Norman Cohn
«Die Protokolle der Weisen von Zion» Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung
Aus dem Englischen von Karl...
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Norman Cohn
«Die Protokolle der Weisen von Zion» Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung
Aus dem Englischen von Karl Röhmer Mit einer kommentierten Bibliographie von Michael Hagemeister
Elster Verlag Baden-Baden und Zürich
Die englische Ausgabe erschien 1967 unter dem Titel Warrant for Genocide. Das Buch erschien 1969 erstmals auf deutsch unter seinem jetzigen Titel. Im Gegensatz zur Erstausgabe hat der Autor aber bei der Neuauflage auf eine Textsequenz und ein Kapitel verzichtet.
Die Deutsche Bibliothek – CIP – Einheitsaufnahme Cohn, Norman: «Die Protokolle der Weisen von Zion»: der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung/Norman Cohn. Mit einer kommentierten Auswahlbibliographie von Michael Hagemeister. Aus dem Englischen von Karl Römer. Baden-Baden; Zürich: Elster-Verlag, 1998 Einheitssacht.: Warrant for genocide ‹dt.› ISBN 3-89151-261-9
Elster Verlag und Rio Verlag Verwaltung: Hofackerstraße 13, CH-8032 Zürich Copyright © by Norman Cohn 1997 Copyright © der deutschen Ausgabe 1998 by Rio Verlag und Medienagentur AG, CH-8O32 Zürich Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, vorbehalten. Umschlag: Nicole Ernst Satz: Minion 10/12, Rio Verlag, Zürich Belichtung, Druck und Bindung: Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer ISBN 3-89151-261-9
Für David Astor
Inhalt
Vorwort zur englischen Neuausgabe von 1996 Vorwort zur Erstausgabe 1967
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1 Die Ursprünge des Mythos 2 Gegen Satan und die Alliance Israélite Universelle 3 Die «Protokolle» und der «Dialogue aux Enfers» 4 Geheimpolizei und Okkultisten 5 Die «Protokolle» in Rußland 6 Die «Protokolle» erreichen Deutschland 7 Die «Protokolle» reisen um die Welt 8 Der Mythos und die deutsche Rassenideologie 9 Der Mythos in der Nazi-Propaganda
23 42 62 79 111 130 153 174 198
10 Fälscher vor Gericht 11 Die antisemitische Internationale Bibliographischer Hinweis
221 237 257
Neuere Forschungen und Veröffentlichungen zu den «Protokollen der Weisen von Zion» Eine kommentierte Bibliographie von Michael Hagemeister
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ANHANG «Die Rede des Rabbiners» Einige Parallelstellen der «Protokolle» und des «Dialogue aux Enfers» Einige Stellen der «Protokolle», die nicht auf dem «Dialogue aux Enfers» beruhen Die «Protokolle» und die Ankunft des Antichrist Abbildungen
293 299 307 316 319
Vorwort zur englischen Neuausgabe von 1996
Als 1967 mein Buch unter dem englischen Titel Warrant for Genocide erstmals erschien, war ich sehr unsicher, welche Reaktionen ein Buch auslösen würde, das solch wenig einladende Bereiche historischer Erfahrung beleuchtet. Meine Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Im Laufe der Jahre wurde das Buch in neun Sprachen übersetzt, und die meisten der Übersetzungen verkauften sich besser, als ich dies jemals erwartet hätte. Ebensowenig hätte ich erwartet, daß das Buch in der englischsprachigen Welt nach beinahe dreißig Jahren noch immer auf reges Interesse stößt. Und doch ist dies der Fall, und die Entscheidung von Serif Publishers, auf diese Nachfrage zu reagieren, ist wirklich erfreulich. Ich wurde oft gefragt, wie ich – als Historiker, der den größten Teil seiner Forschungstätigkeit wesentlich weiter zurückliegenden Epochen gewidmet hatte – dazu kam, diesen Ausflug in die neueste Geschichte zu machen. Die Antwort: Dieses Buch entstand aus dem Versuch heraus, zu verstehen, wie jemand jemals auf die Idee dieses gigantischen Massenmordes verfallen konnte, den Hitler «die Endlösung der Judenfrage» nannte und den wir heutzutage gewöhnlich als Holocaust bezeichnen. Der Holocaust stellt ein Problem ganz besonderer Art dar. Natürlich stimmt es, daß nur etwa ein Drittel der von den Nazis und ihren Heifeshelfern getöteten Zivilbevölkerung Juden waren, und daß einige der gegen das Dritte Reich Krieg führenden, osteuropäischen Nationen – wie die Sowjetunion, Polen, Jugoslawien – elf oder zwölf Prozent ihrer zivilen Gesamtbevölkerung verloren. Daneben wurden in Deutschland selbst zwischen 80.000 und 100.000 Insassen psychiatrischer Kliniken vergast und außer den Juden ungefähr eine Viertelmillion Zigeuner umgebracht. Und doch gibt es einen Unterschied. Mit einem geradezu fanatischen, ausschließlich den Juden vorbehaltenen Haß machten die Nazis auf sie Jagd. Weit über die Hälfte, 9
möglicherweise mehr als zwei Drittel aller europäischen Juden wurden von den Nazis ermordet: Die genaue Zahl bewegt sich irgendwo zwischen fünf und sechs Millionen Opfern, nicht eingerechnet diejenigen, die in den Ghettos verhungerten oder dort an Krankheiten starben. All dies wurde Menschen angetan, die keine kriegführende Nation, ja noch nicht einmal eine klar definierte ethnische Gruppe bildeten; die vom Ärmelkanal bis zur Wolga, über ganz Europa verstreut lebten, und die außer ihrer Abstammung von Angehörigen der jüdischen Religion nur sehr wenige Gemeinsamkeiten hatten. Wie ist dieses außerordentliche Phänomen zu erklären? Wie viele andere auch stellte ich mir diese Frage immer wieder, während die Vernichtung in vollem Gang war; aber erst nach Kriegsende tastete ich mich zu der Antwort vor, von der ich heute überzeugt bin, daß sie die richtige ist. Im Winter 1945, ich wartete in Mitteleuropa gerade auf meine Demobilisierung, erhielt ich zufällig Zugang zu einer umfangreichen Sammlung von Schriftstücken nazistischer und vornazistischer Ideologen und Propagandisten. Einige Monate der Lektüre, untermauert durch Kontakte zu SS-Leuten, die sich Verhören und Untersuchungen zu unterziehen hatten, nährten bei mir eine starke Vermutung – daß die Motivation zur Judenvernichtung einem quasi-dämonologischen Aberglauben entsprang. Der Verdacht begann sich in mir zu regen, daß die tödlichste Form des Antisemitismus – nämlich diejenige, die in Massaker und versuchtem Völkermord mündet –, kaum etwas mit realen Interessenkonflikten zwischen lebenden Menschen und ebensowenig mit Rassenvorurteilen als solchen zu tun hat. Was mir vielmehr immer wieder begegnete, war die Überzeugung, daß die Juden – alle Juden auf der ganzen Welt – eine konspirative Gruppe bilden, die sich zum Ziel gesetzt hat, die übrige Menschheit zugrunde zu richten, um sie dann zu beherrschen. Als die Fakten des Holocaust bekannt wurden, begann die Geschichte des Antisemitismus, zuvor Arbeitsgebiet nur weniger wagemutiger Pioniere, reges wissenschaftliches Interesse hervorzurufen, und zahlreiche detaillierte Studien zu diesem oder jenem Aspekt entstanden. Veröffentlichungen jedoch, die meinen Verdacht hätten bestätigen oder widerlegen können, fanden sich darunter höchst selten: 1961, zur Zeit des Prozesses gegen Adolf Eichmann, hatte noch niemand den Mythos der Jüdischen Weltverschwörung eingehend untersucht, ebensowenig wie seinen Beitrag zum Entstehen des Holocaust. 10
Natürlich erhielt die berüchtigte Fälschung, Die Protokolle der Weisen von Zion, prägnantester Ausdruck und Medium des Mythos der Jüdischen Weltverschwörung, sehr viel Aufmerksamkeit. Zwischen 1920, als sie zum ersten Mal in Westeuropa erschienen, und 1942, als sie recht wirkungsvoll von Goebbels ausgeschlachtet wurden, bildeten die Protokolle das Thema eines Dutzends kritischer Untersuchungen in englischer, deutscher, französischer und russischer Sprache. Einige dieser Studien hatten durchaus wissenschaftlichen Charakter; eines, L’Apocalypse de notre temps, ein wichtiges Stück Grundlagenforschung, hätte sicher für Furore gesorgt, wäre seine Veröffentlichung nicht vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überschattet worden und hätten die Deutschen nach ihrem Einmarsch in Paris nicht die gesamte Auflage beschlagnahmt und vernichtet. Dennoch blieb eine deutlich sichtbare Kluft bestehen: Keine einzige angemessene Untersuchung wurde je darüber gemacht, wie nach der Französischen Revolution der Mythos der Jüdischen Weltverschwörung entstand; wie er zu einer ganzen Reihe von Fälschungen inspirierte, die in den Protokollen kulminierten; wie die Protokolle dazu benutzt wurden, während des russischen Bürgerkrieges Judenpogrome zu rechtfertigen; wie sie die Welt nach dem Ersten Weltkrieg überschwemmten; wie sie Hitlers Denken in Besitz nahmen und zur Ideologie seiner fanatischsten Anhänger im In- und Ausland wurden – und so die Vorbereitung des Holocaust unterstützten. Unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses stellte ich schließlich solch eine Untersuchung an. Das vor Ihnen liegende Buch berichtet, was ich entdeckt habe. Vielleicht ist es schwer verständlich, warum sich Wissenschaftler unter enormer Zeit- und Kraftanstrengung mit solch einer absurden Phantasie, wie sie die Protokolle darstellen, oder mit so obskuren Gestalten wie dem Schreiberling Hermann Goedsche, dem billigen Hochstapler Osman-Bey oder dem halbverrückten Pseudomystiker Sergej Nilus und all den anderen beschäftigen. Es wäre jedoch ein großer Fehler anzunehmen, nur solche Autoren seien beachtenswert, die von gebildeten und vernünftigen Menschen ernst genommen werden können. Es existiert eine unterirdische Welt, in der naiven und abergläubischen Menschen von Gaunern und halbgebildeten Fanatikern pathologische Phantasien als verkleidete Ideen verkauft werden. Es gibt Zeiten, in denen die Unterwelt aus den Tiefen auftaucht und plötzlich die Masse der normalerweise ver11
nünftigen und verantwortlichen Menschen fasziniert, einfängt und beherrscht, die daraufhin von Vernunft und Verantwortung Abschied nehmen. Und gelegentlich kommt es vor, daß diese Unterwelt politische Macht erlangt und den Lauf der Geschichte verändert. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß die in der ersten Hälfte des Buches beschriebenen, vergessenen Exzentriker einen Mythos schufen, mit dem Jahre später die Herren einer großen europäischen Nation einen Völkermord rechtfertigen konnten. Natürlich wirken Mythen nicht im luftleeren Raum. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung wäre das Monopol reaktionärer Russen und weniger Spinner in Westeuropa geblieben, die Protokolle wären nie aus der Versenkung aufgetaucht, hätten nicht der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution mit all ihren Nachwirkungen stattgefunden. Und nie wären sie das Glaubensbekenntnis einer mächtigen Regierung und einer internationalen Bewegung geworden, wären da nicht die Weltwirtschaftskrise und der von ihr verursachte Orientierungsverlust der damaligen Bevölkerung gewesen. Andererseits hätten alle diese Katastrophen zusammen nie ein Auschwitz produzieren können, hätte es da nicht einen Mythos gegeben, der darauf ausgerichtet war, das paranoide und destruktive Potential im Menschen anzusprechen. Ich habe versucht, auch diesen – man könnte sagen: soziologischen und psychopathologischen – Dimensionen der außergewöhnlichen und greulichen Geschichte gerecht zu werden. Das Buch endet mit dem Jahre 1945, doch dies bedeutet nicht, daß damals auch der Mythos der Jüdischen Weltverschwörung unterging. Tatsächlich taucht er immer wieder auf, in geringfügig verändertem Gewand, in den unterschiedlichsten Gegenden. So brachte Stalin in den letzten Jahren seines Lebens eine neue Version des Mythos in Umlauf, wonach die Juden als Agenten eines imperialistischen Komplotts die Zerstörung der Sowjetunion und die Ermordung ihrer Führer planten; diese Version wurde dazu benutzt, 1952 die Hinrichtung von Rudolf Slansky und seinen jüdischen Genossen im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei durchzusetzen. Und nach Stalins Tod zirkulierten in der Sowjetunion weiterhin Materialien im Stile der Protokolle – unter stillschweigender offizieller Duldung. Eines meiner kostbarsten Besitztümer ist die Kopie einer heimlichen (samizdat) Übersetzung von Warrant for Genocide, die eine Gruppe von Dissidenten als Reaktion auf diese Propaganda herstellte. 12
Selbst hundert Jahre nach der Entstehung der Protokolle unter russischer Ägide, ist der Mythos in Rußland immer noch Gegenstand aktueller Debatten. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine neue Übersetzung meines Buches legal herausgegeben wurde, fanden in der russischen Presse heftige Diskussionen darüber statt; die riesige Auflage war sofort vergriffen. Auch heute noch kann es extrem gefährlich sein, die Authentizität der Protokolle in Frage zu stellen: So wußte der orthodoxe Priester, Vater Men, sehr genau, daß er sein Leben riskierte, als er die Protokolle von der Kanzel herab anprangerte – seine Leiche wurde mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Im Westen findet der Mythos der Jüdischen Weltverschwörung nun zugegebenermaßen weit weniger Anklang als früher: rechtschaffene Leute sind sich zu lebhaft des Völkermordes bewußt, zu dem der Mythos beigetragen hatte. Und doch wird er auch hier propagiert, in Zeitschriften wie Rainbow Ark, Spotlight und Nexus, die angeblich von etwa 100.000 Menschen gelesen werden. Darüber hinaus behaupten einige «revisionistische» Historiker, der Holocaust hätte nie stattgefunden, er sei lediglich ein einträglicher Scherz gewesen, den eine konspirative Gruppe von Juden mit einem leichtgläubigen nichtjüdischen Publikum getrieben hätte. Auch aus diesem Grund begrüße ich das Unternehmen von Serif Publishers, eine englische Neuauflage dieses dreißigjährigen Buches herauszugeben. Dezember 1995
Norman Cohn
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Vorwort zur Erstausgabe 1967
Nur etwa ein Drittel der Zivilpersonen, die von den Nazis und ihren Helfershelfern getötet wurden, waren Juden. Dennoch nehmen die Juden unter den Opfern jener Schreckensjahre eine Sonderstellung ein. Andere Völker sollten dezimiert, unterjocht, versklavt werden; einige Länder verloren elf oder zwölf Prozent ihrer Zivilbevölkerung. Die Juden sollten vernichtet werden. Sie wurden nicht einfach umgebracht oder durch Fronarbeit aufgerieben – man demütigte, jagte und marterte sie mit einem Haß, der allein ihnen vorbehalten blieb. Weit über die Hälfte, wahrscheinlich mehr als zwei Drittel aller europäischen Juden wurden ermordet.1 Dabei waren die Menschen, denen all dies angetan wurde, keine kriegführende Nation, ja überhaupt keine Nation; sie lebten verstreut über ganz Europa vom Ärmelkanal bis zur Wolga und hatten kaum etwas miteinander gemein außer der Abkunft von Anhängern der jüdischen Religion. Wie ist dieses außerordentliche Phänomen zu erklären? Gleich vielen anderen stellte ich mir diese Frage immer wieder, während die Vernichtung ihren Lauf nahm; aber erst nach dem Kriege fand ich den Weg, der mich – davon bin ich heute überzeugt – zur richtigen Antwort führte. Im Winter 1945, ich wartete in Mitteleuropa auf meine Demobilisierung, hatte ich Zugang zu einer umfangreichen Sammlung von Schriften nazistischer und vornazistischer Ideologen und Propagandisten. Mehrmonatiges Lesen und dazu der Kontakt zu SS-Leuten, die zu verhören waren, nährten in mir eine Vermutung: daß Russen, Polen und Jugoslawen dezimiert wurden im Namen von Rassentheorien, die keine hundert Jahre alt waren, daß hingegen der Antrieb zur Judenvernichtung einem Dämonenglauben entsprang, der aus dem Mittelalter stammte. Die folgenden zehn Jahre widmete ich der Untersuchung volkstümlicher mittelalterlicher Vorstellungen von Satan und seinen ir1
Die genaue Zahl der ermordeten Juden wird man nie erfahren. Die Schätzungen bewegen sich zwischen fünf und sechs Millionen. Nicht eingerechnet sind dabei diejenigen, die in den Ghettos verhungerten oder an Krankheiten starben.
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dischen Vertretern, vom Endkampf zwischen himmlischen und höllischen Heerscharen, von der Wiederkunft Christi und dem Tausendjährigen Reich. Diese Arbeit galt nur teilweise den Juden und ihrem Schicksal, aber als ich sie abschloß, war meine ursprüngliche Vermutung zur Gewißheit geworden. Wie ich es sehe, hat die tödlichste Form von Antisemitismus, die zu Massakern und zu versuchtem Völkermord führt, kaum etwas mit realen Interessenkonflikten zwischen lebenden Menschen und auch wenig mit Rassenvorurteilen als solchen zu tun. Das Herzstück dieses Antisemitismus ist der Glaube, daß die Juden – alle Juden an allen Orten – Mitglieder einer Verschwörung seien, die das Ziel habe, die übrige Menscheit ins Verderben zu stürzen, um sie dann zu beherrschen. Und diese Vorstellung ist einfach eine modernisierte, säkularisierte Form des mittelalterlichen Volksglaubens, wonach die Juden eine Rotte von Zauberern waren, deren sich Satan bediente, um die Christenheit geistig und körperlich zugrunde zu richten.2 Als ich zum Ausgangspunkt meiner Studien zurückkehrte, war die Lage ganz anders als 1945. Die Nazibewegung und das Naziregime waren gründlich untersucht worden, die Ergebnisse füllten ganze Bibliotheken, es gab sogar besondere Institute zur Erforschung der nazistischen Verfolgungen und Massaker. Auch die Geschichte des Antisemitismus, vor dem Krieg das Arbeitsfeld weniger wagemutiger Pioniere, fand jetzt reges wissenschaftliches Interesse, und viele Spezialarbeiten zu diesem oder jenem Aspekt des Themas wurden geschrieben. Es blieb jedoch eine ins Auge fallende Lücke: Niemand untersuchte eingehend den Mythos3 der jüdischen Weltverschwörung und seine Rolle in der Geschichte der neueren Zeit. Zwar fehlt es nicht an Arbeiten über den Text, in dem dieser Mythos seinen prägnantesten Ausdruck und seine weiteste Verbreitung 2
Die gleiche Meinung vertritt J. Trachtenberg, The Devil and the Jews, New Haven 1943. 3
Vor einigen Jahren forderte ein Rezensent (ich glaube, in The Times Literary Supplement), man solle den Gebrauch des Wortes «Mythos» für mindestens zehn Jahre verbieten, da es auf dem besten Wege sei, jede präzise Bedeutung zu verlieren. Er hatte nicht ganz unrecht, aber ich finde keinen treffenderen Ausdruck für den Gegenstand dieses Buches. Das Wort «Mythos» kann einen Irrglauben bezeichnen, es kann eine Phantasiekonstruktion bezeichnen, mit deren Hilfe eine Gruppe die Welt um sich zu interpretieren versucht; und seit Georges Sorel kann es auch einen Glauben bezeichnen, der ein Sendungsgefühl verleiht und zu Taten anspornt. Der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung ist als Mythos in allen diesen Bedeutungen aufgetreten.
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fand: die berüchtigte Fälschung, die unter dem Namen Protokolle der Weisen von Zion bekannt ist. Den Protokollen wurden zwischen 1920, dem Jahr ihres Erscheinens in Westeuropa, und 1942, der Zeit, da Goebbels sie in großem Stil ausbeutete, ein Dutzend kritischer Studien in englischer, deutscher, französischer und russischer Sprache gewidmet. Mehrere dieser Bücher haben wissenschaftlichen Charakter; eines, L’Apocalypse de notre temps von dem verstorbenen Henri Rollin, ist eine Forschungsarbeit von hohem Rang, die sicherlich Epoche gemacht hätte, wäre sie nicht gerade beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erschienen und hätten nicht die Deutschen nach ihrem Einmarsch in Paris fast die ganze Auflage vernichtet. Es ist jedoch bisher noch nicht im einzelnen untersucht worden, wie sich nach der Französischen Revolution aus der traditionellen Dämonologie der Mythos der jüdischen Weltverschwörung entwikkelte; wie er eine ganze Reihe von Fälschungen inspirierte, die schließlich in den Protokollen gipfelte; wie die Protokolle zur Rechtfertigung der Judenmassaker während des russischen Bürgerkrieges benutzt wurden; wie sie nach dem Ersten Weltkrieg die Runde um die Welt machten; wie sie Besitz von Hitlers Denken ergriffen, die Ideologie seiner fanatischsten Anhänger im In- und Ausland prägten und so dazu beitrugen, der Vernichtung der europäischen Juden den Weg zu bahnen. Es ist an der Zeit, die Lücke zu schließen. Vor einer Generation schätzte Henri Rollin, daß die Protokolle der Weisen von Zion nächst der Bibel wohl das meistverbreitete Buch der Welt sei; auf jeden Fall hatte der Mythos der jüdischen Weltverschwörung bestimmenden Einfluß auf das Weltgeschehen. Sehr viele Menschen – und zwar keineswegs Geisteskranke oder Analphabeten – waren überzeugt, eine jüdische Geheimorganisation lenke alle Vorgänge auf politischem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, vom kleinsten diplomatischen Schritt bis zu Krisen, Revolutionen und Kriegen. Heute ist all das fast vergessen; zumindest in Europa trifft man selten einen Menschen unter vierzig Jahren, der von diesen seltsamen Ideen je etwas gehört hat. «Um so besser», ist man versucht zu sagen; aber ich denke, dieser Versuchung muß man widerstehen. Ein schwerer Wahn hat große Teile Europas und ein gutes Stück der übrigen Welt heimgesucht; seit dem Hexenwahn des 16. und 17. Jahrhunderts, dem wohl eine Million Frauen zum Opfer fielen, war nichts dergleichen gesehen worden. Es scheint mir wichtig, diesen Wahn zu studieren, seine Kernvorstellungen zu analysieren und so genau wie möglich zu 16
ergründen, worin seine Anziehungskraft bestand. Deshalb habe ich mich nach einigem Zögern entschlossen, die Arbeit, die ich vor zwanzig Jahren begann und dann liegen ließ, zu Ende zu führen. Man hält die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer lächerlichen Phantasie wie den Protokollen oder mit obskuren Gestalten wie dem Schundromanschreiber Hermann Goedsche, dem drittklassigen Hochstapler Osman-Bey und dem halbverrückten Pseudomystiker Sergej Nilus vielleicht für Zeit- und Kraftverschwendung. Es ist jedoch ein großer Irrtum anzunehmen, nur solche Schriftsteller zählten, die von gebildeten und vernünftigen Menschen ernst genommen werden können. Es gibt eine unterirdische Welt, in der Schwindler und halbgebildete Fanatiker die Unwissenden und Abergläubischen mit pathologischen Phantasien berücken, die sie für Ideen ausgeben. Zuzeiten taucht diese Unterwelt aus der Tiefe empor und schlägt plötzlich Massen vernünftiger, solider Menschen in ihren Bann, die daraufhin aller Vernunft und Solidität entsagen. Und es kann vorkommen, daß diese Unterwelt zur politischen Macht wird und den Lauf der Geschichte verändert. Es ist eine unbestreitbare Tatsache: Die vergessenen Sonderlinge, von denen in der ersten Hälfte dieses Buches die Rede ist, brauten jenen Mythos zusammen, der Jahre später den Herren einer großen europäischen Nation als Rechtfertigung des Völkermords dienen sollte. Mythen wirken natürlich nicht im luftleeren Raum. Ohne den Ersten Weltkrieg und die russische Revolution wäre der Mythos der jüdischen Weltverschwörung das Monopol reaktionärer Russen und einiger Querköpfe in Westeuropa geblieben, wären die Protokolle nie aus der Obskurität aufgetaucht. Und weiter: Ohne die große Wirtschaftskrise und die Verwirrung, die sie in den Köpfen anrichtete, wäre dieser Mythos nie das Credo einer mächtigen Regierung und einer internationalen Bewegung geworden. Auf der anderen Seite hätten all diese Katastrophen zusammen nie zu einem Auschwitz geführt, wäre nicht ein Mythos hinzugetreten, der das paranoide und destruktive Potential in den Menschen ansprach. Ich habe versucht, auch diesen – man könnte sagen: soziologischen und psychopathologischen – Aspekten der grausigen Geschichte Rechnung zu tragen. Das Buch schließt mit dem Jahr 1945. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Mythos in jenem Jahr erloschen wäre, die Protokolle nicht mehr verbreitet worden wären. Zwar machen sie heute weniger von sich reden und sind in den fortgeschrittenen Ländern Westeuropas 17
fast vergessen, aber in anderen Teilen der Welt florieren sie nach wie vor. Der ägyptische Präsident Nasser hat sich in seinem Kampf gegen Israel öffentlich auf die Protokolle berufen. Mit Hilfe emigrierter Nazis wird in Kairo massenhaft Literatur vom Typ der Protokolle hergestellt und in viele Länder vertrieben, besonders nach Südamerika. Die Debatten des Vatikanischen Konzils über die Stellung zu den luden lösten in Spanien eine Flut antisemitischer Propaganda aus; unter anderem erschien eine reich ausgestattete Neuausgabe der Protokolle mit ausführlichem Kommentar.4 Stalin brachte in seinen letzten Lebensjahren eine neue Version des Verschwörungsmythos auf; danach waren die Juden Agenten eines imperialistischen Komplotts zur Vernichtung der Sowjetunion und zur Ermordung ihrer Führer. Das Todesurteil gegen Rudolf Slansky und seine jüdischen Genossen im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (1952) wurde mit dieser Version des Mythos gerechtfertigt5; sie diente auch als Grundlage für das fabrizierte «Ärztekomplott» in der Sowjetunion (1953). All dies zu schildern wäre Aufgabe eines anderen Buches von einem anderen Autor. Mein Buch soll zeigen, wie zwischen der Französischen Revolution und dem Zweiten Weltkrieg einige uralte Wahnideen reaktiviert wurden und was die Folgen waren. Es ist eine finstere Geschichte, aber sie mußte einmal geschrieben werden. August 1966
Norman Cohn
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Sabios de Sion: Protocolos, Madrid 1963. Als Verfasser des Kommentars zeichnet ein Charles Borough, dessen Namen ich in keinem Katalog und Nachschlagewerk auffinden konnte. Ein Buch ähnlichen Charakters ist M. Pinay, Complotto contra la chiesa, Rom 1962. 5
Siehe das wörtliche Protokoll des Slansky-Prozesses: Prozeß gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, herausgegeben vom Justizministerium, Prag 1953. Vergleiche J. Parkes, Antisemitismus, München 1964, S.214.
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Dank Dieses Buch wäre ohne David Astor, den die hier geschilderten Verirrungen seit vielen Jahren beschäftigen, wahrscheinlich nie geschrieben worden. Er gab mir die Möglichkeit, das Universitätsleben eine Zeitlang zu verlassen und mich ganz dem Forschen und Schreiben zu widmen. Damit reduzierte er eine Aufgabe, die sonst wohl meine Kräfte überstiegen hätte, auf bezwingbare Ausmaße. Boris Nicolaevsky, der beim Berner Prozeß 1934/35 als Zeuge aussagte, stellte mir nicht nur wertvolle Dokumente aus seinem Archiv zur Verfügung, sondern auch seine einzigartige Kenntnis revolutionärer und konterrevolutionärer Politik im zaristischen Rußland. Er ist kurz nach der Vollendung dieses Buches gestorben. Dr. James Parkes und Dr. Léon Poliakov ließen mich von ihren langjährigen Forschungen zur Geschichte des Antisemitismus profitieren und gaben mir sehr nützliche Anregungen und kritische Hinweise. Mit großem Gewinn durfte ich auch die Parkes Library und die Ergebnisse von Dr. Parkes’ eigenen Studien über die Protokolle benutzen. Die Gelehrsamkeit der Professoren Francis Garsten, John Higham, Walter Laqueur, George Mosse und Leonard Schapiro kam mehreren Kapiteln zugute und bewahrte mich vor vielen Fehlern. Wenn das Buch nach den Bemühungen all dieser Kritiker und Ratgeber trotzdem noch sachliche Irrtümer und Fehlurteile enthalten sollte, so habe ich dies allein zu verantworten. Die Mitarbeiter der Wiener Library erfüllten meine vielen Wünsche mit der Liebenswürdigkeit und Sachkenntnis, die den Benutzern dieser bewundernswerten Institution sehr bald wie etwas Selbstverständliches erscheint. Herr C. C. Aronsfeld machte mich auf viel Material aufmerksam, das ich leicht hätte übersehen können. Das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, Stanford, Kalifornien, verschaffte mir durch Berufung zum Fellow das ideale Milieu, dem Buch den letzten Schliff zu geben, eingerechnet die Gelegenheit, in anregendem Gespräch mit Kollegen verschiedene schwierige Punkte zu erörtern. 19
Meine Frau, deren Muttersprache Russisch ist, las alle russischen Bücher für mich. Angesichts des bedrückenden Charakters dieser Lektüre ist die Geduld, mit der sie sich der Aufgabe unterzog, besonders hoch zu schätzen. Ihre Hilfe war mir unentbehrlich, ebenso ihre kritischen Bemerkungen zum ganzen Manuskript. Es ist mir eine Freude, allen, die mir auf so vielfältige Weise geholfen haben, meinen Dank auszusprechen. August 1966
Norman Cohn
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... quantum mortalia pectora caecae noctis habent... Wieviel finstere Nacht ist in den Herzen der Menschen! Ovid, Metamorphosen
1 Die Ursprünge des Mythos
1 In weiten Teilen der Erde gelten die Juden von jeher als geheimnisvolle, mit unheimlichen Kräften ausgestattete Wesen. Diese Vorstellung geht auf das zweite bis vierte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück. Damals rivalisierten die Kirche und die Synagoge um die Bekehrung der hellenistischen Welt, und sie versuchten sogar, sich gegenseitig Gläubige abspenstig zu machen. Um die Judenchristen von Antiochia zum endgültigen Bruch mit der Mutterreligion zu treiben, nannte der heilige Johannes Chrysostomos die Synagoge «Tempel der Dämonen ... Höhle der Teufel... Schlund und Abgrund der Verdammnis» und malte die Juden als Mörder, Zerstörer und vom bösen Geist Besessene. Und um seine Neubekehrten vor dem Judentum zu schützen, schilderte der heilige Augustin, wie die einstigen Lieblingssöhne Gottes sich in Söhne Satans verwandelt hätten. Die Juden wurden auch in Verbindung mit dem Antichrist gebracht, dem «Sohn des Verderbens», jener schrecklichen Gestalt, deren tyrannische Herrschaft, Paulus und der Offenbarung zufolge, der Wiederkehr Christi vorangehen sollte. Viele Kirchenväter lehrten, der Antichrist werde ein Jude und die Juden würden seine treuesten Gefolgsleute sein.1 Sieben oder acht Jahrhunderte später, als sich die römisch-katholische Kirche in der militantesten Periode ihrer Geschichte befand, wurden diese alten Phantasien aufgefrischt und in eine ganz neue 1
Zur Dämonisierung des Juden in der christlichen Lehre siehe J. Parkes, Conflict of the Church and the Synagogue, London 1934; J. Trachtenberg, The Devil and the Jews, New Haven 1934; M. Simon, Versus Israel, Paris 1948; L. Poliakov, Histoire de l’Antisemitisme, Bd. I: Du Christ aux Juifs de cour, Paris 1955; J. Isaac, Genèse de l’Antisemitisme, Paris 1956.
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Dämonologie eingefügt. Von der Zeit des ersten Kreuzzugs an wurden die Juden als Kinder des Teufels hingestellt, als Sendboten Satans mit dem Auftrag, das Christentum zu bekämpfen und die Christen zu schädigen. Im 12. Jahrhundert wurden sie erstmals beschuldigt, Christenkinder zu töten, die Hostie zu schänden und Brunnen zu vergiften. Zwar verurteilten Päpste und Bischöfe diese Erdichtungen häufig und mit Nachdruck, doch der niedere Klerus fuhr fort, sie zu verbreiten, und schließlich wurden sie allgemein geglaubt. Vor allem aber behauptete man, die Juden beteten den Teufel an, der sie dafür zu Meistern der Schwarzen Magie mache; so besitze das Judentum insgesamt eine grenzenlose Macht zum Bösen, wie schwach auch der einzelne Jude erscheinen möge. Und schon damals war die Rede von einer geheimen jüdischen Regierung: einem Rat von Rabbinern, der seinen Sitz im mohammedanischen Spanien habe und von dort aus einen unterirdischen Krieg gegen die Christenheit führe, wobei er sich als Hauptwaffe der Zauberei bediene. Die jahrhundertelange Propagierung solcher Ideen durch die Geistlichkeit hatte bestimmenden Einfluß auf die Haltung der Laien. Drängte die jüdische Religion mit ihrem Auserwähltheitsglauben und ihrem komplizierten Tabusystem die Juden ohnehin zur Absonderung, so sorgte die christliche Lehre und Predigt dafür, daß sie nicht einfach als Fremde, sondern als äußerst gefährliche Feinde behandelt wurden. Im Mittelalter waren die Juden fast völlig rechtlos und häufig Opfer blutiger Heimsuchungen. Derlei Erfahrungen bestärkten sie in ihrer Tendenz, sich abzukapseln. In den langen Jahrhunderten der Verfolgung wurden die Juden ein völlig fremdes Volk. Sie durften nur die niedrigsten Gewerbe betreiben und blickten mit Bitterkeit auf die Welt der Nichtjuden. In den Augen der meisten Christen waren diese seltsamen Wesen Teufel in Menschengestalt – und die Dämonologie, die in jenen Jahrhunderten um sie gewoben wurde, hat sich zum Teil als außerordentlich zählebig erwiesen. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung ist eine moderne Fassung dieser alten dämonologischen Tradition. Er besagt: Es gibt eine geheime jüdische Regierung, die ein weltweites Netz getarnter Agenturen und Organisationen unterhält, mit deren Hilfe sie politische Parteien und Regierungen, die Presse und die öffentliche Meinung, die Banken und das Wirtschaftsleben lenkt. Sie handelt nach einem uralten Plan mit dem Ziel, die jüdische Herrschaft über die ganze Welt zu errichten, und diesem Ziel ist sie schon gefährlich nahe. 24
In diesem Hirngespinst mischen sich Reste alter Dämonenfurcht mit typisch modernen Ängsten und Ressentiments. Tatsächlich ist der Mythos der jüdischen Weltverschwörung ein besonders verzerrter Ausdruck der neuen sozialen Spannungen, die aufkamen, als Europa mit der Französischen Revolution und dem Anbrach des 19. Jahrhunderts in ein Zeitalter stürmischer, tiefgreifender Wandlungen eintrat. Wie bekannt, gerieten damals die traditionellen Sozialstrukturen ins Wanken; man glaubte nicht mehr an die Heiligkeit ererbter Privilegien; von jeher geltende Werte und Überzeugungen wurden in Frage gestellt. Eine dynamische, rastlose, dem Neuen zugewandte Stadtzivilisation bedrohte das geruhsame, konservative Landleben. Mit der Industrialisierung trat die Bourgeoisie immer mehr in den Vordergrund, stets bestrebt, ihren Reichtum zu mehren und ihre Rechte zu erweitern; und schon begann eine neue Klasse nachzudrängen, das industrielle Proletariat. Demokratie, Liberalismus, Säkularismus und – von der Jahrhundertmitte an – Sozialismus waren Kräfte, mit denen man rechnen mußte. Aber all das war vielen Menschen auf dem ganzen europäischen Kontinent ein Greuel. Es begann ein langer, erbitterter Kampf zwischen den Vertretern der neuen, mobilen, chancenreichen Gesellschaft und denen, welche die absterbende traditionelle Ordnung zu bewahren oder zu restaurieren suchten. Dieser Wandel, der die ganze europäische Gesellschaft ergriff, brachte Europas Juden neue Verheißungen, aber auch neue Gefahren. In den Ländern West- und Mitteleuropas wurde die rechtliche Diskriminierung der Juden nach und nach aufgehoben. Die meisten Juden hatten nur den Wunsch, ein Leben zu führen wie alle anderen, und machten friedlich Gebrauch von der neugewonnenen Freiheit. Trotzdem behielt «der Jude» für viele ausgeprägten Symbolcharakter, und zwar aus zwei ganz verschiedenen Gründen. Einerseits blieben die Juden eine identifizierbare und – wenn auch in rasch abnehmendem Maße – eine exklusive Gruppe; der Zug des Geheimnisvollen, der ihnen in früheren Jahrhunderten angehaftet hatte, verschwand deshalb nicht ganz. Andererseits wurden sie in den Augen derjenigen, die die moderne Welt am heftigsten verabscheuten, gerade die typischsten Vertreter dieser Welt. Das hatte mehrere Ursachen. Die Juden waren zwangsläufig seit Jahrhunderten Stadtbewohner und lebten auch jetzt zum größten Teil in den Städten, besonders den Hauptstädten. Politisch tendierten sie naturgemäß zu den liberalen und demokratischen Kräften, denn nur diese traten 25
für den Bestand und die Mehrung ihrer bürgerlichen Freiheiten ein. Da ihnen viele traditionelle Berufe nach wie vor verschlossen waren, erprobten sie neue Wege, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und einige wurden dabei außerordentlich reich. Allgemein kann man sagen, daß das Gefühl plötzlich freigesetzter Kräfte viele Juden ungewöhnlich unternehmend und experimentierfreudig machte. In Industrie und Handel, Politik und Journalismus wurden die Juden mit der Moderne in ihrer ausgeprägtesten Form identifiziert. Auf diese Weise war es um 1870 möglich, «den Juden» als Inkarnation des modernen Lebens und zugleich als unheimliches, halbdämonisches Wesen zu sehen. Natürlich gab es auch ganz andere Arten von Antisemitismus. Zum Beispiel existierte ein linker Antisemitismus, in dem sich Abneigung gegen die jüdische Religion – die als Mutter der christlichen Religion galt – und Ressentiment gegen die mächtigen jüdischen Bankiers, namentlich die Rothschilds, mischten. In den sozialistischen Bewegungen Frankreichs und Deutschlands war diese Art Antisemitismus weit verbreitet, und es gelang ihnen erst gegen Ende des Jahrhunderts, sich davon zu befreien. Auf der anderen Seite florierte der dämonologische Antisemitismus in jenen Kreisen, denen die Zivilisation des 19. Jahrhunderts nicht geheuer war. Das waren vor allem die adligen Grundbesitzer und die Geistlichen. Für sie war «der Jude» ein Symbol all dessen, was ihre Welt bedrohte, und zwar nicht nur ihre materiellen Interessen, sondern auch die Werte, die ihrem Leben einen Sinn gaben. Nur zu gern griffen sie den Glauben auf, daß die bestürzenden Wandlungen, die sie erlebten, ihren Ursprung nicht in Mängeln der alten Ordnung oder in unpersönlichen historischen Prozessen hätten, sondern in den Machenschaften einer Handvoll Teufel in Menschengestalt. Durch Propagierung dieser Idee konnten sie gleichzeitig auch sehr praktischen Zielen dienen. Indem man Demokratie, Liberalismus und Säkularismus als Werk der Juden hinstellte, machte man diese Phänomene einer wachsenden, wenig gebildeten Wählerschaft verdächtig. So entstand die neue, politische Form des Antisemitismus. Von nun an setzten ultrakonservative Politiker und Publizisten den Antisemitismus bewußt als Kampfmittel gegen die progressiven Kräfte ein. Zwar wurden den Juden noch hin und wieder Ritualmorde und dergleichen Greueltaten vorgeworfen, aber diese uralten abergläubischen Vorstellungen traten allmählich zurück gegenüber dem neuen, politischen Aberglauben, es gebe eine jüdische Geheim26
regierung. Diese neue Phantasie hatte natürlich mit der Wirklichkeit ebensowenig zu tun wie die alte, aber sie war genauso wirksam wie diese. Was die Juden in Wirklichkeit waren oder taten oder wollten, oder was sie sein oder tun oder wollen konnten, war dabei ganz belanglos. Um zu verstehen, wie die Wahnvorstellung entstand und Verbreitung fand, braucht man nicht viel über die Juden zu wissen; viel wichtiger ist zu wissen, was Verfolgungswahn ist und wie er unter geeigneten Umständen bei Massen normaler Menschen erzeugt und ausgebeutet werden kann. Der Hexenwahn, der im 16. und 17. Jahrhundert durch Europa raste, ist ein Beispiel dafür. Und Ähnliches geschah, als der Mythos der jüdischen Weltverschwörung seinen todbringenden Verlauf nahm.
2 Ist heute vom Mythos der jüdischen Weltverschwörung die Rede, so denkt man an die Protokolle der Weisen von Zion, jene Fälschung, die zwischen den beiden Weltkriegen in Millionen Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet wurde. Aber die Protokolle sind nur die berühmteste und einflußreichste einer langen Reihe von Erdichtungen und Fälschungen, die bis nahe an die Französische Revolution zurückreicht. Die früheste Spur des Mythos der jüdischen Weltverschwörung in seiner modernen Form findet sich bei Abbé Barruel, einem französischen Geistlichen, der bereits 1797 in einem fünfbändigen Werk mit dem Titel Mémoire pour servir à l’histoire du Jacobinisme behauptete, die Französische Revolution sei der Gipfelpunkt einer jahrhundertealten Verschwörung der geheimsten aller Geheimgesellschaften. Barruel zufolge hatte alles mit dem mittelalterlichen Templerorden begonnen. Dieser Orden – so schrieb er – war mit seiner Auflösung im Jahre 1314 nicht verschwunden, sondern hatte sich in eine Geheimgesellschaff umgewandelt, deren Ziel es war, alle Monarchien zu stürzen, das Papsttum zu vernichten, den Völkern schrankenlose Freiheit zu predigen und eine Weltrepublik unter ihrer eigenen Herrschaft zu errichten. Im Laufe der Jahrhunderte vergiftete diese Geheimgesellschaft mehrere Monarchen, und im 18. Jahrhundert brachte sie den Orden der Freimaurer unter ihre Kontrolle. 1763 gründete sie eine geheime literarische Akademie, bestehend aus Voltaire, Turgot, Dide27
rot und d’Alembert, die regelmäßig im Hause des Barons d’Holbach tagte und mit ihren Schriften Moral und Religion der Franzosen zu untergraben suchte. Ab 1776 bauten Condorcet und der Abbé Sieyès eine riesige revolutionäre Organisation auf, die eine halbe Million Franzosen zu ihren Mitgliedern zählte – die späteren Jakobiner der Revolution. Aber das Herz der Verschwörung, die eigentlichen Führer der Revolution, waren die bayrischen Illuminaten unter Adam Weishaupt – «Feinde des Menschengeschlechts und Söhne Satans». Dieser kleinen Schar von Deutschen schuldeten alle Freimaurer und Jakobiner Frankreichs blinden Gehorsam, und wenn man ihnen nicht Einhalt gebot, dann – so schloß Barruel – würde diese Handvoll Verschwörer bald die Welt beherrschen. Mit der Behauptung, die Französische Revolution sei das Produkt einer bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Verschwörung gewesen, brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Was die obskuren deutschen Illuminaten betrifft, so waren sie keine Freimaurer, sondern deren Konkurrenten, und zudem war ihr Orden bereits 1786 aufgelöst worden. Und die Rolle der Freimaurer wurde von Barruel phantastisch aufgebauscht und simplifiziert. Soviel ist richtig, die Freimaurer teilten das für die Aufklärung charakteristische Streben nach humanitären Reformen; beispielsweise traten sie für die Abschaffung der Folter und der Hexenprozesse ein und wirkten für die Verbesserung der Schulen. Jedoch waren die meisten von ihnen zur Zeit der Revolution Katholiken und Monarchisten; König Ludwig XVI. und seine Brüder waren selbst Freimaurer, und während der Schreckensherrschafft wurden Hunderte von Freimaurern guillotiniert und ihre Organisation, der Grand Orient, verboten. In Wirklichkeit merkte Barruel während der Revolution überhaupt nichts von irgendwelchen freimaurerischen Einflüssen. Auf die Idee brachte ihn erst einige Jahre später in London ein schottischer Mathematiker namens John Robison. Dieser arbeitete an einem Buch mit dem Titel Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe, carried on in the secret meetings of Freemasons, Illuminati and Reading Societies. Barruel fühlte sich inspiriert, ein Buch über genau das gleiche Thema zu veröffentlichen – möglichst noch vor dem unvorsichtigen Robison. Und es gelang: sein Mémoire kam Robisons Werk um ein Jahr zuvor; es wurde ins Englische, Polnische, Italienische, Spanische und Russische übersetzt und machte seinen Autor zu einem reichen Mann. Als Barruel seine fünf Bände schrieb, legte er seiner Phantasie 28
noch gewisse Zügel an. Zwar eiferte er gegen die Freimaurer und gab ihnen die ganze Schuld an der Revolution, doch erwähnte er kaum die Juden – verständlich genug, da in der Revolution selbst und in der ihr vorangehenden philosophischen Umwälzung kein Jude eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Andere jedoch zeigten weniger Hemmungen. 1806 empfing Barruel ein Dokument, das, wie es scheint, den Anfang in der Reihe antisemitischer Fälschungen bildet, die mit den Protokollen ihren Höhepunkt erreichte. Es war ein Brief aus Florenz, vorgeblich geschrieben von einem Hauptmann Jean-Baptiste Simonini, über den sonst nichts bekannt ist und mit dem Barruel auch keine weitere Verbindung hatte.2 Der geheimnisvolle Briefschreiber beglückwünschte zunächst Barruel zu seinem Werk, in dem er «die schändlichen Sekten, welche dem Antichrist die Bahn bereiten», entlarvt habe. Eine habe er jedoch ausgelassen: «die jüdische Sekte, und gerade diese ist angesichts ihrer großen Reichtümer und des Schutzes, den sie in fast allen Staaten Europas genießt, heute die furchtbarste Macht». Über diese «Sekte» vertraute er Barruel seltsame Dinge an, deren Kenntnis er sich durch eine List verschafft zu haben behauptete. Er, Simonini, habe sich nämlich einigen piemontesischen Juden gegenüber als geborener Jude ausgegeben, der, obwohl in früher Kindheit von der jüdischen Gemeinde getrennt, nach wie vor seine «Nation» innig liebe. Daraufhin hätten ihm die Juden Summen von Gold und Silber gezeigt, «bestimmt für jene, die ihre Partei ergriffen»; sie hätten versprochen, ihn zum General zu machen, wenn er Freimaurer würde; hätten ihm drei mit Freimaurersymbolen gezierte Waffen geschenkt und ihm ihre größten Geheimnisse enthüllt. Diese Geheimnisse waren in der Tat erstaunlich. Simonini erfuhr zum Beispiel, daß Mani und der Alte vom Berge3 beide Juden gewesen 2
Der Simonini-Brief findet sich in Le Contemporain, Paris, Juli 1878, S. 8-61. Er ist in zahlreichen antisemitischen Werken nachgedruckt worden, beispielsweise bei N. Deschamps, Les sociétés secrètes et la Société, Avignon-Paris o. J., Bd. III, S. 658-661, und bei A. Netchvolodov, L’Empereur Nicolas II et les Juifs, Paris 1924, S. 231-234. Aus inneren Gründen muß er etwa im Jahre 1806 geschrieben worden sein. In einer privaten Mitteilung an den Verfasser hat Dr. Leon Poliakov überzeugend dargetan, daß der Brief zur Zeit des «Großen Sanhedrin» (siehe unten, S. 31/32) von der französischen politischen Polizei unter Fouché fabriziert wurde, um Napoleon gegen die Juden einzunehmen. 3
Der Perser Mani begründete im 3. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung die Religion des Manichäismus, die in mancherlei Gestalt tausend Jahre lang mit dem Christentum rivalisierte. – Der Alte vom Berge war das Oberhaupt der mohamme-
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waren und daß Juden den Freimaurer- und den Illuminatenorden gegründet hatten. (Nichts davon traf zu.) Noch überraschter war er zu hören, daß allein in Italien über 800 Geistliche Juden waren, darunter Bischöfe und Kardinale und, wie man hoffte, bald auch ein Papst. In Spanien war die Lage ähnlich, und auch in allen anderen Ländern gaben Juden sich als Christen aus. Bedrohlich waren auch ihre politischen und wirtschaftlichen Umtriebe. Schon hatten einige Länder den Juden volle Bürgerrechte gewährt, und die anderen, durch Kabalen zermürbt und durch Geld bestochen, würden es ihnen bald nachtun. War das erreicht, so würden die Juden alles Land und alle Häuser aufkaufen, bis die Christen jeglichen Besitzes ledig waren. Und dann würde der Plan vollends verwirklicht werden: «So versprechen sie sich, in weniger als hundert Jahren die Herren der Welt zu sein, alle anderen Sekten zu vernichten, um die Herrschaft der ihrigen zu errichten, die christlichen Kirchen in lauter Synagogen zu verwandeln und die übriggebliebenen Christen einer wahren Sklaverei zu unterwerfen.» Nur ein ernsthaftes Hindernis stand ihnen noch im Wege das Haus Bourbon; und diesen ihren größten Feind hofften die Juden binnen weniger Jahre zu vernichten. Barruel bemerkte einmal, wenn der Brief Simoninis veröffentlicht würde, könnte er ein Judenmassaker hervorrufen; und in diesem Falle hatte er recht. Denn in Keimform enthält der Brief tatsächlich den ganzen Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Aber der Brief weist auch deutlich auf die Verhältnisse hin, die zur Entstehung des Mythos führten. Es braucht nicht betont zu werden, daß die Beziehungen zwischen Judentum und Freimaurerei in Wirklichkeit ganz anders waren. Im 18. Jahrhundert waren die Freimaurer im großen und ganzen judenfeindlich (übrigens auch die bayrischen Illuminaten). Zur Zeit des Simonini-Briefs lehnten es noch viele Logen ab, Juden als Mitglieder aufzunehmen. Zu keiner Zeit haben Juden oder Personen jüdischer Abkunft in der Freimaurerei eine unverhältnismäßig große Rolle gespielt. Das sind die nüchternen Tatsachen. Aber Fakten wie diese haben Leute, die an eine jüdisch-freimaurerische Verschwörung glauben wollen, noch nie davon abgehalten, es zu tun. Hatte nicht Barruel gezeigt, daß die danischen Sekte der Assassinen, die vom 11. bis zum 13. Jahrhundert bestand und ihr Hauptquartier in der Bergfeste Alamut in Persien hatte. Ihre Feinde beseitigte die Sekte durch Meuchelmord. Die zum Mörderdienst Ausgewählten wurden durch Haschisch gefügig gemacht (aus hasch-schaschin wurde das französische Wort assassin = Mörder). Französische Kreuzfahrer besiegten die Assassinen in Syrien.
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Französische Revolution das Werk ränkeschmiedender Freimaurer war? Und hatten nicht die Juden von der Revolution profitiert? Mehr war nicht nötig, um zu beweisen, daß Freimaurer und Juden eng miteinander verbunden, ja praktisch identisch waren. Wahr ist, daß die Französische Revolution, wie die Amerikanische Revolution vor ihr, den Juden wirklich zum Vorteil gereichte. Da sie die «Menschenrechte» proklamierte und die Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vertrat, mußte sie logischerweise den französischen Juden die Bürgerrechte gewähren. Und nicht nur ihnen: so weit Napoleons Macht reichte, überall wurden die Juden emanzipiert. In Simoninis Brief kann man förmlich hören, wie die Mauern der italienischen Ghettos beim Einmarsch der französischen Armeen zusammenstürzten. Das genügte vollauf, um Reaktionäre zu überzeugen, daß Napoleon der Bundesgenosse der Juden, wenn nicht gar selbst ein Jude war. Die Anhänger des Ancien Régime brauchten eine Erklärung für den Zusammenbruch einer Gesellschaftsordnung, die sie als gottgewollt ansahen. Diese Erklärung lieferte ihnen der Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. Hinzu kam, daß Napoleon 1806 eine Versammlung prominenter Juden – hauptsächlich Rabbiner und Gelehrte – nach Paris einberief. Die Motive des Kaisers waren selbstverständlich rein politisch und administrativ; es ging ihm darum, dem Wucher, der – ein Erbe des Mittelalters – noch von elsässischen Juden praktiziert wurde, ein Ende zu machen, und er wollte sich vergewissern, daß ihm die jüdische Bevölkerung ebenso ergeben war wie die übrigen Franzosen. Aber er nannte die Versammlung, in Anlehnung an den Namen des obersten jüdischen Gerichtshofes im Altertum, den «Großen Sanhedrin», und das erweckte automatisch die Vorstellung, all die Jahrhunderte hindurch habe eine geheime jüdische Regierung existiert. In den Augen vieler seiner Feinde offenbarte sich Napoleon durch die Einberufung dieses «Sanhedrin» ein für allemal als der Antichrist, der in den letzten Tagen der Welt als Messias der Juden erscheinen soll. Das Blatt der französischen Emigranten in London, L’Ambigu 4, schrieb: «Gedenkt er aus diesen Kindern Jakobs die Legion der Tyrannenmörder zu bilden? ... Die Zeit wird es uns enthüllen. Uns bleibt nur, diesen Antichrist gegen die Gebote der Gottheit kämpfen zu sehen; das muß der letzte Akt seiner teuflischen Existenz sein.» In Moskau donnerte der Heilige Synod der orthodoxen 4
L’Ambigu, London, 20. Oktober 1806, S. 101-117: «Grand Sanhedrin des Juifs à Paris».
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Kirche: «Heute setzt er sich vor, die Juden, die der Zorn Gottes über das Angesicht der Erde zerstreut hat, wiederzuvereinigen, damit sie die Kirche Christi stürzen und in seiner Person einen falschen Messias proklamieren.»5 Der Simonini-Brief mit seinem prophetischen Ton und seiner Erwähnung des Antichrist paßte vollkommen in diese Atmosphäre. Barruel ließ ihn in einflußreichen Kreisen Frankreichs zirkulieren, mit dem ausdrücklichen Ziel, «die Wirkungen, die der Sanhedrin zeitigen könnte, zu bekämpfen.»6 Der Simonini-Brief wies, wie es scheint, dem Denken Barruels eine neue Richtung. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1820 teilte sich der neunundsiebzigjährige Barruel einem anderen Geistlichen mit, dem Pater Grivel – und zum Vorschein kam der Mythos der jüdischfreimaurerischen Verschwörung in einer Gestalt, die weit über die Andeutungen im Simonini-Brief hinausging.7 Barruel hatte ein umfangreiches Manuskript verfaßt, das er zwei Tage vor seinem Tod vernichtete. Darin beschrieb er die permanente revolutionäre Verschwörung von Mani über die mittelalterlichen Templer bis zu den Freimaurern. Die Juden hatten seiner Überzeugung nach mit den Templern gemeinsame Sache gemacht und seither in der Verschwörung stets führende Positionen bekleidet. Gegenwärtig wäre Europa mit einem Netz von Freimaurerlogen bedeckt, das bis in das kleinste Dorf Frankreichs, Spaniens, Italiens und Deutschlands reichte; und die ganze Organisation würde straff geleitet von einem obersten Rat mit einundzwanzig Mitgliedern, darunter nicht weniger als neun Juden. Dieser Rat hätte keine feste Residenz, sondern triebe stets da, wo sich die Staatsmänner der Großmächte zu Kongressen versammelten, im Hintergrund sein Unwesen; außerdem reisten die einzelnen Mitglieder des Rates viel umher, angeblich in Geschäften oder zu gelehrten Zwecken, in Wirklichkeit aber, um die Tätigkeit der Organisation zu lenken. Der oberste Rat sei jedoch nicht die höchste Autorität der Freimaurerei; er ernenne einen inneren Rat von drei Mitgliedern, die ihrerseits den Großmeister wählten. Dieser Großmeister sei das geheime Oberhaupt der geheimen Internationale. 5
Zitiert bei S. Doubnov, Histoire moderne du peuple juif, Paris 1933, Bd. l, S. 376. Vergleiche R. Anchel, Napoléon et les Juifs, Paris 1928, Kapitel VI, und P. Vulliaud, Joseph de Maistre, franc-maçon, Paris 1926, Kapitel IX. 6
«Souvenirs du P. Grivel sur les PP. Barruel et Feller», Le Contemporain, Juli 1878, S. 62.
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Ebda., S. 67-70.
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Barruel stattet diese Gestalt mit wahrhaft unheimlichen Zügen aus. Der Großmeister fälle alle Entscheidungen, und er fälle sie «ebenso despotisch, ebenso unwiderruflich wie der Alte vom Berge». Ungehorsam gegen seine Weisungen werde mit dem Tode bestraft; jeder Freimaurer sei eidlich verpflichtet, jedes Mitglied des Ordens, bis hinauf zu den Mitgliedern des inneren Rates, zu töten, wenn der Großmeister es befehle. Auf diese Weise ließen sich fast alle rätselhaft erscheinenden Morde erklären. Selbstverständlich habe die Freimaurerei nur ein wahres Ziel: Revolutionen zu schüren. Die entsprechenden verschlüsselten Befehle des Großmeisters beförderten Freimaurer, die einander als Boten ablösen, durch ganz Europa, und zwar gingen alle zu Fuß. «Und so», erklärte Barruel, «werden die Befehle von Ort zu Ort, von Hand zu Hand mit unvergleichlicher Geschwindigkeit weitergegeben, denn diese Fußgänger lassen sich weder durch schlechtes Wetter noch durch Unfälle, wie sie Reitern und Wagen begegnen, aufhalten; ein Mann zu Fuß kommt immer durch, wenn er die Gegend kennt, und das ist ja der Fall. Sie rasten weder um zu essen noch um zu schlafen, da keiner mehr als zwei Meilen zurücklegt. Die Post braucht von Paris bis Orleans zehn Stunden und hält eine Stunde; es sind dreißig Meilen. Fünfzehn oder zwanzig einander ablösende Fußgänger, die den Weg durch Seitenpfade verkürzen und sich vor allem nirgends aufhalten, können in neun Stunden von Paris dorthin gelangen.» Man sieht: Der oberste Rat besaß, obwohl er nur zum Teil aus Juden bestand, bereits jene übermenschlichen Fähigkeiten zur Organisierung riesiger und dabei unsichtbarer Manöver, die spätere Generationen den «Weisen von Zion» zuschreiben sollten.
3 Barruels Phantasien und der Simonini-Brief fanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig Widerhall. Es gab zwar antisemitische Propaganda, aber nur in bescheidenem Umfang und ohne viel Einfluß; und was im besonderen den Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung anlangt, so geriet er damals selbst bei den Antisemiten in Vergessenheit. Die Idee taucht denn auch nicht in der antisemitischen Propagandaliteratur wieder auf, sondern in Gestalt eines ziemlich geschmacklosen Scherzes in Disraelis Roman 33
Coningsby, der 1844 erschien. Im 15. Kapitel des III. Buches schildert der reiche, aristokratische Jude Sidonia, wie er, um eine Anleihe für die russische Regierung aufzunehmen, verschiedene Länder besuchte – Rußland, Spanien, Frankreich, Preußen – und in jeder Hauptstadt feststellte, daß der zuständige Minister ein Jude war. Er schließt seine Erzählung mit dem Satz: «Sie sehen also, mein lieber Coningsby, die Welt wird von ganz anderen Leuten regiert, als diejenigen glauben, die nicht hinter die Kulissen blicken.» Die Stelle ist unzählige Male von antisemitischen Autoren zitiert worden – stammte sie denn nicht von einem berühmten Juden, der später selbst Premierminister wurde? Nicht erwähnt und wohl nur selten bedacht wurde dabei, daß die von Disraeli genannten Minister – darunter Napoleons Marschall Soult und der preußische Graf Arnim – in Wirklichkeit keine Juden waren. Um 1850 benutzte die extreme Rechte den Mythos der jüdischfreimaurerischen Verschwörung erstmals wieder als Waffe gegen die wachsenden Kräfte des Nationalismus, Liberalismus, Säkularismus und der Demokratie, und zwar diesmal in Deutschland. Unter dem frischen Eindruck der Revolution von 1848 beschrieb der Publizist Emil Ed. Eckert, wie die Freimaurer nicht nur alle revolutionären Bewegungen organisierten, sondern auch Situationen herbeiführten, in denen revolutionäre Bewegungen gedeihen könnten – wie sie die Massen vorsätzlich in moralische Barbarei, in religiöse Zweifel und schließlich in wirtschaftliches Elend stürzten. Damit war Eckert unverkennbar ein Vorläufer der Protokolle; es fehlten bei ihm nur die Juden. Die Lücke schloß die Münchner katholische Zeitschrift Historisch-politische Blätter 1862 in einem Artikel mit der Unterschrift «Ein Berliner Freimaurer». Der unbekannte Verfasser, der offensichtlich kein Freimaurer war, beklagt sich zunächst über den wachsenden Einfluß der Juden im öffentlichen und politischen Leben Preußens. Dann schildert er eine (völlig imaginäre) Verbindung in Deutschland, die sich der Symbole und Riten der Freimaurer bedient, in Wirklichkeit jedoch geheime Ziele verfolgt, die mit der Freimaurerei nichts zu tun haben und die Sicherheit aller Staaten bedrohen. Diese Verbindung wird von «unbekannten Oberen» geleitet und besteht größtenteils aus Juden. Machenschaften wie die ihren sind durchaus nicht auf Deutschland beschränkt. In London befindet sich «der eigentliche Focus der Revolution unter dem Großmeister Palmerston»; aber hinter Palmerston stehen zwei rein jüdische Pseudofreimaurerlogen, deren Schwelle kein Nichtjude überschreiten 34
darf. Ein anderes jüdisches Zentrum ist Rom – der Kampf für die nationale Einheit Italiens ist in Wahrheit eine jüdische Verschwörung, und Mazzini und seine Gefährten sind Marionetten in den Händen «unbekannter Oberer». Und in Leipzig tagt jedesmal während der Messe streng geheim und in Permanenz eine rein jüdische Loge. Deutsche Freimaurer fühlen sich von unbekannten Kräften «gehoben und geschoben», aber ihr Eid verbietet ihnen, ihre Eindrücke untereinander auszutauschen und so dem gräßlichen Geheimnis auf die Spur zu kommen.8 Wenige Jahre später erschien gleichfalls in Deutschland ein Dokument, das als erste Vorform der Protokolle gelten kann. Sein Autor, ein gewisser Hermann Goedsche, war früher ein kleiner Beamter bei der preußischen Post gewesen. In der Reaktionsperiode nach der Revolution von 1848 war ihm ein Mißgriff unterlaufen: Um den unbequemen demokratischen Politiker Benedikt Waldeck zu belasten, hatte er den Behörden Briefe vorgelegt, aus denen hervorging, daß Waldeck den Sturz der Verfassung und die Ermordung des Königs plante; es stellte sich jedoch bald heraus, daß die Briefe gefälscht waren und daß Goedsche dies wußte. Er mußte den Postdienst verlassen und wurde Redakteur beim Organ der konservativen Großgrundbesitzer, der Neuen Preußischen Zeitung (bekannter unter dem Namen Kreuzzeitung). Außerdem begann er, unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe Sensationsromane zu schreiben. Einer dieser Romane, Biarritz, enthält ein Kapitel «Auf dem Judenkirchhof in Prag». Dieses Stück krasse Schauerromantik wurde zur Grundlage einer höchst wirkungsvollen antisemitischen Fälschung.9 Das Kapitel schildert eine geheime nächtliche Versammlung auf dem Friedhof zur Zeit des Laubhüttenfestes. Um elf Uhr knarrt leise die Eingangspforte «dann rauschte es an den Hecken und Steinen her wie lange schleppende Gewänder – eine weiße unbestimmte Gestalt glitt lautlos einem Schatten gleich in den Gängen hin». An einem Haufen Feldsteine, dem Grab des Rabbi Simeon ben Jehuda, kauert die Gestalt nieder, berührt die Steine dreimal mit der Stirn und murmelt ein Gebet. Hustend und ächzend humpelt eine zweite Gestalt heran, ein gekrümmter alter Mann; er läßt sich neben dem zuerst Gekommenen nieder und betet gleichfalls. Ein Dritter er8
Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, München, Bd. 50 (Jg. 1862, Bd. 2), S. 427-434. 9 John Retcliffe (Pseudonym von Hermann Goedsche), Biarritz. Erste Abtheilung: Gaëta-Warschau-Düppel, Bd. I, Berlin 1868, S. 141-193.
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scheint, ein großer, stattlicher Mann, in einen weißen Mantel gehüllt; auch er kniet vor dem Steinhaufen nieder, wie unwillig über den Zwang. Dieser Vorgang wiederholt sich dreizehnmal. Als die dreizehnte und letzte Gestalt ihren Platz eingenommen hat, schlägt es Mitternacht. Da ertönt ein scharfer, metallener Klang, und ein gespenstischer blauer Lichtschein flackert auf, der aus dem Steinhaufen zu dringen scheint. «Seid gegrüßt, ihr Rosche-Bathe-Aboth [Stammeshäupter] der zwölf Schebatim [Stämme] Israels», sagt einer aus dem Kreis mit tiefer Stimme; die anderen erwidern: «Sei gegrüßt, du Sohn des Verfluchten!» Wie man sieht, handelt es sich um die Vertreter der zwölf Stämme Israels einschließlich der verschollenen Stämme; der Dreizehnte im Kreis repräsentiert die «Verstoßenen und Wandernden». Unter dem Vorsitz des Vertreters des Stammes Levi (der auch als «Haus Aaron» bezeichnet wird) berichten die Teilnehmer über die Tätigkeit ihrer Stämme in dem seit der letzten Versammlung verflossenen Jahrhundert. Der Levit verkündet, daß Israel nach Jahrhunderten der Bedrückung und des Ringens wieder im Aufstieg begriffen ist. Das verdankt es dem Gold, und der Tag ist nicht mehr fern, da den Juden die ganze Erde gehören wird: «Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht unser.» Der Vertreter des Stammes Ruben berichtet, daß die Juden durch die Börse alle Fürsten und Regierungen Europas zu ihren Schuldnern und damit sich willfährig gemacht haben. Simeon entwickelt einen Plan, den Großgrundbesitz zu zerschlagen und in jüdische Hände zu bringen, so daß die Pächter und Landarbeiter für die Juden arbeiten müssen. Juda zeigt, wie selbständige Handwerker durch jüdische Machenschaften in den Stand von Fabrikarbeitern hinabgestoßen werden, die sich leicht lenken und für politische Zwecke einspannen lassen. Der Levit gibt Mittel an, die christliche Kirche zu untergraben: man muß Freigeisterei, Zweifel und Antiklerikalismus fördern. Isaschar empfiehlt, die Armeen – «die Stütze der Throne und die Schulen eines engherzigen Patriotismus» – in den Augen der Massen zu diskreditieren. Sebulon legt dar, daß das jüdische Volk, wiewohl von Natur aus äußerst konservativ, zum Schein die Partei des Fortschritts ergreifen muß: Unruhen und Revolutionen lassen sich so steuern, daß sie den Armen keinen wirklichen Nutzen bringen, sondern nur die Macht der Juden mehren. Dan, ein Vertreter «des niedern jüdischen Typus», verfolgt bescheidenere Ziele; ihm geht es darum, daß die Juden das Monopol auf den Handel mit Spiritus, 36
Öl, Wolle und Getreide erlangen. Naphtali fordert für die Juden Zugang zu allen Staatsämtern, besonders zu den einflußreichen Posten in der Justiz und im Unterrichtswesen. Die gleiche Forderung erhebt Benjamin in Hinsicht auf die Wissenschaften, die Künste und die freien Berufe. Asser erklärt Eheschließungen zwischen Juden und Christen für erstrebenswert und den jüdischen Zwecken dienlich; Ehebruch und Hurerei soll ein Jude jedoch nie mit Jüdinnen, sondern stets nur mit Christinnen treiben. Manasse schließlich ruft leidenschaftlich dazu auf, die gesamte Presse in jüdische Hände zu bringen – als Herren der Presse werden die Juden der Welt diktieren können, sie glauben machen, was sie hochhalten und was sie verdammen soll. Nachdem alle Versammelten gesprochen haben, hält der präsidierende Levit eine anfeuernde Schlußrede: Die hier gesprochenen Worte sind das Schwert, mit dem Israel seine Feinde schlagen wird. Werden diese Vorschriften getreulich befolgt, so werden künftige Geschlechter von Juden nicht mehr Unterdrückung erleiden, sondern Glück, Reichtum und Macht genießen. Wenn in hundert Jahren an diesem Grab die nächste Versammlung stattfindet, werden die Enkel der jetzt Anwesenden sagen können, daß sie die wirklichen Fürsten der Welt und alle anderen Völker ihre Knechte sind. Der Levit schließt mit den Worten: «Erneuert euern Schwur, ihr Söhne des goldenen Kalbes, und ziehet hin in alle Winde!» Unter singendem Gemurmel umschreiten die dreizehn das Grab, und jeder wirft einen neuen Stein darauf. Es ist, «als glänze auf der Spitze des Grabes eine goldene unförmliche Tiergestalt im geisterhaft blauen Schein» – dann verschwindet die Erscheinung, die Versammlung ist zu Ende. Keiner der Teilnehmer ahnt, daß zwei Männer, ein deutscher Gelehrter und ein getaufter Jude, heimlich alles beobachtet haben. Die beiden schwören einander, das teuflische jüdische Komplott mit allen Kräften zu bekämpfen. Der Roman Biarritz, der diese Szene enthält, erschien 1868. Das Datum ist bedeutsam. Auf die Teilemanzipation der Juden zur Zeit Napoleons war in Deutschland eine heftige antisemitische Reaktion gefolgt. Mit dem allmählichen Anwachsen des wenigstens teilweise liberalen Bürgertums wurde die Lage der Juden wieder besser, und schließlich erhielt diese kleine Minderheit der Bevölkerung – eins, zwei Prozent, um genau zu sein – ungefähr die gleichen bürgerlichen Rechte wie die übrigen 98,8 Prozent. In den Ländern des Norddeutschen Bundes erfolgte die Gleichstellung im Jahre 1869; 1871 37
wurde sie auf das ganze neue Deutsche Reich ausgedehnt. Dennoch blieb der Antisemitismus in einem Lande, das sich die Ideale des Liberalismus und der Demokratie nie mit wirklicher Überzeugung zu eigen gemacht hatte, ein mächtiger Faktor. Außerdem entstand in Deutschland, gerade weil die Deutschen ihre nationale Einheit so spät erreicht hatten, ein übersteigerter Nationalismus; auch dieser war dem Wachstum des Antisemitismus günstig. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß die erste zusammenfassende Version des modernen Mythos der jüdischen Weltverschwörung in Deutschland erschien, und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, da die Juden im Begriff waren, ihre volle Emanzipation zu erlangen. Das war aber nur der Anfang, denn bald verwandelte sich die Romanepisode in ein angebliches Dokument. Den ersten Schritt taten russische Antisemiten. Sie veröffentlichten das Kapitel 1872 in St. Petersburg als Flugschrift mit dem geheimnisvollen Kommentar, daß die Erzählung zwar ein Stück Literatur sei, jedoch auf wirklichen Vorgängen beruhe. Eine ähnliche Flugschrift erschien 1876 in Moskau mit dem Titel «Auf dem Judenfriedhof im tschechischen Prag (Die Juden Herren der Welt)»; sie erlebte 1880 eine zweite Auflage. Pamphlete gleichen Inhalts wurden in Odessa und Prag gedruckt. Im Juli 1881 machte die Zeitschrift Le Comtemporain die Geschichte in Frankreich bekannt. Sie wurde jetzt nicht mehr als Erzeugnis der schönen Literatur behandelt. Die Reden der jüdischen Stammesvertreter auf dem Prager Friedhof waren zu einer einzigen Rede zusammengezogen worden, die, so hieß es, ein Großrabbiner in einer geheimen Versammlung von Juden gehalten habe. Das Blatt verbürgte sich für die Echtheit der Rede und erklärte, der Text stamme aus einem demnächst erscheinenden Werk eines englischen Diplomaten, Annals of the Political and Historical Events of the Last Ten Years. Goedsche hatte, wie wir wissen, seinen Roman unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlicht. Sinnigerweise erhielt der englische Diplomat den gleichen Namen in der nachlässig abgewandelten Form Sir John Readclif. Diesem Herrn war eine höchst abenteuerliche Karriere beschieden. Als François Bournand die «Rede» in Les Juifs, nos contemporains (1896) veröffentlichte, machte er im Vorwort folgende erstaunliche Enthüllung: «Das Programm der Judenschaft, das wahre Programm der Juden, finden wir ausgedrückt bei... dem Großrabbiner John Readclif ... Es ist eine im Jahre 1880 gehaltene Rede.» Erfreulicherweise erholte sich Sir John bald wieder: 38
Zahlreiche spätere Ausgaben der «Rede» feierten in ergreifenden Worten den heldenhaften Antisemiten Sir John Readclif. Der gezollte Tribut war keineswegs unverdient, denn als die «Rede» 1933 erstmalig in Schweden erschien, war sie von einer traurigen Vorbemerkung begleitet: Sir John Readclif hatte die Enthüllung des großen jüdischen Komplotts mit seinem Leben bezahlt. Ein bitteres Ende für einen Mann, der ein deutscher Romancier und zugleich ein englischer Diplomat, ein heldenhafter Antisemit und zugleich ein Großrabbiner gewesen war. Das also ist der Ursprung des Textes, der als «Die Rede des Rabbiners» bekannt wurde.10 Trotz seiner schäbigen Herkunft machte er eine glänzende Karriere. 1887 nahm Theodor Fritsch die «Rede» in seinen «Katechismus» für antisemitische Agitatoren auf; im gleichen Jahr erschien sie in Frankreich in der berühmten antisemitischen Anthologie La Russie juive (2. Auflage 1891). 1893 wurde sie von einer österreichischen Zeitung, den Deutsch-sozialen Blättern, abgedruckt. 1896 figurierte sie, wie schon erwähnt, in Bournands Buch Les Juifs, nos contemporains. Eine Paraphrase der Rede in tschechischer Sprache erschien 1901 in Prag unter dem Titel «Rede eines Rabbiners über die Gojim». Die Broschüre wurde von den Behörden beschlagnahmt, aber der tschechische Abgeordnete Brzenovskí umging das Verbot, indem er im Wiener Reichstag den gesamten Text in Form einer Anfrage verlas; damit ermöglichte er es den beiden Blättern Michel wach auf und Wiener Deutsche Zeitung, das Pamphlet abzudrucken. In Rußland, wo die «Rede» in den siebziger Jahren ihren Weg zum Ruhm angetreten hatte, setzte sie ihren Triumphzug fort. 1891 erschien sie in russischer Übersetzung in der Odessaer Zeitung Noworossiski Telegraf. Es stand jetzt fest, daß sie 1869 von einem Rabbiner vor einem «geheimen Sanhedrin» gehalten worden war (gedacht ist vielleicht an den ersten Kongreß des Reformjudentums, der in jenem Jahr in Leipzig stattfand), und für ihre Echtheit bürgte wiederum der bekannte englische Aristokrat Sir John Readclif. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts half sie in Rußland Pogrome anstiften. Und hier läuft ihre Geschichte mit der der Protokolle zusammen. Der professionelle Antisemit P. A. Kruschewan bediente sich 1903 offenbar eines Flugblatts mit der «Rede des Rabbiners», um den Pogrom von Kischinew in Bessarabien zu provozieren. Ein paar Monate 10
Der Text der «Rede des Rabbiners» wird im Anhang des vorliegenden Buches gebracht.
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später veröffentlichte er, wie wir sehen werden, die Protokolle der Weisen von Zion in seiner Zeitung Snamja (Das Banner); und am 22. Januar 1904 publizierte er die «Rede» in der gleichen Zeitung. 1906 nahm Kruschewans Freund Butmi die «Rede» in seine Ausgabe der Protokolle auf, und im gleichen Jahr wurde sie in Charkow als Broschüre veröffentlicht. Die Deutsch-sozialen Blätter drückten ihre Freude darüber aus, daß diese mächtige Waffe aus dem ideologischen Arsenal des deutschen Antisemitismus dem russischen Volk behilflich war, sich von seinen «Todfeinden», den Juden, zu befreien. Wenig später erhielt der bisher namenlose Rabbiner, der die «Rede» gehalten haben sollte, einen Namen, oder vielmehr deren zwei: manchmal hieß er Rabbiner Eichhorn, manchmal Rabbiner Reichhorn. Unter diesem Namen erschien er auf dem Lemberger Zionistenkongreß von 1912 (der nie stattgefunden hat). Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Äußerungen des imaginären Rabbiners den neuen Bedingungen entsprechend bearbeitet und teilten die Triumphe der Protokolle; viele Ausgaben enthielten beide. Um diese Zeit waren natürlich mehrere Varianten der «Rede» im Umlauf. Daß sie im wesentlichen alle übereinstimmten, galt als Beweis ihrer Echtheit; die verschiedenen Fassungen wurden als zeitlich aufeinanderfolgende Manifestationen eines seit langem bestehenden jüdischen Komplotts bezeichnet. Die «Rede des Rabbiners» wurde ständig als Beweis für die Echtheit der Protokolle angeführt. Im Nachkriegsdeutschland erfuhr die «Rede» ebenso wie die Protokolle weiteste Verbreitung. Schon 1919 bildete sie den Inhalt zweier Broschüren. Die eine erschien in Lorch (Württemberg) unter dem Titel Was ist jüdischer Geist? In ihrem Vorwort heißt es: «John Retcliffs Warnungsruf an die ganze nichtjüdische Welt (der etwa 50 bis 60 Jahre alt sein dürfte) ist heute, wo Juda zum größten Teil das gesteckte Ziel erreicht hat, immer noch interessant genug, um dem deutschen Publikum aufs neue unterbreitet zu werden.» Die andere Broschüre erschien in Berlin und führte den melodramatischen Titel Das Geheimnis der jüdischen Weltherrschaft. Aus einem Werke des vorigen Jahrhunderts, das von den Juden aufgekauft wurde und aus dem Buchhandel verschwand. In den frühen zwanziger Jahren wurde die «Rede» auch in mehreren populären antisemitischen Büchern abgedruckt, und nach der Machtergreifung der Nazis brachte Johann von Leers, von dem wir noch hören werden, eine Neuausgabe heraus. Inzwischen galt es als ausgemacht, daß «der große Seher und Warner» Hermann Goedsche, alias Sir John Retcliffe, die 40
Versammlung auf dem Prager Judenfriedhof selbst belauscht hatte – hingeführt von dem jüdischen Sozialisten Ferdinand Lassalle! Goedsches Phantasieprodukt war keineswegs der einzige deutsche Beitrag zum Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Als der Antisemitismus in den achtziger Jahren eine beachtenswerte politische Bewegung wurde, trat Deutschland als Hauptproduzent antisemitischer Propaganda aller Art hervor. Französische und russische Antisemiten machten große Anleihen bei deutschen Schriftstellern und Journalisten. Umgekehrt gab es in ganz Europa keine antisemitische Idee oder Fabel oder Parole, die nicht sofort nach ihrem Erscheinen von einem deutschen Autor aufgegriffen worden wäre. In der ungeheuren Masse deutscher antisemitischer Schriften war der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung und der jüdischen Geheimregierung eines der wichtigsten Themen. Wenn man zum Beispiel Theodor Fritschs Antisemiten-Catechismus11 durchsieht, findet man einen ganzen Abschnitt über «jüdische Geheimgesellschaften». Hier waren alle einschlägigen Phantasien aus Deutschland, Frankreich und Rußland zusammengetragen und für das deutsche Publikum zurechtgemacht. Und das Buch wurde sehr populär. Zuerst 1887 erschienen, später erweitert und zum Handbuch der Judenfrage befördert, hatte es 1933 eine Gesamtauflage von 100.000 erreicht. In den folgenden Jahren wurden noch weit mehr Exemplare verkauft, denn im Dritten Reich gehörte das Handbuch – neben den Protokollen – zum obligatorischen Lehrmaterial für den Schulunterricht.
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Thomas Frey (Pseudonym von Theodor Fritsch), Antisemiten-Catechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage, 1887.
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2 Gegen Satan und die Alliance Israélite Universelle
1 Im Mittelalter galten die Juden als Beauftragte Satans, Teufelsanbeter und Dämonen in Menschengestalt. Der modernen antisemitischen Bewegung gelang es, diesen archaischen Aberglauben im späten 19. Jahrhundert neu zu beleben. Wie wir gesehen haben, ließ Goedsche die Zusammenkunft auf dem Prager Friedhof mit einer übernatürlichen Erscheinung schließen: in Gestalt eines goldenen Kalbes bietet sich Satan den versammelten Juden zur Anbetung dar. Ein Jahr nach Goedsches Phantasieprodukt erschien in Frankreich jenes Buch, das zur Bibel des modernen Antisemitismus werden sollte: Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples chrétiens von Gougenot des Mousseaux. In diesem Buch nun spielt Satan eine Hauptrolle; denn nach der Überzeugung des Autors ist die Welt im Begriff, unter die Herrschaft einer geheimnisvollen Gesellschaft von Teufelsanbetern zu geraten, die er «kabbalistische Juden» nennt. Kabbala ist der Sammelbegriff für die Lehren der jüdischen Mystik und Theosophie, die hauptsächlich im späten Mittelalter entstanden. Sie sind in Werken wie dem Buch Sohar dargelegt und keineswegs geheim. Zur Zeit der Renaissance machten Humanisten wie Pico di Mirandola und Johannes Reuchlin die christliche Welt mit der Kabbala bekannt, und geistreiche Männer, darunter Papst Leo X., waren von ihr gefesselt. Des Mousseaux jedoch sah in der Kabbala etwas ganz anderes: eine geheime Dämonenreligion, einen systematischen Kult des Bösen, zu Anbeginn der Welt vom Teufel gestiftet. Seiner Darstellung nach waren die ersten Adepten dieses Kults die Söhne Kains; ihnen folgten nach der Sintflut die Söhne Hams, die identisch mit den Chaldäern waren; und diese gaben das Geheimnis an die Juden weiter. Später praktizierten den Kult auch 42
die Gnostiker, die Manichäer und die Assassinen; die letzteren vermittelten die teuflische Lehre den Templern, von denen sie schließlich an die Freimaurer überging. Aber die Großmeister des Kults kamen stets aus den Reihen der Juden, der «irdischen Vertreter des Geistes der Finsternis». Im Zentrum des Kults steht die Anbetung Satans. Die Hauptsymbole sind Schlange und Phallus, und zum Ritual gehören erotische Orgien wildester Art. Die Juden im besonderen können durch Ermordung von Christenkindern magische Kräfte erwerben; auch das ist ein Teil der «Kabbala». Das Erstaunlichste ist, daß diese verschrobenen Phantastereien geglaubt wurden. Tatsächlich haben sich viele gläubige Leser der Protokolle mitten im 20. Jahrhundert die jüdische Geheimregierung als eine Ratsversammlung orientalischer Zauberer vorgestellt. Man braucht nur die 1963 in Madrid erschienene kommentierte Ausgabe der Protokolle aufzuschlagen; dort wird man zahlreiche Seiten über die «Kabbala» finden. Noch in anderer Hinsicht bildet des Mousseaux das Bindeglied zwischen den Protokollen und archaischen, halbvergessenen Glaubensvorstellungen. Eine der überraschendsten Stellen der Protokolle ist die Voraussage, daß die jüdische Weltherrschaft durch einen jüdischen König ausgeübt werden wird, den alle Völker als ihren Retter anerkennen werden. Diese Gestalt stammt direkt aus dem letzten Kapitel des Buches von Gougenot des Mousseaux. Der fleißige Autor hat schon fast fünfhundert Seiten gefüllt, da überläßt er sich prophetischer Raserei und sagt voraus, daß mitten in einem großen europäischen Krieg aus den Reihen der Juden ein Mann hervorgehen wird, «ein Genie des politischen Betrugs, ein finsterer Hexenmeister, um den sich fanatisierte Massen drängen werden». Die Juden werden diesen Mann als den Messias feiern, aber er wird mehr als das sein. Nachdem er die Macht des Christentums gebrochen hat, wird er die Menschheit zu einer großen Bruderschaft vereinen und sie mit materiellen Gütern überschütten. Wegen dieser Leistungen werden ihn auch die nichtjüdischen Völker anerkennen, werden ihn lobpreisen und wie einen Gott verehren – aber der scheinbare Wohltäter ist in Wirklichkeit ein Werkzeug, dessen sich Satan bedient, um die Menschheit zu verderben.1 Gougenot des Mousseaux hat mehrfach erklärt, zum Schreiben dieser Passage habe ihn die Prophezeiung vom Antichrist inspiriert. Gougenot des Mousseaux, Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peubles chrétiens, Paris 1869, S. 485-498. 1
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Wie es im zweiten Kapitel des zweiten Briefs an die Thessalonicher heißt, wird unmittelbar vor der Wiederkunft Christi und dem Jüngsten Gericht der Antichrist erscheinen, «der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens». Er wird verlangen, daß man ihn als Gott anbete, und durch Wunder, die er mit Hilfe des Teufels vollbringt, wird er alle täuschen, die bereit sind, sich täuschen zu lassen. Er wird seine Herrschaft über die ganze Welt errichten, bis der wiederkehrende Christus ihn «umbringen wird mit dem Geist seines Mundes». Soweit das Neue Testament. Im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus, als Rivalitäten und Konflikte zwischen Kirche und Synagoge immer schärfer wurden, begannen christliche Theologen diese Prophezeiung neu zu interpretieren. Sie erklärten, der Antichrist werde ein Jude sein und die Juden mehr als alle anderen Völker lieben; die Juden ihrerseits würden die treuesten Anhänger des Antichrist sein und ihn als Messias anerkennen. Über das, was danach käme, waren die Theologen geteilter Meinung. Einige glaubten, die Juden würden auf wunderbare Weise zum Christentum bekehrt werden; andere nahmen an, sie würden dem Antichrist bis zum Ende folgen und mit ihm zusammen bei der Wiederkehr Christi zu ewiger Höllenqual verdammt werden. Wir haben an anderer Stelle zu zeigen versucht, daß der NaziGlaube an eine jüdische Weltverschwörung eine Wiederbelebung und Säkularisierung gewisser apokalyptischer Glaubensvorstellungen darstellt, die einst zur christlichen Weltanschauung gehörten.2 In diesem Falle kann man genau verfolgen, auf welchem Wege ein apokalyptischer Glaube – der Glaube an das Kommen des Antichrist – in die Protokolle einging, die dann ihrerseits Bestandteil der kanonischen Schriften der Nazis wurden. Der Zusammenhang zwischen den Protokollen und der Prophezeiung vom Antichrist ist damit noch nicht erschöpft. In späteren Kapiteln werden wir sehen, daß die erste wichtige Ausgabe der Protokolle in einem russischen Buch über die bevorstehende Ankunft des Antichrist erschien; und wir werden feststellen, daß etwas von dieser apokalyptischen Atmosphäre im Denken und Schreiben Hitlers und Rosenbergs zu spüren ist, sobald sie auf die Protokolle und die jüdische Weltverschwörung kommen. Aber Gougenot des Mousseaux frischte nicht nur archaische Phantasien auf, er modernisierte sie auch. Seine langen Kapitel über 2
N. Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich, Bern-München 1961, S. 62/63, 271/272.
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«Das Gold» und «Die Presse» gehören gänzlich der Welt des modernen, politischen Antisemitismus an; einige Stellen der Protokolle könnten direkt diesen Kapiteln entnommen sein. Vor allem der Weltstaat, den der Antichrist errichten wird, ist erstaunlich modern. Alle Völker bilden eine Einheit, jeder ist nur der Menschheit verpflichtet, materielle Güter sind in Fülle vorhanden und werden von allen mit gutem Gewissen genossen. Wenn man diese Beschreibung liest, fragt man sich, warum die jüdisch-freimaurerischen Verschwörer als Ausbeuter und nicht vielmehr als Wohltäter der Menschheit gelten sollen. Man muß sich klarmachen, daß zwar heute fast alle politischen Parteien in den fortgeschrittenen Ländern die Ideale der internationalen Zusammenarbeit und des materiellen Wohlergehens mehr oder weniger bejahen, daß aber die extreme Rechte, solange es eine extreme Rechte gab, diese Gedanken zutiefst verabscheute. Hitler und Gougenot des Mousseaux wären sich darin einig gewesen, daß eine solche Weltordnung ganz unerträglich sei. Das Buch Le Juif, le judaïsme et la judaïsation des peubles chrétiens wurde in einer Zeit geschrieben, in der zwischen den Freimaurern und der katholischen Kirche erbitterte Feindschaft herrschte. Gewiß war die Französische Revolution nicht das Werk einer Verschwörung von Freimaurern, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts identifizierten sich die französischen und italienischen Freimaurer mehr und mehr mit den Prinzipien dieser Revolution. Als entschiedene Republikaner und Antiklerikale fühlten sich die französischen Freimaurer nicht beleidigt, sondern geschmeichelt, wenn Reaktionäre sie für den Sturz des Ancien Régime verantwortlich machten. In Italien beteiligten sich die Freimaurerlogen sehr aktiv am Kampf für die nationale Einheit und daher auch an den Angriffen auf die weltliche Macht des Papstes. Für viele Katholiken war aber das Ende des Kirchenstaates gleichbedeutend mit dem Ende der Kirche, und diesen Menschen erschienen die Freimaurer buchstäblich als Sendboten Satans. Kurz vor dem Vatikanischen Konzil von 1870 wurden die Freimaurer zum erstenmal als Teufelsanbeter bezichtigt: 1867 schrieb Monsignore Ségur in seinem Buch Les Francs-Maçons, in den «inneren Logen» würden schwarze Messen zelebriert. Dieser Welt des reaktionären, ultramontanen Katholizismus gehörte auch Gougenot des Mousseaux an, und mit seinem Gerede von der «Kabbala» wollte er nicht nur die Juden treffen, sondern mindestens ebensosehr die Freimaurer und die progressiven Kräfte überhaupt in Verruf bringen. Sein Buch, mit einem enthusiastischen Vorwort des 45
Direktors des Seminars für Auslandsmission in Paris versehen, wandte sich ausdrücklich an die Konzilsväter – und nicht völlig vergebens, denn Papst Pius IX. segnete des Mousseaux in Anerkennung seines Mutes. In Frankreich fand Gougenot des Mousseaux einen würdigen Nachfolger: den Abbé Chabauty, Pfarrer von Saint-André in Mirabeau (Poitiers), Ehrenkanonikus von Poitiers und Angoulême. Dieser Geistliche veröffentlichte im Jahre 1881 ein 600 Seiten starkes Buch mit dem Titel Les Francs-Maçons et les Juifs. Sixième Âge de l’Eglise d’après l’Apocalypse. Darin legte er dar, daß der Satan durch die jüdisch-freimaurerische Verschwörung dem jüdischen Antichrist und der Weltherrschaft der Juden den Weg bereite. In seinem einflußreichsten Buch, Les Juifs nos maîtres (1882), wiederholte er nicht nur die Argumente seiner Vorgänger, sondern fügte eine wichtige eigene Entdeckung hinzu. Die Revue des études juives hatte 1880 zwei Briefe veröffentlicht, die ihm von unheilvoller Bedeutung zu sein schienen und die später in der Geschichte des Antisemitismus tatsächlich unheilvolle Bedeutung gewinnen sollten. Sie sind bekannt als «Brief der Juden von Arles» (in einer anderen Fassung: «von Spanien») und «Antwort der Juden von Konstantinopel» und lauten wie folgt:
Brief der Juden von Arles an die Juden von Konstantinopel Geehrte Juden, Gruß und alles Gute zuvor. Wisset, daß der König von Frankreich, der wieder Herr der Provence ist, uns durch öffentliche Kundmachung anbefohlen hat, entweder Christen zu werden oder sein Gebiet zu verlassen. Und die von Arles, Aix und Marseille wollen unser Hab und Gut wegnehmen; sie bedrohen unser Leben, verwüsten unsere Synagogen und bereiten uns viel Kummer; das macht uns ungewiß, was wir tun sollen, um dem Gesetz Mose zu genügen. Deshalb bitten wir Euch, uns in Eurer Weisheit wissen zu lassen, was wir tun sollen. Chamor Rabbiner der Juden von Arles Den 13. Sabbath 1489
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Antwort der Juden von Konstantinopel an die Juden von Arles und der Provence Geliebte Brüder in Mose, wir haben Euren Brief empfangen, in dem Ihr uns mitteilt, welche Ängste und Widrigkeiten Ihr erduldet. Wir sind von ebenso großem Schmerz durchdrungen wie Ihr selbst. Der Rat der großen Satrapen und Rabbiner ist der folgende: Ihr sagt, daß der König von Frankreich Euch nötigt, Christen zu werden: Tut es, da Ihr nicht anders könnt, aber bewahrt das Gesetz Mose in Eurem Herzen. Ihr sagt, daß man Euch zwingt, auf Eure Güter zu verzichten: Macht Eure Kinder zu Händlern, damit sie nach und nach die Christen der ihrigen berauben. Ihr sagt, daß man Euch nach dem Leben trachtet: Macht Eure Kinder zu Ärzten und Apothekern, damit sie den Christen das Leben nehmen. Ihr sagt, daß sie Eure Synagogen zerstören: Macht Eure Kinder zu Domherren und Geistlichen, damit sie ihre Kirchen zerstören. Ihr sagt, daß man Euch viel anderes Leid zufügt: Sorgt dafür, daß Eure Kinder Advokaten und Notare werden und sich immer in die Staatsgeschäfte mischen, damit Ihr, die Christen unter Euer Joch beugend, die Weltherrschaft erlangt und Euch an ihnen rächen könnt. Weicht nicht von dieser Weisung ab, die wir Euch geben, denn Ihr werdet selbst erfahren, daß Ihr aus Eurer jetzigen Erniedrigung auf den Gipfel der Macht gelangen werdet. V.S.S.V.F.F. Fürst der Juden zu Konstantinopel Den 21. Casleu 14893
Literarhistorisch sind diese «Briefe», die wohl aus dem 16. Jahrhundert stammen, nicht ohne Interesse. Wahrscheinlich wurden sie in Spanien geschrieben, und zwar als Satire auf die Marranen – jene spanischen Juden, die zum Katholizismus übergetreten waren, aber verdächtigt wurden (oft mit Recht), daß sie im Herzen Juden geblieben waren. Auf jeden Fall waren die Briefe scherzhaft gemeint; das geht zum Beispiel daraus hervor, daß «Chamor» nichts anderes als 3
Die «Briefe» sind abgedruckt bei E. A. Chabauty, Les Juifs nos maîtres, Paris-BrüsselGenf 1882, Kap. I.
