Sean Beaufort
Die Schiffe der Verzweifelten Die Schebecke, die „Explorer" und die „Pilgrim" kämpften sich durch die tr...
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Sean Beaufort
Die Schiffe der Verzweifelten Die Schebecke, die „Explorer" und die „Pilgrim" kämpften sich durch die trostlosen Tage und über den Atlantik. Der Seewolf wußte, daß sie überleben würden. Aber um welchen Preis! Auch er wollte nichts anderes hören als den Schrei: „Land in Sicht!" Hinter der Kimm lag Land. Dort würden sie Wasser finden und einen saftigen Braten jagen können. Wann war es soweit? Wie viele mußten noch sterben? Auch an Deck der Schebecke breitete sich Verzweiflung aus. Wann war die Verzweiflungsfahrt endlich beendet? Niemand konnte es sagen ...
Die Hauptpersonen des Romans: Dan O'Flynn - als guter Navigator ist er davon überzeugt, daß bald Land gesichtet werden müsse. Er meint sogar, es schon zu riechen. Little John - der kleine Sohn der Fletcher-Familie mausert sich kräftig zum Schiffsjungen auf der Schebecke. Susan Fletcher - seine Mutter geht dem Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse zur Hand und ist für strikte Sauberkeit. Edwin Carberry - der Profos sorgt dafür, daß die Kerle auf der „Explorer" nicht zu üppig werden - auf seine „freundliche" Art. Jenkins - der Decksmann auf der „Explorer" ist es, der „Land in Sicht" meldet. Philip Hasard Killigrew- der Seewolf kann aufatmen, als sie in einer Bucht ankern. Aber seine Sorgen hören nicht auf.
1. „Es gibt nicht das geringste Zeichen, daß wir uns der Küste nähern. Ich meine irgendeine Küste. Land, Strand, Flußmündung oder meinetwegen Felsen oder Klippen. Nichts." Kapitän Philip Hasard Killigrews Stimme war rauh vor Ärger und Enttäuschung. Das Maß der vernichtenden Zwischenfälle war übervoll. Der Seewolf glaubte, daß es noch schlimmer werden würde. Die „Discoverer" und die Karavelle ruhten zertrümmert und voller ertrunkener Opfer auf dem Grund des Atlantiks. Und auf den übriggebliebenen Galeonen herrschte nun endgültig die Vorhölle. „Aber wir segeln in Küstennähe, Sir", beharrte Dan O'Flynn. „Ich irre mich nicht, wenn ich einen Kurs zwei Dutzend Male berechne. Jeden Augenblick muß dort ein Teil der Küste auftauchen." „Hast du vielleicht einen einzigen Vogel gesehen?" fragte Hasard, der seine Ratlosigkeit nicht verbarg. „Ja. Aber leider nur nach dem Außersichtkommen Englands. Nicht in den letzten Stunden", erwiderte Dan gallig.
Der kleine Verband, zusammengeschrumpft und auf gegenseitige Hilfe angewiesen, blieb nach den mörderischen Zwischenfällen, nach dem Sturm und dem vernichtenden Seegefecht dicht zusammen. Die beiden Galeonen segelten, zwei Kabellängen voneinander entfernt, in Kiellinie. Die Schebecke blieb achterlich in Luv, und die Seewölfe beobachteten die „Pilgrim" und die „Explorer" fast unausgesetzt. „Scherzbold", brummelte der Seewolf. Die Seeleute kannten viele unterschiedliche Zeichen, die auf die Nähe von Land hinwiesen. Fischende Vögel galten zu Recht als ein Hinweis, der in wenigen Tagen mit großer Sicherheit den Anblick einer Küste versprach. Aber unterschiedliche Wolkenformationen, Wetteränderungen, bestimmte Gerüche, die der Wind mit sich brachte und Strömungen, in denen Dinge trieben, die vom nahen Land stammten - nichts dergleichen hatten die Seewölfe entdecken können. Die ersehnte Küste Virginias war also noch weiter entfernt, als man sich vorstellte, als jedermann
5 mit allen seinen Sinnen herbeibetete. „Im Ernst", sagte Dan und ließ das Spektiv voller Enttäuschung sinken. „Es ist seltsam." „Seltsam?" fragte Hasard. „Wir müßten längst Land voraus haben. Selbst wenn wir nicht geradewegs auf die zerklüftete VirginiaKüste stoßen, sollten wir weiter nördlich Land sichten. Denn zu weit südlich sind wir nicht abgetrieben. Jeder Kapitän kann das bestätigen. Der Sonnenstand und die Sterne - wir waren viel langsamer als geplant." „Das wird es wohl sein", bestätigte Hasard. Die Karten, über die Dan O'Flynn verfügte, waren vergleichsweise genau, aber wiederum nicht so gut, wie sie hätten sein müssen. Nach zahllosen Berechnungen, deren Ergebnisse auch mit Drinkwater und Toolan ausgetauscht und durchgesprochen worden waren, meinte jeder, daß binnen einer Woche die schauerliche Fahrt zu Ende sein würde - wenigstens in dem Sinn, daß die Schiffe ankern und die Besatzungen und Passagiere an Land gehen konnten. „Also knüppeln wir so weiter wie bisher", schlug Dan vor. Es sollte aufmunternd klingen, aber die Wirkung war gering. Der Crew, deren Heimat die Schebecke war, ging es vergleichsweise hervorragend. Der Proviant hatte natürlich drastisch abgenommen, aber jeder wurde noch satt und hatte genug zu trinken. Dies galt ebenso für die drei kleinlaut gewordenen Gentlemen und die fünfköpfige Familie Fletcher, die nicht müde wurde, ihr Glück zu preisen. „Was sonst?" erwiderte Hasard. Auch er war mit den herrschenden Zuständen mehr als unzufrieden.
Von Tag zu Tag starben mehr Menschen auf den Galeonen. Die Anzahl der Kranken wuchs. Hasard zerkaute einen Fluch zwischen den Lippen und meinte schließlich, als wäre es ein ausreichender Trost: „Wenigstens haben wir heute gutes Wetter und Sonnenschein." „Ein Zeichen, daß wir uns dem Land nähern?" „Kaum." Eine große, dunkelgelbe Sonne hing im Osten eine knappe Handbreite über der Kimm. Der letzte Nachtwind hatte den Himmel leergefegt. Er spannte sich in einem hellen, strahlenden Blau über dem dunklen Wasser und schien das Leid der vielen Menschen verspotten zu wollen. Dazu kamen die heiteren Schaumkämme auf den Wellen, die Ungefährlichkeit und fröhliche Seefahrt versinnbildlichten. „Aber es erleichtert etwas das Leben, das gute Wetter", versuchte Dan einen weiteren schwachen Trost auszusprechen. „Besonders die Sterbenden freuen sich darüber." Hasard erlaubte sich keinen Scherz. Seine Bemerkung klang bitter. Der Umstand, daß auch auf der Schebecke die Vorräte mehr als knapp geworden waren, lag darin, daß der Kutscher und Mac Pellew einen Teil davon an die beiden Galeonen abgegeben hatten. Dan und Hasard standen auf der Back der Schebecke, sogen die frische Luft tief in ihre Lungen und federten die weichen Bewegungen ab, mit denen das Schiff in die Wellen einsetzte. Ihre Gedanken kreisten unausgesetzt um dasselbe Thema, über das auch alle anderen Seewölfe ständig sprachen: Wie lange dauerte es
6 noch, bis sich das Land hinter der Kimm heraufschob? Für die Crews und die Auswanderer bedeutete diese Frage inzwischen den Unterschied zwischen Leben und Tod. Weder Dan noch Hasard hielten viel davon, über die Vergangenheit zu sprechen. Die Zukunft war weitaus wichtiger, jede Stunde an diesem Tag konnte neue Aufgaben und Abenteuer bringen. Piet Straaten stand an der Pinne. Der Kurs lag klar an: So schnell wie möglich zur „Pilgrim" und dort längsseits gehen. So war es mit Kapitän James Drinkwater abgesprochen. „Was tun wir, wenn es noch länger dauert, Sir?" fragte Dan bekümmert. „Nichts anderes als das, was wir immer unternommen haben", gab Hasard zur Antwort. „Wir sorgen für die anderen, ohne uns selbst zu gefährden." „Dieser Zeitpunkt ist nicht fern", meinte Dan. „Und deswegen ist mein Gesicht auch so sorgenvoll", brummte der Seewolf und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. „Los. Gehen wir zu den anderen. Jeder von uns weiß, wo er Hand anlegen muß." Mac Pellew und der Kutscher hatten nach einigem Zögern begriffen daß ihnen Susan Fletcher wirklich die Arbeit erleichterte. Selbst Mac mit seinem bekannten und gefürchteten mürrischen Gesichtsausdruck grinste mitunter anerkennend, wenn er über die Sauberkeit der Kochstelle und über den besseren Geschmack des einen oder anderen Gerichts sprach. Aber auch die Mehlvorräte näherten sich bedenklich ihrem Ende. Der Geruch nach frisch gebackenem Brot wurde kräftiger, als sich die Männer
der Kuhl näherten. Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. Aber sie hatten schon gegessen, das frische Brot war ein Teil des Essens, das sie an Bord der Galeonen bringen wollten. David Fletcher arbeitete mit Bill und Blacky zusammen an den Planken des Beibootes. Sie besserten mit Schleifstein, Farbe und Quast die Planken über der Wasserlinie aus und arbeiteten ohne Eile, aber mit Nachdruck. Die langen Riemen, die als nächstes überholt werden sollten, waren neben dem Boot angebändselt. „Alles nach deinem Geschmack, David?" fragte Dan. Der Auswanderer, der seine Rettung und die seiner Familie als Wunder feierte, leistete an Bord mehr als nur „Hand für Koje". Er arbeitete wie ein Besessener und suchte sich die Arbeit sogar noch. „Es ist mir noch nie besser gegangen", sagte David mit breitem Lachen. „Übertreibt's nicht", riet ihm der Seewolf. „Die Planken werden sonst zu dünn." „Wann sind wir in Virginia, Kapitän?" erkundigte sich der Auswanderer. Sie alle hatten nicht viel mehr als ihr nacktes Leben und ihre Kleidung retten können. „Das fragen sich alle", erwiderte Hasard, der es für sinnlos hielt, falsche Hoffnungen zu nähren. „Auch mit diesem Spektiv hier ist das Land nicht zu sehen." Er schob den Kieker in die Tasche seiner Jacke zurück und peilte heckwärts zum Grätingsdeck. Dort saßen zwischen Edwin Carberry und dem breitschultrigen Schiffszimmermann die drei Kinder der Familie. Sie hielten alles seit dem Schiffsuntergang für ein herrliches Abenteuer und hat-
7 ten offensichtlich die Schrecken völ- pitäne schlecht schlafen. Auch die Seewölfe litten darunter. Bei ihnen lig vergessen. „Wenigstens die Kleinen freuen an Bord herrschten äußerste Diszisich über die christliche Seefahrt", plin und Ordnung. Im Gegensatz zu meinte der Seewolf. „Ein Trost für den Galeonen mußte niemand der Crew sagen, wie ein aufgeklartes meine altersschwachen Augen." „Du hast recht, Sir", stimmte ihm Schiff auszusehen hatte. Die Männer waren sauber und geDan halblaut bei. „Man fühlt sich direkt wie ein halbwegs heiliger Le- pflegt. Sie hatten keine Not, stets gab bensretter. Und die Crew kümmert es genügend zu trinken und zu essen. Auch sah niemand einen Kranken sich um ihre Schützlinge." auf den Planken der Schebecke. „Hm", brummte Hasard. Von den noch so vielen guten Ein- Diese vielen einzelnen Beobachtundrücken und Ausblicken wurden die gen riefen zuerst Erstaunen, dann BePlagen, die andere Menschen in Le- wunderung, schließlich Mißgunst, bensgefahr brachten, nicht um einen Neid und Gedanken an Überfall herDeut geringer. Eine kleine Gruppe vor. der Seewölfe bereitete sich vor, an Da der Seewolf diese Expedition Bord der „Pilgrim" zu entern und leitete und zu verantworten hatte, dort, wie der Kutscher es ausdrückte, meinten nicht wenige, er wäre an al„ihr segensreiches Wirken für das lem schuld. Je mehr geflüstert und Wohl der Seefahrt" fortzusetzen. geredet wurde, desto bösere Gerüchte Abgekochtes Wasser, ein warmer, wucherten. Was sich daraus ergeben nahrhafter Brei für die Kranken, konnte, wußten die Seewolfe. Sie kräftige Suppe, Binden und saubere mußten sich dagegen schützen. Es Tücher, die verschiedenen Arzneien hatte verteufelt viel mit Aufstand des Kutschers, das abgekühlte Brot und Meuterei zu tun. und was die Seewölfe sonst noch ent„Wer geht heute an Bord?" fragte behren konnten - alles wurde in ver- Old Donegal und verschloß den Brotschließbare Fässer und Leinwand ge- sack mit einem Doppelknoten. füllt und eingeschlagen. „Die Kräftigsten", bestimmte Ha„Soll ich mit an Bord gehen und sard. „Ich nicht. Sonst haben sie den euch helfen?" rief Susan Fletcher von bösen Seewolf zu dicht vor Augen." der Kochstelle her. „Einverstanden." „Muß nicht sein", sagte Mac PelEdwin Carberry hatte seine Mänlew. „Oder doch? Vielleicht beruhigt ner schon eingeteilt. Abgesehen vom es die Kranken." Kutscher, der den Feldschern der Ga„Susan bleibt hier", bestimmte Ha- leonen mit Tat und Arznei half, wasard. „Ihr wißt, welche Stimmung auf ren es die kräftigsten Männer an den Galeonen herrscht." Bord. Je weiter sich die Schebecke „Nicht die beste", ließ sich der Pfo- der „Pilgrim" näherte, desto mehr fos vernehmen und zog einen Beleg- Ausrüstung stapelte sich an Deck. Einagel heraus, schob ihn in seinen Gür- nige Seeleute und etliche Gruppen von Auswanderern standen drüben tel und kontrollierte seine Pistole. Die Lage, in der sich zwei Drittel am Schanzkleid und peilten zu ihnen. Hasard versammelte seine Männer der Auswanderer und ein Teil der beiden Crews befanden, ließ die Ka- um sich.
8 „Ihr wart schon ein paarmal drüben", eröffnete er warnend seine Anordnungen, „und ihr wißt, daß sie alle verzweifelt sind. Laßt euch nicht ablenken. Verteilt das Essen, sorgt für Ordnung und denkt dran, daß die armen Kerle fast am Ende sind. Sagt ihnen, daß wir bald Land sehen. Dann sind ihre schlimmen Tage zu Ende." Die Schebecke stampfte durch die aufzischenden Wellenkämme, richtete den Bugsteven zunächst auf das Heck der schwerfälligen Galeone, dann glitt sie näher heran und an Bockbord der „Pilgrim" längsseits. Tauschlingen wirbelten durch die Luft, Tampen wurden belegt, und zwischen den Bordwänden rieben sich knirschend abgewetzte Segeltuchsäcke, die mit Lumpen und Tauabschnitten gefüllt waren. Eine Jakobsleiter rollte sich auf. Graham Lilley, der Erste, und Kapitän Drinkwater beugten sich über das Schanzkleid der Kampanje, hoben grüßend die Arme, und Drinkwater rief mit lauter Stimme: „Willkommen an Bord!" „Guten Morgen, James!" rief Hasard zurück. „Die gesunden Männer sollen uns helfen. Wir haben noch die ,Explorer' zu versorgen." „Sie stehen schon bereit." Mit langen Schritten eilte der Erste über Deck, um Edwin Garberry zu begrüßen, der über die Sprossen der Jakobsleiter an Deck der Galeone kletterte. Die Seeleute warfen Leinen auf die Planken der Schebecke. Während Hasard junior dem Profos folgte, bändselten Paddy Rogers und Gary Andrews die Säcke und Fäßchen an. Nacheinander wurden die Nahrungsmittel an Bord der Galeone gehievt. Ferris Tucker folgte, dann enterte der Kutscher auf, während seine
Feldscherkiste voller unersetzbarer Medizin, Tränke und Ausrüstung behutsam aufgeholt wurde und über seinem Kopf an Deck schaukelte. Batuti und Roger Brighton übersprangen den Rand des Schanzkleides der Galeone. Die Auswanderer und die Seeleute sahen, daß sie, wie auch bei den vorhergehenden Besuchen, bewaffnet waren. Stenmark und Big Old Shane waren die letzten Seewölfe, die das andere Schiff betraten. Mit Handschlag wurde jeder vom Ersten begrüßt. Auch der Kapitän erschien und sah erleichtert zu, wie die Männer mit ihrer Arbeit anfingen. Sie teilten Tee aus, der inzwischen nur mehr lauwarm war. Die Brotscheiben wurden ihnen aus den Händen gerissen. Der Kutscher eilte unter Deck und kümmerte sich um die Kranken. Er mischte seine Tränke, gab sie ihnen löffelweise ein, ließ sich helfen und ordnete an, daß zwei alte Männer, die in der vergangenen Nacht unbeachtet gestorben waren, an Deck geschafft wurden. „Weiter so. Ihr rettet Schiff und Mannschaft und Passagiere", sagte James Drinkwater. „Wenn es die Seewölfe nicht gäbe . . . " Hasard junior antwortete ruhig: „Mein Vater bittet Sie, mit allem Nachdruck darauf zu bestehen, daß nicht wir als die Schuldigen bezeichnet werden." „Siehst du den Bootsmann? Den Profos? Sie greifen ein, wenn es Ärger geben sollte", sagte der Kapitän eindringlich. „Wir wissen, wer uns hilft!" „Aber lange halten wir das auch nicht mehr durch", schwächte Hasard ab. Wasser, Tee und verdünnter Wein waren bald ausgeteilt. Die Vorräte
9 der „Pilgrim" hatten in erschreckendem Maß abgenommen. Der Vorteil, daß es auch kaum noch verdorbene Vorräte gab, hatte sich dadurch ins Gegenteil verkehrt. Jeder an Bord der Galeone, ob er zu den Aussiedlern oder zur Crew gehörte, erhielt mindestens eine Muck voll. Die meisten Leute waren voller schweigender Dankbarkeit, aber die bitteren und vorwurfsvollen Blicke, die den Profos und seine kleine Mannschaft trafen, nahmen zu. An Steuerbord wurden die Leichen der See übergeben. „Tag für Tag das gleiche", murmelte der Kutscher und sah bestätigt, was er schon seit Tagen wußte. Auch seine Arzneien und Wundertränklein gingen zur Neige. Die Feldscher an Bord der Schiffe hatten sich ohnehin bereits völlig verausgabt. „Und wenig Besserung, mein Freund", brummte der Medicus der „Pilgrim". „Sie sind zu schwach, die Aussiedler." „Ein paar Tage werden sie alle überleben", erklärte der Kutscher mit großer Sicherheit. „Hunger ist nicht so schlimm wie Durst. Und die Kranken erholen sich, einer nach dem anderen." Alles in allem hatte sich gegenüber der letzten Hilfsaktion nichts wirklich verändert. Einige Leute fühlten sich gesünder, andere waren schlimmer erkrankt, aber drückender Hunger plagte sie alle. „Wir haben getan, was wir konnten", sagte Hasard junior, der die leeren Säcke und Behälter wieder zur Schebecke abfierte. „Und der Wind ist gleichmäßig gut." „Jetzt hilft nur noch beten", murmelte Lilley mit niedergedrückter Stimme. Er sah gleichmütig zu, wie ein hüb-
sches braunhaariges Mädchen auf ihn zuging, ein Stück Brot und eine Schale mit Seewölfe-Tee in den Händen. Obwohl ihr Gesicht sauber und frisch aussah, erkannte Hasard junior die Zeichen der Entbehrungen. „Keiner stirbt an Hunger und Durst", wiederholte Hasard. „Betet dafür, daß die Krankheiten besiegt werden." Er hob bedauernd die Schultern, lächelte die junge F r a u aufmunternd an und schaute sich wachsam um, ehe er sich über das Schanzkleid schwang und abenterte. Er hörte noch, wie der Erste Offizier zu der Frau sagte: „Die Fletchers haben's gut. Sie sind auf der Schebecke. Dort brauchen sie nicht um einen Schluck Wein zu betteln." Daran ist etwas Wahres, sagte er sich. Aber schließlich hatte sich jeder einzelne Angehörige der SeewolfCrew auf diese lange, beschwerliche Fahrt besonders gut vorbereitet. Nach und nach kehrten die Männer an Bord zurück. Die Fässer und Säcke wurden aufgeklart. Susan Fletcher teilte die Rationen für die „Explorer" ebenso gerecht und genau ein, als wäre sie von Hasard selbst eingewiesen worden. Mac Pellew brummte verdrießlich: „Wenn wir das noch zweimal riskieren, dann fängt für uns alle der richtige Hunger an, Susan." „Ich hab's gesehen. Die Mehlkisten sind fast leer." „Nicht nur die Mehlkisten", sagte er und hängte den leeren Kessel wieder über die kärgliche Glut. „Alles andere auch. Mit dem Wasser sieht's noch am besten von allem aus." Natürlich waren an Bord der Schebecke die Rationen längst halbiert worden. Das ließ sich aushalten, denn die Crew war gut genährt. Von einem
10 schaumtropfenden Bier konnten sie nur noch träumen. Whisky, Wein und Rum gab es noch etwas in den glukkernden Fäßchen. Die Versuche von Little John und den Zwillingen, ein paar große Fische zu fangen, waren nach dem schweren Sturm leider von keinem Erfolg gekrönt worden. Als letzter sprang Carberry auf die Decksplanken und gab das Signal. Die Jakobsleiter wurde aufgeholt. „Alle Mann an Bord zurück, Sir", meldete er in forschem Ton, aber seine Miene drückte aus, daß er in den Decks der Galeone wieder einmal so viel gesehen hatte, daß es auf seine Stimmung schlug. „Wir haben unser Möglichstes getan." „Weiß ich, Ed", erwiderte Hasard voller Ernst. „Das weiß jeder." Die schützenden Leiwandbündel wurden eingeholt, die Belegtaue losgeworfen. Mit einem letzten Winken legten die Seewölfe ab, die Segel wurden neu getrimmt, und der Rudergänger nahm Kurs auf die letzte Galeone.
Kurz nach der Stunde, in der die Sonne ihren höchsten Punkt am wolkenlosen Himmel erreichte, breitete sich wieder die gewohnte Ruhe an Bord der Schebecke aus. Nicht nur die drei kleinlaut gewordenen Gentlemen befanden sich unter Deck. Auch die Männer der letzten Wache waren abgelöst worden. Susan Fletcher und Mac Pellew hatten wieder einmal gezeigt, daß sie auch aus schwindenden Vorräten ein Bordessen zaubern konnten. Hasard saß wieder mit Dan O'Flynn vor den Karten, nachdem sie vom Kutscher sogar große Becher voller Kaffee empfangen und mit einem Schluck Whisky „gewürzt" hat-
ten. Sie wußten, daß sie mit noch so viel Rechnen und Vergleichen die Fahrzeit nicht verkürzen konnten. Aber sie wollten unter allen Umständen die Zeitspanne zwischen dem sicheren Ankommen in Virginia und dem ersten Augenblick verkürzen, an dem man an einen Landfall denken konnte. Die Karten zeigten, daß die Küste voller Inseln, mit zerrissener Strandlinie, offenbar aus kleinen Fjorden und Flußmündungen bestehend nördlich des ersehnten Zieles weit nach Osten und Nordosten vorsprang. Dan war sicher, daß der kleine Schiffsverband noch zu weit nördlich auf Westkurs lag. „Glücklicherweise", meinte er. „Je weiter nördlich wir segeln, desto eher sind die armen Kerle dort drüben wieder auf den Füßen." „Die meiste Arbeit dabei haben ohnehin wir", bestätigte der Seewolf. „Abgesehen davon, daß wir unsere Vorräte auch ergänzen müssen." Dan lachte kurz und sarkastisch. „Dort werden wir vergeblich nach Mühlen und Dorfmärkten suchen, Sir." „Richtig. Aber es gibt bestimmt Wälder, und wo Wälder sind, finden wir Wild, Beeren und Pilze. Und natürlich sauberes Frischwasser." „Hoffentlich stoßen wir nicht auf Klippen und nackte Felsen", sagte Dan und breitete unsicher die Arme aus. „Auf den Karten kann ich jedenfalls keine Bemerkungen finden, die uns das Überleben garantieren helfen." „Nicht die gesamte Küste wird aus schroffem Fels bestehen. Du kannst mich jetzt entbehren?" Dan nickte und antwortete: „Zumindest bis zur nächsten Wache, Sir."
