Josef Nyáry
Die Psychonauten Roman
Für Eva, Alexandra und Markus
Noli for...
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Josef Nyáry
Die Psychonauten Roman
Für Eva, Alexandra und Markus
Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas. Augustinus
1 Obwohl sie bereits seit drei Minuten gefesselt auf dem Bett lag, wollte Karen Thogersen das Gefühl der Bedrohung noch immer nicht akzeptieren. Sie war eine intelligente, selbstbe‐ wußte und erfolgreiche Frau mit guten Nerven. »Avocado!« memorierte sie immer wieder. Das Codewort kam ihr aller‐ dings längst schwachsinnig vor. »Avocado!« Sie schloß die geschminkten Lider, atmete tief ein und hielt die Luft an. Eine Sekunde später öffnete sie die Augen. Wieder nichts! Ein Windstoß bauschte die schweren Brokatvorhänge vor den breiten Fenstern der Fürstensuite. Das Rauschen des nächtlichen Meeres, das unter dem Hotel de Paris gegen die Felsen des Plateaus schlug, wurde von den Klängen der Bar‐ carole aus Jacques Offenbachs »Rheinnixen« übertönt. Die Frau zerrte noch einmal an den Seidentüchern, mit de‐ nen ihre Handgelenke an den vergoldeten Bettpfosten befes‐ tigt waren. Erst als sie gemerkt hatte, daß ihr nicht ein ver‐ ruchtes Amüsement winkte, sondern die Gewalt eines frem‐ den Willens drohte, hatte sie zu kämpfen begonnen. Wie hat‐ te er es nur angestellt, daß sie ihm auf den Leim gegangen war, wo sie sich doch sonst mit der größten Vorsicht durch diese gefährliche Welt bewegte? Der hochgewachsene junge Mann, der immer noch so tat, als sei er König Alfonso XIII. von Spanien, musterte sein Op‐ fer aus wasserblauen Augen mit dem starren Blick eines Raubvogels. »Avocado. Avocado!« Als sie seine Finger auf ihrem Fußge‐
lenk spürte, versuchte sie rasch, das Bein anzuziehen, aber sie war nicht schnell genug. Routiniert schlang ihr Bezwinger ein Stück Schnur um den Knöchel und band ihn am Bettpfos‐ ten fest. Eine Welle der Furcht raste durch ihr Gehirn. Verzweifelt trat sie mit dem anderen Fuß nach ihm, aber er wich mühe‐ los aus und packte wieder zu, bis sie sich kaum noch bewe‐ gen konnte. »Machen Sie, was Sie wollen, aber tun Sie mir nicht weh«, sagte sie, bemüht, nicht völlig die Fassung zu verlieren. »Dann bin ich bereit, die Sache zu vergessen.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Mais non, Sie werden die‐ se Sache ganz bestimmt nicht vergessen.« Dann spürte sie, wie eines der Chamoislederkissen unter ihren Rücken ge‐ stopft wurde. Die elegante Uniform, das edle Profil! Kein Wunder, daß er ihr gleich aufgefallen war, vorhin in der Salle Mauresque mit ihren pompösen Marmorpfeilern und den goldenen Lüstern. Rasend schnell projizierte ihr Gedächtnis Bilder in ihr Be‐ wußtsein. Sie rief sich die Gäste in Erinnerung, von denen die bedeutendsten sich allesamt rühmten, Liebhaber der »schönen Otero« gewesen zu sein: König Leopold II. von Belgien, Prinz Albert von Monaco, der russische Großfürst Nikolai; der Schah von Persien, ein kleiner, übelriechender, aber überaus großzügiger Mann mit allerdings sehr speziel‐ len Wünschen; und der große, schlanke Nikola von Monte‐ negro, dem sie der Biographie zufolge sogar für einige Zeit in seine unterentwickelte Heimat gefolgt war. Ein Liebesbe‐ weis, für den sie mit einem himmlischen Diamantarmband
belohnt worden war. Was hatte sie bewogen, sich nun für König Alfonso XIII. zu entscheiden? Warum hatten die was‐ serblauen Augen sie nicht gewarnt? Wie hatte er es geschafft, ihr Mißtrauen einzuschläfern und sie zu überrumpeln? Noch jetzt war ihr Zorn größer als ihre Furcht. Sie hörte Seide rascheln und merkte, daß der schöne junge Mann prüfend die silberne Spitze und die seidenen Rosen‐ girlanden ihrer Paquin‐Abendrobe befühlte. Dabei drang ein leichter Hauch kühler Luft vom offenen Fenster her an ihre Knie. Im gleichen Augenblick sah sie das Instrument. »Avocado!