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das hebräische Wort für «Esel» ist! Für Chabauty jedoch gab es keinen Zweifel an ihrer Echtheit – war denn nicht, so fragte er, die Revue des études juives, die sie veröffentlicht hatte, eine Gründung des Barons Rothschild? Diese «Briefe» brachten den unternehmenden Pfarrer auf eine Idee, auf die keiner seiner Vorgänger gekommen war. Er kam zu der Überzeugung, daß in der ganzen Zeit der Diaspora eine einheitliche jüdische Geheimregierung bestanden habe, die einen unabänderlichen Weltherrschaftsplan verfolge und der alle Juden absoluten Gehorsam schuldeten. Er war auch davon überzeugt, daß «Bismarck, Wilhelm und die anderen Minister und Souveräne Europas und Amerikas nur die gelehrigen und oft blinden Werkzeuge» der verborgenen jüdischen Regierung seien. Mit solchen Thesen bereitete er nicht nur den Protokollen den Weg, sondern erhob auch den «Brief der Juden von Konstantinopel» in den Rang eines Dokuments von historischer Bedeutung. Als ein halbes Jahrhundert später die Protokolle weltberühmt wurden, erlebte der «Brief» zahlreiche Neudrucke. Oft wurde er als zusätzliches Beweisstück mit den Protokollen zusammen abgedruckt. Und kein Herausgeber merkte, daß die so geheimnisvoll aussehende Unterschrift V.S.S.V.F.F. nichts weiter bedeutet als Ussuff, das heißt Joseph! Chabauty fand seine ersten Nachahmer in Italien. In der Mitte der achtziger Jahre nahm Papst Leo XIII. den Kampf gegen die italienischen Freimaurer wieder auf. Er selbst erniedrigte sich zwar nicht so weit, diesen Kampf mit antisemitischer Propaganda zu verbinden, aber er gestattete es anderen. Besonders die Jesuiten von der Zeitschriflt La Civiltà cattolica hielten es für völlig legitim, die Freimaurerei dadurch in Mißkredit zu bringen, daß man sie als Teil der jüdischen Weltverschwörung hinstellte. Zwei dieser Geistlichen, die Patres R. Ballerini und F. S. Rondina, führten eine Kampagne, die sich bis in die neunziger Jahre hinzog. Nach ihnen waren alle schlimmen Vorkommnisse der modernen Welt, von der Französischen Revolution bis zu den jüngsten italienischen Bankrotten, einfach Früchte der zweitausendjährigen jüdischen Verschwörung. Der Civiltà cattolica zufolge herrschten in Italien Gewalt, Unmoral und allgemeines Chaos – alles dank den Juden. Die Zeitschrift beschrieb das Judentum in den gleichen Ausdrücken wie später Hitler: als einen Riesenpolypen, der die Welt in seinen Fangarmen hielt. Sie druckte sogar Ritualmordgeschichten, wie sie später Der Stürmer mit Vorliebe brachte. Kein Wunder, daß katholische Provinzblätter, 48
mit einem so illustren Beispiel vor Augen, die Widerrufung der Judenemanzipation und die Konfiskation des gesamten jüdischen Eigentums forderten. Die Kampagne erreichte es nicht, die tolerante Gesinnung der meisten italienischen Katholiken zu erschüttern – schließlich konnte man nicht so leicht vergessen, daß es in ganz Italien nur 30.000 Juden gab –, aber wie sich zeigen sollte, blieb sie doch nicht wirkungslos. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der französische Prälat Monsignore Jouin von zwei Päpsten nacheinander für seinen lebenslangen Kampf gegen das Gespenst der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung ausgezeichnet; als er die zweite Ehrung empfing, war er bereits als Herausgeber der Protokolle hervorgetreten. Die Civiltà cattolica hat zweifellos dazu beigetragen, die Atmosphäre zu schaffen, in der solche Gesten möglich wurden.4 In Frankreich war die satanische Weltverschwörung der Freimaurer oder der Juden oder beider zusammen in den neunziger Jahren gleichfalls Thema einer Flut von Propagandaschriften5. Diese Literatur fand ihre Leser vor allem in den Kreisen der Landpfarrer, die fast durchweg Bauernoder Handwerkersöhne, wenig gebildet und unendlich leichtgläubig waren. Was ihnen zugemutet werden konnte, spottet der Beschreibung. 1893 redete ihnen der große Schwindler Leo Taxil ohne viel Mühe Dinge wie diese ein: Der Oberste der amerikanischen Freimaurer habe ein von Teufeln konstruiertes und bedientes Telefonsystem, durch das er in ständiger Verbindung mit den sieben wichtigsten Hauptstädten der Welt stehe, und: Unter dem Felsen von Gibraltar seien Scharen von Teufeln am Werk, Epidemien auszubrüten, um die katholische Welt zu vernichten. Taxil beschränkte seine Angriffe allerdings auf die Freimaurer, aber andere brachten auch die Juden ins Spiel. Der Erzbischof von Port-Louis auf Mauritius, L. Meurin, schrieb in seinem ebenfalls 1893 erschienenen Buch La Franc-Maçonnerie, synagogue de Satan: «Alles in der Freimaurerei ist von Grund aus jüdisch, ausschließlich jüdisch, leidenschaftlich jüdisch, von Anfang bis Ende.»6 4
Zur Kampagne der Civiltà cattolica siehe R. De Felice, Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Turin 1961, S. 37 ff. 5
Vergleiche R. F. Byrnes, Antisemitism in Modern France, New Brunswick 1950, besonders S. 256-313. 6
L. Meurin, La Franc-Maçonnerie, synagogue de Satan, Paris 1893, S. 260.
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Dieses außerordentliche Werk scheint eine der unmittelbaren Quellen der Protokolle gewesen zu sein, die, wie wir sehen werden, gerade um diese Zeit fabriziert wurden. Wie so viele gläubige Leser der Protokolle nach ihm, war der Erzbischof überzeugt, in der ganzen menschlichen Geschichte finde man die Spuren einer jüdischen Verschwörung, die jetzt ihr Ziel beinahe erreicht habe. Er wußte auch, mit welchen Mitteln dieser Plan ausgeführt wurde: «Eines Tages wird die Geschichte davon berichten, daß alle Revolutionen der letzten Jahrhunderte ihren Ursprung in der Maurersekte unter der Oberleitung der Juden gehabt haben.»7 Und nicht nur das – entgegen allem Anschein sind es die Regierungen selbst, die die Revolutionen schüren, denn auch sie werden von Juden beherrscht: «Die Tatsache, daß alle Revolutionen von den Hinterlogen ihren Ausgang nehmen, wäre unerklärlich, wenn wir nicht wüßten, daß die Ministerien aller Länder ... in den Händen der Freimaurer sind, die im letzten Grunde von den Juden geleitet werden.»8 Über diese geheimnisvollen «Hinterlogen» hat der Erzbischof noch mehr zu berichten: Sie bestehen aus Freimaurern und Juden «des 33. Grades» – wie denn auch nachher die Protokolle mit den Worten enden: «Unterzeichnet von Zionischen Repräsentanten des 33. Grades». Es ist ganz klar, woher diese Idee stammt. Es gibt tatsächlich ein Freimaurersystem mit dreiunddreißig Graden: den «Alten und Angenommenen Schottischen Ritus», der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten gestiftet wurde und sich über viele Länder verbreitete. Dieser Zweig der Freimaurerei ist nicht an Politik oder Wirtschaft interessiert, sondern befaßt sich vornehmlich mit philosophischer Symbolik und philanthropischen Unternehmungen; er denkt nicht daran, etwa das gesamte Freimaurertum zu kontrollieren. Aber diese Tatsachen kümmerten den würdigen Erzbischof nicht und ebensowenig den Verfasser der Protokolle: Für sie standen die Freimaurer des 33. Grades im innersten Kern der Verschwörung, die das Ziel verfolgte, einen Judenkönig zum Herrscher der Welt zu machen. Der Erzbischof ging noch weiter: Diese Freimaurer des 33. Grades seien Sendboten des Teufels im buchstäblichsten Sinne des Wortes. In ihren «Hinterlogen» versammelt, beten sie Satan in Gestalt einer Schlange oder eines Phallus 7
Ebda., S. 196.
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Ebda., S. 202.
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an, und zuweilen ehrt Satan sie sogar durch einen Besuch in eigener Person. Am Ende dieses bizarren Buches finden wir uns wieder in der vertrauten apokalyptischen Atmosphäre. Der Kampf gegen die imaginäre jüdisch-freimaurerische Verschwörung wird gleichgesetzt mit der Schlacht zwischen himmlischen und satanischen Heerscharen, wie sie in der Offenbarung des Johannes prophezeit ist. «Während wir diese Zeilen niederschreiben, zieht heulend und brausend ein Orkan über unsere kleine Insel ... Bild unseres Jahrhunderts! Die Wissenschaft erklärt uns den Ursprung und die Natur des Orkans. Dieses Buch erklärt unser so aufgewühltes Jahrhundert... Das Heidentum, das Judentum, die Laster und die Leidenschaften sind aufgestanden, um gemeinsam, unter der Oberleitung Luzifers, anzustürmen gegen das himmlische Jerusalem, hoffend, daß ihre vereinten Bataillone endlich den Sieg erringen, den sie durch getrennte Angriffe bisher nicht gewinnen konnten. Es ist ihre äußerste Anstrengung, ehe sie sich geschlagen geben und die Waffen strecken ...»9 Der Erzbischof ruft die Herrscher Europas auf, mit vereinten Kräften gegen die jüdische Verschwörung vorzugehen, bevor diese ihnen den Garaus macht. Er erklärt es zwar für hinreichend, die Juden aus dem Bankwesen, dem Handel, dem Journalismus, dem Unterricht und der Medizin zu entfernen, doch seine Schlußworte enthalten eine stärkere Drohung: «Hofft nicht, o Juden, ihr könntet dem euch drohenden Unheil noch einmal entgehen! ... Dem Tag, der euch zerschmettert, wird eine kraftvolle Entfaltung der Kirche, eures Opfers, folgen, wie sie die Geschichte noch nie gesehen hat... Wir wollen nicht die Sklaven der Juden sein, und wir werden es nicht sein ... Wir werden unsere politischen Meinungsverschiedenheiten vergessen, um einig und fest zu sein gegen die Frechheit und den Übermut der Feinde Gottes und seines Christus. Der Sieg ist uns sicher. Die Zukunft gehört uns. Luzifer und seine Abgesandten werden ihre Freimaurerflagge streichen müssen: Satan und die bösen Geister, welche die Welt durchstreifen, um die Seelen zu verderben, werden zurückgeworfen werden in die Hölle, der sie kühn entstiegen sind, um die Stadt Gottes anzugreifen.»10 9
Ebda., S. 462.
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Ebda., S. 466-468.
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Wenn man sich überlegt, daß Frankreich als erstes Land (1791) seine Juden emanzipiert hatte und daß die Zahl der französischen Juden 1890 noch nicht einmal 80.000 betrug, so kann man über die Intensität dieses Hasses nur staunen. Und praktisch hatte das antisemitische Fieber, das Frankreich in den achtziger und neunziger Jahren heimsuchte, auch nichts mit persönlichen Kontakten zwischen Nichtjuden und Juden zu tun. Die Legende der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung fand am meisten Glauben in den Provinzen wie der Normandie, der Bretagne, Maine, Anjou und Poitou, wo es sehr wenige Juden gab; in Montdidier, dem Verlagsort der Zeitung L’Anti-Sémitique, lebte kein einziger Jude. Was der Jude für dieses Publikum symbolisierte, war die geheimnisvolle, drohende Macht von Paris, wo die meisten Juden lebten. Hier sehen wir wieder, daß das Aufleben des Antisemitismus vor allem den Protest der traditionellen, ländlichen Gesellschaft gegen die Kräfte der Modernität ausdrückte. Hinzu kam das Beispiel Deutschlands. Das Auftreten des militanten Antisemitismus in Deutschland fiel zusammen mit einem gewaltigen Erstarken des Reiches; und manche Franzosen meinten, Frankreichs Heil liege darin, es seinem mächtigen Nachbarn gleichzutun. In diesem Sinne tat sich besonders der begabte Demagoge Edouard Drumont hervor. In seinem sehr einflußreichen Buch La France juive (1886) popularisierte er die Ideen des wenig bekannten Gougenot des Mousseaux, indem er große Partien aus dessen Werk einfach übernahm – übrigens ohne Quellenangabe. Er druckte auch Chabautys Fund, den «Brief der Juden von Konstantinopel», wieder ab. Alles in allem tat er mehr als irgend jemand anders dafür, daß der Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung zu einer politischen Kraft in Frankreich wurde. Wie wir sehen werden, lebte der Verfasser der Protokolle der Weisen von Zion in Frankreich und schrieb in französischer Sprache. Ohne jeden Zweifel stand er in der Tradition des französischen politischen Antisemitismus, wie er sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, und schöpfte besonders aus den Schriften von des Mousseaux, Chabauty, Meurin und Drumont.
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2 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Antisemitismus in Rußland ein sehr viel ernsteres Problem als in den Ländern West- und Mitteleuropas. Das hatte mehrere Gründe. Rußland war in vieler Hinsicht noch ein mittelalterliches Land; die Juden waren dort noch jenem religiös motivierten Haß ausgesetzt, mit dem das mittelalterliche Europa sie verfolgt hatte. Rußland war ferner die letzte absolute Monarchie Europas und als solche das stärkste Bollwerk gegen die liberalen, demokratischen Tendenzen, die von der Französischen Revolution ausgingen. Und schließlich war Rußland das Land mit der absolut und relativ größten jüdischen Bevölkerung: Rund fünf Millionen Juden, ungefähr ein Drittel aller Juden der Welt, lebten im «jüdischen Ansiedlungsrayon», einem Gürtel von Provinzen, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zog und einen großen Teil des heutigen Polen umfaßte. Sie machten etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung des russischen Reiches aus. Viel höher war natürlich ihr Anteil an der Einwohnerschaft der ihnen zwangsweise zugewiesenen Wohngebiete. Diese russischen Juden waren nicht etwa erst seit kurzem im Lande. Die meisten waren Abkömmlinge von Juden, die im späteren Mittelalter aus Deutschland und Frankreich vertrieben worden waren und sich in Polen niedergelassen hatten; auf der Krim siedelten Juden seit der Römerzeit. Verglichen mit den Juden Westeuropas, bildeten die russischen Juden jedoch eine sehr geschlossene, isolierte, unassimilierte Minderheit. Sie lebten getrennt von den Russen, kleideten sich anders und sprachen und schrieben lieber Jiddisch als Russisch. Viele von ihnen waren fromme Anhänger der jüdischen Religion in ihrer strengsten Form. In der Mehrheit waren sie bettelarm, doch gab es unter ihnen immerhin genügend Händler und Geldverleiher, um das Ressentiment ihrer russischen Konkurrenten in den Städten und manchmal auch den Haß der unterdrückten russischen Bauern auf die ganze Judenschaft zu lenken. Hinsichtlich der Berufsausübung, des Wohnsitzes und der Bildung waren die russischen Juden harten Beschränkungen unterworfen. Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurden sie von der Regierung gequält und verfolgt, jedoch nicht als Mitglieder einer fremden Rasse, sondern als Anhänger einer verhaßten Religion. Ein Jude, der zur orthodoxen Kirche übertrat, war sofort der Diskriminierung ledig, 53
die auf seinen Glaubensgenossen lastete. Glaubenswechsel aus bloßer Konvenienz war deshalb für ehrgeizige junge Leute eine große Versuchung, und es ist erstaunlich, wie wenige ihr erlagen. Die Verfolgung der Juden verschärfte sich, nachdem der verhältnismäßig liberale Zar Alexander II. 1881 einem Attentat zum Opfer gefallen war und sein Sohn, der brutale, ultrareaktionäre Alexander III., den Thron bestiegen hatte. Alexander III. und Nikolaus II., der letzte Zar, waren beide fanatische Antisemiten; in ihrer Regierungszeit wurde mit offizieller Billigung alles Erdenkliche getan, um Rußland judenfrei zu machen. Die Verfolgung geschah teils in Form administrativer Maßnahmen – so wurden die Juden aus ländlichen Gebieten ausgewiesen, erhielten aber in den Städten keine Arbeitsmöglichkeiten –, teils in Form offiziell geförderter Pogrome. Diese Methoden waren so erfolgreich, daß zeitweise jährlich 100.000 russische Juden auswanderten, größtenteils in die Vereinigten Staaten von Amerika.11 Vorangegangen war eine mehrjährige antisemitische Propaganda. Die These der jüdischen Weltverschwörung tauchte erstmalig um 1868 auf, ebenso wie in Frankreich und Deutschland, und erreichte ihre volle Wirksamkeit in den achtziger Jahren. Um 1868 hatten die Juden Mitteleuropas – in den deutschen Ländern und in Österreich-Ungarn – die vollen Bürgerrechte erlangt. Ein Ziel der antisemitischen Propaganda in Rußland war es zweifellos, der Forderung nach ähnlichen Reformen im Zarenreich entgegenzuwirken. Aber die Propaganda erwies sich noch in anderer Hinsicht als nützlich. Damals begann sich eine aktive politische Opposition gegen die russische Autokratie zu regen, zunächst vor allem in Gestalt unterirdischer Terroristengruppen. Die Behörden wollten um jeden Preis die Tatsache verschleiern, daß es echte Russen – und noch dazu gebildete! – gab, die die Autokratie so sehr haßten, daß sie ihren Repräsentanten nach dem Leben trachteten. Deshalb behaupteten sie, jegliche Opposition gegen das Regime und besonders jeglicher Terrorismus sei das Werk der jüdischen Weltverschwörung. In Wirklichkeit spielten Juden in der terroristischen Bewegung der sechziger und siebziger Jahre gar keine große Rolle. Vielmehr war es hauptsächlich die verschärfte Verfolgung seit Beginn der 11
Eine gute zeitgenössische Darstellung der Lage der Juden unter Alexander III. aus der Feder eines nichtjüdischen Russen findet sich bei Stepniak (Pseudonym von S. M. Kravcinskij), King Stork and King Log, a study of modern Russia, London 1896, Bd. I, S. 142-194.
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achtziger Jahre, die eine kleine Minderheit von Juden bewog, sich der revolutionären Bewegung anzuschließen, und zwar vor allem der sozialdemokratischen Partei, die sich später in die rivalisierenden Fraktionen der Menschewiki und der Bolschewiki spaltete. Und auch diese kleine Minderheit bestand natürlich nicht aus Juden im religiösen Sinne, sondern aus Menschen jüdischer Abstammung, die mit dem Judaismus und der traditionellen jüdischen Gemeinde gebrochen hatten. Um solche Unterschiede kümmerte sich die Polizei jedoch nicht. Für sie war – so unglaublich das klingen mag – die ganze revolutionäre Bewegung von Anfang an ein Werkzeug in den Händen von Anhängern der jüdischen Religion. So stellten es die antisemitischen Propaganisten dar, und viele von ihnen glaubten es schließlich selbst. In Rußland wurde also, im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland, die Propaganda über die jüdische Weltverschwörung offiziell gefördert; sie gehörte zu den regulären Aufgaben der politischen Polizei. Ausländische Beiträge wie die «Rede des Rabbiners» wurden eifrig aufgegriffen; aber auch in Rußland selbst waren erfinderische Geister an der Arbeit. Als erster in der Reihe ist Jakob Brafman zu nennen, ein Jude, der zur orthodoxen Kirche übertrat und Polizeispitzel wurde. 1866 unterbreitete dieser Mann mehreren hohen Beamten seltsame Dokumente über «den Kahal», wie er es nannte. Das hebräische Wort kahal bedeutet einfach «GemeindeOrganisation». Im mittelalterlichen Europa, wo die Juden normalerweise ein gewisses Maß an Selbstverwaltung besaßen, war jede jüdische Ansiedlung automatisch ein Kahal. Ähnlich stand es in Rußland, bis 1844 die Kahals und mit ihnen alle Spuren jüdischer Autonomie abgeschafft wurden. Aber nach Brafmann war «der Kahal» etwas ganz anderes und viel Gefährlicheres. Brafmann entwickelte seine Thesen in einem Werk mit dem Titel Das Buch vom Kahal (1869). Als Grundlage dienten ihm ganz gewöhnliche Protokolle des amtlich anerkannten Kahal von Minsk aus den Jahren 1789-1828 und ähnliche Schriftstücke aus anderen Städten. Aber dieses Material versah Brafmann mit einem Kommentar, der die Sache so darstellte, als unterstütze der Kahal in jeder Stadt die jüdischen Händler bei dem Bestreben, ihre christlichen Konkurrenten zu ruinieren und sich schließlich allen Besitz der Christen anzueignen. Das Buch vom Kahal wurde auf Staatskosten gedruckt und als Leitfaden für den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung an die Beamten verteilt. Seine Wirkung war stark, 55
besonders auf die politische Polizei, und es wurde öfter nachgedruckt. Das Wort «Kahal» ging in das internationale Vokabular der antisemitischen Propaganda ein und nahm eine unheimliche Färbung an; es galt als «ein Name, den nur wenige Nichtjuden überhaupt hören dürfen».12 Noch giftiger war ein anderes Buch Brafmanns, das erstmalig 1868 erschien und 1888 zusammen mit dem Buch vom Kahal in einem Band neu aufgelegt wurde: Die lokalen und universellen jüdischen Bruderschaften. Dieses Werk kann als das russische Gegenstück zu den Phantasieprodukten von Goedsche und des Mousseaux gelten. Es «enthüllt» die Existenz verschiedener internationaler jüdischer Organisationen, als wäre sie ein Geheimnis gewesen. Behandelt werden folgende Organisationen: eine Gesellschaft zur Veranstaltung von Neudrucken jüdischer religiöser Texte, die Alliance Israélite Universelle, die Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands, die Gesellschaft für die Förderung der Kolonisation in Palästina und die Vereinigung zur Unterstützung jüdischer Flüchtlinge in London. Das waren lauter wohlbekannte philanthropische Organisationen, die nichts Geheimes an sich hatten; gleichwohl stellte Brafmann sie als Zweige einer geheimen, weltumspannenden Verschwörung hin. Die Hauptrolle wies er dabei der Alliance Israélite Universelle zu, die, 1860 in Paris gegründet, bald Haßobjekt aller Antisemiten geworden war. Die Alliance war eine rein französische Institution und keineswegs international. Sie half jedoch den verfolgten Juden Rußlands und Rumäniens durch Schaffung von Bildungseinrichtungen und durch Unterstützung von Flüchtlingen, und das genügte Brafmann als Grundlage für seine Behauptung: «Das Netz der jüdischen Weltallianz ist über den ganzen Erdball ausgebreitet.» Das Buch über die jüdischen Bruderschaften fand ebenso wie das Buch vom Kahal große Beachtung bei der antisemitischen russischen Bürokratie. Es bewirkte, daß der Alliance Israélite Universelle die Betätigung in Rußland verboten und der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands die Arbeit sehr erschwert wurde. Ein Jahrzehnt später, als in Frankreich der Abbé Chabauty seine Phantasien um den «Brief der Juden von Konstantinopel» wob, war in Rußland ein ehemaliger katholischer Priester polnischer Abkunft, 12
Einer der amerikanischen Herausgeber der Protokolle, der sich «Earnest Sincere» (Ernst Aufrichtig) nennt, kennt sogar die Mitgliederzahl des «Kahal»: genau l.921.601!
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Hippolytus Lutostanski, mit ähnlichen Unternehmungen beschäftigt. Er hatte wegen verschiedener Delikte, die von Unterschlagung bis zu Notzucht reichten, den geistlichen Stand verlassen müssen, war zur orthodoxen Kirche übergetreten und hatte eine kirchliche Akademie besucht. Das erste Resultat seiner Studien war ein Buch über den Gebrauch von Christenblut im jüdischen religiösen Ritual (1876). Einige Jahre später machte er führenden Vertretern der russischen Judenschaft einen interessanten Vorschlag: Er erklärte sich bereit, für eine bestimmte Summe eine Widerlegung dieses Buches zu veröffentlichen und in den wichtigsten Städten Vorträge in diesem Sinne zu halten; für den Fall, daß er das Geld nicht erhielte, drohte er weitere antisemitische Publikationen an. Nachdem dieser Erpressungsversuch fehlgeschlagen war, setzte Lutostanski seine Karriere als antisemitischer Propagandist bis zur Revolution von 1905 fort; dann änderte er seinen Kurs abermals, da er fürchtete, ein liberaleres Regime könnte ihn wegen seiner Fälschungen belangen. In einem offenen Brief mit der Unterschrift «Ein reuiger Sünder» versicherte er den Juden, daß er in Wirklichkeit niemals ihr Feind gewesen sei. Das hinderte natürlich die «Schwarzhunderter» nicht daran, beim Ritualmordprozeß gegen Beilis seine Schriften als Beweismaterial anzuführen.13 Lutostanskis wichtigstes Buch war das dreibändige Werk Der Talmud und die Juden (1879-80). Da er kein Wort Hebräisch kannte, beschränkte er seine Forschertätigkeit darauf, alle Schiefheiten und Lügen zusammenzutragen, die je über den Talmud geäußert worden waren. Das schreckenerregende Bild, das er von den Prinzipien des Judaismus entwarf, ermunterte zweifellos die russische politische Polizei in ihrer neuen Aufgabe, Pogrome anzustiften. Das Buch enthält aber auch ein Kapitel über «die jüdischen Freimaurer», basierend auf den Ideen von Gougenot des Mousseaux; und das war für Rußland etwas Neues. Wie jeder Leser von Krieg und Frieden weiß, hatte die Freimaurerei einst unter den aufgeklärten russischen Adligen viele Anhänger gehabt; schon im 18. Jahrhundert hatten russische Freimaurer viel dazu beigetragen, Hungersnöte zu lindern und Bildung zu verbreiten. Aber das war lange her. 1822 war die 13
Im Jahre 1913 wurde Mendel Beilis, ein jüdischer Angestellter in Kiew, des Ritualmordes an einem christlichen Jungen angeklagt. Der Prozeß erregte großes Aufsehen und heftige Empörung weit über die Grenzen Rußlands hinaus. Trotz angestrengtester Bemühungen der Anklage wurde Beilis freigesprochen. Siehe M. Samuel, Blood Accusation, the strange history of the Beilis’ case, New York 1966.
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Freimaurerei in Rußland verboten worden, und seither war sie schwach geblieben. Lutostanski kann für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, den Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung in ein Land gebracht zu haben, in dem es nur sehr wenige Freimaurer gab. Scharfsinnig kombinierte er diesen Mythos mit Brafmanns Angriffen auf die Alliance Israélite Universelle: die Freimaurerei sei eine jüdische Geheimgesellschaft, die von der Alliance Israélite Universelle gelenkt werde. Die philanthropischen Ziele der Alliance seien Tarnung: «Dieses edle Ziel dient den Juden bloß als Deckmantel für ihre großangelegten politischen Machenschaften. In diesem Gewand verfügt die Gesellschaft über die Dienste von Journalisten, Geheimagenten und Politikern, die Tag und Nacht am Werk sind, die christlichen Staaten zu unterminieren, indem sie ihr Fundament, die Moral, zerstören und den religiösen Glauben schwächen, so daß alle Einwohner leicht in Freidenker, Atheisten, Nihilisten und Anarchisten verwandelt werden können.» Und: «Welche Regierung kann sich auf eine so große Zahl von Agenten stützen, die alle Regierungen der Welt repräsentieren?» Die Alliance sei in Wirklichkeit, «nur das offizielle öffentliche Organ des wirklichen Zentrums des jüdischen Staates, eines Zentrums, das in tiefste Dunkelheit gehüllt ist». Wie Brafmann widmet Lutostanski seine besondere Aufmerksamkeit der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands; er fordert die russische Regierung auf, sie zu verbieten. Zur Rechtfertigung seiner Thesen druckt er ein Dokument ab: die «Rede des Rabbiners»! Die seltsamste all dieser Gestalten war aber sicherlich ein internationaler Hochstapler jüdischer Abstammung, der Millinger hieß und sich vorzugsweise Osman-Bey oder Kibridli-Zade nannte. Dieser Mann, der 1879 aus Venedig und in den folgenden Jahren aus einer ganzen Reihe anderer Länder ausgewiesen wurde, betrieb den Antisemitismus als Beruf. Nach einer Verhaftung in Mailand widerrief er feierlich alle seine antisemitischen Erfindungen, doch hinderte ihn das nicht, später neue antisemitische Pamphlete zu schreiben und mit ihnen in Athen, Konstantinopel und Alexandria hausieren zu gehen. Ständig unterwegs, häufig wegen Betrügereien aller Art eingesperrt, setzte er seine pittoreske, unrühmliche Laufbahn fort, bis er um 1898 starb. Osman-Bey stammte wahrscheinlich aus Serbien, er schrieb in deutscher Sprache und veröffentlichte seine Schriften vornehmlich in der Schweiz; aber sein Glück suchte er in Rußland zu machen, 58
durch die russische antisemitische Bewegung. Er schrieb Ritualmordgeschichten im gewohnten Stil – aber er schrieb auch ein Buch Die Eroberung der Welt durch die Juden. Wie Brafmann und Lutostanski sah er die Quelle allen Übels in der Alliance Israélite Universelle. Mit einem kühnen Bild beschrieb er sie als eine unsichtbare und ungreifbare Macht, die ein nicht wahrnehmbares Netz aus Gold und Stahl über den Erdball wirft, während sie selbst im Dunkeln schleicht, in der einen Hand einen Dolch, in der anderen Dynamit. Wie er es darstellte, war die Alliance keine Schöpfung der Philanthropie des 19. Jahrhunderts, sondern so alt wie das jüdische Volk. Sie hatte durch William Pitt und seine jüdischen Agitatoren die Französische Revolution herbeigeführt und beherrschte jetzt Frankreich durch die Juden (sic) Thiers und Renan. Augenblicklich mobilisierte sie die ganze Judenschaft gegen das Heilige Rußland. Die russischen Terroristen waren ihre Kreaturen, und die Ermordung Alexanders II. war ihr Meisterstück – hatte sie doch den Mörder aus Rußland hinausgeschmuggelt und ihn (ausgerechnet) nach Berlin zu – Karl Marx gebracht! Der nächste Schritt der «Nihilisten und Juden» würde es sein, sich in Massen zu erheben, Barrikaden zu errichten und eine Verfassung zu proklamieren. Glücklicherweise war der Mann da, den die geschichtliche Stunde erheischte: Osman-Bey. «Da galt es nicht mehr zu zögern», schreibt er, «sondern Rußland zu retten, indem wir das Steuerruder ergriffen.» Versehen mit 400 Rubeln aus dem Fonds der politischen Polizei, reiste er am 3. September 1881 aus St. Petersburg nach Paris ab. «Rußland soll sich dieses Datum als denkwürdig merken, denn mit diesem Tage beginnt meine Mission, welche durch die Entdeckung der allgemeinen Verschwörung und die Herstellung der Ruhe gekrönt werden sollte.» In Paris suchte er den Sitz der Alliance auf und bemerkte sofort «einen starken nihilistischen Geruch». Sein Ziel war jedoch konkreter: er wollte Dokumente erbeuten, die die Rolle der Alliance in der Weltverschwörung enthüllten. Und wie nicht anders zu erwarten, machte er eine Entdeckung, «welche Rußland gerettet hat und dazu dienen wird, dem übrigen Theile der Menschheit die Augen zu öffnen».14 Osman-Bey schildert nun, wie er einen jungen Juden durch Bestechung dazu brachte, aus den Büros der Alliance Briefe heraus14
Osman-Bey, Enthüllungen über die Ermordung Alexanders II., Bern 1886, S. 116-129. Über Osman-Bey siehe W. Laqueur, Deutschland und Rußland, Berlin 1965, S. 110 f.
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zuschmuggeln, die von jüdischen Komitees aus Nachbarländern Rußlands stammten. Den jungen Juden bekam er allerdings selbst nicht zu Gesicht; die Angelegenheit wurde von ungenannten französischen Freunden für ihn geregelt. Als er die Briefe in den Händen hatte, saß er die ganze Nacht wach und kopierte sie; dann bezeichnete er auf einer Karte die Orte, aus denen sie kamen. Das Ergebnis verblüffte und erschreckte ihn: Die Komitees zogen sich an der ganzen russischen Grenze entlang. Ohne Zweifel repräsentierten sie eine jüdische Streitmacht, die, unter dem Kommando der Rabbiner von Königsberg und Liegnitz, gegen Rußland aufmarschiert war, und die russischen Terroristen waren ihre Vorhut. (In Wirklichkeit hatten die jüdischen Komitees lediglich die Aufgabe, die jüdischen Flüchtlinge zu unterstützen, die zu Tausenden hungrig und mittellos russisches Gebiet verließen; aber Osman-Bey sah die Dinge anders.) In einem Stil, der dem des Abbé Barruel nicht nachsteht, beschreibt er, wie Agenten ständig zwischen diesen Komitees und den Terroristen in Rußland hin und her eilen. Während die russische Polizei die Hauptstraßen überwacht, reisen sie querfeldein oder zu Wasser, so daß niemals einer gefaßt wird. «In den Ministerien des Innern, des Äußern und des Krieges riß man sich um meine Berichte und die Karte, und es herrschte allgemeines Entsetzen.» Diese Behauptung Osman-Beys muß man nicht allzu wörtlich nehmen. Einmal rühmte er sich auch, im russisch-türkischen Krieg ganz allein die Stadt Kars erobert zu haben. Er war eine Art Paranoiker und glaubte, nur infolge der Ränke unfähiger Politiker sei er nicht als Retter Rußlands anerkannt, nicht zum Minister und Diktator gemacht worden. Dennoch verdient er, daß seiner gedacht wird, denn er war ein finsterer Prophet und Vorläufer. In seinem Buch Die Eroberung der Welt durch die Juden (das 1875, also ehe sich Goedsches Romankapitel in die «Rede des Rabbiners» verwandelte, schon die 7. Auflage erreicht hatte) und in den Enthüllungen über die Ermordung Alexanders II. (1886) entwickelte OsmanBey schon das ganze wahnwitzige Gedankensystem, das fünfzig oder sechzig Jahre später zum größten Massenmord der Geschichte führen sollte. In einer Welt ohne Juden, so sagt er, werden Kriege seltener sein, weil niemand eine Nation gegen eine andere aufhetzen wird; Klassenhaß und Revolutionen werden verschwinden, weil es nur noch «nationale» Kapitalisten geben werde, die niemanden ausbeuten; die Sozialisten und ihresgleichen werden einsehen, wie töricht ihr Unterfangen sei. «Das goldene Zeitalter würde uns allen bevorstehen; es wäre das 60
Ideal des Fortschritts selbst.» Vorher ist freilich eine große Säuberung vonnöten; es gelte, «die Juden zu vertreiben unter dem begeisternden Schrei: ‹Es lebe der Grundsatz der Nationalitäten und der Rassen! Hinaus mit den Eindringlingen .. .›» Und fragt man, wohin die Juden gehen sollen, antwortet er manchmal: «Nach Afrika» – gerade wie Hitler später von Madagaskar sprach. Manchmal jedoch ist er offener: «Die allgemeine israelitische Allianz kann nur durch die vollständige Ausrottung der jüdischen Rasse zerstört werden.»15
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Enthüllungen über die Ermordung Alexanders II., S. 189-192.
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3 Die «Protokolle» und der «Dialogue aux Enfers»
1 Jene, die den Mythos von der jüdischen Weltverschwörung im 19. Jahrhundert propagierten, bildeten, wie wir gesehen haben, eine bunte Gesellschaft. Am Anfang der Reihe, um die Jahrhundertwende, standen Barruel und der «Simonini-Brief»; viel später, im letzten Drittel des Jahrhunderts, erschienen dann der Deutsche Goedsche und die «Rede des Rabbiners», die Franzosen Gougenot des Mousseaux, Meurin, Chabauty und Drumont, der Russe Brafmann, der Pole Lutostanski und der Serbe Osman-Bey. Sie alle waren Wegbereiter der berühmten Fälschung, die noch gelesen werden sollte, als ihre eigenen Schriften längst in Vergessenheit geraten waren. «Um das Jahr 1840», schreibt Osman-Bey, «wurde eine israelitische Ratsversammlung nach Krakow einberufen. Dieses war eine Art von ökumenischem Concil, worin die hervorragendsten Größen des auserwählten Volkes zu Rat saßen. Der Zweck ihrer Berufung bestand darin, die geeignetsten Mittel ausfindig zu machen, um dem Judentum in seiner Ausdehnung vom Nordpol bis zum Südpol den Triumph zu sichern ... da erhob sich auf einmal eine helle Stimme und gebot unwillkürlich Stillschweigen. Es war die Stimme einer anerkannten Autorität, eines Mannes von überwiegendem Geist, dessen Name uns leider unbekannt ist... Diese Worte brachten eine ergreifende Wirkung im Schoße der Versammlung hervor; man sah ein, daß ein Orakel gesprochen hatte, daß ein neues Licht sich auf die Geister herabgesenkt hatte, um ihren Bemühungen eine feste Richtung zu erteilen.»1 1
Osman-Bey, Die Eroberung der Welt durch die Juden, Wiesbaden 1875, S. 48.
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Diese Erdichtung lieferte den Rahmen für die Protokolle der Weisen von Zion. Die Protokolle sind nämlich angebliche Aufzeichnungen von oder für Reden, in denen ein Mitglied der jüdischen Geheimregierung – eben der «Weisen von Zion» – einen Plan zur Eroberung der Weltherrschaft darlegt. Die gängige Fassung des Werks besteht aus vierundzwanzig Protokollen oder Reden oder Kapiteln im Gesamtumfang von etwa hundert Seiten. Der Inhalt ist nicht leicht wiederzugeben, denn der Stil ist schwülstig und weitschweifig, die Gedankenführung gewunden und unlogisch. Immerhin erkennt man bei genauerem Hinsehen drei Hauptthemen: Kritik am Liberalismus, Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft, Beschreibung des zu errichtenden Weltstaates. Es geht alles sehr durcheinander, doch im großen und ganzen überwiegen in den ersten neun Protokollen die beiden ersten Themen, während die restlichen fünfzehn Protokolle hauptsächlich der Prophetie des künftigen Königreichs gewidmet sind. Bringt man den Stoff in eine gewisse Ordnung, dann sieht der Gedankengang etwa folgendermaßen aus: Die «Weisen» gehen bei ihren Berechnungen von einer ganz bestimmten politischen Konzeption aus. Die politische Freiheit ist für sie eine bloße Idee – eine Idee, die zwar sehr anziehend für die Massen ist, aber nie in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Der Liberalismus, der sich dieses unerreichbare Ziel gesteckt hat, führt nur zum Chaos; denn die Völker sind unfähig, sich selbst zu regieren; sie wissen nicht, was sie wollen; sie lassen sich leicht vom Schein täuschen und können keine vernunftgemäße Wahl zwischen einander widersprechenden Meinungen treffen. Als der Adel herrschte, war es richtig, daß er alle Freiheit hatte, denn er gebrauchte sie zum allgemeinen Besten; es lag zum Beispiel im eigenen Interesse der Adligen, für die Arbeiter zu sorgen, von deren Arbeit sie lebten. Aber die Adelsherrschaft gehört der Vergangenheit an, und die liberale Ordnung, die auf sie gefolgt ist, kann nicht dauern, sondern muß unweigerlich zum Despotismus führen. Nur ein Despot kann die Ordnung in der Gesellschaft aufrechterhalten. Da es zudem mehr böse als gute Menschen in der Welt gibt, ist Gewalt das einzige brauchbare Regierungsinstrument. Macht ist Recht; und die Grundlage der Macht ist in der modernen Welt der Besitz von und die Verfügung über Kapital. Heute regiert Gold die Welt. Seit vielen Jahrhunderten wird planmäßig daran gearbeitet, alle politische Macht in die Hände derer zu legen, die allein befähigt 63
sind, sie richtig zu gebrauchen – in die Hände der Weisen von Zion. Viel ist schon erreicht, aber der Plan ist noch nicht verwirklicht. Bevor die Weisen ihre Herrschaft über die ganze Welt errichten können, müssen die bestehenden christlichen Staaten – die schon weitgehend unterminiert sind – endgültig zerstört werden. Die Weisen haben sehr genaue Vorstellungen darüber, wie das zu erreichen ist. Vor allem gilt es, in allen Staaten auf jede erdenkliche Weise Unruhe und Unzufriedenheit zu schüren. Glücklicherweise gibt der Liberalismus die Mittel dazu selbst an die Hand. Die Weisen werden die Verbreitung liberaler Ideen und das parlamentarische Geschwätz nach Kräften fördern und so dazu beitragen, in den Köpfen der Volksmassen völlige Konfusion zu erzeugen. Diese Verwirrung wird vermehrt durch die Vielzahl politischer Parteien; deshalb werden die Weisen insgeheim alle Parteien unterstützen. Ferner werden sie sich bemühen, das Volk seinen Herrschern zu entfremden. Insbesondere werden sie die Arbeiter in ständiger Unruhe halten, indem sie deren Beschwerden für berechtigt erklären, heimlich aber daran arbeiten, die Lebenshaltungskosten zu steigern. Der Respekt vor der Obrigkeit ist in jedem Staat zu untergraben. Der Adel muß durch hohe Grundsteuern entmachtet werden; da die Aristokraten nicht geneigt sein werden, ihre kostspielige Lebensweise aufzugeben, werden sie gezwungen sein, sich in schwere Schulden zu stürzen. Die Einführung von Präsidialregimes wird den Weisen die Möglichkeit geben, ihre Marionetten zu Präsidenten zu machen – möglichst Leute mit einem dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit, weil sie dann leichter zu lenken sind. Freimaurerlogen und Geheimgesellschaften müssen unterwandert und in Werkzeuge der Weisen verwandelt werden; Freimaurer, die Widerstand leisten, sind heimlich hinzurichten. Die Industrie muß zu gigantischen Monopolen zusammengefaßt werden, damit alle nichtjüdischen Vermögen auf einen Schlag zerstört werden können, wenn die Weisen den Augenblick für gekommen halten. Auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen gilt es Verwirrung zu stiften. Die Differenzen zwischen den Völkern müssen hervorgekehrt werden, bis eine internationale Verständigung nicht mehr möglich ist. Die Aufrüstung ist ständig zu steigern, und häufig muß es zu Kriegen kommen. Diese Kriege dürfen jedoch keiner Seite einen Gewinn bringen, sondern sollen nur das wirtschaftliche Chaos verschlimmern. Unterdessen wird die Moral der Nichtjuden immer weiter untergraben werden. Man muß ihnen zureden, Atheisten zu 64
werden, und sie zu Schwelgereien, Ausschweifungen und Lastern aller Art anstacheln. Zu diesem Zweck schicken die Weisen bereits ihre Leute als Hauslehrer und Gouvernanten in christliche Familien. Trunksucht und Prostitution sind nach Kräften zu fördern. Die Weisen sind sich darüber im klaren, daß die Nichtjuden ihrem Komplott noch Widerstand entgegensetzen können, aber sie trauen sich die Fähigkeit zu, alle Hindernisse zu überwinden. Sie können sich des einfachen Volkes bedienen, um die Herrscher zu stürzen: Indem sie die Massen dem Hunger preisgeben, können sie sie dahin bringen, sich eines Tages gleichzeitig in allen Ländern (unter der Oberleitung der Weisen) zu erheben und alles Privateigentum zu vernichten – ausgenommen natürlich das der Juden. Sie können Regierung gegen Regierung ausspielen; nach jahrelangem Intrigenspiel und sorgfältig genährter Feindschaft ist es ihnen ein leichtes, einen Krieg gegen jedes Land zu entfesseln, das sich ihrem Willen widersetzt. Und wenn sich doch wider Erwarten ganz Europa gegen die Weisen vereinigen sollte, würden amerikanische, chinesische oder japanische Geschütze in ihrem Namen antworten. Nicht zu vergessen die Untergrundbahnen: sie ermöglichen es den Weisen – und das ist ihr einziger Zweck – ernsthaftem Widerstand zu begegnen, indem sie notfalls von den unterirdischen Stollen aus ganze Hauptstädte in die Luft sprengen. Was dann noch an Gegnern übrigbleibt, kann man durch schreckliche Seuchen unschädlich machen. Sogar die Möglichkeit, daß die Juden selbst widersetzlich werden, ist vorgesehen: sollte dieser Fall eintreten, wird man antisemitische Ausschreitungen provozieren. Wenn die Weisen die gegenwärtige Szene überblicken, können sie zuversichtlich sein. Schon dürfen sie sich rühmen, religiösen Glauben, insbesondere den christlichen Glauben, zerstört zu haben. Jetzt, wo die Jesuiten zu Boden geworfen sind, ist das Papsttum schutzlos und kann im geeigneten Augenblick vernichtet werden. Das Prestige der weltlichen Herrscher ist gleichfalls im Niedergang begriffen: Morde und Morddrohungen haben sie so erschreckt, daß sie sich nicht mehr ohne Leibwache in die Öffentlichkeit wagen; die Mörder hingegen werden als Märtyrer gefeiert. Herrscher und Aristokraten können nicht mehr auf die Ergebenheit des Volkes zählen. Die ökonomische Zerrüttung ist schon weit vorgeschritten. Schlaue Geldmanöver haben zu Wirtschaftskrisen und ungeheuren Staatsschulden geführt; die öffentlichen Finanzen sind in heilloser Verwirrung, und die Goldwährung bewirkt allenthalben den nationalen Ruin. 65
Nicht lange mehr, und die christlichen Staaten in ihrem verzweifelten Zustand werden froh sein, alle Macht den Weisen übergeben zu können, die auch schon die Fundamente für ihre künftige Herrschaft gelegt haben. An die Stelle der Aristokratie haben sie die Plutokratie, die Herrschaft des Goldes, gesetzt, und das Gold ist in ihren Händen. Sie haben sich des Rechtswesens bemächtigt und darin die schlimmste Begriffsverwirrung gestiftet; ein Beispiel für ihre teuflische Schlauheit ist die Erfindung der Schiedsgerichte. Auch die Volksbildung ist fest in ihren Händen, und hier zeigt sich ihr unheilvoller Einfluß in der Erfindung des Anschauungsunterrichts; diese Lehrmethode hat nämlich den Zweck, die Nichtjuden in «eine Herde denkfauler, gehorsamer Tiere zu verwandeln, die eine Sache erst verstehen können, wenn man sie ihnen im Bilde vorführt, dann aber auch blindlings daran glauben». Vor allem aber kontrollieren die Weisen bereits die Politik und die Politiker; alle Parteien von der konservativsten bis zur radikalsten sind in Wirklichkeit ihre Werkzeuge. Im Gewände von Freimaurern haben sie sich Kenntnis von allen Staatsgeheimnissen verschafft, und wie die Regierungen recht wohl wissen, steht es in ihrer Macht, nach Belieben politische Ordnung oder Unordnung zu schaffen. Nach jahrhundertelangem Kampf, dem Tausende von Nichtjuden und auch viele Juden zum Opfer gefallen sind, stehen die Weisen jetzt dicht vor ihrem Endziel – vielleicht noch hundert Jahre, dann ist es erreicht. Dieses Ziel ist das messianische Zeitalter, Die ganze Welt wird eins sein im jüdischen Glauben und unter der Herrschaft eines jüdischen Fürsten aus dem Hause David. Das Zukunftsreich ist von Gott verordnet, denn Gott hat die Juden zu Herren der Welt auserwählt. Gleichwohl wird es eine ganz spezifische politische Struktur haben. Die Gesellschaftsordnung wird der Tatsache der menschlichen Ungleichheit vollauf Rechnung tragen. Die Massen wird man von der Politik fernhalten; ihr Schulunterricht und ihre Presse werden so beschaffen sein, daß sie keinerlei politisches Interesse entwickeln. Alle Publikationen werden strenger Zensur unterworfen, Rede- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt sein. Man wird erklären, diese Einschränkungen seien vorübergehende Maßnahmen und würden nach dem endgültigen Sieg über die Feinde des Volkes wieder aufgehoben; sie werden jedoch ständig in Kraft bleiben. Der Geschichtsunterricht wird nur dazu dienen, den Unterschied zwischen dem einstigen Chaos und der jetzigen Ordnung hervorzuheben; immer und immer wieder wird man die Erfolge des neuen 66
Weltreiches gegen die Schwächen der alten nichtjüdischen Regierungen herausstreichen. Jedermann wird bespitzelt werden. Eine starke Geheimpolizei, rekrutiert aus allen Schichten der Bevölkerung, wird aufgebaut werden, und jeder Bürger wird verpflichtet sein, jede kritische Äußerung über das Regime zu melden. Aufwiegelei wird als Schwerverbrechen wie Diebstahl oder Mord behandelt werden. Das Regime wird den Liberalismus mit Stumpf und Stiel ausrotten und von jedermann bedingungslosen Gehorsam fordern. Allerdings wird es für eine ferne Zukunft Freiheit versprechen, doch wird diese Zeit niemals kommen. Andererseits wird alles geschehen, damit das gesellschaftliche Leben glatt funktioniert. Arbeitslosigkeit wird es nicht mehr geben, die Höhe der Steuern wird sich nach dem Vermögen richten. Den Interessen des kleinen Mannes wird man durch Förderung der Kleinindustrie dienen. Die Schule wird die jungen Leute jeweils für den Platz im Leben ausbilden, für den sie bestimmt sind. Trunksucht wird unnachsichtig bekämpft werden, ebenso Unabhängigkeit des Denkens All das wird dahin wirken, die Massen ruhig und zufrieden zu halten. Dazu wird auch das Vorbild ihrer Herren beitragen. Die Gesetze werden klar und unabänderlich, die Richter unbestechlich und unfehlbar sein. Alle jüdischen Führer werden sich als fähig, tüchtig und wohlwollend erweisen. Der Herrscher zumal wird ein Mann von exemplarischem Charakter sein; unwürdige Erben wird man unerbittlich aus dem Wege räumen. Diesen jüdischen Weltherrscher wird man frei im Volke umhergehen und Bittschriften entgegennehmen sehen; niemand wird merken, daß er von Geheimpolizisten umgeben ist. Sein Privatleben wird untadelig sein; er wird seine Verwandten nicht begünstigen, wird kein Privateigentum haben und unablässig den Regierungsgeschäften nachgehen. Das Ergebnis wird eine Welt ohne Gewalt und Ungerechtigkeit sein, in der sich jedermann wahrhaft wohl fühlt. Die Völker der Erde werden glücklich sein, so gut regiert zu werden, und so wird das Reich Zion ewig dauern. Das also ist das Komplott, das den geheimnisvollen «Weisen von Zion» zugeschrieben wird. Der Öffentlichkeit enthüllt wurde es erstmals in Rußland, wo zwischen 1903 und 1907 mehrere Ausgaben erschienen. Die früheste Version, gegen Ende leicht gekürzt, veröffentlichte die St. Petersburger Zeitung Snamja (Das Banner) in ihren Nummern vom 26. August bis zum 7. September 1903. Herausgeber 67
der Snamja war P. A. Kruschewan, ein bekannter, aktiver Antisemit. Wenige Monate vor der Veröffentlichung der Protokolle hatte Kruschewan in Kischinew in Bessarabien einen Pogrom angestiftet, bei dem fünfundvierzig Juden getötet, über vierhundert verletzt und 1.300 jüdische Häuser und Geschäfte zerstört worden waren. Kruschewan teilte nicht mit, von wem er das Manuskript erhalten hatte. Er erklärte nur, es handle sich um die Übersetzung eines in Frankreich abgefaßten Dokuments mit der vom Übersetzer stammenden Überschrift Sitzungsberichte des Weltbundes der Freimaurer und Weisen von Zion. Kruschewan selbst gab seiner Veröffentlichung den Titel Programm für die Welteroberung durch die Juden. Zwei Jahre später erschien die gleiche Fassung, diesmal ungekürzt, als Broschüre unter dem Titel Die Wurzel unserer Übel und dem Untertitel «Wo die Wurzel der gegenwärtigen Unordnung der Gesellschaff in Europa und insbesondere in Rußland liegt. Auszüge aus älteren und neueren Protokollen des Weltbundes der Freimaurer». Das Werk wurde am 9. Dezember 1905 dem St. Petersburger Zensurkomitee vorgelegt; die Druckerlaubnis wurde sofort erteilt, und das Buch erschien noch im gleichen Monat in St. Petersburg mit dem Druckvermerk der Kaiserlichen Garde. Der Herausgeber wurde nicht genannt; höchstwahrscheinlich war es der pensionierte Offizier G. P. W. Butmi, der eng mit Kruschewan zusammenarbeitete und wie dieser aus Bessarabien stammte. Butmi und Kruschewan wirkten damals – von Oktober 1905 an – eifrig mit am Aufbau einer politisch ganz rechts stehenden Organisation, die sich «Bund des Russischen Volkes» nannte, bekannter jedoch unter dem Namen «Schwarzhunderter» war. Sie unterhielt bewaffnete Banden, deren Aufgabe es war, Radikale und Liberale zu ermorden und Judenpogrome zu veranstalten. Im Januar 1906 veröffentlichte diese Organisation eine neue Ausgabe der Schrift Die Wurzel unserer Übel, diesmal jedoch mit dem Herausgebernamen Butmi und unter dem Titel Die Feinde des Menschengeschlechts. Der Untertitel lautete: «Protokolle aus den Geheimarchiven der Zentralkanzlei von Zion (Wo die Wurzel der gegenwärtigen Unordnung der Gesellschaft in Europa im allgemeinen und in Rußland im besonderen liegt)». Diese Edition trug nicht mehr den Druckvermerk der Kaiserlichen Garde, sondern den einer Taubstummengesellschaft. 1906 kamen drei weitere Auflagen dieser Fassung heraus, 1907 noch eine, alle in St. Petersburg; eine andere Ausgabe erschien 1906 in Kasan unter dem Titel Auszüge aus dem Protokoll der Freimaurer. 68
Die Wurzel unserer Übel und Die Feinde des Menschengeschlechts sind billige, für den Massenvertrieb bestimmte Broschüren. Ganz anders sieht eine Fassung der Protokolle aus, die als Teil eines Buches des mystischen Schriftstellers Sergej Nilus veröffentlicht wurde. Das Buch heißt Das Große im Kleinen: Der Antichrist als nahe politische Möglichkeit. Die beiden ersten Auflagen, die 1901 und 1903 erschienen, enthielten die Protokolle noch nicht. Diese wurden erst in die dritte Auflage aufgenommen, die im Dezember 1905 erschien, hergestellt in der Druckerei des Komitees des Roten Kreuzes von Zarskoje Selo, der Sommerresidenz des Zaren. Wie wir sehen werden, wurde diese Ausgabe zu dem Zwecke veranstaltet, Zar Nikolaus II. zu beeinflussen, und sie trägt alle Zeichen dieser Bestimmung. Sie ist elegant gedruckt; sie ist Teil eines mystischen Buches, wie es der Zar gern las; vor allem enthält sie zahlreiche Hinweise auf französische Ereignisse und Persönlichkeiten, während die Version von Kruschewan und Butmi vorwiegend russische Angelegenheiten behandelt. Nilus’ Buch wurde am 28. September 1905 dem Moskauer Zensurkomitee im Manuskript vorgelegt und erschien im Druck etwa um die gleiche Zeit wie Die Wurzel unserer Übel. Wirkung übte es schon vor Erscheinen aus. Nilus stand damals in hoher Gunst beim kaiserlichen Hofe; deshalb ordnete der Metropolit von Moskau an, in allen 368 Kirchen Moskaus eine Predigt mit Zitaten aus Nilus’ Version der Protokolle zu verlesen. Das geschah am 16. Oktober 1905, und die Predigt wurde prompt von der rechtsstehenden Zeitung Moskowskije Wedomosti veröffentlicht – gewissermaßen noch eine weitere Ausgabe der Protokolle. Nicht Butmis, sondern Nilus’ Fassung der Protokolle war es, die Weltbedeutung erlangte. Das geschah freilich noch nicht 1905 und auch nicht 1911 und 1912, als Neuauflagen von Das Große im Kleinen erschienen. Es geschah erst, als das Buch in einer durchgesehenen und erweiterten Fassung herauskam, die auch einen neuen Titel führte: Er ist nahe, vor den Toren ... Es kommt der Antichrist und das Reich des Teufels auf Erden. Entscheidend war das Erscheinungsjahr der neuen Ausgabe: 1917
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2 Der Leser, dem ein angeblich streng geheimes Dokument mit Aufzeichnungen über eine Anzahl von Reden vorgelegt wird, fragt natürlich, wer diese Reden gehalten hat, vor welchem Auditorium, aus welchem Anlaß, und er fragt auch, wie das Dokument in Hände gelangt ist, für die es offensichtlich nicht bestimmt war. Die verschiedenen Herausgeber der Protokolle haben sich große Mühe gegeben, diese Neugier zu befriedigen, aber ihre Antworten sind leider alles andere als klar und übereinstimmend. Schon die früheste Veröffentlichung in der Zeitung Snamja stürzt uns in Verwirrung. Während der Übersetzer berichtet, das Dokument stamme aus der «Zentralkanzlei von Zion in Frankreich», erklärt die Redaktion: «Wir wissen nicht, wie, wo und mit welchen Mitteln die Protokolle dieser Sitzungen, die in Frankreich stattfanden, kopiert werden konnten, und vor allem, wer sie kopierte ...» Damit nicht genug. In einer Nachschrift warnt der Übersetzer ausdrücklich davor, die Weisen von Zion mit den Vertretern der zionistischen Bewegung zu verwechseln; das hindert die Redaktion jedoch nicht, zu behaupten, die Protokolle offenbarten die Bedrohlichkeit des Zionismus, «der die Aufgabe hat, alle Juden der ganzen Welt in einem Bunde zu vereinigen – einem Bunde, der straffer gefügt und gefährlicher als der Orden der Jesuiten ist»2. Auch für Butmi sind die Protokolle «aus dem Geheimarchiv der Zentralkanzlei von Zion herausgeholt»; aber er hat eine farbigere Geschichte zu erzählen: «Diese Niederschriften oder ‹Protokolle›, die Geheimdokumente sind, wurden mit großer Mühe in Form einzelner Seiten herbeigeschafft und am 9. Dezember 1901 ins Russische übersetzt. Es ist fast unmöglich, ein zweites Mal in das Geheimarchiv einzudringen, wo sie aufbewahrt werden; deshalb können sie nicht bekräftigt werden durch genaue Angaben über Ort, Tag, Monat und Jahr, das heißt darüber, wo und wann sie abgefaßt wurden. Der Leser, der einigermaßen mit den Mysterien der Freimaurer vertraut ist, wird von ihrer Echtheit überzeugt sein, wenn er den in diesen ‹Protokollen› niedergelegten verbrecherischen Plan kennenlernt.»3 Noch mitteilsa2
Snamja, St. Petersburg, 26. August 1903.
3
Mgr. Jouin, Le Péril judeo-mafonnique, Bd. IV: Les «Protocoles» de 1901 de G. Butmi, Paris 1922, S. 4.
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mer ist Nilus – so sehr, daß er schließlich nicht nur Butmi, sondern auch sich selbst widerspricht. In der Ausgabe von 1905 folgt den Protokollen eine Anmerkung: «Diese ‹Protokolle› wurden einem ganzen Buch von ‹Protokollen› entnommen. Alles dies wurde von meinem Korrespondenten aus dem Geheimarchiv der Zentralkanzlei von Zion beschafft, die sich gegenwärtig in Frankreich befindet.»4 Das stimmt recht gut mit Butmi überein; nur enthält die gleiche Ausgabe eine Vorbemerkung, in der es heißt, die Protokolle seien «einem der einflußreichsten und höchstgestellten Führer der Freimaurerei nach einer geheimen Sitzung der ‹Eingeweihten› in Frankreich, dieser Brutstätte der Freimaurer-Verschwörung, von einer Frau entwendet worden».5 Und in der Ausgabe von 1917 richtet Nilus noch mehr Konfusion an: «... erst jetzt erfahre ich autoritativ aus jüdischen Quellen, daß diese Protokolle nichts anderes sind als der strategische Plan zur Eroberung der Welt, um sie unter das Joch Israels zu bringen, dieses Kämpfers gegen Gott – ein Plan, der von den Führern des jüdischen Volkes während der vielen Jahrhunderte seiner Zerstreuung ausgearbeitet und schließlich dem Rate der Ältesten durch den Fürsten des Exils, Theodor Herzl, unterbreitet wurde, in der Zeit des ersten Zionistenkongresses, den er nach Basel im August 1897 einberufen hatte.»6 Ungeschickter hätte es Nilus kaum machen können. Das Originalmanuskript der Protokolle war in französischer Sprache abgefaßt – aber dem ersten Zionistenkongreß hatte kein einziger französischer Delegierter beigewohnt, die offizielle Kongreßsprache war Deutsch gewesen, und Herzl, der Begründer des modernen Zionismus, war Österreicher. Alle Verhandlungen des Kongresses fanden in voller Öffentlichkeit statt, und Basel wimmelte von Journalisten, denen eine so erstaunliche Versammlung schwerlich entgangen wäre. Doch von all dem abgesehen, hatte ja Nilus selbst in seiner Ausgabe von 1905 kategorisch erklärt, daß die Reden nicht 1897, sondern 1902/03 gehalten worden seien. Als wäre das nicht genug der Verwirrung, erfanden die Herausgeber späterer Übersetzungen der Protokolle noch weitere Geschich4
S. Nilus, Velikoe v Malom, Zarskoje Selo 1905, S. 394.
5
Ebda., S. 322.
6
S. Nilus, Bliz est’, pri dverech, 1917, S. 88.
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ten. Der Herausgeber der ersten deutschen Übersetzung (1919), der sich Gottfried zur Beek nannte, setzte die Weisen von Zion einfach mit den Delegierten des Basler Kongresses gleich, und er erklärte auch, wie ihre Umtriebe enthüllt wurden. Nach seiner Darstellung schickte die russische Regierung, die die jüdischen Machenschaften mit Sorge beobachtete, einen Späher zum Basler Kongreß. Ein Jude, der den Auftrag hatte, die Protokolle der Geheimsitzungen von Basel zur «Judenloge» nach Frankfurt zu bringen, wurde von diesem Späher bestochen, ihm unterwegs in einer ungenannten Stadt die Schriftstücke für eine Nacht zu überlassen. Glücklicherweise hatte der Russe eine ganze Schar von Schreibern bei sich. Diese schrieben während der Nacht in rasender Eile große Stücke der Protolle ab, die dann zur Übersetzung ins Russische an Nilus geschickt wurden. Soweit Gottfried zur Beek. Ganz anders liest man es bei Theodor Fritsch, dem «Nestor des deutschen Antisemitismus», in seiner Ausgabe der Protokolle (1920). Auch für ihn war das Dokument ein zionistisches Erzeugnis – er nannte sein Buch sogar Die zionistischen Protokolle –, aber es war nicht auf oder nach dem Basler Kongreß gestohlen, sondern von der russischen Polizei in einem nicht näher bezeichneten jüdischen Haus beschlagnahmt worden. Auch war es nicht in französischer, sondern in hebräischer Sprache abgefaßt; deshalb gab es die Polizei zum Übersetzen «dem Orientalisten Professor Sergej Nilus» (der weder Orientalist noch Professor, noch – wie wir sehen werden – Übersetzer der Protokolle war). Wieder eine andere Geschichte erzählt Roger Lambelin, der Herausgeber der verbreitetsten französischen Ausgabe: ihm zufolge wurden die Protokolle von der Frau oder Verlobten eines Freimaurerführers aus einem Schrank in einer elsässischen Stadt gestohlen. Gegen diese pittoresken Schilderungen fällt eine polnische Ausgabe merklich ab: sie behauptet schlicht, die Protokolle seien aus der Wiener Wohnung Theodor Herzls entwendet worden. Eine russisch-amerikanische Dame, die bald ihren Mädchennamen Lesley Fry, bald ihren Ehenamen Schischmarew benutzte, schrieb von 1922 an viel über die Protokolle. Ihr wichtigster Beitrag war die Behauptung, der Verfasser der Protokolle sei kein anderer als Ascher Ginzberg, der unter dem Pseudonym Achad Ha-am (d. h. «Einer aus dem Volk») schrieb – in Wirklichkeit der unpolitischste und weltfremdeste Schriftsteller, den man sich vorstellen kann. Nach Miss Fry hatte Ginzberg die Protokolle in hebräischer Sprache verfaßt und 1890 in Odessa einer geheimen Versammlung von Eingeweihten 72
vorgelesen. Danach waren sie in französischer Übersetzung an die Alliance Israélite Universelle nach Paris und von dort 1897 zum Basler Kongreß geschickt worden – wo man sie zum Nutzen der Delegierten wohl eigentlich hätte ins Deutsche übersetzen müssen. Eine komplizierte Hypothese, die gleichwohl einflußreiche Anhänger fand. Zwischen den verschiedenen Herausgebern und Verteidigern der Protokolle besteht also fast in keinem Punkte Übereinstimmung. Nicht einmal die Überzeugung, daß die Weisen von Zion identisch mit den Führern des Zionismus sind, wird von allen geteilt. Wie wir gesehen haben, erklärt der (von Kruschewan und Butmi zitierte) unbekannte russische Übersetzer des französischen Urmanuskripts ausdrücklich, daß man die Weisen nicht mit den Repräsentanten der zionistischen Bewegung verwechseln darf. Für Nilus war bis zu seiner obenerwähnten späten Entdeckung die «Zentralkanzlei von Zion» das Hauptquartier der Alliance Israélite Universelle in Paris; und Urbain Gohier, einer der ersten Herausgeber der Protokolle in Frankreich, sah in den Weisen gleichfalls Mitglieder der Alliance. Andere versuchten im Anschluß an Miss Fry, die beiden Versionen miteinander zu verknüpfen – kein leichtes Unterfangen, da die Alliance, eine rein philanthropische und unpolitische Organisation, die alle ihre Hoffnungen auf die Assimilation der Juden an ihre nichtjüdischen Landsleute setzte, dem Zionismus zutiefst feindlich gegenüberstand. Und dann gab es natürlich auch noch die Freimaurer, die so häufig im Zusammenhang mit den Protokollen genannt wurden ... Aber da wurde 1921 der unwiderlegliche Beweis erbracht, daß die Protokolle eine Fälschung waren. Eigentlich fragt man sich, wieso das überhaupt bewiesen werden mußte; denn daß die Protokolle eine lächerliche Fälschung sind, liegt klar zutage. Es ist jedoch eine Tatsache, daß die Protokolle in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als sie aus der Obskurität auftauchten und Weltruhm erlangten, von zahllosen Menschen, die durchaus im Besitz ihrer Geisteskräfte waren, völlig ernst genommen wurden. Man braucht zum Beispiel nur die Times vom 8. Mai 1920 aufzuschlagen. Dort heißt es: «Was sind diese ‹Protokolle›? Sind sie echt? Wenn ja, welche bösartige Versammlung hat diese Pläne ausgeheckt und mit hämischer Freude niedergelegt? ... Sind wir durch Anspannung jeder Fiber unseres Volkskörpers einer ‹Pax Germanica› entgangen, nur um einer ‹Pax Judæica› anheimzufallen?»7 7
Ausführlicher wird der Artikel unten, S. 157, zitiert.
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Ein Jahr später, am 18. August 1921, bekannte die Times in einem vielbeachteten Leitartikel ihren Irrtum. Sie hatte soeben, in den Nummern vom 16., 17. und 18. August, eine lange Depesche ihres Konstantinopler Korrespondenten Philip Graves veröffentlicht, in der enthüllt wurde, daß die Protokolle zum großen Teil aus einem 1864 erschienenen Pamphlet gegen Napoleon III. abgeschrieben waren. Philip Graves schrieb: «Ich muß gestehen: als mir die Entdeckung mitgeteilt wurde, war ich zuerst ungläubig. Herr X, der mir das Beweisstück brachte, war überzeugt. ‹Lesen Sie dieses Buch durch›, sagte er, ‹und Sie werden den unwiderleglichen Beweis finden, daß die Protokolle der Weisen von Zion ein Plagiat sind.› Herr X, der ungenannt zu bleiben wünscht, ist ein russischer Grundbesitzer mit Verbindungen nach England. Er bekennt sich zur orthodoxen Religion und ist seiner politischen Überzeugung nach konstitutioneller Monarchist. Hierher ist er als Flüchtling gekommen, nachdem die Sache der Weißen in Südrußland endgültig gescheitert war. Er interessiert sich seit langem für die jüdische Frage, soweit sie Rußland betrifft; er hat die Protokolle studiert und zur Zeit der Herrschaft Denikins8 Untersuchungen angestellt, um herauszubekommen, ob eine geheime ‹Freimaurer›-Organisation, wie sie in den Protokollen beschrieben wird, in Südrußland existierte. Die einzige derartige Organisation war monarchistisch. Den Schlüssel zu den Problemen der Protokolle entdeckte er durch Zufall. Vor ein paar Monaten kaufte er einige alte Bücher von einem ehemaligen Offizier der Ochrana9, der nach Konstantinopel geflohen war. Unter diesen Büchern war ein kleiner Band in französischer Sprache, ohne Titelblatt, im Format 5 ½ mal 3 ½ Zoll, billig eingebunden. Auf dem Lederrücken steht in lateinischen Buchstaben das Wort Joli. Das Vorwort mit der Überschrift ‹Simple avertissement› ist datiert ‹Genf, den 15. Oktober 1864› ... Sowohl das Papier als auch der Druck sind charakteristisch für die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Diese Details werden hier gegeben in der Hoffnung, daß sie zur Entdeckung des Titels des Buches führen ... 8
General Anton Denikin, Oberbefehlshaber der «weißen» Truppen in Südrußland während des Bürgerkrieges 1918-1920. 9
Geheimpolizei im zaristischen Rußland.
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Herr X glaubt, es müsse selten sein, denn andernfalls wären die ‹Protokolle› von jemandem, der das Original gelesen hatte, rasch als Plagiat erkannt worden. Daß das Buch selbst ‹fabriziert› sei, kann jemand, der es gesehen hat, auch nicht einen Augenblick lang behaupten. Sein ursprünglicher Besitzer, der alte Ochrana-Offizier, entsann sich nicht, woher er es hatte, und maß ihm keine Bedeutung bei. Als Herr X eines Tages einen Blick hineinwarf, fiel ihm auf, daß eine Stelle, die ihn fesselte, Ähnlichkeit mit einem Satz in der französischen Ausgabe der Protokolle hatte. Er verfolgte die Spur und erkannte bald, daß die Protokolle auf sehr weiten Strecken ... eine Paraphrase des Genfer Originals waren ... Ehe ich das Buch von Hern X erhielt, war ich, wie gesagt, ungläubig. Ich glaubte nicht, daß Sergej Nilus’ Protokolle echt seien ... Aber ohne eigenen Augenschein hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß der Schreiber, der Nilus die Originale lieferte, ein nachlässiger und schamloser Plagiator war. Das Genfer Buch ist ein nur dünn verschleierter Angriff auf den Despotismus Napoleons III. in Form einer Reihe von 25 Dialogen ... Die Sprecher sind Montesquieu und Machiavelli ... »10 Bevor die Times die Depesche ihres Konstantinopler Korrespondenten veröffentlichte, stellte sie Nachforschungen im Britischen Museum an. Der Name «Joli» auf dem Buchrücken lieferte den Schlüssel. Das geheimnisvolle Buch wurde schnell identifiziert als Dialogue aux Enfers entre Montesquieu et Machiavel von Maurice Joly, erschienen in Brüssel 1864 (der Druckvermerk «Genf» sollte der Irreführung dienen). Maurice Joly war von Beruf Rechtsanwalt. In seiner Autobiographie, die er 1870 schrieb, hat er geschildert, wie ihm eines Abends beim Spazierengehen am Ufer der Seine in Paris die Idee kam, einen Dialog zwischen Montesquieu und Machiavelli zu schreiben. Montesquieu sollte den Liberalismus vertreten, Machiavelli einen zynischen Despotismus. Es war verboten, das Regime Napoleons III. offen zu kritisieren; auf diese Weise aber würde es möglich sein, die Motive und Methoden des Kaisers unverbrämt darzulegen, indem man sie durch den Mund Machiavellis verkünden ließ. So dachte Joly, doch er unterschätzte seinen Gegner. Der Dialogue aux Enfers wurde in Belgien gedruckt und sollte nach Frankreich geschmuggelt werden, aber 10
The Times, 16., 17., 18. August 1921.
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gleich hinter der Grenze wurden die Bücher von der Polizei beschlagnahmt. Der Autor war schnell ausfindig gemacht und wurde verhaftet. Am 25. April 1865 wurde Joly zu fünfzehn Monaten Gefängnis verurteilt; sein Buch wurde verboten und eingezogen. Jolys spätere Jahre verliefen glücklos. Witzig, aggressiv und respektlos, erlebte er Enttäuschung auf Enttäuschung und beging schließlich 1879 Selbstmord. Er hätte ein besseres Los verdient. Er war nicht nur ein glänzender Stilist, sondern hatte auch eine feine Witterung für die Kräfte, die erst nach seinem Tode zu voller Gewalt anwuchsen und die politischen Umwälzungen unseres Jahrhunderts herbeiführten. In seinem Roman Les Affamés zeigte er einen scharfen Blick für die Spannungen der modernen Welt, die revolutionäre Bewegungen auf der Rechten wie auf der Linken nähren. Vor allem aber sind seine Betrachtungen über den amateurhaften Despotismus Napoleons III. wertvoll; hier gelangte er zu Einsichten, die auch noch auf verschiedene autoritäre Regime unserer Zeit zutreffen. Einige seiner Erkenntnisse überlebten sogar die Verwandlung des Dialogue aux Enfers in die Protokolle der Weisen von Zion, hier liegt einer der Gründe – wie wir sehen werden, nicht der einzige –, weshalb die Protokolle oft wie eine Vorhersage des modernen Autoritarismus wirken. Doch das ist eine traurige Art von Unsterblichkeit, und es liegt grausame Ironie darin, daß eine glänzende, aber lang vergessene Verteidigung des Liberalismus die Grundlage abgeben mußte für eine reaktionäre Sudelei, die dann den Siegeszug um die Welt antrat. Jolys Streitschrift ist tatsächlich ein bewundernswürdiges Werk, schneidend, von erbarmungsloser Logik und schönem Bau. Die Debatte eröffnet Montesquieu. Seiner Meinung nach ist im gegenwärtigen Zeitalter, in dem die aufgeklärten Ideen des Liberalismus herrschen, der Despotismus nicht mehr nur unmoralisch – was er schon immer war –, er ist auch undurchführbar geworden. Machiavelli antwortet so beredt und ausführlich, daß er den ganzen übrigen Teil der Schrift dominiert. Die Masse des Volkes, so erklärt er, ist einfach unfähig, sich selbst zu regieren. Normalerweise ist sie träge und läßt sich nur zu gern von einem starken Mann beherrschen; wird sie aber durch irgend etwas in Erregung versetzt, so verfällt sie in sinnlose Raserei – und dann braucht sie erst recht einen starken Mann, der sie zügelt. Politik hat nie etwas mit Moral zu tun gehabt; und was die Ausführbarkeit betrifft, so war es niemals leichter als heute, eine despotische Herrschaft zu errichten. Der moderne Herrscher braucht nur die äußeren Formen der Legalität zu beachten, er braucht seinem Volk 76
nur den bloßen Schein der Selbstregierung zu gewähren, und er wird nicht die geringste Schwierigkeit haben, die absolute Macht zu erlangen und auszuüben. Das Volk fügt sich bereitwillig einer Entscheidung, von der es glaubt, es habe sie selbst getroffen; der Herrscher braucht deshalb alle Fragen nur einer Volksversammlung vorzulegen – nachdem er natürlich dafür gesorgt hat, daß die Versammlung in dem von ihm gewünschten Sinne beschließen wird. Mit Kräften, die sich seinem Willen widersetzen könnten, wird er leicht fertig: für die Presse gibt es die Zensur, und politische Gegner läßt er durch die Polizei überwachen. Weder die Macht der Kirche noch finanzielle Probleme braucht er zu fürchten. Solange der Fürst das Volk durch sein Prestige und durch militärische Siege blendet, kann er seiner Unterstützung sicher sein. Das ist das Buch, von dem sich der Verfasser der Protokolle inspirieren ließ. Er plagiierte es schamlos – wie schamlos, zeigt die Auswahl von Parallelstellen im Anhang dieses Buches11. Insgesamt fußen über 160 Stellen der Protokolle, rund zwei Fünftel des Textes, eindeutig auf Stellen des Buches von Joly. In neun Kapiteln machen die Entlehnungen mehr als die Hälfte des Textes aus, in einigen Kapiteln drei Viertel; ein Kapitel (Protokoll VII) ist fast vollständig aus Joly übernommen. Die Anordnung der entlehnten Stellen ist, mit einem knappen Dutzend Ausnahmen, die gleiche wie bei Joly; man hat den Eindruck, daß der Plagiator ganz mechanisch vorgegangen ist und Seite für Seite direkt aus dem Dialogue in seine Protokolle abgeschrieben hat. Sogar die Kapiteleinteilung ist im wesentlichen dieselbe; die vierundzwanzig Kapitel der Protokolle entsprechen ungefähr den fünfundzwanzig des Dialogue. Nur gegen Schluß, wo die Prophetie des messianischen Zeitalters vorwiegt, macht sich der Bearbeiter wirklich unabhängig von seiner Vorlage. Ein Fall von Plagiat und Fälschung, wie er klarer nicht zu denken ist. Der Fälscher vermengte in seinem Text die beiden widerstreitenden Beweisführungen: die «Machiavellis» zugunsten des Despotismus und die «Montesquieus» zugunsten des Liberalismus. Die meisten Anleihen machte er bei «Machiavelli». Was Joly seinem Machiavelli in den Mund legte, ließ der Fälscher den geheimnisvollen Redner, den namenlosen «Weisen von Zion», aussprechen – jedoch mit einigen wichtigen Abwandlungen. Während «Machiavelli», der Napoleon III. vertritt, einen schon bestehenden Zustand beschreibt, nimmt diese 11
Siehe S. 299-306.
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Schilderung in den Protokollen die Form einer Vorhersage für die Zukunft an. Ferner erklärt «Machiavelli», in demokratischen Formen könne ein Despot einen nützlichen Deckmantel für seine Tyrannei finden; in den Protokollen heißt es gerade umgekehrt, alle demokratischen Regierungsformen seien nur Masken für Tyrannei. Der Fälscher hat auch einige Stellen von «Montesquieu» übernommen, sie jedoch als Stütze der Behauptung verwendet, die Ideale des Liberalismus seien eine Erfindung der Juden und würden von diesen nur zu dem Zwecke propagiert, die Nichtjuden zu desorganisieren und zu demoralisieren. Wenn man sich genügend Zeit nähme, könnte man aus diesen Rohstoffen wohl ein folgerichtiges Gedankengebäude aufführen; aber die Protokolle machen den Eindruck, als seien sie in aller Eile zusammengeschustert worden. Der Dialogue aux Enfers unterscheidet beispielsweise genau zwischen der Politik, die Napoleon III. vor der Machteroberung und jener, die er danach trieb. Die Protokolle kennen solche Unterscheidungen nicht. Einmal spricht der Redner so, als hielten die Weisen schon die absolute Macht in Händen, ein andermal so, als hätten sie noch ein Jahrhundert zu warten. Bald rühmt er sich, die Regierungen lebten in größter Furcht vor den Weisen, bald behauptet er, sie wüßten nichts von den Plänen der Weisen, ja nicht einmal von deren Existenz. Andere Widersprüche rühren daher, daß der von Joly porträtierte Despot Frankreich beherrschte, während die Weisen nach Weltherrschaft streben. Der Fälscher hat sich keine Mühe gegeben, die daraus resultierenden Inkonsequenzen zu entfernen; es macht ihm auch nichts aus, den Gedankengang durch Absurditäten eigener Erfindung zu unterbrechen, zum Beispiel der Drohung, widerspenstige Städte von ihren Untergrundbahnen aus in die Luft zu sprengen. Noch seltsamer ist, daß der Fälscher ganze Absätze eingefügt hat, die nichts enthalten als Angriffe auf die liberalen Ideen und Lobgesänge auf den grundbesitzenden Adel, das unentbehrliche Bollwerk der Monarchie. Diese Stellen sind ihrem Geiste nach so auffallend unjüdisch, daß sie den Herausgebern der Protokolle schwere Verlegenheit bereitet haben. Einige lassen sie einfach weg; andere erläutern sie dahingehend, der glühende russische Konservative Sergej Nilus müsse hier eigene Reflexionen eingeschoben haben. Ihr Unbehagen ist verständlich. Nilus war nicht selbst der Fälscher, aber wie wir sehen werden, geben die Invektiven gegen den Liberalismus und die Lobreden auf Aristokratie und Monarchie einen Hinweis auf die wirkliche Natur und die Motive der Fälschung. 78
4 Geheimpolizei und Okkultisten
1 Nach Hitlers Machtergreifung wurden die Protokolle von deutschen Nazi-Organisationen und von Sympathisierenden anderer Länder in der ganzen Welt propagiert und verbreitet. Energisch reagierten auf diese Provokation die jüdischen Gemeinden der Schweiz: sie brachten die Führung der schweizerischen Nazi-Organisation sowie einige individuelle Nazis vor Gericht. Offizieller Anklagepunkt war die Veröffentlichung und Verbreitung von Schundliteratur; aber der Prozeß, der im Oktober 1934 und im Mai 1935 in Bern stattfand, drehte sich praktisch um die Echtheit oder Unechtheit der Protokolle. So unglaublich es heute klingen mag, das Gerichtsverfahren erregte internationales Aufsehen, und Journalisten aus aller Welt kamen nach Bern, um darüber zu berichten. Von historischem Interesse war der Berner Prozeß vor allem deshalb, weil er Hinweise darauf lieferte, daß die zaristische Geheimpolizei, die Ochrana1, an der Frühgeschichte der Protokolle gewichtigen Anteil gehabt hatte. Die Kläger hatten mehrere liberale russische Emigranten als Zeugen benannt. Einer von ihnen war Professor Sergej Swatikow, ein ehemaliger Sozialdemokrat vom menschewistischen Flügel. Die Provisorische Regierung, die 1917 in den sechs Monaten zwischen der Abdankung des Zaren und der bolsche1
Die Ochrana wurde 1881, nach der Ermordung Alexanders III., durch kaiserliches Dekret «zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung» gegründet (ochrana ist das russische Wort für «Schutz»). Bis dahin war das wichtigste geheimpolizeiliche Organ die Dritte Sektion der Kaiserlichen Kanzlei, die nach dem Dekabristen-Aufstand im Jahre 1825 gegründet worden war. Die Ochrana hatte Zweigstellen in allen größeren Städten Rußlands sowie einen Auslandsdienst mit der Zentrale in Paris. Wie die übrigen Polizeikräfte war die Ochrana dem Minister des Inneren unterstellt.
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wistischen Oktoberrevolution am Ruder war, hatte Swatikow nach Paris geschickt mit dem Auftrag, das Auslandsnetz der russischen Geheimpolizei, das dort sein Hauptquartier hatte, aufzulösen. Unter den Agenten, mit denen er bei dieser Gelegenheit sprach, war ein gewisser Henri Bint, ein Franzose aus dem Elsaß, der seit 1880 in russischen Diensten stand. Bint erzählte Swatikow, die Protokolle seien auf Anweisung des Chefs seiner Dienststelle, Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski, fabriziert worden. Ein anderer Zeuge beim Berner Prozeß, der berühmte Journalist Wladimir Burzew, sagte in gleichem Sinne aus: er hatte von zwei früheren Direktoren des Polizeidepartements, Lopuchin und Belezki, gehört, daß Ratschkowski bei der Herstellung der Protokolle seine Hand im Spiel gehabt habe.2 Ratschkowski, der skrupellose, begabte Auslandschef der Ochrana, war seinerzeit eine ziemlich bekannte Persönlichkeit. «Wer ihm in Gesellschaft begegnet», schrieb ein Franzose, der ihn kannte, «wird sicher nicht den geringsten Argwohn gegen ihn hegen, denn nichts in seinem Äußeren deutet auf seine lichtscheuen Geschäfte. Dick, beweglich, immer ein Lächeln auf den Lippen, mit Kinnbart und flottem Blick, machte er eher den Eindruck eines fröhlichen Lebemannes ... Doch abgesehen von einer ziemlich heftigen Schwäche für die kleinen Pariserinnen, ist er der geschickteste Organisator, den man in den zehn Hauptstädten Europas findet.»3 Ein russischer Landsmann gab seinen Eindruck von Ratschkowski ebenfalls sehr anschaulich wieder: «Sein etwas zu einschmeichelndes Wesen und seine verbindliche Art zu reden – man dachte dabei an eine große Katze, die sorgfältig ihre Krallen verbirgt – verschleierte mir nur für wenige Augenblicke den wahren Charakter dieses Mannes, seine scharfe Intelligenz, seinen festen Willen und seine tiefe Hingabe ... an die Interessen des kaiserlichen Rußlands.»4 Ratschkowski begann seine Laufbahn als kleiner Beamter und unterhielt sogar Beziehungen zu mehr oder weniger revolutionär 2
Ein Exemplar des vervielfältigten Protokolls des Berner Prozesses befindet sich in der Wiener Library, London: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen ... vor Richteramt V von Bern in Sachen Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund und Israelitische Kultusgemeinde Bern gegen die Gauleitung des Bundes National-Sozialistischer Eidgenossen sowie gegen Unbekannte. Die Aussagen Swatikows und Burzews finden sich dort unter Punkt III und IV. 3
Papus in L’ Echo de Paris, 27. Oktober 1901.
4
Baron de Taube, La Politique russe d’avant-guerre et la fin de l’Empire des tsars (1904-1917), Paris 1928, S. 26.
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gesinnten Studenten. Die Wende in seinem Leben trat 1879 ein: in jenem Jahr verhaftete ihn die Geheimpolizei und beschuldigte ihn, sich gegen die Sicherheit des Staates vergangen zu haben. Auf den Generaladjutanten Drentel war ein Anschlag verübt worden. Ratschkowski war zwar nur befreundet mit einem Mann, der angeblich den Attentäter versteckt gehalten hatte, aber das genügte der Dritten Sektion der Kaiserlichen Kanzlei – der künftigen Ochrana –, die Hand auf ihn zu legen. Wie so viele andere in ähnlicher Lage wurde Ratschkowski vor die Wahl gestellt: entweder Verbannung nach Sibirien – oder eine einträgliche Karriere in der Geheimpolizei. Er wählte das zweite und erklomm mit der Zeit eine Position, die ihm große Macht gab. 1881 war Ratschkowski aktiv in der rechtsstehenden Organisation «Heilige Drushina», einer frühen Vorläuferin des «Bundes des Russischen Volkes». 1883 war er Adjutant des Chefs der Sicherheitspolizei von St. Petersburg. Im Jahr darauf wurde er nach Paris geschickt und mit der Leitung sämtlicher geheimpolizeilicher Operationen außerhalb Rußlands betraut. In dieser Position, die er achtzehn Jahre lang (1884-1902) innehatte, erzielte er glänzende Erfolge. Er organisierte ein Netz von Agenturen in Frankreich und der Schweiz, in London und Berlin und verschaffte sich so die Möglichkeit, die Aktivität der russischen Revolutionäre und Terroristen nicht nur im Ausland, sondern auch in Rußland selbst genau zu überwachen. Bald legte er ein außergewöhnliches Talent für Intrigen an den Tag. 1886 sprengten seine Agenten, darunter Henri Bint, die Druckerei der russischen revolutionären Gruppe «Narodnaja Wolja» (Volkswille) in Genf in die Luft, konnten dabei aber den Anschein erwecken, als sei dies das Werk von Verrätern in den Reihen der Revolutionäre. 1890 «entdeckte» er in Paris eine Organisation, die angeblich Bomben für Attentate in Rußland herstellte. In Rußland konnte die Ochrana daraufhin nicht weniger als dreiundsechzig Terroristen festnehmen. Es dauerte neunzehn Jahre, bis der Journalist Burzew – derselbe, der später vor dem Berner Gericht aussagte – die Wahrheit aufdeckte: Die Bomben waren von Ratschkowskis eigenen Leuten auf sein Geheiß hin angefertigt worden. Die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren nicht nur in Rußland, sondern auch in Westeuropa die goldene Zeit der bombenwerfenden Anarchisten und «Nihilisten». 1893 warf Vaillant in der französischen Deputiertenkammer seine ziemlich harmlose, mit Nägeln gefüllte Bombe, und 1894 explodierte eine ganze Anzahl viel 81
gefährlicherer Bomben in Lüttich. Es ist erwiesen, daß das Lütticher Bombenattentat von Ratschkowski provoziert und organisiert wurde; sehr wahrscheinlich stand er auch hinter der Aktion Vaillants. Mit all diesen Unternehmungen verfolgte der schlaue Russe, der mehr als bloß Polizeichef sein wollte, hochpolitische Ziele. Er organisierte Gewalttaten in Frankreich und Belgien, um zunächst ein Rapprochement zwischen der französischen und der russischen Polizei zu erreichen; es sollte die Vorstufe sein zu einem französischrussischen Militärbündnis, das ihm Herzenssache war – und zu dessen Abschluß er tatsächlich in hohem Maße beitrug. Ratschkowski erwarb durch Börsenspekulationen ein Vermögen, das ihm einen großzügigen Lebensstil ermöglichte. Er unterhielt persönliche Beziehungen zu führenden französischen Politikern, darunter Präsident Loubet, und zu russischen Würdenträgern, von denen einige dem Zaren nahestanden. Sein Ehrgeiz wurde durch keine Skrupel gehemmt. Es ist auffallend, daß etliche Persönlichkeiten, die seinen Ambitionen im Wege standen – von General Seliwerstow, der 1890 zur Überprüfung seiner Tätigkeit nach Paris entsandt wurde, bis zu Innenminister Plehwe, der ihn 1902 aus Paris abberief –, ermordet wurden, und zwar von Untergebenen Ratschkowskis in der Geheimpolizei. Dieser geborene Intrigant fand das größte Vergnügen im Fälschen von Dokumenten. Seine Hauptaufgabe als Chef der Auslands«Ochrana» war die Bekämpfung russischer Revolutionäre, die ins Ausland geflüchtet waren. Besonders gern bediente er sich dabei der Methode, Briefe oder Broschüren zu produzieren, in denen angebliche Revolutionäre die revolutionäre Führung angriffen. 1887 erschien in der französischen Presse ein Brief von einem gewissen «P. Iwanow», der sich als enttäuschten Revolutionär bezeichnete und wahrheitswidrig behauptete, die meisten Terroristen seien Juden, 1890 erschien eine Flugschrift mit dem Titel Une confession par un vieillard ancien révolutionnaire, in der die nach London emigrierten Revolutionäre beschuldigt wurden, britische Agenten zu sein. 1892 wurde unter dem berühmten Namen Plechanow ein Brief veröffentlicht, der die Führung der Narodnaja Wolja bezichtigte, sie habe dieses «Bekenntnis» in die Welt gesetzt. Ein paar Wochen später kam ein weiterer Brief, in dem nun wieder Plechanow von angeblichen anderen Revolutionären attackiert wurde. In Wirklichkeit schrieb all diese Dokumente ein und derselbe Mann: Ratschkowski. Ratschkowski trug auch viel zur Entwicklung einer Technik bei, 82
die ein halbes Jahrhundert später in größtem Stil von den Nazis angewandt wurde. Die Methode bestand darin, die gesamte progressive Bewegung, von den gemäßigten Liberalen bis zu den extremsten Revolutionären, als bloßes Werkzeug in den Händen der Juden hinzustellen. Ratschkowski verfolgte damit ein doppeltes Ziel: die progressive Bewegung in den Augen des russischen Bürgertums und des russischen Proletariats zu diskreditieren und gleichzeitig die Mißstimmung, die das zaristische Regime in weiten Bevölkerungskreisen erzeugt hatte, gegen die Juden zu lenken. Unter dem Beweismaterial, das die Kläger beim Berner Prozeß vorlegten, war ein Brief Ratschkowskis aus dem Jahre 1891 an den Direktor des Polizeidepartements in Rußland, worin er seine Absicht mitteilte, eine Kampagne gegen die russischen Juden einzuleiten. Noch aufschlußreicher ist das Buch Anarchie et Nihilisme, das 1892 in Paris unter dem Pseudonym Jehan-Préval erschien. Dieses Buch wurde höchstwahrscheinlich von Ratschkowski inspiriert – es enthält sogar eine seiner berüchtigten Fälschungen –, und es liest sich stellenweise wie ein Rohentwurf der Protokolle. Es erzählt, wie infolge der Französischen Revolution der Jude «absoluter Herr der Situation in Europa» geworden ist und «mit diskreten Mitteln Monarchien und Republiken regiert». Das einzige Hindernis, das der jüdischen Weltherrschaft noch entgegensteht, ist «die moskowitische Festung»; um sie sturmreif zu machen, bemüht sich ein Syndikat ungeheuer reicher und mächtiger Juden in Paris, Wien, Berlin und London, eine Koalition der Nationen gegen Rußland zusammenzubringen. Mit Verblüffung liest man einen Satz, den man schon kennt, weil er so oder ähnlich bei zahllosen Apologeten der Protokolle steht: «Die ganze Wahrheit ist in dieser Formel enthalten, die den Schlüssel zu einer Menge beunruhigender und scheinbar unlösbarer Rätsel liefert.» Die praktische Folgerung, die aus all dem gezogen wird, lautet: Es ist unverzüglich eine französisch-russische Liga zum Kampf gegen die «geheimnisvolle, okkulte und unverantwortliche Macht» der Juden zu schaffen.5 1902 machte Ratschkowski den Versuch, eine solche Liga tatsächlich auf die Beine zu stellen. Die Methode, die er anwandte, war für ihn höchst charakteristisch. Er ließ in Paris ein Flugblatt verteilen, das die Franzosen aufrief, eine «Russische Patriotische Liga» zu unterstützen, die ihren Sitz in Charkow habe. Das Flugblatt war eine 5
Jehan-Preval, Anarchie et Nihilisme, Paris 1892, S. 202-207.
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Fälschung, denn es war so formuliert, als stammte es von der Liga selbst – und die gab es überhaupt nicht. Damit aber nicht genug: der Aufruf führte bittere Klage über Ratschkowski, der die Ziele und die Tätigkeit der Liga falsch darstelle, ja sogar behaupte, sie existiere gar nicht! Doch – so hieß es weiter – was sei schon von einem Geheimdienstchef zu erwarten, der als Agenten einen ehemaligen Revolutionär, einen literarischen Abenteurer und einen Erpresser beschäftige, «dessen Wangen noch die Spuren der Ohrfeigen tragen, die ihm seine Erpressungsversuche 1889 einbrachten!»6 Zum Schluß drückte der Aufruf die Hoffnung aus, Ratschkowski möge seinen Irrtum einsehen und die Liga nach Verdienst würdigen. Das ganze merkwürdige Schriftstück hatte Ratschkowski selbst ausgeheckt, und zwar so geschickt, daß sich nicht nur viele hervorragende Franzosen davon täuschen ließen, sondern sogar der russische Außenminister!7 Diesmal hatte sich Ratschkowski jedoch übernommen, und als der Schwindel herauskam, wurde er von Paris abberufen. Es war aber nur ein vorübergehender Rückschlag. Als 1905 die revolutionäre Bewegung gewaltig zunahm und General Trepow nahezu diktatorische Vollmachten erhielt, sie zu zerschlagen, ernannte er Ratschkowski zum Stellvertretenden Direktor des Polizeidepartements. In dieser Eigenschaft konnte er seine Tätigkeit als Dokumentenfälscher wiederaufnehmen, diesmal in weit größerem und gefährlicherem Maßstab. Im Namen nicht existierender Organisationen wurden riesige Mengen Flugblätter gedruckt, die das Volk und ausdrücklich auch die Soldaten zur Tötung von Juden aufriefen. Und endlich erhielt Ratschkowski auch Gelegenheit, bei der Gründung einer antisemitischen Liga mitzuwirken. Es handelte sich um jenen «Bund des Russischen Volkes», dessen Mitglieder eine so wichtige Rolle bei der Verbreitung der Protokolle spielen sollten, von Butmi im Jahre 1906 bis zu Winberg und Schabelski-Bork in den zwanziger Jahren. Die bewaffneten Banden, die dieser «Bund» organisierte und bezahlte, wurden mit ihrem politischen Terrorismus und ihren Judenmassakern zum direkten Vorbild der Nazis, wie wir sehen werden. Alles in allem ist es nicht verwunderlich, daß der 6
Siehe unten, S. 90.
7 Eine Fotokopie dieses in französischer Sprache abgefaßten Dokuments wurde von den sowjetischen Behörden dem Berner Gericht zur Verfügung gestellt. Eine maschinenschriftliche Abschrift davon befindet sich in der Wiener Library, London (File «Russische Urkunden des Berner Prozesses»).
