Scan by Schlaflos
Buch Wieder und wieder haben der Krieger Hawkril und seine Gefährten, die junge Zauberin Embra, der ...
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Scan by Schlaflos
Buch Wieder und wieder haben der Krieger Hawkril und seine Gefährten, die junge Zauberin Embra, der kleine Dieb Craer und Fürst Schwarzgult, das einst blühende Land Aglirta gegen üble Magier und machtbesessene Aufrührer beschützt, doch jetzt werden sie mit einer neuen Gefahr konfrontiert, die nicht nur das Reich, sondern auch die ganze Welt bedroht: Eine mysteriöse Seuche breitet sich in Windeseile aus, die ihre Opfer in Raserei versetzt und schließlich in den Wahnsinn treibt. Zugleich agieren die übrig gebliebenen Anhänger der Schlange im Geheimen, um eine neue Schlange zu beleben und so doch noch die Macht an sich zu reißen. Unterstützt von der Zauberin Tschamarra, steht dem Ring der Vier seine größte Herausforderung bevor. Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die Fantasy-Leser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario. Liste der lieferbaren Titel DIE LEGENDE VON ELMINSTER 1. Der Zauberkuss (24223) 2. Die Elfenstadt (24224) 3. Die Versuchung (24240) 4. Im Bann der Dämonen (24239) DER RING DER VIER 1. Land ohne König (24241) 2. Der leere Thron (24242) 3. Die verzauberte Schlange (24290) 4. Die Schattenpriester (24295)
Ed Greenwood
Die Schattenpriester Der Ring der Vier 4 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger BLANVALET Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dragon's Doom. A Tale of the Band of Four (vol. 4)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2004 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Verlagsnummer: 24295 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-442-24295-9 www.blanvalet-verlag.de
Für Brian, der mir geholfen hat, alles auf die Reihe zu bekommen. Esse tuam videri Alle, welche das alte Aglirta kannten, Werden bereits wissen, was als Nächstes geschah. Denn das Volk war unzufrieden, Die Fürsten nicht besser als zuvor, Hinterlistige Zungen flüsterten im Lande Schwarze Magie verführte jene, Welche nach ihr strebten und sie wirkten Ohne je den Griff ihrer gierigen Hände zu lockern Um jedes beliebige Jahr in Aglirta Es sich könnte handeln So seid dankbar für die Barden und Herolde Welche auf das ach, so schöne, Aber offensichtlich von den Göttern verfluchte Tal schauen Denn wenigstens sie verhelfen uns Zu einem unverstellten Blick auf all das Unheil. Jalrek Halanthan, Schriftgelehrter aus Sirlptar: EINE JAHRESROLLE ÜBER AGLIRTA Prolog In der Abenddämmerung peitschte ein heftiger, unerwarteter Regen über die Häuserdächer von Sirlptar, angetrieben von einem aus Richtung Hafen blasenden Wind. Das Klappern der Dachziegel unter den Windböen übertönte fast die gewohnten klagenden Töne aus den Kaminschächten, welche den »Seufzenden Wasserspeier« weithin berühmt gemacht hatten. Flaeros Delkamper vermochte kaum die Töne seiner Harfe zu vernehmen. Aber da es sich hier um seinen ersten bezahlten Auftritt als neu ernannter Hofbarde von Treibschaum handelte, sang er mit aller Entschlossenheit weiter. Aber als er jetzt die Stimme hob und den Refrain seiner neuesten Ballade über die Herrin der Edelsteine und den Fall der Schlange sang, wusste er ganz genau, dass er sich die Mühe hätte sparen können. Nicht ein einziger Gast in der Schänke hörte ihm zu. Jeder der Besucher des Wasserspeiers hatte sich über den Tisch gebeugt, auf welchem sein Krug stand, und redete eifrig oder hörte gebannt zu. Das Stimmengewirr klang alles andere als fröhlich. »Schon wieder ist ein Jahr vergangen, und ist irgendetwas in Aglirta besser geworden?« »Tja, die Ernte ist spärlicher denn je ausgefallen, die Hälfte der guten Männer im Land ist tot, und sie verrotten in ihren Gräbern, wo sie doch pflügen oder mähen sollten - und jetzt haben wir auch noch einen Jungen zum König!« »Hmm. Kein Anlass zur Freude, aber er kann kaum schlim11 mer sein als das, was wir bislang hatten - Zauberer und Fürsten, Fürsten und Zauberer, Schurken einer wie der andere!« »Ja, das stimmt. Zauberer sind schon immer böse und gefährlich gewesen - das liegt ihnen im Blut, bei der Dreifaltigkeit!« »Und was passiert, wenn wir jeden Zauberer, welcher uns über den Weg läuft, mit der Heugabel aufspießen? Welchem unserer großartigen Herren Fürsten können wir trauen, ohne dass er nach Gutdünken Schläge austeilt? Sie sind alle kleine Tyrannen, welche die allerverkommensten Könige aus den alten Geschichten vor Neid erblassen lassen würden!« »Und so sitzen wir hier, werden mit jedem Jahr immer dünner und immer weniger, während um uns herum ihr Wahnsinn tobt und Aglirta ausblutet.« Ein leerer Humpen wurde auf einen Tisch geknallt, und sein Besitzer seufzte aus vollem Herzen, ballte hilflos die Faust und fügte bitter hinzu: »Und die große Hoffnung der einfachen Leute, Blutklinge, war dann schließlich auch nicht besser als der Rest.« Ein alter Schreiber nickte. »All unsere Träume sind ausgeträumt und zerstört worden«, sagte er traurig, »und niemand schert sich darum.« Ein Viehtreiber bedachte Flaeros mit einem solch giftigen Blick, dass die Finger des Sängers die Saiten verfehlten. »Und jetzt haben wir irgendeinen hergelaufenen Jungen zum König«, grollte der Mann, »und seine vier zahmen Hochfürsten durchsuchen das Hinterland nach Zauberern und Fürsten, welche die Waffen gegen ihn erhoben haben - und wer kümmert sich um uns?« Eins
Wie man ein Königreich erobert Das Rasseln von Schlüsseln weckte ein Echo in dem dunklen, von Steinmauern umgebenen Ort, dann öffnete sich kreischend eine schwere Tür und ließ den Schein einer Fackel in eine feuchte Dunkelheit fallen, welche seit Jahrzehnten gewährt hatte. Der alte Thannaso, der sich um die Schlösser und Scharniere kümmerte - und die Fesseln, welche auf dem riesigen Rad innen an der Wand warteten und jetzt im zuckenden Licht der Flammen glitzerten - und dafür sorgte, dass alles gut geölt wurde, war so blind wie ein Maulwurf und benötigte deshalb kein Licht für seine Arbeit. Ein sich geschmeidig bewegender schlanker Mann in hautengen Gewändern aus weichem, rauchgrauem Leder hielt die Fackel hoch und über seine Schulter. Auf seinem dunklen, gut aussehenden Gesicht spielte so etwas wie ein Lächeln, als er in alle Ecken der Zelle spähte. Hoch oben an der Südwand sickerte ein wenig Wasser herein und rann glitzernd den Stein herunter, aber abgesehen von einer kleinen davonhuschenden Schar von Spinnen gab es hier keinen Eindringling. Craer Delnbein galt als einer der besten Beschaffer von ganz Asmarand ... was heißen soll, dass er nach viel zu vielen Jahren voller Eskapaden, welche für ein Dutzend Diebe ausgereicht hätten, immer noch am Leben war. Wenn Craers glänzende Augen keinen Eindringling erblickten, dann gab es auch keinen. Die Frau, die sich an seinen Ellenbogen lehnte, erspähte 13 ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Sie war in etwa so groß wie Craer und bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit an seiner Seite, welche auf enge Vertrautheit schließen ließ, aber sie war keine Diebin. Die Zauberin Tschamarra Talasorn stammte aus einer stolzen Sirlptarer Familie und war die letzte Überlebende ihres Blutes - und ihre Zunge nahm es an Schärfe mit ihrem Geist auf, wie Craer gefesselt, aber durchaus auch auf seine Kosten feststellen musste. Seine Freundin trug Kleider, welche denen von Craer glichen, aber aus Schimmergewebe und Seide bestanden und das Licht der Fackel ebenso zurückwarfen wie ihre großen, wachen Augen. Auch sie entdeckte nichts Bedrohliches in der Zelle, allerdings richtete sie mit zusammengepressten Lippen einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf die Last, welche hinter ihr her getragen wurde. Bei der Last handelte es sich um einen großen, stämmigen, teuer gekleideten Mann, der in einer stocksteifen Haltung eingefroren zu sein schien, einmal abgesehen von den vor Zorn sprühenden Augen, welche Blicke wie Pfeile hierhin und dorthin schössen in dem Versuch, möglichst viel zu sehen, weil ihr Besitzer genau weiß, dass er binnen kurzem kaum noch die Gelegenheit haben wird, überhaupt noch etwas zu erkennen. Ein muskelbepackter Ritter von hünenhafter Gestalt trug den steifen, unbeweglichen Mann, unterstützt von einem kaum kleineren älteren Kämpen, welcher die Beine des Opfers festhielt und sich mit der selbstverständlichen Autorität eines geborenen Befehlshabers bewegte. Hawkril Anharu hatte das Gemüt eines sanften Riesen, solange man nicht die Klinge im Kampf mit ihm kreuzte. Er trug den Gefangenen so mühelos, als sei der so leicht wie eine Feder, und er musste sich bücken und seine breiten Schultern beugen, um durch die schmale Tür der Zelle zu passen. Er erinnerte unzweifelhaft an einen liebenswerten Bullen in Rüstung. 14 Das einst rabenschwarze Haar des älteren, Rüstung tragenden Mannes hinter ihm schimmerte inzwischen grauweiß. Aber Ezendor Schwarzgult - vormals in ganz Aglirta als schneidiger, kriegerischer »Fürst Schwarzgult« und übersättigter Adliger und Verführer von Frauen von nobler wie auch niedriger Geburt bekannt, sah immer noch gut aus ... und war noch genauso wachsam wie Craer an der Spitze der Gruppe, welche das Verlies betrat. Ein Schimmern zuckte über den Kopf des Gefangenen, welches viel blasser leuchtete als der Schein der Fackeln - ein magisches Glühen, das von einem gesprenkelten Stein ausging, welchen eine große, schlanke Frau am Ende der Gruppe auf der Handfläche trug. Sie hatte die Stirn leicht gekräuselt und behielt unablässig den Gefangenen im Auge. Einst hatte man Embra Silberbaum als die Herrin der Edelsteine gekannt mit den aufwändig geschmückten Gewändern, aber jetzt gab sie schlichten ledernen Reithosen, Soldatenstiefeln und einem offen stehenden Seidenhemd den Vorzug. Ihr langes schwarzes Haar floss ungebändigt über ihren Rücken wie ein kurzer Umhang, und die Menschen in Aglirta kannten sie am besten als die mächtigste Zauberin des Landes. Wie ihre Gefährten trug sie den Titel eines Hochfürsten von Aglirta, und genau wie die anderen erfüllte sie an diesem Tag eine unerfreuliche, aber notwendige Pflicht. Sie ließ den in dunkle Gewänder gehüllten Gefangenen keinen Augenblick aus den Augen, als Hawkril den Mann mit den eingefrorenen Gliedmaßen mit den Stiefeln nach oben aufrecht hinstellte, als wöge der nicht mehr als ein paar Blütenblätter. Craer und der Fürst Schwarzgult zupften und zerrten eifrig an nach unten baumelnden Fesseln, und der zierliche Beschaffer probierte den kleineren der beiden Schlüssel aus, welche Thannaso ihm zusammen mit den beiden Handschellen übergeben hatte. 15 Sie schlössen und öffneten sich ohne Schwierigkeiten, und nachdem Craer dem Fürsten zugenickt hatte, befestigte er sie an den Handgelenken ihres Gefangenen. Schwarzgult half ihm mit verschränkten Händen, sich
nach oben zu schwingen, so dass der Beschaffer weiter oben angebrachte Fesseln erreichen und den Gefangenen mit den Füßen nach oben an dem großen Rad an der Zellenwand befestigen konnte. Ein Beben durchlief die Glieder des Mannes, als er auf diese Weise gefesselt wurde - bei den Göttern, dieser Mann musste ein halber Drache sein, so wie er sich trotz der Dwaer-Magie wehrte! -, und Embras Lippen entschlüpfte ein schmerzlicher Seufzer. Hawkril warf ihr einen raschen Blick zu, während er von dem in Ketten gelegten Mann zurücktrat. Aber durch die Schweißbäche hindurch, welche ihr ungehindert übers Gesicht liefen, antwortete sie mit einem beruhigenden Lächeln. »Ich bin bereit«, murmelte die kleinere, dunklere Frau neben Embras Ellbogen, und die Zauberin schnappte nach Luft, nickte und gab der Gefährtin mit einer Geste zu verstehen, sie solle fortfahren. Ruhig wirkte Tschamarra Talasorn einen Zauber, trat währenddessen vorwärts und streckte die Hände zu beiden Seiten des Kopfes des gefesselten Mannes aus - gerade eben außerhalb des flackernden Schimmers von Embras Dwaer-Zauber. Der Schimmer wurde sofort schwächer und verging schließlich ganz - nur um durch einen viel helleren, goldfarbenen Schein ersetzt zu werden, welcher aus Tschamarras Fingern floss. »Spart Euch die Mühe«, sagte der angekettete Mann eher erschöpft als verbittert. »Ich werde nicht versuchen, irgendetwas zu tun - nicht mit einem Dwaer-Stein so dicht vor meiner Nase, welcher mich jeden Augenblick in tausend Fetzen reißen oder mein Hirn wie Spucke in einem zischenden Feuer verdampfen lassen kann. Ich bin des gelegentlichen Ehrgeizes schuldig, nicht abgrundtiefer Dummheit.« 16 »Wohl gesprochen. Im Lauf der Jahre steigen Zauberer im Tal auf und fallen auch wieder«, erwiderte Fürst Schwarzgult, »die Schlange kehrt zurück, und die Gesichtslosen und die fremden Magier prallen aufeinander und schmieden üble Pläne - und dennoch lebt der Herr der Fledermäuse weiter. Mächtig genug, um diejenigen zurückzuschaudern, welche mit Gewalt nach Eurer Macht greifen, und klug genug, um nicht irgendwem in die Falle zu gehen.« »Mit Ausnahme der euren, Bande der Vier - und Schwarzgult. Oder seid Ihr gar ein Mitglied, werter Fürst, und dieses Weib, dessen Magie mich bezwang, ist die Außenseiterin? Ich habe nichts darüber gehört, dass der Jüngling von einem König neue Hochfürsten ernannt hätte ... aber andererseits hatte ich nicht genug Muße, viel von dem zu hören oder zu sehen, was in letzter Zeit im Tal vor sich ging, da ihr Jagd auf mich machtet. Und wenn ich, wie ihr behauptet, so klug bin, keinen falschen Schritt zu tun, warum diese Verfolgungsjagd und diese Gefangennahme? Ich war mir nicht bewusst, die junge Majestät brüskiert zu haben. Welchen Zwist hat er mit mir?« »Keinen, welcher der Rede wert wäre, Huldaerus«, erwiderte der Fürst Schwarzgult grimmig. »Aber Eure Macht stellt eine Gefahr für Aglirta dar, und sie ist von der Sorte, welche wir nicht länger übersehen können. Mit emsigen Gestaltwandlern und Dutzenden von Gefahren, welche nach wie vor den Flussthron wie gezückte Klingen bedrohen, ist es an der Zeit, höchste Zeit sogar, das ganze Reich zu durchforsten und die Feinde der Krone einzusammeln ... oder Zauberer, welche sich weigern, vor König Raulin niederzuknien und ihm die Treue zu schwören. Eure Weigerung fiel, wie Ihr zugeben müsst, reichlich eindrucksvoll aus.« Er unterzog eine der Ketten einer eingehenden Prüfung. »Wenigstens sammeln wir Feinde ein, bevor sie mit Schwertern oder flammenden Zauberbannen in den Händen im Thronsaal auftauchen.« 17 Der Herr der Fledermäuse verzog das Gesicht. Seine Hände zitterten, während er verstohlen, wenn auch vergeblich versuchte, sich von den Ketten zu befreien. »Wenn ich also jetzt geradewegs die Treppe hochgehe, den königlichen Pantoffel küsse und die richtigen Worte sage, dann bin ich ein freier Mann? Sicherlich wäre es einfacher gewesen, zuerst das auszuprobieren, bevor -« »Nein, Arkle Huldaerus«, sagte die Fürstin Silberbaum leise, aber bestimmt. »Die Dinge verhielten sich anders, wenn Ihr Euer Versprechen ernst meintet und Eure Treue aus ganzem Herzens und ehrlichen Gemüts schwören könntet; aber dieser Dwaer-Stein kann Zauber hervorrufen, welche ich weder zu wirken wage noch mir zutraue, und er hat mir eine Sache sehr eindringlich mitgeteilt, und das mehr als einmal seit Eurer Gefangennahme: Ihr verspürt kein Fitzelchen Treue oder aufrichtiges Gefühl dem König gegenüber, ganz zu schweigen von Aglirta.« »Deshalb also habt ihr mich pausenlos dazu aufgefordert, die Lehnstreue zu schwören, oder mich gefragt, ob ich das wollte oder könnte«, murmelte der angekettete Zauberer, und aufgrund der Tatsache, dass er mit dem Kopf nach unten hing, war sein Gesicht tiefrot angelaufen. »Und ich dachte schon, ihr triebt irgendeinen Spott mit mir.« »Nein«, erwiderte Embra gelassen, »Ihr habt nichts in dieser Richtung gedacht. Ihr glaubtet, wir probierten eine neue Art Zauber an Euch aus, um Euch zum Treueid zu zwingen. Ihr habt zudem geglaubt, Ihr hättet in uns einen Haufen Narren vor Euch, welche allein ihre Dummheit davon abhält, zu Tyrannen zu werden. Und dass zudem der Dwaer in unseren Händen Verschwendung sei und Ihr Euch bis jetzt äußerst klug verhalten hättet, weil Ihr Euch zurückhieltet, als die Schlange und der Drache auf Treibschaum ihre Kräfte maßen, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten davor. Und dann dachtet Ihr, dass Ihr klug genug wärt, den letzen Sturm von 18 Dummheit unsererseits zu überstehen und Euch mit Unterstützung der drei Fledermäuse zu befreien, welche Ihr sogar jetzt noch bei Euch verborgen haltet.« »Gute Güte, dieser abscheuliche Steinklumpen zeigt Euch wirklich alles, nicht wahr?«, erwiderte der Herr der
Fledermäuse eher müde denn spöttisch. »Drei Fledermäuse?«, entfuhr es Craer. »Wo denn? Ich habe ihn wirklich ganz sorgfältig von Kopf bis Fuß abgetastet, und verflucht soll er sein, wenn es ihm gelungen ist, auch nur eins der kleinen Biester vor mir zu verbergen. Wo bei der Dreifaltigkeit hat er sie versteckt?« »In diesem Moment«, antwortete Embra, »sind sie unter seinen Handfesseln, wo das Metall sie am besten vor uns verbirgt. Und davor, als Ihr ihn durchsuchtet, waren sie an einem dunklen Ort, wie wir alle ihn haben und welcher dazu dient, das loszuwerden, was unsere Körper von sich zu geben bereit sind.« »Warum«, murmelte Tschamarra, »überrascht mich das kein bisschen?« Sie sah zu, wie Craer einen langen Dolch unter eine der Fesseln gleiten ließ und mit der Klinge rasch rund um die gefesselten Handgelenke fuhr. Für einen Augenblick kam ein dunkler Flügel in Sicht, und dann brach sein Besitzer an der anderen Seite der Fessel heraus - und zerbarst zu blutigem Nebel, welcher sich blitzschnell in Rauchfäden verwandelte, als Embra die Stirn runzelte, eine Hand hob und ihr Dwaer aufflammte. Vor Zorn verdunkelte sich das Gesicht des angeketteten Mannes, aber er verzichtete auf einen weiteren Kampf. Craer scheuchte die anderen beiden Fledermäuse ans Licht, und sie nahmen ein ähnliches Ende wie ihr Vorgänger. »Er kann noch mehr von diesen da hervorzaubern, oder?«, murmelte er, zupfte an den dunklen, stark zerknitterten Gewändern des Zauberers und hielt seinen Dolch bedeutungsvoll in die Höhe, aber Embra schüttelte den Kopf. 19 »Nein, Craer«, meinte sie. »Ich werde nicht so grausam sein, einen Mann nackt und frierend im Dunkeln zurückzulassen mit dem sicheren Tod binnen zweier Tage vor Augen.« »Nein«, sagte der Zauberer tonlos, »Ihr werdet nur grausam genug sein, mich hier von allen vergessen verhungern zu lassen, bis meine Knochen einer nach dem anderen aus diesen Fesseln auf den Boden dort unten fallen - falls nicht irgendwelche Nagewürmer in diesem Verlies hausen oder andere nette, mich willkommen heißende Biester, die zum Fressen herauskommen, sobald Ihr die Fackel wegnehmt.« »Mir gefällt das beinahe genauso wenig wie Euch«, warf Ezendor Schwarzgult ernst ein, »das könnt Ihr mir glauben. Oder auch nicht, das ist Euer Recht. Ihr werdet regelmäßig zu essen bekommen, und zwar nach oben gedreht, und wir werden Euch von Zeit zu Zeit besuchen und Fragen stellen - und vielleicht, sofern Euer Betragen dies gestattet, einige Neuigkeiten über die Ereignisse im Tal mit Euch teilen.« »Ihr seid euch dessen bewusst«, fragte der Zauberer ruhig, während sein Blick von einem Gesicht zum anderen wanderte, »welch gefährlichen Feind ihr euch macht, oder etwa nicht?« »Huldaerus«, erwiderte die Herrin der Edelsteine kühl, »wir wissen, welch ein gefährlicher Feind Ihr bereits jetzt seid. Ihr mögt Eure zufälligen Grausamkeiten in Indraewyn und danach vergessen haben - da sie Euch so wenig zu bedeuten scheinen -, aber ich habe das keineswegs.« Augen, in welchen zuckende Flammen der Wut loderten, bohrten sich in die ihren, aber die Stimme ihres Besitzers klang ebenso eisig wie die von Embra kurz zuvor. »Und deshalb ist es jetzt an der Zeit, einige zufällige Grausamkeiten an mir auszuprobieren. Ist es das, was Ihr im Sinn habt?« »Ich kann Euch mit einem Zauberbann belegen, welcher Euch in Träumen gefangen hält, wenn Ihr das wollt«, antwortete die Herrin der Edelsteine sanft. »Es wird Euch so erschei20 nen, als verginge keine Zeit, wenn Ihr nicht gerade von jemandem ganz bewusst aufgeweckt werdet.« »Nein«, sagte der Herr der Fledermäuse entschlossen, »ich möchte lieber hier hängen und nachgrübeln. Vielleicht gelingt es mir, meine Narretei einzusehen und am Ende sogar König Raulin Burgmäntel ins Herz zu schließen, wenn ihr mich lange genug hier lasst. Vielleicht.« »Ihr weist einen Bann des Traumschlafes zurück«, vergewisserte sich Tschamarra Talasorn bedächtig. »Seid Ihr Euch dessen gewiss, dass Ihr das wirklich wollt, Zauberfürst?« »Ziemlich gewiss, edle Herrin«, antwortete der mit dem Kopf nach unten am Rad hängende Mann höflich. »Ich bin der Gefangene des Königs, festgenommen und in die Kerkerhaft gebracht von seinen ergebenen Hochfürsten, und mir wurde die Freiheit geraubt, Aglirta sicherer zu machen. Ich möchte Zeit haben, um darüber nachzudenken.« »Sehr gut. Wir werden uns zurückziehen und Euch Euren Gedanken überlassen«, erklärte Fürst Schwarzgult und wandte sich zum Gehen. Craer musterte den angeketteten Mann sorgfältig und erblickte, womit er gerechnet hatte: Huldaerus öffnete den Mund, um etwas zu sagen - irgendetwas -, um nicht ihrer Gesellschaft verlustig zu gehen. Daraufhin folgte das, was er als Zweites erwartet hatte: Der Zauberer schloss den Mund, ohne ein Wort geäußert zu haben, und bemühte sich, wieder eine unbewegte, undurchdringliche Miene zu zeigen. O ja, der Herr der Fledermäuse war gut in dem, was er tat. Nachdem sie sich mit ein paar kurzen, wortlosen Blicken verständigt hatten, waren sich die Bande der Vier und Tschamarra einig und gingen gleichzeitig zur Zellentür. Hawkril und Craer zogen sich nach hinten zurück, die Hand am Schwertgriff, um ihren Gefangenen genau beobachten zu können. Er starrte sie geradewegs an, und sein ausdrucksloser Blick
21 kam beinahe einer Herausforderung gleich. Als Craer sich anschickte, die Zellentür zu schließen, wobei sich die Fackel in seinem Rücken befand, so dass sich Dunkelheit in der Zelle verbreitete, sah er, dass sich der Mund des gefangenen Zauberers verzerrte, da er anscheinend damit rechnete, dass Craer ihn zum Abschied verspotten würde. Craer schüttelte den Kopf und sagte so sanft wie eine Amme: »Ich wünsche Euch alles Gute, Arkle Huldaerus.« Die schwere Zellentür fiel krachend ins Schloss, und der Herr der Fledermäuse war allein in der eisigen Dunkelheit. Kein Königreich, das viele sich zu beherrschen wünschen würden. Der Zauberer wartete und lauschte angestrengt dem immer schwächer werdenden Stiefelknirschen hinterher, während sich um ihn herum die Dunkelheit schwer und undurchdringlich niederließ. Er wartete ab und gewöhnte sich langsam und allmählich an die leisen, schwachen Töne seines neuen Zuhauses. Das Flüstern des am Stein niederrieselnden Wassers, das kaum wahrnehmbare Echo seines eigenen Atems. Und er wartete. Als er schließlich zu dem Schluss gelangte, dass genug Zeit verstrichen sei und junge, überschwängliche Hochfürsten des Königreichs unmöglich geduldig genug sein konnten, um noch länger vor der Tür eines Gefangenen herumzulungern, von welchem sie wussten, dass er hilflos war, murmelte Arkle Huldaerus das Wort, welches den Zauber freisetzte, den er ein Dutzend Jahre zuvor gewirkt und durch all die Unruhen hindurch bis zum heutigen Tag bereitgehalten hatte. »Maerlruedaum«, sagte er seelenruhig in die Dunkelheit und ertrug gelassen das kriechende Gefühl, welches gleich darauf folgte. Haare lösten sich aus seiner Kopfhaut und wanden sich schlangengleich an seinen gefesselten Gliedmaßen empor zu der Stelle auf seinem linken Schienbein, wo das Bein22 kleid unter seinem Stiefel so sorgfältig von seinem eigenen Blut durchtränkt worden war: einer Stelle, wo der dunkle Stoff sich bereits regte und wellte und sich aufrichtete ... Drei Fledermäuse erhoben sich von dem in Ketten gelegten Zauberer, schwirrten auf seinen Befehl hin wie zur Bestätigung an seinem Gesicht vorbei, und der Herr der Fledermäuse lächelte in die Finsternis. In der Tür gab es ein Guckloch, so dass jemand von außen die Gefangenen betrachten konnte, und binnen weniger Augenblicke würden seine drei kleinen Spione draußen und in den Verliesen von Treibschaum herumschwirren, um zu lauschen und zu beobachten. Er würde sich große Mühe geben müssen, um dafür zu sorgen, dass man sie nicht bemerkte, während er herausfand, wohin der kleine Dieb Delnbein diese Schlüssel zurückhängte, aber Plötzliches Feuer explodierte in seinem Geist, und in dem alles zerreißenden Schmerz spürte er, wie erst die eine, dann die andere Fledermaus in Stücke gerissen wurde. Verzweifelt versuchte er, die letzte mit seinem Willen zu packen und sie zurückzureißen von ... von ... »Nicht besonders geschickt, Herr der Fledermäuse«, flüsterte Embra Silberbaums Stimme in seinem Kopf, als die letzte seiner Fledermäuse ins Nichts verging. »Ich hatte kaum die Zeit, es mir draußen gemütlich zu machen.« Wütend schlug der gefesselte Zauberer mit seinem Willen nach der Zauberin aus und versuchte, sie von der Stelle hinter seinen Augen wegzuschleudern, aber die Magie, welche in ihn gefahren war und an den Bindegliedern seines eigenen Bannes zurücksprang, hinterließ auf ihrem Weg sengende Todespein, und er fiel, vor Furcht zusammengekrümmt... »Ich bin nicht hier, um Euch den Geist wegzubrennen«, erklärte die Herrin der Edelsteine klar und deutlich, »oder um Euch Qualen zu bereiten, Huldaerus - sondern um Euch Erleichterung von jeglicher Art von Magie zu bringen, welche Ihr bereithaltet, um Unheil damit anzurichten. 23 Meinen Dank dafür, dass Ihr mir einen so bequemen Weg in Euren Geist zur Verfügung gestellt habt. Das bedeutet, dass ich genug von Eurem Verstand übrig lassen kann und Ihr immer noch Ihr selbst seid und in ein paar Jahren wieder Magie wirken könnt.« »Gnade«, zischte der angekettete Zauberer, und seine Stimme klang verzerrt, da in ihm Furcht und Hass miteinander stritten. »Ich - ich bitte Euch darum, Frau!« »Das war aber mal eine äußerst charmante Bitte. Aber beruhigt Euch, Huldaerus. Ich bin nicht hier, um Euch persönlich irgendeinen Schaden zuzufügen, sondern lediglich, um mich um mögliche andere kleine Überraschungen zu kümmern, welche Ihr für uns bereithalten mögt, und zwar ...da.« Der Herr der Fledermäuse verspürte mehrere winzige, eisige Stöße, als einmal mehr vorbereitete Zauberbanne hervor gezwungen, dann zerbrochen und hinweggespült wurden, bevor sie Schaden anrichten konnten. Dann schien ein Vorhang in seinem Geist zurückzuschwingen, und ihm bot sich der Anblick des hellen, sonnenüberfluteten Tals von Treibschaum kurz nach Tagesanbruch, und wie an jedem Tag stahlen sich die letzten Nebelschwaden über dem mächtigen Silberfluss davon wie dahinhastende Geister. An der ersten Flussbiegung kamen die winzigen Gestalten von Frauen, welche zum Wäschewaschen hergekommen waren, in Sicht. Der Zauberer starrte sie an und versuchte, ihre Gesichter zu erkennen und in all ihrem fröhlichen Gelächter ein paar Worte zu verstehen, als eine Wasserhaspel flink wie ein Pfeil über ihre Köpfe hinwegflog, und ...
