ja. Fürchten ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Wie kann jemand nur so rücksichtslos sein. Was tun wir jetzt?« Mike reckte sich verhalten gähnend in seinem Sessel und stand dann langsam auf. »Das weiß ich noch nicht. Fest steht aber, daß ich heute abend nicht nach Reading fahre.« Mike telefonierte kurz mit Jo Peters, deren Befinden immer noch schlecht, aber nicht kritisch war. Danach führte er ein ausgiebiges Gespräch mit Kriminaldirektor Goldway im Yard und erreichte, daß Harold Weldon eine Botschaft ins Gefängnis zugestellt wurde. Sie war noch nicht allzu ermutigend, doch war sich Mike darüber klar, wie verzweifelt der Verurteilte auf Neuigkeiten wartete. Da es ihn sehr interessierte, wie Saltoni sich aufführte, rief er Inspektor Rodgers an, der aber nicht im Amt war. Mike ließ ihm ausrichten, er solle doch zurückrufen, sobald er ein paar Minuten Zeit 154
habe. Inspektor Rodgers telefonierte jedoch nicht, sondern erschien kurz danach persönlich. »Guten Tag, Inspektor. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Danke nein, Mr. Baxter. Ich trinke nie im Dienst.« »Dann müssen Sie Abstinenzler sein, da ich Sie noch nie außer Dienst erlebt habe.« Rodgers lächelte. »Ach ja, es ist schon ein arbeitsreiches Leben. Leider habe ich nicht den Eindruck, daß es jemals ruhiger werden könnte. Im Augenblick bearbeite ich drei oder vier vordringliche Fälle. Es blieb mir aber noch Zeit, heute früh Saltoni zu besuchen.« »Was macht sein Gedächtnisschwund? Gibt es Anzeichen einer Besserung?« »Leider nicht im geringsten. Morgen werde ich es nochmals versuchen.« Mike machte ein besorgtes Gesicht. »Ich habe so das Gefühl, er könnte uns eine ganze Menge mehr sagen, wenn er nur den Mund aufmachen wollte. Sicher werden wir auch noch von Jo Peters nützliche Informationen bekommen. Sie ist nur immer noch nicht bei völlig klarem Bewußtsein und kann noch keine detaillierten und zusammenhängenden Auskünfte über ihr Mißgeschick geben.« »Haben Sie Jo besucht?« »Ich hatte es vor. Als ich aber heute früh ihre matte Stimme am Telefon hörte, entschloß ich mich, die Unterhaltung auf ein Minimum zu beschränken.« »Und gab sie keinen Hinweis, mit dem sich etwas anfangen ließe?« Mike schüttelte den Kopf und bot dem Inspektor eine Zigarette an. Rodgers nahm sie dankend an und lief dann im Zimmer auf und ab. »Vielleicht werden Sie meine Haltung gegenüber der Peters für unfair halten«, begann er ziemlich unvermittelt. »Natürlich tut mir 155
das leid, was ihr zugestoßen ist; aber, verzeihen Sie das offene Wort, sie hat es ja geradezu herausgefordert!« Mike hob erstaunt die Augenbrauen, sagte aber nichts. Offenbar beschäftigte den Inspektor diese Angelegenheit doch sehr, und Mike hielt Stillschweigen für die beste Methode, ihn dazu zu bewegen, sich einmal alles von der Leber zu reden. Als Mike die bullige Figur im Zimmer hin und her gehen sah, verstärkte sich sein Eindruck, den er von Rodgers bei der ersten Begegnung im Büro des Kriminaldirektors gewonnen hatte: ein klarer, ruheloser Geist; ein innerlich ausgeglichener Mann, dank seiner völlig einseitigen beruflichen Ausrichtung. Gab diese Schwarz-Weiß-Zeichnung aber wirklich das vollständige Bild von Rodgers wieder? Gab es nicht auch da Zwischentöne in Grau; andere Interessen, Hobbys, kleine Laster, merkwürdige Schrullen, die auch Rodgers zu einem dreidimensionalen Wesen machten? Frauen vielleicht? Mike überlegte, konnte sich aber keines einzigen Vorfalls, keiner unfreiwillig herausgerutschten Bemerkung erinnern, die in diese Richtung wies. Er wußte nicht einmal, ob Rodgers verheiratet war. Wie stand es etwa mit einer Schwäche für Geld, Alkohol, übermäßige Eleganz, große Wagen? Mike konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Solche Vorstellungen in Verbindung mit Rodgers waren geradezu absurd. Mike gelangte zu der Schlußfolgerung, daß er heute nicht mehr über den Menschen Rodgers wußte als zu dem Augenblick, da er ihn zum erstenmal gesehen hatte. »Der Kampf gegen das Verbrechen ist ein schwieriges, ja unangenehmes Handwerk, Mr. Baxter. In diesem Beruf ist kein Platz für Amateure, vor allem nicht für schutzlose Frauen. Um ganz offen zu sein: Diese Episode mit Peters halte ich für sinn- und zwecklos. Sie hätte niemals stattfinden dürfen.« »In mancher Hinsicht stimme ich Ihnen zu, Inspektor. Es muß Ihnen ja die Galle überlaufen, wenn Sie alle Augenblicke über Amateurdetektive stolpern. Allerdings meine ich damit eher Leute wie 156
mich und nicht Jo. Denn sie ist ja, wie Sie wohl wissen, mehr als nur eine Amateurin.« »Dennoch bleibt sie eine Frau und somit leicht verwundbar. Hätte ich gewußt, daß sie den Auftrag hatte, den Klub La Pergola zu beobachten, ich wäre nicht einmal in die Nähe dieses verdammten Lokals gegangen.« »Aber Jos Tätigkeit hatte doch überhaupt nichts mit dem Fall Weldon zu tun.« Rodgers machte ein zweifelndes Gesicht. »Sind Sie sicher?« »Ja. Kriminaldirektor Goldway hat es mir selbst gesagt. Sie beobachtete den Klub nur, weil man ihn für eine Verteilerzentrale für Rauschgift hielt.« »Mag sein. Aber sind Sie sicher, daß alles das, was in den letzten Tagen geschehen ist, nichts mit dem Fall Weldon zu tun hat?« »Allmählich komme ich zu dem Eindruck, daß man in diesem wirren Durcheinander überhaupt keiner Sache mehr sicher sein kann. Wie denken Sie darüber?« »Meiner Ansicht nach hängen die Dinge alle irgendwie zusammen, Mr. Baxter. Betrachten Sie es doch einmal aus folgender Perspektive: Als Lucy Staines ermordet wurde, fehlte ihr ein Schuh.« »Das stimmt.« »Der ermordeten Nadia Tarrant fehlte wieder ein Schuh.« »Und weiter?« »Meiner Meinung nach hatten beide Frauen etwas besonders Wertvolles in ihren Schuhen verborgen. Anders kann es nicht sein.« Mike nickte. »Den Gedanken habe ich auch schon gehabt. Ich bin aber noch nicht davon überzeugt, daß diese Theorie hieb- und stichfest ist. Hat Goldway Ihnen mitgeteilt, worum es den Burschen bei der Vernehmung von Jo Peters hauptsächlich ging?« »Der Kriminaldirektor hat sich schließlich dazu durchgerungen, es mir anzuvertrauen«, erwiderte Rodgers säuerlich. »Die Kerle haben schließlich bei ihr so etwas wie den dritten 157
Grad angewendet. Als sie dann zusammenbrach und erzählte, sie sei einer Bande von Rauschgiftschmugglern auf der Spur, verloren die Halunken jedes Interesse und ließen sie laufen.« »Und was soll das Ihrer Meinung nach beweisen?« »Zumindest doch, daß diese Brüder nichts mit Rauschgift zu tun haben.« »Man soll seinen Gegner niemals unterschätzen, Mr. Baxter. Das kann auch ein netter kleiner Bluff gewesen sein. Vielleicht denken Sie jetzt genau das, was die Burschen erreichen wollten. Sie befragen die Peters über ihre Arbeit, erfahren dabei, sie spüre Rauschgifthändlern nach, und tun dann so, als wären sie daran völlig uninteressiert. Sie lassen das Mädchen frei, in der richtigen Annahme, sie werde uns schnurstracks melden, diese Bande habe nichts mit Rauschgift zu tun. Für meinen Geschmack ist das alles zu offenkundig. Das schlucke ich nicht so ohne weiteres.« Mike nickte nachdenklich. »In diesem Licht habe ich den Fall noch nicht betrachtet; ich muß eingestehen, Ihre Theorie hat manches für sich.« Rodgers Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns. »Auch wir Kriminalbeamte haben gelegentlich Ideen.« »Entwickeln Sie diese doch mal weiter«, ermunterte Mike seinen Gesprächspartner. »Wie paßt Corina in dieses Bild?« »In diesem Punkt bin ich mit Vorurteilen belastet. Den Typ Corina kann ich einfach nicht ausstehen. Doch würde ich mein ganzes Geld darauf setzen, daß er der Gangsterboß ist.« »Und er ermordete auch Lucy Staines?« Rodgers kratzte sich sein kurzgeschnittenes Haar. »So weit würde ich nun doch nicht gehen. Es ist immerhin möglich, daß Harold Weldon zu den Leuten um Corina gehörte. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß er ein paarmal im Klub gesehen wurde.« »Dann hat also Weldon doch seine Verlobte ermordet?« »Ich glaube schon. Bis jetzt gibt es noch keinen Beweis für das 158
Gegenteil.« »Und was ist mit der Aussage von Saltoni?« »Sie haben ihn doch selbst erlebt und im Verhör gehabt. Ein Grashalm, der sich im Winde biegt. Kein verantwortlicher Richter würde den Burschen länger als zwei Minuten für einen zuverlässigen Zeugen halten.« Mike mußte das zugeben. Ihm war schon lange klar, daß es sehr schwer gewesen wäre, den Beweis für Saltonis Behauptung anzutreten, Nadia Tarrant sei zu der Zeit bei ihm in der Wohnung gewesen, als sie angeblich Weldon gesehen hatte. Es hätte nur das Wort Saltonis gegen das einer Toten gestanden. Für die Liebesnacht in seinem düstern kleinen Zimmer in der Meryl Street dürfte es wohl kaum Zeugen geben. Mikes Gedankengang wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen. Mit einer Entschuldigung in Richtung des Inspektors nahm er den Hörer ab. Die Stimme von Victor Sanders dröhnte durch die Leitung. Mike hörte zu und machte eine gelegentliche Zwischenbemerkung. Erfahrung hatte ihn schon gelehrt, daß es sinnlos war, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen, solange der Oberst noch mit voller Lautstärke redete. »Hallo, Sanders … ja, das stimmt … verstehe … nein, wirklich, das werde ich nicht tun. Danke, Sanders, ich werde an das denken, was Sie eben gesagt haben … auf Wiedersehen.« »War das Victor Sanders?« erkundigte sich Rodgers. »Ja. Bei dem kommt man sich stets wie ein Rekrut mit ungeputzten Stiefeln vor.« »Der Kerl ist wie eine lästige Fliege!« ereiferte sich der Inspektor. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem er mir nicht telefonisch die Zeit stiehlt.« »Ich kann ihn auch nicht ausstehen. Sollte ich aber jemals des Mordes angeklagt werden, dann wünschte ich mir einen so hartnäckigen Freund wie ihn.« 159