11 Hasard richtete sich auf und duckte sich unter den wuchtigen Decksbalken. „Ich versuche ein paar Stunden zu schlafen. Veranstaltet nicht zuviel Krach." „Nein, Sir." Jeweils zwei oder drei Kabellängen voneinander entfernt, noch immer in Kiellinie, aber ohne den geisterhaften Verfolger, die Karavelle, schob sich der Verband aus drei Schiffen dem unsichtbaren Ziel entgegen. An Bord aller Schiffe gab es nur einen Gedanken: Jede weitere Stunde brachte die Schebecke und die Galeonen näher an die Stunde der Rettung heran. 2. „Weißt du, Roebuck, das ist eigentlich ganz einfach", erklärte Jeff Bowie und legte den rechten Arm um die Schulter des kleinen Fletchers, „denn wenn ein Schiff eine sehr lange Reise unternimmt, muß es auch richtig ausgerüstet sein." „So wie die ,Pilgrim', nicht wahr?" fragte der Kleine und blickte zur Galeone hinüber. Aber in seinem Blick lag alles andere als Heimweh. „Alle Zimmer unter dem Deck sind voller Sachen." „Das sind keine Zimmer", belehrte ihn Bowie und hielt sich mit dem Haken an der linken Prothese an der Kante des Sülls fest. „Man nennt es Laderäume. Oder Kammern oder Lasten. Aber wir haben für drei Dutzend Leute sehr viel mehr geladen. Zuerst muß man wissen, wieviel ein kleiner Mann wie du oder solch ein Vielfraß wie Edwin Carberry ißt und trinkt." „Ist Carberry ein Vielfraß?" wollte
Roebuck mit durchdringender Stimme wissen. „Na ja, wenn man ihm viel auf den Teller haut", meinte Jeff mit breitem Grinsen, „putzt er alles weg. Heute hat er nicht viel empfangen. Heute war er kein Vielfraß. Du auch nicht, ich auch nicht." Nach kurzem Nachdenken sagte er ganz ohne Sarkasmus: „Seit einigen Tagen ist hier auf der Schebecke keiner ein Vielfraß. Wir sparen beim Essen, damit die Leute auf den Galeonen nicht verhungern. Aber das brauche ich dir nicht noch mal zu erzählen." „Nein. Weiß ich alles, Jeff." Der fünfjährige Roebuck war zum Liebling der Crew geworden. Das aufgeweckte Bürschchen, dem der Kutscher einen pfiffigen Haarschnitt verpaßt hatte, war gerade dabei, alle interessanten Stellen des Schiffes zu entdecken. Vom Bug bis zum Heck war alles für Roebuck neu und mußte untersucht werden. Die Seewölfe paßten auf, daß Roebuck nicht ein drittes Mal über Bord ging. Im Gegensatz zu den vielen verwahrlosten, armen und ausgebeuteten Londoner Kindern waren die drei Sprößlinge der Fletchers ausgesprochen ruhig und wohlerzogen. „Dann weißt du auch, daß wir vor dem In-See-Gehen lange rechnen müssen? Pro Mann so und so viele Mahlzeiten, und das so viele Tage lang, wie wir unterwegs sind." „Aber das wißt ihr doch niemals ganz genau", erklärte Roebuck. „Aus diesem Grund kaufen wir eben mehr ein. Wir müssen ganz genau überlegen. Die meisten Nahrungsmittel verderben auf See. Deshalb hängen wir das Fleisch in Leinensäcken zum Durchlüften an den Mast. Darum wird das Mehl immer
12 wieder durchgesiebt. Es gibt keine einzige Ratte auf der Schebecke. In verschlossenen Fässern haben wir Wein und sehr viel mehr Wasser, als wir selbst brauchen. Deine Mutter weiß das alles genauso gut wie der Kutscher und Mac Pellew." „Aber - das Essen ist teuer. Habt ihr soviel Geld?" fragte der Kleine neugierig. „Dafür reicht's", bestätigte Jeff zufrieden. Die zwölfjährige Sarah kauerte neben Will Thorne auf der Kuhl. Er versuchte ihr beizubringen, wie das Hantieren mit dem Segelmacherhandschuh vor sich ging. Allerdings beschäftigten sich die beiden nicht mit einem Segel, sondern mit einer Jacke aus Segeltuch, die Will dem ältesten Sohn der Fletchers angemessen hatte. Will zeigte ihr, wie die geriffelte Platte aus Eisen die lange Nadel durch den Stoff stieß. Die Platte befand sich genau über der Daumenmaus in dem breiten Band aus Leder, das über die Hand gestülpt worden war. Der Faden zog sich folgsam durch die feinen Löcher. „Wenn wir fleißig sind", bemerkte er mit leiser Stimme und einem zögernden Lächeln, „ist die Jacke vielleicht fertig, wenn wir Virginia erreichen." „Dann sieht Little John wie ein Seewolf aus", strahlte das Mädchen und zählte die Knöpfe an ihrer Schürze. „Er ist schon halbwegs einer von uns", meinte der Segelmacher und fuhr still in seiner Tätigkeit fort." Little John half seinem Vater an den Außenplanken des Beibootes und zeigte, daß er tatsächlich auf dem besten Weg war, ein tüchtiger Seemann zu werden. Während seine Geschwister und sein Vater noch einige Schwierigkeiten hatten, sich
schnell und sicher an Bord zu bewegen, glitt er mittlerweile ebenso geschickt wie jeder Mann der Crew über die Planken. In der scheinbaren Ruhe des frühen Nachmittags änderte sich nur ein einziger Punkt. Der Wind drehte, wehte zunächst schwächer aus Nordost, dann kalt aus Nord, schließlich schlug er völlig um und wurde zum Westwind. Die Segelwachen kriegten Arbeit, denn die Schiffe mußten kreuzen, Schlag um Schlag nach Nordwest oder Südwest. Gegen Abend stand Dan O'Flynn auf der Back und schnupperte in den Wind aus Westen. „Ich weiß es", murmelte er im Selbstgespräch. „Aber ich werde mir die Klappe nicht verbrennen. Dennoch riecht es nach Land. Kein Zweifel, meine Freunde. Dan O'Flynn, der Lotse, hat wieder mal zugeschlagen." Er hütete sich davor, seine Beobachtung Hasard und den Seewölfen mitzuteilen. Er war immer überzeugt davon gewesen, daß sie näher an Land waren als angenommen. Natürlich bedeutete seine Wahrnehmung noch lange nicht, daß morgen früh die paradiesischen Ufer auftauchten. Aber... Der Wind war wärmer. Er wirkte ganz anders. Die Luft roch auch nicht mehr nach See und Wasser wie in den vielen zurückliegenden Tagen und Nächten. Ob es der Geruch nach frischem Wasser war oder nach Wäldern, durch die der Wind strich, konnte Dan nicht sagen. Aber auch einer weniger feinen Nase würde diese Änderung bald auffallen. Er stieg mit breitem Grinsen über das Deck. Die Schebecke lag mit dem Wind von Backbord auf Nordwestkurs. Der große dunkelrote Sonnen-
13 ball hing drei Handbreiten über der Kimm. „Heute nacht", murmelte Dan vergnügt, „werde ich wohl endlich einmal lange und tief schlafen können." Er kontrollierte sorgfältig durch das Spektiv die beiden Galeonen, die voraus in Luv segelten. Dort schien alles in Ordnung zu sein, es gab keine Signale, und an Deck bewegten sich nur die Mannen, die dort etwas zu suchen hatten. Neben dem Niedergang zum Achterdeck blieb er stehen, schaute zu den ersten blinkenden Sternen hinauf und spürte, wie seine Hoffnung, bald das Schlimmste hinter sich zu haben, um eine kleine Spanne wuchs. Ob die Schiffe ihre kranke menschliche Fracht ein paar Tage früher oder später an Land setzten, war völlig unwichtig. Wichtig für alle war der Umstand, daß bald Land gesichtet wurde. Bald? Sie würden es erleben, wie lange diese Höllenfahrt noch dauerte. Für die vielen Toten spielte diese Überlegung keine Rolle mehr. Sie hatten ihr nasses Grab gefunden.
Zweimal acht Glasen lang kreuzten die drei Schiffe über den Atlantik, bis nach der Morgendämmerung. Unverändert wehte der Wind aus dem westlichen Quadranten. Der unverkennbare Geruch dieses seltenen, teuren Getränks, das sich Kaffee oder Mokka nannte, weckte Don Juan aus einem sehr angenehmen Traum. Er reckte die Schultern, dehnte die Muskeln und sagte sich, daß ein Tag, der mit dem Geruch dieser schwarzen, süßen Brühe anfing,
nichts Schlechtes mehr bringen konnte. Wellenhöhe und Wogenstärke hatten sich nicht verändert. Es hätte ihn bei Sturm bereits früher aus den warmen Decken gekippt. Der himmlische Geruch des aufmunternden Getränks breitete sich unter den Decksplanken aus. Überall ertönten halblaute Rufe. Tritte polterten auf den Planken. Die Becher und die Mucks klapperten und schepperten. Hasards dunkle Stimme war mit einigen kurzen Kommandos zu hören. Der Spanier zog bedächtig seine Stiefel an und sagte sich, daß ihm ein Bad in sehr viel warmem Wasser nicht schaden würde. Den anderen Seewölfen, dachte er mit breitem Grinsen, wohl auch nicht. Einige Minuten lang schimpfte Sir John, der Papagei, in verschiedenen Sprachen. Er weckte mit einem langen spanischen Fluch, den ihm Don Juan beigebracht hatte, nicht nur den Schimpansen, sondern auch jeden anderen an Bord. Die Schiffsglocke ertönte. Zwei Glasen. Eine Stunde war vorbei, und als die Segelcrew die Schebecke wieder auf den anderen Bug brachte, teilten Susan, der Kutscher und Mac die Köstlichkeiten ihrer hochherrschaftlichen Küche aus. So nannten sie jedenfalls das Essen, das sie aus den Resten der Vorräte zusammengekratzt hatten. Die Schebecke schob sich jetzt auf die „Explorer" zu. Don Juan hörte aus den Fragen und Antworten der Seewölfe heraus, daß noch immer nicht Land in Sicht war. Er zuckte mit den Schultern und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die Zwillinge begrüßten ihn, als er
14 zu Susan und dem Kutscher trat und gähnte. „Hilfst du uns, Don Juan? Wir sind heute die guten Samariter auf der ,Explorer'." Don Juan empfing einen Becher voll Kaffee, verbrannte sich daran beinahe die Finger und biß in das fette Brotstück, auf dem eine Scheibe krümeliger Käse lag. „Natürlich helfe ich euch", sagte er. „Haben wir überhaupt noch etwas, das wir den armen Auswanderern bringen können? Und der Crew?" „Nicht mehr viel. Aber die beiden haben tatsächlich noch einen kräftigen Tee und eine Suppe aus Brotresten und Fleischbrocken fertiggebracht. Doch dann ist es vorbei mit unseren Spenden", erklärte Hasard junior. Der Kutscher nickte nachdrücklich und sagte hart: „Er hat recht. Die letzten Vorräte, Don Juan." „Bitter", murmelte der Spanier und freute sich, daß er etwas zwischen den Zähnen hatte. „Das sollten wir ihnen drüben an Bord aber nicht gerade als beste Neuigkeit erzählen." „Nicht beabsichtigt", entgegnete Philip junior. „Schon gestern war ihr Dank etwas gequält, wenn ich das so sagen darf." „Ich kann's verstehen", meinte Susan Fletcher. „Ich weiß ja, wie es bei uns auf der ,Discoverer' war. Jeder beneidet euch. Alles Schlechte ist auf dem eigenen Schiff, und der Himmel auf See, das seid ihr und die Schebecke." „Übertreiben Sie nicht ein wenig, Madam?" fragte Hasard junior. „Im Ernst. Wenn die Aussiedler noch länger hungern, werden sie euch zu hassen anfangen." Don Juan schaute in Susans Augen und erkannte, daß die Frau die Wahr-
heit sprach. Er seufzte leise und beendete ohne Eile seine erste Mahlzeit. Dann gingen seine Blicke hinüber zu der nassen, ramponierten Bordwand der alten Galeone. Von außen sah man der „Explorer" nicht an, welcher Zustand in ihren Decks und Laderäumen herrschte. Hasard rief vom Achterdeck: „Alle Mann klar zum Aufentern? Wir werden von Kapitän Toolan erwartet. An die Arbeit, Freunde!" „Los, gehen wir", sagte Don Juan. David Fletcher half ihnen, die Behälter voller Suppe und die Fäßchen mit Tee in die Kuhl zu schleppen. Die Seewölfe bereiteten sich auf das Manöver vor, das ohne großen Aufwand und blitzschnell vor sich ging. 3. Ein Dutzend Seewölfe befanden sich schon an Deck, als sich der Kutscher über das Schanzkleid schwang. Er hatte sich zwei mittelgroße Krüge um den Hals gehängt. Zu Ben Brighton sagte er, als er dessen verwunderten Blick bemerkte: „Das ist alles, was ich habe, Ben. Wenn die Krüge leer sind, ist nur noch eine Winzigkeit für die Seewölfe in meiner Wunderkiste." „Bedauerlich", antwortete der Erste und sah ein, daß er auch nicht helfen konnte. „Dann teile deinen Zaubertrank aus." Die meisten Auswanderer waren zu schwach, um sich zu streiten oder auch nur zu versuchen, den Seewölfen die Arbeit zu erschweren. Etwa neunzig Kinder, Mädchen, Frauen und Männer streckten ihnen die leeren Schalen und Becher entgegen und erhielten nicht viel mehr als ein paar Schlucke. Der Kutscher untersuchte
15 die stöhnenden Kranken und flößte ihnen seinen Trank ein, der ihm plötzlich nahezu kostbar zu sein schien. Carberry packte einen Seemann am Kragen, hob ihn hoch, stellte ihn zwei Schritt weiter achtern wieder hin und knurrte in einem Ton, den er für gemütlich hielt: „Nicht" so hastig, Freundchen. Die anderen haben auch Hunger." Amos Toolan trat heran. Seine Hose schlotterte um seinen Bauch. Auch der kleine dicke Kapitän hatte einiges Fett verloren. „Wir werden für euch alle beten", versprach er. Seine Crew hatte zwar auch Hunger, aber die wenigsten Mannen sahen so aus, als würden sie vor Erschöpfung gleich umkippen. „Das wird bestimmt helfen, Sir", wich Carberry höflich aus. „Und wie steht es um Ihre Weinvorräte?" Nach und nach waren alle Seewölfe unter Deck verschwunden und halfen dem Kutscher. Sie schleppten die Kranken hin und her und versuchten, die Reste ihrer kalt gewordenen Suppe gerecht zu verteilen. Eine halbe Stunde danach standen Carberry und Don Juan, wie zufällig, inmitten eines dichten Kreises von Seeleuten, die ihnen keineswegs fröhlich erschienen. Die Männer waren allesamt schmutzig, verwahrlost und müde. „Ist euch nicht gut?" fragte Don Juan und warf einen mißtrauischen Blick auf Toolan, der ziemlich ratlos wirkte. „Ihr lauft aus dem Kurs, Leute." Er deutete auf die Segel. Die Schebecke hatte wieder abgelegt und verhielt achtern der Galeone. „Wir wollen uns ja nicht beschweren oder so", sagte ein Seemann mit langem, fast schneeweißem Bart stok-
kend, „aber ihr geht mit dem Essen für uns verdammt sparsam um." Carberry drehte sich zu ihm um, streifte Toolan und den Ersten Offizier mit einem flüchtigen Blick und antwortete ruhig: „Wir haben selbst kaum noch etwas, mein Freund." Der Kutscher, neben ihm Ferris Tucker, enterten den Niedergang auf und standen im Rücken der etwa vier Dutzend Seeleute. Als sie die Versammlung sahen, blieben sie stehen und schauten sich schweigend an. „Das glaubt euch keiner", entgegnete der Weißbart. „Uns knurrt jedenfalls der Magen." „Dann geht es euch wie uns", erwiderte Don Juan und legte nachlässig die Hand auf seine Pistole. „Wir sind froh, daß wir noch etwas Wasser haben. Viel mehr ist es auch nicht. Unser Feldscher hat fast seine gesamte Medizin an die Kranken verteilt. Auch an euch, Leute." Er stutzte, ging zwei Schritte zurück und lehnte sich ans Schanzkleid. Er legte die Unterarme auf das Holz und wartete. Ein unangenehmes Gefühl ergriff ihn. Sie hatten eine Menge solcher Schwierigkeiten vorausgesehen. Daß sie gerade jetzt anfingen - Schicksal. „Das wissen wir!" rief ein anderer Kerl. „Männer! An die Arbeit. Trimmt die Segel!" rief der Kapitän. „Wir haben gebetet, und Gott wird uns das Land bald erreichen lassen. Erster! Sagen Sie den Männern, daß sie ihre Pflicht zu tun haben." Der Offizier, nicht viel größer als die beiden Sprecher, schob sich an Don Juans Seite. Er breitete die Arme aus und rief einige Befehle. Nur zwei oder drei Mann gehorchten sofort. Carberry setzte ein breites, überaus
16 freundliches Grinsen auf. Er tat so, als ob er zwei Seeleute umarmen wolle. Aber dann packte er sie mit seinen Pranken an den Jacken und zog sie gleichzeitig zu sich heran, bis sie an seiner breiten Schulter lagen. Seine Stimme war gar nicht mehr gemütlich, als er laut erklärte: „Wenn ihr wollt, könnt ihr zu uns an Bord übersetzen und nachsehen. Wir opfern den Rest von unserem Speck, um euch zu füttern, und ihr versucht, uns zu erpressen. Was soll ich davon halten?" „Du hast völlig recht, Profos", sagte Don Juan. Die Männer, die einen halbwegs drohenden Wall um ihn und Carberry bildeten, hatten wohl keinen Angriff vor, denn sie würden dadurch nichts gewinnen. Aber ihre Stimmung deutete auf Meuterei. Sie alle waren verzweifelt. Nicht so sehr darüber, daß sie jetzt das Knurren und Gluckern in ihren Eingeweiden spürten, sondern über die Aussicht, noch tagelang hungern zu müssen. „Wir verhungern!" rief jemand aus der Menge. „Und vorher verdursten wir!" „Die Ratten haben wir schon alle gefressen", ertönte es von Steuerbord. „Vielleicht hängt ihr achtern eine Angel aus", empfahl Carberry, der noch immer die beiden Männer hielt und jetzt langsam hochhob, bis nur noch ihre Zehen die Planken berührten. „Dann könnt ihr euch an Fisch satt essen. Nur Mut. Andere tun's auch. Wir zum Beispiel." Nacheinander kehrten die Seewölfe an Deck zurück. Sie konnten nichts mehr tun. Jeder von ihnen hatte sich davon überzeugen können, daß an Bord dieser Galeone buchstäblich der
allerletzte Rest von Proviant aufgebraucht worden war. „Aber - ihr könnt uns doch noch was abgeben", ächzte der linke Seemann in Carberrys Griff. Der andere stöhnte und bettelte: „Ihr habt doch noch genug. Ihr seid alle fett und wohlgenährt." Carberry spannte seine Muskeln und stieß die beiden von sich. Er war außerordentlich zurückhaltend, meinte er, aber sie stolperten wie Puppen rückwärts und rissen, als sie sich festhalten wollten, ein paar andere von den Beinen. „Hört zu, Freunde!" donnerte der Profos. „Fangt bloß keinen Streit mit uns an! Wir haben euch freiwillig abgegeben und hungern auch, so wie ihr. Haltet euch an den Mann, der für die lange Reise gebunkert hat. Vor dem Hunger können wir euch nicht schützen." „Und bevor ihr verdurstet", sagte Don Juan, „erhaltet ihr von uns unser letztes Wasser." Amos Toolan bewies einige Geistesgegenwart, denn er fühlte selbst, daß es unter seinen Leuten gärte und brodelte. Er wandte sich an den Bootsmann und befahl: „Geh in den Kartenraum. Dort findest du an Backbord im Schapp ein halbes Fäßchen Rum. Daneben ein halbleeres Weinfaß. Laß die Fässer hierher auf die Kuhl bringen. Dann wird das Zeug ausgeteilt. Aber vorher - alle klar zum Wenden, Männer. Gott mit uns." Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, schwang sich Dan O'Flynn in die Wanten, hielt sich lässig fest und schrie so laut über Deck, daß es selbst die Seewölfe drüben auf der Schebecke verstehen konnten: „Sie sollten einen Ausguck in den Großmars schicken, Kapitän Toolan!" Toolan hob seinen Kopf. Seine Au-
17 gen leuchteten auf, als hätte sich Dan in einen blondgelockten Engel verwandelt. „Was gibt es zu sehen, Mister O'Flynn?" fragte er hoffnungsvoll. „Wahrscheinlich noch nichts", erwiderte Dan und bemühte sich, so etwas wie eine feurige Ansprache zu halten. „Aber möglicherweise hat sich der eine oder andere Mann in den letzten Stunden mal die Nase geputzt?" „Ich verstehe nicht. Was meinen Sie?" Bei dem Geruch, der von den feuchten Planken aufstieg und aus den Grätings und Luks hochwirbelte, würde es jeder Seemann schwer haben, das gleiche zu riechen wie Dan. „Hat niemand gemerkt, daß die Luft anders riecht? Nach Land, wie ich behaupten möchte", lautete Dans Antwort. „Kann sein, daß jeden Augenblick im Westen Land gesichtet wird." Seine Worte lenkten die Mannen ab. Sie redeten wild durcheinander. Einige rannten an ihre Posten. Der Erste schrie ihnen seine Befehle hinterher. „Ist das dein Ernst?" brüllte Carberry, selbst von der Mitteilung überrascht. Er hatte sich nur über Dans Laune ein bißchen wundern müssen. „Benutze deinen Riecher, Ed", erwiderte Dan und sprang aufs Deck zurück. Immerhin hatte er gesehen, daß sich alle Seewölfe im Rücken der aufgebrachten Männer versammelt und die Hände auf den Griffen der Waffen hatten. „Ich glaube dir auch so", sagte Carberry. Vom Achterdeck ertönten die begeisterten Rufe der Seeleute, die nicht schwer an den beiden Fässern trugen. Aber die Ablenkung hatte geholfen.
