R. L. Stine
Die Schlafwandlerin Wenn Alpträume wahr werden
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manuela Freudenfeld
...
9 downloads
493 Views
433KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
R. L. Stine
Die Schlafwandlerin Wenn Alpträume wahr werden
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manuela Freudenfeld
Loewe
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Zugeschneit : Rote Tinte im weißen Schnee / aus dem Amerikan. übers, von Manuela Freudenfeld . – 1. Aufl. – 1997
ISBN 3-7855-3093-5
ISBN 3-7855-3093-5 - 1. Auflage 1997 Titel der Originalausgabe: : The Sleepwalker Englische Originalausgabe Copyright © 1995 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 1998 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manuela Freudenfeld Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag Gesamtherstellung: Wiener Verlag Printed in Austria
Prolog Mayra war so blass wie das Mondlicht, als sie über die Wiese zu schweben schien. Ihr langes rotes Haar wurde von der kühlen Nachtluft leicht zerzaust und ihr weißes Seidennachthemd schimmerte in dem weichen Licht, während es im Nachtwind ihren Körper umschmeichelte. Mit geschlossenen Augen bewegte sich Mayra mühelos und wie ein Geist barfuß durch das hohe Gras. Ein Chor von Fröschen war plötzlich zu hören, aber dieses Geräusch störte sie nicht. Ein paar Sekunden später endete das Konzert so plötzlich, wie es begonnen hatte. Jetzt war nichts außer ihrem eigenen Atem zu hören. Er ging unregelmäßig und schwer, aber es war das einzige Zeichen, dass sie wirklich am Leben war und nicht nur eine schöne Geisteserscheinung. Verborgen in den Schatten der Nacht lief Mayra an der Hecke entlang. Mit ihren langen, wehenden roten Haaren, ihrer blassen, hellen Haut und dem weichen, schimmernden Nachthemd, das im Wind flatterte, wirkte sie wie eine Figur aus einem alten Gemälde, einem dieser großen viktorianischen Porträts. Als sie endlich die Augen öffnete, hatte sie keine Ahnung, wo sie war. Sie blickte zuerst nach unten. Ihre Füße waren nass vom Tau, der auf der Wiese lag. Obwohl die Nacht warm war, zitterte sie am ganzen Körper. Ich habe mein Nachthemd an, dachte sie. Und dann: Ich bin draußen. Aber wo draußen? Ich hatte einen ganz merkwürdigen Traum. Das Haus tauchte ganz plötzlich vor ihr auf, so als wäre es wie sie gerade über die Wiese geschwebt. Ich bin in unserem Vorgarten. Im Nachthemd. Vereinzelte schwarze Wolken schoben sich jetzt vor den vollen Mond. Die Schatten um sie herum wurden plötzlich schwächer und schienen sich zu bewegen. Sie spürte, wie kalt ihr war, aber nicht von der Nachtluft, sondern vor Angst. 9
Als sie das Haus anstarrte, wirkte es so anders. Es sah so groß aus und wirkte so abweisend. Die Fenster waren dunkel. Drinnen war niemand wach. Keiner wusste, dass sie hier draußen war und barfuß in dem kalten, feuchten Gras stand. Wie bin ich nur hierher gekommen? Schlafe ich oder bin ich wach?
Kapitel 1 Mrs. Barnes gähnte, als sie den Teller mit Rührei vor Mayra auf den Frühstückstisch stellte. „Meine Güte, ich verstehe das nicht. Ich bin morgens müder als abends, wenn ich ins Bett gehe.“ Sie trug bereits ihre weiße Schwesterntracht. Mayra starrte auf das glibbrige Ei auf ihrem Teller und verzog das Gesicht. „Warum muss ich morgens Rührei essen?“ „Sieht aus wie schon mal gegessen“, meinte Mayras Schwester Kim mit der typischen Offenherzigkeit einer Zehnjährigen. „Solche Sachen sagt man nicht, wenn man am Tisch sitzt“, wies Mrs. Barnes sie zurecht. „Noch nicht mal, wenn es wirklich so ist.“ „Aber es sieht doch nun mal so aus“, protestierte Kim. „Du brauchst ein richtiges Frühstück“, erklärte Mrs. Barnes ihrer Tochter Mayra und ging nicht weiter auf ihre kleine Tochter ein. „Du fängst heute Morgen mit deinem neuen Job an. Also brauchst du genügend Energie.“ „Du meinst ein bisschen Cholesterin um auf Trab zu kommen. Herzlichen Dank, Schwester Nancy“, seufzte Mayra und nahm endlich mit der Gabel das Ei in Angriff. „Schwester Nancy. Schwester Nancy“, plapperte Kim nach. Aus irgendeinem Grund fand sie die Anrede witzig. Mrs. Barnes nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Oh, nein. Das darf nicht wahr sein.“ Ein paar Kaffeespritzer waren auf ihrer weißen Bluse gelandet. Sie rannte zum Spülbecken um die Flecke mit einem nassen Tuch herauszureiben. Mayra schüttete inzwischen fast ein Kilo Salz auf ihr Ei. Wenigstens schmeckte es so etwas besser. „Ich fasse es nicht, dass 10
ich heute arbeiten muss“, brummte sie. „Schöner Sommer!“ „Schöner Sommer. Schöner Sommer“, wiederholte Kim, die den Mund voller Cornflakes hatte. „Hör endlich auf alles nachzuplappern, was ich sage“, sagte Mayra. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du den Job überhaupt bekommen hast“, sagte Mrs. Barnes und kam an den Tisch zurück. „Hey – vielen Dank für die gute Meinung, die du von mir hast“, gab Mayra zurück. „Nein. So meine ich das nicht, das weißt du. Ich dachte einfach nicht, dass Mrs. Cottler gerade dich nehmen würde – wegen mir.“ Ganz vorsichtig trank sie noch einen Schluck Kaffee, hielt aber diesmal die Untertasse so, dass nichts passieren konnte. „Ich hatte Dienst bei ihr, als sie letztes Jahr bei uns im Krankenhaus lag. Oh, war das ein Aufstand, den diese Frau veranstaltete. Und dann noch diese Schmerzen, Schwester, Sie wissen schon wo!“ „Wo denn?“, fragte Kim und brach dann in Lachen aus. „Mrs. Cottler konnte nicht aufhören sich über alles im Krankenhaus zu beschweren – oder über mich. Man konnte es ihr einfach nicht recht machen. Sie hat sogar meinen Chef kommen lassen um ihm zu sagen, was für eine schlechte Schwester ich bin und dass ich sie umbringen will. Kannst du dir das vorstellen?“ Nein, das konnte Mayra nicht. Sie wusste, wie ernst ihre Mutter ihren Job nahm und wie hart sie im Krankenhaus arbeitete. Nachdem ihre Eltern geschieden waren und Mayras Vater sie verlassen hatte, war der Beruf für ihre Mutter zur wichtigsten Sache im Leben geworden, ausgenommen Mayra und Kim natürlich. „Und als ich dann hörte, du hast dich bei ihr um den Job beworben, hätte ich nicht im mindesten damit gerechnet, dass du überhaupt eine Chance hast“, fuhr ihre Mutter fort und trank ihren Kaffee aus. „Aber vielleicht hat sie einfach nicht mitgekriegt, dass du meine Tochter bist.“ „Du meinst, sie ist eine schreckliche alte Hexe? Warum hast du dann zugelassen, dass ich den Job annehme?“ „Ich bin sicher, sie wird nett zu dir sein“, erklärte ihre Mutter schnell. Vielleicht hätte sie Mayra besser nichts erzählen sollen über den Krankenhausaufenthalt von Mrs. Cottler. „Du hast doch gesagt, sie war freundlich, als du dich vorgestellt hast.“ 11
Ja. Sie war ganz süß“, gab Mayra zu. „Und sie zahlt so großzügig“, fügte Mrs. Barnes hinzu, nahm ihre Kaffeetasse und spülte sie aus. „Ich meine, fünf Dollar die Stunde nur für ein bisschen Aufräumen, Essen vorbereiten und Vorlesen, da kann man sich doch nicht beschweren, oder? Komm schon, Mayra, du hast verdammt viel Glück gehabt.“ „Glaub ich auch“, gab Mayra zu, während sie beschloss das Ei einfach stehen zu lassen. Sie trank ihr Glas Orangensaft auf einen Zug leer. „Und auch, wenn es nicht so wäre. Wir brauchen das Geld, das weißt du. Dein Vater, wo auch immer er stecken mag, steuert nicht einen Penny bei.“ Ein bitterer Ausdruck huschte über Mrs. Barnes’ Gesicht und ließ sie älter aussehen als ihre neununddreißig Jahre. „Warum kann ich denn keinen Job haben?“, wollte Kim wissen. Rund um ihre Schüssel mit den Cornflakes war alles voller Milchflecken. Mayra war immer ordentlich und vorsichtig gewesen. Kim war genau das Gegenteil davon, eigentlich in fast allen Dingen. „Du hast doch einen Job“, zog Mayra sie auf. „Du musst ein kleines, braves Mädchen sein.“ „Und du bist doof, gab Kim zurück. Draußen auf der Straße hupte es. „Das ist der Bus fürs Sommerlager“, rief Mrs. Barnes und rannte zur Tür um dem Fahrer ein Zeichen zu geben, dass Kim sofort kommen würde. „Hast du deine Tasche gepackt? Hast du auch nichts vergessen?“ „Nein, Mom“, sagte Kim, nahm ihre Segeltuchtasche und lief zur Tür. „Ich muss jetzt ins Krankenhaus“, meinte Mrs. Barnes und richtete die Nähte an ihren Strümpfen. „Bist du vorbereitet für deinen Job?“ „Nicht nach dem, was du mir gerade erzählt hast!“, rief Mayra und trocknete sich die Hände. „Mrs. Cottler wird mich wahrscheinlich wie eine Sklavin behandeln. Vielleicht legt sie mich an die Kette und zwingt mich ihren Herd mit einer Zahnbürste sauber zu machen!“ „Du und deine wilde Fantasie“, meinte ihre Mutter seufzend. „Ich hätte dir die ganze Geschichte nie erzählen sollen. Wie konnte ich nur vergessen, was für Sachen du dir dauernd ausdenkst und wie du immer alles übertreibst und die Sachen viel schlimmer machst, als sie 12
eigentlich sind.“ „Glaubst du wirklich, dass ich so bin?“, fragte Mayra ein bisschen verletzt. Mrs. Barnes küsste sie zur Antwort auf die Stirn, nahm ihre Tasche und lief zur Tür. „Soll ich dich mitnehmen?“ „Nein, danke. Ich laufe lieber. Denk an die Eier!“ „Mrs. Cottler wohnt doch in der Fear Street, nicht? Du bist wirklich mutig heute Morgen.“ „Ja, sie wohnt in der Nähe vom See. Aber tagsüber habe ich keine Angst vor der Fear Street“, sagte Mayra. „Ich meine, was soll denn schon passieren?“ „Oh, meine Perlen!“ Hazel, die schwarze Katze von Mrs. Cottler, hatte mit der Pfote nach Mayras Kette geschlagen und die Perlen rollten in alle Richtungen über den Küchenboden. „Was ist denn passiert, Mayra?“, fragte Mrs. Cottler aus dem Esszimmer. „Halb so wild“, gab Mayra zurück und bückte sich um die Perlen aufzusammeln. Die Katze rannte erschrocken aus dem Zimmer, weil Mayra wie sie auf allen vieren lief. Mayra hing ganz besonders an dieser Kette. Walker, ihr neuer Freund, hatte sie ihr an dem Abend geschenkt, bevor er mit seiner Familie in die Ferien gefahren war. Es waren Glasperlen, so hellblau wie Opale. Sie hatte ihm versprochen sie jeden Tag zu tragen und jedes Mal, wenn sie sie betrachtete, an ihn zu denken. Und jetzt? „Oh. Diese Kette ist kaputt.“ Mrs. Cottler tauchte in der Tür auf. „Soll ich dir helfen?“ „Nein, ich glaube, ich habe sie schon alle.“ Mayra stand auf, die Perlen hatte sie fest in der Hand. „Dann lass sie mich wenigstens wieder für dich auffädeln.“ Auf ihren Stock gestützt, streckte Mrs. Cottler eine Hand aus, die überraschend weich und glatt aussah, überhaupt nicht wie die einer alten Frau. Mit ihrer glatten Haut, den dunkelroten Lippen und kohlrabenschwarzen Haaren wirkte Mrs. Cottler wesentlich jünger, als sie in Wirklichkeit war. Nur der Stock gab Auskunft über ihr Alter. Heute sah sie besonders sommerlich und jugendlich aus in ihrem blumenbedruckten Rock und der gelben Bluse. 13
„Danke, das ist schon okay. Wirklich“, widersprach Mayra. „Ich bestehe aber darauf. Es macht mir Spaß. Ich fädele gern Perlen auf. Bitte, gib sie mir. Und für meine alten Hände ist es gut, ein bisschen Beschäftigung zu haben.“ Ohne weiteren Protest gab Mayra der alten Frau die Perlen. Mrs. Cottler lächelte ihr freundlich zu und machte sich mit den Perlen wieder auf den Weg ins Esszimmer. „Gib uns noch etwas Suppe und komm rüber“, rief sie über die Schulter. Es war Mittwochnachmittag, Mayras dritter Tag bei Mrs. Cottler. Zu ihrer großen Erleichterung waren die ersten beiden Tage sehr angenehm verlaufen. Mrs. Cottler war zwar manchmal launisch und wiederholte sich häufig, aber sie machte Mayra auch fast ununterbrochen Komplimente. Wie hübsch sie sei, wie herrlich ihr rotes Haar glänzte, wenn die Sonne darauf fiel, was für eine angenehme Stimme sie habe, wenn sie vorlas – sogar Komplimente über das einfache Essen, das sie für Mrs. Cottler zubereitete. „Aber das ist doch nur Hühnersuppe aus der Dose und ein einfaches Sandwich mit Schinken und Käse“, hatte Mayra eingewandt, als Mrs. Cottler das Essen überschwänglich gelobt hatte. „Die einfachen Dinge sind oft die besten, findest du nicht?“ Jedenfalls sieht es so aus, als wäre der Job ganz angenehm, dachte Mayra, als sie aus dem Küchenfenster auf den See sah, der fast ganz von grünen Bäumen umgeben war. Schwamm da etwa jemand im See? Sie kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können. Nein. Natürlich war da keiner. Wieder mal nur ihre Einbildung. Immer versuchte sie die Dinge interessanter zu machen, als sie in Wirklichkeit waren! Nach dem Essen legte sich Mrs. Cottler gewöhnlich hin und schlief ein bisschen auf der Couch im Wohnzimmer, während Mayra das Geschirr spülte. Der Mittagsschlaf dauerte nie länger als eine Stunde. In dieser Zeit konnte Mayra fernsehen oder ungestört an Walker denken oder das Haus erkunden. Das Haus war überraschend modern möbliert mit Sesseln aus schwarzem Leder und Chrom, einer passenden Couch und einem niedrigen Kaffeetisch aus Plexiglas. An den Wänden entlang standen Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Mrs. Cottler hatte gern und viel gelesen. Jetzt, wo das Lesen ihre Augen 14
ermüdete, hatte sie es gern, wenn man ihr vorlas. Aber am meisten erstaunte Mayra die große Kollektion von Krimskrams. Er stand einfach überall: auf den Tischen, den Fensterbänken, in den Regalen. Einige Dinge waren sogar in extra Glaskästen gruppiert, die zwischen den Büchern standen. „Was für eine merkwürdige Sammlung!“, hatte Mayra ausgerufen, als sie am ersten Tag in Mrs. Cottlers Haus gekommen war. Die alte Frau hatte nur den Kopf geschüttelt und gemurmelt: „Das ist alles wertloses Zeug. Nichts als Staubfänger.“ Als Mayra versucht hatte sie etwas mehr darüber auszufragen, hatte Mrs. Cottler einfach das Thema gewechselt, indem sie meinte: „Es ist jetzt Zeit für unseren Spaziergang.“ Jeden Nachmittag spazierten Mayra und Mrs. Cottler unten am Seeufer entlang. Mrs. Cottler stützte sich mit einer Hand auf ihren Stock, mit der anderen hielt sie sich an Mayras Arm fest. Es fiel der alten Frau offensichtlich schwer, eine so lange Strecke auf nachgiebigem Boden zu gehen. Aber sie bestand trotzdem jeden Tag darauf. Aus irgendeinem Grund war das der Teil ihres Jobs, den Mayra am wenigsten mochte. Obwohl der See wunderschön war, machten sie diese täglichen Spaziergänge nervös. Jedes Mal, wenn sie über das grünblaue Wasser des Sees blickte, lief ihr ein Schauer über den Rücken, egal wie warm der Tag war. Jetzt half sie Mrs. Cottler einen dicken Holzstamm zu umgehen, der am Ufer lag. Die alte Frau wirkte geistesabwesend und sah in die Ferne. „Mrs. Cottler, fühlen Sie sich nicht wohl?“ Mrs. Cottler starrte weiter über den See und schien sie gar nicht zu hören. „Hier habe ich meinen Vincent verloren“, sagte sie mit weicher Stimme. „Vincent?“ „Meinen Sohn. Er war erst drei. Wäre er doch damals nur nicht von mir weggelaufen. Er konnte doch nicht schwimmen.“ Sie drehte sich zu Mayra um und seufzte. „Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich ihn sehen irgendwo da draußen. So viele Jahre sind vergangen und ich sehe ihn immer noch.“ Sie umklammerte Mayras Arm fester. „Wann ist das denn passiert?“, fragte Mayra. 15
Mrs. Cottler gab keine Antwort. Eine ganze Weile schwieg sie, dann schlug sie den Rückweg zum Haus ein. „Lass uns wieder reingehen. Es ist Zeit zum Vorlesen.“ „Nicholas Nickleby“ von Charles Dickens hatte sich Mrs. Cottler zum Vorlesen herausgesucht. Das war ein ziemlich dicker Wälzer und Mayra war sicher, dass sie den ganzen Sommer brauchen würden um es durchzubekommen. In diesem Jahr hatten sie in der Schule ein anderes Buch von Dickens lesen müssen. Mayra fand es ganz okay, aber es war nicht gerade das, was sie sich selbst aussuchen würde. Deshalb war sie überrascht, als sie feststellte, dass „Nicholas Nickleby“ ihr richtig gefiel und das Vorlesen Spaß machte. Das Buch war sogar zum Teil lustig. Mrs. Cottler saß kerzengerade auf der schwarzen Ledercouch, während Mayra las, und streichelte Hazel, die neben ihr lag und so aussah, als würde sie Mayra ebenfalls aufmerksam zuhören. Ab und zu schloss Mrs. Cottler die Augen. Mayra war nicht sicher, ob sie sich ganz der Geschichte überließ oder ein bisschen döste, las aber auf jeden Fall weiter. Es war so still im Haus. Die einzigen Geräusche waren das Schnurren der Katze, Mayras Stimme und das Ticken der Bronzeuhr über dem Kamin. „Mayra, mir ist ein bisschen kühl.“ Mrs. Cottlers plötzliche Bemerkung brachte Mayra aus dem Rhythmus. Sie hatte gedacht, die alte Frau sei eingeschlafen. „Würdest du nach oben gehen und mir freundlicherweise einen Pullover bringen? Sie sind im Kleiderschrank.“ Ja, natürlich“, sagte Mayra und schlug das Buch zu. „Mir fällt das Aufstehen so schwer. Und dann das Treppensteigen!“, meinte Mrs. Cottler. Das hatte sie mindestens schon drei- oder viermal an diesem Nachmittag gesagt. „Das sind die Beine. Sonst bin ich in ganz guter Verfassung, aber die Beine wollen nicht mehr.“ Ja, sie ist wirklich gut in Form, dachte Mayra, als sie die Treppe hinauflief. Diese Haut. Ihr Gesicht ist fast so glatt wie meins. Wie macht sie das nur? Mayra lief durch den dunklen Flur in Mrs. Cottlers Schlafzimmer am anderen Ende. Sie sah sich um. Der Raum hatte dunkelblaue 16
Tapeten mit kleinen weißen Sternen, die zu blinken schienen. Es gab zwei Kleiderschränke, die gegenüber dem breiten Bett an der Wand standen. In welchem waren denn nun die Pullover? Mayra entschied sich zuerst für den rechten Kleiderschrank und zog die obere Schublade auf. „Wow!“ Wie merkwürdig! Die ganze Schublade war voll mit schwarzen Kerzen, Dutzende von langen schwarzen Kerzen. Mayra nahm eine heraus. Sie roch daran und war überrascht von dem säuerlichen Geruch, den sie ausströmte. Irgendwie alt und muffig. Das Wachs fühlte sich hart und glatt an in Mayras Hand. Und der Docht war genauso schwarz wie die Kerze selbst. Was für seltsame Kerzen, dachte Mayra und nahm noch eine in die Hand. Wozu brauchte Mrs. Cottler sie? Und warum versteckte sie sie in einer Schublade im Kleiderschrank? Ein lautes Geräusch erschreckte Mayra und sie ließ die beiden Kerzen fallen. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um und sah Hazel, die schwarze Katze, die sie mit großen grünen Augen anstarrte. „Okay, okay, Hazel. Kein Grund zur Aufregung. Ich komme ja schon.“ Mayra legte die Kerzen zurück in die Schublade, fand einen Pullover in der Schublade darunter und beeilte sich ihn Mrs. Cottler nach unten zu bringen. Aber die ganze Zeit fühlte sie die Augen der Katze auf sich gerichtet. Sie schien sie dafür anzuklagen, dass sie heimlich herumgestöbert und etwas gesehen hatte, das sie nichts anging. Ihr Blick war wie eine Anschuldigung, eine Warnung…
17
Kapitel 2 Mayra verabschiedete sich von Mrs. Cottler und ging aus dem Haus. Behutsam schloss sie die schwere Eingangstür hinter sich. Tief atmete sie die frische Sommerluft ein und sah nach oben in den Himmel. Dunkle schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Sie sollte sich besser beeilen nach Hause zu kommen, bevor der Regen losbrach. Schnell stellte sie ihren Walkman auf Q-110 ein, den Sender, der den ganzen Tag über Supermusik brachte, und machte sich auf den Weg die Straße hinunter. Die schwarze Katze wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Die Art, wie sie gefaucht hatte, als sie Mayra mit den schwarzen Kerzen in der Hand gesehen hatte, und dann ihr Blick! Mayra lief schneller und ließ die Musik in ihren Ohren alle dunklen Gedanken aus ihrem Kopf verbannen. Denk einfach immer daran, wie viel Geld du haben wirst, wenn der Sommer vorbei ist, sagte sie sich. Denk daran, was für tolle neue Klamotten du dir kaufen kannst, wenn die Schule wieder anfängt. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie überließ sich ganz der Musik und passte ihren Schritt dem Rhythmus an, dachte an gar nichts mehr und begann sich endlich gut zu fühlen. Das ständige Dröhnen des Schlagzeugs in ihren Ohren begleitete sie bei jedem Schritt. Aus irgendeinem Grund sah sie plötzlich das Gesicht ihres Vaters vor sich. Wie lange hatte sie ihn eigentlich nicht mehr gesehen? Über ein Jahr. Warum hatte sie nichts mehr von ihm gehört? Weil er sich nicht um uns kümmert, gab sie sich selbst die Antwort. Wir sind ihm alle egal, deshalb hat er uns auch verlassen. Sie gab sich Mühe an etwas Schönes zu denken. Walker, ihr neuer Freund, fehlte ihr ganz schön. Er war für zwei Wochen weg. Zwei lange Wochen. Sie musste an den Abend denken, bevor er gefahren war. Diese langen Küsse… Wieder überließ sie sich ganz der Musik und drehte das Radio noch lauter. Je lauter die Musik, desto weniger Chancen hatten 18
irgendwelche trüben Gedanken. „Lass dich einfach gehen“, sagte sie laut. „Geh mit der Musik. Überlass dich einfach der Musik.“ Sie wollte gerade um die Ecke der Fear Street biegen, als ihr jemand die Hand auf die Schulter legte. „Oh!“ Überrascht und erschrocken riss sie sich die Kopfhörer von den Ohren und drehte sich um. „Link! Du hast mich zu Tode erschreckt.“ Er grinste. „Ich habe dich bestimmt schon seit hundert Metern gerufen.“ „Ach so. Ich hatte das Radio so laut.“ Sie stellte den Walkman ab. „Und was machst du hier, Link?“ Er starrte sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Er sah gut aus in den verwaschenen Jeans, die er abgeschnitten hatte, und seinem blauen T-Shirt. Obwohl der Sommer erst angefangen hatte, war er schon sehr braun. Okay, okay. Er sieht wirklich toll aus, musste Mayra insgeheim zugeben. Das Problem ist nur, er weiß es auch. „Ich… ich wollte mit dir sprechen, Mayra.“ „Das tut mir Leid. Ich möchte nämlich überhaupt nicht mit dir sprechen.“ Sie drehte sich um und lief einfach weiter. Eigentlich konnte sie selbst kaum glauben, dass sie so kalt reagierte, aber welche Wahl hatte sie denn? Sie hatte vor einem Monat mit ihm Schluss gemacht und jetzt stand er wieder vor ihr und folgte ihr überallhin wie ein Hündchen. „Ich denke, es ist alles gesagt, was zu sagen war“, fügte sie noch hinzu ohne sich umzudrehen. Link rannte ihr nach und griff nach ihrem Arm. „Das glaube ich nicht. Ich habe jedenfalls noch eine ganze Menge zu sagen.“ „Dann schreib mir doch einen Brief, zischte sie ihn an. Entschlossen zog sie ihren Arm weg. „Lass mich endlich, Link. Sieh mal, es tut mir Leid. Ich will nicht gemein zu dir sein. Aber es ist einfach aus zwischen uns. Ich bin jetzt mit Walker zusammen. Und du sollst mich in Ruhe lassen.“ „Aber, Mayra…“ Er warf ihr einen bittenden Blick zu. Früher war sie unter diesem Blick dahingeschmolzen. Jedes Mal. Aber jetzt fand sie ihn einfach nur albern. 19
Wie konnte ich jemals so verknallt in ihn sein?, fragte sie sich selbst. Dabei ist er so… so oberflächlich. „Wir könnten uns doch irgendwo hinsetzen und nur ein paar Minuten miteinander reden. Ich bin ganz sicher, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung kommt.“ Link verstellte ihr den Weg. Er ist seiner Schwester total ähnlich, dachte Mayra plötzlich. Genau wie Stephanie. Die beiden könnten auch Zwillinge sein. Beide sind so dunkel und sehen so gut aus, beide haben so viel Energie. „Zwischen uns gibt es nichts, was in Ordnung kommen musste. Vergiss es“, meinte Mayra gereizt. Seit sie mit ihm Schluss gemacht hatte, bombardierte er sie mit Anrufen und rannte ihr dauernd hinterher. „Sieh mal, Link, ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bin müde. Außerdem will ich nach Hause, bevor es anfängt zu regnen.“ „Aber du und ich – das ist doch viel wichtiger als ein paar Regentropfen.“ Er lief weiter rückwärts vor ihr her. „Du und ich – das gibt es nicht mehr. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich jetzt mit Walker gehe.“ „Der Typ ist doch das Letzte.“ „Was ist er? Du bist das Letzte. Wag es nicht, noch einmal so etwas zu sagen. Und jetzt verschwinde endlich und lass mich nach Hause gehen!“ Link blieb stehen und trat zur Seite. Mayra rannte an ihm vorbei. „Gib mir doch wenigstens noch eine Chance“, rief er ihr hinterher. „Kümmere dich um deine Sachen!“, schrie sie ihn an und rannte, so schnell sie konnte. „Das wird dir noch Leid tun!“, rief er, klang aber eher traurig als böse. „Das wirst du noch bereuen!“ Als Mayra sich nach ihm umdrehte, war er verschwunden. „Komm, Hazel, setz dich endlich“, sagte Mrs. Cottler und beugte sich über ihre schwarze Katze. „Mayra möchte mit dem Vorlesen beginnen.“ Die alte Frau lächelte, als die Katze gehorsam auf die Couch sprang und sich zusammenrollte. „Du kannst anfangen, Mayra. Ich genieße dieses Buch so sehr, vor allem deshalb, weil du so wunderbar liest.“ 20
„Danke, Mrs. Cottler.“ Mayra öffnete das Buch und blätterte darin herum, bis sie das vierte Kapitel gefunden hatte. Aber bevor sie das erste Wort lesen konnte, hörte sie ein lautes Klopfen an der Tür. „Nanu, wer könnte das denn sein?“, fragte Mrs. Cottler und stützte sich auf ihren Stock um auf die Füße zu kommen. Das Klopfen kam wieder, diesmal noch lauter. „Moment, Moment. Ich komme ja schon.“ Mayra war als Erste an der Tür und öffnete. Ein Mann mittleren Alters mit einer beginnenden Glatze und rotem Gesicht starrte sie wütend an. Trotz der Hitze des Nachmittags trug er einen dunkelgrauen Wollanzug. Mit einem feuchten Taschentuch strich er sich über die breite Stirn. Mayra sah, dass er einen Pfirsich in der anderen Hand hatte. „Wo ist Mrs. Cottler?“, polterte er los ohne auch nur hallo zu sagen oder Mayra sonst irgendwie zu begrüßen. „Ich komme schon, ich komme ja schon“, rief Mrs. Cottler hinter Mayras Rücken. „Sind Sie das schon wieder, Mr. Clean?“ „Ich heiße Kleeg – nicht Clean!“, rief er aufgebracht. Sein Gesicht wurde immer röter. „Was wollen Sie denn diesmal, Mr. Clean?“, fragte Mrs. Cottler, die jetzt neben Mayra in der Tür auftauchte. Er verdrehte die Augen und hielt ihr den Pfirsich vor die Nase. „Na, was glauben Sie wohl?“, gab er böse zurück. „Oh, bitte nicht schon wieder die Pfirsiche. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts dagegen tun kann.“ Mayra trat einen Schritt zurück. Mr. Clean oder Kleeg, oder wie immer er hieß, schien mit jeder Sekunde wütender zu werden. „Sie müssen aber etwas dagegen unternehmen!“, rief er. „Ich habe sie bestimmt schon sechs Mal darum gebeten und ich werde es nicht noch einmal tun. Die Pfirsiche von Ihrem verdammten Baum liegen überall in meinem Garten herum.“ „Dann essen Sie sie doch“, gab Mrs. Cottler zurück. „Mayra, mach bitte die Tür zu.“ „Ich kann meinen Rasen nicht mähen wegen der verfluchten Pfirsiche!“, schrie der Nachbar. „Und ich kann die Pfirsiche nicht dazu bringen, am Baum hängen zu bleiben“, entgegnete Mrs. Cottler ruhig. Aber Mayra sah, dass 21
ihre Augen funkelten. Sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht. Mr. Kleeg drehte sich um und stieg die Verandatreppen hinunter. „Ich werde diesen verdammten Baum absägen. Genau das werde ich tun.“ „Beruhigen Sie sich, Mr. Clean“, meinte Mrs. Cottler freundlich. „Sie werden überhaupt nichts tun. Regen Sie sich nicht so auf in dieser Hitze. Das könnte sehr gefährlich für Sie werden.“ Er fluchte laut und lief in die Richtung seines Hauses. „Oh, dieser Mann. Was für eine Nervensäge“, murmelte Mrs. Cottler mehr zu sich selbst als zu Mayra. „Was für eine Nervensäge.“ Sie drehte sich zu Mayra um und lächelte. „Mach bitte die Tür zu.“ Mayra griff nach der Türklinke, hielt dann aber inne. „Oh, er hat sein Taschentuch verloren“, sagte sie. Sie trat nach draußen und hob es vom Boden auf. „Soll ich ihm hinterherlaufen und es ihm bringen?“ Mrs. Cottlers Augen leuchteten auf und ihr Mund formte ein sehr zufriedenes Lächeln. „Nein. Nein, meine Liebe. Bring es ihm nicht zurück. Gib es lieber mir.“ Sie nahm Mayra das feuchte Taschentuch aus der Hand und steckte es schnell in ihre Rocktasche. Dann ging sie zurück zur Couch. „Wenn er es zurückhaben möchte, kann er es selbst holen. Und jetzt lass uns endlich unser Kapitel lesen.“ Als Mayra zu lesen begann, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie dachte an Walker. Am Samstag würde er endlich aus den Ferien zurückkommen. Ob er wohl in diesem Moment auch an sie dachte? Und sonst? Sie versuchte so etwas wie ein Signal an ihn auszusenden, als sie weiterlas. In Gedanken formte sie sein Bild – sein kurzes blondes Haar, die blauen Augen, sein schüchternes Lächeln. Ich denke jetzt gerade an dich, Walker. Ich denke an dich. Denkst du auch an mich? Er wäre stolz auf mich, dachte Mayra. Walker nahm alles Magische und Übersinnliche sehr ernst. Er wollte später mal ein richtiger Magier werden. Deshalb beschäftigte er sich mit Telepathie und psychischen Kräften. Mayra hatte nie viel über diese Sachen nachgedacht. Aber in den 22
paar Wochen, seit sie Walker kannte, hatte er ihr bereits eine Menge beigebracht. Es würde ihm gefallen, wenn er wüsste, dass ich auf diesem Wege versuche mit ihm Kontakt aufzunehmen, dachte sie. Plötzlich bekam sie mit, dass Mrs. Cottler mit ihr sprach. „Wie bitte? Oh, das tut mir Leid“, entschuldigte sich Mayra. „Ich war so gefangen von dem Buch, dass ich Sie nicht gehört habe.“ „Das macht nichts. Du liest so wunderbar“, sagte Mrs. Cottler und streichelte Hazel. „Ich bin froh, dass dir das Buch auch gefällt.“ Sie wollte aufstehen. „Aber ich fühle mich heute so müde. Wahrscheinlich ist das die Hitze. Würdest du mir bitte aufhelfen und mich nach oben in mein Zimmer bringen?“ „Natürlich“, meinte Mayra, legte das Buch aus der Hand und beeilte sich der alten Frau beim Aufstehen behilflich zu sein. „Du kannst heute früher gehen. Ich lege mich ein Stündchen hin.“ Mayra half der alten Frau die Treppe hinauf und über den Flur bis in ihr Schlafzimmer. Dann verabschiedete sie sich und lief die Stufen wieder hinunter. Schnell schob sie das dicke Buch ins Regal zurück, aber als sie gehen wollte, fiel ihr Blick auf Mrs. Cottlers Stock, der vor der Couch auf dem Boden lag. „Den bringe ich ihr besser nach oben“, murmelte sie. Sie war schon fast auf der letzten Stufe, als Hazel oben auf dem Absatz erschien. Die grünen Augen der Katze funkelten. Sie machte einen Buckel und fauchte Mayra an. „Hazel, was ist denn los mit dir?“, flüsterte Mayra. „Warum machst du das? Ich bin es doch nur.“ Sie stieg die nächsten Stufen hinauf. Die Katze starrte sie an, sie machte immer noch einen Buckel. „Komisches Tier“, meinte Mayra. „He, wir sind doch Freunde, erinnerst du dich?“ Die Katze fauchte nur zur Antwort. Es sieht fast so aus, als will sie mich davon abhalten, nach oben zu gehen, dache Mayra. Aber das kam ihr selbst albern vor. Nur weil es eine schwarze Katze ist, musst du dir nicht gleich einbilden, dass sie anders ist als andere Katzen, beruhigte sich Mayra. Wahrscheinlich faucht sie nur wegen einer Fliege oder einer Spinne oder einfach nur so. Die Tür zu Mrs. Cottlers Zimmer stand einen Spalt offen. Der Raum war dunkel, bis auf das wenige Licht, das durch die Fenster 23
fiel. Mrs. Cottler saß reglos auf ihrem Bett. Mayra zögerte an der Tür. „Mrs. Cottler?“, rief sie leise. Die alte Frau reagierte nicht. Mayra sah, dass sie das Taschentuch von Mr. Kleeg in der Hand hielt. „Mrs. Cottler?“ Wieder keine Reaktion. War sie vielleicht in Trance? Was machte sie da? Vorsichtig ging Mayra einen Schritt vorwärts. Die Katze rieb sich plötzlich an ihren Beinen und erschreckte sie. Im Zimmer war es kühl, viel kühler als im Flur. Mrs. Cottler bewegte sich nicht. Ich verschwinde besser wieder, dachte Mayra. Sie lehnte den Stock gegen die Wand und rannte die Treppe hinunter ohne sich noch einmal umzusehen.