»Nur weil er Harold Weldon für unschuldig hält, brauchte er doch nicht einen solchen Wirbel zu machen.« »Sicher nicht. Viele Leute denken zwar wie er, rühren aber keinen Finger. Sanders ist zumindest beharrlich.« »Wenn Sie mich fragen«, fuhr Rodgers fort, »dann gibt es viel zuviel Leute, die irgend etwas ›in dieser Sache tun‹. Jeder will anscheinend mitmischen: Sanders, Hector Staines, Miß Peters –« »Und Mike Baxter.« Rodgers' Mund verzog sich zu einem säuerlichen Lächeln. »Das haben aber Sie zuerst gesagt.« Mike lachte, und Rodgers ereiferte sich weiter. »Sie mögen mich für schäbig halten, weil man für jede Hilfe dankbar sein sollte. Aber ich bin immer noch wegen dieser Miß Peters verärgert. Mein Chef hätte mich auf jeden Fall früher ins Vertrauen ziehen sollen. Man kann doch wohl wirklich annehmen, daß sie, genaugenommen, nichts mit dem Fall Weldon zu tun hatte.« »Ich hätte Sie noch gern etwas wegen Sanders gefragt«, unterbrach ihn Mike. »Als Sie ihn mir zum ersten Male beschrieben, da sagten Sie, er sei ein eifriger Amateurfotograf.« »Das stimmt. Seine ganze Wohnung ist mit eigenen Fotos vollgepflastert. Bilder hängen an allen Wänden und fast noch an der Decke. Er hat auch schon Ausstellungen seiner Fotos veranstaltet.« »Wissen Sie zufällig, ob er seine Filme auch selbst entwickelt?« »Ich denke schon. Warum?« »Ach, es fiel mir nur so ein.« Nach dieser etwas rätselhaften Antwort schaltete Mike auf ein anderes Thema um. »Eine sehr persönliche Frage, Inspektor: Sind Sie verheiratet?« Rodgers war sichtlich verdutzt. »Nein, das bin ich nicht. Was soll diese Frage?« »Sie sprachen vorhin von der Verwundbarkeit der Frauen. Nun, wir Männer halten uns doch gern für zäh und hart; in punkto Frauen sind aber auch wir leicht verwundbar. Wenn man nur bedenkt, 160
was mir und meiner Frau widerfahren oder beinahe widerfahren ist, als man unseren Wagen in der Darlington Street mit Kugeln durchsiebte.« »Ja, da haben Sie wirklich Glück gehabt. Wer aber zum Beispiel mir an den Kragen will, der wird schon die direkte Methode wählen müssen.« »Und meinen Sie nicht, daß jemand genau das vorhaben könnte? Wer auch immer hinter diesem rätselhaften Durcheinander stehen mag – diese Leute arbeiten nicht gerade mit Glacéhandschuhen.« Rodgers zuckte verächtlich mit seinen breiten Schultern. »Mag sein, aber dafür gibt es schließlich Gefahrenzulage.« »Man kann aber stets auf der Hut sein.« »Wie meinen Sie das?« »Indem man niemals zweifelhafte Einladungen annimmt«, antwortete Mike, »vor allem nicht aus einer bestimmten Augenblickssituation heraus.« Rodgers sah ihn scharf an. »Haben Sie eine solche zweifelhafte Einladung erhalten?« »Heute früh war Corina bei mir und sagte mir, ich könnte wichtige Informationen über Nadia Tarrant und den Mord an Lucy Staines von einem Mann namens Westerman kaufen.« »Westerman? Den Namen habe ich noch nie gehört. Hat er Ihnen etwas über diesen Mann erzählt?« »Nicht viel. Anscheinend wohnt er in Reading. Corina schlug vor, ich solle heute abend dorthin fahren. Ich habe die Einladung zwar angenommen, habe aber keineswegs vor, zu fahren.« »Warum nicht?« »Weil ich fest davon überzeugt bin, daß dieser Westerman überhaupt nicht existiert und das Ganze nur eine Falle ist.« »Haben Sie Gründe für diesen Verdacht?« Mike nickte. »Dann hat Sie also jemand gewarnt?« 161
»Ja, Inspektor. Und ich warne auch Sie. Nehmen Sie keine Einladungen an, besonders nicht von Corina.« Als der Inspektor wieder mit der Hand über seinen Haarschopf fuhr, hörte es sich an wie das Kratzen eines leichten Schuhes auf einer Fußmatte. »Wenn Sie die Verabredung nicht einhalten«, meinte er dann, »dürfte Corina mir kaum mit derselben Geschichte kommen.« »Im Gegenteil. Genau das wird er tun, und deshalb warne ich Sie ja auch. Denken Sie doch einmal nach. Glaubt Corina, ich hätte Verdacht geschöpft, kann er doch schlecht einen Rückzieher machen und behaupten, er hätte nie eine Verabredung für mich getroffen. Hier haben wir diesen gewissen Westerman, der angeblich im Besitz entscheidender Informationen in Sachen Weldon ist. Beiße ich nicht an, muß Corina logischerweise die Sache weiterverfolgen und kann sie nicht einfach fallenlassen. Also wird er wahrscheinlich Sie fragen.« »Vielleicht haben Sie recht.« Rodgers grinste. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Baxter. Vorgewarnt heißt auch vorher gerüstet.« Nachdem der Inspektor gegangen war, nahm Mike Füllfederhalter und Papier und schrieb nach sorgfältiger Überlegung eine Mitteilung an Irene Long, per Adresse Conway und Racy und versiegelte sie in einem Umschlag. Er gab Linda den Umschlag und bat sie, ihn Irene persönlich auszuhändigen. »Normalerweise würde ich Mrs. Potter damit schicken«, entschuldigte er sich. »Aber das hier ist fast so etwas wie eine amtliche Vorladung, und ich muß absolut sicher sein, daß niemand sonst sie in die Hand bekommt. Mrs. Potter aber kennt die Long nicht. Könntest du dir die Zeit auf deinem Weg zum Friseur nehmen, Liebling?« Linda nickte und hielt den Umschlag nachdenklich in der Hand. »Du verstärkst jetzt also den Druck?« fragte sie. 162
»Ich muß endlich zu Ergebnissen kommen.« »Hoffentlich behältst du recht. Muß ich auf Antwort warten?« »Nein. Du brauchst ihr nur zu sagen, die Mitteilung sei äußerst dringlich.« »In Ordnung, auf bald also.« Mike kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, sank dort in einen breiten Ledersessel und dachte angestrengt nach. Irrte er sich nicht, war die Unterredung mit Inspektor Rodgers außerordentlich bedeutsam gewesen. Der Inspektor war nicht der Mann, der viele Worte vergeudete. Mrs. Potter brachte Tee, den er nachdenklich schlürfte. Dann fühlte er sich versucht, an dem noch unvollendeten Kapitel seines Buches zu arbeiten, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren. Immer wieder verirrten sich seine Gedanken zu dem rätselhaften Durcheinander, in das Sanders, Staines, Irene Long und Charles Corina verwickelt waren. Außerdem wartete er, wie ihm auf einmal klarwurde, im Unterbewußtsein auf Lindas Rückkehr. Als sie um fünf Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war, wurde er sehr unruhig. Soweit er sich erinnerte, sollte Linda schon um halb vier Uhr fertig sein. Natürlich zog sich so eine Sitzung beim Damenfriseur meistens länger hin als vorgesehen, so lange aber hatte es noch nie gedauert. Zwanzig Minuten nach fünf, als er gerade überlegte, ob er bei ihrem Friseur anrufen sollte, flog die Wohnungstür auf, und Linda platzte herein. Statt mit einer neuen Frisur erschien sie mit zerzausten Haaren und einem Streifen Heftpflaster auf der Stirn. Eine Hand war bandagiert. »Du lieber Gott, Linda! Was ist passiert?« »Alles in Ordnung, Darling«, murmelte sie. »Es ist wirklich nichts Ernsthaftes – ein kleiner Autounfall, das ist alles.« »Das ist alles? Wie, um Himmels willen, ist denn das passiert?« »Ich saß in Sanders' Wagen.« 163
»Was? Bei Victor Sanders?« »Es war nicht seine Schuld, Darling. Ich erzähle dir gleich alles. Aber bitte Mrs. Potter zunächst, mir einen starken Tee zu machen.« »Brauchst du nicht etwas Stärkeres als Tee, Linda?« »Nein, danke.« An ihrem nervösen Lachen merkte Mike, daß Linda immer noch sehr aufgeregt war. Als der Tee schließlich auf dem Tisch stand, erzählte Linda ihr Erlebnis. Sie hatte Irene Long persönlich Mikes Mitteilung übergeben und war dann in ein Restaurant in der Nähe von Conway und Racy gegangen. Dort traf sie zufällig Victor Sanders, mit dem sie ein paar höfliche Worte wechselte, wonach jeder wieder seines Weges ging. Als sie später aus dem Restaurant kam, sah sie ihn ein zweites Mal, diesmal aus größerer Entfernung, und nach dem Besuch beim Friseur stieß sie das dritte Mal auf ihn. »Meinst du, er ist dir gefolgt?« Linda machte ein unentschlossenes Gesicht. »Ich weiß es nicht. Natürlich fragte ich mich auch, ob es reiner Zufall sei, als ich ihn zum drittenmal traf; aber ich bin wirklich nicht sicher, ob er mir gefolgt ist. In der Bond Street trifft man ja oft Bekannte. Und für den Oberst ist es ja ganz normal, wenn er sich in der Nähe von Conway und Racy aufhält, vorausgesetzt, daß er sich nicht inzwischen mit Irene Long verkracht hat.« »Ich hatte doch den Eindruck, daß er sehr an ihr hängt.« »Mein Besuch beim Friseur dauerte länger, als ich gedacht hatte. Deshalb nahm ich gern Sanders' Angebot an, mich nach Hause zu fahren, obgleich er wirklich nicht mein Typ ist.« Mike schüttelte den Kopf. »Da stimmt etwas nicht, Liebling. Der Oberst mag dich nicht mehr als du ihn. Daher kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, warum er dir gefolgt sein könnte.« Linda lachte. »Ich würde schwören, daß ich ihn richtig einschätze. Der richtet sich in allen Lebenslagen nach einem festgelegten 164
Code mit dem Titel ›Wie benimmt sich der vollkommene Gentleman gegenüber einer Dame‹. Er betrachtet uns Frauen nicht als menschliche Wesen, sondern nur als Symbole des schwächeren Geschlechts. Obwohl er sich selbst für einen Ritter hält, ist er ein langweiliges Ekelpaket. Sein Ehrenkodex erfordert es einfach von ihm, mich nach Hause zu fahren.« »Mag sein. Aber wie war das mit dem Unfall? Wurde er auch verletzt?« »Es hat ihn ganz schön durcheinandergeschüttelt.« »Welchen Weg ist er gefahren? Hattest du den Eindruck, es war der normale und kürzeste Weg hierher?« »Absolut normal. Der Gedanke ist mir natürlich auch gekommen. Wäre der Unfall vorgeplant gewesen, dann wäre er sicher durch einsame Nebenstraßen gefahren. Er ist aber die ganze Zeit auf der Hauptstraße geblieben, dazu ruhig und überlegt gefahren, ohne ein Risiko einzugehen. Außerdem hätte er bei einem geplanten Anschlag auf mich sein eigenes Leben riskiert. Dieser verrückte Fahrer, der uns von hinten kommend schnitt, als wir gerade am Palast vorbei waren, zwang uns einfach, von der Fahrbahn abzukommen. Sanders wäre dabei um ein Haar umgekommen.« »So etwas läßt sich ausgezeichnet simulieren, Darling. Wie steht es mit den Sicherheitsgurten? Hat er welche in seinem Wagen?« »Ja! Und gerade das beweist, daß der Oberst keine Schuld hatte. Ich habe mich gewohnheitsgemäß festgeschnallt, weil du ja immer darauf bestehst. Er hat es aber nicht getan.« Mike biß sich auf die Lippen und goß Linda eine weitere Tasse ein. »Über diesen Punkt hätte ich gern mehr Klarheit, bevor ich ihn fallenlasse. Was für ein Wagen hat euch geschnitten? Konntest du ihn dir genau ansehen?« »Nein, kaum. Ich glaube, es war ein amerikanischer Wagen – einer von diesen Straßenkreuzern mit riesigen Schwanzflossen, die wie Büchsenöffner aussehen. Ich war viel zu durcheinander, um mir 165
