Dieter Paul Rudolph
Die Pfauenfeder
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Wir befinden uns im Frühsommer des Jahres 1998. Frankreich im F...
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Dieter Paul Rudolph
Die Pfauenfeder
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Wir befinden uns im Frühsommer des Jahres 1998. Frankreich im Fußballtaumel, und mit ihm die ganze Welt. Ein Mann, Journalist, stürzt eine Treppe hinunter und erwacht im Krankenhaus. Wurde er gestoßen? Ein Unfall? Und wie war das mit der Frau, die ein Jahr vorher besagte Treppe hinterstürzte und starb? Fragen, Fragen, Fragen. Aber unser Mann hat Zeit, und je mehr Fragen er sich stellt, je genauer er sich an die vergangenen Monate erinnert und an die Gegenwart herantastet, desto bedrohlicher wird eben diese Jetztzeit und mit ihr die Menetekel baldiger Katastrophen.
Info Sex & Crime, Fußball & politische Intrigen. Denn wir befinden uns im Frühsommer des Jahres 1998. Frankreich im Fußballtaumel, und mit ihm die ganze Welt. Ein Mann, Journalist, stürzt eine Treppe hinunter und erwacht im Krankenhaus. Wurde er gestoßen? Ein Unfall? Und wie war das mit der Frau, die ein Jahr vorher besagte Treppe hinterstürzte und starb? Fragen, Fragen, Fragen. Aber unser Mann hat Zeit, und je mehr Fragen er sich stellt, je genauer er sich an die vergangenen Monate erinnert und an die Gegenwart herantastet, desto bedrohlicher wird eben diese Jetztzeit und mit ihr die Menetekel baldiger Katastrophen. Menschen sterben, mysteriöse Dinge geschehen. Was haben einige radikale Death Metal-Fans mit dem Fall zu tun? Was einige russische Mädchen? Und eine Clique einflußreicher Lokalpolitiker? Andy Möller gar, der gerade in Frankreich zum Star der WM wird? Kein Aspekt des Lebens bleib t unerwähnt, und obwohl der Bewegungsradius unseres Helden arg eingeschränkt ist, kommt er doch viel rum und kann schließlich auch seinen Hormonhaushalt auf natürlichem Wege regulieren. Am Ende schließlich wird der Bösewicht - oder sind es gar mehrere? - seiner gerechten Strafe zugeführt. Oder doch nicht? Alles sehr nebulös. Erste Stimmen nennen "Die Pfauenfeder" abwechselnd einen "Fußballkrimi", einen "Politkrimi", einen "Gesellschaftskrimi" oder gar einen "Krimikrimi". Und jeder hat recht.
Inhalt Info ........................................................................................2 Inhalt .....................................................................................3 1 Fallbeschreibung ...............................................................4 2 Schmerzen.......................................................................25 3 Versuchsreihen................................................................49 4 Fundamentales ................................................................70 5 Transzendenz..................................................................94 6 Orpheus .........................................................................119 7 Blutspuren......................................................................143 8 Die Pfauenfeder.............................................................168 9 Endspiele .......................................................................204
1 Fallbeschreibung Als der norwegische Fußballspieler Andre Flo am 23. Juni 1998, gegen 23 Uhr, im brasilianischen Strafraum stürzte, lag ich am Fuße einer Treppe. Flo drehte sich mehrere Male um seine Längsachse, denn dies erschien ihm den vorgetäuschten Schmerzen angemessen. Ich lag ganz ruhig. Das Stadion zu Marseille tobte. Um mich herum war es still, aber es rauschte in meinen Ohren, und eine Muschel erzä hlte mir vom aufgewühlten Meer. Natürlich hatte Flo den Pfiff des Schiedsrichters gehört. Oder konnte sich doch denken, daß gepfiffen worden sein mußte. Den Kopf im Grün, blickte er zum anderen Ende des Rasens und erkannte, daß sein Torhüter, ein Mann namens Grodas, die Arme wie ein Gekreuzigter ausgestreckt hielt. Er sah, in den Augenwinkeln, die Mitspieler gestikulieren, und jetzt wusste er, daß gepfiffen worden war. Um die Rechtmäßigkeit des Pfiffes zu unterstreichen, schickte Flo ein furchtbares Geheul in den lauthalsen Wahnsinn der Menge. Es war erreicht. Ich hingegen wartete. Ich wartete auf den Schmerz, der nicht ausbleiben darf, wenn man gerade eine Treppe hinabgestürzt ist. Tot war ich wohl nicht. Ich konnte mich nicht bewegen, und vielleicht irritierte den Schmerz meine Regungslosigkeit, und er wartete. Auf ein winziges Zucken irgendeines Muskels, irgendetwas, das ihm garantierte, sich nicht an einen Toten zu vergeuden. Auch in Marseille wartete ein Mann auf die Bewegung von Muskeln. Er hieß Taffarel und hütete das brasilianische Tor. Flo hatte sich inzwischen erhoben und humpelte davon, seinem Vetter Harvard zuzwinkernd, der, die Hände auf die Knie gestützt, an der Strafraumgrenze stand. Dieser Strafraum war für ein paar Momente so leer wie das Treppenhaus, in dem ich lag. Nur Taffarel kauerte, sich in den Hüften wiegend, auf der Linie, klatschte sodann in die Handschuhe, als wolle er jenem Mann, -4 -
der sich anschickte, in den Strafraum zu laufen, bedeuten, es sei zwecklos, sich zu bemühen. Etwas kam tatsächlich. Etwas machte Geräusche. Bevor ich es hätte sehen können, kam etwas anderes und fraß sich durch meine Beine. Wieder etwas anderes entzündete ein Feuer in meinem Kopf. Ich notierte mir die Schmerzen wie Stichworte zu einem uninteressanten Thema. Irgendwo im fernen Stadion der Stadt St. Etienne saß ein Mann auf der Tribüne, hielt ein kleines Transistorradio an sein Ohr und vergaß zu atmen. Er war Marokkaner, und während er die Luft anhielt, glaubte er an Recht und Ordnung. Genau vier Sekunden lang. So lange brauchte der norwegische Fußballspieler Rekdal, um in den Strafraum der Brasilianer zu laufen, dort einem Ball zu begegnen, ihn am hilflosen Taffarel vorbei ins Tor zu schießen, abzudrehen, zu jubeln. Alles war vorbei. Nicht Marokko im Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft, sondern Norwegen. Nicht die bessere Mannschaft, sondern die durchtriebenere. Gegen einen satten, arroganten Gegner, der seine Schäfchen längst im Trockenen hatte und die Köpfe in höheren Gefilden trug. Aus dem Lautsprecher des Transistorradios kam ein einziger Schrei aus 60.000 Schreien. Der Mann im Stadion von St.Etienne ließ das Radio fallen. Wurde aschfahl im Gesicht, hob seine Rechte, krümmte alle Finger bis auf den Daumen, den drehte er senkrecht nach unten, und dort unten, an der Linie des Spielfeldes, registrierte man den gesenkten Daumen fassungslos, raufte sich die Haare, zitierte besonders markige Suren des Korans und weinte. Ich registrierte den Schmerz. Währenddessen waren die Schritte nähergekommen und hatten Gestalt angenommen: ein paar braune Halbschuhe, aus denen gelbe Socken emporstiegen und unter anthrazitfarbene Hosenbeine krochen. Ein Stillleben. Ich hatte keine Stimme, und ich hörte keine. Dann fragte eine, die zu einem älteren Mann passte: "Was ist los?" und beeilte -5 -
sich mit der Selbstantwort: "Die Treppe runter. Schon wieder." Was dann geschah, war auf gewisse Art noch merkwürdiger als mein Zustand. Ich hörte wohl, wie die Schritte wieder einsetzten und sich entfernten. Die Schuhe mit den Socken, die Hosenbeine indes blieben vor meinen Augen. Nur dass sie farblos wurden, schwarz/weiß. Dann verschwammen die Konturen, liefen über das Bild, bis alles schwarz war und schwarz blieb. Dass die beiden Fälle dieses Abends auf aparte Weise zusammenhingen, ist mir erst später bewußt geworden. Hätte ich Fußball geschaut, hätte ich nicht zur gleichen Zeit auf der Treppe stehen können. Auf der Treppe stand ich, weil ich keinen Fußball schauen wollte. Denn das geht inzwischen über meine Kräfte: rumfiebern, rumrutschen, zu schwitzen anfangen, viel zu viel rauchen, ständig zur Uhr schauen. Völlig egal, wer spielt. Ich erinnere mich an ein B-Jugend-Länderspiel zwischen Algerien und Uruguay, über dessen Betrachten ich einen wichtigen Termin versäumte, danach - eine Kanne Kaffee intus - die Wohnung wie ein hippeliger Tiger durchmaß und die ganze Nacht vor Aufregung wachlag. Altersfrage? Ich bin zweiundvierzig. Mein Ideal ist die Geruhsamkeit des vorhersehbaren Nervenkitzels. Wenn Deutschland gegen eine Luschenmannschaft wie - sagen wir mal: Kroatien spielen würde, und ich wäre live dabei: nicht zum Aushalten. Wenn ich aber das Ergebnis im voraus weiß: kein Problem, selbst wenn die Jungs verlieren. Sollte mich in fünfunddreißig Jahren Gevatter Tod im Seniorenheim sacht aus der Alzheimerschen Hölle in die profane des Christentums befördern - meinetwegen. Aber bitte am Vortag anmelden. Fällt ihm aber ein, an einer dunklen Treppe auf mich zu lauern und mir den finalen Schubs zu verpassen, krepiere ich vorher an einem Herzinfarkt. -6 -
Einen Schubs verpassen? Wie war ich zu Fall gekommen? Wie überhaupt auf die Treppe, aus welchem Grund ins Haus? Von halb zehn bis zehn hatte ich den ausgeschalteten Fernseher angeglotzt. Eine Zigarette nach der anderen geraucht. Überlegt, ob ich schnell einscha lten, das Ergebnis oben am linken Bildrand ablesen, wieder ausschalten sollte. Ich stellte die Kiste an. Es war gerade Halbzeit, irgendein Gewinnspiel lief. Also ausschalten, noch eine rauchen. Nächtlicher Spaziergang. Der Tagesofen war abgekühlt. Durch die geöffneten Fenster kamen frische Luft und lichtverrückte Insekten, abgestandene Luft und Fernsehpalaver entwichen nach draußen. Ich mied das Stadtzentrum. Bitte jetzt keine Fußgängerzone. Keine grotesk aufgebretzelten Tanten, keine "Weizenbier!"-Befehle. Relative Ruhe, bitte. So geriet ich in die Mörickestraße, es war Schicksal oder Ungeschick. Zwei Gebäude verbinden mich mit dieser Straße. Einmal das dort ansässige Gymnasium, ein traumatischer Ort immer flacher werdender höherer Bildung und allmählich wachsender niederer Instinke. Ein unrühmlicher Abgang von dort, nach - na, schweigen wir vornehm. Dann das Haus Nr. 14, dem Gymnasium schräg gegenüber. Hier betreibt seit Schülergedenken Herr Wollheim seinen Schreibwaren- und Zeitschriftenhandel, hier stürzte vor Jahresfrist Frau Siebenlist eine Treppe hinunter und war mausetot, hier tat ich es ihr nach und überlebte. Noch einmal: Warum bin ich in das Haus gegangen? Dass ich einmal ums Karree gelaufen bin - meine Wohnung liegt nicht weit von der Mörickestraße entfernt -, mir außer einer älteren Dame samt Windhund kein Mensch begegnete - daran erinnere ich mich. Irgendwann stand ich vor Haus Nr. 14 und schaute an seiner Fassade hoch. Und Schluß. Schnitt. Wenn es einen Grund gibt, fällt er mir nicht mehr ein. Gibt es keinen, ist die Sache umso mysteriöser. Ich hatte das Haus vor -7 -
etwa einem Jahr erstmals aufgesucht, um meinem Beruf nachzugehen, einen kleinen Bericht zu verfassen. Als am 16. Juni 1997 auf der Treppe im Haus Mörickestraße 14 eine gewisse Frau Heidemarie Siebenlist zu Tode kam, schlenderte ich am Morgen darauf zum Unfallort, befragte einige Anwohner, schrieb 100 Zeilen. Die Frau war, ihre Wohnung im ersten Stock verlassend, auf der Treppe aus nicht mehr nachzuvollziehender Ursache gestolpert, getaumelt, hatte das Gleichgewicht verloren. Frau Heidemarie Siebenlist: 57, Typ aufgedonnerte Mama, mit schwerem Gepäck um die Knochen, einem ärztlich attestierten Kreislaufproblem und dem Pech, daß es sie an diesem Tag nicht ebenerdig heimsuchte. Schön, ich gebe es zu: Es blieb nicht bei meinem Routineund Recherchebesuch, den 100 Zeilen. Ich kam wieder, immer wieder. Ich betrat, an diesem Abend des 23. Juni 1998, das Haus vielleicht deswegen, weil mir mit einem Male klargeworden war, daß - aber was heißt schon "klar". Ich lag, grotesk verrenkt, auf abgelaufenem Linoleum, einen Schuh, eine Socke, ein Stück Hose im Blick, und dann nur noch Nacht. Nacht. Die sich irgendwann zurückbildet. Graue, vage Umrisse. Und eine Stimme, die einer Frau. "Haaa- lo. Hören Sie mich?" Ich höre. Doch wie antworten? "Bewegen Sie irgendetwas, damit ich sehen kann, wenn Sie mich hören." Und was kann sie sehen? Ich versuche es auf gut Glück mit den Augenlidern. Leidlicher Erfolg. "Haben Sie gerade geblinzelt? Oder habe ich mich getäuscht? Falls nein, blinzeln Sie noch mal." Ich tu´s. "Hm. Na, sagen wir mal: Sie haben geblinzelt. Dann sage ich Ihnen, daß Sie sich im Elisabethenhospital befinden." -8 -
Ach Gott, in dieser katholischen Klitsche! "Sie sind eine Treppe runtergefallen und haben sich beide Beine gebrochen. Eins davon ziemlich kompliziert. Das andere glatt, wie bei einem Skiunfall. Ja, und eine mittelschwere Gehirnerschütterung haben Sie dazu. Von allem anderen abgesehen." Von allem anderen? Ich blinzele ein drittes Mal in die Richtung, wo sich die grauen vagen Umrisse bewegen. Spanne meine Lippen. Rede. Oder so was Ähnliches. "Was haben Sie gesagt? Ich hab´s nicht verstanden, tut mir leid. Mein Name ist Krund. Krund mit K. Gesine Krund." "Wie sehe ich aus?" Das zu artikulieren braucht seine Zeit und strengt an wie ein Marathonlauf. "Wie Sie aussehen? Ich weiß ja nicht, wie Sie vorher ausgesehen haben. Aber ich nehme zu Ihren Gunsten an, daß Sie besser ausgesehen haben." "Und Sie?" "Was ich?" "Wie sehen SIE aus?" Sie lacht. "Mittelschlank, mittelgroß, mittelblond. Grübchen um die Mundwinkel. Aber nur, wenn ich lache. Weißer Arztkittel. Darunter eine blaue, dünne Jeans und ein schwarzes, ebenfalls dünnes T-Shirt. Offene Sandalen, barfuß." "Mein Name..." "Schon gut. Wissen wir. Sie heißen Karl-Olaf Horst, und ich glaube, Sie sind der, der immer diese komischen Artikel im Blättchen schreibt. Die Polizei war schon bei Ihnen daheim, aber da hat niemand aufgemacht. Leben Sie allein?" Ich beuge den Kopf zur Brust und zurück. Und stöhne vor Schmerz. -9 -
"Ja, ja, der Kopf. Möglichst ruhig halten. Wir haben dann bei Ihrem Chef angerufen. Der schickt jemanden in Ihre Wohnung, damit er Ihnen Anziehsachen bringt und was Sie sonst noch so brauchen. Für die nächsten Monate." Ich bastele ob dieser Prognose ein heulendes Geräusch in der Rachenhöhle. "Machen Sie sich keine Sorgen." Das klingt jetzt reichlich abgefeimt und bewirkt das Gegenteil. "Etwas Bleibendes? Seien Sie bitte ehrlich." Sie schweigt. "Wie ist das Spiel gestern ausgegangen?" "Welches Spiel?" "Brasilien - Norwegen." "2:1, glaub ich." "Für Brasilien?" "Ist das so wichtig?" Es war nicht zu fassen. "Für mich schon." Sie entfernt sich. Geht aus dem Zimmer, und ich höre Sie etwas auf den Flur rufen, das von einem noch entfernteren Ruf beantwortet wird. Dann kommt sie zurück. "2:1 für Norwegen. Weil einer einen Elfmeter geschunden hat, wie man so sagt. Mich interessiert das ja nicht. Im Bereitschaftsraum läuft immer der Fernseher, man kriegt´s mit, ob man will oder nicht." "Dann ist Marokko draußen?" "Oh mei, das geht jetzt aber meilenweit über meinen Fußballverstand." "Doch, doch. Müssen draußen sein. Haben sie gegen Schottland gewonnen?" -1 0 -
Sie wird hörbar ungeduldig. "Weiß nicht. Haben Sie keine anderen Sorgen?" "Sie haben doch selbst gesagt, ich müßte mir keine machen." "Dann halten Sie sich auch dran. Schlafen Sie noch ein bisschen. Es ist halb vier. Und ich bin müde." Völlig unlogisch, was sie da sagt. Warum soll ich schlafen, wenn sie müde ist? Ich bin nicht müde. Ich bin gerade dabei, in die Welt zurückzukehren. Die grauen, vagen Umrisse bekommen schärfere Konturen und füllen sich zögernd mit Farbe. Eine Zeitlang beruhigt mich der Gedanke, daß auch mein tiefer Fall die Erde nicht aus ihrer Bahn geworfen hat. Weiterhin streiten sich die Bösen (Norweger) und die Guten (Marokkaner), und am Ende gewinnen die Bösen. Alles beim Alten. Theoretisch könnte ich meine Umgebung wahrnehmen. Aber ich liege da mit geschlossenen Augen und höre, wie schwarzweiße Nonnen mit Frühstückstabletts und allerhand klapperndem Handwerk vorbeistelzen, während mein Gehirn Bienenlieder summt. Aus Versehen berühre ich einmal die harten Schalen, in denen meine Beine stecken. Der Gips fühlt sich noch feucht an. Wenigstens schmerzlos. Das machen die Tabletten; doch daran zu denken, wie es sein wird, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt, verkneife ich mir. Lieber stelle ich mir vor, wie Frau Doktor oder wer auch immer jene von ihr "Chef" titulierte Person angerufen hat: tiefnachts, und Schiever, "der Chef", hat sich krachend aus dem Bett gehoben, eine monumentale Erscheinung im Seidenslip. Langsam dürfte er die Nachricht vom Malheur seines Mitarbeiters realisieren - und sofort druckt seine Phantasie Schlagzeilen: "Kritischer Journalist Opfer von Machenschaften?" "Wer stieß den mutigen Rechercheur in die Tiefe?" - "Guten Abend, hier ist Sabine Christiansen, wir haben heute Wilfried Schiever im Studio, Wilfried Schiever, den -1 1 -
Chefredakteur des investigativen...." (und gleich legt sie ihr Köpfchen bezwecks intellektuellen Aussehens apart in die Kurve). Spiegel-Reporter, ein RTL-Fernsehfuzzi, nette Mädels von "New York Times" und "Hürriyet" - das wird wohl in diesen Sekunden an seinem inneren Auge vorbeigezogen sein, bis ihm bewußt wurde, daß ich ja weder kritisch noch Journalist bin, sondern allenfalls ein fahriger Depp, den selbst der Abstieg von einer Treppe vor unlösbare Aufgaben stellt. Fünfzig Zeilen unter "Lokales". Vor knapp zehn Jahren hatte Schiever - aus Gründen, die ihm selbst immer fremd geblieben sind - eine sozialistische Wochenzeitung gegründet, die gänzlich aus Werbeeinnahmen finanziert werden sollte. Schiever war zuvor nicht einmal wegen seines Studiumsabbruchs (Philosophie) aufgefallen und gewiß kein Parteigänger linker Ideen. Ein Spaßvogel von gut zwei Metern lichter Höhe, in deren oberstem Stockwerk, gleich unter den ewig akkurat gekämmten Haaren, ein beachtliches Quantum verquerer Einfälle hockte. Dass gleich daneben ein nicht weniger beachtliches Quantum Geschäftssinn auf seinen Einsatz wartete, mag ihm - bei einer solchen Schnapsidee - damals nicht bekannt gewesen sein. Tatsächlich ließ sich die Sache vielversprechend an. Wir sind hier eine Universitätsstadt, und Schiever war nicht von dem Irrglauben abzubringen, Studenten stünden quasi genetisch konditioniert schwer links. Das dachte gottlob auch die Geschäftswelt und inserierte. "Marxmarkt" wurde das Blättchen getauft. Es druckte jedermanns Erguß bezwecks Verbesserung der Welt und arbeitete zwei, drei Jahre durchaus kostendeckend. Dann gingen die Anzeigen zurück. Schiever schob flugs eine Spalte "Satire" in den "Marxmarkt", etablierte eine Seite "Lokales", bot private Inserate kostenlos an, ließ auch notorische Leserbriefschreiber zu Wort kommen, ersetzte den marxistischleninistischen Unterbau schließlich durch -1 2 -
"Populärwissenschaftliches", nahm dies zum Fundament einer bunten Seitenfolge "Wissenswertes aus Gesellschaft, Politik und Privatleben". All das heischte einen neuen Produktnamen, den man endlich in "Maxmarkt" fand. In diesem Augenblick fielen die bislang schlummernden Quantitäten Geschäftssinn im Schieverschen Gehirn über die der verqueren Ideen her und merzten sie aus mit Stumpf und Stil. Hatte er sich jahrelang dank der dilettantischen Beiträge von Freizeitjournalisten und anderen Profilierungssüchtigen über Wasser gehalten, pochte Schiever nun auf Professionalität, die sein Verstand auf wunderbare Weise und der vier Anfangsbuchstaben wegen mit "Profit" assoziiert haben dürfte. Dass er ausgerechnet mich damit in Verbindung brachte, erzählt viel über die Defizite in seiner Menschenkenntnis. So, so: ich. Ich hatte mich, wie weiland Tarzan an den Lianen, von Job zu Job gehangelt. Ein leidlich eleganter Artist über den Sümpfen der bürgerlichen Wohlhäbigkeit turnend, ständig in der Gefahr, abzustürzen, wobei ich nicht hätte sagen können, ob mir das als eine Katastrophe oder ein Segen vorgekommen wäre. Schiever erwischte mich auf dem falschen Fuß, keine Frage. Appellierte an die Triebkraft meiner Feder: zwecklos. Versprach völlige Handlungsfähigkeit: wozu? Zahlte generös meinen Kneipendeckel: schon besser. Warf schließlich, als ich schon wieder Tarzan - nur noch wie ein Kastrat das Hohelied der beruflichen Freiheit jodelte, seinen fettesten Köder vor mein sabberndes Maul: Garantiehonorar. Eine Summe, die mir monatlich aus gezahlt werden sollte, selbst wenn ich kein Wort für den Maxmarkt schriebe. "Alles was du schreibst, ist die Butter aufm Brot. Luxus, Hedonismus, Sparstrumpf, ganz wie du willst. Na?" Ich stürzte karacho in den Sumpf. Seit diesem Gespräch ernähre ich mich von philosophischen Minitraktaten, Haushaltstips und Lokalem: "Über den Sinn der Zeit." - "Wie reinige ich die Rippen meiner Heizkörper?" "Bauer Peter hat die größten Kartoffeln." Es ist beruhigend, so -1 3 -
lange im Bett liegen zu können, bis das Telefon klingelt und Schiever oder sein Chefredakteur Meinsell einen Artikel bestellt. Ich mache alles, und ich mache alles gut. Am Morgen des 16. Juni 1997 überlegte ich, wie ich zu einer Tasse Kaffee kommen könnte, ohne das Bett verlassen zu müssen. Das kleine Café um die Ecke fiel mir ein. Die studentische Hilfskraft, in schnellem Schritt ein leckeres Frühstück transportierend. Kaffee, frische, noch warme Croissants. Aber ich hätte ihr die Tür öffnen müssen. Vergessen wirs. Schon war ich bereit aufzustehen, als das Telefon klingelte. Meinsell meldete sich gewohnt schüchtern und leise. "In der Mörickestraße ist eine Frau die Treppe runtergefallen. Machst dus?" "Tot?" "Ja." "Dann mach ichs." Gottseidank weiß ich einen Gewährsmann bei der Polizei, einen alten Schulfreund, der so penibel ist, daß er auch Verbote ordnungsgemäss übertritt. "Habt ihr schon ne Pressemitteilung?" Sie saßen noch dran. "Okay. Was weißt du?" Nun, man wußte nicht viel, aber genug, um den Kasus als einen bedauerlichen Unglücksfall einzustufen. Der Schreibwaren- und Zeitschriftenhändler Wollheim, Besitzer des Hauses und neben seiner Mieterin Siebenlist dessen einziger Bewohner, war gegen zwei Uhr durch ein Poltern im Treppenhaus geweckt worden und hatte die Tote gefunden. Natürlich kam selbst die Polizei nicht an der Frage vorbei, was eine Dame älteren Datums so spät noch außerhalb ihrer Wohnung verloren haben mochte. Einen undichten Dackel zum -1 4 -
nächtlichen Ausführen gab es nicht, außerdem trug Frau Siebenlist, wie es mein Gewährsmann - immer noch der verklemmte Formalist früherer Tage - nannte, "verkehrsübliche Hausbekleidung". Und Hausschlappen. Filzlatschen. Ich schrieb eifrig mit. Es bereitete keine Mühe, den behandelnden Arzt der Frau ausfindig zu machen und zu erfahren, die Patientin sei wegen akuter sowie chronischer Kreislaufprobleme in seiner Obhut gewesen. Schwindelanfälle inklusive. Was zwar das nächtliche Betreten der Treppe nicht erklärte, doch, so mein Informant nonchalant und arbeitsscheu, vollauf genüge, "die Hypothese eines Fremdverschuldens gar nicht erst virulent werden zu lassen." Ich unterbrach ihn. "Ist das alles?" Er zögerte. "Ich weiß nicht, ob - na, eigentlich nichts Topgeheimes. Also die Wohnung. Ich meine - bei einer älteren Frau - ziemlich groß mit fünf Zimmern, Küche und zwei Bädern." "Soll vorkommen." "Schön; ja. Aber du und ich, wir haben Zweizimmerwohnungen, gell? Wohnzimmer, Schlafzimmer. Dazu kleine Küche, kleines Bad." "Na und?" "Tja - Sie hatte FÜNF Schlafzimmer..." FÜNF Schlafzimmer... Ein einziges würde mir reichen. Schon beim Schlafen und Dämmern, Phantasieren und Brüten hatte zuweilen eine Stimme aus anderen Sphären in meinem schwachen Bewußtsein krakeelt. Sie riß mich für Augenblicke aus der Wirklichkeit meines Fiebers in die des Banalen, das um mich herum geschah. Unangenehmes Organ; bloß nicht reagieren. -1 5 -
Als dann aber ein langgezogener Jauchzer meine Traumwelt entrümpelt, gibt es kein Zurück mehr. Augen auf. "Na, wieder unter den Lebenden?" Der das fragt, liegt in einem Bett, das von dem meinen nur durch ein Nachttischchen getrennt ist, auf dem Sprudelflasche, Bildzeitung, Konfektschachtel und dahinvegetierende Flora das Szenario erwarteter Krankenhaustristesse abgeben. "Boskonz! Werner!" Herr Boskonz liegt, auf den rechten Arm gestützt, mir frontal zugewandt. Ein geschätzt dreißigjähriger Träger sommerlicher Schlafanzüge im Krawattenlook, das störrische Haupthaar keck gebüschelt. Von einer Magerkeit, die an nackte Männer auf Nagelbrettern erinnert, an Askese - oder einen mopsfidelen Bandwurm, dem Boskonz fröhlich zufüttert. Schlimmer Tag, soviel ist gewiß. Herrlicher Tag. Man hat die karmesinroten Vorhänge zugezogen, und an ihnen zerplatzen die Sonnenstrahlen zu erträglichem Zwielicht. Hinter Boskonzens vor lauter phonetischer Ekstase zitterndem Leib erhebt sich die Schrankwand. Auf ihr schwimmen Schatten. "Schlafen Sie immer so lang? Halb zwölf! Gleich gibt’s Essen. Müßte eigentlich schon da sein. Versteh das nicht. Guten Tag, liebe Arbeitnehmer, guten Morgen, liebe Studenten, gute Nacht, liebe Schreiberlinge!" Spric hts, belachts und zerrt eine Zeitung aus dem Spind. "Ich kenn Sie! Sie schreiben da drin so komische Sachen. Find ich gut. Überhaupt: Die ganze Zeitung find ich gut. Und kost nix! Wie isses denn passiert? Suff? Irgendso'n Obdachloser, die wo da immer in den Fluren rumliegen? Und die Stadt tut nix!" So. Ganz ruhig. Ich bin in eine Zwangsgemeinschaft gestürzt, ich muß da durch. Lasst uns nach dem Positiven suchen. -1 6 -
Vielleicht ist er kein Fußballfan und verwickelt mich nicht in diesbezügliche Gespräche. Gibt es hier einen Fernseher? Natürlich gibt es hier einen Fernseher, hoch oben, uns gegenüber, mit einer Chipkarte zu bedienen, die in eine Apparatur am Bett zu schieben ist. Vielleicht besitzt Boskonz keine. Vielleicht schaut er lieber Musikantenstadel. "Gestern das Spiel gesehen?" Kein guter Tag. Weiter: Was noch an potentiellem Trost? Vielleicht ist Boskonz schwer krank und stirbt heute abend, noch vor dem Fußballspiel. Vielleicht sterbe ich ja. "Ich muß ja nicht mehr lange hier liegen. Zwei Wochen, sagt das Frau Doktor. Klasse Frau, die, werden Sie auch noch sehen." Vorsichtig seine nähere Umgebung absuchen. Ob es irgendwelche Schläuche gibt, die man ihm, wenn er schläft, rausziehen könnte? Nein. "Ah, Schwester Benedikta! Was gibt’s denn Gutes?" Man muß eine Möglichkeit finden, an Schnaps ranzukommen. Permanenter Suff: einzige Hoffnung, Boskonzens ununterbrochener Rede standzuhalten. Zugegeben: Damals, Juni 97, war ich nicht nüchtern gewesen, als ich das Haus Mörickestraße Nr. 14 zum erstenmal betrat. Zwischen schwerem Angeheitertsein und relativer Nüchternheit: so wollen wir das mal sagen. Ein Morgen danach eben. Die fünf Schlafzimmer, von deren Existenz mir mein Gewährsmann am Vortag berichtet hatte, ließen mir keine Ruhe. Meine hundert Zeilen-Story war zwar fertig; bis zum Redaktionsschluß hatte ich aber noch drei Tage und konnte recherchieren. Was meine Quelle außer dem Faktum der schieren Schlafzimmeranzahl noch zu sagen gewußt hatte, verstärkte den Verdacht, Frau Siebenlist habe ein privates Bordell unterha lten. Breite Betten, rote Glühbirnen, diskrete Rollos, Kleiderständer, -1 7 -
kleine Abfalleimer zur Kondomentsorgung, nur die Teddybären auf jedem Kopfkissen passten nicht ganz, ließen sich jedoch mit etwas Gewalt in die Indizienkette einfügen. "Aber" hatte mein Gewährsmann eingewandt "wenns ein Puff gewesen wäre, hätte es a) Nutten und b) Freier geben müssen. Der Nachbarschaft wäre das Treiben kaum entgangen, der Sitte auch nicht. Außerdem: Wir haben NICHTS gefunden: keine Präservative, keine großen Getränkevorräte, keine Klamotten außer denen von der Siebenlist, keine gewerbespezifischen Hilfsmittel in den Bädern, kein Übermaß an Handtüchern, ZEWA WISCH UND WEG, gar nichts." Die Hoffnung auf anrüchige Girlanden, die man um die sachliche Trostlosigkeit des Falles hätte winden können, schwand. Ich kenne die Mörickestraße, ein Stück Altertum an der Peripherie, in der das Gymnasium mit seinem Ausbund an jugendlicher Energie etwas Exotisches, beinahe bedrohlich Fremdes geblieben ist. Wer hier lebt, steht auf der Zielgeraden und hat die Preislisten der Bestattungsinstitute sorgfältig studiert. Fünfzigjährige Liebhaberinnen von irgendwelchen "Zillertaler Buben" gelten in der Mörickestraße als juvenile, negermusikverseuchte Rowdies, mittelalterliche Frauen im Zustand der Ledigkeit als nitribittgroße Flittchen. So altersschwach Augen und Ohren der Mörickestraßenbevölkerung auch sein mochten, ein veritables Puff wäre ihnen nicht verborgen geblieben. Man hätte nach Sanktionen geschrien - doch es gab diese Schreie nicht. Folglich auch kein Bordell in Nummer 14. Wozu dann aber die fünf Schlafzimmer? Ich gestehe, daß diese Skurrilität der Frau Siebenlist mich neugierig machte, mehr war als Journalistenroutine. In ihr schien eine Weisheit von geradezu grundphilosophischer Dimension zu stecken: die vor lauter Normalität strotzende Wirkung einer völlig im Abnormalen siedelnden Ursache. Fünf saubere Schlafzimmer. Andersrum kennen wir das Spiel zur Genüge: Aus Normalität -1 8 -
wird Monströsität. Aus Buchhaltern Massenmörder. Ein sorgender Familienvater packt ein jüdisches Kind an den Füßen und klatscht es gegen die Wand. Es lag nahe, daß Frau Siebenlist sich nur wünschte, ein Bordell zu betreiben. Aber warum? Trippelte sie Tag und Nacht durch die Wohnung, redete mit imaginären Nutten und Freiern, öffnete die Tür ihrer Wohnung, um das illusionäre Personal ihrer Vorstellung hereinzubitten, Kundschaft, die es gar nicht gab? Das immerhin hätte erklären können, warum Frau Siebenlist nachts um zwei ins Treppenhaus getreten war. Irgend jemand hatte geklingelt. Kein Mensch hatte geklingelt. Ich kam in Herrn Wollheims Laden, und sofort verschwanden die letzten 25, 30 Jahre aus den Annalen meiner Biografie. Ich war wieder 12, 13, 14, 15, 16, 17, ich bewegte mich klein und unwissend in der inzwischen altmodisch gewordenen Einrichtung des Geschäfts, und auch Herr Wollheim selbst, der gerade dabei war, Bleistifte zu zählen, mußte 25, 30 Jahre seines Lebens überstanden haben, ohne dass sie ihm etwas hätten anhaben können. Er war geblieben, was er immer gewesen war: ein älterer freundlicher Mann, der nicht fluchte, wenn man einen Zwanzigpfennigsbleistift mit einem Zehnpfennigstück bezahlte, eine recht kleine, korpulente Persönlichkeit mit freistehenden grauen Lockeninseln auf der Lederhaut seines Schädels und großen Kinderaugen. Es war nicht mehr lange hin bis zu den Großen Ferien. Der Bedarf an Heften, Stiften, Wörterbüchern tendierte zum Bedeutungslosen, nur die Bravo setzte sich gut ab wie immer. Normalerweise fallen die Schüler gegen halb acht in tobenden Schwärmen über Wollheims Laden her, verschwinden kurz vor Acht und machen einer zweiten Welle Platz, die in Gestalt erwachsener, zur Arbeit gehender Menschen Bildzeitungen abgreift. Spätestens um neun kehrt Ruhe ein, und der Kaufmann widmet sich der Pflege seines Sortiments sowie einer Tasse Kaffee im Kabäuschen gleich links hinter der Theke, neben der -1 9 -
Verbindungstür zum Treppenhaus. "Haben Sie Bleistifte?" Wollheim sah überrascht auf wie ein Brennstoffhändler, den man nach Heizöl fragt. "Natürlich", antwortete er. "An was haben Sie denn gedacht?" Ich verwickelte ihn nun in eine Fachsimpelei über harte und weiche Bleistifte, runde und eckige, solche mit und solche ohne Radiergummi am Kopfende. "Eigentlich merkwürdig" räsonnierte ich, "dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, einen Bleistift mit integriertem Anspitzer auf den Markt zu bringen. Statt des Radiergummis." Wollheim überlegte. "Hm. Sehen Sie aber nicht auch das Problem, daß das Anspitzen mit gewissen --- Schwierigkeiten verbunden wäre? Ich meine - vorne ist die Spitze und hinten der Anspitzer, und dazwischen ist ein starrer Stab, sozusagen. Beide Enden kommen nicht zueinander, was sie ja müssten." "Sicher. Man müsste die Bleistifte dann halt im Zweierpack verkaufen." Das leuchtete ein. "Zu meiner Zeit" erinnerte sich Wollheim "hat man Bleistifte mit Rasierklingen angespitzt. Die gabs in jedem Haushalt, jedenfalls denen, die einen männlichen Vorstand hatten. Ich selbst halte es heute noch so. Es ist die perfekte Methode, aber umständlicher, nicht ungefährlich obendrein." "Das Bequeme ist zumeist das Schlechtere. Denken Sie nur an Fahrstühle." "An Fahrstühle?" "Na, Sie stehen unten und warten. Fahrstuhl kommt nicht. Dann kommt er. Sie steigen ein und drücken 4. Stock. Fahrstuhl bleibt auf jedem Stockwerk stehen. Wieder Zeitverlust. Leute steigen ein. Leute, die nicht gut riechen, Übergewicht haben, -2 0 -
dumm quatschen, erkältet sind. Tja, und dann steigen Sie mal aus, wenn Sie gerade wie der letzte Hering in der Ecke hängen." "Das stimmt schon. Aber - " "Richtig. Man kann keine Treppe runterfallen, wenn man Fahrstuhl fährt." Er sah mich mit jenem milden Mißtrauen an, das sein Gemüt als misantropischsten Ausdruck zustande brachte. Will sagen: Er lächelte eine Andeutung unsicherer. "Worauf wollen Sie hinaus? Darf ich fragen, wer Sie sind?" Ich stellte mich vor, Wollheim seufzte. "Eine schreckliche Geschichte. Ich habe der Frau Siebenlist oft gesagt, sie solle vorsichtig sein. Dabei wohnt sie jetzt seit zehn Jahren hier und hätte wissen müssen, daß es alte Treppen sind. Steile, schmale Stufen. Das Haus ist Gründerzeit, die ganze Straße ist Gründerzeit. Sogar das Gymnasium ursprünglich, aber in den Fünfzigern haben sie´s modernisiert." "Ich weiß. War auch dort." "Ach? Gehören Sie zufällig zu dem Abiturjahrgang, der 1975 meine Eingangstür zugemauert hat? Ich frag nur. Ich nehm´s nicht übel. Ein Scherz. Vor zwei Jahren haben sie mir die Scheibe eingeworfen, das war etwas anderes. Da mußte ich die Polizei einschalten." "Nein, nein, ich bin vor dem Abitur abgegangen." Er fragte, um Peinlichkeiten zu vermeiden, nicht weiter nach, sondern wandte sich wie erhofft wieder der Frau Siebenlist zu, die er als patente Person charakterisierte, pünktliche, ruhige Mietzahlerin. "Ältere Frau, ja, ja." resümierte ich scheinheilig, "Freunde sind wahrscheinlich auch nicht mehr so zahlreich." "Nein", bestätigte Wollheim. "Als die Frau hier eingezogen ist, hatte sie einen Freund. Netter Mann das, etwas älter als die Frau Siebenlist damals. Aber das ging nicht mehr lange. Sie ist -2 1 -
gerne ausge gangen, das ja. Aber niemals Exzesse; niemals." Wir redeten noch eine gute Viertelstunde, bis mich Wollheim einlud, den Ort des Unglücks zu besichtigen. Die Wohnung sei leider polizeilich noch nicht freigegeben, überhaupt wisse er, Wollheim, nicht, was mit der Frau Siebenlist Habseligkeiten geschehen solle, denn Verwandte habe sie keine. Ich täuschte Zeitnot vor und verabschiedete mich, versprach indes, in den nächsten Tagen wiederzukommen und das Angebot des Hausherrn zu nutzen, "zumal dann ja wohl die Wohnung wieder zugänglich ist, und ich mal - wenn Sie nichts dagegen haben einen Blick routinehalber reinwerfen könnte." In Haus Nr. 12, gleich nebenan, lebten auf drei Stockwerken drei gelangweilte Witwen, die meinen Besuch mit dem Entzücken aller Besitzer von verdammt viel Zeit begrüßten. Sie bestätigten nur, was Herr Wollheim mir bereits gesagt hatte. Eine unauffällige, nette Frau, etwas zu aufgedonnert, aber sie sei ja noch jung gewesen. Was aus der Sicht von Achtzigjährigen zweifellos der Fall war. Nach diesen Recherchen begab ich mich ins Café Sonnberger, drei Häuser weiter, und bestellte mir - es war halb elf - ein zweites Frühstück. Auch so ein vertrauter Ort aus Schülertagen. Ich steuerte instinktiv den vertrauten Tisch in der Ecke an, wo man vor den Blicken der anderen Gäste ebenso verborgen war wie vor denen des hinter der überbordenden Kuchentheke scharwenzelnden Personals. Fast ein Separee. Hier hatte ich vor einem guten Vierteljahrhundert meine Entjungferung eingeleitet. Sie war siebzehn, ich war siebzehn, wir tranken Cola mit Bier, wir zitterten beide und schämten uns dafür. Sie hieß Diana (und heißt noch immer so; klar.), trug einen Maxirock, wie es die Mode zum Entsetzen aller pubertierenden Jünglinge diktierte, als der Mini und die Hot Pants im Orkus des Obsoleten verschwanden. Dianas Eltern waren gut situiert - eine Tatsache, die damals garantiert Töchter zur Rebellion anstachelte. Sie zeigte sich darin, an Joints zu -2 2 -
ziehen (ohne zu inhalieren), Janis Joplins posthumes Album "Pearl" mit der gleichen Inbrunst zu lieben wie einst die "Trotzkopf"- Romane, auch Pink Floyd zu schätzen, obwohl man nicht wußte warum - und sich noch vor der Ehe hinzugeben. Diana, bei allem Rebellentum eine brave und sehr gute Schülerin, machte natürlich ihr Abitur. Da waren wir längst nicht mehr zusammen - Schluß mit den Reminiszenzen. Jedenfalls: Wir landeten schließlich in ihrem Jungmädchenzimmer. Diana bugsierte die vorwitzige kleine Schwester Judith mit Hilfe eines Zweimarkstücks aus dem zur Hingabe vorgesehenen Raum, dann herrschte für einen ewigen Augenblick Ruhe und Bewegungslosigkeit, selbst die Vögel draußen hielten sich daran. Wir hatten beide keine Ahnung, daß dabei Blut zu fließen pflegt. Wir mußten ein Bettlaken säubern, ohne von dieser Aktivität und ihrer Ursache die Eltern der trotz ihrer moralischen Beschmutzung Fröhlichen in Kenntnis zu setzen. Es gelang uns nicht. Wir haben das Bettlaken dann in eine Plastiktüte gesteckt, Diana nahm ein neues und spannte es auf die Matratze. Das corpus delicti auf dem Gepäckträger meines Mofas, fuhr ich zum nahen Wald, entsorgte diskret die verräterische Fracht. Es ist nie rausgekommen. Dianas Eltern besaßen viele Bettlaken. An diesem Morgen nach dem Besuch bei Wollheim schrieb ich, von den bittersüßen Erinnerungen leicht chloroformiert, einen Essay. Er handelte von Schlafzimmern und Abgründen, von Einsamkeit und Teddybären, von unbefleckten Laken und solchen, die aufgelegt wurden, um befleckt zu werden. Ich gab den Text, handgeschrieben wie er war, bei der Redaktionssekretärin ab, und er wurde noch in der nächsten Nummer des Maxmarktes veröffentlicht, weil der Gebrauchtwagenhändler Stoltz im letzten Moment seine ganzseitige Anzeige zurückgezogen hatte, und sich ein überkandidelter Text immer noch besser macht als eine öde -2 3 -
Seite leeren Papiers. Drei Tage, nachdem der Essay erschienen war, erhielt ich einen Brief. Er versteckte sich zwischen dem Postkonvolut, den Werbeschreiben und Rechnungen, den Einladungen und Drohungen, wie sie ein Journalist, auch wenn er keiner ist, bekommt. Ich habe mich später manchmal gefragt, was passiert wäre, hätte ich den Brief mit all dem anderen, unwichtigen Zeugs unabsichtlich der Mülltonne überantwortet. Nichts wäre passiert. - Alles wäre passiert? Müßige Gedanken. Ich öffnete den Brief und fand ein Foto im Umschlag. Es zeigt einen nackten männlichen Hintern - weiß Gott kein Prachtexemplar seiner Gattung - und in ihm steckt eine Pfauenfeder. Auf der Rückseite des Fotos stehen, mit Füllfederhalter akkurat leserlich fein geschwungen, die Worte: "Du Dummer. Du änderst dich nie. Du hast keine Ahnung. Denk an die Teddybären."