24
Kapitel 3 „Und du glaubst wirklich, sie ist eine Hexe?“ „Na ja, sie hat immerhin eine schwarze Katze. Und ihr Haus ist voller seltsamer Dinge, Tierpfoten und solches Zeug. Außerdem hat sie eine ganze Schublade voll schwarzer Kerzen, die sie in ihrem Schlafzimmer versteckt. Und sie saß auf ihrem Bett in einem Trancezustand – jedenfalls sah sie so aus, als wäre sie weggetreten mit dem Taschentuch von diesem Mann in der Hand. Was würdest du denn denken, wenn du das siehst?“ „Wahrscheinlich würde ich denken, dass du wirklich eine blühende Fantasie hast!“ Mayra war in ihrem Zimmer und bürstete sich das Haar, während sie mit ihrer besten Freundin, Donna Cash, telefonierte. Es war Freitagmorgen und in ein paar Minuten musste sie zur Arbeit gehen. „Es muss eine logische Erklärung dafür geben“, meinte Donna. „Klar gibt es eine logische Erklärung, Donna. Mrs. Cottler ist eine Hexe!“ „Also“, sagte Donna nachdenklich, „ich glaube das einfach nicht. Warum fragst du sie denn nicht einfach?“ „Was soll ich denn sagen? Sind Sie vielleicht eine Hexe, Mrs. Cottler? Das ist doch wohl eine ziemlich persönliche Frage. Meinst du nicht?“ „Schon möglich.“ „Und außerdem, eigentlich darf ich ja gar nichts wissen von den schwarzen Kerzen und den ganzen Sachen. Vielleicht würde sie total wütend werden, wenn sie wüsste, dass ich sie in Trance gesehen habe.“ „Kann sein.“ „Mrs. Cottler ist immer so nett zu mir“, überlegte Mayra. „Ich kann selbst kaum glauben, dass…“ „Dann verdirb es dir besser nicht mit ihr“, schlug Donna vor. Ja. Wahrscheinlich hast du Recht.“ „Hey, ich habe doch nur Spaß gemacht. Komm schon, Mayra, hör auf zu spinnen. Du glaubst doch nicht wirklich, dass es Leute gibt, 25
die andere mit einem Fluch belegen können, oder?“ „Ich musste nur an etwas denken, das uns Links Schwester Stephanie erzählt hat“, begann Mayra. Sie ließ die Haarbürste fallen. „Sie hat sich doch immer diese komischen Bücher über Okkultismus aus der Bibliothek geholt.“ „Allerdings. Eine Zeit lang war sie richtig besessen von dem Thema. Ich glaube, das war, bevor sie den Sex entdeckt hat!“ Donna lachte. Sie war klein für ihr Alter, eigentlich die Kleinste in der Klasse, aber sie hatte ein tiefes, raues Lachen. „Na ja, eines Tages waren wir alle bei Stephanie und…“ „Und da hast du Link kennen gelernt, stimmt’s?“ „Hör doch mal zu, Donna! Stephanie hat uns etwas vorgelesen aus diesem Buch über Hexen und ihre Kräfte. Und da stand, dass eine Hexe, um jemanden mit einem Fluch zu belegen, etwas Persönliches von ihm haben muss. Etwas zum Anziehen oder eine andere Sache des Opfers. Und ich erinnere mich genau, wie froh Mrs. Cottler war, als der arme Mann sein Taschentuch verloren hatte. Später saß sie auf dem Bett und hatte das Taschentuch ganz fest mit der Hand umklammert und die Augen geschlossen…“ „Wow! Bleib auf dem Teppich, Mayra“, unterbrach sie Donna. Dann hörte Mayra deren Mutter rufen. „Ich lege gleich auf. Nur noch eine Minute!“ „Ich muss Schluss machen“, sagte Mayra und sah auf die Uhr. Jedenfalls nimmst du das ganze Zeug mit der Hexerei viel zu ernst“, meinte Donna. „Das ist doch alles Spinnerei, Mayra. Dein Problem ist, dass du zu viel mit Walker zusammen bist.“ „Also, was soll das denn nun wieder heißen?“, fragte Mayra aufgebracht. „Gar nichts. Ich weiß nur, dass er an dieses ganze mystische Zeug glaubt, und jetzt tust du es auch.“ „Du magst Walker wohl nicht, was?“, fragte Mayra herausfordernd. „Das habe ich nicht gesagt. Walker ist schon in Ordnung. Er ist nur ein bisschen merkwürdig, das ist alles.“ „Du hältst ihn für merkwürdig, nur weil er sich für bestimmte Dinge interessiert?“ Mayra war selbst überrascht, wie wütend sie reagierte. „Er ist eben nicht wie die anderen Typen an der Schule, die 26
sich nur für Feten interessieren und herumhängen. Er will mehr und er nimmt diese Sachen sehr ernst.“ „Außerdem ist er süß.“ Donna versuchte die ganze Sache wieder einzurenken. „Tut mir Leid“, meinte Mayra schnell. „Ich wollte dich nicht anmachen. Wahrscheinlich bin ich nur ein bisschen durcheinander wegen Mrs. Cottler und weil Walker am Sonntagabend endlich zurückkommt. Wir haben uns zwei Wochen nicht gesehen.“ „Ist schon okay.“ „Ich weiß, dass die Leute an der Schule Walker für komisch halten, weil er sich mit Magie beschäftigt. Und weil er so schüchtern ist. Aber ich will nicht, dass meine beste Freundin ihn auch für komisch hält.“ „Tu ich ja gar nicht“, versicherte ihr Donna. „Ich meine, ich kenne ihn viel zu wenig.“ Donna rief ihrer Mutter zu, sie würde sofort auflegen. „Hey, weil wir gerade von Stephanie gesprochen haben, hast du sie mal wieder gesehen, seit du mit Link Schluss gemacht hast?“ „Nein. Als die Schule vorbei war, hat sie auch gleich angefangen mit einem Job. Sie arbeitet als Helferin in einer Kindertagesstätte oder so was.“ „Aber sie ist doch abends zu Hause, oder? Sie hätte dich doch mal anrufen können.“ „Donna, du bist wirklich für jedes Problem zu haben.“ „Wofür sind denn Freunde da?“ „Du meinst also, Stephanie ist sauer auf mich, weil ich nicht mehr mit ihrem Bruder gehe?“ „Keine Ahnung.“ Jedenfalls vielen Dank, dass du mich auf diese Idee gebracht hast. Ich brauchte gerade noch etwas, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Jetzt muss ich los.“ „Ich auch. Gib Walker am Sonntag einen dicken Kuss von mir.“ „Such dir endlich selbst einen Freund. Kümmere dich um dein eigenes Leben. Mach irgendwas!“ „Verschwinde endlich aus der Leitung!“ Beide Mädchen lachten und legten den Hörer auf. Es ist wirklich super, so eine gute Freundin zu haben, dachte 27
Mayra. Donna und ich, wir können uns alles sagen, auch was wir voneinander halten, ohne dass eine von uns gleich gekränkt ist oder sauer. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, Donna hätte sie nicht an Stephanie erinnert. Stephanie und Link klebten förmlich zusammen. Das war sehr ungewöhnlich. Sie stritten sich nie wie andere Geschwister. Obwohl Stephanie fast so alt war wie ihr Bruder, himmelte sie ihn regelrecht an. Donna hat bestimmt Recht, dachte Mayra, als sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf und die Schulterträger ihres grün-weißen Tops zurechtzog. Dann lief sie die Treppe hinunter. Stephanie ist wahrscheinlich wütend auf mich, weil ich ihren Bruder fallen gelassen habe. Deshalb hat sie die ganze Zeit nichts von sich hören lassen. Na ja, dachte sie plötzlich sehr traurig, ich habe nicht nur meinen Freund aufgegeben, sondern auch eine gute Freundin verloren… Mayra sah den Krankenwagen, als sie um die Ecke zur Fear Street bog. „Oh, nein! Mrs. Cottler!“, rief sie laut und begann zu laufen. Aber als sie näher kam, erkannte sie, dass der Krankenwagen gar nicht vor dem Haus von Mrs. Cottler parkte. Er stand vor dem Eingang des Nachbarhauses. Sie blieb in Mrs. Cottlers Einfahrt stehen und sah zu, wie zwei große Krankenpfleger in weißen Anzügen eine Trage bis zum Krankenwagen transportierten. Unter dem weißen Laken, das seinen Körper bis zum Kinn bedeckte, stöhnte ein Mann vor Schmerzen. Er hatte die Augen geschlossen. Mary erkannte ihn sofort. Es war Mr. Kleeg. Die Krankenpfleger schoben die Trage in den Krankenwagen und schlossen die Türen. Ein paar Sekunden später fuhr der Wagen aus der Einfahrt, sein blaues Licht leuchtete auf. Mayra sah hinüber zu Mrs. Cottlers Haus. Die alte Frau stand auf der Veranda, die Katze auf dem Arm. Sie hatte alles mit angesehen. „Mrs. Cottler, was ist denn passiert?“, rief Mayra und rannte hinüber zur Veranda. Mrs. Cottler wirkte sehr aufgeregt, lächelte aber. Als Mayra näher kam, änderte sie ihren Ausdruck und blickte mitleidig. „Der arme 28
Mr. Clean“, sagte sie und hielt Mayra die Tür auf. „Was für eine schreckliche, schreckliche Sache.“ „Aber was? Was ist denn mit ihm?“, rief Mayra ganz außer Atem. „Der arme Mr. Clean“, wiederholte Mrs. Cottler. „Er ist gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Oh, das müssen furchtbare Schmerzen sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn ja gewarnt, etwas Schlimmes würde passieren, so wie er sich gestern aufgeführt hat. Oh, der arme, arme Mann!“ Walker begrüßte sie schüchtern, als er aus dem Haus kam. Er lächelte ihr nervös zu und streckte die Hand aus um ihr hallo zu sagen. Seine Jeans hatten Löcher an den Knien und er trug ein TShirt mit einer Aufschrift aus Phoenix, das er sicher aus den Ferien mitgebracht hatte. Mayra lachte. Er wirkte so steif, wie er versuchte ihr die Hand zu schütteln. Schnell wich sie seiner Hand aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Sie mochte es, wenn er rot wurde. Er hatte dann zwei rote Flecken auf den Wangen. „Hey, du bist doch zwei Wochen durch den Wilden Westen gereist. Wie kommt es dann, dass du nicht braun geworden bist?“, wollte sie wissen, nahm seinen Arm und ging mit ihm in den Vorgarten. „Weiß ich auch nicht“, sagte er mit einem Achselzucken. „Wenn wir mal gehalten haben und für drei Minuten aus dem Auto gestiegen sind, hätte ich eigentlich ein bisschen Sonne abkriegen müssen.“ „Wo warst du denn überall? Ich habe nur eine Karte von dir gekriegt. Die mit dem Kaktus drauf.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Es war schrecklich. Wir waren einfach überall. Erst sind wir die südliche Route gefahren und dann über die Nordstrecke zurückgekommen. Aber die Wüste war der schönste Teil. Sie scheint unendlich groß zu sein und ist so flach und weiß wie ein gigantischer Ozean.“ „Wart ihr auch im Grand Canyon?“ Ja. Ich glaube, ich habe dort ein Maultier hypnotisiert.“ Sie lachte und zog ihn neben sich ins Gras. „Du hast deine Hypnosetechnik angewendet?“ „Nur ein bisschen. Das Maultier wollte den Canyon nicht 29
hinuntersteigen, da habe ich einen kleinen Zaubertrick probiert.“ „Du machst Witze.“ „Na klar.“ Er lachte. Ich mag sein Lachen, dachte sie. Er lacht überhaupt viel zu selten. Meistens ist er ernst, dabei sieht er so süß aus, wenn er lacht. Mayra nahm seine Hand, die überraschend kalt war. Er ist also auch nervös, dachte sie. Aus irgendeinem Grund machte sie das glücklich. „Du hast riesige Hände“, meinte sie und presste ihre Handfläche gegen seine. „Sieh mal.“ Seine Finger waren fast fünf Zentimeter länger als ihre. „Große Hände sind gut für Magie“, erklärte er. „Ich kann ein Kaninchen drin verstecken.“ Er zog seine Hand fort und holte etwas aus der Hosentasche. „Warte, ich zeige dir einen neuen Kartentrick.“ In der Gesäßtasche seiner Jeans trug er immer ein Blatt Karten mit sich herum. „Kartentricks sind gemein“, beschwerte sie sich. „Klar, weiß ich.“ Er grinste und hielt ihr den Stapel hin. „Hier, zieh eine raus.“ Dann zeigte er ihr drei neue Tricks. So sehr sie sich auch anstrengte und versuchte hinter den Trick zu kommen, sie konnte einfach nicht sagen, wie er das machte. Er war wirklich ein super Zauberer, entschied sie. Anscheinend hatte er Talent dafür. Er zog eine Münze aus seiner Tasche. „Und jetzt zeige ich dir einen Zaubertrick, den ich im Auto gemacht habe.“ „Warum zeigst du mir nicht lieber ein Stück Pizza?“, fragte Mayra, stand auf und versuchte Walker auf die Füße zu ziehen. Er war so groß und schlaksig. Es kam ihr vor, als müsste sie einen Riesen vom Gras hochziehen. „Pizza? Den Trick kenne ich nicht.“ „Ich sterbe vor Hunger“, rief sie. Sie zog noch einmal an seinem Arm, bis er aufstand und sie fast umwarf, weil sie beinahe das Gleichgewicht verlor. „Oh, tut mir Leid.“ Die beiden roten Flecke erschienen wieder auf seinen Wangen. Sie streckte beide Arme nach ihm aus, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf den Mund. „Schön, dass du wieder da bist.“ 30
In Ray’s Pizza Place schien Walker ein wenig aufzutauen. „Ich mag das Top, was du anhast“ , sagte er und wischte sich etwas Käse vom Kinn. „Ich… ich habe noch nie vorher deine Schultern gesehen.“ „Ich habe zwei davon“, meinte sie. „Weiß ich, ich habe sie auch gezählt.“ Die Kellnerin brachte zwei Gläser Cola an ihren Tisch. „Hey sag mal, wo sind denn die Perlen?“, fragte Walker plötzlich. „Was?“ „Die Perlen, die ich dir gegeben habe.“ Mayra griff sich automatisch an den Hals, aber natürlich war die Kette nicht da. „Die hat Mrs. Cottler. Ihre Katze hat die Kette kaputtgemacht und sie möchte sie wieder auffädeln für mich.“ Wahrscheinlich hatte sie die Perlen längst vergessen, Mayra müsste sie unbedingt daran erinnern, sie ihr zurückzugeben. „Ich zeig dir einen Trick mit dem Strohhalm hier“, bot Walker an, indem er plötzlich das Thema wechselte. Er rollte den Strohhalm einfach so lange zwischen seinen Fingern hin und her, bis er völlig verschwunden war. „Wie… wie hast du denn das gemacht?“, wollte sie wissen. Er öffnete die andere Hand. Der Strohhalm kam zum Vorschein, in der Mitte geknickt. „Wie hast du das gemacht?“, wiederholte sie. Mit einem Finger verschloss er seine Lippen.“ Sssch. Das kann ich nicht verraten.“ „Na gut, dann erzähl mir noch etwas über deine Ferien.“ Sie nahm sich ein großes Stück Pizza und verspritzte Tomatensoße über den ganzen Tisch. „Wie hast du denn das geschallt?“, zog er sie auf. „Zauberei“, murmelte sie, den Mund voller Pizza. „Über die Ferien gibt es nicht viel mehr zu erzählen. Ich war schließlich mit meinen Eltern zusammen, vergiss das nicht.“ „Hast du dich wieder mit deinem Vater gestritten wegen deiner Zauberei?“ „Ein bisschen. Aber er war schon ganz in Ordnung. Natürlich meint er immer noch, ich soll Rechtsanwalt werden und das Zaubern nur nebenbei machen. Aber er fing nicht mehr so oft damit an. Nur 31
alle zweihundert Kilometer oder so.“ „Und deine Mutter?“ „Die war die ganze Zeit damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen und auf jedes Pferd und jeden Kaktus zu zeigen. Ich müsste sie immer wieder daran erinnern, dass ich sechzehn bin und nicht sechs.“ Mayra nahm seine Hand in ihre. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist.“ Als sie aus dem Restaurant kamen und die hell erleuchtete Einkaufsstraße entlang liefen, wirkte Walker schon wieder verlegen und unsicher. „Weißt du, Mayra, das tut mir echt Leid wegen letztem Mal.“ „Was denn?“ „Als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ Mayra war völlig durcheinander. Sie sah zu ihm auf und versuchte seine Gedanken zu lesen. Wofür wollte er sich denn entschuldigen? Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren ihre Küsse, lange und zärtliche Küsse. Es war ein wundervoller Abend gewesen. Sie hatte sich ihm so nahe gefühlt, so geborgen. Und sie hatte sich sogar gewünscht, er möge nicht so schüchtern sein, er solle mehr von ihr verlangen als nur Küsse. Solche Gedanken. „Entschuldigen, wofür denn?“, fragte sie. „Es war doch ein schöner Abend.“ Er schien erleichtert über ihre Antwort. „Dann ist es gut. Ich dachte nur, weil du so spät nach Hause gekommen bist, hast du vielleicht Schwierigkeiten bekommen.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern und sie liefen weiter durch die fast leere Einkaufsstraße. „Mom? Du bist noch wach?“ Mayra war überrascht ihre Mutter noch zu dieser späten Stunde im Ledersessel im Wohnzimmer sitzen zu sehen. Das Zimmer war dunkel bis auf das Licht, das aus dem Flur kam. „Oh. Ach, herrje,“ Mrs. Barnes gähnte sich wach und stand schnell auf. Sie trug immer noch ihre weiße Schwesternkleidung. „Ich muss wohl im Sessel eingeschlafen sein, denn ich bin schon vor zwei 32
Stunden nach Hause gekommen. War es schön mit Walker?“ „Ja.“ Mayra sprach nie viel über Walker mit ihrer Mutter. Sie war nicht sicher, wie ihre Mutter über ihn dachte, denn sie hatte immer Link in den Himmel gehoben und Mayra dauernd erzählt, was für ein netter Junge er war. Als Mayra mit ihm Schluss gemacht hatte, wollte ihre Mutter ihre Enttäuschung vor Mayra verbergen, aber es gelang ihr nicht. Und über Walker hatte sie nie etwas gesagt. „War sein Urlaub denn schön?“ „Ja, ich glaube schon. Sie sind überall herumgefahren. Und er hat eine Menge seiner Tricks im Auto geübt.“ „Er ist ja ganz verrückt nach seiner Zauberei.“ Mayra war sich nicht sicher, wie ihre Mutter das meinte. Aber sie war zu müde um sich den Kopf darüber zu zerbrechen. „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett. Musst du morgen arbeiten?“ Ja, ich habe Frühschicht. In ein paar Stunden muss ich schon wieder los. Geh du ruhig nach oben, ich mache die Lichter aus.“ Ihre Mutter sah plötzlich viel älter aus oder jedenfalls kam es Mayra so vor. Vielleicht lag es auch nur an dem grellen Flurlicht. Mayra stieg die Treppe hoch. „Oh, das hätte ich fast vergessen…“ Das war eine der unmöglichen Angewohnheiten ihrer Mutter. Ihr fiel immer noch etwas ein, wenn man schon halb die Treppe hoch war, sodass man sich umdrehen und wieder hinuntersteigen musste um zu hören, was es war. „Link hat angerufen, ungefähr vor anderthalb Stunden.“ „Link? Oh, Mann.“ Mayra zog ein Gesicht. „Und was hast du ihm gesagt?“ „Dass du nicht da bist. Was denn sonst?“ „Er lässt einfach nicht locker“, murmelte Mayra. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie sich ein bisschen geschmeichelt fühlte. Schließlich war Link doch kein so schlechter Typ. Manchmal liefen die Dinge eben einfach anders, das war alles… Sie wünschte ihrer Mutter gute Nacht und ging in ihr Zimmer, während sie über Link nachdachte. In dieser Nacht hatte sie den Traum zum ersten Mal. Sie stand am Ufer des Flusses. Das Wasser war hellblau und hatte die gleiche Farbe wie der Himmel. Alles um sie herum war blau. 33
Plötzlich lief sie in den See. Sie ging nicht unter. Sie konnte über das blaue Wasser laufen, in den blauen Himmel sehen und sie war überhaupt nicht überrascht, dass sie über das Wasser gehen konnte. Sie machte ein paar Schritte, dann noch ein paar. Das Wasser fühlte sich so kalt an unter ihren nackten Fußsohlen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand beobachtete sie. Vom Ufer aus. Das gab ihr ein unangenehmes Gefühl. Wer stand da? Wer beobachtete sie? Sie versuchte etwas zu erkennen, sah aber nichts. Das unangenehme Gefühl wurde stärker, sie fühlte sich unglücklich und machte noch einen Schritt über den See. Und noch einen. In diesem Moment kam Wind auf. Die Sachen wehten ihr um den Körper. Das Wasser schwappte über ihre Knöchel. Wer war da? Wer starrte sie an? Mayra öffnete die Augen und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Das war nicht die Dunkelheit ihres Zimmers. Aber sie war jetzt wach. Der Traum war vorbei. Ihre nackten Füße waren kalt und nass. Sie blickte nach unten und sah, dass sie im feuchten Gras stand. Das Nachthemd wehte ihr um den Körper. Die Fassade ihres Hauses tauchte vor ihr auf wie ein stilles, gigantisches Wesen. Wo bin ich? Und wie bin ich hierher gekommen? Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf das Haus. War das wirklich ihr Haus? Warum sah es dann so anders aus? Es ist so dunkel. So kalt und so dunkel. Was mache ich hier? Die Bäume flüsterten und bewegten sich im Wind. Der Boden schien sich zu bewegen. Sie streckte die Arme aus um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann sah sie, dass die Haustür weit offen stand. Bin ich bis hier gelaufen? Bin ich im Schlaf aus dem Haus gelaufen? Etwas stimmte nicht, dachte Mayra. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein. 34
Kapitel 4 „Das Essen ist wirklich lecker, Mayra.“ „Vielen Dank, Mrs. Cottler.“ Das Sonnenlicht fiel durch das schmale Fenster über der Küchenspüle, als Mayra dort mit dem Abwasch beschäftigt war. Sie beeilte sich, denn sie wollte den täglichen Spaziergang am See so schnell wie möglich hinter sich bringen um endlich mit dem Vorlesen anfangen zu können. Vielleicht konnte das Buch ihr helfen die schrecklichen Erlebnisse der letzten Nacht aus ihrem Kopf zu verbannen. Wenn sie wenigstens mit jemandem darüber sprechen könnte! Ein Gespräch würde ihr sicher einen Großteil der Angst nehmen, die sie in sich verspürte. Aber ihre Mutter war schon im Krankenhaus gewesen, als sie aufstand. Dann hatte sie morgens gleich bei Walker angerufen. Seine Mutter sagte, er sei noch nicht wach. Donna war schon aus dem Haus und zur Arbeit. War sie früher schon einmal im Schlaf herumgelaufen? Die Treppen hinuntergestiegen bis zur Haustür, hatte dann aufgemacht und war fast bis zur Straße durch den Garten gelaufen, mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen wie jemand in einem schlechten Horrorfilm? Mayra hatte so viele Fragen, auf die sie Antworten suchte. Nie vorher war sie im Schlaf gewandelt. Warum hatte sie es dann letzte Nacht getan? Und wohin wollte sie gehen? Was wäre passiert, wenn sie nicht wach geworden wäre? Wäre sie einfach so weitergelaufen? Und der Traum jagte ihr genauso viel Angst ein wie das Schlafwandeln selbst. Wieder und wieder ging sie ihn in Gedanken durch. Er ergab einfach keinen Sinn für sie. Warum lief sie über den See? Um jemanden zu treffen? Oder um vor jemandem zu fliehen? Und wer beobachtete sie vom Ufer aus? War der Traum vielleicht schuld daran, dass sie im Schlaf umherlief? Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen? 35
Sie musste einfach mit jemandem darüber sprechen. „Mrs. Cottler, wissen Sie zufällig etwas über Schlafwandeln?“ Die alte Frau saß auf der Couch und streichelte die schwarze Katze. Sie schien Mayras Frage gar nicht zu hören. Schließlich sah sie auf. Die Katze blickte Mayra ebenfalls an. „Tut mir Leid, Mayra. Was sagtest du gerade?“ „Ich… ich wollte nur wissen, ob Sie etwas über Schlafwandeln wissen?“, antwortete Mayra auf ihre Frage. Mrs. Cottler wirkte überhaupt nicht überrascht von der Frage. „Schlafwandeln. Ja, ja“, meinte sie und sah zu Hazel hinunter, als sie antwortete. „Das ist sehr geheimnisvoll. Sehr mysteriös.“ Sie nahm die Katze auf den Schoß und begann mit ihr zu spielen. Mayra trocknete sich mit einem Tuch die Hände. Sie war jetzt entschlossen Mrs. Cottler nichts von dem zu sagen, was ihr passiert war. „Lass uns heute etwas später spazieren gehen“, schlug Mrs. Cottler vor und machte es sich auf der Couch bequem. „Ich möchte, dass wir heute ausnahmsweise mit dem Lesen anfangen.“ Hazel miaute und sprang fast geräuschlos auf den Teppich. Dort rollte sie sich vor der Couch zusammen, als machte sie es sich zum Zuhören bequem. Nach der Arbeit wollte Mayra so schnell wie möglich zu Donna um ihr von der letzten Nacht zu erzählen. Aber vorher musste sie noch in die Einkaufspassage um ein paar Farbmuster für ihre Mutter zu besorgen. Sie war erleichtert, als sie Mrs. Cottlers Haus verließ, obwohl der Tag überraschend angenehm verlaufen war. Mrs. Cottler war sehr nett gewesen und hatte anscheinend gar nicht bemerkt, wie erschöpft und geistesabwesend Mayra war. Die alte Frau war etwa in der Mitte des Kapitels eingenickt und Mayra hatte mit leiser Stimme weitergelesen und ihren eigenen Gedanken nachgehangen ohne selbst zur Kenntnis zu nehmen, was sie eigentlich las. Jetzt hing die Nachmittagssonne orangerot in den Bäumen. Mayra musste am Fear Street Friedhof vorbei, um zur Bushaltestelle zu kommen. Zwei wasserstoffblonde Kinder, ein Junge von acht oder neun und ein Mädchen, das nicht älter war, lachten und jagten sich gegenseitig in einem wilden Versteckspiel hinter der 36
Friedhofsmauer. Warum spielten sie gerade hier? Mayra hatte den plötzlichen Impuls sie anzubrüllen, sie sollten doch woanders spielen. Kannten sie denn die schrecklichen Geschichten nicht, die man sich über diesen Friedhof erzählte? Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ein Junge aus der Nachbarschaft ihr Dinge darüber erzählt, die ihr wochenlang schreckliche Träume verursacht hatten. Eine Geschichte handelte davon, warum die Grabsteine alle umgeworfen waren. Weil nämlich die Toten unter den Steinen sie mit ihren Schultern jede Nacht versuchten wegzuschieben, sodass sie aus ihren Gräbern steigen konnten. Auch heute noch ließen umgeworfene Grabsteine Mayra einen Schauer über den Rücken laufen. Sie wollte gerade den beiden Kindern etwas zurufen, doch die waren schon verschwunden. Ihr schrilles Lachen dröhnte Mayra immer noch in den Ohren. Aber sie waren nirgendwo zu sehen. Sie überquerte die Straße und spähte über die Mauer. Versteckten sich die beiden vor ihr? Jedenfalls war nichts zu entdecken. Als sie weiterlief, glaubte sie die beiden dicht neben sich kichern zu hören. Aber es hätte auch ein Vogel sein können. Oder einfach nur Einbildung. Sie lief über die Straße und blieb stehen. Ein Mann trat in diesem Augenblick aus einem Haus gegenüber vom Friedhof und knallte die Tür laut hinter sich zu. Er starrt mich an, dachte Mayra. Er starrt mich an, als würde er mich erkennen! Es sah aus, als wäre der Mann sehr überrascht, sie hier zu sehen. Er erschien Mayra riesig. Bestimmt zwei Meter groß, athletisch gebaut und mit einem Nacken wie ein Footballspieler, fast noch breiter als sein Kopf. Er trug enge Radlerhosen und ein rotes T-Shirt, das eine Menge von seinem breiten Brustkorb und seinen Armmuskeln zeigte. Mit seinem quadratischen, rotwangigen Gesicht und seinem kurzen blonden Haar, das einen Bürstenschnitt hatte, wirkte er wie ein typischer Marineoffizier oder ein Mittelstürmer beim Football. Was glotzt du mich so an, Stiernacken?, dachte Mayra wütend. Sie drehte sich um, um ganz sicherzugehen, dass er nicht jemand anderen anstarrte. Nein. Die Fear Street war menschenleer. Niemand war in der Nähe. 37
Mayra wusste genau, sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber er tat so, als würde er sie wieder erkennen. Während er sie so anstarrte, wechselte sein Ausdruck allmählich von Überraschung zu Ärger. Plötzlich begann er mit langen Schritten auf sie zuzulaufen. „Hey!“, rief er. Es klang mehr wie ein Grunzen als ein Wort. Der Typ ist gefährlich, entschied Mayra. Es war nur so ein Gefühl, das sie hatte, ein plötzlicher kalter Schauer, der sie warnte. Er will mir weh tun. Er will mich kriegen. Vielleicht war es nur seine Größe. Oder der starre Blick in seinem Gesicht. Jedenfalls stimmte etwas nicht mit ihm. Sie drehte sich um und begann wegzurennen. „Hey! Bleib stehen!“ Ihr Herz raste, sie rannte noch schneller. Folgte er ihr? Sie drehte sich nicht um. Noch einmal beschleunigte sie ihr Tempo und blieb erst stehen, als sie die Bushaltestelle erreicht hatte. Dort lehnte sie sich gegen den Haltemast, schnappte nach Luft und drehte sich endlich um. Er war nicht mehr da. Also war er ihr nicht gefolgt. Total erleichtert hielt Mayra sich an dem Mast fest und wartete, bis ihr Herz wieder normal schlug und sie zu Atem kam. Wer war dieser Mann? Und was wollte er von ihr? Sie war ganz sicher, sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Jemanden wie ihn, der so groß war und so gefährlich aussah, hätte sie garantiert wieder erkannt. Nach ein paar Minuten kam der Bus und sie stieg ein und bezahlte ihr Fahrgeld. Sie war der einzige Passagier. Das ist meine ganz persönliche Limousine mit Klimaanlage, dachte sie. Dankbar ließ sie sich in einen der Sitze fallen und presste ihr Gesicht gegen die kühle Fensterscheibe. Sie fühlte sich so müde, so erschöpft. Das lag nicht nur daran, dass sie die ganze Strecke zur Bushaltestelle gerannt war. Es war auch das Erlebnis der letzten Nacht. Irgendwie schien das alle Energie aus ihr herausgezogen zu haben. Das Schlafwandeln. Ob sie es diese Nacht wieder tun würde? Ihre Haltestelle kam viel zu schnell. Sie hätte noch stundenlang 38
