W.J. Maryson
Die Schluchten von Lan-Gyt Inhaltsangabe Auf Loh, Insel der Zauberer, wurde zum ersten Mal zeit Jahrhunderten ein Magieunbegabter geboren – ein Unmagier: der junge Lethe Welmsson. Doch es stellt sich heraus, dass der Junge ein wesentliches Talent besitzt, das äußerst wichtig ist für den Kampf gegen die farbenlose Magie, die das Kaiserreich zu vernichten droht. Während Lethe versucht, die Inschriften des mysteriösen Zauberers Randoël zu enträtseln, schmieden Feinde im Palast Kryst Valdare einen unseligen Plan. Die Ereignisse überstürzen sich, als Lethe auf der Insel Lan-Gyt einem geheimnisvollen Magier begegnet und in den mysteriösen Schluchten endlich den wahren Grund für seine Zauberlosigkeit entdeckt …
Der Unmagier 2
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20.549 1. Auflage: Oktober 2006 Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Originaltitel: Onmagier, tweede boek; De kloven van Lan-Gyt ©2003 by W.J. Maryson © für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Wolfgang Neuhaus/Ruggero Leò Titelillustration: Christophe Vacher/Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Satz: Satzkonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Maury Imprimeur, Frankreich Printed in France ISBN-13: 978-3-404-20549-3 (ab 01.01.2007) ISBN-10: 3-404-20549-9 Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de
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Für Jörnie, au recherche du temps perdu. »For self is a sea boundless and measureless.« – The Propher, Kahlil Gibran
Was im ersten Band geschah Auf Loh, der Zauberinsel, wird erstmals seit vielen Jahrhunderten ein Mensch ohne magische Fähigkeiten geboren, ein Junge namens Lethe Welmsson. Er wird des Instiriums verwiesen, der Hochschule für Magier. Matei jedoch, einer der sieben Hochmeister, die als mächtigste Zauberer über das Wohl und Wehe des Reichs von Romander wachen, will Lethe auf seine Suche nach der Ursache farbloser Magie mitnehmen. Der Hochmeister ist davon überzeugt, dass dieses Phänomen eine schreckliche Bedrohung für das Reich darstellt. Die farblose Magie greift Gestein an und bringt es zum Zerbröseln, dass sogar ganze Inseln im Meer verschwinden. Doch auch Pflanzen, Tiere und letztlich sogar Menschen können der farblosen Magie zum Opfer fallen. Matei verfügt über Hinweise, dass der ›Unmagier‹, wie Lethe genannt wird, weniger anfällig ist für den Zorn des Verursachers der farblosen Magie, des Düsteren des Nachtmeers. Deshalb hat Lethe die vermutlich größeren Chancen, das geheime Versteck des Düsteren zu entdecken. Mateis Hochmeister-Kollegen stimmen dessen gemeinsamer Reise mit Lethe zu. Matei nimmt Lethe mit an Bord des Kühnen Furcher der Neun Meere, die Karavelle des berühmten Kapitäns Wigbolt. Ihr Ziel sind die Spiegelinseln, wo sich angeblich Inschriften befinden, die sie auf die Spur des Düsteren bringen können. Diese Inschriften waren neuntausend Jahre zuvor durch den mysteriösen Zauberer Randoël in die Tempelmauern von Ak Romat gemeißelt worden und sollen Lethe, dem Unmagier, als eine der Zeitspuren auf der Suche nach dem Düsteren dienen. Doch schon bald zeigt sich, dass noch andere von Lethes Eigenschaften wissen. Sogar in Kryst Valdare, im Palast von Xarden Lay Yper1
gion, dem Desran von Romander, entsteht Unruhe, als Mateis Entschluss bekannt wird. Der Erste Regulator Dotar wird beauftragt, den Jungen zu ermorden. Kapitän Wigbolt nimmt mitten im Meer von Romander drei Schiffbrüchige an Bord. Darunter befindet sich Gyndwane, eine junge Hirtin von den Spiegelinseln. Nach einer dramatischen Umrundung des Kap Scherbe erreicht der Kühne Furcher Ostander-Hafen. Hier treffen die Gefährten auf Gaithnard, einen Waffenmeister aus Kurm, der sich der Reisegruppe anschließt. Im Golf von Agbayar werden sie von einem Seeungeheuer attackiert. Der Kühne Furcher droht zu kentern, und nur mit Hilfe eines magischen Spruchs kann Matei die Katastrophe abwenden. Auf seine Bitte hin stößt Zaubermeister Llanfereit mit seinem Lehrmädchen Pit zu der Gruppe. Das Schiff ist jedoch so schwer beschädigt, dass es auf der Insel Kurm anlegen muss. Inzwischen hat der Erste Regulator Dotar ein überraschendes Treffen mit dem jungen Kronprinzen Marakis, der ihn davon zu überzeugen versucht, den Unmagier nicht zu töten. Dotar aber hält an seinem Auftrag fest, den ihm sein Herr erteilt hat, der Desran, und macht sich auf die Verfolgung. Auf Kurm wird Gaithnard von Bein herausgefordert, einem jungen Waffenmeister aus der Familie Vartyan. Der Zweikampf wird nach den Regeln des Och Pandaktera, der Blutrache, ausgefochten. Gaithnard wählt seine Halbmutter Adwyne als Sekundantin. Der Kampf ist ausgeglichen – bis Gaithnard durch unerlaubte Mittel des Gegners auf die Knie gezwungen wird. Im letzten Moment rettet Gaithnard sich mit einer List. Die Reisegefährten müssen fliehen. Lethe wird zum ersten Mal von jemandem in seinem Geist angesprochen. Er wird gefragt, ob er die ›Kraft‹ besitze – eine Fähigkeit, die in früheren Zeiten für tabu erklärt wurde. Im Traum wird Lethe von einem Mann über den Rand eines Turms gestoßen. Lethe erscheint dies als eine prophetische Vision. Desran Xarden Lay Ypergion wird in seinem Kristallturm von Marakis besucht, seinem Sohn, der ihn über aktuelle Probleme unterrich2
tet. Ratsherr Danker und Edelfrau Hylmedera hatten vergeblich versucht, dieses Gespräch zu verhindern. Der Desran beschließt, seinem Sohn zu glauben. Marakis reist dem Regulator nach, um zu versuchen, den Anschlag auf den Unmagier zu verhindern. In der Nähe der Insel Karwel erleidet er Schiffbruch und kann sich nur mit knapper Not retten. Die Gefährten erreichen Haramat, die Hauptstadt der Spiegelinseln. Sie heuern einen zusätzlichen Waffenmeister an, einen gewissen Artod aus Wintergang. Zusammen mit einem Führer machen sie sich auf zu den Tempelruinen von Ak Romat. Unterwegs macht Lethe Bekanntschaft mit dem Kaiseradler Scharfblick, der die Gedankensprache beherrscht und ihn vor einem Hinterhalt warnt. Kurz vor Ak Romat begegnet die Gruppe dem Propheten Gall Rybonder, der Gyndwane nach Yle em Avrilux mitnimmt, zum Hauptstift der Solitäre, der größten religiösen Gemeinschaft von Romander. In Ak Romat gelingt es Lethe, die Inschriften zu entziffern. Diese scheinen auf den Windturm auf der westlichen Spiegelinsel zu verweisen. Auch die uralten Schriften aus der Kaiserlichen Bibliothek, von denen Llanfereit heimlich eine Kopie gemacht hat, vermitteln Lethe einen größeren Einblick in das Mysterium, das Randoël vor neuntausend Jahren geschaffen hat. Lethe erkennt, dass Randoël verschiedene Zeitspuren gelegt und deren Bedeutung verschlüsselt hat, um zu verhindern, dass der Düstere des Nachtmeers die Pläne des alten Zauberers entdeckt. Marakis kann die Spur der Gefährten aufnehmen. Doch vorerst gelingt es ihm nicht, die Gruppe einzuholen und zu warnen. Nach einer abenteuerlichen Fahrt übers Meer erreichen die Gefährten die Westinsel und begeben sich zum Windturm. Hier wird Lethe von Artod angegriffen, doch Scharfblick verhindert im letzten Augenblick, dass Lethe aus dem Turm in die Tiefe stürzt. Artod erweist sich als niemand anders als der Erste Regulator Dotar. Scharfblick verabschiedet sich von Lethe mit dem Versprechen, dass sie einander wieder sehen, denn ihrer beider Schicksal sei eng verknüpft. 3
Prolog »Träume ich? Ach, ich weiß, es ist eitle Hoffnung, diese Zeitenwende beruhe auf einem Traumzustand, und nach der Nacht breche das Tageslicht an. Schwerter zerstückeln meine Gedanken. Blut und Schmerz beherrschen meinen Geist. Immer wenn ich aus unruhigem Schlaf erwache, der erfüllt ist von sich überstürzenden Katastrophen und Kriegen, hoffe ich für Sekunden, sie sei wirklich nur ein Traum gewesen – diese letzte Nachricht von Imray. Die Verlassenheit und Stille von Dunkel, die manche hier als ›Ruhe‹ bezeichnen, hat mich lange Zeit immun gemacht gegen andere Schmerzen als die dumpfe Pein der Einsamkeit. Selbst die Winterstürme vermögen hier, am Rande des Nachtmeers, nicht das leere Schweigen zu vertreiben. Doch im Vergleich zu den Leiden im Vorland des Reiches ist es ein süßer Schmerz. Kann das Leben so grausam sein? Ist es möglich, dass alle Inselbewohner binnen so kurzer Zeit aus höchsten Höhen der Zivilisation in den Schrecken der Barbarei abgleiten? Wenn ich die Geschichte betrachte, muss ich feststellen, dass die Welt eher auf Leid denn auf Friede und Ruhe aufgebaut ist. Doch noch nie hing die Bedrohung durch dieses Leid und unnötiges Blutvergießen so greifbar in der Luft. Nicht zum ersten Mal ist das Geschlecht der Nibuüm vom Aussterben bedroht, und selbst der Fortbestand des Reichs von Romander ist in Frage gestellt. Diesmal aber deutet alles daraufhin, dass wir es mit einer ernsthaften Krise zu tun haben. Der Kristallturm von Romander-Stadt wurde vor gerade einmal zweihundert Jahren vollendet, und schon schallt die schrille Stimme von Tod und Verderben um seine Kuppel, schon werden die Fundamente von 4
Parasiten angegriffen, die auf Machtmissbrauch aus sind. Nicht länger mehr gilt die ›Regel der Dienenden Macht‹ des großen Kaisers Arden Hays Luire, die bislang von jedem Kaiser mit Wort und Tat lebendig gehalten wurde. Unterdrückung, Blut und Schmerz sind plötzlich die Regel auf Valdare. Es ist dieser unselige Antas, der neue Heerführer mit seinen schwarzen Augen. Er besitzt die Macht. Nein, keine Macht: Nochmals, es ist Machtmissbrauch, der dem Geist des Nachtmeers gut zu Gesicht stehen würde. Macht, die ihren Besitzer letztendlich verschlingen wird; doch dauert dieser Prozess leider zu lange, denn in der Zwischenzeit geißelt der Machthaber sein Volk, wo er ihm doch dienen müsste. Jeder rechnete damit, dass Kaiser Qelter Zey Umren anlässlich der Feier des zweihundertunddritten Jahrestages der Turmeinweihung nach Monaten zum ersten Mal wieder in der Öffentlichkeit erscheinen würde. Zehntausende hatten sich auf dem Palastplatz versammelt. Das Volk verlangte nach einem Zeichen, dass es eins sei mit seinem Herrscher, und dass Romander an Kraft gewonnen habe. Es wollte hören, dass die Stärke und Harmonie des Reiches – die durch den Turm versinnbildlicht wird, der in seiner hellen und leuchtenden Majestät das Land überstrahlt – noch immer als der würdige Widerpart zum Herrn der Tiefe über das Volk wache, ohne jemals dessen Stolz herausfordern zu wollen. Qelters Sohn Ymdrialt Dyl Umren wird – sollte dies erforderlich sein – im Namen seines todkranken Vaters reden, behaupten die Gardisten, die wiederum als Sprecher des Knaben auftreten werden. Ymdrialt besitzt alle Vollmachten seines Erzeugers, jedenfalls nach Aussage der Gardisten. Doch weder Qelter noch Ymdrialt sind in den vergangenen Wochen in der Öffentlichkeit aufgetreten. Sosehr die Gardisten dies auch zu verhindern suchen, die Gerüchte verbreiten sich wie Regenwolken über das Reich. Der plötzlich vom Kaiser ernannte Kriegsherr Antas soll den Palast von der Außenwelt abgeschnitten haben, und die Gardisten halten angeblich jeden auf Abstand. Imray, dem Schreiber des Palastes Valdare, meinem Großonkel aus dem Geschlecht der Nibuüm, gelang es jedoch, unter Zuhilfenahme eines Seetäuberichs einige Nachrichten nach Dunkel zu schmuggeln. Sein Bericht war kurz, aber deutlich: 5
Brüder und Schwestern im Geschlecht, die Zeiten ändern sich. Ich schicke Euch diesen Bericht im Schutze der Nacht. Ich habe Hausarrest. Die Gardisten des Antas glauben, ich schlafe. Meine Zimmertür und die Fenster sind verschlossen, doch glücklicherweise habe ich vor einiger Zeit heimlich einen Nachschlüssel für die Fenster anfertigen lassen. Ich kletterte hinaus, zu den Käfigen der Seetäuberiche. Eine gefährliche Kletterpartie! Antas hat den alten Qelter um den Finger gewickelt und anschließend in dessen eigenem Palast gefangen genommen, davon bin ich felsenfest überzeugt. Mir gelang es nach mehreren nächtlichen Kletterpartien, mit einigen Mitgliedern der Hofverwaltung zu reden. Wir alle sind uns sicher, dass Antas die gesamte kaiserliche Familie in Geiselhaft genommen hat. Einige von Euch kennen Antas. Der Mann ist wahnsinnig, und seine Pläne kann niemand erraten. Ihr müsst so schnell wie möglich den Duilche von Ylie eth Avriloux benachrichtigen. Nur er und seine Solitäre sind in der Lage, die Entwicklung aufzuhalten. Macht Euch um mich keine Sorgen. Imray Die Edelfrau Verlant, älteste unseres Geschlechts, entschloss sich zu sofortigem Handeln und schickte Täuberiche sowohl zu Wilder aus Dymstere als auch zur Edelfrau Reyliver aus Coumber. Ihnen wurde aufgetragen, den Duilche über die Situation zu informieren. Doch die Zeit schien die Täuberiche zu überholen. Diese waren gerade einen Tag unterwegs, als uns ein zweiter Bericht von Imray per Seetäuberich erreichte. Die Handschrift war krakelig, der Brief ohne Anrede, als habe er sich mit dem Schreiben sehr beeilen müssen: Ich muss um mein Leben fürchten! Bei meinem letzten nächtlichen Streifzug durch den Palast entdeckte ich die Leichen von zwanzig Angehörigen der Hofverwaltung. Und es waren nicht die geringsten! Selbst Ratsherr Tarfiant aus Karwel gehörte zu den Opfern. Es war ein schrecklicher Anblick. Sie waren enthaup6
tet. Ihre Leichname lagen achtlos übereinander gestapelt, und die Köpfe waren in eine Ecke geworfen. Das Blut strömte durch den Palastgang. Es gibt sogar Gerüchte, der Kaiser lebe nicht mehr. Mit einem Mal herrscht hier die Barbarei. Antas plant, die gesamte Hofverwaltung umzubringen. Danach sind die Wissenschaftler an der Reihe. Ein Hofjunker berichtete mir, Antas habe eine Liste, auf der auch mein Name erscheint. Morgen oder übermorgen bin ich an der Reihe. Ich werde zu fliehen versuchen, zusammen mit dem Hofjunker und dessen Frau. Ich lege mein Leben in die Hände des Herrn der Tiefe. Wenn er es so will, sehe ich Euch in absehbarer Zeit. Imray Seither sind zwei Wochen verstrichen. Von Imray haben wir nichts mehr gehört. Ich habe in der Bibliothek nach Informationen über Antas gesucht. Er stammt von den Fyren. Ein Waisenkind, von dem man erst etwas vernahm, nachdem er sein Examen an der Kaiserlichen Akademie für Höhere Kriegskunst in Romander-Stadt mit Auszeichnung bestanden hatte. Man weiß wenig über ihn, doch es wird gemunkelt, er verfüge über magische Fähigkeiten. Fest steht jedoch, dass er ein außergewöhnlicher Mann mit viel Charisma ist. Gesichert ist zudem, dass er sich auf düstere Dinge eingelassen hat. Man nennt ihn den Kapitän des Nachtmeers. Anfänglich verhielt er sich dem Desran gegenüber loyal, doch vor einigen Jahren fiel er in Ungnade, und ihm wurde das Kapitänspatent entzogen. Der Grund ist unbekannt. Die Palastwächter haben ihn gesucht, doch bis vor kurzem schienen die Wellen des Nachtmeers ihn verschluckt zu haben. Es ging das Gerücht, er sei nach Ag'wandon entkommen, die untergegangene Insel im Norden. Dann erschien er plötzlich auf West-Gyt. Von dort aus scharte er immer mehr Anhänger um sich. Sie kleideten sich in braune Tuniken und schmiedeten breite Hakenschwerter. Schließlich zog Antas mit seiner neu aufgestellten Armee nach Romander-Stadt. Niemand wagte es, ihm und seinen Gefährten Steine in den Weg zu legen, und der Desran empfing ihn als Seinesgleichen. Gerüchten zufolge ist inzwischen mehr als die Hälfte der Gardisten zu Antas übergelaufen. 7
Was können wir tun? Eingedenk der niedergeschriebenen Worte Randoëls dürfen wir nicht eingreifen, so gerne wir es auch tun würden. ›Wenn die Nibuüm ihre Taten der Welt selbst einkerben, anstatt sie aufzuzeichnen, hört das Geschlecht zu bestehen auf‹, steht in Randoëls Zweiter Anleitung geschrieben. Und doch können wir den guten Gegenkräften mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Problem ist nur, dass diese Gegenkräfte noch keine Zeit hatten, sich zu organisieren. Vielleicht müssen wir Dermrod und die anderen Hochmeister auf Antas' Spur setzen. Ach, könnte ich doch nur meine Hand auf die Säule der Wahrhaftigkeit legen, auf dass der Herr der Tiefe mir alle schwierigen Entscheidungen, die in nächster Zeit zu treffen sind, abnähme. Doch etliche Meere trennen mich von diesem heiligen Ort. Mir bleibt nichts als die Läuterung durch die Zelebranten der Stillstehenden Zeit.« Aus dem Buch der Stillstehenden Zeit. Protokoll der Geschlechterfolge der Nibuüm: Die Verflechtung der hundertvierzehnten Linie – Serth und Dunkel. Ursprünglich verfasst vom Schreiber Eclesiant aus Dunkel im Jahre 6393. Überarbeitet vom Schreiber Marling aus Rak im Jahre 8428.
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1 Nachtmeer »Webwerk, kristallin und filigran, wogend auf dem Bett aus Sternensand. Rahmen, grenzenlos und niemand Untertan, kein Saum am fahlen Nachtgewand. Auf hellem Tuch, durch Terpentin verwischt, die Sonne streicht mit Licht und dünnem Pinsel die Welle, ungewollt und spiegelnd in der Gischt, die grau und gelb durchsetzte Farbeninsel. Länger ist die Nacht, die Tage dauert: Wolken schlucken selbst das Schwarz, sickern ins Salz, das an den Felsen kauert, kennen kein Mitleid, Herz aus Quarz. Wortlose Welt, nie erkundet, nicht erzählt, was sich verbirgt in ihrem Leib. Nacht haust im Schoß, Todesangst quält. Das Nachtmeer schweigt, während ich landwärts reib.« Das Gedicht ›Das Nachtmeer schweigt‹, aus Zwölf mystische Gedichte von Gyrde Kulmsson aus Mittel-Loh Das Nördliche Nachtmeer. Ein ödes Reich aus Luft und Wasser, Ursprung der berüchtigten 9
Nordstürme, wo Wasser manchmal ohne sichtbaren Übergang zu Luft wurde. Hier, eine Tagesfahrt von Mittel-V'ryns Nordküste entfernt, konnte man die Gezeiten nicht an Stränden ablesen, die überspült und wieder freigegeben wurden. Hier schienen Tag und Nacht austauschbar zu sein, wenn das Nichts der Nacht der matten Düsternis eines Nordsturms wich. Dunkle Wolken wiesen wie die Finger Furcht erregender Ungeheuer hinab und berührten das Meer. Graugelbe Gardinen aus Regenschleiern verfolgten einander über die unruhigen Wellen hinweg. Windböen wirbelten umeinander. Die Regenschauer verschwanden von einer Sekunde auf die nächste, und ein seltsamer Augenblick der Stille ergriff Besitz von der See. Am Horizont bildete sich ein schimmernder Spalt in der Wolkendecke, wie ein riesiges gelbes Auge. Vielzackige Blitze gabelten sich an der Scheidelinie zwischen Wolken und Meer. Dröhnender Donner rollte in die Unendlichkeit des Nachtmeers hinaus. Für einen Moment war nur das Rauschen der Wellen zu hören. Danach erklang zwischen den höchsten Tönen immer deutlicher das Geräusch eines dünnen Pfeifens. Plötzlich erhob sich eine graue Nebelkrähe aus der düsteren Szene und flüchtete mit kräftigem Flügelschlag nach Süden. Sonst zeigte sich nichts und niemand. Nichts? Niemand? Im unendlichen Grau erschien ein dunkler Punkt. Es war ein kleines Fischerboot, eine schlichte Mittelkaravelle von einer der nördlichsten Inseln der Äußeren Riffe, wie an den zwei roten Flaggen unschwer zu erkennen war. Vermutlich kam das Boot aus Malters Ende, dem Fischerdorf auf Mittel-V'ryn. Eine dunkelbraun geteerte Nussschale, geschmückt mit einem halb eingeholten viereckigen violetten Segel und einer dreieckigen Vorfock. Das kleine Schiff rollte und wogte von Welle zu Welle. Ungebändigter Steinfisch war in eckigen gelben Buchstaben auf den Bugrand gepinselt. In der kleinen Plicht, hinten am Steuerrad, standen breitbeinig und bewegungslos zwei Männer, wie höl10
zerne Standbilder, die man auf das Deck genagelt hat. Der kleinere der beiden hielt das Steuerrad mit kräftigem Griff. Er wandte sich an den anderen, einen mittelgroßen Mann mit dunkelblondem Kraushaar und dunkelbraunen Augen. »Zum letzten Mal, Herr, ich fahre nicht weiter. Das ist viel zu gefährlich. Wir kehren um.« Der andere reagierte nicht. Er starrte weiter zu dem gelben Auge hinüber, das den gesamten Horizont zu beherrschen schien. Eine hohe Welle überraschte das Boot von der Flanke her und drohte es umzuwerfen, doch mit einer blitzschnellen Steuerbewegung fing der kleine Mann den Schlag auf. Der plumpe Bug pflügte durch die Wellen; Schaum spritzte übers Deck. »Herr …«, begann der Mann erneut. »Ich habe es vernommen, Frolint«, sagte der größere Mann schroff. »Ich habe es gehört, aber Ihr müsst noch einen Moment Geduld haben. Da hinten spielt sich etwas Interessantes ab. Ich glaube …« Weiter kam er nicht. Donner grollte plötzlich über die Wasseroberfläche, rollte ohne die Vorwarnung eines Blitzes von allen Seiten auf sie zu. Aus Richtung des gelben Auges stieg eine breite Welle zu einem Kamm von gut zehn Metern Höhe empor. Aus der gleichen Richtung erschienen plötzlich Dutzende dunkelgraue Vögel, riesige Tiere, die kreischend um das Boot kreisten. Auf ihren Köpfen glänzte etwas, glaubte der größere Mann zu sehen. Über der Welle tauchte eine schwarze Gestalt auf. Oder war es der Schatten einer dunklen Wolke? Der kleine Mann kurbelte wie besessen am Steuerrad. »Habe ich es nicht gesagt, Herr Rayn?«, jammerte er. »Magie zieht den Düsteren an und bringt ihn in Rage! Das weiß doch jeder! Wir sind verloren!« Rayn fasste den Fischer am Arm und schaute ihn wütend an. »Reißt Euch zusammen, Frolint. Ich habe es Euch schon tausend Mal gesagt: Ich bin kein Magier! Ich habe lediglich ein paar Kunstgriffe von einem Meister gelernt. Macht Eure Arbeit; sorgt dafür, dass Euer Boot weiterfährt.« 11
Der Fischer presste die Lippen aufeinander und versuchte der Welle zu entkommen, indem er schräg nach Westen abdrehte. Doch der Wind warf den Ungebändigten Steinfisch zurück. Rayn hielt nach der schwarzen Gestalt Ausschau, die aus der brodelnden See aufgetaucht war, aber es war nichts mehr zu erblicken. Auch der gelbe Schleier war hinter einer Wolke verschwunden. Die Vögel schwirrten kreischend dem Horizont entgegen. Nachdem sie verschwunden waren, löste der dünne Pfeifton sich plötzlich im Geräusch der Wellen auf, und es wurde still. Die hohe Welle hatte sich wieder in die Oberfläche der See eingefügt, kurz bevor sie das Boot hätte erreichen müssen. »Das gelbe Auge, die Wellen, Blitz und Donner … und der Pfeifton«, brummte Rayn. »Und die Vögel«, fügte der Fischer hinzu. »Ja, die Vögel«, bestätigte Ray. »Das ist seltsam. Davon habe ich früher noch nie etwas gehört.« Er strich sich übers Kinn und starrte nachdenklich auf die Stelle, an der sich der gelbe Schimmer gezeigt hatte. »Seltsame große Vögel. Ich hielt sie für Möwen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich konnte ihre Köpfe nicht richtig sehen … fast schien es, als hätten sie Edelsteine auf dem Kopf gehabt.« Frolint schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dazu sagen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mein Boot auf Kurs zu halten, als dass ich auch noch darauf hätte achten können. So sind wir wenigstens mit heiler Haut davongekommen.« Rayn starrte eine Zeit lang zum nördlichen Horizont hinüber. Wolken und Meer berührten einander wieder. Grau und Schwarz dominierten. Weitere Regenwolken zogen in ihre Richtung. »Wir wissen nicht, ob er es wirklich war«, sagte Rayn. »Und wenn er es war, wenn der Düstere sich bereits gezeigt hat, ist er jetzt wohl verschwunden.« Mit verträumtem Blick schaute er in die Luft. Dann drehte er sich plötzlich entschlossen zu Frolint um. »Wir fahren zurück, Schiffer.« Frolint stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, streckte den Rücken und nahm Kurs direkt nach Süden. Kurze Zeit später kam Nord12
wind auf, der das Boot über die Wellen zu den Inseln zurücktrug. Die Bewölkung brach auf, und über dem Horizont zeigte sich die orangefarbene Glut der Abendsonne wie ein breites Band. Der Ungebändigte Steinfisch tanzte wieder als fast unsichtbarer Teil des Meeres träge von Welle zu Welle. Beide Männer schauten sich nicht mehr um. Und so sahen sie auch nicht die dunkle Gestalt, die ihnen in einigem Abstand folgte.
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2 Vogelfrau »Wo das Böse lauert? Das Böse lauert im Innersten unserer Welt. Gefangen in Stein. Doch alle neuntausend Jahre hat es genügend Kraft gesammelt, sich zu befreien. Wehe der Welt, die nicht darauf vorbereitet ist.« Aus ›Lotrecht zu Land und Meer‹, Gedanken des Ax aus Sommerfreude
Im Innersten der Erde, an der Grenze zwischen flüssigem Feuer und flimmernd heißen Felsbrocken, rührte sich etwas. Aus der Tiefe drang donnerndes Gebrüll an die Erdoberfläche und verwandelte sich in misstönendes Kreischen. Die Wände der riesigen Höhlen und Grotten bebten, zitterten, zerrissen und stürzten schließlich mit ohrenbetäubendem Lärm ein. Stein schmolz wie Wachs. Eine unvorstellbare Hitze kämpfte sich durch Spalten und Ritzen immer weiter in die Höhe, begleitet von dem schrillen Kreischen, das wie ein Heer flammender Schwerter durchs Herz der Erde jagte. Die Welt wankte und grollte. Verklumpte Erde, Felsbrocken und Gestein verdichteten sich zu einer festen Decke, doch der Druck stieg stetig. Nach unten oder zur Seite gab es kein Entkommen; daher suchte sich die Materie ihren Weg nach oben – mit einer Gewalt, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen überstieg. Je näher die Schockwelle der Erdoberfläche kam, desto mehr Kreischtöne gesellten sich hinzu. Kein menschliches Ohr hätte die Kakophonie überstehen können, ohne augenblicklich taub zu werden. 14
Am Boden einer Hunderte Meter tiefen Höhle saß eine Frauengestalt bewegungslos im Schneidersitz. Sie trug eine lila Jacke und darunter ein langes gelbes Kleid aus Felterstoff. Ihr Gesicht wurde größtenteils von den Schlappen ihrer schwarzen Forma verdeckt. Ein Betrachter hätte den matten Widerschein ihres Gesichts erkennen können, doch in der Höhle war sonst niemand zu sehen. Mit Zeige- und Mittelfinger schob die Frau den vorderen Zipfel ihrer Forma hoch. Sie hatte gelbgrüne Augen und schmale, halbrunde Pupillen, die wesenlos vor sich hin starrten. Ein undeutliches Grummeln wurde hörbar. Eine unerwartete Brise voller Flüsterstimmen strich durch die Höhle, berührte die Frau. In ihrem Geist erwachte Bewusstsein, und eine Sturzflut von Erinnerungen ergoss sich in die Betten ihrer Gedankenflüsse. Das andere Bewusstsein, mit dem sie die ganze Zeit hatte auskommen müssen, verschloss sich dem Wirrwarr von Bildern und Ereignissen. Sein Fassungsvermögen war schlichtweg zu klein und seicht. Vogelfrau, so hatte man sie immer genannt; doch sie wusste nicht warum. Ihr Mund öffnete sich langsam. »Mathathruin …«, flüsterte sie. Das Wort flößte ihr Furcht ein. Der Strom der Zeit verlangsamte sich, ließ die Welt fast erstarren. In den darauf folgenden, sich dehnenden Augenblicken entfaltete die Frau ihre schlanken Hände, die Handflächen nach oben gerichtet. Ihre Augen musterten den schmalen Lichtstreif oberhalb der Höhle. Sie stand langsam auf, und aus ihrem Schoß lösten sich rote und weiße Rosen, die langsam zu Boden schwebten. Als die Blumen auf die Erde trafen, wirbelte weißer Staub auf. Der Blick der Vogelfrau wurde starr. Die Jacke verlor ihren Inhalt und sackte in sich zusammen. Ein schlanker, grauer Vogel mit violettem Kamm und langem dunkelgrünem Schwanz hüpfte elegant in die Höhe und stieg mit leichtem Flügelschlag empor. Die Jacke wurde binnen weniger Sekunden grau und zerfiel zu Staub. Nachdem der Vogel die Höhle verlassen hatte, trat eine unnatürliche Stille ein, und die Höhle schien in einem Vakuum zu versinken. 15
In der Ferne grummelte es. Die Erde begann zu beben. Die Zeit floss wieder schneller, bis schließlich die ganze Höhle mit zerstörerischer Kraft in sämtliche Richtungen weggesprengt zu werden drohte. Die Erde riss mit einem wilden Gebrüll auf, und ein Pandämonium kreischender Stimmen warf sich auf die Stelle, an der die Frau gestanden hatte. Die Erde wölbte sich und zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Knall. Steine und Felsbrocken spritzten in alle Richtungen. Ein Strom glühender Lava ergoss sich aus dem Loch. Staubwolken stiegen zu beiden Seiten auf und füllten die Höhle binnen weniger Augenblicke. Dann erklang eine Donnerstimme aus dem Erdinnern und übertönte mühelos das Gebrüll. »Wooör Lynagolduria! Aysrail syf um teryje.« Worte aus einer Zeit, an die kein Mensch sich mehr erinnerte, trafen die Höhlenwände. Die Stimme hatte neuntausend Jahre lang geschwiegen. Jetzt zeigten sich auch an den Höhlenwänden Risse. Felsbrocken fielen in die Tiefe. Das Beben der Erde erreichte seinen Höhepunkt. Etwas Schwarzes, Leuchtendes durchbrach polternd das Chaos aus Lava, Flammen, Felsen und Steinen und schuf einen großen Krater. Die alles übertönende Stimme schleuderte einen Triumphschrei in die Luft. Schattenfetzen flogen mit, verteilten sich beim Verlassen der Höhle in alle Richtungen. Staub und Rauch ergriffen mit die Flucht. Düsternis nahm Besitz von der Höhle und griff mit formlosen Klauen nach der Morgensonne. Die Farben verblassten und fügten sich in das Grau, das schon bald dunkel und dann schwarz wurde.
Erst drei Tage später, nachdem der Staub seinen trägen, vergeblichen Sprung in die Freiheit beendet und sich auf dem Boden der Höhle gesammelt hatte, kehrte die Vogelfrau zurück. Dreimal glitt der zierliche Schatten des Vogels über die Höhlenwand, bevor das Tier sich vorsichtig nach unten wagte. Nicht weit von der gähnenden Wunde des Kraters strich es nieder. Im Handumdrehen hatte sich der Vogel wieder 16
in die Frau verwandelt. Aufmerksame Augen betrachteten den Krater. Mit vier oder fünf Schritten war die Frau am Rand und starrte in die gähnende Leere. »Er ist verschwunden«, murmelte sie. »Ach, Avriloux, es ist wie befürchtet: Er ist entkommen. Selbst die undurchdringliche Erdkruste hat ihn nicht aufhalten können. Romander wird in seinen Grundfesten erschüttert werden. Das Böse hat sich befreit!« Ohne von der Vogelgestalt Gebrauch zu machen, wanderte die Frau in Gedanken versunken nach Süden zum kleinen Hafen von Kasbyrion. Es wurde Zeit für ihre erste Aufgabe.
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3 Hjert »Als Schade die Umrisse ihres Geburtsortes Lamp-Paret auftauchen sah, stieß sie einen Freudenschrei aus und tanzte im Kreis. Die Herrin der Weisheit und Eingebung schaute sich das eine ganze Weile an. Schließlich lächelte sie und flüsterte: ›Dies ist der umgekehrte Abschied, aus tiefstem Herzen erlebt. Was nur heißen kann, dass der Abschied etwas Schönes in sich trägt.‹ Schade hörte es und verstand sofort, was die Frau damit sagen wollte. Dies fügte ihrer Freude noch eine neue Dimension hinzu.« Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Hjert wurde der Mann genannt. Er war klein, seit seinem zwanzigsten Lebensjahr kahlköpfig und hatte eine merkwürdig bleiche Hautfarbe. Noch merkwürdiger allerdings waren seine Augen: Graue Brillanten mit einer rötlichen Glut um die ovalen Pupillen, die schüchtern und unsicher unter dünnen weißen Augenbrauen in die Welt schauten. Er war als Waise in Lommer aufgewachsen, einem idyllischen kleinen Dorf im waldreichen Hügelland nahe der Südostküste von Mittel-Serth. Als Kind war er eine Zeit lang die Zielscheibe von Spott und Hänseleien gewesen, doch da er nicht darauf reagierte, beachteten die Gleichaltrigen ihn immer weniger. Er blieb allein. Mit fünfundzwanzig zog er nach Romander-Stadt, wo er eine Schreinerlehre begann. Amsot, sein Gildemeister, erkannte in ihm ein Naturtalent. Doch Hjerts verschlossener Charakter und sein Unvermögen, mit den Auftraggebern und den anderen Lehrlingen Kontakt aufzunehmen, stie18
ßen bei Amsot auf immer größere Unzufriedenheit. Hjert wurde von allen links liegen gelassen. Zu guter Letzt warf Amsot ihn aus der Gilde. So war er nach zwei Jahren wieder zurück in Lommer. Dort fand er Arbeit als Holzfäller. In seiner knapp bemessenen Freizeit stellte er ausgefallene Möbelstücke für reiche Kaufleute aus Serth-Hafen her. Sein Leben spielte sich fast ausschließlich in den Wäldern von Mittel-Serth und rund um sein kleines Häuschen am Rande von Lommer ab. Er ließ sich Hjert nennen und hütete seinen richtigen Namen, als wäre dieser sein tiefstes Geheimnis. Wenn er spätabends allein in seinem Häuschen vor der kleinen Feuerstelle saß, holte er das goldene Amulett hervor, das an einem Lederband um seinen Hals hing. Ein seltsames, mit Sylgit eingelegtes Zeichen zierte die Vorderseite: ein kapriziös geformter, halb offener Kreis mit einem diagonal kreuzenden Strich. Auf der Rückseite war am Rand eine Reihe Runen eingraviert. Während er seine Finger über die Zeichen gleiten ließ, flüsterte Hjert seinen anderen Namen vor sich hin: »Ilure Imfarse.« Die Leute in Lommer wussten nicht, wer er in Wirklichkeit war. Eigentlich hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, ihn besser kennen zu lernen. Er war einfach nicht der Mann, mit dem man ein Gespräch führen konnte. Freunde besaß er nicht, und über seine Familie hatte er sich nie geäußert. »Es hat ganz den Anschein, als wartete er nur auf seinen Tod«, sagten die Leute kopfschüttelnd. Sie irrten sich.
Inzwischen war er sechsunddreißig. An einem frühen Livander-Morgen des Jahres 8998 saß er auf der Bank vor seinem Häuschen und blickte zum Horizont, der im scharfen Licht der Morgensonne lichterloh zu brennen schien. So begann er seinen Tag immer, auch wenn es regnete oder stürmte. Die wenigen Passanten wären erschrocken gewesen, hätte er einmal nicht dort gesessen. Er genoss seinen gepflegten 19
Epiphytengarten voller ausgefallener Pflanzen- und Blumenarten in überschwänglichen Farbschattierungen. Er genoss auch die flimmernde Sonne, den ausgelassenen Gesang der Waldvögel und das zufriedene Summen der zahllosen Insekten. Für ihn war dies der Rahmen jener Stille, die er über alles stellte, da sie noch am ehesten an die Welt erinnerte, in der er ursprünglich seine Aufgaben zu erfüllen pflegte. Dennoch war dieser Morgen anders. Ein Gefühl der Erwartung hing in der Luft. War es das Licht? War es, weil der Teyland-Sia, sein größter Epiphyt, an diesem Morgen zu blühen begonnen hatte? An der Südseite des Weges, der an seinem Haus entlang verlief, bewegte sich etwas. Hjert bemerkte es aus dem Augenwinkel. Er glaubte, ein Vogel habe sich auf dem Weg niedergelassen, und er drehte den Kopf in die Richtung. Seine Augen, die Ruhe ausstrahlten, sahen eine Gestalt inmitten einer herabrieselnden Staubwolke stehen. Während er zuschaute, kam Bewegung in die Gestalt. Hjert hob die Brauen. Ein weiter lila Schleier verhüllte das Gesicht des Passanten, doch der anmutige Schritt und die Formen unter dem eng anliegenden grüngrauen Mantel machten deutlich, dass es sich um eine Frau handeln musste, eine elegante junge Frau. Für einen Moment schien es, als wollte sie weitergehen, ohne sich umzublicken; dann aber blieb sie neben Hjert stehen. Ihre schlanke Hand schlug den Schleier ein wenig zurück, sodass ihr Gesicht zu sehen war. Hjerts Blick wurde von den schmalen halbrunden Pupillen und den gelbgrünen Augen gefangen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit einem Mal begriff er, dass dies der Tag war, auf den er so lange gewartet hatte. Ein leises Lächeln umspielte die Mundwinkel der Frau, als sie ihm zuwinkte. »El'legheyre ast«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Mathathruin leuitatuüm soy Thubaias om charab'he. Taime im Ayinti.« Hjert kannte all diese Wörter noch aus dem alten Areyngen, der Sprache der anderen Welt. Er nickte und stand auf. »Es ist so weit, Ilure«, murmelte er und griff nach seinem Rucksack. Dann nahm er das kurze Schwert, das neben ihm auf der Bank gelegen 20
hatte. Er betrachtete sein verzerrtes Gesicht in der breiten silberfarbenen Klinge und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Abschied«, flüsterte er, »schon wieder ein Abschied.« Dann streckte er den Rücken, richtete den Blick auf den Weg und stellte sich neben die Frau. Ohne jede Hast gingen sie nach Norden, den Holzklippenpfad entlang, der zum Hafen an der Kleinen NordBucht führte. Ein kleines Stück weiter, auf der Spitze des Hügels, konnten sie auf die grauen Dächer von Lommer hinunterblicken, halb verborgen hinter dem Blattwerk des Waldrandes. Hjert blieb stehen und ließ den Blick übers Dorf gleiten. »Leb wohl«, sagte er leise. Die Frau, die langsam weitergegangen war, schaute sich um und lächelte erneut. Hjert seufzte und ging zu ihr. Zusammen verschwanden sie über den Hügel.
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4 Zum fliehenden Seefisch »Die Kraft zählt nicht zu den magischen Fähigkeiten, denn sie verändert nicht die sichtbare Wirklichkeit, nicht einmal zeitweilig, wie eine Illusion oder ein bindender Zauberspruch. Was also ist die Kraft? Nur ihr Besitzer kann das deutlicher erklären, doch es bleibt ein rätselhaftes Phänomen. Elondar der Weiße ist der Einzige, der mehr dazu gesagt hat, kurz bevor er vor seinem Desran fliehen musste. ›Wenn ich die Kraft in mir spüre, ist das Kleine groß und das Große klein. Ich bin imstande, in jemanden hineinzukriechen und könnte ihn auf der Stelle töten, von innen heraus. Bei anderer Gelegenheit könnte ich die ganze Welt beherrschen. Mehr vermag ich nicht zu sagen, denn die Kraft besitzt eine Dimension, die sich nicht in Worte kleiden lässt.‹« Vorwort zu ›Die unbeschreibliche Kraft beschrieben‹, von Hassel aus Komber Hochmeister Matei, Unmagier Lethe, der rätselhafte Zauberer Llanfereit und dessen Lehrmädchen Pit, Waffenmeister Gaithnard aus Kurm, Kronprinz Marakis sowie Regulator Dotar, der Lethe beinahe umgebracht hätte, übernachteten im Fliehenden Seefisch in Nardelos Grotte. Die Herberge bot karg möblierte, aber saubere Zimmer. Marakis hatte Dotar mündlich und durch schriftliche Beweise davon überzeugen können, dass der kaiserliche Auftrag widerrufen worden war. Llanfereit schlug vor, Dotar nicht gefangen zu nehmen, da der Regulator im Auftrag seines Herrn, des Desran, gehan22
delt habe. Nach einigem Zögern und Diskussionen stimmten die anderen zu. Allerdings schlief der Regulator in einem Einzelzimmer, das die ganze Nacht von Gaithnard bewacht wurde, der Dotar von allen am wenigsten traute. Sie frühstückten in der kleinen Gaststube, die genauso kärglich eingerichtet war wie die Schlafzimmer. Harten, Marakis' Führer, war schon vor Tau und Tag aufgebrochen, zurück nach Haramat. »Ich entdecke immer mehr Anzeichen, dass Lethe über besondere Fähigkeiten verfügt«, sagte Matei ohne Einleitung. Lethe schaute verwundert auf. Der Hochmeister zwinkerte ihm kurz zu und lächelte. »Welche Gaben oder Fähigkeiten das sind, weiß ich nicht«, fuhr er fort, »aber Lethe gelingt es in den letzten Tagen immer wieder, die richtigen Entscheidungen zu treffen.« »Nur Dotars Angriff habe ich nicht kommen sehen«, brummte Lethe verdrießlich. Pit schaute ihn mit einem verhaltenen Lächeln von der Seite an. Matei ignorierte die Bemerkung. Er schenkte sich selbst einen Becher süßen Met ein und fuhr fort: »Wir befinden uns hier an einem Scheideweg. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich nicht weiß, was wir tun sollen. Zu viel stürmt momentan auf uns ein. Da sind die Rätsel, die gelöst sein wollen. Die farblose Magie hat sich in den Äußeren Riffen in aller Heftigkeit gezeigt. Und die Tatsache, dass sich jetzt auch noch Dotar und Marakis in unserer Gesellschaft befinden, macht alles noch viel komplizierter. Es wird Zeit, dass der Unmagier das Heft in die Hand nimmt.« Lethe stand auf. »Aber ich weiß …« »Warte einen Moment, Junge.« Matei hob die Hand. »Du willst sicher sagen, dass du über zu wenig Wissen verfügst, auf das du deine Entscheidungen stützen kannst. Du hast vollkommen Recht. Ich habe dich betreffend keine Entscheidung gefällt, bis ich davon überzeugt war, dass du wirklich derjenige bist, von dem in den Schriften die Rede ist.« 23
Matei lachte und zeigte auf Dotar, der dem Hochmeister aufmerksam zugehört hatte. »Seltsamerweise war es der Regulator, der mich endgültig überzeugt hat.« Dotar war bass erstaunt. »Nicht Ihr persönlich, Dotar«, sagte Matei rasch, »sondern die Tatsache, dass man Euch losgeschickt hat, um den Unmagier zu töten. Wer immer den Auftrag dazu erteilt hat – innerhalb des Palastes wurde der Unmagier als große Gefahr erkannt. Was mich am meisten interessiert: Wer hat das festgestellt? Bei allem Respekt, aber dem Desran fehlen die historischen Kenntnisse, um zu einem solchen Schluss zu kommen.« Er schaute zu Llanfereit hinüber. »Es hat viele Unmagier gegeben, auch wenn sie heute kaum noch einer kennt. Doch der wahre Unmagier, der das Reich retten muss, stellt eine Gefahr für die bestehende Macht dar. Von allen Unmagiern ist Lethe der erste, den man töten wollte.« »Aber wer repräsentiert diese bestehende Macht?«, warf Marakis ein. Matei hob die Hand. »Darauf kommen wir später zurück, Marakis. Erst einmal stellt sich die Frage: Woher wusste man, dass Lethe wirklich eine Gefahr darstellt? Und wer hat das herausbekommen?« Es wurde still. Lethe starrte auf Dotar. Sein Blick begegnete dem des Regulators, jenes Mannes, der ihn über den Rand des Windturms gestoßen hätte, wenn nicht Scharfblick, der wundersame Kaiseradler, die beiden im letzten Moment getrennt hätte. Erneut stellte Lethe fest, dass von Dotar keine tatsächliche Gefahr drohte. Auch Rax hatte nicht auf die Anwesenheit des Regulators reagiert. Dass Dotar sich kühl und distanziert verhielt, war vermutlich der indoktrinierenden Ausbildung zuzuschreiben, der sich die Regulatoren unterziehen mussten. »Wer hat Euch den Auftrag erteilt?«, fragte Lethe ihn. »Er wurde natürlich vom Desran unterzeichnet«, sagte Dotar, »aber das Dekret wurde mir letzten Endes von Danker ausgehändigt. Er führte auch das Wort, als ich einbestellt wurde.« 24
Matei kam näher heran. »Wer war sonst noch anwesend?« »Der Desran und Edelfrau Isper.« Matei wandte sich von Dotar ab und verfiel in tiefes Grübeln. Llanfereit sagte: »Danker habe ich seit seinem Amtsantritt misstraut. Nach seiner Ernennung hat er sich sofort darangemacht, sich bei Edelfrau Isper einzuschmeicheln. Und bereits ein paar Jahre später war er der wichtigste Ratsherr.« Lethe fragte sich, weshalb Llanfereit so gut über das Hofleben informiert war. Soviel er wusste, war der Magier eine Art Einsiedler, der die Insel Wering, auf der er wohnte, selten verließ. Ihm kam in den Sinn, dass er eigentlich sehr wenig über diesen Zauberer wusste. Vielleicht sollte er Matei mal um Aufklärung bitten. Er langte nach einem Brot und brach ein Stück davon ab … Plötzlich spürte er ein Kribbeln im Rückgrat. Etwas nahm sein Bewusstsein ins Schlepptau, zurück in der Zeit. Erneut griff er nach dem Brot. Seine Hand tastete nach der harten braunen Kruste und brach noch einmal denselben Brocken Kruste und Teig ab. Dasselbe Stück! War er wirklich in der Zeit zurückgegangen? Ein anderer Teil seines Geistes beobachtete die Bewegung und versuchte die Struktur des Brotes zu ergründen. Der Geruch des frisch gebackenen Teigs und der würzigen Kruste stieg ihm in die Nase. Dies ist wichtig!, rief eine Stimme aus der Tiefe. Was geschieht hier? Beobachte! Dies ist wichtig, so wie es wichtig war, was der Fischer bei Süd-Ribbe tat. Lethe erinnerte sich daran, wie der Fischer ein dreieckiges Netz ausgeworfen hatte. Eine Verrichtung, die jeder Fischer von Süd-Ribbe vermutlich täglich vornahm. Als es geschah, hatte er gewusst, dass es sehr wichtig war. Aber warum? Gedanken und Erinnerungen trafen sich. Staunen. Aufkeimendes Begreifen. Eine Möglichkeit nahm deutlichere Form an. Dann löste die Vision sich auf. 25
Noch immer hielt Lethe krampfhaft das Stück Brot zwischen den Fingern. Er versuchte sich an die plötzliche Vision zu erinnern und schaute sich um, doch niemand schenkte ihm Beachtung. »Bevor wir zum Windturm gehen, müssen wir noch etwas klären«, sagte Llanfereit. Er wandte sich Dotar zu. »Was machen wir mit dem Regulator?« Niemand meldete sich zu Wort. »Ich habe eine einfache Lösung«, hörte Lethe sich schließlich selbst sagen. »Dotar ist der Krone treu. Die Krone, das sind der Desran, Edelfrau Isper und Kronprinz Marakis. Wenn Dotar Marakis gegenüber einen Eid ablegt, ihm keinen Schaden zuzufügen, sind alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Schließlich ist nichts so unerschütterlich wie der Eid eines Regulators. Das haben wir ja deutlich genug erlebt.« Doch Gaithnard hatte Einwände. »Lasst uns nichts überstürzen«, sagte er eindringlich. Er ließ den Zeigefinger über die Narbe in seinem Gesicht gleiten. »Auch ich habe einmal einem Regulator vertraut. Zu Unrecht. Dotar wird sich mehr an das halten, was der Desran ihm aufträgt. Marakis ist Kronprinz. Wer sagt …« »Halt«, sagte Dotar leise, stand auf und hob die Hand zu einer versöhnlichen Geste. Er wandte sich an Gaithnard. »Kurmer, dieser Bogsal war ein Verräter seiner Zunft. Als Ihr mit ihm gekämpft habt, war er bereits aus der Zunft ausgestoßen worden. In vielen Jahrhunderten war er die einzige Ausnahme. Wie Ihr wisst, gibt es mehr als vierhundert Regulatoren, für die ihr Eid den höchsten Stellenwert in ihrem Leben hat. Ich bin einer von ihnen. Nachdem Marakis mich jetzt davon überzeugt hat, dass der Auftrag widerrufen worden ist, hat hier niemand auch nur das Geringste von mir zu befürchten. Und noch etwas: Jene Worte, die Marakis damals in Romander-Stadt an mich gerichtet hat, haben mich zum Nachdenken gebracht.« Er drehte sich zu Lethe um. »Unmagier, ich habe einiges über Euch gelesen.« Lethe schaute Dotar überrascht an. »Als Vorbereitung auf meine Aufgabe«, fuhr der Regulator fort, »bin 26
ich die Legenden und Sagen des Reiches durchgegangen. Ich stieß auf ein Buch, in dem von dem Zauberlosen die Rede war.« Matei und Llanfereit stießen gleichzeitig einen Ruf des Erstaunens aus. Schließlich war es Llanfereit, der das Wort ergriff. »Welches Buch war das, Dotar?« »Den Titel habe ich vergessen«, sagte Dotar. »Es stammte aus der Zunftbibliothek. Ich las es, weil mein Festungsmeister mir gesagt hatte, darin würden Handgelenkschwerter und Gifte behandelt.« Llanfereit beugte sich voller Spannung dem Regulator zu. »Enthielt das Buch vielleicht auch Kapitel über bestimmte Inseln? Zum Beispiel Ynystel, Lan-Gyt, Boret und Katzinsel?« »Oder Fernion?«, ergänzte Matei. Dotar zog die Stirn kraus. »Ich glaube ja. Da wurde teilweise die Geschichte der Inseln behandelt, mit genauen Angaben über alte Bauwerke und besondere landschaftliche Kennzeichen. Dabei wurde auch der Zauberlose erwähnt.« »Es handelt sich um ›Die Inseln des Alten Bundes‹ von Bartys Lyn aus Dunkel«, sagte Matei mit glänzenden Augen. »Llanfereit und ich suchen schon seit Jahren nach diesem Werk. Bartys Lyn ist einer der wenigen Geschichtsschreiber, die die Periode vor dem Umsturz des Jahres 6393 untersucht haben. Früher befand sich auch in der Kaiserlichen Bibliothek ein Exemplar seiner Schrift, doch es ist mittlerweile unauffindbar.« »Und was noch wichtiger ist«, ergänzte Llanfereit, »der Zauberlose wird darin nicht nur nebenbei erwähnt, sondern am Ende des Buches wird die vollständige Geschichte des vorherigen Zauberlosen beschrieben.« Nachdenkliche Stille trat ein, die nur von Stander, dem Wirt, unterbrochen wurde, als dieser süßen Met einschenkte. Er erkundigte sich, ob alles wunschgerecht sei und zog sich dann wieder in die Küche zurück. »Wo ist das Buch jetzt?«, fragte Matei gespannt. Dotar starrte überlegend vor sich hin. »In der Zunftbibliothek, nehme ich an. In den Büchern befinden sich 27
Listen, aus denen hervorgeht, wer das Buch ausgeliehen hat. Damals fiel mir auf, dass es vorher offenbar nur einer gelesen hat. Aber ich weiß nicht mehr, wer es war.« »Dieses Buch ist wichtig, vielleicht sogar von entscheidender Bedeutung«, sagte Matei bestimmt. »Llanfereit und ich sind davon ausgegangen, dass es verloren ist. Es muss gefunden werden.« Er verfiel wieder in tiefes Grübeln. »Vielleicht sollte ich Tulsie bitten, danach zu suchen«, murmelte er. Kurz darauf nickte er, als hätte er seine eigene Frage beantwortet. Er schaute auf. »Marakis, ich möchte Euch gleich sprechen, unter vier Augen.« Der Kronprinz nickte. Es wurde wieder still. Lethe starrte vor sich hin, bemerkte jedoch aus dem Augenwinkel, dass Pit ihn beobachtete. »Bleibt noch die Frage, was wir mit Dotar machen«, sagte Gaithnard plötzlich. »Lethe entscheidet«, antwortete Matei sofort, als hätte er auf Gaithnards Bemerkung gewartet. Er schaute fragend zu Llanfereit hinüber, der zustimmend nickte. Erneut spürte Lethe die Verantwortung, die Matei ihm aufgebürdet hatte. Er konzentrierte sich und versuchte alle Argumente dafür und dagegen aufzuwiegen – doch praktisch im selben Moment wurde sein Geist an einen anderen Ort geleitet. Etwas rührte sich. Es war, als wäre in seinem Geist ein Wesen zum Leben erwacht. Bildfetzen flackerten auf seiner Netzhaut. Eine langsam wogende Decke, grau, grün und blau gefleckt, hoch über ihm. Tunnel, endlose Tunnel, in denen eine Präsenz – nicht sein eigener Geist – umherirrte. Er spürte etwas von der Verwirrung des Wesens, als es Lethes Anwesenheit bemerkte. Es dauerte einige Zeit, bevor ihm klar wurde, wo er sich befand, denn als mehrere Male blaugrünes Licht aufflackerte, sah er in der kurzen Kette eingefrorener Bilder den glimmenden Gang, in dem sich sein Be28
wusstsein aufhielt. In der Ferne schwoll ein Geräusch an … das im nächsten Moment mit ohrenbetäubendem Krach an ihm vorbeiraste. Es schien, als würde sein tiefstes Wesen von einem Felsbrocken zermalmt. Ein Gedanke! Wie er dahintergekommen war, wusste er nicht; ihm wurde aber klar, dass da ein Gedanke vorbeigerast war. Und das bedeutete, dass er sich im Geist eines anderen Wesens befand! Er spürte, wie sein Herz unregelmäßig zu schlagen begann. Mit seinem Geist tastete er nach seinem eigenen Körper. Nichts. Nirgends war das vertraute Gewicht seines Körpers. Nirgends die unsichtbaren Stränge, mit denen er seine Gliedmaßen lenkte, nirgends das schwere Gefühl seines Schädels. Er konnte sehen, doch ohne das dazugehörige undeutliche Empfinden, wenn die Augäpfel sich bewegten. Er sog einen Geruch ein, der ihn an ein unlängst gelöschtes Feuer denken ließ. Ein Schimmer glitt an seiner Netzhaut vorbei. Ein Schatten nistete sich in seinem Geist ein, doch es ging keine Bedrohung von ihm aus. »Besitzt du die Kraft?« Die Worte wurden geflüstert, fielen aber wie Donnerschläge auf ihn herab. Er hatte das Gefühl, er werde in die Luft und wieder zu Boden geschleudert, zerdrückt und zermahlen. Dieselbe Stimme hatte die Frage schon einmal gestellt, als sie auf dem Weg von Kurm zu den Spiegelinseln gewesen waren. Gleichzeitig stellte er fest, dass der Satz zwar als Frage formuliert war, aber bedeutend weniger nach einer Frage klang als beim ersten Mal. Wer da zu ihm sprach, wusste genau, dass er die Kraft beherrschte. Beim ersten Mal hatte es sich noch wie ein vorsichtiger Versuch angehört, doch diesmal waren die Worte von gespannter Erwartung erfüllt. Dennoch spürte Lethe, dass die Zeit für eine Reaktion noch nicht gekommen war. Er bemühte sich, wieder Gewalt über seinen Körper zubekommen. Als es ihm gelungen war, hatte er keine Ahnung, wie er das geschafft hatte.
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»… und nächste Woche können wir dann hoffentlich zurück nach Haramat.« Mateis Stimme überschnitt sich mit den letzten Fetzen von Lethes Vision. Alles in allem hatte sie nur wenige Sekunden gedauert. Lethe hatte das Gefühl gehabt, etwas Wichtiges gesehen zu haben. Im Geiste stellte er Verbindungen her; seine Sinnesorgane arbeiteten in einem Maße, wie er es noch nie erlebt hatte. Er verknüpfte die fragende Stimme mit anderen Merkmalen. Sein Verstand setzte auf unnachahmliche Weise die kleinsten Details der Persönlichkeiten seiner Reisegefährten in ein zusammenhängendes Ganzes um. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die Charaktere von Matei, Llanfereit, Pit, Gaithnard, Marakis und Dotar analysiert; er zog Schlüsse aus deren Körperhaltung und Verhalten bei wichtigen Ereignissen. Lethe staunte, wie schnell dieser Prozess sich vollzog. Zwei Namen boten sich als Kandidaten für jene Stimme an, die sich in seinem Geist gezeigt hatte. Die Implikationen waren überraschend. War das wirklich möglich? Lethe schüttelte den Kopf und stand auf. Das Ganze hatte bestenfalls zehn Sekunden gedauert. Fünf Augenpaare hielten seinen Blick gefangen. Eine dieser fünf Personen hatte ihn zum zweiten Mal in seinem Geist angesprochen. Oder war es doch jemand anders gewesen? Er nahm sich die Zeit und strich einen der beiden Namen. Unwillkürlich musste er lächeln. Jemand beantwortete das Lächeln mit einem leichten Stirnrunzeln. Lethe hob sich sein neu erworbenes Wissen für später auf. »In Haramat gehen wir dann an Bord des Kühnen Furcher der Neun Meere«, fuhr Matei fort. »Uns bleiben noch vier oder fünf Tage, um das Rätsel der Inschriften zu entschleiern. Einer der Schlüssel muss sich hier befinden, in der Umgebung des Windturms.« »Oder im Turm selbst«, murmelte Pit undeutlich. Nur Lethe hörte es. Er versuchte zu ergründen, warum Pit dies gesagt hatte, fand aber keinen Halt in seinen Gedanken. »Was geschieht mit Dotar?« Diesmal war es Llanfereit, der fragte. »Wenn man irgendjemandem trauen kann, dann Dotar«, hörte Lethe sich sagen und wunderte sich über die energische, selbstsichere 30
Stimme, die einer anderen Person zu gehören schien. »Ab sofort zählt er zu den Gefährten, ohne jede Einschränkung.« Er sah Matei zustimmend nicken, als hätte der Hochmeister nichts anderes erwartet. Pit schaute ihn prüfend an. Llanfereit, Marakis und Dotar zeigten keine sichtbare Reaktion, und Gaithnard biss sich auf die Unterlippe, schwieg aber. Lethe stand auf und sagte: »Jetzt lasst uns gehen. Die Zeit drängt, und es gibt Rätsel, die auf Entschlüsselung warten.« Erst als er merkte, wie Matei ihn amüsiert von der Seite her anschaute, wurde ihm klar, dass er sich erstmals zum Anführer des Suchtrupps aufgeschwungen hatte. Seltsamerweise empfand er dies als Niederlage.
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5 Sprondel »Über die Wirklichkeit wurde bereits sehr viel gesagt. Über die alle Rahmenbedingungen berücksichtigenden Definitionen der besten Wissenschaftler ebenso, wie über alle existierenden Abweichungen davon. Ich sehe mich zu der These gezwungen, dass die Wirklichkeit personengebunden ist. Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung davon, jeder nimmt sie anders wahr. Der Unterschied verbirgt sich in Details. Der große Cuensins sagte einmal: ›Manchmal glaube ich, mit einem Menschen tagelang über dieselbe Wirklichkeit geredet zu haben, und dann zerstört eine einzige, völlig nebensächliche Bemerkung von mir oder meinem Gesprächspartner das gesamte Gedankengebäude an Fragestellungen und Antworten. Wenn wir die Wirklichkeit zum Maßstab nehmen, wissen wir nichts.‹« Aus ›Uns fehlen Rahmen, Definitionen‹, Essay von Drug aus Dunkel Die Reisegefährten zogen direkt nach dem Frühstück los. Eine kärgliche Morgensonne stand am hellblauen Himmel. Am nördlichen Horizont sammelten sich Wolken, und der kräftige kalte Wind erinnerte sie daran, dass Winter war. Deshalb hatten sich alle fest in ihre Mäntel gepackt. Bereits von weitem schickte der Windturm den Gefährten sein mehrstimmiges Lied entgegen. Als sie näher kamen, sahen sie eine Frau auf einem mit Moos, Schnecken und Algen bedeckten Felsen sitzen. Ihre halblangen grauschwarzen Locken wurden von einem violetten Haarband zusammengehalten. Sie trug einen dunkelgrünen Man32
tel. Regungslos starrte sie aufs Meer und horchte auch nicht auf, als die Gefährten sich hörbar näherten. Irgendetwas an der Frau kam Lethe bekannt vor. War es ihre Haltung, ihre Gestalt? Sein Gedächtnis bot keine Lösung an. Llanfereit ging auf die Frau zu und sprach sie zu Lethes Erstaunen in einer unbekannten Sprache an. Die Frau murmelte etwas, das nur Llanfereit verstehen konnte, und stand auf. Ihre Jacke glitt zu Boden. Als ein grauer Vogel mit violettem Kamm und langem dunkelgrünem Schwanz in die Höhe hüpfte, wusste Lethe es wieder: Es war die Frau, die sich auch in seinem Traum in einen Vogel verwandelt hatte. Die Gefährten schienen zu überrascht, um reagieren zu können. Llanfereit bückte sich. Er wollte die Jacke aufheben, doch diese zerbröselte, als er sie berührte. Die anderen redeten aufgeregt durcheinander. Nur Lethe sah, dass Llanfereit Matei zunickte. Das ärgerte ihn ein wenig. Einerseits wollten sie, dass er das Heft in die Hand nahm, andererseits hatten sie offensichtlich Geheimnisse vor ihm. Er beschloss, Llanfereit später darauf anzusprechen. »Was war das, in des Schöpfers Namen?«, fragte Marakis, als sie sich zum Windturm begaben. »Nicht jetzt«, sagte Matei. »Eine Vermutung von Llanfereit und mir hat sich bestätigt. Es hat mit der Magie der doppelten Zeit zu tun. Heute Abend hört ihr mehr darüber. Wir sollten uns jetzt erst einmal dem Rätsel zuwenden.« Sie gingen bis kurz unterhalb des Turms weiter. »Wo fangen wir an?«, fragte Gaithnard. Niemand wusste zu antworten. Matei und Llanfereit gingen weiter und untersuchten den Eingang. Gaithnard, Marakis und Dotar blieben unschlüssig stehen. Lethe lief vor zum Turm. Pit folgte ihm. Lethe schaute an den Mauern aus Basalt und Mangit nach oben. Nirgends war etwas zu sehen, das einer Inschrift auch nur ähnelte. »Nicht hier, sondern dort, an der Kehrseite des Meeres wird die Luftbewegung beinahe gefangen vom Klang. In ihrem Schoß wohnt die Antwort«, murmelte er, wobei er die Inschrift von Ak Romat zitierte. 33
Pit, die neben ihm stand, hörte es. »Können wir sicher sein, dass der Windturm gemeint ist?«, fragte sie, trat einen Schritt vor und legte ihre Finger auf die raue Oberfläche des Basaltsteins, als könne sie auf diese Weise eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Der Wind legte sich unvermutet, und der Gesang des Windturms verstummte. Lethe schaute hoch. Ein Flackern am Rande seines Blickfelds entführte ihn für Sekunden aus der Wirklichkeit. »Natürlich muss ein Meister entscheidende Momente erkennen, sobald sie sich bieten«, sagte eine Stimme, die Lethe als die seines Lehrers Jen identifizierte. »Wenn es so weit ist, wenn es darauf ankommt, muss man die Dinge wörtlich nehmen, Lethe. Aber bedenke dabei, dass wörtlich manchmal die Umkehrung der Wirklichkeit ist.« Lethe schaute noch immer nach oben. Er wunderte sich schon nicht mehr über seine Visionen. Sein zielgerichteter Geist war bereits mit der Suche nach deren Bedeutung beschäftigt. Auf einer anderen Ebene begann er etwas von der Arbeitsweise seines Hirns zu verstehen. Alles, was er für die Lösung eines Problems benötigte, war bereits in seinem Geist gespeichert. Aber er musste noch lernen, auf dem schnellsten Weg zur Quelle, zum Kern seines Wissens zu gelangen. Auf einer wiederum anderen Ebene machte sich Verwunderung breit. Woher stammte all dieses Wissen? Natürlich hatte er auf dem Instirium viel gelernt, bevor man ihn von dort ausgestoßen und auf die Straße gesetzt hatte, doch er begriff, dass dieses Schulwissen nur einen Bruchteil seines wirklichen Wissens darstellte. Langsam bekam er auch eine Vorstellung von dem schier unerschöpflichen Reservoir, das irgendwo unterhalb der Oberfläche seines Bewusstseins schlummerte. Aus welcher Quelle konnte er schöpfen? Erhielt er Hilfe durch Llanfereit oder Matei? Darüber musste er noch einmal nachdenken. Jetzt warteten die Inschriften. Er fasste Pit an der Schulter. »Wir drehen es um«, sagte er leise. Pit schaute ihn mit großen Augen an. 34
»Wie meinst du das?« »Was sagten die Inschriften von Ak Romat? Was die Sterne zu berühren scheint, verbirgt seine Bedeutung im Schoß der ältesten Insel.« »Ja«, bestätigte Pit. »Was die Sterne zu berühren scheint … Das ist der Windturm, oder?« Matei und Llanfereit kamen zurück. Die anderen drei Gefährten verfolgten gespannt den Dialog zwischen Pit und Lethe. Schon wieder schien der Gedankenaustausch zwischen den beiden für einen Durchbruch zu sorgen. »Ja, das ist der Windturm«, sagte Lethe, »aber mir geht es um die Fortsetzung. Wir suchen es im oder ganz in der Nähe des Windturms. Man könnte glauben, dass sich etwas Wichtiges im Innern des Turms befindet.« Er wies auf das Turmhaus mit den ungleichmäßigen Öffnungen. »Da.« »Und du meinst, dem ist nicht so?«, fragte Pit stirnrunzelnd. »Was besagen die Inschriften von Ak Romat denn noch?« »Ich stolpere immer noch über einige Begriffe, die wir vielleicht noch nicht genau genug übersetzt haben«, grübelte Lethe und legte die flache Hand auf den Basaltstein, wie Pit es eben getan hatte. »Was die Sterne zu berühren scheint, verbirgt seine Bedeutung im Schoß der …«, murmelte er. Pit sagte: »Was dort oben verborgen sein sollte, befindet sich hier unten.« »In der Erde!«, sagte Lethe plötzlich laut. Er trat ein paar Schritte zurück. »Nicht hier, an der Erdoberfläche, sondern unter der Erde. Im Schoß der Erde.« Er wandte sich an Matei. »Da ist noch etwas, und das hat auch mit diesem Rätsel zu tun. Mich beschäftigt schon seit Tagen die Frage, warum das Dorf hier in der Nähe Nardelos Grotte genannt wird. Im ganzen Dorf ist nichts von einer Grotte zu sehen. War dort vielleicht früher einmal eine Grotte? Der Zugang zum Windturm kann schwerlich gemeint sein; den kann man nicht als Grotte bezeichnen. Außerdem führt er direkt in 35
den Turm. Vielleicht gibt es Dorfbewohner, die wissen, wo sich der Zugang zu einer solchen Grotte befindet … oder befunden hat.« Matei lachte. »Großartig, Lethe. Du übertriffst jetzt bereits meine kühnsten Erwartungen, und dabei sind wir erst ein paar Wochen unterwegs.« Schon wieder fühlte Lethe sich bei diesem Lob unwohl, doch er musste zugeben, dass Matei Recht hatte. In der kurzen Zeit war sehr viel mit ihm passiert. »Lasst uns erst mal auf die Suche nach einer möglichen Grotte gehen«, sagte er, mürrischer als beabsichtigt. In zwei Gruppen kämmten sie stundenlang die gesamte Umgebung des Windturms ab, ohne etwas zu finden, das auf die Existenz einer Grotte hindeutete. Als sie sich wieder am Turm trafen, schlug Matei vor, die Suche einzustellen. »Vielleicht ist es klüger, wenn wir uns im Dorf umhören«, meinte er. Alle waren einverstanden. Außerdem war es Zeit für das Mittagessen. Sie kehrten in die Herberge zurück. Das Rätsel ließ Lethe nicht los. Nach dem Essen nahm er den Wirt beiseite und fragte, wer sich mit der Geschichte des Dorfes auskenne. Stander schaute ihn befremdet an. »Wozu braucht Ihr das denn, junger Mann?« »Wir beschäftigen uns mit Ausgrabungen rund um den Windturm.« Der Wirt dachte nach. »Vielleicht solltet Ihr Euch an Weribalt halten, den alten Kapfahrer … oder an den Ausrufer Sprondel, der kann Euch alles über den Windturm erzählen. Schon von Kindesbeinen an hat der nichts anderes getan, als in der Erde rumzuwühlen.« Das kam Lethe gerade recht. »Wo finden wir diesen Sprondel?« »Er wohnt nahe am Kap Akor, nördlich vom Windturm. Nehmt den Turmpfad. Das dritte Haus gehört ihm. Um diese Zeit sitzt er auf seiner Bank draußen. Sprondel macht einen verschlossenen Eindruck, aber wenn er über seine Leidenschaft reden kann, ist er nicht zu bremsen. Auch wenn er nur Ausrufer im Dorf gewesen ist – er ist nicht 36
dumm. Ach ja, Ihr müsst ihn mit lauter Stimme ansprechen. Er ist fast taub.« Lethe bedankte sich bei Stander. »Nimm Pit mit«, schlug Matei vor. »Wir warten hier. Ich habe noch etwas mit Llanfereit zu bereden, und ich muss auch noch einen Tauber nach Romander-Stadt schicken.«
Kap Akor war eine schmale, dreißig Meter hohe Klippe, die wie ein Messer ins Meer ragte. Hundert Meter hinter dem Kap bog ein Seitenweg scharf nach Nordosten ab. An der Seeseite des Pfades stand eine baufällige Hütte mit löchrigem Dach. Auf einer farblosen Veranda, von der aus man auf den Westrand des Spiegelmeers schaute, saß ein alter Mann, bewegungslos auf einen Stock gestützt. Lethe glaubte für einen kurzen Moment, der Mann würde schlafen, doch als sie näher kamen, hob der Alte den Kopf, und zwei braune Augen unter dünnen schwarzen Brauen schauten sie aufmerksam an. »Sprondel?«, fragten Lethe und Pit beinahe gleichzeitig. Der Mann stand erstaunlich schnell auf. »Wer will das wissen?«, fragte er misstrauisch und sehr laut. »Stander, der Wirt des Fliehenden Seefischs, sagte, wir würden Euch hier finden«, antwortete Pit so freundlich sie konnte. »Was, wer?« Der Mann hielt eine Hand hinter seine Ohrmuschel. Lethe wurde ein wenig lauter. »Stander nannte Euren Namen. Wir fragten ihn, ob er jemanden kenne, der alles über den Windturm weiß.« Sprondel betrachtete sie skeptisch. Doch offensichtlich war er zufrieden mit dem, was er sah, denn er deutete auf die Bank. Lethe und Pit verstanden dies als Aufforderung, sich zu setzen. Sie ließen sich neben Sprondel nieder, der sie abwechselnd mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Ihr seid nicht von der Insel«, stellte er fest. »Ich komme aus Loh«, sagte Lethe. »Und Pit hier stammt aus Wering.« 37
Erneut nahm der Mann sie in Augenschein. »Ihr seid weit fort von zu Hause. Was wollt ihr denn wissen?« »Wir gehören zu einer Gruppe, die am Windturm Studien betreibt«, begann Pit. »Doch unsere wichtigste Frage betrifft Nardelos Grotte.« »Warum wird das Dorf so genannt?«, fuhr Lethe fort. »Soweit wir wissen, gibt es keine Grotte im Dorf oder in dessen Nähe.« Sprondels Augen begannen zu leuchten. Er legte den Stock auf die Erde und richtete sich auf, als wäre er plötzlich Jahre jünger geworden. »Die Grotte«, sagte er. »Endlich.« Er starrte zum Horizont und seufzte tief. »Die Inselbewohner hier haben sich nie die Zeit genommen, sich mit derartigen Fragen zu beschäftigen, obwohl sie gleichsam mitten auf der Geschichte wohnen. Die ganze Insel ist übersät mit Monumenten und Ruinen. Die Dorfbewohner von Nardelos Grotte leben einen Steinwurf vom Windturm entfernt, und was tun sie? Sie nehmen die Existenz dieses einmaligen Monuments einfach als gegeben hin. Sie hören die pfeifende Stimme des Turms und fragen sich nicht, was es zu bedeuten haben könnte. Auch über die Frage, warum Nardelos Grotte so heißt, haben sie noch nie nachgedacht. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der Einzige, den das interessiert.« Er stand ohne seinen Stock auf und ging mühsam ein paar Schritte. »Für Forscher seid ihr jung«, sagte er, als er sich umdrehte. »Als ich so alt war wie ihr, hatte ich die Grotte schon gefunden, ohne es zu wissen.« Lethe und Pit machten ziemlich dumme Gesichter. Als Sprondel grinste, wurde sein unregelmäßiges Gebiss sichtbar. Er schlurfte zur Bank zurück und plumpste zwischen den beiden auf die Bank. »Habt ihr gesucht?« Sie nickten gleichzeitig. »Habt ihr die Umgebung des Windturms durchkämmt? Habt ihr im Turm selbst nach Hinweisen gesucht?« Wieder nickten sie. Sprondel grinste erneut. »Ihr hättet früher zu mir kommen sollen. Ich hätte euch viel Suche38
rei ersparen können. Das Reich besteht zu mehr als drei Vierteln aus Wasser, und ihr sucht nur auf dem Land. Man läuft zur Küste, die Zehen berühren das Wasser, und dann dreht man sich um!« Er erwartete keine Antwort, schnappte sich seinen Stock, pflanzte ihn vor sich auf den Boden und legte das Kinn auf die gekreuzten Hände. »Schon mit fünfzehn konnte ich schwimmen wie eine Küstenratte. Ich tauchte tiefer als meine Freunde und blieb auch länger unter Wasser. Ich schlängelte mich zwischen den Schwärmen von Steinfischen hindurch, als wäre ich einer von ihnen. Ich suchte in den Spalten und Ritzen nach Kelpaustern. So fand ich den Zugang zur Grotte. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Es war mein Geheimnis, mein Ort.« Plötzlich schaute er verdutzt drein. »Warum erzähle ich euch das?« »Liegt die Grotte unter Wasser?«, fragte Lethe rasch, denn er befürchtete, Sprondel könne es sich anders überlegen. »Wie kommen wir hinein?« Sprondel schaute ihn von der Seite an und schüttelte den Kopf. »Der Eingang ist unter Wasser. Die Grotte selbst liegt teilweise über der Wasseroberfläche.« »Wo ist der Zugang?« »Ganz in der Nähe des Windturms natürlich. Die Grotte reicht bis unter die Fundamente des Turms. Die Wände sind voller Zeichen in einer fremden Sprache.« Lethe und Pit schauten sich an. Hatten sie die Inschriften gefunden? »Was die Sterne zu berühren scheint, verbirgt seine Bedeutung im Schoß der ältesten Insel«, murmelte Lethe. »Was hast du gesagt, Junge?«, fragte Sprondel. »Ich habe mich gefragt, ob Ihr bereit wärt, uns den Grotteneingang zu zeigen«, sagte Lethe laut. »Wir können die Zeichen vielleicht entziffern.« Sprondel schüttelte langsam den Kopf. Lethe schaute enttäuscht zu Pit hinüber. »Nein«, sagte Sprondel, »heute nicht. Gleich kommt mein Freund zu 39
Besuch, Kapfahrer Weribalt. Außerdem ist bald Hochwasser, und das macht vier Meter aus, die man tiefer tauchen muss. Aber morgen in der Frühe könnt ihr mich holen kommen. Besorgt einen Karren oder ein Pferd, denn meine Beine tragen mich nicht weiter als zwanzig Meter. Ich zeige euch den Zugang im Tausch für ein Mittagessen im Fliehenden Seefisch.«
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6 Unmagie (1) »Wer hätte je gedacht, dass nicht Magie, sondern ihr Gegenteil zum wichtigsten Element im Kampf gegen böse Mächte werden könnte? ›Ein einzigartiges Unvermögen‹, nannte Tarbyrt aus Poort, mein alter Lehrmeister, das Phänomen der Unmagie. Das war natürlich in erster Linie ironisch gemeint. Er zielte damit auf die Bezeichnung ab, welche vermuten lässt, dass diese einzigartige Person, die der Zauberlose nun einmal darstellt, etwas entbehren muss. Das ist es ja auch, was die meisten Menschen glauben, und dabei muss es sogar bleiben. Umso unauffälliger kann sich der Unmagier bewegen und verhalten, wenn es darauf ankommt. Die wahre Unmagie ist vor allem eine Gegenkraft und leitet ihre vollen Fähigkeiten daher seltsamerweise von der Zauberei her. Ich fürchte nur, dass der Düstere dahinterkommen könnte, bevor jener Zyklus der neuntausend Jahre wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt ist.« Aus ›Zweite Anleitung für die Nibuüm‹, von Randoël von Cerin Abends trafen sich die Reisegefährten in der Gaststube der Herberge. »Llanfereit und ich haben eine Menge zu erzählen«, begann Matei, als sie sich rund um den gemütlichen offenen Kamin niedergelassen hatten. »Eigentlich hätten wir das schon früher tun müssen. Wir hatten es auch vor, aber immer kam etwas dazwischen.« Er stand auf und schaute sich kurz im Zimmer um. Llanfereit holte seine lange Pfeife aus Kalksandstein hervor und begann sie mit süßlich 41
riechendem Tabak zu stopfen. Gaithnard hatte Präter, sein Schwert, aus der Scheide geholt und war damit beschäftigt, es mit Klingenfett zu putzen. Dotar, der neben ihm saß, schaute in Gedanken versunken zu. Pit und Lethe teilten sich eine kleine Bank. Marakis saß in einer Ecke und starrte vor sich hin. Der Kronprinz schien in trüber Stimmung zu sein. »Als wir uns die letzten Male unterhielten, ohne Marakis und Dotar, versuchten wir das Ziel unserer Reise festzulegen«, fuhr Matei fort. »Dass wir dieses noch nicht kannten, lag an meinem intuitiven Beschluss, uns so schnell aufzumachen. Ich werde jetzt nicht alles, was wir damals besprochen haben, für Marakis und Dotar wiederholen. Das Meiste wird im Laufe der nächsten Tage sowieso deutlich werden.« Er schaute zu Llanfereit hinüber, der den Tabak in seiner Pfeife mit einer kunstvoll verzierten Zündeldose in Brand zu setzen versuchte. Erst nach mehrmaligen Bemühungen sprang ein Funke über, und das Kraut begann zu glimmen. Als Llanfereit heftig an der Pfeife sog, flammte der Tabak kurz auf. Danach schaute der Zauberer mit fast geschlossenen Augen zu Matei, während dieser fortfuhr. »Seit dem Untergang von Nord-V'ryn hat sich die farblose Magie, soweit wir wissen, nicht mehr gezeigt. Aber das beruhigt mich keineswegs. Logischerweise müssten wir annehmen, dass jetzt Mittel-V'ryn an der Reihe ist, doch die Geschichte beweist, dass der Düstere des Nachtmeers unberechenbar ist. Genauso gut kann es auch Handera treffen.« »Der Düstere des Nachtmeers«, murmelte Gaithnard grübelnd. Er unterbrach seine Arbeit und schaute hoch. »Jeder im Reich redet ständig über den Düsteren. Eltern machen ihren Kindern damit Angst, und es gibt unzählige Redensarten, die Verdammnis und Verhängnis mit ihm gleichsetzen. Nur weiß niemand, wie er aussieht.« »Ist es denn ein Er?«, warf Pit ein. Gaithnard schaute sie erstaunt an, ging aber nicht auf ihre Bemerkung ein. »Meine Frage an Matei ist, ob Ihr mehr darüber wisst. Hat der Düstere sich schon einmal irgendjemandem gegenüber gezeigt, der die Be42
gegnung überlebt hat? Hat jemals jemand erzählen können, wie der Düstere aussieht?« Matei schüttelte den Kopf. »Soweit mir bekannt, hat jeder Mensch, der ihm oder ihr begegnet ist«, er lächelte liebenswürdig, »dies mit dem Leben bezahlen müssen.« »Außer dem Unmagier von vor neuntausend Jahren«, sagte Gaithnard. Matei zögerte und schaute zu Llanfereit. Der nahm die Pfeife aus dem Mund. »Selbst das wissen wir nicht genau. Es gibt keinerlei Schriften, die belegen, dass der Zauberlose es überlebt hat. Die Geschichtsschreibung geht mit keinem Wort auf den Kampf zwischen dem Unmagier und dem Düsteren ein.« Matei ergänzte: »Dies ist eines der Rätsel, dem Llanfereit, Pit und ich uns gegenübersahen.« Alle vermieden es, Lethe anzuschauen. »Was gedenkt der Desran zu tun?« Llanfereit fragte es leise. Lethe war davon überzeugt, dass der Zauberer die Aufmerksamkeit von der Frage ablenken wollte, welches unsichere Los Lethe erwarte. Marakis blickte auf. »Mein Vater ist ein großer Zauderer. Aber es ist denkbar, dass er einen Hilfskonvoi zu den Äußeren Riffen schickt. Er müsste jetzt über alles informiert sein, jedenfalls, wenn die Taube es bis zu Tulsie geschafft hat.« »Ein Hilfskonvoi«, sagte Gaithnard. »Aber erst nachdem das Unglück geschehen ist. Niemand scheint in der Lage zu sein, der farblosen Magie früh genug Einhalt zu gebieten.« Matei hob den Finger. »Da triffst du genau den Kern unserer Aufgabe, Gaithnard. Wir wissen es immer noch nicht ganz sicher, aber wir müssen davon ausgehen, dass Lethe der einzige Mensch im ganzen Reich ist, der dazu imstande ist.« Erneut schaute er zu Llanfereit. »Woher wir das wissen?« Matei machte eine kleine Pause. »Unsere wichtigste Quelle ist die Geschichte. Sowohl Llanfereit als auch ich haben alle möglichen Schriften ausgewertet, um dahinterzukommen, wie das vor neuntausend Jahren abgelaufen ist.« 43
Llanfereit erhob sich aus seinem Stuhl. »Ja, im Prinzip ist das unser einziger Anhaltspunkt. Vor neuntausend Jahren gelang es einem Zauberlosen, die farblose Magie zu stoppen. Wir würden aber nur allzu gerne wissen, wie das damals vonstatten gegangen ist. Wir können es uns zwar vage vorstellen, aber letztlich sind es reine Mutmaßungen.« Er sog an seiner Pfeife. Der Tabak glühte rot auf, wonach sich Rauch bildete und um den Kopf des Magiers kringelte. »Unsere größte Hoffnung aber setzen wir in den geistigen Vater der Inschriften, Randoël von Cerin.« »Randoël«, murmelte Marakis und strich sich durch sein braunes Kraushaar. »Ich habe erst kürzlich etwas über ihn gelesen.« »Erzählt«, sagte Llanfereit. »Wir wissen viel zu wenig über den alten Magienmeister. Jede kleine Information ist willkommen.« Lethe zog die Augenbrauen zusammen. Llanfereits Worte klangen, als glaube er, Randoël lebe noch. Das schien unmöglich. Marakis setzte sich aufrecht hin und schüttelte seine Niedergeschlagenheit ab. »Es war eines von Tulsies Büchern, glaube ich. So ein dicker Schinken aus dem vorigen Jahrtausend, voll mit Verweisen auf andere wissenschaftliche Abhandlungen. Den Titel habe ich nicht mehr parat, aber es war von Edelfrau Eila Vandery Betel aus Demster geschrieben.« »Ah, die Mystikerin«, sagte Llanfereit. »Ich habe viel von ihr gelesen, aber dieses Werk scheine ich nicht zu kennen. Wisst Ihr noch, was da über Randoël geschrieben stand?« Lethe fiel die Spannung in der Stimme des Magiers auf. Randoël war wichtig. Jede kleinste Information über den legendären Magienmeister konnte ihnen weiterhelfen. »Ich fand die Geschichte ziemlich eigenartig«, sagte Marakis. »Edelfrau Betel behauptet darin, Randoël sei noch am Leben.« Lethe beobachtete Llanfereit und bemerkte, dass der Zauberer auf diese letzte Äußerung keineswegs überrascht reagierte. »Das ist doch wohl eine merkwürdige Behauptung, nicht wahr?«, fuhr Marakis fort. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der neuntausend Jahre alt geworden ist. Im Übrigen stützt sie sich auf die Schriftrollen des Mystikers Algri aus Wickel, indem sie sagt, Randoël 44
habe mehrere Zeitspuren ausgesetzt. Neben den Inschriften nennt sie noch sieben andere, aber ich habe vergessen, welche das sind.« Llanfereit schaute von Marakis zu Matei. »Das bestätigt einige unserer Vermutungen. Es gibt wirklich mehrere Spuren. Aber auch wir wissen nicht genau, wie viele. Edelfrau Betel könnte durchaus Recht haben.« »Aber warum so viele Spuren?«, fragte Marakis. »Dazu habe ich eine Theorie«, sagte Matei. »Randoël war besorgt, der Düstere des Nachtmeers könne seine Pläne entdecken, und es gibt auch Hinweise, dass dies tatsächlich geschehen ist. Randoël muss sich gedacht haben, dass immer noch sechs geheime Spuren übrig bleiben, wenn eine entdeckt wird.« Lethe fiel auf, dass Matei und Llanfereit Marakis' Hinweis auswichen, Randoël wäre angeblich noch am Leben. Er hatte nicht vor, sie darauf anzusprechen, doch plötzlich hörte er sich selbst reden, als bediene sich ein anderes Bewusstsein seiner Stimme. »Wissen denn Llanfereit und Matei, ob Randoël noch lebt?« Es wurde mucksmäuschenstill. Es schien, als hoffe jeder der beiden Magier, der andere würde antworten. »Es gibt ein paar Hinweise, dass Randoël länger gelebt hat, als von den meisten Historikern angenommen wird«, sagte Matei schließlich. »Aber dass er jetzt noch leben sollte, erscheint uns eher unwahrscheinlich«, ergänzte Llanfereit. »Doch es gibt auch andere Methoden, sein Gedankengut weiterleben zu lassen.« Matei hob die Hand. »Wir wollen unser Wissen gerne mit Lethe teilen, wenn die Zeit dafür reif ist. Im Moment erscheint es uns besser, das Thema ruhen zu lassen. Viel wichtiger ist, dass wir Zeit gewinnen.« Gaithnard schaute sauer drein, doch die anderen akzeptierten Mateis Haltung. »Noch etwas«, sagte Lethe. Unwillkürlich stand er auf. »Die Frau am Windturm …« Matei und Llanfereit nickten gleichzeitig. »In den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden wird in den 45
Schriften regelmäßig über die Vogelfrau berichtet«, begann Llanfereit und zupfte an seinem langen grauen Haar. »Offenbar erscheint sie zu willkürlichen Zeitpunkten an Orten, die an sich von keinerlei Bedeutung sind. Was das betrifft, ähnelt sie ein wenig dem Propheten Gall Rybonder. Matei, Pit und ich haben die meisten ihrer Erscheinungen gesammelt und kamen zu dem Ergebnis, dass ihre Wahl von Zeit und Ort wahrscheinlich mit dem Auftreten der farblosen Magie zusammenhängt.« Lethe schaute gebannt zu, wie Llanfereit mit den Fingern herumfummelte und schließlich kleine Zöpfe in seinen Bart zu flechten begann. Er erkannte, dass der Zauberer etwas verschwieg. Zunächst wollte er es dabei belassen, dann aber siegte sein Zorn. »Ich glaube, dass es noch einiges mehr über die Vogelfrau zu berichten gibt«, sagte er, heftiger als beabsichtigt. »Ihr verschweigt etwas.« Llanfereit nahm die Pfeife aus dem Mund und schaute Lethe betroffen an. Matei lachte. »Ich habe schon mehrmals festgestellt, dass ich nur wenig vor Lethe verbergen kann, Llanfereit. Es stimmt, Lethe, wir wollen nicht alles über die Vogelfrau preisgeben. Dafür gibt es einen guten Grund, aber den werde ich dir unter vier Augen verraten.« »Sechs Augen«, sagte Llanfereit lächelnd. »Acht«, sagte Pit heiser. »Gut«, sagte Matei. »Gleich, wenn die anderen auf ihren Zimmern sind.« Es wurde still. Gaithnard beendete die Pflege seines Schwertes. »Gehen wir eigentlich richtig vor?«, fragte er. »Woanders im Reich entsteht Unruhe, und die farblose Magie zeigt ihre zerstörerische Kraft im Nordwesten, während wir nach Inschriften suchen. Wisst Ihr wirklich ganz genau, dass diese jahrtausendealten Zeichen so wichtig sind? Sollten wir nicht besser nach dem Düsteren suchen?« »Wie Llanfereit zuvor bereits sagte: Unsere Hoffnung ruht auf Randoël«, antwortete Matei. »Wir kommen langsam dahinter, dass er mehr in Bewegung gesetzt hat als nur eine Warnung mittels Inschriften und Schriften. Es ist schade, dass sich über die ganze Zeit hinweg so wenige 46
Menschen mit farbloser Magie und Randoëls Botschaften beschäftigt haben. Um der zerstörerischen Kraft der farblosen Magie mit entsprechenden Mitteln begegnen zu können, hätten wir viel mehr Informationen sammeln müssen. Das ist eine Tatsache, an der wir nicht vorbeikommen. Uns bleiben zwei Alternativen. Wir können zum Desran marschieren und alle verfügbaren Menschen zusammentrommeln, um Widerstand zu leisten. Die Frage wäre dann, wohin die Forscher und Soldaten geschickt werden sollen. Nach Nord-V'ryn? Keiner weiß doch, ob sich der Düstere des Nachtmeers dort befindet. Und wenn wir ihn ausfindig machen, wie sollen gewöhnliche Menschen dann den Kampf mit einem unfassbaren Wesen aufnehmen, das über unvorstellbare Kräfte verfügt? Mit einem Wesen, das offensichtlich immun gegen Magie ist. Ich gebe zu, dass selbst wir noch keine Ahnung haben, wie wir ihn bekämpfen sollen.« »Eine zweite Möglichkeit besteht darin«, sagte Llanfereit, »dass eine kleine Gruppe nach Randoëls Botschaften sucht. Wir können davon ausgehen, dass der Magienmeister es nicht bei Warnungen belassen hat, sondern auch Aufzeichnungen hinterlassen hat, wie es vor neuntausend Jahren gelungen ist, dem Düsteren und seiner farblosen Magie zu widerstehen. Und das sollte auch unsere hoffnungsvolle Botschaft sein. Wenn es vor neuntausend Jahren gelungen ist, kann es jetzt ebenfalls glücken.« Dotar hob die Hand. »Warum wird Randoël nicht deutlicher? Warum keine direkte Botschaft in einer seiner Spuren?« »Darauf haben wir eine Antwort«, meinte Llanfereit. »Erstens: Eine Botschaft in der Sprache von vor neuntausend Jahren könnte heute völlig falsch verstanden werden. Deshalb hat Randoël seine eigenen Schriften über die Jahrtausende hinweg von Eingeweihten in die jeweilige Sprache ihrer Zeit übertragen lassen. Und zweitens: Wie bereits gesagt, bestand Randoëls größte Sorge darin, dass der Düstere des Nachtmeers hinter die Art seiner Botschaften kommen könnte. Deshalb beschloss er, mehrere Fährten zu legen. Inschriften, Schriften und nach unserer Überzeugung mindestens zwei weitere Spuren. Soweit wir es bislang überblicken können, deuten sie alle in eine Richtung.« 47
Llanfereit zeigte auf Lethe. »Der Unmagier, der junge Mann aus Loh, den wir als Lethe Welmsson kennen. Nach Randoëls Überzeugung ist er der einzige Mensch, der zwischen dem Fortbestand des Reiches und einem Jahrhunderte oder Jahrtausende dauernden Chaos steht. Das Problem ist nur, dass Randoël notgedrungen in Rätseln spricht. Beim Entziffern der Inschriften von Ak Romat haben wir es erlebt. Andererseits scheint er sich sicher zu sein, dass der Unmagier dahinterkommt, was er meint. Und das wiederum deutet darauf hin, dass der Unmagier besondere Fähigkeiten besitzen muss.« »Weiß man denn mehr über Randoëls Zeit?«, fragte Dotar. »Was wissen Matei und Llanfereit über den Unmagier von damals?« Llanfereit seufzte. »Mein Haus auf Wering ist voll gestopft mit Büchern. Die Hälfte davon hat direkt oder indirekt mit farbloser Magie, dem Düsteren des Nachtmeers, mit Randoël oder dem Unmagier zu tun. In genau dieser Reihenfolge. Der Unmagier wird in allen Schriften nämlich kaum einmal erwähnt. Als wollte man nicht darüber reden. Anscheinend ist der Unmagier ein noch größeres Tabu als die farblose Magie. Und wir haben keine Idee, warum dem so ist.« »Das ist ja seltsam«, sagte Gaithnard, der mit lang ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl saß. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Unmagier vermutlich nicht mehr und nicht weniger als die Rettung des Reiches bedeuten kann.« Llanfereit schien durch den Waffenmeister hindurchzusehen. »Das bringt uns wie von selbst zur wichtigsten Frage.« Lethe setzte sich aufrecht hin und sagte: »Was ist Unmagie?« »Richtig, was ist Unmagie?« Llanfereit seufzte. »Matei und ich würden viel darum geben, dies in Erfahrung zu bringen. Es würde uns wahrscheinlich sehr viel Raterei und Arbeit ersparen.« »Auch über uns, die Regulatoren, wird stets geschwiegen«, sagte Dotar. »Es gibt Probleme, von denen man lieber nicht weiß, wie sie gelöst werden. Kann es nicht sein, dass die Menschen nicht wissen wollen, wie dieses wahnsinnige Problem der farblosen Magie und des Angriffs des Düsteren vor neuntausend Jahren gelöst wurde?« 48
Gaithnard zog die Stirn kraus. »Das Blut an den Händen der Regulatoren«, sagte er bedächtig. »Genau«, sagte Dotar. »Niemand will etwas darüber wissen.« In Lethes Geist rührte sich ein Schatten. Dotars Worte gaben ihm zu denken. Die Vorstellung, er könnte Recht haben, beunruhigte ihn. »Ein interessanter Gedanke«, murmelte Llanfereit, kaute auf der Unterlippe und ließ den Blick zwischen Dotar und Lethe hin und her wandern. Auch Matei hatte sich plötzlich aufgerichtet. »Ein wertvoller Beitrag zu diesem Gespräch, Dotar«, sagte der Hochmeister. Er ging zu Lethe und stellte sich hinter die Bank. Vorsichtig legte er die Hände auf Lethes Schultern. Seine Stimme war sanft und von Mitleid erfüllt. »Hast du denn inzwischen selbst eine Idee, was diese Unmagie ausmacht, Junge?« Lethe starrte vor sich hin. Angestrengt versuchte er alles zu ordnen, was er in den letzten Wochen erlebt hatte. Es gelang ihm nur teilweise. »Ich … habe Visionen«, begann er unschlüssig. »Und dann sind da diese Stimmen, die mir ungefragt Ratschläge erteilen.« Er schaute zu Matei hoch. »Die Vogelfrau habe ich schon einige Male gesehen, bevor sie hier am Windturm auftauchte. Auch Scharfblick war bereits da, bevor ich ihm in der Realität begegnete. Ich frage mich nur, ob diese Erfahrungen wirklich so außergewöhnlich oder einmalig sind. Es gibt doch auch andere Leute, die Visionen haben oder im Traum vorausblicken können.« »Was tut sich sonst noch bei dir? Was hat sich in deinem Innersten wirklich verändert, seit wir uns damals zum ersten Mal am Kap Frauentrauer begegnet sind?«, fragte Matei. Lethe dachte an die Stimme, die ihn nach der Kraft gefragt hatte. Erneut beschloss er intuitiv, nicht darüber zu reden. Stattdessen sagte er: »Ich habe es schon früher einmal gesagt, Matei. Es scheint, als wüsste ich, wenn jemand lügt. Ich wusste, dass Llanfereit eben etwas unterschlagen hat. Ich wusste, dass Bein während des Kampfes mit Gaithnard etwas Unerlaubtes im Sinn hatte. Ich wusste, dass der Seemann, 49
der Gyndwane begleitete, log. Woher ich das alles wusste? Keine Ahnung. Außerdem spüre ich manche Dinge im Voraus. Nur Dotars Angriff habe ich nicht kommen sehen.« »Trotzdem sind dies jede für sich genommen keine Fertigkeiten oder Fähigkeiten, die ich mit jener Unmagie in Verbindung bringe, die den Düsteren aufhalten könnte«, sagte Matei. Er stellte sich direkt vor Lethe und schaute ihm tief in die Augen. »Gibt es vielleicht doch noch etwas anderes?« Erneut schoss der Gedanke an die Kraft durch Lethes Kopf. Er stand kurz davor, darüber zu berichten … Eiseskälte nahm ihm den Atem. Kurz spürte er, wie er am Abgrund zwischen Leben und Tod balancierte. Seltsamerweise jagte ihm dies keinen Schrecken ein. Hinter einem Vorhang der Düsternis lauerte etwas Unbenennbares. Ein Schatten glitt heran. Gelbe Augenschlitze leuchteten in einem intensiven dunklen Fleck. Das Verwirrende war, dass Lethe unendliche Angst und zugleich etwas seltsam Beruhigendes spürte. Irgendetwas in ihm kannte dieses Wesen. »Es ist noch nicht so weit, Unmagier.« Die donnernde Stimme drang wie ein grobes Schwert in seinen Geist … Lethe kniff die Augen zusammen, ließ sich nach vorn fallen und krümmte sich laut stöhnend. Ein schwarzer Schatten zischte an seinem geistigen Auge vorbei, und sein Kopf schien zu platzen. Pit schrie auf und packte ihn an der Schulter. »Was war das?«, fragte Matei scharf. Lethe schaute zu Pit hoch, verdrehte die Augen und wurde in einen dunklen Tunnel gesogen … Sein Bewusstsein flackerte wie die Flamme einer fast heruntergebrannten Kerze. Es war egal, ob er die Augen geschlossen oder offen hielt, er sah nichts. Er sah nicht einmal das vertraute Schwarz seines Körpers. Er schwebte. Plötzlich nahm er eine flüsternde Stimme wahr, an der 50
Grenze des Hörbaren: »… denn sie ist der Rahmen. Jede Form von Zauberei ist darin gefangen. Doch nur wer mit Magie aufgewachsen ist, diese aber nicht beherrscht, hat die Möglichkeit, sie zu entwickeln. Ihr versteht …« Die Stimme verflüchtigte sich; dafür meldete sich eine andere, hellere, wie die einer Frau: »Dies ist die Leere, von der ich Euch erzählt habe. Gefährlicher als ein Sturm, denn in der Leere, die mit seinen Genossen bevölkert ist, schlummert der Düstere, und der Unbesonnene könnte ihn ungewollt wecken.« Danach trat eine so intensive Stille ein, dass darin sämtliche Geräusche zusammengepresst zu sein schienen. Eine Stille, die der Vorbote eines alles umfassenden Schreis oder eines ohrenbetäubenden Donnerschlags hätte sein können. Während das Schweigen der Umgebung und seines Geistes andauerte, überdachte Lethe, was die beiden Stimmen gesagt hatten. Die erste Stimme hatte über das Wesen der Unmagie gesprochen. Lethe wurde einiges davon klar, nur konnte er noch keinen Zusammenhang herstellen. Was die zweite Stimme gesagt hatte, war erheblich mysteriöser. Was war mit ›Leere‹ gemeint? Eine Frauenstimme kam wie ein Schatten aus dem Dunkeln. Sie redete in einer Sprache, die Lethe nicht verstand. Dennoch erreichten ihn die Worte. Irgendwo in seinem Innersten tauchte eine neue Perspektive auf. Die Vermutung, dass eine Macht existierte, die alle Ereignisse in Romander mit einem milden Lächeln betrachtete. Eine Macht, die von außen auf das Reich schaute und nur dann und wann mit einer achtlosen Gebärde eingriff wenn die Dinge in die verkehrte Richtung liefen. Eine Macht, die sich nicht für das Tun und Lassen all dieser Wesen interessierte. Eine Macht schließlich, die die farblose Magie und das Wesen, das diese unselige Erscheinung hervorrief, nicht ernst nahm. Mit Recht. Denn diese Macht konnte mit einem Fingerschnipsen die Erde erbeben lassen. Die erste Stimme überlagerte plötzlich die unverständlichen Worte der Frau: »… und so kann sich keine einzige Form der Zauberei daraus be51
freien. Das gilt also auch für farblose Magie. Doch der Düstere verfügt über andere Hilfsmittel, die für den Zauberlosen gefährlich …« Die Stimme verschwand. Diesmal bekam Lethe seine Vision in den Griff. Er verknüpfte die beiden Aussagen der Stimme, die von der Form der Unmagie gesprochen hatte. Unmagie war demnach ein Rahmen; sie war eine Art Gefängnis, aus dem keine Form der Magie entweichen konnte. Doch der Düstere wüsste sich über Umwege zu helfen, hatte die Stimme gesagt. Dies war von wesentlicher Bedeutung, aber wie konnte ihn das weiterbringen? Er verstand allmählich, nur hatte er noch nicht genug Informationen, um ganz sicher zu sein. Lethe seufzte tief und befreite sich langsam von den Bildern und Stimmen, obwohl er auch diesmal nicht wusste, wie er das eigentlich anstellte.