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2 Schmerzen
Obwohl ich schon lange kein Freund des Kirchlichen mehr bin - und, Hand aufs Herz, hätte ich ausgerechnet jetzt Grund, einer zu sein? - , bezaubert mich doch Schwester Benedikta, denn sie weiß, was ich brauche: ein Frühstück zur Mittagszeit. Zudem bedauert sie mich sehr. Mich in meinem Krankenhauskittel, der die Blöße gerade so am Rande des Züchtigen bedeckt. Meine Beine sehen fürchterlich aus: beide Oberschenkel in Gips, aus dem linken windet sich ein Plastikschlauch, durch den eine Art schmutziges Blut in einen am Bett befestigten durchsichtigen Plastikbeutel gepumpt wird. Dass meine Unterschenkel bandagiert sind, sei als eine Petitesse am Rande abgehakt. Langsam komme ich zu mir. Ich liege gegenüber der Fensterfront, schaue auf die erwähnten roten Vorhänge und frage mich, wonach es in diesem Kabuff riecht. Nach Krankenhaus, das heißt: nach Desinfektion und Desinformation. Boskonz hat freundlicherweise beide Fenster gekippt, doch was von draußen hereinkommt, nährt den Eindruck, dort sei ein noch viel größeres, noch penetranter stinkendes Krankenhaus. Auftritt Schwester Benedikta, den Mittagstisch für meinen gefräßigen Zimmergenossen balancierend. "Ach, Sie Ärmster!" tröstet mich die kompakte Sechzigerin in Gottes Uniform. "Sind Sie endlich wach? Haben Sie Hunger? Natürlich haben Sie Hunger! Haben Sie Schmerzen? Sagen Sie nur, sagen Sie nur!" Im Stillen erweicht mich diese mildtätige Nonne so weit, daß mir der absurde Gedanke, zukünftig doch wieder Kirchensteuern zu zahlen, so absurd gar nicht mehr vorkommt. Man machts ja nicht für den Alten in Rom und seine klerikalen Filialisten. Man -2 5 -
macht´s für Heilige wie Schwester Benedikta und die guten Werke, denen sie sich widme n, so dem Organisieren eines kräftigen Frühstücks aus dampfendem Kaffee, zwei frischen Brötchen mit Marmelade, einem Ei unterm Wollmützchen gar, selbst das Salz vergißt sie nicht. Nur die Sache mit dem Haferschleim. Sie meint es sicher gut, aber Haferschle im ist mit zu vielen Schrecken der Kindheit verknüpft, mit Drohungen und Handgreiflichkeiten. Angewidert stelle ich das Schüsselchen auf meinen Nachttisch, vor die gierigen Augen des mampfenden Boskonz, der soeben ein Schnitzel mit vier Bissen verputzt hat. "Essen Sie das etwa nicht?" Ich reiche ihm das Schälchen rüber, froh, Schwester Benedikta nicht enttäuschen zu müssen. Ich bin ein guter Junge und lasse alles aufessen. Doch, ein herrlicher Tag. Boskonz löffelt den Brei dem Schnitzel hinterher, reicht mir das Schüsselchen zurück. Dann schwingt er sich aus dem Bett, "eine verdauungsmäßig rauchen gehen". Gute Idee, Boskonz. Eine Zigarette zur letzten Tasse Kaffee, draußen jubiliert die Vogelschar im Geäst der Parkbäume, sonnt sich, was rekonvaleszent oder moribunt, hingebungsvoll auf den Bänken. Alles schmaucht und hustet, spuckt Tabakkrümel und prüft die Bronchien. Herrlicher Tag. Fürchterlicher Tag. Den momentanen Nichtbesitz von Zigaretten würde ich als einen läppischen temporären Mangel beseitigen können. Überall gibt es freigiebige Raucher und gefüllte Zigarettenautomaten. Indes: Ich kann nicht aufstehen, um das Raucherzimmer oder den Park anzusteuern. Ich werde tage-, wochen-, monatelang im Gipsgefängnis liegen, einen mysteriösen Schlauch tolerierend, der mir Blut, Dreck und was weiß ich aus dem Bein pumpt. Nichts bleibt mir als das Warten darauf, daß die vermaledeiten Knochen meiner unteren und jetzt unsichtbar gewordenen Extremitäten heilen. Ich spüre -2 6 -
Kopfschmerz. Ich fühle ein Kribbeln in den Beinen, das nichts Gutes verheisst. Ich merke, wie sich die Muskulatur meiner Bauchdecke zu einer Grimasse verformt. Ich gewahre, wie die Bilder und Metaphern in meinem inneren Monolog so schief werden, daß sie schon der Anflug eines vernünftigen Gedankens kippt. Ich warte auf Schwester Benedikta himmlisches Erscheinen und ein Wunder. "Sie haben alles aufgegessen, das ist schön", lobt sie. Dranbleiben; unbedingt dranbleiben: der liebe Bub, der Musterschüler, dem kein Wunsch abgeschlagen werden kann. Und oh, gnädige höhere Instanz, sie AHNT alles im voraus, meine liebe Benedikta. Ganz voller Mitgefühl schaut sie auf meine Hände, die nervös taktschlagen. "Jetzt möchten Sie gerne eine rauchen, gelt? Bei DEN gelben Fingern müssen Sie ein arger Raucher sein." Ich spitze den Mund und wiege den Kopf, als sei mir der Gedanke noch nicht gekommen, entbehre aber nicht eines gewissen Reizes. "So ein Zigarettchen zur allgemeinen Stabilisierung meiner Lage - wäre nicht schlecht. Von der Verdauung ganz abgesehen." "Ach, Sie Glücklicher!" hebt meine allerfeinste Schwester an; wahrscheinlich hat sie selbst ein Päckchen unter ihrer Kutte. "Bedenken Sie", fährt sie fort, "wie viele Menschen sich das Rauchen abgewöhnen wollen und es nicht können, weil überall am Wege die Versuchung lauert. IHNEN aber wird gar nichts anderes übrigbleiben, als sich das Rauchen abzugewöhnen. Sie können Ihr Bett nicht verlassen, und natürlich wissen Sie auch, daß nichts Schlimmeres sein kann, als im Krankenzimmer zu rauchen. Eine Todsünde, wo Ihnen der Herr so eine Gnade hat zuteil werden lassen. Und was Ihre Verdauung betrifft: Für kleine Geschäfte haben wir hier, gleich am Bettpfosten, die Urinflasche. Für die großen Geschäfte klingeln sie einfach. -2 7 -
Dann kommen zwei Schwestern mit der Bettpfanne und heben Sie ab." Tag des Zorns. Ich, souveräner Atheist, soll von zwei Bräuten Christi auf den Topf gestemmt werden! Eine nimmt die Flasche und schiebt sie auf mein Genital. Wieder allein - selig lächelnd hat das keusche Monster mein Frühstücksgeschirr abgeräumt -, falle ich erschöpft ins Kissen zurück. Bilder einer Wahnvorstellung, die Geburt eines Mythos: Wann habe ich meine letzte Zigarette geraucht, von der ich nicht wußte, daß sie meine letzte sein würde? Hätte ich die innere Kraft, nach dem erzwungenen Entzug wieder mit dem Rauchen anzufangen? Also - muß vor Haus 14 gewesen sein. Wenige Minuten, bevor ich --- nee; komisch. So war das nicht. Später... später. Eines Tages werde ich dieses Bett verlassen. Ich werde mich zu den Toiletten schleppen. Ich werde mich hinsetzen - so. Ich werde, während es sich aus mir herausröhrt, eine Zigarette anzünden. Ich werde, kurz, auf dem Klo rauchen. Schönste aller denkbaren Utopien. Ich werde wieder ein Schüler sein, der gegen die Hausordnung verstößt und drauf pfeift. Ein Hintern, in dem eine Pfauenfeder steckt. Das Foto dürfte ohne große Sorgfalt in einem Heimlabor entwickelt worden sein, ein Probeabzug. Etwas blaß nämlich sind die Farben und geben dem Stilleben aus Gesäß und Feder einen Hauch des Antiken aus der Pionierzeit der Fotografie. Ein Dokument aus der Vergangenheit, der jüngeren, ein paar Worte, die Saiten anschlagen, ohne Töne zu erzeugen. Knapp eine Woche nach meinem ersten Besuch bei Wollheim machte ich den zweiten. Es ging auf Geschäftsschluß zu, viertel nach sechs. Zu dieser Stunde betreten Kunden nur noch selten den Laden, heute kam ein Mädchen atemlos und fragte nach dem Liliputwörterbuch Deutsch-Französisch, FranzösischDeutsch, was auf eine morgige Klassenarbeit und den Gedanken an eine unzulässige Beeinflussung der selben schließen ließ. -2 8 -
"Es gibt so Augenblicke" sagte Wollheim sanft philosophisch, als das Mädchen gegangen war, "die wiederholen sich ein Leben lang. Immer kommen kleine Mädchen, kleine Jungs kurz vor Ladenschluß und kaufen diese Büchlein. Die meisten haben einfach gemerkt, daß ehrlicher Fleiß bis morgen früh nicht mehr ausreichen wird. Sie sind in Panik. Seit vierzig Jahren erlebe ich das." "Seit vierzig Jahren?" Wollheim wiegte sein Haupt bedenklich. "Seit vierzig Jahren. Damals habe ich den Laden übernommen. Mitte dreißig. Bin aus Hamburg gekommen, aber da ist es mir nicht so gut gegangen. Fünfziger Jahre, verstehen Sie? Der Mief. Die Beschränktheit. Und dann Hamburg! Von wegen liberal! S-tock-s-teif. Meine Frau - sie lebt nicht mehr hat gesagt: 'Komm, wir ziehen weiter südlich.' Und ich wollte verschnaufen. Ein wenig verschnaufen. Nie hätte ich mir vorstellen können, ein Leben lang Hefte und Zeitungen zu verkaufen." Er setzte sich auf den Stuhl neben der Theke und drohte für eine Sekunde nach hinten zu kippen, wie es geschieht, wenn man die Balance halten will, weil man glaubt, sie zu verlieren. Fing sich und machte ein steifes Kreuz. "Meine Frau hat immer gesagt: 'Du brauchst die Ruhe. Für die Unruhe bist du nicht geschaffen. Was soll man sich aufregen. Deine Dinge sind die leblosen Dinge, und du mußt dankbar dafür sein.' Sie hatte recht." Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. "Aber das interessiert Sie natürlich nicht. Ich werde abschließen, damit wir hinauf gehen können." Wir gingen durch die Verbindungstür ins Treppenhaus, fensterlos und dunkel, ferngehalten von den Juwelen der Abendsonne. Wollheim machte Licht. Zum erstenmal stand ich vor der Treppe, eine steile graue Macht, ein Hindernis. -2 9 -
"Seien Sie vorsichtig. Die Stufen sind sehr schmal." Aber sie knarrten nicht, wie ich es von so altem Holz erwartet hatte. Oben angekommen, schloß Wollheim die Tür zur Siebenlistschen Wohnung auf, machte auch hier Licht und ging hinein. Aus Frau Siebenlists Wohnung, die seit dem Unfall wohl nicht mehr gelüftet worden war, hatte die aufgestaute Stickluft eine Mikrowelle gemacht. Schöner gepflegter Parkettfußboden bereits im Flur. Außer einem aufgereihten Halbdutzend vergoldeter Garderobenhaken an der beigen Tapete gab es dort nichts. Ein langer, schmaler Flur, drei Türen zur Linken, drei zur Rechten, je eine an den Schmalseiten. Wollheim, dem es nichts auszumachen schien, gargekocht zu werden, öffnete die erste Tür links, ließ Licht werden. Wir standen in der Küche, einem wie in früheren Zeiten üblich großzügig geschnittenen Raum, dessen Zentrum für das Gesellige ein schwerer dunkler Tisch bildete, um den sich Stühle aus gleichem Holz gruppierten, acht insgesamt. Der Tisch war mit einem Wachstuch bedeckt, Blumenmuster, längst seiner kitschigen Farbenpracht verlustig gegangen und voller Risse und Schnittwunden, wie sie der fahrlässige Umgang mit Messern hinterläßt. Die rechte Wand wurde von einem schon bei seiner Anschaffung geschmacklosen weißen Küchenblock eingenommen, dem die Jahre auch die kleinste Andeutung von Eleganz ausgetrieben hatten. Wieder die beige Tapete. Keine Bilder, kein Kalender, nichts. Dem Block gegenüber barg ein Schränkchen aus billigem Sperrholz wahrscheinlich Küchenutensilien. Es war mit Folie beklebt, die eine Maserung unzulänglich vortäuschte, und trug eine Vase ohne Blumen. Das Ensemble der Scheußlichkeiten kontrastierte zum Parkettboden: feinem, warmem Holz, bei dessen Pflege man sich die Mühe gegeben hatte, auf die andernorts verzichtet worden war. -3 0 -
Endlich hatte Wollheim ein Einsehen und öffnete das Fenster. "Tja" sagte er, "so hat sie gewohnt, die Frau Siebenlist. Hübsch, nicht wahr?" Ich antwortete nicht. Ich stellte mir die Frage, wie es ein Mensch in solcher Tristesse aushalten konnte, dann zumal, wenn er seine ruhigen Abende an einem großen Tisch sitzend verbringen mußte, allein in Gesellschaft von sieben Stühlen und einem Wachstuch, dessen Schäbigkeit irgendwann zum Spiegel werden muß, wenn man ständig drauf starrt. Wir verließen dieses Zimmer und gingen ins nächste. Es war das erste der fünf legendären Schlafzimmer. Ich habe später, den Abend rekapitulierend, erstaunt festgestellt, daß mir das Interieur dieses Raumes wie auch das der vier folgenden, weitgehend identischen, aus dem Gedächtnis gefallen sein muß - oder es nie bis ins Gedächtnis geschafft hat. Denn was ich registrierte, war einzig der braune Teddybär auf dem Kopfkissen. Alles andere muß das Flair bescheidenster Pensionszimmer ausgestrahlt haben: minderwertige, unansehnliche Bett-Nachttisch-Kombination, blauer oder gelber oder roter Flauschvorleger, ein Stuhl in der Ecke, ein Kleiderständer daneben. Natürlich: der Parkettboden. Er knarrte nicht. Er knarrte nirgendwo in der Wohnung. Auch die fünf Teddybären waren Kopfgeburten eines lustlosen Designers von preiswertem Spielze ug. Fünflinge, mehr oder weniger zerschlissen, mit kecken roten Fliegen geputzt, dunklen Knopfaugen, fast mürrischer Mundpartie. Nein, was sie anziehend machte, hatte nichts mit Materie zu tun. Etwas entströmte ihnen, eine Geschichte womöglich. Nicht als Worte, natürlich nicht. Als Farben. Kaltes Stahlblau, mit darin ertrinkenden Pastellabstufungen von Rosa. Es kam aus den Bären und strich das Mobiliar, die Wände. Ich kann es nicht anders erklären. Ich SAH, wie es passierte. Und dann sah ich noch etwas: den Bettbezug; ein etwas dunkleres Beige als das der Tapete, mit tabakbraunen, dünnen Längsstreifen. Und indem -3 1 -
ich das sah, sah ich es noch einmal: auf einem Foto. Ein kleiner Fetzen Stoff zwischen dem welken Fett zweier Oberschenkel. "Sie wollen doch auch lieber Frankreich - Dänemark gucken als wie Südafrika gegen Saudi- Arabien?" So hebt der befürchtete Fußballdiskurs an. Meinsell hat sich noch nicht blicken lassen, ich liege, ein moderner Gregor Samsa, auf dem Rücken und bin hilflos. Buchstäblich abgeschnitten von allen Strohhalmen, an denen ich mich aus den verbalen Kaskaden des Boskonz ziehen könnte. Kein Laptop, kein Buch, keine Zeitung außer der unsäglichen, die mir mein freundlich-tückischer Nachbar zur Lektüre überlassen hat. Nichtsnichtsnichts, das andeuten könnte, hier beschäftige sich ein Mensch ernsthaft und konzentriert, sei in wichtigen Stoff vertieft und wünsche kein Gespräch. Stattdessen spiele ich den arschdummen Käfer, meine Welt eine weiße Zimmerdecke. So gesehen muß Boskonz überzeugt sein, er tue mir mit seiner Unfähigkeit, die Wörter halten zu können, einen Gefallen. Noch ist etwas Zeit und Boskonz sparsam genug, sein Fernseheinwurfgeld nicht für "Vor- und Stimmungsberichte" zu verplempern. Von mir hat er nichts zu erwarten. Ich habe keine Ahnung, wo sich meine Brieftasche momentan befindet. Auch über den Verbleib meiner Kleidung weiß ich nichts. "Ich geh noch eine rauchen." Fünf Minuten habe ich Zeit, Boskonz für diese Ankündigung zu hassen, dann kommt er, sichtlich beschwingt, zurück und fängt an, das Garn seines Lebens und seiner Krankheiten zu spinnen. Er leidet an Magengeschwüren, "schon seit ich denken kann. Und die Dummbeutel haben mir immer erzählt, das wär psychisch. Isses aber nicht. Is eine Bakterie, die wo Helicobacter pylori heißt. Muß man sich vorstellen! Da reden die einem ein, man nähme sich alles so zu Herzen. Die Arbeit aufm Amt, die Alte daheim, oder sogar das Fernsehen. Und dann isses so eine Bakterie!" -3 2 -
Er schweigt abrupt für die Ewigkeit dreier Sekunden und sieht mich an. "Glauben Sie - ich meine: Sie als Journalist - glauben Sie, es gibt vielleicht überhaupt keine Psyche? Sondern nur Bakterien?" Ich halte das für einen interessanten Aspekt. "Kann schon sein. Sie sind verheiratet?" Selbstredend besitzt Herr Boskonz eine Frau. Sie haben sich auf dem Amt kennengelernt, wo beide "Sachen bearbeiten", und morgen, droht der Mann, dürfte ich sein gutes Stück kennenlernen. Warum ich danach fragen würde. "Na - weil die Liebe schließlich auch etwas Psychologisches ist. Ein Befehl, Hormo ne freizusetzen." "Hm." Das gibt ihm zu denken. Ich fahre fort: "Wenn sie nun eine Bakterie wäre - quasi eine Bakterie mit Vierfachaufgabe. Erstens: Suche einen Menschen und springe zu ihm rüber. Stelle fest, ob in ihm eine kompatible Bakterie ist. Wenn ja: Bringe sie dazu, auf deinen Wirt überzuspringen. Ist das geschafft, bringt ihr den Hormonausstoß in Gang." "Das wäre ja - wie bei Magengeschwüren, Aids oder Grippe? - Eine Krankheit?" Das haut ihn um. "Ojoijoijoi. Daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht. Sagt das die Wissenschaft?" Ich täusche eine vage Erinnerung an spezielle Berichterstattung vor und verspreche ihm, bei Gelegenheit nachzuschauen und ihn auf dem Laufenden zu halten. "Gott, is das heiß!" Ich kann nicht klagen. Der Gips kühlt himmlisch meine noch immer gefühllosen Beine, zudem kommt frischer Wind durch die Fenster. Boskonz schlüpft aus seinem Shirt, legt sich -3 3 -
rücklings auf das Bett und massiert mit kreisenden Bewegungen der Handflächen die Bauchdecke. "Ist Ihnen nicht gut?" Er stöhnt. "Doch, doch. Aber so heiß. Überall. Und der Helicobacter..." Für einen Moment grenzenlosen Optimismus fasziniert mich der Gedanke, das Unwohlsein meines Nachbarn könnte über seine Fußballgier Oberhand gewinnen. Wird wohl nicht geschehen. Boskonz zieht die Knie zum Bauch, dem die Massage keine Linderung gebracht hat. Soll ich klingeln? Die Schwester alarmieren? Ich gestehe: Ich bin feige, und die Befürchtung, gleich stürzten, wie von Schwester Benedikta angedroht, zwei der uniformierten Zölibatsbesitzer mit der Pfanne ins Zimmer, läßt mich schaudern. Ich kämpfe sowieso schon mit dem Stuhlgang. Ein aussichtsloser Kampf, den ich nur verlieren kann. Hinauszögern. Wozu eigentlich? Boskonz richtet jetzt seinen Oberkörper auf, beugt ihn nach vorne, bis der Kopf zwischen den Beinen liegt und Ort eines anhaltenden, immer lauter werdenden Stöhnens ist. Ich muß klingeln. "Soll ich klingeln?" Eine leichte Veränderung der Modulation in Boskonzens herausgepresster Klage. Ich klingele. Den Sommer des Jahres '97 verbrachte ich an der bretonischen Nordküste, um eine aktuelle Artikelserie über deutsche Urlauber auf Mallorca zu schreiben, eine "der Jahreszeit angemessene, ironisch-leichte Gemischtwarenstory aus Sex, Kultur, Alltag und Gesellschaftskritik", wie Schiever es formuliert hatte. Ich reiste mit dem Zug, reichlich Literatur im Gepäck und den Vorsatz, mir den Rest branchenüblicherweise aus den Fingern zu saugen. Laptop, Modem und Internet waren die Nabelschnur -3 4 -
zur nährenden Mutter Maxmarkt, wo man meine pünktlich zum Abgabetermin einlaufenden Konstrukte aus Dichtung & Wahrheit empfing und verbreitete. So genoß ich den Urlaub. Faulenzte am Strand, flirtete (erfolglos) mit der Geschäftsführerin des kleinen Hotels, in dem ich logierte, fraß zur Mittagszeit belegte Baguettes, aus denen Mayonnaise quoll, und abends raffiniert zubereitete Meeresfrüchte zu erstklassigen Getränken. Ich lebte wie eine Edelfeder, einer dieser Schnösel unserer renommierten Tageszeitungen und Magazine, ja, ich hätte mich an dieses Leben gewöhnen können. Ab und an schrieb ich ein Seitchen und expedierte es elektronisch in die Heimat. En passant, wie der Franzose sagt. Als ein roter Faden durch meine mallorquinische Sittengeschichte zogen sich die Erlebnisse von fünf Urlaubern, die ich mir schon im Zug ausgedacht und mit Namen versehen hatte: Karlheinz und Claudia Wagenfeldt repräsentierten dabei die halbakademische Minderheit, kulturinteressiert, mit Mietwagen ins Landesinnere fahrend, "wo Natur und Mensch noch touristisch unberührt Siesta halten", abends dann in verschwiegenen Tavernen hockend, "wo man ihnen original einheimische Tänze vorführt" (ich sollte das "wo" lieber ersetzen. Keine Wiederholungen!). Monika Zygorkski und Marco Müller hingegen entstammten dem proletarischen Milieu der sogenannten Spaßgesellschaft und suchten auf der Insel genau das: Spaß und Gesellschaft. Müller beteiligte sich an Sangria-Wettbesäufnissen und träumte davon, sein Sperma möglichst weiträumig zu verteilen; Monika Zygorkski, die mit Müller "in wilder, aber vom Alltag gezähmter Ehe" zusammenlebte, mochte Diskos, Animationsspiele und den feurigen Spanier, der am kalten Büffet des Hotels für das Austeilen der Salate zuständig war. Alle diese Personen hatten ihr Ebenbild in meiner Biografie. Die Wagenfelds etwa waren nach einem Paar modelliert, das ich vor wenigstens zwanzig Jahren einmal auf einer Studienreise -3 5 -
nach Kreta kennengelernt hatte, das Duo Müller / Zygorkski war eine 1:1-Kopie jener komischen Gemeinschaft, die die Wohnung unter der meinen gemietet hat und sich jeden Freitagabend über "das Geld" und "deine Weiber" zu streiten pflegt. Aber ich brauchte noch eine fünfte Person. Sie sollte schon älter sein; alleinstehend; weiblich; geschaffen für die philosophisch-sozialreflektiven Elemente in meiner Reportage, wenn es galt, über die Einsamkeit in Massengesellschaften zu räsonnieren. Manchmal begibt sie sich an den Strand, wo sie herumliegt wie Falschgeld. Manchmal sitzt sie in einem Restaurant, möchte Spanisch essen und entscheidet sich dann doch für die Wiener mit Kartoffelsalat. Meistens aber sitzt sie auf ihrem Zimmer und liest Reiseprospekte. Ich suchte nach einem Namen. Ich nannte sie Heidemarie Siebenlist. Meine bretonischen Ballermannstudien endeten Anfang September. Zu Hause fand ich den erwarteten Berg Post vor, durch den ich mich bei einem Glas Wein grub, ohne indes auf etwas anderes zu stoßen als Werbung, Rechnungen, Mahnungen, vier Urlaubsgrüße - und ein unauffälliges weißes Kuvert, absenderlos. Ich nippte am Wein, steckte mir eine Zigarette an, produzierte eine Rauchwolke, die Richtung Fenster abzog, schaute ihr nach. Dann öffnete ich das Kuvert. Abermals steckte ein Foto darin. Es war von ähnlich schlechter Qualität wie das vorherige, noch grobkörniger, noch verwaschener, denn es handelte sich um eine Verkleinerung des bereits hinlänglich vertrauten Arrangements. Jetzt ließen sich auch Teile des Rückens und der Beine jener mit einer Pfauenfeder geschmückten Person erkennen, sowie ein größeres Stück vom Bettzeug. Kein Zweifel mehr: Das war das Bettzeug aus Frau Siebenlists Wohnung. Und abermals stand eine Notiz auf der Rückseite des Fotos. Sehr akkurat, sehr elegant, Füllfederhalter: "Was weißt du schon von Einsamkeit? Am schlimmsten ist Einsamkeit, wenn man -3 6 -
nicht einsam ist. Hast du an die Teddybären gedacht? Was ist dir dazu eingefallen?" Eine Aufforderung. Wer auch immer die Person sein mochte, die meine Artikel mit kryptischen Kommentaren und Hinweisen begleitete, sie wollte den Dialog. Sie hatte ein Ziel, ich wußte nicht welches. Eigentlich wollte ich an diesem Abend meine Rückkehr in die Posturlaubswelt mit einem Umtrunk begießen. Schiever und andere Freunde pflegen laue Sommerabende vor Conrad's Bistro zu verbringen, und dieser Abend Anfang September gehörte erfreulicherweise dazu. (Man müßte mal etwas gegen den falschen und inflationären Gebrauch von Apostrophen im Deutschen schreiben, fällt mir gerade ein.) Stattdessen nahm ich Stift / Papier und versuchte, meine Empfindungen angesichts der Teddybären in Frau Siebenlists Schlafzimmern zu fixieren. Es wollte nicht recht gelingen. Ich zerknüllte das Blatt, griff ein neues. Ich schrieb über die Kindheit, einen Schnappschuß, der die Kindheit aus der Chronologie reißt, sie zeitlos macht, zu einem toten Gegenstand des Sicherinnerns: eine Fotografie: ein Teddybär darauf. Und wie dieses Bild aus den Tagen der Unschuld, wenn du nicht an den Tod denken mußt, weil das Leben als eine mit Zeit verschwenderisch gefüllte Blase vor dir schwebt und kein Gedanke daran aufkommt, wie es denn wäre, wenn diese Blase mit einem Mal zerplatzte - wie also dieses Bild, dieses Foto und mit ihm die Kindheit plötzlich stirbt. Verreckt. Verfällt und verwest. Wie dieser Teddybär auf dem Foto zu einem Sinnbild des Schrecklichsten wird: zu einem Sinnbild des Grauens darüber, daß man dabei ist zu sterben. Erinnerung ist Leichenschändung. Ich setzte mich in die aufziehende Dunkelheit. Das Telefon läutete, siebenmal, achtmal, neunmal. Musik von Automotoren. Wieder läutete das Telefon. Zehnmal? Ewig jedenfalls. Noch -3 7 -
einmal durchlesen, was ich geschrieben habe. Zu pathetisch. Eingeklemmt zwischen Horoskop (Schiever machte es höchstselbst) und Dachdeckerwerbung. "Is'n dat fürn Scheiß!" brüllt Herr X. und pfeffert die Zeitung zum Altpapier. So stellte ich es mir vor, und es beruhigte mich. Dieser Text war nur für eine Person bestimmt, und sie würde ihn lesen. Sie. Telefon. "Ja?" "Sag mal: Wo bleibst du eigentlich?" Schievers majestätisches Organ, im Hintergrund lachte eine fidele Gesellschaft gegen plärrende Tanzmusik. "Ich schreibe über Teddybären." Das machte sogar Schiever sprachlos. Nicht für lange. "Über Teddybären schreibst du. Soso. Und ich soll den Mist wahrscheinlich veröffentlichen. Hör mal, mein Lieber: Deine Ergüsse in allen Ehren, ich weiß sie durchaus zu schätzen. Die Mallorca-Story war ne feine Sache, wir haben eine Menge Reisebüro-Inserate reingekriegt, doch, doch. Aber dieser penetrante moralisierende Ton! Das mit der Alten! Hättest du weglassen sollen. Keine gute Idee. Das geilt Studienräte und übriggebliebene alte Mädchen mit Mittlerer Reife auf, aber die sind nicht unsere Zielgruppe. Der dämliche Normalbürger von der Straße - that's it! Dem mal ab und an was Intellektuelles hingeworfen, und schwupp fühlt er sich wien Gebildeter im Refugium einer geschmackvollen Bibliothek. Lesen wird er den Schmonzes wahrscheinlich nicht. Mir doch egal. Hauptsache, er hält den Maxmarkt für was Besonderes, das an seine verschütteten edlen Instinkte appelliert. Und jetzt komm saufen." Er legte auf, ich legte auf, und wahrscheinlich blieb Schievers noch eine Weile am Telefon stehen und horchte fasziniert seiner -3 8 -
