Lars Claußen
Die Revolution
layout AnyBody "Die Revolution" handelt von bizarren Volksaufstand, der unvermeidlich wird...
22 downloads
1147 Views
1013KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Lars Claußen
Die Revolution
layout AnyBody "Die Revolution" handelt von bizarren Volksaufstand, der unvermeidlich wird, als zu Beginn der Fußball-Übertragung des WM- Finales Deutschland - Brasilien alle TV-Geräte streiken. Anführer der Bewegung wird Alfred, ein fetter Versager im Trainingsanzug, der es innerhalb weniger Stunden schafft, die Menschenmassen hinter sich zu bringen. Unterstützt wird er dabei von seinen Nachbarn, insbesondere einer alten Frau und ihrem Spazierstock, der auch durchtrainierten Schlägern und der Polizei das Fürchten lehrt, einem Herrn in einem Bademantel und einigen anderen seltsamen Gestalten. Gemeinsam lehnen sie sich gegen das System auf und versuchen, die Macht an sich zu reißen. Von dem so binnen kürzester Zeit entstehenden öffentlichen Druck völlig überwältigt, tritt die Bundesregierung schließlich zurück und überträgt sämtliche Machtbefugnisse auf Alfred und seine Nachbarn...
Inhalt Inhalt .....................................................................................2 Kapitel #1 ..............................................................................3 Kapitel #2 ............................................................................55 Kapitel #3 ............................................................................99 Kapitel #4 ..........................................................................150 Kapitel #5 ..........................................................................198 Kapitel #6 ..........................................................................250
Kapitel #1 Scheiße! Keine Fernseher! Alfred war nicht gerade ein appetitlicher Anblick, wenn er Mitte fünfzig, ziemlich klein - mit seiner viel zu engen Hose, seinem Hemd, unter dem der Bauch hervorquoll, seinem spärlichen, fettigen Haarkranz und seiner alten, abgewetzten Aktentasche zur Arbeit ging. Kaum zu glauben, dass dieser Mann schon bald mit den großen Revolutionären unserer Zeit in einem Atemzug genannt werden wird. Er war Pförtner bei einer Firma, von der er nur wusste, dass sie irgendwelche elektronischen Bausteine herstellte. Seine Tätigkeit beschränkte sich im wesentlichen darauf, Leute abzufertigen, die zu ihm kamen und eine Auskunft haben wollten, und von Zeit zu Zeit die Schranke zu öffnen und zu schließen. Das war nun nicht unbedingt eine Tätigkeit, die eine besondere geistige Heraus forderung darstellte, aber Alfred war auch nie ehrgeizig genug gewesen, um eventuell den Aufstieg zum Hausmeister oder so etwas zu anzustreben. Außerdem beherrschte er es wie kein anderer in der Firma, den Leuten unfreundlich zu begegnen und ihnen entweder gar keine oder eine falsche Auskunft zu erteilen, ohne dass sie es merkten. Auch die Schranke konnte er mittlerweile fast perfekt bedienen. Bis heute. Zunächst sah es so aus, als sollte dies ein Tag wie jeder andere werden. Unfreundlich wie immer warf er seinem Kollegen von der Nachtschicht ein mürrisches »Morgen.« entgegen, das der brummend mit einem »Tschüß. Ich geh dann.« erwiderte. Seufzend ließ sich Alfred auf seinen Stuhl im Pförtnerhäuschen fallen, streckte sich gähnend und packte sein erstes Frühstück aus (Alfred pflegte vormittags mindestens drei -3 -
Frühstückspausen einzulegen), ein großes, mit reichlich Marmelade bestrichenem Stück Brot. Kurz darauf gab es jedoch Probleme, als sich die Schranke nicht mehr auf Knopfdruck öffnen ließ und Alfred sich beharrlich weigerte, sein Pförtnerhäuschen zu verlassen und die Schranke mit der Hand zu öffnen. Früher war dies durchaus üblich gewesen, aber jetzt stellte sich Alfred auf den Standpunkt, dass es seiner unwürdig war, wenn er nach über 30 treuen Dienstjahren jedes Mal aufstehen und das Pförtnerhäuschen verlassen musste, um die Schranke zu öffnen. Außerdem war das Wetter scheiße. Dass führte schließlich dazu, dass die Angestellten, Kunden und - nicht zu vergessen - der Chef nur mit außerordentlich großen Schwierigkeiten das Firmengelände betreten bzw. verlassen konnten. Die Firma musste deshalb an diesem Tag erhebliche Einnahmeeinbußen und Alfred wenig später seine Kündigung hinnehmen. Der bestellte Reparaturdienst stellte vorher noch fest, dass Marmelade das Bedienelement verklebt und dadurch außer Betrieb gesetzt hatte. Wahrscheinlich sei der Kollege, der während der Nachtschicht Dienst hatte, Schuld an diesem Zwischenfall, versuchte Alfred daraufhin seinem Chef zu erklären. Dieser sei ohnehin nicht der Zuverlässigste. Doch sein Chef schien sich für seine Erklärungen gar nicht zu interessieren. Vielmehr schien es Alfred so, als wolle er sich für die vielen Anträge, die Alfred im Verlauf seiner Dienstjahre gestellt hatte, und die damit verbundene Arbeit für die darauffolgenden Ablehnungen rächen. Zuletzt wurde sein Antrag auf einen die Rückenmuskulatur entspannenden Massagestuhl, der nur einige tausend Mark kosten sollte, mit einer fadenscheinigen Begründung (»Zu teuer«) abgelehnt. Jedenfalls packte Alfred danach sein zweites Frühstück zusammen - ein großes, mit reichlich Leberwurst bestrichenem Stück Brot, mit dem er gerade beginnen wollte, als er zu seinem -4 -
Chef gerufen wurde - und ließ noch einige im Pförtnerhäuschen herumstehende, nützliche, firmeneigene Gegenstände (einen alter Locher, einige kaputte Kugelschreiber und einen Aschenbecher) in seine Aktentasche wandern. Dann warf er noch einen letzten Blick in den Raum, der so lange Jahre sein Arbeitsplatz gewesen war, und forderte seinen jungen Kollegen auf, in den Regen hinauszugehen, um ihm die Schranke per Hand zu öffnen. Was dieser auch anstandslos tat. Also ging Alfred nach Hause in Erwartung der berüchtigten Schimpftiraden seiner Frau Gertrude. Sie war einige Jahre jünger als er, etwas größer und hatte genauso viel Übergewicht. Zu unterscheiden waren die beiden am besten daran, dass sie im Gegensatz zu ihm keine Glatze hatte. »Was? Entlassen?«, rief Gertrude, als Alfred ihr die Geschichte aus seiner Sicht geschildert hatte und ihr mitteilte, dass er ab jetzt wohl den ganzen Tag mit ihr zu Hause verbringen müsse. Gertrude wurde wirklich ziemlich böse. Zum Glück für Alfred hatte sie ihr Nudelholz gerade nicht zur Hand. »Meine Mutter hat es ja immer gesagt:«, rief sie, »Alfred ist ein Versager, der es niemals in seinem Leben zu etwas bringen wird! Heirate ihn nicht, hat sie gesagt! Und ich habe Dich damals noch in Schutz genommen! Nein, Mama, habe ich gesagt, der Alfred ist ehrgeizig genug, um den Aufstieg zum Hausmeister oder so etwas zu schaffen! Und jetzt ? Ich habe Dir die beste Zeit meines Lebens geschenkt und was ist der Dank? Du wirst arbeitslos! Und dann!« Alfred seufzte. Nach einer halben Stunde gab er es auf, ihr zu widersprechen. Am nächsten Morgen war die Stimmung am Frühstückstisch immer noch ziemlich gereizt, obwohl es nur den üblichen Streit -5 -
über die Eier, die Alfred abwechselnd entweder zu hart oder zu weich fand, und den Kaffee gab, der meistens viel zu stark, heute aber zu lasch war. Gertrude erwiderte dem, dass er sich nur beschweren könne, nie zufrieden sei und die Zahnpastatube gestern Abend schon wieder in der Mitte zusammengedrückt hatte und nicht am hinteren Ende. Neu war, dass sie dem vorwurfsvoll hinzufügen konnte, dass er seine Arbeit verloren hatte und ein Versager sei. Alfred atmete tief durch und versteckte sich hinter seiner Bild-Zeitung und widmete seine Aufmerksamkeit dem Foto auf Seite 1, das ein Mädchen an einem Strand liegend zeigte, wo es für einen Bikini-Oberteil viel zu warm war. »Und außerdem hörst du mir nie zu, wenn ich dir etwas sage.«, beklagte sie sich, während sie den Küchentisch abräumte. »Nein, für mich nicht mehr, danke.«, sagte Alfred, der völlig vertieft das Foto aus allen möglichen Perspektiven betrachtete. »Du sollst den Müll runter bringen!«, wiederholte Gertrude einige Stunden später ziemlich laut zum zweiten Mal. »Hmn!«, machte Alfred und hielt das Foto in der Zeitung etwas dichter vor das Gesicht. »Hast du nicht gehört? Du sollst den Müll runter bringen!!« »Äh… war was?«, fragte Alfred gedankenverloren und wandte seinen Blick nicht von der Zeitung ab. »DU sollst den MÜLL runter bringen!«, rief sie noch mal, während sie mit energischen Schritten in die Küche zurückkehrte. »Was?«, fragte er und ließ die Zeitung widerwillig sinken. Gertrude lief vor Wut rot an, griff nach der Zeitung und riss sie ihm aus der Hand. »MÜLL RUNTERBRINGEN!« »He!«, beschwerte sich Alfred. »Gib mir die Zeitung wieder!« -6 -
»Nein!«, stellte Gertrude beleidigt fest und versteckte die Zeitung hinter ihrem Rücken. Alfred versuchte, nach der Zeitung zu greifen, aber Gertrude wich geschickt aus. Danach entwickelte sich eine kurze Handgreiflichkeit zwischen beiden, bei der Gertrude locker die Oberhand und die Zeitung behielt. »BRING DEN MÜLL RUNTER!!!«, schnappte Gertrude und atmete tief durch. »Ja, ja, schon gut.«, sagte Alfred kleinlaut und wurde hart von der ihm zugeschleuderten Zeitung am Kopf getroffen. Sie wohnten im dritten Stock eines alten Hochhauses, was Alfred wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, als er sich mit dem Müllbeutel in der Hand die Treppen besah. Während er beim mühsamen Heruntersteigen noch über die Vorteile eines Fahrstuhls oder einer Rolltreppe nachdachte, trat er auf einen Rollschuh, den ein Nachbarkind auf den Stufen hatte liegen lassen, und sauste die Treppe in den zweiten Stock hinunter. Ein lautes Poltern tönte durch das Treppenhaus, als er dort hart auf den Boden prallte. Der Müllbeutel flog in einem hohen Bogen durch die Luft und landete schließlich auf seinem Kopf. Als Alfred nach einiger Zeit wieder zu sich kam, sah er verschwommen einige Nachbarn, die sich besorgt über ihn beugten. »Alles in Ordnung?«, fragte Gottfried Meier, der neben Alfred und Gertrude wohnte und dessen ungehorsamen Kinder ständig ihre Spielsachen im Treppenhaus herumliegen ließen. »Nein.«, stellte Alfred fest und sah noch etwas unscharf, wie sich der zehnjährige Tom Meier hinter dem Bein seines Vaters versteckte und zu grinsen schien. Kein Wunder, dass Gottfrieds Frau mit einem anderen durchgebrannt war, dachte Alfred. »Sie sollten besser aufpassen, wo Sie hintreten.«, meinte Frau -7 -
Lehmann vorwurfsvoll. Sie war eine alte, alleinstehende und unausstehliche Frau, wie Alfred fand, die direkt unter ihnen wohnte, und sich jedes Mal, wenn Alfred und Gertrude sich etwas heftiger stritten, über die Lautstärke beschwerte, also so ziemlich jeden Tag. Wie üblich trug sie ihre große, dicke Brille und hatte eine alte, geblümte Küchenschürze umgebunden, in dessen Tasche sie nicht nur ihre Hände, sondern auch einen ganzen Werkzeugkasten zu verstauen schien. Alfred rappelte sich mühsam auf und holte tief Luft, um sich aufzuregen. Leider fehlte ihm dazu die Kraft und so brachte er nur ein undeutliches Stöhnen heraus, bevor er wieder zu Boden sackte. »Schon wieder?«, fragte jetzt eine junge Frauenstimme aus einer Wohnung im ersten Stock, dessen Tür - wie Alfred am Boden liegend aus den Augenwinkeln sah - sich eben öffnete. »Ja.«, antwortete der junge Mann, der sich lässig an den Türrahmen lehnte und interessiert nach oben sah. »Diesmal ist er auf einen Rollschuh getreten.« Alfred kannte die Namen des jungen Paares noch nicht, sie wohnten erst seit zwei Monaten hier. Unverheiratet, wie er sich vor einigen Tagen von Frau Lehmann, die ohnehin über alle Vorgänge im Haus bestens informiert war, empört berichten ließ. Alfred war der jungen Frau einige Male im Treppenhaus begegnet und hatte dabei festgestellt, dass sie sehr gut aussah. Machten sich die beiden jetzt etwa über ihn lustig? Das war ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit. Und das nur, weil Alfred in letzter Zeit des öfteren Opfer der hinterhältigen Fallen des kleinen Meiers geworden war. Erst letzte Woche hatte der kleine Bengel einen Besenstiel genau so ins Treppenhaus gelegt, dass Alfred kurz darauf darüber stolperte und die Treppe herunterfiel. Schon da hatte er Gottfried Meier und vor allem seinem Sohn etwas erzählen wollen, hatte aber nicht die richtigen Worte gefunden und sich mit einer scheinheiligen Entschuldigung -8 -
abspeisen lassen. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Diesmal würde er ihnen gehörig die Meinung sagen. Vorher musste er jedoch aufstehen. Gottfried und Rudolf Boll kamen ihm zu Hilfe und griffen ihm unter die Arme, was sie jedoch sofort bereuten, als sie feststellen mussten, dass Alfred unter den Achseln ziemlich stark schwitzte. Rudolf Boll wohnte ein Stockwerk über Alfred, was nicht besonders vorteilhaft für ihn war, da er mindestens genauso übergewichtig wie Alfred war und Treppen aufgrund einer leichten Gehbehinderung nur mit noch größerer Mühe bewältigte. Alfred verstand sich gut mit ihm, er war in seinem Alter und beide hatten dieselben Vorlieben : Essen, Bier, Essen, Fußball, Bier und Essen. Das Problem bei Rudolf war nur, dass er ziemlich launisch war. Er konnte seine Meinung zu einem bestimmten Thema minütlich wechseln. Als Alfred sich nach einem Augenblick endlich wieder auf den eigenen, immer noch recht zitterigen Beinen halten konnte, wischten sich Gottfried und Rudolf etwas angewidert die Hände in ihren Hosen ab. »Das hätte es früher bei uns nicht gegeben.«, krächzte Frau Lehmann dazwischen, und es war nicht auszumachen, ob sie damit das junge Paar, Gottfrieds Kinder oder Alfred meinte. »Sind Sie auch wirklich nicht verletzt ?«, fragte Meier besorgt, als Alfred wie ein alter Kahn bei hohem Seegang zu schwanken begann. »Es geht schon.«, meinte Alfred und atmete tief durch. Er fand Halt am Treppengeländer und klammerte sich dort mit beiden Händen fest. »Wo ist der Rollschuh?«, fragte er, als er fühlte, dass er wieder sicherer auf den Beinen stand, und sah sich um. Er wollte den Rollschuh aufsammeln und ihn energisch zu Boden schmeißen, um seiner Autorität Ausdruck zu verleihen. Unglücklicherweise schien der kleine Bengel ihn schon -9 -
aufgesammelt und in Sicherheit gebracht zu haben. Bestimmt hatte er mit Alfreds Plan gerechnet. Also sah sich Alfred nach einer Alternative um. Schließlich nahm er den Müllbeutel, warf ihn wütend zu Boden und zweifelte kurz darauf an der Aussagekraft dieser Aktion. »Oh, Ihnen ist der Müllbeutel heruntergefallen.«, sagte Frau Lehmann nämlich, bückte sich und sammelte ihn hilfsbereit auf. »Lassen Sie nur, ich bringe ihn für Sie runter. Sie sollten sich erst einmal etwas Ruhe gönnen.«, fügte sie freundlich hinzu und marschierte trotz ihres Alters und mit Hilfe ihres Spazierstockes recht flink die Treppe hinunter. »Äh ja, danke.«, erwiderte Alfred etwas verwirrt. »Mein Sohn will Ihnen noch etwas sagen.«, erklärte Gottfried, zog seinen Sohn hinter seinen Beinen hervor und schubste ihn in Alfreds Richtung. Der kleine Bengel sah verschämt auf den Boden. »Los, nun.«, zischte sein Vater ihm zu und gab ihm einen leichten Stoß. Nervös schaute sich der Kleine um, bevor er Alfred mit großen, unschuldigen Augen ansah. »Entschuldigung.«, sagte er leise und guckte wieder zu Boden. »Das war mein Rollschuh!« Sein Vater stieß ihn an. »Und es soll nicht wieder vorkommen!«, fügte er kleinlaut hinzu. »Na ja, war ja nicht so schlimm. Es ist ja noch mal gutgegangen.«, hörte Alfred sich sagen, ganz entgegen seiner Absicht. »OK.«, meinte Tom schnell, rannte die Treppe hinauf, verschwand in Meiers Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Alfred sah ihm überrascht hinterher. Damit hatte er nicht gerechnet. -1 0 -
»Diese Kinder.«, sagte Gottfried lachend und sah seinem Sohn kopfschüttelnd hinterher, als er Alfreds verstörten Blick bemerkte. »Meinen Sie, dass Deutschland heute Abend gewinnt?«, fügte er hinzu, wahrscheinlich, um vom Thema abzulenken. Alfred versuchte sich zu erinnern, was heute Abend sein sollte, und ging in Gedanken noch einmal die Bild-Zeitung, konnte sich im ersten Moment aber nur an das Foto erinnern, das ein Mädchen an einem Strand liegend zeigte, wo es für einen Bikini-Oberteil viel zu warm war. Doch allmählich dämmerte es bei ihm. Er erinnerte sich an einige Buchstaben, dann an Worte, die schließlich sogar einen Sinn ergaben. Natürlich! Heute Abend fand das Weltmeisterschaftsfinale Deutschland gegen Brasilien statt! Aber nicht einmal der Gedanke konnte ihn momentan aufheitern, erinnerte ihn aber daran, dass er heute unbedingt noch eine Kiste Bier kaufen musste. Unten wurde der junge Mann gerade von seiner Freundin umarmt und lachend in die Wohnung zurückgezogen, während Frau Lehmann sich wieder die Treppe hocharbeitete. »Vielleicht gewinnt Deutschland.«, meinte Alfred erschöpft und überprüfte noch einmal skeptisch, ob nicht doch etwas gebrochen war. »Das glauben Sie doch selber nicht!«, krächzte Frau Lehmann. »Mit so einem Bundestrainer wird Deutschland nie Weltmeister werden, glauben Sie mir!« »Was haben Sie denn gegen Joschka Fischer?«, wollte Gottfried wissen. »Grüne haben in der Nationalmannschaft nichts zu suchen!«, rief Frau Lehmann empört. »Wo kommen wir denn dahin??« »Ich bin da etwas anderer Ansicht.«, entgegnete Gottfried. »Immerhin ist die Mannschaft bis in das Finale gekommen. Außerdem - ist es nicht faszinierend zu sehen, was heutzutage -1 1 -
alles möglich geworden ist! Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass zum Beispiel ein Schwarzenegger einmal in der von Joschka Fischer trainierten deutschen Nationalmannschaft spielen würden?« »Trotzdem! Diese Mannschaft wird kein Weltme ister werden!«, meinte Frau Lehmann erregt. »Grüne und …sterreicher in der deutschen Nationalmannschaft!! Wo kommen wir denn da hin?? Nein, nein! Deutschland muss deutsch bleiben!« »Na ja.«, schaltete sich jetzt Rudolf Boll in das Gespräch ein und machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Joschka Fischer ist aus sportlicher Sicht zweifellos ein Experte und ich bin der Meinung, dass er eine Chance auf alle Fälle verdient hat.« »Mit diesem Trainer wird Deutschland kein Weltmeister!«, krächzte Frau Lehmann beharrlich und schüttelte energisch mit dem Kopf. »Dann nennen Sie mir einen Besseren.«, forderte Gottfried seine Nachbarin auf. »Ich wette, sogar Herr Alfred wäre ein besserer Trainer.«, rief Frau Lehmann höhnisch und machte eine abfällige Handbewegung in Richtung Alfred. »ALFRED??!«, fragte Rudolf und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Wer? Ich?«, fragte Alfred müde. »Der hat doch überhaupt keine Ahnung vom Fußball!«, rief Gottfried lachend. »Jeder hier im Haus weiß doch, dass er noch nie Erfolg hatten, egal, wobei.« »Pfff!«, machte Alfred beleidigt und ließ sich von Rudolf helfen, die Treppe hinauf zu seiner Wohnung zu kommen. »Ich weiß sehr wohl eine Menge über Fußball. Schließlich habe ich früher selber gespielt! Ich war linker Verteidiger bei Blau-Weiß Unterkrotzheim und beinahe Nationalspieler geworden, wenn -1 2 -
ich nicht geheiratet hätte.«, fuhr er erschöpft fort, als er es nach einigen Minuten endlich geschafft hatte, die Wohnungstür zu öffnen. »Beeindruckend!«, sagte Gottfried verächtlich. »Und ich ble ibe dabei: Deutschland wird heute Abend mit 2:1 verlieren!«, krächzte Frau Lehmann. »Das werden wir ja sehen!«, entgegnete Gottfried trotzig. »Joschka Fischer wird Deutschland zum Sieg führen, da bin ich mir ganz sicher!« »Den Grünen!«, konnte Alfred die alte Frau Lehmann sich noch beschweren hören, bevor er die Tür hinter sich zufallen ließ, »…den Grünen fehlen doch ganz eindeutig die früheren deutschen Tugenden: Kampfkraft, Disziplin, Treue für das Vaterland und!« Am Nachmittag verzichtete Alfred auf sein wohlverdientes Mittagsschläfchen und machte sich stattdessen heimlich auf den Weg zum nahegelegenen Supermarkt, um einen Kasten Bier zu holen. Er fühlte sich zwar noch nicht besonders gut, aber er war der unerschütterlichen Ansicht, dass er Bier am heutigen Abend dringend benötigte. Als er den Laden betrat, musste er zunächst feststellen, dass er sein Portemonnaie vergessen hatte, was aber nicht so schlimm war, da der Lebensmittelhändler ein alter Bekannter war und Alfred bei ihm Kredit hatte. In der Blumenabteilung durchfuhr ihn kurz der Gedanke, dass er seiner Frau vor vielen, vielen Jahren das letzte Mal Blumen mitgebracht hatte und dass es vielleicht wieder an der Zeit dafür wäre. Während er sich noch über diese absurde Idee amüsierte, stieß er plötzlich mit dem Einkaufswagen gegen einen mitten im Weg stehenden Gegenstand. Genauer gesagt fuhr er gegen eine sorgsam aufgestapelte -1 3 -
Pyramide aus Gurkengläsern. Schockiert sah Alfred auf die gefährlich hin- und herschwankenden Gläser und brachte sich mit einem beherzten Sprung in Sicherheit, kurz bevor sie mit einem gewaltigen Getöse auf den Boden stürzten, dort zerbarsten und ihn fast unter sich begruben. Dieser vielleicht lebensrettende Sprung stellte eine beachtliche Leistung für einen Menschen von den Ausmaßen Alfreds dar, gerade auch wenn man berücksichtigte, dass er sich vor einigen Stunden bei einem Treppensturz fast das Genick gebrochen hätte. So wurde er nur von der größtenteils aus einer Mischung aus Essig und Gewürzen bestehenden Gurkenflüssigkeit von oben bis unten bespritzt. Dann wurde es einen Augenblick ganz still. »Äh, ich hab doch gar nichts gemacht.«, meinte ein übelriechender Alfred nervös, als er sich wieder etwas von dem Schock erholt hatte und merkte, dass ihn alle Leute in dem Laden vorwurfsvoll anstarrten. Hastig versuchte er, einige Scherben möglichst unauffällig mit den Füßen unter das nebenanstehende Regal zu kehren, bevor eine nicht gerade begeisterte Angestellte mit Eimer und Putzlappen kam, ihn zur Seite schubste und die GurkenglasReste aufzusammeln begann. Glücklicherweise konnte Alfred dem Händler kurz darauf einigermaßen glaubhaft versichern, dass er nur bedingt Schuld an dem Unfall hatte und da man größeres Unheil vermeiden wollte, wurde ihm ohne Aufpreis eine Kiste Bier bis zum Ausgang getragen, die er dort dankbar annahm und gaaanz vorsichtig nach Hause transportierte, nicht ohne vorher noch von mehreren glatzköpfigen Halbstarken angerempelt und beschimpft zu werden. Zu Hause erwartete ihn schon Gertrude. Sie stand in der Wohnungstür, tippte mit dem rechten Fuß ungeduldig auf den Boden und machte ein nicht gerade begeistertes Gesicht. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragte sie und -1 4 -
verschränkte die Arme vor der Brust. »Aha, so ist das also.«, fügte sie hinzu, als sie den von ihrem Mann ausgehenden Geruch bemerkte und das Bier sah, das Alfred schnaufend die Treppe hoch schleppte. »Du hast dir schon wieder was zum Saufen gekauft !« Alfred seufzte. »Aber Gertrude,«, sagte er und versuchte, ruhig zu bleiben, was gerade heute jedoch ganz schön anstrengend war, »heute Abend findet doch DAS Fußballspiel statt. Da werde ich doch wohl mal ein Bier trinken dürfen. Außerdem müssen wir das doch nicht im Treppenhaus diskutieren, oder? Du weißt doch, die Nachbarn!« Gertrude holte tief Luft. »Die Nachbarn? Die wissen doch sowieso schon alle, was bei uns los ist.«, rief sie so laut, dass die anderen Mieter sich gar nicht groß anstrengen oder ihr Ohr an die Haustür legen brauchten, um alles mitzuhören. »Ich darf für dich kochen und putzen! Für die Hausarbeit bin ich dir ja noch gut genug, während du vorm Fernseher sitzt und zu saufen anfängst!«, rief sie böse. »Pssst.«, sagte Alfred mit zugekniffenen Augen, biss die Zähne zusammen, und wollte schnellstmöglich mit dem Bier in der Wohnung verschwinden, was aber nicht klappte, da Gertrude ihm mit ihrem massigen Körper den Weg versperrte. »Ich will heute Abend den Heimatfilm `Wenn der Rothirsch dreimal röhrt' mit Till Schweiger sehen. Und nicht schon wieder so ein blödes Fußballspiel!«, fuhr sie mit ununterbrochen lauter Stimme fort. »Du hörst ja sowieso nicht auf mich, wenn ich dir was sage ! Du bist ja so egoistisch! Und außerdem…« Alfred hielt das nicht mehr aus. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Leicht zitternd fasste er sich mit einer Hand an den Kopf und rieb sich die Stirn. Schade nur, dass er dabei vergaß, dass er die Hand ja eigentlich benötigte, um den Kasten mit dem Bier festzuhalten. Krachend fiel die Kiste zu Boden. »…nicht nur, dass alle Welt dich für einen Versager hält, -1 5 -
nein, dann ist da auc h noch die Zahnpastatube, die heute Morgen erst wieder!«, schimpfte Gertrude unbeirrt weiter. Zum Glück gingen nur zwei Flaschen mit dem köstlichen Gerstensaft kaputt. Alfred sammelte ungeschickt die größeren Scherben auf und schnitt sich dabei einige Male in die Hände. »Denkst du eigentlich auch mal an mich? Nein! Das hast du noch nie getan! Und dir habe ich die beste Zeit meines Lebens geopfert!«, setzte Gertrude ununterbrochen nach, wobei ihre Stimme noch lauter wurde. Er atmete tief durch, verwischte die Bierpfütze auf dem Boden etwas mit dem Fuß, nahm die Kiste Bier und versuchte, sich mit aller Macht an seiner Frau vorbeizudrängen, was ihm schließlich auch irgendwie gelang. Er ging in die Wohnung, stellte den Kasten in die Küche, holte sich einige Pflaster aus dem Badezimmerschrank und ließ sich dann völlig erschöpft im Wohnzimmer auf einen Sessel fallen. »…nie kümmerst du dich um mich. Dein blöder Fernseher ist dir viel wichtiger als ich!«, rief Gertrude und folgte ihm ins Wohnzimmer. Mühsam hob Alfred die Fernbedienung hoch, richtete sie langsam auf den Fernseher und drückte mit letzter Kraft auf einen Knopf. Als der Fernseher anging, atmete er erleichtert auf und verarztete seine Wunden. »Genau DAS meinte ich!!«, rief Gertrude erbost und deutete auf den Fernseher. »Pssst! Ich will das sehen!«, erwiderte Alfred und sah wie gebannt auf die hochspannende Dokumentation über das Liebesleben der Gerippten Tellmuschel in Malaysia aus dem Jahre 1947. »! und du bist so furchtbar unsensibel!«, fuhr sie ärgerlich fort. »Holst du mir ein Bier?«, fragte er müde. -1 6 -
Dann ließ er Gertrudes letzte Worte in Gedanken noch einmal an sich vorbeiziehen. »Was? Unsensibel? Ich?«, fragte er ungläubig, nachdem ihm die Bedeutung allmählich bewusst wurde. »Ich bin doch nicht unsensibel. Schau mal, ich habe einfach nur einen schweren Tag hinter mir und bin fix und fertig.« »Mir reicht es! Ich verlasse dich, Alfred!«, sagte sie fest und ging aus dem Wohnzimmer. »Ich gehe zu meiner Mutter.« »Wie? Was?«, fragte Alfred verblüfft, stand umständlich auf und folgte ihr in das Schlafzimmer. »Wieso??« »Ich kann so nicht weiterleben.«, meinte Gertrude, wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne aus dem Auge und holte einen Koffer aus dem Schrank. »Es tut mir ja leid, wenn ich eben etwas taktlos war.«, sagte Alfred. Es klang ein wenig verstört. »Aber versteh doch, bei mir ist heute alles schiefgelaufen. Zuerst bin ich die Treppe runtergefallen, weil ich auf einen Rollschuh getreten bin…« Er seufzte. »Dann hatte ich mein Portemonnaie vergessen und dann… nun lass doch den Quatsch.« »Nein. Ich gehe.«, stellte sie fest und packte den Koffer. »Ich bin wirklich völlig geschafft.«, versuchte Alfred sich zu rechtfertigen. »Deshalb möchte ich mich nur noch vor den Fernseher setzen und entspannen.« »Dann mach das doch.«, meinte Gertrude. »Du magst ihn ja sowieso lieber als mich.« Ja, das stimmt, wenigstens benahm der sich nicht so widerspenstig, dachte Alfred, sagte aber lieber nichts. Immerhin - wenn Gertrude ihn jetzt tatsächlich verließ, woran Alfred noch nicht so recht glaubte, konnte er heute Abend in aller Ruhe das Spiel sehen und sein Bier trinken. Andererseits… wer sollte ihm dann das Essen machen und die Wäsche waschen? Seufzend blieb er im Flur stehen, während Gertrude ins -1 7 -
Badezimmer ging, ihre Zahnbürste einpackte und dann in Richtung Wohnungstür ging. »Nun bleib doch hier.«, bat er und wollte ihr den Weg versperren. »Nein.«, sagte sie entschlossen, schob ihn mit einer leichten Handbewegung zur Seite und griff zur Türklinke. »Ich weiß doch gar nic ht, was ich ohne dich machen soll.«, sagte Alfred flehentlich und folgte ihr ins Treppenhaus. »Das hättest du dir früher überlegen sollen.«, meinte Gertrude gleichgültig, winkte noch einmal kurz mit ihrem Taschentuch und stieg die Treppe hinunter. Einsam und verlassen stand Alfred im Treppenhaus und starrte ins Nichts, konnte immerhin aber gerade noch verhindern, dass die Tür zuschlug und er sich aussperrte. Trotz aller widrigen Umstände hatte sich Alfred fest vorgenommen, sich den heutigen Abend nicht verderben zu lassen. Und so hatte er es sich pünktlich drei Stunden vor Anpfiff, mit einer Trainingshose und einen Unterhemd bekleidet, vor dem Fernseher gemütlich gemacht und öffnete das erste Bier. Auf diese Weise pflegte er sich gewöhnlich mental auf ein Fußballspiel vorzubereiten. Je länger er da saß und trank, desto mehr Gründe fielen ihm ein, die es rechtfertigten, sich noch ein Bier zu genehmigen und dann noch eins und noch eins. Zum Beispiel war da der heutige Tag mit all seinen unangenehmen Überraschungen, dann war da noch der gestrige Tag, der auch nicht gerade so verlaufen war, wie er sich das vorgestellt hatte, dann noch vorgestern und die letzte Woche und überhaupt fast alle Tage, an die er sich erinnern konnte. Das wurden zwar zum Glück mit der Ze it und mit jedem weiteren Bier immer weniger, aber es reichte immer noch gerade als Rechtfertigung für das nächste Bier. Einige Minuten vor dem Anpfiff bemerkte er - wie eigentlich -1 8 -
immer kurz vor Beginn eines Spiels -, dass ihn allmählich die Müdigkeit übermannte, und schnell trank er noch ein erfrischendes Bier, das ihn wieder aufmuntern sollte. Das klappte jedoch nicht so richtig und als der Anpfiff erfolgte, waren ihm die Augen zugefallen. Einige Sekunden später gab es plötzlich einen lauten Knall. Alfred schreckte hoch, sah sich verwirrt um und stellte mit Bestürzung fest, dass der Fernseher nur noch rauschendes Schneetreiben zeigte. Sofort war er wieder hellwach. »Gertrude, stell den Fernseher wieder ein!«, rief er in Richtung Küche, nahm einen kräftigen Schluck Bier und fläzte sich wieder in seinen Sessel. Da alles ruhig blieb, erinnerte er sich daran, dass Gertrude ja nicht mehr da war und er nun auf sich allein gestellt war. Grummelnd nahm er die Fernbedienung und schaltete ein anderes Programm ein, aber auch das funktionierte nicht. Eine panische Angst stieg in ihm auf. »Das darf doch nicht wahr sein!«, rief er und drückte verzweifelt auf die Knöpfe der Fernbedienung. Aber auch das half nichts. Daraufhin erhob sich Alfred langsam und stöhnend, ging zum Fernseher und haute mit der geballten Faust einige Male kräftig darauf. Als auch das keinen Erfolg hatte, betätigte er mehrmals den An- und Aus-Schalter, jedoch ebenfalls ohne Ergebnis. Dann probierte er es mit freundlichem Zureden: »Bitte, lieber Fernseher, du darfst mich doch jetzt nicht im Stich lassen. Nicht du!! Nicht heute! Bitte, bitte! Ich liebe dich doch!« Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, als der Apparat nicht reagierte. »Du mieses, herzloses Ding!«, schrie er den Fernseher an und versetzte dem Gerät einen Fußtritt, so dass er von dem Fernsehtisch mit einem lauten Krachen herunterfiel. Das Gehäuse ging zu Bruch, der Bildschirm wurde schwarz, und aus -1 9 -
den Trümmern heraus stieg eine kleine Rauchwolke. »AAAH! NEIN!«, rief Alfred entsetzt, kniete sich vor den Fernseher und begutachtete die Überreste. »Oh, nein! Das wollte ich nicht!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. Seine Stimme zitterte, als er nach einigen Minuten rief: »Ich habe ihn umgebracht ! Ich habe meinen Fernseher umgebracht!« Völlig verzweifelt schleppte er sich zurück auf seinen Sessel und verharrte dort regungslos. Den ganzen Tag hatte er nicht darüber nachgedacht, aber in diesem Moment des Verlustes und des Schmerzes fragte er sich, ob das Leben überhaupt noch einen Sinn hatte. Außerdem verpasste er gerade das Spiel des Jahrzehnts. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass es im Treppenhaus ziemlich unruhig geworden war. Mehrere Stimmen redeten aufgeregt durcheinander und schienen über irgendetwas zu streiten. Seltsam, dachte Alfred und erhob sich mühsam aus seinem Sessel. Warum saßen seine Nachbarn nicht alle vor ihren, schnieff, Fernsehern und sahen sich das Spiel an? Oder sollte das etwa heißen, dass im ganzen Haus die Fernseher nicht mehr gingen? Hatte er seinen über alles geliebten Fernseher etwa zu Unrecht vom Tisch gestoßen und zerstört?? Oh nein!! Das durfte nicht sein! So schnell es ging (was ziemlich langsam war) streifte er sich seine Pantoffeln über die Füße, zog seine zur Hose passenden Trainingsjacke an und ging mit zitternden Knien zur Wohnungstür, öffnete sie einen Spalt und spähte vorsichtig hinaus. Im Treppenhaus sah er zunächst Gottfried Meier und Dorothea Beutler, die mit dem Rücken zu ihm standen und aufgeregt mit Rudolf Boll, der sic h einen buntgeblümten Bademantel übergezogen hatte, diskutierten. Dorothea Beutler -2 0 -
wohnte ein Stockwerk über ihm neben Rudolf Boll, war schätzungsweise Mitte 30, verheiratet, hatte keine Kinder und war außerordentlich religiös. Ihr Mann war, soweit man Frau Lehmanns Informationen glauben konnte, beruflich viel unterwegs und deswegen fast nie zu Hause. Alfred hatte sich noch nie richtig mit ihr unterhalten. Des weiteren war gerade die alte Lehmann dazugekommen, die Hände in der Tasche ihrer alten Schürze vergraben. Sie rückte ihre Brille zurecht und schaltete sich schimpfend in die Diskussion ein. Dann sah er, wie das junge Pärchen im ersten Stock aus ihrer Wohnung kam und kurz nach oben grüßte. Auf Nachfrage Gottfrieds erklärte die junge Frau freundlich, dass ihr Fernseher auch nicht funktioniere und sie deshalb jetzt zum Rathausmarkt gingen, wo das Spiel auf einer großen Leinwand übertragen werde. Oh nein, dachte Alfred, fühlte sich plötzlich sehr schwach und musste sich am Türgriff festhalten. Er hatte soeben tatsächlich seinen Fernseher unwiederbringlich zerstört. Obwohl der völlig unschuldig war! »Alfred, was ist mit dir?«, fragte Rudolf, als er Alfred immer noch vorsichtig aus einem Türspalt hinausspähend sah. »Geht's dir nicht gut?«, fragte Rudolf besorgt. »Du siehst schlecht aus.« »Nein, ich fühl bloß ein bisschen schwach.«, entgegnete Alfred und öffnete langsam die Tür. »Was ist mit den Fernsehern?«, fragte er dann, verließ die Wohnung und lehnte sich vorsichtshalber an die Wand im Treppenhaus. »Im ganzen Haus funktioniert kein einziger Fernseher!«, erklärte Rudolf aufgeregt. »Kannst du dir das vorstellen?« »Ein ganzes Haus ohne Fernsehen?«, kommentierte Alfred mit schwacher Stimme. »Das ist ja eine Katastrophe ! Und -2 1 -
ausgerechnet heute!« »Ja, wirklich schrecklich.«, meinte Dorothea. »Wo ich mich doch so auf den Heimatfilm im Dritten gefreut habe!« »Und ich weiß nicht, woran es liegen könnte.«, erklärte Gottfried kopfschüttelnd. »Die Antenne ist jedenfalls völlig in Ordnung. Ich habe sie mir schon angesehen.«, fügte er hinzu. »Aha.«, machte Rudolf und runzelte misstrauisch die Stirn. Gottfried behauptete des öfteren von sich, alle möglichen Dinge reparieren zu können. Nach einigen schlechten Erfahrungen begegneten ihm seine Nachbarn in dieser Hinsicht mittle rweile allerdings eher skeptisch. »Welche Sünden müssen wir begangen haben, dass uns der Herr mit solch einem Schicksalsschlag bestraft!«, rief Dorothea und sah flehentlich zum Himmel. »Daran ist nur das kranke System Schuld.«, krächzte Frau Lehmann lautstark dazwischen. »Es geht doch immer auf die Kleinen! Erst die ständigen Steuererhöhungen, dann dieses komische Gesetz gegen die Verbreitung von Handtaschen! Dann noch die vielen verschlüsselten Programme! Und jetzt schalten sie uns die Fernseher ganz ab!« »Aber Frau Lehmann!«, versuchte Rudolf sie zu beruhigen. »Meinen Sie nicht, dass Sie da etwas übertreiben?« Es war im Prinzip unmöglich, Frau Lehmann zu stoppen, wenn sie sich erst einmal in das Thema hineingesteigert hatte. Außer, sie bekam zufällig mal wieder einen Herzinfarkt. »Ich sage Ihnen: Das liegt alles an dieser Regierung! So etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.«, rief sie leidenschaftlich. »Und außerdem!« »Frau Lehmann, nun beruhigen Sie sich doch wieder.«, unterbrach Alfred sie. »Sie bekommen wieder einen Herzinfarkt, wenn Sie sich weiter so aufregen.«, fügte er hinzu und klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter. -2 2 -
»Was soll das denn heißen?«, krächzte sie empört und machte einen energischen Schritt auf Alfred zu, der unwillkürlich etwas zurückwich und dabei fast schon wieder die Treppe heruntergefallen wäre. »Gar nichts, gar nichts!«, sagte Alfred hastig und rückte seine Trainingshose zurecht, als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. »Ah, verdammt!«, bemerkte Rudolf Boll, als er seine Taschenuhr aus der Tasche seines Bademantels geholt und einen Blick darauf geworfen hatte. »Das Spiel läuft jetzt schon fast zehn Minuten und wir stehen hier immer noch tatenlos rum.« »…als ich noch jung war, da hätte man mit uns nicht so umspringen können. Wir hätten denen da oben schon gezeigt, wo es langgeht.«, rief Frau Lehmann und hob drohend einen Finger. »Aber die jungen Leute von heute…« »Aber was sollen wir machen?«, fragte Alfred und überlegte, ob er eventuell zu seiner Schwiegermutter und Gertrude fahren sollte, um sich das Spiel dort anzusehen. Dann schüttelte er den Kopf über einen so abwegigen Gedanken, als er an das viele schöne Bier dachte, das er dort nicht trinken durfte. Außerdem war seine Schwiegermutter ein ziemlicher Drachen, neben dem Gertrude wie ein harmloses Lamm wirkte. »Wir sollten uns einen Fernseher suchen, der noch funktioniert.«, meinte Gottfried und kam sich sehr schlau vor. »Tolle Idee.«, sagte Rudolf und sah ihn verächtlich an. »Ja, danke.«, erwiderte Gottfried stolz. Es kam nicht oft vor, dass er für eine tolle Idee gelobt wurde. »Hört ihr das?«, fragte Alfred und hielt eine Hand an sein Ohr. »Ja!!!«, rief Dorothea begeistert und faltete die Hände. »Das hört sich an, als wenn die Erzengel Gabriels gelandet wären!! -2 3 -
Ein Wunder! Ein wahres Wunder!« »Wie?«, fragte Alfred und sah sich nervös um. Er hatte heute schon genug Katastrophen erlebt. »Ich meinte den Lärm, den die Leute auf der Straße machen. Man sollte doch wohl nicht glauben, dass in den anderen Häusern in der Umgebung die Fernseher auch nicht funktionieren!?« »Wahrlich! Ein echtes Wunder!! Oh Herr, wir danken Dir!« »Das sollten wir auf alle Fälle überprüfen.«, meinte Rudolf. »Du hast recht.«, stimmte Alfred nickend zu. »Und dann suchen wir uns einen Fernseher, der funktioniert!«, sagte Gottfried stolz. »Dann los.«, rief Frau Lehmann eifrig und schwenkte ihren Spazierstock begeistert durch das Treppenhaus, so dass sich die anderen ducken und die Hände über den Kopf halten mussten, um nicht getroffen zu werden. »Zeigen wir denen da oben, dass wir uns nicht unterkriegen lassen.« »Ja, Frau Lehmann. Ganz ruhig.«, sagte Rudolf und nahm ihr behutsam den Stock weg. »Kommen Sie nicht mit?«, fragte Alfred und sah Dorothea an, die gerade die Treppe hochgehen wollte. »Nein, wir müssen uns doch auf die Ankunft der Erzengel Gabriels vorbereiten!«, antwortete Dorothea aufgeregt und ging die Stufen hinauf. »Außerdem, so wichtig ist mir der Heimatfilm nun auch wieder nicht.« »Kommt, wir gehen.«, sagte Rudolf und sah die anderen an. »Ja!«, rief Frau Lehmann. »Los jetzt !« »Pass auf, wo du hintrittst.«, warnte Rudolf, und hielt Alfred, der gerade losgehen wollte, an der Schulter fest. »Was ist denn?«, wollte der wissen. Rudolf deutete auf einen herumliegenden Ball, auf den Alfred beinahe getreten wäre. »Da liegt Spielzeug auf der Treppe.«, -2 4 -
erklärte er. Alfred sah den Ball, machte ein komisches Gesicht und guckte Gottfried vorwurfsvoll an. Sein Nachbar grinste blöd, zuckte mit den Schultern und meinte entschuldigend: »Hehe, Sie wissen ja, wie Kinder sind.« »Ja, die Jugend von heute hat Sinn für Ordnung mehr.«, krächzte Frau Lehmann etwas weiter unten. »Und kein Benehmen! Zu meiner Zeit war das alles noch ganz anders!« Draußen herrschte ein ziemliches Durcheinander. Hunderte von Menschen tummelten sich auf den Straßen und irrten scheinbar ziellos umher. »Was ist hier denn los?«, fragte Rudolf Boll erstaunt. »Die Leute sind ja völlig hysterisch!« »Was?«, rief Gottfried, weil er wegen des Lärms kein Wort verstanden hatte. »Ich sagte, dass die Leute ja völlig hysterisch sind !«, rief Rudolf ihm etwas lauter ins Ohr. »Ach so, ja.« »Und das alles nur wegen ein paar Fernseher, die nicht mehr funktionieren.«, meinte Rudolf kopfschüttelnd. »Da hinten läuft einer.«, hörten sie eine vorbeirennende Frau rufen, verfolgt von mehreren jungen Leuten. »Habt ihr das gehört? Da hinten!«, rief Gottfried und deutete in die entsprechende Richtung. »Schnell! Hinterher!«, fügte er hinzu, aber die anderen waren schon losgelaufen. Das heißt, eigentlich eher losgehumpelt: Rudolf kam hauptsächlich wegen seiner Gehbehinderung nur mühsam voran, Frau Lehmann konnte sich ohnehin nur mit Hilfe ihres Spazierstockes fortbewegen und auch Alfred war aufgrund des Sturzes im Treppenhaus heute Morgen nicht besonders gut zu Fuß. So überholte Gottfried seine Nachbarn ziemlich schnell -2 5 -
und konnte kurz darauf zur vor ihm rennenden Meute aufschließen. Plötzlich blieb die Gruppe stehen, und weil Gottfried nicht aufgepasst hatte, lief er direkt in einen Mann hinein, der die Figur eines großen Kleiderschranks hatte. Der Schrank drehte sich langsam um und Gottfried musste feststellen, dass sein Gesicht keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck machte. »Was willst du??«, fragte er drohend. Seine Stimme erinnerte an das Geräusch eines Löwen, der gerade von einer Gazelle aus Versehen in den Schwanz gebissen wurde. »Oh, äh, Entschuldigung.«, sagte Gottfried kleinlaut und etwas aus der Puste. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« »Du hast MICH nicht gesehen???«, dröhnte der Mann, atmete tief ein und setzte die Hände an die Hüften. Dann packte er Gottfried mit beiden Händen am Kragen und hob ihn mit Leichtigkeit ein wenig hoch. Mittlerweile waren auch seine Nachbarn keuchend angekommen und hielten Ausschau nach einem funktionierenden Fernseher. »Wo ist der Fernseher?«, fragte Frau Lehmann und stieß den Kleiderschrank mit ihrem Stock an. »Äh, wie?«, fragte der Schrank und sah Frau Lehmann verblüfft an. Versehentlich sackte er dabei etwas in sich zusammen, weshalb seine Körperhaltung nicht mehr ganz so bedrohlich wirkte. »Wo der Fernseher ist, der funktioniert!«, wiederholte Rudolf Boll ein wenig ungehalten und sah auf seine Uhr. »Schon eine Viertelstunde rum und wir wissen immer noch nicht, wie es steht.« Ein dünner Mann neben dem Schrank drehte sich um. Seine wenigen Haare hatte er ziemlich aufwendig und geschickt so auf dem Kopf verteilt, dass sie seine Glatze einigermaßen überdeckten. -2 6 -
»Wo soll ein Fernseher sein, der funktioniert?«, wollte er wissen. »Eben hat eine junge Frau gerufen, dass hier einer läuft und eine ganze Meute ist ihr hinterher und hätte uns fast über den Haufen gerannt.«, erklärte Rudolf ungeduldig und sah noch mal auf die Uhr, während er mit einem Fuß nervös auf den Boden tippte. »Oh, da liegt wohl ein Missverständnis vor.«, lachte der Mann, »Wissen Sie denn nicht, dass hier in der ganzen Umgebung kein Fernseher mehr funktioniert? Alle kaputt.« »Was??«, fragte Alfred erschüttert und fasste sich an die Stirn. »Das ist… das ist ja schrecklich!«, meinte er. »Aber… wie konnte denn das passieren?«, wollte Rudolf wissen und schluckte. »Keine Ahnung.«, meinte der Mann und hob bedauernd die Schultern. »Entschuldigung, ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen,«, sagte Gottfried dazwischen und sah den Schrank vorsichtig an, »aber würden Sie die Freundlichkeit besitzen und mich wieder herunter lassen?« Der Kleiderschrank sah Gottfried erstaunt an. Anscheinend hatte er völlig vergessen, dass er jemanden am Kragen gepackt hatte. »Ach so, ja.«, sagte er etwas verwirrt. »Natürlich.« »Aber wieso sind dann alle wie die Wilden hinter der Frau hergerannt ?«, rief Frau Lehmann ärgerlich. »Vielen Dank!«, sagte Gottfried erleichtert zum Schrank, als der ihn heruntergelassen hatte. »Wir haben drei Kaninchen gesucht, die uns vorhin entwischt sind.«, erklärte der Mann neben dem Schrank, während Gottfried seinen Kragen richtete und sich imaginären Staub aus der Kleidung klopfte. »Wir haben nämlich aus Versehen den -2 7 -
Käfig aufgelassen.« »Und da die Fernseher nicht mehr gehen, haben die Leute nichts zu tun und helfen uns.«, erzählte der Mann und deutete auf die Frau, die jetzt triumphierend ein zappelndes Kaninchen an den Ohren in die Höhe hielt und unter dem Beifall der Umstehenden »Ich hab es!« rief. »Mist!«, kommentierte Alfred, sah zu seinen Nachbarn und kratzte sich am Kopf. »Ts, ts.«, meinte Gottfried. Kopfschüttelnd sahen sie den Leuten nach, als sie sich entfernten. Dann wurden sie von einer anderen vorbeieilenden Gruppe junger Leute zur Seite geschubst. »Rüpel!«, rief Frau Lehmann ihnen hinterher und schwenkte drohend ihren Spazierstock. »Zu meiner Zeit hätte man euch ins Zuchthaus gesteckt!« »Und was machen wir jetzt?«, fragte Alfred, während Rudolf auf seine Uhr blickte: »Scheiße, schon fast zwanzig Minuten gespielt! Wir müssen uns beeilen!« »Also suchen wir uns einen Fernseher, der funktioniert!«, schlug Gottfried vor. »Ja, aber wo ?«, jammerte Alfred. »Ganz in der Nähe, auf dem Rathausmarkt, soll das Spiel doch auf einer Leinwand übertragen werden.«, meinte Rudolf. »Die funktioniert bestimmt. Wenn nicht, können wir uns dort besaufen.« Alfred nickte zustimmend, als er das Wort »Besaufen« hörte. »Dann los.«, sagte Gottfried und machte sich mit den anderen auf den Weg. »Aber nicht so schnell!«, rief ihm Frau Lehmann hinterher. »Genau!«, stimmten ihr Rudolf und Alfred zu. Es schienen sich immer mehr Menschen auf den Straßen zu -2 8 -
tummeln. Die meisten liefen offenbar planlos umher, der Lärm wild durcheinander rufender Menschen vermischte sich mit einer ab und zu ertönenden Polizei- oder Krankenwagen-Sirene. Es herrschte allgemein eine gereizte, ja, fast aggressive Stimmung. Verständlicherweise, da waren sich Alfred und seine Nachbarn einig. Dessen ungeachtet setzten die vier ihren Weg zum Rathausmarkt unerschrocken fort. Als sie nach einer Weile dort ankamen, mussten sie feststellen, dass die Leinwand ebenfalls nicht funktionierte. Auf dem Rathausmarkt selber war nicht mehr viel los, sah man mal von ungefähr 100 Polizisten ab, die dort herumliefen und so taten, als hätten sie die Lage im Griff. »Was war hier denn los?«, fragte Gottfried eine junge Polizistin, die in der Gegend herumstand und anscheinend nichts zu tun hatte. Er deutete auf die sich an einer Seite des Platzes befindende Bier- und Würstchen-Stände bzw. deren Überreste, denn viel davon war nicht mehr übrig. Die Trümmer verteilten sich recht gleichmäßig über den ganzen Platz, lagen in Bierpfützen zwischen Würstchen, Scherben und sonstigem Abfall. »Gehen Sie bitte weiter!«, sagte die Polizistin nicht gerade freundlich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber wir wollen doch bloß wissen, was hier passiert ist.«, erklärte Alfred, während Rudolf auf die Uhr sah und »Oh, nein, schon über fünfundzwanzig Minuten gespielt!«, rief. Die Polizisten breitete die Arme aus, um ihnen den Weg zu versperren. »Es gibt hier nichts zu sehen!«, machte sie ihren Standpunkt deutlich. »Junge Frau, wer gibt Ihnen das Recht, uns so zu behandeln?«, fragte Frau Lehmann empört. »Zu meiner Zeit -2 9 -
hätte es so was nicht gegeben. Wir wussten damals noch, wie wir ältere Herrschaften zu behandeln hatten. Mit Respekt, jawohl.«, fügte sie energisch hinzu. Die Polizistin guckte erst Frau Lehmann und dann die anderen verblüfft an. Damit hatte sie anscheinend nicht gerechnet. »Wir haben ja wohl das Recht, zu erfahren, was hier los war.«, betonte die alte Frau streng und hob drohend ihren Spazierstock. Alfred und die anderen sahen sich grinsend an. Ab und zu war es außerordentlich nützlich, eine Person wie Frau Lehmann dabei zu haben, die über eine gehörige Portion Durchsetzungskraft und einen Stock verfügte. »Schon gut, schon gut.«, sagte die Polizisten und wich vorsichtshalber einige Schritte zurück. »Wenn Sie nicht von der Presse sind, kann ich ihnen ja sagen, dass anscheinend alle Fernseher in der Umgebung und diese Leinwand kurz nach dem Anpfiff aus gefallen sind.« »Ach nein?«, fragte Rudolf. »Was Sie nicht sagen!« »Doch, wirklich.« Sie deutete auf die Leinwand, die anscheinend mit sehr vielen Gegenständen beworfen worden war. Einige Löcher sowie viele Bierflecke wiesen darauf hin, dass sie auch getroffen worden war. »Tja, und daraufhin sind einige Leute hier etwas ausgerastet, haben die Leinwand beworfen und die Stände geplündert.«, fügte sie hinzu und zeigte auf die Überreste der Stände an der Seite. »Kann ich gut verstehen.«, stellte Alfred gedankenverloren fest. »Wie bitte?«, fragte die Polizistin und sah ihn misstrauisch an. »Äh…« »Er sagte, dass solch ein Verhalten unverzeihlich ist.«, half -3 0 -
ihm Rudolf, der seinen Blick kurz von seiner Uhr gelöst hatte. »Ach so.«, sagte die Polizisten. »Na ja, und nachdem wir mit einer Hundertschaft einige Schlägereien aufgelöst und möglichst viele wehrlose Unschuldige zusammengeschla…, ich meine natürlich, die schlimmsten Randalierer zur Ordnung gerufen haben, hat sich hier alles einigermaßen beruhigt und jetzt passen wir auf, dass die Situation nicht doch noch eskaliert.« »Was soll hier denn noch eskalieren?«, wollte Alfred wissen und sah auf die Polizisten, die auf dem Platz herumstanden. »Hier sind doch gar keine Leute mehr.« »Nun ja, äh, aber vielleicht kommen die wieder, nicht wahr?«, antwortete die Polizistin und sah sich nervös um. Sie hoffte, dass sie einem Kollegen zur Hilfe kommen müsste, um diese, allmählich unangenehm werdende Diskussion beenden zu können. Leider hatten die anderen die Lage offensichtlich völlig im Griff. »Man kann ja nie wissen.«, sagte sie deshalb. »Aber seien Sie unbesorgt. Ihre Polizei beschützt die rechtschaffenden Bürger dieser Stadt.« »Aha.« »Sie wissen nicht zufällig, wie es beim Fußball steht, oder?«, fragte Rudolf hoffnungsvoll. »Nein. Darum kann ich mich wirklich nicht auch noch kümmern.«, sagte die Polizisten und versuchte, ein gestresstes Gesicht zu machen, was ihr aber nicht so richtig gelang. »Ob es hier wohl noch Bier gibt?«, fragte Alfred, schmatzte ein bisschen und suchte den Boden ab. »Oder eine Bratwurst?«, fügte er hinzu, konnte aber außer einigen unappetitlichen Resten nichts finden. »Ich glaube nicht, Alfred.«, meinte Rudolf und deutete auf seine Uhr. »Wir sollten jetzt auch weitergehen, finde ich.« »Und Sie wollen wir auch nicht länger von Ihrer Pflicht -3 1 -
abhalten.«, sagte er spöttisch zur Polizistin. »Da Sie hier ja so viel zu tun haben.« Er deutete auf die herumstehenden Polizisten. »Was soll das denn heißen?«, wollte die Polizistin empört wissen und stützte die Hände in die Hüften, aber Alfred und seine Nachbarn hatten sich auf Drängen von Rudolf schon mit einem »Wiedersehen!« abgewandt und setzten ihre furchtlose Suche nach einem funktionierendem Fernseher fort. »Also so was, nein.«, sagte die Polizisten leise zu sich und konzentrierte sich wieder darauf, so zu tun, als hätte sie alles im Griff. Zwischen den Überresten der Stände lief in diesem Moment ein Kaninchen vorbei, das sich auf der Suche nach etwas Fressbarem befand. Leider wurde es weder von Alfred und seinen Nachbarn, noch von den herumstehenden Polizisten bemerkt. Immer mehr Menschen waren auf den Straßen unterwegs, auf der verzweifelten Suche nach einem funktionierenden Fernseher. Die Unruhe in den Straßen wuchs, allmählich gab es immer lautere Unmutsäußerungen und die Situation drohte an einigen Stellen zu eskalieren. Die Polizei hatte die Lage derweil auf dem Rathausmarkt völlig im Griff. »Tolle Polizei!«, meinte Gottfried nach einer Weile. »Anstatt sich darum zu kümmern, dass die Fernseher wieder funktionieren, stehen die auf einem menschenleeren Rathausmarkt rum und haben nichts zu tun.« »Oh, schon 30 Minuten gespielt.«, erklärte Rudolf. »Schnell, weiter!« »Und wohin jetzt?«, fragte Gottfried. »Erst mal diese Richtung, würde ich vorschlagen.«, sagte Alfred, der gerade an ein schönes, kühles Bier dachte, und zeigte in eine Richtung. »Da hinten ist der Gardinenweg, da gibt es -3 2 -
mehrere schöne Kneipen.« »Hoffentlich auch eine mit einem funktionierenden Fernseher.«, meinte Rudolf und lief hinter Gottfried und Alfred her. »Nicht so schnell da vorne!«, krächzte Frau Lehmann nach einer Weile vorwurfsvoll einige Meter hinter ihnen. »Ich komme ja gar nicht hinterher!« »Ja, ja, schon gut.«, meinte Gottfried und verlangsamte etwas genervt das Tempo. »Geht's nicht doch einen kleinen Tick schneller?«, fragte Rudolf vorsichtig nach hinten. »Sie wissen doch, das Spiel läuft schon und…« Weiter kam er nicht. »Sie haben leicht reden da vorne, junger Mann!«, rief Frau Lehmann empört. »Ich bin über 80, da geht das nun mal nicht mehr so schnell!« »Schon gut, Sie haben ja Recht, nur…«, wollte Rudolf sie beruhigen, wurde aber sofort wieder unterbrochen. »…da ist ja wohl ein bisschen Rücksicht nicht zu viel verlangt.«, fügte die alte Frau böse hinzu. »Aber heutzutage haben die jungen Leute einfach keinen Respekt mehr vor dem Alter. Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben. Wir wussten noch, wie wir…« »Puh, wenn sie ihre Energie, die sie fürs Schimpfen verbraucht, für das Laufen verwenden würde, hätte sie uns schon zehn Mal überholt.«, flüsterte Alfred seinen Nachbarn zu und passte auf, dass Frau Lehmann ihn nicht hörte. Er war richtig stolz auf diesen Satz, über den er auch einige Zeit hatte nachdenken müssen. »…jawohl, meine Herren! Mit Respekt!«, erklang es einige Meter hinter ihnen. Und während Frau Lehmann mit ihren Beschimpfungen fortfuhr, setzten Alfred, Rudolf und Gottfried langsam ihren -3 3 -
Weg fort. Alfred konnte beobachten, wie Gottfried nach einiger Zeit fasziniert nach vorne starrte und seine Umwelt überhaupt nicht mehr wahrzunehmen schien. Ihnen kam im Gedränge eine schlanke Frau mit langen blonden Haaren und einem Minirock entgegen, die Gottfried lächelnd ansah. Alfreds Nachbar war ganz hin und weg. Sie warf ihm ein freundliches Lächeln zu, und ging eleganten Schrittes an ihm vorbei. Er sah ihr mit großen Augen hinterher, verlangsamte seine Schritte etwas und stieß kurz darauf mit dem Kopf gegen eine Straßenlaterne, genauer gesagt gegen ein Plakat, das dort befestigt war. Boing! »Aua!« »Gottfried!«, rief Rudolf und sah seinen am Boden liegenden Nachbarn besorgt an. »Alles in Ordnung?« »Wo bin ich?«, fragte Gottfried und rieb sich die Stirn, auf der sich bald darauf eine leicht bläuliche Beule bildete. »Auf dem Bürgersteig.«, klärte ihn Rudolf auf. »Und wo ist sie?«, fragte er und sah in die Richtung, in die Frau im Minirock gegangen war, aber sie war mittlerweile irgendwo im Gedränge verschwunden. »Wer?« »Sie ist weg.«, stellte Gottfried traurig fest und sah auf das Plakat, gegen das er gelaufen war. Und während sich Alfred noch wunderte, dass er es nicht war, der gegen die Laterne gelaufen war, deutete sein Nachbar munter auf das Schild. »Das Fußball- Endspiel live auf einem Großbildschirm in der Kneipe `Zur NotAufnahme' ab 20.00 Uhr! Das Bier nur 2,50 DM! Südstraße 3.«, las Gottfried laut vor, anscheinend, um den Umstehenden zu zeigen, dass er lesen konnte. »Die Südstraße ist gar nicht so weit von hier. Da gehen wir hin!«, fügte er hinzu. »Ja, früher war ohnehin alles besser…«, murmelte Frau Lehmann währenddessen und humpelte an ihnen vorbei, ohne -3 4 -
sie zu beachten. »Frau Lehmann! Huhuu! Hier sind wir!«, rief Gottfried ihr winkend hinterher und musste sich dafür böse Blicke von Alfred und Rudolf gefallen lassen, die der Meinung waren, dass die alte Frau ruhig schon ein bisschen vorausgehen sollte. »Ja, was ist denn jetzt?«, fragte Frau Lehmann etwas genervt und drehte um. »Erst soll ich mich beeilen und jetzt? Diese jungen Leute von heute wissen auch nicht mehr, was sie wollen.« »Na ja, Gottfried ist gerade gegen diese Straßenlaterne gelaufen und hat sich den Kopf gestoßen, weil er einer Frau hinterhergeguckt hat…«, erklärte Alfred ihr fröhlich. »Hehe, kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.«, lachte Frau Lehmann zufrieden und hätte an dieser Stelle wohl freundliche Zustimmung vo n Dorothea erhalten. »Wir hätten uns früher ein solch unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit nicht erlauben können.« »Hmpf.«, meinte Gottfried und bedachte seine Nachbarin mit einem beleidigten Blick. »Und wir wollen jetzt in diese komische Kneipe!«, sagte Rudolf skeptisch. »Zur `NotAufnahme'. Nicht gerade ein vertrauenerweckender Name.« »Wahrscheinlich geht der Fernseher da auch nicht.«, vermutete Alfred zweifelnd. »Außerdem befindet sich die Kneipe - wenn ich mich nicht irre - in einer ziemlich verrufenen Gegend.«, fügte Rudolf hinzu. »Och, na ja, andererseits - so schlimm wird es da schon nicht sein.«, meinte Alfred und dachte an das viele Bier für 2,50 DM, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Also, auf in die `NotAufnahme'!«, meinte Gottfried. »Außerdem ist dort ein Großbildschirm. Ich kann mich erinnern, einen solchen schon einmal repariert zu haben.« -3 5 -
»Was ist?«, fügte er hinzu und zuckte mit den Schultern, als ihn die anderen groß anstarrten. »An die `NotAufnahme' kann ich mich noch gut erinnern.«, sagte Frau Lehmann mit schwärmerischem Blick. »Ich weiß noch, wie ich dort in meiner Jugend meine erste Massenschlägerei angezettelt habe. Mein Gott, war das schön damals…« »Hm, na schön.«, gab Rudolf etwas widerwillig nach und sah auf die Uhr. »Aber dann müssen wir uns jetzt auch beeilen. Es sind immerhin schon 35 Minuten gespielt.« Gottfried machte ein paar energische Schritte, erinnerte sich dann an Frau Lehmann und verlangsamte sein Tempo. »Ich hoffe nur, dass da nicht so viele junge Leute sind.«, grummelte Frau Lehmann und lief ihren Nachbarn hinterher. »Die haben einfach keinen Respekt mehr vor dem Alter!« Als sie nach einer Weile dort angekommen waren, mussten sie zunächst einmal einige Minuten auf ihre ältere Nachbarin warten, die in der Zwischenzeit wieder etwas weiter zurückgefallen war und sich, immer noch über die Rücksichtslosigkeit der jungen Leute schimpfend, langsam näherte. Danach mussten sie feststellen, dass die `NotAufnahme' völlig überfüllt war. Sehr viele Leute standen draußen davor auf dem Bürgersteig, weil sie nicht mehr hineinkamen. »Ha, seht ihr ? Hier funktioniert der Großbildschirm bestimmt.«, meinte Gottfried triumphierend. »Sonst wäre hier ja wohl nicht so viel los, oder?« »Ich höre etwas.«, musste Rudolf zugeben, stellte sich vor das Gedränge und versuchte, sich auf Zehenspitzen einen Einblick zu verschaffen. »Sehen kann ich allerdings nichts. Wahrscheinlich haben die hier nur ein Radio.«, erklärte er. »Ein was?«, wollte Gottfried verblüfft wissen. -3 6 -
