Das neue Abenteuer 448
Claus Zander: Die Schrottkulis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustratione...
11 downloads
317 Views
582KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das neue Abenteuer 448
Claus Zander: Die Schrottkulis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustrationen von Karl Fischer © Verlag Neues Leben, Berlin 1984 Lizenz Nr. 303 (305/81/84) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei -Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 669 4 00025
Die Männer saßen, hockten und standen auf dem Platz vor dem Werktor. Ab und zu flüsterten sie miteinander. Eine Hoffnung wurde ausgesprochen oder eine bange Frage gestellt. Mehrere Stunden warteten sie bereits. Schon gelangten die ersten Strahlen der Sonne über eine Halle des Stahlwerkes zu ihnen, wärmten wohltuend später würden sie unbarmherzig sengen. Die Wartenden waren ärmlich gekleidet, einige gingen in Lumpen gehüllt. Elahi hingegen trug eine weiße Hose und ein darüberhängendes sauberes Hemd. Aus der Ferne war der heranrumpelnde Lastkraftwagen zu hören. Die Männer blickten sich unruhig um, sie riefen einander etwas zu, forderten Freunde schreiend auf, wachsam zu sein. Kaum bog der Wagen um die Ecke, stob ihm die Menge entgegen. Einige sprangen auf die Trittbretter, andere hängten sich an die Bordwände. Endlich kam das Fahrzeug zum Stehen. Auf der Ladefläche erhoben sich zwei mit Knüppeln bewaffnete Männer. Neben Elahi murmelte jemand erklärend: "Das Organisationskomitee." Ein Mann, der beim Fahrer gesessen hatte, stellte sich mit einer Liste in den Händen an die Ladewand, die nun langsam heruntergelassen wurde. Die beiden auf dem Wagen schufen mit Stockschlägen den nötigen Platz. "Ich verlese erst die Namen der Schweißer", rief der Mann. Unter den Aufgerufenen war auch Elahi. Geringschätzig musterte ihn der Mann und brummte schließlich: "Na ja, zum Schweißen werden deine Ärmchen wohl taugen." Mit einem Blick auf Elahis säuberlich gescheiteltes schwarzes Haar fügte er grinsend hinzu: "Hast du auch genügend Pomade mit?" Endlich hieß er ihn mit einem Kopfnicken aufsteigen. Elahi wurde von Nachdrängenden gestoßen, fand
schließlich einen Platz zwischen Essenkübeln, Rohren, Brettern und Gasflaschen. Den Schweißern folgten die ungelernten Arbeiter. Der Mann mit der Liste wählte lange, wandte sich nur an die kräftigsten und befahl jedem von ihnen, sich zu drehen, damit er sie von allen Seiten begutachten konnte. Nur wenn ihm jemand etwas in die offene Hand drückte, verzichtete er auf jede Kontrolle. Der Wagen war bereits angefahren, da klammerten sich noch immer Männer an die Bordwände. Ihre Gesichter waren schmerzverzerrt. Sie wurden zurückgestoßen und erhielten Stockschläge auf Finger und Köpfe. Einige blieben betäubt liegen, andere brüllten mit sich überschlagender Stimme hinterher, erhoben drohend die Fäuste. Elahi wandte den Blick ab und preßte den Kopf zwischen die Knie. Der ungefederte Wagen transportierte die Ausgewählten auf kürzestem Weg durch die holprigen Straßen der Altstadt von Karatschi. Elahi war es recht so. Da stand der Hindutempel neben dem Minarett, wenngleich die offizielle Staatsreligion der Islam war. Nach den drei Jahren seines Londonaufenthalts besaß er einen schärferen Blick für diesen Gegensatz. Vom Wagen aus waren die den Gewürz- und Gemüseläden entströmenden Gerüche nur zu ahnen. Der widerliche Gestank der Gosse hingegen drang bis auf die Ladefläche. Plötzlich wandten die Fahrgäste wie auf Befehl die Köpfe. Zwei hübsche Inderinnen kamen ihnen am Straßenrand entgegen. Das Mal auf der Stirn, in bunten Saris, den langen Wickelgewändern, um die Taillen rote und grüne Tücher, zu Gürteln gedreht. Solche Bilder besaßen Seltenheitswert. Die vielen Frauen in der von der Regierung befohlenen neuen pakistanischen Nationalkleidung, der
Pluderhose und dem knielangen Hemd, dagegen nahmen die meisten der Männer kaum wahr. Nach einer Stunde lag Karatschi hinter ihnen. Sie überquerten den Fluß Hab, die Provinzgrenze zwischen Sindh und Belutschistan. Noch konnten sie die Straße in Richtung Uthal, die nach Afghanistan weiterführte, benutzen, doch schon bald mußten sie auf Nebenstraßen, Wege und schließlich völlig unbefestigtes Gelände abbiegen. Dürftige Steppenvegetation mit niedrigen Dornenbüschen herrschte vor. Vereinzelte Akazien sorgten kaum für Abwechslung in dem tristen Bild. Hin und wieder tauchte ein Stück Grasland auf, stellenweise fuhren sie auf purem Sand. Wüste. Ringsum Wanderdünen. Nach dem Mittag erreichte der Lkw eine Oase. Sie wurde von Bauern bewohnt, die zu der weißen Kleidung einen Turban trugen. Einige pflügten mit Hilfe von Kamelen ein von Palmen umstandenes Feld, andere hackten in einem Gemüsegarten. Eine schwarzgekleidete Frau mit verschleiertem Gesicht gab jedem Besucher eine winzige Menge Wasser und bot ihnen Sitzgelegenheit im Schatten ihrer Hütte. Die Männer reckten sich und lachten. Erleichterung sprach aus ihren Gesichtern trotz der Ungewissen Zukunft. Der Platz auf dem Lastwagen und die Arbeit waren ihnen sicher. Sie würden heute abend zu essen bekommen. Elahi sah versunken den ruhigen Bewegungen der Bauern und Frauen zu. Ein Idyll. Daß es so etwas gab! "Sieht es nicht paradiesisch aus?" fragte spöttisch ein wohl Vierzigjähriger, der Elahi beobachtet hatte und sich nun zu ihm auf einen Palmenstamm setzte. Er lachte bitter auf und fuhr fort: "Aber in einem Paradies müssen sich nicht so viele Menschen von einem Daumenbreit Land
ernähren und mit dem Wasser geizen." Er wies mit einer Kopfbewegung auf einen blatternarbigen Jungen und ergänzte: "Und in einem Paradies sind Krankheiten unbekannt." Elahi sah den Mann aufmerksam an. Die hängenden Mundwinkel in dem zerfurchten Gesicht verrieten persönliches Leid. Der Mann hieß Zulfikar und wollte ebenfalls als Schweißer eingestellt werden. Sein letztes Hemd habe er dem Vertreter der Firma dafür zustecken müssen. Elahi erregte das nicht mehr. Er hatte schnell die Erfahrung machen müssen, daß Bestechung zum Alltag gehörte.
Sprach aus Zulfikars Worten Niedergeschlagenheit, so milderten seine leuchtenden Augen diesen Eindruck. Ihr Blick sprang hin und her, als wolle Zulfikar ja nichts verpassen. Gründlich musterte er Elahi und stellte endlich fest: "Du hast auch schon bessere Zeiten gesehen, was?" Elahi verspürte keine Lust, sich ausfragen zu lassen, so
murmelte er ablenkend: "Ich stamme aus Haidarabad, nordöstlich von hier, den Indus stromaufwärts", und wandte sich ab. Doch Zulfikar beugte sich neugierig zu ihm hinüber. Seine Stirn lag in Falten und seine Haltung unterstrich das Interesse an Elahi. In dürren Worten erzählte Elahi widerstrebend von dem Vater, dem Goldschmiedemeister, der gestorben war, und von der Mutter, die er alt und krank in einem kleinen Zimmer in Haidarabad zurückgelassen hatte, die auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen war. Bereitwillig und mit leisem Stolz sprach er dann davon, daß in seinem Vater mehr als eine kleine Handwerker- und Krämerseele gelebt hatte. Nach der Abspaltung Pakistans von Indien hatte der Vater aufmerksam die vielen Veränderungen beobachtet und das große Ziel, die Abkehr vom Feudalismus, gutgeheißen. Damals entstand aas Stahlwerk in Karatschi, und qualifizierte Arbeitskräfte wurden benötigt. Da gab es für den Vater nur eines: sein Sohn mußte Ingenieur werden, die Geschicke des Landes mitbestimmen. An den wenigen Schulen Pakistans war kein Unterkommen. Elahi mußte sein Studium in London, dem Zentrum des Commonwealth, aufnehmen. Die Familienkasse ermöglichte das mehr schlecht als recht. Nach seiner Heimkehr hatte er das Ingenieurpatent und die Schweißberechtigung in der Tasche. Drei Wochen durfte er als Ingenieur in einem Büro des Stahlwerkes arbeiten. Dann kaufte ein sozial bessergestellter Kollege beim Abteilungsleiter den Posten. Elahi wollte es erst nicht glauben. Monatelang hatte er dann gekämpft in dem Rennen um bezahlte Beschäftigung. Bald war er so weit, daß er jede Arbeit, selbst die niedrigste, genommen hätte. Zulfikar nickte. "Wem sagst du das." Er wies in die
Runde. "Guck sie dir an, die Hungerleider. Jeder könnte eine ähnliche Geschichte erzählen. Aber du - als Ingenieur ." "Ich hätte für ein paar Jahre in die Golfstaaten gehen können", sagte Elahi nachdenklich. "Wo Erdöl sprudelt, ist auch Geld. Viele meiner Kommilitonen sind diesen Weg gegangen. Aber ich habe mir geschworen, die Heimat nicht noch einmal zu verlassen ." "Warum?" fragte Zulfikar erstaunt. Elahi zögerte, sagte dann: "Ich denke da wie mein Vater. Gut, ich weiß jetzt, was Hunger ist und Elend, glaube aber noch immer: Wir sind nicht schlechter als andere Menschen, aus Pakistan muß etwas zu machen sein!" "Du träumst!" Zulfikar lachte erneut auf, es klang gepreßt und zornig. "Hat man dir diesen Zahn noch nicht gezogen? Ich habe als Bauer geschuftet und mußte zufrieden sein. Andere saßen ja am Feldrand und bettelten um einen Maiskolben. Dann hockte ich eine Weile neben ihnen. Später durfte ich hin und wieder in einer Werkstatt aushelfen, Traktoren und Pflüge reparieren, nur für's Essen. Nach einiger Zeit habe ich auch schweißen gelernt. Oh, ich bin froh darüber. Allah hat mir eine große Gunst erwiesen. Dann war ich lange Zeit ganz ohne Beschäftigung. Als ich von den Schrottkulis hörte, sah ich darin ein Zeichen Allahs. Ich habe in Karatschi alles Menschenmögliche versucht, habe gebettelt, gefleht, mich auf die Knie, in den Dreck geworfen, bloß um hierherzukommen." "Aufsitzen!" brüllte da der Mann, der die Leute ausgewählt hatte. Von der Hitze träge geworden, stapften sie auf den Wagen zu. Weiter ging die Fahrt durch unwegsames Gelände. Elahi hockte zwischen zwei Gasflaschen, die ihn
abwechselnd von links und rechts knufften.
