Martin Selle
Die Rache der weissen Schnabelgesichter Codename Sam Band 01
scanned 03/2008 corrected 04/2008
Als die d...
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Martin Selle
Die Rache der weissen Schnabelgesichter Codename Sam Band 01
scanned 03/2008 corrected 04/2008
Als die drei Freunde Sandra, Armin und Mario von Marios Tante, einer Hotelbesitzerin, nach Venedig eingeladen werden, ahnen sie nicht, dass ihnen statt geruhsamer Ferien ein aufregendes Abenteuer bevorsteht. Es beginnt ganz harmlos: Eine Notarin bittet sie, an einer Auktion teilzunehmen und dort ein bestimmtes Objekt zu ersteigern. Bald erkennen die drei Freunde aber, dass mehr dahinter stecken muss: Im Hotel wird eingebrochen und sie werden verfolgt. Bevor sie sich aber vom Bürgermeister Venedigs zur Lösung des Falls beglückwünschen lassen können, müssen sie ein dunkles Geheimnis lüften, das sie weit zurück in die Geschichte der Lagunenstadt führt. ISBN: 3-7074-0080-8 Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Erscheinungsjahr: 2000 Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
DIE RACHE DER WEISSEN SCHNABELGESICHTER Martin Selle
Illustrationen: Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Selle, Martin: Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G, Kinder- und Jugendbuch (Krimi) Geheimfall 1. Die Rache der weissen Schnabelgesichter. – 2000 ISBN 3-7074-0080-8
2. Auflage 2000 © 1999 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Covergestaltung: Martin Weinknecht Lektorat: Mag. Dietlinde Lasselsberger Satz: G & G, Wien Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf In der neuen Rechtschreibung. Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Die Toteninsel ................................................... 5 Die Gestalt im Nebel ......................................... 9 Verfolgt ........................................................... 15 Ein schwerer Fehler ........................................ 19 Der verbrannte Pilot ........................................ 25 In der Falle ...................................................... 30 Das gefährliche Vermächtnis .......................... 35 Das weiße Schnabelgesicht ........................... 40 Wahnsinn ........................................................ 45 Die Entdeckung .............................................. 48 Ein flüchtiger Toter.......................................... 52 Gejagt! ............................................................ 57 Die WC-Bombe ............................................... 62 Die Rufe der Toten ......................................... 67 Diebe! ............................................................. 74 Tante Patricia.................................................. 78 SOS ................................................................ 82 Fliegerangriff ................................................... 87 Ein Außerirdischer? ........................................ 92 Gespenstisch ruhig ......................................... 96 Tania ............................................................... 99 Ein übler Geselle! ......................................... 103 In der Höhle des Löwen ................................ 108 Jetzt oder nie ................................................ 112 Willkommen auf der Toteninsel .................... 117 Sesam öffne dich! ......................................... 123 Das Geheimnis ............................................. 128
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Die Toteninsel
Das kleine Boot mit dem 25 PS starken Außenbordmotor kämpfte wie ein hilfloser Zwerg gegen die übermächtigen Wellen an. Eine Sturmböe um die andere peitschte den drei SAM-Detektiven die salzigen Gischten gnadenlos um die Ohren. Wo noch vor wenigen Minuten die Sonne prall auf die Gassen von Venedig geschienen und die prunkvollen Bauten erhellt hatte, die neben dem Dunkelgrün der Zypressen weiß leuchteten, hatte sich in Windeseile ein vernichtendes dunkles Gewitter ausgebreitet. „Lange können wir das nicht mehr durchhalten!“, brüllte Armin aus heiserer Kehle. Aber der Lärm des tobenden Wassers war so laut, dass ihn seine beiden Freunde kaum hörten. „Nun mach dir wegen ein paar Blitzen nicht gleich in die Hose!“, rief Mario zurück. Obwohl er genau wusste, wie gefährlich es war, während eines Gewitters auf dem Wasser zu sein, bemühte er sich, einen klaren Kopf zu behalten und einen Ausweg zu finden. Auf keinen Fall wollte er, dass Sandra die Gefahr unnötig bewusst wurde. Die tapfere SAM-Detektivin lag bäuchlings auf dem Boden des Bootes und krallte sich an den Dollen für die Ruder fest. Sie war völlig durchnässt und die schulterlan5
gen blonden Haare hingen ihr ins Gesicht. Das Mädchen schnappte nach Luft, als ob es kurz vor dem Ersticken wäre. „Achtung!!!“, schrie Armin. Der Junge stemmte sich mit aller Kraft gegen das Steuer und versuchte, das Motorboot direkt auf die heranpreschende Sturzwelle zuzusteuern, um sie frontal zu schneiden. Aber es war bereits zu spät. Die Woge erfasste das Boot samt seinen drei Insassen und warf es in die Luft. Der Motor heulte auf und verstummte sofort wieder, als es mehrmals um die eigene Achse gewirbelt wurde. Armin, Mario und Sandra wurden in den mörderischen Seegang des Lagunenmeeres geschleudert. Ihre nassen, bleischweren Kleider zogen sie sofort in die Tiefe. „Das ist unser Ende! Wir werden sterben!“, dachten sie. Mario schwamm, so schnell er konnte, nach oben und ließ dabei von Zeit zu Zeit Luft aus seinem Mund. Luftblasen stiegen immer an die Oberfläche, das wusste er. So konnte er sicher sein, nicht in die falsche Richtung zu schwimmen. Auf dem Weg nach oben stieß er mit Sandra zusammen. Als pflichtbewusster Rettungsschwimmer setzte er alles daran, sie mit sich zu ziehen. Jetzt konnte er beweisen, dass seine Ausbildung nicht umsonst gewesen war. Endlich, als ihnen schon beinahe die Luft ausging, erreichten sie die Oberfläche. Völlig erschöpft rangen sie nach Luft. Sandra blickte sich verzweifelt um. „Armin!“, kreischte sie. Ihr Freund war nirgends zu sehen. 6
Mario versuchte sich zwischen den hohen Wellen zu orientieren. Er brauchte einen Anhaltspunkt, um festzustellen, in welche Richtung sie abgetrieben wurden. Hoffentlich nicht auf die offene See hinaus, dachte er. Das wäre ihr sicheres Ende, denn vor der Lagune gab es Haie. Plötzlich schnappte eine Hand aus der Tiefe nach Marios Hemdkragen und riss ihn wieder unter Wasser. Mühevoll konnte er sich befreien und umdrehen. Hinter ihm kämpfte Armin, der bereits ein bläuliches Gesicht hatte, mit dem Meer. „Okay, nur keine Panik!“, beruhigte Mario seine beiden Freunde. „Wir klammern uns an eines der Bootstrümmer und warten, bis das Unwetter nachlässt, dann schwimmen wir zur Stadt zurück.“ „Ich habe gleich gesagt, dass es zu gefährlich ist. Warum müssen wir immer so neugierig sein! Diese ersteigerten Gegenstände gehen uns doch eigentlich gar nichts an“, schimpfte Sandra. „Sei still. Das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, unterbrach Armin sie. Erneut türmte sich hinter den SAM-Freunden eine riesige Sturmwelle auf und rollte wie eine tödliche Lawine auf sie zu. Verzweifelt versuchten sie zu entkommen, aber es war aussichtsslos. Die Welle riss sie mit sich in Richtung San Michele, der schaurigen Toteninsel vor der Lagunenstadt. Die Richtungslichter waren längst erloschen und konnten nicht mehr als Wegweiser dienen. Wahrscheinlich hatte sie ein Blitz getroffen. Die drei Freunde erstarrten, als die Mauer von San Michele plötzlich direkt vor ihnen auftauchte. Mächtig wie 7
die Klippen einer Steilküste ragte sie mit ihren Spitzbögen in den Regen auf. Eine um die andere Welle brach sich an der Mauer. In Kürze würde eine Woge die drei Freunde gnadenlos darauf zuschleudern.
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Die Gestalt im Nebel
Die Verzweiflung mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie versuchten gegen die Strömung anzuschwimmen. Zwecklos. Immer weiter trieben sie auf die mächtige Wand zu. Sie konnten jetzt bereits die einzelnen Steine darin erkennen. Wieder leuchtete ein heller Blitz über ihnen. Mit einem lauten Krachen schlug er in eine Zypresse auf der Toteninsel ein und spaltete sie. Plötzlich glaubte Sandra zu wissen, warum San Michele die ›Toteninsel‹ genannt wurde. Ein zweiter Blitz schlug nur wenige Meter neben den drei Freunden ins Meer und peitschte eine Riesenwelle auf. „Neiiiiiin!“, schrie Sandra. Die Welle erfasste die drei Freunde und ließ sie durch die Lüfte sausen. Dann stürzten sie durch Baumkronen. Nach einer Weile landeten sie auf etwas Weichem, Nassem. Minuten verstrichen. Armin öffnete langsam die Augen und bemerkte, dass das Gewitter vorüber war. Sturm und Regen hatten sich gelegt. Die Erde rund um ihn dunstete. Nebel waren aufgezogen. „Mario? … Sandra?“, krächzte er. Ein Stöhnen war zu hören. 9
„Wo seid ihr? Seid ihr verletzt?“ Armin konnte im dichten Nebel nichts erkennen. Vorsichtig drehte er sich auf den Bauch und tastete seine nähere Umgebung ab. Er schien auf weichen Rasen gefallen zu sein. Zu seiner Linken fühlte er einen kalten Stein. Es war kein gewöhnlicher Stein. Seine Oberfläche wirkte glatt geschliffen, möglicherweise sogar poliert. „Ein Grabstein?“, fuhr es Armin durch den Kopf. Hatte das Unwetter die drei Freunde auf die Toteninsel geschleudert, die sie ohnehin hatten erkunden wollen? Wenige Meter von Armin entfernt krächzte Sandra etwas Unverständliches. „Sandra, sag was! Ich kann dich nicht sehen“, sagte Armin und tastete sich vorwärts. „Hier drüben …“ Armin fand Sandra schließlich an einen Baumstamm gelehnt. Langsam lockerte der Nebel etwas auf. „Hast du Mario gefunden?“, fragte Sandra. „Ist er nicht bei dir?“, erwiderte Armin. Sandra antwortete nicht. „Verdammt!“, fluchte Armin. „Mario! … Mario!“ Nichts. Keine Antwort. Die Rufe verhallten ungehört. „Er ist bestimmt nicht auf der Insel, sonst hätte er uns gehört“, war Sandra überzeugt. „Du meinst, er … er ist … ertrunken!“ „Ich war immer dagegen, dass wir zu dieser verfluchten Insel fahren“, schluchzte Sandra. Mit hängendem Kopf ließ sich Armin neben seiner Freundin in das nasse Gras sinken und überlegte, was er 10
unternehmen konnte. Nach einer Weile rappelte er sich schließlich hoch und sagte: „Ich werde die ganze Insel nach ihm absuchen. Wenn wir hier sind, muss auch er irgendwo gestrandet sein.“ „Vergiss es“, antwortete Sandra. „Der Nebel ist viel zu dicht. Du verirrst dich höchstens oder dir stößt selbst etwas zu.“ Aber Armin war bereits im Nebel verschwunden. Nach wenigen Metern kam er auf kiesigen Untergrund. Es schien ein Schotterweg zu sein. Er kämpfte sich trotz seiner Schmerzen vorwärts, bis er plötzlich vor einer tempelartigen Grabstätte stand. Er stemmte sich gegen die schwere Steintür, bis sie einen Spaltbreit aufging, und schlüpfte hinein. Der Junge erkannte am Boden einen Gedenkstein, auf dem nur noch schwach die Initialen J. R. zu lesen waren. „Hilfe!“, schallte eine schwache Stimme wie aus dem Totenreich zu ihm herüber. „Mario!“ Plötzlich gingen Lichter an und der Junge taumelte erschrocken einige Schritte zurück. Jemand versetzte ihm einen Schlag ins Genick und er sank zu Boden. Er wurde durch den Raum geschleift und wie ein nasser Sack fallen gelassen. Dann verkrallte sich eine Hand in seinem Haar. Gleichzeitig bohrte ihm jemand ein Knie in den Rücken. Armin bemühte sich trotz der Schmerzen etwas zu erkennen. Er erblickte Mario neben sich. Sie waren umzingelt. Dann erstarrte er vor Schreck. Eine finstere Gestalt mit einem weißen Schnabelgesicht und rot glühenden Augen starrte ihn an. Sie hob drohend den rechten Arm. Ein langer weißer Stab kam zum Vor11
schein, an dessen Ende eine scharfe Metallspitze glühte. Armin wusste, dass das Schnabelgesicht nicht zögern würde zuzustoßen, falls er ihm nicht gehorchte. Sandra hockte noch immer im nassen Gras vor der Zypresse. Sie sah in die Richtung, in die ihr Freund verschwunden war. Die Erschöpfung machte ihr jetzt ziemlich zu schaffen. Sie zitterte vor Kälte. „Komm schon, Armin. Wo bleibst du denn?“, murmelte sie. Der Nebel hatte sich inzwischen ein wenig gelichtet, und Sandra überlegte, ob sie Armin folgen oder hier auf ihn warten sollte. Sie hatte sich soeben entschlossen, ihre Freunde zu suchen, als sie in einigen Metern Entfernung Schritte vernahm. Sie wirbelte beängstigt herum. „Armin? … Armin, bist du das?“ Da erblickte sie eine Gestalt und erschrak. Das Mädchen wusste, wer ihr da gegenüberstand. „Was … was machen Sie hier?“ Sie schluckte. „Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Willkommen auf der Insel der Toten!“ Sandras Beine begannen zu zittern. „Ich hoffe, du hast bei dir, was ich haben will. Dann habt ihr vielleicht eine kleine Chance zu überleben“, fauchte die Gestalt. „Sie wollen den Geheimschlüssel, hab ich Recht?“ „Sieh da, sieh da. Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst“, flüsterte die Gestalt und kam näher.
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Sandra wich bestürzt zurück. „Hätte ich doch Mario nicht zur Auktion gehen lassen!“, dachte sie verzweifelt. Doch wie hätten sie und ihre Freunde ahnen sollen, in welche Gefahr sie sich durch ihre Hilfsbereitschaft begaben und welch dunkles Geheimnis sich hinter dem ersteigerten Objekt verbarg?
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Verfolgt
Es war vor neun Tagen geschehen. Die SAM-Freunde waren soeben vom Markusplatz zurückgekehrt, wo sie den herrlichen Dogenpalast besichtigt und die zahlreichen Tauben gefüttert hatten. Vor dem Hotel wartete eine ältere Dame in einer schwarzen Gondel auf sie. „He, ihr da!“, rief sie. Ihre Augen waren hinter einer viel zu großen Sonnenbrille verborgen. Armin, Mario und Sandra reagierten nicht. Ohne Höflichkeit war bei ihnen nichts zu machen. „Hallo, ihr drei! Ja, euch meine ich. So wartet doch bitte einen Augenblick.“ Jetzt drehten sich die Detektive um und gingen der Dame, die gerade auf den Anlegesteg des Hotels kletterte, ein Stück entgegen. „Entschuldigt bitte, dass ich so unhöflich war, aber ich hab’s eilig. Ich muss dringend ins Büro zurück.“ Aus der Nähe konnte man sehen, dass die Dame schon einige Falten hatte und üppig geschminkt war. Ihre langen schwarzen Haare glänzten seidig und fielen glatt über ihre Schultern. Sie trug ein enges Designerkleid, das sicher nicht billig gewesen war. Die Dame öffnete ihre Lederhandtasche und begann darin herumzukramen. 15
Marios Blick fiel auf die Gondel, die seitlich am Bug die Aufschrift ASSUNTA TOFFOLUTTI – NOTARIAT trug. Sie holte einen Briefumschlag aus der Tasche. „Das hier sollte ich im Namen eines Mandanten Herrn Alberto Nardi übergeben, der in diesem Haus dort wohnt.“ Die Frau zeigte auf eine Villa am anderen Kanalufer. „Es sind Anweisungen für eine Auktion, die heute Abend im Teatro La Fenice stattfindet. Herr Nardi sollte dort das Objekt Nummer 13 ersteigern; das Geld dafür ist im Umschlag, es reicht sicher aus. Aber Herr Nardi ist nicht zu Hause, und bis zur Versteigerung sind es nur noch zwei Stunden.“ „Und was hat das mit uns zu tun?“, fragte Mario. „Na ja, ich dachte … weil ihr so etwas wie seine Nachbarn seid, könntet ihr das für ihn erledigen und ihm das Objekt dann bringen. So eine Auktion ist doch sicher spannend. Du siehst mir aufgeweckt genug aus.“ Die Dame blickte Mario erwartungsvoll an. „Du machst das doch mit links.“ Fast flehend sagte sie: „Es ist wirklich sehr wichtig für meinen Mandanten, dass Herr Nardi den Gegenstand bekommt.“ Armin, Mario und Sandra sahen einander an. Aber bevor sie sich entschieden hatten, hatte die Notarin den Umschlag bereits auf den Steg gelegt und war davongefahren. Armin hob den Umschlag auf und bestaunte die vielen Geldscheine darin. „Ich wünsche Ihnen eine schöne Auktion, während wir uns einen netten Abend in der Stadt machen, Herr Klein“, spöttelte er und drückte Mario mit einem Grinsen den Umschlag in die Hand. „Ich hoffe, Sie haben passende Kleidung dabei!“ 16
Mario schnitt eine Grimasse. Gegen 21 Uhr kehrte Mario von der Auktion zurück. Er trug eine Rolle, auf der die Zahl 13 aufgedruckt war. Der ersteigerte Gegenstand wog mindestens zwei bis drei Kilo. Was befand sich wohl in dieser gut verschlossenen Rolle? Allem Anschein nach war es etwas Wichtiges, da es mehrere Interessenten gegeben hatte. Mario blickte auf das heruntergekommene Haus auf der anderen Seite des Canale Grande. Lediglich das Erdgeschoss schien in einigermaßen gutem Zustand zu sein. Die Fassade hingegen erweckte den Eindruck, als hätte sie einen Bombenanschlag hinter sich. Die Fensterläden fehlten zum Großteil, die Spitzbögen und Verzierungen waren nicht mehr weiß, sondern präsentierten sich in schäbigem Grau, und die Fensterscheiben waren staubig. Mario ging mit der Rolle unter dem Arm den Bootssteg entlang auf den Haupteingang des Hotels Paradiso zu. Das Haus seiner Tante Patricia war eines der besten am Platz. Im Moment war es jedoch wegen der alljährlichen Renovierungsarbeiten vor der Saison geschlossen, und nur sie und der Küchenchef des Hotels, Paolo Ravelli, wohnten darin. Schon seit langem war es Marios Wunsch gewesen, seine Lieblingstante zu besuchen und sich die einzige schwimmende Stadt der Welt näher anzusehen. Der Junge blieb vor dem prunkvollen Hoteleingang stehen und zog seinen Schlüssel aus der Tasche. Es war kein gewöhnlicher, sondern ein Spezialschlüssel, mit dem die infrarotgesicherten Hoteleingänge geöffnet werden konnten, ohne dabei den Hoteldetektiv, der normalerweise auch hier wohnte, zu alarmieren. Zusätzlich wurde das gesamte Hotel von einer ausgeklügelten Kameraanlage überwacht. 17
„Das hat man davon, wenn man reiche Leute beherbergt: hohe Zusatzkosten“, dachte Mario und betrat die pompöse Halle. Er war allein. Tante Patricia war zu einem Geschäftsessen in die Stadt gefahren, und Paolo ließ sich sicher mit ein paar Freunden in Harry’s Bar volllaufen oder war ins Casino gegangen. Mario deponierte die Papprolle an der Rezeption. Am nächsten Tag wollte er seine Tante bitten, sie Herrn Nardi zu bringen, den sie als Nachbarn sicher persönlich kannte. Mario sah auf die Uhr. Es war halb zehn. Armin und Sandra würden bestimmt nicht mehr lange aus sein. Er wollte auf sie warten, um ihnen von der Auktion zu berichten. Müde schlenderte er die Treppe hinauf in sein Zimmer, nahm sich einen Stuhl und setzte sich auf den Balkon, um den Ausblick auf die nächtliche Stadt zu genießen. Plötzlich erlosch im ganzen Hotel das Licht, und der Junge war von Finsternis umgeben. Gleich darauf vernahm er ein Motorengeräusch vor dem Hotel, erkannte aber sofort, dass es sich um kein hoteleigenes Boot handelte. Mario wurde nervös. „Armin! Sandra! Seid ihr das?“, rief er vom Balkon. Er erhielt keine Antwort. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn; sein Atem ging schneller. Er hastete zum Aufzug. In der Dunkelheit konnte er fast nichts erkennen und stürzte beinahe. Warum war das Licht ausgegangen und warum meldete sich niemand? Waren es Einbrecher? Verfolgte ihn gar jemand? 18
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Ein schwerer Fehler