Kapitän Toolan rief durchdringend nach einem Mann namens Scott. „Hier, Sir." Ein verhungert aussehender Schiffsjunge wurde nach vorn geschoben. „Aufentern. Dort, wo die Sonne steht, ist Westen. Gebt ihm eine Jacke. Du kehrst erst wieder an Deck zurück, nachdem du ,Land in Sicht' ausgesungen hast. Verstanden?" „Verstanden, Kapitän. Aye, Sir", sagte der Junge übereifrig und holte seine Jacke. Don Juan drehte sich um und gab Hasard, der auf der Back stand, die verabredeten Zeichen. Die Schebecke rauschte heran. „Klar bei Wurfleinen!" schrie der Erste. In einiger Verwirrung wurden die Manöver ausgeführt. Die Seewölfe enterten ab, ohne daß sich ein weiterer Zwischenfall anbahnte. Kaum hatte die Schebecke wieder abgelegt, ging die „Explorer" über den anderen Bug und stampfte, den nächsten Schlag einleitend, nach Südwesten. Dan blickte dem breitgebauten, verwitterten Schiff nach und meinte: „Das hätte tief ins Auge gehen können." Mit einem Überfall oder einem Seegefecht war leichter fertig zu werden. Aber gegen Kameraden kämpfen zu müssen, die deswegen hungerten, weil sie von den eigenen Offizieren um ihr Essen betrogen worden waren, zählte zu den bitteren Erlebnissen auf See. Dazu kamen noch die kranken und ausgemergelten Passagiere, die ihr letztes Geld dafür bezahlt hatten, wenigstens unter menschenwürdigen Umständen über den Atlantik gebracht zu werden. „Das wäre beinahe schiefgegangen,
18 Dan", bekräftigte der Schiffszimmermann finster. Er kämmte seinen Bart mit den Fingern und fuhr fort: „Und es treiben sich unter den vielen Passagieren noch immer einige Kerle herum, die so aussehen, als ginge es ihnen besser." „Plymmie soll mich beißen", mußte ihm Dan beipflichten, „wenn nicht der dicke Toolan einige puritanische Schinken oder etliche gottgefällige Würste und Käselaibe in seiner Kammer versteckt hält." „Seinen Wein hat er schon herausrücken müssen", meinte Ferris. „Den Wein aus dem Kartenraum", brummte Dan. „Bin verdammt sicher, daß wir etwas finden würden, wenn wir die Galeone an den richtigen Stellen untersuchen." „Wenn's nach mir geht, sieht mich Toolan an Deck seines Schiffes nur noch als Gespenst." Ferris Tucker spuckte nach Lee, nickte grimmig und stapfte zu dem Kommando, das sich um Beiboot und Riemen kümmerte. Ohne seine Ratschläge würden sie wahrscheinlich wieder alles falsch ausführen. Ein gutes Zeichen? fragte sich Dan. Wenn das Beiboot fertig ist, sollte endlich der Junge aus dem Masttopp „Land voraus" schreien. „Hoffen wir es", murmelte Dan und reckte seine Nase in den Wind. Es roch tatsächlich nach Land. Die Abenddämmerung folgte so schnell, daß er vergeblich nach einem Vogel vor der strahlenden Landschaft aus Wolkengebirgen Ausschau hielt.
Auf dem Grätingsdeck stank es wie in einem Cornwall-Hafen. Während die Schebecke durch die Nacht schoß, zog das strahlende Licht der Heckla-
terne ausgerechnet heute die Fische an. Little John, die Zwillinge und Bill holten alle drei, vier Minuten das Garn ein, an dessen Ende die Haken und die Köder hingen. „Schon wieder einer!" schrie Little John begeistert. Hasard junior hatte ihn mit einem kräftigen Ende gesichert, die Sorgleine wand sich kreuzweise über Brust und Schultern des Jungen. „Ein Riesenbursche!" Er zog am Garn, Hand über Hand, und der Fisch kämpfte heftig. Bill schüttelte den Kopf und erklärte: „Ich halte es für Unsinn, daß wir jeden zweiten Fisch über Bord werfen." „Nur die Kleinen", sagte Hasard junior. Die kleineren Fische waren allesamt eine Elle lang oder etwas kleiner gewesen. Aber als sie Bills Einwand hörten, verstanden sie seine Sorge. „Ich hole ein paar Körbe oder Fässer. Wir geben den armen Hunden auf der ,Explorer' etwas ab. Daß wir nicht schon früher daran gedacht haben, ist auch nicht gerade Beweis für unsere Klugheit." „Richtig", antwortete Little John nach kurzem Überlegen und hievte einen schwarzen, zappelnden Fisch an Bord, der ihm bis zur Hüfte reichte. Ein paar kräftige Schläge mit einem Rundholz beendeten den Todeskampf des Tieres. Philip junior half ihm, die Beute zu verstauen. „Morgen können wir uns alle buchstäblich die Bäuche vollschlagen", sagte Bill, der zusammen mit Bob Grey zwei leere Tonnen am Rudergänger vorbeiwuchtete. „Leiser", mahnte Bob. „Die anderen wollen schlafen." „Und wieder ist einer dran",
19 keuchte Philip nach einer Weile und wurde von dem Ruck fast von den Beinen gerissen. „Wir segeln mitten durch einen Schwarm." Seit zwei Stunden fischten sie mit Schleppangel und Fischköder. In den Fässern stapelten sich die toten Fische. Inzwischen reichte es dreimal für die Seewölfe, und wenn sie noch eine Weile fischten, auch für die Auswanderer und die Crews der Galeonen. Zum Fischfangen schienen die Seeleute der anderen Schiffe zu blöd zu sein. Oder ihr Aberglaube verbot es ihnen. Jedenfalls würde morgen keiner von ihnen schimpfen oder neidisch sein. Sie würden genug damit zu tun haben, sich die Gräten aus den Zähnen zu pulen. „Ich habe den Großvater aller Fische!" rief Hasard junior unterdrückt und schnappte: „Helft mir!" „Bin schon dabei", sagte Little John und versuchte, das Bändseigut mit einem Belegnagel zu halten, dessen Holz er in die Schlingen schob. Gemeinsam wuchteten sie einen Fisch auf die Heckgalerie zu, der ungewöhnlich groß und kräftig zu sein schien. „Wir brauchen Hilfe!" rief Bob Grey zur Kuhl hinunter. Big Old Shane stapfte heran, packte das dünne Ende und half ihnen, einen mehr als fünf Fuß langen Fisch an Deck zu ziehen, der sich wie ein Rasender wehrte. Es war nicht einfach, das Tier zu töten. Blut und Salzwasser vermischten sich und liefen über das Gräntingsdeck. Schwitzend und keuchend holten die Angler noch drei kleinere Exemplare aus dem schäumenden Heckwasser, dann lehnten sie sich erschöpft ans Schanzkleid. „Hören wir auf?" fragte Hasard junior. „Oder holen wir noch ein paar
Kameraden aus dem Atlantik? Ein toller Fischzug." Die Fässer und Tonnen hatten sich mit schweren Fischleibern gefüllt, die im Salzwasser noch immer zuckten. Big Old Shane stemmte den dicken Fisch in die halbvolle Tonne. Das tote Tier peitschte mit dem Schwanz und überschüttete den Schiffsschmied und das Deck mit Wasser und Schuppen. „Ich denke", brummte Big Old Shane gemütlich und verzog das Gesicht, als er an seinen Fingern roch, „daß wir gerade viel Glück haben. Denkt an die halbverhungerten Passagiere. Besser gekochten Fisch als gar nichts im Magen." „Alles klar", erwiderte der junge Fletscher. „Angeln wir also weiter." Sie zerhackten einen kleineren Fisch, spießten die Brocken auf die gekrümmten Haken und warfen die Schleppangeln zurück in die See. Sie brauchten nicht lange zu warten, denn ein Fisch nach dem anderen packte die großen Köder und hing am Haken. „Wir könnten die Schebecke geradezu mit Fisch volladen", sagte Philip junior, nachdem er zwei kleinere Exemplare mit kräftigen Schlägen des Belegnagels getötet und zu der anderen Beute gesteckt hatte. „Aber da gibt es wahrscheinlich Ärger mit unserem Kapitän." „Nur dann", korrigierte ihn der Bruder, „wenn wir die Fische nicht schnell genug wieder wegschaffen." „Wir werfen sie den Galeonen aufs Deck", schlug Bill vor. „Genauso habe ich mir's vorgestellt", pflichtete ihm Bob Grey bei. Innerhalb der beiden folgenden Stunden holten die Seewölfe mehr als zwei Dutzend verschieden großer, aber stattlicher Fische aus dem Was-
20 ser. Dann sahen sie ein, daß sie bei Sonnenaufgang - spätestens - Ärger mit dem Kutscher und Mac Pellew kriegen würden. Die beiden hielten nicht viel von Fisch, besonders dann nicht, wenn sie die Beute aufbrechen und ausnehmen und womöglich noch abschuppen mußten. „Uns schadet eine schöne Portion Fisch auch nicht", sagte Little John. „Meine Mutter kocht gut. Für Fisch hat sie eine besonders gute Hand." „Das wiederum freut die Köche", murmelte Big Old Shane. Sie ließen sich Zeit und schleppten die Tonnen und Fässer hinunter auf die Kuhl. Dann hievten die Jungen Pützen voll Seewasser auf das Grätingsdeck und schrubbten die Planken sauber. Der Rudergänger schaute grinsend zu. Die Schebecke hielt sich ständig in der Nähe der zwei schaukelnden Hecklaternen. Ein durchdringender Geruch nach Fisch breitete sich über die gesamte Länge des Schiffes aus, und bei jeder größeren Bewegung schwappte Wasser aus den offenen Tonnen. „Fisch", sagte Ben Brighton halb verwundert, halb erleichtert, als er seine Wache antrat und den nächtlichen Segen an Deck sah. „Viel Fisch. Die Fahrt hat ihren schlimmen Höhepunkt also noch nicht erreicht." Der Fischgeruch überdeckte mühelos jenen Geruch, der angeblich laut Dan mit dem Westwind mitgeführt wurde und die unmittelbare Nähe des Landes beweisen sollte.
Zuerst nahm die Schebecke direkten Kurs auf die „Pilgrim", ging längsseits, und Hasard brüllte hinauf zum Achterdeck: „Kapitän Drinkwa-
ter! Hier wird Essen geliefert. Zubereiten müßt ihr es selbst." „Wie?" Drinkwater stieg in großer Eile hinunter auf die Kuhl, schaute auf das Deck der Schebecke und erkannte eine Gruppe Seewölfe, die fröhlich grinsend mit riesigen Fischen zu werfen anfingen. „Verstehe!" rief Drinkwater schließlich. „Die Rettung stammt aus dem Atlantik!" „Jetzt wissen Sie, wie die nächste Hungerperiode besiegt werden kann, Drinkwater.'' „Haben Sie den Haufen Fisch selbst gefischt?" wollte Drinkwater allen Ernstes wissen. „Nun, freiwillig sind sie nicht an Deck gesprungen. Sind ja keine fliegenden Fischlein", erwiderte Hasard grinsend. Ungefähr ein großes Drittel der nächtlichen Beute schleuderten die Seewölfe im hohen Bogen an Deck der Galeone. Die Seeleute sammelten zwar das Meeresgetier auf, aber sie ließen deutlich erkennen, daß man sie lieber mit geräuchertem Schinken oder kaltem Braten hätte bewerfen sollen. Edwin Carberry holte tief Luft, bemerkte die grimmigen und verdrießlichen Gesichter der Kerle und zielte mit einem knapp armlangen Tier nach dem Bootsmann. „Dein Frühstück, Bootsmann!" donnerte er, schleuderte den Fisch und traf genau. „Ruder hart Steuerbord!" rief Hasard zufrieden. Der Fisch überschlug sich in der Luft, wirbelte Schuppen, Seewasser und Blut umher und rutschte über Deck, nachdem er den Bootsmann einige Schritte weit über die Planken geschleudert hatte. Unter dem Johlen
21 der Crew drehte die Schebecke ab David Fletcher eine Pütz nach der und durchschnitt mit dem scharfen anderen hoch, goß sie aus und reiBug den Schaum des Kielwassers, nigte die hellen Planken. das von der „Explorer" stammte. Die Schebecke ging wieder auf „Sie haben nicht einmal mehr Öl Kurs und kreuzte gleichzeitig mit den oder Schmalz zum Braten", sagte Galeonen gegen den West an, der Mac Pellew und zog die Schultern jetzt, gegen Mittag, tatsächlich spürhoch. „Und Dankbarkeit war schon bar wärmer geworden war. seit dem Ablegen nicht ihre Stärke." Aber vor lauter Fischgestank schütEr zeigte zur Galeone hinüber. Dort telte jeder der Crew, den Dan fragte, schleppten die Kerle die Fische zu ih- nur den Kopf. rem Koch. „Und ich sage euch, der Wind riecht „Dann werden sie den Fisch in Salz- wirklich nach Land", beharrte er eiwasser kochen müssen. Das schmeckt gensinnig. sogar, das weiß ich", antwortete der Kutscher grimmig. „Den gleichen Rat kannst du dem 4. Kombüsenkünstler von der ,Explorer' auch geben", riet ihm Hasard und Zunächst war es die „Explorer", die wartete ab, bis die Schebecke dwars zur Galeone segelte und sich von der am weitesten westlich segelte und mit guter Fahrt durch die Wellen Steuerbordseite näherte. Während Hasard die nächtlichen stampfte. Die Schebecke empfing jeFischer anwies, ihren Fang in handli- desmal, wenn sie das Kielwasser che Portionen zu schneiden und mit kreuzte, eine Geruchswolke vor den den Resten möglichst schnell die Mö- Bug. Während unter dem Achterdeck wen zu füttern, luden die Seewölfe des eigenen Schiffes ein weitaus besden Rest der Fische auf die schnelle serer Geruch herrschte, in dem Gewürze zu schmecken waren, heißes Art neben der anderen Galeone ab. „Was sagt der Ausguck?" wollte Fett und verschiedene Zutaten, roch Hasard von Kapitän Toolan wissen. der gesottene Fisch hinter dem SpieDer Puritaner richtete einen be- gel der Galeone nur nach Fisch sonst schwörenden Blick zum Himmel und nach nichts. Die Seewölfe, so weit sie sich an tief zurück: „Es gibt kein Anzeichen Deck befanden und nicht schliefen, dafür, Kapitän Killigrew." „Aber die nächsten Stunden rümpften die Nasen und waren wiebraucht ihr nicht zu hungern!" schrie der einmal mit ihren KombüsenmeiHasard. „Fisch ist nahrhaft und vol- stern zufrieden. Manchmal war auch ein Lob für Susan Fletcher zu hören. ler Wasser." „Ich danke", erwiderte Toolan, Am Nachmittag schnitt die Scheaber es klang nicht sonderlich begei- becke durch das Kielwasser der „Pilstert. grim", aber dieses Mal schien die SeeHohläugig und abgerissen starrten luft die Fischgestankswolke stark die Seeleute zur Schebecke hinüber, verdünnt zu haben. die nach Übergabe des letzten Fi„Wahrscheinlich ist der Geruch das sches wieder ausscherte. Kaum wa- einzige, was noch übrig ist", meinte ren die Meerestiere von Deck, holte Ben Brighton.
22 „Und ein paar Gräten", sagte der Seewolf. Sein Bedauern half den Auswanderern nicht, aber auf den Einfall, Fische zu fangen oder zu angeln, hätten sie wirklich selbst kommen können - und auch viel früher. Die Galeonen vor dem Hintergrund riesiger weißer Wolken, die der Wind hinter der Kimm hervorhob und nach Osten trieb, sahen plötzlich aus, als hätten sie gerade die Werft verlassen und wären für eine Weltumseglung bereit. Die Bilder, von denen Ruhe und die Schönheit der See ausgingen, wurden mit brutaler Plötzlichkeit zerrissen. Am Heck der „Explorer" zuckte ein winziger Feuerschein auf. Dann brodelte eine hellgraue Rauchwolke auseinander. Einige Herzschläge später erreichte die Explosion einer schweren Drehbasse die Ohren der Seewölfe und der Crew des anderen Schiffes. Die Männer zuckten zusammen, sprangen auf die Füße und waren sicher, daß die nächste, unerwartete Gefahr nach ihnen griff.
Batuti starrte Gary Andrews an und hielt dann Ben Brighton am Arm fest. „Ein Schuß. Ein Signal?" fragte er und wartete, bis Ben das Spektiv an ihn weitergab. „Wahrscheinlich ein Signal", sagte der Erste Offizier und peilte wie alle anderen hinüber zur Galeone. Die Gestalten zeichneten sich unter den halb durchscheinenden Segeln schwarz und scharf wie Schattenrisse ab. Die Menschen an Deck rannten wild durcheinander und warfen immer wieder die Arme in die Höhe.
Nach einer Weile erklärte der Gambiamann nicht ohne Verwunderung: „Ich meine, daß da so etwas wie ein Freudenfest im Gang ist. Ein paar tanzen wirklich auf der Kuhl herum wie die Affen." Gary fragte mit schiefem Grinsen: „Also hat Dan doch recht gehabt. Land in Sicht. Soll er selbst aufentern und nachschauen, wie?" „Nichts anderes habe ich vor!" rief Dan, sicherte sein Spektiv und hangelte sich in den Wanten auf. Die Schebecke hatte eine Halse ausgeführt und segelte in die Richtung, in der sich die „Explorer" befand. Alle Mann an Deck beobachteten die aufgeregten Leute der Galeone. Auf Kapitän Toolans Schiff herrschten helle Aufregung und zögernde Unsicherheit. Vor einer halben Stunde war Scott, der habichtsäugige Schiffsjunge, aus dem Masttop abgeentert und stand kurz darauf mit knurrendem Magen und großen, rot unterlaufenen Augen vor dem Ersten Offizier. „Sir", sagte er stockend, „ich - ich weiß nicht." Der Erste sah, daß der Junge erschöpft und ratlos war. Er nickte ihm halbwegs freundlich zu und fragte: „Was weißt du nicht? Sag's mir, Scottie." „Ich glaube, Sir, ich habe Land gesehen. Berge und Hügel. Aber ich bin nicht sicher." Der Junge war eigentlich viel zu lange im Ausguck gewesen. Er war blau vor Kälte und zitterte. Dort oben pfiff der Wind, wenn man sich nicht bewegte, eisig um das Eselshaupt der Stenge. „Du bist nicht sicher?" „Nein, Sir. Vielleicht sollte jemand mit dem Kieker entern. Es ist noch hell genug . . . "
23 Der Erste sagte sich, daß es keinen Sinn hatte, Scottie ein zweites Mal in den Topp hinaufzujagen. „Gut gemacht, Scottie", sagte er halblaut. „Ich kümmere mich selbst darum. Geh zum Koch und hole dir ein Stück Fisch. Und dann hast du Freiwache. Schlaf dich aus. Du bist ja halb erfroren, Kerl." Stotternd erwiderte der Schiffsjunge! „Danke, Sir. Aber ich glaube, es ist tatsächlich . . . " „Land voraus?" „Recht voraus, Sir. Vor meinen Augen ist alles immer wieder verschwommen, wenn ich genau hingesehen habe." „Schon in Ordnung, Scottie. Geh unter Deck, ins Warme." Der Junge nickte und wandte sich dem nächsten Niedergang zu. Der Erste schaute sich lange um, dann zog er das Spektiv heraus, putzte sorgfältig die Linsen und winkte schließlich einem jüngeren Seemann. Er wußte, daß er zuverlässig war und den sicheren Blick des erfahrenen Ausgucks hatte. „Jenkins", sagte er knapp, „du enterst zur Marsstenge auf. Scottie meint, daß er Land gesehen habe. Still! Nichts zu den anderen. Nur wenn du völlig sicher bist, darfst du losbrüllen. Verstanden?" Er gab ihm das Spektiv und blickte in den Himmel. Es gab keine Vögel vor der Kulisse der Wolken oder den großen Flecken blauen Himmels. „Aye, aye, Sir." „Los, aufentertn. Wenn du das Spektiv verlierst, sorge ich für Unterhaltung an Deck, klar?" „Klar, Sir." „Es eilt nicht." „Verstanden." Jenkins schwang sich auf die Oberkante des Schanzkleides, packte
die Stengepardune und stellte seinen Fuß in die Spreizlatten. Dann enterte er langsam die Unterwanten auf und vergewisserte sich immer wieder, daß das Spektiv noch fest in seinem Gürtel steckte. Auf dem Mars blieb er stehen, hob das Spektiv und blickte lange nach Westen. Der Erste sah ihm schweigend zu und bemerkte, daß Jenkins langsam nickte. Er kletterte über das Stengewant zur Bramsaling. Das Want arbeitete unter seinem Gewicht, aber ohne in Schwierigkeiten zu geraten, erreichte er den Topp der Marsstenge, sicherte sich mit einem kurzen Ende und zog dann wieder, als er sicheren Stand hatte, das Spektiv. Er versuchte, Arme und Hände ruhig zu halten und schwenkte das Fernrohr hin und her. Dann nickte er mehrmals und deutlich - ein lautloses Signal für den Ersten. Noch hatte Jenkins kein Wort gesagt. Er peilte scheinbar ruhig nach Westen. Zweimal setzte er das Spektiv ab und wischte über seine Augen. Ein paar Mannen starrten zu ihm hinauf, aber sie hatten wenig Hoffnung, daß er ihnen die Landnähe bestätigen würde. Nach einer Weile, in der Jenkins immer wieder kontrollierte, was er angeblich gesehen hatte, entschloß er sich. „Ich sehe Land! Land recht voraus!" rief er. Der Erste hob beide Hände an den Mund und schrie zurück: „Kein Zweifel? Ich lasse dich kielholen, Jenkins!" „Land in Sicht. Berge und Hügel. Vogelschwärme, Sir. Ich bin sicher." „Verstanden! Abentern!" Kapitän Toolan stürzte aufgeregt aufs hohe Achterdeck. Er stieß mit dem Ersten zusammen und stotterte:
24 „Ist es wahr? Land? Das ist die Rettung. Wir sollten ein langes Gebet zum Himmel richten." „Sir", sagte der Offizier, noch immer nicht vollständig überzeugt, „ich habe Jenkins mit dem Kieker hochgeschickt. Er ist sicher. Warten wir ab, was er uns berichtet." Jenkins blieb noch kurze Zeit oben und starrte nach Westen. Nur er konnte das Land sehen, von Deck aus waren nur Wolken zu erkennen. Die Seeleute wurden unruhig, bildeten kleine Gruppen, die sich mehr und mehr vergrößerten und wild durcheinander redeten, sich wieder zerstreuten und neu bildeten. Keiner konnte es glauben, aber jetzt enterte Jenkins ohne Eile ab, griff achtmal nach dem teuren und kaum ersetzbaren Spektiv und schwang sich schließlich im Mittelpunkt eines Halbkreises von Seeleuten auf die Decksplanken. „Wir haben's geschafft, Freunde", sagte er laut. „Wenn das nicht die Küste ist, bin ich blind. Laßt mich durch, ich muß zum Kapitän." Sie schlugen ihm auf die Schultern, stellten unzählige Fragen und liefen hinter ihm her. Jenkins gab dem Ersten das Spektiv zurück und meldete: „Sir, ich habe einwandfrei Land recht voraus gesehen. Auch ein paar einzelne Vögel und Vogelschwärme. Bin ganz sicher, Sir." Der Kapitän hatte die Hände gefaltet und schien ein stilles Gebet gesprochen zu haben. Er winkte den Stückmeister heran und rief: „Ein Signalschuß, Mann. Ohne Ladung, aber so laut, daß es Drinkwater und Killigrew hören können. Schnell!" „Aye, aye, Sir. Die große Drehbasse, achtern?" fragte der Stückmeister.
Arnos Toolan gestattete sich ein Lächeln und rief ungeduldig: „Ja doch! Was hast du gesehen, Jenkins?" Jenkins wiederholte und wurde von seinen Kameraden unterbrochen, die ein paarmal „Lauter!" brüllten. Viel war es nicht gewesen. Es konnte sich um eine große Insel handeln, die hügelig, bewaldet und ohne andere Landmarken außer einigen nackten Felsen voraus lag. Aber ebensogut konnte es die ersehnte Küste sein, deren Ausläufer sich nach Osten hin erstreckten. „Keine Feuer? Kein Rauch?" schrie ein Seemann. „Nein. Nichts." „Nur Hügel, Wald und Vögel?" schrien die Crewangehörigen. „Nur, was ich euch gesagt habe. Soll ich was erfinden?" Während Fragen und Antworten hin und her gingen, erschienen ein paar Passagiere auf der Kuhl. Sie erfuhren schnell, was der Lärm zu bedeuten hatte. Während Jenkins seinen Kameraden zum siebenten Male schilderte, was ihm die scharfen Linsen des Spektivs gezeigt hatten, lud der Stückmeister die große Drehbasse, richtete sie auf die Schebecke und die andere Galeone und schwenkte den blitzenden Lauf in die Höhe. „Feuer!" befahl er. Sein Gehilfe setzte die rauchende Lunte an. Das Rohr entlud sich mit einer grellen Feuerzunge und warf den Stopfen zerfetzt in die Luft. Weißgrauer Pulverdampf vernebelte das Achterdeck und wurde mittschiffs davongeweht. „Das war's", brummte der Stückmeister und nahm die Zeigefinger aus den Ohren. „Der Seewolf wird bald gleichauf liegen." Es dauerte keine fünf Minuten, bis
25 sich das Deck gefüllt hatte. Toolan sagte sich, daß das Schlimmste überstanden war. Er ließ sich ziemlich widerstrebend zu einer Geste herab, die seine Erleichterung deutlicher als alles andere zeigte. „Erster. Lassen Sie an Crew und Passagiere Rum austeilen. Rum für jeden", befahl er. „Ich hoffe, daß mein allerletztes Fäßchen reicht." Plötzlich hatte sich die Stimmung ins Gegenteil verkehrt. Alle Passagiere schienen an Deck zu drängen. Die Mannschaft, die den nächsten Kreuzschlag vorbereitete, eilte mit neuem Schwung an ihre Plätze. Für kurze Zeit verdrängte die Hoffnung auf die Sicherheit des festen Bodens die harten und schmerzlichen Erinnerungen an die lange Fahrt durch die Hölle aus Sturm und Entbehrungen, Krankheit und Tod.