Jamal, ein ehemaliger Kollege aus dem Stahlwerk, von dem es hieß, er sei Kommunist, war Elahi begegnet, als der wieder auf Arbeitssuche war. Am liebsten wäre Jamal wohl gewesen, er hätte sich ihnen angeschlossen. Doch da spielte Elahi nicht mit. Ein Pakt mit den Roten, deren erklärtes Ziel doch nichts anderes als die Weltherrschaft war, kam für ihn nicht in Frage. Er liebe die Freiheit und er gönne sie jedem, so hatte er Jamal geantwortet. Und deshalb halte er die jetzige Staatsform für die richtige, wenn es da auch noch ein paar Ecken und Kanten gab, die sich abschleifen würden. Jamal hatte traurig gelächelt, dann aber genickt und gesagt: "Laß das Suchen in Karatschi. Ich bringe dich nach Belutschistan zu den Schrottkulis!" Elahi hatte ihn fragend angesehen. "Schrottkulis?" Jamal hatte erklärt: "Ausländische finanzkräftige Unternehmer kaufen schrottreife Hochseeschiffe und lassen sie an der Küste zerlegen. Den Schrott verkaufen sie an das Stahlwerk. Fünfhundert bis achthundert Prozent Gewinn ziehen sie daraus. Mit deinem Schweißerpaß bist du im Vorteil." Elahi hatte den Kopf geschüttelt. Für Ausländer arbeiten? Da hätte er ja gleich in die Golfstaaten gehen können, den Arabern das Gold in die Taschen schaufeln. "Wir haben kein eigenes Erz", hatte Jamal erklärt, "Devisen dafür sind auch knapp. Also nehmen wir Schrott, wo er uns geboten wird. Wir können nicht wählerisch sein." Jamals Worte hatten Elahi eingeleuchtet. Elahi sah auf seine Hände, die darauf brannten, nützliche Arbeit zu verrichten. Nie hätte er zugegeben, daß ihm ein
Kommunist geholfen hatte, ohne eine Rupie dafür zu nehmen. Am späten Nachmittag erreichten sie das Arabische Meer. Der Wind wehte Frische und Feuchtigkeit herüber. Eine Stunde später fuhren sie in das Lager ein. Elahi und Zulfikar wurden offiziell als Schweißer eingestellt.
Der Tag graute. Es war noch früh am Morgen, als die Aufseher umherliefen und die Kulis hochscheuchten. Elahi streckte sich, gähnte. Er hatte schlecht geschlafen in der nach Schweiß stinkenden Baracke, in der sich bis spät in die Nacht die Sonnenglut des Tages festkrallte. Schnell hatten sie ein Schälchen Reis hinuntergeschlungen - er hatte nicht einmal Zeit zum Hinsetzen gefunden - und waren dann auf den Vorplatz hinausgetreten. Es bildeten sich Gruppen. Elf Mann kamen immer zusammen. Elahi wußte nicht recht wohin, da trat Mazhar, der hagere Oberaufseher, auf ihn zu. Er war blütenweiß gekleidet, trug einen sorgfältig gewundenen Turban und hielt einen knorrigen Mangrovenknüttel in der Hand. Auf seinen Wink folgten ihm Männer unterschiedlichen Alters. Einer mochte sechzehn sein, die Mehrzahl zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, die ältesten Anfang und Mitte vierzig, schon mit ergrautem Haar. Mazhar wies mit dem Stock auf sie, sagte mit schriller Stimme: "Dein Team! Gib gut auf sie acht. Sorge dafür, daß sie arbeiten. Du wirst es an deinem Geldbeutel spüren." Er lachte abgehackt und entblößte dabei sein lückenhaftes Gebiß. Er war nicht mehr der Jüngste. Gemeinsam gingen sie hinunter an die Küste. Auf dem Strand lag der Rest eines kleineren Schleppers, etwas weiter ein Containerschiff mit turmhohen Aufbauten.
Mazhar hielt den Knüppel auf das Schleppergerippe, das wie von riesigen Ratten zernagt dalag und sagte: "Zum Üben. Später bekommst du etwas Handfestes." Er klopfte an Spanten und ein verbliebenes Stück Außenhaut. Auf eine Kopfbewegung brachte der Sechzehnjährige das Schweißgerät, andere trugen die Gasflaschen. Mazhar erklärte Elahis Arbeit: "Hieraus trennst du handliche Stücke. Nicht zu klein, sonst lachen die Kerle hinter deinem Rücken. Sie wollen etwas auf den Schultern spüren, wenn sie hinüber zur Waage und zum Sammelplatz marschieren. Außerdem ist es dein Geschäft. Verstehst du?" Er kniff grinsend ein Auge zu. Ohne zu zaudern ging Elahi dem Skelett zuleibe. Mit der heißen Flamme schnitt er Spanten heraus, die zwei, drei Kulis bei einiger Anstrengung bewältigen konnten. Er war schnell und konnte bald eine Pause einlegen, während die Leute durch den Sand zur Abgabe stapften und das Schrottgewicht eintragen ließen. Ich habe es geschafft, jubilierte es in ihm, ich habe Arbeit. Nichtmal schlechte. Und verdienen kann ich soviel wie als Ingenieur. Und mehr, hatte Mazhar versichert. Hätte ich den Job eher bekommen, könnte meine Mutter noch in der Villa wohnen . Elahi trennte ein Stück Außenhaut - fingerdickes Stahlblech - aus dem Rumpf. Die Kulis ächzten, als sie sich mühten, es tragegerecht zu legen, sie stöhnten, als sie es auf ihre Schultern wuchteten. Jeder schleppte wohl sein eigenes Körpergewicht. An den Füßen trugen die Männer Sandaletten oder ausgediente Militärstiefel. Ihre Hosen waren zerschlissen, grau, rostgetönt. Der Oberkörper war frei, nur ein schützender Lappen lag auf der Schulter. Unter dem Turban lief
der Schweiß hervor. Elahi brannte das nächste Stück etwas kleiner, um ihnen die Arbeit zu erleichtern. Er sagte es ihnen. Doch die meisten blickten wortlos, abgestumpft, als hätten sie nichts gehört. Wenn er auch nicht erwartete, daß sie ihm vor Freude um den Hals fielen, so hätten sie doch wenigstens mal zu ihm rübersehen können. Das wurmte ihn. "He, wie heißt du?" rief er einen von ihnen an, der wie eine Maus im Käfig hin und her lief. Der Angesprochene blieb stehen, verbeugte sich und sagte lächelnd: "Begum". "Ein Glück, daß ihr nicht alle stumm seid", murmelte Elahi befriedigt. "Du kümmerst dich ab sofort um Schweißgerät und Schläuche. Zudem muß immer reichlich Gas vorhanden sein. Anderenfalls beschaffst du mir mit einem von denen da welches. Verstanden?" "Ich werde Sie nicht enttäuschen", antwortete Begum, wieder mit einer leichten Verbeugung. Ein stämmiger Bursche, im Gegensatz zu den übrigen auffallend kräftig gebaut, brach Bretter aus dem Schiffsboden. Elahi sah ihm interessiert zu und fragte, was er dort treibe. Der Angesprochene, er hieß Ayub, erklärte: "Wir sind verpflichtet, das Holz zu sammeln. Die Küche braucht es, und im Winter wird damit geheizt." Elahi nickte, hob dann abwehrend eine Hand. "Gut, gut. Trotzdem brauchen wir keine Gewichtheber zum Holzsammeln." Ayub richtete sich auf und musterte verstohlen seine Pranken. "Schmied bin ich", maulte er, wie um sich zu entschuldigen, "aus den Bergen bei Quetta, oben an der afghanischen Grenze. Da haben wir noch alles mit der Hand gemacht."
Elahi winkte einen älteren, auf einem Bein hinkenden Kuli und den Sechzehnjährigen heran und übertrug ihnen diese Nebenbeschäftigung. Er tat es aus gutem Grund. Der Goldschmiedesohn kannte die Qual körperlich schwerer Arbeit. Er war schlank und feingliedrig. In der Londoner Schule hatte er zwar zu den Schnellsten, aber nie zu den Stärksten gehört. Kraftsportübungen waren ihm ein Greuel gewesen. Allmählich stieg die Märzsonne höher. Der Wintermonsun wehte nur schwach, brachte kaum Kühlung. Die nackten Oberkörper der Kulis glänzten. Sie keuchten vor Hitze und Durst. Da ertönte das Mittagssignal. Die "Old Mary", erklärte Begum. Die Schiffsglocke eines ausgedienten, längst zerlegten und eingeschmolzenen Baumwollfrachters. Einige hasteten sofort auf die Baracken zu. Andere folgten schleppend, als seien sie kurz vor dem Zusam-
menbrechen. Elahi trat als letzter seines Teams in die Essenbaracke, ließ sich an der Ausgabe einen Teller Reis mit Dörrfisch geben und steuerte auf den Tisch zu, an dem seine Leute saßen. Sie hielten den Blick gesenkt, schaufelten den Reis in den Mund wie Kohlen in das lodernde Feuer eines Schiffskessels oder stocherten betreten darin herum. Elahi registrierte auch ein Murren, das von einem Ecktisch herrührte, an dem Schweißer saßen. Von dort kam jetzt Zulfikar, den er bei der Rast in der Oase kennengelernt hatte, auf ihn zu, legte ihm die Hand auf seine Schulter und führte ihn zu den Schweißern hinüber. Sie rückten zusammen, so daß auf einer Bank ein Platz frei wurde. "Willst du dich mit diesem Gesindel zusammentun?" knurrte einer von ihnen, offensichtlich der Wortführer, ein stiernackiger Riese mit Glatze. "Was willst du", entgegnete Elahi, "wir arbeiten zusammen. Weshalb sollen wir nicht gemeinsam essen?" Der Koloß, wegen seines massigen Körpers Buddha genannt, antwortete nicht. Zulfikar gebot Elahi mit einer Handbewegung zu schweigen. Wie um das Gesagte zu unterstreichen, brüllte Buddha plötzlich ein kleines hageres Männchen zu sich heran, befahl ihm geradezustehen, gab ihm den leeren Teller und verlangte noch eine Portion. "Aber Tempo!" schrie er ihm nach, dann sah er triumphierend zu Elahi hinüber. Mit zitternder Hand stellte der Kleine das Gewünschte ab, verschüttete etwas, worauf Buddha ihn anfuhr: "Kannst du nicht aufpassen!" Dann stieß er ihn mit der Faust grob von sich. Elahi wollte aufbegehren, doch Zulfikar zischte: "Halt die Schnauze! Sei froh, daß du Schweißer bist. Sonst
müßtest du ihm vielleicht die Suppe bringen."