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Herausgeber der ersten ausländischen Ausgabe der Protokolle, Gottfried zur Beek, behauptete, der 1911 verstorbene Ratschkowski sei auf Befehl der Weisen von Zion ermordet worden. Der Verdacht liegt also sehr nahe, daß Ratschkowski jenes Fälscherstück ins Werk setzte, dessen Resultat die Protokolle waren. Die Aussagen Swatikows und Burzews, das Buch Anarchie et Nihilisme, Ratschkowskis Betätigung als militanter Antisemit und Organisator von Pogromen, seine Vorliebe für Fälschungen und komplizierte Mystifikationen – all das deutet auf ihn. Hier nun ist der Ort, einen weiteren Faden aufzunehmen. Im Jahre 1902, als Ratschkowski gerade seine antisemitische «Russische Patriotische Liga» zu schaffen versuchte, wurde er in eine Hofintrige in St. Petersburg verwickelt, in die auch der spätere Herausgeber der Protokolle, Sergej Nilus, verstrickt war. Sie richtete sich gegen einen Franzosen namens Philippe, der als Gesundbeter am kaiserlichen Hof weilte und die Verehrung und das Vertrauen des Zarenpaares genoß. Ratschkowski und Nilus bezogen beide gegen ihn Stellung. Der Mann, dessen voller Name Philippe-Nizier-Anthelme Vachod lautete, nannte sich stets nur Philippe. Er wurde 1850 geboren und entstammte einer armen Bauernfamilie in Savoyen. Als er sechs Jahre alt war, betrachtete ihn sein Dorfpfarrer als vom Teufel besessen; mit dreizehn Jahren begann er sich als Gesundbeter zu betätigen; später ließ er sich in Lyon als «Magnetiseur» nieder. Da er keine medizinische Ausbildung hatte, wurde ihm die ärztliche Tätigkeit untersagt, und er bekam es dreimal mit den Gerichten zu tun; trotzdem behandelte er weiterhin Patienten. Wie es scheint, besaß er tatsächlich eine außergewöhnliche intuitive Begabung und erzielte durch Suggestion mehrere bemerkenswerte Heilungen. Als der Zar und die Zarin 1901 Frankreich besuchten, wurde ihnen Philippe vorgestellt. Die beiden «montenegrinischen Prinzessinnen» Miliza und Anastasia, Töchter des Fürsten Nikola von Montenegro und mit russischen Großfürsten verheiratet, vermittelten die Bekanntschaft in der Hoffnung, sich damit bei dem kaiserlichen Paar beliebt zu machen. Der Zar, ein schwacher, schüchterner, mittelmäßiger Mensch, der unter der Bürde der autokratischen Macht litt, sehnte sich nach einem «heiligen Mann», einem Vermittler zwischen ihm und Gott, als dessen legitimen, aber allzu unzulänglichen Stellvertreter er sich fühlte. Die Zarin war hysterisch, und ihre seelische Labilität wurde durch die ständigen Intrigen bei Hofe ebenso wie durch die Bombenanschläge der Terroristen nur immer 85
schlimmer; auch sie war bereit, sich jedem unterzuordnen, der ihr Trost und ein gewisses Gefühl der Sicherheit gab. Hinzu kam, daß das Kaiserpaar vier Töchter, aber keinen Sohn hatte und sich sehnlichst einen wünschte. Ein Scharlatan, der vorgab, die Antwort auf dieses Problem zu wissen, konnte Macht über die beiden gewinnen – ebenso wie später Rasputin, als es darum ging, den an der Bluterkrankheit leidenden Thronfolger am Leben zu erhalten. Kein Wunder, daß Philippe nach Zarskoje Selo eingeladen und mit Ehrungen überhäuft wurde. Noch in Frankreich hatte der Zar an die französische Regierung das Ansuchen gerichtet, dem Quacksalber ein medizinisches Diplom zu verleihen. Selbstverständlich war ihm diese Bitte abgeschlagen worden. Aber in Rußland war er der Herr; so veranlaßte er die St. Petersburger Militärärztliche Akademie, Philippe den Grad eines Militärarztes zuzuerkennen, und er selbst ernannte ihn zum Staatsrat im Generalsrang. Aber während das Kaiserpaar, die «montenegrinischen Prinzessinnen» und deren Ehemänner Philippe umschmeichelten und beinahe anbeteten, hatte er auch mächtige Feinde; er befand sich in einer ebenso umstrittenen und gefährdeten Position wie später Rasputin. Besonders verhaßt war er den Kreisen um die Kaiserinmutter Maria Fjodorowna und die Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna. In dem Bestreben, Philippe unmöglich zu machen, wandten sich diese Gruppen an Ratschkowski um Hilfe. Ratschkowski wurde gebeten, Informationen über Philippes Vergangenheit zu beschaffen. Dank seiner guten Verbindungen zur französischen Polizei war er in der Lage, einen detaillierten – und zweifellos im Sinne seiner Auftraggeber gefärbten – Bericht abzufassen. Als er Anfang 1902 St. Petersburg besuchte, brachte er den Bericht mit und zeigte ihn zunächst dem Innenminister Sipjagin. Dieser riet ihm, das Schriftstück ins Feuer zu werfen. Ratschkowski hielt sich nicht an den Rat; er legte den Bericht dem Kommandanten des kaiserlichen Palastes vor und schrieb anscheinend auch einen Brief an die Kaiserinmutter, worin er Philippe als Werkzeug der Freimaurer bezeichnete. Sipjagins Befürchtungen erwiesen sich als berechtigt. Zwar fügte sich der Zar dem Druck von verschiedenen Seiten und lud Philippe nicht ein, seinen ständigen Wohnsitz in Rußland zu nehmen, aber über Ratschkowski war er wütend. Im Oktober 1902 wurde Ratschkowski aus Paris abberufen und im Jahr darauf ohne Pension in den Ruhestand versetzt; man verbot ihm auch die Ausreise nach Frankreich. Diese Ungnade verdankte er mindestens 86
ebensosehr seiner Kampagne gegen Philippe wie seinen Manövern mit der imaginären Patriotischen Liga. Er nahm an dem unglücklichen Wunderdoktor, der unwissentlich zur Ursache seines Sturzes geworden war, grausame Rache: Auch als Privatmann unterhielt er noch gute Verbindungen zur französischen Polizei und nutzte sie gegen den nach Frankreich zurückgekehrten Philippe weidlich aus. Philippe wurde Tag und Nacht von Polizeispitzeln überwacht, seine Briefe wurden geöffnet, man verleumdete ihn in der Presse. Zermürbt starb er im August 1905. Eine Woche später erreichte der wieder zu Gunst gelangte Ratschkowski den Gipfelpunkt seiner Karriere: Er wurde Stellvertretender Direktor des Polizeidepartements. In die Intrige gegen Philippe wurde auch Sergej Alexandrowitsch Nilus verwickelt. Diese Vorgänge hat der Franzose Alexandre du Chayla, der viele Jahre in Rußland lebte und 1909 oft mit Nilus zusammen war, im Mai 1921 in einem Artikel in La Tribune juive geschildert. Wir folgen hier seinem Bericht. Nilus war Grundbesitzer, verlor, während er sich in Frankleich aufhielt, sein ganzes Vermögen, kehrte nach Rußland zurück und zog fortan als Pilger von Kloster zu Kloster. Um 1900 schrieb er ein Buch, in dem er seine Bekehrung vom atheistischen Intellektuellen zum gläubigen orthodoxen Christen und Mystiker schilderte. Das Buch – die erste Fassung von Das Große im Kleinen, ohne die Protokolle – wurde in religiösen und konservativen Blättern günstig besprochen und kam so zur Kenntnis der Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna. Die Großfürstin war eine sehr fromme Frau (sie wurde später Nonne), aber sie hegte tiefen Argwohn gegen die mystischen Abenteurer und Wundertäter, die der Zar um sich versammelte. Verantwortlich für diesen Zustand war ihrer Meinung nach der Beichtvater des Zaren und der Zarin, Erzpriester Janischew, und sie nahm sich vor, ihn durch einen Mann zu ersetzen, den sie für einen echten Mystiker und unerschütterlichen Orthodoxen ansah: Sergej Nilus. Ende 1901 oder Anfang 1902 wurde Nilus nach Zarskoje Selo geholt. Zunächst kam es darauf an, Philippe zu verdrängen. Die Clique seiner Feinde hatte folgenden Plan entworfen: Nilus sollte zum Priester geweiht und mit einer Hofdame der Zarin, Jelena Alexandrowna Oserowa, verheiratet werden.8 Dann wollte man Zar und Zarin mit vereinten Kräften bearbeiten, ihn zu ihrem Beichtvater zu wählen. Gelang dies, so würde kein Raum mehr für Philippe und ähnliche «heilige 8
Priester der russisch-orthodoxen Kirche müssen verheiratet sein.
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Männer» sein. Der Plan war schlau erdacht, aber die Parteigänger Philippes konnten ihn durchkreuzen. Sie lenkten die Aufmerksamkeit der geistlichen Behörden auf gewisse Punkte in Nilus’ Vergangenheit, die eine Priesterweihe ausschlossen. (Vermutlich handelte es sich dabei um seine zahlreichen Liebesaffären.) Nilus fiel in Ungnade und mußte den Hof verlassen. Einige Jahre später heiratete er tatsächlich Jelena Oserowa, aber die Chance, Beichtvater des Zaren zu werden, war endgültig vertan. Spielten die Protokolle in der Intrige gegen Philippe eine Rolle? Und wurde von ihnen auf Anstiften Ratschkowskis Gebrauch gemacht? Nach du Chayla sind beide Fragen mit Ja zu beantworten. Nilus, so berichtet er, war überzeugt, daß Ratschkowski die Protokolle «entdeckt» habe; Nilus nannte Ratschkowski «einen ausgezeichneten und sehr aktiven Mann, der seinerzeit viel getan hat, um die Krallen der Feinde Christi zu beschneiden» und der «aufopfernd gegen die Freimaurerei und die satanischen Sekten gekämpft hat».9 Nach du Chayla ging Ratschkowski von folgenden Erwägungen aus, als er Nilus die Protokolle schickte. Die Protokolle «enthüllen» eine teuflische Verschwörung von Freimaurern und Juden oder vielmehr von Freimaurern, die mit Juden identifiziert werden. Nun gehörte Philippe den Martinisten an, einer Vereinigung, die sich auf die Lehren des «unbekannten Philosophen» Claude de Saint-Martin, eines Okkultisten aus dem 18.Jahrhundert, berief. Die Martinisten waren keine Freimaurer, aber es war nicht zu erwarten, daß der Zar darüber genau Bescheid wußte. Wenn man ihn überzeugen konnte, daß Philippe der Agent einer Verschwörung war, wie sie in den Protokollen geschildert wurde, würde er ihn gewiß zum Teufel schicken. Nach den Maßstäben der Ochrana war das eine völlig folgerichtige Kalkulation, und sie war genau von der Art, wie Ratschkowski sie liebte. Wie zuverlässig ist du Chayla? Gelegentlich unterlaufen ihm Fehler, so, wenn er sagt, Nilus habe eine erste Ausgabe der Protokolle 1902 veröffentlicht. Aber im großen und ganzen zeigt er sich wohlinformiert. In seinem Artikel von 1921 sagt er zum Beispiel, Nilus habe 1905 eine Ausgabe der Protokolle in Zarskoje Selo im Verlag der örtlichen Rotkreuz-Organisation herausgebracht. Das stimmt genau: Es handelt sich um die dritte Auflage des Buches Das Große im 9
A. du Chayla, «Serge Alexandrovitch Nilus et les Protocoles des Sages de Sion (1909-1920)», in La Tribune juive, Paris, 14. Mai 1921, S. 3/4.
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Kleinen, die die Protokolle enthält. Wichtiger noch: Er fügt hinzu, daß diese Ausgabe von Jelena Oserowa ermöglicht worden sei – und auch das erwies sich Jahre später, als die sowjetischen Behörden Fotokopien von Dokumenten an das Berner Gericht sandten, als zutreffend. Unter diesen Dokumenten ist ein Briefwechsel mit dem Moskauer Zensurkomitee, aus dem deutlich hervorgeht, daß sich Oserowa kraft ihrer Stellung als Hofdame dafür einsetzte, das Buch ihres Verlobten zum Druck zu befördern. Die Dokumente enthüllen noch ein weiteres Detail, von dem du Chayla nichts wissen konnte. Sie enthalten einen – bisher unbeachtet gebliebenen – Hinweis darauf, daß Ratschkowski wahrscheinlich mit Nilus selbst in Verbindung stand oder wenigstens dessen Manuskript der Protokolle irgendwie in Händen gehabt hatte. Das Moskauer Zensurkomitee nahm in seiner Sitzung vom 28. September 1905 einen Bericht des Staatsrats und Zensors Sokolow entgegen. Darin wurde folgender Satz als aus Nilus’ Manuskript der Protokolle stammend zitiert: «Natürlich haben der Chef der russischen Agentur10, der Jude Efron, und seine Agenten, die gleichfalls Juden sind, über diese Angelegenheiten nicht an die russische Regierung berichtet.»11 Das Komitee erteilte die Druckgenehmigung mit der Auflage, daß alle Eigennamen im Manuskript zu streichen seien. Der Name Efron wurde also getilgt, bevor das Werk in Druck ging; aber man erkennt noch die Stelle, wo er erscheinen sollte, nämlich im Nachwort zu den Protokollen. Dieses Nachwort enthalten auch alle anderen frühen russischen Ausgaben der Protokolle; es steht sowohl in der SnamjaVeröffentlichung als auch in der Broschüre Butmis. Keine dieser Publikationen war der Auflage betreffend diese Eigennamen unterworfen – die Snamja-Version erschien zwei Jahre bevor das Moskauer Zensurkomitee seine Weisung erteilte –, und doch enthält keine von ihnen den Namen Efron. Wir können deshalb annehmen, daß der Satz über Efron eigens in Nilus’ Manuskript eingefügt wurde. Und das kann nur ein Feind Efrons getan oder veranlaßt haben. Wer war Efron, und wer käme als sein Feind in Frage? Akim Efron oder Effront war der Pariser Geheimagent des russischen Finanzministeriums. Als er 1909 starb, bezeichnete ihn die franzö10
in Paris.
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Eine Fotokopie des Berichts des Zensurkomitees wurde von den sowjetischen Behörden nach Bern geschickt. Deutsche Übersetzung in der Wiener Library, File «Russische Urkunden des Berner Prozesses» (hier aus dem Englischen übersetzt. Der Übers.)
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sische Presse als den Leiter einer der Russischen Botschaft beigegebenen politischen Agentur. Er gehörte sicherlich nicht zu Ratschkowskis Organisation, sondern beschäftigte seine eigenen Agenten und sandte seine eigenen Berichte nach St. Petersburg. Man darf vermuten, daß dies schon genügt hätte, ihm Ratschkowskis Haß einzutragen; aber wir sind auf Vermutungen nicht angewiesen, sondern haben Beweise. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß Efron während der Pariser Weltausstellung im russischen Pavillon bei einem Erpressungsversuch öffentlich geohrfeigt wurde. Efron muß also der Mann gewesen sein, von dem Ratschkowski in seinem gefälschten Aufruf für die «Russische Patriotische Liga» sagte, seine Wangen trügen noch die Spuren der Ohrfeigen, die er 1889 wegen versuchter Erpressung erhalten habe.12 Die im gleichen Aufruf enthaltene Behauptung, Efron sei einer von Ratschkowskis Leuten, war eine bewußte Lüge, und zwar eine Lüge von jener vertrackten, hinterhältigen Art, wie sie der auswärtige Ochrana-Chef so liebte. Die Erwähnung Efrons in Nilus’ Manuskript legt also den Schluß nahe, daß zwischen dem Verfolger und dem Rivalen Philippes eine direkte oder indirekte Verbindung bestand.
2 Wir haben gesehen, was für ein Mann Ratschkowski war, und es ist wohl angebracht, uns jetzt etwas näher mit Nilus zu beschäftigen. Wir besitzen über ihn ziemlich viele Informationen, darunter auch recht absonderliche. Die ausführlichste Darstellung hat Alexandre du Chayla geliefert.13 In dem Wunsche, das innere Leben der orthodoxen Kirche kennenzulernen, besuchte du Chayla im Januar 1909 das berühmte Kloster Optina Pustyn, im damaligen Gouvernement Kaluga gelegen, einige Kilometer von der Stadt Koselsk entfernt. Optina Pustyn hatte im russischen Geistesleben des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt. Eine seiner führenden Persönlichkeiten diente als Vorbild für den Vater Sosima in Dostojewskis Die Brüder Kara12
Siehe oben, S. 84.
13
La Tribune juive, a. a. O.
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masow; auch Tolstoi besuchte das Kloster oft und lebte sogar eine Zeitlang dort. In einigen Landhäusern nahe beim Kloster wohnten Laien, die dem weltlichen Leben bis zu einem gewissen Grade entsagt hatten. Du Chayla bezog in einem dieser Häuser Quartier. Am Tag nach seiner Ankunft machte ihn der Abt, Archimandrit Xenofon, mit einem seiner Nachbarn bekannt: Sergej Nilus. Nilus war damals siebenundvierzig Jahre alt. Du Chayla beschreibt ihn als «einen Mann von echt russischem Typ, groß und stark, mit einem grauen Bart und tiefem Augenblau, aber mit verschleiertem, etwas verwirrtem Blick. Er trug Stiefel und ein russisches Hemd, mit einem Gürtel, auf den ein Gebet gestickt war.» Er und die Seinen bewohnten vier Zimmer eines großen Landhauses; die übrigen Räume des Hauses dienten als Heim für Krüppel, Schwachsinnige und Geisteskranke, die dort in der Hoffnung lebten, auf wunderbare Weise geheilt zu werden. Die finanzielle Grundlage des ganzen Hausstandes war die Pension, die Frau Nilus, vordem Oserowa, als ehemalige Hofdame vom kaiserlichen Hof erhielt. Es fiel du Chayla auf, daß Frau Nilus ihrem Mann bedingungslos ergeben war. Sie unterhielt sogar die freundschaftlichsten Beziehungen zu einer früheren Geliebten ihres Mannes, die mit im Hause wohnte und, da sie ihr Vermögen verloren hatte, auch von Frau Nilus’ Pension lebte. Du Chayla verbrachte neun Monate in Optina Pustyn und lernte Nilus in dieser Zeit gut kennen. Nilus hatte früher ein Gut im Gouvernement Orel besessen. Er war ein gebildeter Mann, hatte an der Universität Moskau Jura studiert, sprach ausgezeichnet Französisch, Deutsch und Englisch und war gut bewandert in der zeitgenössischen europäischen Literatur. Aber er war launenhaft, unbeherrscht und despotisch, und zwar in solchem Maße, daß er eine amtliche Stellung in Transkaukasien hatte aufgeben müssen. Er hatte auch versucht, sein Gut zu bewirtschaften, doch das war gleichfalls nicht gut gegangen. Schließlich war er mit seiner Geliebten ins Ausland gefahren und hatte in Biarritz gelebt – bis er eines Tages von seinem Verwalter erfuhr, daß er ruiniert war. Diese Nachricht rief bei Nilus eine schwere innere Krise hervor und veränderte seine Lebensauffassung vollkommen. Bis dahin war er theoretischer Anarchist gewesen und hatte Nietzsche verehrt. Jetzt bekehrte er sich zum orthodoxen Christentum und wurde ein glühender Anhänger der zaristischen Autokratie. Er fühlte sich als Mystiker und vom Himmel gesandter Verteidiger des Heiligen 91
Rußland. Die moderne Zivilisation hatte er von jeher abgelehnt; jetzt sah er in ihr eine Verschwörung der Mächte der Finsternis. Er wurde durch und durch Antirationalist. Wissenschaft, technischer Fortschritt, Demokratie, selbst der Gebrauch der Vernunft bei der Behandlung religiöser und philosophischer Probleme – all das waren für Nilus, wie du Chayla berichtet, «die Greuel der Verwüstung am heiligen Ort» und Anzeichen für die Heraufkunft des Antichrist. Dieser Haltung werden wir in der einen oder anderen Form bei den Protokoll-Gläubigen immer wieder begegnen. Auf ein paar Seiten, die in einer Anthologie religiöser Überspanntheiten nicht fehlen dürften, hat du Chayla festgehalten, was die Protokolle ihrem berühmtesten Herausgeber bedeuteten. «Nilus nahm sein Buch aus dem Bücherschrank und begann, mir die wichtigsten Stellen des Textes und seiner Kommentare ins Französische zu übersetzen. Gleichzeitig beobachtete er meinen Gesichtsausdruck, denn er nahm an, diese Enthüllung werde mir den Atem verschlagen. Er war ziemlich betroffen, als ich ihm erklärte, das sei für mich nichts Neues, und dieses Dokument sei sichtlich eng verwandt mit den Pamphleten Edouard Drumonts oder der großen Mystifikation Léo Taxils ... Nilus war verstimmt und enttäuscht; er erwiderte, mein Urteil beruhe auf einer oberflächlichen und fragmentarischen Kenntnis der Protokolle; zudem schwäche die mündliche Übersetzung den Eindruck ab. Ich müsse unbedingt das Ganze auf mich einwirken lassen. Es sei ja für mich leicht, die Protokolle zu lesen, denn das Original sei in französischer Sprache abgefaßt. Nilus bewahrte das Manuskript der Protokolle nicht in seinem Hause auf, weil er fürchtete, es könnte ihm von den Juden gestohlen werden. Ich erinnere mich, wie sehr mich seine Aufregung belustigte, als einmal ein jüdischer Apotheker aus Koselsk, der mit einem Verwandten im Klosterwald spazierenging, auf der Suche nach dem kürzesten Weg zur Fähre aus Versehen in Nilus’ Garten geriet. Unser armer Sergej Alexandrowitsch war lange überzeugt, der Apotheker habe das Gelände erkunden wollen. Später erfuhr ich, daß das Heft mit den Protokollen im Januar 1909 bei dem Priester-Mönch Daniil Bolotow14 (einem in Petersburg recht renommierten Porträtmaler) in Verwahrung war und nach 14
Derselbe Mönch figuriert in einer etwas zweifelhaften Rolle im Bericht von Madame Kaschkina; siehe unten, S. 98.
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dessen Tod bei dem Mönch Alexej (einem ehemaligen Ingenieur) in der Einsiedelei zum heiligen Johannes, eine halbe Werst vom Kloster entfernt. Einige Zeit nach unserem ersten Gespräch über die Protokolle von Zion, gegen vier Uhr nachmittags, brachte mir eine Patientin aus Nilus’ Hospital einen Zettel: S. A. bat mich, in einer dringenden Angelegenheit zu ihm zu kommen. Ich fand Sergej Alexandrowitsch in seinem Arbeitszimmer; er war allein, seine Frau und Madame K. waren zur Vesper gegangen. Es dämmerte, doch war es hell, denn Schnee bedeckte die Erde. Auf dem Schreibtisch bemerkte ich etwas wie einen ziemlich großen Umschlag aus schwarzem Stoff, geschmückt mit einem dreibalkigen Kreuz und der Inschrift ‹In diesem Zeichen wirst du siegen›. Außerdem war eine kleine Papier-Ikone des Erzengels Michael auf den Umschlag geklebt. All das hatte sichtbar das Gepräge des Exorzismus. Sergej Alexandrowitsch bekreuzigte sich dreimal vor der großen Ikone der Mutter Gottes von Smolensk, einer Kopie der berühmten Ikone, vor der die russische Armee am Vorabend der Schlacht von Borodino gebetet hatte; dann öffnete er den Umschlag und entnahm ihm ein in Leder gebundenes Heft. Ich erfuhr hernach, daß Umschlag und Einband in der Werkstatt des Klosters unter der persönlichen Aufsicht Nilus’ hergestellt worden waren; er hatte selbst das Manuskript hingebracht und wieder abgeholt, da er fürchtete, es könnte gestohlen werden. Das Kreuz und die anderen Symbole waren von Jelena Alexandrowna15 nach den Angaben ihres Mannes gezeichnet worden. ‹Das ist sie›, sagte Nilus, ‹die Charta des Reichs des Antichrist!› Er schlug das Heft auf ... Das Papier war dick und gelblich; der Text war in französischer Sprache von verschiedenen Händen und, wie mir schien, mit verschiedenen Tinten geschrieben. ‹Sehen Sie›, sagte Nilus, ‹die verschiedenen Handschriften, bei den Sitzungen des Kahal versahen jedesmal andere Personen das Amt des Sekretärs.› Offensichtlich erblickte er in dieser Besonderheit einen Beweis dafür, daß dieses Manuskript ein Originaldokument sei. Er hatte jedoch in diesem Punkt keine feste Meinung, denn ein andermal hörte ich ihn sagen, das Manuskript sei nur eine Abschrift. Nachdem Sergej Alexandrowitsch mir das Manuskript gezeigt hatte, 15
Oserowa.
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legte er es auf den Tisch, schlug die erste Seite auf, bot mir seinen Sessel an und sagte: ‹So, nun lesen Sie!› Beim Lesen des Manuskripts fielen mir gewisse Eigentümlichkeiten des Textes auf. Er enthielt orthographische Fehler, und vor allem waren seine Wendungen nicht französisch. Es ist zu lange her, als daß ich sagen könnte, der Text habe ‹Russizismen› enthalten. Eines steht jedoch außer Zweifel: Das Manuskript war von einem Ausländer verfaßt worden. Ich las zweieinhalb Stunden lang. Als ich fertig war, nahm S. A. Nilus das Heft, steckte es wieder in seinen Umschlag und verschloß diesen in der Schublade des Schreibtischs. ... Ich erklärte ihm ohne Umschweife, daß ich bei meinem bisherigen Standpunkt bliebe: Ich glaubte nicht an die ‹Weisen von Zion›. All das gehöre zum Genre ‹Entlarvter Satan›, ‹Der Teufel im 20. Jahrhundert› und dergleichen Mystifikationen. Die Züge Sergej Alexandrowitschs verdüsterten sich. ‹Sie stehen wahrlich unter dem Einfluß des Teufels›, sagte er. ‹Es ist die größte List Satans, die Menschen dahin zu bringen, daß sie nicht nur seinen Einfluß auf die Dinge dieser Welt leugnen, sondern sogar seine Existenz. Was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen zeige, wie das, was in den Protokollen steht, sich erfüllt, wie überall das geheime Zeichen des nahen Antichrist erscheint, wie überall die baldige Ankunft seines Reichs spürbar wird?› Nilus erhob sich, und wir gingen in sein Arbeitszimmer. Er nahm sein Buch und eine Mappe, und aus seinem Schlafzimmer brachte er einen kleinen Kasten herbei, den ich später das ‹Antichrist-Museum› genannt habe. Abermals begann er, aus seinem Buch und aus Materialien vorzulesen, die er zur Veröffentlichung vorbereitete. Er las lauter Dinge vor, die irgendwie die eschatologischen Erwartungen des zeitgenössischen Christentums ausdrücken konnten: die Träume des Metropoliten Filaret, Zitate aus einer Enzyklika Pius’ X., Prophezeiungen des heiligen Serafim von Sarow und katholischer Heiliger, Bruchstücke von Ibsen, Solowjew und Mereschkowski. Er las sehr lange. Dann ging er zu den ‹Beweisstücken› über. Er öffnete seinen Kasten. Darin befanden sich in unbeschreiblichem Durcheinander Kragen, Radiergummis, Haushaltsgegenstände, Insignien verschiedener technischer Schulen, sogar das Monogramm der Kaiserin Alexandra Fjodorowna und das Kreuz der Ehrenlegion. Seine Halluzination zeigte ihm auf all diesen Gegenständen das ‹Siegel des Antichrist› in Gestalt eines Dreiecks oder zweier übereinanderge94
schobener Dreiecke ... Trug ein Gegenstand eine Fabrikmarke, die auch nur halbwegs Dreiecksform hatte, so war ihm das Grund genug, das Stück in sein Museum einzureihen. Fast alle diese Beobachtungen sind in seine Ausgabe der Protokolle von 1911 eingegangen. In wachsender Aufregung und Unruhe, von einer Art mystischem Schrecken gepackt, erklärte mir mein Gesprächspartner, das Zeichen des ‹Sohnes des Verderbens› beflecke alles, erscheine sogar in den Mustern von Kirchenornamenten und im Laubwerk der großen Ikone hinter dem Altar in der Kirche der Einsiedelei. Ich empfand etwas wie Entsetzen. Es war fast Mitternacht. Der Blick, die Stimme, die reflexartigen Gesten – alles an Nilus erweckte das Gefühl, als wandelten wir am Rande eines Abgrunds und als könnte seine Vernunft jeden Augenblick in Wahnsinn umschlagen.»16 Du Chayla berichtet weiter, daß Nilus 1911, nach der Neuauflage seines Buches, Briefe an die östlichen Patriarchen, den Heiligen Synod und den Papst sandte und die Einberufung eines ökumenischen Konzils forderte, das angesichts der bevorstehenden Ankunft des Antichrist über gemeinsame Maßnahmen zur Verteidigung des Christentums beraten solle. Über das gleiche Thema begann er den Mönchen von Optina Pustyn zu predigen – und zwar so wirkungsvoll, daß er aufgefordert wurde, das Kloster auf immer zu verlassen. Zweifellos glaubte Nilus wirklich an die jüdische Weltverschwörung. Aber mit jener seltsamen Fähigkeit zum «Zwiedenken», die so charakteristisch für Fanatiker ist, räumte er zuweilen ein, daß die Protokolle selbst unecht sein könnten. Einmal fragte du Chayla ihn, ob nicht Ratschkowski vielleicht getäuscht worden sei und er, Nilus, mit einer Fälschung arbeite. Nilus erwiderte: «Kennen Sie mein Lieblingszitat vom heiligen Paulus? ‹Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.› Gut, nehmen wir an, daß die Protokolle unecht sind. Aber kann Gott sie nicht dazu benutzen, die Frevel zu entlarven, die vorbereitet werden? Hat nicht Bileams Esel geweissagt? Kann nicht Gott um unseres Glaubens willen Hundeknochen in wundertätige Reliquien verwandeln? So kann er auch die Verkündung der Wahrheit in einen lügenden Mund legen!»17 Erinnerungen an Nilus besitzen wir noch von anderer Seite. Am 16 A. du Chayla, in: La Tribune juive, a. a. O., S. 3/4. 17
Ebda., S. 4.
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1. Juni 1934, als der Berner Prozeß vorbereitet wurde, gab Maria Dmitrijewna Kaschkina, geborene Gräfin Buturlin, eine Erklärung ab, die bisher nicht veröffentlicht worden ist, aber gewiß bekanntgemacht zu werden verdient, und nicht allein deshalb, weil sie Licht auf die Persönlichkeit von Sergej Nilus wirft. Wenn man in die Welt der Protokolle eindringt, hat man zeitweise das Gefühl, in diesem Dunst von Aberglauben, Beschränktheit und Scharlatanerie ersticken zu müssen. Da tut es wohl, daran erinnert zu werden, daß es auch im zaristischen Rußland Menschen mit gesunder Skepsis gab, die Irrwitz und Gaunerei erkannten und beim Namen nannten – und zwar konnte man solche Menschen nicht nur unter städtischen Intellektuellen finden, sondern auch unter Gutsbesitzern und Bauern. Die wichtigsten Teile der Erklärung lauten: «Im Jahre 1905 heiratete ich Kaschkin, der ein Gut im Bezirk Koselsk im Gouvernement Kaluga besaß ... Unser Gut lag etwa zweieinhalb Meilen von Optina Pustyn entfernt – der Grund, auf dem das Kloster erbaut war, war eine Schenkung der Vorfahren meines Mannes ... Ich lernte Nilus bald nach meiner Ankunft auf dem Gut kennen und verkehrte mit ihm während der ganzen Jahre, die ich dort lebte ... In all diesen Jahren lebte er im Kloster ... Er war als Schriftsteller bekannt; er gab sein Buch Das Große im Kleinen jedem, den er traf. Abt war der Archimandrit Xenofon, ein guter und ehrlicher, aber gänzlich ungebildeter Mann. Er war von Nilus beeindruckt, und noch mehr beeindruckt war er, als Nilus versprach, ihm die Geschichte des Klosters zu widmen, die er schreiben wollte; da schmolz Xenofon gänzlich dahin und öffnete ihm alle seine Archive. Und er erlaubte ihm nicht nur, die Archive zu nutzen, sondern oft schenkte er ihm einfach die Dokumente ... Mein Mann erfuhr davon und war empört. ‹Nilus wird das ganze Archiv plündern›, pflegte er zu sagen ... Mein Mann hielt Nilus überhaupt für einen sehr undurchsichtigen und zweifelhaften Charakter, auf den man sehr genau achthaben müsse. Diese Ansicht gründete sich natürlich nicht auf Nilus’ Liebe zu Dokumenten des Archivs, sondern auf viel schlimmere Dinge. Es muß hier gesagt werden, daß Optina Pustyn in jenen Jahren ein Sammelpunkt für ‹heilige Narren› aller Art war. Unter diesen ragte ‹der barfüßige Mitja Koselski› besonders hervor ... Von Beruf war er Fleischer und stammte aus der Stadt Koselsk ... Er war ein großer starker Mann, konnte aber kaum ein erkennbares Wort herausbringen; er war ein richtiger Idiot. Es war unmöglich ihn zu verstehen. Trotzdem stand er in dem Rufe, er könne Teufel austreiben ... 96
Seine Methoden ... waren mehr als sonderbar: Er versetzte seinen Patienten Faustschläge, vor allem auf den Magen, er steckte sie in Fässer und so weiter. Die Leute sagten, mitunter wirkten seine Kuren. Berühmt wurde er, nachdem er die Witwe eines reichen Kaufmanns geheilt hatte – wenn ich mich recht entsinne, hieß sie Iwanowa und kam aus Moskau. Mitjas Diagnose lautete, sie habe sieben Teufel im Leib – und er trieb sie alle mit seinen Methoden aus. Die dankbare Witwe heiratete ihn. Ihr Vermögen war beträchtlich. Nun wurde Mitja gewaschen und eingekleidet und hielt sich eigene Pferde – ich habe ihn deutlich vor Augen, wie er zurückgelehnt in seinem Wagen sitzt, die Beine lang ausgestreckt, jeder Zoll ein Sieger ... In diesen Kreisen verkehrte Nilus ... Sein eigenes Privatleben gab Anlaß zu vielen Bedenken. Er wohnte in einem kleinen Haus, das zum Kloster gehörte; außer seiner Frau, der geborenen Oserowa, lebten bei ihm seine erste Frau, die nicht offiziell geschieden war, und zeitweise noch eine andere, stets kränkelnde Frau mit einem Mädchen von elf oder zwölf Jahren. Es hieß, die Kleine sei Nilus’ Tochter. In Nilus’ Kreisen wurde sie als Medium in spriritistischen Sitzungen benutzt. Sie blieb bei Nilus, als ihre Mutter fortging ... Man konnte sie alle zusammen Spazierengehen sehen. Nilus mit seinem langen weißen Bart ging in der Mitte; gewöhnlich trug er ein weißes Bauernhemd mit einem Mönchszingulum als Gürtel. Zu beiden Seiten gingen seine Frauen, die erste und die zweite, als aufmerksames Publikum; sie hingen an seinen Augen und lauschten jedem seiner Worte. Das kleine Mädchen und seine Mutter folgten mit ein paar Schritten Abstand. Wenn sie den Wald erreicht hatten, ließen sie sich unter den Bäumen nieder. Oserowa fing an, etwas zu zeichnen – sie hatte ein bißchen künstlerisches Talent. Die erste Frau ... machte irgendeine Handarbeit. Nilus selbst pflegte sich hinzulegen und sagte selten etwas. Wie man mir erzählte, hatte dieser Friede nicht von Anfang an in Nilus’ Familie geherrscht – zunächst, zu Beginn ihrer Ehe, hatte Oserowa zu rebellieren versucht. Es gab Szenen, vor allem wegen des kleinen Mädchens. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Aber Oserowa gab bald nach ... Nilus machte sie sich leicht gefügig ... Die ganze Familie lebte von ihrer Pension ... Nilus pflegte Umgang mit den seltsamen Gestalten, die um das Kloster ihr Wesen trieben ... Besonders viel gab er sich mit Mitja Koselski ab, den er in die höheren Sphären der Gesellschaft einzuführen versuchte. Als Ehemann der Oserowa hatte Nilus Beziehun97
gen zum kaiserlichen Hof ... und er benutzte sie, um Mitja zu fördern. Einer von Nilus’ Freunden im Kloster war ein Mönch namens Daniil – eine ziemlich zweifelhafte Persönlichkeit, aber ein ganz guter Maler. Sicherlich mit Nilus’ Wissen, möglicherweise auf sein Betreiben, malte dieser Daniil ein Bild. Es zeigte den Zaren, die Zarin und ihren Sohn, in Wolken gehüllt ... Diese Wolken waren voll von Teufeln mit Hörnern, Schwänzen und Pferdehufen, die alle den Zarewitsch bedrohten, nach ihm griffen, ihm die Zunge herausstreckten. Aber durch dieses Gedränge von Teufeln schreitet fest und sicher Mitja Kaljada18, der furchtlose Kämpfer gegen die satanischen Mächte, um den Zarensohn zu schützen ... Mit Nilus’ Hilfe wurde dieses Gemälde nach St. Petersburg geschickt. Mann kann sich vorstellen, was für eine Reklame Nilus dort für Mitja gemacht haben muß. Jedenfalls wurde Mitja nach St. Petersburg beordert und dem Zaren und der Zarin vorgestellt. Nilus begleitete ihn als Interpret der unverständlichen Laute, die er von sich gab; in dieser Eigenschaft hatte er sich schon vorher bewährt. Mitja fuhr erster Klasse. Man kann sich vorstellen, welchen Eindruck diese Reise Mitjas auf die Leute in unserer Gegend machte. Die Mönche genossen nicht viel Achtung, besonders nicht bei den Bauern. Wer die Mönche aus der Nähe sah, wußte, daß in ihrem Leben nicht viel Heiligkeit anzutreffen war – nicht weit vom Kloster gab es ein ganzes Dörfchen, das mit den ‹Sünden der Mönche› bevölkert war. Die Ansässigen mißtrauten besonders all diesen ‹heiligen Bettlern› und ‹Narren Gottes› – sie hielten sie mit wenigen Ausnahmen für Faulenzer und Scharlatane. Und nun stellte sich plötzlich heraus, daß der Zar diesen Scharlatan Mitja zu sich eingeladen hatte. Ich habe selbst gehört, wie einige unserer rechtschaffensten und nachdenklichsten Bauern ihre Verwirrung äußerten. ‹Was soll das bedeuten?› fragten sie. ‹Begreift der Zar nicht? Oder hält er uns zum besten?› Die örtlichen Gutsbesitzer und Beamten waren gleichfalls schokkiert. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit unserem örtlichen Polizeichef Rachmaninow ... Er zeigte mir Telegramme vom Minister, worin dieser ihn aufforderte, Mitja in jeder Weise behilflich zu sein, ihm bei der Bahn ein Sonderabteil erster Klasse zu besorgen und so weiter. Natürlich tat er, was ihm geheißen war, aber er verhehlte nicht seine Bestürzung. Mein Mann sah in Nilus den alleinigen Anstif18
Kaljada war der wirkliche Familienname von «Mitja Koselski», was so viel wie Mitja aus Koselsk bedeutet.
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ter der Reise Mitjas. Er zögerte nicht, ihn einen Abenteurer und Scharlatan zu nennen. Diese Affäre schadete dem Ansehen des Zaren, und dafür war Nilus nach Meinung meines Mannes voll verantwortlich.»19 Den ziemlich kühlen Berichten von du Chayla und Madame Kaschkina kann man eine Biographie Nilus’ gegenüberstellen, die 1936 in Jugoslawien erschien. Der Verfasser dieses Buches, Fürst N. D. Shewachow, war ein glühender Bewunderer Nilus’; für ihn gab es keinen Zweifel: Die Protokolle hatte ein Jude nach dem Diktat des Teufels niedergeschrieben, «der ihm die Methoden zur Vernichtung der christlichen Staaten und das Geheimnis der Eroberung der ganzen Welt enthüllte».20 Um so bedeutsamer ist, daß die biographischen Daten, die wir bei Shewachow finden, fast genau mit den von du Chayla gegebenen übereinstimmen. Darüber hinaus erfahren wir von ihm, was Nilus im Sinne hatte, wenn er in Klosterarchiven stöberte. Unter anderem wollte Nilus das Tagebuch eines Einsiedlers herausgeben, der, laut Shewachow, «das Jenseits mit außerordentlichem Realismus beschrieb. So erzählt er von einem jungen Mann, den seine Mutter verfluchte und der daraufhin von unbekannten Mächten in den luftleeren Raum über der Erde entrückt wurde, wo er vierzig Tage lang das Leben der Geister lebte, mit ihnen verkehrte und ihren Gesetzen unterworfen war ... Kurz, dieses Tagebuch war ein äußerst wertvolles Buch, ein wahrer Leitfaden der Heiligkeit.»21 Shewachow berichtet auch über Nilus’ spätere Lebensjahre, in denen seine Ausgabe der Protokolle weltbekannt wurde, ohne daß er etwas davon ahnte. Du Chayla und Madame Kaschkina hatten in dieser Zeit keine Verbindung mehr mit ihm. Anscheinend hielt sich Nilus, nachdem er Optina Pustyn verlassen hatte, zunächst bei befreundeten Gutsbesitzern auf. Nach der bolschewistischen Machtergreifung, während Rußland von Revolution und Bürgerkrieg, Terror, Gegenterror und Hungersnot geschüttelt wurde, lebten Nilus und Oserowa – so seltsam es klingen mag – sechs Jahre lang friedlich irgendwo in Südrußland. Gemeinsam mit einem früheren Ein19
Diese Erklärung brachte Boris Nicolaevsky im Beisein von Madame Kaschkina in russischer Sprache zu Papier; sie wurde ihr vorgelesen und von ihr in jedem Punkt gebilligt Das russische Original befindet sich in der B. I. Nicolaevsky Collection der Hoover Institution, Stanford University, Kalifornien. 20
N. D. Ževachov, Sergej Aleksandroviþ Nilus, Novi Sad 1936, S. 11.
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Ebda., S. 20.
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siedler namens Serafim bewohnten sie ein Haus mit einer Kapelle, in der ständig Dutzende von Pilgern weilten. Einmal allerdings im Jahre 1921 – so erfahren wir aus Briefen Nilus’ – erschien, geführt von einem Banditen aus der Gegend, eine Abteilung Rotarmisten und wollte die beiden heiligen Männer ermorden. Aber sie wurden beschützt von einem geheimnisvollen, wundersamen Nachtwächter, der sich in nichts auflöste, sobald man ihn anrührte. Der Führer des Trupps war auf der Stelle gelähmt, und nur der Einsiedler Serafim konnte ihn wieder heilen. Nachdem die «weißen» Armeen besiegt und die politischen Gegner der Bolschewiki liquidiert waren, ließen sich freilich die bolschewistischen Behörden auf die Dauer nicht von einem wundertätigen Nachtwächter schrecken. Nilus und seine Gefährten mußten schließlich das Haus räumen. Nach jahrelangem Umherziehen (zweimal, 1924 und 1927, war er auch für kurze Zeit im Gefängnis) starb Nilus, achtundsechzig Jahre alt, am Neujahrstag 1930 an Herzschwäche. Die Freyenwald-Dokumente in der Wiener Library zu London geben einigen Aufschluß über das Schicksal von Nilus’ nächsten Angehörigen. Eine handschriftliche Aufzeichnung des russischen Konservativen Markow II besagt, daß Oserowa während der großen Säuberung 1937 verhaftet und auf die Halbinsel Kola am Nördlichen Eismeer deportiert wurde, wo sie im folgenden Jahr Hunger und Kälte erlag. Zahlreiche Papiere betreffen einen Sohn Nilus’, wahrscheinlich aus seiner ersten Ehe. Sergej Sergejewitsch Nilus war polnischer Staatsbürger und stellte sich den Nazis zur Verfügung, als sie 1935 ihre Berufung gegen das Urteil des Berner Gerichts vorbereiteten. Ein Brief, den er im März 1940 aus Polen an Alfred Rosenberg schrieb, verdient zitiert zu werden: «Ich bin der einzige Sohn des Entdeckers der Protokolle der Weisen von Zion, S. A. Nilus ... In dieser Zeit, da das Schicksal der ganzen arischen Welt auf dem Spiele steht, kann und darf ich nicht gleichgültig bleiben. Ich weiß, daß der Sieg des Führers, dieses genialen Mannes, auch mein armes Land befreien wird, und ich glaube, daß ich in irgendeiner Stellung dazu beitragen könnte. Nach dem glänzenden Sieg der mächtigen deutschen Wehrmacht habe ich ... alles getan, um mir das Recht zu verdienen, aktiv an der Liquidierung des jüdischen Gifts teilzunehmen.»22 22
Der Brief befindet sich in der Freyenwald Collection der Wiener Library. (Aus dem Englischen rückübersetzt.)
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Das scheint uns ein passender Abschluß unseres Berichts über Sergej Alexandrowitsch Nilus.
3 Es steht fest, daß Ratschkowski und Nilus beide in die Intrige gegen Philippe verwickelt waren, und es ist sogar möglich, daß sie übereinkamen, die Protokolle für ihr gemeinsames Ziel zu benutzen. In mehreren Werken über die Protokolle wird daraus der Schluß gezogen, die ganze Fälschung sei eigens dazu ins Werk gesetzt worden, den Zaren gegen Philippe einzunehmen. Diese Hypothese ist jedoch nicht plausibel. Philippe war Martinist und Mesmerianer; wären nun die Protokolle in der Absicht fabriziert worden, Nilus in seinem Kampf gegen Philippe zu helfen, so müßten sie doch wenigstens eine Andeutung enthalten, daß Martinismus und/oder Mesmerismus einen Teil der jüdischen Verschwörung bildeten. Davon aber schweigen die Protokolle, die doch sonst fast alles behandeln, von den Banken und der Presse bis zu Kriegen und Untergrundbahnen. Eine schon vorhandene Fälschung zu benutzen, ist eine Sache; Ratschkowski war gewiß nicht kleinlich in der Wahl seiner Waffen. Eine ganz andere Sache ist es aber, ein ganzes Buch zu verfertigen, das mit der gestellten Aufgabe so gut wie nichts zu tun hat. Nicht einmal dem verschlagenen Ratschkowski ist zuzutrauen, daß er sein Ziel auf so verschlungenen Pfaden anstrebte. Die Frage ist also berechtigt, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, daß die Protokolle bereits vor 1902 existierten. Tatsächlich liegen mehrere Hinweise dieser Art vor. Zum Teil stammen sie von geflüchteten «weißen» Russen, sind aber deswegen nicht von vornherein wertlos. An erster Stelle steht eine eidesstattliche Erklärung, die Filip Petrowitsch Stepanow, ehemaliger Prokurator des geistlichen Synods von Moskau, Kammerherr und Staatsrat, am 17. April 1927 in Stary Futog in Jugoslawien unterzeichnete. Sie lautet: «Im Jahre 1895 gab mir mein Nachbar im Gouvernement Tula, der Major außer Diensten Alexej Suchotin, eine handschriftliche Kopie der Protokolle der Weisen von Zion. Er sagte mir, eine ihm bekannte Dame, deren Namen er verschwieg, habe während eines Aufenthalts in Paris diese Kopie in der Wohnung eines befreundeten Juden gefunden; vor ihrer Abreise aus Paris habe sie das Manuskript 101
heimlich übersetzt und mit nach Rußland gebracht, wo sie es Suchotin übergeben habe. Ich fertigte von dieser Übersetzung zunächst einen hektographischen Abzug an, aber da er schwer zu lesen war, beschloß ich, sie ohne Jahreszahl, Orts- und Verlagsangabe drucken zu lassen. Bei all dem unterstützte mich Arkadi Ippolitowitsch Kelepowski, der damals der Hofhaltung des Großfürsten Sergej vorstand. Er ließ das Dokument in der Druckerei des Bezirks drucken. Das geschah 1897. Sergej Nilus nahm diese Protokolle in sein Werk auf und fügte seine eigenen Kommentare hinzu.»23 Sieht man von der beiläufigen Erwähnung des «befreundeten Juden» ab, so erscheint dieses Dokument als ganz ungeeignet für propagandistische Zwecke; Stepanow war also wahrscheinlich gewillt, die Wahrheit zu sagen. Freilich lagen die geschilderten Vorgänge dreißig Jahre zurück. Es gibt oder gab jedoch eine sehr handfeste Bestätigung seiner Aussage. Von Stepanows gedrucktem Buch hat sich kein Exemplar auffinden lassen; zur Zeit des Berner Prozesses (1934) existierte aber noch ein Exemplar der von ihm angefertigten Hektographie. Es befand sich damals in der Sammlung Paschukanis in der Moskauer Lenin-Bibliothek, und die sowjetischen Behörden übersandten dem Berner Gerichtshof Fotokopien von vier Seiten. Die Titelseite trug kein Datum, aber Boris Nicolaevsky war nach sorgfältiger Prüfung überzeugt, daß es sich tatsächlich um Stepanows Hektographie handelte.24 Das Dokument war in russischer Sprache mit der Hand geschrieben und führte den Titel Alte und moderne Protokolle der Versammlungen der Weisen von Zion. Leider ist es nicht möglich, das Original einzusehen – in zweijährigen intensiven Bemühungen war von der Lenin-Bibliothek lediglich der Bescheid zu erlangen, ein solches Manuskript sei nicht aufzufinden. Die Wiener Library besitzt jedoch eine deutsche Übersetzung der nach Bern gesandten Auszüge. Aus ihr geht hervor, daß der Text praktisch identisch gewesen sein muß mit dem später von Nilus edierten, der wiederum direkt oder indirekt fast allen späteren Ausgaben in der ganzen Welt zugrunde lag. 23
Ein Faksimile der in russischer Sprache abgefaßten Erklärung befindet sich in L. Fry, Waters Flowing Eastwards, Paris 1933, S. 100 f; eine französische Übersetzung (mit einigen Fehlern) in L. Fry, Le Juif notre maître, Paris 1931, S. 95/96. 24
Private Mitteilung an den Verfasser.
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In Kreisen der «weißen» russischen Emigranten war man sich weitgehend darüber einig, wer die Dame gewesen war, die das handgeschriebene russische Dokument aus Paris mitgebracht und an Suchotin übergeben hatte: Juliana (in Frankreich: Justine) Glinka.25 Wir wissen über diese Frau eine ganze Menge, und alles paßt ins Bild. Juliana Dmitrijewna Glinka (1844-1918) war die Tochter eines russischen Diplomaten, der seine Laufbahn als Botschafter in Lissabon beendete. Sie selbst wurde Hofdame der Kaiserin Maria Alexandrowna und lebte viele Jahre in großem Stil in St. Petersburg. Dort verkehrte sie in dem spiritistischen Kreis um Madame Blavatsky26 und opferte einen Teil ihres Vermögens für die Unterstützung befreundeter Spiritisten. Ihr Leben hatte aber noch eine andere, dunklere Seite. In Paris versuchte sie sich 1881/82 in dem Spiel, das Ratschkowski wenig später so glänzend meisterte: Bespitzelung und Denunzierung russischer Terroristen im Exil. General Orshejewski, ein führender Mann der Geheimpolizei, der es bis zum stellvertretenden Innenminister brachte, war ihr Jugendfreund; ihm sandte sie ihre Geheimberichte. Aber es fehlte ihr an Talent für diese Arbeit; sie lag ständig in Fehde mit dem russischen Botschafter und wurde schließlich von der linken Zeitung Le Radical entlarvt. Juliana Glinka verbrachte weiterhin einen großen Teil ihrer Zeit in Paris. Als sie 1895 wieder einmal nach St. Petersburg kam, mußte sie feststellen, daß sie bei Hofe in Ungnade gefallen war. Ihre gute Freundin Juliette Adam hatte in Paris mehrere Bücher veröffentlicht, die vielerlei Gerüchte und Enthüllungen über den russischen Hof enthielten. Der Zar war tief verstimmt und verdächtigte die Glinka zu Recht oder Unrecht, daß sie die Hand im Spiel gehabt habe. Er verbannte sie auf ihr Gut im Gouvernement Orel, das an das Gouvernement Tula grenzte. Ihr natürlicher Beschützer war unter den gegebenen Umständen der örtliche Adelsmarschall – und das war Alexej Suchotin, der Mann, von dem Stepanow die Protokolle erhalten zu haben behauptete.27 25
Siehe L. Fry, Waters Flowing Eastwards, S. 87-89.
26
Jelena Petrowna Blawazkaja (1831-91), russische Theosophin und spiritistisches Medium. Sie bewarb sich selbst einmal (erfolglos) um eine Beschäftigung beim russischen Geheimdienst. 27
In der Freyenwald Collection der Wiener Library befindet sich eine Kopie einer Erklärung, datiert 13. Dezember 1936, von einer Cousine Alexej Suchotins. Diese sagt darin, sie habe um 1895, bei einem Besuch auf dem Gut ihres Vetters, gesehen, wie
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Nach einer gewissen Zeit durfte sich die Glinka wieder in St. Petersburg niederlassen. Wie es scheint, betrachtete sie die Protokolle gewissermaßen als ihr Eigentum; wenigstens ergibt sich diese Deutung aus einem Artikel, den die rechtsstehende Petersburger Zeitung Nowoje Wremja am 7. April 1902 veröffentlichte. Der bekannte Journalist M. Menschikow berichtete von einer vornehmen Dame, die ihn zu sich eingeladen hatte, um ihm ein Dokument von höchster Bedeutung zu zeigen. Ihre Wohnung war sehr elegant und sie sprach perfekt Französisch. Sie erzählte ihm, daß sie in direkter Verbindung mit dem Jenseits stehe, hielt ihm einen Vortrag über Theosophie und weihte ihn schließlich in die Geheimnisse der Protokolle ein. Das französische Originalmanuskript, erklärte sie ihm, habe sich bis vor kurzem in Nizza, der heimlichen Hauptstadt der Juden, befunden; es sei jedoch von einem französischen Journalisten entwendet worden, und dieser habe es ihr übergeben. In großer Eile habe sie Stücke daraus ins Russische übertragen. Menschikow warf einen Blick auf die Protokolle und erkannte sie sofort als gewöhnliche Fälschung. In seinem Artikel fügt er hinzu, in St. Petersburg befänden sich mehrere Abschriften des Dokuments, eine sei im Besitz eines Journalisten. Man darf annehmen, daß er Kruschewan meinte, denn dieser veröffentlichte die Protokolle ein Jahr später in seiner Snamja. Es gibt also gute Gründe für die Annahme, daß Juliana Glinka und Filip Stepanow tatsächlich etwas mit der ersten Veröffentlichung der Protokolle zu tun hatten. Wie erwähnt, erklärte Stepanow, er habe die Protokolle 1895 erhalten und 1897 drucken lassen. Innere Gründe sprechen dafür, daß seine Angaben so genau waren, wie man nach dreißig Jahren erwarten kann. Aufschlußreich für die Datierung ist beispielsweise die Stelle am Schluß der 16. «Sitzung», in dem der Anschauungsunterricht als ein Mittel zur Verdummung der Nichtjuden bezeichnet wird. Dort heißt es: «In Frankreich hat einer unserer besten Vertrauensmänner, Bourgeois, sich schon nachdrücklichst für den Anschauungsunterricht verwandt, auf dem er einen ganz neuen Lehrplan aufbauen will.» Gemeint ist Leon das Manuskript der Protokolle von Suchotins Schwester und einer anderen jungen Dame abgeschrieben wurde. (Sie nennt auch den Namen der anderen Dame, die 1936 in Paris lebte.) Diese Erklärung hat für sich genommen wenig Wert, dient aber zur Bestätigung des anderen Materials. Es wäre sogar möglich, daß die beiden Damen den russischen Text ins Französische zurückübersetzten, denn der Text, den du Chayla bei Nilus gesehen haben will – in schlechtem Französisch von verschiedenen Händen geschrieben –, war gewiß nicht die französische Originalfassung. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß diese jemals Frankreich verlassen hat.
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Bourgeois, in den Augen der französischen Rechten ein höchst verdächtiger Mann, da er in seinem Kabinett – er war 1895/96 Ministerpräisident – neun Freimaurer sitzen hatte. In den Jahren 1890 bis 1896 sprach sich Bourgeois häufig für das System des Anschauungsunterrichts aus, und 1897 erschienen diese Reden in Buchform unter dem Titel L’éducation de la democratie française. 1898 erließ er als Unterrichtsminister entsprechende Verordnungen. In die gleiche Richtung deutet eine Stelle in der 10. «Sitzung», wo die Weisen empfehlen, solche Leute zu Präsidenten zu wählen, deren Vergangenheit irgendein «Panama» aufweist. Das bezieht sich so gut wie sicher auf Emile Loubet, der 1892, auf dem Höhepunkt des Panama-Skandals, französischer Ministerpräsident war. Loubet war zwar nicht selbst in den Skandal verstrickt, zeigte aber auch keinen Eifer, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen; das erweckte Verdacht. 1895 wurde er Senatspräsident und damit Anwärter auf das höchste Staatsamt; 1899 erfolgte seine Wahl zum Präsidenten der Republik. Die Anspielung in den Protokollen kann sowohl von dem einen wie von dem anderen Ereignis inspiriert sein. Was die Pariser Untergrundbahn, die Metro, betrifft, wurden die Pläne für ihren Bau 1894 veröffentlicht, aber erst 1897 erteilte der Stadtrat die Konzession, und die erste Linie wurde 1900 in Betrieb genommen. Angesichts der in den Protokollen ausgesprochenen Drohung, Hauptstädte von den Stollen der Untergrundbahn aus in die Luft zu sprengen, ist es interessant, daß sich Drumonts Blatt La Libre Parole 1897 darüber beklagte, allzu viele Metro-Aktionäre seien Juden. 1896 schlug der russische Finanzminister Sergej Witte erstmals vor, den bis dahin in Rußland geltenden Bimetallismus durch die Goldwährung zu ersetzen; 1897 wurde sie tatsächlich eingeführt. Auch das spiegelt sich in den Protokollen wider: in der 20. «Sitzung» wird gesagt, die Goldwährung habe alle Staaten ruiniert, die sie angenommen hätten. Das stärkste Indiz ist jedoch der Titel der Fälschung. Man sollte eigentlich erwarten, daß die geheimnisvollen Oberen als «die Weisen des Judentums» oder «die Weisen von Israel» bezeichnet würden. Es muß einen Grund geben, weshalb sie den absurden Namen «die Weisen von Zion» führen – und es gibt in der Tat einen sehr einleuchtenden Grund. Wie wir gesehen haben, wurde der erste Zionistenkongreß in Basel von Antisemiten als ein großer Schritt in Richtung jüdische Weltherrschaft interpretiert. Zahllose Ausgaben der Protokolle bringen das Dokument in Zusammenhang mit dem Kon105
greß. Mit großer Wahrscheinlichkeit inspirierte dieser, wenn nicht die Fälschung selbst, so doch wenigstens ihren Titel. Er fand 1897 statt. Alles in allem ist es so gut wie sicher, daß die Protokolle zwischen 1894 und 1899 verfertigt wurden, sehr wahrscheinlich 1897 oder 1898. Zweifellos geschah es in Frankreich, das zeigen die vielen Hinweise auf französische Vorgänge. Der Tatort war vermutlich Paris, und man kann ihn sogar noch enger einkreisen: Eines der Exemplare von Jolys Buch in der Bibliothèque Nationale enthält Anstreichungen, die auffallend mit den Entlehnungen in den Protokollen übereinstimmen. Die Fälschung entstand also während der Dreyfus-Affäre, irgendwann zwischen Alfred Dreyfus’ Verhaftung im Jahre 1894 und seiner Begnadigung im Jahre 1899, wahrscheinlich aber auf dem Höhepunkt der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, die ganz Frankreich in zwei Lager spaltete. Doch ist sie deutlich das Werk eines Russen und durchdrungen vom Geist der russischen Rechtskreise. Kann man also mit einiger Sicherheit sagen, daß die Protokolle auf Geheiß des Pariser Ochrana-Chefs, des ränkevollen Ratschkowski, abgefaßt wurden? Wie wir gesehen haben, gibt es sehr beachtliche Gründe für diese Auffassung; dennoch ist die Frage nicht so einfach, wie es scheinen mag. Ratschkowskis politischer Lehrmeister und Schutzpatron war Sergej Witte, der allmächtige Finanzminister, und Wittes Feinde waren auch Ratschkowskis Feinde. Und es gibt keinen Zweifel, daß Wittes Feinde bei den Protokollen die Hand im Spiel hatten. Als Witte 1892 sein Amt antrat, machte er sich an eine Aufgabe, die von Peter dem Großen in Angriff genommen, von seinen Nachfolgern aber sehr vernachlässigt worden war: die Umwandlung des rückständigen Rußlands in ein modernes Land nach dem Vorbild der Staaten Westeuropas. Im folgenden Jahrzehnt wurde die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl mehr als verdoppelt; der Bau von Eisenbahnen – damals der sicherste Index industriellen Wachstums – vollzog sich in einem Tempo, das sonst nur von den Vereinigten Staaten erreicht wurde. Aber diese rapide Wirtschaftsentwicklung brachte schwere Nachteile für diejenigen Schichten, deren Wohlstand auf der traditionellen Agrarordnung beruhte; und in diesen Kreisen war Witte verhaßt. Zudem kam es 1898 zu einer ernsten Wirtschaftskrise, unter der auch die größten Nutznießer der bisherigen Expansion zu leiden hatten. Witte wurde von vielen Seiten gedrängt, zum Mittel der Inflation zu greifen, selbst unter Preisgabe des eben erst eingeführten Goldstandards. Er widerstand und machte sich damit noch unbeliebter. 106
Die Protokolle machen ganz den Eindruck, als seien sie für den Kampf gegen Witte bestimmt gewesen. In ihnen wird behauptet, Wirtschaftskrisen würden von den Weisen dazu benutzt, alles Gold unter ihre Kontrolle zu bringen und Unruhe im Proletariat zu schüren. Wie wir gesehen haben, wird auch gesagt, die Goldwährung ruiniere alle Länder, die sie einführten. Und ferner: Wenn man die Protokolle mit dem Dialogue aux Enfers vergleicht, findet man, daß aus Jolys Buch nur diejenigen Betrachtungen über Wirtschafts- und Finanzfragen übernommen wurden, die sich auf die Vorgänge in Rußland unter Witte anwenden ließen. Die Absicht scheint klar genug: Witte soll als ein Werkzeug in den Händen der «Weisen von Zion» hingestellt werden. Die Protokolle sind nicht die einzige Propagandaschrift, die sich zugleich gegen die Juden und gegen Witte richtet. Ein noch bizarreres Dokument, das wie ein ungefüger Rohentwurf der Protokolle wirkt, trägt den Titel Taina Jewrejstwa (Das Geheimnis des Judentums) und ist datiert vom Februar 1895.28 Es kam ans Licht, als im ersten Jahr unseres Jahrhunderts auf Befehl von Innenminister Stolypin Polizeiarchive durchgekämmt wurden, um nach der Herkunft der Protokolle zu forschen. Unter anderem ist darin die Rede von einer Geheimreligion, der zur Zeit Jesu die Essener angehangen hätten und die jetzt von den unbekannten Lenkern des Judentums praktiziert werde. Ganz im Einklang mit den Protokollen behauptet Taina Jewrejstwa die jüdische Geheimregierung sei bestrebt, Rußland aus einem halbfeudalen Agrarland in einen modernen Staat mit kapitalistischer Wirtschaft und einem liberalen Bürgertum zu verwandeln. «Schon im Westen diente der jüngste ökonomische Faktor, der Kapitalismus, dem Freimaurertum als Waffe, deren sich jetzt die Juden geschickt bemächtigt haben. Natürlich wurde beschlossen, die gleiche Waffe in Rußland anzuwenden, wo die Selbstherrschaft gänzlich auf der Unterstützung des grundbesitzenden Adels beruht, während die Bourgeoisie, das Kind des Kapitalismus, dem revolutionären Liberalismus wohlgesinnt ist.»29 Und ebenso wie die Protokolle attackiert auch Taina Jewrejstwa Wittes Neuerung, die Goldwährung. 28
Text in Ju. Delevskij, Protokoly Sionskich Mudrecov, Berlin 1923, S. 138-158. Vergleiche J. Gwyer, Portraits of Mean Men, London 1938. 29
Delevskij, a. a. O„ S. 155.
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Eine Überlieferung in Kreisen «weißer» Russen besagt, daß Juliana Glinka dieses seltsame Produkt ihrem Freund General Orshejewski sandte und daß dieser es an den Kommandanten der Kaiserlichen Garde, General Tscherewin, weitergab, der es seinerseits dem Zaren aushändigen sollte, was er jedoch nicht tat. Und es ist kaum daran zu zweifeln, daß auch die Protokolle dazu bestimmt waren, vom Zaren gelesen zu werden, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Verglichen mit seinem Vater, dem gefürchteten Alexander III., war Nikolaus II. ein sanfter, gütiger Mann. In seinen ersten Regierungsjahren mochte er nicht gern jemanden verfolgen, nicht einmal die Juden, und darüber hinaus zeigte er eine gewisse Bereitschaft, Rußland zu modernisieren, ja vielleicht sogar das Regime etwas zu liberalisieren. Die Ultrareaktionäre waren sehr darauf bedacht, den Zaren von diesen beunruhigenden Tendenzen abzubringen. Zu diesem Zweck suchten sie ihm einzureden, die Juden hätten ein äußerst gefährliches Komplott geschmiedet, die Grundlagen der russischen Gesellschaft und des orthodoxen Christentums zu untergraben, und das Werkzeug der Juden bei diesem Unterfangen sei der große Reformer Witte. Wer war nun nach alledem der Verfasser der Protokolle? Boris Nicolaevsky und Henri Rollin haben die Meinung vertreten, vieles in den Protokollen könnte von einem namhaften Physiologen und politischen Journalisten stammen, der in Rußland als Ilja Zion, in Frankreich als Elie de Cyon bekannt war.30 De Cyon, ein gebürtiger Russe, war ein fanatischer Gegner Wittes, und zahlreiche Stellen in seinen politischen Schriften ähneln jenen Teilen der Protokolle, die gegen Wittes Politik gerichtet sind. Eines seiner Pamphlete gegen Witte verfertigte er nach der gleichen Methode, die der Autor der Protokolle anwandte: Er nahm eine alte französische Satire auf einen längst verstorbenen Staatsmann und änderte einfach die Namen. Zudem lebte er in Paris und gehörte dem Kreis um Juliette Adam an, die ihrerseits mit Juliana Glinka eng befreundet war. Trotz alledem kann de Cyon nicht der Urheber der Protokolle in der uns heute vorliegenden Gestalt sein. Es ist undenkbar, daß ein Mann von dem Ernst und dem geistigen Format de Cyons so tief gesunken wäre, eine primitive antisemitische Fälschung zu verfassen. Überdies war er selbst jüdischer Herkunft, 30
Nicolaevsky in einer privaten Mitteilung an den Verfasser; Henri Rollin in seinem Buch L’Apocalypse de notre temps.
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und obwohl er zum Christentum übergetreten war, griff er niemals die Juden an. In seinem Buch La Russie contemporaine (1892) zeigte er lebhafte Sympathie für die verfolgten russischen Juden, forderte Gleichberechtigung für sie und wandte sich scharf gegen antisemitische Propagandisten und Pogromhetzer. Wenn de Cyon tatsächlich etwas mit der Abfassung der Protokolle zu tun gehabt hat, dann muß jemand anders seinen Text überarbeitet und den russischen Finanzminister durch die «Weisen von Zion» ersetzt haben. Und damit kommen wir wieder zu Ratschkowski. Denn 1897 brachen Ratschkowski und seine Leute auf Befehl Wittes in de Cyons Landhaus in Territet (Schweiz) ein und raubten große Mengen Papiere. Sie suchten nach Schriften gegen Witte, und vielleicht fanden sie dabei eine Adaptation des Buches von Joly. Rätselhaft wäre freilich, daß Wittes ergebener Diener Ratschkowski eine Schrift propagiert haben sollte, die sich auch in umgearbeiteter Form noch stark gegen die Politik seines Meisters richtete. Hoffte er vielleicht, das Buch würde allgemein de Cyon zugeschrieben werden? Das hätte doppelten Nutzen gebracht: Die Antisemiten konnten darauf hinweisen, daß die jüdische Weltverschwörung von einem gebürtigen Juden enthüllt worden sei, und de Cyon wurde grausam gedemütigt, ohne sich wehren zu können. Zudem enthielt der Titel des Buches eine versteckte boshafte Anspielung – de Cyons russischer Name lautete ja, wie erwähnt, Zion. Derartige Manöver entsprachen durchaus Ratschkowskis Stil. Alles in allem ist dies wohl die wahrscheinlichste Hypothese: de Cyon arbeitete Jolys Satire auf Napoleon III. in eine Satire auf Witte um, und diese wurde dann unter Anleitung Ratschkowskis in die Protokolle der Weisen von Zion verwandelt. Einiges an der Geschichte bleibt jedoch dunkel und wird wohl auch nicht aufgeklärt werden. Die Ochrana-Dokumente in der Hoover Institution der Standford University liefern keinen Aufschluß; ebenso unergiebig war Ratschkowskis (jetzt verschollenes) Privatarchiv in Paris, als Boris Nicolaevsky es in den dreißiger Jahren durchsah. De Cyons Papiere, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg im Besitz seiner Witwe in Paris befanden, sind verschwunden. Ungelöst ist auch das Rätsel der Schrift Das Geheimnis des Judentums, die schwerlich de Cyon oder Ratschkowski zugeschrieben werden kann. Wir müssen diese Fragen auf sich beruhen lassen – bis vielleicht eines Tages ein Spezialist für die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts Zeit und Kraft findet, sie wieder aufzunehmen. 109
Nilus’ Ausgabe der Protokolle war zwar nicht die erste, aber von den frühen Ausgaben kommt sie dem Original am nächsten, wie ein Vergleich mit den Bruchstücken des hektographierten Textes in der Wiener Library zeigt. Nilus steht auch am Anfang des Weges, der zur weltweiten Verbreitung der Protokolle führte. Auf welche Weise der Text in seine Hände kam, bleibt wie so vieles andere ungewiß. Er selbst schreibt im Vorwort zu der 1917 erschienenen Ausgabe, Suchotin habe ihm 1901 eine Abschrift gegeben. Dagegen meint Filip Stepanows Sohn in einem Brief, der sich jetzt in der Freyenwald Collection der Wiener Library befindet, nicht Suchotin, sondern Stepanow habe Nilus den Text überbracht. Soviel steht fest, daß Nilus 1901 in der Nähe der Güter von Suchotin, Stepanow und Juliana Glinka lebte. Aber wie wir gesehen haben, besteht auch Grund zu der Annahme, daß Ratschkowski entweder mit Nilus selbst in Verbindung stand oder daß Nilus’ Exemplar der Protokolle durch seine Hände ging. Bei dem Versuch, die Frühgeschichte der Protokolle zu rekonstruieren, stößt man immer wieder auf Zweideutigkeiten, Unklarheiten und Rätsel. Man muß sich darüber nicht allzusehr grämen. Es war notwendig, einen Blick auf die seltsame, versunkene Welt zu werfen, in der vor neunzig Jahren die Protokolle geboren wurden – die Welt der konterrevolutionären Agenten und Pseudomystiker, die im niedergehenden Zarenreich ihr Unwesen trieben. Was aber den Protokollen erst wirkliche Bedeutung gibt, ist der große Einfluß, den sie – so unglaublich wie unbestreitbar – auf die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt haben.
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5 Die «Protokolle» in Rußland
1 Was immer der Ursprung der Protokolle gewesen sein mag, für ihre Verbreitung sorgten pogromschtschiki, berufsmäßige Anstifter von Pogromen. Die Hunderte von lokalen Judenmassakern, die zwischen 1881 und 1920 in Rußland stattfanden, waren nämlich durchaus keine spontanen Ausbrüche der Volkswut; sie erforderten weitschauende Planung, sorgfältige Organisation und vor allem intensive Agitation. Diese Arbeit verrichteten teils Polizeibeamte, teils Privatpersonen, hauptsächlich skrupellose Journalisten. Das waren die Leute, die sich die Protokolle zu eigen machten. Der erste Herausgeber der Protokolle, der aus Bessarabien stammende Pawolatschi Kruschewan, war ein typischer pogromschtschik. Vier Monate bevor er die Protokolle in seiner St. Petersburger Zeitung Snamja veröffentlichte, hatte er mit Hilfe des ihm gleichfalls gehörenen Blattes Bessarabez in der bessarabischen Provinzhauptstadt Kischinew ein Pogrom entfesselt. Wie er das erreichte, wissen wir aus Berichten von Reisenden, die die Stadt unmittelbar nach dem Massaker besuchten.1 Bessarabien war ein fruchtbares, blühendes Land, in dem zwischen der Masse der Bevölkerung und der starken jüdischen Minderheit stets gutes Einvernehmen geherrscht hatte. Bezeichnend dafür war, daß die bessarabischen Bauern nichts mit der Welle von Pogromen zu tun haben wollten, die in den Jahren 1881-83 über ganz Südrußland hinwegging: «Wenn der Zar will, daß die Juden totgeschlagen werden», sagten sie, «so hat er dazu ja seine Armee. Wir wol1
Siehe I. Singer, Russia at the Bar of the American People. A Memorial of Kishinev, New York und London 1904, und Michael Davitt, Within the Pale. The true story of antisemitic persecutions in Russia, London 1903. Davitt war ein berühmter irischer Nationalist.
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len den Juden nichts antun.» Die Lage änderte sich erst 1898: In diesem Jahr gründete Kruschewan den Bessarabez, der sogleich mit einer fanatischen Hetze gegen die Juden begann. Es bildete sich eine Gruppe von Journalisten, Beamten und anderen Vertretern gebildeter Stände, die planmäßig auf ein Massaker hinarbeitete. Kruschewan leitete sie von St. Petersburg aus an. Zu Ostern 1902 (Pogrome fanden von jeher meist zu Ostern statt) gab er bekannt, ein christlicher Junge, dessen Leiche man in einem Brunnen gefunden hatte, sei das Opfer eines jüdischen Ritualmordes geworden. Diesmal hatte er noch keinen Erfolg, denn der wirkliche Mörder wurde rasch entdeckt. Im Jahr darauf gab ihm die Ermordung eines Kindes in Dubossary Gelegenheit, seine Anschuldigung von neuem zu erheben, und jetzt erreichte er, was er wollte. Er behauptete auch, der Zar habe einen Ukas erlassen, worin er den Christen gestatte, «während der drei Ostertage an den Juden blutige Gerechtigkeit zu üben». Das war jedoch nicht alles. Bei der Vorbereitung des Massakers nutzten Kruschewans Leute nicht nur die alte Ritualmordlüge, sondern auch die moderne Phantasie der jüdischen Weltverschwörung. Durch Flugblätter verbreiteten sie die «Rede des Rabbiners» und eigene Erfindungen ähnlicher Art. Aufschlußreich in dieser Hinsicht sind Äußerungen von Kruschewans Hauptvertreter in Kischinew, einem Agitator namens Pronin. Bei dem Prozeß, der hauptsächlich unter dem Druck des Auslands einige Monate nach dem Massaker stattfand, jedoch eine reine Justizkomödie war, sagte Pronin aus, kurz vor Ostern habe in der Kischinewer Synagoge eine Versammlung von Juden aus allen Ländern getagt. Sie habe beschlossen, eine Revolte gegen die Regierung anzuzetteln; die Juden hätten daraufhin die christliche Bevölkerung angegriffen, und diese habe sich lediglich zur Wehr gesetzt. Pronin veröffentlichte auch in Snamja einen Artikel, worin er die Pogromhetzer als wahre Patrioten pries, deren einziges Ziel es sei, den Zaren und das Heilige Rußland vor einer schrecklichen internationalen Verschwörung zu schützen. In Wirklichkeit kam in Kischinew kein einziger Christ zu Schaden, während fünfundvierzig Juden getötet und mehrere hundert verletzt wurden – zumeist bettelarme, völlig hilflose Handwerker. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung, etwa zehntausend Menschen, wurde obdachlos. Dies war das Milieu, in dem die Protokolle ihren Weg in die Welt antraten. Unterdessen nahm der Kampf für ein moderneres, liberales Rußland einen neuen Aufschwung. Während 1904/05 der Krieg gegen Japan zu einer katastrophalen Niederlage führte, erhob sich 112
immer ungestümer die Forderung nach grundlegenden Reformen: Einberufung einer Nationalversammlung, Rede- und Pressefreiheit, Gewährleistung der Freiheit der Person. Ein Generalstreik im September 1905, der das ganze Land ergriff, zwang die Regierung zum Nachgeben; im Oktober erließ der Zar widerstrebend ein Manifest, in dem er eine Verfassung nach den Grundsätzen des modernen Liberalismus versprach. Natürlich fehlte es nicht an Widerstand gegen diese Entwicklung. Die Umgebung des Zaren wirkte in reaktionärem Sinne auf ihn ein, namentlich seine Mutter, mehrere Großfürsten, der Prokurator des Heiligen Synods, Pobedonoszew, und der Generalgouverneur von St. Petersburg, Trepow. Hier ist nun auch die Organisation zu erwähnen, die sich «Bund des Russischen Volkes» nannte, bekannter jedoch unter dem Namen «Schwarze Hundertschaften» war.2 Das Oktobermanifest des Zaren garantierte unter anderem auch die Vereinsfreiheit, und niemand machte schneller davon Gebrauch als die äußerste Rechte. Am 4. November 1905 wurde in St. Petersburg der «Bund des Russischen Volkes» von dem Arzt A. Dubrowin und dem Politiker W. M. Purischkewitsch gegründet. Die eigentliche treibende Kraft war Purischkewitsch. Wie seine Gesinnungsgenossen Kruschewan und Butmi stammte er aus Bessarabien – er hatte in Kischinew studiert –, und er verfolgte die gleichen Ziele wie sie: Es galt die Liberalisierung Rußlands zu bekämpfen, indem man sie als jüdisches Komplott hinstellte, und um die Realität des Komplotts zu zeigen, mußte man Judenmassaker veranstalten. In Städten und Dörfern erschienen Proklamationen wie die folgende: «Die Bestrebungen, die Alleinherrschaft des gottgesalbten Zaren durch eine Verfassung und ein Parlament zu ersetzen, rühren von den Blutsaugern her, die Juden, Armenier, Polen heißen. Hütet euch vor den Juden! Das ganze Übel, das ganze Unglück unseres Lebens sind die Juden ... Nieder mit den Verrätern, nieder mit der Verfassung!»3 2
Zum Bund des Russischen Volkes siehe W. Laqueur, Deutschland und Rußland, besonders S. 99-104. Die Schwarzen Hundertschaften im engeren Sinne waren bewaffnete Banden, die vom Bund des Russischen Volkes und ähnlichen politischen Organisationen zu Terrorzwecken aufgestellt wurden; sie bestanden zum großen Teil aus kleinen Ladenbesitzern, Vagabunden und Berufsverbrechern. Im allgemeinen Sprachgebrauch wurden aber auch die Mitglieder dieser politischen Organisationen selbst oft als «Schwarzhunderter» bezeichnet. 3
Zitiert bei B. Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, Berlin 1924, S. 214/215.
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Und als tatsächlich eine Nationalversammlung – die Reichsduma – einberufen wurde, konzentrierte sich die Propaganda der Schwarzhunderter darauf, sie als Werkzeug der Juden zu schmähen. Während der Wahlen zur ersten Duma (1906) und zur zweiten und dritten Duma (1907) ergoß sich über das Land eine Flut von Flugschriften, in denen behauptet wurde, die meisten Kandidaten seien Juden, die liberalen Parteien würden von den Juden finanziert, und die Juden wollten Rußland mit Hilfe der Duma versklaven. Zu diesen Wahlpamphleten der Schwarzhunderter ist auch Butmis Version der Protokolle zu zählen, die unter dem Titel Die Feinde des Menschengeschlechts in den Jahren 1906/07 vier Auflagen erlebte.4 Selbst nach den erbärmlichen Maßstäben, die für das politische Leben Rußlands galten, erschien das Treiben der Schwarzhunderter vielen Beobachtern schockierend. So schrieb Graf Witte: «Diese Partei ist im Grunde ihrer Seele patriotisch ... Aber sie ist von einem elementaren Patriotismus, sie gründet sich nicht auf Vernunft und Edelmut, sondern auf Leidenschaft. Der größte Teil ihrer Führer sind politische Emporkömmlinge, Leute von schmutziger Denkungsart und unsauberem Gefühl; sie haben nicht eine einzige lebensfähige und ehrliche politische Idee und richten ihr Streben auf die Entfesselung der allerniedrigsten Triebe der wilden, dunklen Massen. Unter den Flügeln des zweiköpfigen Adlers kann diese Partei die entsetzlichsten Pogrome anstiften, kann aber nur Negatives schaffen. Sie verkörpert einen wilden, nihilistischen Patriotismus, der sich von Lüge, Verleumdung und Betrug nährt, und ist die Partei einer wilden und feigen Verzweiflung, birgt in sich aber kein mutiges, weitsichtiges Schöpfertum. Sie besteht aus der dunklen, wilden Masse, den Führern – politischen Taugenichtsen, heimlichen Teilnehmern aus Höflingskreisen und aus verschiedenen, mit allerlei Ehrentiteln geschmückten Edelleuten, die ihr Heil in der Rechtlosigkeit suchen und deren Losung lautet: ‹Nicht wir für’s Volk, sondern das Volk für unsern Bauch.› ... Und der arme Zar träumt, gestützt auf diese Partei, werde er die Größe Rußlands wieder aufrichten. Armer Zar .. .»5 Die Schwarzhunderter waren im vollen Wortsinne Vorläufer der Nazis. Das Wort «präfaschistisch» ist in einem Maße missbraucht 4
Einen Überblick über diese Publikationen gibt der Artikel «Antisemitismus» in der Evrejskaja Enciklopedija, Bd. II, S. 746-752. 5
Graf Witte, Erinnerungen, Berlin 1923, S. 144/145.
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worden, daß man sich scheut, es zu benutzen; aber die Schwarzhunderter verkörpern ohne Zweifel ein wichtiges Übergangsstadium zwischen der reaktionären Politik im Stil des 19. Jahrhunderts und dem rechten Totalitarismus der Nazis. Mit ihrer Treue zu Thron und Altar gehörten sie der Vergangenheit an; aber als politische Abenteurer, die mit antisemitischer Agitation und Terror die Entwicklung der liberalen Demokratie aufzuhalten suchten, und als romantische Reaktionäre, die auch die Sprache der radikalen Demagogie beherrschten, deuteten sie auf Hitler und seinesgleichen voraus. Wie die Nazis behaupteten sie, die Juden seien die Drahtzieher eines kapitalistisch-revolutionären Komplotts, und um die Verschwörerbande an der Errichtung einer fürchterlichen Tyrannei zu hindern, müßten sich Arbeiter und Bauern fest um die «bodenständige» herrschende Klasse scharen. Und sie nahmen auch die Idee der Nazis vorweg in ihren Ansichten darüber, wie man die Juden behandeln sollte. Einige wollten sie in die Kolyma-Region am nördlichen Polarkreis oder hinter das Gebirge in Südsibirien deportieren; andere faßten aber auch schon ihre physische Vernichtung ins Auge. Ein führendes Mitglied des Bundes, «Markow II», der in den dreißiger Jahren den Nazis als Experte für die Protokolle und die jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung diente, prophezeite bereits 1911 in einer Duma-Rede: «Alle Jidden werden bis zum letzten Mann umgebracht werden!»6 Es war bekannt, daß die Schwarzhunderter die Dienste von Kriminellen in Anspruch nahmen, die Morde verübten und Pogrome anführten, und die politischen Leiter des Bundes waren in der guten Gesellschaft nicht gelitten. Trotzdem wurde die Organisation von Kirche und Staat reichlich unterstützt. Ein Bischof gehörte zu ihren Führern, Klöster druckten Flugblätter für sie, ihre Embleme und Banner wurden in Kirchen aufgehängt, Priester forderten ihre Gemeinden auf, für den Erfolg des Bundes zu beten und bei seinen Unternehmungen mitzutun. Auch die Regierung leistete jederlei Hilfe. Es wird geschätzt, daß der «Bund des Russischen Volkes in einem einzigen Jahr zweieinhalb Millionen Rubel7 an staatlichen Subventionen erhielt. Ihm wurde das Recht eingeräumt, jederzeit um die Begnadigung von Mitgliedern einzukommen, die wegen Teil6
Zitiert bei A. B. Tager, The Decay of Czarism. The Beilis trial, Philadelphia 1935, S. 44. 7
Der Rubel war damals etwa zwei Goldmark wert.
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nahme an Pogromen verhaftet worden waren. Vor allem genoß er das ungeteilte Wohlwollen des Zaren, der ihn als leuchtendes Vorbild für alle Gerechtigkeits- und Ordnungsliebenden rühmte und gern das Bundesabzeichen auf dem Uniformrock trug. Während des Ritualmord-Prozesses gegen Beilis ging Nikolaus II. so weit, den Führern des Bundes ein Telegramm zu senden, in dem er ihnen für ihre Bemühungen, eine Verurteilung zu erreichen, dankte. Daß die Ideologie der Schwarzhunderter sogar die russische Außenpolitik beeinflussen konnte, zeigt die Geschichte des Lamsdorff-Memorandums. Angesichts des Vormarsches des Liberalismus in Rußland verfaßte Außenminister Graf Lamsdorff 1906 ein geheimes Memorandum, in dem er vorschlug, Rußland, Deutschland und der Vatikan sollten gemeinsam Schritte gegen die Alliance Israélite Universelle und deren Werkzeug Frankreich unternehmen. Die Kampagne für die Liberalisierung, so erklärte er, habe nur den Zweck, Rußland zu schwächen, das als «Land der Bauern, der Rechtgläubigkeit und des Monarchismus» den Weltherrschaftsplänen der in Paris sitzenden Führer der Judäo-Freimaurer im Wege stehe. Allerdings ließ Lamsdorffs Nachfolger Iswolski die Denkschrift rasch in der Versenkung verschwinden (sie wurde erst 1918 von den Bolschewiki veröffentlicht), aber trotzdem verdient festgehalten zu werden, was der Zar an den Rand schrieb: «Ich teile vollkommen die hier ausgesprochenen Ansichten. Es sind sofort Verhandlungen einzuleiten.»8 In dieser Atmosphäre feierten die Protokolle ihre ersten Triumphe. Wie ernst sie in manchen Kreisen genommen wurden, wie blind man an sie glaubte, zeigt ein bisher unveröffentlichter Brief, den der frühere konservative russische Journalist I. Kolyschko, bekannter unter seinem Pseudonym «Bajan», zur Zeit des Berner Prozesses an Burzew schrieb, als sie beide im Exil in Frankreich lebten:
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Das Lamsdorff-Memorandum wurde 1918 vom sowjetischen Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten publiziert. Eine französische Übersetzung erschien im Mercure de France, 1. Oktober 1918, S. 547-551, eine englische Übersetzung in L. Wolf, Diplomatic History of the Jewish Question, London 1919, S. 54-62. (Hier zitiert nach Segel, a. a. O., S. 221. Anm. d. Übers.)
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7. September 1934 Sehr geehrter Wladimir Lwowitsch, Sie fragen, ob ich als ehemaliger Journalist ... etwas über die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion weiß ... Damit Sie meine Erinnerungen besser beurteilen können, halte ich es für notwendig, Ihnen zu sagen, daß ich damals mit Rechtskreisen in Rußland sympathisierte ... mit Leuten, die zum Antisemitismus neigten ... Infolgedessen schenkte ich allem, was aus dem antisemitischen Lager kam, größte Beachtung. Ich kann nicht leugnen, daß diese Protokolle, als sie zuerst erschienen, in diesen Kreisen und auf mich persönlich einen wahrhaft überwältigenden Eindruck machten.Wie Sie wissen, glaubte man, was man glauben will. Die Leute, mit denen ich verkehrte, glaubten zunächst vorbehaltlos an die Echtheit dieses Dokuments. Dann untergruben die Bemühungen der Linken allmählich diesen Glauben, wir fingen an zu zweifeln, und der Bau ... begann unter der zernagenden Einwirkung der Kritik (und der Tatsachen) zu zerfallen, erst langsam, dann immer schneller. Soweit ich mich entsinne, ... brach er zu Beginn des Krieges endgültig zusammen. Während des Weltkriegs hörte ich die Protokolle in Rußland nicht erwähnen, erst nach 1917 ... Innerhalb Rußlands hörte die Kontroverse auf. Ich interessiere mich nicht dafür, wie und wann sie nach dem Westen übergriff – nach Frankreich, England und nach Deutschland. Denn für mich war die Sache ein für allemal erledigt. Es erschien mir unmöglich, daß die Protokolle je wieder auferstehen und die Menschheit beunruhigen könnten ... Mit größter Hochachtung Ihr ergebener L Kolyschko (Bajan).9
Allerdings war der Erfolg der Protokolle in der Vorkriegszeit nur begrenzt. Shewachow berichtet, daß sich Nilus 1913 bei ihm beklagte: «Ich kann die Öffentlichkeit nicht dazu bringen, die Protokolle ernst zu nehmen und mit der Aufmerksamkeit zu behandeln, die sie verdienen. Sie werden gelesen, kritisiert, oft bespöttelt, aber nur sehr wenige Menschen messen ihnen Bedeutung bei und sehen in ihnen eine wirkliche Bedrohung der Christenheit, ein Programm für die Zerstörung der christlichen Ordnung und für die Eroberung der 9
Eine Kopie von Kolyschkos Brief befindet sich in der B. I. Nicolaevsky Collection der Hoover Institution, Stanford University, Kalifornien.
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ganzen Welt durch die Juden. Das glaubt niemand ...»10 Jahre später lamentierte «Markow II» in einem sich jetzt in der Wiener Library befindenden Brief, es sei dem Bund des Russischen Volkes nicht gelungen, die Revolution abzuwenden, weil er zu zaghaft Gebrauch von den Protokollen gemacht habe. Man muß dabei bedenken, daß in diesen Dingen letztlich alles von der Haltung des Zaren abhing – und so sehr der Zar von der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung beeindruckt war, am Ende mußte er sich doch davon überzeugen, daß die Protokolle eine Fälschung waren. Wie es dazu kam, wissen wir von dem ehemaligen Ochrana-Chef von St. Petersburg, General K. I. Globatschew, dessen Erklärung Burzew dem Berner Gericht vorlegte. Globatschew berichtet, wie die Protokolle nach mehreren vergeblichen Versuchen im Revolutionsjahr 1905 endlich dem Zaren zur Kenntnis gebracht wurden: «Die Lektüre der Protokolle», schreibt er, «beeindruckte Nikolaus II. sehr tief, und er machte sie zu seinem Handbuch der Politik. Bezeichnend sind in dieser Hinsicht die Randbemerkungen, mit denen Nikolaus II. das ihm überreichte Exemplar der Protokolle versah: ‹Welche Gedankentiefe!› – ‹Welche Voraussicht!› – ‹Welche Präzision in der Verwirklichung des Programms!› – ‹Unser Jahr 1905 ist so verlaufen, als wäre es von den Weisen inszeniert worden.› – ‹An ihrer Echtheit kann kein Zweifel sein.› – ‹Überall sieht man die lenkende und zerstörende Hand des Judentums.› Und so weiter. Die ‹Entdeckung› der Protokolle hatte das lebhafte Interesse Nikolaus’ II. geweckt, er wandte der auswärtigen Abteilung der russischen Geheimpolizei seine Aufmerksamkeit zu und verteilte viele Auszeichnungen, Anerkennungen und Belohnungen ... Die Führer des Bundes des Russischen Volkes, wie Schmakow, Markow II usw., richteten ein Gesuch an das Ministerium des Innern; darin baten sie um die Erlaubnis, die Protokolle in großem Maßstab zum Kampf gegen das militante Judentum zu benutzen, und um Subventionen zu diesem Zweck. Aber der Innenminister Stolypin ... beauftragte zwei Offiziere des Gendarmenkorps11, Martynow und Wassiljew, geheime Ermittlungen nach der Herkunft der Protokolle anzustellen. Diese Ermittlungen ergaben eindeutig, daß die Protokolle unecht waren. Stolypin unterbreitete die Untersuchungsergebnisse Nikolaus II., 10
N. D. Zevachov, Sergej Aleksandrovic Nilus, S. 35.
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Das Gendarmenkorps war eine halbmilitärische Polizeitruppe, die, obwohl mit politischen Angelegenheiten befaßt, unabhängig von der Ochrana war.
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der völlig konsterniert war. Und so entschied Nikolaus II. über die Verwendung der Protokolle für antisemitische Propaganda: ‹Laßt die Protokolle fallen. Eine reine Sache darf man nicht mit schmutzigen Methoden verteidigen.›»12 Die Lage änderte sich 1917/18, als erst der Zar und dann die Provisorische Regierung gestürzt wurden, die Bolschewiki die Macht ergriffen und der Bürgerkrieg begann. Bestimmend für die Weltkarriere der Protokolle war vor allem die Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg (heute Swerdlowsk) am 17. Juli 1918. Dabei spielte der Zufall eine große Rolle. Ein paar Monate vor ihrer Ermordung hatte die entthronte Zarin von einer Freundin, Sinaida Sergejewna Tolstaja, ein Exemplar von Nilus’ Buch mit den Protokollen erhalten. Nach einem Brief zu urteilen, den sie am 20. März 1918 an ihre intime Freundin Anna Wyrubowa schrieb, scheint es nicht allzuviel Eindruck auf sie gemacht zu haben: «Sina hat mir ein Buch geschickt: Das Große im Kleinen von Nilus, ich lese es mit Interesse.»13 Diese dürre Bemerkung deutet nicht gerade auf Enthusiasmus hin, und tatsächlich war die Zarin, obschon eine beschränkte, abergläubische, hysterische Frau, bei weitem nicht so antisemitisch gesinnt wie ihr Mann. In ihren Briefen machte sie dem Zaren sogar Vorwürfe wegen seiner antisemitischen Politik. Es liegt deshalb viel Ironie in der Tatsache, daß der Tod der Zarin mehr als irgendein anderes Ereignis einer alten, halbvergessenen antisemitischen Fälschung zu Weltruhm verhalf. Zufällig nahm die Zarin das Buch von Nilus mit in ihr letztes Domizil, das Haus Ipatjews in Jekaterinburg. Eine Woche nach der Ermordung der kaiserlichen Familie wurde Jekaterinburg von den Bolschewiki geräumt, und die «Weißen» rückten ein. Am 28. Juli entdeckte man die verstümmelten und verkohlten Leichen des Zaren, der Zarin und ihrer Kinder in einem stillgelegten Bergwerksschacht eines nahegelegenen Waldes. Unterdessen hatte der Untersuchungsrichter Nametkin die in Ipatjews Haus befindlichen Gegenstände inventarisiert. Er verzeichnete drei Bücher, die der Zarin gehörten: den ersten Band von Krieg und Frieden, die russische Bibel und Das Große im Kleinen von Nilus. 12
Burzew publizierte dieses Dokument später in seinem Burch Protokoly Sionskich Mudrecov, Paris 1938, S. 105/106. 13
Anna Vyrubowa, Souvenirs de ma vie, Paris 1927, S. 269.
