Die Rache der Tulis-Yon
Version: v1.0
Fu Long war ein Narr. Du hättest dich mir anschließen sollen, und Choquai hätte...
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Die Rache der Tulis-Yon
Version: v1.0
Fu Long war ein Narr. Du hättest dich mir anschließen sollen, und Choquai hätte dir zu Füßen gelegen, dachte Kuang-shi. Jetzt wird die Geschichte über dich hinweggehen, als hätte es dich nie gegeben. Der Götterdämon trieb in einem Meer aus Blut und träumte von der vergangenen Größe seines Vampirreichs. Doch schon bald würde Choquai wieder existieren. Fu Longs Armee war vernich tend geschlagen, sein ehemaliger Verbündeter Tsa Mo Ra hatte sich ein für alle Mal von dem verräterischen Vampir abgewandt. Aber noch existierte die Blockade in Tsa Mo Ras Geist. Der ehe malige Hofzauberer ahnte nicht einmal, dass sein Wissen über die goldene Stadt der Vampire der Schlüssel war, um Choquai erneut Wirklichkeit werden zu lassen. Tsa Mo Ra musste sich erinnern! Und Kuang-shi hatte auch schon einen Plan, wie er dem Gedächtnis seines ehemaligen Die ners auf die Sprünge helfen konnte. Er hatte den perfekten Köder. Nicole Duval!
China, Yangtze-Gebiet
Die Lastwagen kamen kurz nach Mitternacht. Ohne Licht preschten die fünf in neutralem Grau lackierten Fahrzeuge über die holprigen Straßen und stoppten auf dem schmucklosen Dorfplatz. Schwer be waffnete Männer sprangen von den Ladeflächen und umstellten die kärglichen Häuser und Hütten. Jemand bellte einen kurzen Befehl, ansonsten vollzog sich die Aktion in erschreckender Stille. Die wenigen Dorfbewohner, die sich neugierig ins Freie wagten, wurden gleich von den Bewaffneten in Empfang genommen und in der Mitte des Dorfes zusammengetrieben. Dann durchkämmten die Eindringlinge in Zweierteams die ärmlichen Behausungen, um auch die anderen zu holen. Die Menschen hier lebten vom Reisanbau oder der Mitarbeit am gewaltigen Staudammprojekt der Regierung in Peking. Sie kümmer ten sich nicht viel um Politik, aber sie hatten gelernt, dass man sich besser fügte, wenn jemand mit einer Maschinenpistole vor einem stand. Und die harten Blicke der unheimlichen Gestalten ließen nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie jeden töten würden, der es wagte, sich ihren Anordnungen zu widersetzen. Als die Eindringlinge alle Dorfbewohner zusammengetrieben hat ten, zwangen sie sie, auf die Ladeflächen der Laster zu klettern. Eine einzelne Frau protestierte laut, bis ihr einer der Bewaffneten mit dem Gewehrkolben hart ins Gesicht schlug und sie zum Schweigen brachte. Von ihrem Mann und ihrem Sohn gestützt, kletterte die blu tende Frau ohne jeden weiteren Widerstand auf die Ladefläche des ihr am nächsten stehenden Lasters. Nur einige Kinder weinten leise. Die Mütter pressten sie fest an sich und redeten ihnen gut zu, in der Hoffnung, ihnen die Angst zu
nehmen – und auch sich selbst ein bisschen Mut zu machen. Dann verteilten sich die Bewaffneten wieder auf die Fahrzeuge, und die Wagen setzten sich in Bewegung. Als sich der Staub gelegt hatte, sah das Dorf genauso aus wie vorher. Erst als Stunden später die Sonne am Horizont aufging, taumelte ein alter Mann aus seinem Versteck ins Freie. Vor Angst und Entsetzen schreiend, rannte er von einer Hütte zur nächsten, bis er sicher war, dass niemand mehr da war. Dann brach er weinend auf dem Dorfplatz zusammen. Als er keine Tränen mehr hatte, rappelte sich der Alte auf, holte sein Fahrrad und fuhr los. Er musste weg von hier. Bevor sie merk ten, dass jemand fehlte, und zurückkamen.
* Kalifornien, Los Angeles County Fu Long hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Doch er hatte gehofft, dass es nicht so bald sein würde. Lautes Geschrei riss ihn aus seinen Studien. Dann hörte der chinesische Vampir Gepolter auf der Treppe, und die Tür seines Arbeitszimmers wurde aufgeris sen. Er sah in die schreckgeweiteten Augen seiner Gefährtin Jin Mei. »Sie bringen sich gegenseitig um, Geliebter. Du musst sie aufhalten!« »Friedhelms Leute?« »Sie wollen die Familie verlassen. Die anderen versuchen sie auf zuhalten. Mit allen Mitteln!« Mit einem Satz war der Vampir an der Tür. Schon auf dem Flur hörte er das erbitterte Wortgefecht in der Halle.
»Der Herrscher ist ein Weichling. Wir können uns nicht ewig ver stecken. Wir sind Vampire, keine Hasen!« Es war also so weit. Vor über einem Jahr hatte Fu Long einen Pakt mit Friedhelm Steiner geschlossen. Der berüchtigte deutsche Vam pirsoldat hatte ihm eine bestens gerüstete Armee zur Verfügung ge stellt, um an seiner Seite gegen Kuang-shi in den Krieg zu ziehen, den uralten chinesischen Götterdämon, der die ganze Welt in ein Ebenbild seines legendären Vampirreichs Choquai verwandeln wollte. Doch Friedhelm Steiner war tot. Fu Long hatte den Deutschen auf dessen eigenen Wunsch getötet, nachdem Friedhelm von einem Tu lis-Yon verletzt worden war. Friedhelm wollte lieber von der Hand eines Freundes sterben, als sich in einen Angehörigen von Kuang shis wolfsköpfigem Kriegervolk zu verwandeln. Den meisten aus Friedhelms Truppe war diese Gnade nicht zuteil geworden. Sie wa ren jetzt Tulis-Yon.* Nur fünf Vampirsoldaten hatten die Kämpfe überlebt. Und die waren immer weniger bereit, Fu Longs Anweisungen zu folgen. Schon vor dem Tod ihres Anführers hatten Friedhelms Leute Pro bleme gehabt, sich in Fu Longs Familie zu integrieren. Jetzt waren sie absolute Außenseiter. Friedhelm hatte seine Leute zu kompro misslosen Soldaten gedrillt. Sie wollten kämpfen, das war ihr einzi ger Lebenszweck. Mit Fu Longs zurückhaltender Art, mit seinem Entschluss, sich vor ihren Verfolgern zu verstecken, anstatt sie fron tal anzugreifen, konnten sie ebenso wenig anfangen wie mit seinem strikten Verbot, Menschenblut zu trinken. Irgendwann musste es zum Knall kommen – doch jetzt war der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Denn auch Fu Longs Bündnis mit Professor Zamorra war zerbro *siehe PZ 785: »Angriff der Wölfischen«
chen, nachdem er Jack O’Neill getötet hatte. Der Detective war selbst ein Tulis-Yon gewesen, aber das glaubte ihm weder Zamorra noch der Silbermond-Druide Gryf ap Llandrysgryf, der seit O’Neills Tod alles daransetzte, Fu Long zu töten. Die Ranch in Last Chance hatten sie bereits verlassen müssen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis Gryf sie in dieser heruntergekommenen Villa am Fuß der San Gabri el Mountains aufspüren würde. Alles löst sich auf, dachte Fu Long frustriert. All meine Arbeit war umsonst. Zamorra vertraute ihm nicht mehr, und seine eigenen Leu te wollten sich gegenseitig umbringen. Ideale Voraussetzungen für den finalen Kampf gegen Kuang-shi! Als Fu Long den Treppenabsatz erreichte, konnte er die Widersa cher sehen. Die fünf Vampirsoldaten trugen volle Kampfmontur und waren mit MPs und Granatwerfern bewaffnet. Ihnen gegenüber hatten sich Fu Longs Töchter und Söhne aufgebaut. Auch ihre Rei hen waren durch den Krieg mit den Tulis-Yon arg dezimiert wor den, aber rein zahlenmäßig waren sie den Rebellen noch weit über legen. In ihren Händen hielten sie Eisenstangen und improvisierte Holzpflöcke. »So weit ist es schon gekommen«, höhnte Kyle. Der ehemalige U.S.-Marine war einer von Friedhelms Teamchefs gewesen und hat te sich als Ranghöchster zum Anführer der Rebellen aufgeschwun gen. »Jetzt wollt ihr schon eure eigenen Brüder umbringen, statt ge meinsam mit uns gegen die Menschen zu kämpfen. Sie sind der Gegner jedes Vampirs und unsere natürliche Beute.« Fu Long wusste, dass es selbst bei seinen eigenen Anhängern viele gab, die ähnlich dachten. Es lag nur an seiner natürlichen Autorität, dass sie sich trotzdem seinen Geboten beugten. Mit einer Beweglichkeit, die man dem wie ein älterer Chinese aus sehenden Vampir nicht zugetraut hätte, schwang sich Fu Long über das Treppengeländer und landete mitten zwischen den kampfberei
ten Parteien. Unwillkürlich wich Kyle einen Schritt zurück. Doch dann trat er entschlossen einen Schritt vor und bleckte die Fangzäh ne. »Oh, der alte Mann ist auch aufgewacht. Aber es ist zu spät, Fu Long. Du wirst uns auch nicht aufhalten!« »Ihr wollt die Familie verlassen?« »Messerscharf erkannt. Und wir werden jeden töten, der uns dar an hindern will.« Sofort hoben Fu Longs Kinder ihre improvisierten Waffen. Fu Long gebot ihnen mit einer knappen Geste Einhalt. »Du hast Recht, Kyle«, sagte er ruhig. »Vampire sollten sich nicht gegenseitig umbringen. Aber du weißt, dass Friedhelm mir vertraut hat. Und er war bereit, mich mit allen Mitteln zu unterstützen, ob wohl auch er nicht immer mit meinen Methoden einverstanden war.« Lauernd sah Kyle den alten Chinesen an. Seit Friedhelms Tod war der dunkelhaarige Hüne immer aggressiver und unberechenbar ge worden. Genau wie seine Leute. Es gibt nichts Schlimmeres als füh rungslose Soldaten, dachte Fu Long. Sobald ihnen niemand mehr das Denken abnimmt, verwandeln sie sich in einen Haufen marodierender Mörder. Der chinesische Vampir wusste, dass er Kyle nicht aufhalten konn te. Aber er musste wenigstens ein Gemetzel verhindern. »Ich habe Friedhelm Steiner verehrt. Aber bei dir hat er sich geirrt, Fu Long«, zischte der Ex-Marine. »Glaubst du? Friedhelm wusste, dass auch für uns Kuang-shi die größte nur denkbare Bedrohung ist. Offenbar hast du deinem Meis ter nicht richtig zugehört.« Fu Long hatte einen wunden Punkt getroffen. Für einen Moment sah der Vampirsoldat betreten zu Boden. Dann richtete er seinen
Blick wieder auf Fu Long. Seine Augen waren eisiger als der kälteste Bergsee. »Kuang-shi ist unsere einzige Hoffnung. Eine Welt voller Vampire – was kann es für uns Größeres geben?« »Du bist ein Narr, Kyle«, fauchte Fu Long. »Kuang-shi ist kein Vampir-Messias. Er ist unser Untergang. Auch für Wesen wie uns gibt es ein natürliches Gleichgewicht. Kuang-shi wird es zerstören und uns alle in den Abgrund stürzen. Von der Welt, wie wir sie ken nen, wird nichts mehr übrig bleiben.« »Um so besser. Nur Feiglinge fürchten die Veränderung. Die Welt wird neu geboren werden, und es wird unsere Welt sein.« »Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann.« »Dann stirb!«, schrie Kyle und stürzte sich auf Fu Long. Geschickt wich der chinesische Vampir aus und versetzte Kyle einen Tritt, der den Hünen durch den halben Raum schleuderte. Kyle war stark, aber plump. Ein Kind hätte ihn mit der richtigen Technik abwehren können. »Macht ihn alle!«, brüllte Kyle, während er wieder auf die Beine kam. Sofort warfen sich die beiden schwer bewaffneten Parteien in die Schlacht. »Nein!«, schrie Fu Long. Selbst Kyles Leute erstarrten mitten in der Bewegung. Die umstehenden Vampire wichen zurück, als das Familienoberhaupt den Ex-Marine fest in den Blick nahm. »Es steht euch frei zu gehen. Wir werden euch nicht aufhalten.« Verwirrt starrten seine Töchter und Söhne ihn an, aber Fu Long wusste, dass dies der einzige Weg war, wenn seine Mission nicht in dieser Nacht in einem Massaker enden sollte. Misstrauisch blinzelte Kyle ihn an. »Du wirst uns nicht daran hindern?« »Nein. Ich gebe euch mein Wort.« Auch ein Vampir mit niederen Ehrbegriffen wie Kyle wusste, dass an Fu Longs Ehrenwort nicht zu rütteln war. »Ihr könnt gehen.«
»Okay«, sagte der Rebellenführer. Er ging zur Tür und gab seinen Leuten ein Zeichen, ihm zu folgen. Kalte Nachtluft wehte ihnen ent gegen, als sie die Tür öffneten. »Eins noch«, rief Fu Long ihnen hinterher. Fragend sahen ihn die Vampirsoldaten an. »Wir werden uns da draußen wiedersehen. Wenn ihr diese Schwelle übertretet, gibt es keinen Weg zurück. Dann stehen wir uns das nächste Mal als Todfeinde gegenüber.« »Ich freue mich darauf, alter Mann«, sagte Kyle mit einem wölfi schen Grinsen. Dann verließ er mit seinen Männern das Haus.
* Peking, Zentrale des chinesischen Geheimdienstes »Es gibt nur diese eine Möglichkeit. Wir müssen ihn holen«, sagte Yang Kar-Fei. Der junge Offizier sah den beiden anderen Männern in dem fensterlosen Raum fest in die Augen. Trotz seiner Jugend be kleidete der durchtrainierte Achtundzwanzigjährige bereits den Rang eines Majors. Und den hatte Yang nicht erreicht, weil er beim ersten Anzeichen von Widerstand klein beigab. »Ausgeschlossen«, sagte General Yeoh. Der hagere Mittfünfziger war nicht nur Yangs Vorgesetzter, sondern auch sein Mentor. Doch in letzter Zeit gab es häufig Auseinandersetzungen zwischen den beiden, denn Yang Kar-Fei war immer weniger bereit, kritiklos die veralteten Methoden seiner Vorgesetzten zu übernehmen. Yeohs buschige Augenbrauen zogen sich fast zu einer Linie zu sammen, als er weitersprach. Ein deutliches Zeichen seiner Verärge rung. »Dieser Zamorra ist Ausländer, und das ist eine interne chine
sische Angelegenheit. Wie würden wir vor der Welt dastehen, wenn wir noch nicht einmal so ein kleines Problem lösen könnten?« »Kleines Problem?« Yang glaubte, sich verhört zu haben. »Ein gan zes Dorf ist verschwunden. Ohne jede Spur.« »Eindeutig das Werk von Menschenhändlern«, sagte der dritte Mann im Raum. Oberst Lung Kuan-Tai war ein Karrierist, wie er im Buche stand. Er besaß einen scharfen Verstand, der jedoch immer wieder von seinen geistigen Scheuklappen beschränkt wurde. Wie in ganz China hatten auch im Geheimdienst immer noch die Beton köpfe das Sagen. »Es ist nicht das erste Mal, dass rücksichtslose Ban den gegen Bezahlung Menschen nach Hongkong oder in die USA schmuggeln, wo sie dann ihre Schuld in Restaurants oder Bordellen abarbeiten müssen.« Yang kannte das Problem. Aber das hier war etwas anderes. »Ein ganzes Dorf? Was sollten Menschenhändler mit Greisen oder klei nen Kinder anfangen?« »Vielleicht haben sie sich für den Transport erst gut bezahlen las sen und sie dann auf dem offenen Meer an die Haie verfüttert«, schlug Yeoh vor. Auch das kam durchaus vor. Wer sich in die Hände der Men schenhändler begab, konnte froh sein, wenn er mit dem Leben da vonkam. Das ersehnte bessere Leben, für das ihre Opfer oft alles aufgaben, was sie besaßen, erwartete nur die Wenigsten. Aber Yang wusste, dass dieses Verschwinden eines ganzen Dorfes nichts mit den Triaden* zu tun hatte. Sie alle wussten es, so sehr Yeoh und Lung auch versuchten, darum herumzureden. Also nahm er all seinen Mut zusammen und sagte mit so fester Stimme wie möglich: »Wir wissen alle, dass dies kein gewöhnliches Dorf ist.« Yeoh seufzte. »Genosse Yang, Sie wissen, wie sehr ich Sie und Ihre *chinesische Mafia
fantasievolle Herangehensweise an schwierige Fälle schätze. Aber ersparen Sie uns bitte diesen okkulten Unfug. Der große Vorsitzen de* würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was wir hier veranstalten.« Doch der junge Major ließ sich nicht beirren. Mit entschlossener Miene nahm er die Akte auf, die vor ihm auf dem Metalltisch lag. Yeoh seufzte und zündete sich eine West an. Der überzeugte Kom munist hatte eine fatale Vorliebe für westliche Zigarettenmarken, die ihn bereits einen halben Lungenflügel gekostet hatte. »Na gut, schießen Sie los«, sagte Yeoh resigniert, nahm einen tie fen Zug und fügte sich in sein Schicksal. Yang nickte respektvoll. Dann schlug er die Akte auf, obwohl er ihren Inhalt längst auswendig kannte. Er hatte sich seit dem Vorfall am Yangtze Tag und Nacht damit beschäftigt. »Vor drei Jahren wur den die Arbeiter einer Bohrinsel im ostchinesischen Meer von einer geheimnisvollen Macht heimgesucht. Die Männer wurden tagelang wach gehalten. Wer dennoch einschlief, fiel in eine Art Trance und wurde kurz darauf tot aufgefunden. Oberst Yu Li-Wen schlug schon damals vor, einen ausländischen Experten zu Rate zu ziehen. Eben jenen Professor Zamorra.«** »Und es hat sie das Leben gekostet«, warf Lung süffisant ein. Yang schluckte seinen Ärger runter. Der karrieresüchtige Oberst hatte genau den wunden Punkt seiner Argumentation getroffen. »Oberst Yu beging Selbstmord – unter nie ganz geklärten Umstän den«, räumte der junge Major ein. Yus Einheit, die sich ausschließ lich mit paranormalen Phänomenen beschäftigte, war anschließend aufgelöst worden. Es war Männern wie Yang zu verdanken, dass es immer noch Leute im Geheimdienst gab, die ihre Arbeit fortsetzten. *gemeint ist Mao Zedong **siehe PZ 707: »Im Schatten des Vampirs«
»Aber Zamorras Einsatz erwies sich dennoch als Erfolg«, fuhr Yang fort. »Die meisten Arbeiter konnten gerettet werden. Doch dies war nicht das einzige mysteriöse Ereignis. Zeitgleich tauchten in Los An geles scheinbar aus dem Nichts unzählige unbekleidete Chinesen auf. Und sie befanden sich ebenfalls in Trance. Diese Menschen hät ten nie gerettet werden können ohne das mutige Eingreifen einer Französin namens Nicole Duval.« »Die rein zufällig die Gespielin dieses Zamorra ist«, lästerte Lung. Yang überhörte den Einwurf. »Sie können sich unsere Überra schung vorstellen, als wir feststellen mussten, dass die Opfer aus Los Angeles aus der derselben Region am Yangtze stammten wie die Bohrarbeiter, die erst wenige Monate zuvor wegen des Stau dammbaus an die Küste umgesiedelt worden waren. Betroffen wa ren insgesamt drei Dörfer …« »Zu denen auch unser Dorf gehört …«, warf Yeoh ein. »So ist es, Genosse General.« »Aber diesmal wurden Reifenspuren gefunden. Daran ist nichts Mysteriöses.« »Wie wahrscheinlich ist es, dass die Bewohner eines Dorfes zwei mal kollektiv entführt werden?« Der General zündete sich eine weitere Zigarette an und schwieg einen Moment. Dann stellte er die entscheidende Frage, und sein ge quälter Blick verriet, dass er die Antwort längst kannte. »Wo ist die Verbindung?« »Die Verbindung ist Kuang-shi.« Der General verzog das Gesicht, als habe er Magenschmerzen. »Kuang-shi ist eine Legende!« »Er ist mehr als das. Das Wissen um Kuang-shi hält sich am Ober
lauf des Yangtze seit Jahrtausenden. Dort, wo der Götterdämon einst über ein Reich voller Vampire geherrscht haben soll.« »Die einzigen Vampire, die ich kenne, befehligen westliche Unter nehmen«, spottete Lung. Yang ignorierte ihn. »Sie glauben also ernsthaft, dass die mysteriösen Ereignisse von damals und das Verschwinden der Dorfbewohner vor wenigen Ta gen etwas mit dieser alten Spukgeschichte zu tun haben?«, fragte Yeoh. »Ja, Genosse General, das glaube ich. Alles spricht dafür, dass der Götterdämon inzwischen aus seinem langen Schlaf erwacht ist, und das heißt, dass wir alle in Gefahr sind. Zamorra beschäftigt sich schon seit Jahren mit Kuang-shi. Er ist für uns genau der richtige Mann.« »Wissen Sie, was unsere Vorgesetzten sagen, wenn wir einen aus ländischen Zauberdoktor einfliegen lassen, um einem Gespenst hin terher zu jagen? China ist gerade dabei, den Mond zu erobern. Da hat das Zentralkomitee wenig Verständnis für diese Art von Folklo re.« »Wenn wir Kuang-shi nicht aufhalten, wird kein Taikonaut* auch nur in die Nähe des Mondes kommen.« General Yeoh drückte miss mutig seine Zigarette aus und murmelte einen Fluch, der dem zarter besaiteten Lung die Schamesröte ins Gesicht trieb. »In Ordnung, Ge nosse Yang, Sie sollen Ihren Willen haben. Holen Sie diesen Profes sor Zamorra, wenn Sie unbedingt wollen. Aber wenn etwas schief geht, liegt die Verantwortung ganz allein bei Ihnen. Ich will nichts damit zu tun haben.« Schwerfällig erhob sich der ältere Mann. Er griff sich seine Unter lagen, nickte seinen jüngeren Untergebenen kurz zu und verließ den Raum. *chinesischer Astronaut
Yang grinste Lung triumphierend an. Er hatte seinen Willen be kommen. Jetzt musste dieser viel gepriesene Professor Zamorra nur noch den hohen Erwartungen entsprechen, die er in ihn setzte.