weiterfahren können. Das Schaukeln wirkte so beruhigend. Irgendwie war sie immer noch schockiert von der Sache mit dem merkwürdigen Mann. Sie konnte sein Gesicht einfach nicht aus ihren Gedanken verbannen. Als sie ausstieg, war sie verblüfft, wie warm und feucht die Luft draußen war. Sie überquerte die Straße und nahm Kurs auf die Einkaufspassage. Normalerweise habe ich hier im Sommer immer so viel Zeit verbracht, dachte sie. Bevor ich diesen Job angefangen habe… Die Einkaufspassage war zu Mayras Überraschung ziemlich leer. Sie blieb stehen und sah sich in der Auslage ein paar Badeanzüge an. Den einen Bikini hätte sie am liebsten gleich anprobiert. Aber sie hatte nicht genügend Geld dabei, denn schließlich war sie nur hergekommen um ein paar Farbmuster zu besorgen. Sie ging an einem Bäckereistand vorbei. Der Geruch nach Zimtrollen zog sie fast in den Laden, im letzten Moment konnte sie jedoch widerstehen. Vielleicht kaufe ich auf dem Rückweg ein paar und nehme sie mit nach Hause, dachte sie. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie fast umkam vor Hunger. Sie blieb vor Ray’s Pizza Palace stehen und spähte durchs Fenster. Eine Menge Leute aus der Schule waren drin. Vielleicht könnte sie einen ihrer Freunde überreden ein oder zwei Stück Pizza mit ihr zu teilen. Moment mal! Nein! Mayra musste zweimal hinsehen. Auch dann wollte sie ihren Augen nicht trauen. Wer saß da an dem mittleren Tisch? Ja. Es war wirklich Walker. Mayra hielt sich eine Hand vor die Augen und spähte durch die Scheibe um ganz sicherzugehen, dass sie sich das nicht nur einbildete. Nein. Sie hatte Recht. Es war Walker. Er teilte sich eine Pizza mit Suki Thomas, die nun wirklich das ätzendste Mädchen der ganzen Schule war. Sie blickten einander tief in die Augen und sie hielten Händchen. Mayra war so überrascht, dass sie automatisch ins Restaurant ging und direkt ihren Tisch ansteuerte. „Walker!“ Suki und Walker zogen ihre Hände zurück. „Mayra, ich habe dich gar nicht hereinkommen sehen“, meinte 39
Walker und sah Suki an. „Ich… ich habe so einen schrecklichen Nachmittag hinter mir. Ein Typ hat mich bedroht!“, brach es aus Mayra heraus. „Was?“, fragten beide in einem Atemzug. „Ja, irgendein Mann hat mich bedroht, in der Fear Street, als ich von Mrs. Cottler wegging.“ Auf Walkers Gesicht zeigte sich ein besorgter Ausdruck. „Was? Wer war denn das? Sollten wir das nicht der Polizei melden?“ „Nein, ich… Es tut mir Leid. Er ist mir nicht sehr weit hinterher gelaufen, aber…“ „Das ist ja schrecklich“, meinte Suki und schüttelte den Kopf. Ihr platinblondes Haar war mit einer oder zwei Tonnen Gel zu einer Punkfrisur gestylt. Sie trug ein dunkelrotes T-Shirt und dazu passende Strumpfhosen unter abgeschnittenen Jeans. „Und wie sah der Typ aus?“ „Gefährlich“, sagte Mayra kurz und sah Walker an. „Und er war unheimlich groß.“ „Komm, Mayra, setz dich erst mal.“ Walker rutschte weiter zur Wand und machte ihr Platz. „Nein, ich will euch nicht bei irgendwas stören“, meinte Mayra scharf und warf Walker einen viel sagenden Blick zu für den Fall, dass er die Anspielung nicht kapierte. Walker reagierte entsprechend nervös und begann sofort mit seinen Erklärungen. „Ich habe Suki zufällig getroffen hier in der Einkaufspassage. Ich wollte in den Zauberladen und die neuen Karten abholen, die ich bestellt hatte. Und da stand sie plötzlich. Wir haben uns ein bisschen unterhalten. In dem Moment, als du hereinkamst, haben wir zufällig gerade über dich gesprochen. Wir hatten Hunger, also wollten wir eine Pizza essen.“ „Und damit die Wartezeit nicht so lang wird, bis die Pizza kommt, habt ihr Händchen gehalten, ja?“ „Häh?“ Er sah sie ungläubig an. „Wie kommst du denn darauf?“ „Beruhige dich, Mayra“, mischte sich Suki ein. „Das haben wir wirklich nicht.“ „Ich habe ihr nur den Trick mit der Münze gezeigt. Du weißt schon, in welcher Hand ist die Münze. Das war alles.“ Die beiden roten Flecke auf seinen Wangen. Und der unschuldige 40
Blick aus seinen Augen. Mayra stellte fest, dass sie ihm glaubte. Er musste einfach die Wahrheit sagen. Niemand konnte so verdammt schlecht lügen! „Und wo war die Münze?“, wollte Mayra wissen. Suki zuckte die Achseln. „Ich konnte sie nicht finden. Er ist zu trickreich für mich.“ Mayra war klar, dass sie falsche Schlüsse gezogen hatte. Walker sagte wirklich die Wahrheit. Er und Suki hatten sich zufällig getroffen und waren zusammen eine Pizza essen gegangen. Nichts weiter. Sie hatte überreagiert. Jetzt setzte sie sich neben Walker an den Tisch. Und außerdem, was konnte Walker schon an Suki finden? Na, also. Die Frage kannst du streichen, dachte Mayra. Suki war verschrien als Vamp. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was Walker von ihr wollen könnte. Aber er war eigentlich nicht ihr Typ. Walker war so schüchtern. Es war einfach unmöglich, sich vorzustellen, dass zwischen den beiden etwas lief. Mayra machte sich Vorwürfe, weil sie so schnell eifersüchtig war. Weil sie Walker misstraut hatte. „Was machst du denn diesen Sommer?“, fragte Suki Mayra, nachdem sie ihre Cola ausgetrunken hatte. „Arbeiten.“ „Ich auch. Das heißt, ich habe gearbeitet“, erklärte Suki mit einem Seufzer. „Ich habe bei Frosty’s hier in der Einkaufspassage angefangen. Du weißt schon, der Friseur. Aber die haben mich rausgeschmissen. Ich sollte so viele Stunden arbeiten, dass ich nein gesagt habe, sie sollen’s vergessen. Dann meinten sie, ich brauchte überhaupt nicht mehr zu kommen.“ „Penner“, meinte Mayra. Gleichzeitig fiel ihr auf, das war das längste Gespräch, das sie je mit Suki geführt hatte. „Willst du ein Stück Pizza?“, fragte Walker. Er schob ihr seinen Teller hin. „Nein, danke. Ich muss nach Hause. Ich meine, ich muss hier noch was erledigen.“ Mayra hätte die Farbmuster ihrer Mutter fast vergessen. Es war schon fast Abend und sie musste sich beeilen. Sie stand vom Tisch auf. „Warte. Ich nehme dich mit“, bot ihr Walker an. Mayra wollte unbedingt mit Walker reden und ihm die Erlebnisse 41
der letzten Nacht erzählen, die so merkwürdig und Furcht einflößend waren. Aber das war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie glaubte ihm ja die Sache mit Suki. Also wollte sie ihn nicht noch einmal alles erklären hören, was er garantiert getan hätte. Und sie wollte nichts mehr darüber erzählen müssen, wie der große blonde Mann sie bedroht hatte. Sicher war er nur irgendein Durchgedrehter, der sie mit jemand anderem verwechselt hatte. Sie wollte die ganze Sache einfach vergessen. „Nein, danke. Ruf mich später an. Bye, Suki.“ Sie rannte aus dem Restaurant ohne sich noch einmal umzusehen. „Ich hoffe, ich muss dich jetzt nachts nicht einschließen.“ Mayra sah ihre Mutter finster an. „Das ist kein Witz, Mom.“ Mrs. Barnes nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse wieder auf den Tisch. Sie hatten gerade zu Abend gegessen und das Geschirr noch nicht gespült. Mayra hatte so lange gewartet, bis sie mit dem Essen fertig waren – Makkaroni mit Hackfleischsoße und Käse –, bevor sie ihrer Mutter von ihrem Schlafwandeln erzählte. Und nun reagierte ihre Mutter wieder mal typisch, indem sie einen Witz daraus machte. „Warum denkst du immer, alles, was mir passiert, ist einfach nur komisch?“, wollte Mayra wissen. „Das tue ich gar nicht, Mayra. Hör auf mich so zu sehen. Schlafwandeln ist eine sehr ernste Angelegenheit. Aber ich will nicht, dass du Angst hast und dir Sorgen machst. Vielleicht passiert es auch nie wieder. Bitte, Liebes, entspann dich.“ „Mom, ich bin fast bis auf die Straße gelaufen. Was, wenn ich nicht aufgewacht wäre?“ „Aber du bist aufgewacht. Sieh mal, ich bin Krankenschwester. Und ich kann dir versichern, dass bei uns noch nie jemand eingeliefert worden ist, weil er vielleicht unters Auto gekommen wäre, als er im Schlaf herumgelaufen ist. Dir wird nichts passieren, keine Angst.“ „Oh, da bin ich aber wirklich erleichtert“, meinte Mayra bitter. Sie reichte über den Tisch und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse ihrer Mutter. „Dir tust du nie Zucker rein?“ „Nein, ich mag ihn gern stark. Stark und mit Milch.“ 42
Mayra verzog das Gesicht und schob ihrer Mutter die Tasse wieder zu. „Aber du bist noch nie vorher im Schlaf herumgelaufen“, überlegte Mrs. Barnes und legte ihre Hand leicht auf die ihrer Tochter. „Soweit ich weiß, redest du noch nicht einmal im Schlaf. Und du warst eigentlich nie ein unruhiger Schläfer.“ „Stimmt“, gab Mayra zu. „Also ist es sehr wahrscheinlich, dass das eine einmalige Sache war. Vielleicht warst du unbewusst mit irgendetwas Unangenehmem beschäftigt. Oder du hast was Schlechtes gegessen.“ „Mom!“ Mayra zog ärgerlich ihre Hand weg. „Okay, okay. Es war also nichts, was du gegessen hast. Tut mir Leid. Ich begreife ja, dass du dir Sorgen machst. Aber ich denke, du musst gerade jetzt ruhig bleiben und darfst dich nicht zu sehr damit beschäftigen, das ist alles.“ „Ich war draußen auf der Straße in meinem Nachthemd!“ „Wenn du dich wirklich so mitgenommen fühlst, bei uns im Krankenhaus gibt es einen wunderbaren Mann, mit dem du darüber sprechen könntest.“ „Du meinst einen Seelenklempner?“ Ja. Er ist ein Freund von mir und ich bin sicher, dass er sich Zeit für dich nehmen würde.“ „Du denkst also, ich drehe durch?“ „Nein, natürlich nicht. Aber es könnte dir sicher helfen, mit jemandem darüber zu sprechen. Es würde dich beruhigen. Denn egal, was ich auch sage, es ist immer falsch und du gehst auf mich los.“ „Ich gehe überhaupt nicht auf dich los. Aber du hältst es ja auch noch für komisch, dass ich draußen im Schlaf herumtappe. Mir jagt es Angst ein.“ Mrs. Barnes wollte gerade etwas sagen, da klingelte es an der Tür. Sie sah auf ihre Uhr. „Nanu, wer könnte das denn sein?“ „Vielleicht ist es Walker“, meinte Mayra, sprang auf und rannte schnell zur Haustür. „Ich habe ihn nämlich in der Einkaufspassage getroffen und er hat sich solche Sorgen um mich gemacht, deshalb…“ Mayra riss die Tür auf. „Stephanie!“
43
„Hi. Wie geht’s dir?“ Stephanie trug ein marineblaues Oberteil mit einem Matrosenkragen und weiße Tennisshorts. Ihr schwarzes Haar hatte sie zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sogar in dem gelben Licht der Veranda sah sie braun aus. Sie sieht Link so ähnlich, dachte Mayra sofort. Mayra ließ Stephanie herein. „Wo bist du so braun geworden?“, wollte Mayra wissen. „Ich habe gehört, du arbeitest den ganzen Sommer lang.“ „Tu ich auch. In der Kindertagesstätte. Ich bin fast den ganzen Tag mit den Kindern draußen. Also kriege ich eine Menge Sonne ab.“ „He, hallo, Stephanie.“ Mrs. Barnes kam aus der Küche. „Du siehst wirklich toll aus.“ „Danke, Mrs. Barnes. Wie geht es Ihnen?“ „Gut. Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen.“ Stephanie sah Mayra an, anscheinend war ihr diese Feststellung peinlich. Ja, ich… ich arbeite die ganze Zeit. In der Kindertagesstätte. Ich habe zwanzig Vierjährige in meiner Gruppe. Und hinterher bin ich so k.o. dass ich manchmal schon um acht ins Bett gehe!“ „Schläfst du drinnen oder draußen?“, fragte Mrs. Barnes und lachte. „Mom, das ist überhaupt nicht witzig!“ Stephanie wusste überhaupt nicht, was sie davon halten sollte. „Wie meint sie das?“ „Ach, vergiss es“, antwortete Mayra schnell. Mrs. Barnes zog sich wieder in die Küche zurück. „Ich störe dich doch nicht bei irgendwas?“, wollte Stephanie wissen. „Ich hätte vorher anrufen sollen, aber…“ „Nein, überhaupt nicht. Ich bin froh, ich meine, ich freue mich dich zu sehen“, versicherte Mayra. Sie war so erleichtert, dass Stephanie ihr den Bruch mit Link offensichtlich doch nicht übel genommen hatte. „Komm, gehen wir auf mein Zimmer und quatschen ein bisschen.“ Stephanie folgte ihr die Treppe hoch. Mayra ließ sich in einen Sessel fallen. „Du siehst super aus. Der Schal passt toll zu deinem Oberteil. Ich finde ihn echt scharf.“ „Das ist auch kein Wunder“, meinte Stephanie lachend. „Es ist ja deiner.“ 44
„Meiner?“ „Klar. Du hast ihn vor Monaten bei uns zu Hause vergessen.“ „Oh, dann gib ihn wieder her“, sagte Mayra halb im Scherz. „Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Ich behalte ihn“, wehrte Stephanie ab und glättete den Schal mit beiden Händen. Mayra dachte, sie würde gleich loslachen und ihr den Schal zurückgeben, aber sie musste einsehen, dass Stephanie das ernst gemeint hatte. Sie hatte wirklich vor, den Schal zu behalten. Merkwürdig, dachte Mayra. Sie hat doch bestimmt selbst mehr als ein Dutzend solcher Schals und Tücher. Stephanies Familie hatte wirklich keine Geldsorgen und Stephanie war sicher das bestangezogene Mädchen der ganzen Schule. Zwischen ihnen herrschte eine peinliche Stille. „Hey, ich mach doch nur Witze“, sagte Stephanie schließlich. Sie nahm den Schal ab und legte ihn neben sich aufs Bett. „Hier hast du ihn.“ Mayra fühlte sich total erleichtert. „Und machst du dir einen schönen Sommer?“, fragte sie. Ja, könnte man sagen. Aber Link nicht.“ Stephanie warf ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach hinten. Ihr Ausdruck änderte sich. Alle Freundlichkeit war plötzlich aus ihrem Gesicht verschwunden. „Stephanie…“, begann Mayra und rutschte im Sessel hin und her. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl, weil ihr jetzt klar war, welchen Grund Stephanie für ihren Besuch hatte. „Ich wollte mit dir über Link sprechen“, meinte Stephanie mit leiser Stimme. „Ich will aber nicht“, unterbrach Mayra sie schnell. „Ich weiß, er ist dein Bruder, aber…“ „Du hast kein Recht ihm so weh zu tun.“ „Doch, das habe ich“, beharrte Mayra, wünschte jedoch sofort, sie hätte das nicht gesagt. Es klang so kalt. „Hör mal, darüber kann man nicht sprechen. Es gibt nichts mehr zu sagen.“ „Warum hast du ihm das angetan, Mayra? Du hast ja keine Ahnung, wie schlimm das für ihn ist. Er ist total fertig. Er hat sich auf dich verlassen, sich um dich gekümmert, dich geliebt. Und dann hast du alles kaputt gemacht. Du…“ 45
„Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Das ist alles. So was kommt vor, das weißt du doch. Es hat eben nicht funktioniert. Aber ich wollte ihm nicht weh tun und ich hatte auch keine Ahnung, dass er das so schwer nehmen würde und sogar seine Schwester herschickt um…“ „Er hat mich nicht geschickt“, rief Stephanie aus. „Entschuldige.“ „Ich bin von selbst gekommen um dir zu sagen, in welchem Zustand sich Link befindet. Und das ist alles deine Schuld.“ „Tut mir Leid“, wiederholte Mayra. „Das ist nicht genug.“ „Was soll ich denn sonst sagen?“ „Sag, dass du zu ihm zurückkehrst. Versuch es noch mal mit ihm.“ „Das kann ich nicht.“ „Doch, du kannst.“ „Aber ich will es nicht. Hör doch mal, Stephanie. Link muss eines Tages erwachsen werden.“ „Was soll das denn heißen?“ „Na ja, dieses Herumhängen und mich Verfolgen und dieses ständige Anrufen – das ist alles so kindisch. Auch wenn er dich nicht geschickt hat um mit mir zu reden, wozu bist du dann hier? Weil du selbst findet, dass er kindisch ist. Zu kindisch um mit seinen eigenen Problemen fertig zu werden.“ „Das ist überhaupt nicht wahr“, gab Stephanie zurück. Ihre dunklen Augen funkelten Mayra aufgebracht an. „Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um meinen Bruder mache und weil ich dir sagen wollte, was ich von der ganzen Sache halte und von dir.“ „Na gut, das hast du jetzt auch getan. Aber ich kann dazu nichts sagen. Es tut mir Leid, dass sich jeder schlecht dabei fühlt. Ich mich auch. Wirklich.“ „Und das ist alles?“ Stephanie sprang vom Bett auf. Ja. Ich fürchte“, sagte Mayra leise. „Das wird dir noch Leid tun“, meinte Stephanie. Jedenfalls glaubte Mayra, dass sie das gesagt hatte. Genau hatte sie es nicht verstanden. „Was hast du gesagt?“ „Ich sagte, du tust mir Leid.“ „Good bye, Stephanie“, schloss Mayra das Gespräch ab. „Mach’s 46
gut.“ Stephanie warf ihr einen bösen Blick zu, drehte sich um und lief aus dem Zimmer. Mayra stand nicht aus ihrem Sessel auf. Sie lauschte auf Stephanies laute Schritte auf der Treppe und hörte dann die Haustür zuschlagen. Plötzlich stellte sie fest, dass sie am ganzen Körner zitterte. Streits wie diese waren ihr verhasst, besonders mit jemandem, den man für einen Freund gehalten hatte. Was für ein Jammer. Es war wirklich zum Heulen. Sie sah zum Bett hinüber. Der weiße Schal. Er war weg. Stephanie hatte den Schal mitgenommen.
Kapitel 5 Der Traum war so lebendig. Sie konnte die Pinien riechen und das kalte, klare Wasser spüren, als sie in den See hineinging. Es war ein herrlicher, sonniger Tag. So sonnig, dass alles zu glitzern und zu schimmern schien. Die Farben waren so intensiv. Sie war umgeben von einem Schleier aus leuchtendem Gelb. Gelb wie der Sonnenschein, so warm, so hell. Unter ihren Füßen das blaue Wasser, blau und kalt. Die weichen Wellen fingen das Sonnenlicht ein und spielten um ihre nackten Knöchel. Sie lief über das Wasser, lief ganz normal, aber langsam, dabei blickte sie geradeaus, immer geradeaus über den weiten See. Was für ein herrlicher Tag! Aber sie war nicht in der Lage ihre beängstigenden Gedanken loszuwerden. Jemand beobachtete sie vom Ufer aus. Jemand starrte sie an, während sie über das Wasser lief. Wer war das? Sie drehte sich um, weil sie es sehen wollte. Doch der Glanz, der schimmernde gelbe Glanz blendete sie. Sie schloss die Augen und 47
sah weg. Der gelbe Glanz war wie ein Vorhang. Sie konnte nicht dahinter sehen, konnte nicht erkennen, wer sie da beobachtete. Das Wasser fühlte sich plötzlich kälter an. Die Wellen schlugen stärker gegen ihre Beine. Das gelbe Sonnenlicht schien auf einmal grau, dann schwarz. Mayra wachte auf. Wo bin ich?, dachte sie. Die Bäume rauschten und schienen zu flüstern. Der Wind erfasste ihr Nachthemd. Ich bin schon wieder draußen in meinem Nachthemd, erkannte sie plötzlich. Um sie herum hohe Pinien, Eichen, niedrige Hecken, ein umgekipptes Dreirad in einer Auffahrt, ein großes altes Haus, das dunkel war und wo ein Fensterladen gegen die Wand schlug. Das ist nicht unser Haus, dachte sie. Ich stehe nicht vor unserem Haus. Ich bin – irgendwo anders. Gelähmt vor Angst bemerkte Mayra, dass sie ihren Atem anhielt. Sie atmete tief aus und dann gleich die kalte Nachtluft wieder ein. Wo bin ich? Ein einsames Straßenlicht brannte mehr als einen Block weit entfernt. Die alten Bäume neigten sich zueinander und streiften sich mit ihren Zweigen. Sie sah hinunter auf ihre Füße. So feucht und kalt. Sie stand in einer großen Pfütze, der feuchte Schlamm war zwischen ihren Zehen und reichte fast bis zu ihren Knöcheln. Ich stehe im Schlamm, aber wo? Wieder zwang sie sich tief durchzuatmen. Der Traum kehrte plötzlich in aller Deutlichkeit zurück und sie staunte. Wie konnte ich denn über den See laufen? Und warum war ich da? Warum bin ich hier? Sie ging aus der Pfütze. Der Wind schien nachzulassen. Es war so still jetzt, still wie auf einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie allein schien in der Lage zu sein sich zu bewegen. Sie lief weiter unter den Bäumen, die jetzt ruhig waren. Hinter den niedrigen immergrünen Büschen sah sie eine Straße. Und hinter der 48
Straße ein hohes, altes viktorianisches Gebäude mit einem blassen Licht, so blass wie der Mond, in einem einsamen Fenster oben im Haus. Die Straße sah zugleich bekannt und auch fremd aus. Mayra lief bis zu der Straßenlaterne und hielt sich immer am Straßenrand. Mit der linken Hand hielt sie ihr Nachthemd in der Taille fest. War das ein Straßenschild da unter der Laterne? Ja-Sie kam wieder an einem dunklen alten Haus vorbei, das etwas zurückgesetzt von der Straße lag und einen wunderschönen Garten mit hohem Gras und Blumen hatte. Kenne ich dieses Haus nicht? Die Straße, kommt sie mir nicht bekannt vor? Wie weit bin ich gelaufen? Oder bin ich schon im nächsten Traum? Sie rannte jetzt zu dem Straßenschild. FEAR STREET. Sie sah sich um und las das Schild noch einmal. Es stand immer noch dasselbe da. FEAR STREET. Was mache ich hier? Sie war im Schlaf zur Fear Street gelaufen, bis dahin, wo der Wald anfing. Bis zum Waldrand, dachte sie. Bis zum Rand. Und über die Grenze. Ich habe die Grenze überschritten. Die Worte kamen ihr immer wieder in den Sinn, bis sie jegliche Bedeutung verloren. Noch einmal sah sie auf das Straßenschild. Es war wirklich da. Das war kein Traum. Sie war in der Fear Street in ihrem Nachthemd mitten in der Nacht. Im Schlaf war sie hierher gelaufen… um was zu finden? Vielleicht wäre sie für immer hier stehen geblieben und hätte auf das Straßenschild gestarrt. Aber das flackernde blaue Licht drang in ihr Bewusstsein und sie erkannte, dass sie nicht mehr allein war. Eine Autotür wurde zugeworfen. Dann kam ein Mann auf sie zu. Das blaue Licht leuchtete auf. Es schien sie ganz zu umgeben. Sie zwinkerte um es nicht länger sehen zu müssen. Sie wusste doch, dass es nur ein Traum war, der wieder zurückkam, um ihr Angst zu machen. Als sie nach unten sah, erwartete sie das kalte blaue Wasser zu sehen. Aber sie sah nur Schmutz. 49
„Miss?“ Der Mann stand jetzt direkt vor ihr mitten in dem flackernden blauen Licht. „Miss? Was machen Sie hier draußen?“ Es war ein Polizist. Hinter ihm sah sie das blaue Licht auf dem Dach eines Streifenwagens. „Hi. Ich… ich weiß auch nicht“, stammelte Mayra. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ „Ja, ich glaube schon.“ „Sind Sie verletzt? Hat jemand Sie hier abgesetzt?“ „Nein.“ Vorsichtig nahm er ihren Arm. Sie folgte ihm zu dem leuchtenden blauen Licht. „Soll ich Sie nach Hause bringen? Wohnen Sie hier in der Nähe?“ „Vielen Dank, Officer.“ Diesmal nahm Mayras Mutter die Sache ernst. Sie kam zur Haustür gerannt in dem gestreiften Männerpyjama, den sie immer trug. Ihr Gesicht drückte Angst und Überraschung aus, als sie Mayra und den Polizisten sah. Sie legte Mayra den Arm um die Schulter und führte sie in die Küche. Beide kniffen die Augen zu, als sie das helle Küchenlicht einschaltete. Mrs. Barnes setzte den Wasserkessel auf um heiße Schokolade zu machen. Mayra erzählte ihrer Mutter von dem Traum und von ihrem Ausflug zur Fear Street. „An mehr kann ich mich nicht erinnern. Deshalb kann ich das auch nicht erklären“, sagte Mayra und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mrs. Barnes stellte sich hinter ihren Stuhl und umarmte sie. „Ssshh. Jetzt ist ja alles wieder gut.“ „Was geschieht mit mir? Warum tue ich das?“ „Das weiß ich auch nicht.“ Ihre Mutter schüttete das braune Schokoladenpulver in einen Becher. „Ich weiß gar nichts über Schlafwandeln. Aber das Wichtigste ist sich nicht verrückt zu machen und nicht völlig den Kopf zu verlieren.“ „Nicht den Kopf verlieren?“, rief Mayra. Sie wusste, ihre Mutter sprach so leise und besänftigend um sie zu beruhigen, aber das 50
machte sie nur wütend. „Wie soll ich denn dabei ruhig bleiben? Ich bin im Schlaf den ganzen Weg bis zur Fear Street gelaufen!“ „Ich weiß, Liebes“, sagte ihre Mutter. Sie goss heißes Wasser in den Becher und stellte ihn vor Mayra auf den Tisch. „Mom, ich kann nicht…“ „Dr. Sterne ist diese Woche leider im Urlaub“, unterbrach sie Mrs. Barnes. „Aber sobald er wieder im Krankenhaus ist, gehen wir zu ihm.“ „Was kann er schon machen?“, fragte Mayra hoffnungslos. Sie nahm einen Schluck von der heißen Schokolade und verbrannte sich die Zunge. „Das weiß ich auch nicht genau. Aber er kann dir sicher erklären, was Schlafwandeln ist. Ich meine, woher so etwas kommt.“ „Wahnsinn. Daher kommt es“, murmelte Mayra, die sich an dem Becher die Hände wärmte. „Wahrscheinlich drehe ich einfach durch.“ „Schluss damit. Hör auf, so etwas zu sagen.“ Ihre Mutter sah plötzlich sehr müde aus. „Du drehst überhaupt nicht durch. Aber anscheinend passiert etwas in dir, was wir nicht verstehen. Dr. Sterne ist ein wunderbarer Mann. Er wird uns helfen. Willst du inzwischen mit bei mir im Zimmer schlafen? Na, komm. Lass uns erst mal drüber schlafen.“ „Danke, Mom… es geht schon wieder besser. Die heiße Schokolade tut wirklich gut. Ich fühle mich schon viel ruhiger, Schwester Nancy.“ Mayra lächelte ihrer Mutter zu und nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher. „Vielleicht kann Kim für eine Weile bei dir im Zimmer schlafen“, schlug ihre Mutter vor. „Sie hat so einen leichten Schlaf, sie hört dich bestimmt, wenn du aufstehst. Und dann könnte sie doch…“ Beide sahen überrascht auf, als sie Schritte hörten. Kim kam ins Zimmer marschiert in ihrem Pyjama mit Garfield vorn drauf, die Augen geschlossen, die Arme ausgestreckt. „Ich bin ein Schlafwandler“, sagte sie mit tiefer Stimme, was wohl besonders geisterhaft klingen sollte. „Ich bin ein Schlafwandler…“ „Kim!“, schrie Mayra, die die Vorstellung ihrer Schwester überhaupt nicht komisch fand. „Hast du uns etwa die ganze Zeit belauscht?“, wollte Mrs. Barnes 51
wissen. Kim beachtete die beiden überhaupt nicht und lief weiter wie ein Zombie mit geschlossenen Augen in der Küche herum. „Ich wandele im Schlaf. Passt auf, hier kommt der Schlafwandler.“ „Hör auf damit, Kim. Das ist kein Spaß“, wies Mrs. Barnes sie zurecht. „Du bist einfach unmöglich“, meinte Mayra kopfschüttelnd. Endlich machte Kim die Augen auf. „Ich kann auch schlafwandeln, damit du es weißt.“ „Was machst du überhaupt hier? Du musst morgen früh aufstehen, hast du das vergessen?“, fragte Mrs. Barnes, legte ihre Hände auf Kims schmale Schultern und führte sie aus der Küche. „Ich bin ja gar nicht wach. Ich schlafwandele doch“, beharrte Kim. Ein paar Minuten später lag Mayra wieder im Bett. Sie fühlte sich müde, kaputt, erschöpft. Aber sie konnte einfach nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn sie dabei war, in Schlaf zu fallen, hielt sie sich mit Gewalt wach. Nein, ich kann einfach nicht, dachte sie. Ich will diesen Traum nie wieder haben. Sie starrte an die Decke und fühlte, wie ihre Angst immer größer wurde. Vielleicht werde ich nie wieder schlafen können, dachte sie. Walker schien sich wirklich Sorgen zu machen um Mayra. Noch bevor sie zur Arbeit aus dem Haus ging, kam er zu ihr. Er sah wirklich toll aus in seinen ausgeblichenen Jeans und einem Polohemd. Mayra war froh ihn zu sehen, aber sie meinte: „Du hättest nicht extra zu kommen brauchen so früh am Morgen. Mir geht’s gut. Wirklich.“ „Ich musste aber“, wandte er ein, setzte sich auf den Teppich im Wohnzimmer und streckte seine langen Beine aus. „Komm, setz dich zu mir.“ „Das geht nicht. Ich bin schon spät dran.“ „Ein paar Minuten machen auch nichts mehr“. Er hatte schon nach ihrem Arm gegriffen und zog sie neben sich auf den Teppich. „Komm, sei nicht allein“, sagte sie mit einem Grinsen. Dann küsste 52