Rede nach. Ich seufzte und machte mich ausgehfertig. Ging auf die Straße, lief ziellos, wußte, wohin ich zu gehen hatte, tat es nicht. Und stand - schon dunkel - vor Haus 14. Bei Wollheim im zweiten Stock brannte Licht. Ich ging zur Haustür, verharrte dort unschlüssig. Drehte mich um und ging weiter die Straße entlang, am Gymnasium vorbei, das still und finster hinter der Mauer mit dem niedrigen Zaun darauf lag. Und traf vor dem Bistro ein, just als Schie vers einen Witz auf meine Kosten riß. Von einem schüchternen Jüngling abgesehen, dem das Stetoskop lehrlingshaft vor der Brust baumelt, hat sich an diesem Tag noch kein Arzt um mich gekümmert. Und auch Hypokrates' Auszubildender begnügt sich damit, dreimal auf den Gips zu klopfen, vielleicht, weil so etwas Glück bringen soll. Als man endlich den erbärmlich jammernden Boskonz samt Bett hinausrollt, schenkt mir der anwesende Chefarzt ein paar diagnostische Blicke aus der Distanz. Murmelt: "Das geht ja alles seinen Gang." und eilt dem Akutpatienten hinterher. Schade. Nicht dass ich den dramatischen Abgang meines Zimmergenossen beweinen würde. Aber jetzt, so ganz allein, fühle ich mich isoliert, von sämtlicher Kultur und Zivilisation abgeschnitten. Mitten drin in einer modernen Robinsonade, schiffbrüchig an den Gestaden der Krankenkassengesellschaft: keine Zigaretten (ich darf gar nicht daran denken und denke an nichts anderes), kein gutes Buch, keine Zeitschrift, lediglich einige unsägliche Sexzeitschriften, Boskonzens mir augenzwinkernd gereichte Leib- und --- nun ja: Magenlektüre, verbinden mich via schlechtem Schlagzeilendeutsch und billigen Fotos nackter Mädels mit der Außenwelt. Eigentlich habe ich nur mich und die Maschine in meinem Kopf, den unermüdlich Gedanken auswerfenden, von erschütterten Gehirnzellen umsummten Generator horribler -3 9 -
Ideen. Eine davon ist die, daß ich nicht wie jeder andere normale Mensch eine Schlafanzughose werden tragen können. Wie soll ich die über den Gips kriegen? Nicht mal Unterhosen stehen als Bedecker meiner Blöße zur Debatte. Und meine Schlafanzugjacken und T-shirts sind zu kurz, um zu verbergen, was ich nicht jeder neugierigen Nonne zeigen möchte. Mein Gehirn bosselt Lösungen. Aufgeschnittene Hosenbeine, ein Slip mit Reißverschluß an der Seite - ein besonders teuflischer Einfall der, man könnte es ja mit Windeln versuchen. Womit das Problem der Benutzung der Bettpfanne wenigstens aus der Welt wäre. Herr Horst trägt Pampers und ist auf dem Tiefpunkt seiner Infantilität angelangt. Ein hilfloses Baby. Dann benutze ich fluchend die Bettflasche. Natürlich genau in der Sekunde, als Frau Doktor Krund mit K den Raum betritt. Jedenfalls nehme ich an, daß sie es ist. Ihr Gesicht passt zu den Schattenschwimmereien des Morgens, und ich gebe zu mir vorgestellt zu haben, es sei kein auf Makellosigkeit getrimmtes Antlitz. Ich mag Frauen mit glatten, längeren Haaren, Frauen mit ovalen Gesichtern, in denen leicht missratene Nasen über nicht allzu schwulstigen Lippen keck das Leben beschnüffeln und von zwei Augen eskortiert werden, die nicht wie runde Mondscheiben still und starr leuchten. Das also ist Frau Doktor Krund. Und sie trägt exakt das, was sie mir am Morgen beschrieben hat. Offene Sandalen, barfuß. "Nanu? Schauen Sie keinen Fußball?" überbrückt sie die Peinlichkeit. Zu spät, jetzt noch die Decke über dieses System der kommunizierenden Röhren zu werfen, das da unten fröhlich plätschert. Nehme auch an, das alles ist ihr nicht ganz unbekannt. "Saudi - Arabien gegen Südafrika? So fußballverrückt bin ich nun doch wieder nicht!" Eine glatte Lüge, selbstverständlich. Sie kommt ans Bett, runzelt die Stirn und tut erst gar nicht so, als wolle sie -4 0 -
ignorieren, hier begegneten sich gegengeschlechtliche Menschen in einer sehr intimen Situation. "Haben Sie überhaupt eine Karte?" Sie dreht sich um und streckt eine Hand zum Fernseher hoch. Ich verneine. "Wenn ich Ihnen eine besorgen soll... kein Problem. Apropos: Ihr Kollege hat angerufen und läßt Ihnen sagen, er könne erst später vorbeikommen. Es gab wohl Schwierigkeiten, in ihre Wohnung zu gelangen und - äh - dort die benötigten Gegenstände zu finden." Sie geht zu den Wandschränken und öffnet eine Tür, hinter der deprimierende Leere verrät, es handele sich um den Aufbewahrungsort jener bei meinem Sturz getragenen Habseligkeiten. Ein paar Schuhe jedenfalls müssten da sein; die Kleider? Wahrscheinlich unbrauchbar geworden. Aber was interessiert mich das momentan. Ich delektiere mich an Frau Doktors Rückansicht, die in geschätzten fünfunddreißig Jahren herangereifte Bestätigung der These, Fleiß und Intelligenz müssten einen Körper nicht notwendigerweise deformieren. Sehr sportlich, eher klein als groß - gut, gut, ich will mich nur von dem Gedanken an eine Zigarette ablenken. Eigentlich betrachte ich Frauen nicht mit solchen Augen. Eigentlich sind mir Zigaretten wichtiger. "Hatten Sie nicht mal einen Hausschlüssel dabei?" "Muß ich wohl beim Sturz verloren haben." "Aja. Wird so sein." Frau Doktor schaut auf ihre Uhr. "Ich muß dann wieder. Wie ist das allgemeine Befinden?" Es sei solala, den Umständen entsprechend. "Schön." Wendet sich zum Gehen, dreht sich noch einmal um, senkt -4 1 -
leicht den Kopf. "Sie können jetzt übrigens die Flasche wieder ans Bett hängen. Das heißt: Wenn Sie sie noch abziehen können. Wenn nicht, warten Sie einfach ein paar Sekunden und denken an Saudi-Arabien - Südafrika." Eine Zeitlang bin ich eingenickt und irrlichtere zwischen den Trümmern eines schlechten Traumes, wie sie flacher Schlaf bisweilen aus der Tiefe fischt. Am Fuß der Treppe stehend, sehe ich einen Menschen von oben auf mich zu stürzen. Es ist mein Ebenbild, und es stürzt in mich hinein. Ich taumele rückwärts, pralle gegen die Verbindungstür zu Wollheims Laden, stehe plötzlich als Beobachter vor Wollheims Ladentheke und entsetze mich aus der Perspektive eines Kindes, dessen Augen kaum über das Niveau der Thekenebene reichen, an diesem herantaumelnden Mann. Wir kollidieren, und das Kind, das ich jetzt bin, wird zurückgeschleudert, nachdem es den Mann verschluckt hat, es durchbricht die Fensterscheibe, überquert die Straße, den Schulhof des Gymnasiums (das in meinem Traum merkwürdigerweise direkt dem Laden gegenüber liegt), stolpert zur Freitreppe, die zum Eingang hoch führt, stolpert die Treppe hinauf, kommt auf deren oberster Stufe zum Stehen, wankt, dreht sich um, kann das Gleichgewicht nicht halten und stürzt kopfüber in die Tiefe. Oder es bleibt stehen, und die Tiefe kommt näher. Nicht genau zu ermitteln. Ich schrecke auf. "Na?" Meinsell, für meine Ohren zwei Buchstaben und ein Fragezeichen, hockt auf seinen Vieren an meinem Bett, schwer schnaufend, das korrekte zweireihige Tuch durchgeschwitzt. Er dürfte noch nicht lange hier sitzen, lange genug aber, um sich an meinen beschädigten Anblick gewöhnt zu haben. "Auch schon da?" Ich sollte einfach freundlicher zu ihm sein. Er schaut denn -4 2 -
auch empört, hebt resigniert die Schultern und vergißt sie zu senken. "Drei Gründe." beginnt er zu dozieren. "Erstens: Ich bin also vor deiner Wohnungstür und stelle fest, daß ich ja überhaupt keinen Schlüssel besitze. Anruf beim Chef. Die Nachbarin habe einen. Ist nicht da. Also zurück, wo Grund zwei sich in sein Recht setzt: Irgendso ein Dilettant von freiem Mitarbeiter kann den versprochenen Artikel über 200 Jahre Freiwillige Feuerwehr 'wegen mangelnder Aktenlage' nicht liefern. Rumtelefonierei, Ersatzartikel betreffend. Bitten, betteln, locken, drohen. Um drei stehe ich endlich wieder vor deiner Wohnung. Die Nachbarin hat inzwischen ihre Einkäufe erledigt, will mir aber den Schlüssel partout nicht aushänd igen. Ich zeige meinen Presseausweis, sie zeigt ihn ihrem Enkel im Nebenhaus, das hilft. Ich komme in die Wohnung, nachdem ich deine Nachbarin habe zurückhalten können, es mir gleich zu tun. Dort erwartet mich der entsetzliche Grund Nummer drei: ein unglaubliches, schier übermenschliches Chaos. Aufkommen der Frage: Warum besitzt K.O. Horst Schränke und Regale, wenn er doch alle Objekte seines Hausstands außerhalb der selben deponiert, vorzugsweise auf dem Teppichboden? Weitergehende Fragestellung: Wenn es schon SO in K.O. Horsts Wohnung aussieht, wie dann erst in seinem Kopf, woher die Artikel kommen, für die ich den meinen hinhalten muß?" So redet er. Ich zöge die innere der äußeren Ordnung vor, verteidige ich mich schwach, und so krass gelogen ist das noch nicht einmal. Meinsell jedenfalls, der während seiner Rede das Jackett wenigstens aufgeknöpft hat, kommentiert es, indem er die hochgezogenen Schultern endlich fallen läßt und kräftig durchatmet. Wir schweigen eine Weile, und Meinsell nutzt die Gelegenheit, mir mitleidige Blicke zu senden. Er war eine der ersten Erwerbungen Schievers auf dem Weg zum Wohlstand gewesen, dieser "ausgebildete Journalist", den der Herausgeber eines hochprofitablen Blättchens für den -4 3 -
Aufbau eines gewissen Renommees nötig zu haben glaubte. Nicht billig, der Bursche. Klein, ja, zierlich, schon im Geschäftsanzug zur Welt gekommen, hält Meinsell seitdem die Schnüre in der Hand. Kein Marionettenspieler, vielmehr das rare Beispiel für die noch rarere Verbindung von Buchhalter und Anarchist. In diesem vierzigjährigen, zarten Körper, der sämtliche Rechnungen des Älterwerdens einfach offenläßt - kein Haarausfall, keine dritten Zähne, weder Falten im Gesicht noch Ringe um die Augen haben sich das Pedantische und das Chaotische auf zwei strikt voneinander getrennte Territorien zurückgezogen. Wo Meinsell reagieren muß, ist er Freund des Unkonventionellen, der Abweichungen von der Regel begrüßt und fördert. Das macht die Arbeit mit ihm so angenehm. Wo Meinsell hingegen agiert, herrscht Ordnung, fügt sich alles in ein System. Nennen wir ihn folglich den Bändiger des Chaos, ohne das Chaos zu zerstören. Er domestiziert es vielleicht, aber wenn es dann die Zähne fletscht, merkt man, daß es seine Ungezügeltheit noch nicht ganz verloren hat. "Du bist also ein Chaot- " nimmt Meinsell den Faden wieder auf, von dem ich hoffte, er habe ihn verloren. "Keine Überraschung. Wiewohl es mir so vorkam, in einen dieser berühmten Fernsehkrimis geraten zu sein - du erinnerst dich: Detektiv betritt Wohnung und stellt fest, daß sie durchsucht worden ist. Ein Glück nur, daß kein überraschter Einbrecher aus dem Hinterhalt auftauchte und mir einen Scheitel mit der Blumenvase zog." "Du redest wie ein ausgebildeter Journalist." reize ich ihn. "Und übrigens gibt es in meiner Wohnung keine Blumenvasen." "Weil dir ausgefeilte Kultur fehlt." "Das ist zweifellos richtig." "Du weisst, ich mag dich." -4 4 -
Völlig unlogischer Gedankensprung. Ich verziehe das Gesicht, mit ihm sämtliche darauf klebenden Pflaster und leider, leider auch die darunter schwelenden Wundzustände. Aua. "Bist ein armes Schwein, ja. Was sagen die Ärzte?" "Alles Routine, alles Standard, komplikationslos, planmäßig. Was Ärzte einem eben so sagen, bevor man stirbt. "Planmäßig." wiederholt Meinsell und richtet sich auf. "Planmäßig?" "Mein lieber Freund" - ganz langsam sprechen und ihm in die Augen sehen - "Ich bin eine Treppe runtergefallen. Punkt. Ich war ungeschickt. Ich leide an einer Teilamnesie, falls man das so nennen kann. Das heißt: Die letzte Stunde vor dem Unfa ll ist aus meinem Gedächtnis getilgt oder liegt dort außerhalb des Zugriffs. Punkt, Punkt, Punkt. Kein Komplott, kein finsteres Verbrechen. Dummheit. Ich wiederhole: Dumm. Heit." Wieder normales Sprechtempo und einen kurzen Blick zur Schrankwand: "Und jetzt wüßte ich schon gerne, was du mir mitgebracht hast. Mein Schrank ist der links." Zehn Minuten später stapelt sich auch in meinem Spind die Ausrüstung bettlägriger Normalmenschen. Wenn sich Unterhosen, Socken und Schlafanzüge türmen, löst sich damit noch nicht das Problem, wie man sie anziehen soll. Aber es dämpft ein wenig die Isolationsängste. Ich Robinson habe mich eingerichtet. Hoffentlich läuft mir kein Freitag über den Weg. Laptop und Faxgerät. Letzteres stammt aus den Magazinen des Maxmarktes und soll, belehrt Meinsell, zur eiligen Übermittlung schwarzaufweißer Dokumente dienen, Manuskripte vorzugsweise, welche in großer Zahl zu verfassen mir ja nun Muße genug gegeben sei. "Lohnfortzahlung fällt bei dir, von deinem Fixum abgesehen, bekanntlich aus. Es ist hart: Aber du musst arbeiten." Leider paßt das Fax nicht auf das Nachtschränkchen und muß -4 5 -
neben dem Bett auf den Boden gestellt werden, was mir die Bedienung unmöglich macht. "Da findet sich was." beruhigt der Redakteur, und ich nicke den Satz mechanisch und ungläubig ab. Meinsell installiert das elektronische Ensemble, ein Akt, der ihn dazu zwingt, sein Jackett abzulegen, und ich überlege mir, ob ich ihn jemals ohne dieses Jackett gesehen habe. Alsdann folgt der unterhaltsame Teil der Bescherung, werden Bücher und CDs ausgepackt, auch ein Abspielgerät samt Kopfhörer kommt ans diffuse Birnenlicht der Stube. Reden wir nicht davon, welch unerquickliche Auswahl Meinsell aus meinem Fundus zusammengestellt hat. Er behauptet zu seiner Verteidigung, die Inhalte meiner Bücherregale hätten sich als ein schauriger Mount Neverread aus dem Geröllfeld des Teppichbodens erhoben und Auswahl sei einzig nach dem Willkürprinzip sowie unter Berücksichtigung der heiklen statischen Verhältnisse des Lektüreberges möglich gewesen. Gleiches habe ihn bei den Musikscheiben erwartet, einem über die gesamte Wohnfläche ausgebreiteten Labyrinth. Mag so sein. Jedenfalls bedeute ich ihm, er möge den ganzen Schrott gleich wieder mitnehmen: die gratis abgestaubten Promo-CDs, angelesene Rezensionsexemplare und lediglich aus pseudoromantischen Gründen angeschaffte Stimmungsmusik ("Kuschelrock"). Meinsell, resigniert: "Dann schreib mir eine Liste, bitte. Ich werde eine Praktikantin in deine Wohnung schicken, damit sie dort ein, zwei schöne Tage beim Stöbern verbringen kann. Wenn es dir recht ist." "Ist mir recht. Also Papier und Bleistift." Ich beschränke mich auf jeweils fünf Bücher und CDs: Nabokovs "Gabe", ein Lexikon zur Rockmusik der Sechziger Jahre, einen Malet-Krimi, Schmidts "Steinernes Herz" und die -4 6 -
Joni Mitchell-Bio von.... hab den Namen vergessen. Die CDs: Turtles die Erste, Rising Sons (gibts nur eine), H.P. Lovecraft (die beiden ersten auf einer CD), The Paupers (dito), sowie Farpardokly, die einzige. "Krude Mischung" murmelt Meinsell und: "Brauchst Du Geld?" Ein Hundertmarkschein wechselt den Besitzer, ich gestatte dem Redakteur, den Betrag meiner Brieftasche zu entnehmen, die auf dem Küchentisch in meiner Wohnung liegen müßte. "Ich muß jetzt. Wir telefonieren. Hast du noch Wünsche?" Keine Wünsche. Da kommt Meinsell dicht an mein Bett, senkt seinen Kopf dem meinen konspirativ zu, holt Luft, hält sie an, läßt sie heraus. Und richtet sich auf. "Ist ja zwecklos. Du bleibst dabei? Unfall? Ich glaube dir kein Wort." Ich mir auch nicht. Wenigstens darin sind wir uns einig. Kann ich ihn damit beruhigen, dem Bullen heute morgen erzählt zu haben, es hätte mich pure Unachtsamkeit von der Treppe gefegt? Wollte nur mal kurz reinschauen, der schlechtrasierte Herr, und nahm meine Erklärung erleichtert zur Kenntnis: wieder ne Arbeit weniger. Fragte noch nicht einmal, warum ich im Haus war. Wollheim besuchen? Zur Not eine Antwort, die der Alte hoffentlich bestätigen würde. Das heisst: Er brauchts ja gar nicht zu bestätigen. Wenn ich ihn besuchen WOLLTE, unangemeldet, kann ers nicht wissen. Also abgesicherte Version des Tathergangs. Kann sein, daß mans noch braucht. "Die Polizei ist auch überzeugt, daß es ein Unfall war." sage ich scheinheilig, und Meinsell, schon im Gehen, dreht sich um. "Dann ist ja gut." steuert er bei. "Ich werde die untalentierteste Praktikantin damit beauftragen, deine Schussligkeit in dreissig grammatisch hochpeinlichen Zeilen abzuhandeln. Ciao." -4 7 -
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3 Versuchsreihen Mit dem Abendessen hat Schwester Benedikta, ein Wesen ohne Drang zum Feierabend, die TV-Karte serviert. Raunt: "Ein Geschenk von Frau Krund", fügt hinzu: "Für zehn Stunden fernsehen, dann können Sie die Karte auf eigene Kosten neu aufladen lassen." und schließt ihre Rede mit der völlig deplazierten Ermahnung, ich solle aber vorher die Pfanne einweihen. Tatsächlich hat sich seit dem späten Nachmittag die anstehende Darmentleerung zu einem quälenden Problem entwickelt. Der Druckphase konnte dank Muskelkraft ein Riegel vorgeschoben werden; die sich anschließende, hauptsächlich horizontal wirkende Expansionsphase hat zu einer schmerzhaften Belastung der Enddarmwände geführt, um es mit den Worten eines Laien zu sagen. Da man ihm sowohl nach unten als auch zu den Seiten hin den Austritt verwehrt und Schwerkraft die Rückreise empor vereitelt, übt sich der Stuhl nun in Verfestigung. Das ist unangenehm und wird von Minute zu Minute bedrohlicher. Ich werde an Verstopfung leiden, man wird mir übelriechende Medizin einflößen, am Ende mich klistieren - obwohl ich keine Ahnung habe, wie das funktionieren soll. Wird man mich mit einem Flaschenzug hochhieven?, Schwester Benedikta ihren Kopf unter meinen gelüfteten Allerwertesten strecken, die Klistierspritze einführen? Meine zugegipsten Beine verharren in einem sich zur Schamgegend verjüngenden Winkel, so daß zwischen die Oberschenkel prima die Pinkelflasche geklemmt werden kann. Fein mitgedacht, Frau Doktor. Beim Abgang der festen Stoffe jedoch dürfte es heikel werden. Mit solchen Fragen und Szenarien habe ich mir den späten -4 9 -
Nachmittag versüßt. Der Ernst meiner Lage wird dadurch eindrucksvoll unterstrichen. Ich lächele. "Danke, Schwester. Ich melde mich schon." Sie lacht und - "ach, bevor ich's vergess!" - repetiert, was Frau Doktor ihr an Informationen aufgetragen hat: Daß sich nämlich Saudi-Arabien und Südafrika 2:2 unentschieden getrennt haben, Dänemark gegen Frankreich eine 1:2-Niederlage hat hinnehmen müssen, dennoch den Einzug in die nächste Runde feiern könne. Sie, Frau Krund, vermöge das nicht nachzuvollziehen, und sie, Schwester Benedikta, gleich gar nicht. Noch liegt die nächtliche Landschaft idyllisch und ruhig, kein Lüftchen regt sich. Und dann passiert es: Der Fernseher will nicht anspringen. "Das kommt öfter vor." weiß die Schwester und rät - "Morgen schicke ich den Techniker." - zur Lektüre eines guten Buches. Sie sei bereit, mir eins zu leihen. Da ich aber genau weiß, welches es sein wird, schütze ich die Heranziehung eigenen Lesestoffes vor. Abgang Benedikta, Aufbau Internet. Ich gehöre nicht zu der Sorte Mensch, die sofo rt nach jeder unterhaltungselektronischen Errungenschaft süchtig werden. Für mich ist Internet gleichbedeutend mit Recherche, alles Spielerische, das ins Kindische abgleitet, ist mir abhold. Ebenso halte ich den Begriff der Interaktion im Zusammenhang mit dem Netz und seiner angeblichen multimedialen Vielfalt für unangebracht. Aber, ehrlich, ich habe in diesem Moment keine Lust, über das Internet zu räsonnieren, ja, nicht einmal Lust zum Surfen habe ich und breche den Aufbau vorzeitig ab. Mich plagt die Verfestigung der verdauten Nahrung. Um es mit Meinsell zu sagen: erstens. Zweitens: Ich muß eine rauchen, koste es, was es wolle. In Boskonzens Nachttischschublade habe ich ein angebrochenes Päckchen Zigaretten entdeckt - nicht meine Marke - und mir eine raus genommen, die ich wie einen Schatz unter dem Kopfkissen hüte. Ich werde sie ihm erstatten, keine -5 0 -
Frage. Ebenso die Benutzung seines Feuerzeuges. Rasch verzehre ich Brotscheiben und die saisonangepasst schwitzende Salami, obwohl es mich der verfluchten Pfanne näherbringen wird. Und warte, bis Benedikta zum Abräumen kommt. Eine halbe Stunde. Etwas bedrückt meine Schwester, und bevor ich sie fragen kann, erzählt sie es mir: "Ihr Zimmernachbar ist eben gestorben." Es gibt Dinge, die kann man sich nicht erklären. Ich habe Boskonz nur flüchtig gekannt, und es war keine Seelenfreundschaft, die uns verband. Der große Zufall hatte unsere Biografien für einige Stunden zu räumlicher und zeitlicher Kongruenz gebracht, Boskonz war mir auf die Nerven gegangen, ich glich den entstandenen Schaden durch den Diebstahl einer Zigarette und eines billigen Einwegfeuerzeuges aus. Jawohl: Ich werde ihm die Zigarette nicht mehr zurückgeben können, vielleicht sogar habe ich einen schon Toten beraubt. Leichenfledderei. "An was ist er denn gestorben?" "Wahrscheinlich an - ach, ich weiß es nicht. Er hat Blut erbrochen, immer nur Blut, ohne Unterlass. Bestimmte Tropenerkrankungen haben solche Symptome, aber Herr Boskonz war doch gar nicht in den Tropen." Nein, er war ein gewöhnlicher Angestellter, er arbeitete auf einem Amt und hatte eine Frau, die ich morgen kennenlernen sollte. "Seine Magensache?" Schwester Benedikta wackelt unschlüssig mit dem Kopf. "Das ist alles sehr mysteriös. Am Anfang haben wir eine Lebensmittelvergiftung vermutet, können das inzwischen aber ausschließen. Denn nur der arme Herr Boskonz ist krank geworden. Oder hat er vielleicht etwas gegessen, das er sich -5 1 -
unten am Kiosk gekauft hat? Etwas, das ihm jemand mitgebracht hat? Wissen Sie etwas?" Ich sage nein, und das stimmt ja auch irgendwie. "Und jetzt?" "Man wird ihn gerichtsmedizinisch untersuchen." "Aufschneiden? Obduzieren?" "Ich denke es wohl. Das ist ein rätselhafter Todesfall, und die Polizei wird kommen." Ich halte das für übertrieben. "Aber man muß doch wissen, woran er -." Ich lege meinen Kopf zurück auf das Kissen und stöhne. Schwester Benedikta wünscht gute Nacht und verläßt das Zimmer. Mir egal, daß jetzt die Zigarette zerkrümelt sein wird. Ich habe noch ein angebrochenes Päckchen im Nachttisch eines Toten. Hielte sich mein sonderbarer Dialog mit der unbekannten Person an die Gesetze der Serie, müsste ein drittes Foto den Teddybärartikel beantworten. Ein Foto, welches - auch hier den genannten Gesetzen verpflichtet - eine weitere Verkleinerung des Szenarios abbilden würde, wohl gar mit dem Original identisch wäre, von dem man mir bereits zwei Vergrößerungen hatte zukommen lassen. Was mir bislang vorlag, erlaubte nicht mehr als eine allgemeine Beschreibung des Mannes mit der Pfauenfeder. Er befand sich im Niemandsland zwischen Jugend und Alter, ein vielleicht am Ende seiner Vierziger schaudernd dem Beginn seiner Fünfziger entgegensehender, unleugbar übergewichtiger, mäßig behaarter und alles andere als sportgestählter Mann. Die durchgehende Blässe seiner Haut legte nahe, man habe ihn gewiß nicht im Sommer abgelichtet. Und zwar aus einem Winkel, der auf eine fotografierende Person schließen ließ, -5 2 -
deren Körpergröße die Einssechzig kaum übersteigen dürfte oder durch gebeugte Knie auf dieses Maß reduziert worden war. Ich hatte dies dank eines Experiments herausgefunden, bei dem ich den Stofflöwen von Schievers kleiner Tochter mit einer Sofortbildkamera aufnahm. Ein mannsgroßes Tier - wenn man nicht gerade zwei Meter maß wie der Vater des Mädchens, sondern gerade einmal jene Einsachtzig erreichte, die ich und der Nackte gemein haben. Ich fotografierte aufrechtstehend. Ich fotografierte, die Knie leicht gebeugt. Ich fotografierte schließlich mit stark gebeugten Knien und gesenktem Kopf, was mir gute zwanzig Zentimeter in der Senkrechten nahm. Und dieses Foto passte. Ich erinnere mich genau an den Tag der Aufnahmen. Trister Mittoktober, Herbstferien, das großräumige Büro des Maxmarktes unter deprimierendem Neon, die hallenden Stimmen der Frauen, die telefonisch Anzeigen ent gegennahmen, Auskünfte erteilten, bei Beschwerden die Stärken diplomierter Stoiker anwandten. Das Klickklickklick der Tastaturen, knirschendes Gestühl, wenn sich eine der Frauen aufrichtete, beide Hände in die Hüften grub und sich den Schmerz aus dem Rücken reckte. Im Hintergrund die allzeit sprotzende Kaffeemaschine, Symbol für die reizstoffreiche, energisch nach vorne wuchtende Atmosphäre eines propperen und aufstrebenden Unternehmens. Schievers Frau, die zierliche Patricia, war mit dem Kind für einige Ta ge verreist - "Schwiegermutter macht gesundheitliche Zicken. Irgendwann mußte das ja losgehen!" -, und ich wußte es. Nein, bestätigte Schiever, Jenny, sein süßes Blondchen, habe ihren Löwen nicht mitgenommen. Sie komme langsam in eine Lebensphase, die nicht mehr auf läppische Kuschelsurrogate und Schmusestellvertreter stehe, Pubertät heiße das, und er, eifersüchtiger Vater, habe auch schon die obligatorische Schrotflinte zum Vertreiben des läufigen Jungmannenvolkes bereitliegen, das über kurz oder lang sein Domizil umschleichen -5 3 -
werde. Schiever ist stolz auf die Tochter, das Abbild seiner Frau bis auf die Körpergröße, bei der das Kind seinem Vater nachzueifern scheint. Meinen Wunsch hielt er für verschroben: "Du bist ja pervers!", sah sich jedoch nicht veranlaßt, ihn mir abzuschlagen. Künstler, so sein Credo, seien astreine Psychoten, deren Krankheit sich im Gegensatz zu der ihrer ärmeren Leidensgenossen, vermarkten lasse. Er gab mir den Schlüssel zu seiner Wohnung und trug mir auf, die Blumen zu gießen, wenn ich schon seine heiligen Hallen bezwecks verrückter Tätigkeiten betreten müsse. Ich lieh mir eine Polaroid und machte mich auf den Weg. Schiever wohnt ausserhalb: auf grünem Rücken, eine Serpentine hoch. Mischwaldumzingelt. Das Auto, das ich damals fuhr, verkörperte die technische Steinzeit und schaffte den Buckel der Schlange mit dem Keuchen eines greisen Tieres. Die Verlegerfamilie hat die obere Etage einer Villa angemietet, in der früher Direktoren der hiesigen Konservenfabrik, umschwärmt von Kinderschar und sonstigen Dienstboten, residierten, lang ists her. Ich parkte vor der Einfahrt zum geräumigen, auf Englisch getrimmten Garten, ging ins Haus, goss die Blumen und machte meine merkwürdige Arbeit. Als ich an die Straße zurückkam, war mein Wagen verschwunden. Bitteschön; ich pflegte die Kiste niemals abzuschließen. Selbst unser phantasiereiches Jahrhundert hat den Autodieb noch nicht erfunden, der sich an meinem fünfzehnjährigen Golf vergreifen würde. Dachte ich. Wurde ich eines Besseren belehrt. Zu Fuß machte ich mich auf den Rückweg, überlegend, ob der Diebstahl anzuzeigen oder als eine besonders günstige Art der Verschrottung zu begrüßen wäre. Ich brauchte nicht weit zu gehen. In der ersten Kurve wollte mir das Gebüsch, welches anstelle einer künstliche n Begrenzung die Straße vom Abhang und seiner Bewaldung trennt, etwas derangiert vorkommen. Ich ging zur ominösen Stelle, wo sich -5 4 -