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Eine seltsame Entdeckung wurde gemacht: Die Zarin hatte in einer Fensternische des Zimmers, das sie und der Zar bewohnt hatten, ein Hakenkreuz an die Wand gezeichnet. Es ist bekannt, daß sie für dieses alte Symbol14 seit langem eine Vorliebe hatte; sie trug ein juwelenbesetztes Hakenkreuz als Schmuck und ließ Hakenkreuze in Geschenke eingravieren, die sie ihren Freunden sandte. Es ist auch bekannt, daß diese tief abergläubische Frau das Hakenkreuz als Glücksbringer und Talisman ansah. Aber schon damals gab es Leute, für die es etwas ganz anderes bedeutete. Eine ganze Weile vor dem Krieg hatte bereits der österreichische Schriftsteller Guido von List in mehreren populären Schriften über die «Germano-Arier» verkündet, daß das Hakenkreuz ein Sinnbild sei für die Reinheit des germanischen Blutes und den Kampf der «Arier» gegen die Juden. Diese Ideen waren nach Rußland gedrungen; und auf Russen, die mit ihnen vertraut waren, wirkte die Entdeckung des Hakenkreuzes an der Wand zusammen mit dem Buch von Nilus wie eine Offenbarung. Sie erblickten darin das Testament ihrer toten Kaiserin, und dieses Testament besagte: Das Reich des Antichrist ist angebrochen; die bolschewistische Revolution ist der entscheidende Angriff der satanischen Mächte; die kaiserliche Familie ist vernichtet worden, weil sie den göttlichen Willen auf Erden repräsentierte – und die Kräfte der Finsternis sind Fleisch geworden in den Juden. Ein solcher Schluß lag um so näher, als tatsächlich einige Juden in der Revolution eine hervorragende Rolle spielten. Viele Offiziere der «weißen» Armeen machten sich keine Gedanken darüber, daß das vielleicht mit der Unterdrückung der Juden unter dem zaristischen Regime zusammenhing und daß auch früher schon Zaren ermordet worden waren, und zwar von reinblütigen Russen. Daß sie solche Überlegungen nicht anstellten, ist nicht verwunderlich, denn diese Männer waren in einer Gesellschaft aufgewachsen, für die «der Jude» die Wurzel alles Übels war. Man hatte sie gelehrt, das ganze russische Volk liebe den Zaren und seine Selbstherrschaft, und sie hatten allen Grund, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß dem schon längst nicht mehr so war. Sie brauchten eine einfache 14
Das Hakenkreuz erscheint auf bronzezeitlichen Funden aus verschiedenen Teilen Europas; es war auch im alten Persien, Indien, China, Japan und bei den Indianerstämmen Nord-, Mittel- und Südamerikas bekannt. Am häufigsten diente es als Glücks- und Segenszeichen.
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Erklärung für die Katastrophe, die über sie und ihre Welt hereingebrochen war. Sie fanden diese Erklärung in dem Zusammentreffen des Hakenkreuzes und der Protokolle in Ipatjews Haus. Und bald waren die pogromschtschiki bei der Hand, die große Entdeckung auszubeuten.
2 Als der Zar und seine Familie ermordet wurden, hatte der Bürgerkrieg gerade erst begonnen. Er dauerte zwei Jahre, und die Sowjetmacht stand mehrmals am Rand der Niederlage, bevor die «weißen» Armeen 1920 endgültig geschlagen wurden. In diesen zwei Jahren zeigten die Protokolle zum ersten Male ihre Macht, Menschen zum Mord anzustacheln. Die Leute, die mit den Protokollen arbeiteten, waren noch die gleichen. Der Bund des Russischen Volkes hatte als geschlossene Organisation seit 1910 praktisch nicht mehr existiert; aber seine früheren Führer schlossen sich jetzt den verschiedenen «weißen» Armeen an, gründeten neue politische Gruppen mit Namen wie «Verband der russischen nationalen Gemeinschaften» oder «Russische Versammlung», und vor allem trieben sie fieberhaft PogromAgitation. Der Franzose du Chayla, der sich damals bei den «weißen» Truppen aufhielt, hat geschildert, mit welchem Eifer sich diese Männer der Verbreitung der Protokolle widmeten. Der Moskauer Rechtsanwalt Ismailow und der Kosaken-Oberstleutnant Rodionow besorgten eine billige neue Ausgabe für die Armee im Don-Gebiet; die Verteilung an die Truppen übernahm der führende Schwarzhunderter Purischkewitsch, der jetzt in General Denikins Propaganda-Abteilung in Rostow tätig war. Ähnlich war es auf der Krim unter dem Regime des Generals Wrangel: Professoren und Journalisten «predigten an jeder Straßenecke über die Drohung der Protokolle und die jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung».15 In Sibirien erschienen gleichfalls neue Ausgaben der Protokolle. Eine wurde in Omsk für die Armee des Admirals Koltschak gedruckt. Der Admiral selbst war besessen von den Protokollen; G. K. Gins, der ihn damals häufig sah, hat berichtet, daß er «die Protokolle buchstäb15
A. du Chayla, in: La Tribüne juive, Paris 14. Mai 1921, S.6/7.
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lich verschlang. Sein Kopf war vollgestopft mit antifreimaurerischen Ideen. Er sah überall Freimaurer, sogar in seiner eigenen Umgebung ... und unter den Mitgliedern der alliierten Militärmissionen.»16 Andere Ausgaben der Protokolle erschienen im äußersten Osten Sibiriens, in Wladiwostok und Chabarowsk, und eine wurde sogar von «weißen» Russen in Japan herausgebracht. Wie die Protokolle jetzt interpretiert werden sollten, geht klar aus dem Vorwort zur ersten der genannten Neuausgaben hervor, die Ismailow und Rodionow unter dem Titel Die Zionischen Protokolle. Der Plan für die Welteroberung durch die Judäo-Freimaurer in Nowotscherkask veröffentlichten: «Die Protokolle sind ein sorgfältig bis ins einzelne ausgearbeitetes Programm für die Eroberung der Welt durch die Juden. Der größere Teil dieses Programms ist schon verwirklicht worden, und wenn wir uns nicht vorsehen, sind wir unweigerlich zum Untergang verurteilt ... Diese Protokolle sind in Wahrheit nicht nur der Schlüssel zu unserer ersten, erfolglosen Revolution (1905), sondern auch zu unserer zweiten Revolution (1917), in der die Juden eine für Rußland so verhängnisvolle Rolle gespielt haben ... Für uns, die wir Zeugen dieser Selbstzerfleischung sind, für uns, die wir hoffen, Rußlands Wiedergeburt zu sehen, ist dieses Dokument um so bedeutsamer, als es die Mittel enthüllt, welche die Feinde des Christentums benutzen, um uns zu unterjochen. Nur wenn wir lernen, diese Mittel zu erkennen, werden wir imstande sein, die Feinde Christi und der christlichen Zivilisation erfolgreich zu bekämpfen.»17 Die Protokolle waren natürlich für die einfachen Soldaten – die meisten waren ohnehin Analphabeten – viel zu kompliziert und umfangreich. Beim Berner Prozeß von 1934 schilderte Chaim Weizmann, der spätere Präsident des Staates Israel, die erste Version der Protokolle, die er zu Gesicht bekam. Britische Offiziere, die bei den «weißen» Armeen gewesen waren, brachten ein maschinengeschriebenes Dokument von vier oder fünf Seiten nach Palästina mit; sie erklärten, jeder «weiße» Offizier und Unteroffizier besitze ein solches Schriftstück. Wie sich ergab, enthielt es Auszüge aus den Protokollen. Anderen Quellen ist zu entnehmen, daß Material dieser Art in großen Mengen an die lesekundigen Mitglieder der «weißen» 16
G. K. Gins, Sibir’, Sojuzniki i Kolcak, Peking 1921, Bd. II, S. 39.
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Sionskie Protokoly (hrsg. v. A. Rodionov), Nowotscherkask 1918.
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Armeen verteilt wurde, die es den Analphabeten vorlasen und erklärten. Zur Ergänzung und Aktualisierung der Protokolle wurden auch neue Fälschungen produziert. Die berühmteste Fälschung war ein Dokument, das angeblich bei einem jüdischen bolschewistischen Kommandeur der Roten Arme namens Zunder gefunden worden war. Kopien dieses Dokuments zirkulierten anscheinend schon im Mai 1918; im Winter 1919/20, als sich das Kriegsglück wendete und die bisher siegreichen «Weißen» Schlacht um Schlacht verloren, erschien es häufig in den Zeitungen der «weißen» Armeen, manchmal in veränderter, stark erweiterter Fassung. Es lautet: Geheim. An die Vertreter aller Zweige der Israelitischen Internationalen Liga. Söhne Israels! Die Stunde unseres Endsieges ist nahe! Wir stehen an der Schwelle zur Weltherrschaft. Das, wovon wir bisher nur träumen konnten, ist im Begriff, Wirklichkeit zu werden. Noch vor kurzem schwach und machtlos, können wir jetzt dank der Weltkatastrophe mit Stolz unser Haupt erheben. Wir müssen jedoch vorsichtig sein! Man kann mit Sicherheit voraussagen, daß wir, nachdem wir über umgestürzte und zerbrochene Altäre und Throne geschritten sind, auf dem gleichen vorgezeichneten Weg weiter voranschreiten werden. Die Autorität der uns fremden Religionen und Glaubenslehren haben wir durch sehr erfolgreiche Propaganda schonungslos der Kritik und dem Spott ausgesetzt. Wir haben die Kultur, die Zivilisation, die Traditionen und die Throne der Christlichen Nationen ins Wanken gebracht, und innerhalb dieser Nationen haben wir mehr Menschen für unsere Zwecke gefunden, als wir brauchten. Wir haben alles getan, um das russische Volk unter das jüdische Joch zu bringen, und wir haben es schließlich vor uns in die Knie gezwungen. All das haben wir fast vollendet, aber trotzdem müssen wir sehr vorsichtig sein, weil das unterdrückte Rußland unser Erzfeind ist. Der Sieg über Rußland, gewonnen durch unsere geistige Überlegenheit, kann sich in Zukunft, in einer neuen Generation, gegen uns auswirken. Rußland ist besiegt und zu Boden geworfen. Rußland windet sich in Todeskrämpfen unter unserem Stiefelabsatz; aber vergeßt nicht, auch nicht für einen Augenblick, daß wir vorsichtig sein müssen. Die heilige Sorge um unsere Sicherheit erlaubt uns nicht, Mitleid oder Gnade zu zeigen. Endlich ist uns vergönnt, die bittere Not des russischen Volkes zu 123
erblicken, es in Tränen zu sehen! Wir haben diesen Menschen ihr Eigentum, ihr Gold weggenommen und sie dadurch zu hilflosen Sklaven gemacht. Seid vorsichtig und schweigsam. Für unseren Feind darf es keine Gnade geben. Wir müssen die besten und führenden Elemente des russischen Volkes beseitigen, damit das besiegte Rußland keinen Führer findet! Dadurch verliert es jede Möglichkeit, unserer Macht Widerstand zu leisten. Wir müssen Haß und Streit zwischen Arbeitern und Bauern schüren. Krieg und Klassenkampf werden alle vom christlichen Volk geschaffenen Kulturschätze zerstören. Aber seid vorsichtig, Söhne Israels! Unser Sieg ist nahe, weil unsere politische und wirtschaftliche Macht, unser Einfluß auf die Massen schnell wachsen. Wir kaufen Staatsanleihen und Gold auf und gewinnen damit die Kontrolle über die Börsen der Welt. Die Macht ist in unseren Händen, aber seid wachsam – setzt kein Vertrauen in verräterische, zweifelhafte Mächte. Bronstein (Trotzki), Apfelbaum (Sinowjew), Rosenfeld (Kamenew), Steinberg – sie alle sind gleich Tausenden anderen wahre Söhne Israels. Unsere Macht in Rußland ist grenzenlos. In den Städten werden die Kommissariate, Ernährungskomitees, Hauskomitees usw. von unseren Leuten beherrscht. Aber werdet nicht siegestrunken. Seid wachsam, vorsichtig, denn niemand außer euch selbst wird uns schützen. Bedenkt, wir können uns nicht auf die Rote Armee verlassen, die sich eines Tages vielleicht gegen uns wenden wird. Söhne Israels! Die Stunde unseres langersehnten Sieges über Rußland ist nahe; schließt eure Reihen! Macht die nationale Politik unseres Volkes bekannt! Kämpft für unsere ewigen Ideale! Haltet die alten, uns von der Geschichte überlieferten Gesetze heilig! Möge unser Intellekt, unser Genius, uns schützen und führen! Gezeichnet: Das Zentralkomitee der Israelitischen Internationalen Liga.18 Bei all seiner Absurdität war das Zunder-Dokument symptomatisch; denn die darin ausgedrückte Idee, daß die bolschewistische Revolution das Ergebnis eines jüdischen Komplotts und die Erfüllung uralten Strebens des jüdischen Volkes sei, sollte prägenden Einfluß auf die Geschichte gewinnen. Schon damals waren viele der «weißen» Russen von diesem Gedanken besessen; später wurde er ein Glaubensartikel der Nazis, und innerhalb der nächsten Genera18
Abgedruckt in Four Protocols of Zion (not the Protocols of Nilus), London 1921.
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tion beeinflußte er die Innen- und Außenpolitik der deutschen Regierung. Es lohnt sich, zu untersuchen, ob er auf historischen Tatsachen basierte. Bis vor wenigen Generationen hatte das Wort «Jude» nur eine Bedeutung: Anhänger der jüdischen Religion. Für Juden in diesem Sinne des Wortes bedeutete die bolschewistische Revolution nicht Erfüllung, sondern neue Gefahr. Tatsächlich wurden praktizierende Juden in der Sowjetunion mindestens ebensosehr verfolgt wie praktizierende Christen. Zu der Zeit, als das Zunder-Dokument in den «weißen» Armeen zirkulierte, verwandelte die Sowjetregierung Synagogen in Arbeiterklubs, löste jüdische religiöse, kulturelle und philanthropische Institutionen auf und verbot alle hebräischen Bücher ungeachtet ihres Inhalts. Bolschewiki jüdischer Herkunft fühlten sich mit religiösen Juden nicht im mindesten solidarisch – ganz im Gegenteil. Als eine Deputation von Juden bei Trotzki vorsprach und ihn bat, nichts zu unternehmen, was die «weiße» Soldateska zu Pogromen reizen könnte, antwortete er: «Geht nach Hause zu euren Juden und sagt ihnen, daß ich kein Jude bin und mich nicht um die Juden und ihr Schicksal kümmere.»19 Hier klaffte ein unüberbrückbarer Abgrund, den die antisemitischen Propagandisten nach besten Kräften zu verbergen suchten. Noch aus einem anderen Grunde konnten die russischen Juden in ihrer großen Mehrzahl nicht mit den Bolschewiki sympathisieren: Sie waren meist kleine Händler oder selbständige Handwerker und als solche – obschon größtenteils bettelarm – vom leninistischen Standpunkt aus Klassenfeinde. Sie hatten zwar nichts übrig für das zaristische Regime, das sie verfolgte, aber sie waren alles andere als Kommunisten. In der kurzen Zeitspanne der politischen Meinungsfreiheit unterstützten sie hauptsächlich die bürgerlichreformistische Partei der Konstitutionellen Demokraten. Unter dem Sowjetregime hatten sie mehr zu leiden als die anderen Russen: In den zwanziger Jahren waren mehr als einem Drittel der jüdischen, aber nur 5-6 Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung die bürgerlichen Rechte entzogen. Soviel ist allerdings richtig: In den Führungsgremien (nicht in der Gesamtmitgliedschaft) der beiden marxistischen Parteien, der Bolschewiki und der Menschewiki, war der Anteil von Juden, d. h. Personen jüdischer Abkunft, unverhältnismäßig hoch. Das ist leicht 19
H. Valentin, Antisemitenspiegel, Wien 1937, S. 179/180.
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zu erklären. Es handelte sich um Menschen, die mit der traditionellen jüdischen Gemeinde gebrochen und der jüdischen Religion abgeschworen hatten, aber trotzdem von der zaristischen Autokratie diskriminiert und verfolgt wurden; begreiflicherweise fühlten sie sich zu den Linksparteien hingezogen. Hinzu kam: Sie waren meist ehemalige Studenten, und wegen des numerus clausus mußte ein Jude schon außergewöhnlich begabt sein, um überhaupt zur Universität zugelassen zu werden; wenn sich solche Leute einer politischen Partei anschlossen, hatten sie Aussicht, schnell in Führungspositionen aufzusteigen. Ganz ähnlich war die Situation auch in anderen Ländern, wo sich jüdische Intellektuelle, die nicht Stütze und Trost im religiösen Glauben fanden, mit dem Antisemitismus konfrontiert sahen. Solche Juden sind gewöhnlich Idealisten; Ziel ihres Strebens ist eine Gesellschaft, in der es keinerlei Diskriminierung mehr gibt. Meist sind sie kümmerliche Politiker und werden bald nach dem Sieg der Revolution an die Wand gedrängt. In Rußland gab es viel mehr Juden in menschewistischen als in bolschewistischen Führungskreisen; und diese menschewistischen Führer wurden allesamt von den Bolschewiki aus dem Lande getrieben, eingesperrt oder hingerichtet. Was die Juden in der bolschewistischen Führung betrifft, so wurden sie fast alle in den dreißiger Jahren erschossen. Das sind die Tatsachen. Aber die Phantasie kümmert sich nicht um Tatsachen, und der Mythos der jüdisch-kommunistischen Verschwörung erwies sich als noch zugkräftiger als der von der jüdischfreimaurerischen Verschwörung. Seine Macht zeigte er zum erstenmal im russischen Bürgerkrieg. Einige der «weißen» Befehlshaber, so General Denikin, verabscheuten die antisemitische Propaganda, die unter ihren Truppen getrieben wurde, aber sie konnten sie nicht eindämmen. Die Schwarzhunderter-Organisationen hatten ihr Kriegsziel sehr klar formuliert und prägten es den Soldaten wirkungsvoll ein: «Tötet die Juden, rettet Rußland.» Die ungeheuren Judenmassaker der Nazis haben alles Vorangegangene in den Schatten treten lassen, so daß man heute nur noch wenig über das Vorspiel weiß, das 1918-20 in Rußland über die Bühne ging. Es forderte nicht wenige Opfer – über 100.000 Tote und eine unbekannte Zahl von Verwundeten und Verstümmelten. Viele Augenzeugenberichte von diesen Pogromen sind zu gräßlich, als daß man sie wiedergeben könnte. Einige Auszüge aus einem Bericht des russischen Journalisten Iwan Derewenski über das Massaker, das ein 126
Kosakenregiment im September 1919 in Fastow bei Kiew veranstaltete, mögen eine Vorstellung davon vermitteln, was ein Pogrom war und wie er entfesselt wurde. Folgendes geschah, nachdem die Bolschewiki vergeblich versucht hatten, die Stadt zu erobern: «In den ersten drei Tagen kamen Raubüberfälle und Morde hauptsächlich nachts vor. Während der Nächte konnte die ganze Bevölkerung bald aus dieser, bald aus jener Richtung Schüsse und verzweifelte Schreie hören. Morde waren anfangs ziemlich selten, häuften sich aber mehr und mehr. Ungefähr am dritten Tag gingen die Kosaken schon in der Stadt umher, suchten ganz offen nach jüdischen Häusern und wenn sie eines fanden, taten sie, was ihnen gefiel. Sie hielten auch Juden auf der Straße an. Manchmal fragten sie einfach: ‹Jid?› und schossen dem Betreffenden eine Kugel durch den Kopf. Öfter durchsuchten sie den Mann, zogen ihn nackt aus und erschossen ihn dann. Viele der Mörder waren betrunken ... Etwa am zweiten oder dritten Tag begannen sie, jüdische Häuser in Brand zu stecken. Der Grund dafür war, daß die pogromschtschiki die Spuren ihrer schlimmsten Verbrechen beseitigen wollten. In einem Haus an der Ecke des Torgowy- Platzes beispielsweise befanden sich fünfzehn Leichen, darunter die mehrerer junger Mädchen, die erst vergewaltigt und danach getötet worden waren. Sie setzten das Haus in Flammen, um diese Verbrechen zu vertuschen ... Ich werde die verübten Exzesse schildern, gruppiert nach den verschiedenen Kategorien. Morde. Als ich in Fastow war, war es noch nicht möglich, die Zahl der Opfer mit einiger Sicherheit festzustellen. Nach Auskunft des Roten Kreuzes waren auf dem jüdischen Friedhof 550 Leichen begraben worden. Aber die Gesamtzahl der Toten wurde viel höher geschätzt. Die allgemeine Meinung unter Christen und Juden war, daß in Fastow 1.500-2.000 Juden getötet worden waren ... Als ich ankam, waren alle Leichen von den Straßen entfernt und begraben worden, aber man fand immer noch Leichen in Wäldern und Gräben und manchen Häusern. Außerdem besteht die übereinstimmende Ansicht, daß viele Leichen verbrannten, als die Häuser angezündet wurden. Man sucht noch nach Überresten. In der Nähe einiger ausgebrannter Häuser ist ein starker Leichengeruch festzustellen. Oft werden in der Asche unidentifizierbare Gebeine gefunden. Von vielen Opfern fehlt jede Spur, und man hält sie für tot. Hinter dem Bethaus wurden viele Leichen von Schweinen und Hunden angefressen ... 127
Verwundungen. Die Zahl der Verwundeten wird mit 300-400 angegeben. Jeden Tag sterben einige dieser Verletzten. Da es an Personal fehlt, ist die ärztliche Betreuung sehr unzureichend. Die Verletzten sind in den Klassenzimmern der örtlichen Schule untergebracht. Sie liegen dort ohne Verbände, und die Räume sind so überfüllt, daß man sich kaum darin bewegen kann. Greueltaten. Man erzählte mir von einem Fall, wo ein Mann lebend in das Feuer geworfen wurde. Einem Mann namens Kiksman wurde die Zunge herausgeschnitten, danach wurde er mit einer DumdumKugel erschossen. Jedermann, auch das Personal des Krankenhauses, spricht davon, daß Dumdum-Geschosse verwendet wurden. Einem Mann namens Markman wurden beide Ohren abgeschnitten, ein Mitglied derselben Familie erhielt zwölf Säbelhiebe, ein anderes erhielt acht. Die Leiche eines kleinen Mädchens, M. Polskaja, zeigte, daß es lebend verbrannt worden war. Eine Liste der Begrabenen (beim Polizeischreiber erhältlich) enthält die Namen von zwei Kleinkindern im Alter von sechs Monaten, Awrum Slobodski und Ruwin Konik. Ein Mann wurde in zwei Teile zerhauen. Vor der Synagoge wurden zwanzig Juden nackt ausgezogen und dann erschossen. Das gleiche widerfuhr vier Juden in der Woksal-Straße ... Sehr oft wurde der Anschein erweckt, als wolle man jemanden aufhängen, um ihn zur Herausgabe seines Geldes zu zwingen ... Viele wurden aber auch wirklich aufgehängt, bis sie tot waren – zum Beispiel Moschko Remenik (an einem Baum in seinem Garten) und ein Vater mit seinem schulpflichtigen Sohn, Meyer und Boris Sabarski. Diese beiden wurden erst probeweise halb aufgehängt, dann wurde der Junge gezwungen, die Schlinge um den Hals seines Vaters zuzuziehen ... Vergewaltigungen. Verständlicherweise sind die Namen überlebender Opfer von Vergewaltigungen nicht zu erfahren. Es gibt sehr wenige; ich hörte nur von zwei jungen Mädchen, die in einem Krankenhaus lagen. Aber nach Aussagen von Zeugen waren Vergewaltigungen sehr zahlreich; die Opfer wurden gewöhnlich danach umgebracht. Man erzählte mir von sehr jungen Mädchen, die vergewaltigt wurden ... Brandstiftungen. Insgesamt wurden etwa 200 Gebäude niedergebrannt, die Hälfte davon Wohnhäuser ... Ungefähr tausend Familien sind obdachlos; sie hausen in der Synagoge, der Schule oder einfach auf der Straße. Auf die Frage ‹Wer verübte diesen Pogrom? › kann man eine ganz 128
präzise Antwort geben: die Kosaken der 2. Brigade aus Tersk. Sie wird befehligt von Oberst Belogorzew ... Ich muß darauf hinweisen, daß die Opfer des Pogroms überzeugt sind, daß der Pogrom vom Brigadekommando ‹erlaubt› wurde. Sie schlossen dies daraus, daß die Offiziere bestenfalls indifferent waren, oft aber den Pogrom ausdrücklich billigten, und daß einzelne Kosaken Dinge sagten wie: ‹Wir haben Befehl, die Jidden zu dreschen› oder ‹Wir haben drei Tage Urlaub, um uns zu amüsieren› oder ‹Niemand wird uns dafür bestrafen› und so weiter. Ich muß jedoch hinzufügen, daß einige Offiziere derselben Brigade versuchten, dem Pogrom Einhalt zu gebieten, bestimmte Häuser zu schützen und allgemein den Juden in ihrer Not beizustehen. Leutnant Iljuschkin, der die Artillerie kommandierte, überredete seine Kosaken, einen ganzen Häuserblock zu verteidigen ... Nun zu den Ursachen des Pogroms. Obwohl mich diese Frage am allermeisten interessierte, konnte ich überhaupt keinen wirklichen Grund für den Pogrom finden. Sicher ist nur eines: unter den Kosaken herrschte allgemein der – freilich ganz vage und grundlose – Glaube, daß die Juden mit dem Bolschewismus sympathisierten. Leutnant Iljuschkin erzählte mir, jemand habe, ‹offensichtlich zu provokatorischen Zwecken›, unter den Kosaken das Gerücht ausgestreut, die Juden hätten die Bolschewiki freudig begrüßt, als diese für kurze Zeit Fastow besetzten, ... und sie hätten auf die Freiwilligen20 geschossen, als sich diese aus Fastow zurückzogen. Dieses Gerücht wurde von keinem meiner vielen Informanten bestätigt. Im Gegenteil, jedermann – darunter auch Leute, die den Juden sehr feindlich gesinnt waren – bestritt entschieden, daß so etwas geschehen sein könne. Als die Bolschewiki in Fastow eindrangen, versteckten sich die Juden wie alle übrigen Einwohner in den Kellern ...»21 Während diese Dinge in Rußland geschahen, wanderten die Protokolle und der Mythos der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung nach Westen. Am meisten Beachtung fanden sie in Deutschland. 20
D. h. die «weißen» Streitkräfte.
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Derewenski wurde von einer 1919 in Kiew gegründeten Organisation nach Fastow entsandt, um Material über die Pogrome in der Ukraine zu sammeln. Später hatte die Organisation ihren Sitz in Berlin und nannte sich Zentralarchiv für Pogrom-Materialien. Derewenski traf am 17. September 1919 in Fastow ein; der Pogrom hatte in den Tagen vom 10. bis zum 13. September stattgefungen. Derewenskis Bericht ist abgedruckt bei I. B. Sechtman, Pogromy dobrovol’þeskoj armii na Ukraine, Berlin 1932.
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6 Die «Protokolle» erreichen Deutschland
1 Im Laufe des russischen Bürgerkrieges setzten die pogromschtschiki und die unter ihrem Einfluß stehenden «weißen» Offiziere ganze Stapel von antisemitischen Legenden und Fälschungen in die Welt. So veröffentlichte im September 1919 eine monarchistische Zeitung in Rostow am Don ein angebliches Dokument des amerikanischen Geheimdienstes, wonach der amerikanische jüdische Bankier Jacob Schiff im Namen des New Yorker Bankhauses Kuhn, Loeb & Co. viele Millionen Dollar Subventionen an die Bolschewiki gezahlt und damit ihren Sieg in der Revolution ermöglicht hatte.1 Warum die Fälscher gerade auf Jacob Schiff verfielen, ist leicht zu sehen. Während der Pogrome von 1905 hatte er nämlich die Regierung der Vereinigten Staaten aufgefordert, etwas für die russischen Juden zu tun – und dergleichen konnte kein pogromschtschik verzeihen. Aber manche ausländischen Journalisten und Mitglieder von Militärmissionen bei den «weißen» Armeen nahmen solche Geschichten ernst und meldeten sie nach Westeuropa weiter. Bald darauf druckte Monsignore Jouin in Paris die Fälschung über Schiff in seiner Ausgabe der Protokolle ab, und später wurde sie ein unerschöpfliches Thema der Nazi-Propaganda. Unterdessen reisten die Protokolle selbst westwärts. Zwei Jahrzehnte nachdem das französische Originalmanuskript der Fälschung von Paris nach Rußland gelangt war, verließen gedruckte Exemplare der russischen Übersetzung Rußland im Gepäck «weißer» Offiziere. 1919 zirkulierten maschinengeschriebene Fassungen in verschiede1
V Moskvu, Nr. l, 23. September 1919.
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nen Sprachen unter den Delegierten der Friedenskonferenz; auch auf den Schreibtischen von Ministern und Regierungsbeamten in London, Paris, Rom und Washington tauchten sie auf. Die Regierungen der Großmächte sollten damit bewogen werden, ihre Intervention in Rußland fortzusetzen und zu verstärken. Gegen die Einmischung in einen echten Bürgerkrieg ließ sich alles mögliche vorbringen – wie aber, wenn der Konflikt in Rußland gar kein Bürgerkrieg war, sondern die Ausführung eines internationalen jüdischen Komplotts zur Unterjochung des russischen Volkes? So irrwitzig das Argument heute klingen mag, damals scheint es nicht ohne Einfluß auf die Politik der Interventionsmächte geblieben zu sein. Freilich ging es nicht allen Kolporteuren der Protokolle um hohe Politik. Im Sommer und Herbst 1919 erschien bei einer jüdischen Delegation zur Friedenskonferenz ein geheimnisvoller Litauer, ehemaliger Ochrana-Angestellter, und erbot sich, ihr für 10.000 englische Pfund ein Buch auszuliefern, das den Juden äußerst gefährlich werden könne. Natürlich wurde nichts aus dem Geschäft, aber die Delegation bekam das Buch zu Gesicht: es war ein Exemplar der Protokolle. Das war nicht der einzige Fall dieser Art. In seinem Jahrbuch für 1920 berichtete das American Jewish Committee, gewisse Russen hätten ihm das Anerbieten gemacht, für eine großzügige Abfindung das Originalmanuskript der Protokolle zu vernichten. Die Zeit für solche Privatgeschäfte war jedoch bald vorbei. Ende 1919 begann jene Zeit, in der die Protokolle Weltruhm erlangten. Das verdankten sie vor allem zwei russischen Fanatikern, die sich in Berlin niedergelassen hatten: Pjotr Nikolajewitsch Schabelski-Bork und Fjodor Wiktorowitsch Winberg.2 Schabelski-Bork, 1893 im Kaukasus geboren, war der Sohn eines reichen Grundbesitzers. Seine Mutter, führend im Bund des Russischen Volkes, redigierte eine Schwarzhunderter-Zeitschrift in St. Petersburg und hatte ein antisemitisches und antifreimaurerisches Buch mit dem Titel Die Satanisten des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben. Schabelski-Bork selbst gehörte dem Bund des Russischen Volkes schon in früher Jugend an, außerdem noch einer ähnlichen Organisation, der «Bruderschaft vom Erzengel St. Michael». Er diente 2
Zur Rolle Winbergs und Schabelski-Borks siehe H. Rollin, L’Apocalypse de notre temps, Paris 1939, besonders S. 153 ff, und W. Laqueur, Deutschland und Rußland, S. 125, 129 ff.
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als Offizier im Weltkrieg und kurze Zeit im Bürgerkrieg. Im September 1918 war er in Jekaterinburg, angeblich von hoher Stelle beauftragt, die näheren Umstände der Ermordung der Zarenfamilie zu untersuchen. Er vernahm mehrere Personen und hörte bei dieser Gelegenheit sicherlich vom Hakenkreuz der Zarin und von ihrem Exemplar des Nilus’schen Buches. Winberg war bedeutend älter; er war 1871 in Kiew geboren. Sein Vater war Kavalleriegeneral. Er selbst schlug ebenfalls die Offizierslaufbahn ein und brachte es bis zum Oberst in der Kaiserlichen Garde. Er war Mitglied der «Bruderschaft vom Erzengel St. Michael» und schrieb für Organe der Schwarzhunderter. 1918 wurde er wegen konterrevolutionärer Tätigkeit verhaftet, saß einige Zeit in der PeterPauls-Festung in Petrograd3, kam jedoch durch Flucht oder Entlassung bald wieder frei. Er schlug sich in die Ukraine durch, wo er sich den «weißen» Propagandisten und pogromschtschiki in Kiew anschloß. Die Ermordung der Zarin und die Entdeckungen in ihrem Zimmer in Jekaterinburg bewegten ihn tief. Sie war Ehrenoberst seines Regiments gewesen. Als er 1927 in Frankreich starb, schrieb die Revue internationale des Sociétés secrètes in einem Nachruf: «Er betete sie wahrhaft an, und all seine Schriften gegen die Juden und Freimaurer sind von dieser Verehrung durchdrungen.»4 Schabelski-Bork und Winberg verließen Rußland in einem ziemlich frühen Stadium des Bürgerkrieges. Als die Deutschen nach dem Waffenstillstand vom November 1918 die Ukraine räumten, stellten sie einen Eisenbahnzug für diejenigen russischen Offiziere bereit, die sich ihnen anschließen wollten. Schabelski-Bork und Winberg machten von dem Angebot Gebrauch und kamen so in das von Niederlage und Revolution geschüttelte Deutschland. Wie es scheint, nahm Winberg gleich nach der Ankunft Verbindung mit dem Mann auf, der die erste deutsche Ausgabe der Protokolle veranstalten sollte. Ludwig Müller, der sich gern Müller von Hausen nannte und auch das Pseudonym Gottfried zur Beek benutzte, war Hauptmann außer Dienst und Herausgeber der konservativen und antisemitischen Monatszeitschrift Auf Vorposten. Noch vor Ende November empfing er – entweder von Winberg selbst oder von einem Kameraden Winbergs – ein Exemplar von Nilus’ Buch Das Große im Kleinen und 3
St. Petersburg hieß von 1914 bis 1924 Petrograd.
4
Zur Revue internationale des Sociétés secrètes siehe unten, S. 170
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zwar der Auflage von 1911, die die Protokolle enthielt. Die Verbindung zwischen diesen obskuren, halb verrückten, halb kriminellen Gestalten sollte schwerwiegende Folgen haben. Monsignore Jouin, der so viel für die Verbreitung der Protokolle in Frankreich tat, betrachtete Winbergs Tätigkeit in Deutschland als «den Ausgangspunkt für den Kreuzzug gegen die jüdisch-freimaurerische Gefahr»; und wenn das auch eine Übertreibung war, so steckte doch ein Stück Wahrheit darin. Sicher ist, daß die antisemitische Agitation von diesem Augenblick an eine mörderische Intensität gewann, die für Westeuropa neu war. In Berlin gaben Winberg und Schabelski-Bork das Jahrbuch Lutsch Sweta (Lichtstrahl) heraus. In der dritten Nummer (Mai 1920) veröffentlichten sie den vollständigen Text des von Nilus verfaßten Buches nach der Auflage von 1911. Die anderen Nummern beschäftigen sich ebenfalls mit der imaginären jüdisch-freimaurerisch-bolschewistischen Verschwörung, und das gleiche gilt für Winbergs Buch Krestny Put, das auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der Kreuzweg erschien. In all diesen Schriften erklärt Winberg, es sei notwendig, sich auf die eine oder andere Weise der Juden zu entledigen. Er sieht natürlich, daß das in einer Demokratie nicht möglich ist. Das stört ihn jedoch keineswegs, denn für ihn ist die Demokratie ohnehin eine monströse Verirrung, eine teuflische Erfindung der Juden, die damit ihre Herrschaft sichern wollen. Winberg fordert deshalb die natürlichen Führer der Völker auf, ein für allemal die politische Unfähigkeit der Massen zu erkennen, der demokratischen Politik den Rücken zu wenden, die Macht zu ergreifen und diesen «Herden von Menschenaffen» ihre Diktatur aufzuzwingen. Dann werde die Zeit reif sein, die Nationen zu einer gemeinsamen Front gegen die Weltverschwörung der Juden zusammenzuschließen. Vorerst sieht Winberg immerhin einen großen Trost: Deutschland ist verhältnismäßig unberührt von der demokratischen Seuche. «In Deutschland sind die Protokolle der Weisen von Zion frei erhältlich, und die Arbeiter revidieren in eigens einberufenen Versammlungen ihre sozialistischen Programme ... Überall werden Vorträge über die Judenherrschaft gehalten ... »5 Deutschlands Feinde hingegen, England und Frankreich, seien die Hochburgen der «Weisen von Zion». Schon im 18. Jahrhundert bezahlte England auf Geheiß 5
F. V. Vinberg, Krestnyj Put’, München 1922, S. 246.
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der «Weisen» Männer wie Rousseau, Voltaire und die Enzyklopädisten, um Frankreich zu unterminieren; in jüngerer Zeit bezahlte es Tolstoi und Gorki, um Rußland zu schwächen. Die französische Revolution sei von den «Weisen» geplant worden, ebenso die russische Revolution 1918. «Das Bindeglied zwischen der deutschen und der russischen Revolution besteht in der Tatsache, daß die beiden Staatsstreiche vermittels des weltumspannenden ... Netzes der jüdisch-freimaurerischen Organisationen künstlich provoziert wurden. In diesen Organisationen spielt die Freimaurerei der niederen Grade die Rolle eines blinden Werkzeugs der berüchtigten ... Alliance Israélite Universelle, jenes geheimen Rats der Weisen des Volkes Israel ...»6 Mehr noch: Nicht nur die Revolutionen, auch der Weltkrieg war das Werk der «Weisen», die die Fäden der britischen und der französischen Außenpolitik zogen. Der Kaiser und der Zar taten ihr Bestes, den Krieg abzuwenden, wären aber den «Weisen» nicht gewachsen. Jetzt könne nur noch eines helfen: ein Bündnis zwischen dem wahren Deutschland und dem wahren Rußland – das heißt, einem Deutschland und einem Rußland unter Rechtsdiktaturen. Ein solches Bündnis könnte der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung samt ihren französischen und britischen Marionetten noch Trotz bieten und sie überwältigen. Die neue Losung müsse lauten: «Deutschland und Rußland über alles! Über alles in der Welt» «Auf diese Weise», kommentiert Winberg, «werden die beiden Völker ihren großherzigen und wohltätigen aber bisher utopischen Traum vom Weltfrieden verwirklichen ...»7 Als politisches Programm waren Winbergs Äußerungen nicht ernst zu nehmen. Selbst von den Rechtsextremisten unter den russischen Emigranten war nur eine Minderheit bereit, deutsche Hilfe zur Wiederherstellung des Zarentums zu erbitten, und auch unter den deutschen Rechten waren nur wenige – beispielsweise Ludendorff – so unrealistisch, eine solche Restauration ins Auge zu fassen. Vollkommen recht hatte Winberg jedoch mit seiner Annahme, daß die Protokolle in Deutschland mehr Widerhall finden würden als in jedem anderen Land. Er wußte natürlich, daß der Antisemitismus, seit er sich um 1870 als politische Kraft formiert hatte, in Deutschland stets viel stärker und verbreiteter gewesen war als in England 6
Luc Sveta, Berlin, Ig. I (1919), S. 50.
7
F. V. Vinberg, Krestnyj Put’, S. 49.
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oder Frankreich. Aber das war nicht alles. Die Juden wurden auch für den Krieg und für Deutschlands Niederlage verantwortlich gemacht. Sobald sich nämlich zeigte, daß Deutschland den Krieg verlieren mußte, hatten diejenigen, die das Land in die Katastrophe geführt hatten, begonnen, den Juden die Schuld zuzuschieben. Bereits im Januar 1918 brachte die nationalistische Monatschrift Deutschlands Erneuerung eine zeitgemäße Variation über das Thema «Rede des Rabbiners». Im Jahre 1913 – so wußte die Zeitschrift zu berichten – hätte eine internationale Gruppe jüdischer Bankiers in Paris getagt und entschieden, es sei an der Zeit, daß die Hochfinanz Könige und Kaiser davonjage und offen ihre eigene Herrschaft über die ganze Welt errichte; die bisherige geheime Kontrolle müsse der direkten Diktatur weichen. Das wären die Männer, welche die Welt in den Krieg gestürzt hatten. Auf ihr Betreiben wäre Deutschland von jüdischen Agitatoren dermaßen unterminiert worden, daß die ausländischen Mächte keine Bedenken hätten, es anzugreifen, weil sie wußten, daß der Krieg in Deutschland zur Revolution führen würde. Dieser Gedanke schlug in Rechtskreisen sofort ein. Als in den letzten verzweifelten Kriegsmonaten in Deutschland und Österreich Streiks ausbrachen, wurden Flugblätter verbreitet, in denen es hieß, amerikanische, englische und russische Juden hätten anderthalb Milliarden Mark aufgebracht, um Deutsche gegen Deutsche, Brüder gegen Brüder zu hetzen. Im August 1918, als das deutsche Heer an der Westfront in vollem Rückzug war, erklärte Fürst Dr. Otto zu Salm-Horstmar – später ein sehr aktiver Förderer der Protokolle –, Deutschland verliere deshalb den Krieg, weil die den Deutschen natürliche aristokratische Weltanschauung von der demokratischen Weltanschauung verdrängt werde; und diese demokratische Weltanschauung finde ihre stärkste Stütze in der internationalen jüdischen Rasse, die sich der Freimaurerlogen bediene. Er fügte hinzu, daß Lenin Jude und Mitglied einer Freimaurerloge in Paris sei, der auch Trotzki angehöre. All dies sagte der Fürst in einer Rede im Herrenhaus, der ersten Kammer des preußischen Landtags. Als dann die deutsche Niederlage wirklich eingetreten war, hatte Auf Vorposten sogleich die Erklärung zur Hand: «Die blauweiße Fahne des jüdischen Volks und das blutrote Banner der schottischen Hochgrade8 haben einstweilen gesiegt! Die Throne der Romanows, 8
D. h. des «Alten und Angenommenen Schottischen Ritus». Siehe oben, S. 50.
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der Habsburger und Hohenzollern stehen verlassen da, und Deutschland seufzt unter der Gewaltherrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte!»9 Und schon Anfang 1919, während die deutsche Bevölkerung die Bitterkeit der Niederlage am eigenen Leibe spürte, erschienen Bücher, die den Krieg und seinen Ausgang auf die gleiche Weise erklärten. Besonders einflußreich waren zwei Werke: Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung von Wilhelm Meister10 und Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersuchung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges von Dr. F. Wichtl. Beide Bücher erschienen in München, wo Adolf Hitler gerade seine politische Laufbahn begann. Wichtl legt ganz treuherzig dar, worum es ihm geht: «Einzig und allein die unerhörte Wucht der zusammengetragenen Tatsachen soll den Leser davon überzeugen, daß nicht wir Deutschen an dem entsetzlichen Blutvergießen schuld sind, auch nicht die sichtbaren Regierungen unserer Feinde, sondern jene dunkle, geheimnisvolle Macht, die wir kurz «Weltfreimaurerei» nennen, hinter der sich aber niemand anderer als das Weltjudentum als unsichtbarer Lenker des Schicksals aller Völker und Staaten verbirgt.»11 Es verstehe sich von selbst, daß Rußland fest in den Händen dieser Macht sei – aber das britische Empire sei es nicht weniger. Engländer und Juden zusammen hätten den Krieg angezettelt, um die Weltherrschaft zu erringen. Die Juden hätten von ihrer Hochburg, der Londoner City, aus die Entente organisiert, und ihr Werk sei natürlich auch die pazifistische Propaganda, die Deutschlands Kräfte untergraben habe. Trotzki sei ein Agent der jüdischen Hochfinanz und gleichzeitig ein Beauftragter des Rabbinats; und der jüdische Monarch, der zum Weltherrscher erhoben werden sollte, sei kein anderer als König Georg V. von England. – Ein Land, wo dergleichen Unsinn reüssierte (von den beiden Büchern wurden in einem Jahr etwa 50.000 Exemplare verkauft), war in der Tat reif für die Protokolle. Aber die Protokolle ließen auf sich warten. Zunächst bestand die Absicht, sie gleichzeitig in Deutschland und Großbritannien heraus9
Auf Vorposten, 1918, Heft 4-6, S. 82.
10
Hinter dem Pseudonym «Wilhelm Meister» verbarg sich Paul Bang, der Wirtschaftsexperte der Deutschnationalen Volkspartei. Die DNVP war die Nachfolgerin der alten Konservativen Partei. 11
F. Wichtl, Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik, 9. Aufl., München 1922. S. 268.
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zubringen, freilich mit verschiedenen Kommentaren; doch erwies es sich als schwierig, einen britischen Verleger zu finden. So verzögerte sich das Erscheinen der deutschen Ausgabe bis Anfang 1920, und die englische kam noch später heraus. Inzwischen fehlte es aber nicht an Andeutungen über das bevorstehende große Ereignis. Der alte Theodor Fritsch, «der Nestor des deutschen Antisemitismus», druckte im April 1919 in seiner Zeitschrift Hammer eine Prophezeiung, die angeblich ein jüdischer Revolutionär 1895, das heißt zur Entstehungszeit der Protokolle, in Paris gemacht hatte: «In etwa 30 Jahren wird Deutschland in einen großen Krieg verwickelt werden, den es verlieren muß. Dann werden wir auf den Trümmern des Deutschen Reichs unser Reich, das uns Jehovah versprochen hat, mit einem König Salomon dem Zweiten aufrichten.» Man hat den Eindruck, daß Fritsch damals den Text der Protokolle schon gekannt haben muß. (Bald veröffentlichte er eine eigene Ausgabe, die ihm viel Geld einbrachte.) Ebenfalls im April 1919 sprach Winberg in Lutsch Sweta vom baldigen Erscheinen einer deutschen Ausgabe, und im gleichen Monat brachte Auf Vorposten eine Anzeige, die ein höchst bezeichnendes Dokument darstellt: «In Deutschland waren die Berichte der Weisen von Zion außerhalb der jüdischen und freimaurerischen Kreise vor dem Kriege unbekannt. Die Weltgeschichte wäre sicherlich ganz anders verlaufen, wenn die Fürsten Europas die Geheimnisse der Weisen von Zion rechtzeitig gekannt und die notwendigen Folgerungen daraus gezogen hätten ... Bei der Harmlosigkeit, mit welcher die Völker Mitteleuropas und besonders die Deutschen die Judenfrage behandeln, würde die Enthüllung der jüdischen Ziele vor dem Kriege wahrscheinlich nur mit ungläubigem Lächeln abgelehnt worden sein. Erkannten doch selbst während des Weltkrieges nur wenige, daß ein großer Plan zur Vernichtung Deutschlands bestehen müsse; die Eingeweihten wußten, daß die Freimaurer und Juden schon seit Jahrzehnten diesen Plan vorbereitet hatten, um alle Fürstenhäuser Europas zu stürzen und dann den Kampf gegen die Kirche aufzunehmen. Möge ein unparteiischer Gerichtshof prüfen, wen die Schuld am Kriege trifft. Wir laden die Führer der internationalen Freimaurerei, die jüdischen Weltbünde und alle Großrabbis vor seine Schranken.»12
12
Auf Vorposten, 1919, Heft 4-6, S. 78-80.
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Soviel zumindest war richtig: Leute, die vor dem Krieg über die Protokolle gelacht hätten, waren jetzt bereit, sie ernst zu nehmen. Was in Rußland nach der Oktoberrevolution geschehen war, wiederholte sich in viel größerem Maßstab in Deutschland: Geschlagene und Ruinierte suchten Zuflucht bei einer lächerlichen Fälschung, um ihr Unglück zu erklären und ihr Versagen zu bemänteln. Vor allem aber benutzten politische Abenteurer die Protokolle, um Einfluß und Macht zu gewinnen – und einigen von ihnen gelang das in einem Maße, das die kühnsten Träume aller Schwarzhunderter und pogromschtschiki weit übertraf. Über die Finanzierung der ersten deutschen Ausgabe der Protokolle sind wir ziemlich gut im Bilde. Das Buch erschien Mitte Januar 1920 unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion in dem gleichen Verlag, der auch die Zeitschrift Auf Vorposten herausgab. Eigentümer des Verlags war der «Verband gegen Überhebung des Judentums», der 1912 gegründet worden war mit dem Ziel, das Volk über die finsteren Machenschaften der Juden «aufzuklären». Der Gründer dieser Organisation war auch der Herausgeber der Geheimnisse – eben jener Ludwig Müller, alias Müller von Hausen, alias Gottfried zur Beek, dem im November 1918 ein Exemplar des Buchs von Nilus übergeben worden war. Die Geheimnisse wurden zwar schnell ein Bestseller, aber zunächst mußte das Buch subventioniert werden. Fürst Otto zu Salm-Horstmar beschaffte Mittel aus Kreisen konservativer Mitglieder des früheren preußischen Herrenhauses, die nach der Abschaffung dieser Kammer als politische Gruppe zusammengeblieben waren und verschiedene antirepublikanische, für die Wiederherstellung der Monarchie eintretende Organisationen unterstützten. Beiträge kamen anscheinend auch von Mitgliedern des entthronten Hauses Hohenzollern; Auf Vorposten jedenfalls schwieg – entgegen seiner sonstigen Praxis –, als diese Behauptung in der Presse aufgestellt wurde. Die Hohenzollern hatten alle Ursache, über das Buch erfreut zu sein: Es war «Den Fürsten Europas gewidmet» und zeigte ein Porträt ihres erlauchten Ahnherren, des Großen Kurfürsten, mit dem Motto: «Möge einst ein Rächer aus unsern Gebeinen erstehen.» Kein Wunder, daß Prinz Joachim Albrecht von Preußen das Buch an das Personal der Hotels und Restaurants, die er besuchte, zu verschenken pflegte. Exkaiser Wilhelm war fest überzeugt, daß sein Sturz das Werk der «Weisen von Zion» sei; das stellte Lady Norah Bentinck fest, als sie ihn im Sommer 1921 in seinem holländischen Exil 138
besuchte.13 Auch für Deutschlands großen Kriegshelden General Ludendorff waren die Protokolle eine Offenbarung, und davon ließ er sich auch nicht abbringen, nachdem die Times die Fälschung entlarvt hatte. «Mit Frankreich und England Hand in Hand», schrieb er 1922, «arbeitete die Oberleitung des jüdischen Volkes. Vielleicht führte sie beide.»14 Und er meditierte: «In letzter Zeit mehren sich die Veröffentlichungen, die die Stellung des jüdischen Volkes klarer beleuchten. Das deutsche Volk, aber auch die anderen Völker der Erde haben allen Grund, sich eingehend mit der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volkes, seinen Organisationen, seiner Kampfart und seinen Plänen zu befassen. Es ist zu vermuten, daß wir in vielen Fällen zu einer anderen Weltgeschichtschreibung kommen werden.»15 Ludendorff brauchte besonders dringend einen Sündenbock, denn da er den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gefordert hatte, hatte er mehr als sonst jemand zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten beigetragen. Dem Kaiser und Ludendorff kann man vielleicht noch guten Glauben zugestehen, aber der Berufspolitiker Graf Ernst zu Reventlow wußte genau, was er tat. Dieser preußische Aristokrat, der ein führendes Mitglied des völkischen Blocks16 im Reichstag war und später Nazi wurde, machte mit Feuereifer Propaganda für die Protokolle. Er schrieb über sie in Auf Vorposten, in seiner eigenen Zeitung Der Reichswart und auch in Massenblättern wie dem Deutschen Tageblatt; und als die Times ihre Enthüllungen brachte, verteidigte er die Echtheit der Protokolle energischer denn je. «Die Enthüllungen der Times», schrieb er, «haben an der Echtheit der Schrift, deren deutsche Ausgaben den Namen ‹Die Geheimnisse der Weisen von Zion› tragen, in keinem Punkte rühren, geschweige denn sie erschüttern können. Im Gegenteil werfen die Enthüllungen ein sehr interessantes und wertvolles Licht auf die jüdischen Manöver ... In Deutschland möge man die praktische Schlußfolgerung ziehen, für denkbar größte Verbreitung des bereits weit verbreiteten 13
Lady Norah Bentinck, The Ex-Kaiser in Exile, London 1921, S. 99-108.
14
E. Ludendorff, Kriegführung und Politik, 2. Aufl., Berlin 1922, S. 51.
15
Ebda., S. 322, Fußnote.
16
Die Völkischen waren radikaler und «populärer» als die Deutschnationalen; sie bekannten sich offen zum Rassismus und Antisemitismus.
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Buches zu sorgen!»17 Soweit Graf Reventlow, der, wie wir sehen werden, kein Wort von dem glaubte, was er schrieb. Im Chorus der Rühmenden ließ sich der «Verband gegen Überhebung des Judentums», der ja der Verleger des Buches war, besonders laut vernehmen. Die Nazi-Propaganda vorwegnehmend, bezeichnete er die Entlarvung der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung als einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte der Menschheit. Das neue Buch habe ein Komplott enthüllt, dessen Ziel es sei, «das Christentum und andere Formen des Gottesglaubens zu vernichten und den mosaisch-talmudischen Glauben zur Weltreligion zu erheben. Der große Kampf, den weitschauende Männer schon seit Jahrzehnten voraussagten, hat jetzt begonnen. Wenn die Kulturvölker Europas sich nicht endlich zur Bekämpfung des gemeinsamen Feindes aufraffen, dann geht unsere Kultur durch jenen Spaltpilz zugrunde, wie vor 2.000 Jahren die Kultur des Altertums ... Ein Berliner Professor sagte uns vor einigen Tagen, dieses Buch müsse die Erlösung unseres Volkes bringen, und ein süddeutscher Gelehrter schrieb, seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, ja seit der Einführung der Schriftzeichen, sei kein Buch erschienen, das solche Umwälzungen in der Weltanschauung hervorgerufen hätte wie das Werk von Gottfried zur Beek. Aus allen Kreisen der deutschen Bevölkerung, von den Fürstenhöfen bis zur Arbeiterhütte, erhalten wir jubelnde Zustimmung dazu, daß endlich ein mutiger Mann die Schicksalsfrage des deutschen Volkes gelöst hätte».18 Verleger neigen dazu, den Erfolg ihrer Bücher zu übertreiben, aber zur Beeks Ausgabe der Protokolle fand wirklich enormen Absatz. Im ersten Monat nach Erscheinen erlebte sie zwei Nachdrucke und drei weitere bis Ende 1920; die Gesamtauflage kletterte rasch auf 120.000. Zweifellos trug das Buch viel dazu bei, den Naziwahn schon unter dem demokratischen und liberalen Regime der Weimarer Republik zu fördern. So schildert ein jüdischer Beobachter Eindrücke aus den frühen zwanziger Jahren: «In Berlin wohnte ich mehreren Versammlungen bei, die ganz den Protokollen gewidmet waren. Als Redner trat gewöhnlich ein Professor, ein Lehrer, ein Redakteur, ein Staatsanwalt oder dergleichen auf. Die Zuhörerschaft bestand aus Angehörigen der gebilde17
Deutsches Tageblatt, 23. August 1921.
18
Auf Vorposten, 1920, Heft 1/2, S. 35-37.
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ten Klasse, Beamten, Kaufleuten, ehemaligen Offizieren, Damen und hauptsächlich Studenten, Studenten aller Fakultäten und Semester. Es war wie bei den mittelalterlichen Glaubensdisputationen. Die Leidenschaften wurden bis zur Siedehitze aufgepeitscht. Da hatte man sie ja leibhaftig vor sich, die Ursache aller Übel, die Anstifter des Krieges, die Urheber der Niederlage, die Macher der Revolution, die das ganze Elend über uns heraufbeschworen hatten. Dieser Feind war in der nächsten Nähe, mit Händen zu greifen, und dennoch war das ein Feind, der im Dunkeln schlich, und es graute einem bei dem Gedanken, was er im Schilde führte. Ich beobachtete die Studenten. Einige Stunden zuvor hatten sie vielleicht in einem Seminar unter Anleitung eines weltberühmten Forschers an der Lösung eines juristischen, philosophischen oder mathematischen Problems all ihre Geisteskräfte angestrengt. Nun kochte das junge Blut, die Augen blitzten, die Fäuste ballten sich, heisere Stimmen brüllten Beifall oder stießen Entrüstungs- und Racheschreie aus. Manchmal wurde eine Aussprache zugelassen: Wer es wagte, einen leisen Zweifel zu äußern, wurde niedergeschrien, oft beschimpft und bedroht. Wäre ich als Jude erkannt worden, ich zweifle, ob ich heil die Stätte verlassen hätte. Die deutsche Wissenschaft aber ließ es geschehen, daß der Glaube an die Echtheit der Protokolle und an das Bestehen einer jüdischen Weltverschwörung sich immer tiefer in alle gebildeten Schichten des deutschen Volkes hineinfraß, so daß er heute19 schier unausrottbar ist. Hier und da äußerte ein ernstes christliches Blatt leise Zweifel, machte sanfte und milde Einwendungen, das war aber auch alles. Keiner der großen deutschen Gelehrten (bis auf den verstorbenen Strack) hat sich erhoben, um die Fälschung zu entlarven und deren Urheber aus dem Tempel zu jagen.»20 Andere zeitgenössische Berichte erhärten diese Darstellung – und alle stimmen darin überein, daß die Protokolle ganz besonders die Mittelschichten ansprachen. Die sozialdemokratischen Blätter lehnten sie energisch ab, während das Gros der «bürgerlichen» Presse bestenfalls neutral blieb. Die eifrigsten Leser der Protokolle fanden sich nicht unter den gelernten oder ungelernten Arbeitern, sondern in den gehobenen Berufen und besonders unter ehemaligen Offizieren. Die Protokolle zirkulierten auch an den Technischen Hoch19
Im Jahre 1924.
20
B. Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, S. 37/38.
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schulen – oft mit Billigung des Lehrkörpers – und trugen dazu bei, die Anschauungen der Studenten zu prägen, die später führende und höchste Positionen in der Industrie bekleiden sollten. (Techow, einer der Mörder Rathenaus, hatte eine Technische Hochschule besucht.)21 Die enthusiastischsten Gläubigen waren zweifellos die Anhänger rassistischer, völkischer Ideen – auf die wir später einen Blick werfen werden –; aber nicht einmal orthodoxer Protestantismus war ein sicherer Schutz vor Ansteckung. Weil sich ein Exemplar von Nilus’ Buch in der Bibliothek des Britischen Museums in London befindet, behaupteten die antisemitischen Propagandisten häufig, diese Institution verbürge die Echtheit der Protokolle; und das genügte, die besonnensten und angesehensten Blätter der evangelisch-lutherischen Kirche zu überzeugen. Das Interesse dieses breiten, überwiegend bürgerlichen Publikums blieb nicht immer gleich stark, erlosch aber nie ganz. Als Hitler 1933 an die Macht kam, waren von zur Beeks Übersetzung dreiunddreißig Auflagen erschienen. Inzwischen hatte Theodor Fritsch in seinem Leipziger Hammer-Verlag eine Volksausgabe herausgebracht, deren Gesamtauflage sich 1933 auf 100.000 belief. Neben diesen Ausgaben erschien eine umfangreiche kommentierende Literatur. Die deutsche Übersetzung des Buches The International Jew, das Henry Ford unter seinem Namen erscheinen ließ, erlebte zwischen 1920 und 1922 sechs Auflagen. Der offizielle «Philosoph» der Nazi-Partei, Alfred Rosenberg, veröffentlichte 1923 eine Schrift Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik, die es innerhalb eines Jahres auf drei Auflagen brachte. Schon in den zwanziger Jahren waren also die Protokolle und Schriften über sie in Hunderttausenden von Exemplaren in Deutschland verbreitet. Diese literarische Aktivität war Teil einer antisemitischen Kampagne, die ähnliche Erscheinungen der Vorkriegszeit an Intensität um ein Vielfaches übertraf. Ein Jahr nach dem Waffenstillstand gab es sechs Organisationen für antisemitische Propaganda – zwei in Berlin, drei in Hamburg, eine in Leipzig22 – und mindestens ein Dutzend Zeitungen und Zeitschriften mit gleicher Zielsetzung23; von 21
Siehe unten, S. 149 f.
22
Antisemitische Organisationen, die Anfang 1920 aktiv waren: Verband gegen Überhebung des Judentums (Berlin), Ausschuß f. Volksaufklärung (Berlin), Deutsch-völkischer Bund (Hamburg), Deutsche Erneuerungsgemeinde (Leipzig), Deutsch-völkischer Schutz- und Trutzbund (Hamburg), Reichshammerbund (Hamburg).
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Hitler und seiner Partei wußte damals noch niemand etwas. Dank dieser Organisationen und Presseorganen23 standen die Protokolle nicht allein, sondern erhielten ständig Verstärkung durch andere Fälschungen und Fabeln über die jüdisch-freimaurerisch-kommunistische Weltverschwörung. Schon 1919 erschienen zwei Ausgaben der «Rede des Rabbiners», abgesehen von den Varianten, die in dem Buch von «Wilhelm Meister» enthalten waren. Das Zunder-Dokument, das in Rußland zur Anstiftung von Pogromen beigetragen hatte, erschien im Februar 1920 im Berliner Organ der russischen Rechtsextremisten, Prisyw (Der Ruf); sofort brachten es Auf Vorposten und ähnliche Blätter in deutscher Übersetzung. Im gleichen Monat kam ein Neudruck von Osman-Beys altem Buch Die Eroberung der Welt durch die Juden heraus. Eine Fundgrube antisemitischen Propagandamaterials waren die lange Einleitung und das ebenso lange Nachwort, mit denen Müller von Hausen seine Ausgabe der Protokolle versehen hatte. Selbst der durch langen Umgang mit der einschlägigen Literatur Abgehärtete faßt sich an den Kopf, wenn er sich klarmacht, was alles in diesem Buch steht, das von unzähligen Professoren und Lehrern, Geschäftsleuten und Industriellen, Offizieren und Beamten ernst genommen wurde. Denn Müllers editorische Kommentare sind noch abenteuerlicher als die Protokolle selbst. Er nahm zum Beispiel eine Karikatur «Des Kaisers Traum» auf, die zum erstenmal 1890 in der englischen Wochenzeitung Truth erschienen war: eine Landkarte Europas, die lauter Republiken zeigte und statt Rußland eine «Russische Wüste» verzeichnete. Diese Satire auf den Ehrgeiz Wilhelms II. und seine möglichen Folgen interpretierte er als ein jüdisch-freimaurerisches Produkt, das den geheimen (!) Plan zum Sturz der europäischen Monarchien enthülle. War denn nicht der Herausgeber der Truth, Henry Labouchere, Freimaurer und noch dazu Mitglied des Reformklubs gewesen? Ebenso bemerkenswert ist eine Phantasie, die Müller aus dem Prisyw übernahm: Im Kreml sei unlängst eine schwarze Messe zelebriert worden; Trotzki und seine Genossen hätten zu Satan gebetet und um Hilfe zum Sieg über ihre Feinde angefleht. Das Sakrileg sei durch einen lettischen Wachtposten enthüllt worden, der daraufhin auf Trotzkis Befehl ermordet 23
Antisemitische Zeitungen und Zeitschriften: Deutsche Zeitung, Deutsche Tageszeitung, Tägliche Rundschau, Deutsches Wochenblatt, Münchener Beobachter, Deutscher Volksrat, Der Aufrechte, Der deutsche Landtag, Die Tradition, Auf Vorposten, Die deutsche Erneuerung.
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worden sei. Diese und ähnliche Geschichten wurden zum täglichen Brot der antisemitischen Propagandisten. Den Gipfel der Absurdität erklomm eine Broschüre mit dem Titel Die siegreiche Weltanschauung (Neo-Machiavellismus) und wir Juden, die wenige Wochen nach den Protokollen unter dem höchst sonderbaren Verfassernamen Dr. Siegfried Pentha-Tull erschien. Der Autor, der als Jude auftrat, frohlockte über die weit fortgeschrittene Verwirklichung des in den Protokollen skizzierten Planes, wobei er ganz offenbar vergaß, daß der Plan ja eigentlich geheim war. Es war nicht schwierig, den allzu sorglosen Pentha-Tull zu identifizieren. Zur gleichen Zeit brachte nämlich die Deutsche Zeitung, das Organ der Deutschnationalen Volkspartei, einen Fortsetzungsroman, dessen Schurke ein Jude war und Pentha-Tull hieß. Tatsächlich stammten Roman und Broschüre von ein und demselben Autor, einem bekannten Antisemiten namens Hans Schliepmann. Das hinderte jedoch die Deutsche Zeitung nicht, ihr Entsetzen über die Enthüllungen des imaginären Pentha-Tull zum Ausdruck zu bringen. «Das Buch», erklärte sie, «könnte einem das Blut in den Adern erstarren lassen.» Und sie forderte, daß «eine gemeinsame christliche Phalanx gebildet werden muß gegen die furchtbaren Gefahren, die nicht nur den Kirchen, sondern ebenso dem ganzen deutschen Volk von seiten des Judentums drohen. Hier muß endlich einmal ein offenes Wort gesprochen werden, wenn wir nicht elendiglich zugrunde gehen sollen. Nicht mit passiver Religiosität mehr ziehen wir das Volk aus dem Sumpf, sondern nur mit einem gemeinsamen energischen Abwehrkampf gegen die Volksvergifter, um uns von deren tödlicher Umklammerung zu befreien.»24 Niemand nahm eifriger an der Auseinandersetzung Pentha-Tull teil als Graf Ernst zu Reventlow, der unermüdliche Propagandist der Protokolle. Im Mai 1920 widmete er in der Deutschen Zeitung ganze Artikel der triumphierenden Feststellung, daß nunmehr die Echtheit der Protokolle durch Pentha-Tull und das Zunder-Dokument endgültig erwiesen sei. Er selbst aber glaubte kein Wort davon. Nun ist ja bekannt, daß die antisemitische Propaganda zu einem großen Teil bewußte Lüge ist; es kommt aber sehr selten vor, daß dies von einem der Lügner schriftlich eingestanden wird. Reventlow ist eine solche Ausnahme. 1940 erwog eine Propaganda-Dienststelle des Dritten Reiches die Wiedererweckung Pentha-Tulls und wandte sich 24
Deutsche Zeitung, 31. August 1924.
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deshalb an Reventlow, der damals Reichstagsabgeordneter war. Er antwortete: «Als ich die Schrift von ‹Pentha Tull› gelesen hatte, war mir klar, daß sie eine etwas plumpe Mystifizierung war. Trotzdem sprach ich sie in der Öffentlichkeit als echt an, weil mir das damals im Augenblick zweckmäßiger erschien ... Heil Hitler!»25 Wir wissen auch, welchem spezifischen Zweck Reventlows Lüge diente. Im Juni 1920 waren die Wahlen zum ersten republikanischen Reichstag fällig. Indem man die junge Republik als eine Schöpfung der Weisen von Zion hinstellte, hoffte man Wählerstimmen für die antidemokratische Rechte zu gewinnen.
2 Die Protokolle hatten gewichtigen Anteil an der geistigen Urheberschaft zweier politischer Morde, die 1922 in Berlin begangen wurden. Schabelski-Bork, Freund und Mitarbeiter Winbergs und sehr aktiver Propagandist der Protokolle, gründete nach seiner Ankunft in Berlin eine terroristische Organisation nach dem Muster der Schwarzen Hundertschaften. Ihr größtes Unternehmen führte diese Organisation am 28. März 1922 aus. In der Berliner Philharmonie fand eine Solidaritätskundgebung russischer Emigranten für die Opfer der Hungersnot in Sowjetrußland statt. Den Vorsitz führte Pawel Nikolajewitsch Miljukow, der hervorragende Historiker und Führer der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten). Miljukow hatte aus Rußland fliehen müssen, um nicht von den Bolschewiki eingekerkert oder erschossen zu werden; ebenso wie Winberg und Schabelski-Bork hatte er sich den aus der Ukraine abziehenden deutschen Truppen angeschlossen. Das hinderte diese Fanatiker jedoch nicht, seine Ermordung zu planen. Schabelski-Bork und seine Bande stürmten in den Philharmonie-Saal und eröffneten das Feuer auf das Präsidium. Sie verfehlten Miljukow, der sich zu Boden warf, töteten aber Wladimir Nabokow, den Vater des gleichnamigen 25
Eine Abschrift von Reventlows Brief, datiert vom 5. März 1940 und adressiert an den Weltdienst, befindet sich in der Wiener Library, Freyenwald Collection, File «Pentha-Tull».
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Schriftstellers. Für diesen Mord wurde Schabelski-Bork zu vierzehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wurde lange vor Ablauf der Frist entlassen, und als die Nazis an die Macht kamen, erhielt er von Rosenbergs Dienststelle eine regelmäßige monatliche Zuwendung. Außerdem wurde ihm gestattet, an der Gründung einer russischen «nationalsozialistischen» Bewegung mitzuarbeiten. Es war eine passende Belohnung. Bei dem Versuch, Miljukow zu ermorden, handelte Schabelski-Bork nach den Lehren seines Meisters Winberg, der übrigens in die Affäre verwickelt war und nach dem Mordanschlag Deutschland verlassen mußte. Winberg aber sah in Miljukow einen bewußten Geheimagenten der Bolschewiki, die ihrerseits Agenten der «Weisen von Zion» waren. Dieser Bluttat folgte nach wenigen Monaten eine zweite, die ganz Europa erschütterte. Im Juni 1922 ermordeten einige junge Deutsche, fanatische Rechtsextremisten, den Reichsaußenminister Walther Rathenau. Sie taten es in der Überzeugung, er sei nicht bloß ein Agent, sondern selbst einer der «Weisen von Zion». Rathenau war ein Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten. Er leistete Bedeutendes in den angewandten Naturwissenschaften, in der Technik, der Philosophie und der Nationalökonomie; zugleich war er einer der größten Unternehmer Deutschlands, ein glänzender Organisator und ein hervorragender Staatsmann. Deutschland verdankte ihm viel. Sogleich bei Kriegsausbruch 1914 hatte er erkannt, welche tödliche Bedrohung die britische Blockade darstellte. Um sie abzuwehren, schuf er in erstaunlich kurzer Zeit eine riesige Organisation zur Bewirtschaftung von Rohstoffen und sicherte damit Deutschlands Rohstoffversorgung während des Krieges. Nach dem Krieg arbeitete er unermüdlich dafür, Deutschlands Isolierung zu überwinden und die Reparationslast zu erleichtern. Gleichzeitig war er bestrebt, die noch durch tiefe Gräben getrennten Nationen Europas zu gemeinsamem Wiederaufbau zusammenzuführen. Im April 1922 unterzeichnete er als Außenminister den Vertrag von Rapallo mit Sowjetrußland, in dem beide Seiten auf alle aus dem Krieg herrührenden Ansprüche verzichteten. Rathenau war ein glühender Patriot, aber sein Patriotismus war der eines zivilisierten, liberalen Europäers und hatte nichts mit Chauvinismus zu tun. Und er war Jude. Die Fanatiker der Rechten verfolgten ihn mit einem Haß, der sich verschärfte, je bedeutender seine politische Rolle wurde. 1921 malte die Presse der Völkischen und der jungen Nazi-Partei den großen Idealisten als Sendboten Satans ab. 146
«Höllisches Recht, höllische Sitte, höllische Kunst, höllische Moral verbreitest du um dich her», schrieben die Deutsch-völkischen Blätter. Und der Völkische Beobachter, Blatt der NSDAP, fragte und drohte: «Wie lange noch, und wir haben einen Walter I. aus der Dynastie Abraham-Joseph-Rathenau? Es kommt der Tag ... Das Rad der Weltgeschichte wird herumgeworfen, das dann über manche Leiche der Hochfinanziers und seiner Helfershelfer hinwegrollen wird.»26 Zur gleichen Zeit behauptete Fritsch in seinem Hammer, Rathenau lenke von Deutschland aus die Politik des Bolschewismus in Rußland. 1922 wurden die Angriffe noch wüster. Rathenau wurde beschuldigt, durch von ihm organisierte Rohstoffkontrolle während des Krieges habe er das deutsche Volk aushungern wollen. Und um Außenminister zu werden, habe er dem Reichskanzler ultimativ gedroht, «das deutsche Volk der jüdischen Weltmacht zu opfern». Schon Monate vor seiner Ermordung riefen Agitatoren in öffentlichen Reden dazu auf, ihn umzubringen. Selbstverständlich griff man bei dieser Kampagne immer wieder auf die Protokolle zurück. Außerdem wurden zwei offizielle Legenden in Umlauf gebracht, die Rathenau besonders eng mit den «Weisen von Zion» in Verbindung brachten. Die eine war eine bizarre Erfindung, die Müller von Hausen in seine Ausgabe der Protokolle aufnahm. Emil Rathenau, der Vater des Staatsmannes, hatte vor längerer Zeit in Berlin ein Haus gekauft und umgebaut. Unter anderem ließ er außen zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk einen um das Gebäude laufenden Fries anbringen. Der Fries zeigte Sechsundsechzig Masken, von Rankenwerk umgeben. Für den halluzinierten Blick des Herausgebers der Protokolle waren es jedoch Sechsundsechzig abgeschnittene gekrönte Häupter, die auf Opferschalen lagen! Wer konnte daran zweifeln, daß hier das Geheimnis der deutschen und der russischen Revolution symbolisch ausgedrückt war? War nicht Emil Rathenau einer der vertrautesten Ratgeber des Kaisers gewesen? «Wie oft», klagte Müller, «mag unser argloser Kaiser die Schwelle dieses Hauses überschritten haben, ohne zu ahnen, welche frommen Wünsche der Mann, den er Freund nannte, für die Zukunft des Hohenzollern-Hauses hegte!»27 Wie der Vater, so der Sohn – und damit kommen wir zur zweiten 26
Beide zitiert nach C. V.-Zeitung, Jg. I, 20. Juni 1921 (Wochenzeitung des CentralVereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens). 27
Die Geheimnisse der Weisen von Zion, herausgegeben von Gottfried zur Beek, Char-
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Geschichte. Jahre zuvor hatte Walther Rathenau eine Äußerung getan, die zu befremdlicher Berühmtheit gelangte. In einem Artikel über Wirtschaftsfragen in der Wiener Neuen Freien Presse vom 25. Dezember 1909, der in seinem Buch Zur Kritik der Zeit (1922) wieder abgedruckt wurde, hatte er geschrieben: «Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung.» Von Juden war überhaupt nicht die Rede; wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, wollte Rathenau lediglich – mit Bedauern feststellen, daß die führenden Positionen im Bankwesen und in der Industrie damals größtenteils das Reservat einer erblichen Oligarchie waren. Anscheinend kam Ludendorff als erster auf den Gedanken, daß die dreihundert Männer in Wirklichkeit die jüdische Geheimregierung bildeten.28 Die professionellen Antisemiten griffen die Idee auf und zogen sofort die logische Folgerung: Wenn Rathenau die Zahl der Weisen kannte, so konnte das nur bedeuten, daß er selbst einer von ihnen war. «Der Hauptschuldige an der Versklavung unserer Wirtschaft heißt Rathenau», schrieb eine Zeitung der Rechten. «Die Botmäßigkeit über die schaffende Arbeit aller Völker der Erde geht immer mehr in die Hände jener 300 Männer über, die nach einem unbedachten Wort Rathenaus die Geschicke der Welt lenken, sich alle untereinander kennen, und von denen er selbst einer ist... Viele harmlose Zeitgenossen erkennen das abgekartete Wirken dieser 300 Männer, die fast ausnahmslos der jüdischen Rasse angehören, noch immer nicht.»29 Alfred Rosenberg schrieb in seinem Pamphlet Pest in Rußland, Rathenau und seinesgleichen seien schon längst reif für Gefängnis und Galgen. Graf Reventlow fand es bedauerlich, daß solch ein Mann noch am Leben und bei bester Gesundheit war; sein Artikel wurde – vierzehn Tage vor dem Mord – von vielen Zeitungen nachlottenburg 1919 (wirklich erschienen 1920), S. 199. – Müller von Hausen scheint die Idee einer 1919 erschienenen Broschüre Versailler Visionen entlehnt zu haben. Ihr Verfasser war ein entlassener Lehrer namens Gustav Leisner, der unter dem Pseudonym Ellegaard Ellerbek eine besondere Mischung von Okkultismus, Astrologie und Sonnenreligion predigte – und übrigens nicht nur von Alfred Rosenberg, sondern auch von ganz respektablen konservativen Kreisen ernst genommen wurde. 28
E. Ludendorff, Kriegführung und Politik, S. 51, Fußnote.
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Reichsbote, zitiert in Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, 12. Januar 1922, S. 3.
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gedruckt. Und auf den Straßen sang man: «Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau!» Rathenau hatte schon viele Morddrohungen erhalten, doch stets Polizeischutz abgelehnt. Er wurde am Vormittag des 24. Juni 1922 erschossen, als er wie gewöhnlich von seinem Haus zum Außenministerium fuhr. Die Mörder waren ganz junge Männer, die aus verschiedenen Gruppen der extremen Rechten kamen, so aus dem «Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund» und der Marine-Brigade Erhardt; mehrere von ihnen hatten 1920 den Kapp-Putsch mitgemacht, den ersten Versuch der Rechten, die Republik zu beseitigen. Sie gehörten der geheimen «Organisation Consul» an, die, wie die junge NSDAP, ihre Zentrale in München hatte und mit terroristischen Mitteln die Republik und ihre tragenden Kräfte bekämpfte. Die Täter waren stark beeinflußt von den Protokollen und dem damit zusammenhängenden Legendenkreis. Der Organisator des Anschlags, Willy Günther, gab das in der Voruntersuchung offen zu. Es sei notwendig gewesen, Rathenau zu töten, sagte er, denn dieser habe laut Ludendorff als einziger in Deutschland die Mitglieder der jüdischen Geheimregierung gekannt, die den Krieg angezettelt hätten. Das gleiche Bild ergab sich im Oktober 1922 beim Prozeß in Leipzig. Bezeichnend waren die Aussagen Ernst Techows, der den Wagen gefahren hatte, von dem aus Rathenau erschossen worden war.30 (Die beiden Mordschützen konnten nicht vor Gericht gestellt werden: der eine, Erwin Kern, war von der Polizei erschossen worden, der andere, Hermann Fischer, hatte sich das Leben genommen, um der Gefangennahme zu entgehen.) Techow schilderte dem Gericht, wie Kern, der Führer der Gruppe, ihn zur Teilnahme an dem Attentat bewogen hatte: «Kern sagte, er hätte vor, den Minister Rathenau zu ermorden. Ich müßte mich verpflichten, ihm zu helfen, ob ich wollte oder nicht. Er wäre sonst bereit, die Sache allein auszuführen. Es wäre ihm ganz gleichgültig, was daraus entstände. Gleichzeitig führte er verschiedene Gründe an, die seiner Meinung nach dafür maßgebend waren, obwohl ich nicht dieser Meinung war. So sagte er, Rathenau 30
Ernst von Salomon, einer der Teilnehmer des Komplotts, sagt in seinem Buch Die Geächteten (Berlin 1930) nichts von den Protokollen oder der jüdischen Geheimregierung, und in seinem berühmten Nachkriegsbuch Der Fragebogen (Hamburg 1951) bestreitet er sogar ausdrücklich, daß der Mord etwas mit Rathenaus Judentum zu tun gehabt habe. Aber auch wenn einige der Beteiligten den Mord in anderem Lichte sahen, ändert das nichts an Techows Aussagen.
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... habe sehr nahe und intime Verbindungen mit dem bolschewistischen Rußland, so daß er sogar seine Schwester an den Kommunisten Radek verheiratet hätte. Schließlich sagte er, daß sich Rathenau selbst als einer der 300 Weisen von Zion bekannt und gebrüstet habe, deren Zweck und Ziel es sei, die gesamte Welt unter jüdischen Einfluß zu bringen, wie es bereits das Beispiel des bolschewistischen Rußlands zeige, wo zuerst sämtliche Fabriken usw. Allgemeingut wurden und dann auf Vorschlag und Befehl des Juden Lenin jüdisches Kapital von außen aufgenommen wurde, um die Fabriken wieder betriebsfähig zu machen, und daß sich auf diese Art und Weise der gesamte russische Nationalbesitz in jüdischen Händen befindet. Präsident [des Gerichts]: Sie sagen, Rathenau habe nahe Verbindungen mit dem Bolschewisten Radek gehabt, denn er hat sogar seine Schwester mit diesem verheiratet? Techow: Das soll aber Tatsache sein; ich weiß es nicht. Präsident: Meines Wissens hat Rathenau nur eine einzige Schwester, die mit einem Dr. Andreae in Berlin verheiratet ist. Techow: Ich weiß es nicht. Präsident: Wie sollte dieser Großindustrielle zu einer solchen Verbindung mit dem russischen Flüchtling und Kommunisten Radek kommen? Scheint Ihnen das wahrscheinlich zu sein? Techow: Nein, es war eine bloße Vermutung, die Kern als Tatsache nannte. Daraufhin mußte ich das vermuten. Präsident: Weiter: Rathenau habe sich selbst als einen der ‹300 Weisen von Zion› bekannt. Die ‹300 Weisen von Zion›, die beruhen auf einer Broschüre. Haben Sie die gelesen? Techow: Jawohl.»31 Kurz vor Beginn des Prozesses war dem Angeklagten Günther eine Packung vergifteter Pralinen ins Gefängnis geschickt worden. Der Staatsanwalt, der dies bekanntgab, erklärte, offenbar sei ein Attentat auf das Leben Günthers beabsichtigt gewesen, «wohl weil der oder die Täter fürchteten, daß durch Günthers Aussage ... die Hintermänner des Mordes an dem Reichsaußenminister Dr. Rathenau verraten werden würden».32 Wieweit diese Hintermänner mit den Führern der jungen Nazi-Partei identisch waren, ist nicht mehr 31
K. Brammer, Das politische Ergebnis des Rathenau-Prozesses, Berlin 1922, S. 2629. Das Buch enthält Ausschnitte aus dem stenographischen Protokoll des Prozesses. 32
Ebda., S. 42.
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zu klären. Immerhin kennen wir einen Brief, den Goebbels an Techow schrieb, als dieser seine Zuchthausstrafe verbüßte. Goebbels erklärte, das nationalistische Lager halte uneingeschränkt zu ihm, Techow. «Es zeigt sich auch hier der Unterschied zwischen den wahren Nationalisten und den bürgerlichen Patrioten, die sich ja immer nur zu Menschen bekennen, wenn es ungefährlich ist und den bürgerlichen Anstandsgesetzen nicht widerspricht.» Und weiter hieß es in dem Brief: «Ihnen aber – das ist mir innerstes Bedürfnis – möchte ich die Hand drücken und, da es mir versagt ist, mich zu Ihrer Tat zu bekennen, mich zu Ihnen und Ihren Kameraden stellen als Mensch, als Deutscher, als junger bewußter Aktivist, der an Deutschlands Wiederauferstehung glaubt – trotz allem.»33 Der Mord an Rathenau als einem «Weisen von Zion» gab einen Vorgeschmack jener Ära des Wahnsinns, in der die Regierung eines großen europäischen Landes die Protokolle als lauterste Wahrheit proklamierte. Einige Worte des Gerichtspräsidenten bei der Urteilsverkündung gewinnen aus heutiger Sicht eine prophetische Bedeutung, die ihnen 1922 wohl kaum jemand beigemessen hätte: «Hinter den Mördern und Mordgehilfen aber erhebt als der Hauptschuldige der verantwortungslose fanatische Antisemitismus sein haßverzerrtes Gesicht, der mit allen Mitteln der Hetze und Verleumdung, von der die hier zur Sprache gekommene gemeine Schmähschrift ‹Die Geheimnisse der Weisen von Zion› ein Beispiel ist, den Juden als solchen ohne Rücksicht auf die Person schmäht und so Mordinstinkte in unklare und unreife Köpfe sät. Möge der Opfertod Rathenaus, der sich wohl bewußt war, welchen Gefahren er mit Übernahme seines Amtes entgegentrat, möge die Aufklärung, welche diese Verhandlung über die Folgen gewissenloser Verhetzung gebracht hat,... die verpestete Luft in Deutschland reinigen und das in dieser Verwilderung der Sitten versinkende schwerkranke Deutschland der Genesung entgegenführen.»34 Tatsächlich wirkte der Mord eine Zeitlang wie ein heilsamer Schock. Ein Gesetz zum Schutze der Republik wurde erlassen und gab die Möglichkeit, einige obskure Publizisten zu bestrafen, die 33
E. Techow, Gemeiner Mörder?!, Leipzig 1933, S. 31.
34
K. Brammer, a. a. O., S. 14.
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weiterhin behaupteten, Rathenau sei ein «Weiser von Zion» gewesen. Der Schutz- und Trutzbund wurde verboten. Ludendorff bekam es mit der Angst zu tun und erklärte in einer Londoner Zeitung, die Kommunisten seien die Mörder. Müller von Hausen suchte zunächst den Mord zu rechtfertigen, indem er die Geschichte von dem Fries wiederholte, trat aber schnell den Rückzug an, als ihn Rathenaus Mutter verklagte. Und dann besserte sich auch von 1924 an die Lage in Deutschland zusehends, daß es selbst für Fanatiker schwierig wurde zu zeigen, was für Schaden die «Weisen von Zion» anrichteten. Ein neues Abkommen reduzierte die Reparationslasten beträchtlich, die alliierten Truppen räumten deutsches Gebiet und 1926 wurde Deutschland einstimmig in den Völkerbund aufgenommen. Die Welle des Rechtsextremismus ebbte ab. Es war eine schlechte Zeit für die Protokolle – aber sie war nicht von Dauer.
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7 Die «Protokolle» reisen um die Welt
1 Nirgends wurden die Protokolle mit solcher Begeisterung aufgenommen wie in Deutschland, aber auch anderswo blieben sie keineswegs unbeachtet. Selbst in Großbritannien, wo der Antisemitismus in jüngerer Zeit nie so bösartige Formen angenommen hatte wie auf dem Kontinent und in den Vereinigten Staaten, wo er bisher fast bedeutungslos gewesen war, erweckte die Fälschung ernsthaftes Interesse in Kreisen, die es eigentlich hätten besser wissen müssen. Tatsächlich trugen die Übersetzungen und Kommentare, die im Laufe des Jahres 1920 in diesen beiden Ländern erschienen, viel zur weltweiten Verbreitung der Protokolle bei – teils natürlich deshalb, weil sie in englischer Sprache abgefaßt waren, teils wegen der berühmten Namen, mit denen sie in Verbindung gebracht wurden. In Großbritannien war schon ein paar Jahre vor dem Erscheinen der Protokolle die Rede von einer jüdischen Weltverschwörung. Diese stellte man sich ebenso wie in Deutschland als ein jüdischbolschewistisches Komplott vor, doch gab es einen Unterschied. Während in Deutschland die Entente als Bundesgenossin der Juden galt, war für die Engländer der Dritte im Bunde natürlich Deutschland. Eine frühe Fassung dieser wunderlichen Theorie findet sich in einem 1918 vor Kriegsende erschienenen Buch mit dem Titel England Under the Heel of the Jew. Ironischerweise ist der Text des Buches großenteils den Schriften des deutschen Soziologen Werner Sombart entnommen, aber die originalen Teile sind ebenso antideutsch, wie sie antijüdisch und antibolschewistisch sind. Der anonyme Verfasser hatte entdeckt, daß der Name «Aschkenasim», mit dem sich die ost- und mitteleuropäischen Juden, also die große Mehrheit der Juden Europas, bezeichneten, ursprünglich das hebrä153
ische Wort für «Deutsche» war – er hatte nur übersehen, daß die Ahnen der meisten dieser Juden Deutschland bereits vor sechs Jahrhunderten verlassen hatten. Die alptraumhaften Phantasien, die er auf dieser Grundlage entwickelte, scheinen schon der Welt der Protokolle anzugehören: «Die Finanz ist international geworden, und internationale Finanz ist jüdische Finanz, und jüdische Finanz ist deutsche Finanz. Diese beiden werden eins, dringen in die Adern aller Nationen der Erde ein, vergiften ihr Lebensblut und saugen ihnen das Leben aus ... Als das aschkenasisch-deutsche Bündnis besiegelt und in der ganzen Welt organisiert war, konnte der Kaiser über seine Feinde lachen, denn jetzt saßen seine Verbündeten in all ihren Banken, all ihren Bordellen, all ihren Geschäften, all ihren Börsen, all ihren sozialistischen Organisationen, all ihren Zeitungen, all ihren Beratungszimmern und Kriegskabinetten, in den Geheimkabinetten ihrer meisten Rechtsanwälte und auf ihren Richterbänken. Als ihm England den Krieg erklärte, war er enttäuscht, aber nicht unvorbereitet ... Er wußte, er konnte eine Horde aschkenasischer Mädchenhändler mit ihren Sklavinnen, als belgische Flüchtlinge getarnt, auf englischen Boden schmuggeln, alle bereit, Laster und Seuchen unter Soldaten und Zivilisten zu verbreiten ... Er hatte Tausende von Agenten des Rasputinismus, um sein gewohntes Werk unter unseren Herrschern und Gesetzgebern zu verrichten. Er wußte, daß er in unserem Land über Zehntausende Aschkenasi-Bolschewiken verfügen konnte, die englisches Brot essen, den englischen Handel bestehlen und das englische Leben besudeln würden ... Dem Aschkenasi-Hunnen ist keine Waffe zu niedrig oder zu unbedeutend. Die gleichen Mittel – Rasputinerien und all das –, die Rußlands Untergang herbeiführten, werden auf unseren Inseln intensiv angewandt.» Freilich, so meint der Verfasser, ist der Kaiser bei all seiner Schlauheit wohl eher der Sklave als der Herr der Juden, denn «die Zauberkräfte des Geldes, über welche die Herren des Profits verfügen, sind Kräfte der allerschwärzesten Magie».1 Der Autor dieses Buches war kein Prediger in der Wüste. Der Glaube an eine deutsch-jüdisch-bolschewistische Verschwörung gewann rasch Boden, und durchaus nicht nur unter Halbgebildeten. Anfang 1919 berichtete der britische Botschafter in Kopenhagen, 1
England under the Heel of the Jew, London 1918, S. 60-62.
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Lord Kilmarnock, dem Außenminister Lord Curzon, man sage, die Bolschewiki seien größtenteils Juden und Deutsche, die als aktive und unternehmende Leute leicht die träumerischen Russen tyrannisieren könnten. Noch bemerkenswerter war, daß das britische Außenministerium es für richtig hielt, in einem offiziellen Bericht folgende Beobachtungen eines kürzlich aus Rußland zurückgekehrten Marinegeistlichen zu veröffentlichen: «(Der Bolschewismus) hat seinen Ursprung in der deutschen Propaganda, und er wurde und wird von internationalen Juden praktiziert.» Seine Ziele seien es, «alle nationalisierten Banken aufzukaufen und überall Zweigstellen der deutschen staatlichen Banken zu eröffnen», ferner «den arbeitenden Klassen die Doktrin von der sozialistischen Form der Betriebsführung zu predigen, sie zur Übernahme von Betrieben anzustacheln und diese dann durch Bankrotte in deutsche Hände zu bringen». Gleichzeitig würden «unter den Massen diejenigen Meinungen und Lehren verbreitet, die zu irgendeinem Zeitpunkt von Berlin diktiert werden». Und natürlich komme all das den Juden zugute: «Das ganze Wirtschaftsleben wurde gelähmt, Läden wurden geschlossen, Juden wurden Besitzer der meisten Geschäftshäuser ...»2 Von der Presse konnte man schwerlich mehr Zurückhaltung erwarten als vom Foreign Office. Ende 1919 öffnete die Times ihre Leserbriefspalten einer leidenschaftlichen Debatte über die Frage, ob man die schrecklichen Vorgänge in Rußland als jüdische Racheakte deuten könne. Der Sonderkorrespondent des Blattes in Rußland, Robert Wilton, hatte in diesem Punkt nicht die geringsten Zweifel. Wilton, ein in Rußland aufgewachsener Engländer, bezog uneingeschränkt die Position der russischen äußersten Rechten. In seinem Buch The last Days of the Romanovs (1920) erklärte er, die Bolschewiki seien einfach jüdische Agenten der Deutschen, und die Revolution sei nichts anderes als eine jüdisch-deutsche Invasion Rußlands. War nicht die Zarenfamilie von «Ungarndeutschen» ermordet worden, die auf Befehl von Juden handelten, die ihrerseits ihre Anweisungen vom «roten Kaiser» Deutschlands erhielten? Und hatte man nicht in Moskau dem bekannten jüdischen Helden Judas Ischariot ein Denkmal errichtet? So war die Quelle beschaffen, aus der die angesehenste britische Zeitung vornehmlich ihre Einsichten in den Charakter der russischen Revolution bezog. 2
Russia No. I (1919). A collection of reports on Bolshevism in Russia, S. 56. (Bericht von Rev. B. S. Lombard an Earl Curzon.) Lord Kilmarnocks Bericht: ebda., S. 32.
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Mittlerweile wurden die Protokolle in Umlauf gebracht. Das Ziel war vor allem, die Regierung zur Fortsetzung ihrer Interventionspolitik in Rußland zu bewegen. «Es ist unglaublich», schrieb ein Beobachter 1920, «aber dennoch eine Tatsache: Diese verrückten Fälschungen spielten hinter den Kulissen eine Rolle in den internationalen Machenschaften zur Unterstützung der antibolschewistischen Reaktion in Rußland, die die öffentliche Meinung in den letzten zwei Jahren so stark beschäftigt und unser Land nahezu 100 Millionen Pfund Sterling gekostet haben ... Russische Geheimdienstoffiziere, bewaffnet mit frisierten maschinengeschriebenen Übersetzungen der Nilusschen Protokolle, in denen man die antibritischen Stellen sorgfältig getilgt hatte, wurden nach London geschickt, ... wo sie diese kostbare Literatur vertraulich unter Kabinettsministern, Behördenchefs und einflußreichen Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Journalismus zirkulieren ließen. Daß diese Kampagne nicht fruchtlos war, wird durch viele merkwürdige Tatsachen bezeugt ... »3 Die Kampagne gipfelt in der Veröffentlichung einer anonymen britischen Übersetzung der Protokolle unter dem Titel The Jewish Peril; dies geschah im Januar oder Februar 1920, etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten deutschen Übersetzung. Das Buch wurde von der Firma Eyre & Spottiswoode Ltd. gedruckt, und allein schon das war ein großer Triumph. Diese Druckerei, die auch die autorisierte Bibelausgabe und das Gebetbuch der anglikanischen Kirche herstellt, führt nämlich den Titel «His (Her) Majesty’s Printers», und ermöglichte es den Antisemiten auf dem Kontinent, überall zu verkünden (wobei freilich mehr böser Wille als Unwissenheit im Spiel war), die britische Ausgabe der Protokolle sei mit Genehmigung der Regierung Seiner Majestät veröffentlicht worden.4 Die gleichen Kreise waren hoch erfreut über die Reaktion der Times, die am 8. Mai dem Buch einen langen Artikel widmete. In der Echtheitsfrage legte sich die Zeitung nicht fest, aber sie erklärte, bisher habe noch niemand die Unechtheit der Protokolle nachgewiesen. Hier sei ein 1905 erschienenes Werk, das unheimlich genau die Welt3
L. Wolf, The Jewish Bogey, London 1920, S. 34/35.
4
Anscheinend wurde diese Ausgabe der Protokolle in privatem Auftrag gedruckt und enthält deshalb keine Verlagsangabe, sondern nur den Vermerk der Druckerei Eyre & Spottiswoode Ltd. Der Verlag Eyre & Spottiswoode (Publishers) Ltd wurde erst im April 1929 gegründet.