»Ich überlasse Euch diesem Anblick, auf dass Ihr darüber nachgrübeln könnt«, erklang Embras Stimme in seinem Kopf, und zwar mit so viel Wärme und Nähe, dass Arkle Huldaerus ob ihrer Herzlichkeit erschrak. Das und der Schlag mit der von Craer geschwungenen Brat24 pfanne, welcher ihn Stunden zuvor mitten in einem Zauberbann und umringt von der Bande der Vier niedergestreckt hatte, erschütterte den Zaubermeister mehr als alles, was er im vergangenen Jahr erlebt hatte. Ein Zittern überlief den hilflosen Magier. Und dann war sie verschwunden, und er fand sich allein in der Dunkelheit der Zelle wieder. Ganz und gar allein, enthüllte sich ihm der letzte seiner vorbereiteten Zauber, und ihm stand keine Fledermaus mehr zur Verfügung, deren Augen er sich bedienen konnte. Er versenkte sich ein weiteres Mal in den Anblick des Silberflusses, und er konnte die Nebelschwaden beinahe riechen und das fröhliche Geplapper beinahe verstehen - und wieder stieß er das Bild wütend von sich. Die Zeit würde kommen, da er den Trost dieses Anblicks brauchen würde, um nicht der Verzweiflung oder sogar dem Wahnsinn anheim zu fallen. Zurzeit gab es Wichtigeres, über das er nachdenken musste. Die Schlampe hatte wenigstens Wort gehalten und davon abgesehen, sein Gehirn zu zerblasen und ihn in einem Zustand zurückzulassen, in welchem es ihm nicht mehr möglich war, Zauber zu wirken oder zu wissen, wer er war. Oh, er wusste nur allzu gut, wer er war. Nämlich ein hilfloser, von Zaubern durchdrungener Magier, der mit dem Kopf nach unten in einer Gefängniszelle tief unter dem Palast von Treibschaum hing. Die Vorboten eines fürchterlichen Andranges nachtschwarzer Kopfschmerzen machten sich jetzt bemerkbar, als der Widerhall der Bratpfannenschläge dank des in seinen Schädel strömenden Blutes immer lauter und dröhnender pochte. Der Herr der Fledermäuse fletschte die Zähne und spuckte eine einzige wütende Beleidigung in die ihn umgebende Dunkelheit. Zorn und Schmerz rangen miteinander und trugen in seinem Inneren Kämpfe aus, während er da so schwer in den Ketten hing. An einigen Stellen fühlte er überhaupt nichts, an 25 anderen ein Pochen. Von Zeit zu Zeit laut stöhnend, trieb Arkle Huldaerus in einen stürmischen Sog und ließ sich einmal in diese, dann in die andere Pachtung ziehen ... Er schlief, jedenfalls glaubte er das. Allerdings schien es so, dass er nicht lange allein in der Dunkelheit gehangen hatte, als um ihn herum wieder Licht aufflammte. Dieses Mal handelte es sich um ein blauweißes Glühen, welchem die Wärme von Feuerschein fehlte. Es strömte aus der gegenüberliegenden Zellenwand, wo bislang nichts als Schwärze geherrscht hatte, und es bewegte sich. Bewegte sich? Huldaerus starrte auf den Schein. Schlief er noch und schaute auf ein Traumgebilde, oder hatte diese Silberbaumschlampe - oder die andere, ihre tückische Begleiterin - sein Gehirn mit Zauberbannen umnebelt, um ihn zum Reden zu bringen? Der Schein hatte jetzt eine Gestalt angenommen und trat ruhig aus der soliden Steinmauer - die Gestalt eines Skeletts mit zwei winzigen Sternen kalter Flammen, welche in seinen Augenhöhlen flackerten. Die Augen schauten den Zaubermeister an, und der angekettete Mann wusste, dass ein altes, bösartiges Bewusstsein hinter diesen Flämmchen lauerte, eine Heiterkeit, welche nichts Gutes über die Absichten welcher Kreatur auch immer verhieß, die sich dahinter verbarg. Eine Hand, deren Knochen alle klappernd hätten zu Boden fallen müssen, winkte ihm nachgerade leutselig zu, knöcherne Füße scharrten über den Zellenboden, und die Hand winkte noch einmal in seine Richtung, und dann schmolz das Skelett in die wartenden Steine, das Schimmern wurde schwächer und schwächer, und dann war es verschwunden. Arkle Huldaerus blinzelte in die Dunkelheit, die sich jetzt wieder rabenschwarz vor seiner Nase ausbreitete, schüttelte den Kopf und seufzte. Das war kein guter Tag gewesen, und der morgige hielt auch keine besseren Aussichten bereit. Beinahe beneidete er das Skelett um die Freiheit, durch Wände gehen zu können. 26 Trotz der eisigen Kälte in dem höhlenartigen Raum glänzte der kahle Schädel des jungen Mannes vor Schweiß. Der mit Schlangenköpfen geschmückte Saum seines Gewandes mit dem hohen Kragen wirbelte um nackte Füße, als erwachte Magie weißes Feuer um die Knöchel tanzen ließ, wobei ihr Schimmer über den spiegelglatten Boden des riesigen Raums tanzte. Ein Muster aus ineinander verschlungenen Schlangen mit aufgerissenen Mäulern schmückte seine weiten Ärmel, und auf dem glänzenden Fleisch seiner Unterarme und der Handrücken glitzerten Schuppen. Der Mann machte zwei wohlüberlegte Schritte nach vorn, wobei er leise vor sich hin sang, und riss die Hände hoch, als wolle er eine große Kugel aus Luft umfangen. Weiße Blitze flössen zögerlich aus seinen Fingerspitzen, um diese Kugel zu formen... und um sie herumzuwirbeln... und sich dann rankengleich um den Schlangenpriester zu winden und schließlich zu einem still wütenden, blendend hellen Glanz anzuschwellen. Das immer heller werdende Licht spiegelte sich in den aufmerksamen Augen der Schlangenpriester wider, welche ein ganzes Stück von dem Zauberbanne wirkenden Priester entfernt reglos auf zwei Reihen von Bänken dicht an der Wand des Raums saßen. Der kalte Schein wurde noch heller, als die Magie, welche ihn erweckt hatte, an Stärke zunahm - das Licht
blitzte auf und dehnte sich aus, wurde zu sich langsam drehenden Spiralen von Tentakeln um den Priester herum ... und verschmolz dann zu schlangenartigen Körpern, welche ganz und gar aus Blitzen bestanden. Aus den Schlangenkörpern sprossen Schlangenköpfe, die wieder und immer wieder um den Priester herumglitten in einem wogenden, immer schneller werdenden Tanz. Die zuschauenden Priester gaben keinen Laut von sich, aber einige unter ihnen beugten sich neugierig nach vorn. 27 Wie gebannt beobachteten sie die rasch aufeinander folgenden Zauber, welche in gleißender Helligkeit aufloderten, wobei sich einer über dem anderen aufbaute und der Priester in der Mitte Beschwörung nach Beschwörung herausschrie. Seine Stimme dröhnte laut vor Zuversicht, seine Finger krümmten sich wie wütende Schlangen und woben Zauber auf Zauber in immer rascherer Folge. Weiße Blitze umhüllten die Gestalt des Priesters, zogen sich in dicken Strängen über ihm zusammen, bis es so aussah, als ob ein regelrechter Wald aus ständig größer werdenden Schlangen ihren Schöpfer liebevoll umkreiste. Ihre ineinander verschlungenen Kräfte hoben den Priester langsam in die Höhe, bis der mannshoch über dem Boden auf leerer Luft stand, wobei seine Finger nach wie vor wilde Zauberbanne wirkten. Jeder neue Bann fuhr nach oben und dehnte sich bis zur hohen Decke aus. Die sich entfaltenden Zauberbanne schienen an etwas zu ziehen, was dort oben unsichtbar in der Dunkelheit hing und spinnwebdünne Kraftlinien herunterschickte -Kraftlinien, welche zu kaltem, hellem Feuer aufblühten, sobald sie die lautlos rasenden Schlangen berührten, die der einsame Priester heraufbeschworen hatte. Im Herzen des Lichts keuchte und stammelte er weiter Zauberbanne. Schweiß strömte an seinem Körper herab, seine Finger zitterten, und sein Körper erschauerte, als versuche er, den reißenden Sturmböen standzuhalten. Ein Zauberbann zerstob zu einem Funkenregen, dann erfolgte ein plötzliches, kurzes Gemurmel - teils bestürzt, teils zutiefst befriedigt - seitens der zuschauenden Priester, als sich der kahlköpfige Mann zusammenkrümmte, verzweifelte Worte schrie und in die Luft griff, als wolle er ein herbeistürzendes Ungeheuer abwehren. Funken fielen nieder, dann erfolgte eine weitere Explosion, zuerst hell, dann schwarz. Funken stoben in alle Richtungen, 28 und der Zauber wirkende Priester schluchzte verzweifelt. Eine Explosion nach der anderen riss die tanzenden Schlangen in eine sich rasend schnell drehende Wolke. Im flackernden Herzen wedelte der einsame, schweißüberströmte Priester wie wahnsinnig mit den absurd lang gewordenen Fingern und versuchte, mit einer Stimme, welche plötzlich wie eine Art lautes Zischen klang, Worte zu schreien. Eine gespaltene Zunge fuhr zwischen sich verzerrenden Lippen hervor, während die Blitze in Richtung Decke schössen und sich dort zu vielen hell leuchtenden Schlangenköpfen formten - die dann alle gleichzeitig zuschlugen und mit beängstigender Geschwindigkeit auf den wild gestikulierenden Mann niederfuhren. Der kahlköpfige Priester schrie angesichts dieser Zähne aus Licht laut und gellend auf. Seine plötzlich langen und gummiartigen Arme hoben und senkten sich hilflos in dem hell brodelnden Schein - und gingen dann in hoch auflodernde Flammen auf. Der Mann schrie wieder, tanzte grotesk in der brüllenden Feuersbrunst, sein Fleisch zerschmolz und wurde mit schrecklicher Schnelligkeit von den Knochen gebrannt. Kleinere Explosionen blühten auf und umhüllten den zuckenden Körper, und jede setzte einen Zauber des todgeweihten Priesters frei und verwandelte sich in eine gespenstische weiße Schlange aus flackernder Macht, welche sich unheimlich still krümmte und vorwärts wand. In dem unheimlichen Kreis sich wiegender, sich zusammenringelnder Schlangen tanzte der sterbende Priester weiter, während die Flammen sein Fleisch verzehrten. Seine Schreie wurden immer undeutlicher, schwächer und leiser, bis er schließlich immer noch zuckend hilflos zu Boden sank, wobei es ihn immer noch auf schreckliche Weise vor- und zurückriss wie eine Stockpuppe, welche auf dem Jahrmarkt zur Freude der Kinder rasend schnell um die eigene Achse gewirbelt wird. 29 Auf dem Boden ausgebreitet schmolz der Priester rasch, bis nur noch schiere Knochen übrig waren - und als nur noch ein Skelett dalag, tanzten die befreiten Zauberbanne, welche um ihn herumglitten, auf ihn zu und rollten sich in die sich in der Hitze verkrümmenden Knochen hinein und wieder heraus. Wo sie eindrangen, spaltete sich Gebein, zerfloss zu Rauchfäden, veränderte und ... verdrehte sich ... Von dem Skelett blieb bald nicht mehr übrig als ein brennender Schädel über einem Wirbel aus taumelnden Knochenresten, welcher unter dem Einfluss der gespenstischen Zauberbanne die sich krümmende Gestalt einer Schlange annahm. Die schwindende Schlange ringelte sich zusammen, bäumte sich bedrohlich auf - und der Schädel auf ihr explodierte in eine Wolke aus Knochenstaub. Die Knochen darunter verschwanden, und inmitten des Zusammenbruchs erhoben sich die letzten glühenden Streifen Magie, schwebten zu was auch immer hoch, was da oben hoch über aller Köpfe im Dunkel der Decke hing. Dort schimmerten sie für einen wirbelnden Augenblick um einen gesprenkelten, handgroßen schwebenden Stein, welcher allein mitten in der Luft hing. Die Magie leuchtete auf und sank in den Stein, und danach war kein Lichtschimmer mehr zu sehen. Als erneut Dunkelheit die Decke verbarg, wendeten die beobachtenden Priester den Blick von den
verschwundenen Fäden von Magie ab, pressten entschlossen die Lippen zusammen und seufzten - einige wehmütig, aber erheblich mehr durchaus erleichtert. »Dieser Fehler kam nicht unerwartet«, sagte ein Mann in die Stille, und seine kalte Stimme klang laut, fest und hart. »Sollen wir fortfahren?« Ein anderer Priester hob eine Hand. »Das sollten wir - und nun, da Guldhart uns verlassen hat und seine Prahlereien und 30 Ansprüche mit ihm, ist eine Sache ganz klar: Keiner von uns verfügt über die Macht, um den Thrael zu beherrschen. Die Große Schlange ist nicht zu uns zurückgekehrt. Noch nicht.« Ein dritter, viel jüngerer Priester fragte: »Könnte nicht jeder von uns ein paar Thrael-Zauber wirken, auf dass wir sie zusammenfügen und auf diese Weise aus unseren eigenen Reihen einen Rat stellen? Muss es denn ein einzelner Mann sein?« Der erste Mann erhob sich und antwortete: »Ich höre nicht nur Eure Stimme, Lothoan, sondern die Eurer ganzen Art: der Jungen, Eifrigen und Rastlosen unter uns Brüdern, welche nach Macht dürsten und nicht die Schwierigkeiten von Veränderungen sehen, solange sie uns nur so schnell wie möglich mehr Macht verleihen. Hört mir jetzt alle zu, die ihr noch nicht trocken hinter den Ohren seid. Hört und lernt.« Caronthom, der Reißzahnmeister, drehte sich langsam um und musterte eindringlich all die in Roben gehüllten Männer auf ihren Bänken. Keine Frau befand sich unter ihnen; er selbst und die Messer der älteren Priester, welche seine Meinung teilten, hatten dafür gesorgt. Weibliche Priester waren bösartig und verräterisch, wenn auch verlockend; wenn es zu offenem Unfrieden kam, blieb immer noch Zeit genug, welche zu ernennen, zumal solche Eigenschaften den Brüdern nützlich sein und zu guter Letzt als Begründung dienen mochten, die Frauen zu töten, sollte es sich denn als notwendig erweisen. »Die Schlange, welche uns alle hervorbrachte, ist niemals ein Gott gewesen. Sie war zunächst ein sterblicher Mann, ein großmächtiger Zauberer - so wie alle seine Nachfolger, Große Schlange auf Große Schlange. Keiner unter uns drängt sich besonders danach, einem Tyrannen zu dienen, aber genau so muss es sein. Nur einer unter uns kann jeweils der Herr des Thrael sein. Sobald er gewirkt ist, besteht der Thrael als ein Netz aus Ma31 gie, dessen Ausschläge viele unter jenen töten, welche mit ihm verbunden sind, falls jemand den Versuch unternimmt, dem Schöpfer die Kontrolle über den Thrael zu entreißen oder einen zweiten Thrael zu wirken, welcher mit dem ersten in Berührung kommt. Wenn wir zur Großen Schlange beten, dann wird unsere Anrufung über den Thrael an ihn weitergeleitet, und diese Anrufungen kann die Große Schlange hören. Falls es ihr gefällt, dann schickt sie uns Zauberbanne zurück oder Heilzauber oder schiere Energie, welche sich aus ihrer eigenen Macht speist - und das ist unser aller Macht, die wir vom Thrael berührt sind. Und unser Leben und das eines jeden Opfers, welches wir dem Ritual folgend töten, stärkt den Thrael und die Große Schlange, und sie gibt uns Macht zurück. Falls es ihr gefällt. Vergebt mir meine deutlichen Worte, aber es ist an der Zeit, sogar allerhöchste Zeit, dass ihr die Wahrheit hört ohne all den heiligen Unsinn, mit welchem wir sie immer verhüllen müssen, um dieses allerhöchste Geheimnis vor jenen zu verbergen, welche einem Laienglauben folgen.« Caronthom seufzte, warf den Kopf in den Nacken und fuhr fort: »Und so sage ich es noch einmal: Die Schlange war einst ein Mensch und kein Gott. Große uralte Magie bewirkt die immer wiederkehrenden Erscheinungen der Schlange und die des Drachen, welcher sich ihr entgegenstellt. Göttliche Magie, wenn euch das besser gefällt Magie, welche wir nicht länger verstehen und auch nicht zu beherrschen, zu vergrößern oder zu zerstören wissen. Die Schlange gab uns ihre Lehren, die Geheimnisse der Thrael-Zauber und wie sie wirken -und die geheiligten Schriften über das, was sich vorher ereignete als Lektion für uns alle, was wir zu tun und zu lassen haben, um Macht zu gewinnen.« Er schritt langsam an den Bänken vorüber und begegnete unverwandt den Blicken einiger unter den darauf sitzenden Priestern. Dann fügte er hinzu: »Deshalb ist dieser Rat zusam32 mengekommen. Wie immer, wenn wir nach größerer Macht in Aglirta streben, müssen wir unsere Verschwörung planen, daran arbeiten und sie verfeinern - denn kein Gott leitet uns. Wir alle haben beobachtet, wie Ghuldart das Wagnis einging und scheiterte und so seinem Schicksal anheim fiel - und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass, wenn man seine übermäßig ehrgeizige Torheit beiseite lässt, Ghuldart der zuversichtlichste und mächtigste Sucher in unseren Reihen gewesen ist, die wir alle danach streben, den Thrael zu beherrschen. Keiner von uns verfügt über ausreichend Macht, diese Zauberbanne zu überleben.« Der zweite Priester erhob sich. »Jedes Wort, welches Ihr sprecht, ist die reine Wahrheit, Caronthom. Selbst dem Jüngsten, Ruhelosesten und Grausamsten unter uns sollte klar sein, dass die dringlichste Aufgabe dieser Versammlung jetzt feststeht.« Er begann ebenfalls, an den Bänken vorbeizuschreiten. »Ihr kennt mich als Raunthur den Weisen. So vernehmt denn meine jüngste Einsicht und nehmt sie als nichts als die reine Wahrheit. Wir kamen hierher, um darüber zu beratschlagen, wie wir die Macht im Tal gewinnen könnten, vermochten aber keinerlei Beschluss zu fassen, solange Ghuldart nicht zum Rang der Großen Schlange aufgestiegen war. Sein Versagen bedeutet, dass wir einen Zauberer finden und für unsere Zwecke einspannen müssen, welcher
mächtig genug ist, um die neue Große Schlange zu werden, auf dass wir zu guter Letzt Aglirta erobern. Jeder unter uns - selbst wenn wir vor allen anderen Dingen gegen die Beamten und die Autorität des Königsjünglings arbeiten - muss nach passenden Männern suchen, damit wir unseren Anführer finden. Um mit den Worten der Alten Viper zu sprechen, welche Caronthom und mich anleitete: >Der Tyrann, welchem wir alle zu gehorchen haben, muss gefunden werden. Übel des Wahnsinnsgöttliche Strafe für Missherrschaft< flüstert, dann wird das dazu beitragen, die Herrschaft von Treibschaum zu schwächen. Wenn die Zeit 35 gekommen ist, werden sich alle von euch das ganze Tal hinauf und herab an der richtigen Stelle befinden und daselbst die Macht übernehmen.« Raunthur erhob die Stimme. »So viel zu unserem Plan -und jetzt lasst eure mannigfaltigen Spionierereien sein. Ihr alle werdet ohnehin die sich zur rechten Zeit enthüllenden Einzelheiten erfahren. Salaunthus?« Ein alter Priester mit einem von Narben gezeichneten Gesicht erhob sich von seiner Bank, nickte ehrerbietig Raunthur und Caronthom zu, räusperte sich und erklärte steif: »Meine Versuche haben Erfolg gezeitigt. Die Zauber, mit welchen ich gearbeitet habe, vermögen nun die Auswirkungen des Giftzaubers zu brechen, und noch dazu wiederholt und zuverlässig. Ich - äh - mehr habe ich nicht zu sagen.« Er setzte sich wieder. Der Herr der Giftzähne nickte. »Arthroon?« Ein auf düstere Weise gut aussehender Priester erhob sich, lächelte kalt und verkündete: »Belgur Arthroon aus Faulbaum. Das Dorf ist klein, und dementsprechend habe ich Vorsicht walten lassen und nur einige wenige Weinkaraffen und Wassereimer verzaubert. Bis jetzt sehen die Auswirkungen folgendermaßen aus: Erfolg auf
der ganzen Linie. Ich werde bald in der Lage sein, genaue Angaben zur Dosierung und der Menge der unterschiedlichsten Getränke zu machen, so dass ganz bestimmte Resultate erzielt werden können. Wie immer bei solchen Zaubern muss man ganz genauen Anweisungen folgen oder viel üben, um ein Gefühl für die Aufgabe zu bekommen.« Der Herr der Giftzähne nickte, und Arthroon nahm wieder Platz. »Wir sind lange genug unseren Festungen und unseren Posten im Tal ferngeblieben«, sagte Caronthom entschlossen, »so legt denn nun dieser Versammlung jede andere Frage, jedes Kümmernis oder jeden Wunsch der Brüder vor. Sprecht, Brüder, bevor wir diese Versammlung auflösen und jedem 36 von euch die Schriftrolle übergeben, welche den Giftzauber enthält.« Keiner erhob sich, aber auf den Bänken machte sich Unruhe breit. Mehr als ein Priester beugte sich vor, als könne er die versprochenen Rollen aus der leeren Luft greifen wie ein Falke eine Feldmaus. Caronthom beobachtete seine Mitbrüder und lächelte wieder. »Dann lasst uns diese Versammlung beenden. Raunthur?« Der ältere Priester, welchen man den Weisen nannte, schritt zu einer Tür, die kurz aufschimmerte, als er die Hand darauf legte, und dann langsam und wie von selbst knarrend aufschwang. »Schriftrollen, eine für jeden«, sagte er knapp. »Nicht drängeln.« Hätte es auch nur ein Bruder gewagt, einen solch tödlichen Fehler wie einen neugierigen Blick zu riskieren, dann hätte er einen jüngeren Priester dabei beobachten können, wie der, seine kostbare Schriftrolle umklammernd, rasch einen dunklen, wenig benutzten Gang hinunterschlich, sich durch eine unbeleuchtete Türöffnung schob, eine Treppe hinaufschritt und schließlich durch eine weitere Tür trat, die vor Wächterzaubern glühte, die wenigstens genauso mächtig waren wie jene, welche Raunthur benutzt hatte, um die Schriftrollen zu bewachen. Sobald er diese Tür hinter sich gebracht hatte, streckte der junge Priester einen Arm aus, welcher gute vier Fuß länger war als der andere - oder der Arm eines jeden anderen Menschen -, und drückte an einer Ecke eines ganz bestimmten Steins in der Wand. Der drehte sich, schwenkte nach innen und enthüllte eine dahinter liegende Höhlung, in welche er die Rolle schob - und anschließend die Schlangengewänder. Sobald sich der Stein wieder an seinem alten Platz befand, wandte sich der nackte Priester ab, und sein Gesicht und sein Körper verwandelten sich in etwas ganz anderes als einen Schlangenpriester. Wieder streckte er einen Arm aus, welcher viel länger wurde, als ein menschlicher Arm von Rechts we37 gen hätte sein dürfen, und öffnete eine andere von einem Stein verdeckte Höhlung. Ein Kittel, kurze Hosen und Stiefel wurden herausgeholt und angezogen, geschickte Finger zeichneten Wächterzauber über beide Steine und die Innenseite der Tür, welche den Eintritt in den Gang gestattet hatte, und ein Bauernknecht stieg sechs Stufen hinunter, vollführte eine bestimmte Handbewegung und rief so aus dem Nichts einen Wirbelwind sich spiralförmig windenden Lichts ins Leben. Durch diesen Wirbel trat er hindurch und - verschwand, und die Spirale stürzte in sich zusammen, verzehrte sich und kehrte dorthin zurück, woher sie gekommen war. Erst dann blinzelte ein unentdeckt gebliebenes dunkles Wächterauge, welches hoch oben in einer Ecke des Ganges trieb, zweimal und verschwand dann seinerseits um die entfernteste Biegung des Ganges, welcher in eine nahe gelegene Kammer führte, in der ein anderer Priester mit der gerade empfangenen Schriftrolle stand. »Nun, nun«, murmelte er. »Ein gefährlicher Gestaltwandler weilt unter uns. Meine Güte. Dagegen müssen wir etwas tun.« Sein Gesicht zerschmolz und nahm die Form eines ganz anders aussehenden Antlitzes an. »Wettbewerb kann so gefährlich sein.« »Erinnert mich daran«, grollte Hawkril, »dass wir wieder blindlings durch das Tal reiten und uns als Opfer anbieten müssen, wenn wir die Dwaerindim finden wollen. Könnt Ihr nicht einfach Euren Dwaer benutzen und sie aus der Ferne aufspüren?« Embra seufzte. »Das kann ich durchaus, ja, aber solange der Träger eines Weltensteins ihn nicht für einen ausgesprochen mächtigen Zauberbann benutzt oder gerade damit beschäftigt ist, seine Macht heraufzubeschwören, oder ihn aus Unwissenheit erweckt und in Flammen stehend mit sich herumträgt meinethalben, um Licht an einem dunklen Ort zu ha38 ben -, vermag ich ihn nicht zu sehen. Wenn ich selbst die Kräfte meines Steins nicht berühre und ihn versteckt halte, könnte jemand, welcher seinerseits einen Dwaer benutzt, um meinen aufzuspüren, neben mir stehen, ohne zu wissen, dass ich ihn bei mir trage. Einige Tricks stehen jenen zur Verfügung, welche zwei Dwaerindim besitzen und zur Suche verwenden, aber selbst dann müssen sie sich ganz in der Nähe des gesuchten Steins befinden.« Tschamarra nickte. »Mehr als das: Man kann die pure Dwaer-Kraf t nur aus der Ferne sehen - wenn derjenige, welcher sie heraufbeschwört, sie nur dazu nutzt, um Dwaer-Zauber zu verstärken, dann sieht man gar nichts.« »Wie wäre es, wenn wir Euch irgendwo hoch oben in einen Turm setzen würden? Wir könnten Euch bewachen und mit Essen versorgen, und Ihr müsstet nur den ganzen Tag über Euren Dwaer benutzen und suchen«, schlug Craer vor. Embra bedachte ihn mit einem Lächeln, welches ein wenig schief ausfiel. »Mein Stein würde die ganze Zeit über erwacht sein. Jemand - oder etwas - würde mich mit fast vollkommener Sicherheit sehen und herbeieilen, um sich den Dwaer zu schnappen und mich zu töten.«
»Und so in unsere Reichweite gelangen«, ergänzte der Beschaffer siegesgewiss, »und uns die Gelegenheit verschaffen, uns das Schlachtfeld selbst auszusuchen.« Die Edle Talasorn seufzte. »Ich bezweifle, dass sie ihre Ankunft ankündigen würden, mein Herr. Sie würden Späher aussenden und erfahren, wo wir alle uns befinden und wie man uns am besten umbringt. Das Erste, was Ihr von einem Kampf mitbekämt, wäre ein Stoß des Dwaer-Zaubers, welcher Euch das Fleisch von den Knochen reißt.« Craer schaute die Edle an - und grinste plötzlich von einem Ohr zum anderen. »Meine Güte, das Tal ist zu dieser Jahreszeit wirklich wunderschön! Ich verspüre das plötzliche Verlangen, ein Pferd zu besteigen und loszureißen.« 39 Schwarzgult hatte kein Wort gesprochen und bewahrte auch weiterhin Stillschweigen, aber er lächelte. Jedenfalls beinahe. Zwei \\)ie man einen Stein sucht und Ärger findet Der Schmied schüttelte seine Zange, um zu überprüfen, ob er sie auch fest genug gepackt hatte, hob die sich abkühlende, dunkler werdende Stange und warf sie in den Eimer mit Öl. Zischender Rauch stieg auf - in welchen er nachdenklich spuckte, bevor er seinen Hammer niederlegte und sich mit einem Ächzen aufrichtete. »Seid ihr bereit?« Zwei Männer, welche damit beschäftigt waren, die letzten Riemen und Schnallen, die das große Zugpferd hielten, festzuzurren, blickten auf. »Ja, Ruld. Er ist festgebunden.« Der Schmied nickte. »Nun, das war's. >Flusslauf hält für keinen Menschen still, so wird jedenfalls gesagt.« »Ja«, erwiderten beide Bauern und fügten beide wie mit einer Stimme den Rest des Satzes hinzu: >»Nicht einmal, wenn der Erwachte König es befiehlt.« Ruld schnaubte, während er quer durch seine voll gestopfte Schmiede ging. »Irgendein Erwachter König! Erwacht und einfach so wieder verschwunden, und ein törichter Jüngling sitzt an seiner statt auf dem Thron. Wenn sie schon irgendeinen zufällig dastehenden Grünschnabel auswählen mussten, dann hätten sie besser daran getan, einen Bauern auszuwählen - dann hätten sie wenigstens jemanden gehabt, der sich mit Saat und Ernte und so weiter auskennt!« »Richtig! Besser einen Hausierer aus Sirl als diesen Jungen von einem König«, stimmte Ammert Branjack zu und klopfte die riesige Flanke seines Pferdes. »Sie hätten ebenso gut einen Kaufmann vom anderen Ende der Welt auf den Thron setzen können! Was haben sie sich nur gedacht?« 41 »Tja, genau das ist es«, meinte sein Freund Drunter und spuckte gedankenverloren in eine Ecke, in welcher sich rostige Überreste alten Metalls stapelten. »Sie denken nicht in Treibschaum. Wenn sie es täten, wäre nicht das halbe Königreich tot, würde sich nicht jeder dritte Mörder zum Fürsten aufschwingen und die zischenden Schlangenköpfe immer noch hinter jedem Baum lauern.« »Hoho!«, brummte der Schmied. »Man kann ihnen wie dem ganzen Rest nicht trauen, zudem lieben sie es, Drohungen auszustoßen - aber die Schlangen zahlen in barer Münze und sind auch nicht schlimmer als irgendein Fürst, und ich habe es nie zuvor erlebt, dass mir ein Fürst Wasser geholt hätte, um mir einfach nur zu helfen und ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu verlangen!« Er wischte sich mit einem stämmigen Unterarm über die Brauen, blinzelte auf die in seiner Handfläche liegenden Nägel und schüttelte den Kopf. »Bei der Dreifaltigkeit, wie ist mir heute heiß«, grollte er. »Ich weiß auch nicht, warum. Eigentlich sollte ich nicht so in Schweiß ausbrechen, nachdem ich doch nur kurz an der Esse gestanden habe ...« Er nahm einen langen Schluck aus dem Behälter keine zwei Schritte von seinem Amboss entfernt, rang nach Luft und schüttelte noch einmal den Kopf. »Ihr seht blass aus, Ruld«, erklärte Dunhuld Drunter hilfsbereit. »Das kommt davon, dass Ihr den Bauernmädchen dauernd schöne Augen macht, dessen bin ich mir gewiss!« Er versuchte sich an einem Lächeln, aber das verging ihm rasch, als der Schmied mit einem Ächzen antwortete. »Äh, aber wenigstens hält das Wetter«, bot Branjack an, »und wenn es so bleibt, wie es jetzt den Anschein hat, so werden wir gewiss eine gute Ernte haben.« Der Schmied spuckte wieder aus und schüttelte grimmig den Kopf. »Und wer soll sie einbringen, wo es doch so viele Tote gibt? Der Weizen ist nichts als eine zusätzliche Mahlzeit für die Krähen, wenn er auf den Feldern verrottet. Die Kauf42 leute aus Sirl werden keinen müden Groschen dafür bezahlen, dass er geerntet und gedroschen wird, und sie werden nicht anständig bezahlen, wenn sie geltend machen können, dass es Weizen im Überfluss gibt. Manche behaupten das bereits jetzt, obwohl doch im ganzen Tal noch keine einzige pflanze so richtig gesprossen ist!« »Schon, aber Ruld, wir haben doch schon zuvor Kriege und plündernde Fremdlinge und Missherrschaft erlebt und schlechtes Wetter noch dazu -, und dennoch war noch immer genug da, um jeden Magen in Faulbaum zu füllen, und Aglirta besteht immer noch. Oh, Fürsten erheben sich und fallen auch wieder, und zweifellos hätte man jede Menge Leben und auch so manches schöne Geld retten können, hätte nicht Hader im Land ohne König, sondern ein guter, starker König gerecht von Treibschaum aus geherrscht. Aber welcher Mann hat das je im
Leben gesehen, obschon Jahr für Jahr vergeht? Und dennoch haben wir immer noch ein Königreich, um welches uns die Leute aus Sirl trotz all ihres Geldes glühend beneiden.« »Tja«, gab der Schmied zurück, und ein seltsam grünlicher, dann purpurfarbener Schimmer überlief für einen Augenblick sein Gesicht, »und ich bezweifle nicht, dass das Tal schon seit langem über Sirlptar herrschen würde, hätte es denn in Aglirta weniger Narretei seitens der Fürsten und weniger nutzloses Blutvergießen gegeben. Und wir alle hätten Geld genug, um uns darin wälzen zu können.« »Und dann würdet Ihr das Dutzendfache dessen verlangen, was Ihr jetzt für Eure Dienste nehmt, Ruld«, erwiderte Drunter, »so wie wir das alle halten würden. Und wo sollte dieses Goldene Aglirta herkommen, in welchem die Götter die Fürsten dazu bewegen, sich anders zu verhalten, als Fürsten das immer und überall getan haben? Und dafür Sorge tragen, dass das Wetter großartig ist und die Bewohner jedermanns Freund, und dass zudem die Schurken aus ganz Darsar und 43 die Schwindler, welche die Stadt von SM hervorbringt, weit wegbleiben?« Der Schmied schüttelte den Kopf wie ein Pferd, welches lästige Fliegen vertreiben will, gab ein wortloses Grollen von sich, nahm Hammer und Hufeisen auf und näherte sich dem festgebundenen Pferd. »Bringt mich nicht in Versuchung, kluge Antworten zu geben, Freund Drunter«, murrte er, als er das Hufeisen wie immer an einen Haken hängte und den Pferdehuf ergriff, welchen er beschlagen sollte, »und ich werde keine unmöglichen Geschichten spinnen.« »Weise Worte, Ruld«, sagte Branjack rasch, da ihm der Ton in der Stimme des Schmiedes nicht entgangen war. »Weise Worte! Wir alle tun gut daran -« Der Schmied richtete sich am ganzen Körper zitternd auf und wirbelte dann mit beängstigender Geschwindigkeit herum und schlug Branjack mit dem Hufeisen mitten ins Gesicht. Mit einem gurgelnden Schrei taumelte der Bauer hastig zurück - und fiel hart auf sein Hinterteil. Er traf wimmernd vor Furcht auf dem Boden auf, versuchte, eilends wegzukommen und in Sicherheit zu kriechen, aber der Hufschmied setzte ihm schwitzend und mit wild rollenden Augen nach, wobei er seinen Hammer schwang und Drunter mit einem einzigen Schlag zu Boden gehen ließ. Dunhuld kam ebenfalls hart auf, und sein Schädel zerbrach wie eine Eierschale. Ein Kieferknochen baumelte lose am Gelenk, und aus den Augen troffen Blut und Hirnmasse, und einmal - und noch dazu für alle Ewigkeit hatte der Mann nichts zu sagen. Branjack sprang schreiend aus der Tür der Schmiede. Männer kamen herbei und spähten in den Raum, um zu sehen, was sich dort ereignete, denn Faulbaum war kein so großes Dorf, als dass man allzu oft handfeste Unterhaltung dargeboten bekam, und bei Rulds Schmiede handelte es sich um einen 44 Ort, an welchem sie sich in angenehmer Gesellschaft zu treffen und zu reden pflegten. Alle achteten Ruld als einen Mann, welcher sein zumeist treffendes Urteil mit ein paar knappen Worten zum Besten gab und niemanden daran hinderte, so lange und freimütig zu sprechen, wie es ihm beliebte. Branjack packte den ersten Mann, welcher ihn ansprechen wollte, und stieß ihn zur Seite - was ihn für die Zeit am Leben erhielt, welche der Schmied brauchte, um jenen Mann umzubringen, dann den nächsten und den übernächsten. Dann rannte auch schon jeder, der sich der Schmiede genähert hatte, davon, und in ihrer Mitte befand sich ein schluchzender, brüllender Ruld wie ein Wolf, welcher inmitten einer davonstürmenden Viehherde zuschlägt. Ein Mann fiel und verspritzte sein Hirn über den Boden, dann ging ein anderer nieder und prallte wie ein weggeschleuderter Getreidesack mit gebrochenem Genick und baumelndem Kopf auf die Erde. Fluchend versuchte ein Dritter, ein Messer aus dem Gürtel zu ziehen, aber der Schmied schnitt ihm mit einem wilden Wutgebrüll den Weg ab und schlug ihn mit einem Hagel brutaler, Knochen zermalmender Hiebe nieder. Branjack schaffte beinahe den ganzen Weg die Straße hinunter, bevor das von der Hand des Schmiedes geschwungene Hufeisen den Kittel über seiner Schulter sowie die Haut darunter aufriss und dann einem seiner Ellbogen einen betäubenden Schlag verpasste, welcher ihn herumriss. Dem stier glotzenden Schmied Auge in Auge gegenüberstehend, verschwendete der Bauer keine Zeit damit, den Versuch zu unternehmen, sich umzudrehen, sondern duckte sich unter Rulds Arm hindurch und rannte zurück in Richtung Schmiede, wobei ihm die wilde Idee durch den Kopf schoss, dass der Schmied wohl kaum seinen eigenen Amboss zerschmettern oder die Esse zerstören würde und er deshalb zumindest für kurze Zeit Schutz hinter beiden finden mochte ... Dieser Gedanke starb zur gleichen Zeit wie Branjack, dem 45 auf der Schwelle zur Schmiede ein Beschlaghammer so tief in den Schädel getrieben wurde, dass der beinahe bis zum Anfang der Wirbelsäule eindrang. Heulend raste Ruld quer durch den warmen, vertrauten Raum. Den blutigen Hammer trug er in der einen, das mörderische Hufeisen in der anderen Hand - und dann begann er damit, wie wahnsinnig Drunters Zugpferd zu beschlagen. Dass angebundene Ross bäumte sich wiehernd auf und schrie dann so laut wie die Dorfbewohner und noch ein wenig lauter - und als es zum dritten Mal bockend ausschlug, rissen die abgewetzten Lederriemen, und das Ross schoss um sich tretend nach vorn.
Der unbeschlagene Huf zerschmetterte Ruld die Rippen wie trockenes Anmachholz und ließ ihn krachend in sein Werkzeug stürzen. Das Pferd brach immer noch austretend durch die Halbtür, während sich der nur noch halb benommene Schmied auf die Füße kämpfte, nach Luft schnappte und schwächlich in die Luft griff ... und allem Anschein nach das Blut auf seinem Körper und die niedergestreckten Leichen seiner Freunde zum ersten Mal sah. »Nein«, keuchte er entsetzt und taumelte vorwärts, wobei ihm der Hammer aus der kraftlosen Hand fiel. Alles um ihn herum wurde undeutlich ... »Nein! Bei der Dreifaltigkeit, nein ...« Aber die drei fühlten sich nicht bemüßigt, ihm zuzuhören, wie es schien. Bucklund Ruld brachte zwei weitere Schritte zustande, ehe er zusammenbrach, aufs Gesicht fiel und starb. »Die so genannte Bande der Vier hat bereits zweimal alles zunichte gemacht, was unsere Brüder auf sie zu schleudern vermochten, Bruder Landrun - und obsiegt. Lasst Euch weder von der Possenreißerei des Hochfürsten Delnbein täuschen noch von der zur Schau gestellten Stumpfheit, welche der 46 Hochfürst Anharu der Welt zu zeigen beliebt. Sie sind mitnichten die untauglichen Narren, welche sie zu sein scheinen.« »Ja, Meister - und da wir dies wissen, sollen wir -?« »Wir werden erst einmal auskundschaften, wie sich die Blutpest für uns anlässt, bevor wir weitere Schritte unternehmen. Ihr und ich prüfen, beobachten - und wachen zudem über den Schuppenmeister Arthroon und seinen Reißzahnbruder Khavan, so dass sie nicht etwa ihre eigenen ungeschickten Experimente anstellen. Ihr wisst, dass die Blutpest nur wenige verschont, dafür aber umso mehr in den Wahnsinn treibt. Wisst denn zu diesem Zeitpunkt so viel: Wieder andere werden durch die Pest in reißende Bestien verwandelt.« »Reißende Bestien? Verrückt oder hungrig oder verzehrt von dem Verlangen, alles abzuschlachten, was ihnen vor Augen kommt?« »Die meisten von ihnen schon. Und wenn man unseren allergeheimsten Büchern Glauben schenkt, sind einige sogar dazu geeignet, uns in einer noch viel umfassenderen Weise zu dienen.« »Und diese umfassendere Weise< -?« »Geduld, dann werden wir schon sehen.« »Aber ...« »Landrun, wer von uns beiden ist ein Fürst der Schlange?« »Meine Güte«, bemerkte ein sich im Sattel krümmender Craer, »als unermüdlich umherstreifender Hochfürst lernt man wenigstens eins zu würdigen, nämlich wie verdammt groß das Tal ist.« »Ich nehme an«, neckte ihn Tschamarra, »dass es Euch lieber wäre, wenn sich alle Feinde des Königs gehorsamst am Hofe einfänden und sich in Reih und Glied aufstellten, um uns zu empfangen.« »Nun«, überlegte Craer gut gelaunt, »das würde mein Hin47 terteil schonen und zudem Pferde sparen. Wir könnten die Feinde der Krone zu festen Zeiten erschlagen, bis zum Abend fertig sein und dann im Weinkeller feiern.« »Und es auf diese Weise den Dienern ersparen, die Flaschen treppauf, treppab zu schleppen«, bemerkte Schwarzgult. »Eure löbliche Rücksichtnahme auf andere überrascht mich denn doch, Fürst Delnbein - dies ist eine Seite, welche ich bislang nicht an Euch entdeckt hatte.« »Mein guter Fürst Schwarzgult«, gab Craer in schockiertem Ton zurück, »Ihr erstaunt mich. Immerhin habt Ihr selbst mich vor etlichen Jahren als Beschaffer für Eure Armee in Dienst gestellt. Kann es sein, dass Ihr vergessen habt, woraus die Tätigkeit eines Beschaffers besteht? Lasst aus dem reichen Schatz Eurer Erinnerungen fließen, dass Beschaffer rücksichtsvollerweise solche Leute erleichtern, welche zu viele Besitztümer ihr Eigen nennen oder sie zu wenig schätzen, um sie allzu sorgfältig zu bewachen -, und ebendiese Gegenstände in den Besitz jener überführen, welche den wahren Wert kennen und bereit sind, einen angemessenen Preis dafür zu zahlen?« »Craer«, meinte Embra freundlich, »zügelt Euch. Die Philosophie von Beschaffern ist viel zu krumm und schief, um unterhaltsam zu sein, selbst wenn der Zuhörer beschwipst sein sollte - und wir alle sind derzeit weit von einem solchen Zustand entfernt.« »Und genau aus diesem Grund beschwor ich auch das Bild des Weinkellers von Treibschaum«, gab Craer todernst zurück. Das ganze Königreich nach verschwundenen Fürsten abzusuchen und all denen, welche einen Dwaer-Stein in ihrem Besitz haben mögen, macht durstig.« »Ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass König Raulin > zwingend notwendig und ganz genau < sagte und nicht >durstigverfluchten Aglirtas« »Zweifellos, und nicht ohne Grund, aber ebenso sicher wissen wir es doch besser - und geben unser Bestes, um den Gegenbeweis anzutreten.« »Wir schweifen ab«, knurrte Hawkril. »Lasst uns davon ausgehen, dass der König so gut beschützt wird, wie wir das zu diesem Zeitpunkt bewerkstelligen konnten, und uns unserem eigenen Fortkommen zuwenden: Entweder über Land oder ein Halt in der Nähe von Osklodge, aus welchem Grund auch immer -, oder sollen wir lieber weiterziehen nach Stornbrücke oder nach Jhalaunt? Und welchem von beiden?« »Stornbrücke«, meinte Craer ohne zu zögern. »Dort gibt es mehr zu tun.« Embra hob eine Augenbraue. »Stehlen, meint Ihr doch, oder?« Der Beschaffer zwinkerte ihr zu. »Edle Silberbaum, Ihr verletzt mich. Ihr verletzt mich zutiefst -« »Noch nicht, Hochfürst Delnbein, aber das Schicksal, welches Ihr heraufbeschwört, mag Euch bald ereilen, wenn weiter solch närrische Hinterlist von Euren Lippen kommt«, beschied ihm Embra. »Unterdrückt für dieses eine Mal Eure klugen Bemerkungen, und sprecht geradeheraus. Ihr gebt Stornbrücke den Vorzug. Aus ganz anderen Gründen schließe ich mich Euch an.« Craer grinste. »Mehr Gelegenheiten, Gewänder zu kaufen, in ordentlichen Betten zu schlafen und sich die Läden anzusehen?« »Wer verletzt jetzt wen? Ich dachte eher daran, dass in die54 gern Ort viel eher jemand mit einem Dwaer anzutreffen sein wird, immer vorausgesetzt, dass unsere Mitbewohner des Tals sich nicht gedulden und schon gar nicht Schätze für längere Zeit versteckt halten können.« »Sarasper brachte das fertig«, grollte Hawkril. Alle schwiegen, dann seufzte Craer, wandte sich um und schaute