eine Schneise im Grün aufgetan hatte, lukte in die Tiefe und erblickte mein Auto schwer lädiert in den Fängen einer nur oberflächlich blessierten Eiche. Es wurde eine ärgerliche und teure Angelegenheit. Ein Herr von der Polizei warf mir vor, die Handbremse nicht angezogen zu haben und nannte solche Unterlassung angesichts der Steigung des Berges und des zwar spärlichen, doch durchaus vorhandenen Verkehrs "schwer fahrlässig". Wirklich: Die Handbremse war nicht angezogen worden. Eine genaue Untersuchung in der Werkstatt relativierte mein Pech insofern, als sie zu dem Ergebnis kam, der unangenehme Zwischenfall habe mich vor etwas weitaus Unangenehmerem bewahrt. "Die Bremsschläuche, mein Lieber, hingen quasi nur noch an den berühmten seidenen Fäden. Möglich, daß es Sie in voller Fahrt abwärts erwischt hätte, und dann gute Nacht, Marie." Nein, nein, sie waren nicht etwa in böser Absicht durchtrennt worden! Jedenfalls nicht auf die herkömmliche Weise. "Es gibt Leute, die machen sich so an Bremsschläuchen zu schaffen, daß man automatisch auf natürlichen Verschleiß tippt. Is wahrscheinlich eine Methode, die bei der Mafia auf dem Ausbildungsplan steht." Ich lachte lauthals. Waren wir etwa in Palermo? Nein, wurde mir versichert, in einem Rechtsstaat. Und der wird prüfen, wie er dich zur Kasse bitten kann. Teuer, wie gesagt. Der dritte Brief mit dem dritten Foto traf nicht ein. Dafür ein diskretes, neutral weißes Kuvert, ohne Beschriftung, das man in meinen Postkasten geworfen hatte. Er enthielt eine beachtliche Summe Geldes. Ungefähr so viel, wie mich der Spaß mit der ignorierten Handbremse gekostet hatte. Das Paar Krücken. Es fällt mir auf, als ich meinen Oberkörper nach links über die Kante meines Bettes schiebe, um - zwecklos, drumherum zu reden - einem toten Mann die ungerauchten -5 5 -
Zigaretten zu stehlen. Dessen letzte Ruhestatt zu Lebzeiten ist wieder an ihren alten Platz gerollt worden, und die Krücken dürften schon vorher dort gelegen haben: unter dem Bett, so, daß jemand nicht darunter zu kriechen braucht, um sie aufzunehmen. Zwei Lernschwestern in nichtkatholischer Krankenhausmontur haben das Bett gebracht und einfach über die Krücken geschoben. Die Rollen am Kopfende können mit Bremsen blockiert werden, was aber nicht geschehen ist. Ich stemme mich ganz leicht mit einer Hand von der Wand ab. Bewegt sich mein Bett? Es bewegt sich! Ein Hoch der schwesterlichen Fahrlässigkeit! Draußen ist es dunkel geworden, so dunkel, wie es an einem Frühsommertag kurz nach zehn nur werden kann. Über die Station huschen undeutliche Stimmen, die aus Blechbehältern zu kommen scheinen: wild durcheinander, gedämpft und grotesk verzerrt, nicht von dieser Welt. Verliebte schmachten, bis die Zäpfchen im Schlund vibrieren, vom Tode Bedrohte jammern nasal, Killer brummen guttural, aber am lautesten schreit ein Sportreporter Spielzüge aus sich heraus. Ein ganz normaler Fernsehabend zu Zeiten der Fußballweltmeisterschaft. Manchmal quietschen Rollstühle über den Flur, schlurfen Kranke, federn Gesunde vorbei. Wird eine Tür geöffnet, die die dahinter metallen bramabassierende Stimme für Sekunden zur Trägerin semantisch sinnvoller Wortketten: "die Viererabwehrreihe wackelt bedrohlich". Wer spielt? Spanien gegen Bulgarien schätzungsweise, auch Nigeria gegen Paraguay (auf 3Sat) möglich. Gleiche Ausgangslage wie im Fall der Brasiliengruppe. Nigeria ist schon qualifiziert und dürfte bei der dieser Mannschaft eigenen Pomadigkeit und Arroganz den drängenden Paraguayanern nicht viel entgegensetzen. Pech für Spanien, das betrogene Marokko dieser Gruppe. So wird es kommen, aber das ist mir völlig egal. Mich interessieren die Krücken. -5 6 -
Ich muß ans Fenster. Es ist gekippt, und verräterischer Zigarettenrauch kann sich bequem durch den Spalt aus dem Staub machen. Zunächst muß das Nachtschränkchen aus dem schmalen Gang zwischen den Betten entfernt werden. Aber ich bin nur ein halber Mann, mit gargantueskem Oberkörper zwar und strammen Armen, doch das Ding bewegt sich schwerfällig auf seinen Rollen und gerät bald aus dem Machtbereich meiner Muskelkraft. Ich versetze ihm einen Stoß - ein Zittern durchläuft die Beine, ein krampfartiges Beben, das Schmerzen wie Billardkugeln aus den Unterschenkeln in die Leistengegend schiebt. Das Schränkchen verabschiedet sich in einer eleganten Kurve aus dem Gang. Ich werde es bei meiner Rückreise wieder aufsammeln und in seine ursprüngliche Position bringen müssen. Ein haarsträubender Akt, wenn ich nur daran denke; er liegt gottlob noch außerhalb meines Denkvermögens, das vollständig um den ekstatischen Moment des ersten Lungenzuges kreist. Ich richte mich auf, lehne mich zurück, mit nach hinten gestreckten Armen, Handflächen gegen die Wand, verlagere die Kraftrichtung nach links und wandere quälend langsam mit meinem Bett dem des Verblichenen zu. Hinlegen, schnaufen, regenerieren. Gerade noch ein Spalt für meinen Arm, doch es ist hoffnungslos. Die Krücken liegen außerhalb der für mich greifbaren Welt, und meine Ab sicht, einer der beiden habhaft zu werden, sie als eine Art Paddel zu mißbrauchen, um mein Bettschiff zum Fenster zu manövrieren, scheitert grandios. Nichts zu machen. Oberkörper wieder nach links, mit beiden Händen fest die eiserne Begrenzungskante des Nachbarbetts umfassen. Und nach vorne ziehen. Nach vorne ziehen. Nach vorne ziehen. Das Zimmer ist erfreulich klein. Stünde mein Bett mit seinem Kopfende am Fußende des anderen, wäre der Raum in seiner gesamten Länge verbarrikadiert. Es dauert gut zehn Minuten, bis ich diesen Zustand erreicht habe, den verfluchten entwurzelten -5 7 -
Nachtkasten vor mir her schiebend. Irgendwann driftet er nach links ab, ist aus dem Weg. Ich schwitze? Nein, ich bestehe aus Schweiß. Ausruhen. Nun muß ich mein Bett noch drehen. Eine al usige Vierteldrehung. Mit Schwung: so. Viel zu wenig. Das Fußende des Boskonzbettes fassend, zweiter Schwung: noch zu wenig. Die Wand neben der Tür: Handflächen drauf, zuerst etwas abstoßen, dann Verlagerung der Energie nach rechts. Fensterbrett in Griffweite: zupacken. Ziehen. Ziehen. Ziehen. Ich berge meinen Kopf in den roten Vorhangstoff, ich weine beinahe. Ich spüre den Luftzug, den gebenedeiten Luftzug. Zigarette, Feuer; Zigarette, Feuer. Ganz dunkel ist es, die Tür zu, keine Bewegung auf dem Flur. Keine Bewegung auf dem Flur? Vorsichtige Schritte. Sie sollen vorbeigehen! Was solls, mir ist alles gleich. Ich stecke die Zigarette an, ich inhaliere, ich werde verrückt, die Tür wird geöffnet. Licht gemacht. "Ha" lacht Frau Doktor. "Überschüssige, ungenutzte Kräfte hat der Herr. Warum haben Sie nicht geklingelt? Ich hätte sie doch zum Fenster geschoben." Sie geht hinaus, kommt nach zwei Minuten mit einem Aschenbecher wieder. "Haben Sie für mich auch eine?" Geschäftiger Spätherbst. Die dreißig Tage des traur igen Monats November erlebten mich mit überkreuzten Beinen auf Stühlen sitzend. Ich hörte zu und stellte sehr behutsam Fragen, beiläufige Fragen, hinter denen ein zufälliger Ohrenzeuge nichts weiter als kaschiertes Desinteresse vermutet hätte. Jeden Mittwoch gegen fünf besuchte ich Wollheim in seinem Geschäft. Wenn ich durch die Tür kam, empfingen mich Mädchengespräche in einer fremden Sprache. Mittwochs nämlich hatten die Töchter und Söhne russischstämmiger Spätaussiedler Deutschunterricht in einem Klassenzimmer des -5 8 -
Gymnasiums. Bei Wollheim kauften sie Hefte und Zeitschriften, letztere allerdings nur selten, denn alles an den Jugendlichen verriet, daß die Segnungen des Kapitalismus noch nicht über sie gekommen waren. Ihre Kleidung roch nach Rotkreuzsäcken, nach Vorbesitzerinnen, die als fröhliche Sklavinnen mit ihren Ketten und Ohrringen rasselten und bei Durchmusterung ihrer Kleiderschränke gnadenloser Daumen senkten als Kaiser Nero im Kolosseum. So blieb den jungen Russinnen, die keine Russinnen mehr waren, der Genuß eines Trends, der kein Trend mehr war - das fügte sich also perfekt. Sie waren hübsch; sie waren gut gekleidet; aber immer ein Jahr hinter der Gegenwart zurück. Mir fiel weiter auf, daß sie keine Regenschirme zu besitzen schienen. Regnete es - und es pflegte auch im 97er November reichlich zu regnen -, stürzten sie durchnässt in Wollheims Laden, das Wasser tröpfelte von ihrer Kleidung und ließ den Boden glitschig werden. Wollheim schimpfte nicht. Er schimpfte sicher nie, und den jungen Mädchen - Jungs trauten sich selten herein, weiß der Teufel warum - hätte nur eine besonders harte Seele gram sein können. Manchmal schenkte ihnen der Kaufmann alte, unverkauft gebliebene Zeitschriften, die nicht an den Grossisten zurückgeschickt werden mussten. Ihre Schulsachen bezahlten die Mädchen mit Gutscheinen vom Sozialamt. Ein neuer Bürokratismus, den Wollheim souverän aushebelte, indem er durchaus logisch - auch die Bravo als Lernmittel einstufte oder die Gutscheine umstandslos gegen Bargeld eintauschte, ein paar Schulhefte alibiweise und gleichermaßen zur Verhöhnung des amtlichen Unfugs gratis beigab. So verstrichen die Mittwochnachmittage. Ich saß auf dem Stuhl neben dem Zeitschriftenregal und schaute den Mädchen zu, schaute Wollheim zu. Ich hatte an beidem mein unschuldiges Wohlgefallen. Ich schaute aus dem Fenster aufs Trottoir, wo gegen halb sechs die letzten Schülerpulks zum Gymnasium marschierten. Ich wartete auf etwas, ganz eindeutig. -5 9 -
Den Deutschunterricht hatte ein privater Förderkreis initiiert. "Für die Jugend" nannte sich ein Zusammenschluß nobler Damen, die, als sie selbst jung gewesen waren, eine vorzügliche Ausbildung genossen, wegen Heirats- und Gebärprioritäten indes nicht beruflich genutzt hatten. Jetzt, da die Kinder flügge geworden und die Umsorgung des Ehemannes routiniert erledigt werden konnte, besann man sich des Weltenelends, suchte es dort, wo ihm ein wenig Chic geblieben war und bekämpfte es mit den geringen Mitteln, die Privatmenschen zur Verfügung stehen, wenn es gilt, die erwarteten Jahre im Fegefeuer auf einen erträglichen Zeitraum herunter zu handeln. Ich avisierte Meinsell eine Reportage über den Verein "Endlich machst du mal wieder was Handfestes!" -, meldete mich an und wurde in die Büroräume von "Für die Jugend" bestellt. Sie liegen an einem Ort, den jede der Damen schockiert als "sozialen Brennpunkt" charakterieren würde: Türken, Drogensüchtige, Aussiedler und ledige Mütter hausen in jenem Teil der Altstadt, der dem Sanierungwahn bisher glücklich entronnen ist und allgemein "Der Warenkorb" geheißen wird, weil seine Bewohner beinahe zur Gänze von Sozialhilfe leben. Frau Fänz-Ullert verwirklichte sich in einem Büro, das einem sofort bei Betreten ein kräftiges "geschmackvoll!" entgegenschleuderte und ästhetisch-kritische Widerreden nicht duldete. Das Mobiliar war der kreativen Ader eines Designers entsprungen, der eines Abends in der Kneipe mit dem Einfall schwanger gegangen sein dürfte, es sei ein Leichtes, Bauhaus und Barock miteinander kopulieren zu lassen. Ein Kind aus Nüchternheit und Opulenz, in sehr angenehmem Grau gehalten und auf der Höhe seiner Zeit. Auch die hinter erlesener Elektronik dezent lächelnde Dame war erkennbar für teuer Geld auf den neuesten Stand gebracht worden. Sie gehörte zu den Zeitgenossen, die interaktive Konversation bevorzugen und jeglichen theoretisch-weltanschaulichen Gedanken aus einem biografischen Beziehungszauber -6 0 -
entwickeln oder in anschauliches Belegmaterial ummünzen, das die eigene Vita zu einem Paradigma des TheoretischWeltanschaulichen deklariert. "Dass mich die Not der Menschen anrührt, hängt mit meinem Studium der Geographie zusammen, wo ich..." und hängte ihrerseits selbst eine Frage daran, die das Gegenüber ebenfalls zu biografischen Konfessionen nötigte: "... zum erstenmal mit den sozialen Verhältnissen in der Dritten Welt konfrontiert wurde und ihren Einfluß auf solche Dinge wie Landwirtschaft, Ackerbau, Viehzucht und Klima beobachten konnte. Respektive umgekehrt. Haben Sie auch studiert?" Ich rettete mich in den schalen Witz, außer dem Leben nichts studiert zu haben. Es biete einem den Vorteil, daß man bei Abschluß des Studiums niemals erfahre, ob man die Prüfung bestanden habe oder nicht. Sie schaute mir lange in die Augen, fragte dann zögernd "Bitte?", dann hellte sich ihre Miene auf und sie hieb mit der Rechten jovial auf die Tischplatte: "Ah, jetzt verstehe ich! Weil man ist ja tot sozusagen, wenn man ans Ende seines Studiums gekommen ist. Hahaha." Frau Fänz-Ullert gehörte also auch zur Klasse der Ich-habedie-Pointe-verstanden- und-sie-geht-folgendermaßen-Menschen. Während wir uns über Wege und Ziele des Vereines unterhielten, wobei mir Frau Fänz-Ullert ihr Leben in kleinen Dosen verabreichte, rumorte es im Nebenzimmer. Die Vorsitzende verwies auf ein - sie nannte es tatsächlich so Fräulein Bauer als die Quelle der Geräusche, "eine leider arbeitslose Diplomübersetzerin aus dem Englischen, die bei uns im Rahmen einer ABM tätig ist." Ich fragte, welche Art von Arbeit es wohl sein möge, die eine Diplomübersetzerin zum Vorteil des noch unmündigen Menschen ausüben könne, erhielt aber zunächst nur die Antwort, dies sei "nicht spruchreif, im -6 1 -
Werden." "Eine neue, notwendige und gewissermaßen spektakuläre Aktion, lieber Herr Horst, streng vertraulich, wie man so sagt, weil wir gewärtigen müssen, daß uns der Gegenwind tüchtig ins Gesicht blasen wird. Aber seien sie versichert, daß wir Ihnen rechtzeitig Bescheid geben, sobald..." Frau Fänz-Ullert ließ den Satz unvollendet. Die Tür zum Nebenraum war geöffnet worden, und Fräulein Bauer, eine studentisch nachlässig gekleidete Endzwanzigerin, kam rotköpfig an den Schreibtisch der Vorsitzenden, knallte einen Stapel Papier vor diese, stöhnte "Ich kann nicht mehr!" und wurde von ihrer sogleich aufgehüpften Vorgesetzten unter tröstenden Worten und Umarmungen zurück in den Nebenraum geführt. Nachdem sie das Fräulein dorthin verschafft hatte, eilte Frau Fänz-Ullert zurück, griff die ihr vorgeworfenen Papiere, lächelte mich entschuldigend an und begab sich abermals zum Fräulein, das sich inzwischen wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, um erbärmlich zu schluchzen. Es brauchte eine Weile, bis die Vorsitzende, sichtlich mit ihrer Fassung ringend, wiederkam: "Sie fragen sich sicher" begann sie, "warum sich das Fräulein Bauer so erregt hat. Nun, ich kann es Ihnen noch nicht sagen. Aber es gehört alles - alles! - zu der Kampagne, mit der wir in Bälde einen Missstand geißeln werden, der drauf und dran ist, unsere Jugend zu verderben. Denn sehen Sie, es ist doch so: Die Väter unseres Grundgesetzes haben ein soziales Netz geknüpft zu dem Zweck, jeden der fällt vor dem Aufprall weich aufzufangen. Dieses soziale Netz ist aus vielerlei Gründen brüchig geworden: Globalisierung, Digitalisierung, der Zusammenbruch des Kommunismus - Sie wissen schon. Aber das ist eben nur die materielle Seite. Es gibt über diese hinaus auch eine ideelle, eine moralische." -6 2 -
Ich lauschte. Mir lag der Einwand auf der Zunge, jenes berühmte soziale Netz sei meines Erachtens nur aufgespannt worden, damit es die Reichen vor den Armen schütze. Für die ersten ein Schutzgitter, für die letzteren ein Gefängnisgitter. Bleib unten, wir ernähren dich wenigstens. Komm hoch und du läuft Gefahr, ins Unendliche hinab zu fallen. Ich blieb still und hörte mir an, wie Frau Fänz-Ullert von einem Oktobertag in den Sechziger Jahren erzählte, als sie, eine blutjunge Studentin, mit Kommilitonen nach Kalifornien gereist war. Dort wollte man den berühmten Andreas-Graben besichtigen und - "Vergnügen muss sein!" - auch das sagenhafte Hippieleben in San Francisco. Sie hätten aber nur blumig gewandete junge Menschen mit leeren Blicken angetroffen, die bettelnd hinter den Touristen hergerannt seien. Junge Menschen, deren einstmalige Schönheit trotz Promiskuität und hehrer Ideale einfach nicht mehr vorhanden gewesen sei. "Damals, mein Lieber, habe ich einen ersten Eindruck vom Wert einer gewissen Basismoral bekommen. Diese Hippies waren vor lauter Liebe und Vietnam zu - Bestien geworden. Ja, zu Bestien. Zu Bestien im Sinne des Laissez-Faire-Gedankens, einer übermächtigen Liberalität. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bewunderte das. Ich bewunderte den Mut, die Zartheit der jungen Leute. Sie kämpften gegen das Böse und Falsche, aber sie taten es mit unzulänglichen Mitteln und waren am Ende selber böse und falsch. Nie werde ich das Plakat vergessen, das irgendwo an einer Straße in Hight Ashbury hing: Es zeigte eine in psychedelischer Manier gezeichnete Frau, nackt, üppig, mit gespreizten Beinen, und aus ihrem Schoß stieß der Kopf eines fetten Kapitalisten hinaus. Er hatte auch noch eine Zigarre im Mund, auf der 'Cuba' stand. Eine Abbildung von solcher Brutalität, daß ich mich zum erstenmal fragte..." Wieder ließ sie einen Satz vor dem Punkt im Stich. "Genug, mein lieber Herr Horst. Ich bin im Begriff, Ihnen schon zuviel zu verraten. Nicht dass ich Ihnen mißtraute. Aber -6 3 -
der Feinde sind viele, sie haben ihre Augen und Ohren überall. Reden wir lieber von unserem Programm zur Integration jugendlicher Spätaussiedler in die deutschsozialmarktwirtschaftliche Gesellschaft. Unserem Verein gehören etliche Pädagoginnen an, die..." Und so weiter. Ich vertraute auf die konservierende Kraft meines Diktiergerätes und beschloss, nicht mehr zuzuhören. War das an einem Montag? Es muß an einem Montag gewesen sein. Dienstags schrieb ich einen la ngen Artikel über Pfauenfedern, obwohl ich wusste, daß Schiever und Meinsell mich dafür verfluchen würden. Ich schrieb ihn für SIE. Die Person. Saß mit überkreuzten Beinen vor meinem Computer, reflektierte über Schmuck und wie er den menschlichen Körper erheben konnte, aber auch hinabziehen. Ich schrieb von Pfauenfedern, die sich einer in den Arsch steckt. Und am Mittwochnachmittag saß ich mit überkreuzten Beinen in Wollheims Laden. Der Alte hatte mich als stillen Beobachter akzeptiert. Ich gehörte zu seinen Mittwochnachmittagen wie die russischen Mädchen. Eher zufällig, daß wir miteinander sprachen. Von meinem Besuch beim Verein berichtete ich ihm, er kommentierte es mit einem ihm sonst fremden Sarkasmus, meinte, die Damen täten ihre guten Werke, ohne zu wissen, was gut und böse sei, vertiefte den Gedanken jedoch nicht. Ein Mädchen, das sich durch die Zeitschriften las und unserem Gespräch zugehört hatte, lachte beim Hinausgehen, sagte: "Dort drüben ist es wenigstens schön warm." und schenkte mir einen schnippischen Blick. "Das war Elena." erklärte Wollheim. "Sie wohnt in einer Obdachlosensiedlung und muß sich von Asozialen vorhalten lassen, sie sei asozial. Dabei hat sie eine ausgezeichnete Schulbildung, ist mathematisch begabt und träumt von einer -6 4 -
Stelle als Bedienung oder Putzfrau. Ihre Hauptbeschäftigung ist es aber zur Zeit, keinem Zuhälter in die Fänge zu geraten." Nicht der Wollheim, den ich kannte. Er beugte sich kopfschüttelnd über ein Radiergummisortiment und klebte kleine Preisetiketten auf jeden Artikel. Ich schaute durchs Fenster. Ein Wagen fuhr langsam vorbei, der rechte Blinker morste. Die Frau am Steuer drehte am Lenkrad. Sie war spät dran, viel später als gewöhnlich. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Frau Doktor sitzt auf der Bettkante. Wenn ich atme, hebt sich, senkt sich der Aschenbecher. Vollgeraucht. Längst stehen alle Fenster weit offen, trotzdem qualmt das Zimmer wie eine Kaschemme. Zwei Uhr? Drei Uhr? Unwesentlich. Die schönste, weil ruhigste Zeit, und Frau Doktor verdient sich ihr Geld in anderer Leute Schlaf. Sie hat auch schon runter zum Automaten gehen müssen, Zigaretten ziehen. Bringt mit, was ich schon wusste: Paraguay schlägt Nigeria, Spanien hilft auch der schönste Sieg gegen Bulgarien nicht die Bohne. Ich habe ihr eine Geschichte erzählt, die mit einem Treppensturz beginnt und mit dem Blick auf eine Frau endet, die ihr Auto auf den Hof des Gymnasiums steuert. Meine Rauchgefährtin denkt nach, Kanäle des Tiefsinns über dem Stirnfeld. Was wollte die Frau auf dem Schulhof? Wer ist sie? Sachte, Frau Doktor. Die Geschichte geht weiter, morgen nacht. "Wegen dem Rauchen? Abgemacht. Sie rauchen nur nachts, versprochen? Wenn ich dabei bin. Tagsüber bleiben Sie stark." Wie sie mich dabei anschaut, ist ihr nicht zu widersprechen. Obwohl es ein Fehler gewesen sein dürfte, sie einzuweihen. Einzuweihen? Warum so konspirativ? Na, jeder Feldwaldwiesenpsychologe würde einem jetzt einreden, man habe halt Nähe herstellen wollen. Und das stimmt natürlich. Frage mich niemand, was ich fühlte, als sie sich auf die -6 5 -
Bettkante setzte und mir den Aschenbecher auf den Bauch stellte. Ein schematischer Frauenkörper im Restlicht der Nacht. Ich unten eingegipst, aber nicht ganz. Wir rauchen und hören den Lungenzügen des anderen zu. Dann, nachdem sie ihre Kippe rabiat im Aschenbecher ausgedrückt hat (ich wiederhole: der auf meinem Bauch steht!), sagt sie: "Boskonz. Der arme Kerl galt als gefräßig. Sie haben ihm nicht zufällig...?" "Na ja, den Haferschleim halt." "So. Den Haferschleim." "Wurde er denn...?" "Keine Ahnung. Seine Magenwände waren praktisch nicht mehr vorhanden. Gut, er war kränker als er glaubte. Krebs. Der aber bekanntlich eher schleichend tötet. Krebs im Zeitraffer war das. Ein furchtbarer Tod. Haben Sie übrigens Ihren Wohnungsschlüssel wieder?" Ich versuche abzulenken. "Wo wohnen Sie eigentlich?" "Lenken Sie nicht ab. Für eine Frau ist es nicht gerade ein Kompliment, wenn sie nur angemacht wird, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber bitte. Sie haben geraucht. Ich rolle Sie jetzt an Ihren Platz zurück. Schlafen Sie gut." Und nimmt mir den Aschenbecher vom Bauch. Ein Fall von Erpressung. "Sie haben gewonnen, Frau Doktor." Stellt den Aschenbecher zurück. Ich erzähle ihr die Geschichte, damit ich rauchen kann. Sie hört zu, ohne mich zu unterbreche n. Sie sammelt die Puzzleteile und stellt schließlich fest, das Bild sei nicht komplett. "Kann ich Ihnen nicht ersparen. Je mehr ich Ihnen erzähle, desto weniger werden Sie verstehen. Mir geht es genauso." -6 6 -
"Und die Fotos? Man hat doch Ihre Wohnung durchsuc ht. Sagen Sie jetzt nicht, Sie seien ein unordentlicher Mensch. Sie SIND ein unordentlicher Mensch. Aber nicht SO." "Die Fotos. Sollte man sie tatsächlich gesucht haben, hat man sie nicht gefunden." "Sie haben sie gut versteckt?" "Ich habe sie zurückgegeben." "Aha. Sie haben diese.... Person also ausfindig gemacht? Kennengelernt?" "Ich kannte sie schon." "Dachte ich mir. Und Sie haben erfahren, wer da mit der Feder im..." "Natürlich. Aber nicht von dieser Person. Können wir jetzt einen Schnitt machen? Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiss. Aber nach meinen Vorstellungen vom Aufbau einer dramatischen Handlung." "Die Mordversuche..." "Pappalapapp! Vergessen, eine Handbremse anzuziehen. Zu unachtsam beim Treppengehen." "Gift im Haferschleim." "Hm." "Wie werden Sie es denn künftig mit den Mahlzeiten halten? Soll ich veranlassen, daß Ihnen eine Person Ihres Vertrauens private Speisen bringt?" "Ich bin eh zu fett und bräuchte eine Diät. Nein, im Ernst: Wer es einmal mit dieser Methode versucht hat, wird sich beim nächstenmal etwas anderes einfallen lassen. Ich weigere mich einfach zu glauben, daß mich phantasielose Stümper um die Ecke bringen wollen." "Sie haben den Konjunktiv vergessen: würde mich einfach weigern, daß..." -6 7 -
"Genau. Rauchen wir noch eine?" Wir rauchen. Ich möchte gerne etwas aus Frau Doktors Leben erfahren. "Nein, nicht um abzulenken. Finden Sie es nicht auch fair, mich wenigstens kursorisch an den wichtigsten Episoden Ihres Daseins teilhaben zu lassen? Sind Sie verheiratet?" "Nein." "Waren Sies?" "Nein. Und ich werde es auch nicht sein." "Warum sind Sie Ärztin geworden?" "Reiner Idealismus und Geldgier." "Ich merke schon: Wenn Sie eine Geschichte zu erzählen hätten, würde selbst die Androhung von Nikotinentzug nichts nützen. Mit was könnte man Ihnen wirklich drohen?" "Mit Dummheit." "Tun Sie mir einen Gefallen?" "Nichts Erotisches. Ich verteile keine Gutenachtküsse an meine Patienten." "Halten Sie Gutenachtküsse für erotisch? Frau Doktor, Sie interessieren mich immer brennender. Aber nein. Könnten Sie in die Redaktion gehen, sich meinen Schreibtisch zeigen lassen? In der mittleren Schublade links liegt ein Päckchen." "Und das soll ich Ihnen bringen?" "Nein. Mieten Sie ein Bankschließfach auf Ihren Namen. Deponieren Sie das Päckchen. Behalten Sie den Schlüssel. Schauen Sie nicht nach, was sich in dem Päckchen befindet." "Sie vertrauen mir?" "Habe ich eine Wahl?" "Sie könnten einen Ihrer Freunde - oder haben Sie keine?" "Haben Sie welche?" -6 8 -
"Na schön. Ich machs. Und?" "Können Sie dann eine gewisse Petra Malter anrufen? Steht im Telefonbuch. Einfach nur ausrichten, daß ich hier liege." Ist sie zusammengezuckt? Schwer zu sagen. "Gut, gut, gut. Und jetzt schiebe ich Sie zurück." Zwanzig Minuten später. Irgendwo da draussen kräht ein Hahn wider die aufgehende Sonne. Ich liege da; nikotinvergiftet, mit schmerzenden Beinen und schmerzendem Kopf. Schlafen? Etwas rät mir, es nicht zu tun.