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lage und besonders die Situation in Rußland im Jahre 1920 vorhersage. Eine unparteiische Untersuchung sei notwendig, sonst würde ja der schlimmste Verdacht erweckt. Daß die Times selbst diesen Verdacht bereits hegte, zeigt der folgende melodramatische Abschnitt: «Was sind diese ‹Protokolle›? Sind sie echt? Wenn ja, welche bösartige Versammlung hat diese Pläne ausgeheckt und mit hämischer Freude niedergelegt? Sind sie eine Fälschung? Wenn ja, woher kommt dann das unheimlich Prophetische der Voraussagen, die zum Teil erfüllt, zum Teil der Erfüllung sehr nahe sind? Haben wir diese tragischen Jahre hindurch für die Vernichtung der geheimen Organisation der deutschen Weltherrschaft gekämpft, nur um hinter ihr eine andere, noch gefährlichere, weil geheimere Organisation zu finden? Sind wir durch Anspannung jeder Fiber unseres Volkskörpers einer ‹Pax Germanica› entgangen, nur um einer ‹Pax Judaeica› anheimzufallen? Die ‹Weisen von Zion›, wie sie in ihren ‹Protokollen› erscheinen, sind durchaus keine sanfteren Zuchtmeister, als Wilhelm II. und seine Gefolgsleute gewesen wären.» Die Times war nicht die einzige seriöse Zeitung, die ernste Besorgnis äußerte. In der Woche darauf widmete der Spectator dem Buch The Jewish Peril nicht nur eine ausführliche Besprechung, sondern außerdem noch einen Leitartikel. Er schloß zwar die Möglichkeit einer Fälschung nicht ganz aus, zweifelte aber kaum daran, daß es sich hier um ein echtes Dokument jüdischer Herkunft handle. Und was für ein Dokument! Wer Stunden um Stunden damit zugebracht hat, dem Unsinn der Protokolle einigen Sinn abzugewinnen, liest mit Verblüffung, wie der Spectator, damals eine der anspruchsvollsten britischen Wochenzeitungen, sie beurteilte: Sie zeugten «von sehr großem Talent», seien «brillant in ihrer moralischen Perversität und intellektuellen Verderbtheit» und müßten als «eine der bemerkenswertesten Produktionen ihrer Art» gelten.5 In den ersten Monaten nach der Veröffentlichung der Protokolle gab es noch Bedenken und Zweifel. Sowohl die Times wie der Spectator waren geneigt, die Mehrheit der Juden von der Zusammenarbeit mit den schrecklichen «Weisen von Zion» freizusprechen, und beide veröffentlichten Leserbriefe – nicht durchweg von Juden –, die gegen die Echtheit der Protokolle argumentierten. Die rechtsstehende Morning Post jedoch zeigte derartige Skrupel nicht. Wie sich die Times von Robert Wilton beeinflussen ließ, so nahm die Morning 5
The Spectator, 15. Mai 1920.
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Post alles für bare Münze, was ihr Rußland-Korrespondent Victor Marsden berichtete. Marsden war wie Wilton ein Engländer, der seit vielen Jahren in Rußland lebte und sich mit Leidenschaft die Anschauungen der russischen Rechtsextremisten zu eigen gemacht hatte. Und ließ Wiltons Phantasie die Sowjets ein Denkmal des Judas Ischariot errichten, so ging Marsden praktischer vor und fertigte eine neue Übersetzung der Protokolle an (sie ist noch heute in London im Handel). Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Morning Post im Sommer 1920 eine Serie von achtzehn Artikeln brachte, in denen sie den ganzen Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung ausbreitete, natürlich mit zahlreichen Hinweisen auf die Protokolle. Kommt in den Büchern von Wichtl und «Wilhelm Meister» das Ressentiment deutscher Ultranationalisten gegenüber Niederlage und Revolution zum Ausdruck, so widerspiegeln die Artikel der Morning Post das Ressentiment britischer Ultranationalisten gegenüber den Regungen des Unabhängigkeitsstrebens bei den Kolonialvölkern des Empire. Und ebenso wie Auf Vorposten war sich die Morning Post völlig klar darüber, daß Geschichten, die vor dem Krieg mit einem Achselzucken abgetan worden wären, jetzt Glauben fanden: «Der Krieg hat einen vollkommenen Umschwung der Denkweise herbeigeführt, weil wir konkrete Beweise erhalten haben, wie eng die Rebellion in Irland, die Unruhen in Ägypten, die Unzufriedenheit in Indien, die Revolution in Rußland zusammenhängen, um nur einige der Wirren zu nennen, die Deutschland angestiftet hat... Aber jeden Tag wird klarer sichtbar, daß die Verschwörung gegen die Zivilisation mit der Niederlage Deutschlands noch nicht ihr Ende gefunden hat ... Hinter den Kulissen war eine ‹furchtbare Sekte› am Werk, die nicht etwa von den Deutschen benutzt wurde, sondern sie für ihre eigenen Zwecke benutzte, und als Deutschland fiel und das deutsche Geld verschwand, ging die Verschwörung ungehindert weiter.» Zeichen für die Wirksamkeit der Verschwörung waren nicht schwer zu finden. Zum Beispiel war 1909 ein hoher Beamter der indischen Kolonialverwaltung in London von einem Inder ermordet worden. Wer konnte aber daran zweifeln, daß die eigentlichen Drahtzieher des Mordes eine Deutsche und eine hübsche Jüdin in Paris waren, die dank der vereinten Unterstützung des Judentums und der kontinentalen Freimaurerei über immense Machtmittel verfügten? Denn im Mittelpunkt der ganzen Weltverschwörung standen natürlich Juden, und zwar religiöse Juden: «Der fundamen158
tale Gedanke der ‹furchtbaren Sekte› ist die Vernichtung des Christentums und aller Religionen außer der jüdischen.»6 Man sollte meinen, daß derartiger Unsinn kaum über ein Grüppchen von Fanatikern auf der extremen Rechten hinausgedrungen wäre; aber dem war keineswegs so. Als diese Artikel im Herbst 1920 als Buch unter dem Titel The Cause of World Unrest mit einem Vorwort des Chefredakteurs der Morning Post erschienen, erhöhte sich die Spannung merklich. Der besonnene Spectator ließ alle Vorsicht fahren und veröffentlichte im Oktober einen Leitartikel, der den Stimmungswandel anzeigte. «Es gibt Nationen», hieß es darin, «die es nach Möglichkeit vermeiden wollen, ihren politischen Zustand einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Die Morning Post ist sich darüber im klaren – und das macht ihr große Ehre –, daß die Aufgabe einer Zeitung die eines Wachhundes ist ... Die Beweise, die das Blatt für die von ihm behauptete Existenz einer Verschwörung vorbringt, sind substantiell und gewichtig genug, um sein Vorgehen zu rechtfertigen ... Wir sind der Meinung, daß stichhaltige Gründe für eine Untersuchung gegeben sind, und hegen den aufrichtigen Wunsch, daß ein Gremium von der Art einer Königlichen Kommission ernannt werden möge, um die ganze Angelegenheit zu untersuchen.» Die Kommission würde zu prüfen haben, ob es eine weltweite Verschwörung unter jüdischer Führung gebe und ob sie von der Masse der religiösen Juden als ein Mittel zur Vernichtung des Christentums unterstützt werde. Sollte die Antwort bejahend ausfallen, «so werden wir berechtigt sein, bei der Zulassung von Juden zur vollen Staatsbürgerschaft mit großer Vorsicht vorzugehen ... Wir müssen die Verschwörer ans Licht ziehen, ihnen ihre häßlichen Masken abreißen und der Welt zeigen, nicht nur wie übel und gefährlich, sondern auch wie lächerlich solche Pestbeulen der Gesellschaft sind.»7 Dem Spectator trat Blackwood’s Magazine zur Seite. Es erklärte, wenn das Land vor dem Bolschewismus gerettet werden solle, müsse man den Juden sofort jeden öffentlichen oder privaten Einfluß auf die Regierungsgeschäfte entziehen. Lord Alfred Douglas gründete eigens zum Zwecke antisemitischer Propaganda ein Wochenblatt namens Plain English; es schwor auf die Echtheit der Protokolle und 6
The Cause of World Unrest, London 1920, S. 190-194.
7
The Spectator, 16. Oktober 1920.
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behauptete sogar, Winston Churchill habe ein Telegramm von Admiral Beatty gefälscht, um der deutschen Flotte nach der SkagerrakSchlacht das Entkommen zu ermöglichen. Eine andere Zeitschrift, The Hidden Hand, wurde von einer Gruppe professioneller Antisemiten herausgegeben, die sich «The Britons» nannte; sie druckte neben langen Kommentaren zu den Protokollen auch das ZunderDokument und behauptete, die Streiks der Bergarbeiter seien durchweg das Werk von Juden. Für einen Augenblick sah es so aus, als könnte der Antisemitismus vom deutschen Typ ein politischer Faktor in Großbritannien werden, aber so weit kam es nicht. Im August 1921 veröffentlichte die Times in drei aufeinanderfolgenden Nummern an hervorragender Stelle den Nachweis, daß die Protokolle eine Fälschung und ein Plagiat an Jolys Dialogue aux Enfers waren, und ihre eigene abschließende Stellungnahme gab sie in einem Leitartikel mit dem eindeutigen Titel «Das Ende der Protokolle». Für Großbritannien war es tatsächlich das Ende der Protokolle. Eyre & Spottiswoode hatte es bereits abgelehnt, einen Neudruck zu veranstalten, und die seriöse Presse schrieb nun nicht mehr über sie. Es erschienen zwar weitere Ausgaben, aber nur noch im Verlag des obskuren Vereins «The Britons». Lord Alfred Douglas behauptete, Maurice Joly habe in Wirklichkeit Moses Joel geheißen, die Protokolle seien also doch jüdischer Herkunft; und Baron Sydenham erklärte nach wie vor, die Protokolle bewiesen die Identität von Judaismus, Pangermanismus und Bolschewismus, aber westliche Hirne seien leider außerstande, «die Tiefen östlicher Intrige auszuloten».8 Das waren jedoch isolierte Exzentriker. Selbst Nesta Webster, die in mehreren Büchern die ganze neuere Geschichte als Ausfluß eines Komplotts von Illuminatoren und Freimaurern darstellte, verhielt sich den Protokollen gegenüber ziemlich zurückhaltend. Und als in den dreißiger Jahren die britischen Faschisten ihre Partei gründeten, die «British Union of Fascists», fanden auch sie die Fälschung derart diskreditiert, daß sie auf ihre Benutzung weitgehend verzichteten. Die Triumphe von 1920 waren nach britischen Maßstäben eindrucksvoll gewesen, aber sie wiederholten sich nicht.
8
Lord Alfred Douglas in seiner Zeitschrift Plain English, 27. August 1921; Baron Sydenham in einem Artikel in The Nineteenth Century and After, November 1921, später von The Britons als Broschüre veröffentlicht unter dem Titel The Jewish World Problem.
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2 Anders lagen die Dinge in den Vereinigten Staaten, wo sich die Protokolle eines begrenzten, aber anhaltenden Erfolgs erfreuten. Auch dort wurden sie zuerst in maschinengeschriebenen Exemplaren von russischen Rechten in Umlauf gebracht, denen es darum ging, Regierungsstellen zu beeinflussen. Sodann erschienen im Oktober 1919 Auszüge aus den Protokollen in einer Artikelserie der Zeitung The Public Ledger in Philadelphia. Die Artikel waren sensationell aufgemacht, sie trugen Überschriften wie «Rote Bibel predigt Gewalt» und «Rote planen Weltvernichtung 1919» – aber man hatte alle Hinweise auf die Juden gestrichen, so daß das Komplott als eine rein bolschewistische Angelegenheit erschien. Im Frühjahr 1920, nachdem The Jewish Peril in England erschienen war, ließ man diese Interpretation fallen. «Trotzki führt Juden-Radikale zur Weltherrschaft – Bolschewismus nur ein Werkzeug für seine Pläne», verkündete die Chicago Tribune am 19. Juni, und sie fuhr fort: «In den letzten beiden Jahren haben Nachrichtenoffiziere der Armee, Mitglieder der verschiedenen Geheimdienste der Entente, wiederholt über eine weltrevolutionäre Bewegung berichtet, die nicht mit dem Bolschewismus identisch ist. Zuerst warfen diese Berichte die beiden Bewegungen zusammen, aber in letzter Zeit treten die Konturen immer deutlicher hervor. Der Bolschewismus zielt auf den Sturz der bestehenden Gesellschaftsordnung und die Errichtung einer internationalen Bruderschaft der handarbeitenden Menschen als Herren der Welt. Die zweite Bewegung zielt auf die Errichtung einer neuen rassischen Weltherrschaft. Soviel die britisch-französischen und unsere eigenen Stellen ermitteln konnten, sind die führenden Köpfe des zweiten Komplotts jüdische Radikale ... In den Reihen des Kommunismus gibt es eine Gruppe dieser Partei, aber sie bleibt dabei nicht stehen. Für ihre Führer ist der Kommunismus nur eine Nebensache ... Sie sind bereit, die islamische Revolte, den Haß der Mittelmächte auf England, Japans Anschläge auf Indien und die Handelsrivalität zwischen Amerika und Japan für sich auszunutzen ... Wie es bei jeder Bewegung der Weltrevolution der Fall sein muß, ist diese in erster Linie anti-angelsächsisch.» 161
Für die Vereinigten Staaten war antisemitische Propaganda dieser Art etwas Neues, aber sie kam im richtigen Augenblick. Der Krieg hatte zwar den Vereinigten Staaten unvergleichlich weniger Leiden gebracht als den kriegführenden Ländern Europas, doch hatte er große Verwirrung in den Köpfen angerichtet – nicht zuletzt wegen der Abruptheit, mit der er endete. Die Nation war gerade in richtige Kampfstimmung gekommen, sie hatte noch keine großen Verluste erlitten und wurde sich eben erst ihrer Stärke bewußt – da war plötzlich kein Feind mehr da. Es war nicht leicht, sich mit diesem Zustand abzufinden. Die «American Defense Society» warnte die Öffentlichkeit sofort vor dem Kauf deutscher Produkte, da sie vergiftet oder absichtlich mit tödlichen Bakterien infiziert sein könnten. Der Ku-Klux-Klan erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Bald jedoch konzentrierten sich Furcht und Wut auf einen einzigen Feind: den Bolschewismus – und auf jede Gruppe, die zu Recht oder Unrecht verdächtigt wurde, mit ihm zu sympathisieren. Leute, die sich noch vor kurzem gegenseitig vorgeworfen hatten, prodeutsch zu sein, beschimpften einander nun als Probolschewisten. Das Justizministerium gab bekannt, es besitze eine Kartei von 60.000 Verdächtigen; und diese Zahl war eigentlich bescheiden, denn jedermann wußte doch, daß der Bolschewismus im Lande umging. Sogar die Debatte über die Prohibition wurde zum Teil unter diesem Aspekt geführt. Der Vorsteher der «Anti Saloon League» des Staates New York verkündete: «Die Hauptzentren der anarchistischen Aktivität waren und sind die nassen9 Zentren», während die «Association Opposed to National Prohibition» erklärte: «Alle radikalen Elemente ... sind eifrige Befürworter der Prohibition, denn wie sie behaupten, treibt diese viele Männer, die in normalen Zeiten gesetzestreue Bürger sind, in die radikalen Gruppen.»10 Keine Kategorie von Bürgern war sicher vor dem Verdacht, ein umstürzlerisches Element zu sein – der Senatsausschuß zur Untersuchung des Bolschewismus wurde sogar aufgefordert, die Frauenrechtlerinnen zu überprüfen. Wie konnten da die Juden verschont bleiben? Die Zeit war also reif für vollständige Ausgaben der Protokolle, 9
Als «trocken» bezeichnete man diejenigen Unionsstaaten, in denen schon vor der allgemeinen Einführung der Prohibition (1920) Herstellung und Verkauf alkoholischer Getränke verboten waren, als «naß» die übrigen Staaten. (Anm. d. Übers.) 10
Zitiert in C. Merz, And Then Came Ford, New York 1929, S. 177.
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und so erschienen sie denn – eine in New York unter dem Titel Praemonitus Praemunitus (d. h. «Gewarnt ist gewappnet»), eine in Boston als Teil eines Sammelbandes The Protocols and World Revolution. Vor allem aber brachte Henry Fords Zeitung The Dearborn Independent von Mai bis Oktober 1920 eine lange Artikelserie, sozusagen ein amerikanisches Gegenstück zu den Artikeln der Londoner Morning Post, und die Serie erschien im November in Buchform unter dem Titel The International Jew: The world’s foremost problem. Die Auflage des Dearborn Independent betrug etwa 30.000. Das Buch The International Jew erlangte durch eine große Werbekampagne und das Prestige des Namens Ford eine ungeheure Verbreitung, besonders unter der Landbevölkerung; denn in Amerika ebenso wie in Europa wirkte der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung besonders stark auf Menschen, die an den traditionellen Lebensformen und Werten des flachen Landes hingen und durch die moderne Zivilisation aus dem Geleise gebracht waren.11 Eine halbe Million Exemplare des Buches wurden in den Vereinigten Staaten abgesetzt.12 Es wurde ins Deutsche, Russische und Spanische übertragen; eine gekürzte deutsche Fassung gehörte später zu den Standardwerken der Nazipropaganda. Insgesamt trug The International Jew wahrscheinlich mehr als irgendein anderes Buch dazu bei, die Protokolle weltberühmt zu machen. Die Protokolle sind wahrhaftig alles für alle. In Fords Buch, das für ein amerikanisches Publikum bestimmt ist, erscheint die Weltverschwörung als Werk der Juden-Bolschewiki, nicht aber der Freimaurer; und das Schrecklichste an ihr ist, daß sie die puritanische Moral untergräbt. Mit schlau erdachten Mitteln, auf die sonst niemand käme, verführen die «Weisen von Zion» die amerikanische Jugend: «Jeder Einfluß, der heutzutage zu Leichtsinn und Liederlichkeit in der nichtjüdischen Jugend führt, geht von einer jüdischen Quelle aus. Haben die jungen Leute selbst jene ‹Sportbekleidung› erdacht, 11
Zum Zusammenhang zwischen der amerikanischen agrarischen Tradition und dem Antisemitismus siehe J. Higham, Strangers in the Land: patterns of American nativism 1860-1925, durchgesehene Ausgabe, New York 1963 (speziell über Ford S. 285); S. Lipset, «Three decades of the Radical Right», in D. Bell (Hrsg.), The Radical Right, durchgesehene Ausgabe, New York 1964. Vergleiche auch A. Nevius und F. E. Hill, Ford, Expansion and Challenge, 1915-1933, New York 1957, S. 323. 12
Allerdings wurden viele Exemplare gratis verteilt, und die hohe Auflage des Dearborn Independent war zum Teil darauf zurückzuführen, daß für Ford-Vertreter und -Händler eine Art Zwangsabonnement bestand.
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die auf die gegenwärtige Jugend so schädlich gewirkt hat... ?»13 Doch das Übel fängt noch früher an: unter sozialistischen Vorwänden, etwa dem der öffentlichen Sicherheit, nimmt man schon Kinder ans Gängelband: «Kinder dürfen heutzutage kaum noch frei spielen außer unter staatlichen Spielleitern, unter denen seltsamerweise eine auffallende Anzahl von Juden sich eingefunden hat ... All diese Vorkehrungen sind auf den Weltplan zur Unterjochung der Nichtjuden eingestellt.»14 Wohin dergleichen führt, sieht man in Sowjetrußland: dort ist Sexualaufklärung Unterrichtsfach, und das bedeutet, daß die Kinder «zwangsweise durch Pfützen voller Schmutz geschleift» werden. Einzelheiten «sträubt sich die Feder wiederzugeben».15 Auf diese Weise brechen die jüdischen Herrscher das moralische Rückgrat Rußlands. Alle Bolschewiki sind Juden, auch der angebliche Nichtjude Lenin – denn «warum läßt er seine Kinder Jiddisch sprechen? Warum erläßt er seine Proklamationen auf Jüdisch?»16 (In Wirklichkeit waren Lenin und seine Frau kinderlos und hatten keinen Tropfen jüdisches Blut in den Adern.) The International Jew ist wirklich ein seltsames Buch, und besonders seltsam daran ist, daß es die deutsche Interpretation der Protokolle übernimmt, obwohl doch die Vereinigten Staaten noch kurz zuvor mit Deutschland Krieg geführt hatten. Das Judentum, vorgestellt als eine straff organisierte, weltumspannende politische Macht, wird «Alljuda» genannt; diesen unsinnigen Namen hatten deutsche Antisemiten geprägt. Und die Geheimregierung von «Alljuda» – mit anderen Worten, «die Weisen von Zion» – ist dem Buch zufolge nicht mit Deutschland, sondern mit Großbritannien verbündet. Der Krieg war in Wirklichkeit ein Krieg «Alljudas» gegen Deutschland; es war ein Triumph für die «Weisen», daß sie vermöge ihrer Herrschaft über die Presse ganze Nationen zum Haß gegen Deutschland aufstacheln konnten; und der Endsieg gehörte allein ihnen. Es gibt auch keinen Zweifel, wo die «Weisen» am meisten Unterstützung fanden: London war ihre «erste Hauptstadt» und Paris die zweite. Mit England zumal hat «Alljuda» ein höchst vorteilhaftes Abkom13
Henry Ford, Der internationale Jude, 29. Aufl., Leipzig 1933, S. 115/116.
14
Ebda., S. 115.
15
Ebda., S. 177.
16
Ebda., S. 175.
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men: «Seine Flotte ist die britische; diese sichert die jüdische Weltwirtschaft, soweit sie vom Seeverkehr abhängt, vor jedem Eingriff. Umgekehrt gewährleistet Alljuda Britannien seine ungestörte politische und territoriale Herrschaft.»17 Gegenwärtig verfolgen die «Weisen» das Ziel, die Herrschaft über die Vereinigten Staaten zu erlangen, und sie machen erstaunlich rasche Fortschritte. Hier genügten ein paar Jahrzehnte für einen Eroberungszug, der in Europa anderthalb Jahrtausende gedauert hat. Die Gründe liegen auf der Hand: «Mißverstandene Ideen von Liberalismus, verschwommene Ideen von Toleranz» sind von den Weisen unter die Leute gebracht worden und untergraben schnell den amerikanischen Widerstandswillen.18 Die Amerikaner täten gut daran, das Schicksal Rußlands und Deutschlands zu studieren; beide Länder sind niedergeworfen worden, aber beide sind im Begriff, sich wieder zu erheben. Deutschland macht bereits Anstalten, die Judenherrschaft abzuschütteln, und «heute schon erschauert die Menschheit vor dem Erwachen des wirklichen Rußlands».19 Auch Amerika muß sich endlich aufraffen, und ohne Zaudern; denn mit der Unterjochung der Vereinigten Staaten würde die große Verschwörung ihr Ziel erreichen: die Einsetzung des Weltherrschers aus dem Hause David. «Da der Jude ein hervorragender Meister in der Kunst der Geheimzeichen ist, so ist es wohl nicht ohne Absicht, daß der Bolschewistenstern eine Spitze weniger als der Davidsstern hat. Es bleibt nämlich noch ein Punkt des Weltprogramm zu erfüllen, nämlich die Thronbesteigung ‹unseres Führers›. Wenn er kommt, der Weltselbstherrscher, auf den das ganze Programm zugeschnitten ist, wird wohl auch die sechste Spitze hinzugesetzt werden.»20 Über die Entstehung dieses merkwürdigen Buches ist einiges bekannt. Eng befreundet mit Henry Ford war ein gewisser Dr. Edward A. Rumely, der während des Krieges ein sehr aktives Mitglied eines prodeutschen Propaganda-Rings in den Vereinigten Staaten gewesen war. Dr. Rumely brachte dank seiner Verbindung mit Ford einen
17
Ebda., S. 32.
18
Ebda., S. 119.
19
Ebda., S. 143.
20
Ebda., S. 188.
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Deutschen namens Dr. August Müller in der Redaktion des Dearborn Independent unter, und dieser Dr. Müller war es anscheinend, der den größten Teil des Buches The International Jew schrieb. Beteiligt an dem Unternehmen war der russische Flüchtling Boris Brasol. Er hatte in Rußland unter dem fanatisch antisemitischen Justizminister Schtschegolitow gedient, der den Mordprozeß Beilis organisiert hatte, und er selbst glaubte felsenfest an Ritualmordgeschichten. 1918 arbeitete er für den Geheimdienst der Vereinigten Staaten und hatte dabei Gelegenheit, amerikanische Nachrichtendienst-Offiziere mit den Protokollen bekanntzumachen. Er setzte sich sehr für das Erscheinen der Bostoner Ausgabe der Protokolle ein, die das Werk der Tochter eines zaristischen Generals, Nathalie de Bogory, war; er nahm auch Kontakt mit Fords Sekretär auf und übergab ihm Materialien über die Protokolle. Aus all dem geht hervor, daß The International Jew weit mehr ein russisch-deutsches als ein amerikanisches Produkt war.21 Die Veröffentlichung dieses Buches und der Protokolle rief in den Vereinigten Staaten einige scharfe Reaktionen hervor. Sehr energisch protestierten unter anderem Präsident Wilson, der frühere Außenminister Lansing und der Kardinal-Erzbischof von Boston. Amerikanische Juden, die die Verleumdung nicht passiv hinnehmen wollten, starteten eine Kampagne gegen den Dearborn Independent. Besonders aktiv war der amerikanische Diplomat Herman Bernstein, dessen Buch The History of a Lie eine der frühesten Studien über die Fabrikation der Protokolle ist. Einige Jahre später erhob Bernstein sogar, trotz großer juristischer Schwierigkeiten, Verleumdungsklage gegen Henry Ford. Und schließlich widerrief der große Industrielle. Im Juni 1927 schrieb er dem Präsidenten des American Jewish Committee, Louis Marshall, einen Brief, in dem er jede Verantwortung für die Artikel im Dearborn Independent und für das daraus zusammengestellte Buch ablehnte. Ford erklärte, er sei zwar der Eigentümer beider Publikationen, habe aber keine Ahnung von ihrem Inhalt; Männer, auf die er sich unbedingt verlassen habe, hätten ihn in dieser Angelegenheit getäuscht. Entsetzt über das, was in 21
Später wurde Rumely Geschäftsführer des «Committee for Constitutional Government», das zwischen 1937 und 1944 etwa zwei Millionen Dollar für den Kampf gegen Roosevelt ausgab. Brasol hatte bis 1939 bei Nazi-Intrigen in den Vereinigten Staaten die Hand im Spiel. Zu den Hintergründen von Fords Kampagne siehe die Artikelserie von Norman Hapgood, «The inside story of Henry Ford’s Jew-mania», Hearst’s International, Juni-November 1922.
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seinem Namen getan worden sei, nehme er die in The International Jew erhobenen Vorwürfe feierlich zurück und verspreche, das Buch aus dem Handel zu ziehen. So weit, so gut – aber es stand nicht in Fords Macht, The International Jew ungeschrieben zu machen. Besonders in Deutschland war der Einfluß des Buches groß und andauernd. Hitler hatte jahrelang eine Fotografie Fords auf seinem Schreibtisch stehen; und als er 1923 erfuhr, daß Ford für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen kandidieren wollte, erklärte er: «Ich wünschte, ich könnte einige meiner SA-Männer nach Chicago und in andere amerikanische Großstädte schicken, um bei den Wahlen zu helfen ... Wir betrachten Heinrich Ford als den Führer der wachsenden faschistischen Bewegung in Amerika ... Wir haben gerade seine antijüdischen Artikel übersetzen und veröffentlichen lassen. Das Buch wird in Millionen Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet.»22 Die deutschen Antisemiten lehnten es ab, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen, als Ford sie dazu aufforderte. Noch bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde es verkauft und angezeigt. Der Schaden, den The International Jew anrichtete, blieb nicht auf Deutschland beschränkt, denn das Buch wurde in nicht weniger als sechzehn Sprachen übersetzt. Fords Widerruf erreichte sicherlich nur einen kleinen Bruchteil der Hunderttausende oder Millionen, die er durch seinen Ruf als Geschäftsmann veranlaßt hatte, die Protokolle für echt zu halten – und man kann sich fragen, wie viele von diesen wenigen den Widerruf ernst nahmen. Denn es gibt keinen Zweifel, daß Ford ganz genau wußte, was er finanzierte. Er hatte den Dearborn Independent 1919 als Sprachrohr für seine eigene «Philosophie» gegründet und bekundete stets reges Interesse an dem Blatt; ein Großteil dessen, was es veröffentlichte, waren einfach redigierte Versionen seiner mündlichen Äußerungen. Sollte ihm entgangen sein, daß die Zeitung am 20. Mai 1920 plötzlich ihr Format änderte und mit ihren Angriffen auf die Juden begann? Das ist unvorstellbar. Doch davon ganz abgesehen: Ford selbst äußerte sich öffentlich zum Thema der jüdischen Weltverschwörung in zwei Büchern, die 1922 erschienen, nämlich The Amazing Story of Henry Ford von James Miller und My Life and Work von Henry Ford in Zusammenarbeit mit S. Crowther. Niemand, der bestimmte, nach seinem Diktat geschriebene Stellen in diesen Büchern liest, kann 22
Chicago Tribune, zitiert in f. R. Carlson, Under Cover, New York 1943, S. 210.
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daran zweifeln, daß er damals die Protokolle kannte und daß er seine Leser dazu bewegen wollte, an ihre Echtheit zu glauben.23 Glaubte er selbst daran? Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, daß ein Mann, der aus dem Nichts ein ungeheures IndustrieImperium schuf, so naiv sein könnte. Doch einiges, was Ford tat, läßt sich anders nicht erklären. Als The International Jew Wirkung zeitigte, erbot sich ein prominenter amerikanischer Jude, Isaac Landman, auf eigene Kosten durch die besten Detektive der Welt ein für allemal feststellen zu lassen, ob es eine jüdische Geheimregierung gebe oder nicht. Die Ergebnisse – ganz gleich, wie sie ausfielen – sollten in mindestens fünfhundert führenden Zeitungen veröffentlicht werden. Ford lehnte das Angebot ab, aber er ließ die Sache nicht auf sich beruhen, sondern schickte selber eine Schar von Agenten nach New York, die das Wirken der Geheimregierung enthüllen sollten. Diese Agenten – teils Fanatiker, teils gewöhnliche Gauner – beschatteten prominente Juden, stellten aus unerfindlichen Gründen Nachforschungen im Hafenamt an und führten vor allem eine melodramatische Korrespondenz mit ihrem Hauptquartier in Detroit, wobei sie Decknamen benutzten. Schließlich stießen sie auf die offizielle New Yorker jüdische GemeindeOrganisation, die sich unter dem Namen «Kehilla» (jiddisch für «Kahal») hauptsächlich der Betreuung und Ausbildung jüdischer Einwanderer widmete. Das, erklärten sie, sei die Geheimregierung, und Präsident Wilson, Herbert Hoover und Oberst House seien gefügige Werkzeuge in ihren Händen.24 Daß sich Ford auf solche Narreteien einließ, legt die Vermutung sehr nahe, daß er zumindest in diesem Punkt kein Zyniker, sondern wirklich gläubig war. Und das ließe sich auch erklären. Dieser Mann, der so viel dazu beigetragen hatte, die moderne Welt der Massenproduktion und des Massenverkehrs zu schaffen, haßte nämlich pa23
Siehe zum Beispiel Henry Ford, The «New Era Philosophy» (= Teil II von The Amazing Story of Henry Ford), S. 240-242, und My Life and Work, S. 250-252. 24
Die Detektive gaben sich besonders viel Mühe, eine geheime Telefonverbindung zwischen der Wohnung des jüdischen Richters Brandeis vom Obersten Gericht der Vereinigten Staaten und dem Zimmer im Weißen Haus, in dem Präsident Wilson krank daniederlag, ausfindig zu machen. Es gelang ihnen nicht, da Richter Brandeis überhaupt kein Privattelefon besaß. Als Detektive beschäftigte Ford unter anderen zwei ehemalige höhere Angestellte des Geheimdienstes. Sie ließen sich von dem russischen Emigranten Rodionow völlig einwickeln; er behauptete, er habe Zugang zu dreizehn zusätzlichen Protokollen «im hebräischen Original». Vergleiche J. N. Leonard, The Tragedy of Henry Ford, New York 1932, S. 203/204.
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radoxerweise die Modernität. Er verabscheute Großstädte, besonders New York, und war überzeugt, die echten Amerikaner seien nur auf den Farmen und in den Kleinstädten des Mittelwestens zu Hause; er hegte ein sentimentales Heimweh nach der vorindustriellen Vergangenheit. Wir haben gesehen, wie leicht eine solche Haltung zur virulentesten Form des politischen Antisemitismus führen kann. Zudem hatte Ford überhaupt kein Verständnis für die Kompliziertheit gesellschaftlicher und geschichtlicher Zusammenhänge. «Alles, was die Welt für die Führung ihres Lebens braucht, ließe sich auf zwei Seiten eines Schulheftes niederschreiben», schrieb er im Dearborn Independent. Ein Mann, der das glauben konnte, konnte auch glauben, alle Wandlungen, Umbrüche und Wirren der modernen Welt hätten eine einzige Ursache, die auf den paar Dutzend Seiten der Protokolle enthüllt werde. Daß Ford sich zum Propagandisten der Protokolle machte – dem einflußreichsten, den sie je hatten –, ist, alles in allem, wohl weniger seinem Machiavellismus zuzuschreiben als seiner außerordentlichen Naivität.25 Nächst Deutschland, England und den Vereinigten Staaten bereiteten Polen und Frankreich den Protokollen den wärmsten Empfang. Die erste polnische Ausgabe erschien Anfang 1920 und war 1921 vergriffen; daraufhin wurde die gleiche Übersetzung mit einer Einleitung und einem Nachwort von der antisemitischen Organisation «Rozwój» (Entwicklung) neu herausgegeben. Polen umschloß große Teile des ehemaligen «jüdischen Ansiedlungsrayons» des Zarenreiches, wo der Antisemitismus eine feste Tradition war; es ist daher nicht verwunderlich, daß die Protokolle in dem neugeschaffenen Staat viel Beachtung fanden. Die katholische Geistlichkeit tat viel, den Glauben an sie zu fördern. Im Sommer 1920, als Polen von der Roten Armee überrannt zu werden drohte, erließ der polnische Episkopat an die katholischen Bischöfe der ganzen Welt einen «heißen Ruf nach Hilfe und Rettung für Polen», der offenkundig von den Protokollen inspiriert war. Es heißt darin: «Der Bolschewismus geht in Wirklichkeit auf die Eroberung der Welt aus. Die Rasse, welche seine Führung in der Hand hält, hatte sich schon vorher die ganze Welt unterworfen mittels des Goldes und der Banken, und nun, angetrieben von der ewigen imperialistischen Gier, welche in ihren Adern fließt, zielt sie schon hin auf die 25
Fords Naivität geht klar hervor aus einem Gespräch, über das W. C. Richards in seinem Buch The Last Billionnaire: Henry Ford, New York 1949, S. 89/90, berichtet.
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endgültige Unterwerfung der Nationen unter das Joch ihrer Herrschaft ... Sein [des Bolschewismus] Haß richtet sich gegen Christus und seine Kirche, besonders weil jene, die die Lenker des Bolschewismus sind, in ihrem Blut den traditionellen Haß zum Christentum tragen. Der Bolschewismus ist in Wahrheit die Verkörperung und Fleischwerdung des Geistes des Antichrists auf Erden.»26 Dieses Dokument war besonders abwegig, weil die polnischen Juden in ihrer erdrückenden Mehrheit, darunter auch Mitglieder der jüdischen Arbeiterpartei «Bund», entschiedene Gegner des Bolschewismus waren. Aber der Aufruf, der von zwei Kardinalen, zwei Erzbischöfen, einem Fürstbischof und zwei Bischöfen unterzeichnet war, tat nichtsdestoweniger seine Wirkung. Er brachte zwar Polen keine Hilfe, doch da er überall auf der Welt in Kirchen verlesen wurde, veranlaßte er sicherlich viele Katholiken, an den Mythos der jüdischen Weltverschwörung zu glauben. Und in Polen selbst kam auf sein Konto zweifellos ein Teil der Verantwortung für die vielen Judenmorde, die während der russischen Invasion begangen wurden. Auch in Frankreich genossen die Protokolle weitverbreitete und dauerhafte Gunst. Das Interesse wurde geweckt durch die erste englische Übersetzung und den Kommentar, den die Times dazu veröffentlichte. Royalistische Blätter, die der Action Française nahestanden, besprachen das Buch, und die unabhängige Wochenzeitung L’Opinion veröffentlichte im Juni 1920 eine Kurzfassung in Form dreier Artikel über «Die Ursprünge des Bolschewismus». In den folgenden drei Monaten erschienen nicht weniger als drei vollständige Übersetzungen. Bahnbrecher war die Tageszeitung La Libre Parole: Getreu dem Geist, in dem Edouard Drumont sie achtundzwanzig Jahre zuvor gegründet hatte, druckte sie fast einen Monat lang den Text der Protokolle in Fortsetzungen ab. Die von Urbain Gohier redigierte Zeitschrift La Vieille France brachte gleichfalls den vollständigen Wortlaut. Beide Übersetzungen erschienen anschließend auch als Broschüren. Noch erfolgreicher war eine Übersetzung, die den angesehenen Namen von Monsignore Jouin, Pfarrer der Kirche Saint-Augustin in Paris, auf dem Titelblatt trug. Dieser ehrwürdige Geistliche (er war 1844 geboren) hatte 1909 mit Gründung der Zeitschrift Revue internationale des Sociétés secrètes einen Feldzug gegen die jüdisch-freimaurerische Verschwörung eröffnet; er hatte 26
B. Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, S. 171.
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auch schon vor dem Kriege Kontakt mit dem pogromschtschik Butmi aufgenommen. In seiner Zeitschrift veröffentlichte er eine neue Übersetzung der Protokolle, die er dann im Herbst 1920 als Buch herausbrachte, und zwar als ersten Band einer Reihe mit dem Titel Le Péril judéomaçonnique. Vier weitere Bände folgten, in denen die wichtigsten frühen Versionen der Protokolle in russischer, deutscher und polnischer Sprache minutiös miteinander verglichen und ausführlich kommentiert wurden. Sieben Jahre widmete der fleißige Autor dieser lohnenden Arbeit, die er als Zweiundachtzigjähriger vollendete. Schon als er die Revue internationale des Sociétés secretès herausgab, ernannte ihn Papst Benedikt XV. zum Prälaten; später – er hatte sich inzwischen als Propagandist der Protokolle hervorgetan – erhob ihn Pius XI. zum Apostolischen Protonotar. Diese Ehrungen haben zweifellos zum Prestige seiner Publikationen beigetragen. Eine vierte Übersetzung erschien Anfang 1921, und sie fand von allen die weiteste Verbreitung. Im Unterschied zu den anderen französischen Fassungen fußte sie direkt auf dem russischen Grundtext. Sie war das Werk von Roger Lambelin, einem militanten Royalisten, der früher das politische Büro des Herzogs von Orleans geleitet hatte, dann aber aus dem Lager der Legitimisten alten Stils in das der demagogischen, antisemitischen Action Française übergegangen war. Seine Ausgabe erlebte im ersten Jahr sechzehn Auflagen; 1925 war die fünfundzwanzigste Auflage erreicht, und bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs verkaufte sich das Buch glänzend. Heute interessiert uns vor allem Lambelins Einleitung als ein historisches Dokument, das den Produkten der Morning Post und von Auf Vorposten ebenbürtig ist. Alle stimmen selbstverständlich darin überein, daß der Bolschewismus das Werk der Weisen von Zion ist, aber damit hört die Übereinstimmung auch schon auf. Die britische und die französische Regierung genossen den besonderen Schutz der Weisen, versicherte Müller von Hausen; die Morning Post dagegen sprach von einem unauflöslichen Bündnis zwischen den Weisen und der deutschen Regierung. Roger Lambelin fand scharfsinnig eine neue Synthese: «Die britische Regierung unter Herrn David Lloyd George als Premierminister ist der Politik Israels völlig Untertan ... In den Vereinigten Staaten, unter der Regierung des Präsidenten Wilson, war die Judenherrschaft ebenso handgreiflich wie in England.» Aber die Weisen sorgten auch für Deutschland: «Im Augenblick des Waffenstillstandes und der ersten internationalen Verhandlungen leisteten die Juden Deutschland einen gewaltigen Dienst, indem sie seine 171
Staaten als demokratische und sozialistische Länder tarnten.» So war denn Frankreich der einzige Leidtragende «dieses seltsamen Friedens, der für die Besiegten günstiger ist als für die Sieger – ausgenommen die Angelsachsen ...»27 Neben den von Franzosen besorgten Ausgaben der Protokolle erschienen diese auch vollständig und mit langen phantastischen Kommentaren versehen in zwei Büchern rechtsextremistischer Russen, die in Frankreich in der Emigration lebten. Es waren dies L’Empereur Nicolas II et les Juifs (1924) von General Netschwolodow und Le Juif notre maître (1931) von «Mrs. L. Fry», der Ehefrau eines Russen namens Schischmarew. Das zweite Buch wurde ein regelrechtes Standardwerk für Adepten der Protokolle. Vom Standpunkt des Publikums war diese ganze Literatur – ob von Franzosen oder Russen stammend – ein einheitlicher Komplex. Vertreter der französischen extremen Rechten und geschlagene Anhänger der russischen Autokratie arbeiteten Hand in Hand, um die Protokolle in Frankreich bekanntzumachen. Das Bild dieser Zusammenarbeit ist uns bereits vertraut, und wir finden es in vielen Ländern wieder. Winberg, Schabelski-Bork und (etwas später) Schwarz-Bostunitsch in Deutschland, Brasol und Tscherep-Spiridowitsch in den Vereinigten Staaten, Shewachow und Schwarz-Bostunitsch in Jugoslawien, Subbotin in Südamerika, Rodsajewski im Fernen Osten – diese und viele andere ehemalige zaristische Generäle, Offziere und rechtsstehende Politiker spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Protokolle. Sie arbeiteten mit allen möglichen Rechtsgruppen zusammen, um ihr Ziel zu fördern: die Wiederherstellung der Autokratie in Rußland; jene Gruppen wiederum benutzten die Russen für ihre Ziele, die von Land zu Land verschieden waren. Aus dieser Zusammenarbeit kamen die finanziellen und organisatorischen Mittel, die nötig waren, die Protokolle um die Welt zu tragen. Daß die Protokolle 1921 als Fälschung entlarvt wurden, machte – außer in England – anscheinend keinen großen Eindruck. Einige Herausgeber und Kommentatoren folgten Lord Alfred Douglas und behaupteten, Maurice Joly sei in Wirklichkeit ein jüdischer Revolutionär namens Moses Joel gewesen; aber die meisten umgingen das Problem und erklärten einfach, die Protokolle müßten echt sein, da die in ihnen vorausgesagten Ereignisse tatsächlich eingetreten seien. Und wer 27
Lambelins Einleitung zu seiner Übersetzung der Protokolle, Ausgabe von 1935, S. VI, X-XII.
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konnte leugnen, daß sich die Welt wirklich in einem Zeitalter der Kriege und Revolutionen, der Wirtschaftskrisen und Inflationen befand? So setzten die Protokolle ungehindert ihren Triumphzug fort. Es bildete sich ein ganzes internationales Netz von Propagandisten und Exegeten der Protokolle. Zeitungen und Zeitschriften überall in der Welt propagierten sie und tauschten untereinander «Informationen» und «Dokumente» aus: The Dearborn Independent in den Vereinigten Staaten; The Patriot und The British Guardian in Großbritannien; La Vieille France und La Libre Parole in Frankreich; die National Tidsskrift in Norwegen; die Dansk National Tidsskrift in Dänemark; Dwa Grosze und Pro Patria in Polen; und natürlich viele Blätter in Deutschland. Zu den verschiedenen deutschen, englischen und französischen Ausgaben kamen bald Übersetzungen ins Schwedische, Dänische, Norwegische, Finnische, Rumänische, Ungarische, Litauische, Polnische, Bulgarische, Italienische, Griechische, Japanische und Chinesische. In Deutschland unterdessen wurden die Protokolle Bestandteil der Ideologie einer Partei, die immer mehr Zulauf fand und zu allem entschlossen war.
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8 Der Mythos und die deutsche Rassenideologie
1 Als der Gerichtsvorsitzende im Techow-Prozeß das Ende Rathenaus als «Opfertod» bezeichnete, sprach er wahrer, als er wissen konnte. Denn Rathenau wurde nicht einfach als einer der «Weisen von Zion» ermordet, er wurde dem Sonnengott der altgermanischen Religion als Menschenopfer dargebracht. Nicht von ungefähr geschah der Mord zur Zeit der Sommersonnenwende, und als die Tat bekannt wurde, versammelten sich junge Deutsche auf Anhöhen, um zugleich mit der Wende des Jahres die Beseitigung eines Mannes zu feiern, der für sie die Mächte der Finsternis verkörperte.1 Wie sind diese befremdlichen Dinge zu verstehen? Entscheidend ist: Die Protokolle hatten eine neue Dimension gewonnen, als sie in Berührung mit der «völkischen» oder, wie sie manchmal auch genannt wird, «germanischen» Ideologie kamen.2 Die Anfänge dieser Ideologie – oder richtiger Pseudoreligion – reichen bis in die Zeit der napoleonischen Kriege zurück. Deutschland war nicht das einzige Land, in dem eine feindliche Invasion das Nationalbewußtsein weckte; aber in diesem Fall war der Eindringling zugleich Bannerträger des modernen Zeitalters, Vorkämpfer der Demokratie, des Liberalismus und des Rationalismus. Es ist normal, die Werte des Eroberers abzulehnen und die entgegengesetzten Werte hochzuhalten. Darum hatte der 1
Mitteilungen am dem Verein zur Ablehnung des Antisemitismus, 29. September 1922, S. 98. 2
Zur völkischen Ideologie von den sechziger Jahren bis zu Hitler siehe G. L. Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964; zu ihren Anfängen, von den napoleonischen Kriegen bis 1850, siehe Eleonore Sterling, Er ist wie Du, München 1956.
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deutsche Nationalismus von Anfang an etwas Rückwärtsgewandtes; er wollte nichts von Modernität wissen und sehnte sich zurück in eine Vergangenheit, die als das gerade Gegenteil der modernen Welt vorgestellt wurde. Und diese Haltung verlor sich nicht etwa, sie verstärkte sich noch, als die ökonomische Entwicklung Deutschland mit Gewalt in eben diese moderne Welt stieß. Während Deutschland zur großen Industriemacht wurde, zu einem Land der Fabriken und Großstädte, der Technik und der Bürokratie, träumten viele Deutsche von einer archaischen Welt germanischer Bauern, die, durch Blutsbande zusammengehalten, in einer «natürlichen», «organischen» Gemeinschaft lebten. Ein solches Weltbild verlangt eine Gegenfigur. Zum Teil mußte der liberale Westen dafür herhalten, noch besser eigneten sich aber die Juden. Wie schon erwähnt, ist es für die Anhänger des neueren, politischen Antisemitismus charakteristisch, daß sie in «dem Juden» nicht nur ein unheimliches, dämonisches Wesen sehen, sondern zugleich eine Verkörperung der Modernität, ein Symbol all jener Kräfte in der modernen Welt, die sie selbst fürchten und hassen. Das galt auch für die völkischen Antisemiten in Deutschland, jedoch mit einer besonderen Nuance. Ihre ideale Vergangenheit lag weit zurück hinter Thron und Altar in einer fernen, fast gänzlich mythischen Urzeit. Für sie war «der Jude» nicht nur und nicht einmal in erster Linie der Feind der Könige und der Kirche – er war vor allem der ewige Feind des germanischen Bauern, die Gegenkraft, die seit zwei Jahrtausenden das echte Deutschtum unterwühlte. Das historische Christentum selbst war eine jüdische Schöpfung und hatte geholfen, die urtümliche germanische Welt zu zerstören. Jetzt setzten Kapitalismus, Liberalismus, Demokratie, Sozialismus und städtische Zivilisation das Werk fort; sie zusammen bildeten die Welt «des Juden», die moderne Welt, die seine Schöpfung war und in der er üppig gedieh. Der erste bedeutende Verfechter dieser Lehre war der exzentrische Gelehrte Paul Bötticher, besser bekannt unter seinem angenommenen Namen Paul de Lagarde.3 In seinem Hauptwerk Deutsche Schriften (1878) äußerte er Enttäuschung über das neugeschaffene Deutsche Reich. Er erstrebte eine höhere Einheit: die des ganzen deutschen Volkes, das wieder wie in ferner Vergangenheit leben und so die göttliche Absicht auf Erden verwirklichen sollte. Er erkannte 3
Über Paul de Lagarde siehe F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern-Stuttgart-Wien 1963; eine knappere Darstellung bei G. L. Mosse, a. a. O., Kap. 2.
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jedoch, daß diese neue Ordnung nicht so leicht herzustellen war, und dafür machte er die Juden verantwortlich. Von der jüdischen Religion hatte er keine Ahnung, doch war er überzeugt, sie sei die Quintessenz der für das Volk so verhängnisvollen Modernität. Er prophezeite einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Judentum und Deutschtum – und wenn er von Kampf sprach, meinte er physische Gewalt: die Juden, so verkündete er, müßten ausgerottet werden wie Bazillen. Nicht ohne Grund wurde 1944, während die Nazis ihre riesigen Massaker vollendeten, eine Auswahl aus den Schriften Lagardes an die deutschen Truppen im Osten verteilt.4 An anderen Stellen freilich empfahl Lagarde die vollständige Assimilierung der deutschen Juden an das deutsche Volk. Juden waren für ihn lediglich die Anhänger der jüdischen Religion (was immer er sich darunter vorstellte), nicht die Angehörigen einer «Rasse». Um die gleiche Zeit jedoch entstand die Pseudowissenschaft des deutschen Rassismus. 1873 veröffentlichte Wilhelm Marr – wahrscheinlich der Erfinder des Wortes «Antisemitismus» – ein Buch mit dem bezeichnenden Titel Der Sieg des Judenihums über das Germanenthum, vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, und 1881 publizierte Eugen Dühring, Privatdozent für Nationalökonomie und Philosophie an der Berliner Universität, seine Schrift Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage. In diesen Werken werden die Juden nicht mehr bloß als böse, sondern als unheilbar böse dargestellt; der Ursprung ihrer Schlechtigkeit liegt nicht mehr in ihrer Religion, sondern in ihrem Blut. Diese Lehre popularisierte dann in den neunziger Jahren der unermüdliche Propagandist Theodor Fritsch – der gleiche Mann, der eine Generation später eine Ausgabe der Protokolle veranstaltete. In den unzähligen Broschüren und Zeitschriften, die Fritschs Hammer-Verlag herausbrachte, wurde immer wieder betont, der wissenschaftliche Nachweis der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse und der Hochwertigkeit der deutschen Rasse bedeute nicht nur einen gewaltigen Fortschritt des menschlichen Wissens, sondern eröffne eine neue Ära der Menschheitsgeschichte. Daß es so etwas wie eine «deutsche Rasse» oder eine «jüdische Rasse» gar nicht gibt, störte die Verfasser dieser Schriften natürlich nicht im geringsten. 1899 schließlich veröffentlichte Houston Stewart Chamberlain – Sohn eines britischen Admirals, Wahldeutscher, später auch deutscher Staatsbürger – sein zweibändiges Werk Die Grundlagen des 4
F. Stern, a. a. O., S. 363/364, Anm. 22.
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neunzehnten Jahrhunderts, das durch seine Eloquenz und Scheingelehrsamkeit zur Bibel der ganzen völkisch-rassistischen Bewegung wurde. Hier wurde die gesamte Menschheitsgeschichte dargestellt als erbitterter Kampf zwischen dem Idealismus, verkörpert in der germanischen «Rasse», und dem Materialismus, verkörpert in der jüdischen «Rasse» – den beiden einzigen reinen Rassen, neben denen es nur noch ein «Völkerchaos» gebe. Laut Chamberlain strebt die jüdische «Rasse» seit ältesten Zeiten nach absoluter Vorherrschaft über alle anderen Nationen. Ist diese «Rasse» erst einmal entscheidend geschlagen, dann kann die germanische «Rasse» darangehen, ihren göttlichen Auftrag zu erfüllen: eine neue, lichte Welt zu schaffen, die durchflutet ist von edler Geistigkeit und auf geheimnisvolle Weise moderne Wissenschaft und Technik mit der bäuerlichen, hierarchischen Kultur der Frühzeit verbindet.5 Diese völkisch-rassistischen Vorstellungen wurden keineswegs von allen Deutschen geteilt. Der Adel und die Großindustriellen verachteten sie, und ebenso, am anderen Ende der sozialen Skala, die in der Sozialdemokratie organisierten Industriearbeiter. Diese Schichten der deutschen Gesellschaft besaßen ein relativ sicheres Selbstgefühl: die Adligen und Industriellen dank ihrer realen gesellschaftlichen und politischen Vormachtstellung, die Arbeiter aufgrund ihrer marxistischen Schulung, die weit gründlicher war als in anderen Ländern und ihnen ein historisches Sendungsbewußtsein verlieh. Mehr überrascht schon, daß auch die Bauernschaft uninteressiert war. Wenn Bauern aktive Antisemiten wurden, wie das verschiedentlich geschah, dann stets aus spezifischen Gründen in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen Lage; die völkische Glorifizierung eines mythischen Bauerntums ließ sie kalt. Große Anziehungskraft hatte die völkisch-rassistische Weltanschauung hingegen auf bestimmte Teile der Mittelklasse. Die Erklärung dafür liegt in der eigenartigen Geschichte der deutschen Mittelklasse im 19. und frühen 20. Jahrhundert.6 5
Über die Exponenten des Rassismus siehe – außer dem Werk von Mosse – P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966. 6
Zur Soziologie der völkisch-rassistischen Weltanschauung siehe neben Pulzer und Mosse den scharfsinnigen Artikel von H. P. Bahrdt, «Soziologische Reflexionen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus in Deutschland», in: Entscheidungsjahr 1932, hrsg. v. W. E. Mosse, Tübingen 1965; sowie die im Bibliographischen Hinweis aufgeführten Arbeiten von P.W. Massing, Eva G. Reichmann und A. Leschnitzer.
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Uns interessieren hier vornehmlich zwei Schichten der Mittelklasse: Handwerker und Kleinhändler einerseits, Studenten und Akademiker andererseits. Es ist schon festgestellt worden, daß Handwerker und kleine Geschäftsinhaber für den Antisemitismus besonders anfällig waren und daß sie später die Hauptmasse der Wählerstimmen lieferten, mit denen Hitler an die Macht kam. Daran ist nichts Geheimnisvolles. Diese sozialen Gruppen gehörten der früheren Epoche an und waren durch die Entwicklung des modernen Kapitalismus schwer bedroht. Die Marxsche Prophezeiung, daß sie unweigerlich der Proletarisierung entgegengingen, erwies sich zwar als falsch, doch lebten sie praktisch in einer permanenten Krise. Mit der neuen Welt der Riesenbetriebe in Industrie und Handel wurden sie nicht fertig, ja sie besaßen für diese Welt nicht einmal jenes rudimentäre Verständnis, das die Arbeiter aus ihrer marxistischen Schulung gewannen. Sie kämpften verzweifelt darum, ihre soziale Stellung zu halten. Ein Sündenbock tat ihnen dringend not. Für diese Rolle waren die Juden hervorragend geeignet. Zwar stimmte nichts von dem, was man ihnen allgemein nachsagte: Sie hatten den modernen Kapitalismus nicht «erfunden», sie hielten nicht die Kommandohöhen der deutschen Wirtschaft besetzt, sie waren in ihrer Mehrheit nicht reich, und sie waren auch keine offenkundig Landfremden. In Wirklichkeit bildeten die deutschen Juden eine winzige Minderheit mit einer fallenden Geburtenrate, und wenn man sie sich selbst überlassen hätte, wären sie wahrscheinlich gegen Ende des Jahrhunderts verschwunden gewesen. Sie waren zumeist gute deutsche Patrioten und auf dem Weg zur völligen Assimilierung weit fortgeschritten. Zum großen Teil gehörten sie der unteren Mittelklasse an und spürten die damit verbundene soziale Unsicherheit am eigenen Leibe. Unter den Königen der Großindustrie war keiner von ihnen anzutreffen, und ihre Rolle im Bankwesen war sehr begrenzt. Und dennoch war die deutsche Judenschaft als Sündenbock für die Ressentiments der unteren Mittelklasse prädestiniert. Dafür gab es mehrere Gründe. In bestimmten Vierteln von Berlin und Hamburg lebten viele reiche Juden dicht beieinander; daraus konnten Gedankenlose den Schluß ziehen, alle Juden seien reich, oder gar, alle reichen Leute seien Juden. Ferner zeigten die Juden einen für sie charakteristischen Eifer, ihre Söhne auf die Universität zu schicken und ihnen so den Weg zu den akademischen Berufen zu 178
bahnen; das brachte sie in direkten Konflikt mit den strebsameren Mitgliedern der unteren Mittelklasse. Vor allem bewirkten die Juden eine regelrechte Umwälzung in bestimmten Wirtschaftszweigen, besonders im Bekleidungsgeschäft; ihre großen Unternehmungen waren zwar vorteilhaft für die Käufer, bedrohten aber zahllose kleine Firmen. Zugleich hoben sich die Juden noch hinreichend von der übrigen Bevölkerung ab, um als Minderheit erkennbar zu bleiben. Und so kam es, daß sie – wenn auch ganz unberechtigt – für den gepeinigten, unzufriedenen, verstörten kleinbürgerlichen Antisemiten vor allem Repräsentanten des modernen Kapitalismus waren, Nutznießer des Systems, unter dem er selber litt.7 Die Schöpfer, Propagandisten und fanatischsten Anhänger der völkisch-rassistischen Weltanschauung kamen jedoch aus einem anderen Milieu: aus jener höheren Schicht der Mittelklasse, der auch viele Juden angehörten. So irrational, unwissenschaftlich und nachweisbar unsinnig diese Lehren auch waren, sie waren dennoch die Domäne der Gebildeten – oder vielmehr der Leute mit Hochschuldiplom. Lagarde war ein wirklich bedeutender Orientalist und Universitätsprofessor; Dühring war Privatdozent; Chamberlain war außergewöhnlich belesen. Studenten und Akademiker – sehr häufig Mitglieder von Burschenschaften – stellten die große Masse der Gläubigen. Auch das erklärt sich aus den geschichtlichen Besonderheiten der deutschen Mittelklasse. Die ersten Vertreter dieser Klasse, die zu Ansehen kamen, waren Schriftsteller, Gelehrte, Denker. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Deutschland noch ein Konglomerat politisch und wirtschaftlich gleich rückständiger Fürstentümer war, wurden geistige Leistungen seiner Bürger in ganz Europa hoch geschätzt. Viele deutsche Intellektuelle waren damals liberale Nationalisten; die Grundsätze des Liberalismus lagen ihnen ebenso am Herzen wie die Sache der deutschen Einheit. Aber ihr Versuch, 1848 ein geeintes Deutschland zu schaffen, schlug fehl, und die Einheit, die dann 1871 kam, war das Werk des preußischen Junkers Bismarck. Unterdessen war die industrielle Bourgeoisie auf dem Plan erschienen und hatte zusammen mit dem Adel die politische Macht monopolisiert. Die Schriftsteller, Gelehrten und Denker, einst Bannerträger des Bürgertums, fanden sich sozial zurückgesetzt. Sie hat7
Vergleiche E. Bennathan, «Die demographische und wirtschaftliche Struktur der Juden», in: Entscheidungsjahr 1932, S. 87-131.
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ten keinen politischen Einfluß mehr, waren dem politischen Leben überhaupt entrückt, mußten sich mit Abstraktionen statt Realitäten abgeben; ihr verletztes Selbstgefühl nährte Ressentiments. Viele von ihnen suchten Trost in weiträumigen geschichtsphilosophischen Konstruktionen. Eine davon war die völkisch-rassistische Weltanschauung. Sie hatte den enormen Vorteil, daß sie jedem Deutschen, der sie akzeptierte, das Gefühl eigener Wichtigkeit und Überlegenheit verschaffte. Für Menschen, die sich zur Bildungselite rechneten, zugleich aber ihre politische Ohnmacht und ihren niedrigen sozialen Status schmerzlich empfanden, war sie sehr anziehend. Sich als Träger einer göttlichen Sendung, als Paladin im Wettkampf des «deutschen Idealismus» gegen den «jüdischen Materialismus» zu fühlen, war höchst angenehm – zumal keinerlei konkrete politische Verantwortung damit verbunden war. Im Reich der Habsburger fand die völkisch-rassistische Ideologie vielleicht noch stärkeren Anklang als im Reich der Hohenzollern.8 Hier, am Rande der deutschsprechenden Welt, wo sich das deutsche Element seit dem Krieg von 1866 isoliert und durch die zahlenmäßig stärkeren Slawen ständig bedroht fühlte, hatte die aggressiv vorgebrachte These von der deutschen Überlegenheit besonders viel Anziehungskraft. Außerdem waren die Juden in Österreich eine mehr ins Auge fallende Erscheinung als in Deutschland, und zwar an beiden Enden der sozialen Stufenleiter: Weitaus die meisten lebten in bitterer Armut, aber eine Minderzahl konzentrierte sich in den akademischen Berufen, und einige waren sehr reiche Bankiers. Daß sich die Juden nicht als eigene nationale Gruppe im Habsburgerreich betrachteten, sondern als Teil der deutschen Bevölkerung, half ihnen gar nichts: Die Deutschen wiesen sie zurück. Hier wie in Deutschland fand man die militantesten Antisemiten einerseits im Kleinbürgertum, das den Forderungen der rapiden Industrialisierung nicht gewachsen war, andererseits unter Studenten und Angehörigen akademischer Berufe. Als Hitler 1933 zur Macht kam, kursierte in Deutschland ein Witz: Er sei Österreichs Rache für Königgrätz. Und das war gar nicht so abwegig, denn der Kleinbürger Hitler verkörperte tatsächlich ein ganzes Jahrhundert Frustration, Enttäuschung und Unsicherheit, und sein unstillbarer Rachedurst 8
Pulzers Buch behandelt den (meist vernachlässigten) Beitrag Österreichs zur antisemitischen Tradition.
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war das gleiche Gefühl, nur ins Maßlose gesteigert, von dem eine ganze Schicht der österreichischen Gesellschaft erfüllt war. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die völkisch-rassistische Weltanschauung sowohl in der Donaumonarchie wie im Deutschen Reich relativ wenig Einfluß auf die Politik. Von 1880 an entstanden mehrere antisemitische Parteien, und sie hatten auch einigen Erfolg, aber diese Organisationen erhoben in der Regel keine großen weltanschaulichen Ansprüche.9 Die meisten Rassenfanatiker mieden vor 1914 die Tagespolitik und befaßten sich ausschließlich mit «Ideen». Österreichische Rassisten führten den Kult des Hakenkreuzes ein und prophezeiten, eines Tages werde man im Zeichen dieses uralten Sonnensymbols Juden entmannen und töten. Gleichfalls in Österreich bemühte sich Georg von Schönerer, nach einer wenig erfolgreichen Laufbahn als Politiker, um die Wiederbelebung altgermanischer Bräuche, etwa der Sonnenwendfeier, die eine Generation später beim Rathenau-Mord eine so seltsame Rolle spielen sollte. In Deutschland entstand eine ganze Reihe mehr oder minder esoterischer Vereinigungen, darunter der «Germanen- und Wälsungenorden», der ebenfalls das Hakenkreuz-Emblem führte, und der «Kulturbund für Politik», der neben rabiatem Rassismus auch eine neue Art Vollkornbrot propagierte.10 In jenen Tagen dachten wohl nur wenige, daß die völkisch-rassistische Ideologie jemals eine nennenswerte Wirkung auf die praktische Politik ausüben könnte. Allerdings beeinflußte sie schon damals, lange vor 1914, viele Lehrer und vor allem die berühmte Jugendbewegung, in der zahllose junge Deutsche der bürgerlichen Stickluft zu entfliehen suchten; auch gewann sie Boden in wenigstens einer bedeutenden und respektablen politischen Organisation, dem Alldeutschen Verband. Vor allem aber – und zwar in ihrer reinsten Form, in der sich fanatischer Rassismus mit Antialkoholismus, Vegetariertum und Okkultismus verband – spukte sie in den Köpfen vieler künftiger Naziführer. Einer von ihnen war Hitler. Der Ausgang des Krieges machte die völkisch-rassistische Ideologie zu einem Faktor der praktischen Politik. Die Niederlage und 9
Eine Ausnahme war eine Partei, die 1903 im Sudetenland, dem alten Vorposten des Deutschtums an der slawischen Grenze, gegründet wurde: die Deutsche Arbeiterpartei, später Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, die nach dem Krieg mit der NSDAP in Deutschland eng zusammenarbeitete. 10
Pulzer, a.a.O., S.170, 186 f., 196 f.
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die ihr folgenden Leiden, die Demütigung durch die Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain, die geistigen und materiellen Verheerungen der Inflation – all das schuf eine ganz neue Atmosphäre. Auch hatten Deutschland und Österreich die nationalen Minderheiten verloren, auf die man früher Haß und Verachtung hatte abladen können; Deutschland schien zudem jeder Aussicht auf imperialistische Expansion beraubt. All das verlieh dem Wahnbild von einem uralten, tödlichen Kampf zwischen der deutschen und der jüdischen «Rasse» verstärkte Anziehungskraft, besonders in den Kreisen der Studenten. Die studentischen Korporationen waren den Juden schon seit langem verschlossen, aber 1919 wurden bezeichnenderweise die Aufnahmebedingungen verschärft: fortan durften auch Nichtjuden, die mit Jüdinnen verheiratet waren, nicht mehr Mitglied werden. In der Ideologie der politischen Rechten begannen völkischrassistische Ideen eine Rolle zu spielen, von denen man sich in der Vorkriegszeit nichts hätte träumen lassen. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) schlug seit 1920 in den Wahlkämpfen scharf rassistische Töne an – und sie konnte in ihrer besten Zeit sechs Millionen Stimmen auf sich vereinigen. Ihre Anhängerschaft war allerdings sehr buntscheckig; die DNVP wurde aus ganz verschiedenen Gründen gewählt. Auf der äußersten Rechten gab es jedoch einige kleinere Organisationen, die in der Propagierung des rassistischen Antisemitismus ihren einzigen Daseinszweck sahen. Der Führer des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, hatte schon vor dem Krieg gefordert, den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen, sie aus dem öffentlichen Dienst, dem Lehramt und dem Rechtswesen auszuschließen, ihnen den Besitz von Grund und Boden zu verbieten und sie doppelt so hoch wie die übrigen Deutschen zu besteuern. Jetzt gelang es ihm, seinen ganzen Verband auf diese Richtung festzulegen; in den letzten Tagen des Krieges nahm der Verband «die Judenfrage» offiziell in sein Arbeitsgebiet auf, und ein Jahr später gründete er für diese Aufgabe eine besondere Tochterorganisation, den Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund.11 Der Schutz- und Trutzbund führte das Hakenkreuz als Abzeichen und hatte binnen kurzem 300.000 Mitglieder. Nach dem 11
D. Frymann (Pseudonym von Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär, Leipzig 1912; vergleiche auch A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Wiesbaden 1954, S. 130 ff.
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Rathenau-Mord wurde er verboten, doch hatte dies nicht viel zu besagen, da seine Mitglieder prompt zur NSDAP übertraten. Der alte Germanen- und Wälsungenorden, der gleichfalls das Hakenkreuz benutzte, bestand fort. Zur Tarnung hatte er im November 1918 einen Ableger gebildet, die Thule-Gesellschaft, und diese Organisation schloß sich Anfang 1919 mit der neugegründeten Deutschen Arbeiterpartei zusammen, aus der wenig später die NSDAP wurde.12 Alle diese Organisationen bekannten sich zur völkisch-rassistischen Ideologie in ihrer fanatischsten Form, und dementsprechend interpretierten sie die Protokolle, als sie ihnen in die Hände kamen. Die Ränke der Weisen von Zion waren in ihren Augen der höchste Ausdruck jener Eigenschaften, die sie der jüdischen «Rasse» zuschrieben. Die jüdische Weltverschwörung entsprang einem unbezähmbaren Zerstörungstrieb, einem Willen zum Bösen, der jedem Juden angeboren war. Ein Gezücht von Untermenschen, dunkel, dem Irdischen verhaftet, arbeitete im verborgenen gegen die Söhne des Lichts, die «arische» oder germanische «Rasse», und die Protokolle enthielten den Vernichtungsplan. Auf diesen Plan konnte es nur eine Antwort geben – Ausrottung, vollzogen unter dem Zeichen des Sonnengottes, dem Hakenkreuz. Walther Rathenau fiel als erstes Opfer eines Massakers, das eine Generation später ernsthaft betrieben wurde.
2 Aus dem Zusammentreffen der Protokolle mit der völkisch-rassistischen Ideologie erwuchs eine apokalyptische Vision nicht nur der zeitgenössischen Politik, sondern der ganzen Weltgeschichte, ja des menschlichen Lebens auf diesem Planeten überhaupt. Als die Nazis an die Ausrottung der Juden Europas gingen, der die Ausrottung der Juden der ganzen Welt folgen sollte, geschah es im Namen dieser quasireligiösen Weltanschauung. Man macht sich das nur selten klar, und 12
W. Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP. Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt und Bonn 1965, S. 146 f. Siehe auch G. Franz-Willing, Die Hitlerbewegung, Bd. I: Der Ursprung 1919-1922, Hamburg und Berlin 1962, S. 127; und H. Phelps, «Hitler and the Deutsche Arbeiterpartei», American Historical Review, Vol. 68, Nr. 4 (Juli 1963), S. 974-986.
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als dürre Tatsachenfeststellung wirkt es ja auch heute noch fast unglaublich. Aber wir besitzen unwiderlegliche Beweise: Die Naziführer und die Organisatoren der Ausrottung haben es selbst gesagt. Beginnen wir mit der erstaunlichen Erklärung des SS-Hauptsturmführers Dieter Wisliceny. Er war ein enger Mitarbeiter Eichmanns und wurde 1947 in der Tschechoslowakei wegen seiner Teilnahme an der versuchten Ausrottung der slowakischen, griechischen und ungarischen Juden hingerichtet. Am 18. November 1946, während der Vorbereitung seines Prozesses, schilderte er ausführlich die Geschichte des großen Massakers. Bevor er Planung und Ausführung des Völkermords im einzelnen beschrieb, kam er auf ein Gebiet zu sprechen, «ohne das ... eine Klärung des Tatbestandes nicht möglich ist, nämlich die Gründe, die Hitler und Himmler zur Vernichtung des europäischen Judentums bewogen». Er meinte die Weltanschauung, von der diese Männer besessen waren und die er wie folgt charakterisierte: «Der Antisemitismus bildete eine der Hauptgrundlagen des NSParteiprogramms. Er resultierte im wesentlichen aus zwei Anschauungen: 1. den pseudowissenschaftlichen biologischen Feststellungen von Professor Günther13 und 2. aus einer mystisch-religiösen Vorstellung, daß die Welt von guten und bösen Kräften gelenkt würde. Das böse Prinzip stellten nach dieser Ansicht die Juden dar, deren Hilfsorganisationen die Kirche (Jesuitenorden), Freimaurerei und Bolschewismus waren. Die Literatur dieser Richtung ist bekannt, das ältere Schrifttum der NSDAP wimmelt von dieser Vorstellungswelt. Von den ‹Protokollen der Weisen von Zion› bis zu Rosenbergs ‹Mythos›14 führt eine gerade Linie ... Dieser Vorstellungswelt ist mit logischen oder Vernunftsgründen absolut nicht beizukommen, sie ist eine Art Religiosität, die zur Sektenbildung drängt. Millionen von Menschen haben unter dem Einfluß dieser Literatur an diese Dinge geglaubt, ein Vorgang, der nur mit ähnlichen Erscheinungen des Mittelalters verglichen werden kann, etwa dem Hexenwahn. Gegenüber dieser Welt des Bösen stellten die Rassenmystiker die Welt des Guten, des Lichtes, verkörpert im blonden, blauäugigen 13
Professor Hans K. Günther war der offizielle Rassentheoretiker des Dritten Reiches.
14
Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts war eines der grundlegenden Werke des Nationalsozialismus.
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Menschen, von dem allein alle kulturschöpferische, staatenbildende Kraft ausgehen sollte. Diese beiden Welten lagen nun angeblich im ständigen Kampf, und der Krieg von 1939, den Hitler begonnen hat, stellte nur die endgültige Auseinandersetzung zwischen diesen Kräften dar. Man ist meist geneigt, in Himmler einen eiskalten, zynischen Politiker zu sehen; diese Ansicht ist sicher nicht richtig. Himmler war seiner ganzen Haltung nach ein Zyniker, der dieser ‹Weltanschauung› mit religiösem Fanatismus huldigte.»15 Aus anderen Quellen wissen wir, daß Hitler während seiner ganzen politischen Laufbahn besessen an dieser Weltanschauung festhielt. Anzeichen dieser Obsession finden sich schon in seinen allerersten politischen Äußerungen. Im Jahre 1919 beschäftigte ihn das Münchener Reichswehrgruppenkommando als «Bildungsoffizier». Seine Aufgabe war es, die Soldaten gegen demokratische und sozialistische Ansteckung immun zu machen. Wie er diesen Auftrag verstand, geht deutlich aus einem Brief hervor, den er am 16. September 1919 an einen gewissen Adolf Gemlich schrieb. Gleich die ersten Worte gelten der «Gefahr, die das Judentum für unser Volk heute bildet». Hitler beklagt es, daß dem gewöhnlichen deutschen Antisemitismus noch die weltanschauliche Geschlossenheit fehle, die ihn erst zu einer wirksamen politischen Bewegung machen würde. Es genügt nicht, erklärt er, nur Abneigung gegen die Juden zu empfinden; die Deutschen müssen erkennen, daß die Juden eine Rasse mit ausgeprägten rassischen Eigenschaften sind, wobei der dominierende Zug das Streben nach materiellem Gewinn ist. Das Wirken des Judentums wird zur «Rassentuberkulose der Völker». Gegen einen so gefährlichen Feind hilft «nur eine Wiedergeburt der sittlichen und geistigen Kräfte der Nation», die «durch rücksichtslosen Einsatz national gesinnter Führerpersönlichkeiten mit innerlichem Verantwortungsgefühl» herbeigeführt werden muß. Eine aus solchen Männern zusammengesetzte Regierung wird die bürgerlichen Rechte der Juden einschränken, dabei jedoch nicht stehenbleiben: Das letzte Ziel «muß unverrückbar die Entfernung der Juden selbst sein».16 Soweit der unbekannte Ex-Gefreite, der ein paar Tage 15
Text in L. Poliakov und J. Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, Berlin-Granewald 1955, S.91/92. 16
Im Wortlaut abgedruckt bei E. Deuerlein, «Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr», Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1. Jg. 1959, S. 203/204.
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zuvor zum erstenmal eine Versammlung der winzigen Deutschen Arbeiterpartei besucht hatte. Wahrscheinlich wußte Hitler schon damals von den Protokollen, denn sie waren in Auf Vorposten angekündigt worden und bildeten den Gesprächsstoff in Kreisen professioneller Antisemiten. Bestimmt aber war sein ganzes Denken von ihnen durchtränkt, als er 1923 ins politische Rampenlicht trat. In jenem Jahr ging Deutschland durch das Inferno der großen Inflation; die Ersparnisse des Mittelstands und der Arbeiter lösten sich in nichts auf, Löhne und Gehälter wurden wertlos. Hitler hatte eine Erklärung für die Katastrophe: «Nach den zionistischen Protokollen will man durch Hunger die Massen der zweiten Revolution unter dem Davidsstern gefügig machen.»17 (Die erste Revolution war die Errichtung der Weimarer Republik gewesen.) Im Jahr darauf, als Hitler nach seinem mißlungenen Münchener Putsch in komfortabler Festungshaft saß, diktierte er Mein Kampf. Große Teile dieses langatmigen, aber aufschlußreichen Buches handeln von den angeblichen Manövern der Juden zur Erlangung der Weltherrschaft. Die herrschende Klasse, so erfahren wir, machen die Juden durch die Freimaurerei ihren Zwecken dienstbar; die unteren Klassen ködern sie mit Hilfe der Presse. Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie sind Mittel, mit denen die Juden erreichten, daß erst die Bourgeoisie den Adel stürzte und dann das Proletariat die Bourgeoisie. Nachdem das geschehen ist, führen sie jetzt zur Sicherung ihrer Herrschaft über die Massen, die sie an die Macht gebracht haben, den Bolschewismus ein. Woher Hitler all das hatte, war nicht zu verkennen, und er verleugnete seine Quelle nicht, obwohl Philip Graves inzwischen längst die Protokolle als Fälschung entlarvt hatte. Hitler schrieb: «Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehaßten ‹Protokollen der Weisen von Zion› gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die ‹Frankfurter Zeitung› in die Welt hinein: der beste Beweis dafür, daß sie echt sind. Was viele Juden unbewußt tun mögen, ist hier bewußt klargelegt. Darauf aber kommt es an. Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, daß sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die 17
Adolf Hitlers Reden, hrsg. v. E. Boepple, München 1933, S. 71.
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Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlußzielen darlegen. Die beste Kritik an ihnen jedoch bildet die Wirklichkeit. Wer die geschichtliche Entwicklung der letzten hundert Jahre von den Gesichtspunkten dieses Buches aus überprüft, dem wird auch das Geschrei der jüdischen Presse sofort verständlich werden. Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.»18 Jahre später erklärte Hitler die Weltwirtschaftskrise auf genau die gleiche Weise wie seinerzeit die deutsche Inflation. Eine Fülle von Belegen zeigt uns jedoch, daß Hitler im Gespräch mit Freunden und in unveröffentlichten Schriften noch viel seltsamere Dinge über die jüdische Weltverschwörung sagte. Die früheste dieser Quellen stammt aus der Zeit vor dem Münchener Putsch von 1923. Es handelt sich um ein kleines Buch von Dietrich Eckart: Der Bolschewismus von Moses bis Lenin – Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler und mir.19 Die Quelle ist zuverlässig; denn der Dichter, Journalist und Bohemien Eckart war nicht nur Gründungsmitglied der NSDAP, sondern auch einer der ganz wenigen Freunde Hitlers (Mein Kampf schließt mit Worten zu seinem Gedenken). Es ist unvorstellbar, daß dieser Mann die Ansichten seines Freundes verzerrt dargestellt hätte20. Das Büchlein enthält Verweise auf ältere Werke – wie nicht anders zu erwarten, sind es die Protokolle21, Fords International Jew, Gougenot des Mousseaux’ Le Juif..., Fritschs Handbuch der Judenfrage. Aber durch Kombination der dort vertretenen Thesen mit völkisch-rassistischen Spekulationen gelangte Hitler zu einer eigenen «Geschichtsphilosophie», einer Interpretation der gesamten Menschheitsgeschichte von Anfang an, die nicht einer gewissen irrwitzigen 18
Mein Kampf, 469.-473. Aufl., München 1939, S. 337.
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München 1924 (postum veröffentlicht; Eckart starb 1923). Die Schrift wird analysiert von E. Nolte, «Eine frühe Quelle zu Hitlers Antisemitismus», Historische Zeitschrift, Bd. 192 (1961), S. 584-606. 20
Die Nazipropaganda bewahrte Stillschweigen über das Buch, weil es gar zu enthüllend war. 21
Hitler erklärt, er habe eine jüdische prophetische Landkarte gesehen, die an Stelle Rußlands eine «Russische Wüste» zeigte (Nolte, a. a. O., S. 606, Fußnote 7); damit kann nur die Karte The Kaiser’s Dream gemeint sein, die, wie erwähnt, zur Beeks Ausgabe der Protokolle beigegeben war (siehe oben, S. 178/179).
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Originalität entbehrt. Für Hitler bildet die Geschichte des Menschen einen Teil der Natur und folgt deren Gesetzen. Wenn sie einen Irrweg einschlägt, so zeigt dies, daß eine Kraft am Werk ist, die den Intentionen der Natur entgegenarbeitet – und das ist tatsächlich seit Jahrtausenden der Fall. Die menschliche Geschichte ist eine einzige lange Degeneration. Die Natur fordert Ungleichheit, Hierarchie, Unterordnung des Niederen unter den Höheren; aber die Geschichte besteht aus einer Kette von Revolten gegen diese natürliche Ordnung, und das Ergebnis ist ständig zunehmende Nivellierung. Dieser Prozeß wird mit einer Krankheit verglichen, mit der Wirkung eines Bazillus: «Eine Wucherung über die ganze Erde hinweg, bald langsam, bald springend. Überall saugt das und saugt. Anfangs die strotzende Fülle, zuletzt vertrocknete Säfte.» Die treibende Kraft dieses verhängnisvollen Prozesses ist der jüdische Geist. «Seit Anbeginn ist er da» – schon im alten Ägypten unterwühlten die Kinder Israels eine gesunde, «natürliche» Gesellschaftsordnung. Zu diesem Zweck führten sie den Kapitalismus ein; Joseph war der erste Kapitalist. Vor allem aber stachelten sie das «Pöbelvolk» zur Meuterei an, bis sich schließlich nationalgesinnte Ägypter zornig erhoben und die Störenfriede aus dem Lande jagten – das ist die wahre Bedeutung des Exodus. Moses war also der erste Bolschewik und ein echter Vorläufer Lenins (den Hitler und Eckart beide für einen Juden hielten). So begann ein Prozeß, der sich seither unaufhörlich wiederholt hat. Die unteren sozialen Schichten sind sich überall auf der Welt ähnlich: ein rassisch gemischtes und deshalb minderwertiges Menschenmaterial. Die jüdische Weltverschwörung zielt darauf ab, mit Hilfe dieses Rassenmischmaschs die reinrassigen Oberschichten zu stürzen und dann die Weltherrschaft der Juden aufzurichten. Im Gespräch mit seinem Freund sagte Hitler unverblümt, was er öffentlich auszusprechen sorgsam vermied: daß für ihn auch das Christentum ein Teil des jüdischen Komplotts war. Jesus freilich war kein Jude, er war «Arier». Doch nicht Jesus hatte das Christentum geschaffen, sondern Paulus. Paulus aber predigte Pazifismus und Gleichmacherei; er raubte dem römischen Reich seine stärkste Stütze, den «archaischen, wehrhaften Geist, führte so seinen Untergang herbei und brachte die Juden ihrem Ziel, der Weltherrschaft, einen Schritt näher. In jüngerer Zeit haben die Juden dieses Manöver immer von neuem wiederholt; die Resultate sind die Französische Revolution, der Liberalismus, die Demokratie und schließlich der Bolschewismus. Die Russische Revolution mit ihren Millionen 188
Opfern ist nichts weiter als die vorläufig letzte Episode im ewigen Krieg des Judentums gegen die übrigen Völker der Welt. Vom gleichen Standpunkt urteilte Hitler über jede historische Tatsache, die ihm in den Sinn kam, mochte sie auch noch so wenig mit den Juden und ihren Angelegenheiten zu tun haben. So tadelte er zum Beispiel Luther: Sein Angriff auf die katholische Kirche war ein verhängnisvoller Fehler, denn dadurch schwächte er die Deutschen in ihrem Kampf gegen die Juden. Er hätte erkennen müssen, daß der Katholizismus von den Juden für ihre eigenen Zwecke benutzt wurde, und hätte seine Angriffe gegen diese verborgenen Drahtzieher richten müssen. Luthers einziges Verdienst war, daß er in seinen späteren Lebensjahren die Juden attackierte; und wenn Hitler von «Luthertum» sprach, meinte er nur diese Luthersche Judenfeindschaft. Dieses kleine Buch enthält also die Quintessenz von Hitlers Geschichts- und Lebensauffassung. Er war von einigen Dingen zutiefst überzeugt, nämlich: Überall und zu allen Zeiten streben die Juden nach der Weltherrschaft; überall und zu allen Zeiten ist ihr Ziel der Sturz der wirklich Herrschenden, jener reinblutigen Eliten, welche die Natur allen Nationen als Oberschichten gegeben hat; überall und zu allen Zeiten bedienen sie sich zu diesem Zweck der unteren Schichten, der Massen mit unreinem Blut. Was Eckart 1923 oder früher aufzeichnete, bekräftigte Hitler später in eigenen Schriften – weniger in Mein Kampf als vielmehr in jenem anderen Buch, das er 1928 schrieb und das erst 1961 unter dem Titel Hitlers Zweites Buch veröffentlicht wurde. Dieses Werk ist in der Hauptsache ein Plädoyer für ein Bündnis zwischen Deutschland und dem faschistischen Italien, aber Hitler fühlte das Bedürfnis, eine Art Epilog über die jüdische Gefahr anzufügen. Und hier führte er seinen Zentralgedanken noch ein Stück weiter. Wir erfahren, daß der Jude sich nicht damit begnügt, die rassisch unreinen Massen für seine Zwecke zu benutzen; vielmehr wendet er alle erdenklichen Mittel an, sie rassisch immer unreiner und damit immer gefügiger zu machen. «Sein Endziel ist die Entnationalisierung, die Durcheinanderbastardierung der anderen Völker, die Senkung des Rassenniveaus der Höchsten sowie die Beherrschung dieses Rassenbreies durch Ausrottung der völkischen Intelligenz und deren Ersatz durch die Angehörigen seines eigenen Volkes.»22 Das 22
Hitlers Zweites Buch, eingeleitet und kommentiert von G. L. Weinberg, Stuttgart 1961, S.221.
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erklärt sein Vorgehen in Rußland: «Nach gelungener [bolschewistischer] Revolution riß er sämtliche Bande der Ordnung, der Moral, der Sitte usw. weg, hob die Ehe als höhere Institution auf und proklamierte statt dessen die allgemeine Paarung untereinander mit dem Ziele, auf dem Wege einer regellosen Verbastardierung einen allgemeinen minderwertigen Menschenbrei heranzuzüchten, der aus sich selbst heraus zur Führung unfähig ist und den Juden endlich als einziges geistiges Element nicht mehr entbehren kann ... Augenblicklich bemüht er sich, die übriggebliebenen Staaten demselben Zustand entgegenzuführen.»23 Entsetzt über «dieses furchtbarste Menschheitsverbrechen aller Zeiten», vergaß Hitler zu erklären, wieso Promiskuität unter Russen die biologische Zusammensetzung der russischen Bevölkerung ändern konnte. Hitler machte keinen geistigen Reifeprozeß durch. Seine Tischgespräche im Führerhauptquartier während des Zweiten Weltkrieges sind getreulich aufgezeichnet worden. Sieht man sie daraufhin durch, was er über die Juden zu sagen hatte, so findet man, daß er genau die gleichen Ideen äußerte wie in den zwanziger Jahren – und oft mit genau den gleichen Worten. Seine Auffassung von der Geschichte hat sich nicht geändert: diese ist Niedergang, Verfall, Abfall von einer ursprünglichen hierarchischen Ordnung. Diese ist nach wie vor die gleiche: das böse, widernatürliche Prinzip, das in den Juden verkörpert ist und rassisch unreine Bevölkerungsgruppen als Werkzeug benutzt. Selbst die Bilder sind die gleichen geblieben, Bilder von Krankheit, Seuche, Infektion: Christentum und Bolschewismus werden mit Syphilis und Pest verglichen, die Juden immer wieder mit Bazillen. «Die Entdeckung des jüdischen Virus», sagte Hitler 1942 zu Himmler, «ist eine der größten Revolutionen, die die Welt gesehen hat. Der Kampf, den wir heute führen, ist von der gleichen Art wie der Kampf, der im vorigen Jahrhundert von Pasteur und Koch geführt wurde. Wie viele Krankheiten haben ihren Ursprung im jüdischen Virus! ... Wir werden nur dann wieder gesunden, wenn wir den Juden ausscheiden.»24 Damit kommen wir zum Kern dieses Systems von Wahnideen. In Mein Kampf gibt es eine höchst merkwürdige Stelle, die nicht genügend beachtet worden ist: «Siegt der Jude mit Hilfe seines marxisti23
Ebda., S. 222.
24
Hitler’s Table Talk, hrsg. v. H. R. Trevor-Roper, London 1953, S. 332. (Der deutsche Originaltext dieser Äußerung ist nicht zugänglich. Anm. des Übers.)
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schen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen ... So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.»25 Hier fragt man sich: Was meinte Hitler? Was ist der Sinn dieser Worte von einer menschenleeren Erde? Die Antwort liefert eine Erklärung für die ungeheuerlichen Taten der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Natürlich ist nicht an Atomkrieg gedacht – Hitler schrieb diese Sätze 1924. Er meinte dies: Was man gewöhnlich Menschheit nennt, ist kein einheitliches Ganzes. Nur ein winziger Teil davon sind Menschen im eigentlichen Sinne – in erster Linie die «nordischen» Menschen, dann auch (aus politischen Gründen) die Japaner. Der Rest – mit Hitlers Worten: der Rassenmischmasch – gehört nicht zur Menschheit, sondern zu einer niedrigeren Spezies. Indem der Jude diese Kreaturen benutzt, um die herrschenden Schichten zu beseitigen – die ipso facto nordisch sind –, beraubt er die Erde buchstäblich ihrer menschlichen Bevölkerung. Was übrigbleibt, sind einfach Tiere in Menschengestalt, geführt von Juden, die ihrerseits dämonische Wesen in Menschengestalt sind. Selbst nach den Maßstäben des deutschen Rassismus waren diese Ideen ausgefallen und extrem. Aber es waren Ideen eines Mannes, der zum Diktator Deutschlands aufstieg, und das bedeutete, daß sie nicht Eigentum einer obskuren Gruppe von Wirrköpfen blieben, sondern das Credo der SS wurden. Im Namen dieser Wahnideen, die als wissenschaftliche Wahrheit ausgegeben wurden, terrorisierte und folterte die SS Europa vom Ärmelkanal bis zur Wolga. Wie Hitlers besondere Version des Weltverschwörungsmythos den SS-Männern beigebracht wurde, zeigt ein Zitat aus einer Schulungsbroschüre: «So wie die Nacht aufsteht gegen den Tag, wie sich Licht und Schatten ewig feind sind – so ist der größte Feind des die Erde beherrschenden Menschen der Mensch selbst. Der Untermensch – jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Kulturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. Im Inneren dieses 25
Mein Kampf, S. 69/70.
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Menschen ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille, primitivste Begierde, unverhüllte Gemeinheit. Untermensch – sonst nichts! ... Nie wahrte der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe ... Er brauchte zur Selbsterhaltung den Sumpf, die Hölle, nicht aber die Sonne. – Und diese Unterwelt der Untermenschen fand ihren Führer: – den ewigen Juden!»26 In die Tat umgesetzt, konnte dieses Glaubensbekenntnis nur zum Massenmord führen. Opfer waren nicht allein die sechs Millionen Juden, die als Keimträger einer imaginären Pest getötet wurden. Wie wir gesehen haben, war Rußland in Hitlers Augen dasjenige Land, in dem die Juden durch die Revolution die Bevölkerung am stärksten «infiziert» hatten. Hier liegt zweifellos eine Erklärung dafür, daß die SS in den besetzten Gebieten der Sowjetunion besonders erbarmungslos hauste. Als der deutsche Angriff begann, kündigte Himmler an, es sei beabsichtigt, dreißig Millionen Russen zu töten. Die tatsächliche Zahl der russischen Todesopfer wird auf zwanzig Millionen geschätzt. Wenn die Deutschen ganze Armeen von Kriegsgefangenen hinter Stacheldraht dem Hungertod preisgaben, wenn sie die Bevölkerung ganzer Dörfer, Männer und Frauen, in Scheunen sperrten und lebendig verbrannten, dann hatte das sicherlich damit zu tun, daß diese Menschen für sie Untermenschen waren, von den Juden bastardisiert und in jüdischen Diensten stehend. An die Ausrottung der Juden dachte Hitler vermutlich schon sehr früh. In seiner ersten uns bekannten politischen Äußerung, dem Brief an Gemlich aus dem Jahre 1919, sprach er bereits von der «Entfernung» der Juden. Im Gespräch mit Dietrich Eckart sagte er, es sei sinnlos, Synagogen und jüdische Schulen zu zerstören, da der jüdische Geist in jedem einzelnen Juden verkörpert sei und so lange wirken werde, wie es überhaupt noch Juden gebe. Allerdings vermied er es in jenen frühen Tagen, öffentlich von Massakern zu sprechen, doch ließ er schon damals hin und wieder einen ominösen Satz fallen. «Was sich heute anbahnt, wird größer sein als der Weltkrieg! Es wird ausgefochten werden auf deutschem Boden für die ganze Welt! Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wir werden Opferlamm oder Sieger!»27 Dies sagte er in einer Rede 1923, das Thema war der 26
Zitiert bei L. Poliakov und J. Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, S. 217.
27
Adolf Hitler, sein Leben und seine Reden, hrsg. v. A. V. von Koerber, München 1923, S. 106.
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Kampf gegen die Juden. Noch drohender klingt eine Stelle in Mein Kampf, die klar auf das vordeutet, was zwanzig Jahre später in den Vernichtungslagern geschehen sollte. Deutschland, sagt Hitler, habe den Krieg nur deshalb verloren, weil jüdische Marxisten den Kampfwillen untergruben; und er fährt fort: «Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, ... dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet.»28 Überall in Mein Kampf spricht er mit apokalyptischer Inbrunst vom Sturz des «Weltjudentums». Wir haben gesehen, daß das volkstümliche Christentum des Mittelalters und ebenso das exzentrische Christentum des Sergej Nilus in den Juden Diener des Antichrist sah, denen das gleiche Schicksal bestimmt war wie ihrem Herrn: Der in seiner Glorie wiederkehrende Christus würde sie beim Anbruch des Tausendjährigen Reiches vernichten. In der Offenbarung des Johannes wird geschildert, wie der Antichrist den Himmel zu erstürmen versucht und hinab in die Hölle geworfen wird. Merkwürdig ist nun, daß Hitler, der doch das Christentum haßte, gern diese uralten biblischen Bilder gebrauchte, wenn er vom Schicksal der Juden sprach. «Somit geht er [der Jude] seinen verhängnisvollen Weg weiter», schrieb er, «so lange, bis ihm eine andere Kraft entgegentritt und in gewaltigem Ringen den Himmelsstürmer wieder zum Luzifer zurückwirft.»29 Das apokalyptische Gefühl ist unverkennbar, und etwas davon ging auch auf Himmler und die SS über. Diese Männer sahen zumindest augenblicksweise in der Ausrottung der Juden ein notwendiges Vorspiel zu einer Art germanischem Millennium. Es lohnt sich, das Zeugnis Wislicenys anzuführen, der die Dinge aus eigener Anschauung kannte: «Während [Himmler] auf der einen Seite Astrologen zu Rate zog und allen Geheimwissenschaften sich zuneigte, entstand aus der SS heraus allmählich eine neue Art religiöser Sekte ...» Sie war nicht so neuartig, wie Wisliceny dachte: Schon das mittelalterliche Europa hatte apokalyptische Sekten gekannt, die glaubten, sie hätten den göttlichen Auftrag, durch die 28
Mein Kampf, S. 772.
29
Ebda., S. 751.
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Ausrottung der Juden die Welt zu reinigen.30 Wisliceny sagte auch, der Zweite Weltkrieg sei für Hitler in erster Linie der Endkampf gegen das Judentum gewesen. Hitler selbst sprach von 1939 an in eben diesem Sinne über den Krieg. Wie wir gesehen haben, behaupteten die deutschen Herausgeber der Protokolle stets, der Erste Weltkrieg sei das Werk der Juden gewesen. Jetzt machte Hitler die Juden für den Krieg verantwortlich, den er anzuzetteln im Begriff war, und zugleich prophezeite er den Völkermord, den er verüben wollte. In einer Reichstagsrede am 30. Januar 1939 erklärte er: «Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.»31 Auf diese Prophezeiung kam Hitler im Laufe des Krieges immer wieder zurück. Er wiederholte seine Drohung in der Reichstagsrede am 1. September 1939, dem Tag des Angriffs auf Polen. Er wiederholte sie am 30. Januar 1941 im Berliner Sportpalast: «Und nicht vergessen möchte ich den Hinweis, den ich schon einmal, am l. September 1939, im deutschen Reichstag gegeben habe. Den Hinweis darauf nämlich, daß, wenn die andere Welt von dem Judentum in einen allgemeinen Krieg gestützt würde, das gesamte Judentum seine Rolle in Europa ausgespielt haben wird! Sie mögen auch heute noch lachen darüber, genau so wie sie früher über meine Prophezeiungen lachten. Die kommenden Monate und Jahre werden erweisen, daß ich auch hier richtig gesehen habe.»32 Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann die Vernichtung der russischen Juden, und am 30. Januar 1942 konnte Hitler mit noch mehr Selbstvertrauen sprechen: «Wir sind uns dabei im klaren darüber, daß der Krieg nur damit enden kann, daß entweder die arischen Völker ausgerottet werden, oder daß das Judentum aus Europa verschwindet. Ich habe es am 1. September 1939 im Deutschen Reichstag schon ausgesprochen – und ich hüte mich vor voreiligen Pro30
Vergleiche N. Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich, S. 51-64, 89/90.