den Fluss hinauf, als könnten seine Augen irgendwie die sich über Meilen erstreckenden Bäume, Hügel und Flusswindungen durchbohren bis zu der mit Gras bewachsenen Anhöhe am anderen Ende von Treibschaum, wo sie ihren Freund begraben hatten. »Und er wurde darüber alt«, sagte Embra leise, »so wie die Krähe von Kardassa. Erinnert ihr euch daran?« Zustimmend stieß Schwarzgult etwas aus, das einerseits einem Knurren, andererseits einem Schnauben glich. »Ich fühle mich dieser Tage auch nicht mehr ganz jung.« Craer grinste den Fürsten an. »Also reitet Ihr mit uns, um Eure verlorene Jugend wiederzugewinnen. Noch einmal die Gelegenheit zu haben, auf Abenteuer zu ziehen, großspurig zu prahlen und den Weibern hinterher zustellen wie ein Jüngling!« »Wirklich? Ist das der Grund dafür?« Der Mann, welchen man einst in ganz Aglirta als den Goldenen Greifen gekannt hatte - den am besten ausschauenden und schneidigsten aller Fürsten -, stellte seine Frage in mildem Ton, während sein Sattel unter ihm quietschte. »Und noch dazu vor den Augen meiner Tochter?« Wieder hob Embra eine Augenbraue. »Hat Euch das je zuvor abgehalten?« Ihr Vater bedachte sie mit einem Lächeln, in dem mehr als nur ein Hauch von Traurigkeit enthalten war. »Ich gehöre nicht zu jenen, welche dem einen dieses, dem anderen wiederum ein anderes Gesicht zeigen - obschon ich genau deswegen mehr als einmal in Zwistigkeiten und Ungemach geraten 55 bin. Viele Fürsten glauben, es sei am leichtesten zu regieren, wenn sie immer und unter allen Umständen ein fröhliches Gesicht zeigen, aber das ist eine Schwäche, welche sie auf lange Sicht ins Verderben stürzt. Aber sie glauben, sich auf diese Weise den einen oder anderen Tag leichter zu machen.« »Aber wie steht es mit der Pflicht eines Fürsten seinen Untertanen gegenüber?«, fragte Tschamarra leise. »Wenn ein Fürst die Schwerter eines stärkeren Nachbarn geradezu einlädt, indem er das Falsche sagt oder tut, welche >Stärke< liegt dann darin - zumal er nicht wenige seiner Untertanen, welche doch mit seiner Auseinandersetzung rein gar nichts zu schaffen haben und ohnehin nicht um ihre Meinung gefragt werden, zum Untergang verdammt? Mit allem Respekt, Fürst Schwarzgult, aber ich wiederhole: In anderen Ländern gibt es so manche, welche Tag für Tag ihren Zorn mit Lügen oder einem Lächeln überdecken, um mit ihren Landsleuten auszukommen und gezückte Dolche zu vermeiden - und sie schauen auf das Tal als einen Ort, welchem durch seine ewig Krieg führenden Fürsten Schaden zugefügt wird.« »Das gilt für ganz Aglirta«, stimmte ihr Schwarzgult ernsten Tones zu. »Ich habe nie beansprucht, ein weiser Herrscher zu sein oder auch nur dazu geeignet, das Land zu regieren. Im Land ohne König fiel die Macht jenen zu, welche nach ihr griffen. Ich nutzte und missbrauchte sie - und warf viel zu viele Leben weg bei dem vermessenen Versuch, mir Inseln zu erobern, was ich als meine größte Dummheit ansehe -, und das Blut zahlreicher Männer klebt an meinen Händen. Aber ich weiß das und gebe es auch zu, während nicht wenige meiner grinsenden, tückischen Mitfürsten dies niemals taten, bis sie während eines Haders umgebracht wurden, welchen sie selbst durch ihre eigenen Verrätereien angezettelt und am Leben gehalten hatten. Ich erfreue mich an dem, was ich tue. Weil ich standhaft blieb und mir meinen Stolz bewahrte, mit einfachen, klaren Worten sprach und den Preis für meine 56 Fehlurteile zahlte, gelang es mir, die vergangenen Tage zu genießen, und ich habe den besseren Teil gewählt anders als die Fürsten, welche sich duckten und Pläne schmiedeten und sich vor Gift und nächtlichen Dolchen in den Rücken fürchteten und ihre Tage wie ängstlich zitternde Ratten verbrachten.« »Meine Güte«, meinte Craer. »Und ich habe geglaubt, ein Fürst zu sein bedeute, Befehle zu schnarren, Frauen ins Bett zu bekommen und die Stiefel auf die besten Möbel zu legen. Tatsächlich besteht kein allzu großer Unterschied zum Leben eines Beschaffers, wie mir scheinen will.« »Nein, so ist es wirklich nicht«, stimmte Schwarzgult zu. »Aber ich fürchte, wir sind wieder zur BeschafferPhilosophie zurückgekehrt, und die Fürstin Silberbaum hat ganz Recht, was ihre eigentliche Natur und den Mangel an praktischem Nutzen für jene anbetrifft, welche bis jetzt noch nicht Rechenschaft für ihre Untaten abgelegt haben.« »Vater«, sagte die Herrin der Edelsteine sanft, »mein Name ist Embra.« Wieder herrschte Schweigen auf der Straße, und Craer und Tschamarra schauten von der Zauberin zu dem großen, immer noch gut aussehenden Fürsten. Schwarzgult machte eine Geste, um seine Tochter zum Weitersprechen aufzufordern. Embra nickte und erklärte bedächtig: »Ginge es nicht um Kelgraels Dekret, so hätte ich keinen wie auch immer gearteten Anspruch auf den Namen Silberbaum. Ich ... wurde dazu erzogen, Euch zu hassen, wurde über all Eure Schurkereien unterrichtet und darauf eingeschworen, Euch zu töten, falls sich die Gelegenheit bot... Aber ich habe Euch gegenüber niemals etwas anderes als Dankbarkeit empfunden seit dem Tag, an welchem Ihr mich durch Eure Offenbarung von dem Glauben befreitet, in meinen Adern fließe das Blut des grausamen Faerod Silberbaum.« 57 Wieder herrschte Schweigen, welches nur von dem Knarren eines Geschirrs unterbrochen wurde, als ein Pferd unruhig den Kopf hochwarf. Dann sagte der Fürst Schwarzgult leise: »Aber immer noch liegt etwas zwischen uns. Ja, ich teilte das Bett mit Eurer Mutter. Ja, ich zeugte Euch während unseres Zusammenseins. Ja, ich tat ein
Gleiches in vielen Betten -« »Und in Schiffskabinen, auf Waldlichtungen und auf Festtafeln«, murmelte Craer, aber niemand schenkte ihm Beachtung. »- das ganze Tal hinauf und herab, mit vielen Frauen, und ich bereue nichts. Frauen sind meine Schwäche und zugleich meine Stärke. Aber, Mädchen - Embra -, ich habe in all der Zeit nur ein einziges Mal ein Kind als mein eigenes anerkannt. Ihr wart mein Augapfel, schon lange bevor Ihr an Anmut und Weiblichkeit und Zauberkraft gewannt, weil Ihr ganz allein gegen die Dunklen Drei und den Mann, welchen Ihr für Euren Vater halten musstet, standgehalten und irgendwie überlebt habt. Ihr habt mit Eurem eigenen Kopf und einem liebevollen Wesen überlebt und seid weder ein grausames Echo jener, welche Euch gefangen hielten, noch eine Sklavin mit gebrochener Seele. Ich ... ich sehne mich nach Eurer Anerkennung, obwohl ich Euch einer solch grauenvollen Kindheit aussetzte und nichts tat, um Euch zu befreien. Ich weiß, dass ich niemals auch nur darauf hoffen darf.« Er zögerte und fuhr dann fort, wobei seine Stimme kaum mehr war als ein Flüstern: »Ich dachte sogar daran ...« »Mich zu heiraten, sobald mein Va-Silberbaum tot war samt seinen Zauberern, um auf diese Weise unsere Fürstentümer zusammenzubringen«, sagte Embra ruhig und nickte. »Ich erkannte das ebenso deutlich wie die Bürger von Silberbaum, während Ihr in allen Betten den gesamten Silberfluss hinauf und herunter herumhurtet. Die Vorstellung, Ihr brächet mit dem blutigen Schwert in der Hand in mein Schlaf gemach, um mich für Euch zu beanspruchen, suchte mich in meinen Träu58 men heim.« Ein dünnes Lächeln kräuselte einen ihrer Mundwinkel. »Halb Aglirta - die weibliche Hälfte träumte ähnliche Träume. Habt Ihr nicht die älteren Edlen bemerkt, wie sie kicherten und wisperten, wenn sie Euch mit Seitenblicken musterten? Und dass sie das sogar jetzt noch tun?« Schwarzgult holte tief Luft, als sei ihm eine schwere Last von der Seele genommen worden, und erhob halbherzig Einspruch. »Ältere Edle? Ihr verletzt meine Gefühle. Und zwar tief.« »Hmmm«, machte seine Tochter. »Reiht Euch hinter Craer ein - das wird mir überflüssige Schwertstreiche ersparen. Ich kann dann euch beide mit einem geschickt platzierten Hieb aufspießen.« Alle vier Reiter in der Senke kicherten und rutschten in ihren Sätteln hin und her, und Hawkril grollte: »Ist es nun Stornbrücke? Oder Jhalaunt?« »Das klingt schmerzlich«, meinte Craer zu Schwarzgult, als sie ihre Pferde wendeten. »Ich habe noch nie eine Schwertspitze in meinem Jhalaunt gespürt.« »In den Stornbrücke ist es schlimmer, das könnt Ihr mir ruhig glauben«, sagten Schwarzgult und Hawkril wie aus einem Mund und brachen dann in erstauntes, fröhliches Gelächter aus, war ihnen doch die gleiche kluge Antwort eingefallen. Tschamarra und Embra wechselten Blicke, und beide Frauen schüttelten wortlos den Kopf. Craer hob eine Hand, worauf die Fröhlichkeit augenblicklich endete - und beugte den Kopf, um zu lauschen. »Wagen, mehr als einer«, erklärte er kurz und deutete auf den vor ihnen liegenden Weg. »Genug der herzbewegenden Geschichten, jedenfalls für jetzt; es ist an der Zeit, wieder die großartige Titel tragenden Helden zu spielen. Hochfürsten müssen Eindruck schinden.« Hawkril lockerte das Schwert in der Scheide und brummte: »Bereit zum Spiel.« 59 »Ebenfalls«, erklärte Tschamarra, schob sich die Zügel auf den Unterarm und zog die Ärmel ihrer Jacke hoch, um volle Bewegungsfreiheit zu haben. »Obwohl es traurig ist, dass wir erwarten, dass uns ein paar Wagen so schnell den Krieg bringen, muss ich sagen.« Hawkril zuckte die Achseln. »Aglirta«, lautete seine schlichte Antwort. Während sie weiterritten und dabei aus alter Kriegergewohnheit auseinander fächerten, um einander genug Raum zu lassen, falls ein Kampf ausbrechen sollte, lenkte Embra ihr Ross nahe an Schwarzgults Tier heran und legte für einen Augenblick die Hand auf seinen Schenkel. »Vater«, sagte sie, »wir werden später reden.« Ihre Blicke begegneten sich, und sie fügte hinzu: »Bitte.« Der Goldene Greif schien zunächst überrascht, nickte dann aber entschlossen und antwortete in festem Ton: »Ja. Bitte.« Der entfernte Donner rumpelnder Wagen und vieler mühsam einherstapfender Hufe wurde lauter, während die fünf Reiter flussabwärts ritten, aus der Senke hinaus auf einen kleinen Hügel und dann immer weiter. Holz knirschte, als alte, schwer beladene Wagen mit abgenutztem Tauwerk immer näher kamen. Vielleicht handelte es sich ja nur um ein paar offene Karren ... und Aglirtaner aus der Umgebung, welche Waren nach Hause brachten, welche sie auf dem nächsten Markt eingekauft hatten. Vielleicht brachten sie ja auch ihre eigenen Erzeugnisse zur nächsten Stadt in der Hoffnung, sie in klingende Münze einzutauschen. Die wild entschlossenen Straßenpatrouillen des Königsjünglings hatten zumindest diese alte Gewohnheit ins Tal zurückgebracht, obwohl die Leute nach wie vor in größeren Gruppen reisten als in den alten Zeiten, und noch dazu führten sie ausreichend Waffen mit sich. Die Hufe der hochfürstlichen Rösser bezwangen einen weiteren Hügel, und dann blickten die Gefährten auf das, was sie erwartet hatten: ein Trio Ochsenkarren, davon einer offen, 60 während die anderen tief hängende Planen zum Schutz vor Wind und Wetter aufwiesen. Um die Karren herum
ritt eine grob wirkende Eskorte aus Händlern und Fuhrleuten auf ihren Maultieren. Einige unter ihnen nickten und knallten zum Gruß wie von alters her mit ihren Peitschen, um die anderen Reisenden zu grüßen, aber mehr als einer wirkte müde und krank, schwankte mit bleichem Gesicht im Sattel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sieht ganz so aus, als hätten sie gestern Abend zu tief ins Glas geschaut«, brummte Hawkril, während sie sich den Fuhrleuten näherten. »Höchstwahrscheinlich Selbstgebrautes«, murmelte Craer, »sonst wären sie nicht so krank. Denkt daran, dass sie vermutlich nicht in bester Laune sein werden. Zur Seite, der Reihe nach, und lasst ihnen so viel Platz wie möglich.« Schwarzgult bedachte ihn mit einem belustigten Blick, aber es war Tschamarra, die spöttisch gurrend meinte: »Wirklich? Und ich habe mich so darauf gefreut, geradewegs in diesen Ochsenkarren hineinzureiten und dann in den dahinter, nur um zu sehen, wie sie wie Butter vor meiner königlichen Autorität dahinschmelzen ...« »Das«, erklärte Craer Hawkril und Embra mit einer Handbewegung in Richtung der Edlen Talasorn, »ist die grausame Zunge, welche ich Nacht für Nacht hinter verschlossenen Türen erdulden muss, und -« »Und keiner verdient es mehr als Ihr, dessen bin ich mir gewiss«, erwiderte die Edle Silberbaum süßlich, während das Rumpeln der Wagen rings um sie herum immer lauter wurde. »Weshalb -« Der vorderste Fuhrmann nickte Hawkril kurz zu, welcher an der Spitze der hochfürstlichen Truppe ritt - und Embras Hand schloss sich aus Gewohnheit über ihrem Dwaer, als der erste Wagen an ihr vorbeiächzte. Der zweite Fuhrmann ganz in der Nähe der Gruppe bebte 61 in seinem Sattel, sah entschieden grün im Gesicht aus, und sein Blick wirkte mehr als nur ein bisschen wild. Tschamarras Augen verengten sich, als sie ihn anstarrte, und sie hob eine Hand, als wolle sie etwas abwehren oder bereit sein, einen schnellen Zauber zu wirken. Der Fuhrmann schien aufzublicken und sie zum ersten Mal wahrzunehmen, als er an Schwarzgult vorbeiritt. Sein Kiefer bebte, als habe er Schwierigkeiten, die Worte hervorzubringen, welche er sagen wollte - und dann sprang er wild brüllend aus dem Sattel, krallte nach dem Bein und dem Steigbügel des Fürsten und zog im Sprung ein langes, gebogenes Messer. Der Goldene Greif schlug ihm mit der Faust, aus welcher der Knauf eines umgedrehten Dolches ragte, hart ins Gesicht, und der Kopf des Mannes wurde zurückgeschleudert wie der einer Lumpenpuppe. Er fiel lautlos unter die Hufe ihrer Pferde - aber er hätte schon ein Trompetensignal ausstoßen müssen, um das nun plötzlich erklingende Gebrüll aus einem Dutzend Kehlen zu übertönen. Männer kletterten auf Karren, zogen unter schrillen Schreien und Rufen Schwerter und Dolche und stürzten sich auf die vorbeiziehenden Reiter. »Das kommt davon, dass wir Hochfürsten sind!«, erklärte Craer der achtlosen Welt allgemein, während er einen Dolch zog und ihn in einer einzigen geschmeidigen, blitzschnellen Bewegung schleuderte, während er schon den nächsten zog. »Wie Beutetiere ziehen wir das Tal hinauf und herunter und locken jeden vorbeikommenden Mann mit einem Dolch an, uns Gewalt anzutun, zumal wir willig unsere Brust und unseren Hintern entblößen und auch noch laut schreien >Hier bin ich! Schlagt nur zu! Schlagt auf der Stelle zu! Ich bin das allerbeste bereitwillige Opferverlorene Magiewillfährigen Mädchen
Priester der Schlange< bezeichneten. Deshalb hielt Dolmur seine magische Wacht über das lang gestreckte, enge grüne Königreich, durch dessen Herzen ein mächtiger Fluss strömte - und von diesem abgesehen wenig aufweisen konnte. Wer also in Aglirta wirkte Banne, welche ganz Darsar erschütterten ... wo doch die Priester damit beschäftigt waren, Gift zu verspritzen und Bestechungsgelder zu verteilen, und die Kräfte des Königs alle Zauberer zusammentrieben, welcher sie habhaft werden konnten? Wegen solcher Rätsel beobachtete er Aglirta schon seit langer Zeit und würde das auch in Zukunft so halten ... selbst wenn es sich nicht um ein Land gehandelt hätte, welches sein Herz düster und schwer vor Kummer hatte werden lassen. 94 Fluchbeladenes Aglirta - dieses Land hatte die meisten der jüngeren Mitglieder der Familie Bogendrachen verschlungen. Sie waren in jungen Jahren dahingerafft worden, und ihre hell strahlende Magie ging verloren, bevor sie noch die Meisterschaft erlangen konnten - nicht mehr als eine Hand voll unter all den toten und vergessenen Zauberern, welche dem seit langem herrschenden Unfrieden zum Opfer gefallen waren, welcher Dolmur, seit er denken konnte, als der wahre Herrscher über Aglirta erschien. Und so lange seine Eltern zurückdenken konnten, und vielleicht auch deren Eltern. Sinnlos, so sinnlos. »Sie starben«, flüsterte er dem teilnahmslosen Fenster zu, »denn sie waren Narren, die nachgerade nach Ärger Ausschau hielten. Narren, welche mir lieb und teuer waren, aber nichtsdestoweniger Narren.« Das Fenster ragte mehr als mannshoch auf, und sein Rahmen funkelte innen wie außen vor Edelsteinen. Die massiven, gewölbt geschliffenen Juwelen enthielten Zauber, welche Vögel davon abhielten, gegen das Fenster zu prallen. Zudem sorgten sie dafür, dass die riesige Fensterscheibe nicht zerbarst, wenn man mit aller Kraft mit einer Waffe darauf einschlug. Dolmur Bogendrachen hatte das ausprobiert, und er lächelte angesichts der Erinnerung an den stärksten unter seinen Rittern, welcher so schnell er konnte in voller Rüstung den langen Gang im Keller entlang gerannt war und sein volles Gewicht in den Axthieb gelegt hatte, mit welchem er auf die Scheibe einschlug. Beim Aufprall war die Waffe geborsten und ihr Eigner betäubt zu Boden getaumelt, aber die Scheibe war unversehrt geblieben. Es handelte sich um einen guten, starken Zauber - einen der letzten, welcher seine Kraft aus dem langsam verrinnenden Leben des durch einen Zauberbann tief unter diesem Haus lebendig begrabenen Magiers bezog: eines Magiers namens Eiyraskul, welcher einst ein Erzfeind von Dolmurs Vater gewesen war. 95 Dolmur hätte es vorgezogen, seine lang anhaltenden Zauberbanne aus einer anderen Quelle zu speisen - sei es ein Zauberring, ein Stein, welchen er beeinflussen konnte, oder auch ein Zauberstab - als aus einem schlafenden Magier, der vielleicht eines Tages aus den ihn bindenden Zaubern befreit werden und hervorkommen mochte, um Bogendrachen zu töten - aber heutzutage opferten Zauberer nicht bereitwillig ihr eigenes Leben, auf dass solche Besonderheiten gewirkt werden konnten. Dolmur seufzte laut und erzählte dem Fenster: »Wir müssen uns mit dem begnügen, was uns zur Verfügung steht. Indem sie sich nach Dingen sehnen, die nur in Träumen wahr werden, verschwenden die, welche schwachen Willens sind, ihr Leben.« »So wie jetzt?«, fragte eine ruhige Stimme hinter ihm, wo eigentlich keine Stimme hätte sein dürfen. Dolmur Bogendrachen wirbelte herum. Für einen Zauberer bedeuten solche Überraschungen in der Regel Lücken in der Rüstung, sei es aus Unachtsamkeit, sei es aus schierem Pech, und meistens bedeuten sie den Tod. Aber kein Mann kann anders, als seinen Mörder oder sein Schicksal sehen zu wollen. Die Wächterzauber in der Studierstube und im Haus hätten alle Nichtmagier wegwirbeln und Dolmur vor dem Eintreten eines jeden Magiers warnen müssen, welcher genug Macht besaß, sie zu brechen, aber bei diesem in lange Gewänder gekleideten Mann mit den rabenschwarzen Haaren und dem schwachen, wissenden Lächeln handelte es sich ohne jeden Zweifel um einen Magier. Ein Eindringling stand in seiner Studierstube, und seine Stiefel berührten beinahe eine der Steinplatten auf dem Boden, welche einen von Dolmurs besonders brachial wirkenden Abwehrzaubern enthielt und den Mann eigentlich geradewegs nach oben in Richtung Decke schleudern sollte, wo 96 ihn die Stacheln eines riesigen drachenkopfförmigen Kronleuchters aus Eisen pfählen würden. Das Lächeln seines Besuchers wurde breiter, und der Mann vermied sorgfältig die Bodenplatte, als er jetzt näher herantrat. »Vergebt mir die Plötzlichkeit meines Eindringens - und wenn wir schon davon sprechen, mein Eindringen selbst, Fürst Bogendrachen. Ich komme in friedlicher Absicht und um Euch ein Angebot zu unterbreiten und nicht, auf dass wir unsere Zauberbanne messen.« »Dann seid willkommen, Fürst Namenlos«, erwiderte Dolmur ruhig und wies auf die Sofas nahe beim Kamin,
während er sich umdrehte und auf die Sitzgelegenheiten zuschritt. »Ich habe immer ein offenes Ohr für Angebote. Wollt Ihr Wein? Oder vielleicht heißen Serbret?« »Weder das eine noch das andere, danke«, antwortete sein Gast und folgte ihm. Der Weg des Fremden führte ihn quer über eine bestimmte Anordnung von Bodenplatten, so wie Dolmur es beabsichtigt hatte, aber keine als Alarm gedachte Fanfarenmusik erklang. Also handelte es sich nicht um einen Eindringling, sondern um einen »Übermittler«. Allem Anschein nach wirklich, aber tatsächlich nur eine Illusion, und aus diesem Grund konnte er auch kein Getränk zu sich nehmen. Aber er war natürlich in der Lage, Dolmur auszuspionieren, unter Umständen sogar über Monate hinweg ... und offenkundig wollte er, dass Dolmur dies wusste, indem er die Schleuderzauber-Bodenplatte mied. »Dann macht es Euch bequem, und erzählt mir von Eurem Angebot.« Der älteste der Bogendrachen machte eine Geste in Richtung Kamin und bot seinem unerwarteten Gast an, sich eines der vier Sofas auszusuchen oder sich, was wahrscheinlicher erschien, stehen zu bleiben und sich an die Kamineinfassung zu lehnen. Aber sein Gast überraschte ihn erneut, indem er sich setzte. 97 Unter leisem Geraschel seiner Gewänder und leisem Knarren des Möbelstücks nahm der Fremde Platz, aber Dolmur lächelte in sich hinein. Es gab keine natürliche Weise, dieses Sofa zum Quietschen zu bringen, wenn man bedachte, aus was es bestand - also musste sein Besucher Magie benutzen, um Geräusche zu erzeugen, welche Dolmur dahingehend narren sollten, dass er glaubte, einen wirklichen Menschen und keinen »Übermittler« vor sich zu haben. Ihr Götter, wenn jemandem Magie in solchem Übermaß zur Verfügung stand, dass er sie großzügig verschwenden konnte ... Dolmur setzte sich ebenfalls und zog kurz in Betracht, einen ganz bestimmten Zauber zu nutzen, welcher seine Stimme verstärken und Diener herbeirufen würde, welche ganz exakt das Rascheln und Knarren nachahmen würden. Damit würde er seinem Gast mitteilen, dass er dessen Falschheit durchschaut hatte - aber nein. Nur Zauberer, deren größtes Bedürfnis darin bestand, andere zu beeindrucken, griffen zu solchen Maßnahmen, und Dolmur Bogendrachen stand seit vielen Jahren über solchen Eitelkeiten. Jedenfalls hoffte er das. Er nahm eine entspannte Haltung ein und wartete. »Ich heiße Ingryl Ambeiter und stand einst in den Diensten von Fürst Silberbaum aus Aglirta. Ich unterstützte sein Ziel, über das Land ohne König zu herrschen, und ich muss zugeben, dass mich der neue König, der Jüngling Raulin Burgmäntel, wenig überzeugt - und die Hochfürsten und der ehemalige Regent, welcher ihn zum König krönte, ebenso wenig. Sie haben mir viel Ungemach bereitet, obschon meine Zauberkraft stark genug war, mich am Leben zu halten, und mich seitdem sogar noch mächtiger hat werden lassen. Diese meine Feinde haben Euch gleichfalls viel Schaden zugefügt, indem sie mehr als einen Bogendrachen ohne jeden Grund, irgendeine Warnung oder sonst ein Wort umbrachten. Jetzt jagen sie Zauberer, um sie zu töten oder einzukerkern, und 98 auch dieses Mal haben sie keinen Grund - und wenn sie das Xal des Silberflusses von allen Zauberern gesäubert haben, dann werden sie unter anderem auch hierhin schauen und nach Euch greifen. Nicht ohne Grund heißt es in Eurem Land: >Ihr Zauberer, hütet euch vor Aglirta. < Die Hochfürsten beobachten Euch schon jetzt, und solange sie am Leben sind, werden sie eine Gefahr für Euch sein.« »Und?«, fragte Dolmur leise. Er wünschte sich, eine Karaffe zur Hand zu haben, aber er wollte diesen Ambeiter nicht unterbrechen. »Ich biete Euch eine Gelegenheit an, den Tod Eurer Verwandten zu rächen - und noch mehr. Ich bin hier, um Euch zu ersuchen, Euch mir anzuschließen, wenn ich ausziehe, um Aglirtas neuen Königsjüngling mitsamt seinen Hochfürsten zu überwältigen und zu töten.« Schweigen herrschte zwischen den beiden Männern. Es hielt eine ganze Weile an, als die beiden sich ohne eine Miene zu verziehen in die Augen starrten. Dann schüttelte Dolmur langsam den Kopf. »Wie der Zufall es will«, erklärte er seinem unerwarteten Besucher bedächtig, »ist mir nicht daran gelegen, irgendwelche Könige oder Edelleute umzubringen, und ich will ganz gewiss keinen Herrscher überwältigen. Die Kunst, die Magie zu beherrschen, reicht mir vollkommen aus und beansprucht den größten Teil meiner Zeit und so viel Macht in dieser Disziplin zu erringen wie möglich scheint meine einzige Verteidigung zu sein, wenn diese Aglirtaner, vor welchen Ihr mich gewarnt habt, nach mir suchen. Falls das jemals der Fall sein sollte.« »Oh, das werden sie, das könnt Ihr mir glauben. Ich weiß, dass sie Euch mittels Magie ausspionieren, sogar in diesem Moment. Ich sage es noch einmal: >Ihr Zauberer, hütet euch vor Aglirta. Gäste< geleitet hatte, und starrte für einen Moment gedankenverloren auf die sich vor seiner Nase schließende Tür. Dann wirbelte er herum und stürmte den Gang hinunter, wobei er etlichen zufällig im Weg stehenden Kammerdienern jeweils einen heftigen Schlag mit seinem Amtsstab verpasste. Ohne ein weiteres Wort stolzierte er davon und achtete nicht weiter auf die hasserfüllten Blicke, welche sich, wie er 118 sehr wohl wusste, in seinen Rücken bohrten und welche er für durchaus verständlich hielt. Der Burgverwalter Urbrindur hatte eine ausgeprägte Meinung über das, was seiner Ansicht nach gerecht und passend war. »Sie bereiteten so vielen unserer Pferde wie nur möglich ein gerechtes und passendes Ende!« Düsteren Blickes untersuchte Craer die traurigen Überreste ihrer Satteltaschen und zog den Splitter eines Pfeilschaftes aus einem zerrissenen Gewirr aus Leder. »Ich hege keinen Zweifel daran, dass geröstetes Pferdefleisch den wesentlichen Bestandteil des Festmahls heute Abend ausmachen wird.« »Später, Flinkfinger«, meinte die Fürstin Silberbaum. Ihre Stimme klang beinahe flehentlich. »Ich kann den Dwaer nicht benutzen, wenn ich ohnmächtig werde, oder etwa doch?« Trotz der Pfeile, welche immer noch in seinem Fleisch steckten, gesellte sich Hawkril binnen Augenblicken an ihre Seite und umfasste ungeschickt ihre Schulter, um sie festzuhalten. Embra ließ sich dankbar gegen ihn sinken und fragte: »Vater?« »Auf die Stühle oder auf den Boden?«, fragte Schwarzgult. Er trug sein Schwert in der Hand und musterte den Raum auf der Suche nach versteckten Gucklöchern oder Eingängen. »Boden, falls wir einigermaßen sanft darauf landen.« Craer warf Embra einen Seitenblick zu. »Edle Dame, ich hätte nie geglaubt, Euch mit so einfachen Worten antworten zu hören.« Tschamarra verdrehte die Augen und senkte die Hand, um den aus Craers Körper ragenden, abgebrochenen Pfeilschaft ganz leicht zu berühren. Er krümmte sich zusammen und stieß einen bebenden Seufzer aus, und sie stützte ihn, während er sich ganz auf dem Boden niederließ, und meinte: »Hochfürst Delnbein, Ihr müsst Euch nicht mehr Schmerzen zufügen, als Ihr bereits verspürt. Bitte, liefert Euch einmal meinem Willen aus, be119 wegt Euch vorsichtiger, und bleibt auf diese Weise länger am Leben. Jedenfalls vielleicht.« Hawkril schnaubte bei diesen zuckersüßen Worten - und ließ sich dann eilends auf die Knie nieder, als ihm die letzte Überlebende des Hauses Talasorn mit hartem Blick anschaute. »Bleibt dicht beisammen«, befahl Embra, »so dass wir uns alle berühren.« Die Macht des Dwaer ist nicht unerschöpflich, fügte sie im Stillen hinzu und benutzte die letzten schwindenden Reste von Tschamarras Zauber. Jedenfalls in so kurzer Zeit. Ich habe ihn bereits ausgiebig benutzt. »Das habt Ihr ganz gewiss«, flüsterte ihr Schwarzgult ins Ohr, während er seine Tochter auf den Boden bettete. »Aber wenn mich meine zugegebenermaßen schüttere Erinnerung nicht trügt, dann liegt das eher an den Grenzen, an welche der Geist des Trägers stößt, als an einer Erschöpfung des Steins.« »Nun, das klingt ja tröstlich«, stieß Craer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir werden beobachtet«, flüsterte Tschamarra und gesellte sich zu ihnen auf den Boden. Mehr als einmal schaute sie direkt nach oben, als wolle sie sich ein ums andere Mal vergewissern, dass nichts Tödliches von der Decke auf sie herabfiel. »Selbstverständlich. Magie?«, murmelte Schwarzgult. »Nein. Augen. Sie bewegen sich. In dem Wandbehang hinter Euch.« »Solange es bloß Augen sind, welche uns ausspionieren, und nicht auf uns abgeschossene Pfeile ... Wir müssen Embra abschirmen, bis -« »Sicherlich«, wisperte Tschamarra zurück und lächelte spöttisch. »Magie?« »Nein«, erwiderte Schwarzgult. »Eure bezaubernd gerundeten Kurven - unterstützt von meinen alten Knochen.« 120 Die Talasorn-Zauberin ließ einen abschätzigen Blick über seinen Körper schweifen. »Hmmm. Uralte, aber mit wohlgeformtem Fleisch bedeckte Knochen, würde ich sagen.« Der Goldene Greif nahm eine eitle weibliche Haltung ein, welche selbst der verführerischsten Hofdame alle Ehre gemacht hätte, und verfiel dann wieder in seine gewohnte lässige Haltung. »Ich übernehme diese Seite«, flüsterte er der gleichermaßen amüsierten wie überraschten Tschamarra zu. »Versucht, die andere Seite zu decken, ohne dass sich unser hartnäckiger Löwe von einem Ritter aufbäumt und versucht, seine Pflicht zu tun, ganz gleichgültig, wie übel verletzt er auch sein mag.« »Fürst Ezendor«, beschwerte sich Hawkril von irgendwo unter Tschamarra, aber Schwarzgult winkte beschwichtigend ab. »Ich bin nicht länger Euer Herr. Ezendor hingegen lasse ich mir gefallen - und als Euer Freund sage ich Euch: Haltet Ruhe, und bleibt still liegen. Ihr habt mehr Pfeile in Euch stecken als wir anderen zusammen. Embra?« »Verzeiht mir meine Selbstsucht, aber dies wird am besten gelingen, wenn ich frei von Schmerzen bin. Nun, Sarasper zeigte mir ... oh ja ...«
Die Gefährten spürten, wie die Zauberin sich Zusammenkrampfte, sich wand und dann von den Zehen bis zu den Fingerspitzen erbebte. Sobald es vorüber war, öffnete Embra die Augen, lächelte ... und ließ den Heilzauber in sie fließen wie eine warme, prickelnde Woge. Ihre vier Gefährten ächzten und stöhnten, während ihre Schmerzen allmählich verebbten. Schwarzgult gehorchte wie ein gehorsamer Diener Embras Blicken und zog sanft die von ihr bestimmten Pfeile heraus. Craer bäumte sich auf, als sein Schaft entfernt wurde, und wand sich in hilflosem Schmerz, aber Tschamarra hielt ihn mit plötzlich eisernem Griff fest, damit er nicht ausweichen konnte. Und in vollkommener Stil121 le und mit verblüffender Geschwindigkeit war die Heilung vollbracht, und alle erfreuten sich wieder bester Gesundheit. »Wir müssen sehr sorgfältig darauf achten, ihn nicht zu verlieren«, brummte Hawkril und tätschelte den Stein, während er sich probehalber reckte und streckte. »Ich lege keinerlei Wert darauf, zu den alten Zeiten zurückzukehren und kleine Gegenstände zu stibitzen aus dem Schweigenden -« »Schweigt«, sagte Embra ernsten Tones und schlug ihm mit den Fingerspitzen leicht auf die Wange. »Die Wände haben Ohren, vergesst das nicht.« »Und sie schauen auch zu«, ergänzte Tschamarra trocken. »Bedauerlicherweise steht mir Hochfürst Delnbein mit seinen üblichen Spaßen, den spöttischen Blicken und klugen Worten kurzfristig nicht zur Verfügung, um mich abzuschirmen, während ich bade - hm, Minzwasser; sie scheinen hier nicht gänzlich unzivilisiert zu sein und mich für die bevorstehenden Festlichkeiten ankleide.« »Ja, sicher. Tabletts voller Speisen mit Schlafmitteln und Giften«, grinste Craer. »Ich hoffe, dass sie wenigstens meinem Geschmack entsprechend gewürzt sind.« »Ich werde Magie anwenden und auf diese Weise jeden Makel aufspüren«, erklärte ihm Embra und wandte sich nach den Satteltaschen um, während der Dwaer-Stein aufglühte. »Nun lasst uns nachschauen, was die eifrigen Bogenschützen von Stornbrücke übrig gelassen haben.« »Hiervon nicht sehr viel«, meinte Tschamarra empört und hielt den zerfetzten Rest eines Gewandes hoch. »Ruiniert.« »Es wirkt mitgenommen, aber keineswegs ruiniert. Aber es hat einiges abbekommen.« Die Edle Talasorn warf ihm einen strafenden Blick zu. »Verehrter Beschaffer, ich glaube, Ihr unterliegt immer noch der Bewährung. Nehmt Euch entsprechend zusammen.« Craer schaute Hawkril Mitleid heischend an, aber der Hüne gab nur ein Grinsen zurück, hob die Hand und meinte: 122 »Wollt Ihr unseren Gastgeber wirklich aus der Fassung bringen? Dann tragt das Gewand doch selbst.« »In Aglirta gibt es tausende von Männern«, sagte Embra in Richtung Decke, von welcher dankenswerterweise nach wie vor keine Dolche fielen, »und ich muss ausgerechnet mit zwei Quälgeistern reisen, welche dem Irrtum unterliegen, zum Brüllen komische Hanswurste zu sein, auf welche man in den Höfen des Südens nur gewartet hat!« Schwarzgult wandte sich um. »Zwei?« Warnend hob Embra die Hand. »Versucht nicht, Euch ihnen zuzugesellen. Lasst es einfach bleiben.« Der Goldene Greif schenkte ihr ein träges Lächeln und meinte nur: »Das verspricht ein äußerst aufregendes Festmahl zu werden.« »Aber, verehrter Hochfürst«, stammelte der Ritter unsicher, »mein Herr, der Tersept, gab uns sehr genaue Anwei« »So«, grollte der Hüne und schaute von der beachtlichen Höhe von zwei Kopflängen weiter oben auf den Sprecher nieder, »Ihr habt Euch also dazu entschieden, Aglirta ebenso zu verraten wie er?« Er zückte sein Kriegsschwert. »Nun, dann ...« »Oh, es gibt keinen Anlass zum Blutvergießen«, erklärte der Mann hastig. »Ich bin ganz sicher -« »Hm«, machte der Berg von einem Mann in Rüstung mit grimmigem Lächeln, »das geht mir genauso.« Hinter einer nahe gelegenen Wand wechselten zwei Männer in mit kriechenden Schlangen geschmückten Gewändern Blicke. »Es funktioniert!«, zischte Bruder Landrun. »Er kann Anharu nie zuvor begegnet sein, und er erkennt an, dass er der Hochfürst ist!« Der Meister der Schuppen hob eine Braue und lächelte sein Furcht erregendes Lächeln. »Aber selbstverständlich.« 123 Der junge Kammerknabe, welchen man zum Botendienst gezwungen hatte, verhaspelte sich ob ihrer Namen und Titel, aber Schwarzgult meinte nur: »Genug, Junge. Sie wissen, wer wir sind. >Hochfürst< klingt so gut wie jeder andere Titel. Zeigt uns unsere Plätze, und stellt uns diese feinen Herren von Stornbrücke vor, ja?« Der junge Mann starrte ihn an, stammelte etwas und setzte dann eilig Schwarzgults Vorschlag in die Tat um. »Fürst Schwarzgult«, zischte Tschamarra, »ich bin keine Adlige aus Aglirta und -« »Aber jetzt seid Ihr eine«, brummte er, »jedenfalls für diese Nacht. Ihr könnt den Hochfürsten-Titel morgen früh zurückgeben, aber wenn Ihr das jetzt versucht, dann versohle ich Euch den nackten Hintern - ja, vor den Augen all dieser Männer. Das ist das allgemein übliche Ritual, fragt nur Craer.«
Die Edle Talasorn bedachte die beiden Männer mit einem gereizten Blick. Craer grinste wie verrückt, aber Schwarzgult hob lediglich ungerührt eine Braue. Die Zauberin musterte die beiden für einen langen, stummen Augenblick, bevor die Männer sich umwandten und dem Kammerknaben folgten. Tschamarra seufzte und schloss sich den Gefährten an. Fünf Männer hatten bereits am gegenüberliegenden Ende der Festtafel Platz genommen und schauten den Hochfürsten erwartungsvoll entgegen. Sechs Kammerdiener standen an den Wänden entlang aufgereiht, aber keine einzige Frau aus Stornbrücke war zu sehen - obwohl die Hochfürsten keinen Zweifel daran hegten, dass etliche der Augen, welche von dem Dutzend Fenster hoch droben in den Galerien zu ihnen herabschauten, Frauen gehörten. Die Etage mit den offenen Galerien gleich über den Kammerdienern schien ebenso verlassen zu sein wie die meisten Plätze entlang der langen Festtafel. Allem Anschein nach verspürte der Tersept von Stornbrücke kein Verlangen danach, allzu viele seiner Leute zu Zeugen seiner Demütigung werden zu lassen. 124 Der junge Kammerknabe geleitete jeden Gast zu einem bestimmten Platz, stellte den Betreffenden vor, trat dann der Reihe nach hinter jeden der bereits am Tisch Sitzenden und nannte sorgfältig dessen Titel. Jeder Hochfürst verkürzte in Gedanken den Fluss all der großen Worte - wie viele hochrangige Ämter mochte es in einem Marktflecken wie Stornbrücke wohl geben? - zu einfacheren Namen. Der alte Mann mit dem struppigen Backenbart, welcher sie mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte, war der Hauptmann der Wache, Ryethrel. Bei dem eleganter und städtischer wirkenden Mann neben ihm handelte es sich um den Hofbeamten, mit welchem sie sich schon Wortduelle geliefert hatten: Burgverwalter Urbrindur. Am Kopfende der Tafel neben Urbrindur saß der Tersept, und zu seiner Linken hatte sein jüngeres und besser aussehendes Ebenbild Platz genommen, ein Mann, welcher, wie sich herausstellte, als Schreiber und Münzmeister von Stornbrücke fungierte, ein gewisser Eirevaur. Neben diesem türmte sich ein vernarbter Berg von einem Mann mit Mord im Blick auf, welcher als der Erste Ritter des Tersepten vorgestellt wurde. Wohl eher ein brutaler Bezwinger, dachte Embra bei sich. Sie vermutete, dass der Erste Ritter Pheldane unter seinem seidenen Schulterumhang bestens bewaffnet war. Er schaute sie an, als sei sie eine Schlampe aus einem Hurenhaus, welche einen zu hohen Preis fordert - einen Preis, den er mit Freuden und unter Gewaltanwendung drücken würde. Und zwar schon bald. Schwarzgult war zu dem Platz neben dem finster blickenden Kämpen geführt worden. Gegenüber würde Craer neben Hauptmann Ryethrel sitzen. Embra fing Tschamarras Blick auf und verdrehte die Augen. Ja, ihnen stand ein wahrlich fröhliches Festmahl bevor ... Auf ein knappes Nicken des Burgverwalters hin zog sich der stammelnde Kammerknabe zurück. Die Hochfürsten nahmen Platz, wobei Hawkril aus Gewohnheit den Stuhl wie 125 ein Spielzeug ohne nennenswertes Gewicht in die Höhe schwang, um die Beine und die Unterseite zu untersuchen -und Embra gab sich gar nicht erst die Mühe, das leise Singen ihres Dwaer zu verbergen, welcher einen Schild gegen mögliche Bogenschützen um sie alle herumlegte. »Ganz Stornbrücke fühlt sich geehrt von eurer unerwarteten Anwesenheit«, erklärte der Tersept mit seinem sonnigsten Lächeln. »Ich entschuldige mich noch einmal für das Missverständnis, welches eure Ankunft so schmerzhaft ausfallen ließ, aber ich bin mir sicher, dass wir aus ganzem Herzen miteinander speisen und wahre freundschaftliche Bande anknüpfen können als treu ergebene Bürger von Aglirta.« »Das ist auch unsere Hoffnung«, erwiderte Schwarzgult leise und hob einen Kelch, ohne jedoch daraus zu trinken. Craer nahm vorsichtig einen winzigen Schluck und trat dann unter dem Tisch gegen Embras Bein. Unter der Tischplatte berührte sie mit dem Dwaer heimlich seine Hand und ließ Magie in ihn hineinfließen. Der Beschaffer wankte leicht hin und her, als das Brennen des Giftes verging, und lächelte dann Stornbrücke an. »Ihr alle mögt Mraevorgift in eurem Wein? Ich finde, es lässt die meisten Lagen zu sauer schmecken, aber vielleicht erfreut ja gerade das die Gaumen in Stornbrücke.« »Ihr wagt es -«, grollte Hauptmann Ryethrel und drehte sich zu Craer um. Craer schenkte ihm ein Lächeln, welches man nur als honigsüß bezeichnen konnte. »Aber nein, Hauptmann, ich fürchte, jemand anderer ist ein Wagnis eingegangen. Aber vielleicht wollt Ihr das ja auch, indem Ihr einen Schluck aus meinem Kelch versucht?« Er hob das Gefäß hoch, gerade außerhalb der Reichweite des Hauptmanns. Der schlug wütend nach dem Kelch, als wolle er Craer den Inhalt ins Gesicht schleudern, aber von einem Moment auf den anderen - als er nämlich unter dem 126 Tisch die ausgesprochen kalte Spitze von Craers Dolch an seinem Gemächt spürte - schwieg er stille und rührte sich nicht mehr, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. »Oder vielleicht Ihr, Burgverwalter?«, fragte Craer milde und bot dem Mann den Kelch an, als habe Ryethrel weder ein Wort gesprochen noch sonst etwas getan. Als Urbrindur mit steinernem Schweigen antwortete, hob der Beschaffer die Brauen und fügte freundlich hinzu: »Oder sonst irgendjemand?« »Vielleicht war ja das ganze Fass verdorben«, meinte Tschamarra leichthin und reichte Craer ihren eigenen Kelch. Er nippte daran, nickte und stieß Embra wieder unter dem Tisch an. Dieses Mal erfolgte ihre Heilung rascher, gefolgt von einem Zauber, welchen Craer bislang nicht kennen gelernt hatte.