die Nummer zu merken, und die einzigen Zeugen, die wir hatten, waren ein paar erschreckte pakistanische Touristen, aus denen wir und die Polizei nicht viel herausholen konnten. Eins ist gewiß: dieser Wagen hat uns absichtlich geschnitten, da noch massenhaft Platz da war und es nicht den geringsten Grund gab, uns bei der Verkehrslage von der Straße abzudrängen.« Linda trank ihren Tee, und Mike überlegte eine Weile. Dann sagte er: »Du bist dir doch darüber im klaren, was du sagst, wenn du darauf bestehst, Sanders für unschuldig zu halten? Dann muß man es auf ihn abgesehen haben. Wenn deine Theorie stimmt, war es reiner Zufall, daß du zu diesem Zeitpunkt in seinem Wagen gesessen hast. Also ist es der Oberst, dem man an den Kragen will.« Linda nickte. »Auf der Fahrt vom Polizeirevier hierher habe ich mir im Taxi nochmals alles sorgfältig überlegt. Ich bin ganz sicher, daß es ein Anschlag auf seinen Wagen war und ich nicht die Person war, der er galt.« Mike stand auf und ging zum Fenster. Unentschlossen starrte er auf die von Sonnenlicht überflutete Straße. Mit einem Blick auf die Uhr fragte er dann: »Wann geschah es?« »Genau weiß ich das nicht. So etwa um vier Uhr oder etwas später.« »Dann werden wir wohl bald auf einem anderen Gebiet Ergebnisse erzielen«, verhieß er geheimnisvoll. Linda starrte ihn verwirrt an. Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Die beiden wechselten einen schnellen, verständnisvollen Blick. Linda nahm aus ihrer Geldbörse einen Shilling. »Meine Münze sagt, Victor Sanders ruft an, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Das gehört zum Ehrenkodex des Gentleman.« Mike legte eine Krone neben den Shilling. »Mein Geld sagt, es ist eine Dame.« Dann nahm er den Hörer ab. »Baxter … ja, meine Frau hat es mir 166
erzählt … also gut, je früher, desto besser. Wir kommen in zwanzig Minuten.« Er legte auf und steckte triumphierend die beiden Geldstücke in die Tasche. »Irene Long will endlich reden. Meine Botschaft an sie hatte Erfolg. Nutzen wir die Stunde.«
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ährend der Fahrt nach Chelsea war Linda besonders munter und redselig, was sich weitgehend als Reaktion auf den leichten Schock des Nachmittags erklären ließ. Mike warf ihr einen besorgten Blick zu, hielt es dann aber für das beste, sie einfach reden zu lassen. Jetzt, wo es den Anschein hatte, als werde der Fall Weldon jeden Augenblick seine überraschende Lösung finden, hätten Linda keine zehn Pferde daran hindern können, ihren Mann zu begleiten. Sie erzählte ihm nochmals von ihrem Besuch in der Bond Street, schilderte ihm Irene Longs Reaktion auf seinen Brief und lehnte sich dann wohlig seufzend mit der Frage in ihren Sitz zurück: »Störe ich dich etwa mit meinem Geschwätz?« »Aber keineswegs, Liebling.« »Du brauchst Ruhe, um zu überlegen, was du Irene sagen wirst.« »Das werden nur zwei Wörter sein: Reden Sie.« »Also gut. Wenn ich zuviel quatsche, dann sag mir einfach, ich soll den Mund halten. Wo war ich doch gleich stehengeblieben?« Mike lächelte. »Quatsch nur weiter«, ermunterte er sie. »Ich muß schon sagen, das Leben der Mrs. Baxter ist doch ziem167
lich eintönig… Vor einer Woche gähnte sie sich fast zu Tode, als sie ihre Kleider für einen Urlaub in Südfrankreich einpackte. Glücklicherweise kam dieses entsetzlich langweilige Ereignis nicht zustande. Statt dessen schoß man auf sie; beförderte sie beinahe durch einen Autounfall ins Jenseits; riskierte sie Gefängnisstrafe durch Beantwortung von Anrufen am Telefon fremder Leute; leistete sie Mithilfe und Begünstigung bei der Durchsuchung einer fremden Privatwohnung… Habe ich etwas vergessen?« Mike lachte. »Ich glaube nicht. Doch – es fehlt noch Peggy Bedford und der Abtransport einer Leiche aus mit Gas angefüllten Räumen. Auch das gehörte noch zur tödlich langweiligen Routinearbeit dieser Woche von Mrs. Baxter.« »Stimmt genau.« »Und den Ohnmachtsanfall von Irene Long hätten wir beinahe vergessen.« »Richtig. Aber Scherz beiseite: Was hattest du ihr in dem Brief eigentlich geschrieben, den ich ihr überbrachte?« »Was sie momentan so in Angst versetzt, dürfte weniger der Inhalt meines Briefes, sondern mehr der Unfall sein, den der Oberst heute hatte. Ich bin sicher, daß sie sehr an ihm hängt, so sonderbar das auch sein mag. Ich schrieb ihr nur, daß ich wüßte, wer Bannister ist. Damit habe ich allerdings nur geblufft, in der Hoffnung, daß sie nun endlich auspacken und meinen Verdacht bestätigen wird. Der Bluff scheint Erfolg zu haben, und zwar auf eine Weise, wie ich es gar nicht erwartet habe. Ich erwähnte auch, daß ich überall erzählen würde, es sei Sanders gewesen, der mich vor der Fahrt nach Reading gewarnt hätte. Als Miß Long von diesem Autounfall hörte, wird sie bestimmt Bannister dahinter vermutet haben, und so weiß sie jetzt, daß sich ihr Schatz in großer Gefahr befindet. Das hat sie am meisten erschreckt.« »Also Liebling, das muß ich erst einmal verdauen. Mein Gehirn arbeitet nach diesem Schreck noch nicht ganz einwandfrei. Ein Be168
denken habe ich: Wenn wir uns mit ihr im Wohnzimmer unterhalten, kann man uns doch mit der Abhöranlage belauschen.« »Ein Wort mit dem Hausmeister Dan Appleby und eine diskret in die Hand geschobene Banknote dürften das verhindern. Er kann uns warnen, wenn Hector Staines auftauchen sollte.« Irene Long saß in steifer Haltung in einem Sessel mit hoher Rückenlehne, die Hände im Schoß gefaltet, als sei sie krampfhaft bemüht, einen Rest von Würde zu wahren, während sie die Geschichte erzählte, die einer Demütigung ihrer Person gleichkam. »Ich … ich weiß wirklich nicht, wo ich beginnen soll«, fing sie mit brüchiger Stimme zu reden an. »Als Lucy Staines bei unserer Firma zu arbeiten begann…« »Vielleicht sollten Sie lieber mit dem Córdoba-Raub anfangen, Miß Long«, unterbrach Mike sie. »Der Córdoba-Raub! Das wissen Sie auch?« Entsetzt hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Ich hatte schon lange den Verdacht. Aber nun erzählen Sie bitte in aller Ruhe.« »Aber Mike…«, begann Linda. »Laß das bitte jetzt, Linda«, unterbrach er sie. Einen Augenblick schwiegen alle drei, während Mike seinen Blick fest auf die blonde Frau richtete, die nervös auf ihrem Sessel hin und her rutschte, bis Mike weitersprach. »Vor längerer Zeit wurde der Diamantenanhänger einer Südamerikanerin namens Córdoba gestohlen. Sie wohnte damals im Hotel Ritz. Der Anhänger, bestehend aus einer Rubinentraube mit drei großen dazu passenden Diamanten, hatte einen Wert von etwa einer Viertelmillion Dollar. Scotland Yard untersuchte den Fall, doch wurde das Schmuckstück nie gefunden. Vielleicht fahren Sie von hier mit Ihrem Bericht fort, Miß Long.« Mit deutlichem Widerwillen nahm Irene Long den Faden auf. »Mrs. Córdoba war eine unserer besten Kundinnen bei Conway 169
und Racy. Ich habe ihr Dutzende von Modellkleidern verkauft. Dabei freundeten wir uns an, und eines Tages lud sie mich und zwei andere Mädchen zu einer Cocktailparty ein. Wir waren vor Freude sehr aufgeregt und nahmen die Einladung natürlich an.« »Die beiden anderen Mädchen waren wohl Peggy Bedford und Lucy Staines?« »Ja. Es war ein wundervoller Abend. Damals begegnete mir übrigens Victor Sanders zum erstenmal. Auch Charles Corina war anwesend – ich glaube, die beiden Herren hatten früher einmal mit Señor Córdoba Polo gespielt. Auf dieser Party sah ich dann den Diamanten; Mrs. Córdoba trug ihn.« »Und weiter?« »Am folgenden Morgen haben wir drei uns in der Frühstückspause ausgiebig über den Verlauf der Party unterhalten. Damals schenkte ich dem, was Peggy sagte, keine große Bedeutung. Hinterher erinnerte ich mich allerdings deutlich an ihre Worte. Sie sagte, es sei doch ungerecht, daß eine alte Zicke wie Mrs. Córdoba so reich sei und so viele Juwelen besitze. Juwelen dieser Qualität sollten junge und hübsche Mädchen zieren, womit sie natürlich sich selbst meinte. Peggy war stets sehr von sich überzeugt. Dann sagte sie noch, wenn jemand Mrs. Córdoba um ihren Anhänger erleichtern sollte, würde sie das nicht überraschen. Lucy und ich lachten, weil wir das Ganze für einen Scherz hielten.« »War Peggy Bedford damals schon mit Larry Boardman bekannt?« fragte Mike. Linda schnitt Irene Long das Wort ab, ehe sie antworten konnte. »Larry Boardman? Ist das nicht der Mann, dessen Foto du in Peggys Wohnung vorgefunden hast?« »Wann hat sie ihn kennengelernt?« drang Mike heftig auf sie ein und ignorierte die neugierige Einmischung Lindas. »Das weiß ich nicht genau. Der Diamantenanhänger wurde aber etwa zwei Wochen nach der Party gestohlen. Natürlich waren wir 170
über diese Nachricht sehr erregt, weil wir den wertvollen Schmuck persönlich bewundert hatten. Kurz danach erschien Peggy nicht mehr zur Arbeit und teilte mit, daß sie krank sei. Lucy Staines, ihre engste Freundin, ging sie besuchen. Sie traf Peggy aber nicht an, denn sie war umgezogen. Das fanden wir aber nicht ungewöhnlich, weil sie es nirgendwo lange aushielt. Sie liebte es, Trubel um sich zu haben. Immer Bewegung! Bewegung ist das halbe Leben! Das war eine ihrer typischen Redensarten. Als sie wieder zur Arbeit erschien, wollte sie sich nicht mehr in unseren Rhythmus einfügen, sie war frech, launisch und arrogant. Irgend etwas hatte ihr den Kopf verdreht. Als ich sie dann eines Tages dem Geschäftsführer melden mußte, zerstritten wir uns, und sie sprach mehrere Tage nicht mehr mit mir.« Mike zündete sich eine Zigarette an und reichte auch Irene Long sein Etui. Sie nahm dankend an und versuchte sich mit tiefen Lungenzügen zu beruhigen. Mike spürte, daß sie sich innerlich rüstete, jetzt über ihre eigene Rolle in dieser Sache zu sprechen, was ihr bestimmt nicht leichtfallen würde. »Etwas später«, nahm Miß Long ihren Bericht wieder auf, »entschied Peggy sich dafür, das Kriegsbeil wieder zu begraben. Sie lud mich in ihre neue Wohnung zum Abendessen ein. Es war in Plymouth Mansions, wo Sie ihre Leiche gefunden haben. Offengestanden hat mich der Luxus in ihrer Wohnung beinahe umgeworfen. Sie sehen ja, daß ich hier verhältnismäßig einfach lebe«, Miß Long machte eine Handbewegung rundherum, »und dabei verdiene ich mehr als Peggy. Sie schwamm also plötzlich in Geld, was mich sehr überraschte.« »Jemand, der sie näher kannte, beschrieb Peggy Bedford als eine bessere Nutte«, unterbrach Mike sie mit schroffen Worten. »Wir könnten auch sagen, sie war ein besseres Callgirl. Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie über diese Lebensweise Ihrer Kollegin nicht informiert waren?« 171