31
M. Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Neustadt a. d. Aich 1962-63, Bd. II, S. 1058. 32
Ebda., S. 1663.
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phezeiungen –, daß dieser Krieg nicht so ausgehen wird, wie es sich die Juden vorstellen, nämlich daß die europäisch-arischen Völker ausgerottet werden, sondern daß das Ergebnis dieses Krieges die Vernichtung des Judentums sein wird.»33 In seinem Aufruf zum Jahresbeginn 1943 erklärte Hitler: «Ich versicherte [bei früherer Gelegenheit], daß die Hoffnung des internationalen Judentums, durch einen neuen Krieg das deutsche oder andere europäische Völker vernichten zu können, der schwerste Irrtum des Judentums seit Jahrtausenden sein wird, daß es jedenfalls nicht das deutsche Volk zerstören, sondern sich selbst ausrotten wird, dann wird auch darüber schon heute kein Zweifel mehr bestehen.»34 Dies alles waren öffentliche Erklärungen des Führers, in denen er dem deutschen Volk erläuterte, wie seine Regierung den jüngsten Manövern des «internationalen Finanzjudentums» – alias «Weise von Zion» – begegnete. Wieder muß man fragen, wieweit diese Erklärungen Hitlers eigene Überzeugungen widerspiegelten, und wieder findet man vollkommene Identität. In einem Privatgespräch mit Himmler im Oktober 1941 sagte Hitler: «Durch Ausrottung dieser Pest werden wir der Menschheit einen Dienst erweisen, von dem unsere Soldaten keine Ahnung haben ... Von der Tribüne des Reichstags habe ich dem Judentum prophezeit, daß, wenn der Krieg unvermeidlich werden sollte, der Jude aus Europa verschwinden wird. Diese Verbrecherrasse hat die zwei Millionen [deutschen] Toten des ersten Weltkriegs auf dem Gewissen, und jetzt weitere Hunderttausende ...»35 Wenige Wochen vor seinem Selbstmord kam er auf das Thema zurück: «Ich habe den Juden gegenüber mit offenen Karten gespielt. Am Vorabend des Krieges habe ich ihnen die letzte Warnung gegeben. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie die Welt abermals in einen Krieg stürzten, gäbe es für sie keine Schonung; das Ungeziefer würde in Europa endgültig ausgerottet. Darauf haben sie mit einer Kriegserklärung geantwortet ... Wir haben die jüdische Pestbeule aufgestochen. Die Welt der Zukunft wird uns dafür ewig dankbar sein.»36 In dem politischen 33
Ebda., S. 1828/1829.
34
Deutschland im Kampf, hrsg. v. A. I. Berndt und Oberst Wedel, Nr. 81 (Januar 1943), S. 45. 35
Hitler’s Table Talk, S. 79, 87. (Vgl. Fußn. 24, Anm. d. Übers.)
36
Le Testament politique de Hitler. Notes recueillies par Martin Bormann, hrsg. v. F. Genoud, Paris 1959, S. 86. (Vgl. Fußn. 25, Anm. d. Übers.)
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Testament, das er in der Nacht vom 28. zum 29. April 1945 diktierte (er erschoß sich am 30. 4.) betonte er noch einmal: «Es ist unwahr, daß ich oder irgend jemand anderer in Deutschland den Krieg im Jahre 1939 gewollt haben. Er wurde gewollt und angestiftet ausschließlich von jenen internationalen Staatsmännern, die entweder jüdischer Herkunft waren oder für jüdische Interessen arbeiteten.» Und die Schlußworte des Testaments, die letzten Worte, die er überhaupt schrieb, lauteten: «Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.»37 Wie soll man diese Äußerungen deuten? Die Umstände, unter denen sie gemacht wurden, lassen darauf schließen, daß sie in gewissem Sinne aufrichtig waren. Aber konnte denn Hitler wirklich glauben, die Juden seien schuld am Krieg, den er selbst angefangen hatte? Darauf kann man nur antworten: Hitler empfand alles, was seiner eigenen grenzenlosen Machtgier im Wege stand, als Teil der jüdischen Weltverschwörung. Wie es scheint, gilt dies für seine ganze Laufbahn in Frieden und Krieg. Eine Nation, ob groß oder klein, die ihr Gebiet oder ihre Interessen gegen die unersättlichen Ansprüche Nazideutschlands zu verteidigen suchte, zeigte eben dadurch, daß sie ein Werkzeug in Händen der «Weisen von Zion» war. Bei weiterem Nachdenken stellen sich noch andere Fragen. Manchmal wird gesagt, Hitler sei einfach ein Super-Machiavellist gewesen, ein Mann ohne jede Überzeugung und Loyalität, ein Zyniker von reinstem Wasser, der immer nur ein Ziel und einen Wert gekannt habe: Macht und immer mehr Macht. Gewiß gab es diesen Hitler – aber ebenso wirklich war der andere Hitler, der besessen war von Wahnideen über die jüdische Weltverschwörung.38 Wieweit bestimmte der Halbwahnsinnige den Kalkül des Opportunisten? Wieviel von der Dynamik seiner erstaunlichen Karriere kam aus dem Wunschtraum, durch Ausrottung der Juden die jüdische Weltverschwörung zunichte zu machen? Die Frage ist natürlich nicht zu beantworten; aber sie drängte sich auch führenden Nazis auf, die sie freilich anders formulierten. «Worum anders haben wir gekämpft», schrieb der oberste Parteirichter, Walter Buch, während des Krieges, «Not und 37
Domarus, a. a. O., Bd. II, S. 2239.
38
Vergleiche E. Faul, «Hitlers Über-Machiavellismus», Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2. Jg. 1954, bes. S. 368.
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Entbehrung auf uns genommen, worum anders sind die tapferen Männer der SA und SS, die Jungen der HJ gefallen, als darum, daß das deutsche Volk eines Tages antreten könne zu seinem Befreiungskampf gegen seinen jüdischen Unterdrücker. In dem Kampf sind wir begriffen ... Den Sieg wird erringen Adolf Hitler .. .»39 Und ferner: Wieweit richteten sich Hitler und seine Vertrauten selbst nach dem Vorbild der imaginären «Weisen von Zion»? In den dreißiger Jahren erschienen nicht weniger als drei Bücher, die nachzuweisen suchten, daß die Politik der Nazis fast in jedem Punkt dem in den Protokollen niedergelegten Plan folge.40 Man kann diesen Gedanken zu weit treiben, doch das will nicht heißen, daß er völlig falsch wäre. Zwei jüngere Urteile in dieser Richtung verdienen bedacht zu werden. «Die Nazis», schreibt Hannah Arendt, «begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewußt nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der ‹Weisen von Zion.»›41 Und Leon Poliakov meint, die Naziführer hätten sich zuerst an reißerischer Schundliteratur vom Typ der Protokolle berauscht und diese krankhaften Phantasien dann in eine unvorstellbar schreckliche Wirklichkeit umgesetzt.42 Daran ist viel Richtiges. Der skrupellose Kampf einer nach Weltherrschaft strebenden Verschwörerbande; ein Weltreich, gegründet auf ein kleines, aber glänzend organisiertes und diszipliniertes Volk; abgrundtiefe Verachtung für die ganze Menschheit; ein Schwelgen in Zerstörung und Massenelend – all das findet sich in den Protokollen, und all das ist kennzeichnend für das Naziregime. Mit aller gebotenen Vorsicht gesagt: In dieser absurden Fälschung aus den Tagen der russischen Pogrome vernahm Hitler den Ruf eines verwandten Geistes, und er antwortete ihm aus voller Seele. 39
Der Parteirichter. Amtliches Mitteilungsblatt des Obersten Parteigerichts der NSDAP, 2. Januar 1940, S. 2, zitiert in M. Weinreich, Hitler’s Professors, New York 1946, S. 248 (Faksimile). 40
Siehe Bibliographischen Hinweis.
41
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 601.
42
L. Poliakov, Vorwort zu Le IIIe Reich et les Juifs (französische Ausgabe von Das Dritte Reich und die Juden), Paris 1959.
197
9 Der Mythos in der Nazi-Propaganda
1 Die Protokolle und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung waren Werkzeuge der Nazi-Propaganda, solange es eine gab, von den Anfängen der Partei um 1920 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches im Jahre 1945. Nacheinander dienten sie dazu, der Partei an die Macht zu verhelfen, das Terrorregime zu rechtfertigen, dann den Krieg zu rechtfertigen, den Völkermord zu legitimieren und schließlich die Kapitulation hinauszuzögern. Die Geschichte des Mythos und seiner wechselnden Verwendung in diesen Jahren spiegelt getreu den Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Führender Propagandist des Mythos und der Protokolle war anfangs Alfred Rosenberg, der offizielle «Ideologe» der Partei. Er stammte aus Reval und war Balte von nicht so ganz rein deutscher Herkunft, wie er gern behauptete; einer seiner Großväter war Lette. Von Haus aus war er russischer Staatsbürger; noch nach der Revolution legte er in Moskau das Architekten-Examen ab. Die Revolution weckte in ihm das Interesse an Politik und machte ihn zu einem fanatischen Antibolschewisten. Der Fünfundzwanzigjährige schloß sich 1918 den aus Rußland abziehenden deutschen Truppen an – wie Winberg, den er gut kannte und der ihn stark beeinflußte. In Deutschland trat er der neugegründeten Nazipartei bei und wurde ein enger Mitarbeiter Hitlers. Rosenberg wurde zwar von Hitler nie sehr ernst genommen, und sein Einfluß ging schon vor der Machtergreifung zurück; dennoch drückte er der Nazi-Ideologie für immer seinen Stempel auf. Rabiat antisemitisch war die Partei seit ihrer Gründung im Jahre 1919, aber gegen den russischen Kommunismus wandte sie sich mit voller Schärfe erst 1921/22, und dies war, wie es scheint, vor allem das 198
Werk Rosenbergs. Er stellte die Verbindung her zwischen dem russischen Schwarzhunderter-Antisemitismus und dem Antisemitismus der deutschen Rassisten; genauer: Er übernahm Winbergs Auffassung vom Bolschewismus als einer jüdischen Verschwörung und interpretierte sie im Sinne der völkisch-rassistischen Ideologie. Die Wahnideen, die daraus resultierten, gingen für immer in Hitlers Denken ein; sie wurden ein Hauptthema der nationalsozialistischen Propaganda und fanden Verbreitung in unzähligen Artikeln und Broschüren. Rosenberg war von den Naziführern der gebildetste, was freilich nicht viel besagen will. Er trat als Kenner des Bolschewismus auf, kannte aber keine Zeile von Marx und Engels, hatte nie die Geschichte und Theorie des Sozialismus studiert und wußte überhaupt nichts von der russischen revolutionären Bewegung. Ihm genügte zu wissen, daß Kerenski Jude war und eigentlich Kirbis (sic) hieß, während Lenin ein «Kalmücko-Tatar» war (Rosenberg hätte sich mit Hitler abstimmen sollen, der, wie wir gesehen haben, in diesem Punkt eine andere Ansicht vertrat). Seine Informationen bezog er zum großen Teil zweifellos von Winberg und anderen rechtsstehenden russischen Emigranten. Viele seiner Artikel in der Parteizeitung Völkischer Beobachter schöpften reichlich aus Lutsch Sweta, und ganze Partien seines magnum opus, des unlesbaren Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, stammten geradewegs aus den Schriften Winbergs. Zwischen 1919 und 1923 veröffentlichte Rosenberg neben zahllosen Artikeln fünf Broschüren über die Weltverschwörung der Juden (mit oder ohne Freimaurer), eine gekürzte Übersetzung des Werks von Gougenot des Mousseaux, seinem illustren Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert, und einen ganzen Band Kommentare zu den Protokollen. Und während sein dickleibiger Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts von kaum jemandem gelesen wurde (schon gar nicht von den Naziführern), fanden diese frühen Schriften ein ziemlich großes Publikum. Typisch für sie ist die Broschüre Pest in Rußland, die 1922 erschien. Hier erfahren wir, daß sich das zaristische Rußland die Feindschaft der Juden nicht (wie man annehmen könnte) durch Pogrome und Bedrückung zuzog, sondern durch seinen Widerstand gegen den Finanzkapitalismus. Um dieses Hindernis zu überwinden und gleichzeitig die widerspenstigen Russen zu strafen, ließen die Juden ihr dialektisches Geschick spielen (das sie in jahrhundertelanger Talmud-Exegese geschärft hatten) und verleiteten die russischen Massen, ihre nationale Elite auszurotten. Das gab den 199
jüdischen Bolschewiki freie Hand, die russische Industrie zu nationalisieren – in Wirklichkeit: Besitz von ihr zu ergreifen, um sich und ihre Freunde und Verwandten im Ausland zu bereichern. Es war dann nur noch nötig, aus einer Kerntruppe von Letten und (sensationelle Neuigkeit!) ehemaligen chinesischen Seidenhändlern die Rote Armee zu organisieren, und das russische Volk konnte endgültig dem Kapitalismus unterworfen werden. Eine besondere Rolle bei all diesen Vorgängen spielte Walther Rathenau. Er war – so wenigstens sah es Rosenberg – mit den allmächtigen jüdischen Bolschewiki in Sowjetrußland eng verbunden; sie teilten mit ihm die Reichtümer, die sie aus der russischen Industrie herausholten, und er schuf dafür durch den Vertrag von Rapallo die Möglichkeit, das deutsche Volk im Interesse der «Börsen- und Sowjetjuden» auszubeuten. Wenn man ihn und seinesgleichen gewähren ließ, würden bald Letten und Chinesen unter jüdischem Kommando deutsche Arbeiter niederschießen. Wer konnte leugnen, daß solche Leute schon lange reif für Zuchthaus und Galgen waren? – Kurz nach dem Erscheinen dieser Broschüre wurde Rathenau von jungen Männern ermordet, die genau die gleichen Ansichten vertraten. Das war der bezeichnende Beginn einer Karriere, die eine Generation später mit Rosenbergs Hinrichtung als Hauptkriegsverbrecher endete. Diese Schriften Rosenbergs sollten natürlich der politischen Propaganda und dem Machtkampf der NSDAP dienen, aber ihr allgemeiner Ton war eher der einer apokalyptischen Prophetie. Wie wir gesehen haben, hatte Hitler auch seine apokalyptischen Augenblicke; bei Rosenberg jedoch handelte es sich nicht um Augenblicke, sondern um einen permanenten Geisteszustand. 1923 schrieb er in seinem Kommentar zu den Protokollen: «Als unser metaphysisches Gegenbild steht der Jude in unserer Geschichte da. Nie ist das von uns aber klar erfaßt worden ... Heute endlich scheint es, als ob das ewig Fremde und Feindliche, da es zu solch ungeheurer Macht emporgestiegen ist, als solches empfunden und – gehaßt wird. Zum ersten Male in der Geschichte erheben sich Instinkt und Erkenntnis zum klaren Bewußtsein, und auf der höchsten Höhe des gierig erklommenen Gipfels zur Macht erwartet den Juden der Sturz in die Tiefe. Der letzte Sturz. Nach ihm hat der Jude in Europa und Amerika keinen Raum mehr. Es beginnt heute mitten im Zusammenbruch einer ganzen Welt eine neue Epoche, eine grundsätzliche Abkehr auf allen Gebieten von vielen Ideen der Vergangenheit. Als 200
eines der Vorzeichen dieses kommenden Kampfes um eine neue Weltgestaltung steht die Erkenntnis vom Wesen des Dämons unseres heutigen Verfalls. Dann wird der Weg frei für eine neue Zeit.»1 So dachte Rosenberg 1923 über die Protokolle. Zehn Jahre später, im Vorwort zu einer Neuausgabe der Schrift, das er wohl nicht selbst geschrieben hatte, aber zumindest billigte, ließ er den Anbruch des Dritten Reiches feiern: «... ringt sich aus den Fangarmen jüdischer Weltverspinnung das lichte Volk der Mitte – Deutschland – zu kraftvoller Wiedergeburt empor, zerreißt die Maschen der Netze, in die es von talmudistischen Häschern gelegt war, und steigt gleich dem Phönix aus der Asche des verbrannten materialistischen Weltbildes auf. Das Deutsche Reich steht im Brennpunkt der Welt, und hell leuchtend für die Sehenden wie ein neuer Schöpfungsmorgen zeigt sich ein geläutertes Volkstum. Entsetzt weichen die Geister der Unterwelt vor dieser Erhebung ... Juda, der Geist des Verfalls, der finstere Dämon der schöpferischen Völker, fühlt sich mitten ins Herz getroffen. Es ging zu rasch, der Ring der jüdischen Weltherrschaftspläne war noch nicht ganz geschlossen, um die Völker noch einmal in blutigem Krieg gegeneinander zu jagen ... So mag die Neuauflage des Buches dem Deutschtum nochmals enthüllen, in welches Blendwerk es eingefangen war, ehe es die große deutsche Bewegung zerriß ... wie tief die Erkenntnis im Führerkreis des Nationalsozialismus schon im Anfang der Bewegung verankert war.»2 Rosenberg war ein schlichtes Gemüt und glaubte an den Unsinn, den er schrieb. Joseph Goebbels, der 1928 Propagandachef der Partei wurde, war viel mehr Zyniker; seine Propaganda bestand größtenteils aus bewußten Lügen. Ein schönes Beispiel ist eine Variation über ein Thema der Protokolle, die er im Dezember 1929 verbreiten ließ. Unter der Überschrift «Sklavenmarkt» wurde auf Plakaten und in Parteizeitungen der neueste Beschluß des internationalen FinanzJudentums verkündet: Da Deutschland nicht imstande sei, die Reparationen in voller Höhe zu zahlen, müsse es den Fehlbetrag durch Export junger Männer und Frauen ausgleichen. Diese würden von den jüdischen Herren Deutschlands ausgesucht; junge Juden seien natürlich ausgenommen. «Das heißt, aus dem ‹Jiddischen› ins 1
A. Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik, München 1923, S. 147. 2
Vorwort zur Neuausgabe des gleichen Werkes, 1933.
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Deutsche übersetzt: Zwangsexport deutscher Menschen. Daran ist nicht zu zweifeln.» Als Quelle wurde das Berliner Tageblatt genannt, eine seriöse Zeitung, in der kein Wort von alledem erschienen war.3 Diese Geschichte spielte eine Rolle in der Wahlkampagne für die Reichstagswahl von 1930, mit der der spektakuläre Aufstieg der NSDAP begann. 1928 nahm die Partei mit weniger als einer Million Stimmen und nur zwölf Sitzen noch den neunten Platz im Reichstag ein; 1933 war sie mit über siebzehn Millionen Stimmen und 288 Sitzen die weitaus stärkste Partei. Jede Etappe dieses Siegeszuges war von einem Schwall antisemitischer Propaganda begleitet. Es ließe sich leicht sagen – und es ist oft gesagt worden –, die Partei habe ihre Erfolge vornehmlich durch ihren Antisemitismus errungen, mehr noch: jeder ihrer Wähler müsse ein fanatischer Antisemit gewesen sein. Und doch ... Hitler wäre nie an die Macht gekommen ohne die Weltwirtschaftskrise, die die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Deutschland auf sechs Millionen anschwellen ließ und fast die ganze Bevölkerung – die Mittelschichten und die Bauernschaft ebenso wie die Industriearbeiter – in chronische Not und Sorge stürzte. In dieser Atmosphäre – die um so verzweifelter war, als sich das Land eben erst von den Schlägen der Niederlage und der verheerenden Inflation zu erholen begann – konnte Hitler alle Register seiner Demagogie ziehen. Er attackierte die siegreichen Alliierten, besonders die Franzosen – sie versklavten das deutsche Volk; das deutsche republikanische Regime – es werde nicht mit der Krise fertig; die Linksparteien – sie spalteten die Nation; die Rechtsparteien – sie seien unfähig; die Plutokraten und Monopolisten – sie beuteten das ganze übrige Volk aus. Praktisch attackierte er alle und jeden, wobei er freilich seine schärfsten Angriffe den Juden vorbehielt. Er selbst bot einer Gesellschaft, die an die Unsicherheiten der Demokratie, und zumal einer neuen, unerprobten Demokratie, nicht gewöhnt war, ein Bild eiserner Festigkeit und Entschlossenheit zu radikalem Durchgreifen. All dies half Hitler an die Macht, oder vielmehr, es verhalf ihm zu 37,3 Prozent aller Stimmen; denn das war das meiste, was er je in einer wirklich freien Wahl bekam (Juli 1932). Und in einem Punkt scheinen alle Zeugen übereinzustimmen: Das Deutschland, in dem Hitler an die Macht kam, befand sich keineswegs in antisemitischer Raserei; es stand nicht im Banne des Mythos 3
C. V.-Zeitung, Jg. VIII (1929), S. 561, und Jg. IX (1930), S. 15.
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der jüdischen Weltverschwörung und dürstete nicht nach Judenblut. Gewiß, von der billigsten Ausgabe der Protokolle waren in zwölf Jahren nahezu 100.000 Stück verkauft worden – aber von Remarques berühmtem Antikriegsroman Im Westen nichts Neues, der 1929 erschien, wurden in einem einzigen Jahr eine Viertelmillion Exemplare abgesetzt, und viele andere «progressive» Bücher erzielten ebenfalls hohe Auflagen. Es kann auch nicht ohne weiteres angenommen werden, daß die Mitglieder der NSDAP selbst – damals rund eine Milillion – durchweg fanatische Antisemiten waren. Ein unternehmender amerikanischer Soziologe, Theodore Abel, forderte im Jahre 1934 durch Zeitungsinserat Parteimitglieder auf, ihm ihre Lebensgeschichte einzusenden, aus denen die Gründe für ihren Parteibeitritt hervorgingen. Sechshundert Mitglieder kamen seiner Bitte nach. Überraschend ist, daß 60 Prozent dieser Nazis den Antisemitismus überhaupt nicht erwähnten. Einige distanzierten sich sogar ausdrücklich von diesem Aspekt der Parteipolitik: «Mein Puls schlug schneller, wenn ich vom Vaterland, von der Einigkeit und der Notwendigkeit eines obersten Führers hörte. Ich fühlte, daß ich zu diesen Menschen gehörte. Nur was sie über die Juden sagten, konnte ich nicht schlucken. Das machte mir auch dann noch Kopfschmerzen, als ich in die Partei eingetreten war.» Die statistische Analyse zeigte außerdem, daß antisemitische Äußerungen in fast 50 Prozent der Lebensgeschichten von Parteimitgliedern aus den Mittelschichten (einschließlich der akademischen Berufe) vorkamen, aber in weniger als 30 Prozent der Lebensgeschichten von Industrie- und Landarbeitern.4 Wenn also das Bekenntnis zum Antisemitismus selbst innerhalb der Partei eine Ausnahme war, dann kann es in der Masse der Bevölkerung, die nicht der Partei angehörte, wohl kaum weitverbreitet gewesen sein. Trotz all dieser Einschränkungen muß aber gesagt werden, daß offenbar sehr viele der siebzehn Millionen Wähler, die 1933 für die NSDAP stimmten, damit einverstanden waren, daß ihren jüdischen Mitbürgern zumindest teilweise die Bürgerrechte entzogen würden. Und zweifellos gab es auch eine Menge fanatischer Antisemiten, zum Beispiel in der nationalen Studentenbewegung (in der die Nazis 1931 die Herrschaft erobert hatten) und unter den 400.000 Mitgliedern der SA. Mehrere hunderttausend Menschen hätten unter4
T. Abel, Why Hitler Came into Power, New York 1938, S. 164.
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schrieben, was in einem Beitrag der Abelschen Sammlung stand: «Die Weltgeschichte hätte ihren Sinn verloren, wenn das Judentum mit seinem zersetzenden Geist, die Verkörperung alles Bösen, den Sieg über das Wahre und Gute davontrüge, das in der Idee Adolf Hitlers beschlossen liegt. Es ist mein Glaube, daß unser Führer Adolf Hitler dem deutschen Volk als unser Retter gesandt worden ist, der Licht in die Dunkelheit bringt.»5 Das waren die Früchte fünfzigjähriger Propaganda und insbesondere der intensiven, giftigen, unermüdlichen Propaganda seit dem Kriege, die vor allem auf die jungen Menschen wirkte. Es waren tödliche Früchte, denn eben diese Kombination aus Fanatismus einer Minderheit und Gleichgültigkeit der großen Masse ermöglichte das, was dann kam, von den ersten Einschränkungen bis zur endgültigen Vernichtung.6 Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler, und am 1. April begann die Verfolgung der Juden mit einem obligatorischen eintägigen Boykott jüdischer Geschäfte. Schon zur Rechtfertigung dieser ersten antisemitischen Maßnahme wurden die Protokolle herangezogen, und zwar von Julius Streicher im Völkischen Beobachter. Der «Plan von Basel»7, schrieb er, sei der Erfüllung nahe gewesen, aber «am Sonnabend, dem 1. April, vormittags 10 Uhr, beginnt des deutschen Volkes Abwehraktion gegen den jüdischen Weltverbrecher! Nationalsozialisten! Schlagt den Weltfeind!»8 Der Boykott war ein Versuchsballon; da niemand protestierte, ging die Regierung daran, antisemitische Gesetze zu erlassen. Schon bald wurden die Juden aus 5
Ebda., S. 243.
6
Die Untersuchungen von W. S. Allen («Das haben wir nicht gewollt!» Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930-1935, Gütersloh 1966, S. 84, 218-222) legen den Schluß nahe, daß die Divergenz zwischen den fanatischen Nazis und der großen Masse der Bevölkerung noch größer war als hier angedeutet. Während der Antisemitismus für die Fanatiker eine tödlich ernste Sache war, betrachteten die meisten Leute die antisemitische Propaganda als bloßes Gerede, das mit den Juden, die sie persönlich kannten, überhaupt nichts zu tun hatte und jedenfalls keine ernsthafte Verfolgung nach sich ziehen würde. Allens Studie befaßt sich mit einer einzelnen Kleinstadt in Niedersachsen, und seine Ergebnisse sind nicht notwendig für ganz Deutschland gültig. Soviel scheint indessen sicher: Der Antisemitismus spielte für Hitlers Erfolg und Machtergreifung nur eine begrenzte Rolle; aber die späteren Verfolgungen wurden durch die Gleichgültigkeit der Bevölkerung sehr erleichtert. Siehe unten, S. 267 ff. 7
«Plan von Basel» deshalb, weil die Protokolle angeblich vom ersten Zionistenkongreß in Basel stammten. 8
Völkischer Beobachter, 31. März 1933.
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dem öffentlichen Dienst und den freien Berufen ausgeschlossen; und im September 1935 verstießen sie die Nürnberger Gesetze endgültig aus der Gemeinschaft des deutschen Volkes. In der pausenlosen Propagandakampagne, die diese Maßnahmen begleitete, spielten die Protokolle und die jüdische Weltverschwörung eine große Rolle. Der Völkische Beobachter führte sie ständig an, und auch Streichers Stürmer kam immer wieder ausführlich auf sie zu sprechen, wenn er gerade keine Greuelgeschichten über jüdische Ritualmorde an deutschen Kindern und Vergewaltigungen deutscher Mädchen durch Juden zu erzählen hatte. Dieses schändliche Wochenblatt hatte eine Auflage von nahezu einer halben Million – eine der höchsten in der ganzen deutschen Presse –; außerdem wurde es an besonderen Anschlagbrettern in Städten und Dörfern überall im Lande öffentlich ausgehängt, und was das Übelste war: Es wurde auch im Schulunterricht benutzt. Die Protokolle selbst wurden offiziell propagiert. Eine Neuauflage im Parteiverlag enthielt einen dringenden Aufruf an alle Bürger: «Es ist Pflicht jedes Deutschen, die grauenhaften Geständnisse der Weisen von Zion zu studieren und damit die heutige grenzenlose Not unseres Volkes zu vergleichen und die Erkenntnisse daraus zu ziehen, dann aber auch zu handeln und dafür zu sorgen, daß dieses Werk in die Hand jedes Deutschen kommt. Wir völkischen Deutschen müssen einer gütigen Vorsehung dankbar sein, die uns den Weg zur Rettung gerade dann zeigte, als alles verloren schien. Freilich, schwere Kämpfe stehen uns noch bevor. Gilt es doch vor allem, die deutsche Volksseele zu entgiften und das Verständnis für arischen Rassestolz wieder zu wecken. Ist das geschehen, dann folgt die Gesundung unseres Volkskörpers sehr schnell. In diesem Sinne wollen wir weiterkämpfen. Mit Gott für Deutschlands Auferstehung!»9 Tatsächlich verkauften sich die Protokolle ausgezeichnet, und im Gegensatz zu dem anderen heiligen Text des Dritten Reiches, Mein Kampf, wurden sie nicht nur gekauft, sondern auch gelesen. Es ist sicher, daß viele, die sie lasen, zu fanatischen Gläubigen wurden.10 Keine zwei Jahre nach Hitlers Machtantritt waren die geistigen und moralischen Maßstäbe in Deutschland so tief gesunken, daß ein 9
G. zur Beek, Die Geheimnisse der Weisen von Zion, Franz Eher Nachf., München 1933, S.3,21. 10
F. Bauer, «Antinazistische Prozesse und politisches Bewußtsein», in: H. Huss und A. Schröder (Hrsg.), Antisemitismus. Zur Pathologie des Bürgerlichen Bewußtseins, Frankfurt 1965, S. 177.
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Erziehungsminister die Verwendung der Protokolle als Unterrichtsmaterial in den Schulen anordnen konnte. Diese Entwicklung berührte nicht allein die Juden. Im zaristischen Rußland war der Mythos der jüdischen Weltverschwörung dazu benutzt worden, die revolutionäre Bewegung zu diskreditieren; in der Weimarer Republik war er von den Nazis dazu benutzt worden, das demokratische Regime zu diskreditieren; jetzt im Dritten Reich wurde er nicht nur dazu benutzt, mögliche Gegner der Diktatur zu diskreditieren, sondern auch dazu, das ganze Terrorregime zu rechtfertigen. Reinhard Heydrich, Himmlers engster Mitarbeiter, erklärte 1935, alle oppositionellen Organisationen seien zerschmettert; aber zugleich behauptete er, die jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung verfolge nach wie vor ihr Ziel, das deutsche Volk zu unterminieren, zu vergiften und zu vernichten. «Wir müssen aus der Geschichte der letzten Jahrtausende den Gegner erkennen lernen. Wir werden dann plötzlich sehen, daß wir heute zum ersten Male den Gegner an den Wurzeln seiner Kraft packen. Ist es da ein Wunder, daß er sich erbitterter wehrt?» Heydrich gab zu, daß die große Verschwörung mit ihrer Aktivität so wenig an das Tageslicht trete, daß sie kaum zu erkennen sei: «Leider gibt es auch bei uns, der SS, manchen, der sich oft dieses großen Fernzieles nicht bewußt ist. Als nach der Machtübernahme alles sichtbare Gegnerische verschwunden war, als der Kampf der Geister begann, da fehlte ihnen mit der Erkenntnis der umfassenden Größe des Gegners das Rüstzeug.» Trotzdem insistierte er: «Zu dieser Erkenntnis müssen wir Kämpfer uns durchfinden: Wir brauchen Jahre erbitterten Kampfes, um den Gegner auf allen Gebieten endgültig zurückzudrängen, zu vernichten und Deutschland blutlich und geistig gegen neue Einbrüche des Gegners zu sichern.»11 Praktisch bedeutete dies, daß jeder, den das Regime aus irgendeinem Grunde verfolgen und vernichten wollte, als Agent der ewigen jüdischen Weltverschwörung gebrandmarkt werden konnte. Es bedeutete auch, daß jemand, der die Existenz dieser Weltverschwörung leugnete, sich zum Feind des Regimes stempelte und damit der Verfolgung und Vernichtung preisgegeben war. Ein antisemitischer Mythos, ursprünglich von ein paar exzentrischen Priestern als Reaktion auf die Französische Revolution ausgeheckt, wurde so in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts zum Werkzeug in den 11
Zitiert in H. Buchheim u. a. Anatomie des SS-Staates, Bd. I: Die SS – das Herrschaftsinstrument. Befehl und Gehorsam, Ölten und Freiburg 1965, S. 115
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Händen einer despotischen Regierung, mit dem diese ihre Herrschaft über eine große europäische Nation festigte. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung diente der Regierung auch in ihrem Bemühen, dem deutschen Volk ihre Außenpolitik schmackhaft zu machen. Diese Politik zielte auf den Krieg; doch das war ein Ziel, zu dem sich kein moderner europäischer Staat offen bekennen konnte, nicht einmal der Hitlers. Deshalb wurde die deutsche Außenpolitik von 1933 an vor allem als Abwehr einer von den Juden organisierten tödlichen Einkreisung hingestellt. Besonders die Sowjetunion wurde so gemalt, wie Hitler sie sich von jeher vorstellte: als ein Land der Untermenschen, regiert von Juden. Bei den Parteitagen in Nürnberg tat sich Goebbels alljährlich durch seine Ergüsse über dieses Thema hervor. 1935 erklärte er, der Bolschewismus sei eine satanische Verschwörung, wie sie nur in einem Nomadenhirn habe ausgebrütet werden können; aber gegen das Bollwerk des nationalsozialistischen Deutschlands werde die asiatisch-jüdische Flut vergeblich anbranden. Ein Jahr später verkündete er, der Bolschewismus sei ein krankhafter, verbrecherischer Irrsinn, den die Juden zusammengebraut und organisiert hätten, um die europäischen Staaten zu vernichten und auf deren Trümmern ihre Weltherrschaft zu errichten.12 Auch Streicher hatte mancherlei zu sagen. Als die Sowjetunion 1935 in den Völkerbund aufgenommen wurde, behauptete er, die Regierungen der Demokratien, die diesen Schritt unterstützten, müßten aus jenen berühmten dreihundert Männern bestehen, von denen Rathenau gesprochen hatte, und diese dreihundert Männer seien Mitglieder der jüdischen Rasse und freimaurerische Verwörer.13 Mehrere fleißige Forscher produzierten unterdessen Bücher mit Titeln wie etwa Juden hinter Stalin, in denen gezeigt wurde, daß jeder, der in der Sowjetunion eine halbwegs wichtige Rolle spielte, Jude war. Da in Wirklichkeit gerade damals fast alle prominenten Juden in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von Stalin liquidiert wurden, war dies keine leichte Aufgabe. Man löste sie mit einer einfachen Methode: Jedem, der einen lettischen, armenischen 12
Zu Goebbels’ antisemitischer Propaganda 1935-38 siehe E. K. Bramsted, Goebbels and National Socialist Propaganda 1925-1945, Michigan State U.P. 1965, und Z.A.B. Zeman, Nazi Propaganda, London 1964. 13
J. Streicher, «Der Feind des Völkerfriedens», in: Der Judenkenner, Nr.5 (März 1935), S. 94.
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oder tatarischen Namen trug, wurde jüdische Abkunft bescheinigt, und einer Menge ganz normaler Russen obendrein. Dieses Verfahren blieb freilich nicht lange auf die Sowjetunion beschränkt. Bald war jeder Politiker, der Hitlers Plänen entgegenarbeitete – angefangen mit Roosevelt –, entweder Jude oder Halbjude oder wenigstens mit einer Jüdin verheiratet. Riesige Ströme von Propagandamaterial dieses Inhalts flossen aus Goebbels’ Propagandaministerium – wo man wenig davon glaubte – und aus verschiedenen Parteidienststellen unter der Oberleitung Rosenbergs – wo man bedeutend mehr davon glaubte. Seltsame Verrenkungen waren 1939/40 nötig, um die Berechtigung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes zu erklären. Man entdeckte, daß die Sowjetunion gar nicht von Juden regiert wurde, daß vielmehr das verjudete England mit dieser Behauptung leichtgläubige Deutsche hinters Licht geführt hatte. Allerdings war hier selbst Goebbels’ Erfindungsgabe fast überfordert, und es muß erleichternd gewirkt haben, als sich 1941 die Gleichsetzung von Juden und Kommunisten schließlich doch als richtig erwies. Aber: Ganz gleich, gegen welche sonstigen Zielscheiben diese Propaganda gerichtet war, welchen sonstigen Zwecken sie noch diente – ihr Hauptangriffsziel waren stets die Juden, und ihr Hauptzweck war, diese Menschen als teuflische Wesen hinzustellen. Am Ende dieses Weges stand der Mord; schon vor dem Krieg machten die Verbreiter der Protokolle Andeutungen von einer Möglichkeit, die in ihren Köpfen Gestalt anzunehmen begann. Ende 1936 sah der Stürmer einer weltweiten Säuberungsaktion entgegen: «Die Mobilisierung des Willens des deutschen Volkes, den in seinem Körper sitzenden Bazillus zu vernichten, ist eine Kriegserklärung an alle Juden der Welt. Das Endergebnis wird darüber entscheiden, ob die Welt durch deutsche Kraft erlöst werden oder durch das jüdische Gift zugrunde gehen soll ... Wir glauben an den Endsieg des deutschen Volkes und damit an die Befreiung der ganzen nichtjüdischen Menschheit. Wer den Weltjuden besiegt, wird die Erde vor dem Teufel erretten.»14 Auf dem Nürnberger Parteitag von 1937 übertraf Goebbels sich selbst: «Unerschrocken wollen wir mit Fingern auf den Juden zeigen als den Inspirator, Urheber und Nutznießer dieser furchtbaren Katastrophe: Sehet, das ist der Feind der Welt, der 14
Zitiert in L. W. Bondy, Racketeers of Hatred. Julius Streicher and the Jew-baiters’ International, London 1946, S. 36/37 (aus dem Englischen rückübersetzt).
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Vernichter der Kulturen, der Parasit unter den Völkern, der Sohn des Chaos, die Inkarnation des Bösen, das Ferment der Dekomposition, der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit.»15 Im Oktober 1938 konnte man schon präziser sein, und der Stürmer konnte über die Juden schreiben: «Bazillen, Ungeziefer, Schädlinge können nicht geduldet werden. Sie müssen aus Sauberkeits- und hygienischen Gründen unschädlich gemacht werden durch Abtötung.»16 All das wäre bloße Rhetorik geblieben, hätte nicht der Krieg bis 1941 die Mehrzahl der europäischen Juden in die Gewalt Hitlers gebracht und diesem weite, entlegene Räume verschafft, in denen die Ausrottung vor sich gehen konnte.17 Wie wir gesehen haben, definierte Hitler seinen Sieg als einen Krieg des «Weltjudentums» gegen das nationalsozialistische Deutschland; und nach Beginn der Judenvernichtung wurde dies ein ständiges Thema der innerdeutschen Propaganda. Zwar sprach die Propaganda niemals klar von Massenerschießungen und Vergasungen (das war streng verboten), aber sie machte fortwährend Andeutungen, daß die Juden für den Krieg mit ihrem Leben zahlen müßten. Ein merkwürdiges Manöver: Es war, als versuchten die Naziführer das ganze deutsche Volk in ihre Schuld hineinzuziehen, ohne aber diese Schuld jemals wirklich zuzugeben. Bald nach dem deutschen Überfall auf Rußland erschien, von einer Dienststelle Goebbels’ herausgegeben, eine Broschüre Deutsche Soldaten sehen die Sowjet-Union. Darin wurde berichtet, daß die «Judenfrage ... mit einer imponierenden Gründlichkeit ... gelöst wird ... Wie sagte doch der Führer ...: ‹Wenn es dem Judentum noch einmal gelingen sollte, die Völker Europas in einen sinnlosen Krieg zu hetzen, so wird dies das Ende dieser Rasse in Europa bedeuten!› Der Jude muß wissen, daß der Führer mit seinen Worten Ernst zu machen pflegt, und hat nun die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. Sie sind unerbittlich hart, aber notwendig, wenn endlich Ruhe und Frieden unter den Völkern einkehren sollen.»18 Im No15
Der Parteitag der Arbeit vom 6. bis 13. September 1937. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Kongreßreden, München 1938, S. 157. 16
Karl Holz in Der Stürmer, Nr. 40, Oktober 1938.
17
Schon vor dem Krieg wurden Hunderte deutscher Juden in den Konzentrationslagern getötet; aber die Zahl der politischen Häftlinge, die dort zugrunde gingen, war viel höher. Erst der Krieg eröffnete die Möglichkeit, die jüdische Bevölkerung Europas zu vernichten. 18
W. Diewerge (Hrsg.), Deutsche Soldaten sehen die Sowjet-Union, Berlin 1941, S. 38.
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vember 1941 lieferte Goebbels selbst praktisch eine öffentliche Rechtfertigung des Judenmordes. «In dieser geschichtlichen Auseinandersetzung», erklärte er, «ist jeder Jude unser Feind ... Alle Juden gehören aufgrund ihrer Geburt und Rasse einer internationalen Verschwörung gegen das nationalsozialistische Deutschland an ... Jeder deutsche Soldat, der in diesem Kriege fällt, geht auf das Schuldkonto der Juden. Sie haben ihn auf dem Gewissen, und sie müssen deshalb auch dafür bezahlen.»19 Noch weiter ging der Chef der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, der im Mai 1942 in einer Rede in Karlsruhe sagte: «Es genügt nicht, den jüdischen Menschheitsfeind zu isolieren – der Jude muß ausgerottet werden.»20 Im gleichen Monat schrieb die Parteizeitschrift Volk und Rasse: «Das richtige Begreifen des Judentums muß seine völlige Vernichtung fordern.»21 1943 wurde sogar der antiquierte Mythos vom jüdischen Ritualmord wieder hervorgeholt. In den dreißiger Jahren war dieses Thema praktisch Streicher und seinem Stürmer reserviert gewesen; aber jetzt brachten Männer mit Doktorgrad gewichtige Bücher heraus, in denen sie darlegten, daß der Ritualmord im kleinen das gleiche erweise wie der Krieg im großen – den jüdischen Plan, alle Christen umzubringen. Himmler war von einem dieser Bücher so angetan, daß er es an alle höheren SS-Führer verteilen ließ und obendrein Hunderte von Exemplaren an die Vernichtungskommandos in Rußland schickte. Und er hatte noch eine glänzende Idee: «Außerdem sind sofort Leute einzusetzen, die in England die Gerichtsnachrichten, die Polizei-Ausschreibungen, daß ein Kind vermißt wird, verfolgen und kontrollieren22, so daß wir dann in unseren Sendern entsprechende Kurznachrichten geben können, daß in dem Ort X ein Kind vermißt wurde und es sich wahrscheinlich um einen jüdischen Ritualmord handele. Insgesamt glaube ich, könnten wir mit einer großen antisemitischen Propaganda, in englischer, vielleicht auch sogar in russischer Sprache auf einer sehr aktiven Ritualmord-Propaganda den Antisemitismus in der Welt ungeheuer 19
Goebbels, «Die Juden sind schuld!», Das Reich, 16. November 1941.
20
Straßburger Neueste Nachrichten, 10. Mai 1942, zitiert bei Bondy, a. a. O., S. 157 (aus dem Englischen rückübersetzt). 21
Volk und Rasse, Mai 1942, S. 92.
22
Sic! Eine neuartige Verwendung für Spione im Krieg.
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aktivieren.»23 Hitler, Himmler und Goebbels täuschten sich, wenn sie glaubten, die britische und amerikanische Kampfmoral durch Propaganda über die jüdische Weltverschwörung untergraben zu können. Einen gewissen Eindruck machte diese Propaganda in Frankreich und auch in Großbritannien im Winter 1939/40; damals war ziemlich viel die Rede vom «Judenkrieg». Dann aber ging die Wirkung immer mehr zurück, und es war eine phantastische Fehleinschätzung, die Goebbels bewog, im Jahre 1943 etwa 70-80 Prozent aller Auslands-Rundfunksendungen antisemitischen Themen zu widmen.24 Die Naziführer waren jedoch in ihrer Selbsttäuschung so befangen, daß sie tatsächlich große antisemitische Bewegungen erwarteten, die in Großbritannien und den Vereinigten Staaten entstehen würden, demokratische Regime stürzen, mit Deutschland Frieden schließen und am Werk der Judenausrottung teilnehmen würden. Einen Einblick in ihren Geisteszustand gewährt uns eine Äußerung Johann von Leers’, eines Spezialisten für die Protokolle, die «Rede des Rabbiners» und Ritualmordgeschichten, den Rosenberg der Universität Jena als ordentlichen Professor aufgenötigt hatte.25 Leers schrieb 1944 im Vorwort zu seinem Buch Die Verbrechernatur der Juden: «Gelingt es, den erbkriminellen Charakter des Judentums nachzuweisen, so ist nicht nur jedes Volk moralisch berechtigt, die Erbkriminellen auszutilgen, sondern jedes Volk, das dann noch Juden hält und Juden schützt, macht sich eines Gefährdungsdelikts schuldig genau wie jemand, der ohne die gebotenen Vorsichtsmaßregeln die Zucht von Cholera-Bazillen betreibt.» Um diese Zeit hatte sich das Kriegsglück gegen Deutschland gewandt, und so berief man sich auf die jüdische Weltverschwörung, um den Kampfwillen der Deutschen zu stärken. Der Deutsche Wochendienst, in dem Goebbels allen, die über Politik schrieben und sprachen, vertrauliche Instruktionen erteilte, brachte im Februar 1943 folgenden Hinweis: «BETONEN: Würden wir diesen Krieg verlieren, so fallen wir nicht in die Hände irgendwelcher anderer Staaten, sondern werden alle vom Weltjudentum vernichtet. – Das Judentum fest 23
Text in Poliakov und Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, S. 360.
24
The Goebbels Diaries, hrsg. v. Louis P. Lochner, London 1948, S. 287.
25
Nach dem Krieg floh von Leers nach Ägypten, wurde Moslem und arbeitete unter de Namen Omar Amin als Propaganda-Berater Präsident Nassers. Er starb 1965.
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entschlossen, alle Deutschen auszurotten. – Völkerrecht und Völkerbrauch schützen nicht vor dem totalen Vernichtungswillen der Juden.»26 Das war natürlich zynische und berechnete Propaganda, aber es war noch etwas anderes: eine kaum verhüllte Beschreibung dessen, was Deutsche in ebendiesem Augenblick Juden antaten. Denn je mehr Deutschlands Aussichten, den Krieg zu gewinnen, dahinschwanden, mit desto wütenderer Energie wurde die Judenausrottung vorangetrieben – als wären die Naziführer entschlossen, sich wenigstens diesen Sieg, den wichtigsten von allen, nicht auch noch entwinden zu lassen. Anfang 1943 wurden in Auschwitz neue Gaskammern gebaut, und die ersten Krematorien wurden in Anwesenheit hoher Besucher aus Berlin feierlich ihrer Bestimmung übergeben. 1943 und 1944 steigerte sich das Tempo des Vernichtungsprozesses ständig, bis im Sommer 1944 allein in Auschwitz an einem einzigen Tag 12.000, 15.000, ja 22.000 Juden vergast und verbrannt wurden. Im Herbst 1944 näherte sich die Massenvernichtung ihrem Ende, aber die Propaganda über die jüdische Weltverschwörung ging unvermindert weiter. Im September hob der Deutsche Wochendienst hervor, Redner und Schreiber müßten das Judentum als den einzigen wirklichen Feind, als einzigen Kriegsanstifter und Kriegsverlängerer darstellen. Propagandamaterial, das an die Truppen der Ostfront verteilt wurde, sprach ganz offen von der Judenausrottung – von der die Soldaten ohnehin überreichlich Beweise hatten – und rechtfertigte sie als rein defensive Maßnahme. Die folgenden Sätze zum Beispiel stammen aus einer Publikation der Wehrmacht, die unter Verantwortung hoher militärischer Stellen erschienen war: «Es gibt heute noch in unserm Volk Menschen, die innerlich nicht ganz sicher sind, wenn wir von der Ausrottung der Juden in unserem Lebensraum reden. Bei uns bedurfte es der Charakterstärke und Tatkraft des größten Mannes unseres Volkes seit 1.000 Jahren, um das jüdische Blendwerk von unseren Augen zu reißen. Jüdische Plutokratie und jüdischer Kommunismus sind auf der Jagd nach dem seiner Sklaverei entsprungenen deutschen Volk ... Wer kann in diesem Kampf noch von Mitleid, Nächstenliebe usw. reden? ... Der Jude muß vernichtet werden, wo wir ihn treffen!»27 26
Zitiert in R. Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961, S. 655.
27
Politische Aussprache. Führungsunterlagen Folge 3, Herausgeber: Nationalsozialistischer Führungsstab der Wehrmacht, September 1944, S. 155/56, zitiert bei M. Weinreich, Hitler’s Professors, New York 1946, S. 258 (Faksimile).
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Im Oktober 1944 waren fünf bis sechs Millionen Juden getötet, und in Ost und West stand der Feind an Deutschlands Grenzen. Himmler, dem klar war, daß die Russen bald Auschwitz erreichen würden, und der vielleicht hoffte, sich bei den Westalliierten Liebkind machen zu können, ordnete an, die systematische Vernichtung einzustellen (allerdings starben noch Zehntausende an Hunger und Erschöpfung). Man sollte meinen, daß jetzt endlich das Gerede von den Protokollen und der jüdischen Weltverschwörung aufgehört hätte, aber dies geschah keineswegs. Die Juden, schrieb Goebbels im Januar 1945, «sind die Inkarnation jenes zerstörerischen Triebs, der sich in diesen furchtbaren Jahren in der feindlichen Kriegsführung gegen alles austobt, was wir als edel, schön und erhaltenswert ansehen ... Wer treibt die Russen, Engländer und Amerikaner ins Feuer und opfert Hekatomben fremder Menschenleben in einem aussichtslosen Kampf gegen das deutsche Volk? Die Juden! ... Die Juden werden am Ende dieses Krieges ihr Cannae erleben. Nicht Europa, sie selbst werden untergehen ...»28 Inmitten der Agonie des Dritten Reiches, im zertrümmerten Berlin, das auf seine Erstürmung wartete, kam das Propagandaministerium noch einmal auf den ersten all dieser Millionen Morde zurück. Am 29. Dezember 1944 wiederholte es zum Gebrauch der deutschen Presse die Lüge, die eine Generation zuvor die Mörder Rathenaus zur Tat getrieben hatte: «In diesem Kriege geht es im Kern nur um die Brechung der jüdischen Weltherrschaft. Wenn es gelänge, die 300 heimlichen Judenkönige, die die Welt beherrschen, schachmatt zu setzen: Die Völker dieser Erde fänden endlich ihren Frieden.»29 Das war ein Eingeständnis der Niederlage, genau vergleichbar jener endgültigen Niederlage, die das Schicksal des Paranoikers ist. Nach den weitaus größten und grausamsten Massakern der Geschichte fühlten sich die Naziführer ihrem Ziel keinen Schritt näher. Dem Hauptadministrator der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, blieb es vorbehalten, eine Erklärung für diesen einzigartigen Fehlschlag anzubieten. In seinem Prozeß in Jerusalem im Jahre 1961 behauptete er, Hitler selbst sei nur eine Schachfigur und Marionette in den Händen der «satanischen internationalen Hochfinanz der 28
Das Reich, 21. Januar 1945.
29
Politischer Dienst (Arbeitsmaterial für Presse und Publizistik) Nr. 370 (verteilt von der Abteilung Deutsche Presse der Presseabteilung der Reichsregierung).
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westlichen Welt» gewesen – womit er natürlich die geheimnisvollen, unsichtbaren, allmächtigen Weisen von Zion meinte.30
2 Was wurde nun mit der ganzen Propaganda erreicht? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Nach dem Willen Hitlers und Goebbels’ sollte Deutschland der Welt das Bild einer Nation bieten, die fest geeint war in leidenschaftlicher Entschlossenheit, die jüdische Weltverschwörung zu zerschmettern. Angesichts des fast unglaublichen Faktums von fünf oder sechs Millionen ermordeten Juden waren nach dem Krieg viele Ausländer bereit, dieses Bild als richtig zu akzeptieren. Aber wie richtig war es? Beobachtungen aus erster Hand, die in Deutschland unter dem Nazi-Regime gemacht wurden, ergeben ein komplexeres Bild. Soviel ist richtig, daß schon zur Zeit von Hitlers Machtantritt große Teile des deutschen Volkes dem Antisemitismus anhingen, und zwar einer Form von Antisemitismus, die weit über die ziemlich vagen Vorurteile hinausging, wie sie in den westlichen Demokratien im Schwange waren. Der typische deutsche Antisemit wollte, daß die deutschen Juden keine öffentlichen Ämter bekleiden durften, daß sie in ihrer Ausbildung und ihrem beruflichen Fortkommen Beschränkungen unterworfen würden, daß sie den Status einer benachteiligten Minderheit erhielten. Weiter gingen seine Forderungen jedoch nicht. So ungerecht und unzivilisiert sie waren, sie unterschieden sich doch stark von dem, was Hitler und seine Genossen erstrebten. In den ersten Jahren des Nazi-Regimes wurden alle diese Forderungen erfüllt und mehr als erfüllt. Die Juden verschwanden aus allen prominenten und einflußreichen Positionen, die persönlichen Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden hörten praktisch auf, die Massenemigration von Juden begann. Nun war die Frage: Was weiter? Es war denkbar, daß der begrenzte Antisemitismus der vielen erlosch, weil er kein richtiges Ziel mehr hatte. Es war auch denkbar, daß er sich zu höherer Intensität aufpeitschen und in mörderischen Fanatismus verwandeln ließ. Mit Hilfe des Mythos der jüdischen Weltverschwörung versuchte die Naziführung die erste 30
L. Poliakov, Le Procès de Jerusalem, Paris 1963, S. 284/285.
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dieser Möglichkeiten auszuschließen, und die zweite zu verwirklichen. Wieweit gelang ihr das? Ein sehr kluger und erfahrener Beobachter, Michael MüllerClaudius, der sich seit vielen Jahren mit der Entwicklung des Antisemitismus beschäftigte, stellte 1938 und 1942 Meinungsforschungen an. Nach dem offiziell organisierten Pogrom vom 9./10. November 1938, bei dem Scharen junger Nazis Synagogen, jüdische Geschäfte und jüdische Wohnhäuser in ganz Deutschland zerstörten und plünderten und mehrere Dutzend Juden töteten, führte Müller-Claudius zwanglose Gespräche mit 41 Parteimitgliedern aus allen sozialen Schichten. Auf seine in beiläufigem Ton vorgebrachte Sondierung: «Übrigens – nun hat ja wohl die Erfüllung des Judenprogramms begonnen?» erhielt er folgende Reaktionen: 26 Personen, d. h. 63 Prozent aller Befragten, äußerten unzweideutig Empörung über die Gewalttaten; 13 Personen (32 Prozent) antworteten unentschieden; 2 Personen (ein Student und ein Bankangestellter) billigten die Vorgänge – und zwar deshalb, weil sie an die jüdische Weltverschwörung glaubten. In den Augen dieser 5 Prozent war die physische Gewalt gegen Juden gerechtfertigt, denn «Terror muß durch Terror gebrochen werden».31 Vier Jahre später führte Müller-Claudius eine weitere Befragung durch. Das war im Herbst 1942, als die verbliebenen deutschen Juden an unbekannte Bestimmungsorte im Osten deportiert wurden – angeblich, um dort durch körperliche Arbeit einen Beitrag zur Kriegsanstrengung zu leisten. Diesmal stellte Müller-Claudius 61 Parteimitgliedern, die wieder allen Gesellschaftsschichten entstammten, eine Reihe geschickt formulierter Fragen. Das Resultat unterschied sich in mehrerlei Hinsicht von dem der ersten Befragung. Nur 16 Personen (26 Prozent) ließen erkennen, daß sie sich Sorgen um die Juden machten; der Anteil der Indifferenten war auf 69 Prozent gestiegen (42 Personen). Hingegen war der Anteil der Fanatiker unverändert: 3 Personen, d. h. 5 Prozent. Und für diese Gruppe war, wie beim erstenmal, die jüdische Weltverschwörung eine selbstverständliche Tatsache und die Vernichtung der Juden eine absolute Notwendigkeit: «Es ist klar, daß der Untergang des Judentums ein Kriegsziel ist, ohne das der Endsieg nicht gesichert wäre.» – «Das internationale Judentum hat [den Krieg] angestiftet ... Nach dem Endsieg muß die jüdische Rasse aufhören zu existie31
M. Müller-Claudius, Der Antisemitismus und das deutsche Verhängnis, Frankfurt 1948, S. 162-166.
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ren.» – «[Der Führer] ist der Menschheit die Befreiung vom Judentum schuldig ... Der Führer wird befehlen, wie sie ausgelöscht werden.»32 Diese Befunde von Müller-Claudius, die von anderen sorgfältigen Beobachtern im wesentlichen bestätigt worden sind, gestatten ein einigermaßen objektives Urteil darüber, was Hitler und Goebbels erreichten und was sie nicht erreichten.33 Einerseits wurde das deutsche Volk in seiner großen Masse niemals wirklich gegen die Juden fanatisiert, es war nie vom Mythos der jüdischen Weltverschwörung besessen und sah im Krieg nicht einen apokalyptischen Kampf gegen den «Ewigen Juden» – aber andererseits rückte es im Lauf der Jahre immer mehr von den Juden ab. 1942 ahnten die meisten Leute zumindest, daß mit den deportierten Juden etwas Schreckliches geschah, und ziemlich viele müssen aus beruflichen Gründen gewußt haben, was geschah – doch nur wenige kümmerten sich darum. Der Kontrast zwischen 1938 und 1942 zeigt, in welchem Maße die ganze Bevölkerung ausgerichtet worden war – nicht so sehr auf positiven Haß als vielmehr auf äußerste Gleichgültigkeit. Natürlich muß man den traditionellen deutschen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in Rechnung stellen, auch die Belastungen der Kriegszeit und den zunehmenden Terror gegen die Bevölkerung selbst. Dennoch: Als sich herumsprach, daß das Regime die Insassen von Irrenanstalten töten ließ, wurden starke Proteste laut, die nicht ohne Wirkung blieben; hingegen erhob sich kaum eine Stimme für die Juden. Der Grund scheint ziemlich klar. Wer etwas zugunsten der Juden sagte, wurde sofort zum Mitglied ihrer Verschwörung gestempelt und mußte darauf gefaßt sein, ihr Schicksal zu teilen; sehr wenige waren bereit, sich und ihre Familien derartigen Ge32
Ebda., S. 166-172. Das Buch ist eine äußerst wertvolle Studie über den Antisemitismus in Deutschland von den zwanziger Jahren bis zum Ende des Dritten Reiches. Es ist längst nicht so bekannt, wie es verdiente. 33
Eine gründliche Befragung von 1.000 deutschen Kriegsgefangenen in den Jahren 1942-44 ergab folgendes: 24 Prozent standen dem Regime mehr oder weniger kritisch gegenüber; bei 65 Prozent ließ die allgemeine Einstellung darauf schließen, daß sie auf Fragen nach den Juden indifferent reagiert hätten; 11 Prozent waren fanatische Nazis. Der bedeutend höhere Anteil von Fanatikern ist nicht überraschend: Die von Müller-Claudius Befragten waren ausnahmslos so alt, daß sie der Partei mindestens seit 1933 angehörten, während die meisten Kriegsgefangenen unter dem NaziRegime großgeworden waren. Siehe Henry V. Dicks, «Personality traits and National Socialist ideology», Human Relations, Vol. III, Nr. 2 (Juni 1950), London und Ann Arbor, USA, S. 111-154.
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fahren auszusetzen. In einer solchen Lage ist man sehr stark versucht, die eigene Furchtsamkeit zu bemänteln, indem man sich zumindest teilweise mit der offiziellen Einstellung identifiziert. Es war nicht nötig, von den «Weisen von Zion» zu reden – man brauchte nur einzuräumen, daß die Juden irgendwie unheimlich seien und jedenfalls nicht verdienten, daß man sich um sie sorge. Und wenigstens zu dieser Ansicht brachten die Naziführer die große Mehrheit der Bevölkerung. Für die meisten Deutschen hörten die deutschen Juden vollkommen auf, Landsleute zu sein; die letzten Spuren von Solidarität verschwanden. An die Juden in den von Deutschland besetzten Ländern verschwendete kaum jemand einen Gedanken. Eine Stimmung passiven Gewährenlassens breitete sich aus. Und die Fanatiker, wenn auch nicht zahlreicher als früher, gewannen an Gewicht. Die Zivilbevölkerung und die Wehrmacht waren durchsetzt mit Leuten – gewiß Hunderttausenden, wenn nicht Millionen –, die an den Verschwörungsmythos mit all seinen mörderischen Konsequenzen glaubten und bereit waren, jeden, der daran zweifelte, dem SD zu denunzieren. Es war ein Zustand, der zwar Hitlers Ideal nicht ganz entsprach, aber ihm doch erlaubte, die Vernichtung der europäischen Juden ungestört voranzutreiben.34 Organisiert und im wesentlichen auch ausgeführt wurde die Vernichtung der Juden von den Fachleuten des SD und der SS. Die Mitglieder dieser Organisationen stellten keinen typischen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft dar. Es waren meist Freiwillige, die schon beim Eintritt eine ziemlich gute Vorstellung davon hatten, was man von ihnen verlangen könnte, und die, um überhaupt genommen zu werden, bereits in der Hitlerjugend überdurchschnittliche Begeisterung gezeigt haben mußten. Trotzdem bildeten auch hier die echten Fanatiker eine Minderheit. In den höheren Rängen gab es viele kriminelle Opportunisten, für die das ganze Mordgeschäft nur eine Gelegenheit zum Erpressen und Plündern und eine Chance für beruflichen Aufstieg war. Auch unter den Lagermannschaften waren viele Opportunisten, die einfach eine bequeme, privilegierte Existenz den Gefahren und Härten des Frontlebens vorzogen; daneben fanden sich einige echte Sadisten, die 34
Eine subtile sozialpsychologische Studie über die deutsche Bevölkerung unter dem Nazi-Regime bietet Wanda von Baeyer-Katte, Das Zerstörende in der Politik, Heidelberg 1958.
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danach gierten, schlagen und foltern zu können. Schließlich waren auf allen Rangstufen zahlreiche Konformisten anzutreffen – Menschen, die einfach der Linie des geringsten Widerstandes folgten, die gingen, wohin man sie schickte, und taten, was man sie hieß, ganz mechanisch. Dennoch brauchten alle diese Menschen einen Vorwand für ihr Tun, eine Rechtfertigung, die ihnen zu töten erlaubte, zu töten mit gutem Gewissen. Und auf allen Ebenen des SD und der SS gab es Fanatiker, die eifrig eben solch eine Rechtfertigung propagierten – in Gestalt des Mythos der jüdischen Weltverschwörung. So wurde dieser alte Mythos in seiner Hitlerschen Interpretation Bestandteil der Ideologie des skrupellosesten und leistungsfähigsten Korps professioneller Mörder der ganzen Menschheitsgeschichte. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim stellte fest, daß die SSWachmannschaften in Dachau und Buchenwald uneingeschränkt an die jüdische Weltverschwörung glaubten.35 Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, hielt damals die Ausrottung der Juden für notwendig, «um Deutschland, um unsere Nachkommen für alle Zeit von den zähesten Widersachern zu befreien»; und wenn er später zu der Überzeugung kam, daß die Massenvernichtung ein Fehler gewesen sei, dann nur deshalb, weil sie Deutschland diskreditierte: «das Judentum ist dadurch seinem Endziel [der Weltherrschaft] viel näher gekommen».36 Für viele SS-Leute war der Verschwörungsmythos weit mehr als eine Ideologie oder Weltanschauung; er ergriff vollkommen Besitz von ihrer Psyche und machte sie fähig, beispielsweise kleine Kinder bei lebendigem Leibe zu verbrennen, ohne bewußt Mitleid oder Schuld zu empfinden.37 Nicht weniger als das wurde von diesen Männern auch erwartet. Im Oktober 1943 sagte Himmler in Posen auf einer Tagung hoher SS-Führer: «Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes 35
B. Bettelheim, The Informed Heart, London 1961, S. 226.
36
R. Höß, Kommandant in Auschwitz, München 1963, S. 131/132,153 (TaschenbuchAusgabe dtv). 37
Vergleiche Elie A. Cohen, Human Behavior in the Concentration Camp, übers. V. M. H. Braaksma, New York 1953, S. 273 f.
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und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ... Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.»38 Andere waren weniger zurückhaltend. Im August 1942 besuchten Hitler und Himmler die polnische Stadt Lublin, um mit dem dortigen SS- und SD-Führer, dem Österreicher Odilo Globocnik, Methoden der Ausrottung zu erörtern. Als ein Mitglied von Hitlers Gefolge die Frage aufwarf, ob man die toten Juden nicht lieber verbrennen statt vergraben sollte – «Nach uns könnte eine Generation kommen, die das ganze nicht versteht!» –, erwiderte Gruppenführer Globocnik: «Meine Herren, wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, daß sie unsere große Aufgabe nicht versteht, dann ist allerdings der ganze Nationalsozialismus umsonst gewesen. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß man Bronzetafeln versenken sollte, auf denen festgehalten ist, daß wir den Mut gehabt haben, dieses große und so notwendige Werk durchzuführen.» Hitler pflichtete ihm bei: «Gut, Globocnik, das ist allerdings auch meine Ansicht!»39 Der SS-Arzt Pfannenstiel (zugleich Professor für Hygiene an der Universität Marburg) besuchte einmal das Vernichtungslager Treblinka; die Lager-SS gab ihm zu Ehren ein Bankett, und in seiner Dankesrede sagte der Mediziner: «Ihre Aufgabe ist ein großer Dienst, ein nützlicher und notwendiger Dienst ... Wenn man die Körper der Juden sieht, versteht man die Größe Ihrer guten Arbeit.»40 Das sind außergewöhnliche Worte, und sie bezeichnen ein außergewöhnliches Phänomen. Mitten im zwanzigsten Jahrhundert, im Herzen des zivilisierten Europas hatte sich eine Truppe formiert, die keine Spur von dem aufwies, was man Gewissen und Humanität nennt. Diese Techniker des Völkermords taten ihr Werk freudig, und 38
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947-49, Bd. XXIX, S. 145/146 (Dokument 1919 PS). 39
Niederschrift von Kurt Gerstein, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1. Jg. 1953, S. 189. 40
Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Washington 1949 ff., Bd. I, S. 870. (Niederschrift von Gerstein; aus dem Englischen rückübersetzt. In der in Fußnote 39 genannten Veröffentlichung der Niederschrift sind die Stellen über Pfannenstiel vom Herausgeber weggelassen worden. Anm. d. Übers.)
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diejenigen von ihnen, die sich heute vor deutschen Gerichten verantworten müssen, zeigen auch jetzt keine Reue. Zweifellos trugen viele Faktoren zu dieser Einstellung bei – angeborenes Temperament, Kindheitserlebnisse, spätere Ausbildung. Trotzdem: Um das zu tun, was sie taten, brauchten diese Menschen eine Ideologie, und diese Ideologie lieferten die Protokolle und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung.
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10 Fälscher vor Gericht
1 Schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts rief Monsignore Meurin die Herrscher Europas auf, sich gegen die jüdische Verschwörung zusammenzuschließen. 1906 versuchten Zar Nikolaus II. und Graf Lamsdorff – allerdings vergeblich –, auf eben dieser Grundlage ein Bündnissystem zu errichten. Die «antisemitische Internationale», die diesen Pionieren vorschwebte, sollte eine von den Regierungen getragene Organisation sein und der Unterdrükkung revolutionärer, radikaler, ja auch bloß liberaler Bewegungen in ganz Europa dienen. Die Nazis übernahmen die Idee und gaben ihr einen neuen Inhalt. Wie es scheint, war dies vor allem das Werk des Baltendeutschen Max Erwin von Scheubner-Richter, der für kurze Zeit ein führender Theoretiker der NSDAP war (er wurde 1923 beim Münchner Putsch erschossen, als er Arm in Arm mit Hitler zur Feldherrenhalle marschierte). Da es überall auf der Welt Juden gab, sagte sich Scheubner-Richter, könnte man vielleicht mit Hilfe des Antisemitismus im Ausland Verbündete für den deutschen Nationalsozialismus gewinnen. Anders als seine Vorläufer, der Erzbischof von Port-Louis und der russische Außenminister, war Scheubner-Richter nicht der Meinung, daß diese Bundesgenossen unbedingt Regierungen sein müßten – es konnten ebensogut Revolutionäre von der Rechten sein. Schon in diesem frühen Stadium der Parteigeschichte stößt man auf die dem berühmten Schlußsatz des Kommunistischen Manifests nachgebildete Losung: «Antisemiten aller Länder, vereinigt euch!» Hitler selbst griff die Idee begeistert auf. Tatsächlich propagierten die Nazis den Mythos der jüdischen Weltverschwörung überall in der Welt in der Hoffnung, dadurch den Widerstand gegen 221
ihr eigenes Weltherrschaftsstreben zu schwächen. Und in dieser Kampagne spielten die Protokolle eine wichtige Rolle. Von den drei Büchern, die die heiligen Schriften des Nazismus ausmachten und Millionenauflagen erlebten – Mein Kampf, Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, Protokolle –, wurde nur das letzte für die Auslandspropaganda benutzt. Die Propagierung und Verteidigung der Protokolle außerhalb Deutschlands lag hauptsächlich in den Händen einer Organisation namens Weltdienst, die von dem Oberstleutnant a. D., Ulrich Fleischhauer, geleitet wurde. Fleischhauer, ein Schüler Theodor Fritschs und Freund Dietrich Eckharts, hatte 1919 als Zentrum für antisemitische Propaganda den U. Bodung-Verlag in Erfurt gegründet. Im Jahre 1933, unmittelbar nach der Machtergreifung, empfing Hitler eine Denkschrift, die angeblich von «einigen beherzten Nationalisten aus Holland, Belgien, Luxemburg, der Schweiz, Österreich und Ungarn» stammte und in der vorgeschlagen wurde, eine «technische Hilfsstelle» als Kern einer internationalen antisemitischen Bewegung einzurichten. Aufgabe dieser Stelle sollte es sein, Verbindungen zwischen Antisemiten verschiedener Länder herzustellen und antisemitische «Aufklärung» in der ganzen «arisch-christlichen» Welt zu verbreiten. Der Appell war erfolgreich: Fleischhauers Organisation konnte sich mit offizieller Förderung kräftig ausdehnen, wobei übrigens für mehrere «beherzte Nationalisten» angenehme Posten abfielen. Unter dem Namen Weltdienst erlangte das Erfurter Zentrum in den Jahren bis zum Kriegsausbruch eine gewisse Bedeutung und traurige Berühmtheit. 1937 erklärte es voll Stolz: «Zum ersten Mal in der Weltgeschichte steht dem Judentum eine internationale Gegenorganisation, die Keimzelle eines wahren Völkerbundes, gegenüber ... Unsere Arbeit reicht bis in die fernsten Winkel der Erde.»1 Fleischhauer stritt stets ab, daß der Weltdienst in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zur deutschen Regierung oder zur NSDAP stehe; aber diese Behauptungen, die schon immer mit Recht angezweifelt wurden, sind jetzt als falsch erwiesen. Der Weltdienst wurde in den Jahren 1933-1937 vom Propagandaministerium subventioniert, von 1937 an vom Außenpolitischen Amt der NSDAP unter Rosenberg. Diese Unterstützung ermöglichte es ihm, Propaganda in 1
Über den Weltdienst siehe L. W. Bondy, Racketeers of Hatred, S. 66-105; Z. A. B. Zeman, Nazi Propaganda, S. 72/73; und O. J. Rogge, The Official German Report, New York 1961, bes. S. 76-78. (Die Zitate wurden aus dem Englischen rückübersetzt.)
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vielerlei Formen zu betreiben. Er veröffentlichte eine halbmonatlich erscheinende Korrespondenz, die gleichfalls Weltdienst hieß und am Kopf jeder Nummer ihr Ziel verkündete, «die schlechtorientierten Nichtjuden aufzuklären – welchen Staat auch immer sie ihr Vaterland nennen mögen. Diese Informationen über das Treiben der jüdischen Unterwelt gehören daher zum geistigen Rüstzeug jedes Nichtjuden.» Diese Publikation erschien in mehreren Sprachen2, ebenso wurden die verschiedenen antisemitischen Broschüren, die sie ergänzten, in mehreren Sprachen veröffentlicht. Der Weltdienst organisierte auch internationale Konferenzen, die im Gegensatz zu den von Julius Streicher veranstalteten geheim tagten; auf der Erfurter Konferenz 1937 waren nicht weniger als zweiundzwanzig Länder vertreten. Das Ziel dieser ganzen Aktivität war die Schaffung eines internationalen Netzes fanatischer Antisemiten, zusammengehalten durch den blinden Glauben an die Protokolle und die jüdische Weltverschwörung Zwei sensationelle Prozesse, der eine in Südafrika, der andere in der Schweiz, ließen schon 1934/35 erkennen, was im Gange war. Im Juli und August 1934 verhandelte ein Gericht in Grahamstown in Südafrika über eine Zivilklage des Rabbiners Abraham Levy von der Western-Road-Synagoge in Port Elizabeth gegen drei Führer der «Grauhemden-Bewegung», einer faschistischen Organisation. Die drei Männer, Johannes von Strauss von Moltke, Harry Victor Inch und David Hermannus Olivier, wurden beschuldigt, ein verleumderisches Dokument vom Typ der Protokolle veröffentlicht zu haben. Der Prozeß erregte in Südafrika großes Aufsehen. Seine politische Bedeutung wurde von den Beklagten selbst unterstrichen, die in Uniform vor Gericht erschienen. Und unmittelbar vor Beginn des Prozesses veröffentlichte das Grauhemden-Blatt Die Waarheid lange Auszüge aus den Protokollen.3 Das inkriminierte Dokument war in zwei politischen Versammlungen vorgelesen und in der von Olivier redigierten Zeitung Die 2
Während des Krieges stieg die Zahl von einem halben Dutzend auf achtzehn. Aber inzwischen war Fleischhauer seines Postens enthoben und seine Organisation dem parteiamtlichen «Institut zur Erforschung der Judenfrage» in Frankfurt angegliedert worden. 3
Die Waarheid nannte sich «Offizielles Organ der Südafrikanischen Nationalen Partei mit den angeschlossenen Verbänden Südafrikanische Völkische Nationalsozialistische Bewegung und Südafrikanische Grauhemden». Auszüge aus den Protokollen brachte das Blatt in seiner Ausgabe vom 1. Juni 1934.
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Rapport abgedruckt worden. Ähnlich wie die Protokolle enthielt es einen angeblichen Plan für die Errichtung der jüdischen Weltherrschaft, aber an Roheit und Sadismus übertraf es alle früheren antisemitischen Fälschungen; es spiegelte getreu das neue Zeitalter wider, das mit dem Machtantritt der Nazis begonnen hatte.4 Der Schluß des Dokuments vermittelt einen Eindruck vom Stil des Ganzen: Wir werden das Publikum dazu verleiten, noch tausendmal mehr als bisher an das Prinzip «Leben und leben lassen» zu glauben. Wir werden es mit so viel Unsinn füttern, wie in die morschen dreckigen Köpfe hineingeht. Hitler, der wahnsinnige Göring, von Papen und die anderen Wahnsinnigen mit ihren Truppen aus dem Irrenhaus (nämlich den Braunhemden) haben Verwüstungen und Verbrechen gegen die Zivilisation begangen, die wir aufgebaut haben. Sie haben unsere Frauen geschändet, unsere Alten ermordet, unsere Synagogen bombardiert und gesprengt, unsere Kinder ihren Jagdhunden vorgeworfen, unsere Kleinen auf glühenden Kohlen tanzen lassen, bis sie verbrannten. Unsere Männer haben sie in den Korridoren unserer Klubs Spießruten laufen lassen und auf die Laufenden eingeschlagen ... Brüder, seit zahllosen Jahrhunderten werdet ihr verachtet und gehaßt, aber bald werden die Rassen der Erde eure Füße küssen und euch huldigen; sie sollen sich vor dir verneigen und dich preisen. Sie sollen dich um Gnade bitten und du sollst sie verweigern. Sie sollen anerkennen, daß du der Erwählte, der Unfehlbare bist. Unser gewählter Führer wird der erste Herrscher über die ganze Erde sein. Die kommunistische Welt. Und endlich werden der Talmud Torah und die Prophezeiungen erfüllt sein. Ich darf sagen, daß wir an der Schwelle stehen. Bei eurem Leben, befolgt diese Weisungen; sagt vom Inhalt dieser Blätter keinem ein Wort, auch nicht euren Angehörigen. Ihr kennt unser Gesetz. Ihr kennt das Ergebnis ... ERLASSEN VOM ERWAEHLTEN HOHEN ZIRKEL DES SICHERHEITSKOMITEES FUER ANTI-NAZI-PROPAGANDA C. X. V. O. 3838, AUSSCHLIESSLICH ZUM GEBRAUCH DES BEVOLLMAECHTIGTEN UND DER SECHS RATSMITGLIEDER. RABBI 4
Der Inhalt des Prozesses wird resümiert in dem Urteil, das Sir Thomas Graham und Richter Gutsche am 21. August 1934 verkündeten. Der vollständige Text des Urteils wurde als Broschüre veröffentlicht: Judgment, Grey Shirt Libel Action at Grahamstown, Grahamstown, 64 Seiten. Das gefälschte Dokument ist dort S. 5-8 abgedruckt.
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Erwähnenswert sind auch Victor Inchs Angaben über die Herkunft des Dokuments. Er behauptete, von zwei Jungen, die die Juden inzwischen hätten «verschwinden lassen», seien ihm gestohlene jüdische Briefe übergeben worden. Diese Briefe hätten ihn auf die Spur der Verschwörung gebracht. Er sei in die Western-Road-Synagoge eingebrochen und habe dort das Dokument auf einem Tisch liegend gefunden. Natürlich stellten die Richter ohne große Mühe fest, daß diese Geschichte erfunden war. Aber während Inch ein Lügner war, hatte sich David Olivier wirklich täuschen lassen. Er war überzeugt, daß Inch und von Moltke mit dem Dokument in ihrem Besitz in Lebensgefahr seien; einmal hatte er sogar hundertfünfzig Farmer zusammengetrommelt, um von Moltke zu befreien, den er von den Juden entführt glaubte. So repräsentierten die Beschuldigten eben jene Mischung von Schurkerei und Leichtgläubigkeit, die charakteristisch für die ganze antisemitische Internationale war. Und so erschien es auch den Richtern von Grahamstown: Sie verurteilten Olivier nur zu einer Geldstrafe von 25 Pfund, dagegen von Moltke zu 750 und Inch zu 1.000 Pfund. Gegen Inch wurde außerdem ein Strafverfahren wegen Meineids, Verbreitung gefälschter Dokumente und anderer Delikte eingeleitet; er wurde zu sechs Jahren und drei Monaten Zwangsarbeit verurteilt.
2 In den Berner Prozeß von 1934/35, der weltweite Beachtung fand, war der Weltdienst direkt verwickelt. Aufschluß über die Hintergründe geben Korrespondenzen, die in der Wiener Library aufbewahrt werden. Weit besser als alle Propagandaliteratur zeigen uns diese vertraulichen Briefe das innere Leben der antisemitischen Internationale – den echten Irrglauben wie die berechnende Unredlichkeit, den heftigen internen Konflikt wie die grundsätzliche Gemeinsamkeit der Zielsetzung. Es scheint der Mühe wert, einige dieser seltsamen Dokumente der Vergessenheit zu entziehen. Die Geschichte beginnt ein paar Monate nach Hitlers Machtantritt. Am 13. Juni 1933 veranstaltete eine schweizerische antisemitische Organisation, die Nationale Front, in Bern eine Kundgebung; dabei wurde Propagandamaterial verkauft, unter anderem auch Exemplare der 13. Auflage von Theodor Fritschs Ausgabe der Proto225
kolle. Die Israelitische Kultusgemeinde Bern und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund benutzten die Gelegenheit, um die Unechtheit der Protokolle vor Gericht zu erweisen. Wegen Verstoßes gegen ein Gesetz, das den Druck, die Veröffentlichung und den Verkauf von Schundliteratur verbot, erhoben sie Klage gegen fünf Personen, die teils der Nationalen Front, teils dem Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen angehörten. Die prominentesten Beschuldigten waren Theodor Fischer, der Redakteur der antisemitischen Zeitung Eidgenossen, und ein Musiker namens Silvio Schnell. Das Berner Gericht bestellte einen Sachverständigen für die Protokolle und forderte die Parteien auf, auch ihrerseits je einen Sachverständigen zu benennen. Die Beklagten waren begreiflicherweise gar nicht für die Anhörung von Sachverständigen und brachten auch zunächst keinen bei, nachdem ihr Einspruch abgewiesen worden war. Schließlich benannten sie einen deutschen Pastor, der aber nicht aufzufinden war. Als das Hauptverfahren endlich im Oktober 1934 eröffnet wurde, über ein Jahr nach den auslösenden Vorfällen, waren noch immer nicht die geforderten drei Sachverständigen da, sondern nur zwei; es hatte sich niemand gefunden, der bereit war, ernsthaft die Echtheit der Protokolle zu verteidigen. Ähnlich stand es um die Zeugen. Die Kläger boten eine imposante Schar von Zeugen auf, darunter Chaim Weizmann, der über die Ziele des Zionismus sprach, den Franzosen du Chayla und die nichtjüdischen Russen Burzew, Swatikow und Nicolaevsky, die viel dazu beitrugen, die dunkle und verwickelte Geschichte der Protokolle aufzuhellen. All dem hatten die Beklagten nichts entgegenzusetzen als einen einzigen Zeugen, der lediglich erklärte, die Protokolle seien nicht das einzige Dokument ihrer Art – es gebe ja auch noch die «Rede des Rabbiners» –, und daher müßten sie echt sein. Alles in allem waren die Beklagten in einer so bedrängten Situation, daß sie beschlossen, sich nun doch noch nach einem Sachverständigen umzusehen. Sie erbaten zu diesem Zweck einen Aufschub, und der Prozeß wurde bis Ende April 1935 vertagt. Von diesem Augenblick an hörten die Beklagten und ihr Anwalt auf, die Hauptrollen zu spielen; an ihre Stellen traten ein gewisser Ulrich von Roll, prominentes Mitglied der Nationalen Front und Gauleiter des Kantons Bern, und vor allem ein undurchsichtiger Mann namens Boris Toedtli. Zwei Jahre später, im November 1936, durchsuchte die Schweizer Polizei Toedtlis Haus in Bern. Sie fand dort Briefe, die zur Verhaftung Toedtlis wegen Spionageverdachts 226
führten. Diese Briefe geben Einblick in die Manöver, die die schweizerischen Nazis und der Weltdienst hinter den Kulissen des Berner Prozesses vollführten. Der Prozeß wurde am 31. Oktober vertagt. Am 19. November tat Ulrich von Roll einen folgenschweren Schritt. Er sandte an die Regierungsleitung der NSDAP im Braunen Haus zu München folgende Bitte um Hilfe: «... Wäre es vielleicht gar möglich, von Ihnen einen Sachverständigen zu erhalten, der uns zunächst bloß an die Hand gehen würde, später aber auch vielleicht als eigentlicher Zeuge uns zur Verfügung stehen würde? ... Glauben Sie nicht, daß Ihre Mitwirkung auch für Sie selbst, respektive für die von der NSDAP vertretenen Ideen von Interesse oder gar Wichtigkeit sein wird?»5 Von Rolls Initiative brachte Resultate: Binnen weniger Wochen war die Verbindung mit Fleischhauer in Erfurt hergestellt. Sogleich erhielt das Unternehmen einen Anflug von Illegalität: In der Korrespondenz werden alle Beteiligten, Deutsche, Schweizer und Russen, nur noch unter Decknamen genannt. Dieses konspirative Verhalten wird begreiflich, wenn man erfährt, daß die Schweizer Nazis nicht bloß den Rat von Fachleuten suchten. Am 16. Januar 1935 schrieb Ulrich von Roll an Fleischhauer: «Entweder erhalten Sie eine offizielle Devisenausfuhrerlaubnis – dann können Sie das Geld geradesogut uns direkt nach Bern zustellen als nach Basel oder Solothurn. Oder aber irgend jemand bringt das Geld über die Grenze – dann kann es in Basel oder sonstwo genausogut auf unser Postscheckkonto einbezahlt werden als auf irgendein anderes ...» Schon bald bereute von Roll diese Wendung der Dinge. Am 21. Februar machte er seinem Ärger in einem Brief an einen der Beklagten Luft: «In meinen Augen ist es bedauerlich, daß wir alle so sehr von Erfurt abhängen – speziell in finanzieller Hinsicht. Sicherlich wäre man dort drüben auch etwas bescheidener und zugänglicher, wenn sie nicht genau wußten, wie sehr wir eben von ihnen abhängen ...» Der Weltdienst war nach Kräften bemüht, seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Schweiz zu verschleiern: Das Geld wurde im Namen eines «internationalen Komitees» geschickt. 5
Fotokopien der hier abgedruckten Korrespondenz von Rolls befinden sich in File 83 des Archivs der Wiener Library.
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Offenbar argwöhnte von Roll – mit Recht –, daß dieses Komitee gar nicht existierte, und er muß seinen Verdacht auch geäußert haben.6 Jedenfalls erhielt er von Fleischhauer eine äußerst arrogante Zurechtweisung: «Ich bin restlos erstaunt und finde überhaupt keine Worte über Ihre Forderung, Ihnen zuerst den Namen des für das Komitee verantwortlichen Herrn mitzuteilen. Ich habe ja schon mancherlei erlebt, aber derartige ... – ich finde überhaupt kein parlamentarisches Wort – ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen. Was wollen Sie mit den Namen der für das Komitee Verantwortlichen? Seien Sie zufrieden, daß das Komitee vorhanden ist. Sie schreiben ferner: ‹... mag sein, daß Herr Farmer7 diese Rolle spielt.. .› Ich bemerke dazu: 1.bei uns wird überhaupt nicht gespielt; 2.bei uns wird keine ‹Rolle gespielt›; 3.bei uns wird gearbeitet für die große Sache; 4.bei uns gibt es keine Stänkereien und keine unerhörten Fragen; 5.bei uns gibt es nur ehrliche, zielbewußte Arbeit; 6. wir werden uns durch derartige Fragen, wie die Ihrigen, nicht mehr stören lassen und Briefe überhaupt nicht mehr beantworten; 7.Farmer gehört nicht zum Komitee.» So erfuhr von Roll, was es kostete, Hilfe von Nazi-Deutschland anzunehmen. Er war auf seine Art ein Schweizer Patriot, und im Unterschied zu manchen extremen Schweizer Nazis fiel ihm die von Erfurt geforderte totale Unterwerfung nicht leicht. In seiner Verzweiflung wandte er sich um Hilfe an die in Locarno-Monti lebende Prinzessin Karadja, die Mutter des rumänischen Generalkonsuls in Berlin. Die Prinzessin war selbst wohlhabend; vor allem aber hatte sie reiche Freunde, die sie bei verschiedenen antisemitischen Projekten unterstützten. Ihre Schöpfung war der «Arische Schutzbund», der sich als anglo-amerikanische Organisation ausgab. Ihre Konzeption dieses Bundes schilderte sie von Roll am 8. Februar in einem 6
Nach dem Krieg wurde festgestellt, daß das deutsche Propagandaministerium über den Weltdienst 30.000 Mark für den Berner Prozeß ausgegeben hatte. (Siehe Rogge, The Official German Report, S. 77.) 7
Farmer ist ein Deckname für Pottere, einem leitenden Mitarbeiter der Erfurter Organisation.
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Brief, der in seiner Mischung von verblasenem Idealismus und gewollter Blindheit vollkommen die politische Haltung ungezählter Nazis ausdrückt: «Ich arbeite nicht nur für den Prozeß, aber für die Bewegung im allgemeinen. Meine Absicht ist, ehe ich sterbe, (wenn Gott mir diese Gnade beweist) Verbindung anzuknüpfen zwischen den Leuten in allen Ländern womit ich in Verbindung stehe, so daß sie miteinander arbeiten können, wenn ich verschwunden bin. Ich wünsche eine ‹Fassade› zu bauen, ganz weiß und licht und strahlend. Es muß gar nichts Verdächtiges dabei sein. Gar nichts Geheimes. Ich verlange keine Gelübde und zeige kein Mißtrauen ... ABER weiter als die Vestibüle wird kein Mensch dringen!!! (Was in den hinteren Räumen passiert, das wünsche ich gar nicht zu wissen. Das müssen liebe Leute, wie Sie, und andere nach dem eigenen Kopf arrangieren! Ich bin ‹die linke Hand› und will nicht wissen, was die rechte macht.) Ich glaube, Sie werden mit dieser Politik einverstanden sein? Ich glaube wirklich, daß es für unsere Sache sehr wichtig wäre, eine schöne Fassade und Vestibül zu besitzen, glauben Sie nicht? Darum fühle ich nicht, daß ich etwas mit ‹Zerstörung› zu tun habe. Die sich damit beschäftigen, müssen natürlich ihre Absichten geheimhalten. Sie müssen aber einander kennen und sich der Zuverlässigkeit Ihrer Mitarbeiter versichern. Jedes Komitee, das mit der Liga in Verbindung steht, muß volle Autonomie besitzen. Die Fassade kann keine Verantwortung für die verschiedenen Gruppen übernehmen. Ich muß gestehen, daß ich wirklich glücklich und stolz bin über das, was ich schon erreicht habe in dieser kurzen Zeit.» Am 1. März schrieb von Roll an die Prinzessin in der vergeblichen Hoffnung, beim Arischen Schutzbund eine neue Geldquelle zu finden: «Meine Stellung ist natürlich besonders deshalb so schwierig, weil ich außer von Erfurt kein Geld erhalten habe ... Es ist in meinen Augen geradezu eine Dummheit, wenn Erfurt, so wie es sich dies offenbar zum Ziel gesetzt hat, einfach alles diktieren will. Damit wird unser schweizerischer Prozeß zu einer deutschen Angelegenheit, und dies ist nun einmal für die Schweiz einfach unmöglich. Aber es ist merkwürdig – man sieht dies in Deutschland einfach nicht ein. Man gibt vor, ein internationales Komitee zu sein, das mit Deutschland überhaupt nichts zu tun hat und das ohne weiteres berufen ist, den ganzen Prozeß so zu führen, wie es ihm paßt ... 229
Meine hiesigen Mitarbeiter geben mir zwar in all dem vollkommen recht, sind aber der Ansicht, daß wir eben als die Schwächeren dem Stärkeren (nämlich Erfurt) nachgeben müssen, weil wir von dort abhängig sind. Aus diesem Grunde finde ich auch nirgends die nötige Unterstützung ... Ich will verhindern, daß wir hier zu einer Filiale Erfurts, des Nationalsozialismus oder Deutschlands werden.» Mit solchen Skrupeln war von Roll seinem Kollegen Boris Toedtli nicht gewachsen. Wie Toedtli über von Roll dachte, geht aus einem Brief hervor, den er am 9. März an den Beklagten Silvio Schnell schrieb: «Was v. R. anbelangt, so habe ich noch selten so etwas Gemeines gesehen. G. hat mir gestern seine Abrechnung gezeigt. Ein purer Schwindel! ... Laß ihn schreiben. Ich an Deiner Stelle würde ihm überhaupt nicht antworten, es ist schade um die Post! Er mischt sich immer noch in unsere Sachen, man sollte ihn endlich mal ganz abschütteln können. Er macht nur immer wieder Verwirrungen mit seinem Geschwätz.» Toedtli war, anders als von Roll, nicht gehemmt durch irgendwelche Gefühle der Loyalität gegenüber der Schweiz; er stellte sich Erfurt bedingungslos zur Verfügung. Nach Abschluß des Berner Prozesses – die Berufung schwebte noch – schrieb er zwei außerordentliche Briefe an Fleischhauer. Der erste, vom 6. Oktober 1935, lautet: «Schnell schreibt mir, daß man ihn und mich überall beschuldigt, in deutschen Diensten zu stehen und bei den jetzigen herrschenden Ansichten und Zuständen in der Schweiz bedeutet das den moralischen Tod. Wenn diese Beschuldigungen auch nicht in direktem Sinne wahr sind, so kämpfen wir doch in erster Linie zur Unterstützung Deutschlands im Kampf gegen die dunkeln Mächte.» Der andere Brief, datiert vom 5. Juli 1936, enthält folgende Passage: «Herr Ruef8 riet mir, ich soll Ihnen schreiben und Sie um Entlohnung meiner Arbeiten bitten. Er denkt, daß die deutsche Devisenstelle doch verstehen wird, daß wir in erster Linie für Deutschland kämpfen und deshalb auch einen Gegendienst beanspruchen dürfen.» Das sind seltsame Gesinnungen für einen Schweizer von Geburt und Abstammung. Sie werden verständlicher, wiewohl nicht lobenswerter, wenn man erfährt, welches Leben Boris Toedtli hinter sich 8
Rechtsanwalt der Beklagten.
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Informationen über Toedtli, darunter die Darstellung seines Lebenslaufs, die er der Schweizer Polizei gab, befinden sich in File 77 des Archivs der Wiener Library.
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hatte.9 Seine Eltern waren beide Schweizer, verbrachten aber viele Jahre ihres Lebens in Rußland; er selbst wurde 1896 in Kiew geboren. Als junger Mann kämpfte er im Weltkrieg und dann im Bürgerkrieg, natürlich auf der Seite der «Weißen», die ihn zum Offizier machten. Er verlor bei einer Explosion sein Gehör, wurde von den Bolschewiki gefangengenommen und wäre beinahe an Typhus gestorben. Unterdessen war die Fabrik seines Vaters konfisziert worden. Der Familie wurde schließlich die Ausreise in die Schweiz gestattet, aber finanziell erholte sie sich nicht wieder. Boris Toedtli wurde Fotograf, vermochte damit jedoch nicht seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er versuchte es mit anderen Berufen, scheiterte darin gleichfalls und lag zur Zeit seiner Verhaftung noch seinen Eltern und Schwiegereltern auf der Tasche. 1933, als in der Schweiz Bewegungen von nazistischem Typ auftauchten, trat er erst der einen und dann der anderen bei. In der Nationalen Front wurde er Stellvertreter des Gauleiters von Roll – den er, wie wir gesehen haben, zu verdrängen suchte. Das Bild ist vertraut. Wie so viele Nazis war Toedtli ein Deklassierter mit unerfüllten Ambitionen nach einer bürgerlichen Karriere. Und wie so viele «weiße» Russen sehnte er den Tag herbei, an dem Rußland die «jüdisch-freimaurerische Tyrannei» abschütteln würde. «Ich bin Antisemit aus persönlicher Erfahrung», sagte er. «Dies ist die Erklärung für mein gesamtes Verhalten ... Meine Familie und ich haben in Rußland alles und jedes verloren. Schuld daran war allein der Jude, nicht etwa das russische Volk.» Mit seinen Frustrationen, seinen Ressentiments, seiner politischen Unbildung war Toedtli in der Tat ein idealer Vorkämpfer für die Protokolle. Ein Jahr nach dem Berner Prozeß sandte der Führer der Allrussischen Partei, Rodsajewski, aus seinem Hauptquartier in Charbin an Toedtli ein Dokument, in dem er ihn zu seinem Vertreter für Europa ernannte. Er machte ihn weisungsberechtigt gegenüber den regionalen Führern in Frankreich, Belgien, England, Italien, Algerien, Marokko und dem Kongo und erteilte ihm spezielle Vollmachten, mit den deutschen Behörden zu verhandeln. Diese Ernennung verschaffte Toedtli einige Wirkungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Spionage und des Terrorismus, war aber zugleich sein Verderben, 10
Toedtli wurde verhaftet, ehe er viel Schaden anrichten konnte, und seine Strafe war dementsprechend gering: zwei Monate Gefängnis und neun Zehntel der Kosten. Um die Gefängnisstrafe nicht verbüßen zu müssen, floh er nach Deutschland; aber durch den deutsch-russischen Pakt sah er sich im Dezember 1939 genötigt, Deutschland zu verlassen und in die Schweiz zurückzukehren. Dort wurde er sofort verhaftet. Er starb während des Krieges.