Unter der Nase des Beschaffers ging der Inhalt von Tschamarras Kelch sogleich in blauen Flammen auf, also setzte er ihn vorsichtig ab. Noch während er dies tat, explodierte sein eigener Kelch, und gleich darauf die der anderen Hochfürsten. Die Gefäße der Männer aus Stornbrücke glommen zwar kurz bläulich auf, gingen aber nicht in die Luft. »Mein Durst scheint erloschen zu sein«, erklärte Embra ruhig dem blass gewordenen Tersepten, und in ihren Augen funkelte eine düstere Drohung. Unter dem Tisch ließ sie ihren Zauber verebben, und die blauen Flammen erstarben. Sollten derlei Drohungen während der ganzen Nacht erfolgen, dann würde sie den Dwaer für wichtigere Dinge als ein paar einfache Tricks nutzen müssen ... »Ich - ich weiß beim besten Willen nicht, wie so etwas passieren konnte, aber -«, stammelte Tersept Stornbrücke gleichermaßen erzürnt wie verängstigt. »Ja«, bestätigte Schwarzgult, »das glaube ich Euch gern. Die Auslegung von Befehlen erstaunt nur allzu oft jene, welche sie erteilt haben - was ich über lange Jahre immer wieder 127 gelernt habe, und zwar auf meine Kosten. Warum tauschen wir nicht einfach von jetzt an Teller und Kelche, ihr Herren, und räumen dadurch jeglichen Verdacht aus dem Wege? Ich würde nur zu gern Freundschaften schließen am heutigen Tag.« Tersept Stornbrücke öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, ohne dass ein Ton hervorgedrungen wäre, und dann gurgelte er in beinahe verzweifelter Hast: »Wie, ja, lasst uns genau das tun! Ich - ich -« »Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum uns das nicht früher eingefallen ist«, beendete Embra glattzüngig seinen Satz und erwiderte eisig die Blicke des Hauptmanns, des Burgverwalters und des Meisterkämpfers. Der Schatzmeister blickte nur nachdenklich vor sich hin. Tersept Stornbrücke gab sich alle Mühe, zustimmend zu nicken, und stürzte einen großen tiefen Schluck seines eigenen - sicheren - Weins hinunter. »Wenn es euch nichts ausmacht und die Antwort nicht zu delikater Natur ist, so sagt mir doch bitte, welcher günstige Wind euch nach Stornbrücke geweht hat? Wir sind immerhin weit entfernt von den wichtigsten Stützpunkten von Aglirta!« Überraschenderweise gab Hawkril die Antwort. »Mein Herr«, polterte er, »wir haben Pflichten dem Flussthron gegenüber, so wie Ihr die Euren habt. Eine besteht darin, durch das Tal zu reiten und uns mit den einfachen Leuten zu unterhalten, Kaufleute wie auch örtliche Regenten aufzusuchen und uns um Angelegenheiten zu kümmern, welche unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Wir sollen uns die Sorgen und Nöte anhören, welche alle Aglirtaner betreffen. Selbst der letzte Hinterwäldler weiß, dass es sich bei Raulin um einen König von anderer Art handelt. Aber nur die wenigsten haben eine genaue Vorstellung davon, wie sehr der Junge sich von seinen Vorgängern unterscheidet. Das hat nichts mit seiner nicht königlichen Herkunft zu 128 tun, sondern mit seinem heißen Wunsch, alles zu verstehen, womit sich die Menschen in seinem Reich auseinander setzen müssen. Und zwar nicht nur die Begüterten, sondern auch die armen und die einfachen Leute. Seine zukünftigen Erlasse sollen darauf abgestimmt sein, und wir werden ihm als Augen und Ohren dienen.« »Ja, ja, ganz recht«, murmelte Fürst Stornbrücke und lächelte gequält, während er sich Berichte über Pfeilschüsse und vergifteten Wein vorstellte. Offensichtlich gingen dem Burgverwalter ähnliche Gedanken durch den Kopf. Als er sah, wie der Tersept um Worte rang, sprang er rasch selbst in die Bresche. »Hat Seine Majestät denn schon verlauten lassen, welche Maßnahmen er für die künftige Ausgestaltung Aglirtas ergreifen will? Wir alle sind doch der ständigen Fehden zwischen den Fürsten müde, oder der Plünderungen durch herumziehende Söldnerhaufen, oder der ewigen Zänkereien zwischen den Priestern der einzelnen Kirchen. Welchen Weg wünscht König Burgmäntel denn zu beschreiten, um uns alle aus diesen Zuständen hinauszuführen?« In diesem Moment traten Diener durch die Vorhänge hinter dem Tersepten und trugen Platten mit gebratenem Wildschwein auf. Verziert hatte man das knusprige Fleisch mit herzförmig geschnittenen Symraquessen - jener saftigen Zitrusfrucht, die so überreichlich im fernen Sarinda gedieh, welche man aber nur selten nördlich des Elgarth zu sehen bekam. »Wir haben als Erstes vor«, ergriff die Fürstin Silberbaum das Wort und verstieß damit gegen das ungeschriebene Gesetz, niemals vor Bediensteten über Politik zu reden, »uns um die Magier zu kümmern. Wer unter ihnen sich nicht auf unsere Bedingungen einlässt, wird des Stromtales verwiesen. 129 Diejenigen, welche bleiben wollen, müssen auf das Engste mit der Krone zusammenarbeiten. Wir können in Zukunft keine Zauberer gebrauchen, welche sich nach Lust und Laune irgendwelchen Heerführern oder Unruhestiftern anschließen.« »Doch wohl nicht jeden kleinen Feld-Wald-und-Wiesen-Magier!«, begehrte Ryethrel auf. »Doch, alle!«, betonte die Herrin der Edelsteine und sah ihr Gegenüber durchdringend an. »Selbst ich bin nicht ausgeschlossen.« Etwas flimmerte leicht in der Luft... Anzeichen für im Essen versteckte magische Energie, oder für Gift oder
einen Bann. Die Bediensteten trugen weitere Speisen auf: Pilze in einer scharfen goldenen Soße und in den unterschiedlichsten Formen gebackenes Brot. Embra hatte aber weder für das eine noch das andere einen Blick übrig. Ihren Gefährten fiel allerdings auch auf, dass sie im Gegensatz zu ihren sonstigen Gepflogenheiten niemandem von ihnen unter dem Tisch gegen das Bein trat. »Aus den gleichen Gründen haben wir auch etwas gegen Schlangenpriester«, fügte Schwarzgult hinzu, »welche Fürsten und Tersepten gegen uns aufzuwiegeln trachten. Der König erwartet von allen, welche dank seiner Gnade einen Titel tragen, sich von niemandem dreinreden zu lassen. Sie haben selbstständig Maßnahmen zu ergreifen, natürlich im Rahmen seiner Gesetze. Wehe aber jenen, welche den Einflüsterungen derjenigen folgen, welche als Feinde des Palastes auf Treibschaum bekannt sind.« Ryethrel nickte, als habe ihn das überzeugt. Der Burgverwalter aber fragte mit sich verfinsternder Miene: »Und wenn jemand, welcher uns einen guten Vorschlag unterbreitet, zufällig auch noch der Schlange anhängt?« 130 »Ein vernünftiger Vorschlag allein stellt gewiss noch kein Verbrechen dar«, entgegnete Tschamarra, »komme er nun von einem Schlangenanbeter, einem machthungrigen Zauberer oder einem geldgierigen Kaufmann aus Sirl. Hingegen wäre es ein schweres Vergehen, einen Königsboten oder Herold nicht über alle Vorschläge in Kenntnis zu setzen, welche einem von solcher Seite unterbreitet worden sind. Geschäfte, welche im Tal betrieben werden, gehen uns nichts an, aber wenn dabei Schlangenverehrer, Priester oder bestimmte Ausländer im Spiel sind, wird das von uns nicht geduldet. Das Gleiche gilt für den Erwerb von Zauberbannen, Waffen oder Söldnern!« »Man sollte sich bei allem fragen, ob es der Sache des Königs dient«, brachte Craer die Angelegenheit auf den Punkt. »Ist gar nicht so schwer - das tun wir Hochfürsten auch, und zwar dauernd.« Der Tersept und der Bürgverwalter zuckten zusammen, aber der Münzmeister zog eine kleine Schriftrolle aus seinem Ärmel, zeichnete sie kurz gegen und meinte: »Das erscheint mir alles sinnvoll und gerecht.« Der Burgverwalter starrte Eirevaur an, als wolle er ihn mit Blicken ermorden, aber dieser ließ sich davon nicht stören und streute Gewürz in seinen Wein, ehe er sich wieder der Letzten der Talasorn zuwandte. »Habe ich es richtig verstanden«, sprach da aber schon Fürst Stornbrücke Tschamarra an und bemühte sich, höflich und verbindlich zu klingen, »dass Ihr sowohl Hexe als auch von auswärts seid und dennoch das Vertrauen des Königs genießt?« Der Burgverwalter nickte zufrieden, weil endlich jemand dieses Thema angeschnitten hatte. Pheldane hingegen beugte sich vor. Hatte er bislang starr und schweigend wie eine Statue dagesessen, schien er es jetzt nicht abwarten zu können zu 131 erfahren, wie die andere Seite sich aus dieser Geschichte herauswand. »Nicht von ungefähr schenkt Seine Majestät mir ihr Vertrauen«, gab Tschamarra ebenso freundlich und verbindlich zurück. »Genau so, wie vermutlich auch Ihr nicht ohne Grund Eurer engsten Umgebung vertraut. Und für alle Fälle stellt man seine Umgebung immer wieder auf die eine oder andere Weise auf die Probe.« Urbrindur starrte zur Decke hoch und schien dort die Lichtflecke des Kerzenscheins zu zählen. So kam es für die anderen überraschend, als er fragte: »Und wie lässt sich feststellen, ob ein in der Magie Erfahrener die Probe wirklich bestanden hat? Welche Probe ließe sich nicht durch einen Bann verwässern oder ins Gegenteil verkehren?« »Indem man den Betreffenden an seinen Taten misst«, sprach der ehemalige Regent. »Zum Beispiel, wenn jemand nicht seinen persönlichen Vorteil, seine eigene Sicherheit oder seine Bereicherung in den Vordergrund stellt, sondern bereit ist, für den König die Härten der Schlacht oder sonst wie Leiden und Schmerzen auf sich zu nehmen. Solche Proben haben alle Hochfürsten bestanden, welche hier sitzen. Und dabei wussten wir nicht einmal, dass wir an unseren Taten gemessen wurden.« Schwarzgult füllte seinen Teller noch einmal auf, dann schloss er seine Ausführungen mit den Worten ab: »Wenn ihr jedoch darauf besteht, meine Herren, weiterhin versteckte Drohungen und Beleidigungen aufzutischen und damit unsere Runde zu vergiften, sollten wir wohl davon ausgehen, dass ihr die Probe nicht besteht... und euch als Verräter am König ansehen.« »Ich glaube, wir verstehen sehr gut«, machte sich Ryethrel bemerkbar, welcher am anderen Ende des Tisches saß. »Da kommen also Leute daherstolziert, welche sich selbst zum 132 Regenten des Reiches ernannt haben, ernennen ihre Spießgesellen zu Hochfürsten und reiten dann das Stromtal hinauf und hinab, um überall salbungsvolle Worte zu hinterlassen .. • und sich ein Urteil über solche Reichsbürger anzumaßen, welche nichts anderes getan haben, als sich tapfer zu schlagen.« »Er kommt von den Inseln«, bemerkte der Beschaffer zum Goldenen Greifen. »Das ist mir bekannt«, erwiderte Schwarzgult, ohne den Blick von Ryethrel zu wenden. »Er ist der Nämliche, welcher die Meeresklippenhalle in Naritantuth niedergebrannt hat... als ein Dutzend seiner Landsleute darinnen
saß, meistens Frauen und Kinder ... Ein paar von meinen Kriegern hielten sich zu jener Zeit nicht weit entfernt auf, und er wollte mich und die Meinen in ein möglichst schlechtes Licht setzen, indem er uns diese unmenschliche Tat in die Schuhe schob.« Der Hauptmann erhob sich mit vor Wut verzerrter Miene, entsagte aber seinen Beschimpfungen, als eine äußerst scharfe Dolchklinge wie aus dem Nichts erschien und sich mit der scharfen Seite auf seine Kehle drückte. Und tatsächlich führte keines Menschen Hand den Stahl. Man hätte meinen können, Magie habe es ihm an den Hals gewünscht. Craer starrte dann auch verwundert auf das Messer. Gewiss, es war seins, aber er hatte nicht... und die Scheide an seiner Seite zeigte sich leer. Erst als sein Blick auf die Letzte der Talasorn fiel, grinste die ihn frech an und sagte: »Mit den einfachsten Zaubern sorgt man doch für die besten Tischsitten, nicht wahr?« Der Tersept rang nach dem, was sich in den letzten Minuten an der Tafel getan hatte, erst recht nach den richtigen Worten. Enttäuschung, Zorn und Furcht lösten sich in wechselnder 133 Folge auf seiner Miene ab. Seinen ersten Ritter quälten jedoch keinerlei solche Bedenken. »Das ist Hexenwerk!«, brüllte er, sprang auf und sah Tschamarra vorwurfsvoll an. Doch Schwarzgult war schneller. Er griff über den Tisch und hielt Pheldanes Handgelenke fest, ehe dieser eine Waffe ziehen konnte. Der stiernackige Ritter war halb so alt und doppelt so schwer wie der ehemalige Regent. Dennoch vermochte er nicht, sich aus dem eisenharten Griff des Goldenen Greifen zu befreien. Schwarzgult ließ auch dann nicht los, als Pheldane vor Wut schrie und mit seinen Bärenkräften den Tisch umzustoßen drohte. Der Mann von den Inseln bewegte kurz die Finger, und die Galerien füllten sich mit Bogenschützen. Da sang auch der Weltenstein sein kurzes Lied, und die Soldaten fielen alle in tiefen Schlaf. Der Erste Ritter riss sein Knie hoch, um Schwarzgult zwischen den Beinen zu treffen, stieß sich aber an den Spornen des Gemächteschutzes blutig. Mit schmerzverzerrter Miene fiel Pheldane auf seinen Stuhl zurück. Aber Embras Vater fiel nicht auf diese List herein und blieb stehen, ohne die Handgelenke seines Gegners freizugeben. Nun sah der ehemalige Regent sie alle der Reihe nach an, die Herren am Tisch wie auch die Kammerknaben hinter diesen, und mit einer Stimme, welche zwar sanft klang, aber tödliche Drohungen enthielt, sprach er dies: »Ich strebe immer noch danach, auf Stornbrücke Freunde zu finden, weil mir nicht der Sinn nach weiterem Blutvergießen steht. Ich kann nur hoffen, dass dies auch euren Wünschen entspricht.« Danach bedachte er Ryethrel mit einem langen Blick und setzte sich wieder auf seinen Platz. 134 Der Hauptmann der Wache bebte vor Zorn, aber Tschamarras Zauber bewirkte, dass die Klinge an seiner Kehle blieb, und so zog er es vor, seinem Unmut nicht Luft zu machen. Endlich fand Fürst Stornbrücke die geeigneten Worte: »Meine Damen und Herren«, sprach er mit einem unsicheren Lächeln, »für meinen Geschmack ist der Vorschlag des Ezendor Schwarzgult der vernünftigste. Trotz aller Unannehmlichkeiten, zu welchen es im Verein mit dem Einzug der verehrten Hochfürsten auf diese Burg gekommen ist, gibt es wohl im ganzen Stromtal keinen Fürsten oder Tersepten, dessen Herz heißer in Treue für Seine Majestät schlägt als das meine. Ich begreife die Herrschaft von König Burgmäntel als neuen Anfang, als neuen Beginn für unser geliebtes Reich! Schon allein der Umstand, wieder einen König zu haben, welcher nicht jahrhundertelang schläft, stellt einen Grund zu großer Freude dar!« Er versuchte, die anderen zum Lachen zu bewegen, scheiterte damit aber kläglich. Dadurch ließ der Burgherr sich jedoch nicht von seiner Begeisterung abbringen. »Jawohl, die Neuigkeiten, welche ihr, hochverehrte Hochfürsten, mitgebracht habt, lassen wahrlich mir wie jedem anderen vaterländisch gesonnenen Bürger das Herz mächtig höher schlagen! Endlich einen König bekommen zu haben, welchem etwas an unserer Meinung liegt! Selbst die Wünsche des niedersten Pilzpflückers sind ihm noch das Zuhören wert! So viel königliche Weisheit sucht wahrhaftig ihresgleichen! Das Tor zu einer neuen, einer leuchtenden Zukunft hat sich mit König Raulin aufgetan -« Dem Fürsten verschlug es ein wenig die Stimme, als er bemerkte, wie Craer einen argwöhnischen Blick auf die aufgetragenen Speisen warf und Embra mit ihrem Dwaer-Zauber dieselben untersuchte. 135 Doch rasch hatte der Burgherr sich wieder im Griff, und es sprudelte nur so aus ihm heraus: »Ich selbst verspüre eine nicht geringe Erregung, wenn ich von den Einfällen des Königs höre. Befriedigung erfasst mich, wenn ich erfahre, dass eine starke Hand dabei ist, die Straßen im Reich sicherer zu machen und die ewigen Zänkereien der Fürsten zu beenden. Und auch die Streitereien zwischen den einzelnen Städten, welche so manche Familie zerreißen! Womit ich natürlich nicht andeuten will, dass Stornbrücke sich in irgendeiner Weise daran beteiligt, Gott bewahre! Deswegen begrüße ich euch, liebe Hochfürsten, noch einmal auf das Allerherzlichste. Ihr seid eingeladen, euch
hier gründlich umzusehen, mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen und dadurch endlich die Weisheit meiner Landesverwaltung zu erkennen.« Jetzt schien dem Tersepten überhaupt nichts mehr einzufallen, und er geriet ernsthaft ins Stocken. Dies wurde vor allem von Hawkril und Tschamarra begrüßt, welche bereits die größte Mühe hatten, während der Ansprache nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Dabei hätte der Burgherr natürlich nicht ahnen können, dass die Heiterkeit der beiden weniger seinen blumigen Ausführungen galt als vielmehr der Frage, wie diese bei seinen Untertanen ankam. Der Münzmeister verdrehte ein ums andere Mal die Augen, und der Burgverwalter lauschte mit offenem Mund, als könne er es einfach nicht glauben. Das blieb natürlich auch Stornbrücke nicht verborgen, und er überlegte schon, ob er die beiden nicht körperlich züchtigen sollte. Als es ihm schließlich endgültig über die Hutschnur ging, fragte er steif und kühl: »Stoßen meine Begrüßungsworte auf irgendwelche Verständnisschwierigkeiten, so bitte ich um 136 Aufklärung darüber. Oder fühlt sich der eine oder andere meiner Tischgäste am Ende nicht ganz wohl?« »Bei den Hörnern der Göttin!«, flüsterte Unterköchin Maelree von ihrem mit einiger Mühe ergatterten Stehplatz an einem hohen Galeriefenster, »das ist ja noch lustiger als ein Wettstreit unter wenigstens sechs Barden!« Speisekammervorsteherin Klaedra kicherte, bis sie von Maelree in die Seite gestoßen wurde. »Pst! Sonst verpassen wir ja noch was!« Die beiden grinsten sich an und beugten sich auf dem Fensterbrett vor. Unten ging es gerade wieder einmal hoch her. »Eine Schwierigkeit dürfte die Magie darstellen«, entgegnete Embra. »Spähbanne sind nämlich gerade in diesen Raum eingedrungen.« »Was? Wer? Wie?« Stornbrücke wirkte ehrlich überrascht. »Offensichtlich möchte jemand zu gern erfahren«, meinte der Beschaffer, »was wir hier bereden und beschließen.« Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er den Hausherrn für einen ausgemachten Trottel hielt, weil dieser so etwas duldete. Die Letzte der Talasorn und Schwarzgult warfen der Fürstin fragende Blicke zu. »Die Spähzauber sind in der Lage, meinen Abwehrschild zu durchdringen und euren Schutzmaßnahmen zu entwischen«, erklärte Embra den Gefährten. »Diese Zauber sind nicht im eigentlichen Sinne gegen uns gerichtet, sondern sollen durch die Augen und Ohren eines hier Anwesenden alles aufnehmen. Genauer gesagt durch die Augen und Ohren des Dieners, welcher hinter dem Münzmeister steht!« Craer sprang schon aus dem Sitz auf den Tisch, stieß sich von einer Gemüseschüssel ab und stürzte sich auf den Kammerknaben. 137 Von allen Seiten stürmten Bedienstete herbei, um sich dem Beschaffer in den Weg zu stellen, nur der eine nicht, hinter dem der Kleine her war. Der machte lieber auf dem Absatz kehrt und floh aus dem Raum. Der Beschaffer war ihm schon auf den Fersen. »Passt auf Euch auf!«, flötete Tschamarra ihm hinterher. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Ryethrel, um den Dolch an seinem Hals beiseite zu stoßen, sein Schwert zu packen und sich mit hasserfülltem Blick nach dem ehemaligen Regenten umzusehen. Der Goldene Greif rührte sich nicht von der Stelle, dafür aber der schwebende Dolch. Ryethrel sah sich plötzlich der Messerspitze gegenüber, welche sich auf seinen linken Augapfel richtete. »Oder möchtet Ihr lieber zuerst das rechte Auge verlieren?«, erkundigte sich Tschamarra mit übertriebener Freundlichkeit. Der Hauptmann steckte sein Schwert wieder ein, setzte sich auf seinen Platz, und das Messer nahm erneut seinen gewohnten Platz an der Kehle des Mannes ein. »Ich stelle mit Vergnügen fest, dass sich der Erste Ritter Pheldane von seinen Schmerzen erholt hat«, bemerkte die Herrin der Edelsteine. »Aber noch nicht das betreffende Knie bewegen, ja, das würde nämlich die Pein zurückbringen. Vielleicht mag er sich ja jetzt ausmalen, dass es für mich ein Leichtes wäre, ihm die Schmerzen, welche er im entscheidenden Moment im Knie verspürt hat, als Dauerzustand zu bescheren. Solange er jedoch schön brav den Mund hält...« »Haltet selbst den Mund, verdammtes Luder«, knurrte Pheldane. »Der Teufel soll Euch und Eure Banne holen!« Erregt griff er nach seinem Kelch und bewegte sich dabei etwas zu hastig. 138 Er beugte sich vor Schmerzen vor, stöhnte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Allerdings wäre es mir auch möglich, werter Ritter«, setzte die Herrin Silberbaum hinzu, »Euch den Schmerz ganz zu nehmen. Nur die Wunde bliebe zurück. Würde Euch das gefallen?« »Sargh über Euch! Er soll Euch mitten ins Gesicht springen!«, giftete der Erste Ritter. Ohne Vorwarnung holte Schwarzgult aus und schlug dem Mann die Faust ins Gesicht, und im selben Moment
setzten die durch Zauberkraft verstärkten Schmerzen mit doppelter Stärke ein. Der Inselmann und etliche Diener legten die Hand an die Waffe, aber der Burgverwalter rief sie zur Ordnung: »Schluss damit, der Ritter hat sich das selbst zuzuschreiben. Und jetzt herrscht an dieser Tafel Ruhe!« Die Herrin der Edelsteine bedankte sich bei ihm dafür mit einem huldvollen Lächeln. »Seid meines Dankes gewiss, edler Herr. Es ist doch immer wieder den Ohren eine Freude, wenn auf Worte des Hasses die Stimme der Vernunft folgt. Auch bin ich es als Edle des Hauses Silberbaum gewöhnt, eine Mahlzeit in ruhiger und gesitteter Form zu mir zu nehmen, wo man gepflegte Tischgespräche führt und sich nicht wie ein Rudel Hunde im Streit um einen Knochen gebärdet.« Der Tersept lachte darüber, aber man merkte ihm an, dass die Heiterkeit nur aufgesetzt war. Und so fiel auch jetzt niemand in diesen Ausbruch ein. Dennoch schien der Burgherr fest entschlossen zu sein, heute keinen anhaltenden Unmut aufkommen zu lassen und den Abend irgendwie noch zu retten. »Dann wollen wir doch weiter über die Angelegenheiten des Reiches debattieren. Ich darf vorangehen ... Als Tersept verspüre ich einen schmerzlichen Mangel an Geldern, welcher mich daran hin139 dert, in ausreichender Zahl Soldaten anzuwerben und auszurüsten, um mit ihnen mein Land so gründlich zu überwachen, wie mir das geboten erscheint. Würden die Steuern, welche an die Krone zu entrichten sind, etwas niedriger ausfallen, könnte ich besser mit meinen Mitteln haushalten und gleichzeitig das Recht Seiner Majestät besser durchsetzen. Dann würden weniger Strauchdiebe die Straßen unsicher machen und die ausländischen Kaufleute auch kaum noch Gelegenheit erhalten, sich vor den fälligen Abgaben zu drücken. Auf diese Weise würde der König zwar weniger verlangen, am Ende aber dennoch mehr einnehmen. Und gleichzeitig würden alle Untertanen in den Genuss von mehr Frieden und Gerechtigkeit gelangen.« Die Herrin der Edelsteine nickte. »Solche Anregungen hören wir von jedem Fürsten und Tersepten. Kaum einer, dem wir begegnet sind, hält mit solchen Ansichten hinter dem Berg. Doch wenn wir auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicken, stellen wir leicht fest, wozu es führt, wenn jedem Fürsten oder Tersepten ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um eigene Truppen anzuwerben. Dann führen sie alle, ob groß oder klein, Krieg gegeneinander. Dann wird das Getreide auf den Feldern verwüstet, viel Blut vergossen, der Handel erstickt und der Friede von den Straßen und Wegen gejagt. Dann ist es vorbei mit der allgemeinen Gerechtigkeit. Und dann trifft die Mehrzahl der Fürsten und Tersepten der tödliche Stich, ganz gleich, ob sie vorher weise geherrscht haben oder nicht. Bedenkt doch nur das Schicksal der Krähe von Kardassa!« Stornbrücke winkte einen Diener heran, ihm den Kelch nachzufüllen, und entgegnete: »Aber bedenkt auch Ihr bitte, meine Dame, dass wir jetzt einen König haben. Damit dürften solche blutrünstigen Zeiten doch wohl hinter uns liegen.« 140 »Damals hatten wir auch schon einen König«, rief ihm die Edle ins Gedächtnis. »Wer immer in Treibschaum auf dem Thron sitzt und den Blick durch das Stromtal schweifen lässt, erblickt in großer Zahl Burgen. Und sie alle sind mit Bewaffneten und Rittern bestückt. Auf jeder sitzt ein eigener Herrscher über ein Stück Land, welcher seine Soldaten nach Belieben einsetzt. Wenn Seine Majestät nun die Steuern senkt, legen diese Fürsten sich noch mehr Soldaten zu, und daraus erwachsen doch nur noch mehr Kriege. Herr, wenn Ihr mehr Köche einstellt, werdet Ihr dann nicht auch mehr essen?« Der Tersept sah für einen kurzen Moment so aus, als wolle er etwas Wütendes entgegnen, aber schon kurz darauf hatte er sich wieder fest im Griff und gab sich zerknirscht. »Bitte, meine Dame, mir liegt nichts ferner, als die Weisheit der Maßnahmen des Königs auch nur im Ansatz in Frage zu stellen. Vielmehr ging es mir darum -« »Aber natürlich.« Embra prostete ihm mit ihrem Kelch zu, trank aber nichts davon. »Ich verstehe sehr gut, was Ihr meint. Doch ich wollte Euch nur vor Augen führen, dass der Palast dazu gezwungen ist, gewisse Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten. Jede Seite will berücksichtigt werden. Denn erst dann, wenn wir nicht mehr hinhören und deswegen nicht mehr wissen, was die Menschen bewegt, entstehen auch wieder örtliche Reibereien, und ehe wir uns versehen, sind daraus schon regelrechte Bürgerkriege erwachsen.« »Habe ich das jetzt gerade richtig verstanden, dass ihr Hochfürsten für Seine Majestät Entscheidungen fällt?«, verlangte der Burgverwalter zu erfahren. »Oder mischen da auch die Magier mit, welche sich in der letzten Zeit so sehr von Treibschaum angezogen zu fühlen scheinen? Oder hat sich dort gar ein Fürstenrat gebildet, welchem 141 Mitglieder solch alter Häuser wie Schwarzgult und Silberbaum angehören?« »Bei den Göttern!« Embras Vater verdrehte die Augen. »Es geht doch nichts über ein gescheites Gespräch. Herr
Burgverwalter, Eure Unwissenheit spricht Bände. Ist Euch denn schon jemals zu Ohren gekommen, dass Vertreter der alten Häuser oder eine Schar Zauberer sich jemals in irgendeiner Frage einig geworden wären?« Einige am Tisch lachten darüber, sogar der Münzmeister. Nachdem der Tersept sich davon überzeugt hatte, dass die Mehrzahl sich erheiterte, fiel er ebenfalls in das Lachen ein. Hawkril nickte nur und sah sich unmerklich um. Bei mehreren Bediensteten zuckten die Mundwinkel verdächtig. Der Burgverwalter ließ sich davon jedoch nicht verdrießen. Er wartete einfach ab, bis das Gelächter sein Ende gefunden hatte, und ergriff dann wieder das Wort. »Gerade weil eine solche Einigung niemals erreicht wurde oder erreicht werden wird, erfreuen wir uns zurzeit in Aglirta eines gewissen Friedens. Uns ist ebenso bekannt, dass König Raulin Sohn eines fahrenden Sängers ist, weder über Titel noch Ländereien noch sonst nennenswerte Mittel verfügt. Kein Heer gehorcht seinem Namen, und er verfügt auch sonst über wenig Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Selbst sein Anspruch auf den Thron steht auf wackligen Füßen. Wir wissen auch, dass einige Persönlichkeiten übereingekommen sind, Raulin die Krone aufs Haupt zu setzen ... oder genauer gesagt, ihn vor die Wahl gestellt haben, entweder niedergehauen zu werden oder die Krone zu ergreifen und sich selbst zum König auszurufen. Und dieselben Persönlichkeiten, unter denen die Hochfürsten eine herausragende Rolle spielen, unterstützen den jungen König immer noch, sonst hätte er sich dort längst nicht mehr halten können. 142 Da fragt man sich doch, warum man ein solches Kind auf den Thron gesetzt hat... etwa, weil ein Kind so viel leichter zu beeinflussen ist, damit ihr das Reich nach euren Vorstellungen umgestalten könnt?« Embra wollte schon etwas entgegnen, und ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, wie ihre Worte ausfallen würden, aber Schwarzgult brachte sie mit erhobenem kleinen Finger zum Schweigen. »Zugegeben, eine Erklärung, welche zunächst auf der Hand zu liegen scheint«, erwiderte der Greif. »Jeder, der nur für zwei Momente darüber nachdenkt, muss zu solcher Schlussfolgerung gelangen. Wenn Ihr zur rechten Zeit im Thronsaal gewesen wärt, um alles mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wüsstet Ihr heute, dass es mir ein Leichtes gewesen wäre, selbst vom Regenten zum König ausgerufen zu werden. Man drängte mich nicht nur dazu, man ging sogar allgemein davon aus. Selbst unserem Hawkril hier trug man die Krone an.« Der Burgverwalter breitete die Arme aus. »So gern ich Euch auch glauben möchte, uns steht für diese Geschichte nur Euer Wort zur Verfügung. Wir waren leider nicht zugegen. Auch die Mehrzahl der Fürsten und Tersepten weilte andernorts, sei es hier im Tal oder dort. Die meisten Fürsten und Tersepten sind übrigens von Euch, von Kelgrael oder von König Burgmäntel eingesetzt worden. Und deshalb schulden wir Treibschaum Treue und Steuern. Denn was uns gegeben worden ist, kann uns auch wieder genommen werden. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als den Nacken zu beugen. Wer dies in der Vergangenheit versäumt hat, findet sich heute unter der Erde wieder.« 143 Schwarzgult lächelte über das ganze Gesicht. »Und jetzt habt Ihr es Euch auf die Fahne geschrieben, den Lauf der Welt selbst zu ändern, oder, Urbrindur? Und Ihr wollt auch gleich der Dreifaltigkeit aufzählen, was sie in Zukunft alles besser machen sollte? Und ihr erläutern, warum sie in den letzten Jahrhunderten nur Murks zustande gebracht habe?« »Genau das haben doch die Schlangenpriester versucht«, merkte der Münzmeister jetzt an, und von ihm hätte man eine solche Aussage am allerwenigsten erwartet. »Und damit sind sie genau so kläglich gescheitert wie Blutklinge oder jede andere Fürstenverschwörung.« Embras Vater konnte nur zustimmend nicken. »Felsbrocken werden nicht weicher, wenn man sie anbrüllt... oder sich mit aller Wucht gegen sie wirft. Eines habe ich in meinen vielen Jahren auf dieser schönen Welt gelernt: Wenn man größere Veränderungen vornehmen will, kostet das in der Regel sehr viele Menschen das Leben.« »Und wie lautet der langen Rede kurzer Sinn, werter Hochfürst?«, fragte Ryethrel mit säuerlicher Miene. »Dass Aglirta sich damit zufrieden geben soll, einen Jungen als König bekommen zu haben, und sich höchstens noch damit abfinden darf, dass dieser Bengel die Zügel etwas anders in die Hand nehmen soll? Und es damit um der Liebe der Götter willen gut sein lassen soll? Denn jeder weitere Wandel würde unweigerlich zu Blutvergießen führen?« Er schüttelte den Kopf. »Das erscheint mir doch als gewaltige Bedrohung. Noch größer als die, welche seit ewigen Zeiten von den Reichsfürsten ausgeht, dass nämlich derjenige, welchem soundso viele Soldaten zu Gebote stehen, aus exakt diesem Grund tun und lassen kann, was er will. Und falls jemand ihnen in die Quere kommt, dann gälte er als gewissenloser Schlächter, welcher ganz Aglirta in den Ruin treibt. 144 Versteht mich nicht falsch, Herr Hochfürst. Mir steht gewiss nicht der Sinn danach, dem jugendlichen König zu
trotzen oder Eure Arbeit zu schmälern. Vielmehr will ich darauf hinweisen, dass sich Eure Ausführungen doch verdammt noch mal nach altem Wein in neuen Schläuchen anhören. Ihr wollt uns das, was immer schon war, in neuem Gewand verkaufen.« Der Goldene Greif lächelte. »Richtig beobachtet, Ryethrel, genau so verhält es sich. Hinter allen klugen Debatten und Strategien steckt doch immer nur eine einzige Frage: Wer vermag das größte Heer zusammenzuziehen?« Embras Vater ließ den Blick über die Gastgeber wandern. »Ich wünschte, die Verhältnisse wären anders. Aber das sind sie eben nicht, oder was meint Ihr, Pheldane?« »Schnauft und knurrt hier nur herum wie ein blind gewordener alter Keiler«, grunzte der Erste Ritter, ohne seinen Gegner eines Blickes zu würdigen. »Möget Ihr in Eurer eigenen Rüstung gekocht werden, Ihr Nachgeburt einer Wölfin!« Schwarzgult lächelte freundlich. »Meine ganz besondere Liebe für Euch wächst von Minute zu Minute, mein Teurer.« »Fürst Schwarzgult und Fürstin Silberbaum!« Die Stimme des Tersepten klang weinerlich. »Seit eurer Ankunft hier auf Burg Stornbrücke habt ihr harte Worte und raue Behandlung erdulden müssen. Mir bleibt nur, für das Unentschuldbare demütigst um Verzeihung zu bitten. Und beantwortet mir bitte eine Frage, verehrte Hochfürsten: Habt ihr uns etwa schon längst als Feinde der Krone abgeurteilt? Sollen wir dem Henker überantwortet werden, nur weil wir aus unserem Herzen keine Mördergrube gemacht haben?« »Nein, Herr Tersept, niemand hat Euch verurteilt«, versicherte die Fürstin ihm. »Wir ehren und schätzen die Wahrheit. 145 Deswegen streben wir auch danach zu erfahren, wie das Volk wirklich fühlt und denkt, haben wir doch die falschen Schmeicheleien und Freundlichkeiten gründlich satt, mit welchen man uns im Stromtal gern bedenkt. Deswegen glaubt mir, wenn ich sage, Eure Ansichten entsprechen weit verbreitetem Empfinden und können uns deshalb wenig überraschen.« Der Burgherr betrachtete sie mit eigentümlichem Blick und schüttelte dann langsam den Kopf, und Embra lächelte ihm aufmunternd zu. Dann fiel ihr eine Bewegung über ihr ins Auge, und die Herrin der Edelsteine setzte wieder ihren Weltenstein ein. Die Soldaten oben auf den Galerien, welche gerade heimlich in ihren Köcher gegriffen hatten, um einen Bolzen auf die Sehne zu legen, schliefen gleich wieder ein und ließen die Arme herabbaumeln. Kaum war diese Aufgabe erledigt, musste die Fürstin den nächsten Bann wirken. Sie untersuchte noch einmal die aufgetragenen Speisen. Leuchtende Stellen krochen hier und da über den Braten und die Beilagen. Embra steckte unmerklich einen kleinen Finger in eine Sauciere, leckte das Erhaschte ab und untersuchte sich endlich selbst mit ihrem Dwaer. »Was habt Ihr?«, erkundigte sich Fürst Stornbrücke gleich. Dabei hätte er sich doch denken können, was die hohe Frau beschäftigte. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« »Mehr als nur etwas, Herr«, antwortete die Edle und sah ihn ernst an, während sie sich zum zweiten Mal den in Soße getunkten Finger in den Mund schob. »Deswegen darf man ja auch nie zu unvorsichtig sein«, meinte sie dann. »Aber eines dürfte feststehen: Eure Küche kann sich sehen lassen.« 146 »Ja!«, begeisterte sich die Unterköchin Maelree und schob sich die Faust in den Mund, weil sie am liebsten vor Freude laut geschrien hätte. »Die Fürstin hat es getan! Das Gift steckt in ihr!« »Seid doch stille, verdammt!«, mahnte die Speisekammerherrin neben ihr, konnte aber selbst ihre Zurückhaltung kaum wahren. »Wir dürfen unsere hohen Gäste erst dann davor warnen, dass sie sich vielleicht mit der Blutpest angesteckt haben könnten, wenn sie alle von den Speisen gekostet haben.« Die Unterköchin nickte und zog sich ein Stück weit vom Galeriefenster zurück. Als die beiden Frauen sich im Schatten befanden, konnten sie sich endlich ein gehässiges Lächeln gestatten. »Ein guter Tag für die Schlange«, flüsterte Maelree, legte Klaedra eine Hand auf die Schulter und drückte so fest zu, dass es der Vorsteherin der Speisekammer wehtat. Aber die stämmige Frau schüttelte die Unterköchin weder ab, noch züchtigte sie Maelree mit Schlägen dafür, sich an ihrer, der höher stehenden Person vergriffen zu haben. Und das bewies wohl vor allem anderen, welchen Triumph über den gelungenen Anschlag die Vorratsmeisterin verspürte. Sechs Wahnsinn und eine Willkommene Masche
Obwohl mir ja stets der Wunsch einer schönen Frau Befehl ist, wird mich das eines Tages noch ins Grab bringen«, sang Craer Delnbein ebenso zart wie spöttisch, während er durch den unbekannten Gang entschwand. Begleitet wurde sein Gesang vom leiser werdenden Stöhnen des Wachsoldaten, welchen er gerade zwischen die Beine getreten hatte. Was hatte dieser Dummbatzen sich ihm auch in den Weg stellen müssen! Er hatte den Beschaffer so lange aufgehalten, dass der Kammerknabe, hinter welchem Craer her gewesen war, die Gelegenheit genutzt hatte, just in diesen Seitengang hier zu entschwinden. Ein Dutzend Türen erwartete den Beschaff er hier. Hinter einer davon musste der Jüngling sich verbergen. Wenigstens hatte der Tropf sie hinter sich ins Schloss geworfen - sonst hätte Craer ja überhaupt keine Spur mehr gehabt, verdammt und zugenäht! »Hmm, wenn ich ein übereifriger und überwachsamer Wächter wäre, wo würde ich dann auf jemanden wie mich lauern ... Doch wohl am ehesten hier!«, murmelte der Beschaffer vor sich hin. Als er um die Ecke bog, sprang er in die Höhe und bekam einen alten Fackelhalter zu fassen. Craer hielt sich daran fest, schwang dann hinauf und zog sich hoch. Keinen Moment zu früh! Ein Schwert fuhr genau dort gegen die Wand, wo sich eben noch Gesicht und Kehle des Beschaffers befunden hatten. Der Soldat am anderen Ende der Klinge grunzte wütend. 148 Dieser Laut verwandelte sich in ein verblüfftes Ächzen, als Craer über ihm an der Ecke entlang sauste, sich von der gegenüberliegenden Wand abstieß, sich in der Luft drehte und dem Wächter endlich einen Handkantenschlag an den Hals verpasste. Der Soldat krächzte, und dieses Geräusch erstickte, als Craer dem Mann seine gewachste Schnur um den Hals schlang. Der Beschaffer zog die Schlinge zu und ruckte geschickt daran, bis der gurgelnde und um Luft ringende Mann mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Craers Gegner drehte sich um die eigene Achse und schlug mit beiden Händen in die Luft, als wolle er sie zerreißen. Der Beschaffer ließ sich von diesem Schwung neuen Antrieb verleihen, hüpfte nach der Landung gleich wieder hoch und trat dem Wächter an den Kopf, so dass dieser erneut ziemlich hart mit der Wand in Berührung kam. Diesmal vermochte der Mann nicht mehr, als das Gesicht für einen Moment einen Daumenbreit von der Wand zu lösen, vollkommen fassungslos zu blinzeln und dann geradewegs auf dem Boden zusammenzubrechen, wo er als ungeordneter Haufen liegen blieb. »Nein, Ihr braucht mir nicht zu danken, dass ich Euch eine kleine Pause verschafft habe«, erklärte der Beschaffer dem Bewusstlosen und befreite ihn von der Würgeschnur. »Genießt Ihr ruhig Euren Schlummer. Die Dreifaltigkeit wird schon über Euch wachen, insofern Ihr das verdient habt. Jetzt muss ich mich aber sputen, will ich mich doch in den Genuss dessen bringen, was ich mir verdient habe!« Der Dieb setzte sich gleich in Bewegung und lief in seinen weichen Lederstiefeln so rasch und gleichzeitig so lautlos, wie es ihm nur möglich war. Die Spitzen derselben waren stahlverstärkt, und an ihnen ließen sich kleine Sichelklingen ausfahren. Craer hatte sie selbst dort eingebaut und war entsprechend stolz auf seine 149 Erfindung. Alles andere an den Stiefeln fühlte sich jedoch so weich an wie die Pantöffelchen einer hoch stehenden Dame. Hinter einer dieser Türen befand sich der Kammerknabe, möge die Dreifaltigkeit ihn holen! Aber als Beschaffer glaubte er nicht daran, dass man alles am besten auf dem Verhandlungswege regelte ... Er drückte die Klinke der ersten Tür, doch die wollte sich nicht öffnen lassen. Craer rüttelte noch einmal daran und eilte dann schon zu derjenigen, welche der ersten gegenüberlag. Die erste Tür hatte nicht nachgegeben, und hinter ihr hatte auch niemand einen Schreckenslaut ausgestoßen. Dafür ließ sich die zweite Tür umso leichter öffnen. Staub, Dunkelheit und gefaltetes Leinen erwarteten ihn hier. Eine Wäschekammer. Craer ließ seine Würgeschnur wie eine Peitsche durch die Finsternis schnellen. Kaum hatte er auf diese Weise festgestellt, dass diese Räumlichkeit keinem entflohenen Jüngling Unterschlupf bot, rannte er auch schon zur dritten Tür. Hier erwarteten ihn drei zu Tode erschrockene Maiden, welche gerade über Stickrahmen die Nadel schwangen. Es dauerte nur einen Herzschlag, bis das Trio wie aus einem Munde einen markerschütternden Schrei ausstieß. Craer blieb nichts anderes übrig, als ihnen verlegen zuzulächeln und rasch die Tür wieder zu schließen. Schon hatte er den vierten Eingang erreicht. Hier war die Tür abgesperrt und erbebte unter dem Ansturm des Beschaffers. Von der anderen Seite her ertönten daraufhin ein erschrockenes Frauenkeuchen und eine leise, ungehaltene Männerstimme: »Noch nicht, Thalas! Ihr habt uns diese Kammer bis zum Kerzentausch zugesagt!« Der Beschaffer grinste und wandte sich der nächsten zu. Diese Tür ließ sich ohne Mühe öffnen ... Und Craer warf sich augenblicklich zu Boden, als etwas Zischendes mit langen Zähnen auf ihn zuschnellte. 150 Sein Sprung führte ihn bis vor die Füße seines Feindes. Dort angekommen schlang er ihm nicht faul die
Würgeschnur um die Fußgelenke und zog heftig daran. Der Mann über ihm fluchte und ruderte mit den Armen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten - bis er etwas fand, woran er sich festhalten konnte. Aber da hatte der Beschaffer sich schon am Bein des Mannes hochgezogen und stach jetzt mit einem seiner Dolche auf ihn ein. Der Schlangenpriester kreischte und griff nach seiner eigenen Waffe. Doch dann durchbohrte Craers Stahl seine Hand. Das Messer des Priesters landete klappernd auf dem Boden, und er selbst kreischte wie am Spieß. Der Beschaffer drehte seinen Dolch in der Wunde herum, und der Schlangenpriester sank heulend und wimmernd auf die Knie. Mit der anderen Hand packte Craer den anderen am Kragen, der sich in diesem Zimmer aufhielt: Der Kammerknabe, hinter welchem er her war. »Ist dies der Mann, welcher einen Zauberbann auf Euch gelegt hat?«, zischte Craer und wackelte mit seinem Dolch. Die Hand des Schlangenpriesters folgte jeder Bewegung, als hinge sie wie eine Marionette an einem Faden. »Ja«, stammelte der Jüngling und drückte sich an die Wand, als wolle er möglichst viel Platz zwischen sich und den Beschaffer bringen, aber in dieser engen Kammer konnte er ihm unmöglich entkommen. »Kennt Ihr ihn?«, fragte Craer streng und verstärkte seinen Griff am Kragen des Knaben. »N-nein, Herr, ganz ehrlich nicht. Er kam erst vor z-zwei Tagen hier an ... auf der B-burg, meine ich. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.« Craer stieß den Diener ein Stück weit fort, und dieser wäre beinahe hingefallen. Der Beschaffer nutzte diesen Moment, um den Dolch des Priesters an sich zu bringen - eine flam151 menförmige Klinge und ein Griff in Form eines aufgerissenen Schlangenmauls. Damit bedrohte er nun den Kammerknaben, um ihm keine Möglichkeit zu lassen, eine mitgeführte Waffe zu zücken. Der Diener verstand das falsch und wich kreidebleich zurück. »Erbarmen, Herr. Dieser Dolch ist vergiftet!« Craer wackelte noch einmal mit seinem eigenen Messer, um den Schlangenpriester weiter kampfunfähig zu halten. Dann hielt er die Klinge gegen das Licht. Tatsächlich, an der Spitze befand sich ein Fleck. Die grünliche Färbung verriet, dass es sich dabei nicht um altes Blut handeln konnte. Der Beschaffer stieß mit der Spitze nach dem Kammerknaben. Der kreischte, als solle er lebendig gebraten werden, und versuchte in seiner Not, die Wand hochzuklettern. Craer drehte die Waffe und schlug dem jungen Mann den Knauf mit dem Schlangenschädel auf den Kopf. Der Diener brach auf der Stelle zusammen, während Blut aus seiner Nase sickerte. Der Beschaffer nickte und rammte dann dem Schlangenpriester dessen Dolch mit der vergifteten Spitze voran in den Bauch. Dem Mann blieb nicht einmal mehr die Zeit zu schreien, so rasch setzte die Wirkung des Giftes ein. Er kippte vornüber, und als er mit dem Gesicht aufschlug, hatte er diese Welt bereits für immer verlassen. »Wohlan, mein lieber Craer«, lobte sich der Beschaffer selbst, »Ihr seid und bleibt einfach der Beste.« Nach einem Moment des Nachdenkens fügte der ehemalige Dieb hinzu: »Ich hoffe doch sehr, dass die anderen bei meiner Rückkehr nicht alles aufgefuttert haben, worinnen sich kein Gift befindet!« Er riss dem Toten sein Messer aus der Hand und trat wieder hinaus auf den Flur. Bevor er sich jedoch auf den Weg machte, 152 klopfte er laut an eine bestimmte Tür und rief streng: »Thalas, kommt sofort heraus. Ich zähle bis drei, dann komme ich hinein!« »Ihr Mistkerl! Ihr Nachgeburt einer Wildsau! Ihr Schweinehund!«, ereiferte sich die männliche Stimme drinnen gedämpft, während die Frau Laute von sich gab, als habe ihr Herzschlag ausgesetzt. Grinsend setzte der Beschaffer seinen Weg fort und entfernte sich aus dem Flur, ehe das Pärchen herausstürzen konnte. »Ich weiß, eines Tages bringt mir das noch einmal ganz großen Ärger ein.« Lächelnd meinte er wenig später: »Aber heute ist es noch nicht so weit.« Dann fiel ihm der erste Wächter wieder ein, welcher mittlerweile wieder zu sich gekommen sein dürfte. Und Craer murmelte: »Hoffe ich jedenfalls.« In einer Kammer des Palastes, welche sich durch hohe und dunkle Buchregale, blutrote Wände und viele vergoldete geschnitzte Drachenköpfe auszeichnete, saß ein Mann mit schwarzem Bart und nahm eine Mahlzeit zu sich. Der Wein in seinem Kelch wirkte noch etwas dunkler als seine roten Gewänder, ganz besonders dunkler aber als die hell lodernden Zornesflammen in den Augen des Mannes. Die Diener kannten diese Stimmung und wussten, dass sie nicht säumen und trödeln durften, sobald sie Multhas Bogendrachen den dampfenden Teller vorgesetzt hatten. Schwarzherz (unter diesem Namen kannte man ihn in ganz Arlund, aber niemand, der noch bei Trost war, hatte ihn jemals in Gegenwart Bodendrachens ausgesprochen) neigte nämlich sowohl zum Jähzorn als auch zur
Grausamkeit. Multhas speiste grundsätzlich allein, denn er hatte es sich schon seit längerem zur Angewohnheit gemacht, zwischen den einzelnen Gängen einen Blick in seine Kristallkugeln zu 153 werfen und sich so Kenntnis von dem zu verschaffen, was sich in Asmarand so tat. Der Widerschein der Kugeln beleuchtete ein schmales Gesicht mit langer, schmaler Nase und angenehmen Zügen. Solch ein Antlitz hätte man bei einem mächtigen König oder Hohepriester erwartet, vielleicht auch bei einem Erzmagier, aber niemals bei einem Schwächling oder Taugenichts. Multhas Schwarzherz brütete oft über wahrhaftigen wie auch eingebildeten Sichten, welche ihm sowohl Menschen als auch Götter sandten. So auch in diesem Moment... Warum besaß sein älterer Bruder Dolmur mehr Macht als er? Der schweigsame Dolmur, welcher niemals Zeit mit Unnützem wie Blumen, Freundlichkeiten oder Fragen danach verschwendete, was andere von ihm dachten? Wie war es möglich, dass solch ein Mensch bei den Leuten mehr Achtung erzeugte als alle seine Brüder zusammen? Dabei half Dolmur nicht einmal mit offenen Drohungen nach! Wenn Multhas ehrlich war, musste er zugeben, dass niemand ihm den gehörigen Respekt verweigerte. Aber keiner wagte es, ihm dabei ins Gesicht zu sehen. Auch konnte er niemanden als wirklichen Freund bezeichnen. Und keiner kam zu ihm, wenn er nicht unbedingt musste. Ein jeder begegnete Multhas höflich und zuvorkommend, blieb aber auf der Hut. Und wenn sie vor ihm standen, wohnte in ihren Herzen weder Freude noch Liebe. Allerdings erzitterten die Menschen auch nicht in seiner bloßen Gegenwart und zeigten auch sonst keine Anzeichen der Furcht, welche ein allmächtiger Magier allein schon durch sein Erscheinen auslösen musste. Multhas beschloss, die Mächtigen dieser Welt genauer zu studieren. Wie sie sprachen, welche kleinen Eigenheiten sie pflegten, wie sie sich bewegten, wie sie sich kleideten, kurzum, wie sie sich gaben. 154 Was nützte es einem schon, ein mächtiger Zauberer zu sein, wenn man die Menschen erst in Flammen aufgehen lassen musste, ehe sie einem gehorchten? Andere Bannschmiede mussten nur die Mundwinkel verziehen oder eine Augenbraue heben, und schon sprang alles auf, um ihnen zu Willen zu sein und sie auch sonst bei Laune zu halten. »Dieses Geheimnis muss ich unbedingt enträtseln, potz-blitz!« Der Magier wälzte wieder seine Lieblingszauberbücher. In den alten und dicken Schwarten, welche vor Zeiten die mächtigsten Bannschmiede voll geschrieben hatten: Coraumaunth, Meljrune und ... »Die Dreifaltigkeit enthüllt ihre Geheimnisse, wenn sie dafür den rechten Zeitpunkt gekommen sieht. Haltet Ihr es wirklich für klug, ihr in uralten Büchern auf die Schliche zu kommen, Multhas?« Bogendrachen drehte sich so hastig um, dass er beinahe seinen Teller vom Tisch gefegt hätte. »Wer wagt es ... ?« Ein Fremder, angetan wie ein reisender Magier, war urplötzlich am anderen Ende des Raums aufgetaucht und sah ihn unverwandt an. Schwarzes Haar, ein leises und weises Lächeln und eine Hand unter dem Umhang verborgen. Multhas erkannte den Fremden nicht, wusste aber, dass er ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte ... in einer seiner Kristallkugeln! Jawohl! Vor Jahren, als er es noch gewagt hatte, auch Aglirta zu beobachten ... bevor ... »Gestatten«, begann der Fremde freundlich, »Ingryl Ambeiter. Ich komme in friedlicher Absicht und will Euch ein Angebot unterbreiten, welches Euch ebenso lohnend wie entzückend erscheinen wird.« Eisige Furcht breitete sich tief in Schwarzherz Bogendrachen aus, und es kostete ihn die allergrößte Anstrengung, nicht zusammenzuzucken und sich solcherart seine Angst anmerken zu lassen. 155 Dennoch erheiterte sich der ungebetene Gast, so als stünde Multhas jeder einzelne Gedanke klar und deutlich auf die Stirn geschrieben. Ja, natürlich sagte ihm der Name Ingryl Ambeiter etwas. Dieser Mann war der Dunkelste in der Dunklen Dreiheit des Fürsten Silberbaum gewesen. Wenn man vor jemandem Angst haben sollte, dann vor ihm. Und dessen schien sich Ambeiter durchaus bewusst zu sein. Multhas schüttelte sich und zwang den Zorn in sich zum Wachsen, auf dass er alle Furcht überwände ... Wie war es Ingryl gelungen, in Multhasens am besten gesichertes innerstes Heiligtum vorzudringen? Dabei musste man an Abwehrzaubern ohne Zahl vorbei. Welch Ehrfurcht gebietende Macht hatte dieser Mann angesammelt? Dieser Magier, welcher sich selbst als der Bannmeister Silberbaums vorgestellt hatte, besaß einen sagenhaften Ruf, und wenn nur ein Bruchteil aller Gerüchte auf Wahrheit beruhte, welche in Sirl über Ambeiter im Umlauf waren, dann hatte er nicht nur seinen Herrn, Silberbaum, sondern auch den Erwachten König und ebenso die Große Schlange getötet! Ganz ohne Frage aber hatte Ingryl vor vielen Jahren die Zauberer Sirls gleich im Dutzend erschlagen. Aus purem Zeitvertreib hatte er ihnen einen Tötungsbann geschickt, und dieser hatte sich an all deren Abwehrzaubern vorbei geschlichen, genau so wie jetzt... Schwarzherz atmete tief durch - vielleicht holte er jetzt zum letzten Mal Luft.