* China, Yangtze-Gebiet Professor Zamorra saß auf dem Beifahrersitz eines altersschwachen Geländewagens und genoss die atemberaubende Naturkulisse. Erin nerungen an Finnland erwachten. Es lag noch gar nicht so lange zu rück, dass seine Gefährtin Nicole Duval und er dort unterwegs ge wesen waren, auf der Suche nach Dr. Artimus van Zant und auf der Jagd nach Sarkanas Vampiren. Da hatte ihnen eine Verleihfirma einen Geländewagen bereit gestellt, der eher durch die Hoffnungen seiner Insassen zusammengehalten wurde als durch Schrauben und Schweißnähte. Mit dem rostigen Monstrum schienen noch die Dino saurier das Land unsicher gemacht zu haben … Vampire in Finnland – Vampire auch wieder in China? In letzter Zeit schienen die Blutsauger einen immer größeren Teil des Lebens des Dämonenjägers in Anspruch zu nehmen. Zamorra hoffte, dass sein Aufenthalt hier einen anderen Grund hatte. Dennoch musste er immer wieder an Kuang-shi denken … Major Yang knüppelte den Jeep über die holprige Piste, die die fantastische Gebirgslandschaft durchschnitt, während Nicole Duval im Fond unbeeindruckt von den Schönheiten der Natur und Yangs fragwürdigen Fahrkünsten vor sich hin döste. Der Anruf des chinesischen Geheimdienstmanns hatte sie am frü
hen Morgen des vorherigen Tages erreicht – eine Zeit, zu der die beiden Dämonenjäger gewöhnlicherweise erst ins Bett gingen. We nige Stunden später saßen sie bereits im Flugzeug nach Shanghai, wo Yang mit einem Regierungsjet auf sie wartete, der sie nach Wan xian am Oberlauf des Yangtze brachte. Von dort aus ging es mit dem Jeep weiter. Der Flug nach China war ziemlich turbulent gewesen, sodass an Schlaf nicht zu denken war. Den holte Zamorras Lebensgefährtin, Sekretärin und Kampfpartnerin jetzt ausgiebig nach. »Weckt mich, wenn wir da sind«, hatte Nicole gemurmelt, als sie sich in Wanxian auf die Rückbank des Jeeps gefläzt hatte. Wenige Sekunden später war sie eingeschlafen. Selbst schuld, wenn du das hier verpasst, dachte Zamorra grinsend. Sie waren umgeben von dicht bewachsenen, sattgrünen Bergen. Im mer wieder tauchten am Rande der Piste kleine Dörfer auf, deren Bewohner sie neugierig anstarrten. Der mächtige Strom des Yangtze war längst hinter den Bergen ver schwunden, doch überall zeigte sich die ungeheure Fruchtbarkeit, die diese Region dem Chang Jiang – dem Langen Fluss – wie der Yangtze in China auch genannt wird, verdankt. Siebzig Prozent der gesamten chinesischen Reisernte und ein Drittel der Baumwollernte stammen aus diesem Gebiet. Dazu kommt eine schier überwältigende Dichte an zum Teil Jahrtausende alten Kulturdenkmälern. Die Ufer des Yangtze sind nur so gespickt mit antiken Klöstern, Tempel anlagen, Statuen und Grabstätten. Aber auch mit unzähligen Baustellen und von Bulldozern dem Erdboden gleich gemachten Städten und Dörfern. Es war eine Schande, dass ein großer Teil dieser einmaligen Land schaft dem gewaltigen Drei-Schluchten-Staudamm, zum Opfer fal len würde. Schon jetzt hatte das Wasser unzählige Ortschaften und Kulturschätze unter sich begraben, und bis 2009 würde der Pegel
noch sehr viel höher steigen. Anderthalb Millionen Menschen muss ten wegen dieses größenwahnsinnigen Projekts in neue Trabanten viertel und fremde Provinzen umgesiedelt werden. Doch für die technikgläubigen Betonköpfe in Peking war das kein Problem. Kalt schnäuzig hatten sie sich über alle internationalen Proteste hinweg gesetzt. Zamorra wurde zornig, wenn er nur daran dachte. »Waren Sie schon einmal am Yangtze, Professor?«, fragte Major Yang. »Bisher leider noch nicht«, antwortete der Parapsychologe. Das war gelogen. Aber Zamorra verschwieg dem Geheimdienstof fizier lieber, dass er vor einigen Jahren schon einmal mit dem Silber mond-Druiden Gryf ap Llandrysgryf ganz in der Nähe gewesen war, illegal »eingereist« per zeitlosem Sprung. Gryf hatte in einer Höhle ein erschreckend realistisches Bild der Vampirstadt Choquai entdeckt.* Es war besser, wenn Yang nichts von dieser kleinen Episode er fuhr, auch wenn der junge Major für einen Vertreter eines verbohr ten kommunistischen Regimes erstaunlich weltoffen und kooperativ wirkte. »Dann genießen Sie die Aussicht«, sagte Yang. »Ist vielleicht Ihre letzte Chance, bevor auch noch der Rest der Gegend überflutet wird.« Zamorra sah den Major fragend an. Der grinste und zündete sich eine Zigarette an. »Nur weil ich für die chinesische Regierung arbei te, heißt das nicht, dass ich alle ihre Entscheidungen gutheiße. Ich bin in einem Dorf hier ganz in der Nähe aufgewachsen. Meine Mut ter wurde vor zwei Jahren umgesiedelt. Das Dorf gibt es nicht mehr. Es war nur ein ärmliches Nest mit katastrophaler Versorgung, aber *siehe PZ 676: »Die Höhle des Grauens«
es war mein Zuhause.« Zamorra grinste. Der junge Geheimdienstmann gefiel ihm, auch wenn er immer noch nicht so recht wusste, was er von dieser Einla dung halten sollte, die ihn ein weiteres Mal in diesen Teil der Welt verschlagen hatte. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Offenbar kehr te seine Lebensgefährtin langsam aus dem Reich der Träume in die Wirklichkeit zurück. »Sind wir bald da?«, murmelte Nicole schlaftrunken. »Nur noch ein paar Kilometer«, antwortete Yang. »In dem Tal hin ter dem großen Hügel da vorne liegt das Dorf mit der Polizeistation, die für diesen Bereich zuständig ist.« »Mir ist immer noch nicht klar, warum Sie ausgerechnet uns geru fen haben, Major«, sagte Zamorra. Die Frage hatte ihn schon die ganze Zeit beschäftigt. »Sie kennen mein Fachgebiet. Nichts von dem, was Sie uns erzählt haben, deutet auf ein übernatürliches Phä nomen hin.« »Das ist wahr«, gab Yang zu. »Wir haben in dem Dorf Lkw-Spuren und Stiefelabdrücke gefunden. Die Wesen, mit denen Sie es norma lerweise zu tun haben, bevorzugen vermutlich eine andere Art der Fortbewegung.« »In der Regel ja«, grinste Zamorra, der sich nicht zum ersten Mal über die Offenheit wunderte, die der Geheimdienstmann übernatür lichen Phänomenen entgegenbrachte. Andererseits waren Asiaten dem Übernatürlichen gegenüber generell aufgeschlossener als die meisten Bewohner der westlichen Hemisphäre. Die Beamten der kommunistischen Volksrepubik waren da offenbar keine Ausnah me. »Aber Sie wissen, dass die Bewohner dieses Dorfes schon einmal in einen seltsamen Vorfall verwickelt waren«, fuhr Yang fort. »Und damals waren eindeutig nicht nur irdische Mächte im Spiel. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass es da keinen Zusammenhang gibt.« »Und es kann nicht sein, dass Ihre Regierung ein renitentes Dorf, das dem Staudamm-Projekt nicht weichen wollte, einfach zwangs umgesiedelt hat?« Yang bremste so heftig, dass Zamorra nach vorne geschleudert wurde, und starrte den Parapsychologen an. »Professor, vieles was unsere Regierung tut, mag Ihnen nicht gefallen. Einiges gefällt mir vielleicht auch nicht. Aber die Volksrepublik ist kein Schurkenstaat. Hier werden Menschen nicht einfach mitten in der Nacht mit Las tern abtransportiert.« Zamorra verschluckte die Bemerkung, dass man da durchaus ge teilter Meinung sein konnte. Schließlich gehörte China zu den Län dern, die bei Berichten über Menschenrechtsverletzungen regelmä ßig ganz oben standen. Stattdessen sagte er besänftigend: »Ich woll te Sie nicht beleidigen. Aber bevor wir von einem übernatürlichen Phänomen ausgehen, müssen wir alle anderen Erklärungen aus schließen« Der Major nickte, sah betreten zu Boden und fuhr dann wieder an. »Bitte verzeihen Sie meinen Ausbruch, Herr Professor. Sie sind un ser Gast, ich sollte nicht so mit Ihnen reden.« »Kein Problem, Yang. Ich verstehe Ihren Standpunkt.« Auch wenn ich ihn nicht teile, fügte Zamorra in Gedanken hinzu. »Ich bin trotz dem noch nicht von einem paranormalen Hintergrund überzeugt. Haben Sie außer der Verbindung zu den damaligen Ereignissen noch weitere Anhaltspunkte?« »Keinen direkten, aber … das hier ist das Reich von Kuang-shi.« »Kuang-shi?« Plötzlich war Nicole hellwach. Aufgeregt beugte sie sich vor. »Was wissen Sie davon?« »Wie gesagt, ich komme aus dieser Gegend. Die meisten meiner Kollegen wollen von solchen Spukgeschichten nichts hören, aber auf
dem Land hält sich die Legende von Kuang-shi seit Jahrtausenden. Meine Großmutter hat sie mir immer abends am Feuer erzählt, wenn sie mir Angst machen wollte. Und bei Mao, das ist ihr wirk lich gelungen.« »Das nennt man wohl mündliche Geschichtsschreibung«, meinte Nicole trocken. Beunruhigt sah der junge Mann die Dämonenjäger an. »Aber Sie wissen auch davon. Also ist es nicht nur eine Legende.« »Nein, das ist es leider nicht«, sagte Zamorra. »Die goldene Stadt der Vampire hat es tatsächlich gegeben. Und Kuang-shi ist aus sei nem langen Schlaf erwacht. Wir vermuten, dass er zurzeit in Los Angeles ist, aber offenbar hat er seine alte Heimat nicht vergessen.« Der Major war leichenblass geworden. »Ich hatte es geahnt. Die Götter stehen uns bei«, murmelte er und drückte aufs Gaspedal. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend.
* Los Angeles Chin-Li hasste Ballkleider. Überall zwickten und kniffen sie, und vor allem gewährten sie Unbefugten völlig unangemessene Einbli cke. Aber die junge Chinesin hatte keine andere Wahl. Ihr Chef Pa trick Lau hatte darauf bestanden. »Stell dich nicht so an, Chin-Li«, hatte der chinesischstämmige Unternehmer grinsend erklärt. »Das ist ein Wohltätigkeitsball, da würdest du mit deinen normalen Kla motten nur auffallen.« Und das war genau der Punkt, an dem Chin-Li nachgegeben hatte. Auffallen durfte sie auf gar keinen Fall. Denn Chin-Li war nicht nur
Patricks Assistentin, sondern auch seine Leibwächterin. Die anderen Festgäste sollten sie jedoch nur als normale Mitarbeiterin sehen. Viele hielten sie vermutlich auch für Patricks Gespielin. Um so besser! So würde jeder, der sich ihrem Boss unvorsichtigerweise mit zweifel haften Absichten näherte, sein blaues Wunder erleben! Doch leider hatte Patrick nicht die geringste Absicht, sich seiner seits an die Spielregeln zu halten. Während die übrigen Gäste nach dem viel zu üppigen Bankett, das Chin-Li immer noch schwer im Magen lag, längst zum gemütlichen Teil übergegangen waren und sich an der Bar oder einem der zahlreichen Stehtische bei Cocktails und Knabberzeug amüsierten, hatte Patrick sich schon seit einer Viertelstunde mit diesen seltsamen Geschäftspartnern zurückgezo gen, mit denen er sich neuerdings abgab. Und das bereitete Chin-Li nicht nur Sorgen, es erfüllte sie mit tiefs tem Misstrauen. Irgendetwas verbarg der smarte Endzwanziger vor ihr. Und das schon seit Wochen. Patrick Lau war einer jener chinesischstämmigen US-Bürger, die die Traditionen des Landes ihrer Vorfahren und den American Way of Life auf das Fruchtbarste miteinander verbanden. Mit Anfang zwanzig hatte er seine eigene Firma gegründet, die inzwischen zu den führenden Unternehmen im Import-Export-Handel mit der Volksrepublik China und Hongkong gehörte. Patrick Lau Enterprises belieferte Chinarestaurants und Asialäden, aber auch große ameri kanische Kaufhäuser mit Lebensmitteln, Textilien, CDs, DVDs und vielem mehr. Bei allem Erfolg hatte er es irgendwie geschafft, sich die Triaden vom Leib zu halten. Das hatte die junge Leibwächterin genau überprüft, bevor sie Patricks Jobangebot angenommen hatte. Denn Chin-Li hatte ihre eigenen Erfahrungen mit der chinesischen Mafia. Seit frühester Kindheit war sie in Hongkong von der Bruderschaft der Neun Drachen zur Profikillerin ausgebildet worden, einem Ge
heimorden, der vor über tausend Jahren gegründet worden war, um Hongkong vor einem grauenvollen, namenlosen Dämon zu schüt zen. Doch im Laufe der Jahrhunderte hatten die Neun Drachen ihre eigentliche Aufgabe aus den Augen verloren. Inzwischen kontrol lierten sie das gesamte organisierte Verbrechen in der ehemaligen Kronkolonie, und Chin-Li war ihre tödlichste Waffe gewesen. Ihr Leben lang hatte sie geglaubt, in göttlichem Auftrag zu handeln. Erst die Begegnung mit zwei französischen Dämonenjägern, Profes sor Zamorra und Nicole Duval, hatte ihr die Augen geöffnet.* Chin-Li hatte sich von den Neun Drachen losgesagt und war in den USA untergetaucht, wo sie inzwischen als Bodyguard arbeitete. Die Ex-Killerin hatte zwar geschworen, nie wieder zu töten. Aber es gab hunderte anderer Wege, einen Attentäter auszuschalten, und Chin-Li beherrschte sie alle. Die Arbeit bei Patrick hatte ihrem Leben neuen Halt gegeben, nachdem sie sich monatelang mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und in billigen Absteigen gehaust hatte. Seitdem trug sie auch wie der ihren alten Namen, den sie vorher aus Furcht vor der Rache der Neun Drachen durch wechselnde Tarnnamen ersetzt hatte. Doch der Name war das Einzige, was ihr von ihrer alten Identität geblie ben war, und sie wollte nicht länger darauf verzichten. Doch kaum hatte sie etwas Halt gefunden, geriet ihre Welt schon wieder aus den Fugen. Es hatte damit begonnen, dass Patrick sie nicht mehr zu allen Geschäftstreffen mitgenommen hatte, ja, sie nicht einmal mehr über alle Termine informierte. Was ihre Arbeit als Leibwächterin nicht gerade einfacher machte. Dann hatte es immer mehr Hinweise auf geheime Lieferungen gegeben, die nicht in den offiziellen Geschäftspapieren auftauchten. Und sie hatte in ihrem Hauptlager in Vernon mehrfach Trucks ohne jede Aufschrift gese hen, über deren Fracht keiner der Mitarbeiter etwas zu wissen schi *siehe PZ-HC 6: »Drachentöter«
en. Worum es sich bei diesen Lieferungen handelte, wusste Chin-Li nicht, aber sie hatte einen bösen Verdacht. Die Triaden bedienten sich häufig chinesischer Geschäftsleute, um illegale Einwanderer ins Land zu schmuggeln. Und möglicherweise stand jetzt auch Patrick auf ihrer Gehaltsliste. Dafür sprachen vor allem diese unheimlichen neuen Geschäfts partner, mit denen sich der Unternehmer in letzter Zeit immer häu figer traf. Ihr Anführer war ein uralter Chinese namens Agkar. Seine Kleidung wäre selbst für einen Penner schäbig gewesen, trotzdem behandelten ihn die anderen mit an Hörigkeit grenzender Vereh rung. Der Rest der Bande bestand keineswegs nur aus Asiaten, was Chin-Li verwunderte. Normalerweise blieben chinesische Gangster lieber unter sich. Aber dies war Amerika. Vielleicht galten hier ande re Spielregeln. Und jetzt waren sie hier! Direkt nach dem Bankett waren sechs von Agkars Handlangern aufgetaucht, und Patrick hatte wieder ein mal gespurt wie ein gut dressierter Hund. »Nimm dir einen Drink und amüsier dich, Chin-Li. Ich bin gleich zurück«, hatte er gesagt und war verschwunden. Aber es war nicht ihr Job, sich zu amüsieren! Und so hatte Chin-Li einen Entschluss gefasst. Sie hatte sich lange genug an der Nase her umführen lassen. Heute Nacht würde sie der Sache auf den Grund gehen!
* Die Vampire spielten mit ihrer Beute. Sie hatten die drei schon ziem lich angetrunkenen Mädchen in einer Disco aufgerissen und zogen mit ihnen von einem Laden zum nächsten. Die fünf Blutsauger
spendierten ihren Opfern unzählige hochprozentige Drinks und weideten sich an ihrer Ahnungslosigkeit. Sie hatten keine Ahnung, dass sie selbst die eigentliche Beute wa ren! Gryf ap Llandrysgryf beobachtete die Bestien schon seit Stunden. Den Anführer und zwei seiner Leute kannte er. Sie hatten zu Fried helm Steiners Vampirsoldaten gehört, mit denen sich Fu Long ver bündet hatte. Die anderen beiden waren vermutlich ihre Kameraden. Erstaunlich, dass ihr euch nach der Niederlage gegen die Tulis-Yon wie der so weit in ihr Territorium traut, dachte der Silbermond-Druide. Dann kann Fu Long auch nicht weit sein. Bei seiner Suche nach Fu Long war Gryf im Internet auf Hinweise auf Vampir-Aktivitäten mitten in L. A. gestoßen. Solche Hinweise gab es öfter, und meistens steckte nicht viel dahinter. Doch diesmal war es ein Volltreffer. In einer ziemlich verrufenen Disco in Holly wood hatte der Silbermond-Druide die Blutsauger schließlich gefun den. Sie waren so berauscht von ihrer Macht, dass sie ihn nicht ein mal bemerkt hatten. Jetzt hockte der blonde Mann, der wie zwanzig aussah und doch schon über achttausend Jahre lang lebte, auf dem Absatz einer Feu ertreppe und blickte auf die schäbige Gasse, in der sich die Vampire endlich das holen wollten, worauf sie schon den ganzen Abend war teten. Die drei aufgetakelten Frauen ahnten nicht einmal die Gefahr, in der sie schwebten. Sie rechneten nur mit einem Quickie auf der Straße. Ein typischer Abschluss für einen Abend wie diesen. Eine grell geschminkte Wasserstoffblonde war so betrunken, dass sie kaum noch aufrecht stehen konnte. Giggelnd ließ sie sich auf die Knie sinken und nestelte am Hosenschlitz ihres untoten Galans her um.
»Hey, der steht ja gar nicht«, beschwerte sie sich. Ihre beiden Freundinnen kicherten albern, während sie sich in eindeutiger Wei se an die anderen Männer heranmachten. »Wart’s nur ab, ich habe was ganz anderes, um dich zu durchboh ren«, sagte der Blutsauger mit der offenen Hose. Seine Kumpels brüllten vor Lachen. Die drei Mädchen fielen prustend mit ein, ohne genau zu wissen warum. Gryf ap Llandrysgryf fluchte leise. Der Vampirjäger hatte gehofft, dass ihn die Untoten zu Fu Long führen würden. Doch jetzt musste er sie wohl erledigen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Meister machten. Denn er konnte unmöglich zusehen, wie die Bestien vor seinen Augen die drei Discomiezen abschlachteten. Der Silbermond-Druide spannte seinen Körper und zog einen Ei chenpflock aus seinem Gürtel. Showtime, dachte er. Jetzt wollen wir mal sehen, ob ihr wirklich so gut seid, wie ihr glaubt. »Okay, Mädels, dann lasst uns mal loslegen«, sagte der Vampir mit der offenen Hose süffisant und zog das Mädchen vor sich auf die Beine. Er war ein großer rothaariger Kerl, dessen Gesicht über und über mit Narben bedeckt war. Offensichtlich war er schon als Mensch keiner Schlägerei aus dem Weg gegangen. »Na, dann bin ich mal gespannt, ob du es jetzt bringst«, kicherte die Wasserstoffblonde. »Lass dich überraschen«, sagte der Vampir – und erstarrte. Vor ihm stand Gryf, der sich aus dem Nichts direkt vor ihm mate rialisiert hatte. »Tschuldigung, störe ich?«, fragte der Vampirjäger und stieß zu. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben starrte der Blut sauger auf den Pflock, der aus seiner Brust ragte. Dann zerfiel er zu Staub. »Schöne Grüße an LUZIFER«, sagte Gryf, griff nach dem Pflock
und wirbelte herum. Die Frauen starrten ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »Verzieht euch, Mädels, das hier ist zu gefährlich für euch.« Verstört nickten die Mädchen, dann rannten sie kreischend weg. Niemand hielt sie auf. Fauchend gingen die vier übrigen Vampire in Angriffsposition. »Und nun zu uns«, erklärte Gryf mit einem maliziösen Lächeln. »Gryf ap Llandrysgryf, der Vampirjäger!«, zischte der Anführer der Bande. »So sieht man sich wieder.« Gryf kannte den Namen des Blutsaugers nicht, aber er konnte sich gut an ihn erinnern. Er war ihm zuletzt in der Wohnung von Jack O’Neill begegnet. In der Nacht, in der Fu Long den Detective ermordet hatte. »Wo ist euer Boss?« »Kommandant Steiner ist tot!« Das war Gryf neu. Aber es beantwortete seine Frage nicht. »Euer deutscher Schäferhund ist mir reichlich schnurz. Ich meine Fu Long!« »Fu Long?«, höhnte der Anführer. »Mit dem haben wir nichts mehr zu schaffen!« »Ja sicher. Und diese unschönen Beißerchen sind nur das Ergebnis mangelnder Zahnhygiene.« »Ich hoffe, du kannst nicht nur dumme Sprüche machen, sondern auch genauso gut kämpfen«, fauchte ein anderer Vampir und trat einen Schritt vor. »Probier es aus«, sagte Gryf und schleuderte dem Untoten seinen Pflock entgegen. Noch während der Vampir mit einem heiseren Schrei verging, zog der Silbermond-Druide zwei weitere Pflöcke aus seinem Gürtel und stürzte sich auf den nächsten Blutsauger.
Die Bestien hatten keine Chance. Sie mochten über jahrzehntelan ge Kampferfahrung verfügen, aber Gryf ap Llandrysgryf war sehr viel älter. Der Vampirjäger steigerte sich in einen regelrechten Blut rausch und hielt erst inne, als nur noch ein Untoter übrig war – der Anführer. Mit eisernem Griff presste Gryf den Vampir gegen eine Hauswand und drückte ihm einen Pflock an die Brust. Wütend fauchte der Un tote ihn an, aber er konnte sich dem Griff nicht entziehen. »Letzte Chance, Langzahn. Sag mir, was ich wissen will, und ich lasse dich laufen – für heute. Wo ist Fu Long?« »Leck mich«, zischte der Vampir, während er verzweifelt nach Gryf trat. Der Vampirjäger stieß zu. Mitleidlos sah er zu, wie der Untote zu Staub zerfiel. »Pech gehabt, Vampi«, murmelte der Silber mond-Druide. »Ihr Blutsauger seid einfach zu dumm.« Rasch untersuchte Gryf die Kleidungsstücke der zerfallenen Vam pire, doch er fand nichts, was ihm weitergeholfen hätte. Dann erin nerte er sich an den metallicblauen Buick, mit dem die Blutsauger von Disco zu Disco kutschiert waren. Die Schlüssel befanden sich in der Lederjacke des Untoten, den er zuerst erledigt hatte. Bevor der Silbermond-Druide die Gasse verließ, hob er die Hand und murmelte eine uralte Zauberformel. Aus der Hand zuckte ein helles Licht und verbrannte Asche und Kleidung der Vampire, bis nichts mehr davon übrig war. Seit Tan Morano von den Toten aufer standen war, ging Gryf bei Blutsaugern kein Risiko mehr ein. Der Buick stand nur wenige Meter weiter unter einer defekten Straßenlaterne. Das Auto stank entsetzlich. Auf der Rückbank lagen blutbefleckte Decken. Offenbar haben die Kerle darin ihr Abendbrot spa zieren gefahren, dachte der Silbermond-Druide grimmig. Im Hand schuhfach entdeckte Gryf einen Plastikausweis einer Import-ExportFirma namens Patrick Lau Enterprises.
»Was ist denn das?«, murmelte er. »Habt ihr euch einen Nebenjob als Nachtwächter besorgt?« Laut Aufschrift auf der Plastikkarte befand sich der Firmensitz an der Hope Street in Downtown. Gryf steckte den Ausweis ein. Wer wusste, wozu er ihn noch gebrauchen konnte? Schließlich nahm er sich den Kofferraum vor. Gryf stieß einen an erkennenden Pfiff aus, als er sah, was sich im Inneren verbarg. Die Vampire hatten ein ganzes Waffenlager in ihrem Auto versteckt. Der Silbermond-Druide entdeckte mehrere MPs, Granatwerfer, Patro nengurte, Blendgranaten und einen Flammenwerfer. »Interessant«, sagte Gryf zu sich selbst. Dann schnappte er sich den Flammenwerfer und konzentrierte sich auf den zeitlosen Sprung. Es konnte nicht schaden, diesem Patrick Lau einen Besuch abzu statten.