Miß Long hatte bei Mikes rücksichtslosem Hinweis auf Peggys Nebenbeschäftigung einen wehleidigen Laut von sich gegeben. Die Antwort auf seine Frage schien ihr so schwerzufallen, daß Linda sich einmischte: »Das spielt doch jetzt wohl keine Rolle mehr, Mike. Lassen wir es doch einfach bei der Feststellung, daß Peggy plötzlich zu Geld kam. Womit hat sie denn ihren plötzlichen Wohlstand erklärt, Miß Long?« »Sie sagte, ein Freund von ihr wäre gestorben und hätte ihr 3.000 Pfund hinterlassen; sie nannte es einen warmen Regem. Ich sagte ihr, der warme Regen werde bald verdunsten, wenn sie das Geld weiterhin in diesem Tempo verbrauche. Sie lachte aber nur und meinte, wo sie das Geld her habe, da sei noch viel mehr zu holen. Ich verstand nicht, wie sie das meinte, und fragte auch nicht weiter. Beim Abschied gab sie mir dann ein Päckchen. ›Das ist für dich, Darling‹, sagte sie. ›Nur ein kleines Geschenk als Pflaster auf unseren überwundenen Streit.‹ Ich nahm das Päckchen mit nach Hause, war aber zu müde, um es noch am selben Abend zu öffnen. Sie werden kaum erraten, was ich am anderen Morgen in dem Päckchen fand…« »O doch, Miß Long«, unterbrach Mike sie. »Ein Paar Schuhe.« Irene Long riß die Augen weit auf und schien völlig verdattert. Mike beachtete ihre Reaktion nicht und fragte weiter: »Und wann machte Peggy Bedford auch Lucy Staines ein Geschenk?« Miß Long schüttelte hilflos den Kopf. »Aber sie hat doch auch Lucy ein Paar Schuhe geschenkt, nicht wahr?« drängte Mike. »Ja.« »Waren es die gleichen wie die Ihren?« »Sie waren sich ziemlich ähnlich.« Nun erst wandte Mike sich an Linda und erläuterte ihr den Zusammenhang. »Der Córdoba-Anhänger wurde von Larry Boardman, alias Leslie Bradley, alias … noch ein Dutzend anderer Namen, ge172
stohlen. Jedermann wußte es, das heißt die einschlägigen Kreise der Unterwelt. Die Polizei konnte es ihm nicht nachweisen. Sie konnte nichts weiter tun als ihn ständig beobachten, was Larry Boardman natürlich ebenfalls wußte. Er war sich auch darüber im klaren, daß es keinen Zweck hatte, den Diamantenanhänger irgendwo schnell abzusetzen, dazu war die Ware noch zu heiß. Einige Monate später lag er auf dem Sterbebett. Bevor er starb, ließ er eine gute Freundin kommen…« »Peggy Bedford?« warf Linda fragend ein. »…und erzählte ihr, die Diamanten seien mindestens 80.000 Pfund wert. Selbst angesichts des Todes war er noch vorsichtig genug, ihr den Schmuck nicht auszuhändigen. Dieser müsse noch zwei bis drei Jahre verborgen bleiben, bis sich die Gemüter beruhigt hätten, sagte er ihr.« »Aber wenn Peggy die Diamanten gar nicht hatte…« »Sie hatte etwas, was fast genauso wertvoll war – einen Mikrofilm, der das genaue Versteck zeigte.« Zu Irene Long gewandt, fragte Mike: »Habe ich bis jetzt etwas Falsches gesagt?« Sie verneinte kopfschüttelnd. »Es stimmt alles; ich frage mich nur, wie Sie das alles zusammengetragen haben.« Dann ging sie mit sichtlicher Anstrengung wieder zu ihrer eigenen Geschichte über. »Zunächst wußte Peggy nicht, was sie mit dem Mikrofilm anfangen sollte. Allmählich dämmerte es ihr aber, was sie sich damit aufgeladen hatte. Mit aller Deutlichkeit wurde ihr das vor Augen geführt, als sie eines Tages nach Hause kam und die ganze Wohnung durchwühlt vorfand. Jetzt wußte sie, daß außer der Polizei auch noch andere Leute an dem Diamantenanhänger interessiert waren. Deshalb zerschnitt sie den Mikrofilm in drei Teile und versteckte jeden Teil im Absatz eines Schuhs. Sie schenkte mir und Lucy ein Paar Schuhe, und in einem von jedem Paar befand sich im Absatz ein Teil von dem Mikrofilm. Den dritten Schuh mit dem Filmteil behielt sie selbst.« 173
»Hatten Sie eine Ahnung von dem versteckten Film, als sie Ihnen die Schuhe gab?« »Nein, darauf wäre ich nie gekommen. Sie hat es mir erst viel später erzählt, und zwar kurz bevor Lucy ermordet wurde.« Mike nickte und schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Meinen Sie nicht auch, daß Sie bis jetzt in dieser Sache viel Glück gehabt haben?« »Wieso Glück?« »Lucy Staines wurde ermordet, Peggy Bedford fand ebenfalls ein unrühmliches Ende. Nadia Tarrant wurde erwürgt.« »Ich kenne keine Nadia Tarrant.« »Na, überlegen Sie lieber noch einmal, Miß Long. Diese Frau wurde ermordet; auch ihr stahl man einen Schuh. Sie haben sich ein- oder zweimal mit Nadia Tarrant im La Pergola-Klub getroffen. Saltoni hat sie dort gesehen, und Corina hat es mir gestern persönlich bestätigt.« Irene Long setzte zum Sprechen an – so, als wolle sie protestieren, besann sich dann aber eines Besseren. Mit einem tiefen Seufzer fuhr sie fort: »Ich verkaufte mein Drittel des Films an Nadia Tarrant. Wie sie herausgefunden hat, daß ich einen Teil besaß, habe ich nie erfahren. Ich war inzwischen davon überzeugt, daß Bargeld besser sei als das ständige Risiko, den Film zu behalten. Sie zahlte mir tausend Pfund dafür. Bald danach fand ich, daß es doch recht dumm von mir gewesen sei, den Film so billig herzugeben. Deshalb traf ich mich mit Nadia und … nun ja, ich forderte mehr Geld.« »Richtiger wäre es wohl, wenn Sie sagten: ›Ich setzte sie unter Druck‹, Miß Long; selbst ›Erpressung‹ wäre kein zu starker Ausdruck dafür. Aber lassen wir das jetzt. Ein Punkt ist noch wichtig: Kaufte Nadia Tarrant den Film für sich selbst oder im Auftrage?« »Sie sagte, sie sei nur Vermittlerin.« »Nannte sie keinen Namen?« »Nein, dazu war sie viel zu vorsichtig.« 174
»Ich nehme an, inzwischen haben Sie selbst eingesehen, wie dumm Sie sich verhalten haben. Als Sie wußten, was auf dem Film war, hätten Sie ihn sofort zu Scotland Yard bringen müssen.« Irene Long gab ein hohlklingendes Lachen von sich. »Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man stets klüger. Wenn Sie nur ein wenig menschliches Empfinden besäßen, was ich bezweifle, Mr. Baxter, dann müßten Sie verstehen, wie leicht jemand in meiner Situation in eine solche Versuchung geraten kann. Ich mußte mir mein Leben lang alles hart erarbeiten. Plötzlich ergab sich nun eine Gelegenheit, mühelos tausend Pfund auf den Tisch geblättert zu bekommen. Ich konnte nicht einsehen, daß ich ein schweres Verbrechen beging. Ich hatte die Diamanten doch nicht gestohlen und wollte nicht einmal den Film über das Versteck behalten.« Mike schüttelte tadelnd den Kopf. »Gott bewahre mich vor solcher Logik! Haben Sie nie etwas von ›Beihilfe und Begünstigung nach der Tat‹ gehört? Ganz zu schweigen von Ihrem Versuch, Nadia Tarrant zu erpressen. Sie wußten, was auf dem Film zu sehen war. Kein anständiger Mensch hätte auch nur einen Augenblick Zweifel darüber gehabt, was korrekterweise zu tun war.« »Ich betrachte mich nach wie vor als anständigen Menschen, Mr. Baxter. Das war die einzige leichtfertige Handlung meines Lebens. Ich war einfach zu schwach, der Versuchung zu widerstehen; das ist alles.« Mike rekelte sich aus seinem Sessel empor und ging, um seine Gedanken konzentrieren zu können, zum Fenster hinüber. Miß Long warf Linda einen forschen Blick zu und beobachtete Mike ängstlich. Linda wußte, daß Mike in diesem Falle jeden Anflug von Weichherzigkeit mißbilligen würde. Als sie jedoch dieses Nervenbündel von Frau vor sich sah, die sie bisher als Musterbeispiel von Freundlichkeit und Tüchtigkeit gekannt hatte, kam eine Woge des Mitgefühls in ihr hoch. Sie wollte gerade zu einem guten Wort für Miß Long ansetzen, als Mike sich umwandte. Er hatte seine Über175
legungen beendet und wirkte jetzt nicht mehr so streng und hart. »Ich weiß natürlich nicht, wie die Polizei die Sache beurteilen wird«, begann er. »Ich bin aber bereit, mich für Sie einzusetzen, wenn Sie von nun an mit mir zusammenarbeiten. Ich habe auch nicht vergessen, daß Sie mir mit Ihrer Warnung, nicht nach Reading zu fahren, einen wertvollen Dienst erwiesen haben. Ich bekam tatsächlich eine Einladung dorthin und bin Ihnen für die Warnung dankbar.« »Wer hat Sie nach Reading eingeladen?« »Corina. Wußten Sie das nicht?« »Ich kam gerade aus der Damentoilette im Klub, als ich draußen zwei Männer sprechen hörte. Ich habe ihre Stimmen nicht erkannt, konnte aber der Unterredung entnehmen, daß man es auf Sie abgesehen hatte.« »Ach, so war das.« »Was meinten Sie eben mit ›Zusammenarbeit‹, Mr. Baxter? Was habe ich dabei zu tun?« »Nichts, was viel Mühe macht. Sie sollen nur eine Cocktailparty geben; auf meine Kosten natürlich.« Irene Long blinzelte überrascht und atmete erleichtert auf. »Wann soll das sein?« »Morgen abend. Hier in dieser Wohnung.« »Und wen soll ich einladen?« »Alle, die etwas mit dem Fall Harold Weldon zu tun hatten. Victor Sanders, Hector Staines, meine Frau und mich, Inspektor Rodgers und Kriminaldirektor Goldway.« »Werden die auch alle kommen?« »Das ist Ihre Sache. Ich verlasse mich auf Ihre Überredungskünste. Da Sie Goldway nicht kennen, werde ich das selbst mit ihm arrangieren. Für das Kommen aller anderen aber sind Sie verantwortlich. Ist das klar?« »Sie sagten Cocktailparty? Das würde doch eine frühe Stunde 176
sein.« Mike überlegte kurz. »Sagen wir um sieben Uhr. Stopp, beinahe hätte ich einen vergessen. Sie müssen auch Charles Corina einladen.« Irene Long nickte, ohne etwas zu sagen. Mike griff nach seinem Hut, nahm Linda beim Arm und verließ mit ihr die Wohnung.