« rief es in ihr. Entsetzen verwandelte ihre Mus‐ keln in Stein. Das Gerät bestand aus einem kleinen, länglich geformten Stück Stahl. Der Griff war fast völlig in der Hand des Man‐ nes verschwunden, und die Spitze ragte nur wenige Zenti‐ meter hervor; sie funkelte wie eine Glasscherbe. »Avocado! Avocado!« Wieder zerrte sie mit aller Kraft an ihren Fesseln. Gedan‐ kenfetzen rasten durch ihr Bewußtsein. Das also war das wahre Ich dieses charmanten neunzehnjährigen Königs, der am Spieltisch so phantasievoll mit ihr geflirtet hatte. Der sich als Kavalier erwiesen hatte, indem er einen ihrer Jetons vom Teppich aufhob, der durch die Unachtsamkeit eines obsku‐ ren orientalischen Prinzen vom Feld der ungeraden Zahlen gewischt worden war. Und der nach der frechen Weigerung des Croupiers, den Gewinn auszuzahlen, energisch darauf bestanden hatte, der Betrübten aus seiner eigenen Tasche Genugtuung zu leisten: »Lʹor est une chimere!« In diesem Moment hatte sie beschlossen, daß er der Mann sein sollte,
an den sie sich wenden wollte, wenn die schöne Otero wie üblich alles verloren hatte und, wie ebenfalls üblich, einen Kavalier suchte, der für eine verschwiegene Stunde im na‐ hen, durch einen unterirdischen Gang diskret erreichbaren Hotel de Paris bereit war, den Verlust für sie zu tragen. Und wirklich hatte der König nicht eine Sekunde gezögert, als sie den letzten Jeton verspielt und ihm das frivole Angebot in das ihr halb bedauernd, halb begierig zugeneigte Ohr geflüs‐ tert hatte. Jetzt stand dieser Mann mit einem Skalpell in der Hand vor ihr. »Sie denken es die ganze Zeit, nicht wahr?« fragte er. »Und Sie wundern sich darüber, daß es nicht funktioniert.« Die Angst saß nun wie ein Kloß in ihrer Kehle. »Was mei‐ nen Sie?» fragte sie. »Avocado«, sagte er. »Das ist gegen die Regeln! Ich werde Sie verklagen!« Sie merkte selbst, wie lächerlich die Drohung klang. »Vielleicht«, sagte er. »Aber erst hinterher.« Als sie sah, wie das Skalpell auf ihr Gesicht zukam, bäumte sie sich auf. Der scharfe Stahl blitzte dicht vor ihren Augen auf und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Eine Sekunde später spürte sie, wie das Chirurgenmesser den Stoff ihres Kleides zerschnitt. »Hören Sie auf! Ich werde alles tun, was Sie verlangen.« Aber das hatte sie ihm schon angeboten, als sie ihm in die Fürstensuite gefolgt, in seiner Umarmung auf das Bett ge‐ sunken und dort von ihm auf spielerische Weise überwältigt worden war. Schon da hatte er gelacht und geantwortet, wie
zum Spott in der gezierten Sprechweise der Belle Epoque verharrend: »Was ich will, können Sie mir schwerlich geben, Madame, denn es erfüllt seinen Zweck nur dann, wenn ich imstande bin, es mir gegen Ihren Willen zu nehmen.« Obwohl sie nun wußte, daß er das Codewort kannte, koste‐ te es sie einige Überwindung, es jetzt als letztes, verzweifel‐ tes Mittel laut auszusprechen. »Avocado«, sagte sie be‐ schwörend, erst leise, dann immer lauter. »Avocado. Avoca‐ do!« Sein jungenhaftes Gesicht tauchte über ihr auf. »Es wird nicht funktionieren, und wenn Sie es noch so oft sagen.« Sei‐ ne Augen funkelten spöttisch. »Chaque instant de la vie est un pas vers la mort.« Als sie nackt vor ihm lag, kletterte er auf das Bett und setzte sich rittlings auf ihre Beine. »Avocado!« keuchte sie. »Avocado!« Wie gebannt sah sie auf das Skalpell in seiner Hand. In seinen Augen erschien ein irisierender Glanz, und das Denken der Gefesselten reduzierte sich auf Reflexe. »Ich weiß, wer du bist!« schrie sie verzweifelt. »Du Teufel! Avo‐ cado! Avocado!« Das letzte, was sie spürte, bevor die Sinne sie verließen, war der Schmerz, der alle Fasern ihres Körpers durchdrang, als sie mit einem einzigen langen Schnitt vom Hals bis zum Schambein aufgeschlitzt wurde. John F. Reddington III. legte die großen Hände auf den Hin‐ terkopf, fuhr sich durch das kurze graue Haar, verschränkte die Finger und ließ den Blick über den Hudson schweifen.