»Ambeiter«, wiederholte er schließlich den Namen des Gastes, und jetzt wohnte seiner Stimme keine Furcht, aber auch kein Willkommen inne. »Diesen Namen habe ich doch schon einmal irgendwo vernommen ... Habt Ihr nicht zu den Zauberern des Faerod Silberbaum gehört? Genauer gesagt, zu den Dunklen Drei, unter welchen Ihr eine hervorragende Stellung innehattet?« 156 Ambeiter lächelte. »Ihr erinnert Euch richtig, und dieser Ruf haftete mir nicht von ungefähr an.« Er zeigte mit einer weit ausholenden Armbewegung auf die Einrichtung der Kammer. »Eure Abwehr gehört zur besten, die mir je untergekommen ist. Dennoch, Ihr versteht...« Er lächelte wieder, und für eine Weile trat Schweigen zwischen den beiden Männern ein. Multhas ließ seine Kristallkugeln dunkel werden und hütete sich, etwas zu sagen, weil er mit jedem Wort zu viel seine Ängste verraten mochte. Mit einem Gedanken machte er die Zauberstäbe scharf, welche hie und da in diesem Raum verborgen waren. Man konnte ja nie wissen ... »Zum Besten ja, aber offensichtlich nicht gut genug«, entgegnete Bogendrachen schließlich, stellte sich lässig hin und verbarg auf diese Weise den Ring an seiner Linken unter den Fingern der Rechten. Der Ring dort war jetzt bereit, Feuer zu verschleudern. »Aber Ihr spracht eingangs von einem Angebot ...« »Ich schlage Euch ein Bündnis zu einem bestimmten Zweck vor. Dieses Bündnis erfordert ein gewisses Mindestmaß an Vertrauen zwischen uns. Deswegen habe ich mich auch in eigener Person hierher bemüht, um festzustellen, ob ein solches Einvernehmen zwischen uns möglich ist oder nicht.« Multhas ließ sich äußerlich nichts anmerken. »Unterbreitet Euer Angebot.« »Seit Jahren schon kennt man Aglirta als das Land, in welchem sich die Fürsten unablässig in den Haaren liegen und sich wegen ihrer armseligen paar Gehöfte, Wälder und Felder bekriegen. Das Flusstal ernährt das große Sirlptar, kann aber beim besten Willen nicht als Königreich bezeichnet werden. Vielmehr als Hort des Waffengeklirrs, welchen man zu Recht das Land ohne König nennt. Seit jeher sind die Magier die wahren Herrscher Aglirtas. 157 Natürlich haben auch die großen Zauberer untereinander Krieg geführt. Aber dazu benutzten sie die Fürsten, welche sie als ebenso bedeutend wie Stallburschen angesehen haben. Ich selbst war Bannmeister bei Silberbaum. Dieser große Fürst folgte in allem meinem Willen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben.« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Daher kenne ich mich mit der wahren Macht Aglirtas aus. Wenn dieses Land jemals vereint unter einem starken und rechtmäßigen König dastünde, müssten Arlund, Sirlptar und jedes andere stolze Land in Asmarand aufs Äußerste um seine Sicherheit fürchten. Denn dann könnte Aglirta alle Fürstentümer erobern. Diejenigen, welche sich heute im Tal um jeden Misthaufen zanken, könnten schon morgen über das ganze Geschlecht der Bogendrachen herfallen, wenn nur jemand es verstünde, sie hinter sich zu vereinen.« »Wenn das Wörtchen >wenn< nicht war, war mein Vater Millionär. Und dennoch ist mein Vater arm wie eine Kirchenmaus«, entgegnete Multhas. »Auch fürchte ich keine feindlichen Heerscharen. Gleich ob Reiterschwadronen, gepanzerte Ritter oder Speerträger in Reih und Glied. Wenn sie kommen, empfange ich sie mit ein paar Zaubern, und dann ward von ihnen nichts mehr gesehen.« Ambeiter grinste. »Ganz recht. Aber Aglirta hat weit mehr zu bieten als nur ein paar Schwertschwinger, nämlich Magie! Die Ruinen von einem Dutzend Städte der Zauberei liegen unter den grünen Wiesen und Wildholzwäldern im Tal des Silberflusses verborgen ... Ebenso findet man Banne in den Grüften der alten Familien, unter den Hecken am Wegesrand, in vielen verlassenen Stätten und auch in den Palästen der hohen Häuser ... Im Lauf der Jahrhunderte ist viel Zaubergut zusammengetragen worden. Davon wurde vieles gestohlen und noch mehr 158 verlegt. Aber so manches gilt es zu bergen. Genügend Banne, um den Finder in einen Erzmagier zu verwandeln, wie Darsar ihn noch nicht gesehen hat. Man höre sich nur um. Die Bauern sind zu dumm. Sie werfen Zauberschwerter fort, wenn sie beim Pflügen darauf stoßen. Und die Fürsten sind nicht besser. Die scheren sich um nichts, an dem keine Edelsteine im Dutzend kleben.« Bogendrachen schluckte, denn er hatte mit einem Mal eine trockene Kehle bekommen. »Und jemand wie Ihr, der durch meine Abwehrzauber spaziert, als handele es sich dabei um bloße Vorhänge, soll bei einem solchen Vorhaben auf meine Hilfe angewiesen sein? Das müsst Ihr mir schon etwas genauer erklären!« Ingryl trat einen Schritt auf ihn zu und bewegte sich dabei noch lautloser als eine Katze. »Aber genau so verhält es sich, mein lieber Multhas. Allein auf mich gestellt könnte ich mich dennoch leicht zum Tyrannen von Sirl aufschwingen, auf dass alle Menschen dort und in ganz Asmarand mich fürchteten. Dies und noch einiges mehr vermag ich ohne fremde Hilfe zu bewerkstelligen. Doch ich will nicht einiges mehr, sondern viel mehr!« Wieder schwebte er lautlos einen Schritt auf Bogendrachen zu, und dieser erweckte seinen Feuerring. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Gut möglich, dass Ambeiter ihn mit diesem Gerede bloß in eine Falle locken
wollte. Silberbaums Erzmagier aber lächelte. »Nur die Ruhe, mein Lieber, und löscht das wieder, was Ihr gegen mich entfacht habt. Ihr dürft mir glauben, dass ich mich dagegen bestens zu wehren verstehe.« Ingryl hob jetzt eine Hand, als wende er sich an eine ganze Versammlung. »Hört mich an: Ich bedarf der Verbündeten, und ich bedarf der Freunde. Kameraden, welche mit mir das neue Aglirta begründen wollen ... das Königreich der Zauberer!« 159 Der Herr von Burg Bogendrachen spürte, wie seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, während sein Herz gleichzeitig wie rasend schlug. »Ihr erwartet von mir, Euch als Euer treuer Vasall zu dienen?« »Aber nein, ich sehe vielmehr einen Senat der Magier vor mir, einen Hochrat. Die Zauberlehrlinge stünden unter uns, und unter diesen wiederum die gewöhnlichen Bürger. Wir erschaffen ein Reich so rein, stark und friedlich, wie es uns nur möglich sein wird. Die Bürger arbeiten fleißig und verdienen gut. Von ihren Abgaben können wir wie die Könige leben und uns auf die Suche nach noch stärkerer Magie machen. Die neuen Zauberbücher, welche wir dann verfassen, sollen allen zugute kommen ... Was haltet Ihr davon, Bogendrachen?« »Ein verlockender Ausblick auf die Zukunft«, gestand Multhas ein. »Dennoch vermag ich noch nicht zu erkennen, warum Ihr ausgerechnet meine Unterstützung anstrebt ... oder warum ich die Sorge ablegen kann, Ihr wolltet mir in Wahrheit ans Leben ... Womöglich trachtet Ihr ja nur danach, in den Besitz meiner Magie zu gelangen ...« Ingryl grinste breit. »Ich habe es nie für möglich gehalten, einen Zauberer zu Tode zu reden. Wenn ich Euer Ende wollte, hätte ich Euch längst mit einem raschen Bann beseitigen können. Ohne Vorwarnung hätte Euch mein magischer Blitz getroffen, Multhas Bogendrachen, und Ihr hättet nicht einmal die Gelegenheit erhalten, Euch nach Eurem Mörder umzudrehen ... Viel Magie steckt in den Mauern und Möbelstücken, welche Euch umgeben, mein Freund. Denjenigen, welche sich mit so etwas auskennen, dürfte es ein Leichtes sein, diese Zauberenergie neu zu verbinden, so dass alles über Euch zusammenfiele ... Aber wie schon gesagt, mir liegt nichts an Eurem Ende. Ich 160 will Euch lebend, als Verbündeten, den ich achten und mit dem ich reden kann ... und als Freund.« Er streckte eine leere Hand wie eine Frau aus, welche es noch nicht wagt, denjenigen zu berühren, welchen sie trösten möchte. »Ich weiß, dass dies alles etwas plötzlich kommt. Da braucht Ihr natürlich Zeit zum Nachdenken. Da wollt Ihr mein Angebot drehen und wenden, um es von allen Seiten zu betrachten. Darum will ich Euch nicht bedrängen und heute noch keinen Vertragsabschluss von Euch verlangen ... Denn ich bin mir ziemlich gewiss, dass Ihr die Vorteile meines Vorschlags bald erkennt, wenn Ihr nur gründlich genug darüber nachgedacht habt. Und dann werdet Ihr sehr gern mit mir zusammenarbeiten wollen... Stellt Euch nur einmal ein Land vor, in welchem es keine wild gewordenen Schwertschwinger mehr gibt und in welchem man von keinem schlitzohrigen Kaufmann das Fell über die Ohren gezogen bekommt...« »Vielen Dank, aber solcherart Freiheit genieße ich bereits«, entgegnete Multhas etwas steif. Ambeiter schüttelte den Kopf. »Das doch wohl nur dank Eures Bruders Dolmur - dem Ihr Euch darum auch zutiefst verpflichtet fühlt. Mit einem Wort könnte er Euch die Tür weisen - wie ein Tyrann oder wie ein halsabschneiderischer Kaufmann, bei dem Ihr Euch zu tief verschuldet hättet.« »Ich glaube, wir haben uns jetzt lange genug unterhalten«, erwiderte Bogendrachen barsch. Der Erzmagier hob eine Hand. »Bitte, Multhas, überstürzt nichts. Ich hatte keinesfalls vor, Euch zu nahe zu treten. Denn mir liegt es fern, Euch zu erzürnen. Vielmehr wollte ich Euch nur in aller Freundschaft darauf hinweisen, wie die Dinge nun einmal stehen ... Sagt mir, wie oft habt Ihr schon solch ehrliche Worte von einem Zauberer gehört? Nun? Wäre das allein nicht schon 161 Grund genug, meine Vorschläge wohlwollend und in neuem Licht zu betrachten?« Bogendrachen zog nachdenklich die Stirn in Falten und nickte dann, wenn auch widerwillig. »Das ist wohl wahr gesprochen. Dennoch verbirgt sich weiterhin vor mir, was Ihr wirklich von mir wollt... Hat Aglirta denn noch nicht hinreichend bewiesen, dass man dort von allen guten Geistern verlassen ist? Setzt man doch dort einen ahnungslosen Bengel auf den Thron! Euch müsste es doch ein Leichtes sein, ihn mit Euren Bannen zu beeinflussen. Ihr könntet dieses Reich bequem beherrschen, auch ohne die Hilfe von Verbündeten wie mir.« Der ungebetene Besucher lächelte. »Das könnte ich natürlich tun, aber damit überkäme das Land eine große Schlacht. Und wenn ich dann mein Reich in Besitz nähme, wären davon nur noch Trümmer übrig ... Habt Ihr Euch denn nie gefragt, wer diesem bis dahin völlig unbekannten Bengel auf den Thron geholfen hat? Nun, dahinter stecken die Fürsten Schwarzgult und Silberbaum, und die selbst ernannten Hochfürsten sind auch wieder mit von der Partie. Dazu stehen ihnen noch die mächtigsten übrig gebliebenen Zauberer Aglirtas zur
Seite.« Multhas deutete auf seine Kristallkugeln. »Tatsächlich? Dabei habe ich einige Zeit darauf verwendet, das Stromtal von oben nach unten und von unten nach oben zu studieren. Leider sind mir dabei keine Zauberer aufgefallen, welche einer Erwähnung wert wären. Sicher, in Sirlptar trifft man sie häufiger an, aber in Aglirta ...« Ambeiter lächelte, als könnte ihn nichts erschüttern. »Nun, gewiss werdet Ihr doch schon einmal vom Herrn der Fledermäuse gehört haben, oder?« »Sicherlich, aber der hält sich doch schon seit längerem nicht mehr in Aglirta auf. Selbst im Tal bekommt man ihn kaum zu sehen.« 162 »Dann solltet Ihr aber schleunigst wieder die Kristallkugel nach ihm befragen.« Schwarzherz Bogendrachen starrte den Mann wütend an und gab dann unbeherrscht zurück: »Dann steckt dieser Herr der Fledermäuse also mit den hohen Herren in Treibschaum unter einer Decke, na und? Ihr werdet doch wohl mit einem einzelnen Magier fertig werden, mag der auch noch so einen schrecklichen Ruf genießen!« »Ganz recht, nur steht dieser Zauberer nicht allein da. Ihrer finden sich noch so manch andere. Selbstredend könnte ich mit ihnen allen fertig werden. Doch sobald ich meine Deckung fallen lasse, und das muss ich ja wohl, wenn ich zum Angriff übergehe, schließen die anderen sich zusammen und umkreisen mich wie ein Rudel hungriger Wölfe. Tag und Nacht werden sie mich beobachten. Wende ich mich gegen den einen, weicht der zurück, während die anderen vorrücken - und es wird sich ein endloses zähes Ringen entspinnen. Am besten hat man da noch ein Ass im Ärmel, mit welchem sich eine Überraschung bewerkstelligen lässt - wie zum Beispiel Euch. Ihr könntet blitzschnell aus Eurem Versteck vorpreschen, ein Dutzend Feinde erschlagen, Euch in den Besitz ihrer Magie bringen und schon wieder verschwunden sein, noch ehe die anderen bemerkt hätten, was überhaupt vorgefallen wäre, geschweige denn, wer den Anschlag verübt hätte ...« »Und wer wären zum Beispiel ein Dutzend dieser Feinde? Handelt es sich bei ihnen allen um wahre Meister ihres Fachs, welchen es leicht fällt, sich über Monate und länger vor mir und meinen Kristallkugeln verborgen zu halten?« Multhas winkte noch einmal in Richtung derselben und ließ dabei seinen Ring sehen, damit Ingryl eine Vorstellung davon erhielt, womit sein Gegenüber aufwarten konnte. Ambeiter warf einen abfälligen Blick auf das zauberträchti163 ge Schmuckstück. Doch schon im nächsten Moment schien er die zornige Miene seines Gastgebers bemerkt zu haben und wurde sofort ernst. »Nicht alle Herren der Schlange sind zusammen mit der Großen Schlange untergegangen. Einem gebildeten Magier wie Euch dürfte nicht entgangen sein, dass es sich bei dieser Schlange keineswegs um eine wahre Gottheit wie zum Beispiel die Dreifaltigkeit gehandelt hat... Vielmehr verbarg sich dahinter ein sagenhaft mächtiger Magier, welcher über ein riesiges Netz von Bannen gebot. Seine Priester waren im selben Fach tätig. Einige von ihnen dürften Euch oder mir durchaus ebenbürtig gewesen sein, doch in ihrer Mehrzahl handelte es sich bei ihnen um die Feld-Wald-und-Wiesen-Magier, wie man sie überall in Asmarand in den Seitengassen und schummrigen Ecken antrifft. Das Netz nun, welches die Schlange gewoben hatte, band sie alle zusammen und verlieh ihnen beeindruckende Kräfte. Die Überlebenden des Netzes kennen mich und verfolgen jeden meiner Schritte. Doch Ihr und ein paar andere, welche sie nicht kennen, könnten sich unbemerkt an sie anschleichen und von hinten in sie dreinfahren.« »Wenn sie jeden Eurer Schritte beobachten«, entgegnete Multhas und stellte zu seinem Schrecken fest, dass er so heftig schwitzte, dass ein Tropfen drohte, von seiner Nasenspitze zu fallen, »wissen sie doch sicher auch längst, dass Ihr Euch zu mir begeben habt. Womöglich belauschen sie uns längst. Dann haben sie mich bereits auf die Liste ihrer Feinde gesetzt und werden mich schon vernichten, noch ehe das Essen auf dem Teller dort drüben kalt geworden ist.« »Ach so, das«, wehrte Ingryl ab. »Darum müsst Ihr Euch nun wirklich keine Sorgen machen.« Langsam und gelassen zog er die Hand heraus, welche er bis eben in seinen Gewändern verborgen hatte. 164 Dann hielt er die Hand geöffnet Bogendrachen hin und schaute darauf, als sei er selbst überrascht, darinnen einen gefleckten braunen und weißen Gegenstand zu erkennen. »Ich nehme an«, bemerkte Ambeiter dazu, »dass Ihr wisst, worum es sich bei diesem Stein hier handelt... auch ohne dass ich Euch seine Macht beweisen muss ... wie zum Beispiel dergestalt, dass ich alle Zauberstäbe, welche Ihr gerade gegen mich gerichtet habt, zu Staub zerfallen lasse nebst diesem Tand, welchen Ihr da am Finger tragt, und auch noch alles Zauberwerk dazu, welches ein Bogendrachen jemals in Arlund bewirkt hat.« »Ist das ein ... ein Dwaer?« Der Erzmagier lächelte breit. »Gut beobachtet. Und er verfügt über eine Besonderheit. Dank seiner erfahre ich, wo sich mehrere Dwaerindim in der Hand eines Magiers befinden ... So weiß ich nun, wo sich der Rest der Steine befindet. Einer davon könnte unter Umständen bald Euch gehören.« Ingryl kam wieder einen Schritt auf Schwarzherz zu. »Ihr seht also, Freund Multhas, dass ich Euch mit Leichtigkeit zu Asche verbrennen könnte. Und auch jeden Magier, Fürsten oder Bauersmann in ganz Darsar. Seit Jahren gehört mir dieser Dwaer, und ich habe ihn schon dazu benutzt, sowohl Fürsten wie auch Magier zur
Strecke zu bringen. Schon vor langem hätte ich das auch mit Euch und dem ganzen Geschlecht der Bogendrachen so halten können ... Aber gerade das will ich ja nicht, und ich bin auch nicht aus einem solchen Grunde hierher gekommen.« Er entfernte sich wieder ein Stück, als ein Kranz von Sternen plötzlich den Dwaer umschwärmte. »Ich trachte vielmehr nach Verbündeten. Und noch lieber wären mir Freunde. Denkt bitte über alles in Ruhe nach, mein lieber Multhas. Ich melde mich wieder bei Euch ... Auch wenn ich Euch versichere, dass ein Nein Euch in kei165 ner Weise Schaden einbringen soll, so hoffe ich doch sehr, dass Ihr Euch mir anschließt. Und nun gehabt Euch wohl. Es wäre eine grobe Ungehörigkeit von mir, Euch weiter von Eurer Mahlzeit abzuhalten.« Damit löste der Erzmagier sich in Rauch auf, und noch ehe Multhas eine Entgegnung eingefallen war, hatte jener sich bereits verflüchtigt. Schwarzherz starrte noch eine ganze Weile auf die Stelle, an welcher Ambeiter bis eben gestanden hatte. Dann wirkte er rasch einen Zauber, um sicherzugehen, dass Ingryl sich nicht unsichtbar gemacht und irgendwo hier verborgen hatte. Als der Bann ihn belehrte, dass er sich tatsächlich ganz allein in dieser Kammer aufhielt, fiel ihm endlich ein, was er sagen wollte, und er brüllte: »Dolmur!« Bis auf den Diener, welcher ihm das Essen gebracht hatte, hatte sich ihm vor Ambeiter für längere Zeit niemand genähert. Unter normalen Umständen hätte Multhas niemals seinen älteren Bruder hinzugezogen. Denn in dessen Gegenwart fühlte er sich stets wie ein dummes und ungezogenes Kind, das seine Bestrafung erwarten durfte. Und Dolmur gab ihm dann das Gefühl, mit einem so verstockten Kind nicht mehr ein noch aus zu wissen. Seine Miene verriet stets die trübe Frage, warum er sich überhaupt solche Mühe mit dem Jüngeren gebe, wo der doch bei der nächsten Gelegenheit wieder nichts als Unfug anrichten würde. Aber hier ging es um einen Weltenstein! Ein Zauberer aus Aglirta war anscheinend ohne die geringste Mühe an allen Abwehrbannen vorbeispaziert. Und ebendieser Mann plante, ein Reich der Magier zu gründen. Schwarzherz spürte ein große Versuchung in sich aufsteigen, eine überaus große Versuchung. Natürlich ärgerte er sich auch. So sehr, dass seine Hände zitterten, als er Abwehrzauber und den Ring ausschaltete. Doch als er seinen besten Zau166 berstab an sich nahm, spürte er auch Furcht in sich aufquellen. Ja, zum Himmeldonnerwetter, er hatte Angst. Bogendrachen stürmte wie ein schwarzer Turm aus seinem Gemach und hatte seine Mahlzeit längst vergessen. So dringend war es ihm, sich mit seinem älteren Bruder zu bereden. Letzte Flöckchen Dampf stiegen vom Teller auf, aber da sich niemand mehr in der Kammer aufhielt, konnte die auch keiner sehen. Dennoch beobachtete jemand die erkaltenden Speisen Schwarzherzens. Nur befand der sich nicht in dem Raum. Diese heimliche Spionin, eine Sie, quietschte beinahe vor Begeisterung, während sie in rascher, hastiger Folge einen Bann nach dem anderen wob. Ihr Herz raste so schnell, dass sie kaum mit dem Atmen nachkam. Indem die Magierin drei der Kristallkugeln ihres Onkels mit einem Geisterseher-Zauber belegt hatte, vermochte sie alles durch die Zauberstäbe ihres Oheims zu verfolgen; und das auf so unauffällige Weise, dass sie sich darüber freuen konnte, nunmehr bereits ein halbes Jahr unentdeckt geblieben zu sein. Und was hätte ihr auch schon groß widerfahren sollen? Onkel Multhas, der Tosende Bärtige Sturm, pflegte ja selbst mit Hilfe der Kristallkugeln durch seine Zauberstäbe zu schauen. Und die konnte man mit einem Fahnderbann wunderbar anzapfen. Wenn Ingryl Ambeiter ihren Onkel noch einmal in jenem Raum besuchen sollte - und eigentlich sprach nichts dagegen, weil Multhas ihn seit einiger Zeit mitunter tagelang nicht verließ - könnte die junge Zauberin den Erzmagier mit etwas Glück verfolgen. Onkel Multhas war ein ebenso habsüchtiger wie eingebil167 deter Trottel. Er hielt sich dermaßen übertrieben für etwas Besseres, dass ihm davon der Blick auf seine eigenen Schwächen als Magier versperrt worden war. Daraus war eine Saumseligkeit erwachsen, welche ihm eines Tages das Genick brechen würde. Bei den anderen stand es kaum besser: Onkel Dolmur ließ sich auf nichts ein, was er nicht beherrschen konnte, und ihr eigener Vater war ein sanftes Schaf und besaß noch weniger Zauberkenntnisse als Multhas. Wenn dieser Ambeiter also tatsächlich einen Verbündeten - womöglich sogar einen Vertrauten - suchte, welcher ihm dabei half, das Königreich zu gewinnen, sollte er doch nicht bei den alten und vertrockneten Bogendrachen suchen. Schließlich war der Erzmagier doch noch nicht in den Jahren zu weit fortgeschritten und sah noch ganz ansehnlich aus, da könnte er sich doch durchaus mit den Jüngeren aus dem Hause gemein machen. Wie zum Beispiel mit ihr, Maelra Bogendrachen. Im Moment bebte sie vor Aufregung, als sich der letzte Zauber mit dem Rest verknüpfte und so das Netz vervollständigte, mit welchem sie Ingryl auf der Spur bleiben könnte,
sobald der noch einmal die Kammer betrat. Die junge Magierin atmete rasselnd ein, strich die schlanken Hände an den Hüften trocken und lachte dann vor schierer Aufregung. Gut möglich, dass sie damit den Weg gefunden hatte, welcher sie zu ungeahnten Höhen hinaufführen würde. Zu grenzenloser Macht. »Und so kam endlich der Tag«, vertraute die junge Frau ihrem Spiegel an, »an welchem ganz Darsar den Namen Maelra kannte und bei seinem Klang erzitterte.« Das Lächeln, welches aus dem Spiegel auf sie zurückstrahlte, wirkte auch tatsächlich ziemlich furchterregend. 168 »Besteht denn wirklich für Aglirta die Gefahr, in absehbarer Zeit den neuerlichen Aufstieg eines Blutklinges zu erleben?«, fragte Tersept Stornbrücke in das Geklapper der Bestecke und das Schnaufen der Kauenden hinein. Selbst Stornbrücke musste zugeben, dass das Wildschwein ausgezeichnet schmeckte. Maelree hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Klaedra überließ ihrer Köchin alle Braten, und das aus gutem Grund. Aus sehr gutem Grund sogar. Der Tersept von Stornbrücke lehnte sich zurück, um einen unterdrückten Rülpser in die Freiheit zu entlassen, und wartete auf das, was diese Hochfürsten ihm auf die Frage zu antworten hatten. Der Dreifaltigkeit sei Dank, dass sich so vieles geändert hatte. Wenn er in früheren Zeiten jemals den alten Faerod Silberbaum oder sogar Schwarzgult so hofiert hätte wie heute diese Herrschaften hier, hätte man ihn längst an irgendeinem Baum aufgeknüpft oder ganz einfach erschlagen. Oder er würde in irgendeinem finsteren Verlies verrotten, womöglich noch beschleunigt durch regelmäßige und schmerzhafte Folterungen. Der Tersept verscheuchte solch unerfreuliche Gedanken jetzt, denn eben schickte sich die Fürstin an, die Stimme zu erheben. »Solange es in Darsar Schlangenpriester gibt und diese ihre habgierigen Augen auf das Tal richten, steht durchaus zu erwarten, dass sie einen neuen Blutklinge auf den blutigen Weg schicken, die Insel Treibschaum zu erobern.« Die Edle beugte sich ein wenig zu ihm vor. »Unser aller Aufgabe hier besteht darin, genau dies zu verhindern.« Alle Krieger aus dem Gefolge des Tersepten lauschten ihr nun viel aufmerksamer als vorher. Köstliche und reichliche Speisen vermögen durchaus, solchen Sinneswandel bei einem Mann zu bewirken ... Ebenso Beruhigungszauber von der Art, wie Embra ihn 169 über Pheldane gelegt hatte. Niemand konnte den Herren dieses Landes nachsagen, ihre Besucher mit vorzüglicher Hochachtung zu behandeln. Aber heute schienen sie darum zu wetteifern, wer die meiste Höflichkeit aufbrächte. Hawkril setzte ein Lächeln auf, als einer seiner ältesten Freunde jetzt den Saal durch den Bogengang betrat, durch welchen er eben erst verschwunden war. Craer trug eine Karaffe in der Hand und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. »Bitte um Vergebung, mich so lange fern gehalten zu haben«, entschuldigte er sich bei der Runde, »aber ein edler Tropfen will gefunden werden, vor allem in einem so ausgedehnten Weinkeller.« Mit einer Verbeugung in Richtung des Hausherrn fuhr der Beschaffer dann fort: »Mein Kompliment, Herr. Dass Ihr über einen ausgezeichneten Geschmack verfügt, durfte man von Euch erwarten. Doch ich hätte niemals auch nur geahnt, dass Ihr über eine so feine Zunge gebietet.« Der Tersept wusste natürlich nur zu gut, dass sein Weinkeller aus kaum mehr als einem Regal bestand, in welches man ohne viel Federlesens ein paar kleine Fässer gelegt hatte. Wenn es hoch kam, ein Dutzend, und darunter fand man eher einen ausgesucht billigen als einen vornehm teuren Wein. Stornbrücke lächelte verlegen. Dieser kleine Dieb hatte die Karaffe höchstwahrscheinlich dem draußen auf dem Gang wartenden Weinkellner abgenommen, aber worauf wollte er jetzt hinaus? »Den müsst ihr unbedingt probieren«, drängte Craer seine Freunde und setzte den gläsernen Krug vor sie auf den Tisch. »Der hat es nämlich in sich, so wie Schlangengift.« Schwarzgult starrte lieber an die Decke, und Embra und Tschamarra verdrehten die Augen. »Wie geschickt von Euch, Craer, wie überaus feinsinnig!«, murmelte die Herrin der Edelsteine. 170 Der Beschaffer zuckte nur die Achseln, als ginge ihn das überhaupt nichts an, nahm wieder seinen Platz ein und schenkte seinem Tischnachbarn ein bezauberndes Lächeln. »Nun, mein Herr«, fragte er dann auch schon leutselig, »was habe ich verpasst? Eine Herausforderung zum Duell? Finstere Drohungen voller Perlen des Wortwitzes? Oder nur ein wenig Mord und Totschlag?« Ryethrel wandte sich sichtlich gegen seinen Willen dem zurückgekehrten Tischnachbarn zu. »Bevor Ihr Euch entschlossen habt, uns erneut mit Eurer Anwesenheit auszuzeichnen, herrschten hier himmlische Ruhe und tiefer Frieden.« Hawkril lachte schnaubend, und Tschamarra meinte kichernd und hinter vorgehaltener Hand: »Da hat er es Euch aber gegeben, Freund Langfinger.«
Der Kleine betrachtete sie, so gut ihm das eben möglich war, von oben herab und näselte: »Für Euch immer noch Fürst Langfinger, verstanden?« »Darf ich mir als Verwalter dieser Burg die Frage an Euch erlauben«, wollte Urbrindur wissen, »ob Seine Hoheit Fürst Stornbrücke zurzeit einen Kammerknaben zu wenig haben?« Craer grinste breit. »Das kann man so nicht sagen. Der arme Junge leidet an fürchterlichen Kopfschmerzen, welche er durch einen längeren Schlaf auszukurieren gedenkt. Auch ein anderer hat sich zur Ruhe gelegt, und bei diesem handelt es sich, nein, ich sollte wohl eher sagen, handelte es sich um einen Priester der Schlange. Soweit ich es mitbekommen habe, ist dieser Mann erst vor zwei Tagen auf der Burg eingetroffen, und nun ist er schon tot. Wer immer ihm den Dolch herauszieht, sollte gewarnt sein - der Stahl ist mit Gift bestrichen ... Ach ja, ehe ich's vergesse, zwei Eurer Soldaten bedürfen dringend der weiteren Übung im Waffengang, und ein gewisser Thalas verdient sich anscheinend ein hübsches Zubrot mit 171 der Vermietung bestimmter Räumlichkeiten zu gewissen Zwecken...« »Ich muss doch sehr bitten!«, entrüstete sich der Burgverwalter wie jemand, der noch nie zuvor mit solch ungeheuerlichen Vorwürfen überschüttet wurde. Münzmeister Eirevaur hingegen, welcher auf der anderen Seite des immer noch etwas unsicher wirkenden Tersepten saß, grinste in sich hinein, nickte schließlich und meinte dann betont streng: »Schon wieder dieser Thalas. Vielen Dank für den Hinweis, mein Hochfürst.« Craer zwinkerte ihm zu und erklärte dann dem Burgverwalter in gespieltem Ernst: »Ich fürchte, der Bitte kann ich nicht entsprechen.« Urbrindur sah ihn für einen Moment mit großen Augen an und meinte dann: »Ihr fürchtet Euch, Hochfürst? Aber wovor denn?« Der Beschaffer verdrückte erst ein großes Stück Wildschweinbraten, spülte dann mit reichlich Wein nach und entgegnete schließlich: »Ich fürchte, ich kann der Höflichkeit nicht Genüge tun, und Euch noch weniger die Bitte erfüllen, welche Ihr so dringlich vorgebracht habt... Doch vertraut der Dreifaltigkeit, denn deren Wege sind wunderbar. Und vielleicht ist es mir irgendwann doch möglich, vielleicht schon sehr bald, Eurem Wunsch zu entsprechen. Doch zuvor müsst Ihr diesen unseligen Hang ablegen, jedermann in Eurer Umgebung zu beurteilen. Nehmt die Leute doch, wie sie sind -« »Im Gegensatz zur Art der Langfinger«, warf Hawkril mit dröhnender Stimme ein, »die nehmen den Leuten, was diese haben.« Craer warf dem alten Freund einen verletzten Blick zu, zwinkerte aber gleichzeitig, um anzuzeigen, wie sehr ihm dieses Spiel gefiel. Gleich fuhr er damit fort, den Burgverwalter zu belehren. 172 »Wenn Ihr nämlich alles nehmt, wie es ist, könnt Ihr das Leben auch viel mehr genießen. Noch etwas Wein gefällig? Zu einer gefüllten Flasche kann man doch einfach nicht Nein sagen.« Er schwenkte schon die Karaffe, aber Urbrindur schüttelte höflich den Kopf. »Um wieder zum Thema zurückzufinden, Fürst Stornbrücke«, erklärte Embra geduldig, »unserer Meinung nach dürfte es von größter Wichtigkeit für Aglirta sein, wenn der Adel größte Mühe darauf verwendet, nicht jenem verderblichen Pfad zu folgen, welcher unweigerlich in die Finsternis führt. Wir müssen ihn davon abhalten, dem schlechten Beispiel einiger seiner Mitglieder in der Vergangenheit zu folgen.« Die Fürstin legte eine kleine Kunstpause ein und nutzte diese, um an ihrem Wein zu nippen. »Für niemanden besteht ein Anlass, mehr Truppen als unbedingt nötig zusammenzuziehen, weil er glaubt, anders seine Grenzen nicht schützen zu können.« Embra schüttelte den Kopf. »Und es liegt auch kein Sinn darin«, fügte sie gleich hinzu, »sich wieder mit anderen zu Verschwörungen und Geheimbündnissen zusammenzutun. Denn wie wir heute wissen, nützt solch kleinliches Gezänk am Ende nur den Schlangenpriestern oder einem neuen Blutklinge, sollte ein solcher denn auf den Plan treten.« Schwarzgult nickte. »Wenn jeder Adlige im Tal treu zum Thron steht, den Frieden mit weisen Entscheidungen, einem gut gewetzten Schwert und Gerechtigkeit für alle bewirkt und wenn er auch noch wachsame Augen auf Streife schickt, wird Aglirta bald wieder Größe erfahren, und der nachfolgende Friede wird Wohlstand für alle bringen.« »Euer Eifer heute auf der Straße«, ergänzte die Herrin der Edelsteine, »mochte zwar fehl am Platze gewesen sein, sprach aber eine sehr deutliche Sprache darüber, wie groß Eure Achtung für Euer Volk und ganz Aglirta ist. Vermutlich wird Euch 173 das nun überraschen, Tersept von Stornbrücke, aber wir sind sehr zufrieden mit Euch.« Der so Gelobte richtete sich kerzengerade auf seinem Platz auf und strahlte. Craer prostete ihm zu, sprang dann auf und lief um den Tisch herum. Mehrere Kammerknaben traten vor, um ihm den Weg abzuschneiden, getrauten sich das dann aber doch nicht so recht. Schon hatte der Beschaffer den Tersepten erreicht und füllte ihm beides reichlich - das Glas mit Wein und die
Ohren mit Worten. »So ist es recht! Feiert und genießt diesen überaus edlen Tropfen. Ihr müsst uns unbedingt mehr über das Leben hier in Stornbrücke berichten. Wie gut lässt es sich hier angeln? Und wie hoch steht das Getreide schon? Welche Händler ziehen zu Euren Märkten, und nach welchen Waren sind Eure Bürger ganz verrückt? Hören wir doch damit auf, uns gegenseitig anzuknurren, lehnen wir uns entspannt zurück, und reden wir miteinander, was?« »Ich wüsste nicht, wo ich da beginnen sollte«, entgegnete Stornbrücke verdattert. Aber dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Er hob sein Glas und sprach: »Mit dem Trank kenne ich mich jedoch aus.« »Recht so! So wollen wir es halten!«, rief der Beschaffer und füllte auch den Kelch des Burgverwalters. »Ihr setzt wohl auf die Kraft des Weines, den Menschen die Zunge zu lösen«, bemerkte Urbrindur mit leicht gereiztem Unterton, beruhigte sich dann jedoch wieder. »Aber warum eigentlich nicht?« Er hob seinen Kelch und prostete dem Beschaffer zu. »Schließlich haben wir nicht jeden Abend Hochfürsten zu Gast!« 174 »Soll das doch der Geschuppte holen!«, murrte die Unterköchin Maelree. Sie stand am Fenster und schaute nach unten. »Ryethrel hat es richtig erkannt«, murmelte sie dann. »Genau das beabsichtigt der kleine Tunichtgut ja: den Tersepten betrunken zu machen und ihn dann reden zu lassen. Wir müssen dringend etwas unternehmen!« Die Verwalterin der Speisekammer lächelte weise. »Das ist längst alles in die Wege geleitet. Josmer hat meinen Wink verstanden.« Die Köchin sah sie mit großen Augen an: »Soll das etwa heißen ...?« »Das soll heißen«, antwortete die andere, »dass unser geliebter Tersept nichts auf der Welt so sehr liebt wie Zuckertörtchen mit Rubinwein-Soße. Er selbst und sein Besuch werden in Kürze eine Portion davon vorgesetzt bekommen ... Aber nur der Kuchen des Tersepten wird Josmers kleinen Zusatz enthalten. Dann gebe ich Stornbrücke noch sechs Gähner, ehe er mit dem Gesicht in der Rubinwein-Soße liegt.« »Und warum nur er und die anderen nicht?« »Weil die Hexe sich auf Magie versteht und alle Speisen prüft, welche ihr und den anderen Hochfürsten unterkommen.« »Meine teure Klaedra, das habt Ihr wunderbar in die Wege geleitet!« Die Herrin der Speisekammer lächelte breit. »Ich weiß. Das hat der Schlangenpriester auch gesagt.« Klaedra öffnete ihr Mieder, und die Unterköchin vergaß, den Mund zu schließen. Die Verwalterin trug stets ein schwarzes Samtband um den Hals, und von dem baumelten etliche feine Schnüre. An diesen wiederum hingen Schlüssel, welche bis unter das Mieder reichten. Ein solcher Anblick konnte die Unterköchin nicht erstaunen, wohl aber der einer weiteren Schnur voller durchstoße175 ner carraglanischer Goldmünzen, welche zwischen ihren braunen Brüsten ruhte. Das Ende dieser Schnur verschwand unter dem Stoff. Maelree konnte es nicht fassen. Niemals hatte sie an der Frau ein Klirren oder Klimpern vernommen. Auch war ihr nie die Verformung unter dem Mieder aufgefallen, wenn die vielen Goldmünzen gegen den Stoff drückten. Bei Ersterem konnte das nur eines bedeuten: Der Schlangenpriester musste die Vorsteherin der Speisekammer so fürstlich belohnt haben, dass die Schnur sehr weit nach unten führte und vermutlich zwischen den Beinen hindurch den Rücken wieder hinauf ... und dass die Goldmünzen eng genug aufeinander hingen, um keine Geräusche zu verursachen. Des Weiteren blieb nur der Schluss offen, dass Klaedra erst kürzlich diese gewaltige Summe erhalten haben konnte. Die Unterköchin zitterte am ganzen Körper, als ihr die Frage einfiel, ob der Schlangenpriester Klaedra noch lange genug am Leben lassen würde, dass diese ihren neu erworbenen Reichtum noch genießen konnte ... Sieben Reißzähne in der Nacht Embra warf ihrem Vater quer über den Tisch einen ängstlichen Blick zu, gab aber keinen Ton von sich. Sie hatte den ganzen Abend darauf geachtet, sich nichts von ihren Zauberkünsten anmerken zu lassen. Die Herrin der Edelsteine hielt sogar ihren Dwaer unter dem Tisch verborgen ... Im Moment quälte Embra sich mit einem weiteren Suchzauber ab, denn irgendetwas schien mit ihr nicht in Ordnung zu sein. In ihren Eingeweiden ballte sich etwas zusammen, um sich dann wieder zu winden ... um in ihr aufzusteigen. Inzwischen hatte es die Brust erreicht und hinterließ eine Spur von Zwicken und Zwacken ... Fast so, als würde etwas mit scharfen Krallen im Innern der Edlen herumkriechen. Schwarzgult nickte ihr unmerklich zu, und die Herrin der Edelsteine atmete tief durch. Ja, mit ihr stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie schüttelte den Kopf, damit ihr die Haare nicht mehr in die Augen fielen. Luft. Embra brauchte dringend frische Luft.