* China, Yangtze-Gebiet Das Dorf bestand aus kaum mehr als ein paar ärmlichen Hütten, die umgeben waren von endlosen Reisfeldern. Den Menschen, die neu gierig den Jeep beäugten, war das harte Leben auf dem Lande anzu sehen. Die Gesichter waren ledrig und ausgemergelt, an den Kör pern gab es scheinbar nicht das geringste Gramm Fett. Selbst die Kinder wirkten schon seltsam alt. Hier hatte sich das Leben über die Jahrhunderte kaum verändert. Ob sie früher dem Kaiser dienten oder jetzt der Volksrepublik, die Reisbauern am Yangtze hatten gerade mal genug zum Überleben. Zamorra sah einen seltsamen Glanz in Yangs Augen, als sie über die
staubige Hauptstraße fuhren, eine eigentümliche Mischung aus Stolz und Traurigkeit. Der Major mochte es in Peking weit gebracht haben, aber seine Wurzeln hatte er offenbar nicht vergessen. Sie hielten vor einem schäbigen Amtsgebäude, das dringend einen neuen Anstrich benötigt hätte. Ein dicklicher Polizist stürzte auf die Straße und salutierte eifrig, als er Yang erblickte. Dann verbeugte er sich ehrerbietig vor Zamorra und Nicole. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass er es mit ausländischen Staatsgästen zu tun hatte. Vielleicht sogar das erste Mal, dass er überhaupt »Langnasen« ge genüberstand. Yang bellte einen knappen Gruß, der so gar nicht zu der jovialen Art passte, mit der er Zamorra und Nicole begegnet war. Offenbar gab es Spielregeln innerhalb des Polizeiapparats, die auch er einhal ten musste. Sie betraten die Amtsstube, die eher kärglich eingerich tet, aber äußerst ordentlich und sauber war. Beflissen bot der junge Beamte seinem Vorgesetzten und den französischen Gästen ein paar klapprige Stühle an und servierte Tee. Dankbar nahmen Zamorra und Nicole den grünen Tee an. Ihre Kehlen waren von der langen Fahrt ziemlich ausgetrocknet. Der Dorfpolizist setzte sich auf einen Schreibtischstuhl, wobei er seine militärisch steife Haltung weiter beibehielt, und erstattete Be richt. Zamorra konnte dem Gespräch gut folgen. Durch eine geheim nisvolle Gabe war er in er Lage, sich innerhalb kürzester Zeit in fast jede Sprache der Welt »einzufühlen«, ohne je eine Stunde Unterricht genommen zu haben. Doch bei Mandarin, einem der beiden großen chinesischen Dialekte, ließen sich seine erstaunlichen Sprachkennt nisse nicht nur damit erklären. Es war fast so, als habe er die Spra che schon immer beherrscht und sie dann wieder vergessen – bis der Kampf gegen Kuang-shi das verdrängte Wissen wieder an die Ober fläche gebracht hatte. Waren seine rätselhaften Mandarin-Kenntnisse ein Beweis dafür,
dass er tatsächlich mit diesem Tsa Mo Ra identisch war, einem menschlichen Magier, der vor über zweitausend Jahren als Kuang shis dritter Hofzauberer in Choquai gelebt hatte, der goldenen Stadt der Vampire? Für Fu Long schien das eine ausgemachte Sache zu sein, und auch Kuang-shis pavianköpfiger Vertrauter Wu HuanTiao beharrte darauf, dass er und Tsa Mo Ra ein und dieselbe Per son waren. Aber so leicht ließ sich Zamorra nicht überzeugen. Dafür war die Vorstellung einfach zu absurd, er könnte der Vertraute eines chine sischen Vampirgottes gewesen sein. Doch vielleicht erfuhr er hier, in Kuang-shis ehemaligem Herrschaftsbereich, etwas mehr über seine angebliche Vergangenheit. Zamorra entschloss sich, Yang zunächst nicht über seine Sprach kenntnisse aufzuklären. Vielleicht erfuhr er so etwas, was ihm die Behörden lieber vorenthalten wollten. »Wir haben einen Zeugen gefunden«, sagte der Beamte, den Yang den Franzosen als Liu Kam-Kong vorgestellt hatte. »Er hatte sich bei Verwandten in einem kleinen Dorf wenige Kilometer von hier ver steckt. Ein Parteigenosse aus dem Ort hat uns einen Tipp gegeben.« »Warum hatte sich der Mann versteckt?«, wollte Yang wissen. »Hat er etwas ausgefressen?« Liu zögerte einen Moment. »Das nicht, aber … er hatte Angst, dass die Regierung etwas mit dem Verschwinden der Leute zu tun haben könnte.« Yang sah unwillkürlich zu Zamorra herüber, der sich je doch nicht anmerken ließ, dass er alles genau verstanden hatte. »Ich habe ihn natürlich sofort zurechtgewiesen«, fuhr Liu beflissen fort. »Die chinesische Regierung liebt ihr Volk. Sie würde ihren Bürgern nie etwas Derartiges antun.« »Ich will mit dem Zeugen sprechen«, sagte Yang. »Kein Problem. Er ist hier in der Zelle«, erwiderte der Dorfpolizist
nicht ohne Stolz. »Sie haben ihn eingesperrt? Warum? Was hat er verbrochen?« »Er hat sich einer wichtigen polizeilichen Untersuchung wider setzt. Und es bestand Fluchtgefahr.« Yang nickte, obwohl Zamorra dem jungen Geheimdienstmann an sah, dass er mit dem harschen Umgang mit dem Zeugen nicht ein verstanden war. Aber er verzichtete darauf, seinen Untergebenen zurechtzuweisen. Immerhin hatten sie jetzt einen Zeugen. Und das war für den Major im Moment wohl das Wichtigste. Yang befahl Liu, den Mann zu holen. Dann wandte er sich Zamor ra und Nicole zu und erklärte ihnen in Grundzügen, was ihm der Dorfpolizist berichtet hatte. Wenig später betrat Liu mit einem dür ren Mann in einem ausgewaschenem grauen Overall den Raum. Der Alte sah aus, als sei er schon weit über siebzig, obwohl der Eindruck täuschen mochte. Ängstlich sah er den ranghohen Beamten aus der Hauptstadt und die beiden Ausländer an. Yang bot dem Zeugen einen Platz und einen Tee an. Misstrauisch setzte sich der Alte und nippte an dem Schälchen. »Sind Sie gut behandelt worden?«, fragte der Geheimdienstmann. Der Alte nickte verschüchtert. Selbst wenn er gefoltert worden wäre, hätte er sicher zu viel Angst gehabt, um etwas darüber zu sa gen. »Berichten Sie«, befahl Yang. Und der Alte erzählte, was er in der Nacht, in der sein Dorf entvöl kert wurde, erlebt hatte. Der Major unterbrach seine zunächst sto ckende, dann immer aufgeregtere Erzählung mehrfach, um für Za morra und Nicole zu übersetzen. »Frägen Sie ihn nach Kuang-shi«, sagte Zamorra. Klirrend zersprang die Teeschale des Alten auf dem Boden. Und
dann murmelte er etwas so leise, dass Zamorra es kaum verstehen konnte. »Kuang-shi, der Sohn des Wolfes.«
* Irgendwo im Großraum Los Angeles Ehrerbietig näherte sich der alte Mann der bizarren Apparatur. Ihr Zentrum war ein Aquarium, das groß genug gewesen wäre, um grö ßere Meerestiere zu beherbergen. Doch das Wesen, das in ihm schwamm, war kein Fisch. Und die rote Flüssigkeit, mit der es ge füllt war, kein Wasser. Sondern Blut! Viele Dutzend Betten umgaben das gläserne Becken, und in jedem befand sich ein Mensch. Es handelte sich um Männer, Frauen und Kinder jeden Alters. Doch etwas hatten sie gemeinsam: Sie waren alle Chinesen. Und sie stammten alle aus demselben kleinen Dorf am Yangtze. Die Menschen lebten, aber sie befanden sich in einer Art Trance. Durch unzählige Schläuche floss ein steter Strom roten Lebenssaftes von den Menschen in den Betten zu dem Glasbecken, dessen Flüs sigkeitspegel sich beständig erhöhte. Eine spezielle MedikamentenMixtur, die den Chinesen durch weitere Schläuche regelmäßig zuge führt wurde, sorgte dafür, dass die Blutproduktion künstlich ange regt wurde und der rote Strom nie versiegte. Das Wesen, das in dem Blut schwamm, war in der dunklen Flüs sigkeit nur als vager Schemen auszumachen. Doch seine Aura, die den ganzen Raum erfüllte, war unverkennbar. Ehrfürchtig warf sich der Alte vor seinem Herrn auf den Boden.
»Agkar von den Tulis-Yon verneigt sich vor Eurer Macht, Herr. Möge der weiße Mond ewig über Eurem Haupt leuchten. Ich erwar te Eure Befehle, Herr.« Und Kuang-shi antwortete.
* Es war kurz nach Mitternacht, als Chin-Li das repräsentative Haupt gebäude von Patrick Lau Enterprises an der südlichen Hope Street be trat. Das lästige Ballkleid hatte sie gegen ihr übliches Outfit ge tauscht: schwarze Hose, schwarzes Jackett, weißes Hemd und Son nenbrille. Die Pforte war um diese Zeit längst nicht mehr besetzt, doch mit ihrem firmeneigenen Plastikausweis kam die chinesische Leibwächterin jederzeit ins Gebäude. Chin-Li gab sich keine Mühe, ihre Anwesenheit zu verbergen. Sie wusste, dass alle Stockwerke von unzähligen Kameras überwacht und jeder Zutritt per Chipkarte von der Computeranlage registriert wurde. Hinzu kamen die Nachtwächter, die in unregelmäßigen Ab ständen alle Teile des Gebäudes kontrollierten. Es wäre eine interessante Herausforderung gewesen, dieses Über wachungssystem auszutricksen, und Chin-Li hatte keinen Zweifel daran, dass sie es geschafft hätte. Aber das war gar nicht nötig. Schließlich war die junge Chinesin nicht nur Patricks Leibwächterin, sondern auch die Chefin des Sicherheitsdienstes. Es kam oft vor, dass sie zu nachtschlafender Zeit noch einmal auftauchte, um die Alarmanlagen zu checken oder einen bevorstehenden Einsatz vor zubereiten. Niemand würde sich wundern, sie hier zu sehen. Die junge Chinesin betrat die eindrucksvolle Eingangshalle, die sich durch alle zehn Etagen zog und von einer prächtigen Glaskup pel gekrönt wurde. Die Halle war menschenleer. Ein Fahrstuhl
brachte Chin-Li in die Chefetage im obersten Stock. Ihr Büro lag ne ben Patricks, getrennt nur durch ein gemeinsames Vorzimmer, das Verbindungstüren zu beiden Räumen besaß. Ein sichtbares Zeichen, dass die junge Leibwächterin so etwas wie Patricks rechte Hand war, deren Aufgaben weit über den Sicherheitsbereich hinausgin gen. Zumindest war das so gewesen – bis Patrick begonnen hatte, wichtige Teile seiner Geschäfte vor Chin-Li geheim zu halten. Die Büros selbst wurden natürlich nicht überwacht, ebenso wenig wie das Vorzimmer. Die Verbindungstüren waren zwar nachts ver schlossen, aber nicht durch eine Alarmanlage gesichert. Chin-Li betrat ihr karg eingerichtetes Arbeitszimmer, verharrte einen Moment im Dunkeln und lauschte. Nicht das geringste Ge räusch war zu hören. Dann ging sie zurück ins Vorzimmer und holte aus ihrer Jackettta sche einen Bund Spezialdietriche hervor, der jeden Profieinbrecher vor Neid hätte erblassen lassen. Sie brauchte weniger als eine Minu te, um Patricks Hochsicherheitsschloss zu knacken. Lautlos huschte Chin-Li in den Nebenraum. Das Licht ließ sie aus. Es war nicht aus zuschließen, dass es sonst einer der Nachtwächter bei seiner Runde um das Gebäude zufällig bemerkte. Chin-Li wusste nicht genau, was sie suchte. Aber sie wusste, wo sie anfangen musste. Patrick gehörte nicht zu den Firmenchefs, die mit moderner Technik nichts anfangen konnten. Auf seinem Schreibtisch stand einer der leistungsstärksten Rechner, die zurzeit auf dem Markt waren. Und Chin-Li war überzeugt, dass sie dort et was finden würde, was ihr Einblick in Patricks geheime Aktivitäten gab. Mit einem Knopfdruck ließ Chin-Li den Computer hochfahren. So fort öffnete sich ein Fenster, das das Passwort verlangte. Doch das war kein Problem. Chin-Li war einmal im Raum gewesen, als Pa trick den Rechner gestartet hatte. Obwohl sie an der anderen Seite
des Büros gestanden und die Tastatur nicht einmal direkt im Blick gehabt hatte, hatten Patricks knappe Bewegungen ihr alles verraten, was sie wissen musste. Chin-Li mochte sich von den Neun Drachen abgewandt haben, ihre Ausbildung hatte sie nicht vergessen. Sie hätte selbst mit ver bundenen Augen gewusst, welches Passwort Patrick eingetippt hat te. Es lautete Choquai. Chin-Li hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber das war für ihre Nachforschungen auch nicht weiter wichtig. Die Leibwäch terin gab das Wort ein, und sofort erschien die Arbeitsoberfläche auf dem edlen Flachbildschirm. Sie hatte Zugang zu allen Dateien. Chin-Li wusste, dass das, was sie vorhatte, der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen glich. Sie hoffte, dass Patrick so sehr auf sein Passwort vertraute, dass er seine sensiblen Daten nicht allzu auf wändig versteckt hatte. Und sie hatte Glück. Die Dokumente waren einfach im Ordner »Eigene Dateien« abgespeichert, unter dem Ord ner »Sonstiges«. Patrick hatte vermutlich geglaubt, dass das viel zu banal klang, um die Aufmerksamkeit eines unbefugten Lesers auf sich zu ziehen. Er hatte sich geirrt. Chin-Li ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken und las. Ihr stock te der Atem, als sie verstand, was sie entdeckt hatte. Die Dateien verzeichneten eine geheime »Lieferung« aus einem Dorf am Yangtze per Lkw bis zur Küste und von dort per Schiff über Hongkong nach L.A. Die Fracht wurde schlicht mit »248 Stück« angegeben. Doch Chin-Li wusste, was damit gemeint war. Menschen!
Und das war noch nicht alles. Offenbar war die »Fracht« in ein La
gerhaus irgendwo in Orange County, etwas außerhalb von L.A., ge bracht worden. Zusammen mit einem speziell angefertigten Acht tausend-Liter-Aquarium und unzähligen medizinischen Geräten und Medikamenten. Was hatte Patrick vor? Wenn er wirklich im Auftrag der Triaden Menschen schmuggelte, wozu um alles in der Welt brauchte er dann dieses Aquarium? Was wollte er darin halten? Haie? Schnell holte Chin-Li einen CD-Rohling aus ihrer Jackentasche und schob ihn ins Laufwerk. Sie wollte die wichtigsten Dateien ge rade auf den Silberling brennen, als sie das Geräusch hörte. Jemand war an der Tür! In dem Moment flammte das Deckenlicht auf.
* Patrick Lau war der erste, der das Büro betrat. Er trug noch immer den Armani-Anzug von der Wohltätigkeitsveranstaltung und wirk te fast amüsiert. So, als sei er gar nicht überrascht, seine Leibwächte rin in seinem Büro herumschnüffeln zu sehen. Ihm folgten die sechs »Geschäftspartner«, mit denen er sich auf dem Ball zurückgezogen hatte. Es ist eine Falle!, schoss es Chin-Li durch den Kopf. Er wusste, was ich vorhabe. Und ich bin einfach ins offene Messer gelaufen. Die Chinesin verfluchte sich für ihre Unvorsichtigkeit. Doch das ließ sich nicht mehr ändern. Jetzt musste sie versuchen, heil aus der Situation her auszukommen. »Hallo Patrick …«, setzte sie an. »Chin-Li«, unterbrach Patrick sie kopfschüttelnd. »Hast du wirk
lich geglaubt, dass ich deinen Verrat nicht bemerken würde? Du bist ein wirklich undankbares kleines Flittchen.« Chin-Li überhörte die Beleidigung. Man hatte sie schon Schlimme res genannt. Allerdings hatten das die Wenigsten überlebt. »Nicht ich bin hier der Verräter, Patrick. Als ich dich kennenlernte, warst du ein ehrbarer Mann. Jetzt erkenne ich dich kaum wieder. Was sind das für Geschäfte, in die dich dieser Agkar verwickelt hat?« »Ich glaube nicht, dass dich das was angeht.« »Das tut es, Patrick! Du handelst mit Menschen!« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Ach nein? Ich glaube, dass das, was ich gefunden habe, die Poli zei sehr interessieren wird.« »Die Polizei?« Patrick lachte schallend auf. »Glaubst du wirklich, dass die einer Profikillerin glauben werden?« Patricks Worte trafen Chin-Li wie ein Peitschenhieb. Profikillerin. Woher wusste er das? Sie hatte dem Unternehmer nie von ihrer Ver gangenheit erzählt. Selbst in Hongkong gab es kaum jemanden, der Chin-Li wirklich kannte. Die gnadenlose Attentäterin der Bruder schaft der Neun Drachen war eine moderne Legende, ein GroßstadtMythos. Und die Unglücklichen, die ihr wirklich begegnet waren, hatten meistens keine Gelegenheit mehr zu berichten, dass es sie wirklich gab. Hatten die Neun Drachen als Reaktion auf ihre Flucht ihre Identi tät publik gemacht? Das war möglich, aber instinktiv wusste ChinLi, dass Patrick seine Informationen aus einer anderen Quelle hatte. »Und abgesehen davon: Wie willst du die Polizei informieren? Wo du doch nie lebend hier rauskommen wirst?«, fragte Patrick. Seine Begleiter grinsten dreckig. Die Mordlust stand ihnen ins Gesicht ge schrieben.
Jetzt war es also raus. Sie wollten sie töten! Doch damit hatte ChinLi sowieso gerechnet. Die Ex-Killerin schätzte ihre Chancen ab. Sie ben zu eins – kein schlechtes Verhältnis. Aber Chin-Li wusste, dass sie ihre Gegner nicht unterschätzen durfte. Keiner von ihnen sah so aus, als würde er seine Freizeit überwiegend in Fitness-Studios ver bringen. Doch da war etwas Lauerndes, fast Tierhaftes an ihren Be wegungen, das Chin-Li vorsichtig werden ließ. Diese Männer waren weitaus gefährlicher als sie aussahen! Noch hatte keiner von ihnen eine Waffe gezogen. Doch das brauchten sie auch nicht. »Ergreift sie!«, rief Patrick. Im selben Moment geschah etwas Unfassbares: Die sieben Männer vor ihr verwandelten sich in Wölfe! Zumindest die Köpfe, während die Körper normal blieben – bis auf die Hände, die sich zu haarlosen Klauen verkrümmten. »Bei Tin Hau!*«, keuchte die Leibwächterin. »Da bist du überrascht, was, kleine Chin-Li?«, höhnte Patrick. Genüsslich glitt seine Zunge über seine Raubtierzähne. Und dann stürmte er los. Chin-Li sprang zur Seite und ging zugleich zum Angriff über. Ihr rechter Fuß traf das Wesen, das einmal Patrick Lau gewesen war, hart an der Brust. Der Wolfsmensch flog durch den Raum und knall te gegen die Wand. Doch das groteske Wesen lachte nur. »Nicht schlecht für den Anfang. Ich mag es, wenn sie sich weh ren.« »Dann wirst du gleich eine Menge Spaß haben«, zischte Chin-Li und wich dem nächsten Wolfsmenschen aus, der sich auf sie stürzte. *taoistische Meeresgöttin, die vor allem in Hongkong sehr verehrt wird
Geschickt duckte sie sich unter ihm weg, schnellte hoch und packte seinen Kopf. Sie hatte geschworen, nie wieder zu töten. Doch das galt nur für Menschen! Und das hier waren Monster, Geschöpfe aus der Hölle. Für die würde sie gerne eine Ausnahme machen. Mit aller Kraft drehte Chin-Li den haarigen Schädel nach hinten. Das Wolfswesen versuchte verzweifelt, nach ihr zu schlagen. Aber die Ex-Killerin stand hinter ihm im toten Winkel, während sie sich mit aller Kraft gegen die Sehnen der Bestie stemmte. Die Kreatur brüllte und heulte. Doch es nützte ihr nichts. Es gab ein hässliches Geräusch, als das Genick brach. Ein Wolfskopf war ausgeschaltet – blieben noch sechs. Chin-Li wandte sich den anderen Kreaturen zu, als sie ein Tritt brutal in der Magengrube traf. Keuchend ging die Ex-Killerin zu Boden. Ungläu big starrte sie auf das Wesen vor ihr, dessen Genick sie gerade ge brochen hatte. Die Kreatur schüttelte knurrend den Kopf und sprang sie dann an, als sei nichts geschehen. Mit einem Hechtsprung brachte sich Chin-Li vor der rasenden Bestie in Sicherheit. »Um uns zu töten, musst du schon härtere Geschütze auffahren«, kicherte Patrick. Dann griff er wieder an. Mist, dachte Chin-Li. Töten konnte sie die Wesen also nicht. Zu mindest nicht mit bloßen Händen. Also blieb ihr nur noch die Flucht. Doch die wolfsköpfigen Monster befanden sich genau zwi schen ihr und der Tür. Chin-Li sprang auf Patricks repräsentativen Mahagonischreibtisch und stieß sich ab. Verwirrt sahen die Monster zu, wie die chinesi sche Leibwächterin wie eine Kanonenkugel über sie hinwegflog, noch in der Luft einen Salto machte und direkt vor der Tür elegant
auf dem Boden landete. Chin-Li sprang auf und rannte in den unbeleuchteten Flur. Flucht war vielleicht nicht besonders ehrenvoll. Aber zu den besten Tugen den einer Profikillerin gehörte es, die eigenen Chancen realistisch einzuschätzen. Und die waren gegen ihre dämonischen Gegner gleich Null. Also lief sie, so schnell sie konnte. »Hinterher!«, brüllte Lau. Chin-Li verzichtete darauf, sich umzudrehen. Sie wusste, dass es jetzt auf jede Sekunde ankam. Keuchend rannte sie an unzähligen Büroräumen entlang, die tagsüber von fröhlichen, immer zu einem Spässchen aufgelegten Angestellten bevölkert wurden. Jetzt waren sie menschenleer. Sie musste den Fahrstuhl erreichen. Das war ihre einzige Chance. Chin-Li hörte, wie sich der Abstand zwischen ihr und ihren Ver folgern immer weiter verringerte. Das war fast unmöglich. Chin-Li war so durchtrainiert, dass selbst ein Profiläufer Probleme gehabt hätte, mit ihr mitzuhalten. Doch offenbar verfügten diese Höllen kreaturen über übermenschliche Kräfte. Dann sah sie den Fahrstuhl. Chin-Li mobilisierte ihre letzten Kräf te und rannte auf die geschlossene Tür zu. Erstaunt sah sie an der Leuchtanzeige, dass sich die Kabine bewegte. Auf die oberste Etage zu! Sollte sie so viel Glück haben? Oder kamen nur noch mehr Gegner hoch, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden? Es war egal. Sie musste in diesen Fahrstuhl, ganz gleich, wer da drin war. Das war ihre ein zige Chance, aus dieser Todesfalle zu entkommen. Chin-Li hatte den Fahrstuhl fast erreicht, als die Metalltür zur Seite glitt. Ein blonder Jüngling stand in der Kabine und lächelte sie an. In
der rechten Hand hielt er eine Art Pistole, von der ein Schlauch zu einem Tornister auf seinem Rücken führte. Ein Flammenwerfer, erkannte Chin-Li irritiert. Was soll das denn? Doch wer immer dieser seltsame Fremde war, instinktiv wusste die junge Chinesin, dass er auf ihrer Seite stand. Mit einem gewaltigen Satz hechtete die Leibwächterin in die Kabi ne. »Werwölfe!«, keuchte sie. »Wir müssen hier weg.« »Das sind keine Werwölfe, sondern Tulis-Yon«, sagte der Blonde seelenruhig, während er die Ex-Killerin leicht zur Seite schob, um einen besseren Blick auf die heranstürmenden Bestien zu haben. »Und ich habe hier etwas, was diese Viecher gar nicht mögen.« Ungläubig starrte Chin-Li den Blonden an. »Mein Name ist übrigens Gryf.« Dann drückte er auf den Abzug seiner Pistole, und ein Flammen strahl verwandelte den ersten der Wolfsköpfigen in eine lebende Fa ckel.
* Gryf hatte keine Ahnung, wer die junge Chinesin war, aber er muss te sie dringend heil hier rausbringen. Eigentlich passte das gar nicht in seine Pläne, aber mit unvorhersehbaren Ereignissen musste man eben rechnen. Also machte er das Beste draus. »Halt dich im Hintergrund, Kleine! Ich mach das schon«, rief Gryf der attraktiven Asiatin zu, während er den Flur betrat und einen weiteren Wolfskrieger unter Beschuss nahm. Doch die Chinesin hatte offenbar nicht die geringste Lust, den An ordnungen des Silbermond-Druiden zu folgen. Verblüfft sah der
Vampirjäger zu, wie sie mit einem wilden Kampfschrei an ihm vor bei auf einen sich von der Seite nähernden Tulis-Yon zusprang und die Bestie mit gezielten Tritten in Richtung seines Flammenwerfers trieb. Wütend schlug der Wolfsköpfige mit seinen zu Klauen verzerrten Händen nach der Angreiferin, doch die Chinesin wich den Attacken geschickt aus, während sie selbst einen Treffer nach dem anderen landete. Dann nahm Gryf die Bestie ins Visier und beendete ihre un tote Existenz mit einem Feuerstrahl. Die Asiatin war die beste Kung-Fu-Kämpferin, die Gryf je gesehen hatte! Und sein Auftauchen hatte ihr offenbar neuen Mut eingeflößt. »Nicht schlecht, Kleine«, rief er anerkennend. »Wo hast du das ge lernt?« »In Hongkong«, sagte die Chinesin, während sie einen weiteren Angreifer in Gryfs Richtung beförderte. »Und nenn mich nicht Klei ne! Mein Name ist Chin-Li!« Chin-Li? Irgendwo hatte Gryf diesen Namen schon einmal gehört. Aber darüber konnte er später nachdenken. Jetzt hatte er dringende re Sorgen. »Angenehm! Pass auf, dass dich diese Biester nicht verletzen, Chin-Li! Die kleinste Wunde, und du wirst eine von ihnen.« »Das habe ich nicht vor!« »Um so besser!« Ein Geräusch ließ den Silbermond-Druiden herumfahren. Die Fahrstuhltür glitt hinter ihm zu, und die Kabine sauste in die Tiefe. Das bedeutete nichts Gutes. Vermutlich brachte der Fahrstuhl ein weiteres Dutzend geifernder Bestien in ihre Etage. Tatsächlich hatte Gryf nicht damit gerechnet, in dem Gebäude komplex überhaupt auf Wolfsschädel zu stoßen. Die Tulis-Yon wa ren das Kriegervolk von Kuang-shi, also erklärte Gegner von Fu
Long und seinen Verbündeten. Fu Long? Mit dem haben wir nichts mehr zu schaffen!, hatte der An führer der Vampirsoldaten behauptet. Sollte er die Wahrheit gesagt haben? Wenn Friedhelm Steiner tatsächlich tot war, hatten sich seine überlebenden Anhänger vielleicht von dem chinesischen Vampir losgesagt und Kuang-shi angeschlossen. Immerhin wollte der Göt terdämon angeblich sein mysthisches Vampirreich auferstehen las sen. Nicht das schlechteste Argument, um mordgierige Blutsauger zum Seitenwechsel zu überreden. Sollte Zamorra also doch Recht haben? War Fu Long gar nicht ihr eigentlicher Gegner? Nein, das kann nicht sein!, wies sich Gryf selbst zurecht. Er hat Jack O’Neill getötet. Fu Long ist vielleicht Kuang-shis Feind, aber das macht ihn noch lange nicht zu unserem Freund. Der Schrei eines Tulis-Yon riss den Silbermond-Druiden aus sei nen Grübeleien. »Gebt lieber auf, Chin-Li. Ihr kommt hier nie lebend raus!« Der Tulis-Yon schien der Anführer der Bestien zu sein. Gryf ver mutete, dass sich hinter dem hässlichen Wolfskopf niemand Gerin geres als der Firmenchef selbst verbarg, und Chin-Lis Antwort gab ihm Recht: »Du irrst dich, Patrick. Oder bist du gegen Feuer gefeit?« »Das nicht. Aber ihr könnt uns nicht alle töten!« »Das werden wir sehen«, zischte Chin-Li. Offenbar übernimmt Kuang-shi jetzt schon ganze Firmen, dachte Gryf. Das macht die Sache nicht gerade einfacher! Leider stand der Anführer der Tulis-Yon außerhalb der Reichweite seines Flammenstrahls. Doch das ließ sich ändern! Gryf wollte sich gerade auf den zeitlosen Sprung konzentrieren, als er hörte, wie hinter ihm die Fahrstuhlkabine anhielt. Der Silber
mond-Druide wirbelte herum und nahm die langsam zur Seite glei tende Metalltür ins Visier. Er sah in die gelben Raubtieraugen eines halben Dutzend Tulis-Yon. »Nicht drängeln, Freunde, jeder kommt mal dran!«, rief Gryf und betätigte den Auslöser des Flammenwerfers. Nichts geschah. Der erste Tulis-Yon hatte den Silbermond-Druiden schon fast er reicht. Gryf feuerte noch mal. Ein leises Zischen war die einzige Re aktion. Er hatte offenbar den Tank leer geschossen. Auch Chin-Li hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Tja, das war’s, keine Munition mehr. Wir müssen hier weg, Klei ne«, sagte Gryf lakonisch. »Und wie? Falls du’s nicht bemerkt hast, wir sitzen in der Falle.« »Oh, nichts leichter als das«, sagte Gryf grinsend. Dann ergriff er den Arm der jungen Chinesin und sprang.