Die vielen Segelboote auf dem breiten Fluß weckten tröstli‐ che Gedanken an eine Zukunft, die ungleich erfreulicher sein konnte als die triste Gegenwart. Der Präsident schloß für ein paar Sekunden die Augen unter den buschigen Brauen. In zehn Jahren hatte er die Firma aus der Mittelklasse provin‐ zieller Unternehmen in die Oberliga der Global Player ge‐ führt. Jetzt wollte er in die Top Five. Er legte die Hände wie‐ der auf den Tisch und betrachtete nachdenklich die Alters‐ flecken auf der schlaffen Haut. Was er sich für dieses irdische Leben vorgenommen hatte, mußte jetzt verwirklicht werden, wenn es nicht für immer ungetan bleiben sollte. Die Mittagssonne spiegelte sich in den Wellen des Stroms. Ein kleines Boot segelte durch die schillernden Reflexe. Das wäre es, dachte Reddington. Leinen los und ab, bis zum Ende der Welt. Er konzentrierte sich wieder auf die Männer an dem lan‐ gen, blankpolierten Tisch. Der kleine, dickliche Julian Rise‐ man mit dem fast haarlosen Schädel, der starken Brille und der lächerlichen Gelehrtenfliege unter dem Doppelkinn war noch immer dabei, die Auswirkungen der Katastrophe zu beschreiben, die zwei Wochen zuvor zur Unterbrechung der mit so vielen Hoffnungen gestarteten Versuchsreihe für ein neues Antidepressivum geführt hatte. Wie sollte Fenway‐ Soper die Märkte erobern, wenn das wichtigste Projekt, in dem bereits einhundertachtzig Millionen Dollar Forschungs‐ gelder steckten, in eine Sackgasse führte? Und wie sollte es von dort wieder herauskommen, wenn der Entwicklungs‐ chef weiter von Dingen redete, die außer ihm kaum einer verstand? »Andockung von Transmittermolekülen«; »Diffu‐
sion durch den synaptischen Spalt«; »Ionenkanäle« ‐ so ging das nun schon seit fast einer halben Stunde. Als Dr. Riseman endlich verstummte, griff Reddington nach einem weinroten Schnellhefter und räusperte sich. »Ich danke Ihnen, Doktor, aber ich fürchte, Ihre Ausführungen bringen uns nicht weiter. Was uns in diesem Augenblick zu interessieren hat, ist nicht so sehr die mögliche Ursache des Zwischenfalls, sondern die Frage, wie es weitergehen soll.« »Erst einmal müssen wir ganz genau wissen ...« Der Präsident unterbrach ihn sofort. »Von mir aus können Sie Ihre diesbezüglichen Untersuchungen parallel weiterlau‐ fen lassen, aber vor allem müssen wir mit dem Projekt vo‐ rankommen. Sie hatten drei Tage Zeit.« »Aber, Sir ...« Der Präsident klappte den Schnellhefter auf. »Ich habe hier eine Zusammenstellung der aktuellen Aktivitäten unserer Mitbewerber. Merck und Co. haben mit ihren Cholesterin‐ senkern wieder eins Komma zwei Milliarden gemacht. Und unsere englischen Freunde von Glaxo neunhundert Millio‐ nen mit ihrem Zeug gegen die Nebenwirkungen der Chemo‐ therapie. Bei Hoffmann‐La Roche machen sie wieder über eine Milliarde mit ihrem Antibiotikum. Wie ich höre, werden sie bald auch was gegen Hautkrebs haben, und darauf wartet schon ganz Australien. Dann SmithKline‐Beecham: eins Komma acht Milliarden mit Tagamet gegen Magengeschwü‐ re. Und so weiter und so fort.« Er schleuderte den Schnell‐ hefter mit einer auf Wirkung berechneten Geste über den Tisch. »Aids, Alzheimer, Krebs, Osteoporose. Alles, was gut und teuer ist. Und was machen wir? Lausige drei‐
hundertsechsundzwanzig Millionen mit Klebstoff für Anus‐ praeter‐Patienten!« Louis Milkman, der Finanzchef, ein zierlicher Mann mit schütterem weißem Haar und langen, nach oben gekämmten Brauen, wandte vorsichtig ein: »Das Pflegeset für den künst‐ lichen Darmausgang läuft doch sehr gut!« »Das reicht mir aber nicht«, sagte Reddington in die starren Gesichter seiner Zuhörer. Milkman versuchte sich zunutze zu machen, daß der Präsi‐ dent besonders in Krisenzeiten eine militärische Terminolo‐ gie bevorzugte. »Wir haben noch einiges in der Kriegskasse.« »Aber wo ist der Mann, der diesen Krieg für uns gewinnt?« fragte Reddington. »Vielleicht der Nomade«, hörte er jemanden murmeln. »Auf keinen Fall!« protestierte Dr. Riseman. »Wie?« fragte Reddington. »Wer hat das gerade gesagt?« »Ich, Sir«, sagte der junge Mann neben Dr. Riseman. »Und was war das, was Sie da gesagt haben?« »Der Nomade.« Steven Schacter war ein sonnengebräunter Mann von knapp dreißig Jahren; das dunkelblonde, gelockte Haar fiel ihm modisch über die Augenbrauen, während es im Nacken und an den Schläfen kurz geschoren war. Vor Reddingtons geistigem Auge erschien ein Beduine auf einem Kamel. »Ich bitte um eine Erklärung.« Schacter fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Es gibt noch einen anderen erstklassigen Inphader. In der Branche nennt man ihn den Nomaden.« »Noch so ein Schwindler!« sagte Dr. Riseman. »Reden wir etwa über einen verdammten Araber?« fragte