Pit und Matei hatten Lethe auf die Bank gelegt, da ihnen klar war, dass er eine Vision hatte. Als Lethe wieder zu sich kam, setzte er sich rasch aufrecht und lächelte in die besorgten Gesichter. »Ich weiß jetzt mehr«, sagte er und berichtete von seiner Vision. »Deine Visionen kommen nicht immer unverhofft«, sagte Matei grübelnd. »Wir reden gerade über Unmagie, und dein Geist scheint zu antworten. Vielleicht kannst du bald selbst bestimmen, wann du eine Vision haben willst. Das könnte unseren Rückstand gegenüber dem Düstern verkleinern.« Lethe schaute ihn mit wässrigen Augen an. »Ich habe nicht das Gefühl, meine Visionen im Griff zu haben.«
Kurze Zeit später verschwanden Gaithnard, Dotar und Marakis auf ihre Zimmer. 52
»Ich möchte auch bald ins Bett«, sagte Llanfereit. »Ich bin todmüde.« Er drehte sich zu Matei um. »Die Vogelfrau.« »Die Frau zeigt sich nur an bestimmten Orten«, sagte Matei. »Wir haben umfassende Forschungen angestellt, doch Pit kommt die Ehre der Entdeckung zu, dass die Frau nur an Orten erschien, die im Zusammenhang mit farbloser Magie von außerordentlicher Bedeutung sind. Pit glaubt, die Vogelfrau sei eine von Randoëls Spuren.« Pit nickte. »Ich bin sicher, dass sich der Grotteneingang an jener Stelle befindet, an der die Frau heute Morgen gesessen hat.« Lethes Miene hellte sich plötzlich auf. »Randoël! Ich glaube, ich habe soeben etwas entdeckt. Ist euch schon mal aufgefallen, dass die Buchstaben des Namens Randoël und die von Nardelo identisch sind? Es ist ein …« »… ein Anagramm«, ergänzte Pit aufgeregt. »Du hast Recht, Lethe! Seltsam, dass noch keiner darauf gekommen ist!« Matei und Llanfereit bemühten sich, ihre Überraschung nicht zu sehr zu zeigen. »Wie viele Hochmeister mögen hier während der letzten neuntausend Jahre gewesen sein, Llanfereit?«, sagte Matei mit erheblichem Respekt vor Lethes Entdeckung. »Die Lösung mancher Rätsel starrte ihnen ins Gesicht, aber sie waren anscheinend zu sehr mit ihren eigenen wichtigen Dingen beschäftigt.« »Ich habe noch eine weitere Frage«, sagte Lethe. »Warum dürfen die anderen nicht erfahren, dass die Vogelfrau nur an wichtigen Orten erscheint?« »Reine Vorsicht«, antwortete Llanfereit. »Je weniger Menschen davon wissen, desto kleiner die Gefahr, dass andere dieses Wissen missbrauchen.« Lethe nickte, war aber nicht ganz überzeugt. Llanfereit gähnte. »Ich gehe ins Bett. Der morgige Tag wird wieder anstrengend.«
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Als alle in ihre Zimmer gegangen waren und Matei sich gerade für die Nacht zurechtmachte, wurde an seine Tür geklopft. Es war Lethe. »Matei, ich habe eine Bitte.« Weiter kam Lethe nicht. Er senkte den Kopf, um den Hochmeister nicht seine Tränen sehen zu lassen. Doch Matei hatte sie längst bemerkt und fasste den Jungen an den Schultern. »Ich glaube, ich weiß, was dir zu schaffen macht, Lethe. Erzähl es mir ruhig, mit oder ohne den dazugehörigen Kummer.« Lethe schaute ihn durch einen Tränenschleier an. »Ich weiß es nicht«, sagte er heiser. »Ich musste in den letzten Tagen oft an meine Mutter und die paar Freunde denken, die ich auf Loh habe. Das kommt wohl daher, dass ich nicht an meine Zukunft zu denken wage. Mein Schicksal sieht ja wohl auch alles andere als rosig aus. Vielleicht wäre ich viel lieber der Lethe ohne die Veranlagung zum Zaubern geblieben … der Junge, der sich immer auf dem Schwind herumtrieb und nach ausgefallenen Muscheln für seine Sammlung suchte.« Matei schaute ihn schweigend an, mit einem Blick voller Mitleid. Mit dem Handrücken wischte Lethe sich die Tränen aus den Augen. »Ach, ich weiß schon, Matei, es ist mein Schicksal. Langsam akzeptiere ich es als etwas Unvermeidliches.« Er seufzte und zitterte dabei leicht. »Meine Bitte betrifft meine Mutter und meine Freunde. Die haben natürlich keine Ahnung, wie es mir geht. Wäre es möglich, dass Ihr ihnen mit einer Eurer Tauben eine Nachricht schickt?« Der Hochmeister machte ein bedenkliches Gesicht. »Hm, es kann sein, dass ich in Kürze alle meine Tiere benötige.« Er starrte eine Weile vor sich hin. Dann sagte er lächelnd: »Aber deine Bitte ist wichtig.« Er holte ein kleines Stück Papier, eine Schreibfeder und ein Tintenfass heraus. Lethe setzte sich und begann zu schreiben. Die Feder kratzte ohne zu stocken übers Papier. Als er fertig war, stand Lethe auf, umarmte Matei und verschwand wortlos auf sein Zimmer. 54
Matei schaute lange grübelnd auf die geschlossene Tür. Er wusste, dass es für Lethe schwierig war. Die sich in ihm entfaltenden Gaben – zum Beispiel sein geschärftes Beobachtungsvermögen oder seine Fähigkeit, mit Hilfe der Visionen Vorhersagen zu machen – waren natürlich angenehme Begleiterscheinungen, doch das erhob ihn noch lange nicht zum Unmagier, was immer das sein mochte. In den letzten Tagen hatte Matei allerlei Möglichkeiten bezüglich Lethes Unmagie in Erwägung gezogen. Er dachte über die Passagen nach, die er in einigen Büchern gelesen hatte. Da hatte zwar nicht viel gestanden, doch die Hinweise hatten ihn davon überzeugt, dass Lethe ein Schicksal erwartete, das man niemandem wünschte. Beunruhigende Gedanken waren das, doch seine Entschlossenheit wurde dadurch nur noch gestärkt. Traurigkeit schlich sich in seinen Blick, während er weiter auf die Tür starrte. Dann schüttelte er den Kopf, als könne er damit die dunklen Gedanken vertreiben. Er holte eine Kalktaube aus dem Käfig und band ihr das Papier um den Fuß. Dann öffnete er das Fenster, flüsterte dem Tier seinen Auftrag zu und ließ es fliegen. Die Taube flatterte davon und wurde nach wenigen Sekunden von der Dunkelheit verschluckt. Matei starrte noch lange in die stürmische Nacht. Als sein Blick durch die langsam hervorquellenden Tränen verschwommen wurde, drehte er sich um und schloss das Fenster. »Lethe, Lethe«, murmelte er, »wenn ich dir wenigstens einen Teil der Last abnehmen könnte, die du zu tragen hast!«
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7 Nardelos Grotte »Nardelos Grotte ist eines der vielen Mysterien auf den Spiegelinseln. Eine unverständliche Namensgebung für ein Dorf mit mehr als neuntausendjähriger Geschichte. Einige Mystiker und Wissenschaftler haben sich mit der Herkunft des Namens beschäftigt, doch ihre Ergebnisse führten zu keinen brauchbaren Hypothesen.« Trygbald aus Groß-Marvin in seinen ›Repliken und Prämissen zur Geschichte des Reichs von Romander‹ Am nächsten Morgen hingen wieder dunkelgraue Wolken am nördlichen Horizont. Ein Unwetter kündigte sich an. Nach dem Frühstück zogen Lethe und Pit mit einem vom Wirt geliehenen Pferdekarren los, um Sprondel abzuholen. Die anderen Reisegefährten machten sich unterdessen zum Windturm auf. Sprondel saß bereits wartend auf seiner Bank, in einen zerlumpten Pelzmantel gekleidet. Mühsam zog er sich an seinem Stock hoch und kam auf sie zugeschlurft. Lethe und Pit halfen ihm auf den Bock des Karrens. Pit sprang hinten auf die Ladefläche, während Lethe das Pferd zurückführte, am Dorf entlang zum Windturm. Die ganze Zeit schwieg Sprondel und starrte unzufrieden vor sich hin. In der Ferne war das Pfeifen des Windes im Turm schon zu hören. Als sie den Windturm erreichten, saßen die anderen im Kreis zu Füßen des Turms. Sprondel wurde herzlich begrüßt. »Ah, die Forscher«, begann er, während Pit und Lethe ihm vom Bock halfen. »Ich werde euch den Grotteneingang zeigen.« 56
Er stützte sich schwer auf seinen Stab, schlurfte zum Wasser, schaute sich misstrauisch um und begab sich dann genau an die Stelle, wo die Vogelfrau einen Tag zuvor gesessen hatte. Vorsichtig ging Sprondel noch ein paar Schritte weiter und wies auf einen Punkt hinter den niedrigen Felsen. »Geht da runter und taucht an dem Felsen entlang, der schräg im Wasser steht. Wenn dieser Felsen sich teilt, streckt sich euch ein anderer Fels entgegen. Darunter befindet sich der schlauchartige Zugang zur Grotte. Schwimmt durch den Tunnel. Zehn Meter weiter fängt die richtige Grotte an. Auf der linken Seite gibt es eine niedrige Plattform, von der ein Weg zur Grottengalerie führt. Da findet ihr dann die Zeichen.« Man hatte vereinbart, dass Lethe und Pit tauchen sollten, da sie sich als Gespann so hervorragend beim Entziffern der Zeichen erwiesen hatten. Matei gab Lethe einen wasserdichten Beutel mit, in dem eine Decke, etwas Papier, eine Schreibfeder, einige Kerzen und eine Zunderdose verstaut waren. Lethe zog seine Tunika aus. Sie suchten eine Stelle, wo sie bequem ins Wasser steigen konnten. Matei fand eine Passage zwischen den Felsen, von wo verwitterte ausgehauene Stufen zu einer Art kleinem Plateau einen Meter oberhalb des Wassers führten, höchstens zwanzig Meter von der Stelle entfernt, die Sprondel ihnen gezeigt hatte. Pit und Lethe stiegen hinab und sprangen vom Plateau ins kalte Wasser. Pit tauchte unter, während Lethe wassertretend wartete, bis sie wieder hochkam. Sie blieb lange weg, und Matei schaute sich schon besorgt zu Llanfereit um. »Macht Euch um Pit keine Gedanken«, sagte der Zauberer. »Sie ist eine echte Wasserratte.« Kurze Zeit später tauchte Pit prustend auf. »Gefunden«, rief sie und winkte Lethe. »Der Zugang liegt tiefer als vermutet, und das Wasser ist da auch ziemlich trübe.« Pit holte tief Luft und verschwand wieder unter Wasser, gefolgt von Lethe. Dieser hatte oft getaucht, zwischen dem Schwind und LohHafen, auf der Suche nach Kelpaustern und ausgefallenen Muscheln. 57
Noch immer faszinierte ihn die Unterwasserwelt. Die wehenden Wasserpflanzen und träge fächelnden Steinfischschwärme schienen die Zeit zu strecken, während er mühelos hinter Pit herschwamm. Je tiefer sie kamen, desto undurchsichtiger wurde das Wasser durch den aufgewühlten Sand des Meeresgrundes. Pit tauchte zielstrebig weiter und glitt plötzlich in eine Felsspalte hinein. Hier war der Tunnel höchstens einen Meter breit und bewachsen mit Seegras, Algen und anderen Wasserpflanzen. Während er in die Dunkelheit des Tunnels eintauchte, schoss unvermittelt ein Küstenrochen an Lethe vorbei. Er erschrak und atmete unwillkürlich Luft aus. Der Tunnel durfte jetzt nicht mehr sehr viel länger sein, denn Lethe geriet in Atemnot. Auf jeden Fall waren es mehr als die zehn Meter, von denen Sprondel gesprochen hatte. Ein grauer Fleck wurde sichtbar – die Grotte. Lethe schwamm mit kräftigen Zügen nach oben, hinter dem dunklen Punkt her, und tauchte neben Pit aus dem Wasser auf. Er schnappte nach Luft. »Vorher tiefer durchatmen«, sagte Pit keuchend. Sie schauten sich um. Von irgendwoher kam Licht, obwohl sie die Quelle nicht entdecken konnten. Es war eine niedrige, lang gezogene Grotte aus dunkelgrauem und schwarzem Gestein. Links von ihnen, wo laut Sprondel eine Plattform hätte sein müssen, befanden sich unter der Wasseroberfläche die zerbröckelten Reste eines Plateaus. Mit ein wenig Mühe stiegen sie dort an Land. In der Grotte war es kalt, und Pit fing bald zu zittern an. Lethe holte die Decke aus dem wasserdichten Beutel und legte sie ihr um die Schultern. Auch ihm war kalt, doch er glaubte es noch einige Zeit ohne Decke aushalten zu können. Ein schmaler Pfad verlief entlang des Wassers. Pit schaute hoch und wies auf zwei Schlitze, die für das Licht in der Grotte verantwortlich waren. Hinten in der Grotte beschrieb der Pfad einen scharfen Bogen und fiel nach unten ab. Als sie um die Ecke kamen, betraten sie einen dämmrigen Raum, der vom Wasser abgeschnitten war. Lethe holte eine braune Kerze aus dem Beutel und steckte sie an. Die Flamme flackerte kurz; dann stand sie aufrecht wie eine Verlängerung der Kerze. Langsam verbreitete sich das Kerzenlicht in der Grotte, die eine gleichmäßige Kuppelform besaß. Anscheinend war dies hier künstlich 58
angelegt worden, und Lethe vermutete, dass die Wände ursprünglich einst poliert gewesen waren. Die Atmosphäre nahm ihn gefangen: Die Luft fühlte sich dick und schwer an, wie in einem Grabgewölbe, und ein abgestandener Geruch nach Schimmel und jahrtausendealtem Gestein hing in der Luft. Hier also hatte sich Randoël früher aufgehalten. Der legendäre Zauberer hatte eine Botschaft hinterlassen, die neuntausend Jahre überdauert hatte. Lethe suchte nach den Zeichen. Zuerst konnte er im matten Kerzenlicht nichts entdecken, doch als er zusammen mit Pit die nächste Wand genauer untersuchte, sahen sie die ersten undeutlichen Abdrucke der Runen. Lethe reichte Pit die Kerze und entzündete eine zweite, die er in einen Spalt zwischen zwei Steinen klemmte. Dann holte er Papier und Schreibfeder hervor und machte sich daran, die Zeichen abzuschreiben. Pit ging in der Zwischenzeit die gesamte Kuppelwand entlang. »An dieser Seite gibt es eine zweite Reihe mit Zeichen. Seltsam …« Ihre Stimme hallte merkwürdig in der Kuppel wider. Lethe unterbrach seine Schreibarbeiten und ging zu ihr. »Was ist seltsam?« Pit zeigte auf die Runenzeichen, die einen Meter oberhalb der in Augenhöhe angebrachten ersten Reihe an der Wand standen. »Kleinere Zeichen«, sagte sie. »Und sie sind viel tiefer und schärfer in den Stein geschlagen.« »Sieht fast so aus, als wären sie erst später angebracht worden«, sagte Lethe erstaunt. »Meines Erachtens war es auf jeden Fall jemand anders. Die Zeichen sind auch eckiger. Schau dir nur mal dieses Zeichen für ›Düsternis‹ an. Das wird dort auch verwendet.« Er wies auf die Stelle, wo er vorher die Zeichen abgeschrieben hatte. »Aber da ist es an den Ecken viel stärker abgerundet.« Pit hielt ihre Kerze so weit wie möglich in die Höhe. Die Runen schienen im flackernden Kerzenlicht zum Leben zu erwachen. »Keine Frage, neuere Zeichen. Vielleicht stellen sie eine Ergänzung zu Randoëls Botschaft dar. Lass uns mit dem Abschreiben weitermachen. Ich halte beide Kerzen, dann kannst du dich aufs Schreiben konzentrieren.« 59
Sie machten sich an die Arbeit. Während Lethe schrieb, versuchte Pit bereits Teile der Inschriften zu entziffern. Doch es waren sehr viele Zeichen dabei, denen sie in Ak Romat nicht begegnet waren. »Das wird für uns alle harte Arbeit«, sagte sie enttäuscht. Lethe schrieb schweigend weiter. Es dauerte lange, bevor er alle Zeichen auf Papier hatte. Zusammen mit Pit überprüfte er, ob er keine Fehler gemacht hatte. Dann stopften sie die Schreibgerätschaften und die Decke in den Beutel und machten sich auf den Rückweg.
Auf dem Pfad, der vom Gervelpass nach Nardelos Grotte führte, eilte ein junger Mann in Richtung des Dorfes. Als er zwei Menschen sah, die ihm entgegenkamen, verließ er rasch den Weg und versteckte sich im Gebüsch. Geduldig wartete er, bis die beiden Reisenden außer Sichtweite waren. Er witterte in alle Richtungen. Niemand. Er betrat wieder den Weg. An der Abzweigung zum Windturm zögerte er einen Moment. Er hörte Stimmen in der Nähe des Turms und beschloss daher, zunächst die Umgebung des Dorfes zu erkunden.
Nachdem Lethe und Pit wieder an Land geklettert waren, machte sich die ganze Gruppe zum Fliehenden Seefisch auf. Pit und Lethe zogen sich trockene Kleidung an, und Sprondel wurde zu einem ausgiebigen Mittagessen eingeladen. Der alte Mann erzählte ununterbrochen von seinen Entdeckungsreisen in der Gegend. »Habt Ihr nach oben geschaut, junger Mann?«, fragte er Lethe plötzlich. Lethe schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was der Alte meinte. »In der Grotte, wo die Zeichen sind. Habt Ihr da genau über Euch in die Höhe geschaut? Habt Ihr das Loch in der Decke gesehen?« Lethe blickte den Mann überrascht an. Er hatte die ganze Grotte ab60
gesucht, nur nicht die Decke direkt über sich. Sprondel ging nicht weiter darauf ein, doch die Bemerkung ließ Lethe nicht los. Nach dem Mittagessen brachten Gaithnard und Dotar Sprondel wieder zurück. Die anderen setzten sich in der Gaststube an den großen Tisch und breiteten die Papiere vor sich aus. Lethe legte sie in die richtige Reihenfolge; dann begannen sie mit der Übersetzung. Es erwies sich als schwieriger und mühevoller als das Entziffern in Ak Romat. Es gab viele neue Wörter oder Begriffe. Und auch diesmal war keine sinnvolle Abfolge der Wörter zu entdecken. Nur die neueren, eckigen Runen schienen einen Sinn zu ergeben, auch wenn noch nicht alle Begriffe übersetzt waren. Es ging schon auf den Abend zu, als Matei aufstand und sagte: »Lasst uns erst einmal sehen, ob wir den einen Satz übersetzen können. Heute Abend können wir uns dann den Kopf über den Rest und die Reihenfolge zerbrechen. Wie nicht anders zu erwarten, ist das alles sehr rätselhaft. Randoël hat das mit voller Absicht getan. Wenn der Düstere die Inschriften entdeckt haben sollte, hat der geheimnisvolle Inhalt ihn wahrscheinlich in irgendwelche Sackgassen geführt. Es geht also wieder mal um unser aller vereinte Intelligenz gegen den Düsteren des Nachtmeers.« »Was den Satz angeht«, sagte Pit, die sich zusammen mit Lethe damit beschäftigt hatte, »bis auf fünf oder sechs Begriffe haben wir alles übersetzt. Es dürfte Euch nicht verwundern, dass eine ziemlich rätselhafte Botschaft daraus entstanden ist.« Lethe zeigte auf das Blatt Papier, auf das er und Pit die Übersetzung der Zeichen niedergeschrieben hatten. »Wir glauben, dass wir diese neuen Zeichen zeitlich haben zuordnen können. Unserer Meinung nach steht da: Die Worte (bzw. Gedanken) desjenigen, der die Spuren gelegt hat, bedürfen (bzw. streben nach) einer Ergänzung. Daraus geht unseres Erachtens eindeutig hervor, dass diese Zeichen nicht von Randoël in die Grottenwand geritzt wurden. Weiter heißt es: In dem Jahr (bzw. Zeitraum), das von dem Wesen (bzw. Menschen) Antas von den nördlichen Fyren bestimmt (bzw. regiert) wurde, wurde 61
die (unbekanntes Wort) durch die Nibuüm aus Gründen der Geheimhaltung in den Irrgarten von (unbekanntes Wort) verlegt (bzw. entfernt). Dies führte uns zu dem Jahr, in dem dieser Satz in die Wand geritzt worden sein muss. Pit kannte die Rune für ›Antas‹, sonst wären wir nie darauf gekommen. Der Name Antas aber ist unauslöschlich mit dem Katastrophenjahr 6393 verknüpft.« »Ach, Antas, die Plage von Romander«, seufzte Llanfereit. Lethe fuhr fort. »Der Betrachter (bzw. Forscher) steht vor diesen Zeichen und (unbekanntes Wort) den Himmel der Kuppel. Dort führt der Pfad (bzw. Weg) den Siegeln folgend zu den neuen Einkerbungen (bzw. Inschriften). An diesem Ort sind (unbekanntes Wort) Einkerbungen (bzw. Inschriften) angebracht, die nach (unbekanntes Wort) führen.« Lethe zeigte auf das letzte Zeichen. »Diese Botschaft scheint von jemandem unterzeichnet worden zu sein. Soweit wir wissen, ist es das Zeichen für ein D.« »Wir sind hier also noch nicht fertig«, sagte Matei seufzend. »Davon gehen wir auch aus«, meinte Pit und deutete auf die Übersetzung. »Lethe und ich leiten hieraus ab, dass es an einem anderen Ort weitere Inschriften geben muss. Und wieder wird kryptisch erklärt, wie wir dorthin gelangen können. Leider fehlen einige wichtige Wörter. Wenn wir wenigstens eines davon entziffern könnten …« »Der Betrachter steht vor diesen Zeichen«, brummte Llanfereit. »Meiner Meinung nach ist dies der Ausgangspunkt für unsere Suche. Lethe und Pit, ihr habt vor diesen Zeichen gestanden. Was sagt euch das?« »Die Lösung ist vielleicht sehr einfach«, sagte Lethe. »Was Sprondel beim Mittagessen erzählte, stimmt hervorragend mit dem überein, was hier steht. Über uns, am ›Himmel der Kuppel‹, gibt es ihm zufolge ein Loch, das zu einem Pfad oder Weg führen muss.« »Und die Siegel werden wohl Zeichen sein, die die richtige Route zeigen«, sagte Pit. »In welche Richtung, wissen wir natürlich nicht.« Matei nickte. »Ihr habt Recht, glaube ich. Das bedeutet, dass ihr noch einmal darunter müsst. Morgen in der Frühe, bei Ebbe.« 62
Dotar, der aufmerksam zugehört hatte, fragte: »Wie hoch ist die Grotte?« »Zehn Meter, schätze ich«, antwortete Lethe. »Und das Loch befindet sich am höchsten Punkt. Wie wollt Ihr da hinaufkommen?« Darauf mussten sie die Antwort schuldig bleiben. Dotar lächelte. »Ich glaube, ich kann das Problem lösen. Ich brauche ein kräftiges Seil und drei oder vier Pfähle. Im Stall der Herberge habe ich genügend Holz gesehen. Das heißt aber, dass ich Euch begleiten muss.« Er schaute die anderen Reisegefährten an. »Hat jemand Einwände?« Alle schauten auf Gaithnard, der sich früher stets misstrauisch gegenüber Dotar gezeigt hatte. Doch der Waffenmeister starrte vor sich hin und schwieg. »Dann wäre das geregelt«, sagte Matei. »Hoffentlich seid ihr nicht zu lange unterwegs. Die Zeit drängt. Ich möchte so schnell wie möglich nach Haramat zurück und dort an Bord des Kühnen Furcher gehen. Die Botschaft, die irgendwo unter der Erde verborgen liegt, scheint mir wichtiger zu sein als die älteren Zeichen. Während ihr drei unterwegs seid, werden wir versuchen, uns Klarheit darüber zu verschaffen.«
Kurz nach Mitternacht war es still und stockfinster in Nardelos Grotte. Nur das dumpfe Rauschen des Spiegelmeers war zu hören. In der Dunkelheit bewegte sich ein Schatten. Eine schlanke Person löste sich vom dunklen Hintergrund eines Hauses und schlich geräuschlos in Richtung des Fliehenden Seefisch. Als sie dicht an der Tür war, öffneten sich plötzlich quietschend die Fensterläden in einem der Zimmer auf der oberen Etage. Die Gestalt flitzte wie ein geölter Blitz um die Ecke der Herberge. Matei lehnte sich aus dem Fenster und schaute die Straße rauf und runter. »Nichts«, murmelte er. »Trotzdem bin ich mir fast sicher …« 63
Er schaute noch einmal auf die Straße. »Das will ich mir lieber genau ansehen.« Die Gestalt machte sich schnell aus dem Staub.
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8 Das Labyrinth »Das Ich ist ein nach innen gekehrtes Meer. Und ich, der Besitzer meines eigenen Ichs, habe bis in die tiefsten Tiefen meines Wesens Angst vor Wasser. Die Grenzen des Geistes wogen weit über das Blickfeld hinaus, doch erst wenn der Kern des Ichs erkannt wird – oder wieder erkannt wird; und das kann durchaus nach einer lebenslangen Suche sein –, überwinde ich vielleicht meine Angst. Und was nährt diese Angst? Das Wissen darum, dass man seine Fehler wieder erkennt.« Aus dem Vorwort zu ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Das Wesen streunte durch das Labyrinth. Zum ersten Mal seit der Rückkehr von Teilen seines Bewusstseins drang es tiefer in Bereiche ein, an die es sich nicht mehr erinnern konnte. Landschaften ungekannter Schönheit; Wesen, die es kannten und Geschöpfe, die ihm feindlich gesinnt waren, ohne dass es den Grund wusste. Manchmal hatte es das Gefühl, zu schweben. Der Umfang des Labyrinths versetzte das Wesen in Erstaunen. Es war schon sehr lange unterwegs. Als es über der fernen Ebene dunkel wurde, legte es eine Ruhepause ein. Verschwommen, irgendwo tief verschlossen im Innersten des Wesens, regte sich Unruhe. Es suchte nach etwas, und obgleich es keine Ahnung hatte, was der Gegenstand seiner Suche war und wie er aussah, wusste das Wesen, dass es die65
ses Etwas in dem Moment erkennen würde, in dem es sich zeigte. Und mittlerweile nahm seine Verwunderung zu. War dies sein Reich? Diese schier endlose Aufeinanderfolge von Gängen? Nach einiger Zeit war das Wasser nach und nach aus den Gängen verschwunden. Im Nachhinein konnte das Wesen nicht einmal mehr sagen, wann es eingesetzt hatte. Seine Verwirrung wuchs. Manchmal schien es zu verstehen. Dann wusste es plötzlich, dass es nicht in dieses endlose Netz der Gänge gehörte, sondern dass dieses Labyrinth zu ihm gehörte. Aber wenn dem so war, wo war dann das Nervenzentrum? Fühlte es sich deswegen so heimatlos? Hatte es die Herrschaft über das Labyrinth verloren, den Sitz seines Gehirns? Als es dies dachte, war da für einen Moment vollständiges Verstehen, doch wenige Sekunden später löste es sich wieder im verwirrenden Chaos der Gänge auf.
Luft! Das Wesen erinnerte sich an das Gefühl von Befreiung, das sich damit verband. Doch mit der Luft kam auch der Gestank. Ein Gestank nach Verwesung, dick und schwarz, setzte sich in die Gänge und machte das Wesen schwindlig. Es ging weiter, entschlossen, wie es immer gewesen war. Dieser letzte Gedanke überraschte es. Benommen oder nicht, es durchforstete weiterhin die Gänge, ohne anzuhalten. An einer Kreuzung kam es in einen Gang, der anders war. Einen halben Tag ging das Wesen geradeaus, ohne eine Abzweigung zu sehen. Manchmal gelangte es an eine kleine Nische, als hätte man dort einen Gang verschlossen. Ein undeutlicher Geruch drang zu ihm durch, den das Wesen nicht identifizieren konnte. Es gab keine Wörter dafür. Doch der Geruch löste Erinnerungen in ihm aus. Melancholische Sehnsucht nach einem anderen Leben nahm Besitz von seinem Gehirn. Nach langem Nachdenken beschloss es, nicht weiterzugehen. Es machte auf der Stelle kehrt und begann mit dem Rückweg. 66
Als es endlich wieder an der Kreuzung angekommen war, kostete es nur eine Sekunde, um sich für den anderen Gang zu entscheiden. Später änderte sich das Aussehen der Gänge erneut. Waren es anfangs langsam pulsierende Tunnel gewesen, deren Wände in dunkelroter und tiefblauer Feuchtigkeit geglommen hatten, so verwandelten sie sich in dem Maße, wie das Wesen tiefer in das System eindrang, mehr und mehr in glatte, glänzende Kuppeln mit flachem Untergrund aus grauem Sand. Manchmal hörte das Wesen ein Knistern, und blaue Lichtketten schossen durch die Gänge. Unlängst war ihm das Fließen der Zeit bewusst geworden, doch jetzt verlor dieses Phänomen wieder seine Bedeutung. Die Zeit, schwer greifbar in den Gängen, reihte transparente Perlen aneinander, die in seinen Gedanken dunkler wurden. Dies hatte etwas mit Begriffen zu tun, die das Wesen früher als Tag und Nacht gekannt hatte. Wieder veränderte sich das Aussehen der Gänge, die jetzt ganz langsam anstiegen. Es wurde dunkel, doch die blauen Blitze erschienen häufiger. Seine Sinnesorgane gewöhnten sich an die Dunkelheit. Es lernte die Umrisse zu deuten und wartete manchmal, bis ein Blitz kam, bevor es seinen Weg fortsetzte. Als die Dunkelheit zunahm, bemerkte das Wesen, dass da noch etwas zugegen war. Je näher es der Stelle kam, wo sich das ›Etwas‹, befand, desto langsamer bewegte es sich. Dies war nicht irgendein Etwas; ein Netzwerk von Fähigkeiten faltete sich wie eine Decke über seinen Geist. Das Wesen war sich bewusst, dass es sich dem Mittelpunkt des Labyrinths näherte. Spuren von Erinnerung drangen zu seinem Geist durch. Ein Wort hallte in seinen Gedanken wider. »IFARLE.« Während das Echo rollte, tauchte vor dem geistigen Auge des Wesens ein Umriss auf. Erkenntnisstücke fanden ihren Platz. Fragmente von Erinnerungen trafen sich und bildeten ein Flechtwerk von Bildern. Was das Wesen vorher nicht gewusst hatte, nicht hatte wissen können, wuchs zu einem riesigen Bewusstsein heran. Es war nicht vollstän67
dig; einige Lücken zeigten sich als schwarze Löcher, und durch Risse im Gewebe rannen Erkenntnisspuren davon. Doch was übrig blieb, war bereits ein größeres Wissen, als der kleine Geist des Wesens fassen konnte. Es spürte, wie sein eigener Geist und der des Labyrinths ineinander flossen. Seine Fähigkeiten wuchsen in schwindelerregendem Maße heran. Einsetzende Panik machte ihm das Denken unmöglich. Plötzlich nahm es eine Stimme wahr, die ein wortloses Lied sang. Hoch, eher schon ein Pfeifton. Farben wiegten sich im getragenen Rhythmus des Liedes. Rot, grün, blau, gelb – das Wesen erkannte die meisten Farben, doch eine stach heraus. Beinahe schien es, als verberge sich dahinter Tiefe. Am ehesten erinnerte die Farbe an eine Mischung aus Braun und Grau – ein fluktuierendes Grau, das alle Farben, die das Wesen je gekannt hatte, in sich vereinte. Jede Facette dieses Graus glitzerte wie ein reiner Mangitkern. Am Rand seines Blickfelds löste das Grau sich in ein mattes Gelb auf. Das Wesen bewegte sich weiter, von einem unbestimmten Gefühl getrieben. Gerade noch hörbar, etwas lauter als der Pfeifton, erklang eine Flüsterstimme. »IFARLE.« Wurde das Wesen gerufen? War dies sein Name? Es konnte sich nicht erinnern. Es schaute sich um. Am Ende eines langen, breiten Tunnels flackerte etwas, das wie schwarzes Licht aussah. Das Wesen bewegte sich darauf zu, angelockt durch die Neugierde. Als es die Stelle fast erreicht hatte, schwebten Fetzen der Dunkelheit aufeinander zu. Das Schwarz verdichtete sich und wirbelte um einen Kern aus bleichem Gelb. Am Rand flackerte die unwirkliche Farbe, die nahtlos überging in mangitschwarze Dunkelheit. In der Mitte des Flecks verdichtete sich das Gelb, zog sich zusammen, tröpfelte in sein Bewusstsein. Augen voller Melancholie starrten in die seinen. Ein betrübter Blick. Sein Blick! Das Wesen war ein Mensch gewesen! Der Schock dieser Erkenntnis schlug wie eine eiskalte Woge über 68
ihm zusammen. Der intensive schwarze Fleck bewegte sich weiter auf einen Mittelpunkt hin, bis alles sich zu einem kleinen pulsierenden Ball aus einer Schwärze von ungekannter Intensität zusammengezogen hatte, umgeben von einem gelben Schleier und dem Grau der unwirklichen Farbe. Es glich der Pupille in einem riesigen Augapfel. Ein Auge? War es ein Auge? Ein durchdringender Gestank stieg dem Wesen in die Nase. Scharfes Zischen ertönte hinter dem dunklen Fleck. Der Pfeifton stieg noch höher, über die Grenze des Hörvermögens hinaus. Reflexartig wich das Wesen zurück. Plötzlich flammte das gelbe Licht auf. Die dahinter befindliche Dunkelheit schoss nach vorne. Das Licht erlosch. Das Wesen spürte, wie das Etwas in der Dunkelheit es überwältigte. Eine Stimme wie ein Felsbrocken dröhnte durchs Labyrinth: »IFARLE.« Magie knirschte und knatterte durch die Gänge. Die Wände pulsierten und wogten auf das Wesen herab. Es spürte, wie das Labyrinth von allen Seiten auf es einstürzte. Im nächsten Moment war es selbst das Labyrinth. Das Auge wuchs, nahm sein gesamtes Blickfeld ein, zersplitterte und sprang es tausendfach an. Hinter seiner Netzhaut explodierte eine Kugel aus Angst. Die Scherben drangen in sämtliche Winkel seines Geistes und versuchten aus dem Irrgarten des Gehirns zu entkommen. Das Wesen spürte, wie sein Bewusstsein davonflatterte wie eine angeschossene Kalktaube. Auf der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen entdeckte das Wesen blitzartig, wer es gewesen war und was in all den Jahrtausenden aus ihm geworden war. Ein hoher, gebrochener Schrei presste sich zwischen den lange Zeit unbenutzten Stimmbändern hindurch.
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9 Die Fahnen des Desran »Es gab nur wenige Desrane, die einen einmal eingeschlagenen Weg wieder verlassen haben. Der Status eines Kaisers verlangt nach Unerschütterlichkeit. Die Untertanen müssen mit gradlinigen, sichtbaren und verständlichen Beschlüssen rechnen können, auch wenn diese manchmal gnadenlos sind. Huntar Lloi Sygunthar ist ein bekanntes Beispiel für einen Desran, der seine jahrelang verfolgte Vision gegen eine andere Linie eintauschte, die seinen alten Überzeugungen diametral entgegengesetzt war. Dazu bedurfte es allerdings einer Krise, und nicht jeder Desran stellt sich einer solchen Katastrophe, wie Sygunthar es beim Einfall der Aerganen tat.« Trygbald aus Groß-Marvin in seinen ›Repliken und Prämissen zur Geschichte des Reichs von Romander‹ Edelfrau Tulsie starrte aus dem Fenster ihrer kleinen Schreibstube in der Kaiserlichen Bibliothek. Die grünen und grauen Dächer des Jurgenviertels blinkten im Licht der Mittagssonne. Hunderte Menschen wuselten durch die schmalen Straßen und Gassen des Volksviertels. Das Ausrufen und Schreien der Händler und Kaufleute vom Markt drang zuweilen bis in die Schreibstube der Edelfrau. Vor kurzem erst hatte sie Matei eine Kalktaube geschickt. In dem kleinen Brief am rechten Fuß des Vogels stand die ausführliche Antwort auf alle Fragen des Hochmeisters und des Kronprinzen Marakis. Außerdem hatte sie in den Büchern, derer sie sich bedient hatte, etwas Besonderes gefunden, einen kryptischen Hinweis in einem Buch aus dem fünf70
undsechzigsten Jahrhundert. Nachdem sie sich einige Nächte damit beschäftigt hatte, glaubte sie den rätselhaften Text gedeutet zu haben. Die Worte verwiesen auf eine Schriftrolle, die im Grabmonument der Edelfrau Asrath aus Dunkel verborgen sein sollte. Wo sich dieses Grab befand, war nicht völlig klar. Eine ferne Küste wurde erwähnt, doch Edelfrau Tulsie wusste nicht, welche Insel damit gemeint sein könnte. Die Historikerin, die wie eine Klausnerin in der Kaiserlichen Bibliothek und deren Umgebung lebte, war fünfundzwanzig Jahre alt und unbestreitbar hübsch. Sie war eine hoch gewachsene junge Frau mit langem dunklem Haar, großen braunen Augen und hohen Wangenknochen. Nur ihre weiße Haut deutete darauf hin, dass sie einen Großteil ihres Lebens in Bibliotheken verbracht hatte. Sie trug eine grüne Jacke, die mit einem breiten Lederriemen um ihre schlanke Taille zusammengehalten wurde. Sie überflog noch einmal den Bericht von Matei und Marakis. Neben ihrer Bitte um Hinweise aus einigen Büchern hatten sie ihr auch aufgetragen, den Desran über ihre Position und ihr Vorhaben zu informieren. Sie setzte einen Ellenbogen auf den Schreibtisch, legte das Kinn in die offene Hand und seufzte tief. Xarden Lay Ypergion jagte ihr Angst ein. Dreimal war sie ihm in ihrem Leben begegnet. Ihn umgab eine Aura von Macht. Schon früh hatte sie beschlossen, sich unauffällig in ihre Bastion aus Wissen zurückzuziehen und ja nicht die Aufmerksamkeit der Hofverwaltung zu wecken – ganz sicher nicht die des Desran oder der Edelfrau Isper. Die Geschichte des Reiches war ihre Lust und ihr Leben, und sie wollte um jeden Preis verhindern, dass ihr diese Leidenschaft genommen werden konnte. Und jetzt baten, nein, forderten Matei und Marakis von ihr, so schnell wie möglich eine Audienz beim Desran zu beantragen. Sie seufzte noch einmal. Von ihrem Naturell her war sie nicht sonderlich mutig und ging jedem möglichen Problem aus dem Wege, es sei denn, es hatte mit ihrem Fachgebiet zu tun. Diese Audienz war das Letzte, was sie sich wünschte, doch es gab keinen Ausweg. Sie holte ein paar Mal tief Luft, schluckte und stand auf. 71
Hoch über seinem Reich thronte Xarden Lay Ypergion, der Desran des Reichs von Romander, in seinem Kristallturm. Er wollte allein sein. Er hatte die beiden Palastwächter in das Stockwerk unterhalb des Thronsaals geschickt, und Ratsherr Palember aus Speet hatte bereits vor einiger Zeit den Abstieg die tausendfünfhundertsechsundvierzig Stufen hinunter begonnen. Wahrscheinlich enttäuscht, denn der Mann hatte den Desran dazu überreden wollen, einige Gesetze bezüglich der Inselregionen zu ändern, doch dieser hatte nicht nachgegeben. Die Gesetze, die den Steuerzehnten und die Zuwendungen von Reichsgeldern an Städte und Dörfer betrafen, funktionierten seit Jahr und Tag. Es gab nicht den geringsten Grund, den langen Weg einer Gesetzesänderung einzuschlagen. Grübelnd betrachtete Ypergion seine Stadt, das Land und das alles umgebende Meer. Die Sonne sank bereits dem Horizont entgegen. Er seufzte, strich sich mit einer Hand über den schwarzen Spitzbart und holte dann zum x-ten Male ein Manuskript hervor. »Stimmen aus der Vergangenheit«, flüsterte er, als seine Fingerspitzen das dicke geschöpfte Papier streichelten. Ypergion mochte eigentlich keine Geschichte, doch was er in diesem Manuskript gelesen hatte, faszinierte ihn über alle Maßen. ›Die verbotene Magie‹ stand auf dem Titelblatt. Darunter waren in vertikaler Reihe fünf kunstvolle Lackrunen auf dem Blatt befestigt. Noch weiter unten stand ein Name: Dermrod aus Fernion. Den Namen kannte Ypergion: Dermrod war der berühmte Hochmeister, der im Jahre 6393 praktisch im Alleingang den Aufmarsch von Antas und dessen braunem Heer bei Ostander-Stadt zum Stehen gebracht hatte. Was ihn noch am meisten überraschte, war die Tatsache, dass die verbotene farblose Magie in diesem Manuskript eigentlich gar nicht beschrieben wurde. Neben den historischen Fakten wurde ausführlich dargelegt, welche Folgen sich daraus entwickeln konnten, doch Ursache und Wirkung wurden kaum behandelt. In dem einen Fall, wo darauf eingegangen wurde, betraf es Hypothesen – einige äußerst vage, andere glaubwürdiger. Ypergion blätterte durch das Manuskript und 72
fand schließlich die Erklärung, die er selbst für die plausibelste hielt, obgleich sie kaum als Hypothese bezeichnet werden konnte. Es war eine Behauptung von Gurfandre, einem Lehrling des Raielf. An seinen eigenen Worten gemessen musste es sich um eine außergewöhnliche Persönlichkeit gehandelt haben. Ypergion hatte festgestellt, dass der Mann ziemlich ausführlich über sein eigenes Verhalten und seine Motive berichtete, und dass er ganz bestimmt nicht frei war von Eitelkeit. Die Schlussfolgerung des Gurfandre deutete auf einen Hang zu Romantik und Mystik. Dessen ungeachtet enthielt die Geschichte etwas Authentisches, und eben das faszinierte Ypergion. Erneut las er den ersten Teil der Abhandlung: Farblose Magie kostete meinen Lehrmeister, Raielfaus Taerfandel, das Leben. Dies ist jedermann bekannt, auch wenn nur wenige genau wissen, wie er ums Leben gekommen ist. Im Zuge dieser Abhandlung werde ich mich nicht dazu äußern. Jedenfalls hat es seitdem niemand mehr gewagt, dieses Thema zu berühren. Meine Lehrlingskollegen stellten ihre Forschungen nach Raielfs Tod ein. In Kenntnis meines Meisters und eingedenk seines brillanten Geistes sowie seines an Halsstarrigkeit grenzenden Durchsetzungsvermögens fühle ich mich jedoch verpflichtet, dieses Phänomen weiter zu erforschen. In diesem Sinne betrachte ich mich als seinen Erben. Ich vertraue meine Gedanken meinem Tagebuch an, auf dass die Menschen sie vielleicht später, wenn die Zeiten ein wenig milder für das gestimmt sind, was jetzt bereits als ›verbotene Magie‹, bezeichnet wird, mit der nötigen Aufmerksamkeit lesen mögen. Ich habe mich natürlich der Aufzeichnungen meines Meisters bedient, doch auch die Forschungsergebnisse meiner Lehrlingskollegen werden in dieser Abhandlung berücksichtigt. Farblose Magie – diese Bezeichnung gibt zu denken. Farblos deutet wahrscheinlich auf den fahlen gelbgrauen Farbton hin, den infiziertes Gestein annahm, als diese Form der Zauberei sich manifestierte. Das liegt inzwischen gut achttausend Jahre zurück, und wir besitzen lediglich einige Manuskripte, in denen beschrieben wird, wie das Ganze vor sich ging. 73
Ich neige dazu, jede These oder Behauptung viele Male in Zweifel zu ziehen, bevor ich mich ganz mit ihr identifiziere. Deshalb ziehe ich auch die Bezeichnung ›farblos‹ in Zweifel. Könnte es nicht sein, dass irgendetwas Anlass für diese Namensgebung gewesen ist? Diese Frage beschäftigt mich. Mich fasziniert, dass jeder Augenzeugenbericht, den ich habe auftreiben können, im Zusammenhang mit farbloser Magie von einem hohen Ton oder einem dissonanten Pfeifen spricht. Es wären noch weitere eigenartige Dinge zu nennen, die nach Erforschung schreien, doch ich habe mich in meinen Studien auf diesen Pfeifton konzentriert. Warum? Einfach weil es mich neugierig gemacht hat. Niemand hat auch nur den kleinsten Ansatz einer Erklärung für dieses Phänomen. Raielf wusste, dass ich mich mit diesem Thema beschäftigte. Er beschwor mich, alle Aspekte der farblosen Magie zu berücksichtigen und zu erforschen, um so vielleicht irgendwann zu einer zusammenhängenden Erklärung gelangen zu können. Wie gewohnt schlug ich seinen Ratschlag in den Wind. Wohlgemerkt: Ich achtete meinen Meister sehr, ich trage ihn noch immer auf Händen, doch ich vertrat auch stets den Standpunkt, dass ein Lehrling, der bedenkenlos hinter seinem Meister hertrottet, lediglich ein Schatten seines großen Vorbilds ist. Der Pfeifton. Ich sprach mit vielen Magiern, ohne dass mir einer hätte helfen können. Ich habe in alten Schriften nach vergleichbaren Phänomenen gesucht. Anfänglich fand ich überhaupt nichts. War ich meine Suche falsch angegangen? Hatte es in der Vergangenheit keine vergleichbaren Phänomene gegeben? Oder gab es entsprechende Hinweise, ich aber suchte nach den falschen Dingen? Ich machte mich bereits mit dem Gedanken vertraut, meine Forschungsarbeit einzustellen, als ich eines Tages auf eine Erzählung stieß, notabene ein Märchen. Die Geschichte handelte von der jungen Königin eines kleinen Königreichs in den Bergen. Sie besaß eine einzigartige Fähigkeit: Sie konnte anhand des Geruchs eines Menschen vorhersagen, ob diesem ein langes Leben beschieden sei. Als ihr Land von einem Kriegsherrn erobert wurde, weigerte sie sich, diesem zu sagen, ob ihn ein langes Leben erwarte. Der Kriegsherr ließ sie gefangen nehmen, doch des74
sen Sohn verliebte sich in die Königin, befreite sie und flüchtete mit ihr in die Berge. Als ihr Versteck von den Truppen des Kriegsherrn entdeckt wurde, bereitete die Königin ihrem Leben selbst ein Ende, indem sie sich vom Gesims der Fluchtburg in eine Schlucht stürzte. Unmittelbar vor ihrer Verzweiflungstat erzählte sie ihrem Geliebten, dass auch er nur noch kurze Zeit zu leben habe. Er fragte sie, woher sie dies wisse. Ihre Antwort lautete: »Mein Geruchssinn bewegt sich außerhalb von Zeit und Raum. Es ist, als könne ich mit den Fingerspitzen einer immateriellen Hand in einer anderen Dimension etwas erspüren. Eine Ausdünstung streicht über deine Haut und nimmt Spuren deiner Zukunft mit, wie ein Windhauch. Ich rieche den Tod mit meinen imaginären Fingerspitzen.« Kurz nach ihrem Tod sprang er ihr hinterher. Diese Geschichte war in vielerlei Hinsicht seltsam. Der Name der Königin, des Kriegsherrn und dessen Sohn werden in dem Märchen nicht genannt, was für Märchenerzählungen äußerst ungewöhnlich ist. Und der Autor bezeichnete sich selbst als Randoëls Nachfahre – eine Unmöglichkeit angesichts des vorzeitigen Todes des berühmten Magienmeisters und der Tatsache, dass dieser, soweit bekannt, nie mit einer Frau zusammen war. Die Fakten und die Geschichte selbst stimmten mich nachdenklich. Ich begann mich mit den Sinnesorganen und den unerklärlichen Fähigkeiten bestimmter Menschen auseinander zu setzen. Vorläufig bin ich zu dem Schluss gekommen, dass farblose Magie etwas beinhaltet, das im Zusammenhang mit einer anderen Dimension oder einem anderen Sinnesorgan betrachtet werden muss. Mit etwas, das wir nicht sehen können, nicht hören, riechen, fühlen oder schmecken. Vielleicht vermögen es einige unter uns aber doch. Ob Letzteres nur ein von Hoffnung getragener Gedanke ist, weiß ich nicht. Ich habe diese Hypothese Wandt vorgelegt, meinem Lehrlingskollegen, dessen Urteil ich am ehesten traue. Er hatte dafür nur ein Wort übrig: Stümperei. Irgendwo hatte er vielleicht Recht, wenn man es wissenschaftlich betrachtet. Schließlich stützte meine erste Annahme sich auf ein Märchen. Dennoch bleibe ich dabei, dass meine Schlussfolgerung der Realität 75
näher kommt als die meisten anderen wilden Mutmaßungen, die ich mir in meinem Umkreis habe anhören müssen. Bin ich eigensinnig? Ganz sicher.
Anschließend ließ Gurfandre sich noch weiter über diese These aus, die eigentlich nicht mehr als ein kaum fundierter Gedanke war. Es war eine romantische Hypothese voller Ungereimtheiten, stellte der Desran fest. Andererseits: Bislang war es niemandem gelungen, auch nur ansatzweise hinter das Geheimnis der farblosen Magie zu kommen. »Das Unbekannte macht uns unverhältnismäßig große Angst«, brummte Ypergion vor sich hin. Gurfandres Hypothese basierte nun wirklich nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen. Wo Vernunft und gediegene Forschungsarbeit gefragt waren, verließ sich dieser Lehrling auf seine Eingebung. Dennoch bewirkten die Ideen dieses Mannes einen seltsamen Widerhall in Ypergions Gedanken. Es war, als habe die Sichtweise von Raielfs Lehrling tief in ihm verborgene Ängste wachgerufen. Er stand auf und ging zum kristallenen Panoramafenster, streckte die Hand aus, berührte das Kristall und hielt die Hand vor die Augen, sodass die ganze Stadt bedeckt war. Er war mächtig. Mit einer Handbewegung konnte er Tausende Menschen in den Tod schicken. Kurz bevor die Sonne sich hinter dem Horizont verkroch, zogen von Norden dicke schwarze Wolken auf. In dieser Nacht würde ein neuer Wintersturm über Romander-Stadt hinwegfegen. Ypergion liebte es, dann in seinem kleinen Thronsaal zu sitzen. Er war sich seines Hangs zu dieser Art Einsamkeit bewusst, die durch das gehetzte Lied eines Sturms in ihm hervorgerufen wurde. Der Wind würde ohrenbetäubend heulen und pfeifen. Der Turm würde sich im Wind biegen. Von Zeit zu Zeit würde sein Thronsaal durch eine unerwartete Windbö erschüttert werden, begleitet von einem Rumpeln wie bei einem lang anhaltenden Donnerschlag. Ypergions Gedanken wanderten zu seinem Sohn. Edelfrau Isper war 76
seit dem Verschwinden ihres Augapfels untröstlich. Seltsamerweise schien Danker der Edelfrau Isper nichts von Marakis' Audienz gesteckt zu haben. Das entsprach so gar nicht Ypergions Bild des Ratsherrn, den er seit kurzem mit anderen Augen sah. Sollte sein Sohn falsch liegen, und konnte man Danker doch trauen? Er schüttelte den Kopf. Nein, Danker war verdächtig. Ypergion hatte einen halben Tag damit verbracht, dessen gesamte Aktivitäten der vergangenen Wochen zu verfolgen, und alles wies darauf hin, dass der Ratsherr immer mehr Macht an sich riss. Der Desran seufzte. Er wusste, dass ihm ein Gesprächspartner fehlte. Da war niemand, mit dem er seine Vermutungen teilen konnte; niemand, an dem er seine Zweifel hätte prüfen können. Er fühlte sich ohnmächtig, nicht in der Lage, einen nachhaltigen, zielgerichteten Beschluss zu fassen. Sein Leben lang hatte er es als selbstverständlich betrachtet, dass alle Macht ihm gehörte. Doch seit einigen Tagen war er sich dessen nicht mehr sicher. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass Danker ein Machtspiel trieb. Wie stark war dessen Einfluss im Palast geworden? Und in der Armee? Dankers Aufstieg war so rasant vor sich gegangen, dass Ypergion sich sorgte. Seine Gedanken schweiften zur anstehenden Parade anlässlich des Turmtages ab. In vier Tagen würde es genau 2.808 Jahre her sein, dass der Kristallturm vollendet worden war. Die traditionelle Rede lag schon bereit, geschrieben vom Ratsherrn Tardel, doch er war unzufrieden damit. Mit keinem Wort wurde in dieser Rede die farblose Magie oder der Untergang von Nord-V'ryn erwähnt. Es war ungewöhnlich, den Text der Rede zu ändern; das war sogar gesetzlich geregelt. Die Rede wurde aufgesetzt und an sämtliche Regenten und Statthalter verteilt, sogar die Hochmeister kannten bereits die Worte, die Xarden Lay Ypergion im Sferium sprechen würde. Wenn man es recht bedachte, besaß er eigentlich nur geringe Macht. Alles verlief in Ritualen, festgeschrieben in Gesetzen und Verordnungen. Andererseits, wenn er es wirklich für notwendig erachtete, konnte er all diese formalen Regeln beiseite schieben und die gesamte Macht an sich reißen. Doch in diesem Fall wäre er der erste Desran seit Huntar Lloi Sygunthar, der davon Gebrauch machen würde. 77
Ypergion hörte ein Poltern; dann wurde vorsichtig an die Tür geklopft. »Wer ist da?«, rief er leicht verärgert. Ein Wächter streckte den Kopf zur Tür hinein, die Augen ehrerbietig niedergeschlagen. »Eure Erhabenheit, die Edelfrau Tulsie ist hier. Sie sagt, sie habe eine wichtige Nachricht. Sie besteht darauf, Euch unverzüglich zu sprechen.« Ypergion erhob sich. Was wollte die Historikerin hier? Es war schon spät. Es musste sich um einen wirklich außergewöhnlichen Bericht handeln. »So, sie besteht also darauf«, sagte der Desran. »Dann lasst sie hereinkommen.« Der Wächter zog sich zurück. Kurz darauf betrat Edelfrau Tulsie den Thronsaal. Sie rang noch immer nach Atem. Scheu erwies sie die vorgeschriebenen Reverenzen. »Tulsie aus Kammer, Eure Erhabenheit. Ich habe eine dringende Botschaft für Euch.« Der Desran betrachtete sie mit Wohlgefallen. Sie fummelte nervös mit den Fingern herum und wusste offensichtlich nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. »Sprecht«, sagte Ypergion. »Eure Erhabenheit, Nachrichten von Eurem Sohn.« Ypergion erstarrte. Über Tulsies Schulter schaute er zur Tür, doch diese war bereits wieder geschlossen. Er zog die Besucherin zur anderen Seite des Raums und bedeutete ihr, leiser zu sprechen. Dann fasste er sie überraschend an der Schulter. Seine Finger pressten sich schmerzhaft in ihr Fleisch. »Wo ist er? Geht es ihm gut?« Tulsie schaute ihn nervös an. »Eure Erhabenheit, er ist gesund und wohlauf. Er befindet sich in Gesellschaft des Hochmeisters Matei und einer Person, die der Zauberlose genannt wird. Sie werden von einigen anderen Leuten begleitet, unter ihnen der Regulator Dotar.« Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, indem sie die Arme 78
steif an den Körper presste. Ypergion ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Zurzeit befinden sie sich noch auf der westlichen der beiden Spiegelinseln. Im Verlaufe dieses Monats fahren sie zu den Äußeren Riffen«, fuhr Tulsie mit zitternder Stimme fort. »Sie segeln mit dem Kühnen Furcher von Kapitän Wigbolt.« Ypergion strich sich erneut über den Spitzbart. »Die Äußeren Riffe«, flüsterte er. »Zu der Insel, die der farblosen Magie zum Opfer gefallen ist.« Tulsie nickte, erschrak unverzüglich ob ihrer ungeziemenden Reaktion und stammelte rasch: »Ah … Eure Erhabenheit, das … stimmt wohl, glaube ich. Matei schickte mir eine Taube. Das Tier kam heute Morgen an. An seinem Fuß befanden sich zwei Briefe. Einer war versiegelt. Darauf stand Euer Name.« Sie tastete nach ihrem Gürtel und holte einen kleinen Brief heraus. Ypergion schaute kurz darauf. Dann ergriff er ihn und brach das kleine violette Hochmeistersiegel mit dem Fingernagel auf. Es war ein kurzer Bericht seines Sohnes. Marakis ging es gut, wie Tulsie bereits gesagt hatte. Der Brief endete mit einer Bitte, die Ypergion in seinem Gedächtnis bewahrte. Ypergion schaute Tulsie noch einmal an. Dann, wie durch eine plötzliche Eingebung, schob er alle Zweifel beiseite. Er beschloss, seinem Sohn, und vor allem dessen Handlungen, volles Vertrauen entgegenzubringen. Die Vertraute von Matei und Marakis sollte auch seine Vertraute sein. Ohne den Grund dafür zu kennen, war er von der Richtigkeit seines Entschlusses überzeugt. Eine Woge der Erregung überflutete ihn. Er hatte das Gefühl, etwas Heimliches zu tun. Es musste ja auch ein Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis, das er mit der Edelfrau Tulsie teilen würde, mit seinem Sohn und dessen Vertrauten. Der Desran, der seine eigene Macht untergräbt. Unwillkürlich musste er lachen. Edelfrau Tulsie schaute ihn mit großen Augen an. Ypergion zeigte auf die Bank. »Wir müssen miteinander reden, Edelfrau Tulsie. Setzt Euch zu mir. Und nennt mich ab jetzt einfach Herr oder Desran.« 79
Tulsie schaute ihren Herrn verwirrt an. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie träume. Ypergion lächelte ihr beruhigend zu. »Heute Nacht wird es stürmen, Tulsie. Hier oben ist es sehr einsam, wenn der Wind um den Turm singt. Leistet mir Gesellschaft, bis ich schlafe. Seid meine Gesprächspartnerin. Ich glaube, wir haben einander viel zu erzählen.« Er sah die Angst in ihren Augen. »Glaubt Ihr, ich wolle Euch etwas antun?«, fragte er überrascht. Edelfrau Tulsie wagte sich nicht zu rühren. Sie versuchte etwas zu sagen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Setzt Euch neben mich, Edelfrau«, sagte Ypergion sanft. »Ich möchte Euch gerne beweisen, dass Ihr von mir nichts zu befürchten habt. Und ich will mit Euch über die Parade und über meine Rede sprechen.«
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10 Der Angriff »Ich fragte Festungsmeister Kraelynk, welches sein oberstes Gesetz sei. ›Konzentration ist alles‹, antwortete er nach langem Nachdenken. ›Lasst Euch durch nichts in Eurer Konzentration stören. Dies ist das oberste Gesetz in der Zunft der Regulatoren. Lasst Euch durch keinerlei Sinnesreize ablenken, die nichts mit Eurer Aufgabe und Eurer direkten Umgebung zu tun haben. Ich habe die Konzentration der besten Regulatoren erlahmen sehen, nur weil in der Ferne ein Vogelruf ertönte. Die Folgen eines scheinbar so unwichtigen Geschehens können verheerend sein. Die nächste Frage, mein lieber Rykael, lautet natürlich: Wie konzentriert man sich? Die Antwort darauf nimmt mindestens vier Jahre in Beschlag.‹ Ich muss Festungsmeister Kraelynk offensichtlich fassungslos angeschaut haben, denn er setzte unverzüglich hinzu, er habe natürlich den Lehrgang zur Erlangung der absoluten Konzentration gemeint. Danach widmete er sich den neun Schritten zur absoluten Konzentration.« Aus ›Die Lehre der Festungszunft‹, von Festungsmeister Rykael aus Fang Das Entziffern der Runen bescherte einigen Reisegefährten eine unruhige Nacht. Die Zeichen spukten ihnen im Kopf herum, ohne dass sich Lösungen angeboten hätten. Am nächsten Morgen sammelten sie sich am Windturm. Sie hatten vier alte Seepfähle aus leichtem Makanderholz bei sich. In jedem Pfahl 81
waren zwei Löcher. Durch eines der Löcher war ein Seil gezogen, und Dotar trug noch ein zusätzliches langes Seil um die Hüfte. Lethe hatte einen wasserdichten Rucksack dabei, in den neben einer Decke, Papier, Schreibgeräten, Zunderdose und vielen Kerzen auch noch Essenssachen sowie ein kleiner Wasserbeutel verpackt waren. Obwohl nur eine schwache Brise aus Nordwesten wehte, sang der Windturm ein kräftiges Lied voller dissonanter Töne. Der Wirt des Fliehenden Seefisches hatte gemeint, dies sei ein Zeichen für aufkommendes schlechtes Wetter. »Wenn Ihr nach drei Tagen noch nicht zurück seid, kommen wir Euch nach«, sagte Matei. Kurz darauf sprangen Lethe, Pit und Dotar vom Plateau ins Wasser. Lethe und Pit schleppten jeder einen Pfahl mit sich mit, und Dotar hatte sich die beiden anderen Pfähle aufgebürdet. Sie schauten sich noch einmal zu den Gefährten um und tauchten dann unter. Es war ein gehöriges Stück Arbeit, die Pfähle unter Wasser zu bekommen, doch noch schwieriger war es, sie durch den Tunnel zu ziehen. Unmittelbar bevor Lethe in den Tunnel eintauchte, sah er neben dem Eingang einen Schemen, der rasch verschwand. Das Wasser war zu trüb, als dass er hätte erkennen können, was es gewesen war. Ein großer Fisch? Am ehesten hatte der Schemen einem Menschen geglichen. Lethe schüttelte den Gedanken von sich ab. Wahrscheinlich hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt. Er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe: Den Pfahl so schnell wie möglich durch den Tunnel zu ziehen. Mehrmals stieß das Holz gegen die Tunnelwand und bremste Lethes Geschwindigkeit. Zum Glück hatte er beim Abtauchen tiefer Luft geholt. Lethe fragte sich, wie Dotar es schaffen wollte, zwei Pfähle auf einmal mitzuschleppen. Doch als er gleichzeitig mit Pit keuchend und prustend hochkam, dauerte es höchstens zehn Sekunden, bis auch Dotar auftauchte. Der machte den Eindruck, als hätte das Ganze ihn keine Mühe gekostet. Sie zogen die Seepfähle aus dem Wasser und schleppten sie über den Pfad in den Grottenraum. Auf halbem Wege glaubte Lethe Geplät82
scher zu hören. Er drehte sich um und bemerkte am Eingang des Tunnels kleine Wellen, doch sonst war nichts zu sehen. Als sie in dem Raum angekommen waren und einige Kerzen angezündet hatten, wunderte Lethe sich, dass er das Loch in der Decke vorher nicht entdeckt hatte. Es war mindestens zwei Meter breit und eigentlich kaum zu übersehen. »Warum in der Decke?«, murmelte er vor sich hin. Dotar band die Pfähle aneinander und wickelte als Verstärkung weitere Stücke Tau um die Verbindungen. Dann zog er sein Schwert und hackte Einkerbungen in die Pfähle. Als er damit fertig war, befestigte er in der Mitte des vierteiligen Kletterpfahls einen langen Strick und begann das Ganze hochzuziehen, während Lethe und Pit von unten nachdrückten. Nach einigen Versuchen landete die Spitze des Pfahls an der Felswand des Schachtes. Sie zogen und drehten den Pfahl so lange, bis die Einkerbungen nach vorne zeigten. Mit drei leichten Knicken stand er jetzt schräg nach oben gerichtet. An die Unterseite legten sie einige schwere Steine, um ein Wegrollen zu verhindern. Dotar stellte einen Fuß auf die unterste Einkerbung und prüfte, ob alles stabil genug sei. Als dies der Fall zu sein schien, nahm er eine der Kerzen und kletterte schnell und behände nach oben. Unterwegs knöpfte er das Seil los, mit dem sie den Pfahl hochgezogen hatten, und schlang es sich um die Hüfte. »Nimm immer ein Seil mit, hat mein Festungsmeister Kamp mir stets ans Herz gelegt«, rief er hinunter. Er steckte den Kopf durch das Loch und schaute sich um. »Hier ist ein Sims«, rief er und kletterte durch die Öffnung. Pit und Lethe folgten ihm, und so standen sie bald zu dritt auf einem schmalen Sims, der die Hälfte des Kreises um das Loch beanspruchte. In der Mitte des Simses führte ein Spalt in eine Grotte oder einen Tunnel. Sie zwängten sich hindurch. Hinter dem Spalt beschrieb ein grob freigelegter Grottengang etliche scharfe Kurven. Dann standen sie am Anfang eines polierten Gangs, der kerzengerade vor ihnen verlief und außerhalb des Kerzenlichts in der Dunkelheit verschwand. Ein undeutlicher Gestank hing in der Luft, ein Geruch nach Verwesung. Feuchtigkeit tropfte die Wände hinab. Nebengänge waren nicht zu se83
hen, deshalb gingen sie geradeaus. Als sie höchstens zwanzig Schritte getan hatten, hielt Lethe plötzlich an. Er schaute sich um, da er ein Rascheln vernommen zu haben glaubte. »Ich gehe mal eben nachsehen«, sagte er leise. »Ich will sicher sein, dass wir nicht verfolgt werden.« Dotar schaute ihm erstaunt nach, doch er und Pit warteten geduldig, bis Lethe zurückkam. »Ich muss mich wohl doch getäuscht haben«, murmelte dieser. Sie beschlossen, sparsam mit ihren Kerzen umzugehen. Nur Lethe, der vorauslief, trug ein Licht. So gingen sie eine ganze Zeit lang weiter. Nirgends war eine Abzweigung zu sehen, doch in regelmäßigen Abständen waren schmale Nischen in die Wand eingelassen. Die Kerze erlosch langsam. Rasch gab Lethe sie an Dotar weiter und holte ein zweites Exemplar aus seinem Beutel. Es gelang ihm nicht sofort, sie mit der Zunderdose anzuzünden. Die erste Kerze erlosch, doch zu ihrem Erstaunen wurde es nicht völlig dunkel. Eine bläuliche Glut umhüllte Lethe. Gleichzeitig ertönte ein summendes Geräusch. Pit zeigte erschrocken auf die Scheide an Lethes Seite, in der Rax steckte. Schnell zog Lethe das Schwert aus der Scheide. Rax sang sein leises, aber falsches Lied und glühte in so kräftigem Blau auf, dass eine brennende Kerze weniger Licht verbreitet hätte. »Gefahr!«, flüsterte Pit. »Irgendwo hier in der Nähe droht tödliche Gefahr!« Lethe schaute in den Gang, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Vielleicht werden wir doch verfolgt.«
Matei, Gaithnard, Marakis und Llanfereit diskutierten noch eine ganze Weile am Windturm. Matei erzählte von seiner nächtlichen Suche, weil er jemanden unter seinem Fenster gehört zu haben glaubte. »Da war natürlich niemand«, sagte er verdrießlich. »Es wird wohl der Wind gewesen sein.« 84
Eine Stunde später frischte es auf. Am nordwestlichen Horizont zeigten sich dunkle Wolken, die Vorboten eines kräftigen Sturms. »Der Wirt hatte Recht«, sagte Gaithnard. »Sturm im Anmarsch.« »Dann lasst uns lieber in die Herberge zurückgehen«, sagte Matei. Als sie die Herberge betraten, sprach Stander sie an, der Wirt. »Habt Ihr den Mann noch getroffen?«, wollte er wissen. »Welchen Mann?«, fragte Matei erstaunt. Stander zog die Brauen hoch. »Ein junger Mann hat nach Euch gefragt, kurz nachdem Ihr zum Turm gegangen seid. Er hat sich nach dem Jungen erkundigt, der bei Euch ist, Lethe. Ich habe ihn Euch hinterhergeschickt.« Matei musste an die nächtlichen Geräusche denken. Sein Argwohn war geweckt. »Wie hieß er, und wie sah der Mann aus?« Stander zuckte die Achseln. »Er nannte sich selbst Usten of Ysten. Er kam aus Sey Dant und trug ein grünes Wams. Kennt Ihr ihn nicht?« Matei schaute die anderen an. Der Name sagte niemandem etwas. »Der Mann war ziemlich unauffällig«, sagte Stander. Plötzlich besann er sich. »Doch, seine Augenbrauen … er hatte weiße Augenbrauen, und sie waren ein wenig nachgezogen, wie Frauen es manchmal tun.« Matei zischte durch die Zähne. »Ein Regulator!«, stieß er hervor. »Sie sind uns schneller auf den Fersen, als ich gedacht hätte.« Gaithnard war mit vier großen Sätzen an der Tür und spähte nach draußen. »Niemand zu sehen«, rief er über die Schulter. »Natürlich ist da niemand zu sehen!«, fauchte Llanfereit. »Auf uns haben sie es ja auch nicht abgesehen.« Marakis holte tief Luft. »Dann ist er hinter Lethe, Pit und Dotar her«, flüsterte er mühsam. »Wir müssen ihnen nach!« Matei presste die Lippen aufeinander. 85
»Und das muss schnell geschehen. Bevor das Hochwasser kommt. Ich kann nicht mit, ich muss noch ein paar dringende Nachrichten verschicken.« Llanfereit sagte: »Außerdem müssen wir mit dem Entziffern der Runen vorankommen. Ich würde gern bei Euch bleiben, Matei. Ich würde sagen, am besten gehen Gaithnard und Marakis den dreien hinterher.« So wurde es denn auch beschlossen. Gaithnard und Marakis bekamen von Stander etwas Brot und Wasser mit und machten sich unverzüglich auf den Weg. Als sie wenig später in der Grotte standen, fanden sie dort den Kletterpfahl auf dem Boden liegend. Einer der Stricke hatte sich gelöst. Rasch behoben sie den Schaden, richteten den Pfahl auf und kletterten hinauf. »Wir haben mehr als eine Stunde Rückstand«, sagte Marakis mit düsterer Miene. »So leicht holen wir das nicht auf.«
Nachdem Lethe, Pit und Dotar wussten, dass Gefahr drohte, verhielten sie sich vorsichtiger. Pit lief vorneweg, Lethe in der Mitte, und Dotar folgte ihnen. Der Regulator hielt sein Schwert in der Hand und schaute immer wieder nach hinten. Rax glühte noch immer, obwohl die Intensität ein wenig nachgelassen hatte. Der Summton war mittlerweile abgeebbt. Je weiter sie in den Gang vordrangen, desto stärker wurde der Gestank nach Verwesung. Mit der Zeit nahm Rax' Glut immer mehr ab, bis sie schließlich ganz erlosch. Die drei atmeten auf, obwohl Lethe noch von einem leichten Gefühl der Unruhe geplagt wurde. Kurz darauf gelangten sie an eine Kreuzung. Lethe sah sich die drei Gänge an und schnüffelte. Er zeigte auf den linken Weg. »Von da kommt der Gestank.« »Aber wo entlang müssen wir?«, fragte Pit. »Wenn wir den Text einigermaßen richtig verstanden haben, müssen hier irgendwo Siegel als Markierung angebracht worden sein«, sagte Lethe. Wie einer Eingebung folgend betrat er den rechten Gang. 86
Seine Stimme sank zu einem Murmeln herab. »Man sollte doch meinen …« Er bückte sich und ließ den Zeigefinger über einen rauen Teil der Wand gleiten. Dann ging er in die Hocke und versuchte etwas zu erkennen. »Eine Rune«, sagte er begeistert. »Sollte dies das Siegel sein?« Das Zeichen war fast vollständig zerfallen. Pit setzte sich neben Lethe und untersuchte die Rune. »Ich glaube, es ist dasselbe Zeichen wie eine der Runen, die wir nicht haben entziffern können«, sagte sie. »Das würde bedeuten, dass wir diesen Gang nehmen müssen.« Sie suchten noch einmal die beiden anderen Gänge ab, fanden aber nichts. So beschlossen sie, dem rechten Gang zu folgen. Schon bald tauchten mehrere Seitengänge auf, die sie jeweils danach absuchen mussten, ob dort ein Zeichen oder Siegel angebracht war. Vorerst war das nicht der Fall. Lethe spürte, wie der Druck hinter seinen Augen zunahm. Beunruhigt holte er Rax aus der Scheide. Keine Glut. Von Seiten des Düsteren drohte keine Gefahr. »Ich habe einmal von einem umfangreichen Tunnelsystem unter den Spiegelinseln gehört«, sagte Dotar. »Ich hielt die Geschichte für übertrieben, aber sie scheint der Wirklichkeit zu entsprechen! Wenn alles stimmt, haben wir bisher erst ein kleines Stückchen davon gesehen.« Als sie sich wieder einem Seitengang näherten, ertönte plötzlich ein lang gezogener Schrei im Gang. Die drei schauten sich erschrocken an. Nachdem der Schrei verklungen war, hörten sie ein Geräusch, als würden in der Ferne Blitze einschlagen. Eine ganze Weile verharrten sie regungslos und lauschten, doch keines der Geräusche wiederholte sich. »Was war das?«, fragte Pit. Ihre Stimme bebte ein wenig. Sie erhielt keine Antwort. Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung. Die ersten Minuten liefen sie fast geräuschlos weiter, um nichts zu überhören. Alle drei schauten nach vorn, denn aus dieser Richtung waren die Geräusche gekommen. 87
Lethe wurde plötzlich von einem schweren, lähmenden Gefühl überfallen, wie schon im Windturm, kurz bevor Dotar ihn unvermutet angegriffen hatte. Unwillkürlich schaute er sich zum Regulator um … Gerade noch rechtzeitig, um einen Schatten auf Dotar zuspringen zu sehen. Lethes Hand schoss vor, und er schrie laut auf. Dotar drehte sich blitzschnell um und hob wie in einem Reflex den freien Arm vors Gesicht. Wahrscheinlich rettete ihm dies das Leben. Der Angreifer schlug Dotar das Schwert aus der anderen Hand. Klirrend fiel es zu Boden. Im gleichen Moment zischte ein Handgelenkdolch auf Dotar zu und drang tief in den Unterarm ein, direkt oberhalb des Handgelenks. Der Angreifer knurrte enttäuscht. Dotar fasste den Mann mit einer Hand am Oberarm, ließ sich mit der Bewegung des Angreifers rückwärts fallen und zog ihn zu sich heran. Gleichzeitig riss er seinen verwundeten Arm in einer schnellen Bewegung nach hinten und ließ seinen Handgelenkdolch herausspringen, während er schon zustach. In diesem Moment sah Dotar, wen er vor sich hatte. »Steyn!«, rief er. Verwirrt starrte er auf den Dolch, der sich in die Kehle des Regulator-Lehrlings gebohrt und die Halsschlagader durchtrennt hatte. Die Klinge schaute aus der Rückseite heraus. Steyns Augen traten im Todeskampf hervor, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Sein Atem stockte, während das Blut aus der Kehle sprudelte. Der Angriff und Dotars Gegenangriff hatten alles in allem zwei, vielleicht drei Sekunden gedauert. »Steyn, warum?«, flüsterte Dotar schockiert, als er den sterbenden jungen Mann auf den Boden des Gangs bettete. »Der Eid … andere … kommen …«, konnte Steyn noch hervorbringen. Dann stieß er einen seltsam gurgelnden Schrei aus, zuckte in den Schultern und starb. Pit und Lethe hatten wie versteinert zugeschaut, doch jetzt kam das Mädchen in Bewegung. Es beugte sich über Dotar und griff nach dem Arm. Erschrocken schrie es auf, so viel Blut troff aus der tiefen Stichwunde. Lethe erwachte aus seiner Lethargie, riss den linken Ärmel seines Wamses in Streifen und reichte sie Pit. Diese drehte rasch eine Kordel um Dotars Arm, dicht oberhalb der Wunde, und zog sie straff, 88
bis das Bluten aufhörte. Dann verband sie die Wunde. Dotar verzog das Gesicht. »Ich habe mich von dem Schrei ablenken lassen«, zischte er wütend. »Wo war meine absolute Konzentration? Gib es ruhig zu, Regulator, du zeigst Schwächen!« »Steyn?«, fragte Lethe. »Hieß Euer Angreifer Steyn? Kanntet Ihr ihn?« »Steyn war ein Regulator-Lehrling. Er half mir, Euch aufzuspüren. Ich kannte ihn ziemlich gut. Er war ein talentierter Lehrling. Ich habe sein Blut vergossen.« In Dotars Stimme klang eine Mischung aus Bedauern, Zorn und sogar eine Spur von Trauer mit. »Warum kam er alleine?«, fragte Lethe. Dotar lächelte, trotz der Schmerzen. »Regulatoren arbeiten vorzugsweise alleine. So bleiben sie unsichtbar, wie Schatten an der Wand. Eine Gruppe erregt Aufsehen, ganz gewiss an abgelegenen Orten wie Nardelos Grotte.« Lethe nickte verstehend. »Ihr habt uns das Leben gerettet«, sagte er. »Wir sind quitt.« Dotar schaute ihn an. Hinter seinen smaragdgrünen Augen schwelte eine Erregung, die Lethe nicht begriff. Es schien, als koche der Regulator vor zurückgehaltener Wut. »Wir müssen zurück, um Eure Wunde zu behandeln«, sagte Pit. »Davon kann keine Rede sein«, antwortete Dotar knapp und mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Das überlebe ich schon … jedenfalls, wenn Steyn kein langsam wirkendes Gift am Dolch hatte. Es ist unendlich viel wichtiger, dass wir die anderen Inschriften finden.« Er erhob sich, ohne auch nur einen Blick auf Steyn zu werfen, wankte kurz und schritt dann kräftig aus, den verletzten Arm an den Körper gepresst. Lethe und Pit erhoben sich rasch und folgten ihm. Lethe hatte noch mit mehreren Fragen zu kämpfen. Rax hatte ihn nicht vor Steyns Angriff gewarnt. Auch als Dotar ihn im Windturm überfallen hatte, hatte das Schwert dies nicht als ›böse‹ eingeordnet. 89
Dennoch hatte Rax gesungen und kurz vor Steyns Angriff heftig geglüht. Dies hatte also nicht Steyn gegolten, sondern irgendeiner anderen Existenz, irgendwo in diesem Tunnelsystem.