»Ein Radio!«, erläuterte Alfred geduldig. »Das ist eine Art Fernsehgerät ohne Bild.« Gottfried sah ihn groß an. »Wozu soll das denn gut sein?«, fragte er. »Na ja, früher hörte man ziemlich oft Radio.«, erklärte Alfred. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein Vater morgens als erstes das Radio einschaltete. Und auch heute noch haben wir ein Radiogerät bei uns zu Hause stehen. Warum, weiß ich allerdings auch nicht so ganz genau.« Gottfried machte ein ungläubiges Gesicht. »Unvorstellbar.«, sagte er kopfschüttelnd. »Laßt uns reingehen!«, meinte Rudolf, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte. »Bald ist Halbzeit.« »Das dürfte wiederum etwas schwierig werden.«, stellte Alfred danach fest und warf noch einen Blick in die `NotAufnahme', um sich zu vergewissern. »Es ist nämlich wirklich sehr voll da drin.« »Das ist mir egal.«, rief Frau Lehmann genervt und machte ein paar energische Schritte in Richtung Eingangstür, gefolgt von ihren Nachbarn. »Ich bin doch nicht den ganzen Weg hierher gegangen, um dann draußen vor meiner früheren Stammkneipe rumzustehen, in der es einen funktionierenden Fernseher gibt.« Unglücklicherweise hörten dies einige Menschen, die gerade vorbeigingen, was im folgenden noch zu einigen Unannehmlichkeiten führen sollte. »Habt ihr das gehört?«, rief jemand ziemlich laut über den Bürgersteig. »In der `NotAufnahme' gibt es einen Fernseher, der funktioniert!« »Was??«, rief ein anderer einige Meter entfernt so laut zurück, dass es jeder im Umkreis von 100 Metern hören musste, ob er wollte oder nicht. »Da drin gibt es einen Fernseher?? Und -3 7 -
der funktioniert???« »He, Leute!!«, rief ein anderer etwas weiter entfernt seinen Leuten zu. »Da drüben gibt es einen Fernseher, der funktioniert!!!« Aufregung und lärmende Betriebsamkeit machte sich in der Umgebung breit. Die Nachric ht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, aus allen Richtungen rannten die Leute herbei und wollten sich Zugang zur `NotAufnahme' verschaffen. Irgendwie hatten es Alfred und seine Nachbarn in der Zwischenzeit mit Hilfe ihrer Ellbogen und Frau Lehmanns Stock geschafft, wenigstens in den Eingangsbereich der Kneipe zu kommen. »Oh, nein!«, stellte Alfred fest, als er mitten im Gedränge steckte, es schaffte, sich noch einmal kurz umzudrehen und eine Horde Menschen auf den Laden zustürmen sah. »Jetzt wird es ungemütlich.« Tatsächlich strömten aus allen Himmelsrichtungen immer mehr Menschen herbei und versuchten, sich Zutritt zu der Kneipe zu verschaffen. Kurz darauf steckten Alfred und seine Nachbarn im Gedränge fest, es ging weder vorwärts noch zurück. »Kann jemand den Großbildschirm sehen?«, fragte Alfred nach einer Weile und schnappte im Gedränge nach Luft. »Nein.«, keuchte Gottfried, der einige Meter vor ihm mit den Beinen ruderte, um wieder Bodenkontakt zu bekommen. »Ich glaube, ich höre nur ein - wie hieß das noch mal? - ein Radio.«, fügte er heiser hinzu, bevor er von dem Gedränge etwas weiter in die Kneipe hineingetragen wurde, ohne etwas dagegen machen zu können. So ein Stock ist doch praktisch, so einen werde ich mir auch anschaffen, dachte Alfred, als er aus den Augenwinkeln einen Moment lang Frau Lehmann - die erstaunlich viel Platz hatte sah, wie sie sich gerade bei einem etwas ungehaltenen, -3 8 -
durchtrainierten, Türsteher Respekt verschaffte. In diesem Moment vermeldete das Radio den 1:0 Führungstreffer für Brasilien in der 41. Minute, was in der Kneipe mit allgemeiner Enttäuschung aufgenommen wurde. Trotzdem blieb es relativ ruhig, was hauptsächlich daran lag, dass die meisten Leuten nicht genügend Luft bekamen. Rudolf hatte währenddessen etwas die Orientierung verloren. Ganz ohne sein Zutun tauchte er irgendwann direkt vor dem Tisch mit dem Großbildschirm auf. Enttäuscht musste er feststellen, dass er genauso wenig funktionierte wie alle anderen Fernseher in der Umgebung. »Na ja, wenigstens kann man hier Radio hören.«, meinte er heiser und hörte auf, sich dagegen zu wehren, vom Gedränge hin- und hergetragen zu werden. Frau Lehmann beschäftigte sich währenddessen mit dem Schrank, den Gottfried vorhin versehentlich angerempelt hatte und der eben noch auf dem Stuhl gesessen hatte, den sie jetzt triumphierend in Beschlag nahm. Ihr gefiel es in der Kneipe, ja, sie fühlte sich jung wie schon lange nicht mehr. »So, junger Mann!«, rief sie dem Schrank zu und stieß ihn mit ihrem Stock in die Rippen, »Sie erzählen mir jetzt mal, wo der Fernseher ist, der hier angeblich funktionieren soll.« »Hier gibt es keinen funktionierenden Fernseher, Madame.«, erklärte der Schrank eingeschüchtert. »Es tut mir leid, aber ich kann doch auch nichts dafür. Wirklich nicht.«, fügte er schnell hinzu und zog den Kopf ängstlich ein, als er sah, dass sie ihren Stock drohend ein wenig anhob. Draußen sprach sich nun schnell herum, dass 1. Brasilien 1:0 führte, 2. beim besten Willen niemand mehr in die `NotAufnahme' hineinpasste und 3. ein funktionierender Fernseher in der Kneipe nicht vorhanden war. Dadurch ebbte die heranströmende Menschenflut zwar schnell ab, die herrschende Aufregung allerdings nicht; im Gegenteil: Das war der Tropfen, -3 9 -
der das Fass zum Überlaufen brachte. »Was??«, rief vor dem Eingang ein kleiner, junger Kerl mit Glatze und Springerstiefeln. Auch sonst sah er nicht sonderlich intelligent aus. »Hier gibt's keinen Fernseher??« »Das gibt Schläge !«, stellte sein Freund fest. Er war größer, wirkte aber nur unwesentlich schlauer. »Nur - für wen?« »Tja…«, meinte ein dicker Dritter, der zwar etwas längere Haare hatte, ansonsten aber ebenfalls ziemlich doof zu sein schien, »sind hier vielleicht irgendwelche Ausländer?« »Nein. Ich hab's.«, sagte der erste und fand, dass er ziemlich schlau war. »Wir verprügeln einfach denjenigen, der erzählt hat, dass hier ein Fernseher funktionieren soll.« »Tolle Idee.« »Jau, das machen wir!«, erklärte der Große und wandte sich an das Gedränge vor der Kneipe. »Wer hat erzählt, dass es hier einen funktionierenden Fernseher geben soll?«, rief er. Niemand antwortete ihm. »Du da!«, rief der Kleine und packte einen Mann, der noch kleiner war als er, im Kontrast dazu aber eine überdimensionale Brille trug, aus der Menge am Kragen. »Wer hat erzählt, dass es hier einen Fernseher gibt?«, zischte er ihm zu. »Ich… ich… war es nicht.«, stammelte der Mann. »Ich glaube, es kam aus der Kneipe.« Der Mann mit der Brille atmete erleichtert auf, als der Kleine ihn wieder losließ. »Aha!«, sagte der Dicke und drängelte sich auf den Eingang der `NotAufnahme' zu. Die dort Stehenden sahen ihn misstrauisch an, ließen sich aber schweigend zur Seite stoßen. »Wer von euch hat erzählt, dass es hier einen Fernseher gibt?«, rief der Dicke in die Kneipe hinein. Wenn er gekonnt hätte, hätte sich Alfred an dieser Stelle geduckt, leider fehlte ihm dazu der Platz. -4 0 -
Niemand antwortete. »Und wenn sich hier keiner rührt, mischen wir den ganzen Laden auf.«, fügte der Dicke deshalb hinzu, während Rudolf schon seit einiger Zeit damit beschäftigt war, zu versuchen, auf seine Uhr zu gucken, was ihm aber ebenfalls nicht gelang, weil es zu eng war. Er hatte deshalb nicht mitbekommen, warum es plötzlich so still geworden war, und so lauschte er nichtsahnend weiter dem Radio. Er wunderte sich nur darüber, dass die Leute nervöser geworden waren und misstrauisch den Eingang beobachteten, obwohl es dort auch keinen funktionierenden Fernseher gab. »Deutschland hat bisher eine schwache erste Halbzeit gespielt.«, ließ sich das Radio vernehmen. »Aber vielleicht passiert in den gut vier, na, sagen wir mal, fünf Minuten ja noch was. Jetzt wieder über rechts. Es kommt…« Jetzt leerte sich der Eingangsbereich zusehends, da viele Leute dem drohenden Ungemach aus dem Weg gehen wollten, so dass die drei Glatzköpfe sich in die Kneipe drängeln konnten. »Ich war das!«, rief Frau Lehmann trotzig, die, den Kopf auf den Stock gelehnt, auf ihrem Stuhl regelrecht thronte. »Was, DU?«, fragte der Dicke verblüfft und sah Frau Lehmann an. »Aber du bist doch eine Frau und…« »Seit wann duzt man fremde, ältere Herrschaften, du Lümmel?«, fragte Frau Lehmann böse. Sie war, offenbar durch alte Erinnerungen beflügelt, etwas übermütig geworden. Vorsichtige, zustimmende Äußerungen ließen sich nun in der Kneipe vernehmen. »Gut so!«, meinte jemand, »Richtig!«, »Weiter so!« und »Gib's ihm! …äh, Entschuldigung, ich meinte natürlich, geben SIE es ihm!« waren weitere Äußerungen, die Frau Lehmann verzückt hätten, wenn sie nicht etwas schwerhörig gewesen -4 1 -
wäre. »Äh, aber… äh, Moment mal, ich…«, meinte der Dicke und fühlte sich ein wenig aus dem Konzept gebracht. »Du, äh, Sie sind doch alt und gebrechlich und…« »Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit!!«, rief Frau Lehmann aufbrausend, holte mit ihrem Stock Schwung und haute dem Dicken auf den Kopf. Klock! machte es. Es hörte sich an, als schlage jemand mit einer mit Brombeersaft gefüllten Pfand-Plastikflasche auf eine in Bananenschalen gehüllte, hohle Kokosnuss. Die Gäste in der `NotAufnahme' beklatschten und bejubelten das mutige Vorgehen von Frau Lehmann, soweit der Platz in der Kneipe dies zuließ. Der Dicke hielt sich überrascht den Kopf. Damit hatte er nicht gerechnet. Er stampfte mit einem Fuß beleidigt auf den Boden, blieb eine Zeitlang unschlüssig stehen, merkte dann, wie ihm die Tränen in die Auge n stiegen, und rannte heulend aus der Kneipe. Rudolf wurde dafür allmählich sauer. Obwohl er - was er nicht wusste - mittlerweile ziemlich nah am Ort des Geschehens eingeklemmt war, hatte er immer noch nicht so recht begriffen, was um ihn herum passierte. Er hatte sich voll auf die Radioübertragung konzentriert, verpasste wegen des Lärms jetzt aber eine gute Chance für Deutschland in der Nachspielzeit. Das gefiel ihm überhaupt nicht. »Könnt ihr nicht mal ruhig sein?«, rief er so laut es seine beengte Positio n zuließ. »Ich möchte die Übertragung im Radio hören!!« »Was willst DU denn? Heh?!«, fragte ihn der Kleine herausfordernd, der sich eigentlich hatte Frau Lehmann vornehmen wollen und drängelte sich zu ihm durch. Er packte Rudolf am Bademantel und wollte ihn aus dem Gedränge zu sich ziehen, was aber nicht so klappte, da der Bademantel in der Menge feststeckte. -4 2 -
»Huch?«, meinte Rudolf daraufhin etwas besorgt und hob vorsichtig einen Finger. »Ich, äh, wollte doch nur… äh, die Übertragung im Radio hören.« Der Kleine fand, dass dies eine gute Gelegenheit war, jemanden zusammenzuschlagen. Noch besser war, dass es sich dabei um einen Schwächeren handelte. Er holte mit einer Faust aus und… wurde hart von einem Spazierstock am Kopf getroffen. Klock! »Was fällt dir Bengel ein?«, schimpfte Frau Lehmann, ließ ihren Stock wieder zu Boden sinken und nickte zufrieden. Die Gäste in der `NotAufnahme' spendeten respektvoll bis begeistert Beifall. Der Kleine hielt sich den Kopf, sah sich kurz verwirrt um und rannte dann schreiend dem Dicken hinterher. »He!«, rief ihm der Große, der ihn zur Verstärkung begleitet hatte, hinterher. Er sah sich verlassen um. »Du kannst mich hier doch nicht allein lassen!«, fügte er leise hinzu und blickte noch einmal in die Runde, aber es gab keinen Zweifel: Sein Kamerad hatten ihn im Stich gelassen. Er überlegte kurz, was er nun zu tun hatte, dann begann auch er zu schluchzen und drängelte sich eiligst nach draußen. Erleichterung machte sich in der `NotAufnahme' breit, nahm zum Glück aber keinen weiteren Platz in Anspruch. Vielmehr verließen jetzt weitere Leute die Kneipe, wahrscheinlich um eventuell drohenden, größeren Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. »Es sind nun schon 48 Minuten gespielt,«, erklärte das Radio, während die immer noch zahlreich verbliebenen Gäste Frau Lehmann umringten, »und es besteht für den Schiedsrichter eigentlich keinen Grund, nachspielen zu lassen.« »Beeindruckend, wie SIE das gemacht haben!«, betonte eine junge Frau und wollte Frau Lehmann erst auf die Schulter klopfen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Man konnte schließlich nicht wissen, wie die alte Frau darauf reagieren -4 3 -
würde, immerhin schien sie etwas unberechenbar zu sein. »Ja, wirklich toll!«, meinte ein anderer stämmiger, etwas älterer Mann mit einem dichten Vollbart und ziemlich vielen Tätowierungen und näherte sich der alten Frau vorsichtig. »Wollen Sie was trinken? Ich gebe aus.«, sagte er. »Danke! Ich hätte gern ein Bier!«, sagte Alfred von hinten. »Nein.«, sagte Frau Lehmann streng, während der Vollbart Alfred erstaunt ansah. »Ich trinke keinen Alkohol.« »Oh, äh, ich natürlich auch nicht. Ich habe noch nie Alkohol getrunken.«, erwiderte der Mann schnell und wirkte dabei ungefähr so glaubwürdig wie ein Soldat, der gerade mit seinem Auto in Schlangenlinien sieben Verkehrsschilder, drei Ampeln und zwei Gartenzäune umgefahren hat, dann von der Polizei gestoppt wird und dasselbe von sich behauptet. »Ich glaub, ich muss mal frische Luft schnappen.«, sagte Frau Lehmann und stand ganz ohne die Hilfe ihres Stockes auf. Ihre Bewunderer begleiteten sie durch die ehrfürchtig Platz machenden Leuten bis zur Tür der Kneipe und feuerten sie an, während sie nach draußen ging. »Das ist meine Nachbarin.«, prahlte Gottfried danach vor der nicht gerade interessiert zuhörenden Menge und versuchte, möglichst wichtig in die Runde zu blicken. Alfred versuchte in der Zwischenzeit ein Bier zu bestellen, was sich als ein ziemlich schwieriger Akt herausstellte, da alle in der Kneipe Verbliebenen - insbesondere Rudolf - nach dem Schrecken unbedingt eine Stärkung benötigten. Gerade hatte er sich bis zum Tresen durchgekämpft, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und der kleine, der große und der dicke Glatzkopf mit eingezogenem Bauch und krampfhaft vorgestreckter Brust wieder hereinstolzierten. »Ja, haha, damit habt ihr wohl nicht gerechnet.«, sagte der Große möglichst lässig und verschluckte sich dabei fast an -4 4 -
seinem Kaugummi, das er sich eben in den Mund gesteckt hatte. Die drei sahen noch einmal nach draußen, konnten Frau Lehmann nicht entdecken und machten ein triumphierendes Gesicht. »Jetzt seid ihr hilflos, wie?«, meinte der Dicke, nahm lässig seine Sonnenbrille ab, merkte dann, dass man jetzt ja seine verheulten Augen sehen konnte und setzte sie schnell wieder auf. Der Kleine bemerkte währenddessen, dass sich Rudolf langsam und unauffällig aus der `NotAufnahme' schleichen wollte, folgte ihm und hielt ihn am Kragen fest. »Würden Sie mich bitte wieder loslassen?«, fragte Rudolf. »Frau Lehmann ist nur mal kurz nach draußen gegangen und wird jeden Augenblick wieder hier sein und dann können Sie was erleben.« »…danke.«, fügte er hinzu, als der Kleine ihn schnell wieder losließ und sich ängstlich umsah. »So, nun könnte der Schiedsrichter wirklich abpfeifen, schließlich sind jetzt schon fast 50 Minuten gespielt.«, sagte das Radio. Als die alte Frau nicht erschien, machte der Kleine ein zufriedenes Gesicht und hielt Rudolf am Kragen fest. Er drehte ihn zu sich um, holte mit der Faust aus und wollte ihm eine reinhauen. Da machte Rudolf etwas, das ihm niemand in der Kneipe zugetraut hätte. Er duckte sich so schnell, dass der Dicke vorbeihaute und die Faust den hinter ihm stehenden Mann mit der Figur des Kleiderschrankes hart auf den Rücken traf. »Und da ist der Halbzeitpfiff.«, verkündete das Radio. »Es bleibt damit beim verdienten 1:0 für Brasilien.« »Aua!«, rief der Kleiderschrank, wirbelte herum und begann fies zu grinsen, als er das völlig verdatterte Gesicht vom Kleinen bemerkte. »Was fällt dir denn ein?« »Äh…«, machte der Kleine kleinlaut, als ihn der Schrank -4 5 -
packte, während Rudolf in Richtung Damentoilette floh. »Wir melden uns gleich wieder mit der zweiten Halbzeit und hoffen auf eine bessere deutsche Mannschaft.«, erklärte das Radio. Dann bekam der Dicke die Faust des Schranks ins Gesicht, was den großen und den kleinen Glatzkopf dazu veranlaßte, sich auf den Schrank zu stürzen, der aber so geschickt zur Seite auswich, dass die beiden gegen zwei dicke, langhaarige Motorradrocker prallten, die dadurch in ihrem Gespräch über die Vor- und Nachteile einer nachträglich eingebauten Ladeluftkühlung gestört wurden und darüber nicht sehr erfreut waren, was sie den beiden Glatzköpfen kurz darauf mit einem gezielten Tritt zwischen die Beine spüren ließen. Der Schrank hatte sich währenddessen mit einer sportlichen Judokämpferin angelegt, weil er sie bei dem Sprung zur Seite, durch den er den beiden Glatzköpfen ausgewichen war, gegen eine Gruppe gewaltbereiter Rocker geschubst hatte, die auch nicht gerade freundlich reagierten. Ganz schnell entwickelte sich eine fröhliche Massenschlägerei, bei der vor allem der kleine, der dicke und der große Glatzkopf zu leiden hatten. Tumultartige Szenen begannen sich abzuspielen, als Frau Lehmann zurückkam, das Getümmel erblickte und sich mit erhobenem Stock ohne ein Wort zu verlieren in das Gefecht stürzte. Alfred, Rudolf und Gottfried hatten sich währenddessen vor der Damentoilettentür versammelt, schnappten nach Luft und sahen sich an. »Mannomann, ich glaube, es ist besser, wir verschwinden von hier!«, meinte Gottfried und ging mit seinen Nachbarn noch einige Schritte zur Seite, um der sich weiter ausbreitenden, wilden Schlägerei Platz zu machen. »Ich wollte hier aber noch ein Bier trinken!«, erklärte Alfred und leckte sich über die Lippen. »Das kostet nur 2,50 DM hie r!« »Außerdem ist hier ein Radio !«, maulte Rudolf und sah auf -4 6 -
die Uhr. »Und gleich geht die zweite Halbzeit los!« »Und Frau Lehmann scheint sich hier auch wohl zu fühlen.«, meinte Alfred und deutete in das Getümmel. »Vorsicht! Duckt euch!«, rief Gottfried, als ein Aschenbecher in Kopfhöhe angeflogen kam, sie um Haaresbreite verfehlte und an der Wand hinter ihnen zerschellte. »Vielleicht ist es doch besser, wir verschwinden von hier.«, meinte Alfred schnell und sah in die blass gewordenen Gesichter seiner Nachbarn. Die beiden nickten zustimmend und wollten sich schon auf den auch nicht ganz ungefährlichen Weg nach draußen machen. Dann sahen sie, dass der Ausgang durch einige, sich direkt vor der Tür prügelnde, gefährlich aussehende Männer versperrt war. Vielleicht sollten wir die alte Lehmann vorschicken, dachte Alfred. Die und ihr Stock würden sie schon sicher nach draußen bringen. Er sah Rudolf an, der sich die Schlägerei vor dem Ausgang betrachtete und dasselbe zu denken schien. »Wir können Frau Lehmann hier doch nicht allein lassen.«, sagte er deshalb. »Die Frau ist doch schon über 80 und völlig hilflos…« »Richtig.«, bestätigte Rudolf eifrig und sah skeptisch auf den Ausgang. »Wir können die Frau nicht einfach allein hier lassen. Nachher passiert ihr noch etwas!« »Sie haben recht. Wir müssen sie mitnehmen.«, meinte Gottfried ernst. »Die arme, alte Frau!« Drei Augenpaare suchten daraufhin im Gewühl nach einer alten, hilflosen Frau, fanden aber nur eine mitten im Gemenge stehende alte Furie, die mit ihrem Stock auf alles schlug, was ihr zu nahe kam. »Da vorne ist sie ja. Gut. Du holst sie.«, erklärte Alfred und sah Rudolf erwartungsvoll an. »Wir warten hier solange und passen auf, dass euch nichts passiert.«, fügte er -4 7 -
entgegenkommend hinzu. »Wer? Ich? Wieso ich denn?«, fragte Rudolf und deutete erstaunt auf seinen Bademantel. »Nun mach schon!«, drängte Alfred. »Oder hast du etwa Angst?« »Angst? Ich? Na ja, äh… na schön.« Er zog seinen Bademantel über den eingezogenen Kopf und versuchte, sich langsam seiner Nachb arin zu nähern. Gaaanz vorsichtig umkurvte er die Auseinandersetzung zwischen dem Glatzkopf, der ihm vorhin an die Wäsche wollte und dem Schrank, und vermied alles, was die Aufmerksamkeit der beiden auf ihn ziehen könnte. Als nächstes stellte sich ihm das Problem in Gestalt von drei langhaarigen Rockern in den Weg, die sich gerade mit den Mitgliedern des ortsansässigen »Verein des Feministischen Kampfes« einen interessanten, nonverbalen Schlagabtausch lieferten. Zum Glück wich das Problem aber schnell in eine andere Richtung aus, als es versehentlich in Reichweite von Frau Lehmann Stock gekommen war. Jetzt war der Weg zu seiner alten, hilflosen Nachbarin frei. Trotzdem stellte dieses letzte Stück eine außerordentliche Gefahr dar, weil Frau Lehmann alles mit ihrem Stock zu bearbeiten schien, was in ihre Reichweite kam. Und dann war da noch ihre extreme Kurzsichtigkeit. Deshalb blieb er vorsichtshalber stehen, duckte sich und rief, nicht zu laut, um niemanden sonst auf sich aufmerksam zu machen: »Frau Lehmann! Kommen Sie bitte mit!« Leider musste er feststellen, dass Frau Lehmann schon etwas schwerhörig zu sein schien. Jedenfalls reagierte sie nicht auf die Rufe ihres Nachbarn. »Aua! Iiihhh, ääähhh!«, fügte Rudolf hinzu, als sein Bademantel in diesem Moment von einem halbvollen Bierkrug getroffen wurde. Immerhin hatte er nun Frau Lehmanns Aufmerksamkeit. -4 8 -
Lachend zeigte sie mit dem Finger auf ihn und vergaß dabei völlig, einem vorbeiwankenden Glatzkopf einen Schlag auf den Kopf zu verpassen. »Hallo, Herr Boll!«, rief sie fröhlich. »Amüsieren Sie sich auch so gut?« »Hmpf. Kommen Sie. Wir wollen gehen!«, rief Boll wütend, zog ein Taschentuch aus der Hose und verteilte damit das Bier schön gleichmäßig auf seinem Bademantel. »Nein!«, rief Frau Lehmann zurück und holte das eben Versäumte nach, als der Glatzkopf zufällig nochmals vorbeitorkelte. Dafür schlug sie diesmal mit doppelter Kraft zu. »Ich bleibe hier!« »Nun kommen Sie schon!«, rief Rudolf und duckte sich ängstlich, weil er dachte, dass der durch die Luft fliegende Barhocker ihm galt. »Nein.«, krächzte Frau Lehmann und fing den Barhocker auf. »Mir gefällt es hier.« Jetzt platzte Rudolf der Kragen. »Dieses Loch hier mit seinen ganzen Scheiß-Typen ist doch kein Laden für eine alte Dame.«, schrie er ungehalten. Plötzlich wurde es ganz still in der `NotAufnahme'. Die Leute unterbrachen ihre Schlägereien und alle Augen, von denen einige mittlerweile blau geworden waren, richteten sich auf ihn. »Oh, oh.«, meinte Rudolf und machte sich ganz klein. »Wie war das?«, fragte ein Dicker und ging einen bedrohlichen Schritt auf Rudolf zu. Alfred und Gottfried schlugen die Hände vors Gesicht. »Oh, nein. Das war jetzt nicht besonders schlau von ihm.«, meinte Alfred und sah, wie sich die Meute langsam seinem Nachbarn näherte. Gottfried nahm die Hände kurz herunter, um sich ein Bild von der Lage zu machen, nahm sie dann aber schnell wieder hoch. -4 9 -
»Wie es scheint, reagieren diese Leute außerordentlich sensibel, wenn man ihre Stammkneipe beschimpft.«, flüsterte er und drehte sich um. Immerhin war die Tür jetzt frei geworden. »Passt auf!«, warnte Rudolf, wich einige Schritte zurück und deutete auf Frau Lehmann. »Das hier ist meine Nachbarin. Und sie kann wirklich böse werden. Vor allem, wenn man ihre Nachbarn angreift.«, erklärte er, was aber nur wenige abschreckte und auch Frau Lehmann schien davon nicht recht überzeugt zu sein. In diesem Moment flog die Tür auf und ungefähr 20 Polizisten stürmten den Laden. Die Leute in der Kneipe drehten sich verblüfft um. Normalerweise traute sich um diese Uhrzeit kein Polizist mehr in die `NotAufnahme' herein. Reaktionsschnell nutzte Rudolf den Augenblick der Verwirrung, um mit Frau Lehmann an der Hand zu Alfred und Gottfried zu flüchten. »Schnell!«, rief er seinen Nachbarn zu. »Raus hier!« »Halt! Niemand bewegt sich!«, rief ein Polizist. Aber die vier hatten die Kneipe schon verlassen, wobei Rudolf die widerspenstige Frau Lehmann hinter sich her schleifen musste. »Puh, das war knapp.«, meinte Alfred draußen und blies die Backen auf, während er sich vergewissert hatte, dass ihnen niemand gefolgt war. »Da haben Sie recht.«, stimmte Gottfried ihm zu und stützte die Hände auf seine Oberschenkel, um sich etwas auszuruhen. »Mir zittern die Knie.« »Das war schrecklich!«, erzählte Rudolf und lehnte sich erschöpft an die Wand. »Wann gehen wir wieder rein?«, wollte Frau Lehmann ungeduldig wissen und rieb sich erwartungsvoll die Hände. -5 0 -
»Wir müssen den Laden ordentlich aufmischen!« Alfred, Rudolf und Gottfried sahen sie an. »Wir gehen da nicht wieder rein, Frau Lehmann.«, erklärte Alfred streng. »Wir können froh sein, dass wir da heil wieder rausgekommen sind.« »Wie?«, fragte Frau Lehmann ungläubig. »Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ihr Weicheier!« Sie fuchtelte ein bisschen mit dem Stock herum, um das Gesagte zu unterstreichen. »Na, egal! Ich gehe jetzt wieder rein!«, rief sie und humpelte entschlossen zur Tür der `NotAufnahme'. Rudolf stieß sich von der Wand ab und lief auf sie zu. »Nicht!«, rief er und hielt sie an einer Hand fest. »Lassen Sie mich los!«, schimpfte Frau Lehmann und hob drohend ihren Stock. Schnell zog Rudolf seine Hand zurück. »Na gut, wenn Sie unbedingt verhaftet werden wollen, dann gehen Sie doch.«, kommentierte er ärgerlich. Frau Lehmann blieb stehen. »Verhaftet, meinen Sie?«, wiederholte sie und dachte darüber nach, was dazu führte, dass sich auf ihrer Stirn noch mehr Falten als sonst zeigten. »Jawohl, verhaftet.«, bestätigte Rudolf und machte ein Gesicht, als habe er gerade einen Boxkampf gegen Mike Tyson gewonnen. »Wenn ich mich recht erinnere, hat mich die Polizei damals auch verhaftet.«, sagte Frau Lehmann nachdenklich und schüttelte mit dem Kopf. »Aber heute habe ich mir ja nichts zu schulden kommen lassen. Wenn die Polizei anderer Meinung ist, soll sie nur kommen. Die werden schon sehen, was sie davon haben!« -5 1 -
Alfred hüstelte. »Nichts zu schulden kommen lassen?«, erkundigte sich Gottfried ungläubig und betrachtete die Verletzten, die aus der Kneipe getragen wurden. »Nein, natürlich nicht.«, stimmte Rudolf ihr schnell zu, machte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung seiner Nachbarn und wandte sich an die alte Frau. »Aber trotzdem, Sie wissen ja, wie die jungen Leute bei der Polizei sind!« Frau Lehmann dachte darüber nach und nickte. »Da haben Sie natürlich recht.«, sagte sie verstehend. »Die haben einfach keinen Respekt mehr vor dem Alter.«, warf Alfred ein. »Also schön, Sie haben mich überzeugt.«, krächzte Frau Lehmann. »Ich gehe nicht mehr in die Kneipe. Solange die Bullen da sind jedenfalls…« »Puh!«, atmete Rudolf erleichtert auf und lehnte sich wieder an die Wand. In der Zwischenzeit sperrte die Polizei den Eingangsbereich der Kneipe weiträumig ab, unter anderem war dort auch die Polizistin tätig, die Alfred und seinen Nachbarn auf dem Rathausmarkt schon mehr oder weniger bereitwillig Auskunft gegeben hatte. »Gehen Sie bitte weiter!«, rief sie nicht gerade freundlich den herbeiströmenden Schaulustigen zu. »Was ist denn hier passiert?«, wollte eine ältere Frau wissen. Die Polizistin öffnete die Arme, um den Neugierigen den Weg zu versperren. »Es gibt hier nichts zu sehen!«, meinte sie und tat so, als habe sie die Lage im Griff. Alfred und seine Nachbarn gingen auf sie zu. »Hallo.«, sagte Alfred und nickte ihr freundlich zu. »Was machen SIE denn hier?«, wollte die Polizistin nervös wissen, als sie die vier sah. -5 2 -
Ohne Probleme gelang es ihr jetzt, ein gestresstes Gesicht machen. »Sie haben doch wohl nichts mit der Schlägerei in der Kneipe zu tun?«, fügte sie misstrauisch hinzu und kniff ein Auge zusammen. »Wir?«, fragte Rudolf und versuchte, überrascht zu klingen. »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Alfred betont unschuldig. »Junge Frau!«, krächzte Frau Lehmann und stützte sich schwer auf ihren Stock. »Sehen wir etwa so aus, als könnten wir etwas mit einer Schlägerei zu tun haben?« »SIE natürlich nicht.«, meinte die Polizistin und sah die alte, schwache Frau freundlich an. »Bei den drei Herren in ihrer Begleitung wäre ich mir allerdings nicht so sicher.« Sie musterte die drei misstrauisch. »Tja, äh, ich glaub, wir müssen dann auch weiter.«, meinte Alfred schnell. »Wie spät ist es denn, Rudolf?«, fragte er. Rudolf sah in der Zwischenzeit gedankenverloren in die `NotAufnahme', wo es der Polizei anscheinend nicht so recht gelang, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. »Wie?«, fragte er erschrocken zurück, als Alfred ihn angestoßen und seine Frage wiederholt hatte, und sah auf seine Uhr. »Oh ja, gleich fängt die zweite Halbzeit an. Wir müssen unbedingt los, wenn wir nicht zuviel verpassen wollen.« »Es steht übrigens 1:0 für Brasilien.«, erklärte die Polizistin Rudolf hilfsbereit. »Ja, danke.«, sagte Rudolf säuerlich. »Das wussten wir schon.« Gottfried, Alfred und Rudolf schoben Frau Lehmann von der Kneipe weg, als einige Polizisten die ersten Schläger aus der Kneipe zerrten. »Da sind sie!«, rief ein Glatzkopf und deutete auf Alfred und -5 3 -
seine Nachbarn. »Die da hinten haben angefangen!« »Ja, ja. Und eine alte Oma hat alle Leute mit einem Knüppel verprügelt, ich weiß.«, sagte ein Polizist und schubste ihn in einen Polizeiwagen. »Verarschen kann ich mich alleine.« Die vier beeilten sich, in eine dunkle Seitengasse einzubiegen, während die Polizistin ihnen nachdenklich hinterher sah und die `NotAufnahme' allmählich von den vermeintlichen Unruhestiftern geräumt wurde.
-5 4 -
Kapitel #2 Rhetorisch begabt? »Such ein Mist!«, sagte ein sehr alter Mann mit einer nuscheligen Stimme in einem Rollstuhl , an dem Alfred und seine Nachbarn kurz darauf vorbeigingen. »This hätte es früher bei uns nicht gegeben.«, fügte er hinzu. Frau Lehmann blieb stehen, das heißt, sie verringerte ihr Fortbewegungstempo nur minimal und sah ihn an. Der Mann hatte kurze, aber ziemlich zersauste graue Haare, einen DreiTage-Bart und trug eine Sonnenbrille. Auch Alfred stutzte. Er hatte den Eindruck, diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wann und wo das gewesen sein sollte. Der alte Mann blickte zu Frau Lehmann hoch, nahm die Sonnenbrille ab, sah sie an und… ein freundliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Guten Tag,«, sagte Frau Lehmann mit einer freundlichen Stimme, wie sie Alfred von ihr noch nie gehört hatte. »Ich habe eben zufällig gehört, was Sie gesagt haben und es hat mich seltsam berührt.« »Really?«, antwortete er freudig überrascht und lächelte sie an. »Ich meine, finden Sie das wirklich?« »Ja.«, sagte sie und versuchte, ebenfalls ein Lächeln hinzubekommen, was gar nicht so einfach war, da sie in den letzten Jahren etwas aus der Übung gekommen war. Währenddessen hatte Rudolf ganz in der Nähe ein Fernsehfachgeschäft erblickt, lief aufgeregt dorthin, preßte sein Gesicht gegen das Schaufenster und musste enttäuscht feststellen, dass die Fernseher im ebenfalls Fenster und im -5 5 -
Laden ebenfalls nur rauschenden Schnee zeigten. »Was ist?«, fragte Gottfried, der Rudolf zusammen mit Alfred gefolgt war, und sah auf die Fernseher im Schaufenster. »Die funktionieren ja auch nicht.«, stellte Alfred enttäuscht fest. »Wir sollten uns lieber auf die Suche nach einer Kneipe machen, wo es leckeres Bier gibt.« »Nein.«, meinte Rudolf, »Hier drin ist doch auch eine Reparaturwerkstatt.« Er deutete auf das Schild über dem Schaufenster. »Fernsehfachgeschäft und -reparaturwerkstatt E. Guhl«, entzifferte Gottfried die Buchstaben stolz. »Vielleicht kann uns der Inhaber helfen oder wenigstens sagen, warum hier in der Umgebung kein Fernseher funktioniert.«, meinte Rudolf hoffnungsvoll. »Keine schlechte Idee.«, gab Alfred nachdenklich zu. »Aber um diese Zeit wird doch niemand mehr in dem Laden sein.«, gab eine Frau hinter ihnen zu bedenken. Sie war gerade zufällig mit ihren beiden Kindern vorbeigekommen, hatte das Gespräch zwischen den dreien mitgehört und war stehen geblieben, als sich andeutete, dass sich hier eventuell etwas Interessantes ereignen könnte. »Das werden wir ja sehen.«, meinte Rudolf entschlossen. »Da hinten im Laden brennt noch Licht.«, fügte er hinzu und tippte mit einem Finger an das Fenster. »Stimmt.«, sagte Gottfried, während er seine Nase am Schaufenster platt drückte. Mittlerweile waren Frau Lehmann und der Mann im Rollstuhl ungefähr 50 Meter davon entfe rnt in ein Gespräch vertieft, das sie offenbar alles um sich herum vergessen ließ. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Richard nenne?«, -5 6 -
fragte Frau Lehmann. »Richard?«, fragte der Mann im Rollstuhl überrascht. »Why Richard? …well, wenn Sie möchten… and wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?« »Natürlich dürfen Sie.«, sagte Frau Lehmann und kicherte. »Ich heiße Mathilde. Mathilde Lehmann.« »Mathilde!«, wiederholte der Mann verträumt. »Was für ein wunderful Name!« »Nun übertreiben Sie mal nicht. Sie Schlingel, Sie.«, sagte Mathilde und stupste ihn mit einem Zeigefinger. »Hihihi!« Sie musterte ihn. »Wissen Sie, dass Sie mir irgendwie bekannt vorkommen? Kann es sein, dass ich Sie von irgendwoher kenne?« Richard hüstelte. »No! Ich meine, das kann ich mir not vorstellen.«, erklärte er schnell und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Alfred, Rudolf und Gottfried waren inzwischen von einer kleinen, neugierigen Menschentraube umringt. Rudolf fasste an die Tür und wollte sie öffnen, musste aber feststellen, dass sie abgeschlossen war. Er rüttelte ein wenig daran, was aber auch nichts daran änderte. »Mist.«, kommentierte er. »Schade.«, meinte Alfred und wollte schon weitergehen, wurde aber von Rudolf zurückgehalten. »Psst.«, sagte er, klopfte vorsichtig an die verglaste Tür und presste ein Ohr daran. »Da drin tut sich was.«, fügte er hinzu, als Alfred ihn verständnislos ansah. »Stimmt.«, bestätigte Gottfried, als auch er ein Ohr gegen das Schaufenster drückte. Jetzt kam ein Mann, wahrscheinlich der Inhaber des -5 7 -
Fernsehgeschäfts, aus einem hinteren Zimmer in den Laden, sah die vielen Menschen vor dem Schaufenster stehen, bekam einen Schreck und verschwand schnell wieder. »Weiß zufällig jemand, wie es steht ?«, fragte Alfred die sie umringenden Leute. »Ich habe gehört, dass es 2:1 für Deutschland steht.«, sagte jemand hinter der Menschentraube. »Nein, das stimmt nicht.«, meinte ein anderer etwas weiter vorne. »Ich glaube, dass Brasilien mit 2:1 führt.« »Nein«, sagte eine Frau, die in der Mitte der Menschentraube mit einem alten Kofferradio in der Hand stand. »Laut Reportage im Radio steht es nach wie vor 1:0 für Brasilien Und Deutschland spielt nicht gerade gut wie es scheint Eben hat Brasilien schon wieder den Pfosten getroffen und vorhin hätten sie fast einen Elfmeter bekommen und überhaupt ist die Abwehr ziemlich unsicher…«, erklärte sie ohne Punkt und Komma. Erstaunlicherweise beherrschte sie die Großund Kleinschreibung dagegen ziemlich gut. Ein leichtes Raunen ging daraufhin durch die Menschen, einige Leute wischten sich nervös den Schweiß von der Stirn. »Dann halten Sie uns bitte auf dem Laufenden.«, unterbrach Alfred die Frau und wandte sich dann an Rudolf, der inzwischen etwas lauter an die Tür geklopft hatte und jetzt auf eine Reaktion wartete. Als sich drinnen nichts rührte, rüttelte Gottfried ein wenig an der Tür, aber der Fernsehmensch blieb verschwunden. »Lasst mich mal ran da.«, meinte Alfred kopfschüttelnd und schubste seine Nachbarn zur Seite. »Sonst wird das doch nichts.« Jetzt klopfte Alfred ziemlich energisch an die Tür und rüttelte danach sehr heftig daran. Jetzt erschien der Inhaber des Fernsehgeschäfts wieder in seinem Laden, machte ein empörtes -5 8 -
Gesicht und näherte sich langsam der Tür. Sichtlich gereizt öffnete er sie einen Spalt und steckte den Kopf heraus. »Was soll das?«, beschwerte er sich. »Sie machen mir ja die Tür kaputt!« Der Fernsehmensch war mittelgroß, etwas älter als Alfred, hatte aber mehr Haare auf dem Kopf. Dafür waren seine Augen stark gerötet und sahen aus, als hätten sie schon einiges ertragen müssen. »Wir wollen endlich Fußball gucken.«, rief Alfred und verschränkte nachdrücklich die Arme vor der Brust. Zustimmende Rufe kamen aus der Menschentraube hinter ihm. Das war etwas, was Alfred noch nie erlebt hatte; zum ersten Mal erhielt er Zustimmung von einer breiteren Masse für etwas, dass er getan oder gesagt hatte. Davon ermutigt, fügte er energisch hinzu: »Sie haben in ihrem Laden doch bestimmt einen Fernseher, der funktioniert.« Der Mann im Laden stöhnte. »Nein, bei mir funktioniert auch kein Fernseher, das sehen Sie doch.«, sagte er genervt und deutete auf die in seinem Laden herumstehenden Fernseher, die in der Tat nur das bekannte Schneetreiben zeigten. »Dann reparieren Sie einen.«, forderte Alfred. »Nur einen, das würde uns schon reichen.«, fügte er bittend hinzu. Jetzt ertönte sogar Beifall aus der Menge hinter ihm. Alfred gefiel das, sehr sogar. Immer mehr Menschen umringten Alfred, Gottfried und Rudolf, angelockt durch den Lärm, den die Menge machte. Auf dem Bürgersteig herrschte schon ein ziemliches Gedränge, so dass die Leute allmählich begannen, sich auf die vielbefahrene Straße zu stellen. Der Fernsehmensch trat aus dem Laden, holte tief Luft, wurde aber durch die Frau mit dem Radio abgewürgt. -5 9 -
»Es ist gerade das 2:0 für Brasilien gefallen«, rief sie entsetzt. »Tut mir leid« Der Beifall, der dem stolzen Alfred galt, verstummte sofort und eine unheimliche Stille breitete sich aus. Dann kam es zu vereinzelten, enttäuschten Unmutsäußerungen. »Na ja, », sagte Rudolf hoffnungsvoll, nachdem er auf seine Uhr gesehen hatte. »Es sind ja noch über 30 Minuten zu spielen. Das schaffen wir noch.« »Ach, scheiße!« »Oh da habe ich jetzt was missverstanden«, rief jetzt die Frau mit dem Radio peinlich berührt dazwischen. »Es ist gar kein Tor gefallen hehe… Es hörte sich nur so an weil der Reporter nicht gesehen hatte dass der Stürmer im Abseits stand Ist das nicht komisch?« Alfred, seine Nachbarn und die Menge sahen sie an, als hätte sie gerade ein Kind gefrühstückt. »So etwas ist mir schon einmal passiert«, fuhr sie ohne Unterbrechung fort, »ich glaube das war bei der WM damals in Japan als ich während des Halbfinales…« Böse Blicke durchbohrten sie, als sie von einem ähnlichen, aber völlig uninteressanten Vorfall bei der Weltmeisterschaft im Jahre 2002 berichtete. »Ich möchte ja not aufdringlich erscheinen,«, sagte Richard währenddessen sanft zu Mathilde, »but Sie würden mir eine big Freude machen, wenn Sie mir verraten, wo Sie wohnen.« »Aber sicher.«, antwortete Mathilde zärtlich. Zärtlich jedenfalls dann, wenn man berücksichtigt, dass Frau Lehmann für das Verständnis des Wortes »Freundlichkeit« normalerweise ein Fremdwörterbuch benötigte. »Ich wohne in der Badstraße 9 im 2. Stock und die drei Personen, die da vor dem Fernsehgeschäft gerade so unverschämt laut die Leute belästigen -6 0 -
und diesen Menschenauflauf verursachen, sind meine Nachbarn.« »I see.«, sagte Richard mitfühlend, während er bzw. sein etwas quietschender Rollstuhl von einigen Dränglern, die neugierig auf dem Weg zu der Menschenmenge vor dem Fernsehgeschäft waren, etwas zur Seite geschoben wurde. »Können Sie not aufpassen?«, rief er ihnen hinterher. »Diese Jugend von heute!«, empörte sich Mathilde kopfschüttelnd. »Ja, ja, tut uns leid.«, entschuldigten sich die Gruppe kleinlaut und beschleunigten ihre Schritte, während Mathilde drohend mit ihrem Stock in der Luft rumfuchtelte. »Wo wohnen Sie denn?«, fragte sie, nachdem sie ihren Stock wieder zu Boden hatte sinken lassen. »I live im Alters- und Pflegeheim `Waldesruh' in der Waldstraße 3.«, erklärte Richard. Es klang nicht gerade fröhlich. »And ich kann Ihnen sagen, dass es dort not gerade toll ist!« »Sind Sie der Inhaber von dem Geschäft?«, wollte Rudolf von dem Fernsehmenschen wissen. »Ja, mein Name ist Eberhard Guhl.«, antwortete er stolz und deutete auf das Schild. »Und das Geschäft gehört mir. Ganz alleine. Ich bin Eberhard Guhl.« »Sehr schön.«, unterbrach ihn Alfred ungeduldig. »Aber wie war das jetzt mit dem Reparieren?« »Ach so, ja.«, antwortete Eberhard. »Ich wollte gerade klarstellen, dass ich die Fernseher nicht reparieren kann. Ich hatte heute Abend schon ungefähr 200 Anrufe von Leuten, die dasselbe wissen wollten, bevor ich das Telefonkabel aus dem Stecker gerissen hab.«, fügte er hinzu und zögerte. »Außerdem gibt es ja wohl sehr viel wichtigeres im Leben als diese blöde Fußballspiel.«, fügte er mutig hinzu, obwohl ihm bewusst war, -6 1 -
dass er sich mit dieser Aussage heute Abend hier wahrscheinlich keine Freunde machte. »Sind Sie verrückt?«, fragte Rudolf entgeistert. »Was wichtigeres als FUß BALL?? So etwas gibt das ja wohl nicht. Sie spinnen wohl, Mann!?« »Was ist denn mit den Fernsehern los?«, fragte Alfred daraufhin schnell, um zu verhindern, dass der arme Eberhard von den Leuten, allen voran Rudolf, gelyncht wurde, und stellte sich vor den Fernsehmenschen. »Warum können Sie die Apparate nicht reparieren?« Eberhard zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«, erklärte er, was auch nicht gerade dazu geeignet war, sich bei den Leuten beliebt zu machen. »Wir wollen endlich Klarheit!«, rief Alfred daraufhin und wedelte mit einer Faust in der Luft, um das Gesagte zu unterstreichen. »Genau!«, rief die Menge wie aus einem Munde, »Klarheit !«, kurz darauf ertönten Sprechchöre: »Wir wollen unsere Fernseher!« und »Fußball!« Allgemein stieg der Lärmpegel stark an und Alfred musste die Menge mit beschwichtigenden Gesten beruhigen, als Eberhard Guhl etwas sagen wollte. Sofort wurde es still. Alfred konnte es kaum fassen, dass alle auf ihn hörten. »And erst das Essen!«, sagte Richard und sah Mathilde tief in die Augen. »Wirklich grauenvoll! Every Woche wiederholen sich die Mahlzeiten. Wahrscheinlich glauben die Leiter, dass die meisten Insassen in einer Woche vergessen haben how schrecklich der Gemüseeintopf schmeckt.«, fügte er sarkastisch hinzu, während sie ihn mitfühlend anblickte. »Ich weiß nicht, was mit euren Fernsehern los ist.«, rief -6 2 -
Eberhard in die Menge. »Und es ist mir, ehrlich gesagt, auch scheißegal. Ich bin den ganzen Tag von 50 Apparaten umgeben, könnt ihr euch vorstellen, was das bedeutet? Das ist die reinste Folter, kann ich euch sagen. Wisst ihr eigentlich, wie grauenvoll die meisten Sendungen sind? Wahrscheinlich schon, weil ihr selber den ganzen Tag freiwillig vor der Glotze hängt. Aber ich, ich kann den Mist nicht einfach abstellen! Ich muss es ertragen! Den ganzen Tag. Jeden Tag!« Er schlug die Hände verzweifelt vor das Gesicht. Alfred konnte es nicht glauben. Dieser Mann hatte doch einen Traumberuf! 50 Programme, gleichzeitig! Die ganze Zeit! Er klopfte Eberhard beruhigend auf die Schulter. »Ist ja gut.«, sagte er tröstend. Der Fernsehmensch schüttelte den Kopf, sammelte sich wieder und holte tief Luft. »Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass mit dem Schneetreiben das Programm wieder sehr viel anspruchsvoller geworden ist.«, fügte er mit brüchiger Stimme hinzu. Buhrufe und Pfiffe ertönten daraufhin, vereinzelt flogen sogar Gegenstände in Richtung Eberhard. »Warum are heute eigentlich so viele Menschen on der Straße?«, nuschelte Richard, als sein Rollstuhl wieder einmal von einigen »jugendlichen Rowdies«, wie Mathilde sie bezeichnete, angerempelt wurde. »Moment, das weiß ich!«, antwortete Frau Lehmann und zögerte. Gelegentlich kam es vor, dass sie ihr Gedächtnis ein wenig im Stich ließ. »Äh, irgendetwas mit Fußball oder so!« »Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte Rudolf und deutete deprimiert auf seine Uhr. »Es sind schon fast 65 Minuten gespielt!« -6 3 -
Alfred wandte sich hilfesuchend an Eberhard. »Woran könnte es denn liegen, dass unsere armen Fernseher nicht mehr funktionieren?«, fragte er ihn. Seine Stimme klang verzweifelt und bevor Eberhard antworten konnte, wurde Alfred plötzlich von seinen Gefühlen übermannt und konnte die Verzweiflung in seiner Stimme nicht mehr verbergen. »Unsere armen Fernseher!«, schluchzte er, stützte einen Arm auf Eberhards Brust und legte das Gesicht darauf. »Schrecklich!«, rief er flehentlich und die Masse litt mit ihm. »Danke!«, fügte er hinzu, als ihm kurz darauf jemand aus der Menge ein Taschentuch reichte. Er wischte sich die Nässe aus seinen Augen putzte sich die Nase. Seine Miene hellte sich sichtlich auf, als ihm ein anderer eine Dose Bier reichte. »Vielen, vielen Dank !«, sagte er, öffnete sie dankbar und nahm einen großen Schluck. Er war so aufgeregt, dass es ihn gar nicht interessierte, als ihm das Taschentuch aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Wie wir aber sehen werden, wird er das später noch bereuen. »Ich weiß wirklich nicht, warum die Fernseher nicht mehr funktionieren.«, beteuerte Eberhard Guhl mitleidsvoll. »An den Geräten selber liegt es jedenfalls nicht. Alle Geräte, die ich nachgesehen habe, waren völlig in Ordnung.« Wehmütig dachte Alfred an den Haufen Schrott, der bei ihm im Wohnzimmer lag und der einmal sein Fernseher gewesen war. »Habt ihr das gehört?«, rief Gottfried aufmunternd in die Menge. »Unsere Fernseher sind noch in Ordnung! Ist das nicht eine freudige Nachricht?« Neidisch hatte er bemerkt, dass Alfred bei der Menge eine Art -6 4 -
Führungsrolle eingenommen hatte. Aber was Alfred konnte, dachte er bei sich, konnte er schon lange. Deshalb wollte er der Menge jetzt zeigen, wer der wahre Führer war. »!?« Wider Erwarten jubelte ihm die Menge jedoch nicht zu; stattdessen sahen ihn die Menschen groß an. »Was will denn der komische Typ da vorne?«, fragten sie sich. »Der soll da abhauen und uns nicht die Sicht versperren!« Scheiße, dachte Gottfried, das kann doch wohl nicht angehen! Alfred hatte die Menge in der Hand und er, Gottfried Meier, wurde einfach ignoriert! Er trat einige Schritte zur Seite und dachte darüber nach. Er würde sich schon noch etwas einfallen lassen. So leicht war ein Gottfried Meier nicht unterzukriegen! In der Zwischenzeit waren Richard und Mathilde etwas weiter die Straße entlang gegangen bzw. gerollt. »Sag mal, Richard,«, sagte Mathilde nach einer Weile, »mit wem bist du heute Abend eigentlich hierher gekommen?« Der alte Mann sah in den Himmel und dachte angestrengt nach, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern. »Ich weiß es not mehr.«, gab er zu und zögerte. »Wait, ich kann mich noch daran erinnern, dass er lange Haare hatte. Yes, ich glaube, es war irgend so ein - how do you say? Zivildienstleistender. It könnte allerdings auch eine häßliche Pflegerin gewesen sein. Jedenfalls jemand with langen Haaren! Why fragst du überhaupt? Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte er neugierig. »Eifersüchtig? Ich??«, fragte Mathilde ungläubig. »Nein! Ich habe überhaupt keinen Grund, auf jemanden eifersüchtig zu sein. Ich wollte nur wissen, wer dich nachher ins Altenheim zurückbringt.« »That kannst du doch machen!«, schlug Richard vor. -6 5 -
»Nie im Leben!«, rief Mathilde empört. »Ich hasse Altenheime! Die ganzen uralten, griesgrämigen Leute, die ständig darüber jammern, dass früher alles besser war! Das ist wirklich ein Unding und hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben. Ich jedenfalls wüsste, wie ich mich zu benehmen hätte, wenn…« »Well, eigentlich würde ich auch viel lieber bei dir bleiben.«, unterbrach Richard sie nachdenklich. »Oh, wirklich?«, fragte sie und es klang fast ein bisschen glücklich. »Das freut mich aber!« Schweigend setzten sie ihren Weg danach eine Weile fort, bis sie an einem Sanitätshaus stehenblieben und Mathilde sich im Schaufenster interessiert die ausliegenden Artikel besah. Unglücklicherweise befanden sie sich auf einem leicht abschüssigen Bürgersteig und so begann Richards Rollstuhl langsam und quietschend die Straße herunterzurollen. Allerdings war er gerade eingenickt, so dass er es zunächst ebenfalls nicht bemerkte. Erst als Mathilde ihm ihrer Meinung nach ganz besonders schöne Stützstrümpfe zeigen wollte und er nicht mehr neben ihr stand, stellte sie erschrocken fest, dass er gerade den Bürgersteig herunter rollte. »Richard!«, rief sie ihm nach und lief, den Stock in der Luft herumwirbelnd, so schnell sie konnte hinterher. Dadurch wachte Richard auf und stellte erschrocken fest, dass er auf eine vielbefahrene Kreuzung zufuhr, versuchte zu bremsen, schaffte es aber nicht, da die Geschwindigkeit viel zu hoch war. Glücklicherweise waren nicht mehr so viele Menschen auf dem Bürgersteig unterwegs, da sich die meisten mittlerweile bei dem Fernsehgeschäft vor Alfred, Gottfried, Rudolf und Eberhard versammelt hatten. Und die wenigen Leute, die gerade auf dem Weg zum Fernsehgeschäft waren, um zu sehen, was dort los war, konnten dem Rollstuhl noch rechtzeitig ausweichen. »Hilfe!«, rief Richard, als er fast frontal gegen eine -6 6 -
Straßenlaterne gefahren wäre, aber mit einem schnellen Ruck nach rechts gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte. Dafür steuerte er nun auf die Schaufenster der Geschäfte am rechten Rand des Bürgersteigs zu. Einige Leute auf dem Bürgersteig erkannten die bedrohliche Situation und versuchten, den Rollstuhl zum Stehen zu bringen. Jemand probierte, einen Griff des Rollstuhl mit einer Hand zu ergreifen, wodurch er aber fast umgekippt wäre, hätte der vermeintliche Retter nicht rechtzeitig losgelassen. In diesem Moment schnellte plötzlich ein Kaninchen von rechts aus einer Seitengasse und wäre fast mit dem heranrasenden Rollstuhl zusammengestoßen, was für das Tier vermutlich tödlich ausgegangen wäre. Glücklicherweise konnte Richard mit einem weiteren Ruck die Fahrtrichtung nochmals ändern, so dass der Rollstuhl das Kaninchen nur leicht striff. Dadurch wurde der Rollstuhl leicht gebremst, kam aber nicht zum Stehen. Stattdessen nahm er nun Kurs auf den an einer Hauswand befestigten Kaugummiautomaten und schlug mit voller Wucht dagegen. Im Gegensatz zum Automaten blieben Richard und das Kaninchen zum Glück aber unverletzt und so konnte der alte Mann kurz darauf eine völlig außer Atem heranhumpelnde Mathilde glücklich in die Arme nehmen. »Puh!«, sagte sie und setzte sich erschöpft auf seinen Schoß. »Ein Glück, dass dir nichts passiert ist.« »Möchtest you einen Kaugummi?« Rudolf Boll sah auf seine Uhr. »He, Leute, wir sollten uns wirklich beeilen, wenn wir noch etwas von dem Spiel mitbekommen wollen!«, rief er. »Es sind schon über 70 Minuten gespielt!« »69 Minuten!«, verbesserte die Frau mit dem Radio, die immer noch irgendwo mitten in der Menge stand. »Hat der Reporter jedenfalls eben gesagt und normalerweise stimmen -6 7 -
solche Aussagen Allerdings nicht immer Ich erinnere mich da an eine Begebenheit vor einigen Jahren als!« »Wie bitte?« »ICH SAGTE GERADE Dass!« »Warum kommen Sie nicht zu uns nach vorne?«, schlug Alfred der Frau vor. »Ja na gut«, sagte die Frau und drängelte sich durch die Menge zu Alfred, Rudolf, Gottfried und Eberhard, die zwischen dem Schaufenster des Fernsehgeschäfts und - in einem gewissen Abstand - der sie umringenden, immer weiter wachsenden Menge standen. Anscheinend wussten die Leute nicht so recht, wo sie sonst hin sollten, um sich über das Schicksal ihrer Fernseher und das des deutschen Fußballs zu informieren. »Entschuldigung darf ich mal Hach ist das eng hier Das erinnert mich an den Oktober 1989 in Berlin hatte Damals!« »Ob das eine gute Idee war?«, fragte Rudolf skeptisch, als er die pausenlos vor sich hin redende Frau kommen sah. Sie war schätzungsweise Mitte 40, ziemlich dick und hatte einen großen, mit allerlei bunten Plastikblumen geschmückten Hut auf dem Kopf. »Guten Abend Mein Name ist Irene von Traub«, stellte sich die Frau vor, hielt gleich darauf einen Finger vor den Mund und lauschte dem Radio. »Oh oh gerade hat ein Brasilianer die Latte getroffen! Noch eine große Chance Ich glaube dass die Deutschen allmählich!« »Können Sie das Radio nicht ein bisschen lauter stellen?«, unterbrach Rudolf sie nervös. »Dann können wir mithören.« »Nein leider nicht«, erklärte Frau von Traub und drehte zur Demonstration ein wenig an dem Lautstärkeregler ihres Kofferradios. »Das Radio ist schon ziemlich alt wissen Sie und der Lautstärkeregler funktioniert nicht mehr so richtig Außerdem sind die Batterien schon etwas schwach Das Radio -6 8 -
hat schon meinen Vorfahren gedient in den harten Jahren nach!« »Oh, mann,«, meinte Rudolf enttäuscht, »heute klappt aber auch gar nichts.« »Wissen Sie«, redete Irene ununterbrochen weiter, »ich hab mich heute Abend mit meinen Freundinnen zum Fußballgucken verabredet Mit meinen Freundinnen spiele ich immer Bridge Kennen Sie Bridge? Na ist ja auch egal jedenfalls wollten wir heute Fußball gucken Deutschland im Endspiel muss man natürlich sehen und dann plötzlich ging der Fernseher nicht mehr Stellen Sie sich so was vor!« »Ach, was Sie nicht sag!« »Ja und dann haben wir eben das Radio - nicht dieses sondern ein anderes neues - ein bisschen angemacht aber wir hatten es wohl zuerst etwas laut Jedenfalls kam ein Nachbar und hat sich beschwert also ich könnte Ihnen Sachen über diesen Kerl erzählen sie würden es mir nicht glauben Na und dann wurde das Radio von alleine immer leiser wahrscheinlich weil die Batterien durch die Lautstärke am Anfang nachher ziemlich leer waren Deshalb musste ich jetzt auch mein altes Radio mitnehmen Aber das sollte doch eigentlich nicht sein Der Verkäufer im Supermarkt hat mir versichert dass die Batterien genau wie das Fleisch eine absolute Spitzenqualität haben und alles außerordentlich frisch ist Aber nun bin ich mir da nicht mehr sicher Überhaupt!« Mit vor der Brust verschränkten Armen, einen Fuß ungeduldig immer wieder auf den Boden tippend, sah Alfred die Frau an. »Können wir jetzt weitermachen??«, wollte er mit genervter Stimme wissen. Irene sah ihn an. »Ach ja richtig Das Spiel«, erinnerte sie sich und wandte sich ihrem Radio zu. »Es steht glaube ich immer noch 1:0«, sagte sie kurz darauf, »und es sind nicht mehr ganz 20 Minuten zu spielen -6 9 -
Allerdings weiß ich nicht ob der Reporter da schon die Nachspielzeit mitgerechnet hat Normalerweise macht er das nicht so dass man davon ausgehen kann dass noch ungefähr 25 Minuten zu spielen sind Wenn nicht sogar noch mehr Ich habe mal ein Spiel gesehen ich glaube es war im Jahr 1967 da hat der Schiedsrichter doch tatsächlich!« »Ja, danke.«, rief Alfred ihr zu. »Ich glaube, das reicht erst einmal.« Er wandte sich der Menge zu und hob die Arme, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Liebe Leute!«, rief er und formte die Hände vor seinem Mund zu einem Trichter. »Ich möchte euch zunächst einmal mitteilen, dass es immer noch 1:0 steht und noch ungefähr 20 Minuten zu spielen sind.« »Ihr habt sicherlich alle gehört, dass unsere Fernseher im Moment nicht funktionieren, aber offensichtlich nicht kaputt sind.«, fuhr er fort. »Irgendjemand will nicht, dass wir weiter FERNSEHEN und dagegen sollten wir uns WEHREN!« Die letzten Worte sprach er immer lauter und in einem deutlich schärferem Ton. Schade nur, dass ihn trotz dessen nur die Leute in den ersten Reihen verstehen konnten. Trotzdem brach dort ein Sturm des Jubels los, der sich von dort auch nach hinten zu den Leuten ausbreitete, die gar nicht verstanden hatten, worum es eigentlich ging, sich aber irgendwie verpflichtet fühlten, an dieser Stelle mitzujubeln. »Wir sollten uns erheben und den Leuten da oben zeigen, dass sie mit uns nicht alles machen können.«, rief Alfred begeistert. Wieder Jubel und Beifall. Das machte ja richtig Spaß, dachte Alfred und holte tief Luft, um den nächsten Satz, den er sich gerade sorgfältig zurecht gelegt hatte, sehr laut und energisch zu betonen. »Bei unseren FERNSEHERN H…RT DER SPAß AUF!!«, rief er. -7 0 -
Die Leute waren begeistert. Stolz reckte Alfred seine Arme in die Höhe und winkte der Menge zu, als sich plötzlich Eberhard, der sich offenbar etwas vernachlässigt fühlte, einen Finger in die Luft streckte und sich zu Wort meldete: »Ich wollte Ihnen noch kurz erklären, woran es liegen könnte, dass die Fernseher nicht mehr funktionieren.« Alfred sah ihn an. »Wie?«, fragte er. »Was ist?« »Falls Sie nichts dagegen haben.«, fügte der Fernsehmensch hinzu. »Wie? Nein, nein, machen Sie ruhig.«, erwiderte Alfred und winkte noch ein bisschen. Eberhard räusperte sic h lautstark. »Es könnte sein, dass einige Satelliten ausgefallen ist, was ich mir aber eigentlich nicht vorstellen kann.«, erklärte er. »Möglicherweise hat aber auch irgendjemand irgendwo in einer Medienanstalt versehentlich auf einen falschen Knopf gedrückt. Was aber eigentlich nicht passieren dürfte.« »Hm - Satelliten? Medienanstalten?«, brummte Alfred, kratzte sich am Kinn und dachte nach. Was war jetzt zu tun, überlegte er. Er spürte, dass er die Menge im Griff hatte. Ein Gefühl, dass ihm bisher völlig fremd war, galt er doch eigentlich als ziemlicher Versager. Aber jetzt hatte er Macht! MACHT!! Plötzlich wusste er, dass er etwas Großes erreichen konnte. Etwas, dass nicht nur sein Leben verändern würde. Er musste sich aber auch seiner Verantwortung bewusst sein. Macht hieß Verantwortung, das wusste er, und durfte keinesfalls missbraucht werden. Die Geschichte lehrte, dass! In diesem Moment wurde Alfred in seinen Überlegungen jäh durch einen kleinen Jungen unterbrochen, der sich - ein -7 1 -
Megaphon unter dem Arm tragend - durch die Menge drängelte. »Nanu? Was willst du denn hier?«, fragte Alfred ihn, als er von ihm angestupst wurde. »Meine Eltern stehen ganz hinten und wollen auch was hören.«, erklärte der Junge. »Deshalb soll ich dir das Megaphon geben.« »Ja, danke.«, drängelte sich Gottfried vor und wollte das Gerät an sich nehmen. »He!«, protestierte Alfred und ging aus der sich anschließenden Rangelei mit seinem Nachbarn als Sieger hervor, weil ihn ein paar vorne stehende Leute dabei tatkräftig unterstützten und seinen Konkurrenten festhielten. » Papi will es aber nachher wiederhaben.«, sagte der Junge. »Und nicht kaputtmachen!« Alfred besah sich das Ding und wusste nicht, wie man es bediente. »Warte mal!«, rief er dem Jungen hinterher, der gerade wieder in der Menge verschwinden wollte. »Äh, kannst du mir erklären, wie dieses Ding funktioniert?«, fragte Alfred. Der Junge sah ihn groß an. »Das weißt du nicht?«, fragte er erstaunt. »Ich denke, du bist ein intelligenter, toller Mann, der weiß, wo es langgeht!?« »Häh? Wie kommst du denn darauf?«, fragte Alfred verblüfft. »Hmpf. Das möchte ich auch gerne wissen!«, meinte Gottfried beleidigt und drehte ihnen und der Menge den Rücken zu. »Das hat mein Papi vorhin erzählt. Er sagte, wo soo viele Menschen sind, da muss einfach ein intelligenter, toller Mann dahinterstehen, der weiß, wo es langgeht.«, erzählte der Junge. »Na ja, äh, weißt du!«, begann Alfred unsicher. -7 2 -
Oh, oh, dachte er. Ein falsches Wort jetzt, und die Leute merken, dass ich ein Versager bin. Ich muss auf der Hut sein! Er sah zunächst Eberhard, Rudolf und Gottfried, dann die in der Menge vorne Stehenden verlegen an. »Ich! äh!« »Ja?« »! bin!«, fuhr er zögernd fort. »Was?«, fragte der Junge und hielt mit der Menge den Atem an. Alfred hatte gerade beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. »Ja, ich bin Alfred und ich bin intelligent und toll und ich weiß, wo es langgeht.«, sagte er laut und entschlossen. Er staunte nicht schlecht, als die Menge ihn daraufhin feierte. Aha!, dachte er und sah zufrieden in die Menge, genau das also wollten die Leute hören. Unglaublich! Es war eigentlich ganz leicht. »Jawohl!«, betonte er, als er aus den Augenwinkeln sah, dass Rudolf und Gottfried sich über ihn lustig machten. »Aber trotzdem weiß ich nicht, wie man so ein Ding bedient.« Er hielt das Megaphon in die Höhe. »Ist das vielleicht eine Schande??«, rief er. »Ja!«, rief Gottfried. »Nein!!«, tönte die Masse einhellig. Also erklärte der Junge ihm daraufhin geduldig die Bedienung des Geräts, was ziemlich lange dauerte, da sich herausstellte, dass Alfred in dieser Beziehung ziemlich schwer von Begriff war. »Wofür ist dieser Knopf noch mal?«, fragte er nach einigen Minuten und betätigte einen großen roten Schalter. »Das«, seufzte der Junge, »ist der Knopf zum Einschalten.« -7 3 -