Milkman. »Der Mann wird so genannt, weil er ständig auf Reisen ist«, erklärte Schacter. »Er kann jetzt genausogut an irgendeinem kanadischen See sitzen wie auf einer Karibikinsel oder im kolumbianischen Regenwald.« Oder auf einem Segelboot vor Hawaii, dachte Reddington. Oder vor Baja California, wo die großen Wale bliesen. »Wie wollen Sie ihn denn finden?« fragte Ben F. Lockwood, der Personalchef, und fuhr mit dem Finger unter den viel zu weiten Hemdkragen. Nach Art von Männern, deren Eitelkeit mit dem Alterungsprozeß selbst in dessen progressiven Pha‐ sen mühelos Schritt hält, trug er den Scheitel einen Finger breit über dem linken Ohr und hatte das noch verbliebene Haupthaar sorgfältig über den sonst kahlen Schädel ge‐ kämmt. »Er hat natürlich eine Mailbox im Evernet, wie alle Inpha‐ der«, antwortete Schacter, als sei das eine allgemein bekannte Tatsache. Lockwood starrte ihn ärgerlich an. »Was hat der Mann denn an Erfolgen vorzuweisen?« »Soviel ich weiß, war er an Kepomax beteiligt.« Reddington streckte die Hand nach dem Schnellhefter aus, den Milkman ihm eilfertig zuschob, blätterte und sagte: »Vierhundertfünfundsiebzig Millionen Dollar. Für eine sim‐ ple Vakzine gegen Herpes wirklich nicht schlecht. Bei Sou‐ thern Pharmacies haben sie ihm bestimmt ein Denkmal ge‐ setzt. Wir sollten uns den Mann mal ansehen.« Schacter schüttelte den Kopf. »Der Nomade kommt aber nicht bloß so zur Probe. Nur bei Vertrag. Oder gar nicht.«
Reddington mochte Männer, die von ihren Fähigkeiten ü‐ berzeugt waren. Jedenfalls, solange sie sich nicht irrten. »Und was kostet er?« »Üblicherweise drei Millionen Dollar. Die Hälfte im vor‐ aus.« »Was? Dafür müssen manche Leute ein ganzes Jahr arbei‐ ten!« »Es gehört zur Strategie dieser Betrüger, daß sie solche Phantasiehonorare verlangen«, sagte Dr. Riseman säuerlich. »Haben wir das nicht auch diesem Behrman bezahlt?« »Ja, Sir«, sagte Milkman. »Die zweite Hälfte steht natürlich noch aus.« »Natürlich«, sagte Reddington. »Ich möchte noch einmal nachdrücklich davor warnen, er‐ neut auf einen solchen Alchimisten zu setzen«, sagte Dr. Ri‐ seman energisch. Reddington sah ihn scharf an. »Können Sie mir garantieren, daß Sie das Problem mit unseren eigenen Leuten lösen? In der vorgegebenen Zeit?« »Natürlich nicht, so etwas kann niemand garantieren. Das Problem sind die Rezeptoren an der präsynaptischen Memb‐ ran. An denen die Serotonin‐Moleküle mühelos andocken, die Moleküle unseres Serotonin‐Antagonisten aber nicht. Vielleicht finden wir die Ursache dafür in ein paar Tagen, es kann aber genausogut ein paar Monate dauern.« »Vielleicht kommt der Nomade damit schneller zurecht«, sagte Schacter und hielt Dr. Risemans Blick ein weiteres Mal stand. »Wenn wir mit dem Zeug Erfolg haben wollen, müssen wir
jetzt alles in die Schlacht werfen, was uns zur Verfügung steht«, sagte der Präsident. »Ich möchte, daß Sie den Mann sofort anheuern.« »Es ist Ihre Entscheidung«, sagte der Entwicklungschef ver‐ ärgert. Reddington nickte. »Dann sind wir uns also einig. Verlieren wir keine Zeit.« »Sie meinen, jetzt gleich?« »In der Tat«, sagte Reddington ungeduldig. »Selbstverständlich.« Der Entwicklungschef schob ge‐ räuschvoll den Stuhl zurück. Schacter folgte ihm. Reddington wartete, bis die gepolsterte Tür hinter den bei‐ den Wissenschaftlern ins Schloß gefallen war. »Nun zur ju‐ ristischen Seite, Harris. Wie sieht es da aus?« »Die Klage auf Rückerstattung unserer Anzahlung ist ein‐ gereicht«, sagte der Leiter der Rechtsabteilung. Harris J. Snyder war ein großer, dunkelhaariger Mann mit starkem Bartwuchs und melancholischen Augen. Als Besitzer einer ererbten Mitgliedschaft in Reddingtons Golfclub durfte er sich eine vertrauliche Anrede erlauben. »Hören Sie, JFR, ich bin kein Fachmann, aber dieser virtuelle Kram, Pharmakolo‐ gie im VR‐Raum, Inphader, ist das nicht doch alles Hum‐ bug?« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir müssen alles ver‐ suchen. Denken Sie an die Testreihen bei Cook Illinois Home Products. Die haben schon mindestens drei aussichtsreiche Verbindungen in der Pipeline. Wenn wir nicht bald gleich‐ ziehen, knallt CIHP nächstes Jahr die Regale voll, und wir können einpacken.«