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11 Iarmongud'hn »Es ist einfacher, gar nicht zu glauben als daran, was heutzutage als Mythos betrachtet wird. Ja, Unglaube ist ein Synonym für das Abschotten des menschlichen Verstandes gegen die zahlreichen Spuren und Möglichkeiten, die ein Mythos beinhaltet. Ich bezeichne diesen Unglauben als pure Faulheit, Genusssucht, Mangel an Vorstellungsvermögen. Es ist ein dümmliches Verhalten, unterschiedlichste inspirierende Perspektiven zu verwerfen. Der Ungläubige braucht die Schärfe seines Verstandes nicht auszutesten. Er suhlt sich in seiner Skepsis und kritisiert aus seinem bequemen Sessel der Passivität heraus all jene, die den Mut aufbringen, ihre Vorstellungskraft arbeiten zu lassen. Glauben bedeutet in diesem Sinne: Möglichkeiten offen lassen, den Zweifel als Kraft verstehen. Ab und an findet ein Wissenschaftler heraus, dass ein Mythos mehr ist als das Romantisieren eines historischen Ereignisses oder das Mystifizieren einer Person aus ferner Vergangenheit. Dennoch tut dieser Forscher seine Entdeckung als Zufall ab, als Ausnahme, die die Regel bestätigt. In Wirklichkeit hat er natürlich nur Angst vor dem Spott seiner Fachkollegen. Nehmen wir als Beispiel die Drachen. Im gleichen Maße, wie die Erinnerung an ihre imposanten Körper, den unerträglichen Gestank ihres Atems und ihren majestätischen Flug schwindet und der Glanz ihrer kontrovers eingestuften Taten verblasst, ertönt das Hohngelächter all jener immer lauter, die die Erzählungen über die Llyme Yonch Grandhsen mit ihren leuchtenden Körpern und über deren düstere Gegenstücke, die Suikhants, als Märchen betrachten. Ich gebe zu, dass Forschung aus einer Position des Glaubens an My91
then heraus die Gefahr in sich birgt, dass zu ausgiebig mit oft romantischen Thesen und Behauptungen um sich geworfen wird, doch der Ungläubige läuft mindestens ebenso sehr Gefahr, dass seine Skepsis Spuren der Wahrheit zu Tode argumentiert. Ich weiß, ich werde nur zu oft als unwissenschaftliches Fossil betrachtet, als alter Narr. Das bin ich auch. Nur: Ich empfinde Narrheit als Ehrentitel, als gesundes Mittel gegen die extreme Skepsis, von der zu viele meiner Mitmenschen erfüllt sind. Als Gegenpol zu jener maßlosen Zurückhaltung, die Pläne für anspruchsvolle Entdeckungsreisen im Keim erstickt.« Aus ›Auszüge aus den Schriften des Cuensin, fünftes Kapitel: Der Irrtum des Ungläubigen‹, von Wirter Gylf aus Demster, datiert 6108 Dotar schien durch die Verletzung kaum beeinträchtigt zu sein. Er marschierte kräftig vorneweg, sodass Lethe und Pit sich anstrengen mussten, um mit ihm Schritt zu halten. Nach einiger Zeit kamen sie an eine Kreuzung. Geradeaus war der Gang teilweise eingestürzt. An den beiden anderen Eingängen war kein Siegel zu finden. »Ich nehme an, dass die Rune sich unter dem Schutt befindet«, sagte Pit zweifelnd. Lethe starrte in den Gang. »Wir suchen die anderen Gänge noch einmal ab«, sagte er. »Wenn wir nichts finden, bleibt uns keine Wahl, als geradeaus zugehen.« In keinem der beiden Seitengänge war ein Zeichen zu entdecken, und so betraten sie den halb eingestürzten Gang. Lethe hatte noch keine zwei Schritte getan, als er den Schwertgesang von Rax hörte. Die Waffe begann blaues Licht zu verbreiten. »Welche Gefahr es auch sein mag, sie befindet sich vor uns«, sagte Lethe düster. »Wenn wir wenigstens sicher sein könnten, dass dies der richtige Gang ist.« Er zauderte noch ein wenig und blickte über die Schulter zu Pit. 92
Das Mädchen zuckte die Achseln. Dann fasste Lethe einen Entschluss. »Wir gehen weiter. Die Vorstellung, etwas so Unfassbares wie farblose Magie aufhalten zu wollen, ohne uns in gefährliche Situationen zu begeben, ist eine Illusion.« Dotar schlängelte sich an ihnen vorbei. »Ich gehe wieder vorneweg«, sagte er. »Die Gefahr, von hinten angegriffen zu werden, ist relativ gering. Und das Schwert sagt uns, dass die Gefahr vor uns lauert.« Dieser Gang war anders; die Mauern waren weniger glatt und mit schwarzem Stein durchsetzt. An den Wänden lief das Wasser in kleinen Bächen herab. Nur der vorderste Teil des Gangs schien beschädigt zu sein und hielt die drei Gefährten ein wenig auf. Ein saurer, durchdringender Gestank wurde stärker, je weiter sie vordrangen. Lethe zog in regelmäßigen Abständen sein Schwert, um zu prüfen, ob das Licht intensiver wurde. Doch die Klinge verbreitete weiterhin nur einen fahlen blauen Schein. Der Summton war nicht mehr zu hören; stattdessen spürte Lethe ein leichtes Zittern des Schwertes. Einmal glaubte er zu hören, wie in der Ferne jemand rief, doch als er die anderen halten ließ und angespannt lauschte, hörte er lediglich das Plätschern des Wassers auf dem Boden. Er hatte den Eindruck, dass der Gang leicht nach unten abzufallen begann. Außerdem schien es dunkler zu werden. Das Licht der Kerze – inzwischen bereits der fünften – vermochte die Dunkelheit kaum zu durchdringen. Zum ersten Mal spürte Lethe so etwas wie Platzangst, weigerte sich jedoch, sich ihr auszuliefern. Dreimal kamen sie an Seitengängen vorbei, fanden aber keine Zeichen, und so gingen sie weiter geradeaus. Dotar fragte sich plötzlich laut, ob sie wohl die richtige Wahl getroffen hätten. Lethe wollte nicht zugeben, dass ihm seit geraumer Zeit ähnliche Zweifel durch den Kopf gingen. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte er bestimmt. »Wir gehen weiter.« Er wunderte sich selbst über seinen energischen Tonfall. Der Gang gabelte sich. Pit sah als Erste die Inschrift an der Wand. 93
Es war ein einziges Zeichen mit einem Pfeil darunter, der nach links wies. »Dieses Zeichen kenne ich«, sagte sie. »Es ist einer der nicht entzifferten Begriffe aus der neueren Inschrift.« Sie kramte ihre Aufzeichnungen aus Lethes Beutel hervor. »Hier: … Einkerbungen angebracht, die nach (unbekanntes Wort) führen. Das unbekannte Wort ist dasselbe wie dies hier.« »Stellt euch vor«, sagte Dotar, »dass dieses Zeichen für ›der Düstere‹ steht und als Warnung in den Stein gekerbt wurde.« »Hier ist nirgends ein Siegel zu sehen«, sagte Pit. »Dies ist das einzige Zeichen, das eine Richtung weist. Außerdem heißt es in dem Text, dass die Einkerbungen dorthin führen. Ich glaube, wir müssen genau diesen Hinweisen folgen.« Beide schauten auf Lethe. Der starrte auf einen Punkt direkt vor seinen Füßen, wo sich eine kleine Wasserpfütze bildete. Wieder war es an ihm, eine Entscheidung zu treffen, doch er spürte nichts. Absolut nichts. Eine unendliche Leere hatte sich in seinem Innern ausgebreitet. In diesem Nichts war nur das stete Fallen von Tropfen zu vernehmen, die in die kleine Pfütze fielen. Lethes Geist wurde von dem Rhythmus gefangen genommen. Sein geistiges Auge breitete sich aus, und der Grottengang verschwamm … Zuerst beherrschte Dunkelheit sein Blickfeld, doch allmählich wurde ihm klar, dass das, was er für intensives Schwarz gehalten hatte, nicht existentes grelles Licht war. Gleichzeitig stellte er fest, dass er auf mehreren Ebenen dachte und sah. Auf einer dieser Ebenen wunderte er sich über das Phänomen, war es doch erstaunlich, dass die mangitschwarze Nacht sich als strahlende Sonne erwies. Doch eine andere Ebene betrachtete dies als Selbstverständlichkeit – aus einem Wissen schöpfend, das erheblich tiefer reichte als sein eigener Geist. Eine dritte Ebene, die noch den geringsten Abstand zu ihm selbst hatte, erkannte eine Kontur in dem Weiß. Eine Form, die ihn an die Abbildungen der berühmten mythischen Drachen denken ließ, die im Instirium die Wände des Repters geziert hatten. Er erinnerte sich an sie als 94
Wesen phantastischer Proportionen, auf deren Rücken stolz, aber winzig klein die Paladinmeister gethront hatten. Lange Zeit hatte er angenommen, dass es sich um mythische Tiere handelte, bis Meister Jen eine Bemerkung hatte fallen lassen, aus der hervorging, dass diese Wesen tatsächlich existiert hätten. Langsam schälte sich die Gestalt des Tieres aus dem Licht. Oder wich das Licht nur zurück? Er selbst stand auf einer vorspringenden Felskante, während Nebelschwaden an ihm vorüberzogen. Der Drache schwebte direkt über dem Wasser, wobei er den Körper im Vergleich zum majestätischen Schwung seiner Flügel ungelenk bewegte. Lethe sah die Schuppen glänzen, als wäre das Tier soeben aus dem Wasser aufgetaucht. Das Glitzern blendete so sehr, dass Lethe die Augen schließen musste. Auf dem schwarzen Tuch seiner Netzhaut sah er die faustdicken Schuppen als dunkle Rindenstücke eines riesigen Baumes. Erst jetzt entdeckte er die makellos geschliffenen Edelsteine auf jeder Schuppe. Er öffnete die Augen. In dem Bruchteil der Sekunde, bevor er geblendet wurde, sah er die schwarzen Facetten der Edelsteine am ganzen Körper des Drachen leuchten. Edelsteine! Darüber hatte er früher einmal etwas in einem Märchen gelesen. Jeder hatte geglaubt, die Geschichten über die mit Edelsteinen besetzten schuppigen Körper der Drachen seien reine Erfindung. Doch wenn diese Vision die Realität widerspiegelte, gab es die mit Edelsteinen übersäten Körper wirklich! In diesem Moment registrierte er zum ersten Mal, dass sich alles um ein Vielfaches verlangsamt vor seinem geistigen Auge abspielte. Das Schwingen der riesigen Flügel klang wie das Grollen eines Gewitters. Jedes Mal, wenn der Flügel den höchsten Punkt erreichte und zur Abwärtsbewegung überwechselte, ertönte ein lang gezogener Knall. Die graubraunen Augäpfel – so groß wie das gefüllte Segel einer Fischerkaravelle – betrachteten ihn unter dunkelgrünen Augenkämmen. Der Kopf des Drachen senkte sich und kam gleichzeitig auf Lethe zu. Ein großer Edelstein, mitten auf dem Haupt, war einen Moment länger zu sehen. Dann überstrahlte das Licht wieder alles. Erschreckt taumelte Lethe zurück und merkte, dass er selbst nicht in die Zeitverzögerung einbezogen war. Die Angst, die sich anfangs wie das Wasser eines eiskal95
ten Bachs in seine Adern geschlichen hatte, wurde gemildert. Lethe stellte fest, dass das Tier mindestens die Ausmaße eines Doppelfockschoners haben musste. Nein, es war viel größer. Eigentlich war es ein Wunder, dass dieses Geschöpf sich aus eigener Kraft in der Luft halten konnte. Und da war noch etwas: Das Tier war angefüllt mit Magie, und diese Kraft konzentrierte sich in den Edelsteinen. Der Drache unterbrach Lethes Gedankengänge und überrumpelte dessen Geist, als wäre es ein Kinderspiel. »Iarmongud'hn, ilsey qort yrmuin!« Lang gedehnte Worte dröhnten in Lethes geistigen Gehörgängen. In der Realität hätte die Gewalt der Stimme Lethe möglicherweise getötet, so überwältigend war das Getöse. Es war wie ein brüllender Sturm, der sich auf sein gesamtes Wesen warf. Sein Bewusstsein wurde in einen Strudel der Dunkelheit gezogen. Nur Lethes Innerstes, sein Kern, ließ sich nicht vereinnahmen. Wütend hämmerte Iarmongud'hn an die Abwehrmauern um Lethes Kern. Dies führte zu nichts, und nach einiger Zeit beruhigte sich das Wesen. »Iarmongud'hn! Ayi tube?« Lethe kannte die Sprache nicht. Dennoch verstand er, dass das Tier seinen eigenen Namen nannte, Iarmongud'hn, und ihn nach seinem fragte. »Gebt nie euren Namen preis, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist«, hatte Meister Jen ihnen einst eingebläut. »Manche Wesen ergreifen von euch Besitz, wenn sie euren Namen kennen.« Doch Iarmongud'hn forderte den Namen, und Lethe konnte sich nicht dagegen wehren. »Lethe.« Er flüsterte es beinahe, doch es toste wie eine Sturmbö in seinen Ohren. Die Folgen seiner Namensnennung waren erschreckend. Von einem Moment zum anderen war Iarmongud'hn aus seinen Gedanken verschwunden. Das Maul der Kreatur öffnete sich. Das Tier stieß einen wilden Schrei aus, in dem Lethe auch so etwas wie Todesangst zu vernehmen glaubte. Anschließend schüttelte sich das Tier und glitt, plötzlich nicht mehr der Zeitverzögerung unterworfen, zur Wasseroberfläche. Dort schlug es wütend mit dem Schwanz aufs Wasser, das Dutzende 96
Meter hoch in alle Richtungen spritzte, tauchte in die dadurch entstandene Vertiefung zwischen zwei Wellen und verschwand in der zischenden und brodelnden Schwärze. Die Vision verflachte. Dunkelheit machte sich breit. Langsam flossen die dunklen Farben der Grottenwand auf Lethes Netzhaut zusammen. »Iarmongud'hn«, flüsterte er. »Was war?«, fragte Pit beunruhigt. »Hattest du eine Vision?« Lethe schaute sie mit stumpfem Blick an. Dann nickte er. Dotar zeigte auf Rax. »Während deiner Vision hörten wir das Schwert singen. Sogar in der Scheide leuchtete es ungewöhnlich grell auf.« Lethe starrte ins Nichts. »Dann war Iarmongud'hn also ein böses Wesen«, stellte er nüchtern fest. Er berichtete den beiden Gefährten von seiner Begegnung mit dem Drachenwesen. »Es hatte Angst vor deinem Namen«, sagte Pit. »Wahrscheinlich hat es dich als den Unmagier erkannt.« Atemlose Stille setzte ein. »Kann es nicht der Düstere selbst gewesen sein?« Lethe schüttelte entschieden den Kopf, obwohl er keinen Beweis für das Gegenteil hatte. »Wir müssen da entlang«, sagte er plötzlich und wies in die Richtung des Pfeils. Pit und Dotar akzeptierten diese Aufforderung. Der Regulator ging wieder vorneweg. Der Gang fiel tatsächlich leicht ab. Der Felsboden verschwand; Sand trat an seine Stelle. Eine halbe Stunde lang tauchte kein Seitengang auf. Der Sand hier war nass. »Wir befinden uns auf Meereshöhe«, sagte Pit. »Was sollen wir tun, wenn das Wasser steigt?« Bevor jemand antworten konnte, gelangten sie an eine Kreuzung. Dotar entdeckte das Siegel sofort im linken Gang. Sie hatten noch keine drei Schritte getan, als sie auf eine roh bearbeitete Treppe stießen. 97
»Wer hat diese Gänge eigentlich angelegt?«, fragte sich Dotar, als er den Fuß auf die erste Stufe setzte. Dieselbe Frage war Lethe und Pit durch den Kopf gegangen. Nach zehn Stufen betraten sie einen kuppelförmigen Raum, der ein wenig an Nardelos Grotte erinnerte. Nur war der Raum selbst hier viel größer, und die Wände waren schwarz poliert. In der Mitte gähnte ein großes rundes Loch von ungefähr fünfundzwanzig Metern im Durchmesser, umgeben von einem Rand aus grauem Mangit. Lethe ging darauf zu, beugte sich über den Rand und hielt die Kerze hinein. Fünf Meter unter sich sah er den schwarzen Wasserspiegel. Unwillkürlich musste er an das Loch in Ak Romat denken. Auch hier vermischte sich der schwere Erdgeruch mit dem sauren Gestank der Verwesung. Dennoch spürte Lethe keine Angst. In Ak Romat hatte er sofort gefühlt, dass ihn dort ein Wesen beobachtet hatte; hier aber war nichts. Alles atmete die Atmosphäre langer Verlassenheit aus. Das Schwert begann wieder zu singen. »Rax!«, zischte Dotar. Lethe zog das Schwert aus der Scheide. Grelles blaues Licht breitete sich im Raum aus. Lethe war überrascht. Die Gefahr konnte nicht aus dem Loch kommen, aber woher sonst? Er schaute sich um, während Dotar sein Schwert ergriff und Pit ein Zeichen gab, dasselbe zu tun. Die beiden stellten sich mit dem Rücken aneinander. Die Kerze in Lethes Hand erlosch von einem Moment zum anderen; gleichzeitig wurde Rax' Glühen zu einem schwachen Blau, und der Gesang verstummte abrupt. Ein Geräusch wie ein Gong dröhnte durch den Raum. Der Laut kam aus der Tiefe der Erde und hatte eine seltsame Wirkung auf Lethe. Er sah und spürte, wie der Boden sich wölbte, dann absackte und anschließend mit schaukelnden Bewegungen wieder in seine Ausgangslage zurückkehrte. Zunächst geschah nichts. Dann leuchtete ganz allmählich eine lange Reihe rot glühender Runen an der schwarzen Kuppelwand auf. Lethe war sich ziemlich sicher, dass diese Zeichen vorher nicht dort gestanden hatten. Was war das? Eine Sinnestäuschung? Magie? Hatte er, ohne es zu wissen, eine Vision? Letzteres erschien ihm unwahrschein98
lich. Pit und Dotar standen noch immer neben ihm. Beide starrten mit großen Augen auf die glühenden Runen. Das war alles. Eine Zeit lang starrten sie auf die Reihe mit den Zeichen. Lethe sah, wie Rax kurz aufglühte und dann zu einem Schwert wie alle anderen wurde. Schließlich setzte er die Kerze in ihrem eigenen Wachs auf der Erde ab, schob Rax in die Scheide zurück, griff nach Papier und Schreibfeder und sagte: »Gehen wir an die Arbeit. Was es auch gewesen sein mag – es droht keine Gefahr mehr.« Pit und Dotar zündeten jeder eine Kerze an, sodass die Runen abgezeichnet werden konnten. Als sie damit fertig waren, sagte Pit: »Was sollen wir tun? Meiner Meinung nach ist es Nacht.« »Wir gehen zurück«, sagte Lethe bestimmt. »Im Moment brauchen wir an keine Gefahr zu denken, aber das kann sich jeden Augenblick ändern.« Dotar stimmte ihm zu, und so begaben sie sich zur Treppe. »Halt«, sagte Lethe. Er hatte einen letzten Blick über die Schulter geworfen. »Seht!« Sie beobachteten, wie die Zeichen, die eben noch wie glühende Kohlen an der Wand gebrannt hatten, langsam verschwanden. Nach zehn Sekunden war die Wand wieder einheitlich schwarz. »Eigenartig«, sagte Pit. »Es scheint fast so, als wüsste irgendetwas, dass wir fertig sind und gehen.« Als sie die Treppe hinabsteigen, wurden sie erneut überrascht. Wieder hörten sie den Gong im Grottengewölbe widerhallen. Sie blieben stehen und warteten, bis er verklungen war. »Sonderbar«, murmelte Dotar. »Von so etwas habe ich noch nie gehört.« »Ich auch nicht«, sagte Pit, »und dabei weiß ich eine Menge über die unterschiedlichen Arten von Magie.« Sie waren erst einige Minuten unterwegs, als Lethe zu wanken begann. Pit, die hinter ihm lief, schrie auf und sprang gerade noch rechtzeitig vor, um Lethe auffangen zu können. 99
12 Die ferne Küste (1) »Ich erinnere mich an Ereignisse und Taten, die nicht auf mein Konto gehen können, da ich mich zu dem Zeitpunkt, als diese Dinge geschahen, nicht an dem betreffenden Ort befand. Ich trage Bilder von Inseln mit mir herum, auf die ich nie einen Fuß gesetzt habe; von Bergen, die ich nie bestiegen habe; von Flüssen, die ich im Leben nie überquert habe. Ich sprach mit Menschen, die bereits vor langer Zeit gestorben sind, wie auch mit Menschen, die erst noch geboren werden müssen. Ich wirke Magie, obwohl ich nicht einmal den Zauber der Fragmentarisch Reinigenden Windbö beherrsche.« Aus ›Die Wirklichkeit ist eine Unwahrheit‹, von Karambul aus Feder Wie ein Wrackteil lag er auf einem kilometerbreiten Strand. Seine Augen stachen, und sein Mund war voller Sand und Salz. Der intensive Gestank von verfaulendem Seegras erschwerte ihm das Atmen. Seine rechte Hand umklammerte krampfhaft ein Stück Holz. Er hob den Kopf und spuckte den Sand aus. Der salzige Geschmack blieb. Wogen von Schmerz spalteten ihm beinahe den Schädel. Für Sekunden schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, nahm seine Umgebung allmählich Gestalt an. Endlich war er in der Lage, nachzusehen, wo er sich eigentlich befand. Am Rand seines Blickfeldes funkelten die Wellen eines Meeres, das ihn offenbar hierher getragen hatte. So weit das Auge reichte, war der Strand mit Seegras, Muscheln und Treibholz bedeckt. Er kannte sich mit den Inseln aus, doch dieser Ort kam 100
ihm unbekannt vor. Er stützte sich auf die Hände und drehte sich um. Kilometer weiter, am Ende des Strandes, tauchten die Umrisse einer großen Insel auf. Hinter Strand und Dünen erschien der Schatten eines Bergrückens, der an dieser Seite den gesamten Horizont einnahm. Wenn die Dimensionen stimmten, waren dies Berge, wie er sie in Romander noch nie gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, doch sein Geist weigerte sich, ihm Informationen über den Zeitpunkt hinaus zu liefern, zu dem er die Augen geöffnet hatte. Natürlich – er wusste, wie er hieß; er war Lajte aus Span. Ein Hauch von Erstaunen und Zweifel begleitete diesen Gedanken. Waren dies seine eigenen Erinnerungen? Und ihm kam noch ein Gedanke: Er war entkommen. Entkommen? Wem oder was? Er war an einer fernen Küste angespült worden, mehr wusste er nicht. Er musste etwas trinken. Seine Kehle fühlte sich an wie das noch nicht polierte Blatt eines frisch geschmiedeten Schwertes. Mühsam erhob er sich und spürte, dass der Knöchel seines linkes Fußes verstaucht war. Seine Tunika war an mehreren Stellen gerissen, und er hatte Schürfwunden an Armen und Beinen. Der Sand scheuerte schmerzhaft an seinem Körper. Er pflückte ein paar Muscheln und Holzsplitter aus den Kleidern, während er die Umgebung absuchte. Menschen waren nicht zu sehen. Zwischen zwei Dünen glaubte er einen Pfad zu erkennen. Als er in jene Richtung zu hinken begann, spürte er die Müdigkeit. Verschwommen erinnerte er sich, dass er sich krampfhaft an den obersten Teil eines Mastes geklammert hatte, an dem noch Teile der Takelage und die Rahe gehangen hatten. Einen halben Tag, eine Nacht, und noch einen Tag. Eine neue Erinnerung tauchte auf. Als er am Ende des zweiten Tages versucht gewesen war, den Mast loszulassen und in die Vergessenheit wegzusinken, hatte er am Horizont einen Streifen Land gesehen. Sofort hatte er die letzten Kraftreserven mobilisiert. Dann war die Verzweiflung wieder gewachsen, als er die wilde Brandung gesehen hatte. Wie er da hindurchgekommen war, wusste er nicht mehr. Vielleicht hatten seine Finger sich krampfhaft ins Holz gekrallt, als er die Besinnung verloren hatte. 101
Er schaute sich um. Vom Mast war keine Spur zu sehen. Stöhnend strauchelte er weiter. Was wie ein Weg ausgesehen hatte, war vermutlich ein von Dünentieren benutzter Wildwechsel. Da nirgends ein Pfad zu erkennen war, beschloss er, den einmal eingeschlagenen Weg zu verfolgen. Als er die Anhöhe erreicht hatte, erstreckte sich vor ihm eine endlose Dünenlandschaft. Nirgends gab es Gewächse, nicht einmal ein Büschel Helmgras. Erneut versuchte er sich zu erinnern, kannte aber keine Insel mit so vielen Dünen. Loh war dafür bekannt, mit den Mitteldünen den breitesten Dünenstreifen zu besitzen. Doch diese Dünenwüste schien sich bis zur Bergkette zu erstrecken. Das verwirrte ihn. Plötzlich bot sein Gedächtnis ihm einen anderen Namen für Loh an: Dyn Eseyliun Nuve. Der Klang dieses Namens weckte in ihm melancholische Gefühle. Gleichzeitig war er überrascht, nicht früher darauf gekommen zu sein. Der nächste Gedanke machte ihn schwindlig und ließ ihn zusammensacken. Es gelang ihm gerade noch, die Hände auszustrecken und auf diese Weise zu verhindern, dass er der Länge nach im Sand landete. Er hieß Lethe, nicht Lajte! Lethe Welmsson. Lethe aus Loh, der Unmagier. Was war los mit ihm? Plötzlich fragte er sich, ob ihm hier vielleicht eine Wahl angeboten wurde. Was, wenn er sich von seinem Namen verabschiedete? Wenn er den anderen Namen, Lajte, annahm? Könnte er dadurch seinem Schicksal entrinnen? Er rappelte sich mühsam hoch. Als er sich auf seinen Knöchel zu stützen versuchte, krümmte er sich vor Schmerz und bekam einen Hustenanfall, der Krämpfe in der Kehle und Lunge verursachte. Wasser!, spukte es durch seinen Kopf. Er musste Wasser finden! Er stieg auf den nächsten Dünenhügel. Erst beim zweiten Hinschauen bemerkte er die sieben in gerader Reihe stehenden Steine. Dies war das erste Zeichen, dass hier Menschen gewesen waren. Er hinkte darauf zu. 102
Es waren Grabmonumente. Mannshohe flache Steine aus grauem Basalt. Als er dichter heran war, konnte er in Stein geritzte Zeichen erkennen. Nicht in der Sprache der Romander, auch in keiner alten Sprache, die er kannte. Einige Zeichen erschienen ihm vertraut, doch die gesamten Texte würde er nicht entziffern können. Allerdings stellte er fest, dass die Zeichen schon vor langer Zeit in die Steine gekerbt worden sein mussten. Etliche Buchstaben waren bereits so stark verwittert, dass man sie kaum noch entziffern konnte. Es gab auch keinerlei Anzeichen, dass hier unlängst Menschen gewesen waren. In ihm wuchs die Vermutung, auf einer verlassenen Insel gestrandet zu sein. Er entfernte sich von den Grabsteinen und stolperte weiter landeinwärts auf der Suche nach Wasser. Die vom Rauschen der fernen Brandung umrahmte Stille erzählte von einer verlassenen Welt. Lethe hatte das Gefühl, dass hier seit Jahrhunderten kein Mensch mehr gewesen war. Ein rattenartiges Wesen schoss schnatternd und zischend in ein Erdloch, und in weiter Ferne ertönte Grummeln. Hoch über ihm erschallte der Ruf eines Adlers. »Ork, ork.« Lethe schaute hoch. Das Tier schwebte lauernd über ihm, als wäre er die Beute. Als er nach links abbog, um den vom Wind aufgeworfenen Rillen eines Dünenhügels auszuweichen, stieß das Tier erneut einen Schrei aus. Wieder schaute Lethe hoch. Der Vogel flog eine Kurve nach rechts. Beinahe schien es, als wollte das Tier ihn in die andere Richtung dirigieren. Lethe zuckte die Achseln und lief weiter. Doch schon wieder kam der Ruf, schriller und aufdringlicher diesmal. »Was willst du?«, murmelte Lethe. Die verschwommene Erinnerung an eine frühere Begegnung mit diesem Vogel durchbrach seine Gedächtnisblockade. »Scharfblick?« Sein Geist tastete nach dem des Tieres, stieß aber auf massive Abwehr. Nicht die kleinste Öffnung, als weigere sich das Tier, mit ihm Gedankensprache zu führen. Enttäuscht zog Lethe sich zurück. Vielleicht handelte es sich um einen anderen Adler. Dennoch beschloss er, dem Hinweis zu folgen und nach rechts ab103
zubiegen. Er lief am Dünenhügel vorbei und sah sofort den Pfad zu seiner Rechten. Dieser war nicht mehr als eine schmale Fährte, doch für einen Wildwechsel erschien sie zu breit. Sie schlängelte sich parallel zum Strand durch die Dünen hindurch. Nach einiger Zeit bog der Pfad mit einer scharfen Kehre ins Landesinnere ab. Lethe schaute hoch, doch der Adler war verschwunden. Er betrachtete es als gutes Zeichen. Allmählich veränderte sich die Landschaft, und Lethe wurde zuversichtlicher. Irgendwo in diesem sanft leuchtenden Hügelland musste doch ein kleiner Bach oder Wasserlauf zu finden sein! Wieder wurde ihm leicht schwindlig. Seine Kehle war völlig ausgedörrt. Wenn er nicht bald Wasser fand, würde er das Bewusstsein verlieren und wahrscheinlich nie mehr aufwachen. In der Ferne erblickte er die Öffnung eines breiten Tals. Als er näher kam, entdeckte er ein Flussbett, eingesäumt von Krüppelsträuchern. Das Plätschern des Wassers erreichte sein Ohr. Er bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und fiel auf die Knie. Gierig trank er das klare, eiskalte Wasser, bis ihm der Magen schmerzte. In seinem Rücken glaubte er ein leises Rascheln zu hören. Er richtete sich auf und fuhr herum. »Es hat lange gedauert, Lethe«, sagte eine Person, die sich als graue Silhouette von der Sonne abhob. »Es hat lange gedauert, aber jetzt seid Ihr endlich da.« Es war eine dunkle, heisere Stimme. Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenfahne, die wie ein grober Pinselstrich in das helle Blau des Himmels gezogen schien. Jetzt konnte Lethe die Person richtig sehen. Der Mann lehnte auf einem Stab aus gewundenem Weidenholz. Der goldene Knauf an der Stabspitze kam Lethe bekannt vor. Aus einem Traum? Er wusste es nicht mehr. Die durchdringenden Augen, deren Farbe er nicht bestimmen konnte, der halblange Bart, das teilweise vor den Augen hängende Haar, das auf eine violette Jacke herabfiel, der Kragen aus Wolfspelz und der Helmhut, dies alles hatte Lethe früher schon gesehen. Doch wo und wann? Und wie alt war der Mann? 104
Lethe wollte gerade eine Frage stellen, als der Mann sich aufrichtete, sich von ihm abwandte und über die Schulter sagte: »Kommt mit.« Ganz kurz blieb Lethe stehen und überlegte, ob er seinen Dickkopf durchsetzen sollte. Dann aber siegte seine Neugier, was jetzt geschehen würde. So schnell er konnte hinkte er dem Mann hinterher. Als er ihn fast eingeholt hatte, nahm er allen Mut zusammen und fragte: »Wer seid Ihr?« Der Mann lief schweigend weiter, mit gekrümmtem Rücken, wogendem Kragen und wehender Jacke. Den Stab setzte er immer schräg vor seinem rechten Fuß auf. Zielstrebig bog er vom Pfad ab und schlängelte sich wie ein kreuzender Seefahrer zwischen den spärlich bewachsenen Böschungen hindurch. Allmählich tauchten höhere Hügel auf. Der Mann steuerte ein kleines Tal an, an dessen Ende ein eigenartiges Gebäude stand. Der Turm erinnerte in mancher Hinsicht an ein Bauwerk, das er kannte. »Der Windturm«, flüsterte sein Geist ihm zu. Das Bauwerk war mindestens hundert Meter hoch und überragte sogar die umliegenden Hügel. Das Gebäude, aus dem der Turm sich erhob, war eine niedrige, breite Kuppel aus schwarzem Mangitstein, in dem eine lange gebogene Riefe zu sehen war. Lethe konnte nirgends eine Tür entdecken. Der Mann drehte sich entschlossen um. »Nennt mich Dyvoce. Ich bin Euer oberster Lehrmeister, wenn auch nicht der wichtigste – da müsstest Ihr zu Dargyll von den Schluchten gehen. Meine Aufgabe endete eigentlich schon vor neuntausend Jahren, doch ich habe auf Euch gewartet. Hier an der fernen Küste.« Lethe verschlug es die Sprache. Alle Fragen wurden von der Verwunderung darüber verdrängt, was Dyvoce gesagt hatte. Doch der Mann gönnte ihm keine Pause zum Nachdenken. Er winkte Lethe heran und ging auf die Kuppel zu. Er hob den Stab. »Luimen thayarg semfyduoren«, murmelte er. In drei Meter Höhe glühten Runenzeichen rot auf. Lethe verengte die Augen zu Schlitzen. Auch dies hatte er früher schon einmal erlebt. Ein Geräusch wie ein Gong donnerte durchs Tal. Eine Öffnung tat sich auf, die gerade ausreichend Platz für einen Menschen bot. Dyvoce betrat 105
die Kuppel. Lethe folgte ihm. Als sie drinnen waren, bewegte Dyvoce den Stab. Die Öffnung schloss sich geräuschlos hinter ihnen. Im ersten Moment sah Lethe die Hand vor Augen nicht. Er spürte, wie Dyvoces Hand ihn ergriff und weiter in den Raum lenkte. »Wir befinden uns hier im Sacras«, hörte Lethe Dyvoces Stimme links von sich. In seinen Worten schwang Ehrfurcht mit. »Meines Wissens gibt es im Reich fünfzehn dieser Kuppelgebäude, doch dieses ist das größte.« Allmählich gewöhnten Lethes Augen sich an das seltsame braune Licht, das unruhig flackerte und die Konturen der Bilder um ihn herum verwischte. »Welch seltsame Farbe«, sagte Dyvoce. »Als was würdet Ihr sie bezeichnen?« Lethe hatte nicht die Zeit zu antworten. »Die Bilder, die Ihr hier seht, stellen Atei Wyr'icylem, Day, Sao'mber und Thervuilece dar, die vier Götter der Windrichtungen. Über die Jahrtausende hinweg wurden sie auf unseren Inseln verehrt. Allerdings hat sie praktisch jeder nur als Symbol betrachtet, nicht so sehr als lebendige Götter.« Dyvoce machte eine Pause. Lethe spürte, dass der Mann ihn von der Seite anschaute. »Das ist ein Missverständnis. So wie die Behauptung, das Nachtmeer werde auf der anderen Seite vom Nichts begrenzt, was ebenfalls ein Irrtum ist.« Für Lethe waren dies schockierende Neuigkeiten. Dyvoce erzählte es, als handle es sich um reine Nebensächlichkeiten, doch Lethes Weltbild wurde dadurch auf den Kopf gestellt. Lethe versuchte es zu verarbeiten und seine Perspektive des Reichs von Romander dem anzupassen, aber was da gesagt worden war, sorgte für ein Schwindel erregendes Ungleichgewicht in seinen Gedanken. »Unmagie hängt damit zusammen.« Lethe neigte den Kopf zur Seite. Erstmals betrachtete er Dyvoce genauer. Etwas in dem Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor. Er runzelte die Stirn. 106
»Mit den Göttern oder dem Nachtmeer?«, fragte er. »Oder redet Ihr über die Farbe?« Der Ansatz eines Lächelns zeigte sich auf Dyvoces Gesicht. »Das sind nicht die richtigen Fragen; jedenfalls nicht in diesem Fall«, flüsterte er. »Ihr hättet nach den Grabsteinen fragen müssen.« Ein bleiches Licht umwehte seine Gestalt. Plötzlich wurde es vollkommen dunkel, und Lethe spürte, wie er aus Lajtes Geist herausglitt. Auf der Grenze zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit verstand er mit einem Mal, warum er sowohl Lethe als auch Lajte hieß.
Lethe lag mit geschlossenen Augen im Grottengang. Er atmete so flach, dass Pit und Dotar in regelmäßigen Abständen prüften, ob er überhaupt noch atmete. Pit hatte sofort vermutet, dass Lethe in eine lange und intensive Vision geraten war. Sie hatte Dotar davon überzeugt, so lange zu warten, bis Lethe wieder zu sich kommen würde. Sie hatten aus der Not eine Tugend gemacht und beschlossen, abwechselnd ein wenig zu schlafen. »Wir warten noch ein paar Stunden«, sagte Dotar plötzlich. »Unsere Vorräte an Essen und Wasser sind fast aufgebraucht.« Hinter sich hörten sie näher kommende Schritte. Dotars Blick zuckte zum Schwert an Lethes Hüfte, doch Rax zeigte kein Anzeichen einer Gefahr. Dennoch zückte der Regulator sein Schwert und rief: »Wer da?« »Marakis und Gaithnard.« Im gleichen Moment traten der Kronprinz und der Kurmer aus der Dunkelheit hervor. Überrascht ließ Dotar sein Schwert wieder in der Scheide verschwinden. Pit stieß einen Freudenschrei aus. Sie begrüßten sich. »Wie habt Ihr uns gefunden?«, fragte Dotar. »Mit Hilfe der Siegel und mit ein bisschen Glück, wie mir jetzt scheint«, sagte Marakis. Pit zeigte auf Lethe. 107
»Meines Erachtens hat er eine Vision. Wir warten, bis er aufwacht.« Marakis nickte. »Wir kamen an einer Leiche vorbei. Wir hatten schon Angst, es könnte einer von Euch sein. War es ein Regulator?« »Steyn, ein Regulator-Lehrling«, bestätigte Dotar. »Wir hatten entdeckt, dass Ihr verfolgt wurdet, und wollten Euch zu Hilfe kommen. Aber offensichtlich war das ja überflüssig.« »Pures Glück«, sagte Dotar. Er zeigte seinen verwundeten Arm. »Lethe schaute sich im richtigen Augenblick um, sonst hättet Ihr drei Leichen gefunden, und Steyn wäre noch am Leben.« Pit und Dotar berichteten, was sie erlebt hatten. Als sie gerade mit den Ereignissen im Kuppelgewölbe beginnen wollten, kam Lethe mit einem Seufzer zu sich. Er stand auf und schaute die anderen mit glasigen Augen an. »Ich habe geträumt. Ich habe das Gefühl, viel gelernt zu haben, aber ich kann mich an nichts erinnern. Vielleicht speichert mein Gehirn ja all die Traumerlebnisse, sodass ich später darüber verfügen kann.« Die letzten Worte kamen etwas zögerlich. »Lasst uns zurückgehen«, setzte er hinzu. Sie beeilten sich und erreichten gefühlsmäßig innerhalb eines guten halben Tages den Grottenausgang. Kurze Zeit darauf tauchten sie am Windturm auf. Der Sonnenstand zeigte ihnen, dass es um die Mittagszeit war. Matei und Llanfereit hatten dort ihr Lager aufgeschlagen. Ihre Freude war unverkennbar, als sie alle fünf Reisegefährten wiedersahen. Nachdem diese sich in der Herberge trockene Kleider angezogen hatten, versammelten sich alle in der Gaststube. »Wir haben sämtliche Inschriften beisammen«, sagte Matei. »Somit können wir die Spiegelinseln verlassen. Llanfereit und ich haben uns in der Zwischenzeit auch nicht auf die faule Haut gelegt. Wir sind der Meinung, dass wir zunächst zu den Äußeren Riffen und anschließend nach Lan-Gyt müssen. Wenn ich Kapitän Wigbolt richtig eingeschätzt habe, wartet er in Haramat, bis wir zu ihm kommen. Ich werde den Wirt bitten, eine rasche Überfahrt für uns zu organisieren.« 108
Matei hatte Recht. Als sie am Morgen nach der Rückkehr aus dem Grottensystem von Standers Neffen nach Haramat übergesetzt wurden, sahen sie dort schon von weitem den Kühnen Furcher liegen, am selben Ankerplatz wie vor zwei Wochen. Die Begrüßung war herzlich. Wigbolt sagte nichts über einen Preis für die Passage und auch nichts zu den neuen Passagieren. Gaithnard bestand darauf, Adwyne, seiner Mutter, wenigstens für ein paar Stunden Gesellschaft leisten zu können, doch noch vor Einbruch der Dunkelheit verließ der Kühne Furcher den Hafen, und sie segelten nordwärts, zwischen Tyl und Ostinsel hindurch. Als sich die Nacht über das Meer senkte, verschwanden die letzten Umrisse der Spiegelinseln außer Sichtweite.
Am Abend des folgenden Tages fuhren sie zwischen den Spiegelinseln und Fang. Lethe, Pit, Llanfereit und Matei standen in Llanfereits Kajüte über die Runen aus dem Kuppelgewölbe gebeugt. Nach vielem Hin und Her gelangten sie zu einem ungefähren Ergebnis. »Da geht es also um eine Schriftrolle«, sagte Llanfereit und tippte auf das Papier, das mit Anmerkungen voll gekritzelt war. »Tulsies Entdeckung wird bestätigt durch das, was hier steht.« »Die ferne Küste«, flüsterte Matei. »Ich habe mal über ein Land gelesen, das so groß sein soll wie das gesamte Reich. Es wurde die ferne Küste genannt. Ich habe immer angenommen, es handle sich um eine Sage, eine der vielen Erzählungen über versunkene Länder und Inseln jenseits des Nachtmeers. Doch diese Hinweise machen deutlich, dass mehr dran ist.« »Aber wo liegt diese ferne Küste?«, fragte Pit. Ihr Finger fuhr über die Karte des Reichs von Romander. Unwillkürlich suchte sie im Norden, oberhalb der Äußeren Riffe. »Ich kenne die ferne Küste ebenfalls«, sagte Lethe bedächtig. »Vielleicht aus einer meiner Visionen. Ich sehe Bilder von einem Strand und fernen Bergen. Das ist aber auch alles.« 109
Für Augenblicke wurde es still. Matei legte die flache Hand auf die Aufzeichnungen. »Eine Schriftrolle, die im Grab einer Nibuümfrau verborgen wurde. Nirgends steht, dass es sich dabei um etwas von Randoël handelt, aber das Ganze trägt deutlich seine Handschrift. Auf kaum nachvollziehbare Art und Weise sind wir dahintergekommen, dass eine solche Schriftrolle existiert. Verborgene Hinweise, kryptische Verweise – das ähnelt doch alles sehr den von Randoël gelegten Zeitspuren. Doch wo sich dieses Land befindet, und ob es dort wirklich ein Grabmonument einer Nibuümfrau gibt, wissen wir natürlich nicht.« »Dunkel«, murmelte Lethe. »Was hast du gesagt?«, fragte Matei erstaunt. Lethe blickte mit glasigen Augen vor sich hin. »Ich weiß es nicht. Der Name der Insel Dunkel geht mir stets durch den Kopf. Und ich weiß nicht, warum.« Llanfereit seufzte. »Heute kommen wir nicht mehr dahinter. Es fehlen weitere Hinweise. Wir können nur hoffen, sie noch zu finden.«
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13 Das Abkommen »Eigentlich waren beim Abkommen von Kryst Valdare alle einflussreichen Kräfte vertreten. Der Palast, Loh und die Solitäre fanden zu einer unheilvollen Verbindung zusammen, die einen Konflikt zu einer Zeit heraufbeschwor, in der eigentlich nur einträchtige Zusammenarbeit eine Katastrophe hätte abwenden können. Aber ach, wer hätte ahnen können, welche Überraschungen uns eine dieser Mächte bereiten würde.« Aus ›Die Geschichte des Reichs von Romander, Band 17, 8500-9000‹, von Abefang aus Tayrin Fünf Menschen traten nach mitternächtlicher Stunde zusammen. Sie trafen sich in einem fensterlosen Raum im Ostflügel des Palastes Kryst Valdare. Der Raum befand sich am Ende eines verlassenen Gangs, hinter den Dienstwohnungen. Um einen runden Tisch aus dunkelbraunem Basselholz standen sechs Sessel. Danker, der oberste Ratsherr des Desran, und Ratsfrau Hylmedera betraten als Erste den Raum. Hylmedera setzte ihre Tasche ab und zündete eine Kerze in einem kupfernen Kerzenhalter an. Das Licht flackerte unruhig und ließ die Schatten der beiden Ratsmitglieder tanzen. Kurz nach den beiden erschien ein Mann in der Türöffnung, gekleidet in einen langen braunen Velum, der reichlich mit religiösen Darstellungen versehen und mit Hermelin abgesetzt war, wie die Magistrate der Solitäre ihn trugen. Sein Gesicht blieb hinter einer dunkelgrauen Kapult verborgen. Die Identität des Mannes war ein gut gehütetes Geheimnis. Von Zeit 111
zu Zeit kreuzte er in den Gängen des Palastes auf, und es wurde gemunkelt, er sei einer der Hohepriester, doch niemand wusste es genau zu sagen. Allerdings sprach er mit der selbstverständlichen Autorität eines Mannes, der es gewohnt ist, dass man ihm Folge leistet. »Nennt mich Hertas«, hatte der Mann beim ersten Treffen vor drei Jahren den Anwesenden gesagt. »Das ist zwar nicht der Name, unter dem man mich kennt, aber er muss reichen. Als Kind wurde ich so genannt. In der alten Sprache meiner Heimatinsel bedeutet er so viel wie der ›Unnachgiebige‹.« Danker machte eine einladende Geste, woraufhin Hertas neben dem Ratsherrn Platz nahm. Es herrschte Stille, bis die Tür plötzlich aufschwang und eine große Gestalt hereinkam. Die rechte Hand des Mannes umklammerte einen leuchtenden schwarzen Stab mit goldenem Knauf, und er trug einen schwarzen Mantel, der bis zur Erde reichte. Sein Gesicht verschwamm in einem starken Feld Unfokaler Trübung, vermischt mit einer Schattenfläche Prismatischen Graulichts, und seine Stimme war durch einen Zauber verzerrt, den nur er kannte. Auch er bestand darauf, dass seine Identität geheim bleiben müsse. Als Name hatte er den anderen ohne nähere Erklärung ›Zaylaot‹ genannt. Für sein geheimnisvolles Verhalten gab es einen erklärbaren Grund: Er war einer der Hochmeister. Der Mann schloss die Tür und setzte sich Hertas gegenüber. Wenig später erschien Edelfrau Isper. Entgegen ihrer Gewohnheit kam sie mit gesenktem Kopf hereingeschlichen und nahm schweigend Danker gegenüber Platz. Dieser stand auf, ließ den Blick aus seinen dunkelblauen Augen über die Anwesenden schweifen und räusperte sich. »Lasst uns beginnen«, sagte er. »Gleich kommt noch jemand, auf meine Bitte hin, doch seine Anwesenheit ist für den ersten Teil dieses Konklaves nicht von Bedeutung.« Mit der Zungenspitze befeuchtete er seine Lippen. »Ich habe einen Bericht erhalten, wonach Dotar versagt haben soll.« Hertas schreckte auf. Edelfrau Isper blieb regungslos sitzen, und der Hochmeister bewegte nur die rechte Hand, die den schwarzen Stab hielt. 112
»Ich muss gestehen, dies ist eine ebenso unerklärliche wie unerfreuliche Wendung«, fuhr Danker fort. »In unseren Plänen gingen wir davon aus, dass der Zauberlose dem Tode geweiht ist, und dass es praktisch nur eine Frage der Zeit sei, bis Dotar uns meldet, der Auftrag sei erfolgreich abgeschlossen worden.« »Eine erschütternde Nachricht«, flüsterte Hertas und zog seine Kapult noch tiefer ins Gesicht. »Das heißt, dass wir unsere Pläne ändern müssen.« »Es kommt noch schlimmer«, warnte Danker. »Es sieht danach aus, als habe Dotar sich dem Unmagier und dessen Reisegefährten angeschlossen! Ausgerechnet Dotar, unser Erster Regulator!« »Ein Verräter seiner Zunft«, murrte Hertas. »Was soll aus unserem Reich werden, wenn die fundamentalsten Werte mit Füßen getreten werden?« Der Ratsherr schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Der Verräter verurteilt den Verräter«, sagte er mit unverhohlenem Sarkasmus. Hertas senkte den Kopf, murmelte etwas Unverständliches und lehnte sich zurück. Dankers Blick glitt durch den Raum und blieb schließlich auf Edelfrau Isper ruhen. »Es gibt noch weitere schlechte Nachrichten«, sagte er leise. Edelfrau Isper hob langsam den Kopf. Ihre sonst so scharfen Gesichtszüge und der entschlossene Blick waren verschwunden. Unter ihren Augen schimmerten graue Ringe, und sie saß zusammengesunken im Sessel, die Hände im Schoß gefaltet. »Mein Sohn«, sagte sie fast teilnahmslos. Danker schaute sie einen Moment ausdruckslos an; dann wandte er sich den anderen zu. »Ja, Marakis«, bestätigte er. »Der junge Prinz ist vor einigen Wochen aus Romander-Stadt verschwunden, jetzt wissen wir endlich, wo er sich aufhält. Auch er hat sich dem Unmagier angeschlossen.« Edelfrau Isper schien durch Danker hindurchzuschauen. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf. »Dotar und Marakis befinden sich also unter dem Einfluss von Hochmeister Matei«, sagte Edelfrau Hylmedera. 113
Danker setzte sich. Zaylaot blickte langsam auf. Die in trübem Nebel verschwimmenden Augen glühten gelb auf, und die Hand, die den Stab umklammerte, glitt zu dem goldenen Knauf. Die bis dahin fast unmerkliche Anwesenheit des Zauberers wurde plötzlich spürbar, doch er schwieg weiter. Hylmedera fragte sich zum wiederholten Mal, wer sich hinter der Maske verbergen mochte. Matei schied natürlich aus, demnach blieben sechs. Es gab noch einiges mehr an Rätseln: Die Annahme, der Mann ihr gegenüber könne Karn sein, erschien weit hergeholt. Ungeachtet der Tatsache, dass er so etwas wie der widerspenstige Hofmagier des Desran war, dürften Karns Gedankengut und Überzeugungen schwerlich konform mit denen der Verschwörer gehen, die sich hier zusammengefunden hatten. Auch Balmir und der junge Harkyn kamen wohl nicht in Frage. Am ehesten konnte man Wyl, Berre oder Gesyrah in Betracht ziehen, doch Zaylaots Vermummung bot keinerlei Hinweis. »Vielleicht sind wir die einzigen Menschen, die dieses Chaos verhindern können«, sagte Zaylaot. »Es wird Zeit, unseren lockeren Bund zu einer einheitlichen Kraft zusammenzuschmieden, die darauf ausgerichtet ist, letztendlich die Macht zu übernehmen.« In der einsetzenden Stille war die Spannung mit Händen zu greifen. Schließlich räusperte sich Zaylaot, und sein Mantel wechselte erneut die Farbe. Purpur wurde zu Grau. Danach schien es, als verflüchtige sich jegliche Farbe aus dem Stoff. »Wo befindet sich die Gesellschaft des Unmagiers momentan?« »Nach letzten Informationen haben sie vor kurzem die Spiegelinseln verlassen«, antwortete Edelfrau Hylmedera. »Am Windturm haben sich sowohl Dotar als auch Marakis dem Unmagier angeschlossen. Sie haben sich eingeschifft und segeln jetzt zu den Äußeren Riffen. Dort spielen sich eigenartige Dinge ab.« Danker schaute sie scharf an, schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Unser Informant berichtete von einer verschwundenen Insel.« »Verschwunden?« Hertas' Stimme wurde lauter. »Wie, in des Schöpfer Namen, kann eine Insel einfach verschwinden?« 114
»Hertas ist in Geschichte offenbar nicht sehr bewandert.« Die Stimme des Hochmeisters füllte den ganzen Raum, obwohl er sehr leise gesprochen hatte. »Auch vor neuntausend Jahren verschwanden ganze Inseln«, fuhr Zaylaot fort. »Damals hätte nicht viel gefehlt, und das gesamte Reich wäre untergegangen. Soweit ich weiß, wurden damals die meisten Inseln von farbloser Magie angefressen. Ich besitze die Kopie einer Karte, die über neuntausend Jahre alt ist. Einige Inselformen kann man noch sehr gut wieder erkennen, wie die Inseln Romander, Dersden, Ostander, Katzinsel und Ynystel. Doch wo jetzt Areges und Karwel liegen, befanden sich erheblich größere Inseln; und Loh war damals doppelt so groß und grenzte im Westen fast an Ribbe.« »Inwiefern kann diese Information uns nützlich sein?« fragte Hertas ungehalten. Seine Kapult rutschte ein Stück nach hinten. Für einem Moment war die untere Hälfte eines bleichen Gesichts mit ausgeprägtem Unterkiefer zu sehen. Mit einer raschen Handbewegung schob Hertas die Kapult wieder zurecht. Die Farbe von Zaylaots Mantel wechselte von schwarz zu pur-pur. Der Hochmeister wandte sich an Danker. »Die Dummheit kennt auch hier keine Grenzen«, zischte er. »Es ist nicht meine Aufgabe, den Solitär von der Bedeutung meiner Worte zu überzeugen.« Danker machte eine beruhigende Geste und stand wieder auf. »Die Ereignisse überschlagen sich. Der Desran«, er schaute mit gesenkten Augen zu Edelfrau Isper, »hat die Situation nicht im Griff. Er begreift nicht einmal, dass Romander am Rande des Abgrunds steht. Ständig flüchtet er in seinen Kristallturm und weigert sich, die erforderlichen Beschlüsse zu fassen. Sogar seine eigene Gemahlin muss das einsehen. Die Inselbewohner werden ihre eigenen Pläne entwickeln, um der Bedrohung entgegenzutreten. Sie werden die Autorität des Desran mehr und mehr in Zweifel ziehen. Der nächste Schritt wird sein, dass sie auch ihr Vertrauen in den Desran in Frage stellen werden. Edelfrau Isper, Edelfrau Hylmedera, meine Herren – wenn nicht rasch eingegriffen wird, werden wir im Chaos versinken. Dann wird zum 115
ersten Mal seit den Tagen des Großen Aufstands vor nunmehr 2.405 Jahren die Herrschaft des Desran, die Herrschaft von Romander-Stadt auf dem Spiel stehen.« Er schob seinen Sessel zurück. Zaylaot bewegte sich. Wieder schien es, als wiche jegliche Farbe aus dem Mantel, wodurch Zaylaots Umrisse grau und gelb aufleuchteten. »Ein solcher Bund«, sagte er mit einem kurzen Blick auf Hertas, »hat nur seine Daseinsberechtigung, wenn er von der erforderlichen Macht gestützt wird. Ich denke hierbei an das Militär, die Regenten und nicht zuletzt an meine Kollegen Hochmeister.« Edelfrau Isper schreckte aus ihren Grübeleien hoch und hob ihre eindrucksvolle Gestalt aus dem Sessel. »Das Militär ist gespalten«, sagte sie. »Eine kleine Minderheit der Offiziere würde ohne zu zögern unsere Seite wählen, wenn es darauf ankommt. Über die Regenten habe ich bereits mit Danker gesprochen. Sie müssen einzeln aufgesucht werden, und ihre Position muss eindeutig sein. Das ist bereits in die Wege geleitet.« »Ich selbst werde die wichtigsten Inseln besuchen«, ergänzte Danker. »Unmittelbar nach dieser Sitzung reise ich nach Hemgara, um mit Regent Vyrten Dum Talvera zu sprechen.« »Und was die Hochmeister betrifft«, fuhr Edelfrau Isper mit einem Teil ihrer gewohnten Schärfe fort, »sollten wir das besser Euch überlassen, Zaylaot.« Der graue Mantel des Hochmeisters verfärbte sich wieder zu einem satten Schwarz. »Später«, sagte der Magier nur. Niemand wagte es, nach dem Warum zu fragen. »Wie steht es mit den Solitären?«, fragte Edelfrau Hylmedera vorsichtig und schaute Hertas mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. »Aernold aus Sey Hirin ist ein mächtiger Mann«, antwortete Hertas prompt, als habe er nur auf diese Frage gewartet. »Vielleicht gibt es ein oder zwei Menschen in seiner Umgebung, die mit den Vorstellun116
gen des Dulce nicht einverstanden sind, doch ob es außer mir noch jemanden gibt, der ihm wirklich die Stirn bieten würde, wage ich zu bezweifeln.« Zaylaot konnte es nicht lassen. »Bietet Ihr Eurem höchsten Herrn denn die Stirn, Hertas?«, kam es spöttisch. »Weiß er denn, dass Ihr Euch hier gerade an einem Verrat beteiligt?« Hertas' Gesicht lief puterrot an, doch er hielt sich zurück. »Ich habe ein wenig Vorarbeit geleistet«, sagte Danker rasch, um eine Eskalation des Streits zu vermeiden. »Ich habe ein Abkommen aufsetzen lassen. Wir werden …« »Keinerlei schriftliche Abmachungen«, schnaubte Hertas. Danker wandte sich in aller Ruhe an den Solitär. »Dieses Abkommen wird nicht unterzeichnet, Hertas. Wir werden es alle lesen und uns ihm im Geiste anschließen, es mittragen. Wer diese Übereinkunft bricht, wird zum Opfer des Zorns von vier Menschen, die sich verraten wissen.« Er nickte Edelfrau Hylmedera zu, die fünf Papierrollen aus der Tasche holte und verteilte. Anschließend gingen sie den Inhalt durch. Hertas stellte einige Fragen und erhielt von Danker und Hylmedera Antworten, die ihn offensichtlich zufrieden stellten. Edelfrau Isper wollte lediglich wissen, ob das Leben ihres Gatten verschont bliebe, wenn es darauf ankäme. Danker bestätigte dies. »Irgendwann in der Zukunft werden wir die Macht im Reich übernehmen«, sagte Hertas plötzlich. »Wer von uns wird dann anstelle des Desran als Führer fungieren?« »Wir fünf werden auch künftig alles gemeinsam beschließen«, antwortete Danker, wobei er Hertas argwöhnisch betrachtete. »Ich schlage vor, dass dann Edelfrau Isper den Thron besteigt.« Stille. Scheue Blicke zuckten hierhin und dorthin. Der Raum schien vor unterdrücktem Machthunger zu flimmern, doch niemand hatte den Mut, etwas gegen den Vorschlag vorzubringen. »Die einzig richtige Wahl«, sagte Zaylaot schließlich. Sein Mantel 117
verfärbte sich in fahles Gelb. Er beugte sich zu Edelfrau Isper hinüber. »Keine Frage, Edelfrau, Euch allein steht der Thron zu.« Edelfrau Isper schaute den Hochmeister frostig an. Zaylaot erwiderte den Blick emotionslos hinter seinem Schirm aus Unfokaler Trübung und Prismatischem Graulicht. »Wie Ihr seht«, sagte Danker und deutete auf das Abkommen, »habe ich es sehr allgemein gehalten. Jeder von uns sollte sich darin wiederfinden können, ohne dass deshalb von Unverbindlichkeit die Rede sein kann.« Er legte die offene Hand auf den Tisch. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Fünf Hände. Ich will fünf Hände übereinander sehen.« Hylmedera stand auf und legte ihre Hand feierlich auf seine. Edelfrau Isper zögerte, wollte etwas sagen, zuckte aber nur die Achseln und legte ihre Hand schließlich auf die von Hylmedera. Hertas schaute die anderen durchdringend an. »Hiermit werfe ich mein Leben in die Waagschale. Ich wage nicht daran zu denken, welche Strafe der Dulce sich für mich einfallen ließe, wenn jemals herauskommen sollte, dass ich mich sowohl gegen ihn als auch gegen den Desran verschworen habe.« Seufzend stand er auf, beugte sich über den Tisch und legte seine Hand über die von Edelfrau Isper. »Das steht in keinem Verhältnis zu der Strafe, die wir uns für Euch überlegen würden, Hertas, solltet Ihr den Eid brechen«, flüsterte Danker. Für den Bruchteil einer Sekunde flammte ein schwarzes Feuer im Blick des Ratsherrn auf. Hertas schaute hastig zur Seite. Danker wandte sich an Zaylaot. »Hochmeister?« »Ich zögere nicht«, sagte Zaylaot mit einem seltsamen doppelten Klang in der Stimme. Hylmedera blickte erschreckt auf. Sie kannte die andere Stimme! Sie kramte in ihrem Gedächtnis, doch es gelang ihr nicht, diese Stimme dem Namen eines der Hochmeister zuzuordnen. »Ich stelle nur für mich selbst fest«, sagte Zaylaot, jetzt wieder mit der gewohnten Stimme, »dass der Eid, den ich als Hochmeister ab118
gelegt habe, in einigen Punkten im Widerspruch zu den Taten stehen kann, die wir uns geschworen haben.« Langsam legte er seine Hand auf die der anderen. »So sei es«, sagte er leise, aber bestimmt. »Das Abkommen von Kryst Valdare wurde heute im Geiste besiegelt«, sagte Danker. Dann fuhr er scharf fort: »Im Geiste, und was das angeht, ist das verbindlicher als ein Schriftstück. Wer diesen Eid bricht, muss sterben. Die Schriftrollen werden vernichtet, denn dieser Bund hinterlässt keine Spuren.« Er gab den anderen ein Zeichen, dass sie sich wieder setzen sollten, ging zur Tür und öffnete sie. Ein etwa dreißig Jahre alter Mann betrat den Raum. Ein Regulator, wie seine weißen, stilisierten Augenbrauen, der katzenartige Gang und die Kleidung deutlich machten. Sein glattes schwarzes Haar war mit einem goldenen Band zu einem Schwanz zusammengebunden. Der Blick aus den graublauen Augen strich über die Anwesenden. Er verbeugte sich vor Edelfrau Isper und nickte den anderen zu. Danker legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Erster Regulator Tracter aus Wickel«, sagte er. »Ich habe ihn vorzeitig von einem Auftrag auf Handera zurückkommen lassen. Tracter ist … war zusammen mit Dotar Romanders bester Regulator. Dotar hat seinen Eid gebrochen, daher ist Tracter der einzig Verbliebene. Er und einige der anderen Regulatoren kochen vor Wut, auch wenn sie ihren Zorn nicht zeigen werden. Sie haben sich geschworen, Dotar zu töten. Eine gute Nachricht ist vielleicht, dass der junge RegulatorLehrling Steyn dem Unmagier, Dotar und dem Rest dieser vermaledeiten Truppe auf der Fährte ist. Möglicherweise können wir Tracter und den seinen zusammen mit Steyn einen weitergehenden Auftrag verschaffen, durch den auch der Unmagier und dessen Verschwörer Zielscheibe der Regulatoren werden. Dieser Auftrag kann den Status eines offiziellen Befehls erhalten, wenn er von Edelfrau Isper unterschrieben wird. Als erste Gattin des Desran ist sie kraft Gesetz dazu berechtigt.« Edelfrau Hylmedera und Hertas murmelten zustimmend. Edelfrau Isper nickte. 119
»Steyn ist kein Problem für Dotar«, ließ Zaylaot sich vernehmen. Danker kniff die Augen zusammen. »Steyn ist ein brillanter Regulator-Lehrling. Und Dotar ist kein Regulator mehr. Er weiß, dass er den Eid gebrochen hat, und das wird ihn schwächen. Außerdem glaube ich, dass Dotar nicht damit rechnet, schon jetzt von Steyn verfolgt zu werden. Ich gehe mindestens von gleichen Chancen für beide aus. Damit wir uns richtig verstehen«, fuhr Danker fort, »dies ist ein geheimer Einsatz als direkte Folge unseres Abkommens. Niemand in diesem Raum darf auch nur mit einem Wort erwähnen, was hier besprochen wurde.« Sein Blick wurde kälter, wobei die Pupillen sich zu schwarzen Stecknadelköpfen verengten. »So ist es beschlossen«, sagte er, als er zur Tür ging. »Lasst uns aufbrechen. Es gibt viel zu tun.« An der Tür hielt er Edelfrau Isper und den Hochmeister zurück. »Ich möchte noch wegen der bevorstehenden Parade mit Euch reden.«
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13 Leere »Wie der Hirsch regungslos den nächtlichen Jäger glauben lässt, im weiten Umkreis sei keine Beute zu machen, so schweigt die Leere, ohne die See zu berühren. Sie verbannt den Wind an ferne Küsten und macht aus dem Wasser ein spiegelglattes Fenster, durch das kein Wesen nach drinnen schauen und keines nach draußen blicken kann.« Aus ›Fünfzehn Formen der Stille in Erzählung und Gedicht‹, von Richter Hankersson aus Loh Der Kühne Furcher der Neun Meere glitt mit vollen Segeln über die leichten Hindernisse der namenlosen Gewässer zwischen dem Meer von Romander und dem Westlichen Nachtmeer. Einige Stunden zuvor hatte das Schiff den Schutz der Ostküste von Fang verlassen und segelte jetzt in einer schwachen Brise nach Norden. Lethe traf Wigbolt an der Backbordreling. Die Miene des Kapitäns war düster. Er zupfte an seinem Bart und starrte mit halb geschlossenen Augen ins Nichts. Lethe wünschte ihm einen guten Tag und stellte sich neben ihn. Wigbolt brummte einen Gruß und schaute abwesend zur Seite. »Da hängt etwas Seltsames in der Luft«, murmelte er vor sich hin. Seine schwieligen Finger zeigten gen Westen. »Da hinten lauert das Nachtmeer, ein gesichtsloses Ungeheuer, dessen Körper man nicht zu fassen kriegt. Ich segle ungern zwischen Fang und den Äußeren Riffen. Kein Wunder, dass dieses Meer hier keinen Namen hat. Es gehört dem Namenlosen, der einen Bund mit dem Tod geschlossen hat. Nirgends ist der Düstere so deutlich zu spüren wie hier.« 121
Lethes Blick glitt über den Horizont. Nebelbänke griffen hier und da nach der See. Der ruhige Wellengang ließ nicht erkennen, dass der unbarmherzige Winter bereits wieder einen neuen Sturm ausbrütete. Die trügerische Stille sickerte durch das unaufhörliche Rauschen der Wellen. Jenseits des Nebels schimmerte blassblaue Luft, in der sich nicht eine einzige Nebelmöwe zeigte. An sich war das alles nicht beunruhigend, doch auch Lethe spürte, dass ein Gefühl gespannter Erwartung in der Luft lag. Wigbolt hatte häufiger derartige Vorahnungen. Lethe fragte sich, ob vielleicht der Schiffer derjenige gewesen sein könnte, der ihn in seinem Geist auf die Kraft angesprochen hatte. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Der Kapitän war ein nüchterner Mann. Seine stets wachsamen Augen sahen alles, auch Details, die anderen entgingen. Wahrscheinlich machte auch diese Eigenschaft ihn zu einem der besten Seefahrer des Reiches. »Ich spüre es auch«, sagte Lethe. Wigbolt richtete sich auf und schaute den Jungen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu sprach. »Ihr seid ein besonderer Bursche, Lethe«, sagte er schließlich. »Alles an Euch sieht gewöhnlich aus, aber wenn Ihr in der Nähe seid, passieren oft die ungewöhnlichsten Dinge.« Darauf wusste Lethe nichts zu erwidern. Was solche Dinge betraf, hatte er noch nie über sich nachgedacht. Hatte Wigbolt Recht? Mit seinem Geist war alles in Ordnung, und er spürte, wie sich um ihn herum Kräfte sammelten, wie er immer häufiger richtige Entscheidungen traf. Jemand hatte in seinem Geist geflüstert und ihn gefragt, ob er die Kraft besitze. In seinen Träumen redeten Stimmen auf ihn ein, drängend und bisweilen mit unverhohlenem Zwang. Er betrachtete diese Träume als Visionen und fragte sich, warum er mit niemandem darüber sprechen durfte. Doch dass auch unabhängig von seinem Geist seltsame Dinge um ihn herum geschahen – Dinge, die Wigbolt mit seiner Anwesenheit in Verbindung brachte –, darüber hatte er noch nie nachgedacht. Und es war eine völlig neue Perspektive. Andere hielten ihn offensichtlich für bedeutend, nur hatte er selbst 122
keine Ahnung, warum das so war. Es machte ihn unruhig; er konnte die Vorgänge in ihm selbst und um ihn her nicht steuern. Matei hatte gesagt, er sehe seinen Lehrling geistig wachsen, doch Lethe selbst spürte wenig davon. Er zuckte die Achseln und antwortete: »Ich bin vor allem verwirrt.« »Von Matei habe ich aber gehört, dass Ihr schon einige Rätsel gelöst habt«, sagte Wigbolt. »Warum solltet Ihr da verwirrt sein?« »Es geht nicht um die Rätsel. Es hat mehr mit mir selbst zu tun.« Lethe fragte sich, ob er vielleicht mehr erzählen sollte. Zu Wigbolt hatte er keine solche Beziehung wie beispielsweise zu Feste Hand. Doch der Kapitän verhinderte, dass er sich entscheiden musste. »Dann solltet Ihr Euch mal mit Matei unterhalten. Reden ist nicht gerade meine Stärke.« Wigbolt ließ die Reling los, drückte die Hände in die Seiten und reckte sich. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und betrachtete die Segel, die schlaff herabhingen. Der Wind hatte sich fast vollständig gelegt. Die Wellen passten sich der Stille an; abgesehen von ein paar Kräuseln war die Wasseroberfläche glatt wie ein Spiegel. Ein gelbgrauer Schleier zog wie der Schatten einer Armee am Horizont auf. Das stets hörbare Geräusch der See sank zu einem Flüstern herab. Wigbolt schaute erst zum Himmel und suchte dann das Meer in allen Richtungen ab, während er unruhig an seinem Bart zupfte. »Leere«, murmelte er. »Ich hab's gewusst.« Lethe erinnerte sich, dass die Stimme in seiner letzten Vision über eine Leere gesprochen hatte. Wigbolt drehte sich zum Steuerrad um. »Feste Hand!« »Ja, Wigbolt?«, antwortete der Steuermann. »Wie lange ist es her, dass wir eine Leere erlebt haben?« Die Stille, die sich über dem Meer ausgebreitet hatte, legte sich auf den Kühnen Furcher. Feste Hand klemmte das Steuerrad fest und kam zu ihnen. »Zwölf Jahre, würde ich sagen«, meinte er. »In dem Jahr des großen 123
Sahmandersturms, der den Feuerturm von Kapweg auf Karwel aus seinen Fundamenten riss und Hunderte Seeleute das Leben kostete.« Wigbolt nickte zustimmend. »Und wie lange hielt diese Leere an?« »Sechs Tage. Gleich darauf kam der große Sturm.« »Ist diese Leere so etwas wie eine Windstille?«, fragte Lethe. Wigbolt nickte. »Nicht einfach nur Windstille, sondern vollkommenes Nichts, nicht der geringste Windhauch. Mein Vater, Seefahrer Nyndar, erzählte mir einmal, er habe mit seiner Karavelle Wilder Windfänger zwischen den Äußeren Riffen und Fang eine Leere von sage und schreibe sechs Wochen durchgemacht. Der Mangel an Trinkwasser und frischer Nahrung hat damals zehn Besatzungsmitglieder das Leben gekostet.« Lethe wurde bewusst, welche möglichen Folgen sich aus der Situation entwickeln konnten, in die sie geraten waren. Wenn die Leere wirklich tagelang andauern sollte, würden sie niemals früh genug in SerthHafen einlaufen. Der Kühne Furcher glitt immer langsamer über die glatte See wobei die Karavelle nur noch ein leichtes Kräuseln des Wassers verursachte. Die Segel hingen schlaff und still. Selbst das fortwährende Knacken der Wanten und des Schiffsrumpfs sanken zu einem kaum noch hörbaren Knarren herab. Keine Nebelmöwen, stellte Lethe plötzlich fest. Keine Geräusche. Alles versank in tiefer Stille. Er nahm einen leicht säuerlichen Geruch wahr, der sich mit dem Salz und den stets vorhandenen Ausdünstungen des Teers vermischte. Zugleich schlich sich ein wachsendes Gefühl der Unruhe in seinen Geist. Es war schon ein seltsamer Zufall, dass ausgerechnet ihnen dies zustoßen musste. Lethe betrachtete die Wasseroberfläche und rechnete beinahe schon damit, dass gleich ein Ungeheuer aus der Tiefe auftauchte, wie im Golf von Agbayar, doch die Oberfläche blieb ruhig. Das sind die Augenblicke, in denen Visionen erscheinen, dachte er, doch seine Gedanken blieben so unangetastet wie das Meer. 124
Am Nachmittag lag der Kühne Furcher unbeweglich auf einer spiegelglatten See. Das Schiff drehte sich ganz langsam um die eigene Achse. Der Bug zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Wigbolt, Feste Hand und Bootsmann Kalyk beratschlagten, was man tun könne. Doch auch die Diskussion drehte sich im Kreise; keiner hatte eine vernünftige Idee. »Wir haben doch noch zwei Ruderriemen«, hatte Kalyk erklärt. »Sollten wir nicht versuchen, in Bewegung zu bleiben?« »Sinnlos«, antwortete Wigbolt, der sich hingesetzt hatte. »Das sind alte, dünne Ruder zum Anlegen. Mit denen können wir bestenfalls und unter größter Kraftanstrengung eine halbe Seemeile am Tag schaffen. Wir sollten unsere Kräfte lieber für den unvermeidlichen Sturm nach der Stille aufheben.« Lethe lehnte am Steuerrad. Mit halbem Ohr lauschte er dem Gespräch, während er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Er dachte an sein Leben auf Loh zurück. Im Nachhinein erschien es ihm unbedeutend und sorglos. Myrde, Ervin und seine Mutter hatten die Hauptrollen gespielt. Unwillkürlich legte sich ein kurzes Lächeln auf seine Lippen, als er sich die drei Menschen in Erinnerung rief, die ihm am allermeisten bedeutet hatten – und noch immer bedeuteten –, obwohl er neuen interessanten Menschen begegnet war. Plötzlich erschien Llanfereit hinter ihm. Lethe hatte ihn nicht kommen hören und fuhr vor Schreck zusammen, als der Meister unvermutet fragte: »Stecken wir etwa in einer Leere?« Lethe drehte sich um und nickte. Llanfereit schaute zum Himmel und suchte den Horizont ab. »Oh, oh, alter Mann«, hörte Lethe ihn murmeln, »wenn das mal nicht die Hand des Düsteren ist. Mathathruin ist erwacht.« Mathathruin – diesem Namen war Lethe vorher noch nie begegnet, doch der bloße Klang ließ in seinem Innern Düsternis entstehen. Einmal mehr begriff er, dass in seinem Geist Wissen gespeichert war, das er bislang noch nicht direkt angezapft hatte. Doch ihm blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Llanfereit fasste ihn an der Schulter und gab ihm mit des anderen Hand ein Zeichen. 125
»Kommt mal mit.« Er führte Lethe zur Reling, beugte sich vornüber und starrte ins Wasser. »Wenn die Oberfläche des Reichs das Heute ist, könnte man die Tiefen des Meeres als die Vergangenheit betrachten.« »Und der Himmel ist die Zukunft«, brummte Wigbolt, der ihnen nachgelaufen war. »Ein kluger Gedanke, Kapitän«, sagte Llanfereit. Lethe fragte sich, warum Llanfereit dies gesagt hatte. Anscheinend hatte Wigbolt es sofort verstanden, sonst hätte er nicht so spontan reagiert. Lethe bekam das Gefühl, die beiden Männer wollten irgendein Spiel mit ihm treiben. »Was glaubt Ihr, wo der Düstere wohnt, Lethe?«, fragte Llanfereit. Lethe wollte mit den Achseln zucken, antwortete dann aber mit einer Gegenfrage: »In der Tiefe des Meeres?« Llanfereit schüttelte den Kopf. »Die Tiefe ist das Schlachtfeld, Junge. Kein Wunder, dass Ihr es nicht wisst. Ich habe selbst Hunderte … äh, Dutzende von Jahren darüber geforscht. Meine Schlussfolgerung ist, dass er in der Erde festgehalten wird. Dorthin ist er durch das Bemühen vieler Wesen gelangt. Dazu werde ich später etwas sagen. Einmal in neuntausend Jahren hat er genügend Kräfte gesammelt, um Teile seines Wesens an die Erdoberfläche zu schicken.« Llanfereit seufzte. »Leider heißt das nicht, dass er in der Zwischenzeit untätig ist. Auf verschiedene Arten und über allerlei Wesen spinnt er sein Netz von Intrigen. Das Problem ist zudem, dass er an verschiedenen Orten auftaucht. Manche sind bekannt, doch der wichtigste Ort wurde noch nicht gefunden; jener Ort, von dem aus er die farblose Magie übers Reich verbreitet. Der Mystiker Tolbent aus Dracht behauptet, er habe Beweise, dass die Macht des Düsteren gebrochen ist, sobald sein Versteck entdeckt wird. Tolbent behauptet auch, dazu sei nur ein einziger Mensch in der Lage.« Llanfereit schaute zur Seite. 126
»Der Unmagier.« Lethe nahm es in seinen wachsenden Wissensstand auf. Irgendwo im Hintergrund seines Geistes flackerten Bilder wie verzögerte Blitze auf. Er sah einen Fischer, der ein dreieckiges Netz auswarf. Erneut wunderte er sich darüber. Was konnte das bedeuten? »Ich bezweifle«, fuhr Llanfereit fort, »dass es dem vorherigen Unmagier gelungen ist, den Zufluchtsort des Düsteren zu entdecken. Wäre dies der Fall gewesen, wäre damit der Zyklus der neuntausend Jahre zu Ende gegangen. Die Ereignisse auf Nord-V'ryn aber beweisen uns leider das Gegenteil.« Llanfereit wandte sich an Wigbolt. »Vielleicht sollten wir doch zu rudern versuchen«, sagte er, ohne seinen Bemerkungen von eben weitere Erklärungen folgen zu lassen. Es schien, als habe er die Diskussion zwischen Wigbolt, Feste Hand und Kalyk mit angehört. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Lethe. »Wir haben genügend Zeit für ein ausführliches Gespräch, Junge«, sagte er lächelnd. »Nachdem Ihr nun das Heft in die Hand genommen habt, müsst Ihr Euch noch einiges Wissen aneignen. Kommt.« Llanfereit führte Lethe zu Mateis Kajüte. Die neuen Informationen über den Düsteren ließen Lethe zu der Erkenntnis gelangen, dass erst mit dem heutigen Tag die Suche nach dem Ursprung farbloser Magie so richtig begonnen hatte.
Als Lethe und Llanfereit die Kajüte betraten, standen der Hochmeister und Pit über eine Karte des Inselreichs gebeugt. Ohne aufzublicken sagte Matei: »Leere?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Eine Leere«, sagte Llanfereit. »Und meiner Meinung nach eine, die sich gewaschen hat.« »Das kann unmöglich ein Zufall sein«, brummte Matei, richtete sich auf und rieb sich mit der rechten Hand das Genick. 127
»Bestimmt kein Zufall«, bestätigte Llanfereit, »und das bedeutet, dass wir selbst mit vereinten magischen Kräften nichts ausrichten können. Aber zum Glück haben wir ja noch Lethe.« Der Zauberer lachte herzhaft, doch Lethe erschien es, als wäre dieses Lachen nicht ganz echt. Matei rollte die Karte zusammen. Lethe setzte sich auf die Bank hinter dem Tisch. Pit schob sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Lethe, wir haben schon mal darüber gesprochen: Die Zeit drängt. Der Düstere hat großen Vorsprung. Vielleicht hat er aber auch gar keine Ahnung von unseren Bemühungen. Auf jeden Fall trägt diese Leere nicht gerade dazu bei, unsere Suche zu beschleunigen. Matei, Llanfereit und ich sind der Meinung, dass nur du in der Lage bist, die Sache voranzutreiben.« Lethes Eindruck, dass Pit bei den Beratungen oft auf gleicher Augenhöhe mit Matei und ihrem Lehrmeister agierte, wurde bestätigt. Er schaute Pit von der Seite an. Ihre großen bernsteinfarbenen Augen waren ihm ganz nahe. Er spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Eine undefinierbare Traurigkeit schwelte hinter den Pupillen. Sie zupfte an ihren dunkelblonden Stachelhaaren und schob sich noch etwas dichter an ihn heran. »Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass du über umfassende Fähigkeiten verfügst. Dass du eine Art Sammelbecken außergewöhnlicher Qualitäten bist. Immer mehr Spuren werden sichtbar; für uns, aber sicher auch für dich selbst. Deshalb …« Bei den letzten Worten war ihre Stimme plötzlich heiser geworden. Sie geriet ins Stocken und schaute ein wenig hilflos zu ihrem Meister hinüber. Der ließ sich auf der anderen Seite neben Lethe auf die Bank fallen. Doch bevor er das Wort hätte ergreifen können, fuhr Pit fort. »Wir wollten dich fragen, ob du versuchen könntest, dich selbst in … äh, einen Traumzustand zu versetzen.« Sie flüsterte beinahe. Sie kam noch dichter an ihn heran und streichelte mit der freien Hand sein Haar. »Lethe, du bist mein Freund. Ich würde dir nie Schmerzen zufügen. Es ist durchaus möglich, dass du deine Fähigkeiten noch nicht be128
herrschst. Deshalb ist unsere Bitte mit einem gewissen Risiko verbunden. Es könnte sein, dass du unkontrollierbare Kräfte weckst.« Llanfereit legte seine Hand auf Lethes Oberschenkel. »Versteht uns bitte richtig. Wenn Ihr Euch nicht stark genug fühlt, solltet Ihr es nicht tun. Es ist nur … Wie soll ich es ausdrücken? Wir haben sehr wenig Zeit. Heute Morgen kam eine von Mateis Tauben mit einer traurigen Nachricht aus Mittel-V'ryn. Rayn, der zusammen mit seiner Frau Elin den Vormarsch der farblosen Magie beobachtet und untersucht, wie Ihr wisst, ist von einer Erkundungsfahrt im Nördlichen Nachtmeer nicht zurückgekehrt. Es gibt Anzeichen, dass er und der Fischer, mit dem er sich weit vor die Küste wagte, von einem Meeresungeheuer angegriffen worden sind. Vor einigen Tagen entdeckten Forscher die ersten Spuren farbloser Magie auf Mittel-V'ryn. Der Herrscher des Nachtmeeres ist wieder unterwegs, Lethe. Und wir beschäftigen uns derweil mit dem Entziffern kryptischer Botschaften eines Zauberers aus ferner Vergangenheit.« »Ehrlich gesagt ist es eine reine Verzweiflungstat«, trug jetzt auch Matei sein Scherflein dazu bei. »Nicht dass ich deine Möglichkeiten anzweifle, die Kräfte in deinem Innern zu beherrschen, aber wir hätten dich lieber in einem anderen Stadium darum gebeten. Es sieht wirklich danach aus, dass die farblose Magie erneut zuschlägt. Auf MittelV'ryn wohnen ein paar hundert Menschen, die wahrscheinlich nach Ober-Serth und Mittel-Serth evakuiert werden müssen. Und dabei rede ich noch nicht über die Hinweise, die Llanfereit und ich über die Schluchten von Lan-Gyt gefunden haben.« Die letzten Worte berührten Lethes Geist irgendwo in seinen Tiefen, wo bergeweise ungenutztes Wissen lag. Die Schluchten von LanGyt … Erneut kamen ihm die Landkarten von Lan-Gyt aus seiner Schulzeit ins Gedächtnis. Er betrachtete sie eine nach der anderen, während sich ein gewaltiger Druck hinter seinen Augen aufbaute. Die anderen baten ihn, sich für etwas zu entscheiden, das er längst nicht beherrschte. Pit sagte: »Notfalls werde ich Tag und Nacht an deiner Seite sein, falls es so lange dauern sollte.« 129
Sie sprach mit fester Stimme, doch in ihren Augen standen Tränen. Lethe schaute an seiner Freundin vorbei und starrte auf das kleine Bullauge, hinter dem orangefarbene Glut das Ende des Tages ankündigte. »In mir tut sich alles Mögliche«, begann er zögernd. »Das wisst Ihr auch. Aber ich habe noch keinerlei Zugriff oder Kontrolle über meine Visionen und Gaben. Sie bieten sich zu unerwarteten Zeitpunkten an. Nicht nur ich selbst, auch die Kräfte entwickeln sich noch. Andererseits …« Er starrte in die Ferne und dachte an seine letzten Visionen. Auch die Stimmen schienen von Unruhe ergriffen gewesen zu sein. Nein, es durfte nicht sein, dass die farblose Magie ungehindert vorwärts marschierte, während er als Unmagier abwartete, bis er bereit war, dem Düsteren entgegenzutreten! Wahrscheinlich war er wirklich der einzige Mensch, der eine Wende herbeiführen konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er wichtige Inseln wie Ostander, LanGyt, Romander und selbst Loh zerbröseln, während die Bewohner sich verzweifelt in entlegene Teile des Reiches zu retten versuchten. In einem unerwarteten Gedankensprung kehrte er plötzlich nach Loh zurück. Zu Myrde, Janila, seiner Mutter, Meister Jen, dem Instirium. Die Tatsache, dass man ihn vom Zaubererinstitut geworfen hatte, erschien ihm plötzlich völlig belanglos. Mit dem Abstand etlicher Monate sahen die Probleme von damals geradezu lächerlich aus. Er war überzeugt davon gewesen, sein Leben sei sinnlos. Und jetzt, ein paar Monate später, war er mit einem Mal der einzige Mensch, der das Reich retten konnte. Selbst die mächtigsten Zauberer bauten auf ihn. Sie zeigten Respekt vor seinen geheimnisvollen Fähigkeiten. Und diese waren in der Tat so geheimnisvoll, dass nicht einmal er selbst sie genau beschreiben geschweige denn, bewusst davon Gebrauch machen konnte. »Ich bin noch nicht bereit«, sagte er plötzlich und unterbrach seine Gedanken. Llanfereit schaute ihn stirnrunzelnd und ein wenig erschrocken an. Lethe bemerkte es nicht; er ertrank in Pits Blick. Bitte, tu es!, bedräng130
ten ihn ihre sanften Augen. Tu es, auch wenn du glaubst, du könntest es nicht. »Ich bin noch nicht so weit«, wiederholte er, und mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: »Ich werde es aber tun, sobald ich dazu in der Lage bin.« Er stand auf. »Ich muss ein bisschen frische Luft schnappen.«
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15 Unmagie (2) »Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Neuntausendjährige sein wahres Schicksal erst erkennt, wenn es zu spät ist.« Aus ›Zweite Anleitung für die Nibuüm‹, von Randoël von Cerin Lethe stand in der Türöffnung von Mateis Kajüte. Die Stille der Leere drang in sein tiefstes Wesen ein. Eigentlich hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er sich in einen Traumzustand versetzen sollte. Vielleicht vollzog sich das von selbst. Unmagie. Das Wort lastete wie ein Bleigewicht auf ihm. Er wusste, dass er ein guter Beobachter war, dass er in Visionen zuweilen ein Stück Zukunft erhaschen konnte. Er wusste aber auch, dass dies nur Nebenerscheinungen dessen waren, was Unmagie genannt wurde. Er konnte sich kein Bild vom Gegenteil der Magie machen, doch vielleicht sollte er sich einmal Gedanken darüber machen, was Magie eigentlich wirklich war. Meister Jen hatte Lethe außerhalb des Unterrichts auf dem Instirium schon einiges darüber erzählt. Ein Magier, der Zaubersprüche einsetzte, um die Wirklichkeit zeitweise zu verändern, beherrschte die kleine Magie. Die große Magie, wie die Unwiderstehliche Aufforderung oder die Basalen Beschwörungen, veränderte die Wirklichkeit definitiv. Magie, jedenfalls die von den Meistern und Hochmeistern auf Loh benutzte Zauberei, beruhte auf der Macht des Wortes. Ein Meister, der die Wortfolge der Aufforderungen oder Beschwörungen anwen132
den wollte, musste über weitreichende Kenntnisse von diesen Worten verfügen, gleichzeitig aber auch die einzig richtige Aussprache beherrschen. Doch das war natürlich noch nicht alles. Wer als Magier geboren wurde, verstand die Worte mit Materie zu verschmelzen, sodass diese dadurch verändert wurde. Magie ist also Veränderung der Wirklichkeit, zeitweilig oder ständig, hörte Lethe Meister Jen eindringlich sagen. Ach ja, damals hatte sein Lehrmeister noch die stille Hoffnung gehegt, auch Lethe könne eines Tages seine Fähigkeiten zu Zauberei entfalten. Lethe versuchte logisch zu denken. Wenn Magie die Wirklichkeit veränderte, was bewirkte dann Unmagie? Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, ganz dicht an der Antwort zu sein. Lediglich die letzte Mauer des Unverständnisses musste noch eingerissen werden. Aber wie? Er sollte wirklich einmal versuchen, seine Visionen in den Griff zu bekommen. Vielleicht würden ihm ja dort Antworten angeboten. Er drehte sich entschlossen um und zog die Tür hinter sich zu. Ohne die anderen anzublicken, ging er zu Mateis Koje, legte sich der Länge nach hin und schloss die Augen … Binnen weniger Sekunden erhob sich ein Sturm, der kurz darauf zu einer flauen Brise verebbte. Kälteschleier scheuerten an seinem Körper: Hastig öffnete er die Augen. Er lag an einer unmöglichen Stelle, auf einer Säule, Hunderte Meter über dem Meer. In der Säule wohnten die Geister Tausender Menschen. Er spürte, wie er sich von seinem Körper befreite, ganz normal, als mache er das jeden Tag. Er fühlte, wie er sich von Lethe, dem Jungen, der auf dem Schwind sein Vergnügen im Sammeln weißer Hornmuscheln für seine Sammlung gesucht hatte, in eine immaterielle Entität verwandelte. Er schaute sich um und sah die Säule in der Tiefe unter sich. Ein winziges Gebilde lag darauf. Sein Körper. Namenlos, ohne Identität oder Seele. Er war zu einer Anhäufung von Gefühlen geworden, befreit von der unangenehmen Belastung durch Knochen und Fleisch. Es war ein Erlebnis voller Euphorie. Er dachte es nicht, er war einfach ein Gedan133
kenstrom. Wolken wirbelten um seine Entität herum. Eine Windhose zog ihn in die Höhe. In der Wolkendecke entstand eine Öffnung. Eine Hand fasste nach ihm. Der Zeigefinger, der ihn berührte, war zweimal so groß wie ein erwachsener Mensch. Die Hand verschwand. Die Vision geriet ins Wanken und änderte ihre Atmosphäre, bekam ein anderes Farbdekor. Er lag wie ein Wasserfahrzeug in einem endlosen Meer und warf einen Blick auf das Wasser, aus dem unruhige kurze Wellenkämme auftauchten und unkontrolliert miteinander kollidierten. Über dem Horizont schimmerte ein breites gelbes Band. Eine Vogelschar kam dicht über der Wasseroberfläche kreischend herbeigeflogen. Als die Vögel ihn erreicht hatten, flatterten sie orientierungslos herum, wobei sie manchmal fast ineinander stießen. »Lethe Welmsson, Ihr erscheint schon wieder. Aber ich habe keine Antworten, und Ihr habt noch keine Fragen.« Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Lethe versuchte festzustellen, wem sie gehörte. War es Dyvoce? Er glaubte es nicht. »Macht Euch keine Gedanken, das ist vergeudete Energie. Ich wohne in der Tiefe, wo auch der Düstere sein Reich hat.« »Der Düstere«, sagte Lethe unwillkürlich und bewältigte seine wie eine Riesenwelle heranbrausende Angst. »Iarmongud'hn?« Ein freudloses Lachen entfuhr der Stimme. »Ha, Iarmongud'hn. Wenn es nur der wäre, dann wäre der Fluch der verbotenen Magie schon lange ausgerottet. Nein, Lethe, der Drache ist nur ein Werkzeug in seinen Händen. Ein lebensgefährliches Werkzeug, das ja. Der Zyklus vor dem letzten Zyklus wurde zur Katastrophe, weil es dem Zauberlosen nicht gelang, den alten Drachen zu zügeln.« Eine lange Stille trat ein. »Lest über die Paladinmeister«, erklang es unvermutet eindringlich. »Iarmongud'hn ist der Weg zum Düsteren. Einer Eurer Namen in den verloren gegangenen Legenden ist ›der letzte Paladinmeister‹. Um zum Wesen der farblosen Magie vorzudringen, müsst Ihr auf Iarmongud'hn reiten, ihn zwingen, Euch den Weg zu zeigen, der zum Zufluchtsort des Düsteren führt. Aber es gibt noch etwas.« Wieder Stille. 134
Die Stimme schien endgültig schweigen zu wollen. »Unmagie«, sagte Lethe und, versuchte, die Stimme wieder zum Reden zu bewegen. »Was ist Unmagie'?« Die Stille veränderte sich, schien aus einem langen, tiefen und unhörbaren Seufzer zu bestehen. »Ihr wollt es nicht wissen, noch nicht.« Dies wurde so leise geflüstert, dass Lethe für einen Moment glaubte, es sei ein eigener Gedanke gewesen. Erst als die Stimme und ihr Besitzer sich von ihm entfernten und die Vögel plötzlich krächzend und protestierend von ihm wegflogen, wurde ihm klar, dass es kein eigener Gedanke gewesen war. Seine Vision geriet ins Stocken. Die Zeit bewegte sich schneller. Er schoss wie ein Vogel in die Höhe, dem Himmel entgegen. Am höchsten Punkt schien er sich in einen Stein zu verwandeln und sauste wieder nach unten. Die Säule tauchte auf, direkt unter ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er seinen Körper auf sich zurasen. Im nächsten Moment landete er mit einem unangenehmen Schlag und spürte, wie seine irdischen Bande ihn festhielten. Dies alles hatte sich binnen weniger Sekunden abgespielt. Er verlor das euphorische Gefühl der Leichtigkeit. Schmerzhafte Stiche schossen wie Pfeile durch seinen Körper. Er starrte weiter an die Decke der Kajüte, ohne sich der Anwesenheit von Llanfereit, Matei und Pit bewusst zu sein. Er war so durchdrungen von dem, was er mitgemacht hatte, dass die Gedanken blockierten. Eigentlich war ihm nur eines bewusst: Es war ihm wieder nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, was Unmagie war. »Ihr wollt es nicht wissen«, hatte die Präsenz gesagt. Das weckte eine undefinierbare Angst in ihm. Die Worte der Stimme lasteten schwer auf ihm. Er zweifelte, ob er genügend Kraft besäße, seine Aufgabe, worin sie auch bestehen mochte, angemessen auszuführen. Verschiedene Möglichkeiten tauchten auf, doch sie alle gefielen ihm nicht. Er setzte sich aufrecht hin und schaute mit großen Augen auf Pit. Sie 135
und die beiden Magier saßen nebeneinander auf seiner Koje und warteten gespannt. »Da war eine Stimme«, begann er und erzählte ihnen alles.