„Hallo? Tante Patricia?“ Grabesstille umgab ihn. Wenn ein Einbrecher im Haus war, würde die Finsternis Marios einzige Chance sein. Er kannte das Hotel mittlerweile wie seine Westentasche und somit sicherlich besser als der Fremde. Vielleicht würde sein Widersacher in der Dunkelheit sogar aufgeben und verschwinden. Um sich Gewissheit zu verschaffen, tastete er sich langsam den Gang entlang. Wie sollte er reagieren, falls er mit dem Gangster zusammenstieß? Aus Marios Angst wurde allmählich Panik. Er wollte gerade in sein Zimmer zurückschleichen und die Tür versperren, als er merkte, dass der Aufzug in seiner Etage gehalten hatte. Die Tür stand offen. Der Sicherheitsmechanismus für Brandfälle hatte also funktioniert und bot eine letzte Möglichkeit zum Einsteigen. Was für ein Segen, diese Technik, dachte Mario. Er flüchtete sich in die Kabine und kauerte sich in eine Ecke. Plötzlich krachte es im Erdgeschoss. Mario stockte der Atem. Angestrengt lugte er aus der Kabine. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe strich den Gang entlang. 19
„Jetzt denk nicht immer gleich das Schlimmste“, sprach er sich Mut zu. „Bestimmt sind nur Sandra und Armin nach Hause gekommen und suchen den Sicherungskasten, um den Strom wieder einzuschalten.“ Jemand betätigte die Klingel an der Rezeption. „Ist da jemand?“, fragte eine dumpfe Stimme. Mario verkroch sich noch tiefer in den Aufzug. Diese Stimme gehörte weder Paolo, dem Küchenchef, noch einem seiner Freunde oder Tante Patricia. Das Licht ging wieder an. „Wurde auch langsam Zeit, dass sich die Notstromversorgung aktiviert“, dachte er. Draußen vor dem Aufzug knirschte das Stiegengeländer. Marios Hemd war bereits völlig durchgeschwitzt. Wer war hinter ihm her? Und warum? Der Junge drückte schnell auf einen Knopf und die Tür schloss sich langsam. Im selben Moment bog der Eindringling um die Ecke. Mario riss schnell den Gürtel aus seiner Jeans und steckte ihn knapp über dem Boden zwischen die beiden Teile der Aufzugstür. Auf diese Weise konnte er durch den schmalen Spalt einen Groß20
teil des Ganges überblicken, während der Aufzug in diesem Stock stehen blieb. Neugierig lugte der Junge durch den Spalt. Wer war der Fremde? Langsam näherten sich Schritte. Mario suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Früher oder später würde der Eindringling ihn finden. Hoffentlich hatte er keine Waffe dabei! Der Fremde blieb vor Marios Zimmertür stehen und blickte kurz durch das Schlüsselloch. Vorsichtig drückte er gegen die Tür, doch sie war ins Schloss gefallen und ging nicht auf. „Ich weiß, dass du mich hören kannst!“, brummte der Eindringling. Mario hielt den Atem an und presste das Gesicht noch fester gegen den Spalt. Er versuchte sich das Aussehen des Mannes genau einzuprägen, um ihn wiedererkennen zu können – falls er das hier überleben sollte. „Antworte!“, rief der Fremde. Seine Stimme klang gereizt. „Du hast einen Gegenstand ersteigert, der mir gehört, hast du verstanden?“ Mario wagte sich nicht zu bewegen, um kein Geräusch zu verursachen. „Gib ihn mir, und dir wird nichts geschehen. Das ist deine letzte Chance!“ „Auf keinen Fall ist das Herr Nardi, der würde sich sein Eigentum auf andere Weise holen, so viel steht fest“, dachte sich Mario. Er stand leise auf, drückte mit dem Zeigefinger erneut die Schließtaste für die Aufzugstür und dann sofort die Taste für Erdgeschoss. 21
„Öffne endlich die Tür, sonst mache ich das auf meine Art!“, brüllte der Mann. Vorsichtig zog das SAM-Mitglied seinen Gürtel aus dem Türspalt. Die Tür schloss mit einem kurzen Klingelgeräusch und der Einbrecher fuhr herum. „Verdammt!“, schrie er und stürzte auf den Aufzug zu. Aber er kam zu spät. Mario war bereits in Richtung Erdgeschoss unterwegs. „Los, mach schon!“, fieberte der Junge. „Wie lange dauert denn das?“ Endlich blieb der Aufzug stehen und die Tür schob sich langsam auf. Mit einem mächtigen Satz sprang Mario schnell aus der Kabine und rannte direkt in eine Person. Der Eindringling war schneller gewesen als der Aufzug! „Kann mir vielleicht mal jemand erklären, was diese Show soll?“, fragte eine weibliche Stimme. Mario blickte auf und war zutiefst erleichtert. Vor ihm stand Tante Patricia, die zusammen mit Armin und Sandra auf den Aufzug gewartet hatte. Beinahe hätte er sie umgerannt. Die Hotelbesitzerin war Ende vierzig. Sie trug ein seidenes Kleid und war ziemlich groß. Sie liebte teuren Schmuck und gute Friseure. „Ich … ich wurde überfallen!“, stieß Mario aufgeregt hervor. Tante Patricia und seine Detektivfreunde sahen einander an. Sandra musste sich das Lachen verkneifen. „Dieses Hotel ist absolut einbruchsicher, Mario. Sämtliche Eingänge sind infrarotgesichert und videoüberwacht. Stellt euch bloß vor, man könnte so mir nichts, dir nichts hier einbrechen. Ich hätte im Nu keine Gäste mehr. Außerdem wäre die Alarmanlage sofort losgegangen.“ 22
„Ich hab’s dir schon oft gesagt, Krimis sind nichts für dich“, grinste Armin. „Red keinen Blödsinn! Ich fantasiere doch nicht“, ärgerte sich Mario. „Lasst uns ins Bett gehen, Kinder. Es war ein langer Tag für uns alle“, sagte Tante Patricia und beachtete die Aufgebrachtheit ihres Neffen nicht. „Hier hast du den Haustürschlüssel, Sandra. Sperr bitte ab.“ Sandra wollte gerade den Schlüssel in das Schloss stecken, als die Tür von außen geöffnet wurde. „Der Einbrecher!“, rief Mario. „Er kommt zurück!“ Langsam schwenkte die Tür auf und die kauzige Gestalt des Küchenchefs erschien. „Guten Abend, Paolo“, sagte Tante Patricia. „Gu … gu … gute Na … Nacht. Heute war … war mein frei … freier Tag … Tag“, säuselte der hagere Mann und torkelte zum Aufzug. Die Augen halb geschlossen und schwer atmend lehnte er an der Kabinenwand. Seiner Alkoholfahne nach zu schließen war es wieder einmal eine größere Zechtour gewesen. „Er ist der Eindringling! Er spielt uns nur etwas vor!“, sagte Mario. „Vergiss das endlich. Es kann kein Einbrecher hier sein“, erwiderte Armin. „Der Strom war für ein paar Minuten ausgefallen“, erinnerte sich Mario. „Natürlich, das ist es. Während des Stromausfalls konnte er ungehindert eindringen.“ „Dann hätten ihn auf jeden Fall die Videokameras erfasst, die filmen über Zusatzbatterie auch im Dunkeln. Wir verfügen über die modernste Sicherheitstechnik“, erklärte Tante Patricia ihrem Neffen. Aber Mario gab nicht auf. 23
„Warum sehen wir uns die Videos nicht einfach an, dann ist endlich Ruhe und wir können schlafen gehen“, schlug Sandra vor. „Das ist eine gute Idee“, meinte Tante Patricia. Sie bestiegen den Aufzug und fuhren in das Dachgeschoss, wo sich die Überwachungszentrale befand. 15 Minuten später hatten sie alle Bänder durchgesehen, aber niemand war darauf zu sehen. Mario war enttäuscht, doch er gab nicht auf. „Vielleicht ist er aus dem Fenster in meinem Zimmer gesprungen und davongeschwommen“, spekulierte Mario. „Jetzt ist es aber genug mit den Schauergeschichten“, sagte Tante Patricia energisch. Plötzlich hatte Mario einen Verdacht. Er lief die Treppen hinab zur Rezeption. Die Papprolle lag unversehrt an ihrem Platz. „Was ist das?“, fragte Armin, der mit den anderen nachgekommen war. „Das ist der Gegenstand, nach dem der Einbrecher gesucht hat.“ „Woher hast du denn diese merkwürdige Papprolle?“, wollte Tante Patricia wissen. „Ich habe sie heute Abend stellvertretend für Herrn Nardi auf einer Auktion ersteigert. Ich wollte dich bitten, sie ihm morgen zu bringen.“ „Herrn Nardi?“, murmelte die Hotelbesitzerin nachdenklich. Der Name schien sie seltsam nervös zu machen …
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Der verbrannte Pilot
„Auf ein Glas Wein zu gehen, das ist ein beinahe schon tägliches Ritual der Venezianer“, erklärte Tante Patricia. „Sie nennen es ›andar per ombre‹, und oft wird daraus ein Rundgang durch die ›bacari‹, die Weinschenken der Stadt.“ Die drei Freunde waren mit Marios Tante zu ›Da Alberto‹, einer der berühmtesten Imbiss-Stuben Venedigs, gefahren, um dort zu Abend zu essen. Genüsslich gaben sie sich der verführerischen Auswahl an Vorspeisen hin. „Die ›bacari‹ liegen oft in dunklen Seitengassen“, erklärte Tante Patricia. „Wenn man das echte Venedig entdecken will, muss man den Mut haben, sich abseits der üblichen Touristenrouten zu bewegen. Selbst auf die Gefahr hin, sich manchmal in den vielen kleinen Gassen zu verlaufen.“ Mario und Sandra bestellten sich jeder noch ein Glas Cola mit Eis, als Tante Patricia auf Herrn Nardi zu sprechen kam: „Herr Nardi war Passagierpilot bei der ›Alitalia‹, der italienischen Fluggesellschaft, und begeisterter Sportflieger. Er besaß sogar ein eigenes viersitziges Flugzeug. Vor ungefähr einem Jahr kaufte er das Haus am Canale Grande, aber weder er noch sein Sohn Claudio wurden seither oft hier gesehen. Claudio lebt hauptsächlich in den USA und Herr Nardi selbst war durch seinen Beruf die meiste Zeit weg.“ 25
Marios Tante nahm sich noch einen Happen vom Teller und nippte genüsslich an ihrem Wein, ehe sie weitererzählte. „Der Kerl war von der Fliegerei so besessen, dass er nicht genug davon bekommen konnte. An seinen wenigen freien Tagen saß er oft stundenlang auf seiner Dachterrasse und spielte mit einem Modellflugzeug.“ „Dem baufälligen Zustand nach zu urteilen, hat Herr Nardi seine freien Tage aber nicht sehr oft in Venedig zugebracht. Die Villa gleicht ja schon mehr einer Ruine als einem herrschaftlichen Haus“, meinte Armin, während er sich über die Matjesbrötchen hermachte. „Das Ganze ging auch nur fünf Monate“, erwiderte Tante Patricia. „Vor rund sieben Monaten erzählte mir Herr Nardi – er kam manchmal zum Essen in unser Hotel –, die Fluggesellschaft habe ihm grundlos gekündigt. Er machte damals einen gebrochenen Eindruck.“ „Und bis heute ist er nicht mehr in sein Haus zurückgekehrt?“, fragte Sandra. „So ist es. Er wollte eine längere Reise machen, um den Schock zu verkraften. Eine Woche später stand in der Zeitung, dass er mit seinem Sportflugzeug abgestürzt war. Die Maschine explodierte und brannte völlig aus. Und mit ihr der Pilot. Ein grausamer Tod.“ „Dann ist die Villa seit sieben Monaten unbewohnt!“, sagte Mario erstaunt. „Ja, bis heute versucht man vergeblich, Claudio zu erreichen. Er scheint umgezogen zu sein, aber niemand weiß, wohin.“ „Der arme Herr Nardi“, seufzte Sandra. „Was sollen wir jetzt mit der Rolle machen?“, fragte Mario, als die drei Freunde mit Tante Patricia in einer 26
Gondel über die beleuchtete Wasserstraße zum Hotel zurückglitten. „Vielleicht sollten wir sie der Notarin übergeben?“, schlug er vor. „Schließlich hat sie uns ja um diesen Gefallen gebeten.“ „Vorerst bewahren wir sie im Hotel auf“, entschied Tante Patricia. „Früher oder später wird sich der rechtmäßige Besitzer melden. Außerdem ist Claudio sicher bald ausfindig gemacht.“ Als sie am Bootssteg vor dem Hotel ankamen, war dort bereits eine fremde Gondel vertäut. „Schneller, schneller, machen Sie schon. Legen Sie endlich an!“, rief Tante Patricia dem Gondoliere zu. Sie schien plötzlich aufgeregt. Das Boot hatte noch nicht einmal richtig angelegt, da sprang sie schon auf den Steg und eilte zum Hoteleingang, wo Paolo ihr die Tür öffnete. „Herr Raffaele ist da“, teilte er mit. „Führen Sie ihn bitte in mein Büro“, erwiderte Tante Patricia trocken. „Ihr drei geht in eure Zimmer. Der Tag war ohnehin sehr anstrengend für euch!“, sagte sie zu den drei Freunden und verschwand im Hotel. Paolo bezahlte den Gondoliere und begleitete die drei Freunde hinein. Marios Blick fiel auf die Papprolle, die noch immer an ihrem Platz an der Rezeption lag. Er nahm sie auf sein Zimmer. Nachdem er das Licht angedreht hatte, stellte er die Rolle auf den Tisch und betrachtete sie eingehend. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern. Seine Neugier ließ ihm keine Ruhe mehr. Was mochte die Rolle enthalten? Vielleicht eine alte Schatzkarte? Aber dafür war sie viel zu schwer, überlegte 27
Mario. Möglicherweise war etwas Gefährliches darin und der Einbrecher würde in dieser Nacht zurückkehren! Dieser Gedanke hielt ihn davon ab, die Rolle so einfach in seinem Zimmer aufzubewahren. „Wir werden die Rolle gemeinsam öffnen“, dachte er, schnappte sie und verließ das Zimmer. Aber der Junge kam nicht bis zu seinen Freunden. Eine raue Männerstimme drang vom Hoteleingang herauf: „… konnten ihn gestern ausfindig machen. Wann sollen wir Kontakt aufnehmen?“ Mario blieb stehen und lauschte. Als er die Antwort hörte, erschrak er. Sie kam von Tante Patricia: „Es ist völlig egal, wie. Ich muss sie unauffällig haben. Mit welchen Mitteln Sie das erreichen, überlasse ich Ihnen. Mein Name darf aber auf keinen Fall genannt werden!“ Mario stockte der Atem. „Wie hoch darf ich gehen?“ „Geld spielt keine Rolle. Kommen Sie in nächster Zeit nicht hierher. Ich habe Besuch von drei kleinen Möchtegern-Detektiven. Die schnüffeln rum, wo es nur geht, und die Sache muss geheim bleiben.“ „Keine Sorge. Der Auftrag wird wie immer zu Ihrer vollen Zufriedenheit erledigt werden“, antwortete der Mann und verließ das Hotel. Mario hatte eiskalte Hände bekommen. „Wir sind in Gefahr“, murmelte er. „Ich muss sofort Armin und Sandra warnen. Wir müssen hier weg.“ Obwohl er Angst hatte, dass sie ihm wieder nicht glauben würden, weckte er seine Freunde. Der Ehrenkodex des SAM-Geheimbundes verlangte, dass sie einander wichtige Entdeckungen sofort mitteilten. 28
„Wir schlafen erst einmal über die Sache und beraten morgen, was wir machen sollen“, schlug Sandra vor. „Morgen ist es vielleicht schon zu spät“, sagte Mario. „Nur keine Panik, nicht den Kopf verlieren. Das können wir jetzt am allerwenigsten gebrauchen, okay?“, beruhigte ihn Armin. „Uns wird sicher was einfallen. Bis dahin tun wir, als wüssten wir von nichts, klar?“ Seine Freunde waren einverstanden. Mario verließ das Zimmer und wollte ins Bett gehen, als er die Papprolle unter seinem Arm bemerkte. In der Aufregung hatte er sie ganz vergessen. Nachdenklich starrte er darauf und drehte sie so lange in seinen Händen, bis die Auktionsnummer ›13‹ erschien. Das SAM-Mitglied war zwar nicht abergläubisch, beschloss aber, dieses mysteriöse Ding zu seiner eigenen Sicherheit im Hotel verschwinden zu lassen. Er spürte förmlich, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Die raue Stimme vorhin, die Eile seiner Tante, die seltsame Notarin und der Einbrecher. Das konnten keine Zufälle sein. Der sicherste Ort war zweifellos der Videoüberwachungsraum. Mario schlich vorsichtig die Treppe ins Dachgeschoss empor. Die Tür zum Videoraum war nicht verschlossen. Er lugte durch das Schlüsselloch. Die Luft war rein, seine Tante noch unten im Hotel. Mario schloss leise die Tür hinter sich und war gerade dabei, sich nach einem geeigneten Versteck umzusehen, als er plötzlich dumpfe Schritte hörte.
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In der Falle
Mario schlotterten die Knie. Gefahr drohte. Tante Patricia war auf dem Weg herauf, um die Videobänder zu überprüfen. Sie würde ihn entdecken und Verdacht schöpfen. Aufgeregt suchte der SAM-Detektiv die technische Zentrale des Hotels nach einem Versteck ab. Die Schritte kamen näher und näher. „Der Schrank mit den Magnetbandspulen!“, schoss es ihm durch den Kopf. Das war seine einzige Chance. Er öffnete die Schranktür und zwängte sich unter die großen Aufzeichnungsbänder. Durch die schmalen Lüftungsschlitze konnte der Junge nur einen sehr kleinen Teil des Raumes sehen. Tante Patricia trat ein, ließ sich wie gewohnt im Ledersessel hinter dem Schaltpult nieder und startete das Kontrollprogramm. Sie vergewisserte sich, dass für die restliche Nacht genügend Bänder vorhanden waren. „So“, prophezeite sie. „In Zukunft wird diesen Raum außer mir niemand mehr betreten.“ Sie knallte dabei einen schweren Schlüsselbund auf die Ablage. Bei der Vorstellung, hier eingesperrt zu sein, wurde Mario unruhig. „Ich muss hier irgendwie raus, sonst sitze ich in der Falle!“, dachte er. Viel Zeit blieb ihm nicht. Das Kontrollprogramm war fast zu Ende. Vorsichtig schob er 30
die Papprolle hinter die Magnetbandrollen über seinem Kopf und öffnete leise die Schranktür. Tante Patricia schien ihn nicht zu bemerken, so vertieft war sie in ihre Arbeit. Mario schlich auf leisen Sohlen zur Tür hinüber und zog sie einen Spaltbreit auf. Nur noch zwei, drei Schritte, dann hatte er es geschafft. „Mario! Was um alles in der Welt tust du hier?“ Der Junge erstarrte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. „Ich … ich … äh … wollte mir das Videoband von neulich noch einmal ansehen“, stotterte er. „Ich dachte, wir haben vielleicht einen Hinweis auf den Einbrecher übersehen.“ „Jetzt hör mir bloß mit dieser verrückten Geschichte auf!“, schimpfte Tante Patricia. „Da ist nichts und da war auch nichts!“ Das Kontrollprogramm signalisierte mit einem kurzen Pfeifton, dass die Datenüberprüfung abgeschlossen war. Marios Tante nahm den Schlüsselbund und sperrte den Überwachungsraum sorgfältig ab. „Geh jetzt schlafen“, sagte sie und ließ Mario dabei nicht aus den Augen. „Ihr habt einen langen, anstrengenden Tag vor euch.“ Am nächsten Morgen frühstückten die SAM-Freunde auf der Dachterrasse von Tante Patricias Hotelwohnung. Der helle Steinboden zeigte ein komplexes Muster aus Kreisen und Quadraten. Drei gotische Fenster, durch schlanke Marmorsäulen unterteilt, trennten die Terrasse vom dahinter liegenden 31
Wohnzimmer. Der Ausblick war märchenhaft. Die drei Freunde blickten über ein Meer ockerfarbener Dächer hinweg auf die Kuppel einer alten Kirche. Zwischen den Häusern glitzerte das Kanalwasser, und am Horizont leuchtete das Lagunenmeer in der goldenen Morgensonne. Paolo servierte Kaffee, Brötchen und Orangensaft. „Stärkt euch nur ordentlich“, sagte Tante Patricia. „Das Essen in der Stadt ist ziemlich teuer.“ Wenn es ums Essen ging, ließ sich das SAM-Team nicht zweimal bitten. Sie setzten sich an den Tisch und langten kräftig zu. „Ich muss über das Wochenende leider in die USA reisen“, sagte Tante Patricia nach einer Weile. „Ich hoffe, ihr seid mir deswegen nicht böse.“ „Ausgerechnet jetzt, wenn wir hier bei dir sind!“, sagte Mario etwas enttäuscht. Sandra und Armin blickten ihn verblüfft an. „Es tut mir wirklich Leid, das könnt ihr mir glauben. Ich würde mich viel lieber um euch kümmern und euch Venedig zeigen. Aber ich habe Verpflichtungen. Ich muss in Washington mein neues Hotel Paradiso eröffnen. Da führt nun mal kein Weg daran vorbei“, seufzte die Hotelmanagerin. „Schade“, erwiderte Mario, obwohl ihm das nach den Vorkommnissen der letzten Nacht nicht ungelegen kam. „Ich habe Paolo gebeten, sich um euch zu kümmern. Er wird für euch da sein und dafür sorgen, dass es euch an nichts fehlt. Fühlt euch wie zu Hause.“ „Kein Problem“, erwiderte Sandra. Tante Patricia übergab den SAM-Mitgliedern ein kleines Kärtchen, auf dem eine Nummer stand. „Das ist meine 32
Handynummer. Wenn etwas Wichtiges ist, könnt ihr mich rund um die Uhr erreichen.“ Kurz darauf gingen die drei Freunde in ihre Zimmer, um sich für die geplante Stadttour fertig zu machen. Armin stand am Fenster und zog sich einen Pullover über, als seine Aufmerksamkeit auf die Villa Nardi gelenkt wurde. „Das kann nicht sein!“, stutzte er. Tante Patricia hatte ihnen doch erzählt, dass Herrn Nardis Villa seit seinem Absturz von niemanden mehr betreten werden konnte, weil der einzige Schlüssel nicht gefunden worden war. Die Behörden hatten das Schloss ausgetauscht, um ein unbefugtes Betreten bis zum Auftauchen des rechtmäßigen Erben zu verhindern. Armin starrte auf das große Fenster im obersten Stock. „Ein Schatten!“, stammelte er. Jemand befand sich in der Villa. Das einfallende Sonnenlicht warf jede Bewegung als Schatten an die Zimmerwand.