»Bis Dezember halten wir durch«, sagte Milkman. »Aber dann brauchen wir einen Volltreffer.« »Den werden wir haben«, sagte Reddington. »Das verspre‐ che ich Ihnen. Sonst noch etwas? Duncan, bitte bleiben Sie noch einen Augenblick.« Eilig verließen die anderen Vorstandsmitglieder den Konfe‐ renzsaal. Duncan Findlay, der Sicherheitschef von Fenway‐ Soper, wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß ab. »Ich möchte, daß Sie Riseman im Auge behalten«, sagte Reddington in das breite, teigige Gesicht. »O. k.« Die hohe Stimme des Sicherheitschefs stand in son‐ derbarem Gegensatz zu der massigen Gestalt in dem für die Jahreszeit viel zu dicken Flanellanzug. »Sie haben ja selbst gehört, welche Aversion der Doktor gegen Leute mit neuen Methoden hat.« »Ich werde schon auf ihn aufpassen.« »Informieren Sie mich bitte sofort, wenn Ihnen etwas Rele‐ vantes bekannt wird.« »Selbstverständlich, Sir.« »Und wer kümmert sich um diesen Beduinenscheich?« »Ich werde die Blenner auf ihn ansetzen, Sir. Die neue Neu‐ ro‐pharmakologin. Sagen Sie Riseman, er soll sie diesem Nomaden, oder was das sonst für ein Halbnigger ist, als Partnerin zuteilen. Gleichberechtigt. Er soll es in den Vertrag reinschreiben, damit der Bursche keine Scherereien macht.« »Ist das nicht diese große Blonde? Die arbeitet für Sie?« »Ja. Sie weiß es nur noch nicht.« Reddington sah ihn nachdenklich an. »Manchmal glaube
ich, daß Sie sogar mich abhören.« Findlay gestattete sich ein Grinsen. »Lassen Sie sich nur nicht erwischen, mit Ihren illegalen Aktivitäten.« »Nein, Sir.« »Wieviel weiß die Blenner denn über Behrman?« »Nicht mehr als die anderen.« »Strengen Sie sich an, Duncan! Noch so eine Pleite, und wir können den Laden dichtmachen. Ich gehe dann Golf spielen, aber Sie können sich einen neuen Job suchen, vergessen Sie das nicht!« »Sie können sich auf mich verlassen.« »Ab jetzt darf nichts mehr schiefgehen.« »Machen Sie sich keine Sorgen.« Findlay öffnete und schloß mehrmals die behaarten Pranken. »Gut.« Findlay nickte Reddington zu und schleppte seinen schwe‐ ren Körper zur Tür. Der Präsident lehnte sich zurück und rieb sich die Schläfen. Eigentlich verrückt, dachte er, daß er Millionen in ein neues Antidepressivum investierte, wo er doch viel dringender ein wirksames Migränemittel benötigt hätte. Findlay fuhr eine Etage nach unten und watschelte zu einer Stahltür, auf der stand: »Vorsicht ‐ Hochspannung! Betreten verboten. Lebensgefahr!« Er schloß auf, drückte die Tür hin‐ ter sich zu und setzte sich vor die Monitorwand mit den sechsunddreißig Bildschirmen. Eine Minute lang ordnete er seine Gedanken; dann griff er zum Telefon. Als er das Ge‐ spräch beendet hatte, stand er auf und spähte aus dem Fens‐
ter. Hundert Meter unter ihm stieg Dr. Riseman in ein Taxi. Findlay schaute auf seine Armbanduhr. Es war genau sechs Uhr. »Viel Spaß, Doktor«, murmelte er. Es war schon er‐ staunlich, wie die Spielsucht sogar die zerstreutesten Wis‐ senschaftler zur Pünktlichkeit erzog. In der gleichen Minute gab das Signal einer elektronischen Schaltuhr den Stromzufluß für den ersten Chip eines Com‐ puters frei, der so groß wie ein Kleiderschrank war und in einem kleinen Blockhaus hoch über der Pazifikküste von Big Sur stand. Innerhalb einer Millionstel Sekunde breitete sich die Energie nach den Befehlen eines höchst ungewöhnlichen Programms in alle Schaltkreise des Rechners aus. In dem Computer formte sich mit Lichtgeschwindigkeit ein elektro‐ magnetischer Impuls, der rasch immer kompliziertere Struk‐ turen entwickelte. In dem pseudoneuronalen Silikonnetz bil‐ dete sich durch immer neue Informationen eine komplexe Intelligenz. Bereits in der ersten Sekunde erhielt der Impuls Zugang zu einem Gedächtnisspeicher von enormer Kapazität und machte sich daran, das darin gespeicherte Wissen rasend schnell aufzunehmen. Gleichzeitig wurde ein vorprogram‐ miertes Bewertungssystem aktiviert, und der Impuls begann die riesige Menge der unterschiedlichsten Informationen nach vorgegebenen Kategorien zu ordnen. Der Monitor wurde hell und zeigte in rascher Folge Bilder aus der Per‐ spektive eines Säuglings, eines kleinen Jungen, eines Heran‐ wachsenden und schließlich eines jungen Mannes: Erst den verschwommenen Blick noch ungeübter Säuglingsaugen aus einer Wiege, über der immer wieder lächelnde Erwachse‐