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16 Sturmburg »Selbst wenn Sturm lauert am Himmelsrand und Lohgipfel schläft unter Wolkendecken, bleibt Sturmburg die Feste aus Fels und Sand, wo Spruch und Kraft den Zauber wecken. Selbst wenn des Nebels Rätseltuch den schwarzen Stein dem Aug' entzieht, wird Magie der Wirklichkeit Fluch, wo Mystisches niemand Fremder sieht. Und wenn dann das letzte Sonnenlicht über die schwarzen Steine streicht, dann macht das Haus die Augen dicht, während das Meer einem Fenster gleicht. Denn Lohgipfel ist seine eigene Insel und Sturmburg sein eigener Stein.« Aus ›Gedichte in der Brandung‹, von Gyrde Kulmsson aus Mittel-Loh Auf Lohgipfel, der felsigen Insel nördlich von Loh, trafen sich die Hochmeister auf Vorschlag von Berre und Wyl. Die beiden Zauberer hatten Kalktauben losgeschickt, verzauberte Tiere, die einer magischen Geruchsspur folgten, die alle Hochmeister miteinander verband. Harkyn, der jüngste Hochmeister, und der kahlköpfige Balmir ka137
men mit einem flachen Küstensegler, der den bemerkenswerten Namen Windblatt des Nordens trug. Sie waren einen halben Tag zuvor aus dem kleinen Hafen bei den Tempeln von Wackburg auf Nord-Loh aufgebrochen. Der alte Gesyrah gesellte sich erstaunlich munter zu ihnen, als sie am einzigen Landesteg der Insel aus einem Ruderboot an Land stiegen. »Ich habe euch kommen sehen. Ich selbst komme gerade aus Fernion«, sagte er und zeigte auf eine schwarze Sologaleere, das einzige andere Schiff, das im Schutz der kleinen Sturmbucht vor Anker gegangen war. »Die Faenich von Hemgara brauchte noch nicht einmal einen Tag dafür, trotz des starken Westwindes. Ich kenne den Skipper, Richter aus Loh, einen verdienstvollen Zaubermeister. Er kam aus RomanderStadt und wollte eigentlich auf Fernion überwintern. Doch ich konnte ihn überreden, mich hierher zu bringen. Er wartet hier, bis wir fertig sind, und setzt uns dann wieder nach Loh-Hafen über. Euer Küstensegler kann also zurücksegeln.« Nachdem sie den Matrosen im Ruderboot darüber unterrichtet hatten, stiegen sie zu dritt die zwei Kilometer lange, in die Felsen geschlagene Treppe zur Sturmburg hinauf, die mit ihrem schwarzen Granit wie ein eckiger Schattenriss über den sie umgebenden Felsen thronte. Balmir erzählte, dass der Skipper des Küstenseglers lange geschwankt habe, ob er sich überhaupt in die Nähe der Sturmburg wagen sollte. »Erst als Harkyn und ich den Zauber der Spiegelnden Wiederkehr des Windes um sein Schiff gewunden hatten, war er bereit, uns überzusetzen.« Gesyrah grinste. »Mir ist dasselbe passiert. Die Angst vor Sturmburg sitzt tief bei den Leuten, selbst bei Richter, der schließlich ein Loher ist und nicht ganz unbewandert in der Zauberei. Ich entschied mich für die Ultimative Verbannung Dahinbrausender Windböen, den erprobten Zauberspruch von Karn. Das macht zwar alles ein wenig schummerig, aber man hat sogar weniger Ärger mit dem Seegang. Bei diesem lästigen Westwind war das eine erhebliche Erleichterung für meine alten Kno138
chen, vor allem bei dem kurzen Wellenschlag in der Straße von Fernion.« Einige Zeit stapften sie schweigend weiter, gegen den Wind ankämpfend, während sie ihre Forma mit einer Hand festhielten. »Irgendeine Idee, warum wir gerufen wurden?«, fragte Harkyn. Gesyrah zuckte mit den Achseln. »Das wird wohl mit der farblosen Magie zusammenhängen, die sich auf den Äußeren Riffen gezeigt hat.« Balmir und Harkyn nickten ernst. »Matei selbst wird nicht kommen, nehme ich an«, sagte Balmir. »Er ist mit dem Unmagier auf dem Weg von den Spiegelinseln zu den Äußeren Riffen, um sich ein Bild von der Bedrohung zu machen.« »Woher wisst Ihr das?«, fragte Gesyrah mit leicht verwundertem Unterton. Balmir wurde rot. »Ich war zufällig kurz in Haramat, vor zwei Wochen, auf Besuch bei Meister Dignor. Da sprach ich jemanden, der Wigbolt mit dem Kühnen Furcher hatte auslaufen sehen. Das ist das Schiff, mit dem Matei, Lethe und einige andere unterwegs sind.« Gesyrah schaute Balmir noch einige Zeit nachdenklich an, während sie weiter hinaufstiegen. Aber der alte Hochmeister schwieg. Dann drehte Harkyn sich um und suchte den gesamten Horizont ab. »Kein weiteres Schiff in Sicht. Da heißt es wohl warten auf die anderen drei.« Kurz darauf wurde er Lügen gestraft. Denn als sie Sturmburg fast erreicht hatten, öffnete sich knarrend die große Gorfenholztür, und Karn trat heraus. Er trug zu diesem Anlass einen dunkelgrünen Mantel aus dickem, kreuzweise gewebtem Satin aus Handera. Auf seiner Brust prangte ein dunkelrotes Runenzeichen auf grünem Grund. Das Gesicht des ersten Hochmeisters verschwamm wie gewohnt in einem Feld Unfokaler Trübung. »Ah, da seid Ihr ja«, sagte er offensichtlich gut gelaunt und trat einen Schritt zur Seite, um sie einzulassen. »Berre ist auch schon da, also warten wir einzig noch auf Wyl. Matei kann nicht kommen. Seine 139
Taube traf heute Morgen bei mir ein. Er ist auf dem Weg zu den Äußeren Riffen. Ihr wisst ja, was da los ist. Ich nehme an, dass Matei und seine Gefährten dort einiges zu tun haben.« Sie betraten einen Saal, der von einem langen Tisch beherrscht wurde, an dem mindestens zwanzig Personen Platz fanden. An der gewölbten Decke, mehr als dreißig Meter hoch, hingen zwei goldene Kronleuchter. Die Kerzen brannten. Das war auch nötig, denn Sturmburg besaß außer einigen kleinen Nischen keine Fenster. In einem Kamin von riesigen Ausmaßen schlängelten sich die unruhigen Flammen eines mannshohen Feuers empor. Berre saß am Kopfende des Tisches, in eine Schriftrolle vertieft. Als die anderen Hochmeister hereinkamen, begrüßte er sie herzlich. Sie hatten noch nicht einmal alle Platz genommen, als die Tür sich wieder öffnete und auch Wyl erschien. »Wo kommt Ihr denn so schnell her?«, fragte Balmir erstaunt. Wyl seufzte ermüdet, legte den Rucksack ab und lehnte seinen Stab vorsichtig gegen die Tischkante. Dann setzte er die blaue Forma ab und zog den schwarzen Mantel aus. Darunter trug er eine feuerrote Tunika mit dunkelgrauen Knickerbockern. »Ich komme aus Ynystel-Hafen«, sagte er. »Gespräche mit dem Regenten und ein Besuch bei Meister Cuver. Der Skipper meines Fischkutters weigerte sich, gegen den Westwind durch die Straße von Loh zu segeln.« Mit einem erneuten Seufzer ließ er sich in seinen Sessel fallen. »Der Mann hatte wahrscheinlich Recht, denn das hätte ihm einen ganzen Tag Kreuzen eingebracht. Außerdem ist es bei einem solchen Wind ganz schön gefährlich, weil man erst mal ungeschoren an den Alten Burgklippen am Südwestkap vorbeimuss. Der Skipper hat mich an den Tempeln vom Hohen Eim abgesetzt, dem einzigen Ort an der Ostseite der Insel, wo man mit dem Ruderboot an Land kommt. Ich habe fast drei Stunden gebraucht, um hierher zu laufen.« Karn stand auf und gab Wyl ein Zeichen, er solle sich setzen. Mit dem Zeigefinger berührte er kurz das obere der drei vor ihm liegenden Bücher. Danach drehte er sich um und vollzog mit den Fingern einige 140
schnelle Bewegungen. Das Flackern des Kaminfeuers schien plötzlich aus einem anderen Raum zu kommen. »Wir sind wieder zusammengetreten, und zwar schneller als gedacht«, sagte er und ließ den Blick über die anderen Hochmeister schweifen, die Fäuste auf den Rand des Tisches gestützt. »Berre und Wyl haben um dieses Treffen gebeten, aber zunächst möchte ich selbst noch einige Dinge zur Sprache bringen. Was Matei befürchtete, ist eingetreten: Das Biest hat sich befreit. Nord-V'ryn, die nördlichste Insel der Äußeren Riffe, existiert nicht mehr. Zwischen dem Auftauchen der ersten Anzeichen von Pulverisierung und dem Untergang der Insel lag eine Zeitspanne von einer Woche. Eine einzige Woche!« Er schwieg, um die Nachricht bei den anderen einwirken zu lassen. »Auf uns lastet eine große Verantwortung. Die Bevölkerung des Reiches erwartet von uns, dass wir als mächtige Zauberer in der Lage sind, dem Vormarsch der farblosen Magie ein Ende zu setzen. Inzwischen aber wissen wir, dass wir nicht dazu imstande sind. Mit unseren Gaben und Fähigkeiten können wir keinerlei Einfluss auf die Taten des Düsteren nehmen. Im Gegenteil, wenn jemand von uns einen Versuch in dieser Richtung unternehmen sollte, hätte dies die genau entgegengesetzte Wirkung. Die zerstörerische Kraft der farblosen Magie verstärkt sich in hohem Maße, sobald auch nur geringste Anzeichen von Magie in ihrer Nähe auftauchen. Auf Mateis Ersuchen habe ich in der Kaiserlichen Bibliothek in Romander-Stadt nach zusätzlichen Berichten gesucht, was vor neuntausend Jahren wirklich geschehen ist.« Seine rechte Hand landete mit einem Knall auf den drei Büchern. Staub wirbelte auf und verteilte sich langsam sinkend über den ganzen Tisch. Karns Stimme wurde zu einem Flüstern. »Und ich habe etwas gefunden.« Die Hochmeister starrten gebannt auf die Bücher. »Drei Hinweise«, fuhr Karn fort. »Alle drei enthalten dieselbe Warnung. Ich werde euch jetzt nicht mit Einzelheiten belästigen. Im Wesentlichen geht es darum, dass die farblose Magie immer schneller fortschreitet, je mehr Terrain sie erobert hat. Das würde ich allerdings 141
nicht als zusätzliche Bedrohung bezeichnen, sondern als tödliche Gefahr für das Reich schlechthin. Lohgipfel würde sich binnen weniger Tage unter unseren Füßen in nichts auflösen.« »Und dabei würde nicht einmal ein Verweben Langfristiger Ausschlüsse helfen«, sagte Balmir. Harkyn stand auf, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ich frage mich, warum wir nicht mehr über farblose Magie wissen. Warum sind wir kaum über diese heimtückische Gefahr informiert? Was ist farblose Magie eigentlich genau? Hat einer von euch eine Vorstellung davon? Jetzt, da bekannt wird, dass Nord-V'ryn im Meer verschwunden ist, werden die Leute Fragen stellen. Und ich wüsste wahrhaftig nicht, was ich ihnen ehrlicherweise antworten soll.« Harkyn schaute seine Gefährten an, einen nach dem anderen, ließ den Blick ein wenig länger auf Karn ruhen und setzte sich dann wieder. Karn seufzte und nahm ebenfalls Platz. »Das Tabu, Harkyn. Farblose Magie war nach Raielfs Tod das größte Tabu von ganz Romander. Das hat bei uns für einen enormen Informationsrückstand gesorgt. Sollte es uns noch gelingen, das Ruder herumzureißen«, es hörte sich an, als glaubte Karn selbst nicht daran, »haben wir es vermutlich einzig dem Umstand zu verdanken, dass Matei sich damit beschäftigt hat, ohne sich um das Tabu zu scheren. Ich denke, dass wir solche Tabus als Hochmeister künftig einfach negieren sollten.« Wyl sprang auf. Die Hochmeister erwarteten einen heftigen Protest, wurden aber enttäuscht. »Karn hat Recht. Ich habe Matei wegen seiner Studien verflucht, muss im Nachhinein aber zugeben, dass wir schon vorher alles über diese farblose Magie hätten erfahren müssen.« »Hat Wyl demnach seine Meinung geändert?« Balmirs Stimme klang ein wenig hämisch. »Ist das denn ein Zeichen von Schwäche, Balmir?«, erwiderte Wyl etwas lauter, doch noch immer erstaunlich gelassen. »Gute Argumente oder unbestreitbare Tatsachen wie der Untergang von Nord-V'ryn soll142
ten jeden zum Nachdenken bringen. Ich habe meine Meinung geändert, ja. Und das betrachte ich als Beweis von Stärke.« Balmir errötete leicht und beeilte sich zu sagen: »Ihr habt Recht, Wyl. Tut mir Leid.« Wyl lächelte. »Heute geht es doch einzig um die Frage, wie wir unseren Informationsrückstand beheben können. Hat sich außer Matei und Karn noch jemand Gedanken darüber gemacht?« Berre stand auf, während seine Hand nach der Schriftrolle griff, in der er vorher gelesen hatte. »Gesyrah und ich haben um dieses Treffen gebeten«, begann er. »Unser Vorschlag geht ebenfalls dahin, den Informationsrückstand binnen kürzester Zeit wettzumachen. Vielleicht dürfen wir uns nicht in die Nähe dieser Erscheinungen begeben, trotzdem sollten wir mit unseren magischen Mitteln in der Lage sein, den Kampf gegen die farblose Magie zu organisieren.« Die anderen nickten zustimmend. In der nächsten Stunde wurden Aufgaben verteilt. Jeder Hochmeister sollte eine der wichtigsten Inseln besuchen und dort Maßnahmen treffen, um das Volk zu mobilisieren. Einigermaßen mit sich zufrieden lehnten die Hochmeister sich schließlich zurück. »Da ist noch etwas«, sagte Karn leise. Etwas in seiner Stimme sorgte dafür, dass er sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen besaß. Er blieb sitzen, beugte sich jedoch vor und schaute jeden der Hochmeister durchdringend an. Harkyn bemerkte, dass Karn einen Konzentrischen Hauch Stechender Kompulsation durch seine Maske Unfokaler Trübung sandte. »Ich war in Romander-Stadt«, flüsterte Karn. Seine Hand tastete nach den drei Büchern. Mit den Fingerspitzen berührte er kurz den Rücken des untersten Buches. Die Gesetze der sechsten Ära lautete der Titel. Dann krümmten sich seine Finger, und die Hand wurde zur Faust. »Während meines dortigen Aufenthalts suchte ich mit Hilfe der Ma143
gie der Doppelten Zeit den Hof nach möglichen Spuren von Zauberei ab. Auf diese Weise bemerkte ich die Anwesenheit eines zweiten Hochmeisters.« Jemand schnappte erschrocken nach Luft. Wer es gewesen war, blieb unklar. Karn fuhr fort: »Doch er verbarg dies, da er sich nicht als Hochmeister zu erkennen geben wollte. Er unternahm sogar noch mehr, denn er schützte seine Identität mit einem Schleier Undurchdringlicher Umwebung. Anfangs überraschte und verwunderte es mich nur, doch später kam mir etwas zu Ohren, wodurch die Anwesenheit dieses anderen Hochmeisters Verdacht erregte.« Die fünf Hochmeister schwiegen atemlos. »Am Hof machen Gerüchte die Runde«, fuhr Karn fort, »es habe sich eine Gruppe gebildet, die es auf die Macht abgesehen hat. Und einer von ihnen soll angeblich ein Hochmeister sein.« Der letzte Satz fiel wie ein Stein in die Runde. Niemand rührte sich. Entsetzen hing fühlbar in der Luft. Das Undenkbare war denkbar geworden, stellten fünf der sechs Versammelten fest. Der sechste musste begreifen, dass die oberste Schicht seines Schutzschildes abgeschliffen war. »Ein Verräter«, flüsterte Balmir ungläubig. »Ein Hochmeister!« »Ja, Balmir, Gesyrah, Wyl, Harkyn und Berre, einer von uns. Matei kann es nicht gewesen sein. Ich war es nicht. Einer von euch fünfen hat den Eid aufs Schändlichste gebrochen.« Plötzlich stand Karn abrupt auf. Sein Sessel fiel mit lautem Getöse um. »Ein Verräter!«, schnaubte er. »Ein Eidbrecher! Dass ich das noch miterleben muss! Mir brach es fast das Herz, als ich dahinterkam.« Wütend drehte er sich um und marschierte zum Kamin. Mit einer weiten Ausholbewegung warf er imaginäres Pulver ins Feuer, das entsprechend seiner Wut aufflammte. Entsetzt starrten alle auf seinen gekrümmten Rücken. Nach langem Schweigen meldete Harkyn sich zu Wort: »Karn, die Sache ist wirklich schlimm, aber wir müssen sie als gegeben hinnehmen. Lasst uns gemeinsam überlegen. Ich habe eine Idee, wie wir den Verräter auf jeden Fall ausschalten können.« 144
Karn drehte sich langsam um. Die Flammen sanken wieder bis zum schwelenden Holz in sich zusammen. Karns Blicke bohrten sich wie schwarze Kohlen durch den Schild Unfokaler Trübung und nagelten jeden der Hochmeister auf seinem Platz fest. »Es sei denn, der Verräter gibt sich hier und jetzt zu erkennen«, flüsterte er. Die Blicke schossen wild durch den Raum. Die Gewissheit, dass sich unter ihnen ein Hochmeister befand, der den Eid gebrochen hatte, schuf völlige Leere. Lange sagte niemand ein Wort. »Es ist unfassbar traurig«, begann Karn schließlich, noch immer flüsternd, »dass es mit uns so weit hat kommen müssen. Eine Schande! Der Verräter bereitet uns allen ungeheure Schande.« »Ich frage mich …«, setzte Harkyn an, stockte dann aber. »Ja?«, drängte Karn. »Sollten wir nicht in der Lage sein, mit magischen Mitteln herauszufinden, wer von uns sich so vergangen hat? Ich entsinne mich, dass die Hochmeister irgendwann im letzten Jahrhundert so etwas getan haben. Damals ging es zwar um etwas anderes, aber sie hatten Erfolg.« »Das war unter Barndel aus Ost-Loh«, sagte Balmir. »Er war mein Urgroßvater. Es waren seltsame …« Karn stellte sich neben Balmir und schaute auf ihn hinunter, worauf der Zauberer sofort verstummte. Karn fasste mit beiden Händen nach dem Tischrand und beugte sich nach vorn. »Eine Willenskonzentration«, seufzte er. »Eine wahrhaftige Desynsiave. Harkyn, seid Ihr Euch darüber im Klaren, wie viel Energie das kostet?« Er griff nach seinem Becher mit süßem Met. »Danach ist in der nächsten Woche keiner von uns imstande, auch nur einen Becher zu heben. Eine Desynsiave beraubt uns jeder magischen Kraft. Nur im äußersten Fall …« Er zögerte. Seine Augen rollten in den Höhlen. »Nun, die Angelegenheit ist wichtig genug.« »Wichtig genug?«, wiederholte Harkyn mit mehr als nur einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. »Die Existenz des Bundes der Hochmeister steht auf dem Spiel. Vielleicht sogar der Fortbestand des 145
ganzen Reiches! Was, in des Schöpfers Namen, könnte wichtiger sein? Wenn die Menschen von Romander darüber informiert wären, was würden sie wohl von uns erwarten? Nein – fordern!« Karns Blick wurde kalt. Seine Pupillen waren nur noch schwarze Stecknadelköpfe. Er streckte sich und schob das Kinn vor. »Der Jüngste weist den Ältesten zurecht«, meinte er ironisch lächelnd. Mit verhaltener Wut fuhr er fort: »Habt ihr auch nur die geringste Vorstellung davon, was eine Willenskonzentration mit euch anstellt? Wenn alles gut geht – und das ist immer noch die Frage – kommen wir mit dem Leben davon. Um nicht mehr und nicht weniger geht es! Unter den Halbmeistern hat die Willenskonzentration einen mythischen Klang erworben, aber wenn es darauf ankommt, ist es ein Kampf im Grenzbereich unserer Fähigkeiten. Wie ihr wisst, habe ich während meines Studienjahres die Geschichte der Magie als Sonderfach gewählt. Ich kann euch hier auf der Stelle die Namen von mindestens vier Hochmeistern nennen, die während einer Willenskonzentration zu Tode gekommen sind. Ich zögere nicht umsonst, Harkyn. Denkt in Zukunft bitte zweimal nach, bevor Ihr meine Bedenken in den Wind schlagt.« Seltsamerweise duckte sich Balmir unter Karns heftiger Tirade, und auch Berre wich erschrocken zurück. Harkyn jedoch verzog keine Miene und errötete auch nicht; stattdessen hielt er Karns Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Blicke prallten wie unbehauene Mangitstein aufeinander. Schon bei anderer Gelegenheit hatten sich Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Hochmeistern gezeigt, doch noch nie so deutlich. Es dauerte eine ganze Weile, bis Karn seinen Sessel wieder hinstellte. Er setzte sich und sagte matt: »Dann lasst uns darüber abstimmen. Eine Willenskonzentration, hier und jetzt, oder nicht? Wer ist dafür?« Harkyn hob die Hand. Balmir folgte zögernd seinem Beispiel. Berre und Gesyrah blickten einander an und hoben gleichzeitig die Hand. Wyl schaute mit dunklem Blick zu Karn hinüber. Keiner der beiden rührte sich. »Dann ist es beschlossen«, sagte Karn und schüttelte nachdenklich 146
den Kopf. »So sei es. Wir können nur hoffen, dass die Willenskonzentration uns liefert, was wir wünschen. Lasst uns jetzt die Vorbereitungen treffen. Ich schlage vor, dass wir zunächst etwas essen und trinken, denn es kann die ganze Nacht dauern.«
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17 Die Willenskonzentration »Der alte Kern Loher Magie bezieht seinen Zauber aus Worten und Wörtern. Damit meine ich nicht nur die Wörter, die Zaubersprüche, Beschwörungen und Illusionen entstehen lassen. Es gibt auch Wörter, mittels deren sich die Meister und Hochmeister untereinander ›erproben‹ können. Lohs Zauberer spinnen ein Netz der Geheimhaltung um ihre Willenskonzentration, doch Styrdal aus Handera, ein außerhalb von Loh geborener Halbmeister, ist davon überzeugt, dass die Loher Zauberer sich auf diese Weise untereinander Sicherheit über die Vertrauenswürdigkeit der anderen verschaffen können. Die Geschichte hat gelehrt, dass dies zuweilen äußerst hilfreich sein kann. Styrdals Vermutung, die Willenskonzentration habe mit dem Aufzeigen des Wahren Namens eines Meisters oder Hochmeisters zu tun, wurde von den Loher Magiern bislang mit Schweigen beantwortet. ›Einen besseren Beweis können sie mir nicht liefern‹, meinte der Mann aus Handera dazu.« Aus ›Spurensuche nach dem Wesen der Loher Magie‹, von Carhuelha aus Ynystel Sechs Hochmeister murmelten gleichzeitig jenen Spruch, den sie als die Zeitlose Loslösung Vom Körper Und Der Erde kannten. ›Stellvertreter des Todes‹ hatte der große Raielf den Zauberspruch einmal genannt. Die drei Elemente ihres Bewusstseins – Körper, Geist und Seele – lösten sich voneinander und sammelten sich in einem Becken vollkommener Stille. Dieser immaterielle Ort besaß einen Namen: Leg148
nahifnal beziehungsweise Schoß des Geistes. Dort manifestierten sich sechs Präsenzen. Jeder der Hochmeister vollzog diesen Prozess auf individuelle Weise, je nach seinem Charakter. Der eine zurückhaltend und abwartend, der andere aufdringlich und kraftvoll. Alle sechs aber waren anwesend. Die Hochmeister kannten sämtliche Finessen der Riten einer Willenskonzentration. Diese waren Teil der großen Prüfung gewesen. Ohne vollständige Kenntnis und Beherrschung dieser Riten wären sie niemals Hochmeister geworden. So waren ihnen die Riten zwar bekannt, doch keiner von ihnen hatte sie jemals ausgeführt. Letztendliches Ziel einer Willenskonzentration war eine Wahrheitsfindung auf der höchsten denkbaren Ebene. Für die Dauer der Konzentrationsphase wurde der individuelle Wille dem kollektiven Willen der sechs Hochmeister unterworfen. Unsauberes Verhalten, Lügen oder – wie in diesem Fall – Verrat würden offen zu Tage treten müssen. Die Willenskonzentration ging auf die Princeps zurück, jene ersten Anfänge von Magie, die in frühen Zeiten von einem unbekannten Zauberer aufgezeichnet worden waren. Die Princeps standen für die Reinheit des Geistes, und zwar auf einem Niveau, das dem Individuum unerreichbar blieb. Jeder Meister, und ganz gewiss jeder Hochmeister musste sich mit dem Ablegen der großen Prüfung diesen Princeps unterwerfen. Lange glaubte man, nur die Reinen im Geiste, eben die Vertreter der Princeps, seien der Zauberei fähig. Doch die unwiderlegbare Tatsache der Existenz dunkler Magie und anderer verwerflicher Formen der Zauberei hatte diese Überzeugung wie ein Schilfrohr am Rande des Nachtmeers geknickt. Dennoch blieben die Princeps Grundlage der Loher Magie. »Mangels einer besseren Theorie«, hatte der berühmte Hochmeister Rebalt Falyrse stets gesagt. Harkyn hatte die Schwäche der Princeps immer als schwankende Basis für den Loher Machtanspruch betrachtet. Die Gefahr einer Infiltration durch dunkle Magie war dadurch stets gegeben. Er hatte sogar eine Studie zu diesem Thema unternommen, um nach neuen Grundregeln zu suchen, die Loh größere Sicherheit verschaffen sollten. Diese Studie bestand zum größten Teil im Aufspüren jahrhunderte- und 149
jahrtausendealter Schriften über anders geartete Zauberei. Dabei war Harkyn zu einigen grundlegend neuen Ergebnissen gekommen, doch es war noch viel zu früh, um anhand seines heutigen Kenntnisstandes einen Ansatz für überarbeitete Princeps zu formulieren.
Die erste Phase der Willenskonzentration bestand darin, die weltliche Identität abzulegen. Dies fiel den sechs Hochmeistern schwer, denn jeder bezog einen Teil seiner Individualität aus dem Wort, das seinen Namen bildete. Der Name selbst bestand nur aus einem Alltagsbegriff; die wirkliche Identität dahinter umfasste eine um ein vielfaches längere Bezeichnung – in der nur den Hochmeistern bekannten Altsprache – voller Wendungen und Hinweisen, die sich auf wichtige Handlungen, Taten und entscheidende Ereignisse im Leben des betreffenden Hochmeisters bezogen. Die Identität war unter den Hochmeistern als der Wahre Name bekannt. Sollte jemand versuchen, eine Tat oder ein besonderes Ereignis zu verheimlichen beziehungsweise zu beschönigen, würde dies von den anderen als Hiat, als Stocken wahrgenommen werden. Auf diese Weise musste es möglich sein, den Verräter zu entlarven. Harkyn legte als Erster seinen Wahren Namen ab. Im Kern seiner Identität löste er die Kette jener Wörter auf, die seine ersten Lebensjahre beschrieben. Nie zuvor hatte er seinen vollständigen Wahren Namen preisgegeben. So deckte er jetzt all seine Handlungen, all seine Taten, ebenso aber auch seine wichtigsten Meinungen und Schlussfolgerungen bezüglich bedeutsamer Dinge vor den anderen Hochmeistern auf und ließ sie Einblick nehmen in seinen ganz persönlichen Willen. Noch ein wenig verzagt murmelte er den Anfang seines Wahren Namens: »Alaondeirimeiintermyatosuorelimbegenenduruoelachesardemnixaraelyzisterthaqimenkhedemolyn …« Zeit war im Rahmen der Willenskonzentration ein relativer Begriff, doch Harkyn erlebte diesen Vorgang als ziemlich träge und langwie150
rig, schrieb dies aber seinem jungen, noch ungeduldigen Geist zu. Er beendete den ersten Teil seines Wahren Namens mit festerer Stimme: »… spheyruikheembiaertheyfiegeironvaeleilzathebeymalaartzifuongyworchleethaezejym.« Erneut machte sich Stille breit, ausgefüllt mit dem Widerhall des ersten Teils von Harkyns Wahrem Namen. Anschließend rezitierten die anderen fünf Hochmeister den ersten Teil ihres Wahren Namens. Karn sprach als Letzter: »Illaayoikldnembrabynuoliicuzeldepaerjylazauderunythedamnuitheryvinaangyagazaylaothelfuargivabymbreachochudorjadiorgylaavan.« Da er der Älteste war, besaß er auch den längsten Namen. Ein Seufzer aus sechs Kehlen durchwehte die Stille wie der Atem des Nordwindes. Schon jetzt war allen klar, dass die Willenskonzentration sie enorm viel Energie kosten würde. Harkyn bereute seine Entschlossenheit, Karn und die anderen dieser Tortur auszusetzen, keineswegs. Unmittelbar nachdem Karn über den Eidbrecher berichtet hatte, hatte für ihn außer Frage gestanden, dass dies die einzige Möglichkeit war, eine Gefahr, die vielleicht noch bedrohlicher war als farblose Magie, im Keim zu ersticken. Und es war ja auch durchaus denkbar, dass ein direkter Zusammenhang mit der farblosen Magie bestand. Er zwängte sein Wesen, seinen Willen zwischen die der anderen Hochmeister und ging die einzelnen Teile von deren Wahren Namen, die jetzt miteinander verbunden waren, noch einmal durch. Irgendwo in der Namenskette glaubte er für einen kurzen Moment einem Stocken zu begegnen. Doch als er genauer hinschaute, erschien ihm das Muster wieder in sich geschlossen. Leichtes Staunen machte sich in dem noch abgeschirmten Teil seines Geistes breit. Hatte er sich getäuscht, oder wurde die Willenskonzentration manipuliert? War das überhaupt möglich? Öffnete sich einer der Hochmeister den anderen gegenüber nicht in vollem Maße? Soweit er wusste, hatte noch nie jemand so etwas versucht. Rasch überprüfte er seine diesbezüglichen Kenntnisse. Wie konnte ein Hochmeister unbemerkt seinen Wahren 151
Namen und somit etwas aus der Abfolge seiner Taten vertuschen? Sollte dies jedoch möglich sein, bedeutete es, dass der gebündelte Wille von fünf Hochmeistern der Kraft dieses einen Mannes nicht gewachsen war. Das wiederum war kaum vorstellbar. Selbst solche Größen wie Themondyr, Rekbalt Falyrse, Ris Inagew, Dermrod, Raielf und Durat hatten nur geringfügig größere Fähigkeiten besessen als der durchschnittliche Hochmeister. Meistens bezog sich dies auf ein einzelnes Talent, beispielsweise leichteren Zugang zur doppelten Zeit oder tiefere Kenntnis der Feinheiten bestimmter Zaubersprüche. Wer seinen Wahren Namen vor den Augen von fünf Hochmeistern teilweise verbergen oder verändern konnte, war der mit Abstand mächtigste Hochmeister aller Zeiten. Harkyn fragte sich, ob einer der anderen das Stocken ebenfalls bemerkt hatte. Nichts wies daraufhin. So beschloss er denn auch, seine Vermutung vorerst für sich zu behalten. Die zweite Phase der Willenskonzentration begann. Beim Nennen des zweiten Teils ihres Wahren Namens verschmolzen die Geister der sechs Hochmeister vollständig miteinander. Jetzt würde jeder Hiat, jeder Versuch, begangene Taten zu verbergen, fünffach bemerkt werden. Wer immer vorhin das Stocken verursacht hatte, musste nicht nur äußerst sachkundig, sondern auch außerordentlich gerissen vorgegangen sein. Er hatte einen Zeitpunkt genutzt, als es noch nicht so sehr auffiel. Doch von nun an war jeder Betrug ausgeschlossen. Sechs Magienmeister rezitierten den zweiten Teil ihres Wahren Namens in Altsprache. In dem Becken der Stille manifestierten sich ihre Präsenzen in noch stärkerem Maße. Karn, Wyl und Harkyn dominierten eindeutig. Seit er Hochmeister war, war dies immer so gewesen, dachte der individuelle Teil von Harkyns Geist. Er, Karn und Wyl besaßen den stärksten Charakter. Der emphatische Matei hatte stets dazwischen gehangen, während die anderen drei sich offensichtlich mit einer weniger exponierten Stellung zufrieden gegeben hatten. Das besagte jedoch nichts über etwaige Verdachtsmomente. Harkyn untersuchte Wyls Wahren Namen und stellte fest, dass der Hochmeister in den letzten Monaten viel gereist war. Auf subtile Weise schirmte Wyl die angesteuerten Reiseziele ab. Harkyn gelang es den152
noch über einen Umweg, die meisten Orte und Inseln zu identifizieren. Bei einigen fragte sich Harkyn, was in des Schöpfers Namen der Hochmeister dort zu suchen gehabt hatte. Auch andere Hochmeister bedienten sich der verhüllenden Zaubersprüche und versuchten, einige Fakten komplizierter zu gestalten, sodass ihre Bedeutung nicht sofort zu erkennen war. Diesmal jedoch stieß Harkyn auf keinerlei Stocken. Er spürte, wie sein Körper sich noch weiter von ihm entfernte. Doch die Erschöpfung, die jetzt schon sein Wesen erfasst hatte, war unverkennbar. Die dritte Phase der Willenskonzentration war die spektakulärste und kostete die meiste Kraft. Teile des wahren Charakters und unterdrückter Emotionen der Hochmeister wurden offen gelegt. Man hatte ihnen beigebracht, dass dies häufig mit unkontrollierten Gefühlsausbrüchen einherging, die wiederum starke magische Konzentration nach sich zogen. Diese Eruptionen erfassten alle Hochmeister und konnten sowohl psychische als auch physische Verletzungen hervorrufen. An und für sich wurden sie von den Hochmeistern nicht als ungewöhnlich betrachtet. Es waren eben oft Reaktionen des Geistes auf Frustrationen oder Augenblicke heftiger Gefühlsregungen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Karn äußerte noch eine Warnung. Sein an die anderen geketteter Geist mahnte zu Vorsicht und besonderer Aufmerksamkeit. »Während der dritten Phase können sich visionäre Erfahrungen und Halluzinationen abspielen; es kann aber auch zu Wutanfällen und außergewöhnlich starken Ausbrüchen von Magie kommen, durch Zaubersprüche ausgelöst. Versucht also, Ruhe zu bewahren.« Anfangs schien alles geordnet zu verlaufen. Der letzte Teil des Wahren Namens wurde in Gedankensprache rezitiert. Harkyn stellte wieder einmal fest, dass er kaum unter Frustrationen litt. Seltsamerweise fuhr er nur aus der Haut, als etwas im Zusammenhang mit Berre, Wyl und Karn zur Sprache kam. Gegen wen sich dabei sein Zorn richtete, konnte er nicht herausfinden, doch ohne es wirklich zu wollen, formulierte er einen verstärkten Zauberspruch Ungleichförmiger Intrusi153
on Zerspringender Scherben. Einen Doppelspruch, der sowohl geistig als auch körperlich Schaden anrichten konnte. Doch Harkyn merkte zeitig genug, was da ablief, und neutralisierte den gefährlichen Zauber durch eine einfache Abrupte Inversion. Die anderen hatten regungslos zugeschaut. Die Hochmeister Balmir, Berre und Gesyrah entfesselten keine besondere Zauberei oder sonstige Unregelmäßigkeiten. Doch bei Wyl entlud sich sofort ein Unwetter aus Wut, Beschwörungen und Zaubersprüchen. Zum Glück eliminierte meistens der eine Zauber den nächsten; dennoch wurden die anderen hin und wieder von diesem Sperrfeuer an Machtworten getroffen. Flammen, splitterndes Glas, Schwerter, Dolche und andere Waffen schossen auf sie zu. Selbst die Erde begann zu beben. Doch die anderen Hochmeister errichteten Schutzmauern und verteidigten sich mit Gegenbeschwörungen, sodass am Ende niemand ernsthaft verletzt wurde. Sie alle kannten Wyl gut genug, um nicht allzu überrascht zu sein. Er war nun einmal der temperamentvollste von ihnen. Als Karn an der Reihe war, wurde es wieder ruhig. Dennoch glaubte Harkyn, dass Karn selbst jetzt, während der völligen Offenheit einer Willenskonzentration, so etwas wie ein schützendes Feld um seine Persönlichkeit gewoben hatte. Ein ganz ähnliches Gefühl hatte er aber auch bei Gesyrah gehabt. Die Willenskonzentration neigte sich ihrem Ende entgegen. Es war eine irreale, immaterielle Erfahrung gewesen. Noch einmal wiederholten die sechs ihre Wahren Namen, dabei von den fünf anderen genauestens beobachtet. Doch nicht die geringste Unregelmäßigkeit war zu erkennen. Ihre Handlungen lagen offen, und sollte irgendwo ein Stocken auftreten, waren sie jeder für sich, aber auch alle gemeinsam berechtigt, sich näher damit zu befassen und die gesamten Vorgänge und Gedanken im Umfeld des Stockens auf die Waagschale des Eides zu legen. Dieser letzte Test verlief ohne Stocken. Sechs Individuen zogen sich wieder aus dem Becken der Stille zurück und traten den Rückweg zu ihrem eigenen Geist an. Und je mehr 154
sie sich dem alten Zustand näherten, desto stärker spürten sie die Erschöpfung, die sie erfasst hatte.
Lediglich Karn schien nicht unter Ermüdung zu leiden. Blicke aus hellwachen Augen bohrten sich durch sein Feld Unfokaler Trübung. Die anderen waren gefangen in unterschiedlichen Stadien des Kräfteverfalls. »Da haben wir den Salat«, sagte Karn. »Die gute Nachricht ist, dass wir alle überlebt haben. Offensichtlich hat keiner von uns bleibende Schäden davongetragen. Ansonsten aber gibt es nichts Gutes zu berichten. Sechs der mächtigsten Männer von Loh – ach, was sage ich, sechs der mächtigsten Männer des Reiches! – sitzen hier und sind sprachlos. Fünf von uns wissen sich keinen Rat mehr, und der sechste weiß genau, dass seine Pläne nicht verhindert werden können, solange seine Identität nicht aufgedeckt ist.« Er stand auf und ging vor dem Kamin auf und ab. »Hat jemand eine Idee, einen Vorschlag, einen Plan?«, rief er. »Ist es denkbar, dass dieser Hochmeister sich seines Verrats nicht bewusst ist?«, fragte Berre leise. Zunächst reagierte niemand. Karn lief weiter auf und ab. Harkyn, dessen Energie allmählich zurückkehrte, ergriff das Wort. »Unsere Vorgänger hielten das für unmöglich, Berre. Vielleicht lagen sie damit aber falsch. Eine andere Möglichkeit wäre, dass es einem von uns gelang, den Kodex der Riten zu brechen und Teile seines Wahren Namens vor uns zu verheimlichen. Doch auch dies erscheint mir mehr als unwahrscheinlich. Schließlich waren hier jeweils fünf Kräfte vereint, die jeden Hiat im Rezitieren des Wahren Namens sofort hätten bemerken müssen. Wer von uns sollte über derartige Kräfte verfügen? Nie zuvor hat es einen solchen Hochmeister gegeben.« Wyl hob den Kopf. Offenbar wollte er etwas sagen, überlegte es sich im letzten Moment dann aber anders. Harkyn sah den Hochmeister mit glasigen Augen in die Ferne starren und schließlich den Kopf schütteln. 155
»Trotzdem«, fuhr Harkyn fort, »muss ich auf ein Stocken im ersten Teil der Desynsiave hinweisen.« Schockiert schauten ihn die anderen an. Wyl riss die Augen auf. »Dann war ich also doch nicht der Einzige!«, stieß er keuchend hervor. »Mir blieb keine Zeit, es ein zweites Mal zu untersuchen. Es war, als hätte jemand um Hilfe gerufen und erst Sekunden später gemerkt, dass er in seiner Not geschrien hat.« Harkyn nickte. So hatte auch er es empfunden. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass es Wyl selbst gewesen war, und dass er deshalb so genau wusste, wie man es hatte empfinden müssen. Harkyn kam zu dem Schluss, viel zu wenig über die anderen Hochmeister zu wissen. Ihre Herkunft war bekannt, doch mit ihrer Entwicklung hatte er sich nie beschäftigt. Vielleicht wurde es Zeit, dies nachzuholen. Unwillkürlich studierte er die einzelnen Gesichter. In Gedanken schloss er Balmir und Karn aus unterschiedlichen Gründen aus. Wenn er richtig lag, blieben drei Verdächtige: Berre, Gesyrah und Wyl. Er nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen dem Vorleben dieser drei gründlich nachzugehen. Sie trennten sich. »Ich muss nach Oplan«, sagte Karn, als er bereits in der Tür stand. »Altagin, der Vizestatthalter, kennt sich in der Geschichte des Altertums besonders gut aus. Von ihm erhoffe ich mir Informationen über die Ereignisse von vor neuntausend Jahren. Anschließend reise ich nach Elsyn und Xomney. Auch dort hoffe ich weitere Informationen zu erhalten.« Harkyn wunderte sich, dass Karn so nachdrücklich darauf hinwies, welche Reiseziele er hatte. Sahen seine Pläne in Wirklichkeit ganz anders aus, und versuchte er nur, den Verräter in die Irre zu führen?
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18 Die Säule der Wahrhaftigkeit (1) »Wagt euch nicht zu weit vor die Küste der Insel, denn wenn man sich dem Herzen des Schwarzwassers nähert, kann man auf Erscheinungen treffen, die jede Vorstellungskraft übersteigen. Längst nicht jeder Seemann, der so vermessen war, die imaginäre Grenze zu überschreiten, kehrte zurück.« Aus ›Das Schwarzwasser‹, von Zondel Laimersson aus Falm Aernold aus Sey Hirin, der Dulce von Yle em Avrilux, stand alleine im Bogensaal des riesigen Tempelkomplexes der Solitäre am nördlichsten Zipfel der Halbinsel Yle auf Lan-Gyt. Er genoss die säuselnde Stille und wollte sie anfänglich nicht durch eine eigene Bewegung stören. Es war früher Morgen. Die Solitäre verrichteten auf ihren Zimmern die ersten täglichen Rituale. In einer Stunde würden sie zum Frühbrevier in den Bogensaal strömen. Niemand sah, wie der Dulce schließlich die Schöße seines basaltgrauen Gewandes zurückwarf und zum Rand des Podiums eilte. Er schaute über das spiegelglatte Wasser des Beckens aus schwarzem Granit. In seinem Kopf erklang Musik aus einer anderen Welt. Langsam neigte er sein Haupt. Einmal mehr war er sich der Zeit bewusst. »Sie steht still«, murmelte er, »und wir jagen an ihr vorüber wie ein kurzer Wintersturm. Wir eilen davon, ohne sie wahrgenommen zu haben, und bevor wir es wissen, gibt es uns nicht mehr. Und bevor wir 157
uns dessen klar sind, sind wir Teil der Stillstehenden Zeit geworden. Zeit für die Offizianten.« Was er da sagte, stand nicht in den Neuntausend Worten, dem Leitfaden der Solitäre. Es war eine andere Litanei, die in seinem Geist viele Erinnerungen freisetzte. »So viele Leben«, seufzte er. »So viele Gedanken, Taten und Erinnerungen an Taten. Und schon wieder rückt ein Übergang näher.« In seinen Augen sammelten sich Tränen. »Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.« »Woran?« Die Stimme Asayindas, Herrin der Morgenröte, hallte durch den Bogensaal und riss ihn aus seiner Einsamkeit. Erstaunt drehte er sich um. Sie stand direkt hinter ihm. Er hatte ihr Kommen weder gehört noch gespürt. »Wie …?« Asayinda lächelte und berührte mit dem Zeigefinger die Träne, die eine Spur auf seiner Wange hinterlassen hatte. »Ich habe mich Euch nicht geöffnet«, flüsterte sie. Er ergriff ihre Hand und sagte: »Dazu seid Ihr also auch schon in der Lage. Und ich dachte, ich müsste Euch noch sehr viel beibringen.« Er tastete nach ihrer anderen Hand. »Heute endet meine Aufgabe, und Eure beginnt. Wir begeben uns zu dem Ort, an dem sämtliche Spuren zusammenlaufen.« »Demnach gibt es doch noch Dinge, von denen ich nichts weiß«, sagte sie. Dann bemerkte sie die Trauer in seinem Blick. Sie ließ sich noch einmal seine Worte durch den Kopf gehen und runzelte die Stirn. »Eure Aufgabe endet? Wie meint Ihr das?« Jede Emotion verschwand aus seinem Gesicht. Die Augen wurden für einen Moment heller, zeigten ihren goldenen Glanz, um schließlich unergründlich zu werden. Seine dunklen Brauen senkten sich über die Lider. Er ließ ihre Frage unbeantwortet. »Der Wind kommt von Westen, Asayinda. Heute segeln wir los, um Wahrhaftigkeit zu finden.« 158
Der Dulce hakte sich bei Asayinda unter und nahm sie mit, vom Podium hinunter zum Seiteneingang. Als sie auf dem Weg zu ihrer beider Unterkünften die hohe Galerie betraten, sagte er: »Die Offizianten können warten, bis ich zurück bin. Zieht Euch warm an, Asayinda. Und sagt dem Zimmerjungen, er soll Kleidung für zehn Tage einpacken. In einer Stunde hole ich Euch ab.« Sie betrachtete ihn neugierig von der Seite. »Erfahre ich noch mehr über Ziel und Zweck unserer Reise?« Aernold aus Sey Hirin schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Wenn wir dort sind, wird Euch dieses Ziel selbst so viel zu erzählen haben, dass Ihr wünscht, gar nicht alles zu wissen«, sagte er geheimnisvoll. Asayinda dachte über alles Gesagte nach. Rätselhafte Andeutungen verbargen sich darin. Seltsamerweise blieben nur die Bemerkungen zur Stillstehenden Zeit und den Offizianten bei ihr haften. Irgendwann einmal hatte sie etwas über diese Begriffe gelesen, doch ihr Gedächtnis gab keine weitere Auskunft.
Ungefähr eine Stunde später wurden im kleinen Hafen von Avrilux die Trosse einer einfachen Mittelkaravelle gelöst. Es war dasselbe Schiff, mit dem die Herrin zehn Tage zuvor angekommen war. Die Solitär von Avrilux entfernte sich schnell von der Hafenmauer, unterstützt von zwei weißhaarigen Seeleuten mit langen Schubstangen. Das gelbliche dreieckige Segel wurde gehisst, und der lila Wimpel ging in die Topp, als Zeichen dafür, dass die Edelfrau an Bord war. Außer Asayinda und dem Dulce befanden sich noch Uchate, der bleiche zweite Priester, und drei in lange grauweiße Mäntel gekleidete Besatzungsmitglieder auf dem Schiff. Die Karavelle schoss nordostwärts, vorangetrieben von einem schräg von hinten kommenden steifen Westwind. Der Hafen war schon bald ihren Blicken entschwunden, und Yle em Avrilux nur noch ein heller Schimmer am nebligen südwestlichen Horizont. 159
Es war kalt. Der Dulce trug bei dieser Gelegenheit ein schwarzes Pelzgewand, das ihn wie ein halb davongewehtes Segel umflatterte. Er hatte auch seinen Volut bei sich, den mannshohen, aus geflochtenem Weidenholz gefertigten Stab mit dem goldenen Knauf in der Form eines geflügelten Ungeheuers. Zusammen mit Uchate und der Edelfrau stand er auf dem kleinen Vordeck. Asayinda deutete zu den Besatzungsmitgliedern hinüber, die auf dem erhöhten Achterdeck beieinander standen. »Weißhaarige«, sagte sie. Obwohl es nicht wie eine Frage klang, antwortete der Dulce, als hätte sie gefragt. »Nibuüm.« Asayinda besaß zwar nicht die Kenntnisse, doch irgendetwas in ihrem Innern kannte sowohl das Wort als auch die daran geknüpfte Bedeutung. »Nibuüm«, wiederholte sie, wobei sie das Wort andächtig erkundete. Unauffällig schaute sie zu den drei Männern hinüber. Irgendetwas an ihren Augen stimmte nicht. Als hätten sie den Star. Die Pupillen waren bleich und kaum von dem ebenfalls fahlen Weiß der Augen zu unterscheiden. Der Dulce blickte weiter bewegungslos zum Horizont. »In den nächsten Tagen wird sich alles aufklären, Asayinda.« In seiner Stimme schwang eine Spur Bedauern mit. Er drehte sich um, verließ das Vordeck und setzte sich auf die schmale Bank an der Backbordreling.
Zwei Tage lang steuerten sie bei beständigem kräftigem Wind nach Nordosten, fort von den Inseln des Reiches, wobei sie immer weiter in die Leere des Schwarzwassers vordrangen. Am ersten Tag begegneten sie noch vereinzelten Fischerbooten, die sich bei dem erträglichen Wetter weiter vor die Küste gewagt hatten, doch vom zweiten Tag an war die Solitär von Avrilux ein einsamer Tupfer in der unermesslichen Weite des Schwarzmeers. 160
Asayinda, der Dulce und Uchate führten lange Gespräche über den Glauben, die Vorgänge im Reich, die Sorge des Dulce bezüglich seiner Hohepriester und viele andere Themen. Über den Zweck der Reise wurde nicht gesprochen, als wäre dieses Thema tabu. Uchate, der gerade von seinem jährlichen Besuch der Nebenstifte Lan, Gyt Araigen und Lavamund zurückgekehrt war, berichtete am dritten Tag von der Unruhe, die sich selbst dort unter den Solitären breit gemacht hatte. »Wer von uns weiß denn auch, wo die farblose Magie demnächst zuschlagen wird?«, meinte er. »Es kann überall geschehen.« Der Dulce schüttelte den Kopf, ging aber nicht weiter darauf ein. Die ganze Zeit über verwehrte der Dulce Asayinda jeden Zugang zu seinem Geist. Das beunruhigte sie ein wenig. Mittlerweile betrachtete sie den regelmäßigen geistigen Kontakt der letzten Tage als etwas Selbstverständliches. Sie dürstete förmlich danach. Es war die Messlatte ihres Hineinwachsens in die Rolle der Herrin der Morgenröte.
Am Morgen des vierten Tages spürte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Wind war zu einer leichten Brise abgeflaut, am Himmel zeigten sich hier und da ein paar Wolken, und die Wintersonne hatte freie Bahn. Die drei Nibuüm standen nebeneinander am Steuerrad und suchten aufmerksam den Horizont ab. Der Dulce blieb in seiner Kajüte. Uchate trippelte unruhig zwischen Vor- und Achterdeck hin und her und sprach regelmäßig mit der Besatzung. Asayinda war mit einer dunklen Vorahnung aufgestanden. Sie ließ sich auf einer der Bänke an Deck nieder und starrte unentwegt zum nördlichen Horizont. In Gedanken ging sie die Veränderungen im Leben von Gyndwane durch, jener schlichten jungen Frau von den Spiegelinseln. Seit sie dem Propheten Gall Rybonder in Haramat begegnet war, war erst gut ein Monat vergangen. Durch das scheinbar zufällige Treffen mit diesem sonderbaren Mann war eine Reihe von Ereignissen 161
ins Rollen gekommen, die sie schließlich nach Yle em Avrilux geführt hatten. Und nun war sie Asayinda, die Herrin der Morgenröte, jene Edelfrau, die den Herrn der Tiefe wecken sollte. Sie hatte viel gelernt in diesen Wochen, doch je mehr Wissen sie speicherte und zu verstehen begann, desto mehr neue Geheimnisse, Mysterien und unbegreifliche Dinge taten sich auf. Doch es gab den Dulce, ihren Halt und ihre Zuversicht in der ansonsten so verwirrenden neuen Welt der Solitäre. Sobald die Scheu vor dem gerade erst erworbenen Status Überhand nahm, glich Aernold dies mit seinen weisen Worten aus. Und weise war er wirklich. Asayinda fragte sich zum ungezählten Male, wie alt dieser Mann sei. Irgendetwas zwischen vierzig und sechzig, vermutete sie. Doch es war schwer zu schätzen. Einerseits hatte sie das Gefühl, ihn in der kurzen Zeit gut kennen gelernt zu haben, andererseits war er nach wie vor ein Mysterium. Wie lange führte er die Solitäre eigentlich schon? Auch darauf hatte sie keine Antwort. Einer der Nibuüm rief Uchate etwas zu, worauf dieser zum Bug lief, mit einer Hand die Augen abschirmte und in die Ferne starrte. Asayinda schaute in dieselbe Richtung, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. »Der Ort, zu dem wir fahren, ist nur wenigen Menschen bekannt«, sagte Uchate plötzlich. »Eigentlich wissen nur ein paar Solitäre und die Nibuüm darüber Bescheid. Selbst die Hohepriester kennen die Säule der Wahrhaftigkeit nur als einen Mythos. Und wir geben uns nicht gerade Mühe, ihn zu entschleiern.« Asayinda wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Doch Uchate fuhr fort, als habe er gar keine Erwiderung erwartet. »Es ist auch nicht verwunderlich, dass es sich um ein unbekanntes Phänomen handelt. Welcher Fischer oder Kapitän eines Handelsschiffes würde es schließlich wagen, so weit ins Schwarzwasser hinauszufahren, vier Segeltage von Lan-Gyts Nordküste entfernt? Wer würde sich so tief in das Nichts hineintrauen?« Asayinda schwieg weiter. Uchate legte ihr seine knochige Hand auf den Arm. Es wäre unhöflich gewesen, ihren Arm wegzuziehen, doch 162
sie hatte für den zweiten Priester nicht viel übrig. Die vertrauliche Geste empfand sie als reichlich deplatziert. »Nur jene Solitäre, die davon wissen, wagen sich so weit hinaus, ohne Angst vor den Geistern des Schwarzmeers oder den Stürmen«, fuhr er fort. Seine Finger umklammerten jetzt ihren Arm. »Ihre Angst wäre auch völlig unbegründet. Der Herr der Tiefe beschützt sie.« Asayinda konnte dazu nur nicken. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf Yle em Avrilux fragte sie sich, ob Uchate über den gleichen Glauben sprach. Sie veränderte ihre Haltung, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und griff nach der Reling. Dies verschaffte ihr die Gelegenheit, ihren Arm aus der Umklammerung zu befreien. Einer der Nibuüm stieß einen Schrei aus und zeigte auf irgendetwas in der Ferne. Angespannt spähten Uchate und Asayinda in die gewiesene Richtung. Eine Anhäufung bizarr geformter Wolken schimmerte am Horizont. Die dunkelste Wolke weckte Asayindas besonderes Interesse. Plötzlich erkannte sie, dass es sich um eine feste Form handelte; eine schmale Silhouette ragte von der Wasseroberfläche bis in die Wolken. Es musste ein Monument oder eine Säule von unvorstellbaren Ausmaßen sein. »Eine Naturerscheinung?«, fragte Asayinda sich laut. »Der Dulce denkt anders darüber«, sagte Uchate. »Wartet nur, bis Ihr die Zeichen seht und fühlt.« Aernold erschien an Deck, in ein dunkelgrünes seidenes Gewand gehüllt, voller goldener Runenmotive und abgesetzt mit einer Reihe kupferner Medaillons. Um den Hals hing ein großes silbernes Amulett mit einer verschlissenen ringförmigen Rune. In seinen Augen glänzte es golden, als wäre er soeben vollständig zum Leben erwacht. Er flüsterte einem der Nibuüm etwas ins Ohr und warf einen desinteressierten Blick auf die Säule. Dann schaute er zum Himmel, an dem graue Wolken erschienen. Der Westwind frischte auf und pfiff heulend um die Säule. Die Solitär von Avrilux änderte den Kurs und segelte in einem weiten Bogen um das Monument herum. Es dauerte lange, bevor die Säule ei163
nige Details preisgab. Ihre Oberfläche schien aus dunkelgrauem Stein mit allerlei Rillen zu bestehen. Als das Schiff sich der Säule von Nordosten her näherte, sah Asayinda einige flache Felsen und einen einsamen verfallenen Landungssteg aus dem Wasser ragen. Dadurch wurde es ihr möglich, die Abmessungen des Monuments grob zu schätzen. Das Ergebnis war geradezu schockierend. An der Stelle, wo die Säule des Schwarzwasser berührte, hatte sie einen Durchmesser von mindestens einem halben Kilometer. Nach oben hin verjüngte sie sich etwas, doch in Höhe der Wolken war sie immer noch gut und gerne dreihundert Meter breit. »Die Säule ist übersät mit Runen in Altsprache«, sagte der Dulce, der sich neben Asayinda gestellt hatte. »Einige habe ich entziffern können, aber meine Kenntnisse in Altsprache und Runenschrift reichen nicht aus.« Asayinda betrachtete die blatternarbige Haut der Säule. »Warum nennt man dies Gebilde Säule der Wahrhaftigkeit?«, fragte sie. Der Dulce ließ ein heiseres Lachen hören. »Ihr werdet schon noch von selbst dahinterkommen, Edelfrau.« »Was hat es damit auf sich, Dulce? Habt Ihr eine Idee, wie die Säule entstanden ist oder errichtet wurde? Wie hoch ist sie? Und warum erhebt sie sich gerade hier aus dem Meer, mitten im Schwarzwasser?« Der Dulce blickte mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel vor sich hin. »Mein Wissen ist dein Wissen«, sagte er rätselhaft und beließ es dabei. Er drehte sich um und rief den Nibuüm etwas in einer für Asayinda unverständlichen Sprache zu. Das Schiff wendete und nahm direkten Kurs auf den Anlegesteg. Dunkle Wolken lösten sich vom nördlichen Horizont, suchten einander und schlossen sich zu einer einzigen riesigen schwarzen Wolke zusammen. Asayinda zeigte darauf. Der Dulce zuckte mit den Achseln. »Hier gibt es immer Zuschauer«, sagte er, und auch diese Aussage gab Asayinda lediglich Rätsel auf. 164
»Sie ebnen ihrem Gebieter den Weg«, fügte der Dulce nach einiger Zeit hinzu. In seiner Stimme schwang eine eigenartige Regung mit. Asayinda konnte die Stimmung des Dulce nicht einschätzen. Sie beobachtete die Wolke, die direkt oberhalb des Horizonts stehen zu bleiben schien. Hausten darin Geister oder andere Geschöpfe? Asayinda vermutete, dass der Dulce eine dahingehende Frage nicht beantworten würde. Die Säule wuchs zu einer Größe heran, die Asayinda fassungslos machte. Diese Säule war ungeheuer und Ehrfurcht gebietend. Asayinda hatte das Gefühl, eine mysteriöse Gottheit schaue auf sie herab. Zum ersten Mal beschlich sie die Vermutung, in dem Monument wohne eine Entität, ein reales Wesen. Jetzt sah sie auch Tausende dieser Zeichen, die die Säule der Wahrhaftigkeit wie seltsame Fingerabdrücke bedeckten. Trotz des hohen Seegangs und des ungünstigen Windes legten die Nibuüm die Solitär von Avrilux problemlos am Landungssteg an. Der Dulce sprang an Land und half Asayinda von Bord. Er gab Uchate ein Zeichen, dieser solle auf dem Schiff bleiben, und ging mit der Herrin der Morgenröte zu der Säule. Ihre Mäntel flatterten wild umher, als wollten sie sich mit aller Macht von den Körpern losreißen, die sie umhüllten. Asayindas lange schwarze Locken tanzten den ungestümen Tanz mit. Je näher sie der Säule kamen, desto überzeugter war Asayinda, dass dort ein Wesen existierte, das nicht nur die Säule, sondern auch deren unmittelbare Umgebung beherrschte. »Die Säule lebt«, sagte der Dulce plötzlich in Gedankensprache. Mit seiner gewöhnlichen Stimme wäre er auch kaum gegen das Tosen und Pfeifen des Windes angekommen. Von allen Seiten wurden sie bedrängt. Es schien, als versuche irgendetwas, sie zurückzuhalten. Dann plötzlich traten sie in die Windstille der Säule. »Warum bin ich hier?«, setzte Asayinda erneut an. »Um zu lernen«, antwortete der Dulce. »Um die Denk- und Handlungsweise gewisser Wesen besser zu verstehen, sie vielleicht sogar zu ergründen.« 165
Sie standen jetzt direkt vor der Säule. Der Stein war rau, voller Löcher und Knubbel. Die Runenzeichen waren deutlich zu erkennen, als hätte man sie erst kürzlich in den Stein gemeißelt. Der Geruch von wildem Seemoos, Seegras, Salz und jahrtausendealtem Gestein schien Asayinda zu umhüllen. »Wie lerne ich?«, fragte sie in Gedankensprache. »Legt Eure Hand an die Säule«, antwortete der Dulce, »und fragt Euch, warum dieses Phänomen die Säule der Wahrhaftigkeit genannt wird. Ihr seid jetzt auf Euch selbst gestellt. Ihr müsst da ganz alleine durch.« Mit diesen Worten zog er sich aus Asayindas Geist zurück und entfernte sich ein paar Schritte von ihr.
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19 Spaltbock »Existieren denn Waffen, die magische Artefakte genannt werden können? Natürlich. So sind uns einige Schwerter bekannt, die ihren Herrn und Meister vor Gefahren warnen. Die viel interessantere Frage ist jedoch, wie diese Waffen ihre Magie erlangten. Gerthen aus Rak, der berühmte Waffenmeister, ist davon überzeugt, dass die Wechselwirkung zwischen Waffe und Meister von entscheidender Bedeutung ist. ›Ich habe Waffen erlebt, die in der Hand einer falschen Person lediglich ein Stück totes Eisen waren. Dieselben Waffen wurden in der Hand ihres wahren Besitzers zu echten Wundern. Die Frage aber bleibt: Sucht der Meister die Waffe, oder die Waffe den Meister?‹« Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Die Graue Nebelmöwe von Boret war ein beeindruckender Doppelfockschoner. Eigentümer des reichlich mit Segeln bestückten Schiffes war ein gewisser Detterbelt aus Lavamund, der sein Vermögen in der Küstenschifffahrt zwischen Lan-Gyt und Ost-Gyt gemacht hatte. Detterbelt, ein schwammiger Mann mittleren Alters, hatte sich schon seit Jahren bei den Mitgliedern der Hofverwaltung in Romander-Stadt einzuschleimen versucht. Letztlich erwies sich nur Danker als zugänglich für dessen Geschenke und übertriebene Freundlichkeit. Detterbelt versuchte natürlich seinerseits, dem Ratsherrn Zusagen zu entlocken, doch diesem war es gelungen, den Reeder an sich zu binden, ohne auch nur die geringste Gegenleistung zu bieten. Detterbelt hatte Danker zu rauschenden Festen mit opulenter Bewirtung in sein Landhaus öst167
lich von Romander-Stadt eingeladen. Normalerweise wurden die Gelage lediglich vom Halbadel besucht. Doch nachdem Danker sich auf einigen dieser Feste hatte blicken lassen, zeigte sich dort auch der Hofadel regelmäßig. Danker betrachtete dies als durchaus angemessenen Ausgleich für die ungefragt von Detterbelt angebotenen Gunstbeweise. Dankers Bitte, mit der Grauen Nebelmöwe von Boret nach Hemgara auf Lan-Gyt und anschließend nach Ynystel und Dunkel fahren zu können, war sein erstes direktes Ersuchen gegenüber dem dicken Mann. »Eine kleine Gunst, wenn Ihr bedenkt, welche Vorteile ich Euch verschaffen kann«, hatte Danker freundlich hinzugesetzt, als er Detterbelt mit seinem Wunsch konfrontiert hatte. Dieser hatte sich allerdings sofort erkundigt, wie eine Gegenleistung aussehen könnte, doch Danker hatte nicht daran gedacht, sich konkret dazu zu äußern. »Es wird vielleicht noch eine Weile dauern«, hatte der Ratsherr lächelnd geantwortet, »aber Ihr werdet auf keinen Fall enttäuscht sein.« Und so verließ der Schoner am vierten Tag des Mittwintermonats Livander mit gehisster Vorfock und gerefften Segeln den Hafen von Romander-Stadt. Als Passagiere befanden sich Danker, Edelfrau Hylmedera und der erste Regulator Tracter aus Wickel an Bord. Von Nordwesten kam ein kräftiger Wind, der jedoch nie Sturmstärke erreichte. Seitlich vor dem Wind liegend umrundete die Graue Nebelmöwe von Boret innerhalb von zwei Tagen Kap Welle, das berüchtigte Fischergrab am äußersten südlichen Zipfel der Insel Romander. Der Wind drehte nach Westen und trieb den stolzen Schoner übers Gytmeer. Am Morgen des sechsten Tages nach ihrer Abreise legten sie bei strömendem Regen am breiten und kilometerlangen Henikai in Hemgara an. Danker wäre es bedeutend lieber gewesen, irgendwo an der unwirtlichen Westküste von Lan-Gyt an Land zu gehen, doch er wollte vermeiden, dass Hylmedera und Tracter Vermutungen über sein Reiseziel anstellen konnten. Er bedankte sich bei Detterbelt, besorgte eine Sänfte für sich selbst und eine zweite für Edelfrau Hylmedera und Tracter. »Begebt Euch direkt zum Konsul von Lan-Gyt. Er wird Euch sicher 168
eine Unterkunft beschaffen können. Ich muss mich sofort auf den Weg machen. Tracter, Ihr habt alle erforderlichen Informationen von mir bekommen. Ich schlage vor, dass Ihr morgen früh nach Norden zieht. Ihr wisst, wohin Ihr müsst, und Ihr kennt Euren Auftrag.« Er wandte sich an Hylmedera. »Edelfrau, wenn alles planmäßig verläuft, bin ich innerhalb einer Woche zurück.« »Wohin geht Ihr?«, fragte Hylmedera. Danker schaute sie an, antwortete aber nicht. In seinen Augen zeigte sich eine schlecht verhohlene Gefühlsregung. War es Zorn? Bevor Hylmedera sich darüber schlüssig werden konnte, hatte Danker sich umgedreht und begab sich zu seiner Sänfte. Er flüsterte dem vorderen Träger etwas zu und stieg ein. Edelfrau Hylmedera schaute ihrem Lehrer eine Zeit lang nach. In ihren Augen leuchteten zwei kleine gelbe Lichter. »Es wird Zeit, mir bei Scharde Rat zu holen«, murmelte sie vor sich hin. Dann wandte sie sich um und rief Tracter zu: »Geht schon mal vor. Ich komme nach.« Sie winkte zwei andere Träger heran und stieg in die Sänfte. »Zum Hafen«, befahl sie.
Dankers Träger, zwei kräftige Burschen aus Weißinsel, legten trotz des anhaltenden Regens, der aus dem Marsch über die glitschigen Pflastersteine ein riskantes Unternehmen machte, ein gehöriges Tempo vor. Nach weniger als einer Stunde befand sich der Ratsherr in den nördlichen Außenbezirken von Hemgara, in der Nähe des Stadttors. Er ließ an einem Stall halten und beglich die Rechnung. Dann mietete er zwei Pferde und einen weißhaarigen Führer namens Jart. Nicht dass er einen Führer benötigt hätte, doch Jart war ein muskulöser Mann aus Hochlan-Pforte, der Straßenräuber abschrecken würde. Zwar fürchtete Danker sich nicht vor solchem Gesindel, doch er wollte verhindern, sich verteidigen und dabei selbst in Aktion treten zu müssen. 169
Sie machten sich auf den Weg. Schon bald hörte es zu regnen auf, doch die Sonne ließ sich nicht blicken. Danker wählte die westliche Route. Die Handelsstraße lag weiter im Osten und verlief in einem großen Bogen an Bargpfad vorbei, einem kleinen Städtchen an der Rakelbucht, um anschließend Lanterplatte am Calidinsee zu berühren. Erst danach ging es in westlicher Richtung über den niedrigen Lanterpass nach Hochlan-Pforte. Danker mied diesen Weg. Offensichtlich wollte er nicht auf derselben Route gesehen werden, die er Tracter zugewiesen hatte. Zunächst ritten die beiden zwischen Ländereien hindurch, wo Dickkeimweizen, Wassergerste und grüner Hafer angebaut wurden. Es ging endlose gerade Wege an ebenso endlosen Getreidefeldern entlang. Als sie gegen Abend die Eintönigkeit der Äcker hinter sich ließen, tauchten vor ihnen flache Hügel auf, hinter denen in der Ferne die grauen Umrisse der Berge des Gytmassivs zu sehen waren. Schon den ganzen Tag über waren sie offensichtlich die einzigen Reisenden gewesen. Doch als sie Urenders bekannten Gasthof Zur Rechten Wagenspur erreichten, war dort nur noch ein einziges Zimmer frei. »Kein Problem, mein Führer schläft bei den Pferden im Stall«, teilte Danker dem Wirt mit. Jart schaute pikiert drein, verkniff sich aber jeden Einwand. Danker steckte dem Wirt ein paar zusätzliche Speilstücke zu und flüsterte: »Stellt mir einen Wächter vor die Tür, Urender, und bringt mir das Abendessen auf mein Zimmer.« »Ich an Eurer Stelle würde mir mehr Sorgen um den morgigen Tag machen, Herr«, warnte Urender. »Immer häufiger erreichen uns beunruhigende Nachrichten vom Jaagpfad. Dort muss es im dichten Unterholz nur so von Räubern wimmeln. Vor allem das Gebiet zwischen Hyn Daratel und Butter, zwanzig Kilometer vor Hochlan-Pforte, ist unsicher. Kapitän Kricht von der Palastwache des Unterstatthalters logiert hier ebenfalls. Ich könnte ihn fragen, ob …« »Nicht nötig, guter Mann«, sagte Danker rasch. »Ich reise lieber so unauffällig wie möglich.« Der Wirt zuckte mit den Achseln und wischte sich – offenbar uninteressiert – die Hände an der langen Schürze ab. 170
»Wie Ihr wünscht, Herr. Ich werde für die Bewachung Eures Zimmers sorgen. Unter welchem Namen darf ich Euch und Euren Führer eintragen?« »Hochbaron Eiger Spurland aus Xomney und sein Gardist Jart«, sagte Danker ohne zu zögern.
Am nächsten Morgen weckte Danker Jart noch vor Sonnenaufgang. »Kommt, ich habe es eilig«, sagte er und führte sein Pferd nach draußen. Er steckte dem Führer ein halbes Weizenbrot zu. »Damit werdet Ihr vorerst auskommen müssen.« Sie zogen über den Jaagpfad in die höher gelegenen waldreichen Hügel nördlich des Gasthofs. Schon bald fing es an zu regnen. Jart band seine langen weißen Haare zusammen und steckte sie unter einen altmodischen ledernen Helmhut. »Das ist günstig«, brummte er. Danker schaute ihn erstaunt an. »Günstig?« »Räuber mögen dieses Wetter nicht«, erklärte der Führer lachend. Er sollte sich getäuscht haben. Keine halbe Stunde später gerieten sie in einen Hinterhalt. Aus dem strömenden Regen tauchten die Umrisse von zwei Reitern auf. An der schmälsten Stelle einer engen Passage zwischen zwei Hügeln versperrten sie ihnen den Weg. Jart zog grinsend sein langes Schwert. »Zwei kleine Pforten-Kerle«, sagte er. »Die schaffe ich mit meinem linken Handgelenkschwert.« Danker wies mit dem Daumen hinter sich. Jart schaute sich um. Fünf Reiter kamen mit gezücktem Schwert auf sie zu. Sie waren umzingelt. Der Führer erbleichte. »Wir haben keine Chance«, sagte er. »Drei kann ich alleine erledigen, aber von Euch als Edelmann kann ich wohl kaum Unterstützung erwarten. Es sei denn, unter Eurem mageren Fleisch kommen plötzlich unsichtbare Muskeln zum Vorschein.« Danker lächelte. Er schien sich über Jarts Bemerkung zu amüsieren. 171
Ein großer Mann in einem dunklen Mantel löste sich aus der Gruppe und lenkte sein Pferd in ihre Richtung. »All Eure Habe, aber schnell«, zischte er. »Speilstücke, Edelsteine und Waffen. Wenn ich in zehn Sekunden alles habe, lasse ich Euch vielleicht am Leben.« Danker zögerte; dann flüsterte er Jart aus dem Mundwinkel zu: »Nehmt Euch die beiden Pforten-Kerle vor.« Der Führer machte große Augen, gehorchte jedoch. Danker machte mit seinem Pferd ein paar Schritte zur Seite und schnitt dem großen Mann den Weg ab. Er faltete die Hände über dem Sattelknauf und beugte sich seelenruhig nach vorn. »Ich gebe Euch eine einzige Chance.« Er sagte es so leise, dass nur der Mann es hören konnte. »Macht, dass Ihr und Eure Spießgesellen wegkommt, oder Ihr alle sterbt!« Der Mann zog die Zügel seines Pferdes an und starrte einige Sekunden ungläubig auf Danker. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Hahaha! Verkehrte Welt! Wo ist Eure Waffe? Womit wollt Ihr Euren Worten Nachdruck verleihen? Ihr habt Eure Chance gehabt, Bursche. Jetzt gibt es nur noch den Tod.« Er stieß dem Pferd die Hacken in die Flanken, sodass es wiehernd einen Satz nach vorne machte. Das lange Schwert zielte direkt auf Dankers Herz. Der Ratsherr blieb bis zum letzten Moment entspannt sitzen. Als die Schwertspitze höchstens noch fünf Meter von ihm entfernt war, lenkte er sein Pferd mit einer scheinbar achtlosen Bewegung der Ferse zwei Schritte zur Seite. Das Ross des Räubers schoss an Danker vorbei. Der Mann schrie wütend auf, lehnte sich zurück und schlug mit dem Schwert nach Danker. Dieser schätzte die Bewegung genau ab und fixierte die Klinge, die seine Schulter um einige Zentimeter verfehlte. Dann hob er den Kopf. »Sestryl hayl luüc'heam«, murmelte er. Die Erde bebte. Direkt vor dem weiterpreschenden Pferd entstand ein Riss in der Erde. Das Tier stieg hoch und versuchte dem Spalt zu entkommen, der sich rasch verbreiterte. Vergebens. Pferd und Reiter 172
verschwanden kreischend und brüllend in der Tiefe. Sofort schloss sich die Erde wieder. Es gab keine Spur, nicht die geringste Delle im felsigen Boden. Die vier anderen Räuber begriffen sofort, dass sie es mit einem mächtigen Magier zu tun hatten. Sie rissen ihre Tiere herum und machten sich eiligst aus dem Staub. Danker drehte sich zu Jart um. Der wischte gerade sorgfältig die Klinge seines Schwertes an der Satteldecke ab. Zwei unruhige Pferde standen neben zwei Leichen. Danker gab den Tieren einen Klaps auf die Hinterhand, worauf sie sich in Bewegung setzten und den fliehenden Räubern hinterhergaloppierten. »Sieh an, ein Meister«, sagte Jart, ohne Danker anzuschauen. Danker schüttelte den Kopf. »Ihr täuscht Euch. Ich kenne ein paar kleine Kunststücke, mehr nicht.« Jart nickte. Er zeigte auf die Stelle, wo der Erdspalt Ross und Reiter verschlungen hatte. »Wenn das ein ›kleines Kunststück‹ war, bin ich der Desran.« »Es ist besser, diesen Vorfall schnell zu vergessen«, sagte Danker. Der drohende Unterton entging Jart nicht. Er zuckte die Achseln. »Ihr seid ein Edelmann, so viel ist sicher. Aber ich kenne nicht mal Euren Namen. Wie könnte ich da eine Gefahr für Euch sein?« Danker blickte ihn an, überlegte kurz und nickte schließlich. »Vergesst es«, sagte er und ritt los. Allmählich hörte der Regen auf, und es wurde ein wenig heller. Je weiter sie im Laufe des Tages vorankamen, desto tiefer wurden die Einschnitte zwischen den Hügeln, die ihrerseits erheblich höher aus der Landschaft ragten. Von einigen Hügelspitzen konnte man bis zur dämmrigen Mauer des Gytmassivs am Horizont sehen. Weiße Schneekuppen ruhten auf den gezackten Leibern der berühmten Hirkenselkette. Dunstige Nebeldecken waberten um die Gipfel. Die Pfade wurden verschlungener, die Anstiege steiler. An manchen Stellen bohrten sich Felsen durch das grüne Gras der Hügel. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie kurz vor Sonnenunter173
gang Hochlan-Pforte. Die Stadt lag in einer Senke, in der sechs kleinere, hoch aus den Bergen kommende und tief eingeschnittene Täler zusammenliefen. Die größtenteils graugrünen Dächer der niedrigen Häuser versteckten sich unter hohen Kargen, einer einzigartigen Kreuzung aus Laub- und Nadelbäumen. »Dort beginnen die Schluchten von Lan-Gyt«, sagte Jart und wies auf drei schmale Zugänge zu Tälern nördlich der Stadt. Danker reagierte nicht. Als sie durch ein Tor in der Stadtmauer nach Hochlan-Pforte hineinritten, sagte er: »Bringt mich zu Laiver, dem Vizestatthalter.« Er drückte Jart drei silberne Speilstücke in die Hand. »Ihr könnt Euch mit den beiden Pferden auf den Rückweg nach Hemgara machen, Jart. Dies hier dürfte für Verpflegung und eine Übernachtung in Urenders Gasthof reichen. Es langt diesmal sogar für ein Zimmer anstelle der Schlafstätte im Heu.« Jart lachte und verbeugte sich.
Später am Abend saß Danker mit Vizestatthalter Laiver in dessen kleinem Palast an dem von Bäumen umsäumten Gontal Gytplatz zusammen, mitten in Hochlan-Pforte. Die Männer hatten früher schon häufiger miteinander gesprochen. Laiver galt sogar als Dankers Vertrauter. Sie hatten es sich an einem kleinen Kamin gemütlich gemacht und führten lange Gespräche. Von Zeit zu Zeit studierten sie eine große Karte des Nordens von Lan-Gyt. Beim Licht einer Stehöllampe glitten ihre Finger über die Bergrücken des Gytmassivs und die Hauptzüge der Schluchten mit ihren zahllosen Seitenarmen. Ab und zu brachte ein Diener ein Glas dunkelroten Noctarwein für Laiver und einen Becher Gelbbrunnenwasser für Danker. Schließlich standen beide gleichzeitig auf und fassten sich bei den Schultern. »Bitte sorgt dafür, dass meine Aufträge genauestens ausgeführt werden«, sagte Danker. »Ich mache mich morgen in aller Frühe auf den 174
Weg, also werden wir uns nicht mehr sehen. Ich reise allein. Ich kann doch davon ausgehen, dass Ihr mir Euer bestes Pferd zur Verfügung stellt?« Laiver nickte. Danker wollte gerade gehen, als ihm noch etwas einfiel. »Gibt es hier in Hochlan-Pforte irgendwo einen guten Schmied?« »Da ist der alte Anvoulis genau der Richtige für Euch«, antwortete Laiver ohne nachzudenken. »Er dürfte der beste Schmied der ganzen östlichen Inseln sein. Ich lasse Euch eine Wegbeschreibung zurechtlegen.«
Nicht einmal eine Stunde später, kurz nach Mitternacht, verließ ein Trupp von sieben Reitern den Palast durch eine Pforte an der Rückseite. Seltsamerweise waren sie wie gewöhnliche Straßenräuber ausstaffiert. Sie trabten über den Platz, bogen zur breiten Pfortenallee ab und verließen die Stadt durch das Tor am Nordwall.
Danker begab sich früh am nächsten Morgen zu Anvoulis, dem Schmied, der am Ostrand der Stadt wohnte. Anvoulis war ein buckliger alter Mann, dem man nicht ansah, dass er Hufeisen, große Schwerter und Äxte schmiedete oder Handgelenkschwerter, Dolche und andere Waffen herstellte. Trotz der frühen Stunde war er schon emsig bei der Arbeit. Er stand über das lodernde Feuer gebeugt und untersuchte die Oberfläche eines langen Eisenstückes, das rot aufglühte. Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. Ohne jede Einleitung sagte Danker: »Ich brauche Eure beste Axt, Anvoulis.« Der Schmied richtete sich auf und legte das Eisen vorsichtig auf den Rand des Kohlenbeckens. Hellblaue Augen taxierten den Besucher. »Das wird ein teurer Spaß«, sagte der Schmied dann heiser. »Erst einmal möchte ich Euren mit Speilstücken gefüllten Beutel sehen.« 175
»Und ich möchte zuerst einmal Eure beste Axt sehen«, gab Danker freundlich, aber bestimmt zurück. Die Hände auf den Rücken ging er zur hinteren Wand, an der in eisernen Recken Dutzende Schwerter und Äxte hingen. Anvoulis flitzte erstaunlich schnell an ihm vorbei und holte eine Axt mit breitem, leicht gebogenem Blatt, einem langen Stiel aus Eiche und einem Griff aus straff um den Stiel geflochtenem Leder heraus. Selbst auf diesen Abstand erkannte Danker sofort, dass es sich um ein Meisterstück erster Güte handelte. Die Schneide war makellos geschliffen, das Blatt funkelte und blitzte. Nicht die kleinste Kerbe war zu sehen. »Ihr wollt meine beste Axt? Dies ist Spaltbock, mein unbezahlbares Meisterstück. Es wartet seit dreißig Jahren auf seinen Besitzer.« Dankers Augen leuchteten. Er trat einen Schritt vor und streckte die Hände aus. »Lasst mich mal fühlen.« Anvoulis wich zurück und betrachtete Danker misstrauisch. »Für eine so schwere Waffe seid Ihr viel zu klein. Und außerdem, wer sagt mir denn, dass Ihr Euch nicht mit Spaltbock auf- und davonmacht, sobald Ihr ihn in den Händen habt?« Danker zog die Hände zurück und schüttelte den Kopf. »Ihr unterschätzt mich in zweierlei Hinsicht, Anvoulis. Erstens ist dies die Axt, deretwegen ich gekommen bin; oder anders ausgedrückt: Spaltbock hat dreißig Jahre auf seinen Besitzer gewartet, und hier ist er nun. Ohne das Blatt oder den Stiel geprüft zu haben weiß ich jetzt schon, dass mein Gleichgewicht und das dieser Axt zueinander passen. Zweitens bin ich nicht der Mann, der eine solch edle Waffe stehlen würde. Ich möchte sie jetzt gern ausprobieren und meine Vermutung bestätigt sehen, dass Spaltbock und ich füreinander geschaffen sind.« Anvoulis klimperte mit den Augen und bewegte sich immer noch zögernd auf Danker zu. Dieser streckte erneut die Hände aus, die Handflächen nach oben. Vorsichtig reichte der Schmied dem Ratsherrn die Axt. Es war, wie Danker vorausgesagt hatte. Die Waffe war für ihn bestimmt. Es war wie eine Heimkehr. Bei jedem anderen wäre die Axt 176
einfach nur plump und bleischwer gewesen. Sie wirkte tatsächlich steif und unhandlich, doch das Gewicht fügte sich Dankers Griff. Er trat einen Schritt zurück und vollführte mehrere doppelhändige Schlagtechniken, mit einer Leichtigkeit, als wäre Spaltbock eine Feder. Anvoulis klimperte erneut mit den Augen. »Ich habe mich offenbar getäuscht«, sagte er ein wenig eingeschüchtert. Dann lächelte er traurig und fügte hinzu: »Heute verlässt Spaltbock meine Schmiede. Für Euch ein Tag der Freude, für mich ein Tag des Abschieds und der Trauer. Mir bleibt nichts als der Trost eines Gegenwerts in Speilstücken …« »Aha«, sagte Danker mit beißender Ironie, während er das Blatt streichelte. »Der Preis Eures unbezahlbaren Meisterstücks. Nennt ihn mir, und verschont mich mit Euren traurigen Geschichten.« Anvoulis schlurfte zur Tür und stellte sich davor. Er holte tief Luft und sagte beinahe flüsternd: »Spaltbock hat seit Jahr und Tag seinen festen Preis. Handeln ist nicht möglich. Es wäre eine Beleidigung für meine Schmiedekunst. Für vierhundert Speilstücke bin ich bereit, mich von meinem besten Stück zu trennen.« Einen kurzen Moment schaute ihn Danker ungläubig an. Dann verzog er das Gesicht, griff unter sein Wams und holte den Geldbeutel hervor. »Ich werde Euch nicht beleidigen, Anvoulis«, sagte er und zählte flink sechzehn Speilstücke zu fünfundzwanzig ab. »Dafür möchte ich aber auch zwei Eurer kleinsten Handgelenkschwerter als Geschenk. Schließlich dürfte es nicht alle Tage vorkommen, dass Ihr einen halben Jahreslohn kassiert.« Bei den letzten Worten fasste er Spaltbock mit der einen Hand unten am Stiel und mit der anderen direkt am Blatt; dann stellte er sich breitbeinig vor den Schmied. Die schmächtige Gestalt des Ratsherrn strahlte mit einem Mal Kraft und Entschlossenheit aus. Anvoulis grinste unsicher und stapfte zum Regal mit den Dolchen und anderen Stichwaffen. Er wählte zwei kleine Handgelenkschwerter, so schmal wie ein Zeigefinger, und hielt sie in die Höhe. Danker nickte, nahm sie entgegen und verließ grußlos die Schmiede. 177
Kurze Zeit später galoppierte er in nördliche Richtung davon. Am hellblauen Himmel stand eine fahle Sonne. Als Danker Hochlan-Pforte hinter sich ließ, legte sich winterliche Kälte über die Landschaft. Vor ihm blickten die verschneiten Gipfel des Gytmassivs auf ein Tal voller Tannen hinunter, durch das eiskalte Bäche plätscherten. In der Bergwand klafften drei Öffnungen, wie von einem riesigen Schwert in den Fels geschlagen: Die Schluchten von Lan-Gyt. Als Danker sich dem mittleren der drei Zugänge näherte, ertönte der Ruf eines Adlers: »Ork, ork.« Danker zog die Zügel straff, und sein Pferd blieb wiehernd stehen. Die Blicke des Ratsherrn suchten den Adler. Der Vogel hielt sich flügelschlagend wie ein Wächter über dem Zugang zur Schlucht. Während Danker noch schaute, stieß das Tier erneut einen Schrei aus, schwang sich mit leichtem Flügelschlag in die Höhe und segelte in Richtung Norden. »Sieh an«, murmelte Danker. »Die Spieler nähern sich von allen Seiten der Bühne. Jetzt fehlen nur noch die anderen Hauptpersonen des Paktes.« Er ließ sein Pferd im ruhigen Galopp gehen. Nach einiger Zeit wurden Pferd und Reiter von der Schlucht verschluckt.
Tracter aus Wickel näherte sich einen halben Tag später zusammen mit einem angeheuerten Waffenmeister dem Zugang zu derselben Schlucht, als eine Meute von sieben schwer bewaffneten Straßenräubern sie überfielen. Die beiden wehrten sich heldenhaft und töteten zwei Angreifer, doch die Übermacht war zu groß. Beide wurden von Schwertstichen durchbohrt und starben. Die Reiter machten kehrt und ritten nach Hochlan-Pforte zurück, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
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20 Die Säule der Wahrhaftigkeit (2) »Wer die Haut des Berges getastet hat, wird mehr von der trägen, nahezu ruhenden Seele verstehen, die im Innersten des Gesteins schlummert. Wer mit der Geduld der Erde selbst auf die Stimmen der Steine lauscht, vernimmt die Worte, die die Welt zu ihm spricht. Und wer seine Gedanken in dem Bewusstsein kreisen lässt, dass die stillstehende Zeit nicht wahrgenommen werden kann, redet zu den Göttern und all ihren Dienern.« Aus ›Lotrecht zu Land und Meer‹, Gedanken des Ax aus Sommerfreude Asayinda, die Herrin der Morgenröte, legte ihre rechte Hand zwischen zwei Runen an das Gestein der Säule der Wahrhaftigkeit. Die Oberfläche war rau, kalt und abweisend. Asayinda konnte fast ihre eigenen Fingerabdrücke spüren, und die winzigen Rillen in ihrer Hand. Sie wusste nicht, was auf sie zukam, doch nichts geschah. Nur ein moschusartiger Geruch, der vorher nicht da gewesen war, lag mit einem Mal in der Luft. Asayindas linke Hand krallte sich in den Stoff ihrer Tunika. Sie hatte das Gefühl, dass es stiller wurde, als spiele sich plötzlich alles unter einer gläsernen Glocke ab. Ein Windhauch strich an ihrem Gesicht vorbei, und ein schier endloses Zittern durchlief ihren Körper; anfangs war es nicht einmal unangenehm, doch mit der Zeit nahmen Tausende klitzekleiner Pfeile ihre Herzgegend und die Kopfhaut unter Beschuss. Asayinda spürte, wie die Schmerzen immer stärker wurden. Erschrocken schnappte 179
sie nach Luft. Bald war es kaum noch zu ertragen: Die Tausende kleiner Schmerzpunkte waren schlimmer als eine einzelne tiefe, tödliche Wunde. Sie wollte die Verbindung mit der Säule unterbrechen, doch irgendetwas in ihrem Geist verhinderte dies. Ihre Hand schien wie verwachsen mit dem Stein. Es gelang ihr nicht einmal mehr, sich zu bewegen. Plötzlich überstieg der Schmerz eine Schwelle und war nur noch ein lästiges Übel im Hintergrund. Das Wesen tauchte wieder auf und schaute aus großer Höhe auf sie herab, ohne sich zu regen. Es strahlte eine Distanziertheit aus, eine Zurückhaltung, die schon an Missachtung grenzte. Asayinda fühlte sich unbedeutend, wie ein Nichts. Sie war nur ein Körnchen in der unermesslichen Weite des Raumes. Dann plötzlich, ohne irgendein Vorzeichen, wurde sie in die Dunkelheit der Säule gesogen. Sie verlor jede Kontrolle über ihren Körper. Es war Nacht. Oder befand sie sich in einem Raum, in den kein Tageslicht fiel? Sie stolperte von einem Schwindelanfall in den nächsten und spürte, wie sie sich um die eigene Achse drehte. Schwarz wurde zu Grau. Sie landete sanft, als würde jemand sie vorsichtig auf den Boden gleiten lassen. Farben spritzten durchs Grau. Licht überfiel sie wie ein Raubtier. Als sie wieder sehen konnte, stand sie auf einer unüberschaubaren goldenen Fläche, die im Licht einer gelben Sonne schimmerte. Die Farben waren grell. Asayinda suchte den Horizont ab, doch es gab nicht die geringste Unebenheit, die die Eintönigkeit der Landschaft unterbrochen hätte. Sie ließ den Kopf hängen. Der goldene Sand besaß eine unglaublich feine Struktur. Sie sank auf die Knie und nahm eine Hand voll des warmen Puders auf, ließ es langsam durch die Finget rieseln. Ein Schatten glitt über sie hinweg. Sie schaute auf und war nicht einmal erstaunt, als ein Mann vor ihr stand. Er war barfuß und trug einen schlichten rauen Pelzmantel. Seine linke Hand umfasste einen Stab, der dem des Dulce glich: Geflochtenes Weidenholz mit einem goldenen Knauf an der Spitze, der ein geschupptes Wesen darstellte. Das bis auf die Schultern fallende Haar des Mannes schien wie aus Silber180
fäden gemacht. Der Bart war dunkler. Asayinda vermeinte anfangs, eine Ähnlichkeit mit dem Dulce zu erkennen, doch als sie den Fremden näher betrachtete, revidierte sie ihre Meinung. War es der goldene Glanz in der unermesslichen Tiefe seiner Augen gewesen, der sie getäuscht hatte? Um die Augen herum entdeckte sie unzählige Fältchen. Die Haut war dünn, fast durchsichtig. Die ganze Gestalt wirkte zerbrechlich. Doch die Stimme besaß die Kraft eines Dreißigjährigen. »Woher nehmt Ihr Eure Wahrhaftigkeit, Gyndwane?«, fragte der Mann plötzlich. Gyndwane. Er sprach sie mit ihrem Mädchennamen an. Seltsamerweise beruhigte sie das ein wenig. Doch auf die Frage fiel ihr keine Antwort ein, und so beschloss sie, mit den Achseln zu zucken und zu warten. »Nicht Wahrheit, nicht Wirklichkeit, sondern Wahrhaftigkeit«, fuhr der Mann fort. »Wahrheit ist eine Unverschämtheit. Sie ist eine verwirrende Frau, die lieber ihrer Eingebung folgt, als den Tatsachen ins Auge zu schauen. Oder, wenn Euch das besser gefällt: Wahrheit ist ein dummer Mann, der sein Ich und seine Umwelt miteinander verwechselt. Wahrheit ist einem System von Normen unterworfen, in das dieser Mann passen müsste. Daher ist Wahrheit ziemlich unwichtig für die erforderliche Reinheit. Wirklichkeit kommt ihr schon ein wenig näher. Und dennoch ist Wirklichkeit nicht mehr als das, was man wahrnimmt. Eine einzige Ebene, obwohl es vielleicht drei Ebenen gibt. Und dann besteht noch das Problem, dass jeder Mensch etwas anderes wahrnimmt. Auch die Wirklichkeit ist daher von unzureichender Bedeutung für die erforderliche Reinheit. Bleibt uns nur die Wahrhaftigkeit. Authentizität, so nannte mein Lehrer sie einmal. Manche Leute glauben, es habe mehr mit Vertrauenswürdigkeit zu tun.« Asayinda verstand, was der Mann meinte. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass diese zerbrechliche, beinahe durchsichtige Erscheinung einst einen Lehrer gehabt hatte – so wie sie sich manchmal 181
nicht hatte vorstellen können, dass ein Säugling zu einem erwachsenen Menschen heranwuchs. »Wer seid Ihr?« Sie hatte die Frage kaum gedacht, da war sie auch schon ausgesprochen. Leichte Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Der Mann gab ein Geräusch von sich, das am ehesten einem Kichern glich. Auch Hohn lag darin. »Zum ersten Mal seit … langer Zeit spreche ich mit einem Menschen, und er stellt die einzige Frage, die nicht gestellt werden darf.« Sein goldener Blick traf ihren. Sie ging darin unter. Für einen Moment war sie sich der langen Geschichte und der Landschaften bewusst, die im Geist dieses Mannes offen lagen. Sie traute sich, hinter sich zu schauen, obwohl eine vorsichtige Stimme in ihrem Innersten ihr davon abriet. Gegen einen schwarzen Hintergrund voller weißer Sprenkel wurde die Silhouette einer Statue von einer unsichtbaren Lichtquelle angestrahlt. Orangefarbenes Licht, über dem ein brauner Schleier waberte. Die Augen des Standbilds zogen sie an. Sie funkelten wie Edelsteine. Der lebendige Blick dahinter richtete sich auf sie. Ungehemmte Wut versuchte sie zu erfassen. Erschreckt wich Asayinda zurück und vergaß für Sekunden zu atmen. Dann verschwand der Schimmer dieser Vision aus ihren Gedanken. Was blieb, war blankes Entsetzen. »Dies ist die einzige Antwort, die ich darauf zu geben bereit bin, Edelfrau«, sagte der Mann. »Es ist eine Spur meiner Wahrhaftigkeit. Mehr nicht, denn der Herrscher des Nachtmeers darf nicht noch mehr erfahren, als er jetzt bereits weiß.« Er lächelte, doch die Augen lachten nicht mit. »Edelfrau, Eure Wahrhaftigkeit beginnt hier, bei der Säule, dem äonenalten Symbol der Wahrhaftigkeit. Schweigt, wenn Ihr schweigen müsst. Schweigt, wenn Ihr reden könntet. Sprecht nur, wenn Ihr ausdrücklich darum gebeten werdet und eine Antwort habt.« »Was ist Wahrhaftigkeit?«, fragte Asayinda leise. Sie fürchtete, schon wieder eine falsche Frage gestellt zu haben. Doch der Mann antwortete prompt, als hätte er die Frage erwartet. 182
»Wahrhaftigkeit ist das Wiedererlangen der Reinheit einer Quelle, der Anfang, die Geburt. Das Licht der Wahrhaftigkeit, verbunden mit der tiefen Dunkelheit ungehemmten Wissens, das Euch erwartet, ist erforderlich, um dem Herrn der Tiefe gegenüberzutreten, ohne dabei zu sterben. Ihr seid jung, Edelfrau, doch wenn Ihr Eure Hand wieder von der Oberfläche der Säule löst, wird dies ein schmerzhafter Prozess sein. In gewisser Weise seid Ihr dann eine alte Frau.« Asayinda spürte einen drückenden Schmerz in den Schläfen. Langsam schloss sie die Augen. Sie erhaschte einen Schimmer ihrer Gestalt; verschrumpelte Hände mit braunen Flecken und einem Wirrwarr blauer Adern umklammerten einen Stab aus geflochtenem Weidenholz. Sie öffnete wieder die Augen. Der Mann war verschwunden. Jedes Suchen war zwecklos; er war fort. Seine Worte jedoch hatten sich in ihren Gedanken und ihrer Seele festgesetzt. Ihr wurde klar, dass jede ihrer Handlungen schicksalhafte Wendungen nach sich ziehen konnte. Ohne wirklich zu zögern hatte sie ihre Hand an die Säule gelegt, und jetzt stellte sich heraus, dass sie ihre Jugend geopfert hatte. Seltsamerweise konnte sie sich damit abfinden. Sie wusste, dass ihr Schicksal unabwendbar war. Andererseits würde sie im Spiel der Mächte eine wichtige Rolle übernehmen. Ein Schauder erfasste ihren Körper. Die Ebene war verschwunden, und sie schwebte wieder in der Dunkelheit. Zeit verlor jede Bedeutung, obgleich sie das unbestimmte Gefühl hatte, alles liefe verlangsamt ab. Nicht so, wie sie es mit dem Dulce erlebt hatte – eher so, als wate sie durch sirupartigen Schlamm. Erneut wanderten Farben durch das Schwarz und Dunkelgrau. Verschiedenste Blauschattierungen zogen in phantastischen Linien an ihr vorüber. Die Zeit schien jetzt fast stillzustehen. Aus weiter Ferne näherte sich ihr ein Gedanke. Asayinda sah ihn wie eine kompakte lila Wolke auf sich zukommen. Als die Wolke sie berührte, drangen Begriffe tief in ihren Geist. Ohne Worte zu benutzen, versuchte irgendetwas mit ihr zu kommunizieren. Auffassungen, Verständnis, verschwommene Umrisse von Gefühlen – sie wusste nicht, 183
wie sie diese getragenen Anflüge von Bewegungen in ihren Gedanken bezeichnen sollte. Sie erlebte das Wunder, dass Tausende, nein, Hunderttausende Wesen gleichzeitig mit ihr in Verbindung zu treten versuchten. »Wir sind Teil der Säule geworden«, berichteten sie, noch immer in diesen seltsamen Begriffen. »Wir sind die Säule. Hört auf uns.« Sie hörte zu, und während sie dies tat, verlangsamte ihr Lebensrhythmus sich noch mehr. Die Begriffe wurden deutlicher. Asayinda konnte sie sogar zu Sätzen ordnen. Die Wesen wurden zu einer Stimme. Es ging um Gefühle, mit denen sie nichts anzufangen wusste; sie hatte nur darüber gelesen. Menschen, die in einer fernen Vergangenheit gelebt hatten, sollten demnach andere Gefühle gehabt und sich einer anderen Sprache bedient haben, anderer Wörter mit abweichender Bedeutung. Zum größten Teil verstand sie, wovon die Stimme berichtete; dann aber fehlte ihr wieder ein Begriff, oder sie glaubte, etwas falsch interpretiert zu haben. Die Stimme erzählte von einer anderen Welt. Nicht von einem anderen Ort, sondern von einer anderen Zeit in ferner Vergangenheit, als es ›die großen blaugrünen Ebenen‹ noch nicht gegeben hatte – offenbar meinte die Stimme damit die Meere von Romander. Asayinda versuchte sich vorzustellen, dass diese Meere früher etwas anderes gewesen sein sollte. Berge, Wüste oder hügeliges Land. Es gelang ihr nur zum Teil. Die Stimme meinte, ein großes Böses habe sich erhoben. Dieses sei schon immer vorhanden gewesen; es habe im Innern der Erde geschlummert, habe gewartet und geschwiegen, als andere Mächte um die Hegemonie in der alten Welt gekämpft hätten. Bilder von Kriegen auf großen Ebenen tauchten vor Asayindas Augen auf, mit Schlachtfeldern und Metzeleien, die jeder Beschreibung spotteten. Vor neun mal neuntausend Jahren war dann durch das Eingreifen von Wesen, unter deren Taten und Aussehen Asayinda sich nichts Genaues vorstellen konnte, das große Wasser gekommen. Diese mysteriösen Wesen hatten unter dem Einfluss des Bösen gestanden; jedenfalls die meisten von ihnen. 184
Langsam wurde es Asayinda schwindlig. Es schien, als habe die Stimme dies bemerkt, denn nun trat eine lange Stille ein. Langsam krochen neue Farben durch Spalten in der Dunkelheit. Grün, rot, orange und ein seltsames Braun, das unruhig auf Asayindas Netzhaut flackerte, als stünde sie in Flammen. Sie hatte diese Farbe noch nie bewusst wahrgenommen, erkannte sie, obwohl sie der Farbe in ihrer vorherigen Vision ähnelte. Ein seltsamer Gedanke. Asayinda schrieb ihn ihrer Verwirrung angesichts all der Dinge zu, die um sie herum geschahen. Weit in der Ferne glaubte sie für einen Augenblick einen hohen Gesang zu hören. Die braune Farbe verschwand, und auch der Ton löste sich in Stille auf. Das Wesen, das aus der Höhe auf Asayinda hinabschaute, kam näher. Ein Schleier legte sich wie ein Fischernetz über sie. Sie war gefangen in der Welt der Säule. Das Netzmuster nahm lebensgroße Formen an und glitt schließlich aus ihrem Blickfeld. Langsam entwickelten sich Bilder auf ihrer Netzhaut. Gleichzeitig spürte sie Hitze durch ihren Körper strömen – eine Hitze, die für einen Menschen normalerweise unerträglich gewesen wäre. Asayinda schaute in eine verlangsamte Welt hinab, in der sich eine nicht enden wollende Menschenschlange in dunklen Mänteln quälend langsam über eine braune Fläche schleppte. Die Menschen schlängelten sich zwischen großen Erdrissen und Löchern hindurch und schienen zielbewusst auf etwas zuzusteuern, das am Horizont flackerte. Asayinda versuchte zu ergründen, worum es sich dabei handeln könnte, doch sie schien nicht in der Lage zu sein, ihre Blicke dorthin zu verlagern. Aus dem linken Augenwinkel heraus glaubte sie ein grelles Licht aufflammen zu sehen. »Herrin der Morgenröte.« Asayinda wurde in Gedankensprache von einer Flüsterstimme angesprochen, die in alle Bereiche ihres Körpers vordrang. Sie vermochte nicht zu ergründen, ob es sich um die Stimme eines Mannes oder einer Frau handelte. »Über einen unendlichen Pfad schleppe ich meinen Körper und meinen Geist, als ewiger Pilger, Leben um Leben. Die Hoffnung, Euch jemals zu finden, begann bereits zu schwinden. Mehr gewohnheitsge185
mäß als von fester Überzeugung getrieben quälte ich mich durch das Tränental meiner Leben. Doch hier bin ich nun, und vor allem: Hier ist meine Edelfrau! Ich habe Euch gefunden!« Asayinda wollte erwidern, sie kenne das Wesen nicht, und sie wisse auch nicht, was sie ihm bedeuten könne, doch sie wurde in eine Vision innerhalb ihrer Vision hineingesogen. In Asayindas Geist wurde ein Siegel gebrochen. Eine Tür öffnete sich, hinter der Erinnerungen mehr als siebzehn Jahre geschlummert hatten. Sie erlebte, was niemand zuvor mitgemacht hatte – den Moment direkt vor ihrer Geburt. Der entscheidende Augenblick für die Ewigkeit, in dem die Seele eines Menschen mit Körper und Geist verknüpft wird. Asayinda wurde sich der Geheimnisse ihrer bisherigen Leben bewusst. Geheimnisse, die kein Mensch kannte. Erregung hatte sie gepackt. Sie kannte ihre Aufgabe, doch sie kannte auch den Kryptus, den Lebenseid. Bald schon würde sie vergessen haben, wer sie war und wer sie werden würde. Brandgeruch stieg ihr in die Nase. Unglaubliche Hitze umgab sie. Sie wollte zurückweichen, blieb jedoch stehen, da sie wusste, dass ihr nichts geschehen konnte. Ein Wesen füllte ihr Blickfeld aus. Das im Feuer tanzende Gesicht des Geschöpfs lächelte hinter einem Flammenschleier. Eine silberne Hand tastete nach ihren Lippen. Der Zeigefinger berührte sie. Nicht Hitze, sondern schaurige Kälte, die alles erstarren ließ, legte sich um ihren Mund. »Schweigt, berichtet niemandem von dem, was Ihr wisst«, flüsterte das Wesen. Asayinda stimmte zu, wie jedes Mal zuvor. Das Wesen machte den Weg frei, und sie glitt in die Welt des Reiches. Das Licht blendete sie, und unwillkürlich begann sie zu schreien wie ein Säugling. Asayinda keuchte. Die Erregung presste sich unaufhörlich durch ihre Adern, wie eine nicht enden wollende Kaskade. Sie wusste, dass sie jetzt ein Geheim186
nis besaß, das kein Mensch mit ihr teilte. Im Grenzbereich zwischen Tod und Wiedergeburt hatte sie einen Zipfel des Lebensmysteriums zu fassen bekommen. Zu klein, um alles überschauen zu können, doch zu groß für jedes sterbliche Wesen. Sie verstand noch nicht, warum es ausgerechnet ihr vergönnt war, dieses Wissen zu erlangen, dieses Geheimnis, das nicht entschleiert werden konnte. Und sie hatte es wiederentdecken dürfen. Es musste mit den Mysterien rund um den Herrn der Tiefe und ihrem Amt als Herrin der Morgenröte zusammenhängen. »Kein Mensch, keine Göttin, sondern ein Mediator, ein Vermittler«, sagte die Flüsterstimme. »Die Edelfrau steht von nun an zwischen den Solitären und dem Herrn der Tiefe. Sie repräsentiert die Ayinti. Sie muss begreifen, dass sie hier auf Romander vollkommen alleine ist. Sie gehört nicht zu den Solitären. Der Herr der Tiefe rechtfertigt sich aus sich selbst heraus und gehört nichts und niemandem. Die Edelfrau wird für den Rest ihres Lebens einsam sein. Das Wissen ist nicht nur segensreich, sondern auch eine Last. Die Edelfrau kennt das Geheimnis des letzten und ersten Atemzugs. Das verpflichtet sie zum Schweigen in jenen Augenblicken, in denen sie normalerweise gesprochen hätte. Schweigen ist in ihrem Fall Weisheit, so wie auch das Warten oft ein Synonym für Weisheit ist.« Die Flüsterstimme schwieg, doch derjenige, der sich der Stimme bedient hatte, schaute aus großer Entfernung weiterhin zu. Der Geist der Säule, dachte Asayinda. Trübsinn erfasste sie. Sie ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Sie hatte Wissen erlangt, doch sie fühlte sich immer noch unsicher und unwissend. Sie würde weiter Kenntnisse sammeln müssen, wenn sie mit voller Überzeugung die Herrin der Morgenröte sein wollte. Sie repräsentierte die Ayinti. Eine verschwommene Ahnung, um wen es sich bei den Ayinti handelte, ließ sie schaudern. Es gab da noch etwas, das sie zwischen Grauen und Faszination schwanken ließ: Ihre Aufgabe würde darin bestehen, den Herrn der Tiefe zu wecken. Dazu fühlte sie sich derzeit noch nicht imstande. Und sie fragte sich, wie sie mehr Wissen erlangen sollte. »Die Zeichen geben Aufschluss.« Die Stimme erklang ein letztes Mal. Der Geist der Säule zog sich noch weiter zurück. 187
Ein Windhauch strich an ihrem Gesicht vorbei. Asayinda spürte, dass sie stundenlang in derselben Haltung gesessen haben musste. Krampfhaft versuchte sie, ihre Hand von der Säule zu lösen. Schmerzhafte Stiche durchzuckten ihren Arm. Schließlich benutzte sie die linke Hand, um die Finger der rechten einzeln vom Gestein zu ziehen. Dann riss sie ihren Handballen los. Schmerz! Alles verzehrender Schmerz, der unerträglich hätte sein müssen, doch wenngleich sie vor Qual und Schreck laut aufschrie und ihr schwindlig wurde, konnte sie sich auf den Beinen halten. Ihr Handballen brannte fürchterlich. Voller Abscheu starrte sie auf eine verkohlte Wunde. Getrocknetes Blut und schwarzes Fleisch. Am Rand hatte sich die versengte Haut eingerollt. An der Innenseite ihrer Hand war ein Zeichen tief ins Fleisch eingebrannt. Am ehesten glich es noch einem unfertigen Q. Einem eckigen, halb geöffneten Kreis mit einer diagonalen Linie an der Unterkante. Mit einem Gefühl tiefsten Ekels drehte sie sich zum Dulce um. Doch auf der kleinen Insel, die sich an die Säule schmiegte, war niemand mehr. Asayindas Blicke suchten die Solitär von Avrilux, doch auch von dem Schiff war weit und breit nichts zu sehen. Völlig verwirrt schaute sie sich überall um. Nirgends wurde die ruhige Oberfläche des Meeres von der Silhouette eines kleinen Schiffes gestört. Die fahle Sonne verschwand langsam hinter lang gezogenen hellgrauen Wolken, die den Himmel dicht oberhalb des Horizonts in mattes Orange tauchten. Im selben Moment stürmte eine Flut von Erinnerungen auf Asayinda ein. Aus einer Vergangenheit, die nicht die ihre gewesen sein konnte. Es wurde zu viel für sie. Es schien, als altere sie binnen weniger Sekunden um Dutzende Jahre. Was hatte der Mann aus der Vision gesagt? »Ihr seid jung, Edelfrau, doch wenn Ihr Eure Hand wieder von der Oberfläche der Säule löst, wird dies ein schmerzhafter Prozess sein. In gewisser Weise seid Ihr dann eine alte Frau.« Sie hörte, wie eine andere Stimme, die des Dulce, ernsthaft, beinahe 188
besorgt zu ihr sprach: »Ihr seid jetzt vollkommen auf Euch selbst gestellt. Ihr müsst da ganz alleine durch.« Und das war sie: Alleine.