Erst jetzt bemerkte die Edle, dass ihr immer wärmer wurde. Und damit einherging ein Gefühl der Betäubung. Scheinbar nur nach ihrem Kelch greifend, warf Embra einen vorsichtigen Seitenblick auf Tschamarra. Für einen winzigen Moment tauschten die beiden Magierinnen einen Blick aus. Danach wussten die Frauen, dass sie beide das gleiche unangenehme Gefühl hatten. Wahrscheinlich blieb ihnen jetzt kaum noch Zeit, es sei denn, Embra würde ... »Als ihr vor unserem Tor aufgetaucht seid, hat uns das ziemlich überrascht«, bemerkte der Burgverwalter leichthin 177 und in der Art, wie altgediente Höflinge höfliche Nichtigkeiten austauschen, um einander die notwendige Achtung zu erweisen. »Man hat uns nämlich berichtet«, fuhr Urbrindur nach einer kleinen Pause fort, »dass ihr erst vor zwei Tagen in Gilth gesehen worden seid und auf der Straße nach Sirlptar weiter wolltet. Ihr setzt doch nicht etwa Magie ein, um kreuz und quer durch das Tal zu reisen, wie es euch gerade gefällt? Womöglich tragt ihr gar Siebenmeilenstiefel, ha-ha-ha!« »Entweder benutzt jemand anderer Zauberkräfte«, erwiderte die Edle gar nicht so höflich achtungsvoll, »oder aber, Euer Gewährsmann besitzt eine blühende Einbildungskraft. Wir sind das ganze Jahr hindurch noch nicht in Gilth gewesen.« »Jetzt brat mir aber einer einen Storch!«, entfuhr es dem Burgverwalter, doch gleich darauf lächelte er wieder. »Keine Bange, eure Geheimnisse sind bei uns gut aufgehoben. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass ein Herold von Treibschaum ein Treffen mit allen Hochfürsten Aglirtas, und sei es auch noch so flüchtig gewesen, einfach erfinden sollte. Genauso wenig mag ich daran glauben, dass er euch mit jemand anderem verwechselt haben sollte.« »Um welchen Herold hat es sich denn dabei gehandelt?«, fragte Schwarzgult geduldig. »Um Dornentrompete. Er steigt häufiger in Burg Stornbrücke ab. Eigentlich so oft, dass wir schon argwöhnen, er müsse aus irgendeinem noch unbekannten Grund sein besonderes Augenmerk auf uns richten. Und alles, was er hier zu sehen bekommt, gibt er dann gleich an den König weiter ... Doch wer um unsere unerschütterliche Treue weiß ...« »Die steht außer Frage«, bestätigte Embra mit allem gebotenen Ernst. »Auf Treibschaum wird Tersept Stornbrücke als einer der Zuverlässigsten im Lande angesehen.« Der so Gelobte warf der Edlen einen ebenso überraschten 178 wie erfreuten Blick zu, und seine Mundwinkel zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander. »Ich kann nicht umhin zu gestehen, Euer Gnaden«, erklärte der Burgherr dann vornehm, »dass es mich zutiefst erfreut, Euch so freundlich von meiner Treue zum König sprechen zu hören. Deswegen will ich Euch auch hier und jetzt versichern, dass Stornbrücke bereitsteht, jederzeit für ... füüüü...« Fassungslos verfolgte Embra, wie der Tersept nach vorn sank. Vorbei ruckte der Kopf am Kelch, und das Gesicht landete mitten im gebratenen Wildschwein, wobei einiges an Soße nach links und nach rechts verspritzt wurde. »Verzeihung, Herr«, begann Embra leicht ungehalten, als sei es für sie etwas Alltägliches, wenn ein Kleinfürst aus Aglirta in sein Essen fiel und dort gleich anfing, vor sich hin zu schnarchen. Doch zur Beruhigung der Zauberin erschraken die anderen am Tisch noch viel mehr. Sogar der Münzmeister, welcher sich bislang kaum am Gespräch beteiligt hatte, und auch der für ihren Geschmack etwas zu gelackte Burgverwalter Urbrindur. Für einen Moment befürchtete Embra, der Burgherr sei tot -und vielleicht würde er ja noch in seinem Essen ersticken. Doch wenig später bewies Stornbrücke allen an der Tafel hinreichend, dass er noch unter den Lebenden weilte ... indem er nämlich leise, aber regelmäßig vor sich hin schnarchte. Der Tersept schnarchte ungerührt weiter und schien gar nicht mehr damit aufhören zu wollen. »Jetzt hört er sich schon beinahe selbst an wie ein Keiler«, bemerkte Craer belustigt und erhob seinen Kelch auf das Wohl des Gastgebers. Hawkril und Ryethrel lächelten gerade so lange, wie die Höflichkeit es verlangte. Aber der Burgverwalter schien solche Worte überhaupt nicht lustig zu finden, und die anderen Untergebenen des Tersepten ärgerten sich sichtlich. 179 Urbrindur winkte die Kammerknaben heran, welche schweigend, aber gehorsam an den Tisch traten. Schwarzgult und der Hüne legten gleich die Hand an den Schwertgriff. Embra legte die freie Hand offen hin, und in deren Mitte entflammte gleich ein Feuer. Kalte Flammen, welche nichts verzehrten, aber gleichwohl von großer Macht kündeten. Der Burgverwalter schüttelte verdrossen den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein, meine verehrten Hochfürsten. Wir wollen euch nichts zu Leide tun, bitten euch aber dringend, euch jetzt in eure Gemächer zurückzuziehen. Auch für uns ist der Abend zu Ende. Unser gnädiger Herr, der Tersept Stornbrücke, hat einen heimtückischen Anfall erlitten, und da geziemt es sich nicht, mit dem Schmausen und dem Schwatzen fortzufahren.«
Er nickte Ryethrel und dem Münzmeister zu, und die beiden erhoben sich, wünschten allerseits eine gute Nacht und zogen sich zurück. Als Eirevaur durch den Bogengang trat, sprach er die Männer an, welche dahinter Wache hielten. Kurz darauf erschienen vier Diener und hoben den Recken Pheldane mitsamt seinem Stuhl hoch, um ihn dergestalt aus dem Saal zu schaffen. An den zuckenden Arm- und Beinbewegungen des Ersten Ritters ließ sich erkennen, dass dieser noch nicht so recht begriffen hatte, wie ihm geschah. »Dann bis morgen«, erklärte der Burgverwalter, und das klang wie ein Befehl. Die Gäste erhoben sich und stellten fest, dass jedem von ihnen ein Kammerknabe zugeteilt worden war. Diese Bediensteten schauten nach dem Rechten, aber niemals den Vieren oder Tschamarra ins Gesicht, »Dann bis morgen«, verabschiedete sich Schwarzgult. Ihm war äußerlich nichts von der Übelkeit anzumerken, welche bereits die Gesichter seiner Tochter und der Edlen Talasorn grün verfärbt hatte. 180 Craer und Hawkril hatten ebenfalls undurchdringliche Mienen aufgesetzt. Nur ihre ungewohnte Schweigsamkeit verriet, dass in ihrem Innern ebenfalls etwas Unliebsames vorgehen musste. Als die Hochfürsten sich mitsamt ihren schweigenden Dienern entfernten, fragte der Goldene Greif den Burgverwalter: »Ich darf doch wohl annehmen, dass unsere Zimmer nebeneinander liegen?« »Oh, ich fürchte, dem ist nicht ganz so«, antwortete Urbrindur, und in sein offenkundiges Bedauern mischte sich eine Spur von Triumph. »Die Einrichtung von Burg Stornbrücke lässt eine solche Annehmlichkeit leider nicht zu.« »Seltsam, irgendwie habe ich mir so etwas schon gedacht«, murmelte Craer laut genug, dass alle in seiner Nähe ihn verstehen konnten. Dabei fiel ihm ein Grinsen auf, welches über das Gesicht seines Kammerknaben huschte. »Wir sind schon mit ganz anderen Unannehmlichkeiten fertig geworden«, entgegnete Schwarzgult in versöhnlichem Tonfall - ganz so, wie die Höflichkeit es von ihm erwartete. Danach sprach niemand mehr, und man führte die Besucher eine Wendeltreppe mit ausgetretenen steinernen Stufen hinauf. Im Treppenhaus hallte alles doppelt so laut wider, vermutlich deshalb, weil es vom Keller über sechs oder sieben Stockwerke bis hinauf zu den Zinnen reichte. Nachdem man auf der Steinstiege zwei Stockwerke hinter sich gebracht hatte, führte man die Hochfürsten durch einen langen und nur matt beleuchteten Gang. Unzählige kunstvoll geschnitzte Türen fanden sich an den Wänden. Einige davon zierten Paare brennender Lampen, welche an Ringen von der Decke hingen. Und an diesen Stellen stand dann auch ein Soldat Wache. »Prägt Euch mein Gesicht ein, denn ich bin Euer Ziel«, bemerkte der Beschaff er zu seinem Freund. Der lächelte kaum 181 wahrnehmbar darüber. Jedenfalls weniger als die Kammerknaben, welche sich gleich neugierig zu ihnen beugten, um zu verstehen, was die beiden Hochfürsten sich zu sagen hatten. Man brachte Embra gleich in den Raum hinter der ersten bewachten Tür, und der Edlen blieb kaum Zeit, Hawkril einen erschrockenen Blick zuzuwerfen. Tschamarra verschwand hinter der etwa sechzig Schritte weiter befindlichen nächsten beleuchteten Tür. Die Diener schienen es eilig zu haben, denn sie liefen nun mehr als dass sie gingen. Nachdem die Frauen solcherart untergebracht waren, brachten die Kammerknaben die drei männlichen Gäste über eine weitere Treppe zu einem anderen Stockwerk. Schwarzgults Gemach befand sich am Ende des sich dort öffnenden Ganges. »Wünsche wohl zu ruhen, meine Herren«, sagte er Hawkril und Craer zum Abschied. Der Beschaffer und der Recke sahen sich nur kurz an. Dann beschleunigte der Hüne seine Schritte, so dass sein Kammerknabe kaum noch mitkam. Der Beschaffer hingegen wurde so langsam, dass sein Diener an sich halten musste, um nicht ungehalten zu werden. Der Abstand zwischen den beiden Gruppen vergrößerte sich zusehends. »Diese Tür hier gehört zu Eurem Gemach, Euer Hochwohlgeboren«, teilte der Diener Craer schließlich mit unverhohlener Erleichterung mit. Den Beschaffer konnte es kaum überraschen, dass auch hier Lichter im Flur brannten und ein Wächter auf Posten stand. Der Kammerknabe öffnete die Tür weit. Drinnen verbreitete eine Öllampe einen warmen Schein. Sie stand auf einem Tisch mit Steinplatte, und an dem befand sich ein Stuhl. Die Kunsttischlerarbeit an der Lehne zeigte einen efeuumrankten Bogengang. 182 An der rechten Wand befand sich ein Himmelbett mit gleichem Muster und dazu passend an der linken ein Kleiderschrank. Spanische Wände in den Ecken wehrten die Blicke auf einen Spiegel und einen »Donnerstuhl«, wie man diese Einrichtung hier nannte, ab. Auf einem großen Tisch neben dem Kleiderschrank entdeckte der Beschaffer einen Krug mit einer Schüssel und einem Leinentuch und einen weiteren Krug nebst zwei Bechern. Der Tisch mit der Steinplatte hingegen trug Craers abgewetzte Satteltaschen. Diese hatte man geleert und den
Inhalt ordentlich davor aufgereiht. Auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen. Nach diesem recht zufrieden stellenden ersten Eindruck musste der Beschaffer jedoch feststellen, dass seine Kammer weder über Verbindungstüren noch Fenster verfügte. Die Wände waren durchgehend mit Holz vertäfelt, welches bis unter die hohe Decke reichte. Der Beschaffer musste lächeln, als er das Holz ein wenig näher in Augenschein nahm. Auch hier erlesene Schnitzarbeiten, welche ganze Bilder oder Jagdszenen zeigten. Darin ließen sich unzählige Gucklöcher anbringen. Craer war sich ziemlich sicher, dass er bereits seit dem Betreten dieses Gemachs unter Beobachtung stand. Gewiss waren hier auch vertrackte Fallen angebracht, um alle neugierigen Gäste davon abzuhalten, die Wandvertäfelung genauer zu betrachten. Ein Zimmer also, das eigens dafür ausgestattet zu sein schien, einem Beschaffer die Zeit zu vertreiben. »Habt Ihr noch einen Wunsch, Euer Hoheit?«, fragte der Diener und vermied es dabei wie auch schon vorher, Craer anzusehen. Stattdessen starrte der Mann an die Decke. Der Beschaffer folgte seinem Blick und hielt nach dort oben verborgenen 183 Falltüren, Zugängen und Gucklöchern Ausschau, ohne jedoch welche entdecken zu können. Der Hochfürst setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf und antwortete: »Aber gewiss doch. Verratet mir bitte, wo alle Eingänge, Türen und Löcher dort oben verborgen sind. Und welche weiteren Einrichtungen sich in den Wänden befinden.« »Ich ... ich ... ich ...«, japste der Kammerknabe wie ein Fisch an Land, als habe der hohe Gast eine unziemliche Bemerkung über seine Mutter und deren mögliches Techtelmechtel mit dem Tersepten von sich gegeben. Er schüttelte sich schließlich am ganzen Leib. Craer aber lächelte weiter freundlich und gab durch seine Miene zu verstehen, dass er immer noch gern eine Antwort hätte. Der Kammerknabe gewann schließlich seine Fassung wieder, bedachte den Beschaffer mit einem finsteren Blick und stampfte aus dem Raum, ohne dem Herrn die gewünschte Auskunft gegeben zu haben. »Ja, Euch auch eine angenehme Nacht«, rief Craer ihm hinterher. Dann machte er sich seufzend selbst auf die Suche nach den Einrichtungen, nach welchen er sich eben erkundigt hatte. »Mich erwartet wohl eine fürchterliche Nacht«, murmelte er dabei vor sich hin. »Wenn doch endlich das Brennen in meinen Eingeweiden aufhören würde. Embras Zauberkräfte reichen wohl nicht aus, um alle Gefahren von uns abzuwenden... Allem Anschein nach hat man uns etwas ins Essen getan.« Der zierliche Mann schüttelte erst den Kopf und dann die Faust. »Wenn ich spuckend und Blähungen von mir gebend auf dem Donnerstuhl zu Grunde gehe, werde ich meinen Mörder so lange als Gespenst heimsuchen, bis er einem noch viel schlimmeren Schicksal erliegt. Das schwöre ich, habt ihr mich verstanden?« 184 Er legte den Kopf schief und lauschte. Aber er vernahm nichts, und auch die Dreifaltigkeit hüllte sich wie gewöhnlich in Schweigen. So stand Craer also ganz allein in seinem Zimmer, das sich mitten im Lager seiner Feinde befand. Die brannten gewiss schon darauf, ihn und die anderen Hochfürsten zu meucheln ... Vermutlich schlichen auch schon falsche Hochfürsten durch die Lande, um Unfug und Schaden anzurichten. Und damit würden diese Schurken ungestört fortfahren können, sobald die echten Hochfürsten hier auf der Burg Stornbrücke beseitigt worden wären ... Die Gesichtslosen konnten hier und da Gestalt und Aussehen eines Menschen annehmen, aber nicht von fünf Personen, welche zusammen offen übers Land ritten ... Bei den falschen Hochfürsten handelte es sich natürlich um verkleidete Schlangenanhänger ... Und so erwartete die Gefährten auch in Zukunft der Auftrag, welchen sie immer schon zu bewältigen gehabt hatten, trotz wiederholter Thronwirren und allem anderen: Bleibt am Leben und schlagt die Schlangenpriester, wo ihr sie trefft. Seufzend machte der Beschaffer sich daran, seine Sachen zu überprüfen. Natürlich waren dazwischen keine unangenehmen Überraschungen versteckt, aber so hatte er wenigstens etwas zu tun, bis tiefste Nacht herrschte und man hier auf der Burg daranging, sich mit Meuchelmord die Zeit zu vertreiben ... »Mir kommt es so vor, als würde ich schon ewig hinter Büschen und Bäumen herumkrachen«, beschwerte sich Reißzahnbruder Khavan leise. Schuppenmeister Arthroon bedachte ihn dafür mit genau dem eisigen und erbarmungslosen Blick, welchen er zur Antwort erwartete. 185 »Wenn die Große Schlange erscheint«, musste er sich dann auch noch vom Schuppenmeister belehren lassen, »werden diejenigen, welchen die Einsicht in die Notwendigkeit gefehlt hat, als verzichtbar angesehen. Das solltet Ihr Euch hinter die kaum noch vorhandenen Ohren schreiben, Reißzahnbruder.« Khavan nickte ergeben und streckte seine lahmen und kribbelnden Beine. Zuerst das eine, langsam und gewunden, als wolle er sich über einen Tänzer lustig machen, und dann das Gleiche noch einmal mit dem
anderen. Die Krämpfe ließen ein wenig nach. Sie krochen gerade durch das Halbdunkel eines Dornenrankendickichts hinter Bowshun und näherten sich dem Rand einer Lichtung. Auf dieser pflegten für gewöhnlich Aranglar der Weber und sein Weib Thaelae Feuerholz zu hacken und aufzustapeln. Hier schütteten sie ihren Abfall aus, und hier genossen sie auch die lauen Sommernächte. Das glückliche Paar hielt sich auch jetzt auf der Lichtung auf, tat aber nichts von dem, was man ihm nachsagte. Stattdessen trachteten die beiden sich gegenseitig nach dem Leben. Grunzen und Schreien, Schnaufen und Triumphgeheul. Körper krachten durch das Unterholz, über totes Laub und zwischen den sauber aufgeschichteten Stapeln. Tretend, schlagend und einander würgend rollten Thaelae und Aranglar miteinander über den Boden. Sie rissen einander an den Haaren, nahmen sich gegenseitig in den Schwitzkasten und peinigten den jeweils anderen mit ausgesuchten Gemeinheiten ... Wenn nichts anderes half, schlugen sie wie Ziegenböcke mit der Stirn zu, oder sie versuchten, den Gegner mit dem Kopf an einen Baum zu schlagen. Doch sosehr sie sich auch ans Leben wollten, sie dachten überhaupt nicht an Aranglars Axt, welche noch im Hauklotz 186 steckte. Keuchend und ächzend benutzten sie nur Hände und Finger als Waffen und bespuckten sich höchstens. Reißzahnbruder Khavan zuckte unter diesem abstoßenden Anblick zusammen, ließ sich aber nicht allzu viel davon anmerken, weil er genau wusste, dass Arthroon ihn beobachtete. Der Weber und sein Weib bluteten aus unzähligen Wunden, und eben drückte Thaelae Aranglar durch einen geschickten Griff ein Auge aus der Höhle ... Khavan biss die Zähne zusammen, schmeckte Galle im Mund und wagte einen vorsichtigen Blick auf seinen Vorgesetzten. Der Schuppenmeister lächelte und schien Khavans Unbehagen offensichtlich zu genießen. »Gehen wir, Bruder Zimperliese«, sprach er überfreundlich, »wir haben genug von den Auswirkungen der Pest gesehen. Ich möchte Euch jemand anderen zeigen. Verhaltet Euch ruhig und schweigt, wenn Ihr nicht auch ein Auge verlieren wollt.« Die beiden Priester umschlichen die sich wie rasend gebärdenden Kämpfer und erreichten schließlich Aranglars Hof. »Warum so eilig?«, fragte der Reißzahnbruder schnaufend. Zur Antwort warf sich Arthroon hinter die mit Moos bedeckten Felsen, packte seinen Untergebenen am Bein und zog ihn mit brutaler Kraft zu sich auf die Erde. »Drei Menschen leben in dieser Hütte«, erklärte der Vorsteher, »aber nur zwei sind dahinten mit ihrem ganz besonderen Balztanz beschäftigt.« Er scherte sich keinen Deut um Khavans Schmerzen und Verwirrung, sondern fuhr gleich fort: »Damit erhalten wir die Gelegenheit, eine andere Auswirkung der Pest zu sehen. Schließlich hat der Dritte niemanden, mit dem er sich bis zur Bewusstlosigkeit prügeln kann ... Und es müsste genau jetzt so weit sein ...« 187 Tatsächlich flog jetzt die Hintertür krachend auf, und ein alter Mann humpelte heraus. Er krümmte sich vor Schmerzen. Der Greis würgte, hielt sich den Bauch und dann die Brust und erbrach eine umfangreiche Mahlzeit auf den Boden. Dazu wimmerte er wie eine Schwangere in den Wehen. Als der Alte alles von sich gegeben hatte, trottete er den Pfad hinunter, welcher zum Bach und in den Wald hinein führte. »Wer ist denn das?«, flüsterte der Reißzahnbruder, um seinem Vorgesetzten anzuzeigen, dass er alles aufmerksam verfolgt hatte und sich nicht wieder angewidert abwenden musste. »Thaelaes gealterter Vater«, antwortete Arthroon und erhob sich schon wie ein Jäger, der sich auf die Fährte der Beute setzt und von dieser nicht gesehen werden will. Der Priester setzte sich gleich in Bewegung, als wisse er, dass der Moment des tödlichen Stiches nicht mehr allzu fern war. Kurz drehte er sich zu seinem Untergebenen um: »Folgt mir, aber seid leise. Wenn meine Vermutungen zutreffen, dürfte es nicht ratsam sein, von dem Greis bemerkt zu werden.« Wie huschende Gespenster eilten die beiden dem Alten von Baum zu Baum hinterher. Sie hielten sich im Schatten, um nicht von dem Vater entdeckt zu werden. Der Greis stolperte am Ende seiner Kräfte voran, schien jeden Moment zusammenbrechen zu wollen und hielt sich doch mit unglaublicher Kraft aufrecht. Sein Stöhnen erklang von Mal zu Mal tiefer und rauer, bis man glauben konnte, der Alte litte an schwerem Husten. Khavan sah seinen Vorgesetzten fragend an, doch der lächelte nur und setzte die heimliche Verfolgung fort. Der Reißzahnbruder gab sich Mühe, seinen Seufzer leise zu halten. Kopfschüttelnd gab er sich Mühe, mit Arthroon Schritt zu halten und gleichzeitig keinen Lärm zu machen. 188 Unvermittelt hob der Schuppenmeister eine Hand und zeigte seinem Untergebenen damit an, innezuhalten.
Der Alte stolperte immer noch über den Pfad und grunzte mittlerweile wie ein Wildschwein. Doch jetzt fing er an, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Khavan starrte wie gebannt hin und entdeckte, dass dichtes rotbraunes Haar Hände und Nacken des Greises bedeckte - nicht mehr das schüttere Grauweiß von vorhin ... Und dieser Wildwuchs schien an jeder Stelle seines Körpers zu wuchern. Dieses Urteil fiel dem Beobachter nicht schwer, konnte der Alte doch nicht davon lassen, seine Kleider in Fetzen zu reißen und sich von diesen zu befreien. Dabei kamen ihm seine Finger zu Hilfe, denn diese streckten sich zu lang gezogenen Klauen ... Und der alte, gebrechliche und gebeugte Körper dehnte sich, gewann breite Schultern und sprengte die letzten Fesseln, welche die Kleidung ihm angelegt hatte. Khavan fuhr entsetzt zurück, aber der Schuppenmeister sah ihn so finster an, dass der Reißzahnbruder erstarrte. Bibbernd blieb der rangniedrigere Schlangenpriester stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle ... Selbst dann nicht, als der Greis - oder besser das Ungeheuer, in welches er sich verwandelt hatte - in seiner Raserei nachließ, schnüffelte, als wolle er eine Witterung aufnehmen, und sich mit Gebrüll den beiden Beobachtern zuwandte. Von dem wettergegerbten alten Gesicht des Greises war nichts mehr übrig geblieben. An Stelle seiner Züge waren lange Reißzähne und eine noch längere Schnauze getreten. Der zottelige Körper ähnelte dem eines Bären mit ausgeprägtem Schweif. Wenn das Untier nicht noch einige Fetzen Stoff am Leib getragen hätte, hätte man nicht mehr glauben mögen, dass sich das alles aus einem vertrockneten Alten entwickelt hatte. 189 Langsam schritt das Wesen jetzt auf die beiden zu. Seine Bewegungen wirkten bedrohlich, aber auch irgendwie unbeholfen. »Es muss sich noch für den Angriff sammeln«, erklärte der Schuppenmeister so begeistert wie ein Naturforscher beim Anblick eines seltenen Schmetterlings. Der Reißzahnbruder hingegen konnte nur schlucken. Er vermochte nicht, den Blick von dem Untier zu wenden, und gewann den Eindruck, dass es sich viel zu rasch mit seinem neuen Leben zurechtfand. Rasch wirkte Khavan einen Zauber und ging dabei so hastig vor, dass er beinahe gestolpert wäre. In seinen Fingern prickelte es, seine Hände wurden taub, und dann flimmerte rings um die beiden Priester die Luft. Für das Bärenwesen schien dies das Zeichen zum Angriff darzustellen. Furchtbar heulend und schnaubend stürmte es auf die vermeintlich leichte Beute zu. Der Reißzahnbruder wich unwillkürlich einen weiteren Schritt zurück, und sein Mund trocknete aus. Was ging hier vor? Wirkte sein Zauber etwa nicht...? Doch schon im nächsten Moment verwandelte sich das Flimmern in etwas Dunkles und Festes ... in einen Schild aus zischenden und um sich beißenden Schlangen. Die Tiere wanden sich umeinander und schienen sich auf der Luft zu bewegen. Rasch bildeten die Kriechtiere einen Wall um die beiden Priester, und ihre Mäuler reckten sich bedrohlich dem immer noch anstürmenden Untier entgegen. Khavan wich einen weiteren Schritt zurück und beruhigte sich so weit, dass er sich wieder an den Bann erinnerte, mit welchem sich der Giftspeer erschaffen ließ ... nur für den Fall, dass der Bär einfach über die Schlangen hinwegstampfte. Der Reißzahnbruder ertappte sich dabei, wie er unentwegt auf die ehemaligen Finger des Alten starrte, welche sich in lange Krallen verwandelt hatten. 190 Arthroon nickte nur gleichmütig, als das Ungeheuer sich vor ihm auf die Hinterbeine stellte, hoch über ihm aufragte und mit den Tatzen in die leere Luft schlug. Die Schlangen zischten wie ein Chor, und der Bär schien sich vor ihnen zu erschrecken. Er wankte vor und zurück und wagte es offenbar nicht, ihnen mit seinen Tatzen zu nahe zu kommen. Die Kriechtiere ihrerseits entwickelten eigene Angriffslust, und ihre Mäuler schnellten immer wieder zu dem Bären vor, welcher sich in so greifbarer Nähe befand ... und dennoch gerade außerhalb ihrer Reichweite. Das Ungeheuer brüllte die Schlangen an, konnte sie damit jedoch nicht vertreiben, und kehrte ihnen den Rücken zu. Mit einem unwilligen Knurren trottete der Bär den Pfad in den Wald hinunter. Der Schuppenmeister lächelte breit, als das Krachen des schweren Tiers zwischen den Bäumen immer leiser wurde. Khavan beeilte sich, wieder neben den anderen zu treten. Denn er fürchtete den Schuppenmeister mehr als das Ungeheuer, welches seinen Angriff auf sie abgebrochen hatte. Der Reißzahnbruder hatte gerade die Stelle erreicht, an welcher er den Schlangenwall errichtet hatte, als die erlahmenden Geräusche aus dem Laub, dem Unterholz und dem Geäst urplötzlich wieder lauter wurden und zum Kampfgebrüll zweier großer Ungeheuer anschwollen. Nun krachte es erst recht im Gehölz. Dazwischen mischten sich der Aufprall schwerer Körper, das Rumsen, wenn einer von ihnen zu Boden ging, oder die schrillen Schreie eines verwundeten Untieres. Dann schien der Kampf beendet zu sein, und die Priester hörten wieder, wie etwas Schweres tiefer im Wald
verschwand. Der Schuppenmeister wandte sich an seinen Untergebenen: »Ausgezeichnet. Wir haben tatsächlich die uralte Blut191 pest wiedererschaffen. Einige Ausfälle sind zu beklagen, weil der eine oder andere dem Irrsinn anheim fällt, aber die Mehrzahl hat sich in Ungeheuer verwandelt und greift alles an, was ihnen über den Weg läuft.« Er tippte dem Untergebenen mit einem Finger auf die Stirn wie ein Lehrer, welcher einem verstockten Schüler Weisheit einflößen will. »Bald gehört uns ganz Aglirta.« »Uns?« »Natürlich, und wir werden das Land auch nie wieder verlieren«, versicherte ihm sein Vorgesetzter. »Denn binnen kurzem wird jeder im Reich, welcher etwas trinkt, entweder unter unserem Schutz stehen oder elendiglich zu Grunde gehen.« »Und was wird aus den Hochfürsten?«, wagte der Reißzahnbruder zu fragen. »Das bleibt abzuwarten. Sie weilen zurzeit auf Einladung des dortigen Tersepten auf Burg Stornbrücke. Einige, welche uns treu ergeben sind, befinden sich ebenfalls dort... deswegen warten wir es einfach ab, nicht wahr?« Der Fürst der Schlange Hanenhather schüttelte den Kopf. »Sehr wenig begeisternd, Arthroon, sehr unerquicklich! Ihr lasst ein Pestuntier einfach so herumlaufen und morden, während Ihr lieber ein Schwätzchen haltet! Wie soll sich denn eine solche Bestie in Eurer Hand zu einer Waffe entwickeln? Und was sollte sie unserer Bewegung nutzen?« Der Bär lag ein Stück weiter entfernt in seinem Blut. Das Pestungeheuer, welches Bruder Landrun erschaffen hatte, hatte das pelzige Untier zerrissen. Der Sieger ragte jetzt neben dem Schlangenfürsten auf: Ein weiterer unglücklicher Dörfler, welchen die neue Seuche in eine Bestie verwandelt hatte ... in diesem Fall in einen wandelnden Berg: Mit gewaltigem grauem Schädel, riesigen Klau192 en, einer Haut hart wie Stein und dem Gewicht eines ganzen Ochsengespanns. Der Schlangenfürst schüttelte ein weiteres Mal unzufrieden das Haupt. Arthroon ahnte nichts von ihrer Anwesenheit, und der Schuppenmeister kümmerte sich offenbar nicht im Geringsten um das Schicksal des toten Bärenmannes. Vielleicht hätte sich das Wesen ja irgendwann für die Schlangenanhänger als nützlich erweisen können. Arthroon hingegen erfasste überhaupt nicht das ganze Ausmaß der wiedererweckten alten Pest. Und solch ein eitler Fatzke schmückte sich mit einem Titel wie »Schuppenmeister«! Was war nur aus ihrer Bewegung geworden? »Schweigt Ihr nur, Landrun«, fuhr er seinen Untergebenen an, »macht mir jetzt ja keinen Fehler, sonst werdet Ihr anstelle des Ungeheuers dort verwandelt.« Bruder Landrun erstarrte und drehte sich ängstlich zu seinem Vorgesetzten um. Fürst Hanenhather lächelte freundlich, aber seine Finger woben schon einen Zauber. Nur in seinen Augen wohnte die übliche Kälte. Landrun überlief es einige Male eiskalt, als der wandelnde Berg sich drehte, zusammenschmolz und sich zurück in einen Menschen verwandelte. Taumelnd rannte dieser davon und verschwand im Wald. Der Fürst schickte ihm ein Lächeln hinterher. »Geht nur, Tersept von Eisenstein, und führt die Befehle aus, welche ich Euch gegeben habe ...« Er sprach leise, als teile er nur sich selbst etwas mit. »Bald bricht Krieg in Aglirta aus, diesem Reich der blutrünstigen Hitzköpfe...« »Und was wird aus dem echten Tersepten von Eisenstein, mein Fürst?«, fragte Bruder Landrun und schluckte. »Ach, der Ärmste ist leider ganz unerwartet verschieden. 193 Ihr erinnert Euch doch gewiss an das, was unser lieber Hausgenosse Schreckensklaue gestern Nacht im Straßengraben verschlungen hat, nicht wahr?« »Eine Schleichschlange, so groß wie ein Wagen«, antwortete der Schlangenbruder zögerlich und schauderte, offenkundig von Entsetzen gepackt. »Ihr meint -?« »Ja, ganz recht.« Das Lächeln des Fürsten hätte einer Schreckensklaue gut zu Gesicht gestanden. »Man darf wohl sagen, dass es sich um eine Schleichschlange mit Geschmack gehandelt hat.« Khavan bemühte sich, seine Übelkeit niederzukämpfen. »Aber wenn niemand mehr seinem Herren oder seinem Eheweib trauen kann, weil er nicht weiß, ob es sich auch wirklich um den Betreffenden oder die Betreffende handelt, dann ... dann ... dann ...« »Dann vermögen wir, die Blutpest von einem Ende des Tals an das andere zu verbreiten«, entgegnete Hanenhather, »und auch noch dabei zuzusehen, wie Hochfürsten und Kinder auf dem Thron zu Grunde gehen, und auch ein paar gewisse vertrottelte Schuppenmeister.« Der Fürst der Schlange lächelte zufrieden in sich hinein. »Das wird ein Schmausen ... Nun kommt, Landrun, auf uns wartet viel Arbeit. Ihr bedürft noch einer Menge Übung, bis Ihr die Ungeheuer so richtig beherrscht. Wollen
wir ein paar Bauernburschen die Gelegenheit geben, einmal Hochfürst zu spielen.« In der Wanne hatte sich gerade so viel warmes Wasser befunden, um sich einmal wohlig darin zu versenken. Kaum war das Nass eingelaufen, hatte Craer die Öllampe ausgeblasen und so für noch wohligere Dunkelheit gesorgt. Das lag nun schon eine Weile zurück, und längst war er aus der Wanne gestiegen und tropfnass zu seinem Gewand gelaufen, um sich dort nicht mehr als die Füße abzutrocknen. Da194 nach hatte der Beschaffer die Stiefel wieder angezogen, aber nicht mehr. Wenn auch nur die Hälfte von dem eintraf, was der Beschaffer für den Verlauf der Nacht erwartete, wäre mehr Kleidung auch nicht ratsam. Er machte sich an eine genauere Untersuchung seines Gemachs. Unter dem Bett entdeckte er einen Nachttopf, den man zusätzlich zum Donnersessel hergebracht hatte. Craer stellte ihn in bequeme Reichweite hin ... für den Fall, dass seine Därme sich überfallartig entleeren wollten. Daraufhin streckte er sich wie eine Katze und schlich weiter durch den noch immer in Dunkelheit daliegenden Raum. Er spähte hierhin und dorthin, um den leisen Lichtschein eines heimlichen Beobachters auszumachen und sei es nur eine Kerze hinter vorgehaltener Hand. Nach einer Weile stießen seine Fingerspitzen auf ein eigenartiges Muster in der Wandtäfelung, welches senkrecht von der Höhe seines Kopfes bis zu der seiner Knie verlief. Er verzog den Mund zu einem leisen Lächeln und nickte unmerklich. Leise klopfte jemand an seine Zimmertür. Craer erreichte den Türrahmen mit drei raschen Schritten. Er zog zwei seiner Messer und nutzte das eine davon, um mit der Spitze einen überzähligen Stiefel gegen die Tür zu werfen. Doch niemand stieß mit einem Schwert unter der Tür hindurch noch durch die verdächtig breite Ritze zwischen Tür und Rahmen, und durch das Schlüsselloch drang auch kein Zauber. »Wer ist da?«, fragte der Beschaffer. »Ich, Ihr Blödian«, erhielt er zur Antwort. Der kleine Hochfürst grinste sich eins. »Wer mag denn dieser >Ich< sein? Das ist doch wirklich ein merkwürdiger Name.« »Ihr elender Schweinekerl«, schleuderte es ihm, wenn auch 195 immer noch halbwegs gedämpft, entgegen. »Ihr wisst sehr gut, dass ich es bin, Tschamarra!« »Hm, ich kenne eine ganze Reihe Tschamarras«, erwiderte der Beschaffer in gespielter Nachdenklichkeit. »Wenn Ihr diejenige seid, welche ich vermute, tragt Ihr eine Narbe in der Form meiner Zahnreihen. Verratet mir doch, wo sich diese Narbe befindet.« »Unterhalb meiner linken Brustwarze, Craer, genau dort, wo Ihr mich gebissen habt! Und jetzt öffnet endlich diese verdammte Tür hier, sonst trete ich sie ein!« »Seid Ihr denn auch allein und aus freiem Willen vor meine Tür getreten?« »Ja, verwünschter Mistkerl!« Craer steckte die beiden Dolche wieder ein und zog auch den dritten aus der Ritze zwischen den beiden Bodenplatten heraus, welchen er als Türstopper dort hineingestoßen hatte. Danach entfernte er auch die beiden Keile, welche er in den Türrahmen gerammt hatte, und ebenso den schmalen Messingriegel, welchen Fürst Stornbrücke seinen Gästen zur Verfügung stellte. Endlich öffnete Craer die Tür seiner Kammer, hielt sich aber in deren Schatten. Tschamarra Talasorn stand allein im Flur und hatte sich das Leder angelegt, welches Diebe so gern trugen. Dazu hielt sie eine kleine abgedunkelte Laterne in der Hand, und in deren Schein erkannte sie Craers lüsterne Blicke. Aus irgendeinem Grund waren die beiden Lampen an seiner Tür ausgegangen, und auch den Wächter schien ein ungnädiges Schicksal ereilt zu haben, denn er lag, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Da Craer nichts gehört hatte, musste dieser »Schicksalsschlag« ihn auch in aller Stille getroffen haben. Aber mit der rechten Magie konnte man alles wie einen Unfall aussehen lassen. 196 »Ich muss tausendmal um Vergebung bitten, edle Herrin«, entschuldigte sich der zierliche Mann, als Tschamarra vorsichtig eintrat, »aber heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Wie ich zu meiner Erleichterung feststelle, teilt Ihr meine Sorge. Sonst hättet Ihr wohl kaum solche Kleidung angelegt und Euch auch sonst so ausgerüstet, wie Ihr es getan habt. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen, Ihr scheint Euch auf genauso viel Ärger eingestellt zu haben wie ich!« »Die Sache steht noch viel schlimmer«, erwiderte die Zauberin erregt, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich für einen Moment dagegen, als wolle sie daran lauschen oder würde von Übelkeit überkommen. »Wir müssen die Herrin Embra finden, und das so rasch wie möglich. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, fühlt sich mein Magen alles andere als wohl.« Der Beschaffer bückte sich, zog einen Flachmann aus seinem Stiefel, schraubte den Verschluss ab und reichte der Besucherin die Metallflasche.