„Einen Strich abfallen!" rief Philip Hasard Killigrew und winkte Ben zu, der beim Großmast stand. „Wenn tatsächlich Land voraus ist, werden wir von der ,Explorer' mehr erfahren. Wir sind zuerst an der Küste." „Aye, Sir", gab Brigthon zurück. „An die Schoten, Freunde! Vor uns liegt die Neue Welt." „Zeit wird's." Die Schebecke wurde hart an den Wind gebracht. Tauwerk knarrte und ächzte. Der Wind ließ die Lieken der Dreieckssegel killen, ehe sie sich strafften und sich die Schebecke kurz überlegte. Die Wellen schienen steiler zu werden, mehr Gischt spritzte am Bug nach den Seiten. „Also, Amos Tollan wird nicht so verrückt sein und falsche Signale geben", meinte Dan O'Flynn. „Merkst
du jetzt, Sir, daß die Luft ganz anders riecht?" Hasard grinste und blickte wieder durch das Spektiv nach Westen. „Nachdem der Wind freundlicherweise das Schiff durchlüftet hat - du hast nicht nur die besten Augen, sondern auch die schärfste Nase, wie mir scheint." „Nach meinem gegißten Kurs müßten wir schon mitten im Wald segeln", brummte Dan. Die Schebecke lag jetzt auf bestem Kurs und so hart und hoch am Wind, wie es Segel und Ruder zuließen. Die Geschwindigkeit schien sich fast verdoppelt zu haben. Jedes einzelne Geräusch hatte sich geändert und war härter und schärfer geworden. Von Deck der „Pilgrim" hatte Kapitän Drinkwater drei Musketenschüsse abfeuern lassen. Diese Antwort auf Toolans Signal bedeutete, daß er den Anlaß erkannt hatte. Vor dem Bugspriet der Schebecke tauchte das Heck der „Explorer" auf. Toolan und seine Offiziere standen auf der Kampanje und winkten zum Schiff der Seewölfe hinüber. „Kein Zweifel, Käpten Killigrew!" rief Toolan mit überkippender Stimme. „Gott hat endlich ein Erbarmen gehabt und uns das Land der Sehnsucht gezeigt. Das Land der Verheißung." „Das wird sich herausstellen. Gerade voraus, Kapitän?" fragte Hasard. Die Sonne war kaum gewandert und hing strahlend zwischen den aufquellenden Wolken. „Jenkins hat's mit dem Spektiv genau gesehen. Vielleicht nur eine Insel", erwiderte der dicke Kapitän. „Wir sind das schnellste Schiff, halten genau Westkurs und warten, bis
26 wir euch sichten, wenn wir einen guten Ankerplatz gefunden haben." „Wenn ihr an Land geht, dann solltet ihr ein Feuer anzünden!" brüllte der Erste lachend. „Mit viel Rauch!" „Geht klar!" rief Hasard zurück. Die Schebecke brauchte nur kurze Zeit, um in einem halben Faden Entfernung die Galeone zu passieren. Von Deck zu Deck wurden noch ein paar Aufforderungen laut. Das schlanke Schiff zog schnell aus dem Kielwasser der Galeone und hielt Westkurs. „Noch mehr als drei Stunden Tageslicht", meinte Hasard. „Wenn wir bis jetzt nichts erkennen, bedeutet das, daß wir sehr spät in der Nacht oder erst beim ersten Morgenlicht dort sind." Ben Brighton und Dan hatten schon nachgerechnet und stimmten zu. „Auf keinen Fall früher, Sir", sagte Dan. „Bevor es dunkel wird, steige ich in die Wanten." „Vielleicht siehst du später mehr als dieser Jenkins vom Großmast. Einverstanden, Dan." „Gut. Ich halte es für wichtig, daß wir vorbereitet sind." Ben Brighton fing an, einzelne Punkte an den Fingern aufzuzählen. Hasard hörte schweigend zu und nickte kurz. Er war schließlich mit allem einverstanden, denn Bens Vorschläge entsprachen seinen eigenen Vorstellungen. „Wenn wir nachts vor der Küste sind", meinte er nachdenklich, „geraten wir in die Gefahr, irgendwo aufzubrummen." „Wir weichen aus - mit Südkurs", schlug Ben vor. „Wahrscheinlich sehen wir etliche Einzelheiten. Es wird nicht viele Wolken geben, Sir." „Das können wir immer noch ent-
scheiden." Hasard winkte ab und blickte über die Schebecke. Die Seewölfe bereiteten sich schon jetzt auf den Landfall vor. Er fuhr fort: „Erst dann, meine ich, wenn Dan etwas schärfer hingeschaut hat." Daß ihnen zwei Schiffe, vollgepfercht mit durstigen und hungrigen Auswanderern, mit Kranken und Verzweifelten, im Kielwasser folgten, war ihnen klar. Sie waren entschlossen, so gut es ging, diesen Zustand zu verändern. Es würde ihnen ebenso wie den anderen Leuten helfen, wenn an Bord der Galeonen wieder endlich die Regeln der Seefahrt herrschten. Frisches Wasser und gutes Essen waren irgendwo entlang der Küste schneller zu beschaffen als auf hoher See. Die Seewölfe hatten nicht nur mehr Erfahrung, sondern auch genug Phantasie. Allerdings blieb ihnen die meiste Mühe. „Mühe hin, Ärger her", sagte der Seewolf und war sicher, daß sich die Crew an Land begeistert die Beine vertreten würde, „schließlich hat mich die gute, alte Queen damals nicht aus lauter Spaß zum Ritter geschlagen und mir klare Aufträge erteilt." „Wir sind auch schon aufgeregt und können es kaum noch erwarten, Ritter Daddy", sagte Hasard junior grinsend. Zwei Stunden später, als die Schebecke noch immer hart am Wind segelnd, die Galeonen weit hinter sich gelassen hatte, enterte Dan vom Topp wieder ab. „Jenkins hatte richtig gesehen", berichtete er zufrieden. „Rechts und links eines Vorsprunges, vermutlich einer Halbinsel, ist endlos weit Land zu sehen. Viel Wald, Sir. Ich konnte keine Feuer, Häuser, Dörfer oder anderes entdecken."
27 „Also einen Landstrich, in dem es von Wild, Pilzen und Beeren nur so wimmelt? Keine Eingeborenenaffenärsche?" wollte Carberry wissen. Dan schüttelte den Kopf. „Von hier aus einzelne Leute? Bist du verrückt, Ed? Wenn es dich beruhigt, dann erzähle ich dir gern ein langes Garn von halbnackten Rothäuten und ihren jungen Weibern." „Mir reicht's schon, wenn sie uns nicht angreifen", antwortete der Profos. „Wann sind wir dort?" Dan konnte seine Berechnungen inzwischen genauer fassen. Er entgegnete: „Zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Dann kannst du dich endlich austoben. Ben bereitet, wie ich sehe, schon das Anlanden vor?" „Gründlich und in bedächtiger Ruhe", sagte der Seewolf. Er spürte, wie die Spannung der letzten Tage wich. Undenkbar, daß sie nur noch friedliche und sonnige Tage vor sich hatten, aber die Hungersnot und damit auch der Grund für viele Erkrankungen würden spätestens morgen abend eine Erzählung aus naher Vergangenheit sein. Er verließ das Grätingsdeck und blieb inmitten der Crew auf der Kuhl stehen. „Ich erwarte, daß wir ungefähr im Morgengrauen an Land gehen können. Wir suchen nach einer Bucht oder Flußmündung. Wer an Deck nichts zu arbeiten hat, haut sich aufs Ohr. Bis auf eine kleine Deckswache werden wir alle an Land gehen und eine größere Jagd veranstalten. Wenn die Galeonen ankern, sollten wir einige Erfolge vorzeigen können. Schließlich haben wir einen guten Ruf." „Den wir nicht verlieren werden", polterte Carberry. „Aber die paradiesische Kolonie finden wir dort sicher nicht, Sir."
„Das wäre ein Wunder", bestätigte Hasard. „Ben, ich verlasse mich darauf, daß unser stolzes Schiff nicht nachts auf die Klippen gesteuert wird." „Darauf kannst du dich verlassen, Sir", bekräftigte der Erste. „Beim ersten Anzeichen gehen wir auf Südkurs. Und dann weiter entlang des Ufers." „Genau das." „Dann tummelt euch!" rief Edwin Carberry. „Ihr habt gehört, was der Kapitän befohlen hat, ihr alten Rüben . . . " „Ist schon gut", unterbrach ihn Dan. „Wir haben gehört, begriffen, verstanden und kapiert. Klar?" Der Profos grinste breit, rieb sich vergnügt die Pranken und half David Fletcher und dem Beibootkommando, das Boot so weit aufzuklaren, daß es später mit ein paar Handgriffen schnell zu Wasser gebracht werden konnte. Inzwischen roch jeder Seewolf, daß der Wind von Land her wehte, vom sauberen Ufer, durch einen Wald und über dessen Baumkronen, vorbei an Frischwasser und in Wirklichkeit aus der Tiefe unbekannter, menschenleerer Landschaften. Jeder wollte den Augenblick miterleben, in dem endlich der Anker fiel und faßte. 5. Der Mond spiegelte sich in Myriaden kleiner Sicheln auf dem Wasser. Die Sterne standen klar und kaum blinkend über dem Schiff. Die Küste bildete einen tief schwarzen Wall, der sich so undeutlich abhob wie eine dunkle Mauer vor dem Nachthimmel. Binnen weniger Atemzüge hatte der
28 Wind die Hälfte seiner Kraft verloren. Dan O'Flynn langte nach dem Docht der Buglaterne und löschte behutsam die Flamme. Die leisen Zurufe und die Geräusche, mit denen das Lateinersegel des Großmastes geborgen wurde, schienen als Echos von der schwarzen Wand zurückgeworfen zu werden. Das Rauschen des Wassers wurde leiser. Dan und die Zwillinge standen auf der Back und warteten, bis sich ihre Augen völlig an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Als der Wind nachließ, war es schlagartig wärmer geworden. Noch hatte die Schebecke gute Fahrt und segelte auf Westkurs auf das Land zu. „Ich sehe keine Felsen, keine Brandung", flüsterte Philip junior. Aber sie hörten von fern das Rauschen der Brandungswellen, die sich an zerklüfteten Felsen brachen. „Es reicht, wenn wir auf eine Untiefe auflaufen", sagte Dan und bohrte seine Blicke in die Finsternis. Je mehr Zeit verging, desto mehr Einzelheiten konnten sie unterscheiden, die unzweifelhaft waren und blieben. Ein heller Streifen, der sich im Rhythmus des leisen Rauschens in vier Fadenlängen Entfernung wellenförmig hob und senkte, war deutlich zu erkennen. „Starke Brandung", murmelte Dan und bedauerte, daß er keine Berechnungsmöglichkeiten für die Tidenhöhe an dieser Stelle der Welt hatte. „Weit genug entfernt." Darüber erkannten sie hellere Streifen und große Zonen aus Schwärze. Das vage Licht zeichnete die Schrunde und Spalten der Felsen. Über dem Gestein stand ein Wald aus
großen, schlanken Bäumen mit spitzen Kronen, also aus Nadelbäumen. Leises Knacken, die Schreie unbekannter Tiere, das Schlagen von Flügeln und ein jammernder Käuzchenruf waren deutlich zu hören. Dan sprang von der Back, lief am Gangspill vorbei und bis zum Großmast. Er wandte sich an Ben Brighton. „Bereitet euch auf die Kursänderung vor. Ruder hart Backbord, dann genau nach Süd. Ich pfeife, klar?" Es war nicht so sehr die Rücksichtnahme auf die schlafende Freiwache und Hasard, sondern die Umgebung, die sie alle veranlaßte, so leise wie möglich zu bleiben. Noch hob und senkte sich der Bug des Schiffes, aber schon dort vorn zeichnete sich stilleres Wasser ab. Ein breiter Streifen lag in Lee des Landes. Dan huschte zurück und kniff die Augen zusammen. „Riecht gut, wie?" fragte er leise. Die Zwillinge starrten schweigend nach vorn und sahen einige Einzelheiten sich nähern und deutlicher werden. „Endlich. Ich freue mich schon genauso auf einen leckeren, heißen Braten wie die Halbverhungerten auf den Galeonen", murmelte Philip. „Da vorn gibt's nichts zum Anlegen. Lauter Felsen", sagte Dan nach einiger Zeit.. „Wir gehen nach Süd." Er drehte sich um, steckte zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen halblauten Pfiff aus. Sofort gab Ben seine Kommandos. Die Schebecke schwang herum, das Ende des Bugspriets beschrieb einen Viertelkreis. Die Segel wurden in die neue Stellung gezogen. Deutlich hörten die Seewölfe den Widerhall der Geräusche. Die Schebecke krängte im ablandigen Wind weit nach Back-
29 bord, richtete sich zögernd wieder auf und glitt in der weichen Dünung nach Süden. An Steuerbord zogen die Schatten und die dunklen, geheimnisvollen Ausschnitte der Landschaft vorbei. Nacheinander stellten sich die Crewmitglieder, die nichts Wichtiges zu tun hatten, hinter das Schanzkleid an Steuerbord und schauten, bis ihnen die Augen brannten und flimmerten. Aus dem Wald hoch über den Felsen schimmerten hin und wieder die Augen von Tieren. Oder handelte es sich um Ausgeburten der erwartungsvollen Gedanken und Wünsche? Unzählige Geräusche, die nichts mehr mit dem Atlantik zu tun hatten, ertönten vom Land herüber. Die Schebecke segelte langsam unter Fock und Besan, entlang einer schnurgeraden Felsbarriere, die sich nach Süden mehr und mehr absenkte. Knorrige Wurzeln schienen sich den kantigen Brocken entgegenzutasten, die sich ins Uferwasser vorschoben. „Einen Strich abfallen", ertönte das Kommando Ben Brightons, ganz klar und nur halblaut trugen die Stimmen jetzt vor der Felswand weit über das Wasser. „Aye, aye!" rief der Rudergänger zurück. Die schäumenden Ränder des Kielwassers liefen in einer flachen Krümmung auseinander. Die Schebecke wich den voraus erscheinenden Riffen und Brandungswellen aus. „Gut so. Kurs halten", folgte Bens nächstes Kommando. „Verstanden." Auch Little John, der von der Unruhe an Deck geweckt worden war, stellte sich zwischen die Seewölfe und spähte in das Halbdunkel. Der Mond schob sich hinter den Baumwipfeln höher und höher und über-
schüttete die Uferzone mit seinem kalkweißen Licht. Die Seewölfe segelten an einer Huk vorbei, die sich wie ein dicker Fingen weit in die See hinaus krümmte. Je flacher die Felsplatte wurde, desto weniger Bäume und Büsche wuchsen darauf. Schließlich lag Mondlicht auf dem nackten, nassen Fels. Wieder wechselte die Luft ihren Geruch. Es roch nach Brackwasser und feuchten Binsengewächsen oder Schilf. Als das Schiff in zwei Fadenlängen Entfernung an der äußersten Spitze und einem Dutzend schwach sichtbarer Riffe vorbeigerauscht war, schlug kurz der Wind um. Eine große, langgestreckte Bucht öffnete sich zum Meer hin. Sie endete in etwa zwei Seemeilen Entfernung weit im Land. Dort schien ein Fluß oder ein großer Bach zu münden, denn das Wasser führte Treibholz und undeutlich sichtbare Dinge, womöglich Tierkadaver mit sich. Die Mündung war im Schatten riesiger Bäume versteckt. Als die Seewölfe etwa von der Mitte der ovalen Bucht aus, zwischen zwei Felsbarrieren zum Meer hin, die Ufer betrachteten, suchten sie auf den ersten Blick vergeblich nach interessanten Punkten. Es war kein sandiger Strand zu erkennen, keine Hütte, kein Feuer nur Wasserpflanzen, Büsche und dahinter der Waldrand. „Jedenfalls tanzen die Eingeborenen nicht zu unserer Begrüßung", brummte Ben Bringhton zufrieden. „Und wo sind wir wirklich?" fragte Little John. Die Fletchers hatten keine Vorstellung von dem Land, das sie angeblich mit offenen Armen und unermeßlichem Reichtum erwartete. „Jedenfalls nicht im großen Hafen einer Virginiakolonie", erwiderte Hasard junior. „Wir suchen einen guten
30 Ankerplatz, von dem aus wir erst einmal für reichliches Essen sorgen können." Ben ließ die Schebecke weiter in südliche Richtung segeln. Sie würden ohne größere Schwierigkeiten in diese Bucht zurückfinden. Vielleicht gab es eine Stunde südlicher in Fahrtrichtung einen Landeplatz, der mehr versprach. „Weiter Kurs halten!" rief Dan von der Back her. „Verstanden!" ertönten Stimmen von achtern. Für eine halbe Stunde herrschte ein kühler, feuchter Wind, der aus Norden wehte und über die Länge der Bucht strich. Hinter dem nächsten Felskamm mußten die Segel wieder getrimmt werden. Der Mond stand hoch, sein Licht breitete sich ungehindert von geheimnisvollen Schatten aus. Die scharfen Augen der Seewölfe sahen trotzdem nicht viel mehr als zuvor. Dan flüsterte, keineswegs überrascht: „Wir haben hier ein leeres, wahrscheinlich unbewohntes Stück Küste, nördlich unseres Zieles. Die Wälder müssen voller Wild sein. Bis zum Sonnenaufgang werden wir wohl einen guten Platz für uns alle finden." Die Uferstreifen wirkten weder einladend noch abweisend. Die zweite Felsnase verschwamm in Ufernähe mit dem Buschwerk. Gegen den Himmel, der nicht mehr die tiefe nächtliche Schwärze zeigte, erschienen die Schattenrisse von drei großen Vögeln. Sie flogen mit langsamen Schlägen ihrer großen Schwingen über die Bäume, über die Felsen und in Richtung der offenen See. „Die Küste ist lang und unbekannt." „Stimmt genau, Bruderherz", ent-
gegnete Philip junior. „Aber nicht überall werden wir einen Bach mit frischem Wasser finden." „Auch wieder richtig." Bis zum ersten grauen Licht des Tages segelten sie in geringstmöglicher Entfernung - wegen der halb versteckten Felsen weiter seewärts oder auch näher am Land - unverändert südwärts. Felsige Uferabschnitte lösten sumpfige Flächen ab, aus denen sich breite, weiße Nebelschwaden herausschoben und nach der Schebecke zu greifen schienen. Der Strandwald reichte bis zum Wasser, und ein paar Kabellängen weiter bildeten die helleren Stämme wieder riesige Lichtungen. Ganz plötzlich, nachdem die Schebecke eine Reihe schroffer Felszakken passiert hatte, ertönten halblaute Ausrufe an Steuerbord. Fast gleichzeitig meinte jeder, der die Küste absuchte, etwas sagen zu müssen. „Herrlich!" „Das ist es!" „Der beste Ankerplatz", sagte Ben Brighton gleichzeitig mit Dan O'Flynn, „und für alles ist gesorgt." Diese Bucht war kreisförmig und hatte einen Durchmesser von nicht weniger als zwei Seemeilen. Gerade noch ohne Spektiv zu erkennen, rauschte ein Wasserfall über schwarze Felsstufen. Das Wasser in der großen Bucht war fast unbewegt. Entlang der Linien, die Ebbe und Flut an den Felsen und an den Hängen gezeichnet hatten, hoben und senkten sich fast lautlos die Brandungswellen. Es war nicht nur der Anblick dieses ruhigen Landeplatzes mit den untrüglichen Anzeichen dafür, daß sie gefunden hatten, wonach sie solange auf der Suche gewesen waren. Ben Brighton legte dem jungen
31 Der Anker stand auf und nieder. Fletcher die Hand auf die Schulter und sagte gutgelaunt: „Hole bitte den Die schwache Strömung packte die Kapitän an Deck. Melde ihm, daß wir Schebecke und schob sie, zugleich den schönsten Ankerplatz gefunden mit dem Sog der ablaufenden Ebbe, haben. Wir brauchen seine Zustim- von der Bachmündung rückwärts wieder in Richtung auf die offene mung, klar?" „Aye, Sir!" rief Little John und See. Mißtrauisch, voller Spannung, stürmte los. Er prallte mit Hasard zu- mit größter Wachsamkeit und angesammen, der ihn auffing und herum- haltenem Atem suchten die Seewölfe den Rand der Bucht ab, und als erster schwenkte. „Bin schon da, Ben!" rief er, faßte Kapitän Killigrew seine Meischwang sich aufs Achterdeck und nung in Worte. blickte sich um. Er brauchte nur „Unsere Siedler werden hier, wesechs Atemzüge lang, um seine Ent- nigstens rund um die Bucht, wohl scheidung zu fällen. kaum ihre Hütten bauen." „Warum nicht, Sir?" fragte Little „Wir gehen so weit wie möglich in die Bucht hinein. Beiboot klar zum John. Neben ihm stand seit dem AuAbfieren. Ein fabelhafter Platz, genblick, als die Ankertrosse belegt worden war, sein Vater. Er atmete die Freunde." Über dem schier endlosen Wald frische Luft geradezu gierig ein und färbte sich der Himmel grau. Die letz- aus. ten Sterne verschwanden blinkend. „Keine Flächen für Felder und WeiDer Mond wanderte ostwärts. Nur den", erwiderte Hasard. „Holz für die niedrigen Wellen vom Ozean eure Hütten gibt's allerdings genug." schoben sich langsam und flüsternd Im Osten breitete sich ein heller durch den riesigen Kreis der Bucht. Streifen über der Kimm aus. Hasard An den Ufern erwachten unzählige gab einen kurzen Befehl, und zwei unsichtbare Tiere und fingen mit ih- Dutzend Männer packten das Beirem allmorgendlichen Geschrei an. boot und wuchteten es über das Schanzkleid. Dann knarrten die „Aye, Sir." „Ruder hart Steuerbord! Schoten Blöcke, und das Beiboot wurde an Backbord abgefiert. loswerfen!" „Belegen und ausrüsten", sagte „Verstanden, Sir." In einem Dreiviertelkreis glitt die Ben. Es klang weniger wie ein Befehl, Schebecke in die Bucht und bis ins sondern mehr so, als meinte er, am hinterste Drittel, während der Anker Ende der Reise einen guten Rat geben klariert wurde. Die Freiwache er- zu müssen. schien halb unausgeschlafen an Deck „Schon dabei, Mister Brighton", erund packte überall mit an. klärte sein Bruder. Als die Schebecke, deren Segel Der Anker griff gut, und fast unbackgebraßt waren, von der Mün- merklich schwang in einem weiten dung eines Baches etwa eine Kabel- Kreisausschnitt die Schebecke am länge weit entfernt war, fiel der An- Ankertau. Die Segel hingen in den ker. Die Ankertrosse folgte. Luke Gordings und waren noch nicht festMorgan stand vorn und lotete. gezurrt. „Zweiundzwanzig Faden!" rief er Die Seewölfe waren bereit, bei einach achtern. „Jetzt - achtzehn!" ner ernsthaften Störung sehr schnell
32 wieder die Leinwand an den Wind zu bringen. Aber es blieb still. Fische sprangen aus dem Wasser und platschten wieder zurück. Ringe breiteten sich aus, und das Vogelgeschrei wurde lauter. „Eine kleinere Gruppe geht an Land", sagte Hasard. „Vielleicht ist es zunächst vernünftiger, wenn Big Old Shane und Batuti mit Pfeil und Bogen jagen." „Verursacht weniger Lärm", versicherte Batuti und grinste breit. „Und gegen die bösen Indianer nehmen wir die Pistolen mit." „Und den anderen Kram auch", sagte Roger und schlug auf den Cutlass an seiner Hüfte. „Wenn ich richtig verstanden habe, sollen wir eine Herde Rehe und Hirsche schießen. Falls wir sie finden." „Richtig!" Hasard lachte. „Wahrscheinlich finden sich die Tiere zum morgendlichen Umtrunk am Bach ein. Seid vorsichtig. Denkt an die Indianer." „Wir passen auf", versprach Big Old Shane. Mac Pellew, Susan Fletcher und der Kutscher schafften leere Fässer und kleine Tonnen an Deck. „Das Wasser, das ihr mitbringt, wird euer Tee", drohte Mac. „Kehrt also noch vor Abend zurück." Hasard befahl einigen Seewölfen, ihre Musketen zu laden und schußbereit zu halten. Ben Brighton und Dan beobachteten noch immer die Ränder der Bucht und versuchten, den wirklichen Grund einer jeden Bewegung zu erkennen. Vögel kreisten über den Wipfeln und dem Ufer. Unmerklich senkte sich in der ablaufenden Ebbe der Wasserspiegel. Das Rauschen des kleinen Wasserfalls verschwomm mit den vielen anderen Lauten ringsum. Die leeren Behälter polterten zwi-