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21 Der Tag von Welden Taylerch (1) »Aernold aus Sey Hirin ist in vieler Hinsicht ein einzigartiger Dulce. Jeder Solitär weiß, dass er mehr ist als nur ihr geistiger und geistlicher Führer. Doch keiner unter den Solitären vermag zu sagen, worin dieses ›mehr‹ besteht.« Aus ›Über die stille Macht am Schwarzwasser‹, von Spyndal aus Bruchinsel Am Morgen nach seiner Rückkehr von der Säule der Wahrhaftigkeit, ohne die Herrin der Morgenröte, verschwand der Dulce aus Yle em Avrilux. Uchate und seine Halbmagistrate nahmen zunächst an, es handele sich nur um eine kurze Abwesenheit. Der Dulce war früher schon häufiger für einen Tag ›fort‹ gewesen. Doch nach drei Tagen rief Uchate die Halbmagistratur, die sechs Unterpriester, zusammen. »Ich bin verwirrt«, gab der erste Priester zu. »Mein Meister hat mich nicht über seine Abwesenheit informiert. Sein Kammerdiener vermisst keine Kleider, und es wurde auch keine schriftliche Nachricht von ihm gefunden. Ich befürchte, dass er entführt wurde.« »Lässt der Dulce sich denn einfach so entführen?«, fragte Brevander, der älteste Unterpriester, der meistens als Wortführer der Halbmagistrate auftrat. »Das bezweifle ich doch sehr. Mehr als einmal hat er seine besonderen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Im Reich von Romander dürfte es nur wenige Mächte geben, die in der Lage wären, ihn gefangen zu nehmen.« 190
»Wie auch immer«, sagte Uchate, »er ist verschwunden. Was sollen wir unternehmen?« Eine viel sagende Stille trat ein. Nach einiger Zeit kam das Gespräch wieder in Gang, doch mehr als ein Vorschlag für eine Suchaktion in der Umgebung von Yle em Avrilux und im kleinen Hafen kam nicht dabei heraus. Die Suche verlief dermaßen hektisch, dass man nicht einmal bemerkte, dass die Solitär von Avrilux nicht im Hafen vor Anker lag. Es war Uchate selbst, der das Verschwinden bei einem Kontrollgang entdeckte. »Er hat sich übers Meer abgesetzt«, rief er verzweifelt. »Die schwersten Winterstürme stehen vor der Tür, und er segelt mit seinen Nibuüm aufs Schwarzwasser, als wäre es nur ein kleiner Binnensee. Will er denn sogar seinen eigenen Herrn herausfordern?«
Doch Aernold aus Sey Hirin, der Dulce von Yle em Avrilux, befand sich zu diesem Zeitpunkt in der mittleren der drei großen Schluchten, die die Halbinsel Yle über die gesamte Länge von Norden nach Süden durchschnitten. Er war ziemlich ungehalten. Der Blick aus seinen goldenen Augen schweifte unruhig hin und her, während er sich mit vorsichtigen Schritten in südliche Richtung bewegte. In regelmäßigen Abständen suchte er den hellen Winterhimmel ab, als müsse er von dort mit Gefahren rechnen. Zuweilen drehte er sich um, doch den ganzen Morgen hatte er niemanden gesehen. Yle, zumindest der nördliche Teil, war ein unwirtliches Gebiet voller Schluchten, unzugänglicher Täler und steiler Felsformationen. Im südlichen Teil gab es die tückischen Sümpfe. Bis auf fünf kleine Dörfer und einige vereinzelte Gehöfte war die Halbinsel unbewohnt. Der Dulce blieb abrupt stehen, als der Schrei eines Adlers ertönte. Der Vogel zeigte sich nicht, doch der Dulce schien den Ruf erkannt zu haben. »Aha, Gehandyr ist bereits da«, murmelte er. »Auf jeden Fall komme ich nicht als Erster.« 191
Er ging weiter. Seine schlechte Stimmung schien sich angesichts des bevorstehenden Treffens mit dem Vogel ein wenig zu heben. Die mittlere Schlucht hatte sich mit Abstand am tiefsten in das hartnäckige Felsgestein gegraben. In der Mitte der Halbinsel befand sich sogar der niedrigste Punkt der gesamten Erdoberfläche. Dieser Ort hieß Welden Taylerch. Das war Spantisch und bedeutete so viel wie ›wo die Spuren zusammenlaufen‹. Aernold aus Sey Hirin kannte diese Stelle jedoch unter einem anderen, viel älteren Namen. »Aouluphen yr Kylmw.« Der Dulce brummelte die Wörter, als müsse er gegen seinen Willen eine Sprache benutzen, die nicht die seine war. »Tausend Mal verflucht sei der Ort, wo Chadeyesh seinen irdischen Ketten entfloh. Und Haeracim ist gerade erst erwacht. Der jahrtausendealte Kampf wird erneut ausgefochten, es sei denn, der Zauberlose kann diesmal seine Aufgabe erfüllen.« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Aouluphen yr Kylmw«, wiederholte er. »Grenzort der Dimensionen.« Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Leichte Trauer ließ seine Mundwinkel herabsinken. Er klimperte einige Male mit den Augenlidern. »Wer weiß, vielleicht ist dies das letzte Mal.« Es klang nicht gerade überzeugt. Auf einmal, so als habe er seine Umgebung vorher gar nicht wahrgenommen, suchte er mit schmalen Augen den oberen Rand der Schlucht ab. Anderes Wetter zog auf. Gelbgraue Wolken warfen ihren Schleier über die Schlucht, und wie aus dem Nichts jagte ein kalter Wind auf den Dulce zu. Sein Gewand flatterte wie eine violette Fahne um ihn her. Er stampfte fünfmal mit dem Stab auf den Boden der Schlucht und murmelte mehrere Worte. Der Wind verebbte. Die Wolken zerfaserten, sammelten sich aber bald schon von neuem. Für einige Sekunden waren schwere, rauschende Flügelschläge zu hören, doch kein Lebewesen ließ sich blicken. »Jetzt sind es zwei«, sagte er lächelnd. »Der Vogel und Ilure Imfarse, der Wächter der anderen Welt. Wer kommt als Nächster?« 192
Er erreichte eine Stelle, an der die Schlucht stark abfiel. Grob in den Stein gehauene Stufen machten die steilsten Abschnitte passierbar. Je weiter der Dulce hinabstieg, desto dichter liefen die Wände der Schlucht aufeinander zu. Schließlich stand er vor einem Durchgang von kaum einem Meter Breite. »Der Bogen von Raenk«, sagte der Dulce, der sich nun langsamer bewegte. Er hob den Kopf. Mindestens tausend Meter über ihm berührten sich die beiden Wände. »Hier geht's nicht weiter, Reisender«, sagte er zu einem imaginären Wanderer, »denn hier beginnt das Herrschaftsgebiet dunkler Mächte. Dies ist die erste Pforte von Welden Taylerch. Kehrt um und macht Euch rasch aus dem Staub.« Die Atmosphäre war hier anders. Nicht der geringste Windhauch war zu spüren, und die stillstehende Luft war durchdrungen von einem schweren Erdgeruch, vermischt mit dem Gestank verwesender Kadaver. Nebliger Dunst sank auf den Dulce herab, als wäre die Nacht nicht mehr fern. »Jetzt noch die Stimme von Chadeyesh und die Jahrtausende anhaltende Wut von Mathathruin, dann ist die Unterwelt vollzählig«, flüsterte er vor sich hin. Die goldenen Ringe an seinen Fingern fühlten sich plötzlich wie Eisklumpen an. Er zitterte, wickelte sich noch enger in seinen Mantel ein und hielt mit der anderen Hand den Stab noch fester umklammert. Mit dem Daumen befühlte er das raue Weidenholz und stellte dabei wieder einmal fest, wie alt der Stab war. »Fast neuntausend Jahre, und immer noch kein Kratzer«, brummte er. »Was Magie doch alles bewirkt.« Einer Spur folgend, wanderten seine Gedanken weit in der Zeit zurück. Der Dulce schöpfte aus Erinnerungen, die viele Geschlechter umspannten. Mit der rückwärts gerichteten Bewegung in der Zeit kam unvermeidlich die Wehmut. Er hatte feststellen müssen, dass diese Gefühlsregung sich immer häufiger einstellte, je mehr Jahre verrannen. Er gelangte an eine Stelle, an der eine Brücke eine tiefe Schlucht überspannte. Als er mitten über dem Abgrund stand, vernahm er ein Brodeln. Gelbliche Rauchfladen stiegen zu dünnen Säulen empor und lös193
ten sich über seinem Kopf wieder auf. Er hielt sich die Nase zu; der Gestank war kaum zu ertragen. Das Tageslicht hatte immer mehr Mühe, die Schlucht zu erreichen. Der Dulce ging langsamer und spähte angespannt auf den Pfad vor seinen Füßen, den er kaum noch erkennen konnte.
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22 Königsgift »Von allen Giften sind das legendäre Tedisuerium und Curaiec'htac für die defensive Magie der Loher Schule am wenigsten fassbar. Kein Wunder also, dass Regulatoren und andere Berufsmörder von diesen starken Giften reichlich Gebrauch machen. Curaiec'htac, das von Regulatoren und Festungsmeistern ›Königsgift‹ genannt wird, ist zudem ein reines Naturprodukt, das aus der violetten Stielflüssigkeit des seltenen Blaukelpseegrases gewonnen wird. Dieses findet man vor allem rund um die nördlichsten Inseln der Äußeren Riffe und östlich von Rak sowie in der Umgebung von West-Gyt. Die Kelpfischer von Rak zählen deshalb zu den wohlhabendsten Fischern des Reiches.« Aus ›Von Aciterion bis Zypuergelon. Enzyklopädie der Gifte und betäubenden Stoffe‹, von Edelfrau Spheire Lavan aus Klein-Marwin Am zweiten Tag der Leere, die das Schiff im namenlosen Meer zwischen Fang und den Äußeren Riffen gefangen hielt, informierte Matei die Reisegefährten über den Stand der Dinge. Sie hatten sich an Deck versammelt und saßen in einer Reihe an die Erhöhung der Vorplicht gelehnt. Obwohl die See bis zum Horizont spiegelglatt war, schaukelte der Kühne Furcher ganz leicht. »Mein Schiff ist eine Frau, und sie lebt«, hatte Wigbolt einmal gesagt. »Nie liegt sie still. Wenn sie einmal alt und des Lebens auf dem Wasser überdrüssig an Land gebracht werden sollte, wird sie sich vielleicht immer noch bewegen.« 195
Matei führte das Wort. Er trug heute einen dunkelblauen Mantel mit goldenen Rüschen und dünnem Pelzkragen, der ihm einen vornehmen Anstrich verlieh. »Als ihr unten in den Grotten wart, erhielten wir eine ausführliche Nachricht von Edelfrau Tulsie«, begann er. »Frühere Hinweise hatten sie bereits auf eine Spur gebracht, doch kurz nach ihrer ersten Antwort an uns machte sie eine weitere für uns bedeutsame Entdeckung. Sie stellte fest, dass die Vogelfrau, wie wir es schon vermutet hatten, ausschließlich an Orten auftaucht, die im direkten Zusammenhang mit farbloser Magie stehen. Wichtig ist dabei auch, dass die Vogelfrau bereits mehrfach an einer bestimmten Stelle beobachtet wurde. Warum dieser Ort von so großer Bedeutung ist, weiß Tulsie nicht, doch in keinem anderen Gebiet ist die Vogelfrau bislang häufiger aufgetaucht.« Der Hochmeister wippte auf den Fußballen und starrte über die Vorplicht aufs Wasser. Lethe sah Wehmut in seinem Blick. »Und wo ist das?«, fragte Marakis. Matei schien es nicht gehört zu haben. »Wenn diese Leere nicht ewig anhält und wir unsere Aufgabe auf den Äußeren Riffen erledigt haben, müssen wir unserer Meinung nach«, er nickte zu Llanfereit hinüber, »so schnell wie möglich nach Lan-Gyt.« »Und wo ist dieser Ort?«, fragte Lethe. »Genau dort, in den alten Schluchten nördlich von Hochlan-Pforte«, sagte Matei. »Einige dieser Schluchten erstrecken sich bis zum nördlichsten Punkt der Halbinsel Yle. Irgendwo auf halbem Wege der mittleren Schlucht befindet sich die tiefste Stelle, die nur über einen schmalen und gefährlichen Pfad erreicht werden kann. Edelfrau Tulsie teilte uns mit, dass auch andere über diesen Punkt informiert sind.« »Andere?«, fragte Gaithnard. »Feinde?« Lethe erwartete, dass Matei dies bejahen würde, doch der Hochmeister bewegte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. »Das weiß ich nicht. Ich bin noch nicht dahintergekommen, wer in diesem Machtkampf unsere wahren Feinde sind. In den letzten Wo196
chen sind zu viele widersprüchliche Dinge geschehen. Als ob jene Menschen, die wir zunächst als unsere größten Widersacher betrachtet haben, mehr auf unserer Seite stehen, als wir stets glaubten.« »Und umgekehrt«, brummte Llanfereit. »Vielleicht«, sagte Matei bedächtig, »vielleicht. Aber auch dessen können wir uns noch nicht sicher sein.« Matei schaute mit fast geschlossenen Augen zu Marakis hinüber. »Es gibt da eine Gruppe, wahrscheinlich unter der Leitung von Danker, die die Macht an sich reißen will. Wir erhielten auch mittels einer Kalktaube einen Bericht direkt aus Sturmburg. Die Nachricht kam von Harkyn. Die Hochmeister vermuten, dass einer von ihnen sich Danker und dessen Gruppe angeschlossen hat.« »Die sechs Hochmeister gingen sogar so weit, eine Willenskonzentration durchzuführen«, sagte Matei. »Ohne Ergebnis.« Matei musste Marakis und Gaithnard erläutern, wie eine Willenskonzentration ablief. Die anderen wussten darüber Bescheid. »Es ist praktisch die einzige Möglichkeit, den vermuteten Verrat eines Hochmeisters festzustellen. Ein letztes Mittel in allerhöchster Not. In diesem Fall jedoch hat es zu keinem Ergebnis geführt. Jetzt belauern die Hochmeister sich voller Argwohn untereinander. Eine üble Angelegenheit.« Dotar schaute auf. »So entsteht eine Atmosphäre des Misstrauens«, sagte er, »wo doch gerade jetzt alle zusammenhalten müssten.« Die anderen nickten. »Verrat ist der Anfang vom Ende«, murmelte Llanfereit bitter. »Ich kann ein Lied davon singen.« Lethe fragte sich, was der Magier erlebt haben mochte, dass er so verbittert klang. Und wieder stellte er fest, dass er rein gar nichts über den Zauberer wusste, der eine so unglaubliche Kraft ausstrahlte – eine Macht, die zu keinem Halbmeister oder Meister passte. Und dann war da noch Pit. Vor ein paar Tagen war Lethe klar geworden, dass er Pit nicht so gut kannte, wie er angenommen hatte. Sie war ein mindestens ebenso großes Rätsel wie ihr Lehrer. Beide kamen von der Insel Wering. Der schlaksige Zauberer hatte Pit adoptiert. Das war es auch 197
schon; mehr wusste Lethe nicht. Vielleicht sollte er das Mädchen einmal direkter befragen. »Was unternehmen wir auf den Äußeren Riffen?«, fragte Gaithnard. Er betrachtete einen seiner Handgelenkdolche und prüfte vorsichtig die Klinge. »Welche der großen Inseln steuern wir überhaupt an?« »Auf jeden Fall zwei«, sagte Matei. »Mittel-V'ryn und Mittel-Serth.« »Oh, Serth-Hafen«, meinte Gaithnard, und seine Augen leuchten auf. »Mit seiner berühmten Schleuse von Lundyker.« Jeder kannte die Geschichten über das phantastische Bauwerk, das den Zugang zu Serth-Hafen ermöglichte. Es wurde als eine der größten technischen Leistungen im gesamten Inselreich betrachtet. Die Hände auf dem Rücken, wanderte Matei zur Reling, drehte kurz davor aber um und wandte sich direkt an Lethe. »Etwas anderes, Lethe: Ich bin mit dem Märchenbuch fertig.« Lethe schaute ihn zunächst verständnislos an. Dann erinnerte er sich an die ersten Abende an Bord des Kühnen Furcher als Matei in einem Buch gelesen hatte, das in einer fremden Sprache geschrieben war. Der Hochmeister hatte ihm damals versprochen, Teile daraus für ihn zu übersetzen, da ihn Lethes Meinung dazu interessierte. »Das war ein schönes Stück Arbeit«, grinste Matei. »Die wichtigsten Abschnitte habe ich übertragen. Kannst du die bitte gleich lesen und mir anschließend sagen, was du davon hältst?« »Was ist an einem Märchenbuch so wichtig?«, fragte Dotar ein wenig spöttisch. »Ich nenne es nur Märchenbuch, weil die Bewohner der Spiegelinseln überzeugt sind, die beiden Geschichten darin seien reine Erfindung«, erklärte Matei. »Ich sehe das ganz anders. Die Hauptperson, ein gewisser Dorlean, erlebt wundersame Dinge, aber ich bin fest davon überzeugt, dass hinter diesen phantasievollen Erzählungen eine Botschaft steckt.« Lethe runzelte plötzlich die Stirn. »Dorlean, das ist doch schon wieder ein Anagramm von Randoël!« »Genau«, sagte Matei. »Das ist mir auch aufgefallen. Ich denke, dass es sich um eine der Spuren handelt, die Randoël in die Zeit gesetzt hat. 198
Das erklärt jedenfalls, warum seine Botschaft in etwas verpackt ist, das einem Märchenbuch ähnelt.« Die daraufhin einsetzende Stille wurde vom plötzlichen Kreischen eines Vogels unterbrochen. Lethes Blick suchte das Tier, das den Kühnen Furcher in weitem Bogen umkreiste. Es war keine Nebelmöwe, sondern ein großer, dunkelgrauer Vogel mit langem hellem Schnabel und grellen gelben Augen. Auf dem Kopf glitzerte irgendetwas. Ein anderes Geräusch überlagerte das Vogelkreischen: ein misstönendes Summen. »Rax!«, zischte Dotar. Er stand auf, zog sein Schwert und richtete die Spitze auf den Vogel. Auch Gaithnard sprang auf und stellte sich neben den Regulator. Die Glut von Lethes singendem Schwert war durch die Scheide hindurch zu sehen. In einer fließenden Bewegung holte Lethe die Waffe hervor. Der Vogel hielt sich mit flatterndem Flügelschlag höchstens zehn Meter über ihm und bewegte sich nicht von der Stelle. Das Tier war ungefähr so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Rax glühte jetzt noch stärker, war beinahe weiß. Es gab keinen Zweifel, der Vogel stand für das Böse. Lethe verengte die Augen zu Schlitzen und konzentrierte sich auf den Kopf des Tieres. Dieser glich oberhalb der gelben Augen einem Stein aus purem Mangit. Eigenartig. Llanfereit murmelte etwas und vollführte eine Folge beschwörender Fingerbewegungen. Nichts geschah. »Es ist ein Abgesandter des Düsteren vom Nachtmeer«, sagte er. »Meine Magie kann nichts gegen das Tier ausrichten.« »Das stimmt«, bestätigte Matei. »So einen Vogel habe ich nie zuvor gesehen.« Lethe spürte, wie eine gewaltige Macht auf seine geistige Abwehr einschlug. Er wusste nicht, was er dagegen unternehmen sollte, doch zum Glück gelang es der fremden Macht nicht, die Barriere zu durchbrechen. Der Vogel stieß einen wütenden Schrei aus, legte die Flügel eng an den Körper und ließ sich wie ein Stein auf Lethe hinabfallen. Nicht nur 199
Lethe selbst, auch Dotar und Gaithnard wurden von der Geschwindigkeit dieses Manövers überrascht. Der Regulator riss im letzten Moment die Arme schützend vors Gesicht, sprang gleichzeitig nach vorn und stieß mit der rechten Schulter gegen den harten Leib des Vogels. Dadurch geriet das Tier so weit aus dem Gleichgewicht, dass es mit seinen Krallen den Kopf und Körper des wegspringenden Lethe nur schrammte. Lethe strauchelte. Sein Schädel schlug mit einem dumpfen Schlag auf die Schiffsplanken. Der Vogel strich zischend, pfeifend, spuckend und kreischend über das Deck und erhob sich mit gewaltigem Spektakel und unregelmäßigem Flügelschlag in die Luft. Rax sang ein wildes, dröhnendes Lied, hielt dann aber plötzlich inne. Schreckerfüllt bemerkten die Gefährten erst jetzt, dass Lethe das Bewusstsein verloren hatte. Eine tiefe Wunde zog sich vom Hinterkopf am Ohr bis hinunter zum Hals. Im Rhythmus des Herzschlags strömte das Blut aus der Wunde. Pit stürzte jammernd zu ihm und versuchte, den Blutstrom mit ihrem Halstuch zu stoppen. Auch Wigbolt, Kalyk und andere Besatzungsmitglieder kamen erschrocken herbeigeeilt. Ein wütender Schrei ging langsam in einen hohen Pfeifton über und verlor sich schließlich dicht über der ruhigen See. Als man sicher sein konnte, dass das Untier nicht zurückkam, wurde Lethe versorgt. Matei untersuchte ihn – und erstarrte. »Gift«, sagte er und hielt den Zeigefinger hoch, an dem der Tropfen einer blauen Flüssigkeit zu sehen war. »Vermutlich von den Klauen des Vogels.« Er drehte sich um und hielt Dotar den Finger unter die Nase. Der Regulator schnaubte und wich mit einer hastigen Bewegung zurück. »Curaiec'htac.« Dotar hatte den Namen des Giftes sofort parat. Er holte ein Tuch aus seinem Wams und wischte Mateis Finger blitzschnell ab. »Das berüchtigte Königsgift. Es ist unglaublich stark konzentriert. Zehn winzige Tropfen in der Blutbahn sind bereits tödlich. Jetzt ist nur die Frage, wie viel Lethe davon abbekommen hat.« Matei biss sich auf die Unterlippe. »Ich hatte es schon befürchtet. Gegen Gifte wie Curaiec'htac kann Magie nichts ausrichten. Der Wirkstoff, Vytraiol, dringt zu schnell ins Blut.« 200
Sein Blick wurde immer sorgenvoller, während er Lethe betrachtete. »Wenn Lethe überlebt«, sagte er leise, »hat er es ausschließlich Euch zu verdanken, Dotar. Ihr habt Eure Schuld mehr als eingelöst.« Dotar quittierte die Bemerkung mit einem knappen Kopfnicken. Lethes Wunden wurden sorgfältig verbunden. Dann hoben Gaithnard und Kalyk ihn hoch und trugen ihn in die Kajüte, die er sich mit Matei teilte. Matei blieb bei ihm und verbot jedem den Zugang. Verlangsamte Zeit. Er schwebte wie ein Vogel in den Aufwinden durch einen Raum, der von grob gemauerten Steinen begrenzt wurde. Der Nachklang eines schmerzhaft hohen Geschreis gellte ihm in den Ohren. Er fühlte sich wie eine steuerlose Karavelle. In den nächsten Sekunden würde er an der massiven Mauer zerschmettern, die sich vor ihm erhob. Er spürte, wie sich sämtliche Gesichtsmuskeln zusammenzogen, als könne er dadurch den bevorstehenden Aufprall abfedern. Durch die Augenschlitze schaute er auf die immer näher rückenden Steine. Er sah die Poren des rauen Gesteins, nahm den undeutlichen Geruch des Mörtels wahr. Gleichzeitig stellte er fest, dass sich auf seiner Stirn irgendetwas befand. Eine geballte Kraft von unglaublicher Stärke. Was war das? Er konnte sich nichts anderes vorstellen als einen funkelnden Stein. Er kehrte in die verlangsamte Zeit und seine aussichtslose Situation zurück. Der Tod war nur noch eine Frage der Zeit. Im nächsten Moment wurde ihm schwindlig, und alles um ihn herum verschwamm. Schließlich versank er in erlösendender Bewusstlosigkeit. Doch schon kurz darauf kam er wieder zu sich und konnte normal sehen. Der Raum war verschwunden. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er begriffen hatte, dass er sich unter Wasser befand. Für einen Moment durchströmte ihn Panik wie flüssiges Eis; dann erkannte er, dass er atmete. Zugleich spürte er eine seltsame Schwere an einem Ort weit außerhalb seines Körpers. Er versuchte den Kopf zu drehen, aber da war kein Genick. Er hatte kein Genick! Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Körper. Er spürte keine Arme, keine Beine. Stattdessen wogte ein 201
volles, dickes, schweres Gefühl durch seinen Körper. Langsam drang es zu ihm durch: Er war ein Meerestier. Wieder durchfuhr ihn wilde Panik. Sein Geist weigerte sich zu akzeptieren, was er körperlich war. Jede Faser seines Wesens widersetzte sich. Dies war nur ein böser Traum; gleich würde er aufwachen. Doch der Albtraum nahm kein Ende. Er verstrickte sich in die Wut des Meerestiers. Der hemmungslose Zorn galt irgendetwas, das ihm die Sicht auf die Vollkommenheit, auf die gesamte Größe des Himmels nahm. Lethes Geist wurde von einem anderen, der größer und unendlich viel stärker war als der seine, in Stücke gerissen. Es waren unerträgliche Schmerzen. Die Stelle, an der sich vorher sein Magen befunden hatte, stand in Flammen. Er wollte schreien, hatte aber keine Stimmbänder, die ihm erlaubt hätten, seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Der eigentliche Schock aber kam erst, kurz bevor er zusammenbrach und einen flüchtigen Eindruck von den wirklichen Ausmaßen des Meerestieres aufnahm. Bevor er endgültig im Dunkeln versank, nahm er noch etwas wahr. Ein winziger Teil seines Bewusstseins löste sich aus seinem zerfallenden Wesen und kletterte unbemerkt zu der Stelle herauf, an der sich der viel größere Geist im Raum bewegte. Das Teilchen war so winzig, dass es nicht bemerkt wurde. »So klein ist die Kraft«, flüsterte eine Stimme am Rand seines Bewusstseins. »Die Kraft verbirgt sich nicht in den Abmessungen, in physischer Größe. Die Kraft verdankt ihre Fähigkeiten nicht großartigen Gesten. Nein, die Kraft ist unsichtbar für …« Der Rest ging in einem plötzlich aufkommenden Sturm von Stimmen unter, die ihm das Denken unmöglich machten.
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23 Die Kraft »Eure glorreiche Erhabenheit wissen nun, dass es mir und meinen Regulatoren gelungen ist, all jene, die die Kraft besaßen, zum Schweigen zu bringen. Alle, außer natürlich Elondar den Weißen, den alten Magienmeister aus Lohgipfel. Doch auch darüber sind Eure glorreiche Erhabenheit informiert. Dieser Magier war uns stets einen Schritt voraus. Wie Muschelsand glitt er uns durch die Finger. Dabei bediente er sich übrigens nicht ausschließlich der Loher Zauberkunst. Seine Verbrechen sind demnach vielfältiger Natur. Es ist uns jedoch gelungen, ihn in die entfernteste Ecke des Reiches zu vertreiben. Dort hat er ein Netz aus komplexen magischen Zaubersprüchen gewoben, die den Strand und die Küste rund um seine einsam gelegene Festung unzugänglich machen. Keinem Magier des Reiches war es bislang möglich, dieses Gewebe zu entwirren oder zu zerreißen. Die Inseln und das Meer in der näheren Umgebung werden von meinen Elitetruppen unter der Führung meiner besten Regulatoren bewacht – ein sehr zeitraubendes und kostspieliges Unterfangen, weshalb ich Eure glorreiche Erhabenheit um die Bereitstellung zusätzlicher Geldmittel bitte. Eure glorreiche Erhabenheit, die Kraft ist beinahe vollständig ausgerottet, und ihr letzter Vertreter ist völlig isoliert. Die Magier haben sich zusammengetan und bereiten eine Konzentration des Willens vor. Daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis Elondar uns in die Hände fällt.« Aus ›Die Bedrohungen des Reiches‹, verfasst von Metten der Kurze, Ratsherr des Desran Ervenal Gyn Dayreit – 8263 203
Am fünften Tag der Leere erschien unter dem Kiel des Kühnen Furcher eine dunkle Gestalt. Unter normalen Umständen hätte wegen des Seegangs und der Reflektionen an der Oberfläche niemand den Schatten entdeckt. Doch das Wasser des namenlosen Meeres war glasklar und durch die Leere spiegelglatt. Feste Hand war als Einziger an Deck. Aus den Augenwinkeln glaubte er eine Bewegung gesehen zu haben. Er lief zur Reling und entdeckte direkt unter dem Schiff ein fremdes Wesen, das mindestens doppelt so groß war wie der Rumpf des Kühnen Furcher. Der Steuermann schlug unverzüglich Alarm. Kapitän Wigbolt und Bootsmann Kalyk kamen aus ihren Kajüten gerannt. Auch Llanfereit und Pit zeigten sich kurz darauf an Deck. Matei schaute um die Ecke und fragte, was los sei. »Das Meerestier ist wieder da«, rief Pit aufgeregt. »Das überrascht mich nicht«, meinte der Hochmeister ruhig. »Lethes Schwert singt nicht. Es mag seltsam erscheinen, aber dieses Wesen stellt offenbar nichts Böses dar.« Plötzlich schaute er auf. »Wartet einen Augenblick.« Er verschwand hinter der Tür. Wigbolt, Kalyk, Llanfereit und Pit beugten sich über die Reling und starrten auf den Schatten, der sich genau unter dem Schiff um die eigene Achse zu drehen schien. Seltsamerweise entstand dadurch an der Wasseroberfläche nicht die geringste Bewegung. »Ich frage mich, ob es dasselbe Ungeheuer ist, das uns im Golf von Agbayar angegriffen hat«, brummte Wigbolt beunruhigt. »Was bleibt uns anderes übrig, als zu warten?«, murmelte Kalyk vor sich hin. »Der Furcher kommt nicht von der Stelle, und wir sitzen hier fest.« »Llanfereit, Pit!« Matei erschien wieder in der Türöffnung seiner Kajüte und winkte die beiden heran. Als diese ihn fast erreicht hatten, gab er ihnen ein Zeichen, sich still zu verhalten. Dann zeigte er auf den Boden der Ka204
jüte. Lethe lag mit geschlossenen Augen zwischen dem Tisch und seiner Koje. »Er hat schon wieder eine Vision«, sagte Matei leise. »Als ich hereinkam, kullerte er mit weit aufgerissenen Augen aus seinem Bett. Es würde mich nicht wundern, wenn das alles mit dem Auftauchen des Meerestieres zu tun hat.« Die Stimmen verstummten. Er kam in einer anderen Welt zu sich. Er war sicher, nie zuvor hier gewesen zu sein. Dennoch erkannte irgendetwas in seinem Innern alle Einzelheiten dieser Welt wieder. Die Verwunderung ließ ihn erneut schwindlig werden. Was machte diese Welt so anders? Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass es vor allem um den Rhythmus ging. Alles dehnte sich aus, um sich anschließend wieder mit einem beruhigenden Seufzer zusammenzuziehen, wie ein ganz langsamer Herzschlag. Lethes Gedanken passten sich diesem Rhythmus an. Er war weniger als ein kleines Insekt im Geist eines monströs großen Wesens. Doch trotz seiner Kleinheit gelang es ihm, alles um sich herum zu überblicken. Er spürte, wie hemmungslose Wut den Körper schüttelte. Er sah, wie dieser Körper sich langsam in Bewegung setzte. Er schaute nach oben: Das Geschöpf hing direkt unter dem Bauch eines anderen, kleineren Wesens. Aus dem Gedankenstrom, der dicht an seinem Versteck vorbeiraste, griff Lethe ein paar Fetzen auf, die er wie selbstverständlich miteinander verknüpfte. Das Ergebnis ließ ihn unverzüglich in Aktion treten. Ohne nachzudenken warf er sich in den Mahlstrom der Gedanken und wurde wie eine kleine Feder im Wind mitgerissen. Betäubt und zerschlagen vom höllischen Getöse der vielen Gedankenstränge und der unzähmbaren Wut, die das alles ausgelöst hatte, wirbelte und taumelte er im Strudel mit. Er hatte auf Anhieb die Gefahr erkannt, in der sich er selbst, seine Reisegefährten und die Besatzung des Kühnen Furcher befanden. Diesmal würde Matei sie nicht wieder retten können, falls das Wesen das Schiff 205
angreifen sollte. Es war dasselbe Wesen, doch jetzt war es durchsetzt mit farbloser Magie. Dadurch war es zu einem mächtigen Vasallen des Düsteren des Nachtmeers geworden. Seltsamerweise fand sich davon kein einziger direkter Gedanke im Geist des Wesens wieder. »Als ob es nicht weiß, dass es das Böse vertritt«, flüsterte eine Stimme. »Als ob es sich nicht des Verderbens bewusst ist, das in ihm steckt.« Dieser Gedanke traf Lethe wie ein Blitzschlag. Sollte das Wesen wirklich nicht wissen, dass es mit farbloser Magie durchtränkt war? Hatte der Düstere sich eines machtvollen Bundesgenossen bemächtigt, der keine Ahnung hatte, dass er die tödliche Krankheit der bleichen Pest mit sich herumschleppte? Lethe spürte, wie er in einen zentralen Geistesbereich des Wesens eintrat. Er musste schleunigst etwas unternehmen, sonst wäre die gesamte Suche nach der farblosen Magie und deren Schöpfer zum Scheitern verurteilt. Er speicherte sein soeben erworbenes Wissen im Gedächtnis. Dann sandte er mit größter Vorsicht kleine Gedankenreize aus. »Ruhig«, flüsterten die Gedanken, »ganz ruhig! Es ist unsinnig, den anderen Körper anzugreifen. Er hat doch gar keine bösen Absichten.« Zunächst waren es nur ein paar Dutzend, danach wurden es Hunderte. Lethe erkannte, wie er einen einzelnen Reiz aufteilen konnte, ohne dabei Energie zu verlieren. Und was ihm einmal gelang, war auch hundertfach möglich, tausendfach. Bevor er es wusste, drangen unzählige Gedankenreize in den Geist des Wesens ein, schwebten wie eine unsichtbare Decke über dem Kern seiner Wut, sanken im Rhythmus mit hinab. Lethe spürte, wie ein Zittern das Wesen erfasste, ähnlich einem leichten Sturm. Im nächsten Moment entfernte es sich vom anderen Körper und ließ sich auf den Meeresboden sinken. Das Wesen war sich noch immer nicht der Anwesenheit Lethes bewusst. Dennoch bemerkte Lethe eine wachsende Unruhe. Das Wesen hatte seiner eigenen Auffassung nach irrational gehandelt. Lethe machte sich keine Sorgen mehr. Nichts wies darauf hin, dass das 206
Geschöpf auf seine ursprüngliche Absicht zurückkommen würde. Die Wut war verraucht, aufgelöst in Gedankenreizen. Er hatte sich selbst, seine Reisegefährten und Wigbolt zusammen mit dessen Leuten vor einem schrecklichen Tod bewahrt! Plötzlich spürte er, wie viel Energie ihn dies gekostet hatte. Schwindlig überließ er sich einer Lethargie, die ihn unmerklich in die erlösende Nacht der Bewusstlosigkeit führte.
Matei, Llanfereit und Pit standen über ihn gebeugt. Er blinzelte ein paar Mal und drückte sich auf einen Ellenbogen gestützt ein wenig hoch. »Ihr lebt noch«, sagte er heiser. »Und auch du!«, rief Pit glücklich. »Das Königsgift hat dich nicht untergekriegt.« »Königsgift?« Pit erzählte Lethe, was geschehen war. Der konnte sich an keinen Angriff eines Vogels erinnern. »Ich dachte, ich sei in eine lange Vision verstrickt gewesen«, sagte er leise, den Blick auf das Bullauge gerichtet. »Manchmal habe ich mich über die Intensität des Traums gewundert. Ich konzentrierte mich auf das Meerestier, das uns bedrohte. Ich tat etwas …« »Du hast deine Hand im Spiel gehabt, nicht wahr?«, mutmaßte Pit. »Du hast auf die eine oder andere Weise dafür gesorgt, dass das Wesen den Kühnen Furcher nicht angegriffen hat.« Lethe stand auf. »Soviel ich weiß, habe ich das Wesen in seiner Wut besänftigt.« Matei machte große Augen. »Du warst im Geist des Wesens?« »Ja. Anfangs nur als ein kleiner Streifen meines Bewusstseins; dann aber gelang es mir, mich auszubreiten. Ich spaltete einen Gedanken in zwei Teile, und dann noch einmal. Der Gedanke blieb in jedem dieser Teile gleich stark.« 207
»Die Kraft«, flüsterte Llanfereit. »Dieses Teilen ist eine der Möglichkeiten, die Kraft einzusetzen.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und schaute zu Matei hinüber. »Lethe besitzt die Kraft. War Euch das klar?« Matei schüttelte langsam den Kopf und betrachtete Lethe nachdenklich. »Nicht bewusst«, sagte er. »Aber ich hätte es wissen müssen. Es ist lange her, dass die Kraft sich gezeigt hat. Die meisten Hochmeister waren überzeugt, dieses Phänomen sei endgültig beseitigt, nachdem Elondar der Weiße sich aus dem Reich abgesetzt hatte. Vielleicht habe ich die Zeichen deshalb nicht richtig eingeordnet; die Visionen, das Kombinationsvermögen, die Empfänglichkeit für Körpersprache. Lethe verfügt in höchstem Maße über all diese Elemente. Ich habe nur versäumt, dies als die Kraft zu deuten. Ich glaubte, es handele sich um Bestandteile einer anderen Fähigkeit, denn ich wollte darin unbedingt Unmagie wieder erkennen.« Lethe setzte sich rittlings auf den Tisch. »Gehört die Kraft denn zur dunklen Magie?« »Das ist keine Magie«, sagte Matei rasch. »Jedenfalls nicht den Princeps zufolge, den Lehren der Loher Magie. Zu Zeiten des Desran Ervenal Gyn Dayreit wurde die Kraft zu einer verwerflichen Fähigkeit erklärt. Das kostete schließlich alle Menschen, die über dieses Talent verfügten, das Leben. Elondar der Weiße verteidigte sich als Letzter auf einer kleinen Insel, die er seine Festung der Einsamkeit nannte. Als es seinen Belagerern schließlich glückte, eine Bresche in seinen Verteidigungswall zu schlagen, war er offenbar erneut verschwunden.« »Demnach haben all die Dinge, die sich in mir abspielen, nichts mit Unmagie zu tun?« »Vielleicht nicht«, antwortete Matei, »doch auch da bin ich mir nicht sicher. Für mich ist das genauso überraschend wie für dich. Wenn Llanfereit die Kraft nicht als solche erkannt hätte, wüsste ich es jetzt immer noch nicht.« »Aber was ist denn nun Unmagie?«, fragte Lethe flüsternd. Es klang beinahe schon verzweifelt. 208
Matei schwieg und starrte an Lethe vorbei. Llanfereit betrachtete seine Füße. Pit schaute Lethe an und biss sich auf die Unterlippe. »Du musst selbst dahinterkommen«, sagte sie und schien etwas herunterzuschlucken. »Was wir über frühere Unmagier wissen, ist herzlich wenig. Eins aber hatten sie gemeinsam: die Einsamkeit.« Zum wiederholten Male hatte Lethe die Klinke einer Tür in der Hand, hinter der sich sein Schicksal verbarg. Und wieder schaffte er es nicht, seine Hand nach unten zu drücken, die Tür zu öffnen. Nicht weil er es nicht konnte, sondern weil er es nicht wagte. Ihn quälte tödliche Angst vor dem, was er dahinter antreffen würde. »Also«, setzte er noch einmal heiser an, »niemand kann mir etwas über Unmagie erzählen. Je mehr ich darüber erfahre, was mich erwarten könnte, desto dunkler wird meine Zukunft.« Keiner konnte oder wollte etwas dazu sagen. Pit versuchte, Lethes Aufmerksamkeit zu gewinnen, doch der wandte sich ab, seufzte und stand auf. »Ich will jetzt allein sein«, sagte er kurz angebunden und ging zur Tür.
Gegen Abend saß Lethe immer noch regungslos auf der Spitze der Vorplicht, auf einer Bank neben dem Bugstuhl. Er starrte in die Ferne, wo ein gelblicher Nebel die Welt um den Kühnen Furcher herum langsam, aber sicher kleiner machte. Bis jetzt hatte sich noch keiner in seine Nähe gewagt. Pit erschien zum dritten Mal an Deck. Sie kniff die Augen zu und fixierte ihren Freund. Dann ballte sie die rechte Hand zur Faust und beschloss, Lethes selbstgewählte Isolation zu durchbrechen. Festen Schrittes ging sie zur Vorplicht. Die Planken knarrten. Als sie sich Lethe bis auf wenige Meter genähert hatte, zögerte sie. Er musste sie gehört haben, wandte ihr aber nach wie vor den gekrümmten Rücken zu. »Lethe.« Sie flüsterte es beinahe. 209
Er blieb bei seinem Schweigen, krümmte den Rücken jedoch unwillkürlich noch ein wenig mehr. »Darf ich mich neben dich setzen?«, fragte Pit, während sie sich dichter an ihn heranschob. Sie betrachtete das leichte Zucken der Achseln als Aufforderung, setzte sich auf die Bank und spähte in die Richtung, in die auch Lethe schaute. Der Nebel schlich wie ein Raubtier auf der Jagd heran. Pit suchte nach Worten, doch Lethe kam ihr zuvor. »Als ich vom Instirium geworfen wurde, war ich unglücklich«, begann er, noch immer ohne sich umzuschauen. »Das hat mich lange verfolgt. Und dann wurde mir zunehmend klarer, dass es kein Ziel mehr gab, dem nachzujagen lohnte. Meine Zukunft war ein gähnendes Loch, Leere. Schließlich hätte ich der Vorbestimmung zufolge Meister werden müssen. Als nichts daraus wurde, gab es gar nichts mehr.« Er seufzte tief und drehte sich halb um. Pit schaute sich sein Gesichtsprofil an. Sie sah die Spuren von Tränen auf seiner Wange. »Dann kam Matei«, fuhr Lethe fort. »Plötzlich tat sich eine Perspektive auf, ein neues Lebensziel. Und was für eins. Er gaukelte mir vor, ich hätte eine entscheidende Rolle zu übernehmen, und dabei ginge es um nicht mehr und nicht weniger als den Fortbestand des Reiches. Fast erschien es mir wie eine Neugeburt.« Er schaute kurz zur Seite; ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. »Doch schon bald kam ich dahinter, dass die Aufgabe, die mich erwartet, wenig mit Heldentum zu tun hat. Wenn ich mit Matei, Llanfereit oder dir darüber reden will, dann schweigt ihr.« Er stand ruckartig auf und schaute Pit plötzlich mit flammenden Augen an. »Was wisst ihr, das ich nicht wissen darf? Warum schweigt ihr, wenn das Gespräch auch nur in die Nähe meines künftigen Schicksals kommt?« Seine Stimme wurde immer lauter. »Glaubst du etwa, dein Schweigen hilft mir? Glaubst du vielleicht, dass ich das Mitleid in deinen Blicken nicht bemerke? Vor mir türmt sich eine immer dunklere Zukunft auf.« 210
Er machte einen Schritt zur Seite, kam aber sofort wieder zurück. »Sag mir, dass es nicht so ist, Pit. Oder sag mir, dass mich eine wahnsinnige Aufgabe erwartet. Sag mir, dass ich dem Düsteren des Nachtmeers gewachsen bin, ihm widerstehen werde und danach ein angenehmes Leben führen kann. Los, sag es doch! Aber nein, das kannst du nicht, weil du dann nämlich lügen müsstest.« Pit schaute ihn mit großen Augen an, die geballten Fäuste im Schoß verborgen. Sie suchte nach einer Antwort, die ihn hätte beruhigen können, wusste aber nur zu gut, dass sie ihm dann nicht die Wahrheit sagen würde. Sie fasste einen Entschluss. »Du besitzt die Kraft«, ließ sie sich in seinem Geist vernehmen, »aber du bist nicht der Einzige.« Jetzt war es an Lethe, sie verwundert anzustarren. Den Mund halb geöffnet, sank er auf die Knie und fasste sie an den Oberarmen. »Warst du das? Ich dachte, dass …« Seine Flüsterstimme, die in sämtliche Winkel ihres Geistes drang, stockte. Pit nickte, während sie den aufkommenden Kummer zu unterdrücken versuchte. »Ich fragte dich, ob du die Kraft besitzt, als wir von Kurm zu den Spiegelinseln unterwegs waren. Ich weiß schon seit Jahren, dass ich die Kraft besitze. Als ich mir dessen bewusst wurde, habe ich so viel wie möglich darüber gelesen. Das war gar nicht so leicht, denn viele Bücher, Schriftrollen und Folianten über die Kraft sind verboten. Schließlich ist die Kraft, abgesehen von farbloser Magie, noch immer das größte Tabu.« Ihr Lächeln stand im Widerspruch zu den Falten auf ihrer Stirn. »Als du mir keine Antwort gabst, fühlte ich mich sehr einsam«, fuhr sie fort. »Nicht einmal mein Meister weiß, dass ich die Kraft besitze.« »Hast du denn eine Ahnung, wie du an die Kraft gekommen bist?« Sie schaute ihn traurig an. »Die Kraft ist erblich. Ich habe meine Eltern nicht gekannt. Woher also sollte ich es wissen?« Lethe setzte sich neben sie. »Wenn die Kraft vererbt wird, von wem habe ich sie dann wohl?« 211
Noch während er die Frage stellte, riss er die Augen auf. »Du kennst die Antwort«, stellte Pit fest. Ein mitfühlendes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Welm«, flüsterte er. »Das glaube ich auch«, stimmte Pit mit ihrer normalen Stimme zu. »Du weißt mehr als ich über den Ursprung deiner Kraft. Zumindest weißt du, dass dein Vater die Kraft besessen haben muss.« Sie legte ihm einen Arm um die Schulter. »Rede nicht zu lange auf geistiger Ebene, Lethe. Es kostet viel Energie.« »Ich habe mich schon gewundert, warum ich plötzlich so müde wurde«, sagte Lethe. »Im Übrigen habe ich keine Ahnung, wie ich die Kraft einsetzen soll. Jetzt weiß ich zwar, dass sie mit Gedankensprache einhergeht, aber da endet mein Wissen auch schon.« »Du hast dich doch der Kraft bedient«, sagte Pit heftig. »In deiner Vision hast du einen Gedanken geteilt, ohne dass die Teile dabei merklich an Kraft verloren hätten! Meiner Meinung nach ist das eine der Möglichkeiten, seine Kraft zu benutzen.« Lethe schwieg und starrte wieder in den Nebel, der sich jetzt bis dicht an den Kühnen Furcher herangeschlichen hatte. »Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie ich das bewerkstelligen soll«, sagte er schließlich. »Vielleicht ist die Kraft bei mir an Visionen gekoppelt.« »Es wäre ja auch möglich«, begann Pit vorsichtig, »dass die Kraft im Kampf gegen die farblose Magie hilft. Das würde dir deine Aufgabe erleichtern.« Lethe seufzte tief. »Meine Aufgabe. Das ist mein anderes Problem, abgesehen davon, dass ich immer noch nicht weiß, was es mit der Unmagie auf sich hat. Weißt du – weiß überhaupt irgendwer – worin meine Aufgabe im Einzelnen besteht?« Pit schwieg und starrte in den Nebel. Sie fühlte sich wie ein Verräter, weil sie ihrem ersten und einzigen Freund nicht alles erzählen durfte, was sie wusste. Sie hatte ihrem Meister und Matei versprochen, es nicht zu tun. Und an dieses Versprechen würde sie sich halten. 212
Lethe schaute zu Boden und sah daher nicht die Tränen in ihren Augen. Erst als sie sich wieder stark genug fühlte, mit fester Stimme zu sprechen, beugte sie sich zu ihm hinüber und sagte sanft: »Komm, Lethe, eine gute Nachtruhe bewirkt Wunder. Morgen wirst du die Dinge schon viel klarer und positiver sehen.« Er nickte, doch seine Augen sprachen eine andere Sprache.
Später am Abend drückte Matei Lethe vier Seiten mit Auszügen aus dem Märchenbuch in die Hand. »Die Übersetzung ist ziemlich korrekt«, sagte der Hochmeister, »auch wenn ich bestimmte Eigenheiten der ursprünglichen Sprache unserem heutigen Sprachgebrauch nicht präzise anpassen konnte.« Er suchte ein Beispiel heraus und erläuterte, was er meinte. »Warte nicht zu lange mit dem Lesen«, legte er Lethe schließlich ans Herz. »Es ist durchaus denkbar, dass du bald für alle Dinge zu wenig Zeit haben wirst; ganz gewiss für das Lesen dieser Aufzeichnungen.« Das war alles. Kein ermutigendes Wort, keine Anmerkung zum vorhergehenden Gespräch. Lethe war zu müde und zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als dass er sich jetzt noch auf die Lektüre hätte einlassen können. Er kroch in seine Koje und schlief fast augenblicklich ein.
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21 Die Säule der Wahrhaftigkeit (3) »Die Herrin der Weisheit und Eingebung verließ am frühen Morgen das Dorf und begab sich ohne einen Blick zurück oder zur Seite forschen Schrittes gen Süden. Sie hatte den Waldsaum fast erreicht, als Schade keuchend und mit wirren Augen am Dorfrand erschien. ›Edelfrau!‹, rief sie. Die Verzweiflung ließ ihre Stimme brechen. ›Edelfrau, geht nicht fort! Wartet auf mich!‹ Die Edelfrau hörte sie, ging etwas langsamer und hielt am Rand des Waldes. Schade holte sie ein. ›Edelfrau, warum seid Ihr ohne mich gegangen?‹ Lange blieb es still. Schade hatte während ihres ersten Lehrjahres viel bei der Edelfrau gelernt. Sie wartete ab. Es dauerte wirklich lange, und Geduld war ganz gewiss nicht Schades Stärke. Schließlich seufzte die Edelfrau und schaute ihrer Schülerin tief in die Augen. ›Schade, unsere Wege können sich jeden Moment für immer trennen‹, sagte sie leise. ›Ich habe dich schon früher gewarnt. Es hätte bereits in den ersten Tagen unserer Reise geschehen können. Heute hat nicht viel gefehlt.‹ ›Aber Edelfrau‹, Schade flüsterte es mit großen, feuchten Augen, ›warum seid Ihr ohne mich gegangen?‹ ›Ich könnte meine Antwort wiederholen‹, sagte die Edelfrau, während sie mit einem dünnen Zweig zwei umeinander verlaufende Kreise in den Sand malte. Die Zweigspitze verharrte, unmittelbar bevor der zweite Kreis vollendet war. Die Edelfrau schaute auf und flüsterte: ›Vielleicht sollte ich lieber mit einer Gegenfrage antworten.‹ Ihr sanfter Blick suchte Schades Augen, die sie immer noch voller Tränen anschauten. 214
›Warum bist du ohne mich zurückgeblieben, Schade?‹« Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Der Tag neigte sich dem Ende zu. Eine wolkenlose Nacht griff mit kalten Fingern nach Asayindas Körper. Trotz ihres dicken Mantels zitterte sie unaufhörlich. Sie suchte nach jenem Platz auf der kleinen Insel, wo der Wind ihr am wenigsten zusetzen konnte. Eigentlich war es nur eine leichte Brise, doch die Kälte, die sich darin verbarg, drang ihr bis in die Knochen. Von Zeit zu Zeit schlug sie sich mit den Armen über Kreuz auf die Schulterblätter. Wenn Frost kommen sollte, wäre sie zum Tode verurteilt. Aber würde der Dulce sie dann nicht im letzten Moment abholen? Eine Vielzahl Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Warum war der Dulce verschwunden? Hatte er sie bewusst alleine zurückgelassen, oder war etwas vorgefallen, das ihn veranlasst hatte, die Säule der Wahrhaftigkeit zu verlassen? Asayinda erwog noch eine Möglichkeit: Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Seeungeheuer hinter der Solitär von Avrilux auftauchen und sich mit Triumphgeheul auf das kleine Schiff stürzen. Nichts war unmöglich, doch diesen Gedanken verbannte sie aus ihrem Geist. Vorerst würde sie auf all ihre Fragen keine Antwort bekommen. So weit das Auge reichte, war nur Wasser um sie herum. Schon häufiger war sie alleine gewesen, doch ihre derzeitige Lage konnte nur als hoffnungslos bezeichnet werden. Sie stand auf und schaute zu dem unermesslichen Monument hoch, das scheinbar unendlich weit in den Himmel ragte. Hatte sie hier noch eine Aufgabe zu erledigen? Wollte die Säule der Wahrhaftigkeit ihr noch etwas mitteilen? Jetzt wirkte sie wie ein totes Artefakt, doch die auf dem Handballen brennende Wunde belehrte Asayinda eines Besseren. Langsam ermüdeten sie die vielen Fragen, in ihrem Innern brodelnden Fragen. Sie überlegte, ob sie ihre Hand wieder an die kalte steinerne Haut legen sollte, und sei es nur, um die Säule herauszufordern. Mit drei ent215
schlossenen Schritten war sie dort und hielt die Handfläche dicht an die raue Oberfläche. Mehr oder weniger wartete sie darauf, dass die Säule ihre Geste irgendwie beantworten würde; doch nichts geschah. Ihr eigener Geist fühlte sich auch seltsam leer. Im nächsten Moment starrte sie entgeistert auf ihre Hand, die sich gegen ihren Willen auf das Gestein zubewegte. Sie wurde von der Rune angezogen, die sich in den Handballen eingebrannt hatte. Ein Zischen ertönte, als die Handfläche von der Rune angesaugt wurde. Gleichzeitig schossen Asayinda erneut Schmerzen in die Glieder. Sekunden später wurde ihr schwarz vor Augen.
Asayinda kam an der Küste einer großen Insel zu sich. Sie saß an einem gelben Strand, der über und über mit Seegras. Muscheln und Treibholz bedeckt war. Die See war ruhig, die Brandung weit entfernt. Das Innere der Insel wurde von einer hohen und bizarr geformten Bergkette beherrscht. Asayinda glaubte, von den Landkarten in der Schule her eigentlich alle Inseln zu kennen, doch diese Berge konnte sie nirgends unterbringen. »Vielleicht ist es eine Illusion«, flüsterte die Stimme, die schon einmal zu ihr gesprochen hatte. Und nach einer Pause: »Wisst Ihr, was eine Illusion ist? Es ist eine Sinnestäuschung magischen Ursprungs. Nicht die Magie der Zauberinsel, sondern alte Magie, aus der Zeit noch vor dem Neuntausend-Jahreszyklus.« Asayinda stockte der Atem, als sie das hörte. Derweil sah sie in einigen Metern Entfernung, wie ein seltsamer, flimmernder Schatten langsam immer festere Konturen bekam und schließlich die Gestalt eines Mannes annahm. Seine Hand umklammerte einen Stab aus geflochtenem Weidenholz mit einem Knauf in der Form eines geflügelten Wesens an der Spitze. Der Mann strich sich über den halblangen Bart. Er trug ein violettes Gewand, einen Kragen aus Wolfspelz und einen ledernen Helmhut. Asayinda versuchte, die Farbe seiner Augen zu bestimmen, doch es gelang ihr nicht. 216
Der Mann lächelte. »Dies also ist eine Illusion. Auch Ihr verfügt über die Fähigkeit, eine Illusion zu schaffen. Diese Kunst teilt Ihr nicht nur mit den Hochmeistern von Loh, sondern auch mit einem anderen Menschen: Aernold aus Sey Hirin.« »Ist die Verlangsamung der Zeit auch eine Illusion?«, fragte sie. Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Zeit lässt sich nicht in Illusionen einfangen. Die Zeit ist ein Phänomen anderer Art. Außerdem ist sie farblos.« Der letzte Satz Wort fiel wie ein Stein zwischen sie. Asayinda wunderte sich darüber, dass ein paar Worte so viel bewirken konnten. Dennoch führten alle Spekulationen, die in ihrem Geist durcheinander wirbelten, nur zu weiteren Fragen, Vermutungen, unvollendeten Gedankengängen. Sie stand auf. Es fiel ihr äußerst schwer, und sie spürte, dass ihre Muskeln steif waren, so als hätte sie tagelang in derselben Haltung gesessen. Es dauerte eine Weile, bis der Mann fortfuhr. »Die Zeit ist farblos. Man könnte aber auch sagen, dass die Zeit selbst eine besondere Farbe ist.« Er schwieg und schien eine erklärende Antwort von ihr zu erwarten. Oder schwieg er aus anderen Gründen? Verwirrt überlegte Asayinda noch einmal, was der Mann gesagt hatte. Wie konnte etwas farblos und gleichzeitig eine Farbe sein? Eine besondere Farbe, hatte der Mann gesagt. Noch so ein Rätsel: Was war eine besondere Farbe? Sie kam nicht weiter. Schließlich beschloss sie, eine ihr wichtige Frage zu stellen. »Wie bin ich zu diesem Talent gekommen?« »Die Fähigkeit, Illusionen zu schaffen, habt Ihr geerbt.« »Von meinem Vater?« Der Mann schüttelte lächelnd den Kopf. Asayinda streckte sich und starrte den Mann ungläubig an. »Von meiner Mutter?« »Verfolgt einmal die Linien Eures Stammbaums«, flüsterte der 217
Mann. Er griff unter seinen Mantel und reichte ihr eine Papierrolle. Dann verschwand er plötzlich. Asayinda starrte lange vor sich hin. Wie, in des Schöpfers Namen, sollte sie den Linien ihres Stammbaums nachgehen? Sie hatte ihre Mutter nicht einmal kennen gelernt. Alles, was ihr zur Verfügung stand, war ein Name, den sie ihrem Vater vor einigen Jahren entlockt hatte: Orse Cesyph aus Dunkel. Doch was bedeutete schon ein Name, wenn man nicht wusste, für wen er stand? Sie wollte ihre Überlegungen gerade beenden, als ihr unwillkürlich ein Ausruf entfuhr. »Dunkel!« Natürlich, sie wusste doch etwas. Ihre Mutter stammte von der Insel Dunkel. Diesem klitzekleinen Inselchen am südöstlichen Rand des Reiches, auf dem höchstens ein paar hundert Menschen lebten. Es müsste doch möglich sein, Papiere oder andere Spuren zu finden, die mit ihrer Mutter zu tun hatten. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? »Ist es wichtig, dass ich im Stammbaum eine bestimmte Linie entdecke?« Sie stellte die Frage, obwohl sie alleine war. Dabei hatte sie die stille Hoffnung, der Mann könne zurückkommen. Asayinda spähte zu der Bergkette hinüber und suchte nach einem Pfad. Doch es gab keinerlei Weg. So stopfte sie die Papierrolle unter den Gürtel, lief los und spürte erneut den Schmerz ihrer steifen Muskeln. Als sie eine ganze Weile in Richtung der Berge gegangen war, versperrte ihr eine hohe Düne den Weg. Sie suchte nach dem besten Anstieg und stapfte hinauf. Oben angekommen sah sie sieben aufrecht stehende Steine aus grauem Basalt. Es handelte sich eindeutig um Grabsteine. Asayinda ging darauf zu und erkannte, dass Zeichen in einer fremden Sprache in die Steine gemeißelt waren. Von alten Sprachen verstand sie so gut wie nichts. Sie wollte schon weitergehen, als ihr im letzten Moment die Papierrolle einfiel. Der Mann hatte ihr die Rolle bestimmt nicht ohne Grund gegeben. Asayinda holte sie hervor und löste das Siegel. ›Die Sprachen und Zeichen des Alten Reiches‹ stand dort über ei218
ner ganzen Reihe von Hieroglyphen. Erstaunt setzte sie sich und lehnte sich an einen der Steine. Das konnte kein Zufall sein. Sie suchte in der Rolle nach Zeichen, die mit Hieroglyphen auf den Steinen übereinstimmten, und entdeckte sie fast am Ende der Rolle. Darunter kam nur noch das weit verbreitete, übliche Alphabet als Vergleich zu den Buchstaben der darüber beschriebenen Sprachen. Asayinda erhob sich und betrachtete die Zeichen auf dem Grabstein, an den sie sich gelehnt hatte. Nach einiger Zeit gelang es ihr, die Inschrift zu entziffern. »Hier ruht Eclesiant aus Dunkel, Schreiber der Nibuüm«, murmelte sie, »angespült an der fernen Küste, doch der Schöpfer hat ihn gefunden.« Sie starrte vor sich hin. Zwei Wörter lösten etwas in ihr aus: Dunkel und Nibuüm. Dunkel war die Insel, auf der ihre Mutter geboren war, und die Nibuüm waren das mysteriöse Volk, das dem Dulce diente. Zufall? In dieser Welt schien es keine Zufälle zu geben. Vielmehr erinnerte alles an Teile eines feinmaschigen Gewebes von … ja, von wem eigentlich? Sie ging zum zweiten Stein und entzifferte auch dessen Inschrift. »Hier ruht Edelfrau Verlant aus Dunkel, Schreiberin der Nibuüm, angespült an der fernen Küste, doch der Schöpfer hat sie gefunden.« Auch auf den anderen Steinen stand derselbe Begleittext. Sechs Mal handelte es sich um einen Schreiber oder eine Schreiberin aus diesem rätselhaften Geschlecht, alle auf Dunkel geboren, alle hier angespült und den Zeichen zufolge von ihrem Schöpfer gefunden. Nur der letzte Stein unterschied sich von den anderen. Asayinda erkannte bereits an der längeren Inschrift, dass es sich um eine besondere Person handeln musste. »Hier ruht Hrandek Cesyph aus Sey Hirin.« Irgendwo in Asayindas Geist breitete sich rasend schnell ein Ort der Stille aus. Cesyph – so hatte auch ihre Mutter geheißen! Dies hier musste einer ihrer Ahnen sein. Eiligst machte sie sich ans Entziffern der restlichen Zeichen. »Halb-Nibuüm. Seinem heldenmütigen Handeln ist es mit zu verdanken, dass das Reich von Romander vom Fluch des Antas befreit wurde. 219
Der Schöpfer fand ihn und nahm ihn in seine Welt auf, in der die Zeit stillsteht.« Asayinda sank auf die Knie und kniff die Augen zu. Die Rolle glitt ihr aus der Hand. Die verschiedensten Gedanken überkamen sie. Halb-Nibuüm – diesem Begriff begegnete sie zum ersten Mal. Allem Anschein nach floss in ihren Adern Blut dieses geheimnisvollen Geschlechts. Und dieser Hrandek Cesyph sollte das Reich von Antas befreit haben? Die offizielle Geschichtsschreibung vermeldete nichts darüber, das wusste sie. Sie würde die genauen Ereignisse des Katastrophenjahrs 6393 noch einmal nachlesen müssen – falls es ihr gelang, von hier wegzukommen. Sie wollte gerade aufstehen, als sie ganz unten am Stein einige nahezu verwitterte Zeichen entdeckte. Es waren Runen mit seltsam abgerundeten Ecken und Verzierungen, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie bückte sich und schaute noch einmal in der Rolle nach, doch auch dort fand sie keinen Hinweis. Ihr Blick wanderte zum vorletzten Stein. »Hier ruht Edelfrau Asrath aus Dunkel, Schreiberin der Nibuüm, angespült an der fernen Küste, doch der Schöpfer hat sie gefunden.« Ein fernes Echo der Erinnerung meldete sich in ihrem Geist. Irgendjemand hatte diesen Namen in letzter Zeit schon einmal erwähnt. »Asrath«, flüsterte sie, und ein Frösteln lief ihr das Rückgrat hinunter, doch sie konnte sich an nichts Genaues erinnern. Sie fühlte sich mit Wissen überfüttert. »Ich muss nach Dunkel«, sagte sie heiser. Ein Geräusch. Asayinda schlug die Augen auf. Der Mann stand vor ihr. Er lächelte. »Vergesst die ferne Küste nicht«, flüsterte er und berührte ihr Gesicht. »Noch etwas: Der Wahrhaftige fürchtet seine eigene Zukunft nicht.« Eiskalte Finger tasteten behutsam nach der weichen Haut um ihre Augen. »Oder ihre eigene Zukunft …«, ergänzte seine leise Stimme. Asayinda schauderte. Tausend Nadeln stachen ihr in die Haut. Ihr 220
wurde wieder schwindlig. Verschwommen spürte sie einen Wissensstrom wie einen stolzen Schoner in ihren Geist gleiten. Sie fing Schimmer von absonderlichen Wesen auf, und vor ihrem geistigen Auge spielten sich herzzerreißende Szenen aus blutigen kriegerischen Auseinandersetzungen ab. Tausendköpfige Armeen stießen aufeinander; ein Bild, als würden gewaltige Wellen auf eine Felsenküste prallen. Landschaften aus ihr unbekannten Welten taumelten durch ihren Verstand. Zusammen mit all diesem Wissen schlüpfte auch etwas Mächtiges in ihre Welt. Es wurde ihr zu viel. Sie schloss den Zugang zu ihrem Geist und flüchtete sich in Bewusstlosigkeit.
Sie erwachte auf der kleinen Insel. Es war Morgen, auch wenn die Sonne sich hinter einer dicken Wolkendecke versteckte. Asayinda wusste es: Heute würde sie abgeholt. Sie fragte sich erst gar nicht, woher sie das alles wusste. Das Echo eines Traums hallte in ihren Gedanken wider, doch sie konnte sich nicht an die entsprechenden Bilder und Geräusche erinnern. Wichtige Fakten fehlten ihr. Für den Bruchteil einer Sekunde vermeinte sie auf einem Stein eine Inschrift zu sehen. Die wenigen Zeichen sagten ihr nichts, da sie zu einer fremden Sprache gehörten, die sie nicht beherrschte. Sie lehnte zusammengekauert an der Säule der Wahrhaftigkeit, und ihre rechte Hand ruhte noch immer auf dem Gestein. Vorsichtig versuchte sie, die Hand zu lösen. Diesmal gelang es ohne Schmerzen, obwohl sie spürte, wie die Säule sie festzuhalten versuchte. Sie drehte sich um und hielt Ausschau. Am Rand des Horizonts schaukelte ein kleines dreieckiges Segel. »Die Solitär von Avrilux«, murmelte sie. »Der Dulce ist nicht an Bord, nur die drei Nibuüm.« Erst nachdem sie es gesagt hatte, schlich sich so etwas wie Staunen in ihren Geist. Sie wusste! 221
Während sie früher immer Zweifel gehabt hatte, sich nie auf ausreichendes Wissen verlassen konnte und ständig eine Leere in ihrem Geist verspürt hatte, war da jetzt ein Gebäude voller Fakten. Und darunter befand sich Wissen, das menschliche Gesetze überschritt. Aus Sorge, es könne ihr wieder zu viel werden, kapselte sie sich gegen diese Säle voller Wissen ab. Vielleicht später. Sie würde den Dulce fragen müssen. Asayinda konzentrierte sich auf das sich nun rasch nähernde kleine Schiff. Natürlich war es die Solitär von Avrilux, und natürlich waren nur die Nibuüm an Bord. In weiter Ferne rollte dumpfer Donner. Ein Unwetter kündigte sich an. Als Asayinda wenig später an Bord des Schiffes ging, wobei einer der Nibuüm ihr half, ertönte plötzlich ein Geräusch wie von einem riesigen Gong. Erschreckt schaute sie sich um, doch an der Säule der Wahrhaftigkeit wies nichts daraufhin, dass das Geräusch von dort gekommen war. Das kleine Schiff ließ die Insel hinter sich und steuerte aufs offene Meer zu. Asayinda blickte mit halb geschlossenen Augen, den Kopf voller Gedanken zur Säule zurück. Ein kleines Stück Wissen tat sich auf: Die Säule existierte bereits seit uralten Zeiten. Lange vor Entstehen des Reichs von Romander hatte sie schon aus dem Meer geragt. Vor ihrem geistigen Auge sah Asayinda, dass dieses Monument in früheren Tagen anders gewesen war. Eine orangefarbene Glut umgab es. Donnernde Geräusche ertönten. Eine Feuersäule? War die Säule der Wahrhaftigkeit damals ein Feuerturm gewesen, der bis in den Himmel reichte? Oder war umgekehrt das Feuer aus dem Himmel herabgestürzt? Asayinda war sicher, dass die Antwort irgendwo in ihren neuen Erinnerungen verborgen sein musste, doch sie vermutete, diese Kenntnis sei noch zu groß für ihren Geist. Sie lenkte sich ab, indem sie einen der Nibuüm fragte, wie die Wetteraussichten seien. »Wir befinden uns in einem Intervall, Edelfrau«, antwortete dieser. »Innerhalb der nächsten Woche erwarten wir keinen Sturm.«
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Drei Tage später, als die Umrisse von Yle em Avrilux bereits in der Abenddämmerung sichtbar wurden, stand Asayinda auf der Achterplicht der Solitär von Avrilux und schaute nachdenklich zum Horizont. Die Ereignisse der letzten Tage und Nächte hatten ihren Platz in ihrem Geist gefunden. Darunter war ein Bild, das seitdem unentwegt in ihrem Kopf herumspukte. Vor ihrem geistigen Auge erhoben sich sieben mannshohe Grabsteine, doch ihr ging es vor allem darum, was der rätselhafte Mann zum Schluss gesagt hatte: »Vergiss die ferne Küste nicht.« Die ferne Küste – dieser Begriff geisterte seit drei Tagen durch ihren Kopf. Sie hatte die Insel nicht erkannt, und die Bergkette war ihr höher erschienen als die von Lan-Gyt, Ost-Gyt oder im Osten der Insel Romander. Es gab kaum eine andere Möglichkeit, als dass sie unbekanntes Land betreten hatte. Die ferne Küste, der Name sagte es bereits, war weit entfernt. Asayinda schaute zum nördlichen Horizont und versuchte sich vorzustellen, dass die Insel dort lag, weit hinter dem Horizont. Dies erforderte ein völliges Umdenken. Für sie hatte es nie etwas anderes als das Reich gegeben; Myriaden von Inseln, begrenzt durch die Nachtmeere und das Schwarzwasser. Dass hinter dieser dunklen Fassade, hinter dem ewig zurückweichenden Horizont noch weitere Inseln liegen sollten, verlangte ihrer Vorstellungskraft viel ab. Asayinda gab einen tiefen, langen Seufzer von sich. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie Antworten auf die sie bewegenden Fragen einfordern würde. Andererseits … der Mann hatte bestimmt nicht umsonst gesagt, sie dürfe die ferne Küste nicht vergessen. Einer der Nibuüm – sie wusste inzwischen, dass er Parnalek hieß – berührte ihren Arm und sagte: »Edelfrau, wir gehen heute Nacht vor Anker. Morgen früh erreichen wir den Hafen von Yle em Avrilux.« Sie nickte. »Danke, Parnalek. Ich gehe schlafen. Wollt Ihr so gut sein und mich bei Sonnenaufgang wecken?«
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25 Der Spaltende Doppelflug »Raielf sagte es bereits: ›Die Loher Magie beschäftigt sich nicht mit allen Winkeln der Kunst.‹ Mit der ›Kunst‹ meinte er die Zauberei. Natürlich ist die Loher Zauberei in ihrer Art beschränkt. Um das zu erkennen, benötigen wir nicht die ständigen Angriffe auf die Princeps durch den Schreiber Ectar Wernalek aus Rak. Bei näherem Hinsehen erweist sich alles, was unter den Princeps zusammengefasst wurde, lediglich als Sammlung von Zaubersprüchen, Beschwörungen und Illusionen. Mangitstarke Zaubersprüche, kräftige Beschwörungen und Illusionen, die von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden sind. Außerdem gibt es noch die doppelte Zeit sowie die außergewöhnliche Verknüpfung der magischen Geister, von ihnen selbst als ›Willenskonzentration‹ bezeichnet. All dies sind beeindruckende Formen der Magie, exquisite Zaubereien, die für viele denkwürdige Ereignisse und Geschichten gesorgt haben. Aber, um mit Kandeel zu sprechen, dem Mystiker aus Katzinsel: ›Die Loher Magie? Das sind architektonische Verzierungen, das ist Dekor, Fassade. Wahre Magie ist das Gebäude selbst, mit stabilem Fundament und vielen geschmackvoll eingerichteten Räumen.‹ Vielleicht ist das eine allzu harsche Einschätzung, doch ein Körnchen Wahrheit steckt darin. Leider werden die Möglichkeiten der alten Magie schon seit Jahrtausenden nicht mehr voll ausgeschöpft. Das verleiht Loh immer mehr Macht. Ob dies dem Reich zugute kommt? Meine Meinung ist bedeutungslos, aber fest steht, dass jede Alleinherrschaft ein Ende finden wird.« Aus ›Die Illusion der Wirklichkeit‹, von Edelfrau Dermiune Arthak aus Klein-Marwin 224
Der gelbliche Nebel, der das Schiff zehn Tage lang eingeschlossen hatte, war am Morgen des elften Tages verschwunden. Stattdessen glühte der Horizont in Orange, und der Himmel strahlte in hellem Blau. Es war noch immer windstill, doch die Zeichen deuteten auf Veränderung, und diese trat auch bald ein. Binnen einer Stunde zog ein ganzes Heer von Gewitterwolken vom Horizont herauf und verdeckte die Sonne. Die Stille an Bord des Kühnen Furcher hatte sich verflüchtigt. Alle kamen an Deck, von der ungewissen Veränderung getrieben. »Die Leere ist vorüber«, brummte Wigbolt. Wie zur Bestätigung ertönte weit entfernt ein Grummeln, und an der Oberfläche des Meeres zeigte sich eine kleine Welle. Ein erster Windhauch, dünn wie Segeltuch, tanzte leichtfüßig über das Schiff. »Ah, der Wind«, sagte Feste Hand, den Kopf im Nacken und mit geschlossenen Augen. »Ich hatte fast schon vergessen, wie der sich anfühlt.« Wigbolt befahl seiner Besatzung: »Streicht die Segel! Der Wind ist schneller hier, als ihr denkt.« Wie gewöhnlich hatte er Recht. Keinen halben Tag später stürmten Wellen von zehn Metern Höhe – manche noch höher – von allen Seiten auf den Kühnen Furcher ein. Das Schiff schlingerte und krachte in allen Fugen. Pechschwarze Wolken jagten dicht übers Meer auf das Schiff zu. Der Wind heulte durch die Takelage und die Wanten, und der Bug bäumte sich auf wie ein wildgewordenes Pferd und kämpfte sich durch das Inferno aus Wasser, aufspritzender Gischt und Sturm. Dennoch hatte Wigbolt die Vorfock nicht völlig streichen lassen. Das Segeltuch war auf einer Breite von fünfzehn Metern einen knappen Meter unterhalb der Fockrahe vertäut und mit zwei faustdicken Scherleinen an der Reling befestigt. Diese minimale Segelfläche fing die Wucht des Sturms auf und jagte das stoßende und stampfende Schiff über die Kämme und Täler des aufgewühlten Meeres. »Sonst wären wir bei einem solchen Sturm praktisch steuerlos«, hatte Wigbolt Lethe erklärt. »Wenn der Furcher quer auf Nord zu liegen kommt, sind wir geliefert.« 225
Die ganze Besatzung war an Deck geblieben, und auch Matei, Lethe, Pit, Gaithnard und Dotar halfen, die Deckladung zu vertäuen und das Bugwasser zu schöpfen. Letzteres war nur möglich, solange sie sich in einem Wellental befanden. Es war stets aufs Neue ein Wettlauf mit der Zeit, schnell genug die Innenreling entlang des Achterdecks zu erreichen, wo sie sich mit ihren Gurten am Schiff festzurrten. Plötzlich begann Rax zu singen und hell zu leuchten. Lethe sah seltsame gelbe Schleier am Kühnen Furcher vorbeischießen, und über dem Pfeifen des Windes glaubte er ein unangenehm hohes Kreischen zu hören. Er wollte Matei Bescheid sagen, doch der Sturm hatte jetzt seinen Höhepunkt erreicht, und eine der Scherleinen, mit der die Vorfock befestigt war, zerriss wie ein Seidenfaden. Der Kühne Furcher drehte sich binnen Sekunden um die eigene Achse und neigte sich in einem Wellental gefährlich nach Steuerbord. Zu allem Überfluss riss auch noch das Tau, das einen Teil der Ladung hielt, wodurch Kisten und Körbe nach Steuerbord zu rutschten. Wenn nichts geschah, würde das Schiff kentern. Eine gewaltige Welle türmte sich bereits vor dem Bug und drohte sich in wenigen Sekunden wie ein wütendes Seeungeheuer auf den Kühnen Furcher zu stürzen. Alles starrte wie gelähmt auf die Riesenwoge. »Llanfereit!« Es war Matei, der sich neben Lethe an der Innenreling festklammerte. Seine Stimme übertönte mit Hilfe des Magischen Halls das Tosen des Sturms. Der andere Zauberer erschien sofort in der Türöffnung seiner Kajüte. »Es ist der Düstere!«, brüllte Matei. »Wir müssen das Schiff retten! Der Spaltende Doppelflug, jetzt!« Llanfereit verstand offenbar sofort, was der Hochmeister meinte. Beide Zauberer wankten zur Mitte des Decks und hielten einander mit beiden Händen fest. Gleichzeitig sprachen sie einen Zauber. »Irsayent levituit chestre!« Ob das Schiff vom Zauberspruch oder von der Gewalt des Sturms erzitterte, ließ sich nicht sagen. Es war ein beängstigender Augenblick. Die Welle hing fast senkrecht über dem Schiff und schien dort in einer Welt zu verharren, die ringsumher brodelte und toste. 226
Im gleichen Augenblick schoss eine dünne, blasse Stichflamme in die Dunkelheit des Sturms empor. Zwei graue Vögel lösten sich vom Deck und flogen mit pumpendem Flügelschlag davon, der eine über den Bug, der andere über das Heck. Sie hielten sich dicht über dem Wasser. Die Welle stürzte mit donnerndem Getöse auf das Schiff. Ein durchdringender Pfeifton, schrill und misstönend, gellte der Besatzung und den Passagieren des Kühnen Furcher in den Ohren, die sich krampfhaft an der Reling festklammerten. Manche mochten nicht hinschauen und kniffen in Erwartung des sicheren Todes durch Ertrinken die Augen zu. Lethe jedoch schaute nach oben und sah zu seiner Überraschung, wie die Welle sich direkt über dem Schiff teilte und die beiden Zauberer angriff. Das Schiff stampfte und bockte wie verrückt, legte sich gefährlich auf die Seite und tauchte mit dem Vorsteven tief ins Wellental ein. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe es sich wieder aufrichtete. Lethe beobachtete, wie sich der Vogel, der über den Bug davongeflogen war, hoch in die Luft schraubte, verfolgt von einer schwarzen Welle, die sich unnatürlich weit über das Wasser erhob. Der Vogel flog in einer scharfen Kurve vom Schiff weg, sodass er mit knapper Not entkam. Von dem anderen Vogel war nichts zu sehen. Der Sturm nahm weiter an Heftigkeit ab. Gleichzeitig verstummte das Singen von Rax. Wigbolt brüllte Befehle; Besatzungsmitglieder eilten herbei. Es gelang ihnen, die Fockrahe zu befestigen. Das Schiff legte sich wieder mit der Spitze in den Wind. Lethe und Pit suchten derweil unruhig den Himmel ab, doch keiner der beiden Vögel ließ sich blicken.
Am frühen Nachmittag hatte der Sturm sich zu einer kräftigen Brise entwickelt, die den Kühnen Furcher in der immer noch aufgewühlten See schlingern und rollen ließ. Dunkle Wolken hingen über dem Schiff, doch am Horizont zeigte sich bereits das erste Blau. Lethe und Pit suchten weiterhin verzweifelt den Himmel ab. »Ich kenne den Spaltenden Doppelflug«, sagte Llanfereits Schülerin 227
und setzte mit einem gequälten Lächeln hinzu: »Nicht dass du glaubst, ich hätte ihn selbst schon eingesetzt. Der Zauber verdankt seine Kraft den gebündelten Fähigkeiten zweier Magier. Doch genau diese Kraft stellt auch das Problem dar, falls etwas schief geht. Sollte einer der beiden Zauberer – aus welchem Grund auch immer – nicht zurückkehren können, wird dies dem anderen aller Voraussicht nach auch nicht gelingen.« Lethe fühlte sich durch diese Auskunft nicht gerade beruhigter. »Wir können nichts machen«, sagte er matt. Er rieb sich die rechte Schulter und streckte sich, als er am westlichen Himmel einen Vogel zu erkennen glaubte. Doch der Schatten, der gerade noch an einem Wolkenband vorbeigeflogen war, zeigte sich danach nicht mehr. »Ist dir klar, dass Matei und Llanfereit uns alle vor dem sicheren Tod bewahrt haben?«, fragte er. »Nur allzu gut, Lethe«, antwortete Pit. »Genauso wie du uns vor kurzem gerettet hast. Matei hatte Recht, es war der Düstere selbst. Er stürzt sich stets auf die Magie, als könnte er nicht anders. Durch den Zauberspruch spaltete die Welle sich in zwei Teile auf, was den Kühnen Furcher letztlich gerettet hat. Ich hatte Angst, der Düstere könnte gegen diese Magie immun sein. Das ist er natürlich auch, aber die Welle wurde nur von ihm hervorgerufen, er war es nicht selbst.« Sie presste kurz die Lippen aufeinander. »Diese Suche hängt am seidenen Faden. Ich wünschte, wir könnten diesen Faden ein bisschen verstärken oder ihn wenigstens endlich selbst in die Hand bekommen.« »Vielleicht mit Hilfe der Kraft«, meinte Lethe zögernd. »Doch wir wissen noch zu wenig darüber, um sie richtig einsetzen zu können.« Pit seufzte und legte Lethe einen Arm um die Schulter. »Du hast Recht. Aber wer könnte uns beibringen, wie wir die Kraft benutzen sollen? Ich jedenfalls kenne niemanden.« »Vielleicht sollten wir Matei fragen«, schlug Lethe vor. »Falls wir ihn noch einmal sehen.« Als wäre es ein Zeichen gewesen, ertönte der doppelte Ruf zweier 228
Vögel über dem Wasser. Sie kamen von Norden herangeflogen und hielten direkt auf das Schiff zu. Kurze Zeit später standen Matei und Llanfereit keuchend, aber unversehrt an Deck. Der Spaltende Doppelflug der beiden Magier hatte ein glückliches Ende gefunden. Dennoch war Matei nicht zufrieden. »Der Düstere greift uns immer wieder unerwartet an. Und noch immer wissen wir fast nichts über ihn. Wir kennen sein Versteck nicht, wir wissen nicht, wie er aussieht, und wir haben keinen blassen Schimmer, wann er wieder zuschlägt. Wir können uns bestenfalls darüber freuen, dass wir seine bisherigen Anschläge auf unser Leben parieren konnten.« »Lasst uns erst mal dafür sorgen, dass wir heil nach Serth-Hafen kommen«, brummte Llanfereit.