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4 Fundamentales Am 25. Juni wird Deutschland ungeduldig. Selbst Schwester Benedikta, das Frühstück vorm Busen, hat ihre fröhliche Demut einer erwartungsvollen Nervosität geopfert. "Heute kriegen die Ayatollahs eins auf die Mütze!" Richtig, fast vergessen: Deutschland gegen Iran. Und ob ihrer Prognose hinsichtlich des östlichen Konkurrenzunternehmens kichernd, bebt Benedikta wie ein ertappte kleine Sünderin. "Den Fernseher haben Sie heute abend tipptopp!" verspricht sie, schnüffelt - "Sie haben doch nicht etwa...?" - Ich schüttle tapfer lügend den Kopf und verweise auf den Zustand meiner Beine. Wie gesagt: Ich habe nicht geschlafen. Als schon die ersten dienstbaren Geister thermometerschüttelnd in die Krankenzimmer einfielen, senkte mich die Müdigkeit knapp unter die Krume des Bewußtseins. Ich döste, dämmerte vor mich hin, montierte Sein und Schein zu skurrilen Bildern. Eine Medikamentenkapsel fiel aus gelockerter Faust; ein Löffel rührte im Brei. Die Faust hing aus einem Arzt- oder Pflegerkittel, weiß jedenfalls war er, weiß und sauber, die Faust blutleer, durchsichtig, blau durchadert. Wie hätte das möglich sein sollen? Frau Doktor, ich frage Sie und appelliere an Ihren Verstand! Bedenken Sie, welch vorausschauenden Aufwand jemand treiben müsste! Helfershelfer im Krankenhaus, die auch vor Mord nicht zurückschrecken! Menschen, die Gutes tun sollen! Frau Doktor? Hören Sie mich? ---- Ganz erschreckt aufgewacht. Ich inspiziere mein Frückstück, die ewige Marmelade auf dem ewigen schlaffen Brötchen, durch einen dünnen Film Halbfettbutter voneinander getrennt, die "Du darfst!" lockt. Etwas in mir mahnt: "Du solltest eigentlich nicht." -7 0 -
Sorry; ich bin wahrlich kein Mann für das Existentielle. Bevor ich einen Berg hinunter zu stürzen beabsichtige, überlege ich mir die Konsequenzen in etwa so lange wie beim Kauf einer Büchse Ölsardinen mit chemischen Zusatzstoffen. Schrecklich, nicht wahr? So wird das Frühstück verputzt, und die Lust nach dem abrundenden Nikotin ist so obszön wie gestern. Gegen neun erscheint der Fernsehtechniker, steigt auf einen Stuhl, dreht die Mattscheibe zur Wand, öffnet die Rückfront des Gehäuses und wechselt Röhren aus. Komme nicht daran vorbei, ein patriotisches Zehnwörtergespräch zu führen, in dem der deutschen Fußballnationalmannschaft Absolution für den Fall in Aussicht gestellt wird, daß sie den Iran in die ihm gebührende Steinzeit der Kickkunst zurückbombt. Gegen die Amis, analysiert der Techniker, habe es die üblichen Anlaufschwierigkeiten gegeben, wie 1974 gegen Chile, nicht so schlimm wie 1970 gegen Marokko oder gar 1982 gegen Algerien. Von wirklich gelungenen Eröffnungsspielen der Deutschen war ihm nur das 5:0 gegen die Schweiz 1966 in Erinnerung geblieben, und ich fügte seinem Wissen das 4:1 gegen Jugoslawien 1990 hinzu. Ha, Jugoslawien! Am letzten Sonntag! Über weite Strecken eine Bankrotterklärung. Wenigstens habe die deutsche Elf endlich doch noch, um im Bilde zu bleiben, in ihrer Hosentasche einen dort gar nicht vermuteten Tausender aufgestöbert und mit diesem Pfund zwanzig Minuten und zwei Tore lang gewuchert. Eine Turniermannschaft, Deutschland. Die drei deutschen Tugenden: Kampf, Kampf, Kampf. Armer Iran. Was solle man auch von einer Mannschaft halten, in deren Reihen zwei Spieler von Arminia Bielefeld stehen? "Die Höchststrafe diesmal!Da! Der Kasten geht doch!" Ich schaue mir den Schluß einer alten Folge der Sesamstraße an und gerate anschließend ins Schulfernsehen, wo man einen Zylinder um die y-Achse rotieren läßt und das Volumen der -7 1 -
verdrängten Masse - oder so ähnlich. Schwester Benedikta, wieder christlich-nüchtern, streckt den Kopf ins Zimmer "Fernseher aus! Visite!" - und auf dem Korridor naht die heilende Schwadron. Viel zu sehen gibt es nicht. Der grauhaarige Chefarzt hält Röntgenaufnahmen gegen das Sonnenlicht, sieben Chargenköpfe recken sich hoch und nicken die lateinischen Kommentare des Alten ab. Ich füge mich, überzeugter Fatalist, in mein Schicksal. "Sie werden" belehrt der Arzt "links möglicherweise einen Knieschaden zurückbehalten. Der aber weder ihre Schönheit noch ihren Radius empfindlich beeinträchtigen wird. Nichts was eine ordentliche Krankengymnastin nicht in den Griff bekommen könnte. Der Schlauch?" Er bückt sich. "Verunreinigtes Blut im Knie, leider. Wird abgesaugt. Sehr wichtig. Kann bald entfernt werden." Schüchtern wage ich die Frage, wann ich eventuell mit Entlassung rechnen könne? Oder wenigstens dem Aufstehen? "Wenns an der Ze it ist, ist die Zeit gekommen. Ruhe, Ruhe, Ruhe! Hämmern Sie sich das ein. Jeder Tag, der in Ruhe vergeht, ist ein gewonnener Tag. All der andere Kram Gehirnerschütterung, Prellungen, Verstauchungen, Abschürfungen, Verrenkungen - Kinderkram, selbstheilend. Also: Ruhe." Und hebt einen imperativen Zeigefinger. "Gehen Sie mal davon aus, daß Sie das WM-Finale als Bettlägriger genießen dürfen. Klare Sache heut abend, ja?" Die Visite, kurz/knapp/enigmatisch, befeuert doch immerhin den Furor in meinen Gedärmen. Wir beide, meine Verdauung und ich, haben seit dem Suchtabenteuer mit Frau Doktor einen wunderbaren Waffenstillstand geschlossen. Der ist mit sofortiger Wirkung aufgekündigt. Ich klingele. Eine mir unbekannte Schwester von Benedikta-Ausmaßen trippelt herbei, und mein grimassiertes Gesicht versetzt sie in -7 2 -
Panik. "Oh, oh, oh!" Enteilt aber beruhigt, als sie die Ursache meines Ungemachs erfahren hat und kehrt mit zweierlei zurück: der Pfanne (blaugesprenkelter heller Emailletopf mit Deckel) und einer Lernschwester (blaue Strähnchen im Blond). Moralische Bedenken sind mir einerlei: Bettdecke zurückschlagen, Kittelchen hoch. Meine Helferinnen beseitigen Koordinationsschwierigkeiten: Die Alte wird mir unter die Arme greifen, die Junge das Gefäß positionieren (ist aufgeregt, kriegt rote Stressflecken um die Nase. Sehr nett.) "Brauchen Sie auch die Flasche?" Ich fürchte: ja. Oh, mein Gott. Meine literarischen Pfauenfedern verkümmerten, kein Brief, kein Foto gab ein Zeichen. Längst war mir klar, daß die Seiten, auf denen meine Texte standen, mit einem beängstigend eingeschliffenen Automatismus überblättert wurden, die Durststrecke zwischen den Sensationen der Lokalreportagen und den artigen Behaglichkeiten zum Feierabend des lesenden Menschen. Es war ja auch nie anders gewesen, es kümmerte mich nicht. Wahrscheinlich verfertigte ich selbst nichts sonst als Pfauenfedern für irgend jemandes prosaisches Hinterteil. Wie ein jegliches außerhalb des Gewöhnlichen heutzutage hat sich der Maxmarkt zum Kult entwickelt. Ein Status, der früher "Casablanca" zukam, mittlerweile aber jeder TV-Moderatorin zufällt, die sich beim Lispeln die Zungenspitze abbeisst. Verdammt, in was für Zeiten wir leben! Es geht niemals um Qualität. Es geht um das Exotische. Gleich daneben, durch eine unsichtbare, sehr schmale Grenze von diesem getrennt, öffnen sich die Abgründe des Ärgerlichen. Mit den Pfauenfedern balancierte ich auf dieser Grenze. Denn meine Stücke wurden immer schlechter. Ich schrieb geistlos, mechanisch, ernst, auf so unrühmliche Art gewöhnlich, -7 3 -
als ließe sich Herr A. als "Querdenker" abfeiern oder als arbeite Frau B. im Blitzgewitter der Öffentlichkeit einen Katalog von "Tabubrüchen" ab. Querdenken ist der sicherste Weg zum Geradeausdenken, Tabubruch der Schlüssel zur intellektuellen Biederkeit. Und so wie ich schrieb, musste ich jeden Moment befürchten, einen bedeutenden Literaturpreis verliehen zu bekommen. Zu meinen besten Zeiten verfasste ich Texte, die es dem Leser unmöglich machten zu erkennen, ob man ihn belehren oder veräppeln wollte. Man nenne mir eine anspruchslosere Aufgabe als die, den Zusammenhang zwischen zwei Sujets herzustellen, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt! Nichts zerpflückt sich einfacher als die einfachen Wahrheiten, keine Ideologie ist so solide wie die vo n der beliebigen Reproduzierbarkeit objektiver Wahrheit. Vorbei. Ich war auf dem besten Wege, ein guter Journalist zu werden, und ich war besorgt. Schiever, der nicht nur seiner Tochter väterliche Gefühle entgegenbringt, nahm mich eines Tages im Dezember schon am Eingang zu den Redaktionsbüros in Empfang, umgriff eisern meine Schulter und führte mich in den Konferenzraum. "Wir müssen uns" flüsterte er "mal wieder zu einem brain pool kurzschließen." Ich erinnerte mich ungern an den brain pool, denn - man glaube mir - in diesem Becken schwamm so viel Hirn wie im Hallenbad Fisch. Als der Maxmarkt noch neugierig durch seine Kindertage tollte, hatten solche Tagungen einmal im Monat stattgefunden. Sie brachten Schiever, Meinsell, den stillen Gesellschafter Dorsten und mich um die Platte eines opulent gedeckten Tisches, wo bei Speis und Trank allerlei Strategien ausgeheckt und inhaltliche Feuerwerke abgebrannt wurden. Bis in die Wirklichkeit des Blättchens schaffte es davon allenfalls eine lausige Knallerbse, und ma n konnte von Glück sagen, wenn auch die nicht vor der Zeit krepierte. -7 4 -
Meinsell und Dorsten warteten bereits auf uns. Letzterer ist ein Privatdozent im Fachbereich Soziologie und seit einer gewaltigen Erbschaft von dem Wunsche nach gesellschaftlicher Veränderung beseelt. In einer schweren Krise hatte er dem alten Freund Schiever mit einer größeren Summe aus der Verlegenheit geholfen, "reines Mäzenatentum, Wilfried, denn was unser Land braucht, ist eine organische Verbindung von Kommerz und Konflikt". Schiever, kein Dummkopf, hatte daraufhin die brain pool - Sitzungen ins Leben gerufen. "Bauchpinseleien für den Kapitalismus" wusste selbst der loyale Meinsell sich verbal nicht mehr anders zu helfen, "Exerzitien in nutzloser Kreativität und Gesellschaftsveränderung für eine saturierte akademische Arschgeige". Rasch zeigte sich, daß die brain pool - Sitzungen mehr waren: Monatliche Operationen, bei denen man Meinungen explantierte, wie Hämorrhoiden abschnitt, um sich die Schmerzen der Sachzwänge erträglich zu gestalten. Dann: Altarumkreisungen, Menschenopfer. Immer häufiger zielten Dorstens Attacken in meine Richtung, nannte er mich wahlweise einen Revisionisten und Anarchisten. Er mochte mich nicht. Ich mochte ihn nicht. Ich mag keine Wissenschaftler. Ich halte Wissenschaft für den Zeitvertreib der Mittelmäßigen, und Dorsten war ihr fleischgewordenes Paradigma, eine Junggeselle jenseits der Vierzig, der nicht einmal die Studentinnen seines Instituts vögeln konnte und also bei der leichtesten universitären Übung versagte. Dieses Mal bog nichts Kulinarisches den Tisch. Dorstens Rundkopf grübelte auf flachen Handtellern mit dem Aussagewert eines Hinweisschildes, das neonblinkend "Ich grübele!" verkündet. Besagter Kopf, ein gänzlich haarlos unterm Kunstlicht blitzendes Gebilde, ragte aus weißem Skipullover, darunter das schwarze Hemd. Es waren dies Muster aus den beiden einzigen Farbtöpfen, in die der liebe Gott den -7 5 -
Dorstenschen Verstand getunkt hatte. Jeder von uns besaß eine Seite des Tisches, und wir schwiegen eine Weile, bis Schiever murmelte, niemand denke an ein Strafgericht und die restlichen zwei Drittel der Troika präzisierten, niemand denke daran, an ein Strafgericht zu denken. Schiever meinte es ehrlich, fühlte sich unwohl, trank eine Tasse Kaffee auf ex und le ierte eine Hommage à Horst in den fensterlosen Raum. Die Strategie des Trios war simpel. Der Herausgeber würde aus meinen unleugbaren Verdiensten ein Ehrenhügelchen aufschippen. Dorsten fiele die Aufgabe zu, mich von dieser Erhöhung in die ausgehobene Grube zu stoßen, bevor Meinsell, der Vollender, das Erdreich diplomatisch einebnen konnte. Und ich? Ich wäre lebendig begraben, man würde mich mit bloßen Händen ausbuddeln und meiner dankenden Worte gewiss sein. Dem Monolog des schwitzenden Schiever schenkte Dorsten in etwa das geringe Quantum Aufmerksamkeit, zu dem sich ein Schauspieler gemeinhin für den Text seines Partners aufraffen kann. Er wartete das Stichwort ab - es heiß "Krise" - , sammelte und räusperte sich, holte tief Luft und setzte an, sein gelerntes dramatisches Gedicht zu repetieren. Nach einer allgemeinen Bekräftigung der soeben vernommenen Lobgesänge - "Daran kann ein vernünftiger Mensch überhaupt nicht zweifeln!" - kam Dorsten auf das Dilemma des Denkers an sich zu sprechen. "Wenn man denkt, entsteht ein kommunikativer Akt als Binnenvereinbarung. Ich denke so lange, bis ich verstanden habe, was ich denke." Sollte aber - und wer vom Denker zum Schreiber werde, sehe sich haargenau damit konfrontiert - sollte also das Gedachte nach außen hin vermittelt werden, bedürfe es einer neuerlichen, diesmal nach außen zielenden Vereinbarung, den kommunikativen Akt betreffend. -7 6 -
"Die Binnenvereinbarung ist erfüllt worden. Ich habe verstanden. Was ich verstanden habe, hat sich meinem kommunikatorischen Koordinatensystem eingepasst, jenem Teil meines Gehirns, der mein Denken steuert. Denken ist Selbstgespräch, oder: Zwiegespräch mit mir. Im Moment der Veräußerung des Gedachten müssen die beiden Parteien in mir mit einer Stimme reden und sich auf ein fremdes Koordinatensystem einstellen. Konkret bedeutet das: Für welche Leser schreibe ich?" Für viele; das sei eindeutig. Viele Leser mit vielen Koordinatensystemen, und völlig verfehlt sei es natürlich, es allen recht machen zu wollen, das funktioniere nie. Bliebe der Kompromiss; der Schnitt gewissermaßen, dem alles Extreme (Hochund Tiefpunkte einer Kurve in einem Koordinatensystem ermittelt man mittels der ersten Ableitung von der Grundgleichung: fiel mir ein.) "- dem alles Extreme, der hochgebildete, der strohdumme Leser, zum Opfer fällt. Am Ende hast du den Durchschnittskonsumenten mit seiner geistigen Welt aus Konventionen, Versatzstücken." Durchatmen. "Der gewöhnliche Autor" fuhr Dorsten fort "transponiert seine Gedanken auf diese qua gesellschaftlicher Übereink unft definierte Koordinatenfläche. Er bestätigt somit, indem er selbst sein Denken ausschließlich aus Konventionen und Versatzstücken formen muss, die Grundeinstellungen der Leser. Der außergewöhnliche Autor - und ich meine damit dich, lieber K.O. - verändert diese Grundeinstellungen. Er bringt den Leser weiter, er emanzipiert ihn ein Stück in Richtung des verfasserischen Gedankenvorsprungs. ABER - eben nur ein Stück. Er darf nicht übertreiben. Er muß schmackhaft machen, mit den Konventionen und Versatzstücken des Lesers spielerisch umgehen, sie zu Untertanen der Generalabsicht -7 7 -
manipulieren. Die Exotismen - oder lass es mich so sagen: Der Leser ist ein Pauschaltourist im Regenwald. Er erlebt das Neue mit den Mitteln des Alten. Er hat einen Führer, der ihm den Weg durchs Gedankendickicht freimachetet. Er observiert Tiger aus unmittelbarer Nähe, aber so, daß er von der Bestie nicht verschlungen werden kann. DU befindest dich auf einem Weg, der den Lese-Reisenden praktisch in der Wildnis aussetzt. Du überforderst ihn. Du lässt ihn allein, du animierst ihn nicht, ihn, der immerhin Urlaub vom Alltag nimmt, wenn er liest, und unterhalten werden will. Sollte dieser Leser das Abenteuer unbeschadet überstehen, wird er beim nächstenmal wieder mit den Neckermännern von Bild, Spiegel und Stern ins Mallorca des Denkens fliegen. So ist das." Schiever und Meinsell stierten betroffen auf die Tischplatte. Von jenseits der Tür kamen Geräusche, in Watte gepackte Schreie des Molochs. Er schrie: "Komm mir entgegen!", doch was unsere Ohren erreichte, klang wie: "Bleib mir von Leib!". Es war trostlos. Alles harrte nun meiner Erwiderung. Dorsten, dem die Argumentationskette seiner Ansprache die Kehle verschnürt hatte, rang nach Luft und schenkte sich Kaffee ein, war aber außerstande, die Tasse mit seinen zitternden Händen zum Munde zu führen. Ich ließ mir Zeit und sagte dann, sehr gemächlich in der Artikulation: "Stimmt alles, Walter. Ich muss dir recht geben. Das mit der Krise, das mit den Lesern: unterschreibe ich unbesehen. Woran es liegt? Keine Ahnung. Vielleicht bewegt sich etwas in mir, ist etwas in Unordnung geraten. Vielleicht brauche in diesen Tiefpunkt, weil ein Teil von mir genau das verstanden hat, was du gesagt hast, der andere sich aber noch sträubt, danach zu handeln. Mit dem Denken als Zwiegespräch liegst du vollkommen richtig. In mir streitet es noch, und aktuell habe ich nicht die Kraft für lockere philosophische Würfe. Mir gerät alles -7 8 -
schwer, verbiestert, rechthaberisch. Ich schlage euch also vor, mich in den nächsten Monaten auf Lokalreportagen zu beschränken. Lass doch die beiden Streithähne da drinnen in mir ihren Strauss ausfechten. Die Sache mit dem Deutschunterricht für Aussiedlerkinder war der Anfang, ein, oder sehe ich das falsch?, befriedigender Einstieg - " S & M nickten eifrig, Dorsten lehnte sich stöhnend zurück und tat es ihnen nach. "... und als nächstes habe ich, soll ichs verraten?, eine sensationelle Geschichte in petto, pikante Details einer Verschwörung, die, wenn mich nicht alles täuscht, bald die ganze Republik hellhörig machen dürfte. Sex & Crime auf Watergate-Basis. Ich hoffe, Ihr seid mit meiner Entscheidung einverstanden." "Herrlich!" plapperten die Augen der Herren Schiever und Meinsell. Dorsten reagierte zunächst nicht. Er hatte ziemlich notdürftig den Hamlet gegeben, und jetzt flüsterte ihm jemand aus dem Souffleurkasten zu, man spiele aber den Macbeth. Auf der Bühne stand ein düpiertes Häufchen Elend, das den Totenschädel in seinen Händen drehte. Ging auch wortlos. Fixierte mich im Hinausgehen von der Seite. Meinsell, erleichtert, drückte mir den Oberarm und folgte dem nun in jeder Beziehung stillen Teilhaber. "Bleib mal hier." Schiever wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Sag mir eins: Warum hast du Dorsten und sein dämlichen Theorien nicht auseinander genommen? War doch ein gefundenes Fressen. Kein Vorwurf, mein Alter, im Gegenteil. Der Typ hat uns gedroht, seine Kohle abzuziehen, wenn du weiter über Pfauenfedern und so nen Quatsch schreibst. Na, könnte sein, daß es mir sogar recht gewesen wäre, er hätte sich hier ausgeklinkt. Was brauch ich den noch. Ich bin überrascht. So kann man das sagen." -7 9 -
Ich mimte die reine Unschuld. "Wenn er doch aber recht hat, der Privatdozent. Koordinatensysteme. Zwiegespräche. Kleine Schritte im Regenwald. Meinst du, er hat einen Doktoranden darauf angesetzt, ihm was Hübsches zu schreiben?" "Anzunehmen. Und die Story mit dem Skandal stimmt? Bitte, ich will ja jetzt gar nicht nachhaken. Sagst eh nix." An diesem Morgen im Dezember hatte sich etwas ereignet. Aus meine n langweiligen kleinen Traktätchen waren Drohungen geworden, und irgend jemand fürchtete sich so vor ihnen, daß er einen billigen Hanswursten vorschickte, mir seinerseits zu drohen. Gut; als Dorsten das Konferenzzimmer verließ, schaute ich ihm nach. Ich stellte ihn mir ohne Klamotten bäuchlings auf einem Bett liegend vor. Aber das passte nicht. Siebzig Kilo Soziologe ohne ein Gramm Fett. Jemand hatte ihn dazu gebracht, mir eine Nachricht zu überbringen. Eine Drohung. Dabei hatte ich doch Liebesbriefe geschrieben. Hurtig Augen zu bei Witwen in zu weiten Kleidern. Nur mal kurz blinzeln. Und sie, von der schieren Wucht des Unglücks betäubt, trägt denselben schwarzen Stoff, in dem schon die Mutter den Vater betrauert hat. Ich kann so was nicht sehen, will mir auch nicht vorstellen, wie Mutter und Tochter ratschlagen, ob es das alte Trauergewand noch tut oder ein neues anzuschaffen ist, wo doch so hohe Kosten zu erwarten sind und das Häuschen abbezahlt werden muss. Also lerne ich des Boskonz hinterbliebene Frau nur akustisch kennen. Höre sie den Kleiderschrank ausräumen, eine beileidige Nonne im Kielwasser, deren tröstendes Repertoire beständig gegen das monotone "Danke, Schwester" der Witwe prallt. Die Schublade des Nachttisches ächzt, und ich schäme mich sehr ob der stiebitzten Zigaretten. Sie hätte sie bestimmt weggeworfen. Trotzdem. Nach dem Mittagessen telefonieren mit Lehn. Jovial meldet -8 0 -
sich der Herr über sämtliche Bücher der Stadtbibliothek, knallt sein "Ich weiss alles!" durch die Leitung, und tatsächlich stapelt das Gedächtnis meines Freundes mehr als jede andere Festplatte des Universums. Würde mich nicht wundern, wenn er die Anzahl der Stufen jener vermaledeiten Treppe bereits per Augenschein oder Nachfrage - "Herr Wollheim, auf ein Wort" recherchiert hätte und die Information meiner biografischen Akte beigefügt. Denn Lehn hat eine Obsession: Er hortet unnütze Daten. Ein Asket mit Großvaterbart, halb Rentner, halb Revoluzzer, kurz: verbeamtet. Ziemlich jung noch, aber kein Mensch weiss wie jung oder vermag irgendein Alter aus Lehns Aussehen, Benehmen, Charakter oder Stimme zu deduzieren. Er gebietet über mächtige Sprechwerkzeuge, Drumms, die man einem solch mickrigen Behälter kaum zutrauen würde, rhetorische Zangen packen jedes Thema und bringen es zum Reden. Drei Dinge sind ihm wichtig: ein reibungsloser Bibliotheksbetrieb, Leben und Wirken der deutschen Beatgruppe The Lords sowie biografische Dossiers zu allen exponierten Bewohnern unseres Ländchens. Diese vor allem machen Lehn zu einem gefragten Mann, und das Hinterlistigste an ihm ist seine Freundlichkeit, seine natürliche Menschenliebe, für die man ihn nur hassen kann, sofern man nicht selbst gerade von ihr profitiert. Jeden Morgen schlurft Lehn (so'n drahtiger Kerl - und schlurft!) eine Stunde vor Dienstbeginn in sein Büro. Stramm stehen die akkurat bestückten Regale beim Defilee. Schlurft, schnieft, einen Packen Bedrucktes unterm Arm. Das hierzulande frühmorgens gereichte, monopolistisch herausgegebene Kompendium provinzieller Tagesschriftstellerei als tägliche Konstante, dazu die Wochen-, Monatsund Einmalpublikationen: den gelobten Maxmarkt, knallbunte Zeitgeistmagazine, Veranstaltungskladden, obskure Pfarrblätterund briefe, Firmenporträts, Parteiprogramme, Werbebroschüren, -8 1 -
Sektenfangschriften, Pamphlete. Woraus sich Namen und Daten exzerpieren und dem großen biografischen Archiv einpflanzen lassen, beschäftigt Lehn manisch, das Leben als Dehydrat, die Existenz ein Suppenwürfel. Gieß Wasser drauf. Lehn schnippelt mit flinker Schere; Lehn trennt mit dem Textmarker die Spreu vom Weizen; Lehn wirft seinen Dienstcomputer an (früher wurden Karteikarten in Tausenderpacks geordert); Lehn ergänzt ein Leben oder erschafft es. Lehn ist der liebe Gott, aber fleißiger; Lehn ist der Teufel, wenn der Gott wäre; Lehn, meine Damen, meine Herren, weiss alles über sie, und weiss er nichts, dann können sie nicht sein. "Ich weiss alles! Habs schon in deiner Bio vermerkt: '23. Juni 1998: mysteriöser Sturz von einer Treppe Mörickestr. 14, in Klammern: siehe Wollheim, Alexander. Gut, daß du anrufst. Sag mir Genaueres über deine Blessuren. Ich hab bis jetzt nur 'doppelter Beinbruch, Gehirnerschütterung'. Mehr hat Meinsell auch nicht gewusst. Wieso hast du eigentlich nichts an den Armen? Oder doch?" "Schreib noch 'seelischer Knacks'. Und das mit den Armen ist eine gute Frage." "Seelisch, aha. Richtig. Du kannst ja nicht mehr rauchen. Bitte gib mir Bescheid, wenn ich das entsprechende Kästchen 'Raucher / Nichtraucher' aktualisieren kann." "Du bist ein obsessives Scheusal. Schreibs in deine Bio." "Tut mir leid. Über mich selber sammele ich nichts." "Und wie gedeiht dein Lordsbuch?" "Hab vorige Woche mit Lord Ulli telefoniert. Reizender Mensch! Und hilfsbereit. Am 16. März 1966 haben die Jungs im "Dorfsaal" von Holzwickede gastiert. Ulli schaut nach, ob er die Set List aus dieser Zeit noch irgendwo auftreiben kann. Reizend!" -8 2 -
Man muss ihn reden lassen. Er hört nach geraumer Zeit auf, fragt: "Und womit kann ich dir heute aus der Patsche helfen?" "Krund mit K, Gesine." "Krund mit K, Gesine" wiederholt Lehn und tippt den Namen ein. "Aja. Nicht viel. Bisschen was aus Unijournalen. 1961 geboren, Landau in Bayern. Nimmt am gesellschaftlichen Leben ganz offensichtlich nicht teil, sonst wüsst ich längst, mit wem sie pennt und hätts als Querverweis." "Überhaupt keine Querverweise? Etwa zu Walter Dorsten?" "Dorsten? Über den wolltest du doch auch schon alles wissen!" Stimmt. Gleich nach dem Brustschwimmen im brain pool. "Nee. Nix." Lehn klingt frustriert. "Laut Pressebericht zur Renovierung des Elisabethenkrankenhauses arbeitet die Krund dort seit fünf Jahren, vorzugsweise im Notdienst, nachts. Nicht gerade eine Karriere. Und nenn sie nicht Frau Doktor. Sie hat nämlich nicht promoviert. - Was, ich sehs erst jetzt, recht merkwürdig ist. Denn die Unipostille spricht von einem - Zitat "vielversprechenden wissenschaftlichen Talent, dessen Doktorarbeit über das Zustandekommen von Abwehrreaktionen bei einer Schwächung des Immunsystems...undsoweiter. Muss ich gleich vermerken: 'offensichtlicher biografischer Bruch'. Kannst was beisteuern? Is das die Tussi, die dich verarztet?" Ich schütze eine Visite vor und verabschiede mich vom neugierigen Lehn. Halb eins, die Malter meldet sich nicht. Noch Dezember und fast Weihnachten. Es hatte auf gefrorenen Regen geschneit, und die über allem dräuende Flüssigkeit überlegte noch, in welcher Gestalt sie demnächst niederkommen sollte. Wetter, am besten auf der wärmeren Seite des Fensters zu genießen, zumal die Innenstadt von dicklichen Brieftaschen verstopft war, hinter denen Herzen heftig pochten, -8 3 -
als schnappten sie nach Sonderangeboten. Da lobt man sich das gemütliche Heim. Schöne Theorie. Ich fror vor "Kuntze's CD-Shop" und schaute zur Uhr. Zehn. Kurzgeschorenes marschierte in den Laden, aus dem Musik kam, Musik, wie sie unsereiner als Langhaariger gerne gehört hat, Musik aus sechs Saiten Gitarre, vier Saiten Bass und einer Batterie Trommeln, ein Tätowierter plärrte gegen die heulende Wand. Ja, zugegeben: Etwas melodischer hatte das früher schon geklungen. Außerdem ist man zu alt. Bist du erst mal über dreißig, gibt es Wichtigeres als gute Musik in deinem Leben. Phil Collins zum Beispiel. Mir war an diesem Morgen nicht nach Heavy Metal zumute. Ich verließ meine Wohnung fluchend, sagte bye-bye Zentralheizung, schlug den Kragen meiner Winterjacke hoch und erinnerte mich an Frau Fänz-Ullerts gestrige Stimme am Telefon. Aufgekratzt war sie, keck kicherte die Vorsitzende, ihre Wangen seien, dem Fräulein Bauer zufolge, glühend vor Aufregung, sie persönlich tippe eher auf profane Nervosität. "Morgen, Herr Horst, morgen um 10 Uhr." Ob ich noch unser Gespräch im Kopf hätte? Das... sie kicherte abermals - mysteriöse und das Fräulein Bauer, die Diplomübersetzerin? "Sie hat es nicht leicht gehabt, das arme Ding. Wegen der Texte, wissen Sie?" Ich gab den Lehnschen Antipoden und wusste nichts. "Na, Death Metal! Diese Scheusslichkeiten! Dagegen starten wir unsere Aktion morgen früh, vor Kuntzes CD-Shop. Wissen Sie, wo das ist?" Ich wusste es diesmal und liess es mir umständlich erklären. Bat - ich bin Sadist - um eine Kostprobe der Texte und erledigte damit Frau Fänz-Ullerts freudige Erregung prompt. Nein, nein, -8 4 -
das übersteige ihre Kräfte. Aber das Fräulein Bauer, Moment mal. Nach ein paar Augenblicken meldete sich, gefasster als bei unserem ersten Zusammentreffen, das Fräulein Bauer. "Also ich les dann mal, ja? Nur einen Ausschnitt." Flüsternd: "Ich schneide deiner Puppe den Kopf ab / du steckst ihn dir rein. / Ich drinke dein Blut / wie billigen Wein. - Genügt das?" "Sind die Endreime von Ihnen?" fragte ich interessiert, und die Übersetzerin bejahte stolz. "Ich bin eigentlich Spezialistin für Viktorianische Lyrik. Aber wie es halt so geht." Ich bedauerte sie aufrichtig. Zehn nach zehn - sie bogen um die Ecke, schwankende Gestalten. Das Fähnlein Frauen knirschte zweireihig auf dem Schnee, in den Fäusten Holzlatten, zwischen die Bettlaken gespannt worden waren. Deren Beschriftung verkündete, Death Metal sei der Tod des Moralischen, "Gewalt reift immer zuerst in Worthülsen.", ihr dürfe keine Chance gegeben werden, "Musik ja - Zynismus nein.", und den Anfängen müsse man wehren, die Verführer aufhalten. Reihum wurden die Parolen skandiert: dünnstimmig, zögernd. Ein Kameramann umrundete die Protestierenden, setzte sich schließlich rückwärts ge hend an die Spitze des Zuges, daneben eine Frau, die ein Mikrofon in die Schallwellen hielt. Leicht abgesetzt folgte eine ungeordnete Ansammlung von scheinbar aus Neugierde dem Tross hinterher stapfender Passanten, Kinder, Heranwachsende zumeist, die es eher mit Boygroups denn mit Todesmetallern halten durften. Man bewegte sich der Schnee- und Eisunterlagen wegen langsam, auch blieb der gewünschte, weil Entschlossenheit demonstrierende Gleichschritt ein Kind des Zufalls und daher die Ausnahme, bei der unbeteiligten Nachhut sowieso, die etliche ihre Mitgänger peu à peu an den Reiz der -8 5 -
Schaufensterdekorationen verlor. Ich erkannte Frau Fänz-Ullert in der Avantgarde. Sie stieß ihre Latte wie ein Lichtschwert empor, etwas höher als die andere Hälfte der Zweierbeziehung, so daß die Beschriftung "Nieder mit Death Metal" auf dem Laken von unten nach oben lief, was - so hätte es Dorsten ausgedrückt - einen konterkarierenden Subkommentar zur Hauptthese abgab. Natürlich winkte die Vorsitzende, als sie mich erkannte; war zu befürchten gewesen. Vor Kuntzes CD-Shop formierte sich die Truppe zu einem Halbkreis um die Vorderfront des Ladens, in dem die Musik nicht mehr spielte. Frau Fänz-Ullert hob ihren freien Arm, das Skandieren brach ab. "Wir sind hier -" - sie suchte die Kamera - "um gegen die menschenverachtende Praxis aufzubegehren, durch den Missbrauch des Mediums Jugendmusik Profite zu erwirtschaften. Sie da drin - Wollen Sie wirklich ihren Lebensunterhalt weiterhin damit verdienen, zur Verrohung unserer Jugend beizutragen?" Ich hätte eigentlich ein ekstatisches "Ja!" erwartet, doch es blieb ruhig. Frau Fänz-Ullert verschaffte nun den Anwesenden einen Einblick in die Geschichte der Rockmusik, wobei sie nicht zu erwähnen vergaß, daß sie einstmals ja selbst in San Francisco gewesen, um den Schauplatz zu begutachten, an dem ihre Idole lebten und liebten: The Mamas And The Papas, Scott McKenzie -" Sie ließ eine bedeutungsvolle Pause: " - sogar Jefferson Airplane." Sie fuhr fort, es sei bald die Schere auseinander gegangen: man selbst älter geworden, die Musik härter. Tolerante Menschen hätten aber kein Problem damit gehabt. Irritiert habe sie dann, Anfang der Siebziger, das Auftauchen eines gewissen Alice Cooper, welcher mit Guillotinen umgegangen sei und auf diesen mit Vorliebe Puppen geköpft hätte. Gut. Auch diesen Herrn schützten noch die weiten Arme der Toleranz. Desgleichen Black Sabbath, "obschon der Name hier irgendwie Programm gewesen ist." -8 6 -
Hinreichend bewandert in Popgeschichte, konzentrierte ich mich auf die Gesichter der Protestierenden --- nee, Frau Doktor, streichen Sie das. Ist nicht die Wahrheit. Es war nämlich so: Keine Frauenprozession hätte mich an diesem Morgen normalerweise aus dem Haus holen können, kein Hundertzeilenbericht, keine nette TV-Reporterin (Sie war mir während des Fänz-Ullertschen Vortrags immer dichter auf die Pelle gerückt, Mikro am ausgestreckten Arm, und irgendwann könnten wir nicht anders, als einander zu begutachten.) Nichts, Frau Doktor, glauben Sie mir, nichts wäre verlockend genug gewesen, mein Bett im Stich zu lassen. Warum also? Weil ich doch hoffte, SIE müßte da sein. Sie hielt sich im Verborgenen, geduckt hinter dem breiten Kreuz einer Genossin, doch als man sich im Halbkreis aufstellte, hatte es ein Ende mit der Unsichtbarkeit. Ich sah sie, und sie sah mich. Ich hatte sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Mir oft vorgestellt, ihr auf der Straße zu begegnen (obwohl ich fünfzehn Jahre in einer anderen Stadt gelebt habe), bei einem Klassentreffen (zu dem, ehrlich gesagt, ma n mich aber nicht einlud). Na - schon wieder nicht ganz die Wahrheit, Frau Doktor. Ihren Kopf, Teile ihres Oberkörpers im Auto: wenn sie an den Mittwochnachmittagen zum Gymnasium fuhr, auf Höhe von Wollheims Laden abbremste, den Blinker setzte; ein kurzes Bild wie eine Explosion, die mir die Haut vom Rücken pellte. Sie mühte sich, durch mich hindurch zu schauen. Bekam einen starren Blick, bis ihr die Augenlider außer Kontrolle gerieten, im Stakkato aufeinander schlugen. Dann drohten mir diese Blicke: "Sprich mich nicht an. Lass mich in Ruhe. Hau ab." Ich konnte nicht. Also ging sie. Machte einfach die Faust auf, die Latte fiel auf den Boden (Frau Fänz-Ullert stolperte für einen Halbsatz aus ihren musikhistorischen Exkursionen), drehte sich um, verschwand. Diana. Heute abend nicht. Ersparen Sie mir das. Traurige Geschichte. -8 7 -
So viel, nicht mehr: Wir waren ein Jahr lang glücklich gewesen, die ganze Packung Teenagerglück eben. Beide achtzehn, und dann, im Oktober 1973, hat sich ihre kleine Schwester Judith aufgehängt. Dreizehn. Am Kellerfenster. Entschuldigung, ich kann nicht weitererzählen. Auch vor dem CD-Shop hätte ich nichts sagen können. Anschauen wollte ich sie. Ich stand einfach da, und diese TVReporterin flüsterte mir ins Ohr, gleich falle ihr der Arm ab, aber vorher müsste sie sich die Eisbeine amputieren lassen. Das sind so die Gelegenheiten, tja. Hat mir auch gleich ihre Visitenkarte zugesteckt. Petra Malter - genau die, Frau Doktor. Haben Sie sie erreicht? Noch nicht? Versuchen Sie es bitte noch einmal, wenn Sie Zeit haben? Danke. Aber zurück zur Demonstration. Frau Fänz-Ullert hatte endlich den Ausgang im Palast des Rock'n'Roll gefunden. Sie forderte, alle Händler sollten auf den Verkauf der jugendverderberischen Produkte verzichten, gab dem Fräulein Bauer, das mit einem riesigen Radiorecorder vor dem Bauch auf seinen Einsatz wartete, ein Zeichen, und das Fräulein Bauer stellte das Gerät auf den Boden, bückte sich und drückte eine Taste. "Wir spielen ein Stück der Handicaped Barbies." kündigte sie an, und die Musik preludierte apokalypisch. Sie war nicht schlecht, ein cleverer Brei aus Punkattitüde und Metalriffs, der Sänger allerdings typisch Vorstadtbubi mit einem fatalen Hang zur Melodramatik. Fräulein Bauers Recorder verfügte über eine sogenannte Karaoke-Funktion, die es ihr erlaubte, vermittels eines Mikrophons die deutsche Übersetzung des englischen Textes hörbar über diesen zu sprechen. "Wahrheit ist das Deo der Lügner, Stärke die Scheiße in deinem Hirn. Die Schönheit behandelst du mit einer Rasierklange, die Stärke brennst du nieder. Also blute und -8 8 -
brenne. Sei hässlich und schwach, treib es mit Handgranaten, schlafe auf Tellerminen. Wenn sie hochgehen, bist du high. Wenn dir aber deine Schönheit, deine Stärke etwas bedeuten und du sie nicht verlieren willst, schneidet die Rasierklinge tiefer, verbrennt dich das Feuer ganz. Und ich tanze Tango mit deinem verfluchten Skelett." Hm. Gemahnte mich stark an glücklich vergangene Zeiten, als jeder Primaner Bukowski war. Immer noch besser als "Deutschland / schlägt die / UdSSR / mit 3:0 / im / Endspiel / der Europa / Meisterschaft", ein lyrischer Geniestreich, mit dem man 1972 tatsächlich in ein renommiertes Literaturheft kommen konnte. Die von der Sensation eines leibhaftigen Protestzuges mitgerissene Jugend hatte mit den Füßen gewippt, im Laden war eifrig und laut mitgesungen worden. Der Song endete in einer Detonation, Stille trat ein, und Frau Fänz-Ullert, sichtlich erschüttert, hob die Versammlung auf. "Wir kommen wieder! Wir kommen immer und immer wieder!" Ich zündete mir eine Zigarette an, nickte der Vorsitzenden zu, die pantomimisch einen Telefonhörer ans Ohr hielt. Ich nickte noch einmal. Die TV-Reporterin rief ihrem Kameramann zu, er solle den ganzen Kram zum Funkhaus bringen, sie komme sofort nach. Machte "puh", schüttelte ihren Arm aus. "Schlimm, gelt?" Dann verlangte sie eine Zigarette, und wir rauchten. Als wir fertig waren, standen wir allein vor dem Geschäft. "Lehn." Frau Doktor sagt es ohne Emotion. "Was?" "Von Lehn wussten Sie doch sicher, daß Ihre ehemalige Freundin diesen Deutschunterricht gegeben hat." -8 9 -
"Ja. Der Verein gibt natürlich seine eigene Zeitschrift heraus, und unser Bibliothekar hat sie abonniert." "Darf ich mal raten? Sie war es auch, die Ihnen die Fotos geschickt hat! Darum diese Mittwochnachmittage!" Ich schicke ihr einen bewundernden Blick. "Sie sind die geborene Schnüfflerin. Aber machen wir Schluss für heute." Den Nachmittag habe ich verschlafen, die Ergebnisse der beiden Fußballspiele von einer witzigen Webseite geholt. Die heißt "Joes WM" und ist schon wegen des fehlenden Apostrophs liebenswert. Joe stellt seine Kommentare zu den Partien simultan zu deren Verlauf ins Netz, schreibt "Der blonde Holländer haut gerade dem blonden Mexikaner von hinten in die Beine, was der Schiedsrichter aber nicht ahndet, weil es ein zu offensichtliches Foul war." Holland schlägt Mexiko 4:1 (erwartetermaßen), Belgien tut sich schwer gegen Südkorea, 1:0. Wenn Deutschland heute abend gewinnt - Berichtigung: gewonnen hat (es ist halb zwölf), treffen wir im Viertelfinale auf die Belgier. Wie 94 in den USA. Bei Remis geht’s gegen Holland, bei einer Niederlage in den Urlaub. "Ich will nicht in Ihre Intimsphäre." Diesmal kapiere ich sofort. "Die TV-Reporterin? Petra Malter? Rein beruflich." "Geht mich nichts an." "Kann jeder wissen. Solche Sachen - na, solche Sachen passieren halt. Ist wie rauchen, wenn mans eine Woche nicht getan hat. Belebt, beschwipst, Sex eben. Noch am Abend dieser denkwürdigen Veranstaltung. Petra kam vom Schneiden, wir hatten uns in einer Kneipe verabredet, sie kannte mich vom Sehen und log, ihr gefiele meine Arbeit." "Und dann haben Sie geraucht." "Haben wir. Aber ich war noch nie ein markentreuer -9 0 -
Raucher." "Sind Sie immer so - so kalt?" "Im Moment? Keine Ahnung. Früher: ja. Dezidiert. Seit 73." Und jetzt kann ich es doch nicht halten. Jetzt bricht es heraus. "Schlusstrich gezogen. Sie hat es mir geschrieben. Einfach so, drei Sätze. Alles aus, könne nicht mehr, würde mich hassen, der Tod ihrer Schwester. Ich habs verstehen wollen. Damals, Frau Doktor, besaß ich noch ein Gefühl für die Psyche anderer. Ich hätte kein Richter werden können, weiß Gott nicht. Jeder Kindermörder hätte mich gedauert, ich hätte mich in ihn hineinversetzt und befunden, nicht er habe ein Verbrechen begangen, sondern ES hätte ihn zu einem Verbrechen benutzt. Vergessen Sies. Ich bin am nächsten Morgen in die Schule gegangen und wollte Diana in Ruhe lassen. Schau her, ich bin da, schau her, ich warte. Nicht mal bis ins Klassenzimmer kam ich. Mein Klassenlehrer hat mich auf dem Gang abgepasst und ins Rektorzimmer komplimentiert. Dianas Vater war da, er und der Rektor. Aschfahl. Das ist so eine Floskel: aschfahl. Man sagt: Er wird aschfahl, dabei wird er eigentlich nur blass. Dianas Vater war aschfahl. Er hat mich angeguckt, als sei ich ein ganz besonders widerwärtiges Ungeziefer. Nichts gesagt. Angeguckt. Der Rektor schlägt mir einen Deal vor: Entweder sofortiger Schulabgang oder Anzeige. Anzeige? Wieso denn! Der Rektor: Sie haben die kleine Judith belästigt, und die ha t sich deswegen... Hat den Vater angeschaut und nicht weiter gesprochen. Der Vater muß sich unheimlich beherrscht haben. Sieht mich an und schlägt mich in Gedanken tot. Ich stehe da und denke nur: Aufwachen! Naja. Es gab da wohl ein Tagebuch. Und in dem soll stehen, ich hätte... Was nicht stimmte. Kein Wort. Judith war ein kleines, nettes Mädchen, das einem manchmal auf die Nerven ging. Intelligent, phantasiebegabt. Ich nehme an, sie hat sich das alles ausgedacht. Mein Gott, sie war in der Pubertät! Ich wollte mit Diana sprechen, und da macht der Vater den Mund auf. Wenn ich Diana noch einmal zu nahe -9 1 -
käme, würde er mich umbringen. Ich renne raus in den Klassensaal. Diana nicht da. Ich schwinge mich aufs Moped und fahre zu ihr nachhaus. Klingele, sie öffnet, sie schreit. Sie schreit. Ihre Mutter kommt. Greift sich - irgendwas; einen Besen, glaub ich, und schlägt nach mir. Trifft mich an der Schläfe. Tür wird zugeschlagen, Diana schreit weiter, Diana schreit weiter. Wissen Sie, daß ich noch Jahre später Diana habe schreien hören, wann immer ich einen Besen gesehen habe? Kurz: Ich bin weg von der Schule. Mein älterer Bruder wohnte in Köln. Ich bin zu ihm gezogen und habe dort mein Abitur gemacht. Studiert. Abgebrochen. Studiert. Abgebrochen. Gejobbt. Arbeitslos geworden. Gejobbt. 1988 bin ich zurückgekommen. Meine Eltern waren schon gestorben, ein bisschen Geld war da für die erste Zeit. Gejobbt, arbeitslos, gejobbt, arbeitslos. Die Stelle jetzt. Diana ist Lehrerin an unserem Gymnasium geworden und hat einen Kollegen geheiratet: Herrn Oberstudiendirektor Hanns-Lothar Weber. Wir hätten uns begegnen können, wir sind uns nicht begegnet. Im Körper gibt es Viren, die laufen sich niemals über den Weg. Die kennen sich nicht, aber sie meiden sich. Besser so." "Verzeihung, aber das ist ein blödsinniger Vergleich." Recht hat sie. "Wollten Sie niemals herausfinden, was hinter dem Selbstmord des armen Mädchens gesteckt hat? "Hätte es irgendetwas geändert? Versetzen Sie sich bitte in meine Lage. Die Geliebte hasst dich einiger Tagebuchzeilen wegen. Sie schreit, wenn sie dich sieht, sie ekelt sich vor deinem Anblick. Wie lässt sich das rückgängig machen? Vergessen? Für mich war es eine Fügung des Schicksals." Sie beugt sich zu mir. Dunkelheit, Sternenlicht, das Betätigen einer Toilettenspülung in der Distanz: perfekte Romantik. Beugt sich zu mir, spricht mit Nachdruck: "Und deshalb sind Sie zum Zyniker geworden." -9 2 -
"Mein liebes Fräulein!" (Natürlich zuckt sie zurück! "Mein liebes Fräulein" aber auch. Tz.) "Zynismus entsteht, wenn enttäuschte Liebe und Erkenntnis sich in einem ansonsten heiteren Gemüt festsetzen. Das zugrunde legend, bin ich zynisch." "Sie basteln sich Ihre Definitionen ganz nach Bedarf." "Das sind die angesprochenen erkenntnistheoretischen Kräfte in mir." "Also ich weiss nicht..." "Sind Sie etwa nicht zynisch?" "Hätte ich Grund dazu?" "Nun ja, wenn ich zitieren darf: 'Vielversprechendes wissenschaftliches Talent... Doktorarbeit..." "Aha. Der mir langsam unheimlich werdende Lehn, vermute ich. Verstößt das übrigens nicht gegen den Datenschutz?" "Keineswegs. Nur öffentlich zugängliche Informationen. Aber lenken Sie nicht ab. Zynikerin oder nicht?" "Nicht zynisch. Achselzuckend pragmatisch. Meine Dissertation ist schließlich mit großem Erfolg veröffentlicht worden. Wenigstens in ihren Kernpunkten. Nicht unter meinem Namen, sondern unter dem meines Doktorvaters. Ich war nur die kleine Assistentin und bekam eine lobende Erwähnung im Vorwort. Was hätte ich tun sollen?" "Kämpfen." "Das von Ihnen zu hören, entbehrt nicht einer ge wissen Ironie." Ich ziehe ihren Kopf an meinen, beide Stirne verschwitzt. Atme in ihren Mund: "Warten Sies ab. Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende."