schen die Duchten des Beibootes. Über die Jakobsleiter enterten der Profos und Ferris Tucker ab. „Acht Mann!" rief Hasard. „Sonst hat eure Beute keinen Platz mehr." Lachend kletterten Roger Brighton und Big Old Shane ins Boot. Batuti warf Shane seinen Bogen zu und folgte ohne Hast. Im Bug luden ein paar Seewölfe ihre Musketen. Al Conroy schleppte nacheinander vier geladene Drehbassen an Deck und setzte sie in die Gabelungen ein. „Seht euch genau um", empfahl Dan O'Flynn. „Ich habe keine Spuren von Menschen entdecken können." „Ich auch nicht", bestätigte der Erste. Blacky, Stenmark und zuletzt Don Juan setzten sich auf die Duchten und packten die Riemen. Die trockenen Hölzer knirschten in den Rundsein. „Leinen los", befahl Ben. Die Enden flogen ins Beiboot, und langsam pullten die Seewölfe in die Richtung des gischtenden Wasserfalls. Im Heck stand, die Pinne zwischen den Knien, Don Juan und spannte die Hähne seiner zweiläufigen Pistolen. Irgendwo im Wald knackten dürre Äste. Die Blätter der Riemen tauchten ein und wurden durchgezogen. Sie hinterließen im glatten Wasser plätschernde Eindrücke, die wie seltsame Spuren aussahen und sich in einen Reigen von Ringen verwandelten. Wassertropfen glitzerten und funkelten auf, als die ersten Sonnenstrahlen über die Bucht schossen. Sie kamen genau durch die Passage zwischen den kantigen und geäderten Felsen an beiden Enden der Bucht. Zuerst färbten sich im Westen die Baumkronen heller. Gleichzeitig fingen viele Hunderte Vögel zu zwit-
Den folgenden Brief erhielten wir von M E , Straße , 6403 Küßnacht am Rigi/Schweiz. Er schreibt: Sehr geehrte Seewölfe-Redaktion! Ich bin 15 Jahre alt und komme aus Küssnacht am Rigi, das etwa 15 km von Luzern entfernt liegt (CH). Ich bin begeisterter Seewölfe-Leser, bin aber erst - leider - ab Nr. 500 voll dabei, besitze aber einige ältere Exemplare. In einem dieser Expemplare habe ich gelesen, daß man die Karte der zweiten Weltumsegelung der Isabella VIII." auch direkt bei Ihnen bestellen kann. Also, wenn es noch eine solche Karte gibt, würde es mich sehr freuen, wenn Sie sie mir zusenden würden. Zur Serie muß ich Ihnen ein großes Lob aussprechen, denn ich finde sie super! Ganz toll fand ich den Teil mit Yves Grammont (ich besitze auch die Nummern 294-309) und den mit dem ,.Flammenschwert Gottes" und seinen Anhängern. Ich hätte noch eine ganz große Bitte an Sie, und ich hoffe, Sie können sie erfüllen. Ich sammle seit kurzem alles über Segelschiffe, denn Sie haben mich mit den Geschichten und der Seemannskiste auf den Geschmack gebracht. Nun ist es so, da? ich in der Schule einen Vortrag halten möchte über Segelschiffe. Darum bitte ich Sie, mir - wenn es geht - einige vergangene Seemannskisten zu schicken, damit ich mit Ihrer Hilfe einen hochkarätigen Vortrag halten und noch mehr Leute auf den Geschmack bringen und auf Ihre Serie aufmerksam machen kann. Ich wäre überglücklich und danke Ihnen im voraus für Ihr Verständnis. Ich hoffe auch sehr, daß Weitermachen wie bisher Ihr Vorsatz ist, denn die Romane sind wirklich toll. Mit einem donnernden Arwenack verabschiedet sich Ihr treuer Leser - M E Sehr herzlichen Dank für Ihr Lob, lieber M E . Aber wir sind sehr betrübt, daß wir Ihre Wünsche nicht erfüllen können. Die Karte zu der zweiten Weltumsege-
lung der „Isabella VIII." ist bei uns leider vergriffen, und eine Zweitauflage ist nicht in Sicht. Auch zum Vortrag über Segelschiffe können wir Ihnen keine „Schützenhilfe" leisten. Wir haben zwar ArchivExemplare vergangener Seewölfe-Romane, aber Sie werden sicherlich Verständnis aufbringen, daß wir aus diesen Heften nicht die Seemannskiste herausreißen können. Und um Fotokopien anzufertigen müßten wir wissen, was Sie besonders interessiert (und in welcher Nummer der Seewölfe das enthalten ist, was Sie für Ihren Vortrag brauchen!). Ganz bescheiden möchten wir jedoch anmerken, daß wir mit unseren Seemannskisten nun wirklich nicht die einzigen sind, die etwas über die Seefahrt herausbringen. Da gibt es von sehr kompetenten Verlagen einschlägige Werke über die Seefahrt, aus denen Sie mehr herausholen können als aus unseren kleinen Seemannskisten, die zwar allmählich auch ein Buch füllen würden, aber doch immer nur ein kleiner Abriß von diesem oder jenem Detail sind. Diese Absage bezieht sich leider auch auf jene Leser, die sich von uns Baupläne von Schiffen wünschen und dabei vergessen, daß wir kein Fachverlag auf dem Gebiet der Seefahrt sind. Gern beantworten wir hier im Forum fachbezogene Fragen (soweit wir dazu in der Lage sind), aber als kleine Redaktion einer Seeabenteuer-Serie müssen wir die Kirche im Dorf lassen und können nur auf die „Großen Brüder" verweisen. Das sind der Verlag Delius, Klasing & Co. in Bielefeld und Koehlers Verlagsgesellschaft mbH in Herford. Über größere Buchhandlungen kann man erfahren, was diese beiden Verlage alles herausbringen - oder auch Prospektmaterial erhalten. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern zwei Arten von Schratsegeln vor, also Segeln, die in Längsschiffsrichtung gesetzt und gefahren werden. A ist ein Stagsegel, B ein Gaffelsegel. Mit Stagsegel bezeichnet man alle an einem Stag gefahrenen Segel. Dazu zählen bei größeren Segelschiffen üblicherweise die vier vor dem Fockmast gefahrenen (von innen nach außen) Vor-Stengestagsegel, Binnenklüver, Klüver und Außenklüver sowie die zwischen Vormast und Großmast (z.B. bei der Schoner-Brigg) gefahrenen (von unten nach oben) Groß-Stagsegel (auch Deckschwabber genannt), Mittel-Stagsegel, Groß-Stengestagsegel und Groß-Bramstagsegel. Die Stagsegel haben einen dreieckigen Schnitt. Gaffelsegel - der Name sagt es - werden an einer Gaffel gefahren und ausgespreizt. Sie sind mit ihrer oberen Kante, dem Gaffelliek, mittels einer Reihleine an der Gaffel angeschlagen, ebenso mit ihrem Vorliek am Mast und häufig mit ihrem Unter- oder Fußliek an einem Baum. Entfällt der Baum, dann spricht man von einem „fliegend" gefahrenen Gaffelsegel, wie das häufig auf Fischkuttern der Fall war. In diesem Fall konnte das Gaffelsegel mehr oder weniger bauchig oder auch flach getrimmt werden. Die Nummern bedeuten: A - 1 Kopf oder Fallhorn (häufig als Brettchen ausgebildet), 2 Hals oder Halshorn, 3 Schothorn (hier wird die Schot angeschlagen), 4 Stagkante, 5 Voriiek oder Stagliek, 6 Achterkante, 7 Hinterliek oder Achterliek, 8 Fuß, 9 Fußliek, 10 Bauchband (zur Verstärkung gegen den Schotzug), 11 Kopflegel (Auge mit Kausch, an dem das Fall angeschlagen wird), 12 Halslegel, 13 Schothornring. B -1 Klauohr, 2 Piekohr oder Nockhorn, 3 Hals oder Halshorn, 4 Schothorn, 5 Kopf, 6 Gaffelliek, 7 Mastkante, 8 Voriiek, 9 Hinterkante, 10 Achterliek, 11 Fuß, 12 Fuß- oder Baumliek, 13 erstes Reffband, 14 zweites Reffband, 15 Schwichtreffband, 16Klauohrlegel, 17 Pieklegel, 18 Halslegel, 19 Schothornlegel, 20 Refflegel.
37 schern und zu lärmen an. Nach den ungezählten Tagen auf See rief der erste Aufenthalt hier in der Neuen Welt eine Stimmung unter den wettergegerbten Seewölfen hervor, die sie nicht nur innerlich beruhigte. Die Familie Fletcher war vom Glück überwältigt. David Fletcher stand auf dem Grätingsdeck, hielt Susan in seinen Armen und lachte breit. Susan merkte nicht, daß sie lautlos weinte. Roebuck hielt sich am Rock der Mutter fest und wußte nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Er war noch nicht ganz wach. Sarah lehnte neben Little John am Schanzkleid und schaute wie er dem Boot nach, das den Wasserfall fast erreicht hatte. Das Wasser prallte nach einem freien Fall von drei, vier Faden auf einen abgesplitterten Felsblock, spritzte nach allen Seiten und lief dann in breiter Fläche über das Gestein in die Bucht. Der Bug des Bootes knirschte auf grobem Geröll, als Ferris Tucker an Land sprang und nach der Vorleine griff. Ein Vogelschwarm flatterte auf, während Ferris die Leine um einen anderen Felsen belegte. Überaus deutlich waren die Zurufe zu hören, mit denen sich die Seewölfe verständigten. Nacheinander verließen sie das Boot und transportierten die Behälter bis zum Wasserfall hinaus. Nachdem Stenmark und Blacky angefangen hatten, die Tonnen und Fässer zu putzen, sicherte Don Juan auf dem obersten Punkt des Steinhaufens und winkte kurz zur Schebecke hinüber. Je zwei Mann bahnten sich nach rechts und links einen Weg durch das Unterholz. Batuti war bei der linken, Big Old Shane, einen Pfeil aus dem Köcher ziehend, bei der anderen
Jagdgruppe. Sie blieben immer wieder stehen und rührten sich nicht, aber auch aus der Nähe fanden sie keinen versteckten Gegner. Die vollen Behälter wurden ins Boot zurückgeschleppt. Don Juan hatte eine Möglichkeit gefunden, auf der Rückseite des Felsens neben dem schmalen Wasserlauf in den Wald einzudringen. Er glitt zwischen Büschen und bizarr gewachsenen Stämmen auf einem nassen Teppich aus Nadeln in den triefenden Wald, bemerkte einen Tierpfad und kehrte nach einem kurzen Spurt wieder zurück. „Alles in Ordnung!" rief er zu seinen Kameraden hinunter. „Bringt das Wasser unserem ungeduldigen Koch. Ich passe hier auf. Nichts zu sehen." „Gut so." Sie hörten nicht viel von den Gruppen der Jäger. Wenn es hier Wild gab, und daran zweifelte keiner, dann würden die Tiere vor den Menschen nicht erschrecken und leicht zu schießen sein. So schnell wie möglich wurde das Boot zurückgepullt. Das Wasser war schnell an Deck, dann enterten Philip Junior und Mac O'Higgins, der Ire, zu den anderen und waren nach ein paar Minuten dort verschwunden, wo die zweite Gruppe der Jäger den Wald betreten hatte. Die Sonnenstrahlen hatten jetzt den größten Teil der Bucht erreicht, und an Deck der Schebecke wurde es wärmer. „Wann erwartest du die Galeonen, Sir?" fragte der Erste nach einer Viertelstunde, während der sie auf den Knall des ersten Schusses warteten. „Nicht vor dem späten Nachmittag", erwiderte der Seewolf bedächtig.
38 „Wie wir versprochen haben - drüben am kleinen Kap schichten wir einen Holzstoß auf und signalisieren mit einer Rauchsäule. Ich habe nicht vor, ein Geschütz abzufeuern." „Zuviel Krach." David Fletcher nickte und strahlte über das ganze Gesicht. Seine Frau blinzelte glücklich in die Sonne. „Er würde die Beute verscheuchen." „Stimmt genau, Dave", entgegnete Hasard. „Ihr fühlt euch wohl, nicht wahr? Man sieht es." „Diese schauerliche, verdammte Seefahrt in der Galeone ist überstanden. Und wir haben unseren Vorrat an Glück wahrscheinlich aufgebraucht", sagte David voller Ernst. Ben und Hasard schüttelten nachdrücklich ihre Köpfe. „Noch lange nicht. Schaut uns an. Wir segeln schon so lange, und wir leben immer noch." „Ihr seid geborene Seeleute. Wir sind es nicht", beharrte die Frau. „Ich werde wieder unseren Köchen helfen. Die Seewölfe sind sicher hungrig, wenn sie zurückkehren." „Hoffe, daß sie als Jäger so gut sind wie als Seeleute", sagte David. „Braucht keiner meine Hilfe?" „Vielleicht nachher", erwiderte Dan. „Wenn es darum geht, das Wild aufzubrechen." „Ich bin dabei." Der Rest der Crew war an Deck versammelt und wärmte sich an den Sonnenstrahlen in der nahezu völlig windstillen Bucht. Der tiefste Stand der Ebbe war offensichtlich erreicht. Sie konnten kein weiteres Sinken des Wasserspiegels mehr feststellen. Das Boot lag ruhig neben dem Felsen, der wie ein runder Buckel zwischen dem Uferbewuchs und dem Wasser aufragte, zum Teil vom Quellwasser übersprudelt. Inzwischen hat-
ten sich dort wieder kleine, rotbrüstige Vögel versammelt. Sie flatterten trinkend und badend zwischen den Tropfen umher und vollführten ein schrilles Konzert. Von den Jägern hörten und sahen die anderen nichts. Der Wald hatte sie verschluckt. Ab und zu ertönte ein gellender Schrei, vermutlich von einem Raubvogel. Hin und wieder schienen helles Knacken und das Geräusch, mit dem Metall gegen Metall klirrt, den Ort zu verraten, an dem sich ein jagender Seewolf befand. Eine Stunde verging, ohne daß etwas passierte. Die Schebecke wurde von der Strömung, die nur sehr gering war, ganz langsam zurückgedrängt. Das Heck näherte sich der Stelle, an der das Boot belegt war. Eine weitere halbe Stunde schlich dahin. Nur die Köche und Susan schienen ernsthaft zu arbeiten. Alle anderen an Deck klarten das Schiff auf und pusselten ohne Begeisterung herum. Meist starrten sie zu den Ufern der Bucht hinüber und warteten auf ein Wunder oder irgend etwas anderes. Dann peitschte in großer Entfernung der erste Schuß auf. Widerhall und leise Echos rollten über das glatte Wasser. Ein Doppelknall erschütterte die Ruhe. Vogelschwärme flatterten an mehreren Stellen auf. Auf der Schebecke nickten sich die Seewölfe zu, murmelten miteinander und warteten auf das nächste Schußgeräusch. Es folgten noch drei weitere Musketenschüsse und zwei Schüsse aus Pistolenläufen. Das wilde Geschrei und die Laute der aufgeregten Tiere, die in den Büschen herumsprangen, wichen einer überraschenden Ruhe. Hasard zerkaute eine unverständli-
39 che Bemerkung zwischen den Zähnen und sagte nachdenklich: „Entweder reiche Beute oder Ärger mit den Eingeborenen. Gleich wissen wir es." Sie mußten noch knapp eine halbe Stunde warten, dann tauchte die breitschultrige Gestalt Carberrys auf. Er trug einen kleinen Hirsch auf den Schultern und hob den Arm. Sein Winken bewies, daß es keinen Ärger mit den Indianern gegeben hatte. 6. Hasard winkte zurück. Die Seewölfe schrien begeistert, und als Ferris Tucker zwischen den Büschen erschien, sahen sie, daß er mindestens drei kleinere Tiere mit sich schleppte. Es war Rotwild, Rehe oder junge Böcke. Die Männer stapften zum Boot und ließen die Beute von den Schultern rutschen. „Sir?" Dan wandte sich an den Seewolf und war sicher, einen guten Einwand anzubringen. „Du denkst daran, wie das Schiff aussieht, wenn wir die Fleischhauerei hier betreiben?" fragte Hasard zurück. „Genau das. Ich habe einen Vorschlag." „Ja?" Dan zeigte dem Seewolf, was er meinte. Das vorspringende Felskap lag jetzt im vollen Licht der Morgensonne. Zur Bucht hin erstreckten sich vor den flachen Felsen kleine Streifen aus weißem Geröll in jeder Größe. Am Ende der Landzunge wuchsen zunächst verkrüppelte Nadelgewächse, weiter landwärts erstreckten sich dichte Büsche, anschließend wurden die Laub- und Nadelbäume größer und wuchtiger, bis
ihre Stämme und Kronen zum Uferwald verschmolzen. Oberhalb der Brandungslinie lagen große, ineinander verfilzte Haufen aus Treibholz. Sie sahen wie Berge aus gebleichten Knochen von rätselhaften, riesigen Wesen aus der Tiefe des Atlantiks aus. „Darüber hinaus", schloß Dan seinen Vorschlag ab, „hätten die beiden Galeonen keine Schwierigkeiten, vor Anker zu gehen und ihre Leute auszubooten. Das ist der beste Platz, glaube ich, Sir." „Ich sehe auch keinen besseren", meinte der Seewolf zufrieden und suchte das gezeigte Gelände durch das Spektiv ab. „Einverstanden." Carberry und Ferris Tucker, Blacky und Stenmark ruderten das schwerbeladene Boot auf die Schebecke zu. Als sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, schrie Hasard zum Boot hinüber: „Bringt das Fleisch auf die Felsen dort drüben. Schafft alles dorthin, was ihr erlegt habt. Klar?" Das Boot änderte seine Richtung. Der Profos rief zurück: „Verstanden, Sir! Da kommt noch mehr nach. Die Bogenschützen waren ebenfalls erfolgreich!" Das Boot fuhr dreimal hin und zurück. Dann befand sich die gesamte Beute auf den Felsen. Von Bord der Schebecke enterten ein paar Seewölfe mit dem entsprechenden Werkzeug und der Ausrüstung ins Boot. Auch Susan ließ sich die Jakobsleiter hinunterhelfen. Ein Stunde später hallten Axtschläge und das Kreischen der Sägen über die stille Bucht. Ein Feuer brannte, während die Crew die Beute aufbrach, aus der Decke schlug und in handliche Stücke zerteilte.
40 Die gefällten Bäume wurden in anderen Rand der Felsfläche und Kloben zersägt. Der Kutscher und warfen sie in die heranrollende BranMac Pellew, zusammen mit Susan dung. Fische, Raben und Raubvögel Fletcher, schafften Salz und Gewürze würden nach kurzer Zeit alle Spuren auf die Felsen und stellten die Roste beseitigt haben. auf. Zuerst brannte der Holzstoß mit Don Juan, einen großen Becher voleiner gewaltigen Rauchwolke, die ler Tee in den Fingern, schlenderte zu hoch in den sonnigen Himmel stieg, Batuti und Big Old Shane hinüber, dann entwickelte sich hellrote Glut. die ihre Pfeile säuberten und neue Paddy Rogers musterte die vielen Spitzen an jenen Pfeilen befestigten, Fleischbrocken und die Speckstrei- die sie aus der Beute herausgeschnitfen, die nach und nach eingesalzen, ten hatten. mit und ohne Knochen, auf die Roste „Philip hat recht", sagte er und gelegt wurden. nahm einen Schluck von dem gesüß„Also", sagte er zu Philip junior lü- ten, mit Rum verbesserten Getränk. stern, „für uns reichen sie bestimmt, „Das Zeug wird nicht reichen. Die die Appetithäppchen." Crews und die Auswanderer werden „Bist du verrückt?" rief Susan und über den Braten herfallen wie ausgelegte eine Rehkeule dazu. „Das soll hungerte Wolfsrudel." für beide Schiffe reichen." „Heißt das, daß wir noch einmal „Das wage ich zu bezweifeln", er- losziehen müssen?" klärte Don Juan mit Kennerblick. Der Gambiamann blickte auf und „Wir müssen ganz sicher noch einmal sah, daß der Spanier nickte. ausschwärmen." „Der Kapitän soll das entscheiden", Treibholz und frisch gefällte Baumantwortete er. „Aber - das sind mehr stämme wurden in unterarmlange als dreihundert Leute." Stücke gesägt und gehackt. Eine „Da hast du wohl recht", brummte Stunde später lag ein mächtiger Holzstapel unweit der Gluthaufen. Den Big Old Shane. „Wenn wir erst einSeewölfen fiel es leicht, einen kleinen mal unser Mittagessen hinter uns haAnlegesteg zu zimmern, an dem das ben . . . " Wieder legte das Boot an und Boot schneller und leichter ausgeladen werden konnte. Schließlich wür- brachte einige Männer und Vorräte den sich hier in wenigen Stunden ei- auf die Landzunge. Es würde für jenige hundert Menschen befinden. den Kranken und jeden Gesunden geAn den Dreibeinen hingen die Kes- nügend zu trinken geben. Ob es nun sel, in denen das frische Teegebräu Wein war, mit frischem Quellwasser gemischt, oder der kräftige heiße Tee der beiden Köche brodelte. Rauch und Funken, der Hall der Ar- oder nur einfach klares Wasser, blieb beitsgeräusche und der Geruch des unwichtig. Bratens, Gelächter und Zurufe - alles Auf einem Tisch, den sie von Bord bildete zusammen eine Szene, die je- geschafft hatten, bereiteten Susan den Betrachter dazu gebracht hätte, Fletcher und die Köche weitere Braan ein vergnügtes Fest zu denken. tenstücke vor, schnitten die vorletzte Aber alles andere war richtig. Die Speckseite in dünne Scheiben und Seewölfe arbeiteten hart und schnell. hantierten mit den Gewürzen und Sie trugen die Abfälle der Beute zum dem klumpig gewordenen Salz. Die
41 Sonne brannte auf die Seewölfe hinunter. Die Ankerwache, die an Deck der Schebecke zurückgeblieben war, ließ sich von der scheinbaren Fröhlichkeit nicht anstecken. Die Drehbassen blieben in den Halterungen, neben dem Becken mit glimmender Holzkohle steckte der Luntenstab. Geladene Musketen standen, mit kurzen Enden angebändselt, am Schanzkleid. Immer wieder peilte Hasard durch sein Spektiv und kontrollierte jede Bewegung am Waldrand. Jeder Laut, der irgendwie fremd klang, brachte ihn dazu, in die festgestellte Richtung zu blicken. Aber meist war es nur Rotwild, das unweit der herabstürzenden Quellwasserstrahlen oder weiter am trichterförmigen Mündungsteil des Baches aus dem Gebüsch trat und die Schnauzen ins Wasser steckte. „Ein gutes Zeichen", sagte er zu Al Conroy. „Das bedeutet, daß es keine anderen Jäger außer uns gibt. Und daß das Wild nicht scheu ist. Wir können Vorräte brauchen." „Wann tauchen endlich die Galeonen auf, Sir?" fragte der Stückmeister. „Hast du etwa Sehnsucht nach Drinkwater und Toolan?" fragte der Seewolf. Wieder wurde das Beiboot von dem kleinen Steg auf die Schebecke zugepullt. Hasard zählte neun Gestalten. „Nach den beiden am wenigsten, Sir", erwiderte Al Conroy kopfschüttelnd. „Ich denke an unsere vielen Sorgenkinder." „Genau das tun unsere Freunde auch, schätze ich", meinte der Seewolf und drehte Al Conroy halb herum. „Sie haben sich entschlossen, wie
du siehst, noch einmal auf Jagd zu gehen." „Wird auch Zeit!" rief Old Donegal. Er hockte in der Plicht, hatte seine Arme um die Schultern der Fletcherkinder gelegt und unterbrach seine Geschichte. Bisher schienen sie sein Seemannsgarn geglaubt zu haben. „Vielleicht denkt jemand daran, daß wir hier mit knurrendem Magen herumsitzen." „Die Braten sind sicher noch nicht fertig. Kannst ja rüberschwimmen, Admiral!" rief der Profos, als das Beiboot längsseits ging. „Wir besorgen mehr Fleisch." „Je mehr, desto besser", verkündete Old Donegal. Hasard rief zu den Jägern hinunter: „Für die nächsten Tage muß auch für uns Proviant bleiben. Wenn die Crews der Galeonen wieder fest auf den Beinen stehen, können sie sich selbst darum kümmern. Alles in Ordnung dort drüben?" „Aye, Sir!" rief Carberry zurück. „Alle helfen den Köchen! Mac kann sich nicht beklagen." „Ich auch nicht. Wie sagt man zu den Jägern? Waidmannsheil, nicht wahr?" „Oder so ähnlich", erwiderte Don Juan und zog den Schaft des Riemens kraftvoll zu sich heran. Leise schob sich das Beiboot auf die Mitte der Bucht zu, streifte durch die zitternden Wasserpflanzen und tauchte in das Halbdunkel der schattenwerfenden Baumkronen von der Bachmündung. Diesmal dauerte es mehr als zweieinhalb Stunden, bis die erste Beute an Bord war. Sie mußten das Boot, das schwer im Wasser lag, fünfmal zu den Felsen verholen. Der Kutscher stemmte seine fettigen Hände in die Seiten, schüttelte
42 den Kopf und sagte bewundernd: „Wenn das nicht reichen sollte, verstehe ich nichts vom Braten."