sie ihn auf die Wange. Es gefiel ihr, wenn er so fordernd war und unnachgiebig, das passierte viel zu selten. „Erzähl mir, was letzte Nacht passiert ist.“ „Das habe ich dir doch schon am Telefon gesagt. Mehr weiß ich auch nicht.“ „Merkwürdig“, meinte er. „Merkwürdig? Ist es das? Glaubst du wirklich?“ „Ja.“ Er wirkte plötzlich sehr nachdenklich. Ja, das ist seltsam.“ „Ach, so. Ich dachte, du meinst, ich sei merkwürdig.“ „Ja, das auch.“ „Tausend Dank. Kannst du nicht mal ernst sein? Mir jagt das Ganze wirklich Angst ein.“ „Ich meine es ernst. Und ich habe auch Angst. Um dich natürlich. Es muss schrecklich sein, plötzlich irgendwo draußen wach zu werden.“ „Nicht irgendwo. In der Fear Street.“ „Weißt du, ich habe eine Idee.“ Er lehnte sich zurück gegen die Couch. „Vielleicht könnte ich dich hypnotisieren und dann herausfinden, wo das Problem liegt oder was der Traum bedeutet.“ „Nein, danke“, sagte Mayra schnell. Sie wollte aufstehen, doch Walker hielt sie zurück. „Ich meine es ernst. In letzter Zeit habe ich viel geübt. Ich bin schon viel besser darin geworden. Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert, denkst du nicht?“ „Walker, du bist seltsam“, meinte Mayra, stand auf und lief zum Spiegel im Flur. Sie konnte ihn im Spiegel sehen, während sie ihr TShirt zurechtzog. Er sah verletzt aus. Gekränkt. „Das sollte ein Kompliment sein“, versicherte sie ihm. Aber sein unglücklicher Ausdruck blieb. „Dann willst du wegen dieser Sache also wirklich zu diesem Seelendoktor?“ „Ja. Sobald er aus dem Urlaub zurück ist. Mom meint, er ist wirklich in Ordnung. Er hat so eine Art Schlafforschung betrieben, also hat er vielleicht ein Mittel um mich vom Schlafwandeln abzuhalten.“ Walker stand auf und stellte sich hinter sie. Im Spiegel sah sie ihn 53
an. Er sieht so gut aus, dachte sie. Aber ich gehe jetzt besser zur Arbeit. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sie könne sich selbst nicht trauen hier allein mit ihm im Haus. Wenn er sie jetzt umarmen und küssen würde, dann käme sie sicher überhaupt nicht mehr zu Mrs. Cottler. Aber das tat er nicht. Er sah ihrem Spiegelbild so lange wie möglich in die Augen. Dann fragte er: „Kann ich dich zur Arbeit bringen?“ „Ja, gern.“ Ob er wohl spüren konnte, wie enttäuscht sie war? Die schwarze Katze starrte Mayra an, neigte den Kopf und ihre gelbgrünen Augen schienen größer zu werden. „Hazel, wo ist denn Mrs. Cottler?“ Die alte Frau hatte nicht auf ihr Klopfen reagiert. Mayra hatte sich selbst aufgeschlossen, nachdem sie mehrmals geklopft hatte. Dann hatte die Katze sie begrüßt, misstrauisch, so als sei sie vorsichtig, weil sie Mayras Absichten nicht kannte. „Mrs. Cottler? Mrs. Cottler?“ Keine Antwort. „Vielleicht ist sie oben“, sagte Mayra laut. Die Katze lief zur Treppe, als hätte sie genau verstanden, was Mayra meinte. „Mrs. Cottler?“, rief Mayra. Wieder keine Reaktion. Also stieg sie die Treppe hinauf. Die Tür zu Mrs. Cottlers Schlafzimmer stand offen. Mayra spähte hinein. Das Zimmer war leer, die Tür zum Badezimmer geschlossen. Mayra ging ins Schlafzimmer. „Mrs. Cottler?“ In diesem Moment hörte sie die Dusche im Badezimmer angehen. Da war Mrs. Cottler also. Mayra drehte sich um und wollte gerade wieder gehen, als etwas auf der Kommode ihre Aufmerksamkeit erregte. Zögernd trat sie näher. Es war eine der schwarzen Kerzen in einem schwarzen Kerzenhalter. Die Kerze war bis auf ein kleines Stückchen niedergebrannt, eine Pfütze von kaltem Wachs hatte sich unten gebildet. Neben dem Kerzenhalter lag eine kleine Schmuckschachtel. Offen. Darin konnte Mayra ihre Perlen sehen. Mrs. Cottler hatte noch nicht einmal angefangen sie wieder aufzufädeln. Warum lagen sie hier? Direkt neben der seltsamen schwarzen Kerze? 54
Im Badezimmer hatte das Wasser plötzlich aufgehört zu laufen. Ich verschwinde besser, bevor sie mich hier sieht, dachte Mayra. Sie drehte sich um und schlich sich leise aus dem Zimmer. Mayra bereitete gerade das Mittagessen vor – es gab Tunfischsalat –, als Mrs. Cottler endlich in der Küche erschien, auf ihren Stock gestützt und mit einem entschuldigenden Lächeln auf dem Gesicht. „Tut mir Leid, ich habe heute Morgen verschlafen“, erklärte sie Mayra. „Das ist eins der wenigen Vergnügen, die man als alte Frau noch hat.“ „Das Mittagessen ist fast fertig“, verkündete Mayra. Mrs. Cottler stellte sich neben sie an den Küchentisch. „Du siehst müde aus, Mayra“ , meinte sie mit echter Besorgnis. ,Ja, ich weiß. Ich habe nicht sehr gut geschlafen.“ „Deine Mutter sollte vielleicht darauf achten, dass du früher ins Bett kommst“, überlegte Mrs. Cottler mit einem merkwürdigen Lächeln auf den Lippen. „Übrigens, wie geht es deiner Mutter?“ Also erinnert sie sich doch an meine Mutter. Endlich ist es heraus, dachte Mayra. Ein Gewitter hielt Mrs. Cottler und Mayra von ihrem täglichen Spaziergang zum See ab. „Das ist auch nicht schlecht“, sagte Mrs. Cottler wehmütig. „Ich denke ja doch immer nur an Vincent, wenn ich da draußen bin. Wahrscheinlich ist das meine Art der Erinnerung, ihn so in meinem Leben zu behalten. Aber es macht mich immer traurig.“ „Wir lesen heute ein paar Extrakapitel“, schlug Mayra vor. Sie lächelte mitfühlend um die alte Frau etwas zu trösten. Ihr Traum kam ihr plötzlich wieder in den Sinn. Sie sah den See, den See ihres Traumes, klar und glitzernd. Um das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen nahm sie das Buch und suchte nach dem richtigen Kapitel. Ein paar Stunden später tröpfelte es immer noch. Mayra machte sich auf den Nachhauseweg. Der kalte Regen fühlte sich gut an auf dem Gesicht. Sie lief schnell die Fear Street hinunter um sobald wie möglich nach Hause zu kommen. Etwa auf der Höhe des Fear Street Friedhofs, wo es besonders viele Pfützen gab, hörte sie plötzlich Schritte hinter sich. War das wieder der Mann, der sie schon einmal verfolgt hatte, der 55
mit dem Stiernacken? Sie fröstelte und beschleunigte ihr Tempo. Wer war er? Und was wollte er von ihr? „Hey! Mayra!“ Sie drehte sich um. Es war nicht der Mann. Es war Link. „Link? Was machst du denn hier in der Fear Street?“ Er strich sich das schwarze Haar zurück, das feucht war vom Regen, und grinste sie an. „Ich habe auf dich gewartet.“ Er trug schwarze Jeans und ein leuchtend blaues T-Shirt. Seine Arme waren schon sehr braun. Sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Link, fang bitte nicht wieder an. Ich will nicht…“ „Nein, ich hab doch nur Quatsch gemacht“, gab er zu und hatte sie endlich eingeholt. „Ich musste hier etwas ausliefern. Und dann habe ich dich kommen sehen, also…“ Sie sah hinter ihm einen roten Lieferwagen stehen, mitten auf der Straße. Link hatte die Tür an der Fahrerseite weit offen stehen lassen. „Ist das dein Auto?“ „Na ja, ich kann es nehmen, wenn ich Sachen ausfahren muss“, meinte er und grinste wieder. „Hast du Lust auf eine kleine Ausfahrt?“ Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber Mayra wehrte ihn ab. „Nein, ich glaube nicht.“ Plötzlich dachte sie an Walker. Sie fragte sich, was er wohl jetzt, genau in diesem Moment, machte. Sobald sie zu Hause war, würde sie ihn anrufen. „Ich fahr dich nach Hause. Komm schon, Mayra. Es sieht sowieso aus, als würde es gleich wieder gießen.“ „Nein“, beharrte sie. „Ich fahr dich wirklich nur nach Hause. Ohne ein Wort zu sagen. Versprochen.“ Mayra zögerte und sah zum Himmel, der sich schon verdunkelte. „Und du versprichst mich nicht auszufragen oder so?“ Er hob die rechte Hand zum Schwur. „Nein. Weder das noch sonst was Schreckliches.“ Er lachte. Sie folgte ihm zu dem Lieferwagen und öffnete die Beifahrertür. „Hier, benutz die Stufe um hochzukommen“, sagte er. Mayra kletterte auf den Sitz und schlug die Tür zu. Link lief um 56
das Auto und stieg auf der Fahrerseite ein. Sie musste zugeben, er sah großartig aus. Er ließ den Motor an und fuhr die Fear Street hinunter. „Weißt du, wen ich gestern getroffen habe? Kerry Post.“ „Ach, wirklich?“ Kerry war ein guter Freund von Link, der auf die South High School ging am anderen Ende der Stadt. Sie mochte Kerry und jetzt fiel ihr auf, dass sie überhaupt nicht mehr an ihn gedacht hatte, seit sie mit Link Schluss gemacht hatte. „Wie geht’s ihm denn?“ „Er ist verrückt wie immer.“ Link fuhr rechts in den Park Drive. „Weißt du, was er diesen Sommer macht? Er läuft als Eistüte herum.“ „Du machst Witze!“ Mayra lachte. „Du meinst, er muss sich anziehen wie eine Eistüte?“ „Genau. Und er hat einen Eiswagen mit einer festen Route. In der Altstadt, glaube ich. Muss den ganzen Tag klingeln mit seinem Wagen. Ich hab ihm gesagt, ich wusste schon immer, dass er eine Eistüte hat, wo andere Leute ihren Kopf haben.“ Mayra lachte laut. „Und wo ist seine verrückte Freundin Alice?“ „Sie bringt den ganzen Sommer damit zu, Kerry ja nicht über den Weg zu laufen, glaube ich.“ Beide schütteten sich aus vor Lachen. Mayra sah Link an und studierte sein gut aussehendes Gesicht. Jetzt kam ihr wieder zu Bewusstsein, wie viel Spaß man mit ihm haben konnte. Es war so schön, mit ihm zusammen zu sein, so entspannend, genau wie früher. Er bemerkte, dass sie ihn ansah. Und legte ihr eine Hand auf die Schulter „Und wenn wir die River Road entlangfahren? Nur um zu reden?“, fragte er weich. Fast hätte sie ja gesagt. Was war denn schließlich schon dabei? Er drückte ihre Schulter. Nein, dachte sie. Es wäre falsch. Walkers Gesicht tauchte vor ihr auf. Zwischen Link und mir ist es aus. Klar ist er ein toller Typ. Natürlich vermisse ich ihn manchmal und auch die Freunde, die wir zusammen hatten. Sicher fühle ich mich wohl mit ihm. Aber ich gehe jetzt mit Walker. „Link, fahr mich bitte einfach nach Hause“, sagte sie und sah 57
geradeaus auf die Straße. Dann blickte sie ihn an und sah den enttäuschten Ausdruck auf seinem Gesicht. Nein, er war mehr als enttäuscht, erkannte sie. Er war wütend, er kochte vor Wut, weil sie ihn wieder zurückgewiesen hatte. Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück. Es war ein gespanntes, grimmiges Schweigen. Link ließ Mayra am Straßenrand aussteigen und sie rannte zum Haus ohne sich von ihm zu verabschieden. Zu ihrer Überraschung wartete Donna auf der Veranda auf sie. Sie trug grüne Shorts und ein passendes knappes Oberteil. Das ließ sie noch kleiner aussehen, als sie ohnehin schon war. „Wer war denn das, der dich da nach Hause gebracht hat?“, fragte sie mit einem neugierigen Blick auf Mayra. „Link“, meinte Mayra schnell. „Und jetzt Wechsel bitte sofort das Thema.“ Donna zuckte die Achseln. „Er gibt einfach nicht auf, was?“ „Das würde ich nicht gerade als Themenwechsel bezeichnen“, gab Mayra scharf zurück. Sie fand ihren Schlüssel und schloss die Tür auf. Donna folgte ihr ins Wohnzimmer, das angenehm kühl war „Okay. Anderes Thema. Wie geht’s Mrs. Cottler?“, wollte Donna wissen und ließ sich auf die große Ledercouch fallen. „Sie ist merkwürdig“, erzählte ihr Mayra. „Soll ich wieder das Thema wechseln?“, fragte Donna und streckte die Beine aus, wobei sie ihre Füße auf das Kaffeetischchen aus Glas legte. „Ich habe Walker heute zufällig getroffen. Er hat mir erzählt, du… äh… du bist wieder im Schlaf aus dem Haus gelaufen.“ „Ich wollte dich anrufen“, sagte Mayra. „Willst du darüber sprechen?“ Mayra seufzte. „Da gibt es nicht viel zu sagen.“ „Du bist wirklich ausgesprochen gesprächig heute“, murmelte Donna. Mayra dachte immer noch über Link nach, darüber, wie sehr sie sich im Auto plötzlich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Die beiden 58
Freundinnen brauchten eine Weile um so etwas wie ein Gespräch in Gang zu bringen, so als wären sie Fremde, die einander überhaupt nicht kannten. Zuerst sprachen sie über die kleinen nebensächlichen Sachen um wenigstens miteinander zu reden. Über die neue Frisur von Donnas Kusine. Den tollen kleinen roten Porsche, den Pete Goodwins Eltern sich gekauft hatten. Den neuen Film mit Tom Cruise. „Ach, übrigens, vorhin war ein Mann hier, der dich gesucht hat“, bemerkte Donna plötzlich. „Wie?“ „Er meinte, sein Name sei Cal oder so ähnlich. Kennst du ihn?“, wollte Donna wissen. „Nein“, sagte Mayra kurz. Aber ihr Magen reagierte sofort. Sie bekam Angst. „Was wollte er denn?“ „Keine Ahnung. Er kam hier auf die Veranda, während ich auf dich gewartet habe. Ziemlich großer Typ, sehr groß sogar, mit Muskeln und einem riesigen Nacken.“ „Oh, nein.“ „Mayra, was ist denn los? Du bist auf einmal so blass.“ „Nichts. Es ist nichts. Wie hat er nur meine Adresse herausgefunden? Hat er was gesagt?“ „Nein. Ah, doch, ja. Er meinte, Mrs. Cottler hätte ihm die Adresse gegeben.“ Mrs. Cottler? Er kannte Mrs. Cottler? Warum hatte sie ihm Mayras Adresse gegeben? „Und was wollte er?“ „Hat er nicht gesagt. Ich meinte nur, du wärest nicht zu Hause. Hoffentlich war das nicht falsch“, meinte Donna. „Er war ein bisschen komisch.“ „Ja, das ist er“, stimmte Mayra leise zu. Sie erzählte Donna von ihrer ersten Begegnung mit ihm vor dem Friedhof in der Fear Street. „Na ja. Vielleicht will er dir ein Zeitschriftenabonnement aufschwatzen“, sagte Donna, lehnte sich auf der Couch zurück und beobachtete die Schatten, die sich an der Zimmerdecke bewegten. „Klar. Todsicher“, entgegnete Mayra ärgerlich. „Also, warum läufst du denn nun im Schlaf herum?“, kam Donna zur Sache. 59
Mayra brauchte ein paar Sekunden um umzuschalten. „Wenn ich das doch selbst wüsste“, antwortete sie nach einer Weile. „Ich hab mal einen Film gesehen, in dem eine Frau die ganze Nacht im Schlaf herumgelaufen ist“, meinte Donna. „Na, super“, stöhnte Mayra. „Ich denke, davon willst du mir jetzt erzählen, ja?“ „Genau. Sie lief im Schlaf herum, weil sie diesen Typen umbringen wollte.“ „Donna – bitte…“ „Sie hatte zu viel Angst ihn im wachen Zustand umzubringen. Deshalb war sie Schlafwandlerin und hat ihn im Schlaf umgebracht. Dann konnte sie natürlich auch nicht für den Mord verantwortlich gemacht werden, weil sie ja geschlafen hat, als sie es tat.“ „Donna, jetzt mach mal einen Punkt!“, brauste Mayra auf. „Vielleicht willst du auch jemanden umbringen“, vermutete Donna. „Sicher. Dich!“, meinte Mayra und stürzte sich auf Donna. Sie schloss die Finger um ihren Hals und tat so, als würde sie sie würgen. „Okay, okay. Also, welche Theorie hast du?“, fragte Donna ernsthaft. „Meine Theorie?“ „Über das Schlafwandeln.“ Plötzlich schoss Mayra die Idee durch den Kopf. Es war wie eine Explosion, die alles aus dem Weg räumte. Die Sicherheit, dass sie Recht hatte, ließ sie fast zittern. „Meine Theorie ist, dass Mrs. Cottler eine Hexe ist und dass sie mich mit einem Fluch belegt hat, der mich jede Nacht schlafwandeln lässt.“ Donna lachte. „He, das ist gut, Mayra. Das ist mindestens so gut wie die Geschichte in dem Film!“ Mayra lachte auch. Aber gleichzeitig stellte sie sich die alte Frau vor, wie sie kerzengerade und mit geschlossenen Augen auf dem Bett saß. Und sie dachte an die heruntergebrannte schwarze Kerze und ihre Perlen auf der Kommode und daran, wie Stephanie gesagt hatte, dass eine Hexe irgendetwas Persönliches von einem braucht, wenn sie einen Fluch aussprechen will – und tief im Innern wusste sie, ihre Theorie war richtig.
60
Kapitel 6 „Mom, darf ich meinen Job bei Mrs. Cottler aufgeben?“ Mrs. Barnes, die eine rot-weiß gestreifte Schürze über ihrer Hose und dem T-Shirt trug, legte die Hamburger einen nach dem anderen auf den Grill, wobei sie die Augen gegen den Qualm zusammenkniff. „Mom, hast du mich verstanden?“, hakte Mayra nach und kam näher. „Nein, entschuldige. Hattest du etwas gesagt, Liebes? Die Hamburger sind so gut wie fertig. Rufe bitte Kim und Donna.“ „Aber ich habe dich was gefragt“, beharrte Mayra. „Ob es okay ist, wenn ich meinen Job bei Mrs. Cottler aufgebe?“ Mrs. Barnes runzelte die Stirn. Mit dem Grillhandschuh erlegte sie einen Moskito auf ihrem Arm. „Ich dachte, wir wollten nicht über ernsthafte Sachen reden. Deswegen sind wir doch extra hier zum See Monolac gefahren, oder? Damit du mal für ein Wochenende rauskommst und Abstand hast von all den Sachen, die dir zu schaffen machen.“ Es war eine der spontanen Ideen ihrer Mutter gewesen. Ihr Onkel George hatte ein geräumiges Haus mit drei Schlafzimmern hier am See, in dem sie wohnen konnten. Mrs. Barnes hatte vorgeschlagen, Mayra solle doch Donna zur Gesellschaft mitnehmen. Ein Tapetenwechsel schien genau das zu sein, was ihr auch jeder Arzt verschrieben hätte. Ein Wochenende am schönsten See weit und breit, weit weg von Mrs. Cottler, weit weg von der Fear Street, eben einfach von allem – Mayra hatte sich sofort einverstanden erklärt. Dafür musste sie ihre Verabredung mit Walker absagen. Er hatte enttäuscht geklungen, aber auch sehr verständnisvoll. „Mach dir keine Gedanken“, hatte er gemeint. „Genieße es. Und denk an nichts Schweres.“ Aber es war nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte, vor ihren eigenen Gedanken davonzulaufen. Am Samstagnachmittag war sie mit Donna in dem Ruderboot ihres Onkels bis zur Mitte des Sees gerudert. Es war ein herrlicher Tag, der See glitzerte im Sonnenschein wie ein Märchensee. 61
„Ist das nicht fantastisch?“, fragte Donna. „Was?“ Mayra hing ihren Gedanken nach. Sie hatte gerade an Mrs. Cottler gedacht, an ihre Perlen, an das Schlafwandeln in der Fear Street, wo Mrs. Cottler wohnte. Jetzt war alles so klar und offensichtlich. Mrs. Cottler war einfach verrückt! Sie benutzte Mayra um sich an ihrer Mutter zu rächen. Sie hatte den Krankenhausaufenthalt nicht vergessen und die eingebildete schlechte Betreuung, die sie angeblich von Mrs. Barnes bekommen hatte. Deshalb hatte sie Mayra mit dem Fluch des Schlafwandelns belegt um es ihrer Mutter heimzuzahlen. Zwei Dinge muss ich unbedingt erledigen, sagte sie zu sich selbst. Ich muss meine Perlen zurückbekommen und ich muss den Job aufgeben. Und dann so weit von Mrs. Cottler weg wie nur möglich. Plötzlich merkte sie, dass Donna in dem Ruderboot aufgestanden war. „Donna, was machst du denn da?“ Donna lachte. „Ich versuche nur deine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich rede schon fünf Minuten mit dir, aber ich glaube, du hast nicht ein Wort gehört von dem, was ich gesagt habe.“ „Tut mir Leid. Ich war nur – ich weiß nicht – in Gedanken.“ „Schlechte Angewohnheit“, meinte Donna und setzte sich wieder. Das Boot schaukelte leicht auf dem blaugrünen Wasser. Donna versuchte weiter sich mit Mayra zu unterhalten und erzählte, was sie vorhatte nach ihrem letzten Jahr auf der High School. Doch Mayra konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren. Nach einer Weile gab Donna auf und die beiden Mädchen lagen beide still im Boot und sahen hinauf in die Wolken, die über ihnen vorbeizogen. Mayra verbrachte den Rest des Nachmittags im Haus und versuchte zu schlafen. Als sie am Abend herauskam, ließen Kim und Donna unten am Ufer Kieselsteine über das Wasser hüpfen. Ihre Mutter war mit dem rauchigen Grill beschäftigt. „Also, was ist? Kann ich nun den Job aufgeben?“, fragte Mayra. „Wir brauchen das Geld eigentlich dringend“, sagte Mrs. Barnes und konzentrierte sich auf die Hamburger, die langsam braun wurden. „Es ist doch so ein angenehmer Job, Mayra. Warum willst du ihn hinschmeißen?“ Warum? 62
Was sollte Mayra sagen? Den wirklichen Grund, warum sie weg wollte, konnte sie ihrer Mutter unmöglich nennen. Sie würde lachen, wenn sie hörte: „Mrs. Cottler ist eine Hexe und sie hat mich mit dem Fluch des Schlafwandelns belegt.“ „Ich möchte eben gern aufhören.“ Ganz schön lahm. „Behalte den Job“, riet ihr Mrs. Barnes. Sie kniff die Augen zusammen, weil ihr der Wind den Rauch ins Gesicht blies. „Das ist völlig untypisch für dich einfach so aufzugeben. Denk doch nur an die neuen Klamotten, die du dir nach dem Sommer für die Schule kaufen kannst.“ „Weißt du, Mom, ich glaube, der Job hat etwas mit meinem Schlafwandeln zu tun“, sagte Mayra. Eigentlich hatte sie das nicht sagen wollen und sie bedauerte es auch sofort. Mrs. Barnes zog die Stirn in Falten. „Wenn du jedes Mal anfängst zu schlafwandeln, wenn du einen neuen Job annimmst, dann wirst du es im Leben mal sehr schwer haben.“ „Das… nein, so habe ich das nicht gemeint“, murmelte Mayra. „Ach, vergiss es.“ Sie drehte sich um und lief schnell weg um Kim und Donna zum Essen zu rufen. Sie kam sich vor wie ein Idiot. Kim und Donna spielten inzwischen auf einer kleinen Sandbank, die sich am Ufer entlangzog. Sie hatten Gesellschaft bekommen von einem kleinen Jungen, mit dem Kim sich angefreundet hatte. Er hieß Andy und war zwei oder drei Jahre jünger als Kim. Sie waren eifrig damit beschäftigt, ein tiefes Loch im Sand zu graben. Als Mayra näher kam, sprang Kim auf und ließ ihre Schaufel fallen. „Hey, seht mal“, rief sie Donna und Andy zu. „Ratet, was ich bin.“ Sie machte die Augen zu, streckte die Arme vor dem Körper aus und begann steif über den Sand zu laufen, wobei sie laut schnarchte. „Ich hab’s. Du bist Mayra!“, rief Donna laut und versuchte erfolglos gegen ihr Lachen anzukämpfen. „Das ist überhaupt nicht komisch. Ermutige du sie nicht noch“, fuhr Mayra sie verärgert an. Donna zuckte die Achseln. Kim ließ die Arme sinken und öffnete die Augen. „Und ob das komisch ist.“ „Ich glaube, für Andy ist es Zeit, zu seinen Eltern zu gehen. Es ist nämlich Essenszeit.“ 63
„He, guck mal“, meinte Andy und grinste Mayra an. Er hatte ein rotes Plastikauto in der Hand. Plötzlich holte er mit seinem Arm aus und schmiss das rote Auto ins Wasser. Mayra sah zu, wie das Spielzeug auf dem Wasser aufschlug und dann von der leichten Strömung fortgetragen wurde. „Es schwimmt“, sagte Andy mit einigem Stolz. „Nein!“, schrie Mayra plötzlich wie von Sinnen und schockierte alle damit. Sie starrte immer noch auf das kleine rote Auto und hatte sich die Hände auf die Ohren gelegt, als wollte sie sich die Seele aus dem Leib schreien. „Nein! Neeeiiin! Nein!“, schrie sie. Mrs. Barnes ließ ihr Grillbesteck fallen und kam am Ufer entlanggerannt. „Was ist denn los, Mayra?“ „Nein! Neeeiiin! Neeeiiin!“ Es dauerte ein paar Minuten, bis ihre Mutter sie wieder beruhigt hatte. Aber auch dann konnte Mayra nicht erklären, warum sie so geschrien hatte. „Donna, du bist spät dran.“ Donna zuckte die Achseln. „Tut mir Leid. Ich musste meiner Mutter im Haus helfen.“ Sie trug ein ausgeblichenes Hard-RockCafe-T-Shirt und weiße Shorts. „Es ist wirklich super von deiner Mutter, dass sie mir das Auto leiht.“ „Manchmal nimmt sie morgens eine Kollegin zur Arbeit mit.“ Mayra sah nervös auf ihre Uhr, dann gab sie Donna die Autoschlüssel. „Sie sagt, der Tank ist voll.“ „Es ist wirklich schrecklich, wenn man einen Arzt hat, der drüben in Waynesbridge ist“, klagte Donna. „Es gibt keinen Bus, der auch nur in der Nähe seiner Praxis hält. Also, noch mal danke.“ Sie wollte schon aus der Tür gehen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Wie geht’s dir denn heute?“ „Mir? Gut“, sagte Mayra schnell. „Ich dachte nur, du siehst nervös aus oder so.“ „Nein, es ist nur schon so spät und ich muss los.“ „Entschuldige. Du kannst ja Mrs. Cottler sagen, dass es meine Schuld war.“ 64
„Dann belegt sie dich vielleicht auch noch mit einem Fluch“, meinte Mayra. Sie hatte es eigentlich scherzhaft gemeint, aber es klang sehr ernst. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“ Donna hielt bereits die Tür offen. „Ja, klar. Ich weiß auch nicht, was am See mit mir los war. Ich… wahrscheinlich bin ich übermüdet.“ „Hast du denn nicht geschlafen?“ „Ich habe Angst vor dem Einschlafen“, gab Mayra zu. Jede Nacht. Weil ich denke, dass dann der Traum wieder kommt. Und wenn ich diesen Traum habe, dann schlafwandele ich wieder. Deshalb mache ich…“ „Du hältst dich mit Gewalt wach?“ „Ja.“ „Aber das ist schrecklich.“ Donna schüttelte mitfühlend den Kopf. „Ja, stimmt. Es ist wirklich unangenehm.“ Es klang ein bisschen bitter, wie Mayra das sagte. Sie sah noch einmal auf die Uhr und schob Donna endlich aus der Tür. „Geh! Geh endlich! Los, fahr zu deinem Arzt. Ich bin jetzt wirklich spät dran.“ „Okay, okay. Ich bin schon weg. Weißt du, Mayra, vielleicht solltest du einfach aufhören mit dem Job.“ „Meine Mom würde das nicht zulassen.“ Mayra zog die Tür hinter sich zu und folgte ihrer Freundin bis zur Straße. „Wie war’s, wenn du mich absetzt? Es wird gleich zu regnen anfangen.“ „Tut mir Leid, kein Platz“, witzelte Donna. Mayra lächelte nicht. „He, das war ein Scherz.“ „Ganz schön lahm“, meinte Mayra gähnend. „Es macht keinen Spaß mit dir, wenn du nicht geschlafen hast“, sagte Donna, öffnete die Fahrertür des Toyota und glitt hinter das Lenkrad. „Der ganze Sommer macht keinen Spaß“, meinte Mayra nachdenklich, sah auf ihre Uhr und dachte an die alte Frau, die in dem schauerlichen Haus am See auf sie wartete. Als Mayra aus dem Auto kletterte und sich von Donna verabschiedete, sah sie Mrs. Cottler in der Tür stehen und sie beobachten. „Guten Morgen, Mrs. Cottler“, rief sie ihr zu. Aber die alte Frau schien Donna anzustarren und gab keine Antwort. 65
Mayra rannte die Verandatreppen hinauf. Mrs. Cottler war heute ganz in Weiß, mit einer langen weißen Bluse über einem weißen Faltenrock. Mit ihrem schwarzen Haar und dem rosigen Gesicht sah sie halb so alt aus, wie sie eigentlich war. „Mayra, ich muss mit dir sprechen“, sagte sie, mit einer Hand auf den Stock gestützt. Mit der anderen machte sie die Tür wieder zu. „Ich… es tut mir wirklich Leid, dass ich so spät dran bin“, stammelte Mayra und trat ins Haus, wo es trotz der Hitze draußen angenehm kühl war. „Ich musste noch auf meine Freundin warten und…“ „Das ist schon in Ordnung“, sagte Mrs. Cottler schnell. Sie drehte sich um und ging langsam durchs Wohnzimmer in die Küche. „Ich muss etwas mit dir besprechen.“ Will sie etwa zugeben, dass sie mich mit einem Fluch belegt hat? Das war Mayras erster Gedanke. Oder will sie mich rausschmeißen? Der zweite Gedanke. Unwillkürlich zog sich ihr Magen zusammen. Sie fröstelte. Warum war es so kalt in diesem Haus? Draußen waren es doch bestimmt über dreißig Grad. Mrs. Cottler lehnte sich gegen den Küchentisch und lächelte. „Ich werde für ein paar Tage wegfahren.“ „Oh!“ Das war Mayra einfach so herausgerutscht, sie war zu überrascht. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. „Meiner Schwester geht es nicht gut. Ich fahre nach Vermont um mich ein bisschen um sie zu kümmern“, fuhr Mrs. Cottler fort und zupfte an ihrer weißen Bluse herum. „Dann werden Sie mich gar nicht brauchen?“, fragte Mayra und versuchte nicht so froh zu klingen. Innerlich sprang sie in die Luft vor Freude. „Nun, ich kann Hazel natürlich nicht mitnehmen. Und ich möchte dich bitten jeden Tag zu kommen um sie zu füttern. Wenn du hier bist, kannst du dich auch gleich um die Post kümmern und die Pflanzen gießen.“ „Natürlich. Das ist überhaupt kein Problem!“, rief Mayra aus. Sie fährt weg, sagte sie sich immer wieder. Weg. Weg. Weg. Vielleicht werde ich wenigstens in den paar Tagen wieder normal schlafen können. 66