nengesichter erschienen. Dann ein Mobile mit bunten Holz‐ vögelchen unter der pastellblauen Decke eines Kinderzim‐ mers. Bald kamen Rasseln und anderes Babyspielzeug dazu. Später der weiße Himmel eines Kinderwagens, die Gitterstä‐ be eines Laufstalls, immer wieder viele Bäume, ein großer schwarzer Hund, danach Klassenzimmer mit riesigen Lehre‐ rinnen, die aber mit der Zeit auf Normalgröße schrumpften. Viele andere Kinder, die rasch älter wurden, das Armaturen‐ brett eines Autos, das lächelnde Gesicht eines hübschen Mädchens, das die Augen schloß. Einige Hörsäle, eine fast unerschöpfliche Fülle der verschiedensten elektronischen Apparaturen und zwischendurch immer wieder zahllose Buchseiten und Fernsehbilder, aber auch viele Kilometer ei‐ lig befahrener Straßen, Blicke aus Flugzeugfenstern und auf die genormten Einrichtungsgegenstände moderner Hotels. Zum Schluß erschienen schier endlose Zahlenkolonnen, denn nun zeigte das Gerät sich selbst, zu der Zeit, in der das neue Programm eingegeben worden war, und aus dem Blickwinkel des Mannes, der es entwickelt hatte. Es waren die Bilder der letzten Stunden, die der Mann an dem Com‐ puter verbracht hatte, so wie auch alle anderen Szenen dieses Lebensfilms aus einem optischen Gedächtnis stammten, das sich seit dem Zeitpunkt der Geburt Sekunde für Sekunde mit den verschiedensten Erinnerungen angefüllt hatte. Die Bilder ließen erkennen, daß an dem Programm mit großer Genau‐ igkeit und Geduld gearbeitet worden war, denn es folgten immer wieder ähnliche, nur geringfügig veränderte Daten. Bei ihrer Eingabe war von der Seite her Sonnenlicht auf den Monitor gefallen und hatte bewirkt, daß sich der Kopf des
Programmierers auf der Glasplatte widerspiegelte; auch die‐ ses Bild hatte der Computer gespeichert. Deshalb erschien jetzt über den Zahlenkolonnen das ernste, bärtige Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes, dessen Stirn und Augen ein schwarzer Helm voller Stecker und Kabel verdeckte.
2 Wie immer begrüßte der Schwarm mexikanischer Rotkehl‐ Hüttensänger auf den drei Ponderosa‐Kiefern den Tag mit lautem Geschrei. Die imposanten Bäume standen am Rand der Hochebene bei einem weißen Landhaus im spanischen Stil, von dessen Veranda der Blick an klaren Tagen bis nach Santa Fe reichte. Als über Monte Carlo die Sonne aufging und im Casino die letzten Takte der Barcarole verklangen, tönten laute Summtöne durch ein fensterloses Zimmer. Gleichzeitig schaltete der Computer gedämpftes Licht ein. Die Frau auf der breiten Lederliege erwachte und begann sofort wieder zu kämpfen. Einige Sekunden lang schlug und trat sie mit Händen und Füßen um sich. Erst dann kam ihr zu Bewußtsein, daß sie sich in der Sicherheit ihres Hauses befand. Sie zwang sich, noch zwei Minuten lang liegenzu‐ bleiben und möglichst ruhig zu atmen, um die Angst unter Kontrolle zu bekommen. Während sie das Hauptkabel ihres VR‐Helms löste, kehrten die Bilder der vergangenen Nacht zurück. Die Frau preßte die Hände auf den Mund, lief zur Toilette und übergab sich. Nachdem sie sich wieder erholt hatte, blickte sie prüfend auf die Monitore, die alle Räume und die nähere Umgebung des Landhauses überwachten, nahm ein Jagdgewehr aus dem Schrank, sperrte die Stahltür auf und ging auf die Ve‐ randa. Die kühle Morgenluft verstärkte den beruhigenden Eindruck unzweifelhafter Realität. Karen Thogersen setzte sich in einen Schaukelstuhl, die schußbereite Waffe im Arm. »Los, komm doch! Warum kommst du jetzt nicht, du