* China, Yangtze-Gebiet »Dieser Ort gibt schwarze Träume«, sagte der Alte düster, während er den Blick über die verlassenen Hütten schweifen ließ. Sie standen in der Mitte des menschenleeren Dorfplatzes. Hier hatten die Laster gestanden, mit denen die Dorfbewohner abtransportiert worden wa ren. Bis auf das gelegentliche Gackern eines Huhns war es totenstill. »Schwarze Träume? Was meint er damit?«, fragte Nicole, nachdem Yang übersetzt hatte. Der Major hakte nach. Der Alte, von dem sie inzwischen wussten, dass er Man-Tuk hieß, antwortete zunächst stockend, doch dann sprudelte es nur so aus ihm heraus, als würde
es ihn erleichtern, den Horror der letzten Tage mit jemandem zu tei len. »Er sagt, dass alle Dorfbewohner in den letzten Wochen schlecht geträumt haben«, erklärte Yang. »Und offenbar war es bei allen der selbe Traum. Er spielte in einer großen, prächtigen Stadt mit Dä chern aus reinem Gold. Doch die Menschen waren dort nur Sklaven, beherrscht wurde die Stadt von Vampiren.« »Choquai«, sagte Nicole. Kreidebleich starrte der Alte sie an. Dann nickte er. »Choquai.« »Der Ort, an dem nur die Toten glücklich sind«, zitierte Zamorra. So war die goldene Stadt der Vampire in den Aufzeichnungen des Beamten Wang Youwei bezeichnet worden, die Fu Long ihm vorge lesen hatte.* »Hier gibt es offenbar weder Tote noch Lebende«, sagte Nicole la konisch. Sie hatten das Dorf bereits eingehend untersucht. Es gab keinen Hinweis auf schwarzmagische Aktivitäten. Andererseits war die Entführung inzwischen so lange her, dass sie nicht wirklich mit brauchbaren Spuren gerechnet hatten. »Ich fürchte, Sie haben uns umsonst hergerufen, Yang. Oder einfach zu spät.« »Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, Mademoiselle Du val, und in China ganz besonders«, erwiderte Yang mit entwaffnender Offenheit. »Wahrscheinlich sind die Entführten längst in Los Angeles, bei Kuang-shi. Wenn sie überhaupt noch leben«, sagte Zamorra düster. »Können Sie überprüfen, ob ein Schiff oder ein größeres Flugzeug il legal das Land verlassen hat? Vielleicht gibt es zufällige Zeugen oder eine Radar-Ortung.« »Ich prüfe das nach, aber ich bin nicht allzu optimistisch, Profes sor. Chinas Grenze ist lang und löchriger als ein Fischernetz. Selbst *siehe PZ 724: »Vampirträume«
wenn wir auf etwas stoßen, muss es nichts mit unserem Fall zu tun haben.« »Ich fürchte, es ist unsere einzige Chance, Yang.« »Ich verstehe das nicht«, murmelte Nicole. »Was könnte Kuang shi mit all diesen Menschen vorhaben? Damals brauchte er sie, um seinen Traum zu beenden, aber er ist doch inzwischen längst er wacht. Und wenn er tatsächlich dahintersteckt, warum lässt er sie dann mit Lastwagen entführen? Beim letzten Mal hat er die Men schen einfach per Teleportation nach L.A. geholt.« »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler«, sagte Zamorra. Aber er war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte.
* Irgendwo im Großraum Los Angeles Kuang-shi schwamm in einem Meer aus Blut. Der Sohn des Wolfes spürte die Energie von Jahrtausende alten Träumen, die ihn um floss, tauchte ein in die Erinnerungen an eine Zeit, in der er am Lan gen Fluss über ein mächtiges Reich geherrscht hatte. Zweitausend Jahre waren seither vergangen, doch die Erinnerun gen an diese ruhmreiche Zeit lebten weiter, nicht nur in den Ge schichten, die man sich nachts am Feuer erzählte; sie waren auch für immer gespeichert im Blut der Menschen am Yangtze. Und vor al lem im Blut jener Menschen, die Kuang-shis Diener vor wenigen Ta gen nach L.A. gebracht hatten. Denn sie waren die Nachfahren der Sklaven, die den Bewohnern von Choquai einst als Arbeitstiere und Nahrung gedient hatten. Ihr Blut versorgte Kuang-shi mit einem kontinuierlichen Energie
strom und stärkte so auch Choquai, denn die Welt des Götterdä mons lebte von Träumen und Erinnerungen. Noch reichte seine Kraft nicht ganz aus, um die elende Realität der Menschen endgültig durch die Pracht seines Vampirreiches zu ersetzen, doch die Zeit war bald gekommen … Natürlich hätte der Sohn des Wolfes die Dorfbewohner auch durch reine Gedankenkraft zu sich rufen können, so wie damals. Doch dies hätte selbst den Götterdämon sehr viel Kraft gekostet, und die brauchte er noch für den bevorstehenden Endkampf. Au ßerdem wollte er ganz bewusst eine Spur legen, eine Spur so deut lich, dass Tsa Mo Ra sie unmöglich übersehen konnte. Sie würde den Abtrünnigen geradewegs zu seiner Bestimmung führen. Eine seltsame Heiterkeit erfüllte den Götterdämon. Tsa Mo Ra, mein alter Freund. Du magst dich noch so sehr dagegen wehren, aber auch du entgehst deinem Schicksal nicht. Bald dienst du wieder an meiner Seite in Choquai.
* »Wie hast du das vorhin gemacht?«, fragte Chin-Li. Sie saßen in ei ner Blueskneipe in West Hollywood, und die chinesische Leibwäch terin hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, wie sie über haupt hierher gekommen waren. Gryf hatte sie am Arm berührt und dann hatte sie sich hier wiedergefunden, in einer Bar mit ganz nor malen Menschen, die nicht einmal ahnten, dass es so etwas wie Tu lis-Yon überhaupt gab. Gryf hatte ihr im Schnelldurchlauf erklärt, was es mit diesen Bestien auf sich hatte, doch er selbst war für sie immer noch ein absolutes Rätsel. Seit ihrer Begegnung mit Professor Zamorra hatte sie kein Mann mehr so verstört wie dieser geheimnisvolle Jüngling, dessen unbe
kümmerter Lausbubencharme so gar nicht zu dem brennenden Hass passte, den sie in seinen Augen gesehen hatte. Hass auf die Kreatu ren, denen sie gerade in letzter Sekunde entkommen waren. »Gemacht, was denn?«, fragte Gryf unschuldig, während er einen zweiten Wodka Martini orderte. »Ach, du meinst den Sprung. Das ist die einfachste Art der Fortbewegung. Viel komfortabler als Bus fahren.« »Normale Menschen können so etwas nicht«, insistierte die Chine sin. »Vielleicht«, entgegnete Gryf mit einem süffisanten Lächeln. »Nur, ich bin kein Mensch.« Chin-Li starrte den blonden Mann an. »Du bist ein Dämon?« Unwillkürlich spannte die Ex-Killerin ihre Muskeln an. »Keine Sorge, Kleines, ich bin kein Diener der Hölle. Ich stehe auf der Seite des Guten. Ich bin ein Silbermond-Druide.« »Ein was?« »Kennst du Merlin?« »Mer-Lin?« Chin-Li hatte diesen Namen noch nie gehört. Aber er klang irgendwie chinesisch. »Vergiss es. Vermutlich ist der alte Knabe bei euch in Asien nicht so populär wie hier, wo jedes Kind mit der Artus-Sage aufwächst.« Auf einer kleinen Bühne schrammelte ein uralter Schwarzer auf der Gitarre einen schmachtenden Blues, dessen Text hauptsächlich aus »My baby« bestand. Irritiert stellte Chin-Li fest, dass sie mit dem Fuß mitwippte. Langsam schien sie von dieser westlichen Unkultur infiziert zu werden. Für die stolze Chinesin ein mehr als beunruhi gender Gedanke. »Gibt es noch andere wie dich?«
Die Miene des Silbermond-Druiden verdüsterte sich. »Es gab sie. Die meisten von uns sind tot. Aber ich war sowieso schon immer ein Einzelgänger …« Gryf hielt einen Moment inne und nahm einen großen Schluck. Seine Augen schienen in eine längst verloschene Vergangenheit zu starren. Chin-Li sagte nichts. Sie hatte den Eindruck, dass Gryf nicht weiter über sein Volk reden wollte, das offenbar einer furchtbaren Katastrophe zum Opfer gefallen war. Dann hatte er sich wieder ge fangen. »Aber es gibt noch andere, die auf unserer Seite kämpfen, Menschen, Magier, Unsterbliche. Sogar ein tollpatschiger und ziem lich fetter Drache ist dabei.« »Habt ihr einen Anführer?«, fragte Chin-Li, während sie nach ih rem Gin Tonic griff. Sie hatte den Drink bisher kaum angerührt. »Nicht direkt. Aber es gibt da einen französischen Parapsycholo gen, der am ehesten alles zusammenhält. Sein Name ist Zamorra.« Es gab ein lautes Klirren, als Chin-Lis Glas auf dem Boden zer schellte. Der stiernackige Wirt sah böse zu ihnen rüber, doch als die Chinesin ihn kurz anfunkelte, beschloss er, vor einem Wutausbruch lieber erst mal ein paar Gläser zu spülen. »Du kennst Zamorra?« Jetzt war Gryf verblüfft. Dann verstand er und lachte laut los. »Du bist diese Killerin, mit der Zamorra und Nicole es in Hongkong zu tun hatten. Als dieser fiese Dämon eure Stadt übernehmen wollte.« »Zamorra hat Hongkong gerettet. Und mein Leben, das ich in den Dienst der falschen Leute gestellt hatte. Ich habe ihm viel zu verdan ken.« »Willkommen in der Familie«, sagte Gryf grinsend und orderte zwei neue Drinks. Scheinbar zufällig berührte seine Hand dabei Chin-Lis Oberschenkel und blieb darauf liegen. Die Chinesin er starrte. Ihr erster Impuls war, Gryf mit ein paar gezielten Schlägen
Manieren beizubringen. So wie sie es bei fast allen Männern ge macht hatte, die ihr seit ihrer Flucht zu nahe gekommen waren. Und bei den anderen hatte sie nachher immer bereut, es nicht getan zu haben. Aber Gryfs Berührung war nicht unangenehm. Obwohl sie es sich nicht gern eingestand, der Silbermond-Druide gefiel ihr. Und das schien durchaus auf Gegenseitigkeit zu beruhen. »Es gibt da noch ein kleines Problem«, sagte Gryf, während er noch ein bisschen näher an sie heranrückte. »Was für ein Problem?« »Diese Tulis-Yon. Wie gesagt, die kleinste Wunde macht dich zu einem der ihren. Wir müssen sicher gehen!« »Wie willst du das machen?« »Ich müsste dich untersuchen. Sehr genau untersuchen. Jeden ein zelnen Zentimeter von dir.«
* »Du hättest die Kleine sehen sollen, als wir uns verwandelt haben. Die hätte sich vor Schreck fast in die Hose gemacht.« Patrick Lau und die anderen Tulis-Yon schüttelten sich vor La chen, als sie Agkar von ihrem Einsatz berichteten, doch der strenge Blick ihres Anführers brachte sie schnell zum Verstummen. Agkar hatte durchaus Verständnis für sie. Als Tulis-Yon wieder geboren zu werden, war eine Befreiung. Patrick und die anderen testeten ihre Kräfte aus und hatten Spaß daran, so wie er damals, als ihm die Gnade zuteil geworden war. Doch dies war nicht die Zeit für jugendliches Kräftemessen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Erzählt von diesem Mann, der plötzlich aufgetaucht ist«, befahl Agkar. »Er nannte sich Gryf. Und er war offenbar kein Mensch …« Aufge regt berichtete Patrick von dem geheimnisvollen Fremden, der sich unerwartet in den Kampf eingemischt hatte. »Gryf ap Llandrysgryf, der berühmte Vampirjäger! Das ist gut!«, sagte eine Gestalt, die bisher stumm neben Agkar dem Gespräch zu gehört hatte. Das Wesen wirkte selbst für einen Tulis-Yon bizarr. Auf dem Körper eines gut gewachsenen Mannes thronte der Kopf eines Pavians. Doch so grotesk diese Kreatur aussah, niemand hätte es gewagt, sie zu unterschätzen. Schließlich wusste jeder, wie mäch tig Wu Huan-Tiao war, der einflussreiche Hofzauberer von Kuang shi. »Er stört unsere Pläne …«, wandte Agkar vorsichtig ein. »Ganz und gar nicht«, sagte Wu, und seine Pavianlippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. »Der Druide beschleunigt nur das Eingrei fen Tsa Mo Ras.« Ehrfurchtsvoll verneigte sich Agkar, als er die Wahrheit in Wus Worten erkannte. Eigentlich hatten die Tulis-Yon Patrick Lau nur re krutiert, um dessen hervorragende China-Connection für die Ent führung der Dorfbewohner zu nutzen. Rein zufällig war Wu HuanTiao bei einer heimlichen telepathischen Durchleuchtung der engs ten Vertrauten des Unternehmers auf Chin-Lis Verbindung zu Tsa Mo Ra gestoßen, und Kuang-shis genialer Geist hatte sofort die Möglichkeiten erkannt, die sich daraus ergaben. Mit Chin-Lis Hilfe konnten sie den Verräter in eine Falle locken. Es war ein Leichtes gewesen, die Leibwächterin so zu manipulieren, dass sie Kontakt zu Tsa Mo Ra aufnehmen würde, der seinerseits ge rade in China die anderen Teile des Puzzles fand. Und wenn der ab trünnige Hofzauberer nach L. A. kam, um Chin-Li im Kampf gegen
die Tulis-Yon beizustehen und mit ihr die entführten Chinesen zu suchen, würde er genau die Rolle bei der Neuerschaffung von Kuang-shis Reich spielen, die der Sohn des Wolfes ihm zugedacht hatte. Dank Gryfs Hilfe würde Tsa Mo Ra vermutlich noch eher in Los Angeles auftauchen, um den Untergang seiner eigenen Welt herauf zubeschwören. »Lang lebe Choquai, mögest du auf ewig erstrahlen durch die im mer währende Weisheit Kuang-shis«, sagte Agkar, und zum ersten Mal an diesem Tag gestattete sich der Anführer der Tulis-Yon ein Lächeln.
* Jin Mei betrat fast lautlos das Studierzimmer. Lächelnd blickte Fu Long von den uralten Dokumenten auf, in die er sich seit Stunden vertieft hatte. Er konnte ein bisschen Aufmunterung dringend ge brauchen. Denn je mehr er die Geheimnisse der vergilbten Perga mentrollen entschlüsselte, desto verzweifelter wurde er. Verkündeten sie doch nichts weniger als das nahende Ende der Welt. »Tee?«, fragte Jin Mei sanft. Genüsslich sog der Vampir den Duft des fast durchsichtigen grünlichen Getränks ein und nickte dankbar. Seine Frau berührte ihn zärtlich, als sie das kleine Schälchen vor ihm auf den mit vergilbten Schriftrollen übersäten Tisch abstellte. Genießerisch trank Fu Long einen kleinen Schluck. Natürlich be nötigte er als Vampir weder Nahrung noch Getränke. Aber gerade in letzter Zeit gönnte er sich immer wieder ein Schälchen Tee. Es er innerte ihn an alte, längst vergangene Zeiten, in denen er ein ebenso
enthusiastischer wie naiver Beamter des großen chinesischen Kaiser reichs gewesen war. Er erinnerte sich an die fanatische Jagd seines Herrn Li Si-Wen auf den Mörder seiner Tochter, die ihn damals nach Amerika geführt hatte, vor über hundertfünfzig Jahren. Doch in den dunklen Wäl dern von Colorado waren sie auf etwas gestoßen, das noch viel bös artiger war als Kai-Xuan. Und er erinnerte sich daran, wie er in jener Nacht im Feuer gestor ben war, eng umschlungen mit dem zum Vampir gewordenen KaiXuan. Doch Fu Long wurde in den Flammen wieder geboren. Er konnte sich bis heute nicht erklären, was damals passiert war, aber irgendwie hatte ihn das Feuer mit seinem ärgsten Feind verschmol zen. Der Fu Long, der unverletzt aus den Flammen in die Nacht trat, war nicht mehr er selbst. Das Feuer hatte seine irdische Hülle zer stört und ihn eingekerkert in den Leib Kai-Xuans. Eine menschliche Seele im Körper eines Vampirs!* Lange Zeit hatte Fu Long diese Erinnerungen verdrängt, aber in letzter Zeit musste er immer öfter an diese fatale Nacht denken, die sein Leben für immer verändert hatte. Denn er hatte das Gefühl, dass er wieder am Ende seines Weges angekommen war. Und dies mal für immer. Die finale Auseinandersetzung mit Kuang-shi stand unmittelbar bevor. Fu Long spürte das mit jeder Faser seines untoten Körpers. Und ohne Zamorras Unterstützung gab es kaum eine Chance, die sen Krieg zu gewinnen. »Du musst eine Pause machen, Geliebter.« »Das geht nicht. Es gibt noch so viel, was ich noch nicht weiß. In diesen Dokumenten könnte das Geheimnis verborgen sein, wie ich Kuang-shi aufhalten kann.« *siehe PZ-HC 3: »Fu Long«
»Du hast sie schon so oft gelesen.« »Und ich muss es wieder und wieder tun, bis ich all ihre Rätsel entschlüsselt habe.« Jin Mei schmiegte sich an ihn. »Ich habe Angst, Geliebter«, flüster te sie. »Ich auch, Jin Mei«, sagte Fu Long, während er ihren zerbrechlich wirkenden Körper fest umklammert hielt. »Ich auch.«
* Chin-Li hatte so etwas noch nie erlebt. Seit ihrer Flucht aus Hong kong hatte die Chinesin schon mit mehreren Männer geschlafen, einfach weil sie das Gefühl hatte, etwas nachholen zu müssen, nach einem Leben voller Keuschheit und Selbstaufopferung. Ihre Partner waren irgendwelche Männer gewesen, die sie in ir gendwelchen Bars kennen gelernt hatte. Ihre Gesichter hatte sie längst wieder vergessen – so wie die ihrer meisten Opfer in Hong kong. Doch danach hatte sie sich immer nur leer gefühlt, gebraucht und schmutzig. Bis sie es schließlich ganz aufgegeben hatte. Doch dieses Mal war es anders. Diesmal fühlte es sich richtig an. Die junge Chinesin hatte keine Ahnung, ob es daran lag, dass Gryf über achttausend Jahre Erfahrung verfügte, wie er ihr versichert hat te, oder daran, dass es diesmal einfach kein beliebiger Mann war, mit dem sie das Bett teilte. Und es war ihr auch egal. Ihre schwitzenden Körper verschmolzen auf dem schmuddeligen Bett eines billigen Hotelzimmers zu einem. Und als sie schließlich gemeinsam zum Höhepunkt kamen, schrie Chin-Li ihre Lust hinaus in die Nacht.
»Wow«, sagte Gryf grinsend. »Pass auf, sonst holen die Nachbarn noch die Polizei.« Chin-Li sah ihren Liebhaber eine Weile stumm an, dann sagte sie ernst: »Es war das erste Mal.« »Was?«, fragte Gryf ungläubig. »Dass du mit einem Mann zusam men warst?« »Nein, dass ich … dass ich …« Chin-Li stockte. Wie den meisten Chinesinnen fiel es ihr nicht leicht, über Sex zu sprechen. Schon, dass Gryf das Licht angelassen und darauf bestanden hatte, die Decke wegzulassen, hatte sie irri tiert. Wenn auch nur für einen Moment. »Es ist das erste Mal, dass ich, dass ich … dass ich dabei …« »Mein Gott«, lachte Gryf. Er konnte es kaum fassen. »Du hattest noch nie einen Orgasmus?« »Nein«, gestand Chin-Li kleinlaut. Sie spürte wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Was war nur los mit ihr? Sie hatte ohne mit der Wimper zu zucken unzählige Menschen getötet, und jetzt verhielt sie sich wie ein Schulmädchen. Aber die Attentate hatten einem höheren Zweck gedient – wenigs tens hatte Chin-Li das lange geglaubt, bis Zamorra und Nicole ihr die Augen geöffnet hatten. Das hier tat sie dagegen nur zu ihrem ei genen Vergnügen. Und das war etwas, mit dem die Chinesin ein fach keine Erfahrung hatte. Gryf küsste sie sanft auf den Bauchnabel und arbeitete sich dann langsam nach oben vor. Chin-Li spürte einen inneren Widerstand, sich nach der Intimität der letzten Stunden sofort wieder auf diese Nähe einzulassen. Sie entzog sich Gryfs Griff. Doch der SilbermondDruide ließ nicht locker, und schließlich erlag sie seinen Zärtlichkei ten. Sehr viel später, als sie mit erröteten Körpern schwitzend neben
einander lagen, fragte Chin-Li matt. »Und was jetzt?« »Wir werden Zamorra informieren müssen. Dass Kuang-shi jetzt ganze Firmen unter seine Kontrolle bringt, ist mehr als bedenklich. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber es muss etwas Großes sein. Ich habe das dumme Gefühl, dass der alte Götterdämon zum entscheidenden Schlag ausholt.« »Du musst also nach Frankreich?« »Oder wo Zamorra und Nicole sich sonst gerade aufhalten. Die beiden treiben sich ja an den unmöglichsten Orten des Multiver sums rum.« »Wie willst du sie ausfindig machen?« »Das dürfte kein Problem sein. So lange sie auf der Erde sind, kann ich sie anpeilen. Wenn sie gerade nichts Wichtiges vorhaben, kann ich dann gleich mit ihnen hierher zurückspringen.« Die Chinesin nickte. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Ver mutlich haben diese Wolfskreaturen diesen Kuang-shi längst ge warnt.« »Das ist anzunehmen«, sagte Gryf. Entschlossen sprang er aus dem Bett und verschwand im Bade zimmer. Wenig später hörte Chin-Li das Prasseln der Dusche. Die Chinesin merkte, dass sie immer nervöser wurde. Sie würde Zamorra und Nicole wiedersehen! Die beiden Menschen, die ihrem Leben die entscheidende Wen dung gegeben hatten. Würden sie zufrieden sein, mit dem, was sie nach ihrer Abkehr von den Neun Drachen aus ihrem Leben gemacht hatte? Hatte sie sich ihres Vertrauens würdig erwiesen? Chin-Li schüttelte die Gedanken ab. Du denkst immer noch wie eine Dienerin, wies sie sich selbst zurecht. Zamorra und Nicole Duval hatten ihr gezeigt, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen
konnte. Und so weit sie das beurteilen konnte, hatte sie das nicht schlecht gemacht. Es gab keinen Grund, das Wiedersehen mit Za morra und Nicole zu fürchten. Im Gegenteil, sie freute sich darauf. Triefnass kam Gryf aus dem Badezimmer. Er pfiff fröhlich einen Popsong, während er sich mit einem großen Handtuch abtrocknete und sich ankleidete. »Kommst du eine Weile allein zurecht?«, fragte Gryf. »Natürlich.« »Es könnte sein, dass die Tulis-Yon uns auf den Fersen sind.« »Sie werden keine große Freude daran haben« entgegnete Chin-Li selbstsicher. Gryf lachte. »Du bist eine ganz und gar ungewöhnliche Frau, klei ne Chin-Li.« »Ich weiß«, sagte Chin-Li. »Und nenn mich nicht klein!« »Niemals würde ich es wagen«, sagte der Silbermond-Druide grin send. Er zog die Chinesin zu sich heran und küsste sie zärtlich. Dann war er verschwunden.