„Natürlich bezahle ich dein volles Gehalt“, versicherte Mrs. Cottler und ging zur Spüle. „Oh, danke.“ Am liebsten würde ich sie fürs Weggehen bezahlen, dachte Mayra. „Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen, Mrs. Cottler.“ „Ich weiß, du wirst dich gut um Hazel und das Haus kümmern, während ich weg bin.“ Hazel starrte Mayra zweifelnd an. Die Katze war heute Morgen die ganze Zeit um Mrs. Cottler herum und strich ihr um die Beine, als ob sie wüsste, dass ihr Frauchen ein paar Tage nicht da sein würde. „Ja. Ich werde jeden Tag kommen, ohne Ausnahme“, versprach Mayra. „Wann fahren Sie denn?“ Hoffentlich klang sie nicht zu erfreut. „Morgen früh. Der Mann meiner Schwester kommt heute um mich zu holen.“ Mrs. Cottler stützte sich auf ihren Stock und sah in die Spüle. „Großartig. Ich habe ganz vergessen, dass ich hier was angefangen hatte.“ Sie nahm einen großen Fleischhacker - Mayra hatte bisher nur beim Fleischer so ein Beil gesehen – und begann etwas zu zerkleinern, indem sie den Fleischhacker hoch in die Luft hob und mit einem Knall niedersausen ließ. Mayra ging näher zur Spüle um zu sehen, was die alte Frau mit solcher Anstrengung und Wucht zerkleinerte. Dann wich sie zurück, fast wurde ihr schlecht und sie konnte nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Es sah aus wie eine menschliche Hand. Mrs. Cottler, die ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen hatte, drehte sich um und sah Mayras Ausdruck. „Was ist denn los mit dir?“, wollte sie wissen und hob den Fleischhacker wieder um ihn niedersausen zu lassen. „Das, was Sie da klein hacken…“ Mayra zeigte mit dem Finger darauf. Mrs. Cottler lachte. „Was soll damit sein? Hast du noch nie vorher Schweinshaxen gesehen? Meine Schwester isst sie so gern.“ Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Schweinshaxen? Das sah aber gar nicht wie eine Schweinshaxe aus – oder? 67
Hack, hack, hack. Mrs. Cottler hatte so einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht, als sie den Fleischhacker hob und niedersausen ließ. Hack, hack, hack… Nach der Arbeit fühlte Mayra sich erschossen und etwas wacklig auf den Beinen, als sie durch den warmen Regen nach Hause ging. Sie suchte nach dem Schlüssel und schloss die Tür auf. „Mom? Bist du da?“, rief sie. Es kam keine Antwort. Sie ging in die Küche und sah auf die Uhr über der Spüle. Halb fünf. In einer halben Stunde würde Kim nach Hause kommen. Als sie den Kühlschrank öffnete um etwas Kaltes zu trinken zu suchen, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. „Hi, Mayra.“ Es war ihre Mutter. „Ich bin immer noch im Krankenhaus. Es hat einen Unfall gegeben.“ Mayra fühlte plötzlich, wie sie zu Eis erstarrte. „Einen Unfall?“ Ja. Donna. Sie ist hier. Im Krankenhaus. Auf meiner Station. Ich… äh… na ja… Sie hatte einen schlimmen Unfall mit dem Auto.“ „Donna, du klingst so komisch.“ Mayra hielt den Telefonhörer so fest umklammert, dass ihre Hand zu schmerzen begann. „Ja, weiß ich.“ Donnas Stimme klang heiser und weit weg. Sie sprach sehr langsam, so als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. „Das liegt bestimmt an den Schmerzmitteln, die sie mir gegeben haben.“ „Hast du starke Schmerzen?“ „Nein. Nicht mehr. Ich… Warte bitte einen Moment, Mayra. Die Schwester ist gerade mit der Medizin reingekommen.“ Mayra lief in der Küche hin und her. Gott sei Dank ist sie am Leben, dachte sie immer wieder. Alles wird gut werden. „Ich bin wieder da“, meldete sich Donna. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Ich glaube, es geht mir besser.“ „Meine Mutter sagt, dein Bein ist gebrochen.“ „Ja. Und ein Handgelenk. Und dann habe ich noch ein paar Schrammen an den Rippen.“ 68
Aus irgendeinem Grund tauchte vor Mayra das Bild von Mrs. Cottler mit ihrem Fleischhacker auf, wie sie auf die Schweinshaxen einschlug. „Deine Mom ist wirklich großartig“, sagte Donna. „Ich bin fast ausgeflippt, als ich die Kanüle in meinem Arm gesehen habe. Aber sie war ganz cool. Sie hat mir alles erklärt. Ich glaube, ich habe noch mal Glück gehabt.“ „Glück?“ Mayras Hände waren feucht. Sie klemmte den Hörer unters Kinn und setzte ihren Gang durch die Küche fort. „Ja. Dieser Verrückte hat versucht mich umzubringen. Da bin ich mir ganz sicher.“ Einen Moment lang konnte Mayra gar nichts sagen. Welcher Verrückte? Wovon sprach Donna eigentlich? Die Schmerztabletten, die die Schwestern ihr verabreichten, brachten sie sicher etwas durcheinander. „Was hast du gerade gesagt?“ „Ich sagte, der Typ hat versucht mich von der Straße zu drängen. Das heißt, er hat mich von der Straße gedrängt.“ „Wer?“ „Das weiß ich nicht. Ich habe nur seinen Lieferwagen gesehen. Es hat doch geregnet wie verrückt. Und er hatte seinen Sonnenschutz heruntergeklappt, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.“ „Ein Lieferwagen? Jemand in einem Lieferwagen hat versucht dich umzubringen?“ „Ja. Er tauchte plötzlich hinter mir auf und ist mir immer wieder drauf gefahren. Ich bin fast gestorben vor Angst. Dann habe ich Gas gegeben und versucht wegzukommen. Aber er hat mich noch stärker erwischt. Und dann war es so glatt wegen des Regens. Ich war doch auf dem Highway und konnte nirgendwo ausweichen. Es gab keine Möglichkeit. Donna schien wegzudriften. „Donna - bist du noch da? Fühlst du dich nicht wohl?“ „Und dann ist er mir einfach von der Seite reingefahren. Er muss gerast sein. Der Lieferwagen war natürlich größer – viel größer als der kleine Toyota. Und dann… ich glaube, dann habe ich die Kontrolle über den Wagen verloren.“ „Bist du mit jemandem zusammengestoßen?“ 69
„Nein, an der Seite des Highway war eine Befestigung. Aus Beton. Ich bin voll dagegengefahren. Es gab einen Knall, dann hat Glas gesplittert. Mir kam es vor, als würde überall um mich herum Glas zersplittern. Den Klang werde ich wohl nie mehr vergessen. Als würde die ganze Welt zusammenbrechen und in Stücke fallen. Mann, Mayra, ich bin so müde. Mir fallen einfach die Augen zu.“ Mayra hatte einen fürchterlichen Gedanken. „Donna, welche Farbe hatte der Lieferwagen?“ „Es war ein kleinerer.“ „Ja, aber welche Farbe hatte er?“ „Was?“ „Überleg genau. Erinnere dich.“ „Er war… äh… rot. Ein roter Lieferwagen. Ich muss jetzt wirklich schlafen, Mayra.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Die Tabletten…“ „Bye, Donna. Ich komme dich besuchen.“ Sie wartete noch auf eine Antwort, aber Donna musste bereits eingeschlafen sein. Links Lieferwagen war rot. Mayra legte den Hörer auf und stellte fest, dass sie zitterte. Am ganzen Körper. Nicht vor Kälte. Wegen der Gedanken, die sie plötzlich hatte. Und diese Gedanken jagten ihr Angst ein. Sie zitterte vor Angst. Das kann nicht Link gewesen sein, dachte sie und schlang die Arme um sich. Er kann es einfach nicht gewesen sein. Aber wer es auch immer gewesen sein mag, er hatte es nicht auf Donna abgesehen. Donna war mit Mrs. Barnes’ Auto gefahren. Derjenige wollte Mayra umbringen.
70
Kapitel 7 Walker legte schnell den Hörer auf, als Mayra ins Zimmer kam. „Oh, hi. Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.“ Er wirkte mehr als ein bisschen nervös. Die beiden Flecken auf seinen Wangen waren dunkelrot. Er trug weiße Tennisshorts und ein weißes T-Shirt. „Hast du mit deiner Freundin telefoniert?“, zog Mayra ihn auf. „Ha, ha. Sehr witzig.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Hi.“ „Was machst du denn hier?“, fragte er. Mayra hatte sich eine andere Begrüßung vorgestellt. „Ich wollte mit dir reden. Ich muss dir eine Menge erzählen.“ Er lief hinter ihr zum Fenster. Die Sonne war gerade hinter den Bäumen verschwunden, aber es war immer noch heiß und schwül. Walker starrte hinaus. „Deine Mutter meinte, ich soll ruhig raufgehen“, entschuldigte sich Mayra. Sie fühlte sich plötzlich wie ein Eindringling. „Ist ja auch okay“, sagte Walker ohne sich umzudrehen. „Freust du dich denn gar nicht mich zu sehen?“, fragte sie. Warum hatte sie es nötig, ihn um ein bisschen Freundlichkeit zu bitten? Oder war das nur seine Schüchternheit? „Natürlich freue ich mich.“ Er kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Komm, ich zeige dir einen neuen Trick.“ „Nein, hör auf, Walker. Keine Tricks heute Abend. Ich will mit dir reden. Das heißt, ich muss sogar.“ „Gut, okay. Dann komm mit nach unten. Wir setzen uns ins Wohnzimmer. Dann kannst du mir alles erzählen.“ Mayra erzählte ihm von Donna und dem roten Lieferwagen. Dann von Cal, dem Mann, der sie verfolgt und sich nach ihr erkundigt hatte. Sie erzählte ihm sogar von ihrer Theorie über Mrs. Cottler. Dass sie eine Hexe sei und sie mit dem Fluch des Schlafwandelns belegt habe. „Du wirst mich auslachen. Das weiß ich“, hatte sie ihn gewarnt, bevor sie ihn eingeweiht hatte. Aber Walker lachte nicht. Sein Gesicht wurde immer ernster, als 71
sie sprach, und er begann zustimmend zu nicken. „Du könntest Recht haben“, sagte er, als sie fertig war. „Du meinst also nicht, ich drehe durch?“ „Nein. Hexen gibt es nicht nur in Märchenbüchern“, meinte Walker ganz ernst. Sie saßen nebeneinander, ganz dicht, trotz der Hitze der Zimmer. Walker hatte seine langen Beine übereinander geschlagen und einen Arm um ihre Schulter gelegt. „Ich habe eine Menge gelesen über Hexen und Hexensabbate“, begann er. „Es gibt heute mehr Hexen als früher. Sie sprechen nicht viel über sich und das, was sie machen, aber es gibt sie.“ „Und ist es möglich, dass eine Hexe jemanden mit einem Fluch belegt, sodass er schlafwandelt?“, wollte Mayra wissen und kuschelte sich an ihn. „Es gibt alle möglichen Arten von Flüchen“, meinte er nachdenklich. „Aber ich frage mich, warum? Welchen Grund sollte jemand haben das mit dir zu machen?“ „Na ja. Ich bin mir nicht ganz sicher. Mrs. Cottler war vor einer Weile im Krankenhaus. Und meine Mutter war diejenige, die sie betreut hat. Irgendwie kam Mrs. Cottler auf die verrückte Idee, meine Mutter wolle sie umbringen. Sie hat sich überall über sie beschwert und einen Riesenaufstand gemacht.“ „Und du denkst…“ „Dass sie mich eingestellt hat und mich mit einem Fluch belegt um sich an meiner Mutter zu rächen.“ „Schrecklich.“ Walker schüttelte den Kopf. „Zum Glück fährt Mrs. Cottler für ein paar Tage weg.“ „Super!“, rief Walker aus und sprang auf. „He? Was meinst du? Ich muss trotzdem hin und die Katze füttern. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für dich.“ „Noch besser“, meinte er. „Dann haben wir Gelegenheit uns dort gründlich umzusehen. Wir gehen morgen zusammen hin und durchsuchen das Haus. Wir finden schon heraus, ob sie eine Hexe ist oder nicht. Und wenn sie eine ist, dann suchen wir nach Spuren.“ Mayra drückte Walkers Hand. „Super! Und du kommst mit? Wirklich?“ „Na klar“, versicherte er. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen mit dir. Du bist ja völlig fertig. Wir müssen herausfinden, wer dahinter 72
steckt und so etwas mit dir macht. Wir müssen einfach.“ „Danke, Walker“, sagte Mayra gerührt. „Und danke, dass du mir glaubst.“ „Hazel, was ist denn mit dir los? Du warst doch noch nie so froh mich zu sehen.“ Die Katze rieb sich an Mayras Beinen und miaute laut. „Ich wette, du hast Hunger. Habe ich Recht?“ Mayra drehte sich zu Walker um und hielt ihm die Tür auf. „Komm rein. Lass die Katze nicht raus.“ Walker trat schnell ein und sah auf das Tier. „Eine schwarze Katze. Das beweist eindeutig, dass die alte Frau eine Hexe ist!“ „Hey! Ich dachte, wir nehmen die ganze Sache ernst.“ „Ich meine das ernst“, sagte Walker und betrat nach ihr das Wohnzimmer von Mrs. Cottler. Hier war es fast so dunkel wie in einer Höhle. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und ließen das helle Sonnenlicht nicht herein. Walker ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Sofort strömte das Licht herein. „Wow! Sieh doch, das ganze Zeug, das hier herumsteht!“ „Mrs. Cottler ist eine echte Sammlernatur“, erklärte Mayra und bückte sich zur Katze hinunter. „Sieh dich um, ich geb Hazel inzwischen das Futter.“ Sie lief in die Küche, doch die Katze folgte ihr nicht. Stattdessen beäugte sie Walker misstrauisch. „Komm schon, Hazel. Willst du denn gar nichts fressen? Lass doch Walker, beachte ihn gar nicht. Er wird dir nichts tun. Er sieht sich nur ein bisschen um.“ Die Katze miaute laut, als wollte sie Walker warnen, dann endlich folgte sie Mayra in die Küche. Hungrig begann sie zu fressen, als Mayra ihr den Napf mit Futter auf die Erde stellte. Mayra beeilte sich zu Walker zurück ins Wohnzimmer zu kommen. Das Haus wirkte noch merkwürdiger ohne Mrs. Cottler. Die Decke quietschte, als würde oben jemand über die alten Dielen laufen. Die Luft war dick und abgestanden. Im Haus roch es nach Moder und Verfall. Diese Gerüche hatte Mayra nie wahrgenommen, wenn die alte Frau zu Hause war. Als Walker und sie die Regale mit den merkwürdigen Schnitzereien, den ausgestopften Tieren und den alten Trockenblumen durchsahen, hatte Mayra das Gefühl, jemand 73
beobachte sie. Sie drehte sich mehrere Male um und erwartete schon Mrs. Cottler hinter sich zu sehen. Aber natürlich war niemand da. „Was ist denn da drin?“, fragte Walker und zeigte auf die Tür. „Ist das ein Schlafzimmer?“ „Nein, ihre Bibliothek.“ „Komm, die sehen wir uns an.“ Sie folgte ihm in die Bibliothek, die mit dunklem Holz getäfelt war. Die Bücherregale an allen vier Wänden reichten bis zur Decke. Ein alter Mahagonischreibtisch und ein Schreibtischstuhl aus Leder waren die einzigen Möbelstücke im Raum. Mayra war selbst nur einoder zweimal in diesem Zimmer gewesen um ein Buch zu holen, aus dem sie Mrs. Cottler vorlesen sollte. Sie hatte nie Gelegenheit gehabt sich genauer umzusehen. „Wow! Ein paar von den Schinken hier sind wirklich schon sehr alt“, meinte Walker, als er die Buchrücken in den Regalen betrachtete. Sie begannen die Titel durchzulesen. Ein Regal enthielt nur Klassiker: Shakespeare, griechische Tragödien und anderes. „Meinst du, sie hat all die Bücher hier gelesen?“, wollte Walker wissen. „He, du bist ja so still geworden. Was ist denn los?“ „Ich weiß auch nicht. Es ist so unheimlich hier“, sagte Mayra. Sie drehte sich um und sah die Katze in der Tür stehen, die sie aus ihren gelbgrünen Augen anstarrte. Mayra stellte die Bücher hastig zurück ins Regal. „Sieh mal hier, Walker.“ „Was hast du gefunden?“ „Diese Bücher hier, sieh dir doch mal die Titel an. Die sind alle über Hexerei.“ Laut las sie einige der Titel vor. Dann zog sie ein Buch heraus, das sehr alt aussah. Der schwere Einband war zerrissen und ausgeblichen. Sie schlug es auf. Die vergilbten Seiten waren spröde zwischen ihren Fingern. „Sieh mal das hier.“ Sie hielt es ihm hin. Der Titel war „Die richtige Art des Gottesdienstes“. Auf der ersten Seite war ein Holzschnitt zu sehen, der einen grinsenden Teufel zeigte. „Wie alt ist das Buch?“, fragte Walker „Das steht nicht drin“, stellte Mayra fest. „Aber es sieht sehr alt aus. Sieh mal, es sind lauter merkwürdige Rezepte und Anleitungen 74
drin.“ Sie stellte das Buch wieder zu den anderen zurück ins Regal. „An dieser Wand hier stehen nur Bücher über Okkultismus.“ Die Katze miaute plötzlich. Mayra fuhr zusammen. „Sei still, Hazel“, befahl sie. „Wir sehen uns doch nur um.“ Als sie sich bückte um die Bücher weiter unten zu betrachten, erregte ein Titel ihre Aufmerksamkeit: „Die Psychologie des Schlafwandelns“. Sie kniete sich hin, sodass sie die Bücher besser sehen konnte. „Der Schlafwandler“. „Das Buch vom Schlafwandeln“. ,Also hat sie mich angelogen“, sagte Mayra laut. „Wieso?“ „Diese Bücher hier sind alle über das Schlafwandeln.“ „Wirklich?“ „Nachdem ich zum ersten Mal im Schlaf herumgelaufen bin, habe ich Mrs. Cottler gefragt, ob sie etwas über das Schlafwandeln wüsste. Aber alles, was sie meinte, war nur, dass es sehr geheimnisvoll sei.“ „Und dabei hat sie eine ganze Reihe Bücher darüber.“ „Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass ich mitkriege, wie viel Ahnung sie davon hat.“ „Langsam fange ich auch an, an deine Theorie zu glauben“, gab Walker zu. „Mrs. Cottler muss einfach eine Hexe sein. Und sieh doch mal das Buch da, das gelbe. ‘Tagebuch eines Schlafwandlers’. Es steht hervor, siehst du?“ „Du meinst, sie hat es letztens erst in der Hand gehabt“, schlussfolgerte Mayra. „Ganz genau.“ Mayra zog es heraus und legte es auf den Schreibtisch. „Vielleicht borge ich mir das und lese es zu Hause. Oder ich borge mir gleich ein paar davon.“ Walker legte ihr die Arme um den Nacken und zog sie an sich. „Ich bin so froh, dass du hier bist“, gab sie zu. „Wenn ich allein gekommen wäre und die ganzen Bücher gesehen hätte, wäre ich bestimmt ausgeflippt.“ „Das ist schon eine merkwürdige Büchersammlung“, fand Walker. „Komm nach oben.“ Mayra zog ihn am Arm. „Ich will dir die schwarzen Kerzen zeigen.“ Sie waren schon fast an der Tür, als Mayra die beiden Fotografien 75
auffielen, die auf dem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers standen. „Oh, nein!“, rief sie aus und zeigte auf die Fotos. „Walker – sieh doch! Das kann ich nicht glauben!“ Die Katze miaute ärgerlich und sprang auf die Schreibtischplatte. Ohne sie zu beachten griff Mayra nach den Fotografien, die in einem doppelten Glasrahmen steckten. Sie hielt sie Walker hin. „Das sind Stephanie und Link!“, stellte Walker fest. Er sah so überrascht aus wie Mayra. „Und was machen die hier auf Mrs. Cottlers Schreibtisch?“ Mayra starrte die Fotos an, als könnten die ihr Antwort geben. Die Katze schlug mit der Pfote nach Mayra und verfehlte nur knapp ihren Arm. „Hazel, spinnst du?“, fuhr Mayra sie an. „Du willst nicht, dass ich diese Fotos anfasse? Du willst, dass ich mit dir spiele, oder?“ Die Katze starrte sie an. Mayra stellte die Fotos zurück auf den Schreibtisch. „Vielleicht sind hier drin ein paar Antworten auf diese mysteriösen Fragen“, meinte sie. Dann zog sie die oberste Schublade auf. Sie war voller Fotos und Papiere, Notizbücher und Karten. „Walker, sieh dir das an.“ Sie hatte noch ein anderes Foto von Stephanie gefunden. Es musste mindestens zwei oder drei Jahre alt sein. Sie wühlte weiter in der Schublade herum. „Falls du da drin ein Foto von mir findest, behalte es bitte für dich!“, scherzte Walker, aber in seiner Stimme klang Furcht mit. Mayra holte jetzt einen ganzen Packen Fotos hervor und begann ihn durchzusehen. „Mal sehen, ob ich hier auch ein Foto von dem Stiernacken finde“, meinte sie. „Du meinst den Typen, der dich verfolgt hat?“ „Genau. Cal. Irgendwie hängt er mit drin in der ganzen Geschichte. Vielleicht ist er der Sohn von Mrs. Cottler!“ Mayra zog eine Geburtstagskarte hervor und öffnete sie. „Aha.“ „Was?“ „Hör dir das an! Hier steht: ‘Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Tante Lucy. Deine Stephanie.’„ „Tante Lucy?“ 76
„Mrs. Cottler ist Stephanies Tante!“, rief Mayra. „Und auch Links Tante! Na klar! Stephanie hat mir doch von diesem Job erzählt! Komisch, dass sie nie erwähnt hat, dass Mrs. Cottler ihre Tante ist.“ „Ja. komisch“, stimmte Walker zu. Mayra begann alle Fotos und Karten zurück in die Schublade zu stopfen. „Vielleicht arbeiten ja Stephanie und ihre Tante zusammen. Kann doch sein, dass sie beide mich mit ihren Flüchen belegen, mich schlafwandeln lassen und mir das Gefühl geben völlig durchzudrehn!“ „Beruhige dich, Mayra. Komm“, meinte Walker. „Meine Perlen.“ Plötzlich musste Mayra an ihre Kette denken. „Ich werde meine Perlen zurückholen. Das ist das Erste, was ich tun werde. Und dann gehe ich zu Stephanie und verlange meinen Schal zurück.“ „Deinen Schal?“ „Genau. Als Nächstes werde ich den Job hier kündigen und Mrs. Cottler und ihrer sauberen Nichte so gut aus dem Weg gehen, wie ich kann. Ihrem Neffen auch.“ Sie schmiss die Schublade zu und rannte aus der Bibliothek, wobei sie fast über die Katze gestolpert wäre. „Mayra! Wo willst du denn hin?“ Walker klang etwas besorgt. „Hab ich dir doch gesagt. Nach oben, meine Perlen holen.“ Sie rannte die Treppe hinauf. Hazel sprang ihr nach und protestierte laut. „Hazel, pass doch auf. Ich will nicht noch mal über dich stolpern.“ Sie lief durch den Flur und ins Schlafzimmer von Mrs. Cottler. Das kleine Schmuckkästchen stand auf der Kommode, genau da, wo Mayra es zuletzt gesehen hatte. Mayra ging hin und schlug den Deckel auf. „Bitte nicht!“ Das Kästchen war leer. Die Perlen waren weg. „Wow! Nun mal langsam“, meinte Donna. „Ich glaube nicht, dass das Ganze einen Sinn ergeben würde, auch wenn ich keine Schmerztabletten genommen hätte!“ Zuerst war es ein Schock für Mayra gewesen, Donna hier im Krankenhaus zu sehen. Sie hatte den Atem angehalten, als sie zur Tür hereingekommen war und in Donnas Zimmer stand. Ihre 77
Freundin so zu sehen - im Gips, völlig unbeweglich und mit diesen Kanülen im Arm – war ganz schön scheußlich gewesen. Wenigstens klang Donna schon wieder ein bisschen mehr wie sonst. Wenn sie wieder genügend Humor hatte um sich über das Krankenhausessen und über eine der Schwestern aufzuregen, die sich aus Versehen auf Donnas Arm gesetzt hatte, während sie ihr die Medizin verabreichte, konnte es nicht mehr so schlimm sein. Schließlich konnte Mayra sich nicht länger zurückhalten und berichtete Donna alles, was sie gestern mit Walker in Mrs. Cottlers Haus erlebt hatte. Und welche Beweise sie gefunden hatte, dass die alte Frau eine Hexe war, und Stephanie, ihre Nichte, höchstwahrscheinlich auch. „Ich habe schon mal gehört, dass man voreilig Schlüsse ziehen kann“, meinte Donna ironisch. „Das klingt doch einfach lächerlich!“ „Wie meinst du das?“ „Ich meine, was genau kannst du denn beweisen, Mayra? Dass Stephanie und Link mit Mrs. Cottler verwandt sind. Okay, wahrscheinlich hat Stephanie dir das sogar erzählt, als sie mit dir über den Job gesprochen hat. Du hast es nur vergessen oder nicht richtig zugehört. Und was kannst du sonst beweisen? Dass Mrs. Cottler sich für Hexerei interessiert und solches Zeug.“ „Aber es passt doch alles zusammen“, beharrte Mayra ungeduldig. „Mit dem Schlafwandeln hat es erst angefangen, seit ich den Job bei Mrs. Cottler habe. Seit ich die Perlen bei ihr im Haus gelassen habe.“ „Aaah“, stöhnte Donna. „Was ist los? Denkst du wirklich, ich bin verrückt?“ „Nein, ich habe eine Stelle im Nacken, die juckt, aber ich kann mich nicht kratzen.“ Mayra lachte. Sie beugte sich über das Bett und kratzte Donna im Nacken. „Bist du jetzt endlich froh, dass ich vorbeigekommen bin?“ „Hör mal, ich weiß, es geht dir wirklich nicht gut wegen des Schlafwandelns und der ganzen Sache“, meinte Donna und kam zum Thema zurück. „Aber übertreib es nicht. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, vergiss das nicht. Die Leute laufen nicht einfach herum und belegen andere mit Flüchen.“ „Walker meint, das kommt sogar häufig vor. Und es gibt mehr Hexensabbate als im sechzehnten Jahrhundert.“ 78
Donna stöhnte wieder. „Soll ich dich noch mal kratzen?“ „Nein. Ich bin nur total müde. Tut mir Leid. Das sind die Tabletten, denke ich. Ich muss jetzt einfach schlafen. Mir fallen die Augen zu. Wir reden später weiter, ja? Ich habe jede Menge Zeit um über alles nachzudenken. Und ich bin sicher, wir beide werden schon herausfinden, was hinter der ganzen Sache steckt.“ Sie gähnte. „Danke, dass du gekommen bist, Mayra.“ „Ich komme bald wieder“, versicherte Mayra und stand auf. „Du solltest auch ein bisschen schlafen“, rief Donna ihr noch nach. „Wenn ich doch nur könnte“, murmelte Mayra. Plötzlich fühlte sie sich total niedergeschlagen, als sie aus dem Krankenzimmer ging und den langen Korridor entlanglief. Mayra war auf dem Weg nach Hause, als sie in dem vollen Nachmittagsbus saß, die Stirn gegen die Fensterscheibe gepresst. Plötzlich hatte sie die Idee zu Stephanie zu gehen und sie einfach mit allem zu konfrontieren. Sie sah auf ihre Uhr. Es war fast fünf. Stephanie war bestimmt schon von der Arbeit zurück. Und Link sicher noch nicht. Also war es die beste Zeit. Sie drückte das Haltesignal, wartete, bis der Bus hielt, und stieg aus. Es waren nur noch ein paar Blocks bis zu Stephanies Haus. Die Sonne war orangerot und stand niedrig am Himmel. Die Abendluft war kühl und trocken. Mayra atmete tief ein. Was soll ich ihr eigentlich sagen? Ich sage ihr einfach ins Gesicht, dass ich genau weiß, was hier läuft. Natürlich wird sie es abstreiten. Sie wird alles abstreiten. Aber dann halte ich ihr unter die Nase, was ich alles bei Mrs. Cottler im Haus gefunden habe. Und dass ich weiß, die alte Hexe ist ihre Tante. Und ich weiß genau, warum sie meinen weißen Schal wieder mitgenommen hat. Und dann, was? Dann muss sie endlich damit aufhören. Sie und die alte Frau müssen aufhören mir solche Sachen anzutun. Noch ein Block. Ein hechelnder Hund kam über eine große Wiese 79
auf sie zugelaufen. Er winselte vor Überraschung, als er das Ende der Leine spürte, und drehte sich einmal um sich selbst. Mayra musste lachen. Hunde sind so komisch, dachte sie. Hazel fiel ihr ein. Diese Katze dagegen bekam viel zu viel mit und schien fast zu klug. Hazel hatte ganz offensichtlich etwas dagegen gehabt, dass Mayra und Walker im Haus herumschnüffelten. Die Katze schien sogar richtig erleichtert zu sein, als die beiden gegangen waren. Was für ein merkwürdiges Tier… Jetzt stand Mayra vor Stephanies Haus. Die Eingangstür war offen. Sie spähte durch den Spalt. Ich kann nicht warten, bis Stephanie den Unschuldsengel vor mir spielt, dachte sie. Dafür weiß ich zu viel, so kommt sie mir nicht davon. „Ist jemand zu Hause?“, rief sie. Keine Antwort. „Stephanie, bist du da?“ Stille. Mayra öffnete die Tür ganz und trat in den Flur. Sie sah sich im Wohnzimmer um. Es war komisch, auf einmal wieder in diesem Haus zu sein. Alles kam ihr so vertraut vor. Es hatte sich überhaupt nichts verändert und trotzdem kam es Mayra vor, als wäre sie Jahre nicht hier gewesen. „Stephanie?“, rief sie nach oben. Als sie die Treppe hinaufsah, konnte sie erkennen, dass die Tür zu Stephanies Zimmer geschlossen war. Vielleicht ist sie in ihrem Zimmer und hört mich nicht, dachte Mayra. Sie klopfte an die Tür zu Stephanies Zimmer. Keine Antwort. Aber sie konnte Musik von drinnen hören. „Stephanie? Bist du da drin?“ Sie machte die Tür auf und spähte ins Zimmer. Der Raum war dunkel bis auf das Licht von drei flackernden Kerzen. In der Dunkelheit saß Stephanie mit dem Rücken zu Mayra auf dem Fußboden neben den Kerzen. Sie hatte die Beine untergeschlagen und hockte vor einem weißen Kreis, dazu sang sie immer wieder die gleichen drei oder vier Worte nach einer fast tonlosen Melodie. In dem weißen Kreis lagen verschiedene Sachen. In dem schwachen Licht der Kerzen konnte Mayra nicht ausmachen, 80
was es war. Nur eines konnte sie sehr genau erkennen – Stephanie trug Mayras weißen Schal um den Kopf.