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Das gefährliche Vermächtnis
Es kam, wie Armin erwartet hatte: Weder Tante Patricia noch seine Detektivkollegen glaubten ihm. Nachdem er ihnen vom Schattenmann erzählt hatte, meinte Tante Patricia nur: „Eine ausgiebige Stadttour wird dich auf andere Gedanken bringen. Da kannst du dich richtig entspannen. Ich glaube, das tut dir im Augenblick ganz gut!“ Armin kochte vor Wut. Schließlich war er kein Idiot, sondern ein hellwacher Detektiv. Draußen vor dem Hotel wartete bereits Paolo im hoteleigenen Motorboot. Er trug eine weiße Kapitänsmütze mit dem Namen des Hotels darauf. Die drei SAM-Mitglieder waren sich einig, dass ihm seine Kochhaube besser stand. Am Bug des Bootes prangte ebenfalls die Aufschrift HOTEL PARADISO. Unter Paradies stelle ich mir etwas anderes vor, dachte Armin in Erinnerung an die Vorfälle der letzten Zeit. Er bestieg mit seinen Freunden das Boot und sie nahmen auf weichen, samtüberzogenen Sitzen Platz. „Nächsten Mittwoch gegen vier Uhr bin ich wieder zurück. Ich hoffe, ihr habt bis dahin ein paar aufregende Tage in der Stadt. Und gebt mir gut auf das Hotel Acht!“, rief ihnen Tante Patricia nach, als sie ablegten. 35
Der Ausflug verlief ohne Zwischenfälle und der Tag war im Nu vorbei. Nachdem sich die drei Detektive vom fast 100 Meter hohen Campanile, einem Glockenturm auf der Piazza San Marco, aus einen Überblick über das Gewirr der Gassen und Kanäle verschafft hatten, wanderten sie durch den Dogenpalast und besichtigten anschließend von außen die ›Scuola Grande di San Rocco‹, in der sich der berühmte Maler Tintoretto ein Denkmal gesetzt hatte. Er hatte im Auftrag einer Bruderschaft prachtvolle Bibelmotive auf Leinwand gemalt, die an Wänden und Decken zu bestaunen sind. Manche Bilder sind so beeindruckend, dass die Besucher jene an der Decke mit Hilfe eines Spiegels betrachten, um sich den Hals nicht zu verrenken. Froh darüber, einige Tage freie Bahn zu haben, kehrten die drei Freunde zum Hotel zurück. „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und feststellen, was sich in der Papprolle befindet“, schlug Armin vor. „Armin hat Recht“, meinte auch Sandra. „Paolo ist schon ins Bett gegangen.“ „Gut, wenn ihr meint“, sagte Mario. „Ich muss die Rolle erst aus dem Versteck holen. Wir treffen uns gleich in meinem Zimmer.“ Minuten später stellte Mario den Pappköcher auf den Tisch und die SAM-Mitglieder musterten ihn eingehend. „Wir müssen die Zahlenkombination des Schlosses knacken“, meinte Mario. „Ich will endlich wissen, was drin ist!“ „Vielleicht finden wir einen Hinweis auf jemanden, dem wir sie übergeben können“, meinte Sandra. Armin wischte sich die vor Aufregung schweißnassen Hände ab, dann drehte er behutsam am Zahlenschloss. Als 36
er die richtige Ziffernfolge gefunden hatte, nahm er den Deckel ab. Mario drehte die Papprolle vorsichtig um und ein schwerer, in Plastikfolie gewickelter Gegenstand rutschte heraus. „Da ist noch was drinnen“, sagte Sandra und holte ein Stück Pergament heraus, auf dem verschiedene Zeichen und Linien zu sehen waren. „Eine Nachricht!“, rief Mario. Die drei Freunde drehten das Pergament um. Auf der Rückseite befand sich tatsächlich eine handschriftliche Botschaft. Armin, der Geheimcodespezialist von SAM, nahm das Pergamentstück an sich und versuchte den offenbar hastig hingeworfenen Text zu entziffern: Lieber Renato! Was Tintorettos Vermächtnis betrifft, sind mir die weißen Schnabelgesichter leider auf die Schliche gekommen. Ich bin seit unserem letzten Treffen schwer erkrankt und habe nicht mehr die Kraft, unser Geheimnis über die Ruhestätte auf der Toteninsel zu hüten. Bald wirst du der Einzige sein, der die Wahrheit über den Gedenkstein von J. R. kennt. Deshalb habe ich meine Notarin gebeten, dir mitzuteilen, wie du, ohne Verdacht zu erregen, an meinen Teil des Vermächtnisses gelangst. Du wirst nun alleine die Ruhe der Toteninsel schützen müssen. Sei immer auf der Hut! In Erinnerung an unsere gemeinsamen Erlebnisse, dein ewiger Flugkamerad und Copilot Lorenzo Salviati. 37
„Was sind das für Zeichen auf der Vorderseite?“, wollte Mario wissen. „Keine Ahnung. Vielleicht eine Karte“, meinte Sandra und hielt das Pergament gegen das Licht. „Die Linien und Punkte ergeben keinen erkennbaren Sinn“, erwiderte Armin. „Es ist wohl eine Art Code.“ Der Junge wickelte den Gegenstand vorsichtig aus der Plastikfolie. „Wow!“, entfuhr es Sandra, als es im ganzen Zimmer glitzerte und funkelte. Ihr Detektivfreund hielt die etwa 30 Zentimeter lange und fünf Zentimeter breite Hälfte eines Metallzylinders ins Licht. „Das ist pures Silber!“, schwärmte Armin. Mario strich sanft über die Oberfläche. „Seht euch bloß diese Noppen an. Sie sind unterschiedlich lang und nach keinem erkennbaren System angeordnet.“ Die drei rückten näher ans Licht und nahmen die silbrig polierte Zylinderhälfte genauer unter die Lupe. „Die Noppen sind aus Glas“, meinte Mario nach einer Weile. Armin kramte einen kleinen Spiegel hervor und kratzte damit an einer der Noppen. „Das ist kein Glas! Das sind Diamanten!“, rief er. „Dann ist dieses Ding ein Vermögen wert. Deshalb war der Einbrecher dahinter her!“, sagte Mario. „Wem es auch immer gehört, es hat offenbar mit einem wichtigen Geheimnis zu tun“, sinnierte Armin. „In der Botschaft steht etwas von einer Toteninsel“, sagte Sandra. Armin las den Text auf dem Pergamentstück noch ein38
mal vor und sagte schließlich: „Und wie es aussieht, hat Mario Lorenzo Salviatis Teil des Schlüssels zu diesem Geheimnis ersteigert.“ Die drei Geheimbundmitglieder dachten angestrengt nach. Nach einer Weile sagte Mario entschlossen: „Freunde, ich glaube, es ist Zeit, dass wir der Villa von Herrn Nardi einen kleinen Besuch abstatten.“ „Das ist doch viel zu gefährlich!“, meinte Sandra. „Es ist ausdrücklich verboten, die Villa zu betreten.“ „Eben deshalb. Ich bin mir fast sicher, dass wir dort eine Spur finden“, sagte Mario und holte seine Detektivausrüstung aus dem Koffer. „Sag bloß, du willst … jetzt gleich? Mitten in der Nacht?“, protestierte Sandra. „Ja, jetzt gleich. Mitten in der Nacht!“
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Das weiße Schnabelgesicht
Im Hotel herrschte völlige Ruhe. Auf den Gängen brannte nur die schummrige Nachtbeleuchtung; auch die roten Lichtpunkte der Videokameras waren zu sehen. „Leise, sonst wacht Paolo auf“, flüsterte Mario, als er zur Überwachungskamera hinüberspähte. „Noch fünf Sekunden, dann schwenkt sie kurz in die andere Richtung. Macht euch bereit, viel Zeit bleibt uns nicht“, erklärte Armin und sah dabei unentwegt auf seine Armbanduhr. „Fünf … vier … drei … zwei … los!“, zischte er und die SAM-Detektive huschten im toten Winkel der Kamera zum Überwachungsraum des Hotels hinauf. „Wie lange werden wir brauchen?“, fragte Mario und machte sich sofort an der Tastatur zu schaffen. „30 Sekunden müssten für drei Personen reichen“, antwortete Armin. „Stell sie lieber auf 45 ein“, sagte Sandra. Gekonnt änderte der Computerprofi die Frequenz, mit der die Videokameras Aufnahmen machten. „Okay, Leute!“, sagte Mario. „Wir haben genau 45 Sekunden Zeit, dann geben wir eine wunderbare Großaufnahme ab.“ 40
Der frische Lagunenwind wehte ihnen ins Gesicht, als sie auf die Dachterrasse der Hotelwohnung traten. „Schneller!“, mahnte Mario seine Freunde. „Noch 28 Sekunden!“ Die drei zogen rasch die Ledergürtel aus ihren Jeans und schlangen sie um das Telefonkabel, das vom Hotel über den Canale Grande zur Villa Nardi gespannt war. „Los!“, rief Armin und die drei Freunde rutschten an ihren Gürteln einer nach dem anderen über die Wasserstraße. Wenige Sekunden später landeten sie unversehrt im Garten des herrschaftlichen Hauses. Die Villa von Renato Nardi erhob sich gespenstisch vor den SAM-Freunden. Erst aus der Nähe erkannte man wirklich, in welch heruntergekommenem Zustand sie sich befand. Die Fassade bröckelte an vielen Stellen ab. Die Anlegestelle vor dem Haupteingang war zur Gänze von Algen und Moos überwachsen, und die einst weißen Steinlöwen waren inzwischen grau und fast nicht mehr als Löwen zu erkennen. Sandra, Armin und Mario begannen sich durch das Gartendickicht einen Weg zum Haupteingang zu bahnen, als eine sensorgesteuerte Eingangsbeleuchtung anging und ihr Licht in die Nacht warf. „Verdammt!“, schimpfte Mario verärgert. „Was machen wir jetzt? Wir können nicht weiter“, sagte Sandra besorgt. Armin griff nach einem Stein und schleuderte ihn kurzerhand auf die Lampe. Mit einem Klirren erlosch sie. „Spinnst du? Wenn das jemand beobachtet hat!“, zischte Sandra. „Beim Zustand der Villa kommt es darauf auch nicht 41
mehr an“, rechtfertigte sich Armin. „Das fällt nicht einmal auf. Kommt weiter!“ Vorsichtig folgten Sandra und Mario Armin zum Villeneingang. Mario leuchtete auf das Vorhängeschloss und besah es genau. „Das gibt es doch nicht!“, flüsterte er nachdenklich. „Was?“, fragte Sandra. „Das Schloss! Es ist blitzblank. Nicht einmal ein kleiner Kratzer. Aufgebrochen wurde dieses Schloss jedenfalls nicht.“ „Damit ist wohl bewiesen, dass es deinen Schattenmann gar nicht geben kann“, sagte Armin triumphierend. „Es gibt viele Möglichkeiten, in ein Haus zu gelangen!“, fauchte Mario. „Hier nicht“, erwiderte Sandra. „Die Villa hat ihre untersten Fenster erst in einer Höhe von über fünf Metern. So ist sie gegen das Hochwasser geschützt.“ „Der Schattenmann war keine Einbildung. Glaubt ihr, ich bin bescheuert?“ „Schschscht! Seid still!“, zischte Armin plötzlich. „Was ist los?“, fragte Sandra. „Seid doch still!“, mahnte Armin sie erneut und bedeutete ihnen, sich zu verstecken. „Hört ihr das nicht?“ Die drei verschanzten sich hinter einem Strauch und lauschten reglos. „Ruderschläge!“ Neugierig teilte Mario die Zweige vor seinem Gesicht und die Freunde spähten zum Steg, wo eine weiße Gondel anlegte. Eine unheimliche Gestalt sprang auf die Holzplanken und wäre auf dem nassen Moos beinahe ausgerutscht. Dabei entglitt ihr die Taschenlampe, fiel auf den Boden und ließ die große Gestalt für ein paar Sekunden im hellen Lichtkegel erscheinen. 42
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Der breitschultrige Mann war von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Er trug sogar weiße Handschuhe und eine weiße Kapuze. Sein Gesicht war ebenfalls kreideweiß. Dann fuhr es den drei Detektive wie ein Blitz in die Glieder: Dort, wo sich Mund und Nase hätten befinden sollen, saß ein spitzer Krummschnabel! Das weiße Schnabelgesicht schritt langsam auf den Eingang der Villa zu. Von ihrem Versteck aus konnten die drei Freunde sehen, wie die Gestalt in ihren knöchellangen Mantel griff und einen dünnen weißen Stab, etwa einen Meter lang, hervorholte, sich kurz bekreuzigte und ihn wie einen Speer gegen die Tür schleuderte, wo er stecken blieb. Dann fluchte das Schnabelgesicht, drehte sich um und bestieg wieder die weiße Gondel. Die SAM-Mitglieder atmeten erleichtert durch. „Das Schnabelgesicht ist unsere einzige Spur“, flüsterte Sandra. „Irgend jemand muss es beschatten!“ „Das übernehme ich“, sagte Mario mutig. „Vor der Villa liegt eine alte schwarze Gondel, damit bin ich in der Nacht gut getarnt.“ Mit diesen Worten verschwand der Junge in der Dunkelheit. Armin und Sandra krochen aus dem Gebüsch und eilten zur Eingangstür, in der der seltsame weiße Stab steckte.
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Wahnsinn
„Nicht anfassen!“, warnte Sandra Armin. „Wer weiß, was es mit diesem Ding auf sich hat!“ Die beiden Freunde besahen sich den Holzstab genauer. „Das ist doch Wahnsinn!“ Sandra jagte es einen Schauer über den Rücken, als sie ein Totenkopfsymbol erblickte. „Wir sollten hier schleunigst verschwinden“, murmelte Armin. Die beiden hatten sich gerade umgewandt, um zum Hotel zurückzukehren, als es hinter ihnen krachte – eine Explosion. Sie blieben wie angewurzelt stehen und blickten dann zur Villa zurück. Der weiße Stab, der in der Tür gesteckt hatte, lag in 1000 Splittern vor der Villa verstreut. In sicherer Entfernung folgte Mario der weißen Gondel, die sich flink durch die engen Kanäle bewegte. „Das Schnabelgesicht kennt sich hier offenbar bestens aus“, dachte Mario und bemühte sich, die weiße Gondel nicht aus den Augen zu verlieren. Sie bog in einen weiteren Seitenkanal ein und steuerte auf die Scuola Grande di San Rocco zu, wo sie bereits von einem völlig weißen Motorboot erwartet wurde. Das Schnabelgesicht wechselte in dieses Boot über, 45
in dem sich offenbar einige Komplizen befanden; die Gondel wurde in Schlepptau genommen. Als Mario diese anderen düsteren Gestalten im Licht der Scheinwerfer erblickte, die die Scuola nachts beleuchteten, traute er sich keinen Zentimeter mehr weiter … Später im Hotel beschlossen die SAM-Mitglieder wegen der unheimlichen Vorfälle, nicht ins Bett zu gehen, sondern sich in Marios Zimmer zu versammeln. Sie wollten ihre Gedanken ordnen und das Geschehene analysieren. „Das Schnabelgesicht fuhr zu einem Motorboot, das vor der Scuola Grande di San Rocco wartete“, berichtete Mario, immer noch aufgeregt. „Aber das Schaurige an der Sache waren seine Komplizen!“ Mario schluckte. „Weiße Schnabelgesichter mit tief liegenden Augen. Die Pupillen glühten rot.“ Als Mario sich etwas beruhigt hatte, schilderten Sandra und Armin, was an der Anlegestelle geschehen war, nachdem ihr Freund sie verlassen hatte. „Gott sei Dank explodierte der Stab erst, als ihr schon ein Stück weg wart, sonst hätte es euch vielleicht erwischt“, malte sich Mario aus. „Wer auch immer dahinter steckt, Zufall ist das alles keiner!“, war Sandra überzeugt. „Das glaube ich auch“, pflichtete Mario ihr bei. „Jemand hat Lunte gerochen und weiß, dass Herr Nardi Lorenzo Salviatis Papprolle ersteigern sollte.“ „Und dass wir es für ihn getan haben“, ergänzte Armin und blickte auf den Inhalt der Papprolle, der noch immer auf dem Tisch lag. 46
„Wir sollten den Rest der Nacht lieber zusammen verbringen“, meinte Mario. „Ich glaube, wir sind hier einer mysteriösen Sache auf der Spur.“ „Und wir sind in großer Gefahr“, mahnte Sandra ernst. Sie ahnte nicht, wie Recht sie hatte.
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Die Entdeckung
Hinter einem der oberen Fenster in der Villa Nardi ging ein schwaches Licht an. Der Schattenmann starrte zum Hotel Paradiso hinüber. Er hatte die Schnüffelei der SAMFreunde und das Auftauchen der Gestalt mit dem weißen Schnabelgesicht beobachtet. „Allmählich wird mir die Sache zu heiß“, murmelte er. „Es sind ein paar Figuren zu viel im Spiel.“ Er drehte das matte Licht ab, und sein Schatten wurde Opfer der Dunkelheit. Kurz darauf seilte sich eine sportliche Gestalt aus einem Fenster der Villa ab. In dieser Nacht konnte Mario nicht einschlafen. Die Ereignisse der vergangenen Stunden ließen ihn einfach nicht los. Er sah neidvoll auf seine beiden Freunde, die neben ihm tief und fest schlummerten. Wie gern würde ich jetzt mit denen tauschen, dachte er und versuchte die Schreckensbilder zu verdrängen. Nach einer halben Stunde gab er es auf und beschloss, einen Videofilm anzusehen. Leise schlich er zum Videorekorder, legte den James-Bond-Film „Diamantenfieber“ ein und hockte sich vor den Fernseher. In der Dunkelheit suchte er auf der Fernsteuerung den Knopf für die Lautstärkenregelung. 48
„Mist, das war der falsche Knopf!“, fluchte er, als auf dem Bildschirm ein Standbild erschien. Mario wollte das Band wieder zum Laufen bringen und suchte im Licht des Bildschirms nach dem richtigen Knopf, als er plötzlich stutzte. Das gesamte Hotel wurde mit Kameras überwacht – 24 Stunden am Tag. Auf dem Video von der Nacht, in der der Einbrecher in das Hotel eingedrungen war, war aber niemand zu sehen gewesen. Der Einbrecher nicht – und Mario auch nicht, als er zum Fahrstuhl schlich! Marios Gedanken überschlugen sich. Waren die Kameras zu diesem Zeitpunkt nicht in Betrieb gewesen? Aber das konnte nicht sein, sonst gäbe es keine Bänder von diesem Tag. Oder aber … oder aber die drei Freunde hatten gar keine bewegten Bilder zu sehen bekommen, als sie mit Tante Patricia die Aufnahmen überprüften! „Ja! Das muss es sein“, freute sich Mario über seine Entdeckung. „Wir haben ein gefälschtes Standbild vom Etagengang gesehen, und ich habe es nicht gemerkt, weil ich so aufgeregt war. Vielleicht hat jemand die Videokassetten manipuliert und das Datum verändert?“ Noch während er diese Überlegungen anstellte, dämmerte ihm die nächste Erkenntnis. Egal, wer das Video getürkt hatte, er musste sich mit der Steuerzentrale auskennen, mit ihr vertraut sein. Und dafür kamen nur zwei Menschen in Frage: Paolo, der Küchenchef, und … Tante Patricia! Mario schauderte bei diesem Gedanken. Steckten sie mit dem Gauner unter einer Decke? Mario rannte auf den Gang hinaus und sah auf die Videokamera. 49
Sie stand still, das hieß, sie war nicht in Betrieb! Der Einbrecher befand sich wieder im Haus. „Alarm! Der Einbrecher!“, brüllte er, so laut er konnte, und riss seinen Freunden gnadenlos die Bettdecken vom Leib. In knappen Worten erklärte er, was vor sich ging. Gleichzeitig bemühte er sich, seine Kollegen wach zu bekommen. „Das ist unsere Chance!“, rief er aufgeregt. „Was … was hast du vor?“, gähnte Armin. „Wir schnappen ihn uns, was denn sonst?“, keuchte Mario und warf ihnen ihre Pullover zu. Dieser Satz wirkte bei den beiden. Schlagartig waren sie munter und voll bei der Sache. „Du hast sie wohl nicht alle, was?“, erwiderte Sandra. „Kommt nicht in die Tüte!“ „Wer zu feige ist, kann sich ja im Kasten verkriechen“, sagte Mario und machte sich an der leeren Papprolle zu schaffen. Er würde sie dem Einbrecher als Köder vorwerfen.
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Ein flüchtiger Toter
„Was hast du vor?“, fragte Sandra leicht vorwurfsvoll. Sie hasste nichts mehr, als nicht über die Pläne ihrer Detektivfreunde informiert zu sein. Mario warf Armin die Papprolle zu. „Ich laufe schnell in die Hotelküche und hole Messer und Gabeln!“, rief er. „Was … Warum …?“, setzte Armin zu einer Frage an, aber Mario war schneller. „Er darf nicht merken, dass die Rolle leer ist. Fangt schon mal an, sie mit irgendwelchem Zeug zu füllen!“ Wenige Minuten später kehrte der Junge schwer mit Besteck beladen zurück. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Aus dem Zimmer drang Lärm, und durch den Spalt unter der Tür kroch stickiger Rauch. „Armin! Sandra!“, schrie Mario und ließ Messer und Gabeln auf den Boden fallen. Er hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und stürzte ins Zimmer. Dem SAMDetektiv bot sich ein Bild des Schreckens: Armin und Sandra lagen reglos auf dem Boden. Sie durften nicht tot sein! Mario hastete zu ihnen und rüttelte ihre leblosen Körper. Nichts! Seine Freunde rührten sich nicht! Dann fiel Marios Blick auf einen faustgroßen Metallgegenstand. 52
Betäubungsgas! Der Einbrecher war also im Zimmer! Im selben Moment fiel Mario eine kräftige Gestalt mit schwarzer Gummihaut an und schleuderte ihn zu Boden. Hastig durchsuchte das froschartige Wesen das Zimmer, als Mario sich umdrehte und seine giftgrünen Flossenfüße, zwei riesige Spiegelaugen und die runde, dosenartige Nase sah. Die düstere Gestalt warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Armin und Sandra rührten sich noch immer nicht. Das mechanische Atmen der Froschgestalt drang bedrohlich durch das verrauchte Zimmer. Mario merkte, wie er immer schwindliger wurde. Das Betäubungsgas verflüchtigte sich zwar allmählich, er hatte aber schon eine zu hohe Dosis abbekommen. Er musste aus dem Zimmer, um Sauerstoff zu tanken! Mit Riesenschritten stürzte er auf den Gang hinaus und schnappte gierig nach Luft. Da drang die geschwächte Stimme Sandras an sein Ohr. „Was … was ist geschehen?“ Das Mädchen machte einen ziemlich verstörten Eindruck und schien nichts mitbekommen zu haben. „Habt ihr ihn erwischt? Ist er noch im Zimmer?“, fragte Mario aufgeregt. „Erwischt? Wen? Wovon redest du überhaupt?“, murmelte Sandra. „Den Froschmenschen mit der Gummihaut und den giftgrünen Füßen!“ Ein Geräusch drang aus dem Zimmer. „Schnell! Er entwischt uns!“, rief Mario und stürzte ins Zimmer zurück. „Venedig ist zu viel für ihn!“, seufzte Sandra und folgte ihrem Freund. Doch noch ehe sie das Zimmer betreten hatte, sah sie, 53
wie eine Gestalt mit der Papprolle im Rucksack auf das Fensterbrett kletterte und zum Sprung ansetzte. Mario fantasierte also doch nicht! Die Gestalt trug einen hautengen schwarzen Gummianzug und eine verspiegelte Tauchmaske. Die Füße steckten in giftgrünen Schwimmflossen. Mit einem riesigen Satz sprang der Froschmann in die Fluten des Canale Grande. Er war entwischt. „Armin!“, rief Mario und bemühte sich um seinen Detektivkollegen, der auf dem Bauch lag. „Ist er weg?“, fragte der Junge seelenruhig, als er sich vorsichtig auf den Rücken drehte. „Ja“, antwortete Sandra. „Bist du okay?“, wollte Mario wissen. „Alles klar. Null Problemo!“, erwiderte Armin gut gelaunt. „Den haben wir aber ordentlich reingelegt“, freute er sich und zog das Pergament und den Silberteil aus seiner linken Hosenröhre. „Gott sei Dank!“ Mario war erleichtert. „Ich dachte schon, der Gauner hätte gefunden, was er suchte.“ „Nicht mit mir!“, triumphierte Armin. „Wohin ist er verschwunden?“ Die drei Freunde spähten vorsichtig aus dem Fenster und sahen, wie der Froschmann auf die nächstgelegene Steinbrücke kletterte. Er war im Begriff, in die Nacht zu enteilen, als eine zweite Gestalt aus dem Schatten eines Hauses am Ende der Brücke trat. Der Froschmann erstarrte. „Der kommt mir bekannt vor!“, rief Mario und bedeutete seinen Freunden, in Deckung zu gehen. 54
Ein kurzes Zischen und ein Schrei waren zu hören. Mario reckte vorsichtig den Kopf aus dem Fenster, um besser zu sehen. Der Körper des Froschmanns hing schlapp über das Brückengeländer. In seinem Rücken steckte ein weißer Stab. Das Schnabelgesicht war verschwunden und mit ihm der Rucksack. „Vergiftet!“, entfuhr es Sandra. „Aber nichts kann so wertvoll sein, dass man dafür jemanden umbringt!“, stotterte Armin. „Was geht hier nur vor?“ „Wir sollten Paolo aufwecken und ihm alles erzählen“, schlug Mario vor. Minuten später hatte das SAM-Team den Küchenchef geweckt und ihm alles berichtet. „Vielleicht sollten wir die Stadtpolizei verständigen?“, meinte Armin. „Seid ihr verrückt?“, rief Paolo. „Ich mache mich doch nicht lächerlich! Froschmänner, Schnabelgesichter und weiße Gondeln! Pah! Dass ich nicht lache. In Venedig sind alle Gondeln schwarz. Das ist Vorschrift.“ Der Küchenchef wollte sich schon wieder auf die Seite drehen, aber Sandra ließ ihm keine Ruhe. „Werfen Sie wenigstens einen Blick aus unserem Zimmerfenster! Dann werden Sie uns schon glauben.“ Missmutig raffte sich Paolo hoch und folgte den drei Freunden nach oben. Der Knall einer Explosion hallte zum Hotel herüber, als sie das Zimmer erreichten und ans Fenster traten. „Und? Wo seht ihr hier einen toten Froschmann mit weißem Giftpfeil im Rücken, wenn ich fragen darf?“ 55
Bestürzt blickten die drei Detektivfreunde zur Brücke hinüber. Weiße Holzspäne lagen verstreut umher. „Ihr solltet jetzt besser schlafen gehen“, sagte Paolo, als er das Zimmer verließ. „Es liegt ein Tag mit vielen Sehenswürdigkeiten vor uns.“ Sandra, Armin und Mario blickten aus dem Fenster. Der Froschmann war spurlos verschwunden!