Dan O'Flynn beobachtete die Länge des Schattens, den seine Hand mit dem Bratenstück warf. „Zwei Stunden nach Mittag", murmelte er undeutlich und kaute nachhaltig. Der Braten, dessen Fleisch allzu frisch war, schmeckte ausgezeichnet, aber war notgedrungen ein wenig zäh. „Die Galeonen sollten sich inzwischen zeigen." Neunundzwanzig meist größere, schwere Tiere waren erlegt worden. Die Ablösung fing an, die Beute zu zerlegen. Unermüdlich, mit nacktem Oberkörper und schweißüberströmt, schufteten die Köche. Zugleich mit der nächsten Ankerwache, die sich sattgegessen hatte, war auch schon Proviant zur Schebecke gebracht worden. Hin und wieder warfen die Seewölfe auf das größte Feuer die Äste und Blätter der frischgefällten Bäume. Daraufhin stieg eine große, dicke Rauchsäule auf, die von See aus klar wahrzunehmen sein sollte - wenn sich die „Explorer" und die „Pilgrim" in nicht zu großer Entfernung befanden. „Fast Windstille", sagte Hasard junior zu Dan. „Wird wohl noch eine Weile dauern, bis die Schiffe in Sicht sind." „Auf See sieht's vielleicht ganz anders aus", meinte Dan. „Wir warten auf jeden Fall an Ort und Stelle. Eine bessere Ankerbucht hätten wir nicht finden können." Die Freiwache ging allerlei nützlichen Beschäftigungen nach. Die Seewölfe rasierten sich, wechselten ihre
Kleidung, nachdem sie sich im kalten Brackwasser gewaschen hatten, klarten das Schiff auf oder lagen faul in der Sonne. Große Raubvögel kreisten über dem Gebiet, und wenn die Männer die Abfälle in die Wellen warfen - längst war die Flut gestiegen -, stürzten sie wie Steine aus dem Himmel. Ein kaum spürbarer ablandiger Wind wehte den Rauch auf den Atlantik hinaus und kräuselte die Oberfläche der großen Bucht. Aus dem Wald, viel weiter entfernt als zuvor, ertönten die Geräusche der Musketenschüsse. Plymmie jagte weiter oben im Unterholz und versuchte, die Tierchen zu schnappen, die sie aufgestöbert hatte. Aber die Erdhörnchen, oder was immer sie erschnüffelte, waren schneller. Sir John hockte auf einer Rahrute, schimpfte krächzend vor sich hin und lüftete sein Gefieder, indem er in kurzen Abständen wie ein Verrückter mit den Flügeln schlug. Er ließ sich nicht von Arwenack stören, der seit vielen Tagen die Takelage der Schebecke wieder als Ersatz für Äste und Lianen entdeckt hatte. „Ein schönes Plätzchen!" rief Luke Morgan, der mit den Armen voller Holzknüppel an Dan vorbeistolperte. „Aber nichts für uns auf die Dauer." Dan nickte und warf den Knochen ins Feuer. „Stimmt. Keine Schenken, kein Bier, keine Mädchen. Nicht einmal rothäutige Indianerinnen." Unter einer Krüppelkiefer schnarchte Matt Davies. Little John und Sarah waren auf Entdeckungen aus und streunten dort durch den Uferwald, wo die Bordhündin aufgeregt kläffte. „Aber auch keine wütenden Brüder
43 und Männer von Indianerinnen", sagte Luke und warf das Holz krachend auf den Stapel neben der Glut. Aus den vielen Fleischabfällen bereitete Mac Pellew eine dicke Suppe. In anderen Kesseln kochten Markknochen im gesalzenen Wasser. Eingesalzene Bratenstücke wurden sorgfältig in Leinwand eingenäht und an Enden aus geflochtenem Garn befestigt. Das Boot wurde ein paarmal zwischen der Quelle und dem Schiff hin und her gepullt. Schließlich war der gesamte Frischwasservorrat aufgefüllt - in sorgfältig gereinigten Behältern. Kurze Zeit später tauchte Smoky aus dem Wald über den Felsplatten auf und meldete: „Sir, nichts zu sehen. Absolut nichts habe ich gepeilt. Nur Vögel und Wellen." Er hatte den höchsten Punkt des Landvorsprunges erklettert und lange Zeit versucht, die Mastspitzen der Galeonen zu entdecken. Hasard hob seine Schultern. Gegen die stechende Sonne hatte er seine Haut eingeölt. „Wenn sie bis zum Abend nicht hier sind, bleibt eine Wache beim Feuer und sorgt dafür, daß unser Signal nicht ausgeht." „Signalfeuer, Sir. Das müssen sie sehen", bestätigte der Decksälteste. „So wie wir heute nacht: es gibt nirgendwo an der Küste ein Licht." Drüben an der Quelle, im eiskalten Wasser, badeten Sven Nyberg und Jan Ranse. Dan schüttelte sich beim Gedanken an ein solch kaltes Bad. An Deck der Schebecke trockneten Tücher und Hemden im heißen Nachmittagswind. Aus dem Wald ertönte ein langgezogenes, markerschütterndes Brül-
len. Alle fuhren auf und starrten hinüber, ohne etwas zu sehen. „Wahrscheinlich ein Bär!" rief der Seewolf. Die ersten großen Wolken tauchten hinter dem dunklen Wald auf, ballten sich zusammen und trieben ostwärts. Ben Brighton ließ die Schiffsglocke anschlagen. „Wieder eine halbe Stunde um", bemerkte der Seewolf. „Ich verhole an Bord, klar?" Dan öffnete ein Auge, blinzelte und erwiderte schläfrig: „Aye, aye, Sir." Zugleich mit zwei gesäuberten Eisenrosten, einem Faß voller dicker, warmer Suppe und einigen aus der Jägergruppe pullte Hasard hinüber zur Schebecke. Er konnte sich, ohne einen Zwischenfall befürchten zu müssen, in seine Koje legen. Erstens hatte er einen leichten Schlaf, zweitens würde er mit großem Lärm geweckt, wenn die Galeonen endlich eintrafen. Seine Seewölfe wußten, was sie zu tun hatten. Er nickte anerkennend, aber keineswegs verwundert, als er sah, wie sauber aufgeklart das Deck des Schiffes war. Ein paar Minuten später lag er im kühlen Halbdunkel und streckte sich aus. Wo blieben die beiden Schiffe? Hatte es auf See ein neues Drama gegeben? Feuer an Bord? Eine Meuterei der Halbverhungerten? Oder lagen sie ohne Fahrt in einem Kalmenloch? Wenn Hasard die Form und Größe der Wolken richtig deutete - so waren seine letzten schläfrigen Gedanken -, dann war in der Nacht ein Gewitter durchaus vorstellbar.
44 Die Ankertrosse knarrte und knirschte leise. Auf dem Wasser der Bucht erschienen in kurzen Abständen zungenförmige Streifen, die von harten, kurzen Windböen verursacht wurden. Vor dem bleichen Mond trieben die Wolken nach Osten. Die Schebecke schwoite fast ohne Geräusche um den Anker. Die breiten Flunken hielten unverrückbar. Ab und zu scheuerte das Beiboot an den Planken der Schebecke. Die Lichter der beiden Laternen spiegelten sich zwischen Schiff und Buchtende. Unzählige Nachtschwärmer und Insekten flatterten um die weißgelben Flammen. Die Zwillinge und Little John saßen auf der Kante des Grätingdecks und hielten sich ab und zu, wenn der Schiffsrumpf schaukelte, an den Belegtampen der Ruderpinne fest. „Sturm kommt auf", meinte der junge Fletcher. „Sag mal, ist das immer so an Land?" „Was meinst du?" fragte Jung Hasard leise. „Wie vorhin", erwiderte der junge Fletcher, der auf dem besten Weg war, sich zu einem geschickten Schiffsjungen zu mausern, „als wir an Land gegangen sind. Die festen Felsen haben gewackelt und geschwankt wie das Schiff auf den Wellen." „Das ist immer so", erklärte Philip. „Immer und überall, wenn einer nach langer Seefahrt an Land geht. Ich weiß auch nicht, warum das so ist." „Vielleicht glaubt der Verstand, daß sich unsereiner an Land auch so bewegen muß wie auf den Planken", versuchte Hasard eine andere Erklärung zu geben. „Ist es schlimm?" In der Dunkelheit schüttelte Little John den Kopf. „Nein. Fiel mir nur auf.''
Vier Mann, ausreichend bewaffnet, wachten bei den Werkzeugen und dem Signalfeuer. Die Flammen loderten auf halber Höhe der ansteigenden Felsplatte, von der Brandung und dem Waldrand gleich weit entfernt. Immer wieder wirbelte der Wind riesige Schauer weißer, glühender Funken in die Hohe. Im Westen wetterleuchtete es zwischen den Wolken. Der Posten Vorschiff, Paddy Rogers, kam leise, mit ruhigen Schritten, zu den dreien auf dem Achterdeck. „Die beiden Kapitäne lassen sich reichlich Zeit", sagte er unbehaglich. „Meinst du, daß euer Vater ankerauf geht und nach den Galeonen sucht?" In das dumpfe Geräusch, mit dem das Heck der Schebecke sich in die kleinen, aufgeregten Wellen zurücksenkte, mischte sich ein leises Rumpeln und Poltern. „Donner?" fragte Little John. Er fürchtete in dieser Bucht weder Blitz noch Gewitter, obwohl ein Schiff auf Legerwall übler dran war als im Sturm auf hoher See. Aber er wußte es nicht besser. „Ja. Nachtgewitter", antwortete Hasard. Sein Bruder erwiderte: „Dad hat zu mir gesagt, daß es vernünftiger sei, wenn die Galeonen entlang der Küste segeln. Sie finden uns hier leichter als umgekehrt." „Das stimmt!" rief Paddy unterdrückt. „Dort! Schaut zum Feuer! Sie haben etwas gesehen." Die Wache an Land sprang und lief vor der Helligkeit der Flammen hin und her. Die Männer waren aufgeregt. Dann versammelten sie sich auf der abgewandten Seite des Signalfeuers, und einer von ihnen turnte über die Felsen zum Ausguckplatz aufwärts.
46 Drei Atemzüge später peitschte der Knall eines Pistolenschusses hinüber zur Schebecke. „Sie sind da, endlich", sagte Little John erleichtert. „Noch nicht ganz", berichtigte Philip junior. „Sie sind draußen auf See gesichtet worden." „Also steckten sie doch in einer Flaute", brummte Paddy. „So, wie wir uns gedacht haben." „Sie werden es uns erzählen." Hasard junior nickte. Einige dunkle Gestalten erschienen ohne Eile an Deck. Die Wache am Feuer legte einige Kloben in die Flammen. Das Donnergrollen wurde lauter, das Gewitter und die ersten Blitze schoben sich näher. Little John erkannte Ben Brighton, dessen jüngeren Bruder Roger und seinen besonderen Freund Old Donegal. „Was soll der Lärm? Sind sie schon da?" erkundigte sich Old Donegal. Er schaute sich um und gab sich selbst die Antwort. „Und wenn sie da sind, werden sie jede Menge Hunger haben." „Den haben sie schon jetzt." Das Deck der Schebecke füllte sich nach und nach mit halb ausgeschlafenen Arwenacks. Sie warteten und klarten das Beiboot auf. Schließlich schoben sich, während die Blitze hinter dem Wald einschlugen und der Donner krachte, die Lichtpünktchen der Schiffslaternen, langsam von Backbord nach Steuerbord schleichend, hinter dem Feuer auf die Einfahrt der Bucht zu. Erst sehr viel später, als schon die ersten Regentropfen schwer auf das Deck schlugen, zeigte das Aufflakkern des kreidigen Lichtes die beiden Galeonen. Den nächsten Blitz und die folgenden, die plötzlich rings um die Bucht
und selbst ins Wasser einschlugen, waren die besten und kräftigsten Leuchtfeuer für die „Pilgrim" und die „Explorer". Mit gekürzten und backgebraßten Segeln, das Deck voller schuftender Mannen, walzten die Galeonen heran und warfen in der Mitte des Wasserkreises die Anker. Der Kern des Gewitters erreichte den Ankerplatz. Blitze zuckten, und schwere Wassergüsse eines wunderbar kühlen Regens prasselten herunter, während der Donner die Männer fast taub werden ließ. An Bord der Galeonen standen die Passagiere da, fingen das Wasser auf und tranken, ließen sich naßregnen und schrien vor Freude. Die Seewölfe drängten sich unter dem ausgespannten Besansegel zusammen, schauten zu den Galeonen hinüber und warteten darauf, daß das heftige Sommergewitter ebenso schnell auf See hinausziehen würde, wie es erschienen war. Schließlich knurrte der Profos: „Affenärsche! Ich hab's ja gewußt. Nachtarbeit für uns Seewölfe." Aber er mußte selbst lachen, als Little John begeistert „Arwenack!" schrie. 7. Mac Pellew hantierte mit saurer Miene unter dem Achterdeck und versuchte, seine dicke Suppe heiß zu kriegen und zu verhindern, daß sie anbrannte. Von den Galeonen wurden die Beiboote mit viel Lärm und sehr umständlich abgefiert, während das Regenwasser sie langsam zu füllen begann. Regenwasser ließ auch das Besansegel der Schebecke schwer werden
47 und bildete in der durchhängenden Mitte, genau über den Köpfen der Seewölfe, eine Pfütze. Sie wurde größer und zog das Segelleinen straff in Falten. „Jetzt fängt das wilde Durcheinander an!" rief Hasard zwischen zwei langgezogenen Donnerschlägen. „Morgen mittag wird es zu Ende sein", murmelte Old Donegal und spähte zu den Galeonen hinüber. Der Jubel unter Mannschaft und Passagieren war groß, aber das Gewitter trieb sie wieder unter Deck. Es war nicht möglich, Fackeln anzuzünden. Die Crews geiten die nassen Segel auf und ließen sie in den Gordings hängen. Zwischen den schweren Regengüssen wehten harte Windstöße aus dem Wald. Die drei Schiffe trieben langsam herum und lagen jetzt mit dem Heck zum Feuer an der Landzunge. „Wie gut", rief Susan Fletcher aus dem Zwischenraum des Achterdecks, „daß wir das Essen an Bord geholt haben! Alles wäre naß geworden und verdorben." „Und sie haben sich soviel Mühe gegeben", brummte der „Admiral". Er starrte in Richtung der Quelle und schüttelte den Kopf. Er rieb sich die Augen, plierte wieder dorthin, dann stieß er Jung Hasard an und sagte heiser: „Indianer!" Das Nachtgewitter hatte seine Kraft verloren. Der wütende Regen verwandelte sich in feine, sprühende Schleier, die über die Bucht fegten wie der Rand eines schweren Vorhangs. Es folgten Wellen von frischer, feuchter Luft. Die Pausen zwischen den einzelnen Regengüssen wurden länger. „So gut wie vorbei. Bemannt das Beiboot. Licht!" rief der Seewolf. Die Blitze und der Donner wüteten
jetzt draußen auf dem ufernahen Atlantik. „Ein Boot voller Wilder war es", erklärte, ohne daß ihn jemand gefragt hätte, Old O'Flynn. „Mindestens zwanzig Eingeborene", pflichtete ihm Jung Hasard bei. „Alle mit Bogen und Pfeilen bewaffnet." Der Wind brachte keinen Regen mehr mit sich und trocknete die Planken. Immer mehr einzelne Lichtkreise leuchteten durch das Dunkel über dem Wasser und spiegelten sich in der Bucht. Zwischen den Donnerschlägen, die von Minute zu Minute leiser wurden, ertönten wild durcheinander die Stimmen an Deck der Galeonen. Hasard verließ den Schutz der tropfenden Leinwand und ging zum Bug. Auf der Kuhl nahm er Ben Brighton die knisternde Fackel aus der Hand und grinste ihm ins Gesicht. „Wir haben inzwischen schon fast jede Rolle gespielt, Ben", sagte er. „Heute läßt sich feststellen, daß wir stets besser waren als die anderen." „Stimmt, Sir", entgegnete der Erste und gähnte ausdrucksvoll. „Und heute spielen wir die Retter von ein paar hundert Verzweifelten, mit Braten und Suppe und allem anderen. Auch dabei werden wir zeigen, wie verdammt gut wir sind." „Es fängt gerade an", antwortete der Seewolf und schwenkte die Fakkel über seinem Kopf. Die Hecks der Galeonen waren gut eine Kabellänge vom Bugspriet der Schebecke entfernt. „Kapitän Drinkwater, Käpten Toolan!" schrie Hasard. „Willkommen in der Neuen Welt! Seht ihr das Feuer drüben an Land?" Auch an Bord der Auswanderer-
48 schiffe wimmelte es von Fackeln und Tranlampen. „Danke, Sir Hasard", tönte es zurück. „Das Feuer ist nicht zu übersehen." „Bringt mit den Beibooten zuerst alle Passagiere zum Feuer. Dort teilen wir Essen aus. Anschließend sollen die Mannschaften und die Kranken an Land gebracht werden, und zwar vorsichtig. Alle Kranken. Wir bleiben ein paar Tage hier." „Verstanden, Sir Hasard. Wir fangen an. Einen schönen Ankerplatz habt ihr gefunden." „Wartet, bis es hell ist. Er ist ideal für den ersten Landfall." Als hätte ihnen die Ankunft der Schiffe ganz plötzlich eine neue Aufgabe gestellt, ließen sich die drei seltsamen Gentlemen wieder sehen. Bisher hatte es keinen Grund für Hasard und seine Crew gegeben, sich zu ärgern. Die Arbeit lenkte die Seewölfe ab, und Sir Godfrey, Alec Morris und Frank Davenport hatten ihnen sogar willig, aber wenig ausdauernd, sogar beim Baumfällen geholfen. Sie standen, nicht vollständig angekleidet, auf der Kuhl und unterhielten sich so leise, daß niemand etwas verstand. Aber es kümmerte sich auch kein Seewolf um die drei merkwürdigen Kerle. Sie waren und blieben Fremdkörper an Bord. Das Beiboot der Schebecke war schwer beladen. Mac Pellew, der Koch, David Fletcher und seine Frau kletterten zwischen die Duchten und packten die Riemen. Little John folgte und versuchte, mit einem kleinen Ösfaß das Boot zu lenzen, ehe er die Pinne packte. „Ablegen! Vorleine los!" rief er. Die Wache an Land - Carberry, Tucker und Matt Davies - war vor
dem heftigen Regen unter die Baumkronen geflüchtet. Jetzt stolperten sie wieder auf das heruntergebrannte Feuer zu und schichteten sorgfältig Holzstücke auf. In die auflodernden Flammen zerrten sie schließlich die entlaubte und entrindete Baumkrone, die im Treibholz gefunden worden war. Zwischen den Schiffen und der Landzunge breitete sich ein Streifen Helligkeit auf das Wasser aus. Dazu gesellten sich die vielen kleinen Lichter, die an Bord und in den Booten funkelten. Die Bucht schien ausgefüllt von Licht und Spiegelungen. Das Boot, dessen Inhalt für die Überlebenden so wichtig war, stieß an den knarrenden Hilfssteg. Carberry und Tucker traten hinzu und packten mit an. Susan kletterte als erste auf die nassen Holzabschnitte und rief: „Ihr müßt mir helfen, Edwin. Die hungrigen Leute trampeln uns sonst nieder." Sie packten die schweren Säcke und Fässer und hievten sie an Land. Little John packte die Tischplatte und schleppte sie aus dem Boot. Jeder wußte, daß keiner an Bord der Schebecke mehr schlafen konnte: in dieser Nacht würden sie richtig schuften müssen. Aber die Nacht war ja schon zur Hälfte vorbei. Weit draußen auf dem Ozean tobte sich jetzt das Gewitter aus. Die Blitze hatten sich in ein schwaches Wetterleuchten verwandelt, und der Donner war nicht mehr als ein fernes undeutliches Poltern. Carberry lachte dröhnend und erklärte: „Liebste Susan, ich zeige dir, wie man das regelt. Sie stellen sich in einer Schlange auf. Wer sich vordrängt, erhält nichts. Oder er emp-
49 fängt die Nachspeise von mir höchstpersönlich." Matt Davies grinste und schloß: „Den gefürchteten Profoshammer." „Genau den", sagte der Profos. Noch bevor das erste Boot der „Pilgrim" herübergepullt wurde, legte der zweite und letzte Verpflegungstransport beim Feuer an. Dann nahm die kleine Crew Kurs auf die Galeonen und ließ sich zwischen den Bordwänden in den Lichtschein treiben. Little John rief zum Schanzkleid hinauf: „Ihr braucht Frischwasser. Fiert ein paar Fässer ab. Dann zeigen wir euch, wo die Quelle liegt. Ein paar Mann müssen uns helfen." Vorn und achtern des Bootes steckten brennende Fackeln in Löchern der Dollborde. „Verstanden! Wir kommen." Natürlich würde es lange dauern, bis alle Aussiedler und ein großer Teil der beiden Crews einigermaßen versorgt waren. Der Hunger trieb die Leute, die noch richtig arbeiten konnten, zu Höchstleistungen. Die Schiffe, die ruhig und sicher vor Anker lagen, verwandelten sich in lärmerfüllte Plätze, auf denen es vor Menschen wimmelte. Kommandos und Schreie, unzählige Geräusche, Flüche und Gelächter - ein geordnetes Durcheinander erfüllte die Bucht mit Lärm. „Herunter mit euch! Wir helfen!" schrie Little John durch den Radau. Von oben wurden stinkende Fässer und muffig riechende, schleimbedeckte Tonnen abgefiert. Eine Gruppe von sechs Seeleuten enterte ab. Die Leinen wurden losgeworfen. Das Boot wurde zwischen den Galeonen auf das Ufer zu gepullt. Die „Landratte" Little John erklärte den Seeleuten, was für eine tolle Quelle sie gefunden hätten.