»Ach ja!«, erwiderte Alfred und tat so, als würde er sich erinnern. »Danke!«, fügte er hinzu und wollte dem Jungen damit klarmachen, dass er keine Lust auf weitere Erklärungen hatte. »Und das hier?«, fragte der Junge forschend, zeigte auf einen Drehknopf und sah Alfred prüfend an. »Ah, ja, das war… Moment, ich hab's gleich. Das war doch der Lautstärkeregler, oder?«, riet Alfred unsicher. Der Junge sah ihn überrascht an. »Stimmt!«, sagte er erstaunt. Erleichtert atmete Alfred tief ein. Seine Brust schwoll vor Stolz an, als er triumphierend in die Menge schaute. Als er danach allerdings wieder ausatmete, machte sich das meiste Körperfett schnell wieder auf den Weg zurück nach Hause in den Bauch. »Und das?«, wollte der Junge wissen und drückte auf einen Schalter, den Alfred ganz bestimmt noch nie vorher gesehen hatte. »Ich glaube, du musst los!«, meinte er nervös. »Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.« »Nö, wieso, ich!« »Na los, geh schon.«, sagte Alfred streng und schob ihn ein wenig zur Seite. Alfred beugte sich zu Rudolf. »So ein blöder Klugscheißer!«, sagte er zu ihm. Da der Sprechknopf des Megaphons aber eingeschaltet war und Alfred leider in dessen Sprechvorrichtung sprach, konnten die Leute in der Menge alles mithören. Empörung machte sich in der Menge breit. »Was fällt dem denn ein?«, fragte jemand ärgerlich. »Den kleinen, niedlichen Jungen zu beschimpfen?!«, fügte -7 4 -
eine Frau hinzu. »Hops.«, meinte Alfred etwas verlegen, nahm das Megaphon und sprach hinein : »Liebe Leute, ich muss mich für meinen Nachbarn Herrn Gottfried Meier entschuldigen, er ist manchmal etwas unbeherrscht. Natürlich hat er es nicht so gemeint. Der niedliche kleine Junge ist natürlich kein blöder Klugscheißer.« Gottfried, der bis eben noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte, sah hoch. »Wie? Was?«, stammelte er, leider ohne Megaphon, so dass ihn niemand außer Rudolf, Eberhard und Irene zur Kenntnis nahm. »Ich? Also, das ist doch… das ist ja wohl eine Unverschämtheit!« Nochmals versuchte Gottfried, seinem Nachbarn wütend das Megaphon zu entreißen. Wieder entwickelte sich ein kleiner Kampf zwischen den beiden, bei dem Alfred erneut die Oberhand behielt. Danach bedankte er sich per Megaphon für die Unterstützung, die er aus den Reihen der Menge erhielt. »Ts ts ts Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle«, meinte Irene und sah Gottfried und Alfred kopfschüttelnd an. »Also so etwas habe ich ja noch nie erlebt Bis auf einmal Das war 1969 Damals als die ganzen Aufrührer in den Straßen ihr Unwesen trieben ja damals war es als ich von so einem langhaarigen Bombenleger von denen es damals ja nur so wimmelte also wenn Sie mich fragen diese Frisuren das sah auch nicht gut aus na ja einigen stand es vielleicht aber im allgemeinen! Jedenfalls wurde ich damals!« Alfred hustete lautstark, um Irenes Aufmerksamkeit kurz auf sich zu lenken, erkundigte sich danach nach dem aktuellen Zwischenergebnis und bat nachdrücklich um eine KURZE Antwort. »Keine Veränderung«, erwiderte Irene knapp. »Oh. Danke!«, sagte Alfred etwas überrascht und wandte sich wieder der Menge zu, um eine mitreißende Ansprache zu halten, -7 5 -
durch die er sein Ansehen noch zu steigern hoffte. »Sind Sie eigentlich verheiratet?«, wollte Rudolf währenddessen - leise, damit Alfred nicht gestört wurde, - von Irene wissen und bemühte sich dabei, betont unschuldig zu wirken. Er hatte Irene schon eine ganze Weile angesehen und je länger er dies tat, desto klarer wurde ihm, dass sie ihm gefiel. Sehr sogar. Eigentlich war sie nämlich sehr hübsch. Er musterte sie noch einmal. Na ja, schließlich waren es ja die inneren Werte, auf die es ankam. »Liebe Leute!«, begann Alfred durch das Megaphon zu sprechen. »Zunächst möchte ich euch das aktuelle Zwischenergebnis sagen. Es steht!« »Nein ich bin nicht verheiratet«, antwortete Irene währenddessen nicht so leise wie Rudolf und holte tief Luft. »Komischerweise hat es ein Mann mit mir nie lange ausgehalten ich weiß auch nicht warum Es gab mal jemanden den ich sehr mochte allerdings ist der auch schon nach unserem zweiten Treffen auf Nimmerwiedersehen verschwunden Und wissen Sie warum? Er sagte damals dass ich ihm auf die Nerven ging! Können Sie sich so was vorstellen? Hach er hieß Heinrich und sah unheimlich gut aus Ich lernte ihn damals im Jahre 1969 bei einem Einsatz gegen diese Terroristen von Studenten kennen Er war Polizist und liebte es die Unruhestifter zu verprügeln ich meine die hatten es auch nicht besser verdient oder? Jedenfalls!« »Könnten Sie bitte mal ruhig sein?! Ich kann mich hier überhaupt nicht konzentrieren!«, rief Alfred ziemlich laut durch das Megaphon in Richtung Irene - sie stand direkt vor ihm -, deren großer Hut ihr dadurch vom Kopf gepustet wurde. »He!«, rief sie empört und griff sich an den Kopf, aber Rudolf war schon zur Stelle und hob die Kopfbedeckung wieder auf. »Hier, meine Liebe.«, sagte er charmant, putzte den Hut etwas -7 6 -
ab und gab ihn ihr zurück. Die Menge verfolgte das Geschehen und amüsierte sich königlich über diese gelungene Showeinlage. Vorne hatten sich die Leute hingesetzt, wodurch auch die hinteren Reihen sehen konnten, was da vorne so lustig war. »Vielen Dank !«, sagte sie und schenkte Rudolf ein Lächeln, das ihn bezauberte. Alfred hob das Megaphon zum Mund. »Liebe Leute!«, begann er noch einmal, während sich Gottfried unter die Menschen mischte in der Absicht, dort etwas Stimmung gegen Alfred zu machen. »Brasilien führt immer noch 1:0 und es sind noch, na ja!«, er sah zu Irene und wollte sie nach der noch verbleibenden Zeit fragen, dachte darüber nach und ließ es lieber bleiben, als er ihre bösen Blicke in seine Richtung bemerkte. Danach konnte er sehen, dass sie wieder ausgiebig Luft holte, um Rudolf irgendetwas zu erzählen. Zum Glück diesmal aber leiser. »!ungefähr noch 18 Minuten zu spielen.«, schätzte er daraufhin. »Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, genauso wie wir die Hoffnung nicht aufgeben, unsere Fernseher bald wiederzubekommen! Da ich nicht weiß, ob ihr mich, Alfred, vorhin alle verstanden habt, möchte ich noch einmal betonen, dass wir uns unsere FERNSEHER nicht einfach so wegnehmen lassen! Wir werden für unsere FERNSEHER KÄMPFEN!!« Vor allem die letzten beiden Sätze erfüllten seine Erwartungen vollkommen und lösten wieder Begeisterung bei den Menschen aus. Auf einmal fühlte sich Alfred wieder jung und dynamisch, obwohl man sagen muss, dass die 20 kg Übergewicht diesen Eindruck doch etwas trübten. »UND ICH SAGE EUCH :«, fuhr er sehr laut fort, hob einen Finger der rechten Hand in die Luft und wedelte damit drohend hin und her, »Dass SICH NIEMAND!« »AUA!«, rief jemand plötzlich sehr laut in der Menge. -7 7 -
»PASSEN SIE DOCH AUF!«, rief ein anderer. Etwas verärgert über die erneute Unterbrechung nahm Alfred das Megaphon herunter und sah dorthin, von wo das Geräusch kam. Irgendetwas ziemlich Großes schien sich dort von hinten durch die Menschenmenge drängeln zu wollen. Jedenfalls wurde dort ziemlich viel geschubst und geschimpft. »Achtung! Wir müssen mal durch hier!«, rief eine Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam. »Passen Sie doch auf, wo Sie hinfahren mit ihrem Rollstuhl!«, rief jemand. »Dürfte ich da hinten um RUHE bitten?«, rief Alfred durch das Megaphon und legte dabei besonders viel Wert auf die Betonung des Wortes »RUHE«. »Machen Sie doch mal Platz hier!«, schimpfte Mathilde kaugummikauend und schob Richards Rollstuhl den vor ihnen stehenden Leuten in die Hacken. »Lassen Sie uns doch mal durch!«, rief Richard den vor ihnen Stehenden zu und wedelte ein wenig mit ihrem Stock herum. In diesem Moment bedauerte Mathilde etwas, dass sie Richard ihren Stock gegeben hatte, der eine wirkungsvolle Bedienung bei weitem nicht so beherrschte wie sie es tat. Trotzdem schafften sie es gemeinsam, sich bei den Leuten genügend Respekt zu verschaffen. »Aua, Mann!«, rief ein junger Mann, hielt sich einen Fuß und hinkte auf dem anderen. Er verstummte aber sofort wieder, als er Mathilde sah, und versuchte, sich drängelnd einen Weg durch die Menge zu bahnen. »He, dich kenne ich doch!«, rief Mathilde, ließ den Rollstuhl los und nahm Richard den Stock ab. »Du bist doch der kleine Glatzkopf, der uns vorhin in der Kneipe so viele Unannehmlichkeiten bereitet hat.«, fügte sie hinzu und wunderte sich gleich darauf selber, wo sie das Wort -7 8 -
»Unannehmlichkeiten« hergeholt hatte. »Ich? Nein, ich war noch nie in der `NotAufnahme'!«, erklärte der Kleine, dachte nach und fuhr sich mit einer Hand nervös über den kahlen Kopf. »Ich meine, ich war noch nie in der Kneipe, die Sie wahrscheinlich m! AUA!« Mathilde holte noch einmal aus, ließ den Stock dann aber sinken, als ihr etwas einfiel. »Moment mal. Ich dachte, die Polizei hätte euch Rüpel verhaftet und eingesperrt!«, rief sie ungehalten. Der Kleine sah ängstlich auf den Stock. »Sie wissen doch, dass die Polizei fast nichts mehr darf, seitdem die Grünen an der Macht sind. Die sind doch nur noch ein Witz, haha.«, erklärte er und lachte nervös. »Die trauen sich doch gar nicht mehr, jemanden zu verhaften, und haben uns sofort wieder freigelassen!« »Das ist ja ungeheuerlich! So etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben!«, rief Mathilde empört und holte noch einmal mit ihrem Stock aus. »AUA!«, rief der Kleine, als er noch einige Schläge einstecken musste, und flüchtete in die Menge. Danach gab Mathilde den Stock an Richard zurück und fuhr dem Nächsten in die Beine. Alfred trommelte währenddessen mit den Fingern ungeduldig auf das Megaphon und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Jeder, wirklich jeder sollte seine tolle, nein, seine revolutionäre Rede hören. »Merkst du gar nicht, dass du störst?«, zischte ein junger Mann Mathilde zu, »Wir möchten hören, was der Mann zu sagen hat!«, fügte er hinzu und bereute seine Worte kurz darauf, nachdem ihn ein Spazierstock hart am Kopf traf. »Euch werde ich lehren, was es heißt, eine alte Dame mit Respekt zu behandeln!« -7 9 -
»Was wollen Sie überhaupt da vorne? Sie haben da nichts zu suchen.«, meinte ein anderer, sehr dürrer Mann und deutete in Richtung Alfred. »Der mutige Mann dort will eine Rede halten, da stören Sie nur.« »Was? Mutig??«, krächzte Mathilde, deutete in Richtung Alfred und begann zu lachen, was sich aber eher wie ein heiseres Husten anhörte. »Dieser Mann ist mein Nachbar!«, erklärte sie und musste sich vor Lachen bzw. Husten auf den Rollstuhl stützen. »Und ich weiß, dass er ein großer Feigling ist.« »Ja, genau.«, stimmte Gottfried zu, der hinter ihr stand. »Außerordentlich feige.«, fügte er laut hinzu. »Wer hat Sie denn gefragt?«, fuhr Mathilde ihn an. »Ich habe Ihren Arsch vorhin in der Kneipe doch auch gerettet!« »…h.«, sagte Gottfried und sah sich beschämt um, als sich alle Blicke auf ihn richteten. »Mann, ist das peinlich!«, flüsterte jemand und begann, leise zu kichern. »Ha, ha! Sich von so einer alten Oma retten lassen!«, meinte ein anderer. Zum Glück für ihn hörte Mathilde das nicht, so dass er nicht nur am Leben, sondern sogar unverletzt blieb. Gottfried verkroch sich stattdessen gedemütigt und mit gesenktem Haup t irgendwo in der Menge, während Mathilde sich wieder dem Dürren zuwandte. »Nun mal ernsthaft.«, sagte sie zu ihm. »Was wollen die ganzen Leute hier?« »Hören Sie doch einmal hin, was der Mann zu sagen hat! Der ist wirklich gut !«, erwiderte er. »Komisch, wenn ich mir im Fernsehen eine Rede von einem Politiker sehe, bekomme ich irgendwie überhaupt nicht mit, worum es dabei geht. Das ist hier ganz anders.« -8 0 -
»Daran sind nur die heutigen Politiker Schuld.«, behauptete Mathilde fest. »Früher war das alles ganz anders.« »Außerdem -«, fuhr der Dürre unbeirrt fort, »sehen Sie sich um, wie viele Leute hier sind ! Und es kommen immer mehr! Von überall her! Der Mann muss einfach gut sein!« »Genau!«, »Ja!« und »Recht hat er!«, ertönte es um ihnen herum. »Lächerlich!«, rief Gottfried, der sich gerade noch einmal umgedreht hatte, von hinten. »Dieser Mann ist scheiße!« »Na ja, ist mir auch egal.«, meinte Mathilde, zuckte mit den rheumageplagten Schultern und schob Richard weiter nach vorne. »Ich bin viel besser als der! Ich will der Führer sein.«, rief Gottfried hinten verzweifelt, konnte die Tränen aber noch zurückhalten. Kopfschüttelnd sahen ihn die Leute an, während er sich weiter zurückzog. Es dauerte noch eine Weile, bis sich Mathilde und Richard unter wüsten Beschimpfungen und mit Hilfe des Spazierstockes schließlich nach vorne zu Alfred, Rudolf, Eberhard und Irene gekämpft hatten. »Endlich!«, seufzte Alfred, als wieder Ruhe eingekehrt war, und hielt sich, nachdem er vorher ausführlich von Irene über den Spielstand informiert wurde, das Megaphon vor den Mund. »Liebe Leute!«, begann er von neuem. »Nach wie vor steht es 1:0 für Brasilien, aber wenn ich das richtig verstanden habe, drängt Deutschland auf den Ausgleich.«, log er. »Aber zurück zu meinem eigentlichen Anliegen : Wir müssen uns wehren! Wehren, sage ich euch! Wir müssen uns wehren gegen die Leute, die verhindern, dass WIR FERNSEHEN KÖNNEN!« Wieder brach Beifall und Jubel aus. »Bravo!«, »Richtig so!« -8 1 -
und »Weiter!«, rief die Menge und klatschte begeistert Beifall, außer Gottfried natürlich. »Die Frage ist nur, wer ist dafür verantwortlich? Wo sollen wir beginnen?«, fuhr Alfred energisch fort. »Ich schlage deshalb vor, dass wir zunächst!« »TOOOR!«, rief Irene dazwischen und riss einen Arm in die Höhe. Sofort wurde es still. Irene sah eine Weile in die Menge und wunderte sich darüber, dass sie alle entgeistert anstarrten. »Für wen denn?«, schrie dann jemand verzweifelt und kaute nervös auf seinen Fingerspitzen. Irene sagte es ihm. Dann hob Alfred das Megaphon zum Mund und verkündete, auf das es alle hören mochten: »TOR für DEUTSCHLAND!! Es ist gerade ein Tor für Deutschland gefallen! Das 1:1 !!« Was jetzt passierte, war geradezu unglaublich. Ein ungeheurer Jubel brach los, wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Hier und da fielen einige Leute nach zu heftigen Umarmungen zu Boden, was das Geschrei noch verstärkte. Dadurch wurden auch die letzten Leute herbeigelockt, die noch woanders in den umliegenden Straßen herumliefen. Einige Leute schwenkten ihre mitgebrachten Fahne n, andere ihr Taschentuch oder ihr Schlüsselbund. Die unterschiedlichsten Gegenstände flogen durch Luft. Kleidungsstücke, Schlüssel und Mathildes Spazierstock wurden jubelnd durch die Gegend geworfen und kurz darauf verzweifelt gesucht. Bislang hatten die Autos immer noch irgendwie durch die Menschenmenge auf der Straße fahren können, jetzt aber kam der Autoverkehr endgültig zum Erliegen. Die Straße war völlig überfüllt von Menschen, die dort jetzt überall standen, saßen, lagen, sich umarmten, feierten und so weiter. Anfangs versuchten noch einige Autofahrer, teils aus Freude teils aus -8 2 -
Wut, sich hupend einen Weg durch die Massen zu bahnen, was sich aber schon nach kurzer Zeit als ziemlich aussichtslos herausstellte. Die meisten Autofahrer ließen deshalb ihr Auto einfach an Ort und Stelle auf der Straße stehen und machten mit. Einige Autofahrer aber, die wahrscheinlich noch Termine hatten, wollten sich damit nicht abfinden. Sie stiegen aus und beschimpften die Leute, die so dreist die Straße blockierten. Tatsächlich erreichten sie, dass einige Leute beiseite gingen, was aber auch nicht viel brachte, da die freigewordenen Stellen sofort durch andere Feiernde besetzt wurden, die sich freuten, endlich einen einigermaßen freien Platz gefunden zu haben. Alfred umarmte gerade Eberhard, dem jeglicher Sport zuwider war und der deshalb gar nicht so genau wusste, was hier los war und weshalb hier jeder so aus dem Häuschen war. Zwar hatte er mittlerweile mitbekommen, dass heute ein außerordentlich wichtiges Fußballspiel stattfand, nachvollziehen konnte er die Hysterie aber trotzdem nicht. Zumal er sich nicht denken konnte, dass irgendjemand in der Menge daraus einen persönlichen Vorteil ziehen konnte. Er konnte es jedenfalls nicht und alles andere interessierte ihn ohnehin nur am Rande. Nachdem Alfred den Fernsehmenschen nach einer Weile losgelassen hatte, warf er das Megaphon jubelnd in die Höhe. Während das Ding in der Luft war, fiel ihm ein, dass es ihm ja gar nicht gehörte und vermutlich nicht gerade billig war. Oh, scheiße, dachte er, als er sah, dass der Apparat in einem hohen Bogen durch die Luft flog und dann einige Meter von ihm entfernt wieder Kurs auf den Boden nahm. Er machte einen mutigen Hechtsprung und schaffte es irgendwie, den Apparat mit seinem Bauch aufzufangen, so dass er sehr weich landete und nicht auf dem Boden zerschmettert wurde. Rudolf wollte Irene umarmen und zwar nicht unbedingt aus Freude über das Tor, vielmehr fand er, dass dies eine passende Gelegenheit war, sich ihr körperlich zu nähern. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit aber schon wieder der Radioübertragung -8 3 -
gewidmet, um ja nichts zu verpassen, und stieß Rudolf nicht sehr sanft zur Seite. Sie hielt ein Ohr an den Lautsprecher, konnte aber wegen des Lärms, den die jubelnde Menge verursachte, nicht viel hören. »Das Spiel geht weiter«, erzählte sie aufgeregt. »Es sind nicht mal mehr 15 Minuten zu spielen und dann gibt es Verlängerung Ich persönlich glaube ja dass es bei dem Unentschieden bleibt und beide Mannschaften damit erst einmal zufrieden sind Ich erinnere mich da an ein Spiel ich glaube es war vor 20 Jahren als ein Spiel nach 90 Minuten doch tatsächlich 0:0 stand So etwas kann man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen aber damals war es durchaus nicht selten und!«, erzählte sie, was aber außer Rudolf niemand verstehen konnte und sonst auch niemanden interessierte. Nur Gottfried freute sich nicht so recht, er saß ein Stück entfernt und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein! Es dauerte eine ganze Weile, bis sich alles wieder so weit beruhigt hatte, dass Alfred seine Rede fortsetzen konnte. Vorher nahm er noch eine ziemlich große Holzkiste in Empfang, die von irgendwoher aus der Menge kam und umgedreht ein prima Podium darstellte. Allerdings war das Holz schon etwas morsch und da Alfred nicht gerade ein Leichtgewicht war, knarrte und knackte es gefährlich, als er es probeweise bestieg, hielt seinem Gewicht aber stand. Dann erkundigte er sich noch bei Irene nach dem letzten Spielstand und der noch zu spielende Zeit. Irene nahm ihr Ohr vom Radio und sagte: »Es steht immer noch 1:1 und es sind noch etwas mehr als 10 Minuten zu spielen!« »Danke.«, meinte Alfred schnell, doch Irene hatte schon weitergesprochen: »Meiner Meinung nach sollte Deutschland versuchen das Spiel noch vor der Verlängerung zu gewinnen weil die Erfahrung gerade in den letzten Jahren ja eindeutig -8 4 -
gezeigt hat dass Mannschaften die nach 90 Minuten führen auch meistens gewinnen wobei es allerdings Ausnahmen gibt Ich erinnere mich da an einen Vorfall im Jahr 1912 von dem mein Großvater mir mal vor einigen Jahren ich glaube es war im Jahre 1999 erzählt hat Da passierte es nämlich dass!« Alfred tippte - die Arme vor der Brust verschränkt - mit einem Fuß ungeduldig auf das Podium. Es war gar nicht so einfach, die Arme vor der Brust zu verschränken und gleichzeitig das Megaphon festzuhalten, aber er schaffte es. Als er merkte, dass Irene dadurch nicht aufzuhalten war, ging er zu ihr hin und rief ihr deutlich, aber ohne Megaphon, ins Gesicht: »Mehr wollte ich NICHT wissen! DANKE!!« Etwas überrascht sah Irene ihn an und wollte ihm gerade empört etwas erwidern, womit Alfred aber schon rechnete. Schnell wandte er sich der Menge zu, hob das Megaphon und begann eilig zu reden: »Liebe Leute! Wie ihr eben ja alle mitbekommen habt, steht es mittlerweile 1:1! Und zu spielen sind noch ungefähr 10 Minuten!« Aus den Augenwinkeln beobachtete er währenddessen Irene, um sicherzugehen, dass sie sich ruhig verhielt. Er sah, wie sie sich mit ihrem Radio beleidigt ein Stück entfernte und sich dann neben den schmollenden Gottfried setzte, der dort mittlerweile auf dem Boden hockte. Das gefiel Alfred gar nicht, vor allem, als er feststellen musste, dass sich nun auch Rudolf dazusetzte, allerdings offenbar nicht aus Sympathie zu Gottfried, sondern nur, um in der Nähe von Irene zu bleiben. »Wie dem auch sei!«, wandte er sich wieder der Menge zu. »Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass wir uns wehren müssen? Wir müssen uns wehren gegen die Leute, die verhindern, dass wir FERNSEHEN KÖNNEN! Wir müssen der herrschenden Klasse zeigen, dass SIE MIT UNS NICHT ALLES MACHEN KÖNNEN! Ich schlage deshalb vor, dass wir jetzt zunächst einmal zum Rathaus marschieren! Dort können wir im Moment wahrscheinlich noch am wirkungsvollsten -8 5 -
protestieren! und außerdem ist das hier ganz in der Nähe, was praktisch ist, da wir nicht so weit laufen müssen.« Wieder ertönte heftiger Beifall, nicht ganz so laut wie beim Tor, was Alfred leicht pikiert feststellte, aber immerhin. Einige noch in ihrem Auto sitzende Fahrer hupten auch, allerdings eher aus Hoffnung, eventuell doch noch mit dem Auto durch die Menge zu kommen. »Wenn wir dort angekommen sind,«, erklärte Alfred, nachdem er darüber nachgedacht hatte, »werden wir dort eindringen und unsere Forderungen unterbreiten.« Daraufhin kam jemand aus der Menge zu Alfred und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Ach so, na ja, na gut.«, sagte er und wandte sich wieder der Menge zu. »Ich höre gerade, dass im Rathaus um diese Zeit keiner mehr ist, so dass auch niemand da ist, dem wir unsere Forderungen unterbreiten können.« Er dachte kurz nach, dann erhellte sich seine Miene. »Dann besetzen wir den Fernsehsender, der ebenfalls ganz in der Nähe ist. Da können wir dann unsere Forderungen unterbreiten und jeder kann es sehen!«, rief er begeistert, aber diesmal war die Reaktion nur ein verhaltenes Klatschen. Die Leute guckten sich komisch an, während wieder jemand zu Alfred kam und ihm etwas erklärte. »Ach so, ja, stimmt.«, meinte Alfred und wandte sich der Menge zu. »Das mit dem Fernsehen ist vielleicht doch keine so gute Idee, wenn man bedenkt, dass momentan keine Fernseher funktionieren.« Er dachte kurz nach, dann erhellte sich seine Miene. »Dann besetzen wir eben den Radiosender, der hier ganz in der Nähe ist. Da können wir dann unsere Forderungen unterbreiten und jeder kann es hören!«, rief er begeistert und diesmal klatschte die Menge fröhlich Beifall ob dieser -8 6 -
wunderbaren Idee. »Dann los!«, jubelte er und wollte schon losmarschieren. Erneut kam jemand zu Alfred und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Ja, stimmt, das is t besser.«, sagte er und wandte sich Menge zu. »Wir sollten lieber noch einen Augenblick warten!«, rief er der Menge zu. »Denn wenn wir den Radiosender jetzt schon besetzen und unsere Forderungen unterbreiten, können wir ja die Fußballübertragung nicht mehr hören!« Zustimmender Jubel machte sich breit. Die Menge feierte Alfred und seine überwältigende Klugheit. »Was genau sind unsere Forderungen?«, wollte jemand aus der Menge wissen, nachdem sich die Lage wieder etwas beruhigt hatte. »Was?«, rief Alfred, der die Frage genau verstanden hatte. »Was sind unsere Forderungen??«, fragte jemand etwas lauter. »Ich kann Sie nicht verstehen, es ist so laut hier.«, antwortete Alfred, um noch etwas Zeit zu gewinnen. »WAS SIND DIE FORDERUNGEN??«, rief die Menge im Chor. Es klang etwas gereizt. »Ach, was unsere Forderungen sind, wollt ihr wissen?«, vergewisserte sich Alfred. »JAAH!!!«, schrie die Menge. »Nun, das kann ich euch ganz genau sagen!«, erklärte er etwas nervös und kramte in seinen Hosentaschen nach einem Zettel und einem Kugelschreiber, fand beides und wusste nicht so recht, was er damit machen sollte. Irgendetwas vorlesen, dachte er und sah auf den Zettel. »1 Pfund Butter, 100 Gramm Wurst, 1 Liter Milch!«, verkündete er. »WIE BITTE??« -8 7 -
Alfred schüttelte den Kopf. »…äh na ja, die genauen Forderungen müssen wir - glaube ich - noch ausarbeiten. Unter Berücksichtigung des allgemeinen Volkswillen, versteht sich.« Er malte mit dem Kugelschreiber, nachdem er das Megaphon beiseite gelegt hatte, auf den oberen Rand »FORDERUNGEN« auf den Zettel und darunter »1.«. »Unsere Forderungen sind: 1.«, rief er, nachdem er das Megaphon wieder hochgehoben hatte. »Unsere Fernseher müssen wieder funktionieren!!« Während die Menge begeistert applaudierte und ihm zujubelte, versuchte Alfred die erste Forderung aufzuschreiben, was aber mit dem Megaphon in der Hand nicht so richtig klappte. Da er das Ding nicht jedes Mal, wenn er etwas aufschreiben wollte, wieder zu Boden legen musste, brauchte er eine Schreibkraft. Er sah sich um und erblickte Gottfried neben Irene schmollend und Radio hörend am Boden zu sitzen, während Rudolf daneben versuchte, Irenes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Daneben lehnte Eberhard, den Fußball und die Fernseher einen Scheiß interessierten, an der Wand seines Fernsehgeschäfts und beobachtete interessiert den ganzen Aufruhr. Hoffentlich, dachte der gerade, kommt mein Fernsehfachgeschäft morgen schön groß in die Zeitung. Das wäre eine tolle Werbung! Dann waren da noch Frau Lehmann und dieser alte Mann, den sie irgendwo aufgegabelt hatte. Alfred hätte schwören können, dass er ihn schon mal irgendwo gesehen hatte, konnte sich aber immer noch nicht erinnern. »Sehr verehrte Frau Lehmann!«, flötete er Mathilde danach außergewöhnlich freundlich und vorsichtig zu. »Würde es Ihnen viel ausmachen, für mich einige Sachen aufzuschreiben?« »Häh?«, fragte Mathilde skeptisch und wandte sich kurz von Richard ab. »Aufschreiben? Können Sie das nicht selber??« -8 8 -
»Na ja, wissen Sie, mit dem Megaphon in der Hand geht das nicht so gut.« »Dann legen Sie das Megaphon zur Seite.«, schlug Mathilde vor und drehte sich wieder zu Richard um. »Ich muss hier doch zu der Menge sprechen. Da kann ich doch nicht ständig das Megaphon zur Seite legen und wieder aufsammeln.«, erklärte Alfred und hob bittend die Hände. »Ich will doch nur, dass Sie kurz unsere Forderungen aufschreiben.« Frau Lehmann horchte auf. »Hm. Forderungen, wie?«, erkundigte sie sich neugierig. Ihre Betonung des Wortes »Forderungen« ließ vermuten, dass sie plötzlich interessiert war. »Ja. Unsere Forderungen, die wir stellen werden.«, erklärte Alfred. »Hmm.«, meinte Mathilde und sah Richard an. »Na gut. Ich mache es.« »Vielen Dank !«, meinte Alfred und gab ihr den Zettel und Kugelschreiber. »Dann schreiben Sie bitte unter 1.: Unsere Fernseher müssen wieder funktionieren!!« Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Und das unterstreichen Sie bitte zweimal. Nein, dreimal. Und zwei Ausrufezeichen dahinter, bitte.« Er wandte sich wieder der Masse zu : »Unsere 2. Forderung ist! äh! weniger Werbung!« »Entschuldigung, dürfen wir mal durch hier? Danke!«, rief eine Stimme ziemlich laut hinter der Menge und versuchte offenbar, sich nach vorne zu arbeiten. Alfred stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber zunächst trotz Podium nicht erkennen, wer die Ursache dieser weiteren Störung sein könnte. »He! Ruhe da hinten!«, rief er durch das Megaphon in die Menge. »Wenn Sie das hier nicht interessiert, gehen Sie weiter!« -8 9 -
»He, passen Sie doch mit ihrer Kamera!«, rief jemand in der Menschenmasse empört. »Und fuchteln Sie nicht so mit dem Mikrofon hier rum!«, meinte eine Frauenstimme. Es dauerte einen Augenblick, bis Alfred erkannte, dass es sich um Fernseh-Journalisten handelte, die anscheinend eine Reportage machen wollten. Drei Leute kamen auf ihn zu. Einer war langhaarig, sah etwas ungepflegt aus und trug die Kamera, ein anderer hielt das Mikrofon in den Händen und schien der Bruder von dem Kameramann zu sein, nur mit kurzen Haaren. Gutgekleidet stolzierte in der Mitte eine aufgetakelte, aber gutaussehende Frau mit langen, schwarzen Haaren durch die Menge, sie war wohl die Reporterin oder so etwas. Wau!, überlegte Alfred zuerst, die sind wegen mir gekommen! Unglaublich, was für einen Status er binnen kürzester Zeit erlangt hatte, dachte er. Na ja, er dachte die s nicht wortwörtlich so, er kannte die Bedeutung von Wörtern wie »Status« nämlich gar nicht. Es soll hier nur das, was er meinte, verständlicher wiedergegeben werden. Es wird sozusagen frei übersetzt. Um diese Vorgehensweise zu veranschaulichen, wird jetzt ausnahmsweise auch einmal wortgetreu wiedergegeben, was er eben in Wirklichkeit dachte. Er dachte also: Boah, dat ischa voll goil! Schade nur, dass ihn Gertrude jetzt nicht sehen konnte (in Wirklichkeit dachte er: Scheiße, dat die Olle nun nich hier is! usw.). Sie befand sich sicherlich nicht unter den Menschen in der Menge, da ihre Mutter in der Nachbarstadt wohnte und jede Art von Unruhe hasste. Und Sport. Dann besah er sich von oben bis unten. Oh, scheiße, überlegte er dann, ein Fernsehinterview! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte immer noch den Trainingsanzug an, rasiert hatte er sich seit einigen Tagen nicht und wann er das letzte Mal -9 0 -
geduscht hatte, wusste er nicht mehr so ganz genau. Beim Friseur war er ohnehin nur ungefähr einmal im Jahr. Hektisch versuchte er wenigstens, seine Haare mit den Händen ein wenig zu ordnen. Als er dann sein Spiegelbild im Schaufenster des Fernsehgeschäfts sah, bekam er einen Schreck und verzichtete lieber auf weitere kosmetische Korrekturen. Trotz seines etwas unvorteilhaften Aussehens wollte er sich das Interview aber keinesfalls entgehen lassen, konnte das doch den ersten Schritt zu einer internationalen Karriere bedeuten. Kurz darauf hatten sich die Leute vom Fernsehen durch die Menge hindurchgekämpft. Alfred räusperte sich und machte sich für das Interview bereit. Er wollte die junge Frau gerade freundlich begrüßen, als sie, ohne ihn zu beachten, an ihm vorbeiging und Mathilde ansprach. Ziemlich verblüfft und mit offenem Mund starrte Alfred ihr, ihrem außerordentlich kurzen Rock und ihren sehr langen Beinen hinterher. »Guten Abend, hochverehrte Dame.«, sagte die junge Frau und machte einen kleinen Knicks. »Sind Sie die Frau, die sich in der Kneipe `Zur NotAufnahme' so tapfer gegen mehrere junge Rüpel gewehrt hat?« »Was wollen Sie von mir?«, fragte Mathilde misstrauisch. »Ich habe nichts gemacht, ich bin unschuldig! , man hat mich provoziert.«, fügte sie etwas nervös hinzu. »Wir kommen von einem bekannten Privatsender und würden gerne ein Interview für die Sendung `Schicksalsschläge' mit Ihnen machen, falls Sie nichts dagegen haben.«, sagte die Frau mit einer auf `sympathisch' gestellten Stimme. »Vom Fernsehen kommen Sie also, was?«, rief Mathilde und sah die junge Frau böse an. »Hauen Sie bloß ab, ich beantworte keine Fragen! Erst Recht nicht, wenn sie von einem solchen Flittchen wie ihnen gestellt werden!« Ganz bewusst - um ihre Abneigung deutlich zu machen sprach Mathilde das Wort »ihnen« kleingeschrieben aus. -9 1 -
»Machen sie ihr Interview woanders!« »Nun werden Sie doch nicht gleich unhöflich.«, entgegnete die Interviewerin beschwichtigend. »Früher, ja, da hätte es so etwas nicht gegeben!«, schimpfte Mathilde und deutete auf den kurzen Rock. »Damals wusste man noch, was Anstand war!« Die Fernsehfrau sah den Zettel mit den Forderungen und stellte die Stimme auf `neugierig' um. »Was haben Sie denn da?«, fragte sie und versuchte, auf das Blatt Papier zu gucken. »Forderungen?«, las sie mühsam. »Was für Forderungen?« Schnell zerknäulte Mathilde den Forderungszettel und steckte ihn in die Tasche ihrer Küchenschürze. »Das geht Sie gar nichts an!«, rief sie bestimmt, steckte die Hände nachdrücklich in die Schürzentasche und drehte sich demonstrativ von dem Fernsehteam weg. »Aber!« »NEIN!« »Puh! Na, das war ja wohl gar nichts!«, sagte die Frau mit genervter Stimme und machte den beiden Männern ein Zeichen, welches ihnen bedeutete, dass sie ihr auf dem Weg zurück durch die Menge vorausgehen und ihr den nötigen Platz schaffen sollten. »Kommt, Jungs, wir gehen!« »Äh, vielleicht kann ich Ihnen helfen?«, mischte sich nun Alfred mit erhobenem Zeigefinger ein. Die Frau musterte ihn von oben bis unten und schien von dieser Idee nicht besonders begeistert zu sein. »Sie?«, fragte sie skeptisch. »Was haben Sie denn anzubieten?« »Na ja,«, hüstelte Alfred, »ich will ja nicht unbescheiden sein, aber ich bin hier so etwas wie der, nun ja, wie soll ich sagen, so etwas wie der Führer dieser Menschen.« -9 2 -
Er zeigte auf die Menge, die immer noch interessiert zuschaute. »Sie?«, fragte die Interviewerin ungläubig und musterte ihn noch einmal. »Ha!«, machte Gottfried. »Nie im Leben!« »Der und ein Anführer?«, fragte Irene verächtlich. Alfred wurde allmählich ärgerlich. Warum eigentlich gab es immer noch Leute, die ihn für einen kompletten Versager hielten? Konnten nicht alle sehen, was er hier erreicht hatte? »Er hat recht.«, bekam er jetzt unerwartet Hilfe von Eberhard, der sich das Ganze bis jetzt interessiert und immer noch an der Wand lehnend angesehen hatte. »Ich habe alles die ganze Zeit beobachtet und kann Ihnen sagen, dass dieser Mann die Menschen hier beeindruckt hat.«, sagte er und stieß sich von der Wand ab. »Sehen Sie sich doch die ganzen Leute an!«, fuhr er fort und deutete auf die Menschenmasse, die sie umringte. »Was meinen Sie wohl, warum die alle hier sind?« »Wegen mir?«, riet die Frau vom Fernsehen, machte eine schwungvolle, anmutige Drehung und lächelte verführerisch in die Menge. »Nein.«, erklärte Eberhard geduldig. »Sondern, weil Sie diesen Mann reden hören wollen. Sie wollen ihm helfen, seine Forderungen durchzusetzen!« »Ah ja?«, fragte die Interviewerin. Ihre Stimme war jetzt wieder auf `ungläubig' gestellt. Alfred nickte zustimmend und dankbar mit dem Kopf. »Jawohl!«, sagte er. »Ich tue das aber nur aus Verbundenheit zu unseren Fernsehern!«, fügte er bescheiden hinzu. »Und wenn er nicht andauernd unterbrochen worden wäre, könnte dieser Mann schon an der Spitze einer noch größeren -9 3 -
Bewegung stehen!«, fügte Eberhard hinzu. »Hm, na gut.«, sagte die Frau `skeptisch'. »Wir können es ja mal versuchen.« »Bist Du sicher?«, fragte der Kameramann zweifelnd und deutete mit einem Kopfnicken auf Alfred. Die Moderatorin antwortete mit einem unsicheren Schulterzucken und wandte sich an Alfred: »Na, dann machen Sie doch einfach weiter wie bisher und tun Sie so, als wären wir gar nicht da. Wir nehmen dann ab jetzt alles probeweise auf.« »Mensch, toll!«, meinte Rudolf, der sich gerade kurz von Irene abgewandt hatte, um Alfred auf die Schulter zu klopfen. »DU im Fernsehen, wer hätte das gedacht!?« Nachdem Alfred einen Moment darüber nachgedacht hatte, fiel ihm plötzlich ein, was ihn schon die ganze Zeit hätte stutzig machen sollen. »Moment mal.«, sagte er zur Interviewerin und kam sich ziemlich schlau vor. »Die Fernseher funktionieren doch gar nicht. Wozu wollen Sie mich denn dann eigentlich filmen?« »Das ist doch nur eine vorübergehende Störung.«, meinte die Frau leicht genervt. »Es dauert nicht mehr lange und die Fernseher gehen wieder.« »Wirklich?«, fragte Alfred und kniff skeptisch ein Auge zu. Er wusste nicht so ganz genau, ob er sich darauf freuen sollte. Einerseits war es natürlich schön, wieder fernsehen zu können, wenn er sich dazu auch einen neuen Fernseher kaufen musste. Andererseits musste er aber zugeben, dass er es wohl in erster Linie den nicht funktionierenden Fernseher zu verdanken hatte, dass er bei den Leuten so gut ankam. Und er bezweifelte, dass es dabei bleiben würde, wenn alle Leute wieder wie üblich vor der Glotze hingen. »Dann können Sie uns bestimmt auch sagen, warum die Fernseher plötzlich nicht mehr funktionieren, oder?«, schaltete -9 4 -
sich Eberhard interessiert in das Gespräch ein und deutete auf das Geschäft hinter ihm. »Ich bin nämlich Fernsehmechaniker, wissen Sie. Das hier ist MEIN Laden. Ich bin Eberhard Guhl.«, fügte er stolz hinzu. Die Interviewerin war es nicht gewohnt, dass man ihr solche Fragen stellte und war nun etwas verunsichert. »Äh, na ja, das kann ich Ihnen leider so genau auch nicht sagen.«, erklärte sie. »Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber ich bin davon überzeugt! also, das heißt, ich glaube, dass die Fernseher bald wieder funktionieren.« »Und was bringt Sie zu dieser Annahme?«, forschte Eberhard neugierig weiter. »Na ja, ich hoffe es wenigstens.«, erklärte die Frau widerstrebend. Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Gespräch ein bisschen aus den Händen geglitten war. »Ich wäre sonst ja arbeitslos!«, fiel ihr plötzlich ein. Es klang ein bisschen erschrocken. »Trotz meiner! äh! Intelligenz und meines großen Talents, hätte ich beim Radio nämlich keine Chance, weil ich dort mein gutes Aussehen ja gar nicht einbringen könnte.« Sie schüttelte sich. »Nein, ich mag darüber gar nicht nachdenken. Die Fernseher müssen einfach wieder funktionieren.«, rief sie verstört. »Aha.«, meinte Eberhard und merkte, dass es keinen Sinn hatte, mit dieser Frau ein fachkundiges Gespräch zu führen, während Alfred sich wieder den Menschen zuwandte, die sich allmählich zu langweilen begannen. Alfred spürte instinktiv, was die Menschen dachten. Sie waren unzufrieden darüber, dass man hier nicht umschalten konnte, wenn - wie jetzt - nichts passierte, um sich dann über das andere, genauso schlechte Programm zu ärgern. Die ersten -9 5 -
Leute waren schon abgewandert und es schien sich, zumindest in den hinteren Reihen, nach und nach eine gewisse Aufbruchstimmung breit zu machen. »Kann ich jetzt weitermachen?«, drängte Alfred und stieß die junge Frau an, die gedankenverloren die Fernseher im Schaufenster betrachtete. Sie zuckte zusammen und sah ihn an. »Wie? Ach so, ja, machen Sie weiter.«, sagte sie und gab dem Kameramann sowie dem Tonmenschen ein Zeichen, mit den Aufnahmen zu beginnen. »Genossinnen und Genossen!«, rief Alfred, um fürs Fernsehen etwas dramatischer zu wirken, was dazu führte, dass ihn die meisten Augen erstaunt ansahen. Plötzlich fühlte er sich etwas verunsichert. Die ganze Zeit hatte er nicht darüber nachgedacht, aber jetzt, da eine Kamera vor ihm stand und ihn filmte, bekam er auf einmal Lampenfieber. »Äh, zunächst möchte ich euch das aktuelle Zwischenergebnis mitteilen, was uns alle hier wohl am meisten interessiert.«, fuhr er nervös fort. Er nahm das Megaphon runter, sah Irene an und musste feststellen, dass sie ihn gewissenhaft ignorierte. Daher wandte er sich an Rudolf. »Wie steht«s? Und wie lange ist noch zu spielen?«, fragte er ihn. Auf Rudolf ist wenigstens Verlass, dachte er, der wird mich nicht im Stich lassen. Gerade, wenn es um Fußball ging. »Hm?«, fragte Rudolf verträumt und löste seinen Blick nur widerstrebend von Irene. »Was ist los?« »Wie es steht, will ich wissen.«, wiederholte Alfred nervös, kramte in seiner Trainingshosentasche nach einem Taschentuch, fand aber keins. -9 6 -
In diesem Moment bereute er zum ersten Mal, dass es ihn auf Seite 37 nicht interessiert hatte, als ihm das Taschentuch aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen war. Deshalb nahm er eine Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und wie lange noch zu spielen ist!« »Hm?«, fragte Rudolf. »Wie lange noch? Wobei?« Alfred machte ein paar Schritte auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn etwas. Dann fiel ihm auf, dass er ja gefilmt wurde, und lächelte peinlich berührt in die Kamera. Danach stellte er seinen Nachbarn wieder hin, richtete seinen Bademantel und wischte ihm hastig den Staub von der Schulter. »Ich wollte nur wissen,«, erklärte er geduldig und sah ihm fest in die Augen, »wie es beim Fußball steht und wie lange noch zu spielen ist.« »Ach so, ja, beim Fußball.«, wiederholte Rudolf gedankenverloren. »Ich hab keine Ahnung. Und, ehrlich gesagt, ist mir das auch scheißegal.«, fügte er hinzu, als Alfred ihn an beiden Schultern packte. »AAH!«, machte Alfred mühsam beherrscht. »Das darf doch nicht wahr sein!«, schimpfte er, aber sein Nachbar widmete sich schon wieder seiner großen Liebe und lächelte sie blöd an. »Kann mir mal BITTE jemand sagen, WIE ES STEHT??«, rief er Irene verzweifelt zu und raufte sich die Haare. Sie schien jedoch kein Mitleid zu haben und sah in die Luft und pfiff unschuldig ein Lied. Mathilde sah Alfred an, schüttelte den Kopf und stieß ihn mit ihrem Stock an. »Überlegen Sie doch mal, Sie Memme! Meinen Sie nicht, dass die alte Tratschtante«, sie deutete auf Irene, die daraufhin ihren Mund empört auf und zu klappte, aber so überrascht war, dass sie keinen (!) Ton herausbekam, »uns ausführlich davon berichtet hätte, wenn etwas passiert wäre?«, rief sie ihm ins Gesicht. »Und zu spielen sind noch fünf -9 7 -
Minuten!«, fügte sie hinzu und deutete auf ihre Taschenuhr, ein altes Familienerbstück. »Oh, äh, danke!«, sagte Alfred und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Wirklich warm hier, dacht e er. Zitternd hob er das Megaphon zum Mund und fuhr nervöser Stimme fort: »Also, es steht immer noch 2:1, äh, nein, ich meine 1:1, natürlich, und zu spielen sind noch ungefähr, äh!«, hilflos sah er zu Mathilde. »FÜNF !«, rief sie so laut, dass die Menge es auch ohne Megaphon hören konnte. »Ja, genau, fünf Stunden noch. Aah, nein, Minuten natürlich. Fünf Minuten noch!!«, stammelte Alfred. »Toller Mann!«, meinte die Fernsehfrau, hatte aber vergessen, ihre Stimme auf `ironisch' umzuschalten. »Findest du wirklich?«, fragte der Tonmensch verblüfft und hätte beinahe das Mikrofon fallengelassen. »Nein!!«, rief die junge Frau, pustete und fächelte sich nervös etwas Luft zu.
-9 8 -
Kapitel #3 Die Forderungen »Ich wiederhole jetzt noch einmal unsere Forderungen.«, erklärte Alfred durch das Megaphon und ließ sich von Mathilde den Forderungszettel geben. »1.: Unsere Fernseher müssen wieder funktionieren!!«, las er vor. »2.: Die Bedingungen in den Altersheimen müssen verbessert werden!?«, fuhr er fort und sah Mathilde und Richard erstaunt an, die ihm freundlich zugrinsten. »Darüber sprechen wir noch!«, meinte er, während er Mathilde den Zettel zurückgab und ihr bedeutete, dass sie mitschreiben sollte. Dann nahm er das Megaphon und rief in die Menge: »Unsere dritte Forderung: Weniger Werbung im Fernsehen!« Endlich kam wieder Jubel auf, was Alfred mit Erleichterung feststellte. »4. fordern wir!« In diesem Moment ertönte das Signal von näherkommenden Polizeisirenen und das dazugehörige Blaulicht ließ auch nicht lange auf sich warten. »Was ist jetzt denn los?«, wollte Alfred wissen und sah auf die heranbrausenden Polizeiwagen. Es waren drei Autos und zwei etwas größere Busse, die vor der Menge anhielten. Die Türen wurden aufgerissen und ungefähr 100 behelmte Polizisten sprangen he raus. Langsam kamen sie auf Alfred, seine Nachbarn, Richard und Eberhard sowie dem Fernsehteam zu. »Oh, nein, nicht schon wieder.«, rief die Fernsehfrau aufgeregt und packte ihre Schminkutensilien, die sie eben herausgeholt hatte, hektisch wieder zurück in ihre viel zu kleine Handtasche. »Schnell, wir verschwinden hier.«, fügte sie hinzu -9 9 -
und begann, gefolgt von ihren beiden Kollegen, zurück durch die Menge zu laufen. Dabei wählten sie den Weg so, dass sie den Polizisten möglichst nicht begegneten. Alfred sah ihnen verwirrt nach. »Häh?«, fragte er. »Scheiße, warum werde ich eigentlich immer ausgerechnet dann unterbrochen, wenn mir die Leute zujubeln und ich gerade gut in Schwung gekommen bin?«, beklagte sich Alfred. »Ich hab bald keine Lust mehr!«, fügte er unter den Buhrufen und Pfiffen der Menge hinzu, die aber offensichtlich nicht ihm, sondern der Polizei galten. Er sah, dass ein paar Polizisten ihre Route änderten und auf die Leute vom Fernsehen zusteuerten, sie aber nicht erreichten, da die Polizei durch die Menge ziemlich behindert wurde. »Lassen Sie uns doch mal durch da!«, rief ein Polizist und griff nach seinem Schlagstock, fand aber keinen, weil er ihm mittlerweile im Gedränge von jemandem geklaut worden war. »Halt! Stehen bleiben!«, rief er nervös, wusste aber selber nicht, zu wem. »He, passen Sie doch auf, wo Sie hintreten, Bulle!«, beschwerte sich jemand über einen anderen Polizisten, der sich ziemlich rücksichtslos einen Weg durch die Menge bahnte. »Wer war das?«, fragte der angesprochene Polizist entrüstet, der immerhin so schlau gewesen war, seinen Schlagstock von Anfang an in der Hand zu halten. Er sah sich irritiert um, aber der hinterhältige Täter war längst irgendwo in der Menge untergetaucht. »Wer hat meinen Schlagstock geklaut?«, wollte der Polizist ohne Schlagstock wissen. Überraschenderweise meldete sich der hinterhältige Dieb jedoch nicht. -1 0 0 -
»Sie behindern die Arbeit der Polizei.«, stellte ein anderer fest. »Und wir haben den Befehl erhalten, von unseren Schlagstöcken Gebrauch zu machen, falls wir auf Widerstand stoßen.«, fügte er drohend hinzu. »Genau!«, rief der ohne Schlagstock. »Also geben Sie mir meinen Schlagstock wieder, damit ich davon Gebrauch machen kann, falls Sie ihn mir nicht zurückgeben! äh.« In der Zwischenzeit war das Fernsehteam längst verschwunden und war gerade dabei, aus sicherer Entfernung einige Bilder für den Bericht »Brutale Polizei terrorisiert friedliche Demonstranten« einzufangen. Einige andere Polizisten hatten währenddessen genauso viele Probleme, zu Alfred und den anderen vorzudringen. Dabei kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten, als nämlich mehrere Leute dem Polizisten, der sich vorher ziemlich rücksichtslos einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, den Helm vom Kopf zogen und damit Fangen spielten. »He, ihr Verbrecher!«, rief der Polizist mit hochrotem Kopf und versuchte verzweifelt, seinen Helm zu verfolgen, der ständig hin- und hergeworfen wurde. »Gebt mir meinen Helm wieder!« »Nein.«, antwortete derjenige, der ihn gerade in den Händen hielt. Er besah sich die Kopfbedeckung kurz und warf sie dann weiter. Jetzt konnte Alfred beobachten, wie aus einem Polizeiwagen weitere Polizisten kamen, darunter einer mit einem weiteren Megaphon. Er schien offensichtlich der Einsatzleiter zu sein. »Gehen Sie bitte auseinander!«, rief er der Menge zu. »Es gibt hier nichts zu sehen, nicht wahr!« Die meisten Leute in der Menge schienen in der Beziehung jedoch anderer Meinung zu sein, weshalb sich auch niemand -1 0 1 -
von der Stelle rührte. »Und geben Sie den Schutzhelm wieder heraus!«, fügte der Einsatzleiter hinzu, als er sah, wie die Menge damit fröhlich Fangen spielte. Als Alfred sah, dass sich zwei Polizisten schon fast zu ihnen durchgekämpft hatte, wurde ihm doch etwas mulmig. Er versuchte, betont unschuldig ein Liedchen zu pfeifen, was er sich vorhin bei Irene abgeguckt hatte. Dann fiel ihm auf, dass er mit dem Megaphon in der Hand ziemlich leicht für den Anführer gehalten werden konnte. Etwas nervös sah er sich um. »Hier, halt das ma l bitte kurz.«, sagte Alfred dann zu Rudolf und gab ihm das Megaphon. Rudolf sah das Ding fragend an. »Heh - was soll ich denn damit?« »Nur mal kurz halten! Auf die Dauer wird der Apparat ganz schön schwer. Ich muss mich mal einen kleinen Augenblick ausruhen.«, erklärte Alfred, nahm die Arme unschuldig auf den Rücken und faltete dort die Hände. Währenddessen waren die beiden Polizisten bei ihnen angekommen und nahmen ihre Helme ab. »Oh, nein!«, sagten Alfred und die junge, ihnen mittlerweile wohlbekannte Polizistin gleichzeitig, als sie erkannten, wer ihnen gegenüberstand. »Sie schon wieder?« Der sie begleitende Kollege, ein ziemlich junger Mann, der noch etwas verunsichert in die Runde blickte, war ihnen noch nicht bekannt. »Wir haben vorhin schon nach Ihne n gefahndet.«, stellte die Polizistin fest. »Sie wurden nämlich verdächtigt, die Schlägerei in der `NotAufnahme' angezettelt zu haben.« »Wer? Wir?«, fragte Alfred betont verblüfft, während Mathilde versuchte, sich unter Richards Rollstuhl zu verkriechen. -1 0 2 -
»Sie und ihre Freunde sollten dazu vernommen werden.«, erklärte die Polizistin weiter und seufzte. »Aber nun müssen wir erst einmal diese Sache klären.« »Ich glaube gesehen zu haben, dass Herr Alfred etwas mit der Schlägerei zu tun hatte.«, meinte Gottfried plötzlich und Irene nickte zustimmend. »Ja Ich habe Herrn Alfred vorhin zwar noch nicht gekannt aber seine Art lässt zweifelsohne darauf schließen dass er die Schlägerei angezettelt hat Ich könnte mich zwar auch irren aber das kommt eigentlich sehr selten vor Das letzte Mal als mir so etwas passiert ist das war als ich meinen Nachbarn verdächtigte seine Frau umgebracht zu haben Nachher stellte sich heraus dass er nur einige Topfblumen hat verwelken lassen Trotzdem weiß ich bis heute nicht wieso!«, erzählte sie, während Alfred und die Polizistin die beiden Ankläger erstaunt ansahen. »Wie bitte?«, fragte Alfred entsetzt. Die beiden Polizisten konnten gerade noch verhindern, dass er gegen seinen Nachbarn handgreiflich wurde. »Wie kommt ihr dazu, so etwas zu behaupten? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.«, erklärte er sichtlich empört, sah die Polizistin unschuldig an und deutete auf Mathilde. »Sie sollten dazu einmal Frau Lehmann vernehmen. Ich denke, sie kann Ihnen zu den Vorkommnissen sehr viel mehr sagen.« »Was sagen Sie da?«, rief Mathilde noch empörter und kroch aus ihrem Versteck hervor. »Sie spinnen wohl, was?«, rief sie wütend und ging, den Stock drohend über dem Kopf schwenkend, auf Alfred zu. Gerade noch rechtzeitig konnten die beiden Polizisten unter Einsatz ihres Lebens Mathilde zurückhalten und Alfreds Leben retten. »Nun bleiben Sie doch mal ruhig.«, forderte die Polizistin aufgeregt und überlegte, dass es hier wahrscheinlich sicherer gewesen wäre, wenn sie den Helm aufbehalten hätte. Allerdings -1 0 3 -
auch noch wärmer. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Darüber reden wir später noch. Jetzt haben wir erst einmal zu klären, wer für diesen Menschenauflauf verantwortlich ist.«, erklärte sie. »Das war eindeutig Herr Alfred!«, stellte Gottfried fest und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, das ist ja wohl die Höhe, Herr Gottfried!«, rief Alfred erbost. »Die Leute wollten einfach nur wissen, wie es steht! Also ist es Irenes Schuld, schließlich hat sie ja das einzige Radio hier.«, fügte er hinzu und deutete auf Irene, die gerade ein Ohr an den Lautsprecher hielt. Sie sah ihn empört an. »Was erlauben Sie sich?«, rief sie und wollte Alfred eine runterhauen. Der war aber schon ausgewichen und versteckte sich hinter den Polizisten. »Es ist ja wohl eindeutig zu sehen wer hier das Megaphon hat und wer zu den Leuten gesprochen hat Äh ich meine!« »Häh? Was ist los? Megaphon?«, stammelte Rudolf nervös und sah sich unsicher um. »Können Sie uns vielleicht erklären, warum Sie ein Megaphon in den Händen halten?«, fragte die Polizistin. »Äh, was?«, fragte Rudolf und sah auf das Gerät in seiner Hand. »Ich habe mit der Sache nichts zu tun.«, fügte er hinzu und blickte hektisch in die Runde. »Richard und Frau Lehmann sind Schuld.«, sagte er dann schnell. »Ja, genau! Ich habe es genau gesehen. Die beiden haben einen Zettel, auf den sie Forderungen geschrieben haben.«, fügte er aufgeregt hinzu. »Ist das nicht eine Skandal? Sie haben doch tatsächlich irgendwelche komischen Forderungen auf einen Zettel geschrieben. Man könnte meinen, die beiden wollten eine Revolution oder so was anzetteln.« Er lachte nervös. -1 0 4 -
»Also, that is ja wohl eine Unverschämtheit.«, rief Richard, erhob sich wütend aus seinem Rollstuhl und zeigte mit einem Finger drohend in Rudolfs Richtung, bevor er merkte, was er da tat, und sich schnell wieder hinsetzte. »Uns old, gebrechliche Leute zu beschuldigen!« »Gottfried ist Schuld !«, schaltete sich Mathilde nun schimpfend ein und zeigte mit ihrem Stock auf ihren Nachbarn. »Eindeutig. Der wollte eine Revolution anzetteln. Wir haben vorhin gesehen, wie er in der Menge versucht hat, Alfred schlecht zu machen und der neue Führer zu werden.« »Wer? Ich?«, fragte Gottfried fassungslos. »Nie im Leben! Ich habe nur versucht, die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Herr Alfred hat sie so gegen die Obrigkeit angestachelt, dass die Sache beinahe eskaliert wäre! Zum Glück konnte ich die Leute wieder einigermaßen beruhigen.« »NEIN!«, rief Alfred hastig. »Ich hab doch gar nichts gemacht ! Irene war es! mit ihrem Radio und Rudolf!! Und Frau Lehmann und! und! und dieser Richard! Der war mir von Anfang an verdächtig! Und Eberhard auch!« Auf einmal riefen alle wild durcheinander und beschuldigten sich gegenseitig. Die Polizisten sahen sich hilflos an und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Kurz darauf entwickelte sich ein Handgemenge zwischen den Revolutionären, bei dem Alfred ein blaues Auge, Gottfried eine große Beule am Kopf, die sehr schön mit der auf der Stirn harmonierte, Rudolf mehrere blaue Flecken und eine kleine Beule, Irene ein kaputtes Radio und Mathilde einen angeknacksten Spazierstock davontrugen, bevor die beiden Polizisten durch mehr oder weniger energisches Einschreiten Schlimmeres verhüten konnten. Nachdem sie ihre Helme vorsichtshalber wieder aufgesetzt hatten. »Auseinander!«, rief der junge Polizist und hielt Gottfried fest, der sich gerade wieder auf Alfred stürzen wollte. -1 0 5 -
»So, jetzt ist aber Schluss!«, rief die Polizistin streng. »Wer jetzt noch irgendwelche Dummheiten macht, bekommt meinen Schlagstock zu spüren und wird verhaftet.«, fügte sie hinzu und schwang drohend ihren Schlagstock, wofür sie offensichtlich lange geübt hatte. Daraufhin kehrte Ruhe ein und Alfred und die anderen blickten schuldbewusst zu Boden, bis auf Mathilde, die sich stattdessen über ihren kaputten Stock beschwerte. »Und wer bezahlt mir jetzt einen neuen Spazierstock?«, rief sie böse und sah die Polizisten an. »Sie vielleicht? Rudolf Boll hat ihn zerbrochen!« »Und mein Radio ist auch kaputt«, beschwerte sich Irene. »Das ist passiert als ich es Rudolf auf den Kopf gehauen habe was mir im nachhinein auch ein wenig leid tut nicht nur wegen des Radios sondern auch weil Rudolf eigentlich ganz nett zu mir war Jedenfalls netter als Alfred der mich vorhin mit dem Megaphon!« »Herr Boll hat Ihren Spazierstock nicht zerbrochen, Frau Lehmann!«, ließ sich nun Gottfried vernehmen. »Alfred war es. Er hat Ihren Stock zerbrochen, als er versucht hat, mir mit dem Megaphon eine runterzuhauen.« »Ich habe genau gesehen, dass Rudolf Boll ihn zerbrochen hat!«, widersprach Mathilde schimpfend. »Als er nämlich mit dem Radio!« »No, Mathilde, das stimmt not.«, mischte sich Richard laut ein. »Rudolf hat sich just versehentlich unter den Stock!« »RUHE!!«, schrie die Polizistin aufgebracht. »Ich nehme Sie hiermit fest! ALLE!!« Plötzlich wurde es still. »Wie?« »Verhaften?« »Alle?«, fragte Eberhard erstaunt und entfernte sich einen -1 0 6 -
Schritt von der Wand. »Mich auch?« »ALLE!«, wiederholte die Polizistin etwas hysterisch. »Aber ich hab doch gar nichts gemacht!«, meinte Eberhard. Sie sah ihn an. »Ach so. Nein, Sie natürlich nicht.«, antwortete sie dann in einem etwas ruhigerem Ton und überlegte kurz. »Es sei denn, Sie sind ein Komplize dieser! dieser Terroristen und/oder unterstützen sie in irgendeiner anderen Form.« »Nein, ich kenne diese Leute, äh, diese Terroristen eigentlich gar nicht.«, erklärte Eberhard schnell und sah die Polizistin unschuldig an. »Was halten Sie denn von mir?« »Puh, ist das warm hier.«, meinte die Polizistin nahm ihren Helm wieder ab und fächelte sich mit ihrem Schlagstock ein wenig frische Luft zu. »Sie! Sie wollen uns festnehmen?«, stammelte Rudolf verstört und schmiegte sich wieder an Irene, die daraufhin einige Schritte zurückwich. »Aber wieso denn?« »Mich verhaften! Das ist ja ungeheuerlich!«, rief Irene. »Das können Sie mit mir nicht machen Ich habe Beziehungen Ein Bekannter des Mannes meiner Schwester ist erfolgreicher Rechtsanwalt der hat schon ganz andere Sachen erledigt Wie damals als der Vater eines Onkels von mir ich glaube es war im Jahre 1910 ebenfalls aus fadenscheinigen Gründen verhaftet worden ist Na haben die aber gestaunt als einige Jahre später herauskam dass er die!« »Weshalb sollen wir denn überhaupt verhaftet werden? Wir haben doch gar nichts getan.«, unterbrach Alfred Frau von Traub unschuldig und erhielt zustimmendes Kopfnicken von den anderen. »Verhaften?«, fragte der junge Polizist dazwischen und sah seine Kollegin an. »Können wir das denn?« »In einem Fall wie diesem, glaube ich, schon. Wenigstens -1 0 7 -
vorübergehend.« »Und wie geht das?« »Hm. Tja. Mal sehen.«, sagte sie und sah nachdenklich in die Luft. »Ich verhafte Sie wegen Landfriedensbruch sowie! äh!«, erklärte sie nach einer Weile und zögerte. Jetzt erhellte sich das Gesicht des jungen Polizisten. Endlich einmal konnte er sein theoretisches Wissen, das er sich auf der Polizeischule mühsam angeeignet hatte, einbringen: »Es besteht gegen Sie der Verdacht auf Landfriedensbruch gemäß § 125 StGB, dann haben wir da noch Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 113, 114 StGB.«, erzählte er stolz. »Weiterhin weise ich Sie darauf hin, dass Sie gemäß Art. 108 EGBGB für den Schaden haften, der bei einer Zusammenrottung, einem Auflauf oder einem Aufruhr entsteht. Zu beachten ist weiterhin das Gesetz über die durch innere Unruhen verursachten Schäden, das sogenannten Tumultschädengesetz vom 12.5.1920, wobei ich mich leider an die Vorschriften im einzelnen momentan nicht erinnern kann.« »Was ist los?«, wollte Alfred wissen und guckte die anderen an, die aber nur mit den Schultern zuckten und ebenfalls verständnislos in die Gegend guckten. »Danke, gut gemacht.«, sagte die Polizistin und klopfte ihrem jungen Kollegen auf die Schulter. Die Menschen in der Menge bekamen von all dem fast gar nichts mit, da sie die ganze Zeit hauptsächlich damit beschäftigt waren, den Polizisten Widerstand zu leisten und sich wegzugehen weigerten. Die Polizisten sammelten sich deshalb nach einer Weile etwas abseits vor den Polizeiwagen und nach einer kurzen Beratung mit dem Einsatzleiter über die weitere Vorgehensweise wurde die Menge umzingelt. Dabei passten sie auf, dass nicht noch ein Helm und keine weiteren Schlagstöcke geklaut wurden. Außerdem versuchten sie, so zu tun, als hätten -1 0 8 -
sie die Lage im Griff, und man konnte sehen, dass hier erfahrene Polizisten im Einsatz waren, denn sie beherrschten es relativ gut. Der Einsatzleiter berichtete der Leitstelle währenddessen, dass sie alles unter Kontrolle hätten. Nur die beiden übermütigen jungen Polizisten, die sich gerade irgendwo innerhalb der Menge aufhielten, bereiteten ihm einige Sorgen. Aber solange dort noch alles ruhig blieb, beschloss er, würde sich das Problem mit der Zeit von selber lösen. Bestimmt.