Zu acht lagen sie in dem Raum. Es war stickig und heiß, obwohl an Stelle verschließbarer Fenster nur große Öffnungen in den Wänden gähnten. Und es war laut. Elahi hatte Mühe, einzelne Schnarcher in dem großen Konzert zu unterscheiden. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Die Erlebnisse der letzten Stunden ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er dachte an London, an die Schule und die Seminargruppe, ein buntgemischtes Völkchen aus vier Kontinenten. Sie hatten einander glänzend verstanden. Das sollte hier nicht möglich sein? Guter Wille gehörte natürlich dazu. Er fühlte sich nicht zu den Kulis hingezogen, nahm sich aber fest vor, im Gegensatz zu Buddha auf ein kollegiales Arbeitsklima hinzuarbeiten. Und sollte er wirklich nicht mit ihnen klarkommen, so gab es ja noch die Aufseher und vor allem Mazhar, den Oberaufseher. Über Elahis Gesicht huschte ein Lächeln, als er an seinen Londoner Professor Dwighty dachte, wie der, den Vollbart weit vorgestreckt, mit beschwichtigend erhobenen Händen in eine Gruppe von Streithähnen eindrang. Elahi war jetzt so aufgewühlt, daß an Schlaf vorläufig nicht zu denken war. Er mußte raus in die Kühle der Nacht. Ein Bad im Meer würde ihm guttun. Waschwasser gab es nicht. Das herangefahrene Süßwasser ging ausschließlich in die Küche. Auf dem Weg zum steinigen Strand dachte er an seine kranke Mutter, die stets versucht hatte, ihn zu Freundlichkeit und Güte zu erziehen. Eigentlich durfte er nicht länger hierbleiben. Andererseits konnte er ihr ohne Geld nicht helfen.
Ruhig ausgreifend schwamm er hinaus in das Dunkel. Das klare Wasser erfrischte ihn, vertrieb auch seine ängstlichen Gedanken. Von dem Wrack war kaum noch etwas übrig. Elahi nahm jetzt die Bugwulst in Angriff. Eine andere Mannschaft zerlegte Heck und Propeller. Er war gerade dabei, das Wappen des Schleppers herauszubrennen, da erlosch die Flamme. Elahi klappte die Schutzbrille hoch und sah sich suchend um. "Begum", schrie er. Der kam gemächlich angeschlendert, in der Hand ein Kupferrohr. Elahi blickte ihm böse entgegen und wies auf die Flaschen. "Leer?" fragte Begum. "Allerdings." "Konnte ich nicht wissen." "Guck auf die Manometer. Wenn der Druck unter die Markierung fällt, sollst du volle Flaschen beschaffen. Vergiß es nicht wieder." Begum nickte, war in Gedanken woanders. "Wozu brauchst du das?" fragte Elahi. Jetzt lachte Begum über das ganze Gesicht, fuhr mit dem Finger wie mit einer Säge über das rote Metall, sagte: "Armreifen, Ringe, schöner Schmuck. Verkaufe ich in meinem Dorf."
Immer wieder strichen Aufseher in Elahis Nähe vorüber. Doch noch keiner hatte ihn angesprochen. Wahrscheinlich hatte sich der Oberaufseher ausbedungen, den Neuen, den Gebildeten, selbst zu kontrollieren. Er traute ihm wohl nicht viel zu, sah in ihm einen Schreibstubengelehrten, nicht in der Lage, einen vernünftigen Handgriff auszuführen. "Du verdammter Hund!" schrie spätnachmittags Mazhar
und schlug mit seiner Knute auf den Sechzehnjährigen ein. Der Junge hatte im Schatten des Schleppers gesessen und verschnauft. "Du bist zum Arbeiten hier. Hast du das noch nicht begriffen!" Zeternd und stockschwenkend trieb er den Jungen vorwärts. Elahi sah die roten Striemen auf dessen Rücken und hob beschwichtigend die Hände. "Laß ihn. Du schlägst ihn ja zum Krüppel. Er macht schon seine Arbeit." "Das habe ich gesehen", antwortete Mazhar heftig. Dann, schon wieder ruhiger, sagte er zu Elahi: "Ein anderer wäre kaum so nachsichtig mit dir. Du scheinst nicht zu verstehen, daß ich es gut mit dir meine. Doch sieh dich vor, irgendwann hat selbst meine Geduld ein Ende." Elahi sah nachdenklich auf den keuchenden Mann, der angeblich sein Bestes wollte und langsam davonwankte. Am Abend bestellte Mazhar sieben Kulis zu sich in die Kantine, dazu einen Schweißer. Sie waren auf den Tag genau ein halbes Jahr an der Schrottküste, und wurden nun entlassen. Für den nächsten Morgen erwartete man Ersatzleute aus Karatschi. Was soll das, fragte sich Elahi. Hatten die Leute versagt? War man auf ihre Gesundheit bedacht? Befürchtete man, ihre Familien litten unter der Trennung? Er fragte auch Zulfikar. Der Schweißer lachte schallend, wobei sich sein tiefbraunes faltiges Gesicht komisch verzog. "Du hältst die Schrottkompanie wohl für ein Wohlfahrtsunternehmen. O Allah, bist du naiv. Sie brauchen keinen Stamm, der wächst und stark wird. Kaum sind die Leute richtig eingearbeitet, müssen sie wieder weg. Das ist Prinzip. Sie könnten am Ende Forderungen stellen, Unfallschutz, Krankengeld oder Rente verlangen. Dafür ist aber kein Geld da, verstehst du?"
Eines Morgens lag ein großes Frachtschiff vor der Küste. Mehrere Schlepper hatten es herangebracht. Es war ein amerikanisches Schiff. Die Stahlkrise in der kapitalistischen Welt hatte zu seinem vorzeitigen Abwracken geführt. Mit dem Stahl waren auch die Erzfahrten in den Krisenstrudel geraten. Die Schlepper bugsierten das Schiff während der Flutspitze soweit wie möglich längsseits an Land. Dann wurden die nahe der Baracke stationierten dieselgetriebenen Winden eingesetzt. Die Kulis buckelten die Stahltrossen bis ins Wasser, wo sie von den Schlepperbesatzungen übernommen und an dem Schüttgutfrachter vertäut wurden. Die Winden zogen das Schiff auf Grund und sogar noch weiter, so daß es in eine Schräglage geriet und schließlich bei einsetzender Ebbe dem Land zukippte. "Was steht ihr noch herum und gafft?" brüllte Mazhar. "Sofort an Bord mit euch. Hier wird gearbeitet und nicht gefaulenzt." Als würde im nächsten Moment das Land überflutet, liefen die Umstehenden auf die Schiffsleiche zu, sie auszunehmen, zu plündern. Es entstand heftiges Gerangel. Leitern wurden angelehnt, von anderen umgekippt, es mutete an, als wollten mittelalterliche Ritter mit ihren Mannen eine Burg einnehmen. Elahi ging langsam hinterher, wurde sogar von Zulfikar überholt, der ihm zurief, hier gäbe es etwas zu holen, da sei Eile angebracht. Tatsächlich kamen ihm bald die ersten Räuber entgegen, schleppten Waschbecken, Lampen, Türklinken, Stoffetzen. Ayub, der Schmied, hatte ein günstiges Arbeitsrevier für Elahis Team ausgewählt. Sie brauchten nicht zu klettern. Er verteidigte es mit beiden Fäusten. Elahi wartete geduldig, bis seine Mitarbeiter ihre Beute unter den Kojen und sonstwo verstaut hatten, bis sie die Arbeitsgeräte herbei-
schafften. Von anderen Trupps tönte längst wütendes Geschrei herüber. Die Aufseher und Schweißer mühten sich mit Gewalt, Herr der Lage zu werden. Beim Essen herrschte die Elahi schon bekannte Atmosphäre. Höhergestellte schikanierten Untergebene. Elahi beobachtete sogar, wie seine eigenen Leute den Sechzehnjährigen zu allen möglichen Handreichungen und Schmutzarbeiten zwangen. Buddha, der Wortführer am Schweißertisch, jagte einen Kuli hinaus in die sengende Sonne, weil er beim Eintreten angeblich nicht gegrüßt hatte. Aber auch andere Schweißer machten von ihrer Sonderstellung regen Gebrauch, hätten sich wohl am liebsten füttern lassen. Wieder an Bord, bemerkte Elahi, daß man seine Schläuche zerschnitten hatte. Soweit gingen also andere Trupps, um selbst beste Ergebnisse präsentieren, womöglich noch eine Prämie kassieren zu können. Es dauerte Stunden, bis Elahis Geräte endlich wieder funktionstüchtig waren. Er mußte die alten Schläuche abgeben, man versuchte sie zu flicken, doch schließlich bekam er unversehrte. Und das wurde teuer. Betrübt strich er in Gedanken den Verlust von seinem Ersparten. Vor dem Magazin nahm ihm der Sechzehnjährige unterwürfig die Schläuche ab. Das gehöre sich so. Elahi blieb nichts anderes übrig, als in jeder Pause einen Wächter am Arbeitsplatz zurückzulassen. Und dennoch fehlten bald darauf zwei Leitern. Sofort markierte er die verbliebenen mit einem Zeichen, das er mit der Flamme ins Holz brannte. Bald mußten sie hoch hinauf, auf das oberste Deck. Elahi brannte riesige, aber noch transportierbare Stücke aus dem Stahlblech. Als die Verbindung der Platte zum Schiff
bis auf einen Sicherheitsstreifen zusammengeschmolzen war, beauftragte er den Jungen, eventuell unter ihnen arbeitende Kulis zu warnen. Dann durchtrennte er auch noch die letzte Handbreit Stahl. Die Platte fiel polternd in die Tiefe, krachte dabei gegen Wände und Spanten, Funken spritzten, bis sie schließlich aufschlug und sich zur Hälfte in den Sand bohrte. Die nächste, etwas kleinere Platte kam nicht unten an, sie trudelte in eine Zwischenkammerung. Elahis Leute suchten angestrengt danach, fanden sie aber nicht. Ayub half Elahi gerade bei der Auswahl weiterer lohnender Stücke, als der Sechzehnjährige heraufbrüllte, die Platte sei da, man wolle sie stehlen. Sofort kamen ihm Begum und zwei andere Kulis zu Hilfe. Sie schlugen auf die Diebe ein, die die Platte fallen ließen und sich zur Wehr setzten. Da Elahis Leute in der Minderheit waren, wurden sie fürchterlich verprügelt und flüchteten. Nun stellte Elahi eine Wache vor dem Schiff auf, um ähnlichen Zwischenfällen vorzubeugen. Wenn der Schmied Ayub auch noch niemanden ernsthaft bedroht hatte, so flößten seine Muskeln doch Respekt ein .