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5 Transzendenz Die erste vernünftige Nacht seit meiner Einlieferung. Geschlafen, tief und traumlos, mit einem schwarzen Streifen Bewußtlosigkeit zwischen Anfang und Ende. Ich habe nie gern geträumt. Man wird zum Gefangenen der Willkür einiger durchgeknallter Nervenenden, die partout Geschichten zimmern wollen. Kein Mensch geht gern ins Kino, ohne zu wissen, welcher Film gespielt wird. Überraschungen sind nicht mein Ding, ich sagte es schon. Überhaupt gewöhne ich mich langsam an ein Leben jenseits der Ereignisse. Kein Fernsehen, keine Zeitungen. Kein Fußball. Nach dem Frühstück werde ich Joes WM-Kommentare abrufen, wenn mir Schwester Benedikta nicht schon vorher verraten wird, in welcher Weise sich das Christentum gegen den Islam aus der Affaire gezogen hat. Oh je! Kurz angebunden, grummelnd. Deute ich Benediktas Mienenspiel richtig, haben wir uns blamiert, zum Schluss dank des typisch deutschen Fußballglücks das Schlimmste aber vermieden. Unentschieden? Ich frage lieber nicht. Tröste sie auch nicht damit, daß wir, ein immerhin fast zur Hälfte katholisches Volk, nächste Woche gegen die Holländer das Banner Roms über erzevangelischer Abtrünnigkeit wehen lassen können. Unangenehmer Gegner. Spucker und Treter, die von der Klasse ihrer Surinamesen zehren. Holländern musst du den Schneid abkaufen, und früher konnten unsere Jungs das prächtig. Heute fliegen sie sofort vom Platz. Nee, nicht sagen. Schlagen wir nämlich die Holländer, geht es im Viertelfinale vielleicht gegen Italien. Italien! Und dann sitzt Schwester Benedikta schön zwischen den Stühlen. Immerhin kontrolliert sie die Absaugvorrichtung an meinem Bett und den Schlauch in meinem Knie. Läuft tadellos. Habe ich Langeweile - kommt selten vor - beobachte ich, wie von Zeit zu -9 4 -
Zeit ein wenig Blut mit kleinen schwarzen Klümpchen drin in den Behälter gepumpt wird. 3:3, mein lieber Mann! Joe hat es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht, den Laptop auf den Knien, als "die Trantüte Möller einen Ball im Mittelfeld vertändelt, den die Iraner mit zwei schnellen Spielzügen auf ihre rechte Angriffsseite bringen. Wer deckt Ali Daei? Oh Gott: Reuter! Der kriegt den Arsch nicht hoch! Die Flanke kommt, Ali Daei steigt, Reuter guckt, Köpke ist chancenlos. 0:1." Fünf Minuten später, "die Deutschen sind konfus, Möller der erwartete Totalausfall. Versuchen, auf die Flügel auszuweichen, Klinsmann und Bierhoff mit Flanken zu füttern, scheitert aber grandios. Was ist das? Ich glaubs nicht! Matthäus mit Querschläger im eigenen Strafraum, der Ball trifft Reuter prächtig am Hinterkopf und zischt Richtung Köpke. Der faustet, Reuter vor die Füße. Reflexbewegung des ob dieses überraschenden Kontakts verdutzten Unterschenkels, leider in die falsche Richtung. 0:2." Joes Bierkonsum steigt. Er betont, linksliberal zu sein und sowohl den germanischen Fußballchauvinismus abzulehnen als auch das natürliche Recht sogenannter Fußballentwicklungsländer auf sportliche Anerkennung gutzuheissen. Ermuntert, positive Aspekte des Staates Iran zu erarbeiten, um ihn für die Restlaufzeit der Partie ohne schlechtes Gewissen anfeuern zu können. Tippt Reminiszenzen an seine Studienzeit, als iranische Studenten regelmäßig vor der Mensa gegen das Schahregime demonstrierten. War das nicht aller Ehren wert? Und fungiert der Iran mit seiner Amerikafeindlichkeit nicht als Speerspitze des Antiimperialismus? Der Islam, gut. Nich so doll. Aber jetzt bitte keine hochnäsige Religions- und Kulturkritik! In diesem Augenblick fällt das 1:2. "Klinsmann, endlich! Hat die Schnauze voll! Nimmt Heinrich, dem Totalversager, den Ball fluchend vom Fuß. Bricht -9 5 -
durch in die Mitte, überspielt zwei Abwehrrecken, zieht mit links ab, Flachschuss. Tangiert den rechten Pfosten - Tor! Erfrischungspause." Joe spekuliert im folgenden über Berti Vogts' Kabinengebaren. Wird er die Jungs zusammenstauchen? Wahrscheinlich. Auswechslungen? Möller, Reuter, Heinrich auf jeden Fall erste Kandidaten. Zweite Halbzeit. Aufstellung unverändert. Möller rochiert, Thon ackert im Mittelfeld, Wörns übernimmt Daei. Dann die 60. Minute. Eckball Möller - Kopfball Bierhoff - Pfosten. Klinsi bekommt den Ball, zögert, umspielt einen Iraner, zieht ab, der Torwart faustet den Ball aus dem Strafraum, wo ihn Thon volley aus der Luft nimmt und ins rechte obere Eck nagelt. 2:2. "Hurra! Chomeni betätigt zähneknirschend einen Schalter und beginnt, noch ganz gemächlich, im Grab zu rotieren." Bis zur 79. Minute. Deutschland versucht es weiter über die Flügel, Heinrich hat Ziege Platz gemacht, der aber die Leistung seines Vorgängers noch unterbietet. Optische Feldüberlegenheit. "Daei mutterseelenallein im Mittelkreis. Abpraller, Verwirrung. Pass aus dem Pulk Richtung deutsche Hälfte, Wörns und Daei bemühen sich um den Ball, Daei bekommt ihn, rennt, Wörns ihm nach. Setzt zur Grätsche an, doch bevor es dazu kommt, hebt Daei den Ball über den herausstürzenden Köpke hinweg ins Tor. 2:3, der Jubel ebenso unvorstellbar wie der Schock." Letzte Minute. Wilden Ochsen gleich stürmen zehn deutsche Spieler gegen das iranische Verteidigungsbollwerk. Bierhoff einmal, Klinsmann zweimal: todsichere Chancen, ungenutzt. "Drei Minuten Nachspielzeit. Möller steht am Rande des iranischen Strafraums und weiss nicht, wohin er den Ball spielen soll. Dringt in den Strafraum ein, zwei Abwehrspieler vor sich. Bevor ihn diese überhaupt berühren können, fällt Andy. Pfiff. Andy, du süßes Schlitzohr! Alles verziehen, Andy. Klinsmann nimmt den Ball und legt ihn auf den Elfmeterpunkt. Daei -9 6 -
versucht ihn zu irritieren, erhält die gelbe Karte. Richtig so! Klinsi läuft an, läuft aus dem Strafraum, bleibt stehen. Und kommt. Und kommt. Und schießt. --- Und trifft! Ausgleich! Weiter! Holland! Schluss!" Zwischen den Jahren verirrte sich kaum jemand in Wollheims Laden. Ich machte dem einsamen Händler nun beinahe nachmittäglich meine Aufwartung, wir tranken Kaffee und plauderten. Einmal, als der Alte zur Toilette gegangen war, beriet ich einen späten Kunden bei der Kugelschreiberwahl, die mit dem ökonomischen Triumph endete, ein besonders teures und in den Schubladen des Geschäfts langgedientes Exemplar verkauft zu haben. Wollheim lächelte verlegen, ich schlürfte stolz meinen Kaffee. Wir waren ein gutes Team. Politik war seine Leidenschaft. Welches Thema wir auch besprechen mochten, Wollheim bog es nach kurzer Zeit elegant, aber energisch auf die staats- und gesellschaftstheoretische Ebene, wo er als ein Mann geradezu enzyklopädischen Wissens brillierte. Er zerlegte mit kühnen Längs- und Querschnitten die Historie; skizzierte Entwicklungslinien quer durch die Jahrhunderte, bizarre Kurven, die aus dem Chaos der Geschichte eine Kombination von Gleichungen mit vielen Unbekannten machten, die der Geschäftsmann souverän löste. Alles, lehrte er, hänge zusammen, stehe im Wechselspiel von Ursache und Wirkung einerseits, mehr aber noch unter dem Zwang archetypischer Verhaltensmuster andererseits. Die Strategie eines Julius Caesar beispielsweise finde sich in zeitgemäßer Abwandlung nachweisbar bei Metternich und von Papen - "just to mention a few". Selbst der törichte Gedanke einer hiesigen lokalpolitischen Knallcharge, Asylbewerber von öffentlichen Plätzen fernzuhalten, um ihnen den Drogenhandel zu erschweren, sei von geradezu alttestamentarischer Provinienz, und er bewies es mir faktensicher. Es lag nahe, davon auszugehen, daß dieser originelle Kopf in -9 7 -
seinen jungen Jahren gegen manche Wand gerannt war und einmal so sehr den Kürzeren gezogen hatte, daß er einen dauerhaften Ortswechsel vornehmen hatte vornehmen müssen. War er Kommunist gewesen? Ich rechnete zurück - vierzig Jahre, 1957. Pankow klingt schlimmer als Auschwitz. Anarchist? Jeder intelligente Mensch ist Anarchist, doch wenn er gescheit ist, fürchtet er nichts mehr als Anarchie. Ein Idealist? Auf jeden Fall. Die magischen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr: eine ereignislose Passage, wir schlittern von einer Scheiße in die nächste. Du vertreibst dir die Zeit, indem du sie streckst. Die Stunden bei Wollheim überzeugten mich vo n der Existenz spezieller psychischer Instanzen, die dich aus der Gegenwart befreien und im Rosarot einer Vergangenheit absetzen, die alles Mögliche gewesen sein mag - wild und weit, aufregend und geheimnisvoll -, eins aber bestimmt nicht: rosarot. Ich schaute Wollheim gerne zu, wenn er - es war nun einmal Jahresende die Bestände seiner Unternehmung einer Inventur unterzog, Päckchen mit Heftklammern zählte, Stenoblöcke und Taschenkalender - Ich stellte mir vor, wieder achtzehn zu sein und alles anders zu machen. Eine wunderbare Schülerlaufbahn tat sich plötzlich auf - und zerbrach an Dianas Schreien. Ich war zurück in der Gegenwart. Einmal kaufte ich ein Bündel Bleistifte und genoss es, in kleiner Schrift sehr akkurat zu schreiben, zu radieren, anzuspitzen, die Krümel vom Papier, vom Tisch zu blasen. Erwog die Anschaffung eines Stehpultes, am Fenster aufzustellen, mit Blick über den fernen Wald - 200 Jahre zurück - irgendwo kratzt ein Federkiel am Hinterkopf eines blässlichen Sekretärs oder eines feurigen Dichters - keine Ahnung, was ich lieber gewesen wäre -, eine Postkutsche rumpelt, bei Dunkelheit dreht der Nachtwächter seine Runden, und die Schlafmützen des horizontalen Bürgertums reiben traumgetrieben an den Kissen. Teddybären. Seltsame Tage. Und alles endete wie gehabt im -9 8 -
Tumult billiger Feuerwerke. Auch der Umstand, daß mein Geschlechtstrieb erst kürzlich auf natürliche Weise abgeführt worden war und nicht nach freudscher Manier hatte sublimiert werden müssen, erklärt den lockeren Fluss meiner Gedanken, dieses Gleiten durch Imaginationen und die zur Gummizelle des Gemüts ausgepolsterte Wirklichkeit. Immerhin der erste Geschlechtsverkehr seit 1995, und an den erinnere ich mich noch genauso flüchtig wie er auf dem Beifahrersitz meines seligen Golf vollzogen worden war. Eine Kurzschlussreaktion. Ich stand wenige Wochen vor meinem 40. Geburtstag und wollte das Lebensjahrzehnt als ein Mann in seinen potentesten Jahren beschließen. Kann sein, daß auch das Abenteuer mit Petra nur gewagt wurde, weil ich dem mönchischen 1996 kein gleich niederschmetterndes 1997 folgen lassen wollte. Petra war am Tag darauf zu ihren Eltern nach Niedersachsen gefahren, um bei ihnen Weihnachten und Neujahr zu verbringen. Es war mir recht, sie außerhalb der Reichweite meiner auf den Geschmack gekommenen Lenden zu wissen. Zumal hatte ich eine Sekunde der Schwäche offenbart. Wir lagen nebeneinander, schlaflos und matt. Ich rauchte, sie erzählte mir, sie habe das Rauchen vor drei Monaten aufgegeben. Ich hörte die Nachbarn streiten und regte mich darüber auf, sie regte sich auf, als der Streit beendet und in sein nicht minder lautes Gegenteil gekehrt wurde. Ich erzählte ihr von den fünf Schlafzimmern der Frau Siebenlist, sie war zu ehrgeizig, zu sehr Journalistin, um zu verstehen, warum ich die Geschichte erzählte. "Ein Bordell?" Am 29. Dezember rief sie mich an. "Ich habe Neuigkeiten!" Sollte sie etwa... -9 9 -
"Ach, du Feigling! Seit wann weiss man denn schon sieben Tage danach, ob man schwanger ist. Aber jetzt mal ernsthaft: Ich war in Hamburg und habe recherchiert! Seeehr aufschlussreich! Dein Herr Wollheim" (mein Herr Wollheim?) "war früher Lehrer. Hat sich Knall auf Fall aus dem Schuldienst verabschiedet - wahrscheinlich weil man ihn verdächtigte, Mitglied der ja verbotenen KPD zu sein." Wie vermutet. Kommunist und Lehrer? Herzlich willkommen in einem turbulenten Leben! "Aber... halt dich fest: Die Frau Siebenlist stammt auch aus Hamburg!" "Na und?" konterte ich ungerührt. "Als Wollheim Hamburg verlassen hat, dürfte die Siebenlist höchstens 17 gewesen sein. War sie seine Schülerin?" Petra verdutzt. "Sollte mich wundern. Meines Wissens hat sie eine Lehre als Friseuse gemacht, wozu man bekanntlich keine weiterführenden Schulen zu besuchen braucht. Aber das, mein Schatz, ist nicht der Punkt! Das Mädel hat sich in die besseren Kreise hochgeheiratet: einen Toppmann aus der Wirtschaft geangelt. Vor etwa fünfzehn Jahren wurde die Ehe geschieden. Gehört ja dazu, aber normalerweise erledigen die Herrschaften solche Geschäfte mit Diskretion. Nicht so im Fall Siebenlist gegen Siebenlist. Er wollte nicht zahlen und hat ihr Ehebruch unterstellt. Du erinnerst dich: Schuldprinzip. Darauf hat sie in der Presse ausgepackt, daß er sie... und jetzt kommts, halt dich fest: dass er sie fünfmal zur Abtreibung gezwungen hat! Was sagst du jetzt?" Sie gab mir keine Gelegenheit, meine Sprachlosigkeit zu artikulieren, und plapperte weiter: "Verstehst du? Fünfmal abgetrieben - fünf Schlafzimmer mit Teddybären. Der Rest ist dann wieder gute alte Großmannskost: Frau Siebenlist, wahrscheinlich von ihrem Mann finanziell beruhigt, zeiht den Journalisten der Lüge, der wird entlassen, die -1 0 0 -
Zeitung entschuldigt sich - aus die Maus. Na, was sagst du? Bin ich nicht wunderbar?" Hätte ich erwidern sollen, die zauberischen Bilder der Vorstellung würden nicht von ihrer Bestätigung durch die Wirklichkeit geadelt, sondern eher entscheidend geschwächt? Dass es mir großen Spaß machte, eine Postkutsche zu hören, wo keine Postkutsche sein konnte, wenn aber eine da gewesen wäre ich dem pseudoromantischen Kitsch nur einen Fluch entgegen gezischt hätte? Nein, so etwas sagt man nicht. Auch verkneift man es sich, von der Natur hochkomplexer Systeme zu sprechen. Je tiefer du gräbst, je fündiger du wirst, desto weniger weisst du. Du steckst einfach in eine m tiefen Loch, guckst hoch und schnappst nach Luft. Du gräbst weiter, weil die Erde rund ist und irgendwo aus der Tiefe Höhe werden muss. Irgendwo zwischen Neuseeland und Australien. Aber, ehrlich, sagt man so etwas? Könnte sie es kapieren, wo man selber es nicht tat? Ich antwortete ja, sie habe einen guten Job gemacht. Petra begann Gebäck zu knabbern und berichtete festtaumelnd von Weihnachtsbäumen, Lametta und Lebkuchenmännern, mich armes nüchternes Schwein bedauernd, das ich in meinen 2 ZKB abgeschnitten von allem Idyll säße. Na ja. Abermals jubilierte das Posthorn in der Ferne, über allen Wipfeln. Wollheim, bald darauf mit der Hamburger Herkunft seiner früheren Mieterin konfrontiert, relativierte die Neuigkeit und Petras professionelle Recherche: Frau Siebenlist sei eine geborene Ellermann und stamme von hier. Dieser Familie habe das Haus gehört, in dem wir uns jetzt befanden. Es sei - die kleine Heidemarie war sieben oder acht - verkauft worden, denn der Vater habe eine Anstellung in Hamburg gefunden. Nach ihrer Scheidung sei Frau Siebenlist in die Heimat zurückgekehrt, das sämtlich stamme aus ihrem eigenen Munde. "Sie ist gelegentlich in meinen Laden gekommen, um zu erzählen. Sie war allein, schrecklich allein. Zuhören war ihre Sache nicht, auch dem Diskutieren - über Politisches gar -1 0 1 -
konnte sie nichts abgewinnen. Wenn ich es korrekt verstanden habe, war ihr Ehemann ein Misantrop, ein seltener Vertreter der Spezies fortpflanzungsunwilliger Menschen. Eigentlich zu begrüßen, doch von Verhütung hielt der Herr Direktor auch nicht viel. Ein Psychopath, wenn ich mir die Ferndiagnose erlauben darf. Schiffsmakler? Sagte sie nicht, er sei Schiffsmakler gewesen? Und katholisch?" "Eine Hälfte Antichrist, eine Hälfte Katholik. Und so etwas nennen Sie einen Psychopathen? Den Normalfall?" "Na ja. Gewisse Entartung der ursprünglichen katholischen Idee von der Fruchtbarkeit und ihrer Nutzanwendung. Ein guter Christ hat soviel Kinder zu haben wie er seiner Frau beigeschlafen hat. Wie er das macht, ist seine Sache, also überlässt ers seiner Frau." "Und die Verbindung zu den Politikern? Fällt Ihnen etwas dazu ein?" Wollheim kicherte. "Politik ist die weltliche Form der Religion. Glaube, Unfehlbarkeit, zeremonielles Brimborium, Worte wie Weihrauch, und nach dem Gottesdienst, der Bundestagsdebatte sind sie die alten Widerlinge wie zuvor. Beispiele gefällig?" Die Praktikantin, dynamisch/drahtig, hat endlich die Bücher und CDs aus meiner Wohnung gebracht, selbige bei dieser Gelegenheit auch "besenrein" gesäubert. Heisst schlicht: Jetzt kennt sie alle meine Geheimnisse. Fahriges Querlesen vertreibt den Vormittag, eine stumpfe Waffe gegen den erneuten Angriff der Nikotinsucht, doch dies wie alles andere schleift sich allmählich zur Routine ab. Sogar die Benutzung der Pfanne gelingt als scheinbar seit langem eingeübtes Ritual. Und dann kommt sie. Ich gehöre nicht zu den Männern, die eine Frau mit den Händen beschreiben und dabei nie über die Umrisszeichnung einer Geige oder einer Bratsche hinauskommen. Lasst uns aus -1 0 2 -
dem Brunnen der Wörter schöpfen und die alten Vokabeln des Machismo aus dem Eimer fischen. Petra zu beschreiben, ohne ihren Körperbau zwar schlank, bei genauer Betrachtung aber üppig zu nennen, weil Brust- und Hüftvolumen so aus- wie einladend sind, es kann nicht gelingen. Die Beine stehen einigermaßen parallel zueinander, sind kräftig, eher durchtrainiert als mit Fettgewebe im Übermaß besetzt. Zur Zeit trägt sie die Haare kurz, ein energisch geführter Pinsel hat sie ihr in zwei kräftigen Strichen schwarz um den Kopf getuscht. Sie sind gelvermengt und starr, hüpfen bei jeder Bewegung als hingen sie an elastischem Band. Für gewöhnlich kleidet sich Petra so, daß männliche Phantasien angeregt werden, aber kaum den Platz für Interpretationen des unter Stoffen Verborgenen bleibt. Verdeckt nämlich wird nur, was aus Gründen des Strafrechts und allgemeiner Sitten nicht gezeigt werden darf. Petra bleibt in der Tür stehen und ergötzt sich am putzigen Genrebildchen: Krankenzimmer, Krankenbett, kranker Mann. Sie trägt einen kurzen, cremefa rbenen Rock, allemal eng genug, daß ich mich glücklich schätze, gerade nicht in die Flasche zu pinkeln. Dazu eine zartblaue Bluse aus semitransparentem Material (will sagen: du siehst was / du siehst nichts), halb zugeknöpft (du musst sie dazu bringen, sich vorzubeugen). Die Schuhe kann ich nicht sehen, vermutlich sind es dunkle Hochplateausandalen, orthopaedist's choice. Ende der Modeberichterstattung. "Du machst Sachen!" wird sie gleich sagen. "Sachen machst du!" sagt sie und löst sich endlich vom Türpfosten. "Zeig mal." Ich schlage die Bettdecke zurück. "Ist alles eingegipst?" Sie lüftet mein Kittelchen und pfeift erleichtert Luft aus dem Lippenrund. Bewundert auch -1 0 3 -
gebührend die sinnreiche Vorrichtung zum Absaugen des verunreinigten Blutes ("Wie kommt denn das? Ach so: winzige Knochensplitter."). "Erzähl mal. Darf ich mich setzen? Aufs Bett? Oder soll ich dir erst zeigen, was ich mitgebracht hab?" Sie stemmt eine Plastiktüte in die Höhe. Ich will nicht, daß sie sich aufs Bett hockt und mich in den Stand versetzt, für meinen kleinen Modebericht die Details ihres Unterhöschens nachliefern zu können. Noch weniger möchte ich erzählen, also sende ich begehrlich sein sollende Blicke zur Tüte. Ihr entnimmt die Besucherin sukzessive das folgende: eine Tafel Haselnußschokolade, eine Flasche Apfelsaft, ein Taschenbuch "Kraft durch Ruhe. Vom Umgang mit dem Nichtstun.", eine hübsch eingepackte gelbe Rose, für die sofort eine Vase beschafft werden muss ("Klingel mal der Schwester!") sowie einen Din A 5 - Umschlag, dem seinerseits zwei gefaltete Blätter Din A 4 entnommen werden. "Viel zu tun gehabt?" lenke ich ab. "Oh" säuselt sie, "entschuldige. Ich war dauernd unterwegs. Deine Frau Doktor" (deine? Achtung!) "hat mich erst heute morgen erreicht. Wie ist sie eigentlich? Jung? Ansehnlich? Ausgehungert?" "Jung. Ansehnlich. Wir reden nicht über ihre eventuellen Ernährungsprobleme." "So, so." Sie schaut versonnen auf einen ganz bestimmten Punkt der Bettdecke. Ich glätte das Hügelchen. "Optische Täuschung, sorry, mein Schatz." "Aber jetzt erzähl doch mal!" "Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin - " "Weiss ich!" winkt sie ungeduldig ab. "Keinen ZwanzigZeilen-Bericht, please. Die hard facts, Background. Wieso treibst du dich nachts in fremden Treppenhäusern rum?" -1 0 4 -
"Amnäsie." "Hä?" "Amnäsie. Das ist das Fremdwort für 'keine Ahnung'." "Gut. Stellen wir die Frage zurück und schreiten zur nächsten. Wie bist du gefallen?" Sie fächelt sich Luft mit den gefalteten Blättern, hält sie mir hin, zieht sie sofort zurück. "Hat es damit zu tun?" "Womit?" "Mit diesem süßen kleinen Dossier. Sag nicht wieder 'Amnäsie'. Sonst sag ich 'Arschloch'. Ist das deutsche Wort für 'fucking journalist'." "Ah, du hast es? Darf mich mal sehen?" Darf ich nicht. "Darfst du nicht." Flötet gekünstelt: "'Oh, mein Goldstück, ob du wohl die Liebenswürdigkeit hättest, deine immens sprudelnde Quelle anzuzapfen und sämtliche Interna bezüglich eines gewissen Politikers zu eruieren?' - Ich habe gezapft, ich habe eruiert. Und der Herr beliebt einen Fall zu tun. Sehr denkwürdig." Die Lernschwester erscheint, wird um eine Vase gebeten und verschwindet grinsemäulig. Ich nasche von der Schokolade, um gestärkt dem Orkan zu trotzen, der sich in Petras hübsch rundem Gesicht zusammenzieht. Erst einmal ist sie mit dem Drappieren der Rose beschäftigt, hat doch die Lernschwester die Vase gebracht und süffisant "bitte sehr" gesagt, das Maltersche Gebein begutachtend. "Du sagst nichts?" "Ich denke nach." "Dann sag ich dir was. Ihr Männer haltet euch für Kopfmenschen, die die Welthändel unter sich ausmachen. Dabei seid ihr absolut bauchgesteuert - nicht mal schwanzgesteuert, pah, das wär ja immerhin ein Trost. Ihr seid verjammert, -1 0 5 -
unmotiviert impulsiv und repariert ständig die Scheisse, die ihr produziert habt. Du widersprichst?" Ich denke nicht daran und hebe die Arme. "Nie und nimmer." "Schön. Ich bin eine Frau. Ich bin eine Journalistin, die vor drei Jahren ihr Volontariat bei einem Popelsender gemacht hat und nur deshalb übernommen wurde, weil sie Kaffee kochen und Männerschweife zum Gedankenspielen bringen konnte. Bon. Kleine Opfer. Seitdem drehe ich Filme. Ach was! Furzfilmchen! Frauenthemen, Kinderthemen. Klatsch- und Tratsch, Gesundheit, so lange es um Heuschnupfen, nicht um Gesundheitspolitik geht. Ich sehe, wie meine ehemaligen Mitvolontäre sich gemach, gemach hocharbeiten. Wie sie in der Kantine die Köpfe zusammenstecken und Pläne schmieden. An ihren Schreibtischen rumgrübeln, als hinge die Weltordnung davon ab, 'Petra, has' noch'n Kaffä?' rufen. Bon auch das. Ich kann ja warten. Sobald Männern das Sperma ausgeht, stellen sie meistens auch fest, daß ihr Hirnschmalz verbraucht ist. Dann, oh herrlicher Wintermorgen, lerne ich einen Mann kennen, den man, 's wär möglich, nicht oberhalb des Bauchnabels vergessen kann. Einen Mann, nun schön, das ist sein Problem, nicht meins. Er kann was, der Typ. Er kann schreiben, er kann, bevor er schreibt, sogar nachdenken. Und was macht er? Karriere? Nicht im mindesten. Er schreibt Furzartikelchen. Er denkt Furzgedanken. Au fein, endlich ein Mann, der sich selbst so behandelt, wie Männer Frauen behandeln. Weiter. Wir schlafen miteinander. Der Kerl ist etwas aus der Übung, aber die soll er kriegen. Er erzählt mir von fünf Schlafzimmern - ganz melancholisch tut ers - und fast wäre ich drauf reingefallen. Ich recherchiere ein bisschen und siehe da: Ist vielleicht wirklich eine melancholische Story und nicht die heisse Bordellnummer, für die ich dem Chef vom Dienst zehn Minuten Film herausleiern könnte. Aber - wir Frauen haben - wow! - Köpfe. Köpfe mit kleinen Maschinchen zum Denken drin. Und das -1 0 6 -
beginnt bei mir zu arbeiten. Was will der Mann eigentlich? Was sucht er andauernd bei einem alten Zeitschriftenhändler? Wieso interessiert er sich für die dämlichen Kreuzzüge einiger Weiber, die permanent in den Wechseljahren sind? Es kommt der Januar, es geht der Januar. Es gibt eine Pressekonferenz, und sie ist ein Witz. Wir gehen beide hin. Ich langweile mich, bin stinksauer und beobachte lieber meinen Schatz. Was macht aber der? Er starrt nach vorne, wo drei Figuren sitzen und quatschen. Er starrt auf eine Frau. Und wird plötzlich ein ganz anderer." Das neue Jahr begrüßt, die Schwarzpulverschwaden verweht. Ich nahm Abschied von der köstlichen Trunkenheit der vergangenen Tage und stieg hinab in den Alltag. Vereinsjubiläen drängten in die relative Ewigkeit des gedruckten Wortes, Geschäfte wurden eröffnet, es roch nach Leim, nach frischer Farbe, nach Hoffnung. Ein getigerter Kater turnte auf vereister Tannenspitze, dem lockenden "Muschmuschmusch" seines Frauchens eine n aufgepumpten, schwankenden Schwanz entgegen streckend, und der zur Rettung aufgestiegene Feuerwehrmann brauchte am Ende nötiger Hilfe als das hinterlistige Tier. Ich sah und notierte, trank Glühwein und Sektorange, pflegte meinen Kopfschmerz im parfümierten Dunstkreis von Boutiquenbesitzerinnen, genoss den Nervenkitzel beim Verlesen von Rechenschaftsberichten der Kassenwarte des Schäferhundeund Billardklubs. Petra kam von ihren Eltern, eine Dose Plätzchen im Gepäck zur postweihnachtlichen Feier. Wir erforschten unsere Körper und entdeckten mancherlei idyllischen Fleck. Wie hat sie es doch so treffend ausgedrückt? Es kommt der Januar, es geht der Januar. "Herr Horst? Sind Sies?" Nichtsnutziger Februartag, Eisregen im Anzug. Ich hätte den Hörer nicht abnehmen sollen. "Bürgell ist mein Name. Sie kennen mich nicht. Ich vertrete -1 0 7 -
Frau Fänz-Ullert, die im Winterurlaub weilt. Es handelt sich um folgendes." Eine Pressekonferenz. Das engagierte Eintreten des Vereins für den Schutz der Jugend vor menschenverachtenden und gewaltverherrlichenden Rockmusiktexten habe "bei den Medien, auch den überregionalen!" starke Resonanz gefunden, die Vorsitzende sei gar in die Talkshow "Morgen schlitz ich Mama auf - Problemkinder sprechen über ihre Zukunft" eingeladen worden ("Sie war pri- ma!"). "Steter Tropfen höhlt den Stein, Herr Horst. Wir wollen also noch einmal rekapitulieren, nachhaken, vorausblicken, summieren und gemeinsam überlegen, welches unsere nächsten Ziele sein müssen, damit dem Missbrauch eines Unterhaltungsmediums Einhalt geboten werden kann. IHR Artikel, lieber Herr Horst, war übrigens gaaanz besonders sensibel!" Jawoll, meine Damen und Herren, das war er wirklich! Den Litaneien einer Frau Bürgell ausgesetzt zu sein, lohnte dennoch als Aussicht wenig. In unserem Duodezländchen geraten Pressekonferenzen überdies zu Treffen des überschaubaren und bekannten Personals: eine Vertreterin von Funk und Fernsehen (wahrscheinlich Petra), der ständig pfeiferauchende und in den Sphären des Großen-Ganzen patrouillierende Herr Neunert von der täglichen Zeitung. Dazu ein wechselnder rüstiger Rentner des Mitteilungsblättchens, den man sich lieber hinter die Gardine zum Notieren von Parksündern wünschte - und meine Wenigkeit. Die Pressekonferenz fand im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft statt. Petra holte mich mit dem Wagen ab, schlecht gelaunt, da lediglich ein Kurzbericht für die Regionalsendung des Radios abzuliefern war, das Fernsehen die Bürgellsche Performance hingegen nicht der bewegten Bilder für wert befunden hatte. -1 0 8 -
In den vorderen Räumlichkeiten der Restauration lieferte man sich ein Wettbesäufnis - von der Kamera und dem marktschreierischen Moderator des privaten TV-Senders als "event" dokumentiert und nichts sonst als das Trauerspiel zweier prächtig debiler, durch Zurufe aus dem Publikum ins Hochleistungssportliche getriebener Jungtrinker. Petras Wut nahm zu, sie strafte den radauenden Kollegen mit Nichtbeachtung und ließ einen abschätzigen Laut aus dem Schlund. Der rüstige Rentner, am aufgeklappten Spiralblock (liniert) stets zuverlässig zu identifizieren, überlegte noch, welchem der beiden Ereignisse der Vorzug des Reportierens zu geben sei, und ging die soeben aus einer Nebentür tretende Bürgell - 60 Jahre, blau kostümiert - um "was Schriftliches" zum Abschreiben an. Den Zettel in Händen zog er um, bestellte am Schauplatz des feuchten Spektakels ein "Bier mit Quittung, bitte", zückte den Block und befragte den Wirt, wieviel Gläser man wettkampfhalber schon geleert habe. Die Antwort vermerkte er penibel als fortzusetzende Strichliste. Neunert rauchte Pfeife, sinnierte übers Große-Ganze und fummelte an seinem Diktiergerät. Er begrüßte uns kopfnickend. Wir befanden uns - rein äusserlich, versteht sich - auf dem Niveau eines Stammtisches, denn just an einem solchen saßen sich die Parteien gegenüber. Die alleinsitzende Bürgell winkte dem Bedienfräulein und animierte uns, auf Kosten des Vereins Getränke zu bestellen. Bald darauf geschah etwas Ungewöhnliches. Die von Frau Bürgell bei ihrem Eintreten benutzte Tür stand einen Spalt weit offen: ein mit trüber Beleuchtung gefülltes Viereck, durch das Schatten von Schatten huschten. Ich schaute auf den Spalt. Heute bin ich überzeugt, ein Stück der Zukunft gesehen zu haben, nicht der dinglichen, aber der meines Gemütszustandes. Meiner Seelenlage wurde vorab eine Kopie jenes inneren Aufruhrs übermittelt, der ihr in den kommenden -1 0 9 -