Schwein!« Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Polizei anrufen! Aber vorher die Aufzeichnung überprüfen. Sie ging in die Küche, kochte sich einen starken Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Dann kehrte sie in das Zim‐ mer zurück, schloß die schwere Tür ab und stellte das Ge‐ wehr in den Schrank. Der Computer füllte fast die halbe Wand aus. Auf dem Monitor blinkte eine Schrift: »Unautori‐ sierter Eingang. Wählen Sie ein neues Codewort.« Der Gedanke, daß der Datendandy nun auch sie übertölpelt hatte, machte sie fast krank vor Wut. Sie gab ein neues Co‐ dewort ein, spulte das Magnetband zurück, drückte auf START und verfolgte gespannt die Szenen in der Salle Mau‐ resque. Als sie die Echtzeitangabe überprüft hatte, schaltete sie auf schnellen Vorlauf. Der junge König von Spanien war erst ziemlich spät erschienen, etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht. Die Fürsten in ihren Galauniformen, die Bankiers in ihren Fräcken, die operettenhaft kostümierten orientalischen Prin‐ zen und Damen aller Kategorien liefen auf dem Bildschirm wie in einem viel zu schnell heruntergekurbelten Slapstick‐ film durcheinander. Da die VR‐Kamera mit den Bewegungen der Augäpfel synchronisiert war, wechselten die Szenen oft sprunghaft. Als die Digitaluhr eine halbe Stunde vor Mitternacht an‐ zeigte, schaltete Karen Thogersen auf Wiedergabe. Trotzdem blieb das Bild unruhig, denn in diesen Minuten war sie auf‐ gestanden und herumgelaufen, um die Aristokraten, Bonvi‐ vants und Charmeure zu begutachten, die in den anderen
Sälen spielten. Plötzlich tauchte ein großer Kristallspiegel auf, und sofort drückte Karen Thogersen die Pausentaste. Auf dem Bildschirm erschien die begehrteste Frau einer glanzvollen Epoche. Mit ihren 1,87 Metern überragte la belle Otero die meisten Männer wie eine Göttin. Ihr Gesicht war ebenmäßig oval, ihr Haar schwarz und seidig, ihre Zähne glänzten schneeweiß. Karen Thogersen konzentrierte sich indes auf die Bewunde‐ rer, die hinter ihrem virtuellen Ich gestanden waren, und registrierte aufmerksam die begehrlichen Blicke. Da war er! Rasch markierte sie das schöne, lächelnde Männergesicht und schaltete auf Vergrößerung. Eine Zehntelsekunde später füllte ihr Peiniger den gesamten Monitor aus. Sie ließ das Band weiterlaufen. Alfonso XIII. lächelte mit dem Charme des geborenen Verführers. Trotz seines jugend‐ lichen Alters betrachtete er die berühmte Kurtisane bereits mit erfahrenem Blick. Die kräftige, straffe Gestalt verriet die militärische Erziehung, und das Machtbewußtsein, das er wohl von klein an besaß, verlieh ihm eine stark aphrodisie‐ rende Aura. Nach dem Blick in den Spiegel war die schöne Otero zu ihrem Tisch im Maurischen Saal zurückgekehrt. Gleich da‐ nach erschien dort auch der junge König. In der Aufzeich‐ nung konnte Karen Thogersen nun sehen und hören, wie er höflich bat, neben ihr Platz nehmen zu dürfen, und, nach‐ dem sie huldvoll genickt hatte, ihre Erfolge und Mißerfolge mit ermunternden oder tröstenden, aber stets geistreichen Bemerkungen kommentierte. Wenig später ließ er Cham‐ pagner kommen und bat sie, mit ihm auf ihr Glück anzusto‐
ßen. So ging das eine ganze Weile weiter. Widerwillig mußte sich Karen Thogersen eingestehen, daß seine Taktik des ständigen Wechsels vom spielerischen Angriff zum höflichen Rückzug sie geradezu hatte dahinschmelzen lassen. Nach einer halben Stunde drückte sie erneut auf PAUSE, ging in die Küche und füllte frischen Kaffee in ihren Becher. Dann setzte sie sich wieder an das Gerät. Sie betätigte den schnellen Vorlauf und sah die Wände des Tunnels zum Hotel de Paris vorüberhuschen, als säße sie in einer U‐Bahn. Als die Tür zur Fürstensuite erschien, schaltete Karen Thogersen wieder auf Normalgeschwindigkeit. Das Gesicht des Königs füllte erneut den gesamten Monitor aus. Seine Lippen näher‐ ten sich zu einem leidenschaftlichen Kuß. STOP! Karen Thogersen wartete, bis sie sich wieder beru‐ higt hatte. Daß sie das nicht gleich gemerkt hatte! Der Blick des Königs drückte weit mehr als nur sexuelles Begehren aus. Während die Zigarette im Aschenbecher verglomm, sah Karen Thogersen zu, wie sie plötzlich herumgewirbelt wur‐ de. Erst erschien die Stuckdecke, dann das lächelnde Gesicht des jungen Königs und schließlich der Zipfel eines seidenen Halstuchs. Danach schien die Zimmerdecke zu wackeln, als Folge der ruckartigen Bewegungen, mit denen sie sich zu befreien versucht hatte. Um sich den schlimmsten Teil zu ersparen, ließ sie das Band wieder vorlaufen, bis ein roter Schatten auftauchte. Sofort hielt sie das Gerät an. Rote Finger hielten ein triefendes Knäuel vor ihre Augen, und Karen Thogersen sank in konvulsivischen Zuckungen von ihrem Stuhl.