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26 Die ferne Küste (2) »Vartold stolperte durch die namenlose Wüste zwischen Roveal und den Keerbergen. Er hatte sich verirrt. Sein Pferd, das einen unfehlbaren Instinkt für die richtige Richtung gehabt hatte, war von einem Rudel wilder Wolfshunde getötet worden, und seine eigenen Kenntnisse über die Wüste reichten nicht aus, um ihn in die bewohnte Welt zurückzuleiten. Er hatte versucht, unter Zuhilfenahme des Sonnenstandes einer östlichen Route zu folgen, soweit es eben ging, doch am Horizont tauchte nirgends ein Zeichen auf, das auf die Ausläufer der Keerberge verwies. Sein Wasser war aufgebraucht; feste Nahrung hatte er schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ihm war klar, wie prekär seine Situation war, doch er lief unbeirrt weiter in jene Richtung, von der er glaubte, es sei die richtige. Als er strauchelte, überraschte es ihn nicht. Letzten Endes hatte jedes Gefühl seinen Körper und seinen Geist verlassen. Er rappelte sich auf, wankte ein paar Schritte weiter und brach erneut zusammen. Bei seinem Erwachen nahm er nur das unbarmherzige Flimmern der Sonne wahr. Heißer Sand war ihm in den Mund gedrungen. Seine Kehle fühlte sich an wie die raue Oberfläche eines Steins. Jeder sichtbare Fleck seiner Haut war knallrot verbrannt. Würde er jetzt die Augen schließen, wäre es für immer, das wusste er. Doch ständig fielen ihm die Lider zu, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Als er sich gerade in sein Schicksal ergeben wollte, glitt ein Schatten an ihm vorüber. Mit dem letzten bisschen Willenskraft öffnete er die Augen. Ein magerer Wolfshund stand vor ihm. Es war ein altes Tier, dessen Fell nur noch einige struppige, hellgraue Haarbüschel aufwies. ›Der eine oder andere Tod, das ist jetzt auch egal‹, flüsterte Vartold. 230
Er hatte sich damit abgefunden, die nächsten Sekunden oder Minuten nicht zu überleben. Der Hund beschnüffelte Vartolds Gesicht und stieß ihn im Nacken an. Vartold öffnete die Augen noch weiter. Direkt vor ihm lag ein Stück Fleisch. Es war alt und zäh, doch es war Nahrung. Das Tier schob den Fleischbrocken mit der Schnauze dichter heran, bis er endlich Vartolds Lippen berührte.« Aus ›Vartolds Erzählungen‹, von Karambul aus Feder Durch einen Spalt zwischen den Augenlidern schimmerte gedämpftes Licht. Die Stille wurde von einem Geräusch untermalt, das er als fernes Rauschen einer Brandung zu erkennen glaubte. Der Salzgeruch und der leichte Gestank von Seegras bestätigten seine Vermutung, genauso wie seine knochentrockene Kehle. Er lebte! Er war noch immer Rayn aus Arkheim, Ehegatte von Elin, und entgegen seiner Erwartung war er erwacht. Er versuchte die Finger zu bewegen, schlug dann langsam die Augen auf und schaute sich um. Er lag im Sand eines großen Strandes auf dem Rücken, weit von der Flutlinie entfernt. Eine breite Spur im Sand, die bei ihm endete, wies daraufhin, dass er vom Wasser bis hierhin geschleppt oder gezogen worden war. Wer mochte das getan haben? Er schaute sich erneut um, sah aber nur Sand, Muscheln, Treibholz und Seegras. Er lebte, das war das Wichtigste, obwohl er sich erschöpft und krank fühlte. Seine Tunika war trocken, folglich musste er schon seit geraumer Zeit hier liegen. Er zitterte. Kälte drang ihm durch die Kleidung bis in die Knochen. Um ihn herum gab es nichts, das er als Decke hätte benutzen können. Dann begann ohne Vorwarnung sein Gedächtnis zu arbeiten. Er befand sich wieder auf dem Nachtmeer. Das Monster war plötzlich hinter Frolints kleinem Boot aufgetaucht, immer höher aus dem Meer aufsteigend. Die Küste von Mittel-V'ryn war schon in Sicht gewesen, 231
doch sie hatten keine Chance gehabt. Voller Entsetzen hatte Rayn in die wutentbrannten Augen des Ungeheuers gestarrt. Er wusste, dass es praktisch kein Entrinnen gab. Kurz bevor der riesige glitschige Körper des Untiers sich auf den Ungebändigten Steinfisch warf, hatte Rayn sich von Bord fallen lassen. Er erinnerte sich noch, wie er mit gestrecktem Rücken schmerzhaft im Wasser gelandet war, und wie ihn anschließend eine Flosse gestreift hatte, so groß wie das kleine Schiff. Halb bewusstlos hatte er nach einem Stück Holz gegriffen und sich willenlos durch die Strudel und Wellen davontragen lassen. Das Monster hatte er nicht mehr gesehen. Dann war er von der Küste weggetrieben worden, wobei es ihm gelungen war, bei Bewusstsein zu bleiben und sich trotz seines bis auf die Knochen erstarrten Körpers an der Planke festzuklammern. Vorsichtig versuchte er jetzt, die Zehen zu bewegen, doch die Nerven meldeten sich mit einem leichten Prickeln nur bis zu den Knien. Als Rayn den rechten Fuß berührte, fühlte er nichts. Dann erst stemmte er den Oberkörper hoch und hielt Ausschau, ob Frolint irgendwo zu sehen war. Da war niemand. Die Chance, dass Frolint der Wut des Seeungeheuers ebenfalls entronnen sein sollte, hielt Rayn für sehr gering. Er selbst hatte schon unverschämtes Glück gehabt, im richtigen Moment von Bord gesprungen zu sein. Er fragte sich erneut, wer ihn den Strand hinaufgeschleppt haben könnte, außer Reichweite der Flut. »Ork.« Der Ruf eines Adlers ertönte. Rayn schaute hoch und sah einen Kaiseradler in weitem Bogen hinabgleiten. Das Tier ließ kurz vor der Landung ein Stück Fleisch aus den Krallen fallen, noch in Rayns Reichweite. Es war ein ordentlicher Brocken, mit dem Rayn ein paar Tage auskommen würde. »Ork, ork, ork«, rief der Vogel und erhob sich wieder in die Luft. Rayn erkannte, dass das Tier ihn mit Nahrung versorgte. Doch er war zu müde und zu benommen, um das Absonderliche daran zu erfassen. Er war bloß dankbar. Seine Gedanken wanderten zu Elin. Sie musste völlig verzweifelt sein. Wahrscheinlich war sie längst davon überzeugt, er sei ums Leben gekommen. 232
Zum ersten Mal nahm er bewusst von der Landschaft der Insel Notiz. Hinter den Dünen schimmerten am Horizont die Silhouetten ungewöhnlich hoher Berge. Wo war er hier gelandet? Seine Gedanken wurden durch die Rückkehr des Kaiseradlers unterbrochen. Diesmal ließ er einige Wasserbeertrauben vor Rayns Füße fallen. Dieser spürte, wie trocken seine Kehle war und griff gierig nach den Beeren. Der Vogel kam noch zweimal mit Beeren zurück, sodass er in den nächsten Tagen zumindest seinen Durst würde löschen können. Dann kreiste der Adler noch einmal mit lautem Schreien über Rayns Kopf und flog in Richtung der See davon. Rayn schaute dem Vogel mit halb geschlossenen Augen nach. Wenn das Tier nicht zurückkehren sollte, wäre er trotz allem zum Tode verurteilt. Dennoch sagte ihm eine innere Stimme, er werde den Vogel noch einmal sehen. Jetzt erst wurde er sich des Unwirklichen der Situation bewusst. Er blickte dem Tier nach, bis es am südlichen Horizont verschwunden war. Das war kein gewöhnlicher Kaiseradler. Vielleicht ein Magier in Vogelgestalt? Rayn schaute sich noch einmal zu der Spur um, die vom Wasser zu der Stelle führte, an der er lag. Sollte der Adler ihn wirklich bis hierhin geschleppt haben? Er versuchte es sich vorzustellen, doch seine Phantasie spielte nicht mit. Erneut überprüfte er, ob noch Leben in seinen Füßen war, und glaubte die Berührung zu spüren. Vielleicht kehrten die Reflexe ja langsam zurück. Er hatte keine Ahnung, wie weit das Wasser bei Flut heraufkommen würde. Das Treibholz, die Muscheln und das Seegras, die die Flutlinie markierten, lagen nicht weit von ihm entfernt. Er nahm das Fleisch und die Beeren mit beiden Händen. Dann stemmte er sich mühsam hoch und schleppte sich, auf die Ellenbogen gestützt, ein kleines Stück den Strand hinauf. Schon bald sank er erschöpft in den Sand. Von der Anstrengung überwältigt fiel er in einen unruhigen Schlaf. Zu Beginn der Nacht wachte er von der Kälte auf. Er legte die Arme über Kreuz um seinen Oberkörper. Trotzdem zitterte er unaufhörlich und fühlte sich immer elender. Wenn er sich zu lange nicht bewegte, drohte ihm der Tod durch Erfrieren. Er rollte sich von einer Seite zur 233
anderen und massierte alle Körperteile, die gefühllos zu werden drohten. Doch als wäre das alles noch nicht genug, kam jetzt auch noch eine leichte Brise auf, die ihm wie ein Messer durch die Jacke schnitt. Plötzlich hatte er eine Idee. Mit den Händen grub er eine große Kuhle, kroch hinein und bedeckte sich mit Sand. Die Winterkälte hatte den Boden noch nicht vollständig durchdrungen. Langsam wurde ihm ein klein wenig wärmer. Der Körper kam endlich zur Ruhe, und gegen Mitternacht schlief er wieder ein.
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27 Ein Märchen »Auf der Insel Romander gibt es ein Sprichwort: ›Der Sieger von heute ist der Verlierer von morgen.‹ Dies kennzeichnet die ein wenig ironische, zuweilen sarkastische und ganz allgemein negative Einstellung der Bewohner dieser wichtigsten Insel des Reiches. Sie sagen eben nicht ›Der Verlierer von heute ist der Sieger von morgen‹, sondern drehen es um.« Aus ›Von Insel zu Insel, Versuch einer Darstellung von Kultur und Lebensart der Inselbewohner des Reiches‹, von Traelsum aus MittelSerth Gegen Abend des Tages nach dem Sturm tauchten die grauen Umrisse der Äußeren Riffe auf. Sie passierten die niedrige Felsenküste von Komber, der drittgrößten Insel, an Steuerbord. Dahinter kamen in der einfallenden Dämmerung die Konturen der kleinen Insel Punter in Sicht. Dieser aus dem Meer ragende Felsklotz verdeckte Serth-Hafen auf der zweitgrößten Insel Mittel-Serth. Wigbolt schaute zum bewölkten Himmel hinauf und erteilte kurz vor Einbruch der Dunkelheit den Befehl, an der Küste von Punter vor Anker zu gehen. »Hier müssen wir mit Untiefen rechnen«, erklärte er, als Matei sich erkundigte, warum es nicht weiterginge. »Da gibt es zu viele wandernde Sandbänke und Riffe dicht unter der Wasseroberfläche. Das erfordert einen Ausguck im Bugstuhl. Außerdem wird die Schleuse von Lundyker nach Sonnenuntergang geschlossen. Morgen früh direkt nach Sonnenaufgang segeln wir nach Serth-Hafen.« 235
Lethe nahm sich an diesem Abend endlich die Zeit, Mateis Aufzeichnungen durchzugehen. Ein paar Mal hatte er es schon aufgeschoben. Seltsamerweise hatte er Angst vor der Geschichte; er fürchtete sich vor sämtlichen Dingen, die ihm mehr Gewissheit über seine schicksalhafte Bestimmung verschaffen würden. Schon seit geraumer Zeit saß er mit den vier Blättern in der Hand da. Ihm war klar, dass sein Geist nur nach Ausflüchten suchte. So hatte er kurz davor gestanden, Matei in ein Gespräch zu verwickeln, als dieser Llanfereit in dessen Kajüte aufsuchte, weil eine Kalktaube mit einer Nachricht um den Fuß bei ihm eingetroffen war. Einige Zeit später hatte Lethe schon die Türklinke in der Hand gehabt, um eben bei Pit vorbeizuschauen, doch im letzten Moment war sein Blick auf die Blätter gefallen, und er hatte eingesehen, dass er sich nicht ewig um die Lektüre herumdrücken konnte. Seufzend warf er sich auf seine Koje, breitete die Blätter vor sich aus und begann zu lesen.
Die Hauptperson der ersten Geschichte, Dorlean, war ein Magierschüler, ein schüchterner Knabe, jedoch lernbegierig und willensstark. Zarf, sein gerissener Meister, genoss einen sehr zweifelhaften Ruf. Er schickte Dorlean zum Palast von Sombor, dem Gott des Südwindes, um sich dessen goldenen Rings zu bemächtigen. »Die Ringe der drei anderen Götter der Windrichtungen sind bereits in meinem Besitz«, sagte Zarf zu Dorlean. »Jetzt fehlt nur noch Sombors Ring. Dann bin ich Herrscher der Winde und damit der mächtigste aller Zauberer. Stell dir das einmal vor, Dorlean – du bist dann der Schüler des größten Zauberers im ganzen Reich. Viel Erfolg, Junge!« Der Knabe machte sich auf den Weg. Den Auftrag betrachtete er als eine von Zarf ersonnene Prüfung. Ihm kam nicht in den Sinn, Zarf sei wirklich auf die Macht aus. Sombors Palast befand sich tief im Süden. Dorlean war gut einen Monat unterwegs, um das Herrschaftsgebiet des Gottes des Südwinds zu erreichen. Er hatte genügend Zeit, sich einen Plan für das Unterneh236
men zurechtzulegen. Er beschloss, sich an der Pforte einfach als Besucher im Namen seines Meisters zu melden. Zarf war ein berühmter Zauberer, und so wurde sein Schüler von Sombor persönlich mit allen Ehren empfangen. Der Gott erwies sich als riesiger Mann mit langem, silberweißem Haar und Augen, in denen weiße Sterne funkelten. Er war der erste Gott, dem Dorlean leibhaftig begegnete – und eigentlich war er enttäuscht. In vieler Hinsicht schien Sombor ein Mensch wie jeder andere zu sein. Er war die Freundlichkeit in Person und sorgte dafür, dass es Dorlean an nichts fehlte. »Hat Euch Euer Meister geschickt?«, fragte Sombor bei einem festlichen Essen, das er für Dorlean gab. Dieser nickte nervös. »Das ist sehr freundlich von ihm«, sagte Sombor. Der leichte Spott in der Stimme des Gottes entging Zarfs Schüler. »Ich möchte Eurem Meister ein Geschenk machen. Hier, ein silberner Ring, ein ganz besonderes Exemplar der Goldschmiedekunst, gefertigt von den vier Goldschmieden der Götter der Windrichtungen.« Dorlean war überrascht von Sombors ungewöhnlicher Freigebigkeit und dankte ihm mit einer tiefen Verbeugung. Dabei fragte er sich, ob Sombor wirklich nicht darüber informiert sei, dass Zarf bereits drei der vier Goldringe an sich gebracht hatte. An diesem Abend lud Sombor Dorlean in seine Privatgemächer ein, bewirtete ihn mit edlem Landwein und ließ es ihm an nichts fehlen. Auf dem Tisch, genau zwischen ihnen, lag Sombors matt glänzender goldener Ring. »Ist er nicht herrlich?«, fragte der Gott lächelnd. »Ihm verdanke ich meine Kraft. Sollte ich diesen Ring verlieren, wäre ich kein Gott mehr.« Ein Diener betrat den Raum und flüsterte Sombor etwas ins Ohr. Dieser wandte sich Dorlean zu. »Ich muss kurz fort. Palastangelegenheiten. Haltet Ihr es eine Weile ohne mich aus? Wenn Ihr irgendeinen Wunsch habt, braucht Ihr nur nach meinen Dienern zu rufen.« Eilig verließ der Gott den Raum. Dorlean war alleine. Auf dem Tisch lag noch immer der Ring der Macht. Dorlean stand auf und berührte 237
das Kleinod. Sekunden später lag es in seiner Hand. Er schaute sich suchend um. Niemand war zu sehen. Blitzschnell ließ er den Ring in seine Jackentasche gleiten und verließ Sombors Gemächer. Kurze Zeit später stand er mit seinem Rucksack vor dem Palast. Über einige Schleichwege, die er auf dem Hinweg auskundschaftet hatte, entging er den Wachposten rund um das Schloss und machte sich schleunigst davon. Er hatte erwartet, von der Palastwache, den Dienern oder Sombor selbst verfolgt zu werden, doch zu seiner eigenen Überraschung erreichte er Zarfs Haus problemlos und ohne Zwischenfälle. Sogar der Südwind, häufig Bote schwerer Unwetter, hielt sich zurück, auch wenn ständig eine leichte Brise um Dorleans Gesicht strich, so als habe Sombor ihn ständig unter Kontrolle. Der Meister begrüßte ihn freudig. Dorlean zeigte ihm den Goldring. Der Zauberer holte ein Schmuckkästchen und öffnete es. Drei glänzende goldene Ringe prangten in einem Bett aus purpurnem Samt. Zarf legte den vierten Ring mit einer ehrfürchtigen Gebärde daneben. Die Ringe sprühten Funken, als wollten sie einander begrüßen. »Ich habe noch eine Überraschung«, sagte Dorlean lächelnd. »Hier, von Sombor.« Er legte den Silberring neben die anderen. Zarf stieß einen durchdringenden schrillen Schrei aus und ließ das Schmuckkästchen los, das polternd zu Boden fiel. Flammen leckten am silbernen Ring entlang und wuchsen zu einem Meter Höhe empor. Das Feuer breitete sich nach allen Seiten hin aus, und in Windeseile brannte das ganze Haus lichterloh. Zarf und Dorlean gelang es mit Müh und Not, das nackte Leben zu retten. Der Zauberer jammerte unentwegt. »Meine Ringe!«, schleuderte er dem Himmel etliche Male zornig entgegen. »Sie haben mir die Ringe gestohlen!« »Aber Meister«, sagte Dorlean, der selten ein Blatt vor den Mund nahm. »Die Ringe sind doch verbrannt, nicht gestohlen. Und außerdem – wie sollen sie Euch gestohlen worden sein, wenn sie doch in Wirklichkeit jemand anderem …« 238
Zarf schaute ihn mit wirrem Blick an. »Du Narr!«, kreischte er. »Ich sollte dich in eine Salzsäule verwandeln! Der Silberring war ein magisches Artefakt, eine Falle. Nicht ich habe jetzt alle vier Ringe, sondern die Götter haben ihre Ringe zurück!« Da erst erkannte Dorlean, was geschehen war. Er starrte in die schwelende Asche. »Und Euer Haus, Eure Bücher und Artefakte, alles verbrannt«, flüsterte er. Verzweifelt setzte Zarf sich auf einen umgefallenen Baumstamm. »Weißt du, was das bedeutet? Ich werde aus der Gilde verstoßen. Genauso gut kann ich …« Er machte eine Bewegung und murmelte ein Wort. Es gab ein zischendes Geräusch, und Zarf war verschwunden. Nicht die geringste Spur von Asche oder Rauch war zu sehen. Er tauchte nie wieder auf. Dorlean wurde trotz seines anfänglichen Mangels an Fachkenntnis zu einem Zauberer. Im Laufe der Zeit erwies er sich als Naturtalent und wurde von den Leuten immer häufiger als magischer Ratgeber in Anspruch genommen. Zehn Jahre nach dem Diebstahl des Ringes ließ sich ein Mann mit langem weißem Haar bei Meister Dorlean anmelden. »Kennt Ihr mich nicht mehr, Junge?«, fragte der Mann mit einem freundlichen Lächeln. Dorlean schaute ihn scharf an und wich dann erschrocken zurück. »Sombor!« Der Gott machte eine Verbeugung. »Zu Euren Diensten, Meister Dorlean. Ich habe ein Geschenk.« Er holte einen goldenen Ring zum Vorschein und legte ihn Dorlean in die Hand. »Als Dank für Eure Hilfe, auch wenn Ihr Euch ihrer nicht bewusst wart. Dies ist ein besonderer Ring der Macht. Je nachdem, wie man damit umgeht, ist diese Macht strahlender oder dunkler Natur.« Sombor verabschiedete sich freundlich, drehte sich um und ging. 239
Dorlean starrte auf den Ring. »Wie gehe ich mit einem Ring der Macht um?«, fragte er sich laut. Nach einiger Zeit murmelte er: »Wie gehe ich überhaupt mit der Macht um?« Er legte den Ring auf das Stehpult, setzte sich und betrachtete das Artefakt mit halb geschlossenen Augen. So saß er immer noch da, als es Nacht wurde und sein Diener sich abmeldete. Als der Diener am nächsten Morgen das Haus betrat, saß Dorlean noch immer dort. Am späten Vormittag sprang er so plötzlich auf, dass sein Diener vor Schreck beinahe tot umgefallen wäre. »Ich weiß es!«, rief er. Er verbarg den Ring in einer Nische hinter einer Schublade und schaute ihn nie wieder an. Wiederum zehn Jahre später wurde Dorlean zum Hochmagier des Reiches gewählt. Diese Aufgabe erfüllte er zur allgemeinen Zufriedenheit, und die Achtung vor ihm und seinen Taten wuchs von Jahr zu Jahr. Schließlich betrachtete man ihn als den mächtigsten Mann des Reiches, mächtiger sogar als der Kaiser. Er lebte sehr lange und glücklich. In hohem Alter verschwand er vom Erdboden.
Unter diese erste Geschichte hatte Matei mit schwungvollen Schnörkeln einen Satz geschrieben und doppelt unterstrichen: »Der Moment des größten Triumphs erweist sich oft als die Stunde tiefster Erniedrigung.« Am Rand der letzten Seite stand noch etwas in winzigen Buchstaben: »Und die Geschichte endet erst, wenn der Erzähler schweigt.« Ein merkwürdiger Satz, fand Lethe. Er starrte auf das Papier. Abgesehen von dem, was Matei unterstrichen hatte, hatte er nicht das Gefühl, etwas Interessantes gelesen zu haben. Dennoch bewahrte er alle Einzelheiten sorgfältig in seinem Geist. Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten, und so beschloss er, die zweite Geschichte später zu lesen. Kurz darauf schlief er ein. 240
Mitten in der Nacht wachte er auf, weil am Rande seines Bewusstseins der Ruf eines Adlers widerhallte. Er schlug die Augen auf und spähte in die Dunkelheit. War der Schrei des Adlers Teil eines Traums gewesen, oder war er davon geweckt worden? Er stand auf und ging zum Bullauge. Nichts. Nichts als mangitschwarze Dunkelheit. Er kroch wieder in seine Koje und starrte lange zur Decke empor. Wahrscheinlich war der Adler Teil eines Traums gewesen. Er musste wieder eingeschlummert sein, denn im nächsten Moment öffneten seine Augen sich durch ein leises Geräusch wie von selbst. Mateis Silhouette zeichnete sich am geöffneten Bullauge ab. In der Hand hielt er den leeren Vogelkäfig. Der Hochmeister starrte mit düsterem Blick und in Gedanken versunken in die Nacht hinaus. Eingehend betrachtete Lethe Mateis Gesichtszüge. Der Zauberer wirkte besorgt. Plötzlich drehte er sich um. Sein Blick streifte Lethe, der sich schlafend stellte. Vorsichtig schloss er das Bullauge. »Es ist wieder Zeit für Magie«, murmelte er. Es klang müde, als habe Matei keine Lust, wieder Zauberei einsetzen zu müssen. Der Hochmeister setzte sich an den Tisch und kramte in einem Beutel. Er holte eine Phiole und ein kleines Säckchen mit Kräutern heraus, griff nach seiner Schreibfeder und einem Stück Papier und verstaute alles in der Innentasche seines Mantels. Dann stand er auf und ging zur Tür.
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28 Die Äußeren Riffe (1) »Jedes Wesen hat seine schwachen Seiten. Selbst der mächtigste Hochmeister besitzt Charaktereigenschaften, die ihn zu Fehlern verleiten, wenn er seine Macht einsetzen will. Mich überrascht in diesem Zusammenhang besonders, dass die Hochmeister sich seit Raielfs Tod nicht mehr mit ihrem vielleicht größten Schwachpunkt gegenüber dem Düsteren des Nachtmeers beschäftigt haben: Mit ihrer Magie, die auf den Düsteren wirkt wie der Köder auf den Fisch.« Aus ›Die Schwächen der Macht‹, von Endyr aus Südstadt Die Sonne hatte sich noch nicht einmal vom Horizont gelöst, als Wigbolt den Anker des Kühnen Furcher lichten ließ und mit vollen Segeln Kurs auf Serth-Hafen nahm. Lethe erwachte vom leichten Schaukeln des Schiffes. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und drehte sich zu Mateis Koje um. Diese war leer. Das überraschte Lethe nicht besonders, eingedenk der Bemerkung des Hochmeisters in der vergangenen Nacht. Er ging an Deck, denn er wollte die Schleuse von Lundyker in Betrieb erleben. Er fand Feste Hand, der wie immer das Steuerrad hielt. Als der Kühne Furcher die Leeseite von Punter verließ, wurde das Schiff von einer leichten Nordwestbrise auf die Seite gedrückt. Wigbolt ließ die Stellung der Segel verändern und gab Befehl, das Hauptsegel halb zu reffen. Der Furcher wurde schräg vom Wind erfasst und glitt wie ein willenloses Herbstblatt über die sich neigenden Wellenkämme. 242
Wigbolt kam zu Feste Hand und Lethe. »Wo ist Matei?«, fragte er. Seinen Augen war anzusehen, dass er die Antwort bereits kannte. Lethe fragte sich einmal mehr, wie Wigbolt es immer wieder schaffte, unsichtbare Dinge zu sehen. »Er ist weg, seine Koje ist unbenutzt.« Wigbolt nickte und ließ das Thema fallen. »Wenn wir Glück haben, können wir die Schleuse von Lundyker gerade noch früh genug für die Mittagstour erreichen. Die Schleuse wird nur dreimal am Tag geöffnet: am frühen Morgen, gegen Mittag und kurz vor Sonnenuntergang.« Dank des auffrischenden Windes schafften sie noch die Mittagsschleuse. Fasziniert schaute Lethe auf die beiden Schleusentore, die zwischen den Hebetürmen hingen. Das Wasser tropfte an ihnen herab, und an dem Teil, der normalerweise unter Wasser lag, hingen lange dicke Seegrasbüschel. Lethe versuchte die Abmessungen der Schleuse zu schätzen. Feste Hand schien seine Gedanken erraten zu haben. »Gut dreißig Meter hoch und fünfundfünfzig Meter breit. Und das Ganze ist aus dem seltenen Mangitholz gebaut. Die Hebetürme sind siebzig Meter hoch und haben einen Durchmesser von dreißig Metern.« Ehrfürchtig ließ Lethe seinen Blick an den schwarzen Türmen hochwandern, als diese sich langsam an ihnen vorbeischoben. Feste Hand zeigte auf die Räder am unteren Ende der Türme, an denen die Schleusentore mit armdicken Tauen befestigt waren. »Zweimal hundert Mann kurbeln die Schleusentore hoch und runter. Zuerst das untere Tor, dann das obere. Anschließend, am frühen Nachmittag, geschieht das Ganze noch einmal umgekehrt, für den auslaufenden Schiffsverkehr. Das ist so anstrengend, dass für die Abendschleuse eine neue Mannschaft antreten muss.« Mit einer ausholenden Armbewegung umfasste er den birnenförmigen See hinter der Schleuse und das Panorama von Serth-Hafen. »Der Lundykersee liegt drei Meter höher. Nur dank der Schleuse konnte Serth-Hafen zu einer der wichtigsten Hafenstädte des Reiches werden.« 243
Nachdem der Kühne Furcher als einziges Schiff am Schleusenkai festgemacht hatte, wurden die beiden Speigatte neben dem oberen Schleusentor geöffnet; Wasser strömte aus dem Lundykersee in die Kammer. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis das Wasser in der Kammer den Pegel des Lundykersees erreicht hatte. Die Muskelkraft von zweihundert Männern hob das Schleusentor hoch über den Kühnen Furcher, und das Schiff konnte langsam in den Lundykersee gleiten. Am langen Lundykerkai lagen große überwinternde Segelschiffe doppelt, teilweise sogar dreifach vertäut. Wigbolt lenkte sein Schiff zur Westseite, wo an einem Holzpier mehrere alte Barken und Fischerkaravellen lagen. »Am Pier von Meister Bergalt findet man immer einen Platz«, brummte Wigbolt. Er hatte wieder einmal Recht. Zwischen zwei abgewrackten Hochkaravellen war noch genau ausreichend Platz für den Kühnen Furcher. Mit unfehlbarer Präzision wurde das Schiff an den Pier manövriert. Die alten Pfähle und Planken krachten gefährlich, als der Furcher vom Nordwestwind gegen die Vertäupfähle gedrückt wurde. Ein alter Mann mit wirrem Haarschopf und abgerissener Kleidung kam herbeigelaufen. »Da haben wir ja endlich mal wieder unseren guten alten Wigbolt, den Bezwinger der Meere!«, rief er mit krächzender Stimme. Wigbolt beugte sich an der Vorplicht über die Reling und grinste. »Bergalt«, sagte er. »Es ist lange her, Meister. Hier, fangt!« In weitem Bogen warf er die Landfeste in Richtung des Mannes. Der ließ das schwere Tau wohlweislich erst einmal auf den Pier knallen, bevor er hinzusprang und die Schlinge geschickt am Vertäupfahl einhakte. Dasselbe geschah mit der Landfeste vom Achterdeck. Llanfereit, Pit, Lethe, Gaithnard, Marakis und Dotar standen mit ihren Rucksäcken bereit, als die Laufplanke heruntergelassen wurde. »Matei ist unterwegs«, hatte Llanfereit zuvor erklärt. »Er bat mich, dafür zu sorgen, dass wir in einer Herberge unterkommen. Dort warten wir auf ihn. In der Zwischenzeit gibt es für uns noch genug zu besprechen.« 244
»Und weiß Llanfereit auch, wohin Matei sich aufgemacht hat?«, fragte Marakis. Llanfereit schien sein Wissen nur widerwillig mit den Reisegefährten teilen zu wollen. Er spitzte die Lippen und versank in tiefe Grübelei. Schließlich zuckte er mit den Achseln. »Prinz, der Hochmeister bekam heute Nacht zwei Nachrichten. Die erste enthielt schlechte Neuigkeiten, denn Mittel-V'ryn ist der farblosen Magie zum Opfer gefallen. Die Botschaft kam von Elin, der Frau von Rayn, der dort für Matei die Entwicklung verfolgt. Die halbe Insel ist im Meer verschwunden, pulverisiert. Die Bewohner wurden nach Ost-V'ryn evakuiert. Von der anderen Nachricht hat Matei mir nur so viel verraten, dass er etwas untersuchen muss, und dass er dafür vielleicht ein paar Tage braucht.«
Unterdessen war Matei in der Gestalt eines Adlers nach Mittel-V'ryn geflogen. Aus der Luft sah er bereits, wie sehr die Insel in Mitleidenschaft gezogen war. Mindestens drei Viertel waren schon erfasst und vom Wasser geschluckt worden. Um das restliche Viertel herum brodelte und kochte das Meer. Schrille Pfeiftöne schienen aus allen Richtungen den verbliebenen Teil der Insel anzugreifen. Gelbgraue Wolkenfetzen jagten tief über die beiden kleinen Küstendörfer am südöstlichen Zipfel hinweg, die noch standhielten und wo ein paar Dutzend Inselbewohner darauf hofften, der Angriff des Düsteren könne noch irgendwie aufgehalten werden. Nach seinen bisherigen Informationen gelangte Matei zu dem Schluss, dass dieser Überfall noch heftiger war als der auf Nord-V'ryn. Eines der Dörfer, Malters Ende, besaß einen kleinen Hafen, sodass den letzten Inselbewohnern immer noch die Flucht offen stand. In Elins Nachricht an Matei war von einer größeren Gruppe die Rede gewesen, die weiterhin ausharrte. Ein gutes Dutzend Fischerboote lag bereit, um die Menschen nach Ost-V'ryn zu bringen, zur größten der drei V'rynInseln. Das einzige Problem stellte die unruhige See dar. Die Wellen 245
sprangen und tanzten in alle Richtungen. Zweifellos wurde der hohe Seegang durch den Düsteren des Nachtmeers verursacht. Matei wusste genau, dass der Düstere hier irgendwo sein musste, auch wenn nirgends ein greifbares Wesen zu sehen war. Ganz in der Nähe musste der große Feind der Loher Magie lauern. Matei zögerte. Vielleicht hätte er Lethe jetzt schon mitnehmen müssen. Als er beschlossen hatte, den Unmagier weiterschlafen zu lassen, hatte er sich weitgehend auf seine Eingebung verlassen. Matei blieb hoch oben in der Luft; eine bewährte Methode, sich den Düsteren erst einmal vom Hals zu halten, wie er inzwischen wusste. Dennoch würde er sich in den Einflussbereich des Düsteren wagen müssen, wollte er sein Vorhaben in die Tal umsetzen. Kalte Finger legten sich um sein Herz. Er hatte sich dumm verhalten; die Eingebung hatte ihm einen Streich gespielt. Lethe wäre viel eher in der Lage gewesen, pulverisiertes Gestein zu ergattern. Jetzt würde er Elin bitten müssen, die Aufgabe zu übernehmen, und das wollte er eigentlich nicht, denn Elin trauerte um Rayn, ihren Mann, der von einer Erkundungsfahrt im Nördlichen Nachtmeer nicht zurückgekehrt war. Trotzdem sah er keine andere Möglichkeit. Mit kräftigem Flügelschlag leitete er sein Hinabgleiten ein. Sobald er das Gefühl hatte, den Einflussbereich des Düsteren erreicht zu haben, legte er die Flügel dicht an den Körper und schoss wie ein Stein auf Malters Ende hinab. Das allgegenwärtige Pfeifen veränderte sich zu einer Kakophonie ohrenbetäubenden Geheuls. Wut kochte um ihn herum. Gelbe Schleier züngelten ihm entgegen, doch mit einigen leichten Ausweichmanövern konnte er ihnen entgehen. Schwarze Gedanken prallten auf seine eigenen, versuchten das Feld Fünffacher Verwehrender Luftleere zu zerstören, doch mittels einiger gemurmelter Unterstützung hielt der Zauber stand. Matei immunisierte sich gegen das Getöse um ihn her und landete auf dem schmalen Kai des Fischerdorfs. Langsam verschwand das Stimmengeheul, unterbrochen von bösartigem und wütendem Zischen, und die Wolkenschleier jagten wieder empor. Am Kai war kein Mensch zu sehen. Alle Fensterläden der schmalen Holzhäuser waren geschlossen. Von seinen früheren Studien über farblose Magie wusste Matei, dass 246
es noch einige Zeit dauern würde, ehe der Düstere sich neu orientiert hätte. Er war nun mal ein Wesen des Meeres, und an Land schien es ihm große Mühe zu bereiten, den Weg zu finden. Alle Geräusche wichen in den Hintergrund, als könnte das Dorf von der farblosen Magie nicht erfasst werden. Dennoch hörte Matei, dass das Kreischen des Düsteren einen Höhepunkt erreichte. Er überlegte eine Weile, was der Grund dafür sein könnte. Hatte der Düstere damit gerechnet, ihn erwischen zu können? Schnell verabschiedete er sich von dem Gedankenspiel. Hier ging es um Sekunden. »Elin!«, rief er laut und lief die Häuserfront am Kai entlang. Ein Fensterladen öffnete sich, und Elins Gesicht erschien kurz im Fenster. Die Tür war offen. Matei betrat das Haus. Außer Elin befanden sich noch zwei junge Männer in der Wohnung. »Zwei Fischer«, erklärte Elin, »Goideryn und Smertan. Sie bringen mich gleich nach Mittel-V'ryn.« Matei nickte den beiden Männern zu. Elin schwieg und wartete ab. Matei tat sich schwer, seine Bitte zu äußern, doch Elin kam ihm zu Hilfe. »Ihr wollt mich fragen, ob ich einen von Pulverisierung befallenen Stein für Euch besorgen kann«, stellte sie mit flacher Stimme fest. Matei nickte beschämt. Elin begann zu lachen. »Mit der Bitte hatte ich gerechnet.« Sie holte einen kleinen Rucksack. »Ich war schon unterwegs. Es sind sogar mehrere Steine. Ihr müsst Euch aber beeilen. Binnen eines Tages ist alles pulverisiert, und dann habt Ihr nur noch gelben Stoff im Beutel.« »Elin«, stotterte Matei, »Ihr seid …« Das Getöse setzte plötzlich wieder ein, und alle Fenster und Läden begannen wild zu klappern. Matei riss Elin den Rucksack aus den Händen. »Gibt es hier eine Hintertür?«, fragte er gehetzt. Elin lief ihm voraus. An der Eingangstür und den Fensterläden ertönte heftiges Poltern; dann hörte man Holz splittern. Elin öffnete die Hintertür. Matei drehte sich um. 247
»Es könnte sein, dass Rayn noch lebt«, sagte er atemlos. »Ich kümmere mich darum. Ihr hört so bald wie möglich von mir. Macht Euch auf nach Ost-V'ryn. Wenn ich jetzt fliehe, wird der Düstere sich nur auf mich konzentrieren. Das müsst Ihr nutzen!« Elin hörte ihm mit großen Augen zu. Matei murmelte den Zauberspruch, der ihn in Sekundenschnelle in einen Adler verwandelte, schwang sich in die Höhe und flog zwischen den Häusern hindurch nach Osten. Als er die Küstenlinie östlich von Malters Ende erreichte, schraubte er sich mit kräftigen Flügelschlägen höher in die Luft, entging dabei um Haaresbreite einigen Schleiern und entfernte sich dann hoch über dem Meer von jenem unheilverkündenden Ort, zu dem Mittel-V'ryn geworden war. Tief unter ihm erreichte der Zorn des Düsteren einen neuen Höhepunkt.
Das Wasser rund um die Überreste von Mittel-V'ryn brodelte und schäumte. Über der kochenden See ertönte ein Pfeifen, das in bestialisches Kreischen überging. Ein Schwarm gelber Schleier sammelte sich und stürmte auf das Dorf zu. Elin und die beiden Fischer erkannten ebenso wie die fünfzehn übrigen Zurückgebliebenen die drohende Gefahr. Sie stürzten aus ihren Häusern und rannten in Todesangst zu den kleinen Booten im Hafen. Elin strauchelte und kam zu Fall. Sie rechnete fest damit, von einem der Schleier gepackt zu werden, doch nichts geschah. Rasch rappelte sie sich auf und wankte mit klopfendem Herzen zum Boot. Der Zorn des Düsteren konzentrierte sich auf die Umgebung des Hauses am Kai, in dem sich Elin und die beiden Fischer verborgen hatten. Mangitschwarze Wolken drehten sich wie ein sichtbar gewordener Wirbelwind umeinander und zogen sich über dem Haus zusammen. Dutzende gelbe Schleier wickelten sich um das Holz. Elin hörte, wie der Giebel zu krachen begann. Als sie sich umschaute, sah sie, wie helle Flecken sich auf dem Holz ausbreiteten. Der Giebel war bereits zur einen Seite hin weggesackt. Elin fragte sich, ob der Düstere an Land er248
blindete, oder ob sein Handeln und Denkvermögen verlangsamt wurden, sobald er sein Herrschaftsgebiet, das Meer, verlassen musste. Wie es auch sein mochte – sie gewannen ausreichend Zeit, um an Bord des Bootes zu gelangen und nach Ost-V'ryn zu fliehen. Kurz nachdem sie dort Hals über Kopf an Land gegangen waren – an dem kleinen Sandstrand westlich des Fischerdorfes Sker –, brachen in diesem Teil von Ost-V'ryn turmhohe Wellen über die Küste herein. Und mit den Wellen kam das Kreischen, und gelbe Schleier senkten sich auf den Strand und die Felsen in der Umgebung. Augenblicklich breiteten sich dort zahllose hellgelbe Flecken aus. Die farblose Magie hatte Ost-V'ryn erreicht.
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29 Die ferne Küste (3) »Da liegt ein Land hinterm Meeresrand mit Dünen, Bergen und Weideland, gemacht aus Fels und Baum und Sand, durchsetzt mit unerforschten Ecken, benetzt von kühlen Nebeldecken; und jetzt beim ersten Sonnenwecken, wenn dort erneut der Tag beginnt, berührt von Wogen, weichem Wind, gestreichelt durch das Sonnenkind, umarme ich still mein neues Land, geformt von sanfter Götterhand, im Spiegelbild am Meeresrand.« Gedicht ›Das neue Land‹ aus dem Sammelband ›Mythische Poesie‹, zusammengestellt von Edelfrau Asrath aus Dunkel An der fernen Küste stiegen diesige Nebelschleier aus der friedlich ruhenden See. Getragen von der aufkommenden Kälte trafen sie sich direkt über dem Wasser und glitten wie eine lebendige Decke am gelben Sand des Strandes entlang. Mit dem Nebelkleid erschien ein säuerlicher Geruch, der sich mit dem bitteren Gestank des verfaulenden Seegrases vermischte. 250
Es war der Morgen des dritten Tages, seit Rayn hier zu sich gekommen war. Er hatte sich Stück für Stück einige Dutzend Meter von der Flutlinie weggeschleppt. Genau wie auf Loh und Fernion musste man mit einer langen Flut rechnen. Wann das Wasser wieder weit am Strand hinaufkriechen würde, war nicht abzusehen. Auf Loh bedeutete Nebel, dass die lange Flut noch nicht zu erwarten war. Rayn konnte nur hoffen, dass dies auch für diese Insel galt. Sein Vorrat an Wasserbeeren war fast aufgebraucht, und mit dem Fleisch stand es nicht besser. Die ganze Zeit hatte er kein Lebewesen gesehen oder gehört, abgesehen von einer Strandratte, Nebelmöwen und etlichen Insekten. Langsam kehrte das Gefühl in seine Füße zurück, doch er war noch nicht imstande, aufzustehen. Unentwegt war er damit beschäftigt gewesen, gegen die Kälte anzukämpfen, indem er seinen Körper und die Gliedmaßen mit leichten Schlägen bearbeitete. Wenn es zu schlimm wurde, grub er wieder eine Kuhle und bedeckte sich mit Sand. Zum Schlafen war er so gut wie gar nicht gekommen, denn kaum war er einmal eingenickt, wurde er erneut von der Kälte geweckt. Und natürlich hatte er viel nachgedacht. Er hatte die Insel, an die es ihn verschlagen hatte, ›Das schweigende Land‹ getauft, da sich hier kaum Leben zeigte. Und die wenigen Tiere, die er zu sehen bekommen hatte, machten kaum Geräusche. Mit der Zeit war er ruhiger geworden und hatte begonnen, sich zunehmend Gedanken über sein Leben zu machen, vor allem über die Jahre auf Nord-V'ryn. Er hatte begriffen, dass seine und Elins Rolle unendlich viel wichtiger gewesen war, als er es je für möglich gehalten hätte. Im Nachhinein verschaffte ihm dies Befriedigung. Sollte er dieses Abenteuer überleben, und sollte die farblose Magie auch dank ihrer beider Mithilfe erfolgreich bekämpft werden können, wäre sein bisheriges Leben sinnvoll und wertvoll gewesen. Der Nebel verdichtete sich, und das Rauschen der Wellen war kaum noch zu hören. Eine Nebelmöwe kreischte; ansonsten schloss die Stille ihn immer mehr ein. Und mit der Stille kam die Kälte; selbst nachts war es noch nicht so kalt gewesen. Wenn der Kaiseradler in den nächs251
ten Tagen nicht auftauchen sollte, stünden ihm harte Zeiten bevor, es sei denn, die Füße erholten sich schnell. In weiter Ferne vermeinte er den Ruf eines Vogels zu hören. Der Adler? Er lauschte angestrengt. Als er nach einiger Zeit den Vogel erneut zu hören glaubte, beschloss er, dem Tier zu helfen. »Hier.« Er hatte schreien wollen, doch alles, was dabei herauskam, war ein heiseres Piepsen in der Kehle. Er hustete und versuchte es erneut. »Hier!« Die Antwort kam prompt. »Ork, ork!« Gleich darauf hörte Rayn das Rauschen der Flügelschläge. Er richtete sich auf, erschrak jedoch, als das Tier dicht über ihm aus dem Nebel auftauchte: Es war nicht derselbe Adler. Er griff nach dem Knüppel, den er tags zuvor gefunden hatte. Ein seltsam klapperndes Geräusch ließ ihn hochschauen. Vor ihm stand der Zauberer, der ihn und seine Frau nach Nord-V'ryn geschickt hatte. »Meister«, flüsterte er erschrocken, »wie habt Ihr mich gefunden?« Der Mann lächelte. »Es ist wohl an der Zeit, dass Ihr meinen wirklichen Namen erfahrt, Rayn«, sagte er. »Eure und Eurer Frau Treue ist für mich sprichwörtlich geworden. Ich bin Matei, Hochmeister auf Loh.« Nachdem Rayn von seinen Erlebnissen berichtet hatte, setzte Matei sich ihm gegenüber. Mit präzisen Bewegungen der Finger begann der Hochmeister, Rayns Waden und Füße zu massieren. »Ich wurde von dem großen Adler benachrichtigt, der Euch vor dem sicheren Tod bewahrt hat.« Dann ist es also doch wahr, dachte Rayn. Der Vogel hat dich den ganzen Strand hinaufgeschleppt. Eine unglaubliche Geschichte. Der Nebel lichtete sich allmählich. Matei schaute sich um und erkannte die Konturen einer Bergkette. Lange starrte er darauf. »Die ferne Küste«, murmelte er verwundert. »Also doch …« Rayn verstand nicht, was der Hochmeister meinte. Er spürte, wie unter Mateis Händen das Leben in seine Waden und Füße zurückkehrte. 252
Der Zauberer holte einen kleinen Wasserbeutel hervor und ließ Rayn ein paar Schlucke daraus trinken. »Nicht zu viel«, sagte er und nahm ihm den Beutel weg. »Das ist nicht gut. Ihr müsst langsam wieder zu Kräften kommen.« Er schaute Rayn an. »Ich habe Elin erzählt, dass Ihr vielleicht noch lebt. Soviel ich weiß, hat sie sich von Mittel-V'ryn retten können.« »Farblose Magie?«, fragte Rayn. Matei nickte. »Inzwischen dürfte die gesamte Insel im Meer verschwunden sein. Der Düstere war wütend, dass ich ihm entkommen bin. Ich vermute, dass auch die anderen fliehen konnten, ungefähr zwanzig Leute. Das dürfte seine Wut noch gesteigert haben.« »Wisst Ihr genau, dass Elin in Sicherheit ist?«, fragte Rayn mit zittriger Stimme. »Als ich mich zum letzten Mal umschaute, segelten fünf kleine Schiffe Richtung Ost-V'ryn, während die farblose Magie sich noch auf die Häuser von Malters Ende stürzte. Der Düstere ist an Land erstaunlich träge, so als könne er nicht gut sehen. Wahrscheinlich hat das Elin und die anderen gerettet.« Vorsichtig bewegte Rayn die Füße. »Wie kommen wir hier weg?« Matei senkte den Kopf und starrte nachdenklich auf den Sand. »Ich möchte hier zunächst noch etwas untersuchen«, sagte er zögernd. »Es kann von lebenswichtiger Bedeutung sein. Sobald Ihr in der Lage seid, wieder zu gehen, machen wir uns auf den Weg. Danach ruhen wir uns aus und treten die Rückreise an. Auf dem Flug nach Ost-V'ryn nehme ich Euch auf den Rücken. Die Ruhepause ist nötig, denn ich habe zwei Tage gebraucht, um hierher zu kommen.« Rayn schaute Matei verwirrt an. »Auf welcher Insel sind wir denn?« »Keine Insel, Rayn. Oder man könnte sagen, dass es eine Insel ist, die das gesamte Reich von Romander an Größe übertrifft. Nur weni253
ge Menschen sind über die Existenz dieses Landes informiert. Es wird ›Die ferne Küste‹ genannt.« Rayn versuchte zu verstehen, was Matei sagte. »So groß? Das gibt es doch nicht.« Matei lächelte. »Oh ja, Rayn. Wir können uns noch darüber unterhalten. Aber jetzt müssen wir ein paar Grabsteine suchen. Geht mal ein paar Schritte.« Rayn versuchte es. Bei den ersten Schritten schwankte er noch, doch bald schon konnte er sich vorsichtig vorwärts bewegen. Matei stützte ihn, und zusammen näherten sie sich langsam den Dünen. Regelmäßig legten sie Pausen ein. Während eines dieser Aufenthalte griff Matei unter seinen Mantel und holte eine Phiole mit hellgrüner Flüssigkeit hervor. Er ließ ein paar Tropfen davon in seine Handfläche fallen, zerrieb sie und machte rhythmische Handbewegungen. »Dies ist Paryndels Halb Entschleiernder Konturenanzeiger Magischer Artefakte«, erklärte er Rayn, als wäre damit bereits alles gesagt. Und Rayn nickte, als habe er alles verstanden. Linker Hand, hinter einer Reihe hoher Dünen, begann ein grünes Licht zu glühen und verschwand wieder. »Dorthin«, zeigte Matei und fasste Rayn am Unterarm. Mühsam bewegten sie sich im Zickzack zwischen den Dünen hindurch und stießen auf eine Wildspur, die in die richtige Richtung zu führen schien. Matei benutzte sein Zaubermittel ein zweites Mal; das Leuchten war jetzt erheblich stärker. »Wir sind gleich da«, versicherte er Rayn. Kurze Zeit später tauchten vor ihnen jene Grabsteine auf, die Asayinda vor gar nicht so langer Zeit entdeckt hatte. »Wartet hier auf mich«, sagte Matei. Er lief an den Steinen entlang und murmelte vor sich hin. Am vorletzten Monument hielt er und ließ sich auf die Knie fallen. Wo Asayinda vergeblich versucht hatte, die verwitterten Zeichen zu entziffern, murmelte Matei: »Llaypren zeurvelint ore Laiden tworc'hn. Dies sind die denkwürdigen Worte des Wächters von Laiden.« Er winkte Rayn heran. »Helft mir bitte.« 254
Er begann in der Erde vor dem Stein zu wühlen. Rayn kam näher und schaute sich Mateis Wühlarbeit mit hochgezogenen Brauen an. Dann zuckte er die Achseln und begann ebenfalls zu graben. »Wonach suchen wir?« »Nach einer Schriftrolle, die wahrscheinlich in einem Kasten steckt, sonst dürfte wenig davon übrig sein.« Das Wühlen mit bloßen Händen war schwierig, und von Zeit zu Zeit mussten sie Pausen einlegen. Schließlich stießen sie auf etwas Hartes. Es schien ein Sarg aus Mangitholz zu sein, der noch erstaunlich unversehrt war. Rings um den Sarg gruben sie alles fort, doch nichts kam zum Vorschein. »Vielleicht sollten wir unter dem Sarg suchen«, schlug Rayn vor. Matei setzte sich aufrecht und ließ den Blick ehrfurchtsvoll über das Mangitholz gleiten. »Oder darin.« Rayn schaute auf und dachte einen Moment nach. Dann stimmte er zu: »Oder darin, ja. Das wäre nicht das Dümmste.« Sie legten den Deckel frei, doch die hölzerne Verriegelung saß bombenfest. Matei fasste unter seinen Mantel, holte einen Beutel heraus und streute ein wenig gelbes Puder über die Verriegelung. »Arthathoiksaylamiir«, murmelte er. Eine kleine Stichflamme schoss empor. Das Schloss knackte. Sie hoben den schweren Deckel an. Zu ihrer Überraschung war kein einziger Knochen und auch kein Schädel darunter zu sehen. In einer Ecke des Sarges stand ein länglicher goldener Kasten. Als einzige Verzierung prangte eine kreuzförmige Rune darauf. »Das ist Randoëls Rune«, sagte Matei, »jedenfalls die Version in alter Schrift.« Der Kasten war unverschlossen. Mateis Hand begann zu zittern, als er ihn öffnete. Ein seltsam muffiger Gestank ließ ihn kurz zurückschrecken. In dem Kasten lag, neben fast gänzlich vermoderter Kleidung, die früher einmal rot gewesen sein musste, noch ein kleineres Kästchen, das wie neu aussah. Wenn es um eine Schriftrolle ging, konnte sie sich nur in diesem Kästchen befinden. Und so war es auch. 255
Matei holte eine unbeschädigte, vergilbte Rolle heraus. Das Papier war mit gestochen scharfen Schriftzeichen bedeckt. »Alt-Spantisch«, murmelte Matei, wobei er mit dem Zeigefinger den Zeilen folgte. »Damit müsste ich zurechtkommen.« Er schaute auf und betrachtete die Wolken, die sich von der Bergkette lösten und in ihre Richtung trieben. »Aber nicht hier. Lasst uns gehen.«
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30 Auf der Insel Romander »Ich hätte nie damit gerechnet, dass mein eigener Bruder hinter diesem Verrat stecken könnte. Nachdem die Wirklichkeit diese meine Naivität eingeholt hatte, habe ich zunächst eine geschlagene Stunde nur entgeistert vor mich hingestarrt. Danach habe ich geheult, eine ganze Nacht lang, denn es war mein Herz, das weinte.« Daygan aus Xomney in ›Vertrauen ist ein Wort‹ »Wer unbeirrt der falschen Spur folgt, wird irgendwann die richtige kreuzen.« Sprichwort auf Gyt »Aus dem Weg, Dummkopf!« Ein eiliger Schauermann, der vier schwere Obstkisten auf dem Rücken trug, die mittels Lederbändern festgezurrt waren, prallte mit Harkyn zusammen, wobei er dem Hochmeister absichtlich den Ellenbogen in die Seite rammte. Harkyn überlegte, ob er den Mann mit einem Minimalen Verändern Der Lokalisierung ein paar Meter weiter befördern sollte, beschloss dann aber, den Zwischenfall als zu nebensächlich abzutun. Er folgte seinem HochmeisterKollegen Wyl in sicherem Abstand durch die schmalen, verwinkelten Straßen des Jurgenviertels in Romander-Stadt. Das war in diesen überfüllten Straßen keine einfache Aufgabe. Es war belebter als gewöhnlich, denn am nächsten Tag sollte die Parade der Siebenhundert Schritte abgehalten werden. Wyl bog in die Jurgenstraße ab und schlängelte sich durch die Menge. 257
Harkyn war dem Zauberer schon seit mehreren Tagen auf den Fersen. Wyl stand auf Harkyns Verdachtsliste, wer von den Hochmeistern denn nun der Verräter sei, ziemlich weit oben. Harkyn hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Verräter sowohl des Reiches als auch des Hochmeister-Amtes zu überführen. Er war Wyl von dem Moment an gefolgt, als dieser seinen Fuß in Südwelle auf der Insel Romander an Land gesetzt hatte. Wyl hatte in der kleinen Hafenstadt mit Vizestatthalter Edorio Skarnet gesprochen, einem geschniegelten Snob, den Harkyn auf den Tod nicht ausstehen konnte. Aus einer gegenüberliegenden Herberge hatte Harkyn unter dem Deckmantel eines Kaufmanns die Eingangstür zu Skarnets Residenz beobachtet. Am frühen Abend hatte Wyl sich mit einer Kutsche – von vier Wächtern flankiert, die Skarnet zur Verfügung gestellt hatte – nach Feld und Romander-Stadt auf den Weg gemacht. Doch Harkyn hatte eine derartige Möglichkeit einkalkuliert und sich über die Herberge ein Pferd besorgt, mit dem er Wyl und seiner Eskorte in gehörigem Abstand folgen konnte. Dafür gab es gleich mehrere gute Gründe. Wenn Wyl zum Beispiel von der Sich Ausbreitenden Deutung Der Magie Gebrauch machen sollte, einer erfolgversprechenden Methode zum Aufspüren magischer Kräfte, würde er Harkyn, sobald dieser sich der Kutsche zu sehr näherte, sofort als den jungen Hochmeister enttarnen. Gegen Mitternacht ließ Wyl an einer Herberge ungefähr auf halbem Wege zwischen Ost- und Westküste halten. Als Wyls Kopf an einem Fenster in der zweiten Etage zu sehen war, schlüpfte Harkyn in die Gaststube und mietete ein Zimmer im zweiten Stock. Unter dem Vorwand, sein Pferd in den Stall bringen und noch einiges an Gepäck holen zu müssen, verschwand er wieder nach draußen. Er streute transparentes Pulver auf das Trittbrett der Kutsche und rezitierte die Spur Örtlich Singender Bewegung, einen alten Dersdener Zauberspruch. Kleine Zauberei, doch in diesem Fall sehr wirkungsvoll, denn niemand bemerkte es. Er begab sich auf sein Zimmer und streute eine kleine Prise desselben Pulvers vor seine Tür und neben das Bett. Um ganz sicherzugehen, 258
verriegelte er die Tür mit dem Rahmen Einseitiger Abschottung und legte sich dann zufrieden schlafen. Früh am Morgen erwachte Harkyn von einem summenden Ton: Wyl war wieder in seine Kutsche gestiegen. Schnell zog Harkyn sich an, bezahlte beim Wirt und schwang sich auf sein Pferd. Es dauerte nicht lange, da sah er in der Ferne die Kutsche fahren. Am Abend erreichten sie über den Taengelpass und eine schmale, gewundene Straße Barkyt Taengel, eine Kleinstadt zwischen Südwelle und Feld. Das Städtchen lag hoch in den Schurbergen, die wie alte Schatten rund um die Häuser kauerten. Ein undefinierbarer Geruch hing über dem Ort. Harkyn gelang es nicht, die Ursache zu ergründen. Die Herberge war ausgebucht; wahrscheinlich hatte Wyl vorab ein Zimmer reservieren lassen. Harkyn beschloss, im Freien zu übernachten. Er umgab sich und sein Pferd mit einer Kuppel Unsichtbarer Tarnung und blieb im Sattel sitzen. Mittels des Zauberspruchs vor der Entdeckung durch einen zufälligen Passanten geschützt, döste er bis zum frühen Morgen. Manchmal schlief er ein wenig, doch jedes kleine Geräusch ließ ihn auffahren. Das Trappeln von Pferdehufen und das Gerassel von Kutschrädern weckten ihn. Eiligst versteckte er sich zwischen zwei Häusern. Wyl fuhr in einem Abstand von weniger als zehn Metern an ihm vorbei. Als der Hochmeister ihn bereits passiert hatte, schaute der sich plötzlich stirnrunzelnd um, doch Harkyn konnte sich gerade noch rechtzeitig in den Schatten eines Hauses zurückziehen. Wyl hatte ihn zwar nicht entdeckt, wahrscheinlich aber dennoch gespürt, dass er an einem unsichtbaren Magier vorbeigefahren war. Harkyn ging jetzt noch vorsichtiger zu Werke und hielt noch größeren Abstand. Wyl sorgte für ein ordentliches Tempo; sie erreichten Feld noch bei Tageslicht. Die Kutsche fuhr zu einem dreistöckigen Haus mit imposanter Freitreppe, hohen Fenstern mit Bleiverglasung und einem überaus reich verzierten Giebel. Hier wohnte eine bedeutende Person, so viel war sicher. Harkyn wusste nicht, wer das sein könnte, obwohl er Feld und seine Einwohner von seiner Studienzeit einigermaßen gut kannte. Aus der Ferne sah er, wie Wyl ausstieg und im Haus verschwand. Die Kut259
sche fuhr wieder ab, zusammen mit der Eskorte. Harkyn schaute sich in der Straße um. Ein Stück weiter hinten gab es eine Herberge. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Rasch schwang Harkyn sich vom Pferd und führte das Tier zu dem großen Haus. Dort streute er sein Pulver auf die Freitreppe, murmelte den Zauberspruch von der Spur Örtlich Singender Bewegung und begab sich zur Herberge. Falls heute Abend noch jemand das Haus verlassen sollte, wäre das Pech – dann würde er nachschauen müssen, ob es sich um Wyl handelte. Doch er vermutete, dass Wyl dort übernachten wollte. Die ziemlich heruntergekommene Herberge Zur Gestohlenen Sturmbarke war bis auf zwei Gäste leer. Die Wirtin, Ramyna, eine redeselige Frau Mitte fünfzig, erwies sich als ideale Informationsquelle. Als sie merkte, dass Harkyn auf ihre Schwatzhaftigkeit reagierte, zog sie einen Stuhl heran, sobald sie ihm das Abendessen vorgesetzt hatte. Wie nebenbei brachte Harkyn das Gespräch auf das Haus, in dem Wyl verschwunden war. »Ach das«, sagte die Wirtin. »Das ist das Winterquartier vom Ratsherr Tardel. Vor zwei Jahren hat er's gekauft.« »Was? Ein Ratsherr des Desran?«, fragte Harkyn, obwohl er Tardel sehr gut kannte. Er durfte bei der Wirtin jedoch keinen Argwohn wecken. Ramyna nickte eifrig. »Und ganz bestimmt nicht der geringste, mein Herr. Es wird gemunkelt, nach dem Herrn Danker soll er der wichtigste Berater vom Desran sein. Obwohl ich überzeugt bin, dass die Edelfrau Hylmedera viel mehr Einfluss auf Seine Erhabenheit hat.« Während er das Gespräch in der Hoffnung in Gang hielt, noch mehr in Erfahrung zu bringen, arbeiteten seine grauen Zellen fieberhaft. Bislang konnte er Wyl keiner Untat bezichtigen. Gespräche mit einem Vizestatthalter Skarnet oder einem Ratsherrn des Desran würden niemandes Argwohn wecken. Harkyn hätte viel dafür gegeben, hinter den Inhalt ihrer Gespräche zu kommen. So konnte er nur die beiden Namen in sein Gedächtnis schreiben. Doch über Tun und Lassen dieser Leute würde er sich erkundigen. 260
»Noch ein Glas Wein, bitte«, sagte er lächelnd. »Mein letztes, denn morgen muss ich mich wieder früh auf den Weg machen. Man erwartet mich in Romander-Stadt. Am besten bezahle ich jetzt schon meine Rechnung.« Als Wyl am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang abgeholt wurde, war Harkyn bereits für die Verfolgung fertig. Die Reise ging schnurstracks nach Romander-Stadt, wo Wyl sich am Rande des Jurgenviertels absetzen ließ. Harkyn band sein Pferd an einer Tränke fest und sputete sich, um seinem Hochmeister-Kollegen folgen zu können.
Wyl bog in eine kleine Gasse ab. Harkyn blieb stehen, denn die Gasse lag vollkommen verlassen da. Wenn er Wyl hier folgte, wäre er überhaupt nicht zu übersehen. Der Hochmeister brauchte sich nur umzudrehen, um zu entdecken, dass er verfolgt wurde. Harkyn überlegte, was er tun sollte, während sein Blick ziellos durch die belebte Straße vor ihm irrte. Ein Mann, der auf der anderen Straßenseite vorbeischlenderte, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein riesiger Mensch mit dunkelrotem Mantel und einem Kapult, der das Gesicht verdeckte. Harkyn glaubte um den Mann herum einen Hauch von Glut flackern zu sehen – ein Feld Unfokaler Trübung oder ein Entrückendes Verschwimmen Der Umrisse. Es handelte sich demnach um einen Magier oder, um genauer zu sein, um einen fortgeschrittenen Halbmeister beziehungsweise einen Hochmeister. Als der Kapult für einen Moment nach hinten glitt, versteifte sich Harkyn. Ungläubig wich er zurück und schlüpfte in den Schatten eines Portals an der Abzweigung der kleinen Gasse von der Jurgenstraße. Schnell zog er sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf. Dann spähte er vorsichtig um die Ecke und sah gerade noch, wie Wyl am Ende der Gasse abbog. Eigentlich müsste die Wahl leicht fallen, dachte er bei sich. Wyl war schließlich derjenige, den er des Verrats verdächtigte, während der andere jedes Recht besaß, sich hier aufzuhalten. Doch irgendetwas in sei261
nem Innern zwang ihn, sich anders zu entscheiden. Seufzend drehte er sich um und folgte dem Mann. Dabei verfluchte er sich selbst. Durch Wyl war er hier gelandet; warum ließ er ihn entkommen? Doch auf einer anderen Ebene seines Verstandes hatte er die Gewissheit, sich richtig entschieden zu haben. Ein unglaublicher Gedanke stieg in ihm auf, der ihn mit halb geöffnetem Mund auf den Mann vor sich starren ließ. »Sollte es möglich sein …?«, murmelte er.
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31 Der Tag von Welden Taylerch (2) »Sie kletterten einen nicht enden wollenden, hell leuchtenden Hang hinauf, der mit Gras und Sommerblumen in allen erdenklichen Farbtönen bewachsen war. Schade hatte Mühe, dem flotten Tempo der Herrin der Weisheit und Eingebung zu folgen. Sie verspürte das unbezwingbare Verlangen, eine Frage zu stellen, sodass die Edelfrau dann vielleicht stehen blieb, nur fiel ihr nichts ein, was sie hätte fragen können. ›Schade.‹ Die Edelfrau blieb stehen und drehte sich um. ›Ja, Edelfrau?‹, keuchte Schade, als sie sich dankbar ins Gras fallen ließ. ›Was ist auf der anderen Seite des Hügels?‹ Das wusste Schade, denn die Edelfrau hatte es ihr ein ums andere Mal eingetrichtert, und so konnte sie die Antwort fehlerlos herunterrasseln. ›An der Rückseite des Tages liegt die Nacht. An der Rückseite der Wirklichkeit liegt eine andere Wirklichkeit. An der Rückseite des Hügels liegt der Hang, der in ein unbekanntes Tal führt. Da es Rückseiten gibt, reisen wir weiter.‹ Die Edelfrau lächelte und starrte mit halb geschlossenen Augen an Schade vorbei. Nach einiger Zeit flüsterte sie: ›Eine gute Antwort, Schade. Außer wenn es auf der anderen Seite des Hügels kein Tal gibt.‹« Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Es war ein seltsam heller Wintertag. Die Luft breitete ihre Stille über die Weite des Wassers aus. Nirgends 263
war ein Wölkchen zu sehen. Eine leichte Brise kräuselte ab und zu die Wasseroberfläche. Der Drache fühlte sich eins mit dieser Welt und glitt mit weit gespreizten Flügeln von Luftschicht zu Luftschicht über das unermessliche Fenster des Meeres. Die vereinzelten Seevögel gingen auf Abstand zu dem ungelenken Körper, der sich bis dicht über den Meeresspiegel hinabsinken ließ. Die Stille stand in krassem Gegensatz zum Geisteszustand des Tieres. In Iarmongud'hns Innerem brodelte es von sich überschlagenden Gedanken. Die Unruhe suchte ein Ventil, und unwillkürlich nahm der schuppige Leib Kurs in südöstlicher Richtung, wo er die alten Türme wusste. Nein, der Drache befand sich nicht auf dem Weg zu den Türmen, zu jenem Ort, an dem die Neuntausend all die Jahre für die Rückkehr des Herrn der Tiefe gebetet hatten. Ihn zog es weiter als zu den Türmen, zu jenem anderen Ort, an dem tiefe Wunden in die Haut der Welt gerissen waren. Der Instinkt sagte ihm, dass heute der Tag von Welden Taylerch sein müsse. Welden Taylerch, der Ort, an dem die Dimensionen einander treffen, wo das dunkle Wesen aus dem Bauch der Erde sich einmal mehr seiner jahrtausendealten Ketten entledigt hatte. So wie eine Kalktaube unfehlbar ihr Zuhause findet, über die höchsten Berggipfel von Lan-Gyt hinweg und durch die wildesten Winterstürme. Iarmongud'hn hatte sich erst vor kurzem aus dem Wasser befreit. Sein erster Flug war mühevoll verlaufen. Muskeln, die jahrtausendelang nicht bewegt worden waren, hatten sich nur widerwillig ihrer Aufgabe unterwerfen lassen. Irgendwann in seinem Leben war etwas geschehen, das alles verändert hatte. Seine Erinnerungen an diese ferne Vergangenheit wurden von blinder Wut und wilder Panik blockiert. In den letzten Tagen hatte er diese Stelle seines Geistes gemieden, da er sonst die Kontrolle über seinen Willen verloren hätte. Die großen pusteligen Augäpfel hielten ständig Ausschau. Jeden Moment erwartete er am Horizont die Türme auftauchen zu sehen. Doch seine Ungeduld siegte: Er beendete den Schwebeflug und bewegte sich mit gleichmäßigem Flügelschlag nach Südosten. 264
Die Reflektion der Sonne auf dem Wasser verbarg die Bewegungen eines dunklen Körpers, der nicht weit hinter dem Drachen unter der Wasseroberfläche in dieselbe Richtung glitt.
Aernold aus Sey Hirin näherte sich dem Ort, den er am meisten fürchtete. Nicht seinetwegen, denn um sich selbst hatte er schon lange keine Angst mehr, sondern um die Solitäre und im größeren Zusammenhang um das gesamte Reich. Sein Verantwortungsgefühl wuchs mit jedem Schritt. Seltsamerweise breitete sich langsam so etwas wie Ruhe in seinem Geist aus. Eine Ruhe, die auch Beruhigung beinhaltete, da er wusste, dass er jetzt nicht mehr umkehren würde. Die Konfrontation war unvermeidlich. Vor ihm tauchte die zweite Pforte von Welden Taylerch auf. Im Unterschied zum ersten Durchgang war dieser von Menschenhand geschaffen. Die Zeit hatte die Namen der Baumeister gelöscht, doch das außergewöhnliche goldfarbene Mangit, aus dem die beiden schlanken Säulen bestanden, hätte erst gestern aufgestellt worden sein können. Makellos neigten die dünnen Pfeiler sich hoch über ihm einander zu, berührten sich wie die Finger betender Hände. Der Dulce legte eine Pause ein, lehnte sich an die rechte Säule. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, kitzelte seinen Geist. Die Stille wurde noch intensiver, schien aus dem Stein hervorzuquellen. Als wäre es eine Art Auftakt gewesen, rollte unmittelbar darauf der Donner, weit entfernt, außerhalb der Schlucht. Ein lang gezogener Schrei folgte. Aernolds Nackenhaare sträubten sich. »Noch mehr von diesem düsteren Volk«, flüsterte er. »Ich wusste nicht, dass er auch schon erwacht ist. Das wird ein harter Kampf.« Zum ersten Mal kamen Zweifel in ihm auf. Nicht dass diese neue Entwicklung ihn überraschte. Zweifel hatte er auch früher schon gehabt. Sie waren notwendiger Bestandteil einer Geisteshaltung, aus der heraus erst Taten vollbracht werden konnten, die dem Zauberlosen den Weg ebnen würden. Noch einmal ertönte der Schrei, diesmal sehr viel näher. 265
Aernold wandte den Kopf in die Richtung des Schreis, streckte sich und ging weiter.
Danker näherte sich Welden Taylerch aus südlicher Richtung. Auf dieser Seite war die Schlucht bis kurz vor seinem Ziel breiter und leichter zugänglich. Dort wuchsen sogar noch einige Sträucher. Als Danker die erste Pforte erreichte, stieg er vom Pferd und führte es zu einer halbrunden Höhle. Er flüsterte dem Tier etwas ins Ohr, worauf es leise wieherte und mit einem Vorderhuf auf dem Boden scharrte. Danker löste Spaltbock, seine jüngst erworbene Axt, aus dem Querriemen des Sattelgurts und machte sich auf den Weg, ohne noch einmal zurückzuschauen. Hinter der ersten Pforte war diese Strecke unangenehmer als die nördliche Route. Der Weg verengte sich sehr bald, und die Wände der Schlucht liefen aufeinander zu, bis sie kaum noch ausreichend Platz für einen Menschen boten. An einigen Stellen musste Danker sich seitlich durch die Öffnung zwängen. Als die Schlucht wieder etwas breiter wurde, ging es in Richtung der zweiten Pforte steil nach unten. Die nachlässig gehauenen Stufen schienen für Riesen bestimmt zu sein. Danker passierte die Pforte und spürte ein Kribbeln auf der Haut. Erinnerungen wurden in seinem Gedächtnis wachgerüttelt. Um seine Lippen spielte ein Lächeln. Auch er hörte zweimal hintereinander den Schrei, auch wenn es für ihn weiter entfernt klang. Er zeigte keine Reaktion. Erst als die dritte Pforte vor ihm auftauchte, spannten sich seine Gesichtszüge. Um die Augen herum erschienen kleine Falten. »Die Kuppel«, murmelte er. »Es ist so weit, nach all den Jahren.« Ehrfurcht bemächtigte sich seiner. Er blieb stehen und betrachtete die Szenerie vor sich.
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Hjert war vor der dritten Pforte gelandet, ohne dass ein menschliches Wesen dies hätte bemerken können. Er nahm wieder seine irdische Gestalt an, was vom Flackern kaum sichtbarer Flammen begleitet wurde. Als er ein leises Geräusch hörte, drehte er sich um. »Imfarse«, sagte der Dulce freundlich. »Schön, Euch wieder zu sehen. Also sind auch die Ayinti vertreten. So weiß ich doch wenigstens, dass nicht alles in Einsamkeit endet.« Hjert senkte den Kopf, schwieg aber. »Das Warten gilt jetzt der Edelfrau und dem Führer der Nibuüm«, sagte Aernold halb in Gedanken. »Die anderen sind bereits da oder haben sich angekündigt.« »Und danach der Zauberlose?«, lispelte Hjert. Der Dulce spitzte die Lippen und zuckte leicht mit den Achseln. »Hoffentlich, Imfarse, hoffentlich. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, zu welch bleischwerem Instrument mein Geist vor lauter Müdigkeit geworden ist.« Die Pforte war geschlossen. Hohe Gitter, bewehrt mit scharfen Spitzen, versperrten den Zugang zur Kuppel von Welden Taylerch. »Schaut, der Wächter«, sagte der Dulce gelassen, wenngleich er spürte, wie der Stein in seinem Magen schwer und schwerer wurde. Alles deutete auf ein ganz normales Treffen hin, auch wenn es an einem ungewöhnlichen Ort stattfand. Doch der Dulce war sich des drohenden Aufeinanderpralls der Sphären bewusst. Mit einer Schärfe, die alles, was er sah, in ein Licht unterschiedlichster Farben tauchte, betrachtete er seine Umgebung. Auren huschten hastig hinter schützende Sträucher, verkrochen sich unter Blättern. Braunes helles licht waberte unruhig über der Kuppel. Auf der anderen Seite der dritten Pforte erschien etwas Schemenhaftes. »Wir sind alle nur Teilnehmer bei einem großen Spiel«, murmelte der Dulce. Begriffe wogten durch seinen Geist. Sämtliche Gedanken wurden genau unter die Lupe genommen. Seine Erinnerungen wurden in Gang gesetzt. Der Schemen stellte eine Frage, ohne Wörter zu benutzen. Aernold antwortete in der Sprache, die er neuntausend Jahre lang nicht 267
benutzt hatte. Doch es klang ihm in den Ohren, als hätte er sich erst gestern dieser Sprache bedient. Die Pforte glitt auf, und Stille umfing sie. Eine Stille, in der sich ein Sprecher ankündigte. Die Stimme fungierte als Übersetzer der Wünsche eines Wesens, das aus weiter Ferne herüberschaute, sie jedoch gleichzeitig mit seiner Anwesenheit umfasste. »IFARLE, AERNOLD.« Die Stimme rauschte in ihrem Geist. Es war kein Willkommensgruß, sondern eine Feststellung ohne jede Emotion.
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32 Die Äußeren Riffe (2) »Meister werden häufig als gescheiterte Hochmeister betrachtet. Dies führt zur Unterschätzung ihrer Fähigkeiten, was die Betroffenen keineswegs bedauern. Die Meister wirken gern aus jenem bequemen Schatten heraus. Sehr oft haben die Meister sich spezialisiert. Sie beherrschen manche Gebiete der Zauberei, mit denen sogar die Hochmeister ihre Schwierigkeiten haben.« Aus ›Die Schwächen der Macht‹, von Endyr aus Südstadt »Überfahrt nach Meda-Tal, Klein Gemp und Kapweg«, rief ein magerer Mann und wedelte mit einem Stück Papier. »Kommt der Pulverisierung zuvor, liebe Leute! Verlasst auf der Stelle die Äußeren Riffe!« Er wandte sich an Lethe, der zusammen mit Pit durch die Straßen von Serth-Hafen streunte. »Junger Mann«, sagte er mit einem Lächeln, »Ihr wollt doch wohl nicht warten, bis Euch die Erde unter den Füßen wegbröselt? Der Düstere wartet jedenfalls nicht, bis es Euch beliebt, Euch auf die Socken zu machen. Heute Morgen gibt es noch den normalen Wintertarif, in Kürze aber müsst Ihr das Mehrfache bezahlen.« Lethe wich dem Mann aus und zog Pit mit in eine Seitenstraße. »Die Leute auf den Äußeren Riffen wissen inzwischen, was da vor sich geht«, sagte Pit. »Was meinst du, arbeitet der Düstere plötzlich schneller? Sind wir in Serth-Hafen wirklich nicht sicher?« Lethe schlurfte weiter und starrte auf die Pflastersteine vor sich. »Keine Ahnung. Matei geht davon aus, dass der Düstere unberechen269
bar ist und sich nicht an menschliche Verhaltensmuster hält. Ob das ein Vor- oder Nachteil ist, weiß ich nicht.« Pit öffnete bereits den Mund zu einer Antwort, schwieg dann aber. Lethe schaute zur Seite. Mit starren Augen blickte das Mädchen geradeaus. »Was ist?«, fragte Lethe erstaunt. »Nicht umdrehen!«, sagte Pit leise. »Wir werden verfolgt. Geh weiter, als wenn nichts wäre.« Rechts von ihnen tauchte eine Gasse auf. »Hier rein«, sagte Lethe kurz. Sie bogen um die Ecke. Lethe sah gerade noch einen Mann, der sich ihnen mit leichtem Schritt näherte. Die Haltung, die Art zu laufen, die leicht gekrümmten Arme und Hände – sofort beschlich ihn die Vermutung, dass es sich um einen Regulator handelte. »Lauf!«, zischte er. Sie rannten los und erreichten die nächste Seitenstraße, bevor der Mann um die Ecke war. Kreuz und quer liefen sie durch das Labyrinth enger Gassen, bis sie überzeugt waren, den Mann abgehängt zu haben. Keuchend bogen sie um eine weitere Ecke. Sie wussten zwar nicht genau, wo sie waren, doch wenn sie immer den abfallenden Straßen folgten, mussten sie von selbst zum Kai gelangen. Es dauerte auch nicht lange, da hatten sie den Lundykerkai erreicht. Sie hielten nach allen Seiten Ausschau. Es sah so aus, als hätte es sie ein ganzes Stück nach Osten verschlagen. »Lass uns den Kai entlanggehen«, sagte Lethe. »Aber wir müssen uns dicht an den Hausmauern halten, damit wir sofort zwischen den Häusern verschwinden können, wenn es brenzlig wird.« Eine ganze Weile passierte nichts, doch als sie in der Ferne Bergalts Pier sahen, zog Lethe Pit in eine Seitenstraße. »Da vorne steht der Mann«, sagte er. Sie schauten um die Ecke. Am Ende des Kais hielt der Mann Wache, der sie verfolgt hatte. Breitbeinig stand er mitten auf dem Pflaster, direkt an Bergalts Pier. Es war unmöglich, unbemerkt an ihm vorbeizukommen. 270
»Es ist ein Regulator«, sagte Lethe. »Er weiß, dass wir dorthin müssen.« Sie zogen sich zurück und lehnten sich an die Wand einer Herberge. »Wir müssen so schnell wie möglich an Bord kommen und die anderen warnen«, sagte Pit. »Wir müssen aus Serth-Hafen verschwinden. Wer weiß, ob dieser Kerl der Einzige ist. Vielleicht hat er andere benachrichtigt, und bald wimmelt es hier nur so von Regulatoren.« Lethe starrte auf die Herberge. »Hast du Geld dabei?«, fragte er. »Nicht viel«, antwortete Pit. Sie holte ihren Beutel heraus und zählte die Speilstücke. »Drei Kupfermünzen und fünf Zehntel.« Lethe winkte ihr zu. »Sobald der Mann in die andere Richtung schaut, laufen wir zum Eingang der Herberge. Die meisten Gasthöfe dürften hier über ein Ruderboot verfügen.« Pits Miene hellte sich auf. Sie erkannte, was Lethe vorhatte. Kurz darauf standen sie in der Gaststube. Am Tresen lehnte ein mürrisch dreinschauender dunkler Mann mit schmutziger Schürze. »Seid Ihr der Wirt?«, fragte Lethe. Der Mann machte irgendein Zeichen. Wahrscheinlich sollte es als Bestätigung dienen. »Ich vermiete keine Zimmer an so junge Leute«, brummte er. »Wir wollen auch kein Zimmer«, fuhr Lethe so freundlich wie möglich fort. »Mir kam nur der Gedanke, dass Ihr vielleicht ein Boot besitzt.« »Ich habe ein kleines Boot«, sagte der Mann misstrauisch. »Warum fragt Ihr?« »Wir wollen unsere Freunde überraschen. Ihr Schiff liegt an Bergalts Pier, und wir haben vor, heimlich an Bord zu schleichen. Aber dafür brauchen wir ein Boot.« Der Wirt schaute sie immer noch misstrauisch an. »Und dabei habt ihr zwei euch gedacht, ich könnte euch mal eben so übersetzen. Ha, ich habe Besseres zu tun.« Pit trat vor. 271
»Wir wollen Euch für Eure Dienste gerne bezahlen, mein Herr.« Sie legte drei Kupfermünzen auf den Tresen. Der Mann schaute mit halb zugekniffenen Augen auf das Geld. Dann drehte er sich um und murmelte: »Hm, vielleicht hat Tuitel ja Lust, euch zu helfen. Wartet einen Moment.« Der Wirt kam mit einem Jungen zurück, grapschte die drei Kupferstücke vom Tresen und schwenkte eine Münze vor Tuitels Augen hin und her. »Ruder die Leute mal eben zu ihrem Schiff an Bergalts Pier, Tuitel. Wenn du zurück bist, gehört dies Kupferstück dir.« Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand der Wirt grußlos. Der Junge ließ ein trockenes Husten hören, das alles andere als gesund klang. Er schaute Lethe und Pit einfältig an. »Sollen wir?«, fragte Pit freundlich. Tuitel zuckte die Achseln und ging ihnen voraus. Der Junge war schon auf der anderen Seite, als Lethe und Pit noch um die Tür nach dem wartenden Mann Ausschau hielten. Dieser beobachtete Tuitel, der ohne hinter sich zu blicken die Kaistufen hinunterlief. Der Mann verlor das Interesse an ihm und schaute wieder zur anderen Seite. Lethe und Pit rannten über den Kai und folgten Tuitel, der schon damit beschäftigt war, ein knallrotes Ruderboot loszubinden. Lethe hatte sich ein unauffälligeres Gefährt erhofft. Der Junge machte ziemlichen Lärm, als er die Ruderriemen in ihre Auflage bugsierte. Als Pit eine Bemerkung darüber machte, schaute er sie nur uninteressiert an. »Würdest du bitte direkt unterhalb des Kais entlangrudern?«, fragte Lethe. Der Junge nickte. Lethe und Pit setzten sich auf zwei zusammengerollte Segel. Viel zu schnell für Lethes Geschmack verließ das Boot den sicheren Schutz der Kaimauer, um in weitem Bogen um den Pier herumzusteuern. Jetzt war auch der Regulator zu sehen, der weiterhin problemlos beide Seiten des Kais im Auge behalten konnte. Vorerst machte er noch keine Anstalten, auch das Hafenbecken zu beobachten. Kurz bevor sie hinter einer Küstenbarke aus dem Blickfeld des Regulators verschwanden, nahm Tuitel die Ruder aus dem Wasser und begann schrecklich zu husten. 272
Lethe linste zum Mann auf dem Kai hinüber. Dessen Kopf ruckte zur Seite. Sein Blick traf sich mit Lethes. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte der Regulator die Situation erfasst und trat in Aktion. Während er zum Kai rannte, holte er ein Haubenhorn hervor und blies dreimal kurz hinein. »Er hat Unterstützung!«, rief Pit. »Da sind noch mehr Regulatoren in der Stadt.« »Schnell«, flehte Lethe den Jungen an. Als der nicht schnell genug reagierte, stand Lethe auf und stieß ihn von der Ruderbank. Der Junge murrte protestierend, machte dann aber doch Platz. Mit kräftigen Zügen ruderte Lethe direkt auf den Kühnen Furcher zu. »Wigbolt! Feste Hand!«, rief er. Nach einigen Sekunden erschien der Kopf des Steuermanns über der Reling. »Gefahr! Regulatoren! Wir müssen aus dem Hafen raus!« Der Kopf verschwand wieder. Gleich darauf wurde eine Strickleiter heruntergelassen. Lethe und Pit hörten, wie Feste Hand die Besatzung an Deck rief. Llanfereits Gesicht erschien neben der Strickleiter. »Regulatoren!«, rief Lethe noch einmal. »Auf dem Kai.« Er war jetzt dicht an der Strickleiter. Pit hielt die Leiter fest und wartete auf ihren Freund. »Klettere!«, rief Lethe. »Ich komme sofort.« Er drehte sich zu Tuitel um. »Ruder weiter«, sagte er scharf. Er richtete die beiden zusammengerollten Segel halb auf. Vielleicht würde man sie für zwei gebeugt sitzende Menschen halten, und den Regulator damit täuschen. Während Lethe die Leiter hinaufkletterte und der Junge weiterruderte, war Wigbolts Stimme zu vernehmen, die Befehle brüllte. Als Lethe an Deck kam, wurden bereits die Trosse losgeworfen. Lethe rannte zur anderen Schiffsseite, wo sich Gaithnard, Llanfereit und Pit über die Reling beugten und gebannt zum Kai hinüberstarrten. 273
»Da ist er«, zeigte Llanfereit. Pit wies auf den Kai. »Da kommen noch zwei.« Der Regulator rannte den Pier entlang. Er hatte sich von Tuitel nicht ins Bockshorn jagen lassen. Während einige der Besatzungsmitglieder des Kühnen Furcher das Schiff bereits mit langen Stangen vom Kai abstießen, wurde die Laufplanke eingeholt. Der Mann versuchte mit einer letzten Kraftanstrengung, den wachsenden Abstand zwischen dem Kai und der Planke zu überbrücken. Sein Sprung war nicht weit genug, doch es gelang ihm, sich mit einer Hand am Querbalken des unteren Endes der Laufplanke festzuhalten. Mit der anderen Hand suchte er nach etwas unter seinem Wams. »Vorsicht!«, rief Llanfereit. Mit einer blitzschnellen Bewegung schleuderte der Mann einen langen Wurfdolch nach Lethe. Der bückte sich. Die Waffe sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei und polterte aufs Deck. Gaithnard brummte und zog Präter, sein Schwert. Mit zwei kräftigen Hieben durchtrennte er die Taue, mit denen die Laufplanke am Schiff befestigt war. Der Regulator klatschte ins Wasser. Seine beiden Kumpane schauten regungslos zu, wie er zum Pier zurückschwamm. Als der Kühne Furcher den Hafen verließ, rannten die drei Männer den Pier entlang. Lethe klammerte sich an Wigbolt. »Wir müssen zusehen, so schnell wie möglich durch die Schleuse von Lundyker zu kommen. Sie werden versuchen, uns dort erneut anzugreifen.« Wigbolt schaute zum Himmel, der sich allmählich verfinsterte. »Vielleicht haben wir Glück und schaffen die Mittagsschleuse. Der Wind wird bald aufkommen. Nordwind, das ist günstig für uns.« Da Wigbolt stets Recht hatte, wenn es sich ums Wetter drehte, wunderte Lethe sich nicht, als kurz darauf der Nordwind einsetzte. Wigbolt hatte schon alle Segel hissen lassen, und so schoss der Kühne Furcher in voller Fahrt über die Wellen, mit direktem Kurs auf die Schleuse von Lundyker. 274
Als sie näher kamen, sahen sie, dass eine kleine Küstenbarke in die Schleuse fuhr. Als sie nur noch hundert Meter entfernt waren, wurden die Zahnräder wieder in Bewegung gesetzt. Das obere Schleusentor begann langsam zu sinken. »Weiterfahren!«, brüllte Wigbolt. Das Manöver kostete den Kühnen Furcher die Mastspitze und sorgte für beträchtlichen Schaden am Schleusentor, doch auf jeden Fall waren sie jetzt in der Schleuse. Der wütende Schleusenwärter kam aus seinem Büro gestürzt und fuchtelte wild mit den Armen. Was er rief, war nicht zu verstehen. »Wir legen auf der anderen Seite an«, sagte Wigbolt mit einem schiefen Grinsen. »Da hört man den Kerl wenigstens nicht so laut.« Lethe beobachtete die Gegend rund um den See. Am östlichen Ufer tauchten drei kleine Striche auf: Die Regulatoren auf ihren Pferden. »Kapitän«, sagte er und wies auf die näher kommenden Verfolger, »wir werden auf der anderen Seite anlegen müssen. Bevor wir aus der Schleuse raus sind, sind die Regulatoren längst hier.« Wigbolt schaute kurz zu den herangaloppierenden Männern hinüber und kaute auf der Unterlippe. Dann drehte er sich zu seinen Leuten auf der Vorplicht um. »Doppelanker«, rief er. Gleich darauf sausten die beiden Anker rasselnd ins Wasser der Schleuse. Der Schleusenwärter bekam einen zweiten Tobsuchtsanfall. »Natürlich ist es verboten, hier vor Anker zu gehen«, sagte Wigbolt. »Ich hoffe nur, dass der Schleusenwärter uns nicht verhaftet.« Llanfereit trat einen Schritt vor. »Lasst das Beiboot zu Wasser, Kapitän«, sagte er. »Ich werde die Angelegenheit mit dem Mann regeln.« Ein paar Minuten später stand der Meister auf dem Kai und verhandelte mit dem immer noch aufgebracht gestikulierenden Schleusenwärter. Auf der anderen Seite näherten sich die Pferde mit den drei Regulatoren im gestreckten Galopp. Die Speigatte des unteren Schleusentors waren bereits geöffnet, doch der Kühne Furcher würde noch einige Zeit in der Schleuse festsitzen. 275
Llanfereit ruderte zurück. Der Schleusenwärter hatte sich beruhigt. Als er gerade längsseits des Kühnen Furcher kam, änderte der Zauberer plötzlich den Kurs und ruderte zur östlichen Kaimauer, wo er gleichzeitig mit den Regulatoren eintraf. Erschrocken rief Lethe: »Llanfereit, was macht Ihr?« Der Meister winkte beruhigend ab und vertäute das Beiboot an einer Treppe, die hinauf zum Kai führte. Bevor er behände an Land sprang, streichelte er kurz die Riemenauflage und murmelte ein paar Worte. Dann kletterte er nach oben. Die Regulatoren stiegen von den Pferden und beugten sich über die Kaimauer. »Im Namen des Desran«, rief der Mann, der Lethe und Pit vorhin durch die Straßen von Serth-Hafen verfolgt hatte, »wir fordern Euer Boot für die Erledigung eines wichtigen Auftrags.« Llanfereit schaute hoch und lächelte. »Nein«, sagte er gelassen und stampfte weiter die Kaitreppe hinauf. »Das ist mein Boot. Warum sollte ich es Euch überlassen?« Der Regulator kam die Treppe hinunter. Die beiden anderen folgten ihm. Sie stießen Llanfereit zur Seite und kletterten ins Ruderboot. Llanfereit drehte sich um und murmelte etwas zwischen den Zähnen. Einer der Regulatoren versuchte das Tau loszubinden, schaffte es aber nicht. Das Seil, zuvor von Llanfereit locker um einen Pfahl gebunden, schien jetzt bombenfest zu sitzen. Es war ein kurzes Tau, und da das Wasser schnell sank, bekam das Boot Schlagseite. Einer der Regulatoren zog sein Schwert und wollte den Strick kappen. Zu seiner nicht geringen Überraschung prallte es ab. Die Klinge sprühte Funken und verursachte einen unangenehm hohen Ton. Der Mann schaute zuerst entgeistert auf das Tau; dann starrte er Llanfereit an. »Ein Meister!«, rief er. »Das Boot ist verzaubert! Raus hier!« Doch das Boot hing bereits so schief, dass die Regulatoren sich an der Ruderbank festhalten mussten, um nicht herauszufallen. Inzwischen war das Wasser aus der Kammer abgelaufen, und das untere Schleusentor öffnete sich langsam. Wigbolt ließ die Anker lichten. Träge glitt der Kühne Furcher auf das Tor zu. Die Regulatoren fielen ins Wasser und versuchten, das Schiff schwim276
mend zu erreichen, doch sie kamen zu spät. Unter vollen Segeln verließ der Kühne Furcher die Schleuse, diesmal ohne am Schleusentor Schaden anzurichten. Die drei Männer paddelten zur anderen Seite der Schleuse. Llanfereit ging zur Kaimauer und beobachtete zufrieden, ein freundliches Lächeln um die Lippen. Dann bewegte er die Finger, verwandelte sich in einen Adler, als wäre dies eine Kleinigkeit, und flog in Richtung des Kühnen Furcher davon.
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33 Weißmeer »Von Meistern und Hochmeistern weiß man, dass sie sich mit Hilfe von Kalktauben und anderen Vögeln untereinander verständigen. Weniger bekannt ist, dass auch Regulatoren Vögel dressieren, in erster Linie Möwen, und als Spione einsetzen.« Aus ›Die Elemente der Macht‹, von Endyr aus Südstadt Graue Wolken verfolgten den Kühnen Furcher, als die Karavelle den Abstand zu Serth-Hafen vergrößerte. Das Schiff kreuzte zwischen den Kyrth-Inseln und Unter-Serth, auf dem Weg zum Meer von Romander. Schon bald begann es beständig zu regnen. Unter einer sanften Brise fuhren sie nach Osten. Lethe rechnete im Stillen damit, am Horizont die Segel eines Verfolgers auftauchen zu sehen, doch außer einem Fischerflachboot, das ihren Kurs kreuzte, und ein paar kleinen Schonern unterwegs nach Serth-Hafen blieb der Kühne Furcher der einzige Tupfer auf der grünblauen Fläche des Meers von Romander. Ansonsten war da nur noch eine Nebelmöwe, die stur im Kielsog des Schiffs mitsegelte. Nach einer Weile flog der Vogel zum westlichen Horizont zurück, doch schon bald hatte er den Kühnen Furcher wieder eingeholt. Nachdem sie Unter-Serth hinter sich gelassen hatten, trafen sich die Reisegefährten und Wigbolt in der Kapitänskajüte. »Was könnte Matei vorhaben?«, fragte der Kapitän. »Er wollte so schnell wie möglich nach Lan-Gyt«, sagte Llanfereit. »Ich denke, dass er auch von uns erwartet, dorthin zu kommen.« 278
»Hm«, brummte Wigbolt und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Dann wäre es am besten, im Norden an Areges vorbeizusegeln und über die Straße von Al und die Straße von Sommerfreuden zwischen Handera, Al und Weißinsel hindurchzufahren. Dann können wir übers Weißmeer nach Lan-Gyt. Das Weißmeer hat eine längere Dünung als das Meer von Romander. Das bedeutet weniger Gefahr bei einem Sturm, und wir haben sicher noch einige Winterstürme vor uns.« Llanfereit war einverstanden. »In der Zwischenzeit wird Matei bestimmt wieder auftauchen.« »Bestimmt«, meinte auch Wigbolt und erhob sich. »Wir lassen Areges an Steuerbord liegen und laufen Lan-Gyt von Norden her an. Ich werde meine Leute anweisen und mit Feste Hand den genauen Kurs besprechen.« »Wir müssen auch noch über einige Dinge reden«, sagte Llanfereit. »Ich nehme an, Ihr habt nichts dagegen, wenn wir Eure Kajüte noch ein wenig in Beschlag nehmen?« Wigbolt war einverstanden und ging. Schon bald kam das Gespräch der Reisegefährten auf die Willenskonzentration der Hochmeister. »Das Wort ›Verrat‹ machte auf der Sturmburg die Runde«, sagte Llanfereit. »Die Willenskonzentration hat zu nichts geführt. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass es keinen Verräter gibt, im Gegenteil – es spricht eher dafür, dass dieser Verräter sogar in der Lage ist, eine Willenskonzentration zu beeinflussen. Und das wiederum würde auf einen Hochmeister hindeuten, der über magische Fähigkeiten verfügt, wie niemand sie für möglich gehalten hätte.« »Die Frage ist, wer kann das sein?«, sagte Marakis. Plötzlich erhellte sich seine Miene. »Meines Erachtens …«, begann er, verstummte sofort wieder und starrte vor sich hin. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist unmöglich.« Lethe wollte etwas erwidern, als ein schriller Schrei an Deck ertönte. Sie verließen die Kajüte. Plötzlich war ein Vogel über dem Schiff erschienen. Aus dem Augenwinkel sah Lethe auch die Nebelmöwe immer noch im Kielwasser folgen. 279
Seltsam. »Ah, Matei«, rief Llanfereit. Die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich herauszuhören. Der Vogel vollführte einen eleganten Gleitflug und landete an Deck, direkt neben Lethe und Llanfereit. Nach wenigen Sekunden stand Matei neben ihnen. Er berichtete ihnen von den Ereignissen auf Mittel-V'ryn, sagte aber nichts über Rayns Rettung. »Langsam aber sicher nähert sich der Düstere der bewohnten Welt«, brummte Llanfereit. »Ihr seid über die nördliche Route auf dem Weg nach Lan-Gyt?«, fragte Matei schließlich. Wigbolt kam hinzu und antwortete: »Über das Weißmeer, Hochmeister. In sechs Tagen kommt Lan-Gyt in Sicht, wenn alles normal verläuft. Ich nehme an, Ihr wollt immer noch bei Kasbyrion an Land gehen?« »Ja, Wigbolt. Ich weiß, wie gefährlich dort das Lavieren an der Felsenküste ist, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Bietet all Eure Seefahrerkünste auf, um uns so schnell wie möglich an Land zu bringen.« Mateis Blick streifte Lethe. Nachdenklich, aber auch voller Unruhe und ein wenig mitleidig. Lethe bemerkte es, und es stimmte ihn nicht fröhlicher. Unaufhaltsam segelte er seiner Bestimmung entgegen. Es war, als rücke eine ganze Armee von Regulatoren gegen ihn an, und er könne sich nicht bewegen. Wigbolt riss ihn aus seinen trüben Gedanken. »Ein Sturm kommt auf uns zu.« Der Seemann musterte den Himmel mit zugekniffenen Augen. »Sturm aus Nord. Schlimmer geht es in diesen Breiten nicht, doch zum Glück sind die Stürme hier meist nur von kurzer Dauer. Wir segeln jetzt schon in Richtung Nordost, damit wir nicht später an den Klippen von Areges, Al, Weißinsel oder den Kalkfelsen der Insel Romander zerschmettert werden.« Feste Hand rief etwas und zeigte zum Achtersteven des Kühnen Furcher. Am Horizont waren drei rote Segel erschienen. Wigbolt strich sich nachdenklich über den Bart. Lethe sah die Sorgenfalte auf seiner Stirn. »Sologaleeren«, brummte der Kapitän. »Da gibt es nur zwei Möglich280
keiten: Palastschiffe oder Seeräuber. Ich möchte keinem von beiden in die Quere kommen.« »Vielleicht sind die Regulatoren uns wieder auf der Spur«, sagte Lethe. »Woher sollten sie denn wissen, wo wir uns befinden?«, fragte Llanfereit. Lethe wies auf die Nebelmöwe. »Der Vogel hängt schon seit Serth-Hafen hinter dem Kühnen Furcher. Ich habe gesehen, wie er einmal nach Westen zurückgeflogen ist, als wollte er den Verfolgern den richtigen Kurs übermitteln. So ein Verhalten habe ich bei einer Nebelmöwe noch nie erlebt.« Als hätte das Tier ihn gehört, flog es in weitem Bogen nach Westen, direkt auf die drei Verfolgerschiffe zu. Wigbolt brummte: »Wenn die wirklich hinter uns her sind, haben wir ein Problem. Gegen die Geschwindigkeit von Sologaleeren kann mein Furcher nichts ausrichten.« Er schaute zu den Segeln hinauf. »Ich habe noch ein paar Kunststückchen auf Lager, um uns schneller zu machen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns die Burschen vom Hals halten können.« »Wo liegt der nächste Hafen?«, fragte Matei. »Genter oder Meda-Tal auf Areges. Glaubt Ihr, wir könnten ihnen so entkommen?« Matei zuckte die Achseln. »Habt Ihr eine bessere Idee?« Bevor Wigbolt antworten konnte, meldete Pit sich zu Wort. »Vielleicht kann ich Euch ja mit einer besseren Idee dienen.« Sie erläuterte ihren Plan und fragte Wigbolt, ob er durchführbar sei. Der Kapitän schaute verdrießlich drein. Er wollte die Sache erst einmal mit Feste Hand und Kalyk bereden.