Minute beschieden sein würde. Ich glotzte gebannt auf den Spalt, dieses Nichts, dieses fürchterlich banale Nichts, und meine sämtlichen Nerven begannen zu vibrieren, flackerten wie labile, kurz vor dem Kollaps stehende Stromleitungen. Es war Wirkung ohne Ursache, nein, besser: Wirkung vor der Ursache. Dann wurde der Spalt breiter, zwei Personen betraten den Raum, vorweg ein dicklicher Herr im schlechtsitzenden Anzug. Sie war aufgeregt, bemüht, sich zu beherrschen. Man merkte auch ihrem Begleiter an, daß irgendetwas sein inneres Gleichgewicht bedroht hatte, ein Feind der Contenance, den es zu bekämpfen galt. Er lächelte künstlich, rief: "Puh, heiss hier!", fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und schüttelte ihn komödiantisch aus, von einem einzigen, schrillen Lachton begleitet. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Begrüßte die Bürgell mit Handkuss, zog den Stuhl unter dem Tisch hervor, drehte sich zu Diana, bedeutete ihr mit galantem Bückling, sich zu setzen. Diana kämpfte noch immer. Sie setzte sich, legte die Unterarme auf die Tischplatte, domestizierte ihre wilden Finger, sagte dann, eine Oktave über ihrer normalen Stimmlage und nervös oszillierend: "Oh, wir haben uns verspätet, glaube ich. Entschuldigung." Frau Bürgell begann mit der Pressekonferenz: "Ich habe die große Ehre, Herrn Egbert hier in unserer kleinen Runde begrüßen zu dürfen. Herr Egbert hat, als Mitglied des Stadtrates, von Anfang an unsere Aktion ermuntert und unterstützt. Sicherlich ist es für die Medien von besonderem Interesse, seine Einschätzung als Privatmann, Familienvater, aber auch als Politiker kennenzulernen. Frau Weber, die ich ebenfalls recht herzlich begrüße, arbeitet für unsere Organisation auf dem Gebiet der Weiterqualifizierung jugendlicher Aussiedler. Ihre Erfahrungen im Umgang mit -1 1 0 -
diesen - aus noch näher zu diskutierenden Gründen - speziell gefährdeten Jugendlichen wird eindrucksvoll unterstreichen, warum unsere Aktion von eminenter Bedeutung ist. Doch zunächst, meine Herrn, meine Dame - ich danke Ihnen, daß Sie erschienen sind und möchte gleich - " Habe ich das gehört? Nur rekonstruiert, was nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit passiert sein musste? Ich kann nichts gehört haben. Ich konnte nur sehen. Den umständlichen Bericht der Frau Bürgell wollen wir vergessen. Zu Egberts Ausführungen sei aus Chronistenpflicht angemerkt, daß es die erstaunlich undiplomatischen Bekenntnisse eines Polikers waren, der sich nicht scheute, seine Klientele zu düpieren. Ein Holzschnitt sei ein Holzschnitt, aber das Leben alles andere als duoton, das solle man nie vergessen, auch nicht, wenn man berechtigte Anliegen habe. Madame nippte am Apfelsaft und wünschte den Herren Egbert zum Teufel, dem indessen als Beschluss seiner Ansprache eine fulminante Volte gelang, die alles, was einem Zuhörer hätte sauer aufstoßen können, in leicht verdauliche Nahrung verwandelte. Ein ohne langatmigen Anlauf in die Welt gesetztes Kabinettstückchen, und selbst ein mit seinen Sinnen anders als ich bei der Rede Verweilender wäre außerstande gewesen, die Argumente und Meinungen des Herrn Egbert nachzuerzählen. Er musste wohl argumentiert, Meinungen vertreten haben: Wie sonst hätte er einen sonst so überzeugen können? Dies am Rande. Es waren Nachrichten, die mich durchquerten und nur flüchtige Spuren hinterließen. Hinter der ausgefahrenen Ziehharmonikatür floss das Saufgelage seinem traurigen Höhepunkt zu. Die ihm gemäße bestialische Benutzung der Sprechwerkzeuge penetrierte die ernsthafte, fast akademische Akustik des Nebenzimmers auf das Surrealste und hätte mich bei anderer Gelegenheit belustigt. Heute nahm ich sie wahr, doch erreichte nichts davon meinen Verstand wirklich. Sie nur. Wie soll man das erklären? Ich besaß als Kind ein Konvolut -1 1 1 -
farbiger Bildchen von der Geburt Jesu zu Betlehem und habe mir einen Spaß daraus gemacht, Mutter und Ziehvater des Bengels sauber auszuschneiden und auf andere Fotos zu kleben. Wir sehen die weltlichen Gotteseltern auf dem Bürgersteig von Carneby Street, von zwei Minirockmädchen umstakst. Oder inmitten des langen Zuges deutscher Kriegsgefangener durch Sibirien. So ungefähr. Eine von unbekannter Hand geführte Schere schnippelte Diana und mich aus dem optischen Kontext, klebte uns auf marmorierte Pappe, deren Musterung an die himmlischen Wolken erinnerte, oder an das Unregelmäßige, Bedrohliche einer dunklen Vergangenheit. Wir waren allein. Wir kommunizierten mit den statuesken Nachbildungen unsererselbst. Ihr Haar war ergraut, das meine nur noch in Ansätzen vorhanden. Sie sah aus wie ein Kind, das aus Jux die Perücke einer Schauspielerin trägt, die eine alte Frau geben soll. Wir sandten uns Botschaften der Trauer und der Wut. Nicht für lange. Bürgell und Egbert hatten ausgeredet, Diana wurde das Wort erteilt, und die unbekannte Person mit der Schere riss flugs Dianas Bildnis von der marmorierten Pappe und fügte es an alter Stelle wieder ein. Ich bekam nicht mit, wovon ihr Monolog handelte. Ich sah ihre Lippen sich bewegen und war froh, keinen Schrei zu hören. Ich verglich ihren Mund mit dem Mund der Achtzehnjährigen: um die Winkel gewundene Kanäle, von trägen Strömen Zeit gegraben. Zeit, die sie gegen ihren Willen an Orten verbracht hatte, wohin sie die hämische Willkür eines Scherenbesitzers versetzt hatte. Hörsäle einer Uni, Klassenzimmer, das Bett eines Herrn Weber, das gemeinsame proppere Einfamilienhaus. Während ich weiter an der eilig und erbärmlich improvisierten Wiege stand und mit an sah, wie unser Messias alterte und schließlich starb. Ich spürte einen Heidenzorn auf die Zeit. Die Menschen. Die trostlosen Dinge. Mich. Mich. Einige Anstandsfragen des Neunert beendeten die Pressekonferenz. Der rüstige Rentner, den Block voller -1 1 2 -
sensationeller Worte, den Bauch voller Bier, streckte seinen Kopf dampfend zwischen die Hälften der Ziehharmonikawand, sah, daß es vorbei war und verschwand zur Siegerehrung des großen Wettkampfes, die wohl darin bestand, den Helden über die nächste Kloschüssel zu führen und sich auskotzen zu lassen. Ich kotzte im Geiste mit. "Gehen wir doch lieber hier raus." schlug Frau Bürgell vor und meinte die Hintertür. Petra knallte mir beim Aufstehen den Ellenbogen an die Schläfe, schnaufte wütend und enteilte an der Seite eines nassglänzenden Egbert, hysterisch laut und hochtönend am Reden. "Wir telefonieren." flüsterte eine Stimme. Mir war, als hätte ich eben den größten Trunkenbold unter den Tisch gesoffen. "Wie das Kaninchen vor der Schlange!" Petra probiert einen irren Blick, der ihr misslingt. "Oh, was macht einen das sauer! So ne Alte! Grauhaarige! Gut konserviert, das muss der Neid ihr lassen! Hat sie dich wenigstens ordentlich mit Haut und Haaren verschluckt?" Natürlich gefällt es mir, wie sie sich aufregt und die Wut von damals originalgetreu in Mimik, Gestik und Tonfall wiedergibt. "Kindisch. Ich musste nachhaus laufen, weil du ja mit Egbert abgezogen bist." "Er hat mich gefragt, in welche Richtung ich fahre. Und weil er selbst kein Auto dabei hatte -." "Sei dir verziehen. Obwohl wir auch zu dritt hätten im Wagen sitzen können." "Hat deine Tussi - hat deine Tussi -." Endlich fehlen ihr die Worte, sie sackt in sich zusammen. Ich streichele jedes erreichbare Stück ihres unbedeckten Fleisches. "Das Dumme ist: Du weisst nicht, um was es geht." -1 1 3 -
"Dann sags mir doch endlich!" bettelt sie. "Es ist zu gefährlich. Eine brisante Story, und DU wirst sie publik machen. Ich verspreche es beim Leben meiner..." "Och, hör auf. Sind doch alle tot bei euch!" "... bei meinem eigenen Leben." "... nach dem man dir doch eh trachtet. Das Auto am Abhang, dein Treppensturz - und drunten an der Rezeption lümmelt so'n Kerlchen von den Privaten und fragt die Leute aus. Mysteriöser Todesfall, die trauernde Witwe klagt an. Hat nicht zufällig etwas mit dir zu tun?" Ich reportiere die Leiden des armen Boskonz. "Mein Gott! Und du liegst hier so seelenruhig rum?" "Soll ich aufstehen? Gerne!" Sie winkt ab. "Spiel nicht schon wieder den Deppen. Wann erfahre ich deine Story? Vor allem: von wem? Von der Mordkommission?" "Ich hoffe nicht. Pass auf: Ich habe die Sache im Griff. Was du tun könntest: Wäre es dir möglich, mit großer Besetzung vor Egberts Bungalow aufzukreuzen und zu filmen? Aber gaaanz auffällig. Und vergewissere dich vorher, daß er zu Hause ist." "Dürfte gehen. Und was erzähle ich ihm, wenn er mich fragt, warum ich mit Kameramann, Tonmann und Ausleuchthelfer angerückt bin?" "Sag ihm einfach, du wüsstest es nicht genau. Irgendein freier Mitarbeiter hätte ein Porträt über Lokalpolitik geplant und bräuchte Archivmaterial zum Unterlegen seiner Texte." "Klingt unglaubwürdig." "Umso besser." "Und dann?" "Nichts 'und dann'. Jetzt. Jetzt gibst du mir einen Kuss und leierst die ganze Chose an. Wenn es gelaufen ist, besuch mich -1 1 4 -
wieder. Und lass mir das Dossier hier. Da fällt mir ein - du hast doch eine Kopie?" "Bin ich Anfängerin?" schnaubt sie. "Wunderbar. Sag Egbert - und tu so, als sei es dir gerade eingefallen und eigentlich nicht von Bedeutung - sag ihm, daß du für diesen freien Mitarbeiter auch seine Bio recherchiert hättest. Er soll dir anhören, wie lästig dir das alles ist. 'Irgendso ein Kollege der schreibenden Zunft...' könntest du sagen, wenn er dich nach dem Namen fragt. Und 'Merkwürdig, daß er sich noch nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat. Na ja, diese Amateure...'. Gib ihm die Kopie seines Dossie rs und bitte ihn, es bei Gelegenheit zu ergänzen. Euer Pressearchiv sei leider chronisch unterbesetzt und nicht auf dem neuesten Stand. Vergiss nicht, mir Zigaretten mitzubringen, wenn du wieder kommst." Sie steht auf und streicht sich den Rock glatt. "Und das heisst: adieu Furzfilmchen? Hello kritischer Journalismus?" "So heisst das. Such dir schon mal einen aus, der dir in Zukunft den Kaffee kochen wird." Das Egbert-Dossier ist schnell überflogen und wie erwartet weit oberflächlicher als die vom Bibliothekar gerafften Fakta. Das Stadtratsmitglied verdient sein Geld als Geschäftsführer einer Stiftung zur Förderung angehender Ökonomen; strebsame Mittelschichtsprösslinge, in deren Rücken nicht Vaters Verrechnungsscheck weich polstert. Ihnen finanziert die Stiftung Praktika im Ausland, organisiert Sprachkurse für Wirtschaftsfranzösisch und Menschenführung, vergibt Stipendien für besonders vielversprechende BWL-Studenten. Löbliches Unterfangen. Egbert ist ehrgeizig, doch ein potentiell unsicherer Kantonist. In einem schwachen Moment traut man ihm die Wahrheit zu. Er besitzt die typischen Charakteristika von Hoffnungsträgern: -1 1 5 -
Man unterstützt sie, weil ihnen Wählerstimmen zuströmen, man stutzt und feilt sie sich zurecht, man sammelt die Stimmen bei der nächsten Wahl ein, installiert den Hoffnungsträger kurzfristig an verantwortlicher Stelle und sägt ihn dann ab, um die gewöhnlichen alten Schlawiner in die Höhe der Macht zu liften. Der Hoffnungsträger, melancholisch geworden, was oft mit weise verwechselt wird, tinge lt durch Talkshows und spielt die intellektuelle graue Eminenz seiner Partei. Arme Sau. Pünktlich um eins verfinstert sich der Himmel. Ich höre eine CD, was meinem erschütterten Gehirn nicht gut bekommt, ich höre den heranrollenden Donner und warte auf den Blitz. "Ich mache die Fenster zu." verkündet die Lernschwester, geräuschlos ist sie hereingekommen. Nein, bitte ich sie, offen lassen. Wieder allein. Das Fernsehprogramm ist die Strafe dafür, daß wir freitagsnachmittags fernsehen. Etwas lesen. Aber ich bin nicht richtig bei der Sache. Es ist nicht das Gewitter. Obwohl es eines von der hartnäckigen Sorte sein muss, das anschwellende, abklingende Drohen, endlos, nicht in einem gewaltigen Knall sterbend. Ich warte auf die Nacht - um zu rauchen; das auch. Um meinem Frau Doktor Geschichten zu erzählen, aber die von Petra und mir besser nicht. Ich dürfte eingeschlafen sein. Ich erwache, schaue zu Uhr: viertel vor sechs. Fernseher an, Argentinien gegen Kroatien, 0:0, ein müder Kick, denn beide stehen bereits im Achtelfinale. Ausmachen. Auch Joe schleppt sich auf seiner Webseite lustlos von der Beschreibung eines Fehlpasses zum nächsten. Er kramt in seinem Vorrat an fußballhistorischem Wissen, erinnert sich an die bis dato grausligste Weltmeisterschaft, 1978 in Arge ntinien, als nicht nur Deutschland gegen Österreich verlor, sondern die Gastgeber nach undurchsichtigen Operationen auch zum erstenmal Weltmeister wurden. Gegen Holland; das wenigstens ein Trost. Oder Maradonnas "Hand Gottes", 1986 in Mexiko. 82 in Spanien? Joe und ich wissen es nicht mehr so genau. -1 1 6 -
Über die Kroaten schimpft Joe, sie seien eine Truppe von Schwindlern und Tretern, man entsinne sich bloß der 96er Europameisterschaft, als sie unseren Klinsi ins Krankenhaus getreten haben und bei jeder zärtlichen deutschen Berührung den sterbenden Schwan gaben. Ich schicke Joe eine E-Mail und verweise auf die Tradition solch sportlichen Vandalismus und solcher Gaukelei. Schon im Dreißigjährigen Krieg waren die Kroaten gefürchtete Landsknechte, die bis in unsere Gegend hier vordrangen, sengten und plünderten, notzüchtigten und Blut soffen. Dem verwüsteten Landstrich hinterließen sich eine Vokabel für den Dialektwortschatz: Krumbier. Das heißt Kartoffel. Joe mailt zurück: "Very interesting. Wir sind uns also einig, daß Kroatien eine Abreibung verdient hat." Zwei Minuten später fällt das 1:0 für Argentinien durch Battistuta, und Davor Suker, Kroatiens ganzer Stolz, wird mit gerissener Achillessehne vom Platz getragen. Wieder eingeschlafen, durch einen Traum gejagt. Frau Doktor sitzt auf der Fensterbank vor funkelnder Schwärze, und jedesmal wenn es blitzt, brennt sich eine Korona um das frauliche Profil. Sie bewegt sich nicht. Jemand spricht, und das muss im Zweifelsfalle ich sein. Wo steht mein Bett? Am Fenster? In der Mitte des Zimmers. Was ich sage, beeindruckt sie nicht. Dann ist sie einfach weg. Mein Bett rollt zurück an die Wand. Und plötzlich explodiert mein Bein. Sämtliches Blut meines Körpers kocht in seinen Bahnen, die Strömung erwehrt sich einer Gegenströmung, für einen Moment paralysieren sich beide, herrscht Stillstand, bevor der unheimliche Sog, den ein vampiröses Maul an einer Öffnung in meinem Bein ausgelöst hat, obsiegt und die Fließrichtung des Blutes umdreht. Ich schreie. Mein Herz schlägt nicht mehr, es ist ein einziger konstanter Trommelwirbel. Ich schreie, ich muß aufwachen. Ich muß aufwachen, ich schreie. Aber das ist kein Traum. -1 1 7 -
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6 Orpheus "Nein" sagte Schorsch Lehn betrübt, "das mit den Lords geht einfach nicht voran." Er war dabei, Schildchen auf Bücherrücken zu kleben, in einer stillen Ecke seines Reiches. Einer lästigen Leseratte, welche die Zeichen nicht zu deuten vermocht und nach weiteren, eventuell über Fernleihe zu beschaffenden Charles-Dickens-Werke gefragt hatte, blies der Bibliothekar die schlechten Vibrationen entgegen: "Jetzt gehst heim, Mädel, und liest den Oliver Twist. Wenn du den durch hast, bist in der Pubertät, und dann geht dir der Dickens sowieso am Arsch vorbei." Lehn, man überhörte es nicht, war miserabler Laune. "Diese Hundsköpfe" zischte es schließlich aus ihm, "nich ma einen winzigen Aufsatz über die Lords wollen sie drucken. 'Nicht von allgemeinem Interesse für eine Publikumszeitschrift'! Ja, wo leben wir denn! ICH behaupte, daß die Lords mehr für die deutsche Kultur getan haben als das verschissene Hochliteratentum da!" Er pfefferte das neueste Produkt eines gefeierten Romanciers auf das Resopal des Tisches. "There's one Lord for all your fucking Gruppe 47!" Befindet sich der Bibliothekar, ansonsten eine Seele von Mensch, in solcher Stimmung, meidet man ihn besser. Seine Assistentinnen, die vorne am Tresen arbeiteten und ihren Vorgesetzten nur aus den Augenwinkeln zu beobachten wagten, wussten es und hatten die Ecke mit dem zürnenden Lehn vorübergehend zur Tabuzone erklärt, in die allenfalls ungenehme Kunden geschickt wurden. Überdies trug Schorsch heute seine hautenge schwarze Lederhose (die er nur anzog, wenn ihn Nostalgie und Weltenhass im Griff hatten) sowie ein weißes T-Shirt mit dem roten Schriftzug "I hate Pink Flo yd". Also erzählte ich ihm, wie ich einmal bei einem Pink-FloydKonzert eingeschlafen war, und diese Nachricht heiterte ihn ein -1 1 9 -
wenig auf. "Könnte dir bei den Lords nicht passieren." behauptete er, "Das ist noch der urwüchsige Beat des Anfangs, das sind die Tage der Unschuld, bevor Bob Dylan partout den Intellektuellen rauskehren musste und al- les verdorben hat. Sogar die Beatles." Ich nickte. Schorsch schob den Bücherstapel - "filigraner Bockmist!" - gewalttätig zur Seite. "Und nun rede: Was willst du wissen? - Egbert, der Stadtrat und aufgehende Stern am politischen Himmel? Klar, hab ich genügend über den!" In seinem Büro warf der Biograf den Laptop an, hieb auf der Tastatur den letzten Frust aus sich heraus und einige Codes in die Hardware hinein, schrie triumphierend: "Super Material!" Wandte sich zu mir, musterte mich von Kopf bis Fuß, meinte ironisch: "Komisch. Ich hab dich immer für einen brauchbaren Rechercheur gehalten, der weiss, wo die aussichtsreichsten Quellen sind. War wohl'n Irrtum." Ich machte ein Rätselgesicht, und Lehn erläuterte. "Weil es sich wie folgt verhält: Egbert ist bekanntlich Geschäftsführer der Richard-Meinhardt-Stiftung, nicht? Und wer war Richard Meinhardt?" Ich hatte keinen Schimmer, sollte es aber erfahren. "Richard Meinhardt, Unwissender, war der Kompagnon eines gewissen Arthur Dorsten, und beide bauten ein Imperium auf na ja, son lüttes halt. Leider starb Meinhardt sehr jung. Um die Erinnerung an ihn wachzuhalten, hat Arthur Dorsten daraufhin die Stiftung gegründet, nach seinem betrauerten Ex-Kompagnon benannt und den Vorsitz im Stiftungsrat übernommen. Als nun die Löffelabgabe auch bei Dorsten fällig war, schrammte nicht nur die Knete in die Taschen des lachenden Erben, sondern auch der Posten im Rat der Stiftung. Besagter Filius heisst Walter Dorsten und ist, unter anderem, stiller Teilhaber des Wegwerfblättchens Maxmarkt, für welches du - entsinne dich -1 2 0 -
die Ehre hast, Arbeit vorzutäuschen. Was läge also näher, als direkt diesen Walter Dorsten anzugehen und ihm die wirklich interessanten Facts aus dem Kreuz zu leiern? Was ich habe, sollst du gerne getrost nach Hause tragen. S ist die übliche Lobhudelei, das nichtssagende biografische Gerüst. Hast du übrigens gewusst, daß in 'Poor Boy' ein arger Fehler steckt? Dort heisst es nämlich: 'My mother learned me to say' statt 'teached me to'. Ach, unschuldige Zeiten!" An diesem Morgen stellte ich mir Egbert zum erstenmal mit entblößtem Hinterteil auf einem Bettlaken vor. Zu früh, gewiss. Ich wusste gar nichts, doch ein Bild gewann langsam an Kontur. Dorsten, der phlegmatische Idealist, hatte sich gegen seine Natur in eine Sache eingeschaltet, deren wahrer Kern nur drei Personen aufgehen konnte: mir, der Person, die die Fotos geschickt hatte - und dem Mann, dessen welke Pracht auf diesen Fotos abgebildet war. Es wurde Zeit, der unbekannten Person die Feder aus dem Allerwertesten zu ziehen und ihr damit die Fußsohlen zu kitzeln. Die ersten Monate eines Jahres sind im Allgemeinen Ruhephasen für rasende Reporter. Du verbringst sie im Bett oder träge am Schreibtisch, bekümmert über den Verdienstausfall und bemüht, Themen aufzureissen, die ihre schiere Überflüssigkeit zwar auch weiterhin nicht leugnen können, im Rahmen eines akuten Notjournalismus als unverächtliches Zeilenvieh aber hoch geschätzt werden. 2000 Jahre Christentum, ein seit zirka 50 Jahren hochgeschätztes Sujet, zum Beispiel, oder "Ortsvorsteher des Landkreises", wenn einem wirklich gar nichts mehr einfällt. "Die Richard-Meinhard-Stiftung" warf ich Meinsell den Brocken vor, "wär doch mal was. Okay?" Der Redakteur nickte, denn auch er wusste um die Kümmerlichkeit der Tage, an denen kein Kaninchenzuchtverein Pressemitteilungen verschickt, keine Kuh doppelköpfigen Nachwuchs kalbt und kein Rowdie Zigarettenautomaten knackt, -1 2 1 -
weil es einfach zu kalt ist, im Freien zu arbeiten. "Mach da mal. Klasse Idee. Dir ist ja bekannt, daß unser Freund Dorsten dort den Stiftungsvorsitzenden mimt?" "Selbstverständlich. Und Egbert führt die Geschäfte. Mann mit Zukunft, der." "Genau." Eigentlich war das Thema wirklich kein Lückenfüller. Es bot sich an, hatte Perspektive, würde, so Meinsell, "dem Dorsten Honig um den Bart schmieren und ihn für dich einnehmen. Du könntest das brauchen." Tja, mein Lieber, exakt das galt es herauszufinden. Anruf bei Dorsten. He was not amused. Eigentlich nichts dagegen einzuwenden - "aber, weisst du, wir wirken lieber aktiv, das heisst: Wir arbeiten mit den Universitäten zusammen und suchen gemeinsam förderungswürdige Kandidaten aus. Wenn nun in der Zeitung steht, oha, da gib t’s diese Stiftung, werden wir mit Bewerbungen nur so zugeworfen. Das ist nicht in unserem Sinne. Schade. Toller Einfall." "Verstehe. Mach ich halt ein Portrait über euren Herrn Egbert und erwähne seinen Arbeitsplatz nur neutral am Rande. Plane überhaupt eine Reihe 'Entscheidungsträger von morgen'." Dorsten wurde nervös. "Hm, hm. Sollte man sich genau überlegen. Wegen des Proporzes. Und wieso 'Entscheidungsträger von morgen'? Nimmt das nicht schon einen gewissermaßen demokratischen Prozess vorweg? Sind es nicht die Gremien der Parteien und letztendlich natürlich die Wähler, denen es zufällt zu bestimmen, welches die 'Entscheidungsträger von morgen' sein sollen? Pikant, K.O. Ich werde mal mit Egbert darüber reden. Tolle Idee, an sich. Zweifellos. Und du würdest das sicher ganz prima schreiben. Ich melde mich dann bei dir." Den Hörer auflegen und vor Freude laut schreien. März, der Matschmonat, März, als der Regen nicht aufhörte, -1 2 2 -
uns den Tag zur halben Nacht zu machen. Ich besuchte Wollheim, verharrte wie ein treuer Hund neben den Zeitschriften, trank meinen Kaffee, beobachtete die Mittwochnachmittags-Gesellschaft der fremdzüngigen Mädchen, ich sah Dianas Auto und Dianas Kopf, hörte ihre Stimme "Wir telefonieren" flüstern. An einem besonders verregneten Mittwoch folgte dem bekannten Wagen ein zweiter, nicht weniger bekannter. Ich verabschiedete mich früher als sonst von Wollheim, überquerte die Straße und ging durch das Tor auf den Schulhof. Mieses Gefühl. Regennass, und wenn du runterschaust spiegelt sich deine Visage vexiert in den Pfützen eines Ortes, der dir fünfundzwanzig Jahre lang sogar als Ort für einen Albtraum zu makaber war. Die beiden Autos standen nebeneinander, ich wartete und hoffte, daß die Besitzerinnen nicht gleichzeitig aus dem Gebäude kommen würden. Es war, bei Petras effizienter Arbeitsweise, allerdings kaum anzunehmen. Sie verließ den Bau nach einer knappen Dreiviertelstunde, das Tonbandgerät an einem Lederriemen über der linken Schulter, energischen Schritts. Stutzte, als sie mich sah, lachte dann und zeigte mir den Vogel. "Spionierst du mir nach?" fragte sie eher amüsiert als ärgerlich, besann sich aber sofort ihrer Kenntnisse des kleinen Einmaleins der logischen Schlussfolgerungen und rief aus: "Ha! Heute ist Mittwoch, da hat der Herr seinen jour fixe bei Zeitschriftenhändlers!" Wir stiegen in Petras Auto. "Ganz nette Frau, deine Frau Weber." trällerte es aus der Fahrerin. "Ich mache ein Hörfunk-Feature über Aussiedlerkinder und brauche etwas O-Ton. Herrlich, wie die Mädels das R so slawisch-sinnlich rollen!" "Mit anderen Worten" beendete ich mein Schweigen, "du -1 2 3 -
horchst die jungen Damen aus. Ins Vertrauen einschleichen, die Zungen ölen, eifrig im Gedächtnis mitstenografieren. So was lernt man doch in euren Volontariaten." Sie drehte mir ein schelmisches rechtes Auge zu, das wachsame linke blieb auf der Fahrbahn. "Du bist mir ein Rätsel, K.O. Jemand findet heraus, daß in der Wohnung einer älteren, alleinstehenden Frau fünf Schlafzimmer mit Teddybären eingerichtet sind, in einer Wohnung, die sich schräg gegenüber vom Gymnasium befindet. Und dieser Jemand - ein Journalist, wohlgemerkt! - ist unfähig, den naheliegendsten aller Schlüsse zu ziehen. Woher kommen die Mädchen für die Schlafzimmer, wenn nicht von der Schule?" "Und du - ebenfalls Journalistin, eine verdammt gute dazu sitzt gleich zwei Irrtümern auf. Erster: Für die fünf Schlafzimmer gibt es eine nachvollziehbare psychologische Begründung, die du ja selbst durch deine Hamburger Recherchier-Episode abgesichert hast. Zweites: Wie hätte Frau Siebenlist, so sie tatsächlich eine Puffmutter gewesen wäre, die Mädchen dazu bringen können, sich zu prostituieren? Und sich unsichtbar unsichtbaren Freiern hingeben, ohne dass jemals ein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Mit jungen Frauen gefüllte Schulzimmer gelten gemeinhin nicht als die Örtlichkeiten, an denen sich ein Geheimnis länger als zwei Minuten hält. Und, Punkt b von 2: Warum ausgerechnet die Russenmädchen? Slawische Morallücken? Ein klitzekleines bisschen unbewusster Rassismus?" Petra machte ein resignierendes "Ph" gegen die Windschutzsscheibe. "Man muss irgendwo anfangen. Außerdem, selbst wenn alles Spekulation bleibt, hab ich immer noch das Feature. Wie kommst DU eigentlich über die Saure-Gurken-Zeit?" Sie fuhr den Wagen vor ihre Wohnung, wir beiden stiegen die Stufen wie ein Ehepaar hinauf, das von seiner Arbeit kommt und -1 2 4 -
sich auf die Tagesschau freut. Pizza wurde bestellt, Petra kramte in ihrem Plattenfundus nach etwas, das sie 'Fickmusik' zu nennen pflegt: dünnpfiffiger Soul aus den Siebzigern, ein gemischter Chor stöhnt den Takt. "Wir haben übrigens von dir gesprochen." sagte die kauende Petra. "Ach ja? Wer wir?" "Frau Weber und ich. Es gäbe da einen Kollegen vom Maxmarkt, der auch an Aussiedlerkindern interessiert sei." "Biest! Und was hat sie gesagt?" "Das höre man gern. Aufmerksamkeit könne man nie genug bekommen. Woher kennst du sie eigentlich?" "Klassenkameradin." "Hattet ihr was miteinander?" Ich räumte die leeren Teller ab und stellte den Boiler in der Küche an. "Wenn du jetzt anfängst zu spülen, kastriere ich dich." Und wiederholte: "Hattet ihr was miteinander?" "Ja." "Hm. Muss ein sehr hübsches Mädchen gewesen sein." Um acht hatte sie mich mit ihrem Plastiksoul so weit, das Spiel Deutschland - Brasilien zu vergessen. Es wurde um halb neun angepfiffen, als wir gerade die erste Halbzeit hinter uns hatten. Meine Zunge dribbelte über den Rasen und trug den Ball ins Tor. Jubel. Einundzwanzigfünfzehn: Auch Brasilien führte 1:0. Wir agierten in der Schlussminute, mir gelang der Ausgleich. Jubel. "Verlängerung" verlangte Petra. Golden Goal, Sudden Death. Zigarette. "Und du liebst sie noch immer.": eine Feststellung. Ich drehte das Radio an. "Ehrt dich. Treue." -1 2 5 -
Ich schaute auf die Uhr. "Bin mal gespannt, wie das mit uns aussieht in fünfundzwanzig Jahren." 1:2. Wir hatten verloren. Jedesmal, wenn das Telefon klingelte, stob sämtliche Atemluft aus meiner Wohnung. Ich stürzte zum Apparat, hob ab, kratzte an Sauerstoff zusammen, was sich nicht schnell genug verzogen hatte, meldete mich und war froh, daß nicht sie es war. Ich wäre gestorben. Jahrelang hatte ich die unglaubliche Sekunde, da es ihre Stimme am anderen Ende der Leitung sein würde, in meiner Phantasie erschaffen. Ich hebe ab, jemand meldet sich: "Diana". Ja, und? Nichts ja und. Unfähig, mir auszumalen, worüber wir reden sollten, wie es weitergehen konnte. Allein die Vorstellung, sie zu berühren, überstieg mein Vermögen bei weitem. Manchmal übersprang ich diesen Teil einfach und kam gleich zu einem flachen happy end, das ich dem Drama anhängte. Diana und ich reiten in den Sonnenuntergang, Abspann. Gedankenspiele, Gedankenquälereien. Das Telefon würde nicht klingeln, kein Mensch würde sich mit "Diana" melden. Am 25. März klingelte das Telefon, und eine Frauenstimme sagte, fast nicht hörbar, "Diana". Ich vertraute darauf, zu ersticken. Man tat mir den Gefallen nicht. Kann es überraschen, daß wir, nach einem Vierteljahrhundert, zuerst über das Wetter redeten? Es war uns natürlich egal. Grippewetter; wen juckts. Wir schilderten uns gegenseitig die Symptome heraufziehender Erkältungen und tauschten die Namen wirksamer Nasensprays aus. Wir stimmten beide gegen die Grippeschutzimpfung, stritten uns dann aber über die Notwendigkeit, mit Überdosen Vitamin C vorzubeugen. So hatte ich mir immer vorgestellt, nicht mit ihr zu reden. Ihre Arbeit in der Schule? Na, so la la. Ihr Engagement für die Aussiedlerkinder sei mir ja bekannt, und es mache ihr Spaß. Sie -1 2 6 -
erkundigte sich nach meinem journalistischen Broterwerb, lobte meinen Stil und tadelte die leise Ironie allüberall. Was aus dem Roman geworden wäre, den ich als Achtzehnjähriger geschrieben und ihr zu lesen gegeben hatte? Ich verschwieg ihr, daß mich das Manuskript zehn Jahre von einer Bruchbude zu nächsten begleitete, bis es, eines schönen Tages, zwischen alte Illustrierte geriet und dem Altpapierrecycling zugeführt wurde. Ich war ein Roman. Dinge, die sie nicht sagen darf: "Ja, die alten Zeiten!" - "Freut mich, daß es dir gut geht." - "Weisst du noch..." - und ich ahnte, sie barg gleic hfalls eine solche Liste in ihrem Busen: "Warum hat sich deine Schwester umgebracht?" - "Woher hast du das Foto?" - "Ich habe deine Schrift auf der Rückseite sofort erkannt." - "Was verbindet dich mit Egbert?" - "Wieso rufst du an?" - "Warum hast du mir das dritte Foto nicht geschickt?" Diese Fragen durfte ich nicht stellen. "Was ist damals passiert?" fragte ich, bevor sie "Ja, die alten Zeiten!" aus dem Schatz der Phrasen hervorkramen konnte. Sie antwortete nicht gleich. Sie wägte jedes Wort, jede Silbe ab. Zehn, fünfzehn Sekunden war Stille, und zehn, fünfzehn Sekunden waren wir uns so nah, wie wir es früher gewesen waren. Ja, die alten Zeiten. "Mit meiner Schwester? Sie ist in den letzten Wochen vor dem Selbstmord eine andere gewesen. Nicht mehr das naive, freche, neugierige Kind. Wir haben es nicht ernst genommen. Das ist die normale Entwicklung. Sie war in diesem Alter..." "Das Tagebuch, Diana. Was stand in Judiths Tagebuch?" Wieder überlegte sie lange, wieder waren wir uns nah. "Sie hat von dir geschwärmt. Unschuldig, zunächst. Hat sich vorgemacht, du hättest sie 'so ganz bestimmt angeschaut' obwohl ich sicher bin, daß sie nicht einmal wusste, was 'so ganz bestimmt' ist. Dann wurden die Eintragungen düsterer. Sie kämpfte mit sich. Stellte sich die Frage, ob es recht sei, mir, -1 2 7 -