* »Hast du mich wirklich vergessen?« Wie war er hierher gekommen? Zamorra brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er befand sich in einer riesigen Halle, die von unzähli gen Gaslampen in ein fahles blaues Licht getaucht wurde. Die prachtvoll mit Gold verzierten Wände waren geschmückt mit Mondsymbolen und sti lisierten Wolfsköpfen. Ansonsten war die Halle leer, bis auf einen Thron auf einem mit kostbarer Seide ausgelegten Podest an ihrem Ende. Der Thron war verwaist. Er schien aus Elfenbein zu bestehen – oder aus den
Knochen anderer Wesen. Zamorra schauderte. Er war schon einmal hier gewesen, zumindest glaubte er das. Er konnte sich nicht genau erinnern. »All die Jahre, und du weißt gar nichts mehr über mich. So, als hätte es mich nie gegeben. Aber ich bin ein Teil von dir. Du wirst mich niemals los.« Wieder diese Stimme. Sie war sanft und leise und klang irgendwie ver traut. Doch woher kam sie? Irritiert sah Zamorra sich um. Dahinten, hin ter der Säule, stand eine einsame Gestalt. Sie trug eine schlichte dunkle Robe, und ihr Gesicht wurde von einer Kapuze bedeckt. Langsam näherte sich das Wesen. Zamorra widerstand dem plötzlichen Impuls, einfach weg zulaufen. Der Kapuzenträger hatte ihn fast erreicht. »Wer bist du?« »Du weißt genau, wer ich bin.« »Nein! Das kann nicht sein! Dich gibt es gar nicht!« »Blick in dein Inneres, und du weißt, dass es stimmt.« »Das kann nicht sein! Du bist ein Märchen, eine Legende!« »Glaubst du?« Der Mann schlug die Kapuze zurück – und Zamorra sah in sein eigenes Gesicht. In das Gesicht von Tsa Mo Ra. »Erinnere dich: Ich bin du. Ich war es immer, und ich werde es immer sein.«
* China, Yangtze-Gebiet Schreiend fuhr Zamorra hoch. Der Parapsychologe zitterte am gan zen Körper. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß, und sein Herz raste, als wolle es ihm jeden Moment aus der Brust springen. Erst
nach wenigen Sekunden erkannte Zamorra, wo er war. In dem kärg lichen Zimmer, das Major Yang Nicole und ihm als Unterkunft zu gewiesen hatte. Es war stockdunkel. Die phosphoreszierenden Zei ger seiner Armbanduhr verrieten ihm, dass es nicht einmal fünf Uhr war. Hastig griff der Dämonenjäger nach seinem Amulett, das er am Abend zuvor neben das schlichte Bett gelegt hatte. Er fühlte kaltes Metall. Merlins Stern zeigte keine schwarzmagischen Aktivitäten an. Im Dunkeln suchte Zamorra nach Streichhölzern und einer Kerze, die er ebenfalls neben dem Bett deponiert hatte. Dann erhellte war mer Kerzenschein die kleine Kammer. »Was ist los, Cheri?« Erst jetzt bemerkte Zamorra, dass Nicole ihn mit großen Augen anstarrte. Sie musste von dem Schrei aufgewacht sein. »Ich habe ihn gesehen – Tsa Mo Ra! Er sah genauso aus wie ich. Er war ich!« Nicole beugte sich zu Zamorra herüber und küsste ihn. »Beruhige dich, Cheri, es war nur ein Albtraum!« »Ich weiß nicht. Es war so real. Eher wie eine Vision.« Zamorra spürte die Wärme von Nicoles Körper. Sie tat ihm gut. Langsam normalisierte sich auch sein Herzschlag wieder. Aber der Schock saß ihm immer noch tief in den Knochen. Ohne ein Detail auszulassen, erzählte Zamorra, was er in seinem Traum, oder was immer es gewesen war, gesehen hatte. Nicole hör te ihm aufmerksam zu. »Ich bin du. Ich war es immer, und ich werde es immer sein«, wie derholte Nicole nachdenklich Tsa Mo Ras Worte. »Ich kann nicht er sein«, protestierte Zamorra. »Tsa Mo Ra lebte vor zweitausend Jahren. Selbst wenn mich eine Zeitreise dorthin
verschlagen hätte und irgendetwas meine Erinnerung blockieren würde, wäre es nicht möglich. Jemandem müsste doch aufgefallen sein, wenn ich einfach verschwunden wäre, selbst wenn meine Ab wesenheit hier nicht so lange gedauert hätte wie Tsa Mo Ras Aufent halt in Choquai.« »Vielleicht war Tsa Mo Ra deine Identität in einem früheren Le ben«, mutmaßte Nicole. »Reinkarnation?«, fragte Zamorra skeptisch. Es gab keine Anzei chen dafür, dass er schon einmal gelebt hatte. Aber sie konnten kei ne Möglichkeit ausschließen. »Aber vielleicht steht mir das alles auch noch bevor. Vielleicht werde ich erst in meiner persönlichen Zukunft zu Tsa Mo Ra.« »Das kann nicht sein«, widersprach Nicole. »Er sagte ›Erinnere dich‹. Genau wie Wu Huan-Tiao, als er in den San Bernardino Mountains die Tulis-Yon auf dich hetzte. Du kannst dich nur an et was erinnern, was du schon erlebt hast. Und dann ist da auch noch das merkwürdige Phänomen, dass du seit einiger Zeit perfekt Man darin sprichst, als hättest du jahrelang in China gelebt.« »Ich verstehe es ja auch nicht. Aber vielleicht lässt sich Kuang-shis Welt einfach nicht mit unseren linearen Zeitvorstellungen begreifen«, vermutete Zamorra. »Vielleicht existiert sie außerhalb unserer eigenen Realität. Das könnte solche Widersprüche erklären.« »Eine Parallelwelt?« »Etwas in der Art.« »Aber wir haben genug Beweise für Kuang-shis Wirken in unserer Realität. Da ist zum Beispiel das Bild, das Gryf in dieser Höhle hier ganz in der Nähe gefunden hat. Und diese seltsame Sekte, die Kuang-shis schlafenden Körper über Jahrtausende bewacht hat, existierte auch in unserer Welt. Von dem wieder erwachten Kuang
shi und den leider nur allzu realen Tulis-Yon ganz zu schweigen.« »Stimmt«, sagte Zamorra nachdenklich. »Vielleicht müssen wir uns Kuang-shis Reich mehr wie einen Parasiten vorstellen, der sich in unserer eigenen Realität einnistet und sie nach seinem Willen um formt. Damals war diese Sphäre auf diesen Teil Chinas beschränkt …« »Und als Kuang-shi in den tiefen Schlaf fiel, lebte Choquai in sei nen Träumen fort. Wir waren beide dort.«* »Doch jetzt ist Kuang-shi zurückgekehrt. Wenn er Choquai wieder auferstehen lässt, wird er sich bestimmt nicht mit diesem unbedeu tenden Fleckchen Erde zufrieden geben …« »… sondern sich diesmal die ganze Welt unterwerfen wollen«, vollendete Nicole den Satz. »Sein Machthunger dürfte in den letzten zweitausend Jahren nicht gerade kleiner geworden sein.« »Und nur wir können ihn aufhalten«, sagte Zamorra bitter. Er sprang auf und ging zu der mit Wasser gefüllten Metallschüssel, die auf einem wackeligen Holztischchen am anderen Ende der kleinen Kammer stand. Fließendes Wasser gab es in dem kleinen Dorf in un mittelbarer Nähe eines der größten Staudämme der Welt nicht. Der Parapsychologe tauchte seine Hände in die Schüssel und be netzte sein Gesicht. Das Wasser war warm und abgestanden, aber es reichte, um ihn wenigstens etwas zu erfrischen. »Nur wir können ihn aufhalten«, wiederholte er. »Und Fu Long!« »Du glaubst doch nicht immer noch, dass er auf unserer Seite steht. Er hat Jack getötet«, protestierte Nicole. Zamorra nickte, während er sich das Gesicht mit einem fleckigen Handtuch abtrocknete. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie hass erfüllt Gryf ihnen vom Tod des Detectives berichtet hatte. Ebenso *siehe PZ 707: »Im Schatten des Vampirs«
wie Nicole hatte der Silbermond-Druide Fu Long nie über den Weg getraut. O’Neills Tod war für beide der letzte Beweis, dass der Vam pir die ganze Zeit ein falsches Spiel gespielt und Zamorra nur wie eine Marionette benutzt hatte. »Ich weiß. Aber angeblich war Jack ein Tulis-Yon.« Auch das hatte Gryf ihnen erzählt, obwohl er Fu Longs Behauptung nur als einen weiteren Trick des Vampirs abgetan hatte. »Wir können nicht aus schließen, dass er wirklich die Seiten gewechselt hatte.« »Nein, und wir können auch nicht ausschließen, dass Fu Long in Wahrheit der Weihnachtsmann ist und artigen Kindern Geschenke unter den Baum legt«, ereiferte sich Nicole, die jetzt ebenfalls auf stand, um sich frisch zu machen. »Welchen Grund sollte er haben, uns zu belügen?« Zamorra wollte immer noch nicht glauben, dass der Vampir ihr Feind war, obwohl tatsächlich alles dafür sprach. »Was weiß ich. Vielleicht ist der alte Raffzahn selbst scharf auf Kuang-shis Thron? Er hat doch jetzt schon eine riesige Anhänger schaft um sich geschart. Vielleicht will er die goldene Stadt der Vampire für sich, und wir sind nur Schachfiguren in seinem Spiel. Er war schon immer ein Trickser.« Das stimmte. Fu Long hatte zwar Zamorras Freundschaft gesucht, ihm aber nie mehr erzählt als unbedingt nötig. Diese Geheimniskrä merei war einer der Gründe, warum auch Zamorra Fu Long nie voll und ganz vertraut hatte. Und jetzt war O’Neill tot, und es gab nicht den kleinsten Beweis, dass Fu Longs Version stimmte. Ein Klopfen an der Tür schreckte den Parapsychologen aus seinen Grübeleien. »Professor Zamorra, Mademoiselle Duval? Hier ist Yang. Das Frühstück ist fertig.« Nicole blickte ungläubig zum Fenster, durch das immer noch nicht
der geringste Sonnenschein drang. »Frühstück? Unser Major scheint ein Frühaufsteher zu sein.« »Ich habe nichts dagegen«, sagte Zamorra, während er ein paar fri sche Kleidungsstücke aus der Reisetasche fischte. »Bringt uns viel leicht auf andere Gedanken.« »Wir sind in zehn Minuten fertig«, rief er dem Major durch die Tür zu. »Ich warte unten auf Sie.« In Windeseile zogen sich die beiden Dämonenjäger an. Nicole ver zichtete sogar auf allzu aufwändiges Make-up. Ein ärmliches chine sisches Dorf war schließlich nicht der richtige Ort, um sich in Schale zu werfen. Yang wartete in der Küche auf sie. Der Major wirkte unverschämt wach und gut gelaunt. Er rauchte eine Zigarette, als die beiden Fran zosen den Raum betraten. Eine runzelige kleine Frau unschätzbaren Alters hatte den Tisch gedeckt. Tief verbeugte sie sich vor Zamorra und Nicole, dann blickte sie fragend den Major an. Der nickte. »Es ist gut. Wir kommen zurecht«, sagte Yang auf Mandarin. Die alte Frau verließ eilig die Küche, offenbar froh, dass sie nicht länger mit den hohen Gästen in einem Raum zubringen musste. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, sagte Yang leutselig. »Es ging«, murmelte Zamorra. »Es lag nicht am Zimmer«, fügte er schnell hinzu, als er den fragenden Blick des Majors sah. »Ist viel leicht der Jetlag.« Das war glatt gelogen, aber der Parapsychologe hatte wirklich kei ne Lust, dem Geheimdienstmann etwas von seinen Träumen zu er zählen. Yang hätte es vermutlich sowieso nicht verstanden. Er ver stand es ja selbst nicht. Das Frühstück bestand aus gebratenem Reis mit Gemüse und et
was Hühnerfleisch. Nachdem Zamorra seinen rebellierenden Magen zur Ordnung gerufen hatte, fand er das Essen sogar recht schmack haft. Nach der aufreibenden Nacht hätte er gut einen starken Kaffee vertragen können, doch bedauerlicherweise gab es nur grünen Tee. Ergeben fügte sich Zamorra in sein Schicksal. Immerhin war das fast geschmacksneutrale Getränk ein hervorragender Durstlöscher. Während Zamorra und Nicole sich ausgiebig dem Frühstück wid meten, zündete sich Yang eine weitere Zigarette an. »Ihre Vermutung war richtig, Professor. Ich habe unsere Agenten an der Küste sofort auf die Sache angesetzt. Es gab einen Vorfall nahe Ningbo.«* »Was für einen Vorfall?«, fragte Zamorra alarmiert. »Ein Boot der Küstenwache ist nachts nicht von der Patrouille zu rückgekehrt. Man hat es am nächsten Tag auf dem Meer treibend gefunden. Die Besatzung war tot. Vier Leute, erschossen mit Ma schinenpistolen. Chinesische Munition. Offenbar sind sie jemandem begegnet, der etwas zu verbergen hatte.« »Wann war das?« »Vor neun Tagen. Zieht man die Entfernung von hier bis zur Küste in Betracht, kommt es genau hin.« »Und niemand hat Sie vorher informiert?«, fragte Nicole ungläu big. »China ist groß, Mademoiselle Duval, und solche Verbrechen kommen immer wieder vor. Die Polizei vor Ort hatte keinen Grund, sich deshalb gleich an den Geheimdienst in Peking zu wenden. Ban den, die Menschen, Drogen oder Warfen schmuggeln, sind leider keine Seltenheit. Die bringen Polizisten um, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur«, fügte der Major ernst hinzu, »erfährt die Öffent lichkeit nichts davon. Zumindest nicht offiziell. Schließlich will kei *Stadt an der Küste des ostchinesischen Meeres.
ner zugeben, dass das organisierte Verbrechen ganze Landstriche unter Kontrolle hat, oft gedeckt durch korrupte Behörden. Aber es passiert. Und jeder weiß es.« Zamorra wunderte sich erneut darüber, mit welcher Offenheit der Geheimdienstmann seine Regierung kritisierte, obwohl er zugleich ein loyaler Diener seines Staates war. Aber seine Haltung passte zu diesem Land, das sich durch den Kontakt mit neuen Technologien wie dem Internet und westlichen Einflüssen zunehmend veränderte. China war ein Land im Umbruch, und manchmal verliefen die Brü che mitten durch die Personen. »Wir können nicht sicher sein, dass der Mord an den Polizisten mit der Entführung in Verbindung steht«, gab der Parapsychologe zu bedenken. »Die Kidnapper mussten rund zweihundertfünfzig Personen transportieren. Für ein Schiff dieser Größe braucht man einen Hafen.« »Oder man nimmt ein Boot, das die Entführten in kleinen Grup pen zu einem Schiff bringt, das vor der Küste ankert. Dafür reicht ein unbeobachteter Strand«, erwiderte Yang. »Nach meinem Anruf haben alle verfügbaren Beamten noch in der Nacht die umliegende Küste abgesucht. Und raten Sie mal, was sie gefunden haben …« »Lkw-Spuren«, vermutete Nicole. »Exakt. Wir können von Glück sagen, dass es in den letzten Tagen nicht geregnet hat.« »Volltreffer, würde ich sagen.« »Aber leider nützt es uns nichts«, sagte Zamorra frustriert. »Die dürften längst über alle Berge sein.« »Oder Meere«, korrigierte ihn Nicole. Zamorra verzog seine Lippen zu einem gequälten Grinsen. »Oder so.« »Sie haben Recht, die kriegen wir nicht mehr«, erklärte Yang bitter.
»Wahrscheinlich haben sie ihre ›Fracht‹ längst auf ein anderes Schiff verladen. In Hongkong oder auf dem offenen Meer. Wo immer sie hin wollen, wahrscheinlich sind sie schon längst da.« »Ich glaube, wir kennen das Ziel«, sagte Nicole. »Nach allem, was wir wissen, ist Kuang-shi noch in Los Angeles. Wenn er wirklich hinter der Entführung steckt, ist es logisch, dass er die Dorfbewoh ner dorthin bringen lässt.« Zamorra nickte. »Also müssen wir nach L.A.« »Vielleicht kann ich euch mitnehmen«, sagte Gryf.
* Entsetzt starrte Yang den Silbermond-Druiden an, der einen Meter vor ihm aus dem Nichts aufgetaucht war. Doch der Schock lähmte ihn nur eine Sekunde, dann fuhr seine Hand zur Pistole. »Nicht!«, sagte Nicole. »Er ist ein Freund.« »Ein Freund? Und wo kommt er plötzlich her?« »Aus L.A.«, sagte Gryf gelassen. Der Silbermond-Druide ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und angelte sich ein Schälchen mit gebra tenem Reis. »Lecker«, murmelte er, während er genüsslich vor sich hin schmatzte. »Habe seit Stunden nichts mehr gegessen. War eine harte Nacht.« »Das ist Zauberei«, sagte Yang verstört. »So etwas in der Art«, erwiderte Zamorra. »Aber keine Sorge, un ser hungriger Freund hier ist einer von den Guten. Schön, dich zu sehen, alter Knabe. Was führt dich her, doch sicher nicht deine Vor liebe für die chinesische Küche?« »Nicht ganz«, grinste Gryf. Der Silbermond-Druide stellte das lee re Schälchen weg, um mit etwas Tee nachzuspülen. »Ihr werdet
nicht glauben, wen ich in L.A. getroffen habe.« »Fu Long?«, fragte Zamorra alarmiert. So sehr er inzwischen an dem Vampir zweifelte, so sehr fürchtete er, dass der SilbermondDruide den geheimnisvollen Untoten einfach töten könnte. Fu Longs Rolle in diesem Spiel war mehr als undurchsichtig, aber be vor sie nicht mehr über seine wahren Absichten wussten, durfte er nicht sterben. Dafür war er viel zu wichtig. »Nein, den nicht. Leider! Es ist eine alte Freundin von euch. ChinLi!« »Chin-Li?«, wiederholte Nicole verblüfft. »Sie ist in L.A.? Wie geht es ihr?« »Heute Nacht ging es ihr jedenfalls sehr gut«, erklärte Gryf mit ei nem lausbübischen Grinsen. »Sag, dass das nicht wahr ist«, sagte Zamorra. »Du und Chin-Li? Ich fasse es nicht!« Er erinnerte sich noch gut daran, wie die kämpfe rische Chinesin ihn in Hongkong zu verführen versucht hatte. Da mals war sie noch Jungfrau gewesen, aber sie hatte es als ihre Pflicht angesehen, sich dem Dämonenjäger hinzugeben. Als Dank dafür, dass Zamorra bereit war, an der Seite der Bruderschaft der Neun Drachen gegen den namenlosen Dämon anzutreten, der Hongkong bedrohte. Der Parapsychologe hatte das verlockende Angebot abgelehnt und Chin-Li damit tief gekränkt. Aber Zamorra wollte nicht, dass je mand nur aus Pflichtgefühl mit ihm schlief. Außerdem wäre es ihm natürlich nie eingefallen, Nicole zu betrügen. »Das arme Mädchen, ist noch so unschuldig und fällt ausgerechnet einem Schwerenöter wie dir in die Hände«, lästerte Nicole. »Unschuldig? Du hättest sie sehen sollen.« »Danke, ich kann es mir auch so ganz gut vorstellen.« »Könnte mir jemand verraten, worum es hier eigentlich geht?«,
fragte Yang, der seine Fassung inzwischen wieder gewonnen hatte. »Wer ist Chin-Li, und was hat das Ganze zu bedeuten?« »Das würde ich ehrlich gesagt auch gerne wissen«, sagte Zamorra. »Du bist doch sicher nicht nur hier, um uns von deiner neuesten Er oberung zu berichten. Was ist passiert?« Gryf erzählte es ihnen. Die drei anderen hörten schweigend zu, bis der Silbermond-Druide seinen Bericht beendet hatte. »Ein Lagerhaus«, sagte Nicole schließlich, »rätselhafte Apparatu ren und geheime Lkw-Lieferungen. Sieht ganz so aus, als hätten wir unsere verschwundenen Dorfbewohner gefunden.« »Dann steckt Kuang-shi also tatsächlich dahinter.« Yangs Stimme klang rau. Der Major setzte sich auf einen leeren Stuhl und zündete sich gedankenverloren eine Zigarette an. Zamorra konnte ihn gut verstehen. Es war etwas ganz anderes, mit einer uralten Legende aufzuwachsen oder zu wissen, dass Kuang-shi tatsächlich existierte und Kontinent überspannend sein Unwesen trieb. »Dann nichts wie nach L.A. Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte Nicole. »Wir sollten vorher noch kurz im Château vorbeischauen«, wand te Zamorra ein. »Die Tulis-Yon sind verdammt hartnäckige Biester. Wir sollten nicht ohne Blaster in den Krieg ziehen.« »Okay«, sagte Gryf. »Holt eure Sachen, und dann nichts wie weg.« Zamorra und Nicole brauchten nur fünf Minuten, um ihr Gepäck zusammenzupacken. Dann trafen sie sich wieder in der kleinen Kü che. »Es tut mir Leid, dass wir Ihnen nicht mehr helfen konnten«, sagte Zamorra, als er sich von Yang verabschiedete. »Sie haben mir schon sehr geholfen. Ich weiß jetzt wenigstens, dass ich mit meinem Verdacht Recht hatte – auch wenn meine Vor gesetzten sicher Probleme haben werden, das zu akzeptieren. Ich
wünsche Ihnen viel Glück, was immer Sie jetzt auch vorhaben!« »Wenn es die geringste Chance gibt, bringen wir Ihre Leute zu rück.« »Mögen die Götter Sie schützen«, sagte Yang. Er schien nicht sehr überzeugt davon zu sein, dass es für die entführten Chinesen noch Hoffnung gab. Und wenn Zamorra ehrlich war, teilte er diese Skep sis. »Brauchen Sie ein Flugzeug?« »Nein, wir reisen etwas … unorthodox.« »Das habe ich mir gedacht …«, murmelte der Geheimdienstmann. Dann gesellten sich Zamorra und Nicole zu Gryf, der seine Freunde sanft an der Schulter berührte. Einen Sekundenbruchteil später war die kleine Gruppe verschwunden. »Das glaubt mir niemand«, stöhnte Yang, während er sich auf sei nen Stuhl fallen ließ. Er fühlte sich plötzlich sehr müde.
* Frankreich, Château Montagne Butler William gönnte sich ein seltenes Vergnügen. Er sah fern. Im Château Montagne herrschte geradezu himmlische Ruhe. Ein seltener und äußerst kostbarer Zustand, den der Butler unbedingt ausnutzen musste. Allerdings hatte William zunächst sein eigenes Gewissen von den Freuden des Müßiggangs überzeugen müssen. Das hatte ihm näm lich dringend die Fortsetzung seiner Shakespeare-Studien anemp fohlen. Doch nachdem der schottische Butler über den gedrechselten
Versen des Dichters aus Stratford-upon-Avon fast eingeschlafen war, hatte er die kostbare »Macbeth«-Ausgabe weggelegt, sich einen ordentlichen Scotch eingeschenkt und es sich vor der Flimmerkiste gemütlich gemacht. Dort gab er sich jetzt den trivialen Freuden hin, die er sich sonst missgönnte. Schon um seinen guten Ruf zu wahren. Denn wo sollte ein Haushalt hinkommen, wenn der Butler mit schlechtem Beispiel voranging? William beneidete Monsieur Zamorra und Mademoiselle Duval wirklich nicht, die sich im fernen China wieder mal mit irgendwel chen obskuren Rätseln herumschlagen mussten. Doch nicht nur die beiden Dämonenjäger waren zurzeit auf Reisen. Lady Patricia Saris und ihr Sohn Sir Rhett waren für ein paar Tage nach Paris gefahren, und selbst Fooly hatte im Moment Besseres zu tun, als aus Versehen das Schloss in Schutt und Asche zu legen. Der tollpatschige Jungdra che hatte in Rhetts Videospielsammlung »Dungeons & Dragons« entdeckt und war seitdem nicht mehr von der Spielkonsole in Rhetts Zimmer wegzubewegen. Wie gesagt, himmlische Ruhe. Bis William die Stimme hörte … »Glücksrad? Das hätte ich Ihnen nun wirklich nicht zugetraut, al ter Knabe!« Der Butler verschluckte sich vor Schreck an seinem Scotch und fuhr herum. Hinter ihm stand ein breit grinsender Professor Zamor ra, begleitet von Mademoiselle Duval und Monsieur Gryf. »Monsieur, wie kommen Sie … ich meine, ich war gerade auf der Suche nach Arte. Da läuft heute eine faszinierende Dokumentation über japanische Blumensteckkunst, Ikebana, wissen Sie? Fooly muss wieder mit dieser Fernbedienung herumgespielt haben …« William merkte, wie ihm das Blut vor Scham ins Gesicht schoss. Was tat er hier? Er hatte den Hausherrn noch nie belogen! Aber das
hier war doch zu peinlich. Er wäre am liebsten auf der Stelle im Bo den versunken. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte Nicole grinsend. »Wenn Sie wüssten, was der große Herr Professor sich in der Glotze manchmal so reinzieht!« »Aber nur zu Studienzwecken«, protestierte Zamorra. »Oh, gehörte die Sendung mit den leicht bekleideten Damen letz tens auch dazu?« »Da ging es doch um … Anatomie!« »Sicher, dir fehlt es ja auch an Studienobjekten«, grinste Gryf. »Als hoffnungsloser Monogamist hast du ja keinen Vergleich.« »Das will ich wohl hoffen!«, protestierte jetzt Nicole. »Es kann ja nicht jeder so ein Hans Dampf in allen Betten sein wie du.« »Um so besser, das verringert die Konkurrenz«, erklärte Gryf mit einem süffisanten Lächeln. William nutzte das scherzhafte Streitgespräch, um unauffällig den Fernseher abzustellen und seine Kleidung in Ordnung zu bringen, soweit das bei Pantoffeln und Strickjacke möglich war. »Gelüstet es die Herrschaften vielleicht nach einem kleinen Imbiss?«, fragte er so würdevoll wie möglich. »Danke nein, ich habe gerade schon was Chinesisches genascht«, sagte Gryf. »Vernascht trifft’s wohl eher«, entgegnete Nicole spitz. »Sorry, William, wir müssen gleich wieder weg«, erklärte Zamor ra. »Wir brauchen nur etwas Ausrüstung.« »Ausrüstung?« »Waffen«, spezifizierte der Dämonenjäger. »Blaster, um genau zu sein. Es geht gegen die Tulis-Yon.« »Oh, ich verstehe …« William hatte schon von diesen wolfsköpfi
gen Biestern gehört, die Monsieur Zamorra und Mademoiselle Du val schon mehrfach das Leben schwer gemacht hatten. Zamorra und Nicole verließen den Fernsehraum, um das Nötigste zusammenzupacken, während sich Gryf die Fernbedienung schnappte und sich in den Sessel fläzte, in dem William gerade noch seinen Feierabend genossen hatte. Der schottische Butler zuckte zusammen, als laute Heavy-MetalKlänge den Raum erfüllten und die Stille vollends zerstörten. De zent zog sich William zurück. Er hatte schließlich nur ein Gehör, und das wollte er möglichst bis ins hohe Alter behalten. Eine halbe Stunde später versammelten sich die Dämonenjäger in der Eingangshalle. Zamorra hatte wieder seine Reisetasche dabei, Mademoiselle Duval trug den eng anliegenden schwarzen Ledero verall, den sie gerne als ihren »Kampfanzug« bezeichnete. »Wir sind wieder weg. Es kann ein paar Tage dauern«, sagte Za morra. »Ich wünsche Ihnen eine gute … äh … Reise, Monsieur«, erwiderte William. Dann waren die drei verschwunden. William ging zurück in den Fernsehraum, ließ sich seufzend in den Sessel fallen und schaltete zurück auf »Glücksrad«.