Die Menge konnte nun, da die Polizisten sich entfernt hatten, ihre Aufmerksamkeit wieder Alfred und seinen Leuten widmen, die sich gerade nett mit zwei Polizisten zu unterhalten schienen. »Dann kommen Sie jetzt bitte mit!«, forderte die Polizistin Alfred sowie seine Komplizen auf und deutete auf die Menge. »Da lang!« »Das kann doch nicht ihr Ernst sein!«, meinte Alfred kopfschüttelnd, verschränkte die Arme vor der Brust und blieb demonstrativ stehen. Skeptisch beobachteten die Leute in der Menge das Geschehen vor dem Fernsehgeschäft. Irgendetwas schien da vorne nicht zu stimmen. Scheiße war nur, dass die Polizistin kein Megaphon benutzte und viel zu leise sprach. So verbreitete sich die Nachricht, dass Alfred und seine Leute gerade verhaftet worden waren, nur langsam nach hinten, während die Massen nach vorne drängten, um etwas mehr mitzubekommen. »Gehen Sie bitte aus dem Weg!«, sagte die Polizistin möglichst ruhig aber bestimmt zu den Menschen in der Menge, als sie immer näher kamen. Beunruhigt stellte sie danach fest, dass niemand auf ihre Anweisung hörte, dass sich stattdessen die Stimmung weiter erhitzt hatte. Sie sollten sich beeilen, dachte sie, die Unruhestifter wegschaffen und dem Spuk dadurch ein Ende -1 0 9 -
machen. »Machen Sie bitte einen Weg frei!«, forderte sie die in der Menge vorne Stehenden noch einmal auf, diesmal etwas lauter, erfasste Alfreds Arm und zog ihn hinter sich her. Sehr weit kam sie allerdings nicht, da die Menge ihr den Weg versperrte. »Ich muss Sie jetzt auffordern, den Weg freizumachen!«, rief sie den Leute noch einmal zu. »Ansonsten müssten wir sie festnehmen wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 113, 114 StGB.«, fügte der junge Polizist stolz hinzu. Irgendjemand schien der Polizistin eine Frage gestellt zu haben, denn sie antwortete ziemlich laut und leicht nervös: »Wir sind Ihnen doch keine Rechenschaft schuldig. Wir tun hier nur unsere Pflicht. Diese Personen«, sie deutete auf Alfred und seine Komplizen, »haben sich verdächtig gemacht und sind deshalb verhaftet worden. Und jetzt machen Sie den Weg frei, damit wir sie abführen können!« Wie sie kurz darauf feststellen musste, war das taktisch nicht besonders klug. Vor allem so laut zu sprechen, dass sie jeder verstehen konnte, erwies sich als Fehler. Jetzt kam es nämlich zu wütenden Protesten in der Menge. Die unterschiedlichsten Gegenstände flogen in Richtung der beiden Polizisten. Unter anderem war ein Polizeihelm und ein Schlagstock dabei. Der junge Polizist sah sich daraufhin genötigt, jetzt allerdings eher nervös als stolz darauf hinzuweisen, dass hier ein besonders schwerer Fall von Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß § 113 Absatz 2 StGB vorliegen könnte, dann nämlich, wenn die Täter den Angegriffenen in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung brächten. Die Strafe dafür liege bei bis zu fünf Jahren, was man berücksichtigen sollte, bevor man etwas Unüberlegtes zu tun gedenke. Im übrigen sei dies nur ein gut gemeinter Rat, den sich jedoch jeder zu Herzen nehmen -1 1 0 -
sollte, der damit eventuell später in Verbindung gebracht werden könnte. Irgendwie zeigte dieser Hinweis jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Im Gegenteil: Die Menge kam immer näher und bedrängte die beiden Polizisten zusehends. »Wir wollen Alfred!«, rief die Menge in Sprechchören und: »Wir wollen Fernseher!«, »Alle Macht den Fernsehern!«, »Wie steht«s?« sowie »Keine Altenheime!«, wobei letzteres eigentlich nur von Richard und Mathilde skandiert wurde. »Ich fordere Sie hiermit zum letzten Mal auf, den Weg für uns und die Verhafteten freizugeben, bevor ich mich genötigt sehe, Gewalt anzuwenden.«, drohte die Polizistin, erreichte damit jedoch, außer, dass sie von einigen Leuten ausgelacht wurde, nicht besonders viel. »Na gut. Sie haben es nicht anders gewollt.«, erklärte sie daraufhin und bemühte sich, angsteinflößend zu wirken. »Ich werde jetzt auf der Stelle Verstärkung anzufordern!« Dann versuchte die Polizistin in der Enge das Funkgerät aus ihrer Tasche zu ziehen, was ihr nach einiger Zeit und mit viel Mühe sogar gelang. »Vielleicht kann ich mit den Leuten reden.«, schlug ihr jetzt Gottfried vor, der neben ihr in der Menge eingeklemmt war und eine neue Chance witterte. »Ich denke, ich kann die Meute etwas beruhigen.« Die Polizistin musterte ihn skeptisch. »Na gut, versuchen Sie es!«, sagte sie dann schulterzuckend und schaltete eilig ihr Funkgerät ein. »Liebe Leute!«, rief Gottfried ziemlich laut, da für das Megaphon kein Platz mehr war. »Bitte beruhigt euch! Wir wollen doch nicht, dass die Sache hier eskaliert, oder?« Unglücklicherweise hatte Gottfried in der Aufregung völlig sein altes Problem vergessen: Immer, wenn er aufgeregt war, -1 1 1 -
bekam er eine außerordentlich feuchte Aussprache, was ihm schon in der Schule den Spitznamen »Munddusche« eingebracht hatte. »Also, ich bitte euch, weicht ein wenig zurück!«, rief er den dichtgedrängt vor ihm stehenden Menschen zu. »He, Sie haben mich bespuckt!«, schrie eine Frau aus der ersten Reihe angewidert. »Das ist ja ekelhaft.« »Iiih! Mich hat er auch vollgesabbert!«, rief jemand anderes und wischte sich über das Gesicht. »Widerlich!«, meinte ein anderer. »Wirklich abstoßend.« Gottfried war das ziemlich peinlich und errötete heftig, was er in solchen Momenten schon in der Schule immer zu tun pflegte, und versuchte, sich unter dem Bürgersteig zu verkriechen, was aber nicht ging, da er aus Beton war. Jedenfalls konnte auch dieser Versuch nicht den gewünschten Erfolg erzielen und die aufgebrachten Leuten beruhigen. Die Polizistin sah auf ihr Funkgerät, danach zu Alfred und verfluchte die moderne Technik. Dann stieß sie ihn an, was sich in dem Gedränge außerordentlich kompliziertes Unterfangen darstellte. »Wissen Sie zufällig, wie man dieses Ding bedient?«, fragte sie ihn. Alfred sah erst sie, dann das Funkgerät erstaunt an. »Nein.«, stellte er fest. »Schade.« »Tut mir leid. Ich bin in technischen Dingen nicht sehr bewandert.« »Macht ja nichts.« Nervös blickte die Polizistin auf die bedrohlich vorrückende Meute, wackelte einen Augenblick vergeblich an ihrem Funkgerät und stieß dann Alfred nochmals an. »Versuchen Sie, -1 1 2 -
die Leute zu beruhigen!«, forderte sie ihn auf. »Wer, ich??«, fragte Alfred mit gespieltem Erstaunen. »Moment mal, ich glaube mich zu erinnern, dass Sie mich gerade verhaftet haben! Und da meinen Sie im Ernst, dass ich die Leute auffordere, mir nicht mehr beizustehen?« »Nun machen Sie schon!«, drängte die Polizistin und stellte verzweifelt an den Knöpfen ihres Funkgeräts, das immer noch seinen Dienst verweigerte. »Nö.«, meinte Alfred und zögerte. »Obwohl ich natürlich etwas machen könnte!«, er wartete noch einen Augenblick. »Wenn Sie mich nicht verhaften würden, könnten wir noch mal darüber reden!« Die Polizistin warf ihm einen Blick zu, der ihm signalisieren sollte, dass sie sich nicht erpressen lassen würde. Als ihr dann kurz darauf im Gedränge ein wenig die Luft wegblieb, begann ihr Pflichtgefühl allerdings mit dem Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit zu kämpfen. Zunächst hatte der Wunsch nach Unversehrtheit ein gewisses Übergewicht , dann sah alles nach einem Unentschieden aus. Dann aber, als das Funkgerät endlich doch funktionierte, lag der Wunsch nach Unversehrtheit am Boden und musste eingestehen, eine eindeutige Niederlage kassiert zu haben. Das Pflichtgefühl triumphierte. »Vergessen Sie's.«, meinte die Polizistin und hielt sich das Funkgerät ans Ohr. In der Zwischenzeit war ein junger Polizist aus der Umzingelung der Menge zu seinem Einsatzleiter gelaufen und berichtete ihm außer Atem von den tumultartigen Zuständen, die plötzlich in der Menge herrschten. »Sollen wir eingreifen?«, fragte der Polizist und hoffte auf ein lautes und deutliches »Ja! Wir schreiten jetzt ein und stellen die Ordnung wieder her! Ich werde mich dafür einsetzen, dass Sie demnächst eine Tapferkeitsmedaille verliehen bekommen, nicht -1 1 3 -
wahr.« Stattdessen sagte der Einsatzleiter: »Sind Sie verrückt? Wir gehen da doch nicht dazwischen! Das wäre ja glatter Selbstmord, nicht wahr! Wissen Sie eigentlich, wie viele wildgewordene Verrückte in der Menge auf jemanden warten, der eine Uniform trägt?« »Na ja, eben haben die uns zwar einen Helm und einen Schlagstock geklaut, aber!«, erwiderte der Polizist und überlegte kurz, ob es wohl klug war, noch etwas zu sagen. »Meiner Meinung nach hätten wir schon da mit sehr viel mehr Härte reagieren müssen. Immerhin waren die alle unbewaffnet und!«, fügte er dann zögerlich hinzu, zog den Kopf ein und erwartete einen gehörigen Anschiss. »Ha, ha!«, lachte der Einsatzleiter stattdessen. »Ich glaube, aus ihnen wird noch mal ein guter Polizist! in ein paar Jahren. Aber jetzt erzähle ich Ihnen etwas, dass man Ihnen schon auf der Polizeischule hätte beibringen sollen:«, fuhr er fort und hob belehrend einen Finger. »Wir müssen stets aufpassen, wenn wir - wie hier - dem Feind zahlenmäßig weit unterlegen sind. In einer solchen Situation müssen wir uns zunächst einmal zurückhalten, um nicht unnötig ein Risiko einzugehen, nicht wahr.«, erklärte er bereitwillig. Er freute sich jedes Mal, wenn er den jungen Leuten noch etwas beibringen konnte. »Wir haben die Lage hier doch völlig im Griff, oder?«, fügte er hinzu. »Ja, schon, nur!« »Außerdem sollte man den Gegner nie, ich betone: NIE!, unterschätzen!« »Verstehe, aber!« »Na, sehen Sie, dann ist doch alles geklärt. Wir brauchen uns also gar nicht unnötig in Gefahr bringen, nicht wahr.« -1 1 4 -
»Na ja, aber dann sind da noch Frau Müller und der Anwärter, die sich immer noch irgendwo in der Menge aufhalten. Und wenn man die Tumulte dort berücksichtigt, könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass die beiden vielleicht in Schwierigkeiten stecken!« Der Einsatzleiter wurde plötzlich etwas blass um die Nase. »Was?«, rief er erschrocken. »Die sind immer noch da!«, fügte er hinzu, brach ab und dachte kurz nach. »Och, na ja,«, versuchte er sich und seinen jungen Kollegen danach zu beruhigen, »die beiden haben ja immer noch ein Funkgerät und können Verstärkung anfordern, falls sie Probleme bekommen sollten. Was ich aber nicht glaube, da Frau Müller eine sehr umsichtige und besonnene Person ist, nicht wahr.« »!Wenn die beiden das Funkgerät noch haben und es ihnen nicht irgend so ein Fiesling geklaut hat.«, wandte der junge Polizist ein. »Papperlapapp.«, sagte der Einsatzleiter fest. »Nun gehen Sie zurück auf ihren Posten und bemühen sich!« Weiter kam er nicht, weil sich in diesem Moment das Funkgerät meldete, und Frau Müller dringend Verstärkung anforderte. »Was ist denn los?«, wollte der Einsatzleiter wissen. »Wir werden hier bedrängt, Chef.«, sagte das Funkgerät mit zitternder Stimme. »Mir scheint, als könnte die Meute bald nicht mehr davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden.« »Kommen Sie sofort raus da!«, sagte der Einsatzleiter ins Funkgerät. »Im Moment ist das wichtigste, dass sie unter keinsten Umständen auffallen. Also, ziehen Sie sich ganz unauffällig zurück und erstatten Sie mir Bericht. Und denken Sie daran: Bloß kein Aufsehen erregen, nicht wahr.« »Äh, dafür könnte es mittlerweile ein wenig spät sein.«, -1 1 5 -
antwortete die Stimme aus dem Funkgerät nervös. »Warum?« »Nun ja, weil wir eben, äh, den mutmaßlichen Anführer und seine Komplizen verhaftet haben.« Dem Einsatzleiter fiel vor Schreck fast das Funkgerät aus der Hand. Er legte eine Hand auf die Brust und musste einige Male ganz tief durchatmen. Ganz ruhig, dachte er, mein Herz schlägt ganz ruhig und gleichmäßig. »Hallo, äh, sind Sie noch da?«, fragte eine zittrige Stimme aus dem Funkgerät. »Sie! haben! den Anführer! fest! festgenommen!!?«, brachte der Einsatzleiter mühsam hervor und schlug die Hände vors Gesicht. Mein Chef sollte sich nicht so aufregen, dachte der junge Polizist, der immer noch neben ihm stand. Das ist nicht gut für sein schwaches Herz. Zwei Monate vor seiner Pensionierung. »Ja, aber Sie brauchen mir nicht zu danken. Wir haben nur unsere Pflicht getan.«, antwortete die Stimme aus dem Funkgerät bescheiden. »AUA!«, fügte sie hinzu, als ihr jemand aus der Menge in die Hand biß. »Aber! aber wie konnten Sie das tun?«, fragte der Einsatzleiter mit zitternder Stimme. »Ich habe den Verdächtigen einfach gesagt, dass sie festgenommen sind, nachdem mein Kollege ihnen die entsprechenden Tatbestände erklärt hat, und dann wollten die Leute uns den Weg nicht freimachen. Im Gegenteil, autsch! Stellen Sie sich so was vor!«, sagte sie und schnappte nach Luft. »Aber jetzt wäre es sehr schön, wenn Sie sich etwas beeilen würden, ich krieg nämlich allmählich keine Luft mehr und mein Kollege musste, soweit ich das erkennen kann, auch schon einige Schläge einstecken.« »Wenn da jetzt noch mehr Polizei auftaucht, dann eskaliert -1 1 6 -
die ganze Situation womöglich noch weiter.«, erwiderte der Einsatzleiter, nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. »Au ja!«, meinte der junge Polizist und rieb sich in freudiger Erwartung die Hände. »Tut mir leid, aber da gehen wir nicht rein.«, stellte der erfahrene Polizist kopfschüttelnd fest, was eine herbe Enttäuschung für den neben ihm stehenden Kollegen darstellte. »Lassen Sie die Leute sofort laufen!« »Was? Wir sollen Sie freilassen?«, sagte die Polizistin und schaffte es trotz Atemnot, ihre Verständnislosigkeit durchklingen zu lassen. »Aber!« »Das ist ein Befehl!«, rief der Einsatzleiter fest entschlossen in sein Funkgerät und holte tief Luft. »Und danach versuchen Sie schnellstmöglichst, da raus zu kommen. Und dann melden Sie sich umgehend bei mir, haben Sie verstanden?« »Aber wir können die Unruhestifter doch nicht einfach entkommen lassen!« »Nein, natürlich lassen wir die Unruhestifter nicht entkommen.«, erklärte der Einsatzleiter etwas genervt. Dass man diesen jungen Leuten aber auch alles erklären musste. »Wir folgen ihnen einfach in sicherer Entfernung und dann schlagen wir zu! wenn die Zeit reif ist, nicht wahr.« »Oh, ja ja.«, antwortete die Polizistin augenzwinkernd. »Sie sind ja soo schlau, Chef!« »Puh!«, machte der Einsatzleiter und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Heiß hier. Dann bemerkte er seinen Kollegen, der ihn groß ansah. »Was ist denn noch?« »Keinen Schlagstockeinsatz?«, vergewisserte sich der junge -1 1 7 -
Polizist enttäuscht. »Nein!«, antwortete sein Vorgesetzter streng. »Und nun begeben sie sich wieder an die Arbeit und tun Sie so, als hätten sie die Lage im Griff, nicht wahr.« »Jawohl!«, sagte der Polizist pflichtbewusst, nahm Haltung an und ging wieder an die Arbeit und tat so, als hätte er die Lage im Griff. »Also gut!«, sagte die Polizistin zu Alfred, stellte das Funkgerät ab und schnappte nach Luft. »Wir werden Sie nicht festnehmen. Ich habe eben von meinem Chef die Zustimmung dazu erhalten. Und glauben Sie mir, das war nicht einfach. Ich musste dafür meine ganze Überzeugungskraft einsetzen.« »Ah ja?«, meinte Alfred gleichgültig. »Und jetzt sorgen Sie dafür, dass ihre Leute uns in Ruhe lassen.«, forderte sie ihn nervös auf, als ein von hinten geworfener Hausschuh sie nur knapp am Kopf verfehlte. »Hrmgl.«, stimmte der junge Kollege ihr zu, der nicht weit entfernt an die Wand des Fernsehfachgeschäfts gedrängt wurde und die Blätter aus seiner Gesetzessammlung aufessen musste. »Na gut.«, sagte Alfred, suchte nach dem Megaphon und konnte es im Gedränge nicht finden. Er formte daher mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Liebe Leute! Ich habe euch etwas zu sagen.«, rief er dann in die Menge und hob beschwichtigend die Arme. Und plötzlich: Ruhe! Es war, als hätte jemand eine »Standbild« - Taste gedrückt und den Lautstärke - Regler auf null gedreht. »Ich habe gerade nach langen, zähen Verhandlungen mit der Polizei erreichen können, dass ich und meine Leute nicht verhaftet werden.«, fuhr Alfred triumphierend fort. -1 1 8 -
Es dauerte einen Augenblick, bis die Worte ihre volle Wirkung entfalten konnten. Dann brach tosender Beifall und lauter Jubel aus, die Menge lag sich in den Armen. »Wie bitte?«, fragte die Polizistin empört und sah ihren jungen Kollegen an, der gerade damit beschäftigt war, das StGB wieder auszuspucken. Sie wollte noch etwas sagen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Sie dachte an die Worte des Einsatzleiters und ein hinterhältiges Lächeln wanderte über ihre Lippen. Ihr werdet uns nicht entwischen, dachte sie, zu gegebener Zeit werden wir zuschlagen. »Deshalb möchte ich euch bitten: Lasst die beiden Polizisten in Ruhe! Sie haben nur ihre Pflicht getan!«, erklärte Alfred. Wieder Jubel, diesmal aber nicht so begeistert. Die Leute wichen einige Schritte von den beiden Polizisten zurück und feierten ihren Helden und sein Verhandlungsgeschick. Alfred winkte den Leuten freundlich zu, schüttelte Hände und küsste kleine Kinder, während es die Polizisten sehr eilig hatten zu verschwinden. »Alfred!«-Sprechchöre hallten in den Straßen und erschreckten ein nur zufällig vorbeikommendes Kaninchen so sehr, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Zum Glück war gerade ein Tierarzt in der Nähe, der eigentlich nur nachsehen wollte, was die Unruhe bei dem Fernsehgeschäft zu bedeuten hatte. Er fand das arme, kranke Tier und rettete ihm das Leben. Interessanterweise wird dieser Tierarzt seitdem von den Kaninchen in der Umgebung als eine Art Heiliger verehrt und bevorzugt bei Krankheiten jeglicher Art aufgesucht. Die Interessensvereinigung der Kaninchen, der Bund Deutscher Kaninchen (BDK), hat in diesem Zusammenhang in seiner letzten Jahreshauptversammlung kritisiert, dass die Menschen nicht genügend auf die Wünsche der Kaninchen eingingen, wenn es darum ging, einen geeigneten und fachlich kompetenten Tierarzt auszuwählen. -1 1 9 -
Inzwischen hatte Alfred das Megaphon gefunden und zufrieden festgestellt, dass es noch funktionierte. Dann stellte er sich auf die ebenfalls unversehrte Holzkiste und sprach zu der Menge: »Bevor wir hier weitermachen, möchte ich euch zunächst einmal sagen, wie es beim Fußball steht beziehungsweise ausgegangen ist.« Die Menge spendete dankbar Applaus. Dieser Mann wusste, was die Menschen auf den Straßen hören wollten. Alfred wandte sich an Irene, die das Radio gerade ans Ohr hielt. Dann schüttelte sie es einige Male, hielt es wieder ans Ohr und machte einen Gesichtsaudruck, der erkennen ließ, dass sie nicht gerade fröhlich war. »Wie steht es?«, fragte er sie drängend. »Und wie lange ist noch zu spielen?« Irene nahm das Radio vom Ohr, stellte an einigen Knöpfe und horchte wieder. »Ich weiß es nicht«, erklärte sie böse. »Es ist kaputt Das ist passiert als ich es Rudolf auf den Kopf gehauen habe was mir im nachhinein auch ein wenig Leid tut Aber normalerweise kann mein Radio Stöße ab Ich erinnere mich da an einen Vorfall im Jahre 1978 bei dem es auf einem ziemlich hohen Schrank stand Bei Umzugsarbeiten ist es von dort zu Boden gefallen und seitdem hatte es einen viel besseren Klang Ein anderes Mal ich glaube es war im Jahr 1983 wurde ich!« »Oh nein!« Alfred wandte sich seufzend von ihr ab und überlegte fieberhaft, wo er jetzt das aktuelle Ergebnis herbekommen sollte. Da geschah etwas, was ihm bisher noch nie passiert war und womit er selber nicht gerechnet hatte: Ihm fiel nämlich sofort etwas ein! Er marschierte zu Eberhard, der sich, immer noch an der Wand seines Fernsehgeschäfts lehnend, das Ganze mit einer Mischung aus Interesse und Unverständnis ansah und sich über -1 2 0 -
die kostenlose Werbung für sein Fernsehgeschäft freute. »Du hast doch sicherlich ein Radio in deinem Geschäft, oder?«, fragte Alfred ihn und wartete die Antwort gar nicht ab. »Kann ich es mir kurz ausborgen? Schließlich wollen wir ja alle wissen, wie das Spiel ausgeht, oder?« »Lies mal, was da oben steht.«, erwiderte Eberhard geduldig und deutete auf das Schild über seinem Laden. Als Gottfried das hörte, hüpfte er aufgeregt hin und her und hob einen Finger schnipsend in die Höhe. »Ich, ich! Das kann ich! », rief er stolz und las vor: »Fernsehfachgeschäft und -reparaturwerkstatt E. Guhl« »Sehr schön.«, meinte Eberhard anerkennend. »Und was schließt du daraus?«, fragte er Alfred seelenruhig. »Dass du auch Radios verkaufst!?«, meinte Alfred zuversichtlich. »Leider nicht.«, sagte Eberhard bedauernd. »In meinem Laden und in meiner Wohnung steht kein einziges Radio. Ich kann alle elektrischen Geräte nämlich nicht ausstehen.« Mist!, dachte Alfred und überlegte. Und dann - er konnte es kaum glauben - hatte er eine neue Idee. »Hat nicht vielleicht jemand von euch zufällig noch ein Radio dabei?«, fragte er per Megaphon in die Menge. Die Leute sahen sich an, einige zuckten mit den Schultern oder schüttelten mit dem Kopf. »Ein was?« »Nein!« »Was ist das? Ein Radio?« »Mist!«, knurrte Alfred und hatte einen neuen Einfall. Unglaublich!, dachte er. Schon wieder eine neue neue Idee! Normalerweise brauchte es Stunden, bis er einen halbwegs guten Gedanken hatte! -1 2 1 -
Er legte das Megaphon zur Seite, hechtete zu Irene, riß ihr das Radio aus der Hand und gab es Eberhard. »Du kannst das Radio bestimmt reparieren, nicht wahr?«, fragte er und sah ihn hoffnungsvoll an. »He! Was soll das?«, rief Irene empört. »Ich hab eben einige Male mit der Hand draufgehauen und mir schien es als hätte es danach kurz gespielt Das Problem hatte ich schon mal bei einem anderen Gerät ich glaube es war ein Mixer vor einigen Jahren als ich!« »Hm.«, erklärte Eberhard und besah sich das Radio. »Ich kann mir das ja mal ansehen. Aber garantieren kann ich für nichts.« »Ja, ja!«, sagte Alfred ungeduldig und hüpfte von einem Bein aufs andere. »Aber mach schnell!« Eberhard kratzte sich am Kinn, betätigte den Ein/Aus-Schalter und hielt ihn fest. Und siehe da, das Radio spielte. »Toll!«, meinten Alfred und Irene anerkennend wie aus einem Mund. »Gib her!«, fügte Alfred hinzu und riss ihm das Radio aus der Hand, was dazu führte, dass es sofort wieder verstummte. »Scheiße, was ist jetzt denn wieder los?«, fragte Alfred etwas ungehalten. »Ganz einfach.«, erklärte Eberhard ruhig. »Der Ein/AusSchalter rastet nicht mehr ein, wenn man ihn betätigt und!« »Ja, dann mach doch was! Schnell!«, unterbrach Alfred ihn ungeduldig und gab ihm das Radio zurück, nachdem er einige Male versucht hatte, es einzuschalten, der Schalter aber sofort wieder zurücksprang, weil er ihn mit seinen dicken Wurstfingern nicht festhalten konnte. »Das ist aber nicht so einfach.«, antwortete Eberhard bedächtig. »Wir müssten nämlich eine Möglichkeit finden, den Schalter irgendwie so zu befestigen, dass er nicht ständig -1 2 2 -
zurückspringt.« »Worauf wartest du noch?«, fragte Alfred entgeistert, als sich Eberhard wieder gemütlich an die Wand zurücklehnte. »Hol etwas zum Befestigen aus deiner Werkstatt!« »Tut mir leid.«, entschuldigte sich Eberhard. »Ich habe nichts, was für diesen Zweck geeignet wäre. Mit einem Alleskleber kann man da gar nichts machen.«, fügte er hinzu, sah sich um und erblickte Mathilde und Richard, die sich neben ihm kaugummikauend angeregt unterhielten. »Aber vielleicht würde ein Kaugummi gehen.« Alfred sah die alten Leute an, dachte scharf nach, verwarf dann den Gedanken und schüttelte sich. »Wie steht's denn jetzt?«, wollte jemand aus der Menge ungeduldig wissen. Deutlich zu vernehmen waren auch leidenschaftliche »Wir wollen das Ergebnis!«- und »Alfred!«- Sprechchöre. Alfred sah in die Menge, erblickte die erwartungsvollen Gesichter und wandte sich dann doch zögernd an Mathilde: »Liebe, verehrte Frau Lehmann!«, flötete er. »Hätten Sie wohl die unendliche Güte, uns kurz Ihren, äh, Kaugummi auszuborgen?« »Was wollen Sie ?«, krächzte sie, weil sie meinte, sich verhört zu haben, und hielt eine Hand an die Ohrmuschel. »Wir wollen kurz ihren Kaugummi ausborgen.«, wiederholte Alfred etwas lauter, nachdem er sich direkt vor ihr Ohr gestellt hatte. »Kaufen Sie sich gefälligst selber einen.«, entgegnete Mathilde ärgerlich und musterte ihn. »Was ist denn das für eine Art? Sich hier durchzuschnorren! So etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben!« »Ich würde mir ja gerne selber einen scheiß Kaugummi kaufen, aber hier in der Nähe gibt es dazu keine verdammte -1 2 3 -
Möglichkeit.«, erklärte Alfred und bemühte sich verzweifelt, geduldig zu sprechen. »Das hier ist ein Notfall! Wir brauchen einen Kaugummi, um das Radio wieder zum Laufen zu bringen. Sie wollen doch auch hören, wie das Spiel ausgeht, oder nicht?« »Hm!«, sagte die alte Frau und überlegte einen Augenblick. »Na gut. Sie können ihn haben.«, fügte sie dann zögernd hinzu und wollte den Kaugummi auf Alfreds Hand spucken. »Äh, nein, nein!«, meinte Alfred und hob abwehrend die Hände. »ER macht das.«, fügte er hinzu und deutete auf Eberhard, der seelenruhig mit dem Radio in der Hand an der Wand lehnte. »Na schön.«, erklärte Mathilde schulterzuckend. Als Eberhard sah, dass die alte Frau auf ihn zu kam und ihm den Kaugummi auf die Hand spucken wollte, zuckte er zusammen, hielt die Hände über den Kopf und duckte sich. »AAH! Hilfe!«, rief er und sah Mathilde ängstlich an. »Was ist jetzt denn los?«, traute er sich nach einer Weile zu fragen. »Na, ich habe einen Kaugummi besorgt.«, erklärte Alfred zufrieden. »Und jetzt kannst du damit den Schalter reparieren.« »Nö, nö.«, meinte Eberhard, richtete sich wieder auf, machte eine ablehnende Handbewegung und besah sich misstrauisch das Kaugummi, das Mathilde grinsend zwischen ihren (echten?) Zähnen raus streckte. Dann sah er Alfred an. »Das kannst du selber machen!«, sagte er und drehte den Kopf zur Seite. »Ich will ja kein Fußball hören.« »Ich?«, fragte Alfred ungläubig. »Aber ich kann das doch gar nicht!« »Ich sag dir, was du tun musst.« Alfred sah Mathilde etwas angewidert an und fröstelte. »Na ja, ich glaube, so wichtig ist das mit dem Radio auch nicht.« »Was ist denn nun?«, wollte Mathilde wissen und nahm das Kaugummi wieder in den Mund. -1 2 4 -
»Wir wollen das Ergebnis!!«, rief die Menge ungeduldig nach vorne. »Ja, genau!«, rief Gottfried, dem allmählich bewusst wurde, dass er es aus eigener Kraft nicht schaffen würde, Alfred als neuen Anführer abzulösen. Jetzt spürte er die aufkommende Unzufriedenheit und sah darin eine neue Chance. »Was ist denn jetzt mit dem Ergebnis?«, rief er den Leuten zu und machte eine auffordernde Handbewegung. »Das ist ja wohl die letzte Scheiße hier. Wir wollen Fußball! Wir sollten woanders hingehen!« »Genau!«, stimmten ihm einige Leute in der Menge zu. »Der komische Typ hat recht!«, fügten andere hinzu. Alfred erkannte die aufkeimende Unzufriedenheit seiner Anhänger und sah sich herausgefordert. »Ja, ja, ist ja schon gut, ich mach«s ja.«, sagte er deshalb und streckte widerstrebend die Hand aus, um das Kaugummi in Empfang zu nehmen. Er guckte nicht hin, als Mathilde es ihm auf die Hand spuckte. »Und jetzt?«, fragte er und besah sich voller Ekel seine Hand, in der jetzt irgendwo ein Kaugummi schwamm. »Ganz einfach: Jetzt stellst du den Schalter beim Radio um und klebst ihn mit dem Kaugummi und, äh, der Spucke fest.«, erklärte Eberhard und hielt ihm das Radio hin. »Aha.«, meinte Alfred, legte den Schalter um und versuchte mit seinen dicken, ungelenkigen Fingern und dem Kaugummi den Schalter festzukleben. »He was macht ihr da mit meinem Radio?«, wollte Irene misstrauisch wissen, als sie das Kaugummi sah, das sich ihrem Radio bedrohlich näherte. »Ihr wollt doch wohl nicht mit dem Kaugummi mein Radio reparieren Das geht doch nicht!« Sie schüttelte den Kopf. »Also so was Unappetitliches habe ich ja noch nie gesehen oder! wartet mal Doch Es muss im Jahre -1 2 5 -
1743 gewesen sein Mir hat mein Urgroßvater davon vor vielen Jahren erzählt also damals ist es doch tatsächlich passiert dass ich glaube damals ging es um eine Gijo… Guillotine oder wie das heißt Jedenfalls… He das Radio funktioniert wieder!« »Ja!«, stellte Alfred fest stolz und suchte dringend ein Taschentuch, fand aber keines. In diesem Moment bereute er zum zweiten Mal, dass es ihn auf Seite 37 nicht interessiert hatte, als ihm das Taschentuch aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen war. Dankbar nahm Irene ihr Radio in Empfang und widmete sich wieder der Fußballübertragung. »Hat jemand ein Taschentuch?«, fragte Alfred und sah etwas gereizt in die Runde. »Ja«, sagte Irene hilfsbereit und zog ein äußerst zerknittertes, dreckiges Taschentuch aus ihrer Tasche. »Ich hab es zwar schon einige Male benutzen müssen seitdem ich es vor vier Monaten eingesteckt habe aber ich denke es reicht noch für Sie Ich selber musste vor einigen Jahren mal ein Taschentuch benutzen dass Sie werden es nicht glauben vier Jahre in einem großen roten!« »Oh, äh, nein danke.«, unterbrach Alfred sie und wich einige Schritte zurück, als sie ihm das Taschentuch vor die Nase hielt. Auf einmal merkte er, dass ihm etwas übel geworden war. »Kann ich mal dein Badezimmer benutzen?«, fügte er hinzu und sah Eberhard an. »Sicher.«, erwiderte der schulterzuckend. »Du bist etwas blass geworden.«, fügte der Fernsehmensch hinzu, schloss die Tür zum Laden auf und zeigte ihm, wo er hinmusste. »Aber nicht beschmutzen, hörst du?« »Danke!«, sagte Alfred, legte das Megaphon unsanft beiseite und verschwand außerordentlich schnell in Eberhards Fernsehfachgeschäft. Jetzt, dachte Gottfried, ist meine Chance gekommen. Alfred -1 2 6 -
war nicht mehr da und die Menge unzufrieden. Er nahm sich das Megaphon, stieg auf die Holzkiste und wandte sich an die Menschen: »Kameradinnen und Kameraden!«, rief er. »Jetzt, da ich Alfred gestürzt habe, ich meine, Alfred kurz mal verschwunden ist, werde ich, Gottfried, mich nun an euch wenden.« »Häh?«, fragte die Menge. »Was hat der Typ da gerade gesagt? Kameradinnen und Kameraden??« »Heute ist ein großer Tag für Deutschland! Auch, wenn wir das Finale verlieren sollten!«, fuhr Gottfried leidenschaftlich fort, was die Menge mit vereinzelten Buhrufen und Pfiffen quittierte. »Denn ich sehe, das hier eine Bewegung heranwächst!«, ließ sich Gottfried nicht beirren. »Eine GROßE Bewegung!« »Bewegung?«, fragten die Leute. »Wir wollen uns aber nicht bewegen! Wir wollen unsere Fernseher wiederhaben!!« »Buuuhh!« Gottfried seufzte. So schwer hatte er sich das nicht vorgestellt. Na schön, dachte er, ihr sollt eure Fernseher bekommen. »Eine große Bewegung, die euch nicht nur eure Fernseher wiedergeben wird!«, fügte er deshalb hinzu. Endlich kam ein verhaltener Beifall auf, was Gottfried zufrieden registrierte. Endlich wurde ihm wenigstens ein Bruchteil der Anerkennung zuteil, die ihm gebührte. »Bravo!«, riefen einige Leute und »Wir wollen Fernseher!« »Eine große Bewegung, die weiter wachsen kann!«, fuhr Gottfried begeistert fort und machte ein paar Handbewegungen, von denen er glaubte, dass sie kämpferisch wirkten. »Und sie wird unter MEINER FÜHRUNG weiter wachsen, das verspreche ich euch!« Durch den Beifall war er offenbar etwas überheblich geworden. Die Menge verstummte und sah ihn groß an. -1 2 7 -
»Immer weiter wird sie wachsen! Weiter und weiter! Und unter MEINER FÜHRUNG werden wir bald so stark sein, dass wir die Macht in Deutschland an uns reißen können! JAWOHL!!« Allmählich begann die Menge, ihn skeptisch zu begutachten. Na gut, dachte Gottfried, als er die Reaktion, die keine war, bemerkte, ihr brauc ht nicht zu jubeln, ich krieg euch schon noch - ob ihr wollt oder nicht. »Wir werden die MACHT in Deutschland an uns reißen!«, wiederholte er in einem noch schärferen Tonfall. »Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis uns die WELT gehört! Jawohl, ich sage euch: Unter MEINER FÜHRUNG werden wir die WELTHERRSCHAFT an uns reißen!«, rief er begeistert und erwartete einen tosenden Beifall. Die Menge blieb stumm. Nur eine kleine Gruppe jubelte ihm begeistert zu. Man konnte dort den kleinen, den dicken und den großen sowie einige andere geistesgestörte Glatzköpfe erkennen. »Was macht der da eigentlich?«, unterbrach Rudolf nach einiger Zeit die Stille, deutete auf Gottfried, schüttelte den Kopf und sah Irene an. »Ich weiß auch nicht so genau«, meinte Irene, sah Gottfried kritisch an und verzog das Gesicht. »Hat er eben irgendwas von Weltherrschaft ans sich reißen gesagt?« »Ich glaube ja.«, antwortete Rudolf und freute sich, dass sich diesmal so etwas wie eine Unterhaltung zwischen ihnen zu entwickeln schien. »Ich glaube, er ist größenwahnsinnig geworden.«, stellte er fest. »Also ich habe von so einem Typen schon mal was gehört«, erklärte Irene und dachte nach. »Das ist aber alles schon ziemlich lange her Ich glaube das war so 1939 Ich bin der Meinung der hieß dama ls Adolf oder so Wenn Sie mich fragen ein reichlich bescheuerter Name na ja Jedenfalls hatte dieser Typ den Intellekt einer durchschnittlich begabten Stubenfliege -1 2 8 -
und er hat ganz ähnlich rumgeschrieen wie Gottfried Und ich habe davon gehört dass er am Anfang sehr beliebt bei den Leuten war was ich mir gar nicht vorstellen kann aber vielleicht hatten die ja nur Mitleid weil der Typ wohl echte Probleme und unglaublich starke Minderwertigkeitskomplexe hatte Ich kann mich auch täuschen aber ich glaube dass dieser Typ auch die Weltherrschaft an sich reißen wollte wobei mir im Moment entfallen ist was daraus geworden ist und!« »Vielleicht sollten wir ihn stürzen?«, schlug Rudolf vor, der die Gefahr eines drohenden, nicht enden wollenden Monologs erkannte und Irene deshalb möglichst schnell unterbrechen wollte. »Ihn stürzen?«, fragte Irene unsicher. »Das ist aber nicht so ganz ungefährlich glaube ich Vielleicht hat er schon eine Art Geheimpolizei aufgebaut die dann einschreiten uns verhaften und foltern wird Ich habe schon von so etwas gehört damals ich glaube es war!« »Geheimpolizei?«, fragte Rudolf dazwischen und sah Mathilde und Richard prüfend an. »Nein, ich glaube, eine Geheimpolizei hat er noch nicht.«, meinte er dann. »Andererseits!«, sagte er, als er die Glatzköpfe erblickte, die Gottfried gerade zujubelten. Als Alfred in diesem Moment - immer noch etwas blass wieder zurückkam, erkundigte er sich zunächst bei Irene nach dem Zwischenstand und der gespielten Zeit. »Das haben wir eben etwas vernachlässigt weil wir darüber diskutiert haben ob wir Gottfried stürzen sollten«, erzählte Irene. »Ich war allerdings der Meinung dass wir damit erst einmal abwarten sollten wegen der Geheimpolizei die er aufgebaut hat und die bestimmt gegen uns vorgehen würde wenn wir!« Erst da bemerkte Alfred seinen Nachbarn mit dem Megaphon und starrte ihn an. -1 2 9 -
»…außerdem muss so ein Putsch gut vorbereitet sein was ich im Jahre 1976 gelernt habe als ich versehentlich stellvertretende Anführerin des Aufstandes in einem südamerikanischen Land wurde dessen Name ich gerade vergessen habe Jedenfalls!«, fuhr Irene fort. »Und ICH werde mächtig sein!«, schrie Gottfried währenddessen in die Menge. »SEHR MÄCHTIG! Und meine Gegner werde ich zerquetschen wie die Fliegen! Denn ICH werde MACHT haben! OH JA! MACHT!!!« Jetzt war es ganz still geworden. Sogar die Glatzköpfe waren ruhig. Lautstark fiel ein Blatt von einem Baum herab, eine Mücke rauschte vorbei und in der Ferne war deutlich eine zirpende Grille zu hören. »Was macht der da?«, wollte Alfred wissen, deutete auf Gottfried, schüttelte den Kopf und sah Irene und Rudolf an. Irene hob die Schultern, während Rudolf mit einer Hand vor seinem Gesicht hin- und herwinkte. Damit wollte er wahrscheinlich ausdrücken, dass Gottfried als Kind wohl einige Male zu heiß gebadet worden sei, weshalb er in einer Klapsmühle vermutlich besser aufgehoben sei. »Das ist ja unerhört!«, meinte Alfred, ging entschlossen auf Gottfried zu und griff nach dem Megaphon. »HE!«, rief Gottfried empört. »Geben Sie mir das Megaphon zurück!«, rief Alfred zurück, stieß ihn von der Holzkiste und stieg schnell selber rauf. »Alfred! Alfred!«, feuerte die Menge geschlossen - bis auf die Glatzköpfe - ihren Helden an. »Nein. Ich bin der Führer!«, rief Gottfried, und wollte wieder auf das Podium. »Buh!«, schrieen die Leute. Es entwickelte sich ein kurzes Gerangel um Megaphon und Podium, bei dem Gottfried das Podium und Alfred das -1 3 0 -
Megaphon zurückerobern konnte. »Pfff. Ich brauche die blöde Holzkiste gar nicht.«, erklärte Alfred kurzerhand und räusperte sich, während die Menge gespannt verfolgte, wie sich der kleine, der große und der dicke Glatzkopf den beiden um die Vorherrschaft Kämpfenden näherten, offensichtlich, um Gottfried zu unterstützen. »Frau Lehmann!«, rief Alfred ängstlich, als er die drei kommen sah. »Könnten Sie mal kurz kommen? »Ich habe keinen Kaugummi mehr !«, rief Mathilde ärgerlich zurück und konzentrierte sich wieder auf Richard. »Die Glatzköpfe wollen mir was tun!«, sagte Alfred nervös und deutete auf den Kleinen, den Großen und den Dicken, die offenbar nicht in friedlichen Absichten auf ihn zusteuerten. »Moment, das haben wir gleich!«, erklärte Frau Lehmann, als sie die drei sah, und ließ sich von Richard ihren etwas angeknacksten Spazierstock geben. Der Dicke war der erste, der Mathilde und ihren Stock sah. Wie angewurzelt blieb er stehen. »Oh, nein!«, rief er mit zitternder Stimme und versuchte, sich hinter dem Großen zu verstecken. »Die verrückte Alte schon wieder!« »Da mache ich auch nicht mit!«, erklärte der Große ängstlich, hielt sich seinen immer noch schmerzenden Kopf und verkroch sich hinter Gottfried, wo sich aber schon der Kleine versteckte. »Ihr unverschämten Lümmel! Was fällt euch ein, ältere Herrschaften zu belästigen?«, sagte Mathilde und kam langsam und mit drohend erhobenem Stock auf die drei zu. »Jetzt könnt ihr was erleben!« »Bitte tun Sie uns nichts!«, kam eine klägliche Stimme hinter Gottfrieds Beinen hervor. »Wir versprechen auch, dass wir brav sind.« »Na schön.«, sagte Mathilde misstrauisch und blieb, den -1 3 1 -
Stock im Anschlag, neben Alfred stehen. »Ich behalte euch im Auge!« »Danke schön!«, sagte Alfred, bevor ihm einfiel, dass es ja allmählich an der Zeit war, seine Rede fortzusetzen. »Ja, ja, schon gut!«, brummte Mathilde. »Weichei!« »Mann, seid ihr Feiglinge!«, rief Gottfried hinter sich und schüttelte den Kopf. »Mein Führer, offensichtlich habt Ihr noch keine Bekanntschaft mit dem Stock gemacht.«, erklärte der Kleine nervös, spähte vorsichtig hinter Gottfrieds Beinen hervor und stellte erleichtert fest, dass ihnen momentan keine unmittelbare Gefahr drohte. Alfred musste in der Zwischenzeit angeekelt feststellen, dass die Sprechvorrichtung des Megaphons offensichtlich ziemlich bespuckt worden war. Er warf Gottfried einen bösen Blick zu und bereute in diesem Moment zum dritten Mal, dass es ihn auf Seite 37 nicht interessiert hatte, als ihm das Taschentuch aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen war. »Übrigens steht es nach wie vor 1:1«, erklärte Irene und hielt ihr Radio hoch. »In der Verlängerung sind jetzt etwas mehr als fünf Minuten gespielt und es sieht so aus als hätte Deutschland eben eine große Chance gehabt Auch sonst spielen sie anscheinend ziemlich gut in den letzten Minuten was sich meiner Meinung aber schnell rächen kann wie man in der Vergangenheit schon des öfteren gesehen hat Zum Beispiel gab es da mal ein Spiel ich weiß nicht mehr wann das war!« »DAN-KE!«, unterbrach Alfred sie etwas lauter, als er es geplant hatte und fügte deshalb schnell ein freundliches »Das war sehr nett von Ihnen. Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie uns über das spätere Geschehen weiterhin informieren würden, vielleicht nicht ganz so ausführlich.« hinzu. »Gern geschehen«, erwiderte Irene freundlich und hielt das Radio wieder an ihr Ohr. -1 3 2 -
»Puh!«, machte Alfred erleichtert und drehte sich zur Menge um, die über die diplomatischen Fähigkeiten ihres Anführers im Umgang mit schwierigen Personen wie Irene staunte. Dann hob er das Megaphon zum Mund, sah skeptisch auf die Sprechvorrichtung und vergrößerte danach den Abstand zwischen dem Gerät und seinem Mund beträchtlich. »Liebe Leute!«, begann Alfred und schielte auf das Podium, auf dem Gottfried immer noch mit verschränkten Armen stand. »Ich möchte euch zunächst mitteilen, dass Deutschland immer noch alle Chancen auf den Weltmeistertitel hat. Es steht nach, äh, na ja, ungefähr sieben Minuten in der Verlängerung immer noch 1:1 ! Und, ihr werdet es nicht glauben, Deutschland spielt gut!!« Die Menge jubelte ihm zu, einerseits, weil Deutschland scheinbar gute Chancen auf den Weltmeistertitel hatte, zum anderen, weil alle froh waren, dass Gottfried endlich zu reden aufgehört hatte und Alfred wieder da war. »Bevor wir nun also zum Radiosender marschieren, möchte ich noch kurz die Forderungen vorstellen, die wir dort zu gegebener Ze it unterbreiten werden.«, erklärte er und ließ sich von Mathilde den Forderungszettel geben. Als er sah, dass sich die Forderungen mittlerweile über drei Seiten erstreckten, sah er seine Nachbarin groß an und nahm das Megaphon runter. »Was ist das denn?«, fragte er erstaunt. »Na ja,«, erklärte Mathilde schulterzuckend, »Richard und ich haben die Liste noch ein bisschen erweitert und dann kamen plötzlich ein paar Leute zu uns und wollten, dass wir ihre Forderungen auch mit aufschreiben, was wir dann auch getan haben.« »Aha.«, meinte Alfred, betrachtete die Zettel skeptisch, blätterte kurz darin und hob das Megaphon zum Mund. -1 3 3 -
»Unsere Forderungen!«, begann er. »1.: Unsere Fernseher müssen wieder laufen. 2.: Die Bedingungen in den Altersheimen müssen verbessert werden.« »3.: Weniger Werbung im Fernsehen.«, fuhr er fort. Die Menge jubelte. »4. fordern wir Kau!«, er nahm den Zettel runter und sah Mathilde und Richard fragend an, die unschuldig zurückguckten. »Kaugummiautomaten? An jede Straßenecke??«, fragte er erstaunt, während Richard eine besonders große Kaugummiblase machte, die dann zerplatzte. »Jawohl, mein Herr, wir finden, Kaugummiautomaten gehören an jede Straßenecke.«, erklärte Mathilde und rückte ihre Brille zurecht. »Sie sind nicht nur nützlich für Leute, die plötzlich Hunger bekommen, sondern können auch bei anderen Dingen eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel bei der Reparatur von Radios und ähnlichem.« Alfred musste zugeben, dass sie irgendwo Recht hatte und nickte zustimmend. »Na gut, 4. also: Kaugummiautomaten an jede Straßenecke.«, sagte er und beobachtete skeptisch die Reaktion der Menge. Etwas irritiert stellte er fest, dass auch dieser Punkt mit begeistertem Jubel aufgenommen wurde. »5. fordern wir die internationale Ächtung jeglicher Volksmusik und die öffentliche Verbrennung sämtlicher Tonträger, die zur Verbreitung derselben verwendet werden.«, las er weiter vor. Jetzt schien sich Unmut in Teilen der Menge und bei Irene breit zu machen, in anderen Teilen brach dagegen der übliche Jubel aus. »Hm. In diesem Punkt scheint es Differenzen zu geben.«, stellte Alfred fest und rieb sich nachdenklich das Kinn. Was gar nicht so einfach war, da er in einer Hand das Megaphon und in -1 3 4 -
der anderen den Zettel mit den Forderungen hielt. »Am besten, wir bilden einen Ausschuss für diese Angelegenheit und lassen dann das Gremium nach gaanz langen Beratungen entscheiden.«, schlug er vor, nachdem jemand aus der Menge zu ihm gekommen und ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Erwartungsgemäß nahm die Menge diesen Vorschlag mit Begeisterung auf. Worte wie »Gremium«, »Ausschuß« und »Komitee« waren fast immer ein wirksames Mittel, um Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zum Stillhalten zu bewegen. Danach war Zeit genug, um die Sache unter den Teppich kehren und auf sich beruhen zu lassen. So funktioniert also Politik, stellte Alfred fest. Das konnte wirklich jeder Idiot. Sogar er. »6.: Punkt 5 gilt auch für alle komischen Hüte.«, las er vor und sah Irene an, die sich jetzt jedoch voll auf die Radioübertragung zu konzentrieren schien. »7.:! äh, das kann ich nicht lesen!«, fuhr er fort und sah Mathilde fragend an, während die Menge ihren Anführer und die tolle siebte Forderung feierte. Mathilde riss ihm den Zettel aus der Hand und begutachtete ihn. »Ach so.«, sagte sie dann. »Das waren ein paar langhaarige Lausebengel. Die wollten, dass alle Drogen legalisiert werden. Und LSD ins Trinkwasser! Stellen Sie sich das vor!« Alfred sah einige Langhaarige mit etwas glasigem Blick in den ersten Reihen stehen, die ihm jetzt mit einem verklärten Lächeln zuwinkten. »Ich hab das natürlich sofort durchgestrichen.«, erklärte Mathilde weiter und fuchtelte mit dem Stock drohend in Richtung lange Haare. »Ihr Bengel!«, rief sie ihnen zu. »Was euch fehlt, ist eine -1 3 5 -
tüchtige Tracht Prügel!« »Also, ich fand die idea gar nicht so schlecht.«, meinte Richard vorsichtig, verstummte aber, als er Mathildes Blick bemerkte. »Ach so, na ja.«, kommentierte Alfred, nahm Mathilde die Zettel wieder ab und blätterte zur nächsten Seite, während die langen Haare vorsichtshalber irgendwo in der Menge verschwanden. »Also, dann jetzt 8.:«, las er der Menge vor. »Regierungschef nach dem Staatsstreich wird Alfred!?«, sagte er und guckte noch einmal auf den Zettel. »Huch!!das bin ja ich?! Ist das Ernst gemeint?«, fragte er Mathilde erstaunt. »Ja, das hat mich auch sehr gewundert.«, meinte seine Nachbarin, während die »Alfred!«-Sprechchöre im tosenden Beifall und im Jubel der Menge allmählich untergingen. »Aber alle Leute, die zu uns kamen, wollten unbedingt, dass wir das aufschreiben. Ich habe dann mit denen diskutiert, aber die wollten sich das nicht ausreden lassen.«, fügte sie schulterzuckend hinzu und deutete auf die jubelnde Menge. »Schließlich habe ich es aufgeschrieben.« Als Gottfried das hörte, rief er vom Podium aus »Pöh! Ich bin hier der einzig wahre Führer!« und erhielt immerhin unterstützenden Beifall von seinen Glatzköpfen, die sich in der Zwischenzeit- wahrscheinlich aus Angst vor Mathilde - ein Stück von ihm entfernt hatten. »Wo seid ihr, meine Getreuen?«, schrie Gottfried und wollte sich an den erwarteten Sympathiebekundungen der breiten Masse erfreuen. Stattdessen rief nur der kleine Glatzkopf »Äh, hier, mein Führer!« und winkte ihm aus sicherer Entfernung zu. »Euch meinte ich doch gar nicht, du Schwachkopf!«, rief Gottfried ihm zu, während lautstarke Pfiffe und Buh-Rufe durch die Straßen hallten. Wenig später wurde er dann von der Holzkiste -1 3 6 -
heruntergezogen und durch die Menge zusammen mit dem kleinen, dem dicken und dem großen Glatzkopf nach außerhalb befördert. Danach wurde Alfred unter dem Jubel der Menge auf das Podium gehievt und gefeiert. »Äh!«, meinte Alfred währenddessen nervös, steckte einen Finger in den Mund und wusste nicht recht, was er jetzt machen sollte. Er fühlte, wie allmählich etwas Unbehage n in ihm aufstieg. Er glaubte nicht, dass die Idee mit dem Regierungschef eine besonders gute war. Dann sah er erleichtert, dass ihm Irene mit dem Radio zuwinkte und anscheinend etwas wichtiges vom Spiel berichten wollte. Damit konnte er die Leute etwas vo n seiner Person ablenken. »Ich habe gesehen dass Sie etwas nervös geworden sind«, sagte sie stattdessen. »Und wollte Ihnen sagen dass die beste Medizin dagegen ist wenn Sie einige Male ganz tief durchatmen Das hat mir meine Großmutter damals schon geraten als ich noch ein Kind war und ich im Schultheater eine wichtige Rolle spielen sollte Ich erinnere mich noch dass ich eine alte Klatschtante spielen sollte Eine Rolle die mir überhaupt nicht lag wie Sie sich sicher denken können Ich war so nervös dass ich monatelang nicht schlafen konnte und als dann der Tag der Aufführung kam!« »Gibt es was neues vom Fußball?«, unterbrach Alfred sie drängend. »Nein eigentlich nicht«, sagte Irene. »Obwohl - in den letzten Minuten hatte Deutschland einige gute Möglichkeiten und wenn ich mich mein Gefühl nicht täuscht kann Deutschland das Spiel gewinnen glaube ich Aber es sind ja erst 10 Minuten in der ersten Halbzeit der Verlängerung gespielt und da kann natürlich noch viel passieren Aber ich!« »Danke!«, rief Alfred etwas unge halten dazwischen. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, sie nicht mehr so -1 3 7 -
unhöflich zu unterbrechen, aber er konnte ihre Monologe nervlich nicht länger als zwei Minuten ertragen. »Ich habe gute Nachrichten für euch!«, wandte er sich danach an die Menschen. »Deutschland spielt gut und es scheint nach 10 Minuten in der Verlängerung, als könnten wir Weltmeister werden!« »Bravo!«, »Ja!« und »Alfred, befiehl, wir folgen!«, schrie die Menge begeistert. Alfred winkte der Masse freundlich lächelnd zu, sah auf die Zettel mit den Forderungen und stellte fest, dass dort noch mehr draufgekritzelt war. »Also weiter mit den Forderungen. Wenn beim Fußball irgendetwas passiert, berichte ich natürlich sofort davon.«, erklärte er durch das Megaphon und die Menge war begeistert ob dieser hervorragenden Idee. »9.: Jeder Bürger hat Anspruch auf einen kostenlosen Spazierstock.«, las er vor, während Mathilde ihren angeknacksten Stock triumphierend in die Höhe hielt. Das war eine Forderung, die Alfred vorbehaltlos unterstützte. So ein Stock war nicht nur als Gehhilfe nützlich, sondern konnte auch als Verteidigungswaffe wirkungsvoll eingesetzt werden. Obwohl man im Fall von Frau Lehmann wohl eher von einer Angriffswaffe sprechen musste. Die Menge reagierte jedenfalls begeistert, aber das tat sie ja ohnehin bei fast allem, was Alfred sagte. »10.: Wir fordern, dass kein Handtaschenbesitzer aufgrund seiner Andersartigkeit diskriminiert werden darf.«, fuhr Alfred unter dem Jubel seiner Anhänger fort. Die Auseinandersetzungen zwischen den Handtaschensympathisanten und deren Gegner hatten sich in Deutschland in den letzten Wochen zu massiven Konflikten ausgeweitet, in deren Verlauf es sogar schon gewalttätige Anschläge gegen Personen der jeweils anderen Gruppe gegeben -1 3 8 -
hatte. Einige sogenannte Experten hatten sogar schon auf die Gefahr eines drohenden Bürgerkrieges hingewiesen. »11.: Das Ministerium für Handtaschenangelegenheiten wird abgeschafft, weil es durch Punkt 10. überflüssig geworden ist!« »TOOR!«, schrie Irene plötzlich entzückt dazwischen. »Tor für Deutschland!« Daraufhin wurde es einen Augenblick ziemlich ruhig, bis die Leute die Bedeutung dieser Worte verinnerlicht hatten. »Habt ihr das gehört?«, rief Alfred dann in die Menge. »Deutschland hat das 2:1 geschossen! Deutschland führt! Deutschland wird Weltmeister!!« Wieder brach ein ungeheurer Jubel los, wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Einige Leute schwenkten eine mitgebrachte Fahne, andere ihr Taschentuch oder ihr Schlüsselbund. Die unterschiedlichsten Gegenstände flogen durch Luft. Kleidungsstücke, Schlüssel, die Forderungszettel und Mathildes Spazierstock wurden jubelnd durch die Gegend geworfen und kurz darauf erneut verzweifelt gesucht. Rudolf wollte währenddessen Irene umarmen und zwar nicht unbedingt aus Freude über das Tor, vielmehr wollte er sich ihr körperlich zu nähern. Sie wollte aber nicht noch mehr von der Radioübertragung verpassen, weshalb sie ihn nicht sehr sanft zur Seite stieß, während Eberhard ein Deja-vu-Erlebnis hatte. Er erzählte es Alfred, der ihn gerade umarmte, aber nicht wusste, was ein »Deschawü-Erlebnis« war. Nur Gottfried freute sich nicht so recht. Er saß mit seinen Glatzköpfen etwas abseits von dem Trubel und war mit seinen Gedanken ganz woanders. »Ich geh mal kurz, äh, wohin.«, erklärte Alfred kurz darauf der Menge und ging mal kurz auf Eberhards Klo, was viele aber überhaupt nicht mitbekamen, da sie immer noch mit Jubeln und Applaudieren beschäftigt waren. -1 3 9 -
Als er nach einiger Zeit sichtlich erleichtert wiederkam, sah er sich den Zettel an und fügte einen neuen Punkt 12 ein, der ihm eben auf Klo eingefallen war. »12. fordern wir die radikale Streichung jeglicher Steuererhöhungen.«, rief er der Menge zu. Er hätte an dieser Stelle bereitwillig zugegeben, dass es sich dabei um eine sehr populistische Forderung handelte, jedenfalls dann, wenn er gewusst hätte, was »populistisch« bedeutet. »13. wollen wir die sofortige, endgültige Einstellung von allen anspruchsvollen Kultursendungen.«, las er weiter vor. »Wir fordern stattdessen die Ansetzung von weiteren primitiven Talkshows, mehr Sport und die Wiedereinführung von TuttiFrutti.« Eine Forderung, die auch von Alfred selber hätte stammen können, für die er jedenfalls vollstes Verständnis hatte. Die Menge war schier aus dem Häuschen. Was für ein Genie musste hinter diesen Forderungen stecken! »Außerdem 14.:«, las Alfred weiter vor, »Wir fordern, dass es dem FC Bayern München verboten wird, jemals wieder Deutscher Meister zu werden!« »Ich glaube, wir sollten einige Forderungen noch einmal überarbeiten.«, fügte er hinzu, als die erwarteten Begeisterungsstürme zum Teil ausblieben. »15. fordern wir, dass im Radio mehr von den Rolling Stones gespielt wird!?«, fuhr er fort und sah Mathilde und Richard verständnislos an. Mathilde antwortete mit einem hilflosen Schulterzucken, Richard dagegen nickte heftig. Gottfried hatte sich währenddessen dazu durchgerungen, sich Alfred zunächst einmal unterzuordnen, um die Macht nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Vielleicht konnte er ja als sein Stellvertreter agieren, um dann später - wenn Alfred mal -1 4 0 -
etwas zustoßen sollte (man konnte schließlich nie wissen!) eventuell sein Nachfolger zu werden. Und dann würde er MÄCHTIG sein. Sehr MÄCHTIG! Und seine Gegner würde er zerquetschen wie! Er schüttelte sich und schlug sich einige Male leicht auf die Wange. Von Zeit zu Zeit hatte er solche Visionen und sie quälten ihn, vor allem jetzt, als er erkennen musste, dass er sie nicht verwirklichen konnte. Jetzt erhob er sich also, schickte seine Glatzköpfe weg und ging zu Alfred, um sich bei ihm einzuschleimen. Die Leute in der Menge, an denen er sich vorbeischlich, begutachteten ihn skeptisch, ließen ihn aber gewähren. »Hilfe! Frau Lehmann!«, rief Alfred, als er Gottfried kommen sah und erkannte dann, dass die Glatzköpfe ihn nicht mehr begleiteten. »Schon gut !«, fügte er deshalb hinzu. »Ich kann mich auch alleine wehren.« »Ich möchte mich bei Ihnen nur entschuldigen.«, meinte Gottfried beschwichtigend. »Ich bin vorhin wohl etwas größenwahnsinnig geworden.«, fügte er schuldbewusst hinzu, sah beschämt nach unten und drehte mit dem Fuß verlegen einige Kreise auf dem Boden. »Ja, das kann man wohl sagen.«, sagte Alfred streng und verschränkte die Arme vor der Brust. Er fühlte sich ziemlich stark, vor allem aufgrund der Tatsache, dass Mathilde immer noch neben ihm stand. »Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Ich glaube, ich war neidisch.«, versuchte Gottfried zu erklären. »Ich dachte, ich könnte die Menge genauso begeistern wie Sie.« »Was aber nicht geklappt hat, wie?«, meinte Alfred und konnte den Triumph in seiner Stimme nicht verbergen. »Nicht so richtig, nein.«, gab Gottfried zu. »Ich habe jetzt eingesehen, dass ich alleine keine Chance auf MACHT habe.« -1 4 1 -
»Und jetzt?«, wollte Alfred wissen. »Nun dachte ich, äh, könnte ich Sie unterstützen und helfen, ihre MACHT auszubauen.«, meinte Gottfried. »Und vielleicht als eine Art Stellvertreter von Ihnen!?« Alfred gefiel zwar der Tonfall nicht, in dem Gottfried das Wort »MACHT« aussprach, trotzdem antwortete er: »Na gut, Sie dürfen mich unterstützen!, falls ich irgendwann einmal Hilfe brauchen sollte!«, fügte er ein wenig überheblich hinzu. »Vielen Dank.«, erklärte Gottfried und verbeugte sich auf eine seltsame unterwürfige Art. Alfred wandte sich wieder an die Menschen auf der Straße. »16. Forderung:«, las er vor. »Die Polizei hat für mehr Sicherheit auf den Straßen zu sorgen. Andererseits soll es ihr nicht erlaubt sein, Anführer von spontanen Kundgebungen, die sich zu historischen Revolutionen entwickeln könnten, einfach so zu verhaften.« »Sehr schön!«, fand Alfred und winkte der begeisterten Menge freundlich zu. So, jetzt hatte er alle aufgeschriebenen Forderungen vorgelesen, aber die wichtigste Forderung, DIE Forderung schlechthin, fehlte noch: »Und hier kommt unsere 17. und gleichzeitig letzte Forderung: KOSTENLOSES FERNSEHEN FÜR ALLE!«, schrie er begeistert in die Menge. »Wir fordern die sofortige Abschaffung jeglicher Fernsehgebühren sowie des Pay-TV!« Jetzt gab es kein Halten mehr: Die Leute vor dem Fernsehgeschäft antwortete mit einem nicht enden wollenden Jubel und fanatischen »Alfred!«- Sprechchören. »Vielen Dank!«, sagte Alfred und verneigte sich mehrmals dankbar vor der Menge. »Halbzeit!«, rief Irene in diesem Moment dazwischen und ballte die Faust. »Und immer noch 2:1!« -1 4 2 -
»Was ist los?«, erkundigte sich Alfred bei der Klatschtante und gab die freudige Nachricht kurz darauf an die Menge weiter. »Allerdings ist eben ein deutscher Spieler vom Platz gestellt worden.«, erzählte Irene kleinlaut weiter. »Was?«, rief Alfred erschreckt. »Wer? Warum??« »Dieser! na jetzt habe ich den Namen vergessen Wie hieß er denn noch? Er erinnert mich immer an einen Fußballspieler den ich kenne und der im Jahre 1976 so gut war und in dem Jahr auch ein oder zwei Tore geschossen hat Ja das war 1976 oder doch 1975? Jedenfalls sah er sehr gut aus Sie wissen sicher wen ich meine! Ich treffe ihn auch heute noch ab und zu Und ich muss sagen dass ich immer noch ein bisschen in ihn verliebt bin Allerdings verhält er sich mir gegenüber sehr zurückhaltend was ich gar nicht verstehen kann und sehr schade finde aber ich glaube!« »Was?«, unterbrach Rudolf sie, der zunächst nur mit einem Ohr zugehört hatte, durch die Worte »! ich war! verliebt« nun aber aufgeschreckt wurde. »Wer? Warum??« Irene sah ihn an und wiederholte das eben Gesagte. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie dann. »Sie sehen plötzlich sehr blass aus.« Verlassen wir nun dieses traurige Bild von Rudolf und seinem gebrochenem Herzen und wenden uns wieder der Revolution zu: Scheiße, dachte Alfred, jetzt muss ich den Leuten irgendwie beibringen, dass ein deutscher Spieler eine Rote Karte bekommen hat. »Hast du zufällig ein Bier da?«, fragte er Eberhard, weil er hoffte, dass es mit einem Bier in der Hand wesentlich einfacher werden würde. »Nein.«, stellte Eberhard ruhig fest, dachte an das teure Bier in seinem Kühlschrank und schüttelte den Kopf. »Mist.«, machte Alfred und atmete tief durch. -1 4 3 -
Allein der Gedanke an ein kühles Bier hatte sein Gehirn aber so sehr beflügelt, dass ihm etwas einfiel. »Gottfried!«, rief er daher seinem Nachbarn zu. »Ich habe eine Aufgabe für Sie!« Gottfried eilte herbei und machte ein eifriges Gesicht, das jedoch immer länger wurde, als Alfred ihm erklärte, was er machen sollte. »Na schön.«, sagte er trotzdem missmutig und flüsterte dann weiter. »Na warte, falls ich es doch noch schaffen sollte und an die MACHT komme, werde ich dich zerquetschen wie!« Er schüttelte sich, nahm Alfred das Megaphon aus der Hand und wandte sich der Menge zu : »Es ist also Halbzeit in der Verlängerung und Deutschland führt immer noch mit 2:1! Allerdings!«, erklärte er und zögerte. Als ihr Anführer Gottfried das Megaphon überreichte und der plötzlich zu ihnen sprach, waren die Leute so erstaunt, dass sie ihn nur sprachlos anstarrten. »Allerdings gibt es auch eine nicht so gute Nachricht.«, fuhr Gottfried unsicher fort. »Es ist nämlich eben ein deutscher Spieler vom Platz gestellt worden.« Als die Leute das hörten, pfiffen sie Gottfried gnadenlos aus und schrieen ihn nieder. Alfreds Nachbar duckte sich, als er mit den verschiedensten Gegenständen beworfen wurde. Immer wieder skandierte die Menge »Gottfried weg!«. »Danke schön!«, sagte Alfred zu seinem Nachbarn, nachdem sich die Menschen wieder etwas beruhigt hatten, und nahm ihm freundlich das Megaphon ab. »Deutschland spielt also die letzten 15 Minuten nur noch mit zehn Mann.«, rief er der Menge danach aufmunternd zu. »Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sie den Vorsprung über die Zeit retten!« Als die Leute das hörten, jubelten sie Alfred zu und klatschten -1 4 4 -