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denn sie führte zu seiner Verhaftung durch die Schweizer Polizei.10 Toedtli hatte freilich schon lange vorher Kontakt mit «weißen» Russen in Paris und Jugoslawien gehabt. Im Winter 1934/35, während von Roll seine unerquicklichen Verhandlungen mit Erfurt führte, korrespondierte Toedtli mit ehemaligen zaristischen Generälen und Obersten, Mitgliedern der Schwarzen Hundertschaften und dergleichen. Sein Ziel war, diese Leute als Zeugen für die beklagte Partei zu gewinnen. Die finanzielle Abhängigkeit der Schweizer Nazis von Deutschland, die von Roll so bedrückte, wurde in der Hauptsache durch diese Manöver seines Rivalen Toedtli verursacht. Die «weißen» Russen brauchten Visa, Pässe, Unterkunft, Fahrgeld, manche bekamen außerdem noch Spesen; und all das bezahlte der Weltdienst oder vielmehr das deutsche Propagandaministerium. Die Antworten, die Toedtli von den verschiedenen «weißen» Russen erhielt, wurden von einem Mitarbeiter des Weltdienstes, Jonak von Freyenwald, aufbewahrt und befinden sich jetzt in der Wiener Library.11 Einige davon sind noch heute von Interesse; denn da sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, offenbaren sie sehr direkt und naiv die großen Illusionen, die in diesen Kreisen herrschten. Einige der «weißen» Russen wußten ganz genau, daß die «Weisen von Zion» nicht existierten – aber das machte ihnen nichts aus, sie glaubten trotzdem an die Verschwörung, von der die Protokolle handeln. So schrieb am 4. November 1934 General Krasnow an Toedtli: «Ich muß Ihnen sagen, daß Ihre Sache außerordentlich schwierig ist, und zwar aus folgendem Grund. Die Protokolle von Zion sind apokrypt, was ihre Form anbetrifft; d. h. sie wurden von Nilus zusammengestellt, aber auf der Grundlage genauer jüdischer Beschlüsse. Daher werden die Jidden, formal gesehen, immer im Recht sein, denn strenggenommen gab es keine ‹Protokolle›; es gab einzelne Beschlüsse, die die Jidden zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten publizierten und die Nilus unter dem Titel ‹Protokolle von Zion› zu einem einzigen Ganzen zusammenfügte. Ich kann nicht sagen, weshalb Nilus diese Form der Veröffentlichung wählte. Vielleicht tat er es, um ihnen eine größere Verbreitung zu verschaffen, um weitere Leserkreise für sie zu interessieren. Aber damit gab er den Juden für alle Zeiten ein Schlupfloch – sie können auf diese Weise nicht nur die Echtheit der Protokolle leugnen, sondern auch die Echtheit dessen, was darin geschrieben steht. Das Gericht küm11
In File I der Freyenwald Collection.
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mert sich nicht um den wesentlichen Inhalt der Protokolle, es befindet lediglich über die nackte Tatsache – ‹Protokolle› dieser Art haben nicht existiert, und das genügt.» Der berüchtigte Markow II – Nikolai Jewgenjewitsch Markow, ein ehemaliger rechtsstehender Duma-Deputierter und führender Mann im «Bund des Russischen Volkes» – argumentiert in einem Brief vom 5. November noch gewundener: «... übrigens, alle Fragen vor dem Gericht bezogen sich darauf, wer und wann die Protokolle verfaßt hat. Niemand hat sie verfaßt, denn sie sind ein Produkt der Arbeit einer tausendjährigen Weltverschwörung, ein Programm, das viele und viele entworfen haben, das ständig in den Mitteln seiner Verwirklichung wechselte, das aber in seinem Wesen eigentlich war: der Messianismus, das Streben nach Weltbeherrschung und Unterwerfung der Menschheit ...» Einen erstaunlichen Vorschlag enthielt ein Brief aus Belgrad vom 1. Januar 1935, unterzeichnet von I. Lanskoi: «Es ist sehr wichtig, genau die Reise zu untersuchen, die Nahum Sokolow12 auf dem Rückweg vom Baseler Kongreß im Jahre 1897 machte. Es ist notwendig, seine Route zu überprüfen: Welche Eisenbahnlinien benutzte er, wo machte er Station, und wohin ging er? Überschritt er die russische Grenze, und wo? Ich weiß die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe wohl zu würdigen, aber ich glaube, ein erfahrener Detektiv würde sie nicht als unlösbar ansehen.» Kein Wunder, daß von Roll angesichts solcher Anstrengungen und der ständigen Intrigen Toedtlis eine heftige Abneigung gegen die «weißen» Russen faßte. Am 28. Januar schrieb er (ausgerechnet) an Markow II: «Die Russen sind die Schlimmsten von allen ... sie übertreiben die Dinge dermaßen, daß man manchmal am liebsten alles hinwerfen möchte. Nein, das macht wirklich keinen Spaß; mit unseren Gegnern zu kämpfen ist nicht so schwer wie mit unseren Mitarbeitern. Man muß wirklich jung sein und gute Nerven haben.»13 12
Nahum Sokolow (1861-1936), ein polnischer Jude, war eine führende Gestalt des frühen Zionismus. Von 1920 an war er Präsident des Vorstandes der zionistischen Organisation, und von 1921 an präsidierte er allen zionistischen Kongressen. Von Russisch-Polen aus besuchte er 1897 den ersten Zionistenkongreß in Basel – daher diese Spekulation. 13
Abschrift in File 19 der Freyenwald Collection.
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Ein Resultat hatte all diese Aktivität immerhin: Die beklagte Partei konnte endlich den vom Gericht verlangten Sachverständigen namhaft machen. Sie benannte Ulrich Fleischhauer, und das Gericht akzeptierte ihn, obwohl er als Verleger und Verbreiter antisemitischer Literatur bekannt war. Er tat sich, wenn nicht durch Gelehrsamkeit, so doch durch Eifer hervor. Von den Sachverständigen wurde natürlich erwartet, daß sie jeden Kontakt mit den Zeugen vermieden: Das hinderte aber Fleischhauer nicht, mehrere «weiße» Russen nach Erfurt einzuladen und dort mit ihnen die Aussagen, die sie machen sollten, einzustudieren. Das war allerdings Zeitverschwendung14, weil am Ende das Gericht gar keinen der «weißen» Russen als Zeugen vernahm – was vielleicht zu bedauern ist, denn so konnten spätere Herausgeber der Protokolle bis zum heutigen Tag immer wieder behaupten, in Bern sei keine Gelegenheit gewesen, die Beweise für die Echtheit der Protokolle ordnungsgemäß vorzulegen. In Wirklichkeit wurden diese «Beweise» in größter Ausführlichkeit von Fleischhauer vorgelegt: Er unterbreitete dem Gericht ein Gutachten von 416 Druckseiten Umfang und machte mündliche Aussagen, die sechs Tage in Anspruch nahmen.15 Um das Niveau zu würdigen, auf dem sich Fleischhauers Argumente bewegten, braucht man nur zu studieren, was er über Maurice Joly und den Dialogue aux Enfers sagte. Er konnte nicht leugnen, daß die Protokolle zum großen Teil aus dem Dialogue abgeschrieben waren; so machte er sich die These zu eigen, die zuerst Lord Alfred Douglas 1921 vorgebracht hatte: Maurice Joly sei Jude gewesen, und sein Buch sei, ungeachtet seiner äußeren Gestalt, eine verschlüsselte Darlegung des jüdischen Weltherrschaftsplans. Joly entstammte zwar einer katholischen Familie, und in seiner Ahnenreihe, soweit bekannt, gab es weder auf väterlicher noch auf mütterlicher Seite Juden – aber hatte nicht der Freimaurer Gambetta die Trauerrede an seinem Grab gehalten, 14
Außer für Markow II: Er erhielt eine Dauerstellung als Leiter der russischen Abteilung des Weltdienstes. Andere «weiße Russen» hatten weniger Glück; aufgrund der Enthüllungen, die Toedtlis Festnahme folgten, wurden viele von ihnen aus Frankreich ausgewiesen. 15
Nach dem Krieg erbeutete Dokumente zeigen, daß das Gutachten größtenteils von anderen, namentlich von Pottere, für Fleischhauer geschrieben wurde. Es erschien auch in Buchform: Ulrich Fleischhauer, Die echten Protokolle der Weisen von Zion. Sachverständigengutachten, erstattet im Auftrage des Richteramtes V in Bern, Erfurt 1935.
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war das nicht Beweis genug? Falls das jedoch nicht genügte, hatte Fleischhauer noch einen weiteren Beweis anzubieten. Er hatte entdeckt, daß eine Gestalt in Theodor Herzls Rorhan Alt-Neuland Joe Levy hieß. Nun braucht man, um den Namen Joly zu erhalten, nur das «e» aus Joe und das «ev» aus Levy wegzulassen – eine Prozedur, die, so meinte er, «wahrscheinlich irgend etwas Geheimes für die Juden zu bedeuten habe».16 Begreiflicherweise konnte das Gericht mit diesen Spekulationen nichts anfangen, aber das hinderte Fleischhauer nicht, sie noch lange nach Abschluß des Prozesses fortzusetzen. Und damit stand er nicht allein. Es muß ihm eine große Genugtuung gewesen sein, als er unter dem Datum des 6. Februar 1937 folgende Mitteilung von einem italienischen Baron erhielt, der Abonnent des Weltdienstes war: «Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, daß alle Jolys glühende Revolutionäre waren. Und was für Revolutionäre! Die Polizei des Vatikanstaates betrachtete sie als eine wahre Pest und als Sendboten des Teufels.» Allerdings waren die Informationen des Barons über diese geheimnisvollen Wesen nicht sehr gründlich. «Mein Material», gab er zu, «ist ziemlich gering; es besteht aus Familien-Überlieferungen und einigen kurzen Studien.» Der Berner Prozeß endete am 14. Mai 1935. Richter Meyer kam zu der Feststellung, daß die Protokolle zum großen Teil aus Jolys Buch abgeschrieben und daß sie Schundliteratur seien; er verurteilte die zwei Hauptbeklagten zu einer Geldstrafe. Sein Kommentar hätte kaum schärfer sein können. «Ich hoffe», sagte er, «es werde die Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich im Jahre 1935 beinahe ein Dutzend sonst ganz gescheiter und vernünftiger Leute vierzehn Tage lang vor einem bernischen Gericht über die Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten Protokolle die Köpfe zerbrechen konnten ..., die ... doch nichts anderes sind als ein lächerlicher Unsinn.»17 Und als Fleischhauer für seine Expertendienste ein Honorar von 80.000 Schweizer Franken verlangte, bewilligte ihm das Gericht nur ein Zehntel dieser Summe. 16
Der Berner Prozeß um die «Protokolle der Weisen von Zion», Bulletin Nr. 6. (Dies ist eine Serie von Bulletins über den Verlauf des zweiten Abschnitts des Prozesses, April-Mai 1935. Ein Exemplar befindet sich in der Wiener Library.) 17
E. Raas und G. Brunschvig, Vernichtung einer Fälschung. Der Prozeß um die erfundenen «Weisen von Zion», Zürich 1938, S. 57/58.
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Damit war die Sache jedoch nicht abgeschlossen. Die Beklagten legten Berufung ein, und im Herbst 1937 wurde der Fall nochmals vor dem Obergericht in Bern verhandelt. Am l. November entschied das Gericht, die Protokolle seien nicht unzüchtig, und das Gesetz über Schundliteratur könne nicht auf sie angewandt werden; das Urteil der ersten Instanz wurde aufgehoben. Spätere Herausgeber der Protokolle haben daraufhin behauptet, das Obergericht habe es abgelehnt, sich zur Frage der Echtheit der Protokolle zu äußern. In Wirklichkeit bezeichnete das Gericht die Protokolle als Schund und erklärte, sie dienten einzig und allein dem politischen Zweck, die Juden verhaßt und verächtlich zu machen; es sei zu fragen, ob nicht im Interesse der sozialen Harmonie Mittel und Wege gefunden werden sollten, solche «absolut ungerechten und unqualifizierbaren Beschimpfungen und Besudelungen» zu verbieten. Auch verweigerte das Gericht den Beklagten die Zahlung von Schadenersatz mit der Begründung: «Wer aber solche Hetzartikel gemeinster Sorte in Verkehr setzt, muß die ihm daraus entstehenden Kosten selber tragen.»18 Mit dem Berner Prozeß wurde das erreicht, was vernünftigerweise zu erwarten war: Die Protokolle stellten sich als eine Fälschung heraus, deren Zweck es war, zu Verfolgungen und Massakern anzustiften; und Hunderte von Zeitungen in aller Welt berichteten ausführlich über die Verhandlungen, in denen das geschah. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß dies auf die Nazis und ihre Komplizen überhaupt keinen Eindruck machte. Die Weltdienst-Konferenz von 1937, an der «zahlreiche Fachleute, Autoren und politische Leiter aus mehr als zwanzig Ländern» teilnahmen, faßte einen feierlichen Entschluß, in dem sie die Echtheit der Protokolle bekräftigte. Fleischhauer war auf einmal ein berühmter Mann und gesuchter Redner; als er in München einen Vortrag hielt, verschmähten es die Rektoren der beiden Hochschulen der Stadt nicht, als Ehrengäste zu erscheinen. Und konnte es denn einen Zweifel geben – wiederholte unermüdlich die deutsche Presse –, daß niemand anders den Prozeß inszeniert und die Richter bestochen hatte als die unendlich ränkevollen «Weisen von Zion»?
18
Eine maschinenschriftliche Abschrift des Urteils von 1937 befindet sich in File 20 der Freyenwald Collection in der Wiener Library. Die zitierten Stellen stehen auf S. 41-45.
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11 Die antisemitische Internationale
1 Bald nach Hitlers Machtantritt in Deutschland setzte auf dem ganzen amerikanischen Kontinent eine ausgedehnte Propaganda für den Mythos der jüdischen Weltverschwörung ein. In Kanada waren die eifrigsten Verfechter des Mythos die «Blauhemden». Diese aus Frankokanadiern bestehende Organisation, auch «Parti National Social Chrétien» genannt, hatte viel mit den südafrikanischen «Grauhemden» gemeinsam; und tatsächlich gab es ein Bindeglied zwischen den beiden Organisationen in der Person von Henry Hamilton Beamish. Der Engländer Beamish war der Gründer der Gruppe «The Britons» und hatte seit 1920 mehr als irgendein anderer für die Verbreitung der Protokolle in Großbritannien getan. In den dreißiger Jahren nahm er Kontakt mit dem Weltdienst auf und wurde eine Art Reisender in Sachen Antisemitismus schärfster Form. Er wohnte in Rhodesien und war eine Zeitlang Mitglied des rhodesischen Parlaments. Beim Grahamstowner Prozeß trat er als freiwilliger Zeuge für die Beklagten auf; er besuchte auch Kanada und stellte sich Adrien Arcand, dem Führer der Blauhemden, zur Verfügung. Arcand veröffentlichte in Montreal unter dem Titel La Clé du mystère eine Broschüre über die jüdische Weltverschwörung, die die üblichen Fälschungen und Verdrehungen enthielt; Ausgaben in englischer Sprache und in Afrikaans wurden mit großem Eifer in Südafrika vertrieben. Beamish hoffte, eines Tages Propagandaminister in einem von Arcand regierten Kanada zu werden. Die Geschichte wollte es anders: Als der Krieg ausbrach, wurden Beamish und Arcand interniert. Aber eine Geheimgesellschaft namens «Ordre de Jacques Cartier» setzte auch dann noch den Vertrieb von La Clé du mystère und ähnlichem 237
Material fort, in der Hoffnung, damit die kanadische Kriegführung zu schwächen.1 In den Vereinigten Staaten hatte man seit Henry Fords Widerruf im Jahre 1927 wenig von den Protokollen und der jüdischen Weltverschwörung gehört; aber auch hier änderte sich die Lage sofort nach Hitlers Machtübernahme.2 Die Nazi-Propaganda konzentrierte sich alsbald auf die Stärkung des schon sehr mächtigen und weitverbreiteten Isolationismus, dessen Komponenten Kriegsfurcht, Widerwille gegen Verstrickung in europäische Angelegenheiten und spezieller Argwohn gegen Großbritannien waren. Natürlich wandte sich diese Propaganda in erster Linie an die deutsche Gemeinde in den Vereinigten Staaten. Bei Kriegsausbruch zählte der «DeutschAmerikanische Bund» (ursprünglich «Freunde des neuen Deutschlands» genannt) etwa 25.000 Mitglieder. Fast alle waren Deutsche von Geburt, die Hälfte besaß noch die deutsche Staatsbürgerschaft, und die meisten gehörten jener unteren Mittelschicht an, die auch unter den Mitgliedern der NSDAP den größten Anteil stellte. Diese Menschen wurden mit antisemitischer Literatur aus Deutschland überschwemmt: Tonnenweise schickte man ihnen zur Beeks Ausgabe der Protokolle, Wichtls altes Buch über die jüdische Verschwörung und die deutsche Übersetzung von Fords International Jew. Bald aber entstanden auch rein amerikanische Organisationen, die diese Art Propaganda betrieben; 1939 gab es ihrer bereits hundertzwanzig. Meist waren sie klein und hatten wenig Einfluß.3 Ausnahmen bildeten zwei Organisationen, die von einem katholischen und einem protestantischen Geistlichen geleitet wurden: Pater Charles E. Coughlins «National Union for Social Justice» bzw. «Christian Front» und Pastor Gerald B. Winrods «Defenders of the Christian Faith». 1
Als Informationsquelle über die Persönlichkeiten der antisemitischen Internationale, darunter auch Beamish und Arcand, ist nach wie vor von großem Nutzen L. W. Bondy, Racketeers of Hatred. 2
Über die Vereinigten Staaten siehe: D. Strong, Organized Anti-Semitism in America, Washington 1941; J. R. Carlson, Under Cover, New York 1943; und O. J. Rogge, The Official German Report. 3
William Dudley Pelleys «Silberhemden» brachten es in einem Jahr (1933/34) auf 15.000 Mitglieder; aber die Organisation zerfiel rasch wieder, nachdem Pelley 1935 wegen betrügerischer Geschäfte angeklagt und verurteilt worden war.
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Pater Coughlin, der «Rundfunkpriester», war verhältnismäßig spät zum Antisemitismus bekehrt worden.4 Schon in den frühen dreißiger Jahren war er durch seine Rundfunksendungen über Religion und Politik im ganzen Land bekannt, aber damals interessierte er sich überhaupt noch nicht für die Juden. Er unterstützte zunächst Roosevelts «New Deal», doch 1935 wandte er sich gegen den Präsidenten und griff seine Politik wütend an, weil sie ihm nicht radikal genug war. Anscheinend war er aufrichtig bekümmert über das Massenelend, das die große Depression verursacht hatte, und Roosevelts Mäßigung erregte seinen Unwillen. Er gründete eine neue politische Partei, die «National Union for Social Justice», die nach kurzer Zeit mindestens vier Millionen Mitglieder hatte. Aber als sich die Union 1936 an den Präsidentschaftswahlen beteiligte, erlitt sie eine katastrophale Niederlage; in keinem einzigen Staat gewann sie die Stimmen der Wahlmänner. Coughlin hielt sich zwei Jahre lang zurück; dann, 1938, begann er plötzlich Propaganda für einen autoritären Korporativstaat zu machen. Gleichzeitig gründete er eine neue Organisation, die «Christian Front», als Bündnis von Christen aller Konfessionen gegen Kommunismus und Plutokratie – und er sagte deutlich, daß er Roosevelt für einen Knecht dieser beiden Mächte hielt. Coughlin näherte sich dem antisemitischen Sumpf; was ihn endgültig hineintrieb, waren außenpolitische Motive. Seine Zeitung Social Justice befaßte sich 1938 zunehmend mit Außenpolitik und nahm dabei einen extrem isolationistischen Standpunkt ein. Coughlin haßte Großbritannien, wie so viele Amerikaner irischer Abstammung. Es war deshalb zu erwarten, daß er und sein Blatt schließlich in die deutsche Propaganda über die jüdische Weltverschwörung einstimmen würden. Diesen letzten Schritt tat der Pater im Sommer 1938, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise. Social Justice rechtfertigte die Vergewaltigung der Tschechoslowakei durch Hitler, wütete gegen Churchill und brachte eine Artikelserie des führenden amerikanischen Propagandisten für Nazi-Deutschland, George S. Viereck; anschließend druckte es die Protokolle selbst ab. Das war die größte Kampagne dieser Art seit den Tagen des Dearborn Independent, denn Social Justice hatte eine Auflage von einer Million. Im November behandelte Coughlin die Protokolle in seinen sonntäglichen Rundfunksendungen; bei dieser Gelegenheit wärmte er sogar die 4
Über Coughlin siehe C. J. Tull, Father Coughlin and the New Deal, New York 1965.
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alte Geschichte auf, daß eine jüdische Firma in New York die bolschewistische Revolution finanziert habe. Nach Ermittlungen des American Institute of Public Opinion hatte er gewöhnlich dreieinhalb Millionen Hörer, und von diesen fanden ihn über zwei Millionen überzeugend. Schließlich stellte er auch seine eigene Kirche in Royal Oak (Michigan) in den Dienst seiner antisemitischen Kampagne. Sein «Schrein der Kleinen Blume», günstig an der Autobahn nach Detroit gelegen und von Gasthof, Garage, Andenkenläden und Würstchenbuden umgeben, wurde eine Touristenattraktion und ein Zentrum für den Vertrieb der Protokolle. Er verteilte dort auch Verzeichnisse von Firmen, die keine Juden beschäftigten. «Christus selbst hat dieses Heftchen zum Druck befördert, um Dich zu schützen», stand darauf – der unmittelbare Geldgeber war jedoch der Deutsch-Amerikanische Wirtschaftsverband. Natürlich war Pater Coughlin nicht repräsentativ für den Katholizimus in den Vereinigten Staaten. Seine antisemitische Kampagne beantwortete Kardinal Mundelein von Chicago mit der Erklärung: «Er ist nicht autorisiert, für die katholische Kirche zu sprechen, und er repräsentiert nicht die Lehre oder die Gesinnung der Kirche.» Ebenso kritisch äußerte sich der Katholik Frank Hogan, Präsident der amerikanischen Anwaltskammer. Aber von seinen unmittelbaren Vorgesetzten wurde der umtriebige Priester nicht gerügt, und das erleichterte es ihm, zahllose Katholiken davon zu überzeugen, daß seine Stimme die Stimme der Kirche sei. Besonders unter den ärmeren, wenig gebildeten Katholiken irischer Abstammung gewann er viele hingebungsvolle Anhänger. Über vierhundert New Yorker Polizisten waren Mitglieder seiner «Christian Front». Dem inneren Kreis seiner Gefolgsleute gehörten sogar einige Priester an, darunter der Präsident der «International Catholic Truth Society», Edward Lodge Curran.5 In rund 2000 Kirchen wurde Social Justice verkauft. Alles in allem steht fest, daß es Coughlin gelang, in der katholischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten eine virulentere Form von Antisemitismus zu verbreiten, als man sie bis dahin gekannt hatte. Ebenso unbestreitbar ist, daß seine Bewegung den Interessen der Nazis diente, auch wenn er selbst keine Verbindungen zur deutschen Regierung oder zu Nazi-Organisationen in den Vereinigten 5
Auch der unvermeidliche «weiße» Russe war dabei – George Agayeff.
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Staaten unterhielt. Nicht von ungefähr unterstützte der DeutschAmerikanische Bund sehr aktiv den Vertrieb von Social Justice, nicht von ungefähr druckte Streichers Stürmer Auszüge aus diesem Blatt ab, das umgekehrt reichlich Gebrauch vom Inhalt der Kurzwellensendungen machte, die Goebbels ausstrahlen ließ. Einmal ließ Coughlin sogar ein großes Stück einer Goebbels-Rede unter seinem eigenen Namen drucken – weiter konnte er in der Identifizierung kaum noch gehen. Weder der Kriegsausbruch in Europa 1939 noch der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zwei Jahre später änderte etwas an der Haltung des Blattes. Noch im März 1942 beschuldigte Social Justice die Juden, sie hätten den Krieg angezettelt. Das allerdings brachte das Faß zum Überlaufen. Die Regierung griff ein, die Zeitung wurde verboten, und auf Ansuchen der Behörden gebot der Erzbischof von Detroit dem Pater Coughlin endlich Schweigen. Ebenso wie Coughlin kam auch der protestantische Fundamentalist6 Gerald B. Winrod spät zum Antisemitismus. Er stammte aus Wichita (Kansas) und war aus eigener Berufung, ohne formelle theologische Ausbildung, Prediger geworden. 1925 gründete er zur Bekämpfung des Modernismus in der Religion die Organisation «Defenders of the Christian Faith». Kurz vor Hitlers Machtübernahme kam ihm plötzlich die Erleuchtung, daß die wahre Ursache des Modernismus und auch aller anderen Übel der «jüdische Bolschewismus» war. Sofort machte er sich daran, in einer Reihe von Schriften die Realität der jüdischen Weltverschwörung an Hand der Offenbarung nachzuweisen. 1932 veröffentlichte er ein Buch über die Protokolle unter dem Titel The Hidden Hand. 1933 brachte er die Broschüre The Protocols and the Coming Super Man heraus, von der 22.000 Stück verkauft wurden. Wenig später folgten The Truth about the Protocols und The Anti-Christ and the Tribe of Dan. Von diesen antisemitischen Schriften waren 1936 nahezu 100.000 Exemplare gedruckt. Daneben verbreitete Winrod noch Millionen von GratisFlugschriften: In einem einzigen Monat wurden 75.000 Stück davon verteilt, hauptsächlich in Gefängnissen und Krankenhäusern. Seine Monatsschrift The Defender hatte 100.000 feste Abonnenten; für Puerto Rico, Kuba und Mexiko erschien eine spanische Ausgabe, El 6
Der Fundamentalismus war eine nach dem Ersten Weltkrieg in den USA entstandene streng bibelgläubige Richtung innerhalb des Protestantismus; er lehnte Bibelkritik und moderne Naturwissenschaft ab. (Anm. des Übers.)
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Defensor Hispano. Winrod setzte sich auch energisch für den Vertrieb der Protokolle selbst ein und machte in Rundfunksendungen, Vorträgen, Versammlungen unermüdlich Propaganda für sie. Coughlin nannte sich selbst «die einzige unverfälschte Quelle der Wahrheit», und Winrod stand ihm auch hierin nicht nach: Er behauptete, unter göttlicher Inspiration zu handeln. «Ohne jeden Zweifel», schrieb er über eines seiner Pamphlete, «ist dies eines der wichtigsten Bücher, die mich der Heilige Geist jemals zu schreiben geheißen hat.»7 Fast ebenso heilig wie die Juden griff er die katholische Kirche an, und seine Gefolgschaft fand er vor allem dort, wo der Antikatholizismus traditionell am stärksten war – im «Bibel-Gürtel» von Texas bis Missouri, und ganz besonders in Kansas. Seine Anhänger waren hauptsächlich Kleinstädter und Landleute, arme, unwissende Menschen, die vielleicht kaum je einen Juden gesehen hatten, aber trotzdem überzeugt waren, die großen Städte mit ihren Gewerkschaften, ihrer verwirrenden Vielfalt, ihrer polyglotten Einwanderer-Bevölkerung seien Zentren eines jüdischen Komplotts gegen das «wahre Amerikanertum». Auf diese Menschen übte Winrod große Anziehungskraft aus. Als er sich um einen Senatssitz für Kansas bewarb, erschien es notwendig, eine Gegenkampagne unter der Losung «Haltet den Faschismus aus Kansas raus!» durchzuführen; trotzdem erhielt er immer noch 54.000 Stimmen. Wieweit unterstützte Winrod die Nazis? Man sollte meinen, daß ein Mann, dessen geistiger Horizont durch die Offenbarung des Johannes festgelegt war, nicht viel für die Neo-Mystik von Blut und Boden übrig haben konnte; aber dem war nicht so. Vom ersten Tag des Nazi-Regimes an war Winrod des Lobes voll für Hitler und Goebbels; er zitierte den Stürmer und verkündete: «Die HitlerRevolution hat Deutschland und vielleicht ganz Europa vor einer von Moskau gesteuerten Invasion des jüdischen Kommunismus gerettet.»8 Als Gegenleistung wurde sein Buch The Hidden Hand ins Deutsche übersetzt. Als der Berner Prozeß begann, reiste er nach Deutschland und nahm Verbindung mit Fleischhauer und dem Weltdienst auf. Wieder in Amerika, behandelte er den Prozeß ausführlich in einer Artikelserie, die von Februar bis Juli 1935 im Defender erschien. Er schilderte die Beklagten als «gute Schweizer 7
Zitiert bei Strong, a. a. O., S. 72.
8
Zitiert bei Rogge, a. a. O., S. 213.
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Patrioten», Fleischhauer als hervorragenden Verfechter der Wahrheit und den Richter als bestochenen Rechtsbeuger. Wenig später verglich der Defender Adolf Hitler mit Martin Luther und erklärte: «Deutschland steht allein. Von allen Ländern Europas hat allein Deutschland den Mut gehabt, dem jüdisch-freimaurerischen Okkultismus, dem jüdischen Kommunismus und der internationalen jüdischen Geldmacht Trotz zu bieten.»9 Zwar stellte Winrod, der nie auch nur Ansätze zu einer politischen Bewegung schuf, für die amerikanische Demokratie eine geringere Gefahr dar als Coughlin; aber in seinen Grenzen diente dieser ultraprotestantische Prediger der Sache der Nazis eindeutiger als der katholische Priester. In der deutschen Presse wurde er «der amerikanische Streicher» genannt, und er tat sein Bestes, sich diesen Titel zu verdienen. Man soll die Bedeutung der zahllosen antisemitischen Gruppen, die in den dreißiger Jahren in den Vereinigten Staaten auftauchten, nicht übertreiben; sie hatten nicht die mindeste Chance, größere Unruhen anzustiften, geschweige denn die Revolution, von der sie redeten. Dennoch waren sie historisch nicht völlig belanglos. Mit ihren Büchern und Pamphleten, Rundfunksendungen und Vorträgen hämmerten sie einem Millionenpublikum ein, daß der New Deal ein Terrorregime sei, das die Juden über die Bevölkerung der Vereinigten Staaten errichtet hätten. «Minnesota dicht vor rotem Abgrund: Mordterror gegen Wähler» – «Diktatur droht Amerika: Rote sammeln Kräfte hinter projüdischen Despoten» – «Todesliste der Feinde des jüdischen Bolschewismus existiert in den Vereinigten Staaten» so lauteten einige typische Schlagzeilen. Sogar die Anti-SyphilisKampagne wurde als Teil der Verschwörung hingestellt: «... dieser Plan zielt darauf ab, die ganze nichtjüdische Bevölkerung mit Syphilis-Bazillen zu impfen.»10 Zwar gab es nur wenige, die uneingeschränkt an die jüdische Weltverschwörung glaubten; aber zweifellos wurden viele durch dieses ständige Aufrühren tiefer, kaum bewußter Ängste mehr oder weniger in Verwirrung gestürzt. Einige der Agitatoren riefen nach physischer Gewalt. William Dudley Pelley, der Führer der «Silberhemden», sah freudig einem «Bad der Gewalt», dem «größten Pogrom der Geschichte», entgegen, und sein Stellvertreter William Zachery rief in einer öffentlichen 9
Ebd., S. 214.
10
Zitiert bei Strong, S. 160.
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Versammlung aus: «Ich will, daß Ihr alle hinausgeht und euch Gewehre besorgt, und ich will, daß jder von euch sich eine Menge Munition besorgt.» Ein anderer antisemitischer Propagandist, James B. True, schrieb in seiner Zeitung Industriell Control Report: «Fordert Eure Kongreß-Abgeordneten auf, gegen alle Gesetze zur Einschränkung des Waffenbesitzes zu stimmen. Erinnert Euch daran, daß die Verfassung allen Bürgern der Vereinigten Staaten das Recht gibt, Waffen zu tragen, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, werden wir dieses Recht brauchen.»11 Ein Interview, das dieser James True dem Pastor Dr. L. M. Birkhead, Landesleiter der «Friends of Democracy», gewährte, offenbarte eine Mentalität, die, wie wir jetzt wissen, der vieler Naziführer glich: «Ich fand, daß True den Blick und die Entschlossenheit eines Fanatikers hatte. Auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen ein halbes Dutzend Holzstücke, die wie die unteren Enden von Axtstielen aussahen. Bei näherem Zusehen bemerkte ich, daß sie an einem Ende mit Riemen versehen waren, wie Polizeiknüppel. Als Mr. True mir zu erklären begann, daß er im Süden eine Kampforganisation habe, die er mit Waffen zur Ausrottung der Juden ausrüste, begriff ich, wozu diese Knüppel bestimmt waren. Es waren Mr. Trues ‹Judenkiller›. ‹Was bezwecken Sie mit Ihrer Organisation?› fragte ich Mr. True. Blitzschnell antwortete er: ‹Den einzigen wirklichen Feind zu schlagen, den Amerika heute hat› Dieser Feind, so stellt sich heraus, ist der Judenkommunismus, den der New Deal Amerika aufzuzwingen sucht. ‹Wir werden wohl etwas tun müssen, was kämpferischer ist als bloßes Wählen›, sagte Mr. True mit der Betonung eines Mannes, der glaubt, daß Kugeln an die Stelle von Stimmzetteln treten müssen. Ich fragte ihn, was er mit ‹kämpferischer› meine. ‹Ich meine, daß die Dinge vielleicht schon zu weit fortgeschritten sind, als daß wir das Land noch mit politischen Methoden retten könnten›, antwortete True. ‹... Ich sehe keinen anderen Ausweg als einen Pogrom. Wir müssen die Juden umbringen. Stimmzettel machen ihnen überhaupt nichts aus.› ‹Darf ich fragen, Mr. True, ob Sie nicht das Problem allzusehr vereinfachen?› unterbrach ich ihn. ‹Angenommen, wir könnten die fünfzehn Millionen Juden an die Wand stellen und erschießen – das würde unsere Probleme nicht lösen. Wir hätten sie nach wie vor auf 11
Die Äußerungen von Pelley, Zachery und True werden zitiert nach Strong, S. 152-157.
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dem Hals, die gleichen alten Probleme.› True sagte: ‹Gerade das ist eben falsch. Unser Problem ist ganz einfach. Wenn wir die Juden loswerden, sind wir morgen auf dem Weg nach Utopia. Die Juden sind schuld an unseren ganzen Schwierigkeiten. Das ist jedem klar, der dieses Problem studiert, und ich habe es gründlich studiert. Wer versucht denn, unsere Verfassung und die amerikanische Regierungsform zu zerstören? Der Jude. Nehmen Sie zum Beispiel die Sache, daß die Juden im Süden starke Nigger anheuern, um weiße Frauen zu überfallen. Das steht so im Talmud. Aus dem Talmud lernen die Juden, daß es richtig ist, das zu machen ... Der Hauptteil der jüdischen Verschwörung ist heute der Kommunismus. Sie brauchen ja bloß Rußland anzusehen, wo die Juden das Land beherrschen. Ich möchte Ihnen eines mit auf den Weg geben›, sagte Mr. True, als ich aufstand, um zu gehen. ‹Ich sage voraus, es kommt ein Pogrom in Amerika. Ich sehe nicht, wie es zu vermeiden wäre.›»12 Gewiß waren die von Pelley und True geführten Gruppen unbedeutend, aber die gleiche Gesinnung war teilweise auch in Coughlins «Christian Front» anzutreffen. Im Frühjahr und Sommer 1939, während Hitler die letzten Kriegsvorbereitungen traf, erklärten Mitarbeiter Coughlins vor großen Versammlungen in New York, man müsse jeden Tag mit einem jüdisch-kommunistischen Staatsstreich rechnen. Jeden Tag könne man erwachen und im Rinnstein Blut fließen sehen – «Christenblut, euer Blut, das Blut christlicher Jungen und christlicher Führer!»13 Diese imaginäre Gefahr sollte dazu dienen, Massaker zu rechtfertigen. Einer von Coughlins Unterführern, George Van Nosdall, sagte in einer Kundgebung der Christian Front: «Jungs, wir gehen an die Arbeit. Ich bin bereit, die gottverdammten Juden an die Wand zu stellen.» In einer anderen Versammlung rief er aus: «Wenn wir erst einmal mit den Juden in Amerika abrechnen, dann werden sie denken, daß das, was in Deutschland mit ihnen gemacht wurde, noch gar nichts war ... Bald wird in den Straßen von New York Judenblut fließen.» Ein anderer Redner instruierte seine Zuhörer: 12
Strang, S. 124 ff.
13
Zitiert bei Carlson, a. a. O., S. 60.
14
Strong, S. 158.
245
«Wenn ihr in einer Menge seid, dann schreit: ‹Bringt die Juden um!›»14 In einem Land wie den Vereinigten Staaten war all das natürlich leeres Geschwätz. Trotzdem ist es erwähnenswert, denn es zeigt: Viele von denen, die in Amerika Propaganda für die Protokolle machten, gehörten genau zu jenem Menschentyp, der unter dem Nazi-Regime die Organisatoren und Exekutoren des Völkermords stellte. Die Operationen des Weltdienstes erstreckten sich auch auf Südamerika, insbesondere Argentinien. Eine Kommission zur Untersuchung anti-argentinischer Betätigung stellte 1943 mit Bestürzung fest, daß sich zahlreiche im Lande lebende Deutsche von Erfurt für den Vertrieb der Protokolle hatten einspannen lassen. Martinez Zuviria, später Justizminister unter Perón, schrieb zwei Bücher über die jüdische Weltverschwörung, Oro und Kahal, und wurde dafür von der deutschen Gemeinde sehr gefeiert. Einige katholische Geistliche arbeiteten eifrig an dieser Propaganda mit, die hier wieder jene religiöse Färbung annahm, die sie in den Tagen von Monsignore Meurin besessen hatte. Die Monatsschrift Clarinada schrieb im August 1937: «Clarinada bekämpft die Juden, weil sie die Urheber, Führer und Gefolgsleute des Kommunismus in der ganzen Welt sind. Clarinada bekämpft die Juden, weil sie – gemäß den Direktiven der Weisen von Zion – die christliche Moral untergraben und die menschlichen Laster und Fehler anstacheln, um die geistliche Eroberung der Menschheit durch Jesus Christus, der das erste Opfer der Gottesmörder war, zunichte zu machen.» Ein Jahr später widerfuhr Clarinada sogar die Ehre, vom Stürmer zitiert zu werden. Die Zeitschrift hatte geschrieben: «Es ist sehr schade, daß nicht alle Juden ohne Unterschied lebendig begraben werden, damit endlich Frieden in der großen argentinischen Familie herrschen kann.»15
2 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges erfreuten sich die Protokolle größerer Beliebtheit als selbst im Jahre 1920, vor den Enthüllungen Philip Graves’. In den Ländern Osteuropas, wo es große jüdische Minderheiten und starke faschistische Bewegungen gab, war der 15
Zitiert bei Bondy, a. a. O., S. 242/243.
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Mythos der jüdischen Weltverschwörung ein ständiges Thema der politischen Polemik und Propaganda. In Polen machte Piaseckis «Falanga» im Oktober 1937 sogar den Versuch, Präsident Moscicki zu verhaften und seine mehr oder weniger liberalen Mitarbeiter zu ermorden, mit der Begründung, sie seien Agenten des internationalen jüdischen Freimaurertums16. Vor allem aber beriefen sich auf diese Phantasiegebilde solche Regierungen, die mit Nazi-Deutschland verbündet oder von ihm abhängig waren – und zwar selbst dann, wenn es in ihren Ländern gar keine Juden gab. In Spanien lebten seit über vier Jahrhunderten keine Juden mehr, doch das hinderte die Nationalisten nicht, den Bürgerkrieg als einen Kampf gegen die Judäo-Feimaurerei hinzustellen.17 Nationalistische Zeitungen brachten Schlagzeilen wie «Unser Krieg ist ein Krieg gegen das Judentum» und verblüfften ihre Leser mit Geschichten von der ungeheuren Macht, dem Reichtum und der Schlauheit einer jüdischen Regierung, von der bisher nie die Rede gewesen war. Außerhalb Spaniens hatte diese Propaganda großen Erfolg in Kreisen, die mit General Franco sympathisierten; für die Anhänger Pater Coughlins zum Beispiel verstand es sich von selbst, daß die spanischen republikanischen Truppen die Heerscharen der Weisen von Zion darstellten. Und noch Jahre später, im Oktober 1944, als die Mehrzahl der Juden auf dem europäischen Kontinent schon ermordet war, konnte der offizielle spanische Rundfunksender Radio Falange verkünden: «Die jüdische Gefahr ist keine grundlose Einbildung ... Nichts ist dringender notwendig, als gegen den Kommunisten und den Juden zu kämpfen.»18 Der stärkste Fall war der Japans, denn dort waren Juden so vollkommen unbekannt, daß niemand wußte, wie diese Geschöpfe überhaupt aussahen. Hitler hatte jedoch in Mein Kampf erklärt: «Er [der Jude] scheut in seinem tausendjährigen Judenreich einen japanischen Nationalstaat und wünscht deshalb seine Vernichtung noch vor Begründung seiner eigenen Diktatur.»19 Dieser Hinweis genügte. 16
Siehe L. Blit, The Eastern Pretender, London 1965, S. 70-72.
17
Nach der großen Austreibung von 1492 blieben allerdings einige wenige KryptoJuden (Marranen) in Spanien zurück; doch an diese dachten die Nationalisten sicherlich nicht. 18
Zitiert bei Bondy, S. 211.
19
Hitler, Mein Kampf, S. 724.
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Die japanische Regierung brauchte Vorwände, um in den Augen der Welt ihren Angriff auf China zu rechtfertigen, und einen solchen Vorwand lieferte der Mythos der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung. So erklärte der japanische Delegierte auf dem WeltdienstKongreß von 1938, Fujivara: «Die Judäo-Freimaurerei zwingt die Chinesen, aus China einen Stoßkeil gegen Japan zu machen, und zwingt dadurch Japan, sich gegen diese Drohung zu verteidigen. Japan befindet sich nicht im Krieg mit China, sondern mit der Freimaurerei, repräsentiert durch General Tschiang Kai-schek, den Nachfolger seines Meisters, des Freimaurers Sun Yat-sen.» Der Krieg in China trage «das heilige Zeichen des Opfers»; die japanischen Soldaten stürben nicht für kleinliche nationale Interessen, sondern für die Sache der ganzen Welt, die sie «aus den jüdisch-freimaurerisch-bolschewistischen Klauen erretten» wollten. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: «Laßt uns nicht im Stich, uns, das isolierte Bollwerk im Fernen Osten!»20 Um die gleiche Zeit kam auch der japanische General Shioden nach Deutschland, machte sich mit Streicher und dem Weltdienst bekannt und besuchte das AntifreimaurerMuseum in Nürnberg. Er erwies sich als gelehriger Schüler, denn im Juli 1939 konnte der Stürmer mit Stolz einen Brief von ihm abdrucken: «Ich freue mich, Ihnen berichten zu können, daß das reiche Informationsmaterial, das ich während meiner Reise in Deutschland gesammelt habe, nun von unseren Sachverständigen ins Japanische übersetzt wird. Das wird dazu beitragen, daß die Japaner die Wahrheit über den jüdischen Weltherrschaftsplan erfahren .. .»21 Hier sind wir in der Welt der Farce, aber es ist charakteristisch für die Geschichte der Protokolle, daß die Farce immer wieder in die Tragödie umschlägt. Wir haben gesehen, daß die Männer, die die Protokolle propagierten, oft im Herzen pogromschtschiki waren und nur auf eine Gelegenheit warteten, Massaker zu organisieren.22 Ob sie diese Chance erhielten oder nicht, hing ganz davon ab, was ihren 20
Zitiert bei H. Rollin, L’Apocalypse de notre temps, S. 514.
21
Der Stürmer, Nr. 28, Juli 1939.
22
Das galt sogar für England. Mosleys «British Union of Fascists» verhielt sich zwar zu den Protokollen ziemlich zurückhaltend, und ihr Antisemitismus war niemals mörderisch. Aber die viel extremere, wenn auch zahlenmäßig unbedeutende «Imperial Fascist League» unterhielt enge Verbindungen zu den Nazis und trat offen für die Vergasung aller Juden ein. Leese propagierte übrigens auch den RitualmordMythos. (C. Cross, The Fascists in Britain, London 1961, S. 153, 154.)
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Ländern im Zweiten Weltkrieg widerfuhr. In den kämpfenden Demokratien verschwanden sie von der öffentlichen Bühne, und einige mußten ins Gefängnis; aber in den Ländern Europas, wo die Naziführer ihre Völkermordpläne in die Tat umsetzen konnten, stiegen zweifelhafte Figuren, die bisher nur als Herausgeber der Protokolle hervorgetreten waren, plötzlich in hohe Positionen auf, durften antisemitische Gesetze ausarbeiten und für ihre Anwendung sorgen. Was mit der Verbreitung der Protokolle begonnen hatte, endete mit Mord – wie schon oft, nur diesmal in riesenhaften Ausmaßen. Es lohnt sich, einige Fälle dieser Art kurz zu betrachten. In Frankreich war in den Vorkriegsjahren der aktivste Streiter für die Protokolle ein gewisser Darquier de Pellepoix. Als gewöhnlicher Monsieur Darquier hatte er mehrmals im Leben Schiffbruch erlitten, ehe er sich auf antisemitische Politik warf. Eine gute Stellung bei einer französischen Firma in Antwerpen verlor er, weil er gegen den Franc spekulierte. Er erhielt eine neue Chance in London, doch dort wurde er wegen Trunkenheit und ungebührlichen Verhaltens festgenommen. Dann wanderte er nach Australien aus, heiratete eine reiche Frau, kaufte eine Schaf-Ranch – und machte damit Bankrott. Wieder in Frankreich, geriet er durch Zufall in die Demonstration der Rechten am 6. Februar 1934 und hatte das Glück, dabei verletzt zu werden. Das brachte ihn auf die Idee, eine «Vereinigung der Verwundeten vorn 6. Februar» zu gründen. Er hängte «de Pellepoix» an seinen Namen an, trug hinfort ein Monokel und begann eine antisemitische Agitation, die die Kampagnen der Action Française an Schärfe weit übertraf. Damit hatte er einigen Erfolg, und 1935 wurde er als Vertreter des vornehmen Stadtviertels Ternes in den Stadtrat von Paris gewählt. Darquier gründete dann eine neue Bewegung, das «Rassemblement antijuif de France», mit einem Programm, das sich an die vom Dritten Reich eingeführten antisemitischen Gesetze anlehnte. Es sah vor, den französischen Juden das Wahlrecht zu entziehen, sie aus dem öffentlichen Dienst und den bewaffneten Kräften auszuschliessen und das Eigentum der jüdischen Organisationen zugunsten der «durch die jüdisch-freimaurerische Politik ruinierten französischen Gemeinschaft» zu beschlagnahmen. Das Programm enthielt aber noch einen Punkt, der vager und zugleich drohender formuliert war: «Ausweisung aller Juden, die geeignet erscheinen, die moralische 23
Das Programm ist abgedruckt bei Rollin, a. a. O., S. 556.
249
oder physische Gesundheit der Nation zu untergraben.»23 Was damit wirklich gemeint war, enthüllte Darquier in einer öffentlichen Erklärung im Mai 1937: «Die Judenfrage muß schleunigst gelöst werden: Entweder muß man alle Juden ausweisen, oder man muß sie massakrieren!»24 Wenige Leute nahmen damals eine solche Äußerung ernst. Einer der wenigen war Darquier selbst, und er tat, was er konnte, um seine Absicht zu verwirklichen. In den letzten Friedensjahren konzentrierte sich das «Rassemblement antijuif» darauf, Literatur über die jüdische Weltverschwörung zu veröffentlichen und zu verbreiten. 1937 wurde auf Darquiers Kundgebungen das kanadische Buch La de du mystère erstmalig in Frankreich feilgeboten. Propaganda für die Protokolle machte aber vor allem die Halbmonatsschrift der Bewegung, La France enchaînée. Sie brachte regelmäßig Inserate: «Ein prophetisches Buch, das jeder Franzose lesen sollte.» Wer fünf neue Abonnenten für die Zeitschrift warb, erhielt als Belohnung fünf Freiexemplare der Protokolle. 1938 verkündete das Blatt eine frohe Botschaft: «Das Rassemblement antijuif hat soeben eine mit Anmerkungen versehene Ausgabe der Protokolle der Weisen von Zion zum Preis von 2 Francs herausgebracht. Dieser äußerst niedrige Preis soll es allen Franzosen ermöglichen, die Machenschaften des Feindes Nr. l, des Juden, kennenzulernen ... Indem wir diese Neuausgabe veröffentlichen, appellieren wir zugleich an alle Franzosen, die noch nicht völlig chloroformiert oder entmannt sind. Frankreich erwache!»25 Es war kein Zufall, daß diese Anzeige auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise erschien. Im August und September 1938 brachte La France enchaînée Artikel mit Überschriften wie diesen: «Kriegsgefahr: jüdisch-russisches Komplott in der Tschechoslowakei»; «Der Krieg kommt näher, der Judenkrieg»; «Wird das Judentum es wagen, den Weltkrieg zu entfesseln?» Das Erscheinen der Neuausgabe der Protokolle wurde mit dem Kommentar begleitet: «Das Judentum hat die Front der Demokratien geschaffen. Das Judentum hat die Vereinigten Staaten aus ihrer ‹splendid isolatiom heraustreten lassen. Das Judentum will den Krieg. Frankreich als Soldat des Juden! 24
Bericht in der Pariser Zeitung La Lumière vom 22. Mai 1937.
25
Zitiert bei Rollin, S. 556.
26
Ebda., S. 555.
250
Nein! Jedermann muß die Wahrheit verkünden!»26 Darquier trat als französischer Patriot auf, diente aber in Wirklichkeit den Interessen des Dritten Reiches. Die Nazis wußten das recht gut und zollten ihm im Völkischen Beobachter lebhaften Beifall. Die französischen Behörden sahen es gleichfalls. Darquiers Propaganda hatte eine so große Wirkung, besonders im Elsaß, daß sich die französische Regierung zu dem damals außergewöhnlichen Schritt entschließen mußte, die Pressefreiheit einzuschränken. Am 25. April 1939 erging ein Dekret, das bei Geld- oder Gefängnisstrafe jederlei antisemitische Propaganda verbot. Darquier wurde angeklagt und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Vor Gericht rief er aus: «Ich habe mich bemüht, gegen die jüdische Invasion anzukämpfen, die Frankreich überschwemmt.» Seine große Chance erhielt Darquier im Krieg. Als Hauptmann zur Armee einberufen, wurde er abermals wegen subversiver Propaganda verhaftet, aber rechtzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt, um noch in die Gefangenschaft der Deutschen zu geraten, die so gewitzt waren, ihn sofort zu entlassen. Unter den neuen Verhältnissen machte er schnell Karriere. In Lavals zweitem Kabinett (Mai 1942) wurde er als Nachfolger von Xavier Vallat zum Generalkommissar für jüdische Angelegenheiten ernannt. In dieser Eigenschaft überwachte er die Deportation der 9.000 ausländischen Juden, die den Deutschen ausgeliefert wurden.27 Nach Kriegsende floh er nach Spanien; er wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. In Italien ist die Geschichte der Protokolle untrennbar verbunden mit dem Namen Giovanni Preziosi.28 Der politische Antisemitismus war in Italien vor dem Ersten Weltkrieg unbekannt29; und als der Expriester Preziosi während des Krieges politische Propaganda zu treiben begann, bekämpfte er nicht jüdische, sondern deutsche Ränke. In seinem Buch La Germania alla conquista dell’Italia (1916) behauptete er, Deutschland beherrsche Italien durch die Banca Commerciale. Erst nach dem Krieg entdeckte er, daß diese Großbank in 27
Laval weigerte sich, die Juden französischer Nationalität auszuliefern. Die französischen Juden, die in den Lagern umkamen (wahrscheinlich etwa 85.000), wurden größtenteils in der besetzten Zone von den Deutschen selbst festgenommen. 28
Über Preziosi siehe R. de Felice, Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Turin 1961, S.54-64, 502-518. 29
Der klerikale Antisemitismus, wie er vor allem von La civiltà cattolica vertreten wurde, hatte auf die Politik der nationalistischen Kreise keinen Einfluß.
251
Wirklichkeit jüdisch und das Instrument einer jüdischen Verschwörung war. Von 1920 an attackiert Preziosis Zeitschrift La vita italiana die westlichen Demokratien, die Freimaurerei, den internationalen Sozialismus und den Bolschewismus: sie alle seien Werkzeuge, mit denen eine verborgene jüdische Macht die Welt, besonders aber die ärmeren, dynamischeren Nationen, den jüdischen Interessen zu unterwerfen suche. Wer könne leugnen, daß von den drei Staatsmännern, die Italiens Ansprüche in Versailles abgelehnt hätten, zwei – nämlich Wilson und Clemenceau – in den Händen der Juden seien, während der dritte, Lloyd George (!), selber Jude sei? Und was seien all diese Manöver anderes als die jüngsten Manifestationen einer Verschwörung, die spätestens von der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. datiere? 1921 veröffentlichte Preziosi eine Übersetzung der Protokolle, und von 1922 an waren er und seine Zeitschrift fest in das internationale Netz eingespannt. So enthielt die Nummer vom August 1922 einen Artikel von Preziosi selbst, in dem er die Ermordung Rathenaus rechtfertigte; ferner einen Artikel mit dem Verfassernamen P. Praemunitus (unter diesem Namen war die erste amerikanische Ausgabe der Protokolle erschienen); vor allem aber einen Artikel «Die Juden, der Leidensweg und die Wiederauferstehung Deutschlands (Gedanken eines Deutschen)» mit der Unterschrift «Ein Bayer», hinter der sich, wie wir heute wissen, niemand anders als Adolf Hitler verbarg. Preziosi war der einzige Publizist Italiens, der von Anfang an bedingungslos für Hitler und den Nazismus eintrat. Selbst die Faschisten hatten starke Vorbehalte gegen die verwandte, aber unvergleichlich gewalttätigere Bewegung, die nördlich der Alpen entstand und zur Macht kam. Vor allem waren sie keine Antisemiten, und die meisten von ihnen waren schockiert, als die Nazis 1933 das ganze Ausmaß ihrer Brutalität zu offenbaren begannen. Preziosi jedoch war durch nichts zu erschüttern. Etwa achtzehn Jahre lang blieben Preziosi und die kleine Gruppe um La vita italiana isoliert und einflußlos. Noch 1937 lehnte es die Presse ab, eine Neuausgabe der Protokolle zu besprechen, und die Buchhandlungen wollten das Buch nicht führen. Aber 1938 entschied Mussolini, daß zur Festigung des Bündnisses mit Deutschland eine antisemitische Kampagne unerläßlich sei, und damit änderte sich Preziosis Stellung über Nacht. Jetzt brachten mehrere große Blätter wohlwollende Artikel über die Protokolle; Preziosis Tätigkeit erhielt die offizielle Förderung der amtlichen Stelle für 252
Auslandspropaganda, des «Aktionskomitees für die Universität von Rom»; und noch vor Ende des Jahres wurde er zum Staatsminister ernannt. Den Gipfel seiner Karriere erklomm Preziosi nach dem italienischen Waffenstillstand vom September 1943. Mussolini war gestürzt, und die Deutschen wollten eine neue Regierung für den von ihnen besetzten Teil Italiens bilden. Preziosi ging nach Deutschland und beeindruckte Rosenberg so stark, daß dieser ihn zu seinem Kandidaten für den Posten des Regierungschefs erwählte. Mussolinis Befreiung machte diese Hoffnungen zunichte. Aber Preziosi hatte noch mehr Pfeile im Köcher. In Rundfunksendungen, die nach Italien ausgestrahlt wurden, gab er der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung die Schuld an der Kapitulation und forderte eine «Säuberung» des Freimaurertums sowie eine «Gesamtlösung der Judenfrage». An Mussolini schrieb er einen Brief – mit Abschrift an Hitler –, worin er dem Duce schlimme Konsequenzen in Aussicht stellte, falls er nicht energisch mit der «Verschwörung» aufräume. Mussolini gab nach und ernannte diesen Mann, den er stets verachtet und verabscheut hatte, im März 1944 zum Generalinspektor für Rassenfragen. Etwas später erhielt Preziosi außerdem den Rang eines Botschafters. Zunächst bemühte sich Preziosi darum, in der Italienischen Sozialrepublik – wie sie Mussolinis Regime in Norditalien nannte – Rassengesetze einzuführen, die es ermöglichen sollten, jüdisches Eigentum einzuziehen, Juden und Halbjuden aus dem öffentlichen Dienst auszuschließen und Mischehen zu verbieten. Damit hatte er keinen Erfolg, und er beklagte sich in La vita italiana, die Republik sei in den Händen von Freimaurern, die ihrerseits im Dienst der Juden stünden. Inzwischen arbeitete Preziosi aber schon an einem viel finstereren Plan. Im Juni 1944 reichte er Mussolini eine Denkschrift ein, in der er vorschlug, seine Inspektion in eine Art italienische Gestapo umzuwandeln; sie sollte unumschränkte polizeiliche Befugnisse in der ganzen Republik erhalten und das Recht haben, von allen öffentlichen Behörden und militärischen Dienststellen Amtshilfe anzufordern. Dies sei notwendig wegen der vielen «Ungesetzlichkeiten», die jeden Tag in der Republik vorkämen. Er meinte damit die Tatsache, daß die italienische Bevölkerung Juden half, sich der Deportation und Ermordung durch die Deutschen zu entziehen. Von insgesamt 25.000 italienischen Juden wurden etwa 10.000 ermordet; hätte Preziosi seinen Willen bekommen, so wären es zwei253
fellos weit mehr gewesen. Doch Mussolini zog es vor, die Sache den Deutschen allein zu überlassen. Die Regierung der Republik erörterte diese Fragen noch im Frühjahr 1945, kurz bevor sie durch einen Volksaufstand gestürzt wurde. Um nicht von der Menge getötet zu werden, beging Preziosi Selbstmord. Darquier und Preziosi besaßen keine Handlungsfreiheit; beide unterstanden Regierungen, die nicht auf Judenmord aus waren; das setzte ihrer Aktivität enge Schranken. In einer glücklicheren Position war, nach ebenso obskuren Anfängen, ihr ungarischer Gesinnungsgenosse Lászlo Endre.30 Er betätigte sich während der ganzen dreißiger Jahre als antisemitischer Propagandist und veröffentlichte kurz vor Kriegsausbruch ein Buch, in dem er die Echtheit der Protokolle «bewies»; aber solange Ungarn unabhängig blieb, erlangte er keinerlei politischen Einfluß. Nachdem Ungarn auf seiten Deutschlands in den Krieg eingetreten war, gestattete Reichsverweser Admiral Horthy zwar einige antisemitische Maßnahmen, lehnte es aber kategorisch ab, die ungarischen Juden den Deutschen zur Deportation in die Vernichtungslager freizugeben. Als jedoch Horthy im März 1944 Anstalten traf, seine Truppen von der russischen Front abzuziehen, besetzte die deutsche Wehrmacht sofort das Land, und eine neue, den Deutschen völlig hörige Regierung wurde eingesetzt. Eichmann traf in Budapest ein und machte sich daran, die 800.000 ungarischen Juden zu deportieren. Sein wichtigster ungarischer Mitarbeiter war Endre, jetzt Staatssekretär und von dem neuen Kabinett mit dieser willkommenen Aufgabe betraut. Am 15. Mai 1944, dem Tag der ersten Deportationen, eröffnete Endre in Budapest ein Institut für Rassenforschung; er erklärte bei dieser Gelegenheit: «Die Regierung hat beschlossen, die Judenfrage ein für allemal in kürzestmöglicher Zeit zu lösen.» Er tat sein Bestes; hauptsächlich dank seiner Energie wurden innerhalb von sechs Wochen 450.000 Juden in die Gaskammern von Auschwitz geschickt – mit Güterzügen, hundert Mann pro Wagen, ohne Wasser während einer Reise von drei Tagen und Nächten. Nach Kriegsende wurde Endre hingerichtet. Wie einer seiner Gesinnungsgenossen berichtet, schrieb er in der Nacht vor seiner Hinrichtung am 21. März 1946 folgende Abschiedsbotschaft: «Die 30
Über Endre siehe J. Weidlein, Der ungarische Antisemitismus, Schorndorf 1962, S. 166 ff.; und E. Levai, Black Book on the Martyrdom of Hungarian Jewry, Zürich und Wien 1948.
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Protokolle der Weisen von Zion sind echt... Die Mittel zur Errichtung eines Weltkönigreiches sind in ihren [der Juden] Händen, und sie werden alles vernichten, was ein Hindernis für den neuen Weltstaat darstellen könnte ... Die jüdische Politik besteht darin, nicht nur diejenigen auszurotten, die etwas getan haben, sondern auch diejenigen, die noch etwas tun könnten oder etwas hätten tun können ...»31 So sah die antisemitische Internationale in der Nazi-Ära aus. Zweifellos wurden die Männer, über die wir berichtet haben, von den verschiedensten Motiven getrieben. Die einen sahen in der Administration des Massakers eine Chance, Macht auszuüben und Prestige zu genießen; andere waren begierig, sich die Habe der Opfer anzueignen; wieder andere waren Sadisten, denen es Lust bereitete, wehrlose Menschen zu verfolgen, zu foltern und zu töten. All das ist richtig, aber es ist nicht alles: Hinter dem Massaker als Ganzem stand ein blinder Fanatismus, der weitgehend inspiriert war von den Protokollen und dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Immer und immer wieder findet man diese unheimliche, apokalyptische Atmosphäre, diesen Traum von einem gigantischen Endkampf, in dem das höllische Heer geschlagen und die Welt von dem sie umklammernden Polypen befreit wird, woraufhin dann ein neues, besseres Zeitalter anbricht. Die Stimmung spricht unverkennbar aus vielen politischen Reden und Schriften jener Zeit, und sie ist die gleiche in New York wie in Budapest. Aber am unbefangensten ausgedrückt findet man sie nicht in solchen Äußerungen, die eben noch nicht ganz freimütig sein konnten, sondern in einem französischen Roman, der 1937 erschien – Bagatelles pour un massacre von Ferdinand Céline. Der Verfasser (später wurde er Kollaborateur der Nazis) schwört auf die Echtheit der Protokolle und der «Rede des Rabbiners», und er schreibt: «Erinnern wir uns, zu unserem Vergnügen und zur Auffrischung des Gedächtnisses, der wichtigsten Vorschriften der Protokolle ... Nichts ist für einen Arier belebender als dies. Für unser Heil wiegt es viele Gebete auf ... Wißt ihr, daß die Exekutivmacht des ganzen Weltjudentums der ‹Kahal› heißt? ... Versammlung der Weisen von Israel? ... Unser Schicksal hängt gänzlich vom guten Willen der großen Juden, ‹der großen Okkultem ab. Es ist nicht unsinnig zu denken, daß über unser Schicksal gewiß noch in den Konsistorien des ‹Kahal› beraten 11
L. Marschalko, The World Conquerors, übers, v. A. Soranyi, London 1958, S. 241.
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wird, ebensosehr wie in den Logen, ja noch viel mehr. Kurzum, Franzosen ..., ihr werdet zu der Stunde in den Krieg ziehen, die der Baron von Rothschild, euer Herr und absoluter Gebieter, festsetzt ... in vollem Übereinkommen mit seinen souveränen Vettern in London, New York und Moskau ... Ich will etwas Solides! ... Realitäten! ... Die wahren Verantwortlichen! ... Ich habe Hunger! ... Einen Riesenhunger! ... Einen wahrhaft totalitären Hunger! ... Einen Hunger nach Revolution! ... Einen Hunger nach Weltbrand! ... Nach Mobilisierung aller Leichenhäuser der Welt! Einen Appetit, geradezu göttlich, göttlich! Biblisch!»32 Celine hatte selbst viel von einem Paranoiker und sah deshalb vollkommen klar, was geschehen würde, wenn einmal Adepten der Protokolle absolute Macht bekämen. In seinen Augen waren die Protokolle eine Vollmacht zum Völkermord, und eben das wurden sie auch.
32
F. Celine, Bagatelles pour un massacre, Paris 1937, S. 277-289. Frankreichs angesehenste Literaturzeitschrift, die Nouvelle Revue Française, brachte im April 1938 eine Rezension von Marcel Arland, der die literarische Qualität und die «Wirkungskraft» des Buches rühmte; besonders hob er einen Abschnitt hervor, in dem vom Ritualmord die Rede war. Vergleiche auch die nuancierte Apologie von Andre Gide (NRF, Februar 1938).
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Bibliographischer Hinweis
Eine erschöpfende Bibliographie zu allen in diesem Buch berührten Themen und Stichworten kann hier nicht gegeben werden. Der folgende Überblick soll lediglich der Einführung in den Problemkreis dienen. GESCHICHTE DES ANTISEMITISMUS Die umfassendste Darstellung der antisemitischen Tradition wird L. Poliakovs Histoire de l’Antisemitisme sein, wenn das Werk abgeschlossen ist. Bisher liegen vor: Bd. I: Du Christ aux Juifs de cour, Paris 1955 (englische Übersetzung New York 1965, London 1966), der den europäischen Antisemitismus bis zum Vorabend der Emanzipation behandelt, und Bd. II: De Mahomet aux Marranes, Paris 1961, der dem Schicksal der Juden unter dem Islam und auf der iberischen Halbinsel gewidmet ist. Eine wohldurchdachte gedrängte Darstellung der Geschichte des Antisemitismus ist J. Parkes, Antisemitismus, München 1964. Nützlich sind außerdem H. Valentin, Antisemitism Historically and Critically Examined, London 1936, und S. W. Baron, Social and Religious History of the Jews, New York 1943 (3 Bände), New York 1952-1958 (8 Bände). Mit den Ursprüngen des Antisemitismus im frühen Christentum beschäftigen sich speziell folgende Werke: J. Parkes, The Conflict of the Church and the Synangogue, London 1934; M. Simon, Verus Israel, Paris 1948; J. Isaac, Genese de l’Antisemtisme, Paris 1956. Die Periode, in welcher die Gestalt des Juden dämonisiert wurde, behandeln J. Parkes, The Jew in the Medieval Community, London 1938, und J. Trachtenberg, The Devil and the Jews, New Haven 1943.
Das Wiederaufleben des Antisemitismus in den letzten Generationen wird untersucht bei: J. Parkes, The Emergence of the Jewish Problem 1878-1939, Oxford 1946; K. S. Pinson (Hrsg.), Essays on Anti-Semitism, New York 1946; H. M. Sachar, MODERNER ANTISEMITISMUS
257
The Course of Modern Jewish History, Cleveland and New York 1958; H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955. Spezialstudien über einzelne Länder bieten: R. F. Byrnes, Antisemitism in Modern France, New Brunswick 1950 (führt nur bis zum Vorabend der Dreyfus- Affäre); P.W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966; S. M. Dubnow, History ofthejews in Russia and Poland, 3 Bände, Philadelphia 1916-1920. ANTISEMITISMUS DER NAZIS Von den Werken über die sozialen Voraussetzungen des Antisemitismus der Nazis sind nach wie vor sehr wertvoll E. Reichmann, Die Flucht in den Haß, Frankfurt o. J., und A. Leschnitzer, The Magic Background of Modern Antisemitism, New York 1956. Das Standardwerk über den ideologischen Hintergrund ist jetzt G. L. Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964. Die Judenverfolgung der Nazis kann anhand von Dokumenten studiert werden in L. Poliakov und J. Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, Berlin-Grunewald 1955. Die Vernichtung der Juden behandeln: L. Poliakov, Breviaire de la haine, Paris 1951; G. Reitlinger, Die Endlösung, Berlin 1956; R. Hilberg, The Destruction ofthe European Jews, Chicago 1961: außerdem viele Berichte über einzelne Lager. Mehrere deutsche Arbeiten erhellen die psychosozialen Prozesse, die die Ausrottung möglich machten, namentlich K. Baschwitz, Du und die Masse, Amsterdam 1938; M. Müller-Claudius, Der Antisemitismus und das deutsche Verhängnis, Frankfurt 1948; W. von BaeyerKatte, Das Zerstörende in der Politik, Heidelberg 1958; H. Buchheim, M. Broszat, H.-A. Jacobsen und H. Krausnick, Anatomie des SSStaates, 2 Bände, Ölten und Freiburg 1965. Wichtige Einblicke in die Nazi-Mentalität von verschiedenen Gesichtspunkten aus geben H. R. Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, Zürich 1948; J. R. Rees (Hrsg.), The Case of Rudolf Hess, London 1947; G. M. Gilbert, The Psychology of Dictatorship. Based on an examination ofthe leaders ofNazi Germany, New York 1950; R. Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. v. M. Broszat, Stuttgart 1958; H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964. Unentbehrlich für die Geschichte der Nazi-Bewegung ist A. 258
Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, erweiterte Neuausgabe, Düsseldorf 1967. ANTISEMITISMUS – SOZIOLOGIE Grundlegend für die Psychologie und Soziologie der antisemitischen Vorurteile ist die Reihe von Forschungsarbeiten, die mit Unterstützung des American Jewish Committee unter dem Gesamttitel Studies in Prejudice veröffentlicht wurde: T. W. Adorno, E. Frenkel-Brunswik, D. J. Levinson und R. N. Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1950; R. Bettelheim und M. Janowitz, Dynamics of Prejudice, Chicago 1950; dies., Social Change and Prejudice, Glencoe 1964 (erweiterte Fassung des vorangehenden Buches); N. W. Ackermann und M. Jahode, Antisemitism and Emotional Disorder. Eine vergleichbare britische Studie ist J. H. Robb, Working-class Anti-semite, a psychological study in a London borough, London 1954. Alle diese Arbeiten beschäftigen sich primär mit der Persönlichheitsstruktur und der sozialen Situation typischer Antisemiten unserer Tage. Hinsichtlich der psychoanalytischen Interpretation der antisemitischen Tradition als historisches Phänomen ist R. M. Loewensteins Studie, Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt 1968, unerreicht. GESCHICHTE DER «PROTOKOLLE» Die Geschichte der Protokolle ist viele Male mehr oder weniger genau in Zeitungsartikeln und in Büchern erzählt worden, die von berühmten Fälschungen handeln. Hiervon abgesehen, erschienen zwischen den beiden Weltkriegen über ein Dutzend Werke, die ausschließlich der historischen und kritischen Untersuchung der Protokolle gewidmet sind. Die frühesten dieser Studien haben inzwischen selbst historisches Interesse gewonnen. Zu nennen sind für Großbritannien: L. Wolf, The Jewisch Bogey, London 1920; P. Graves, The Truth about the Protocols (Buchausgabe der Times-Artikel), London 1921; für die Vereinigten Staaten: H. Bernstein, The History of a Lie, New York 1921; J. Spargo, The jew and American Ideals, New York und London 1921; für Deutschland: O. Friedrich, Die Weisen von Zion. Das Buch der Fälschungen, Lübeck 1920; H. L. Strack, Jüdische Geheimgesetze?, Berlin 1921; B. Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, Berlin 1924; ders., Welt-Krieg, Welt-Revolution, Welt-Verschwörung, Welt-Oberregierung, Berlin 1926 (eine populärere Fassung des vorgenannten Buches); 259
schließlich eine russische Arbeit: Ju. Delevskij, Protokoly Sionskich Mudrecov, Berlin 1923, die weithin unbekanntes dokumentarisches Material enthält. In der Nazi-Ära belebte sich das Interesse an dem Thema von neuem, und es erschienen folgende Werke: H. Rollin, L’Apocalypse de notre temps: les dessous de la propagande allemande d’apres des documents inedits, Paris 1939, eine bedeutende Forschungsarbeit; P. Charles, S. J., Les Protocoles des Sages de Sion, Paris 1938 (Abdruck aus der Nouvelle Revue Theologique); eine neue, ausführlichere Studie von H. Bernstein, The truth about the Protocols of Zion, New York 1935; das witzige Buch von J. Gwyer, Portraits of mean men: a short history of the Protocols of the Elders of Zion, London 1938. Zwei direkt vom Berner Prozeß inspirierte Werke sind V. Burcev, j «Protokoly Sionskich Mudrecov» dokazannyj podlog, Paris 1938, und E. Raas und G. Brunschvig, Vernichtung einer Fälschung. Der Prozeß um die erfundenen «Weisen von Zion», Zürich 1938. Drei Arbeiten versuchen Hitler als Schüler der «Weisen» zu zeigen: A. Stein, Adolf Hitler, Schüler der «Weisen von Zion», Karlsbad 1936; I. Heilbut, Die öffentlichen Verleumder. Die Protokolle der Weisen von Zion und ihre Anwendung in der heutigen Weltpolitik, Zürich 1937; R. Blank, Adolf Hitler, ses aspirations, sa politique, sa propagande et les Protocoles des Sages de Sion, Paris 1938. Eine wertvolle Untersuchung der verschiedenen Ausgaben der Protokolle verfaßte E. Cherikover, wahrscheinlich im Jahre 1934: Les Protocoles, leur origine et leur diffusion. Sie scheint nie gedruckt worden zu sein, war aber Rollin bekannt und liegt hektographiert in der Wiener Library vor. Die letzte Arbeit aus dieser Periode, J. S. Curtiss, An Appraisal of the Protocols of Zion, New York 1942, ist eine sehr gründliche Zusammenfassung der damals bekannten Tatsachen, berücksichtigt aber nicht die Forschungen Rollins. Eine Generation später hat W. Laqueur in seinem Buch Deutschland und Rußland, Berlin 1965, neues Licht auf die russischen und deutschen Verbreiter der Fälschung und die Verbindungen zwischen ihnen geworfen. Ein Kapitel von J. M. Machover in dem Kollektivwerk Dix ans apres la chute de Hitler, herausgegeben vom Centre de Documentation juive contemporaine, Paris 1957, behandelt die Protokolle in der ersten Nachkriegszeit.
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Die Zahl der Bücher, Broschüren und Artikel, in denen die Protokolle verteidigt und kommentiert werden, wird auf über tausend geschätzt. Die folgende Auswahl einiger Ausgaben der Protokolle soll einen Eindruck von der Verbreitung der Fälschung vermitteln. RUSSISCH Gekürzte Fassung in Krusevans Zeitung Znamja, St. Petersburg, 26. August-7. September 1903. Vollständiger Text in Kapitel XII von S. A. Nilus, Velikoe v Malom i Antichrist..., 2. Aufl., Zarskoje Selo 1905. In G. Butmi, Vragi roda celoveceskogo, St. Petersburg 1906; 2. Aufl. von 1907. In einer Neuauflage von Nilus’ Buch unter dem Titel Bliz grjaduscij Antichrist, Moskau 1911. In einer weiteren Neuauflage von Nilus’ Buch unter dem Titel Bliz est’, pri dverech, Moskau 1917. Sionskie Protokoly, Nowotscherkask 1918. Nilus’ Text, gedruckt in der Druckerei der Donkosaken-Armee; Als Herausgeber ist A. Rodionov bekannt. RUSSISCH (EMIGRATION) Luc Sveta, Bd. III, Berlin, Mai 1920; enthält den vollständigen Text des Buches von Nilus, Ausgabe von 1911. Vsemirnyj tajnyj zagovor. Protokoly sionskich mudrecov (po Nilusu), New York 1921. Protokoly sionskich mudrecov (po tekstu S. A. Nilusa). Vsemirnyj tajnyj zagovor, Berlin 1922. M. K. Gorcakov, Sionskie Protokoly. «Doloj Z/o/», Paris 1927. DEUTSCH Gottfried zur Beek (Pseudonym von Ludwig Müller, auch genannt Müller von Hausen), Die Geheimnisse der Weisen von Zion, Charlottenburg 1919 (richtig: 1920). Sechs Auflagen im Jahre 1920. 1929 erwarb der Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf., München, die Rechte an dieser Ausgabe. Eine gekürzte Fassung erreichte 1933 die 15., 1938 die 22. Auflage. T. Fritsch, Die zionistischen Protokolle, Leipzig 1920. Diese Ausgabe hatte 1933 ihre 13. Auflage erreicht. 261
E. von Engelhardt, Jüdische Weltmachtpläne, Leipzig 1936. Die Protokolle der Weisen von Zion. Das Welteroberungsprogramm der Juden, Erste Wiener Vereins-Buchdruckerei, Wien 1940. ENGLISCH (GROSSBRITANNIEN) The jewish Peril: Protocols of theLearned Elders of Zion, London 1920. Protocols of the Learned Elders of Zion, übersetzt von V. E. Marsden, veröffentlicht von The Britons Publishing Society, London 1921. Neuauflagen dieser Fassung erschienen unter mehreren Titeln; am verbreitetsten ist World Conquest through World Government. The Protocols of the Learned Elders of Zion. Marsdens Übersetzung wurde auch in verschiedenen Teilen des britischen Empire veröffentlicht; beispielsweise erschien 1934 eine neuseeländische Ausgabe. In Lesley Fry, Waters Flowing Eastwards, Paris 1921 und 1933. Marsdens Übersetzung. Das Buch erschien im Verlag Revue internationale des Societes secretes. ENGLISCH (USA) The Protocols and World Revolution; including a translation and analysis ofthe «Protocols of the Meetings of the Zionist Men of Wisdom», Boston 1920. Eine «weiß»russische Produktion. «Praemonitus Praemunitus», The Protocols of the Wise Men of Zion, New York 1920. The Protocols of the Meetings of the Learned Elders of Zion, Chicago 1934. The Patriotic Publishing Co. Marsdens Übersetzung. The Protocols of the Learned Elders of Zion, Chicago 1935. Right Cause Publishing Co. FRANZÖSISCH «Protocols». Procès-verbaux de réunions secrètes des Sages d’Israel, Paris 1920. Veröffentlicht von La Vieille France. Mgr. E. Jouin, Le Péril judeo-maçonnique, Bd. I: Les «Protocols» des Sages de Sion, Paris 1920 (Nilus’ Fassung, jedoch nicht direkt aus dem Russischen übersetzt); Bd. IV: Les «Protocols» de 1901 de G. Butmi, Paris 1922. Die Revue internationale des Sociétés secrètes veröffentlichte billige Ausgaben dieser beiden Bände, darunter auch eine Neuausgabe der Fassung Nilus’ im Jahre 1934.
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R. Lambelin, «Protocols» des Sages de Sion, Paris 1921. Nilus’ Fassung. Zahlreiche Neuauflagen bis 1939. U. Gohier, Les Protocoles des Sages d’Israel, Paris 1924, 1925. In L. Fry, Le Retour des flots vers l’Orient. Le Juif notre maitre, Paris 1931. W. Creutz, Les Protocoles des Sages de Sion, Paris 1934. Le Complot juif. Les Protocoles des Sages de Sion, Paris o. J. (etwa 1938). Veröffentlicht vom Rassemblement antijuif de France (Darquier de Pellepoix). A. Robert, Les Protocoles des Sages de Sion, Brüssel 1935. POLNISCH Bacznoscü Przeczytaj i daj innym. Rok 1897-1920 (Protoköly posiedzeri Medrcöw Sjonuj, Warschau o. J. (etwa 1920). «Mane, Tekel, Upharsin!» ... Ksiega Straszliwa Protoköly Obrad Mqdrcöw Sjonu, New York 1920. Protokoty Medrcöw Sjonu, Warschau 1923. Veröffentlicht von der Organisation Rozwöj. «Wrogprzed bramci!», Bydgoszcz 1930. Protoköly Medrcöw Sjonu, Warschau 1934. RUMÄNISCH Ion I. Mota, Protocoalele Inteleptilor Sionului, Orstie 1923. Politica Secreta a Ovreilor Pentu Cucerirea Lumii Crestine, erschienen in Bukarest 1934. UNGARISCH Sion Bölcseinek Jegyzökönyvei. A Bolsevikiek Biblidja, Budapest 1922. TSCHECHISCH Ze Shromazdeni Sionskych Mudrcü, Prag 1927. JUGOSLAWISCH M. Tomic, Prave Osnove ili Protokoll Sionskih Mudraca, SplitSibernik 1929.
263
Patrioticus, Ko potkopava covecanstovo, Belgrad 1934. Protokoll skupova sionskih mudraca, Belgrad 1939. Jedan vazan dokument, Berlin 1936. Eine kroatische Übersetzung. GRIECHISCH Eine griechische Übersetzung der Protokolle wurde 1928 von «Drasis» veröffentlicht und mehrmals neu aufgelegt, so in den Jahren 1934 und 1940. ITALIENISCH L’Internazionale Ebraica. Protocoli dei «Savi Anziani» di Sion, Rom 1921. Erschienen im Verlag von La Vita Italiana (G. Preziosi). Neuauflagen 1937 und 1938. SPANISCH Los Protocols. Los Sabios de Sion. El Gobierno Mundial Invisible. El Programa Judio para subyugar al Mundo, Leipzig 1930. Erschienen in Fritschs Hammer-Verlag. Alfonso Jaraix (Übers.), Los Poderes ocultos de Espana, Barcelona 1932. Protocols de los Jefes de Israel, Madrid 1932. Duque de la Victoria (Übers.), Los Protocolos de los Sabios de Sion, fünfte Auflage, Madrid 1935. Diese Fassung wurde nach der französischen Ausgabe Lambelins übersetzt. L’Internationale Hebraica. Los «Protocolos» de los Sabios Ancianos de Sion, Rom 1938. Diese Übersetzung richtet sich nach der italienischen Ausgabe von 1937/38. PORTUGIESISCH (PORTUGAL) F. P. de Sequeira (Hrsg.), Os Pianos da Autocracia Judaica, Porto o. J. PORTUGIESISCH (BRASILIEN) G. Barroso, Os Protocolos dos Sabios de Siäo, Säo Paulo 1936/37. T. Moreiro, Os Protocolos dos Sabios de Siäo. O Dominio do Mundo pelos Judeus, Rio de Janeiro o. J.
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NIEDERLÄNDISCH J. Nijsse, De protocollen van de Wijzen van Sion, mit Einleitung von P. Molenbroek, Amsterdam o. J. Die gleiche Fassung mit Molenbroeks Einleitung wurde auch unter den Namen anderer Herausgeber veröffentlicht. Die siebte Auflage erschien in Amsterdam 1943. FLÄMISCH L. Welter, Het Jodendom ontmaskerd als die Aartsvijand, CourtraiBrüssel-Paris 1937. SCHWEDISCH Förläten Faller ... Det Tillkommende Världssjälvhärskardömet Enligt «Sions Vises Hemliga Protokoll», Helsingfors 1919. Israels Vises Hemliga Protokoll. Judarnas strategiska plan att med lögn och list erövra världsherraväldet, Stockholm 1934. NORWEGISCH Den nye verdenskeiser; en sensasjonell avshring av de hemmelige trädtrekkere bak verdens-politikkens kulisser, Oslo 1944. LETTISCH Zianas protokoli ... No kreewu walodas tulkojis un isdewis J. O., erschienen in Riga 1923. Diese Liste umfaßt nur die Zeit bis 1945 und ist nicht einmal für diese Periode vollständig. Nicht aufgeführt sind zum Beispiel die arabischen Ausgaben, von denen es schon in den zwanziger und dreißiger Jahren einige gab; und zweifellos erschienen in Südamerika noch andere Ausgaben als die hier verzeichneten beiden brasilianischen Übersetzungen.
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Neuere Forschungen und Veröffentlichungen zu den «Protokollen der Weisen von Zion»
Eine kommentierte Bibliographie von Michael Hagemeister Seit dem ersten Erscheinen von Norman Cohns inzwischen klassischer Darstellung Warrant for Genocide im Jahre 1967 sind zahlreiche Arbeiten zu den Protokollen der Weisen von Zion und zum Mythos der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung entstanden. Relativ wenige davon besitzen jedoch wissenschaftlichen Wert und haben zum Fortschritt der Forschung beigetragen. Allzuoft wurde lediglich abgeschrieben (zumeist von Cohn) oder aus der Literatur kompiliert. Und nicht einmal dies geschah sorgfältig, wovon zahlreiche fehlerhafte Darstellungen aus jüngster Zeit zeugen. Häufig wird der Eindruck erweckt, als sei die Frühgeschichte der Protokolle, d. h. Zeit, Ort und Umstände ihrer Entstehung und ihre anfänglichen Verbreitung, weitgehend geklärt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar gibt es Hinweise darauf, daß russische Agenten und Angehörige der zaristischen Geheimpolizei in Frankreich – namentlich der in Paris residierende Chef ihrer Auslandsabteilung Petr Rackovskij (Pjotr Ratschkowski)1 – an der Entstehung dieses Textes beteiligt waren, doch konnten Art und Umfang dieser Beteiligung nie erhellt, geschweige denn nachgewiesen werden. Nur wenige Forscher haben allerdings versucht, tiefer in das Dickicht aus Lügen, Intrigen und geheimen Machenschaften, das die Herkunft der Protokolle umgibt, einzudringen, und keiner ist dabei über die Formulierung von Hypothesen hinausgelangt. Cohn hat denn auch 1
Russische Namen und bibliographische Angaben werden in wissenschaftlicher Transliteration wiedergegeben. Wo die von Cohn verwendete Schreibweise der Namen erheblich davon abweicht, wird sie in Klammern beigefügt.
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resignierend festgestellt: «Bei dem Versuch, die Frühgeschichte der Protokolle zu rekonstruieren, stößt man immer wieder auf Zweideutigkeiten, Unklarheiten und Rätsel» (Cohn, S. 110). Und: «Wir müssen diese Fragen auf sich beruhen lassen – bis vielleicht eines Tages ein Spezialist für die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts Zeit und Kraft findet, sie wieder aufzunehmen» (ebd.). Dies ist bis heute nicht geschehen. Im folgenden wird ein Überblick über die in den vergangenen drei Jahrzehnten erschienene Literatur zu den von Norman Cohn behandelten Themen gegeben (in der Reihenfolge der Kapitel seines Buches). Im Zusammenhang damit wird auch auf die Fortschritte in der Forschung hingewiesen. Das Schwergewicht liegt bei auf Veröffentlichungen aus jüngster Zeit. Wo Übersetzungen ins Deutsche vorliegen, werden nur diese angeführt.
0. Gesamtdarstellungen und Literarische Bearbeitungen 0.1 Einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung und die zahlreichen noch offenen bzw. kontrovers diskutierten Fragen gibt M. Hagemeister, Sergej Nilus und die «Protokolle der Weisen von Zion». Überlegungen zur Forschungslage. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 5, Frankfurt a.M., New York 1996, S. 127-147. 0.2 Seit dem ersten Erscheinen von Norman Cohns Buch sind mehrere klassische Arbeiten aus den zwanziger und dreißiger Jahren wieder aufgelegt worden, darunter die mit Abstand bedeutendste und bis zu ihrer Neuausgabe schwer zugängliche umfassende Untersuchung von H. Rollin, L’Apocalypse de notre temps. Les dessous de la propagande allemande d’apres des documents inedits, Paris 1991 (zuerst Paris 1939). Von eher forschungsgeschichtlichem Interesse sind H. Bernstein, The Truth about «The Protocols of Zion», New York 1971 (Reprint der Ausgabe New York 1935, mit neuer Einleitung von N. Cohn); B. Segel, A Lie and a Libel: The History of the Protocols of the Elders of Zion, Lincoln, London 1995 (Übers, von: B. Segel, Welt-Krieg, WeltRevolution, Welt-Verschwörung, Welt-Oberregierung, Berlin 1926); V. L. Burcev, Vpogone za provokatorami. «Protokoly sionskich mudre268
cov» – dokazannyj podlog, Moskau 1991 (zuerst Paris 1938); P. Charles, S. J., Les Protocoles des Sages de Sion. In: Rencontre. Chretiens et Juifs, 4 (1970), 18, S. 219-246; auch in: Taguieff, Protocoles (wie 0.3), Bd. 2, S. 9-37 (zuerst Paris 1938). 0.3 Den wohl gewichtigsten neueren Beitrag zur Erforschung vor allem der Wirkungsgeschichte der Protokolle bildet das 1200 Seiten umfassende Werk des französischen Politologen P.-A. Taguieff, Les Protocoles des Sages de Sion, Bd. 1: Introduction al’etude des Protocoles, un faux et ses usages dans le siede; Bd. 2: Etudes et documents, Paris 1992. Der erste Band enthält neben theoretischen Überlegungen zur Vorurteils- und Stereotypenforschung eine ausführliche Darstellung der weltweiten Verbreitung und Wirkung der Protokolle sowie eine umfangreiche Bibliographie. Der zweite Band versammelt Studien verschiedener Autoren, darunter auch ältere bereits andernorts veröffentlichte Aufsätze, zu speziellen Fragen der Verbreitung und Rezeption der Protokolle (Frankreich, Großbritannien, Polen, Naher Osten u. a.) sowie Dokumente (Einleitungen, Nachworte, Kommentare und Rezensionen zu verschiedenen Editionen der Protokolle). Die Geschichte der Protokolle behandeln die Monographie des polnischen Historikers J. Tazbir, Protokoty meßrcow Syjonu. Autentyk czy falsyfikat, Warschau 1992, und des ehemaligen italienischen Botschafters in Moskau S. Romano, I falsi protocolli. II «complotto ebraico» dalla Russin di Nicola II a oggi, 2. erw. Aufl., Mailand 1995 (zuerst ebd. 1992). Beide Autoren stützen sich weitgehend auf Cohn und gehen nur dort wesentlich über ihn hinaus, wo sie die Verbreitung und Wirkung der Protokolle in Polen, im faschistischen Italien und in der Sowjetunion beschreiben. Wenig ergiebig ist hingegen G. Larsson, Fakten oder Fälschung? Die Protokolle der Weisen von Zion, Jerusalem u. a. 1995 (zuerst engl. Jerusalem, San Diego 1994). 0.4 Eine gute, knappe Darstellung der Geschichte der Protokolle gibt H. Sarkowicz, Die Protokolle der Weisen von Zion. In: K. Corino (Hrsg.), Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik, Frankfurt a. M. 1990 (zuerst Nördlingen 1988), S. 56-73. Vgl. ferner E. Piper, Die jüdische Weltverschwörung. In: J. H. Schoeps, J. Schlör (Hrsg.), Antisemitismus: Vorurteile und Mythen, 269
München, Zürich 1995, S. 127-135; B. Räsky, Plagiierte Höllendialoge. Die Fälschungs- und Wirkungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion». In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien 1995, S. 264-271. Unbrauchbar, da voller Fehler, ist der Artikel Protokolle der Weisen von Zion. In: Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 2, Berlin 1993, S. 1169-1171 (zuerst New York, London 1990); ungenau und fehlerhaft auch der kurze Artikel von U. Jensen in: W. Benz u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 657; informativ und materialreich hingegen der von S. Dudakov verfaßte ungezeichnete Artikel Protokoly Sionskich Mudrecov. In: Kratkaja evrejskaja enciklopedija, Bd. 6, Jerusalem 1992, Sp. 840-851. 0.5 Wiederholt sind die Protokolle und ihr Herausgeber Sergej Nilus zum Gegenstand literarischer Bearbeitung geworden. Das wohl berühmteste Beispiel bietet Umberto Ecos Erfolgsroman Il pendolo di Foucault (Mailand 1988), den man auch als eine literarisch verbrämte Enzyklopädie okkulter Lehren und Weltverschwörungstheorien benutzen kann: U. Eco, Das Foucaultsche Pendel, München 1989, Kap. 91-97. Die Entstehungsgeschichte der Protokolle und die Aufdeckung der Fälschung bearbeitet Danilo Kis in seiner Erzählung Das Buch der Könige und Narren. In: ders., Enzyklopädie der Toten, Frankfurt a. M. 1988, S. 141-189 (zuerst Belgrad 1983). 0.6 Einige Werke, in denen die Protokolle behandelt werden, präsentieren sich wissenschaftsförmig, dürften jedoch weitgehend fiktional sein, so z. B. der internationale Bestseller von H. Lincoln, M. Baigent, R. Leigh, Der heilige Gral und seine Erben, Bergisch-Gladbach 1987 (zuerst London 1982); darin werden die Protokolle zum Dokument einer weltumspannenden Merowingerverschwörung. In der ebenfalls weltweit erfolgreichen okkulten Verschwörergeschichte des Anthroposophen T. Ravenscroft, Der Speer des Schicksals. Das Symbol für dämonische Kräfte von Christus bis Hitler, Zug 1974, auch unter dem Titel Die heilige Lanze. Der Speer von Golgatha, München 1996 (zuerst London 1972), spricht aus den Protokollen ein Dämon, der Hitler den Weg zur Macht weist. Daß die Protokolle inzwischen auch bei den «sanften Verschwörern» des New Age Widerhall finden, beweist das Machwerk 270
von D. Icke, The Robot’s Rebellion. Renaissance, Bath 1994.
The Story of the Spiritual
1. Die Ursprünge des Mythos 1.1 Die meisten Werke zur Geschichte des Antisemitismus gehen mehr oder weniger ausführlich auf die Protokolle, ihre Herkunft und Wirkung ein, oft sind diese Darstellungen jedoch fehlerhaft, z. B. in F. Heer, Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum, München 1967 (Heer bezeichnet Sergej Nilus fälschlich als «Autor» der Protokolle); A. Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 2 Bde., Stuttgart 1980 (hier wie auch in den beiden folgenden Werken wird Nilus zu einem «russischen Professor»); H. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; F. Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990. Zuverlässige Angaben zu den Protokollen findet man in den Arbeiten des Jerusalemer Soziologen J. Katz, Jews and Freemasons in Europe 1723-1939, Cambridge, Mass., 1970; ders., Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, München 1989 (zuerst Cambridge, Mass., 1980). Zur Wirkungsgeschichte der Protokolle siehe auch G. L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 1990 (zuerst New York 1978). 1.2 Differenzierte Ausführungen zum Inhalt der Protokolle und zum historischen Kontext ihrer Entstehung (Dreyfus-Affäre) enthält das Standardwerk von L. Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. Bd. 7: Zwischen Assimilation und «jüdischer Weltverschwörung», Frankfurt a. M. 1989 (zuerst Paris 1977). Im Kontext einer «Kultur»-Geschichte antijüdischer Mythen und Vorurteile werden die Protokolle behandelt in S. Rohrbacher, M. Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, sowie in Schoeps, Schlör (Hrsg.), Antisemitismus (wie 0.4), und in Die Macht der Bilder (wie 0.4). Das Standardwerk zum Verschwörungsdenken ist noch immer J. Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776—1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und 271
Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Flensburg 1992 (zuerst Frankfurt a. M. 1976,21978); die Protokolle erscheinen hier in einem breiten Kontext von Verschwörungsliteratur. Vgl. ferner J. Rogalla von Bieberstein, The Story of the JewishMasonic Conspiracy, 1776-1945. In: Patterns of Prejudice, 11 (1977), 6, S. 1-8, 21; ders., Der Mythos von der Weltverschwörung. Freimaurer, Juden und Jesuiten als «Menschheitsfeinde». In: G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Geheimgesellschaften und der Mythos der Weltverschwörung, Freiburg, Basel, Wien 1987, S. 24-62. Einen knappen, materialreichen Überblick bietet R. C. Thurlow, The Powers of Darkness. Conspiracy Belief and Political Strategy. In: Patterns of Prejudice, 12 (1978), 6, S. 1-12, 23. Eine nicht nur faktenreiche, sondern auch theoretisch und methodisch überzeugende Untersuchung zum Verschwörungsdenken in Frankreich im 19. Jahrhundert bietet G. T. Cubitt, The Jesuit Myth. Conspiracy Theory and Politics in Nineteenth-Century France, Oxford 1993. 1.4 Über echte und imaginäre Beziehungen zwischen Freimaurerei und Judentum im 18. und 19. Jahrhundert informiert J. Katz, Jews and Freemasons (wie 1.1) und ders., Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1993. Grundsätzliches zur Theorie der Verschwörung bei D. Groh, The Temptation of Conspiracy Theory, or: Why Do Bad Things Happen to Good People?; C. F. Graumann, S. Moscovici (Hrsg.), Changing Conceptions of Conspiracy, New York u. a. 1987, S. 1-37 (kürzere deutsche Fassung: Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to good people? In: ders., Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 267-304); G. T. Cubitt, Conspiracy Myths and Conspiracy Theories. In: Journal of the Anthropological Society of Oxford, 20 (1989), S. 12-26. Im Kontext apokalyptischer Vorstellungen (mit interessanten Bezügen auch zum russischen Denken) erwähnt die Protokolle M. George, Die Fälschung der Wahrheit und des Guten. Gestalt und Wesen des Antichrist im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 102 (1991), l, S. 76-103.