Als es Abend wurde, hielten die drei Verfolgerschiffe noch immer Kurs auf den Achtersteven des Kühnen Furcher. Der Abstand war inzwi281
schen auf die Hälfte geschrumpft. Der Wind nahm zu, was für Wigbolts plumperes Schiff von Nachteil war. Die Nebelmöwe schien wie mit unsichtbaren Fäden am Achtersteven des Kühnen Furcher befestigt zu sein. Llanfereit und Matei schlenderten scheinbar ohne besondere Absicht zum Heck des Schiffes und murmelten einige Worte. Kurz bevor es dunkel wurde, stieß das Tier einen schrillen Schrei aus und flog dicht über dem Wasser in nördlicher Richtung davon. »Das Äußerliche Vertauschen Der Windrichtungen führt doch immer zur gewünschten Wirkung«, sagte Matei lächelnd. Langsam, fast unmerklich verlegte der Kühne Furcher seinen Kurs nach Südosten, als wollte Wigbolt schräg vor dem Nordwind unterhalb von Areges ins Meer von Romander segeln. Das musste auch logisch erscheinen; dann nämlich könnte er an der Leeseite der Südküste von Areges Schutz vor dem Sturm suchen. Als es dunkel wurde, waren die Sologaleeren bis auf höchstens einen Kilometer herangekommen. Die schweren Wolken, Vorboten des Unwetters, ließen das Licht des Mondes und der Sterne nicht durch – und genau das war eine der Voraussetzungen, auf denen Pits Plan gründete. Als es völlig dunkel war, begann die Besatzung alle Segel so geräuschlos wie möglich zu streichen. Das Schiff verlor an Fahrt. Jeder verhielt sich mucksmäuschenstill. Die Wanten und Deckplanken knarrten und krächzten bei jedem Wellenschlag. Kurz darauf sahen die an die Dunkelheit gewöhnten Augen der Besatzung und der Reisegefährten zwei schemenhafte Umrisse, die sich an Steuerbord und Backbord vorbeischoben. Die Leute an Bord der Galeeren blickten nicht zur Seite. Wahrscheinlich spähten sie angestrengt nach vorn; wenn man neben sich kein Schiff erwartete, gab es auch keinen Grund, in diese Richtung zu schauen. An Deck des Kühnen Furcher waren die Rufe der Seeleute auf den anderen Schiffen zu vernehmen, und das Knarren des Furcher ging im auffrischenden Wind und den Geräuschen unter, welche die Galeeren verursachten. 282
Wigbolt wartete noch eine Stunde, bevor er die Segel wieder hissen ließ und den Steven wendete. »Schnell«, rief er, »wenn der Sturm losbricht, kommen wir niemals im Norden um Areges herum. Wir kreuzen direkt unter der Küste.« Gegen Mitternacht umrundeten sie Kap Genter. Es schien, als hätte der Sturm nur darauf gewartet. Wütend fielen Windböen über den Kühnen Furcher her. Das Schiff wurde an die Nordküste getrieben, doch es gelang der Besatzung mit viel Manövrierkunst, dem Bereich der gefährlichen Felsklippen zu entgehen. »Wir schaffen es nicht, durch die Straße von Al zu kommen«, brüllte Feste Hand über den Sturm hinweg. »Da bleibt uns nur die Route südlich, durch die Straße von Kap.« Als der Morgen anbrach, war von den Galeeren weit und breit nichts mehr zu sehen. »Die werden ganz schön lange Gesichter machen«, feixte Kalyk.
Es war nicht der schwerste Wintersturm, dennoch bescherte er ihnen einiges an Verspätung. Sie kreuzten nach Nordosten, so viel es eben ging, bis die Nordküste von Areges außer Sicht war. Mittags ließ der Wind bereits nach. Als es Abend wurde, sahen sie an Backbord die Umrisse von Al auftauchen. Später am Abend waren Matei und Lethe in ihrer Kajüte. Zwei Kugelkerzen und eine Standöllampe sorgten für Licht. Der Hochmeister saß mit geschlossenen Augen in seinem Stuhl. Lethe hatte sich vorgenommen, das zweite Märchen zu lesen, doch bevor er dazu kam, sagte Matei: »Warst du in einer deiner Visionen an der fernen Küste, Junge?« Lethe wunderte sich schon gar nicht mehr, woher Matei das wusste. »Ich habe die Küste gesehen. Da waren auch Gräber, und ich habe mit jemandem gesprochen. Mit einem alten Mann, der Dyvoce hieß.« Matei zog die Stirn kraus. In Gedanken versunken blieb er sitzen. Dann griff er nach einer Schriftrolle auf dem Tisch. »Dies war in einem der Gräber verborgen.« 283
Lethe streckte die Hand nach der Rolle aus. »Spar dir die Mühe«, sagte Matei lächelnd. »Es ist in Alt-Spantisch verfasst. Aber ich habe es für dich übersetzt.« Er beugte sich zu Lethe hinüber und reichte ihm drei Blätter. Als Lethe zu Ende gelesen hatte, schaute er nachdenklich auf. »Abgesehen von der Einleitung werden hier fast dieselben Wörter gebraucht wie in den Inschriften und den Grottengängen unter dem Windturm.« Matei erwiderte nichts. In der Kajüte wurde es still. Es dauerte eine ganze Weile, bevor Lethe wieder das Wort ergriff. »Wenn wir die Wörter, die sowohl in der Schriftrolle als auch in den Inschriften und an der Kuppelwand stehen, wegstreichen …« »Genau das habe ich mir auch gedacht«, sagte Matei. »Ich habe schon ein wenig probiert, und das hier ist dabei herausgekommen. Ich habe es so formuliert, dass es verständlich wird, denn die Wortwahl im AltSpantischen würde dich vor lauter Rätsel stellen.« Er griff nach einem weiteren Blatt und gab es Lethe. Der las: Der Mensch ohne die Fähigkeit zu Zauberspruch oder Illusion muss den Weg durch die Haut des alten Landes der Solitäre alleine gehen. In seinem Geist, Resultante des Geschlechts der Nibuüm, ist der Weg engrammiert, der durch die mittlere der Schluchten führt. Er wird dem Wächter von Laiden begegnen, der ihm nahe stehen wird. Vom Wächter wird er Wissen erlangen. Dann erwartet ihn der Pakt der Zehn, obwohl sie für ihn unsichtbar sein werden. Hier wird er zu mehr Klarheit über seine Aufgabe gelangen.
Lethe schaute auf. Seine Augen glühten. Er wusste, dass er seiner Bestimmung nun einen Schritt näher gekommen war und spürte, wie Erregung ihn erfasste. Da war die Rede von dem Menschen ›ohne die Fähigkeit zu Zauberspruch oder Illusion‹. Da wurde über ihn, Lethe, gesprochen. 284
»In seinem Geist, Resultante des Geschlechts der Nibuüm«, murmelte er plötzlich erstaunt und schaute Matei an, doch der schien mit den Gedanken woanders zu sein. Lethe überflog den Text noch einmal. »Was ist der Pakt der Zehn?«, fragte er ohne aufzublicken. Matei blickte unsicher auf und seufzte. »Ich weiß es nicht. Nie davon gehört.« Lethe stellte erstaunt fest, dass das nicht stimmte. Er bemerkte aber auch den plötzlich entschlossenen Blick in Mateis Augen. Vielleicht hatte der Hochmeister einen Grund, dass er log. »Wer hat das geschrieben?«, fragte Lethe. »Ich würde sagen, Randoël persönlich«, antwortete Matei so schnell, als hätte er die Frage erwartet, »aber ich bin mir nicht vollkommen sicher. Allen Texten, die Randoël zugeschrieben werden, haftet etwas Seltsames an. Bisher habe ich noch nicht herausgefunden, was es ist.«
Nachts fuhren sie durch die Straße von Kap zwischen der Nordwestküste der Insel Romander und der Südküste von Al. Diese Straße war eine gefürchtete Durchfahrt, in der die verschiedensten Strömungen aufeinander stießen, und der Sturm verstärkte die Gefahren zusätzlich. Der Kühne Furcher musste ungefähr jede Viertelstunde den Kurs ändern, um mit dem Bug durch die Wellen pflügen zu können. Das kostete viel Zeit. Wigbolts Stimmung sank mit jeder Kursänderung. Seine Befehle wurden immer schärfer und knapper. Als sie das südliche Kap von Al hinter sich gelassen hatten und Weißinsel an Steuerbord passierten, holten sie wieder etwas Zeit auf. Ohne große Probleme segelten sie an den nächsten Tagen über die sanften Wellen des Weißmeers. Gegen Mittag des siebten Tages nach ihrer überstürzten Abreise aus Serth-Hafen erreichten sie die Westküste von Lan-Gyt. Die Galeeren waren nirgends mehr aufgetaucht. Lediglich ein paar vermessenen Fischern waren sie begegnet, die weit vor der Küste von Weißinsel ihre Netze ausgeworfen hatten, um die letzten Steinfische zu erwischen, be285
vor diese sich in großen Schwärmen zwischen Rak und West-Gyt hindurch zum Schwarzwasser aufmachten. Der Kühne Furcher fuhr in einem weiten Bogen um die Krageninseln herum nach Südosten. Am Horizont erschien der graue Umriss von West-Lan-Gyt. Wigbolt zeigte Lethe, wo ihr Ziel sei. »Die Bucht von Kasbyrion«, sagte er und wies auf eine schmale Durchfahrt, hinter der ein kleines Binnenmeer lag. »Die einzige Stelle der ganzen Westküste von Lan-Gyt, an der Ihr an Land gehen könnt.« Zu beiden Seiten erhoben sich steile weiße Felsen aus dem Weißmeer. Tausende Nebelmöwen und Bleichpapageien bevölkerten die Felsen, die ihre Farbe nicht dem Kalk, sondern den Exkrementen der Vögel verdankten. Hinter der Durchfahrt erstreckte sich die Bucht mit ihrer nicht minder unwirtlichen Küste. Fast in gerade Linie mit dem Bug des Kühnen Furcher standen einige Holzhäuser, gleichsam eingeklemmt zwischen zwei hohen Felsblöcken. Mehrere Fischerkaravellen und Flachboote ankerten hinter dem schützenden Arm eines Damms, der den Nordwind vom kleinen Hafen fern hielt. Lethe forschte nach einem Weg, der ins Hinterland führen könnte, doch um jedes der Häuser herum türmten sich die blatternarbigen Felsen. Ein Prickeln im Hals bewirkte, dass er sich unwillkürlich umdrehte. Im letzten Moment sah er an der Zufahrt zur Bucht den Zipfel eines roten Segels hinter einem Felsen verschwinden. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Es war eine der Galeeren. Die Regulatoren saßen ihnen immer noch im Nacken. Wie war das möglich? Woher konnten diese Leute wissen, wohin der Kühne Furcher gesegelt war? Er drehte sich zu Wigbolt um, doch eine Stimme flüsterte ihm zu, dass er besser daran täte, den Mund zu halten. Und Lethe hatte inzwischen gelernt, diesen Stimmen zu vertrauen.
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31 Kasbyrion »Was bewegt Menschen dazu, sich an den unwirtlichsten Flecken niederzulassen? Man kann viele Argumente dafür vorbringen. Ich selbst wohne seit meiner frühesten Jugend in Kasbyrion, einem kahlen, verlassenen und von den Elementen heimgesuchten Ort, der aus ein paar bunt zusammengewürfelten Häusern besteht. Meine Nachbarn sind mürrische, unzugängliche Gesellen. Sie sind genauso rau wie die Gegend, in der sie leben. Manchmal frage ich mich, ob vielleicht der Ort den Menschen sucht.« Aus ›Über Städter, Dorfbewohner und Einsiedler‹, von Wermolt aus Yle Kasbyrion wirkte verlassen. Lethe zählte elf Häuser aus Felsholz; farblose Bauten, die willkürlich an irgendwelche Stellen der flachen sandigen Ausbuchtungen zwischen zwei Felsklötzen hingepflanzt zu sein schienen. Das größte Gebäude, mit einer breiten Veranda entlang der Wasserlinie, war eine Herberge, die Wolfsschlucht von Kasbyrion. Es war das einzige relativ gepflegte Haus im ganzen Hafen, auch wenn es durch besonders triste Farben hervorstach: felsenbraun, dunkelgrau und schwarz. Der Kühne Furcher ging vor Anker. Die Reisegefährten verabschiedeten sich von Wigbolt und ruderten mit Feste Hand und Kalyk zu einer Landungsbrücke aus dunklem Felsholz, die hoch über das Wasser hinausragte. Die Brücke war auf Hochwasser ausgerichtet, das an der Westküste von Lan-Gyt mindestens fünf Meter über dem Stand bei Ebbe lag. 287
Im Dorf war niemand zu sehen, doch als die Gefährten die Landungsbrücke über eine Leiter erreichten, erschien ein Mann in der Türöffnung des am nächsten stehenden Hauses. Kalyk ging zu dem Fremden und sprach ihn an. Der Mann antwortete in denkbar kurzen Sätzen auf die Fragen des Bootsmanns. Kalyk bedankte sich, drückte dem Mann einige Speilstücke in die Hand und kam zurück. Sein Miene verhieß nichts Gutes. »Das war der Hafenmeister«, erklärte er. »Die Wolfsschlucht, der einzige Zugang zum Festland von Lan-Gyt, ist unpassierbar geworden. Es gab ein Erdbeben, erst letzte Woche. An manchen Stellen ist der Weg durch herabgestürzte Felsbrocken versperrt. Und die Herberge ist bis auf den letzten Platz ausgebucht.« Das war ein arger Dämpfer für die Reisegefährten. Matei schüttelte besorgt den Kopf. Er schaute hoch, zur abweisenden Mauer der Klippen. »Um nach Hemgara zu segeln, fehlt uns die Zeit«, sagte er und wies nach oben. »Irgendwie müssen wir versuchen, die Hochebene von Stylanger zu erreichen. Hier ist eine der Gegenden, in denen unsere Magie nicht wirkt.« »Zumindest nicht richtig wirkt«, sagte Llanfereit, »und das ist noch gefährlicher.« Matei betrat den schmalen Pfad, der hinauf zur Herberge führte. »Kasbyrion ist nicht gerade als gastfreundlichster Ort von Lan-Gyt bekannt«, rief er den anderen zu, die ihm zögernd folgten, »aber wir sollten dennoch unser Glück in der Herberge versuchen. Vielleicht weiß dort jemand, wie man an den Erdrutschen vorbeikommt. Oder jemand kennt einen anderen Weg.« Die kärglich eingerichtete Gaststube war voll besetzt. Als die Gefährten eintraten, änderte sich der Ton des Stimmengewirrs schlagartig. In den Gesprächen entstanden Pausen, und viele Augenpaare richteten sich auf die Neuankömmlinge. Matei stiefelte zum Wirt, der damit beschäftigt war, große Bierkrüge zu füllen. »Herr Wirt, habt Ihr noch Zimmer für ungefähr sechs Leute?«, fragte er. 288
Der Wirt schüttelte den Kopf und schaute nicht einmal hoch. »Bei uns ist alles voll. Ihr werdet auf Eurem Schiff übernachten müssen«, sagte er mürrisch und drehte den Zapfhahn schwungvoll zu. »Nun, vielleicht könnt Ihr uns ein paar andere Auskünfte geben«, sagte Matei leise. Seine Worte wurden von einem Unmateriellen Schmeichelnden Zwang begleitet. Der Wirt schaute mit einem Ausdruck des Erstaunens im blatternarbigen Gesicht hoch. Seine dunkelbraunen Pupillen zogen sich zusammen, als er Matei anschaute. »Fragt.« »Durch das Erdbeben ist die Wolfsschlucht versperrt, wie ich vom Hafenmeister erfahren habe. Gibt es einen anderen Weg zur Hochebene?« »Vielleicht«, sagte der Wirt. »Das hängt davon ab, ob Ihr …« Matei legte einen Arm auf die Theke und lächelte freundlich. »Speilstücke?« »Das auch, aber vor allem geht es darum, ob Hoorn Lust hat.« Der Wirt warf einen kurzen Blick zu einem älteren Mann hinüber, der in der äußersten Ecke der Gaststube über seinen Krug gebeugt saß. Matei folgte dem Blick des Wirtes. »Ist das Hoorn?« »Das ist er. Niemand außer Hoorn wagt sich in die Teufelsklamm. Er ist hier in Kasbyrion geboren und aufgewachsen und kennt jeden Grashalm in der Gegend. Wenn Ihr ihn auf die richtige Art ansprecht, tut er alles für Euch, trotz seiner etwas seltsamen Manieren. Kann er Euch aber nicht leiden, sitzt Ihr hier erst einmal fest.« Der Wirt schnappte sich das Tablett mit den Krügen und kehrte Matei den Rücken zu. Lethe hatte sich dazugestellt und den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen. Er fasste Matei am Arm. »Lasst mich mit dem Mann reden.« Lethe hatte nicht die geringste Ahnung, warum er das gesagt hatte, doch gleichzeitig spürte er, wie eine warme Glut des Selbstvertrauens seinen Körper durchströmte. Ohne auf Mateis Reaktion zu warten, ging er zu dem Mann in der Ecke. 289
»Herr Hoorn?« Die Finger, die den Bierkrug fest umklammerten, versteiften sich. Halblanges Haar hing wie eine schlappe Forma um den breiten Schädel und ließ an der Spitze einen kahlen Fleck frei. Das ausgeprägte Kinn des Mannes war nach vorn gereckt. Graue Brauen bildeten einen halbrunden Bogen über hellblauen Augen in einem knochigen Gesicht. »Ich bin Hoorn«, krächzte seine Stimme. »Was wollt Ihr, junger Mann?« Es klang wie ›Kümmer dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten, Kleiner‹. Der Mann kramte in seiner Tunika und holte eine Pfeife heraus. Lethe überwand seinen Widerwillen und lächelte freundlich. »Wir sind heute im Hafen von Kasbyrion angekommen und müssen versuchen, so schnell wie möglich zu den Schluchten zu gelangen, aber die Wolfsschlucht scheint teilweise nicht mehr passierbar zu sein. Der Wirt erzählte uns, Ihr wüsstet vielleicht eine andere Route durch die Teufelsklamm.« Hoorn schaute an Lethe vorbei zu Matei und den anderen, die aus einigem Abstand herüberblickten. Danach interessierte ihn nur noch das Stopfen seiner Pfeife mit einem säuerlich riechenden Tabak, den er aus einer goldfarbenen Dose zupfte. Fast schien es, als wollte der Mann nicht mehr antworten. Lethe suchte schon nach Worten, doch bevor ihm eine Frage eingefallen war, brummte der Alte ohne aufzublicken: »Ihr habt einen Hochmeister bei Euch, junger Mann. Soll der Euch doch auf der Hochebene absetzen. Dann kann ich hier wenigstens in Ruhe meine Pfeife stopfen und mein Bier trinken. Außerdem bleibe ich dann im Warmen und Trockenen, und irgendeiner Gefahr setze ich mich dann auch nicht aus.« Er suchte seine Zunderdose und legte diese zusammen mit der gestopften Pfeife sorgfältig vor sich auf den Tisch. Dann schob er seinen Stuhl ein kleines Stück zurück und starrte durch das schmale Fenster rechts von ihm. Lethe musterte den mürrischen Alten. Wie sollte er die Abwehr dieses Mannes überwinden? »Die Kraft?« 290
Die Stimme in seinem Kopf kam von Pit. Er drehte sich um. Pit nickte ihm zu, wobei sie leicht die Stirn kräuselte. »Aber wie?«, fragte er, als er sich wieder dem Mann zuwandte. »Dir fällt schon etwas ein. Du bist doch schlau.« Lethe zuckte unschlüssig die Achseln, wühlte in seinem Gedächtnis und endete schließlich bei seiner ersten Vision. »Wartet mal …«, flüsterte er. Hoorn schaute Lethe erstaunt an. »Was meint Ihr, junger Mann?« Doch Lethe hatte sich bereits in seinen Geist zurückgezogen. Er näherte sich Hoorn und fühlte sich winzig, nichtig. Doch inzwischen wusste er, dass gerade in dieser unsichtbaren, nicht greifbaren Gestalt seine Kraft schlummerte. In Unsichtbarkeit gehüllt, schwebte er dem Geist des Mannes entgegen. Ein Gedankenstrom, schroff wie das gesamte Verhalten des Mannes, jagte an ihm vorbei. Benommen und voller Widerwillen tauchte er ein in die Flut von Worten, Bildern, Gefühlen und Gedankenfetzen. Erneut war er kleiner als ein Insekt im Kopf dieses Mannes. Hoorns Gedankenstrom und sein Lebensrhythmus rüttelten an ihm, als käme der Zeitenfluss ins Stocken. Lethe versuchte, sich dem Rhythmus des Mannes anzupassen. Wenn er wollte, könnte er alles überschauen und ergründen, doch er weigerte sich, Hoorns intimere Gedanken auszuspähen. Es war ein Gefühl, als betrachte er alles aus den Augenwinkeln. Nach einiger Zeit gab er es auf; die Gedanken des Mannes waren zu wirr und unzusammenhängend, oder er konnte ihn einfach nicht verstehen. Der höllische Lärm all der Gedankenfetzen und deren mürrischer Unterton zermürbten ihn. Es dauerte lange, bis Lethe im geistigen Zentrum dieses Mannes angekommen war. Hier konnte er das einzige Mittel der Kraft anwenden, das er beherrschte. Vorsichtig begann er, kleine Gedankenreize auszusenden. »Seht doch ein«, flüsterten die Gedanken, »der Junge hat nichts Böses im Sinn.« 291
Erst waren es fünf, dann zehn, danach Dutzende, schließlich hundert. Er teilte die Reize, ohne dass einer der Teile an Kraft einbüßte. Es wurden Hunderte, Tausende; bald kam er mit dem Zählen nicht mehr nach. Die Gedanken stürzten sich auf Hoorn, drangen in seinen Geist ein, schwebten wie eine unsichtbare Decke über dem Kern seiner Halsstarrigkeit, über seinem abweisenden Stolz, sanken in seinem Rhythmus und verkrochen sich in seinem Unterbewusstsein ebenso wie in seinen bewussten Gedanken. Hoorn schien Lethes Anwesenheit nicht zu bemerken. Der Mann zeigte sich noch immer erstaunt über Lethes geflüstertes: »Wartet einen Moment.« Es hatte Lethe viel Kraft gekostet. Erschöpft ließ er Hoorns Geist los.
Noch völlig benommen sank Lethe auf einen Stuhl. Hoorn starrte ihn offenen Mundes an, was ihn nicht unbedingt gescheiter aussehen ließ. Nach einiger Zeit streckte er die Hand nach der Pfeife aus, ergriff sie dann aber doch nicht. »Wisst Ihr was, junger Mann?« Nun klang es schon ein bisschen entgegenkommender, gleichzeitig aber auch erstaunt. »Ich werde Euch helfen. Ich weiß zwar nicht warum, und es wird Euch einen schönen Batzen Speilstücke kosten, aber ich tue es.« Er stand geschwind auf, packte Pfeife und Zunderdose vom Tisch und verstaute beides in der Innentasche seiner Tunika. »Morgen früh bei Sonnenaufgang, hier in der Herberge. Bringt dreihundert Speilstücke mit.« Er schob sich an Lethe und den anderen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und verließ die Herberge. Matei stellte sich vor Lethe. »Wie hast du das denn hinbekommen? Der Kerl wollte doch gar nicht.« Lethe wagte nicht, Matei in die Augen zu schauen. »Einfach so, mit Freundlichkeit.« »Dafür wäre Hoorn nicht zugänglich gewesen«, widersprach Matei, 292
ließ das Thema aber ruhen. Allerdings bemerkte Lethe, wie der Hochmeister ihn immer wieder nachdenklich betrachtete. »Dreihundert Speilstücke«, grummelte Kalyk. »Habt Ihr überhaupt noch so viel?« Llanfereit ging nicht davon aus. »Wir müssen Wigbolt fragen, ob er sie uns leiht.« Mateis Augen glühten. »Das könnt Ihr getrost mir überlassen. Unser bärtiger Freund wird zwar ganz schön knurren, und vielleicht verflucht er uns sogar, aber letzten Endes wird er uns helfen, wie schon während der ganzen Reise.« Die Reisegefährten kehrten mit Kalyk und Feste Hand zum Schiff zurück. Bevor er sich in seine Koje legte, ging Lethe noch einmal an Deck. Im Halbdunkel suchte er die Bucht ab. Ein rotes Segel war nirgends zu sehen. In dieser Nacht träumte Lethe. Er tanzte willenlos mit der Dünung auf und ab. Kalte Fischleiber berührten seine Haut und schossen erschrocken davon. Er schaute auf, doch über ihm war kein Himmel auszumachen. Um ihn herum waren nur Dunkelheit und Dünung. Plötzlich begriff er: Er befand sich unter Wasser! Panik erfasste ihn. Unter Wasser! Er konnte nicht atmen! Und doch konnte er es – auf eine seltsame, langsame Art und Weise. Er versuchte, nach hinten zu schauen, doch sein Kopf schien ihm diese Bewegung zu verweigern. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass er sich in einem fremden Körper befand, einem riesigen Körper. Sein geistiges Auge registrierte Schuppen, so riesig wie ein Großsegel auf dem Kühnen Furcher der Neun Meere. Jetzt nahm er auch die Anwesenheit eines weiteren Wesens wahr, in demselben Körper. Wütende Schreie drangen an sein Ohr, doch er konnte nicht feststellen, ob er selbst der Urheber dieses Gebrülls war, oder ob es von dem anderen Wesen stammte. Er floh. 293
Schweißgebadet wachte er auf. Er starrte in die Dunkelheit und versuchte zu begreifen, was ihm widerfahren war, doch irgendetwas hinderte ihn daran, klar zu denken. Ermüdet von der Anstrengung, alles für sich zu sortieren, fiel er in Schlaf.
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35 Die Teufelsklamm »Mancher Pfad wurde angelegt, damit er nie betreten wird.« – Sprichwort auf Ost-Gyt Lethe erwachte von ständigen Schlägen gegen die Bordwand. Er verließ seine Koje und warf einen Blick durch das Bullauge. Hagelkörner so groß wie Murmeln prasselten auf den Kühnen Furcher herab. Über dem Schiff hingen schwarze und gelbe Wolken. Am Horizont brach die Wolkendecke auf. Die Sonne war noch nicht zu sehen, doch der Himmel färbte sich bereits gelb und orange. Matei saß aufrecht in seiner Koje und las andächtig in einem dicken Folianten. Eine fast heruntergebrannte Wachskerze spendete ihm Licht. Lethe versuchte den Titel des Buches zu entziffern. Die Schluchten von Lan-Gyt – Ursprung, Klima und Reisewege, las er. Autor war ein gewisser Wetterink Haltsson aus Fang. Lethe überlegte sich, dass Matei bereits vor ihrer Abreise aus Loh-Hafen gewusst haben musste, dass sie hier landen würden. Matei schaute hoch und legte den Folianten auf den Stapel Bücher vor sich auf den Tisch. »Guten Morgen, Lethe.« Er sprang aus der Koje und fuhr mit besorgter Stimme fort: »Vor uns liegen wichtige Tage. Sollte es uns gelingen, die Hochebene zu erreichen, wird es nicht mehr lange dauern, bis du ohne Begleitung weiterziehen musst. Du musst ganz alleine in die Schlucht gehen, mehr wissen wir nicht. Auf wen oder was du dort treffen wirst, kann ich dir nicht sagen.« 295
»Mir geht es nicht anders«, antwortete Lethe. »Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommt. Und ich will auch noch gar nicht daran denken. Irgendetwas in meinem Innern hat eine Heidenangst vor dem Moment, da ich alleine weiterziehen muss.« Matei schwieg und versuchte in Lethes Gesicht zu lesen. Die Miene des Zauberers selbst verriet nichts, dennoch hörte Lethe aus seiner Stimme Mitleid heraus, als er sagte: »Irgendwann müssen wir alle einmal ein Stück des Weges alleine zurücklegen. Und keiner von uns schafft das ohne Angst.« Dann packten sie ihre Sachen in den Rucksack und begaben sich an Deck. Die anderen hatten sich dort schon versammelt. Der Hagel hatte sich verzogen; dennoch hing eisige Kälte in der Luft, und jeder stieß kleine dampfende Atemwölkchen aus. Wigbolt, Feste Hand und Kalyk hatten für Proviant und Wasser gesorgt. »Wir warten hier auf Euch«, sagte Wigbolt, als er Lethe einen kräftigen Klaps auf die Schulter gab. Dann drehte er sich zu Matei um und brummte mit gespieltem Zorn: »Was bleibt mir auch anderes übrig, wenn ich meine Speilstücke zurückbekommen will.« Matei grinste und schlug dem Kapitän auf den Rücken. »Verlasst Euch darauf, ich bringe sie zurück.« Kalyk ruderte die Gefährten an Land, und nur wenig später betraten sie die Gaststube der Wolfsschlucht von Kasbyrion. Hoorn erwartete sie in einem hellbraunen Mantel. Um die Taille hatte er ein langes Seil gebunden. Die Füße steckten in hohen geflochtenen Sandalen. »Zu viel Gepäck«, sagte er brummig. »Jeder muss mit der Hälfte auskommen, sonst klappt es nicht.« Sie ließen einen Teil der Essensvorräte und einiges an Kleidung beim Wirt zurück. Hoorn war immer noch nicht zufrieden, akzeptierte schließlich aber Lethes Vorschlag, im Notfall unterwegs nicht dringend Benötigtes auszusortieren. Hoorn könnte die Sachen auf dem Rückweg dann wieder mitnehmen. Der immer noch griesgrämig wirkende Führer monierte noch irgendetwas am angeblich falschen Schuhzeug, zuckte aber schließlich mit den Achseln, als gebe er es auf. 296
Dann machten sie sich auf den Weg. Hoorn setzte eine breite braune Forma auf und ging zum Kieselsteinstrand hinter der Herberge. Er schaute zum Himmel hinauf. Schäfchenwolken zogen darüber hinweg. Lethe lief neben ihm und stellte ab und zu eine Frage. Hoorn gab kurze Antworten oder schwieg ganz. Als sie um eine Klippe herumgingen, verschwand Kasbyrion aus dem Sichtfeld. Vor ihnen erhoben sich unüberwindliche Klippen. Sie schlängelten sich noch an mehreren hervorstehenden Felsen vorbei, als Lethe entdeckte, dass der Strand in ungefähr einem Kilometer Entfernung endete. Er suchte die Felswand ab. Es schien, als folgten ihm die dunkelgrauen Steinriesen mit ihren unter der Oberfläche verborgenen Augen. Er sah nirgends einen Durchgang, doch Hoorn marschierte unbeirrt weiter. Am Strandende nahm er den Rucksack von der Schulter und setzte ihn sich auf den Kopf. »Wir müssen ein Stück durchs Wasser waten.« Er zeigte auf zwei Felsen. »Dort befindet sich der Zugang zur Teufelsklamm.« Sie stiegen hinter ihrem Führer ins Wasser. Die Kälte wirkte wie ein Schock. Dann tasteten sie sich vorsichtig über einen verräterisch unebenen, glitschigen Grund aus Kieseln und Muscheln, direkt neben einer Klippe. »Hier stinkt es«, sagte Gaithnard, der nicht nur seinen Rucksack, sondern auch Präter, sein Schwert, über den Kopf hielt. »Tote Fische«, rief Hoorn. »Die Bucht wirkt wie eine Reuse. Die Strömung hindert die Fische daran, ins offene Meer zurückzuschwimmen, und hier finden sie kaum Kelp oder andere Nahrung.« Das Wasser wurde tiefer. Pit, der kleinsten der Gesellschaft, reichte es bis zu den Schultern. Die Kälte drang ihnen mittlerweile bis auf die Knochen. Als sie sich den Felsen näherten, entdeckte Lethe ein Loch von knapp einem halben Meter Breite und einem Meter Höhe, ein Stück oberhalb der Wasseroberfläche. »Müssen wir da durch?«, fragte er, wobei er vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Hoorn schaute ihn schief an, ohne zu antworten. Langsam stieg der Boden wieder an. Als sie das Loch erreicht hatten, standen sie nur noch 297
bis zum Bauch im Wasser, doch der Durchgang befand sich etwa zwei Meter über ihnen. »Ich gehe als Erster«, sagte Hoorn. »Helft mir.« Lethe übernahm Hoorns Rucksack. Gaithnard und Dotar gaben ihre Rucksäcke an Marakis und Llanfereit. Dann hoben sie Hoorn in den Durchgang. »Und jetzt die Rucksäcke«, befahl dieser. Anschließend wurden alle Reisegefährten nach oben gezogen. Im Innern des Durchgangs war es stockfinster. Der Geruch von Feuchtigkeit und Steinschwamm machte die Luft muffig. Lethe tastete um sich herum und fühlte glibberigen Stein und Moos. »Sollten wir nicht vielleicht ein Licht anzünden?«, fragte er. »Nicht nötig«, antwortete Hoorn direkt neben ihm. »Hier, nehmt das, und bindet es Euch um die Taille.« Lethe fühlte das Seil. Auch die anderen wurden damit abgesichert. »Gleich geht es steil nach oben«, sagte Hoorn. »Die Steine sind glatt, passt also auf. Wenn jemand abrutscht, muss er sofort schreien, damit wir uns dagegen stemmen können.« »Dauert der Anstieg lange?«, fragte Marakis. »Ein oder zwei Stunden werden wir wohl brauchen. Danach erreichen wir eine Ebene. Solange bleibt es dunkel. Stellt Euch darauf ein.« Anfangs hatte jeder außer Hoorn große Mühe mit der Kletterei im Dunkeln, und das auch noch über glattes Gestein. Ständig rutschte einer ab und warnte die anderen mit einem angstvollen Schrei. Mit der Zeit aber ging es besser. Sie gewöhnten sich langsam daran, dass sie buchstäblich nicht die Hand vor Augen sahen. Keuchend arbeiteten sie sich voran. An einigen Stellen warnte sie Hoorn, dass es jetzt schwieriger würde. Und ein paar Mal sagte er ihnen sogar ganz genau, über welche Steine sie am besten klettern könnten. Lethe fühlte sich durch Rax, sein Schwert, in der Bewegungsfreiheit behindert, hätte aber nicht im Traum daran gedacht, die Waffe zurückzulassen. »Ist das hier die Teufelsklamm?«, fragte Pit. Hoorn hatte dafür nur ein spöttisches Lachen übrig. Erst später, als sie auf Marakis' Bitte hin eine Pause einlegten, sagte er: »Das hier ist 298
nur ein namenloser Tunnel, der uns zu einem kleinen Plateau führt, kaum mehr als ein Sims. Das hier ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was auf uns wartet. Von der Teufelsklamm lässt sich nur so viel sagen, dass ihr heilfroh sein könnt, wenn ihr alle es lebend übersteht.« Daraufhin wurde es still. »Wenn es gestürmt hätte, wäre dieser Weg unmöglich gewesen«, fuhr Hoorn schließlich fort. »Dann wäre das Wasser hier Hunderte Meter hoch gespritzt.« Sie begannen mit dem zweiten Teil ihrer Kletterpartie. Manchmal schien es senkrecht nach oben zu gehen. Zum Glück wuchs hier weniger Moos, und auch die Steine waren nicht so glitschig. Plötzlich sah Lethe sich bewegende Silhouetten. »Licht«, murmelte er und schaute hoch. Der Tunnel machte eine Kurve. Da oben war mehr Licht. Kurz darauf standen sie auf dem angekündigten Sims, der an drei Seiten von senkrechten Felswänden umschlossen wurde. Vor ihnen gähnte ein Loch von sechs oder sieben Metern Länge und einem Meter Breite. »Wohin gehen wir?«, fragte Marakis, während er ein wenig ängstlich nach oben schaute, zu einem schmalen Streifen bewölkten Himmels. »Runter«, sagte Hoorn grinsend und befreite einen nach dem anderen vom Seil. Lethe ging zum Rand des Felsvorsprungs, beugte sich nach vorn und schaute in die Tiefe. »Fünfzehn Meter«, sagte Hoorn. »Danach führt eine Grotte zur Teufelsklamm.« Er band das Seil um einen Felsen. »Ich gehe wieder voran. Wenn alle unten sind, klettere ich hoch und hole das Seil.« »Wie wollt Ihr das anstellen?«, fragte Gaithnard. »Springt Ihr dem Seil hinterher?« Hoorn grinste erneut. »Wenn ich oben bin, schneide ich das Seil am Knoten zu drei Vier299
teln durch. Dann komme ich wieder runter, und wir ziehen alle zusammen so lange, bis das Seil reißt.« So geschah es auch. Wieder standen sie im Dunkeln, auch wenn man hier wenigstens die Umrisse der anderen sehen konnte. Hoorn bat um ihre Aufmerksamkeit. »Ich binde euch jetzt wieder am Seil fest. Hier ist es zwar nicht allzu schwierig, aber so können wir uns in der Dunkelheit nicht verlieren. Es gibt nämlich jede Menge Abzweigungen und Seitengänge. Wer sich verirrt, ist zum Tode verurteilt. Außerdem sind da noch diese Löcher, ungefähr in der Mitte der Grotte. Wie tief sie sind, weiß ich nicht, aber ihr könnt sicher sein, dass da keiner lebend rauskommt. Hier zeigen sich übrigens auch Geister, wenn man den Leuten von Kasbyrion Glauben schenken will.« Er lachte trocken. »Mir sind sie noch nie über den Weg gelaufen, aber vielleicht habt ihr ja einen besseren Draht zu ihnen. Auf geht's!« Im Labyrinth der Gänge und Grottenhöhlen verloren sie jedes Zeitgefühl. Dabei war es nicht einmal völlig dunkel; durch Ritzen und Spalten stahl sich hier und da ein Lichtstrahl. »Totes Land«, brummte Gaithnard. Hoorn ließ erneut sein trockenes Lachen hören. »Nicht wirklich, Schwertmann. Wir sind schon an Hunderten von Tieren vorbeigekommen. Hättet Ihr einen besseren Geruchssinn, wär's Euch längst aufgefallen. Die meisten Tiere sind ungefährlich, aber eben waren ein paar Steinfüchse darunter, und die greifen manchmal sogar Menschen an.« Diese Bemerkung aktivierte Lethes Sinnesorgane, und jetzt glaubte er wirklich ab und an ein Rascheln zu hören. In einer der Grottenhöhlen spürte er die Anwesenheit eines großen Tieres, doch es zeigte sich nicht. Lethe fühlte deutlich, dass es kälter wurde. Zugleich wurde der Untergrund immer unebener. »Die Löcher«, warnte Hoorn plötzlich. Er blieb stehen und ließ jeden die Tunika oder den Gürtel des vor 300
ihm Gehenden festhalten. Auf diese Weise bewegten sie sich durch einen Raum, in dem leichter Schwefelgeruch in der Luft hing. Der Gestank machte Lethe schwindlig. Ohne spürbaren Übergang glitt er in eine Vision. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die rechte Hand hatte er unter Hoorns Gürtel geklemmt. Eine völlig unbegründete Angst erfasste ihn. Plötzlich war der beruhigende Druck von Hoorns Gürtel in seiner Hand verschwunden. Er suchte verzweifelt nach einem Halt und wollte schreien, doch mehr als ein heiseres Röcheln brachte er nicht hervor. In weiter Entfernung glaubte er jemanden rufen zu hören: »Lethe!« War das Pit? Starr vor Angst blieb er stehen. Bei jedem weiteren Schritt würde er endlos tief abstürzen. Wieder meldete sich die Stimme, nur konnte er nicht verstehen, was da gerufen wurde. Als es still wurde, spürte er, wie eine unbestimmte Bedrohung auf ihn zukam. Etwas Dunkles näherte sich ihm. Die blaue Glut von Rax warf genügend Licht, um eine dunkle Masse erkennen zu können. Zwei gelbe Augen, nicht viel größer als Stecknadelköpfe, leuchteten auf. Wie zwei kleine unbewegte Kerzenflammen betrachteten sie ihn vom höchsten Teil der Masse aus. Lethe hielt die Luft an. Er musste schleunigst weg hier und seine Gefährten finden. Der Angstschweiß brach ihm aus. Vorsichtig schob er den rechten Fuß zurück und spürte, wie seine Hacke einen Rand berührte. Die gelben Augen kamen näher. Der Geist des Geschöpfs tastete nach seinem. Lethes Angst wuchs. »Lajte?« Die Kraft der Stimme ließ ihn schwanken. Es war nur ein raues Flüstern, doch das eine Wort dröhnte in seinem Körper wie Donner. In seinem Unterbewusstsein tauchte ein Name auf: Iarmongud'hn. Doch etwas an dieser Masse war anders als der Drache in seiner früheren Vision. »Spaerind H'ranz cicilio youmo.« Es war, als antworte dieses Wesen auf Lethes Gedanken. Seine Todesangst vermischte sich mit Staunen. Die Sprache, deren sich das Geschöpf 301
bediente, kannte er nicht, und doch glaubte er zu verstehen, was es sagen wollte: »Der Geist des Drachen, der Mensch geworden ist.« Er verstand es, konnte den Sinn aber nicht erfassen. Eine Stimme flüsterte ihm zu, er wolle es nur nicht begreifen. Die Augen kamen noch näher, und die Masse bewegte sich auf ihn zu. »Lajte? Rii Ayinti?« Lethe schottete seinen Geist auch für die Bedeutung dieser Worte ab. Die Augen schwebten jetzt direkt vor ihm. Rax 'Klinge versprühte blaues blendendes Licht. Tierische Angst packte Lethe. Entsetzt wich er zurück. Und dabei hatte er vergessen, dass er am Rand eines Abgrunds stand. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts in die Tiefe. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus und griff verzweifelt nach dem Rand. Seine Finger scheuerten schmerzhaft an rauem Gestein und fanden endlich Halt. Er spürte, wie sein Blut durch die Adern gepumpt wurde. Das Herz sprang ihm fast aus der Brust. Der damit verbundene Schmerz war unerträglich, und sein Bewusstsein spielte nicht mehr mit. Er fühlte noch, wie seine Finger jede Kraft verloren und den Rand losließen. Sowohl sein Geist als auch sein Körper taumelten in ein tiefes schwarzes Loch. Schreckerfüllt sog Lethe gierig die kalte Luft ein. Die Vision war so realistisch gewesen, dass er immer noch den Krampf in den Fingern spürte und immer noch unter Herzstichen litt. »Ihr tut mir weh junger Mann«, schimpfte Hoorn. Lethe kam wieder zu sich und murmelte eine Entschuldigung. Der Gang fiel plötzlich stark ab. Gleichzeitig wurde es hell. »Vorsicht«, warnte Hoorn. »Wer hier ausrutscht, stürzt in die Tiefe.« Unwillkürlich verkrampften sich Lethes Finger erneut. In seinen Gedanken zerfloss die letzte Vision zu Realität. Es kostete ihn größte Mühe, die Beine zu bewegen. Schritt für Schritt tasteten sie sich nach unten, in Richtung des immer helleren Lichts. »In der Wand sind Löcher«, sagte Hoorn. »Die habe ich bei früheren Touren in den Stein gehauen. Sie geben Halt, benutzt sie also.« 302
Am Ausgang war ein eiserner Haken in die Felswand geschlagen. Die Gefährten lösten auf Hoorns Geheiß das Seil, und dieser befestigte ein Ende am Haken. »Schon wieder runter?«, fragte Dotar verblüfft. Hoorn grinste und nickte. »Nur ein kleines Stück. Danach müssen wir weiter rauf, als euch lieb sein wird.« Lethe schaute an Hoorn vorbei nach draußen. Die Wintersonne, die in wenigen Augenblicken von einer apokalyptischen Wolkenfront verschluckt werden würde, beschien eine höchstens fünf Meter breite Schlucht. An der Westseite war die Felswand ziemlich flach, an der Ostseite stieg sie um das Mehrfache empor. Hoorn bemerkte Lethes Blick. »Wir nehmen die östliche Wand«, sagte er. Fast schien es, als habe der Mann Spaß daran, dass sie nur unter solchen Schwierigkeiten vorankamen. Seine Augen glühten, und um die Mundwinkel spielte ein Lächeln. Lethe schaute sich die Ostwand genauestens an, konnte aber keine Stelle entdecken, die ein Klettern erlaubt hätte. Sie hangelten sich am Seil in die Schlucht hinab, deren Boden mit Felsbrocken und Steinen bedeckt war. Diesmal kam Hoorn als Letzter. Dabei wiederholte er den Vorgang von vorhin mit dem Kappen des Seils. Hier draußen war es erheblich kälter als in den Grotten. Dies wurde noch deutlicher spürbar, als die Wolken sich vor die Sonne schoben. Hoorn holte eine Pelzmütze und einen halblangen Mantel aus dem Rucksack. Pit hatte eine Jacke dabei, die sie mit einem Stück Seil um ihre Tunika band. Marakis, Dotar und Gaithnard hatten nur einen Pelzkragen im Gepäck, der aber immer noch mehr wärmte als ein Schal. Lethe hatte ein ärmelloses Wams, das er über seine Tunika streifte. Nur Matei und Llanfereit hatten keine zusätzliche Kleidung mitgenommen. Hoorn warf einen langen Blick nach oben. Zum ersten Mal bemerkte Lethe so etwas wie Besorgnis in dessen Zügen. »Es gibt Schnee«, sagte Hoorn. »Ich hatte vor, hier eine Rast zu ma303
chen und zu essen, aber wir müssen zusehen, so schnell wie möglich durch die Teufelsklamm zu kommen, sonst sitzen wir hier fest. Das kann Tage dauern. Esst jetzt etwas, solange wir noch in der Schlucht sind. In einer Viertelstunde sind wir bei der Teufelsklamm.« »Wir können uns kein tagelanges Warten erlauben«, sagte Matei. Hoorn zuckte mit den Achseln und ging vor den anderen her durch die Schlucht. Nachdem diese eine ganze Weile fast unnatürlich gerade verlaufen war, fiel sie plötzlich steil ab und wurde so schmal, dass einige der Gefährten sich mit dem Rücken zur Wand durch eine enge Passage quetschen mussten. Es wurde noch dunkler. Als der Weg wieder breiter wurde, erschien Pit neben Lethe. Llanfereit lief vor ihnen, ganz vorne Hoorn. »Vertraust du Hoorn?«, fragte Pit leise. Lethe schaute sie von der Seite an. »Er ist ein bisschen mürrisch, aber deshalb muss man ihm nicht gleich misstrauen.« Pit runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Wenn er uns hier im Stich lässt, sind wir aufgeschmissen. Wir würden jämmerlich verrecken.« »Wir könnten zurück.« »Ohne Seil?« »Wir könnten unsere Kleider verknoten.« Sie schwiegen einen Moment, dann sagte Lethe: »Vielleicht hast du Recht, aber Hoorn hat seine dreihundert Speilstücke noch nicht. Das wird ihn hoffentlich zwingen, uns auf die Hochebene zu bringen.« Pit spitzte die Lippen, schwieg jedoch. Llanfereit schaute sich um und schloss kurz die Augen. War das als Beruhigung gemeint, oder wollte er damit andeuten, dass sie den Mund halten sollten? Gleich darauf blieb Hoorn stehen. Lethe schaute sich nach allen Seiten um. Ein kleines Stück vor ihnen endete die Schlucht; dahinter erhob sich eine mehrere hundert Meter hohe Felswand. An der rechten Seite war die Wand schwarz und voller Risse und Spalten. »Meine Herren, junge Edelfrau«, grinste Hoorn und zeigte auf die Wand, »die Teufelsklamm.« 304
Ungläubig folgten Lethes Blicke dem Zeigefinger des Mannes. Erst jetzt sah er den Einschnitt in den Felsen, der wie ein vertikaler Tunnel Hunderte Meter über ihnen außer Sicht führte. Es sah aus, als habe ein riesiges Schwert einst damit begonnen, die Wand zu spalten, dann aber damit aufgehört. Lethe trat in den Einschnitt und schaute senkrecht nach oben. An beiden Seiten des Spalts entdeckte er Löcher und herausstehende Felsspitzen. »Eine natürliche Treppe«, flüsterte er. »Allerdings nicht gerade bequem.« »Stimmt«, sagte Hoorn, der sich neben ihn gestellt hatte. »Hier und da habe ich der Natur ein wenig nachgeholfen, indem ich Löcher in die Wand gehauen habe. Über tausend Meter Kletterei, und oft muss man von einer Seite zur anderen wechseln. Wenn es zu regnen anfängt, wird man von selbst wieder runtergespült, und wenn es schneit, kommt von oben eine Dauerlawine. Ungefähr in der Mitte ist ein Stück, das aus einem gefrorenen Wasserfall besteht. Ich hoffe, dass wir da zurechtkommen. Aber der Rest ist nicht weniger gefährlich. Dreihundert Speilstücke sind ein Spottpreis für ein derartiges Unternehmen. Eigentlich sollte ich hier und jetzt schon mein Geld verlangen. Eure Freundin vertraut mir nicht. Das ist ihr gutes Recht. Man misstraut mir immer. Damit habe ich zu leben gelernt.« Lethe erschrak über den Redefluss und vor allem über die letzten Bemerkungen. Hoorn hatte ihr Gespräch mitbekommen. Er musste über ungewöhnlich gute Ohren verfügen. »Ihr seid etwas Besonderes, mein Junge«, fuhr Hoorn leise fort. »Ich nehme das hier auf mich, weil Ihr in meinem Geist wart. Ich tue es für Euch.« Lethe erstarrte. Hoorn hatte gewusst, dass er von der Kraft bearbeitet wurde. »Ich hatte einen Sohn.« Hoorn trat ganz dicht an Lethe heran und blickte ihm tief in die Augen. »Er war genauso alt wie Ihr, als …« Einen Moment schaute Hoorn blicklos vor sich hin. Dann fuhr er heiser fort: »Warum erzähle ich Euch das eigentlich?« Er drehte sich brüsk um. 305
»Haltet Euch genau an meine Route«, rief er lauter als nötig. »Meistens gibt es nur einen einzigen richtigen Kletterweg. Der Aufstieg dauert lange und verlangt Eurem Stehvermögen alles ab. Haltet durch, auch wenn Ihr glaubt, Ihr würdet es nicht schaffen. Ich seile Euch wieder an. Das heißt, dass das schwächste Glied in der Kette uns alle aufhält. Sorgt also dafür, dass Ihr nicht das schwächste Glied seid.« Sie begannen mit dem Aufstieg. Die Kälte ließ ihre Finger steif werden, und schon nach kurzer Zeit schmerzten ihnen sämtliche Gliedmaßen. Sie kamen nur langsam voran. Die Müdigkeit wich der Erschöpfung, und so waren die ersten Fehltritte nur folgerichtig. »Wie weit sind wir?«, rief Marakis irgendwann. Es war eine Art Hilferuf. Doch auch die anderen hatten das Gefühl, nicht mehr lange durchhalten zu können. »Die Hälfte haben wir fast geschafft«, rief Hoorn zurück. »Wenn wir den gefrorenen Wasserfall hinter uns haben, kommt ein kleiner Sims, auf dem wir uns einer nach dem anderen ein wenig ausruhen können.« Sie schöpften wieder etwas Mut. Der Wasserfall war bald erreicht. Mit erheblicher Mühe gelang es ihnen, sich daran entlangzuhangeln, nicht zuletzt dank der Löcher, die Hoorn mit einem kleinen Pickel ins Eis schlug. Marakis trat neben eines der Löcher, rutschte aus und prallte mit schrecklicher Wucht aufs Eis. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich wieder aufgerappelt hatte und weiterklettern konnte. Dicht oberhalb des Wasserfalls hatte sich ein natürlicher Sims gebildet, auf dem Platz für gerade mal eine Person war. »Ich habe hier ein paar mehr Löcher in den Fels geschlagen«, rief Hoorn. Ohne sonderliche Anstrengung konnten sie ihre Hände und Füße in die Vertiefungen stecken und hatten so ausreichend Halt. Marakis wurde als Erstem eine Pause gegönnt. Danach durften die anderen jeweils für ein paar Minuten ihre Glieder strecken. Lethe kam als Letzter an die Reihe. Hoorn blieb trotz guten Zuredens der anderen dabei, dass er selbst keine Erholungspause brauche. Lethe hatte sich ge306
rade auf dem Sims niedergelassen, als die ersten Schneeflocken herabrieselten. »Wir müssen weiter«, rief Hoorn erschrocken. »Wenn sich das zu einem Schneesturm entwickelt, haben wir keine Chance. Gebt alles, was Ihr habt!« Sie mobilisierten ihre letzten Kraftreserven. Hoorn riss fast an dem Seil. Die anderen konnten seinem Tempo nur mit größter Mühe folgen. Der Krampf in Lethes Fingern wurde immer unerträglicher, und bald fühlte er seine Füße und Zehen kaum noch. Marakis hatte noch größere Schwierigkeiten. Er rutschte ständig ab. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte er mehrere Male, stieß dann aber einen entschlossen-zornigen Schrei aus und kletterte verbissen weiter. Der Schneefall nahm zu und wurde dichter. »Schneller«, rief Hoorn. Eine erste kalte Windbö fuhr ihnen durch die Kleider, als hätten sie nichts an. Lethe schrak zusammen. Er konnte sich nicht vorstellen, zehn derartige Kälteschocks zu überleben. »Ständig in Bewegung bleiben«, rief Hoorn. Der Schneefall wurde zum Schneesturm. Die Vertiefungen in den Felsen waren nicht mehr zu erkennen. Marakis verlor den Halt, und auch Pit, die direkt über ihm hing, konnte sich nicht mehr rechtzeitig festkrallen. Zum Glück hatte Gaithnard seine Füße gerade in einem Loch verankert, sodass er den doppelten Schlag auffangen konnte. Quälend langsam zogen Pit und Marakis sich wieder hoch und fanden endlich Halt für ihre Hände und Füße. »Wartet …«, stöhnte Marakis heiser. »Ich habe keine Kraft mehr.« »Keine Zeit«, knurrte Hoorn. »Jetzt heißt es weiterklettern oder sterben!« Mit dem Mut der Verzweiflung stiegen und rutschten sie Meter um Meter weiter. Lethe hatte kaum noch Gefühl in Fingern und Zehen, schenkte dem aber keine Beachtung. Der Wind erreichte volle Sturmstärke und heulte Unheil verkündend durch die Risse und Spalten der Teufelsklamm. Schneeflocken wurden zu eiskalten spitzen Messern, die ihnen ins Gesicht und in die Hän307
de stachen. Blind, vor Kälte erstarrt und vom Sturm zermürbt kämpften sie sich weiter voran. Der Wind bildete in der engen Klamm immer häufiger heftige Wirbel, zerrte an den Mänteln und Tuniken der Gefährten. Jetzt stürzten auch die ersten kleinen Schneelawinen auf sie herab und bedeckten sie teilweise. Hoorn sah, wie die Schneemassen durch den Spalt auf sie zurasten und warnte die anderen jedes Mal, worauf sie sich so eng wie möglich an den Fels pressten und warteten, bis das Schlimmste vorüber war. Der eisige Schnee bewirkte, dass ihnen Kälte und Feuchtigkeit bis ins Mark drangen. Die Zeit verlor jede Bedeutung. Für Lethe bestand die Welt nur noch aus Augen, Händen und Füßen, die mehr oder weniger mechanisch ihren Dienst verrichteten, während ihn die letzten Kräfte verließen. »Ich sehe die Spitze«, schrie Hoorn plötzlich. »Nur noch zwanzig oder dreißig Meter!« Lethe biss auf die Zähne, achtete nicht mehr auf die Taubheit in Händen und Füßen und ignorierte die verkrampften Muskeln. Zentimeter um Zentimeter zog er sich mit dem letzten Rest an Mut und Kraft nach oben. Marakis stürzte erneut mit einem verzweifelten Schrei ab. Diesmal gelang es Pit, sich an eine hervorstehende Felsspitze zu klammern. Dem Prinzen fehlte die Kraft, sich irgendwo festzuhalten. Beängstigend langsam und unsicher zog Pit sich selbst und Marakis zu Gaithnard hoch, der sich halb umdrehte und Pit unter dem Arm fasste. »Nur noch ein paar Meter«, brüllte Hoorn über das anwachsende Heulen des Sturmes hinweg. Gaithnard schaute sich um, um zu sehen, wie es um Marakis stand, als er zu seinem Entsetzen entdeckte, dass das Seil direkt unter Pit von der ständigen Reibung an den Felsen fast durchgescheuert war. »Klettert über mich hinweg!«, brüllte er Pit ins Ohr. »Das Seil! Es reißt!« Pit verstand sofort und schwang sich auf Gaithnards Rücken. In diesem Moment riss das Seil. Marakis stieß einen gellenden Schrei aus. Gaithnard ließ sich blitzschnell auf die Knie fallen und griff nach dem Jungen. Er erwischte den Kragen von dessen Tunika und konnte ihn mit Mühe und Not festhalten. 308
»Schnell!«, zischte er. »Zieht mich hoch!« Hoorn kletterte über den Rand, gefolgt von Lethe, Matei und Dotar. Zu viert begannen sie, die anderen nach oben zu ziehen. Dabei mussten sie sich größtenteils auf ihren Tastsinn verlassen, denn der Schneesturm machte sie blind. Dotar griff nach Llanfereits ausgestreckter Hand. Nachdem er den Meister in Sicherheit wusste, beugte er sich weit über den Rand und zog Pit von Gaithnards Rücken. Der Waffenmeister griff mit der freien Hand unter Marakis' Arm und schleuderte ihn mit einer kraftvollen Bewegung über sich hinweg. Dotar und Llanfereit hielten den Prinzen fest und zogen ihn über den Rand. »Da hinten ist eine Grotte«, rief Hoorn. »Folgt mir!« Gaithnard trug Marakis, der vor Kälte völlig erstarrt und verkrampft war. »Danke …«, murmelte der Kronprinz heiser. Hundemüde stolperten sie hinter Hoorn her. Der Sturm trieb ihnen den Schnee in die Augen.
»Sind wir schon auf der Hochebene, Hoorn?«, fragte Llanfereit kurze Zeit später, als sie den Schutz einer kleinen Grotte erreicht hatten und sich erschöpft auf den Boden hatten fallen lassen. Hoorn schüttelte den Kopf. »Wir müssen noch über den Morangelgipfel. Das ist ein unangenehmer Anstieg über einen Wildwechsel, aber nicht halb so schwierig wie die Kletterei in der Teufelsklamm. Nur kann selbst ich in solch einem Schneesturm nicht immer den Weg finden.« Dotar war es gelungen, aus dünnen Axerästen und Blättern ein Feuer zu machen. Dankbar krochen alle so dicht wie möglich an das Feuer heran, um sich zu wärmen. Sie aßen etwas Brot und nippten an ihrem Wasservorrat. »Manchmal dauert so ein Schneesturm zwei Tage«, hatte Hoorn sie gewarnt. »Geht also sparsam mit dem Essen und dem Wasser um.« Es schneite weiter; daher beschlossen sie, in der Grotte zu übernach309
ten. Dotar und Gaithnard sammelten weiteres Holz für das Feuer. Hoorn schlug vor, früh schlafen zu gehen, und alle waren einverstanden. Sie benutzten die Mäntel und Rücksäcke, um sich ein wenig zuzudecken und kuschelten sich um das Feuer herum aneinander. Hoorn und Lethe übernahmen die erste Wache. Lethe versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch Hoorn war offenbar nicht dazu aufgelegt. Seine knappen, ausweichenden Antworten bewirkten, dass Lethe bald die Lust verlor. Die Stille wurde nicht gestört, und die Gefährten schliefen fest.
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36 Morangelgipfel und Stylanger »Komm, wir gehen tanzen im Schnee. Was sollten wir auch anderes tun? Komm, wir gehen tanzen im Schnee, im Nichts zwischen damals und nun. Zweimal rum, ein Schritt nach vorn. Zur anderen Seite und leicht bücken. Stemm die Hände in die Hüfte, und dann leg sie auf den Rücken. Komm, lass uns tanzen im Winter. Wie sollten wir sonst die Zeit vertun? Komm, lass uns tanzen im Winter und im Schoß von Ribbe ruhen. Dreimal rum, ein Schritt nach vorn. Zur anderen Seite und leicht bücken. Stemm die Hände in die Hüfte, und dann leg sie auf den Rücken.« Vier Strophen aus dem ›Lied des Wintertanzes‹ von der Insel Ribbe Am nächsten Morgen begrüßte sie eine stille Welt. Der Nebel löste sich langsam vom Boden und wurde von der hellen Morgenluft geschluckt. Die Schneedecke, einen halben Meter hoch, lag wie weiche Watte über 311
der Landschaft. Unweit der Grotte waren die Spuren von Vögeln, Feldtieren und größerem Wild zu sehen, doch sie bekamen kein einziges Wesen zu Gesicht. Die mit Schnee bedeckte Bergkette, die den Horizont im Osten beherrschte, wirkte gegen das Blau des Winterhimmels wie eine uneinnehmbare Festung. Es war windstill. Irgendwo vor den Bergen kroch eine Rauchfahne träge in die Luft. Lethe suchte die Stelle, an der sie aus der Teufelsklamm herausgestiegen waren, fand aber keinen Hinweis. Er zeigte auf den gezackten höchsten Punkt der Bergkette und fragte Hoorn: »Ist das der Morangelgipfel?« Der Führer nickte. Er suchte den Himmel ab. »Ein ruhiger Tag. Noch vor der Abenddämmerung sind wir auf der Hochebene.« Es klang sehr bestimmt. Der Mann faszinierte Lethe. Manche Menschen trugen Geheimnisse mit sich herum, tief verborgen oder versteckt in ihrer Seele. Hoorn war ein solcher Mann. Fast hätte er Lethe sein Geheimnis anvertraut, hatte im letzten Moment aber beschlossen, es lieber für sich zu behalten. Lethe verfolgte die geübten Bewegungen, mit denen Hoorn seinen Rucksack zuschnürte und wie er einen Arm durch den Tragriemen steckte. »Esst noch etwas«, sagte der Führer zu den Reisegefährten. »Wenn wir den Morangelgipfel hinter uns haben, können wir uns bei Tasker mit neuer Verpflegung versorgen.« Wer oder was Tasker war, erklärte er nicht.
Der Schnee und die Kälte machten den Marsch nicht gerade einfacher. Vor allem Pit hatte bei ihrer geringen Größe Mühe, mit Hoorns Tempo Schritt zu halten. Llanfereit trug sie eine Zeit lang auf dem Rücken. Marakis hatte sich einigermaßen von den Anstrengungen des gestrigen Tages erholt, auch wenn er meinte, seine Muskeln fühlten sich an wie straff gespannte Seile. Gaithnard hatte Streifen von seiner zweiten Tunika gerissen und damit die Sandalen des Prinzen umwickelt. Do312
tar und Matei unterhielten sich. Lethe ging am Ende des Zuges. Er genoss die weiße Pracht. Einzig die schlurfenden Schritte seiner Reisegefährten durchbrachen die Stille um ihn her. Hoorn führte sie zu einem kleinen Tal am Fuß der Morangelkette. An einem aufrecht stehenden Stein machte er Halt und schob mit der Sandale den Schnee weg. »Ich suche den Wildwechsel, der zum Morangelgipfel führt«, sagte er zu Llanfereit, der in die Knie ging und Pit auf der Erde absetzte. Alle suchten sie den Pfad, und schließlich wurde er gefunden. »Hier unten weiß ich so ungefähr, wo wir langgehen müssen«, sagte Hoorn und schaute zum Gipfel hinauf. »Ein Stück weiter oben können wir vermutlich den Tierspuren im Schnee folgen.« Er hatte Recht. Nicht viel später, als der Weg stetig zu steigen begann, stießen sie auf vereinzelte Spuren kleiner Tiere und die Abdrücke eines Bocks oder einer Steinziege. Sie umgingen die schmalen hohen Ausläufer der Bergkette und mussten dabei etliche tiefe Einschnitte von Furchen und Tälern überwinden. Sie überquerten mehrere noch nicht ganz zugefrorene Bäche. Um nicht durchs eiskalte Wasser waten zu müssen, legten sie jedes Mal kleine Bäume darüber, die Hoorn mit seinem Beil fällte. Als sie die Flanke des Morangelgipfels erreicht hatten, gesellte Pit sich wieder zu Lethe. »Wahrscheinlich habe ich mich in Hoorn getäuscht«, sagte sie. Lethe nickte. »Ich auch.« Etwas später schaute Pit ihren Freund prüfend von der Seite an. »Glaubst du nicht auch, dass Hoorn sogar ein guter Reisegefährte wäre? Dass er sich in dieser Gegend so gut auskennt, könnte sehr hilfreich für uns sein.« Lethe runzelte die Stirn und blieb stehen. »Genau das habe ich mir auch gerade überlegt«, sagte er überrascht, »aber ich weiß nicht, ob er Lust dazu hat.« »Das glaube ich kaum. Hoorn ist eigenbrötlerisch.« Ihre Blicke schweiften gleichzeitig zu Hoorn hinüber, der stur vor der Gruppe herstapfte. »Ich werde Matei fragen«, sagte Lethe leise. 313
Die Schneespuren schlängelten sich einen langen steilen Hang hinauf. Je höher sie gelangten, desto tiefer sanken sie im Schnee ein. Als sie oben ankamen, mussten sie sich bis zu den Hüften durch das Weiß kämpfen. Vor ihnen führte der Wildwechsel in ein tiefes Tal. Auf der anderen Seite winkte der Gipfel. Hoorn erklärte, direkt unter dem südlichen Teil des Gipfels verlaufe auf einem schmalen Sims ein kleiner Weg. »Das ist der schnellste Weg, zugleich aber der gefährlichste. Wir können auch die nördliche Route um den Gipfel herum nehmen, da bleiben wir auf dieser Anhöhe und müssen zunächst einen weiten Bogen nach Osten machen. Das dauert ein paar Stunden länger. Außerdem ist es in der Nordwand kälter.« Lethe wechselte einige Blicke mit Matei und Llanfereit. »Warum sollte der gefährliche Weg schlimmer sein als die Teufelsklamm?«, sagte er entschieden. »Wir nehmen den südlichen Weg.« Die anderen murmelten zustimmend. Hoorn grinste. »Wir sind uns einig. Ich habe es mit einer tapferen Truppe zu tun.« Es klang spöttisch. Wieder vermochte Lethe den Mann nicht einzuschätzen. Als sie weiter durch den Schnee stapften, ließ er sich neben Matei zurückfallen und erzählte ihm, was Pit und er in Sachen Hoorn besprochen hatten. Matei lächelte schwach. »Hoorn genügt sich selbst«, antwortete er nur und wandte sich ab. Lethe beließ es dabei. Schon während er die Frage an Matei gerichtet hatte, war es ihm unwahrscheinlich erschienen, dass Hoorn sich ihnen anschließen würde. Er arbeitete sich zu Pit vor. Als sie ihn anschaute, schüttelte er kurz den Kopf. Trotzdem ließ der Mann ihn nicht los. Ohne groß darüber nachzudenken, tastete er mit seinen geistigen Fingern mittels der Kraft nach Hoorns Geist und drang bis zum Kern von dessen Verstand vor. Er sandte keine Einzelgedanken aus, da er vermutete, dass Hoorn über eine Art sechsten Sinn verfügte, der ihm dies sofort melden würde. 314
Er fragte sich, was er mit der Kraft sonst noch anstellen konnte. Ein vages Gefühl sagte ihm, dass Pit ihm über die geistige Schulter zuschaute. Sie schwieg, doch in ihrer passiven Anwesenheit baute sich eine wachsende Erwartungshaltung auf. Eigentlich rechnete Lethe damit, jeden Moment eine Stimme zu hören, entweder von Pit oder irgendeinem anderen, die ihm sagte, was er tun solle, doch schon bald wurde ihm klar, dass er alleine mit der Situation fertig werden musste. Er blieb stehen und schloss die Augen. Sofort begann sich ein Muster abzuzeichnen. Es ähnelte einem Fischernetz. Die Maschen glühten violett auf, wurden dann gelb. Was konnte er unternehmen? Diese Frage sorgte für Leere in seinem Kopf. Und in dieser Leere begann etwas zu wachsen, sich ihm zu nähern. Es war wie ein Felsbrocken in der Nacht, der langsam auf ihn zurollte. Groß, massiv und unausweichlich. Vielleicht sollte er versuchen, Hoorn mit einer Demonstration geballter Kraft zu überzeugen, statt sich ihm mit einer Armee kleiner Gedanken zu nähern. Dies schien ihm keine schlechte Idee zu sein. Aber wie? Er öffnete die Augen. Als er versuchte, sich ein wenig von Hoorns Geist zu lösen, schaute der Führer sich um. Sein Blick traf den von Lethe. Zufall? Lethe wusste es nicht. Hoorn war und blieb einfach nicht zu fassen. Lethe gestand es sich schließlich ein: Er wusste einfach nicht, wie er die Kraft einsetzen sollte. »Hoorn weiß es.« Erschreckt schaute er zur Seite. Pit erwiderte seinen Blick ernst. »Vielleicht«, antwortete Lethe nachdenklich. »Das würde bedeuten, dass er die Kraft besitzt. In dem Fall wird er uns jetzt hören.« Hoorns Rücken bewegte sich weiter im gewohnten Rhythmus. Nichts wies daraufhin, dass er das Gedankengespräch zwischen Pit und Lethe verfolgt hatte. Der Wildwechsel bog scharf nach Südwesten ab und führte zu einem schmalen Sims, der steil bergan stieg, direkt auf den Morangelgipfel zu. Zu beiden Seiten des Simses gähnte ein tiefer Abgrund. Eine Zeit lang quälten sie sich schweigend voran. Nach und nach wurde es eis315
kalt. Auch der Schnee war hier vereist und spiegelglatt. An den schwierigsten Stellen hackte Hoorn Löcher in die Eisflächen, sodass ihre Füße Halt finden konnten. Doch sie kamen nur mühsam vorwärts. Als sie den Gipfel fast erreicht hatten, verschwand die Sonne langsam hinter dem Horizont. »Ein Stück weiter gibt es Grotten«, rief Hoorn. »Wir sind gleich da.« Sie passierten den höchsten Punkt. In der hereinbrechenden Dunkelheit erkannten sie eine blatternarbige Landschaft: Die Hochebene von Stylanger, die sich bis zum Eingang der Schluchten von Lan-Gyt erstreckte. Hier war nirgends ein Baum oder Strauch zu sehen. Hoorn verließ den Wildwechsel und stieg in eine tiefe Furche hinab. Mehre Grotten zu beiden Seiten der Furche wirkten einladend. »Weiter«, rief Hoorn. »Diese Grotten sind schon an die Steinfüchse vergeben. Außerdem gibt es ein Stück weiter Bäume und Äste, um ein Feuer zu machen.« Er wies auf ein tiefes Tal am Ende der Furche. Als sie ein gutes Stück hinabgestiegen waren, war es mit der schlimmsten Kälte vorbei. Hier und da standen riesige Bäume mit grauer Rinde und Asten von der Dicke eines durchschnittlichen Baumstamms. Hoorn nannte diese Bäume ›Stalte‹. »Sie wachsen nur in einigen Tälern im westlichen Teil von Lan-Gyt. Die Bewohner von Lai i Gyt glauben, dass sie aus einer anderen Welt stammen.« So wie Hoorn es gesagt hatte, klang es etwas eigenartig, doch Lethe wusste anfänglich nicht, was ihn daran irritierte. Sie nahmen Zweige mit, die verstreut herumlagen, und fanden eine geeignete Grotte. Schon bald flackerte ein Feuer. Sie aßen etwas und tranken den Rest ihres Wasservorrats. Dann füllten sie ihre Wasserbeutel mit Schnee und legten sie ans Feuer. Die Nachtwachen wurden eingeteilt. Lethe sollte zusammen mit Llanfereit eine Wache übernehmen. Sie machten sich für die Nacht fertig. Kurz darauf wurde es still.
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Als Lethe mit der Wache an der Reihe war, wurde er in der nächtlichen Stille von Hoorn geweckt. Der legte einen Finger auf die Lippen. »Hier streunen Füchse herum«, flüsterte er. »Solange Ihr Euch ruhig verhaltet und das Feuer brennt, werden sie sich fern halten. Aber seid auf der Hut!« Lethe nickte und ging zum Grotteneingang, wo Llanfereit schon am Feuer saß. Der riesige Zauberer begrüßte Lethe mit einem Lächeln und wies dann in die Dunkelheit. Lethe erkannte die Schatten sofort. »Steinfüchse«, flüsterte Llanfereit. »Ich habe vier gezählt. Am liebsten würden sie sofort über uns herfallen, aber vor Feuer haben sie Angst.« Danach schwiegen beide. Als sie die erste Hälfte ihrer Wache hinter sich hatten, kam Hoorn zu ihnen. »Reicht das Holz?«, fragte er. »Völlig«, antwortete Llanfereit. In diesem Moment berührte etwas Lethes Geist. Erschreckt zog er sich zurück und schaute sich um. Einen Augenblick blieb es still; dann rauschte eine Stimme durch seinen Kopf. »Das kann Eure Kraft auch.« Plötzlich sah Lethe die Steinfüchse in grünem Licht dicht über den Erdboden schleichen. Inzwischen waren es sieben. Ein größeres Exemplar wagte sich näher heran als die anderen. Das musste das Leittier des Rudels sein. Die Steinfüchse ähnelten eher Wölfen als Füchsen, bemerkte Lethe. Es waren magere Tiere mit grauen Haarbüscheln, unter denen schaurig braunes Fell zu sehen war. Sie hatten gelbe Augen und eine kräftige Hundeschnauze. Der große Fuchs wagte sich immer näher heran, als würde er langsam die Angst vor dem Feuer verlieren. Plötzlich sah Lethe nichts mehr und starrte in die Flammen. Er wandte sich um und sah gerade noch Hoorns Rücken in der Dunkelheit der Grotte verschwinden. »Sie sind weg«, murmelte Llanfereit erstaunt. »Wer?«, fragte Lethe irritiert. »Die Steinfüchse. Eben waren sie noch da.« Es stimmte. Lethe stellte sofort einen Zusammenhang mit dem her, 317
was er eben erlebt hatte. Erst danach fragte er sich, wessen Stimme das gewesen sein mochte.
Der Tag brach an, ohne dass die Füchse sich noch einmal gezeigt hätten. Schon bald zogen dunkle Wolken mit gelblichen Rändern am Himmel auf. »Schnee«, brummte Hoorn. Er stand vor dem Grotteneingang und schaute sich nach allen Seiten um. »Ich bringe Euch zu den Schluchten, sonst würdet Ihr Euch hoffnungslos verirren.« »Das ist sehr freundlich von Euch«, sagte Matei, »aber so ist es nicht abgesprochen. Wenn wir Euer Angebot akzeptieren, habt Ihr Anspruch auf zusätzliche Silberstücke.« »Auf keinen Fall«, antwortete Hoorn bestimmt. »Es ist meine ureigenste Entscheidung. Ich will, dass dem Jungen nichts zustößt, und dass er rechtzeitig ankommt, um tun zu können, was er tun muss.« Die letzte Bemerkung schockierte Lethe. Was wusste dieser Hoorn alles? Oder war es eine bloße Vermutung? Matei schaute ihn mit einer Mischung aus Staunen und Neugier an, abwartend, so als müsse Lethe reagieren. Doch Lethe war zu konsterniert. Hoorn hob den Rucksack auf und winkte ihnen. Schweigend drangen sie ins Tal vor, mehr oder weniger darauf eingestellt, dass die Füchse noch einmal erschienen, doch das Winterland duldete keine Unruhe. Langsam ging es bergab zur Hochebene von Stylanger. Die Sonne war anfangs noch als blasser Schemen hinter den ersten Wolkenbändern zu sehen, doch bald schon zogen dunklere Wolken heran. »Bleibt nahe beieinander«, rief Hoorn. Dann setzte heftiger Schneefall ein. Binnen kurzer Zeit war die ganze Welt weiß. Jeder sah den, der vor ihm ging, nur als grauen Schemen. Lethe schaute sich um. Innerhalb von zwei Sekunden waren seine Fußstapfen von frischem Schnee bedeckt. Er dachte kurz an den Morgen, als er auf dem Schwind herumgestreunt war und sich Ge318
danken über seine Spuren im feuchten Sand gemacht hatte. Er sah Pits kleine Gestalt, wie sie gegen den Schneesturm ankämpfte, und schaute schnell wieder nach vorn, wo Matei schon fast nicht mehr zu erkennen war. Er beeilte sich, um den Abstand zum Hochmeister zu verkleinern. Hoorn schien genau zu wissen, welchen Weg er einschlagen musste, obwohl Lethe keinen Anhaltspunkt in dem Durcheinander von Schnee und Schneeflocken entdecken konnte. Die Schneedecke wuchs von Minute zu Minute, und das Laufen fiel immer schwerer. »Wir müssen uns unterstellen«, rief Hoorn. »Sonst verlieren wir uns aus den Augen.« Lethe hatte das Gefühl, dass sie einen scharfen Linksbogen einschlugen. Nach einiger Zeit hörte er Hoorn rufen: »Halt!« Sie verharrten und stellten sich im Halbkreis um Hoorn auf. »Hier in der Nähe ist eine Grotte«, sagte Hoorn. »Das Problem ist, dass der Eingang sich an der Seeseite befindet und nur ein schmaler Pfad dorthin führt.« Er entrollte sein Seil und reichte Matei das eine Ende. »Ich gehe diesen Pfad jetzt suchen. Ihr müsst das Seil gut festhalten. Wenn ich abrutsche, stürze ich zweihundert Meter in die Tiefe.« Gaithnard und Dotar fassten mit am Seil an. Hoorn verschwand. Es dauerte einige Zeit, ehe er wieder auftauchte. »Ich bin ein Stück zu weit gelaufen«, verkündete er. »Der Pfad liegt ungefähr dreißig Meter zurück.« »Ein unverzeihlicher Fehler«, meinte Llanfereit. Alle mussten lachen. Sogar Hoorn lächelte. »Kommt«, sagte er dann, »wir stellen uns unter.« Der Pfad war tatsächlich sehr schmal, und obwohl sie den Abgrund und das Meer nicht sehen konnten, machten sie nur ganz vorsichtige Schritte. Die Grotte war ziemlich weitläufig, und hier waren vor ihnen bereits Menschen gewesen: An mehreren Stellen lagen Aschereste von Feuern. In einer Ecke fand sich sogar ein ganzer Stapel von Ästen. Sie entzündeten ihr Feuer am Grotteneingang. Der Schneefall wollte kein Ende nehmen. Erst gegen Abend beruhig319
te das Wetter sich ein wenig. Die Gefährten beschlossen, in der Grotte zu übernachten. Lethe hielt zusammen mit Dotar Wache. Sie unterhielten sich flüsternd über die letzten Tage und legten immer neue Äste nach, damit das Feuer nicht erlosch. Lethe stand auf und ging nach draußen. Ein überwältigender, sternenübersäter Himmel ließ keinen Zweifel daran, dass die Wolken sich verzogen hatten. Er schaute sich in der Gegend um und wollte gerade wieder in die Grotte zurückkehren, als sich vor ihm etwas bewegte. An einer unmöglichen Stelle, über dem Abgrund zehn Meter vor ihm, erschien eine Masse, die in Flammen gehüllt zu sein schien. Ein geflügeltes Wesen, das aus gelbweißer Feuersbrunst bestand. Lethe erkannte ein Gesicht mit Augen, die ihn offenbar beruhigen wollten. Im nächsten Moment war die Gestalt verschwunden. Lethe glaubte ein rhythmisches Geräusch zu hören, als ob das Wesen sich mit gleichmäßigem Flügelschlag entferne. Er drehte sich abrupt um. »Habt Ihr das gesehen?«, stieß er hervor. Dotar schaute auf. »Was?« »Ich dachte, ich hätte da vorne etwas gesehen.« »Da vorne? Aber das ist doch unmöglich!« Lethe starrte nachdenklich in die Dunkelheit. »Ja, eigentlich ist es unmöglich. Dennoch …«
Früh am nächsten Morgen waren sie schon wieder unterwegs. Ihre letzten Essensvorräte waren aufgebraucht. »Wir sind gleich bei Tasker«, sagte Hoorn. Sie gelangten zur Hochebene. Eine dichte Nebelbank nahm ihnen die Sicht aufs Meer, doch auf der Ebene selbst war alles hell. Am Horizont erschien eine niedrigere Bergkette. »Die Berge von Hochlan-Pforte«, sagte Hoorn und zeigte zu einer Rauchfahne hinüber, die kerzengerade in den Himmel stieg. »Am frühen Nachmittag sind wir bei Tasker. Dort werde ich Euch verlassen.« 320
Tasker erwies sich als Besitzer einer kleinen namenlosen Herberge an der Kreuzung zweier Pfade. Das Holzgebäude lag am Rand eines aus zehn Häusern bestehenden Weilers zu Füßen der Berge. Die Gefährten waren die einzigen Gäste und taten sich am süßlich schmeckenden Schwarzbrot gütlich. Auch Taskers selbst gekelterten Wein ließen sie sich munden. Hoorn besprach sich mit Matei und Tasker, der diese Umgebung wie seine Westentasche kannte. Matei bedankte sich herzlich beim Wirt und gesellte sich wieder zu den Reisegefährten. »Ich weiß jetzt, welchen Weg wir nehmen müssen«, sagte er knapp und in einem Tonfall, der kein Nachfragen erlaubte. Danach verabschiedeten sie sich an der Tür von Hoorn, Lethe als Letzter. Hoorn fasste ihn an der Schulter. Seine Nasenspitze berührte fast Lethes Gesicht. Zum ersten Mal entdeckte er einen sanften Zug im Blick des Führers. »Ihr hättet mich einfach nur zu bitten brauchen, mein Junge.« Lethe starrte ihn offenen Mundes an. »Also doch«, sagte er. »Also doch? Meint Ihr die Kraft, über die Ihr Euch mit dem Mädchen unterhalten habt?« Hoorn schaute an Lethe vorbei zu den Reisegefährten und zwinkerte mit den Augen. »Ich kann Eure Gedanken lesen und hören, aber das ist auch schon alles, was ich beherrsche.« Plötzlich schalteten Lethes sämtliche Sinnesorgane auf Vorsicht; gleichzeitig schlich sich Misstrauen in seinen Geist. Sprach Hoorn die Wahrheit? Eine Dissonanz ließ Lethe daran zweifeln. Hoorn hatte für den Bruchteil einer Sekunde gezögert, als er ›das ist auch schon alles, was ich beherrsche‹ gesagt hatte. »Ich wäre niemals mitgegangen«, sagte Hoorn. »Seit meiner Geburt wohne ich in Kasbyrion. In dieser Gegend ist mir jeder Grashalm vertraut, aber weiter als bis zu den Ausläufern der Hochebene kenne ich mich nicht aus. Ich hätte es nicht getan.« Er seufzte leise. 321
»Ich war etliche Male in Eurem Kopf, mein Junge. Ich habe sogar mit Euch gesprochen. Geht hin mit günstigem Wind, junger Mann. Ihr seid kein gewöhnlicher Mensch. Euch umgibt etwas Geheimnisvolles, als wärt Ihr nicht der, der Ihr vorgebt zu sein. Lebt wohl!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Hoorn sich um und machte sich auf den Weg. Die letzten Worte klangen noch lange in Lethe nach: »Als wärt Ihr nicht der, der Ihr vorgebt zu sein.« Er starrte eine ganze Weile auf die Stelle, an der Hoorn verschwunden war. Es war demnach Hoorn gewesen, der ihn unterwegs auf einen anderen Aspekt der Kraft aufmerksam gemacht hatte; er hatte in der Dunkelheit sehen können. Hoorn war entweder jemand anders, als er zu sein vorgab, oder er verfügte über mehr Fähigkeiten. Was immer es sein mochte, der Mann blieb ein Rätsel. »Komm, Lethe«, rief Pit, die auf ihn gewartet hatte, während die anderen bereits losgelaufen waren. Lethe hatte gerade zwei Schritte getan, als er wie vom Donner gerührt stehen blieb. Plötzlich wusste er, was nicht stimmen konnte bei dem, was Hoorn gesagt hatte: »Die Bewohner von Lan-Gyt glauben, dass sie aus einer anderen Welt stammen«, hatte er über die Stalten gesagt. Dabei war Hoorn doch selbst in Kasbyrion geboren und aufgewachsen! Wieso sprach er über die Bewohner von Lan-Gyt, als wären sie Fremde? War Hoorn vielleicht selbst der Fremde? Hatte er wirklich gelogen, oder hatte Lethe es sich nur eingebildet? Verwirrt lief er Pit entgegen. Da fiel ihm ein, dass Rax auf Hoorns Anwesenheit nicht reagiert hatte. Folglich konnte der Mann nicht das Böse repräsentieren. Diese Erkenntnis beruhigte Lethe sehr.