* Los Angeles Sie rematerialisierten sich in einem schäbigen Hotelzimmer. »Stilvolles Ambiente. War im Ritz nichts mehr frei?«, grinste Za morra. Dann sah er Chin-Li. Die junge Chinesin war aufgesprungen, als die drei Dämonenjäger mitten im Raum erschienen waren. Für
einen Moment war sie offenbar unsicher, wie sie reagieren sollte. Doch dann umarmte sie Zamorra mit einer Herzlichkeit, die ihn an gesichts ihrer sonst zur Schau gestellten Kühle überraschte. »Zamorra!« »Hallo, Chin-Li. Schön, dich zu sehen!« Nicole war die nächste, die die schöne Chinesin in ihre Arme schloss. »Nicole, ich freue mich so!« »Hey, ich bin auch noch da!«, beschwerte sich Gryf. »Du wirst heute Nacht schon genug Umarmungen bekommen ha ben«, lästerte Nicole. Amüsiert sah Zamorra, dass Chin-Li bei dieser Bemerkung leicht errötete. Schnell wechselte die Chinesin das The ma. »Die Tulis-Yon haben sich nicht blicken lassen.« »Die werden nicht lange auf sich warten lassen«, sagte Zamorra grimmig. Er warf die Reisetasche aufs Bett und packte aus, was sie mitgenommen hatten. Fasziniert besah sich Chin-Li einen der Blas ter aus der Nähe. »Solche Waffen habe ich noch nie gesehen.« Als ehemalige Profi killerin kannte Chin-Li fast jedes Mittel, mit dem man einen Men schen ins Jenseits befördern konnte, doch die seltsam geformten Strahlenwaffen waren etwas Neues für sie. »Sie stammen von einer außerirdischen Rasse, der DYNASTIE DER EWIGEN«, sagte Nicole. »Außerirdische?« Chin-Lis Augen wurden groß. »Seid ihr ihnen begegnet?« »Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Nicole. »Komm, ich zeig dir, wie man den Blaster benutzt.« »Aber vorher solltest du uns zeigen, wo dieses Lagerhaus ist, auf das du bei deinen Nachforschungen gestoßen bist«, sagte Zamorra
und breitete auf dem Bett diverse Karten von Los Angeles und Kali fornien aus, die sie aus der Bibliothek von Château Montagne mitge nommen hatten. Chin-Li betrachtete die Pläne konzentriert, dann zeigte sie auf einen Punkt inmitten der zahllosen Plantagen von Orange County, weitab von Touristenzentren wie Anaheim, wo Disneyland tagtäg lich Heerscharen von Besuchern anlockte. »Dort ist es.« »Mitten im Nirgendwo«, murmelte Gryf. »Um so besser für sie. Keine unliebsamen Zeugen«, erwiderte Za morra. »Und auch niemand, der die Polizei ruft, wenn wir uns da mal ein bisschen umsehen«, sagte Nicole. »Dann sollten wir schnellstens nachschauen, ob da noch was zu finden ist, oder ob Kuang-shis Handlanger inzwischen das Feld ge räumt haben«, sagte Zamorra. »Wenn sich Chin-Li mit dem Blaster vertraut gemacht hat, sollten wir schleunigst aufbrechen.«
* »Was für eine rückschrittliche Art der Fortbewegung«, schimpfte Gryf. Der Silbermond-Druide saß im Fond eines dunkelblauen BMW, den sich die Dämonenjäger bei einem Autoverleih gemietet hatten, und zog eine Flappe. Da Gryf weder eine genaue Vorstellung von dem Lagerhaus hatte noch eine bestimmte Person anpeilen konnte, konnten sie nicht einfach zu ihrem Ziel springen. Was den Druiden nicht davon abhielt, sich in einer Tour über die angebliche Unbequemlichkeit des Autofahrens zu beschweren. Nicole saß auf dem Beifahrersitz und verdrehte die Augen. »Viel
leicht solltest du Kuang-shi einfach zu Tode lamentieren. Bei deinem Selbstmitleid fällt der ja ganz freiwillig wieder ins Koma!« Amüsiert verfolgte Zamorra das Wortgefecht, während er den BMW über eine kaum befahrene Straße durch endlose Orangenhaine lenkte. Im Rückspiegel beobachtete er, dass selbst Chin-Li, die bisher stoisch neben Gryf gesessen hatte, ihre Lippen zu einem fast unmerklichen Grinsen verzog. Doch der Silbermond-Druide ließ sich von Nicoles Kommentar nicht beeindrucken. »Ich verstehe nicht, dass ihr beiden das sogar zum Vergnügen macht«, fuhr er unbeirrt fort. Er spielte darauf an, dass Zamorra und Nicole erklärte Autofreaks waren. Für Gryf offenbar das absurdeste Hobby, das er sich vorstellen konnte. Während der Silbermond-Druide weiter vor sich hin schimpfte, beobachtete Nicole besorgt, wie sich der Himmel am Horizont blut rot färbte. »Es wird dunkel«, sagte sie angespannt. Zamorra nickte. Sie wussten alle, was das bedeutete. Ihr Einsatz wurde dadurch nicht gerade ungefährlicher. Die Tulis-Yon vertru gen zwar die Sonne, aber auch sie würden eher nach Einbruch der Dunkelheit zuschlagen, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber die Zeit drängte. Wenn sie die Nacht abwarteten, konnte es zu spät sein. Also mussten sie wohl oder übel das Risiko einer Kon frontation mit Kuang-shis Kriegervolk eingehen. »Und wenn schon«, meinte Gryf. »Ich habe mit diesen haarigen Biestern sowieso noch eine Rechnung offen.« »Mir wäre es lieber, wenn wir eine Auseinandersetzung vermei den könnten«, sagte Zamorra. »Wir müssen erst mal wissen, was es mit diesem Lagerhaus auf sich hat. Ein Kampf würde uns nur von unserer eigentlichen Aufgabe ablenken.« »Ich dachte, unsere Aufgabe ist es, diesen Brüdern ordentlich in
den Arsch zu treten.« »Ja, aber erst, wenn wir wissen, was mit den entführten Dorfbe wohnern passiert ist.« »Und du glaubst wirklich, dass wir noch was finden, nachdem Chin-Lis Einbruch aufgeflogen ist?« Die junge Chinesin versteifte sich, sagte aber nichts. »Vermutlich nicht, aber wir müssen sicher gehen. Jede kleine Spur könnte uns helfen, die Entführten zu retten.« »Wenn es da noch etwas zu retten gibt«, murmelte Gryf. »Da vorne muss es irgendwo sein«, sagte Nicole. Die Dämonenjä gerin hatte eine Karte von Orange County auf ihren Knien, auf der sie das Lagerhaus mit einem Kreuz markiert hatte. Zamorra drosselte die Geschwindigkeit. Nach wenigen Kilome tern sahen sie zwischen den Orangenhainen einen kleinen Feldweg, den man beim Vorbeifahren leicht übersehen konnte. »Hier kommt bestimmt nie ungebetener Besuch vorbei«, sagte Ni cole. Es wurde ziemlich holprig, als der Parapsychologe mit ausgeschal teten Scheinwerfern auf den ungepflasterten Weg einbog. Selbst die Stoßdämpfer des BMW konnten die unzähligen Schlaglöcher nicht ausgleichen. »Was für eine wundervolle Erfindung, dieses Automobil«, mur melte Gryf genervt, als er bei einer besonders großen Unebenheit fast gegen das Dach knallte. Der Silbermond-Druide hatte es als un ter seiner Würde befunden, sich anzuschnallen. »Das nächste Mal spendiere ich dir eine Pferdekutsche von Wells & Fargo«, erklärte Zamorra grinsend. »Pass auf, dass ich nicht die Seiten wechsle. Kuang-shi bietet sei nen Leuten bestimmt mehr Komfort.«
Chin-Li sah ihren Liebhaber verstört an, dann prustete sie laut los. Es war das erste Mal, dass Zamorra die sonst so unterkühlte Ex-Kil lerin lauthals lachen hörte. »Wie kann so ein tapferer Krieger nur so eine Mimose sein«, stichelte sie. »Das merke ich mir, wenn du mich demnächst anflehst, dir zu Willen zu sein«, giftete Gryf. Die Chinesin wurde schlagartig rot und sah betreten zu Boden. »Schluss mit dem Rumgeplänkel. Wir sind da«, befahl Zamorra. Einige hundert Meter vor ihnen sahen sie den Umriss eines großen Gebäudes, hinter dem sich eine bewaldete Hügelkette erhob. Za morra hielt mitten auf der Straße. »Wir gehen am besten zu Fuß wei ter.« »Die Hütte scheint zur Plantage zu gehören«, sagte Gryf. »Viel leicht hat Kuang-shi ja auf Apfelsinenzucht umgesattelt. Bringt si cher mehr ein als so eine blöde Weltherrschaft.« Sie waren noch ein gutes Stück von dem Lagerhaus entfernt. Wenn tatsächlich jemand im Gebäude war, ging er sicher davon aus, dass das Motorengeräusch von der Straße kam. Außerdem wurde der BMW von den Orangenbäumen fast vollständig verdeckt. »Also los«, sagte Zamorra, zog den Blaster und stieg aus. Die an deren folgten ihm. Gebückt näherten sie sich dem flachen, fensterlo sen Holzgebäude, das einen eher baufälligen Eindruck machte. Sie sahen keine Fahrzeuge, und auch sonst gab es keine Lebenszeichen. »Sieht nicht so aus, als sei da viel los«, murmelte Gryf. »Entweder sind die Vögel längst ausgeflogen, oder wir haben uns in der Adres se geirrt.« »Nein, die Hinweise waren eindeutig«, widersprach Chin-Li ener gisch. »Dann legt Kuang-si wohl einfach keinen Wert auf unsere Gesell schaft.«
»Oder sein Begrüßungskomitee plant eine Überraschungsparty«, flüsterte Nicole, während sie das Gelände aufmerksam sondierte. »Dann sollten wir ihnen den Spaß gründlich vermiesen«, erwider te Zamorra. Das Amulett an seiner Brust blieb kalt. Aber der Dämo nenjäger wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Aus irgendei nem Grund reagierte Merlins Stern nicht auf das Volk der Tulis-Yon. Schließlich hatten sie das Lägerhaus erreicht. »Seltsam, die Tür steht offen«, meinte Nicole. Zamorra hatte es auch gesehen. »Sieht nach einer Einladung aus. Dann wollen wir sie mal annehmen.« Der Parapsychologe signalisierte Gryf und Chin-Li, sich das Ge bäude von außen anzusehen, während er und Nicole sich vorsichtig dem Eingang näherten. Aus dem Inneren drang nicht der geringste Lichtschein. Zamorra lauschte in die Dunkelheit hinein. Nichts. »Gib mir Feuerschutz«, flüsterte der Parapsychologe. Nicole nickte und hob den Blaster. Unvermittelt sprang Zamorra durch die geöffnete Tür, rollte sich ab und ließ die Taschenlampe aufflammen. Der Lichtstrahl riss ein paar alte Apfelsinenkisten aus der Dunkelheit. Ansonsten war der Raum leer. »Hier ist nichts«, rief Zamorra halblaut. Vorsichtig betrat auch Ni cole das Gebäude. Der Schein ihrer Taschenlampe glitt über den Türrahmen, dann hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie betätigte einen Schalter, und kaltes Neonlicht erleuchtete die kahle Halle. Nichts deutete darauf hin, dass dieses Lagerhaus noch vor kurzem Kuang-shis Anhängern als Unterschlupf gedient haben könnte. Bis auf eines. »Was ist das denn?«, fragte Nicole verblüfft.
An der hinteren Wand prangte etwa in Augenhöhe ein Bild. Je mand hatte die Zeichnung direkt in das Holz geschnitzt. Es war ein stilisierter Wolfskopf. Und er war besudelt mit getrocknetem Blut. »Ein Gruß von den Tulis-Yon«, sagte Zamorra. »Sie wussten, dass wir kommen.« In dem Moment hörten sie das Blasterfeuer.
* »Vorsicht!«, schrie Chin-Li. Instinktiv warf sich Gryf zu Boden. Keine Sekunde zu spät! Beina he hätte ihn die Pranke eines Tulis-Yon erwischt, der sich von hinten an ihn angeschlichen hatte. Mit einem zeitlosen Sprung brachte sich der Silbermond-Druide aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Es waren acht Bestien. Die wolfsköpfigen Kreaturen hatten den Dämonenjägern in der Dunkelheit aufgelauert und gewartet, bis sie sich getrennt hatten. Gratuliere, Vollprofi, beschimpfte Gryf sich selbst. Du hast dich wie der letzte Trottel in die Falle locken lassen. Doch jetzt war nicht die Zeit für Selbstkritik. Gryf zog den Blaster und feuerte. Neben ihm tat Chin-Li dasselbe. Obwohl die Waffe neu für sie war, schien die Chinesin regelrecht mit dem Blaster zu ver schmelzen. Obwohl die Strahlenwaffen auf Dauerfeuer eingestellt waren, konnten die Tulis-Yon dem blassroten Energiestrahl länger wider stehen als die meisten änderen Schwarzblütigen. Erst nach einer Se kunde gingen die Wolfskrieger mit einem dumpfen Knall in Flam men auf. Zeit, die die anderen Tulis-Yon nutzten, um von der Seite anzu greifen. Jeweils drei der Bestien versuchten einen der beiden Dämo
nenjäger in die Zange zu nehmen. »Das habt ihr euch so gedacht, Freunde«, zischte Gryf und legte auf den ersten Wolfsköpfigen an. Schreiend verging die Bestie, doch der Silbermond-Druide hatte keine Zeit, sich darüber zu freuen. Eine Klaue schoss auf ihn zu – und traf ins Leere. Gryf war aus der Gefahrenzone gesprungen und hatte sich vier Me ter davon entfernt wieder materialisiert. Von dort aus nahm er die Tulis-Yon sofort wieder unter Beschuss. »Da staunt ihr, was?«, rief Gryf. Mit einem Seitenblick sah der Silbermond-Druide zu Chin-Li. Die Chinesin schleuderte einen Wolfsköpfigen mit einem brutalen Kick zurück, während sie auf einen zweiten Tulis-Yon schoss. Doch die dritte Kreatur kam ihr gefährlich nahe. Gryf zögerte keine Sekunde. Er riss den Blaster hoch und feuerte. Brüllend fuhr die Bestie herum, doch sie hatte keine Chance. Der Laserstrahl verwandelte sie in eine lebende Fackel. »Ich hätte ihn auch erwischt!«, rief Chin-Li verärgert. Offenbar hatte Gryfs Eingreifen ihren Stolz verletzt. »Gern geschehen«, grinste Gryf. Dann nahm er sich die beiden Tu lis-Yon vor, denen er gerade durch den zeitlosen Sprung entkommen war. Doch die Bestien hatten offenbar genug. In großen Sprüngen hetzten sie auf eine bewaldete Hügelkette zu. Auch Chin-Lis letzter Gegner suchte sein Heil in der Flucht. Mit flinken Haken wich er den Blasterschüssen der Chinesin aus. »Sie entkommen!«, rief Chin-Li. »Hinterher!« Das ließ sich Gryf nicht zweimal sagen. Für einen Sprung in den Wald kannte er das Gelände nicht gut genug. Außerdem musste er mit seinen Kräften haushalten. Also jagte er Seite an Seite mit ChinLi den Tulis-Yon hinterher. Bald waren sie umgeben von dichtem Unterholz, das die Sicht auf wenige Meter begrenzte. Durch das
Blätterdach erreichte nur wenig Mondlicht den Boden. Chin-Li wurde trotz des schwierigen Geländes nicht einmal lang samer. »Warte«, rief Gryf seiner Begleiterin zu. »Wir müssen zusammen bleiben!« Doch die Chinesin achtete gar nicht auf ihn. Chin-Li war ihr Leben lang Einzelkämpferin gewesen, und auch jetzt hatte sie offenbar kei ne Lust, sich auf die Spielregeln eines Teams einzulassen. Sekunden später hatte Gryf sie aus dem Blick verloren. »Na toll!«, murmelte der Silbermond-Druide. »Also Bürschchen, wo seid ihr?« Wie aufs Stichwort kamen die Tulis-Yon aus ihrem Versteck. Und sie hatten Verstärkung mitgebracht.
* »Mist«, fluchte Zamorra und zog den Blaster. Neben ihm tat es Ni cole ihm gleich. Vor dem Eingang des Lagerhauses war nichts zu se hen. »Sie müssen hinter dem Gebäude sein«, sagte Nicole. Die beiden Dämonenjäger wollten gerade ihren Freunden zu Hilfe eilen, als sie die Stimme hörten. »So sehen wir uns also wieder, Tsa Mo Ra!« Zamorra wirbelte herum. Die Stimme war von einem großen Baum gegenüber dem Eingang des Lagerhauses gekommen. Jetzt löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit und trat ins fahle Mond licht. Die Gestalt hatte den Körper eines Menschen, aber auf dem Hals thronte der Kopf eines Pavians. »Wu Huan-Tiao«, entfuhr es Zamorra.
Der Dämonenjäger erinnerte sich nur zu gut an seine letzte Begeg nung mit Kuang-shis Hofzauberer in den San Bernardino Moun tains. Wu hatte damals die Tulis-Yon auf ihn gehetzt, damit sich Za morra im Angesicht des Todes an seine angebliche Vergangenheit als Tsa Mo Ra erinnerte.* Das mörderische Experiment war fehlgeschlagen. Und jetzt stan den sie sich wieder gegenüber. »Ich hätte mir ja denken können, dass du dahintersteckst«, sagte Zamorra. »Kannst du das nächste Mal nicht einfach anrufen, wenn du was von mir willst?« »Dein Sarkasmus ist fehl am Platz, Tsa Mo Ra …« »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nicht der bin, für den du mich hältst, Affenkopf!« »Vielleicht bist du es jetzt nicht, aber du wirst es gewiss wieder sein. Niemand entgeht seinem Schicksal, Tsa Mo Ra.« Zamorra dachte an Gryf und Chin-Li, die jetzt möglicherweise in Lebensgefahr schwebten, während sie hier in aller Seelenruhe über seine angebliche Vergangenheit als Diener eines Vampirgottes plau derten. »Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn, Wu. Was willst du? Wieder lustige Erinnere-dich-Spielchen spielen?« Der Hofzauberer ging nicht auf Zamorras Frage ein. »Ich sehe, du hast deine Gefährtin mitgebracht. Hast du selbst Shao Yu vergessen?« Zamorra bemerkte, wie sich Nicole neben ihm versteifte. »Wer ist Shao Yu?«, fragte sie leise. »Keine Ahnung. Er will uns nur verwirren.« Doch das stimmte nicht ganz. Obwohl sich Zamorra nicht an sein angebliches Leben in Choquai erinnern konnte, durchzuckten im *siehe PZ 785: »Angriff der Wölfischen«
mer wieder fremdartige Bilder und Namen sein Gedächtnis, wie Splitter einer Vergangenheit, die tief in seinem Unterbewusstsein vergraben war. Und der Name Shao Yu brachte etwas in ihm zum Klingen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wer ihn einst getragen haben mochte. »Erinnerst du wirklich nicht an deine Frau, Tsa Mo Ra? Shao Yu war die schönste Vampirin damals in Choquai und eine wirklich be merkenswerte Zauberin. Du hast ihr ewige Liebe geschworen im Licht des weißen Mondes.« »Das reicht«, rief Nicole und riss den Blaster hoch. »Du hast die Dame gehört, Wu«, sagte Zamorra. »Ich habe keine Lust, mir länger dein Gefasel über mein anderes Ich anzuhören. Also, was willst du?« »Du weißt, was ich will, alter Freund. Du musst dich erinnern.« »Das hat schon beim letzten Mal nicht geklappt, als du deine haa rigen Freunde auf mich gehetzt hast.« »Ich werde nicht aufgeben, bis es funktioniert. Ich möchte, dass du zurückkehrst, Tsa Mo Ra. Auch wenn du uns verraten hast, in Kuang-shis Reich gibt es immer einen Platz für dich.« »Vergiss es«, zischte Zamorra und hob den Blaster um einen Zenti meter. »Willst du mich wirklich töten, Tsa Mo Ra?« Zamorra wusste es selbst nicht. Obwohl Wu Huan-Tiao Kuang shis Diener war, gelang es ihm merkwürdigerweise nicht, in der grotesken Gestalt einen reinen Feind zu sehen. Und der Dämonenjä ger hatte nicht vergessen, dass der pavianköpfige Magier bei ihrer letzten Begegnung sein Leben verschont hatte. Dann traf er eine Entscheidung. »Nein, ich werde dich nicht töten, Wu. Nicht heute. Aber wenn
wir uns das nächste Mal begegnen, ist es das letzte Mal.« »Wie du meinst, Tsa Mo Ra. Es ist deine Entscheidung«, sagte Wu. Er nickte Zamorra noch einmal zu und wandte sich dann ab. Im selben Moment stieß Nicole einen gellenden Schrei aus. Zamor ra wirbelte herum. Entsetzt starrte Nicole auf ihre rechte Seite, wo eine tiefe Wunde klaffte, aus der fontänenartig das Blut schoss. Ein Tulis-Yon hatte Zamorras Gespräch mit Wu Huan-Tiao ausge nutzt, um sich von der Seite an die Dämonenjäger heranzuschlei chen. Triumphierend bleckte die wolfsköpfige Bestie die Zähne und wollte sich auch auf den Parapsychologen stürzen. Doch ein Befehl des pavianköpfigen Zauberers hielt den Tulis-Yon zurück. »Es reicht …« Nicole war aschfahl geworden, während das Blut weiterhin in Strömen aus ihrem Körper floss. »Nici …«, flüsterte Zamorra. Dann fuhr er herum. Wu sollte zah len für das, was er ihr angetan hatte. Doch Kuang-shis Vertrauter war schneller. Bevor der Dämonenjäger reagieren konnte, schoss der Zauberer auf Zamorra zu und schlug ihm den Blaster aus der Hand. »Du hast diesen Kampf verloren, Tsa Mo Ra, sieh es ein! Und jetzt kümmere dich um deine Gefährtin. Sie stirbt! Wir sehen uns, alter Freund.« Wu Huan-Tiao gab dem Tulis-Yon einen Wink, und die beiden Kreaturen verschwanden in der Nacht. Zamorra unterdrückte den Impuls, den Blaster vom Boden aufzuheben und die beiden Diener Kuang-shis auszulöschen. Er musste sich um Nicole kümmern. Das war wichtiger als alles andere. Nicole stützte sich am Türrahmen ab. Ihr Gesicht war schweiß nass. Zamorra legte den Arm um sie und drängte sie sanft in eine sitzende Haltung. Ihr Körper war eiskalt und wurde immer wieder erschüttert von heftigem Zittern.