ihm begeistert Beifall. Immer wieder skandierte die Menge »Hoch Alfred!«. Irene machte sich in der Zwischenzeit Sorgen um Rudolf, der immer noch ziemlich mitgenommen aussah. »Ist es wegen dem Mann, den ich ab und zu treffe?«, wollte sie wissen. »Ich meine na gut er sieht sehr gut aus und er ist ein ehemaliger Fußballspieler und ein sehr guter noch dazu Mit so etwas können Sie wohl nicht dienen wenn ich das richtig sehe aber!« »Pffff.«, machte Rudolf verächtlich. »Fußball ist doch doof. Es gibt viel wichtigeres im Leben.« »Was? Fußball ist nicht doof«, meinte Irene gekränkt und drehte sich mit einem gekonnten Hüftschwung von ihm weg, hielt das Gesicht aber so, dass er ihren weiteren Erzählungen lauschen konnte. »Fußball ist ein toller Sport obwohl ich persönlich natürlich viel lieber Bridge spiele Aber ich glaube das habe ich Ihnen aber schon erzählt Jedenfalls hat mir schon mein Opa damals beigebracht dass Fußball eine sehr wichtige Funktion!« Scheiße, dachte Rudolf, jetzt ist sie auch noch beleidigt. Das hatte er nicht gewollt. »!das muss ich glaube im 1954 gewesen sein als er kurz vor einem für ihn sehr wichtigen Ereignis stand ich weiß allerdings nicht mehr so genau worum es dabei ging! Jedenfalls finde ich es nicht gut von Ihnen dass Sie den Fußball schlecht machen Im übrigen waren Sie es doch vorhin der ständig nach!« »Jaja, ist ja gut.«, versuchte Rudolf, sie zu unterbrechen. »Trotzdem müssen Sie doch zugeben, dass es noch andere, wichtigere Dinge als Fußballspieler und Bridge gibt.«, fügte er beschwichtigend hinzu. »Zum Beispiel?«, fragte Irene gelangweilt. »Na ja, zum Beispiel einen, äh, ganz besonderer Mann, der -1 4 5 -
Sie liebt.«, schlug er vor. Irene sah ihn misstrauisch an und nahm das Radio von ihrem Ohr. »Hab ich Ihnen schon von den Männern erzählt die es komischerweise nie lange bei mir ausgehalten haben?«, fragte sie und redete sofort weiter, ohne eine Antwort, die zweifellos »Ja!« gelautet hätte, abzuwarten. »Es gab da einen der wirklich außerordentlich gut aussah und den ich sehr mochte Kennen gelernt habe ic h ihn im Jahre 1969 bei einem Einsatz gegen diese langhaarigen Terroristen Er liebte es diese Unruhestifter zu verprügeln ich meine die hatten es auch nicht besser verdient oder? Jedenfalls!« »Ich weiß, ich weiß.«, unterbrach Rudolf sie etwas genervt. »Sie haben mir schon von ihm erzählt.« Irgendwie kam er so nicht weiter, hatte er den Eindruck. Vielleicht sollte er jetzt einfach alles auf eine Karte setzen. »Gibt es nicht momentan vielleicht jemanden, den Sie! vielleicht, äh, näher kennen lernen möchten?«, fragte er hoffnungsvoll. »Nö eigentlich nicht«, antwortete Irene ungewohnt kurz, ohne weiter darüber nachzudenken. Rudolf seufzte. »Vielleicht gibt es ja hier und heute jemanden, der Sie sehr gerne mag und dem Sie eine Chance geben sollten.«, schlug er vor und versuchte hüpfend, in Irenes Blickfeld zu bleiben, was gar nicht so einfach war, weil sie sich überall in der Menge nach einem solchen Mann umsah, aber nirgendwo einen finden konnte. »Nö Hier gibt es keinen der meinen gehobenen Ansprüchen gerecht wird«, sagte sie knapp und wunderte sich, dass Rudolf ihr ständig vor der Nase rumtanzte. »Ich gebe es auf.«, sagte sich Rudolf seufzend und senkte den -1 4 6 -
Kopf. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Irene und hielt ihr Radio wieder ans Ohr, weil die zweite Halbzeit der Verlängerung begann. »Nichts.«, antwortete Rudolf und schüttelte traurig den Kopf, was Irene aber gar nicht mehr hörte, weil sie sich wieder voll auf das Spiel konzentrierte. »Ich würde vorschlagen, dass wir uns jetzt schon allmählich auf den Weg zum Radiosender machen.«, sagte Alfred währenddessen zur Menge. Er merkte, wie ihn allmählich die Müdigkeit überkam. »So können wir den Sender schon mal besetzen und sobald das Fußballspiel vorbei ist und Deutschland hoffentlich Weltmeister ist, verkünden wir uns ere Forderungen.« »Ist es nicht besser, das Spiel hier bis zum Ende weiterzuverfolgen? Ich finde es ganz gemütlich hier.«, meinte jemand aus der Menge. »Och nöö.«, meinte Alfred und konnte ein Gähnen nicht länger unterdrücken. »Wenn wir noch länger warten, wird es mir viel zu spät. Ich bin nämlich schon jetzt ganz müde.«, erklärte er den Leuten. Das hatte die Menge nicht erwartet. Zeigte Alfred jetzt zum ersten Mal Schwäche? Es war ziemlich still geworden. »Was ist?«, fragte Alfred etwas genervt, als er den erwarteten Beifall vermisste. »Meine Frau sagt auch immer, dass ich nicht so spät ins Bett gehen darf.«, erklärte er gereizt. »Ansonsten bin ich am nächsten Morgen nämlich völlig kaputt.« Die Menge sah ihn groß an. Es gehörte sich irgendwie nicht, dass ein großer Revolutionär, so wie er zweifellos einer war, früh ins Bett ging, weil seine Frau es ihm sagte. »Komm schon, Alfred.«, rief jemand unzufrieden aus der Menge. »Du darfst uns doch jetzt nicht enttäuschen! Wir wissen -1 4 7 -
doch gar nicht, was wir ohne dich machen sollen!« »Oder ihr sucht euch einen anderen Anführer!«, schlug Gottfried hilfsbereit vor. »Ich wüsste da zum Beispiel einen, der!« »Halts Maul!« Aber Gottfried wollte sich nicht unterkriegen lassen. »Was hat er denn eigentlich so Tolles geleistet?«, wollte er herausfordernd wissen. »Na ja, er hat...«, begann die Menge und zögerte, weil sie nicht mehr weiter wusste. »Tja...«, meinte Alfred langsam und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Nach einem Augenblick der Stille stieß sich dann Eberhard entschlossen von seiner Wand ab, nahm Alfred behutsam das Megaphon aus der Hand und sprach hinein: »Er hat zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil an der Ausarbeitung der ganzen tollen Forderungen!« Einige Leute in der Menge nickten zustimmend, während Rudolf mit entschlossenen Schritten dazukam und Eberhard das Megaphon aus der Hand nahm. Er hatte die verzweifelten Versuche aufgegeben, Irene auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte sich, frustriert und beleidigt, für einen Augenblick in eine dunkle Seitengasse verzogen. Jetzt aber kehrte er zurück, fest entschlossen, es der ganzen Welt zu zeigen. Was genau er ihr zeigen wollte, wusste er zwar auch noch nicht so ganz genau, aber trotzdem. »Außerdem hat er das Radio repariert!«, rief er nun energisch in das Megaphon. »Hätte er das nicht gemacht, würden wir immer noch nicht wissen, wie es steht !« »Genau!«, bestätigte Eberhard, während die Menge überlegte. »! obwohl ich das doch eigentlich!« Zustimmende Rufe kamen aus der Menge. Die Menschen -1 4 8 -
schienen verstanden zu haben. Alfred war trotz Müdigkeit ein guter Revolutionär. Jetzt kam auch Irene dazu und ließ sich das Megaphon geben. »Ja und obwohl ich Alfred eigentlich nicht besonders nett fand muss ich zugeben dass es sehr mutig von ihm war Gottfried zu stürzen obwohl der schon eine Geheimpolizei aufgebaut hatte«, ließ sie sich vernehmen. »Das war ein ganz schön riskantes Unterfangen Ich erinnere mich da an ein Erlebnis dass ich vor einigen Jahrzehnten in einem südamerikanischen Land hatte wobei ich zufällig einen Putsch verursachte was wirklich nicht meine Absicht war aber!« »JA!«, rief die Menge, »Alfred!« und »Wir folgen dir, Alfred!«. »Und dann hat er die Polizei in die Flucht geschlagen!«, jubelte Rudolf in das von Irene gehaltene Megaphon hinein. Irgendwo in der Menge wurde ein »Alfred - wir danken dir!«Transparent in die Luft gehalten, die Menge lag sich begeistert in den Armen und skandierte immer wieder »Alfred!«. Es war unbeschreiblich. Alfred musste sich einige Tränen der Rührung wegwischen, bevor er Eberhard umarmen konnte, und Rudolf und Irene. Überglücklich und ergriffen lagen sie sich in den Armen. »Jetzt weiß ich, dass ihr wahre Freunde seid!«, sagte Alfred und suchte nach etwas, mit dem er sich die Tränen aus den Augen wischen konnte. In diesem Moment bereute er zum vierten Mal, dass es ihn auf Seite 37 nicht interessiert hatte, als ihm das Taschentuch aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen war. »Ich danke euch!«, rief er in die Menge und winkte der Leuten zu. »Ich werde euch nicht verlassen! Ich bleibe bei euch!«, fügte er überwältigt hinzu und brauchte diesmal kein Megaphon. Jeder hatte ihn verstanden. -1 4 9 -
Kapitel #4 Die Erstürmung Mitten in diese Jubelszenen rief Irene, die sich gerade wieder der Radioübertragung gewidmet hatte, plötzlich erschrocken »TOR!« in die Menge. Blitzartig wurde es still bei Alfred und seinen Leuten. Ängstlich sahen sie Irene an, die ziemlich bleich geworden war. »Brasilien hat den Ausgleich geschossen! 2:2!«, sagte sie mit stockender Stimme. Die nächste Minute verstrich, ohne dass sich jemand bewegte oder etwas sagen konnte, bis auf einen kleinen Teil der Menge etwas weiter hinten, der die Nachricht noch gar nicht mitbekommen hatte und immer noch Alfred feierte. »Ja«, sagte Irene tonlos und schluckte. »Ein schöner Angriff über die rechte Seite der Angreifer lässt zwei Abwehrspieler ziemlich alt aussehen flankt in die Mitte dort steht ein brasilianischer Stürmer und köpft ihn unhaltbar ins Tor! das erinnert mich an ein Spiel im Jahre 1923 als kurz vor Schluss Unglaubliches passierte Es kam doch tatsächlich ein!« Endlich stutzte auch der Teil, der Alfred immer noch feierte, hielt inne und starrte entsetzt nach vorne. Kurz darauf hatte sich die Schreckensnachricht auch dort herumgesprochen und danach herrschte eine absolute Stille. Es wurde so still, dass dadurch die Polizisten, die dort immer noch die Lage im Griff hatten, aufgeschreckt wurden und sich nervös fragten, ob etwas passiert sei und sie jetzt eingreifen mussten. Alfred nahm das Megaphon und suchte nach tröstenden Worten. »Liebe Leute! Äh!«, begann er und wusste nicht mehr weiter. -1 5 0 -
»Noch ist ja nicht alles verloren.«, brachte er nach einiger Zeit quälend heraus. Besonders tröstend klang das nicht. Jetzt atmete Rudolf tief durch, nahm das Megaphon und rief der Menge probehalber zu: »Wir werden unsere Forderungen trotzdem durchsetzen!« Die Leute sahen zu ihm hoch. »Wir werden die Radiostation besetzen!«, fuhr er fort und erntete einen verhaltenen Beifall. »Und - Deutschland wird Weltmeister!!«, rief er, dadurch ermutigt, in einem Tonfall, der auch überzeugte Brasilianer dazu bewogen hätte, ihm widerspruchslos zuzustimmen. »Jetzt erst Recht!«, fügte er entschlossen hinzu und registrierte stolz, wie ein freundlicher Applaus aufbrandete. Triumphierend sah er Irene an, die aber nur nervös und fingernagelkauend der Übertragung im Radio lauschte und ihn gar nicht beachtete. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt günstig, um einen Putschversuch zu starten und Alfred zu stürzen, dachte Rudolf. Die Menge schien an seinen Lippen zu hängen. Nein! Er schüttelte den Kopf. Das konnte er seinem Freund und Nachbarn nicht antun. Außerdem konnte er, was noch schwerer wiegte, nicht auf die Unterstützung von Mathilde hoffen, nachdem sie ihn für die Beschädigung ihres Stockes verantwortlich machte. Seitdem schien sie nur darauf zu lauern, sich bei ihm dafür zu rächen. Jetzt hatte auch Alfred sich wieder einigermaßen gesammelt, was bei ihm zwar nicht viel bedeutete, aber immerhin. »Vielen Dank, Rudolf!«, sagte er, als er das Megaphon wieder in Händen hielt. »Rudolf, mein Nachbar und Stellvertreter!«, stellte er ihn der Menge vor. Rudolf sah erst Alfred, dann die Menge an, die ihm freundlich applaudierte, dann zuckte er mit den Schultern und verneigte -1 5 1 -
sich vor den Menschen. »Jetzt aber los, Leute!«, rief der Revolutionsführer danach der Menge zu und machte einige Schritte in eine Richtung. »Wir marschieren jetzt zur Radiostation!« »Bravo!«, »Hoch, Alfred!«, »Aber zur Radiostation geht's in die andere Richtung!«, rief die Menge begeistert. »?«, meinte Alfred und sah die anderen unsicher an. »In die andere Richtung?« »Keine Ahnung!«, meinte Rudolf. »Ich kenne mich hier nicht aus.« »Ich auch nicht«, sagte Irene. »Obwohl ich mich zu erinnern glaube dass ich vor einigen Jahren schon einmal hier war Damals hatte ich mich verlaufen als ich einen Handarbeitsladen suchte der angeblich hier in der Nähe sein sollte aber!« Alfred sah Eberhard an, der friedlich an der Wand lehnend vor sich hin döste. Der Revolutionsführer richtete das Megaphon auf ihn und rief ziemlich laut: »He, aufwachen!« Das war nicht besonders nett von ihm, was offenbar auch Eberhard so empfand, denn er zuckte vor Schreck zusammen und sackte zu Boden. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, ging er auf Alfred los, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn einen Augenblick mit Worten »Was fällt dir ein??«. Dann bemerkte er, dass ihn alle Leute ziemlich irritiert anstarrten. Etwas verlegen sah er in die Menge, lachte die Menschen peinlich berührt an, ließ Alfred los, strich ihm einige Male mit der Hand über seine Trainingsjacke und sagte etwas nervös: »He, he, toller Scherz, Alfred!« Alfred, der schon ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, weil er den Fernsehmenschen so erschreckt hatte, rückte seinen Trainingsanzug zurecht. »Ich wollte dich nur fragen, wie wir von hier am besten zum -1 5 2 -
Radiosender kommen.«, erwiderte er deshalb außerordentlich freundlich, diesmal aber ohne Megaphon. Eberhard schien trotzdem noch beleidigt zu sein, denn er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich schweigend wieder an die Wand und sah schmollend in die Ferne. Die Menge forderte währenddessen »Auf zum Sender!«, »Alfred voran!« und »Alfred, führe uns!«. »Nun komm schon!«, drängte Alfred. »Wie soll ich die Menge führen, wenn ich nicht einmal weiß, wie wir von hier zum Funkhaus kommen!?« »Dann frag doch die Menschen in der Menge.«, schlug Eberhard immer noch gekränkt vor. »Ja, wie sieht das denn aus?«, fragte Alfred verächtlich. »Wenn ich die Menschen, die ich eigentlich führen soll, nach dem Weg fragen muss? Das ist doch scheiße.« »Dein Pech!« »Hm. Ich glaube, es geht doch da lang.«, meinte Rudolf nun hilfsbereit und deutete in die Richtung, in die Alfred vorhin gehen wollte. »Nein, nein, nein, wir müssen in die andere Richtung.«, meldete sich nun Mathilde lautstark zu Wort, die nur zufällig mitbekommen hatte, worum es ging. »Sind Sie sicher?«, wollte Alfred wissen. »Nein.« »Unfortunately weiß ich not, wo mein blöder Zivi ist.«, warf Richard ein. »Der kannte sich hier ziemlich gut aus.« »Na toll.«, sagte Alfred und wandte sich wieder Eberhard zu. »Nun sag schon, wo wir lang müssen. Bitte!« »Aber nur, wenn du dich bei mir entschuldigst.« Alfred seufzte tief. »Bitte, bitte, vergib mir.«, leierte er, versuchte dabei, seinen -1 5 3 -
Ärger nicht durchklingen zu lassen und legte die Handflächen vor seiner Brust bittend aneinander. »Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung!« »Auf die Knie!«, antwortete Eberhard ungerührt und zeigte auf den Boden. »Das ist ja wohl das mindeste.« »Du spinnst wohl!«, sagte Alfred erzürnt, tippte sich mit einem Finger auf die Schläfe brach dann ab, sah in die ebenso erwartungsvollen wie ungeduldigen Gesichter der Menschen und überlegte. »Das kannst du nicht von mir verlangen.«, meinte er dann verzweifelt und deutete auf die Menge. »Was soll das Volk von mir denken? Immerhin bin ich hier der Anführer!« »Das ist mir egal.« Alfred seufzte tief. Dann positionierte er seine Nachbarn so vor Eberhard, dass -so hoffte er- die Menge ihn nicht sehen konnte, wenn er von dem blöden Fernsehmenschen gedemütigt wurde. Dann kniete er sich hin, faltete die Hände, streckte sie Eberhard entgegen und bat ihn flehentlich um Vergebung. »Was macht Alfred denn da?«, fragten sich die Leute in der Menge, als sie Alfred hinter seinen Assistenten knien sahen. »Ist er hingefallen?«, fragte einer. »Vielleicht sollten wir ihm zu Hilfe kommen!«, meinte ein anderer. »Sieht so aus, als würde er vor dem Fernsehmenschen knien und ihn um Verzeihung bitten.« »Wirklich seltsam!«, erwiderte ein Dritter. »Hm, ja so ist es gut.«, sagte Eberhard kurz darauf und grinste Alfred an, der das gar nicht komisch fand. »Jetzt kannst du wieder aufstehen.« »Alfred, was ist los?«, rief die Menge ihrem Anführer besorgt entgegen, als er seine Nachbarn wieder beiseite geschoben hatte. Alfred stand auf, stampfte mit einem Fuß auf den Boden und -1 5 4 -
sah Eberhard wütend an. »Äh, nichts, liebe Freunde!«, erklärte er dann seinen Anhängern. »Ich habe mich nur gerade bei Eberhard ent!, äh!«, er zögerte. »Ich habe gerade ein Fünf-Mark-Stück aufgehoben, das ich eben verloren hatte.«, verbesserte er sich, weil er meinte, dass ihm die Wahrheit vielleicht schaden könnte. »Ach so!«, erwiderte die Menge erleichtert und atmete auf. Manchmal war es in der Politik einfach unumgänglich, die Wahrheit, nun ja, etwas zu beschönigen. »Also, wenn wir zum Radiosender wollen, müssen wir da lang.«, sagte Eberhard versöhnlich und deutete in die entgegengesetzte Richtung, die Alfred ursprünglich einschlagen wollte. »Dann auf zum Radiosender!«, rief Alfred durch das Megaphon der Menge und bedeutete der Menge mit einer Handbewegung, dass sie ihm folgen sollte. »Hurra!«, rief die Menge. »Hoch lebe Alfred!« »Können wir nicht den Bus nehmen!?«, fragte Rudolf hoffnungsvoll, nachdem er sich bei Eberhard nach der Wegstrecke erkundigt hatte. »Es ist nämlich noch ganz schön weit!« »Den Bus nehmen?«, wiederholte Alfred erstaunt und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Unsinn! Hier wird gelaufen!«, rief Mathilde erbost. »Zu meiner Zeit hätte man zu einer Revolution auch nicht dem Bus fahren können! Schwächlinge!« »Außerdem fährt hier kein Bus !«, rief jemand hinter ihnen dazwischen. »Doch! Da vorne ist eine Haltestelle!«, erwiderte Rudolf. Er deutete auf das Wartehäuschen, das sich zehn Meter vor ihnen befand. »Hier fährt trotzdem kein Bus!«, beharrte der Jemand. -1 5 5 -
»Warum nicht?«, fragte Rudolf gereizt und sah sich um. »Weil alle Busfahrer streiken.«, erklärte der Jemand. Er trug einen busfahrer-typischen Pollunder über seinem Hemd und der Krawatte. »Mich eingeschlossen.« »Mist!«, kommentierte Rudolf enttäuscht und kickte unzufrieden einen herumliegenden Stein beiseite. »Scheiß Revolution.« »Heh!«, rief Alfred. »Das habe ich gehört!« Dann marschierte er weiter, neben ihm der widerwillige Rudolf und Eberhard, gefolgt von Irene, sowie Richard und Mathilde. Einige Schritte dahinter folgte Gottfried und dann kam die begeisterte Menge. Begleitet wurden sie von den Polizisten, die von dem Einsatzleiter mit dem Hinweis losgeschickt wurden, sich möglichst ruhig und unauffällig zu verhalten, um bloß keine Auseinandersetzung zu provozieren. Insbesondere wies er darauf hin, dass die Schlagstöcke, soweit sie nicht geklaut wurden, zunächst einmal nicht zum Einsatz kommen dürften, auch wenn einige Kollegen dies befürworten würden. Das Risiko einer Konfrontation mit den Unruhestiftern brauche man noch nicht einzugehen, vor allem wenn man berücksichtige, dass die Polizei die Lage im Prinzip ja sicher im Griff hätte, nicht wahr. Nach einiger Zeit erkundigte sich Alfred bei Rudolf nach dem aktuellen Zwischenergebnis und der noch verbleibenden Zeit. »Keine Ahnung.«, erwiderte Rudolf schulterzuckend. »Dann frag doch mal Irene! Du verstehst dich doch so gut mit ihr.« »Wer ist Irene?«, sagte Rudolf in einem beleidigten Tonfall. »Ich kenne keine Irene.« Alfred stöhnte. Es war wirklich nicht einfach, ein Revolutionsführer zu sein, vor allem bei solchen Nachbarn. Jetzt musste er sich von Irene wieder einen stundenlangen Vortrag -1 5 6 -
anhören, nur um dann zu erfahren, dass sich nichts verändert hatte. »Wie steht«s?«, wollte er kurz darauf von Irene wissen und ging neben ihr weiter. »Pssst«, machte Irene und hielt einen Finger vor den Mund. »Chance für Deutschland!«, raunte sie ihm zu, als sie seine verständnislosen Blicke bemerkte. »War doch wieder nichts«, erklärte sie kurz darauf und wandte sich kurz von ihrem Radio ab. »Es war aber ein vielversprechender Angriff über links dann ein Pass in die Tiefe und dann eine Flanke in die Mitte Ein schöner Kopfball und dann Abseits! Abseits ist ohnehin eine scheiß Regel bin ich der Meinung Als es diese Regel noch nicht gab war der Fußball einfach besser und die Spiele viel spannender Ich erinnere mich da an ein Spiel ich glaube es war im Jahre 1836 ja genau Das war wirklich toll damals als!« »Wie steht«s denn jetzt??«, unterbrach Alfred sie ungeduldig. »Und wie lange ist noch zu spielen?« »Es steht 2:2 und zu spielen sind noch ungefähr 7 Minuten wenn mich nicht alles täuscht«, erwiderte Irene leicht pikiert. »Aber es könnte auch sein dass ich etwas überhört habe ist auch schwer hier immer alles mitzubekommen bei dem Lärm der hier teilweise herrscht Können Sie nicht dafür sorgen dass hier ein bisschen mehr Ruhe einkehrt? Das würde mir die Sache wesentlich erleichtern das muss ich an dieser Stelle mal betonen und überhaupt bin ich der Meinung dass eine Revolution auch leiser durchgeführt werden kann Ich erinnere mich da an ein Ereignis im Oktober 1917 als!«, sie brach ab, als sie bemerkte, dass Alfred längst wieder vorne verschwunden war und auch sonst niemand in der Nähe war, der ihr hätte zuhören können. Also schüttelte sie den Kopf über so viel Unhöflichkeit und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Radio. -1 5 7 -
Eher zufällig blickte sich der gelangweilte Rudolf einen Augenblick später um, stutzte, und ging weiter. Dann drehte er sich noch einmal um, ärgerte sich über seine Kurzsichtigkeit, blieb kurz stehen, sah genauer hin und machte ein paar lange Schritte, um Alfred einzuholen, der gerade durch die Straßen rief: »Fernsehzuschauer aller Länder, vereinigt euch!« »Wo kommen denn auf einmal die ganzen Schilder her?«, fragte er seinen Nachbarn. »Schilder? Was für Schilder??«, fragte Alfred, drehte sich um und sah, dass mehrere Leute an einem Besenstiel oder ähnlichem befestigte Transparente in die Luft hielten. »Huch!« »Wir wolen ALLfred!«, »Wir wolle Fernseen!« und »Straik !«, konnte man unter anderem lesen. »Derjenige, der die Schilder gemalt hat, scheint nicht so gut ist in deutscher Rechtsschreibung zu sein.«, meinte Rudolf und sah Alfred an. »Wiso?«, wollte Alfred unsicher wissen, bemerkte dann Rudolfs überraschtes Gesicht und fügte schnell hinzu: »Ah ja, natürrlich is mihr das auch glaich aufgeffalen. Das is wirrklich selltsahm.« »Ich werde mich mal erkundigen, wo die Schilder herkommen.«, stellte Rudolf fest und verschwand in der hinter ihnen marschierenden Menge. »Ja, gutt. Mach dasz!«, sagte Alfred, hob das Megaphon zum Mund und rief: »Vöhlker, hört dih Signaale, auf zuhm letzten Gefecht führ unsre Fernseeher!« Rudolf gelangte zu einem Schilderträger. »Revalution!« las er auf seinem Schild. »Entschuldigen Sie, aber können Sie mir sagen, woher Sie die Schilder herhaben?«, fragte er ihn langsam und deutlich. Der Mann, der eine sehr brauner Hautfarbe und einen dicken Schnurrbart hatte, sah ihn groß an: »Was du sagen? Ich nix -1 5 8 -
verstehn! Ich kom from Türkei.«, sagte er freundlich lächelnd. »Ah ja.«, meinte Rudolf mit ahnungsvollem Gesicht und sah sich nach jemanden um, der ein Schild trug und seiner Meinung nach deutsch sprechen konnte. »Hallo! Entschuldigen Sie bitte.«, rief er kurz darauf einer jungen Frau zu, die ein Schild mit der Aufschrift »Keihne Pollizei!« trug. »Ja?« »Wissen Sie zufällig, woher die ganzen Schilder plötzlich kommen?«, fragte er und deutete auf ihren Besenstiel. Sie sah ihn skeptisch an. »Wer sind Sie?«, fragte sie. »Ich bin Rudolf, ein Nachbar von Alfred. Und sein Freund !«, erklärte Rudolf. »Und: Sein Stellvertreter!«, fügte er stolz hinzu. »Wirklich?«, fragte sie argwöhnisch. »Kein Zivilpolizist?« »Wie? Nein, haha, bestimmt nicht.«, antwortete Rudolf lachend. »Würde so ein Polizist rumlaufen?«, fragte er und deutete auf seine Kleidung. Sie betrachtete seinen Bademantel und seine Pantoffeln. »Hm. Nein, wahrscheinlich nicht.«, sagte sie. »Na gut, ich sage es Ihnen! Dann können Sie sich dort auch ein paar Schilder besorgen. Ich weiß allerdings nicht, ob noch Wünsche berücksichtigt werden.« »Eigentlich wollte ich gar kein Schild haben.«, erklärte Rudolf. »Wir wollten bloß wissen, wer sie gemacht hat, weil die Schilder!, äh, nun ja, der Mensch scheint offenbar einige Probleme mit! äh«, er zögerte, als sie zuerst ihn, dann ihr Schild beleidigt ansah. »Gefallen sie Ihnen nicht?«, fragte sie gekränkt. »Mein Onkel hat sich so viel Mühe damit gegeben!« »Doch, doch, mir gefallen Sie sehr gut.«, beschwichtigte Rudolf die junge Frau schnell. »Nur wäre es sehr nett, wenn er eventue ll ein wenig mehr auf die Rechtschreibung achten -1 5 9 -
würde.«, fügte er vorsichtig hinzu. »Ach, das meinen Sie.«, sagte sie und nickte mit dem Kopf. »Wissen Sie, bei uns in der Familie tritt eine ungewöhnliche Form der Legasthenie leider sehr häufig auf.« »Häh?«, fragte Rudolf verständnislos. »Legasthenie bedeutet Lese- und Schreibschwäche, die in unserer Familie besonders hartnäckig auftritt.«, erklärte sie geduldig. »Viele Leute haben meinen Onkel deshalb schon darauf hingewiesen, dass Schildermaler vielleicht nicht unbedingt der richtige Beruf für ihn ist. Aber es war nun mal sein Traum, Schilder zu bemalen und deshalb ist er es trotzdem geworden. Sein Geschäft befindet sich übrigens gegenüber vom Fernsehgeschäft E. Guhl. Bestimmt ist er noch bei der Arbeit. Und falls Sie ihm selber sagen wollen, dass Ihnen die Schilder nicht passen, gebe ich Ihnen noch einen Rat: Seien Sie sehr, sehr behutsam. Er reagiert nämlich außerordentlich sensibel auf Kritik. Das ist auch der Grund, warum die Leute, die ihm vom Schilderbemalen abgeraten haben, keinen Erfolg hatten. Es sei denn, sie hätten ein paar ausgeschlagene Zähne als Erfolg bezeichnet.« »Aha!?«, machte Rudolf und nickte unsicher. Er sah zurück zum Fernsehgeschäft, das schon ganz schön weit weg war, und entschied sic h, nicht zurückzugehen. »Na ja, so schlimm ist es auch nicht. Und an die kleinen Fehler gewöhnt man sich schnell.«, erklärte er, verabschiedete sich höflich und sah zu, dass er eilig wieder nach vorne verschwand. Vom Lärm der durch die Straßen marschierende Menschen aufgeschreckt, kamen noch weitere Menschen aus ihren Häusern und wollten nachsehen, was da los war. Viele schlossen sich aus Neugier der Menge an. Viele andere hörten aber Alfreds revolutionären Parolen wie »Wir ziehen in den Kampf für unsere Fernseher!« und »Dem Morgenrot und unseren Fernsehern entgegen!«, die durch die Straßen hallten, und -1 6 0 -
konnten sich sofort für den Aufstand begeistern. »He, junger Mann!«, rief Mathilde plötzlich ihrem Nachbarn von hinten zu und schob Richard etwas schneller. »Internationale Solidarität für unsere Fernseher!«, forderte Alfred durch das Megaphon, als Richard ihn mit Mathildes Stock anstieß. Alfred ließ das Megaphon sinken und drehte sich um. »Was ist?«, wollte er wissen. »I must mal ganz dringend aufs Klo!«, erklärte Richard und machte ein ziemlich verkniffenes Gesicht. »Ich auch!«, meinte Gottfried zustimmend. »Außerdem habe ich einen solchen Hunger!«, fügte Rudolf hinzu und deutete mit den Händen an, wie groß der Hunger war. »Und müde bin ich!«, rief jemand von hinten, angestachelt durch die Unmutsäußerungen von Alfred Nachbarn. »Sind wir bald da?« »Ich mag nicht mehr laufen!« »Auf Toilette muss ich auch!«, sagte Rudolf zermürbt. »Und es ist kalt!«, fügte Gottfried hinzu. »Also, ich glaube, wir könnten alle gut etwas essen.«, gab Rudolf zu bedenken und rieb sich mit einer Hand über seinen Bauch. Auch Eberhard merkte an, dass er heute Abend noch nichts hatte essen können, da Alfred ihn ja für die Klärung wichtiger technischer Fragen in bezug auf die Fernseher benötigte. Nur Irene sagte ausnahmsweise nichts, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, dem Radio zuzuhören und beim Spiel mitzufiebern. »Hat das alles überhaupt noch einen Sinn?«, fragte eine Frau in der Nähe resigniert. »Ruhe!«, rief Alfred entnervt in das Megaphon und blieb stehen. »Mann, mit euch kann man aber auch keine vernünftige -1 6 1 -
Revolution machen.«, fügte er ärgerlich hinzu. Die Leute sahen sich an und blickten danach schuldbewusst nach unten, außer Mathilde. »Jetzt reißt euch gefälligst zusammen!«, schimpfte er, schüttelte die in der Nähe stehende Frau etwas und gab ihr einige sanfte Ohrfeigen, damit sie wieder zu sich kam. »Sonst könnt ihr eure Revolution ohne mich machen!«, drohte er seinen Anhängern unverblümt mit seinem Rücktritt. »Oh nein!«, riefe n die Menschen erschreckt und schuldbewusst zurück. »Bloß das nicht ! Wir brauchen dich!« Alfred lächelte zufrieden. Dann machte er ein kämpferisches Gesicht und holte tief Luft: »Nun, dann frage ich euch : WOLLT IHR DIE TOTALE REVOLUTION??« »JA!« »BEDINGSLOS?« »JAA!«, rief die Menge begeistert. »Alfred, befiehl, wir folgen!« »Na also.«, erklärte Alfred und nickte mit dem Kopf. »Denkt nur immer an die Sache, für die wir kämpfen. Eine Sache, für die es sich lohnt, zu sterben! Unsere Fernseher nämlich!!«, verlangte er streng. »Alfred lebe hoch!«, rief die Menge und »Voran für unsere Fernseher!«. Ergeben und ohne sich weiter zu beschweren, folgten die Menschen danach ihrem Revolutionsführer. Wirklich beeindruckend, dachte die Menge, wie souverän Alfred diese Krise wieder gemeistert hatte. Es waren noch vier Minuten zu spielen, als sie schließlich das mit einer Schranke gesicherte Tor zum Gebäudekomplex des Radiosenders erreichten. Der Pförtner in seinem Häuschen -1 6 2 -
schien gerade sehr vertieft der Radioübertragung des Fußballspiels zu lauschen. Oder er war gerade eingenickt, was selbst dem besten Pförtner ab und zu passieren konnte, wie Alfred aus eigener Erfahrung wusste. »Hallo!«, rief Alfred in sein Megaphon, aber nichts regte sich. »HALLO!«, schrie Alfred mit lauter stimmlicher Unterstützung der Menge hinter ihm. »WIR wollen REI-HEIN!« Jetzt schreckte der Pförtner hoch, sah sich einen Augenblick verwirrt in seinem Häuschen um und erblickte dann die Menge vor der Schranke. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er sich ganz langsam im Häuschen zu erheben begann und sich in Richtung Tür bewegte. Die Tür öffnete sich sehr gemächlich und der Pförtner trat heraus. Dann verließ er langsam das Häuschen, schaute zum Himmel, um die Wetterbedingungen zu erkunden, und näherte sich den Menschen vor der Schranke. »Er kommt.«, raunte Gottfried seinem Führer zu, der jetzt doch wieder ziemlich nervös geworden war und sich die schweißnassen Hände in der Hose abwischte. »Erzähl ihm bloß nicht, dass wir den Radiosender besetzen wollen.«, flüsterte Rudolf ihm zu. »Was wollen Sie?«, fragte der Pförtner skeptisch und sah erst Richard, dann Alfred und schließlich die Menge misstrauisch an. Dann guckte er noch einmal zu Alfred, kniff ein Auge zu, machte es wieder auf und kniff das andere Auge zu. Alfred schluckte. »Wir wollen den Radiosender besetzen!«, sagte er unter dem Jubel der Menge und deutete auf das Rundfunkhaus. Rudolf schlug eine Hand an die Stirn. Nein!, dachte er, Du Idiot! Jetzt kommen wir hier nie rein. »Alfred?«, fragte der Pförtner forschend. »…h, wie?«, fragte Alfred und sah sich nervös um. -1 6 3 -
Damit hatte er nicht gerechnet. »Ich? Äh, na ja!« »Na klar!«, rief der Pförtner begeistert. »Alfred!« »Äh, ja!?«, meinte Alfred unsicher. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fragte der Pförtner empört. »Julius Bürstner! Wir waren zusammen in der 9. Klasse, nachdem du zum dritten Mal sitzen geblieben bist.« Alfreds Gesicht erhellte sich langsam. »Julius, alter Junge!«, rief er begeistert und umarmte ihn. »Das ist ja toll! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.« Die Menschen vor der Schranke sahen die beiden groß an. »Das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, das war, glaube ich, bei dem Kongress vom Bund deutscher Pförtner!«, erklärte Julius und klopfte ihm auf die Schulter. »Wo wir uns so betrunken haben!«, meinte Alfred vergnügt. »Drei Tage lang!«, fügte Julius fröhlich hinzu und musterte ihn. »Du bist aber ganz schön dick geworden!«, stellte er lachend fest und gab ihm einen freundschaftlichen Stoß in den Bauch. »Nur ein bisschen!«, gab Alfred etwas beleidigt zurück. »Was macht die Arbeit?«, wollte Julius wissen und setzte sich auf die Schranke. »Ich bin gestern entlassen worden!«, sagte Alfred, setzte sich daneben, blies die Wangen auf und ließ die Luft raus. »Weil ich den Chef nicht reinlassen wollte.« »Du hast den Chef nicht reingelassen? Ha, ha. Typisch, Alfred!«, lachte Julius. »Na ja, davon geht die Welt auch nicht unter! Und deine Frau, der alte Hausdrachen?«, fügte er hinzu und gab ihm noch einen freundschaftlichen Stoß, diesmal in die Seite. »Gertrude hat mich verlassen!«, erzählte Alfred und seufzte. -1 6 4 -
»Oh.« »Ja.« »Wann?« »Heute Abend!«, erzählte Alfred weiter. »Und das nur, weil ich das Spiel sehen wollte und dazu ein kleines Bierchen trinken wollte.« »Ja, ja. Die Frauen, so sind sie nun mal.«, meinte Julius wissend. »Aber das mit dem Fußballgucken hat sich ja wohl ohnehin erledigt, wie ich in den Nachrichten hören konnte.« »Dann weißt du nicht zufällig auch, warum die Fernseher nicht mehr funktionieren?«, fragte Alfred neugierig. »Und wie lange es dauert, bis alles wieder in Ordnung ist?« »Nein.«, meinte Julius und schüttelte den Kopf. »Anscheinend weiß niemand, wie das passieren konnte. Man muss sich das mal vorstellen: In ganz Deutschland funktioniert kein einziger Apparat mehr!« »In ganz Deutschland?«, wiederholte Alfred entsetzt und musste sich setzen. Dann fiel ihm auf, dass er ja schon saß, was ihm eine Menge Zeit und Anstrengung sparte. »Wie es scheint. Und in großen Teilen Europas.«, erklärte Julius. »Das haben die Nachrichten im Radio jedenfalls gesagt.« Er schaute auf die Menge, die Alfred und ihn die ganze Zeit erwartungsvoll anstarrten, dann musterte er Richard eindringlich. »Was machen eigentlich die ganzen Leute hier? Sind die alle wegen IHM hier?«, fragte der Pförtner und deutete auf den Mann im Rollstuhl. »Häh?«, fragte Alfred und sah erst Richard und dann Julius fragend an. »Nein, eigentlich sind die mit mir gekommen. Ich bin hier nämlich so eine Art Anführer.« »Du?! Hahaha !«, prustete Julius und wäre vor Lachen fast -1 6 5 -
von der Schranke gefallen. »Dir hat man früher doch nicht einmal das Müllraustragen anvertraut!« »Ja. Ich.«, stellte Alfred etwas gekränkt fest. »Wir haben uns entschlossen, für unsere Fernseher eine Revolution zu, äh, durchzuführen! Deshalb sind wir hier. Wir wollen nämlich über das Radio unsere Forderungen unterbreiten.« »Aha. Gute Idee.«, meinte Julius zustimmend, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte. »Und übrigens bin ich mittlerweile ziemlich gut im Müllraustragen.«, fügte Alfred hinzu. »Aber ich darf euch hier eigentlich nicht reinlassen, weißt du?«, erwiderte der Pförtner nachdenklich. »Ja, ich weiß.«, meinte Alfred, nickte verständnisvoll und stand auf. »Na ja, dann müssen wir uns eben etwas anderes überlegen. Bis bald !«, fügte er hinzu, gab ihm die Hand und wollte sich schon umdrehen und gehen. »Nein, warte mal.«, meinte Julius, hielt ihn zurück und rieb sich gedankenvoll das Kinn. »Ich glaube, für dich kann ich heute mal eine Ausnahme machen.« »Echt? Mann, das wäre ja toll!«, freute sich Alfred. »Ja klar. Wir machen das einfach so!«, flüsterte Julius ihm ins Ohr. An dieser Stelle müssen wir die Szene leider kurz ausblenden, einerseits um den besagten Pförtner zu schützen, der ansonsten wohl seinen Arbeitsplatz verlieren würde. Andererseits ist so eine kleine Unterbrechung aber auch der Erhöhung der Spannung zuträglich. So, einen Augenblick noch!
Ja, jetzt kann es weitergehen: »Ja, das ist toll. So machen wir das!«, sagte Alfred bege istert -1 6 6 -
zu seinem alten Bekannten und erhob sich. »Ach, da ist noch etwas.«, fügte er hinzu, als sich Julius schon auf den Weg zurück in sein Pförtnerhäuschen machen wollte. »Weißt du, die Polizei verfolgt uns schon die ganze Zeit und es wäre sehr nett, wenn du sie einen Augenblick aufhalten könntest. Ich weiß, dass du das kannst.« Julius sah nach hinten und erkannte die Polizisten, die offensichtlich die Lage völlig im Griff hatten. »Kein Problem.«, erklärte er. »Vielen, vielen Dank!«, sagte Alfred und schüttelte ihm die Hand. Kurz darauf ging die Schranke hoch und Alfred ging, gefolgt von seinen Anhängern, dankbar winkend an der Pförtnerhäuschen vorbei, in dem Julius freundlich zurückwinkte. Dieser Alfred, dachte die Menge, war schon ein Teufelskerl. Er konnte wirklich alles. Sogar einen Radiosender zu besetzen, schien bei seinen Beziehungen keine Probleme zu bereiten. Also marschierten Alfred und seine Leute in das Hauptgebäude hinein!, um kurz darauf wieder beim Pförtnerhäuschen zu stehen und sich bei Julius zu erkundigen, wo denn in diesem verdammten Labyrinth eigentlich die Studios seien. »Noch einmal vielen Dank, Julius!«, sagte Alfred nach einer ausführlichen Erklärung und ging in die von dem Pförtner beschriebene Richtung. »Bitte, gern geschehen!«, meinte Julius. »Halt! Stehen bleiben!«, fügte der Pförtner kurz darauf hinzu, rannte aus seinem Häuschen und stellte sich den Polizisten in den Weg, die gerade im Begriff waren, Alfred und der Menge zu folgen. »Äh, wie?«, machte ein verdutzter Einsatzleiter und sah den Pförtner erstaunt an. »Was ist los?« -1 6 7 -
»Hier dürfen Sie leider nicht durch.«, erklärte Julius und setzte sich auf die Schranke. »Wieso nicht?«, fragte der Einsatzleiter, noch immer etwas konsterniert. »Unbefugte haben hier bedauerlicherweise keine n Zutritt.«, meinte der Pförtner mitfühlend. »Tut mir leid!« »Sollen wir ihn verhaften? Oder platt machen?«, fragte ein junger Kollege, der hinter dem Einsatzleiter stand, ungeduldig und holte seinen Schlagstock hervor. Sein Chef drehte sich um und bedeutete ihm, dass er seine Klappe halten sollte. »Aber wir müssen auf das Gelände, nicht wahr.«, erklärte der Polizist danach dem Pförtner betont ruhig. »Dienstlich.« »Davon ist mir nichts bekannt.«, meinte Julius gelassen. In Momenten wie diesen freute er sich, dass er Pförtner geworden war. »Deshalb darf ich Sie leider nicht durchlassen. Schade!«, fügte er genüsslich hinzu. »Und warum haben Sie diese! diese Terroristen auf das Gelände gelassen?«, fragte der Einsatzleiter etwas ungehalten und deutete auf die sich weiter entfernenden Menschen. Sein Kopf lief allmählich leicht rot an. »Was? Ach, die!«, meinte Julius. »Die haben heute Abend einen Termin.« »Häh?« »Heute Abend findet doch nach dem Fußballspiel eine Sondersendung über die Rolling Stones statt.«, erklärte der Pförtner geduldig. »Ja. UND??«, fragte der Einsatzleiter und holte tief Luft. »Ja, wissen Sie das denn nicht?«, fragte Julius erstaunt. »Das war doch Keith Richards da im Rollstuhl!« »Was? Keith Richards??«, fragte der Einsatzleiter nervös. -1 6 8 -
Ihm war das alles nicht geheuer. »Ja, klar!«, rief der Pförtner. »Ich habe ihn erst auch nicht erkannt mit der Sonnenbrille und dem Bart, aber er ist es gewesen. Ich glaube auch, dass er beim Friseur war.« »Und warum haben Sie die ganzen anderen Leute reingelassen, die bei ihm waren??«, fragte der Einsatzleiter mit zitternder Stimme. Jetzt hab ich dich, dachte er. »Das war nämlich nicht der Rest von den Rolling Stones!«, fügte er schlau hinzu. »Nein, natürlich nicht.«, antwortete Julius und schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit. »Das waren seine Freunde und ein paar Fans.«, erklärte er ruhig. »Unser Sender handhabt solche Sachen nämlich sehr tolerant. Den Künstlern ist es erlaubt, Freunde und Bekannte in den Sender mitzubringen.« »Aber doch nicht ein paar Tausend !!«, rief der Einsatzleiter unbeherrscht. »Och, na ja, eine zahlenmäßige Begrenzung gibt es da eigentlich nicht.«, entgegnete der Pförtner. Der Einsatzleiter begann am ganzen Körper leicht zu zittern und sein Gesicht wurde hochrot. Er legte eine Hand auf die Brust und atmete einige Male tief durch. Ich sollte mich zwei Monate vor meiner Pensionierung nicht so aufregen, dachte der Polizist, das ist nicht gut für mein schwaches Herz. Er drehte sich um, sah, wie sein junger Kollege ungeduldig mit dem Schlagstock in der Hand spielte, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu dem Pförtner: »Wenn Sie uns nicht reinlassen, werden wir wohl oder übel Gewalt anwenden müssen!« »Ja! Geben Sie es ihm, Chef!«, flüsterte der junge Polizist hinter ihm. -1 6 9 -
»Also, zum letzten Mal:«, wandte sich der Einsatzleiter wieder an Julius, »Die Leute, die sie da eben reingelassen haben, sind gemeingefährliche Unruhestifter. Wir müssen sie zusammenprügeln, wenn sie wehrlos sind, äh, ich meine, wir müssen sie zur Ordnung rufen.« »Ich habe keine gemeingefährliche Unruhestifter gesehen.«, erklärte Julius schulterzuckend und ungerührt. »Nur Keith Richards in Begleitung von einigen Fans.« Währenddessen hatten Alfred, gefolgt von Rudolf, Mathilde und Richard sowie Irene, Eberhard und Gottfried das alte, schon etwas baufällige Gebäude erreicht, das sich schräg gegenüber des Hauptgebäudes befand, und betraten eine große Eingangshalle. Trotzdem fanden dort lange nicht alle Gefolgsleute von Alfred Platz. Einige mussten draußen stehen bleiben, was sich auch nicht änderte, als sich die Leute nachher allmählich im ganzen Gebäude verteilten. Glücklicherweise spielten überall im Gebäude Radios, so dass jeder - bis auf diejenigen, die draußen standen, - die letzten Minuten der Verlängerung mithören konnte. »Also, das Studio, aus dem momentan gesendet wird, befindet sich im dritten Stock.«, erklärte Alfred der Menge durch das Megaphon. »Wir werden uns dort schon mal positionieren. Stürmen werden wir das Studio aber noch nicht, da wir zunächst einmal das Spiel zu Ende hören wollen. Ist ja klar, das geht vor. Es können uns wohl nicht alle begleiten, da in den Gängen und dem Studio vermutlich nicht genug Platz ist. Aber der Rest kann im Radio ja alles mitverfolgen.« »! jetzt vielleicht die letzte Möglichkeit für Deutschland, hier doch noch den Siegtreffer zu erzielen, der ja so wichtig wäre nach den Enttäuschungen bei den letzten Weltmeisterschaften.«, erzählte das Radio in der Eingangshalle. »Oh, das ist ja praktisch«, bemerkte Irene nach einer Weile -1 7 0 -
und ließ ihr Radio sinken. »Hier brauch ich mein gutes altes Radio ja gar nicht mehr Das erinnert mich an eine Begebenheit die mir meine Urgroßmutter vor vielen Jahren erzählte Damals hatte sie ich glaube es war Jahre 1896 eines der ersten Radios käuflich erwo rben und!« Währenddessen machte sich Gottfried mit einige Leute auf die Suche nach einer Kantine, die schon bald zwar gefunden, aber leider auch geschlossen war. »Der Ball kommt über die rechte Seite, Schwarzenegger am Ball und! oh, da wird er gefoult. Das muss noch einmal Freistoß geben. Nein! Das war der Schlusspfiff! Nach 120 Minuten steht es zwischen Deutschland und Brasilien 2:2! Das war ein wirklich hochklassiges, ein kampfbetontes Spiel mit Chancen in Hülle und Fülle auf beiden Seiten. Ein Spiel, das man einfach gesehen haben muss! Und jetzt geht es weiter mit dem Elfmeterschießen!« »So, wir gehen jetzt schon mal hoch!«, sagte Alfred zu seinen Leuten und rückte seinen Trainingsanzug zurecht, ging zur Tür vom Treppenhaus und sie öffnete sie. »Können wir nicht den Fahrstuhl nehmen!?«, fragte Rudolf hoffnungsvoll und deutete auf den sich daneben befindenden Fahrstuhl. »Den Fahrstuhl??«, wiederholte Alfred und grübelte darüber nach. »Unsinn! Hier wird gelaufen!«, rief Mathilde erbost. »Zu meiner Zeit hätte man zu einer Revolution auch nicht den Fahrstuhl nehmen können! Flaschen!« »And what ist mit mir?«, fragte Richard, während Alfred die Tür vom Treppenhaus schnell wieder zufallen ließ und sich vor den Fahrstuhl stellte. »Ich can keine Treppen steigen.« »Ach so, ja! vielleicht sollten wir doch besser den Fahrstuhl nehmen.«, erklärte Mathilde einsichtig. -1 7 1 -
Rudolf sah Alfred an, der immer noch mit verschränkten Armen vor den verschlossenen Türen auf den Fahrstuhl wartete und offensichtlich nicht daran dachte, den sich daneben befindlichen Knopf zu drücken. Es dauerte noch eine Weile, bis Rudolf davon genug hatte und gereizt auf den Fahrstuhlknopf haute, worauf sich die Tür kurze Zeit später öffnete. »Warum hast DU nicht den Knopf gedrückt?«, wollte er ärgerlich von Alfred wissen, als sie den Fahrstuhl betraten, gefolgt von Gottfried, Irene und Teilen von Alfreds Anhängerschaft. »Immerhin standest du direkt davor und ein Fingerzeig von dir hätte genügt.« »Ich bin Anführer einer Revolution.«, erklärte Alfred ein wenig arrogant. »Und als solcher muss ich mich schon um genug andere Dinge kümmern, die im übrigen weitaus wichtiger sind, als der Druck auf einen Fahrstuhlknopf!« »Du solltest aufpassen, dass du nicht zu überheblich wirst.«, erwiderte Rudolf gereizt. »Du weißt doch: Hochmut kommt vor dem Fall!« »Bei mir nicht.«, entgegnete Alfred überzeugt und schüttelte mit dem Kopf. Die Fahrstuhltür ging gerade zu, als Mathilde noch den Rollstuhl mit Richard hastig hineinschieben wollte. »ICH und Richard und kommen auch mit.«, rief sie, aber es war kein Platz mehr im Fahrstuhl. Also mussten sie sich zunächst einmal genügend Platz schaffen, was mit Mathildes Stock relativ schnell geschehen war. »And wir bestellen eine Pizza.«, fügte Richard hinzu, als sie drinnen waren, die Tür aber nicht mehr zuging und Mathilde noch schnell jemanden rausschubste. »That machen wir im Altenheim auch immer so! jedenfalls wenn it Gemüseeintopf gibt.« -1 7 2 -
Rudolf musste sich ganz schön strecken, um den Knopf mit der Drei zu drücken, obwohl Alfred direkt davor stand. Die Fahrstuhltür schloss sich und unter knarrenden Geräuschen machte sich der Fahrstuhl auf den beschwerlichen Weg nach oben. »Wer wird die Verantwortung jetzt auf sich nehmen?«, fragte das Radio im Fahrstuhl. »Ich möchte jetzt nicht in der Haut der Spieler stecken! Fünf Schützen muss unser Bundestrainer bestimmen. Die ganze Mannschaft hat 120 Minuten toll gekämpft und jetzt!« »Ding!«, machte der Fahrstuhl und öffnete sich. In dem Treppenhaus drängelten sich währenddessen Alfreds Anhänger nach oben, was nicht zu überhören war. Nachdem sie den Fahrstuhl verlassen hatten, öffnete Rudolf deshalb die Tür zum Treppenhaus und flüsterte: »Am wichtigsten ist jetzt, dass wir uns sehr leise verhalten, damit wir hier bis zum Ende des Fußballspiels nic ht auffallen!« »WAS??«, schrie jemand von unten. »REDE mal ein bisschen LAUTER, damit man dich hier UNTEN auch VERSTEHEN kann!!« »Psst.«, raunte Rudolf, was aber, der Lautstärke der Menschen nach zu urteilen, nicht bis nach unten gedrungen war. »Und nun?«, fragte Gottfried und sah sich in dem Labyrinth aus Gängen um. »Da lang!«, meinte Alfred, zeigte einen Gang entlang und ging in die Richtung, gefolgt von seinen Anhängern. »Über der Tür soll ein rotes Licht leuchten, hat Julius mir erzählt.«, fügte er hinzu und hielt Ausschau nach einem roten Licht über einer Tür, konnte aber keines entdecken. »Ich glaube, hier sind wir falsch.«, meinte Gottfried kurz darauf, als sie in einer Sackgasse standen. -1 7 3 -
»Meinst du wirklich?«, fragte Rudolf spöttisch. »Ja, ich glaube schon.«, entgegnete Gottfried etwas verunsichert. »Oder?« Alfred, Rudolf sowie Irene und nach einigem Zögern auch Gottfried drehten um und drängelten sich durch die ihnen blind gefolgte Menge zurück. Vor allem für Mathilde wurde es schwierig, Alfred mit dem Rollstuhl durch die sich allmählich füllenden Gänge zu folgen. Bekanntermaßen verfügte sie aber über das nötige Durchsetzungsvermögen und einen Stock, um auftretende Hindernisse ohne weiteres aus dem Weg zu räumen. »! der Brasilianer hat sich den Ball auf dem Elfmeterpunkt zurechtgelegt. Er läuft an und! Tor! Unhaltbar! Damit steht es 3:2 für Brasilien!«, erzählte das Radio im Gang. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Menge, während sie dem seit einer Weile herumirrenden Alfred und seinen Nachbarn zu folgen versuchten. Bis jemand von Alfreds Sympathisanten, die sich mittlerweile im ganzen dritten Stock verteilt hatten, eine Tür gefunden hatte, über der ein rotes Licht brannte. »Ich habe eine Tür gefunden, über der ein rotes Licht brennt!«, rief er durch das Gebäude. »Wir kommen!«, rief Alfred zurück und setzte sich in Bewegung. »Aber nicht so laut!«, warnte Rudolf, hielt einen Finger an die Lippen und folgte ihm. »Und nicht so schnell!«, rief ihm Mathilde hinterher und schob den quietschenden Rollstuhl mühsam hinter ihnen her. »Ah ja.«, sagte Alfred leise, als er vor der Studiotür stand. »Hier ist es. Jetzt warten wir aber noch bis das Elfmeterschießen vorbei ist.«, erklärte er den umstehenden Leuten flüsternd. »Bis dahin sollten wir uns möglichst still verhalten, damit wir nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen.«, fügte Rudolf leise -1 7 4 -
hinzu. »Jetzt läuft Matthäus an, er schießt und! TOR!! Das war das 3:3 für Deutschland!«, rief das Radio begeistert. Jetzt waren die Leute nicht mehr zu halten, im ganzen Gebäude schrieen die Menschen vor Begeisterung. »Psst!«, raunte Rudolf und machte ein paar zappelnde Armbewegungen, von denen er glaubte, dass sie die Leute beruhigen konnten, was aber nicht besonders viel half. »Das war die Krönung einer Klasse-Leistung in seinem 759. Länderspiel für Deutschland. Es ist unglaublich, was dieser Mann mit seinen 53 Jahren noch zu leisten imstande ist!«, fuhr das Radio fort. Plötzlich öffnete sich die Studiotür, ein Mann mit einem Kopfhörer um den Hals guckte heraus und wollte gerade »Was ist das für ein Lärm?« fragen. Dann sah er die Leute im Gang und schlug die Tür sofort wieder zu. Einige Sekunden später öffnete er sie erneut, diesmal vorsichtig und nur einen Spalt. Er spähte hindurch. Dann sah er Richard in seinem Rollstuhl, den die mittlerweile schon etwas abgekämpfte Mathilde gerade bis vor die Studiotür geschoben hatte. Jetzt öffnete sich die Tür ganz und ein sehr schmächtiger, aber sichtlich erleichterter Mann kam heraus, um Richard die Hand zu geben. »Keith Richards!«, sagte er begeistert. »Ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt!« »Häh?«, fragte Richard, sah auf die ihm hingehaltene Hand und schüttelte sie etwas irritiert. »Ich muss sagen, die kurzen Haaren und der Bart stehen ihnen sehr gut.«, erklärte der Schmächtige. »Und die ganzen Fans, die Sie begleitet haben! Toll!« »Jetzt läuft Jorgingho an, schießt und verwandelt ganz sicher -1 7 5 -
zum 4:3 für Brasilien.«, sagte das Radio. »Aber die Sonnenbrille können Sie hier ruhig abnehmen. So hell ist es hier ja nicht.«, fuhr der Mann mit den Kopfhörern fort. »Stimmt.«, sagte Richard im Rollstuhl und nahm die Sonnenbrille ab. Jetzt fiel es Alfred wie Schuppen von den Augen. Er erkannte den Mann, der sie so lange begleitet hatte. Er spielte eins von diesen lärmenden Instrumenten in einer vo n diesen furchtbar lauten Rockgruppen, und zwar einer speziellen Gruppe, in der nur Leute über 70 spielen durften. »Häh? Kiß Ridschards?«, wiederholte Mathilde verwirrt und sah den Radiomenschen an. »Der da heißt Richard!«, sagte sie und deutete mit ihrem Stock auf den Rollstuhl. »Sagen Sie bloß, Sie kennen Keith Richards von den Rolling Stones nicht?«, fragte der Schmächtige und sah sie erstaunt an. Genau, die Rolling Stones, dachte Alfred. Von denen war in letzter Zeit viel in den Zeitungen zu lesen. »Und wir machen gleich ein kleines, nettes Interview, nicht wahr, Keith?«, fügte der Radiomensch hinzu und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. »Äh, yes, ist gut !«, antwortete der Mann im Rollstuhl. »Bis gleich!«, sagte der Moderator verschwand wieder im Studio. »He, was soll das denn heißen, Richard?!«, wollte Mathilde ärgerlich wissen und setzte die Hände an ihre Hüften. »Sie sind Keith Richards von den Rolling Stones? Toll!«, fragte Rudolf begeistert und suchte hektisch nach einem Zettel und einem Stift. »Kann ich bitte ein Autogramm haben?« »Haben Sie Paper oder so was?« »! und er nimmt nur einen kurzen Anlauf, schießt, und! Pfosten! NEIN! Meier trifft nur den Pfosten! Was für ein Pech! Jetzt sieht es natürlich ganz, ganz schlecht für die deutsche -1 7 6 -
Mannschaft aus!«, jammerte das Radio. »Nein!«, schrieen die Leute kollektiv auf und warfen die Hände über den Köpfen enttäuscht zusammen. Dann kniff Mathilde ein Auge zu, sah mit dem anderen wütend den Mann im Rollstuhl an und tippte mit einem krampfaderngeplagten Fuß ungeduldig auf den Boden. Sie ärgerte sich über Richard, der offenbar seine wahre Identität geleugnet hatte und vor allem über den verschossenen Elfmeter. Meier, diese blinde Nuss! »Well, ich glaube, ich bin Keith Richards von den Rolling Stones.«, erklärte Richard und lächelte Mathilde etwas unsicher an. »And that hab ich dir auch erzählt! Obwohl ich zugeben muss, dass ich manchmal etwas zerstreut bin.« »Nein!«, stellte Mathilde wütend fest. »Du hast mir erzählt, dein Name sei Rihschard, oder so ähnlich!« »Ach so.«, fügte sie nach einer Weile hinzu, nachdem sie die Zusammenhänge durchdacht und verstanden hatte. »Yes, eben.« »Jetzt also die Nummer 9 der Brasilianer. Er läuft an! und! gehalten!! Helmut Kohl hat ihn gehalten! Toll gehalten! Dieser Helmut Kohl ist schon ein Teufelskerl! Und ich persönlich gönne es ihm ganz besonders, nach allem, was unser AltBundeskanzler durchzustehen hatte. Sie alle, verehrte Zuhörerrinnen und Zuhörer, kennen ja die vielen Schicksalsschläge, die dieser Mann einstecken musste, bevor er endlich Torwart der deutschen Nationalmannschaft werden konnte.«, erzählte das Radio. »Unbestritten sind ja seine enormen körperlichen Ausmaße ein großer Vorteil, den dieser Helmut Kohl gegenüber anderen Torhütern hat: Er verstopft das Tor derartig, das der Ball nur sehr schwer an ihm vorbei kann.« »Ich habe ihn damals auch gewählt.«, erzählte Alfred stolz. »Ich auch.«, fügte Gottfried hinzu, aber die Menschen feierten -1 7 7 -
nur Alfred und Helmut Kohl. Danach wandte sich der Revolutionsführer an den Mann im Rollstuhl. »Was machen Sie eigentlich in unserer Stadt?«, fragte er, während sich der nächste Spieler den Ball zum Elfmeter zurechtlegte. »Sind Sie nicht eigentlich Ausländer oder so?« »We machen gerade eine Tournee durch Germany.«, erklärte Keith. »I bin aber schon länger here, weil here die Altersheime angeblich besser sein sollen als bei uns, was ich aber not bestätigen kann.« Stimmt, dachte Alfred, davon (von der Tournee, nicht von den Altersheimen) haben die Zeitungen berichtet. »So, jetzt läuft Thomas Matthäus, der Sohn von Lothar, an und schießt! ins TOR! Tor für Deutschland! Damit steht es jetzt 4:4 und alles ist wieder offen.«, jubelte das Radio. »Familie Matthäus rettet Deutschland ! Mal wieder!« Das Funkhaus erzitterte unter dem Freudentaumel der Menschen, hielt den Belastungen aber stand. Dann sah Rudolf seine alte Nachbarin eine Weile an. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, räusperte sich und traute sich zu fragen: »Äh, Frau Lehmann, würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mir kurz einen Zettel und einen Schreiber zu borgen?« Genervt wühlte seine Nachbarin daraufhin in ihrer Schürzentasche bzw. ihrem Werkzeugkasten, fand einige schon ziemlich zerknüllte Blätter sowie einen dicken, schwarzen Filzstift und gab sie ihm. »Hier.«, krächzte sie ungehalten. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.« Rudolf hatte sich nämlich genau zwischen sie und Keith Richards gestellt, den Alfred immer noch ausfragte. »Und was machen Sie bei unserer Revolution?«, forschte der -1 7 8 -
Revolutionsführer argwöhnisch weiter. Er war ja prinzipiell nicht misstrauisch, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein, auch jetzt noch, nachdem sie die Polizei vorerst abgehängt hatten. Feindlich gesonnene Spione konnten schließlich überall lauern. »I glaube, mein langhaariger Zivildienstleistender sollte mich zu irgendeinem wichtigen Termin bringen, einem Radiointerview oder so was.«, erwiderte Keith unsicher. »Aber bei den Unruhen auf den Straßen ist er mir irgendwie abhanden gekommen. Ich weiß auch not, wo and wieso.« »Könnte ich jetzt bitte ein Autogramm haben?«, rief Rudolf aufgeregt dazwischen und gab seinem Star das Papier und den dicken, schwarzen Filzstift. »With ausführlicher Widmung?«, fragte Keith professionell und sah Rudolf an. »Oh ja, bitte.« »How ist dein Name?« »Rudolf. Rudolf Boll.« »!und jetzt das 5:4 für Brasilien! Unhaltbar hat er ihn in den rechten, oberen Winkel geschlenzt.«, erzählte das Radio. Freudig nahm Rudolf dann das Autogramm entgegen, besah es sich und wurde etwas blass. »Wo sind eigentlich meine Forderungszettel?«, fragte Alfred, suchte seine Taschen ab und sah Mathilde an, als er nichts finden konnte. »Keine Ahnung.«, stellte Mathilde schulterzuckend fest, nachdem sie auch ihre Schürzentasche durchsucht hatte. »Ich habe sie nicht mehr.« »Äh!«, meinte Rudolf verlegen und tippte Alfred vorsichtig auf die Schulter. »Das ist mir aber nun ein bisschen peinlich!« »Was?« -1 7 9 -
»!Schwarzenegger läuft an, schießt und! TOR! 5:5!!«, jubelte das Radio und das Gebäude erzitterte unter dem folgendem Riesenjubel von ne uem. »Ja, Schwarzenegger macht das 5:5! Schwarzenegger war einer derjenigen Spieler in der deutschen Mannschaft, die während der ganzen WM immer sehr gute Leistungen gezeigt haben, was ihm vorher wohl nur die wenigsten zugetraut hätten, nachdem ihm ja von vielen sogenannten Experten bescheinigt wurde, dass er viel zu dick für eine Weltmeisterschaft sei. Und auch die Gerüchte um ein angebliches Verhältnis mit Meier konnten ihn nicht aus der Bahn werfen. Hut ab!« »Tor!«, rief Irene nervös und fingernagelkauend. Sie war so aufgeregt, dass sie ansonsten kein(!) Wort herausbekam. »WAS ist dir peinlich?«, wiederholte Alfred misstrauisch, als er mit dem Jubeln fertig war, und sah seinen Nachbarn scharf an. »Na ja, das mit dem Autogramm auf dem Zettel mit den Forderungen, öh.«, erklärte Rudolf vorsichtig und wedelte ein wenig mit den Zetteln in seiner Hand. »Waas??«, rief Alfred und riss im das Papier aus der Hand. »So, jetzt legt sich der brasilianische Kapitän den Ball zurecht!« »Du hast dir ein Autogramm auf unseren Forderungszettel geben lassen??«, fragte Alfred. Es klang ein bisschen fassungslos. »Na ja, ich hatte doch keinen Zettel dabei.«, erklärte Rudolf hilflos. »Außerdem kann man doch immer noch alles lesen.« »Hm, das wollen wir doch mal sehen.«, meinte Alfred und sah sich den Zettel genauer an. »13. muss dem FC Bayern München verboten werden,«, las er probeweise vor, zögerte und hielt sich das Papier ziemlich dicht vor das Gesicht, »jemals wieder -1 8 0 -
Deutscher mit freundschaftlichen Grüßen für, Krickel Krackel.«, fuhr er fort. »!und der Brasilianer läuft an, schießt und! verwandelt sicher. Keine Abwehrchance für Helmut Kohl. 6:5 für Brasilien!«, verkündete das Radio enttäuscht. »Das ist doch scheiße!«, rief Alfred und blätterte in den Zetteln. »Musste er denn so groß schreiben? Mit einem dicken, schwarzen Filzstift? Und das über zwei, nein, drei Seiten??« Erneut kam Alfred das Wort »Spion« in den Sinn, das sich aber nur über die Leere dort wunderte und deshalb schnell wieder verschwand. »Er hat sich eben etwas Nettes einfallen lassen!«, meinte Rudolf behutsam und wusste, dass er sich am Rande eines Abgrunds bewegte. »Und den Filzstift habe ich von Frau Lehmann bekommen und!« »Pssst!« »Jetzt die Daumen drücken für Deutschland.«, sagte das Radio gespannt. »Oh, was fü r eine Nervenbelastung für den bisher noch völlig unerfahrenen Müller. Er muss jetzt treffen, sonst ist Brasilien Weltmeister. Er läuft an, schießt und! TOR! TOR!!«, fuhr es begeistert fort. Noch einmal erbebte das Gebäude unter dem folgendem Riesenjubel derartig, dass man vermuten musste, dass die Mauern weiteren Erschütterungen nicht gewachsen waren und demnächst in sich zusammenzubrechen würden. »Na ja, ist ja nicht so schlimm.«, rief Alfred, umarmte Rudolf erneut und jubelte mit ihm weiter. »Trotzdem wirst du das hier noch mal überarbeiten müssen.«, fügte er danach hinzu und deutete auf die Forderungszettel. »Äh, wie jetzt?«, fragte Rudolf. »So dass man die Forderungen wieder einigermaßen lesen kann.«, erklärte Alfred geduldig und gab ihm das Papier. »Frau -1 8 1 -
Lehmann wird dich dabei sicherlich freundlich unterstützen.« »Was ist los??«, rief Mathilde gereizt. Rudolf sah erst Alfred, dann die alte Frau unsicher an. »Äh, na gut.«, sagte er nervös. »So, es geht weiter. Der Brasilianer Barriaga nimmt Anlauf, schießt und! macht das Tor!«, sagte das Radio. »Oh nein!«, meinten die Leute und senkten enttäuscht die Köpfe, während Rudolf sich die Forderungszettel eine Weile besah und darüber nachdachte. »So, wer schießt jetzt für Deutschland? Wer nimmt diese Verantwortung auf sich?«, fragte das Radio atemlos. »Aber wenn du die Forderungen vorgelesen hast, darf ich die Zettel doch behalten, oder?«, fragte Rudolf seinen Nachbarn vorsichtig und übersah dabei, dass alle Leute wie gebannt nach oben starrten und in atemloser Spannung der Radioübertragung lauschten. »PSSSST!!« »Ach so, ja. Entschuldigung.« »Sie hören an meiner Heiserkeit, dass dieses Spiel auch an mir nicht spurlos vorübergegangen ist.«, erklärte das Radio. »Ja, die Nummer 9, Klaus Schmidt, wird schießen. Hat er die Nerven? Er muss treffen, ansonsten ist Brasilien Weltmeister. Er legt sich den Ball zurecht. Er sieht recht ruhig aus, meiner Meinung nach vielleicht sogar zu ruhig. Er nimmt einen kurzen Anlauf, schießt und! GEHALTEN! OH NEIN! Torwart Anougila hat den Elfmeter gehalten! Brasilien ist Weltmeister!«, erzählte das Radio und es war zu hören, dass es ihm zu Herzen ging. Im Rundfunkgebäude wurde es jetzt absolut still. Und es war eine Stille, die man regelrecht spüren konnte. Eine Stille, wie sie so eindrucksvoll nur tausende, beengt nebeneinander stehende -1 8 2 -