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37 Die Parade »Der Kristallturm zieht in Romander-Stadt die ganze Aufmerksamkeit auf sich, doch wer sich mit Geschichte einigermaßen auskennt, wird mindestens genauso beeindruckt vom jahrtausendealten Sferium sein. Die goldene Kuppel steht am Ende der Straße der Siebenhundert Schritte, gegenüber der Eingangspforte zum Palast Kryst Valdare. Die aus Mangitblöcken erbaute und mit Blattgold überzogene Kuppel bietet Platz für gut hunderttausend Besucher. Hier hält der Desran seine jährliche Rede der Vereinigung, in der er auf das abgelaufene Jahr zurückblickt und seine geplanten Regierungsvorhaben für das kommende Jahr vorträgt. Hier ereignete sich im Jahre 7288 auch das Attentat auf Kaiser Waentord Gyl Mandrak.« Aus ›Die Architektur von Romander‹, von Kenval aus Areges Die Parade der Siebenhundert Schritte begann bei Sonnenaufgang. So wollte es die Tradition. Der Brauch war faktisch neuntausend Jahre zuvor eingeführt worden, und vieles an dieser Tradition existierte nur noch als bleicher Schatten. Der Überlieferung zufolge war der ursprüngliche Anlass für die Parade die Fertigstellung des Sferiums gewesen, doch sichere Beweise dafür fehlten. Das Sferium wurde in den Jahren 3012, 5834 und 8387 grundlegend restauriert. Seit 6190 wurde auch die Fertigstellung des Kristallturms am Tag der Parade gefeiert. Es regnete in Strömen. Die Straßen glänzten. Die Stadt zeigte sich grau in grau von den dicken Regentropfen, die unaufhörlich auf dem 323
Kopfsteinpflaster und den grauen und grünen Dächern der Häuser zerplatzten. Der Kristallturm war in dunkle Wolken gehüllt. Das alles war nicht gerade förderlich für die Festtagsstimmung; dennoch war der Platz unter den berühmten, fünfzig Meter hohen Turmlinden an der Straße der Siebenhundert Schritte buchstäblich schwarz vor Menschen, wie jedes Jahr zur Parade. Lange dunkle Wintermäntel beherrschten das Straßenbild. Durch das Spalier der Menschen hindurch schlängelte sich ein vielfarbiges Band der Teilnehmer an der Parade. Ein bunter Zug von sechzehntausend Menschen, die vom Sonnenaufgang bis zur Mittagsstunde ihre siebenhundert Schritte von der Palastpforte bis in die Kuppel des Sferiums absolvierten. Es handelte sich um gemeine Bürger von sämtlichen Inseln, die in komplizierten Wahlverfahren ermittelt worden waren und bereits vor Einbruch des Winters nach Romander-Stadt gekommen waren: Schüler der Handels- und Schifffahrtsschulen, Kaufleute, Mitglieder sämtlicher Gilden und Zünfte, Seeleute, Wächter, Beamte, Künstler, Musikanten und tausend Trommler aus dem ganzen Reich, die die gesamte Parade mit ihrem eintönigen Rhythmus begleiteten. Den Schluss des Zuges bildeten Magistrate, Regenten, Statthalter, Mitglieder der Hofverwaltung, schließlich Ratsmitglieder und die Angehörigen der kaiserlichen Familie. Kurz vor der Mittagsstunde erschien Desran Xarden Lay Ypergion, dem acht Angehörige der Palastwache vorausgingen, die das halb vermoderte Rad jener Kutsche trugen, mit dem sich die Desrane früher von Kryst Valdare zum Sferium hatten fahren lassen. Edelfrau Isper erschien an der Seite ihres Gatten. Das Stimmengewirr nahm zu, als eine zweite Frau an der Seite des Kaisers nach vorn trat. Das Volk hatte diese Frau noch nie zu Gesicht bekommen. Ypergion vollführte seinen ersten Schritt vorschriftsmäßig mit dem linken Fuß; dann zog er den rechten Fuß langsam auf gleiche Höhe. Nach einer kurzen Pause schob der linke Fuß sich erneut nach vorn. Edelfrau Isper und die Unbekannte folgten Ypergions Beispiel, einen Schritt hinter ihm. So bewältigten die drei die gesamte Strecke zwischen Palast und Sferium. 324
Edelfrau Tulsie, die Frau an der Seite des Desran, fühlte sich äußerst unwohl. Nicht nur, dass sie eine schrecklich enge, steife Robe mit einer Schleppe aus lila Seidenspitze tragen musste, die das rituelle Schreiten erschwerte – sie spürte auch, wie Tausende Augenpaare auf sie gerichtet waren. Am liebsten hätte sie in diesem Moment ganz alleine in ihrer Bibliothek gesessen. Entgeistert hatte sie in den Ankleidespiegel gestarrt, als die Hofdamen ihre Arbeit verrichtet hatten: Tulsies dunkles Haar war zum Teil hochgesteckt und mit einer kleinen Tiara gekrönt worden. Die bleiche Haut war um die Wangen herum mit etwas Rouge und verschiedenen Salben zum Leben erweckt worden, und die subtilen Schminkretuschen um ihre Augen machten aus dem schon von Natur aus sprechenden Blick das Funkeln zweier Diamanten, von denen jeder Mann angezogen werden musste. Einige winzige Korrekturen hatten aus der schlichten, hart arbeitenden Frau eine vornehme Dame von Format und Ausstrahlung gemacht. Sie hatte es nicht gewagt, sich zu weigern, als der Desran ihr vorgeschlagen hatte, ihn und seine Erste Frau zu begleiten. »Was wird Eure Erste Frau dazu sagen?«, hatte sie ihn gefragt, doch Ypergion hatte nur abgewinkt. »Das spielt keine Rolle. Wenn es um die Parade geht, unterwirft Edelfrau Isper sich meinem Willen«, hatte er geantwortet. Tulsie hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob dieses ›Wenn es um die Parade geht‹ gleichzeitig ausdrückte, dass bei anderer Gelegenheit und anderen Entscheidungen Edelfrau Isper das letzte Wort hatte. Der spontane Entschluss des Desran, Tulsie mitmarschieren zu lassen, war nach einer durchwachten Nacht im Kristallturm erfolgt. Ypergion war offensichtlich äußerst angetan von ihr gewesen, doch sie hatte sich in jeder Hinsicht zurückhaltend gezeigt. Der Desran hatte sie über sämtliche Entwicklungen bezüglich des Unmagiers und seines Sohns Marakis informiert. Danach hatten sie gemeinsam an seiner Rede gearbeitet. Erstaunt hatte Tulsie festgestellt, dass der Desran tatsächlich auf sie hörte. Er hatte vorgeschlagen, den Text der neuen Situation anzupassen und sie dann geradeheraus gefragt, was sie an seiner Stelle sagen würde. Sie 325
hatte sich langsam aus ihrer Beklemmung gelöst und danach nur ihr Herz sprechen lassen. Abgesehen von einigen Zwischenbemerkungen hatte er ihr zugehört. Als sie schließlich verstummt war, hatte der Desran bedächtig genickt und gesagt: »Wir werden ja sehen.« In der Bevölkerung galt Ypergion als vorsichtiger Herrscher, der sich streng an die Vorschriften und Formalitäten hielt. Jetzt schaute Tulsie mit niedergeschlagenen Augen zur Seite. Der strengen Miene des Desran war nichts zu entnehmen; er konzentrierte sich völlig auf die Schrittfolge. Der Mann, der sie hoch oben im Kristallturm ins Vertrauen gezogen hatte, war weit entrückt. Tulsie vermutete, er würde einfach die vom Ratsherrn Tardel verfasste Rede vortragen. Erst an der Palastpforte hatten sich die Blicke von ihr und Edelfrau Isper gekreuzt. Tulsie hatte eigentlich nichts in den kleinen kühlen Augen ablesen können. Nicht einmal Reserviertheit hatte sie darin entdeckt. Ypergion hatte ihr verboten, sich vor seiner Ersten Frau zu verneigen. Das hatte sie in Erstaunen versetzt, doch sie wagte es nicht, sich seinem Befehl zu widersetzen. Ypergion hatte ihr überdies untersagt, in Ispers Anwesenheit Marakis' Namen auszusprechen. »Später werdet Ihr den Grund verstehen«, hatte er ihr zugeflüstert. In diesem Moment hatte sie geglaubt, Traurigkeit in seinen Augen zu sehen. Die Menge verfiel in tiefes Schweigen. Die Stille begleitete sie bis zum Sferium, das allmählich zu einem schimmernden Berg anwuchs. Edelfrau Tulsie schritt in perfekter Harmonie mit dem Desran dahin und betrachtete das beeindruckende Gebäude. Die Kuppel war mit Blattgold bedeckt. Fünf schmale Fenster reichten vom Boden fast bis zur Spitze der Kuppel. Direkt gegenüber der Palastpforte befand sich eine große hohe Öffnung, drei Mann breit. Dies war der einzige Zugang und der einzige Ausgang des Sferiums. Tulsie hatte ihre Schritte nicht gezählt. Es wurde behauptet, der Desran benötige exakt siebenhundert Schritte, um den Weg zwischen dem Palast und der Kuppel zurückzulegen. Irgendwie erschien ihr dies als durchaus wahrscheinlich. Ihre Gedanken schweiften erneut zum Desran. Was für ein komplizierter Charakter und was für ein faszinie326
render Mann er doch war, wenn er sich von seinem Amt befreite! Sie wusste, dass sie aus ihrem Herzen heraus zu ihm gesprochen hatte, und dass es ihn tief berührt hatte. Der Desran erreichte den Eingang zum Sferium. Tulsie hörte ihn seufzen. Mit dem nächsten Schritt betraten auch sie und Edelfrau Isper das Gebäude. Die Dimensionen dieses Bauwerks waren atemberaubend. Eine Welle sich steigernden Stimmengewirrs aus Tausenden Kehlen rauschte durch die kolossale Kuppel, die bis zum letzten Platz besetzt war. Die Menschen erhoben sich. So würden sie bis zum Ende von Ypergions Rede der Vereinigung stehen bleiben müssen. Auch dies schrieb die Tradition vor. Die siebenhundert Schritte waren glücklicherweise absolviert. Tulsie hatte bereits Krämpfe in den Waden. Zu dritt begaben sie sich zur Bühne in der Mitte der Kuppel. Ypergion stieg auf das Podium und ging zum Aynirlaeth, jenem Thron, von dem behauptet wurde, er sei älter als jedes andere Artefakt des Reiches. Wenn das stimmte, war der Thron mehr als außergewöhnlich, denn er sah aus, als wäre er erst gestern angefertigt worden. Magie, dachte Tulsie. Über dem Thron hing die Fahne mit dem Wappen der Krone: Steinfisch und Seeadler auf blauem Grund. Nur dem Desran war es erlaubt, sich zu setzen, und das tat er natürlich. Zu beiden Seiten von Aynirlaeth standen zwar zwei Thronsessel, doch Isper und Tulsie stellten sich davor. Mit einer feierlichen Gebärde holte Ypergion die Schriftrolle hervor, auf der Ratsherr Tardel die Rede niedergeschrieben hatte. Die hunderttausend Anwesenden verfielen in erwartungsvolle Stille. »Volk von Romander«, begann Ypergion. Seine Worte donnerten durch die Kuppel, emporgetragen von den Wasserrinnen, die hinter jeder zehnten Sitzreihe in den Boden eingelassen waren. »Euer Desran betrachtet das vergangene Jahr als eines der erfolgreichsten seiner bisherigen Regierungszeit. Nahezu alle Ziele, die ich mir gesteckt hatte, wurden erreicht, und …« Ypergion begann mit einer langen Aufzählung all der umfangreichen Vorhaben, die er und seine Magistrate vollendet hatten. Tulsi327
es Aufmerksamkeit wurde von einem Mann in der ersten Reihe geweckt. Zwischen den anderen andächtig lauschenden Zuhörern stützte er sich mit gebeugtem Haupt auf einen schlichten Stock. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, und der ganze Körper schien in einem undeutlichen Schleier zu verschwimmen. Ein Magier? Der Fremde faszinierte Tulsie, auch wenn sie den Grund dafür nicht hätte nennen können. Der Desran zählte noch immer die Erfolge und Fortschritte des letzten Jahres auf. Es klang wie eine pflichtschuldig, beinahe unbeteiligt heruntergebetete Litanei, stellte Tulsie fest. Irgendwie kam es ihr vor, als würde sie diesen Mann bereits seit Jahren kennen. Sogar an seiner Haltung konnte sie ablesen, dass er mit seinen Gedanken nicht bei der Rede war. »Und deshalb, Volk von Romander, darf ich zusammenfassend zu dem Schluss kommen, dass wir ein erfolgreiches Jahr hinter uns haben«, beendete Ypergion seinen Rückblick. »Wenn wir uns nun dem vor uns liegenden Jahr zuwenden …« Er schluckte kurz und warf Tulsie einen Seitenblick zu. In seinen Augen glühte eine Mischung aus Schalk und Nervosität. »Wenn wir auf das nächste Jahr schauen, könnte ich mit einer Aufzählung all jener Vorhaben beginnen, die ich unter tatkräftiger Mithilfe meiner Magistrate ausgearbeitet habe. Es gibt da jedoch etwas anderes, dem wir unsere gesamte Aufmerksamkeit widmen müssen.« Edelfrau Tulsie bemerkte, wie Isper den Kopf zur Seite drehte. Gleichzeitig schaute Ratsherr Tardel nach oben. Und der Körper des unbekannten Mannes mit der gebeugten Haltung schien sich ruckartig zu straffen. Wenn Tulsie sich nicht täuschte, kreuzten sich die Blicke der drei für Sekundenbruchteile. Der Desran wich vom vorgegebenen Text ab! Edelfrau Tulsie spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Hatte diese eine Nacht bei Ypergion so viel bei ihm ausgelöst? »Ein altes Übel ist zu neuem Leben erwacht«, fuhr der Desran mit einem leichten Zittern in der Stimme fort. »Neuntausend Jahre hat er geschlummert, jetzt aber tauchte der Düstere des Nachtmeers am Rand unseres Reiches wieder auf, an den Äußeren Riffen.« 328
Das Entsetzen der Menge drückte sich zunächst nur in einer allgemeinen Stille der Fassungslosigkeit aus, als hunderttausendfach angehaltener Atem. »Der Düstere hat seinen ersten heftigen Angriff auf den nördlichsten Inseln gestartet«, sagte Ypergion. Seine Stimme wirkte jetzt vollkommen ruhig und fest, fand Tulsie. »Die am entferntesten liegenden Inseln, Nord- und Mittel-V'ryn, sind seiner zerstörerischen Kraft vollständig zum Opfer gefallen. Einer Kraft, die man früher farblose Magie nannte. Und nun ist Ost-V'ryn an der Reihe.« In der Menge entstand Unruhe. Das hier war unerhört, beispiellos! Nie zuvor hatte ein Desran eine derartige Katastrophe erwähnt. Die Rede der Vereinigung diente seit alters her ausschließlich der Darstellung aller Leistungen und sämtlicher Erfolge des Desran und seiner Würdenträger. Dies hier musste als absolutes Versagen des Desran angesehen werden. Ihr Führer, das personifizierte Symbol all ihrer Kraft und ihres Zusammenhalts, gab sich eine Blöße. Er erwies sich als schwach! Ypergion hob die Hand. »Ruhe!« Es wurde still. »Ein neues Zeitalter steht bevor, mein Volk«, sagte er leise. »Die sprichwörtliche Stabilität des Kaiserreichs von Romander ist in Gefahr. Sie ist so ernsthaft und in einem solchen Maße in Gefahr, dass ich selbst es auch erst langsam zu erfassen beginne. Wir befinden uns am Vorabend der größten Bedrohung seit Jahrtausenden. Und nicht nur das. Diese Bedrohung kommt auch von innen!« Tulsie glaubte aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich Edelfrau Ispers Finger bewegten. Die gebeugte Person aus der ersten Reihe trat vor, murmelte etwas, stellte sich auf die unterste Stufe der Bühne und richtete ihren Stock auf den Desran. Im Handumdrehen verwandelte sich der Stecken in einen Stab aus geflochtenem Weidenholz. Vom goldenen Knauf schoss ein blendender Lichtstrahl in Richtung des Desran, gefolgt von einem dröhnenden Knall. Ypergion sank in sich zusammen und fiel langsam vornüber auf den Bretterboden. Leblos, wie 329
es schien. Tulsie hielt vor Schreck eine Hand vor den Mund und schrie auf, was im einsetzenden Tumult jedoch unterging. Rufe der Empörung und des fassungslosen Abscheus wurden laut. Während Tulsie zu Ypergion eilte, drehte der Zauberer sich blitzschnell um. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Tulsie das Profil seines Gesichts. Mehrere Männer stürzten sich auf ihn und wollten ihn festhalten. Tulsie bemerkte, wie die Augen des Mannes gelb aufglühten. Dahinter schwelten Emotionen, die sie nicht verstand. Unmenschlich, dachte sie nur. Vor ihren erstaunten Blicken löste der Mann sich in nichts auf. Für einen Moment starrte sie ungläubig auf den Fleck, wo der Mann eben noch gestanden hatte. Dann wandte sie sich zu Ypergion um, kniete sich neben ihn und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Seine Augen waren geschlossen. Sie beugte sich über ihn, um nach seinem Herzschlag zu horchen, als sie ihn etwas murmeln hörte. Sie legte ihr Ohr an seinen Mund. »Flieht!«, flüsterte er. »Die Gefahr steht unmittelbar neben Euch. Sucht Marakis und den Unmagier. Bringt sie …« Sein Atem stockte. Er riss die Augen auf. Nach einem letzten bebenden Seufzer fiel sein Kopf zur Seite. Der Desran war tot. Tulsie unterdrückte die Panik, die in ihr aufstieg, und richtete sich langsam auf. Edelfrau Isper musterte sie mit eiskaltem Blick. Neben ihr standen Ratsherr Tardel und einige andere Mitglieder der Hofverwaltung. Hinter diesen glaubte sie ein weiteres ihr bekanntes Gesicht zu sehen. Ihr blieben einige Augenblicke, um sich über die Anwesenheit der Edelfrau Hylmedera zu wundern. Die Menge strömte zur Bühne, wenngleich auch Tausende Menschen gleichzeitig zum Ausgang drängten. Tulsie drehte sich um und versuchte sich gegen den Strom durch die Masse zu kämpfen. Als sie die unterste Stufe der Bühne erreicht hatte, begann ihr zu dämmern, dass sie nicht die geringste Chance hatte. Sie würde den Ausgang niemals rechtzeitig erreichen. »Ergreift die Frau!«, hörte sie jemanden rufen. »Sie hat den Desran getötet!« Ihr wurde schwindlig. Vor ihren Augen bildete sich ein grauer 330
Schleier. Die Menschen starrten sie entgeistert und hasserfüllt an. Irgendjemand fasste sie mit festem Griff am Arm. Sie riss sich los. Andere umzingelten sie. Sie war aufgeschmissen; es war endgültig vorbei. Als sie eine Hand auf der Schulter spürte, versteifte sich ihr ganzer Körper. »Hier entlang«, flüsterte eine Stimme eindringlich. Tulsie schaute in die Augen eines jungen Mannes. Innerlich war sie zerrissen von Zweifeln und widersprüchlichen Gefühlen. Durfte sie in dieser Umgebung überhaupt jemandem trauen? »Schnell, Edelfrau«, zischte der Mann. Er griff nach ihrer Tiara und ließ diese achtlos fallen. »Wollt Ihr etwa Isper in die Hände fallen?« Tulsie überließ sich der Ungewissheit und stolperte dem Mann hinterdrein. Dieser schlüpfte behände zwischen den Herandrängenden hindurch und tauchte in einen Seitengang ab. Tulsies Robe hinderte sie daran, schneller zu laufen. »Normal gehen«, flüsterte der Mann. »Wartet!« Er drehte sich um, hakte sich bei Tulsie unter und fragte den Mann, der gerade neben ihnen stand: »Habt Ihr gesehen, was da passiert ist?« Der Angesprochene, ein älterer Mann, schaute kurz zur Seite. »Wohin habt Ihr denn geschaut, Mann? Auf unseren Desran wurde ein Attentat verübt. Es scheint die Frau gewesen zu sein, diese Unbekannte, die neben dem Kaiser stand.« Palastwachen kamen vorbeigestürmt. Tulsies Retter stellte sich vor sie und beobachtete mit neugierigem Blick die Wächter, die sich überall spähend umschauten. Tulsie bemerkte, wie eine Frau sich erstaunt zu ihr umdrehte. Ihr Blick glitt über Tulsies Robe. Der Retter hatte es ebenfalls bemerkt. Er zog Tulsie weiter, zurück zum Hauptgang und zur Bühne. »Damit rechnen sie nicht«, flüsterte er. Tulsie schaute sich um. Die Frau starrte ihnen immer noch hinterher, mit Zweifeln im Blick. Doch sie schwieg. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass jemand, der gesucht wurde, zur Bühne zurückging. Sobald die Frau außer Sichtweite war, steuerte der Mann auf einen anderen Seitengang zu. 331
»Wir müssen uns beeilen«, sagte er, den Mund dicht an Tulsies Ohr. »Sie werden den Ausgang jeden Augenblick schließen.« Sie bemühten sich, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und dabei gleichzeitig möglichst schnell voranzukommen. »Was tragt Ihr unter der Robe?«, fragte der Mann. »Ein orangefarbenes Unterhemd«, antwortete Tulsie. Sie verstand sofort, was der Mann vorhatte. In einer abgelegenen Ecke blieben sie im Rücken einiger Leute stehen. Der Mann knöpfte Tulsie Robe hinten auf und streifte sie rasch auf die Erde. Das Unterhemd konnte so eben als Kleid durchgehen. Mit ein paar geschickten Handgriffen löste er die hochgesteckten Haare und richtete sie ein bisschen, sodass sie nicht zu wild aussahen. Aus dem Seitengang hinter ihnen kamen einige Palastwächter und drängten in Richtung Ausgang. »Kommt!«, flüsterte der Mann energisch. »Sie schließen die Türen.« Kurz vor den Wächtern schlüpften sie nach draußen und mischten sich auf der Straße der Siebenhundert Schritte unter das Volk, das im strömenden Regen in kleinen Grüppchen beisammenstand. »Ich bin Edelfrau Tulsie. Wer seid Ihr?«, fragte Tulsie den Mann atemlos. »Ich bin Hochmeister Harkyn.« Tulsie starrte ihn mit großen Augen an. »Wartet mit Euren Fragen«, sagte Harkyn, und zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln in seinem erhitzten Gesicht. »Ich habe ebenfalls sehr viele Fragen an Euch.« Sie gelangten an eine Seitenstraße. Als niemand auf sie achtete, huschten sie hinter ein vierstöckiges Haus. Der Lärm war hier kaum noch zu hören. Auch der Nieselregen war einigermaßen erträglich. Erst jetzt lösten sich die Gefühle. Tulsie brach in Tränen aus. Harkyn bot ihr seine tröstende Schulter und ließ sie sich ausweinen. Als Tulsie sich wieder gefangen hatte, begann er zu reden. Es tat ihr gut, denn es lenkte ihre Gedanken von dem furchtbaren Geschehen ab, das sie bis jetzt unaufhörlich beschäftigt hatte. »Xarden Lay Ypergion ist tot«, sagte Harkyn sanft und starrte ins 332
Nichts. »Daran können wir nichts mehr ändern. Ich habe gesehen, wer ihn getötet hat. Ich war auf der Verfolgung dieses Mannes. Deshalb mache ich mir Vorwürfe. Andererseits, woher sollte ich wissen, was er vorhatte? Wie hätte ich ahnen können, dass er den Desran töten wollte?« Er wandte Tulsie sein Gesicht zu. »Der Desran sagte noch etwas. Kurz bevor er starb, hat er Euch etwas mitgeteilt. Wollt Ihr mir verraten, was es war?« »›Flieht‹«, sagte er. »›Die Gefahr steht unmittelbar neben Euch. Sucht Marakis und den Unmagier. Bringt sie …‹ Danach stockte sein Atem.« Tulsie wiederholte die letzten Worte des Desran mühelos aus ihrem geschulten Gedächtnis. »Wer stand zu dem Zeitpunkt neben Euch?«, fragte Harkyn gespannt. »Einige Ratsmitglieder, Edelfrau Isper und ein oder zwei Männer der Palastwache. Mehr habe ich nicht erkennen können.« »Wisst Ihr vielleicht noch, welche Ratsmitglieder es waren?« »Ratsherr Fryleth Monker, Herr Tardel, der die ursprüngliche Rede geschrieben hatte, und Edelfrau Cunireya. Ja, und dann war da auch noch Hylmedera. Sie stand in der zweiten Reihe, hinter Edelfrau Isper. Ich hatte angenommen, sie sei zusammen mit Ratsherr Danker unterwegs nach Hemgara, aber habe ich mich offenbar getäuscht.« Harkyn knetete mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe. »Darüber muss ich erst noch einmal nachdenken. Jetzt gilt es dafür zu sorgen, dass wir aus der Stadt kommen. In einer Stunde sind sämtliche Pforten und Ausgänge geschlossen. Ich habe allerdings einen anderen Weg im Auge. Ich darf doch davon ausgehen, dass Ihr den Auftrag des Desran ausführen wollt?« Tulsie nickte. »Ich will Marakis und den Unmagier finden. Ich verfüge über Informationen, die für beide von höchster Wichtigkeit sind. Soviel ich weiß, befinden sie sich zurzeit auf den Äußeren Riffen.« »Warum habt Ihr neben dem Desran gestanden?«, fragte Harkyn plötzlich. 333
Tulsie seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.« Harkyn spähte nach allen Seiten, entfernte sich von dem Haus und flüsterte: »Kommt, Edelfrau. Ihr müsst mir das ein andermal erzählen, wenn wir zu den Äußeren Riffen segeln. Ich kenne einen Kapitän, dessen Karavelle im Hafen von Romander-Stadt vor Anker liegt. Er wird uns helfen. Doch dann müssen wir uns sputen, denn unsere Gegner werden nichts unversucht lassen, uns auf die Spur zu kommen.«
Während die Stadt noch in heller Aufregung war und Edelfrau Isper zur Interimsregentin des Reiches ausgerufen wurde, mit den Ratsherren Tardel und Fryleth Monker als ihren Sekundanten, schlichen Harkyn und Edelfrau Tulsie zum Hafen. Sie nahmen die kleinen Gassen und Stege zwischen den Hauptstraßen der Stadt. Überall patrouillierten Wachen, die Ausschau nach einer Frau hielten, die in eine lila Robe gekleidet war und von einem Mann in dunklem Mantel begleitet wurde. Der Mantel hatte sich mit Hilfe eines von Harkyns Zaubersprüchen in ein helles Grau verfärbt, und sobald sie sich einer Wache näherten, wechselte Harkyn auf die andere Straßenseite, sodass es aussah, als gehörten er und Tulsie nicht zusammen. Sie betraten die Laufplanke der Herz von Handera, einer schlichten, aber seetüchtigen Mittelkaravelle. Kapitän Fexe aus Sommerfreuden hatte sich im Laufe der letzten Jahre den Ruf eines der besten Segler des ganzen Reiches erworben. Es kostete Harkyn nicht allzu viel Mühe, Fexe zum sofortigen Ablegen zu überreden. Vielleicht half dabei aber auch der Hauch Primärer Willensumneblung, den Harkyn einsetzte. Wenig später verließ die Herz von Handera unter vollen Segeln den Hafen von Romander-Stadt. Das Schiff war gerade hinter dem westlichen Horizont verschwunden, als der Hafenmeister auf Geheiß von Edelfrau Isper ein Ausfahrverbot erließ. Drei Kriegskaravellen kreuz334
ten vor der Hafeneinfahrt, und der Hafenmeister schloss die Einfahrt, indem er eine schwere Kette von einem Molenkopf zum anderen spannen ließ.
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38 Allein »Der Pfad, den der arglose und unbedarfte Jüngling betritt, besitzt einen Namen: Schicksal. Der Knabe weiß noch nicht um die schmerzlichen Überraschungen, die das Leben für ihn bereithält. Er sieht nur Herausforderungen und neue Möglichkeiten, und er hat noch ein langes Leben vor sich. Doch dann betritt er diesen Pfad, der Schicksal genannt wird, und ihm vergeht das Lachen. Von einem Moment zum nächsten wird er sich des Drucks bewusst, den das Leben ihm auferlegt hat. Zusammen mit dem Verantwortungsgefühl taucht das Gespenst des Todes vor ihm auf. Zwar scheint das endgültige und manchmal überraschende Ende noch in weiter Ferne zu liegen, doch der Junge weiß jetzt, dass er es ewig im Blick haben wird.« Aus dem Vorwort zu ›Unsere Bestimmung trägt einen Namen‹, von Humbyer aus Ebbestade In der Gegend um Hochlan-Pforte war kaum Schnee gefallen. Sie ließen die Stadt rechts liegen und liefen am Zugang zur ersten Schlucht vorbei. Hinter ihnen hing eine aus Grau und Gelb gemischte Wolkendecke in der Luft, die ihnen folgen zu wollen schien. »Wir sind vorhin bereits an einem Zugang zur westlichen Schlucht vorbeigekommen«, erklärte Matei. »Die lag ein kleines Stück hinter Taskers Herberge, aber sie mündet auch in der ersten großen Schlucht.« Er wies in östliche Richtung, wo der nächste Zugang zu sehen war. »Dort begeben wir uns in die mittlere der drei großen Schluchten.« 336
Lethe schaute zum Zugang hinüber, der aussah, als hätte man ihn mit einem riesigen Beil aus dem Fels geschlagen. Die Unruhe seiner Gedanken zerplatzte immer noch wie eine aufgewühlte See an den Klippen seines Geistes, doch der Anblick der Schlucht bereitete ihm leichte Kopfschmerzen. Es war das gleiche Gefühl wie damals im Windturm, als er Dotars Angriff auf sich zukommen spürte, ohne genau zu wissen, was geschehen würde. »Ich habe nicht den geringsten Einfluss auf die Ereignisse«, murmelte er. »Ich bin bloß der Spielball von Mächten, die ich nicht begreife.« »Was meinst du?«, fragte Matei, der direkt hinter Lethe ging. Lethe sagte so leise, dass die anderen es nicht hören konnten: »Mit jedem meiner Schritte komme ich meinem Schicksal näher. Ich gehe weiter, aber alles in mir schreit nach Flucht.« Matei schaute ihn an, seufzte und flüsterte heiser: »Glaubst du vielleicht, ich bin als Junge froh gewesen, als ich begriff, dass mein Körper und mein Geist von Magie durchdrungen sind? Ein ganz ähnliches Gefühl muss auch Marakis haben. Das Schicksal hat uns ausgewählt, Lethe, obwohl es Hunderttausende anderer Seelen gibt, die genauso hätten auserkoren werden können. Wenn man zum Magier geboren ist, besitzt man etwas, das einem Verpflichtungen auferlegt. Natürlich empfinde ich meinen Status manchmal auch als angenehm, doch meistens überwiegt das Pflichtgefühl, das Wissen darum, dass ich ein Fass voller Kraft bin; einer Kraft, die in jungen Jahren erst noch entwickelt und auf ein Ziel ausgerichtet werden wollte. Du weißt doch auch, dass der zielgerichtete und richtige Einsatz deiner Kraft die Leitlinie für dein ganzes weiteres Leben sein wird.« Er biss sich auf die Unterlippe und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Nasenspitze. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Hör mir bitte gut zu, Lethe. Ich spreche über meine Schicksalsbestimmung in Bezug auf dich. Wobei mein eigenes Schicksal überhaupt keine Rolle spielt. Es geht nur um das deine.« Er hielt Lethe zurück, ließ die anderen Reisegefährten vorbeigehen und gab ihnen Zeichen, dass sie nicht auf ihn warten sollten. Als sie außer Hörweite waren, sagte Matei: »Heute Abend oder morgen früh 337
musst du alleine weiterziehen. So steht es geschrieben. So hat Randoël es in die Zeit gemeißelt.« Lethe nickte, den Kopf gesenkt. »Du kannst den Zeitpunkt selbst wählen, aber sag mir Bescheid, mein Junge.« Es war fast schon eine Frage, eine Bitte. Lethe schaute den Hochmeister ernst an. »Ihr habt mich gebeten, Euch zu begleiten. Damals wusste ich noch nicht einmal, dass das Schicksal mich auserkoren hatte. Ich …« Lethe schaute zur Seite, damit Matei nicht die Tränen in seinen Augen sehen konnte. Den Kopf noch immer abgewendet, sagte er: »Vielleicht weiß ich ja etwas über meine Aufgabe. Wenn das stimmt, wird es schlimmer sein, als ich mir jetzt vorstellen kann. Ich werde Euch Bescheid geben, bevor ich alleine weitergehe.« »Noch etwas«, sagte Matei. »Nur du und ich haben gesehen, dass die Regulatoren uns bei Kasbyrion auf den Fersen waren.« Er zeigte hinter sich. »Ich habe Verwirrung unter sie gestreut, um sie auf Abstand zu halten. Sie befinden sich jetzt irgendwo zwischen Kasbyrion und hier. Wir werden einen lebenden Schild zwischen ihnen und dir bilden.« Lethe schaute ihn unverwandt an. Dann drehte er sich um, ließ den Hochmeister stehen und gesellte sich eilig zu den Reisegefährten. Als sie die Schlucht betraten, schien es, als folgten ihnen die Wolken auch hierhin. Kurz darauf begann es zu regnen, eine beständige Flut dicker Tropfen, die senkrecht in die Schlucht fielen und die Gefährten binnen weniger Minuten völlig durchnässten. Sie beschlossen, sich unterzustellen und fanden schon bald eine Grotte. Auch hier hatten schon Reisende übernachtet und neben Ascheresten einen Stapel Äste hinterlassen. Sie entzündeten ein Feuer und scharten sich darum. Llanfereit erzählte Geschichten, und alle lauschten ihm gespannt.
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Matei winkte Lethe zu sich und ging mit ihm zum Eingang der Grotte. Er nahm einen kurzen Mantel aus seinem Rucksack und gab ihn Lethe. Dann stellte er sich zwischen Lethe und die anderen. »Vielleicht ist dies der geeignete Zeitpunkt«, flüsterte er. »Wir folgen dir in einigem Abstand.« Natürlich wusste Lethe, was Matei meinte. Mit einem knappen Kopfnicken stimmte er zu, berührte Mateis Arm, drehte sich entschlossen um und verschwand in der grauen Regenwand. Matei starrte ihm lange hinterher und schüttelte den Kopf. »Auf dass es dir gut ergehe, mein Junge. Wenn ich dir doch nur mehr erzählen könnte. Wenn ich dir doch nur berichten könnte, welches Schicksal dich erwartet … oder zumindest das, wovon ich vermute, dass es dein Schicksal sein wird.« Es dauerte eine ganze Weile, bis jemand sich neben Matei stellte. Es war Pit. Konsterniert schaute sie zum Eingang. »Ich dachte, Ihr hättet mit Lethe gesprochen. Wo ist er?« »Fort«, sagte Matei. »Alleine auf dem Weg zu seiner Bestimmung.« Pit erbleichte, griff nach Mateis Mantel und zerrte daran. »Sagt mir, dass das nicht wahr ist«, flüsterte sie heiser. »Sagt mir, dass ihn nicht das erwartet, was Llanfereit mir vor Zeiten anvertraut hat.« Matei betrachtete sie betrübt und verfiel in ein viel sagendes Schweigen. Pit stieß einen wilden Schrei aus und stürzte in den Regen davon. »Nein!«, rief Matei mit einer Stimme, die mit Willensumneblung durchtränkt war. Pit blieb sofort stehen und drehte sich unwillig und jammernd um. »Warum er?«, schluchzte sie. Matei zuckte die Achseln. Die anderen kamen hinzu und wurden von Matei in Kenntnis gesetzt. Die Verwirrung war groß. »Und worin besteht unsere Aufgabe?«, fragte Dotar. »Nicht Aufgabe, sondern Aufgaben«, antwortete Matei. »Kommt, setzen wir uns ans Feuer. Dann werde ich euch über alles informieren, was um uns her geschieht.« 339
39 Der Tag von Welden Taylerch (3) »Auf Fittichen aus Luft und Wind trägt dieser Tag sein Rätsel her: Die Farben nur so ungefähr, das Auge für die Formen blind. Der Wirklichkeit nur knapp entrückt, kommt Schatten auf, des Lichts beraubt, und drum herum ein Drachenhaupt mit Schuppen, Kamm und Nacht bestückt. Hier bündeln sich die stillen Kräfte, wes Hände selten sich gerührt, und deren Antlitz nie gesehen. Und hier verteilt das Spiel der Mächte, von Gott und Kaiser nie gekürt, die Fäden für den Pakt der Zehn.« Das mystische Gedicht ›Der Pakt der Zehn‹ wird Humbyer aus Ebbestade zugeschrieben Stille herrschte unter der Kuppel, die sich lediglich als undeutliche gebogene Linie gegen den Himmel abzeichnete. Von der Schlucht war nirgends eine Spur zu sehen, obgleich sie sich gleich außerhalb der Kuppel befinden musste. In der Mitte des Raums gähnte ein großes 340
rundes Loch, um das eine niedrige Mauer gezogen war. Das grüne Licht unter der Kuppel schien zu leben, bewegte sich in einem Tanz aufleuchtender Punkte und blendender Strahlen über das schwarze Wasser im Loch. Keines der versammelten Wesen zeigte sich in seiner menschlichen Gestalt. Bei einigen war das selbstverständlich: Sie waren nicht menschlicher Natur. Die anderen, die es wohl waren, kamen den Nichtmenschlichen entgegen. Eine Stimme erklang und schien die gesamte Kuppel füllen zu wollen. »Dies ist der Tag von Welden Taylerch in der hundertvierzehnten Ära. Die Potentaten sämtlicher Dimensionen versammeln sich im Raum der Stille, in dem die Zeichen und Spuren zusammenlaufen, in dem die Wut des einen den Zorn des anderen nicht erreichen kann. Die Sprache ist die des Reiches von Romander, auf dass niemand von uns benachteiligt sein möge. So wurde es auf der anderen Seite der Zeit beschlossen, als für die erste Ära noch kein Name gefunden war. Dies ist die Zeit, die sich von zwei Seiten nähert. Dies ist der Ort, so wie jedes Wesen seinen eigenen Ort hat.« Ein Geräusch wie von einem gewaltigen Gong dröhnte durch die Kuppel und ließ sie erbeben. Sogar die Luft zitterte und flackerte wie eine Flamme im ersten Windhauch eines aufziehenden Sturms. »Dies ist kein Treffen wie die Treffen zuvor, denn alles hat sich geändert, seit der Zauberer der letzten verflossenen Ära beschloss, seine Spuren in die Zeit zu setzen.« Plötzlich war die Stimme in eine höhere Tonlage verfallen. War es Überraschung oder verhaltene Wut? Vielleicht Enttäuschung? »Der Zauberer der vorherigen Ära hat die Geschichte neu geschrieben. Seine Schreibfeder ist in ein dunkles Tintenfass getaucht und hat ein verwirrendes Netz geschaffen. Seine unzähligen Mosaiksteine haben den Lauf des ewigen Zyklus innerhalb von neuntausend Jahren in ärgste Bedrängnis gebracht. Hierauf wird mein Meister später näher eingehen. Der Vertreter des Düsteren des Nachtmeers möge jetzt sprechen.« 341
An der anderen Seite der Kuppel leuchtete eine gelbe Glut auf. Anschließend blieb es still. Nach einer nicht messbaren Zeitspanne ergriff die erste Stimme wieder das Wort. »Nun möge der zu uns sprechen, der sich im Namen des Huel Isipaer äußern darf.« Neuerliche Stille. Diesmal jedoch war die Luft in der Kuppel von ungesprochenen Worten geschwängert, die kurz davorstanden, sich ihren Weg über die Stimmbänder eines Wesens zu suchen. »Mein Meister kennt keine Angst.« Eine schwere Stimme rollte durch die Kuppel. »Die Veränderungen sind ihm nicht entgangen, doch sie berühren ihn nicht. Er ist überzeugt, dass diese dummen Zauberscherze letztlich ihm zum Vorteil gereichen werden.« Hohngelächter erklang, irgendwo neben dem letzten Sprecher. »Euer Meister glaubt, unantastbar zu sein. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Und das vielleicht schneller, als Ihr denkt.« Die gelbe Glut wurde greller. »Was der Monsterhafte als Hochmut betrachtet, ist lediglich die Vollkommenheit, deren der Monsterhafte entbehren muss.« »Was? Unbedeutende …« »Schweigt, alle beide!«, flüsterte die erste Stimme. Der Befehl genügte, um augenblicklich Stille einkehren zu lassen. Und die erste Stimme ließ das Schweigen lange genug im Raum schweben, um seiner Autorität entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Schließlich ergriff er wieder das Wort. »Derjenige, der sich im Namen des Huel Isipaer äußern darf, möge nun zu uns sprechen, ohne unterbrochen zu werden.« Die schwere Stimme schien nur auf diese Aufforderung gewartet zu haben. »Mein Meister beobachtet die kläglichen Bemühungen einiger anderer Potentaten, ihn und seine Taten aufzuhalten. Dies bitte ich als meine persönliche Bemerkung zu werten, während mein Meister sich nur ganz am Rande mit den Unternehmungen dieser Potentaten beschäftigt. Und dennoch weiß mein Meister, wie die Spuren in die Säule ge342
kerbt wurden. Doch mein Meister ist überzeugt davon, dass die Stunde der Verflechtung noch in weiter Ferne liegt.« In die einsetzende Stille hinein kicherte eines der Wesen. »Der Kampf ist nicht das Ziel«, meldete sich eine nasale Stimme. Offenkundig war diese Stimme berechtigt, den Sprecher zu unterbrechen. »Der Kampf ist nur das vorrangige Mittel, um eine Verflechtung innerhalb des Musters aufzuheben oder zu ändern. Ein verlorener Kampf ist noch keine Niederlage. Und ein gewonnener Kampf ist noch nicht der endgültige Triumph.« Die schwere Stimme reagierte sofort. »Unverbindliche und nicht verständliche Worte. Der Denker hüllt sich in Nebelschwaden, um den wahren Worten und Taten auszuweichen. Soll er sich doch zu seinen Neuntausend gesellen und uns nicht länger mit seinen nebulösen Sprüchen belästigen!« Der Angesprochene ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und fuhr fort. »Nicht jeder der hier Anwesenden ist sich der Macht des Wortes bewusst, der sauberen und unbefleckten Magie, die dem Wort innewohnt. Dies ist eine Magie, die jede Zauberei des Reichs von Romander weit in den Schatten stellt. Nein, nicht jeder der Anwesenden ist sich dessen bewusst, doch dies wird sich ändern, wenn der Kampf erst entbrannt ist. Die Säule wird beschließen.« Er atmete schwer und tief durch, um anschließend fortzufahren. »Denn das Wort ist mehr als nur der Träger eines Gedankens oder einer Definition. Das Wort ist auch mehr als nur ein Ton, ein Klang oder die Aneinanderreihung von Buchstaben. Es ist der Katalysator von Geisteskraft und physischer Veränderung. Selbst die Veränderer von Loh haben das nur teilweise begriffen.« Eine weitere Stimme wurde laut – die einer Frau. Sie ging nicht auf das Gesagte ein. »Das Warten gilt also dem Zauberlosen? Und ist es wahr, dass es Hinweise gibt, denen zufolge er anders sein soll?« Wachsende Spannungen luden sich unter der Kuppel auf. Die erste Stimme ergriff erneut das Wort. 343
»Auch dieser Zauberlose wird seinem Schicksal nicht entrinnen, denn der Zyklus der neuntausend Jahre kann durch nichts umgestoßen werden. Und nicht der Zauberlose ist in solchem Maße anders; die durch den Zauberer der vorangegangenen Ära geschaffenen Mosaiksteine besitzen unwiderlegbar immensen Einfluss auf das Gleichgewicht der zehn Mächte.« »Und der verschwundene Zauberer?«, fragte die Frau. »Wie passt der in dieses Bild?« »Raielf? Schaut Euch um, Edelfrau. Was seht Ihr? Die zehn mächtigsten Wesen des Universums – wenn wir den Herrn der Tiefe einmal außer Betracht lassen. Sollten diese zehn nicht in der Lage sein, den Zauberer zu finden? Raielf wurde während seiner Versuche mit farbloser Magie pulverisiert, davon bin ich überzeugt.« »Dargill sagt …« »Erwähnt diesen Namen nicht!«, kreischte der Monsterhafte. Die Frau schwieg sofort, doch die erste Stimme antwortete statt ihrer ungerührt: »Der Mann aus Katzinsel behauptet, Raielf sei immer noch unter den Lebenden. Es sei ihm gelungen, in den Deckmantel eines neuen Körpers zu schlüpfen und damit sein Überleben zu sichern. Das aber ist nichts weiter als eine Behauptung, und davon kennen wir mehr als genug. Dieser Mann aus Katzinsel hat uns gleich mit einer ganzen Reihe von Behauptungen beglückt, von denen sich bislang keine bewahrheitet hat.« »Bisher gibt es in der Tat keinen Beweis, dass er Recht hat.« Eine neue Stimme mischte sich ins Gespräch; ein heiseres Krächzen. »Ich habe Dargill nie unterschätzt.« Die Stimme blieb unbeeindruckt vom Grummeln des Monsterhaften. »Er stellt mehr dar als nur eine Verbindung zwischen uns und dem Reich.« »Und wenn man dann noch bedenkt, dass er lediglich das Produkt eines Irrtums ist«, meinte die Frau sinnierend. Eine lange Stille trat ein. Schließlich sprach eine ruhige Männerstimme in das Schweigen. »Auf diesen Tag habe ich lange warten müssen. Ich habe mich in einer entlegenen Gegend am Rande des Reiches aufgehalten, und dort hatte ich 344
Gelegenheit, das tägliche Leben der Menschen zu beobachten. Dadurch hat meine Einschätzung vom Wert dieser Welt einen positiven Schub erhalten. Warum? In den uns zur Verfügung stehenden Worten und Begriffen lässt sich das nicht erklären. Was ich mich jetzt aber frage …« Stille. »Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr mehrheitlich die Notwendigkeit des Zyklus unterschreibt?« Wortlose Zustimmung wogte durch die Kuppel. Der Mann seufzte tief. »Dann stehe ich mit meiner gegenteiligen Meinung leider alleine da.« »Aber immer noch als der Mächtigste, sieht man von unserem Gastherrn ab«, grummelte der Monsterhafte griesgrämig. »Doch ohne meine Macht bislang jemals genutzt zu haben«, erwiderte der Mann ruhig. Hinter dieser Bemerkung steckte eine unverhohlene Drohung, die alle Anwesenden sehr wohl verstanden hatten. »Wirkliche, dauerhafte Macht kann nur Bestand haben, wenn sie sich zurückhält. Wirkliche Macht greift nur im äußersten Notfall ein. Ist es für mich jetzt an der Zeit, einzugreifen? Ich muss nachdenken. Hier mag ich ja der Mächtigste sein, aber das gilt nicht für alle Sphären. Hinzu kommt, dass der Zauberlose – der Zauberlose dieses Zyklus, wohlgemerkt – ein einzigartiges Wesen ist. Das ist sonderbar, denn seine Spuren unterscheiden sich eigentlich nicht von denen seiner Vorgänger. Das macht die Angelegenheit kompliziert. Vielleicht …« »Was?«, wollte der Monsterhafte wissen. »Ich muss nachdenken«, wiederholte der Mann und verfiel in Schweigen. »Der Tag von Welden Taylerch, das Vorspiel für die entscheidenden Tage des Zauberlosen, geht langsam seinem Ende entgegen«, sagte die erste Stimme feierlich. »Schon bald wird der Zauberlose erscheinen. Wir werden jetzt ruhen und warten.« »Ohne mich«, brummte der Vertreter des Düsteren vom Nachtmeer mürrisch. Seine Umrisse verblassten. Schließlich waren sie ganz verschwunden. Alle schwiegen und zogen sich in ihre eigene Geisteswelt zurück. 345
Außerhalb der Kuppel prasselte der Regen pausenlos auf den steinigen Grund der Schlucht. Seltsamerweise verschwand das Wasser wieder, kaum dass es den Boden berührt hatte. Es bildete auch keine Pfützen neben dem Pfad. Lethe hatte dennoch Mühe, sich auf dem glitschigen Gestein aufrecht zu halten. Es wurde rasch dunkel. Getrieben von einem unwiderstehlichen Verlangen war Lethe die ganze Nacht hindurch weitergelaufen. Als die Sonne wieder aufgegangen war, hatte seine Müdigkeit sich bemerkbar gemacht, doch auch dadurch hatte er sich nicht aufhalten lassen. Er fragte sich, wo seine Reisegefährten geblieben sein mochten. Je weiter der Weg ihn bergab führte, desto einsamer fühlte er sich, und so war es kein Wunder, dass ihn sentimentale Gefühle beschlichen. Die Gedanken trugen ihn nach West-Loh. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Janila, seine Mutter, in der Nähe ihres Dünenhauses zwischen den Hühnern stöberte. Er fragte sich, ob Draht, sein Dünenotter, noch lebte. Er sah Ervin, seinen besten Freund. Doch eigentlich sah er durch all diese Bilder hindurch im Hintergrund nur eine einzige Gestalt: Myrde. Unwillkürlich musste er lächeln und schöpfte aus dem Gedanken an sie neuen Mut. Er nahm sich fest vor, seine Aufgabe – was immer es sein mochte – zu einem guten Ende zu bringen und anschließend nach West-Loh und zu Myrde zurückzukehren. Er gelangte an eine Weggabelung. Links ging es über den Pfad in dunkle Tiefen, rechts führte der Weg in scharfen Kehren in die Höhe, dem helleren Grau einer Welt oberhalb der Schlucht entgegen. Das schlechte Wetter engte sein Blickfeld stark ein. Nach oben oder nach unten? Er schaute sich um, als könnte er von dort Hilfe erwarten, doch er war allein, umgeben von einem dichten Regenschleier. Und obgleich er wusste, dass er eigentlich nach unten gehen musste, wandte er sich nach rechts und schlug den nach oben führenden Weg ein. Während er dem beschwerlichen Anstieg folgte, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er versuchte zu ergründen, wo sein Platz in diesem Spiel der Mächte war, wer sich auf der Siegerstraße befand und wer zu den Verlierern gezählt werden musste. 346
Irgendwo in Lethes Innerem tauchte plötzlich eine Perspektive auf, der er früher schon einmal begegnet war. Sie gründete sich auf die Annahme, dass eine Macht existiere, die sämtliche Ereignisse und jedes Geschehen in Romander mit einem gütigen Lächeln begleite. Eine Macht, die von außen auf das Reich schaue und nur dann und wann mit einer achtlosen Geste eingreife, wenn die Dinge sich in die falsche Richtung entwickelten. Eine Macht, die eigentlich kein Interesse am Tun und Lassen all der Wesen habe, und sich höchstens darüber amüsiere. Eine Macht schließlich, die farblose Magie und jenes Wesen, das dieses unselige Phänomen zum Leben erweckt hatte, nicht ernst nehme. Zu Recht, denn diese Macht könnte die Erde mit einem Zucken des kleinen Fingers erbeben lassen. Verschwommen war Lethe sich bewusst, dass er mit den Ausläufern dieser Macht bereits Verbindung gehabt haben musste, in Träumen und Visionen, dass die Erinnerung daran jedoch tief in seinem Gedächtnis vergraben lag. Er sah ein geflügeltes Wesen über einem Meer schweben, und er befand sich für Sekunden in einem unüberschaubaren Irrgarten mit unzähligen Gängen. Lebenden Gängen. Woher er das so genau wusste, war ihm selbst nicht klar. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er das Wesen, das durch die Gänge irrte. Der Schimmer einer Erkenntnis rauschte wie ein heller Strom durch seinen Geist. Er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Der Pfad endete an einer Anhöhe. Am Rande eines niedrigen Hügels befand sich der Eingang zu einer Grotte. Aus einer Öffnung über der Grotte quoll Rauch. Lethe wurde vom Grotteneingang wie von einem Magneten angezogen und überschritt die Grenze zwischen dem Grau der Außenwelt und dem Schwarz der Grotte. Ein Gang bog scharf nach rechts ab, gleich darauf nach links. Das Geräusch des Regens war nicht mehr zu hören. Lethe spürte eine wohltuende Wärme, sah einen gelblichen Schein und ging erneut um eine Ecke.
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40 Dargill aus Gyt »Schade saß mit geneigtem Haupt an der Dorfpumpe und dachte über die Lehren der Herrin der Weisheit und Eingebung nach. Sie fühlte sich geistig reifer und ausgeglichener. Mittlerweile wusste sie sich auch immer häufiger zu beschränken, wo sie früher Grenzen überschritten hätte; Grenzen von geringer Bedeutung, ebenso wie Grenzen, die Zugang zu einem höheren Bewusstsein und mehr Sinngebung verschafften. ›Beschränke zunächst alles auf das Wesentliche.‹ Die Worte ihrer Lehrmeisterin hallten wie ein Echo in ihrem Kopf. ›Erst wenn dir das gelungen ist, kannst du versuchen, Ergänzungen und Verfeinerungen anzufügen, die das Wesentliche verstärken.‹ Schade schaute auf, als sie ein Geräusch hörte. Die Herrin der Weisheit und Eingebung ging mit gebeugtem Kopf und im Schoß gefalteten Händen an ihr vorüber. Sie schien Schade nicht zu bemerken. ›Edelfrau‹, flüsterte Schade. Im selben Moment hoffte sie, ihre Lehrmeisterin habe es nicht gehört. Die Edelfrau machte noch einige Schritte, drehte sich um und blickte ihre Schülerin fragend an. Schade suchte nach den passenden Worten und war sich im Klaren darüber, dass sie zurechtgewiesen würde, sollte sie sich zu weitschweifig äußern. ›Edelfrau, ich träume derzeit oft von meiner Mutter. Ich hätte sie gern kennen gelernt.‹ ›Du kennst sie doch‹, antwortete die Edelfrau unvermutet rasch. Schade, die ihre eigentliche Frage noch gar nicht gestellt hatte, schaute die Edelfrau mit großen Augen an. 348
›Kenne ich sie? Aber ich bin eine Waise. Das wisst Ihr doch. Niemand weiß, wer meine Mutter ist.‹ Die Edelfrau schwieg, wie sie es in ungelegenen Momenten häufig tat. Schade wartete geduldig, doch als das Schweigen nicht enden wollte, stand sie auf und ging mit zögernden Schritten zu ihrer Hütte, in der stillen Hoffnung, die Edelfrau werde sie zurückrufen. Doch erst nachdem ihre Schülerin außer Hörweite war, begann die Edelfrau zu sprechen. ›Oh, Schade, ich habe gelernt, Abstand zu dir zu wahren, um dir näher sein zu können.‹ Sie setzte sich an die Stelle, an der Schade gesessen hatte, und neigte ihr Haupt. Sie achtete nicht auf die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen.« Aus ›Eine Wallfahrt in die Seele‹, von Edelfrau Asrath aus Dunkel Graue Streifen von der Flamme einer plumpen runden Kerze verbreiteten dichten Rauch. Leichter Brandgeruch und der Duft frischer Kräuter vermischten sich mit dem modrigen Gestank schimmeliger Bücher und verstaubter Schränke voller Spinnweben. In einer Ecke der Grotte brannte ein kleines Herdfeuer. Der Rauch wurde durch ein Loch in der Decke abgesogen. Ein Mann saß über ein Buch gebeugt, das auf dem schweren Tisch aus Basselholz lag. Er musste erst vor kurzem mit dem Buch begonnen haben, stellte Lethe fest. Ein lila Gewand hing in Falten von den Schultern des Mannes herab und verdeckte den größten Teil seines Körpers. Auf der Sessellehne lag eine schwarze Forma. Als Lethe versuchte, sich dem Mann geräuschlos zu nähern, hob dieser eine Hand, ohne seine Lektüre zu unterbrechen. Verwundert blieb Lethe stehen. Hatte der Mann ihn gehört? Vorsichtig wollte er sich näher heranschleichen, doch seine Muskeln schienen plötzlich jede Verbindung mit dem Hirn verloren zu haben. In unbequemer Haltung blieb er mitten in der Bewegung wie angewurzelt stehen. Der Mann musste ein Zauberer sein. Lethe hatte ihn weder sprechen noch flüs349
tern hören; dennoch hatte ein Zauberspruch oder eine Beschwörung ihn an seinem Platz festgenagelt. »Eine Sentenz.« Die Stimme des Mannes schien aus allen Ecken und Nischen der Höhlenwohnung zu kommen. Obgleich es kaum mehr als ein Flüstern war, vibrierte die Grotte von dem Geräusch, und Lethe wollte sich die Ohren zuhalten. Doch auch dazu war er nicht imstande. »Eine Sentenz«, wiederholte der Mann in normalerer Lautstärke. »Eigentlich ein och syentin, um es in der Sprache von Areyngen auszudrücken. Ein Zauber des Geistes. Wortlos.« Noch immer hatte die Person sich nicht zu Lethe umgedreht. Ein kurzes, trockenes Lachen erklang. »Keiner der heutigen Hochmeister beherrscht diese Worte. Man könnte sie auch als Unworte bezeichnen. Sie entwickeln sich im Geist und überbrücken gleichzeitig den Abstand zwischen meinem und deinem Verstand. Dazwischen liegt nicht einmal der Bruchteil einer Sekunde, so als wäre die Zeit ausgeschaltet.« Er streckte den Rücken und wandte sich langsam zu Lethe um. »Willkommen, Lethe, Sohn von Janila. Ich habe lange auf Euch gewartet.« Einen Moment hatte die Stimme gezittert. Zerzaustes graues Haar und ein schwarzer Bart umrahmten ein bleiches Antlitz mit pergamentartiger Haut. Die Gesichtszüge kamen Lethe bekannt vor. Er schätzte den Mann auf ungefähr sechzig, bis ihre Blicke sich kreuzten. Hinter den Augen gähnten unermesslich tiefe Abgründe. Es waren melancholische Augen, die zugleich etwas Unbeugsames ausstrahlten. Augen mit schwarzer Iris und stecknadelgroßen Pupillen, denen nichts entging. Das Wort ›alterslos‹ ging Lethe durch den Kopf. In diesem Blick spiegelten sich die Weisheit und das Wissen von Jahrtausenden. Alterslos, so wie auch Llanfereits Augen sich dem Alter zu entziehen schienen. Lethes Verwunderung über die Worte des Mannes war ihm am Gesicht abzulesen. Wie konnte dieser Mensch ihn kennen? Gleichzeitig kam der Mann ihm aber auch seltsam vertraut vor. »Uns bleibt eine ganze Nacht.« Der Mann zeigte auf einen Schemel auf der anderen Seite des Tisches. »Setz Euch, mein Junge.« 350
Lethe versuchte, der Aufforderung nachzukommen, doch noch immer gelang es ihm nicht, sich zu bewegen. Der Mann stand auf. Er war um einiges größer, als Lethe anfangs gedacht hatte, mindestens einen Kopf. Der Mann ging zu einem offenen Schrank und holte ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband heraus. Für einen kurzen Moment schien er zu zögern. Dann drehte er sich um, das Buch in der Hand. »Verzeiht meine schlechten Manieren, mein Junge«, sagte er heiser. »Ich vergaß, mich vorzustellen. Ich besitze viele Namen, denn ich bin alt. Nennt mich einfach Dargill, Dargill aus Gyt.« »Gyt?« Endlich gelang es Lethe, ein Wort herauszubringen. Zugleich fühlte er, wie die Starre seiner Glieder sich löste. Er bewegte sich zögerlich auf den Tisch zu und setzte sich. »Welches Gyt meint Ihr? WestGyt, Lan-Gyt oder Ost-Gyt?« Er verfluchte sich selbst, dass er immer wieder auf solche Einzelheiten bestand. »Gyt«, wiederholte Dargill tonlos, während er das Buch vorsichtig, beinahe ehrfürchtig neben die aufgeschlagene Schrift auf den Tisch legte und sich setzte. Sein Blick glitt über die Scheide, in der Rax ruhte. Einmal hob er kurz die rechte Augenbraue und verzog einen Muskel im rechten Mundwinkel. Leichter Moschusgeruch streifte Lethe. Dargill musste ein Magier sein, und das wiederum bedeutete, dass er höchstwahrscheinlich auf Loh geboren war. Auch auf anderen Inseln kamen Menschen mit magischen Fähigkeiten zur Welt, doch sie brachten es meistens nicht weiter als bis zum Halbmagier. Soweit Lethe sich erinnern konnte, hatte das Instirium noch nie jemanden von außerhalb Lohs als Schüler aufgenommen. Dargill hingegen strahlte zweifellos eine Zauberkraft aus, die mehr vermochte als die Umsetzung aller Zaubersprüche des ersten Buches. Der Mann musterte ihn, als wäre Lethe nur ein Gegenstand. Der Blick erfasste jeden kleinen Winkel seines Gesichts. Unwillkürlich machte der Zeigefinger von Dargills rechter Hand jede seiner Augenbewegungen mit. »Ich werde Euch unterweisen, mein Junge. Allerdings steht uns dafür nur diese eine Nacht zur Verfügung.« In den Worten lag Enttäu351
schung, als hätte der Mann zuvor noch die Hoffnung gehegt, dass sie ihre Gesellschaft länger würden genießen können. »Die Zeit drängt«, fuhr Dargill fort. »Ständig drängt die Zeit. Der Düstere spinnt ein Netz, durch das es bereits jetzt kaum noch ein Entrinnen gibt. Er ist mir auf den Fersen, und inzwischen weiß er auch, dass Ihr der Unmagier seid.« Ein eisiger Wind durchwehte Lethes Geist. Der Düstere des Nachtmeers kannte ihn! Womöglich war er bereits hinter ihm her. Dargill öffnete das Buch und blätterte darin, ohne seinen Blick von Lethe abzuwenden. »Bei Sonnenaufgang muss ich von hier verschwunden sein«, sagte der Zauberer. »Genau wie Ihr suche ich nach Spuren, die zur farblosen Magie und zum Schöpfer dieses vermaledeiten Phänomens führen. Ich suche nach jener Kreatur, und zu gleicher Zeit sucht sie nach mir, was eine wahnsinnige Helix der Ereignisse nach sich ziehen wird. Dabei habe ich Euer Zutun noch nicht einmal mit eingerechnet, mein Junge.« Dargill musterte Lethe. Dieser bemerkte erst jetzt, dass die Augen des Zauberers von einem feinen Netz tiefer Furchen umgeben waren. Der Mann hatte viel mitgemacht, und er war wirklich steinalt. In Dargills Blick spiegelte sich Mitleid. Langsam ließ er das Kinn sinken und murmelte Worte, die er dem Buch zu entnehmen schien, das vor ihm lag. Überraschend heftig hob er wieder den Kopf. »Eure Fähigkeit, die wir der Einfachheit halber weiterhin Unmagie nennen wollen, ist sehr vielschichtig, wie Ihr bereits selbst vermutet haben dürftet«, sagte er. Die Stimme hatte sich jetzt wieder verändert, stellte Lethe erstaunt fest. Sie war heller, belehrender. »Darunter befinden sich allerdings einige Fähigkeiten oder Möglichkeiten, die sich besonders hervorheben. Dazu werden wir gleich noch kommen. Doch zunächst einmal die Geschichte.« Er blätterte eine Seite des Buches um und las ein paar Zeilen. »Es gab schon einmal einen Zauberlosen«, flüsterte Dargill, ohne dabei aufzublicken. »Das liegt neuntausend Jahre zurück. Habt Ihr eine Ahnung, wie der Zauberlose damals hieß?« 352
Die Frage überraschte Lethe. »Woher soll ich wissen …« »Lethe. Der Unmagier von vor neuntausend Jahren hieß Lethe.« Im Verlauf der letzten Wochen hatte Lethe so manchen Schock verkraften müssen, doch diese Neuigkeit traf ihn völlig unerwartet, wie der gezielte Faustschlag eines unsichtbaren Feindes. Er war sprachlos, während sich in seinem Geist eine ganze Reihe neuer Fragen bildeten. Offenen Mundes starrte er Dargill an. Der kniff die Augen zusammen. »Eigentlich hieß diese Person Lajte, doch die Bedeutung hat sich über die Jahrtausende hinweg erhalten. Dieser Name wurde einer alten Sprache aus einer anderen Welt entnommen. Nach heutigem Verständnis würde ich es mit ›Quell der Vergessenheit‹ übersetzen.« »Quell der Vergessenheit«, wiederholte Lethe flüsternd. Sein Atem stockte. Eine eiserne Faust umklammerte seine Kehle. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Gleichzeitig packte ihn ein Gefühl unbändiger Todesangst. Mit großen Augen schaute er Dargill an. »Ich … wie …«, begann er, ohne dass ihm irgendetwas eingefallen wäre. Dargill hob die rechte Hand zu einer beruhigenden Geste. »Ach, die Menschen wissen heutzutage gar nicht mehr, wie wichtig ein Name ist«, sagte er. Er beugte sich nach vorn und berührte mit der Nasenspitze fast Lethes Gesicht. »Ihr seid Euer Name, Lethe. Es gibt keinen anderen Namen für Euch, weil Ihr es nicht wärt.« »Bin ich denn ein Quell der Vergessenheit?«, fragte Lethe. Die Angst vor der vermuteten Antwort schnürte ihm fast die Kehle zu. Dargill schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr nur so heißen würdet, wärt Ihr nicht der Quell der Vergessenheit, sondern die Vergessenheit selbst. In dem Maße, wie Ihr bedeutende Taten vollbringt, werdet Ihr auch immer mehr Namen Euer Eigen nennen können. Wie ich soeben bereits sagte, besitze ich selbst viele Namen. Das rührt natürlich daher, dass ich im Laufe der Jahre das eine oder andere zuwege gebracht habe.« Um seine Mundwinkel erschien ein wehmütiges Lächeln. 353
»Solange Ihr jedoch noch keine bedeutenden Taten vollbracht habt, besitzt Ihr ausschließlich Euren Geburtsnamen.« »Aber was ist denn verantwortlich dafür, dass ich so heiße und nicht anders genannt wurde?« »Es gibt Magie, und es gibt Wissenschaft.« Diese Worte waren Lethe ein Rätsel. »Das verstehe ich nicht.« Dargill lächelte. »Das könnt Ihr auch nicht verstehen, mein Junge. Eines Tages vielleicht. Aber ich kann Euch jetzt wenig dazu sagen.« Plötzlich beugte er sich wieder vor und flüsterte mit einem Anflug von Vertraulichkeit: »Wir beide besitzen ein gemeinsames Geheimnis.« Dargills rechte Hand, auf der sich blaue Adern abzeichneten, schob sich nach vorn, als wolle sie nach Lethes Hand fassen. Lethe wich zurück. Dargill schien es nicht zu bemerken. »Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich mir dessen bewusst bin und Ihr nicht. Es hat mit farbloser Magie zu tun.« Er starrte an Lethe vorbei in imaginäre Fernen und murmelte: »Farblose Magie … diese Bezeichnung ist so falsch wie nur irgendetwas. Ich frage mich allerdings, weshalb sich bisher niemand dafür interessiert hat, und warum diese Magie ›farblos‹ genannt wird.« Diese Bemerkung löste bei Lethe eine Lawine von Gedanken aus. Richtig, warum nannte man dies Phänomen überhaupt ›farblose Magie‹? Materie wurde durch sie erst gelb, dann pulverisiert. Es gab tatsächlich keinen vernünftigen Grund, diesen Vorgang als ›farblos‹ zu bezeichnen. »Wer hat sich den Begriff denn ausgedacht?«, fragte Lethe. »Oh, das ist eine gute Frage. Das Wissen darüber ist vom Mantel der Zeit bedeckt. Irgendwann tauchte diese Zauberei zum ersten Mal auf, und damals beschloss jemand, ihr diesen Namen zu geben. Seltsamerweise aber hat die Kenntnis, warum man von ›farblos‹ spricht, all die Jahrtausende überlebt. Auch wenn es nur wenige gibt, die Bescheid darüber wissen.« Lethe blickte Dargill nachdenklich an. 354
»Zum wievielten Mal wiederholt sich der Zyklus der neuntausend Jahre bereits?« Dargill schaute ihn mit verschwommenem Blick an; er schien mit den Gedanken in einer anderen Welt zu sein. »Ihr seid besser«, sagte er schließlich. Lethe hob fragend die Brauen. »Besser?« »Ja, Ihr seid besser als Lajte, und wahrscheinlich seid Ihr auch besser als all die anderen zuvor. Ich kenne deren sechsunddreißig.« Lethe schwieg. Er fragte sich, wie Dargill das gemeint haben mochte. Sechsunddreißig mal neuntausend Jahre? Sollte der Magier etwa so alt sein? Das konnte Lethe sich unmöglich vorstellen.
Dargill begann mit dem Unterricht. Es war eine nicht enden wollende Flut neuen Wissens, das Lethe kaum verarbeiten konnte. Von Zeit zu Zeit zitierte der Magier aus einem Buch, von dem er sagte, es stamme aus einer anderen Welt. Der Gedanke, dass außerhalb von Romander, hinter dem Nachtmeer, noch eine andere Welt existieren könnte, eröffnete unermessliche Perspektiven in Lethes Geist. Dargills Stimme erinnerte an einen Strom, der unaufhaltsam durch das Flussbett in Lethes Kopf und Verstand sprudelte. Langsam wurden einige Bereiche der Unmagie deutlicher. Sowohl Hoffnung als auch Angst wurden bei Lethe geschürt. Die Hoffnung, er sei vielleicht in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen; und die Angst, die schon vorher Besitz von ihm ergriffen hatte: Dass entsetzliche, schmerzhafte Ereignisse auf ihn warteten. Er stellte Fragen. Dargills Antworten kamen stets auf Umwegen, als wollte der Magier Lethe eine direkte Antwort ersparen. »Das reicht«, sagte Dargill plötzlich. Lethe verfügte jetzt über eine Vielzahl neuer Informationen, doch waren mindestens noch ebenso viele offene Fragen hinzugekommen. 355
Dargill schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er nahm das Buch in die Hand und sagte: »Es ist noch Zeit für eine einzige Frage.« Lethe erhob sich ebenfalls und überlegte dabei einen kurzen Moment. »Ja, ich habe noch eine Frage«, sagte er. »Wisst Ihr, was genau die Kraft ist?« Dargill war auf dem Weg zum Bücherschrank und hatte sich bereits halb umgedreht. Mitten in der Bewegung blieb er stehen. »Wer hat Euch davon berichtet?«, fragte er schroff, beinahe böse. »Die Kraft war bereits ein verbotenes Thema, als Raielf noch lebte.« »Ich weiß nur sehr wenig über die Kraft«, erwiderte Lethe und beschloss, seine Gespräche mit Pit nicht zu erwähnen. Er zeigte auf seinen Kopf. »Einige Male war jemand hier drinnen. Er fragte mich, ob ich über die Kraft verfüge. Ich wusste nicht, wie oder was ich antworten sollte, und schon gar nicht, was die richtige Antwort gewesen wäre.« Dargill schaute sich um, als habe er etwas gehört, das Lethe entgangen war. »Wir haben keine Zeit, jetzt noch darüber zu reden«, sagte der Zauberer. Plötzlich schien er es sehr eilig zu haben. »Die Bezeichnung ›Kraft‹ ist eine Vereinfachung des Begriffs ›Kraft der Verflechtung‹. Obwohl auch dies bereits eine vereinfachende Bezeichnung ist. Wir hätten uns schon vorher darüber unterhalten sollen. Ich kann Euch nur warnen: Lasst niemanden mit Hilfe der Kraft in Euren Geist eindringen! Es sei denn, Ihr seid Euch ganz sicher, dass diese Person Euch nichts Böses will.« Mit einigen raschen Schritten war Dargill beim Schrank, öffnete eine der Schubladen und holte etwas heraus. Dann drehte er sich um und gab Lethe ein Zeichen, er solle mitkommen. Aus einer Nische zog er einen Stab aus geflochtenem Weidenholz hervor. Der goldene Knauf stellte ein drachenartiges Wesen dar, wie Lethe erkannte. Irgendwo in seinem Geist versuchten zwei Gedankengänge, zueinander zu finden. »Aber …«, hörte er sich sagen, »was soll ich denn nun mit der Kraft anfangen?« 356
Dargill fasste Lethe grob am Ärmel und zog ihn mit sich mit in einen dunklen Gang. Der Stab strahlte ein weiches Licht aus. Dargill ließ Lethe los und blickte über die Schulter. »Was Ihr mit der Kraft anfangen sollt? Soweit ich weiß, seid Ihr selbst die Kraft.« Die Worte trafen Lethe irgendwo im Zentrum seiner Seele. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Für etliche Augenblicke befand er sich wieder in den Tunneln, im Geist des Wesens. Und erneut flüsterte der Schatten die eine Frage. »Besitzt du die Kraft?« Als wäre dies ein Zeichen gewesen, stürmten Bilder auf Lethes Geist ein. Farben, die er nie zuvor gesehen hatte, erschwerten es ihm, die Bedeutung dessen zu definieren, was er vor Augen hatte. Doch nach und nach begriff er, dass er in ein Gesicht schaute, das zu einer Grimasse verzerrt war. Im Hintergrund bemerkte er einen dämmrigen Raum mit bis zur Decke gestapelten Büchern, Folianten und Schriftrollen. Daneben lagen Retorten und Schiffsinstrumente. Und schon wieder fragte die Stimme: »Besitzt du die Kraft?« Dann aber wurde ihm plötzlich klar, dass dieselbe Frage von zwei verschiedenen Wesen gestellt worden war. Bei den ersten Malen, vorsichtig und unschlüssig, hatte es sich um Pit gehandelt. Doch in seiner letzten Vision – und auch jetzt – war es jemand anders gewesen. Kein Mensch, sondern ein sonderbares Wesen, das in einem Labyrinth lebte. Ein Wesen, das unbewusst den Eindruck erweckte, über Kräfte zu verfügen, die unvorstellbar waren. Ein Wesen, das zwar fragte, die Antwort aber schon kannte. Diesmal versuchte Lethe, ein Gedankengespräch anzuknüpfen. »Wer seid Ihr?«, formulierte er wortlos und schickte die Frage in Richtung des Wesens. Zu Lethes Erstaunen reagierte das Wesen mit Zorn. Ein Urschrei donnerte durch die Gänge des Labyrinths und walzte über Lethe hinweg. Erschüttert von Schmerzen und vor Schreck versuchte er, sich aus der Vision zu flüchten. Entsetzen packte ihn, als ein neuerlicher Schrei auf 357
ihn zurollte. Ohne zu wissen, woher er die Worte nahm, rief er: »Ayle, v'ryuüm raaentsei!« Ein zweites Wesen erschien im Labyrinth, kam herbeigestürzt und zerrte ihn davon. Er war wieder in Dargills Grotte. Eine Flut hektischer, unkontrollierbarer Gedankensprünge stürmte auf Lethe ein. Erschöpft lehnte er sich an die Felswand. Im selben Moment verschwand die Erinnerung an die Vision aus seinem Gedächtnis. Was blieb, war das Wissen, etwas Wichtiges erfahren zu haben. Doch worum es sich dabei handelte, war ihm entglitten, genauso wie damals in der Herberge in Nardelos Grotte. Dieser Gedanke ließ ein Gefühl der Unzufriedenheit in ihm aufkommen. Schwermut strich wie ein dunkler Vogel auf ihn hinab und nistete sich in seinem Geist ein. Dargill, der das alles nicht mitbekommen zu haben schien, schaute sich im Dämmerlicht um. Er winkte mit dem Stab. »Kommt, Junge, beeilt Euch!« Er ließ einen Arm in eine Nische gleiten und holte einen dicken Mantel aus Schaffell hervor. »Hier, in der Schlucht ist es kalt.« Der Mantel roch nach Erde und Exkrementen, war aber angenehm warm. Sie verließen die Höhlenwohnung über einen anderen Gang. Als sie durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Felsen an die frische Luft kamen, war es dunkel, obgleich der Tag längst angebrochen sein musste. Pechschwarze Wolken bedeckten den Himmel. Am Horizont schossen Blitze zur Erde. Eine heftige kalte Sturmbö zerrte an Dargills Mantel. Donner rollte und ließ die Erde erbeben. »Hier trennen sich unsere Wege«, rief der Zauberer gegen das Tosen an. »Ich habe eine Verabredung an einer anderen Stelle der Schlucht.« Er zeigte auf den Anfang eines Pfades, der in die Tiefe der Schlucht führte. Dann fasste er Lethes Arm und drückte ihm einen Beutel in die Hand, in dem sich irgendein harter Gegenstand befand. »Ich kann und darf Euch nichts dazu sagen. Vielleicht noch das: 358
Denkt darüber nach, warum ich Euch dies gegeben haben könnte. Ihr dürft den Beutel erst öffnen, wenn Ihr in der Schlucht seid.« Dargill schaute Lethe eindringlich an. »Nehmt diesen Weg. Er führt in nördliche Richtung. Wenn Ihr Euch nicht verlauft, werdet Ihr in der Schlucht auf Eure Reisegefährten treffen. Anschließend begebt Euch nach Welden Taylerch. Fragt jetzt nicht, wo das liegt. Wenn Ihr immer weiter nach Norden geht, kommt Ihr von selbst dorthin. Und glaubt mir, Ihr werdet wissen, dass Ihr angekommen seid.« Er ließ Lethe los, trat einen Schritt zurück und schaute sich erneut nach allen Seiten hin sichernd um. Für einen Moment blickte er konzentriert zu Lethe hinüber. Plötzlich wirkte er unendlich traurig, als fiele es ihm schwer, Abschied zu nehmen. »Alles Gute, mein Junge.« Dargill wandte sich ab und ging; unwillig, wie es den Anschein hatte. Lethe schaute ihm hinterher. Unmittelbar bevor der Zauberer in der Dunkelheit verschwand, ereigneten sich zwei Dinge: Die Gestalt des alten Mannes schien sich zu verändern; der Mantel nahm eine andere Farbe an und bauschte kugelförmig auf. Außerdem glaubte Lethe ihn ein letztes Wort flüstern zu hören. »Sohn.« Der Wind verebbte, und eisige Stille kroch ins Innerste von Lethes Wesen. Das Wort flatterte wie ein letztes Herbstblatt mit dem Wind davon. Der Schock saß tief. Hatte er richtig gehört? »Welm?«, sagte er heiser. Er stürzte der Gestalt hinterher, doch sie war verschwunden. »Vater?« Der vernunftbeherrschte Teil seines Verstandes erfasste sofort, warum Dargill ihm von Anfang an so vertraut erschienen war, doch zugleich waren seine Gedanken ein einziger Mahlstrom wirrer Gefühle. Er suchte neben dem Spalt an der Felswand Halt und sank langsam zu Boden. Regen setzte ein. Eine Sturzflut von Bildern und Gedanken stritten um seine Aufmerksamkeit. Manche Äußerungen des Zauberers erhielten plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Schließlich tauchte eine undeutliche Erinnerung 359
aus seiner Kindheit auf. Bilder, die bereits seit Jahren dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins geschlummert hatten. Wie alt war er damals gewesen? Drei, vielleicht vier. Eines Morgens war er aufgewacht, weil ein Schatten sich auf das Bett gelegt hatte. Das Gesicht eines Mannes hatte ihn wie hypnotisiert angestarrt. Raue Finger hatten sein Haar und seine Stirn gestreichelt. Der Mann hatte etwas Unverständliches gemurmelt und war verschwunden. Dieses Gesicht, da war er plötzlich sicher, hatte er soeben zum zweiten Mal in seinem Leben gesehen. Dargill war Welm. Sein Vater, Welm aus Katzinsel, der Gaithnard zufolge ein großer Waffenmeister war. Sein Herz fühlte sich kalt und warm zugleich an. Aber warum hatte Dargill sich nicht schon früher als sein Vater zu erkennen gegeben? Oder hatte er sich verhört? War Dargill wirklich sein Vater? Völlig verwirrt betrat Lethe den Pfad, der in die Schlucht führte.
Dargills Silhouette tauchte wieder auf, nachdem Lethe außer Sicht war. Der Magier starrte lange und unbewegt zu der Stelle hinüber, an der Lethe verschwunden war. Die schwarze Iris und die kleinen Pupillen waren nicht mehr zu sehen; stattdessen wandert der Blick aus hellen Augen unruhig hin und her. »Ach, wenn ich dir doch nur mehr sagen dürfte, mein Junge«, flüsterte er. »Doch der Magier der neuntausend Jahre hat uns Schweigen auferlegt. Persönliche Angelegenheiten müssen zurückstehen hinter den Belangen des Reiches, hinter den Interessen des Volkes. So war es immer, und so wird es ewig sein. Wie gern hätte ich die Geheimnisse des wahren Unmagiers mit dir geteilt!« Für einen Moment verzerrte sein Gesicht sich zu einer Grimasse schrecklichen Schmerzes. Das Alter machte die Haut faltig, und um die Augen legten sich dunkelgraue Flecken. Er beugte sich nach vorn und stützte sich mit beiden Händen schwer auf seinen Stab. »Das Schicksal ist grausam«, flüsterte er heiser. Dann drehte er sich um und stolperte in den Nebel hinaus. 360
41 Der Pakt der Zehn »Seit Menschengedenken warnen uns manche Philosophen des Reiches vor etwas, das ihre Gegner als eine der üblichen Verschwörungstheorien abtun. Dirmanbyar aus Dargnell war einer dieser Unheilspropheten. Von ihm stammt die Behauptung, es existiere ein Zusammenspiel höherer Mächte, die das Reich vom Nachtmeer aus im Griff hielten. Dabei beruft er sich auf Schriftrollen, die nur er auf der Insel Dunkel habe einsehen dürfen. In diesen Schriften sei von der Existenz eines Pakts der Zehn die Rede. Diese zehn Mächte vertreten angeblich jedes Machtelement, das innerhalb und im Umkreis des Reiches wirkt.« Aus ›Die Schwächen der Macht‹, von Endyr aus Südstadt Er war allein. Von Matei und den anderen Reisegefährten war nichts zu sehen. Lethe rief einige Male, doch abgesehen von einem Rascheln, das wahrscheinlich von einem Tier verursacht wurde, blieb es still. Schließlich gab er es auf. Dies war bereits jene Strecke, die er alleine zurücklegen musste, wurde ihm klar. Der Pfad schraubte sich immer tiefer in die Schlucht hinein. Es hörte auf zu regnen. Lethe schritt durch die erste Pforte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Schließlich erreichte er die primitiv in den Stein gemeißelten Stufen, die der Dulce tags zuvor betreten hatte. Die Atmosphäre wurde bedrückend. Die Wände zu beiden Seiten der Schlucht liefen aufeinander zu wie zwei geflügelte Statuen, deren Schwingen sich tausend Meter über ihm zu berühren versuchten. Vor dem Durchgang, der als zweite Pforte bezeichnet wurde, 361
blieb er stehen. Seine Haut leuchtete. Es war windstill. Er schnupperte den schweren Erdgeruch, der mit dem Gestank verwesenden Fleisches vermischt war. Das Licht verlor an Kraft, bis es schließlich Abend zu sein schien; gleichzeitig griff die Kälte nach seinen Füßen und kroch langsam in ihm hoch. Lethe gelangte zu der Stelle, an der eine Brücke einen langen Riss im Boden der Schlucht überspannte. Unwillkürlich blieb er in der Mitte der Brücke stehen. Die aufsteigenden Schwefelschwaden nahmen ihm fast den Atem; dennoch verharrte er und blickte in die Tiefe. Er hörte ein Brodeln. Gelbliche Rauchfahnen stiegen wie schmale Säulen empor und lösten sich über ihm auf. Er hielt sich die Nase zu. Der Gestank war kaum zu ertragen. Er ging weiter und ließ die Brücke hinter sich. Als wäre dies ein Zeichen gewesen, erklang in der Ferne die bronzene Stimme eines mächtigen, dunklen Gongs, der die Erde beben ließ. Sekunden später hörte Lethe ein ihm vertrautes Geräusch. »Ork, ork.« »Scharfblick!« Über der Schlucht erschien die Silhouette eines Kaiseradlers. »Beeilt Euch«, antwortete der Vogel in Gedankensprache. »Der Vertreter des Düsteren ist derzeit nicht anwesend. Wir müssen schnell handeln!« Lethe verstand nicht, worum es ging, doch das Wiedersehen mit dem Adler stimmte ihn freudig, ja glücklich. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr auf sich allein gestellt. Scharfblick lotste ihn zur Kuppelpforte. Doch dann war der Adler mit einem Mal verschwunden. Lethe suchte nach dem Geist des Vogels, fand aber keinen Zugang. Im nächsten Moment stand er in einem Tal, das die Gestalt einer Schüssel besaß. Vor ihm erhoben sich hohe Gitter, an deren Enden scharfe Spitzen zu sehen waren. Dahinter schimmerte eine Kuppel in unruhig flimmerndem braunem Licht. Ein schemenhaftes Wesen tauchte auf. »Die Spieler begrüßen den Zauberlosen des Jahres Neuntausend.« 362
Die Stimme rauschte wie ein Windstoß durch Lethes Kopf. Er spürte, wie seine Gedanken abgetastet und untersucht wurden. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass zugleich neue Erinnerungen in seinem Geist wachgerufen wurden. »Der Zauberlose und Tyr Arrax müssen voneinander getrennt werden, bevor die Kuppel betreten werden darf«, sagte die Stimme leise. »Die Kuppel duldet keinerlei Waffen.« Lethes Finger knüpften den Knoten auf, mit dem er den Schwertgürtel befestigt hatte, und legte die Scheide mit der Waffe darin neben sich zu Boden. Dabei glaubte er, Rax einen kurzen Moment aufglühen zu sehen, doch als er noch einmal hinschaute, bemerkte er nichts Ungewöhnliches mehr. »Der Zauberlose betritt die Kuppel und trifft auf jene, die ihn erwarten«, meldete die Stimme sich erneut. »Neun der Zehn sind anwesend. Anschließend wird das Ritual seinen Anfang nehmen.« Die Pforte glitt auf. Lethe war umgeben von einer unnatürlichen Stille. Irgendetwas in ihm wusste, dass dies ein Ort war, der im Grunde gar nicht existierte, und dass hier Wesen zusammenkamen, die sich nicht immer in menschlicher Gestalt zeigten. Er erblickte einen Raum, der in braunem Licht schwamm. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem ummauerten Loch angezogen, in dem die glatte Oberfläche schwarzen Wassers auf ihn wartete. Eine unbegreifliche Angst flatterte wie ein Riesenvogel auf ihn zu und griff mit messerscharfen Krallen nach ihm. Vor seinem geistigen Auge erschien eine ruhige Wellendünung, die ihn von allen Seiten umgab. Dies hatte er geträumt! Vor Schreck verschlug es ihm den Atem, und er schloss fest die Augen. Seine Bestimmung kam wie ein tödliches Raubtier herangeschlichen, und er konnte ihm nicht entkommen. Eine Tür zu seinen unerschlossenen Erinnerungen wurde geöffnet, und sein Schicksal nahm Gestalt an. Er riss die Augen auf, und ein Schrei höchster Todesangst entrang sich seiner Kehle. Lethe hatte aus Leibeskräften geschrien, doch aus seiner Kehle stieg nur ein heiserer Ruf, der unter der Kuppel hängen blieb. 363
»Der Zauberlose ist zum vorherbestimmten Zeitpunkt erschienen. Er war allein, wie es geschrieben steht. Er verfügt über die Fähigkeiten, die ihn für seine gewaltige Aufgabe geeignet machen. Wir reden mit dem Zauberlosen, bevor die Rituale in Gang gesetzt werden und er sich zu seinen Vorgängern begeben wird.« Die Worte, von jener Stimme gesprochen, die ihn auch willkommen geheißen hatte, beunruhigten Lethe noch mehr. Angst und Entsetzen strömten unverdünnt durch seine Adern. Es gab keinen Ausweg, keinen Weg zurück. Es würde geschehen. »Wer ist Euer Vater, Junge?« Die Frage wurde von einer schweren nichtmenschlichen Stimme gestellt. »Welm«, flüsterte Lethe bibbernd. Unwillkürlich schlug er die Arme um den Oberkörper. Kälte, Schmerz und Furcht füllten jeden Winkel seines Hirns. Er wiederholte noch einmal: »Welm.« »Welm, ja«, bestätigte die Stimme nachdenklich. »Er hieß auch Welm.« »Dargill«, murmelte Lethe fast unhörbar. »Als Dargill kennen wir ihn auch. Wir kennen ihn unter vielen Namen. Gleich werdet Ihr die Namen ebenfalls erfahren.« Eine Frauenstimme meldete sich. »Wisst Ihr, was geschehen wird?« »Nein«, antwortete Lethe rasch, doch es war nicht die Wahrheit. »Es braucht Wirklichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um den Zyklus zu unterbrechen«, erklang monoton eine andere Stimme. »Dieser Zauberlose ist noch nicht so weit. Wenn es ihm gelingen sollte, der Pulverisierung Einhalt zu gebieten, gehen wir entlang der Stillstehenden Zeit neuntausend neuen Jahren entgegen.« »Nicht zu schnell, Edelfrau.« Eine leicht heisere Stimme schwebte unter der Kuppel. Eine freundlichere Stimme, wie Lethe fand. »Lasst uns nichts überhasten. Die Umstände sind anders. Auch in seinem neuen … Status hat der Zauberlose noch die Möglichkeit, die Wahrheit zu finden, die Wirklichkeit zu entdecken und Wahrhaftigkeit zu erlangen.« 364
»Die Chance ist gering«, erwiderte die Frau. »Und doch besteht sie«, sagte die heisere Stimme ruhig. Eine andere Stimme, aus der Gelassenheit sprach, mischte sich ins Gespräch. »Die Chance ist ebenso groß, wie der Junge klein ist, Edelfrau. Die Riten der Wahrhaftigkeit sind Euch bekannt. Demnach müsst Ihr auch wissen, dass ein Groß in Bezug auf ein Klein nicht existiert.« Lethe verstand überhaupt nichts mehr. »Der Hüter der Neuntausend und der Abgesandte der Ayinti wissen beide, dass die Chance dennoch sehr gering ist«, beharrte die weibliche Stimme. »Zumindest nach menschlichem Ermessen.« Es wurde still. »Der Tag fließt dahin«, sagte die erste Stimme. »Bald wird der Trabant des Düsteren zurückkehren. Die Rituale beginnen jetzt.« Lethe konnte nicht mehr klar denken. Ein schwarzer Nebel aus Angst trübte seinen Geist. Erneut schloss er fest die Augen. »Imfarse?«, fragte die Stimme. Lethe spürte, dass sich neun Wesen um ihn herum versammelten. Vorsichtig lugte er durch einen Spalt zwischen seinen Augenlidern. Er konnte neun Schemen unterscheiden, manche in Menschengestalt, aber auch einige riesige Formen, die an Abbildungen von Drachen erinnerten. Sie bildeten einen Halbkreis um ihn und trieben ihn zum zentralen Punkt der Kuppel. »Dies muss der Zauberlose selbst ausführen«, sagte die erste Stimme. Als wäre es ein Wink gewesen, kehrte Scharfblick in Lethes Gedanken zurück. Der Adler war einer der Neun. Wer war er wirklich? »Das spielt jetzt keine Rolle.« Scharfblicks Antwort auf den Gedanken erfolgte unmittelbar. »Das müsst Ihr selbst ausführen.« Lethe wusste zuerst nicht, was von ihm erwartet wurde, doch Scharfblick verhalf ihm zu einer Reihe von Bildern und Vogelgedanken. Lethe konnte einen Blick in die Zukunft werfen. »Und in die Vergangenheit«, ergänzte Scharfblick. »Die Winde werden Euch günstig gesinnt sein.« Die erste Stimme bat wortlos um Ruhe. Scharfblick zog sich zurück. 365
»Neuntausend mal neuntausend entspricht der Allgegenwart der Ayinti. Sie schufen dem Zyklus den Raum und erwählten Romander als jenen Ort, an dem der Zyklus sich vollzieht.« »Neuntausend Worte berichten vom Zyklus«, ergänzte die heisere Stimme. »Dies ist der Tag von Welden Taylerch in der hundertvierzehnten Ära. Dies ist der Tag des Zauberlosen. Er geht ein ins Labyrinth und begibt sich zum Hüter der Zeit.« »So möge es denn geschehen«, donnerte eine neue Stimme. »Auf dass die Legende der neuntausend Jahre ihre Erfüllung finde, wie sie zuvor schon hundertdreizehn Mal erfüllt wurde.« Einer der Drachen, stellte Lethe in einem Winkel seines Geistes fest. Ein Name tauchte auf, und plötzlich erinnerte Lethe sich an den Traum, in dem Iarmongud'hn aus dem Meer aufgestiegen war. Die erste Stimme ergriff wieder das Wort. »So wurde es auf der anderen Seite der Zeit beschlossen, als für die erste Ära noch kein Name gefunden war. Dies ist die Zeit, die sich von zwei Seiten nähert. Dies ist der Ort, wie jedes Wesen seinen eigenen Ort hat. Dies ist Welden Taylerch, wo die Zeichen und Spuren zusammenlaufen.« Ein dröhnender Gong ertönte in der Kuppel. Erde und Kuppel begannen zu beben. Das schwarze Wasser kräuselte sich. Die Luft zitterte, und eine seltsame braune Farbe füllte für Sekunden die gesamte Kuppel. »Der Trabant des Düsteren ist im Anmarsch«, lispelte eine Flüsterstimme. »Wenn der Pakt der Zehn vollständig ist, wird es dem Zauberlosen nicht gelingen, den ersten Schritt zur Verflechtung zu tun.« Lethe schlug das Herz im Halse. Das Blut schoss ihm wie heiße Lava durch die Adern. Aus einem unerklärlichen Grund wurde die Angst in den Hintergrund gedrängt. Stattdessen machte sich jetzt Unruhe breit. Lethe erhaschte einen Schimmer jener Aufgabe, die der ›Verflechtung‹ folgen sollte. Ein eigenartig monotoner Gesang von mehreren Stimmen setzte ein. 366
»Der Zauberlose begibt sich zum Hüter der Zeit«, sagte die erste Stimme. »Stellt Euch auf den Rand.« Scharfblicks Stimme klang flach, als hätte er eine nebensächliche Bemerkung gemacht. Lethe gehorchte und starrte wie gebannt in das undurchdringliche Schwarz des Wassers. Sein Herz pochte so wild, dass er Angst hatte, es würde ihm die Brust zerreißen. Schreckensbilder erschienen und raubten ihm fast den Verstand. In der Ferne hörte er kräftige Flügelschläge. Ein Grauen erregender Schrei donnerte durch die Schlucht. »Schnell!« Jede Faser in Lethes Körper sträubte sich, doch ein Meer drängender Gedanken berührte ihn. »Springt«, riefen die Gedanken, angereichert mit Willensumneblung. Und Lethe sprang.
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42 Zeitspuren »Der lange Tanz von Zeit und Tod, erfüllt von Trauer, Angst und Zwist, von Zuckungen in Sterbensnot, kaum dass man hier geboren ist. Als Bühne dienen Fels und Fluss, der Wind spielt seine Melodie, die ihren Takt noch finden muss im göttlich' Maß der Harmonie. Vielleicht ist's die Trägheit der Jahrtausende, der Äonen, die uns in Schlaf wiegt allezeit auf unseren hohen Zeiten thronen. Doch nichts lebt für immer, genießt auf Dauer wohl hienieden der steten Ewigkeit Geflimmer, das nur kurz ihm ist beschieden. Der lange Tanz von Tod und Zeit, ist ein steinernes Götterbild. Die Geste wird Vergessenheit; der Tod ist jetzt zum Tanz gewillt.« Aus ›Die Ewigkeit‹, Gedanken des Randoël von Cerin 368
An der Stelle, wo die Stimmen sich in frühen Zeiten getroffen hatten, veränderte sich etwas. Der Vorgang dieses Wandels nahm fünf Tage in Anspruch. Wo vorher nichts gewesen war, entwickelte sich etwas. Ein Wesen. Schließlich verdrängte eine raue, heisere Stimme die Stille. »Es ist geschehen. Er hat die Oberfläche durchbrochen. Die Stunde rückt näher.« Die nun einsetzende Stille würde keine Jahrtausende anhalten, so viel war sicher. Andererseits hatten die Stimmen genügend Zeit – wie nun schon fast neuntausend Jahre lang. Die andere Stimme, es war die hellere, ließ sich nach einem halben Tag vernehmen. »Wir haben lange gewartet. Der Zauberlose ist dem richtigen Pfad gefolgt. Den Spuren wird Genüge getan, auch wenn der alte Zauberer noch eine unberechenbare Größe darstellt.« »Ich weiß es nicht«, antwortete die dunkle Stimme. »Vielleicht spielt er ja auch eine positive Rolle. Gerade weil er nicht dem Pakt der Zehn angehört. Er braucht keinerlei Rücksicht auf die Rangordnung der Geschlechter zu nehmen. Außerdem kennt er unsere Spuren nicht. Er verfügt nicht über alle Schriften.« Nach einer Weile flüsterte die helle Stimme: »Damit könntest du sogar Recht haben. Obwohl wir alle irgendwann einmal Rechenschaft gegenüber den Ayinti ablegen müssen. Daran führt kein Weg vorbei.« »So ist es.« »Und der Düstere hat keine Ahnung?« »Der Düstere vermutet etwas, doch seine nicht menschlichen Gedankengänge vermögen die Spuren in der Zeit nicht richtig zu deuten. Er ist immer noch überzeugt, es handle sich um einen ganz gewöhnlichen Zyklus.« »Gewöhnlicher Zyklus.« Die Stimme troff vor Hohn. »Wie kann ein Wesen, auch wenn es nicht menschlich ist, den Tod von Zehntausenden einen gewöhnlichen Zyklus nennen?« »Außer einigen Reisegefährten und dem Pakt weiß niemand, dass es diesmal anders verlaufen kann.« 369
»Falls es sich so entwickelt, wie wir es uns erhofft haben.« »Wie dem auch sei – jetzt heißt es, auf den Herrn der Tiefe warten.« »Und auf die Reaktion des Zauberlosen.« »Darüber wollte ich noch einmal mit dir reden. An diesem Jungen ist etwas Besonderes. Ich habe herausgefunden, dass er die Kraft besitzt. Das kompliziert die Angelegenheit, aber …« »Gedankensprache, Randoël. Der Düstere hört uns immer noch zu.« »Du hast Recht, Randoël.« Die Stimmen schwiegen.
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Epilog Dunkelheit. Überall um ihn her war nichts als vollkommene Dunkelheit. Eiskaltes Wasser hatte binnen weniger Sekunden den gesamten Körper völlig gefühllos gemacht. Frostige Fischleiber berührten seine Haut und schossen davon. Schleimige Kelpbüschel fuhren ihm durchs Gesicht, tasteten nach seinen geschlossenen Augen. Er sank immer weiter in die Tiefe. Die Muskeln wollten den Befehlen des Hirns nicht länger Folge leisten. Der Geist war gefangen, eingeschlossen von nackter Todesangst und lähmendem Entsetzen. Dass er offensichtlich unter Wasser am Leben blieb, sogar atmen konnte, überraschte ihn kaum. Irgendwo in seinen Erinnerungen, die unlängst in ihm wachgerufen worden waren, war dasselbe geschehen, neuntausend Jahre zuvor, und noch einmal neuntausend Jahre zuvor, und noch einmal … Dies war das hundertvierzehnte Mal, vermittelte ihm die sich entfaltende Vergangenheit. War dies ein Traum, eine Vision oder nicht mehr als ein schrecklicher Albtraum? Er war nicht fähig, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zufassen. Zwei Wesen befanden sich in seiner Nähe. Direkt über ihm versuchte Scharfblicks Stimme, Verbindung mit seinen im Chaos versunkenen Gedanken aufzunehmen. Lethe hatte den Eindruck, der Adler sei hinter ihm hinabgetaucht. Unter ihm tastete der Geist eines anderen Wesens nach seinen Gedanken. Anfänglich breitete sich Verwirrung wie ein schlecht gewebtes Kleid über Lethe aus, doch allmählich begann er zu verstehen. Lethe war diesem Wesen schon einmal begegnet, in einer Vision. Plötzlich stürzte es sich auf Lethe, und dieser erkannte das Labyrinth. »Kommt zurück! Es war zu früh!« 371
Scharfblicks schneidende Gedankenstimme. Der Vogel jagte in einer veränderten Gestalt hinter Lethe her, bis eine andere Stimme weit hinter dem Adler ertönte. »GEHANDYR! DIE AYINTI WÜNSCHEN, DASS IHR ZURÜCKKOMMT.« Scharfblick brach die Verfolgung ab und wurde unversehens aus Lethes Geist gerissen. Lethe versuchte sich von dem Wesen zu befreien, das ihn auf den Grund eines schwarzen Meeres zog, vermochte gegen dessen Übermacht aber nichts auszurichten. Eine Kraft, die um vielfaches größer, schwerer und intensiver war als die des Drachen Iarmongud'hn, walzte wie ein Berg über ihn hinweg. Fäden und Fasern verhakten sich in Lethes Geist, beraubten ihn rücksichtslos seiner Individualität. Er wollte schreien, fand aber keine Stimmbänder. Er versuchte, sich zu wehren. »Warum sträubt Ihr Euch?«, fragte eine Stimme. »Ihr seid der Zauberlose. Ihr besitzt Unmagie, die Fähigkeit, Euch mit einem anderen Wesen zu verflechten.« Einer von Lethes letzten bewussten Gedanken war, dass er eine Fliege sei, die sich einem Drachen zu widersetzen versuchte. Unwillkürlich griff er nach dem Gegenstand, den Dargill ihm gegeben hatte. Seine Hand schloss sich um etwas Hartes. Heiße Glut breitete sich in seinem Körper aus. Irgendetwas rüttelte an seinem Geist, machte Gedanken in ihm frei. Dann lösten sein Verstand und seine Persönlichkeit sich in der Unermesslichkeit des Labyrinths auf. Er war nicht mehr Lethe. Das Wesen hatte ihn geschluckt. Und dieses monströse Wesen war durch Lethes Kommen geweckt worden. Die Legende der Neuntausend drehte sich um den Düsteren des Nachtmeers und dessen Gegner. Dieser Gegner war nun erwacht, geweckt von einem Knaben aus Loh, den das Schicksal bestimmt hatte. Geweckt von einem Knaben, der einige Sekunden lang bis in seine zerreißenden Fasern, bis in seine ihn fliehenden Gedanken hinein wusste und fühlte, was Unmagie war. Einige Erinnerungen nannten es Verflechtung. Ande372
re sprachen von Kenntlichmachung seines Namens, seines Wesens, um in einem Monster unterzugehen. Als Lethe sich in dem unendlich erscheinenden Labyrinth auflöste und sich dem Wesen ergab, taumelten schattenhafte Bilder über den sich rasch verdunkelnden Schirm seiner geistigen Netzhaut. Namen tauchten auf und huschten an ihm vorbei: Janila, Draht, Meister Jen, Ervin, Myrde, Matei, Pit. Hier stockte er. Unbewusst entwand sich ein winziger Gedankenfetzen der unentrinnbaren Geistesverflechtung. Lethe spürte, wie sich etwas in ihm festsetzte. Ein kaum verständliches Wort: »Kraft.« Und eine hauchdünne Präsenz: Pit. Der letzte, winzig kleine Rest seines Geistes fischte aus den Erinnerungen Namen, die sich mit den unzähligen Erinnerungen des Wesens vermischten. Lethe, Quell der Vergessenheit. Lethe, Herr der Tiefe.
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