Zu seiner größten Freude erhielt Elahi einen Brief von zu Hause. Die Worte waren krakelig, da ungeübt, aber auch mit zittriger Hand geschrieben. Die Mutter berichtete, es gehe ihr gut, durch den Verkauf des Hauses und einiger Goldschmiedearbeiten habe sie Geld, und man kümmere sich um sie - Elahi glaubte ihr kein Wort. Das Haus hatte ihnen zuletzt kaum noch gehört, und die Goldschmiedearbeiten, das waren ein paar verbliebene silberne Armreifen und Kupferkessel. Wollte er verhindern, daß sie verhungerte oder aus Mangel an irgendeiner Arznei starb,
mußte er ihr Geld überweisen. Je mehr, um so besser. Beim Schreiben des letzten Satzes "Wenn du nur nicht so weit weg wärst!" mußten ihr sicher Tränen in den Augen gestanden haben. Sorgfältig legte er den Brief, den er ungestüm aufgerissen hatte, zusammen und schob ihn in seine Brieftasche. Immer häufiger protestierten die Kulis, daß Elahi zu große Stücke abtrenne; er zermürbe sie damit, ruiniere ihre Gesundheit. Lediglich Ayub schwieg, wandte sich ab und tat, als höre er nichts. Erst als Elahi wieder mal das Gas ausging und er vergeblich nach Begum rief, fiel ihm auf, daß außer ihm noch drei andere fehlten. Ayub entgegnete auf seine Frage: "Bitte verlange keine Antwort von mir." Dabei wich er Elahis Blick aus und nestelte an seinem Gürtel. Elahi ging selbst auf die Suche. In der ehemaligen Farbenlast traf er den ältesten Kuli seiner Truppe, den Hinkenden, schlafend an. Neben ihm lag eine Schnapsflasche. Er weckte ihn unsanft und zerschlug die Flasche mit dem Rest an der Wand. Der Überraschte wimmerte, ihn nicht zu melden, aber sein kaputter Fuß bereite ihm große Schmerzen. Es sei oft nicht zum Aushalten. Die drei noch Fehlenden fand er an einem abgelegenen Strandstück. Sie badeten. Als er sie an Bord zurücktrieb, begegnete ihnen Zulfikar. Er lachte höhnisch und fragte: "Ihr verlebt hier euren Urlaub, was?" Die Adern an Elahis Schläfen schwollen an, er ballte die Fäuste. "Seid ihr verrückt!" tobte er. "In Karatschi warten Zigtausende auf eure Jobs. Wart ihr nicht lange genug arbeitslos?" Einer der drei fiel vor ihm auf die Knie. Beinahe hätte Elahi auf ihn eingeschlagen, doch dann erinnerte er sich
daran, wie Mazhar den Jungen verprügelt hatte und verjagte den Gedanken. Auch der zweite der Kulis warf sich händeringend in den Sand und flehte: "Verraten Sie uns nicht. Allah wird es Ihnen danken." Elahi zerrte ihn hoch und schnauzte ihn an: "Wenn dir Allah lieb ist, dann scher dich an Bord." Begum verhielt sich ganz anders. Er berührte Elahi zaghaft am Arm und sagte: "Was ist das für ein Leben hier inmitten der verdammten Wüste. Ringsum Sand und Steine. Solange es hell ist, nichts als schuften. Nichtmal am Sonntag können wir nach Hause. Wir sind hier am Ende der Welt. Selbst die nächste Siedlung ist zu Fuß nicht zu erreichen." Elahi musterte Begum von der Seite. Dieser Träumer mit der sanften Stimme, der immer wieder vergaß, die Gasflaschen zu kontrollieren, hatte recht. Ihr Leben war kein Leben. Barsch fuhr er ihn an: "Arbeite, dann vergißt du das." Elahi war sich selbst zuwider. Er begann Menschen zu beschimpfen, wurde zynisch. Was unterschied ihn eigentlich noch von einem Aufseher? Als sie dem Schiff näherkamen, sahen sie den Kuli, den Elahi scharf zurechtgewiesen hatte, im Sand liegen. Schützend hob er die Hände gegen Mazhars Stockschläge. Bald rührte er sich nicht mehr. Er war bewußtlos. "Habe ich's dir nicht gesagt", brüllte Mazhar, "diese verdammte Brut tanzt dir auf dem Kopf herum." Elahi blickte auf den Kuli hinab, der wie tot lag. Verständnislos sah er darauf Mazhar an. Der rang heftig nach Luft. "Weshalb bist du so brutal?" fragte Elahi leise. "Was gehts dich an", schrie Mazhar. Er packte den Knüppel fester. "Wer nicht brutal ist, unterliegt. Nur das Brutale ist
stark und gewinnt. Elahi trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Und dann erinnerte er sich an Mazhars geknurrte Antwort auf die Frage nach seinen Eltern: "Weil sie nichts zu fressen hatten, haben sie mich ausgesetzt. Zwei Jahre war ich alt. Ja, so ein behütetes Dasein wie deins habe ich nie kennengelernt."
Nach Sonnenuntergang wurde in der Kantine der Tageslohn ausgezahlt. Die Kulis bekamen zuerst ihre Rupien, dann die Schweißer, damit den Hilfsarbeitern angesichts der Spezialistengehälter nicht unbequeme Fragen in den Sinn kommen konnten. Buddha wurde als erster aufgerufen. Er grinste selbstgefällig, als er das Geld langsam nachzählte und einstrich. Mazhar verwaltete die Kasse. Als er Elahi aufrief, verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Er sprach ungewöhnlich gedehnt, worauf der Lärm ringsum verstummte. Die Anwesenden traten an den
Tisch, an dem Mazhar saß und zu Elahi hochblickte. "Tut mir leid", sagte Mazhar und ließ geräuschvoll den Kassettendeckel fallen. "Für dich ist heute nichts dabei. Eure Schrottmenge liegt weit unter der Mindestgrenze. Auf solche Arbeiter können wir verzichten." Rausschmiß! durchzuckte es Elahi. Er hatte es geahnt. Er wußte, wie viele Arbeitslose auf seine Stelle warteten. Diese verdammten Kulis! Er ballte die Fäuste. "Doch wir sind keine Unmenschen", hauchte Mazhar jetzt. "Einen Tageslohn behalten wir ein. Letzte Warnung. Hast du gehört? Noch eine gibt es nicht!" Elahi hätte den knochigen Mazhar umarmen können. Er durfte bleiben. In Gedanken sah er seine Kulis im Laufschritt arbeiten. Dafür wollte er sorgen. Plötzlich brach ein schallendes Gelächter aus. Die Schweißer schlugen einander lachend auf die Schultern. Buddha stampfte näher, bestellte eine Runde Schnaps, sagte frohgelaunt: "Darauf müssen wir trinken. Komm, mein Heiliger. Ich wollte Allahs Sohn schon lange mal erleben. Wie spricht doch der Koran? An seinen guten Taten sollt ihr ihn erkennen. Wirklich lobenswert, wie du mit deinen Mitarbeitern umgehst. Ja, sie haben es gut bei dir. Human, human." Er genoß, daß man ihn erwartungsvoll anstarrte, und schrie: "Ist dir eigentlich klar, daß diese elenden Faulbuckel über deinen Großmut lachen? So einen Idioten von Vorgesetzten haben sie überhaupt noch nicht kennengelernt." Er hob das Glas und brüllte: "Auf den Sohn des Propheten! Wohl bekomm's!" Ein anderer zog seine Geldbörse heraus, legte sie auf den Tisch und strich zärtlich mit den Händen darüber. Sie war dick und glatt. "Na, was sagst du dazu? Heute habe ich einen persönlichen Rekord aufgestellt. Ein paar Fußtritte
haben genügt. Einen habe ich dabei, groß und stark, der läuft wie geölt bei richtiger Behandlung, reißt den ganzen Club mit. Aber sobald ich alles dem Selbstlauf überlasse, wird er müde und bremst den Laden. Deshalb muß ich beinahe jeden Tag seinen Lohn kürzen. Eine wirksame Maßnahme, sehr hilfreich. Mache ich natürlich äußerst ungern. Er hat so gutmütige braune Augen." Er lachte glücklich über seinen Witz. Elahi wandte sich angewidert ab und ging hinaus in die Dunkelheit. Langsam stapfte er hinüber zur See. Das Meer hatte für ihn etwas Magisches, wirkte beruhigend. Kleine Wellen klatschten rhythmisch an das Ufer. Einige Möwen kreischten noch. Elahi streifte seine durchschwitzte Wäsche vom Körper und glitt ins Wasser. Er fühlte sich prikkelnd erstarken, die Depressionen verschwanden, sein alter Optimismus kehrte zurück. Als er sich anzog, empfand er wohlig, wie leichter Wind seine Haut trocknete. Er bummelte an den Resten des Erzfrachters vorbei, betrachtete sie grimmig, aber auch froh. Solange hier Stahl lag und er hier sein durfte, brauchte er nicht zu hungern, und die Mutter konnte gesund werden. Die Schweißer waren noch in der Kantine, grölten bei Kerzenlicht, soffen sich müde. Elahi saß im Kreis seiner zehn Kulis, dort, wo einmal die Motoren des Schiffes gestanden hatten. Jetzt war der Maschinenraum nur noch ein häßliches schwarzes Loch. Elahi hatte eindringlich die Drohung Mazhars weitergegeben. Die Kulis waren erschrocken. Sie saßen mit gesenkten Köpfen und schwiegen bedrückt. Ayub, der Schmied, brummte endlich: "Was ist, habt ihr Lust zu gehen?"