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Gejagt!
Am darauf folgenden Morgen saßen die drei Freunde auf der Hotelterrasse beim Frühstück und diskutierten die Vorfälle der vergangenen Nacht. Mario erklärte seinen Freunden gerade die Granate mit dem Betäubungsgas, als Paolo nach ihnen sah. „Ich habe das Hotelboot schon startklar gemacht. Die Stadtrundfahrt kann beginnen“, sagte er. „Ich habe eine interessante Route zusammengestellt. Wir beginnen mit dem Opernhaus, dem Teatro La Fenice. Zu Mittag gehen wir ins Terrassenrestaurant ›Antico Martini‹. Um vierzehn Uhr sind wir dann in der kleinen Privatwerft ›Tramontin und Figli‹ zu einer Führung eingeladen. Dort werden die teuersten Gondeln Venedigs gebaut.“ „Ein Monsterprogramm“, seufzte Armin. Die SAMFreunde hätten viel lieber weiter ermittelt. Die Fahrt führte sie zunächst an der alten Zollstation vorbei. An dieser Stelle erreicht der Canale Grande mit rund 70 Metern seine größte Breite. „Hier war früher der Hafen, von dem Marco Polo abfuhr, um im Fernen Osten neue Handelsstraßen zu erschließen“, erklärte Paolo, der stolz auf sein Wissen war. „Ohne den Canale Grande würde es hier wahrscheinlich das reinste Verkehrschaos geben“, meinte Sandra und 57
blickte auf die vielen kleinen Schiffe, die sich auf dem morgendlichen Kanal tummelten. „Der Kanal ist 3800 Meter lang, dreißig bis siebzig Meter breit und durchschnittlich fünf Meter tief“, fuhr Paolo mit seiner Stadtführung fort. „Wir fahren jetzt eine Weile in Richtung Nordosten und biegen dann nach Südosten ab. Dort steht der ›Palazzo Vendramincalegri‹, die Todesstätte des berühmten deutschen Komponisten Richard Wagner. Heute ist darin eine Spielbank. Am Rialto biegt der große Kanal dann nach Südwesten zum Palast der Universität ab, fließt weiter in Richtung Süden und dann nach Osten bis zur Mündung in die Lagune und zum Markusplatz.“ Der Küchenchef des Hotels Paradiso blickte auf die Uhr und beschleunigte das Motorboot. „Ich hoffe, ihr seid mit meiner Führung zufrieden“, meinte er. „Aber natürlich“, bestätigte Mario und nickte. „Ich würde gern einmal ans Steuer und ein Stück fahren, wenn ich darf.“ Armin und Sandra blickten einander an. Mario stand doch sonst nicht auf Motorfahrzeuge. Paolo rutschte auf den Nebensitz und übergab dem Jungen das Steuerrad. „Lass das lieber!“, sagte Sandra. „Sonst bringst du uns noch um.“ „Ich sicher nicht“, erwiderte Mario und packte entschlossen das Steuer. Langsam lenkte er das Motorboot nach links und bog in einen kleinen Seitenkanal ein. Nach wenigen Metern bog er erneut nach links ab, dann ein drittes und ein viertes Mal, bis sie wieder an dem Punkt angelangt waren, wo Mario das Steuer übernommen hatte. 58
„Was ist denn an diesem Häuserblock so sehenswert?“, fragte Armin etwas geringschätzig. Mario wiederholte das Manöver zweimal, dann wurde es seinen Freunden zu dumm. „Was soll der Quatsch?“, rief Sandra. „Fahren wir doch lieber zum Restaurant, ich habe einen Riesenhunger. Die Oper können wir morgen auch noch besichtigen.“ „Er sieht kräftig aus und fährt in einem hellblauen Boot mit einem roten Außenbordmotor“, flüsterte Mario. „Er spinnt!“, war Sandras Kommentar. Paolo wusste überhaupt nicht, was Mario meinte. „Er trägt eine schmale Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern.“ „Wir werden beschattet!“, wurde den anderen SAMMitgliedern jetzt klar. „Von wem?“, fragte Sandra und versuchte sich unauffällig umzudrehen. „Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte der Einbrecher von letzter Nacht sein“, meinte Mario und lenkte das Boot auf einen Kanal zu, in dem es vor Booten und Gondeln nur so wimmelte. „Der tote Froschmann?“, schluckte Sandra. „Der scheinbar tote Froschmann“, verbesserte Armin. Mario merkte, dass das fremde Boot immer näher kam und drückte den Gashebel ein Stück nach vorn. „Du fährst zu schnell“, mahnte Paolo den Jungen. „Da vorne sind eine Menge anderer Boote, das ist sehr gefährlich. Lass mich jetzt wieder ans Steuer. Wir wollen zum Restaurant fahren.“ „Das ist eine tolle Idee. Wir sollten schnell weg hier“, sagte Sandra eilig. 59
Paolo lenkte das Boot geschickt durch mehrere kleine Kanäle und an einer Unzahl anderer Boote vorbei. „Wir sind gleich beim Restaurant. Ein paar Abzweigungen noch“, sagte der Küchenchef, der viel auf gutes Essen hielt. Mario blickte sich um und sah, dass der Verfolger noch immer hinter ihnen war. Er dachte einen Augenblick nach, dann warf er sich blitzartig auf den Gashebel und drückte ihn ganz durch. Der Motor heulte auf und das Boot schoss nach vorn. Armin und Sandra hatten alle Mühe, nicht über Bord zu gehen, und Paolo musste seine ganzen Fahrkünste aufwenden, um einen Unfall zu vermeiden. Schimpfend raste er wie ein verrückter Rowdy zwischen den Touristenbooten durch. 20 Minuten später saßen die drei Freunde im ›Antico Martini‹ und bestellten zu essen. Mario entschuldigte sich bei Paolo und versuchte ihm zu erklären, dass sie verfolgt wurden. Der Küchenchef nahm die Entschuldigung zwar an, machte aber weiterhin einen verärgerten Eindruck. „Glaubst du, dass wir den Froschmann abgeschüttelt haben?“, fragte Armin. „Sicher“, erwiderte Mario stolz. „So eine Teufelsfahrt legt nicht jeder hin.“ „Ich muss sie auch nicht noch mal haben!“, warf Sandra ein, während sie die Speisekarte studierte. Paolo winkte einen Ober herbei und fragte ihn, was er heute empfehlen könne. „Wenn die Herrschaften gestatten: Die Bestseller unserer Küche sind nach wie vor die Lachsrouladen mit Kaviar 60
und die Windbeutel mit Käsefondue und Sommertrüffeln sowie das gehackte Kalbskotelett.“ „Können wir das überhaupt bezahlen?“, meinte Sandra. „Ich hab jedenfalls kein Geld dabei.“ „Ach ja. Das habe ich vergessen, euch zu sagen“, meinte Paolo. „Eure Tante hat heute Morgen ein Fax geschickt. Alles, was ihr während ihrer Abwesenheit konsumiert, wird natürlich von ihr bezahlt.“ „Keine schlechte Idee!“, waren sich die SAM-Freunde einig. Sie bestellten gerade, als die Tür aufging und eine große, muskulöse Gestalt mit verspiegelter Sonnenbrille eintrat.
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Die WC‐Bombe
Ein Schauer lief den SAM-Detektiven über den Rücken. Sie hatten den Verfolger also nicht abschütteln können – und nun saßen sie in der Falle. Als der Fremde merkte, dass das die drei ihn beobachtete, setzte er sich schnell an einen kleinen Fenstertisch, bestellte zu trinken und vergrub sich in der Tageszeitung. Mehr als eine halbe Stunde war bereits verstrichen. Die drei Freunde hatten fast fertig gegessen, und der Froschmann saß noch immer unverändert hinter seiner Zeitung. Armin sah genauer hin und bemerkte ein kleines Loch in der Zeitung. „Der beobachtet uns genau“, flüsterte er seinen Freunden über den Tisch hinweg zu. „Wir müssen ihn abschütteln!“ „Ich hab eine Idee“, sagte Mario. Er stand auf und ging zu den Toiletten. „Was hat er vor?“, wollte Armin wissen. „Das übliche Spiel“, erwiderte Sandra. „Zahlen und einer nach dem anderen ab durchs Toilettenfenster.“ Doch sie erstarrte, als sie sah, wie die stämmige Gestalt ebenfalls aufstand und Mario auf die Toilette folgte. Nach fünf Minuten kam der Fremde zurück. Er warf 62
Sandra und Armin einen warnenden Blick zu und verließ mit schnellen Schritten das Restaurant. Armin ahnte Schreckliches. „Mario! Ist alles okay? Bist du in Ordnung?“, rief er, als er in die Herrentoilette stürmte, um nach seinem Freund zu sehen. Auf den ersten Blick war der Raum aber leer. „Mario!“, rief er wieder. „Wo steckst du?“ „Ich bin hier. Kann man nicht mal mehr in Ruhe aufs Klo gehen?“, dröhnte Marios Stimme aus der hinteren Kabine. Armin trat vor die Tür, hinter der sich Mario befand, um seinem Freund zu erzählen, weshalb er nach ihm gesucht hatte, als er geschockt stehen blieb. „Berühre auf keinen Fall die Türklinke!“ „Was soll denn der Blödsinn?“, erwiderte Mario gereizt. „Kümmert euch lieber um den Froschmann, sonst haut er noch ab.“ „Im Moment gibt’s Wichtigeres“, antwortete Armin und starrte unentwegt auf das Kunststoffgehäuse in der Größe einer Zigarettenschachtel, das unter dem Türschloss angebracht war. An der Oberseite ragten zwei dünne Drähte heraus und ein rotes Licht blinkte. „Pass genau auf, was ich dir jetzt sage: Du darfst auf keinen Fall die Tür berühren oder sonst eine Erschütterung der Kabine verursachen, klar? Ich hole Hilfe und bin gleich wieder zurück!“ „Red Klartext, Mann!“ Mario wurde es zu bunt. „Der Froschmann ist dir hierher gefolgt und hat eine Bombe mit einem Bewegungszünder an deiner Kabinentür angebracht.“ Die Nachricht traf Mario wie einen Keulenschlag. Er wagte sich kaum zu bewegen. 63
Armin rannte in das Restaurant zurück und zerrte den Ober zum Telefon. „Rufen Sie sofort die Polizei, schnell! Und sie sollen einen Bombenexperten mitbringen!“ Das Wort Bombe wirkte. Im Nu herrschte helle Aufregung unter den Gästen, von denen die meisten in Panik flohen, ohne zu bezahlen. Paolo und Sandra sahen einander verwirrt an. „Worauf warten Sie noch? Die Bombe kann jeden Moment hochgehen!“, wiederholte Armin aufgeregt. Diesmal schien ihm der Ober zu glauben und griff nach dem Hörer. Kurze Zeit später hatte eine wahre Armada von Motorbooten mit Blaulicht vor dem ›Antico Martini‹ angelegt. Uniformierte Männer bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge und evakuierten die restlichen Gäste. Ein kleiner, etwas untersetzter Mann mit einem Koffer in der Hand kam auf Armin zu. „Zeig mir die Bombe. Jede Sekunde ist kostbar!“ Armin führte den Entschärfungsexperten auf die Toilette und weiter zur Tür, hinter der Mario Todesängste ausstand. „Okay, Kleiner. Schließ die Tür hinter uns und sorg dafür, dass keiner den Raum betritt.“ Der Sicherheitsbeamte öffnete seinen Handkoffer, in dem er verschiedene Werkzeuge zum Entschärfen von Bomben hatte. Er zog sich eine schwere Bleiweste, Kopfschutz und Handschuhe an und machte sich an die Arbeit. Vorsichtig nahm er den Zündmechanismus unter die Lupe. „Es handelt sich um eine KompressionsbodenZündung“, sagte er schließlich. „Der kleinste Druck auf den Gehäuseboden reicht, und alles hier drinnen liegt in Trümmern.“ 64
„Helfen Sie mir hier raus!“, war Marios zittrige Stimme zu hören. „Keine Sorge, Junge. Wir schaffen das schon“, beruhigte ihn der freundliche Mann. „Ich werde die Impulsleitung überbrücken, das Gehäuse öffnen und dann die Leitung abklemmen.“ Mit einer gebogenen Zange setzte er ein silbriges Metallstück zwischen die Drähte, klemmte einen von ihnen ab und verband das Metallstück mit einem Messgerät in seinem Koffer, das ihm während der Arbeit den Erschütterungsgrad anzeigte. Dann schraubte er vorsichtig das Gehäuse ab. Armins T-Shirt war bereits durchgeschwitzt. Er wagte kaum zu atmen. „Jetzt wird es interessant, Junge“, flüsterte der Mann, als er im Zeitlupentempo das Kunststoffgehäuse abnahm. „Entweder wir sind in ein paar Sekunden im Himmel oder wir haben Glück gehabt.“ Unter der Schutzmaske war das Gesicht des Mannes mit Schweiß bedeckt. Mario schloss die Augen, Armin drehte sich mit pochendem Herzen zur Wand. „Verdammter Mist!“, fluchte der Bombenexperte. „Das Gehäuse ist leer. Nichts!“ „Nichts!“, entfuhr es Armin fassungslos. „Die Bombe ist eine Attrappe. Gut gemacht, aber harmlos. Wir hätten uns den ganzen Rummel sparen können“, sagte der Sicherheitsbeamte entspannt und packte seine Utensilien wieder in den Koffer. Er öffnete die Toilettentür und drückte Mario das Kunststoffgehäuse in die Hand. „Hier, eine kleine Erinnerung. Ich glaube, du wirst diesen Tag trotzdem nicht so schnell vergessen.“ Gemeinsam gingen sie in das Restaurant zurück, wo 65
bereits mehrere Reporter auf die tapferen Helden warteten. Der Restaurantbesitzer war heilfroh, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte, und bedankte sich bei SAM für ihr vorbildliches Verhalten. Paolo reagierte leicht verlegen, weil er die Warnungen der drei auf die leichte Schulter genommen hatte. Als er eine Stunde später das Boot in der hoteleigenen Wassergarage vertäut hatte, ging er auf das Hauptportal des Paradiso zu und erschrak: Die Videokamera stand still. Der rote Leuchtpunkt war erloschen. Sandra, Armin und Mario waren bereits zu ihren Zimmern gelaufen. Glücklich und erleichtert, dass ihnen nichts zugestoßen war, stürmten sie hinein und blieben vor Schreck wie versteinert stehen. „Was ist hier geschehen?“, japste Sandra.
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Die Rufe der Toten
Die Zimmer der drei Freunde glichen einem Schlachtfeld. Nichts, aber auch gar nichts war an seinem Platz geblieben. Die Schubladen waren aus den Kästen gerissen und ihr Inhalt über den Boden verstreut, Sessel und Tische umgeworfen und die Matratzen an die Wand geschleudert worden. „Jetzt wird mir einiges klar!“, sagte Sandra. „Unsere Expertin hat wieder einmal eine Theorie entwickelt“, witzelte Mario. „Hab ich auch“, erwiderte Sandra und schritt im Zimmer auf und ab. „Er musste irgendwie Zeit gewinnen.“ „Wer?“, fragte Armin. „Der Froschmann?“ „Ja“, bestätigte Sandra. „Er installierte die Bombenattrappe und rechnete damit, dass wir längere Zeit brauchen würden, um zu erkennen, dass es eine Fälschung ist. So hatte er genug Zeit, unsere Zimmer zu durchsuchen.“ „Schlau“, musste Mario zugeben. „Aber wonach hat er gesucht?“, fragte Sandra. „Er muss doch denken, dass wir die Pergamentkarte und den Silberzylinder nicht mehr haben, das Schnabelgesicht hat ihm die Rolle ja abgeknöpft.“ Erschöpft setzten sich die Freunde mitten in der Unordnung auf den Boden. 67
„Wo hast du den Inhalt der Rolle eigentlich versteckt?“, wollte Sandra wissen. Mario sprang plötzlich auf und lief in den Videoüberwachungsraum. Armin und Sandra rannten ihrem Freund hinterher. Mario öffnete den Blechspind und zog hinter den Magnetbandspulen das vergilbte Pergament und den halben Silberzylinder hervor. „Glück im Unglück“, sagte er erleichtert. „Ich glaube nicht, dass das Versteck sicher genug ist“, meinte Armin nachdenklich. Gemeinsam verließen die drei Freunde den Technikraum und schlichen zu ihren Zimmern zurück. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Mario. „Wir müssen herausfinden, was das für eine Pergamentkarte ist und was es mit diesem Silberzylinder auf sich hat. Ich bin überzeugt, dass es dazu eine zweite Hälfte gibt“, sagte Sandra. „Also auf zu Lorenzo Salviati. Vielleicht können wir ihm einen Hinweis entlocken!“, übernahm Armin das Kommando. Um Viertel nach fünf hatten die drei Freunde die Adresse gefunden, die sie dem Telefonbuch entnommen hatten. Sie liefen eine schmale, feuchte Steingasse entlang bis zur Nummer 13. In den steinernen Türbogen war nur mehr schwer leserlich der Name Salviati eingemeißelt. Armin klopfte an die Tür und ein glatzköpfiger Mann in dunklem Anzug und mit schwarzer Krawatte öffnete. „Was wollt ihr denn? Ich bin in Eile“, sagte er mit monotoner Stimme und warf den dreien einen abfälligen Blick zu. 68
„Signor Salviati, verzeihen Sie bitte die Störung. Wir wollen Ihre Zeit nur ein paar Minuten in Anspruch nehmen“, sagte Sandra höflich. „Bitte. Es ist sehr wichtig für uns“, fügte Mario hinzu. „Um Signor Salviati zu sprechen, kommt ihr zu spät“, sagte der Mann kurz angebunden. „Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Gedenkgottesdienst für ihn.“ „Er ist tot!“, stammelte Sandra. „Ja. Vor wenigen Tagen von uns gegangen.“ „Was machen Sie dann in seinem Haus?“, fragte Sandra mit leicht zusammengekniffenen Augen. „Dürfen wir vielleicht doch kurz eintreten?“, bat Armin. „Nur für zehn Minuten.“ Der Mann überlegte einen Moment, blickte dann auf die Uhr und gab den Freunden den Eingang frei. Sie traten in das Haus, dessen Wände mit Gemälden übersät waren. „Signor Salviati hatte offenbar eine große Vorliebe für Ölgemälde“, sagte Mario und bewunderte die Farbenpracht. „Wie man sich als einfacher Pilot so teure Werke leisten kann?“, überlegte Sandra. „Signor Salviati hat die meisten Bilder selbst gemalt. Er war ein hervorragender Künstler ebenso wie ein erfahrener Pilot und weit gereister Mann. Ich bin stolz, sein Freund und Nachlassverwalter zu sein. Ich heiße übrigens Lino Toffolutti. Woher kennt ihr meinen lieben Freund Lorenzo eigentlich?“, fragte der hagere Mann und kramte aus einer Schublade einige Videokassetten hervor. Die SAM-Detektive sahen einander verlegen an. Armin beschloss, einfach eine weitere Frage zu stellen. „Hatte er auch eine Vorliebe für Auktionen?“, fragte er. „Ja, natürlich!“, antwortete der Nachlassverwalter. „Ei69
nige der Bilder, die ihr hier seht, habe ich für ihn ersteigert. Meist, wenn er dienstlich unterwegs war. Zuletzt hat er mich sogar gebeten, eine Papprolle ins Pfandhaus zu bringen. Das war das einzige Mal, dass er selbst etwas versteigern wollte.“ „Und diese Papprolle sollte von einem bestimmten Mann ersteigert werden: von Renato Nardi!“, sagte Mario. „Woher wisst ihr das?“, horchte Lino auf. „Ach, nur so ein Gedanke“, meinte Sandra und fuhr fort: „Hat Signor Salviati jemals weiße Schnabelgesichter erwähnt?“ „Wer seid ihr?“, fragte der Mann misstrauisch. „Ziehen Sie bitte keine falschen Schlüsse“, sagte Armin schnell. „Wir sind durch Zufall in eine rätselhafte Geschichte verwickelt worden.“ Herr Toffolutti musterte die Detektivfreunde eingehend, schien ihnen aber zu glauben. Er ging zu einem Schreibtisch, sperrte die unterste Lade auf und holte einen Stapel maschinenbeschriebener Blätter hervor. „Vor mehreren Monaten hat Signor Salviati beschlossen, seine Memoiren zu schreiben. Er nannte das Buch ›Tintorettos Vermächtnis‹. Darin erzählt er unter anderem von den weißen Schnabelgesichtern, einem alten Pergament und magischer Orgelmusik. Doch er konnte sein Werk bei weitem nicht fertig stellen; er starb zu früh. Es sind nur bruchstückhafte Aufzeichnungen vorhanden. Nach seiner Beisetzung klopfte es am Abend an der Tür. Ein Mann in einer weißen Kutte bot mir eine Unsumme für das Manuskript und den Inhalt der Papprolle, aber ich fühlte, dass da etwas faul war, und wimmelte ihn ab.“ „Da war auch etwas faul“, sagte Mario. 70
„Der Mann ging verärgert zu seinem Boot zurück. Plötzlich schleuderte er einen weißen Pfeil auf die Eingangstür. Ich konnte sie gerade noch rechtzeitig schließen, sonst hätte er mich getroffen. Er hatte ein weißes Gesicht mit einem langen, krummen Schnabel und tief liegenden Augen, die rot funkelten.“ „Waren in den Pfeil Buchstaben und Ziffern eingeritzt?“, wollte Mario wissen. „Ja. Aber nur ganz wenige“, bestätigte Lino. „Bitte zeigen Sie ihn mir.“ „Ich fürchte, das kann ich nicht. Der weiße Stab explodierte kurz darauf. Aber ich kann mich an die eingeritzten Zeichen erinnern“, sagte der Nachlassverwalter. Sandra holte den Notizblock hervor, den sie immer bei sich trug. „Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, es ist sehr wichtig für uns.“ Lino Toffolutti dachte angestrengt nach. Nach einer Weile fiel ihm die Buchstaben-Zahlen-Kombination wieder ein. „H-2/3:ELE-HCI-MNA-SID-ALO-SL Davor stand das Wort ›Abgabeort‹, das war alles“, sagte Lino. Armin, der Geheimcodeexperte von SAM, grinste, als er das hörte. „Null Problemo. Das ist ein relativ einfacher Stadtplancode. Der Gangster glaubte vermutlich, dass Sie – wie Signor Salviati – ihn entziffern könnten und den Inhalt der Papprolle am Bestimmungsort abliefern würden.“ „Wo abliefern?“, fragte Herr Toffolutti. Armin breitete auf dem Tisch einen Stadtplan von Venedig aus und suchte die Koordinaten H2 und 3. Dann las er die Buchstabengruppen in einem Zug von hinten nach vorne: Isola di San Michele. „Die Toteninsel!“, erschrak Lino Toffolutti. 71
„Wo ist diese Insel?“, fragte Mario. „Sie liegt etwa 500 Meter nordöstlich von Venedig. Ein unheimlicher Ort. In Vollmondnächten kann man von dort angeblich die Rufe der Toten hören.“ Der alte Mann schauderte. Er schien plötzlich verändert. „Ich … ich muss jetzt dringend weg, sonst komme ich noch zu spät zum Gottesdienst“, stotterte er und brachte die drei Freunde zur Tür. Mario fielen ein paar Videos auf, die gesondert in einem Regal standen. „Was sind das für Filme?“, fragte er neugierig. „Das sind die Videos von Signor Salviatis Reisen“, antwortete Lino. „Er liebte Abenteuerreisen.“ „Ich auch“, sagte Mario. „Dürfte ich sie mir vielleicht 72
ausborgen und kopieren? Ich habe eine nagelneue Videoanlage zur Verfügung.“ „Meinetwegen. Ich bin spät dran“, gab Herr Toffolutti nach. Die SAM-Freunde machten sich eilig auf den Rückweg zum Hotel Paradiso. „Was willst du mit diesen Videos?“, fragte Armin. „Vielleicht finden wir darauf etwas, das uns weiterhilft“, antwortete Mario.