Dorthin steuerte er das Boot. Während sich die ersten Auswanderer am Feuer wärmten und Suppe, heißen Tee, Braten und Mac Pellews Brei herunterschlangen, erreichte das Boot die Felsplatte. Durch das laute Rauschen des Wassers rief Little John: „Hier könnt ihr alle Wasservorräte ersetzen. Auch die Fässer putzen, die Tonnen säubern - wir haben das schon hinter uns. Laßt euch Zeit." „Klar. Habt ihr jagen können?" fragte ein Seemann. Die Männer waren alle ausnahmslos unrasiert, mit struppigen Bärten, schmutzig und verwahrlost. Nicht nur ihre Kleidung starrte vor Schmutz und stank entsetzlich. Langsam schleppten sie die leeren Behälter von Bord und über die Felsen zum herunterplätschernden Wasserstrahl. „Bleibt hier!" rief ihnen Little John zu. „Wir pullen zurück zu eurem Schiff und holen Verstärkung. Hier, die Fackel." „Danke." Ein Bündel Lumpen und das Putzzeug flogen an Land. Das Boot legte ab und pendelte in der nächsten Stunde viermal hin und her, um leere Fässer gegen volle umzutauschen und Seeleute ans Ufer und zurück zu bringen. Die Beiboote der Galeonen verkehrten in dieser Zeit zwischen dem Feuer und den Galeonen. Die nächste Fahrt brachte Little John zurück zur Schebecke. Er kletterte an Bord und ließ die Arme hängen. „Jetzt soll mal ein anderer pullen", sagte er. „Ich habe mir eine Ruderpause verdient." Sofort wurde das Boot von acht Mann geentert, die noch einen Leinensack voller gebratenem Wild und ein kleines Faß Tee schleppten. Das
50 Deck der Schebecke leerte sich. Es gab nur noch wenige Schläfer unter Deck. Roebuck und Sarah gehörten dazu, der Lärm hatte sie nicht geweckt, denn sie fühlten sich mitten unter den Seewölfen geborgen und beschützt wie noch nie in ihrem Leben. Old Donegal zog den jungen Fletcher unter das vorspringende Unterdeck und drückte ihm einen Becher gewürzten Tee in die Hand. „Hast du die Indianer nicht gesehen, Little John?" fragte er gespannt. „Nicht einen von ihnen", erwiderte der Junge. „Du etwa?" „Genau. Ein langes Boot, sieben Mann. Mit Bogen und Pfeilen", antwortete Old Donegal. „Bei Mary Snugglemouse! Ich schwör's, mein Kleiner. Sie haben zum Fürchten ausgesehen." „Wo waren sie?" Das Gewitter hatte alle Nachtwolken weggeblasen. Die Sterne und der Mond strahlten kräftig. Der Regen hatte die Luft klar und durchsichtig werden lassen. Der Wald wirkte wie eine schwarze Mauer. Im milchighellen Kreis der Bucht zitterten die vielen Lichter. Die Menschen, die vor den Fackeln, Lampen und Feuern hin und her gingen, warfen gewaltige Schatten. „Drüben, Steuerbord von der Quelle", die Stimme des alten O'Flynn senkte sich zu einem geheimnisvollen Flüstern. Er zog Little John zum Schanzkleid und deutete zu den Fackeln der wasserholenden Mannschaft. „Tatsächlich Indianer?" fragte Little John. Er glaubte das Garn, das Old Donegal spann, nur zu einem Drittel. Wenn ein Schiff voller Leute ununterbrochen die Ränder der Bucht beobachtete und ein Teil tief in
die Wälder vordrang, dann sollte ausgerechnet Dans Vater ein Baumboot voller wilder Indianer gesehen haben? Und dazu noch mitten im Gewitter? „Also - Spanier waren es nicht", entgegnete Old Donegal. „Leute mit dunkler Haut. Mit runden Schildern und langen Lanzen." „Ich glaube, du hast etwas anderes gesehen und geglaubt, es wären bewaffnete Eingeborene", sagte Little John. Seine Worte klangen wenig überzeugt. „Ich weiß, was ich gesehen habe", beharrte der Alte und streckte ächzend sein Holzbein aus. „Bist du sicher?" „Absolut. Sie haben mit kurzen Paddeln gepullt, aber sich nicht an uns herangewagt." „Wie haben sie ausgesehen? Oder hast du das im kurzen Licht der Blitze nicht feststellen können?" wollte Little John wissen und trank genußvoll seinen Becher leer. Leise winselnd rannte die Bordhündin voller Unruhe vom Bug zum Heck und wieder zurück. Dort blieb Plymmie stehen, reckte den Hals und heulte leise zu den Schiffen hinüber. „Meine Augen sind fast so gut wie die von Dan", erklärte der „Admiral" ungerührt. „Du mußt wissen, ich sehe in der Nacht wie eine Eule." „Klar. Vermutlich besser." Das zerknitterte, faltenreiche Gesicht Old Donegals verzog sich zu einem breiten Grinsen. Die Falten um die listigen Augen bildeten kleine Fächer. Er kicherte und berichtete: „Also. Die Kerle hatten dunkle Haut. Nicht so schwarz wie der Gambiamann. Lederne Jacken trugen sie, mit schwarzen und gelben Streifen. Auf dem Kopf hatten sie Hüte ohne Krempe,
51 aber mit Federn dran. Viele Federn. Die Lanzen waren länger als die Riemen von unserem Boot. Häßliche Fratzen waren auf die Schilde gemalt. Sie blickten fürchterlich wütend drein. Wahrscheinlich holen sie jetzt Verstärkung. Immerhin waren wir laut genug." „Du meinst", fragte Little John und wurde plötzlich müde, „daß sie uns angreifen?" „Kein Zweifel. Schließlich haben wir ihr Wild gejagt." „Pistolen und Gewehre hast du nicht gesehen?" „Nein", erwiderte Old Donegal. „Wo hat man das schon mal gehört! In der Neuen Welt haben nur die Weißen Gewehre. Die haben hier das Pulver noch nicht erfunden." „Wissen Ben und Hasard schon, in welcher Gefahr wir schweben?" fragte Little John und gähnte. „Und die anderen?" „Sie glauben mir nicht. Bis es ,zu spät ist", sagte Old Donegal zornig und ballte die Hände zu Fäusten. „Aber ich bleibe wachsam. Wenn jemand die Indianer sieht, dann ich." Natürlich wußte Little John inzwischen, daß der „Admiral" mitunter mehr sah als jeder andere, daß er den sechsten Sinn und das Zweite Gesicht hatte - wie er behauptete. Aber schwer waren Seemannsgarn und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Die Indianer, sagte sich der junge Engländer, wenn es sie hier wirklich gab, würden sich ausrechnen, daß sie gegen drei Schiffe und etliche Hunderte Männer wenig ausrichten konnten. Er stand auf und sagte schläfrig: „Ich habe Freiwache, Old Donegal. Wir haben ja Al Conroy und seine Culverinen, wenn die Indianer angreifen."
„Das tröstet mich ein bißchen", brummte der Alte und sah zu, wie Little John unter Deck verschwand. Unentwegt pullten die Crews die drei Boote hin und her. Von Bord der „Pilgrim" und der „Explorer" kippten die Seeleute ihre Wasserfässer. Sie schwammen und wurden zu einem unordentlichen Floß zusammengebunden, das man zur Quelle schleppte. Noch immer schienen die Essensvorräte der Seewölfe zu reichen, denn mittlerweile brachten die Umsiedler ihre Kinder, die Kranken und die älteren Leute in die Boote und hinüber zum Feuer. Der Rest der Nacht verging so schnell, als wolle der neue Tag den Leuten helfen. Diejenigen Seewölfe, die so erfolgreich auf Jagd gegangen waren, trafen sich nacheinander auf der Kuhl der Schebecke und beratschlagten. „Wir brauchen in paar gute Leute von drüben", sagte der Profos. „Sie müssen mitkommen und uns helfen." „Wie wir gesehen haben, ist der Wald voller Wild. Wahrscheinlich müssen wir weiter nach Westen oder in nördliche Richtung", stimmte Ferris Tucker zu. „Und wenn uns die Kerle nur die Rehe und das Hirschvieh zutreiben." „Außerdem können sie Pilze und Beeren sammeln", meinte Roger Brighton. „Das schaffen auch die etwas älteren Kinder. Vielleicht zeigt ihnen Little John, welche Beeren ungiftig sind." „Einverstanden. Das sollen die Kapitäne miteinander besprechen", sagte Big Old Shane. „Ich bin dabei. Hat richtig Spaß bereitet, auf die Jagd zu gehen." „Hier gibt's keine Hochwohlgeborenen, die einen wegen Jagdfrevel in den Tower werfen können", brummte Blacky. „Wenn wir alle Leute satt
52 kriegen wollen, müssen wir eine Massenjagd abhalten. An mir soll's nicht liegen." Der Gambiamann nickte nur und dachte an die Pfeile, die er zusammen mit Big Old Shane wieder repariert hatte. „Wir können gleich bei Sonnenaufgang anfangen", erklärte Stenmark. „Ohne uns findet keiner durch den Wald." „Warten wir, bis Hasard uns sagt, was er will", empfahl Don Juan. „Die drei Gentlemen, ich sehe sie nirgends, könnten uns vielleicht auch helfen, wie?" „Die schlafen wie üblich", maulte Old Donegal und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „Die sind doch zu dämlich, einen Hirsch von einem Busch zu unterscheiden. „Auch wahr. Ich ziehe es vor, mir von ihnen nicht erklären zu lassen, wann und wie ich zu schießen habe", sagte Philip. „Laßt sie pennen", empfahl Mac O'Higgins. „Wir schaffen es besser ohne ihre guten Ratschläge." Kurz vor Morgengrauen ging das Beiboot der Schebecke mit den Kapitänen und den Ersten Offizieren längsseits. Mac Pellew hatte inzwischen einen Krug Kaffee aufgebrüht. James Drinkwaters Beitrag zur Unterhaltung belief sich zunächst auf einen sorgfältig zugestöpselten Krug, halbvoll mit Whisky. Die Gentlemen stiegen an Bord und bedankten sich höflich bei der Jägergruppe, bevor sie sich unter Deck zurückzogen. In der Dämmerung, nachdem der Mond hinter der Kimm versunken war, fingen die großen Raubvögel über der Bucht an, ihre lautlosen Kreise zu ziehen. Noch immer herrschte rege Betriebsamkeit an der Quelle, auf den
drei Beibooten, den beiden Galeonen und drüben beim Feuer. Es war mittlerweile niedergebrannt, und die Glut strömte eine gewaltige Hitze aus. 8. Kapitän James Drinkwater, dessen Wangen tief eingefallen waren, schüttelte sich unbehaglich. Er griff nach dem Becher, hob ihn in Hasards Richtung und sagte: „Uns allen - Entschuldigung, Sie ausgenommen, Sir Hasard - würde ein warmes Bad nicht schaden. Auf unser aller Wohl", er nahm einen Schluck und roch am Kaffeebecher, „und auf das unserer königlichen Majestät." Hasard ließ seinen Becher gegen die Ränder der anderen klirren. Der Geruch des starken Kaffees und des edlen Schnapses hatte sich ausgebreitet und verdeckte ein wenig die Spuren einer viel zu langen Seefahrt. „Das Bad sollte nicht zu lange dauern", sagte Hasard. „Diese Bucht ist nachweislich nicht unser Ziel." „Aber sie war die von Gott geschickte Rettung für uns alle", erklärte Amos Toolan, leerte seinen Becher und sah mit fromm niedergeschlagenen Augen zu, wie Drinkwater nachgoß. „Wie lange wollen wir hier ankern? Eben sind die Jäger an Land gegangen." Von den Galeonen waren die besten Schützen mit Waffen und einiger Ausrüstung aufgebrochen. Etwa dreißig Männer hatten sich den Seewölfen angeschlossen und drangen leise in den Wald ein, vom Profos und Don Juan geführt. Hasard hatte eine Menge Gründe, die alle nach baldigem Aufbruch riefen. Er zählte sie auf und schloß: „Die Kranken sollen sich einen Tag lang
53 drüben ausruhen. Im Bach können die Kleider gewaschen werden. Wo es frisches Wasser in Hülle und Fülle gibt, weiß inzwischen jedermann. Wenn das Fleisch gebraten und einige Körbe Beeren und Pilze eingesammelt sind, müssen wir Anker lichten." „So bald?" Drinkwater und Toolan genossen den heißen Kaffee und den Kornbrand aus den schottischen Tälern. Sie hatten ihre Befehle weitergegeben, an Bord der Galeonen herrschte vergleichsweise gute Stimmung. Arbeit gab es mehr als genug. „Ja, so bald schon", erwiderte Hasard entschlossen. „Unser Ziel ist das Gebiet, an dessen Küste Sir Raleighs Schiffe landeten. Dort warten andere Kolonisten auf uns, auf die Werkzeuge und das Saatgut." „Und auf viele andere Wohltaten aus der Heimat", meinte der Erste der „Explorer". „Ich denke, Kapitän Killigrew hat völlig recht. In der Zeit, in der wir ankern, können wir für körperliche Reinlichkeit sorgen, für einen Notvorrat an Essen, das bis zum nächsten Landgang reichen sollte, und mit dem Wasser ist ja alles klar." „Innerhalb zwei Stunden können die Seewölfe ankerauf gehen", entschied Hasard. „Morgen vor Sonnenuntergang ist diese Bucht wieder leer, Gentlemen." „Einverstanden", entgegnete James Drinkwater. „Ich werde alle, die vom Fleischhauen oder Kochen etwas verstehen, zur Landzunge schikken. Wenn das geschossene Wild da ist, helfen alle zusammen." „So halten wir es. Meine Seewölfe haben keinen Ehrgeiz, Ihren Mannen die Arbeit zu stehlen", sagte Hasard lachend. Die weiteren Einzelheiten waren schnell besprochen.
Ob es sich um den Einschlag von Holz handelte, für die Kombüsen oder als Ersatz für Planken oder Rundhölzer, um das Zubereiten der Mahlzeiten oder die Versorgung der Kranken, das Sammeln der Kräuter für Tee, um andere Kleinigkeiten: die Kapitäne und ihre Offiziere teilten die beiden Tage ein und verstanden, daß dieser Naturhafen auf dem langen Weg nur eine Station sein konnte. Die Kaffeebecher wurden geleert. Ein letzter Schluck des Whiskys glukkerte aus dem Krug. „Nach Süden, Kapitän Killigrew. Man kann sagen, ohne zu übertreiben", rief Drinkwater, dessen Gesicht inzwischen eine gesündere Farbe angenommen hatte, „daß Sie vielen das Leben gerettet haben!" „Ich habe getan, was zu tun war", schwächte Hasard ab. „Sehen Sie zu, daß alle Passagiere wieder auf die Beine kommen. Vielleicht hilft ihnen ein ausgiebiges Bad." Toolan schwankte etwas, als er aufstand und Hasards Hand schüttelte. „Ein Bad! Ich werde es riskieren. Abermals Dank, Sir Hasard. Gott sei mit Ihnen." Der Seewolf begleitete seine Gäste, die nicht gerade schwankten, aber doch besser als sonst gelaunt waren und viel zu laut sprachen, bis zur Jakobsleiter. Das Beiboot, das eben mit gefüllten Wassertonnen zur „Explorer" zurückgekehrt war, wendete und schob sich auf die Schebecke zu. Der Seewolf schaute zu, wie die Kapitäne zuerst zu ihren Schiffen zurückgepullt wurden. Eine Stunde später standen sie unter dem Wasser der Quelle und schrubbten sich den Schweiß und den Schmutz der langen Fahrt von der Haut.
54 Erst mittags kehrten wieder Ruhe und eine gewisse Ordnung ein. Einigermaßen satt, von der nächtlichen Schufterei erschöpft und weil sie sich sicher an diesem Ankerplatz fühlten, auch ohne die dauernde Spannung, schnarchte die Freiwache aller drei Schiffe unter Deck. Ab und zu wurde geglast, ein Laut, der an dieser Stelle noch fremdartiger klang als an vielen anderen Teilen der Welt. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Kranken hinüber zu dem felsigen Landvorsprung gebracht worden. Dort lagen sie in der Sonne, schliefen, ließen sich von den Feldschern betreuen und tranken frisches Wasser. Viele Frauen kauerten an beiden Rändern des Bachlaufes und wuschen Kleidungsstücke. An allen Wanten und an quer gespanntem Tauwerk hingen tropfende Tücher, Mäntel und Decken und trockneten im warmen Wind. Eine Stunde, nachdem die Jäger und die Beerensammler vom Ufer der Bucht in westlicher Richtung in den Wald eingedrungen waren, dauerte es, bis die ersten Schüsse aus weiter Ferne zu hören waren. Hasard war froh, daß die drei Figuren aus Englands niederem Adel mit den Jägern losgezogen waren. Allerdings hatte er sie mit Flechtkörben ausgerüstet und höflichst gebeten, eßbare Pilze und, wenn es sie gab, ungiftige Äpfel oder dergleichen einzusammeln. Bisher schienen sie sich an Land gut zu beschäftigen. Das Deck der Schebecke war, wie nahezu in jeder Lage, perfekt aufgeklart. Die Segel konnten mit wenigen Handgriffen gesetzt werden. Die Ankertrosse lag sauber belegt an der Beting. Unter Deck herrschte eine ebenso große Ordnung. Dan O'Flynn saß in seiner Kammer
und trug die letzten Einzelheiten in seine Karten ein. „Wir waren zu weit nördlich", sagte Dan und zeigte Hasard die fein ausgeführte Zeichnung der Bucht und der Landmarken. „Aber diese Bucht wird vielen guten Leuten das Leben retten." „Du weißt es schon, oder?" fragte Hasard und betrachtete die sternförmig auseinanderlaufenden Linien der Karte. „Die Galeonen waren in eine Flaute geraten." „Sie haben es mir erzählt", antwortete Dan. „Noch ein gutes Stück bis zu Raleighs Landestelle, Sir." „In Küstennähe, Dan. Ich glaube, keiner braucht zu verdursten oder zu verhungern." Hasard schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Bestimmt nicht. Aber das war keine Reise, wie ich sie zu wiederholen wünsche. Sie stand von Anfang an unter einem Unstern. Aber - wir haben ein anderes, ein besseres Ziel." „Die Karibik. Lange dauert es nicht mehr." Diesmal war Hasards Lachen nicht so fröhlich wie sonst in den vergangenen Stunden. „Bis wir dort sind, werden wir uns noch mit üblen Dingen herumschlagen müssen. Mir ist nicht wohl beim Gedanken an die Siedler, an eine Kolonie, die wir nicht kennen, an die vielen Gefahren eines unbekannten Landes. Es gibt eingeborene Jäger, die weniger uns auf dem Schiff, aber die Auswanderer angreifen." „Nicht hier", meinte Dan, „obwohl, wenn ich meinem lieben, eulenäugigen Vater glauben soll, auf jedem Baum ein bewaffneter Indianer sitzt." „Nein, hier wohl nicht", antwortete der Seewolf. „Ich bin in meiner Kammer."
55 „Aye, Sir." Als Dan O'Flynn mit seinen Eintragungen fertig war, stieg er an Deck und maß den Sonnenstand, trug die Zeiten von Ebbe und Flut in seine Aufzeichnungen ein und verglich sie mit den Berichten anderer Kapitäne und Navigatoren. Auch diese seine Liste wurde, je mehr sie segelten, länger und genauer. Aber da waren noch so unendlich viele Küsten, die sie niemals kennenlernen würden. „Das Wichtigste ist das Überleben", sagte sich Dan laut und rollte die Karte zusammen. Auch er brauchte eine Mütze voller Schlaf.
Sechs Dutzend oder mehr große Hühnervögel lagen neben den Rehen und jungen Hirschen zwischen den Duchten, als das erste Boot ablegte, zwei Frauen mit ihrer nassen Wäsche in triefenden Körben abholte und von den beiden Seewölfen langsam zum Feuer hinübergepullt wurde. Der Profos und Batuti warfen die Beute auf den Steg und schwitzten, obwohl sie die Hemden ausgezogen hatten. „Viel Fleisch haben sie ja", stellte eine Siedlerin fest, nachdem sie während der kurzen Fahrt den Vogel gerupft und die Federn ins Wasser geworfen hatte. „Ob sie auch so schmekken wie unsere englischen Hühner?" Batuti lachte und sagte: „Ihr Geschrei ist abscheulich. Wir werden es wissen, wenn sie sich über dem Feuer drehen." Die schwersten dieser Vögel, die sie auf einer Lichtung erlegt hatten, wogen soviel wie sechs oder sieben Hühner zugleich. Vielleicht schmeckten die Vogel, die kaum fliegen konnten
und von merkwürdigen Hautlappen an den Schnabelecken verunziert waren, anders als die gewohnten Hühner. Groß konnte der Unterschied nicht sein. „Wir bringen euch zum Schiff", sagte Carberry zu den Frauen. „Dafür müßt ihr die Vögel rupfen, ausnehmen und auf ein Rundholz spießen. Klar?" „Wir helfen euch, ist doch selbstverständlich", sagte eine der Frauen. Die Treiber hatten den Schützen genügend Wild vor die Läufe getrieben. Es schien, als ob die Tiere der Umgebung noch nicht bejagt worden wären. Sie flüchteten erst, wenn es für sie schon fast zu spät war. Das galt auch für die Hühnervögel, die den Menschen auch nicht kannten und seine Waffen nicht kennengelernt hatten. Die Boote fuhren hin und her, holten Männer und geschossenes Wild, wurden im Zickzack zwischen dem Bach, dem Felsvorsprung und den Schiffen umhergepullt, transportierten die Beute zu den Felsen und setzten die Mannen an den drei Schiffen ab. Es dauerte bis in den tiefen Nachmittag. Körbe voller blauer Beeren, etliche Säcke voll von drei Sorten Pilzen, Nüsse und noch einmal ein Boot voller toter Hasen, Rehe und meist weiblichem Rotwild, das entfernt an fette Gazellen erinnerte, alles kam dorthin, wo sich die Köche, Fleischhauer und Helfer abmühten. Wer nicht beim Zubereiten des Essens helfen wollte, wurde zum Holzhacken geschickt. Auch die Seewölfe brachten ihre durchschwitzten und salzwassergetränkten Hemden und Decken zur Bachmündung. „Laßt sie uns", forderten die Wä-
56 scherinnen die Seewölfe auf. „Wir waschen sie für euch. Ihr könnt sie holen, bevor es dunkel wird." „Mit Vergnügen, Frau Gevatterin", Philip junior verbeugte sich höflich. „Ich komme dann und hole euch alle ab." „Vergeßt nicht. Salz gehört an den Braten!" riefen ihm die Frauen nach. Wieder gab es auf den Felsen die Versuche von einigen Dutzend Frauen und Männern, eine vergleichsweise riesige Menge Fleisch zum Braten vorzubereiten. Die Feuer brannten bis zur Morgendämmerung.