Nicole versuchte ein Lächeln, aber Zamorra sah die Verzweiflung in ihren braunen Augen. »Das war’s wohl, Chef.« »Red keinen Mist. So schnell stirbst du nicht.« »Mach dir nichts vor, Zamorra, du weißt, dass ich Recht habe. Ich bin infiziert. Ich werde in weniger als einer Stunde verbluten, und dann bin ich eine Tulis-Yon. Wenn du mich wirklich liebst, dann er spare mir das.« »Du willst, dass ich dich töte?« Zamorra konnte kaum glauben, was Nicole da von ihm verlangte. Es musste einen anderen Weg ge ben! »Es war ein großartiges Leben an deiner Seite, und ich möchte es gegen kein anderes tauschen. Aber mein Weg ist hier zu Ende.« Ni cole hustete und spuckte etwas Blut. »Gib mir einen Kuss, und dann erlöse mich. Ich habe furchtbare Schmerzen. Ich möchte nicht lange leiden!« »Ich kann das nicht tun, und ich werde das nicht tun!« Zamorra presste Nicole an sich. Ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, als wehre er sich mit letzter Kraft gegen das Unvermeidliche. »Willst du wirklich, dass ich zu einer dieser abscheulichen Kreatu ren werde? Dann wirst du mich sowieso töten müssen. Also tue es jetzt und erspare mir die Hölle, eine von ihnen zu werden!« »Nein!«, sagte Zamorra entschieden. »Es gibt noch eine Möglich keit.« Mit zitternden Händen zog der Parapsychologe einen Stoff beutel aus seiner Hosentasche, aus dem er einen unscheinbaren schwarzen Stein hervorholte. »Der Hong Shi!«, sagte Nicole. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »Du hast ihn mitgenommen?« »Nur er kann dich jetzt noch retten.« »Das darfst du nicht! Fu Long hat gesagt, dass du ihn unter keinen Umständen einsetzen darfst.«
Das stimmte. Der Hong Shi war das einzig bekannte Mittel, um eine Tulis-Yon-Infektion rückgängig zu machen. Und er war ein mächtiges magisches Kleinod, das Fu Long unbedingt in seinen Be sitz bringen wollte. Der Vampir hatte Zamorra eindringlich davor gewarnt, den Hong Shi je wieder zu benutzen. Doch Fu Long hatte Jack O’Neill ermordet, und es gab keinen Grund mehr, ihm zu vertrauen. »Fu Long sagt immer das, was ihm gerade nutzt, das hast du selbst immer wieder gepredigt. Ich habe den Stein schon vorher ein gesetzt, ohne dass es das Ende der Welt bedeutet hätte. Es wird nicht schaden, wenn ich es ein weiteres Mal tue.« »Nein, ich will das nicht!« Mit letzter Kraft packte Nicole ihren Blaster, der neben ihr ins Gras gefallen war, und richtete ihn auf Za morras Brust. »Du wirst mich schon töten müssen, um mich daran zu hindern.« »Es gibt einen anderen Weg«, sagte Nicole mit fast tonloser Stim me. Zamorra gefror das Blut in den Adern, als er sah, wie seine ster bende Gefährtin den Abstrahlpol auf ihren eigenen Kopf richtete. »Mach’s gut, Zamorra. Ich sehe dich auf der anderen Seite.« Dann fiel ihr Arm kraftlos herab. Der Blaster rollte ins Gras. Zamorra unterdrückte die in ihm aufwallende Panik und kontrol lierte Nicoles Puls. Er war schwach und unregelmäßig, aber Nicole lebte. Vermutlich war sie durch den Blutverlust ohnmächtig gewor den, und es strömte immer noch mehr Blut aus ihrem geschunde nem Körper. Zamorra wusste, dass er schnell handeln musste. Kurz entschlos sen presste er den Hong Shi auf die klaffende Wunde. Der schwarze Stein schien plötzlich lebendig zu werden und färbte sich tiefrot. Zamorra hatte den Hong Shi bereits zweimal eingesetzt, doch diesmal war es anders als sonst. Das magische Kleinod glühte
mit der Intensität einer Mini-Sonne, und dann schien ein Stromstoß durch Zamorra zu fahren. Der Parapsychologe wurde zurückgeschleudert, und sein Gehirn setzte für eine Sekunde aus. Dann zerbrach eine Barriere in ihm, und sein Geist wurde überflutet von Bildern, die er nie zuvor gesehen hatte. Erinnerungen an eine Stadt mit goldbedeckten Bauwerken, die nur von Vampiren bewohnt wurde. Und in der er, als einziger Mensch im Dienste Kuang-shis, das Amt des dritten Hofzauberers bekleidete. Er, Tsa Mo Ra!
* Der Sohn des Wolfes triumphierte! In einem Meer aus Blut treibend, spürte Kuang-shi, wie ihn die Magie des Hong Shi durchflutete und mit einer nie gekannten Macht erfüllte. Alles war so gekommen, wie er es vorhergesehen hatte. Und dies war erst der Anfang! Der Götterdämon schloss die Augen und beschwor die machtvol len Bilder der Vergangenheit herauf. Allein durch die Kraft seiner Träume hatte er die goldene Stadt der Vampire über Jahrtausende vor dem Untergang bewahrt. Und die Macht seiner Träume würde ihm helfen, das Werk zu vollenden und Choquai wieder Wirklich keit werden zu lassen. Kuang-shi versetzte sich in einen tranceartigen Zustand, der dem Schlaf ähnelte, in dem er unfreiwillig die letzten zweitausend Jahre überdauert hatte. Doch diesmal war es ein bewusster Entschluss, um das Potenzial seines Unterbewusstseins anzuzapfen. Kuang-shi träumte wieder. Und seine Träume veränderten die
Welt.
* Fu Long merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die magische Schockwelle traf ihn wie ein Schlag. Der Vampir taumelte und musste sich am Tisch abstützen, um nicht zu Boden zu stürzen. »Was ist passiert, Geliebter?«, fragte Jin Mei. Auch sie war kreide bleich. Sie musste es ebenfalls gespürt haben. »Der Hong Shi«, flüsterte Fu Long entsetzt. »Zamorra muss ihn benutzt haben. Dieser Narr! Ich hatte ihn gewarnt!« Aber du selbst bist der eigentliche Narr, fügte er in Gedanken hinzu. Sicher, du hast ihn gewarnt, aber du hast Zamorra nie verraten, was geschieht, wenn er den Hong Shi wirklich noch einmal einsetzt. Du hättest ihm mehr vertrau en sollen, dann hätte er auch dir vertraut. Aber dafür ist es jetzt zu spät! Dann hörten sie von unten aufgeregte Rufe. Wenige Sekunden später empfing er den aufgeregten telepathischen Ruf seines Sohns Paul. »Vater, im Fernsehen, das musst du sehen …« Fu Long sah Jin Mei an, dass sie die Botschaft auch empfangen hatte. Wortlos eilten sie ins Untergeschoss. Die restlichen Vampire hatten sich in einem schlicht eingerichteten Raum vor einem alten Fernseher versammelt. Fassungslos beobachteten sie, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Ein sichtlich verstörter Sprecher kommen tierte Bilder, die Fu Long auch ohne große Erklärungen verstand. Eine Gruppe Vampirsoldaten patrouillierte mitten durch Los An geles! »Ein Angriff?«, fragte Paul. »Nein, das ist kein Angriff«, sagte Fu Long leise. »Das sind keine Vampire, die Kuang-shi in dieser Welt um sich versammelt hat. Das
sind Krieger aus Choquai.« »… bisher scheint das Phänomen auf Los Angeles beschränkt zu sein«, fuhr der Fernsehsprecher fort. »Wie aus dem Nichts sind überall in der Stadt antik gekleidete chinesische Krieger aufgetaucht. Die Behörden glaubten zunächst an einen Scherz – bis sie hiervon erfuhren.« Das Bild veränderte sich und zeigte jetzt die City Hall – oder den Ort, an dem sich einst das Wahrzeichen der Stadt befunden hatte. Jetzt stand dort eine mehrstöckige Pagode mit riesigen Flügeltüren, die bis in den Himmel zu reichen schienen. »Kuang-shis Palast«, murmelte Fu Long. Er hatte das Gebäude noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber in den alten Schriften hat te er sehr ausführliche Beschreibungen gefunden. »Die Realitäten überlappen sich!« Es gab keine andere Erklärung. Durch den Einsatz des Hong Shi und Zamorras zurückgekehrte Erinnerung an sein Leben als Tsa Mo Ra war Kuang-shis Realität so stark geworden, dass sie sich in dieser Welt immer mehr manifestierte. Der Prozess würde erst stoppen, wenn die Wirklichkeit ganz von Kuang-shis mythischem Vampir reich absorbiert sein würde. Dann gab es nur noch Choquai. Den Ort, an dem nur die Toten glücklich sind. Jetzt war der Sprecher im Bild zu sehen. Er hatte dicke Schweiß tropfen auf der Stirn und die Stimme rutschte ihm immer wieder weg, während er vergeblich versuchte, seine professionelle Nach richtensprecher-Haltung aufrecht zu erhalten. »Bisher gibt es immer noch keine schlüssige Erklärung für das Phänomen. Einige Wissenschaftler glauben an durch besondere Wetterverhältnisse hervorgerufene Luftspiegelungen, während an dere einen terroristischen Anschlag mit Hilfe von halluzinogenen
Drogen in Erwägung ziehen.« Der Sprecher hielt inne, als ihm eine Hand aus dem Off ein Blatt Papier reichte. Der Nachrichtensprecher las das Schreiben, räusperte sich und blickte nervös in die Kamera: »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat soeben das Kriegsrecht über Los Angeles verhängt. Truppenteile aus dem gan zen Land sind in das Krisengebiet unterwegs, um die örtlichen Kräf te zu unterstützen. Der Präsident wird in wenigen Minuten live auf allen Kanälen zum amerikanischen Volk sprechen. Bis dahin fordert er die Bevölkerung von Los Angeles auf, unbedingt Ruhe zu bewah ren und die Wohnungen nicht zu verlassen. Den Anordnungen des Militärs und der Polizei ist unbedingt Folge zu leisten! Bitte geraten Sie nicht in Panik und versuchen Sie nicht, die Stadt zu verlassen.« Sobald er die Erklärung verlesen hatte, erhielt der Nachrichten sprecher eine neue Mitteilung. »Äh … wie es scheint, sind Einwoh ner von L.A. bereits auf der Flucht. Wir schalten live zum San Ber nardino Freeway.« Der Bildschirm zeigte jetzt Live-Bilder, die offenbar aus einem Hubschrauber aufgenommen wurden. Selbst aus der Höhe war er kennbar, dass auf dem Freeway das reinste Chaos herrschte. »Diese Narren«, zischte Fu Long. »Sie werden alle ein Teil von Kuang-shis Reich. Und es gibt nichts, was sie dagegen tun können.« Abrupt verließ der Vampir den Raum. Jin Mei eilte ihm hinterher. »Wo willst du hin, Geliebter?« Fu Long sah die Angst in den schönen Augen seiner Gefährtin. Und die Entschlossenheit, sich nicht von ihr unterkriegen zu lassen, was auch immer das Schicksal noch an Prüfungen für sie vorgese hen hatte. »Ich muss zu Zamorra. Mit ihm haben diese Veränderungen be gonnen, und mit ihm werden sie auch aufhören!«
»Also gibt es noch eine Chance?« Fu Long zögerte. »Ich weiß es nicht. Aber wenn es sie gibt, werde ich sie nutzen!« Dann öffnete er die Haustür und schwang sich hinaus in die Nacht.
* Die magischen Schockwellen, die immer noch vom Hong Shi aus gingen, leiteten Fu Long wie ein Kompass. Als der Vampir über das nächtliche Los Angeles flog, konnte er das wahre Ausmaß der Ver änderung erkennen. Überall sah er prächtige chinesische Bauwerke, die der vertrauten Kulisse ein fremdartiges und bizarres Aussehen verliehen. Einige Gebäude wirkten durchscheinend und verschwan den nach wenigen Augenblicken wieder, während neue aus dem Nichts auftauchten. Die Transformationen waren noch nicht permanent, aber sie schie nen sich rasend schnell auszubreiten. Dir Zentrum lag offenbar nicht in L.A. selbst, sondern etwas außerhalb in Orange County. Während Fu Long der magischen Spur folgte, nahm der Druck in seinem Kopf zu. Als der Schmerz kaum noch auszuhalten war, ent deckte er ein abgelegenes Lagerhaus in der Nähe eines kleinen Wäldchens. Dort musste Zamorra sein – und der Hong Shi! Dann sah er sie: Nicole Duval kauerte am Boden. Ihre Kleidung war blutüberströmt, aber sie schien unverletzt zu sein. Fu Long wusste sofort, was das bedeutete. Die Tulis-Yon hatten Zamorras Gefährtin mit ihrem Keim infiziert, und der Dämonenjäger hatte den Hong Shi benutzt, um sie zu retten.
Und damit die Welt geopfert, die er kannte. Verfluchter Idiot, murmelte Fu Long. Aber er wusste, dass er ver mutlich genauso gehandelt hätte, wenn Jin Meis Leben auf dem Spiel gestanden hätte. In ihren Armen hielt Nicole einen Mann, der zuckte, als stünde sein Körper unter Strom. Zamorra! Neben ihm im Gras lag der Hong Shi. Der normalerweise schwarze Stein glühte in einem tiefen Rot, so, als vereine er in sich die Kraft von tausend Sonnen. Fu Long landete unbemerkt hinter den beiden Dämonenjägern. »Shao Yu, wie konntest du uns das nur antun? Der Anschlag auf Wu Huan-Tiao, Kuang-shi wird dir das nie verzeihen«, brabbelte Zamorra, während Nicole ihm sanft über die schweißnasse Stirn strich. Wu Huan-Tiao? Fu Long kannte diesen Namen aus seinen Doku menten. Und Shao Yu, war sie in Choquai vielleicht Tsa Mo Ras Frau gewesen? Die Aufzeichnungen des Beamten Wang Youwei deuteten an, dass mit der Gemahlin des Hofzauberers etwas Schlim mes geschehen sein musste. Was, hatte Youwei nie herausgefunden … »Nicole?«, fragte Zamorra plötzlich, und sein Blick klärte sich. »Was ist passiert? Der Hong Shi?« »Er hat mich gerettet! Mir geht es gut, Cheri.« »Das ist gut! Fu Long hatte mich gewarnt, es sei zu gefährlich. Heute haben sie wieder zehn Menschen zur Treibjagd in den südli chen Park gebracht. Zur Treibjagd! So kann das nicht weitergehen! Ich muss mit Kuang-shi sprechen, Shao Yu. Vielleicht wird er dich begnadigen …« Und plötzlich verstand Fu Long. Der Hong Shi hatte nicht nur die Realität weitreichend verändert, sondern auch Zamorras Erinnerun gen an sein Leben als Tsa Mo Ra zurückgebracht. Und damit stärkte
er wieder Kuang-shis Realität, denn die Welt des Götterdämons leb te von Träumen und Erinnerungen. Aber Zamorra erinnerte sich nicht nur an sein Leben in Choquai, ein Teil von ihm war Tsa Mo Ra. Noch überlagerten sich Zamorras und Tsa Mo Ras Identitäten wechselseitig, aber Fu Long hatte kei nen Zweifel daran, welche Persönlichkeit den Sieg davontragen würde. Es gab nur einen Weg, das zu verhindern. Fu Long nahm ein Steinchen auf und warf es in Richtung Lager haus. Zamorra reagierte gar nicht, aber Nicole sprang alarmiert auf. Mit gezogenem Blaster näherte sie sich vorsichtig dem Gebäude. Lautlos glitt Fu Long hinter sie. »Entschuldigung …«, sagte er. Nicole fuhr herum und riss den Blaster hoch, doch da traf sie schon Fu Longs Handkante. Bewusstlos sackte die Dämonenjägerin zusammen. »Und jetzt zu uns, alter Freund«, sagte der Vampir zu Zamorra, der ihn verständnislos ansah. »Irgendwoher kenne ich dich«, murmelte der Parapsychologe, während er unsicher aufstand. Er zitterte immer noch, aber er hielt sich einigermaßen auf den Beinen. »Sind wir uns an Kuang-shis Hof begegnet?« »Das glaube ich eher nicht«, erwiderte Fu Long, der darauf achte te, Zamorra nicht zu nahe zu kommen. Das Amulett sah in ihm im mer noch einen Feind und würde ihn notfalls auch von selbst an greifen. Fu Long hob die rechte Hand. Zamorras Augen folgten sei ner Bewegung. Und dann griff der Geist des Vampirs auf den des Menschen über.
Fu Longs Vermutung erwies sich als richtig. Durch das Chaos in Zamorras Kopf war auch die mentale Sperre, die ihn normalerweise vor telepathischen Attacken oder Hypnose schützte, zusammenge brochen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte Fu Long den Dämonenjäger unter seiner geistigen Kontrolle. Mit leerem Blick starrte Zamorra den Vampir an. »Gut«, sagte Fu Long. »Und jetzt nimm das Amulett vom Hals und wirf es weg, so weit du kannst.« Mit unsicheren Händen ergriff Zamorra die Halskette des Amu letts, zog es sich über den Kopf und schleuderte die magische Waffe in ein nahe gelegenes Gebüsch. Sofort ging Fu Long zu Zamorra und hob den Hong Shi auf. Der Vampir konnte die Macht des rot pulsierenden Steins körperlich spüren. Schnell steckte er ihn in die Tasche und wandte sich wieder Zamorra zu. Fu Long ergriff den Kopf des stumpf vor sich hin starrenden Para psychologen und flüsterte: »Tut mir Leid, alter Freund, aber es geht nicht anders.« Dann drang er tiefer in Zamorras Geist ein. Das Chaos der beiden sich überlagernden Identitäten drohte Fu Long sofort in seinen Sog zu ziehen. Der Vampir spürte den Schmerz und die Verzweiflung der um ihr Überleben kämpfenden Persönlichkeiten, und er wusste, dass er schnell sein musste, wollte er nicht selbst in diesem mentalen Strudel untergehen. Schließlich hatte Fu Long gefunden, was er suchte. Er gab einen geistigen Be fehl, dann zog er sich rasch wieder aus Zamorras Geist zurück. Mit leerem Blick starrte der Parapsychologe ihn an. Sein Körper war jetzt ganz ruhig, der Schmerz aus den Augen verschwunden. Fu Long hatte den Kampf der widerstreitenden Seelen beendet, indem er Zamorras/Tsa Mo Ras Erinnerungen komplett blockiert hatte. Was jetzt vor ihm stand, war kaum mehr als eine leere Hülle, ein
Mensch ohne Vergangenheit – und damit ohne jede Identität. »Wer sind Sie?«, fragte Zamorra, während er Fu Long verwundert anstarrte. »Wo bin ich hier?« Misstrauisch sah er sich um und ent deckte Nicole. »Wer ist diese Frau? Ist sie tot?« »Es geht ihr gut. Sie wird bald wieder zu sich kommen«, sagte Fu Long. Dann schickte er Zamorra mit einem posthypnotischen Befehl schlafen. Wie ein nasser Sack brach der Dämonenjäger zusammen. Der Vampir fing ihn auf. »Wir werden jetzt eine Reise unterneh men. Es wird eine sehr lange Reise. Vor allem für dich.« Dann erhob sich Fu Long mit dem bewusstlosen Parapsychologen in die Lüfte.
* Nicole erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Stöhnend richtete sie sich auf. Was war passiert? Sie erinnerte sich an … Fu Long! Hektisch sah sich die Dämonenjägerin um. Weder von dem Vam pir noch von Zamorra war eine Spur zu entdecken. Fu Long musste ihren verwirrten Gefährten entführt haben. Auch der Hong Shi war verschwunden. Fu Long hatte den magischen Stein offenbar mitge nommen. »Mist«, murmelte Nicole, während sie mühsam auf die Beine kam. Sie war über und über mit Blut besudelt. Ihrem eigenen Blut. Un willkürlich fuhr ihre rechte Hand zu der Stelle, wo die Wolfsklaue ihr die Seite zerfetzt hatte. Der Lederoverall hing in Fetzen herunter, aber die Haut hatte nicht einmal einen Kratzer. Der Hong Shi! Zamorra hatte sie vor dem sicheren Schicksal be wahrt, auch zu einer dieser blutrünstigen Bestien zu werden. Doch um welchen Preis?
Nicole spürte, dass Zamorra mit dem Hong Shi eine magische Ket tenreaktion ausgelöst hatte. Mit ihren schwach ausgebildeten ParaSinnen konnte sie noch immer die von dem geheimnisvollen Stein ausgehenden Schockwellen spüren, aber sie waren sehr viel schwä cher geworden. Vermutlich lag das daran, dass sich der Hong Shi nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Als Nicole nach ihrem Blaster griff, der neben ihr zu Boden gefal len war, sah sie einige Meter entfernt etwas im Mondlicht aufblitzen. Merlins Stern. Zamorra musste das Amulett in seinem verwirrten Zustand verloren haben. Nicole griff sich das magische Kleinod und lauschte in die Nacht. Sie hörte nichts. Wo waren Gryf und Chin-Li? Hatten sie den An griff der Tulis-Yon überlebt? Auf gut Glück ging Nicole auf die be waldete Hügelkette zu, die hinter dem Lagerhaus begann. Als sie sich dem Gehölz näherte, hörte sie die Kampfgeräusche. Nicole rannte los, den Blaster im Anschlag. Dann sah sie Gryf. Der Silbermond-Druide war von drei Tulis-Yon umzingelt. Brandspuren im Gras ließen darauf schließen, dass ein paar der wolfsköpfigen Bestien an dieser Stelle schon ihr Leben ge lassen hatten. Gryf war leichenblass und schien sich nur mit Mühe auf den Beinen zu halten. Offenbar hatte ihn die magische Schock welle aufgrund seiner hoch entwickelten Para-Sinne voll erwischt. Nicole nahm den Wolfskopf, der ihr am nächsten stand, ins Visier und feuerte. Brüllend fuhr der Tulis-Yon zu ihr herum, doch es war zu spät. Nach einer Sekunde Dauerfeuer ging die Bestie schreiend in Flammen auf, während Gryf einen weiteren Wolfskrieger erledigte. »Nicole, schön, dich zu sehen!«, rief der Silbermond-Druide. »Die se Biester sind verdammt hartnäckig.« Der dritte Tulis-Yon nutzte den vermeintlich günstigen Moment zur Flucht, doch er kam nicht weit. Das vereinte Feuer aus zwei
Blastern erledigte ihn nach wenigen Metern. Gryf grinste schmal. »Danke für die Schützenhilfe. Wo ist Zamor ra?« »Fu Long hat ihn entführt.« Nicole sah, wie der Hass Gryfs Züge verzerrte. »War ja klar, dass der Bastard auch irgendwann auftauchen würde. Ist er für diese Schockwelle verantwortlich? Hat mich fast aus den Socken gehau en.« »Nein, das war der Hong Shi. Zamorra hat ihn eingesetzt.« »Was?« Erst jetzt bemerkte der Silbermond-Druide das Blut, das im fahlen Mondlicht auf Nicoles Kleidung glänzte. »War das ein Tu lis-Yon?« Nicole nickte. »Zamorra hat mich mit dem Hong Shi gerettet. Und dann brach die Hölle los.« In knappen Worten berichtete die Dämonenjägerin Gryf von Za morras Zusammenbruch und Fu Longs Attacke. »Wo ist Chin-Li?«, fragte sie dann. »Wir sind im Kampf getrennt worden. Sie muss irgendwo da drü ben sein.« Gryf deutete auf einen dicht bewaldeten Hügel, der sich unweit von ihnen erhob. »Dann nichts wie hin!«, sagte Nicole, und beide spurteten los.
* Chin-Li wusste, dass sie der Übermacht nicht mehr lange standhal ten konnte. Mehr als ein halbes Dutzend knurrender und geifernder Tulis-Yon hatten sie auf der kleinen Lichtung eingekreist, und sie hatte keine Ahnung, wie viele der Wolfsköpfigen sich noch hinter
den Bäumen verbargen. Du hättest auf Gryf hören sollen. Alleine hast du keine Chance, dachte sie, schob diesen Gedanken aber gleich wie der zur Seite. »Kommt nur her, ich fürchte euch nicht. Dies ist ein guter Tag zum Sterben«, flüsterte die Chinesin grimmig. Die Energieanzeige ihres Blasters sprach eine deutliche Sprache. Sie war fast auf Null. Und Chin-Li wusste, dass sie sich einen letzten Schuss aufbewahren musste. Bevor die Bestien sie in eine der ihren verwandelten, würde sie sich selbst töten. Aber ein paar Schuss hatte Chin-Li noch, und die wollte sie so ef fektiv wie möglich einsetzen. Unaufhaltsam rückten die Wolfskrie ger näher. Die Ex-Killerin legte auf den nächstbesten Tulis-Yon an – als ein blassroter Laserstrahl die Schwärze der Nacht durchschnitt und die Kreatur mit einem dumpfen Knall in Flammen aufging. Verwirrt sah sich die Chinesin um. Sie hatte nicht geschossen! Zwei weitere Tulis-Yon verbrannten schreiend, und dann sah Chin-Li, wie Nicole und Gryf den Hügel herunter auf sie zu liefen. Chin-Li lächelte. Ihre Gefährten lebten, und auch für sie würde dieser Tag nicht der letzte sein. »Danke, Tin Hau!«, flüsterte sie zu ihrer Schutzgöttin. Dann hob sie den Blaster hoch und unterstützte mit präzisen Schüssen die beiden Dämonenjäger, die die Mitte der Lichtung fast erreicht hatten. Erschrocken bemerkte Chin-Li das Blut an Nicoles Kleidung. Doch Zamorras Gefährtin schien unverletzt zu sein. »Hier kommt die Kavallerie!« rief Gryf, während er einen weiteren Tulis-Yon ins Visier nahm. »Wo ist Zamorra?« »Verschleppt! Unser allerliebster Freund Fu Long hat die Gunst der Stunde genutzt und uns einen kleinen Besuch abgestattet. Weiß
der Teufel, woher er wusste, dass wir hier sind. Vermutlich hat ihn dieser Hong Shi angelockt wie Blut im Wasser einen Hai.« Fu Long? Gryf hatte Chin-Li im Auto das Nötigste über den chine sischen Vampir erzählt. Im Gegensatz zu Zamorra hatte der Silber mond-Druide Fu Long nie getraut – und offenbar hatte er Recht be halten. Chin-Li wollte sich gerade einem neuen Gegner zuwenden, da ge schah etwas Seltsames. Die Tulis-Yon hielten plötzlich inne, dann, wie auf einen geheimen Befehl, drehten sie sich um und verschwan den im Wald. Die chinesische Leibwächterin wollte ihnen hinterher jagen, doch Nicole hielt sie auf. »Wir haben Wichtigeres zu tun. Zamorra braucht uns!« Chin-Li nickte, auch wenn es ihr schwer fiel, einen Gegner einfach entkommen zu lassen. »Warum fliehen sie? Der Kampf war noch nicht entschieden. Sie waren in der Überzahl …« »Ich glaube, sie haben ihre Aufgabe erfüllt«, sagte Nicole düster. »Aufgabe?« Gryf sah die Dämonenjägerin verständnislos an. »Welche Aufgabe?« »Zamorra dazu zu bringen, den Hong Shi einzusetzen – und euch so lange abzulenken. Das war das einzige Ziel der Aktion. Es ging nur um Zamorra und den Hong Shi. Alles andere war Beschäfti gungstherapie.« »Dann hat Kuang-shi, was er wollte«, murmelte Chin-Li. »Sieht ganz danach aus.« »Und Fu Long offenbar auch«, entfuhr es Gryf. »Was hat er mit Zamorra vor?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand Nicole. »Aber ich
glaube nicht, dass er ihn töten will. Das hätte er hier schon tun kön nen. Und auch mich hätte er mühelos erledigen können, aber er hat mich nicht einmal verletzt.« »Nimm diesen Raffzahn nicht noch in Schutz. Du weißt, was er mit O’Neill gemacht hat. Ich war dabei!« »Das habe ich nicht vergessen«, sagte Nicole. Die Dämonenjägerin fühlte sich hundeelend, aber sie durfte jetzt nicht schlapp machen. Zamorra brauchte sie. »Kannst du Zamorra anpeilen?« Gryf konzentrierte sich, dann sagte er fassungslos: »Ich kann ihn nicht finden.« »Was?« »Ich spüre nichts. So, als sei er gar nicht mehr da!« »Dieser Fu Long hat ihn doch getötet«, sagte Chin-Li grimmig und hob den Blaster. »Dafür wird er sterben!« »Halt, warte!«, unterbrach sie Gryf. »Da ist etwas. Aber es ist mehr wie ein schwaches Echo seiner Persönlichkeit. So, als sei er da, aber nicht mehr er selbst.« »Das ist er ja auch nicht«, sagte Nicole fast tonlos. »Der Hong Shi hat seinen Geist verwirrt. Reicht es für einen Sprung?« »Es muss reichen«, sagte der Silbermond-Druide entschlossen. »Macht euch bereit, Ladies.« Er berührte die beiden Frauen am Arm und konzentrierte sich auf den zeitlosen Sprung. Einen Sekundenbruchteil später lag die Lichtung einsam und ver lassen da. Nur die qualmenden Überreste der Tulis-Yon erinnerten an den mörderischen Kampf, der hier noch vor wenigen Minuten stattgefunden hatte.