Einige Kulis warfen sich auf die Knie und versprachen, künftig besser und schneller zu arbeiten und sogar Rekorde aufzustellen. Begum versicherte hastig, immer auf den Gasdruck zu achten und bei der mittäglichen Wache nicht zu schlafen, so daß nicht eine einzige Leiter mehr gestohlen würde. Einer der Kulis beugte sich immer wieder so weit vor, daß seine Stirn den Stahlboden berührte. Er jammerte mit näselnder Stimme, beinahe wie der Imam beim Gebet. Weitausholend erzählte er von sich. Er käme wie Elahi aus Haidarabad und habe am Grabmal des Emirs Mir Karam Ali einen Stammplatz besessen. Direkt am Haupteingang. Gleich morgens habe er ihn eingenommen. Und wäre ihm jemand zuvorgekommen, so habe er ihn davongejagt. Mit Knüppel und Steinen. Er blickte mit ausgebreiteten Händen zum Himmel, als wolle er Allah danken. Mit großen glänzenden Augen sagte er: "Viele Pilger kamen. Touristen in Massen. Alle gaben aus ganzem Herzen." Er senkte den Kopf und die Stimme. "Aber auch Staatsbesuche kamen. Plötzlich duldete man uns nicht mehr. Die Polizei verjagte uns. In Pakistan brauche niemand zu betteln, hieß es. Von da an ging es mir schlecht. Habe mal hier, mal dort gesessen. Immer auf der Reise. Zum Überleben reichte es. Aber sonst!" Er wies auf seine zerlumpten Kleider. "Das ist das einzige, was ich besitze." Dann stand er auf und sagte: "Ich möchte die Gelegenheit nutzen und Geld verdienen. Ich möchte arbeiten, wenn's mir auch schwerfällt." Elahi betrachtete den Bettler mißtraurisch, sah seine feisten, schlaff herabhängenden Wangen. Er kannte seinen schwachen Händedruck und traute ihm nicht viel zu. Trotzdem freute er sich. Der Bettler hatte eingestanden, er
habe Mühe, aber er hatte auch gesagt, er will. Tage später wurde ein französischer Riesentanker an Land gezogen. Um die 200000 Tonnen. Die Winden waren zu schwach, so daß das werftneue Schiff selbst bei Ebbe noch im Wasser lag. Man wollte den Unterwasserteil später an Land ziehen, sobald genügend Masse herausgebrannt war. Der Kapitän hatte das Schiff bei guter See, guter Sicht und gutem Wetter dreizehn Kilometer neben der durch Bojen gekennzeichneten Fahrrinne auf die Felsenriffe vor der französischen Insel Quessant gesetzt. Totalschaden. Die Versicherung bezahlte die Rechnung, und der Eigentümer, der wegen der Lage auf dem Erdölmarkt keine Aufträge erhalten hatte, konnte zufrieden sein. Die Arbeit auf dem Tanker war gefährlicher als auf anderen Schiffen. Elahi mußte oft auf einer Leiter stehend schweißen, hielt sich mit einer Hand am Schiffskörper fest oder seilte sich sogar an. Oft war er dabei auf Hilfe angewiesen. Die Leitern mußten nachgerückt, die Gasflaschen von einer Trennstelle zur nächsten mitgenommen werden, und sie durften natürlich nicht leer sein. Begum vergaß einmal mehr, rechtzeitig gefüllte heranzuschaffen. Elahi sah ihn nur vorwurfsvoll an. Der würde es wohl nie lernen. Der Junge war aufgeweckt, freundlich, aber eben auch verträumt. Vielleicht steckte in ihm ein Künstler. Sinn für schöne Dinge hatte er offenbar. Hübsche Armreifen wollte er anfertigen, und er wollte sie auch verkaufen. Hatte er also auch das Zeug zum Händler? Elahi lächelte, so daß sich sein schwarzer Schnurrbart hob. Schade, hier waren andere Qualitäten gefragt. Später schleppte Mazhar einen seiner Kulis an den Ohren heran. Er habe ihn in seiner Koje schlafend aufgegriffen. Daß Mazhar ihn entdeckt hatte, machte Elahi beson-
ders wütend. Gerade das Verhältnis zum Aufseher wollte er nicht noch weiter getrübt wissen. Noch immer glaubte er an Mazhars Rechtschaffenheit und jetzt sogar noch mehr als zu Anfang. Die meisten Kulis waren nun einmal arbeitsscheu. Der Aufseher mußte sich doch durchsetzen! Elahi beschimpfte den Kuli und ließ ihn lange Zeit nicht aus den Augen. Er wußte, daß er draußen kaum jemals gearbeitet, sich aber im Gegensatz zu vielen anderen auch nicht darum bemüht hatte. Man könne auch so leben, einmal am Tage an der richtigen Stelle lange Finger gemacht, genüge. Elahi spuckte wütend aus. Der Mann war ein ganz gewöhnlicher Dieb. Was hatte er nur für Gesindel um sich? Bettler und Diebe. Sie würden sich immer vor der Arbeit drücken. Wie um Entschuldigung bittend, sah er hinüber zu Ayub, der sein ganzes Vertrauen besaß. Am Abend wurde Elahi ein Brief ausgehändigt. Er betrachtete ihn verwirrt. Das war nicht die Handschrift seiner Mutter, aber auch kein amtliches Schreiben. Ein Nachbar? Ging es seiner Mutter schlechter? Beinahe ängstlich schnitt er das Kuvert auf, nahm einen kleinen Zettel heraus. Ein Schuldschein. Der Absender hatte seiner Mutter Geld für Medizin geliehen. Der Zinssatz betrug einhundert Prozent. Elahi biß sich auf die Lippen. Wann endlich hatte er genügend Rupien zusammen? Was war er nur für ein Sohn? Ein anderer Schweißer an seiner Stelle hätte sicher schon das doppelte seines letzten Betrages überweisen können. Elahi wagte nicht weiterzudenken, sah die Kulis mit mehreren Blechen übereinander durch den brandheißen Sand laufen. Er schüttelte den Kopf und verwahrte das Papier. Dabei fiel noch ein Zettel aus dem Umschlag. Der Absender riet, Elahi solle zu Hause mal nach dem rechten sehen. Seiner Mutter würden die Kissen unter dem Kopf gestohlen.
Es mochten um fünfundvierzig Grad im Schatten sein. Kein Lufthauch regte sich. Selbst auf dem Oberdeck, an der freien Luft, bereitete das Atmen Schwierigkeiten. Hinzu kam die Wärme des Brenners und des glühenden Stahls. Elahi hielt im Trennen inne, obwohl die Blicke Ayubs und des Sechzehnjährigen erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Er richtete sich hoch und drückte stöhnend den Rücken durch, der vom ständigen Bücken schmerzte. Er sah hinaus aufs Meer. Als er zum Land hinüberblickte, erkannte er eine Lkw-Kolonne. Die Fahrzeuge wurden an der Sammelstelle beladen. Dafür hatte man einige Leute abgestellt. Die Kulis mußten die scharfkantigen Bleche noch einmal auf ihre Schulter nehmen, dafür blieb ihnen die halsbrecherische Kletterei auf den Schiffen und der Transport durch den glühendheißen Sand erspart. Ein Vorteil? Unter ihren Bedingungen ganz sicher. Plötzlich hörte Elahi einen dumpfen Schlag vom Schiffsinnern her, dann Schreie, Hilferufe. Die Gasflammen verloschen. Blechernes Trappeln schallte durch das Wrack, dann trat Stille ein, unheilvolle Stille. Sekunden später wußte Elahi: Ein Kuli war tot. Abgestürzt aus zwanzig Meter Höhe. Elahi saß inmitten seiner Kulis. Er sah sie der Reihe nach an. Der Unfall zeigte Wirkung. Sie waren betroffen, dachten wohl über sich selbst nach, an ihren Leichtsinn, an die Gefahren, wenn sie halbnackt über die Wracks turnten, ohne jede Sicherung, ohne Kopfschutz, manche fast barfuß. Würde einer von ihnen der nächste sein? Man brachte den Toten weg, und die Lebenden arbeiteten. Zäh und verbissen, als könnten sie ihn dadurch erwecken. Elahi kam kaum nach. Man riß ihm die Stahlfet-
zen unter dem Brenner weg. Erhob er sich, stand Ayub schon bereit, ihm das nächste Stück zu zeigen. Als sie am Nachmittag von der Waage kamen, verkündete Begum stolz: "Rekord in Sicht!"
Am Morgen war die gesamte Besatzung hinter den Baracken angetreten. In ihrer Nähe landete ein Hubschrauber. Ein Imam kroch heraus. Eine Moschee fand der Geistliche hier nicht vor. Er würde unter freiem Himmel predigen, die Hinterbliebenen trösten müssen. Der Imam verharrte in angemessener Entfernung, hob die geöffneten Hände und blickte zum Himmel. Mit einer Geste forderte er die Anwesenden auf, niederzuknien. Seinen Kopf bedeckte ein roter Fes, die randlose, kegelstumpfförmige Haube. Einige Schritte seitlich hinter ihm stand ein Leitungsmitglied der Firma. Pakistaner wie sie alle, ein Strohmann. Die eigentlichen Besitzer und Verdiener hatten sich bisher noch
nie sehen lassen. Der Imam predigte mit singender Stimme, lobte die Größe und die Güte Allahs. Und der Tod sei etwas Schönes. Das Leitungsmitglied nickte beipflichtend und sprach schließlich noch ein paar ergänzende Worte. Manchmal könne man Allahs Tun zwar nicht verstehen, aber er wisse genau, was richtig und gut für die Menschen sei, denn er liebe sie ja. Als er auf den Toten zu sprechen kam, klang seine Stimme, als kämen ihm gleich die Tränen. Nach einer knappen Stunde war alles erledigt, die Grube zugeschüttet. Und über allem wehte die grüne Fahne des Propheten. Der Imam und das Leitungsmitglied flüchteten vor der glühenden Wüstenhitze in den klimatisierten Hubschrauber und flogen ab. Mazhar schrie: "An die Arbeit. Das Versäumte wird aufgeholt!" Damit war die Zeremonie beendet. Am Abend ging Elahi wieder ans Meer hinunter. Als er sich die durchgeschwitzten Sachen vom Körper riß, blickte er hinüber zur Kantine. Der Dieb und ein zweiter aus seiner Gruppe hatten nach sechs Monaten die letzte Löhnung erhalten. Der Dieb hatte gleichgültig das Geld gezählt. Aber dem anderen, einem Familienvater mit vier Kindern, war es unter die Haut gegangen. Zwar sah er Frau, Sohn und Töchter wieder, aber wann würde er in seiner Heimat, einer Kleinstadt im Nordosten, die erste Rupie verdienen? Die übrigen aus der Gruppe hatten betreten zugesehen oder waren hinausgegangen und hatten gedacht: Unser aller unvermeidbares Schicksal! Einige hatten sich wohl auch gefragt: War Allah es, der das so wollte? Gesprochen
hatte niemand darüber. Das Problem war tabu. Ein ebenfalls entlassener Schweißer hatte gegrinst und, einen Packen Geldscheine in den Händen, erklärt, das Polster werde eine Weile reichen. Die Schweißer saßen noch zusammen und vertranken das Geld, das sie schwer erarbeitet, aber auch aus ihren Kulis gepreßt hatten. Immer öfter zogen sie ihnen Strafgelder ab, so daß manchem nicht mehr als das Geld für das ständig teurer werdende Essen blieb. Elahi verabscheute das. Sicher waren nicht alle so. Zulfikar zum Beispiel schien ihm sehr vernünftig. Wie er wohl mit den Problemen fertig wurde? Schade, daß er kaum Gelegenheit fand, sich mit ihm zu unterhalten. Entweder spielte oder sprach Zulfikar mit den Schweißern, oder er hatte vor lauter Müdigkeit keine Lust zum Reden. Elahis sehnige Arme zerteilten kräftig das Wasser. Er schwamm weit hinaus. Als er einmal zum Ufer zurückblickte, erkannte er drei Gestalten, die sich an seiner Kleidung zu schaffen machten. Er schrie, er drohte und schwamm so schnell er konnte. Es lag alles noch an Ort und Stelle, wenn auch durcheinandergewühlt. Seine zitternden Hände fuhren in die Taschen. Der Beutel! Sein Geldbeutel! Alle Ersparnisse waren darin gewesen. Wütend ballte er die Fäuste, schlug sich an die Stirn. Wie konnte er nur so dumm sein! Aber wo hätte er sie verstekken sollen? Die Schlafplätze einiger Kulis wurden schon durchwühlt; er war nicht der erste Bestohlene. Elahi zog sich an und hastete auf die Baracken zu. Doch er fand keine verdächtige, auf die Täter weisende Spur. In jedem Zimmer himmlischer Frieden. Alle schliefen. Elahi verlor kein Wort über den nächtlichen Vorfall.