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Diebe!
Kurz vor Mitternacht kamen die Detektivfreunde zum Hotel zurück. Die Überwachungskamera über dem Eingang bewegte sich nicht, und die Tür war zu ihrer Verwunderung nicht abgeschlossen. Vorsichtig betraten sie die Hotelhalle und sahen sich um. Es war gespenstisch still. „Pssst!“, zischte Mario. Ein periodisch klickendes Geräusch war zu hören. Es schien vom Aufzug her zu kommen. Auf leisen Sohlen schlich Mario in Richtung Lift und gab seinen beiden Freunden ein Zeichen, ihm zu folgen. Die SAM-Freunde erstarrten, als sie um die Ecke bogen. Die Aufzugstür öffnete und schloss sich ununterbrochen. Dabei ertönte jedes Mal ein kurzes Klingeln. Armin blickte zu Boden – und sah zwei Beine mit braunen Lederschuhen aus dem Aufzug ragen. Deshalb konnte die Tür nicht schließen. „Sind das nicht die Schuhe von …?“, fing Sandra an. „Paolo?“, rief Armin fragend. Er bekam keine Antwort. Nur das monotone Geräusch der Aufzugstür war zu hören. „Was ist bloß geschehen?“, stammelte Sandra. „Wir sollten besser die Polizei benachrichtigen“, meinte Mario unsicher. 74
„Wir müssen erst nachsehen, ob er noch am Leben ist“, sagte Armin. „Wenn er nur verletzt ist, können wir ihm vielleicht helfen.“ Er holte tief Luft und trat auf die Kabine zu. Vor ihm lag Paolo regungslos auf dem Boden. Armin drückte einen Knopf und die Tür blieb offen stehen. Er kniete vor dem Küchenchef nieder und konnte es auch schon riechen. „Der ist hinüber!“, verkündete er seinen beiden Freunden. „Und zwar ziemlich.“ Angeekelt vom Alkoholgestank wandte er sich Mario und Sandra zu. „Er ist stockbesoffen und hat es wieder einmal nicht in sein Zimmer geschafft.“ Paolo versuchte sich aufzurichten und krächzte etwas, dann sackte er wieder in sich zusammen. „Warum ist die Tür bloß so verbeult?“, wunderte Sandra sich. „Keine Ahnung. Heute Nachmittag war sie’s jedenfalls noch nicht“, stellte Mario fest. In diesem Moment ging das Licht im ganzen Hotel an und Tante Patricia stand plötzlich hinter den drei Freunden. „Ich glaube, ihr helft ihm besser nach oben. Allein schafft er das heute wohl nicht mehr.“ „Tante Patricia! Gut, dass du wieder da bist. Hier geschehen seltsame Dinge“, fiel ihr Mario sogleich ins Wort. „Später, später“, wehrte sie ab. „Ich bin hundemüde von der Reise.“ Dann eilte sie die Treppen hinauf in ihre luxuriöse Dachwohnung. Die Detektivfreunde mühten sich gerade mit Paolo ab, als ein Angstschrei zu ihnen drang. Bestürzt hasteten sie die Treppen hoch. 75
Die Tür zu Patricias Wohnung war aufgebrochen worden. Sämtliche Bilder hingen schief an den Wänden, der Teppich lag zusammengeknüllt in einer Ecke und die Polsterung des Sofas war zerschnitten worden. Armin begutachtete das Türschloss, während seine beiden Freunde und Marios Tante rätselten, wer das wohl gewesen sein konnte. „Mein Wandtresor!“, schrie die Hotelbesitzerin, als ihr Blick auf den Safe fiel. Er war aufgebrochen. Mario blickte in das Innere des Tresors. „Leer!“, rief er den anderen zu. „Ich muss sofort nachsehen, ob er die echten auch gefunden hat!“, rief Tante Patricia. Sie öffnete das Schrankelement der Anbauvitrine und zog den Fernseher ein Stück hervor. Mit einem Schraubenzieher entfernte sie die hintere Abdeckung und atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank! Sie sind alle noch da.“ Mario sah in den geöffneten Fernseher und staunte nicht schlecht. „Ein Versteck für deine Aktien!“, rief er seinen Freunden zu. „Der Fernseher ist innen hohl. Der Tresor ist nur eine Ablenkung. Du bist genial, Tante Patricia!“, staunte der Junge. Armin musterte mit Kennerblick die Verbeulungen an der Tresortür und lief dann in sein Zimmer, um den Spurensicherungskoffer zu holen. Als er zurückkam, machte er sich sofort an die Arbeit. Mit äußerster Vorsicht stäubte er das Drehrad und die umliegende Oberfläche des Metalltresors mit Aluminiumpulver ein. Dann blies er das überschüssige Pulver weg und schnitt einen Streifen transparentes Klebeband ab. Der SAM-Spezialist für Spurensicherung klebte den Streifen 76
genau über den Fingerabdruck, der sich so darauf übertrug. Er war von einem Zeigefinger, der um das oberste Gelenk ein Pflaster zu tragen schien. An dieser Stelle fehlten nämlich im Abdruck die Hautrillen. Armin klebte den Streifen anschließend auf einen zweiten Streifen, um den Fingerabdruck zu konservieren. „Ich glaube, ich weiß, wer nach den Aktien gesucht hat.“ „Wer?“, wollte Mario ungeduldig wissen. „Rück schon raus damit!“ „Einen Moment noch. Um sicher zu sein, muss ich noch von jemandem einen Abdruck nehmen. Falls ich mich geirrt habe …“ „Du hast dich nicht geirrt, Kleiner“, sagte eine drohende Stimme.
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Tante Patricia
„Los! Her mit den Aktien, und zwar schnell!“, verlangte der Mann von Mario. Der Junge blickte fragend zu seiner Tante. Dann drehte er sich langsam um und sah den Mann in der Tür: Es war Paolo, quicklebendig. Er hatte ihnen seine Betrunkenheit nur vorgespielt. „Mach schon, verdammt noch mal! Oder willst du, dass deine Freundin gleich ein Ohr weniger hat?“, drohte er. Sandra schrie auf, als er sie packte und ihr ein Messer an das linke Ohr setzte. „Ich zähle bis drei, dann ist meine Geduld zu Ende!“, drohte Paolo. „Gib sie ihm“, sagte seine Tante und ließ dabei den Küchenchef keine Sekunde aus den Augen. „Das wird Sie teuer zu stehen kommen, das garantiere ich“, fügte sie hinzu. Mario warf Paolo ein paar Papiere vor die Füße. „Die restlichen auch, ihr … ihr Kinderpack! Ihr habt wohl gedacht, ihr seid die Allerschlauesten, was?“ „Sie hätten Schauspieler werden sollen“, sagte Armin, um Paolo abzulenken. „Ein wenig Gin aufs Hemd und ein wenig damit gegurgelt – der primitivste Trick aller Zeiten.“ 78
„Gib ihm schon die restlichen Aktien!“, krächzte Sandra ängstlich. Mario holte weitere Papiere aus dem falschen Fernseher und warf sie Paolo hin. „Keine falsche Bewegung, sonst fließt Blut“, mahnte er und nahm das Messer in die andere Hand. Geschickt bückte er sich, ohne Sandra loszulassen, und nahm die Wertpapiere an sich. Dann schleppte er das Mädchen ein paar Schritte mit und durchtrennte das Telefonkabel. „Jetzt sind wir von der Außenwelt abgeschnitten. Ausgeliefert!“, murmelte Armin. „Ihr macht mir keine faulen Tricks und rührt euch nicht von der Stelle, ist das klar?“, warnte Paolo eindringlich. „Sonst ist sie auf der Stelle Fischfutter.“ Paolo setzte Sandra die Klinge an den Hals. „Ach ja, damit ich es nicht vergesse: Ich kündige!“ Dann schleppte er das Mädchen die Treppen hinunter und zur Anlegestelle hinaus. Kurz darauf hörten Tante Patricia, Armin und Mario das Hotelboot ablegen. „Wir müssen sofort etwas unternehmen!“, rief Armin. „Sandra ist in höchster Gefahr!“ Marios Tante war so aufgeregt, dass sie erst einmal einen kräftigen Schluck Gin zu sich nehmen musste, bevor sie klar denken konnte. „Ich hätte schneller reagieren müssen“, machte Armin sich Vorwürfe. „Worauf?“, fragte Mario. „Der Fingerabdruck. Paolo hat sich wahrscheinlich in der Küche geschnitten. Mir fiel das Pflaster schon gestern im Restaurant auf.“ 79
„Vielleicht steckt er mit dem Froschmann unter einer Decke“, meinte Mario. „Deshalb hat er auch nicht reagiert, als wir verfolgt wurden.“ „Und die Aufzugstür zeigt die gleichen Beulen wie das Zimmerschloss und der Tresor. Es sind überall schwarze Farbspuren vom Hammer zurückgeblieben. Paolo hat sicher aus Wut darüber, dass er die echten Aktien nicht finden konnte, auf die Aufzugstür eingedroschen. Bestimmt weiß er auch über das Pergament und den Silberzylinder Bescheid.“ „Was für ein Pergament und was für einen … Silberzylinder?“, fragte Tante Patricia verstört. Die drei Freunde hatten in Kürze berichtet, was sie in den letzten Tagen erlebt hatten. „Paolo hat allem Anschein nach von dem Geheimnis Wind bekommen und wollte selbst davon profitieren. Außerdem kennt er sich mit der Videoanlage des Hotels aus“, sagte Mario. „Das erklärt auch, wie der Einbrecher ungesehen an den Videokameras vorbeikommen konnte“, fügte Armin hinzu. „Ich muss unbedingt Sandra retten und die Aktien zurückbekommen“, seufzte Marios Tante besorgt. „Es war Schwerstarbeit, sie zu bekommen. Durch sie besitze ich die Mehrheit an der Hotelgruppe ›Blauer Planet‹ in den USA. Diese Kette war einer meiner schärfsten Konkurrenten.“ „Du kaufst deine Konkurrenz einfach auf?“ „Und schließe alle Filialen, die nicht profitabel sind. Das ist eine funktionierende Strategie, glaubt mir.“ „Deshalb auch der Besuch von Herrn Raffaele“, wurde Mario jetzt klar. „Ja. Er ist mein Broker. Er kauft und verkauft meine Aktien.“ 80
„Und ich hab schon geglaubt, du bist auch in die Sache verwickelt.“ Tante Patricia holte ihr Handy aus der Handtasche und verständigte die Polizei. Sie gab gerade die Beschreibung des Hotelbootes durch, als Armin aus dem Fenster blickte und jemanden im Kanal schwimmen sah. Sie rasten nach unten und kamen gerade beim Steg an, als eine durchnässte Gestalt aus dem Wasser kletterte.
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SOS
„Sandra!“, schrie Mario freudig und rannte auf seine Freundin zu. „Ist dir was passiert?“ „Nein, nein. Alles klar. Hab nur ein Stück im stinkenden Kanalwasser schwimmen müssen“, keuchte sie. „Zieh dir erst mal trockene Kleider an, dann kannst du uns die Einzelheiten erzählen. Ich mache inzwischen heißen Tee“, sagte Tante Patricia besorgt. Eine Stunde später tummelten sich zahlreiche Polizisten und Spurensicherungsexperten in Tante Patricias Wohnung. Jeder Millimeter wurde abgesucht. Die SAM-Mitglieder bestaunten die modernen Geräte, die die Beamten dabei verwendeten. Der zusammengeknüllte Teppich wurde mit Hilfe eines Laserstrahlen-Detektors, einem Gerät, das auch die kleinsten und schwächsten Druckstellen messen kann, untersucht. „Was stellen Sie mit diesem Gerät fest?“, fragte Sandra neugierig. „Der Detektor nimmt ein räumliches, also dreidimensionales, Bild eines Fußabdrucks auf. Daraus können die Ermittlungsexperten dann auf Größe und Gewicht des Einbrechers schließen.“ 82
„Faszinierend!“, staunte Sandra. Ein anderer Beamter untersuchte mit einem Spektrometer die Farbpartikel, die die Hammerschläge an der Tresortür hinterlassen hatten. Er hoffte damit den Gegenstand zu finden, mit dem sowohl die Zimmertür als auch der Tresor aufgebrochen worden waren. Das Handy des Kommissars, der mit Tante Patricia sprach, läutete. „Entschuldigen Sie bitte einen Moment“, sagte er höflich und drückte einen kleinen Knopf auf dem Handy. „Kommissar Butazzi … Ja … Alles klar. Weitersuchen.“ Er steckte das Gerät wieder in die Tasche. „Wir haben das Hotelboot gefunden. Es war vor einer Bank vertäut. Von den Aktien und Ihrem Küchenchef fehlt leider jede Spur“, erklärte er Tante Patricia. „Meinem Ex-Küchenchef!“, berichtigte sie den Kommissar und ließ sich verzweifelt in einen Sessel sinken. „Wenn er die Aktien an meine ehemaligen Konkurrenten zurückgibt … Nicht auszudenken! Ich hätte keine Kontrolle mehr. Die Verhandlungen der letzten Monate wären umsonst gewesen.“ „Wo hast du eigentlich das Pergament und den Silberzylinder versteckt?“, fragte Armin Mario. Der Junge lächelte, lief in den Nebenraum und hievte ein großes, schweres Lexikon aus der obersten Reihe des Bücherregals. Armin und Sandra folgten ihm neugierig. Er öffnete das Buch und nahm Pergament und Zylinder heraus. „Darauf kannst auch nur du kommen“, lobte Armin das hervorragende Versteck. „Du hast das Buch einfach ausgehöhlt?“, staunte Sandra. 83
„Oben und unten habe ich 20 Seiten belassen, wie sie waren. Dadurch war der Band immer noch stabil.“ „Einfach genial. Einfach SAM-spitzenmäßig!“, rief Sandra, die einmal mehr das Pergament betrachtete und sanft über die Kanten strich. „Was ist?“, fragte Mario. Sandra holte sich das Mikroskop der Spurenexperten aus dem Nebenraum und legte das Papier darunter. Das Mädchen sah durch das Mikroskop und stieß einen Freudenschrei aus. „Seht euch das an“, sagte sie und ließ ihre Freunde an das Gerät. „Tatsächlich!“, bestätigte Mario ihre Entdeckung. „Die obere Kante des Papiers ist glatter als die anderen drei.“ „Zerschnitten?“, warf Armin ein. „Also gibt es einen zweiten Teil!“ „Und ich glaube, ich weiß auch schon, wo wir den finden“, sagte Sandra stolz. Ein kurzer Blick in die funkelnden Augen ihrer Detektivfreundin genügte, und Mario und Armin ahnten, was sie vorhatte. Spät in der Nacht, nachdem die Kriminalbeamten die Spurensicherung abgeschlossen und das Hotel verlassen hatten, ging Tante Patricia nach mehreren Gläsern Gin zu Bett. Die drei Freunde nahmen wieder denselben Weg zur Villa Nardi und glitten an ihren Gürteln lautlos über den Kanal. Armin warf ein Seil zum Dach hinauf und hatte schon beim ersten Mal Glück. Die Schlinge traf einen der Kamine. Langsam kletterte er auf das Dach und entfernte mehrere Ziegel. Nachdem er einen ungefähr 40 Zentimeter brei84
ten Fleck abgedeckt hatte, stieg er vorsichtig in den Dachboden ein. Sandra und Mario warteten im Garten. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf das oberste Stockwerk gelenkt. Sie erschauderten. Hinter einem Fenster unterhalb von Armins Einstiegstelle hatte jemand ein mattes Licht angedreht. Ein Schatten huschte über die Wände. „Verdammt!“, fluchte Mario leise. „Armin ist nicht allein da drinnen und weiß es nicht!“ „Der Schattenmann“, stotterte Sandra. „Was sollen wir nur machen?“ Mario starrte zum Fenster hinauf. „Wir müssen Armin warnen!“ „Aber wie sollen wir das machen, ohne dass der Schattenmann uns entdeckt?“, zischte Sandra. „Weiß ich nicht. Wir müssen es auf jeden Fall versuchen.“ Mario kroch aus seinem Versteck und suchte nach Steinen. „Warte“, sagte Sandra und griff in die Hosentasche, wo sie eine kleine Blechklapper hatte. Sie hielt sie in die Luft und klickte damit dreimal in kurzen, dreimal in langen und noch einmal dreimal in kurzen Abständen – das internationale Notzeichen SOS. Nach einer Weile, als Armin nicht reagierte, versuchte sie es erneut. Wieder keine Reaktion. Der Schattenmann musste Armin jeden Augenblick entdecken. Mario schleuderte einen Stein, und das Fenster klirrte. Dann richteten die beiden Freunde den Strahl ihrer Taschenlampen auf den Raum, in dem sich der Schattenmann befand. Das schwache Zimmerlicht erlosch und der Schatten verschwand. 85
„Das reicht“, sagte Mario. „Ich glaube, wir hatten Erfolg.“ „Dann schnell hinein, bevor er Armin erwischt!“, rief Sandra und stürmte mit ihrem Detektivfreund zur Eingangstür. Sie staunten, als sie die Tür offen vorfanden. Vorsichtig traten sie in die Halle. Kaum waren sie über der Schwelle, fiel die rustikale Holztür mit einem Knall ins Schloss. Sandra fuhr herum und leuchtete mit ihrer Stablampe in zwei große Spiegelaugen, unter denen eine zylindrische Nase zu sitzen schien. Ein schweres Atmen war zu hören. Dann ertönte die Stimme des Froschgesichts: „Das war’s für euch beide!“ „Hiiilfeee!“, schrie Sandra, so laut sie konnte.