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uch mit größter Phantasie hätte niemand den Ablauf von Miß Longs Cocktailparty als einen lustigen Abend schildern können. Obwohl die Gastgeberin großzügig auftischte und einschenkte, kam bei keinem der Anwesenden das Gefühl der Entspannung auf. Sie waren zu acht im Raum – acht Personen und einer, der nur im Geiste anwesend war, sie aber alle zusammengeführt hatte. Vom Ergebnis dieser Party würde es abhängen, ob er das Pentonville-Gefängnis lebend verlassen würde. Irene Long überbot sich und eilte mit gekünsteltem Lächeln auf dem stark geschminkten Gesicht von einem zum andern, immer wieder bemüht, die Gesprächspartner etwas umzugruppieren. Kriminaldirektor Goldway und Inspektor Rodgers bildeten ein stummes Paar neben der Tür. In seinem dunklen Anzug mit steifem weißem Kragen, der ihm etwas zu eng war, nahm sich Rodgers ziemlich unglücklich aus. Hector Staines starrte argwöhnisch auf alles und jedermann von seinem Hocker nahe der Hausbar, den er für den einzig akzeptablen Platz im ganzen Zimmer hielt. Charles Corina bemühte sich, seinen Charme bei Hector Staines anzubringen, 177
indem er ein nichtssagendes Gespräch über einige Bilder an den Wänden begann. Aber auch die beiden kamen zu keiner aufgelockerten Unterhaltung, da Staines sich nicht wohlzufühlen schien. Die Baxters saßen aufmerksam auf der Couch, wie zwei Theaterbesucher, die darauf warten, daß der Vorhang endlich hochgeht. Es war schließlich Sanders, der mit hochrotem Gesicht die ›Vorstellung‹ beginnen ließ. »Hören Sie mal, Baxter!« rief er mit einer Lautstärke, daß es jedem in den Ohren dröhnte, aber sofortige Stille herbeiführte. »Sie sollten mich endlich ins Bild setzen. Was, zum Teufel, wird hier eigentlich gespielt?« Mike riß die Augen groß auf und tat völlig unschuldig, während er zugleich ein Lächeln unterdrückte, als Linda ihm ins Ohr flüsterte: »Immer nett sein und höflich zuhören, wenn man mit dir spricht.« »Was fragen Sie mich, Sanders? Miß Long hielt es für nett, einmal ein Plauderstündchen mit uns zu veranstalten. Das ist alles.« »Mein guter Mann… Sie haben doch keine kleinen Kinder vor sich! Es liegt doch auf der Hand, daß Sie derjenige sind, der uns hierhergelockt hat, und nicht Irene. Ich verstehe nicht, wie sie sich für ein solches Affentheater überhaupt hergeben konnte.« Irene Long sah aus, als würde sie jeden Augenblick umfallen. Selbst die Schminke konnte die scharfen Gesichtsfalten und die dunklen Ringe unter den Augen nicht mehr verbergen. Sie setzte nervös lachend zu einer Antwort an: »Ich bitte dich, Victor!« – aber Corina schnitt ihr das Wort ab. »Ich muß gestehen, daß ich einer Meinung mit Mr. Sanders bin. Schweigen Sie jetzt in Ihrem Talent für Melodrama, Mr. Baxter, oder mangelt es Ihnen an Material für einen Kriminalroman?« Er lächelte dünn, wobei seine Augen in Erwartung eines hitzigen Wortgefechtes zu glitzern begannen. Er schien sich sehr sicher zu fühlen. »Wenn ich das brauchte«, konterte Mike, »hätte mir der Fall Weldon Material in Hülle und Fülle gegeben.« 178
»Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, Mr. Baxter«, begann nun auch Staines mit erregter Stimme, »dann rücken Sie endlich damit heraus!« Mike fixierte ihn mit einem Blick aus halbgeschlossenen Augen. »Nicht ich habe etwas zu sagen, Mr. Staines. Aber ein anderer in diesem Raum. Vielleicht sollte ich zunächst sein Gedächtnis auffrischen: Im Mai dieses Jahres wurde Lucy Staines ermordet und ihr Verlobter Harold Weldon verhaftet und wegen Mordes verurteilt.« »Das war ein Fehlurteil!« warf Sanders temperamentvoll ein. »Harold war nicht der Mörder.« »Stimmt. Er war es nicht.« »Vielleicht haben Sie dann die Güte, uns zu sagen, wer es war, Mr. Baxter«, schlug Corina ironisch vor. »Das kommt noch. Bitte etwas Geduld. Es stimmt zwar, daß Weldon mit Lucy vorher einen Streit gehabt hatte. Mr. Staines und andere Personen können das bezeugen. Da aber nunmehr feststeht, daß Weldon den Mord danach nicht begangen hat, ist diese Kabbelei völlig belanglos. Wir können das ausschalten und das Mordmotiv anderswo suchen. Der Ansatzpunkt für ein Motiv findet sich im Foto eines bekannten Juwelendiebs, das ich in Peggy Bedfords Wohnung nach ihrem Tode entdeckte.« »Meinst du das Bild von Larry Boardman?« fragte Goldway. Mike nickte. »Ja, Larry Boardman, der auch unter den Namen Leslie oder Leonard Bradley bekannt war und der sich mit Peggy angefreundet hatte. Gut informierte Kreise der Unterwelt waren der Ansicht, daß Larry ein äußerst wertvolles Schmuckstück gestohlen hätte, und zwar die Córdoba-Diamanten. Die Polizei wußte das doch auch, nicht wahr, Inspektor?« Rodgers verzog mürrisch das Gesicht. »Natürlich wußten wir es; wir hatten aber keine ausreichenden Beweise, um Boardman verhaften zu können. Wir beschatteten ihn längere Zeit; dann starb er plötzlich – sonderbarerweise eines natürlichen Todes.« 179
»Genauso war es«, fuhr Mike fort. »Kurz bevor Boardman starb, händigte er seiner Freundin Peggy Bedford einen Mikrofilm aus, auf dem das Versteck des gestohlenen Diamantenanhängers festgehalten war. Nachdem man mehrfach versucht hatte, ihr den Film zu rauben, schnitt sie ihn in ihrer Verzweiflung in drei Teile und versteckte jeden Teil im Absatz eines Damenschuhs. Da sie sich dessen bewußt war, daß sie noch immer im Besitz eines gefährlichen Dokuments war, verschenkte sie Schuhe, die zwei Filmteile –« Staines unterbrach Mike: »An die beiden ermordeten Mädchen, an meine Tochter und an Nadia Tarrant!« »An Lucy, ja, Mr. Staines. Aber nicht an Nadia Tarrant.« »Einen Augenblick, Baxter«, mischte sich jetzt Sanders ein, indem er sein Glas hinstellte und ein paar Schritte in Richtung der Couch tat. »Wenn die Tarrant keinen der ominösen Schuhe hatte, dann war sie doch auch nicht im Besitz des einen Filmstreifens.« Aus einem Augenwinkel heraus sah Linda, wie Irene Long sich haltsuchend an den Kamin lehnte. Ob Sanders in diesem Augenblick wohl an den Telefonanruf dachte, den sie, Linda, statt der Tarrant beantwortet hatte? Mike erwiderte ungerührt: »Ich habe nur gesagt, daß Peggy Bedford ihn ihr nicht gegeben hatte. Trotzdem besaß die Tarrant ein Drittel des Films, weil es ihr gelungen war, ihn zu kaufen.« »Und von wem, Mr. Baxter?« fragte Rodgers sofort. »Doch sicher nicht von Lucy Staines?« »Nein. Die betreffende Person soll nicht genannt werden, zumindest jetzt noch nicht.« Corina durchbrach das spannungsgeladene Schweigen, das Mikes Worten folgte. »Darf ich den Herrn Vorsitzenden unserer kleinen Versammlung hier etwas fragen? Wie und wann endlich kommt nun der große Unbekannte, Ihr Mr. Bannister, in Ihre Geschichte hinein? Dieser Herr interessierte Sie doch so außerordentlich.« »Mein Interesse für Mr. Bannister ist nach wie vor groß, Corina. 180
Dieser Unbekannte wußte, daß Larry Boardman kurz vor seinem Tode Peggy Bedford den Film gegeben hatte. Er war entschlossen, ihn unter allen Umständen in seinen Besitz zu bringen, koste es, was es wolle. Er beauftragte Nadia Tarrant, die nicht gerade eine Säulenheilige war, einen Teil des Mikrofilms gegen Zahlung eines größeren Betrages an sich zu bringen. Dann ermordete Bannister Lucy Staines –« »Bist du dessen sicher, Mike?« erkundigte sich der Kriminaldirektor ernst. »Absolut sicher, John. Und mehr noch: Ein paar Monate später richtete dieser Mörder es so ein, daß der Tod von Peggy Bedford wie Selbstmord aussah…« Staines stieß einen heftigen Laut der Überraschung aus. »Wollen Sie damit behaupten, daß auch Peggy ermordet wurde?« Alle Anwesenden starrten Staines an, baß erstaunt über die Wut, mit der er auf Mikes Darlegung und die unerwartete Enthüllung reagierte. Staines hatte es hart getroffen. Er packte seinen Stock, als wolle er jeden Augenblick damit losschlagen. Mit echt weiblichem Spürsinn wurde es Linda klar, daß der alte Mann in das ermordete Mädchen verliebt gewesen war, trotz des großen Altersunterschiedes und Peggys zweifelhaftem Charakter. Goldway wandte sich nochmals an Mike. »Ich muß meine Frage wiederholen, Mike. Bist du wirklich sicher, daß du die Dinge und Zusammenhänge richtig dargestellt hast?« »Das wäre eine Feststellung von großer Tragweite«, fügte Inspektor Rodgers hinzu. »Ich hoffe, Sie haben die sich daraus ergebenden Konsequenzen richtig eingeschätzt.« Mike nickte zustimmend mit ruhigem Gesichtsausdruck. »Zu den Einzelheiten kommen wir später. Ich möchte mich jetzt weiter mit den Taten von Mr. Bannister befassen. Er hatte nun bereits zwei Teile des Films in Händen, und Miß Tarrant war es gelungen, den dritten Teil für eintausend Pfund zu erwerben. Sobald sie ihm die181
sen Teil aushändigte, hatte er das, was er wollte. Er kannte das Versteck der Córdoba-Diamanten, die einen Wert von etwa 80.000 Pfund haben. Damals muß er das Gefühl gehabt haben, alles sei in bester Ordnung. Aber dann lief sein Schiff auf Grund; es war gegen ein Riff gelaufen, denn er hatte nicht mit der Habsucht einer Frau gerechnet. Nadia Tarrant weigerte sich, das Filmdrittel herzugeben. Sie wollte einen größeren Anteil an der Beute. Es ist doch immer das alte Lied, wenn Diebe miteinander Streit bekommen… Seiner Ansicht nach gab es nur einen Weg, sein Schiff wieder flottzumachen – er mußte die Tarrant umbringen. So lockte er sie zu einer heimlichen Zusammenkunft in ein abgelegenes Waldstück bei Farnham, während er gleichzeitig eine andere Frau beauftragte, ihr Aussehen dem von Nadia Tarrant anzupassen und deren Wohnung in Soho zu durchsuchen.« Sanders' Stimme dröhnte durch den Raum. »Dann war also dieser Bannister der Strolch, der das Beweismaterial gegen Weldon gefälscht hat?« »Ja, der war es. Er zeigte der Tarrant vorher Fotos von Weldon, so daß sie schon vor der Identifizierungsparade im Polizeipräsidium wußte, wie er aussah, und ihn dann als den Mann herauspicken konnte, den sie angeblich um Mitternacht vom Tatort hatte fortlaufen sehen. Das übrige Beweismaterial zu fälschen war ziemlich einfach, zumal Weldon ihm ungewollt dadurch half, daß er sich mit Lucy vor deren Ermordung stritt und bei der Polizei eine falsche Aussage im Zusammenhang mit seinem Alibi machte.« Alle Anwesenden saßen schweigend da, während Rodgers sich eine neue Zigarette anzündete und Corina zur Hausbar schlenderte, um sich sein Glas zu füllen. Die Hausbar stand in einer Zimmerecke, so daß Corina allen ins Gesicht sah, als er sich umdrehte und in freundlichem Ton sagte: »Ich muß zugeben, Mr. Baxter, Sie verstehen es ausgezeichnet, interessante und spannende Geschichten zu erzählen. Haben Sie Ihren Sinn für Effekte inzwischen so weit 182