Beim Frühstück zwang er sich still zu sitzen und musterte die Anwesenden. Die Schweißer - ihnen traute er es ohne weiteres zu. Sie nahmen Geld, wo sie nur konnten. Doch nach ihrem abendlichen Gelage hätten sie keinen Fuß mehr über das Barackengelände hinaus gesetzt. Für sie gab es dann nur noch eins: Schnellstmöglich ins Bett, mit oder ohne Arbeitskleidung, schlafen und schnarchen. So schnell, wie die Diebe davongelaufen waren, mußten sie höchst nüchtern gewesen sein. Also Kulis, denn die duldete man nicht bei den abendlichen Zechereien. Gehörten die drei zu seinen Kulis? Der Gedanke entsetzte ihn. Ayub, der Schmied, schied aus. Den hielt er für zuverlässig und ausgeglichener als sich selbst. Ayub hatte er sogar schon zweimal eine Prämie von seinem eigenen Geld zugesteckt, vor den Augen der übrigen. Sie hatten sehen sollen, was ihm anständiges Verhalten wert war. Natürlich hatten sie Ayub scheel angesehen. Begum? Dem traute er es eigentlich auch nicht zu. Er war nur ein bißchen gleichgültig ihrer Arbeit gegenüber, lebte in einer Traumwelt. Oder täuschte er sich da? War Begum ein Heuchler, der insgeheim nur den eigenen Vorteil im Sinn hatte? Elahi hielt jetzt alles für möglich. Der Hinkende schied aus. Ihn hätte Elahi in der Nacht leicht eingeholt und überwältigt. Aber wer dann? Der Sechzehnjährige? Ob er gewollt hätte oder nicht. Ihn hätte man dazu gezwungen. Und die anderen? Der rundliche, vom Bücken gebeugte Bettler vom Grabmal des Emirs. Die Arbeitsscheuen und die Arbeitswilligen. Sie alle kamen für die Tat in Frage. Einer von ihnen mußte es gewesen sein. Denn nur sie wußten, wie gern er badete und wo genau er sich aufhielt. Und seltsam, heute berührte es ihn kaum, als ausgerech-
net Zulfikar einen Kuli niederschlug, weil der sich geweigert hatte, eine Strafgebühr zu zahlen. Irgendwie hielt er es für ganz normal. Als Elahi sich noch vor Mazhar von der Bank erhob und seine Kulis hinaustrieb, sah Mazhar mit großen Augen zu ihm hin, schwieg aber, während Buddha sich reckte und eine ironische Bemerkung fallenließ. Elahi nahm wortlos den Schweißbrenner, arbeitete verbissen drauflos, wie ihm selbst schien, noch viel zu langsam, hätte am liebsten mit beiden Händen gleichzeitig gebrannt. Am frühen Vormittag rumorte sein Magen einmal so laut, daß die umstehenden Kulis sich ansahen und lachten. Elahi packte den Brenner nur noch fester. Bald hatte er sich einen gehörigen Vorlauf geschaffen. Zwei große Platten lagen ihm zu Füßen. Mißmutig sah er zu seinen Kulis, die langsam herankamen. Sechs entdeckte er. Dann nochmal einen. Er biß die Zähne zusammen und brannte weiter. Später überlegte Elahi, ob er nicht einfach einen Kuli zur Kantine schicken sollte, wenigstens ein Getränk zu kaufen. Er konnte sagen, er habe sein Geld in der Baracke vergessen, er möge es ihm bis zum Abend borgen. Sie würden es gern tun. Sie versuchten immer, sich gut mit ihm zu stellen. "Nein, nein, nein", murmelte Elahi mehrmals. Er würde durchhalten. Am Mittag schimpfte er, die Wache wolle er diesmal selbst übernehmen. Auf sie sei ja kein Verlaß. Gleichgültig trotteten die Kulis zum Essen. Nur Ayub sah ihn besorgt an, fragte sogar: "Kann ich Ihnen helfen? Ist was nicht in Ordnung?" Elahi schüttelte unwirsch den Kopf und schickte Ayub den anderen hinterher. Dann schlief er ein. Er schreckte hoch, als die Kulis schon in der Nähe des Schiffes waren,
und schimpfte mit sich selbst. Bei der Wache schlafen! Wie hatte das passieren können! Ayub stellte sich vor ihn und sah ihn groß an. "Sie müssen essen gehen!" Elahi brummte nur und zündete den Brenner. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Einmal hob er den Kopf und sah auf das Meer hinaus. Schwanzflossen von Haien. Aber was ist das Glitzern über der Wasseroberfläche? Fliegende Fische? Er kniff mehrmals die Augen zu, dann war wieder alles klar. Schnell kniete er nieder, und einen kurzen Augenblick wurde ihm schwindlig vor Schwäche. Brennen konnte Elahi trotzdem noch recht gut. Er arbeitete mit offenem Mund. Er japste. Dann ging das Gas aus. Er war allein. Fünf Kulis schlenderten auf das Schiff zu. Mühsam erhob er sich, balancierte über einen Träger und kletterte die Leiter hinab. Im Schiffsinneren fand er die übrigen. Begum hatte gerade eine Flasche an den Mund gesetzt. Elahi sprang auf ihn zu, packte die Flasche und schleuderte sie mit ganzer Kraft an eine Stahlkante. Dann stürzte er sich auf Begum und schlug auf ihn ein. Planlos, ziellos, nur immer drauf auf den gekrümmten Rücken, auf die den Kopf schützenden Arme. Als Begum zusammensackte, sich auf dem Boden krümmte, kniete er sich neben ihn und hämmerte in ohnmächtiger Wut auf ihm herum. Da merkte er, wie die anderen zu fliehen versuchten. Er sprang auf, stellte einem ein Bein, worauf der lang hinschlug, hieb dem zweiten die Faust mitten ins Gesicht und jagte sie mit einem hocherhobenen Stahlrohr vor sich her. Dabei schrie er: "Den ersten, der sich wieder verdrückt, der schläft oder säuft oder baden geht, schlage ich tot!" Als sie das nächste Blech zur Sammelstelle schleppten, mühsam das Gleichgewicht suchten, um nicht zu stolpern
und von der Platte erschlagen zu werden, brüllte er ihnen aus der Höhe nach: "Bewegung, Bewegung! Schlaft bloß nicht ein!" Er wußte natürlich: Das war der blanke Hohn. Aber heute kannte er sich selbst nicht mehr. All seine guten Vorsätze waren dahin. Um zu überleben, heulte er mit den Wölfen, biß um sich wie ein Wolf. Als die Kulis zurück waren, neben ihm standen, einen Moment zu verschnaufen, umkrallte er lauernd den Brenner, um damit zu schlagen, wenn sie nicht bald zupackten. Endlich schallte das Läuten der "Old Mary" herüber: Feierabend. Die Kulis atmeten auf. Elahi beobachtete sie aus beinahe geschlossenen Augen, sagte leise: "Feierabend ja. Aber nicht für euch. Wir haben einiges nachzuholen. Nach dem Essen sehen wir uns hier wieder." Die Kulis murrten. Begum schwieg beharrlich. Ayub wendete sich ab. Elahi beobachtete ihn. Hätte Ayub nur ein Wort des Protestes geäußert, hätte er ihn von der Nacharbeit, die zur Nachtarbeit werden würde, befreit. Mazhar lobte Elahis Entschluß. Sagte, sie sollten ihre stählerne Ernte unmittelbar neben der Waage lagern, gewogen werde am nächsten Morgen. Dann begann die Auszahlung. Elahi bekam ein gutes Stück Geld in die Hand. Er drängte sich rücksichtslos zur Essenausgabe durch und bestellte zwei Portionen Reis mit Gemüse. Fleisch gab es wieder einmal nicht. Hastig schlang er alles hinunter und goß einen Liter kohlensaures Wasser drauf. Als er hinüber zu dem Tanker ging, ärgerte er sich über das Lob des Aufsehers. Seinetwegen handelte er ganz bestimmt nicht so. Mazhar war Elahi unbemerkt gefolgt. Er glaubte wohl, ihn unterstützen zu müssen. Heute gefiel ihm der Weich-
ling. Er machte sich stark. Mazhar stemmte die Hände in die Hüften und brüllte zu den Kulis hinauf: "Wird Zeit, daß ihr euch bewegt. Faules Pack. Denkt ihr, mir wurde etwas geschenkt, weil ich so schön bin?", er lachte scheppernd. Elahi, inzwischen oben angelangt, sah wütend zu dem Aufseher hinunter. Er machte eine abweisende Handbewegung und schrie zurück: "Halt meine Kulis nicht von der Arbeit ab. Zu Schmarotzern muß man nicht reden. Sie verstehen nur Befehle und Prügel." Es war längst dunkel, das Mondlicht ließ nur Umrisse erkennen. Ein Kuli klagte über einen Schnitt am Bein, einen anderen hatte eine scharfe Blechkante am Hals verletzt. "Dann seht euch doch vor!" schrie Elahi bissig. "Legt Tücher unter. Was seid ihr bloß für Anfänger!" Kurz vor Mitternacht zitterten Elahi die Hände. Er konnte kaum noch den Brenner halten. Beim Umsetzen einer Leiter geschah es. Er stürzte ab. Wohl drei Meter tief. Hinein in ein Wirrwarr von Gestängen, Stahlträgern und Platten. Er fiel, ohne einen Ton von sich zu geben, schrie auch unten nicht, aber ein qualvolles Stöhnen konnte er nicht unterdrücken. Die Kulis sahen sich erschrocken an. Ayub faßte sich als erster, rückte eine Leiter heran und machte sich an den Abstieg. Begum wollte ihn überholen, wäre wohl sogar gesprungen, doch Ayub hielt ihn hart zurück. "Ein Verletzter reicht", fuhr er ihn an. Elahi hatte mehrere Schnittwunden und Prellungen davongetragen. Am schlimmsten war es um das rechte Bein bestellt. Er konnte es nicht bewegen. Die Schmerzen waren furchtbar. Begum beugte sich sogleich über ihn. "Los, faßt mit an!" verlangte er aufgeregt. Doch Ayub drückte ihn einfach zur Seite. Er fragte Ela-
hi, wo die Schmerzen am größten seien, berührte vorsichtig das Bein und sagte: "Scheint gebrochen zu sein. Vielleicht auch nur angebrochen." Einen Teil der Leute schickte er weg, das Werkzeug zusammenzusuchen. Unnütze Zuschauer konnte er nicht gebrauchen. Er selbst sah sich im Schein eines Holzspans nach einer Trage um, fand ein Blech, auf das sie Elahi behutsam betteten. Es kostete sie einige Mühe, ihn über die Bordwand zu heben und über zwei Leitern nach unten zu transportieren. Gerade hatten sie die Trage abgestellt, als der Sechzehnjährige jemanden auf den Tanker zukommen sah. Sie drängten sich in den Schatten des Schiffskörpers.
"Das muß ein Aufseher sein", sagte Ayub leise. "Mazhar", flüsterte der Hinkende und stützte sich an der Schiffshaut ab. Mit seinem kranken Fuß fiel ihm das Stehen schwer. "Wißt ihr, was das bedeutet?" fragte Ayub eindringlich.