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Fliegerangriff
Armin fuhr erschrocken zusammen, als der Schrei seiner Detektivfreundin zu ihm drang. Sie musste in Gefahr sein. Hoffentlich kam er nicht schon zu spät. Er schraubte eine blaue Blende vor seine Taschenlampe, um das Licht zu dämpfen. So würde er nicht sofort entdeckt, falls noch jemand in der Villa war. Der Junge spürte, wie seine Anspannung stieg, als er nach der Luke suchte, die in das Haus hinunterführte. Ekelige Fledermäuse umschwirrten ihn und Spinnweben klebten sich ihm aufs Gesicht. Schließlich entdeckte er hinter einer Holzplanke einen Eisenring. Er kniete nieder, pustete den Staub weg und zog die Luke langsam auf. Staub rieselte auf die darunter zum Vorschein kommende Stiege. Angstwimmern drang jetzt zu ihm herauf. Er musste sich beeilen. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine geschickte Falle und jemand hatte ihn gehört, als er durch das Dach einstieg. Armin hielt kurz inne und holte tief Luft. Dann machte er sich vorsichtig auf den Weg zum Erdgeschoss. Er kam an mehreren Räumen vorbei, die einen verwüsteten Eindruck machten. Regale waren umgeworfen, Stühle lagen kreuz und quer herum. Es schien, als hätte der Ein87
brecher nicht nur im Hotel nach dem Pergament und dem Silberzylinder gesucht. Armin durchquerte ein großes Zimmer mit einem mächtigen Kristall-Lüster. Das Zimmer hatte einen Balkon, von dem aus man in den Nebenraum sehen konnte. Je näher er dem Balkon kam, desto deutlicher konnte er Stimmen vernehmen. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, als er hinaustrat und gedämpftes Klagen hörte. Vorsichtig spähte er durch das kaputte Fenster. Was er in dem spärlichen Licht sah, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mario und Sandra knieten am Boden. Vor ihnen stand der Froschmann. Er hatte ihnen die Hände auf den Rücken gebunden. „Raus mit der Sprache. Wo habt ihr den Inhalt der Papprolle?“, fragte er sichtlich verärgert. „Tun Sie nicht so scheinheilig!“, erwiderte Mario. „Sie wissen so gut wie wir, dass Sie selbst sie gestohlen haben.“ „Du willst mich wohl verscheißern, Kleiner? Das Ding war leer!“, rief der Froschmann wütend. Aus einer Ecke holte er einen modrigen Jutesack, in dem sich etwas bewegte. „Wenn du nicht auf der Stelle auspackst“, drohte er Mario, „dann stülpe ich deiner Schnüffelfreundin den Sack über. Die Killerratte wird sich über das Festessen sicher freuen.“ „Neiiin!“, flehte Sandra. Armin rannte, so schnell er konnte, in den Nebenraum zurück und suchte verzweifelt nach einem geeigneten Ausweg. Auf einem Regal sah er ein Modellflugzeug mit Fern88
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steuerung. „Das könnte klappen“, dachte er, riss es an sich und eilte auf den Balkon zurück. Der Gauner hatte den Jutesack bereits geöffnet. Er hielt die beiden SAM-Detektive mit einem Revolver in Schach. Armin versuchte mit den Lenkhebeln der Fernsteuerung klarzukommen. „Das ist deine allerletzte Chance!“, zischte der Mann und drückte Sandra am Genick nach vorne. Das gefräßige Kreischen der Killerratte war deutlich zu hören. „Das Pergament und der Silberzylinder sind …“ wollte Mario gerade verraten, als das Miniaturmodell eines Jumbo-Jets durch das kaputte Fenster donnerte und mit voller Wucht gegen den Froschmann prallte. Er fiel zu Boden und verlor dabei den Revolver. Da hechtete Armin in den Raum. Er warf seinen Freunden ein Taschenmesser zu und stürzte sich mutig auf den benommenen Froschmann. Im Nu hatten Sandra und Mario ihre Fesseln durchtrennt und kamen Armin zu Hilfe. Sandra trat auf das abgestürzte Flugzeug und es zerbrach in zwei Teile. „Schnell. Nichts wie raus hier!“ drängte Armin. Mit einem leisen Stöhnen kam der Froschmann zu sich. „Seht her!“, rief Sandra erstaunt. „Keine Zeit!“, erwiderte Armin. Mit einem kräftigen Tritt kickte er die Waffe in die Dunkelheit. Aus dem zerbrochenen Rumpf des Jumbo-Jets ragte eine Pergamentrolle. Sandra griff danach. Jetzt blickten auch ihre Freunde verblüfft auf den Fund. Im selben Moment fiel der Froschmann mit Gebrüll über Sandra her. Aber Armin war schneller und versetzte ihm einen harten Tritt gegen das Schienbein. Die Schmerzen zwangen den Gau90
ner, einen Moment lang von Sandra abzulassen. Fluchend versuchte er erneut einen Angriff, aber die drei Freunde stürmten zum Ausgang. Der Froschmann verfolgte sie. Armin riss die Tür auf und die drei Freunde rannten direkt in eine Gestalt, mit der sie zu Boden stürzten. Der Froschmann eilte an ihnen vorbei und entfloh mit einem mächtigen Satz in den Canale Grande. Nach wenigen Augenblicken war er verschwunden. „Wer sind Sie?“, rief Sandra. „Ihr miesen Einbrecher, ihr Diebsgesindel! Mit euch habe ich ein Hühnchen zu rupfen!“, antwortete eine weibliche Stimme.
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Ein Außerirdischer?
Am nächsten Morgen saßen die SAM-Mitglieder im Verhörzimmer des Polizeireviers. Kommissar Butazzi stand am Fenster und blickte auf den Kanal hinunter. Armin, Sandra und Mario saßen gemeinsam mit Tante Patricia an einem Tisch, der in der Mitte des spärlich möblierten Raumes stand. Die fremde Frau, die sie bei der Villa ertappt hatte, lehnte in einem Sessel schräg gegenüber. „Sie bleiben also dabei, dass Renato Nardi ihr Vater war?“, fragte Tante Patricia nochmals. Sie konnte nicht verbergen, dass sie sowohl auf Mario und seine Freunde als auch auf die Frau sauer war. Schließlich hätte man die Sache auch ohne Polizei bereinigen können. Die Frau, Mitte dreißig, nickte bestätigend. Sie hatte glattes blondes Haar, das bis zu den Schultern reichte, und große blaue Augen. „Ja, ich bin die Tochter von Renato Nardi, Tania Nardi. Ich bin nach Venedig gekommen, um die Villa meines Vaters zu verkaufen.“ „Warum sind Sie erst jetzt gekommen?“, fragte Armin. Diese Frage machte Tania sichtlich nervös. Sie schien darauf keine Antwort zu haben und reagierte deshalb gereizt. „Wer stellt hier eigentlich die Fragen? Ich verlange, dass ihr für euren Einbruch bestraft werdet“, rief sie. „Nun lassen Sie uns mal nichts überstürzen“, versuchte 92
der Polizeibeamte die Frau zu beruhigen. „Ich bin überzeugt, dass es sich hier nur um jugendlichen Leichtsinn handelt.“ „Jugendlicher Leichtsinn, dass ich nicht lache“, erwiderte Tania ärgerlich. „Das Haus ist völlig verwüstet!“ Für einen Moment herrschte Schweigen, dann sprach sie weiter: „Was wissen Sie denn schon von meinem Vater? Er hat sich so gut wie nie um mich gekümmert. Für ihn gab es nur die Fliegerei, sonst nichts. Ich wollte die Villa unbedingt sehen, bevor sie morgen von einem Sachverständigen geschätzt wird. Man hat mich oft genug übers Ohr gehauen. Seit zehn Jahren krieche ich auf den Knien in der Wüste herum und grabe alte Steine aus. Nicht ein einziges Mal hat er sich dafür interessiert. Was habt ihr euch dabei gedacht, einfach in eine fremde Villa einzudringen? Und wer ist da mitten in der Nacht in den Kanal gesprungen?“ Die drei Freunde blickten einander an. Keiner wusste, wie sie reagieren sollten. Mario ergriff schließlich die Initiative: „Wir haben wirklich keine Ahnung. Wir waren genauso überrascht wie Sie, darum sind wir auch Hals über Kopf getürmt.“ „Wir wollten wirklich nichts stehlen, großes Ehrenwort“, versicherte Sandra. „Nun, nachdem ja nichts entwendet wurde, glaube ich, wir können es bei einer Verwarnung belassen. Ich habe einen wichtigen Termin und viel Arbeit auf dem Schreibtisch liegen“, sagte Kommissar Butazzi und öffnete die Tür. Die SAM-Freunde verloren keine Sekunde und eilten hinaus, um weiteren Fragen sicherheitshalber aus dem Weg zu gehen. 93
Eine halbe Stunde später versammelten sich die drei Freunde in Marios Zimmer. Armin hatte den Spurensicherungskoffer geöffnet und ein durchsichtiges Klebeband herausgenommen. Mario und Sandra bemühten sich, die beiden Pergamentteile genau aneinander zu legen. Sorgfältig klebte Armin sie zusammen. Dann hielten die drei ihr Werk ins Licht und betrachteten die Zeichen und Linien. „Es ergibt einfach keinen Sinn“, sagte Mario resignierend. „Ich habe auch nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten könnte“, gestand Sandra. „Irgendeine Information muss der Plan aber enthalten, sonst wären nicht der Froschmann und diese weißen Schnabelgesichter hinter ihm her. Wir können ihn vielleicht nur nicht richtig lesen.“ „Verstecken wir ihn zur Sicherheit lieber“, schlug Armin vor. „Ich werde mir jetzt die Videos von Herrn Salviati ansehen“, sagte Mario. „Vielleicht finden wir dort einen Hinweis.“ Stunden um Stunden saß Mario vor dem Bildschirm. Er glaubte schon eckige Augen zu haben, so viele Urlaubsfilme hatte er sich angesehen. „Hast du etwas entdeckt?“, fragte Sandra ihren Freund. „Nein. Zumindest nichts, was mit dem Pergament oder dem Zylinder zu tun haben könnte.“ Armin lehnte nachdenklich am offenen Fenster und starrte auf das bunte Treiben am Canale Grande. „Woran denkst du?“, wollte Sandra wissen. 94
„Ich denke über den Froschmann nach. Warum wählt er bloß einen so unbequemen Weg, um in die Villa zu gelangen?“ „Maskerade, alles nur Maskerade – glaube ich jedenfalls“, sagte Sandra. „Wozu die Schattenspiele?“ „Wer weiß? Vielleicht ist er ein Außerirdischer“, sagte Sandra schelmisch. „Ein Außerirdischer!“, unterbrach Mario und winkte ungeduldig seine Freunde zu sich. „Wir sollten uns lieber schleunigst mit der Wirklichkeit befassen. Seht her, was ich hier Interessantes gefunden habe!“
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Gespenstisch ruhig
Mario spulte das Videoband ein Stück zurück. Sandra und Armin hockten sich neben ihn auf den Boden und starrten gespannt auf den Fernseher. Herr Salviati erschien auf dem Bildschirm. Er saß in einem Lehnsessel vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer seiner Villa und sprach direkt in die Kamera. „Es war vor neun Jahren. Wie jedes Jahr an meinem Geburtstag ging ich zur Feier des Tages mit meinem alten Freund Renato Nardi in das Stadtcasino, um Poker zu spielen. An diesem Tag hatten wir besonderes Glück. Ich konnte es kaum fassen. Einer unserer Mitspieler stand bei uns mit zehn Millionen Lire in der Kreide und bat uns zu später Stunde um ein letztes Spiel, eine letzte Chance.“ „Zehn Millionen Lire!“, entfuhr es Sandra. „Wahnsinn!“ „Schscht! Sei still!“, fauchte Armin. „Ich wollte ihm seine Bitte nicht abschlagen und bat ihn, einen Schuldschein zu unterschreiben, für den Fall, dass er auch dieses Spiel verlor. Stattdessen griff er in sein Sakko und zog ein vergilbtes Stück Pergament hervor. Darauf standen verschiedene Zeichen. Er legte es auf den Tisch und gab ein neues Spiel aus. Er behauptete, das Pergament sei der Schlüssel zu einem großen Geheimnis und viel mehr wert als zehn Millionen Lire. Ich war neugierig 96
geworden und nahm das Spiel an – und gewann wieder.“ Das Bild zitterte für einen Moment und der Ton verebbte für einen Moment. „Mist!“, fluchte Armin. „Spul ein Stück zurück!“ „Vergiss es, das liegt an der Aufnahme“, erklärte Mario. Nach einigen Sekunden waren Bild und Ton wieder besser und man konnte Lorenzo Salviati wieder verstehen: „Nachdem wir das Casino verlassen hatten, gingen wir direkt zu unserem Freund und Flugnavigator Alberto Massi, weil wir hofften, er könnte etwas mit den Zeichen auf dem Pergament anfangen. Es dauerte nicht lange, und er hatte die Botschaft geknackt. Noch in der selben Nacht schlichen wir in die Scuola Grande di San Rocco und fanden die Bestätigung dafür, dass der Mann im Casino nicht gelogen hatte.“ Wieder war das Band für einen Moment gestört. „Verdammt noch mal!“, ärgerte sich Sandra. „… stiegen wir mit zwei Kerzen in den finsteren Tunnel ein. Wir waren etwa 20 Minuten gegangen, als wir an einer schweren Eisentür ankamen. Es war bitterkalt und die Steinwände waren feucht. Der Tunnel führte wahrhaftig unter dem Meer zu …“ Erneut flackerte das Bild, und der Ton war wieder nicht zu verstehen. „… öffneten die Tür und fanden uns in einem grabähnlichen Gewölbe wieder. In der Mitte auf dem Boden befand sich eine massive Marmorplatte. Darauf eingemeißelt stand ein Name: Jacopo Robusti, 1518-1594. In einer Ecke entdeckte Renato eine kleine Orgel. Übermütig setzte er sich hin und wollte darauf spielen, als sich plötzlich ein Teil der Tastatur zur Seite bewegte und ein automatisches 97
Spielwerk freigab, in dem sich eine mit Diamantnoppen besetzte, aus zwei Halbzylindern bestehende Silberwalze befand. Die Noppen waren unterschiedlich lang und lösten entsprechend ihrer Anordnung Töne aus, die eine schaurige Melodie ergaben. Wir waren davon so gefesselt, dass wir nicht bemerkten, wie sich hinter uns die Marmorplatte zur Seite schob und den Eingang zu einer Gruft freigab. Mit dem letzten Licht unserer Kerzen stiegen wir die Treppe in die Finsternis hinunter. Wir hatten das Gefühl, von den Toten beobachtet zu werden, so gespenstisch ruhig war es. Die riesigen Katakomben waren prunkvoll ausgestattet. Und dann sahen wir es plötzlich. Der Atem stockte uns, als wir begriffen. Es war …“ Störung.
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Tania
„Hier endet die Aufnahme oder wurde gelöscht“, sagte Mario nachdenklich. Armin widmete sich den zusammengeklebten Pergamentstücken. Er wollte unbedingt herausfinden, was die Zeichen bedeuteten. „Wir müssen schleunigst feststellen, was in dieser Gruft verborgen ist“, sagte Sandra. „Ich bin überzeugt, es hat mit den Schnabelgesichtern zu tun.“ Sie ging zu Armin und betrachtete ebenfalls das Pergament. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie riss Armin den Plan aus der Hand. „He! Was soll das?“, schimpfte er. „Erinnerst du dich an den Film ›Contact‹, den wir vor ein paar Wochen im Kino gesehen haben?“, fragte sie. „Ja, natürlich“, antwortete Armin. „Die Ingenieure konnten die Baupläne für das Raumschiff auch nicht entziffern. Und warum?“ „Warum?“, motzte Armin. „Weil sie sie nur nebeneinander betrachteten!“ „Ja! Das könnte die Lösung sein!“, rief Armin. Er faltete das Pergament dort, wo sie es zusammengeklebt hatten, und hielt es überlappt gegen das Licht. Die SAM-Freunde staunten nicht schlecht. 99
„Das sind Noten – eine Melodie!“, sagte Sandra. Jetzt war deutlich zu erkennen, dass die vorher so zusammenhanglosen Zeichen und Linien ein System von Notenzeilen und Noten ergaben. „Seht euch das an“, sagte Armin und zeigte auf eine stadtplanähnliche Anordnung von Linien, Buchstaben und Zahlen. Sandra hatte bereits einen Stadtplan von Venedig hervorgeholt und verglich ihn mit der Skizze auf dem Plan. Dann las sie im Inhaltsverzeichnis der Sehenswürdigkeiten nach. „He! Da waren wir schon. Das müsste es sein: Die Scuola Grande di San Rocco!“ 100
„Scuola wie?“, fragte Mario. „Egal!“, rief Sandra. „Sie befindet sich am Campo San Rocco. Tintorettos grandioses Kunstwerk!“ Die drei Freunde blickten einander überrascht an. „Nichts wie hin!“, beschloss Armin. Die drei Freunde waren so konzentriert, dass sie nicht bemerkten, dass jemand die Treppe heraufkam. Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufhorchen. Armin öffnete. Tania Nardi stand vor der Tür. „Entschuldigt bitte, dass ich so einfach hereinplatze, aber ich wollte mich wegen meiner Aufgebrachtheit von heute Morgen entschuldigen. Es war nicht richtig, gleich zur Polizei zu gehen.“ Die drei sahen die Frau misstrauisch an. „Ich meine es ehrlich“, versicherte Tania. „Ich möchte das wieder gutmachen. Was kann ich tun?“ „Bringen Sie uns mit Ihrem Boot zur Scuola Grande di San Rocco“, schaltete Mario schnell. „Wie bitte?“, fragte Tania verwirrt. „Ja, fahren Sie uns einfach zur Scuola, das reicht uns als Wiedergutmachung.“ „Wollt ihr jetzt vielleicht alte Gemälde besichtigen?“ Die junge Frau musterte die drei ungläubig. Der Wunsch kam ihr offenbar verdächtig vor. „Gut, wenn es das ist, was ihr wollt. Meinetwegen.“ Das SAM-Trio machte sich umgehend auf den Weg zur Anlegestelle vor dem Hotel. „Ihr solltet allerdings auf keinen Fall alleine dorthin gehen“, meinte Tania plötzlich. „Nur keine Angst“, versuchte Sandra ihre Bedenken zu zerstreuen. 101
Die junge Frau blieb stehen. „Hört zu, ich kenne euch zwar noch nicht lange, aber lange genug, um zu wissen, dass ihr nicht dumm seid. Ihr führt doch was im Schilde, und ihr wisst etwas, das vielleicht gefährlich werden könnte.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte Mario und versuchte unschuldig zu wirken. „Der Immobiliensachverständige hat die Villa meines Vaters auf zwei Millionen Dollar geschätzt!“ sagte Tania. „So viel Geld konnte er als Pilot doch kaum verdienen.“ „Sie glauben, er hat krumme Geschäfte gemacht?“, fragte Sandra. „Ich habe keine Ahnung. Aber ihr solltet mich besser einweihen. Ihr wart doch nicht zufällig in der Villa“, meinte Tania Nardi und sah die SAM-Mitglieder erwartungsvoll an. „Aus Erfahrung wissen wir, dass es besser ist, die Ergebnisse unserer Nachforschungen für uns zu behalten“, erklärte Armin. „Wenn Sie uns zur Scuola fahren und sich unsere Vermutung bestätigt, erzählen wir Ihnen alles. Das ist doch ein faires Angebot“, versuchte Sandra Tania zu überreden. Die Frau dachte kurz nach und willigte ein. Die drei Freunde verabschiedeten sich noch schnell von Marios Tante und stiegen in das gelbe Boot von Tania Nardi. Sie ließ den Motor an und wendete. Dann brausten sie los, an einem entgegenkommenden Boot vorbei. Sandra blickte ihm nach und beobachtet sprachlos, wie es auf die Villa Nardi zusteuerte und in die Garage einfuhr.
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Ein übler Geselle!