Leute erzeugen können. »Und jetzt sollten Sie mal die Freudentänze sehen, die das brasilianische Team dort unten aufführt. Ich kann den Trainer, Leonardo Manzi, gar nicht mehr sehen, er ist unter einer brasilianischen Spielertraube verschwunden. Leonardo Manzi, der ja auch mal, was viele gar nicht mehr wissen werden, in Deutschland einige Jahre gespielt hat, unter anderem beim diesjährigen UEFA-Cup-Gewinner, dem FC St. Pauli!« »Kann mal jemand dieses verdammte Radio ausschalten?«, unterbrach Alfred nach einer Weile die eisige Stille, aber das Radio erzählte weiter: » Und da sehe ich Klaus Schmidt am Boden liegen, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Er, der ja früher bekanntlich professioneller Käpitän Ahab -Imitator war. Hat ihn die Augenklappe doch zu sehr behindert? Oder sein Holzbein? Ich weiß es nicht. Jetzt kommen zwei Spieler auf ihn zu, wollen ihn trösten, ihn wieder aufrichten. Aber er will sich nicht trösten lassen. Er weint!« »Mist!«, meinte Irene dann und sammelte ihr Radio schnell wieder auf, nachdem sie es vor Wut auf den Boden hatte fallen lassen. »Scheiße!«, rief Gottfried und hatte auf einmal große Lust, irgendetwas kaputtzumachen. »Was habe ich Ihnen gesagt?«, rief Mathilde ihrem Nachbarn mit einer Mischung aus Triumph, Wut und Trauer zu. »Mit diesem Trainer kann Deutschland kein Weltmeister werden!« »Ach, seien Sie still.« »Hähähä!« »Aber wenn du die Forderungen vorgelesen hast, darf ich die Zettel doch behalten, oder?«, wiederholte Rudolf in diesem Moment unvorsichtigerweise und sah Alfred hoffnungsvoll an. Er hatte nicht daran gedacht, dass jetzt eventuell ein schlechter Zeitpunkt für so eine Frage war. -1 8 3 -
»WAS?«, rief Alfred aggressiv und packte ihn am Kragen. »Äh, ich fragte eben, ob ich nach der Revolution das Autogramm wieder haben könnte.«, erklärte Rudolf vorsichtig und nahm Alfreds Hände ganz sanft von seinem Kragen. »DU WILLST DAS AUTOGRAMM HABEN??«, rief Alfred, riß ihm die Zettel aus der Hand, sah ihn mit großen Augen an, und hackte mit einem Finger auf das Papier, »DAS HIER ist ein HISTORISCHES DOKUMENT, verdammt noch mal! Und auf HISTORISCHE DOKUMENTE gehören nun mal KEINE AUTOGRAMME! IST DAS KLAR?!« »Äh, ja, ich glaube schon.«, meinte Rudolf verunsichert und versteckte sich hinter Irene, die sich gerade um ihr nicht mehr funktionierendes Radio kümmerte. Sie schüttelte es und hielt es an ein Ohr, aber es blieb stumm. »DANN BRING DAS GEFÄLLIGST WIEDER IN ORDNUNG, VERSTANDEN!?«, rief Alfred in Richtung Irene und schmiss die Zettel vor ihre Füße. »Ich will meine HISTORISCHEN FORDERUNGEN wieder lesen können!!« »Wie bitte?«, fragte Irene überrascht und sah Alfred an. »SIE MEINTE ICH NICHT, MADAME! ", rief Alfred, während Rudolf vorsichtig hinter ihr hervorlugte. »Jawohl!«, erklärte er geho rsam und sammelte das Papier schnell wieder ein. Nicht nur bei Alfred war nach der Finalniederlage zu spüren, dass die Stimmung merklich hitziger und aggressiver geworden war. »Los. Jetzt stürmen wir diesen scheiß Laden!!«, rief Alfred grimmig durch den Gang. Wütende Parolen wie »Wir holen unseren Fernseher zurück, egal wie!«, »Ohne Rücksicht auf Verluste!« und »Wir zeigen es denen!« schallten dem Anführer danach entgegen. Alfred hämmerte einige Male an die Studiotür, die er von außen nicht -1 8 4 -
öffnen konnte. Als sich drinnen nichts regte, bearbeitete Mathilde die Tür einen Augenblick mit ihrem angeschlagenen Stock, der für diese Zwecke immer noch absolut ausreichend war. Es dauerte nicht lange und der schmächtige Mann mit dem Kopfhörer um den Hals öffnete die Tür erneut und sah Keith an, der hinter Mathilde in seinem Rollstuhl saß und vor sich hin döste. »Ah, Keith, kommen Sie ruhig schon herein!«, erklärte er freundlich. »Sie können ruhig ein paar Freunde mitbringen, soweit hier Platz!!« Er hatte noch gar nicht zuende gesprochen, als eine wilde Horde das Studio stürmte. Voran rannten Alfred, Rudolf und Gottfried. Dahinter folgten Mathilde und Keith sowie Irene, bevor die aufgebrachten Anhänger Alfreds und neuerdings Keith Richards-Fans das Studio füllten. »Tut mir leid, mehr passen hier leider nicht! HE, Vorsicht !«, rief der Schmächtige und wollte die Tür schließen, was ihm aber nicht mehr gelang, da überall und dichtgedrängt Alfreds Anhänger standen. Als er sich langsam durch die Menschen zum Mischpult zurückdrängelte, musste er erkennen, dass Alfred seinen Stuhl vor dem Mikrofon besetzt hatte. Dagegen Protestieren hatte vermutlich keinen Sinn, zumindest aber wollte er stehen, ohne ständig angerempelt zu werden. »Gehen Sie doch mal ein bisschen zur Seite, ich muss schließlich auch noch das Mischpult bedienen!«, rief er deshalb und verschaffte sich auf diese Weise sogar etwas Platz. In der Zwischenzeit berichteten die Nachrichten im Radio von sich weiter ausbreitenden Unruhen in immer mehr Städten und von der Besetzung des Radiosenders, dessen Initiator offensichtlich ein bislang völlig unbekannter, arbeitsloser dicker, älterer Bürger sei. »Also, Keith!«, wandte sich der schmächtige Moderator dann -1 8 5 -
an den Mann im Rollstuhl. »Wir sind nach den Nachrichten in da sehen Sie die Uhr - 4 Minuten und 34 Sekunden auf Sendung. Ich werde das Interview mit einigen Fragen zu ihrem Leben hier in Deutschland beginnen. Danach könnten Sie vielleicht etwas zur Abschiedstournee mit den Stones sagen und von dem Gefühl erzählen, in einem Rollstuhl auf der Bühne zu sitzen und ein Rockkonzert zu spielen.« »Okay.«, sagte Keith Richards und lehnte sich zurück. »Und was ist mit uns ?«, rief Alfred etwas verwirrt dazwischen. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, aber WIR haben den Radiosender besetzt. Wir machen hier nämlich gerade eine Revolution und wollen hier unsere Forderungen unterbreiten!«, fügte er unter zustimmenden Rufen seiner Anhänger hinzu. »Sie sehen doch, dass das nicht geht !«, meinte der Moderator nervös. »Die Leute draußen an den Radios erwarten ein Exklusivinterview mit Keith Richards! Wir als Radiosender sind heute Abend dazu verpflichtet, die Lücke zu schließen, die der Verlust der Fernseher unglücklicherweise mit sich gebracht hat. Das müssen Sie doch verstehen. Zweifellos sind Sie enttäuscht, weil Deutschland nicht gewonnen hat, aber das ist noch lange kein Grund!« »Ich weiß was!«, meldete sich Rudolf dazwischen, der ansonsten gerade zusammen mit Mathilde damit beschäftigt war, die Forderungszettel zu überarbeiten. »Die Hörer wollen Keith Richards und wir wollen unsere Forderungen unterbreiten. Das kann man doch prima verbinden, indem Keith die Forderungen vorliest, oder?« »Hm, na ja.«, zeigte sich der Moderator nicht gerade begeistert und machte eine abwägende Handbewegung. »Die Leute wollen aber ein Interview! Mein Redaktionsleiter wird von dieser Idee wohl nicht sehr angetan sein.« »He, Sie sind momentan gar nicht in der Position, hier zu -1 8 6 -
bestimmen, wo es langgeht. Wir haben den Sender nämlich BESETZT, klar!?«, erklärte ihm Alfred daraufhin die Situation noch einmal nachdrücklich. »Wir entscheiden jetzt, was gemacht wird und was nicht. Und wenn etwas nicht der revolutionären Sache dient, werden wir es nicht zulassen.« »Bravo!«, riefen die Leute und applaudierten zustimmend. »Richtig!«, »Gibs ihm!« »Und ein Interview mit Keith Richard, oder wie der heißt, dient der revolutionären Sache nicht, stimmts?«, meinte Gottfried schlau. »Genau.«, stellte Alfred fest. »Na ja, aber wenn die Leute doch alle auf das Interview warten, sollten wir dem Volk zunächst einmal geben, was es verlangt.«, gab Rudolf zu bedenken. »Vielleicht wäre es das beste, wenn wir ein Interview mit Keith Richards führen, aus dem hervorgeht, dass er unser Mann und ein vehementer Fürsprecher der revolutionären Sache ist.«, fügte er nachdenklich hinzu. »Häh?«, fragte Gottfried, der das nicht verstanden hatte, während sich Alfred nachdenklich das Kinn rieb. »Das ist gar nicht so schlecht!«, meinte der Moderator und nickte. »Jedenfalls, wenn ich das Interview machen kann!«, fuhr er fort und dachte einen Augenblick nach. »Mann, Keith Richards und eine Revolution in einer Sendung! Das ist der Hammer!«, sagte er verträumt. »Damit räume ich in nächster Zeit jeden Medienpreis ab, den es zu gewinnen gibt. Vor allem, weil es ja keine Fernseher mehr gibt!«, jubelte er. »Nie mehr! Nie mehr wird es funktionierende Fernseher geben!!« »Was ist los?«, fragte Alfred misstrauisch. »Es wird keine Fernseher mehr geben?? Wie kommen Sie darauf???« »Äh!«, erklärte der Moderator peinlich berührt. »Ich meinte natürlich: Vielleicht wird es keine funktionierenden Fernseher mehr geben!« -1 8 7 -
»Eben haben Sie aber gesagt, dass es nie mehr funktionierende Fernseher geben wird!«, beharrte Alfred, während Rudolf skeptisch die Stirn runzelte. »Äh, na ja!« Gottfried musterte den schmächtigen Moderator, der einen Kopf kleiner und ihm körperlich weit unterlegen war. »Soll ich ihm eine reinhauen?«, fragte er deshalb angriffslustig und hob eine Faust. »Nein.«, stellte Alfred fest. »Erst mal nicht.« »Och. Schade.«, sagte Gottfried enttäuscht und ließ die Faust wieder sinken. »Ich hab mich doch bloß versprochen!«, stammelte der Moderator. »Ich kann doch gar nicht wissen, ob und wann die Fernseher wieder funktionieren!« »Hm.«, sagte Alfred argwöhnisch. »Wir behalten dich im Auge!« »Genau, du!«, stimmte Gottfried zu und hob drohend einen Finger. Alfreds Anhänger in dem Studio diskutierten in der Zwischenzeit darüber, wie nun am besten vorzugehen sei. Es herrschte jedoch keine Einigkeit. Einige waren der Ansicht, dass Interview mit Keith Richards habe Vorrang, danach käme die Revolution, andere meinten, dass die Unterbreitung der Forderungen selbstverständlich sehr viel wichtiger sei. Die meisten waren jedoch der Meinung, dass man Alfred allein die Entscheidung treffen lassen sollte. Sie waren davon überzeugt, dass sie mit einem solchen Revolutionsführer an der Spitze nicht zu befürchten brauchten, dass irgendetwas schief lief. Was Alfred anfasste, das klappte schon, und wenn es eine Revolution war. Mit ihm als Bundestrainer wäre Deutschland ganz bestimmt auch Weltmeister geworden. »Wir machen folgendes :«, meinte Alfred nach einer Weile. -1 8 8 -
»Das Interview findet statt. Aber vorher werde ich klarstellen, dass Keith Richards ein großer Anhänger von mir, ich meine, der Revolution und unseren Forderungen ist.« »Das ist toll!«, stellte Rudolf fest. Das brauchte er der Menge nicht zu erzählen. Natürlich war das toll! »Haben Sie Richard schon gefragt, ob er dabei überhaupt mitmacht ?«, krächzte Mathilde dazwischen und schlug mit einer Hand auf einen Griff des Rollstuhls. »Diese jungen Leute heutzutage! keinen Respekt mehr!«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu. »Wie?«, machte Alfred und sah Mathilde an. »Ach so, ja, richtig.« »Du bist doch dabei, oder?«, wandte er sich an Keith. »What ist los?«, fragte Keith Richards und blinzelte. Danach musste Alfred dem Mann im Rollstuhl erst einmal erklären, worum es ging. »…hm, well, ich weiß not.«, erklärte der danach unschlüssig. »Denk doch mal an die vielen, schönen Forderungen, die wir dann durchsetzen können!«, schwärmte der Revolutionsführer, kramte in seinen nebelverhangenen Erinnerungen die Forderungen heraus und suchte nach einer besonders schönen. »Bayern München zum Beispiel darf dann kein deutscher Meister mehr werden!«, fiel ihm ein. »I fand die Bayern gar not so schlecht !«, brummte Keith. »They spielen den besten Fußball.« »Ach so.«, sagte Alfred verstehend und suchte fieberhaft nach einer Forderung, die Keith Richards gefallen könnte. »Na, und dann fordern wir, dass im Radio mehr von den Rolling Stones gespielt wird!«, erinnerte er sich. Richards Gesicht erhellte sich: »Ach ja!«, meinte er. »Na gut, ich bin dabei!« -1 8 9 -
»So, wir sind jetzt gleich auf Sendung.«, unterbrach ihn der Moderator. »3! 2! 1!«, fügte er hinzu, während er mit den Fingern rückwärts zählte. Er drückte auf einen roten Knopf und bediente dann einen Lautstärkeregler. »Guten Abend, liebe Hörerinnen und Hörer! Mein Name ist Horst Block! Ich begrüße Sie heute Abend ganz besonders herzlich zu meiner überaus erfolgreichen Sendung `Interview mit einem Prominenten'«, sagte er in das vor ihm aufgehängte Mikrofon, was einige Verrenkungen seinerseits erforderte, weil Alfred immer noch seinen Stuhl besetzte. »Und obwohl Deutschland kein Weltmeister geworden ist, geht das Leben weiter, auch wenn Sie es mir nicht glauben werden! Hahaha, kleiner Scherz!«, erzählte er weiter, womit er laute Unmutsäußerungen im gesamten Funkhaus provozierte. »Wie Sie eben hören konnten, habe ich heute Abend Gäste bei mir im Studio. Zum einen ist Keith Richards von den Rolling Stones mit einigen Fans zu mir gekommen!«, fuhr er fort und gab dem Mann im Rollstuhl mit einem Finger ein Zeichen. »Guten Abend!«, sagte Keith höflich. »Und dann haben wir hier noch paar Leute hier, die das Funkhaus besetzt haben, um eine Revolution durchzuführen.«, sagte der Radiomensch und hob die Arme, um den umstehenden Leuten zu bedeuten, dass sie sich jetzt bemerkbar machen sollten, was sie daraufhin nach einem kurzem Zögern auch alle brav taten. »Sie hören also, es lohnt sich sich dranzubleiben.« »Jetzt reicht es aber!«, rief Alfred daraufhin verärgert ins Mikrofon und konnte leider keinen Tisch finden, auf den er wütend mit der Faust hätte hauen können. »Wir machen hier doch keine Unterhaltungsshow. Wir haben den Radiosender besetzt, um unseren Protest auszudrücken. Da draußen stehen hunderttausend Menschen, die alle ihren Fernseher wieder haben wollen! Die für den Ausfall unserer Fernsehapparate -1 9 0 -
Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden!«, fügte er erregt hinzu, kramte nach seinen Forderungszettel und merkte dann, dass Rudolf sie ja hatte. »Wir haben deshalb Forderungen ausgearbeitet, die wir, wenn nötig auch mit Gewalt, durchsetzen werden! Und Keith Richards ist ein großer Befürworter unserer Aktionen und mein stellvertretender Revolutionsführer!«, erklärte er und verstummte, weil ihn wegen des riesigen Jubels ohnehin keiner mehr verstehen konnte. Nur Gottfried und Rudolf sahen ihn böse an. »He, Moment mal!«, rief Gottfried entrüstet, als es wieder etwas ruhiger geworden war. »Rudolf und ich sind doch schon Ihre Stellvertreter!« Alfred sah Gottfried an. »Ja, natürlich.«, erwiderte er leicht genervt. »Ja, aber! das geht doch nicht!«, empörte sich nun auch Rudolf. »Wir können doch nicht!« »Dürfte ich euch beide bitten, still zu sein?! Wir haben jetzt wirklich wichtigeres zu tun.«, erwiderte Alfred scharf und lächelte seine Nachbarn mit zusammengebissenen Zähnen an. Und man konnte sehen, dass es kein freundliches Lächeln war. »Sonst!!«, fügte er hinzu und deutete auf Mathilde. »Reg dich doch nicht gleich auf!«, meinte Rudolf und wich schnell einige Schritte zurück. »Ist ja gut.«, entgegnete Gottfried, drehte sich um und flüsterte dann weiter. »Aber warte nur bis ich es doch noch schaffe und an die MACHT komme! Dann werde ich dich zerquetschen. Zerquetschen wie!« »Stellvertretender Revolutionsführer?«, flüsterte Keith dem Anführer der Revolution danach fragend zu. »Ja.«, flüsterte Alfred zurück. »So können wir noch mehr Leute auf unsere Seite bringen. Du bist doch beliebt und hast -1 9 1 -
eine Art Vorbildfunktion bei den Menschen da draußen.« Er musterte Keith. »Na ja, wenigstens für einen Teil der Bevölkerung.«, fügte er einschränkend hinzu. »Well, na gut!«, flüsterte Keith zurück, wandte sich zum Mikrofon und holte tief Luft. »Mr Alfred hat Recht!«, sagte er energisch. »This Revolution ist auch meine Revolution.« »Übrigens bin ICH der Anführer dieser Revolution. Mein Name ist Alfred!«, stellte sich Alfred den Hörern vor. Nachdem die darauffolgenden Jubelgesänge der Menschen im Gebäude für ihren Anführer abgeebt waren, versuchte der Moderator, das Heft wieder an sich zu reißen. »Keith, meine erste Frage:« »Moment mal!«, begann Alfred verdutzt, der eigentlich gerade zu einer revolutionären Rede ansetzen wollte, wurde aber sofort abgewürgt. »Wie haben Sie sich in Deutschland eingelebt und wie haben Sie es geschafft, so schnell perfekt deutsch zu lernen?«, fragte Horst mit gespielter Neugier. »Well, Horst, I am dankbar, dass Sie mir diese Frage stellen!«, erklärte Keith Richards professionell. »Germany ist ein sehr nettes Land und ich kann behaupten, dass ich mich hier ganz gut eingelebt habe. Wenn auch die Altenheime not ganz so gut sind, wie mir vorher berichtet wurde. Vor allem das Essen na ja!« Er räusperte sich und fuhr dann fort: »For meine DeutschKenntnisse möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal bei meinem Lehrer, Mr Seymoure, herzlich bedanken. Ein great Lehrer!« »Vielen Dank für den Moment, Keith!«, erklärte Horst Block und lächelte ihn an. »Wir melden uns gleich wieder mit Keith Richards von den Rolling Stones. Aber vorher hören wir die -1 9 2 -
neue Single der Stones!« »Aber!«, begann Alfred, kam aber nicht weiter, weil das Lied begann. Horst drückte auf einen Knopf, regelte irgendetwas mit der Lautstärke, nahm die Kopfhörer ab und beugte sich zu dem Musiker. »Das klappt doch hervorragend !«, erklärte er und rieb sich die Hände. »Und ein tolles Lied, Ihre neue Single, wenn ich das sagen darf.«, fügte er schleimig hinzu. »Hab ich zusammen with Mick in einem Pflegeheim near London geschrieben!«, entgegnete Keith stolz. »Das war die aktuelle Single von den Rolling Stones und ich freue mich, heute Abend Keith Richards bei mir begrüßen zu können.«, sagte Horst ins Mikrofon, als die Musik langsam leiser wurde. »Keith, als nächstes möchte ich Sie fragen, wie es Ihnen und Ihren Kollegen in der Band gesundheitlich geht.«, fuhr er fort, als die Musik verstummt war. »Mick Jagger hat ja gerade ein zweites künstliches Hüftgelenk bekommen und wie wir wissen, steht auch Ron Wood mit einer Gehhilfe auf der Bühne!« »Well!«, begann Keith, wurde aber von Alfred unterbrochen, der ungeduldig mit den Fingern auf das Mischpult trommelte und sich zum Mikrofon beugte. »Zurück zur Revolution!«, sagte er. »Gerne!«, erwiderte der Moderator betont freundlich. »Aber vorher noch die Werbung!« »Wie?«, fragte Alfred. »Wir geben kurz zur Werbung ab!«, erklärte Horst Block geduldig, aber etwas lauter. »Nein!«, rief Alfred und stürzte sich auf die Hand von Block, die gerade einen Knopf betätigen wollte. »Keine Werbung! -1 9 3 -
Unsere Revolution ist nicht käuflich! Werbung ist unter anderem ein Punkt, den wir bekämpfen.« »Ja, tut mir leid.«, erwiderte Horst. »Aber ich habe einen Werbevertrag mit einer bekannten Biermarke und den muss ich nun mal erfüllen!« Als der Moderator seine Hand erneut zum Knopf ausstrecken wollte, winkte der Revolutionsführer Mathilde und Gottfried herbei. Gottfried nahm den Moderator daraufhin unter Mithilfe von Frau Lehmann in den Schwitzkasten und versuchte, ihn vom Mischpult wegzuzerren, was aber nicht so einfach war, da er sich ziemlich heftig wehrte. »Wir werden nicht zulassen, dass die heutzutage immer mehr um sich greifende Kommerzialisierung auch unsere Revolution erfasst!«, fügte Alfred kämpferisch hinzu und war sehr stolz auf diesen Satz, während Horst sich loszureißen versuchte und sich zum Mikrofon streckte. »Diese Revolution wird ihnen präsentiert von Krom…«, rief er hinein, wurde aber abgewürgt von Gottfrieds Hand, die sich in diesem Augenblick auf seinen Mund legte. Erneuter Applaus brandete auf, als der Moderator von Gottfried, einigen stämmigen Anhängern Alfreds und vor allem Mathilde aus der Menge von dem Mischpult weggezogen und etwas abseits auf einem Stuhl abgestellt wurde. Einige Widerspenstigkeiten später wurde er dann an den Stuhl gefesselt. »Tja, also, wir hatten hier eben eine kleine, äh, technische Panne.«, erklärte Alfred dem Miktrofon und räusperte sich. »Jetzt, da die Schwierigkeiten behoben sind, möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir das Interview mit Keith Richards zu gegebener Zeit fortsetzen werden. Zunächst darf ich Ihnen aber vortragen, was unsere Forderungen im einzelnen sind.« Zwischendurch sah Rudolf sich um. »Wo ist Eberhard eigentlich?«, fragte er. -1 9 4 -
»Ich glaube, er wollte Pizza bestellen!«, meinte Gottfried. »Yes, das stimmt.«, schaltete sich Keith ein. »I hab ihn darum gebeten!« »Und was ist mit uns?«, wollte Rudolf hungrig und etwas lauter als geplant wissen. »Well, da hättet ihr euch selber drum kümmern müssen.«, meinte Keith schulterzuckend. »Darf ich jetzt bitte mit der Re volution weitermachen?«, fragte Alfred ungeduldig und trommelte mit den Fingern auf das Mischpult. »Danke!«, fügte er hinzu, als ihn seine Stellvertreter schuldbewusst und schweigend ansahen, und wandte sich wieder zum Mikrofon: »Wenn also auch Sie für Ihren Fernseher kämpfen wollen und von unseren Zielen überzeugt sind, bitte ich Sie, zum Radiosender zu kommen um uns personell und moralisch zu unterstützen.« Danach wartete er eine Weile, bis sich der Applaus gelegt hatte. »Danke, liebe Genos…, äh, liebe Freunde!«, verbesserte er sich und ließ sich von Rudolf die überarbeiteten Forderungszettel geben. »Die Forderungen der AFBF (Alfreds Fernseher-BefreiungsFront) sind:«, las er vor und sah Rudolf erstaunt an. »Alfreds Fernseher-BefreiungsFront?«, flüsterte er ihm fragend ins Ohr. »Ja.«, flüsterte Rudolf zurück. »Gut, nicht?« »Na ja.«, meinte Alfred kritisch und räusperte sich. Daraufhin wiederholte der Revolutionsführer die Forderungen. Das ganze nahm eine ganze Weile in Anspruch, weil die Forderungen der AFBF (Alfreds FernseherBefreiungsFront) zum Teil überarbeitet und verbessert worden waren, teilweise wurde etwas gestrichen und anderes hinzugefügt. Jedenfalls konnte Alfred nicht mehr alles lesen und -1 9 5 -
musste sich von Rudolf und Gottfried beim Entziffern helfen lassen. Immer wieder unterbrochen wurde er auch von Irene, die Mathilde lautstark zu erklären versuchte, was eine Pizza war. Unter anderem schilderte sie ein interessantes Erlebnis, das sie hatte, nachdem sie einmal beim Kaufen der Zutaten versehentlich statt des Mehls irgendwelche Drogen - viele konnte man mittlerweile ja in jedem Supermarkt kaufen erwischte. »!und dann bekam die Geburtstagstorte plötzlich Flügel und flog zum Fenster hinaus Und dann stolperte mein Großcousin über das Bügelbrett das uns helfen wollte die Torte wieder einzufangen Und das Bügeleisen wurde gegen ein altes Gemälde geschleudert das sich schon die ganze Zeit vorher über die vielen Leute und den Lärm beschwert hatte Und dann kam das beste!« »17. und letztens fordern wir: KOSTEN LOSES FERNSEHEN FÜR ALLE!«, rief Alfred schließlich ziemlich laut und triumphierend in das Mikrofon. »Genau!«, stimmte Mathilde ihm begeistert zu. »Richtig!«, begeisterte sich Rudolf. »Toll!«, meinte Gottfried. »CCHHHrrrrrpüüüh!«, schnarchte Richard. »!meine Gästen damals schwärmten jedenfalls noch monatelang davon wie toll die Pizza geschmeckt und wie nett sie sich mit den Tellern und dem Besteck unterhalten hätten Damals entstanden echte Freundschaften fürs Leben und!« Die im Gebäude herumstehenden Leute waren recht ruhig geworden, aber jetzt schreckten sie hoch. Und als Gottfried, der zwar nicht alles verstanden hatte, dann noch Beifall zu klatschen begann, fingen auch die anderen Umstehenden zu applaudieren an und bekundeten lautstark ihre Zustimmung. Hätten sie -1 9 6 -
gesessen, wären sie jetzt aufgestanden und es hätte stehende Ovationen für Alfred gegeben. »Danke!«, rief Alfred, winkte in die Runde und verneigte sich. »Vielen Dank, meine Freunde!« »Ich danke euch allen!«, fuhr er fort, als der Beifall nicht aufhörte, und verneigte sich noch einmal. »Danke! Es reicht jetzt langsam!«, fügte er nach einer Weile etwas lauter hinzu und machte ein paar beschwichtigende Handbewegungen. »Und ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen,«, erklärte Alfred dem Mikrofo n, nachdem sich der Jubel etwas gelegt hatte, und deutete auf Keith, »dass mein Freund und Stellvertreter, Keith Richards, alle diese Forderungen unterstützt und ebenfalls bereit ist, für deren Durchsetzung zu kämpfen! Nicht wahr, Keith?« »Hm, what?«, fragte der Mann im Rollstuhl, nachdem ihn jemand geweckt hatte. »Ach so, yes, klar!«, fügte er hinzu, nachdem ihm jemand erklärt hatte, worum es ging. Jetzt bejubelte die Menge Alfreds Stellvertreter, Keith Richards, der sich noch zusätzliche Sympathien dadurch erwarb, dass er die vielen Autogrammwünsche geduldig erfüllte.
-1 9 7 -
Kapitel #5 Unruhen überall! »SO!«, sagte Alfred entschlossen und wandte sich wieder zum Mikrofon. »Ich werde jetzt die Forderungen noch einmal wiederholen. Diesmal aber ohne fremde Hilfe und - wie ich hoffe - ohne Unterbrechungen!« Ein leicht genervtes Raunen ging durch das Publikum. »Och, noch mal?«, fragte jemand aus der Menge etwas säuerlich. »Damit auch der letzte Depp kapiert, worum es hier geht !«, erklärte der Revolutionsführer. Gottfried sah hoch. »Ja, hallo?! Was ist mit mir?«, wollte er wissen. »!der Belag bei einer Pizza kann sich allerdings deutlich unterscheiden Ich erinnere mich an eine Pizza die ich im Jahre 1978 oder so in einem italienischen Restaurant das es allerdings schon lange nicht mehr gibt bekommen habe Diese Pizza hatte den seltsamsten Belag den ich je gesehen hatte Denn diese Pizza Sie werden es nicht glauben war belegt mit!« Alfred beobachtete Irene einen Augenblick, merkte dann, dass sie in absehbarer Zeit von sich aus nicht verstummen würde und ging auf sie zu: »Ich möchte diese unsere HISTORISCHEN FORDERUNGEN ohne Unterbrechungen und Störungen wiederholen.«, rief er ihr zu. »Dürfte ich deshalb auch Sie bitten, einen kurzen Moment RUHIG zu sein?! Nur einen kurzen Moment!« »Also wissen Sie Herr Alfred mir gefällt ihr Ton nicht«, erwiderte Irene gereizt, »Das erinnert mich nämlich an eine Situation die ich schon mal erlebt habe ich glaube es war im -1 9 8 -
Jahre 1934 Ach nee warten Sie mal das kann ja gar nicht angehen Dama ls habe ich ja noch gar nicht gelebt Also muss es später gewesen sein Jedenfalls war ich damals in einer großen Stadt im Urlaub ich glaube es war in Berlin Ach nein warten Sie das war es nicht glaube ich Jedenfalls habe ich damals!« Alfred hatte das Gefühl, dass er gleich zu heulen anfangen müsse. Seine Lippen begannen zu zittern und das rechte Augenlid fing an, nervös zu zucken, als ihm Keith Richards unerwarteterweise zu Hilfe kam. »My liebe Irene!«, sagte er freundlich zu Irene, fuhr zu ihr und legte einen Arm um ihre Taille. »We wollen doch alle, dass es mit der Revolution weitergeht, damit die Forderungen durchgesetzt werden, oder?« Irene besah sich den Arm um ihre Taille und kicherte: »Huch!? Herr Richards! Sie sind mir aber ein schlimmer Finger hihihi… Wissen Sie dass!« Das wiederum gefiel Mathilde ganz und gar nicht. »Richard!«, rief sie wütend. »Komma her hier!« »Genau! So was gehört sich ja wohl nicht bei einer Revolution!«, stimmte Rudolf ihr gereizt zu und sah Irene vorwurfsvoll an. »What?« »Was ist? Also ich muss schon sagen dass ich nicht verstehe was!« »RUUHEE!«, schrie Alfred verzweifelt, was immerhin den gewünschten Erfolg erzielte, denn danach waren alle Umstehenden so eingeschüchtert, dass sich niemand mehr zu rühren traute. Jaha, dachte die Menge, dieser Alfred kann auch für Ruhe und Ordnung sorgen. Er ist wahrhaftig eine Autoritätsperson und ein perfekter Regierungschef. Oder ein guter Bundestrainer. »Also!«, sagte Alfred, räusperte sich und registrierte stolz, -1 9 9 -
dass er von der Menge offenbar als Autorität respektiert wurde. Dann trug er noch einmal die ausgearbeiteten Forderungen vor. Diesmal aber ohne fremde Hilfe und sogar ohne Unterbrechungen! Und das war noch nicht alles: Er war sogar noch in der Lage, das Vorgelesene sehr überzeugend rüberzubringen. Dafür gab es danach auch den verdienten Applaus vom Publikum, noch lauter und länger als beim letzten Mal. Und das, obwohl die Leute von den ständigen Wiederholungen mittlerweile etwas genervt waren. »Und jetzt ?«, fragte Rudolf, als die Menschen mit dem Jubeln fertig waren. »Jetzt warten wir erst einmal ab.«, erklärte Alfred und lehnte sich entspannt zurück. »Und wenn gar nichts passiert?«, wollte Rudolf nach einer Weile wissen. »Irgendetwas wird schon passieren!«, meinte Alfred und legte die Hände stützend an den Hinterkopf. »Da draußen sind so viele Idioten, die jetzt - wo ihr Fernseher nicht mehr geht - nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Die sind sicher froh über eine kleine Abwechslung. Vor allem, wenn sie dazu dient, ihre Fernseher zurückzubekommen.« »Sind wir eigentlich immer noch auf Sendung?«, erkundigte sich Rudolf, nachdem er sich das Mikrofon eine Zeitlang angesehen hatte. »Scheiße!«, entfuhr es Alfred und beugte sich hastig über das Mischpult. »Wie bedient man dieses Mistding eigentlich?« »Ich hab so etwas schon Mal gesehen«, erklärte Irene bereitwillig, »ich glaube es war vor ungefähr 20 Jahren als ich einmal zufällig in einem Fernsehstudio landete und dort die Toilette suchte Und dabei hab ich mich wohl irgendwo verlaufen Jedenfalls stand ich plötzlich im Regieraum und da stand auch so ein Ding obwohl es damals!« -2 0 0 -
»Wissen Sie, wie der Apparat funktioniert?«, unterbrach Alfred sie ungeduldig. »Nein also das ist jetzt ein bisschen viel verlangt schließlich war ich ja gar nicht lange dort weil ich ja so dringend musste Außerdem fanden es die Leute dort gar nicht gut dass ich da war und als ich denen von einer ähnlichen Begebenheit erzählen wollte haben die mich einfach rausgeschmissen! Unglaublich oder? Obwohl es natürlich sehr interessant war Vor allem die nackten!« »DANKE! Es reicht!«, meinte Alfred ziemlich laut, kniff beide Augen zu und rieb sich die Schläfen mit den Händen. »Vorsicht, heiß!«, rief Eberhard in diesem Moment und drängelte sich, drei große Pappschachteln auf den Händen balancierend, durch die Menge. »Entschuldigung, darf ich mal durch? Passen Sie doch auf! Ich hab doch gesagt, das ist heiß!« »Oh, Eberhard and die Pizza sind da!«, rief Keith begeistert und rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Puh! War das anstrengend !«, meinte Eberhard völlig erschöpft, ließ die Pizza auf das Mischpult fallen und musste sich dort erst einmal einen Augenblick abstützen. »Thank you!«, sagte Keith und nahm sich eine Schachtel. »Es gab wohl Probleme mit der Polizei?«, vermutete Alfred. »Wie?«, fragte Eberhard und schnappte nach Luft. »Mit der Polizei? Hah! Nein, die stehen immer noch vor der Schranke und versuchen, hier herein zu kommen. Mittlerweile werden sie etwas ungeduldig, glaube ich. Jedenfalls haben sie es vorhin schon mit einigen Drohungen versucht.« »Das wird bei Julius nicht funktionieren.«, meinte Alfred kopfschüttelnd. »Dem macht so was auch noch Spaß.« »Seitdem die Grünen die absolute Mehrheit in Deutschland haben, ist die Polizei auch nicht mehr das, was sie einmal war.«, warf Rudolf ein. »Dieser Hans Meiser, unser Innenminister, hat -2 0 1 -
einfach kein Durchsetzungsvermögen. Und er strahlt nicht die nötige Autorität aus.« »Das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand.«, meinte Alfred und achtete sorgsam darauf, dass er ins Mikrofon sprach. »Also, wenn ich die Gewalt über die Polizei hätte, würde es so etwas nicht geben. Dann könnten nicht irgendwelche Unruhestifter kommen und zum Beispiel einen Radiosender oder so was besetzen. Ich würde für Ruhe und Ordnung sorgen.« Daran zweifelten die Leute keine Sekunde. Alfred konnte eben alles. »Jedenfalls habe ich im Pförtnerhäuschen gewartet und dabei Radio gehört.«, erzählte Eberhard weiter und musste sich noch eine Weile am Mischpult festhalten. »Und als das Auto vom Pizza-Service endlich kam, ließ es der Pförtner ohne weiteres durch. Dabei passte er natürlich auf, dass die Polizisten nicht hineinkamen, was denen, glaube ich, ganz und gar nicht gefiel. Die Polizei, erklärte der Pförtner lautstark, dürfe das Gelände nur bei Vorliegen wichtiger Gründe betreten. Und ein Interview mit Keith Richards rechtfertige so einen Einsatz nun mal keineswegs hat er gesagt. Er habe schließlich auch Anweisungen zu befolgen. Mann, haben die Polizisten da aber blöd geguckt. So ein junger Polizist wollte den Radiosender dann alleine stürmen und wäre beinahe durchgekommen, wurde aber von seinem Chef zurückgerufen und hat ordentlich einen auf den Deckel bekommen. Solche Aktionen sind außerordentlich gefährlich, nicht wahr, schimpfte der Einsatzleiter. Der Arme hat ohnehin viel zu leiden, glaube ich. Zuerst war er nämlich noch ganz rot im Gesicht. Nachdem die Pizza gekommen war, wurde er blau und als der junge Polizist dann alleine den Radiosender stürmen wollte, wurde sein Gesicht ganz grün. Also, wenn das so weiter geht, wird er es nicht mehr lange machen, fürchte ich.!«, fuhr Eberhard dort und rang nach Luft. Er war es nicht gewohnt, so lange Monologe zu sprechen. Vielleicht, überlegte Alfred, sollte er sich in diesem -2 0 2 -
Zusammenhang mal einige Tipps von Irene geben lassen, die in so was ja zweifellos eine Expertin war. »Und dann hab ich die Pizza bezahlt und wollte wieder hier herkommen.«, erzählte er weiter. »Das war dann aber gar nicht so einfach, weil es überall so voll war. War das eine Drängelei! Noch schlimmer war aber, dass alle Leute Hunger haben und ich mich mit Händen und Füßen gegen jeden wehren musste, der es auf die Pizzas abgesehen hatte.«, stellte Eberhard fest. »Ist doch egal.«, mischte sich Gottfried ein und leckte sich über die Lippen. »Wie viele Pizzas haben Sie uns mitgebracht ?« »Drei! In weiser Voraussicht habe ich auch eine Pizza für euch mitgebracht.«, erklärte Eberhard, während sich der Duft der heißen Pizzas langsam im Studio verbreitete und das Wasser in den Mündern der Umstehenden zusammenlaufen ließ. Gierige Blicke lagen auf den Pizzaschachteln. »DREI? Sie haben DREI Pizzas für uns ALLE mitgebracht ??«, fragte Gottfried entsetzt, sah sich um und griff schnell nach einer Pizzaschachtel. »Herr Gottfried! DAS ist meine Pizza!«, rief Eberhard entrüstet und griff nach Gottfrieds Arm. »Wer sagt das?«, wollte ein ziemlich Dicker aus der Menge wissen und griff ebenfalls nach der Schachtel. Danach wurde es ziemlich unübersichtlich, weil einige hundert Hände gleichzeitig nach den Schachteln griffen und sie förmlich in der Luft zerrissen. Was dann folgte, war eine wilde Rangelei um die Pizzas. Es dauerte gar nicht so lange, bis Alfred darin die Chance der Rangelei erkannt hatte. Hier bot sich eine einmalige Möglichkeit, sein Ansehen bei den Zuhörern der Radiosend ung noch weiter zu steigern. Er ließ die Gurgel von Rudolf los, die er gerade mit beiden Händen umfasst hatte, um an das kleine Stück Pizza zu kommen, das sein Nachbar hatte ergattern können, und -2 0 3 -
drängelte sich zum Mikrofon. »Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!«, sprach er hinein, als er es erreicht hatte. »Ich denke, Sie haben mitbekommen, was in diesem Studio vor sich geht. Die Menschen kämpfen um einige Pizzas! Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um klarzustellen, dass ICH, Alfred, mich da völlig heraushalte. ICH bin nämlich der Meinung, dass Gewalt nicht die Lösung sein darf! Auch wenn wir alle hungrig sind, sollten wir uns nicht zu Gewaltaktionen hinreißen lassen. ICH, als Anführer dieser Revolution, lehne jedenfalls jegliche Form von Gewalt ab und versuche stattdessen, meine Anhänger hier und jetzt ebenfalls zu einer friedlichen Einigung zu bewegen! Jedenfalls gleich, wenn ich hiermit fertig bin!«, fuhr er fort, biss in das Stück Pizza, das er Rudolf angeknöpft hatte, und machte eine rhetorische Pause. »Etwas anders sieht die Sache natürlich aus, wenn es um die Rettung unserer Fernseher geht. Für unsere Fernseher bin ICH natürlich bereit, Gewalt einzusetzen. Für unsere Fernseher werden wir kämpfen und, wenn nötig, sterben. Aber eine Pizza kann und darf für uns kein Grund sein für Gewalttaten sein, vor allem nicht gegen uns selber, die wir doch für eine gemeinsame Sache kämpfen. Stattdessen sollten wir Solidarität üben und die Pizza gerecht teilen!« »He, Alfred hat recht !«, sagte ein kleiner, schmächtiger Mann, der das Ganze nur zufällig gehört hatte, weil er gerade gegen den Revolutionsführer geschubst worden war, der noch damit beschäftigt war, sich über seine bisher nicht gekannten rhetorischen Fähigkeiten zu wundern. »Quatsch. Ich hab Hunger!«, sagte ein großer, dicker Mann mit einem Vollbart, der so ziemlich das ganze Gesicht bedeckte, steckte sich gierig das große Stück Pizza in den Mund, das er sich eben hatte erkämpfen können und schubste den kleinen Mann beiseite. »Bitte, so hört doch auf!«, sagte Alfred zur Rauferei, hob kurz die Hände, was aber kaum jemand beachtete und beugte sich -2 0 4 -
dann wieder über das Mikrofon. »ICH möchte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, um zu betonen, dass ICH alles für mehr Solidarität auch in allen anderen Bereichen des Lebens tun würde. ICH bin außerdem der festen Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit außerordentlich wichtig ist. Dem versuche ICH auch in allen Situationen des Lebens gerecht zu werden. Hätte ich etwas zu sagen, dann würde ich!« »Was redest du da eigentlich für einen Unsinn? Geht es dir nicht gut?«, wollte Rudolf mit verständnislosem Gesicht wissen, als er gerade an Alfred vorbeigedrängelt wurde. »Sonst sagst du doch auch immer: Jedem das Seine und mir das Meiste!« »Was?«, fragte Alfred, wirbelte herum, sah Rudolf wütend an und zog seinen Nachbarn an sich. »Sei stihill!«, raunte er ihm mit verbissener Miene drohend zu. »Das gehört doch alles zu meiner Propaganda!« Er dachte darüber nach und sah das Mikrofon an. »Äh, hehe, ich wollte sagen, das gehört doch alles zu meinen tiefsten, innersten Überzeugungen, hehe.«, fügte er dann etwas verlegen hinzu. Bevor Rudolf dem etwas erwidern konnte, hatte sich der Revolutionsführer schon geräuspert und sich wieder dem Mikrofon zugewandt. »Natürlich kann ich gegebenenfalls auch für Ruhe und Ordnung sorgen, was außer den Fernsehern ein ganz wichtiger Punkt meines Programms ist und was ich heute Abend ja schon mehrfach unter Beweis stellen konnte. Desweiteren werde ich mich ganz besonders für die Rechte der Frauen einsetzen. Ich bin ein großer Befürworter der Gleichberechtigung.« »Hahaha!«, lachte Rudolf und schlug sich mit der Hand auf sein Knie. »DUU bist ein großer Befürworter der Gleichberechtigung??«, fragte er, zeigte mit einem Finger auf Alfred und hielt sich vor Lachen den Kopf fest. -2 0 5 -
Alfred sah ihn böse an. »Kannst du bitte mal deinen blöden Mund halten?«, rief er ihm zu und packte ihn am Kragen. »Wir müssen die Leute doch auf unsere Seite bringen, damit die Revolution Erfolg hat!«, schimpfte er flüsternd. »Und das können wir nicht, wenn meine Nachbarn, insbesondere aber DU, Rudolf, ständig versuchst, den Leuten die Wahrheit zu erzählen, ich meine, mich bei den Leuten schlecht zu machen. Wir müssen jetzt Geschlossenheit und Stärke demonstrieren! Kapierst du das nicht??« Rudolf überlegte einen Augenblick. Dann erhellte sich seine Miene. »Ach so. Ja!«, antwortete er dann verstehend und zwinkerte Alfred zu. »Du hast recht! Ganz schön raffiniert von dir.«, sagte er dann und wandte sich zum Mikrofon. »Ja, liebe Leute, Alfred hat recht. Ich, als sein langjähriger Nachbar, Stellvertreter und Freund, kann nur bestätigen, dass er ein Vorbild für uns alle in punkto Solidarität und Gleichberechtigung ist. Gerade heute morgen hat er für seine Frau Gertrude den Müll rausgetragen, obwohl ich ja glaube, dass er das nur getan hat, um keine Schläge mit dem Nudelholz zu bekommen. Aber immerhin!« »Ja, danke, ich glaube, es reicht jetzt.«, erklärte Alfred, schubste ihn wieder weg und sah zu, wie er im Gewühl verschwand. »Liebe Zuhörerrinnen und Zuhörer, ich muss mich für meinen Nachbarn, Rudolf Boll, entschuldigen. Er redet ab und zu wirres Zeug. Trotzdem muss ich zugeben, dass auch ich nicht ganz perfekt bin; heute zum Beispiel sind mir einige Missgeschicke passiert, auf die ich nicht gerade stolz bin: Ich habe meine Arbeit und meine Frau verloren, weil ich angeblich zu faul, zu dumm und ihr gegenüber immer ziemlich rücksichtslos war!« Er machte eine Pause, weil er den Faden verloren hatte, kratzte sich am Kopf und wusste wieder weiter: »Außerdem bin ich heute mal wieder die Treppe heruntergefallen und hätte mir -2 0 6 -
dabei fast das Genick gebrochen, weil die Kinder meines Nachbarn Gottfried Meier dort ständig ihre Spielsachen liegen lassen. Später wäre ich fast von Gurkengläsern erschlagen worden, weil ich mit einem Einkaufswagen dagegen gefahren bin. Und dann habe ich vorhin meinen Fernseher zertrümmert, weil ich dachte, dass er kaputt war.« Er holte tief Luft, bevor er weiter redete: »Ihr seht also, ich bin gar nicht der Übermensch, für den ihr mich wahrscheinlich haltet. Trotzdem bin ich - und da werdet ihr mir sicherlich alle zustimmen - aber ein super Revolutionär und Regierungschef. Oder auch Bundestrainer.« Die Menge jubelte - klar! Die Leute waren sich einig: Ein sehr sympathischer Anführer, den sie da hatten. Einer wie er kam an beim Volk, da er unzweifelhaft einer von ihnen war. »Guck mal!«, sagte Rudolf fröhlich, der gerade wieder bei Alfred aufgetaucht war, und zeigte ihm stolz ein Stück PizzaSchachtel mit einem unleserlichen Gekrickel drauf. »Ich habe ein neues Autogramm von Keith Richards bekommen!« »Toll!«, meinte Alfred und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Ja.«, sagte Rudolf stolz und nickte. »Ich finde, dies ist ein geeigneter Zeitpunkt, um diesem Block das Interview mit Keith Richards fortsetzen zu lassen!«, meinte Alfred. »Hol ihn mal her!« »Das halte ich für keine gute Idee!«, erwiderte Rudolf und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er ein Freund von unserer Revolution ist!« »Aber ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten erzählen soll!«, raunte Alfred seinem Nachbarn zu und hoffte, dass ihn das Mikrofon nicht hörte. »Und außerdem kann ich das Mischpult nicht bedienen.« -2 0 7 -
»Na ja. Wenn du meinst!«, erklärte Rudolf skeptisch und machte sich auf den beschwerlichen Weg durch die Menge zu dem Stuhl in der Ecke, an dem Horst festgebunden war und vor sich hin schimpfte. »Hallo, Herr Block!«, sagte er freundlich zum Moderator, als er ihn erreicht hatte, und band ihn vom Stuhl los. »Sie dürfen jetzt das Interview mit Keith Richards fortsetzen.« »Wurde auch Zeit!«, brummte Horst grimmig und stand auf. »Wegen euch habe ich wertvolle Zeit verloren, um mich im Radio zu etablieren. Schließlich habt ihr mir es zu verdanken, dass die Fernseher nicht mehr funktionieren. Und wofür das Ganze? Doch nicht für eure blöde Revolution! Sondern, damit ich durch meine Radiosendung zu Ruhm, Geld und Macht zu komme!« »Los, da lang!«, sagte Rudolf, zeigte in Richtung Mischpult und stutzte. »Was haben Sie da eben gesagt?«, fragte er, kniff ein Auge zu und sah ihn mit dem anderen misstrauisch an. »Ach, nichts.«, brummte Horst, hielt ihm seine zusammengebundene Hände vors Gesicht und wartete. »Und meine Hände??«, fragte er, als Rudolf nicht die Absicht zeigte, sie auseinander zu binden. »Nein. Tut mir leid.«, meinte Rudolf, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, und gab ihm einen Schubs in Richtung Mischpult. »Da lang!« »Ich protestiere!«, rief Horst empört, hielt seine Hände in die Luft und drängelte sich auf das Mischpult zu. »Das ist eine menschenunwürdige Behandlung! Sie treten die Menschenrechte mit Füßen!« »Ja.«, meinte Rudolf und zuckte mit den Schultern. »Und es macht Spaß.« »So, liebe Genossinnen und Genossen!«, sagte Alfred ins -2 0 8 -
Mikrofon. »Bevor wir gleich unsere Revolution fortsetzen, machen wir erst einmal weiter mit dem Interview mit dem stellvertretenden Revolutionsführer und Musiker bei den Rolling Stones, Keith Richards. Ich gebe dazu ab an meinen, äh, Kollegen Horst Block. Bitte, Herr Block!«, sagte er und räumte den Platz für den Moderator, der ihm erwartungsvoll seine Hände entgegenstreckte. »Was ist?«, fragte Alfred betont ahnungslos. »Meine Hände sind noch ge- fes-selt!«, erklärte Horst langsam und deutlich und hielt sie ihm vor das Gesicht. »Ja.«, stellte Alfred fest. »Ich weiß.« »Ja, dann binden Sie mich endlich LOS!!«, rief Horst ein bisschen verzweifelt. »Ich kann das Mischpult doch so nicht bedienen!« »Hm, das stimmt.«, meinte Alfred und kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Na schön. Ich binde Sie los.«, fügte er kurz darauf hinzu. »Aber nur unter der Bedingung, dass Sie keine Dummheiten machen.« »Hm, na gut.«, erwiderte der Moderator verlogen und grinste scheinheilig. »Hm.«, meinte Alfred und zögerte. »Ich traue Ihnen nicht.« »Nun machen Sie schon.«, drängte Horst und sah Keith an, der gerade ein kleines Verdauungsschläfchen machte. »Na schön.«, sagte der Revolutionsführer widerstrebend und band ihm die Hände los. »Aber denken Sie daran, dass Sie Frau Lehmanns Stock kennen lernen werden, wenn Sie irgendwelche krumme Dinger machen.«, sagte er drohend und deutete auf Mathilde. »Nicht wahr, Frau Lehmann?«, wandte sich Alfred an seine Nachbarin. »Ich werde dem jungen Kerl eine Lektion erteilen.«, bestätigte sie kopfnickend, brachte ihren Stock in Anschlag und -2 0 9 -
sah den Moderator herablassend an. Horst Block zuckte zusammen und blickte die alte Frau und ihren Stock ängstlich an. »Keine Angst, ich werde keine Schwierigkeiten machen.«, sagte er schnell und kleinlaut, hob unschuldig die Hände und stieß Keith kurz darauf leicht an, um ihn zu wecken. »How? What? Wo bin ich?«, fragte Keith, sah sich um, streckte sich dann und gähnte ausgiebig. »Liebe Hörerinnen und Hörer, ich freue mich, dass wir nun das Interview mit Keith Richards fortsetzen können, wenn auch unter etwas erschwerten Bedingungen. Bis eben war ich nämlich noch gefesselt und auch jetzt darf ich!«, sagte Horst Block, stockte und drehte sich nervös um, als er einen Schatten auf sich zu kommen sah. Erschreckt stellte er fest, dass Mathilde gerade mit ihrem Stock ausholte und dies offenbar ihm galt. »Äh, ich wollte noch hinzufügen, dass ich eine solche Behandlung durchaus verdient hatte, weil ich vorhin doch etwas ungehorsam war, wie ich zugeben muss, hehe.«, erzählte er hastig, sah, dass Mathilde ihren Stock langsam und enttäuscht wieder sinken ließ, und atmete erleichtert auf. »Herr Richards, wie wir gehört haben, ist dies ihre Abschiedstournee.«, wandte sich Horst danach an Keith. »Die elfte mittlerweile.«, fuhr er fort, wobei er Mathilde und insbesondere ihren Stock nie ganz aus den Augen ließ. »Müssen wir also davon ausgehen, dass dies ihre letzten Auftritte bei uns in Deutschland sind?« »Well, Horst, ich möchte diese Frage auf zwei Arten beantworten: Zunächst with meiner normalen Stimme und dann, weil ich das in letzter Zeit des öfteren in some Talkshows gesehen habe, indem ich my Stimme völlig verstelle!« In diesem Moment kam plötzlich ein hagerer, großer Mann, -2 1 0 -
der einen Drei-Tage-Bart, eine Zigarette im Mund sowie einen Kopfhörer um den Hals trug, in das Studio gestürmt. Obwohl »gestürmt« eigentlich nicht der richtige Ausdruck ist, da es im Studio und im Flur davor nach wie vor sehr voll war. Jedenfalls wäre er gestürmt, wenn er gekonnt hätte. »Toolll! Sensationell!«, rief er freudig erregt, fuchtelte mit einigen Zetteln in der Luft herum und kam langsam auf Alfred zu. Eigentlich wollte er schnell zu Alfred rennen, was aber ebenfalls wegen des Gedränges nicht möglich war, obwohl mittlerweile niemand mehr um Pizzas kämpfte. »Was wollen Sie denn?«, wollte Alfred wissen und sah ihn erstaunt an. »Darf ich mich vorstellen?«, fragte der Mann völlig außer Atem, als er bei Alfred angekommen war und schnappte nach Luft. »Ich bin, äh, war der stellvertretende Redaktionsleiter von diesem Block.«, sagte er und deutete verächtlich auf Horst, der gerade so tat, als höre er Keith interessiert zu. »Ihr seid toll! Einfach toll!«, meinte der Redaktionsleiter und zog nervös an seiner Zigarette. »Häh?«, fragte Alfred verwirrt. Zum einen wunderte er sich über den Redaktionsleiter, zum anderen über Keith, der gerade etwas mit einer außerordentlich tiefen Stimme brummend erzählte. »Die Sendung war einfach sensationell!!«, fuhr der stellvertretende Redaktionsleiter begeistert fort. »Wir haben noch nie so viel soo viele Anrufe bekommen wie heute Abend bei eurer Show!! Und alle sind begeistert! Bis auf ein paar Bayern-Fans! Das ist unglaublich! Ich hab so was noch nie erlebt!«, sagte der Redaktionsleiter, lüftete sein Hemd ein wenig und kriegte sich gar nicht mehr ein. »Nun beruhigen Sie sich erst einmal wieder.«, meinte Rudolf besorgt. -2 1 1 -
»He! Hallo?«, rief Horst jetzt dazwischen. »Wir versuchen hier, ein Interview zu machen!« Eigentlich hatte er noch »Geht's nicht auch etwas leiser?« hinzufügen wollen, unterließ es aber lieber, als sein Blick auf Mathilde fiel. »Vor allem diese ganzen komischen Typen! Super!! Einfach klasse, dieser Rudolf! Und Gottfried, oder wie der heißt!! Irene !! Eberhard und die Pizza!!! Und Frau Lehmann war toll!! Und du, Alfred, du warst am besten! Was du den Leuten erzählt hast, einfach klaahsse!! Eine tolle Show war das! Ich glaube, so etwas hat es noch nicht gegeben! Wir hatten bestimmt eine Einschaltquote von 60 %!! Wenn nicht noch mehr!! Da wäre jeder Fernsehsender neidisch auf uns! Was für ein Erfolg!«, erzählte er und musste dann erst einmal einige Male tief Luft holen, bevor er wieder hektisch an seiner Zigarette ziehen konnte. »Ganz ruhig.«, sagte Rudolf und klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. »Alle Nachrichtenagenturen berichten darüber!!«, fuhr der stellvertretende Redaktionsleiter unbeirrt fort. »Radiosender in ganz Deutschland senden die Show!«, rief er aufgeregt, durchsuchte seine Hemdtaschen, fand eine Dose mit Tabletten, öffnete sie mit zitternden Händen und schüttete sich eine Handvoll in den Mund. »Das gibt's ja gar nicht!! Eure Show scheint eine unglaubliche Wirkung auf die Menschen zu haben! Überall in Deutschlands Städten gibt es Solidaritätskundgebungen für Alfred! Ich bin völlig überwältigt!! Mit dieser Masche werdet ihr einen Riesen-Erfolg haben! Eine Revolution! Das ist genial!« »Wie war das eben?«, erkundigte sich Alfred unsicher. »Die anderen Sender wollen die Sendung ausstrahlen?« »Aber, das ist doch toll!«, rief Gottfried dazwischen und sah Alfred prüfend an. »Oder?« -2 1 2 -
»Na ja, aber können wir die ganze Sache nicht noch einmal überarbeiten?«, wollte Alfred wissen. »Ich meine, etwas Zensur könnte in diesem Fall ausnahmsweise nicht schaden. Zum Beispiel die Sache mit der Gleichberechtigung!«, fügte er hinzu und sah Rudolf vorwurfsvoll an. »Dafür ist es jetzt zu spät! Die bisherige Show läuft schon in Sondersendungen auf allen Kanälen! Außerdem: Wozu das ganze überarbeiten? Die Sendung lebt doch gerade von ihrer Originalität. Und Spontaneität!«, rief der stellvertretende Redaktionsleiter. »Es war wirklich fabelhaft! Einfach toll! Super!! Ich sage euch, morgen seid ihr weltberühmt !!« »Hm, na ja, wenn Sie meinen!«, sagte Alfred etwas skeptisch. »Und erst war ich noch sauer auf euch.«, fuhr der Redaktionsleiter fort. »Weil ich wegen euch heute Abend zu spät zur Arbeit gekommen bin!«, erklärte er, warf eine Zigarettenkippe zu Boden und trat sie aus. »Wieso wegen uns?«, fragte Gottfried. »Ihr wisst doch ganz genau, dass wegen euch die Busse nicht gefahren sind.«, erwiderte der stellvertretende Redaktionsleiter und kramte nervös nach einer neuen Zigarette. »Meiner natürlich auch nicht. Und deshalb bin ich zu spät gekommen. Aber ich bin euch gar nicht mehr böse deswegen! Ihr seid einfach toll!« »Äh, ach so, na ja!« »Habt ihr überhaupt schon einmal über das enorme kommerzielle Potential so einer Revolution nachgedacht??«, fragte der Redaktionsleiter und zündete sich mit zitternden Händen die Zigarette an. »Äh. Wie bitte?« »Ich rede von der Vermarktung.«, erklärte der stellvertretende Redaktionsleiter geduldig. »Es gibt doch unzählige Produkte, die sich mit der Revolution schmücken lassen. Und da stecken -2 1 3 -
natürlich gewaltige Gewinnchancen drin!« »Hm. Nein, daran habe ich wirklich noch nicht gedacht.«, gab Alfred zu. »Das dachte ich mir schon.«, erwiderte der Redaktionsleiter und zog genüsslich an seiner Zigarette. »Aber jetzt bin ich ja da. Ich kann euch helfen, die Revolution gewinnbringend zu vermarkten. Gegen eine kleine Gewinnbeteiligung, versteht sich.« »Aha!?« »Was habt ihr denn als nächstes vor?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter neugierig. »Eine Tournee durch Deutschland? Oder vielleicht ein Theaterstück? Einen Film?« »!!?«, machte Alfred verunsichert. »Na ja, ist ja auch egal. Die Werbekunden werden jedenfalls Schlange stehen! Und ich bin auf alle Fälle euer Mann!« »Äh, und wofür brauchen wir Sie?«, fragte Alfred verständnislos. Der Redaktionsleiter seufzte. Das war schwerer, als er sich das vorgestellt hatte. »Ich bin DER Macher hinter den Kulissen.«, erklärte der Redaktionsleiter schnell, kramte nervös in seiner Jackentasche nach einer kleinen Flasche, öffnete sie und nahm einen kräftigen Schluck. »Ihr wollt aus der Revolution ein Musical machen kein Problem - Ich regele das Organisatorische !« »Ein Musical?«, fragte Alfred verblüfft. »Zum Beispiel.«, entgegnete der stellvertretende Redaktionsleiter nervös. »Mit mir wird jede Show ein Erfolg!« »Wieso Show?«, wollte Alfred wissen. »Wir machen hier doch keine Show! Das hier ist eine Revolution!« »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter! Autsch!«, rief in diesem Moment ein junger, kleiner, verpickelter Mann, der gerade gegen den Türrahmen der Studiotür gerannt war. -2 1 4 -
»Telefon für Sie!«, fügte er hinzu und rieb sich die schmerzende Stirn. »Ich bin momentan nicht zu sprechen.«, rief der stellvertretende Redaktionsleiter zurück und wandte sich wieder den Revolutionären zu. »Mein Redaktionsassistent.«, stellte er ihn ein wenig verlegen vor. »Ein guter Mann, nur manchmal etwas tollpatschig.« »Ja, aber!«, begann der Redaktionsassistent. »Kein Aber! Ich stecke gerade in wichtigen Verhandlungen!«, fügte der Redaktionsleiter bestimmt hinzu, worauf der Angesprochene schulterzuckend wieder verschwand. »Und wie sieht es mit der Bezahlung für uns aus?«, wollte Gottfried wissen und rieb sich gierig die Hände. »Ich kann euch versichern, dass dabei für uns alle viel Geld drin ist.«, meinte der stellvertretende Redaktionsleiter und fasste sich an das linke Auge, dessen Augenlid immer wieder nervös zuckte. »Oh, toll!«, meinte Gottfried. »Hm, das klingt gut !«, stellte Mathilde fest. »Nein!«, widersprach Alfred entschlossen. »Wir machen doch keine Revolution, um damit Geld zu verdienen! Unsere Bewegung hat höhere Ziele! Wir wollen für unsere Fernseher kämpfen und sie aus dem Bann des Bösen befreien. Und genau diese Ziele verraten wir, wenn wir uns dem schnöden Mammon unterwerfen!« »Ach so!«, sagte Gottfried und nickte verständnisvoll. Er hatte kein Wort verstanden. »Aber ein bisschen mehr Rente wäre schon nicht schlecht.«, warf Mathilde ein. »Geld macht nicht glücklich«, warf Irene nachdenklich ein. »Glaubt mir ich kann das beurteilen denn in meiner Familie gab es auch einen Millionär der schließlich so unglücklich war dass -2 1 5 -
er sich fast umgebracht hätte Ich glaube es handelte sich dabei um meinen Großonkel mütterlicherseits oder war das doch der Großcousin? Nein es war!« »Also, ich bin ganz Alfreds Meinung.«, ließ sich Rudolf vernehmen. »Aber was ist das eigentlich für ein Lärm da draußen?«, fügte er hinzu und drängelte sich ein paar Schritte in Richtung Balkon, um nachzugucken. Ein Laut des Erstaunens entfuhr ihm. »Seht euch mal die ganzen Leute da unten an!«, rief er dann und deutete auf das Fenster neben der Glastür zum Balkon. Das war allerdings nicht sehr schlau von ihm, da nun alle Leute zum Fenster drängten, was wiederum zur Folge hatte, dass Rudolf ziemlich stark an die Glastür gedrückt wurde. »Mann, das ist ja ein Ding!«, rief Alfred, als er den riesigen Menschenauflauf auf dem ganzen Gelände des Radiosenders sah. »Und alle wollen uns unterstützen!?« »Ich sage doch, dass eure Show ein großartiger Erfolg war!«, kommentierte der Redaktionsleiter und spielte nervös mit seinen Händen. »Wenn euch die Idee mit dem Musical nicht gefällt, können wir zunächst auch ein Computerspiel machen? Was haltet ihr davon?« »Das ist ja überwältigend Also so etwas habe ich ja noch nie gesehen!«, meinte Irene staunend. »Das heißt ich kann mich da an eine Geschichte erinnern die mir mein Papagei vor einigen Jahren erzählte Mein Papagei stammt nämlich aus Brasilien und dort ist es üblich dass man während einiger Tage im Jahr sehr ausgiebig feiert und gelegentlich völlig ausrastet Ich glaube die nennen das Karneval Angeblich wurde dieses Fest bis vor ein paar Jahren auch bei uns gefeiert bis eines Tages jemand merkte dass es eigentlich nicht besonders toll ist wenn man sich auf das geistige Niveau einer gehirnamputierten Kaulquappe begibt Ich kann mich aber nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern und!« -2 1 6 -
»Wahnsinn!«, rief Gottfried und sah staunend aus dem Fenster. Tatsächlich verteilten sich die Leute auf dem ganzen Gelände und es kamen immer noch mehr durch das Eingangstor. Viele von ihnen trugen Transparente mit revolutionären Parolen, die sich größtenteils mit den Fernsehern und dem Revolutionsführer Alfred beschäftigten und meistens in falschem Deutsch geschrieben waren. Julius winkte sie fröhlich hinein, verhinderte gleichzeitig aber aufmerksam, dass die Polizisten, die inzwischen etwas ratlos schienen, ihnen folgten. Der Einsatzleiter wirkte mittlerweile, wie Alfred feststellte, sogar aus der Ferne betrachtet außerordentlich erschöpft und sehr krank. »Wir können die Hoffnungen und die Erwartungen all dieser Leute doch nicht einfach so enttäuschen! Für ein bisschen Geld!«, erklärte Alfred kopfschüttelnd und sah Gottfried und Mathilde vorwurfsvoll an. »Ich bleibe dabei: Die Revolution ist keine Show, die man gewinnbringend vermarktet!« Gottfried und Mathilde sahen sich an und schämten sich daraufhin, Mathilde allerdings nur ein kleines bisschen. »Aber es lohnt sich wirklich!«, gab der stellvertretende Redaktionsleit er zu bedenken. »Ich verspreche euch, dass da Millionen drin sind. Glaubt mir!« Alfred horchte auf. »So viel?«, vergewisserte er sich interessiert. »Vielleicht sollten wir uns das Ganze doch noch einmal überlegen!«, fügte er hinzu. Jetzt unterbrach Eberhard die Gedankengänge des Revolutionsführers : »Alfred, ich glaube, dass jetzt von dir als Revolutionsführer erwartet wird, dass du dich auf den Balkon stellst, den Leuten freundlich zuwinkst und eine aufrüttelnde Rede oder so was hältst!«, sagte er und deut ete hinaus. »Meinst du?«, sagte Alfred und sah den Fernsehmenschen -2 1 7 -
fragend an. »Ja, ich denke, das ist bei Revolutionen im allgemeinen so üblich.«, glaubte sich Eberhard zu erinnern. »Na schön. Rudolf, mach mal die Glastür auf!«, fügte er in Richtung Balkon hinzu, als Eberhard aufmunternd nickte. »Ich werde eine Ansprache halten!« »Ikch kNCh nichchct.«, brachte der eingequetschte Rudolf mühsam hervor und schnappte nach Luft. »Tretet doch bitte mal ein paar Schritte von der Glastür zurück, damit wir sie öffnen können!«, forderte der Revolutionsführer daraufhin seine Anhänger auf. »Puah!«, sagte Rudolf, nachdem sich die Leute etwas widerwillig, aber den Anweisungen ihres Anführers sofort pflichtbewusst folgend, von der Tür entfernt hatten und er wieder einigermaßen frei atmen konnte. »Danke sehr!« Dann öffnete er mühevoll die Glastür, ging - gefolgt von einigen anderen Leuten - auf den Balkon hinaus und sah nach unten. Begeisterter Jubel und Beifall brandete in der Menschenmenge auf. »Hallo-ho!«, rief Rudolf hinunter und winkte ihnen fröhlich zu. »Wir freuen uns, dass ihr gekommen seid !« Erneut begannen die Menschen unten daraufhin, eifrig zu applaudieren. »Aber ich bin gar nicht Alfred! Ich bin sein Freund, Nachbar und Stellvertreter!«, rief er den Menschen zu, worauf sie ihn weiter feierten, wahrscheinlich, weil ihn die meisten nicht verstehen konnten. »Wo ist eigentlich das Megaphon?«, fragte er ins Studio zurück. »Hier!«, sagte Alfred und drängelte sich mit dem Megaphon in der Hand auf den Balkon. »Und jetzt laß mich mal mit ihnen reden! Schließlich bin ich hier der Revolutionsführer!« -2 1 8 -