ausgekostet, daß Sie uns endlich sagen können, wer Ihrer Ansicht nach dieser mysteriöse Mr. Bannister ist?« Mike sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. Es war so still, daß man nur das schwere Atmen von Hector Staines und das leise Aufsetzen des Glases hörte, das Corina mit leicht spöttischem Lächeln auf den Rand der Hausbar stellte. »Vielleicht würden Sie lieber diese Frage beantworten, Mr. Corina?« konterte Mike mit halblauter Stimme. »Sie schmeicheln mir. Wie kommen Sie darauf, ich könnte Ihr geistreiches Rätsel lösen?« Corina lächelte und griff nach einer Zigarette in einer nahestehenden Zigarettenschachtel. Mit der anderen Hand suchte er nach seinem Feuerzeug. Statt dessen kam sie mit einem schußbereiten Revolver zum Vorschein. »Aufpassen, Baxter!« schrie Inspektor Rodgers, während beide Frauen aufkreischten. Sanders machte eine instinktive Abwehrbewegung, aber Corina richtete sekundenschnell den Pistolenlauf auf ihn und rief: »Meine Herrschaften, die Party ist beendet. Schluß jetzt mit dem Affentheater! Stellen Sie sich alle mit dem Rücken zur Wand. Los, etwas dalli, bitte! Rodgers und Goldway, geben Sie die Tür frei. Ich gehe jetzt und möchte mir nicht den Weg freischießen müssen.« Die Anwesenden waren völlig verdattert und gehorchten ängstlich. Sie stellten sich nebeneinander an der Wand auf und ließen einen breiten Gang zur Tür für Corina frei. Er ging, den Revolver in der Hand, mit schnellen Schritten an allen vorbei und tastete mit der freien Hand die Anwesenden mit geübtem Griff nach verborgenen Waffen ab. Niemand war bewaffnet. Im letzten Moment vor dem Verlassen des Zimmers erblickte er noch Lindas Handtasche. Er ließ das Schloß aufschnappen und kippte den Inhalt auf den Teppich. Lächelnd und mit einem Unterton des Bedauerns sagte er zu Linda: »Leider spielen Frauen oft mit derlei Dingen«, wobei er auf den Revolver in seiner Hand deutete. 183
»Ich schließe jetzt die Tür von außen zu. Der erste, der sie aufzubrechen versucht, bekommt eine blaue Bohne in den Pelz. So, das wäre alles.« Er zog den Schlüssel ab, ging schnell rückwärts zur Tür hinaus und schloß sie draußen sofort ab. Kein Laut war mehr zu hören. Sanders bewegte sich als erster. Das gebot ihm der Ehrenkodex des Gentleman. Mit einem Fluch, der wie ›verdammtes Schwein‹ klang, ging er auf die Tür zu. Irene Long schrie ihm eine Warnung zu, doch beruhigte Inspektor Rodgers sie. »Der wird kaum noch draußen herumlungern, sondern zunächst einmal soviel Boden wie möglich zwischen sich und uns bringen.« Nach diesen Worten wirbelte er herum, um nach dem Telefon zu greifen. Kriminaldirektor Goldway war ihm aber schon zuvorgekommen und hatte bereits gewählt. Eine Sekunde später gab er Anweisung für einen allgemeinen Alarm mit dem Befehl, Charles Corina, Inhaber des Nachtklubs La Pergola, festzunehmen. Inzwischen hatte Sanders seinen Rock ausgezogen und einen Schürhaken vom Kamin ergriffen, mit dem er sich daran machte, die Tür geräuschvoll aufzubrechen. Mike hielt ihn zurück. »Schonen Sie den Lack von Miß Longs Tür, alter Junge. Ich glaube, es gibt einen leichteren Weg.« An Hector Staines gewandt, der ermüdet auf der Couch saß, sagte er: »Der Hauswart wird bestimmt einen Hauptschlüssel haben. Wissen Sie zufällig die Telefonnummer von Dan Appleby?« Staines lief scharlachrot an und stammelte etwas Unverständliches, während Rodgers und die anderen ratlos dreinblickten. Irene Long hatte sich so weit gefaßt, daß ihr die Nummer einfiel. Einige Minuten später öffnete Dan Appleby von außen und überschlug sich beinahe, als er die Gesellschaft in Miß Longs Wohnung vor sich sah. Sein Gesicht zeigte eine solche Mischung von Neugier, fassungslosem Staunen und sofortigem Wiedererkennen der Baxters, daß Linda ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. 184
Mike nutzte die fortdauernde Verwirrung, um Kriminaldirektor Goldway beiseite zu ziehen und ihm zuzuflüstern: »Ich hätte mit dir später gern unter vier Augen gesprochen. Aber so, daß uns wirklich niemand sieht.« Goldway hatte verstanden, warf ihm einen schnellen Blick zu und flüsterte: »In einer Stunde bei mir zu Haus.« Vierundzwanzig Stunden später kam Mike nach Haus. Ihm fiel sofort auf, daß Linda sehr besorgt war. »Eben noch war Inspektor Rodgers hier, Darling. Von Corina fehlt noch jede Spur. Die Polizei wird doch hoffentlich nach all der harten Arbeit, die du geleistet hast, die Sache jetzt nicht noch vermasseln?« Mike lächelte. »Das glaube ich nicht.« »Wie hat Weldon die Nachricht aufgenommen?« »Er war nicht mehr so sarkastisch wie bisher. Du wirst es kaum glauben – er hat sich sogar bedankt. Ich habe ihm gesagt, er solle seinen Dank lieber bei dem Innenminister und bei Kriminaldirektor Goldway abstatten.« »Du bist wieder einmal zu bescheiden! Mehr hatte er nicht zu sagen?« Mike lachte vergnügt vor sich hin. »Nein. Eigentlich muß man ja seine Haltung bewundern, wenn man bedenkt, durch welche Hölle er inzwischen gegangen sein muß. Als ich ihm sagte, sein Fall werde wieder aufgerollt, erwiderte er nur: ›Das ist aber nett; jetzt kann ich den Scheck wenigstens persönlich zum Anwalt tragen und ihm sagen, was er damit tun kann.‹« »Ist ja alles ganz schön und gut. Unverständlich ist mir nur, warum die Polizei so lange braucht, um Corina zu fassen. Rodgers erzählte mir, die Fahndung erstrecke sich auf alle Häfen und Bahnhöfe und es seien massenhaft Beamte eingesetzt. Der Inspektor selbst sieht aus, als hätte er seit einer Ewigkeit kein Auge mehr zu185
getan.« »Das kann ich mir denken. Du brauchst dir aber wirklich keine Sorgen zu machen, Liebes. Jetzt kann ich dir versprechen, daß alles gut ausgehen wird.« Das Telefon klingelte, und Linda nahm den Anruf entgegen. »Es ist für dich, Liebling. John Goldway ist es.« »Guten Abend, John. Was gibt es denn? … Doch, alles läuft planmäßig ab… Ich weiß, aber er wird die Verabredung einhalten, dafür bürge ich mit meinem Kopf… Richtig. Hauptsache, die Umgebung ist so abgesichert, daß keine Maus mehr durchschlüpfen kann und daß deine Leute nicht zu sehen sind… Danke schön, John. Also, um neun Uhr an der verabredeten Stelle.« Als er den Hörer auflegte, überfiel ihn Linda aufgeregt mit Fragen. »Etwa eine Verabredung mit Corina? … Wo?« Mike stützte das Kinn auf zwei Finger und lächelte verschmitzt. »Nun, wo soll Corina um neun Uhr schon anzutreffen sein? Natürlich in seinem Klub.« Lindas weitere Fragen wehrte er ab: »Nun sei ein liebes Mädchen, nimm dir ein entspannendes Buch, und mache es dir auf der Couch bequem. Ich bin bald wieder da.« »Wo willst du denn jetzt hin?« »Zum Klub natürlich.« »Was? Etwa ohne mich?« »Darling – es besteht durchaus die Möglichkeit, daß es dort heute etwas rauh zugehen könnte. Es dürfte nicht gerade ein Damenkränzchen werden.« »Mach dir da keine Hoffnungen, Mr. Baxter! Ausgerechnet in dem Augenblick, wo die Rennpferde in die Zielgerade einbiegen, soll ich die Tribüne verlassen? Wenn du wirklich ohne mich dahin willst, dann mußt du mich hier anketten.« Mike sah sie nachdenkend und kopfschüttelnd an. »Und das ist die Frau, die sich gestern erst – oder war es vorgestern – darüber be186
klagte, daß ihr Leben so eintönig verlaufe.« Linda konnte im Pergola-Klub nichts Ungewöhnliches entdecken, abgesehen davon, daß an diesem Abend mehr Gäste als sonst da waren. Dieselbe üppige Blondine, die schon bei ihrem ersten Besuch mit rauher Stimme ins Mikrophon gezwitschert hatte, war wieder aktiv und sang das gleiche Lied. Geschminkte und gepuderte Mädchen und feminin wirkende junge Männer wiegten sich in der matten Beleuchtung zu den Klängen der südamerikanischen Rhythmen auf der winzigen Tanzfläche. Kellner in rosa Jacken flitzten geschickt zwischen den Tischen hin und her, und der rothaarige Barmixer hatte immer noch einen Haarschnitt dringend nötig. Linda hatte so viel Aufregendes erwartet, daß sie ihre Enttäuschung kaum verbergen konnte. Mike fragte leicht belustigt: »Womit hast du eigentlich gerechnet, Liebling? Etwa mit schlecht getarnten Polizeihelmen unter jedem Tisch und einer Polizeikapelle auf der Bühne statt der südamerikanischen Band?« »Es ist doch aber auch draußen niemand von Rodgers' Leuten zu sehen«, erwiderte Linda. »Das wäre ja schlimm. Sie sind trotzdem da; du brauchst keine Angst zu haben.« »Und was, um Himmels willen, läßt dich annehmen, daß Corina ausgerechnet hierher zurückkehren wird? Das wäre doch wohl der letzte Fleck auf Erden, wohin er sich wagen würde.« »Na, warten wir ab.« Linda warf ihm einen prüfenden Blick zu. Obwohl Mike sich unbekümmert und beinahe leichtfertig gab, kannte sie ihn doch gut genug, um in seinen Augen, die schnell den überfüllten Raum musterten, Zeichen der Spannung zu erkennen. Als sie plötzlich Rodgers allein an einem Tisch in einer Loge sitzen sah, von dem aus er den Raum gut überblicken konnte, hielt sie den Atem an. Sie gab 187
Mike einen Rippenstoß und wollte etwas sagen. Aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich weiß. Ich habe ihn auch gesehen. Mache aber bitte nicht gleich einen Handstand vor Aufregung. Ich werde mich jetzt kurz mit ihm unterhalten und komme dann zu dir an die Bar. Der Kriminaldirektor hat versprochen, uns hier um neun Uhr zu treffen. Sollte es plötzlich ungemütlich werden, dann gehe einfach hinter der Bar in Deckung.« Mike wartete noch, bis Linda einen sicheren Platz an der Bar gefunden hatte. Dann bahnte er sich einen Weg zu Inspektor Rodgers. Dieser erhob sich und begrüßte Mike mit einer Stimme, die seine physische Erschöpfung ahnen ließ. Beide setzten sich. »Noch keine Spur von Corina?« fragte Mike. »Nein, das Glück war mir noch nicht hold. Was trinken Sie?« Rodgers winkte einen Kellner herbei und bestellte einen Martini Dry für Mike und für sich einen Tomatensaft. Selbstbewußt grinsend erklärte er: »So richtig einen heben werde ich erst, wenn wir unseren Mann in Handschellen haben.« »Kann ich mir denken. Eine Zigarette?« Rodgers nahm eine und zündete sie sich am Rest der noch glühenden Zigarette an, die er im Mundwinkel hielt. Nachdem er tief inhaliert hatte, fragte er: »Wie sind Sie eigentlich auf den Gedanken gekommen, daß Corina hinter allem steckt?« Mike hob fragend die Augenbrauen: »Haben Sie ihn etwa nicht für verdächtig gehalten?« »Verdächtig schien er mir schon. Doch stand er auf der Liste nicht an erster Stelle.« »Wer stand denn da, wenn ich fragen darf?« »Harold Weldon, leider. Später, nach dem Zwischenfall mit Peggy Bedford und dem Mord an der Tarrant habe ich alles noch mal überprüft.« »Und auf wen tippten Sie dann?« 188