*
Zufrieden beobachtete Agkar, wie seine Kinder nach Wu Huan-Tia os telepathischem Befehl in der Nacht verschwanden. Der Anführer der Tulis-Yon hatte von einem nahen Hügel aus mit seinen scharfen Raubtieraugen die Kämpfe verfolgt. Sein Volk hatte in dieser Nacht einen hohen Blutzoll entrichtet. Aber das war es wert gewesen. Tsa Mo Ra hatte aus Angst um seine Konkubine den Hong Shi ein gesetzt und damit die Veränderung in Gang gesetzt, an deren Ende ein neues Choquai stehen würde. Selbst Fu Longs unerwartetes Auf tauchen konnte daran nichts mehr ändern. Selbst wenn der Hong Shi jetzt in seinem Besitz war, ließ sich der durch ihn ausgelöste Pro zess nicht mehr aufhalten. Fu Long, du hättest Kuang-shis großherziges Angebot annehmen sollen. In Choquai wäre dir ein Platz in der Reihe der edelsten Krieger sicher ge wesen. Jetzt wird das traurige Ende deines Verrats künftigen Generationen nur noch als Abschreckung dienen. Dann schob der Alte die Gedanken an seinen Gegner beiseite und folgte seinen Kindern in die Nacht.
* China, Yangtze-Gebiet Lautes Geschrei ließ Yang Kar-Fei hochfahren. Der Major hatte sich auf einer spartanischen Pritsche im Haus seiner Mutter zu einem kleinen Mittagsschlaf hingelegt. Jetzt war er hellwach. Yangs Mutter lebte allein in dem einstöckigen Steinhaus. Sein Va ter, ein mittelloser Reisbauer, der sich sein Leben lang krumm gear beitet hatte, für seine Familie und zum Wohle der Kommunistischen
Partei, war schon vor Jahren gestorben. Er hatte nicht mehr miterle ben müssen, wie das Dorf, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, in wenigen Stunden von Bulldozern plattgewalzt wurde. Die Bewohner waren in eine anonyme Trabantenstadt am Rand von Wuhan zwangsumgesiedelt worden. Dank seiner Beziehungen blieb Yangs Mutter dieses Schicksal er spart. Er hatte für sie ein kleines, aber für ihre Verhältnisse komfor tables Häuschen in einem Dorf außerhalb der Überschwemmungs zone organisiert. Hier lebten entfernte Verwandte, die die alte Dame herzlich aufgenommen hatten. Frau Yang war keine Stadtbewohne rin, und sie würde es niemals sein. Nachdem Professor Zamorra und Nicole Duval mit diesem seltsa men blonden Mann verschwunden waren, hatte der Major die Gele genheit genutzt, um seiner Mutter einen kurzen Besuch abzustatten. Sein aufreibender Dienst in Peking ließ ihm dazu nur wenig Gele genheit. Außerdem hatte es Yang nicht allzu eilig, nach Peking zu rückzukehren. Er hatte General Yeoh bereits einen umfassenden Be richt per E-Mail geschickt, und er wusste, dass sein Vorgesetzter die Mission als Fehlschlag einstufen würde. Yang Kar-Fei sah das anders. Kuang-shi musste unter allen Um ständen aufgehalten werden. Und vielleicht hatte er Zamorra und Duval wenigstens ein kleines Bisschen dabei geholfen. Der Lärm außerhalb des Zimmers schwoll an. Yang schwang sich von der Pritsche. Jetzt konnte er deutlich die laute, keifende Stimme seiner Mutter verstehen. »Nein, Sie können Major Yang nicht sprechen, und wenn Sie der große Vorsitzende Mao persönlich geschickt hätte. Mein Sohn schläft, und er möchte dabei sicher nicht gestört werden.« »Ich muss ihn unbedingt sehen. Es ist wichtig!«, insistierte jemand nicht weniger ungehalten. Yang kannte die Stimme. Sie gehörte Liu,
dem feisten Dorfpolizisten. Schnell zog Yang seine Uniform an, setzte die Schirmmütze auf und verließ das kleine Zimmer. Liu stand vor dem Haus und ver suchte vergeblich, durch die Tür zu kommen. Doch da war Yangs Mutter vor. Ihr hagerer Körper bildete eine unüberwindliche Barrie re. »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Jetzt ist er wach«, fauch te die alte Frau, als sie ihren Sohn erblickte. »Ist schon gut, Mutter«, sagte Yang. »Lass den Mann rein.« Liu nickte dankbar und schlüpfte an der kleinen Frau vorbei, die ihn wütend anfunkelte. »Es tut mir Leid, Sie stören zu müssen«, stammelte der Dorfpoli zist, nachdem er sich demütig vor dem ranghöheren Beamten ver beugt hatte. »Kein Problem. Was gibt es denn so Dringendes?« »Es … wir … einige Arbeiter haben etwas gefunden, am Yangtze …« »Gefunden? Was denn?« »Das müssen Sie selbst sehen, es ist unbeschreiblich, ein Bild …« »Ein Bild«, echote Yang ungläubig. »Und deshalb diese Aufre gung?« »Sie müssen es selbst sehen«, wiederholte Liu hastig. Der Schweiß rann dem Dorfpolizisten in Strömen von der Stirn. Nervös sah er herüber zu Yangs Mutter, die so aussah, als wolle sie sich gleich auf ihn stürzen. »Ein Bild? Und deshalb belästigen Sie meinen Sohn?« »Ist gut, Mutter, das hier ist dienstlich. Sei doch so gut und mach uns einen Tee.« Wutschnaubend verschwand Frau Yang in Richtung Küche.
»Also Liu«, sagte Yang, als sie ungestört waren, »was ist das für ein Bild? Steht es in Zusammenhang mit der Entführung?« »Ich glaube nicht, Herr. Aber Sie hatten ja gesagt, wir sollen Sie bei allen ungewöhnlichen Ereignissen informieren.« Langsam verlor der Geheimdienstoffizier die Geduld. »Und was, bitte schön, ist so ungewöhnlich an diesem Bild? Und sagen Sie jetzt bitte nicht wieder, dass ich das selbst sehen muss!« Lius Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich glaube, es hat et was zu tun mit dieser alten Legende.« Yang spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Dann nickte er. »Wir sollten uns besser sofort auf den Weg machen.«
* Los Angeles County Fu Long wusste, dass er nur wenig Zeit hatte. Er hatte sich jahrelang auf diesen Tag vorbereitet, trotzdem musste er sich genau konzen trieren. Der kleinste Fehler konnte verheerende Konsequenzen ha ben. Für Zamorra und die ganze Welt! Der Parapsychologe lag auf Fu Longs Schreibtisch, der mit einem großen Tuch bedeckt war. Die rote Seide hatte der Vampir mit ural ten Formeln beschrieben, in geheimnisvollen Schriftzeichen, die ent fernt an Chinesisch erinnerten. Nach einem genau vorgegebenen Muster waren im ganzen Raum Kerzen aufgestellt, und der Geruch von magischen Kräutern, die in goldenen Schalen erhitzt wurden, lag schwer in der Luft. Zamorra war immer noch ohne Bewusstsein. Er würde erst wieder aufwachen, wenn Fu Long es ihm befahl.
»Was sagen die Nachrichten?«, fragte der Vampir. Jin Mei war das einzige Mitglied seiner Familie, das er in dieser kritischen Phase in seinem Arbeitszimmer duldete. Fu Longs Gefährtin stand in telepa thischem Kontakt zu seinen Kindern, die die aktuellen Ereignisse vor dem Fernseher verfolgten. »Die Veränderung scheint langsamer vor sich zu gehen«, sagte Jin Mei leise. »Aber sie ist immer noch nicht gestoppt.« Fu Long nickte. »Das hatte ich befürchtet. Die Blockade von Za morras Erinnerungen hat das Schlimmste verhindert. Wenigstens für den Moment! Aber durch die Benutzung des Hong Shi wird sich Kuang-shis Magie trotzdem immer weiter ausbreiten, bis von dieser Welt nichts mehr übrig ist.« »Und es lässt sich noch aufhalten?« »Es gibt nur einen Weg. Zamorra muss dorthin gehen, wo alles be gonnen hat, in die goldene Stadt der Vampire. Hier ist sein Wissen über Choquai viel zu gefährlich, dort kann er es nutzen, um Kuang shi zu besiegen. Sobald die Phase des Übergangs beendet ist, wird sich auch die Blockade in seinem Gedächtnis lösen und er wird wie der wissen, wer er ist.« »Wird sein Geist nicht weiter verwirrt sein?« »Der Hong Shi entfaltet seinen zerstörerischen Einfluss nur in die ser Welt, in Choquai kann er Zamorra nichts mehr anhaben.« Jin Mei überlegte einen Moment. Dann sagte sie: »Du hast ihm sei ne Waffe genommen. Er wird schutzlos sein.« Fu Long entging nicht der leichte Vorwurf in ihrer Stimme. Er lä chelte milde. »Nein, das wird er nicht. Zamorra kann sein Amulett per Gedankenkraft rufen. Kurz vor dem Übergang werde ich ihm den Befehl dazu geben. Jetzt würde es mich vermutlich nur angrei fen. Es könnte sogar das Ritual stören. Aber seine wichtigste Waffe in Choquai wird der Hong Shi sein. Er wird den Übergang mit ihm
vollziehen. Nur wer den Hong Shi beherrscht, kann Kuang-shi be siegen.« »Dieses Ritual, ist es gefährlich?« »Es kann ihn töten«, gab Fu Long zu. »Aber nur, wenn ich einen Fehler mache, und das wird nicht geschehen. Ich werde darauf ach ten, dass Zamorra nicht zu Schaden kommt. In unser aller Interesse!« Der Vampir nahm seine Gefährtin in den Arm. »Geh nun zu den anderen. Sie brauchen deinen Zuspruch. Ich muss das hier allein zu Ende bringen.« Jin Mei nickte. Sie gab Fu Long einen Kuss auf die Wange und ver ließ den Raum. »Und jetzt zu uns, alter Freund«, sagte der Vampir. »Ich wünschte, ich könnte dich begleiten, aber ich werde hier gebraucht.« Fu Long holte aus seiner Tasche den Hong Shi hervor. Die magi schen Schockwellen, die von dem Stein ausgingen, waren deutlich schwächer geworden, aber immer noch pulsierte der Stein dunkel rot. Der Vampir legte das magische Kleinod auf Zamorras Brust. Dann hob er die Arme und stimmte einen seltsamen Singsang an. Fu Long fiel in eine Art Trance, während fast automatisch die Zauber formeln über seine Lippen kamen, die er in den uralten Schriftrollen gefunden hatte. Am Rande seines Bewusstseins nahm der Vampir wahr, wie sich ein silbernes Feld um Zamorra aufbaute. Der Körper des Parapsy chologen wurde für einen Moment durchscheinend, während die magischen Zeichen auf dem Tuch aufglühten. Es ist gleich so weit, dachte Fu Long. Nur noch ein kurzer Moment, dann muss Zamorra sein Amulett rufen. Der Vampir bereitete sich auf den telepathischen Befehl vor – und plötzlich spürte er, dass etwas nicht stimmte.
Mit aller Kraft behielt Fu Long seine Konzentration aufrecht, wäh rend er mit den Augen den Raum nach der Quelle der Störung ab suchte. Sie befand sich direkt neben ihm! Aus dem Nichts hatten sich Nicole Duval, Gryf ap Llandrysgryf und eine ihm unbekannte Chinesin mitten im Raum materialisiert. Nein!, dachte Fu Long verzweifelt. Nicht jetzt! Dann traf ihn Gryfs Faust mit der Wucht eines Vorschlaghammers.
* Nicole brauchte nur eine Sekunde, um sich zu orientieren. Dann überließ sie Fu Long dem rasenden Silbermond-Druiden und stürzte zu Zamorra, der bewusstlos auf einer Art Altar lag. Die magischen Schriftzeichen auf dem roten Tuch glühten wie Feuer aus den tiefs ten Tiefen der Hölle, und die silberne Aura, die den Parapsycholo gen wie eine Hülle umgab, schien von Sekunde zu Sekunde an In tensität zuzunehmen. »Wartet, ihr versteht nicht …«, rief Fu Long. »Das Ritual …« »Ich glaube, wir verstehen nur allzu gut, alter Knabe«, schrie Gryf und versetzte dem chinesischen Vampir einen weiteren Schlag, der Fu Long durch den halben Raum beförderte. Und dann wurde Zamorra durchscheinend. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber das reichte Nicole. Sie wusste, dass sie keinen Moment länger zögern durfte. Merlins Stern blieb kalt. Offenbar war es keine schwarze Magie, die Fu Long hier praktizierte. Also musste Nicole ohne die Hilfe des Amuletts auskommen. Entschlossen pack te sie Zamorra – wollte ihn packen – und wurde von einer Art Kraft feld zurückgeschleudert.
Zamorras Körper wurde erneut durchsichtig, diesmal deutlich län ger. »Das Ritual, ich muss es abbrechen«, rief Fu Long, während er ei nem weiteren Schlag von Gryf geschickt auswich. »Das ist seine ein zige Chance!« »Dann tu es«, forderte Nicole und richtete den Blaster auf den Vampir. Doch es war zu spät. Der Parapsychologe wurde in der silbernen Sphäre erneut transparent, dann, nur für eine Sekunde, wurde sein Körper wieder manifest, nur um anschließend ganz zu verschwin den. »Zamorra!«, schrie Nicole. Doch es war zu spät. Der Tisch war leer. Nur ein rot pulsierender Stein lag noch auf dem Tuch. Der Hong Shi.
* China, Yangtze-Gebiet »Es ist eine Höhle«, erklärte Liu, als sie sich in seinem klapprigen Dienstwagen dem Yangtze näherten. »Irgendwie hat sie die Flutung heil überstanden. Einer der Arbeiter hat das Bild entdeckt, als er ein Versteck für ein kleines Nickerchen suchte. Wahrscheinlich wird es bald für immer im Wasser verschwinden.« Wie so vieles, dachte Major Yang bitter, sagte aber nichts. Es war besser, seine Zweifel an der Politik der Regierung in Peking nicht allzu offen einem anderen Beamten gegenüber zu äußern. Es gab ge nug Spitzel, die bereit waren, jeden zu denunzieren, wenn es ihnen
einen Vorteil brachte. Als sie an der Baustelle ankamen, warteten die Arbeiter schon auf sie. Nervös starrten die muskulösen Männer den hohen Beamten aus der Hauptstadt an. Sie wussten, dass man dem Geheimdienst möglichst aus dem Weg ging. Aber diesmal hatten sie keine Wahl. Und das machte ihnen Angst. Ein etwas besser gekleideter Mann mittleren Alters mit Brille und Halbglatze stürmte auf sie zu und verbeugte sich ehrerbietig. Er stellte sich als Wang Hak-Yow vor. »Der Bauleiter«, erklärte Liu. Yang nickte. »Also, Wang, was haben Sie so Aufregendes ent deckt?« »Bei allem Respekt, das müssen Sie selbst sehen!« Der Major seufzte. Konnte ihm denn hier keiner erklären, was an diesem verdammten Bild so bemerkenswert war? Er befürchtete so wieso, dass dieser angeblich so spektakuläre Fund eher etwas für einen Archäologen als für den Geheimdienst war. »Okay, dann schlage ich einfach vor, dass wir uns das mal anse hen«, seufzte Yang. »Taschenlampen«, bellte Liu. »Sie kommen mit, Wang!« Der Bauleiter zuckte zusammen. »Muss ich, Herr?« »Rede ich undeutlich? Sie kommen mit!« »Natürlich, Herr!« Yang sah, dass der Bauleiter zitterte. Wieso konnte ein einfaches Bild diese Leute so in Angst und Schrecken versetzen? Nachdem sie mit Taschenlampen und Helmen ausgestattet waren, führte sie Wang zur Höhle. Sie lag etwas oberhalb der Baustelle. Der Eingang war eng und durch Gebüsch fast vollständig bedeckt. Kein Wunder, dass den so lange keiner entdeckt hat, dachte Yang.
Innen war es stockdunkel. Schon nach weniger als einem Meter drang nicht mehr der geringste Lichtstrahl in die Höhle. Die Leucht finger der Taschenlampen stachen wie Laserstrahlen in die Dunkel heit. »Passen Sie auf, Major, stolpern Sie nicht.« »Schon gut, Liu. Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen«, knurrte Yang. »Verzeihen Sie, Herr, ich wollte nicht …«, stammelte der Dorfpoli zist. Doch er verstummte mitten im Satz. Und plötzlich verstand Major Yang, was die Arbeiter so in Panik versetzt hatte. Das Bild lag direkt vor ihnen. Es schien die gesamte Höhlenwand zu bedecken, und es zeigte mit verblüffendem Detailreichtum eine alte chinesisehe Stadt, die umgeben war von Reisfeldern und steilen, dicht bewaldeten Bergen. Die Stadt schien außerordentlich wohlha bend zu sein. Reich beladene Karawanen zogen auf einer großen Straße zu ihr hin und die Dächer der prunkvollen Häuser glänzten golden im Mondlicht. Und das seltsame Kunstwerk zeigte auch die Bewohner dieser Stadt. In edle Stoffe gekleidete Männer und Frauen, die alle eins ge meinsam hatten: spitze Eckzähne! Es gab keinen Zweifel: Dieses Bild zeigte Choquai, die goldene Stadt der Vampire. »Und das ist noch nicht alles«, flüsterte Liu beklommen und deu tete nach oben. Mit einem Aufschrei fuhr Yang zurück. Über ihnen schwebte eine Gestalt, die so realistisch gearbeitet war, dass Yang die plötzlich aufkommende Panik nur mit Mühe unterdrücken konnte. Ein wahrer Meister seines Fachs musste die Figur aus dem Deckengestein gemeißelt und bemalt haben. Das Gesicht war nicht das eines Menschen. Es war bedeckt mit weißem Fell, und über die Unterlippe ragten zwei gewaltige Hauer. Die dürren, ebenfalls mit
dichtem Fell bewachsenen Hände endeten in über einen Meter lan gen, spiralförmig gedrehten Fingernägeln. Den Rest des Körpers be deckte eine kunstvoll bestickte Robe, die zur Wand hin mit dem nächtlichen Himmel des Bildes verschmolz. Major Yang hatte keinen Zweifel, wen das Relief darstellte. Kuang-shi, den Sohn des Wolfes. Der Götterdämon sah genauso aus, wie Yangs Großmutter ihn be schrieben hatte, wenn sie ihrem Enkel am Feuer von der Schreckens herrschaft des Vampirfürsten berichtet hatte. Doch dies war kein Schauermärchen, das man kleinen Kindern vor dem Einschlafen er zählte. Dies war die Wirklichkeit. Und da war noch etwas, das Yang zutiefst beunruhigte. Die Ta schenlampen rissen nur kleine Teile der Höhle aus der Dunkelheit. Doch das riesige Bild schien von selbst zu leuchten, es glühte förm lich. Ebenso wie das grässliche Abbild von Kuang-shi. »Wie kann das sein?«, fragte Yang. »Phosphoreszierende Farben?« »Das Bild muss jahrhundertealt sein«, flüsterte Wang neben ihm. »So etwas gab es damals noch nicht. Ich bin noch nicht einmal si cher, ob es heute so etwas gibt.« »Wenn Sie mich fragen, ist das Leuchten stärker geworden, seit ich es zum ersten Mal gesehen habe«, krächzte Liu. Yang traf eine Entscheidung. »Schaltet die Lampen aus«, befahl der Major. Seine Begleiter starr ten ihn verängstigt an, wagten aber nicht, zu widersprechen. Die Ta schenlampen erloschen. Doch es wurde nicht dunkel. Das Bild schi en eher noch stärker zu leuchten als zuvor. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Liu. »Ich weiß es nicht«, antwortete Yang. Aber das war gelogen. Es konnte nur eins bedeuten: Kuang-shi war stärker als je zuvor. Und
das Leuchten dieses schrecklichen Gemäldes kündete von seinem baldigen Sieg. Jetzt gibt es nur noch eine Chance, dachte Yang. Zamorra muss diese Höllenkreatur aufhalten. Egal wie. Sonst sind wir alle verloren!
Epilog Stöhnend kam der Mann zu sich. Er wusste nicht, wie lange er be wusstlos gewesen war, ob Sekunden, Stunden oder sogar Tage. Sei ne Glieder schmerzten so sehr, dass er sich am liebsten nie wieder bewegt hätte. Mit geschlossenen Augen sortierte er die Eindrücke, die auf ihn einstürmten. Er lag bäuchlings auf einem harten Untergrund, der aus großen Steinquadern zu bestehen schien. Unzählige Geräusche und Gerüche malträtierten seine Sinnesorgane. Er hörte Stimmen, Gelächter, Menschen, die miteinander feilschten. In unmittelbarer Nähe schien sich eine Art Markt zu befinden oder zumindest ein be lebter öffentlicher Platz. Wie war er hierher gelangt? Und vor allem: Wer war er? Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Da war nur eine Stimme. Eine Frau, die etwas gerufen hatte, ein Wort. Zamorra. War das sein Name? Vorsichtig öffnete der Mann die Augen – und schrie auf, als die gleißende, von goldenen Hausdächern reflektierte Mittagssonne sei ne Augäpfel zu verbrennen schien. Doch dann fiel ein Schatten auf ihn und linderte seinen Schmerz. Irritiert sah der Mann wieder auf und blickte in die Gesichter von zwei martialisch aussehenden Soldaten in Lederrüstungen, die sich grinsend vor ihm aufbauten. Die Brustpanzer waren verziert mit dem stilisierten Abbild eines Wolfskopfes. Einer der Soldaten sagte etwas in einer fremden Sprache. Es klang höhnisch. »Ich …« Der Mann, der vielleicht einmal Zamorra geheißen hatte, versuchte zu sprechen, aber ein brutaler Tritt in die Magengrube stoppte ihn.
Der zweite Soldat bellte einen Befehl. Dann packten kräftige Arme den Mann und rissen ihn hoch. Direkt vor das Gesicht eines der Krieger, der grimmig auflachte – und dabei vier gewaltige Fangzäh ne entblößte. »O Scheiße!«, murmelte der Mensch. Dann verlor er wieder das Bewusstsein. ENDE des 1. Teils
Gefangen in Choquai
von Andreas Balzer Zamorra ist spurlos verschwunden! Eingetaucht in eine Welt, die nicht die seine ist und die niemals existieren darf. Seine Erinnerungen kehren zurück. Und mit aller Kraft wehrt er sich, versucht dagegen anzukämpfen. Doch er ist Tsa Mo Ra, der Diener des furchtbaren Kuang-shi! Wie soll er sich seiner erwehren, wie soll er verhindern, dass Kuang-shis Traum von einem Weltreich der Vampire bittere Wirklichkeit wird? Der Vampirdämon ist übermächtig und unbesiegbar. Und Zamorra ist Gefangen
in Choquai
Wird es ihm gelingen, sich aus dem Bann Kuang-shis zu lösen? Oder endet sein Weg in der Goldenen Stadt der Vampire?