Graham Lilley, Erster Offizier der „Pilgrim", fühlte sich großartig. Er könnte hundert Jahre hier liegen, genau hier. Er genoß jede Stunde, in der er nicht an Bord unterwegs war und Befehle gab, die Mannschaft kontrollierte oder aufklaren ließ. Sein Mantel war inzwischen wieder trocken geworden. Er lag halb im Schatten einiger Nadelbaumäste und konnte von hier oben, wenn er sich aufrichtete, die gesamte Bucht überblicken und weit auf das Meer hinausschauen. „Dieser Killigrew", murmelte er und spürte die Wirkung des Whiskys in seinem Magen, „hat die beste Bucht gefunden." Eine Stunde dauerte es bis zur Abenddämmerung. Eineinhalb Fadenlängen von Lilley entfernt war das große Fest in Vorbereitung, das Fest des Sattessen-Könnens und der Portionierung der Vorräte für die nächsten Seemeilen. Es gab mehrere Feuer und Gluthaufen. Über den Flammen und der Glut standen die Roste. Eiserne und hölzerne Spieße wurden gedreht. Mindestens hundertfünfzig Menschen stan-
den und hockten dort, die meisten hatten schwer und voller Begeisterung gearbeitet. Die Brandungswellen sogen die vielen Abfälle von der Felsfläche weg und ließen sie ins Meer hinaus abtreiben. Fische und Raubvögel zankten sich um die Innereien und das Gedärm. „Und die Seewölfe kennen sich auch im Wald aus", brummte Lilley. Er, ein Einzelgänger, hatte sich mit einigen Männern zusammen drüben an der Quelle sorgfältig gewaschen. Anschließend übergab er die schmutzigen Kleidungsstücke seiner sprunghaften Freundin Molly. Sie versprach, sie zu waschen und an Bord aufzuhängen. Heute konnte sich auch Molly sattessen, ohne ihn zu bitten. Er hob bedauernd die Schultern, dann spürte er die Sonnenstrahlen mit nachlassender Wärme auf seiner Haut und gähnte wohlig. „Gute Nacht. Heute schlafe ich nicht an Bord", beschloß er. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als ein Windstoß den Geruch der halb gebratenen Hühnervögel mit ihrem weißen Fleisch zu ihm heraufwehte. Die Kranken hatten sich bis auf wenige Ausnahmen gut erholt. Die meisten lagen, wie Lilley, in der Sonne und schliefen. Gute Pflege, frisches Wasser, Essen und Sonne waren die beste Medizin für allerlei Krankheiten. „Werden schon wieder gesund sein, wenn wir Virginia erreichen", meinte Lilley zu sich selbst und schloß die Augen. Der beginnende Lärm der vielen Menschen, die sich auf ein reichhaltiges Essen vorbereiteten und freuten, störte ihn nicht. Besonders einfallsreich zeigten sich die Köche der Seewölfe und die
57 junge Frau Fletcher, die ihnen half. Ihnen war zu verdanken, daß die gesammelten Beeren und Pilze zu irgendwelchen Gerichten verwendet wurden, deren Geschmack, wenn man den Rufen von dort unten glaubte, die Leute begeisterte. Während Lilley wieder eindöste und sich entspannte, schienen alle Geräusche leiser und weniger hart zu werden. Nicht nur er war von der Schläfrigkeit gepackt und besiegt worden. Rauch vom Holz und vom tropfenden Fett, Geruch nach allerlei Gewürz, die Geschmacksfahnen der sich bräunenden Krusten - über dem Wasser breitete sich an dem windstillen Abend, ähnlich der schwachen Strömung aus dem Bachdelta, eine dünne Schicht aus. Sie wirkte wie Nebel, in dem die unermüdlich hin und her sausenden Beiboote schmale Gassen zogen. Der Seewolf, der die Szenerie schweigend beobachtete, dachte an die kommenden Gefahren. Er wurde abgelenkt, als seine Männer mit dem schwer beladenen Beiboot und dem Proviant für Backen und Banken anlegten und den Vorrat für die nächsten Tage und Nächte auf die Kuhl hievten.
Lilley schreckte plötzlich auf. Er war tatsächlich eingeschlafen gewesen. Er blinzelte in die Abendsonne und hörte vom tiefsten Punkt des Vorsprunges neben den Feuern aufgeregte Stimmen. „Sarah! Wo bist du? Roebuck?" Lilley setzte sich auf und versuchte sich zu erinnern. Es wurde nach den Kindern der Fletcherfamilie gerufen. Die Arwenacks hatten sie nach dem
Untergang der „Discoverer" aus dem Meer gefischt. „Sarah!" rief eine aufgeregte Frauenstimme durchdringend. Lilley knurrte: „Genug geschlafen. Die Ruhe ist vorbei." Er stand auf, nahm sein Hemd vom Ast und stellte zufrieden fest, daß es gut getrocknet war und nach Tannennadeln roch. Langsam zog er sich an und faltete seinen Mantel sorgsam zusammen. „Hat jemand mein Mädchen gesehen?" schrie Susan Fletcher und rannte zur Brandung. „Sarah!" Zuerst hatten die vielen Menschen nicht auf die Schreie geachtet. Sie standen in langen Reihen und in Gruppen zusammen und warteten auf ihre Portion Essen. Jetzt wurden sie unruhig. Auch die wenigen anderen Kinder hörten auf, zwischen den Beinen der Erwachsenen herumzurennen. Aus der Gruppe, die Bratenstücke zerschnitt, tauchte David Fletcher auf und lief hinter seiner Frau her. Sie turnten über die zerklüfteten Felsen über der gischtenden Brandung und wirkten, je genauer Lilley hinschaute, mehr und mehr verzweifelt. Lilley schloß die große Gürtelschnalle und drehte sich suchend zweimal um die eigene Achse. Jetzt wußte er, daß die etwa zwölfjährige Sarah immer auffallend sauber angezogen war und ihr Haar in zwei lange Zöpfe geflochten hatte. Der Kleine, fünf Jahre alt, hatte einmal im Beiboot zusammen mit seinem Bruder Little John gehockt. „Jetzt weiß ich, wer gesucht wird. Verdammt", brummte der Erste und kletterte in die Richtung der Freilandkombüse hinunter. Aufgeregt rannten und turnten die Eltern bis zur Steilkante der Klippe.
58 Er hob die Hand und rief: „Wann habt ihr die Kleinen zum letztenmal gesehen?" Susan wirbelte herum und antwortete halb weinend: „Vor einer Stunde. Wir haben den Köchen geholfen. Hat jemand sie gesehen? Sie waren vorhin noch bei uns. Eigentlich laufen sie niemals weg . . . " Lilley und ein paar Männer suchten die Uferlinien zum Meer und zur Bucht ab. Einige andere liefen entlang der Ufer hin und her und suchten nach Spuren. In den heranrollenden Schaumkronen und in den hinausflutenden Wellen war nichts zu sehen von den Kindern. Da trieb nur der Abfall der ausgeweideten Jagdbeute. Lilley zeigte zum Waldrand, wo er eben noch geschlafen hatte. „Vielleicht sind sie dort hinaufgeklettert, Fletcher", sagte er zum Vater, der ebenso verzweifelt war. „Los, wir suchen. Hol ein paar Leute. Sie können in einer Stunde nicht weit weggelaufen sein." „Klar. Tue ich." Etwa eine Stunde Tageslicht blieb ihnen noch. Die Aufregung nahm zu. Einer aus der Arwenack-Crew schrie seine Fragen zum Schiff hinüber. Die beiden verschwundenen Kinder hatten sich auch nicht an Bord versteckt. Nur Little John war auf der Schebecke. Mit einem knappen Dutzend Männer, die er heranwinkte und über die Breite des steilen Hanges verteilte, stieg Graham Lilley aufwärts und rief: „Es muß schnell gehen! In der Nacht finden wir sie nicht mehr! Paßt nach rechts auf. Sucht das Wasser ab." „Aye, Sir." David Fletcher hastete den Hang aufwärts. Susan blieb unten stehen
und rang die Hände. Graham Lilley glaubte nicht, daß die Kinder in die Brandung gefallen und weggerissen worden waren, man hätte ihre Schreie gehört. Überdies war das Ende des Vorsprungs ständig voller Menschen gewesen. Wahrscheinlich wurden sie irgendwo im Wald gefunden. Er drehte sich zu Fletcher herum und sagte tröstend: „Wir finden sie. Es wird nicht lange dauern. Die Kleine weiß ja, wie gefährlich das Wasser ist." „Hoffentlich haben Sie recht, Sir", antwortete David bedrückt. Schweigend erkletterten die Männer den Hang und schoben die Büsche auseinander. Rechts fingen die senkrechten Klippen an, die bis zum Rand bewachsen waren. Wenn sich die Kinder zu weit an den Rand vorgewagt hatten - Lilley zwang sich dazu, nicht daran zu denken. 9. Der-den-Bären-jagt, der Jäger, war einst länger als zwei Sommer gewandert, bis er das Land fand, wo er sterben konnte. Er war allein. Er war der lautlose Herrscher über ein riesiges Land, in dem es alles gab, was er brauchte. Bis er den ersten peitschenden Knall - ein schreckliches Geräusch, das er nie vernommen hatte in seinem langen Leben - hörte, gab es auch in seinem Land keinen Menschen. Nicht einmal Spuren anderer Jäger hatte er in all den Jahren gesehen. Der-den-Bären-jagt war hochgewachsen, hager und sehnig. Das schulterlange Haar, mit einem Bärenfellstreifen über der Stirn zusammengehalten, hatte sich fast so weiß
59 wie der Winterschnee gefärbt. Aber seine Augen sahen noch alles, was sie sehen mußten. Lautlos war er dorthin geschlichen, wo der seltsame Laut aufgesprungen war und alle Tiere erschreckte. Ebenso lautlos und völlig ungesehen, stand Der-den-Bären-jagt da und erkannte fremde Jäger. Sie waren hellhäutig und größer oder kleiner als er selbst. Sie hielten lange und kurze Rohre aus schwarzem Metall in den Händen, zeigten damit auf Hirsche und Rehe und bewegten die Finger. Aus dem vorderen Ende des Rohres fuhr ein Blitz, ein fürchterlicher Knall folgte wie der Donner im Gewitter, dann brodelte eine Rauchwolke auf. Wie von einem unsichtbaren, gewaltigen Hieb getroffen, brach das Wild zusammen. Aber da waren auch zwei Männer dabei, die mit großen Bogen und langen Pfeilen besser schossen als er Neid packte ihn, als er sah, wie der bärtige Riese und ein ebenso großer Fremder mit schwarzer Haut ihre Waffen handhabten. Der rothäutige Jäger verfolgte sie, bis sie die Beute in ein Kanu warfen und davonruderten, wie es seine Leute weit im Westen, hinter den Bergen, auch taten. Aber das kleine Kanu der Fremden sah ganz anders aus, auch die Paddel hatte er niemals in dieser Länge gesehen. Schweigend schaute er den Fremden nach. Und dann erfaßte ihn ein eisiger Schrecken. Ein riesenhaftes Kanu mit Bäumen darauf lag in seiner Bucht. Ein Feuer loderte am Angelfelsen. Die Fremden - er verstand jetzt mehr - mußten großen Hunger haben. Halb gelähmt vor Erschrecken und Verwunderung starrte der Jäger in den langen, leder-
nen Hosen und den weichen Mokassins das Kanu der Fremden an. Stundenlang versuchte er die vielen Einzelheiten richtig zu verstehen und sich selbst zu erklären. Er zählte die Fremden: eine Frau, drei Kinder und mehr als dreimal zehn Männer, von denen jeder anders aussah als sein Nachbar auf dem hölzernen Kanuriesen. Sie hatten riesige Messer, die sie an der Seite trugen, oder kleine Dolche, die in einer Lederscheide an ihrer Seite steckten. Im Schatten der dreieckigen Tücher hingen unzählbare Sehnenseile nach unten. Daß es Götter waren, wie vor Jahren die Schamanen geredet und geweissagt hatten, konnte er nicht glauben. Es waren hungrige und durstige Fremde, die auf dem großen Kanu lebten, so wie er in seinem Haus im Baum. Sie holten Wasser, reinigten ihre Körper, brieten das Fleisch und führten Arbeiten aus, die er nur zum Teil verstand. In der Dunkelheit schlich Der-denBären-jagt wieder zurück und schlief sehr schlecht. Er träumte, daß die Fremden hier bleiben und sein Land
60 verwüsten und leer jagen würden. Viele seltsame Geräusche ertönten aus der Fischbucht. Als er im Dunst des frühen Morgens durch seinen Wald schlich, in dem er selbst nicht einmal einen Pfad angelegt hatte, erschrak er zum zweitenmal. Drei Kanus in der Bucht! Unzählbar viele Fremde. Drei kleine Kanus fuhren hin und her. Feuer loderten qualmend, und viele Stimmen, die unverständliche Worte riefen und schrien, zerstörten die Ruhe der Bucht. Der alte Jäger hielt die Pfeile in seinem Fellköcher fest, damit die Befiederung nicht raschelte. Seine dunklen Augen unter schweren, faltigen Lidern und weißen Brauen glitten umher, und jeden Herzschlag sah er weitere wunderbare und unverständliche Dinge. Die Fremden reinigten ihre Hohlbehälter und tranken durstig das Wasser der Regenbogenquelle, das sie auch benutzten, um den Schmutz von ihren bleichen Körpern zu waschen. Sie trieben das Wild zusammen und töteten die Beute schnell und so sicher, als wären sie erfahrene Jäger. Sie waren wirklich hungrig. Der Jäger verzieh ihnen, daß sie seinen Besitz plünderten. Er wartete geduldig, bis er erkannte, wie die Fremden die Beute aufbrachen und geschickt über der Glut brieten. Dann schlug er den unsichtbaren Weg zu der Felsklippe ein, von der aus er alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Dort schob er sich unter einen Busch, stützte sich auf die Unterarme und beobachtete alles, was im Bereich der Bucht vor sich ging. Von hier aus sah er mit den Augen des Fischadlers. Das Meer mit den gewaltigen Wo-
gen aus Salzwasser hatte die Riesenkanus der weißgesichtigen, bleichen Fremden in die Bucht geschleudert. Hier hielten sich die schwimmenden Häuser aus Holz an Seilen fest, die dicker als sein Handgelenk waren. Mehr Menschen, als er jemals an einer Stelle gesehen hatte, schwärmten wie die Fliegen auf frischem Blut. Über alles, was er in den vielen Stunden sah, machte sich Der-den-Bärenjagt seine Gedanken. Er vergaß den eigenen Hunger und aß einige Handvoll Beeren. Als er sich zurückziehen wollte, hörte er die Stimmen. Von dem Platz, an dem er bisweilen die Schnur mit dem Angelhaken auswarf, waren zwei Kinder heraufgeklettert. Sie näherten sich seinem Versteck, ohne ihn zu sehen. Ein Mädchen mit langen Zöpfen, wie sie vor vielen Jahren seine Töchter geflochten hatten. Und ein kleiner Junge, aus dem ein stattlicher fremder Jäger werden konnte, denn er bewegte sich mit großer Geschicklichkeit. Lachend und unverständliche Worte wechselnd folgten die Kinder einem Muttervogel, die sie von dem Nest weglocken wollte. Der schwarze Nußfresser hüpfte kläglich, einen Flügel nachschleifend, nach links und lenkte die Augen der beiden Kinder von seinem Versteck ab. Sie glaubten, das zeigten ihre Gesichter, daß sich der Vogel den Flügel gebrochen hätte. Sie wollten ihm helfen. Zum erstenmal seit vielen Tagen zeigte sich im faltigen Gesicht des alten Jägers die Spur eines Lächelns. Als die Kinder, die sich bei den Händen hielten, zwischen Büschen und Baumwurzeln verschwunden waren, zog sich der Jäger zurück und stand auf. Er blieb unsichtbar hinter einem Stamm und schaute den Kin-
61 dem nach. Drei Pfeilschüsse weit versammelten sich die Fremden - jetzt hatten sie überhaupt nichts mehr an sich von Göttern oder Mächtigen aus anderen Jagdgründen - um die schmorenden Bratenstücke. Der schwarze Nußfresser lockte die Kinder weit vom Nest weg, über das Gras, bis auf die Stelle zu, an der mitunter Der-den-Bären-jagt saß und die aufgehende Sonne erwartete. Plötzlich bewegte sich der alte Jäger mit großer Schnelligkeit. Er glitt hinter dem Stamm hervor, war mit drei weiten Sprüngen zwischen den Büschen hindurch und huschte durch das kniehohe, vom Wind geschüttelte Gras. Drei Schritte, bevor die Kinder den senkrechten Felsabsturz erreichten, gurrte der Vogel höhnisch, flatterte hoch und flog in der aufsteigenden Luft vor dem Felsen blitzschnell schräg nach unten. Das Mädchen wollte stehenbleiben, der Junge schrie enttäuscht auf. Mit beiden Händen griff der Jäger zu. Das Mädchen wurde mitten im Sturz nach hinten gerissen. Der Junge fühlte sich von den Beinen gezerrt, am Oberarm durch die Luft gehoben und wieder abgesetzt. Beide schrien leise auf. Der Jäger sprang um sie herum, breitete die Arme aus und versperrte den Weg zum Absturz. Er wußte, daß sie ihn nicht verstehen konnten, also sagte er nichts und lachte sie nur an. Zu seinem Erstaunen zeigten sie kein Erschrecken vor ihm. Sein Lächeln wurde breiter. Sarah und Roebuck sahen, daß er schneeweiße Zähne blitzen ließ. Er nickte, faßte langsam nach ihren kleinen, weichen Händen und zog sie mit sich bis zum Rand der hartblättrigen Gewächse. Im Schatten der Bäume blieb er ste-
hen und ließ ihre Hände los. Ihrem Geplapper entnahm er, daß sie ihm viele Fragen stellten. Aber sie hatten vor ihm, dem Fremden aus dem Wald, nicht die geringste Furcht. Er schob ihre Hände zusammen und gab ihnen einen leichten Stoß. „Geht", sagte er leise. „Geht zu den schwimmenden Häusern. Zu der Mutter. Das große Wasser soll euch alle forttragen. Geht!" Er nickte, lächelte noch einmal und glitt rückwärtsgehend durch die Büsche davon. Sarah und Roebuck sahen gerade noch, wie er scheinbar mit den Blättern verschmolz und verschwand. Der Jäger wartete nicht. Er lief mit weiten Schritten, unhörbar und wie eine Raubkatze, zwischen den Stämmen hindurch und wurde erst langsamer, als er vor dem Steigholz zu seinem Baumhaus stand. Gegen Kinder kämpfte er nicht. Er ahnte, daß die schwimmenden Häuser bald aus seiner Bucht verschwunden sein würden. Die Fremden waren nicht erschienen, um Bäume zu fällen und Tipis zu errichten. Aber - wie lange blieben sie? Bis alles Wild geschlachtet war?
David Fletcher sah seine Kinder als erster. Er schrie auf und hastete keuchend die letzten Meter des Hanges hinauf, hob Roebuck auf und zog ihn an seine Brust. „Prügeln sollte ich euch", sagte er brummig. „Ich bin mehr erschrocken als ihr. Eure Mutter bereitet sich Sorgen." „Wir haben einem Vogel geholfen. Dann hat uns ein halbnackter Jäger gepackt."
62 „Unsinn", brummte David, drehte sich um und schrie, so laut er konnte: „Ich habe sie! Sie leben! Alles in Ordnung." Graham Lilley stolperte heran. Sein schweigender Blick traf die Kinder und ihren Vater. Dann verstand er die nächsten Worte Sarahs. „Wir waren ganz oben. Im Gras. Der Vogel ist aufs Meer hinausgeflogen. Er war gar nicht krank." Der Erste kletterte weiter, richtete die Augen auf den Boden und verfolgte die Spuren der Kinder bis zu ihrem Ende. Schließlich winkte er und rief: „Hier seid ihr gestanden?" „Ja. Wir haben euch alle gesehen dort unten", erklärte Roebuck. Der Offizier, drei Fuß vor dem Felsabsturz von knapp zwei Fadenlänge Höhe, fühlte eine eisige Schwäche in den Knien. Er drehte sich ganz vorsichtig um und sah im Gras eine dritte Spur. Das Gras war von einem schweren Körper niedergedrückt. „Ein halbnackter Jäger, also", murmelte er und wußte nicht, was er von alldem zu halten hatte. An die Berichte seiner Mannen, die davon erzählt hatten, daß der alte Schwiegervater von Kapitän Killigrew in der Gewitternacht ein Boot voller Indianer gesehen haben wollte, daran erinnerte er sich natürlich. Seemannsgarn oder Wahrheit? Ein Mensch war aber tatsächlich hier gewesen. Er mußte das Mädchen in Ruhe ausfragen. Er folgte der erleichterten Suchmannschaft den Hang hinunter. Lilley beabsichtigte nicht, David Fletcher genau zu sagen, in welcher Gefahr seine Kinder gewesen waren. Sonst verprügelte er sie wirklich noch.
„Was lernen wir daraus, Graham Lilley?" fragte er sich und blieb stehen, als er die kauende und schwatzende Menschenmenge erreicht hatte. „Daß wir von mindestens einem Indianer beobachtet werden." Er grinste und schloß: „Aber wenigstens ist er kinderlieb, der halbnackte Jäger." Er empfing ein Stück Geflügelbraten, einen Becher von Mac Pellews Spezialtee und ließ sich im letzten Tageslicht zu seinem Schiff zurückbringen. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen wartete Molly in seiner Kammer.
Philip Hasard Killigrew stand neben Ben Brighton und sah zu, wie die weißen Dampfwolken vom Wind zerfasert wurden. Die kleinen Feuer und die letzte Glut auf den Felsen wurden mit Seewasser gelöscht. In der Bucht herrschte, als die Crew das Beiboot heranpullte, noch immer fast völlige Windstille. An Deck lagen die überzähligen Riemen bereit. „Toolan und Drinkwater wissen, daß sie uns entlang der Küste folgen sollen. In einer Stunde gehen wir ankerauf." „Aye, Sir", erwiderte der Erste. Das Beiboot wurde geleichtert, die Blöcke ausgeschwenkt und die Leinen belegt. Ohne Hast enterten die Seewölfe an Deck. „Beiboot aufhieven. Belegen. Klar bei Anker, und an die Winsch." „Verstanden, Sir." Das Boot wurde an Deck gebracht und festgezurrt. Ein Teil der Crew rannte die langen Riemen aus, ein Team legte zwei ganze Schläge der Ankertrosse um die Winsch und drehte die Trommel.
63 Dan O'Flynn versuchte, den Anker Wind aus Süden. Wir werden kreuzen zu erkennen. Schließlich stand die müssen." „Gute Fahrt! Wir gehen noch vor Trosse auf und nieder, und er rief: Abend ankerauf." „Anker aus dem Grund!" Die Seewölfe pullten ruhig und Der Anker wurde gesäubert und kraftvoll weiter. Die Felsen der Einam Kranbalken verzurrt. Noch wäh- fahrt blieben zurück, und das Schiff rend die Trosse aufgeschossen hob und senkte sich in den Branwurde, setzte die Crew die Riemen dungswellen des Atlantiks. Im ersten ein. Die Schebecke fuhr einen engen Wind setzten Hasards Seewölfe die Halbkreis und näherte sich den Ga- Segel und verstauten die Riemen. leonen. Zwei Stunden nach dem höch- Von den Galeonen aus sahen die Mansten Sonnenstand verließ die Sche- nen die hellen Dreiecke, sahen, wie becke ihren Platz in der Bucht. sich die Schebecke weit überlegte „Kurs halten!" rief Hasard. Als sie und dann auf See hinaus kreuzte. die Hecks der Galeonen passierten, Die Fahrt ging weiter. Bald darauf hob er den Arm. „Ihr folgt uns! Wir folgten die „Pilgrim" und die „Explosuchen den richtigen Landeplatz rer" auf weniger elegante Weise. Die oder, wenn wir länger brauchen, wie- Bucht leerte sich, und die Ruhe, die der eine Überlebensbucht. Zwei See- seit vielen Jahren herrschte, kehrte meilen weiter draußen habt auch ihr zurück.
64 Neben dem Wasserfall der Quelle stand der alte Jäger. Er sah geduldig zu, wie die großen Häuser aus Holz draußen auf dem Großen Wasser kleiner und unwichtiger wurden. Nur ein paar Raubvögel zogen lautlos
Kreise über dem Wasser und dem Wald. Die Fremden waren fort, aber Der-den-Bären-jag t ahnte, daß andere ihnen folgen würden. Früher oder später waren sie da, das sagte ihm seine Erfahrung . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 630
Indianergol d von Jan J. Moreno Der Profos entzündete die Lunte der Flaschenbombe, während er an den Totempfählen vorbeihastete. Dünne Pulverspuren schlängelten sich über den Waldboden. In Gedanken zählte Carberry bis drei, dann schleuderte er die mit Pulver, gehacktem Blei und Nägeln gefüllte Flasche einfach hinter sich. „Ar-we-nack!" brüllte er und warf sich rechter Hand in die Büsche. Batuti tat es ihm auf der anderen Seite gleich. Die Höllenflasche detonierte, bevor die Rothäute heran waren. Lediglich die vordersten wurden vom Schrot getroffen und von den Beinen gefegt. Ihre Verwundungen waren aber nicht so schlimm, daß sie nicht ein frenetisches Geheul hätten anstimmen können. Ringsum zischte und krachte es plötzlich. Keine zehn Yards hinter den Indianern zuckten grelle Entladungen zwischen den Bäumen auf . . .
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. April 1988