»Trinkt davon. Ich befürchte nur, dass sie schon halb leer ist.« »Und was mag das für eine Flüssigkeit sein, welche Ihr da wie ein Magier aus dem Stiefel statt aus dem Hut gezaubert habt?« »Mein >kleiner HelferWaren< feilbieten?« »Edle Herrin Talasorn«, entgegnete der Beschaffer gespreizt, »sie gehörte den Weisen an, und ich hatte ihr gerade einen Dienst erwiesen. Vor einiger Zeit habe ich die eine Hälfte des Inhalts getrunken, die obere Hälfte, wenn mein Gedächtnis mich nicht ganz trügt. Und wie Ihr seht, stehe ich immer noch gesund und munter und in einem Stück vor Euch. Bedient Euch also an der Flasche, ich bitte Euch.« Die Zauberin nickte ... und schüttelte sich am ganzen Körper. Sie krümmte sich und ging in die Knie. »Schlimmer kann es ja kaum noch werden«, murmelte sie, stellte die Laterne ab und roch an der Flasche. Dann zuckte Tschamarra die Achseln und trank. Doch da überkam sie ein Zittern, wie sie es kaum für möglich gehalten hatte. Die Zauberin ächzte und stöhnte, drehte sich um die eigene Achse, kratzte an der Wand, als wolle sie Löcher hineinbohren. Ruckartig schüttelte sie den Kopf und konnte doch ein Wimmern nicht unterdrücken. »Oh, vergebt mir«, sprach Craer mitfühlend. »Zu dumm, da habe ich wohl vergessen zu erwähnen, dass dieses Gebräu auch >Feuerwasser< genannt wird.« »Verschont mich bitte für die nächsten Stunden mit Euren Witzen!« Sie starrte ihn wütend an, doch trotz der Tränen, welche ihr in die Augen geschossen waren, erkannte er doch das Wohlwollen in ihrem Blick. »Gehen wir lieber Embra suchen«, ächzte die Zauberin, »ehe diese Nacht die nächste feurige Überraschung für uns bereithält.« Der Beschaffer verschwand für einen Moment, und als er zurückkehrte, war er angezogen. Craer trat an die Stelle der Holztäfelung, welche er früher mit den Fingerspitzen abgetastet hatte. 198 Der Beschaffer berührte ein dort angebrachtes, geschnitztes Hirschgeweih, und im nächsten Moment öffnete sich die Wand. Dahinter breitete sich nichts als Dunkelheit aus. Tschamarra hob ihre Laterne, und Craer zeigte voller Stolz auf den von ihm vor kurzem entdeckten Geheimgang. Dann bedeutete er ihr zweierlei, nämlich erstens, dass sie auf die Seite treten, und zweitens, dass sie ihr Licht abschirmen möge. Die Zauberin beeilte sich, beiden Aufforderungen zu folgen, denn schon hatte der Beschaffer einen Dolch aus seinem Ärmel geschüttelt. Jetzt schlich er sich seitlich in den Gang und ... Schleuderte das Messer mitten hinein in die Dunkelheit. Dumpf traf die Klinge auf Widerstand, und dem folgte ein schmerzensreiches, scharfes Einatmen. Dann glaubte Tschamarra, ganz in der Nähe ein leises Rascheln zu vernehmen. Sie zog sich sofort vom Eingangsbereich zurück und sah, wie Craer die Abdeckklappe ihrer Laterne leise anhob und den Docht einer anderen Lampe in die Lücke schob. Als dieser Feuer gefangen hatte, zog der Beschaffer ihn wieder heraus. Die Hexe verfolgte, wie der brennende Docht durch das Zimmer zu hüpfen schien und dann einer anderen Laterne Licht schenkte. Der kleine Mann begab sich mit dieser an den Eingang, sah die Zauberin an, zwinkerte ihr zu und trat mit dem Licht in den Gang. Schon nach dem ersten Schritt klapperten Bogenbüchsen, die handgroßen Armbrüste, welche man in Teln und im Süden so gern benutzt, und aus den Tiefen des Ganges sausten Bolzen auf den Eindringling zu. Craer riss die Laterne wie einen Schild hoch und wehrte damit erfolgreich alle Geschosse ab. Grinsend sagte er sich, dass er doch mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. Das Glück der Dreifaltigkeit stand auf seiner Seite ... 199 Aber wie jeder erfahrene Beschaffer wusste Craer, dass es solches Glück eigentlich nicht gab und dahinter immer sorgfältige Vorbereitung, gesundes Misstrauen und ein Mindestmaß an körperlicher und geistiger Beweglichkeit steckten. Und gelegentlich steuerten die Götter noch einen kleinen Scherz oder Streich hinzu. Brennendes Öl tropfte auf Craers Finger, denn ein Bolzen hatte die Laterne durchschlagen. Der Hochfürst hüpfte auf und ab und schüttelte die Rechte, um sie von der brennenden Last aller Reste entzündbaren Öls zu befreien. Als das erledigt war, zog er etwas aus seinem Gürtel und zischte Tschamarra zu: »Meinen Nachttopf, rasch! Er
steht unter dem Bett!« Die Zauberin gehorchte auch diesmal bereitwillig. Als er den Topf am Henkel hielt, schüttelte er das hinein, was er eben aus seinem Gürtel gezogen hatte. »Blitzpulver«, vermutete Tschamarra naseweis. Der Beschaffer grinste sie zur Antwort an, stellte sich wieder an den Eingang, holte weit aus und schleuderte den Nachttopf hinein. Die beiden hörten, wie das Gefäß an die Decke knallte und dann über den Boden weiterkullerte. Craer biss die Zähne zusammen, packte die brennenden Reste seiner Lampe und schleuderte sie hinterher. Die Zauberin warf sich zu Boden, und im nächsten Moment explodierte die ganze Welt. Tschamarra wurde gegen eine Wand geworfen und verletzte sich an der Schulter. Die Kammer hörte genauso unvermittelt auf zu wackeln, wie sie damit angefangen hatte. Die Zauberin entdeckte, dass ihre Laterne umgekippt war. Sie stellte das Gerät rasch wieder aufrecht hin und untersuchte es nach Schäden. 200 Doch der Beschaffer bedeutete ihr grimmig, kein Licht zu machen. Zerknirscht deckte sie den Schein ab. Craer trat geduckt in den leuchtenden Rauch, welcher den Gang immer weiter ausfüllte. Der Qualm schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Beschaffer bewegte sich so tief geduckt wie möglich und verursachte keinerlei Geräusch - was Tschamarra schon immer an ihm bewundert hatte. Die Zauberin wusste natürlich, dass es entsprechende Zauber gab. Aber wenn sie nur ihren eigenen Atem, den sich entfernenden Widerhall der Explosion und das leise Fauchen des Feuers, aber nichts von Craer hören konnte, kam ihr das schon etwas unheimlich vor. Die junge Frau wartete eine ganze Weile, so lange, bis sie feststellte, dass sie den Atem anhielt. Den entließ sie in einem leisen Seufzen und beschloss, noch länger zu warten ... Plötzlich ging der Gang wieder in Flammen auf, und überall entstanden Feuer von der Art, wie nur die Magie sie erzeugen kann. »Craer!«, schrie die Zauberin mit schriller Stimme und rannte zum Eingang. Die Flammen spuckten ihr einen Feuerball entgegen, und in dem steckte eine geschwärzte und sich drehende Gestalt... Acht Die Herren Ritter werden unruhig Der Mond war noch nicht über Bowshun aufgegangen, und so fand die Nacht Gelegenheit, sich in all ihrer Finsternis auszubreiten. Der war es dann auch zu verdanken, dass immer wieder Stiefel stolperten, jemand gegen einen Ast lief und überhaupt viel geflucht wurde. Man traf sich an der Marag-Quelle, auf halbem Weg hinauf zu Emdels Lichtung. Nur eine kleine Schar, aber ein jeder trug ein blankes Schwert in der Hand. »Eregar?« »Ja, der bin ich, Thunn. Wen bringt Ihr mit?« »Braumdur«, meldete sich eine dunkle Stimme, »und ich habe meine beste Klinge mitgebracht. Wird mir eine Freude sein, dem Schlangenpriester die Gedärme zu durchlöchern, auf dass frische Luft hinein kann.« »Ganz recht«, stimmte Eregar zu und tastete sich zu seinem Lieblingsbaumstumpf vor. »Wer noch?«, fragte er. »Narvul«, antwortete jemand entschlossen, »mit meiner Axt.« »Gut. Dann wären wir ja alle beisammen. Der Zeitpunkt ist gekommen, mit diesem Schlangenbändiger abzurechnen, welcher zu viel Unheil über unser Land gebracht hat. Unsere Frauen und Kinder gehorchen uns nicht mehr und spionieren uns nach. Lange genug habe ich mir seine wohlfeilen Worte angehört. Dabei kocht der auch nur mit Wasser, und so gut sieht er auch gar nicht aus, wie unsere jungen Dinger immer schwärmen. 202 Auf jeden Fall will ich verflucht sein, wenn ich zulasse, dass Galgenvögel wie dieser Priester unser schönes Bowshun in Schutt und Asche legen!« »Ja, der Wunsch nach Verdammnis soll Euch erfüllt werden!«, lachte eine neue Stimme kalt. Den vier Aufrechten blieb kaum Zeit, sich umzudrehen, da schoss schon von allen Seiten dunkelbraunes Feuer auf sie zu. Die Flammen entzündeten die Quelle, und die vier Männer, welche zur Rettung Bowshuns ausgezogen waren, erkannten einander, wie sie in Panik erstarrt dastanden. Und das im buchstäblichen Sinne, denn sie vermochten tatsächlich nicht mehr, sich zu rühren. Gerade noch gelang es ihnen, die Augen zu drehen, um mehr sehen zu können. Das braune Licht hielt die vier fest im Griff, und es stammte von einem Mann mit kalten Augen, welcher nun hinter einem Baum hervortrat. Als er den Weg erreichte, erschienen hinter ihm andere - einige in den Gewändern der Schlangenpriester, andere in zusammen gewürfelter Rüstung und damit unschwer als Söldner zu erkennen. »Reißzahnbruder«, erklärte Schuppenmeister Arthroon höchst zufrieden, »lasst antreten.« Ein Priester rief Befehle, und die Söldner rückten vor, stellten sich vor die gefangenen Verschwörer, zückten
ihren Dolch und schauten abwartend auf Arthroon. Der wartete einen Moment, nickte dann und sprach: »Jetzt.« Mit ziemlich gleichen Schwungbewegungen schlitzten die Klingen vier Kehlen auf. Zuckende, Blut verspritzende Leiber brachen zusammen, und die vollkommene Finsternis kehrte auf den Waldpfad zurück. »Werft sie in den Fluss«, befahl der Schuppenmeister, »und entfernt alle Spuren von ihnen. Auf dem Weg darf nichts mehr von ihnen zu sehen sein. Der Mond geht gleich auf, und ich 203 möchte von hier verschwunden sein, bevor die braven Bürger von Bowshun dem Ruf der Schlange gehorchen ...« Reißzahnbruder Khavan zauberte einen leuchtenden Schlangenschädel herbei, welcher sich ganz nach den Bewegungen seiner Finger drehte. Der Schuppenmeister zeigte sich davon nicht begeistert, verzichtete aber auf eine Zurechtweisung, und so machten sich die Söldner an die Arbeit. Als sie gerade fertig geworden waren, ertönten von weiter unterhalb Rufe wie »Seht nur!«, »Schaut doch!«. Man hatte den leuchtenden Schlangenkopf entdeckt. »Runter vom Pfad!«, befahl Arthroon leise. »Haltet erst an, sobald ihr die Quelle hinter euch gebracht habt!« Gehorsam verschwanden die Söldner und Priester im Dickicht. Bleiches Mondlicht ergoss seine Strahlen auf den Pfad, und in diesem Schein verfolgten die Schlangenanhänger, wie die Bürger von Bowshun auf Emdels Lichtung zuliefen, um dem Ruf der Schlange zu gehorchen. Die vier Leichen von Männern aus ihren Reihen am Wegesrand aber sahen sie nicht. Maelra erwachte mit einem leisen Schrei aus ihrer Beobachtung. Da endlich! Ein leises Pochen oder Zucken! Die Kraft war erwacht! Magische Energie versuchte, in die größte Kristallkugel einzudringen, welche sie für ihre Bemühungen eingesetzt hatte. Der Angriff konnte nicht von Onkel Multhas stammen, denn die kleine Kugel aus seinem Besitz, mit welcher Maelra ihn auf Schritt und Tritt heimlich verfolgen konnte, zeigte ihn gerade mit einer anderen Tätigkeit beschäftigt. Der Onkel wuchtete ein Bildnis seiner selbst die Treppe hinauf, an deren Wänden Onkel Dolmur die Gemälde der Familienmitglieder aufhängte. 204 Und auf dem Weg zum Ziel musste Multhas einen Abwehrzauber nach dem anderen umgehen. Die junge Zauberin getraute sich nicht mehr, ihre Verwandten weiterhin zu bespitzeln, denn zu leicht könnte sie nun dabei entdeckt werden. Allerdings ärgerte sie sich maßlos darüber, denn sie wollte unbedingt erfahren, was Dolmur noch alles zu sagen hatte. Doch dann ließ Maelra ihre Abwehr sinken und wartete auf die Verbindung, welche über kurz oder lang hergestellt werden würde. Die junge Frau verscheuchte alle Gedanken aus ihrem Bewusstsein und dachte nur noch an helle Flammen, ein Bild, welches sie beruhigte. Doch trotz all dieser Bemühungen rutschte sie in ein anderes Bild ab und stellte sich für einen Moment vor, sie sei eine räudige Ratte, welche sich in einen kleinen Spalt zwischen zwei Wänden verkroch, weil gerade ein Wächter herangeschnauft kam... Und einen Moment später kam es zu der Verbindung. Jemand, allem Anschein nach ein Mann, tastete mit seinem Geist alle Kugeln ab ... anscheinend, um sich mehrere Zugangsmöglichkeiten zu verschaffen... oder aber, um über mehrere Verstecke zu verfügen, in welchen er sich vor einem überraschend auftauchenden Bogendrachen verbergen konnte. Dann erkannte Maelra den fremden Eindringling. Ingryl Ambeiter! Er war offensichtlich gekommen, um die Gebrüder Bogendrachen auszuspionieren ... Begeistert über diesen Erfolg setzte die Zauberin sich auf den Geistesfinger Ingryls. Statt sich ihm in den Weg zu stellen, ritt sie auf ihm. Bilder strömten in ihren Geist, und sie ließ diese geduldig in sich einfließen. Die junge Frau unternahm nichts, während Ambeiter versuchte, Multhas zu erreichen. 205 Er fand den sich schwer abplackenden Onkel und verfolgte, wie der Mann in den schwarzen Gewändern Dolmurs innerste Gemächer betrat. Ingryl ergötzte sich daran, und Maelra nutzte die Gelegenheit, ihre Verbindung mit dem Onkel an die mit Ambeiter anzuknüpfen. Als dies vollbracht war, zog die Zauberin sich zurück und begab sich wieder in ihren mittlerweile heftig schwitzenden Körper. Mehr bereit und willens konnte sie nicht sein. Der Bann lag vorbereitet da, war für ebendiesen Augenblick niedergeschrieben worden, und mit leicht zitternder Hand griff die junge Frau danach.
Sie brauchte einen Moment, bis sie sich so weit gesammelt hatte, um den Spruch ruhig und vollständig zu sprechen ... Schon griff der Bann. Maelra blieb keine Zeit mehr, sich nach allen Seiten umzusehen. Doch irgendwie kam ihr das zu einfach vor ... Allein in ihrem schmucklosen, verlassenen Keller im Maransurhaus in Arlund beendete Maelra Bogendrachen ihren Zauber mit einer weiten letzten Handbewegung und folgte dann auf magischem Weg dem Zaubermeister von Aglirta in sein geheimes Versteck ... »Gebt doch etwas mehr Acht, Hawkril, hier befindet sich eine Dame!« Embra schützte mit beiden Händen ihre Brüste, um sie davor zu bewahren, von Schwertgriffen und Schildbuckeln aufgerissen zu werden. »Ihr könntet Euch wenigstens von Eurer Rüstung befreien!« »Das wäre keineswegs klug, Euer Durchlaucht«, entgegnete der Hüne grollend. Er ließ sich schwer neben ihr auf dem Bett nieder. Die Herrin der Edelsteine konnte ihn in der Dunkelheit, welche noch zusätzlich durch den Bettvorhang verstärkt wurde, kaum ausmachen. Aber sie spürte und roch, dass er eini206 ge Schutzplatten, verschiedene Gürtel und mehrere Schwertgurte am Leib trug. Und seine Füße steckten noch in den schweren Stiefeln. »Wenn sie gegen uns anstürmen, werden sie bestimmt mit Handarmbrüsten kommen. Wartet es nur ab, genau das werden sie tun«, beharrte der Recke. Die Zauberin seufzte und strich gedankenverloren über ihre Schenkel, während sie daran dachte, wie leicht ein solcher Bolzen ihre Lederhose oder das dünne Wams darüber durchdringen würde. »Und sie werden Salve um Salve auf mich abfeuern können«, murmelte die Edle, »bis ich alle Platten und Teile Eurer Rüstung angelegt und festgezurrt habe.« »Meine liebste Herrin, aus Eurem Mund hört es sich so an, als würde ich mehr Mühe bereiten als drei störrische Esel. Leider steht mir kein Weltenstein zur Verfügung, um mich zu schützen, während ich durch Burg Stornbrücke schleiche. Da habt Ihr es wirklich besser getroffen!« »Als ich mir die Stiefel angezogen habe, hatte ich gerade vorher mein Nachthemd abgelegt«, säuselte sie neckend. »Ich hoffe, Ihr habt nicht hingesehen.« Der Hüne schnaubte nur. »Natürlich habe ich hingesehen.« Er zog sein Schwert halb aus der Scheide, aber nichts tat sich. »Aber solange ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf sich plötzlich öffnende Türen und gespannte Armbrüste richten muss, könntet Ihr Euch die Stiefel auch um den Hals hängen, ohne dass es mich ablenkt... Obwohl ich gestehen muss, dass mir die Betrachtung Eurer nackten Haut zu anderen Zeiten das höchste Vergnügen bereitet, haltet zu Gnaden, Euer Ehren.« Embra lächelte. Wie berückend, wenn man so begehrt wurde. Und das auch noch von dem stärksten und gleichzeitig sanftesten Mann im ganzen Flusstal. »Ich frage mich, wie lange der Burgverwalter wohl 207 braucht«, sagte die Edle aber stattdessen, »bis er bemerkt, dass ich seine Wächter in den Schlaf gelegt habe ... um dann in mein Gemach zu stürmen und die vermeintliche Hexe zu erschlagen?« Hawkril grinste. »Das wird uns sicher nicht lange verborgen bleiben. Denn dann wird der Gute ein furchtbares Geschrei anstimmen. Ich nehme doch an, dass Ihr an Eurer Tür den Sprengzauber angebracht habt, als kleinen Gruß an den Verwalter, oder?« »Wie könnte ich den vergessen?«, kicherte die Fürstin, fügte dann aber verstimmt hinzu: »Wie konnten sie es nur wagen, uns so weit voneinander entfernt liegende Zimmer zu geben? Nachdem ich mich umgezogen hatte, bin ich hinausgetreten, aber da haben die Wächter ihre Lanzen vor mir gesenkt. Es sei mir nicht gestattet, mein Gemach zu verlassen, haben diese Wichte sich erfrecht zu sagen. Erst am nächsten Morgen würde ich mit einer Bedeckung abgeholt. Sie wollten mir, einer Hochfürstin, den Weg versperren! Ja, was denken die denn von mir?« »Dass Ihr jemand seid, der auf der anderen Seite steht«, entgegnete der Recke. »Und damit haben sie ja nicht so ganz Unrecht.« Die Herrin der Edelsteine schnaubte entrüstet. »Wenn jemand uns wie ein gemeiner Strauchdieb auf der Straße auflauert, uns im Tischgespräch bedroht und schmäht und uns dann noch beim Mahl zu vergiften sucht, kann er wohl kaum ewige Dankbarkeit von uns erwarten!« Embra seufzte und strich ihm über den Arm. »Tut mir Leid, Hawkril, ich führe mich auf wie eine dumme Kammertrine... Jetzt habe ich schon zweimal bei mir den Dwaer eingesetzt, aber irgendwie fühle ich mich noch immer eigenartig. Da kriecht weiterhin etwas in mir herum ... Ach, ich wünschte, Sarasper wäre hier und könnte uns alle richtig heilen.« 208 »Und ich wünschte, es würde niemals wieder Winter, jeder in Darsar wäre glücklich und reich genug, um nie wieder das Schwert gegen seinen Nachbarn erheben zu wollen. Oder auch Axt oder Hacke. Ich wünschte, wir
hätten jeden Tag schönes Wetter und die Dreifaltigkeit würde uns Tag für Tag genug dampfende Mahlzeiten bescheren, so dass sich nie wieder jemand mit Ackerbau, Viehzucht oder der Kocherei abplagen müsste ... Aber haben die Götter jemals auf mich gehört?« »Nein«, entgegnete Embra, »denn sie hatten immer viel zu viel damit zu tun, Craer zu lauschen. Seine Zunge kommt ja wohl niemals zur Ruhe.« Die Zauberin gähnte. Dann schmiegte sie sich an den Hünen und vergrub ihr Gesicht in seinem Wams. »Weckt Ihr mich bitte, wenn der Spaß losgeht?«, fügte sie noch hinzu. Der Recke legte einen seiner starken Arme um sie und tätschelte ihr den Hintern. »Und wie soll ich das beginnen? Indem ich Euch sanft ins Ohr puste? Oder indem ich Euch kitzele? Oder indem ich Euch zwicke und zwacke?« Er führte zur Anschauung bei jedem Vorschlag aus, wie er sich das vorstellte. »Ihr unverschämter Flegel!«, kicherte die Zauberin. »Ihr ungezogener Frechling!« »Nun, was das Ungezogene angeht, so kann Euch da so leicht wohl niemand etwas vormachen. Wenn ich bedenke, wie viel Kummer Ihr Euren armen Eltern bereitet habt...« Die Edle gähnte wieder. »Erinnert mich bloß nicht daran. Aber wer von uns kann sich seine Eltern schon aussuchen? Man kann höchstens versuchen, es besser als sie zu -« Etwas knarrte oder knackte in einer Ecke des Zimmers, und dann auch in einer anderen. »Runter!«, knurrte Hawkril der Zauberin ins Ohr, schob sie unter die Decke und beugte sich auf der anderen Seite aus dem Bett. 209 48 Embra fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Sie hörte aber, wie er seinen Schild unter dem Bett hervorzog ... Eigentlich gab es an der Anordnung des Hünen ja nur wenig falsch zu verstehen, aber dennoch hielt das vornehme Fräulein sich nicht daran. Embra konnte gar nicht rasch genug auf ihrer Seite unter das Bett kriechen, hätte in ihrer Hast beinahe den Weltenstein verloren und konnte von Glück sagen, sich nicht ihren eigenen Dolch, welcher am Gürtel hing, in den Bauch zu stoßen. Aber der Lärm, welchen die Zauberin veranstaltete, ging völlig im Klirren von Stahl unter, und das ertönte zu ihrem Glück von Hawkrils Bettseite. Doch da hatte die Edle sich wohl zu früh gefreut, denn schon näherten sich etliche Stiefel ihrer Seite des Bettes ... »Craer!«, zischte Tschamarra und rüttelte ihn. »So sagt doch etwas! Sprecht zu mir!« Der rauchende und völlig geschwärzte Mann unter ihren Händen hustete heiser und rasselnd. Dann spuckte er etwas aus, keuchte und sprach: »Ich lebe noch ... glaube ich wenigstens.« Die Zauberin riss die Rechte zurück, weil sich unter ihrer Handfläche letzte Flammen sammelten. Dann sprang sie auf, besorgte rasch den Wasserkrug und leerte diesen über den Beschaffer und seine rauchende Bekleidung. Das hatte ein lautes Zischen, noch mehr Qualm und einen noch stechenderen Gestank als vorher zur Folge. Craer stöhnte, und dadurch hätte Tschamarra beinahe die leisen Schritte in dem Gang überhört. Bebend vor Wut erhob sie sich erneut und näherte sich so katzenartig vorsichtig wie möglich dem Eingang. Zwar konnte sie sich selbst hören, aber ihre Geräusche fielen doch leiser aus als diejenigen des Gegners, welcher durch den Gang heranschlich. 210 Die Letzte der Talasorn-Schwestern flüsterte unhörbar eine Zauberformel und behielt sich lediglich noch das letzte und entscheidende Wort vor. Tschamarra hatte nicht mehr allzu viele Schlachtzauber übrig, und die einzelnen Hochfürsten mochten vielleicht noch darauf angewiesen sein, dass sie keinen davon unnütz verschwendete. Hinter ihr regte sich Craer, stöhnte und schüttelte sich, so dass es Ascheflocken von seiner verbrannten Lederkleidung regnete. Er richtete sich auf alle viere auf, ließ den Kopf hängen und fluchte leise vor sich hin. Der zierliche Mann zitterte ganz so wie jemand, der gerade einen heftigen magischen Angriff überstanden hat. Die Schritte im Geheimgang näherten sich weiter. Tschamarra starrte mit eisigen Augen auf den Eingang und wartete ... und wartete ... Dann zeigte sich endlich jemand in der Mündung des Gangs, und die Zauberin flüsterte das letzte Wort ihres Zaubers so zärtlich, als läge sie in den Armen ihres Liebsten: »Ha-randreth!« Von ihren ausgestreckten Fingern lösten sich tropfengroße Lebewesen, welche von ihrer eigenen Energie umgeben wurden. Wie zornige Wespen stürzten sie sich auf den Feind. Während des Fluges wuchsen ihnen kleine gefährliche Zahnreihen und winzige Augen. Sie schwirrten mitten in den Rauch des Gangs hinein und stachen zu. Eine bis dahin verborgen gehaltene Laterne verbreitete plötzlich hellsten Schein. Derjenige, welcher sie trug, fasste sich ans Gesicht und taumelte zurück. Etwas Dunkles und sehr Behändes biss in das Fleisch seines Gesichtes. Kreischend versuchte der Feind, es sich von der Haut zu reißen.
Doch das kleine Wesen wollte nicht von ihm lassen, und 211 während er an ihm zog, wölbte sich seine Wange nach außen ... Im nächsten Moment verwandelte sich das Gebrüll des Mannes in kreischende Verzweiflung. Eine zweite Zauberwespe hatte ihn gefunden und sich ihm im wahrsten Sinn des Wortes an den Hals geworfen ... und fing dort sofort an zu beißen und zu fressen. Die Laterne krachte auf den Boden und vergoss brennendes Öl. In dessen hellem Schein erkannte Tschamarra die Gefährten des Angegriffenen, nämlich einige Soldaten und sogar einen Kammerknaben im Wappenrock. Sie waren wohl gerade stehen geblieben, und die Lust auf weitere Abenteuer schien ihnen vergangen zu sein. Dazu kamen sie auch gar nicht mehr, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, nach den vermaledeiten kleinen Angreifern zu schlagen. Die Zauberin hatte trotz mannigfaltiger Suche niemals den noch viel mächtigeren Bruder dieses Banns gefunden, welcher dem Zauberer, der ihn verschleuderte, die Lebensenergie zuführte, welche die magischen Wespen ihren Opfern nahmen ... Deswegen durfte sie sich noch nicht als gerettet ansehen. Dem Gift in ihrem Körper mochte sie noch vor dem Morgengrauen erliegen. Mit diesem bitteren Gedanken kehrte die Letzte der Talasorn zu Craer zurück und half dem noch Benommenen und Rauchenden auf die Füße. Auch der Beschaffer war dem Tode geweiht, und das nur, weil sie die eine Straße nach Osklodge und nicht die andere genommen hatten. Aber der Dwaer, nach welchem sie suchten, und der Schurke, welcher ihn an sich gerissen hatte, mochten sich irgendwo in dieser feindlichen und kalten Burg aufhalten ... Aber klar doch, und wahrscheinlich trugen die jungen 212 Frauen in Sirl in diesem Monat ihre Röcke noch einen Fingerbreit kürzer... Als die Zauberin Craer schultern wollte, ging sie doch ein Stück weit in die Knie. Sie rief eine ihrer Wespen zurück, damit diese vor ihnen herfliegen und ihnen leuchten konnte. Aber das Zauberwesen flackerte nur, weil die Energie des Banns nahezu aufgebraucht war. Nicht zuletzt deswegen mussten sie so rasch wie möglich von hier fort und Embra und den Weltenstein finden. Der Dwaer konnte ihnen allen die Zauberkräfte stärken, und auch dem alten Schwarzgult, solange der noch seine Sinne beisammen hatte. Die Wespe löste sich in Funken auf, gerade als sie Craers Gemach hinter sich gebracht hatten. Der Beschaffer stöhnte und fluchte immer noch. Doch seinen Bewegungen wohnten jetzt mehr Festigkeit und Sicherheit inne. Bald würde er wieder allein laufen können. »Vorwärts, Taschendieb«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihn um eine Kurve zog. »Wir müssen doch Hawkril und die anderen finden!« »Ja ... ja ... «, ächzte der Beschaffer. »Hier ... herunter ... geht es zu ... Hawkril... Schwarzgult... in der ... anderen ... Richtung ...« Sie hatten gerade eine Biegung im Gang hinter sich gebracht, als vor ihnen Fackelschein aufleuchtete. In diesem Licht wartete ein Dutzend Soldaten mit gezogenen Schwertern. Hinter diesen standen noch einmal so viele Kammerknaben. »Diejenigen, welche auf Stornbrücke Blut vergießen, erwartet nur ein Schicksal«, verkündete der Wachhauptmann unter ihnen. Darauf setzten sich die Soldaten in Bewegung und näherten sich mit finsterer Miene den beiden. 213 Ezendor Schwarzgult lebte bereits lange genug, um sehr lebendig träumen zu dürfen. Gesichter Sterbender, zustechende Dolche, kalte Morgen auf Schlachtfeldern und schlanke, weiche Hände, welche bei der zärtlichen Umarmung schon das Messer bereithielten ... Alle diese »Besucher« kannte Schwarzgult zur Genüge. Zwischen sie mengten sich helle Dwaer-Feuer, persönlich erlebte Explosionen und hasserfüllte Fratzen von brüllenden Zauberern. Auch war es dem Goldenen Greifen nicht fremd, schreiend aufzuwachen, in kaltem Schweiß dazuliegen oder die Felldecke zwischen den Händen zu kneten, als habe er einen seiner schlimmsten Feinde vor sich. Aber heute schienen die Schmerzen echt zu sein. Ständig riss ihn ein heftiges Stechen im Bauch aus dem Schlummer, oder ein rot glühendes Brennen, welches ihn aus dem Bett zu treiben drohte. Oder er fühlte überall die klebrige Nässe seines eigenen Blutes, und im grellen Schein einer Laterne über ihm zeigten sich zwei höhnisch dreinblickende Gesichter ... Diese Züge gehörten Männern, welche Schwarzgult noch nie zuvor gesehen hatte. Dennoch schienen sie ihm ans Leben zu wollen ... Der Goldene Greif befand sich im Bett seines Gemachs auf Burg Stornbrücke und starrte an die Decke ... Sein Sichtfeld wurde von den hohen Bettpfosten eingerahmt... und jetzt fiel ihm auf, dass sein Bett keinen Himmel besaß ...
Und dafür wollte er der Dreifaltigkeit auf Knien danken. Denn wäre sein Lager auch oben abgeschlossen gewesen, stünde es längst in Flammen, und er wäre darin elendiglich verbrannt. Jetzt erkannte Embras Vater auch, warum die beiden tückischen Beobachter bei ihm den starken Eindruck hinterließen, ihm Übles zu wollen ... 214 Ihre Hände umschlossen nämlich noch die Schäfte von zwei Speeren, welche sie ihm in die Seiten gerammt hatten. Einen links und einen rechts, so als hätten sie seinen Leib säuberlich unter sich aufgeteilt. Schwarzgult, der älteste lebende Fürst des Reiches und zeitweise dessen Regent, konnte sich nicht mehr aus seinem Bett erheben. Derweil lachten die beiden Kammerknaben, als sei dies alles ein köstlicher Spaß, und hängten ihr ganzes Körpergewicht an die Speere, auf dass ihr Opfer sich nicht zu befreien vermöge. Er fühlte bereits seine Kräfte schwinden, und sein Geist drohte, in einem roten Nebel zu versinken. »Bringt die Laterne da her!«, befahl jemand barsch vom Fußende des Bettes. Aber Ezendor wartete nicht ab, was dieser von ihm wollte, sondern bemühte sich, die beiden Speerschäfte mit den Händen zu umschließen. Sein eigenes Blut glänzte auf dem Holz, und seine Finger rutschten darauf ab. Und noch einmal. Er setzte höher an, während der Lichtschein auf seinem Körper bis zu den Knien hinabwanderte. »Aha, in dem Großen Greifen steckt also noch Leben«, höhnte die Stimme vom Bettende. »Soll er nur. Der ehemalige Regent mag bei vollem Bewusstsein und mit der Gewissheit sterben, dass die Schlange ihn am Ende doch noch geholt hat!« Über Schwarzgults angezogenen Knien tauchte jetzt ein Gesicht auf, ein kahles Haupt mit grausamen Zügen. Bei dem Mann handelte es sich um einen Priester des Großen Kriechtiers. Allerdings hatte der die Kapuze zurückgeschlagen. Auf der einen Wange hatte er sich eine schlängelnde Viper tätowieren lassen. Wenn er lachte, verlieh ihm das ein besonders abstoßendes Aussehen. Gerade jetzt lächelte der Priester, zückte einen Dolch mit Flammenklinge und hielt ihn ins Licht, damit der Regent ihn deutlich sehen konnte. 215 Blut sammelte sich in Schwarzgults Mund, und er wusste, dass es so oder so mit ihm zu Ende ging ... Im Lauf der vielen Jahre hatte er sich so manchen Kniff und etliche Taschenspielertricks angeeignet, aber die halfen ihm jetzt wenig ... Es sei denn ... Ezendor versuchte, sich im Bett zu erheben, und stellte dabei zweierlei fest: Zum einen vermag ein unvermittelt auftauchender, rasender Schmerz selbst einen Hochfürsten dazu zu bewegen, alle Umstehenden mit einem Regen von Blut und Galle zu übergießen ... Und zum anderen wurde seine linke Seite gar nicht richtig von dem dortigen Speer festgenagelt, wie er ursprünglich angenommen hatte. Links vom Bett standen auch seine Stiefel, sofern sich niemand die Mühe gemacht hatte, sie woandershin zu stellen. Das Messer in der Scheide im Stiefel könnte ihn in den Stand versetzen, den einen oder anderen seiner Bedränger mit in den Tod zu nehmen ... Den Kammerknaben zur Linken hatte sein Auswurf vorhin besonders übel erwischt. Der Mann wandte sich angeekelt ab, und der Druck auf den Speer ließ für einen Moment nach ... Aber der Schlangenpriester war auch nicht auf den Kopf gefallen. Er schlug dem Diener mit der Faust auf den Rücken und knurrte: »Wenn Ihr noch einmal loslasst, seid Ihr des Todes!« In der anderen Hand hielt der Priester immer noch den gewundenen Dolch. Er lächelte Schwarzgult wieder grausam an und senkte die Spitze mit quälerischer Langsamkeit... bis die Spitze die Brust des Gefangenen erreicht hatte. Dann drückte er zu. Aber so ließ sich Stahl nicht in menschlichem Fleisch versenken. Offensichtlich hatte der Priester vor, als Erstes das Nachthemd des ehemaligen Regenten aufzutrennen, um die Brust des Mannes zu entblößen... und dann mit voller Wucht zuzustechen. 216 Aber nein, der Priester hatte etwas ganz anderes im Sinn. Die Klinge bewegte sich, schien Wellen zu schlagen und wuchs an, bis sie sich in einen silbrig glänzenden Schlangenkopf verwandelt hatte, welcher das Maul weit zum tödlichen Biss öffnete ... Ezendor Schwarzgult hatte noch nie zu den Menschen gehört, die sich willig ihrem Schicksal ergeben. Er packte mit jeder Hand einen Speerschaft - und zwar so weit oben wie möglich - und riss sie mit einer heftigen Bewegung und einem zutiefst gepeinigten Schrei gegeneinander. Die Kammerknaben an den anderen Enden stießen überraschte Rufe aus und prallten unwillkürlich aufeinander. Schulter an Schulter ... und dazwischen der Arm des Priesters. Der Schlangenanbeter kreischte, seine Finger öffneten sich wie aus eigenem Willen, und der Schlangenkopfdolch flog davon und prallte klappernd von der gegenüberliegenden Wand ab. Jetzt oder nie!, sagte sich Embras Vater. Er versetzte dem Diener zur Linken einen derben Tritt, so dass dieser zusammenknickte und seinen Speer fahren ließ.