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1.5 Zu Herrmann (sic) Goedsche («Sir John Retcliffe»), dem Verfasser des Romans Biarritz (mit der später so genannten «Rede des Rabbiners»), liegen inzwischen zwei Arbeiten vor: V. Neuhaus, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878. «Sir John Retcliffe» und seine Schule, Berlin 1980; R.-P. Maertin, Wunschpotentiale. Geschichte und Gesellschaft in Abenteuerromanen von Retcliffe, Armand, May, Königstein/Ts. 1983. Zur Verbreitung und Rezeption der «Rede des Rabbiners» in Rußland J.D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question, 1855-1881, Cambridge 1995, S. 440 f.; zum möglichen Einfluß auf Dostoevskij F. Ph. Ingold, Dostojewski) und das Judentum, Frankfurt a. M. 1981, S. 239-241. 1.6 In jüngster Zeit hat Umberto Eco versucht, den literarischen Stammbaum der Protokolle zu rekonstruieren und den bislang bekannten Quellen (Joly, Goedsche) weitere hinzuzufügen; siehe U. Eco, Fiktive Protokolle. In: ders., Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994, S. 155-184 (zuerst Cambridge, Mass., 1994); vgl. ders., Das Foucaultsche Pendel (wie 0.5), Kap. 94 und 95. Ecos Hinweise auf Alexandre Dumas (Joseph Balsamo) und Eugene Sue (Les mysteres du peuple), die in der Presse als «spektakulärer Fund» und «philologische Bombe» bezeichnet wurden (G. Seibt, Unterschiedenes ist gut. Wahn wird Wirklichkeit: Entdeckungen von Umberto Eco. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 113,17.5.1994, S. 35), finden sich auch bei J. Tazbir, Spiskowa teoria dziejöw w literackim zwierciadle. In: ders., Öd Haura do Isaury. Szkice o literaturze, Warschau 1989, S. 210-232, 253-257; und ders., Protokoty (wie 0.3), S. 7-16. Bereits in den 30er Jahren hatten Antisemiten auf die Übereinstimmungen zwischen der Eingangsszene in Joseph Balsamo, dem Friedhofskapitel in Biarritz und den Protokollen hingewiesen und daraus den Schluß gezogen, daß Dumas und Goedsche von den jüdischen Umsturzplänen gewußt hätten (H. de Vries de Heekelingen, Les Protocoles des Sages de Sion constituent-ils un faux? Lausanne 1938, S. 11 f.). Zu den zahlreichen literarischen Vorläufern und möglichen Quellen der Protokolle im Bereich der russischen antisemitischen und antifreimaurerischen Belletristik ausführlich S. Dudakov, Istorija odnogo mifa. Ocerki russkoj literatury XIX-XX vv., Moskau 1993. 273
2. Gegen Satan und die Alliance Israélite Universelle 2.1 Zur Verbindung von Antisemitismus, Okkultismus und Verschwörungstheorie in Frankreich siehe das bio-bibliographische Lexikon von M.-F. James, Esoterisme, occultisme, francmaconnerie et christianisme aux XIXe et XXe siedes. Explorations bio-bibliographiques, Paris 1981. 2.2 Zur Lage der Juden und zum Antisemitismus im Zarenreich vgl. S. W. Baron, The Russian Jew under Tsars and Soviets, 2. erw. Auflage, New York 1976 (zuerst ebd. 1964) H. Rogger, Jewish Polides and Right-Wing Politics in Imperial Russia, London 1986; Klier, Jewish Question, (wie 1. 5). Das weite, noch kaum erforschte Feld der russischen antisemitischen Belletristik erschließen die materialreichen Arbeiten von Dudakov, Istorija (wie 1.6) und M. N. Zolotonosov, «Master i Margarita» kak putevoditel’ po subkul’ture russkogo antisemitizma, St. Petersburg 1995. 2.3 Das Geheimnis um den berühmten Antisemiten, der sich Osman-Bey nannte (in Wirklichkeit aber Frederick Millingen hieß und englisch-französischer Abstammung war), wurde inzwischen gelüftet: C. G. De Michelis, Un professionalista dell’antisemitismo ottocentesco: Osman Bey. In: La rassegna mensile di Israel, 63(1997), 2,5.51-61. 3. Die «Protokolle» und der «Dialogue aux Enfers» 3.1 Bislang hat niemand es unternommen, alle zwischen 1903 und 1917 in Rußland erschienenen Ausgaben der Protokolle (es handelt sich um mehr als ein Dutzend) einzusehen oder auch nur bibliographisch zu erfassen, geschweige denn die verschiedenen Redaktionen textkritisch zu untersuchen und zueinander in Beziehung zu setzen – ein angesichts der Bedeutung dieser Schrift erstaunliches Versäumnis.2 Durch eine Untersuchung aller Varianten 2
Eine von Rollin und Cohn erwähnte Untersuchung verschiedener Ausgaben der Protokolle durch E. Cherikover ist nie veröffentlicht worden und war mir nicht zugänglich.
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könnte es möglich sein, diese genauer zu datieren und zu lokalisieren, ursprüngliche von späteren Intentionen zu unterscheiden und so die allmähliche Genese – denn um eine solche handelt es sich – der Protokolle zu rekonstruieren. 3.2 Einen ersten bedeutenden Schritt in diese Richtung mit dem Ziel, eine historisch-kritische Ausgabe der Protokolle zu erstellen, hat unlängst der römische Slavist De Michelis getan: C. G. De Michelis, Les «Protocols des sages de Sion». Philologie et histoire. In: Cahiers du Monde russe, 38 (1997), 3, S. 263-306. Durch einen genauen sprachlichen und inhaltlichen Vergleich der frühesten bekannten Ausgaben der Protokolle (Krusevan, Nilus, Butmi und eines Anonymus) glaubt De Michelis nachweisen zu können, daß die Urfassung des Textes im Zeitraum zwischen April 1902 und August 1903 entstanden sei, was eine Beteiligung Rackovskijs ausschließen würde. 3.3 Über die frühen Veröffentlichungen der Protokolle durch Sergej Nilus im Anhang seines Buches Das Große im Kleinen finden sich in der Literatur divergierende (und oftmals falsche) Angaben. Auch Cohn ist hier zu korrigieren: Zwar veröffentlichte Nilus die Protokolle zum ersten Mal in seinem Buch Das Große im Kleinen, das im Dezember 1905 erschien, doch handelt es sich dabei nicht um die dritte, sondern um die zweite Auflage; die erste Auflage (noch ohne die Protokolle) war 1903 in Moskau erschienen. Die Korrektur dieser Angaben ist für die Beurteilung der von Alexandre du Chayla mitgeteilten Geschichte über die Intrige gegen den Wunderheiler Philippe von Bedeutung (siehe 4.2). 3.4 Zum angeblichen Zusammenhang der Protokolle mit Th. Herzl und dem Ersten Basler Zionistenkongreß vgl. P. Nora, 1898. Le theme du complot et la definition de l’identite juive. In: M. Ölender (Hrsg.), Le racisme. Mythes et säences, Brüssel 1981, S. 157-165; auch in: Taguieff, Protocoks (wie 0.3), Bd. 2, S. 457-471; M. Hagemeister, Die «Protokolle der Weisen von Zion» und der Basler Zionistenkongreß von 1897. In: H. Haumann (Hrsg.), Der Traum von Israel. Voraussetzungen und Anfänge des Zionismus, Weinheim 1998, S. 250-273. De Michelis (wie 3.2) vermutet, daß die Protokolle mit Bezug auf den Fünften Zionistenkongreß in Basel (Dezember 1901) verfaßt worden seien und eine «Parodie» auf Herzls Judenstaat darstellten. 275
3.5 Neue Einzelheiten zur Entdeckung von Maurice Jolys Dialogue aux enfers als Textgrundlage der Protokolle durch den Korrespondenten der Times und zur mittlerweile erfolgten Identifizierung des geheimnisvollen «Herrn X» (d. i. Michail Raslovlev) bei C. Longley, Russian in «Elders of Zion» expose identified. In: The Times, London, 17.2.1978, S. l f.; C. Holmes, New Light on the «Protocols of Zion». In: Patterns of Prejudice, 11 (1977), 6, S. 13-21; ders., Anti-Semitism in British Society 1876-1939, London 1979, S. 151-155; J.-E Moisan, Les Protocoles des Sages de Sion en GrandeBretagne et aux U.S.A. In: Taguieff, Protocoles (wie 0.3), Bd. 2, S. 163-216, hier S. 194-197. 3.6 Jolys Dialogue ist in deutscher Übersetzung zugänglich unter dem Titel Ein Streit in der Hölle. Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu über Macht und Recht, Frankfurt a. M. 1990 (das Nachwort von H. M. Enzensberger, Kurze Geschichte eines Plagiats, ist fehlerhaft). Vgl. auch die aufschlußreiche Rezension von U. Raulff, Die Libido des Polizeistaats. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 184, 10.8.1991, S. 25. W. von Bredow, Realität als Persiflage. Über Maurice Joly und seinen «Dialogue aux enfers». In: Der Staat, 25 (1986), 3, S. 425-438; veränderte Fassung unter dem Titel Politischer Nachhilfe-Unterricht aus der Unterwelt. In: W. von Bredow, Th. Noetzel, Lehren des Abgrunds. Politische Theorie für das 19. Jahrhundert, Münster 1991, S. 235-248. 4. Geheimpolizei und Okkultisten 4.1 Das Milieu am Zarenhof, in dem Gestalten wie Rackovskij, Papus und Philippe verkehrten und Okkultismus, Aberglaube und Verschwörungstheorien gediehen, beleuchtet mit Bezug auf die Protokolle kenntnisreich und ausführlich, wenn auch in Einzelheiten nicht immer zuverlässig, J. Webb, The Occult Establishment, La Salle 1976. Vgl. auch R. D. Warth, Before Rasputin: Piety and the Occult at the Court of Nicholas II. In: The Historian, 47 (May 1985), S. 323-337. 4.2 Was die Intrige gegen den Wunderheiler Philippe betrifft, bei der Nilus und die Protokolle von konservativen Hofkreisen gezielt eingesetzt worden sein sollen, so ist diese erstmals 1921 276
von Alexandre du Chayla verbreitete und seitdem immer weiter ausgeschmückte Geschichte fragwürdig. Die Intrige gegen Philippe, an der auch Rackovskij beteiligt gewesen sein soll, fällt in die Jahre 1901-1902, als der Wunderheiler aus Lyon zweimal nach Rußland kam und den Zarenhof besuchte. Nilus, so du Chayla, sei bereits im Jahre 1901 durch sein Buch Das Große im Kleinen den Gegnern Philippes aufgefallen, die ihn daraufhin an den Hof geholt und zur Veröffentlichung der Protokolle im Jahre 1902 veranlaßt hätten. In jenen Jahren aber hielt sich Nilus fern von Petersburg in russischen Klöstern auf, Das Große im Kleinen erschien erst 1903, und als die zweite Ausgabe, die erstmals die Protokolle enthielt, im Dezember 1905 herauskam, war Philippe längst nach Frankreich zurückgekehrt und dort gestorben. 4.3 Zu Sergej Nilus, dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle, liegen inzwischen zahlreiche neue Daten vor, die es ermöglichen, ein differenzierteres Bild seiner Persönlichkeit zu zeichnen und seinen Lebensweg ebenso wie das Schicksal seiner Angehörigen zu verfolgen (danach sind die Angaben bei Cohn zu korrigieren bzw. zu ergänzen: Nilus ist am 14.1.1929 in Krutec, Gebiet Vladimir, gestorben, seine Frau Elena Ozerova (Jelena Oserowa) am 23.4.1938 in Kola, Gebiet Murmansk, und sein Sohn Sergej am 11.1.1941 in Kuzmy bei Gtowno in Polen). Vgl. dazu M. Hagemeister, Wer war Sergej Nilus? Versuch einer bio-bibliographischen Skizze. In: Ostkirchliche Studien, 40 (1991), l, S. 49-63. Dass. erw.: Qui etait Sergue’i Nilus. In: Politica Hermetica, 9, Paris 1995, S. 141-158; ders., Sergej Nilus (wie 0.1). Zu Nilus’ Aufenthalt im Kloster Optina Pustyn’ vgl. L. J. Stanton, The Optina Pustyn Monastery in the Russian Literary Imagination. New York u. a. 1995, bes. S. 107-109; M. Hagemeister, «Am Ufer von Gottes Fluß» – Sergej Nilus und Optina Pustyn. In: M. George u. a. (Hrsg.), Festschrift für Fairy von Lilienfeld. Beiträge zum 80. Geburtstag, Berlin 1997, S. 153-156. 4.4 In Rußland wird Sergej Nilus seit den späten achtziger Jahren in «patriotischen» Kreisen sowohl als Herausgeber der Protokolle wie auch als religiöser Schriftsteller verehrt. Die meisten seiner Werke, darunter auch die Ausgaben der Protokolle, wurden inzwischen mehrfach wiederaufgelegt. Im November 1992 veranstaltete das «Monarchistische Zentrum» in St. Petersburg einen «Inter277
nationalen Kongreß» über Sergej Nilus und die Protokolle. Von seinen Anhängern wurden auch Materialien zu Leben und Werk von Nilus erschlossen und veröffentlicht; hervorzuheben sind R. V. Bagdasarov, S. V. Fomin (Hrsg.), Neizvestnyj Nilus, Bde. 1-2, Moskau 1995; S. M. Polovinkin (Hrsg.), Sergej Aleksandrovic Nilus (1862-1929). Zizneopisanie, Moskau 1995. 4.5 Auch zu den von Cohn angeführten Zeugen Alexandre du Chayla und Fürst N. D. Zevachov (Shewachow) liegen inzwischen zahlreiche neue Daten vor. Zur schillernden Persönlichkeit des Grafen du Chayla (1885-1945), an dessen vielzitiertem Bericht erhebliche Zweifel anzumelden sind (vgl. 4.2), siehe Hagemeister, Sergej Nilus (wie 0.1), S. 133-136. Zu Zevachov (1880?1947?) siehe C. G. De Michelis, Ilprincipe N. D. Zevaxov e i «Protocolli dei savi di Sion» in Italia. In: Studi storici, 37 (1996), 3, S. 747-770. 4.6 Zur Entstehung und Rezeption der Protokolle im Kontext russischer apokalyptischer Mythen und Prophezeiungen (Juden und Freimaurer als Verbündete des kommenden Antichrist) vgl. S. Dudakov, Vladimir Solov’ev i Sergej Nilus. In: W. Moskovich u. a. (Hrsg.), Russian Literature and History. In Honour of Professor Ilya Serman, Jerusalem 1989, S. 163-169; George, Fälschung (wie 1.4); C. G. De Michelis, Przyczynek do teologicznego odczytania «Protokol–w niedre–w Syjonu». In: Kultura staropolska – kultura europejska, Warschau 1997, S. 41-51; M. Hagemeister, Eine Apokalypse unserer Zeit. Die Prophezeiungen des heiligen Serafim von Sarov über das Kommen des Antichrist und das Ende der Welt. In: J. Hösler, W. Kessler (Hrsg.), Finis mundi – Endzeiten und Weltenden. Festschrift für Hans Lemberg zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 41-60. 4.7 Über die Umstände der Entstehung der Protokolle und ihren angeblichen Weg von Frankreich nach Rußland gibt es nur wenige neue Daten, dafür aber weitreichende Spekulationen. Ganz unklar bleibt in diesem Zusammenhang die Rolle der vielzitierten Juliana (alias Justine) Glinka. Vgl. hierzu S. Dudakov, O «Protokolach sionskich mudrecov». In: Daugava, Riga, 1991, 3-4, S. 126-138; ders., E. A. Sabel’skaja. In: In Honour of Professor Victor Levin. Russian Philology and History, Jerusalem 1992, S. 392-410; E. A. Dinerstejn, A.S. Suvorin i ‘evrejskij vopros’. In: Vestnik Evrejskogo Universiteta v Moskve, l, 1992, S. 57-74; V. Skuratovskij, «Protokoly 278
sionskich mudrecov» – k anatomn odnogo rnifa. Predvaritel’nye zametki. In: Egupec’. Chudozn’o-publicisticnij al’manach institutu judaiki, Kiev, 3, 1997, S. 4-14. Eine neue, auf genaue philologische und historische Untersuchungen gestützte These vertritt De Michelis (wie 3.2): Danach seien die Protokolle zwischen 1902 und 1903 in Rußland entstanden. Bei den Hinweisen auf Frankreich und Rackovskij handele es sich um Mystifikationen. 5. Die «Protokolle» in Rußland 5.1 Das von Cohn gezeichnete Bild der antijüdischen Pogrome in Rußland und der Haltung von Staat und Kirche dazu muß aufgrund neuerer, quellengestützer Forschungen erheblich revidiert werden. Der von russischen revolutionären Emigranten erhobene und zu Propagandazwecken benutzte Vorwurf, die russische Regierung habe die Gewalt gegen Juden aktiv gefördert oder auch nur toleriert (also eine Art von Verschwörungstheorie), erweist sich danach als «one of the most durable myths of the twentieth Century» (J. D. Klier). Grundlegend hierzu I. M. Aronson, Troubled Waters: The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh 1990; E. H. Judge, Ostern in Kischinjow. Anatomie eines Pogroms, Mainz 1995 (zuerst New York, London 1992), dort auch ausführlich zu Krusevan (Pawolatschi Kruschewan). Bis zur Revolution von 1917 scheint die Wirkung der Protokolle in Rußland sehr gering gewesen zu sein (außerhalb Rußlands waren sie unbekannt): Es gibt keinerlei Belege dafür, daß sie zur Pogromhetze oder im Zusammenhang mit dem Ritualmordprozeß gegen Mendel Bejlis (1913) benutzt wurden. 5.2 Zum Antisemitismus in Rußland, insbesondere um die Jahrhundertwende vgl. H.-D. Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890-1917, Hamburg 1978; ders., The Tsars and the Jews: Reform, Reaction and Anti-Semitism in Imperial Russia, 1772-1917, Chur 1993. Zum Vorwurf einer jüdischen Verschwörung: L. Poliakov, The Topic of the Jewish Conspiracy in Russia (1905-1920) and the International Consequences. In: Graumann, Moscovici (Hrsg.), Changing Conceptions (wie 1.4), S. 105-113; ders., Geschichte (wie 1.2). 279
Zur Haltung der orthodoxen Kirche M. Agursky, Caught in a Cross Fire: The Russian Church between Holy Sinod and Radical Right (1905-1908). In: Orientalia Christiana Periodica, 50 (1984), S. 163-196. Zur Ideologie des russischen Antisemitismus und zu den Schwarzhundertern vgl. D. A. El’jasevic, Ideologija antisemitizma v Rossii v konce XlX-nacale XX vv. Obzor. In: Nacional’naja pravaja prezde i teper’. Istoriko-sociologiceskie ocerki, Teil l, St. Petersburg 1992, S. 47-72; R. Ganelin, Cernosotennye organizacii, politiceskaja polidja i gosudarstvennaja vlast’ v carskoj Rossii. Ebd., S. 73-110; S. A. Stepanov, Cernaja sotnja v Rossii. 1905-1914 gg., Moskau 1992. 5.3 Über das Ende der Zarenfamilie liegen mehrere neue Darstellungen vor, in denen auch die Lektüre von Nilus’ Buch Das Große im Kiemen in Tobol’sk im März/April 1918 erwähnt wird. Vgl. E. Radsinski, Nikolaus II. Der letzte Zar und seine Zeit, München 1994 (engl. New York u. a. 1992); Ju. Buranow, W. Chrustaljow, Die Zarenmörder. Vernichtung einer Dynastie, Berlin 1994; M. D. Steinberg, V.M. Khrustalev, The Fall of the Romanovs: Political Dreams and Personal Struggles in a Time of Revolution, New Haven, London 1995. Siehe auch das erstmals vollständig veröffentlichte letzte Tagebuch der Zarin Alexandra Feodorovna, The Last Diary of Tsaritsa Alexandra, hrsg. von V. A. Kozlov und V. M. Khrustalev, New Haven, London 1997. 5.4 Zur Bedeutung der Protokolle in der antijüdisch-antibolschewistischen Propaganda der «Weißen» im russischen Bürgerkrieg vgl. R. Pipes, Die Russische Revolution. Bd. 3: Rußland unter dem neuen Regime, Berlin 1993, bes. S. 415-421; R. Ganelin, Beloe dvüenie i «Protokoly sionskich mudrecov». In: Nacional’naja pravaja (wie 5.2), S. 124-130. 6. Die «Protokolle» erreichen Deutschland 6.1 Das Standardwerk zur russischen Emigration in Deutschland, mit eingehender Behandlung auch der russischen extremen Rechten, ist noch immer R. C. Williams, Culture in Exile. Russian Emigres in Germany, 1881-1941, Ithaca, London 1972. Vgl. auch B. Dodenhoeft, Laßt mich nach Rußland heim. Russische Emi280
granten in Deutschland von 1918 bis 1945, Frankfurt a. M. u. a. 1993; K. Schlögel (Hrsg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995. Zu Fedor Vinberg (Fjodor Winberg) ausführlich auch J. Burbank, Intelligentsia and Revolution. Russian Views of Bolshevism 19171922, New York, Oxford 1986. 6.2 Was die frühe Verbreitung und Rezeption der Protokolle in Deutschland betrifft, so ist auch hier das von Cohn gezeichnete Bild zu differenzieren. Neuere Forschungen haben beispielsweise gezeigt, daß unter den russischen rechten Emigranten ein eher diffuser, kaum rassistisch begründeter Antisemitismus herrschte (M. Vetter, Die Russische Emigration und ihre «Judenfrage». In: Schlögel [Hrsg.], Russische Emigration, (wie 6. 1), S. 109-124) oder daß die Interpretation der russischen Revolution in der Logik der Protokolle, also als jüdische Verschwörung, in der deutschen Öffentlichkeit bis zur Mitte der zwanziger Jahre kaum Verbreitung und Anklang fand (G. Koenen, Überprüfungen an einem «Nexus». Der Bolschewismus und die deutschen Intellektuellen nach Revolution und Weltkrieg 1917-1924. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 24, Gerungen 1995, S. 359-391). 6.3 Zu den frühen Kontakten zwischen russischen Emigranten und deutschen Nationalsozialisten vgl. J. Baur, Die Revolution und die «Weisen von Zion» – Zur Entwicklung des Rußlandbildes in der frühen NSDAP. In: G. Koenen, L. Kopelew (Hrsg.), Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, München 1998, S. 165-190; R.S. Ganelin, Rossijskoe cernosotenstvo i germanskij nacional-socializm. In: Nacional’naja pravaja (wie 5.2), S. 130-151. 6.4 Das Standardwerk zum Mord an Walther Rathenau ist M. Sabrow, Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994 (dort auch Näheres zu Ludwig Müller von Hausen alias Gottfried zur Beek, S. 1850-1926).
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7. Die «Protokolle» reisen um die Welt 7.1 In keinem anderen Land wurde die frühe Verbreitung und Rezeption der Protokolle so gründlich erforscht wie in Großbritannien. Dort hatten die Protokolle im Unterschied zu Deutschland zunächst sogar bei einem Teil der bürgerlichen Presse Anklang gefunden, bis dann der Nachweis des Plagiats erbracht wurde. Neben dem Standardwerk von C. Holmes, Anti-Semitism (wie 3. 5), London 1979, vgl. G. Lebzelter, Political Anti-Semitism in England 1918-1939, London 1978; R. Thurlow, Fascism in Britain. A History, 1918-1985, Oxford 1987. Detaillierte Untersuchungen liegen zu einzelnen Aspekten vor: S. Kadish, «Boche, Bolshie and the fewish Bogey»: The Russian Revolution and Press Antisemitism in Britain 1917-21. In: Patterns of Prejudice, 22 (1988), 4, S. 24-39. K. Wilson, «The Protocols ofthe Eiders ofZion» and the «Morning Post», 1919-1920. Ebd., 19 (1985), 3, S. 5-14. D. Cesarani, Anti-Zionist Politics and Political Antisemitism in Britain, 1920-1924. Ebd., 23 (1989), l, S. 28-45. C. Holmes, The Protocols of«The Britons». Ebd., 12 (1978), 6, S. 13-18. Vgl. ferner Moisan, Protocoles (wie 3.5). Zu Nesta Webster: R. M. Gilman, Behind World Revolution: The Strange Career of Nesta H. Webster. Bd. l (mehr nicht ersch.), Ann Arbor, Mich. 1982; R. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, London 1980. 7.2 In die USA waren die Protokolle bereits 1918 in einer Ausgabe von Nilus gelangt und hatten schon bald in Henry Ford ihren mächtigsten Propagandisten gefunden. Ausführlich dazu L. R. Ribuffo, Henry Ford and «The International Jew». In: American fewish History, 69 (1979-1980), S. 437-477; R. Singerman, The American Career ofthe «Protocols of the Elders of Zion». Ebd., 71 (198182), S. 48-78. Vgl. auch Z. Szajkowski, Jews, Wars and Communism, Bd. 2: The Impact ofthe 1919-20 Red Scare on American Jewish Life, New York 1974. Zu Ford siehe auch A. Lee, Henry Ford and the Jews, New York 1980. 7.3 Neuere Veröffentlichungen aus russischen Archiven haben gezeigt, daß die Protokolle in den frühen zwanziger Jahren auch in der Sowjetunion verbreitet waren und zur antibol282
schewistischen Agitation benutzt wurden; siehe N. Tepcov (Hrsg.), Monarchija pogibla, a antisemitizm ostalsja. Dokumenty Informadonnogo otdela OGPU 1920-ch gg. In: Neizvestnaja Rossija. XX vek, Moskau 1993, S. 324-358. Vgl. auch M. Vetter, Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917-1939, Berlin 1995. 8. Der Mythos und die deutsche Rassenideologie 8.1 Zu den Verbindungen von Antisemitismus und völkischer Ideologie in der Weimarer Zeit siehe (auch mit Bezug auf die Protokolle) V. Losemann, Rassenideologien und antisemitische Publizistik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Th. Klein u.a. (Hrsg.), Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1984, S. 137-159. Zum Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (wiederum mit Hinweisen auf die Protokolle) U. Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919-1923, Hamburg 1970. Zur geheimnisumwitterten und in ihrer Bedeutung oftmals überschätzten «Thule-Gesellschaft» liegen zwei sachliche Untersuchungen vor: H. Gilbhard, Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, München 1994; D. Rose, Die Thule-Gesellschaft: Legende – Mythos – Wirklichkeit, Tübingen 1994. Siehe auch die solide und materialreiche Arbeit von N. GoodrickClarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz, Stuttgart 1997 (zuerst Wellingborough 1985). 8.2 Zum Mythos von der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung in völkischen Kreisen der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus siehe die gründliche und überaus materialreiche Arbeit von H. Neuberger, Freimaurerei und Nationalsozialismus. Die Verfolgung der deutschen Freimaurerei durch völkische Bewegung und Nationalsozialismus 1918-1945, Bde. 1-2, Hamburg 1980. Vgl. ferner A. Pfahl-Traughber, Der antisemitischantifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat, Wien 1993; F. Morvan, Aspects du mythe conspirationniste antimafonnique en Allemagne. In: Politica Hermetica, 9, Paris 1995, S. 159-171. 283
8.3 Der Einfluß des Verschwörungsmythos der Protokolle auf die Herausbildung der antisemitischen und antibolschewistischen Einstellung Hitlers ist in der Forschung umstritten. Vgl. G. Schubert, Anfänge nationalsozialistischer Außenpolitik, Köln 1963; W. Hörn, Ein unbekannter Aufsatz Hitlers aus dem Frühjahr 1924. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 16 (1968), 3, S. 280-294; W. Meyer zu Uptrup, Wann wurde Hitler zum Antisemiten? Einige Überlegungen zu einer strittigen Frage. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), 8, S. 687-697; Koenen, Überprüfungen (wie 6.2). 9. Der Mythos in der Nazi-Propaganda 9.1 Die Bedeutung der Protokolle für die Ideologie Hitlers wie auch anderer führender Nationalsozialisten wird bis heute kontrovers diskutiert. Walter Laqueur, der diese Frage (im Anschluß an Konrad Heiden und Henri Rollin) 1965 in seinem Buch Russia and Germany ausführlich und differenziert behandelt hat, stellte 1993 wohl zu apodiktisch fest: «Hitler, Goebbels, Göring und Konsorten hielten die Juden für eine minderwertige Rasse; sie haßten und verachteten sie, glaubten jedoch nie an eine gigantische Verschwörung.» (W. Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993, S. 145). Dagegen betonte W. Meyer zu Uptrup, das «Konzept der jüdischen Weltverschwörung» sei ein «wichtiges Grundelement» des Antisemitismus der Nationalsozialisten gewesen: W. Meyer zu Uptrup, Der Kampf gegen die «jüdische Weltverschwörung». Zur inneren «Logik» des Antisemitismus der Nationalsozialisten. In: E. Geldbach (Hrsg.), Vom Vorurteil zur Vernichtung? «Erinnern» für morgen, Münster 1995, S. 161-180; ders., Weltwirtschaft und Weltherrschaft. Eine Skizze aus den Quellen zu einem Aspekt des Antisemitismus in der NSDAP-Propaganda. In: J. Heil, B. Wacher (Hrsg.), Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition, München 1997, S. 219-233. 9.2 Hitler erwähnte die «Weisen von Zion» in den frühen 20er Jahren gelegentlich in seinen Reden, und 1924 machte er eine längere Bemerkung über die Protokolle in Mein Kampf. Auch später bediente er sich des Mythos von der jüdischen Weltverschwörung als wirkungsvoller Propagandawaffe, doch bezog er sich dabei nur noch selten ausdrücklich auf die Protokolle. Dies gilt auch 284
für andere Mitglieder der nationalsozialistischen Führungsspitze. Während Goebbels in seiner Propaganda bis zuletzt den Kampf gegen die «jüdische Weltherrschaft» predigte und auch das Bild vom Juden als dem «Antichrist der Weltgeschichte» benutzte, erwähnte er in seinen umfangreichen Tagebüchern die Protokolle nur ein einziges Mal (13. Mai 1943), wobei er offenließ, ob sie echt oder «von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden» seien (Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. von E. Fröhlich. Teil 2: Diktate 1941-1945. Bd. 8: April-Juni 1943, München u. a. 1993, S. 287). 9.3 Zur Interpretation des Nationalsozialismus als dualistisch konstruierter politischer Religion, in der die jüdische Verschwörung satanisiert wird und der Kampf gegen sie heilsgeschichtliche Bedeutung erlangt, vgl. C.-E. Barsch, Antijudaismus, Apokalyptik und Satanologie. Die religiösen Elemente des nationalsozialistischen Antisemitismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 40 (1988), l, S. 112-133; ders., Der Jude als Antichrist in der NS-Ideologie. Ebd., 47 (1995), 2, S. 160-188; sowie die Beiträge in M. Ley, J.H. Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim bei Mainz 1997. 10. Fälscher vor Gericht 10.1 Die Protokolle wurden von der NS-Propaganda zwar benutzt und bis zum Ende der 30er Jahre in zahlreichen Ausgaben verbreitet, doch haben offizielle Stellen es vermieden, sich auf die Diskussion um ihre Echtheit einzulassen. Man überließ dies weitgehend der privaten antisemitischen Propaganda- und Nachrichtenorganisation «Weltdienst», die die «Erforschung» und Verbreitung der Protokolle betrieb und dabei auch Kontakte zu Sergej Nilus’ Sohn und Nichte unterhielt. Ihr Leiter, der Oberstleutnant a. D. Ulrich Fleischhauer (1876-?), tat sich besonders beim berühmten Berner Prozeß um die Protokolle hervor. Eine gründliche, aus den Archiven gearbeitete Darstellung des «Weltdienstes» und des mit ihm verbundenen U. Bodung-Verlags in Erfurt bleibt ein Desiderat der Forschung. Einige Angaben dazu bei Neuberger, Freimaurerei (wie 8.2), Bd. 2.
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10.2 Zum Berner Prozeß siehe U. Lüthi, Der Mythos von der Weltverschwörung. Die Hetze der Schweizer Frontisten gegen Juden und Freimaurer – am Beispiel des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion», Basel, Frankfurt a. M. 1992. Eine Biographie des Schweizer Gutachters Loosli stammt von E. Marti, Carl Albert Loosli, Teil l, Zürich 1996 (der 2. Teil soll Looslis Rolle im Berner Prozeß behandeln). Zu Boris Tödtli R.C. Williams, Tödtli – A Berne Defender of the Protocols. In: Wiener Library Bulletin, 23 (1969), 2-3, S. 67-71 (Wiederabdr. unter dem Titel Boris Tödtli: A Russian Fascist and Nazi Germany. In: ders., Russia Imagined: Art, Culture and National Identity, 1840-1995, New York u. a. 1997, S. 177-183). Zu Konstantin (Rodzaevskij) Rodsajewski ausführlich J. J. Stephan, The Russian Fascists: Tragedy and Farce in Exile 1925-1945, London 1978. 11. Die antisemitische Internationale Zur weltweiten Verbreitung der Protokolle seit den 20er Jahren siehe die Beiträge in Taguieff, Protocoles (wie 0.3), Bd. 2. Vgl. ferner für die USA das Standardwerk von S. M. Lipset, E. Raab, The Politics of Unreason. Right-Wing Extremism in America, 1790-1977, Chicago 1978. Zum Gebrauch der Protokolle durch katholische Kirchenkreise in Frankreich (Mgr. Jouin) siehe E. Poulat, Catholicisme, democratie et socialisme. Le mouvement catholique et Mgr Benigni de la naissance du socialisme ä la victoire dufascisme, Paris 1977. Zu Polen vgl. P. Zawadski, «Protokoly medrcöw Syjonu» w polskiej mysli antysemickiej. In: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego w Polsce, 1993, 3/4 (167/168), S. 63-82; R. Modras, The Catholic Church and Antisemitism. Poland, 1933-1939, Chur 1994. Zum faschistischen Italien: Romano, Protocolli (wie 0.3). 12. Die «Protokolle» heute 12.1 Heute, fast hundert Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung in Rußland, werden die Protokolle in aller Welt verbreitet (in jüngster Zeit auch durch das Internet) und von unterschiedlichsten Gruppen zur politischen und antisemitischen Agitation benutzt – von den amerikanischen «Christian Patriots» wie von den 286
Extremisten der «Nation of Islam», von russischen Chauvinisten der «Pamjat’»-Bewegung wie von Kommunisten, die den «Klassenfeind» durch die «zionistischen Weltverschwörer» ersetzt haben. Aktuelle Überblicke vermitteln die Beiträge in L. Poliakov (Hrsg.), Histoire de l’antisemitisme 1945-1993, Paris 1994; siehe auch R. Wistrich, Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel, Ismaning 1987 (zuerst London 1985); ders. (Hrsg.), Anti-Zionism and Antisemitism in the Contemporary World, London u. a. 1990. Zum Einfluß der Protokolle in den USA vgl. G. Johnson, Architects of Fear. Conspiracy Theories and Paranoia in American Politics, Los Angeles 1983, sowie das Standardwerk von Lipset, Raab, Politics (wie 11). Zum (gegenwärtig wieder besonders aktuellen) Verschwörungsdenken siehe auch den klassischen Essay von R. Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics. In: ders., The Paranoid Style in American Politics, and Other Essays, New York 1965. Vgl. ferner C. F. Graumann, S. Moscovici (Hrsg.), Changing Conceptions of Conspiracy, New York 1987, sowie die Beiträge in: Kursbuch, Bd. 124: Verschwörungstheorien, Berlin 1996. Speziell zu England: M. Billig, Fascists. A Social Psychological View of the National Front, London u. a. 1978; ders., Rhetoric of the Conspiracy Theory: Arguments in National Front Propaganda. In: Patterns of Prejudice, 22 (1988), 2, S. 23-34. Zu Frankreich: H. H. Weinberg, The Myth of The Jew in France 1967-1982, Oakville u. a. 1987. Zum Verschwörungsdenken in der islamischen Welt: B. Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, 2. erw. Aufl., Hamburg 1994. 12.2 Zum Mythos von der zionistischen Verschwörung und zur Rezeption der Protokolle in der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen Rußland liegen mehrere Untersuchungen von William Korey und Walter Laqueur vor; genannt seien nur die beiden jüngsten umfassenden Darstellungen: W. Korey, Russian Antisemitism, Pamyat, and the Demonology of Zionism, Chur 1995; Laqueur, Schoß (wie 9.1; engl. New York 1993). Siehe auch die materialreiche Studie von Y. Tsigelman, «The Universal Jewish Conspiracy» in Soviet Anti-Semitic Propaganda. In: Th. Freedman (Hrsg.), Anti-Semitism in the Soviet Union: Its Roots and Consequences, New York 1984, S. 394-421. Vgl. ferner G. Koenen, Mythus des 21. Jahrhunderts? Vom russischen zum Sowjet-Antisemitismus – ein histo287
rischer Abriß. In: ders., K. Hielscher, Die schwarze Front. Der neue Antisemitismus in der Sowjetunion, Reinbek 1991, S. 119-223; M. Messmer, Sowjetischer und postkommunistischer Antisemitismus. Entwicklungen in Rußland, der Ukraine und Litauen, Konstanz 1997. Speziell zu den Protokollen: M. Hagemeister, Die «Protokolle der Weisen von Zion». Einige Bemerkungen zur Herkunft und zur aktuellen Rezeption. In: Rußland und Europa. Historische und kulturelle Aspekte eines Jahrhundertproblems, Leipzig 1995, S. 195-206. Über die enge Verbindung von Okkultismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien im postsowjetischen Rußland informiert B. G. Rosenthal, Political Implications of the Early TwentiethCentury Occult Revival. In: dies. (Hrsg.), The Occult in Russian and Soviel Culture, Ithaca, London 1997, S. 379-418. Zu den wenigen kritischen Arbeiten, die zu dieser Thematik in Rußland erschienen sind, gehört M. Volina, Tajnye sily. Masonstvo i «zidomasony», Moskau 1991. Kritisch zur aktuellen Verbreitung der Protokolle in Estland: K. ROSS, ??? – Bern 1935 – Tartu 1995. In: Raduga, Tallinn, 1996, 3, S. 107-115. 12.3 Aus der unübersehbaren Fülle antisemitischer («antizionistischer») Schriften, die in der Sowjetunion und im postsowjetischen Rußland entstanden sind und sich auf die Protokolle beziehen, seien nachfolgend nur einige besonders aufsehenerregende und weitverbreitete genannt: V. Emel’janov, Desionizacija, zuerst Paris 1979, danach mehrere Ausgaben im Samizdat; A. G. Dugin, Konspirologija (nauka o zagovorach, tajnych obscestvach i okkul’tnoj vojne), Moskau 1993; Ju. K. Begunov, Tajnye sily v istorii Rossii. Sbornik statej i dokumentov, 2. erg. Aufl. St. Petersburg 1996 (zuerst ebd. 1995); N. Dobroljubov, Tajnye obscestva XX veka, St. Petersburg 1996. Das ganze Arsenal antijüdischer und antifreimaurerischer Verschwörungsmythen des 19. und 20. Jahrhunderts – einschließlich der Protokolle – findet sich auch in zahlreichen Schriften, die seit Anfang der 90er Jahre unter dem Namen des Metropoliten von St, Petersburg und Ladoga loann, eines der ranghöchsten Hierarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, massenhaft verbreitet werden. Einen wissenschaftlichen Anstrich geben sich die Arbeiten der sowjetischen Journalisten B.A. Pecnikov, «Rycari cerkvi». Kto oni? Ocerki ob istorii i sovremennoj dejatel’nosti katoliceskich ordenov, Moskau 1991, und L. P. Zamojskij, Zafasadom masonskogo chrama. 288
Vzgljad naproblemu, Moskau 1990 (auch engl.: Behind the Facade of the Masonic Temple, Moskau ca. 1990), tatsächlich basieren sie jedoch ganz unkritisch auf den Machwerken von Lincoln, Baigent, Leigh, Gral, und Ravenscroft, Speer (wie 0.6).
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Anhang
Die «Rede des Rabbiners»
Zu diesem Vorläufer der Protokolle siehe oben S 35-41. Unsere Väter haben den Erwählten Israels die Pflicht hinterlassen, sich einmal in jedem Jahrhundert um das Grab des Großmeisters Caleb, des heiligen Rabbi Simeon ben Jehuda, zu versammeln, dessen Wissenschaft den Erwählten jeder Generation Macht über die ganze Erde und Gewalt über alle Abkömmlinge Israels gibt. Seit achtzehn Jahrhunderten liegt Israel im Kriege mit jener Macht, die zuerst Abraham verheißen war, die ihm dann aber vom Kreuz geraubt wurde. Mit Füßen getreten, von seinen Feinden gedemütigt, immerfort bedroht von Tod, Verfolgung, Schändung und Gewalttat jeder Art, ist das Volk Israel nicht untergegangen; und wenn es über die ganze Erde zerstreut ist, so deshalb, weil ihm die ganze Erde zu eigen sein soll. Seit achtzehn Jahrhunderten kämpfen unsere Weisen tapfer und mit unermüdlicher Ausdauer gegen das Kreuz. Nach und nach erhebt sich unser Volk, und seine Macht nimmt Tag für Tag zu. Unser ist jener Gott des Tages, den Aaron für uns in der Wüste aufrichtete, das Goldene Kalb, die allgemeine Gottheit des Zeitalters. An dem Tag, an dem wir uns zu den alleinigen Besitzern alles Goldes in der Welt gemacht haben werden, wird die wirkliche Macht in unseren Händen sein, und alsdann werden sich die Verheißungen erfüllen, die Abraham gegeben wurden. Das Gold, die größte Macht auf Erden ... das Gold, welches die Stärke, der Lohn, das Werkzeug jeder Macht ist... die Summe all dessen, was der Mensch fürchtet und ersehnt ... hier ist das einzige Geheimnis, das tiefste Wissen von dem Geist, der die Welt regiert. Hier ist die Zukunft! 1
Mit Ausnahme der ersten acht Absätze, die aus dem Englischen übersetzt sind, folgt der deutsche Text dem Abdruck bei Ulrich Fleischhauer, Die echten Protokolle der Weisen von Zion. Sachverständigengutachten, erstattet im Auftrage des Richteramtes V in Bern, Erfurt 1935, S. 375-378 (Anm. d. Übers).
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Achtzehn Jahrhunderte gehörten unseren Feinden; das gegenwärtige Jahrhundert und die künftigen Jahrhunderte müssen uns gehören, dem Volk Israel, und sicher werden sie uns gehören. Zum zehnten Mal in tausend Jahren eines schrecklichen und niemals endenden Krieges gegen unsere Feinde sind nun die Erwählten einer Generation des Volkes Israel auf diesem Friedhof um das Grab unseres Großmeisters Caleb, des heiligen Rabbi Simeon ben Jehuda, versammelt, um Rates zu pflegen, wie die großen Fehler und Sünden, welche unsere Feinde, die Christen, unaufhörlich begehen, zum Besten unserer Sache ausgenützt werden können. Jedesmal hat der neue Sanhedrin zum schonungslosen Kampf gegen unsere Feinde aufgerufen; aber in keinem der früheren Jahrhunderte haben unsere Altvorderen in unseren Händen so viel Gold und sogleich so viel Macht anzusammeln vermocht, wie uns das neunzehnte Jahrhundert verschafft hat. Wir können deshalb ohne vorschnelle Selbsttäuschung damit rechnen, bald unser Ziel zu erreichen, und wir können mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Die peinlichen und leidensvollen Zeiten der Verfolgung und Erniedrigung, welche das Volk Israels mit heroischer Geduld ertrug, sind glücklich vorüber, dank dem Fortschritte der Zivilisation der Christen. Dieser Fortschritt ist für uns der sicherste Schild, hinter dem wir uns verstecken und unbemerkt rasch jenen Raum überschreiten können, welcher uns von unserem erhabenen Ziele trennt. Werfen wir einen Blick auf die materielle Situation Europas und besehen wir uns die Quellen, welche sich die Israéliten vom Beginne dieses Jahrhunderts an selbst lediglich dadurch eröffnet haben, daß sie in ihren Händen jenes immense Kapital angehäuft haben, über welches sie nun verfügen, wie in Paris, London, Wien, Berlin, Amsterdam, Hamburg, Rom, Neapel und dergleichen. Überall sind die Rothschilde, die Juden, Herren der finanziellen Situation vermöge ihrer Milliarden, abgesehen davon, daß in einem jeden Orte zweiten oder dritten Ranges wieder nur sie die Herren ertragreicher Fände sind und daß überall ohne die Kinder Israels, ohne ihren unmittelbaren Einfluß keine Finanzoperation, keine wichtige Unternehmung durchgeführt werden kann. Die Börse notiert und reguliert diese Schulden, und wir sind meistenteils Herren dieser Börsen überall. Wir müssen daher trachten, diese Schuld immer mehr zu erleichtern, um uns zu Herren der Preise zu machen, und wir müssen wegen der Kapitalien, welche wir den Ländern leihen, ihre Eisenbahnen, ihre Bergwerke, ihre Wälder, ihre 294
Hüttenwerke und Fabriken ausnützen, ja sogar auch ihre Steuern als Pfand nehmen. Die Landwirtschaft wird immer den größten Reichtum eines jeden Landes bilden. Die großen Grundbesitzer werden stets Achtung und Einfluß besitzen. Daraus folgt, daß unser Streben auch daraufgerichtet sein muß, daß unsere Brüder in Israel sich der ausgedehnten Ländereien bemächtigen. Unter dem Vorwande, daß wir den arbeitenden Klassen helfen wollen, müssen wir die ganze Last der Steuern auf die Großgrundbesitzer überwälzen, und wenn dann ihre Güter in unsere Hände fallen werden, dann wird die Arbeit des christlichen Proletariats zu einer Quelle unermeßlichen Gewinnes. Wir müssen mit allen Mitteln trachten, den Einfluß der christlichen Kirche, welche stets unsere größte Feindin war, herabzumindern, und zu diesem Zwecke müssen wir in die Herzen ihrer Gläubigen freisinnige Ideen, Zweifel säen, Zwietracht und Religionsstreitigkeiten hervorrufen. Jeder Krieg, jede politische und religiöse Änderung bringt uns jenem Augenblick näher, wo wir das höchste Ziel erreichen, nach dem wir streben. Handel und Spekulation. Diese zwei ausgiebigen Quellen des Gewinnes dürfen niemals den Händen der Israéliten entrissen werden, und vor allem ist der Handel mit Alkohol, Butter, Brot und Wein zu schützen, denn dadurch werden wir zu unbeschränkten Herren der Landwirtschaft. Damit werden wir zu Getreidelieferanten; wenn aber infolge der Not Mißmut und Unzufriedenheit entstehen, werden wir immer genug Zeit finden, um die Verantwortung auf die Regierungen zu schieben. Alle öffentlichen Ämter müssen den Juden zugänglich gemacht werden, und wenn diese einmal Amtspersonen geworden sind, werden wir durch Kriecherei und Voraussicht unserer Faktoren eine Quelle des wahren Einflusses und der Macht erreichen. Es ist selbstverständlich, daß es sich nur um solche Ämter handelt, mit welchen Ehre, Macht und Privilegien verbunden sind; denn jene Ämter, welche Wissen und Arbeit erheischen und Unannehmlichkeiten im Gefolge haben, können und müssen den Christen überlassen werden. Das Justizamt ist für uns das wichtigste. Die Karriere eines Anwalts bietet die beste Gelegenheit, mit seinem Wissen zu prahlen, und zugleich werden wir durch dieselbe in die Geschichte unserer ärgsten Feinde – der Christen – eingeweiht. Durch diese Kenntnis wird es uns möglich sein, sie von uns abhängig zu machen. 295
Warum könnten die Juden nicht Minister für öffentlichen Unterricht sein, nachdem sie schon so oft das Portefeuille der Finanzminister innehatten? Die Juden müssen auch trachten, in die gesetzgebenden Körperschaften zu gelangen, damit sie an der Aufhebung jener Gesetze arbeiten können, welche die Gojim gegen die Kinder Israels, die Rechtgläubigen und Anhänger Abrahams, gemacht haben. Übrigens ist unser Plan in dieser Richtung der vollständigen Realisierung nahe, denn der Fortschritt hat uns beinahe überall anerkannt und uns dieselben Bürgerrechte wie den Christen zugesprochen. Aber dasjenige, was wir zu erreichen trachten, was den Gegenstand unseres beständigen Strebens bilden muß, ist ein milderes Konkurrenzgesetz. Damit gewinnen wir eine Goldgrube, welche ein größeres Erträgnis liefern wird als die Gruben Kaliforniens. Das Volk Israel muß sein Bestreben auf jene hohe Machtstufe richten, von welcher aus die Ehre und Achtung ausgehen; das wirksamste Mittel, dies zu erreichen, liegt darin, sich an allen industriellen und Finanzoperationen und Handelsunternehmungen zu beteiligen, wobei man sich nur davor hüten muß, daß man der Gefahr der gerichtlichen Verfolgungen infolge einer Falle oder Verführung ausgesetzt werde. Man muß daher bei der Wahl der Art der Spekulation jene Schlauheit und jenen Takt anwenden, welcher einem für Handelsgeschäfte schon angeboren ist. Wir dürfen in nichts zurückbleiben, was uns eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft sichern könnte; Philosophie, Medizin, Jus und politische Ökonomie, mit einem Worte alle Zweige der Wissenschaft, Kunst und Literatur sind ein weites Feld, wo uns der Erfolg reiche Ernte bringen und unsere Anlagen in das rechte Licht stellen kann. Diese Zuneigung ist von der Spekulation unzertrennlich. So wird die Produktion einer musikalischen Komposition, mag sie noch so schwach sein, uns den besten Anlaß bieten, einen Juden, welcher der Schöpfer derselben ist, emporzuheben und sein Haupt mit der Gloriole des Ruhmes zu umgeben. Belangend die Medizin und Philosophie, so müssen auch diese einen Teil unserer geistigen Güter bilden. Der Arzt ist in die intimsten Familiengeheimnisse eingeweiht und hat solcherart die Gesundheit und das Leben unserer Feinde, der Christen, in seinen Händen. Wir müssen darauf bedacht sein, die ehelichen Verbindungen zwischen Juden und Christen zu fördern, denn das jüdische Volk kann dadurch, ohne daß es zu Schaden käme, nur gewinnen. Die Einführung einer gewissen Menge unreinen Blutes in unsere von Gott auserwählte 296
Nation kann nämlich die letztere nicht vernichten, und unsere Töchter erlangen durch diese Ehen die Verbindung mit Familien, welche Macht und Einfluß besitzen. Im Tauschwege für unser Geld gewinnen wir natürlich Einfluß auf unsere Umgebung. Die Freundschaft mit den Christen wird uns nicht von dem Wege abwendig machen, welchen wir uns vorgezeichnet haben, im Gegenteile, ein Teil unserer Geschicklichkeit wird aus uns ihre Gebieter machen. Es wäre zu wünschen, daß sich die Israéliten enthalten, Frauen ihrer heiligen Religion als Maitressen zu sich zu nehmen, und ist zu empfehlen, daß sie für diese Aufgabe eine christliche Jungfrau finden. Von großer Bedeutung wäre es, das Sakrament der Ehe bloß durch eine einfache zivile Zeremonie zu vollziehen, denn dann würden sich die christlichen Frauen auf unsere Seite schlagen. Ist das Gold die Hauptmacht auf Erden, so wird die zweite Stelle gewiß von der Presse eingenommen. Denn was vermag diese ohne das erstere? Da das oben Erwähnte ohne Hilfe der Presse nicht durchzuführen ist, erscheint es unumgänglich notwendig, daß sich die Leitung der Zeitschriften in den Händen unserer Leute befinde. Der Reichtum und die Gewandtheit, die Mittel zu wählen, um sich die käuflichen Großen geneigt zu machen, werden uns zu Herren der öffentlichen Meinung machen und die Massen in unsere Macht ausliefern. Werden wir in dieser Weise Schritt für Schritt beharrlich vorwärtsschreiten, so werden wir die Christen zurückdrängen und ihren Einfluß vernichten. Wir werden der Welt vorschreiben, was in derselben Ehre und Vertrauen genießen, was mißachtet werden soll. Vielleicht werden sich gegen uns einzelne Individuen erheben und uns mit Beschimpfungen und Flüchen überschütten, aber die unwissenden und nachgiebigen Massen werden sich unser annehmen und für uns Partei nehmen. Wenn wir einmal unbeschränkte Herren der Presse geworden sind, wird es uns leicht möglich sein, die bestehenden Begriffe von Ehre, Tugend, Charakter abzuändern und der geheiligten Institution der Familie, welche bisher sacrosanct war, die erste Wunde zu schlagen und ihre Vernichtung zu Ende zu führen. Wir können dann den Glauben an das Vertrauen in alles, was unsere Feinde, die Christen, bisher erhob, ausmerzen, und nachdem wir uns aus den Leidenschaften die erforderliche Waffe geschmiedet haben, wird es möglich sein, allem, was bisher geehrt und geachtet war, den Krieg zu erklären. Jedes Kind Israels muß einen jeden Punkt dieser richtigen Grundsätze auffassen, bewahren und durchschauen. So wird unsere Macht zu 297
einem Riesenbaume emporwachsen, und seine Äste werden Früchte tragen, nämlich: Reichtum, Nutzen und Einfluß. Das wird den Ersatz bilden für das schreckliche Schicksal, welches Israel durch lange Jahrhunderte erduldet hat. Tut einer von den unseren einen Schritt nach vorwärts, so muß ihm ein anderer sogleich nachfolgen; gerät er auf Abwege, so muß ihm einer von den Stammesgenossen helfen. Wird ein Jude vor Gericht gestellt, so erscheint es notwendig, daß seine Nächsten sich seiner annehmen und ihm Hilfe gewähren, aber nur dann, wenn er nach den Vorschriften gelebt hat, welche Israel so lange beobachtet hatte. Unser Volk hält die religiösen Gebräuche unserer Urväter getreu ein. Unser Interesse erheischt es, daß wir für die sozialen Tagesfragen Verständnis zeigen, insbesondere für jene, welche die Verbesserung der Verhältnisse der arbeitenden Klassen anstreben. In Wahrheit muß aber unsere Mühe darauf abzielen, daß wir uns dieser Seite der öffentlichen Meinung bemächtigen und ihr ihre Bahnen vorzeichnen. Die Verblendung der Massen und ihre Geneigtheit, sich durch pathetische Phrasen einnehmen zu lassen, machen uns diese zu einer leicht gewinnenden Beute, verschaffen uns in ihrem Kreise Popularität und Vertrauen. Wir finden leicht unter unseren Leuten solche, welche ihre erkünstelten Gefühle in eine solche Beredsamkeit kleiden können wie aufrichtige Christen ihre wahrhaftige Begeisterung. Es ist notwendig, so viel als möglich das Proletariat den Juden zugeneigt zu erhalten und dasselbe jenen unterzuordnen, welche über Geld verfügen. Wir werden es zu Revolutionen und Umstürzen drängen und eine jede ähnliche Katastrophe wird uns in unseren Beziehungen dem einzigen Ziele näher bringen, dem Ziele, auf Erden zu herrschen, wie unserem Vater Abraham verheißen ward.
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Einige Parallelstellen der «Protokolle» und des «Dialogue aux Enfers» Zur Geschichte des Plagiats, das der Verfasser der Protokolle an Maurice Jolys Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu beging, siehe oben, S. 74-78. Dialogue aux Enfers1 Erstes Gespräch Der schlechte Instinkt ist beim Menschen mächtiger als der gute. [...] Die Furcht und die Macht haben über ihn mehr Gewalt als die Vernunft. [...] Die Menschen streben alle nach der Herrschaft, und es gibt unter ihnen keinen, der nicht ein Unterdrücker wäre, wenn er es sein könnte. Alle, oder fast alle, sind dazu bereit, die Rechte ihrer Mitmenschen ihren eigenen Interessen zu opfern.
Protokolle2 Erste Sitzung Ich stelle fest, daß die Menschen mit bösen Trieben zahlreicher sind als die mit guten Eigenschaften, daß diese in der Staatsverwaltung weit mehr durch Gewalt und Rücksichtslosigkeit erreichen, als durch wissenschaftliche Erörterungen. Jeder Mensch strebt nach Macht, jeder Einzelne will Herr seiner Entschlüsse und Taten sein, jeder möchte sich zum «Selbstherrscher» (Diktator) machen, wenn er nur könnte. Dieses Streben nach Macht ist so stark, daß es kaum einen Menschen gibt, der nicht bereit wäre, das Allgemeinwohl zu opfern, um den eigenen Vorteil durchzusetzen.
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Der deutsche Text ist folgender Ausgabe entnommen: Maurice Joly, Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu oder Der Machiavellismus im XIX. Jahrhundert, Übersetzung aus dem Französischen von Univ. Professor Dr. Dr. Hans Leisegang, Hamburg 1948, S. 6, 49/50, 93-100. (Anm. d. Übers.) 2
Der deutsche Text ist folgender Ausgabe entnommen: Die Geheimnisse der Weisen von Zion, herausgegeben von Gottfried zur Beek, 5. Aufl., Charlottenburg 1920, S. 68, 87, 104—106. Die Zwischenüberschriften zur Beeks wurden weggelassen. (Anm. d. Übers.)
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Was hält diese reißenden Tiere, die man Menschen nennt, zusammen? Bei der Entstehung der Gesellschaftsordnungen ist es die brutale und ungezügelte Gewalt, später ist es das Gesetz, also wieder die Gewalt, nur geregelt durch gewisse Formen. [...] überall erscheint die Gewalt vor dem Recht. Die politische Freiheit ist ein Ideal, das nur einen relativen Wert hat.
Welche Naturtriebe beherrschen die Raubtiere, die sich vom Blute der Menschen nähren? Was ist ihr Tun und Wollen allezeit gewesen? Als die menschliche Gesellschaft entstand, rissen die Raubtiere in Menschengestalt die rohe und blinde Gewalt an sich. Hieraus ziehe ich den Schluß, daß die Gewalt allein maßgebend ist, sei sie auch noch so verschleiert und bemäntelt. Somit folgt: das Grundgesetz des Daseins beruht völlig auf dem Gedanken: «Das Recht gründet sich auf Gewalt, auf Stärke.» Die staatsrechtliche (politische)3 Freiheit ist ein Gedanke, ein Begriff, aber keine Tatsache.
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Zur Beek war Purist; er vermied selbst die gebräuchlichsten Fremdwörter. Doch hielt er offenbar manche seiner Verdeutschungen selber für erläuterungsbedürftig und setzte deshalb das gemeinte Fremdwort in runden Klammern dahinter. Ich habe noch einige weitere solche Erklärungen in eckigen Klammern hinzugefügt. (Anm. d. Übers.)
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Siebentes Gespräch Nur auf dem Wege der Verordnung werde ich beispielsweise riesige Finanzmonopole errichten, Aufspeicherungen des Volksvermögens, von denen das Schicksal aller Privatvermögen derart unmittelbar abhängen müßte, daß sie am ersten Tage nach einer politischen Katastrophe ebenso verschwinden müßten wie der Staatskredit. Sie sind Volkswirtschaftler, Montesquieu, schätzen Sie also selbst die Tragweite dieses Gedankens ab.
Sechste Sitzung Sehr bald werden wir uns im Tauschverkehre riesige Alleinrechte (Monopole) sichern, die jeden fremden Wettbewerb ausschließen und für uns eine Quelle gewaltigen Reichtums bilden werden. Von diesen jüdischen Alleinrechten werden selbst die großen Vermögen der Nichtjuden in einer Weise abhängen, daß sie am ersten Tage nach dem großen Zusammenbruche der alten Regierung ebenso verschwinden werden wie das in die Zahlungsfähigkeit der Staaten gesetzte Vertrauen (Staatskredite). Ich bitte die hier anwesenden Volkswirte, die Bedeutung dieses Gedankens richtig abzuschätzen.
Als Chef der Regierung werde ich alle meine Erlasse und alle meine Verordnungen beharrlich auf dasselbe Ziel richten: die kollektiven und die individuellen Mächte zu vernichten, das Übergewicht zu steigern, aus ihm einen souveränen Beschützer, Förderer und Belohner zu machen. In der jetzigen Zeit ist die Aristokratie als politische Macht von der Bildfläche verschwunden. Aber der Großgrundbesitz ist noch einer der Grundbestandteile des Widerstands, der
Mit allen Mitteln müssen wir die Macht unserer Oberherrschaft entwickeln; sie muß allen als die Schirmherrin und Wohltäterin derer erscheinen, die sich uns freiwillig unterwerfen.
Der nichtjüdische Adel hat als staatliche Macht ausgespielt. Wir brauchen mit ihm in dieser Hinsicht nicht mehr zu rechnen. Da er aber Großgrundbesitzer ist und dadurch eine
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der Regierung gefährlich werden kann, da er an sich unabhängig ist. Es kann also eine Staatsnotwendigkeit werden, ihn verarmen zu lassen oder auch ihn vollständig zu zerrütten. Um das zu erreichen, genügt es, die Steuern, die auf dem Grundeigentum lasten, zu erhöhen, die Landwirtschaft in einem Zustand relativer Unbedeutendheit zu halten, dagegen Handel und Industrie, besonders aber die Spekulation, zu begünstigen; denn ein allzu großes Aufblühen der Industrie kann selbst wieder eine Gefahr werden, da sie eine viel zu beträchtliche Zahl unabhängiger Vermögen hervorbringt.
gesicherte wirtschaftliche Stellung einnimmt, die ihn oft völlig unabhängig macht, so ist er für uns schädlich. Daher gilt es, ihn um jeden Preis seines Grundbesitzes zu berauben. Das beste Mittel hierzu ist die Erhöhung der Grundsteuern und anderer Lasten, denn dadurch muß schließlich eine Verschuldung und Überverschuldung des Grundbesitzes eintreten. [...] Gleichzeitig müssen wir Handel und Gewerbe einen verstärkten Schutz angedeihen lassen, und vor allem das Spielgeschäft (Spekulation) fördern. Dieses dient uns als Gegengewicht gegen die zunehmende Macht der Industrie. Ohne Spielgeschäft würde die Industrie das bürgerliche Kapital vermehren und zur Hebung der Landwirtschaft beitragen, da sie den Grundbesitz aus der Schuldknechtschaft der ‘Landbanken befreien könnte.
Zwölftes Gespräch Ich eröffne nun die Möglichkeit, die Presse durch die Presse niederzuhalten. Da der Journalismus eine so große Macht ist, wissen Sie, was meine Regierung tun wird? Sie wird sich selbst journalistisch betätigen, und das wird dann ein Journalismus, der Hand und
Zwölfte Sitzung Zeitschriften und Zeitungen sind die beiden wichtigsten Mittel zur Beherrschung des Geisteslebens. Aus diesem Grunde wird unsere Regierung das Eigentumsrecht der meisten Zeitungen und Zeitschriften erwerben. Sie wird damit vor allem den schädlichen
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Fuß hat. [...] Ich werde die Blätter zählen, die die sogenannte Opposition darstellen. Wenn zehn Zeitungen Opposition machen, werde ich zwanzig haben, die für die Regierung eintreten, wenn zwanzig, dann werde ich vierzig, wenn vierzig, dann werde ich achtzig haben. [... ] die große Masse des Volkes darf von dieser Taktik nichts merken. [...] Wie der Gott Wischnu wird meine Presse hundert Arme haben, und diese Arme werden über das ganze Land hin ihre Hände den Vertretern aller politischen Richtungen reichen. Man wird für mich Partei ergreifen, ohne es zu wissen. Wer da glaubt, seine eigene Sprache zu sprechen, spricht doch nur die meine. Wer da meint, in seinem eigenen Interesse zu agitieren, betreibt nur das meine. Alle, die unter ihrer eigenen Fahne zu marschieren glauben, marschieren unter der meinen.
Einfluß der nicht amtlichen Presse ausschalten und auf den Geist und die Stimmung des Volkes in nachhaltigster Weise einwirken. Auf je zehn Zeitungen oder Zeitschriften, die uns fern stehen, werden dreißig kommen, die wir selbst gegründet haben. Das darf natürlich in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden. Unsere Zeitungen und Zeitschriften sollen daher äußerlich den verschiedensten Richtungen angehören, sich sogar gegenseitig befehden, um das Vertrauen der ahnungslosen Nichtjuden zu erwerben, sie alle in die Falle zu locken und unschädlich zu machen. [...] Sie werden, wie der indische Götze Wischnu, hundert Hände haben, von denen jede den Pulsschlag irgend einer Geistesrichtung fühlen wird. [... ] Jene Dummköpfe, die die Meinung ihres Parteiblattes zu vertreten glauben, werden in Wirklichkeit nur unsere Meinung nach sprechen oder doch wenigstens diejenige Meinung, die uns gerade paßt. Sie bilden sich ein, die Richtlinien ihrer Partei zu verfolgen, und merken nicht, daß sie hinter der Flagge marschieren, die wir ihnen voran tragen.
Sie müssen bedenken, daß die Journalisten so etwas wie einen
Schon jetzt besteht etwa in der Art der französischen Tages-
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Freimaurerorden bilden. Die Leute, die vom Journalismus leben, sind alle mehr oder weniger aneinander durch die Bindungen des Berufsgeheimnisses gefesselt. Wie die Auguren des Altertums verraten sie nicht gern das Geheimnis ihrer Orakelsprüche dem Volke. Sie würden dadurch nichts gewinnen, wenn sie einander verrieten; denn sie haben fast alle ihre mehr oder weniger schwachen Stellen. Ich gebe zu, es ist sehr wahrscheinlich, daß im Zentrum der Hauptstadt in einem bestimmten Kreise von Persönlichkeiten diese Dinge kein Geheimnis sein werden; aber sonst wird man nirgends etwas davon ahnen, und die große Mehrheit des Volkes wird mit vollstem Vertrauen den Führern folgen, die ich ihm geben werde.
schriftstellerei ein enger Zusammenschluß des Freimaurertumes. Er gipfelt in der Losung: alle Glieder der Presse sind gegenseitig zur Wahrung des Berufsgeheimnisses verpflichtet. Wie bei den alten Wahrsagern darf auch hier kein Glied das Geheimnis seines Berufes preisgeben, bevor ein allgemeiner Beschluß zur Veröffentlichung vorliegt. Kein Tagesschriftsteller wird es wagen, gegen diese Bestimmung zu verstoßen, da nur solche Personen zum Berufe zugelassen werden, deren Vergangenheit irgend einen dunklen Punkt aufweist. Dieses Schandmal würde sofort vor aller Öffentlichkeit enthüllt werden, sobald ein Verstoß gegen das Berufsgeheimnis vorliegt. So lange das Schandmal nur wenigen Beteiligten bekannt ist, kann der betreffende Schriftsteller Ruhm und Lorbeeren erwerben’ und die ahnungslose Menge zur Begeisterung entflammen.
Was kümmert es mich, wenn in der Hauptstadt gewisse Leute über die Schliche meiner Presse Bescheid wissen? Der größte Teil ihres Einflusses ist für die Provinz bestimmt. Dort werde ich immer die Temperatur der öffentlichen Meinung haben, die ich gerade brauche, und
Wir rechnen besonders stark mit der Hilfe der Provinzen. Hier müssen wir solche Feindschaft gegen die Hauptstädte erwecken, daß die Provinzen jederzeit bereit sind, mit uns über die Hauptstädte herzufallen. Den Städtern aber werden wir alle Forderungen der Pro-
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jede meiner Anregungen wird sicher dorthin gebracht werden. Die Provinzpresse wird mir ganz gehören; denn dort ist gar kein Widerspruch und keine Diskussion möglich. Aus dem Zentrum der Verwaltung, in dem ich sitze, wird man regelmäßig dem Gouverneur jeder Provinz den Befehl übermitteln, die Zeitungen in diesem oder jenem Sinne sprechen zu lassen, so daß zur selben Stunde auf das ganze Land dieser oder jener Einfluß ausgeübt, dieser oder jener Impuls gegeben wird, oft sogar bevor man in der Hauptstadt noch etwas davon ahnt. Sie sehen hieraus, daß ich mir über die Meinung der Hauptstadt keine Sorgen zu machen brauche. Sie wird im Ernstfalle über eine Bewegung, die draußen entsteht, zu spät unterrichtet sein, und die Bewegung wird sie mit fortreißen, im Notfalle wider ihren Willen.
vinzen als selbständige Bestrebungen und Hoffnungen der Volksmassen hinstellen. Es ist klar, daß die Quelle der Unzufriedenheit in Stadt und Land immer die gleiche ist, nämlich unsere Wühlarbeit. So lange wir die nötige Machtfülle noch nicht erlangt haben, brauchen wir manchmal einen Zustand, bei dem die Hauptstädte sich von der Meinung der von uns aufgehetzten Volksmassen umbrandet sehen. Ist der entscheidende Augenblick gekommen, so dürfen die Hauptstädte schon deshalb nicht zur Besinnung über den vollzogenen Staatsstreich kommen, weil die Provinzen, d. h. die Mehrheit des Volkes, ihn gutheißen werden.
So wie ich nicht möchte, daß das Volk durch die Gerüchte, die aus dem Ausland kommen, beunruhigt wird, will ich auch nicht, daß es gestört wird durch die Gerüchte, die sich im Innern gebildet haben, auch nicht durch einfache Nachrichten aus dem Privatleben. Wenn ein außergewöhnlicher Selbstmord passiert, ein allzu
In dem Zeitabschnitte der neuen Herrschaft, der unserer Krönung vorangeht, werden wir verhindern müssen, daß die Presse die Ehrlosigkeit im öffentlichen Dienste brandmarkt. Es soll vielmehr der Glaube erweckt werden, die neue Herrschaft hätte Alle derart befriedigt, daß keine Veranlassung zu neuen Verbrechen vorläge. Wo
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anrüchiges Geldgeschäft, bei dem es sich um große Summen handelt, ein Fehltritt eines im öffentlichen Dienste stehenden Beamten, werde ich den Zeitungen verbieten lassen, darüber zu berichten.
Verbrechen hervor treten, da sollen sie nur den Opfern und zufälligen Zeugen bekannt werden, sonst aber Niemandem.
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Einige Stellen der «Protokolle», die nicht auf dem «Dialogue aux Enfers» beruhen
Die folgenden Auszüge1 geben einen Einblick in die geistige Welt russischer Rechtskreise gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zeigen nicht nur, was diese Kreise von den Juden glaubten oder andere glauben machen wollten, sondern lassen stellenweise auch erkennen, welchen sozialen und politischen Idealen sie selbst anhingen. Denn diese Antisemiten (und ebenso später die Nazis) unterstellten paradoxerweise der imaginären jüdischen Regierung häufig ihre eigenen Werte und Bestrebungen.
Erste Sitzung Nur unter der Leitung einer selbstherrschenden Persönlichkeit können die Pläne der Staatsleitung in voller Klarheit, in guter Ordnung zur Durchführung kommen, kann der ganze Staatskörper ruhig arbeiten. Hieraus folgt, daß die geeignetste Staatsform eines Landes dort gefunden ist, wo die Leitung in der Hand einer verantwortlichen Persönlichkeit liegt. Ohne unbedingte Gewalt kann kein Staatswesen auf sittlicher Grundlage gedeihen; diese ruht nicht auf den Massen, sondern auf deren berufenem Führer, mag er sein, wer er will. Die Masse besteht aus Barbaren, die ihre Roheit und ihr Barbarentum bei jeder Gelegenheit zur Erscheinung bringen. Sobald aber die Masse die Freiheit an sich reißt, verfällt sie der Gesetzlosigkeit, die schon an sich der höchste Grad an Barbarei ist. Sehen Sie sich die Betrunkenen an, die vom Weingeiste benebelt sind. Sie glaubten ein Recht auf Unmäßigkeit im Genüsse zu haben, das sie mit dem Begriffe der Freiheit zusammenwerfen. Davon wollen wir ein für alle Male fern bleiben! Die nichtjüdischen Völker sind vom 1
Zur Beek, S. 72, 76-80, 83/84, 94, 141-143. (Anm. d. Übers.)
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Weingeiste benebelt, ihre Jugend ist vom Humanismus und frühen Lastern betört, zu denen sie von unseren Beauftragten, den Verwaltern, Lehrern, Dienern, Erzieherinnen in den reichen Häusern, Erziehungsanstalten usw., ebenso von unseren Weibern in Vergnügungsorten und öffentlichen Häusern verleitet werden. Zu diesen zähle ich auch die sogenannten «Damen der Gesellschaft», die das Beispiel des Lasters und der Prunksucht freiwillig nachahmen.
Dritte Sitzung Das Ziel, welches wir uns gesteckt haben, liegt, wie ich Ihnen heute schon mitteilen kann, nur noch wenige Schritte entfernt; wir brauchen nur noch einen kleinen Weg zurück zu legen. Unser Weg ähnelt dem Ringeln einer Schlange, die sich zusammenzieht, also jener Schlange, die wir zum Sinnbild unseres Volkes gewählt haben.2 Wenn dieser Ring erst geschlossen sein wird, dann sind alle europäischen Reiche von ihm wie durch kräftige Schraubstöcke zusammengepreßt. Die verfassungsmäßigen Gewalten unserer Zeit werden bald beseitigt sein, weil wir sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Wir sorgen dafür, daß sie nicht aufhören zu schwanken, bis ihre Vertreter schließlich gestürzt sind. [...] Das Volk hat durch unseren Einfluß die Herrschaft des Adels zerstört. Dieser war schon aus eigenem Vorteile, der unzertrennlich mit den Grundlagen der Volkswohlfahrt verbunden ist, der natürliche Verteidiger und Ernährer des Volkes. Mit der Vernichtung des Adels geriet das Volk unter die Herrschaft reich gewordener Emporkömmlinge, die den Arbeitern das Joch unbarmherziger Knechtung auferlegten. Wir erscheinen gewissermaßen als die Retter der Arbeiter aus dieser Knechtschaft, indem wir ihnen vorschlagen, in die Reihen unseres Heeres von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten einzutreten. Diese Richtungen unterstützen wir grundsätzlich, weil wir der Arbeiterschaft einen allgemeinen Menschheitsdienst im brüderlichn Sinne vortäuschen. Der Adel, der von Rechts wegen die Leistungen der Arbeiter in Anspruch nahm, war an ihrem Wohlergehen wenigstens so weit beteiligt, als die Arbeiter satt, gesund und kräftig sein mußten. Wir aber wollen gerade das Gegenteil – nämlich die Entartung der Nichtjuden. Unsere Macht beruht auf dem dauernden Hunger und der 2
Vergleiche den Epilog zu den Protokollen, unten, S. 313-315.
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Schwäche des Arbeiters. Nur in diesem Zustande muß er sich in jeder Beziehung unserem Willen unterordnen, da er in seinen eigenen Kreisen aus eigener Macht keine Hilfe findet, um uns Widerstand zu leisten. Der Hunger verschafft der Geldmacht weit sicherer die Rechte auf die Arbeiter, als sie dem Adel von der gesetzlichen Macht des Königs verliehen wurden. Durch die Not und den aus ihr entspringenden Neid und Haß bewegen wir die Massen und beseitigen mit ihrer Hilfe Jeden, der uns auf unserem Wege hinderlich ist. Sobald die Zeit der Krönung unseres Weltherrschers gekommen sein wird, werden dieselben Massen alles wegfegen, was uns noch Widerstand leisten könnte. Die Nichtjuden können ohne unsere wissenschaftlichen Ratschläge nicht auskommen, wir hüten uns jedoch, ihnen den richtigen Weg zu weisen. Daher haben sie in ihrem Schulunterrichte die Hauptsache übersehen, an der wir nach der Errichtung unseres Reiches unerschütterlich festhalten werden: In den Volksschulen muß die einzige wahre Lehre vom gesellschaftlichen Bau des Lebens gepredigt werden, der die Arbeitsteilung und folglich auch die Einteilung der Menschen in Klassen und Stände erfordert. [...] Die wahre Lehre vom gesellschaftlichen Bau des Lebens, die wir vor den Nichtjuden geheimhalten, besagt, daß Stellung und Beruf auf einen bestimmten Kreis von Menschen beschränkt bleiben müssen, da sonst aus den Mißverhältnissen zwischen Vorbildung und Beruf eine Quelle menschlicher Leiden entsteht. Haben die Völker sich diese Lehre zu eigen gemacht, so werden sie sich freiwillig den Gewalten und der von ihnen eingeführten Ordnung im Staat unterwerfen. Bei dem heutigen Stand der Wissenschaft und bei der Richtung, welche wir ihr gegeben haben, vertraut das Volk blind dem gedruckten Wort und den ihm beigebrachten Irrlehren; es haßt darum in seiner Beschränktheit jeden Stand, den es über sich wähnt, weil es seine Bedeutung verkennt. Die geschilderten Gegensätze werden sich bei der kommenden wirtschaftlichen Spannung [Krise], die alle Börsengeschäfte und wirtschaftlichen Industrien lahm legen wird, wesentlich verschärfen. Mit Hilfe des Goldes, das sich ganz in unseren Händen befindet, und sämtlicher, zu unserer Verfügung stehenden Schleichwege werden wir eine allgemeine wirtschaftliche Spannung hervorrufen, und dann gleichzeitig in allen europäischen Ländern ganze Scharen von Arbeitern auf die Straße werfen. Diese Massen werden voller Wonne das Blut derer vergießen, die sie in ihrer Einfalt von Jugend beneiden, und deren Hab und Gut sie dann ungestört werden rauben können. 309
An unsere Leute werden sie aber nicht herankommen, weil uns der Augenblick des Überfalles bekannt sein wird, und weil wir deshalb rechtzeitig Maßnahmen zum Schütze der Unserigen treffen werden. Wir haben bewiesen, daß der Fortschritt alle Nichtjuden in das Reich der Vernunft führen wird. Unsere Gewaltherrschaft wird dieser Art sein; denn wir werden es verstehen, durch vernünftige Strenge allen Aufruhr zu unterdrücken und den Freisinn [Liberalismus] aus allen Zweigen des staatlichen Lebens zu verdrängen. Nachdem das Volk gemerkt hatte, daß ihm im Namen der Freiheit allerhand Zugeständnisse gemacht werden, glaubte es, selbst Herr zu sein, und riß die Macht an sich. Natürlich stieß es, wie jeder Blinde, auf eine Fülle von Schwierigkeiten, aus denen es selbst nicht heraus konnte. Auf der Suche nach Führern verfiel es nicht darauf, zu seinen alten Führern zurückzukehren, es legte vielmehr seine Vollmachten zu unseren Füßen nieder. Denken Sie an den französischen Umsturz, dem wir den Namen des «großen» gegeben haben. Die Geheimnisse seiner Vorbereitung sind uns völlig bekannt, war er doch das Werk unserer Hände. Seit jenem Zeitpunkte führen wir die Völker aus einer Enttäuschung in die andere, damit sie sich auch von uns abwenden und dem König aus dem Blute Zion zujubeln, den wir der Welt geben werden.
Fünfte Sitzung Solange die Völker noch zu ihren Fürsten wie zu einer Offenbarung des göttlichen Willens aufschauten, beugten sie sich willig unter die Selbstherrschaft der Könige. Als wir ihnen aber den Gedanken von ihren eigenen Rechten einflüsterten, begannen sie, in den Königen nur noch gewöhnliche Sterbliche zu sehen. Das Gottesgnadentum verlor in den Augen des Volkes jede Bedeutung. Als wir ihm den Glauben an Gott geraubt hatten, sank die Macht der Krone auf die Straße. Hier wurde sie als öffentliches Eigentum von uns aufgegriffen. Wir sind außerdem Meister der Kunst, die Massen und einzelne Persönlichkeiten durch geschickte Bearbeitung in Wort und Schrift, durch gewandte Umgangsformen und allerlei Mittelchen, von denen die Nichtjuden keine Ahnung haben, nach unserem Willen zu leiten. Unsere Verwaltungskunst beruht auf schärfster Beobachtung und Zergliederung, auf solchen Feinheiten der Schlußfolgerung, daß Niemand mit uns in Wettbewerb treten kann. Auch in der Anlage unserer 310
staatsrechtlichen Pläne und in der Geschlossenheit und Macht unserer Geheimbünde kann sich Niemand mit uns messen. Nur die Jesuiten könnten allenfalls mit uns verglichen werden; da sie aber eine allgemein bekannte Verbindung bilden, so fiel es uns nicht schwer, sie in den Augen der gedankenlosen Masse herabzusetzen. Unser Geheimbund gewann daher im Stillen an Macht. [...] Zeitweilig könnte ein allgemeines Bündnis aller Nichtjuden über uns obsiegen. Gegen diese Gefahr sind wir aber durch den tief eingewurzelten, unüberbrückbaren Zwiespalt unter den Nichtjuden geschützt. Im Laufe von zwanzig Jahrhunderten haben wir bei allen Nichtjuden die persönlichen und völkischen Gegensätze, den Rassen- und Glaubenshaß eifrig geschürt. Dank diesem Umstände wird kein christlicher Staat, der gegen uns auftritt, Unterstützung finden, weil jeder andere Staat glauben muß, daß ein Bündnis gegen uns für ihn nicht vorteilhaft sei. Wir sind eben zu stark, mit uns muß man rechnen! Heute können die Mächte nicht einmal das kleinste Übereinkommen untereinander abschließen, ohne daß wir im Geheimen unsere Hand dabei im Spiele haben. Neunte Sitzung3 Sie könnten einwenden, daß die Nichtjuden voller Erbitterung mit der Waffe in der Hand über uns herfallen werden, sobald sie vor der Zeit entdecken, wie alles zusammenhängt. Für diesen Fall haben wir ein letztes, furchtbares Mittel in der Hand, vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern sollen. Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir im Falle der Gefahr für uns die ganzen Städte mit den Staatsleitungen, Ämtern, Urkundensammlungen und den Nichtjuden mit ihrem Hab und Gut in die Luft sprengen.
Vierundzwanzigste Sitzung Die heutige Sitzung soll Ihnen, meine Herren, eine Vorstellung davon geben, mit welchen Mitteln wir die Herrschaft des Königs aus dem Hause David über die ganze Welt für alle Zeiten fest verankern wollen. 1
Siehe oben, S. 65, 105.
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In erster Linie werden wir uns desselben Mittels bedienen, das schon unseren Weisen von Zion die Leitung der Weltgeschicke verbürgt hat, nämlich der planmäßigen Erziehung der Menschheit in der von uns gewünschten Richtung. Einige Glieder des Hauses David werden die Könige und ihre Nachfolger auf ihr Amt vorbereiten. Sie werden die Auswahl nicht auf der Grundlage des Erbrechtes, sondern nach den besonderen Fähigkeiten des Einzelnen treffen. Die Auserwählten sollen in alle Geheimnisse der Staatskunst und der Verwaltung eingeweiht werden. Grundbedingung ist, daß Niemand, außer ihnen, etwas von diesen Geheimnissen erfährt. Unter dieser Voraussetzung wird sich die Überzeugung Bahn brechen, daß die Regierung nur Denjenigen anvertraut werden kann, die in die Staatskunst eingeweiht sind. Die Auserwählten sollen unsere Grundsätze verwirklichen. Jahrhundertelange Beobachtungen und Erfahrungen, die wir auf staatsrechtlichem und volkswirtschaftlichem Gebiete gesammelt haben, werden ihnen dabei zur Verfügung stehen. Sie werden sich mit dem Geiste der Gesetze erfüllen, welche die Natur selbst für die Beziehungen der Menschen zueinander festgesetzt hat. Die unmittelbaren Abkömmlinge des Königs werden häufig von der Thronfolge ausgeschlossen werden, wenn sie während der Lehrzeit Leichtsinn, Weichlichkeit und sonstige Eigenschaften zeigen, die nicht nur die persönliche Unfähigkeit zur Regierung erweisen, sondern das Ansehen der Macht schwer schädigen müssen. Unsere Weisen werden die Zügel der Regierung nur Denjenigen anvertrauen, die unbedingt befähigt sind, eine tatkräftige und feste Regierung zu verkörpern, selbst auf die Gefahr hin, daß diese in Grausamkeiten ausartet. Sobald der König an Willensschwäche erkrankt oder sonstige Anzeichen von Unfähigkeit an den Tag legt, wird er gesetzlich verpflichtet sein, die Zügel der Regierung in andere, tatkräftigere Hände zu legen. Die laufenden Pläne des Königs und besonders seine Absichten für die Zukunft werden selbst seinen nächsten Ratgebern unbekannt sein. Die Zukunft wird nur dem König und den drei Weisen bekannt sein, die ihn in alle Geheimnisse eingeweiht haben. Im Könige, der mit unerschütterlicher Willenskraft sich selbst und die Menschheit leitet, werden alle die Verkörperung des Schicksals mit seinen unbekannten Pfaden sehen. Niemand wird wissen, welche Ziele der König mit seinen Erlassen befolgt. Darum wird auch Niemand 312
wagen, Widerspruch zu erheben und sich hindernd in einen Weg zu stellen, den er selbst nicht kennt. Selbstverständlich muß die geistige Höhe der Könige den großen Zielen entsprechen, zu deren Verwirklichung sie berufen sind. Darum wird kein König den Thron besteigen, bevor unsere Weisen seine geistigen Fähigkeiten erprobt haben. Damit das Volk seinen König kennt und liebt, muß dieser sich dem Volke häufig zeigen und auf den öffentlichen Plätzen zu ihm reden. Nur so können die beiden Kräfte des sehenden Königs und des blinden, aber doch starken Volkes zusammenwachsen, die wir jetzt durch die Schreckensherrschaft, den Terror, von einander getrennt haben. Bisher brauchten wir diesen Terror, um die getrennten Kräfte des Volkes und des Königs jede für sich allein unter unsere Herrschaft zu bringen. Der König der Juden darf sich nicht von seinen Leidenschaften treiben lassen. Ganz besonders muß er die Sinnlichkeit bekämpfen. Niemals dürfen die tierischen Triebkräfte die Herrschaft über seinen Verstand und sein Gemüt gewinnen. Die Sinnlichkeit ist der schlimmste Feind aller geistigen Fähigkeiten, sie trübt den klarsten Blick und erniedrigt den größten Geisteshelden zum reinen Tiere, das keinen anderen Zweck des Daseins kennt, als die Befriedigung der rohesten natürlichen Triebkräfte. Der Weltherrscher vom heiligen Samen Davids muß alle persönlichen Freuden dem Wähle seines Volkes und der Menschheit zum Opfer bringen. Unser Weltherrscher darf sich in sittlicher Hinsicht keinerlei Blößen geben; er muß ein leuchtendes Beispiel für Alle sein. In vielen Ausgaben, so in den frühen russischen Ausgaben von 1903-1906 und auch in der ersten britischen Ausgabe von 1920, folgt dem Text der «Protokolle» ein Epilog über die Symbolische Schlange4. Seine wichtigsten Abschnitte lauten wie folgt:5 Nach den Urkunden des geheimen jüdischen Zionismus hat König Salomon zusammen mit anderen judäischen Weisen noch im Jahre 929 4
Siehe den Auszug aus der Dritten Sitzung, oben, S. 308.
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Der deutsche Text ist (bis auf einen Abschnitt, der aus dem Englischen übersetzt wurde) entnommen aus B. Segel, Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, Berlin 1924, S. 194-197. (Anm. d. Übers.)
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vor der Geburt des Herrn einen Plan ausgearbeitet, die Welt auf friedlichem Wege für Zion zu erobern. In dem Maße, als sich die historischen Begebenheiten entwickelten, wurde dieser Plan umgearbeitet und ergänzt durch die in die Sache eingeweihten Nachfolger. Diese Weisen haben beschlossen, die Welt für Zion friedlich zu erobern mittels der Schlauheit der Symbolischen Schlange, deren Haupt die Regierung der Juden bilden sollte, die in die Pläne der Weisen eingeweiht ist (aber immer, selbst dem eigenen Volke, unbekannt bleibt), den Rumpf dagegen das judäische (jüdische) Volk bildet. Indem sie sich nun in den Busen der ihr unterwegs begegnenden Staaten einschlich, benagte und zerfraß die Schlange alle nichtjüdischen staatlichen Kräfte in dem Maße, als sie wuchsen, indem sie sie entthronte. Das wird sie auch in Zukunft tun müssen, getreu den vorgezeichneten Plan verfolgend, so lange, bis der Kreis des von ihr durchlaufenen Weges mit der Rückkehr des Hauptes nach Zion abgeschlossen ist und die Schlange in die Sphäre ihres Kreises ganz Europa eingeschlossen hat, und mittels Europas die ganze übrige Welt, sich aller Kräfte bedienend, der Eroberung auch auf wirtschaftlichem Wege, um ihrem Einflüsse, dem Einflüsse ihres Kreises auch die anderen Kontinente zu unterwerfen. Die Rückkehr des Schlangenhauptes nach Zion kann nur geschehen, wenn die staatlichen Mächte aller europäischen Länder flach und kahl getreten sind wie die Ebenen, d. h. durch Zerstörung und Verwüstung, die Zion überall hineinträgt, durch sittliche Fäulnis und Verderbnis, hauptsächlich herbeigeführt durch die jüdischen Weiber, die unter der Maske von Französinnen, Italienerinnen, Spanierinnen die besten Trägerinnen der Ausschweifung unter den Führern der Nationen sind.6 Die Weiber dienen in den Händen Zions als Köder für die, welche dank ihnen, den Weibern nämlich, immerzu in Geldnöten sind und darum mit ihrem Gewissen schachern, um zu Geld zu kommen, koste es, was es wolle ... Dieses Geld wird ihnen aber, im Grunde genommen, nur ausgeliehen, denn nur zu bald kehrt es zurück in die Hände von Zion, das mit Bestechung arbeitet, eben mittels der obengenannten Weiber, unter ihnen ergebene Sklavinnen Zions. Für den Erfolg eines solchen Unternehmens ist es wesentlich, daß weder die öffentlichen Beamten noch Privatpersonen etwas von der 6
An dieser Stelle enthielt das Manuskript, das Nilus dem Zensurkomitee in Moskau einreichte, mehrere Namen. Sie wurden auf Anweisung des Komitees getilgt. Genannt war neben der berühmten jüdischen Schauspielerin Sarah Bernhardt auch die Tänzerin Caroline Otero («la Belle Otero»), die Spanierin und keineswegs lüdin war. Die Otero wurde übrigens sehr alt; sie starb erst 1965.
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Rolle der Weiber ahnen, deren sich das Judentum bedient. Deshalb haben die Leiter der Sache Zions, eifrige Befolger des mosaischen Gesetzes und der Vorschriften des Talmud, gewissermaßen eine religiöse Kaste gebildet. Alle Welt glaubte, die Maske des Gesetzes Mose sei die wirkliche Richtschnur des Lebens und der Juden. Niemand dachte daran, die Wirkung dieser Lebensrichtschnur zu untersuchen, zumal alle Augen auf das Gold gerichtet waren, welches der Kaste zu Gebote stand und ihr vollkommene Freiheit für ihre wirtschaftlichen und politischen Intrigen gab. Nach der graphischen Darstellung7 des Ganges der Symbolischen Schlange war ihre erste Etappe in Europa im Jahre 429 vor Christo in Griechenland, als sie in den Zeiten des Perikles anfing, die Größe und die Macht dieses Landes zu benagen. Die zweite Etappe war in Rom in den Zeiten des Augustus, kurz vor Christi Geburt. Die dritte war in Madrid unter Karl V. im Jahre 1552 n. Chr. Die vierte war in Paris im Jahre 1700 in der Zeit Ludwig XIV. Die fünfte in London im Jahre 1814 nach dem Fall Napoleons I. Die sechste in Berlin im Jahre 1871 nach dem französischen Krieg. Die siebente in Petersburg, über welchem jetzt das Haupt der Schlange abgezeichnet ist unter dem Datum 1881. Alle von der Schlange durchschnittenen Staaten, nicht ausgenommen Deutschland trotz seiner scheinbaren Macht – es existiert eine freimaurerische Weissagung, wonach die Macht Deutschlands in politischer Beziehung im Jahre 1913 ein Ende nehmen werde – , wurden in ihren Grundfesten angefressen durch den konstitutionellen Liberalismus und durch wirtschaftliche Erschütterungen. In wirtschaftlicher Beziehung werden Deutschland und England noch verschont, aber nur bis zu der Zeit, da die unwiederbringliche Eroberung Rußlands vollzogen ist, auf welches jetzt alle Bemühungen gerichtet sind. Weiter hat sich das Haupt der Schlange nicht bewegt, aber durch Pfeile ist auf der Zeichnung ihr Weg über Moskau, Kiew, Odessa angedeutet. Jetzt ist es uns schon klar, in was für Nester des kämpfenden Judentums diese Städte sich verwandelt haben. Konstantinopel ist gerechnet als achte und letzte Etappe auf dem Wege nach Jerusalem. Nicht mehr viel bleibt der Schlange zu durchschleichen, um den unheilschwangeren Ring zu schließen und den Kopf mit dem Schwanz zu vereinigen. 7
Bezieht sich auf die dem Buch von Nilus beigefügte Karte.
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Die «Protokolle» und die Ankunft des Antichrist1
Die Protokolle, die so wesentlichen Anteil an der Herausbildung einer der großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts hatten, stehen in einer uralten apokalyptischen Tradition. Wie eng sie ursprünglich mit der Legende vom Antichrist verbunden waren, zeigt folgende Stelle aus Nilus’ Epilog zu seiner Ausgabe von 1905:2 Es ist jetzt nicht mehr daran zu zweifeln: Die triumphierende Herrschaft des Königs von Israel richtet sich vor unserer verkommenen Welt auf, als Satan mit seiner Macht und seinen Schrecknissen; der König, geboren aus dem Blute von Zion – der Antichrist – ist nahe daran, den Thron des Weltreiches zu besteigen. Die Ereignisse überstürzen sich in der Welt mit einer erschreckenden Schnelligkeit. Zwistigkeiten, Kriege, Unruhen, Hungersnöte, Seuchen und Erdbeben3– alles das, was gestern noch unmöglich war, ist heute eine vollendete Tatsache. Man möchte sagen, daß die Tage zu Nutz und Frommen des auserwählten Volkes so schnell davonlaufen. Jetzt ist nicht der Moment, auf die genaue Durchforschung der Einzelheiten der Menschheitsgeschichte vom Gesichtspunkte der entschleierten «Mysterien der Gottlosigkeit»4 einzugehen, um historisch nachzuweisen, welchen Einfluß, auf die allgemeinen Weltkatastrophen die Ältesten Israels hatten, um die sichere und nahe bevorstehende Zukunft der Menschheit vorauszusagen oder um den Schlußakt der Welttragödie zu entschleiern. Nur das Licht Christi und seine heilige Kirche vermögen die satanischen Abgründe zu durchleuchten und den Umfang ihrer Perversität zu offenbaren. 1
Siehe oben, S.43f., 93ff.
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Deutscher Text aus Segel, S. 198. (Anm. d. Übers.)
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Die traditionellen «Zeichen» für das Nahen des Weltendes.
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Siehe 2. Thessalonicher 2,7.
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Ich fühle in meinem Herzen, daß die Stunde geschlagen hat, da es dringend nötig werden wird, ein achtes ökumenisches Konzil einzuberufen, das die Hirten und Repräsentanten der ganzen Christenheit vereint. Man würde auf der einen und der anderen Seite die Streitigkeiten und das Trennende, das die Christenheit seit Jahrhunderten entzweit, vergessen und an nichts anderes denken als an die bevorstehende Ankunft des Antichrist.
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