Als sie wieder zu sich kam, drückte sie die Notruftaste. »Polizei«, sagte eine Männerstimme. »Kommen Sie! Er hat mich umgebracht!« »Was?« »Es ist was passiert.« Es würde nicht leicht sein, der Polizei zu erklären, was ge‐ schehen war. Der Mann, der noch vor wenigen Stunden König Alfonso XIII. von Spanien gewesen war, saß am Panoramafenster ei‐ ner komfortablen Jagdhütte in den Montara‐Bergen, eine halbe Autostunde südlich von San Francisco. Auf seinem Schoß lag ein Bildband mit dem Titel »Illustrierte Geschichte der Haute Couture«. Die aufgeschlagene Doppelseite zeigte ein Foto der Schauspielerin Lillie Langtry aus dem Jahr 1885. Die großgewachsene, dunkelhaarige Künstlerin posierte in einem eleganten Abendkleid von Worth auf einer Recamiere. Das ist sie, dachte der Mann. Aber wie sollte er sie finden? Vielleicht auf einer Cybertoga, in der es um die Welt des Theaters vor hundert Jahren ging? Es würde nicht schwer sein, eine solche Party anzuregen, und nachdem Lillie Lang‐ try die mit Abstand berühmteste Künstlerin jener Zeit war, würde zweifellos jemand in ihrer Gestalt erscheinen. Viel besser würde es allerdings sein, einer Lillie Langtry nicht nur in der künstlichen Realität eines VR‐Raumes, sondern in Wirklichkeit zu begegnen. Dr. Julian Riseman saß nervös an seinem Computer. Nach einem besonders verlustreichen Wochenende in Atlantic City sowie einem äußerst unerfreulichen Gespräch mit dem Kre‐ ditsachbearbeiter seiner Bank konnte sich der Entwicklungs‐
chef nur mit Mühe auf die Nachricht konzentrieren, die er in seiner Mailbox vorgefunden hatte: »http://yyy.eth/hud.com. Nomade. Nehmen Sie Kontakt auf bis 1200 PT unter http://www.usc/com.caf/ven.htme«. Dr. Riseman erklärte seiner Sekretärin, daß er nicht gestört werden wolle, und schrieb: »Fenway‐Soper Pharmacies, Entwicklungsabteilung, Dr. Riseman.« Nach einigen Minuten erschien auf dem Bildschirm: »Wor‐ um geht es?« Mißtrauisch von Natur und Profession, empfand Dr. Rise‐ man ein starkes Widerstreben, Klartext über eine ungesicher‐ te Computerleitung zu senden. Erst nach einigen Sekunden schrieb er: »Antidepressivum auf Basis von Serotonin‐ Antagonisten. Ziel: Vorläufige Marktreife bis 30. Oktober. Probleme bei Andockung Serotonin‐Moleküle an präsynapti‐ scher Membran.« Diesmal vergingen nur wenige Sekunden: »Ihr habt doch Allan Behrman!« Dr. Riseman fuhr ein wenig zurück. »Woher wissen Sie das?« »Große Projekte sprechen sich immer schnell herum.« »Behrman hat um vorzeitige Auflösung seines Vertrages gebeten und ist abgereist. Litt vermutlich selbst unter De‐ pressionen.« Fast fünf Minuten vergingen. Dem hat es die Sprache ver‐ schlagen, dachte Dr. Riseman grimmig. Dann erschien auf dem Monitor: »Nennen Sie Einzelheiten!« »Bedauere. Vertraulich.« Diesmal kam die Antwort wieder umgehend: »Faxen Sie
Vertrag an 213‐6501813...« Na also, dachte Dr. Riseman. Er tippte auf eine Taste an seinem Telefon, und Sekunden später erschien Manderly Durrwachter, eine kleine, vertrocknete Blondine Anfang der Sechzig. »Haben Sie den Vertrag fertig?« »Jawohl, Sir.« »Her damit.« Er überprüfte das Dokument. Als Vertrags‐ partner war »Mr. Nomade« aufgeführt, unter »Adresse« stand »ohne festen Wohnsitz«. »Meine Güte, das liest sich ja, als müßten wir schon Obdachlose anheuern.« Er las die nächste Seite. Unter Punkt 7 stand: »Dem Vertragspartner wird für die Dauer der Entwicklungsarbeiten als verantwort‐ liche Vertreterin von Fenway‐Soper Pharmacies Mrs. Kate Blenner beigeordnet. Mrs. Blenner ist befugt, alle projektbe‐ zogenen Interessen von Fenway‐Soper zu vertreten. Die Un‐ terzeichnenden stimmen überein, daß Mrs. Blenner an allen Entwicklungsschritten von FS‐115 ohne jede Einschränkung beteiligt wird.« Würde mich nicht wundern, wenn der Kerl jetzt kneift, dachte Dr. Riseman hoffnungsvoll; Inphader waren dafür bekannt, daß sie sich nur ungern in die Programme schauen ließen. »Schicken Sie es ab.« Wieder vergingen einige Minuten; dann erschien auf dem Monitor: »Wer ist Blenner?« Der Entwicklungschef tippte: »Neuropharmakologin. Ab‐ teilung IV, Sedativa.« Die Antwort kam rasch: »Wissenschaftliche Qualifikation?« Dr. Riseman drückte wieder auf den Summer und befahl
seiner Sekretärin, die Akte aus dem Personalbüro zu holen. Als Manderly Durrwachter das Dokument abgeliefert hatte, schlug er den Deckel auf und betrachtete das Farbfoto einer jungen Frau mit leuchtend blauen Augen, hellblondem, mit‐ tellangem Haar, sanft gerundeten Wangenknochen und einer zierlichen, hübsch geformten Nase. Die klassische Neueng‐ land‐Schönheit, dachte der Entwicklungschef; dabei war das Foto nicht einmal besonders gut. Er wählte einige Angaben aus: »Diplom Physiologie und Pharmakologie Harvard Me‐ dical School. Spezialgebiet: Endogene Drogen. Publikatio‐ nen: >Die Interaktion kognitiver und psychologischer De‐ terminanten der emotionalen BefindlichkeitAuswirkungen endogener Drogen auf die Motivation in Krisensituationenla belle OteroDatendandySeeleSanta Clara Chronicledort draußenNomadeRückkoppelungDu kannst mir viel erzählen, du blöde KuhAmen‐Region»Amen‐Region