»Aber ich bin immerhin Stellvertreter.«, betonte Rudolf und wandte sich noch einmal an die Menge. »Und hier ist der Mann, auf den ihr alle gewartet habt :«, rief er, so laut er konnte. »ALLFREEED!!« »Hallo, liebe Leute!«, begann Alfred und winkte ihnen zu. Nach einigen Minuten hob er beschwichtigend die Arme, um den tosenden Beifall etwas einzudämmen. »Ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr gekommen seid, um uns zu unterstütze n. Sicherlich habt ihr alle unsere Sendung im Radio gehört. Ich hoffe, sie hat euch gefallen. Äh!« Auf einmal wusste er nicht mehr weiter, wurde dabei aber glücklicherweise von dem jungen, verpickelten Mann unterbrochen, der aufgeregt in der Tür zum Studio stand, diesmal aber ohne vorher gegen den Rahmen zu laufen. »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter!«, rief er nervös und hopste aufgeregt auf der Stelle. »Die Bundesregierung ist schon wieder am Apparat. Die Frau sagt, dass es sehr wichtig sei. Wenn ich das richtig verstanden habe, will sie mit einem Herrn Alfred sprechen. Und dem Sender ihre Dienste anbieten. Oder so!« »Was?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter etwas verwirrt. »Die Bundesregierung??« »Ja!«, bestätigte der Redaktionsassistent »Ich glaube, die sind schon etwas ungeduldig, weil Sie vorhin nicht mit ihnen sprechen wollten.« »Wie? Vorhin?«, fragte der Redaktionsleiter und sah seinen Assistenten verdutzt an. »Mannomann, das hättest du mir aber auch sagen können, dass die Bundesregierung am Telefon war.«, fügte er hinzu und zündete sich mit zitternden Händen eine neue Zigarette an. »Alfred! Komm! Die Regierung ist am Telefon!«, rief er dann zum Balkon und zog gierig an der Filterlosen, bevor er sich auf den Weg machte und sich durch die Menge in das Büro nebenan -2 1 9 -
drängelte. »Ich muss mich jetzt mal kurz von euch verabschieden!«, erklärte Alfred der Menge danach durch das Megaphon. »Anscheinend hat die Bundesregierung gerade angerufen und will mit mir sprechen. Ich schätze, sie will zurücktreten.«, fügte er hinzu und folgte dem stellvertretenden Redaktionsleiter unter dem Jubel der Menge schnellstmöglich in das Büro neben dem Studio. »Hach ist das aufregend«, meinte Irene und klatschte begeistert in die Hände. »Die Bundesregierung ruft hier an Wer da wohl am Telefon ist? Vielleicht irgendein Minister? Oder etwa der Bundeskanzler?!« »Ich glaube kaum, dass Günther Jauch, unser Bundeskanzler, sich die Mühe macht, um hier anzurufen.«, erwiderte Rudolf. »Dieser Günther Jauch ist schon ein toller Bundeskanzler finde ich und ich weiß noch wie ich ihn damals zum ersten Mal gesehen habe Das war im Jahre!«, sagte Irene. »Es ist schon erstaunlich, wie die Grünen sich in den letzten Jahren entwickelt haben.«, warf Rudolf ein. »Denn wer hätte damals gedacht, dass sie einmal die absolute Mehrheit erlangen könnten?« »Ich glaube das liegt alles an Günther Jauch«, meinte Irene. »Der Mann ist ja soo beliebt Er ist aber auch seehr sympaaathisch Schon damals im Fernsehen fand ich ihn toll Er hat da soo viele gute Sendungen moderiert Das Sport-Studio zum Beispiel oder auch diese tolle Sendung ja wie hieß sie denn noch! ach ja Mond TV nein warten Sie! Stern TV war das oder!« »Die Regierung hat meiner Meinung nach trotz eines Bundeskanzlers wie Günther Jauch aber absolut keine Durchsetzungskraft und kein Stehvermögen.«, unterbrach Rudolf sie. »Kein Wunder, so wankelmütig und zerstritten wie die Grünen sind. Obwohl die Kursänderungen in den letzten -2 2 0 -
Jahren allgemein ja sehr positiv aufgenommen worden sind.«, fügte er hinzu. »Also ich bin da etwas anderer Meinung«, erwiderte Irene und holte tief Luft. »Es kommt meiner Ansicht nach nicht auf das Durchsetzungsvermögen einer Regierung an sondern auf die Ergebnisse die sie vorzuweisen hat Und auch wenn ein Liter Benzin auf dem Schwarzmarkt jetzt über fünfzehn Mark kostet was den Grünen ja immer wieder vorgeworfen wird so bin ich trotzdem der Meinung dass die Politik langfristig Erfolg haben wird Man denke nur an damals als!« Keith bereitete sich währenddessen auf die Fortsetzung des Interviews vor. Horst war nämlich der Meinung, dass nun, da Alfred erst einmal weg war, Ruhe einkehren würde. »!habe ich eigentlich schon erwähnt dass er soo symphatisch ist? Viel besser als dieser Harald Schmidt von der CDU Ich fand schon damals seine Sendung mitten in der Nacht nicht gut Er war da immer so gemein und hat alle Leute verarscht Außerdem!«, erzählte Irene inzwischen weiter. »Ja, da gebe ich Ihnen Recht.«, sagte Rudolf schnell dazwischen, bevor sie nicht mehr zu stoppen war. »Und als er dann mit all den anderen Leuten vom Fernsehen in die Politik ging, hat er versucht, zu jedem nett und freundlich zu sein, was dann ja auch nicht so richtig glaubwürdig war. Dieser alte Heuchler!« »!ich bin auch immer noch der Meinung dass Gerhard Schröder als Bundeskanzler gar nicht so schlecht war Und er hatte damals ja durchaus auch Erfolge aufzuweisen Nur ist er dann leider an die falschen Frauen geraten die ihn später in diese Geschichte mit den Handschellen und Peitschen verwickelt haben Und dann war da natürlich auch noch die Sache mit den Zigarren!« »Nun ja, vielleicht war es auch ein Fehler von ihm, zu behaupten, dass er in das Schlafzimmer nur zufällig geraten sei, -2 2 1 -
als er den Saal suchte, in dem die große Pressekonferenz stattfand!und das in einem außerordentlich verrufenen Stadtteil, in das sich ansonsten kein vernünftig denkender Mensch hintraut.«, warf Rudolf ein. »Trotzdem hat die SPD ja die 5 %Hürde bei der letzten Wahl geschafft, was mich nach den vernichtenden Umfrageergebnissen vor der Wahl schon ziemlich gewundert hat.«, fügte er hinzu. »…ja aber das lag auch nur daran dass Jörg Wontorra noch Spitzenkandidat geworden ist Kurz vor der Wahl Der ist ja auch soo nett und hat damals auch soo viele schöne Sendungen gemacht Wie hießen die noch? Erben meldet euch oder so Oder die andere! Sie wissen schon damals als!« Im Büro neben dem Studio sah Alfred, dass der Redaktionsleiter schweißgebadet und wild gestikulierend in den Hörer sprach. »Ja, aber ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass wir völlig unschuldig sind.«, sagte der stellvertretende Redaktionsleiter und lüftete sein Hemd ein wenig. »Wir wurden von den Revolutionären genauso überrascht wie Sie. Und was hätten wir denn tun sollen? Nicht einmal die Polizei konnte ja bisher etwas unternehmen!?« Er sah Alfred an, während er sich offenbar einige Vorwürfe anhören musste. »Ja, aber mittlerweile haben wir, insbesondere ich, uns mit ihnen arrangiert.«, sagte er dann in den Hörer und duckte sich unwillkürlich, als die Erwiderung durchs Telefon schallte. »Ich finde es aber nicht gut, wenn Sie in diesem Zusammenhang von Terroristen sprechen.«, fuhr er fort und guckte dabei nervös an die Decke. »Ja, er ist jetzt hier.«, sagte er kurz darauf und winkte Alfred zu sich. -2 2 2 -
»Die Regierungssprecherin möchte mit dir sprechen!«, sagte der Redaktionsleiter aufgeregt zu ihm, gab ihm den Hörer, suchte seine Tablettendose, öffnete sie und schüttete sich einen Haufen Pillen in den Mund. »Puh, ist das heiß hier.«, stellte er fest. »Ja, hallo, hier ist Alfred von der AFBF (Alfreds FernseherBefreiungsFront)!«, sagte Alfred in den Hörer. »Guten Abend, Herr Alfred!«, erwiderte eine betont freundliche Frauenstimme und sagte ihren Namen, den wir aber aus Gründen der nationalen Sicherheit verschweigen müssen. »Ich bin Regierungssprecherin im Bundeskanzerlamt, aber Sie kennen mich vielleicht noch aus den Nachmittags-Talkshows, die ich früher mal gemacht habe.« »Äh, ja, natürlich.«, log Alfred. »Herr Alfred, es geht um folgendes: Wie ich eben schon in dem Gespräch mit dem Redaktionsleiter, Ihrem persönlichen Berater und Stellvertreter, erklärt habe, hat die Bundesregierung einen Krisenstab eingerichtet wegen der!« »Mein persönlicher Berater und Stellvertreter?«, wiederholte Alfred verblüfft. »Ja, genau.«, bestätigte die Regierungssprecherin. Alfred sah den stellvertretenden Redaktionsleiter groß an, aber der grinste ihn nur verlegen an und zuckte mit den Schultern. »Ist ja jetzt auch egal.«, meinte Alfred und machte eine abwinkende Handbewegung. »Wie gesagt hat die Regierung jedenfalls hat einen Krisenstab gebildet aufgrund der außerordentlich bedrohlichen Situation, der wir momentan leider ausgesetzt sind. Wir stehen am Rande einer Katastrophe !« »Huch?« fragte Alfred erschrocken. »Was für eine Katastrophe?« -2 2 3 -
»Na, wegen der Fernseher!«, antwortete eine jetzt hörbar nervöse Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wie Sie sich aufgrund der Zusammensetzung der jetzigen Bundesregierung alle führenden Politiker haben schließlich eine große FernsehKarriere hinter sich - sicherlich vorstellen können, haben die Fernseher für uns immer eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt. Und nun ist natürlich zu befürchten, dass sich die Unruhen noch weiter ausbreiten. Das verstehen Sie doch?« »Nein.«, antwortete Alfred wahrheitsgemäß. Die Regierungssprecherin seufzte. »Wenn die Fernseher nicht funktionieren, fehlt uns das Mittel, um die Bevölkerung ruhigzustell… äh, ich meine natürlich, zu informieren!«, erklärte sie. »Ja, genau, wir können die Menschen nicht mehr umfassend informieren!!und unterhalten!«, fügte sie nach einem kurzen Zögern hinzu. »Soso.«, meinte Alfred etwas skeptisch. »Und was wollen Sie da von mir?« »Nun ja, wir haben die Übertragung Ihrer Radiosendung gehört, zu der ich Ihnen ganz persönlich herzlich gratulieren möchte. Eine wirklich tolle Show, die uns alle hier tief beeindruckt hat. Und Sie wissen ja, dass die Bundesregierung einiges von guten Shows versteht! Jedenfalls sind wir zu dem Schluss gekommen, dass SIE der Mann für uns sind, der die Menschen ruhigstellen kann!, äh, ich meinte, dass SIE der Mann sind, der in der Lage ist, die Menschen zu beruhigen und ihnen klarmachen kann, dass die Bundesregierung die Lage absolut im Griff hat. Sie sollen der Bevölkerung mitteilen, dass ihre geliebten Fernseher bald wieder funktionieren und dass sie sich bis dahin ruhig zu verhalten haben.« »Aha.«, meinte Alfred verstehend. »Das soll also heißen, dass Sie wissen, warum die Fernseher nicht mehr funktionieren und dafür sorgen, dass sie bald wieder laufen?« »Äh, nun ja!«, sagte die Regierungssprecherin zögernd. »So -2 2 4 -
ungefähr.« »Was soll das denn heißen?«, fragte Alfred misstrauisch und kniff ein Auge zu. »Nun, ich will ganz offen zu Ihnen sein.«, erklärte sie und seufzte tief. »In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung, warum diese verdammten Fernseher nicht mehr laufen! Wir sind völlig ratlos!! Aber das Schlimmste ist, dass jetzt die Bürger in Deutschland auch noch anfangen, selbstständig zu denken! Ist das nicht schrecklich??«, rief sie und verlor etwas die Fassung. »Verdammter Mist!!!« Alfred hielt den Telefonhörer vorsichtshalber etwas weiter von seinem Gesicht weg, als die Regierungssprecherin noch eine Weile weiter lautstark schimpfte. »Äh, hallo ?«, fragte er den Hörer kurz darauf behutsam und sah ihn dabei an, als wäre er ein vor drei Monaten gestorbener Fisch. »Alles in Ordnung?« Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Regierungssprecherin wieder gefangen hatte. Sie räusperte sich. »Äh, ja, hüstel, mir geht es gut, hüstel. Entschuldigen Sie meinen kleinen unkontrollierten Ausbruch, aber die ganzen Vorkommnisse der letzten Stunden haben mich ziemlich mitgenommen.«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Was ich sagen wollte, war, dass unsere Experten fieberhaft an dem Problem arbeiten und ich hoffe, nein, ich bin der festen Überzeugung, dass sie den Grund für die Störung in der nächsten Zeit ausfindig machen und wir die Ursache beheben können.« »Schön.« »Aber bis dahin könnte es zu spät sein!«, erzählte die ExTalkshow-Moderatorin aufgeregt weiter. »Die Stimmung unter den Bürgern im ganzen Land hat sich nach unseren Informationen in den letzten Stunden enorm aufgeheizt, was ich ja durchaus auch verstehen kann. Aber wenn sich die Lage nicht -2 2 5 -
beruhigt, bedeutet das den Untergang!« »Für wen?«, wollte Alfred neugierig wissen. »Na, für UNS!«, rief sie. »Stellen Sie sich das doch mal vor. Die Leute fangen an, selbständig zu denken! Schrecklich! Und am Ende merken sie noch, dass wir sie mit Hilfe der Fernseher die ganze Zeit kontrolliert haben! Dann wird es fast zwangsläufig zu einem Umsturz kommen.« Sie dachte darüber nach. »Ohoh,«, sagte sie dann etwas verlegen, »ich glaube, ich habe Ihnen schon zuviel erzählt.« »Ääähhh!«, machte Alfred und dachte ebenfalls eine Weile darüber nach. »Das ist aber nicht gerade sehr fein von Ihnen, glaube ich!«, meinte er dann und war sich nicht ganz sicher, ob er angemessen reagiert hatte. »Bitte helfen Sie uns.«, bat die frühere Talkshow-Moderatorin flehentlich. »Auch für den rein theoretischen Fall, dass die Fernseher nie wieder funktionieren werden - was aber nicht eintreten - wird, sind SIE der Mann, der uns die Macht erhalten kann.«, sagte sie. »Aber!das will ich doch gar nicht.«, erwiderte Alfred etwas verunsichert. »Oder?« »Natürlich springt dabei für Sie auch eine Menge heraus!«, fügte sie verlockend hinzu. Alfred wurde hellhörig. »Aha?«, fragte er neugierig. »Was denn?« »Zunächst einmal bekommen Sie einen ganz neuen, supermodernen Fernseher von uns.«, antwortete die Regierungssprecherin erleichtert. Sie war froh, dass das Gespräch allmählich einen geordneten Lauf anzunehmen schien. »Sie erhalten ein Gerät, das 200 Kanäle empfangen kann. Ein Gerät mit einer außerordentlich großen Bildröhre und einer tollen Tonwiedergabe!« -2 2 6 -
»Juhuu!«, rief Alfred begeistert, machte einen Freudensprung, der eine beachtliche Leistung für einen Mann seiner Statur darstellte, und stutzte dann. »Moment mal. Wie war das noch mal mit der Kontrolle über die Fernsehzuschauer!?« »Ich habe Ihnen versucht zu erklären, dass wir die Fernseher benutzt haben, um die Bürger ruhig zu stellen und zu kontrollieren.«, erklärte die Regierungssprecherin, ganz in Gedanken versunken. »Je besser der Fernseher ist und je mehr Kanäle zu empfangen sind, desto besser funktioniert die Gehirnwäsche.« »NEIN!«, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass sie da eben einen ziemlich dummen Fehler gemacht hatte. »Ach ja.«, meinte Alfred, nickte mit dem Kopf und dachte darüber nach. »Und Sie wollen, dass ICH IHNEN helfe, damit SIE die Leute weiter KONTROLLIEREN können? Und als Gegenleistung bekomme ich einen neuen Fernseher?? Einen von den Fernsehern, mit deren Hilfe sie die Leute ruhigstellen?«, rekapitulierte der Revolutionsführer hochkonzentriert. »Ja, genau.«, antwortete die Regierungssprecherin bedächtig und ärgerte sich über ihr voreiliges Mundwerk. »Na gut. Ich glaube, ich mache es!« »Oh, schön.«, meinte die frühere Talkshow-Moderatorin etwas überrascht. »Ich persönlich werde dafür sorgen, dass Sie Ihren supermodernen, tollen Fernseher schnellstmöglich erhalten.« »Das ist gut.«, antwortete Alfred, begann aber allmählich etwas zu zweifeln. »Ihren Fernseher mit einem absolut flimmerfreiem Bild und einem brillanten Stereo-Klang!«, fuhr die Regierungssprecherin fort. Irgendetwas ist hier faul, dachte der Revolutionsführer. »Mit über 200 Kanälen!«, wiederholte die Frau am anderen -2 2 7 -
Ende der Leitung schwärmerisch. »Hm.«, meinte der Revolutionsführer. »Überlegen Sie es sich gut.«, riet ihm die Regierungssprecherin, während Alfred mit sich kämpfte. Der fernsehsüchtige Alfred rang mit dem Revolutionsführer Alfred. Und der fernsehsüchtige Alfred war ziemlich überrascht, denn bis zum heutigen Tage hatte er lange Jahre keinen ernstzunehmenden Gegner gehabt. Alfred zögerte. »Also, was ist jetzt?«, drängte die Regierungssprecherin. »Eine Bildschirmdiagonale von 170 cm!« »Ich weiß nicht so recht!«, meinte Alfred und schluckte. »Ich kann wohl nicht darauf hoffen, dass ich den Fernseher auch bekomme, wenn ich hier mit der Revolution weitermache, oder?« »Äh!«, machte die Ex- Talkshowmoderatorin hörbar verwirrt. »Nein, ich glaube nicht.« »Das dachte ich mir.«, erwiderte der Revolutionsführer enttäuscht. »Bedenken Sie auch, dass wir das Leben unserer Bürger mit Hilfe der Fernseher sehr bequem gestalten. Die Leute brauchen das Haus fast nicht mehr verlassen und sich kaum noch bewegen. Für die Menschen stellt das doch quasi einen paradiesischen Zustand dar. Sie brauchen nicht einmal mehr nachzudenken. Das alles nimmt ihnen der Fernseher ab! Ist das nicht toll?« Alfred rieb sich nachdenklich das Kinn. Das klang natürlich verführerisch. »Trotzdem!«, meinte er. Die Regierungssprecherin seufzte. »Außerdem können wir Ihnen eine ganze Menge Geld anbieten. Oder einen Posten in der Regierung. Einen Posten, der wichtig klingt und bei dem niemand merkt, dass Sie nichts zu sagen haben.«, sagte sie. -2 2 8 -
»Das beschert Ihnen einen Job, von dem Sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt haben, und uns eine gute Publicity, weil wir einen bei den Massen beliebten Mann mit zum Teil kontroversen Auffassungen in die Regierungsverantwortung einbezogen haben.« »Hm.«, meinte Alfred und schüttelte sich. Das hatte er nicht verstanden. Dann kam Rudolf hinzu. »Das sollten Sie sich gründlich überlegen! So ein Angebot machen wir irgendwelchen Leuten nicht jeden Tag!«, fuhr die Regierungssprecherin fort. »Nicht?« »Na ja, jedenfalls nicht absolut jeden Tag. Nur so ungefähr zwei bis dreimal in einer Woche.«, schränkte sie ein. »Alfred, was ist los?«, wollte Rudolf wissen. »Du musst zurückkommen. Dieser komische Radiomoderator! Ich glaube, er könnte uns gefährlich werden!« »Die Regierung will, dass ich sie unterstütze.«, erklärte Alfred ihm zu und hielt eine Hand auf die Sprechmuschel. »Und dafür soll ich einen neuen, supertollen Fernseher bekommen. Und ganz viel Geld.« Rudolf sah ihn groß an. »Und du hast denen noch nicht abgesagt?«, fragte er ungläubig. »Nein, wieso denn?« »Na, du hast doch eben selbst gesagt, dass wir die Erwartungen der Leute nicht für Geld enttäuschen dürfen.«, erklärte Rudolf. »Ja, stimmt. Für ein bisschen Geld dürfen wir die Erwartungen der Leute auch nicht enttäuschen.«, stimmte Alfred ihm zu. »Aber für einen supertollen Fernseher!« Triumphierend reckte der fernsehsüchtige Alfred beide Arme in die Höhe und stellte einen Fuß auf den geschlagenen, auf dem -2 2 9 -
Boden liegenden Revolutionsführer Alfred. »Unsinn.«, widersprach ihm Rudolf. »Was bringt dir ein neuer, supertoller Fernseher, wenn er gar nicht funktioniert? Außerdem kannst du 100 neue supertolle Fernseher bekommen, wenn du an der Macht bist.« »Hm, wirklich?«, fragte Alfred. »Aber ich bekomme außerdem einen guten Job, bei dem ich keine Verantwortung zu tragen hätte.«, fuhr er nachdenklich fort. »Während ich als Regierungschef wohl durchaus verantwortlich wäre für gewisse Entscheidungen!« »Schnickschnack.«, meinte Rudolf und schüttelte energisch den Kopf. »Als Regierungschef brauc hst du nur dafür zu sorgen, dass du gute Berater hast. Und du hast ja Gottfried, Keith und mich. Was kann da also noch schief gehen?« »Eine ganze Menge?«, mutmaßte Alfred. »Nein, gar nichts!«, klärte ihn sein Nachbar auf, nahm seinen Arm und versuchte, ihn hinter sich her zu ziehen. »Los, wir stürzen jetzt die Regierung! Danach sorgen wir dafür, dass die Fernseher wieder funktionieren und gucken uns die Wiederholung des Spiels an.« »Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.«, entgegnete Alfred skeptisch und versuchte, sich loszureißen. »Laß mich mal mit der Regierung sprechen!«, sagte Rudolf daraufhin, ließ Alfreds Arm los und schnappte sich den Hörer. »Guten Abend, Rudolf Boll ist mein Name.«, sagte er in den Hörer. »Ich bin Nachbar, Freund, Stellvertreter und persönliche Berater von Alfred und muss Ihnen leider mitteilen, dass Alfred nicht zur Verfügung steht.« »Aber!«, begannen der Revolutionsführer und die Regierungssprecherin gleichzeitig. »Nein, tut mir leid.«, ließ sich Rudolf von beiden nicht beirren. »Sie können dem Bundeskanzler einen schönen Gruß -2 3 0 -
von uns bestellen und ihm mitteilen, dass wir ihm hiermit ein Ultimatum bis!«, er sah auf die Uhr, »!bis 0.00 Uhr setzen. Bis dahin muss er zurückgetreten sein und sämtliche Regierungsgeschäfte auf die AFBF übertragen haben.« »Ja, aber!«, sagte Alfred und brach ab, als Rudolf ihn wild gestikulierend zum Schweigen aufforderte. »Ich werde es dem Bundeskanzler ausrichten.«, meinte die Regierungssprecherin etwas belustigt. »Aber ich glaube kaum, dass er auf Ihre Forderungen eingehen wird, hehe.«, sagte sie und lachte ein wenig. »Auch wenn uns, den Grünen, immer nachgesagt wird, dass wir keine Durchsetzungskraft und kein Stehvermögen hätten, bin ich davon überzeugt, dass wir diese kleine Krise schadlos überstehen werden, hehe.« »Ich glaube, Sie unterschätzen ein wenig die Macht des Volkes. Die Unterstützung für Alfred ist gewaltig!«, meinte Rudolf selbstgefällig. »Und wenn die Fernseher nicht bald wieder funktionieren oder der Bundeskanzler unsere Forderungen erfüllt, werden wir nicht umhinkönnen, einen Generalstreik auszurufen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass dadurch das öffentliche Leben völlig zusammenbrechen würde.« »Wie? Einen Generalstreik ?«, fragte die Ex-TalkshowModeratorin etwas überrumpelt. »Außerdem wird die Besetzung von Elektrizitätswerken, McDonalds-Restaurants, von Autohäusern und Aldi-Märkten durch Anhänger der revolutionären Bewegung erwogen.« »Aber! das können Sie doch nicht machen!« Die Regierungssprecherin war hörbar blass geworden. »Was?«, fragte Alfred und sah seinen Stellvertreter verblüfft an. »Jawohl.«, bestätigte Rudolf fröhlich. »Die Bevölkerung verlangt förmlich danach.« -2 3 1 -
Er hob bedauernd die Schultern. »Mir gegenüber wurde heute Abend schon mehrfach erklärt, dass man diese Umstände keineswegs bereit sei hinzunehmen. Es herrscht überall eine höchst angespannte Atmosphäre, die sich zusehends aufheizt. Jeder ist außerordentlich verärgert darüber, dass die Fernseher nicht mehr gehen und dass Deutschland verloren hat. Das sollten Sie bei Ihrem weiteren Vorgehen berücksichtigen!« »Ach wirklich?«, fragte die Regierungssprecherin etwas verunsichert. »Ich kann Sie hiermit nur eindringlich warnen, etwas Unüberlegtes zu tun. Bisher haben wir die Polizei noch zur Zurückhaltung aufgerufen, aber ich kann Ihnen versichern, dass dies nicht so bleibt, wenn es zu einem Generalstreik oder weiteren Unruhen kommen sollte.« »Wir haben keine Angst!«, rief Rudolf entschlossen und wollte den Hörer auf die Gabel knallen, verhedderte sich aber im langen Telefonkabel und musste sich erst einmal davon befreien. »Herr Alfred sollte sich unser Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen.«, meinte die Regierungssprecherin noch, bevor Rudolf »Auf Wiederhören!« rufen und den Hörer endlich auf die Gabel knallen konnte. »Wir können auch zuerst den Soundtrack zur Revolution aufnehmen!«, sagte der stellvertretende Redaktionsleiter danach, der immer noch hinter Alfred stand, und erst einmal einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche nahm. »Ich sage euch, dass wird ein riesiger Erfolg!« »Und, Keith, glauben Sie nicht auch, dass dem Radio in den letzten Jahren viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde?«, fragte Horst und lächelte Keith schleimig an. »Yes, Horst, da bin ich ganz ihrer Ansicht.«, antwortete Keith, ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen. »And das liegt alles am blöden Fernsehen. The Menschen sollten sich meiner Ansicht nach wieder mehr den Radios and insbesondere -2 3 2 -
der music zuwenden.« »Tja, es scheint nun ja so zu sein, als würden den Radios und damit auc h der Musik und den Radiomoderatoren in nächster Zeit wieder mehr Beachtung geschenkt werden, die Fernseher zur Zeit ja leider außer Gefecht sind, hehehe.« »Yes, das ist gut.«, erwiderte Keith. »So long as die Radiosender die richtige Musik spielen.« »HAHAHA!«, lachte der Moderator betont laut los. »Wirklich sehr komisch, Keith! Also, ich persönlich mag ganz besonders die Rolling Stones, was aber natürlich nicht damit zusammenhängt, dass heute Abend ein Mitglied dieser Band bei mir zu Gast ist.« »You are mir sehr sympathisch, Horst!«, meinte Keith freundlich. »Ganz meinerseits.«, erwiderte Block und grinste sie an. »Letzte Woche sagten Sie aber noch, dass Sie am liebsten Modern Talking spielen würden!«, warf eine in der Menge stehende, ältere Frau ein. Sie gehörte zu den wenigen, die ihm noch zuhörten. Die meisten anderen begannen sich allmählich zu langweilen; einige spielten Karten, soweit es der Platz zuließ, andere versuchten, sich beim lustigen, neuerdings immer beliebter werdenden, Spiel »Wer kann am längsten die Luft anhalten?« gegenseitig zu übertreffen, wieder andere beschäftigten sich immer noch damit, sich lautstark über die Fernseher sowie die Regierung zu beschweren. Die meisten aber warteten sehnsüchtig auf Alfred, auf dass es mit der Revolution weitergehen möge, und hielten ungeduldig nach ihm Ausschau. »Ja, genau.«, rief ein Anderer, der dem Moderator noch Gehör schenkte. »Und wenn mich nicht alles täuscht, war letzte Woche Heintje, also der neue Sänger von Modern Talking, bei Ihnen in der Sendung, oder?« -2 3 3 -
Das Grinsen auf dem Gesicht des Moderators verschwand plötzlich. Er sah die beiden erst erstaunt und dann ein wenig verlegen an. »Nun ja.«, erklärte er und hüstelte. »Der Musikgeschmack ändert sich nun mal im Laufe der Zeit.« »Ich weiß nicht so recht.«, sagte Alfred zu Rudolf, als sie das Büro neben dem Studio verließen. »Vielleicht sollte ich das Angebot der Regierung doch annehmen. So eine Chance bekomme ich wahrscheinlich nie wieder.« »Quatsch.«, entgegnete Rudolf und ging mit dem Revolutions führer durch die Menge, die ehrfürchtig Platz machte. »Schau dir lieber an, was du hier schon erreicht hast. Du bist der Anführer einer großen Bewegung und hast die Möglichkeit, damit ganz groß rauszukommen!« »Ja, aber!« »Genau!«, rief der ihnen folgende stellvertretende Redaktionsleiter dazwischen. »Mit dem T-Shirt-Verkauf können wir, wenn alles klappt, schon morgen anfangen!« »T-Shirts von Revolutionen verkaufen sich erfahrungsgemäß immer gut.«, fügte er erläuternd hinzu, als er die Blicke der beiden Revo lutionäre spürte. »Seht, da kommt Alfred!«, rief jemand in der Menge, als sie durch die Tür ins Studio kamen, und fing an, in die Hände zu klatschen. Daraufhin begannen auch alle Umstehenden begeistert zu applaudieren und Alfred verneigte sich einmal mehr dankbar vor seinen Anhängern. »Siehst du, was ich meine?«, raunte Rudolf ihm ins Ohr, während auch er eifrig in die Hände klatschte. »Dürfte ich um ein bisschen mehr Ruhe bitten?«, rief Horst Block etwas ungehalten dazwischen. »Es gibt hier nämlich -2 3 4 -
Leute, die versuchen zu arbeiten!« Er ärgerte sich über den Jubel der Menge, einerseits, weil er dadurch bei seinem Interview gestört wurde und andererseits, weil der Applaus eigentlich ihm, dem Radiomoderator, gebührte. Alfred wollte gerade Mathilde höflich um gewisse Maßnahmen bitten, als der Moderator sich laut räusperte und erklärte: »Immerhin wäre es ohne MICH zu all dem nicht gekommen.« Er machte eine Pause und guckte zufrieden in die Runde, die ihn überrascht anstarrte. »Schließlich war ICH es, der dafür ge sorgt hat, dass die Fernseher nicht mehr funktionieren.«, fuhr der Moderator fort und genoss die Stille, die plötzlich eingekehrt war. Große Augen sahen ihn an, wurden dann aber abgelenkt, weil nicht weit davon entfernt jemand mit hochrotem Kopf in Ohnmacht fiel. Es handelte sich dabei um den souveränen Gewinner bei dem schon erwähnten, neuerdings immer beliebter werdenden, lustigen Spiel »Wer kann am längsten die Luft anhalten?«. »Jaha, da staunt ihr, was?«, fragte Horst kurz darauf stolz. »WAS?«, fragte Alfred entgeistert. »SIE haben WAS gemacht?« »ICH war es, der dafür gesorgt hat, dass die Fernseher nicht mehr funktionieren!«, wiederholte Horst und nickte zufrieden. »SIE???«, rief Alfred fassungslos, während dem Redaktionsleiter vor Schreck die Zigarette aus dem Mund fiel. »SIE haben den Sendebetrieb genau zu der ZEIT lahmgelegt, in der Deutschland gegen Brasilien im FINALE um die Weltmeisterschaft spielt?????«, schrie Mathilde und näherte sich dem Moderator mit erhobenem Stock Schritt für Schritt. »Ja.«, meinte der Moderator stolz. »Toll, was?« »AAAHHHRRRGGGHHH!!!!!!«, schrie Alfred und stürzte -2 3 5 -
sich zusammen mit Mathilde und seinen in der Nähe stehenden Anhänger auf den Moderator. Ziemlich verdattert beobachtete Rudolf den Menschenhaufen, der vor seinen Augen immer weiter wuchs, weil sich immer mehr Leute wutentbrannt auf Horst Block stürzten. »He, lasst das!«, wollte er die Meute beruhigen, suchte Alfred im Getümmel, fand ihn und versuchte, ihn von dem Moderator wegzuziehen. »Das bringt doch nichts!« »Lass mich!«, rief Alfred wütend, riss sich los und stürzte sich wieder auf den Menschenhaufen. »Nun seid doch vernünftig!«, rief Eberhard der Meute zu, was aber auch nicht den gewünschten Erfolg hatte. Zusammen mit Irene und Eberhard schaffte Rudolf es nach einigen Minuten dann aber doch, die Aufgebrachten nach und nach in mühsamer Kleinarbeit von Horst herunterzuziehen. »Hilfe!«, rief der Moderator irgendwo aus dem Menschenknäuel. Als Rudolf es mit Eberhards Hilfe schaffte, auch Alfred von dem Moderator wegzuziehen, protestierte der lautstark: »He! Dieser Unmensch hat unsere Fernseher auf dem Gewissen! Er hat es nicht besser verdient !« »Ihn zu verprügeln hilft uns auch nicht weiter!«, meinte Rudolf. »Na ja, das nicht, aber auf dieser Weise kann man viel Frust abbauen.«, erwiderte Alfred ziemlich außer Puste, beugte sich nach vorne und stützte die Hände auf seine Knie. »So was!«, meinte Horst erschöpft und erleichtert, nachdem auch die Letzten von ihm abgelassen hatten, und prüfte, ob noch alles an seinem Platz war. »Geht«s?«, fragte Gottfried besorgt und half ihm auf die Beine. »Ja, danke. Ich glaube schon.«, erwiderte der Moderator -2 3 6 -
grimmig und klopfte sich den Staub von seiner Kleidung. Anscheinend war er von größeren Verletzungen verschont geblieben. Diese Erkenntnis veranlasste Alfred und einige andere dazu, sich noch einmal auf den Moderator zu stürzen, was Rudolf, Keith und Eberhard zu verhindern suchten, indem sie sich schützend vor den Moderator stellten. »Sie sollten mir dankbar sein!«, rief Horst kurz darauf ärgerlich dem immer noch aufgebrachten Alfred zu. »Ohne mich hätten Sie diese Revolution doch gar nicht veranstalten können!« »Sie haben unsere Fernseher auf dem Gewissen.«, rief Alfred wütend zurück. »Ohne Sie hätten wir uns das Spiel heute Abend ansehen können.« Hinter ihm schrie die aufgebrachte Menge wüste Beschimpfungen und Morddrohungen in Richtung Radiomoderator. »Now beruhigt euch doch wieder!«, rief Keith Richards jetzt der Menge zu und hob beschwichtigend die Arme. »This bringt doch nichts!« Die Leute wollten sich jedoch nicht besänftigen lassen. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten gegen den Moderator und Eberhard, Keith und Rudolf hatten alle Hände voll zu tun, ihn zu schützen. Erst als Alfred sich an seine Rede und seine Haltung darin zur Gewalt erinnerte und sich überlegte, dass sie ja immer noch auf Sendung waren, hielt er sich kleinlaut zurück, wodurch natürlich auch seine Anhänger dazu veranlasst wurden, sich zu beruhigen. »But how konnten Sie die Fernseher überhaupt außer Betrieb setzen?«, wollte Keith vom Moderator wissen, als der wieder einigermaßen sicher auf den Beinen stand. »Das kann und darf ich Ihnen leider nicht verraten.«, erwiderte er bedauernd. -2 3 7 -
»Oh, come on.«, sagte Keith, wurde aber von den wütenden Protesten der Leute, die hinter Alfred standen, sofort übertönt. »Na schön, aber nur, weil Sie es sind, Keith.«, erwiderte Horst und lächelte den Musiker an. »Es war gar nicht so schwierig für mich, da ich gute Freunde in entscheidenden Positionen in den zuständigen Behörden habe. Und gegen ein kleines Entgelt haben die das Nötige veranlasst. Die im einzelnen sehr komplizierten, notwendigen Schritte möchte ich Ihnen an dieser Stelle ersparen. Jedenfalls haben sie ihr Vorgehen untereinander so abgestimmt, dass die Fernseher direkt nach dem Anpfiff versagten. Und das Beste: Weil dabei viele Faktoren ineinander greifen, kann niemand erkennen, wo die Ursache liegt und somit kann auch keiner die Fehler beheben. Man kann nicht einmal herausfinden, wer dafür im einzelnen verantwortlich ist. Das ist doch genial, oder?« Es war ziemlich ruhig im Studio geworden. »Hast du das gehört?«, raunte Rudolf dem erstarrtem Revolutionsführer zu. »Ja.«, sagte Alfred tonlos und starrte ins Leere. »Unglaublich.«, meinte Rudolf fassungslos und schüttelte mit dem Kopf. »But why?«, wollte Keith wissen. »Tja, Keith, ich bin dankbar, dass Sie mir diese Frage stellen!«, erklärte Horst professionell. »Und die Antwort ist ganz einfach: Ich will erreichen, dass die Radiomoderatoren, insbesondere aber ich, mehr Beachtung in der Öffentlichkeit finden. Und dass wäre auch problemlos gelungen, wenn nicht dieser Typ mit seiner blöden Revolution dazwischengekommen wäre.« Er sah Alfred wütend an. »Genau wie die ganzen Fernseh-Fritzen will ich auch in ein paar Jahren in die Politik gehen, um da richtig abzusahnen.«, -2 3 8 -
fuhr er fort. »Und ich will berühmt werden! Endlich bekomme ich den Ruhm, der mir gebührt! Und das ganze Geld! Erfolg!! Frauen! Und dann werde ich MACHT haben!! SEHR VIEL MACHT!! Und meine Gegner werde ich zerquetschen wie die Fliegen! Denn ICH werde MACHT haben! OH JA! MACHT!!! HAHAHA!!!« Sein Kopf war hochrot geworden und er zitterte am ganzen Körper. Jetzt war es ganz still geworden. Aber bevor Eberhard etwas von einem »Deschawü« sagen konnte, meldete sich Gottfried zu Wort: »He!«, sagte er und tippte sich an die Stirn. »Der Typ ist ja krank! Völlig übergeschnappt!« Horst Block sah sich um und räusperte sich. »Oh, hehe, bin ich da eben etwa ein bisschen zu weit gegangen?«, fragte er vorsichtig. »Well, Horst, sehr schlau war das not gerade.«, meinte Keith kopfschüttelnd. »Immer dasselbe!«, meinte Horst ärgerlich. »Ich habe einfach keine Selbstbeherrschung.« »Ach, na ja!«, fügte er kurz darauf nachdenklich hinzu. »Trotzdem weiß ja niemand, wie man die Fernseher wieder zum Laufen bringt. Und es wird auch nie jemand erfahren, haha !« »Aber, aber!«, stammelte Alfred, während die meisten seiner Anhänger mit offenen Mündern dastanden. »Dasdas hieße ja! das hieße ja, dass wir nie mehr fernsehen könnten!«, brachte er dann fassungslos heraus. »NEIN! Das darf nicht sein!!« Er fiel auf die Knie und hämmerte mit den Fäusten verzweifelt einen Augenblick auf den Boden. Dann sah der Revolutionsführer hoch und überlegte, dass es sich für einen Revolutionsführer eigentlich nicht gehörte, auf die Knie zu fallen und verzweifelt mit den Fäusten auf den Boden zu hämmern. Also stand er auf, klopfte sich den Trainingsanzug -2 3 9 -
sauber und packte Eberhard am Kragen. »Du kennst dich doch mit Fernsehern aus!«, sagte er flehentlich und schüttelte ihn etwas. »Sag, dass er nicht recht hat! Bitte sag, dass er nicht recht hat!!!« »Nun ja.«, meinte Eberhard, befreite sich mühevoll aus dem harten Griff des Revolutionsführers und hüstelte. »Vom Standpunkt eines Fernsehmechanikers kann ich zunächst einmal bestätigen, dass es zumindest theoretisch wohl möglich ist, das gesamte Fernsehnetz lahm zu legen. Ob es allerdings denkbar ist, die Ursache davon zu verschleiern, kann ich nicht mit völliger Sicherheit ausschließen.« »Ihr werdet es erleben!«, rief Horst und lachte diabolisch. »Ihr alle werdet es erleben! HAHAHA!« »Hm.«, machte Eberhard und sah den Moderator an. »Abgesehen davon, dass ich es grundsätzlich gar nicht so schlecht finde, wenn die Fernseher nicht mehr laufen würden, muss ich sagen, dass mir dieser Typ außerordentlich unsympathisch ist. Außerdem wäre ich ja wohl arbeitslos und könnte kein Geld mehr verdienen. Und das würde mir ganz und gar nicht gefallen.« Auch die Menge war fassungslos. Sollte das etwas heißen, das sie den weiten Weg von zu Hause hierher gemacht hatten, nur, um zu erfahren, dass es keine Rettung mehr für ihre heißgeliebten Fernseher gab? »Du mieser, kleiner!«, rief Alfred dann und wollte sich gerade wieder auf den Moderator stürzen, als plötzlich der Redaktionsassistent wieder in der Tür stand und aufgeregt mit einem Zettel in der Hand wedelte. »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter!«, rief er. »Hier ist gerade eine wichtige Eilmeldung über den Ticker gekommen!« »Eine wichtige Eilmeldung?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter skeptisch und nahm vorsichtshalber noch ein -2 4 0 -
paar Tabletten. »Was für eine wichtige Eilmeldung?« »Der Innenminister, Hans Meiser, hat gerade eine Presseerklärung abgegeben. Darin ordnet er an, dass der Polizei ein härteres Vorgehen droht, oder so ähnlich!«, erzählte der Redaktionsassistent, stutzte und sah auf den Zettel. »Ach nein, Moment mal!« »Gib her!«, rief der Redaktionsleiter, bahnte sich schubsend einen Weg zur Tür und riss seinem Assistenten den Zettel aus der Hand. »Mal gucken, was steht denn hier? Presseerklärung des Innenministers hmhmhm!« Er machte sich hastig auf den Weg zum Mikrofon, klopfte mit einem Finger probehalber darauf, stellte fest, dass sie noch auf Sendung waren und begann, die Presseerklärung zu verlesen: »Liebe Zuhörerrinnen und Zuhörer! Mit wachsender Sorge beobachtet das Bundesministerium des Innern die wachsenden Unruhen in allen Städten der ganzen Bundesrepublik. Mit großen Unmut haben wir auch die Ankündigung der revolutionären Gruppe, der sogenannten Bewegung `Alfreds Fernseher-BefreiungsFront' (AFBF), zur Kenntnis genommen, einen Generalstreik ausrufen und Elektrizitätswerke, McDonalds-Restaurants, Autohäuser und Aldi-Märkte besetzen zu wollen. Obwohl das Bundesministerium des Innern Verständnis dafür aufbringt, dass die Bürger aufgrund ihrer nicht funktionierenden Fernseher ungehalten sind, können und werden wir weitere Provokationen seitens der AFBF, nicht zulassen. Deshalb möchte ich sowohl die Drahtzieher als auch die Sympathisanten der Gruppe an dieser Stelle noch einmal dazu aufrufen, die Ruhe zu bewahren und sich nicht zu Aktionen gegen staatliche Einrichtungen und Personen hinreißen zu lassen. Ich appelliere hiermit an meine Mitbürgerinnen und Mitbürger, sich dieser terroristischen Vereinigung nicht anzuschließen und sich an keinen Streiks, die von dieser Gruppe initiiert werden könnten, zu beteiligen. Ich verspreche den Bürgerinnen und Bürger dieses Landes hiermit, dass wir alles in -2 4 1 -
unser Macht stehende tun werden, um die Fernseher wieder zum Laufen zu bringen und ich bin optimistisch, dass wir dies schon bald auch schaffen werden!obwohl es momentan zugegebenermaßen nicht so aussieht, als könne dies unseren sogenannten `Experten' in absehbarer Zeit gelingen!« Der stellvertretende Redaktionsleiter räusperte sich. »Trotzdem werden wir Grünen nun all jenen, die uns immer vorgehalten haben, nicht genügend Durchsetzungskraft und Stehvermögen zu besitzen, das Gegenteil beweisen: Bislang habe ich persönlich mich dafür eingesetzt, dass die Polizei sich bei Ausschreitungen sehr zurückhält, um keiner Eskalation Vorschub zu leisten. Aber jetzt haben wir uns nach langen Diskussionen dazu entschlossen, die Polizei anzuweisen, gegen Zusammenrottungen und Ausschreitungen gleich welcher Art mit aller Härte vorzugehen. Und noch etwas möchte ich an dieser Stelle betonen: Wenn wir die Bundeswehr nicht vor zwei Jahren abgeschafft hätten, dann hätten alle Unruhestifter jetzt etwas erleben können!!das war«s!«, schloss der Redaktionsleiter und zündete sich nervös eine Zigarette an. »Die Polizei? Bundeswehr?«, fragte Gottfried Meier nervös und klammerte sich an Alfreds Arm. »Ich habe Angst!« »Oh oh.«, meinte Rudolf, steckte ein paar Finger in den Mund und kaute aufgeregt darauf herum. »Vielleicht sollten wir doch besser nach Hause und ins Bett gehen!« »Oder wäre es besser, wenn wir uns ergeben?!«, schlug Gottfried ängstlich vor. »Ergeben?? Niemals!!!«, rief Mathilde entrüstet. »Ihr jungen Leute wisst ja gar nicht mehr, was es heißt, wie ein Mann zu kämpfen!! So etwas hätte es zu meiner Ze it nicht gegeben!!« »Aber Frau Lehmann!«, begann Gottfried, wurde aber sofort von der alten Frau unterbrochen. »ICH werde mich jedenfalls wehren, ihr Schwächlinge! Lebendig kriegen die mich nicht!!«, rief sie und fuchtelte -2 4 2 -
drohend mit dem Stock in der Luft. »Die sollen nur kommen!« »Vielleicht sollten wir doch etwas vorsichtiger sein », ließ sich nun Irene vernehmen, »Ich weiß nicht ob ich das schon einmal erzählt habe aber ich kannte einmal einen tollen Mann! Heinrich hieß er und sah unheimlich gut aus Ich lernte ihn damals bei einem Einsatz gegen diese Terroristen von Studenten kennen Er war Polizist und liebte es die Unruhestifter zu verprügeln und ich weiß nicht ob Leute mit derartigen Ansichten heutzutage noch bei der Polizei sind Denn wenn dem so ist wäre es vielleicht doch besser wenn wir keinen Widerstand leisten Nur für den Fall dass!« »Die werden mich kennen lernen!«, rief Mathilde dazwischen. »Was ist eigentlich mit einem Musical? Ein Musical über eine Revolution kommt immer gut an!«, meinte der stellvertretende Redaktionsleiter und nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche. »Hicks!«, fügte er hinzu und schaute sich das Etikett zufrieden an. »Ach was!«, sagte Alfred und schüttelte mit dem Kopf. »Das sind doch alles leere Drohungen! Jeder weiß doch, dass die Regierung absolut keine Autorität hat und auch die Polizei jegliche Durchschlagskraft verloren hat! Die kommen doch nicht einmal hier rein.« »Aahh! Die Bullen sind da!«, rief just in diesem Moment eine ziemlich laute Stimme irgendwo im Gebäude. »Was? Wo??«, rief Alfred erschreckt und sah sich hektisch um. »Hilfe!«, rief Rudolf und versteckte sich hinter Irene. »Mamaa!«, krakeelte Gottfried verängstigt und ergriff Alfreds Hand. »Nun reißt euch mal zusammen!«, meinte Alfred und schüttelte seinen Nachbarn ab, was ihm ziemlich leicht fiel, da er so zitterte. -2 4 3 -
»Da unten sehe ich Polizisten!«, rief eine Frau, die am Fenster neben der Glastür zum Balkon stand, und deutete nach unten. »Jetzt versuchen die ersten, das Gebäude zu betreten! Scheint aber nicht zu klappen!« Alfred und die anderen stürzten zum Fenster und konnten beobachten, wie sich einige gutausgerüstete Polizisten durch die vor dem Gebäude stehenden Menschen arbeiteten. Das war offensichtlich aber ein ziemlich schwieriges Unterfangen, da die Leute sie nicht durchlassen wollten. Erst, als diejenigen Polizisten, deren Schlagstöcke noch nicht geklaut waren, dieselben zückten und damit ein bisschen in der Gegend herumfuchtelten, wichen die Leute etwas zu Seite. »Ja! Wehrt euch!«, feuerte Gottfried die unten stehenden Leute an, auch wenn sie ihn nicht hören konnten. »Lasst sie nicht durchkommen!« »Wie viele sind es? Wie viele sind es??«, wollte Mathilde erwartungsvoll wissen, die etwas weiter hinten stand und nicht aus dem Fenster sehen konnte, weshalb sie wiederholt in die Höhe sprang. »Ungefähr fünfzehn!«, schätzte Eberhard. »Och, fünfzehn nur?«, meinte Frau Lehmann etwas enttäuscht. »Langweilig!« Horst bemerkte zwischenzeitlich, dass ihm die Leute keinerlei Aufmerksamkeit mehr schenkten. »Eigentlich können wir jetzt doch weitermachen mit dem Interview, oder?«, fragte er deshalb vorsichtig dazwischen. »The Interview fortsetzen? Jetzt?«, fragte Keith etwas überrascht und sah ihn an. Dann zuckte er mit den Schultern. »Well, von mir aus!« »WAS?«, fragte Alfred und wirbelte herum. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst??« »Warum denn nicht?«, fragte Horst unschuldig. -2 4 4 -
»Na, weil Sie! Sie!«, sagte Alfred, suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht und erklärte stattdessen: »Weil Sie ein widerlicher Verbrecher sind, der unsere Fernseher zerstört hat. Wissen Sie eigentlich, was Sie da angerichtet haben? Wahrscheinlich können wir wegen Ihnen nie wieder fernsehen! Das ist ungefähr genauso schlimm wie der Weltuntergang!« »Oh, so bad ist das nun auch wieder not.«, relativierte Keith diese seiner Meinung nach doch etwas gewagte These. »Immerhin können die Leute now wieder mehr Radio hören. And Mr. Block hat mir eben noch einmal versichert, dass er in Zukunft zu allen Leuten nice and höflich sein wird …and bescheiden.« »Immerhin habe ich vorhin wohl etwas Kredit beim Publikum verspielt.«, erklärte Horst und lächelte gequält. »Und das würde ich ganz gern wieder gutmachen, bevor uns die Polizei die ganze Sendung kaputtmacht.« Alfreds Anhänger schüttelten nur verständnislos den Kopf über den Rockstar, als der neben Horst Platz nahm und der sich das Mikrofon zurechtrückte. »Lasst ihn nur machen, Leute!«, meinte Alfred verstimmt. »Er wird schon sehen, was er davon hat. Wir hören jedenfalls nicht mehr zu, nicht wahr?«, wandte er sich an seine Anhänger. »Genau!«, stimmte Rudolf ihm zu und drehte sich von Keith weg. »Wir boykottieren das Interview einfach.« Die Menge nickte zustimmend. »Ich glaube, die Polizisten haben jetzt die Eingangshalle betreten.«, kommentierte Gottfried, auf Zehenspitzen aus dem Fenster nach unten guckend, und kaute nervös auf seinen Fingernägeln. »Wir hören nicht mehr hin.«, sagte Rudolf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah an die Decke. »Sie werden kommen und uns verhaften!«, jammerte -2 4 5 -
Gottfried und zappelte aufgeregt herum. »Das ist durchaus möglich«, meinte Irene. »Habe ich Ihnen schon von Heinrich erzählt einem Polizisten den ich damals bei einer Demonstration in…« »Das ist ja nicht zu fassen!«, rief Mathilde dazwischen. »Sie sind doch alle Jammerlappen! Nehmen Sie sich gefälligst ein Beispiel an mir! Ich bin eine alte, schwache Frau, aber im Gegensatz zu Ihnen weiß ich mich immer noch zu wehren!« »So, liebe Hörer, nach den ganzen Scherzen in der letzten Stunde, wollen wir uns jetzt wieder einem ernsteren Thema zuwenden …«, meldete sich Horst in der Zwischenzeit zurück. »Bei mir ist jetzt wieder, und darüber freue ich mich sehr, Keith Richards von den Rolling Stones.« »Hallo again, Horst!«, sagte Keith. »Keith, ich möchte Ihnen jetzt eine etwas heikle Frage stellen…«, fuhr Block fort. »In letzter Zeit kamen ja immer wieder Gerüchte auf, in denen behauptet wurde, dass Sie überhaupt keinen Rollstuhl benötigen, sondern ihn nur aus reiner Bequemlichkeit benutzen. Und ich möchte Sie jetzt bitten, dazu einmal Stellung zu nehmen, da ich weiß, dass Sie sich bisher dazu nicht geäußert haben.« »Well, Horst, ich glaube, dies ist eine gute Gelegenheit, um folgendes ein for allemal klarzustellen: Ich brauche tatsächlich no Rollstuhl. But wie Sie vielleicht wissen, habe ich ein bewegtes, zum Teil auch sehr hartes Leben hinter mir. Deshalb ist it doch nur zu verständlich, wenn ich mir das Leben heutzutage so einfach wie möglich mache und mich and meinen Körper schone, when immer es geht.« Die Leute waren baff. »Habt ihr das gehört?«, wollte Rudolf fassungslos wissen. »Natürlich.« »Klar, wir sind ja nicht taub.« -2 4 6 -
»Das hätte ich ihm nicht zugetraut.«, meinte Eberhard und sah Keith erstaunt an. Noch mehr staunte er, als er bemerkte, dass Frau Lehmann mit offenem Mund dastand und offensichtlich eine Weile brauchte, bis sie ihre Fassung wieder erlangt hatte. Ihre Fassung verschwand nicht oft, aber wenn sie es tat, versteckte sie sich so gut, dass Mathilde ziemlich lange brauchte, um sie wiederzufinden. Auch Alfred musterte seine ältere Nachbarin besorgt. Sie öffnete und schloss den Mund einige Male. Dann holte sie ganz tief Luft und der Revolutionsführer registrierte beruhigt, wie sie lautstark zu schimpfen begann: »DU brauchst den verdammten Rollstuhl gar nicht? Und lässt dich von MIR den ganzen Abend durch die Gegend schieben?? Aus Faulheit???«, schrie sie Keith an. »Das ist ja wohl eine Unverfrorenheit!! Eine Frechheit, jawohl! Unglaublich!! (Zensiert)!!!« »But, aber… Mathilde…, ich!«, stammelte Keith und sah ängstlich, wie Mathilde mit erhobenem Stock auf ihn zukam. »Aber warte nur, ich werde dich lehren, was es heißt, Mathilde Lehmann so schändlich auszunutzen!« »But let me doch erklären!«, begann Keith hilflos. »Da gibt es nichts zu erklären!«, rief sie, als sie sich auf ihn stürzte. »Aaahhh! Mathilde, what machst du da? NOT! No!!«, rief Keith verzweifelt, aber es war schon zu spät… Zufrieden machte es sich Mathilde in dem Rollstuhl bequem, während Keith daneben stand und sich zunächst einmal mit wackeligen Beinen an die ungewohnte Tätigkeit des Stehens gewöhnen musste. »Mathilde, bitte…«, versuchte er es erneut. »Nichts da!«, stellte Mathilde streng fest. »Du schiebst mich jetzt erst einmal zum, äh…« -2 4 7 -
Sie sah sich um. »…auf den Balkon, ja, genau, auf den Balkon!«, fügte sie hinzu. »Oh no!«, machte Keith. »Das kannst du mir doch not antun!« »Los!«, rief Mathilde wütend und zeigte ihm ihren Stock. »Oder soll ich nachhelfen?« »NO! Schon gut, schon gut!«, entgegnete Keith hastig, umfaßte schnell die Griffe des Rollstuhls und schob ihn stöhnend in Richtung Glastür zum Balkon. »Ah ja, so ist es gut.«, stellte Mathilde zufrieden fest und lehnte sich zurück. »Aber… was ist denn jetzt mit dem Interview?«, wollte Horst ein wenig ratlos wissen und lief mit erhobenem Zeigefinger hinter den beiden her. »Ruhe da hinten!«, forderte Mathilde lautstark und sofort schwieg der Moderator. »Uiuiuiuiu…«, meinte Eberhard eingeschüchtert und schüttelte seine rechte Hand, als habe er sie gerade aus einem Haufen glühender Kohlen gezogen. Die Balkontür wurde den beiden sofort geöffnet, ohne dass Mathilde etwas zu sagen brauchte und Keith schob den Rollstuhl mühsam nach draußen. »Aber liebe Dame!!«, wollte Horst die alte Frau noch besänftigen, sah dann aber die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens ein und gab es auf. »Heujeujeu!«, sagte Alfred leise zu Eberhard, sah dem Rollstuhl hinterher und schüttelte mit dem Kopf. »Der arme Keith!« »So, jetzt weiter auf den Flur!«, befahl Mathilde, nachdem sie sich eine Weile auf dem Balkon umgesehen hatte. »Ooouuhh!«, stöhnte Keith, drehte den Rollstuhl ächzend um und schob ihn durch das Studio zurück. -2 4 8 -
»Platz da, Sie Flegel!«, rief Mathilde einem stämmigen, ihr im Weg stehenden Mann zu und räumte ihn mit dem Stock beiseite. »Ja, die weiß sich zu behaup ten!«, meinte Rudolf. »Allerdings! Ei, ei, ei!«, pflichtete Eberhard ihm bei und machte ein beeindrucktes Gesicht. »Frau Lehmann ist eine bewundernswerte Frau«, kommentierte Irene nachdenklich. »Sie weiß sich durchzusetzen Und das in dem Alter Ich habe großen Respekt vor ihr Das letzte Mal als ich eine Frau so bewundert habe dass war vor einigen Jahren als das Verbot des Frauenfußballs beschlossen werden sollte Damals hat sich ja diese Frau wie heißt sie noch gleich ach ja Frau Sauerfeige äh nein so hieß sie nicht Ich komme nicht mehr auf den Namen Jedenfalls hat sich diese Frau sehr engagiert für den Frauenfußball eingesetzt und später ja auch einen Teilerfolg erzielen können nachdem sie …«
-2 4 9 -
Kapitel #6 Machtübernahme »Achtung, die Bullen kommen!«, rief jemand auf dem Flur vor dem Studio. »Oh nein!«, rief Gottfried weinerlich. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte er seinen Anführer hilfesuchend. »Keine Ahnung.«, stellte Alfred ratlos fest und zuckte mit den Schultern. »Wie wäre es mit einem Buch?«, schlug der stellvertretende Redaktionsleiter vor und zündete sich zitternd eine Zigarette an. »Ja, ein Buch über die Revolution ist gut ! Sehr gut sogar!«, sagte er und überlegte eine Weile. »Ich glaube ich habe auch schon einen Titel: Wegen der Revolution, die unser großer Held Alfred anzettelte, als während des Finales der FußballWeltmeisterschaft alle Fernseher wegen eines Radiomoderators streikten, bin ich zu spät zur Arbeit gekommen, weil mein Bus nicht fuhr.« »Bisschen lang, oder?«, fand Rudolf. »Lange Buc htitel sind momentan aber wieder sehr modern.«, belehrte ihn der Redaktionsleiter. »Stimmt auch wieder.« »Platz da!«, konnten sie Mathilde dann im Flur rufen hören. »Und jetzt nehmen wir den Fahrstuhl und fahren nach unten!« »Oh no! Bitte not!« »Los, nun!« »Lassen Sie uns doch mal durch hier, oder wir müssen den Schlagstock einsetzen!«, war jetzt eine Männerstimme zu vernehmen, wahrscheinlich ein Polizist. -2 5 0 -
»Psst.«, sagte Alfred im Studio. »Ich glaube, jetzt bekommt Frau Lehmann Ärger mit der Polizei!« »Ich glaube eher, die Polizei bekommt Ärger mit Frau Lehmann!«, meinte Eberhard und nickte wissend. »Junger Mann!«, konnten sie Mathilde wütend rufen hören. »Was ist?«, fragte eine verdutzte Stimme. »Sie haben mich eben mit ihrem Schlagstock getroffen…«, rief Mathilde und es klang nach einem aufziehenden Unwetter. »Oh, wirklich?«, hörten sie den Polizist fragen. »Tut mir leid. Das war ein Versehen!« »Ein VERSEHEN?«, wiederholte Frau Lehmann wütend und ein dumpfes Geräusch ließ darauf schließen, dass ihr Stock gegen irgendetwas gehauen wurde. »AUA!« »Eine alte Dame so rücksichtslos zu misshandeln! Sie Rüpel!« »Ja, aber…«, röchelte der Polizist ziemlich hilflos und man könnte förmlich hören, wie er dabei einige Zentimeter kleiner wurde und irgendwo in Deckung zu ge hen versuchte. »Nun beruhigen Sie sich doch wieder!«, mischte sich nun eine - Alfred und seinen Nachbarn wohlbekannte - junge Frauenstimme ein. »Mein Kollege wollte doch nur an Ihnen vorbeigehen!« »Er hat mich aber mit seinem Schlagstock grob misshandelt, junge Frau!«, klärte Frau Lehmann sie schimpfend auf. »So etwas hätte sich zu meiner Zeit niemand erlauben können.« »…aber er hat Sie doch nur leicht gestriffen!« »Ja, eben.« Die Polizistin seufzte. »Nun lassen Sie uns BITTE durch. Wir haben den ausdrücklichen Auftrag, gegen Zusammenrottungen oder Ausschreitungen gleich welcher Art mit aller Härte -2 5 1 -
vorzugehen. Deshalb werden wir jetzt die Revolutionäre verhaften, die sich in diesem Gebäude verschanzen und den Radiosender besetzt halten.«, erklärte sie. »Ah so ist das.«, rief Mathilde empört. »Sie wollen MICH also verhaften, wie?« »Nein, nein, Sie doch nicht.«, erwiderte die junge Polizistin amüsiert. »Wir müssen die REVOLUTIONÄRE verhaften, aber…«, sie brach ab und dachte darüber nach. »Moment mal, wollen Sie damit etwa sagen, dass… äh… SIE… äh… dazugehören?«, hörten sie die junge Frau dann stammeln. »Jawohl, junge Frau!«, erklärte Mathilde entschlossen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber… aber dann war die alte Furie in der `NotAufnahme' gar nicht die Erfindung alkoholisierter Augenzeugen! Nein, das waren SIE! SIE haben mehrere Bodybuilder krankenhausreif geprügelt !!«, hörten sie die sich nun fast überschlagende Stimme der Polizistin. »Ich habe mich nur gewehrt, junge Frau!«, widersprach Mathilde ihr streng. Die Polizistin schien den Kopf zu schütteln. »Ich sollte Sie auf der Stelle festnehmen.« »DAS würde ich Ihnen nicht raten!«, rief Frau Lehmann und es schien, als setzte sie in diesem Moment ihren Stock wirkungsvoll zur Unterstreichung des Gesagten ein. Darauf deutete jedenfalls die Reaktion der Polizistin hin: »Na ja, anderseits,«, sagte sie hastig, »glaube ich nicht, dass wir es mit unserem Gewissen vereinbaren können, eine alte, hilflose Dame, die in einem Rollstuhl sitzt, zu verhaften.« »Wo sind denn die Ihre Komplizen? Ich meine, Ihre Freunde?«, wollte der Polizist Unschuld heuchelnd wissen. »Ich habe keine Freunde, junger Mann!«, schimpfte Mathilde. »Heutzutage kann man sich auf niemanden mehr verlassen. -2 5 2 -
Früher war das alles noch ganz anders!« Sehr gut, sie verrät uns nicht, dachte Alfred. »Aber wenn Sie meine Nachbarn meinen - dort drüben.«, erklärte Mathilde. NEIN!, dachte Alfred. »Richard, da lang!«, befahl die alte Frau. »Yes!«, schnaufte Keith. »Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«, wollte jetzt der Polizist wissen, bevor er dem Rollstuhl - wahrscheinlich - mit einem respektvollen Abstand folgte. »Äh, no. I glaube not.«, meinte Keith hastig und konzentrierte sich auf das Schieben des Rollstuhls. »Los, Kollegen, kommt schon! Nicht stehen bleiben!«, rief danach die Polizistin durch den Flur. Anscheinend zogen es die anderen Polizisten vor, lieber stehen zu bleiben. »Keine Angst, euch passiert schon nichts!«, fügte sie hinzu. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«, erwiderte Frau Lehmann fröhlich, der das ganze allmählich Spaß zu machen begann. Währenddessen trat Irene im Studio nervös von einem Bein aufs andere. »Mann, nun fangen Sie nicht auch noch an, hysterisch zu werden!«, forderte Alfred sie auf und deutete mit einem Kopfnicken auf Gottfried. »Wir kommen hier schon irgendwie heil raus.« »Aber ich muss doch so dringend auf die Toilette«, erwiderte Irene. »Und wenn ich jetzt gehe dann verpasse ich bestimmt wieder das beste Das geht mir im Kino auch immer so Wenn ich da mal rausgehe um ein kurzes Gespräch mit dem Toilettenmann zu führen dann verpasse ich garantiert immer die beste Szene Zum Beispiel damals bei diesem komische Typ wie -2 5 3 -
hieß er noch gleich? Agent 004 James Bord oder nein… Jane Bond oder…« »Oh nein, Sie kommen! Sie kommen hierher!!«, rief Gottfried aufgeregt dazwischen und raufte sich die Haare, als er den sich quietschend näherkommenden Rollstuhl und die Schritte hörte. »Ich bin unschuldig!«, rief Rudolf aufgeregt und nahm die Hände hoch. »Ich hab nichts getan!« »Ich hatte ja schon immer den Verdacht, dass meine Nachbarn Dreck am Stecken haben!«, hörten sie Mathilde erzählen. »Und nun stellt sich heraus, dass ich mal wieder recht hatte.« »Hier ist es schon!«, fügte sie hinzu, als der Rollstuhl quietschend in die Tür einbog und von einem schwitzenden Keith Richards in das Studio hineingeschoben wurde. Vielen Dank, Frau Lehmann!, dachte Alfred säuerlich, Sie sind uns wahrhaftig eine große Hilfe. Einige Meter dahinter folgten die Polizisten und nahmen das Studio sowie die darin sich befindenden Leute misstrauisch und vorsichtig in Augenschein. »Guten Abend, verehrte Polizisten!«, begrüßte Alfred sie verdächtig höflich und machte einen kleinen Diener, während sich Rudolf und vor allem Gottfried hinter Irene zu verstecken versuchten. »Ja, Guten Abend, mal wieder!«, sagte die junge Polizistin nicht ganz so höflich und ohne Diener. »Du kennst diese Leute?«, fragte ihr Kollege verblüfft, der einen mit offenbar sehr viel Sorgfalt gepflegten Schnurrbart trug. »Wir hatten heute Abend schon mehrfach das Vergnügen.«, erwiderte sie knapp. »Aha?«, meinte der Polizist skeptisch. Der Polizist wandte sich an Horst, der offensichtlich der -2 5 4 -
Anführer der Revolution war. »Sie können sich sicherlich denken, warum wir hier sind, nicht wahr?« »Öh. Nö!?«, sagte Horst und sah den Polizisten mit unschuldigen Augen an. »Psst.«, sagte die Polizistin und stieß ihren Kollegen an. »Das ist er nicht.«, erklärte sie ihm und deutete mit einem Kopfnicken auf den Revolutionsführer. »Dort drüben, der Typ im Trainingsanzug.« »Was? DER?«, fragte der Schnurrbart überrascht und zeigte mit einem Finger auf Alfred. »Ja.« »Hm, na gut.«, sagte der Polizist, rückte seine Uniform zurecht und räusperte sich. »Wie haben Sie es eigentlich geschafft, hier herein zu kommen?«, unterbrach Eberhard ihn nun spöttisch. »Häh? Was meinen Sie?«, fragte der Polizist und sah ihn erstaunt an. »Na, ich meinte, wie es schaffen konnten, an der Schranke und dem Pförtner vorbeizukommen.«, erklärte Eberhard geduldig. »JahahaAa!«, rief der Polizist daraufhin triumphierend. »Da staunen Sie, was? Die Polizei ist nun mal eine schlagkräftige Truppe, was sie in diesem Fall einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte.« »Wir sind einfach unter der Schranke durchgekrochen.«, fügte er etwas leiser nach einer rhetorischen Pause hinzu. »Und zwei Kollegen haben den Pförtner solange festgehalten, bis wir alle auf dem Gelände waren. Da sind Sie platt, oder? Genial, was?« »Beeindruckend!«, staunte Alfred. »Toll!«, meinte Rudolf bewundernd und kroch vorsichtig wieder hint er Irene hervor. »Und wo ist Ihr Chef?«, fragte Eberhard und sah sich suchend -2 5 5 -