Kapitel 8 Stephanie hörte plötzlich auf zu singen und drehte sich um. „Mayra, was machst du denn hier?“ „Das ist nicht so wichtig. Sag mir lieber, was du hier machst“, entgegnete Mayra drohend und kam ins Zimmer. Stephanie sprang auf. „Ich übe ein bisschen. Wer hat dich reingelassen? Ist Mom schon zu Hause?“ „Niemand hat mich reingelassen“, gab Mayra zurück. „Dann kannst du auch gleich wieder gehen“, fuhr Stephanie sie an. Ihre grünen Augen funkelten im Kerzenlicht, ähnlich wie Hazels Augen. „Nicht, bevor du mir gesagt hast, was das hier zu bedeuten hat“, beharrte Mayra. „Das hier? Was meinst du damit?“ Mayra deutete auf den Kreis. Jetzt konnte sie sehen, dass Knochen darin lagen, wahrscheinlich Hühnerknochen, die zu Dreiecken arrangiert waren. „Du weißt doch, dass ich mich schon immer für Okkultismus interessiert habe“, meinte Stephanie. Sie machte die Tischlampe an. „Ich spinne nur so ein bisschen herum. Was soll denn dabei sein?“ „Warum hast du mich mit einem Fluch belegt?“ Die Frage sprudelte einfach so aus Mayra raus. Eigentlich hatte sie sie nicht stellen wollen. Jetzt war ihr die ganze Situation selbst etwas peinlich. Stephanie lachte. Jetzt mach aber mal einen Punkt, Mayra. Bist du völlig übergeschnappt?“ „Ich weiß genau, dass es stimmt.“ Mayra ließ sich nicht beirren. Außerdem trägst du meinen Schal.“ „He?“ Stephanie griff sich an den Kopf und band den weißen Schal ab, 81
der ihr schwarzes Haar gehalten hatte. „Hier.“ Sie stopfte ihn Mayra in die Hand. „Da hast du ihn.“ „Du hast ihn für deinen Fluch gebraucht“, wiederholte Mayra, die allmählich Zweifel bekam. „Ich habe ihn gebraucht um mein Haar hochzubinden“, erklärte Stephanie spöttisch. „Als ich von der Arbeit nach Hause kam, habe ich mir die Haare gewaschen. Sie sollten so trocknen. Nimm deinen blöden Schal.“ „Stephanie, ich weiß alles.“ Mayra versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu halten und möglichst normal zu klingen. Am liebsten wäre sie sofort aus dein Haus gerannt und hätte Stephanie und ihren Bruder nie wiedergesehen. „Ich weiß auch, dass Mrs. Cottler deine Tante ist.“ „Mann, das ist ja eine tolle Erkenntnis“, mokierte sich Stephanie und ließ sich aufs Bett fallen. „Natürlich weißt du, dass Mrs. Cottler meine Tante ist. Ich habe es dir ja selbst gesagt, als ich dir von dem Job erzählt habe.“ „Nein, hast du nicht“, gab Mayra zurück. Sie dachte angestrengt nach. Sagte Stephanie die Wahrheit? Hatte sie es Unwirklich gesagt? Mayra konnte sich nicht erinnern. „Ich bin ganz sicher, das stimmt nicht“, meinte sie schließlich. Ich hätte nie davon anfangen sollen, dachte Mayra. Ich war mir so sicher in allem, als ich hierher kam und Stephanie auf dem Boden sitzen sah. Aber jetzt… Nein. Ich habe doch Recht. Es ist wirklich so, muss einfach so sein. Das alles kann ich mir unmöglich einbilden. Ich muss schlafwandeln, weil jemand mich mit einem Fluch belegt hat. Wenn es nicht Stephanie ist, dann ist es ihre Tante. Stephanie lügt, entschied Mayra. „Haben es vielleicht noch andere Leute auf dich abgesehen?“, wollte Stephanie wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum bist du so gemein?“, brach es aus Mayra heraus. „Ich dachte, wir seien Freundinnen.“ „Ich bin überhaupt nicht gemein zu dir. Ich bin nur sauer, weil du hier einfach so hereinplatzt und mir blöde Sachen an den Kopf wirfst. Du bist diejenige, die gemein ist. Und die mich verdächtigt, ich würde dich mit einem Fluch belegen! Echt verrückt.“ 82
„Ich bin nicht verrückt!“, rief Mayra aufgebracht. „Kennst du einen Typen, der Cal heißt?“ „Wie?“ „Cal. Seinen ganzen Namen kenne ich nicht. Ein großer blonder Typ mit einem Stiernacken.“ „Nein. So einen kenne ich nicht. Weshalb fragst du?“ „Deine Tante kennt ihn aber. Und die hat ihn mir auf den Hals gehetzt.“ „Mayra, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Das alles ergibt keinen Sinn. Geht es dir gut? Ich meine, du siehst so müde und überspannt aus.“ „Du weißt genau, dass ich seit einiger Zeit nicht schlafen kann!“, rief Mayra und fühlte, wie sie allmählich die Kontrolle verlor. Aber sie konnte nichts dagegen tun. „Du weißt, dass ich schlafwandele und du kennst auch genau den Grund, warum!“ „Schlafwandeln?“ Ich wusste doch, dass sie den Unschuldsengel spielen würde, dachte Mayra. „Vielleicht schlafwandelst du, weil du unterbewußt ein Schuldgefühl hast wegen Link.“ „Stephanie, hör auf damit.“ „Aufhören? Ich? Du bist doch diejenige, die mit der ganzen Sache angefangen hat. Weißt du, was ich dachte, als ich dich zuerst in der Tür stehen sah?“ „Was denn?“ „Ich dachte, du wärst gekommen um dich wieder mit Link zu versöhnen, weil Walker dich fallen gelassen hat.“ Mayra hatte plötzlich das Gefühl zu Eis zu erstarren. Was hatte Stephanie gesagt? Sie musste sich verhört haben. Weil Walker dich fallen gelassen hat. Was konnte Stephanie damit meinen? Vielleicht drehe ich wirklich allmählich durch, dachte Mayra. „Walker? Mich fallen gelassen? Was?“ „Das weiß doch jeder, dass er mit Suki Thomas geht.“ „Jetzt bist du einfach bösartig“, sagte Mayra leise und nahm Kurs auf die Tür. 83
„Bin ich nicht“, beharrte Stephanie. „Erzähl mir bloß nicht, du wusstest das nicht.“ „Da gibt es nichts zu wissen. Ich war heute Morgen noch mit Walker zusammen. Du hast dir das nur einfallen lassen um mir weh zu tun.“ „Ich habe Walker und Suki zusammen in der Einkaufspassage gesehen, wie sie Pizza aßen“, erklärte Stephanie. „Na und? Ich auch. Was ist denn dabei? Das heißt noch lange nicht, dass Walker mit ihr geht.“ Mayra schlug sich mit dem Schal gegen die Handfläche. So sehr, dass es schmerzte. „Das ist echt kindisch von dir“ sagte sie mit zitternder Stimme. Stephanie reagierte nicht. Sie zuckte nur die Achseln und verdrehte die Augen. „Mach’s gut, Stephanie. Tut mir Leid, dass ich dich gestört habe dabei, wie du andere Leute mit Flüchen belegst.“ Mayra drehte sich schnell um und lief aus der Tür. Sie fühlte sich wacklig auf den Beinen. „Mir tut’s auch Leid“, rief Stephanie ihr hinterher. Dann plötzlich, als Mayra an der Treppe stand, war Stephanie hinter ihr. Sie legte Mayra eine Hand auf die Schulter „Es tut mir wirklich Leid“, sagte sie weich, ohne eine Spur von Ärger. „Alles… glaub mir.“ Mayra rannte die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und stand draußen, wo sie nach Luft schnappte. Die Sonne war fast schon untergegangen. Sie stand mitten auf der Auffahrt, atmete tief durch und begann sich etwas besser zu fühlen. Was hatte Stephanie gemeint, als sie sagte, alles täte ihr Leid? Das Schlafwandeln? Das Gemeinsein? Das mit dem Fluch? Das mit der gemeinen Lüge über Walker? Sie hatte nicht lange Zeit darüber nachzudenken. Im nächsten Moment rollte Links roter Lieferwagen in die Auffahrt. „Hey, Mayra, hi!“ „Oh, nein“, murmelte Mayra. Link war nun wirklich der Letzte, den sie jetzt sehen wollte. Er brachte den Wagen ein paar Meter vor ihr zum Stehen und 84
sprang aus dem Auto mit einem breites Grinsen auf seinem gut aussehenden Gesicht. „Das ist aber eine Überraschung…“ „Ich… äh… ich habe nur Stephanie besucht.“ Sein Grinsen verschwand. „Wirklich?“ Der Lieferwagen. Plötzlich musste sie an den Lieferwagen denken. Donna. Der Verrückte, der sie von der Straße gedrängt hatte. „Link“, begann sie. „Vor zwei Tagen, hast du da…“ Sie sah nach unten zur Stoßstange des Wagens. Sie war glatt und völlig in Ordnung. Dann untersuchte sie die beiden Kotflügel. Nichts, wie neu. Also war es nicht Link gewesen, dachte sie. Wie konnte ich nur jemals Link verdächtigen? Vielleicht hat Stephanie Recht. Kann sein, ich drehe so langsam wirklich durch. Ich beginne jeden zu verdächtigen, den ich kenne. Aber dann dachte sie wieder an Donna, die im Krankenhaus lag mit den Kanülen im Arm. Und an Cal, der sie so hasserfüllt angestarrt hatte. Und daran, wie sie im Schlaf in den Wald gelaufen war… „Ich bin nicht verrückt“, sagte sie. Es fiel ihr nicht auf, dass sie laut sprach. Link sah sie überrascht an. In dieser Nacht hatte Mayra wieder den Traum. Diesmal heulte der Wind, als sie über den See lief. Dunkle Wellen, schwarz wie Tinte, umspülten ihre Knöchel und machten den Saum ihres Nachthemds nass. Die Farben waren so intensiv. Der Nachthimmel war wie schwarzer Samt. Der Mond aus Gold, fast so hell wie die Sonne. Sie lief über die Wellen. Das Wasser war kalt, so kalt unter ihren Füßen. Wieder beobachtete sie jemand vom Ufer aus. Wer war das? Sie wollte es unbedingt wissen. Etwas hielt sie davon ab, sich umzudrehen, obwohl sie es verzweifelt versuchte. Sie musste laufen, langsam, immer weiter über die dunklen Wellen. Bald würde sie völlig vom Wasser umgeben sein. Das Ufer, der Wald, alles würde hinter ihr verschwinden. 85
Wer stand da? Wer war da hinter ihr am Ufer? Wer beobachtete sie so stumm, während sie übers Wasser ließ Plötzlich konnte sie sehen. Alles drehte sich vor ihren Augen und sie konnte das Ufer sehen, das niedrige Gestrüpp, die dunklen Bäume dahinter, die sich im Wind wiegten. Es war so hell jetzt. Der Mond war so weiß, dass es blendete. Er stand über dem Ufer wie ein Scheinwerfer. Wer stand da? Jemand stand in dem hellen Licht. Sie kniff die Augen zusammen um besser zu sehen. Ja. Ja. Jetzt konnte sie ihn sehen. Es war Walker. Walker, bewegungslos wie eine Statue, so still, so ruhig. Er beobachtete sie, als sie sich wieder umdrehte und weiter über das seichte Wasser lief. Walker, warum starrst du mich so an? Dann, plötzlich, war er mit dem hellen Mondlicht verschwunden. Jetzt gab es nur noch das feuchte Dunkel der Wellen. Sie zogen sie nach unten, in die Tiefe. Sie versuchte zu widerstehen, sich zu wehren, zu schwimmen. Aber das Wasser war zu stark. Jetzt reichte es ihr schon bis zur Taille, so kalt auf einmal, so eiskalt und schwer. Schwer, immer schwerer. Sie stand jetzt unter Wasser. Oh, Hilfe, so helft mir doch. Warum kann ich denn nicht schwimmen? Wieso komme ich hier nicht raus? Sie sank nach unten. Verzweifelt versuchte sie die Arme zu heben, als sie mit dem Kopf ins Wasser tauchte, aber sie, konnte sie nicht bewegen. Ins kalte, tiefe Wasser. Es erstickte sie, fast. Oh, lass mich atmen. Sie wachte auf. Aber sie war immer noch in ihrem Traum. Oder schien es ihr nur so? „Oh, lass mich atmen.“ Das Wasser schlug über ihr zusammen. Sie schnappte nach Luft und kämpfte gegen die Wellen. Ihre Arme gingen wie Windmühlenflügel, sie schnappte nach Luft und schluckte noch mehr Wasser. Schlafe ich immer noch? 86
Nein, das war Wirklichkeit. Sie war im Wasser. Im tiefen Wasser. Sie ertrank. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie schloss die Augen und versuchte an die Oberfläche zu kommen. Jetzt war ihr Kopf über Wasser. Sie würgte, planschte, streckte die Arme aus, versuchte sich hochzuziehen, sich aus dem Wasser zu ziehen und aus dem Traum, der kein Traum mehr war. Sie wollte schreien, um Hilfe schreien. Aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Ihr Haar hatte sich verwirrt und hing ihr ins Gesicht. Sie versuchte es zurückzustreichen um endlich schreien zu können, um Atem zu schöpfen. Ich kann mich nicht oben halten, dachte sie und begann wieder zu sinken, die Augen weit offen. Ihr Herz schlug wie verrückt, es war das einzige Geräusch, was sie hörte außer dem leisen, tödlichen Plätschern des Wassers, das sie wieder ganz umgab. Ich ertrinke. Ich bin tot. Aber wo bin ich? Wieder begann sie Farben zu sehen, so herrliche Farben. Die Brust tat ihr weh. Ihre Lungen schienen zu explodieren. Ich ertrinke. Ich bin tot. Zwei starke Arme packten sie an den Schultern. Sie zogen sie aus dem Wasser. Träumte sie das auch? Sie öffnete die Augen. Nein. Neben ihr war ein kleines Motorboot. Und ein Mann mit einer Baseballkappe, deren Schirm ihm in die Stirn hing. Der Mann hatte einen kurzen Bart. Er hielt sie bei den Schultern. Und zog. Sie war schwer jetzt, so schwer wie ein Walfisch. „Du musst mir helfen“, sagte er „Hilf mir dich aus dem Wasser zu ziehen.“ Seine Stimme schien so weit weg zu sein, in weiter Ferne. Er zog wieder. Sie konnte ihm nicht helfen. Das kleine Boot schwankte hin und her. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie in dem kleinen Boot lag. „Kannst du sprechen?“, fragte er. Unter dem Schirm seiner Mütze blickten seine Augen freundlich. Sie hob den Kopf und erbrach sich. Wasser lief ihr aus dem Mund, 87
das abgestandene Salzwasser. Sie würgte, atmete tief ein, erbrach sich wieder und begann sich endlich besser zu fühlen. „Kriegst du Luft?“, fragte er. Sie sah eine Angelrute und eine Spule, eine Werkzeugkiste neben dem kleinen Außenbordmotor am hinteren Ende des Boots. Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Ein Glück, dass ich gerade draußen war.“ Sie nickte. Und begann zu zittern. „Mir… mir ist so kalt“, stieß sie zähneklappernd hervor. Er zog an der Motorleine und der Motor sprang an. „Ich bringe dich ans Ufer“, meinte er „Tut mir Leid, aber ich habe keine Decke. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, ein Mädchen aus dem See zu fischen. Obwohl du das Einzige bist, was ich heute gefangen habe.“ Mayra sah auf das dunkle, baumbestandene Seeufer. Sie waren nicht weit davon entfernt. Sie war nicht zu weit in den See gelaufen. Gerade weit genug um zu ertrinken. „Was hast du denn im See gemacht ganz allein und mitten in der Nacht?“, wollte der Angler wissen. „Das weiß ich nicht“, antwortete sie.
88
Kapitel 9 Mrs. Barnes legte den Hörer auf und biss sich auf die Unterlippe. „Dr. Sterne meint, du kannst am Vormittag kommen. Möchtest du noch eine Tasse Tomatensuppe?“ „Nein, mir ist wieder warm.“ Mayra drehte den Suppenlöffel zwischen ihren Fingern hin und her. „Denkst du wirklich, er kann mir helfen?“ Ihre Mutter stellte sich hinter ihren Stuhl und legte Mayra die Arme um die Schultern. „Mayra, wir müssen etwas unternehmen. Du wärst heute fast ertrunken.“ Sie beugte sich zu ihrer Tochter herab und presste das Gesicht gegen Mayras immer noch feuchte Haare. „Natürlich glaube ich, dass Dr. Sterne dir helfen kann.“ Mayra seufzte. Sie sah auf die Küchenuhr. War es wirklich schon halb vier Uhr morgens? „Geh jetzt besser ins Bett“, sagte ihre Mutter. „Meinst du, du kannst schlafen?“ „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlafen will“, gab Mayra zu. Sie starrte aus dem Fenster in die Nacht. „Ich habe solche Angst, Mom. Warum passiert das mit mir?“ „Mach dir keine Sorgen. Dr. Sterne wird dir helfen das herauszufinden und in der Zwischenzeit kannst du bei mir im Zimmer schlafen“, beruhigte Mrs. Barnes sie. Aber ihre zitternde Unterlippe und die Tränen, die ihr in den Augen standen, waren für Mayra ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ihre Mutter genauso ängstlich und verwirrt war wie sie selbst. Die beiden Empfangsdamen des Krankenhauses, die an einem runden Empfangsschalter in der Mitte der Eingangshalle saßen, schienen mehr daran interessiert zu sein, sich zu unterhalten, als Besuchern des Krankenhauses zu helfen, die nach dem Weg oder anderen Dingen fragten. „Ich weiß es nicht, Barbara. Ich weiß es wirklich nicht“, wiederholte die kleinere der beiden Frauen immer wieder, während die größere zustimmend nickte. Mayra, in braunen Shorts und einem langärmeligen gelben T-Shirt, 89
wartete eine Weile geduldig und lehnte sich gegen den Schalter. Aber dann sah sie ein, dass sie die beiden wohl unterbrechen musste, wenn sie heute noch in Dr. Sternes Büro wollte. „Können Sie mir bitte sagen, wie ich zu Dr. Sternes Büro komme?“ „Vierter Stock“, meinte die, die Barbara hieß, ohne großartig von ihr Notiz zu nehmen. „Nehmen Sie den Fahrstuhl links“, fügte die andere überraschend hilfsbereit hinzu. Mayra bedankte sich und lief zu den Fahrstühlen an der linken Seite. Obwohl es noch vor neun Uhr morgens war, hatte sich schon eine Menge von Leuten vor dem Fahrstuhl versammelt. „Oh, Entschuldigung!“ Mayra stieß mit einer Frau zusammen, die einen dicken Gips um ihren Fuß hatte. „Passen Sie doch auf!“ Die Frau starrte Mayra an und schleppte sich dann weiter, indem sie sich auf eine Metallkrücke stützte. Ich bin zu nervös, ich kriege überhaupt nichts mehr mit, dachte Mayra. Außerdem will ich gar nicht hier sein. Ich bin nicht krank. Was mache ich hier im Krankenhaus? Sie fragte sich, auf welcher Station ihre Mutter wohl war. Wahrscheinlich im sechsten Stock. Dort war die Ruhestation. Mrs. Barnes hatte sie eigentlich zu Dr. Sterne begleiten wollen, aber sie hatte zu viele Patienten um die sie sich kümmern musste. Warum machen die das so heiß hier?, wunderte sich Mayra. Sie warf die Haare über die Schulter zurück und bereute, dass sie sie nicht hochgesteckt hatte. Endlich kam der Fahrstuhl und alle drängten sich hinein. Die meisten blickten beunruhigt oder unsicher. Im zweiten Stock stiegen zwei Arzte in grünen Operationskitteln ein, die sich mit gesenkter Stimme über einen Patienten unterhielten. Als der Fahrstuhl im vierten Stock ankam, wurde Mayra gegen die Wand gedrückt. „Ich muss raus!“, rief sie. Aber es schien sie niemand zu hören. „Bitte, lassen Sie mich raus!“ Die Türen begannen sich schon wieder zu schließen, als sie sich den Weg freigekämpft hatte. Sie machte einen schnellen Satz und schaffte es gerade noch hinaus, bevor sich die Türen schlossen. Und jetzt? Wohin? Sie suchte die blassgrünen Wände mit den Augen ab, bis sie das Zeichen fand: Psychiatrie. Ein Pfeil war 90
daneben, der nach rechts zeigte. Also ging Mayra in die angegebene Richtung durch zwei Schwingtüren und den Korridor entlang. Zu beiden Seiten des schmalen Flurs waren Krankenzimmer. Durch die angelehnten Türen konnte sie Patienten sehen, die in den Betten lagen. Einige schliefen. Andere waren wach und sahen fern. Die Fernseher waren an der Decke montiert und schienen zu schweben. Der Ton einer Quizsendung hallte durch den Flur. Ich muss falsch abgebogen sein, dachte Mayra. Die Leute hier sehen richtig krank aus. Nicht wie psychiatrische Patienten. „Kann ich Ihnen helfen?“ Ein großer Krankenpfleger, der einen Stapel Tabletts trug, stand plötzlich neben ihr. „Äh, ja. Ich suche das Zimmer von Dr. Sterne.“ „Der ist in der Psychiatrie.“ – „Ja, ich weiß. Ich…“ „Gehen Sie einfach wieder zurück, dort durch die Türen und dann scharf links.“ „Okay. Vielen Dank.“ Unsicher drehte sie sich um und ging in die angegebene Richtung. Hinter den Türen hielt sie sich links und lief einen ähnlichen Korridor entlang, aber dieser hatte blassblaue Wände. „Ich muss hier raus“, sagte Mayra laut. Sie bog noch einmal ab und ging schnell durch die nächsten Schwingtüren. Ein Zeichen sagte weiter: Psychiatrie. Der Pfeil zeigte geradeaus. Eine Schwester mit einem Wagen voller Frühstückstabletts lächelte ihr aufmunternd zu. Das ermutigte Mayra etwas und sie ging weiter, indem sie die Namen an den Türen links und rechts las. Jetzt stand sie vor einem kleinen Schwesternzimmer, wo eine müde aussehende Krankenschwester mit geschlossenen Augen hinter einem Schreibtisch saß. Mayra wollte sie gerade nach dem Zimmer von Dr. Sterne fragen, als sie stehen blieb und den Atem anhielt. Der Mann da… Es war Cal. Sie erkannte sein kurzes blondes Haar. Den starren Blick. Den Stiernacken. Er sah sie zuerst nicht. In dem Schwesternzimmer saß er auf der 91
Couch, sein Blick hing an dem Hinweisschild: Psychiatrie. Aber dann drehte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke trafen sich. Mayra sah schnell zu Boden und erhaschte dabei einen Blick auf die Krankennummer, die auf einem Pappschild stand. Oh, nein!, dachte sie und erkannte plötzlich, warum Cal hier war. Er war ein psychiatrischer Patient! „Hey, du!“ Cal brauchte einen Moment um sie zu erkennen. Er schien erschöpft zu sein und durcheinander. Mühsam stand er auf und Mayra sah zum ersten Mal, dass er sich auf einen Stock stützte. Sie sah sich nach einem Fluchtweg um. Cals Gesicht wurde noch röter. Sein Ausdruck wechselte von Überraschung zu Ärger. „Hey, bleib stehen!“ Sein Geschrei weckte die Krankenschwester, die von ihrem Stuhl aufstand. Der Schreibtisch stand zwischen ihr und Cal. Mayra lief schnell weg. „Hey! Stehen bleiben!“ Er kam ihr nach, sein Gesicht rot und die Augen dunkel vor Zorn. Mayra begann zu rennen. Fast wäre sie mit einem Wagen voller Tabletts zusammengestoßen. „Hey, passen Sie doch auf, wo Sie hinlaufen!“, rief ihr ein aufgebrachter Krankenpfleger nach. Sie sah sich um. Cal kam näher, er stützte sich auf seinen Stock, während er ihr hinterher humpelte, und winkte fanatisch mit seiner freien Hand. „Bleib stehen, du! Haltet dieses Mädchen auf!“, schrie er. Mayra bog um eine Ecke und suchte nach einem Platz, wo sie sich verstecken konnte. Sie lief in ein offenes Zimmer. „Hallo? Kann ich Ihnen helfen?“ Eine junge Frau setzte sich schnell in ihrem Bett rieben dem Fenster auf. „Oh, Entschuldigung. Ich habe mich im Zimmer geirrt“, sagte Mayra. Sie lief wieder hinaus in den Flur. Jetzt hab ich dich!“, rief Cal, der gerade um die Ecke bog. „Bleib stehen! Du entkommst mir doch nicht!“ „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“, schrie Mayra. Cal humpelte weiter und versuchte verzweifelt sie einzuholen. Plötzlich tauchten zwei Krankenschwestern neben ihm auf, hielten 92
ihn fest und zogen ihn zurück. „Ihr Idioten! Lasst mich los!“, brüllte er. Dann sah Mayra das Schild neben einer offenen Tür: Dr. Lawrence Sterne. Ein junger Mann mit lockigen rötlichen Haaren stand davor. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und stöberte die Papiere in einem Wandbehälter durch. Mayra, die Cal hinter sich mit den beiden Schwestern kämpfen hörte, lief schnell an ihm vorbei in das offene Büro. Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als der Mann sie daran hinderte. „Entschuldigen Sie, Miss“, sagte er und sah sie überrascht an. „Was machen Sie hier?“ „Ich… äh… ich habe einen Termin bei Dr. Sterne“, stammelte sie. „Das ist doch sein Büro, oder?“ „Ja, das stimmt.“ Er folgte ihr ins Zimmer und legte die Papiere auf seinen Schreibtisch. „Ich bin Doktor Sterne.“ Aber Sie sind doch viel zu jung!, hätte Mayra fast ausgerufen. Doch irgendwie schaffte sie es, die Worte zurückzuhalten. Dafür stand ihr der Mund vor Überraschung offen. „Ich bin wohl überhaupt nicht das, was du dir vorgestellt hast, was?“, fragte Dr. Sterne und musterte sie von oben bis unten. „Nein, ehrlich gesagt“, gab Mayra zu. „Ich habe schon versucht mir einen Bart wachsen zu lassen, damit ich älter aussehe“, gestand der Psychiater, „aber es geht nur an einigen Stellen. Ich sehe damit aus wie ein Frettchen.“ Er lächelte ihr zu, aber sein Ausdruck wechselte schnell. „Wie kommt es, dass du hier so reinstürmst?“ „Ein Mann hat mich bedroht. Einer von den psychiatrischen Patienten.“ „Psychiatrischer Patient?“ Dr. Sterne lief nach draußen auf den Flur und blickte suchend in beide Richtungen. „Er ist groß und blond. Mit einem Stiernacken.“ „Stiernacken?“, rief er vom Flur aus. „Ella? Hast du hier jemanden mit einem Stiernacken gesehen?“ Eine große dünne Krankenschwester mit glatt zurückgekämmten schwarzen Haaren und einer Brille mit schwarzem Rahmen tauchte im Flur neben Dr. Sterne auf. Das war nicht dieselbe Schwester, die Cal zurückgehalten und Mayra die Flucht ermöglicht hatte. 93
„Nein, ich habe niemanden gesehen“, meinte Ella. „War das ein Patient von uns?“ „Nein, ist schon gut. Danke“, meinte Dr. Sterne und rieb sich das Kinn. Er ging zurück ins Büro und sah Mayra zweifelnd an. „Er war wirklich da“, beharrte Mayra. „Außerdem hat er mich vorher schon bedroht.“ „Der Mann mit dem Stiernacken?“ „Ja. Und er hat meine Freundin über mich ausgefragt. Und einen Tag hat er mich verfolgt. Aber jetzt weiß ich, dass er ein psychiatrischer Patient ist und hier…“ Dr. Sterne hob beide Hände. „Wow. Beruhige dich. Lass mich das erst mal wiederholen. Du sagst also, ein Mann mit einem Stiernacken hat dich draußen verfolgt, obwohl er hier im Krankenhaus Patient ist?“ „Ja. Sie glauben mir nicht, oder?“, fragte Mayra, die plötzlich sauer wurde. „Mir ist gerade klar geworden, wer du bist“, meinte er und setzte sich auf den hohen schwarzen Lederstuhl hinter seinen vollgestopften Schreibtisch. „Du bist die Tochter von Amy Barnes. Mayra, stimmt’s?“ Aus irgendeinem Grund wurde Mayra rot. Dieser Mann war ein Freund ihrer Mutter und jetzt dachte er sicher, sie sei völlig ausgetickt und bilde sich ein, Leute würden sie verfolgen. „Ja, Mom meinte…“ „Dass du schlafwandelst.“ „Hat sie Ihnen die ganze Geschichte erzählt?“ „Ja, aber ich möchte sie lieber noch einmal von dir hören.“ Er bedeutete ihr sich in den grünen Ledersessel zu setzen, der vor dem Schreibtisch stand. „Müsste ich mich denn nicht eigentlich auf eine Couch legen oder so was?“ „Ich müsste eigentlich ein glatzköpfiger alter Mann sein mit ausländischem Akzent und du müsstest dich eigentlich auf eine Couch legen“, meinte er lächelnd. „Aber, tut mir Leid. Ich habe weder einen Akzent noch eine Couch. Meinst du, du kannst auch im Sitzen mit mir reden?“ Zum ersten Mal lächelte Mayra. Wenigstens hatte er Sinn für 94
Humor. Sie ließ sich in den Sessel fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Hast du Angst?“, wollte Dr. Sterne wissen und beugte sich über den Schreibtisch. Er nahm ein neues Blatt Papier von einem gelben Stapel. „Nein. Ich meine, ja. Aber nicht vor Ihnen.“ Er sah enttäuscht aus. „Hältst du mich etwa nicht für einen Furcht einflößenden Typen?“ „Nein“, grinste Mayra. „Sie versuchen richtig nett zu sein, damit ich mich entspanne, stimmt’s?“ „Stimmt“, gab er ihr schnell Recht. „Willst du sehen, wie ich mit drei Äpfeln jongliere?“ „Nein. Eigentlich nicht. Es geht mir schon besser. Wirklich.“ „Du siehst irgendwie müde aus“, stellte er fest. „Bekommst du nicht genug Schlaf?“ „Nein, ich habe Angst vor dem Einschlafen.“ „Angst, dass du wieder schlafwandelst?“ „Ja.“ „Fang mal ganz vorn an“, meinte er und machte sich auf seinem Blatt Notizen. „Erzähl mir vom ersten Mal, als du im Schlaf herumgelaufen bist. Jede Kleinigkeit, an die du dich erinnern kannst. Lass es alles für mich wieder aufleben. Versuch dir noch einmal alles vorzustellen und erzähl es mir.“ Mayra schloss die Augen, öffnete sie aber schnell wieder. „Nein. Ich könnte einschlafen.“ Während sie aus dem Fenster hinter ihm starrte, begann Mayra ihm so viel wie möglich zu erzählen, angefangen von dem seltsamen Traum, den sie jedes Mal hatte. Sie brauchte lange um alles zu berichten. Als sie mit dem Erlebnis aufhörte, wie sie aus dem See gezogen worden war, würgend und halb ertrunken, hatte er sein Blatt fast voll geschrieben. „Und, bin ich dabei, verrückt zu werden oder nicht?“, fragte Mayra, selbst überrascht, wie sehr ihre Stimme zitterte. Sie hatte gedacht, sie würde sich erleichtert fühlen, nachdem sie dem Psychiater die ganze Geschichte erzählt hatte, aber sie stellte fest, dass sie nervöser und ängstlicher war als zuvor. „Keine Angst, du wirst nicht verrückt“, beruhigte Dr. Sterne sie. 95