"Ein Schweißer mit einem gebrochenen Bein ist für ihn
ein toter Schweißer. Er zählt nicht mehr. Man würde ihn
auf der Stelle entschädigungslos entlassen." Er musterte die Kulis der Reihe nach und fragte schließlich: "Und was wird aus einem Team, das keinen Schweißer hat?" Einer murmelte: "Ein Trupp ohne Schweißer ist wie ein Mann ohne Kopf. Mazhar würde uns womöglich um den letzten Lohn prellen, zur Strafe, als hätten wir Elahis Unfall verschuldet. Er würde uns alle liebevoll verabschieden." Einer der beiden Neuen jammerte, Tränen in den Augen: "Bloß nicht. Wo ich doch erst ein paar Tage hier bin." Er wurde immer lauter. Ayub mußte ihn schütteln, preßte die Hand auf seinen Mund. Begum zischte ihm ins Ohr: "Sei still!" Auch der Bettler vom Grabmal des Emirs Mir Karam Ali klagte, mit weinerlicher Stimme sagte er: "Wir müssen Elahi krank melden, dann entlassen sie uns nicht. Er wird verbunden und nach Karatschi gebracht." "Und dann?" fragte Ayub schnell. "Was ist, wenn er seine Arztrechnung beglichen hat, falls er das überhaupt kann?" Der Bettler hob die Schultern und verdrehte die Augen. "Und das würdest du zulassen?" drang Begum von der anderen Seite scharf auf ihn ein. "Wären wir dann nicht genau so brutal zu Elahi, wie Mazhar zu uns ist?" "Was willst du?" fragte der Hinkende. "Sein Pech. Glaubst du, ich hinke zum Spaß? Als das passiert ist, wäre ich beinahe verreckt. Wundre mich heute noch, daß ich lebe. An unserer Werkbahn versagten die Bremsen. Mein Vorgesetzter behauptete nach dem Unfall, er kenne mich nicht, und ließ mich vom Betriebsgelände schleifen. Damit
war das Problem für ihn erledigt. Niemand hat mir geholfen." Als er sah, wie Ayub die Brauen zusammenzog, beteuerte er: "Außerdem hat er uns schikaniert." "Du Idiot!" knurrte Begum und stieß ihm die Faust in die Rippen. "Glaubst du, ein anderer wäre sanfter?" Der Bettler versuchte zu schlichten und sagte scheinbar bekümmert: "Du hast ja Recht. Elahi ist ein guter Mensch. Aber er muß zum Arzt, und das geht nun mal nur über Mazhar. Und da schließt sich der Kreis. Er fliegt unweigerlich." "Hält's Maul!" fauchte Begum ihn wütend an. Der Aufseher war bedenklich näher gekommen, sah sich suchend und lauschend um. Langsam erhob sich Begum. Er bewegte sich mechanisch wie unter Hypnoseeinwirkung. In seiner Hand blitzte etwas metallisch. "Kein Messer!" zischte Ayub, packte Begums Arm und quetschte sein Handgelenk, bis er die Waffe mit einem leisen Schmerzenslaut fallen ließ. "Laß mich, wir müssen etwas tun!" fauchte der Junge. "Aber keinen Mord!" preßte Ayub beschwörend hervor. "Gut, ich lasse das Schwein am Leben!" Zögernd löste der Schmied die Umklammerung. Begum schlich katzengleich an der Bordwand entlang. Vor Tagen erst war der Rumpf an Land gezogen worden. Der Aufseher ging in gleichbleibender Entfernung im vollen Mondlicht um das Schiff. Es war ganz offensichtlich: Er suchte Elahi und dessen Kulis. Als er in die Nähe der Gruppe kam, sprang Begum hinter seinem Rücken aus dem Dunkel und schlug den Aufseher mit der Faust nieder. Mazhar sank stöhnend zu Boden. Begum bückte sich mißtrauisch und stieß den reglos daliegenden Aufseher in die Seite. Er atmete, war aber be-
wußtlos. Begum durchstöberte schnell Mazhars Kleidung, riß ihm den Brustbeutel vom Hals, in dem sich nur Kleingeld befand. Damit täuschte er einen Raubüberfall vor. Ein kleiner Schreck konnte dem Aufseher nicht schaden. Sie hatten erst einmal Zeit gewonnen. Die Kulis hoben die Trage an und machten sich auf den Weg. Als sie sich geräuschlos den Baracken näherten, verbarg sich in der Dunkelheit ein Mann, den sie nicht sahen: Zulfikar. Der kleine Schlafraum der Kulis war vollgestopft mit Doppelstockbetten. In der Mitte standen ein Tisch, zwei Bänke und Hocker. Vorsichtig hoben die Männer Elahi auf ein Bett. Der Sechzehnjährige hielt draußen Wache, während Ayub behutsam Elahis Hosenbein hochrollte. Der Verletzte zuckte mehrmals zusammen. Der Knöchel war geschwollen. Er konnte verstaucht oder geprellt sein. In dem Fall würde Ruhe genügen. Aber weiter oben, dicht unter dem Kniegelenk, schien das Bein ernsthafter verletzt zu sein. Jedesmal, wenn Ayub die Stelle berührte, stöhnte Elahi auf und biß sich auf die Lippen. Äußerlich war bis auf einen Bluterguß nichts zu erkennen. Ein Bruch? Unschlüssig sahen sich die Kulis an. Das konnte nur ein Arzt beurteilen. Einen Arzt aber gab es nur in Karatschi oder in irgendeiner Kleinstadt. In den umliegenden Oasen keinesfalls. "So glaubt mir doch", flüsterte der Bettler wieder, die Ratlosigkeit der Umstehenden ausnutzend, "es gibt keinen anderen Ausweg, wir müssen es Mazhar sagen." "Was sagst du da?" Einer der zuletzt Eingestellten fuhr auf, "Mazhar, der Kerl, der mich zur Begrüßung fast mit seiner Knute erschlagen hätte?" Er langte über den Tisch zu dem Bettler hinüber, doch Begum hielt ihn zurück.
"Die Lösung heißt Iskander", sagte er ruhig. Iskander war ein Kuli aus einer anderen Gruppe. Während seiner Armeezeit hatte er als Sanitäter bei der Luftwaffe gedient. "Ich hole ihn", sagte Begum fest. "Halt", rief der Hinkende und senkte gleich darauf, erschrocken über seine Unvorsichtigkeit, die Stimme zu einem erregten Flüstern. "Ist euch klar, daß ihr jetzt darüber entscheidet, ob wir morgen noch hier sind?" "Wir entscheiden uns dafür, daß morgen auch Elahi noch hier ist", berichtigte Ayub gedehnt, "wir haben nämlich das Gefühl, alle zusammenzugehören. Wenn du dich ausschließen willst, bitte schön." Er wies mit einem Kopfnicken zur Tür. "Natürlich gilt das auch für andere", sagte er und sah die Männer der Reihe nach hart an. Er hatte Erfolg. Sie blickten zu Boden und blieben. Der Hinkende schluckte und murmelte: "Dann werden wir gemeinsam gefeuert." "Und wenn schon", erwiderte Begum bissig. "An den Tag soll Mazhar ewig denken!" Der Luftwaffensanitäter tastete das Bein ab, griff auch mal fest zu, worauf Elahi ohnmächtig wurde. Schließlich entschied er auf Fraktur am oberen Schienbein. "Aber nicht durchgebrochen", ergänzte er. Ayub atmete hörbar auf. Der Hinkende beobachtete lauernd den Fortgang. "Moment, Moment", warnte Iskander, dem die Erlösung auf den meisten Gesichtern anscheinend nicht geheuer vorkam, "das heißt nicht, daß er laufen kann. Das Bein muß geschient werden. Es braucht Ruhe, Ruhe, Ruhe. Elahi muß nach Hause. Ich werde es der Leitung melden. Dazu hat man mich bei der Einstellung verpflichtet." Begum sah ihn eindringlich an und erklärte ihm die Situation. "Wir brauchen ihn. Verstehst du?" Nach einem
Blick auf Elahi fügte er hinzu: "Und ich glaube, er braucht uns." Iskander schiente das Bein, wobei ihm Begum half, und sprach kein Wort mehr zu ihrem Problem. Lediglich, als er aus dem Zimmer ging, sagte er: "Allah sei mit uns!"
Mühsam stemmte sich Elahi hoch, stützte sich auf beide Ellenbogen. "Verdammt noch mal!" schimpfte er gequält. "Bringt mich endlich in mein Zimmer und verständigt Mazhar. Ich will nach Hause." "Und wovon wollen Sie leben?" forschte Begum aufgebracht. "Zerbrecht euch nicht eure Köpfe über meine Probleme. Ihr bekommt einen neuen Schweißer und fertig. Hauptsache ist, ihr habt etwas dazugelernt." "Genau, das haben wir", brummte Ayub und bedachte alle, die besonders wenig Arbeitseifer gezeigt hatten, mit eisigen Blicken. Der Hinkende und der Bettler standen wie angeschweißt, wagten nicht, sich zu rühren. Elahi fiel zurück und murmelte noch etwas. Man achtete nicht darauf, tat es ab ab das Gefasel eines Schwerkranken im Fieber. Elahi dachte an seine Mutter. Heute hatte er viel verdient. Er mußte das Geld abschicken, oder würde er es selbst überbringen müssen? Nach dem Schuldbrief des Nachbarn hatte er keine Nachricht mehr bekommen. Wie stand es um ihre Gesundheit? War sie zu schwach zum Schreiben? Er biß die Zähne zusammen.
Als die "Old Mary" weckte, saß Elahi schon an seinem Arbeitsplatz, über den Schienen und dem Verband die weite Hose. Ein Uneingeweihter konnte nichts Verdächtiges feststellen. Die Kulis, die ihn im Morgengrauen auf
das Schiff getragen hatten, brachten ihm auch das Frühstück mit. Das verletzte Bein ließ er beim Brennen über eine Wand hängen, bis ihm Ayub aus Stahl und Holz einen kleinen Hocker bastelte. "Wie ein Polstersessel", bedankte sich Elahi und versuchte zu lächeln. Die Kulis liefen wie aufgezogen. Und wenn einer wirklich mal ein bißchen länger einhielt, stieß ihn schon der nächste an mit einem scherzhaften: "Weiter geht's!" Zum Mittag brachten sie ihm eine Schüssel Reis mit. Nur die abendliche Lohnabrechnung bereitete ihnen Kopfzerbrechen, weil Mazhar das Geld nur persönlich gegen Unterschrift auszahlte.
Vielleicht eine Handbreit hatte Elahi am Nachmittag getrennt, da rief die "Old Mary". Verwundert drehte er den Kopf und klappte die Schutzgläser hoch, sah fragend zu Ayub. Ringsum Ratlosigkeit. Schließlich zogen die Kulis und ihre Schweißer gemächlich zu den Baracken. Die Aufseher, in ihrer Mitte Mazhar, erwarteten sie bereits. Mehrere Minuten ließ Mazhar die Leute in der Gluthitze ausharren. Schräg hinter ihm stand ein Leitungsmitglied. Dickbäuchig, sich mißmutig mit einem weißen Tuch den Schweiß von Stirn und Hals wischend. Auf seine Veranlassung hob Mazhar endlich den Kopf, guckte sich suchend um und sagte: "Es fehlt noch jemand." Die Kulis aus Elahis Gruppe sahen sich verlegen an. Einer der Neuen wollte den Arm heben, wohl etwas sagen, da erhielt er von Ayub einen derben Knuff. Mazhar hatte die Unruhe bemerkt, fragte: "Was geht da vor?" Der Neue schielte zur Seite, entgegnete schließlich: "Ach nichts."