Gemächlich tuckerte das Boot die Wasserstraße entlang. Tania ließ die drei Freunde keinen Moment aus den Augen. Mario saß neben ihr, Armin und Sandra hatten die hinteren Sitzplätze gewählt. „Ich habe mich dann entschlossen, Archäologie zu studieren, und noch als Studentin bekam ich die Gelegenheit, in einem Forschungsteam mitzuarbeiten. In dieser Zeit habe ich viel gelernt, und der Beruf macht mir heute mehr Spaß denn je“, erzählte Tania von sich. „So, jetzt seid ihr dran. Lasst hören.“ Stück für Stück gaben die SAM-Mitglieder Einzelheiten über die mysteriösen Ereignisse seit dem Ersteigern der Papprolle preis. „In der Scuola Grande di San Rocco finden wir hoffentlich heraus, wer diese Schnabelgesichter sind. Es muss einen triftigen Grund dafür geben, dass sie hinter dem Pergament und unserer Hälfte der Silberwalze her sind“, erklärte Mario. „Ich muss schon sagen, ich habe noch selten jemanden mit einer so blühenden Fantasie erlebt“, lächelte Tania. „Wie auch immer. Zur Sicherheit werde ich jedenfalls in die Scuola mitkommen.“ „Was ist los?“, fragte Armin Sandra, die sich ständig umdrehte. 103
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, wir werden wieder beschattet.“ Armin warf unauffällig einen Blick zurück. „Das Boot mit dem roten Außenborder!“, murmelte er. „Könnten Sie dort vorne bitte einen Moment halten?“, bat Sandra Tania. Die Frau lenkte das Boot an einen Steg und Sandra sprang raus. Sie lief in eine Telefonzelle und warf ein paar Münzen ein. Gekonnt simulierte sie ein Gespräch, beobachtete in Wirklichkeit aber das Boot hinter ihnen. Es hatte ebenfalls gehalten. „Mit wem spricht sie?“, fragte Tania. „Mit niemandem“, lachte Armin. „Sie glaubt, dass wir verfolgt werden, und wendet einen alten Trick an, um sicherzugehen.“ „Ihr meint das hellblaue Boot mit dem roten Motor?“ „Ja, genau.“ „Kein Problem. Mein Boot hat einige PS unter der Haube. Der ist leicht abgehängt!“, prahlte Tania. Sandra hängte den Hörer ein und sprang zurück ins Boot. Sie wollte den anderen gerade ihre Beobachtungen mitteilen, als Tania auch schon losbrauste. Geschickt manövrierte sie das Boot durch die engen Kanäle. Die Häuser und Palazzi schienen sich im Kreis zu drehen. Die SAM-Freunde wussten nicht mehr, wo hinten, vorne, links oder rechts war, bis das Boot endlich wieder zur Ruhe kam und ruhig dahinglitt. „Den sind wir los!“, triumphierte Tania. Das Boot hinter ihnen war verschwunden. „Tolle Vorstellung“, murmelte Sandra grimmig und 104
kämpfte sich in ihren Sitz zurück. Sie hatte einige blaue Flecken abbekommen. Schließlich bogen sie um eine Ecke und vor ihnen erschien die Fassade eines riesigen Renaissance-Palastes, der sich in dem bunten Gassengewirr herrisch breit machte. Seine Fenster waren vergittert, das mächtige Hauptportal verschlossen. Sie vertäuten das Boot und betraten den Palast durch einen Seiteneingang. Die drei Freunde kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie standen in einem lang gestreckten Saal, dessen Wände mit Gemälden bedeckt waren. Ein imposanter Treppenaufgang führte in das darüberliegende Stockwerk. Auch hier wieder eine Fülle von Gemälden. Das Gebäude war eine einzige Schatztruhe. „Die sind bestimmt ein Vermögen wert!“, hauchte Armin überwältigt. „Alle von Tintoretto“, sagte Tania, die eine Gedenktafel aus Marmor studierte. „Wer war dieser Tintoretto eigentlich?“, fragte Sandra. Tania las vor: „Der Maler Tintoretto schuf eines der berühmtesten Gesamtwerke aller Zeiten. Er wurde 1518 hier in Venedig geboren und war der Sohn eines Seidenfärbers. Für die hier zu sehenden Wand- und Deckengemälde brauchte der berühmteste Maler seiner Zeit volle 20 Jahre. Er starb im Jahre 1594 und wurde unter seinem richtigen Namen Jacopo Robusti in der Madonna dell’Orto begraben. Zumindest meinen das viele, aber genau weiß es niemand.“ Das SAM-Team horchte auf, als es den Namen Robusti vernahmen. „Jacopo Robusti ist Tintoretto! Freunde, hier stinkt etwas gewaltig zum Himmel“, grübelte Sandra nachdenklich und zwirbelte eine Haarsträhne. 105
Den Freunden wurde unwohl in dieser Umgebung. „Da!“, drang plötzlich ein Schrei Armins aus dem nächsten Saal herüber. Erschrocken hasteten seine Freunde zu ihm und blieben vor einem gespenstischen Gemälde stehen, auf das durch ein gegenüberliegendes Fenster ein matter Lichtschein fiel. Es zeigte eine monströse Gestalt aus einer der dunkelsten Zeiten der Lagunenstadt. Sie trug einen bodenlangen weißen Samtmantel mit weiten Ärmeln. Der Hals war von einer Krause verdeckt und weiß behandschuhte Hände hielten einen dünnen weißen Stab. Unter der Kapuze funkelten die Augen dunkelrot und statt Mund und Nase hatte die Gestalt einen langen weißen Krummschnabel. Das lebensgroße Bild fesselte die SAM-Mitglieder. Gebannt starrten sie auf das weiße Schnabelgesicht. „Lasst uns ins Hotel zurückfahren“, sagte Mario zitternd. Tania beobachtete die Reaktion der drei Freunde. Auf sie schien das Gemälde keinen Eindruck zu machen. „Wo habt ihr die Papprolle und ihren Inhalt eigentlich?“, fragte sie stattdessen. „Gut versteckt. Sehr gut versteckt“, murmelte Armin, ohne das Bild auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Wer ist das?“, stammelte Mario. Tania trat näher an das Bild heran. „Ein übler Geselle“, sagte sie eindringlich. „Wen der besuchte, war so gut wie tot …“ Tania wurde von einem hallenden Geräusch unterbrochen. „Da kommt jemand!“, zischte Mario. Die drei Freunde versteckten sich hastig hinter ein paar Säulen. 106
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In der Höhle des Löwen
Kurz nachdem die drei Detektive mit Tania aufgebrochen waren und Sandra ein Boot in die Garage der Villa Nardi hatte fahren sehen, war ein lauter Hilfeschrei über den Kanal ins Hotel gedrungen. Ohne Zögern setzten Tante Patricia und ihr Broker Raffaele zur Villa Nardi über. Ein Mann stand fassungslos neben einem vertäuten Boot. „Was ist denn passiert?“, rief Tante Patricia. Der Mann trat ein paar Schritte zurück und stammelte: „Ich … ich war es nicht! Sie müssen mir glauben!“ Unter einer Plane, die zusammengeknüllt im Boot lag, ragten zwei gefesselte Hände hervor. Herr Raffaele fackelte nicht lange. Er sprang ins Boot und zog die Plane zur Seite. „Ach du lieber Gott!“, entfuhr es Tante Patricia. Herr Raffaele bat den Mann, ihm behilflich zu sein. Mühsam drehten sie den Körper auf den Rücken. „Er lebt!“, rief der Broker erleichtert. Der Gefesselte machte einen sehr erschöpften Eindruck. Die anfängliche Besorgnis von Marios Tante wandelte sich schnell in Wut, als sie ihn erkannte. „Ich hoffe für dich, dass meine Aktien auch hier sind. Und die Kündigung kannst du dir an den Hut stecken! Hiermit bist du fristlos entlassen!“, schrie sie Paolo an. 108
Der fremde Mann verstand ihre Aufregung nicht. „Was geht hier eigentlich vor? Könnte mich vielleicht jemand aufklären?“, fragte er irritiert. Tante Patricia hatte bereits per Handy die Polizei verständigt, um Paolo abführen zu lassen. „Wenn Sie gestatten, würde ich mich gerne vorstellen und Sie zum Essen einladen. Ich glaube, Sie sind mir ein paar Erklärungen schuldig“, meinte der Fremde nachdrücklich. „Mit Fremden gehe ich prinzipiell nicht essen!“, erklärte Tante Patricia aufgebracht. Doch sie änderte ihre Meinung schnell, als sie den Namen dieses Fremden erfahren hatte. Zwei lange Schatten krochen die Treppe herauf zum Herbergsaal, wo sich die drei Freunde und Tania versteckt hielten. Mario schauderte, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten. Es waren zwei Schnabelgesichter. Ihre Augen leuchteten rot unter den Kapuzen hervor. Sie sahen sich genau um, als ob sie sich vergewissern wollten, dass niemand außer ihnen anwesend war. „Wir sind in der Höhle des Löwen“, wisperte Armin voller Angst. „Das sind die beiden Komplizen, die die weiße Gondel in Schlepptau genommen haben“, flüsterte Mario. Die SAM-Mitglieder beobachteten, wie eines der Schnabelgesichter ein Funktelefon hervorholte und eine kurze Botschaft durchgab: „Alles in Ordnung, wie immer.“ Einen Augenblick später führten zwei weitere Schnabelgesichter einen Mann in die Mitte des Herbergsaales, wo sich ein Marmorpodest befand. Langsam kniete der Mann nieder. 109
„Bist du bereit?“, fragte eines der Schnabelgesichter dumpf. Der Mann senkte demütig den Kopf und wurde im gleichen Moment von einem Schatten eingehüllt. Mario sah zum Eingang. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Im fahlen Licht stand die Gestalt mit dem bodenlangen weißen Mantel. In der rechten Hand hielt sie einen dünnen weißen Stab. „Das Schnabelgesicht auf dem Gemälde!“, flüsterte Sandra zitternd. „Schschtt!!“, zischte Armin. Mit majestätischen Schritten trat die Gestalt vor den knienden Mann und blickte auf ihn nieder. Auf ein Zeichen mit dem Stab hin riss ihm eines der anderen Schnabelgesichter das Hemd von der linken Schulter und hielt seinen Arm fest. Die drei Freunde wurden allmählich unruhig. Sie ahnten, was geschehen würde. „Sie werden ihn töten“, flüsterte Armin. „Das müssen wir verhindern!“ Das Schnabelgesicht drehte am hinteren Ende seines Stabes und die Spitze begann zu glühen. Dann stimmten die restlichen Gestalten einen düsteren Chor an und der glühende Stab näherte sich bedrohlich der Schulter des Mannes. Ein Angstschrei gellte durch die Hallen der Scuola. Mario konnte nicht länger zusehen. „Das ist Mord!“, keuchte er. „Wir müssen etwas unternehmen!“ Armin und Sandra versuchten ihn vergeblich zurückzuhalten. Er sprang aus seinem Versteck und rannte wild entschlossen auf den knienden Mann zu. „Mörder!!“, brüllte er. 110
Die Schnabelgesichter bemerkten Mario erst, als er bereits bis auf wenige Meter an sie herangekommen war. Zwei von ihnen machten sich daran, den Mann wegzuzerren. Das Schnabelgesicht mit dem langen Mantel starrte Mario mit seinen dunkelrot funkelnden Augen an. Ein kurzer Befehl genügte, und zwei Komplizen traten ihm entgegen. Ein wildes Handgemenge folgte. Schreie wurden von den hohen Wänden vervielfacht als Echo zurückgeworfen. „Wir müssen Mario da sofort rausholen!“, rief Sandra angsterfüllt. „Sonst töten sie ihn, genauso wie den anderen Mann!“ Die zwei wollten soeben aus ihren Verstecken stürzen, als die Tür an einem Seiteneingang der Scuola zuknallte. Wer kam da noch?
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Jetzt oder nie
Ein groß gewachsener, kräftiger Mann stand plötzlich mitten im Herbergsaal der Scuola. In der linken Hand hielt er einen Revolver, in der rechten eine Handgranate. Trotz der Düsternis trug er eine Sonnenbrille, in der sich die Gemälde spiegelten. „Der Bombenleger aus dem Restaurant“, flüsterte Sandra. „Der Froschmann“, fügte Armin erstaunt hinzu. „Das reicht jetzt. Das geht eindeutig zu weit!“, fuhr der Mann die Schnabelgesichter an. „Geben Sie den Jungen sofort frei!“ Als die Schnabelgesichter die Handgranate sahen, ließen sie Mario erschrocken los. „Keine Bewegung!“, drohte der Mann energisch. Mario kümmerte sich nicht darum, sondern stürzte zu seinen Freunden. Kreidebleich sank er im Versteck zu Boden. „Das ist doch alles Theater“, sagte Tania und musterte den Mann mit der Spiegelbrille. „Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen. Er steckt bestimmt mit diesen Killern unter einer Decke. Lasst uns abhauen, solange noch Zeit ist!“ „Tania hat Recht“, sagte Armin. „Wieso sollte er uns plötzlich beschützen? Bisher hat er uns gejagt. Er will nur das Pergament und die Silberwalze für sich haben.“ 112
Sandra zählte leise bis drei, dann düsten die SAMFreunde und Tania die Treppe hinunter und hasteten zu ihrem Boot. Mit einem Riesensatz sprangen sie hinein. Mario versuchte das Tau zu lösen, als er aus den Augenwinkeln bereits den Froschmann heraneilen sah. „Schneller, Mario! Er ist schon hinter dir!“, schrie Sandra aus Leibeskräften, aber der Knoten war zu fest. Der Motor heulte auf, als Tania ihn startete. „Verdammt noch mal, mach schon!“, rief Armin und starrte auf den heranstürzenden Froschmann. „Keine Bewegung!“, rief dieser und zielte mit dem Revolver auf das Boot. Mario holte fahrig sein Schweizermesser aus der Tasche und sägte zittrig das Tau durch. Endlich war das Boot frei. Im letzten Moment hechtete er hinein. Tania gab Vollgas. Die drei Freunde wurden zu Boden gerissen, als sich das Boot aufbäumte. Armin blickte sich um und sah, wie der Froschmann verärgert fluchte. „Der Mann ist vollkommen irre!“, keuchte Tania. Erst einige Kanäle weiter drosselte sie das Tempo und das Boot glitt mit normalem Tempo dahin. „Ich werde sofort die Polizei verständigen, die Sache ist mir inzwischen zu gefährlich“, sagte Tania und legte an einem Steg mit Telefonzelle an. Die drei Freunde nutzten die Zeit, um sich zu besprechen. „Die Noten auf dem Pergament sind der akustische Schlüssel, der den Tunneleingang öffnet. Er muss sich in der Scuola befinden“, war sich Sandra jetzt sicher. Als Musikerin kannte sie sich mit Noten aus. 113
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„Aber das alles ergibt doch keinen Sinn“, grübelte Mario. „Was soll diese Maskerade mit den Schnabelgesichtern?“ „Die Antwort auf diese Frage finden wir auf San Michele“, sagte Armin und blinzelte in die Abendsonne, die allmählich von Wolken verhüllt wurde. „Auf der Toteninsel muss sich etwas Geheimnisvolles befinden. Etwas, das die Schnabelgesichter auch vor Mord nicht zurückschrecken lässt.“ „Was kann nur so wichtig für jemanden sein?“, meinte Mario, der sein Hosenbein hochgeschoben hatte und kontrollierte, ob die Klebestreifen noch hielten, mit denen er die Silberwalze an seiner Wade befestigt hatte. Armin stellte sich ans Steuer und kontrollierte die Tankanzeige. Der Zeiger stand noch weit rechts. Sprit würde also kein Problem sein. Die SAM-Mitglieder sahen einander an. Keiner wollte die Entscheidung treffen. Die Sonne war inzwischen von Wolken eingehüllt und ein leichter Wind strich durch die Kanäle. „Das ist die einzige Möglichkeit, endlich herauszufinden, was hier los ist. Jetzt oder nie“, sagte Armin. „Weißt du auch genau, wo die Toteninsel liegt?“, fragte Sandra unsicher. „Klar, ich habe den Stadtplan genau im Kopf. Null Problemo.“ „Also gut, ich mache mit“, sagte Sandra schließlich. „Solange wir die Walze und das Pergament haben, sind wir sowieso in Lebensgefahr.“ Mario starrte skeptisch zum Himmel, der sich zusehends verdunkelte. Aber auch er war schließlich mit der Idee seines Freundes einverstanden. Armin wusste, dass Tania 115
ihrem Plan nie zustimmen würde. Er startete das Boot und brauste einfach davon. Wenige Minuten später, als sie das Lagunenmeer erreicht hatten, wehte bereits ein heftiger Wind. Die ersten Blitze zuckten und Donnergrollen war zu hören. Das Boot kämpfte hilflos gegen die riesigen Wellen an. Der Sturm wehte den drei Freunden die salzigen Gischten ins Gesicht. Sie entfernten sich immer weiter von der Stadt. Ihre Angst wuchs. Der Sturm peitschte immer höhere Wellen auf, und es setzte ein sintflutartiger Regen ein. „Wir sollten lieber zurückfahren!“, rief Sandra. Am Horizont gaben die hohen Wellen bereits hin und wieder den Blick auf die Toteninsel frei. „Nicht so kurz vor dem Ziel!“, schrie Armin zurück und bemühte sich, das Boot auf Kurs zu halten.
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Willkommen auf der Toteninsel
Marios Tante und der fremde Mann standen vor der Villa Nardi und unterhielten sich angeregt. „Ich wusste zwar, dass Herr Nardi einen Sohn hat, aber seine Tochter hat er mir offensichtlich verschwiegen“, lächelte die Hotelbesitzerin. „Verzeihen Sie bitte. Wie meinten Sie? Eine Tochter?“, fragte Claudio Nardi. „Ja“, wiederholte Tante Patricia erstaunt. „Tania Nardi.“ „Ich habe keine Schwester, das versichere ich Ihnen. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben und mein Vater hat nie wieder geheiratet.“ Betroffen schwieg Patricia. Sie starrte Claudio an. „Das … das tut mir wirklich Leid. Sie hat behauptet, Renato Nardis Tochter zu sein. Und jetzt ist diese Lügnerin mit Mario und seinen Freunden unterwegs!“ Patricia blickte beunruhigt auf den Kanal hinaus. Die Polizei hatte Paolo inzwischen abgeführt. Niedergeschlagen kauerte der Ex-Küchenchef des Hotels Paradiso auf einer schmalen Holzbank im Polizeiboot. Kommissar Butazzi trat neben Tante Patricia, um sich zu verabschieden. „Und? Hat er ausgepackt?“, wollte sie wissen. „Er hat ein Geständnis abgelegt in der Hoffnung, dass seine Strafe dadurch milder ausfällt.“ 117
„Was ist ihm zugestoßen?“ „Er wollte die Aktien zu Geld machen, um seine Casinoschulden zu begleichen. Er stellte sich betrunken, um ein Alibi zu haben, wurde aber auf der Suche nach dem Tresor von einem zweiten Eindringling niedergeschlagen und in den Aufzug gezerrt. Der Eindringling faselte offenbar etwas von einem Pergamentplan und einer Silberwalze.“ „Weiß er, wo Mario und seine Freunde sein könnten? Sie sind in großer Gefahr!“, fragte Tante Patricia besorgt. „Tut mir Leid, mehr ist nicht aus ihm herauszubekommen.“ Kommissar Butazzi verabschiedete sich höflich und kletterte in das Polizeiboot. „Lange können wir nicht mehr durchhalten!“, brüllte Armin, so laut er konnte. Aber der Sturm toste so heftig, dass ihn seine Freunde kaum hörten. Sandra lag bäuchlings auf dem Boden und krallte sich an den Dollen für die Ruder fest. Da erfasste eine Riesenwoge das Boot und hob es hoch. Die drei Freunde wurden über Bord geschleudert. „Das ist das Ende! Wir werden sterben!“, dachten sie. Völlig erschöpft schnappten sie nach Luft, als sie wieder an die Oberfläche kamen. Da schlug neben ihnen ein Blitz ins Meer ein und peitschte eine Sturmwelle auf. Sie hob die drei Freunde hoch und ließ sie durch die Lüfte sausen. Dann schienen sie durch Baumkronen zu stürzen. Nach einer Weile landeten sie auf etwas Weichem, Nassem. Minuten verstrichen. Wenige Meter von Armin entfernt krächzte Sandra et118
was Unverständliches. Nebel war aufgezogen. Die Woge hatte die SAM-Freunde auf die Toteninsel geschleudert. „Wo ist Mario?“, fragte Armin besorgt. „Ist er … ist er ertrunken?“ Er konnte das einfach nicht glauben. Armin rappelte sich hoch und sagte: „Ich werde die ganze Insel nach ihm absuchen. Wenn wir hier sind, muss auch er irgendwo gestrandet sein.“ Sandra wollte ihren Freund davon abhalten, aber Armin war bereits im Nebel verschwunden. Er kämpfte sich vorwärts, bis er plötzlich vor einer tempelartigen Grabstätte stand. Er stieg ein paar Stufen hinauf, öffnete vorsichtig eine Tür und trat in einen stockdunklen Raum. Plötzlich ging das Licht an und der Junge taumelte ein paar Schritte zurück. Jemand versetzte ihm einen Schlag ins Genick und er ging zu Boden. Er wurde durch die Gruft geschleppt. Da erblickte er Mario neben sich. Sie waren von Männern mit weißen Schnabelgesichtern umgeben. Orgelmusik erklang. Als die Melodie zu Ende war, drehte sich der Organist im weißen Mantel langsam um und Armin starrte in die rot glühenden Augen des Anführers der weißen Schnabelgesichter. Der Bastard erhob sich und trat auf Armin zu. „Händige mir sofort den zweiten Teil der Walze aus“, forderte das weiße Schnabelgesicht. Armin sah zu Mario. Sie hatten seinen Freund also noch nicht durchsucht. „Bitte glauben Sie mir, ich habe ihn nicht“, versicherte der Junge mit zittriger Stimme. Der Anführer der Schnabelgesichter stieß einen wütenden Schrei aus und zielte mit dem weißen Stab auf Armin. Gespenstischer Chorgesang setzte ein. Die glühende Me119
tallspitze war nur mehr wenige Zentimeter von Armins Schulter entfernt. „Ich gebe euch noch eine letzte Chance, euer Leben zu retten“, drohte das Schnabelgesicht. „Gebt mir euren Teil der Walze oder ihr findet einen frühen Tod!“ Armin blickte wieder zu Mario. Es war Zeit zum Handeln. Der SAM-Detektiv schob sein Hosenbein hoch. An seiner Wade hingen drei zerfetzte Klebestreifen. „Ich hatte die Walze hier befestigt“, erklärte er. „Ich muss sie im Sturm verloren haben.“ „Du hast soeben euer Todesurteil gesprochen!“, dröhnte die Stimme des Anführers. Auf ein kurzes Zeichen mit dem Stab kamen die übrigen Schnabelgesichter auf die beiden Detektive zu. „Armin? … Armin, bist du das?“, fragte Sandra zaghaft. Sie erhielt keine Antwort, und dann erblickte sie die Umrisse einer Gestalt. Das SAM-Mitglied erstarrte. Sie wusste, wer ihr da gegenüberstand. „Was machen Sie hier?“ fragte sie bestürzt. „Damit hast du wohl nicht gerechnet, was? Willkommen auf der Insel der Toten.“ Sandra schrie vor Angst auf. „Ich hoffe, du hast bei dir, wonach ich suche. Dann habt ihr vielleicht eine kleine Chance“, sagte die Gestalt im Nebel und lachte spöttisch auf. „Sie brauchen den Geheimschlüssel, hab ich Recht?“ „Sieh da, sieh da. Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst.“ „Sie wollen die Walze, aber da haben Sie Pech, Tania!“, 120
fauchte Sandra wütend. „Die ist uns im Sturm verloren gegangen, und damit bleibt das Geheimnis für immer gewahrt!“ „Ihr drei Widerlinge!“, schrie Tania. „Verzeih mir, Papa Massi.“ „Papa Massi?“, stutzte Sandra. Der SAM-Detektivin wurde plötzlich einiges klar. „Sie heißen in Wirklichkeit gar nicht Tania Nardi, richtig? Sie sind die Tochter von Alberto Massi, dem Flugnavigator!“ „Wie ich schon sagte: gar nicht so dumm“, zischte Tania. Sandra ärgerte sich über sich selbst. Sie hätte wissen müssen, dass Alberto Massi nach dem Entziffern des Pergamentplans von dem Geheimnis Wind bekommen hatte. Auf ihn hatten die drei Freunde zu wenig geachtet. „Als ich das Erbe meines Vaters antrat, widmete ich mich seinen Tagebüchern und fand darin Aufzeichnungen über das Geheimnis der Toteninsel. Ich entdeckte auch eine Zeichnung, die auf die Figur des venezianischen Pestarztes hinwies, eine düstere Gestalt mit weißem Schnabelgesicht, deren Aufgabe es war, die Stadt vor dem Untergang durch den schwarzen Tod zu retten. Die Pestärzte benützten dünne Holzstäbe zum Lüpfen der Bettdecken oder um den Todgeweihten durch schmerzlindernde Mittel das Leiden zu erleichtern. Ich konnte in Erfahrung bringen, dass die Bruderschaft der Schnabelgesichter – den Namen haben sie von den Pestärzten übernommen – den Maler Tintoretto verehrt, weil er wie sie seine Heimatstadt Venedig über alles liebte. Lange Zeit wusste niemand, wer im Besitz der Walze war, und die Schnabelgesichter konnten ihren waghalsigen Plan 121
nicht in die Tat umsetzen. Und jetzt, da Tintorettos Grab nach vielen Jahren des Suchens endlich geöffnet werden hätte können, taucht ihr drei Naseweise auf und verschließt es durch eure Schnüffeleien für immer!“ Tania erregte sich mehr und mehr. „Dafür werdet ihr büßen! Es hat mich viel Geld und Mühe gekostet, der Bruderschaft beizutreten, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Das wirst du mir mit deinen Freunden nicht zerstören.“ „Warten Sie!“, bettelte Sandra. „Ich weiß, wo die Walze ist!“ Sie musste Zeit gewinnen.
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Sesam öffne dich!