„Hör auf, so etwas zu denken. Ich glaube, irgendetwas bedrückt dich, bedrückt dich sehr. Aber ich meine nicht, dass du Angst haben musst vor einer Art Nervenzusammenbruch. Das ist es bestimmt nicht, was dein Schlafwandeln verursacht.“ „Aber was ist es dann?“, wollte Mayra wissen. „Ich denke, es könnte durch ein unterdrücktes Trauma hervorgerufen werden“, meinte Dr. Sterne. „Was? Das müssen Sie mir erklären.“ „Etwas macht dir zu schaffen“, begann er. „Etwas sehr Bedrückendes. Du versuchst damit fertig zu werden, wenn du schläfst, weil du es im wachen Zustand ZU deprimierend findest dich damit zu beschäftigen.“ Mayra sah ihn an und dachte darüber nach, was er vermutete. „Etwas Schlimmes bedrückt mich?“ Er nickte. „Dein Unterbewusstsein versucht das irgendwie zu bewältigen.“ „Aber wenn es etwas so Schlimmes ist, müsste ich mich dann nicht daran erinnern?“ Er zog eine Schublade heraus, suchte schnell nach etwas und schloss sie wieder. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. „Hast du denn eine Ahnung, was es sein könnte?“ Mayra schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann mich an nichts erinnern, was mir so schwer zu schaffen gemacht hat. Meinen Job jetzt mag ich nicht gerade, aber das ist keine große Sache.“ Dabei fiel Mayra ein, dass sie Dr. Sterne gar nichts von Mrs. Cottler erzählt hatte, das heißt von ihrem schrecklichen Verdacht gegen Mrs. Cottler oder Stephanie, nämlich für ihr Schlafwandeln verantwortlich zu sein. Wenn ich jetzt davon anfange, dann hält er mich wirklich für durchgedreht, dachte sie. „Ich habe vor einer Weile mit meinem Freund Schluss gemacht. Aber ich leide eigentlich nicht darunter. Außerdem habe ich einen neuen Freund.“ Dr. Sterne blickte auf seine Uhr. „Oh, es tut mir wirklich Leid. Ich habe heute keine Zeit mehr für dich“, sagte er. Mayra stand auf. „Entschuldigung. Ich…“ „Ich möchte gern, dass du nächste Woche wieder kommst“, meinte 96
er. Er stand auf und brachte sie zur Tür. „Willst du noch mal kommen und vielleicht etwas mehr erzählen?“ „Ich… ich glaube schon.“ „Und mach dir auf keinen Fall mehr Gedanken darüber, du könntest den Verstand verlieren oder psychisch krank sein oder so etwas. Warte noch eine Sekunde.“ Er lief zu seinem Schreibtisch zurück und kritzelte etwas auf seinen Block. Dann riss er den Zettel ab und gab ihn ihr. „Was ist das?“ Mayra konnte kein Wort davon lesen. „Das ist ein Rezept. Für etwas, das dir helfen soll zu schlafen. Es ist sehr mild und man kann davon nicht abhängig werden. Ich möchte, dass du es jeden Abend eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen nimmst. Ein anderer Patient von mir war auch Schlafwandler und durch das Mittel hat er damit aufgehört.“ „Aber ich…“ „Du brauchst deinen Schlaf. Du bist eindeutig übermüdet, Mayra. Und ich glaube, wenn du erst mal wieder insgesamt ruhiger und entspannter bist, dann kannst du anfangen zu entdecken, was dir wirklich zu schaffen macht, also den richtigen Grund für dein Schlafwandeln.“ Mayra steckte das Rezept in die Tasche ihrer Shorts. „Das ist also Ihr Rat? Ich soll richtig schlafen?“ Er lächelte. „Schließlich habe ich nicht gesagt: ‘Nehmen Sie zwei Aspirin und rufen Sie mich morgen wieder an!’“ „Du siehst schon viel besser aus heute“, stellte Mayra fest, als sie sich auf den Klappstuhl neben Donnas Krankenbett fallen ließ. „Du meinst, ich bin schon wieder halb bei Bewusstsein, nachdem ich völlig bewusstlos war?“ „Ich finde, du siehst besser aus. Und wenigstens sind diese schrecklichen Kanülen weg.“ Ja, ich bin wieder ganz allein“, meinte Donna sarkastisch. „Nicht mehr länger wie Frankenstein. Jetzt bin ich nur noch eine Mumie. Hier, sieh dir mal die Bandagen an!“ Mayra fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Ich sollte eigentlich hier in diesem Bett liegen, dachte sie. Er hatte es auf mich abgesehen. Der Verrückte in dem Lieferwagen – er 97
dachte, ich sei es, die er von der Straße abdrängt. „Also, erzähl mir, was es draußen alles Neues gibt“, verlangte Donna. Mayra dachte gerade an Dr. Sterne und an seine Erklärung für ihr Schlafwandeln. Etwas bedrückte sie, hatte er gemeint. Etwas bedrückte sie so sehr, dass sie nicht darüber nachdenken könne, wenn sie wach war. Was könnte das denn bloß sein? „Hey, Mayra, bist du noch da?“ Donnas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, entschuldige.“ „Was passiert denn nun mit deinem Job? Glaubst du immer noch, Mrs. Cottler hat dich mit einem Fluch belegt?“ „Ja. Ah, ich meine, nein. Ich meine, ich weiß es nicht.“ „Na ja, wenigstens scheinst du dir ja darüber im Klaren zu sein“, lachte Donna. „Au! Bring mich nicht mehr zum Lachen. Das tut weh.“ „Ich bin wieder im Schlaf herumgelaufen“, berichtete Mayra und fühlte sich plötzlich sehr müde. „Diesmal bin ich fast ertrunken.“ „Nein. Oh, das tut mir Leid, Mayra. Wo warst du denn?“ „Im See. Hinter dem Fear Street Wald. Du weißt schon, in der Nähe von Mrs. Cottlers Haus.“ „Und du bist im Schlaf den ganzen Weg bis dorthin gelaufen?“, fragte Donna ungläubig. „Ja. Zuerst habe ich wieder vom See geträumt, dann bin ich hingelaufen. Es ist alles so merkwürdig. Weißt du, Mrs. Cottler hat ihren Sohn verloren, er ist dort ertrunken. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht irgendetwas zu tun hat mit…“ Sie hatte den Faden verloren und konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. „Und was ist passiert, als du am See warst?“, wollte Donna wissen. „Ich glaube, ich bin ins Wasser gegangen.“ „Und da bist du nicht aufgewacht?“ Donna war entsetzt. „Nein. Erst als ein Angler kam und mich herausgezogen hat. Wenn er nicht zufällig da gewesen wäre, dann…“ Donna griff nach Mayras Hand. „Mayra, du musst mit jemandem über Mrs. Cottler sprechen. Du musst einfach jemandem sagen, was du vermutest.“ „Ich war gerade unten bei einem Psychiater. Deshalb bin ich auch 98
schon so früh hier.“ „Und du hast ihm gesagt…“ „Nein, ich konnte nicht. Außerdem glauben Seelenklempner nicht an Hexerei, oder?“ „Denke ich auch. Aber das ist alles so schrecklich, Mayra. Das nächste Mal…“ Mayra ließ Donnas Hand los und ging zum Fenster. Sie starrte auf den überfüllten Parkplatz und dachte angestrengt nach. Der See. Sie musste an den See denken. Die ganze Zeit hatte sie an andere Sachen gedacht, aber nie an den See. Der See schien auf einmal sehr wichtig zu sein. Der See musste der Schlüssel sein für alles, was ihr passierte, auch für ihr Schlafwandeln. Etwas machte ihr zu schaffen, hatte Dr. Sterne gesagt. Bedrückte sie so sehr, dass sie im Schlaf versuchte das Problem zu lösen. Etwas Bedrückendes… was mit dem See zu tun hatte. „Ich werde etwas dagegen unternehmen“, brach es plötzlich aus ihr heraus. „Was?“, rief Donna vom Bett aus. „Mayra, komm wieder her. Ich kann dich nicht sehen.“ „Ich werde zum See gehen.“ „Wovon redest du eigentlich?“ „Ich gehe zum See. Heute Abend.“ „Na, wunderbar. Wird sicher aufregend“, meinte Donna verständnislos. Jedes Mal, wenn ich schlafwandele, laufe ich dahin. Heute Abend werde ich hingehen, wenn ich wach bin. Vielleicht kriege ich so etwas mit, Donna. Vielleicht kann der See mir weiterhelfen.“ „Dir weiterhelfen?“ Donna sah noch verwirrter aus. „Ich werde es dir erzählen“, meinte Mayra auf einmal sehr aufgeregt. „Bis später dann.“ „Okay.“ Niedergeschlagen sah Donna zu, wie ihre Freundin zur Tür ging. „Ich bin bestimmt da. Ich laufe nicht weg.“
99
Kapitel 10 Die Abendluft war heiß und stickig. Frösche quakten unermüdlich zwischen den Bäumen. Irgendwo weiter im Wald heulte ein Hund auf, wartete auf Antwort und heulte noch einmal. „Au!“ Mayra schlug nach einem Moskito. Sie sah zu den dunklen Bäumen auf. Sie waren so still, still wie auf einem Foto. Sie lief weiter in den Fear Street Wald hinein, die Taschenlampe auf den schmalen Pfad vor sich gerichtet. „Ich bin froh, dass Walker nicht gekommen ist“, sagte sie laut zu sich selbst. Mit der linken Hand schob sie das Gestrüpp beiseite. Sie hatte ihn nach dem Abendessen angerufen und gefragt, ob er nicht mit ihr zum See gehen wolle. „Zum See? Weshalb denn?“ Er hatte total verwirrt geklungen. „Nur so, zum Spaß“, meinte sie, weil sie den wahren Grund für ihren Ausflug nicht am Telefon nennen wollte. Und außerdem wusste sie auch nicht so genau, warum sie dahin wollte. Ihr war nur klar, dass sie irgendetwas unternehmen musste. „Das klingt aber nicht sehr nach Spaß, am Abend durch den dunklen Fear Street Wald zu laufen“, widersprach Walker. „Der See ist so wunderschön am Abend“, versuchte sie ihn zu überzeugen. „Und es ist fast Vollmond.“ „Ich kann trotzdem nicht, Mayra. Ich habe meiner Kusine versprochen heute Abend auf ihre Zwillinge aufzupassen.“ „Bist du ganz sicher?“, fragte Mayra misstrauisch. „Klar. Ich würde mitkommen, wenn ich könnte. Hör mal, wir gehen ein anderes Mal zusammen dorthin, okay?“ „Wenn du meinst…“ „Du gehst doch nicht allein, oder?“ „Mal sehen…“ „Nein. Bitte. Ich möchte nicht, dass du allein hingehst. Das ist zu gefährlich.“ „Na ja…“ „Mayra? Bitte. Ich würde mir zu viele Gedanken um dich machen.“ Eine Weile überlegte sie, ob sie ihm den wahren Grund nennen 100
sollte, weshalb sie abends zum See wollte, aber dann entschied sie, er würde sie sowieso nicht verstehen. „Ich ruf dich später an“, meinte sie. „Mal sehen, wie du den Terror von den Zwillingen deiner Kusine überlebst.“ Dann hängte sie auf. Zuerst war sie enttäuscht, dass Walker nicht mitkommen konnte. Dann hatte sie das Gefühl, es sei sogar besser, wenn er nicht dabei war. Wenn es wirklich etwas für sie zu entdecken gab am See, dann wäre es besser, sie würde allein damit konfrontiert. Das Mondlicht warf seltsame Schatten durch die dichten Bäume. Die silbernen Strahlen ließen die Bäume unnatürlich erscheinen, der Wald wirkte wie ein Szenario aus dem Märchen. Es war so still, dass Mayra ihren eigenen Atem hören konnte. Die Frösche hörten plötzlich mit ihrem Gequake auf. Die einzigen Geräusche waren die ihrer Turnschuhe auf dem weichen Waldboden. Die Angst überwältigte sie plötzlich, als hätte sie sich die ganze Zeit versteckt gehalten und fiele jetzt über sie her. Mayra blieb stehen und versuchte das Gefühl abzuschütteln. Aber sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Knie wurden weich. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was ist denn los? Was passiert mit mir? Vielleicht war es nur, weil sie auf einmal klar sah, dass sie ganz allein hier im Fear Street Wald war, wo so viele geheimnisvolle und schreckliche Dinge passiert waren. Oder weil sie so nah an dem See war, in dem sie letzte Nacht fast ertrunken wäre. Vielleicht übte Mrs. Cottler ihre schwarze Magie aus und nutzte ihre Kräfte um Mayra vom See fern zu halten, sie von dem abzuhalten, was sie dort zu entdecken hoffte. Ich muss weitergehen, dachte Mayra. Sie richtete die Taschenlampe auf den Pfad und ging weiter. Die Beine gehorchten ihr. Irgendwie schaffte sie es, obwohl sie immer noch zitterte und ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Nach ein paar Minuten kam der See in Sichtweite. Das Wasser war stahlgrau unter dem dunklen Himmel. Die Wellen schlugen weich ans Ufer, fast geräuschlos berührten sie den sandigen Grund. Froh, endlich aus dem Wald heraus zu sein, schritt Mayra über die 101
Wiese, die zum Seeufer führte. Der See schien ihr heute größer als sonst, das Ufer war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Fear Island, die kleine Insel in der Mitte des Sees, war nichts als ein Schatten irgendwo in der Ferne. Mayra atmete tief durch. Welches Geheimnis verbirgst du vor mir, See? Warum träume ich immer von dir? Warum komme ich hierher, wenn ich schlafe? Wieso zieht Mrs. Cottler mich mit ihren Kräften hierher? Welches schreckliche Geheimnis hast du vor mir zu verstecken? Sie setzte sich auf die Kante eines schmalen Holzstegs, der ein paar Meter in den See hineinragte. Die Angst war immer noch da, aber das Zittern hatte aufgehört. Das Wasser unter ihr war so schön, so besänftigend. Sie wollte gerade ihre Turnschuhe ausziehen und ihre Füße im Wasser baumeln lassen, als sie plötzlich die Schritte hinter sich im Gras hörte. Sofort wusste sie, dass sie nicht länger allein hier war. „Wer ist da?“ Mayras Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. Ihr Körper schien zu erstarren. Sie musste sich selbst zum Atmen zwingen. Einen Turnschuh hatte sie bereits ausgezogen. Während sie sich Mühe gab ihn wieder anzuziehen, starrte sie angestrengt in die Dunkelheit. „Wer ist da?“ Die Schnürsenkel hatten sich verknotet, sie bekam den Turnschuh nicht über den Fuß. Und ihre Hände zitterten viel zu sehr um den Knoten aufzukriegen. Sie sprang auf das Dock, den Turnschuh in der einen Hand, und sah sich nach einem Platz um, wo sie sich verstecken könnte. Dort war eine Gruppe von niedrigen Büschen ein paar hundert Meter von ihr entfernt am Ufer. Sie hörte das Knacken von Zweigen. Und Schritte auf dem weichen Boden. „Wer ist da?“, rief sie laut ohne ihre eigene Stimme wieder zu erkennen, denn ihr Hals war vor Angst wie zugeschnürt. Mehr Schritte, sie wurden lauter. Dann - „Hey!“, rief eine Stimme. 102
Es war zu spät, um wegzulaufen. „Hey!“ Die Stimme kam ihr bekannt vor. Ihr Herz schlug wie verrückt. Sie hob den Turnschuh über den Kopf, als wollte sie ihn als Waffe benutzen. Plötzlich tauchte er auf, trat aus der Dunkelheit in das kalte weiße Mondlicht. „Link!“ „Hi, Mayra.“ „Link, was machst du denn hier?“ „Ich hab dich gesehen. In der Fear Street. Ich war mit dem Lieferwagen da. Und dann bin ich dir nachgegangen, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Ich meine, was machst du denn hier ganz allein?“ „Was geht dich das denn an?“ Für einen kurzen Moment war sie sogar froh ihn zu sehen. Aber als er den Lieferwagen erwähnte, zog sich etwas in ihr zusammen. Sie sah Donna vor sich im Krankenhausbett mit den Kanülen im Arm. Die Angst kehrte zurück. Das Zittern auch. Und sie bekam Kopfschmerzen. Sie beschloss sich nicht darum zu kümmern, indem sie einfach sauer reagierte. Auf keinen Fall sollte er mitkriegen, dass sie Angst hatte. „Schlafwandelst du wieder?“, fragte Link mit einem komischen Lächeln auf dem Gesicht. „Nein, tu ich nicht“, meinte sie abweisend. „Woher weißt du das überhaupt?“ Er zuckte die Achseln. Das Lächeln verschwand. Seine dunklen Augen funkelten, während er sie anstarrte. „Du solltest dich nicht allein hier im Wald herumtreiben, Mayra. Du wohnst lang genug in Shadyside um das zu wissen.“ Klang er nicht wirklich ein bisschen besorgt? Oder war das nur eine versteckte Drohung? „Ich kann schon auf mich selbst aufpassen“, meinte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf und versuchte endlich den Knoten in den Schnürsenkeln ihres Turnschuhs zu lösen. „Ich habe es satt, dass du mir überallhin hinterherläufst. Hör endlich damit auf – jetzt, zum Beispiel.“ „Aber ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Mayra.“ 103
„Mann, mach dir um was anderes Sorgen“, fuhr sie ihn an. Sie drehte sich um und sah ihn an. Sein Gesicht drückte echte Besorgnis aus. „Es ist nicht gut, wenn du hier bist“, wiederholte er. „Ich treffe mich mit Walker“, log sie. „Und ich möchte nicht, dass er dich sieht, wenn er kommt.“ „Du triffst dich hier mit ihm?“ „Ja. Hast du was dagegen?“ Er lachte. „Was ist denn daran so komisch?“ „Das ist nicht gerade ein idealer Treffpunkt, oder? Sieh dich doch mal um. Nirgendwo wirst du hier ein Pärchen entdecken, das durch den Wald streift oder sich hier im Dunkeln trifft.“ „Na und? Walker und ich, wir haben eben gern ein bisschen Aufregung.“ Sie wusste, das klang lahm, aber etwas anderes fiel ihr auch nicht ein. Er zog die Stirn in Falten und warf seine dunklen Haare zurück, als ob er versuchte ihre Worte abzuschütteln. „Und wie kommt es dann, dass du hier noch allein sitzt?“, beharrte er. „Verschwinde endlich, Link. Ich will wirklich allein sein.“ „Tut mir Leid, Mayra. Wirklich. Ich war mit dem Lieferwagen unterwegs, als ich dich oben gesehen habe. Ich hätte dir nicht hinterherlaufen sollen, aber… Ich weiß auch nicht.“ „Bist du mit dem Lieferwagen über den Highway gefahren, Link? Zwischen Waynesbridge und hier?“ Die Frage brach einfach so aus ihr heraus. Sie musste die Antwort wissen. Musste wissen, ob es sein Lieferwagen war, der Donna fast umgebracht hatte. „Wie?“ „Du hast mich richtig verstanden. Letzte Woche. Warst du derjenige?“ „Wovon sprichst du überhaupt, Mayra?“ Sie starrte in seine Augen und suchte darin nach der Wahrheit. „Ein roter Lieferwagen hat versucht Donna von der Straße zu drängen. Sie war mit dem Toyota meiner Mutter unterwegs und…“ Link wirkte total durcheinander. „Donna? Ist ihr was passiert? Mayra, fühlst du dich wirklich gut? Das ergibt alles keinen Sinn, was 104
du da redest.“ Sie schüttelte den Kopf. Es war so schwer zu sagen, ob Link nur vorgab nichts zu wissen oder ob er tatsächlich unschuldig war. Auch wenn es sein Lieferwagen auf dem Highway gewesen war, würde er es niemals zugeben. Es tat ihr Leid, dass sie ihn überhaupt gefragt hatte. Plötzlich beugte er sich zu ihr herab und griff nach ihrem Arm. „Komm, ich bring dich nach Hause.“ Sie sprang auf und befreite sich aus seinem Griff. „Lass mich los!“ „Du fehlst mir so sehr“, gab er zu. Er machte einen Schritt auf sie zu und hielt sie mit beiden Armen. Mayra versuchte sich loszureißen, aber er hielt sie fest. In seinen dunklen Augen lag ein wilder Ausdruck. „Du fehlst mir so sehr“, wiederholte er. Seine Stimme klang heiser, fremd. Er ist völlig außer Kontrolle, dachte Mayra. „Link – lass mich endlich los!“ „Nein“, rief er. „Ich will nicht!“ Er zog sie dichter an sich heran. „Nicht, bevor du nicht zugibst, dass ich dir auch fehle!“ Er hielt sie jetzt in der Taille fest. „Link – nein!“ Er drückte sie an sich und versuchte sie zu küssen. „Nein, Link, bitte nicht!“ Sie drehte den Kopf weg. Er presste sein Gesicht gegen ihre Wange. „Lass mich los!“ Sie ballte die Hand zur Faust und schlug ihn auf das linke Ohr. Er hob überrascht den Kopf. „Hey…“ Sie duckte sich schnell, nutzte den Moment und befreite sich aus seinem Griff. „Mayra, warte…“ Sie lief ein paar Schritte, drehte sich um und sah, wie er die Hände nach ihr ausstreckte. „Warte doch, ich habe das nicht so gemeint“, rief er. Sie dachte nur an Flucht, lief zu dem Holzdock und sprang ins Wasser. Oh! War das kalt! Sie hielt den Atem an und war einen Moment lang wie erstarrt durch den Kälteschock. Und in diesem Moment kam die Erinnerung zurück… 105
Alles kam Mayra wieder zu Bewusstsein. Diese schreckliche Nacht, die mehr als einen Monat zurücklag. Und die schrecklichen Schreie. „Mayra – was ist denn passiert?“, rief Link, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah und wie sie sich die Ohren zuhielt um die fürchterlichen Schreie, an die sie sich jetzt so genau erinnerte, nicht hören zu müssen. „Bring mich nach Hause“, konnte sie gerade noch sagen. „Bitte, bring mich sofort nach Hause.“ Er stützte sie, als sie durch den Wald zurück zur Fear Street gingen. Mayra ließ sich einfach auf den Beifahrersitz fallen und Link fuhr sie schweigend nach Hause. Sobald sie zu Hause die Tür hinter sich schloss, hatte sie die Fahrt schon vergessen. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich von Link verabschiedet hatte oder nicht. Sie konnte sich auch nicht erinnern, wie sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgestiegen war und sich mit ihren Klamotten ins Bett gelegt hatte. Sie lebte jenen Samstagabend noch einmal durch und war ganz darin gefangen. Wieder spürte sie die Aufregung, die Aufregung, die in diesen schrecklichen Alptraum umgeschlagen war. Und wieder hörte sie die Schreie. Jemand rief verzweifelt um Hilfe. Nach ihr. Sie hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen ganz fest. Als sie sie wieder öffnete, war sie in ihrem Zimmer, in ihrem Nachthemd und lag sicher in ihrem Bett. Wie war sie hierhergekommen? War das auch ein Traum? Der Raum begann sich zu drehen. „Was ist denn wirklich?“, fragte Mayra laut. Diese fürchterliche Nacht voller Schrecken – erinnerte sie sich nun daran oder war das auch alles nur ein Traum gewesen? War es tatsächlich passiert? Fang ganz am Anfang an, sagte sie sich selbst, während sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, ihr rasendes Herz zu beruhigen und das Zimmer zum Stillstand zu bringen, das sich immer noch drehte. Sie sank zurück auf ihr Kopfkissen, schloss die Augen und öffnete 106
sich ganz für die Bilder, die aus ihrer Erinnerung aufstiegen. Walker. Wo hatte sie sich mit Walker getroffen? Es war in der Einkaufspassage gewesen. Dann waren sie ins Kino gegangen. Es war erst das dritte oder vierte Mal, dass sie zusammen ausgegangen waren. Walker, erinnerte sie sich jetzt wieder, war in einer komischen Stimmung gewesen. Vorher an diesem Tag hatten ihn ein paar Kids als Spinner ausgelacht. Sie machten sich lustig über einen Zaubertrick, den er ihnen zeigen wollte. Mayra hatte ihm gesagt, er solle das Ganze doch einfach vergessen, aber anscheinend konnte er das nicht. „Man hat es ganz schön schwer in Shadyside, wenn man anders ist als die anderen“, entgegnete er bitter. Jeder erwartet von dir, dass du dich genau so verhältst wie alle anderen auch. Die Leute machen mir das Leben schwer, nur weil ich mich für Zauberei interessiere statt für Heavy-Metal-Gruppen oder für Feten.“ „Lass uns endlich ins Kino gehen“, schlug Mayra vor. Aber Walker lehnte ab. „Nein, ich habe eine bessere Idee.“ Seine Wangen waren leicht gerötet. Und seine Augen blickten wild entschlossen. Er sprach sehr schnell. Und beschleunigte seinen Gang so, dass sie rennen musste um mit ihm Schritt zu halten. „Walker, renn doch nicht so. Wo willst du überhaupt hin?“ Allmählich wurde sie nervös. Sie folgte ihm auf einen von den kleinen Parkplätzen. Er begann in alle Autos zu gucken. „Hier ist eins“, meinte er, nachdem er schon mehrere Reihen untersucht hatte. „Der Zündschlüssel steckt. Steig ein.“ Es war das neue Modell eines älteren Autos. Rot wie die Feuerwehr. Wollte er wirklich das Auto klauen? „Walker, nein.“ Er lachte. „Ich habe dich nur auf den Arm genommen, Mayra.“ „Wie meinst du das?“ „Das ist das Auto meiner Mutter. War nur ein Witz. Komm schon. Steig ein.“ „Mann, du hast mich wirklich erschreckt“, meinte sie lachend. „Du hast dich so komisch benommen. Ich dachte schon, du willst die Kiste klauen.“ Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. „Ich bin eben ein guter Schauspieler“, entgegnete er und schob sich hinter das Lenkrad. Er stellte den Sitz zurück um Platz zu bekommen 107
wegen seiner langen Beine. „Zauberer müssen gute Schauspieler sein. Schnall dich an. Mir ist nach Schnellfahren.“ „Wohin fahren wir?“, fragte Mayra, als sie mit quietschenden Reifen in die Division Street einbogen. „Keine Ahnung. Einfach ein bisschen umher.“ Walker überfuhr eine rote Ampel. In seinen Augen war wieder dieser wilde, zu allem entschlossene Blick. „Warte mal einen Moment“, bat Mayra misstrauisch. „Das ist das Auto deiner Mutter? Und du hast es zur Einkaufspassage gefahren?“ „Stimmt.“ „Wie kommt es dann, dass du den Sitz zurückstellen musstest?“ Er lachte. Es war ein Lachen, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte. Furcht einflößend. Sie mochte es überhaupt nicht. „Okay, okay. Also gut, wir borgen uns das Auto ja nur für eine Weile.“ „Walker! Lass mich sofort raus!“ „Ich bringe es zum Parkplatz zurück. Versprochen.“ „Walker, wie konntest du nur…“ Er zuckte die Achseln. „Mir war eben so. Tust du nie etwas aus einem plötzlichen Impuls heraus?“ Mit quietschenden Reifen fuhr er um die Kurve und wäre fast mit einem Taxi zusammengestoßen. Der Taxifahrer hupte aufgebracht. Walker trat aufs Gas. „Wow! Dieses Auto macht Spaß. Das zieht wenigstens ab.“ „Walker…“ „Ich weiß, ich weiß. Ich verspreche es dir. Eine kurze Spazierfahrt und wir bringen es direkt zum Parkplatz zurück.“ „Warum musst du so rasen?“ Er gab keine Antwort. Gerade hatte er wieder eine rote Ampel überfahren. „Sorry. Die habe ich gar nicht gesehen.“ Ein paar Minuten später rasten sie die River Ridge entlang, eine schmale, kurvenreiche Straße, von der aus man den Conononka River überblicken konnte. Die River Ridge war der Treffpunkt für die Leute von der Shadyside High School. „Mal sehen, was heute Abend hier so los ist“, meinte Walker. „Fahr langsamer“, schrie Mayra. Aber ihre Warnung kam zu spät. Zuerst sah sie nur die Scheinwerfer, die um die Kurve auf sie 108
zukamen. Dann konnte sie das kleine gelbe Auto sehen. Walker wich zur Seite aus, aber nicht mehr rechtzeitig. Dann schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Mayra konnte genau voraussehen, was passieren würde, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie konnte noch nicht mal rechtzeitig die Arme heben um sich die Hände vors Gesicht zu halten und das alles nicht mitansehen zu müssen. Das rote Auto prallte auf die Fahrerseite des gelben Wagens. Der Zusammenstoß war laut, es klang, als würde eine Bombe explodieren. Sie spürte einen starken Stoß, dann einen schwächeren. Und dann hörte sie die Schreie. Fürchterliche, schrecklich schrille Schreie, die aus dem anderen Wagen kamen. Schreie, die sie nie vergessen würde. Hilflos sah sie zu, wie das gelbe Auto durch den Aufprall von der Straße geschleudert wurde. „Nein! Walker! Nein!“ Sie schrie ohne sich dessen bewusst zu sein. Endlich kam ihr Wagen zum Stehen. Mayra saß einen Moment lang wie erstarrt da und stellte fest, dass ihr nichts passiert war. Dann sprang sie hinaus und rannte zum Straßenrand. Dort unten sank das gelbe Auto schnell in den Fluss. Es gab große Blasen, als es unterging. „Walker! Wir müssen ihnen helfen!“, schrie Mayra. „Walker!“ Wo war er? Sie drehte sich um und sah ihn hinter dem Lenkrad sitzen. Er machte ihr Zeichen wieder einzusteigen. „Walker, schnell! Da waren mindestens zwei Leute drin!“ Wo waren sie nur? Warum kamen sie nicht an die Oberfläche? „Walker, wir müssen ihnen helfen! Sie ertrinken sonst!“ Mit einem lauten, saugenden Geräusch verschwand das Dach des Autos im Wasser. Mayra stand am Straßenrand und starrte hinunter, wie versteinert vor Schrecken. Kommt hoch. Kommt hoch. Bitte, kommt an die Oberfläche. Schließlich tauchte ein Mann aus dem versunkenen Auto auf. Gut. Einer, dachte sie. Vielleicht ist beiden nichts passiert. Der Mann spuckte Wasser und versuchte ans Ufer zu schwimmen. Ein paar Sekunden später kletterte er aus dem Fluss. Keuchend und 109
Wasser spuckend sah er hinauf zur Straße - und erblickte Mayra. „Walker, komm schnell!“, schrie Mayra. „Steig doch endlich aus! Der Mann hier – er ruft etwas herauf, aber ich kann ihn nicht verstehen!“ Der Mann unten am Fluss hatte wie wild zu ihr hinauf gestikuliert, dann war er wieder ins Wasser gesprungen, wahrscheinlich um den zu retten, der noch im Auto gesessen hatte. „Walker! Wir müssen unbedingt Hilfe holen! Walker…“ Plötzlich stand er neben ihr. Aber statt nach unten auf den Fluss zu blicken packte er sie am Arm und begann sie zum Auto zurückzuführen. „Walker, was machst du da?“ Er gab keine Antwort. Nur der Druck seiner Hand um ihren Arm wurde stärker. „Au! Du tust mir weh!“ Ohne ihren Protest weiter zu beachten schob er sie ins Auto. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass er Gas gab und wegfuhr. Und dann? Und dann was? Mit dem Kopf auf ihrem Kissen, die Augen geschlossen, suchte Mayra tief in ihrem Gedächtnis. Was war dann passiert? Sie erinnerte sich, dass sie schrie. Schrie und protestierte. Und Walker anflehte doch umzukehren. Und dann was? Was haben wir gemacht? Warum hatte ich das alles total vergessen? Warum ist es mir erst heute Abend wieder eingefallen? Die Fragen ließen ihr keine Ruhe. Doch auf irgendeine Weise fühlte Mayra sich auch erleichtert. Wenigstens wusste sie jetzt, warum sie im Schlaf immer zum Wasser lief. Und was sie so bedrückt hatte die ganze Zeit. Womit ihr Unterbewusstsein fertig werden wollte, während sie schlief. Jetzt dachte sie alles herausgefunden zu haben über die schreckliche Nacht und warum dieses Erlebnis einfach so aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Ja, sie wusste nun über alles Bescheid. Sie musste es nur noch beweisen. Schnell machte sie ihre Nachttischlampe an und griff nach dem Telefon. Es war schon spät – fast Mitternacht –, aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? 110
Sie drückte Walkers Nummer. Es klingelte einmal, zweimal. Walker nahm ab. Seine Stimme klang verschlafen. Als sie ihn fragte, ob sie sich am nächsten Vormittag in Mrs. Cottlers Haus treffen könnten, war er überrascht. „Oh - morgen Vormittag kann ich nicht. Wie wäre es mit…“ „Mit morgen Abend dann? Ich muss etwas unheimlich Wichtiges mit dir besprechen.“ Er war einverstanden.