»Auf Victor Sanders.« Mike nickte. »An sich logisch, wie ich zugeben muß. Sanders war mit Irene Long und Harold Weldon befreundet. Seine Freundin besaß ein Drittel des Mikrofilms. Alles, was Sanders noch zu tun hatte, war, den zweiten Teil von Lucy Staines in die Hand zu bekommen…« »Womit er schon zwei Drittel des Weges hinter sich hatte.« »Genau. Dann blieb nur noch Peggy Bedford mit dem fehlenden Drittel.« »Das meinte ich auch.« »Weldon machte aber nicht mit. Deshalb beschloß Sanders, sich die Mitarbeit von Hector Staines zu sichern. Der mußte doch wohl imstande sein, den fehlenden Filmteil von seiner Tochter zu bekommen. Er erzählte Staines von dem Film und versprach ihm einen beträchtlichen Anteil an der Beute. Staines befand sich ständig in Geldnöten, weil er sich unglücklicherweise mit der kostspieligen jungen Dame Peggy Bedford abgab. Wenn ein alternder Mann sich eine Freundin dieses Genres hält, kostet das meist eine Stange Geld. Es war Pech für Sanders und Staines, daß Lucy ermordet wurde, ehe sie das Mädchen für sich gewinnen konnten.« Rodgers nickte. »Und wir brauchen auch gar nicht weit nach ihrem Mörder zu suchen.« »Natürlich nicht. Es war der mysteriöse Mr. Bannister, der vom Raub der Córdoba-Diamanten wußte, der Larry Boardman kannte und darüber informiert war, daß das Versteck der Juwelen auf einem Filmstreifen festgehalten war, den man inzwischen in drei Teile zerschnitten hatte. Er wußte auch, daß Lucy Staines einen Teil davon besaß.« Der Kellner brachte die Getränke, und Mike nippte genießerisch an seinem Glas. »Staines war natürlich entsetzt über den Tod seiner Tochter, während das für Victor Sanders meines Erachtens kein so großer Schock war. Der wußte schon ziemlich viel über Bannister 189
und konnte erraten, wer der Mörder sein mußte. Deshalb traf es ihn auch so hart, als sein Freund Harold Weldon verhaftet und später verurteilt wurde. Sanders erfuhr von der Fairfax-Eintragung in Lucys Notizbuch und folgerte daraus, daß Fairfax ein anderer Name für Bannister war. Daher fabrizierte er den Brief dieses sagenhaften Fairfax, mit dem er zu beweisen hoffte, daß man Weldon dieses Verbrechen angehängt hatte, was ja auch stimmte.« »Und Bannister soll das getan haben?« »Ja, Bannister. Mein erster Eindruck von Staines und Sanders«, berichtete Mike weiter, »traf beinahe ins Schwarze. Beide waren ehrlich bestrebt, Weldons Unschuld zu beweisen. Da ihre Westen jedoch alles andere als sauber waren, konnten sie nicht allzuviel Druck dahintersetzen.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Inspektor Rodgers und fragte: »Aber wie paßt Nadia Tarrant in das Bild?« »Sie war von Bannister gekauft worden. In seinem Auftrag erwarb sie von Irene Long den fehlenden dritten Teil des Films. Als Sanders hörte, daß seine Freundin Irene kalte Füße bekommen und ihren Teil für ganze tausend Pfund abgestoßen hatte, wurde er wütend. Bei einem Wertobjekt von 80.000 Pfund ist das natürlich eine lächerliche Summe.« »Dann hat er der Tarrant sicher sofort mindestens fünfzehnhundert geboten?« fragte Rodgers. Mike nickte. »Etwa in dieser Höhe. Den genauen Betrag weiß ich nicht. Deswegen rief er auch damals an, als Linda und ich gerade in dieser stinkigen Bude der Tarrant in Soho waren. Am Telefon fragte er doch: ›Was ist mit der Sache Bannister? Bekomme ich endlich den dritten Schuh?‹, womit er natürlich den dritten Teil des Films meinte.« »Hm. Und was mit Nadia Tarrant geschah, wissen wir ja.« »Das schon. Aber man lief bei ihr leicht Gefahr, sie zu unterschätzen.« 190
Rodgers warf Mike einen scharfen fragenden Blick zu. »Wie meinen Sie das?« »Selbst ein Mann wie Bannister unterschätzte sie.« »Das verstehe ich nicht.« »Er muß ihr eine Menge Geld gezahlt haben, damit sie gegen Harold Weldon als Kronzeugin der Anklage aussagte.« Rodgers nickte nachdenklich. »Falls er sie nicht erpreßt hat; dann hätte es ihn gar nichts gekostet.« »Auch das wäre möglich, doch glaube ich eher, daß es letzten Endes die Tarrant war, die ihn zu erpressen begann.« »Wieso das? Ich dachte, sie wäre nie mit ihm persönlich zusammengetroffen.« »Das war ja auch gar nicht notwendig. Sie muß jedenfalls Verdacht geschöpft haben und verschaffte sich Informationen. Sie ging sogar so weit, in einer Bibliothek einiges nachzuschlagen.« Rodgers schien perplex. Mike teilte ihm lächelnd weitere Einzelheiten mit. »Es handelt sich um eine Bibliothek in der Tottenham Court Road. Sie hatte eine bestimmte Person in Verdacht und suchte über sie nähere Angaben in einem Nachschlagewerk. Sie hatte inzwischen eigenartige Dinge über den mysteriösen Mr. Bannister in Erfahrung gebracht und wollte das nun mit den biographischen Angaben über den Mann vergleichen, den sie für Bannister hielt.« Rodgers drückte den Stummel aus und zündete sich eine neue Zigarette an. Sein Tomatensaft stand noch unberührt vor ihm. »Sie haben in den letzten Tagen ja erstaunlich viel Informationen zusammengetragen. Jammerschade, daß Sie nicht zur Kriminalpolizei gehören, Mr. Baxter.« »Ach, diese Spur zu verfolgen, war gar nicht so schwer. Saltoni erzählte mir, er habe Nadia Tarrant in dieser Bibliothek kennengelernt, was mir verdammt merkwürdig vorkam. Ich ging hin und stellte fest, daß die Tarrant sich dort zwei Bücher hatte geben las191
sen. Das eine war ein dicker Wälzer über die Technik des Fotografierens.« »Sehr interessant! Fotografieren ist doch Sanders' Hobby.« Mike nickte. »Das schon. Am meisten interessierte sie aber das zweite Buch: Die Enzyklopädie der Sozialwissenschaften. Sie werden bestimmt wissen, welche ich meine.« Rodgers Augen schlossen sich etwas; er äußerte sich aber nicht dazu. Nach einer Pause sprach Mike langsam weiter. »Dieses Buch enthält auch eine große Anzahl biographischer Angaben über Geheimagenten und führende Beamte von Scotland Yard.« Rodgers erstarrte, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos wie eine Maske. »Darin dürfte sie kaum etwas über Corina gefunden haben«, sagte er schließlich. Mike lehnte sich weit über den Tisch. »Miß Tarrant suchte auch keine Angaben über Corina. Sie interessierte sich für die Biographie über den Kriminalinspektor Rodgers!« Rodgers schien belustigt. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß dieses Weibsstück mich verdächtigte? Daß sie dachte, ich sei Bannister?« »Genau das wollte ich sagen!« »Aber warum, zum Teufel? Warum?« »Weil Sie Bannister sind, Inspektor!« schrie Mike seinem Gegenüber wie rasend vor Wut ins Gesicht. »Darum!« Rodgers starrte ihn fassungslos vor Erstaunen an. »Worauf, um alles in der Welt, wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte er dann. Mike, der die Hände des Inspektors aufmerksam im Auge behielt, sagte langsam und betont: »Soll ich Ihnen sagen, warum Sie heute abend hier in den Klub gekommen sind, Rodgers?« »Um Corina zu fassen. Wozu sonst?« »Nie und nimmer! Nicht um Corina zu fassen, sondern um sich mit ihm zu treffen. Corina stellte Ihnen einen Brief zu mit der Auf192
forderung, ihn hier zu treffen, andernfalls würde er sich genötigt sehen, Kriminaldirektor Goldway morgen früh recht unangenehme Enthüllungen auf den Schreibtisch zu legen. Nur deshalb sind Sie hier.« Rodgers' Gesichtsausdruck änderte sich fast unmerklich; seine Stimme klang immer noch gut artikuliert. Sarkastisch sagte er: »Das ist wirklich aufschlußreich. Sprechen Sie nur weiter.« »Sie waren darauf vorbereitet, mit Corina einen Handel abzuschließen«, sagte Mike gelassen. »Unsinn! Wenn ich wirklich Bannister wäre, dann bräuchte ich keinen Handel abzuschließen, denn dann hätte ich den ganzen Film.« »Den haben Sie auch! Alle drei Teile befinden sich in Ihrem Besitz; aber Corina weiß zuviel. Und den müssen Sie erst noch aus dem Wege schaffen, um endgültig freie Bahn zu haben. Dann brauchen Sie über die Córdoba-Affäre nur noch Gras wachsen zu lassen, holen sich dann das Diamantenkollier und verduften still und heimlich damit.« »Baxter – Sie müssen total verrückt sein!« »Keineswegs, Rodgers. Ich weiß, daß Sie den Brief von Corina bekamen, weil ich dabei war, als er ihn schrieb. Und damit Sie es ganz genau wissen: ich selbst habe ihn zur Post gebracht. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ja Corina fragen.« Zum ersten Male war Rodgers sichtlich außer Fassung. Er schien sich zusammenzuziehen wie eine Sprungfeder. »Und wo wäre Corina zu finden?« fragte er mit belegter Stimme. »Er steht direkt hinter Ihnen, Inspektor.« Rodgers wirbelte mit dem vollen Glas Tomatensaft in der Hand herum. »Du verdammter Hund!« schrie er Corina an, schüttete ihm den Inhalt des Glases ins Gesicht und stieß mit einem blitzschnellen kraftvollen Fußtritt den Tisch um, als Mike gerade nach ihm greifen wollte. Mike ging zu Boden, eine Frau schrie gellend auf, 193
und im Handumdrehen herrschte ein heilloses Durcheinander im ganzen Raum. Mit unglaublicher Behendigkeit sprang Rodgers quer durch die Nische, versetzte Corina einen wuchtigen Tritt in den Unterleib und rannte dann einen mit dicken Läufern ausgelegten Korridor entlang. Mike rappelte sich etwas unbeholfen wieder hoch, sprang über die Brüstung der Nische und kniete neben dem stöhnenden Corina nieder. »Wohin führt dieser Korridor?« schrie er ihn an. »In mein Büro«, brachte Corina stöhnend hervor und hielt sich mit beiden Händen den Leib. »Ist dort ein Ausgang?« »Nein.« Als Mike wieder hochsprang, stand plötzlich Kriminaldirektor Goldway neben ihm. »Ich hatte euch beide genau beobachtet, war aber dann doch nicht schnell genug zur Stelle. Bist du verletzt?« fragte er Mike, der sich in Richtung auf den Korridor, in dem Rodgers verschwunden war, in Bewegung setzen wollte. Goldway hielt ihn zurück. »Ich habe meine Leute hier überall verteilt. Das kannst du jetzt uns überlassen.« Seine Worte wurden von vereinzelten Pistolenschüssen unterbrochen. Einen Augenblick später kam ein Sergeant zu ihm, der sich die blutende Schulter hielt. »Ich war im Gang postiert, Sir«, sagte er atemlos zu Goldway. »Er hat sich aber den Weg an mir vorbei freigeschossen. Jetzt hat er sich im Büro eingeschlossen. Ich hörte das Schiebefenster aufgehen. Poulson und die anderen müssen ihn unten abgefangen haben, als er hinauszuklettern versuchte.« Mike bahnte sich einen Weg durch die verdatterten Klubgäste zum Ausgang. Nur im Unterbewußtsein spürte er, daß Linda unmittelbar hinter ihm war. Draußen auf der Straße standen viele neugierige Straßenpassanten und ein halbes Dutzend Polizisten im Halbkreis um den leblosen 194
Körper, der übel zugerichtet auf dem Pflaster unterhalb des geöffneten Fensters lag. Ein Polizeiarzt kniete neben dem am Boden liegenden Mann. Die rosa-blau brennenden Neonlampen über dem Klubeingang tauchten die grausige Szene in ein unheimlich wirkendes Licht, als der Arzt aufstand und mit einer Geste unverkennbarer Endgültigkeit seine Instrumententasche schloß.