Das Tor zum Grabmal wurde geöffnet, und zwei weibliche Stimmen drangen durch die Stille. Mario und Armin hockten noch immer inmitten der Schnabelgesichter. Tania zerrte Sandra brutal hinein. Die SAM-Freunde waren am Ende ihrer Kräfte. „Sandra!“, rief Mario, als er sie sah. Sandra brachte keinen Ton heraus. Sie riss sich von Tania Massi los und stürzte durch den Ring der Schnabelgesichter zu ihren Freunden. „Bist du in Ordnung?“, fragte Armin besorgt. „Mir geht es gut, klar doch“, keuchte sie. Armin sah sie an. „Klar doch“, versuchte er ihr Mut zu machen. „Hatte sie den Zylinder bei sich?“, fragte der Anführer der weißen Schnabelgesichter ungeduldig. Triumphierend zeigte Tania die zweite Hälfte der Silberwalze herum. „Woher wussten Sie, in welcher ich sie versteckt hatte?“, fragte Mario verblüfft. Er hatte beschlossen, die Walze zur Sicherheit nicht bei sich zu behalten, sondern in einer Steinvase auf einem der Gräber zu verstecken. 123
Da die Vase vom Wind umgeworfen worden und zerbrochen war, hatte Tania sie schnell gefunden. Erleichterung machte sich unter den Schnabelgesichtern breit. Sie ließen augenblicklich von den Kindern ab. Ihre Aufmerksamkeit galt nur noch der Silberwalze. Der Anführer der Schnabelgesichter trat in die Mitte des Kreises, nahm Tanias Fund entgegen und hielt ihn beschwörend in die Luft. Dann setzte er die zwei Teile der Walze zusammen. Die übrigen Schnabelgesichter sanken auf die Knie und huldigten der Walze. Dann sprach der Anführer mit majestätischer Stimme: „Pestärzte Venedigs, viele Jahre mussten verstreichen, Jahre des Wartens und des Hoffens. Aber es hat sich gelohnt! Der Zeitpunkt der Rache und der Genesung unserer geliebten Heimatstadt ist nicht mehr fern. Noch heute Nacht werden wir die Stadtregierung stürzen und selbst das Steuer übernehmen.“ Der Chorgesang setzte wieder ein. „Wir werden das seit Jahrhunderten versprochene Sperrwerk bauen, das sich bei Sturmfluten automatisch schließt, und so unsere Heimatstadt retten. Anstatt sie dem Untergang preiszugeben, werden wir sie wieder zu jener Weltmacht aufbauen, die sie einst war. Wir werden in die Geschichte eingehen. Venedig wird wieder den ihm gebührenden Platz einnehmen!“ Die Schnabelgesichter brachen in Jubel aus. Sandra rutschte zu Armin und Mario. „Das ist alles nur billiges Theater, um uns Angst einzujagen“, flüsterte sie. „Da bin ich aber ganz anderer Meinung“, erwiderte Mario überzeugt. „Hast du vergessen, was dem jungen Mann in der Scuola passiert ist?“ 124
„Ich glaube nicht, dass sie ihn umgebracht haben. Unter dem Kostüm des Pestarztes verbirgt sich jemand, der durch Berührung mit dem Stab das Kurzzeitgedächtnis lähmt.“ „Eine Droge oder ein Elektroschock, der Erinnerungen löscht?“, murmelte Armin. „Wahrscheinlich foltern sie so Personen, bei denen die Schnabelgesichter den Geheimschlüssel zur Gruft vermuteten und nicht fanden. Um nicht verraten zu werden, löschte man ihre Erinnerungen.“ Das weiße Schnabelgesicht schritt bedächtig zur Orgel und drückte auf einen Knopf. Das obere Manual öffnete sich wie vor Jahren bei Renato Nardi und Lorenzo Salviati. Der Anführer der Schnabelgesichter steckte die Walze behutsam an ihren Platz. Seine Komplizen scharten sich um die schwere Marmorplatte am Boden, die den Eingang zu Tintorettos Grab verschloss. Der Anführer wollte gerade die Orgel in Gang setzen, als die Tür zum Mausoleum aufgestoßen wurde und ein Schuss knallte. Erschrocken warfen sich einige Schnabelgesichter zu Boden. „Keine faulen Tricks! Hände hinter dem Kopf verschränken! Wird’s bald? Ein bisschen flott, wenn ich bitten darf“, drang eine Stimme vom Eingang herüber. Der Anführer wandte sich langsam von der Orgel ab und starrte auf die Gestalt, die einen Revolver in der einen und eine Handgranate in der anderen Hand hielt. „Der Froschmann! Wie eine verspiegelte Tauchermaske doch jemanden entstellen kann“, sagte Sandra erstaunt. „Die ist nicht verspiegelt, sondern mit einem hochsensiblen Nachtsichtgerät ausgestattet, das Restlicht verstärkt. 125
Dadurch kann ich auch unter Wasser und in der Nacht alles sehen“, sagte der Froschmann triumphierend. „Wir dachten schon, Sie stecken mit diesen Gaunern unter einer Decke“, sagte Armin erleichtert. „Wenn ich das alles vorher geahnt hätte, hätte ich diesen Job nie angenommen. Aber was tut man nicht alles als frisch gebackener Privatdetektiv, der Aufträge braucht!“ Der Froschmann nickte den Freunden zu und die drei standen auf. „Los, kommt schon her!“, rief der Mann. Der Anführer der Schnabelgesichter starrte noch immer wutenbrannt auf den Störenfried. Der Froschmann ging langsam zur Orgel, den Revolver immer auf den Anführer gerichtet. Auf halber Strecke kreuzte sich sein Weg mit den SAMDetektiven. „Ich habe zwar noch nie so aufgeweckte und hartnäckige … Detektivkollegen wie euch kennen gelernt, aber diesen Fall nehme ich doch lieber selbst in die Hand“, sagte der Froschmann. Trotz ihrer Aufregung und Angst waren die SAMMitglieder stolz darauf, von einem Berufsdetektiv als Kollegen bezeichnet worden zu sein. Sie hatten den Ausgang des Grabmals fast erreicht, als das Schnabelgesicht erkannte, dass die Handgranate nur eine Attrappe war. Der Froschmann nahm den Revolver in die linke Hand, um die Walze aus der Orgel zu nehmen. Auf diesen Moment hatte der Anführer der Schnabelgesichter gewartet. Blitzschnell stach er dem Privatdetektiv seinen Stab in die Brust, und dieser sank augenblicklich in sich zusammen. 126
Ein kurzer Wink genügte, und seine Komplizen zerrten die drei Freunde wieder in ihre Mitte und fesselten ihnen die Hände auf den Rücken. „Kapiert ihr Nichtsnutze jetzt, dass es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten? Eure Zeit ist abgelaufen!“, prophezeite der Anführer der Bruderschaft. Die Schnabelgesichter versammelten sich erneut um die Marmorplatte. Ihr Anführer setzte sich an die Orgel und legte einen kleinen Hebel um. Die Walze begann sich zu drehen, und eine düstere Melodie erfüllte den Raum. „Das ist die Melodie, von der Lorenzo Salviati im Video gesprochen hat“, flüsterte Sandra. Die Schnabelgesichter stimmten in die Melodie ein, und die schwere Marmorplatte, die den Eingang zu den Katakomben jahrelang verborgen hatte, schob sich ächzend zur Seite. „Ein akustischer Schließmechanismus!“, staunte Mario. „Sesam, öffne dich“, murmelte Sandra. Tania trat zu den Gaunern. Der ganze Vorgang dauerte nur wenige Sekunden, dann lag die Gruft offen vor ihnen. Der Anführer der Schnabelgesichter nahm einen Kerzenleuchter und stieg auf die Treppe, die in das Dunkel hinabführte.
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Das Geheimnis
Plötzlich schienen die drei Freunde den Schnabelgesichtern ziemlich gleichgültig zu sein. Sie stiegen in die Gruft hinab. Lediglich einer von ihnen blieb zurück, um auf die Gefangenen aufzupassen. Das Kerzenlicht erhellte die düsteren Gewölbe nur spärlich. Das SAM-Trio kämpfte sich Zentimeter für Zentimeter zum Rand des Lochs vor, um mehr zu sehen. Sie mussten herausfinden, was für die Schnabelgesichter von so großer Bedeutung war. Doch die Dunkelheit ließ nichts erkennen. „Ich habe eine Idee“, flüsterte Armin. Er schlich zu dem bewusstlosen Froschmann, nahm ihm die Tauchermaske mit dem eingebauten Nachtsichtgerät ab und kroch zu seinen Freunden zurück. Aus den Katakomben drang fröhlicher Lärm herauf. Armin setzte die Maske auf und spähte in das finstere Loch hinab. „Kannst du etwas erkennen?“, flüsterte Sandra leise. „Was siehst du?“, murmelte Mario ungeduldig und ließ dabei den Wächter, der wie gebannt in die Gruft hinunterstarrte, nicht aus den Augen. „Nichts“, sagte Armin enttäuscht. „Was heißt nichts?“, brauste Sandra auf. 128
„Nichts heißt nichts, was sonst!“, zischte Armin leise. „Die Gruft scheint leer zu sein. Nur an den Wänden hängen vergilbte Leinentücher mit Jahreszahlen und Buchstaben an den Ecken.“ „Welche Jahreszahlen?“, wollte Sandra wissen. „Ich kann nur eine erkennen: 1565 – J. R.“, erwiderte Armin. „Jacopo Robusti – Tintoretto“, kombinierte Sandra sofort. Dann beobachtete Armin, wie die Schnabelgesichter eines der Leinentücher von der Wand nahmen und dahinter ein riesiges altes Ölgemälde zum Vorschein kam, das die ›Kreuzigung Jesu‹ zeigte. Plötzlich waren Armin die Zusammenhänge klar. Er hatte dieses Bild schon bei ihrem Ausflug in der Scuola gesehen. „Wir haben Fälschungen bestaunt …“, entfuhr es dem Jungen. „Sprich nicht in Rätseln“, flüsterte Mario. „Ich verstehe auch nicht, was du meinst“, bestätigte Sandra. „In der Scuola Grande di San Rocco hängen nur Fälschungen von Tintorettos Bildern. Die echten sind seit Jahrhunderten hier auf der Toteninsel versteckt. Begraben für ewig wie ihr Schöpfer. Es müssen zig Bilder sein.“ „Wow! Wer die besitzt, ist der reichste Mensch der Welt und kann sich alle Wünsche erfüllen“, war Mario klar. „Bestimmt wollen die Gauner die Gemälde versteigern und mit dem Geld die Stadtregierung stürzen!“, meinte Sandra. 129
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„Möglich ist mit diesem Reichtum alles“, flüsterte Mario, der sich inzwischen immer näher an ihren Wächter herangeschlichen hatte. Der beachtete die Freunde gar nicht mehr. Sandra und Armin wussten sofort, was ihr Freund im Schilde führte. Auf ein Zeichen Marios stieß Sandra einen gellenden Schrei aus und lief eilig zur Tür des Grabmals. Das überraschte Schnabelgesicht wollte ihr nacheilen, stolperte aber und stürzte zu Boden. Armin und Mario warfen sich auf den Verbrecher und stülpten ihm seine Kutte über den Kopf, sodass er völlig orientierungslos war. Mit vereinten Kräften schoben die drei SAM-Mitglieder das Schnabelgesicht zum Loch und stürzten den Gauner hinunter. Es folgte ein Schrei und ein dumpfer Aufprall, dann hörten die drei Freunde bereits seine Komplizen herbeieilen. „Schnell!“, rief Armin und deutete auf die Orgel. Mario hastete zu dem Instrument und drückte den kleinen Hebel in seine Ausgangsstellung zurück. Wieder erklang die schaurige Musik und die schwere Marmorplatte schob sich über das Loch. Die Schnabelgesichter waren eingesperrt. Die Freunde jubelten. „Was ist denn hier los?“, fragte der Froschmann benommen, als er wieder zu sich kam. „Kommen Sie, wir dürfen keine Zeit verlieren!“, rief Armin und zerrte an seinem Arm. „Wir müssen sofort zur Polizei.“ „Ich habe ein Boot hier“, sagte der Froschmann und schoss das Schloss der Tür auf. 131
„Wie konntet ihr euren Wächter nur überwältigen?“, fragte Tante Patricia erstaunt. „Mit einem der ältesten und einfachsten Tricks überhaupt“, prahlte Mario. „Ich knotete ihm die Schuhbänder zusammen. Dann mussten wir ihn nur noch dazu bringen, einen Schritt zu tun, und er fiel um wie ein Sack.“ Der Bürgermeister der Stadt Venedig hatte die drei Freunde zum Dank auf eine Fahrt im luxuriösen OrientExpress eingeladen und nun schlemmten sie im Speisewagen die erlesensten Köstlichkeiten. „Du kommst doch nicht dahinter, wer sich unter der Schnabelmaske des weißen Pestarztes verbarg, Tante“, grinste Mario und bestellte sich noch eine Portion Hummer. „Spannt mich nicht länger auf die Folter und rückt schon raus damit!“ „Es war Dario Mazoni, der Vorgänger des heutigen Bürgermeisters. Er behauptete, die letzte Wahl nur verloren zu haben, weil seine Gegner Stimmzettel gefälscht hätten, und gründete mit einigen Verbündeten die ›Bruderschaft der weißen Schnabelgesichter‹.“ Tante Patricia konnte es kaum fassen. „Na ja“, seufzte sie, „wenigstens habe ich meine Aktien wieder, das ist mir wichtiger.“ „Das Ziel der Schnabelgesichter war es, Venedig wieder zu einer blühenden Stadt mit Einfluss zu machen. Zu diesem Zweck mussten sie als Erstes dafür sorgen, dass die schwimmende Stadt vor den Sturmfluten gesichert wird. Die echten Tintoretto-Gemälde wären von den Schnabelgesichtern verkauft worden, und mit dem Geld hätten sie dann zur See hin ein Sperrwerk errichtet“, erklärte Armin. 132
„Aber warum die Maskerade?“, wollte Tante Patricia wissen. „Die Verkleidung des venezianischen Pestarztes schien ihnen für die Bruderschaft und ihr Vorhaben das geeignete Symbol zu sein.“ „Symbol?“, fragte Tante Patricia verwirrt. „Ja“, fuhr Sandra fort. „Die Aufgabe der Pestärzte war es, Venedig vor Verderben und Untergang zu retten. Zwischen 1575 und 1577 starben fast 50.000 der damals 175.000 Einwohner Venedigs an der Pest.“ „Ja gut, aber was hat das mit heute zu tun?“ „Für Dario Mazoni und seine Anhänger bedeutet die heutige Stadtregierung auch nichts anderes als den Untergang ihrer geliebten Heimatstadt. Die Menschen ziehen in Scharen auf das Festland, die Touristen überlaufen die Stadt völlig, und das Meer droht die Häuser und Villen allmählich zu verschlucken. Er hätte als Bürgermeister noch so viele Pläne gehabt, um Venedig zu retten, aber dann musste er nach der Wahl abdanken. Diese Schmach hat er bis heute nicht verkraftet.“ „Und das Pergament und die Silberwalze mit den Diamantnoppen?“ „Eigentlich ein redliches Motiv und ein wirklich kluger Plan, aber eben doch ungesetzlich“, murmelte Mario und leerte ein weiteres Glas Ananassaft. „Der akustische Schließmechanismus wurde vor fast 400 Jahren vom damaligen Leiter der Scuola Grande di San Rocco angefertigt und im Grabmal auf der Toteninsel eingebaut. Er war auch jener Mann, der die Fälschungen in Auftrag gab und die echten Ölgemälde nach und nach in den Katakomben versteckte, um sie vor Räubern und Kul133
turbanausen zu schützen. Als er starb, ging das Pergament, das den Weg zu seinem Geheimnis wies, verloren, bis es schließlich vor neun Jahren durch Zufall Herrn Nardi und Herrn Salviati in die Hände fiel“, erklärte Mario. „Warum haben sie die Reichtümer nicht an sich genommen?“, wunderte Tante Patricia sich. „Lorenzo Salviati war selbst Maler und Kunstliebhaber. Er erkannte den Wert sofort und handelte mit Herrn Nardi höchst verantwortungsvoll, indem sie das Geheimnis nicht lüfteten. Als Lorenzo Salvati in seiner Botschaft an Renato Nardi von der Ruhestätte auf der Toteninsel sprach, meinte er nicht die Tintorettos, der bekanntlich in der Kirche Madonna dell’Orto begraben liegt, sondern jene seiner Gemälde. Nur Kunstexperten, die wissen, dass Tintoretto Jacopo Robusti ist, hätten durch die Initialen auf der Gedenktafel, die den Eingang zur Gruft verschloss, Verdacht schöpfen können, dass darunter Jahrhunderte lang ein sagenhafter Reichtum „begraben“ lag.“ „Wie auch immer“, meinte Tante Patricia. „Hauptsache, ihr habt den Plan der weißen Schnabelgesichter vereitelt und der Kunstwelt einen ihrer wertvollsten Schätze erhalten.“ Die Tür zum Speisewagen ging auf und der Froschmann und Kommissar Butazzi traten ein. Sie setzten sich zu den Freunden und zu Tante Patricia an den Tisch. „Ich glaube, ich habe die große Ehre, mit den besten Geheimdetektiven der Welt an einem Tisch zu sitzen“, lächelte der Kommissar und hielt den SAM-Mitgliedern die Tageszeitung unter die Nase. „He! Wir sind auf der Titelseite!“, jubelte Sandra und las die Schlagzeile vor: „Tintorettos Erbe in letzter Sekunde gerettet“. 134
„Sie heißen Todd Goodman?“, fragte sie den Froschmann erstaunt, nachdem sie die Bildzeile gelesen hatte. „Ja“, antwortete der groß gewachsene, stämmige Mann. „Nachdem immer mehr Einbrüche durch die Schnabelgesichter gemeldet wurden, beauftragte mich die Stadt Venedig, herauszufinden, was sie vorhatten. Da seid ihr auf der Bildfläche erschienen und habt meinen Plan gehörig durchkreuzt.“ Die SAM-Freunde fühlten sich richtig geschmeichelt. Schließlich war das nicht irgendjemand; Goodman war der beste Polizist von Interpol gewesen, bevor er sein eigenes Detektivbüro eröffnete. „Ich muss zugeben: Ihr habt mich erstaunt.“ „Kein Wunder“, prahlte Armin. „Wir SAM-Spezialisten lösen ja auch Fälle, bei denen andere Detektive schon längst aufgeben!“ Todd Goodman lachte und prostete seinen Kollegen zu. Der Orient-Express hielt an der nächsten Station, und Herr Goodman stieg aus, um nach Los Angeles zurückzufliegen. „Vielleicht melde ich mich eines Tages wieder bei euch, wenn ich nicht weiter weiß“, grinste er. Sandra schob das Fenster hinunter und winkte ihm nach. „Alles Gute, Herr Kollege! Sie finden unsere Adresse im Internet!“, rief sie und reichte ihre codierte Visitenkarte hinaus. Sie zu entziffern war für Detektive kein Problem. Als der Zug wieder anfuhr, setzte sie sich und genoss mit ihren Freunden die letzten Kilometer des nostalgischen Ausflugs. Armin, Sandra und Mario konnten nicht ahnen, dass der Zeitungsbericht sie enorm bekannt machen würde und den SAM-Detektiven bereits der nächste abenteuerliche Fall 135
bevorstand. Er würde sie in die Höhen des Himalayagebirges führen, wo sie einem gnadenlosen Todesmönch auf die Schliche kommen sollten … *
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siehe CodeName SAM, Geheimfall 2, „Der Gral des Todesmönchs“
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Venedig ist eine der bemerkenswertesten Städte der Welt. Es wurde nämlich auf Pfahlresten und Kalkstein-Fundamenten ins Meer gebaut. Venedig hat rund 300.000 Einwohner. Jedes Jahr besuchen bis zu 5 Millionen Touristen die Stadt mit ihren 118 Inseln, 177 Kanälen, 400 Brücken (die berühmteste ist die RialtoBrücke über den Canale Grande) und rund 3000 Gassen. Der Canale Grande, der Hauptkanal, der sich durch die ganze Stadt schlängelt, ist 3,8 km lang, 30 bis 70 m breit und 5 Meter tief. Der berühmte Markusplatz, der Hauptplatz der Lagunenstadt, wurde nach dem Heiligen Markus benannt, dessen Knochen einer Legende zufolge Anfang des 9. Jahrhunderts von Kaufleuten unter einer Ladung Schweinefleisch versteckt aus der Stadt Alexandria entführt und nach Venedig gebracht wurden. Noch heute sollen sie in der Basilica di San Marco unter dem Altar liegen, bewacht von einem feurig dreinblickenden geflügelten Markuslöwen. Da Venedig ins Meer gebaut wurde, sind HochwasserKatastrophen und Sturmfluten immer wieder eine Gefahr. 1966 suchte ein Hochwasser die Lagunenstadt heim. Der Wasserstand war damals fast zwei Meter höher als sonst. Der Markusplatz ist aber jedes Jahr einige Zentimeter überschwemmt. Dann müssen die Leute über Holzbretter gehen, die kreuz und quer über den Platz gelegt werden. 138
Nordöstlich von Venedig liegt sie – die geheimnisumwitterte Toteninsel der Lagunenstadt, deren Grabstätten hinter roten Mauern und grünen Zypressen versteckt sind. Um die Hygiene in Venedig zu verbessern, wurden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zwei kleinere Inseln zu einer großen Friedhofsinsel verbunden. Davor war San Michele eine Gefängnisinsel. Die Toten wurden früher in Trauergondeln zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht, später fuhr man mit Motorbooten. Heute wird niemand mehr auf San Michele begraben, weil schon lange kein Platz mehr ist. Trotzdem strömen tausende Touristen jährlich auf die Insel, um die skurrilen Grabsteine und die Gräber berühmter Persönlichkeiten zu besuchen. Von manchen Menschen weiß man gar nicht genau, ob sie überhaupt hier begraben liegen. Am Abend schallt eine mechanische Stimme über die schaurige Insel, und die Besucher müssen sie verlassen, damit die Toten wieder ruhen können.
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Venedig wurde auf Grund der schlechten hygienischen Verhältnisse immer wieder von der Pest – dem schwarzen Tod (die Kranken bekamen schwarze Beulen am Körper) – heimgesucht. Zwischen 1575 und 1577 starben rund 50.000 der 175.000 Einwohner an der Pest. Viele Inseln wurden zu Quarantänestationen ernannt, wo man die Kranken aussetzte, um die Gesunden zu schützen. Wer einmal auf so einer Insel war, hatte kaum eine Chance zu überleben. Die Pestärzte trugen Masken mit langen Schnäbeln, in die sie Kräuter und Essenzen füllten, um sich nicht anzustecken. Auch der lange Stab gehörte zur Ausrüstung eines „Schnabelgesichts“. Damit hob es die Bettdecken und Kleider der Kranken und Infizierten hoch. Dieses Kostüm wurde im 16. Jahrhundert vom französischen Arzt Charles de Lorme entworfen. Das lange Gewand aus Leinen, welches oft mit Wachs behandelt wurde, sollte vor Ansteckung schützen. Heute sieht man besonders zur Karnevalszeit (im Februar) noch viele „Schnabelgesichter“ in Venedig. Die aufwendigen Kostüme und Masken begeistern tausende Schaulustige, und viele Touristen erstehen eine solche Maske, in einem der zahlreichen Souvenirshops der Lagunenstadt. 140
Der berühmte Maler wurde 1518 in Venedig geboren und hieß mit richtigem Namen Jacopo Robusti. Der Name Tintoretto leitet sich vom Beruf seines Vaters ab, der Seidenfärber war. „Färber“ heißt auf Italienisch „Tintore“, Tintoretto auf Deutsch daher so viel wie „kleiner Färber“. Doch der Kleine wurde schnell ein ganz Großer. Er malte vor allem für die venezianische Bruderschaft Scuola di San Rocco – eine Art Verein. Die Scuola fungierte als Bank, als Versicherung und Krankenkasse und sorgte so für eine finanzielle Absicherung der Menschen und eine Linderung der Not, die durch die Pest hervorgerufen wurde. Berühmt wurde Tintoretto vor allem durch seine Art zu malen. Er spielte in vielen seiner Bilder mit Licht und Schatten, um so eine Tiefenwirkung zu erreichen. Um hinter das Geheimnis zu kommen, wie man Licht malt, bediente er sich einer kleinen Puppenbühne, auf der er Stoffpuppen aufstellte und beleuchtete. Er legte das Gelöbnis ab, der Scuola ein großes Bild zu malen, wenn er und seine Familie vom schwarzen Tod verschont blieben. Der Pestheilige San Rocco erhörte ihn, und noch heute ist Tintorettos großartiges Bild „Die Aufrichtung der ehernen Schlange“ in der Scuola zu bewundern. Es ist über acht Meter hoch und über fünf Meter breit. Weitere berühmte Bilder kannst du im Kunsthistorischen Museum in Wien („Susanna im Bade“) oder in der Gemäldegalerie „Alte Meister“ in Dresden („Der heilige Michael kämpft mit dem Drachen“) bestaunen. 141