Kapitel 11 Walker griff nach Mayras Hand und zog sie zu sich hinunter ins Gras am Ufer. Er versuchte sie zu küssen. „Nein“, wehrte sie ab und setzte sich neben ihm auf. Düster starrte sie auf den grauen See. Mayra hatte einen langen Nachmittagsschlaf gehalten. Zum ersten Mal in den letzten Wochen hatte sie gut und tief geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich überhaupt nicht erfrischt, als sie aufwachte. Sie zog eine alte Jeans an und ein grünweiß gestreiftes Rugby-TShirt und ging zu Mrs. Cottlers Haus. Hazel wartete schon an der Tür auf sie. Gerade hatte sie die Katze gefüttert und alle Pflanzen von Mrs. Cottler gegossen, als Walker an die Hintertür klopfte. Er trug Bermudas und ein graues Sweatshirt. Sein Haar war zerzaust. Er wollte hereinkommen, aber Mayra trat hinaus und zog die Tür hinter sich zu. „So ein schöner Abend. Lass uns doch zum See hinuntergehen“, schlug sie vor. Walker war sichtlich durcheinander, als er ihr den Weg zum See hinunter folgte. Und jetzt saß Mayra neben ihm und sah ihn an, wie er der Länge nach ausgestreckt in dem hohen Gras lag. Den ganzen Tag war sie in Gedanken durchgegangen, was sie ihm sagen wollte. Jetzt schien ihr nichts davon wirklich passend zu sein. „Was ist denn los?“, wollte Walker wissen, immer noch ihre Hand 111
haltend. „Du siehst so bedrückt aus. Bist du wieder im Schlaf herumgelaufen?“ „Nein“, gab sie zurück. Sie ließ ihren Blick über den See schweifen, wo Fear Island jetzt völlig im Nebel versunken war. „Hast du überhaupt geschlafen?“, fragte Walker mit besorgtem Blick „Nein, ich kann einfach nicht schlafen“, log sie. „Ich habe zu viel Angst vor dem Einschlafen.“ „Wegen des Schlafwandelns?“ „Ja. Jedes Mal, wenn ich in Schlaf falle, halte ich mich mit Gewalt wach. Ich habe so viel Angst jede Nacht. Eigentlich bin ich total fertig. Deshalb brauche ich auch deine Hilfe, Walker.“ Er setzte sich auf ohne ihre Hand loszulassen. „Meine Hilfe?“ „Ja. Um mich ein bisschen zu beruhigen.“ Irritiert gab er ihre Hand frei. „Du meinst…“ „Ich will, dass du mich hypnotisierst, damit ich ruhiger werde. Du hast es mir doch mal angeboten, erinnerst du dich?“ „Ja, schon. Ich glaube auch, dass ich das könnte. Aber ich weiß nicht.“ Mit beiden Händen strich er sich das Haar zurück. „Ich habe viel geübt in letzter Zeit.“ „Ich bin jedenfalls fertig genug um es wirklich zu probieren. Glaub mir“, versicherte Mayra. „Ich musste letzte Nacht daran denken, deshalb habe ich dich auch angerufen. Mir war eingefallen, dass du mir mal angeboten hast mich zu hypnotisieren und…“ „Klar, es ist ganz einfach, wirklich.“ Walker griff in die Hosentasche und holte eine kleine Taschenlampe heraus. „Zuerst werde ich dich ganz schläfrig machen.“ „Ach, so funktioniert das?“ „Genau. Du wirst dich fühlen, als wenn du allmählich in den Schlaf gleitest.“ „Klingt gut“, meinte Mayra wehmütig. „Es ist schon so lange her. Seit ich bei Mrs. Cottler angefangen habe…“ „Sie kommt doch morgen zurück, oder?“ „Ja.“ „Wir müssen dich da herausholen“, brauste Walker hitzig auf. „Dieser Fluch, mit dem sie dich belegt hat – hey – ich hoffe, du glaubst nicht, dass ich durch die Hypnose diesen Fluch mit dem 112
Schlafwandeln loswerden kann.“ „Nein, natürlich nicht“, versicherte Mayra schnell, zupfte nervös ein paar Grashalme aus und ließ sie sich durch die Finger gleiten. „Ich will nur, dass ich etwas ruhiger werde. Das ist alles.“ „Okay“, meinte er und lächelte sie aufmunternd an. „In ein paar Minuten wirst du dich schon viel besser fühlen. Zuerst will ich, dass du alle deine Muskeln entspannst. Genau so. Noch ein bisschen mehr. Entspann dich.“ Mayra entspannte ihre Nackenmuskeln und ihr Kopf fiel nach vorn. Walker knipste die Taschenlampe an. Sie blitzte auf und gab dann ein orangerotes Licht. Jetzt möchte ich, dass du mit den Augen diesem Licht folgst“, wies Walker sie an. „Wahrscheinlich hast du so was schon mal im Fernsehen gesehen. Aber es funktioniert wirklich. So, jetzt mach deinen Kopf frei. Versuch an gar nichts mehr zu denken, okay? Konzentrier dich ganz auf das Licht. Deine ganze Aufmerksamkeit muss auf das Licht gerichtet sein. Folge ihm. Ja, so. Folge ihm hierhin – und jetzt so.“ Mayra folgte dem Licht mit dem Blick von einer Seite zur anderen, von oben nach unten. Die Lider wurden ihr schwer. „Du fängst an dich müde zu fühlen. Das ist gut. Lass dich gehen“, flüsterte Walker. „Gleich wirst du die Augen zumachen. Es tut so gut, endlich die Augen zuzumachen. Geh weiter. Schlaf ein. Mach die Augen zu. Und wenn du sie wieder aufmachst, wirst du dich so ruhig fühlen, so ausgeruht, so friedlich.“ Mayra schloss die Augen. Walker flüsterte noch eine ganze Weile weiter. Zur Antwort nickte sie leicht mit dem Kopf. Aber sie machte die Augen nicht mehr auf. Ihre beiden Arme waren perfekt in Ruhestellung. „In ein paar Sekunden werde ich dir sagen, du sollst die Augen wieder aufmachen“, meinte Walker weich. „Und wenn du sie wieder öffnest, wirst du dich ganz ausgeruht fühlen, so als hättest du lange geschlafen und ganz tief, so gut wie noch nie in deinem Leben. Du wirst Frieden mit dir haben. Die Ängste, die dir so zugesetzt haben, werden vergessen sein. Du wirst ganz ruhig und entspannt sein.“ Mayra nickte langsam und entspannt mit dem Kopf, die Augen immer noch geschlossen. „Und wenn du die Augen wieder öffnest“, fuhr Walker mit weicher 113
Stimme fort, „dann wirst du auch weiterhin die Nacht am River Ridge vergessen. Du wirst dir keine Sorgen mehr machen um das gelbe Auto. Keine Erinnerung an den Unfall, keine Erinnerung an das gelbe Auto, keine Erinnerung an diesen Abend wird dich quälen. Wenn du die Augen öffnest…“ Mayra riss die Augen auf, alles in ihr war angespannt. Sie sprang auf die Füße und packte Walker mit beiden Händen an seinem Sweatshirt. „Du widerlicher Kerl!“, schrie sie. Jetzt weiß ich, was du mit mir gemacht hast in dieser schrecklichen Nacht! Mein Schlafwandeln, alles habe ich dir zu verdanken und du hast das die ganze Zeit gewusst!“ „Ich nehme an, du hast nur so getan, als wärest du hypnotisiert“, sagte er, wobei ihm fast die Stimme versagte. „Ganz genau. Ich wollte wach bleiben, damit ich höre, was du so sagst.“ „Dann war das also eine Falle.“ „Du kapierst schnell. Es ist widerlich, was du mir angetan hast. Mich zu hypnotisieren damit ich den Unfall vergesse. Du hast kein Recht, Walker, so mit mir umzuspringen und mit meinem Gedächtnis.“ „Du wärst doch sonst zur Polizei gelaufen“, meinte er kalt. „Das konnte ich nicht zulassen. Du hättest dein und mein Leben ruiniert, nur wegen so eines blöden Unfalls.“ „Blöder Unfall? Vielleicht ist jemand in dem Auto umgekommen, Walker! Wir wissen ja noch nicht mal, wie viele Leute in dem Auto saßen, oder? Weil du abgehauen bist. Du hast ja noch nicht mal versucht zu helfen, sondern die Leute einfach sterben lassen.“ „Ein Mann“, sagte er und sah weg. „Ein Mann ist umgekommen. Es stand in der Zeitung. Der andere Typ, sein Bruder, hat überlebt.“ „Aber ich habe es nicht in der Zeitung gelesen, oder?“, fragte sie bitter. „Weil ich mich noch nicht mal erinnern konnte, überhaupt dort gewesen zu sein. Und dafür hast du gesorgt, stimmt’s?“ „Was sollte ich denn machen? Ich habe eine aufregende Zukunft vor mir. Die kann ich doch nicht aufs Spiel setzen, nur weil ich einen blöden Fehler gemacht habe.“ „Einen blöden Fehler? Du hast jemanden umgebracht und bist 114
einfach abgehauen, Walker!“, schrie Mayra. Sie wusste, sie war außer sich, aber sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Und du hast die ganze Zeit gewusst, warum ich schlafwandele. Was mich nicht zur Ruhe kommen lässt, warum ich immer wieder im Schlaf zum Wasser laufen musste. Ich konnte ja im wachen Zustand nicht damit fertig werden, weil du mich in dieser Nacht hypnotisiert hattest.“ Walker starrte über den See und gab keine Antwort. „Du machst dir überhaupt nichts aus mir, stimmt’s? Stimmt das?“, fuhr Mayra ihn an. Walker sprang auf und ging ein paar Schritte von ihr weg. „Ich treffe mich mit Suki“, sagte er. „Das weiß jeder hier. Ich bin nur noch in deiner Nähe geblieben um sicher zu sein, dass deine Erinnerung nicht zurückkommt.“ Mayra ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte am liebsten auf Walker losstürzen, konnte aber mit Mühe ihre Hände ruhig halten. „Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für dich“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Meine Erinnerung ist wieder da. Völlig. Und ich werde sofort die Polizei rufen.“ „Nein, das wirst du nicht.“ Er hatte wieder diesen wilden Blick in den Augen. Den gleichen Blick wie an dem Abend, als er das Auto gestohlen hatte. An dem Abend mit dem Unfall. Plötzlich sprang er auf sie zu und packte sie um die Taille, wobei er ihr beide Arme nach hinten drückte. „Hey, lass mich los!“, schrie sie. Aber er war stärker, als sie gedacht hatte. Er warf sie sich über die Schulter und trug sie zum See. „Lass mich runter! Was hast du mit mir vor?“ „Ich kann nicht zulassen, dass du zur Polizei rennst“, erklärte er ganz ruhig, zu ruhig. „Du wirst mir mein Leben nicht kaputtmachen. Ich will ein berühmter Zauberer werden. Und du wirst mir keinen Strich durch die Rechnung machen.“ Sie versuchte sich loszumachen, aber sein Griff war hart wie Eisen. Er ließ sie an dem kleinen Holzsteg runter ins Wasser, beugte sich über sie, packte sie im Nacken und drückte ihren Kopf unter Wasser. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und schnappte nach Luft. „Walker, bitte…“ „Tut mir Leid“, sagte er und klang immer noch so beängstigend 115
ruhig. „Du hättest dich nicht gegen die Hypnose wehren sollen. Das hätte alles viel einfacher gemacht.“ „Willst du mich denn wirklich umbringen?“, schrie sie. Er gab keine Antwort. Stattdessen drückte er ihren Kopf wieder unter Wasser und hielt ihn dort. Mayras Lungen schienen zu explodieren. Ich ertrinke hier in diesem See zum zweiten Mal, dachte sie. Dann lockerte sich plötzlich Walkers Griff. Sie hörte ihn aufschreien. Als sie den Kopf über Wasser hatte, rang sie nach Luft. Was war passiert? Er hatte sie auf einmal losgelassen. Sie stolperte ans Ufer und versuchte das Gleichgewicht wieder zu finden. Walker kämpfte mit irgendetwas. Sie strich sich das nasse Haar aus den Augen und atmete tief durch. Und noch einmal. Hazel! Die schwarze Katze saß auf Walkers Schulter, zischte laut und zerkratzte ihm mit den Vorderpfoten Gesicht und Hals. „Hau ab! Hau ab, du Biest!“, heulte Walker. Wie kam Hazel hierher? War sie ihnen hinterhergelaufen? Während Walker darum kämpfte, die schwarze Katze abzuschütteln, fiel er der Länge nach hin. Mayra wartete nicht länger um zu sehen, was jetzt passierte. Dies war ihre einzige Chance wegzulaufen und ihm zu entkommen. Trotz des Gefühls in den nassen Klamotten schwer wie ein Stein zu sein, begann sie durch das hohe Gras zu rennen. Ihre nassen Turnschuhe rutschten auf dem Grund aus. Sie fiel hin, rappelte sich aber schnell wieder auf. Während sie so schnell weglief, wie sie konnte, fühlte sie in ihren Jeanstaschen nach dem Schlüssel für die Haustür von Mrs. Cottlers Haus. Waren die Schlüssel da? Sie musste unbedingt hineinkommen und sofort die Polizei anrufen. Die Schlüssel. Die Schlüssel. Wo waren sie? Ja! Hier in der anderen Tasche. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, aber eine Minute später 116
versuchte sie die Hintertür aufzuschließen. Als sie endlich im Haus war, konnte sie kaum noch atmen und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schloss die Tür hinter sich ab und lauschte. Weder Walker noch die Katze waren zu hören. Das Telefon. Sie rannte zum Küchentelefon, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und wählte die Nummer der Polizei. Sie war völlig außer Atem und musste alles zweimal wiederholen, aber endlich hatte der Mann am anderen Ende kapiert, was sie sagen wollte. Die Polizei war auf dem Weg. Erleichtert ließ sich Mayra gegen die Küchenwand sinken. „Hey!“ Hazel lag auf dem kleinen Teppich vor der Spüle und leckte sich die linke Pfote. „Wie bist du denn so schnell zurückgekommen?“ Mayra hatte nicht viel Zeit um länger über die Katze nachzudenken. Sie schrie auf, als ein Stein durchs Fenster flog und überall Glas splitterte. „Nein!“, schrie sie und wich zurück.
117
Kapitel 12 Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen sah Mayra zu, wie ein Bein auf dem Fensterbrett zur Küche auftauchte und die Reste der Fensterscheibe eintrat. Dann schwang sich das andere Bein durchs Fenster. Walker, dem das Blut aus einer der Kratzwunden über das Gesicht lief, sprang in die Küche. Mit einem Zipfel seines Sweatshirts wischte er sich das Blut von der Wange und starrte Mayra an. „Diesmal entkommst du mir nicht.“ „Du kommst zu spät, Walker. Ich habe die Polizei schon gerufen.“ Er stand an der Wand und versuchte zu Atem zu kommen. Dann machte er einen Schritt auf sie zu. Seine Turnschuhe traten über das zerbrochene Glas. Das Blut lief ihm immer noch in zwei Richtungen über die Wangen. Seine Augen funkelten wild. „Das hättest du nicht tun sollen.“ Jetzt stand er schon fast vor ihr. „Du blutest“, sagte Mayra. Wieder wischte er sich mit dem Sweatshirt, das schon blutbefleckt war, über das Gesicht. „Das hättest du nicht tun sollen“, wiederholte er und kam näher. „Keinen Schritt weiter“, warnte sie ihn. Mayra sah sich nach einer Waffe um. Irgendetwas, mit dem sie sich verteidigen konnte. „Komm, lass mich dein Gesicht waschen.“ Vielleicht konnte sie ihn so in Schach halten. „Du machst dein und mein Leben kaputt“, sagte er. „Walker, lass mich dir helfen diese Kratzspuren sauber zu machen.“ Er schien sie gar nicht zu hören. Statt einer Antwort kam er noch einen Schritt näher. Hazel stand plötzlich auf und beobachtete Walker aufmerksam. Sie hob den Kopf und miaute laut. Es klang wie eine Warnung. „Ich kann nicht zulassen, dass du mein Leben ruinierst“, sagte er. Hinter ihm sah Mayra plötzlich Mrs. Cottlers großen Fleischhacker liegen. Er befand sich auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Im Geiste hörte sie wieder das Geräusch, wie Mrs. Cottler das 118
Fleisch klein gehackt hatte. Warum lag der Fleischhacker immer noch draußen? Fast sah es so aus, als läge er immer noch da, damit Mayra ihn benutzen konnte. „Komm ja nicht näher, Walker“, warnte sie ihn. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Ich muss mich vor ihm schützen, dachte sie. Er hat total den Kopf verloren. Schließlich hat er schon einmal versucht mich umzubringen. Aber wie soll ich zu dem Fleischhacker kommen? Ich müsste an ihm vorbei. Plötzlich stürzte Walker mit einem Schrei auf sie zu. Sie duckte sich und sprintete los. Überrascht drehte er sich um. In dem Moment griff Mayra nach dem schweren Hacker. Aus irgendeinem Grund grinste er. Wieder wischte er sich mit dem Zipfel seine Sweatshirts das Blut vom Gesicht. Jetzt atmete er noch schwerer und keuchte bei jedem Atemzug. „Was willst du denn mit dem Ding da, Mayra?“ Sie hob den Hacker über den Kopf, überrascht von seinem Gewicht. „Komm bloß nicht näher“, warnte sie mit zitternder Stimme. „Was hast du vor mit dem Ding?“, wiederholte Walker und kam wieder auf sie zu. „Ich meine es ernst, Walker. Bleib stehen.“ Sie hob den Fleischhacker noch höher. „Was willst du damit machen?“ Er bewegte sich blitzschnell auf sie zu, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie wusste genau, dass sie den Hacker nicht benutzen würde. „Was machst du mit dem Ding?“, schrie er sie an. Er griff danach und versuchte ihn ihr aus der Hand zu reißen. Beide kämpften um den Fleischhacker, die Arme über den Köpfen. „Nein!“, schrie Mayra. „Lass mich! Nein!“ Walker war viel stärker, als sie gedacht hatte. Sie konnte den Hacker nicht länger festhalten. Er riss ihn ihr aus der Hand. „Nein!“, schrie sie. Ihr Hals war vor Angst wie zugeschnürt. Sie stieß ihn hart in den Magen und rannte aus der Küche durch den Flur zur Eingangstür. Er war dicht hinter ihr. „Nein!“ Sie musste hier schnell raus. Dann riss sie die Tür auf. Und schrie. 119
Cal stand vor der Tür. Mit grimmigem Gesicht und zornbebend starrte er sie an. Er trug ausgebeulte Jeans und eine verwaschene Jeansjacke. In der Hand hielt er einen großen Holzknüppel. Hinter ihm sah sie auf der Straße einen roten Lieferwagen, der am Straßenrand geparkt war. Cals roter Lieferwagen. Er war es also gewesen, der Donna von der Straße abgedrängt hatte. Ich bin umzingelt, dachte sie. Es ist alles vorbei. Cal ließ Mayra nicht aus den Augen. Sein Gesicht war gerötet. Er wirkte angespannt und stand breitbeinig da um ihr den Fluchtweg zu versperren. „Wer sind Sie? Und was wollen Sie?“, schrie Mayra. Walker, der jetzt hinter ihr auftauchte, blieb stehen, als er den Ausdruck auf Cals Gesicht sah. „Wer sind Sie? Und was wollen Sie? So sagen Sie doch was!“, schrie Mayra. Zu ihrer Überraschung schob Cal sie beiseite um an Walker heranzukommen. „Du hast meinen Bruder umgebracht!“, brüllte er ihn an. Walker hielt den Atem an und hob den Fleischhacker. Cal bewegte sich schnell. Er schwang seinen Knüppel und Walker fiel der Fleischhacker aus der Hand. Dann griff Cal Walker an, warf ihn rückwärts auf den Teppich im Flur drückte ihn zu Boden und presste den Knüppel mit beiden Händen gegen seine Brust. „Du hast meinen Bruder umgebracht“, wiederholte er. „Hören Sie auf. Ich – ich kriege keine Luft“, stöhnte Walker. Cal beachtete sein Flehen nicht. Seine Muskeln spielten, als er Walker mit dem Knüppel zu Boden presste. Er sah zu Mayra auf, die wie gelähmt in der Tür stand. „Bringen Sie ihn nicht um!“, rief sie voller Angst, als Cal Walker den Knüppel gegen den Hals presste. „Nicht umbringen! Bitte!“ „Die ganze Zeit über dachte ich, du wärst es gewesen“, meinte Cal zu ihr ohne auf ihr Flehen einzugehen. „Aber heute war ich hier in der Nähe des Hauses. Ich habe euch schreien hören unten am See. Da wusste ich die Wahrheit. Er ist derjenige, der meinen Bruder umgebracht hat und dann abgehauen ist. Ich habe jedes Wort gehört. 120
Dann war ich Zeuge, wie er dich ertränken wollte. Ich wollte gerade loslaufen um dir zu helfen. Aber ich kann schlecht laufen mit dem Stock, besonders auf feuchtem Gras. Glücklicherweise hast du es geschafft.“ „Bitte, lassen Sie mich aufstehen“, flehte Walker, der kaum Luft bekam. „Ich werde nichts machen, ich schwöre es.“ Cal nahm keine Notiz von ihm. „Sie meinen, Sie…“, begann Mayra. Dann brach sie ab, weil sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sie fuhr herum und sah zwei Polizeibeamte. Beide hatten die Hand griffbereit an ihren Pistolentaschen. „Was geht hier vor sich?“, fragte der eine. Cal ließ Walker schnell los und stand auf. Er stützte sich schwer auf seinen Stock. Walker machte keine Anstalten aufzustehen. Ein Polizeibeamter beugte sich über ihn. „Alles in Ordnung, Junge?“ „Sie waren also derjenige, der das gelbe Auto gefahren hat?“, fragte Mayra Cal. Er nickte. „Mein Bruder Jerry und ich.“ Cal sprach schnell, immer noch atemlos. „Ich habe euch gesehen oben auf der Straße. Ich dachte, du wärst gefahren und würdest mir helfen Jerry zu retten. Aber dann seid ihr einfach abgehauen.“ „Ich wollte helfen“, erklärte Mayra. „Aber Walker hat mich ins Auto gezogen.“ „Mein Bruder ist ertrunken. Danach bin ich, glaube ich, ein bisschen durchgedreht. Ich hatte immer dein Gesicht vor Augen. Konnte es einfach nicht vergessen. Ich dachte, du hättest meinen Bruder umgebracht, deshalb wollte ich dich unbedingt kriegen.“ „Das tut mir so Leid“, sagte Mayra. Die beiden Polizeibeamten sahen sich an. Sie verstanden kein Wort davon. „Dann habe ich dich eines Tages aus diesem Haus kommen sehen“, fuhr Cal fort. „Ich wollte es zuerst nicht glauben, dass ich dich wirklich gefunden hatte. Mrs. Cottler kenne ich seit Jahren, also habe ich ihr eine Geschichte erzählt, ich brauchte einen Babysitter für meine Nichte. Sie gab mir deine Adresse, kein Problem.“ „Und dann haben Sie versucht mich mit Ihrem Lieferwagen umzubringen, stimmt’s?“ Plötzlich fühlte Mayra sich sehr schwach 121
und lehnte sich gegen das Treppengeländer um nicht umzufallen. „Ich dachte, du seist in dem Auto. Und ich wollte dir nur Angst einjagen“, gestand Cal. „Aber es war so nass und glatt, dass ich die Kontrolle über den Wagen verlor. Ich wollte den Zusammenprall nicht. Jedenfalls bin ich im Krankenhaus gelandet mit einem gebrochenen Knöchel und einem kaputten Knie. Deshalb laufe ich auch mit dem Stock herum.“ „Oh, nein. Als ich Sie im Krankenhaus gesehen habe, dachte ich, Sie seien ein psychiatrischer Patient!“, rief Mayra. „Das sollte ich vielleicht auch sein“, antwortete Cal grimmig. „Ich kann einfach nicht glauben, dass ich die ganze Zeit hinter der falschen Person her war. Aber alles ist… ist so schrecklich für mich, seit Jerry tot ist.“ „Würden Sie vielleicht mal aufhören in Andeutungen zu reden und uns sagen, was hier eigentlich los ist?“, forderte einer der Polizeibeamten ungeduldig. „Das ist eine ziemlich lange Geschichte“, kündigte Mayra an. Inzwischen war eine Woche vergangen. „Ich gebe es ja zu, ich habe mich wirklich wie ein totaler Idiot aufgeführt.“ „Das kann ich nur unterstützen“, meinte Mayra. Link warf ihr einen seiner gekränkten Blicke zu. „Aber ich wollte das gar nicht“, gestand er leise. „Kein Idiot will einer sein“, meinte Mayra mit gespieltem Ernst. „Der einzige Grund, warum ich mich zum Idioten gemacht habe, war der, dass du mir so viel bedeutest.“ Mayra lachte. „Also, lass mich das mal auf die Reihe kriegen. Es war also mein Fehler, dass du dich wie ein Idiot benommen hast.“ „Genau.“ Link rückte auf der Couch dichter zu ihr heran und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Das ist so typisch für dich.“ „Was? Das habe ich nicht verstanden. Hast du gesagt, ich liebe dich?“ „Nein. Wie soll ich dich denn lieben? Du bist ein Idiot. Das hast du doch selbst zugegeben.“ Er wandte sich ihr zu und küsste sie, während er seine warmen 122
Hände auf ihre Wangen legte. „Na ja, vielleicht liebe ich dich doch ein bisschen“, sagte Mayra nachdenklich. Wieder küsste er sie, diesmal länger. „Kann ja sein, dass ich Idioten mag“, räumte Mayra ein. Sie sah auf die Uhr. „Hey, ich habe im Moment überhaupt keine Zeit für solche Sachen. Ich muss zu deiner Tante. Sie ist wieder zurück und meinte, ich könnte vorbeikommen und meinen Scheck abholen.“ „Deinen Scheck? Super! Dann kannst du mich ja zum Essen einladen!“ Link stand auf und folgte ihr aus dem Wohnzimmer. „Komm, ich fahre dich schnell hin.“ Als Mayra Links roten Lieferwagen sah, blieb sie stehen. „Du wirst es mir bestimmt nie verzeihen, dass ich dachte, du hättest versucht mich von der Straße abzudrängen.“ „Ach, keine Ursache“, meinte er, nahm ihre Hand und zog sie zum Auto. „Ich bin kein Idiot, vergiss das nicht.“ „Aber Stephanie muss mich doch für völlig durchgedreht halten. Ich meine, ich habe ihr doch praktisch vorgeworfen eine Hexe zu sein!“ „Ich habe Stephanie alles erklärt“, beruhigte Link sie, während er ihr die Tür aufhielt. „Und?“ „Und du hast Recht, sie hält dich für völlig durchgedreht!“ Er lachte und schlug die Tür hinter ihr zu. Mann, er sieht so toll aus, wenn er lacht wie jetzt, dachte Mayra. „Stephanie will die Sache mit dir unbedingt wieder in Ordnung bringen“, meinte Link, ließ den Motor an und setzte in der Auffahrt zurück. „Aber sie hat irgendetwas gemacht an dem Tag, als ich bei ihr hereingeschneit bin“, verteidigte sich Mayra. „Na ja, du weißt doch, wir interessieren uns beide sehr für Okkultismus“, erklärte Link. „Vielleicht wegen Tante Lucy.“ „Was? Mrs. Cottler ist wirklich eine Hexe?“ Link stand vor Überraschung der Mund offen. „Wie?“ Er starrte sie ungläubig an. „Sieh auf die Straße“, warnte sie ihn. „Tante Lucy soll eine Hexe sein? Machst du Witze? Sie ist eine 123
bekannte Professorin mit einem richtigen Universitätsabschluss. Und sie hat an mehreren Universitäten okkulte Wissenschaften unterrichtet. Mindestens ein Dutzend Bücher hat sie schon zu diesem Thema geschrieben und veröffentlicht!“ Mayra musste lachen. „Ich denke, da habe ich wohl einiges durcheinander geworfen. Wahrscheinlich schlafwandele ich immer noch.“ Ein paar Minuten später wurden sie von Mrs. Cottler begrüßt, die sehr angetan schien die beiden zusammen zu sehen. „Ich will euch nicht aufhalten, Kinder“, sagte sie freundlich. „Das ist so ein herrlicher Samstag. Den wollt ihr bestimmt nicht mit einer langweiligen alten Frau vertrödeln.“ Sie gab Mayra ihren Scheck. „Ach, das hätte ich fast vergessen, meine Liebe. Ich habe noch etwas für dich.“ Sie verschwand ins andere Zimmer, während sie sich auf ihren Stock stützte. In diesem Moment sah Mayra das Buch. Es lag aufgeschlagen auf dem Tisch, mit einem Foto als Lesezeichen. Link war ins Badezimmer verschwunden. Zögernd trat Mayra näher. Sie hatte sich nicht getäuscht, es war ein Foto von Walker. Schnell sah sie auf den Titel. Weiße Magie. Wie kam Walkers Foto hierher? Sie erinnerte sich automatisch an seine Worte, als sie zusammen die Bibliothek untersucht hatten. Wenn du ein Foto von mir findest, sag es mir lieber nicht. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Mrs. Cottler etwas geahnt und etwas gegen Walker unternommen? In diesem Moment kam Mrs. Cottler aus dem Nebenzimmer zurück. Mayra machte schnell ein paar Schritte vom Tisch weg. Mrs. Cottler hatte eine kleine Schachtel in der Hand, die sie Mayra entgegenhielt. „Hier sind deine Perlen. Alle wieder aufgefädelt. Ich habe es gemacht, als ich bei meiner Schwester war. Hoffentlich dachtest du nicht, ich hätte mich mit ihnen aus dem Staub gemacht.“ Mayra hielt die Kette hoch und bewunderte die Perlen. „Wie schön Sie das gemacht haben! Vielen Dank!“ Sie legte sie um den Hals und schloss die Kette. „Du bist so ein guter Vorleser, Mayra“, begann Mrs. Cottler. „Ich kann den Montag kaum erwarten. Vielleicht fangen wir mit einem neuen Buch an.“ „Klingt gut“, meinte Mayra. „Und was hältst du davon, Hazel?“ 124
Mayra sah die Katze fragend an, die sich gerade auf dem Fensterbrett in der Küche sonnte. Diese merkwürdige Katze, dachte Mayra. Und das Foto von Walker in dem Buch über weiße Magie. Zwischen beiden musste es einen Zusammenhang geben. Mrs. Cottler war nicht da gewesen, als die Sache mit Walker passierte. Aber Hazel. Wie kam sie hinunter zum See um mich zu retten? Steckte Mrs. Cottler dahinter? Mayra starrte Hazel an. Die Katze hob den Kopf und blickte unbeirrt zurück. Vielleicht werde ich Mrs. Cottler am Montag einfach fragen, beschloss Mayra. Dann folgte sie Link hinaus auf die Fear Street.
125