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wei Stunden später unterhielten sich die Baxters in ihrer Wohnung mit John Goldway bei einer Tasse Kaffee. »Ich verstehe nur eines nicht…«, sagte Linda. Sie wurde durch lautes Lachen der beiden Männer unterbrochen. »Da haben wir es ja schon; jetzt bricht die Neugierde bei Linda durch«, neckte Mike sie. »Was verstehen Sie denn nicht, Linda?« fragte Goldway. »Warum hat Rodgers, oder Bannister, oder wie er wirklich heißt –« »Rodgers ist sein wirklicher Name«, unterbrach Goldway Linda. »– also, warum hat Rodgers das getan? Er hatte doch eine gute Position beim Yard.« »Anscheinend aber auch enorm viel Schulden«, erwiderte Goldway. »Wie wir inzwischen in Erfahrung gebracht haben, hat er viel zu hoch gespielt, was uns bisher unbekannt war, und dabei fast siebentausend Pfund verloren.« »Ich hatte mir erst letztens Gedanken darüber gemacht, ob nicht auch er eine menschliche Schwäche hat«, warf Mike ein. »An 195
Glücksspiel habe ich aber nicht gedacht.« »Die Spielverluste machten ihm schwer zu schaffen. In diesem Dilemma müssen ihm die Córdoba-Diamanten als die letzte Rettung erschienen sein. Niemand wäre es je im Traum eingefallen, ihn zu verdächtigen. Ihm standen natürlich alle Informationen im Yard und auch Unterweltkontakte zu Verfügung, was oft eine unangenehme, aber notwendige Seite seines Berufs ist. Er muß in einem nervlichen Schwächezustand nur noch diesen Ausweg aus seiner finanziellen Misere gesehen haben.« »Stimmt. Die Córdoba-Diamanten!« rief Linda. »Rodgers war ja seinerzeit auch an der Untersuchung dieses Falles beteiligt, nicht wahr? Ich habe darüber etwas im Kapitel ›Berühmte Kriminalfälle‹ in dem Buch gefunden, das Mike kommen ließ; ich meine das Buch, das sich Nadia Tarrant in der Bibliothek ausgeliehen hatte.« »Ja. Darüber konnte man nachlesen«, bestätigte Mike. »Aber, da fällt mir ein, Darling … woher wußtest du, daß ich Rodgers in Verdacht hatte? Ich habe doch nie seinen Namen genannt; in diesem Buch sind doch auch andere Kriminalbeamte erwähnt.« »O Mike!« sagte Linda lächelnd. »Aus dir wird nie ein guter Detektiv. An dem betreffenden Absatz hast du in dem Buch einen Bleistiftstrich gemacht. Also wußte ich, daß diese Stelle dein besonderes Interesse gefunden hatte.« »Verdammt noch mal! So unvorsichtig war ich also.« »Was ich aber nicht verstehe«, fuhr sie fort, »das ist die Rolle, die der arme Saltoni in diesem Fall spielte.« »Saltoni wußte vielleicht etwas über Rogers. Deshalb wollte er auch unbedingt mit Mike allein sprechen und nicht in Gegenwart der Polizei«, erklärte Goldway. »Du meinst, als ich ihn in mein Taxi steigen ließ?« fragte Mike. »Ja, zunächst dachten wir, er hätte ganz allgemein vor der Polizei Angst. Tatsächlich scheint er aber speziell Rodgers gefürchtet zu haben.« 196
»Und Rodgers war es natürlich, der ein paar Haudegen bezahlte, die den armen Kerl in der Nähe seiner Wohnung zusammenschlugen. Die Furcht Saltonis war also gerechtfertigt. Er muß fast einen Herzschlag bekommen haben, als er im Krankenwagen aus seiner Bewußtlosigkeit aufwachte und Rodgers neben sich sitzen sah.« »Dann hat also Rodgers im Krankenhaus Saltoni bearbeitet und seinen ›Gedächtnisschwund‹ herbeigeführt. Aber natürlich! Es wurde ja sonst niemand zu ihm gelassen. Kein Wunder, daß Saltoni plötzlich behauptete, er könne sich an nichts mehr von dem erinnern, was er dir am Nachmittag berichtet hatte«, meinte Linda. »Jetzt muß aber ich mal um eine Erklärung bitten«, wandte Mike sich an Goldway. »Rodgers ermordete die Tarrant in der Nähe von Farnham. Wie ist es ihm gelungen, seine Spuren zu verwischen, und wie ist der Umstand zu erklären, daß er so bald nach der Tat an diesem Ort war und die Leiche selbst identifizieren konnte?« »Das war für ihn ein Kinderspiel. Er behauptete einfach, daß er Spuren, die Hector Staines beträfen, verfolgen müsse, wozu auch die Firma in Guildford und die Kneipe bei Westerdale gehörten. Deswegen sei er rein zufällig in der Nähe des Tatortes gewesen. Wir wären überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, das in Frage zu stellen.« »Jetzt fügt sich auf einmal alles so einfach zusammen, nicht wahr? Natürlich kam ihm der Fall Harold Weldon sehr zustatten. Er hatte von Anfang an die Untersuchung in der Hand und konnte den weiteren Ablauf der Dinge ganz in seinem Interesse lenken.« »Du meinst solche ›Beweisstücke‹ wie das blutbefleckte Taschentuch, für das Harold Weldon keine Erklärung abgeben konnte?« fragte Linda nachdenklich. »Das konnte er schrecklich einfach bewerkstelligen.« »Nicht zu vergessen die Tatsache, daß Nadia Tarrant das Restaurant in der Greek Street gerade zu der Zeit verlassen haben sollte, als Lucy Staines ermordet wurde. War sie zur fraglichen Stunde 197
wirklich bei Saltoni, muß sie ja viel früher weggegangen sein. In seiner amtlichen Eigenschaft konnte Rodgers leicht ein gründlicheres Eingehen auf diesen Zusammenhang – besonders, was dann vielleicht auf den wahren Sachverhalt gedeutet hätte – ausschließen. Ja er konnte auch sogar Aussagen unterdrücken, die nicht in seinen Plan paßten.« »In einem Punkt hatte ich aber wohl doch recht«, sagte Linda. »Ich meine die Beziehungen zwischen Hector Staines und Peggy Bedford.« Goldway nickte. »Staines hat zugegeben, versucht zu haben, das Mädchen zur Heirat zu bewegen. Er hat auch die Wahrheit gesagt, als er behauptete, nicht zu wissen, daß er mit ihr im ›Lord Fairfax‹ gewesen wäre. Sie hat ihn dorthin geführt, und er hat einfach nicht daran gedacht, nach dem Namen des Lokals zu sehen.« »Das erklärt aber noch immer nicht den rätselhaften Vermerk in Lucys Notizbuch«, warf Linda ein. Goldway runzelte die Stirn. »Hierzu können wir nur Vermutungen anstellen, weil beide Mädchen tot sind. Ich könnte mir aber vorstellen, daß es Peggy einigermaßen in Verlegenheit brachte und daß sie es für verrückt hielt, als der Vater ihrer besten Freundin auf einen Heiratsantrag zusteuerte. Denken wir nur an den großen Altersunterschied. Ich nehme an, Peggy verabredete sich dort mit Lucy, um diese Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Der ›Lord Fairfax‹ war für eine ungestörte Aussprache wie geschaffen.« »Es hätte aber auch eine Verabredung mit jemandem sein können, der einen Teil des Films in Händen hatte und mit dem sie einen Handel abzuschließen hoffte«, gab Mike zu bedenken. Linda nickte. »Ja. Und wer auch immer das gewesen sein mag, dieser uns Unbekannte wollte natürlich nicht zugeben, daß er etwas über das im Notizbuch vermerkte Rendezvous wußte, um im Dunkeln bleiben zu können. Das kann man verstehen. Peggy muß indessen erraten haben, warum Lucy ermordet wurde. Sie hatte aber 198
zu große Angst, die Polizei könnte hinter ihre Freundschaft mit Larry Boardman kommen, wenn man sich erst einmal mit ihr näher befaßte.« »Das dürfte es gewesen sein«, erwiderte der Kriminaldirektor. Es klopfte, und Mrs. Potter brachte frischen Kaffee. Mit freundlichem Lächeln sprach Goldway sie an: »Mrs. Potter, so ausgezeichnet Ihr Kaffee auch ist, mit dieser Tasse habe ich genug, denn sonst muß ich noch die ganze Nacht hier zubringen.« Als Mrs. Potter das Zimmer verlassen hatte, sagte Linda zu Goldway: »Aber auf ein, zwei Fragen muß ich unbedingt noch Antwort haben. In der Nacht, als Irene Long sich im Klub von Corina betrank und dann Mike warnte, nicht nach Reading zu fahren, bekam sie doch zufällig ein Gespräch zweier Männer mit, wie man Mike fortlocken und kaltstellen könne. Führten Rodgers und Corina diese Unterredung?« »Ja«, antwortete Mike anstelle von Goldway. »Angeblich hat sie die Stimmen nicht genau erkannt; man muß allerdings berücksichtigen, daß sie zu diesem Zeitpunkt schon fast betrunken war. Damals begann mein Verdacht eigentlich erst greifbare Formen anzunehmen. Sanders rief mich am darauffolgenden Tag an und äußerte sich besorgt über den Lauf der Dinge. Schließlich war er ja selbst darin verwickelt, und seine Freundin nicht minder. Nicht zu vergessen, daß das Leben seines Freundes Harold Weldon am seidenen Faden hing. Es war also nicht verwunderlich, daß er gern etwas über den neuesten Stand der Ermittlungen erfahren wollte. Als Sanders anrief, war zufällig Rodgers bei mir. Ich erzählte ihm absichtlich, daß man mich davor gewarnt habe, nach Reading zu fahren. Er brauchte also nur zwei und zwei zusammenzuzählen und kam zu dem Schluß, daß Sanders mich gewarnt habe.« »Nach dem Unfall mit Sanders' Wagen gingst du davon aus, daß Rodgers der Urheber des Anschlages war, weil er Sanders loswerden wollte.« 199
»Genauso war es, Darling«, bestätigte Mike. »Nur wäre daraus für mich beinahe ein Bumerang geworden. Woher sollte ich wissen, daß du dabei in Gefahr geraten konntest?« »Ach, laß das. Schließlich diente ja alles der Aufklärung des Falles Weldon«, antwortete Linda sichtlich erleichtert. »Wenn man mir jetzt noch sagen würde, welche Rolle Corina spielte, dann könnte ich den Herren den wohlverdienten Schlaf zugestehen.« Mike übernahm es, ihr auch auf diese Frage zu antworten. »Noch vor ein paar Jahren war Corina nur ein – sagen wir – Außenseiter mit einem bescheidenen, aber immerhin vorhandenen Vorstrafenregister. Rodgers muß einiges aus seinem Vorleben gewußt haben. Im Besitz dieser Information hat Rodgers sich dann entschlossen, Corina mehr in den Vordergrund zu schieben, beziehungsweise in die Zange zu nehmen. Er informierte ihn auch über Jos Verbindung zu Scotland Yard. Corina war, das kann man verstehen, wütend, daß der Yard seinen Klub beschattete; aber er war es nicht, der Jo Peters entführen und mißhandeln ließ; das erledigte Rodgers.« »Und warum hat er das getan?« »Um den Verdacht verstärkt auf Corina zu lenken und uns zu veranlassen, daß wir uns ganz auf den Klub La Pergola konzentrierten. Er ließ sich für die Vernehmung von Jo etwas Besonderes einfallen, indem er einen Mann mit leicht ausländischem Akzent einsetzte, um Jo glauben zu machen, es sei Corina gewesen, der das Verhör leitete.« »Und warum hat Corina schließlich doch einen Seitenwechsel vorgenommen? Er hat doch zum Schluß mit dem Yard zusammengearbeitet, denke ich?« Kriminaldirektor Goldway lächelte verschmitzt und sagte: »Ja, wie ein dressiertes Zirkuspferd. Wir klärten ihn über die Zusammenhänge auf und machten ihm die Hölle heiß und drohten ihm, wir würden seinen Nachtklub schließen lassen, wenn er nicht auf unserer Seite mittäte.« 200
Goldway trank seinen Kaffee aus und machte Anstalten zu gehen. Linda entging das nicht, und sie schoß sofort ihre letzte Frage ab: »Warum baute Staines das Abhörgerät über Irenes Wohnzimmer ein? Nahm er an, daß sie für Bannister arbeite?« »Das glaube ich nicht. Schließlich war Sanders sein Komplize, und zwischen den beiden bestand nicht gerade ein Vertrauensverhältnis. Da Staines ihm mißtraute und sichergehen wollte, daß Sanders ihn nicht übers Ohr haute, beschloß er, den Lauscher an der Wand zu spielen. Er tat es dort, wo Sanders die meisten Abende verbrachte – in der Wohnung von Irene Long.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Linda, die nun endlich ihre Neugierde voll befriedigt hatte. Goldway erhob sich und fragte: »Und was wirst du jetzt tun, Mike? Wolltet ihr nicht nach Südfrankreich in Urlaub fahren?« Mike warf Linda einen schuldbewußten Blick zu. »Ja, das war wirklich unsere Absicht; aber unsere Ferien sind wohl vorerst abgeblasen, fürchte ich.« Linda sah ihren Mann entrüstet an. »Das ist mir vollkommen neu, Mike. Ich habe nach wie vor die Absicht, sofort mit dir zu verreisen.« »Ich wollte es dir vorhin gerade schonend beibringen, Darling. Der Herausgeber der Tribune hat bei mir eine Artikelserie über den Fall Weldon bestellt, die ich der Aktualität wegen sofort schreiben muß.« Linda schüttelte energisch und entschlossen den Kopf. »Der Fall Weldon ist abgeschlossen! Morgen fahren wir nach Cannes.« »Moment mal«, warf Mike mit einem Seitenblick auf Goldway ein. »Wer ist hier Herr im Hause? Du oder ich?« Linda zeigte ein strahlendes, unschuldsvolles Lächeln. »Was für eine törichte Frage, Mike. Du natürlich, Liebling! Das weißt du doch ganz genau.« »Also werde ich diese Artikelserie schreiben«, erwiderte Mike, 201
innerlich belustigt über Lindas Reaktion. »Und jetzt bitte keine Widerrede mehr, Darling.« Mike schrieb wirklich die Serie. Am Strand von Cannes.
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