Dann riss Ezendor sich die Waffe aus dem Leib und schlug den Schaft dem anderen Kammerknaben über den Schädel. Dumpf brüllend prallte der Diener zurück, und Schwarzgult sah sich in die Lage versetzt, sich mit dem anderen Speer hochzuziehen... Endlich vermochte er, sich aus dem mit Blut getränkten Bett zu erheben. Doch schon als Schwarzgult den ersten Schritt tun wollte, zwangen ihn die Schmerzen in die Knie. Alles drehte sich vor ihm. Zitternd und behindert von dem Speer in seiner rechten Seite tastete er mit tauben Händen nach seinen Stiefeln ... und stieß sie erst einmal um. »Göttin, lächelt mir zu«, krächzte der ehemalige Regent, als er noch einmal nach den Stiefeln griff, »Alter, steht mir bei...« 217 Jetzt versuchte er, in die Stiefel zu greifen, und scheiterte kläglich. Ein Stück weiter schrie der Schlangenpriester immer noch und hüpfte vor Schmerzen von einem Bein aufs andere. Mit der gesunden Hand hielt er die schlaffe andere. Offenbar hatte ihm der Zusammenprall die Unterarmknochen zerschmettert. »Helft mir, ihr Trottel! Eilt zu meiner Unterstützung herbei, sonst bekommt ihr den Zorn der Schlange zu spüren!«, schrie der Mann. Aber die anderen Diener, welche durch die offen stehende Kammertür und durch den geheimen Ausgang in der getäfelten Wand erschienen waren, hielten sich deutlich zurück. Sie starrten auf den ungewohnten Anblick und schienen die Waffen in ihren Händen vollkommen vergessen zu haben. Die beiden Götter der Dreifaltigkeit halfen ihrem Schützling nicht. Schwarzgult griff erneut daneben. »Dunkler, befreit mich von meinen Feinden«, betete Embras Vater nun ... und vermochte endlich, die Finger in einen der Stiefel zu schieben. Doch da bekam er den Griff des kleinen Dolches zu fassen. Dabei ging es ihm im Augenblick doch viel mehr um das Fläschchen mit der Heilflüssigkeit. Bei den Hörnern der Göttin, er hatte in den falschen Stiefel gegriffen! Der Schlangenpriester schwankte noch, hatte sich jetzt aber darauf besonnen, sich selbst zu helfen und seinen Arm mit einem Heilungszauber zu flicken. Schwarzgult aber hatte nur Augen für das, was zu Füßen seines Feindes lag: der Dolch mit dem Schlangenkopf! Dann musste die Heilung eben noch etwas warten. Ezendor zog den kleinen Dolch aus dem Stiefel und sich selbst an dem Speer hoch. Dann stieß er sich mit dem Schaft ab, setzte sich so in Bewe218 gung und näherte sich halb humpelnd und halb laufend dem Schlangenpriester. Die Umstehenden murmelten erregt miteinander, als das stumpfe Schaftende den Priester unterhalb der Rippen traf. Das riss ihn aus seinem Zauberspruch und warf ihn gleichzeitig zurück gegen die Wand. Der Zusammenstoß löste bei Schwarzgult solche Schmerzen aus, dass er laut schreien wollte und doch nur ein röchelndes Krächzen zustande brachte. Er ging wieder in die Knie, und erneut umwaberten ihn Nebel. Nur undeutlich erkannte er deshalb den Priester, welcher sich rasch von dem für ihn nicht sonderlich harten Zusammenstoß erholte und den Schlangenkopfdolch an sich brachte. Der Priester starrte Schwarzgult mit Mordlust in den Augen an. »Jetzt werdet Ihr endlich sterben!«, schnarrte er ihm entgegen und stürmte los. Ezendor zwang sich umständlich aufzustehen, kehrte seinem Gegner den Rücken zu ... und fuhr im rechten Moment herum, um dem Priester mit dem Speerschaft den Weg zu versperren. Der Schlangenanbeter wich geschickt aus, kam aber nicht näher an sein Opfer heran, denn dieses drehte sich mit ihm. Dann täuschte Schwarzgult einen Schwächeanfall vor, sank auf die Knie und zwang den Priester dazu, sich immer weiter zu ihm vorzubeugen ... Und als der nahe genug heran war, schlitzte der ehemalige Regent ihm mit seinem kleinen Messer über den gesunden Handrücken. Der Priester musste befürchten, jetzt auch die zweite Hand verloren zu haben, denn er schrie wie von Sinnen. Der Schlangenkopfdolch flog ihm aus den Fingern, und vor Schreck kreischte er noch lauter. Ezendor beendete diesen Lärm mit einem weiten Schwung 219 seines Messers. Die Klinge schlitzte dem Priester die Kehle auf. Schwarzgult wandte sich ab, weil er das Ende des Schlangenmannes nicht mit ansehen wollte, und begab sich zu seinen Stiefeln. Die Diener waren samt und sonders erbleicht und wichen vor dem Sieger zurück. Als der Goldene Greif sich mit seinem blutigen Speer neben dem richtigen Stiefel niederließ und seine schwachen Finger das Fläschchen herausziehen konnten...
Da schrie alles entsetzt auf und floh aus dem Gemach. Ezendor zog mit den Zähnen den Stöpsel heraus und trank die eiskalte Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen. Sie beruhigte ihn wie eine samtene Berührung, löschte das Feuer in seinem Innern und gab ihm alle vermisste Kraft zurück. Endlich konnte er sich auch von dem zweiten Speer in seiner Seite befreien. Doch dann musste er aufs Bett zurück. Halb fallend hockte er sich darauf und verfolgte, wie das Blut aus seiner Wunde spritzte. Aber die Nebel überwanden ihn nicht, und allmählich kehrte die normale Dunkelheit in die Kammer zurück. Müde sah er zu, wie der Schlangenkopf erstarrte und bald nichts Besonderes mehr an dem Dolch des Priesters war. »Embra, wenn ich sterben sollte, hört nicht auf in Eurem Streben nach Ruhm! Schwarzgult gehört immer Euch. Und wenn er Euch gut genug gefällt, nehmt Euch Hawkril... Möge die Dreifaltigkeit ihre schützende Hand über euch beide halten ...« Er schmeckte neues Blut und fragte sich, ob der Inhalt des Fläschchens ausreichen würde und ob er ihn nicht zu spät getrunken hatte ... Embra schob und drehte sich verzweifelt unter dem Bett. Sie musste von der Stelle fort, wo die Schwertspitzen durch den 220 Strohsack stachen ... wie Raubtierzähne auf der Suche nach Beute. Die Zauberin war noch nicht dazu gekommen, sich das Wams zuzuknöpfen, und so bedeckte nur dünne Seide ihre Brust - und nichts ihren Hals. Der Anhänger schlug ihr andauernd gegen die Kehle. Aber sie konnte nicht langsamer machen, denn sie musste doch von hier fort. Nur noch einen Moment oder zwei, und die Soldaten würden erkennen, dass sich Hawkril allein in dem Bett befand ... und sich dann mit vereinten Kräften über den Hünen hermachen. »Zurück!«, befahl Embra einzig und allein aus dem Wunsch heraus, etwas von dem Druck in sich loszuwerden. Gleichzeitig bediente sie sich ihres Dwaers, um alle Feinde von sich fortzuschleudern. Sofort ertönten überall ärgerliche bis ängstliche Rufe und Schreie, und das Stampfen der vielen Stiefel fand sein Ende. Dafür donnerte es nun dumpf, als ein Körper nach dem anderen gegen eine der Wände, die Tür oder einen anderen Kameraden flog. Dazu schrille Schreie und Gurgeln, wenn jemand von der Waffe eines anderen getroffen oder im Vorbeihasten aufgespießt wurde. Embra biss die Zähne zusammen und sagte sich, dass sie schließlich nicht mit dem Überfall angefangen hatte. Und sie schwor sich, so bald wie möglich in einem Aglirta zu leben, in welchem sie nie mehr dazu gezwungen sein würde, einen Weltenstein einzusetzen. Und wo es Männern nicht mehr einfallen würde, des Nachts herumzuziehen und Schwerter in schlafende Gäste zu bohren. Die Herrin der Edelsteine entließ die Soldaten und Diener nicht aus ihrer misslichen Lage und brachte den Dwaer 221 gleichzeitig dazu, eine weitere Sache für sie zu erledigen. Allmählich stellte sie sich immer geschickter im Umgang mit diesem Zaubermittel an. Embra wünschte sich, das Bett möge sich hochkant stellen, damit sie ohne Mühe aufstehen konnte. Das durfte doch nicht schwer sein. Nicht schwieriger jedenfalls, als eine ganze Schar Eindringlinge an die Wand zu pressen. Um den Dwaer zu diesem Dienst zu bewegen, musste sie sich an Banne ähnlicher Ausrichtung erinnern, welche sie in der Vergangenheit gewoben hatte. Allein das Gefühl von damals wieder zu erleben, reichte schon für den Weltenstein aus. Er schien dann zu wissen, worum es ging. Zu ihrem Glück handelte es sich bei einem Zauber, mit welchem etwas herumgewirbelt werden sollte, um einen von der einfachen Sorte. Jeder Anfänger kannte sich damit aus und bildete sich dann auch gleich ein, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Das Bett stellte sich tatsächlich aufrecht und krachte mit der Seite, auf welcher sie gelegen hatte, gegen die Wand. Holz splitterte, und Schreie verrieten, dass an der Stelle der Wand auch Soldaten und Diener gestanden hatten. Aber Hawkril war vermutlich nicht betroffen, und das beruhigte Embra so sehr, dass ihr alles andere nicht mehr wichtig erschien. Die Zauberin erhob sich nun und streckte den Arm mit dem Weltenstein aus. Sofort ertönte aus allen Ecken ängstliches Stöhnen. Vom letzten Gebrauch strömte noch Strahlung aus dem Dwaer und hüllte die Edle in einen flackernden Leuchtkranz. Überall im Flusstal hatte man schon die tollsten Geschichten über die Herrin der Edelsteine gehört - und hier stand sie nun leibhaftig vor ihnen. Und runzelte die Stirn, als habe sie etwas verärgert. 222
Embra atmete tief durch und spürte, wie die Magie sie durchströmte, welche all die Unglückseligen an den Wänden festhielt. Nun wagte sie sich an eine schwierigere Aufgabe: die Luft zum Glühen zu bringen, um ihre Kammer taghell zu beleuchten. Dann könnte sie leicht feststellen, wo ihr Hawkril sich aufhielt... und wie viele Feinde sich in dieser Kammer eingefunden hatten. Einen Gegenstand dazu zu bringen, Helligkeit auszustrahlen, erwies sich nicht als schwer. In den alten Zauberbüchern nannte man so etwas »kalte Fackel«, und das lernte ein Zauberschüler schon in der ersten Klasse. Wenn man sich das rechte Bild vorstellte und die richtige Beschwörungsformel sprach, brauchte man nur noch eine Flamme als Brennstoff, dann war die Sache schon so gut wie erledigt. Mit einem Dwaer erwies sich das als noch einfacher, denn der Weltenstein ersetzte sowohl den Brennstoff als auch den Bannspruch. Embra blieb also nur noch, sich die Sache so richtig vorzustellen ... Langsam und wie geräuschloser Wellengang erhellte sich dann auch kurz darauf die Luft. Die Zauberin entdeckte ihren Herzallerliebsten schon nach wenigen Momenten ... Da er wie die Feinde von dem ersten Zauber an die Wand gedrückt wurde, vermochte der Hüne ihr nur zuzunicken, um ihr anzuzeigen, dass ihm nichts fehle. Aber daran, wie danach sein Nacken und seine Schultern zuckten, erkannte Embra, wie sehr es ihn schmerzte, sich zu ihr herumgedreht zu haben. An seiner Wand hingen sieben Soldaten von Burg Stornbrücke. An den verbliebenen Wänden fanden sich davon noch mehrere Dutzend. Und nicht nur Wächter, sondern auch Kammerknaben und andere ... Offensichtlich gingen den Schurken die Soldaten aus, denn 223 zwischen den Soldaten und Kammerknaben steckten auch Stallburschen, Jagdgehilfen und Handwerksgesellen. Die Wächter hingegen trugen allesamt den lilafarbenen Falken auf der goldenen Bogenbrücke von Storn auf der Brust. Ein jeder trug noch seine Waffe in der Hand und in unterschiedlich starken Mischungen eine Miene der Furcht und des Hasses. »Hochfürst Hawkril dürfte sich höchstlich geschmeichelt fühlen«, sprach die Zauberin leise. »So viele von euch haben sich zusammengerottet, um ihm ans Leben zu gehen. Dabei lag er doch vergiftet im Schlaf... Aber selbst ein so todsicherer Plan konnte noch schief gehen; denn mich hat die Dreifaltigkeit geschickt, eure Verschwörung zu durchkreuzen. Tja, solche Überraschungen hält das Leben leider immer wieder für einen bereit. So viele von euch haben sich herangeschlichen, um den Mann zu ermorden, welchen ich liebe. Zu eurem Pech muss ich vermuten, dass ihr so etwas Schändliches bei der nächstbesten Gelegenheit wieder versuchen werdet... Deswegen muss ich euch jetzt allesamt töten.« Sie stellte sich vor den Hünen, kehrte ihm den Rücken zu, um den ganzen Raum in Augenschein zu nehmen, und hob wieder den Weltenstein. Die Kraft, welche die Soldaten und Diener an die Wände presste, wurde umgekehrt, und dann noch einmal umgekehrt und so weiter und so fort. Die Feinde prallten in der Mitte der Kammer mit lautem Klatschen gegeneinander, und im nächsten Moment krachten sie ein weiteres Mal gegen das Mauerwerk. Und noch einmal. Wer von den Männern noch bei Bewusstsein war, warf rasch während des Fluges seine Waffe fort, und schon traf man sich wie beim Tanzreigen schon wieder zur engen Körperberührung. 224 Als sie das nächste Mal in des Raumes Mitte strebten, hingen einige Leiber nur noch schlaff in der Luft. Und oft genug krachte es, als würden Knochen brechen. Mit harter Miene schleuderte Embra die Feinde ein ums andere Mal hin und her. Bei dem Anblick, welcher sich ihr bot, wurde ihr speiübel, aber sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Die Zauberin durfte nicht zulassen, dass auch nur einer von ihnen übrig blieb, um seine Waffe gegen Hawkril erheben zu können. Außerdem musste sie ja noch mit den sieben fertig werden, welche in ihrem Rücken zusammen mit dem Recken an der Wand hingen. Wieder krachten die Soldaten gegen die Mauern und sausten noch einmal nach vorn. Etliche von ihnen zeigten sich nur noch als formlose Klumpen. Überallhin spritzte Blut. So viele hingen bereits schlaff herab, dass Embra glaubte, kaum noch einer von ihnen könne am Leben sein. Die Herrin der Edelsteine atmete scharf ein, trat mit dem Dwaer in die Mitte des Raums und beendete ihren Zauber. Hawkril löste sich als Erster von der Wand, und Embra überspülte die sieben Soldaten mit einer Feuerwoge. Ein paar von ihnen schrien, aber die anderen brachen einfach im Flammenmeer zusammen. Als nur noch die Zauberin und der Recke übrig geblieben waren, drehte der Hüne sich zu seiner Herzensherrin um und flüsterte: »Seid tausendmal dafür bedankt, mir das Leben gerettet zu haben ... und erinnert mich beizeiten daran, Euch niemals ernsthaft in Wut zu versetzen.«
Embra starrte ihn mit stockendem Atem und bleicher Miene an. Dann warf sie sich ihm an den Hals, um sich an seiner breiten Brust auszuweinen. Hawkril hielt sie, wiegte sie und drehte sich langsam mit ihr. So konnte er mit seinen Blicken die sechs Öffnungen, 225 durch welche die Mörder gekommen waren, nach weiteren Angreifern absuchen. Als er ins Bett gestiegen war, hatte er lediglich von zweien dieser Geheimtüren gewusst. Der Dwaer, welcher zwischen den beiden Liebenden steckte, fühlte sich hart und kalt an. Hawkril schob ein paar Finger hinab, um den Weltenstein festzuhalten, sobald sie sich voneinander lösten. Aber dann musste er feststellen, dass die Edle ihn immer noch so fest umschlossen hielt wie ein Raubtier seine Beute. Als seine Finger die ihren berührten, fuhr Embra erschrocken zurück und starrte den Hünen entsetzt an. Doch dann brach sie von neuem in Tränen aus und klammerte sich noch verzweifelter an ihm fest als vorher. Hawkril hielt sie, bis ihre Tränen versiegt waren, blieb aber weiter auf der Hut vor Feinden. Dort und dahinten lagen die Teile seiner Rüstung. Hier vorn standen seine Stiefel. Dort drüben ein zerschmetterter Schrank, unter welchem die Reste von zwei unglücklichen Dienern hervorlugten. Dazu die Trümmer eines Bettes und ein Schwert, das eigentlich Embra nehmen könnte ... Als die Zauberin zu schluchzen aufgehört hatte, sprach der Hüne sanft: »Herrin, wir sollten zusehen, dass wir von hier fortkommen. Wir müssen die anderen Hochfürsten finden und uns mit ihnen zusammen verteidigen. Haltet Ihr Euch mit dem Weltenstein bereit, während ich alles einsammele, was wir noch benötigen. Und denkt darüber nach, für welchen von diesen sechs Ausgängen wir uns entscheiden sollen.« Die Edle schluckte, atmete tief ein, schluckte noch einmal und nickte dann. Ihr Gesicht war immer noch so bleich wie Mondenschein, aber als Hawkril die Zauberin wieder ansah, brachte sie so etwas wie ein schiefes Grinsen zustande. 226 Der Hüne legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, ehe er sich an die Arbeit machte. Schon wenig später stand er mit einer gefüllten Brustplatte wieder vor ihr. »Reicht mir den Dwaer, und fangt an, mir die Rüstung anzulegen.« Geduldig wartete der Recke, bis sie sich vor Lachen ausgeschüttet hatte, um dann wieder heftig zu weinen. Embra wusste, dass sie von nun an gar nicht anders konnte, als ihn immerdar zu lieben. Die Zauberin legte ihm alles mehr oder weniger unbeholfen an, ließ sich nicht von eingeklemmten Fingern aufhalten, wärmte sich an seiner Freundlichkeit und genoss das Gefühl, diesen Bären von einem Mann zu lieben ... Neun Wie man Hochfürsten aufs Äußerste beeindruckt Wacht auf, Herr!« Die Stimme, welche von jenseits der Kerze ertönte, klang jung und beharrlich. Der Tersept von Stornbrücke rieb sich die Augen und knurrte: »Was gibt es denn? Und nehmt endlich das verdammte Licht aus meinem Gesicht!« »Erhebt Euch, Herr! Die Burg wird angegriffen!« »Wer? Was?« »Die Hochfürsten erschlagen Eure Mannen, Herr! Überall in der Burg! Auf allen Gängen! Und sie legen auch Feuer! Zeigt Euch, Herr, ehe sie uns Stornbrücke über dem Kopf angezündet haben!« Der Tersept richtete sich auf, stieß eine Verwünschung aus, fuhr sich durch das schweißnasse Haar und erschrak über das, was er im Spiegel zu sehen bekam ... Plötzlich stieß ein Schwertgriff zwischen ihn und seine Abbildung. Zu seiner Beruhigung erkannte er einen Moment später, dass es sich um seine eigene Waffe handelte. »Euer Schwert, Herr«, erklärte der Diener überflüssigerweise. Der Burgherr starrte erst auf die Klinge und dann auf den Diener. »Wo sind Alais und Jhaundra? Euch kenne ich nicht!« Das Gesicht des Mannes mit dem Schwert veränderte sich, und dann sprach er mit deutlich dunklerer Stimme: »Aber natürlich tut Ihr das.« Stornbrücke zuckte zusammen. »Reißzahnbruder Maurivan?« »Stets zu Diensten«, entgegnete der Schlangenpriester un228 terkühlt. »Und jetzt steht endlich auf, zieht Euch an, und stellt Euch ein Stück vom Bett entfernt hin, sonst wird Euch das jetzt mehr wehtun als normal!« »Was wird mir mehr wehtun?« »Macht endlich]« Der Tersept setzte sich wirklich in Bewegung. Er hatte den Tonfall des Schlangenpriesters erst zweimal vernehmen dürfen, und dabei waren stets Männer zu Tode gebracht worden - beim ersten Mal wegen Ungehorsams und beim zweiten Mal, weil sie etwas zu langsam gewesen waren.
Als Stornbrücke dann bibbernd in der Finsternis stand - denn der Priester verdeckte mit seinem Körper das Kerzenlicht -, befahl Maurivan streng: »Arme ausstrecken und Beine auseinander!« »Was habt Ihr vor -« »Schweigt!« Einen Moment später erhielt dieser Befehl noch eine Ergänzung: »Haltet endlich stille, wenn Ihr nicht auch noch verstümmelt werden wollt!« Die Drohung erzielte Wirkung, denn der Tersept stand wie erstarrt da und wagte kaum zu atmen. Nur das Bibbern vermochte er nicht ganz zu unterdrücken. Er ließ sich auch -jedenfalls äußerlich - nicht aus der Ruhe bringen, als die Bestandteile seiner Rüstung aus unterschiedlichen Ecken heranströmten. Sie trieben heran, als könnten sie fliegen. Der Tersept ließ sich davon nicht täuschen. Natürlich steckte die Zauberkraft des Schlangenpriesters dahinter. Maurivan selbst stand jedoch nur ganz ruhig da, während die einzelnen Platten und Schienen heranschwebten, sich am rechten Platz einfanden und sich mittels Bändern aneinander befestigen ließen. Nun kamen auch die Stiefel herbeimarschiert und blieben vor den Füßen des Burgherrn stehen. 229 Der Tersept stieg hinein, fluchte leise vor sich hin, weil er sich in der Rüstung ausreichend geschützt fühlte, und zuckte mehrfach zusammen, als die Metallkanten sein Fleisch zwickten. Nie zuvor hatte der Burgherr seine Rüstung ohne Unterzeug getragen, und jetzt hing sie zu lose und schief an seinem Körper. Manche von den Rändern erwiesen sich als verflucht scharf. Stornbrücke bemühte sich aber, sich nichts von seinem Verdruss und seiner Furcht anmerken zu lassen, als der Schlangenanhänger ihm ein zweites Mal das Schwert hinhielt, diesmal komplett mit Gurt und Scheide. Seine vier Dolche folgten auf dem Fuße. »Ich bin so weit«, erklärte der Tersept und griff nach seinem Helm. Diesen pflückte er rasch aus der Luft, bevor dieser ihm schaden konnte. »Wohin?«, fragte Stornbrücke dann nur. »In den Vorraum des Hauptmanns der Wache.« »Zu Ryethrel? Dann habt Ihr ihn also auch geweckt? Aber warum ist er dann nicht -?« »Weil er tot ist, deswegen! Er führte einen törichten Angriff auf den Riesen, welchen sie Hawkril nennen, und starb mit vielen anderen durch das Zauberwerk der Silberbaum-Hexe. Sie wollten ihn im Schlaf niedermachen, aber seine Buhle hat ihren Dwaer eingesetzt und sie alle an die Wand geschleudert.« Der Tersept öffnete den Mund, um etwas darauf zu entgegnen, aber weil ihm nichts Gescheites einfiel, klappte er stattdessen das Visier seines Helms herunter. Dann begann er mit dem Marsch aus seinem Raum. Obwohl er sich so vorsichtig wie möglich bewegte, zwickte und zwackte es ihn doch unentwegt in die nackte Haut. Auf den Stufen hinunter zur Kammer des Hauptmanns wurde es dann noch ärger. 230 Der Burgherr machte sich unterwegs nicht die Mühe, sich nach Maurivan umzusehen, denn er durfte sich sicher sein, dass der Schlangenpriester ihn stets im Auge hatte, wohin er sich auch wenden mochte. Er argwöhnte ohnehin schon seit einer ganzen Weile, dass der Schlangenmann ihn bei Tag und bei Nacht unter Beobachtung hielt. Aber beruhigen konnte ihn dieser Verdacht nicht, weder jetzt noch sonst wann. »Nur noch ein Stückchen weiter«, keuchte Tschamarra und zog mit aller Kraft an Craer. Er stöhnte und sackte auf einer Stufe zusammen. Nicht weit von ihm drang ein Wurfschwert in die Holzvertäfelung ein. Der Beschaffer verfluchte sich und die ganze Welt und erhob sich, um die Zauberin zu unterstützen. Unter ihnen ertönten Rufe und Geschrei. Die beiden waren eine Treppe hinunter- und eine andere wieder hinaufgeflohen, und die ganze Zeit über waren die Soldaten hinter ihnen her. Tschamarra verfügte über keine nennenswerten Zauber mehr, und Craers Kräfte ließen immer mehr nach. Sicher, die Zauberin vermochte noch, Licht zu erzeugen und mit einem Bann Gesichter zu verändern, aber darüber hinaus ... Im unteren Gang, wo man die beiden Damen untergebracht hatte, wimmelte es überall von Soldaten, Wachen, Kammerknaben, welche wild mit ihren Waffen herumfuchtelten und ansonsten den Eindruck hinterließen, lieber weit weg zu sein und es sich gut gehen zu lassen. Damit blieb den beiden jetzt keine große Wahl mehr. Sie hatten sich hier oben verborgen, während die halbe Burgbelegung hinter zwei Unglücklichen her gewesen war, welchen die Zauberin ihre und Craers Gesichtszüge verliehen hatte. 231 Die Soldaten, welche vor Hawkrils Gemach lauerten, schienen dort nicht so bald weggehen zu wollen. Craer hatte eine Verwundung an der Schulter abbekommen, als er zwei dieser Bewaffneten erschlug, um Tschamarra genug Zeit zu verschaffen, eine Tür nach der anderen zu öffnen und eine Fluchtmöglichkeit zu entdecken.
Und so stolperten die beiden jetzt durch einen ihnen unbekannten oberen Gang, welchen nur das Mondlicht beleuchtete. Die ganze Zeit über richtete sich ihr Hauptbemühen darauf, die beharrlichsten ihrer Verfolger abzuwehren. Und sie fragten sich, in welche Not sie wohl geraten würden, wenn der neue Tag erwachte und die ganze Burg auf den Beinen sein würde. Sie hatten unzählige Türen aufgerissen, etliche Schlafende in ihrer Ruhe gestört, bevor sie endlich die Treppe fanden, welche sie jetzt hochhasteten. Stufen führten weiter nach oben, und die beiden hofften, diese mögen in einen Turm hinaufführen, in welchem sie sich verbarrikadieren könnten. Der Zauberin war aber auch das schon fast gleichgültig. Das Feuer in ihren Eingeweiden brannte wie verrückt, und der Schweiß strömte ihr über die Haut und floss sogar in ihre Stiefel. Das alles löste in ihr so etwas wie Betäubung aus. Mittlerweile war ihr alles egal geworden, aber tief unter der Oberfläche brodelte Wut. Ein dunkler, heißer und tief reichender Ärger, wie sie ihn nicht kannte. Er glich in überhaupt nichts den launischen Ausfällen, für welche sie gefürchtet wurde. Der neue Zorn schien sich vielmehr wie eine Flutwelle in ihr zu sammeln, welche alles überfluten würde. Tschamarra schmeckte ihn wie Galle und fragte sich, was wohl aus ihr werden würde, wenn die Wut sie endgültig übermannte. 232 Hinter oder besser unter ihnen erklang ein heiserer Schrei, als sei jemand gerade von einem Schwert durchbohrt worden und wisse nicht, wo die Waffe hergekommen war. Die Letzte der Talasorn drehte sich um und zauberte sich etwas Licht. Der erste Eindruck hatte nicht getrogen. Weiter unten stand der Hochfürst Schwarzgult und wirkte Zoll für Zoll überlegen - auch wenn er vom Scheitel bis zur Sohle mit getrocknetem Blut beschmiert war. Eben zog er sein Schwert aus dem Rücken seines sterbenden Opfers. Hinter dem Goldenen Greifen erschien Embra und schaute nach oben. Sie hielt den Weltenstein in der Hand. »Wenn Ihr Magie einsetzt«, erklärte die Fürstin, »vermag man Euch wirklich leicht aufzuspüren. Aber Dir bewegt Euch so geschwind, dass man dennoch Mühe hat, zu Euch aufzuschließen.« Die Letzte der Talasorn vermutete, dies sei ironisch gemeint, deswegen entgegnete sie: »Craer ist verwundet, sogar ziemlich schwer.« »Wir sind schon auf dem Weg, mein Fräulein!«, rief der Hüne. Man konnte ihn gut verstehen, aber noch nicht sehen. »Sorgt Euch nicht. Unseren ehemaligen Regenten hier hatte man wie einen waidwunden Hirschen ausgenommen, als wir ihn gefunden haben, und jetzt ist er schon wieder munter wie ein Fisch im Wasser.« Tschamarra schaute hinunter und erkannte, dass der Greif ebenso sehr schwitzte wie sie. »Oder auch nicht, wenn man das Gift in Betracht zieht.« Schwarzgult stieg zu ihr herauf. »Embra hat sich auch darum gekümmert, aber ich verstehe, was Ihr meint. Mehr noch, ich erkenne, dass Ihr an derselben Krankheit leidet wie ich. Doch nehmt einen Rat von mir an: Bittet die Fürstin Silber233 bäum nur ja nicht darum, Euch mit dem Weltenstein zu heilen. So etwas tun nur solche, welche das Gefühl lieben, am Spieß geröstet zu werden, nachdem man vorher von innen nach außen gewendet wurde!« »Seid Ihr jetzt gewendet, oder hat sich die Sache wieder zurückentwickelt?« »Bin wieder ganz der Alte«, grinste der ehemalige Regent. »Aber jetzt wollen wir uns lieber um Euren jungen Liebsten kümmern.« Er schnüffelte. »Hm, der Gute riecht irgendwie, als hätte er bereits am Spieß gesteckt.« »Na, Ihr seid mir ja vielleicht ein Trost, so richtig, wie man sich einen Großvater wünscht«, beschwerte sich die Zauberin. »Mädchen, solche Dinge überlasse ich mit Handkuss Hawkril und meiner Tochter; die beiden sind sicher die besten Tröster im Königreich. Was mich angeht, so ist von mir nur ein übellauniger alter Sack übrig geblieben. Alle Sünden der Vergangenheit rächen sich eben im Alter.« »Das würde ich mir zu gern mal ansehen.« »Wenn Ihr lange genug lebt, könnt Ihr das bei Euch selbst beobachten. Aber nur, wenn Ihr es Euch abgewöhnt, zu den richtigen Leuten das Falsche zu sagen.« Embra beugte sich bereits über den Beschaffer, welcher ausgebreitet auf den Stufen lag. »Könntet Ihr wohl für einen Moment damit innehalten, meinem Vater schöne Augen zu machen?«, ermahnte die Edle Tschamarra. »Ich könnte nämlich bei Craer etwas Hilfe gebrauchen. Ihr müsst ihn festhalten. Gut möglich, dass er sich dreht und wendet. Vater, Ihr haltet ihn bitte an den Füßen fest. Ich möchte, dass Ihr dabei seid und fühlt und seht, was ich tue. Wenn's Euch wieder im Bauch zwickt und ich Euch auffordere, von uns abzulassen, unterbrecht Ihr sofort jede Verbindung mit uns, ganz gleich mit wem.« 234 Ohne sich zu dem Hünen umzudrehen, fragte sie besorgt: »Seid Ihr da, Hawkril?«
»Ja, ich halte hier Wache«, erhielt sie zur Antwort. »Bislang lassen sich hier noch keine Büttel von Stornbrücke blicken.« Die Herrin der Edelsteine seufzte und meinte dann: »Über kurz oder lang werden sie aber kommen. Die vergessen uns ganz bestimmt nicht.« Embra richtete nun all ihre Gedanken und ihren ganzen Willen auf den Weltenstein. Die Haare standen ihr vom Kopf ab, als führe ein kräftiger Wind hindurch, und der Dwaer löste sich einen Fingerbreit von ihrer Handfläche und drehte sich um die eigene Achse. Tschamarra ließ ihren eigenen Lichtzauber verlöschen, als der Weltenstein danach griff. Gleichzeitig ging ein starkes Leuchten von dem Dwaer aus, und einen Moment später bog Craer wie ein bockendes Tier den Rücken durch. »Festhalten, habe ich gesagt!«, fuhr Embra die Letzte der Talasorn an. Der Beschaffer gab tierische Laute von sich und wand sich weiter. Ohne lange nachzudenken, warf die Fürstin sich wie eine Bauerstochter, die ein Ferkel einfangen will, auf den zierlichen Mann. Sie umklammerte den Stein mit beiden Händen und hielt Craer mit Ellenbogen, Knien und Schenkeln unten. Tschamarra legte den Kopf weit in den Nacken, um nicht von Embras Stiefeln getroffen zu werden. Sie stemmte sich mit aller Kraft auf Craers Schultern und bekam zu ihrem Schrecken mit, wie Schwarzgult von den Füßen des Beschaffers hin und her geschleudert wurde. Und mit einem Mal vergingen die Krämpfe Craers genauso rasch, wie sie über ihn gekommen waren. Er schlug die Augen auf, strahlte die Runde an und meinte: »Mehr! Mehr! Gebt mir mehr davon! Fürstin, warum habt Ihr noch die Kleider an! Wenn schon, gebt mir auch alles!« 235 »Offensichtlich fehlt ihm gar nichts mehr«, bemerkte Hawkril. Tschamarra boxte Craer in die Seite, und er grinste sie frech an. »Auf mit Euch«, befahl die Edle dem Genesenen und stieg von ihm herunter. »Eure Dame bedarf jetzt Eurer, denn sie ist mit der Heilung an der Reihe.« Tschamarra kam nicht einmal dazu zu blinzeln, da war der Beschaffer auch schon aufgesprungen, hatte sich hinter sie gestellt und packte ihre Handgelenke. Schwarzgult nahm sich wieder die Füße vor. Embra richtete erneut den Weltenstein aus. »Euch dürfte ... ja wohl... klar geworden sein ...«, keuchte die Letzte der Talasorn, während sie zuckte, sich wand und versuchte, sich beim Sprechen nicht auf die Zunge zu beißen, »dass wir ... ohne diesen ... Stein ... verloren wären ... Ich bete ... darum ... dass seine ... Kräfte nicht ... begrenzt sind ... und wir eines ... Tages ... feststellen müssen ... dass wir ... sie erschöpft haben!« Dann breitete sich rasendes Feuer in ihr aus, und für eine Weile verlor sie die Fähigkeit, zu sprechen oder mit den Sinnen etwas wahrzunehmen. Als die Letzte der Talasorn wieder sehen konnte, heftig zitterte und in ihrem eigenen Schweiß schwamm, sprach Embra: »Darum bete ich auch, denn unsere einzige Hoffnung, den morgigen Tag zu erleben, besteht darin, fest zusammenzustehen. Dann können wir drei unsere Zauberkräfte mit dem Dwaer verbinden. Craer und Hawkril dürfen solange wieder unsere tapferen Haudegen sein und uns die Seiten und den Rücken decken. Und vor allem, keine blöden Bemerkungen mehr, haben wir uns verstanden, Craer?« »Keine? Nicht einmal eine? Eine klitzekleine?« Der Beschaffer zog ein Gesicht, als habe man ihm gerade sein Butterbrot geklaut. 236 »Nein!«, antworteten ihm alle anderen im Chor. »Gönnt den Damen eine kleine Pause, alter Freund«, meinte Hawkril noch. »Sie brauchen ihren Kopf jetzt, um ihn sich über Zaubersprüche und Ähnliches zu zerbrechen. Eure Scherze überfordern sie dabei nur. Wenn Ihr nicht den Mund haltet, kommen wir nämlich nie hier heraus.« Er sah Embra kurz an. »Diese Stufen münden bestimmt in einen Turm. Wenn sich hier irgendwo noch Schlangenpriester oder Magier herumtreiben, haben sie dort ganz gewiss eine Falle für uns errichtet.« Die Fürstin nickte. »Das sehe ich auch so. Ihr und mein Vater denkt euch deswegen einen Plan aus, wie wir vorgehen wollen. Schließlich kennt ihr beide euch viel besser in Burgen aus als wir anderen.« »Mir würde es schon reichen«, wandte Schwarzgult ein, »einen Weg zu finden, um am Leben zu bleiben. Vielleicht reicht es ja schon, hinauf auf die Zinnen zu gelangen, dann könntet Ihr uns mit einem Sprungzauber von hier fortbringen. Hawkril und ich müssten nur dafür sorgen, dass uns keine feindlichen Bogenschützen stören können.« »Hört sich für mich ganz so an, als hätte die Sache einen Haken«, murmelte Tschamarra. Warum spürte sie schon wieder eine solche Hitze in sich, wo sie doch gerade erst geheilt worden war? Hawkril lächelte. »Natürlich vermögen wir noch viel mehr. Wenn wir auf den Tersepten stoßen, haben wir es auch nicht weit bis zu den Schlangenpriestern, welche sich hier auf der Burg eingeschlichen haben, und dann können wir weitersehen.« »Aber bis wir den Tersepten aufgespürt haben, müssen wir bestimmt noch ein paar Dutzend Soldaten und Diener
abmurksen«, wandte Craer mit düsterer Miene ein. »Ja, richtig«, lachte der Hüne, »worauf warten wir also 237 noch? Selbst wenn wir bei Sonnenaufgang immer noch Wächter, Soldaten und Kammerknaben niederhauen sollten, kann uns doch niemand vorwerfen, wir wären die ganze Zeit untätig geblieben.« »Also gehen wir die Treppe zurück«, schlug Schwarzgult vor, »erschlagen jeden, der uns schief anguckt, und machen jeden einen Kopf kürzer, der bei unserem Anblick Alarm schlagen will. Also, Freunde, passt auf, nicht in eine Ecke oder an eine andere Stelle zu gelangen, wo man euch leicht umzingeln kann. Wollen wir also der Burgbesatzung zum Tanz aufspielen und sie hüpfen lassen. Ich glaube, wir können die hiesigen Schwertschwinger gehörig aufs Haupt schlagen, ehe sie uns überwältigt haben. Wenn einer von euch eines Schlangenpriesters ansichtig wird, gebt sofort und ohne falsche Scham Laut!« »Wie angenehm, einmal klare und deutliche Befehle zu empfangen«, meinte Embra. »Überlegt Euch, was Ihr sagt«, warnte der ehemalige Regent, »denn die Schurken und Bösewichter nutzen die Sehnsucht der Menschen nach einer klaren Linie schon seit mindestens fünfzig Sommern aus, um in großen Teilen Aglirtas ihr Unwesen zu treiben.« Die Fürstin streckte ihm die Zunge heraus. Er zahlte es ihr mit gleicher Münze heim, ehe er Hawkril die Treppe hinunter folgte. »Burg Stornbrücke mag ja von unbeholfenen Trotteln beherrscht werden«, bemerkte der Schlangenpriester Hanenhather, »aber dafür verhält es sich ja mit uns und unseren Giften anders. Deswegen darf ich meiner freudigen Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es zur Stunde in Aglirta ein paar Hochfürsten weniger gibt.« Bruder Landrun kicherte unbehaglich. Hanenhathers Stim238 mung hatte in den letzten Tagen ständig geschwankt. Selbst jetzt hatte er die Hände erhoben, um sofort einen Bann wirken zu können. »Verliert Eure Gestalt, Langzahn«, erklärte der Schlangenfürst jetzt, und Magie strömte aus seinen Fingern, »und zeigt Euch uns als Embra Fürstin Silberbaum. Als eine Herrin der Edelsteine, mein lieber Landrun, welche sich meinen Wünschen viel offener fügen wird, als es der echten Edlen jemals einfiele.« Landrun beobachtete, wie sich die behaarte Wolfsspinne in eine schlanke und wohl geformte Menschenfrau verwandelte. Nackt und verwirrt schaute sie mit großen Augen um sich, während der Schlangenfürst sich das Kinn rieb und schließlich meinte: »Mit ihren Augen stimmt etwas nicht ... ja, es steckt kein Leben in ihnen, nichts von dem Silberbaum-Feuer.« Er hob beide Hände und befahl seinem Untergebenen: »Bringt die dumme Dirne nach nebenan, Landrun, und fangt die Felskatze ein. Wir wollen doch nicht, dass sie an unserer teuren kleinen Hexe herumknabbert.« »Ich soll die Felskatze einfangen, Herr?« »Ja, Ihr habt recht verstanden, Bruder. Lasst Euch von ihr hier hereinjagen, und geht ihr danach tunlichst aus dem Weg. Wenn Ihr nicht spurt, verwandle ich Euch vorher in diesen kleinen Beutelschneider Craer. Dann würde die Felskatze Euch mit zwei Bissen verschlingen!« Der Reißzahnbruder schluckte und warf einen raschen Blick auf Hanenhather. Der Schlangenfürst lächelte wieder selbstzufrieden und rätselhaft. »Wohin nun, Vater?«, keuchte Embra. Alle mussten verschnaufen. Die unter ihnen liegenden Stufen waren mit Leichen von Soldaten und Dienern aus der Burg Stornbrücke übersät. »Ja, das möchten wir alle gern wissen«, schnaufte Tschamarra. »Wir lauschen gebannt Euren Worten, edler Herr.« 239 »Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube«, entgegnete der ehemalige Regent. »Ich befürchte nämlich, dass Ihr meinen Ausführungen kaum Folge leisten werdet. Ehrlich gesagt, das würde mich sogar richtiggehend verblüffen. Also, alle hergehört: Wir laufen diesen Gang bis zum Ende hinunter, gelangen durch den Turm dahinten, begeben uns danach zum nördlichen Torhaus und steigen dort die Gesindetreppe hinunter - nicht etwa die schöne breite für die Wachen. Und dann, Herrschaften, schleichen wir uns in die Burg zurück und gehen auf die Jagd nach Schlangenpriestern. Ach, ehe ich es noch vergesse, wir bleiben natürlich die ganze Zeit über dicht beisammen.« Die Letzte der Talasorn runzelte die Stirn. »Das Nord-Torhaus, also ich weiß nicht so genau, wo ...« »Die erste und oberste Regel beim Betreten einer fremden Burg«, zitierte Hawkril, »lautet: >Präge dir ihre Lage ein, und merke dir vor allem ihren Aufbau im Inneren. Beschaffersie