um. »Unser Einsatzleiter konnte uns bei diesem Einsatz leider nicht begleiten, weil er es böse mit der Wirbelsäule hat und deshalb nicht unter der Schranke hindurch kam.« »Außerdem ging es ihm heute Abend nicht ganz so gut.«, fügte seine Kollegin hinzu. »Er ist nämlich herzkrank, müssen Sie wissen! Und da er sich heute des öfteren ziemlich aufgeregt hat - ich weiß auch nicht wieso - muss er sich ein bisschen schonen.« »Und deshalb bin ich jetzt hier der leitende Beamte.«, fügte der Schnurrbart nach einer kurzen Pause stolz hinzu. »Herzkrank, ah ja«, meinte Irene verständnisvoll und rieb sich nachdenklich das Kinn, nachdem sie aufgehört hatte, nervös von einem Bein aufs andere zu treten. »Mein Onkel hatte auch Probleme mit dem Herzen Aber irgendwann war es plötzlich verschwunden…« »Ach?«, fragte die Polizistin interessiert. »Wie kam das denn?« »Na ja er ist dann gestorben als er eines Tages mit einem kleinen, roten…«, meinte Irene und zögerte, als die Umstehenden sie etwas irritiert ansahen. »Was ist?«, wollte sie wissen und breitete etwas hilflos ihre Arme aus. »Ich kann mich noch gut daran erinnern Es war an einem sonnigen Herbsttag als die Nachbarin meiner Tante dritten Grades plötzlich…« »Wo ist denn Ihr junger, einsatzfreudige Kollege mit dem Schlagstock, der den Radiosender alleine stürmen wollte?«, wollte Eberhard neugierig von der Polizistin wissen, als er ihn unter den sich im Studio befindenden Beamten nicht finden konnte. »Ach. Der ist disziplinarischen Maßnahmen unseres Einsatzleiters zum Opfer gefallen.«, erläuterte sie. -2 5 6 -
»Und warum beteiligen sich Ihre vielen Kollegen nicht an diesem Einsatz?«, forschte Eberhard weiter und deutete auf die herumstehenden Polizisten. »Immerhin sind Sie hier weit in der Unterzahl.« Der Schnurrbart räusperte sich. »Nun, unserer Einsatzleiter hielt es für angebracht, kein weiteres, großes Aufsehen zu erregen. Er meinte, wir könnten gut ausgerüstet - die Aufgabe allein bewältigen.«, erklärte er und - leiser: »Außerdem gab es nicht genug Freiwillige.« »So. Und jetzt müssen wir den Radiosender räumen.«, fügte er hinzu und strich sich über seinen Bart. »Also darf ich Sie jetzt bitten, das Gebäude und das Gelände umgehend zu verlassen.« »Ja, natürlich!«, rief Gottfried eifrig, tippte sich mit einem Finger verabschiedend an die Stirn und wollte schon aus dem Studio gehen. »Wir sind schon weg!« Er kam jedoch nicht weit, weil Alfred ihn am Kragen seiner Jacke festhielt. »Nicht so schnell!«, meinte er und zog ihn wieder zurück. »Wir haben uns nichts zu schulden kommen lassen! Da drüben sitzt der wahre Verbrecher!«, fügte er hinzu, deutete auf Horst Block und sah die Polizisten erwartungsvoll an. »Der da hat unsere Fernseher auf dem Gewissen!«, erklärte er aufgeregt. »Und er meint, dass ihm niemand auf die Schliche kommt und dass er ungestraft davonkommt und dass keiner jemals rausfindet, wie man die Fernseher wieder repariert!« »Was?«, fragte der Polizist mit dem Schnurrbart und kratzte sich am Kopf. »Aha!?«, fügte er hinzu, als ihm Alfred noch einmal ausführlich die Vorgänge geschildert hatte. Danach wandte sich an den Moderator. »Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?« »Wer? Ich?«, wollte Horst überrascht wissen und hob -2 5 7 -
unschuldig die Hände. »Ich hab mit der ganzen Sache nichts zu tun, Herr Kommissar! Ich bin hier nur zufällig vorbeigekommen.« »Das stimmt gar nicht !«, rief Rudolf, hüpfte aufgeregt auf der Stelle und zeigte mit dem Finger auf den Moderator. »Er hat schon alles zugegeben! Vorhin! Während der Radiosendung!« »Hm. Stimmt das, mein Herr?«, fragte der Polizist den Radiomenschen forschend und strich sich über seinen Schnurrbart. »In dem Fall müssten wir Sie nämlich verhaften, glaube ich.« »Nein! Ich habe hier nur meine Arbeit getan!«, erwiderte Horst betont unschuldig. »Verhaften bringt doch sowieso nichts!«, warf die Polizistin abwinkend ein. »Spätestens nach einer Stunde müssen wir ihn wieder freilassen, wenn ihm nicht ein Mordfall oder ein Völkermord einwandfrei nachgewiesen werden kann. Du kennst doch die Gesetze! Und: Der Innenminister hat angeordnet, dass wir nur gegen die Revolutionäre mit aller Härte vorgehen sollen.« »Hm. Ja. Das stimmt.«, bestätigte ihr Kollege. »Deshalb ist es jetzt wohl das beste, wenn wir erst einmal den Radiosender räumen!«, schlug die Polizistin vor. »Na gut.«, meinte der Polizist schulterzuckend, wandte sich an die Revolutionäre und ruderte mit den Armen ein bisschen in Richtung Studiotür. »Darf ich Sie also jetzt auffordern, das Gebäude und das Gelände umgehend zu verlassen!?« »Und wenn wir uns weigern?«, wollte Alfred ungerührt wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun, in dem Fall müssten wir leider Gewalt anwenden.«, erläuterte der Polizist. »Haben Sie dabei auch bedacht, dass wir Ihnen zahlenmäßig weit überlegen sind?«, fragte Alfred den Schnurrbart mit einem -2 5 8 -
leicht drohenden Unterton. »Wir sind viel besser ausgerüstet.«, erwiderte der Polizist ungerührt. »Außerdem haben wir noch Frau Lehmann…«, fügte der Revolutionsführer hinzu und deutete auf die alte Frau. Der Polizist wurde etwas blass. »Hm.«, sagte er zweifelnd und begutachtete Mathilde ehrfürchtig. Dann fiel sein Blick auf das Mikrofon, das ihn provozierend anzugrinsen zu schien. »Sind wir etwa noch auf Sendung?«, wollte er von dem stellvertretenden Redaktionsleiter wissen. »Ja!«, bestätigte der Redaktionsleiter, nahm einen Schluck aus seiner Flasche und hielt begeistert einen Daumen hoch. »Machen Sie ruhig weiter so! Die Revolution entwickelt sich endgültig zu einer einmaligen Erfolgsstory.« »Ja. Wir sind in der Unterzahl!«, rief der Schnurrbart dann und passte gut auf, dass er in das Mikrofon sprach. »Aber wir sind Polizisten! Und bekanntlich ist die Polizei ja eine schlagkräftige Truppe mit mutigen, starken Männern…« »…und Frauen,«, fügte er schnell hinzu, als er den Blick seiner Kollegin spürte, »die sich jeder Gefahr furchtlos stellen und auch im Angesicht des Todes nicht davor zurückschrecken, die Fahne der Gerechtigkeit hochzuhalten!«, rief er ins Mikrofon und streckte zur Unterstreichung eine geballte Faust in die Luft. »Genau!«, »Bravo !« und »Ja!« riefen die Polizisten, die hinter ihm standen, und schielten zum Mikrofon. Alle streckten auf einmal triumphierend eine Faust in die Luft. Da stand der Redaktionsassistent schon wieder in der Tür und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter!«, rief er. »Was ist denn nun schon wieder los?«, fragte der -2 5 9 -
stellvertretende Redaktionsleiter etwas genervt. »Noch eine Presseerklärung von irgendeinem blöden Minister?? Hicks!« »Äh, nein!«, entgegnete der Redaktionsassistent. »Es handelt sich diesmal um eine Regierungserklärung, oder so was. Etwas ganz Dringendes! Der Kanzler, Günther Jauch, kommt gleich und gibt eine Erklärung ab. Wir müssen sofort ins Kanzleramt schalten.« »Eine Regierungserklärung??«, fragte der Redaktionsleiter verblüfft und zündete sich nervös eine neue Zigarette an. »Na gut.« »Ja.«, entgegnete sein Assistent. »Gleich geht's los.« »Eine Regierungserklärung?«, fragte Alfred erstaunt. »Was hat das denn zu bedeuten?« »Keine Ahnung. Vielleicht will die Regierung euch zu eurer tollen Show gratulieren!«, vermutete der stellvertretende Redaktionsleiter. »Du weißt ja, dass die Regierung einiges von guten Shows versteht… Mich jedenfalls würde das nicht wundern. Was übrigens auch den Marktwert unserer Revolution weiter steigen ließe.« »Na ja, so weit ist es ja noch lange nicht.«, entgegnete Alfred. »Ohnehin weiß ich nicht, ob…« »Psst Wir wollen das hören », unterbrach ihn Irene gereizt, als der Bundeskanzler seine von allen Radiostationen in Deutschland live übertragene Regierungserklärung zu verlesen begann. »Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Landsleute! Ich wende mich hiermit an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, um Ihnen mitzuteilen, dass die Bundesregierung hiermit geschlossen zurücktritt und sämtliche Regierungsgeschäfte mit sofortiger Wirkung auf die AFBF (Alfreds FernseherBefreiungsFront) überträgt (…). Die Bundesregierung ist damit bereit, die volle Verantwortung für das Versagen der Fernseher und die damit zusammenhängenden Aufstände in unserem Land -2 6 0 -
zu übernehmen. Gleichzeitig möchte ich aber an dieser Stelle auch betonen, dass die Regierung sich nichts hat zu schulden kommen lassen und es ihr völlig rätselhaft ist, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Wir haben sämtliche uns zur Verfügung stehende Experten beauftragt, die Ursache hierfür herauszufinden, um sie umgehend beheben zu können. Leider ohne jeglichen Erfolg. Und auch in absehbarer Zeit besteht nach Auskunft der Experten keine Aussicht, dass sich dies ändern könnte (…). Wir Grünen ziehen daraus die Konsequenz, dass unsere Zeit in der Regierungsverantwortung damit abgelaufen ist. Deutschland will Anschluss gewinnen an den Aufschwung, einen Aufschwung, der Europa erfasst, weil unsere Freunde und Nachbarn neue Kraft aus neuen Konzepten gewonnen haben. Diese neuen Konzepte, die Hoffnung geben, wollen auch die Menschen in Deutschland, und ihnen ist es egal, von wem. Wir durften spüren, wie viel Hoffnung und wie viel Zutrauen in die Grünen, unsere Grünen, gesetzt wurden. Schon das, liebe Bürgerinnen und Bürger, löste Blockaden auf, setzte neue Ideen frei und spornte an. Wir setzten auf den Optimismus der Menschen, nicht auf ihre Ängste. Doch jetzt treten wir ab, um der notwendige Modernisierung nic ht im Wege zu stehen (…). Und ich sage ganz offen und deutlich, dass wir schmerzlich erfahren mussten, dass wir diese Krise nicht ohne Mithilfe unserer Fernseher bewältigen konnten. Wir mussten einsehen, dass die Menschen in Deutschland doch zu eigenem Denken fähig sind und durchaus bereit sind, für ihre Rechte und ihre Fernseher aufzustehen und zu kämpfen.«, erklärte der Bundeskanzler und machte eine Pause, in der er hörbar schluckte. »Auch die Polizei konnte die Unruhen überall in Deutschland nicht eindämmen.«, fuhr er dann fort. »Sie hat nichts unversucht gelassen, die Aufstände in den Griff zu bekommen, war damit aber eindeutig überfordert. Die Schuld daran trifft nicht nur die Bundesregierung, die Schuld daran trifft auch nicht nur die -2 6 1 -
mangelnde Qualität der Ausbildung, die Schuld daran trifft in erster Linie all die Straftäter und Unruhestifter, die es in den letzten Jahren nicht für nötig gehalten haben, ihrem Tagebeziehungsweise ihrem Nachtwerk nachzugehen und sich stattdessen die ganze Zeit vor ihren Fernsehern aufhielten. Wie sollten denn die jungen Polizisten Erfahrungen im Umgang mit Verbrechern und Revolutionären sammeln, frage ich Sie, wenn die Polizei in den letzten Jahren im Prinzip überflüssig geworden war? Dies hat sich nun mit dem heutigen Tag radikal verändert, was für die Polizisten eine Herausforderung darstellte, der sie verständlicherweise nicht gewachsen waren.« Der Bundeskanzler machte eine rhetorische Pause, bevor er hinzufügte: »Des weiteren waren wir der einhelligen Meinung, dass wir dem deutschen Volk einen Generalstreik und vor allem die angedrohte Besetzung von Elektrizitätswerken, McDonaldsRestaurants, von Autohäusern und Aldi-Märkten und den damit verbundenen völligen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens nicht zumuten dürfen. Nach reiflichen Überlegungen und langen, eingängigen Beratungen sind meine Kollegen und ich deshalb zu dem Schluss gekommen, dass nur dann, wenn wir den in der Bevölkerung in den letzten Stunden immer lauter werdenden Rufen nachkommen, das Schlimmste verhindert werden kann. Deshalb treten wir nun also noch heute Nacht zurück und übertragen sämtliche Machtbefugnisse auf Herrn Alfred und seine Nachbarn, auch wenn viele Leute dies vielleicht als übereilten Schritt ansehen werden. Ich höre schon die Stimmen, die sagen werden, dass es den Grünen schon immer an Durchsetzungskraft und Stehvermögen fehlte. Diesen Leuten sage ich hiermit in aller Deutlichkeit: Wir hatten keine andere Alternative, weil das Wohl der Bevölkerung unser wichtigstes Anliegen war, ist und sei wird…« Er machte noch eine kurze Pause und redete dann weiter: »Wir haben damit alles in unserer Macht stehende getan. Jetzt sind Sie, Herr Alfred und die AFBF, an der Reihe.«, sagte der -2 6 2 -
Bundeskanzler und holte noch einmal tief Luft. »Meinen Mitbürgern möchte ich, Bundeskanzler Günther Jauch, an dieser Stelle für ihr Vertrauen danken, das sie mir in den letzten Jahren entgegengebracht haben, und ihnen für die Zukunft Zuversicht sowie einen - trotz allem - immer funktionierenden Fernseher wünschen. Dem zukünftigen Bundeskanzler, Herrn Alfred wünsche ich viel Erfolg für die Bewältigung der auf ihn zukommenden, schweren Aufgaben (…). Lassen Sie mich noch etwas Persönliches sagen: Ich habe gerade ein hochinteressantes Angebot von einem Radiosender bekommen, wo offenbar eine Stelle freigeworden ist. Ich werde dort in Zukunft die erfolgreiche Sendung `Interview mit einem Prominenten' moderieren. Vielen von Ihnen werde ich also erhalten bleiben, wenn auch auf eine etwas andere Art.« Er machte noch eine Pause und räusperte sich, bevor er fortfuhr: »Abschließend möchte ich noch anmerken, dass dem Fußball meiner ganz persönlichen Ansicht nach in Deutschland und der Welt schon immer eine weitaus größere Bedeutung beigemessen wurde, als er in Wirklichkeit verdient.« Pause. »Ich danke den Menschen in Deutschland für ihre Aufmerksamkeit und lege nun die Verantwortung in die Hände meines Nachfolgers. Vielen Dank.« Stille. Jemand hustete. Noch mehr Stille. »Was soll das denn heißen?«, unterbrach Irene nach einigen Minuten empört das Schweigen. »Dem Fußball wird eine viel zu große Bedeutung beigemessen?? War er es nicht der uns früher ständig alle großen Fußballereignisse präsentiert hat? Und war er es nicht der bei der EM im Jahre 2004 nach ViertelfinalNiederlage gegen Luxemburg gesagt hat dass Fußball für alle Menschen das absolut Wichtigste im Leben sein müsse oder… -2 6 3 -
ne warte mal das war er ja gar nicht! Das war na wie hieß er noch…« »He, was soll das denn?«, rief Horst Block empört dazwischen. »Der Kerl hat ein Angebot für MEINE Sendung bekommen? Was soll das denn heißen??« »Scheint so, als wollten die Programmchefs Sie entlassen!«, rief der stellvertretende Redaktionsleiter ihm hämisch zu und suchte nach seinen Tabletten. Der Moderator sah den Redaktionsassistenten an, der immer noch in der Tür stand, jetzt stumm nickte und danach vorsichtshalber wieder im Büro nebenan verschwand. »Aber das können die doch nicht machen!«, rief Horst aufgeregt und sah flehentlich an die Decke. »Jahrelang habe ich dem Sender treu gedient und nun, wo das Radio - dank mir! eine Renaissance erlebt und ich kurz vor meinem Durchbruch stehe, feuern die mich!? Das darf doch nicht wahr sein!« Ansonsten dauerte es noch eine Weile, bis den Leuten die weitere Bedeutung der Regierungserklärung bewusst geworden war. Vor allem Gottfried hatte daran ordentlich zu knabbern. »Mensch, Alfred, du bist Regierungschef!«, rief Rudolf irgendwann und gab ihm die Hand. »Herzlichen Glückwunsch!« »Wie? Regierungschef?«, fragte Gottfried unsicher und steckte sich einen Finger in sein Ohr. »Ja, und wir sind seine Stellvertreter!«, bestätigte Rudolf freudig und schüttelte die Hand des neuen Regierungschefs noch ein bisschen, bevor der jetzt aufbrandende Beifall alles übertönte. Plötzlich wollten alle Leute dem neuen Regierungschef gratulieren und ihm die Hand geben - bis auf Horst und die Polizisten, die sich verstört ansahen und offenbar nicht so recht wussten, wie sie mit der neuesten Entwicklung umgehen sollten. Währenddessen versuchte Alfred immer wieder, die -2 6 4 -
Begeisterung der Leute zu dämpfen und sie mit einer Handbewegung aufzufordern, wieder an ihren Platz zu gehen und sich zu beruhigen. Doch seine Anhänger wollten nicht zurück auf ihre Plätze, und der Applaus wollte kein Ende nehmen. »Äh, ja, danke… schön.«, sagte er nach einer Viertelstunde, als es wieder etwas ruhiger geworden war, atmete tief durch und sah sich unsicher um. »Und was soll ich jetzt machen?« »Jetzt müssen wir erst einmal eine neue Regierung bilden.«, half ihm Rudolf auf die Sprünge. »Du weißt schon: Mit Ministern und so…« »Ach ja.«, meinte der Regierungschef und nickte verstehend. »Gute Idee.« »Und falls du nichts dagegen hast, möchte ich hiermit als dein Nachbar, Freund und Stellvertreter meine Ansprüche auf den Innenminister-Posten anmelden.«, fügte Rudolf hinzu. »Von mir aus.«, meinte Alfred achselzuckend. »Und ich?«, wollte Gottfried wissen, nachdem ihm klar geworden war, worum es hier ging. »Ich will auch Innenminister werden!«, fügte er beleidigt hinzu und schmollte. »Hm?«, fragte Alfred und sah ihn an. Daraufhin flüsterte Rudolf dem Regierungschef etwas ins Ohr. Alfred lauschte aufmerksam, verstand und nickte. »Für Sie habe ich etwas ganz besonders Schönes:«, sagte er dann tröstend zu Gottfried und legte freundschaftlich einen Arm um seine Schultern. »Oh, wirklich?«, fragte Gottfried erfreut. »Ja.«, erklärte Alfred. »Ein außerordentlich verantwortungsvoller Job.«, fügte er in einem etwas heuchlerischem Tonfall hinzu. »Ein Posten im Bundesministerium für Handtaschenangelegenheiten!« -2 6 5 -
»Toll.«, meinte Gottfried zufrieden und strahlte über das ganze Gesicht. »Und Eberhard sollte Forschungsminister werden.«, fand Rudolf. »Gute Idee.«, stimmte der Regierungschef ihm zu, wobei sein Blick zufällig auf Mathilde stieß. »Aber was machen wir mit Frau Lehmann?« »Die fesseln wir und sperren sie irgendwo ein, wo sie kein Unheil anrichten kann.«, meinte Rudolf. »Nein, ich meinte, welchen Ministerposten soll sie bekommen?«, erklärte der Regierungschef. »Als meine Nachbarin muss sie doch auch in die Regierungsverantwortung eingebunden werden.« »Ach so.«, sagte der Innenminister und dachte darüber nach. »Am besten, sie wird Ministerin für Senioren, Frauen und Familie.« »Das halte ich für keine gute Idee.«, kommentierte Eberhard, aber ziemlich leise und vorsichtig. »Schließlich sollten wir auch an die armen Senioren, Frauen und Familien denken.« »Und Keith Richards kann Kulturminister werden, wenn er will.«, fügte Alfred hinzu. »Und Irene MUß einfach Regierungssprecherin werden.«, sagte Rudolf. »Hm. Na ja.«, machte Alfred unschlüssig und machte eine abwiegende Handbewegung. »Julius ernenne ich jedenfalls ehrenhalber zum Justizminister.«, fügte er hinzu. »Wunderbar!«, sagte Rudolf und rieb sich zufrieden die Hände. »Dann können wir nur hoffen, dass wir für die anderen Minister-Posten genauso qualifizierte Leute bekommen.« »Also, wenn die mich entlassen wollen, sollen die mal sehen, was sie davon haben!«, ließ sich Horst kurz darauf vernehmen und verschwand grimmig in Richtung Studiotür. »Ich werde -2 6 6 -
jetzt mit meinen einflussreichen Freunden telefonieren. Und die werden dann dafür sorgen, dass die Fernseher wieder gehen. Und dann wird niemand mehr Radio hören! HA! Ihr werdet euch noch alle wundern!« »Was will er?«, fragte Rudolf und sah dem Moderator fragend hinterher. »Er flieht!«, rief Alfred aufgeregt den Polizisten zu, als Horst aus dem Studio verschwand. »Das dürfen Sie nicht zulassen!« Die Polizisten sahen sich verwirrt an und wirkten nicht gerade so, als hätten sie die Lage im Griff. Es dauerte eine ganze Weile, bis einer von ihnen die Idee hatte, dass man die Leute nun ja wieder ohne Einschränkungen verhaften und misshandeln könne, da jetzt die Grünen zurückgetreten waren und mit ihnen die Politik der mangelnden Durchsetzungskraft und des nicht vorhandenen Stehvermögens verschwand. »Ja, das stimmt.«, sagte der Polizist mit dem Schnurrbart, nachdem er darüber nachgedacht hatte, und sah seine Kollegin an. Die Polizistin nickte unschlüssig, worauf der Schnurrbart ein paar Schritte auf Alfred zuging, der immer noch von Gratulanten umlagert wurde. »Herr Alfred!?«, rief der Polizist, um die Aufmerksamkeit des Regierungschefs auf sich zu lenken. Alfred sah ihn an und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank!«, sagte er, nahm die Hand des verdutzten Polizisten und schüttelte sie kräftig. »Eine Gratulation von einem Polizisten! Das freut mich ganz besonders. Gerade, wo wir doch vorhin gewisse Differenzen hatten. Ich hoffe auf eine fruchtbare Zusammenarbeit in der Zukunft.« »Nein, da haben Sie mich jetzt falsch verstanden.«, erklärte der Polizist höflich. »Ich wollte Ihnen gar nicht gratulieren, sondern Sie als Anführer der Revolution verhaften.« -2 6 7 -
»Wie? Aber das können Sie doch nicht machen!« Alfred wich nervös einige Schritte zurück. »Doch, doch, das können wir.«, beharrte der Polizist. »Wir haben jetzt nämlich eine neue Regierung und deshalb können wir nun wieder hart durchgreifen.«, erklärte er bereitwillig. »Aber ICH bin doch der neue Regierungschef!« »Das ist mir egal!«, erklärte der Polizist unbeirrt. »Vor der Polizei ist jeder Mensch gleich. Egal, ob Regierungschef oder Bettler.« Schade nur, dass ein gewisser junger, einsatzfreudiger Kollege nicht da war, der an diesem Bild sicherlich seine Freude gehabt hätte. »Aber, äh, der Innenminister…«, begann Alfred. »Gibt es Probleme?«, wollte Rudolf energisch wissen und trat hinzu, als er bemerkte, dass Alfred offensichtlich einige Schwierigkeiten hatte. »Ja!«, rief der neue Regierungschef etwas nervös. »Die Polizei will mich verhaften!« »Aber das können Sie doch nicht machen!«, rief Rudolf dem Polizisten empört ins Gesicht und deutete auf Alfred. »Schließlich ist er unser neuer Regierungschef.« »Jetzt, wo die Grünen nicht mehr an der Macht sind und vor allem dieser komische Innenminister weg ist, können wir wieder hart durchgreifen!«, entgegnete der Polizist ungerührt. »Das werde ich nicht zulassen!«, protestierte Rudolf. »Dann müssen wir Sie auch verhaften!«, meinte der Polizist, zufrieden über die vielfältigen Möglichkeiten, die sich aus der neuen Konstellation ergaben. »Und alle anderen hier auch!«, fügte er hinzu, als er spürte, dass sich Unmut unter den Leuten breit zu machen begann. Rudolf dachte darüber nach. Dann fiel ihm etwas ein. -2 6 8 -
»Aber… ICH bin der neue Innenminister!«, rief er daraufhin und stellte sich mit stolz geschwellter Brust vor den Schnurrbart. Die Miene des Polizisten verdunkelte sich. »Wie?!«, fragte er sichtlich aus dem Konzept gebracht. »Ja. Das stimmt!«, sagte Alfred und nickte bestätigend mit dem Kopf. »Ich, der Regierungschef, habe ihn gerade zum neuen Innenminister ernannt.« »Oh nein.«, sagte der Polizist enttäuscht. »Und das soll wohl heißen, dass wir Sie nicht festnehmen dürfen, oder?« »Nein - weder mich, noch den neuen Regierungschef, noch seine Anhänger.«, erklärte der Innenminister. »Aber wenn Sie unbedingt jemanden verhaften wollen…«, fügte er hinzu und zögerte. »Ja?«, fragte der Schnurrbart hoffnungsvoll. »Sie dürfen diesen komischen Moderator verhaften, der unsere Fernseher auf dem Gewissen hat.«, sagte Rudolf und klopfte dem Polizisten versöhnlich auf die Schulter. »Och. Mehr nicht?«, fragte der Polizist mit dem Schnurrbart. »Nein. Tut mir leid.«, meinte Rudolf bedauernd. »Na ja, immerhin.«, sagte der leitende Beamte, seufzte und wandte sich an seine Kollegen. »Ich habe gerade mit unserem Innenminister gesprochen.«, erzählte er. »Und ich muss euch leider mitteilen, dass wir leider nicht alle Leute verhaften dürfen.« Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Gruppe der etwas abseits stehenden Polizisten. »Aber nach zähen Verhandlungen habe ich immerhin erreichen können, dass wir wenigstens eine Person verhaften dürfen!«, sagte er und bedankte sich für den darauffolgenden Applaus. »Nämlich den Radiomoderator Horst Block!« »Aber - wo ist er denn?«, fragte seine Kollegin kurz darauf -2 6 9 -
mit gezückten Handschellen und sah sich suchend um. »Er ist weg! Scheiße!«, rief ein älterer Kollege aufgeregt. »Und was jetzt?« »Tja, das ist Pech.«, sagte der Polizist mit dem Schnurrbart hilflos und hob bedauernd die Schultern. »Aber da können wir wohl nichts mehr machen.« »Wir könnten ihn doch verfolgen.«, schlug ein Kollege vor. »Was? Ihn verfolgen?«, fragte der Schnurbart und zögerte. »Geht das?«, fragte er seine Kollegin. Sie schüttelte mit dem Kopf. »Nein. Ich glaube nicht.«, meinte sie dann. Sie wurden unterbrochen, weil der Redaktionsassistent schon wieder in der Tür vom Studio stand: »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter!!« »Wasn nun schon wieder los?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter gereizt und zündete sich noch eine Zigarette an. »Ich habe eben mit der Ex-Regierungssprecherin telefoniert.«, erzählte er. »Sie sagte, dass Herr Alfred oder ein Stellvertreter möglichst bald zurückrufen soll, damit die Formalitäten der Machtübertragung geregelt werden können.« »Sehr schön!«, rief der Redaktionsleiter und bedeutete ihm mit einer abwinkenden Handbewegung, dass er wieder verschwinden solle. Ein unschuldiges Liedchen pfeifend, kam Horst in diesem Moment wieder und stieß mit dem Redaktionsassistenten, der gerade wieder gehen wollte, in der Tür zusammen. »He!«, rief der Moderator und sah ihn böse an. »Passen Sie doch auf!« »Entschuldigung, Herr Block!«, sagte der Redaktionsassistent schüchtern und verschwand schnell im Büro nebenan. »Oh, da ist er ja!«, stellte der leitende Beamte fest. »Jetzt -2 7 0 -
können wir ihn festnehmen, oder?«, erkundigte er sich bei seiner Kollegin. »Ja, ich denke schon.« »Gut. Dann auf ihn!«, rief er, deutete auf Horst und stürzte sich mit gezücktem Schlagstock auf ihn, gefolgt von seinen Kollegen. »Ihr Schweine!«, protestierte Horst, um einige weitere blaue Flecken reicher und auf dem Boden sitzend, kurz darauf wütend und hielt sich die große Beule auf dem Kopf. »Los! Abführen!«, rief der leitende Polizist einem etwas dicklichen Kollegen zu. »Jawohl!«, sagte der, ging zu dem Moderator und zog ihn hoch. »Aber ich bin unschuldig!«, rief Horst und hob die Hände mit den Handschellen anklagend in die Höhe. »Ich verhafte Sie wegen…«, sagte der dickliche Polizist und wusste nicht mehr weiter. »Weshalb verhaften wir ihn denn eigentlich?«, wandte er sich flüsternd an den Schnurrbart. »Äh, ich dachte, dass wissen Sie!«, flüsterte der leitende Polizist vorwurfsvoll zurück. »Meine letzte Verhaftung ist schon so lange her, dass ich mich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern kann. Tut mir leid!«, entgegnete sein dicker Kollege bedauernd. »Ja, das geht mir genauso…« »Herr Redaktionsleiter! Herr Redaktionsleiter!«, wurde er von einem hektischen Redaktionsassistenten unterbrochen, der mal wieder in der Studiotür stand. »Was ist denn noch?«, schrie ihn der stellvertretende Redaktionsleiter böse an, bevor er eine neue Flasche aus einem offenbar unerschöpflichen Vorrat in seinen Jackentaschen hervorkramte. -2 7 1 -
»Unser Fernseher im Büro geht wieder!!«, rief der Redaktionsassistent und zappelte aufgeregt herum. »WAS!?«, riefen der Redaktionsleiter, der Regierungschef, seine Minister und Nachbarn, die Polizisten sowie ungefähr 1000 weitere Leute gleichzeitig und sahen den Redaktionsassistenten überrascht an. Damit hatte offensichtlich niemand gerechnet. »JA!!«, erklärte der Redaktionsassistent mit leuchtenden Augen. »Und gleich kommt die Wiederholung des Fußballspiels !! Ist das nicht toll?« Danach brach im Studio ein noch nie da gewesener Jubel aus. Markerschütternde Freudenschreie, überschwängliche Hosiannarufe hallten minutenlang durch das Funkhaus, die Menschen waren außer sich, lachten und weinten vor Freude, lagen sich in den Armen und konnten ihr Glück kaum fassen. Es war unbeschreiblich. Etwas hektisch wurde es allerdings, als sehr viele Leute mit Rufen wie »Das will ich sehen!« und »Wo ist hier der Fernseher?« ins benachbarte Büro rennen wollten. Das hatte nämlich zur Folge, dass die Leute dabei nicht nur hinter- und nebeneinander herliefen, sondern auch über- bzw. untereinander. »Hast du das gehört, Alfred?«, wandte sich Rudolf kurz darauf vergnügt an seinen Nachbarn, der nicht gerade ein fröhliches Gesicht machte, stattdessen gedankenverloren zu Boden starrte und traurig an das Häufchen Schrott in seinem Wohnzimmer dachte. »Ich hätte das Angebot der Regierung annehmen sollen.«, sagte er deprimiert. »Immerhin hätte ich dafür einen neuen, supermodernen Fernseher bekommen.« »Aber Alfred, du bist gerade Regierungschef geworden!«, sagte Rudolf verwundert. »Du solltest stolz auf das sein, was du erreicht hast.« -2 7 2 -
»Ja? Meinst du?«, fragte der Regierungschef unsicher. »Na klar!«, sagte der Innenminister aufmunternd. »Und einen neuen Fernseher werden wir dir schon besorgen, verlass dich darauf. Ich glaube, für eine Bundesregierung ist das überhaupt kein Problem.« Währenddessen zog ein unerwartet energischer Redaktionsassistent den Unmut der Leute auf sich, indem er den Stecker des Fernsehers herauszog mit der Begründung, dass ein Büro in einem Funkhaus kein öffentliches Filmtheater sei. Dann scheuchte er die Menschen mit den äußerst gereizt ausgesprochenen Worten »Raus hier! Hier wird gearbeitet!« aus dem Raum. »Und nun?«, fragten sich danach einige Leute im Funkhaus unschlüssig und kratzten sich nachdenklich am Kopf. »Wenn die Fernseher wieder funktionieren,«, meinten andere, »hat die Revolution ihr Hauptziel eigentlich erreicht, oder?« »Genau!«, sagte eine andere Gruppe zustimmend. »Das muss gefeiert werden. Am besten zu Hause bei einem leckeren Bier. Und dazu sehen wir uns die Wiederholung des Spiels an!« »Gute Idee!«, erklärten die anderen und nickten zustimmend. »Dann gehen wir jetzt heim und gucken Fußball.« »Oder wir sehen uns den Heimatfilm im Dritten an.«, schlugen einige Frauen vor und begleiteten die Männer in Richtung Ausgang. »Aber so wartet doch!«, versuchte Alfred daraufhin, seine Anhänger aufzuhalten. »Ich brauche euch doch. Nur mit eurer Unterstützung kann ich eine Regierung bilden.« »Ach nö.«, sagten die Leute etwas gelangweilt. »Wir sind dir lange genug gefolgt. Jetzt wird es allmählich Zeit, dass wir uns wieder unseren Fernseher widmen.« »Ja, das verstehe ich natürlich, aber…« -2 7 3 -
»Tschühüß.« Alfred sah sich im Studio um und musste feststellen, dass dort offenbar immer mehr Leute aufbrechen wollten. »He, halt, ihr dürft nicht gehen!«, rief er deshalb einer anderen Gruppe von Leuten hinterher, die sich gerade in Richtung Ausgang bewegten. »Viel Spaß beim Regieren!«, war die lapidare Antwort. Die Leute winkten noch einmal und verschwanden. Und wo bis vor kurzem noch ein fast undurchdringliches Gedränge geherrscht hatte, leerte es sich nun zusehends. »Na ja, immerhin haben wir die Macht an uns gerissen.«, murmelte Alfred tröstend vor sich hin, während er mitverfolgte, wie seine Anhänger allmählich verschwanden. Jetzt nahm Rudolf schüchtern die Hände auf den Rücken und näherte sich dem Regierungschef vorsichtig. »Duu, Alfreed!?«, sagte er behutsam. »Ich habe eben mit Gottfried und Irene gesprochen und…«, er zögerte. »Ja?«, wollte Alfred wissen und kniff misstrauisch ein Auge zu. »Na ja, also, eigentlich würden wir jetzt auch ganz gerne nach Hause, äh, gehen und ein bisschen, na ja, Fernsehen gucken…«, erklärte der Innenminister zaghaft und spielte hinter dem Rücken nervös mit seinen Händen. »Was? Ihr wollt mich auch im Stich lassen?«, fragte Alfred entsetzt. »Aber ihr seid doch meine Stellvertreter!« »Ja, schon… aber, äh, wenn das Spiel doch gleich wiederholt wird! Und da dachten wir, es ist ja immerhin auch schon spät und…« »Ja, ja, lasst mich nur alle im Stich!«, jammerte Alfred, drehte sich von ihm weg und machte eine abwinkende Armbewegung. »…und, weißt du, eben hat Irene mich eingeladen, ich soll das -2 7 4 -
Spiel bei ihr gucken und das ist natürlich ein Angebot, das kann ich nicht ausschlagen, das verstehst du doch.«, versuchte Rudolf zu erklären. »Geht nur!«, rief Alfred trotzig. »Ich brauche euch nicht!« »Ja, aber… äh, willst du dir das Spiel denn gar nicht ansehen?«, wunderte sich Rudolf. »Mein Fernseher ist kaputt!!«, rief Alfred ärgerlich. »Ach ja, richtig!«, sagte Rudolf mitfühlend. »Das ist natürlich schade.« Er dachte darüber nach. »Vielleicht hättest du das Angebot der Regierung doch annehmen sollen. Immerhin hättest du dann ja einen neuen, supermodernen Fernseher bekommen.«, fügte er hinzu und wich dann, als Alfred sich bedrohlich näherte, langsam und vorsichtig einige Schritte zurück, dorthin, wo Irene stand. »Das Angebot der Regierung?«, wiederholte der Regierungschef verächtlich. »Hast DU nicht eben gesagt, dass ICH stolz sein sollte, jetzt Regierungschef zu sein?« »Ach so, ja, stimmt.«, sagte Rudolf, drehte sich schnell um und ging mit Irene eiligen Schrittes zur Tür. »Na ja, wir gehen dann mal!« »Auf Wiedersehen!«, rief Irene und wurde von Rudolf aus dem Studio geschoben. »Ich wünsche Ihnen trotz unserer Differenzen alles Gute für die Regierungsarbeit Aber seien Sie auf der Hut Als ich versehentlich stellvertretende Anführerin des Aufstandes in einem südamerikanischen Land wurde dessen Name ich gerade vergessen habe lernte ich schon bald die Schwierigkeiten kennen die auf eine Regierung warten Zum Beispiel musste ich eines Tages doch tatsächlich…« »Auch ich werde jetzt gehen. Das Spiel muss ich unbedingt sehen!«, stellte Gottfried fest, tippte sich kurz an die Stirn und folgte den beiden hastig. -2 7 5 -
»Ja, ja, verlasst mich nur alle!«, rief Alfred ihnen enttäuscht hinterher. »Hinfort!« Er sah sich um. Im Studio standen jetzt außer ihm noch Eberhard, Mathilde, Keith Richards sowie Horst und die Polizisten, bei denen immer noch Uneinigkeit über die Möglichkeit einer eventuellen Verhaftung und den ordnungsgemäßen Ablauf einer solchen herrschte. Mathilde war in dem Rollstuhl sitzend eingeschlafen, Keith Richards lehnte sich müde auf das Mischpult, Horst protestierte nach wie vor lautstark gegen die Mißhandlungen seitens der Polizei, und der stellvertretende Redaktionsleiter versuchte weiterhin vergebens, seine Nerven mit allen möglichen Drogen zu beruhigen. Eberhard dagegen bemühte sich gerade, von Keith das Geld für die Pizza zu kassieren. »Vielleicht sollten wir jetzt besser bei der Regierung anrufen, um die Formalitäten der Machtübertragung zu besprechen.«, meinte der Redaktionsleiter dann zu Alfred und versuchte vergeblich, die bunten Sterne vor seinen Augen zu vertreiben. »Bevor die sich das noch anders überlegen.« »Gute Idee.«, erklärte der Regierungschef, sah zu, wie der stellvertretende Redaktionsleiter sich noch ein paar Tabletten in den Mund schmiss und folgte ihm dann in das benachbarte Büro, zusammen mit Eberhard, der gerade ein paar englische Pfund-Noten in den Händen hielt und skeptisch begutachtete. »He, das ist aber kein Euro!«, meinte der Fernsehmensch nach einer Weile verbittert und deutete auf das Geld, während der stellvertretende Redaktionsleiter mit zitternden Händen das Telefon bediente. Kurz darauf nahm Alfred den Telefonhörer in Empfang. »Ja, guten Abend, Frau Ex-Regierungsspreche rin, hier spricht, äh, der zukünftige Bundeskanzler, Herr Alfred!« »Zukünftiger Bundeskanzler??«, fragte die NochRegierungssprecherin hörbar verblüfft. -2 7 6 -
»Genau.«, bestätigte Alfred. »Wie Sie ja wissen, ist Bundeskanzler Günther Jauch vorhin zurückgetreten und hat mir sämtliche Regierungsgeschäfte übertragen…« »Äh!!?« »…und ich rufe jetzt an, um die Formalitäten der Machtübertragung mit Ihnen zu regeln.«, erklärte Alfred. »Herr Alfred, ich glaube da liegt ein kleines Missverständnis vor.«, entgegnete die Regierungssprecherin. Die Stimme klang jetzt ausgesprochen ausgeglichen und zufrieden. »Wie Sie sicherlich schon wissen, funktionieren die Fernseher mittlerweile wieder und deshalb sieht die Regierung natürlich keinen Grund mehr, zurückzutreten und sich der Regierungsverantwortung zu entziehen.« »Ja, aber…« »Die Unruhen in ganz Deutschland sind dank der Fernseher binnen kürzester Zeit abgeflaut. Die Lage hat sich überall innerhalb weniger Minuten wieder beruhigt und jetzt können wir die Menschen mit Hilfe der Fernseher wieder ruhigstellen und kontrollieren.« »Aber… der Bundeskanzler hat doch gesagt, dass er zurücktritt und mir die Regierungsgeschäfte überträgt. Er hat mir noch viel Erfolg gewünscht!«, brachte Alfred mühsam hervor. Sein Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken und staubig an. »Ein Bundeskanzler muss doch zu seinem Wort stehen.«, fügte er leise hinzu. »HAHAHA!«, lachte die Regierungssprecherin. »…zu seinem Wort stehen!«, wiederholte sie fröhlich und lachte weiter. Alfred hielt den Hörer so weit es ging von seinem Gesicht weg, damit er ihr Lachen nicht hören musste. Einige Minuten später wandte er sich mit verstörter Miene an Eberhard und den -2 7 7 -
stellvertretenden Redaktionsleiter. »Sie lacht immer noch.«, erklärte er den beiden kopfschüttelnd und hielt sich den Hörer wieder ans Ohr. »Hahaha! In der Politik!! Zu seinem Wort stehen!!! Hahaha !«, rief die Ex-Talkshow-Moderatorin. »Sehr gut, Herr Alfred! Also, eines muss man Ihnen lassen: Humor haben Sie wirklich! Haha! Kein Wunder, dass Sie bei den Leuten so gut angekommen sind.« »Hmpf.«, machte Alfred etwas beleidigt. »Wo waren wir eben stehen geblieben?«, fragte sie fröhlich und kicherte noch ein wenig. »Ach ja : Die Menschen in Deutschland haben nun ja ihre Fernseher wieder! Da brauchen sie niemanden mehr, dem sie folgen oder der ihnen gar das selbständige Denken beibringt.«, fuhr die Regierungssprecherin fort. »Aber der Bundeskanzler verliert doch seine Glaubwürdigkeit, wenn er zurücktritt und kurze Zeit später so tut, als wäre nichts geschehen!«, versuchte es Alfred erneut. »Ach, wissen Sie, Herr Alfred, das ist alles nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheint.«, erklärte die Regierungssprecherin beschwichtigend. »In einigen Tagen haben unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger diesen kleinen Zwische nfall sicherlich längst vergessen! Nach unseren Erfahrungen haben die Menschen bei einem durchschnittlichen Fernsehkonsum von täglich vier Stunden innerhalb einer Woche vergessen, für wen sie bei der Wahl gestimmt haben und - bis auf wenige Ausnahmen - was für einen Mist die Regierung vor drei Tagen gebaut hat. Und die Zahl derjenigen, die keine vier Stunden am Tag fernsehen, ist so minimal, dass sie fast bedeutungslos sind.« »So schnell werden die Leute einen Rücktritt des Bundeskanzlers bestimmt nicht vergessen.«, entgegnete Alfred böse. »Sie hätten mal sehen sollen, wie die Leute mich als ihren -2 7 8 -
neuen Regierungschef gefeiert haben!« »Ach ja?«, fragte die Regierungssprecherin prüfend. »Wissen Sie noch, dass unser Bundespräsident, Homer Simpson, das letzte Mal vor drei Wochen zurückgetreten ist, weil er kein Bier mehr im Kühlschrank hatte?« »Äh, wie?«, fragte Alfred verwirrt und dachte angestrengt nach. »Zurückgetreten, weil er kein Bier im Kühlschrank hatte?« Doch, stimmt, dachte er, vor einiger Zeit hatte er irgendetwas von einem Rücktritt gehört, aber, scheiße, so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Woher kamen bloß die ganzen schwarzen Löcher in seinem Gehirn? Vom Fernsehen? Nein. Unmöglich. Oder? Was hatte die Regierungssprecherin da eben noch mal gesagt? Äh… und warum unterhielt er sich überhaupt mit einer Regierungssprecherin? »Sehen Sie?«, fragte Ex-Talkshowmoderatorin triumphierend. »Und genauso wird es dank der Fernseher auch diesmal wieder sein. Nächste Woche ist das alles längst vergessen.« »Ich glaube, Sie haben gewonnen.«, gab sich Alfred geschlagen. »Ja.« »Gilt Ihr Angebot von vorhin eigentlich noch?«, wollte Alfred danach hoffnungsvoll wissen. »Was für ein Angebot?«, erkundigte sich die Regierungssprecherin betont nichtsahnend. »Na ja, ich sollte doch die Bevölkerung beruhigen und dafür einen neuen, supermodernen Fernseher bekommen!«, half Alfred ihr auf die Sprünge. In bezug auf neue, supermoderne Fernseher hatte ihn sein Gedächtnis noch nie im Stich gelassen. »Ich dachte, Sie wollten auf unser außerordentlich großzügiges Angebot nicht eingehen?«, erwiderte die frühere -2 7 9 -
Talkshow-Moderatorin prüfend. »Ja, vorhin. Aber mittlerweile hat sich meine Meinung dazu grundlegend geändert. Jetzt würde ich mich sehr freuen, wenn ich unsere hervorragende Regierung - in welcher Form auch immer - unterstützen könnte.«, erklärte Alfred großzügig. »…und dafür einen Fernseher bekommen würde.«, fügte er etwas leiser hinzu. »Aber mittlerweile scheint Ihre Hilfe gar nicht mehr nötig zu sein.«, meinte die Regierungssprecherin. »Darf ich Sie daran erinnern, dass sich die Lage dank der Fernseher überall wieder beruhigt hat?« »Da sollten Sie sich aber nicht zu sicher fühlen.«, warnte Alfred und sah Eberhard und den stellvertretenden Redaktionsleiter an. »Zum Beispiel bin ich just in diesem Moment von einer nach wie vor gewaltbereiten Gruppe umgeben, die meiner Einschätzung nach durchaus in der Lage ist, die Regierung zu stürzen.« »Ja?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung skeptisch. »Ja, ja.«, sagte Alfred und nickte eifrig. »Aber ich denke, ich wäre in der Lage, sie davon abzuhalten und sie dazu bringen, sich wieder vor ihre Fernseher zu setzen und sich ruhig zu verhalten.« »Und als Gegenleistung verlangen Sie einen ne uen, supermodernen Fernseher?«, fragte die Regierungssprecherin misstrauisch. »Äh, ja?«, fragte Alfred vorsichtig. »Na schön, Sie bekommen von uns einen Fernseher.«, erklärte sie. »Schließlich dient es unserem Wohl, wenn jeder Bundesbürger einen Fernseher besitzt.« »Oh, danke! Vielen, vielen Dank!«, sagte Alfred unterwürfig. »Und Sie sorgen dafür, dass in Ihrer Umgebung Ruhe und Ordnung herrscht, klar?«, ermahnte ihn die Ex-Talkshow-2 8 0 -
Moderatorin. »Auch in Zukunft.« »Natürlich!«, rief Alfred eifrig und tippte sich mit einer militärischen Geste an die Stirn. »Und nochmals danke! Vielen Dank!« Erst jetzt merkte er, dass er vor dem Telefon demütig niedergekniet war. Schnell stand er wieder auf, klopfte sich den Staub von seiner Trainingshose und sah Eberhard und den Redaktionsleiter verlegen an. »Ja, schon gut.«, antwortete die Regierungssprecherin zufrieden. »Aber ich muss jetzt schlußmachen, da ich noch die morgige Pressekonferenz zu den Vorfällen dieses Abends vorbereiten muss. Darin werden wir noch einmal klarstellen, dass die Machtposition der Regierung zu keiner Zeit gefährdet war und dass wir in diesem Zusammenhang nicht von einer Krise sprechen möchten.« »Aber das stimmt doch gar nicht!«, machte Alfred und holte tief Luft. »Auf Wiederhören!«, unterbrach ihn die Regierungssprecherin und legte schnell auf. »Auf Wiederhören!«, sagte Alfred und legte kopfschüttelnd den Hörer auf. Dann rieb er sich erwartungsvoll die Hände und freute sich auf den neuen Fernseher. »Aber… du kannst jetzt doch nicht so einfach aufgeben!«, rief der stellvertretende Redaktionsleiter, sah ihn mit großen Augen an und zündete sich mit stark zitternden Händen eine neue Zigarette an. »Das schmälert den Marktwert unserer Revolution ganz erheblich!« »Tja.«, meinte Alfred gleichgültig und schulterzuckend. »Gegen das Fernsehen kommt eben niemand an.« »Aber so reicht diese Revolution höchstens für ein Buch.«, meinte der Redaktionsleiter, zog enttäuscht an seiner Zigarette -2 8 1 -
und folgte Alfred und Eberhard ins Studio nach nebenan. Dort diskutierte die Polizei immer noch über den Ablauf einer eventuellen Verhaftung. »Würden Sie so freundlich sein, mich endlich von den Handschellen zu befreien und mich laufen zu lassen?«, rief Horst mit hochroten Kopf. »Die Fernseher gehen doch wieder! Was wollen Sie denn noch?«, fügte er zum wiederholten Male hinzu. »Sollen wir ihn freilassen?«, fragte der dickliche Polizist den leitenden Beamten und nahm schon mal den Schlüssel für die Handschellen in die Hand. »Nein. Noch nicht.«, meinte der Polizist mit dem Schnurrbart und schüttelte den Kopf. »Wir müssen schließlich berücksichtigen, dass wir eine neue Regierung haben.«, erklärte er. »Und durch eine Verhaftung eines regierungsfeindlichen Subjektes können wir ihr beweisen, dass die Polizei entgegen der öffentlichen Meinung doch NICHT überflüssig ist.« »Liebe Freunde und Polizisten!«, rief nun Alfred in das Studio hinein. »Darf ich Sie nun bitten, das Gebäude und das Gelände umgehend zu verlassen?« Die Polizisten sahen ihn verblüfft an. »Wie bitte?«, fragte der Schnurrbart, weil er meinte, sich verhört zu haben. »Ich habe gerade von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland den Auftrag erhalten, hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen.«, erklärte der Ex-Regierungschef bereitwillig. »Und da ich ein pflichtbewusster Staatsbürger bin, konnte ich diese Weisung natürlich nicht ignorieren.« »Ach so, na dann…«, sagte der leitende Polizist, wollte schon gehen, stutzte dann aber und blieb stehen. »Moment mal,«, erklärte er, »sind Sie nicht der neue Regierungschef??« »Äh, nein, nicht mehr.«, erläuterte Alfred. »Ich konnte mit der -2 8 2 -
alten und gleichzeitig neuen Bundesregierung einen Kompromiss aushandeln, der, äh, beiden Seiten gerecht wird.« »Aha.«, sagte der Polizist, verstand gar nichts und nickte mit dem Kopf. »Das nennst du einen Kompromiss?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter erbost und nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche. »Einen blöden Fernseher nennst du einen Kompromiss?!« »Einen neuen, supermodernen Fernseher nenne ich sogar einen guten Kompromiss.«, verbesserte Alfred ihn trotzig. »Hicks!«, kommentierte der Redaktionsleiter ärgerlich. »Aber das heißt ja, dass die Grünen an der Macht bleiben, nicht wahr?«, erkundigte sich die Polizistin. »Ja, das sieht so aus.«, bestätigte Alfred schulterzuckend. »Aber dann können wir den Moderator ja gar nicht verhaften!?«, folgerte die Polizistin messerscharf. Der leitende Polizist mit dem Schnurrbart dachte darüber eine Weile nach. »Äh…«, sagte er dann verwirrt und kratzte sich nervös am Kopf. Das ganze schien ihn mächtig zu überfordern. »Heißt das jetzt, dass wir die Revolutionäre verhaften können? Oder das Gebäude? Oder können wir die Regierung räumen? Oder die Fernseher zusammenschlagen??« Seine Kollegen starrten ihn an. »Äh, nein. Nicht ganz.«, erklärte die Polizistin und legte beruhigend einen Arm um seine Schulter. »Du solltest dich besser erst einmal hinsetzen.« »Puh, ist das heiß hier.«, meinte der Polizist und wischte sich erst über die Stirn und dann über den Schnurrbart. Der stellvertretende Redaktionsleiter nahm noch einen Schluck aus der Flasche. -2 8 3 -
»Möchten Sie auch?«, fragte er den leitenden Beamten. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen ordentlichen Schluck vertragen.« »Gib her!«, sagte der Polizist, riss ihm die Flasche aus der Hand und setzte sie an den Schnurrbart. »Aber seien Sie vorsichtig: Der ist ziemlich stark.«, warnte der Redaktionsleiter. »Aaah! Das war gut!«, sagte der Polizist kurz darauf erleichtert und gab die Flasche an seine Kollegen weiter, die das Angebot dankbar annahmen. »Wie? Leeer?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter danach ungläubig und starrte auf die Flasche. »Und was soll ich nun trinken??« »ALFRED!«, rief plötzlich eine garstige Stimme dazwischen, deren Inhaberin in der Studiotür stand. Alfred sah zur Tür und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. »Gertrude!«, rief er. »Was machst du denn hier??« »Ich habe dich im Radio gehört.«, sagte Gertrude und stellte den Koffer an die Wand. »Ja? Bestimmt bist du sehr stolz auf mich.«, meinte Alfred gerührt und wischte sich mit der Hand etwas verlegen eine Träne aus dem Auge. An dieser Stelle bereute er zum fünften Mal, dass es ihn auf Seite 37 nicht interessiert hatte, als ihm das Taschentuch aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Gertrude holte tief Luft. »Stolz? Auf dich?? Da lasse ich dich mal einen Abend allein und was machst DU??«, begann sie ohne Zögern zu schimpfen. »Du zettelst eine Revolution an und wirst so mir nichts, dir nichts Regierungschef!! Und das, ohne mich zu fragen!!« »Aber…«, begann Alfred etwas verstört, kam aber nicht weiter. -2 8 4 -
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du keine Revolutionen anzetteln sollst, wenn ich nicht da bin!?«, schimpfte sie. »Öh, noch nie !«, traute sich Alfred wahrheitsgemäß zu sagen. »Werd nicht auch noch frech!«, rief Gertrude wütend und schüttelte drohend einen Finger in seine Richtung. »Wie zum Teufel kommt jemand wie du auf die Schnapsidee, die Bundesregierung zu stürzen, heh? Und dass, wo wir doch einen so sympathischen Bundeskanzler haben.« »Ja, tut mir ja leid.«, antwortete Alfred schuldbewusst und sah verschämt auf seine nach innen gekehrten Füße. »Du kommst jetzt mit nach Hause!!«, schimpfte sie weiter. »Und tu so was nie wieder, hörst du?« »Aber warum denn nicht?«, wollte Alfred etwas beleidigt wissen. »Das hat doch so viel Spaß gemacht!« »Spaß??«, rief Gertrude empört und zog ihn an einem Ohr an sich. »Dir werde ich helfen!! Spaß!! Das ist ja nicht zu fassen!!« Die Polizisten, der Redaktionsleiter, Eberhard, und Keith Richards sahen die beiden verblüfft an. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der große Revolutionsführer Alfred dermaßen unter dem Pantoffel stand. Nur Mathilde war nicht verblüfft, und zwar erstens, weil sie über die Verhältnisse, die dort herrschten, bestens informiert war, und zweitens, weil sie schlief. »Ich glaube, wir sollten besser verschwinden.«, schlug die Polizistin vor. »Unsere Arbeit hier ist getan.« »Gute Idee!«, meinte der Polizist mit dem Schnurrbart, der sich nach den Schlücken aus der Flasche des stellvertretenden Redaktionsleiters wieder gefasst zu haben schien, und räusperte sich. »Wieder einmal hat die Polizei unter Beweis gestellt, dass sie eine schlagkräftige Truppe ist, die beinahe jeder Herausforderung gewachsen ist. Oder?« Dann machte er ein paar Schritte auf Horst zu. »Aber SIE merke ich mir.«, erklärte er und hob drohend -2 8 5 -
seinen Zeigefinger, nachdem er den Moderator von den Handschellen befreit hatte. »Wenn ich Sie noch einmal erwische, wie Sie versuchen, die Fernseher zu manipulieren, dann sind Sie dran!« »Ach ja? Und dann?«, fragte Horst spöttisch. »Wollen Sie mich verhaften??« Der Polizist kniff misstrauisch ein Auge zu. Er war sich nicht ganz sicher, ob er gerade verarscht wurde. »Ja, genau.«, sagte er dann, »Ich werde Sie verhaften …eventuell. Je nach dem, welche Regierung wir haben.« »Pfff.«, erwiderte der Moderator. »Und SIE merke ich mir auch!«, sagte er danach zu dem stellvertretenden Redaktionsleiter und zog die Tablettendose aus seiner Hemdtasche. »Oder was haben Sie hier drin? Bonbons?« »He!«, rief der Redaktionsleiter nervös, riss ihm die Dose aus der Hand, öffnete sie und sah hinein. »Diese Tabletten hat mir mein Arzt verschrieben. Hicks!«, fügte er hinzu und schüttete sich den restlichen Inhalt schnell in den Mund. »Sie merke ich mir auch.«, sagte der Polizist danach zur schlafenden Mathilde. Vorsichtshalber sprach er aber sehr leise, damit er sie nicht weckte. »Wenn Sie wieder einmal in verruchten Kneipen randalieren, dann sind Sie dran.«, fügte er flüsternd hinzu. Als sie daraufhin aufzuwachen schien, wandte sich der Schnurrbart schnell an Alfred: »Und SIE werde ich auch im Auge behalten.«, erklärte er ihm, jetzt in normaler Lautstärke. »Bei der nächsten Revolution, die Sie anzetteln, sind SIE fällig.« »Aber…«, sagte Alfred schüchtern. »Keine Bange, Herr Kommissar, ich werde schon dafür sorgen, dass er kein Unsinn mehr treibt.«, unterbrach Gertrude ihren Ehemann streng und nahm seine Hand. »Sie können sich -2 8 6 -
auf mich verlassen!« »Das glaube ich.«, sagte der Polizist und tippte sich zum Abschied an die Stirn. »Wiedersehen.«, fügte er hinzu und verließ mit seinen Kollegen das Studio. »Was ist hier los?«, rief Mathilde, die gerade aufgewacht war, sah sich um und sprang mit gezücktem Stock aus dem Rollstuhl. »Well, scheint so, als wäre die Revolution gerade gescheitert.«, erklärte Keith schulterzuckend. »Kein Wunder. Das konnte ja nichts werden.«, sagte sie, setzte sich wieder und sah Alfred verächtlich an. »Zu meiner Zeit waren die Revolutionäre noch aus anderem Holz geschnitzt.« »Dann schiebst du mich jetzt nach Hause, Richard.«, wandte sie sich an Keith und sah ihn erwartungsvoll an. »Schieben!«, soufflierte sie laut, als sie seinen fragenden Blick bemerkte. »Ouuhh,«, stöhnte er. »Kannst du jetzt not wieder selber gehen?« »Keine Widerrede!«, befahl Mathilde und machte es sich in dem Rollstuhl bequem. »Auch ich werde jetzt gehen.«, stellte Eberhard fest und wandte sich zu Alfred. »Wenn dein neuer, supermoderner Fernseher irgendwann einmal kaputtgehen sollte, weißt du ja, wo die Werkstatt deines Vertrauens ist.«, sagte er und folgte dem stöhnenden, Rollstuhl schiebenden Keith Richards und der zufriedenen Mathilde aus dem Studio hinaus. »Natürlich!«, rief Alfred ihm hinterher und winkte noch ein wenig. »Was ist? Neuer, supermoderner Fernseher?«, fragte Gertrude argwöhnisch. »Was hast du denn noch angestellt?? Na warte, wenn wir zu Hause sind, dann kannst du was erleben!«, sagte sie -2 8 7 -
und schleifte ihn an einem Ohr aus dem Studio hinter sich her. Horst Block guckte sich im Studio um und sah den stellvertretenden Redaktionsleiter an. »Und was mache ich nun?«, fragte sich der ehemalige Moderator und dachte darüber nach. »Vielleicht sollte ich mich bei der Polizei bewerben. Die nehmen doch jeden, oder!?« Der Redaktionsleiter schüttelte den Kopf, steckte sich eine Zigarette an, verließ schweigend das Studio und ließ einen nachdenklichen Moderator zurück. Mit sich, der Welt und vor allem mit dem neuen, supermodernen Fernseher zufrieden, lehnte sich Alfred einige Tage später in seinem Sessel zurück und schaute sich zum zehnten Mal heute die Nachrichten an. Darin war zunächst davon die Rede, dass die Regierung unter Federführung des Bundeskanzlers Günther Jauch zur Durchsetzung der 17 Forderungen des sogenannten Alfred-Plans ein Reform-Paket vorgestellt habe, das der Bundestag schon bald verabschieden solle. Danach erklärte der Nachrichtensprecher, dass sich der DFB und Bundestrainer Joschka Fischer einvernehmlich getrennt hatten. Fischer, so hieß es, habe ein sehr interessantes Angebot eines Radiosenders angenommen. Dort solle er die Sendung `Interview mit einem Prominenten' moderieren, nachdem ein hochkarätiger Kandidat, angeblich ein hochrangiger Politiker, kurzfristig doch noch abgesagt habe. Fischer sagte in einem Interview dazu, dass er diese Aufgabe auch als Sprungbrett für weitere Aufgaben sehe. So könne er sich auch vorstellen, später eventuell zurück in die Politik zu gehen. Die nächste Meldung beschäftigte sich mit Fischers Nachfolger. DFB-Präsident Professor Hastig, der im letzten Jahr den aus persönlichen Gründen ausscheidenden, 108-jährigen Egidius Braun abgelöst hatte, hatte einen Kandidaten ernannt, -2 8 8 -
mit dem in Fachkreisen niemand gerechnet hatte: Nämlich Herrn Alfred. Diese Entscheidung, so teilte ein außerordentlich verschlafener Professor Hastig in einer Pressekonferenz mit, sei gefallen, nachdem sich unzählige Bürger für die Benennung von Herrn Alfred, des Ex-Revolutionärs, stark gemacht hatten. Wau!!, dachte Alfred zum zehnten Mal heute. Ich werde tatsächlich Bundestrainer! Und diesmal war nicht zu befürchten, dass alles wieder rückgängig gemacht wurde, wie ihm Professor Hastig vorhin am Telefon glaubhaft versicherte. Überraschenderweise war sogar Gertrude damit einverstanden, wahrscheinlich, weil er deshalb in Zukunft nicht ständig zu Hause war. Danach schaltete er um, damit er die Nachrichten auf dem nächsten Kanal nicht versäumte, was schade war, denn dadurch verpasste er die interessante Meldung, dass ein entlaufendes Kaninchen in der Nacht am Rande der Stadt ein Verkehrschaos verursacht hatte. Die herbeigerufenen Polizisten machten dabei alles nur noch schlimmer, offenbar hatten einige von ihnen, darunter auch der leitende Polizist, kurz zuvor eine größere Menge Alkohol zu sich genommen. Der Innenminister sagte dazu in einer ersten Stellungnahme, dass er äußerst besorgt sei über den Zustand der Polizei und kündigte grundlegende Reformen an. Das Tier blieb glücklicherweise unverletzt, wurde kurz darauf eingefangen und zu seiner Besitzerin zurückgebracht. Einige Wochen später folgte Alfred einer Einladung und besuchte den stellvertretenden Redaktionsleiter, der ihm zunächst einmal herzlich zu seinem gelungenen Einstand als Bundestrainer gratulierte. Das erste Länderspiel unter seiner Ägide konnte Deutschland gegen den Freistaat Sachsen souverän mit 4:1 für sich entscheiden. »Danke.«, sagte Alfred zufrieden. »Ein tolles Spiel von -2 8 9 -
meiner Mannschaft. Sie hat auf dem Platz genau das umgesetzt, was ich ihr mit auf den Weg gegeben habe.« »Ja. Schön.«, sagte der Redaktionsleiter setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Was macht das Buch?«, wollte Alfred wissen und sah ihm über die Schulter. Auf dem Schreibtisch herrschte ein völliges Durcheinander. Überall lagen Zettel, einige leer, die meisten aber mit einem unleserlichen Gekrickel beschmiert. Des weiteren stand dort noch ein völlig überfüllter Aschenbecher, um den rundherum einige Kippen lagen, die auf den Zetteln einige Brandflecke und braunumrandete Löcher hinterlassen hatten. Alfred sah außerdem ein halbvolles Glas mit einer braunen Flüssigkeit und nicht weit davon entfernt die dazugehörige Whiskeyflasche. »Ich schreibe gerade den Schluss.«, erklärte der stellvertretende Redaktionsleiter und kippte sich den Rest der braunen Flüssigkeit in den Mund und sah den Bundestrainer mit etwas glasigen Augen an. »Und ic h habe den Titel ein wenig abgekürzt. Er lautet jetzt vorrausichtlich: Wegen der Revolution habe ich meinen Bus verpasst. Toll, oder?« »Klingt gut.«, meinte Alfred und nickte. »Aber so ganz stimmt das doch gar nicht. Du konntest den Bus doch gar nicht verpassen, weil gar keiner gefahren ist.« »Na ja, das stimmt, aber das merken die Leser doch gar nicht.«, entgegnete der Redaktionsleiter. »Voraussichtlich sind die meisten ohnehin ein bisschen doof.« Er drückte die Zigarette auf einem teilweise bekritzelten Blatt Papier aus und schrieb weiter. »Das kann sein.«, stimmte Alfred ihm zu und sah ihm über die Schulter auf den letzten Satz, den er gerade geschrieben hatte. »Allerdings solltest du die Leser im Buch besser nicht als doof bezeichnen. Das verstehen einige vielleicht falsch.«, -2 9 0 -
erklärte er dann. »Ich habe mir vorgenommen, nichts als die Wahrheit zu schreiben.«, sagte der stellvertretende Redaktionsleiter und schrieb es auf. »Na ja, wenn du meinst!«, meinte Alfred. »Möchtest du auch einen Whiskey?« »Äh, nö, danke.«, erwiderte der Bundestrainer und betrachtete die Flasche. »Seitdem ich Bundestrainer bin, achte ich sehr auf meine Fitness. Meinst du nicht auch, dass es dir besser gehen würde, wenn du mit dem Trinken aufhören würdest?« »Oh nein.«, meinte der Redaktionsleiter entschlossen und schenkte sich nach. »Keine harten Drogen! Die schaden der Gesundheit noch mehr. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede.« »So war das auch nicht gemeint.« »Ach nein?«, fragte der stellvertretende Redaktionsleiter ungläubig und wandte sich wieder seinen Zetteln zu. »Ich bin übrigens gleich fertig.«, erklärte er. »Und wie geht das Ganze aus?«, wollte Alfred neugierig wissen und sah auf den Zettel, den der Redaktionsleiter gerade beschrieb. »Rate mal.«, erwiderte der. »So - gleich habe ich es. Ungefähr Fünf Sätze noch.« »Darf ich es lesen?«, fragte Alfred. »Sicher! Ich bin sofort fertig.«, meinte der stellvertretende Redaktionsleiter, schrieb noch ein bisschen und gab ihm einen Stapel Papier. Alfred setzte sich auf einen Stuhl und begann neugierig zu lesen: »Alfred war nicht gerade ein appetitlicher Anblick, wenn er - Mitte fünfzig, ziemlich klein - mit seiner viel zu engen Hose, seinem Hemd, unter dem der Bauch hervorquoll, seinem spärlichen, fettigen Haarkranz und seiner alten, abgewetzten Aktentasche zur Arbeit ging.« -2 9 1 -
Alfred sah hoch. »He!«, beschwerte er sich. »Was soll das denn heißen?« »Lies weiter!«, meinte der Redaktionsleiter, schrieb noch einen weiteren Satz und beendete dann die letzte Seite. »Kaum zu glauben, dass dieser Mann schon bald mit den großen Revolutionären unserer Zeit in einem Atemzug genannt werden wird!«
-2 9 2 -