"Nun gut", knurrte Mazhar gleich darauf, "kommt der Zwerg nicht zum Riesen, so geht der Riese zum Zwerg." Mit einer Handbewegung setzte er die Menge, weit über hundert Mann, in Bewegung, ging selbst an der Spitze. Einige Schritte vor Elahi, der noch immer auf dem Spanten hockte, blieb er stehen und sorgte dafür, daß die Leute einen Halbkreis bildeten. Seine Wangenmuskeln arbeiteten. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Deutlich war zu spüren: Er hatte großes vor. Die Kulis sollten erleben, wer der Herr der Schrottküste war, und dem Leitungsmitglied sollte ein Beweis seiner Fähigkeiten geliefert werden. Genießerisch betonte er jedes seiner Worte: "Hier im Sand und an der Küste herrscht ein sehr unfreundliches Klima. Es ist Gift für den Organismus. Schon jeder Gesunde hat daran zu knabbern. Aber ein Kranker erst!" Er schüttelte besorgt den Kopf und sagte: "Es könnte sein Tod sein. Nein, nein, Elahi. Das möchten wir natürlich auf keinen Fall. Du brauchst einen Arzt und Ruhe. Sehr viel Ruhe. Wir haben auch schon Ersatz für dich." Er schob die Unterlippe vor und sagte: "Nicht wahr, da staunst du. Wir sind doch sehr umsichtig. Gleich heute früh, nachdem ich von deinem Malheur erfuhr, habe ich eine Nachricht mit ins Stahlwerk gegeben. Wenn die Fahrzeuge nachher eintreffen, kannst du aufsitzen - wir helfen dir natürlich - und ab geht's zu deiner Mutter." Mutter! Daß dieser Schuft von seiner Mutter sprechen durfte! Und keiner verbot es ihm. Elahi packte den Brenner fester. Mazhar sah sich überlegen um und zeichnete mit dem Knüppel Figuren in den Sand. Da räusperte sich Ayub, der große, breite, starke Kerl mit dem kühnen, vertrauenerweckenden Gesichtsausdruck, und stellte sich vor den
spindeldürren Mazhar. Er sah ihn an und sagte: "Er trägt keine Schuld. Wir haben ihn in das Unglück getrieben." Mazhar stemmte die Hände in die Hüften und musterte den Goliath provokatorisch von oben bis unten. Schließlich lachte er glucksend und erklärte: "Selbstverständlich trifft mit dem ,Linienbus' auch für dich ein Ablöser ein und für Begum und für den Kleinen, kurz für das gesamte Team. Ihr seid doch unzertrennlich."
Ayub hatte die Faust geballt, der Rücken war plötzlich gekrümmt, wie der eines sprungbereiten Tigers. Mazhars Grinsen fiel herab wie eine schlechtsitzende Maske. Schützend hob er die Hände vor das Gesicht und wich stolpernd zurück. Dabei schwenkte er drohend den Knüppel. Doch in Ayub war bereits etwas ausgelöst worden, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Er stürzte vorwärts, wehrte den Stockhieb mit dem Unterarm ab und packte Mazhar am Hemd, dann hob er ihn mit einer Faust in die Höhe.
"Du nimmst das zurück!" knurrte er und zog den zappelnden Aufseher an sich heran. "Das kann ich nicht entscheiden", krächzte Mazhar heiser. "Es gibt Gesetze." Begum sprang hinzu, fuchtelte mit dem Messer. "Eure Gesetze sind die von Verbrechern. Was kümmern euch die Leute, wenn die Kasse stimmt?" Mazhar keuchte, von seiner Stirn perlte Schweiß. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als wäre er ausweglos in die Enge getrieben, müsse seine Anweisungen zurücknehmen. Die Kulis drängten näher. Unwilliges Gemurmel wurde laut, übertönt von einzelnen haßerfüllten Schreien. Der Kreis wurde enger. Der Hinkende, der Bettler und einige andere schwiegen verlegen, versuchten sich zurückzuziehen. Da sprang Zulfikar in die Menschentraube und stürzte sich von hinten auf Ayub, umklammerte mit beiden Armen seinen Hals und würgte ihn. Ayub brüllte wütend auf, sein Griff löste sich. Mazhar plumpste strampelnd in den Sand. Nun griffen die Aufseher, Buddha und die verbliebenen Schweißer ein. Mit dem Mut der Verzweiflung droschen sie um sich, kämpften gegen eine erdrückende Übermacht um ihre Privilegien. Viele Kulis setzten sich entschlossen zur Wehr, aber noch mehr sahen tatenlos zu, flüchteten vor den wilden Attacken der Angreifer. Die Rebellion verlor ihre Kraft, als sich vier Mann auf Ayub warfen, dessen zorniges Gebrüll die Kulis vorangetrieben hatte und nun in einem Keuchen erstickte. Elahis Herz krampfte sich zusammen, als er sah, wie sich einer nach dem anderen aus dem Staub machte. Eine Weile hatte er geglaubt zu träumen, als er die Angst in den Gesichtern der Aufseher sah. Jetzt stöhnte er gequält und
schloß die Augen. Aber das Bild hatte sich ihm eingebrannt; er würde es nie vergessen, wie der Schreck den Aufsehern in die Glieder fuhr, als eine Handvoll abgerissener Kulis einig handelte.
"Beeilt euch gefälligst beim Aufsteigen, wir haben zu arbeiten!" brüllte Zulfikar und hieb ein Stahlrohr herausfordernd auf die Ladefläche des Lastwagens. Er sprach hart, über der Nase zwei Falten; wenn er schwieg, spannte sich die Haut über den Kinnladen. Eben hatte ihn das Leitungsmitglied zum Oberaufseher ernannt. Er zeige Interesse, habe sich würdig für die Firma eingesetzt, und da er nicht trinke, sei die Moral auf seiner Seite. Mazhar wäre offenbar alt geworden, nicht mehr fähig, einen solchen Betrieb zu leiten. Durch sein Verhalten habe er geradezu eine Revolte provoziert. Ayub hob Elahi auf das Fahrzeug, mit Mühe zog er sich hinterher. Seine Fäuste bluteten und ein Ohr. Er hatte Schläge auf den Kopf bekommen. Elahi schob sich, auf dem Rücken liegend, zum Fahrerhaus hin. Auf einer Plane richtete er sich einigermaßen bequem ein. Plötzlich glitt eine Hand über die Bordwand. Zulfikar reichte ihm einen Brief, der mit dem Wagen gekommen war. Elahi starrte den Schweißer wütend an, hätte ihm ins Gesicht schlagen mögen. Ausgerechnet du hast uns verraten? wollte er fragen, doch dann dachte er, warum nicht du, schließlich hast du dich verbessert, und ließ sich kraftlos zurückfallen. Zulfikar sah ihn an, hob wortlos die Schultern und ging davon. Mühsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Stellenweise, auf losem Sand, kam er kaum voran. Zulfikar blickte ihnen nach, dann ging er an seine Arbeit. Wie es
Elahi schien, voller Elan. Er überholte einige Kulis, die zur Baustelle schlurften, trieb sie an. Auf dem Wrack leuchteten schon wieder die Flammen. Der Zeitverlust mußte aufgeholt werden, denn das Geschäft blühte. Eben war die ,Piräus', ein Passagierdampfer, vor die Schrottküste geschleppt worden. Es war ein älterer griechischer Luxusliner. Die Ausstattung war nicht mehr modern und attraktiv genug. Die ehemaligen Fahrgäste, verwöhnte Snobs aus aller Welt, waren inzwischen besseres gewöhnt. Die dreckigen kleinen Kulis würden wieder die Abfälle der Reichen zusammenraffen können. Einen glänzenden Metallgriff, vielleicht eine Spiegelscherbe, Bügel, Kleiderhaken, womöglich einen Bettvorleger. Elahi wandte angewidert den Blick ab. Hatte man Mazhar zum Kuli degradiert? überlegte er. Aber er konnte doch Verdienste vorweisen! Wahrscheinlich gab man ihm eine Chance als einfachem Aufseher. So säße Zulfikar ständig die Drohung im Nacken, ihn wieder gegen Mazhar auszutauschen, sollte er sich nicht bewähren. Davon lebte schließlich der Konzern. Keiner wußte das besser als Mazhar selbst, und der würde nur auf eine Gelegenheit lauern. Elahi bettete den Kopf auf die Plane und öffnete den Brief. Haidarabad stand auf dem Stempel. Der Absender war ihm fremd. Plötzlich klopfte ihm das Herz, er wagte nicht, das Schreiben herauszunehmen. Da war eine furchtbare Ahnung. Er blickte zu dem Hinkenden und dem Bettler, die in den äußersten Ecken kauerten. Sie hatten noch im letzten Moment versucht, sich anzubiedern, waren Mazhar zu Hilfe geeilt. Doch Zulfikar griff hart durch. Alle Mitglieder von Elahis Gruppe und sogar Iskander hätten die Verschwörung - wie er es nannte - mitgetra-
gen oder zumindest durch ihr Schweigen begünstigt. Das genügte ihm. Elahi las den Brief. Seine Mutter brauche ihn, habe starke Schmerzen, wie es hieß. Elahi atmete auf. Er hatte Schlimmeres befürchtet. Solange die Mutter ihn brauchte, hatte alles noch einen Sinn, konnte er dieses Leben ertragen. Die meisten Kulis, die vor Elahi lagen, hatten sich nicht gegen Ayubs Protest gestellt, aber sich wohl auch nicht sonderlich dafür eingesetzt. Sie dachten nur ans Überleben, hofften, man werde ihnen genug zu essen geben und ihren Frieden lassen. Elahi biß die Zähne aufeinander, als ihm seine gestohlene Geldbörse einfiel. Alle Nachforschungen waren vergebens gewesen. Ayub stöhnte, die Augen geschlossen. Er mußte starke Schmerzen haben. Elahi kroch zu ihm und wischte das Blut von seinem Hals. Begum blinzelte ihm von der anderen Bordwand entkräftet zu. Nie hätte Elahi geglaubt, daß sich der Träumer so für ihn einsetzen würde. Er fuhr mit einem Tuch über Ayubs Stirn und nickte Begum dankbar zu.
Heft 449 Prosper Merimee Das Gäßchen der Ma-dama Lucrezia
Als der dreiundzwanzigjährige junge Mann seine erste Italienreise antreten soll, ahnt er noch nicht, daß ihn Madama Lucrezia fortan in Rom verfolgen wird. Eine nach ihr benannte Straße mit einem halbverfallenen dunklen Haus zieht ihn immer wieder magisch an. Eines Nachts wird er mit einer Rose in jenes Gemäuer gelockt, und damit gerät er unversehens in den Sog der geheimnisvollen Vorgänge .