ihrer Schwester, den Freund wegzunehmen. - Ach, es war so natürlich, so lächerlich, so schön romantisch!" "Und? Das kann nicht alles gewesen sein. Deshalb bringt man sich nicht um." "Deshalb nicht. Vier Wochen vor ihrem Tod hat sie den letzten Eintrag vorgenommen. Ich habe die Stelle immer wieder gelesen, tausendmal, nein, öfter. Ich kann sie auswendig---" Sie atmete hastig, schwer, unregelmäßig. "Entschuldige. Ich muss ruhiger werden. Es heisst dort: 'Er hat mich angefasst. ER. Ich wollte es nicht. Ich hab doch gesagt, daß es nicht recht ist. Aber da hat er gelacht und gemeint, er würde mir doch nie etwas Böses tun. Und Diana mache es doch auch, und es wäre schön. Er hat mir unters Hemd gegriffen, und jetzt kann ich nicht mehr weiter schreiben, und jetzt kann ich nicht mehr weiter leben." "Und mein Name? Nennt Sie meinen Namen?" "Nein. Aber alle dachten, es könntest nur du gewesen sein. Du bist der einzige Mann, der in ihrem Tagebuch vorkommt. Dann der Hinweis auf mich. Was hätten wir denn sonst denken sollen? Kannst du das nicht verstehen?" "Und seit wann weisst du, daß ICH es nicht war?" Sie schniefte. "Seit letzten Sommer." "Seit dem Foto." "Ja. Aber bitte: Ich möchte nicht über das Foto sprechen. Es war ein Fehler, es dir zu schicken. Vergiss es bitte." "Wie könnte ich das?" "Mir zuliebe. Du hast meine Schrift erkannt, ja?" "Sofort. Ich habe mich an die kleinen Zettelchen erinnert, die du mir im Unterricht hast zukommen lassen." "Über den dicken Manfred, gelt?" Sie lachte. "Der in mich verliebt war und mir einen Gefallen tun wollte und erst ganz -1 2 8 -
allmählich gemerkt hat, daß er mit jedem Gefallen seine Chance mehr und mehr verspielte." Sie brach abrupt ab; sagte bestimmt: "Das Foto ist unwichtig. Die Person, die es zeigt, ist unwichtig." "Herrn Egbert." "Egbert ist unwichtig. Er hat im Bett einer älteren Frau gelegen, er war wahrscheinlich betrunken dabei, das ist alles. Es ist seine Sache. Ich will nicht, daß er deswegen seine Pläne aufgeben muss. Selbst wenn er - selbst wenn er die Frau... aber das ist Unsinn. Lass uns jetzt über etwas anderes reden." "Ich möchte dich sehen." bat ich. "Können wir uns sehen?" "Wo?" "Im Sonnberger." "Muss das sein? Auf dem alten Platz?" "Auf dem alten Platz. Zweimal finsteres Mittelalter, das wir inzwischen sind, hockt beisammen und verkonsumiert riesige Mengen Torte, trinkt dazu koffeinfreien Kaffee, damit die Pumpe nicht aussetzt. Ganz harmlos. Könnte sogar dein Mann erfahren." "Lass meinen Mann aus dem Spiel. Gut, ich komme. Aber über drei Dinge werden wir nicht sprechen: meine Ehe, meine Schwester, das Foto. Wirst du dich daran halten?" "Versprochen." "Dann..." Sie blätterte in ihrem Terminkalender. "Dann, wenn du es einrichten kannst - nächsten Donnerstag um vier." "Wir könnten es ein informelles Gespräch nennen. Vielleicht mache ich ja einen Artikel über deine Deutschnachhilfe." "Ha, ha, ha. Willst du deiner Kollegin in die Quere kommen? Nette Frau, übrigens. Ihr - ihr kennt euch näher?" Mir war in diesem Augenblick, als fiele alles von mir ab. Alles Fleisch, alle Erinnerungen. Mir war, als wäre ich siebzehn -1 2 9 -
und unberührt, als wäre sie siebzehn und unberührt, wir hocken an den Telefonen und machen den ersten Schritt auf einem langen, langen Weg. Sie übt sich in Eifersucht, ich sonne mich empört im Genuss dieser Eifersucht. Etwas blühte auf: und war doch nur der Rückblick auf etwas, das erblüht und längst vergangen war. Während ich mir überlegte, worüber mit Diana zu reden wäre, da doch die drei wichtigsten Stoffe ausgeklammert waren, werkelte Petra fle issig an ihrem Feature. Wir sahen uns regelmäßig an den Freitagen, unsere Beziehung hatte einen Punkt erreicht, an dem die Rituale Gewohnheiten werden und alles entweder ins Scheitern oder vor das Standesamt driftete. Das eine galt es aus hormonellen, das andere aus prinzipiellen Gründen zu verhindern. Es war ihr tatsächlich gelungen, Kontakt zu ein paar Mädchen herzustellen, die unter Dianas Anleitung die Finessen der deutschen Sprache büffelten, um sie sich bei der Lektüre diverser Jugend- und Modeblätter abzugewöhnen. "Hübsche, intelligente Mädchen" lobte Pera. Sie hatte ein Quartett zu Kaffee und Kuchen eingeladen, und obwohl ich nicht dabei war, konnte ich mir Petra doch im Kreise der Mädchen vorstellen, wie die anfängliche Professionalität der taffen Journalistin nach und nach zum Gluckenhaften mutierte, man am Ende mit Küsschen links / Küsschen rechts einen Weiberbund schmiedete, bereit, einander jeglichen geheimen Gedanken mitzuteilen. Womit sich der Kreis schloss: Aus dem Benehmen der Henne wird wieder die Nüchternheit des Beruflichen. Petra würde erfahren, was keine sonst, die nicht in Kasachstan oder am Wolgastrand geboren war, erfahren durfte. "Das Problem" stellte Petra fest "ist oberflächlich betrachtet banal. Sie möchten konsumieren, aber sie haben kein Geld. Darunter liegt eine Ebene der sozialen Verwerfungen. Die Kinder, sie besonders, haben Heimweh. Andererseits haben sie das Schicksal unterdrückter Minderheiten erlitten. Sie sind also -1 3 0 -
gerne ausgewandert - und mit Schmerzen. Hier bürgert man sie ein - und sie bleiben Fremde. Sie schließen sich zu Gangs zusammen, aus purer Ratlosigkeit. Sie sondern sich ab, weil sie nicht sein können wie die anderen. Das ist ein Scheisszustand, K.O." Nach drei Wochen war die Journalistin überzeugt, keines IHRER Mädchen habe den Körper als Mittel zur Geldbeschaffung eingesetzt oder tendiere dazu, die bitterste Lektion des Kapitalismus zu lernen. Bei den Jungs, an die sie nicht herankam, sei eine gewisse Neigung zur schnellen Mark nicht auszuschließen. Man erzählte sich von Sonja, einer Achtzehnjährigen, die noch am Tage ihrer Volljährigkeit von ihrem ebenfalls russlanddeutschen Freund in ein Etablissement verbracht worden war, wo sie seither unter dem nom de guerre "Natasha" anschaffen geht. "Eben" kommentierte ich. "Wen es wirklich trifft, der gerät nicht unter die Fittiche einer Frau Siebenlist, die einen Privatpuff unterhält. Minderjährige? Mein Gott, sei nicht naiv! Geh zum Bahnhof, guck dir an, wie das läuft." Petra winkte ab. "Das interessiert mich sowieso nic ht mehr. Ich habe mit Diana (Diana?) gesprochen und vielleicht ziehen wir eine Aktion durch, 'Lehrstellen für Russlanddeutsche'. Die finden nämlich so gut wie nie eine." Ich nahm sie in den Arm. "Du bist einfach zu gut für diesen Job." "Wäre wohl besser Sozialarbeiterin geworden, was?" fauchte sie. Langsam und bedrohlich schlich sich Ordnung in mein Leben. Mittwoch war Wollheimtag, der Freitag gehörte Petra, und an den Donnerstagen würde ich Diana im Sonnberger treffen. Dachte ich wirklich so? Nicht auszuschließen. In den Tagen zwischen dem Anruf und unserer Begegnung im Café wurde ich ein Mann ohne Vergangenheit. Es hätte nicht viel gefehlt, es mir -1 3 1 -
schmackhaft zu machen, eine geregelte Arbeit zu suchen, einen Wecker anzuschaffen, meine Wohnung aufzuräumen, einen Bausparvertrag abzuschließen. Übler Selbstbetrug, mein Lieber. Mittwoch. Wollheim hatte sein Sortiment um Spezialpapier für Computerdrucker erweitert und erwog, auch ins Diskettengeschäft einzusteigen. "Machen Sie das nicht." riet ich ihm. "Der ganze Firlefanz ist nur von kurzer Dauer. Spätestens in fünf Jahren kaufen sich die Leute wieder Schreibmaschinen, und in zehn macht der den großen Reibach, der sich das Monopol auf Füllfederhalter gesichert hat." "Meinen Sie wirklich? Ich würds begrüßen - aber der Fortschritt..." "Ha, der Fortschritt! Ich glaube an die Urknalltheorie, auch und vor allem in der Zivilisationsgeschichte. Das Universum der nützlichen Erfindungen dehnt sich aus, bis es zum Gleichgewicht von Expansions- und Widerstandsenergie kommt. Ab dann, bester Herr Wollheim, schnurrt das Universum des technischen Fortschritts zusammen. Das neueste geht als erstes zugrunde: der digitale Humbug. Dann die Transistoren, anschließend die komplexe Mechanik." "Und am Ende?" "Steintafel und Faustkeil. Hieroglyphen. Irgendwann schlagen sie einen tot, der sich drüber mokiert, daß die Räder viereckig sind." "Hört sich schön an. Nur, was für eine Widerstandsenergie soll das sein, die, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Kräfte des Fortschritts überwindet?" Ich klopfte mir mit der Faust aufs Herz: "Hier. Die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach uns selbst. Als der Mensch gelernt hatte, Feuer zu machen, verbrannte ein Stück seiner Identität." So redete ich. So bescheuert war ich. -1 3 2 -
Die Nacht auf Donnerstag. Erinnere mich fatalerweise an 1972 und unser erstes Rendezvous im Sonnberger. Bin viel zu früh dran, warte draussen, muss rein, weil mich eine nervöse Reizblase piesackt. Bestelle einen Kaffee, damit ich das Klo benutzen darf, schlage ab, trinke den Kaffee und muss wieder aufs Klo. Bestelle einen neuen Kaffee und weiss, wies weitergehen wird. Halt Leute gucken, soweit das vom Nischenplatz aus möglich ist. Hoffentlich keine Bekannten. Auf Plattfüßen schlappt die Bedienung durch die schmalen Gänge, im Schutze der gigantischen Kaffeemaschine lauert Adlerauge, der Mundschenk, und ihm entgeht nicht, wenn eine Tasse leer, ein Stück Kuchen gegessen ist. Gibt der Bedienung einen diskreten Wink, schon schlittschuht sie herbei. Im Sonnberger war die Zeit stehengeblieben. Sie hatte sich schon immer geweigert, auf Touren zu kommen, solange sie zwischen den Mauern des Cafés gefangen saß. Wer hier sitzt, hat eh nicht mehr viel Zeit, und die ist menschenfreundlich. Sie schenkt Langeweile. Sie verlängert das Leben um Stunden der Sinnlosigkeit. Ein Rentnercafé, und wir mussten auffallen, weil wir jung waren. Auch wir wollten die Zeit zum Stillstand bringen, um ein Befinden zu konservieren. So gesehen, war unsere Verliebtheit das gleiche wie die Angst der Alten vor dem Noch-älter-werden. Jetzt hatte sich einiges geändert. Das Sonnberger, "in" geworden, verfütterte seine Kuchen an Müßiggänger, die sich um Zeit nicht kümmerten, denen sie lästig geworden war. Ich trank meinen Kaffee, ich schlug mein Wasser ab, ich beobachtete die Bedienung - nicht mehr die von 72, aber mit ähnlicher Plattfüßigkeit geschlagen. Noch drei Minuten, und Diana würde sich niemals verspäten. Sie betrat das Sonnberger wie eine Diebin auf der Flucht. Drehte sich um, blieb für einen Gedanken zwischen zwei Wimpernschlägen stehen, verlor die Orientierung, machte einen Schritt zur Kuchentheke und brachte den Wirt dazu, hinter dem -1 3 3 -
Schild seiner Kaffeemaschine hervorzuspringen, das Lächeln der Gewinnmaximierung im Gesicht. Diana sagte etwas, schüttelte den Kopf, wandte sic h um und kam an unseren Tisch. "Musste es wirklich HIER sein?" - Sie war unzufrieden mit sich selbst; eine souveräne Frau, in den Backfischteich geworfen und das Schwimmen nicht mehr gewöhnt. "Sollen wir woanders hingehen?" Ich schaute mich nach der Bedienung um. "Nein, nein, egal jetzt." Und setzte sich mir gegenüber, mit dem Rücken zum Gastraum. Wir schauten uns an und dachten das gleiche. Und blinzelten uns verschwörerisch zu. Ich bestellte zwei Kaffee, für mich ein Stück Käsekuchen. Diana wollte keinen, und auch mir war eigentlich nicht nach süßem Gebäck. Kaffee und Kuchen wurden gebracht, wir schwiegen weiter. Ich begann zu essen. "Dass du essen kannst." lachte Diana, sie könne kaum den Kaffee trinken, dazu sei paradoxerweise ihr Hals zu trocken. Ich würgte meinen Kuchen runter, sagte vollmundig: "Warte. Schweig." Sie runzelte die Stirn, hielt sich aber an die Anweisung. Sorgfältig die Krümel auf die Gabel bringen - weg damit. "So." Letztes Rumoren der Kaumuskeln. "Das Leben ist ein Kuchen, Diana. Wir haben gemeinsam ein Stück von ihm gegessen damals. Wir werden jetzt ein weiteres Stück von ihm essen. Das Stück dazwischen habe ich soeben weggeputzt. Ich werde Sodbrennen kriegen." Sie beugte sich über den Tisch und gab mir einen Kuss auf den Mund. "Und warum gerade Käsekuchen?" "Weil alles Käse ist und ich für jeden Kalauer zu haben bin." Sie nahm ihren Oberkörper zurück, saß kerzengerade. -1 3 4 -
"Oder Scheisse. Jetzt haben wir einen leeren Platz zwischen unseren Kuchenstücken." "Wir schieben sie zusammen. Macht jede anständige Bäckereifachverkäuferin." "Wenn das so einfach wäre. Sollen wir miteinander ins Bett gehen? Weitermachen, wo wir aufgehört haben? Liest du mir die letzte Seite deines Romanes vor, fahrig, weil du schon überlegst, wie er weitergehen soll?" "Ich kann den Roman nicht mehr fertigschreiben." "Ich kann mit dir ins Bett gehen. Ich könnte jetzt aufstehen und laut rufen: Seht her, mit diesem Mann da werde ich schlafen. Auf der Stelle. Lächerlich, nicht wahr?" "Zu früh." "Zu spät." Wir hätten uns besser Briefe geschrieben, anstatt darüber zu reden, warum es nichts zu reden gab. Das Leben war kein Kuchen, wir beide keine Bäckereifachverkäuferinnen, die leere Stelle blieb eine leere Stelle. Es half auch nichts, daß Diana ein fettes Stück Torte aß. Sie hatte plötzlich Heisshunger bekommen, lümmelte vor der Kuchentheke als wäre Weihnachten, die Kuchentheke der Weihnachtsbaum und sie ein aufgeregtes Kind. Gut erzogen: Beim Essen wurde nicht gesprochen. So benahm man sich auf dem Fussballplatz, nachdem den Akteuren eingeschärft worden war, sie dürften alles auf dem Platz machen, nur nicht den Ball berühren. Wir umtänzelten ihn; rannten auf und ab, um uns unsere Kondition zu beweisen. Ich orderte einen Schnaps für mich, einen Likör für Diana. Berüchtigt ihr "Schwarzer Kater"-Konsum damals, den hatten sie hier aber nicht. "Um Himmelswillen, für mich keinen Alkohol. Du weisst ja selber, daß ich keinen vertrage." -1 3 5 -
Ich begleitete sie zu ihrem Wagen. Er war auf dem Schulhof abgestellt, den ich diesmal nicht betreten wo llte. "Machs gut." Sie repetierte. Sah mich an, als erblicke sie etwas Schreckliches, fing sich und ging durch das Tor. Ich machte mich davon. Donnerstag. Was für ein Donnerstag. Im Bistro, wo Schiever ein Abendessen verzehrte, besoff ich mich, kippte die Vergangenheit in mich hinein, einen schäbigen und verzehrenden Trost. "Sauf nicht so viel." Schiever schob mir seinen Nachtisch hin, Eis mit heissen Himbeeren. "Jetzt kriegste hier auch nur 'Menü'! Zwangsmaßnahmen sind das!" War nicht gut reden mit mir. Wein macht weinerlich, Bier gebiert Jammerlappen, Schnaps ist Schnaps. Über solche Witze konnte ich lachen. Der Herausgeber drückte mich brüderlich. "Krise, mein guter alter Kumpan. Erzähl MIR bitte nicht, was eine Krise ist. Wo drückt der Schuh, na? Zahl ich dir zu wenig? Ich will dir mal was sagen: Ich zahl dir viel zu viel. Andere mit deinem Arbeitsoutput müssten zum Sozialamt. Gutmütigkeit. Pure Gutmütigkeit. Oder hältst du den Scheiss, den du schreibst, etwa für Scheiss, den du nicht schreiben willst? Dann schreib doch'n Roman! Wirst schon sehen, wo du damit endest!" Gab ihm keine Antwort. "Liebeskummer?" insistierte er weiter. Das Dessert war inzwischen doch im Armageddon seiner Magensäfte aufgerieben worden ("Solche Witze findest du komisch? Tust mir leid!"). "Sag schon: Will die Kleine nicht mehr? Will sie zuviel?" Ich überredete ihn mitzutrinken. Zwei Stunden später kannte ich seine sämtlichen Eheprobleme, Versagensängste und sonstigen Bekümmertheiten. Wie du es anstellst ist es verkehrt. -1 3 6 -
"Tschüs, Che f." Zwei Finger stramm an die Schläfe schnellen lassen, zack- zack, und heimwärts. Nahm den Umweg durch die Mörickestraße, passierte den Schulhof, zu duhn, rechtzeitig den Bürgersteig zu wechseln. Ihr Auto stand noch da. Es war nicht Mittwoch. Ich lief hin und fand den Wagen leer. Gegen das linke Vorderrad gelehnt saß ich, schlief ich, wurde ich wach, schlief ein. Mich fröstelte. Längst war es Nacht geworden, tröpfelte es. Drei Runden ums Karree für einen halbwegs klaren Kopf, der im Endeffekt doppelt so schwer wie vorher war. In die Knie gehen, auf allen Vieren zum Auto krabbeln und wieder lehnte ich am Rad, fing Regentropfen im Maul, schloss die Augen. Als ich sie öffnete, kniete sie vor mir in der Hocke. "Blödmann, du." Sie hatte sich die Fingerspitzen auf den Mund gelegt; ein guter Brauch bei Menschen, die zum erstenmal in meine Wohnung kommen. Ich betete zu Gott, sie möge nicht anfangen aufzuräumen. Oh, sie war betrunkener als ich! "Wird zur Angewohnheit, hä?" Was ist los? "Die Ärztin, die ihren Patienten zurück im Leben begrüßt." Verstehe kein Wort. "Einfach die Lider auseinander reissen. Nur Mut!" Frau Doktor, mein Engel im weissen Kittel, kleine rosa Perlen an den Ohrläppchen. "Muß eingeschlafen sein. Tschuldigung." "Schön geträumt?" "Beschissen." "Logisch. Sie haben von Freitagabend an im künstlichen Koma gelegen. Intensivstation. Heute ist Montag." -1 3 7 -
"Sie sind eine verdammte Lügnerin." "So, so." Sie stellt meinen Laptop an, am rechten Rand des Bildschirms blinken Datum und Uhrzeit. "Lügt auch, ja? Hab ich umprogrammiert, was?" Ich richte mich auf. "Heute haben Sie, glaube ich, die spannendere Geschichte zu erzählen, Frau Doktor." "Nur wenn Sie nicht mehr Frau Doktor zu mir sagen. Sachlich falsch. Gesine - und beim Siezen bleiben wir. Einverstanden?" "Ge-sine, Ge-sine, Ge-sine." übe ich. "Sie haben mir also drei Tage gestohlen." "Wird ja immer schöner." "Erklären Sie mir, was passiert ist?" Eben; der Knackpunkt. Eigentlich ist die Sache unerklärlich. Am frühen Freitagabend durchschneiden entsetzliche Schreie die blaue Stunde, und diese Schreie kommen aus meinem Zimmer. "Ich hatte eben meinen Dienst angetreten, war nicht mal umgezogen. Sie lagen da und waren verrückt vor Schmerzen. Durch den Schlauch strömten Mengen von Blut in den Beutel. Hörte sich schrecklich an, wie Ausquetschen. Das hätte nicht sein dürfen. Als würden Sie die Limo nicht mit einem Strohhalm trinken, sondern hätten einen veritablen Feuerwehrschlauch parat." Die Pumpleistung lässt sich regulieren, "bei Ihnen war Intervallaktivität auf unterstem Niveau geschaltet. Alle halbe Stunde wurde aus einer begrenzten Zone Blut abgesaugt, wobei uns ihr Blut herzlich wenig interessiert hat, vielmehr das Zeugs, das drin rum schwimmt. Von der ganzen Affaire dürften sich nichts bemerkt haben. Bis Freitagabend." Der Apparat wird sofort abgestellt, Gesine fühlt meinen Puls, kommt aber mit dem Zählen nicht mehr nach. -1 3 8 -
"Sie hatten einen Schock. Ihr Organismus, Ihr Kreislauf insbesondere, hat vor lauter Schiss die Kurve nicht mehr gekriegt. Sozusagen. Ich hab Ihnen eine Beruhigungsspritze gesetzt, aber die Werte sind kritisch geblieben. Hinzu kam, daß wir befürchten mussten, durch Ihre unkontrollierten Bewegungen hätte die Fixierung der gebrochenen Knochen Schaden genommen, wenn nicht noch Schlimmeres. Ohne Umstände den Gips ab, geröntgt. Glücklicherweise hatte sich nichts zum Nachteil verändert. Der Blutverlust? Nebensächlich. Darüber lacht jeder Blutspender. Aber Ihr Schockzustand und die Schmerzen halt, und das schaukelt sich natürlich gegenseitig hoch. Ab nach Intensiv. Künstliches Koma, künstliche Ernährung. Heute morgen waren Ihre Werte wieder normal, Sie konnten zurück." So normal, daß ich zum Fenster schiele und Gesine - wieso trägt sie heute eigentlich Ohrringe? - skeptisch den Kopf schüttelt. "Damit warten wir noch ein Weilchen. Dass Sie mir bloß nicht denken, ich hätte nichts anderes zu tun als mit Ihnen zu rauchen! Überhaupt mutmaße ich, Sie wollen nur ablenken. Wie konnte die Pumpe so verrückt spielen? Haben Sie eine Erklärung?" Ich? "Technischer Defekt? Darf ich auf ein vernünftiges Schmerzensgeld hoffen?" Sie setzt sich auf die Bettkante, bleckt die Zähne. "Tja. Das Gerät funktioniert einwandfrei. Die - sagen wir mal Fehlfunktion beruhte auf manueller Intervention." Manueller Intervention! "Sie können aber Fremdwörter, Gesine!" "Mir ist nicht zum Scherzen!" (Und genauso sieht sie jetzt auch aus: sehr bestimmt, ernst.) "Ich setz mal voraus, daß SIE nicht an der Apparatur herumgefummelt haben. Dazu besitzen Sie überdies wohl kaum die technischen Kenntnisse. Um die -1 3 9 -
Pumpleistung zu verändern, bedarf es einer bestimmten, simultan einzugebenden Kombination von Schritten. Interessieren Sie die technischen Details?" Technik hat mich noch nie interessiert. "Ich bin der vorbildliche User, Gesine. Sobald was Zicken macht, kreische ich laut um Hilfe." "Wie laut Sie kreischen können, weiss man ja seit Freitag. Also? Any ideas?" "Die Lernschwester?" tippe ich unsicher. "Lassen Sie das arme Ding aus dem Spiel. Die wechselt kein Handtuch ohne schriftliche Anweisung in dreifacher Ausfertigung." "Ein gelinde neben der Kappe angesiedelter Patient?" "WIr sind hier nicht die Klapsmühle. Aber ich merk schon: Sie lenken ab." Natürlich kann ich ihr jetzt nicht gestehen, daß ich sie gerne küssen würde. Nein, hängen wir den Kasus erosmäßig tiefer: Ihre Haut spüren, Ihr Haar auf meiner Stirn, meinen Wangen, das komplette Programm halt. Steht mir das nicht sogar zu? Hab ich nicht im Koma gelegen und ein Anrecht, behutsam zu den schönen Dingen des Lebens zurückgeleitet zu werden? - Nein, Sie würde behaupten, es sei nur ein besonders dreistes Ablenkungsmanöver. "Das ist ja dreist! Für wen halten Sie sich eigentlich, HERR Horst? Und für wen halten Sie mich?" "Es tut mir leid." (stark zerknirscht) "Ich wollte es nicht sagen. Kommen Sie später wieder her? Meine Geschichte geht weiter. Zigaretten müssen Sie allerdings mitbringen." "Ich bin ein hartes Stück. Mir verheimlicht man auf Dauer nichts. Haben Sie Hunger? Soll ich Ihnen was bringen lassen?" Siedendheiss überläuft es mich. "Montag haben wir? Acht Uhr? Sind wir weiter?" -1 4 0 -
Schon in der Tür sagt sie: "Verdammter Fußball. Aber damit Sie beruhigt sind: Ja. Viertelfinale." Gesine öffnet das Fenster und verscheucht die Rauchwolken. Zweieinhalb Stunden habe ich geredet, sie hat zugehört. "In dieser Nacht -." - winkt ab. "Das ist selbstverständlich Ihre Privatsache. Oder hat es etwas mit der Geschichte zu tun?" "In dieser Nacht haben zwei Menschen Ihren Rausch ausgeschlafen. Nebeneinander in einem Bett. Wissen Sie, schon früher gab es Schwierigkeiten, wenn Diana ihre Likörchen getrunken hatte. Sie konnte ordinär werden - das totale Umdrehen der Persönlichkeit durch Alkoholgenuss, und dann fielen ihr auf einmal Witze ein, die sie überhaupt nicht kannte. Es hat sich übrigens herausgestellt, daß wir an diesem Donnerstag keine zwanzig Meter Luftlinie voneinander entfernt uns den Verstand ausgewaschen haben. Ich kenne Diana: Der Wirt hat es sicherlich nicht leicht gehabt, sie aus seinem Lokal hinaus zu komplimentieren. Warum Sie nicht gleich nachhaus gefahren ist? Warum bin ich nicht gleich nachhaus gegangen? Ich hab ihr die Schuhe ausgezogen, sie hatte einen Weinkrampf. Ich hab Ihr alles andere ausgezogen, bis auf die Unterwäsche, versteht sich, und sie in einen meiner Pygamas gepackt. Wir waren beide müde. Lagen nebeneinander, und für fünf Minuten haben wir ehrlich geredet. Fünf Minuten lang uns nicht angelogen, uns nicht aus dem Weg gegangen." "Das leere Stück? Ich meine - hat Sie Ihnen gesagt, was damals geschehn ist? Wer..." "Warten Sies ab. Ich konnte mir meinen Teil zusammenreimen. Sie zog einen Zeitungsbericht aus Ihrer Handtasche, 14. Mai 1997. "Lobenswerte Aktion für Aussiedler" - das übliche Lokalberichtsgebabbel. Mit einem Foto, Diana und die Ihren vor einer Schultafel, auf der groß und unverkennb ar in Dianas Handschrift 'fahre - fuhr - führe' stand. 'Hier' greint sie, 'schau dirs an. Eine fröhliche, zufriedene Frau. Was fällt dir -1 4 1 -
auf?' Die Haare, Gesine, die Haare. Die waren schwarz, die glänzten so, wie ich es immer in Erinnerung hatte. 'Ein paar Wochen danach war ich grau. Über Nacht grau.'" Ich schlucke und zünde mir die nächste Zigarette an. "Und?" Sie tut es mir nach. "Sie ist eingeschlafen. 'Wir hätten uns Briefe schreiben sollen' hat sie noch gesagt, und mein 'Ja' konnte sie schon nicht mehr hören. Am Morgen? Na, ich als Freiberufler... Langschläfer. Und sie ist fort. Ich hab sie nie mehr wieder gesehen."
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7 Blutspuren Andy Möller, Fußballgott! 4:2 haben unsere Jungs die Holländer nach Hause geschickt, und ausgerechnet ER, das personifizierte Versagen, ist Matchwinner, Dreamboy, Dribbelgoliath. Beide Mannschaften, schreibt Joe, starten nervös ins Spiel. Sicherheitsgekicke im Mittelfeld bei verstärken Abwehrreihen, unsere Spitzen hängen in der Luft, die holländischen probieren sich - hat mans denn anders erwartet? als Schwalbenimitatoren. Eine Viertelstunde währt die Zumutung, Joe überbrückt sie mit einer Art Besinnungsaufsatz über die Freuden eines Niederlande-Urlaubs. "Ich hatte noch Glück, daß sie mich nicht dem nächsten Laternenpfahl überantwortet haben. Es ist komisch, mit 'Nazi' tituliert zu werden, wo doch ausgerechnet ich seit meinem 14. Lebensjahr politisch-kritisch eingestellt bin und pausenlos davor warne, neonazistische Tendenzen in unserer Gesellschaft zu verharmlosen. Die skandalöse Beliebigkeit, mit der diese Flachländer den Schandnamen 'Nazi' verteilen, bleibt auch bei ihrer Methode, Fußball zu spielen nicht ohne Konsequenzen. Sie pervertieren ein eigentlich niemals genug zu lobendes Unterfangen - das elegante, schnelle, direkte Spiel - durch beständige Anwendung. Kommen Sie damit zum Ziel - schön für sie. Geraten sie jedoch an einen Gegner, der mit eigener Überlegenheit respektive Kampfkraft sich dem entgegenstellt die Deutschen packens heute abend offensichtlich wieder nicht , rasten sie vollkommen aus. Schau dir den Kluivert an! Verursacht einen Verkehrsunfall mit Todesfolge, vergewaltigt eine Frau und will jetzt als Krönung Matthäus, den alten Fuchs, per Beinschuss überlisten! Und schaffts auch. Lothar macht eine Vierteldrehung zu Kluivert, sein linkes Standbein verschiebt sich zur notwendigen und gar nicht zu beanstandenden Wiederherstellung der physischen Stabilität fast unmerklich nach aussen, und Kluivert, der nur darauf gewartet hat, lässt sich -1 4 3 -
über das 'ausgestreckte Bein' fallen! Ha, wie er abhebt! Fliegt! Hadert! Und einen Freistoß herausschindet! Mauer bilden. Die Gebrüder DeBoer schauen sich an, geben sich Zeichen, wer anlaufen / täuschen, wer anlaufen / schießen soll. Laufen beide gleichzeitig los, auch Davids hinter ihnen setzt sich in Bewegung. Die DeBoers springen über den Ball, den Davids in die Mauer knallt, wo er Andy Möller - hahaha! - an delikatester Stelle trifft, in hohem Bogen Richtung Mittellinie fliegt. Dort steht Bierhoff, der aus dem allseits bekannten Grunde läuferischer Faulheit nicht mit zurückgekommen ist. Er angelt sich den Ball aus der Luft! Bierhoff! Man denke! Kein Abseits, weil im eigenen Strafraum! Und vorwärts, vorwärts, vorwärts! Torhüter van der Sar stürmt aus seinem Kasten, Bierhoff umkurvt ihn sa-gen- haft und locht ein. 1:0!" Bis zur Halbzeit führt Deutschland 2:1: Schwalbe Möller im Strafraum, Klinsmann verwandelt den fälligen Elfer. Angriff der Holländer über links, Flanke Davids auf den Kopf von Cocu 1:2. Gerangel beim Gang in die Kabinen. Die zweite Spielhälfte beginnt mit einem Paukenschlag. Möller, heimlicher Held des Matchs dank trampolinartigem Hodensack und mimischem Geschick, wagt ein Solo über das gesamte Feld und haut die Pille in den rechten Winkel. 3:1. Die Entscheidung? Ho lland mit wütenden Attacken, Köpke pariert großartig. Ideale Konterkonstellation, und in der 71. Minute ist es soweit: Die Holländer vertändeln den Ball (der Mölleresk versagende Bergkamp), Jeremies tankt sich durch, weiter auf Klinsmann, der lässt im Doppelpass mit Bierhoff den letzten holländischen Verteidiger (Stam) aussteigen, schiebt zum ebenfalls mitgelaufenen Möller, der schaut kurz hoch, wie Kant bei der Formulierung des kategorischen Imperativs - ein schneller, sich vergewissernder, den Triumph ant izipierender Blick -, sieht den weit vor seinem Tor kauernden Van der Sar und überwindet ihn mit einem Heber, ach was, mit einer Bogenlampe! 4:1! Das zweite Tor der Holländer in der Nachspielzeit ist -1 4 4 -
Ergebniskosmetik. Nächster Gegner: England oder Argentinien. Rate jedem zu einem künstlichen Koma! Die Vorteile liegen auf der Hand: Wenn du von deiner Reise in die Nacht zurückkommst, erfährst du, was wahre Freundschaft ist. Meinsell, das berichtet Schwester Benedikta ("Son kleiner Feiner, nicht wahr?") hielt treu die Wacht an meinem Bett. Eine Minute lang, wenigstens, die Finger vor dem Genitalbereich verschränkt, Gedenkminute. Schiever hingegen vertrieb sich die paar Sekunden vor seinem bewusstlosen Mitarbeiter mit Taschenbillard: Hände in den Hosensäcken, die Nase hochziehend, seine obligatorische Sommergrippe. Beide hinterließen Literflaschen Traubensaft, das relativiert die Freundschaft bedauerlicherweise. Etwas peinlich muss Petras Auftritt gewesen sein, die mir auf der Intensivstation beizustehen wünschte und der vom Pflegeleiter genannten Bedingung eines verwandtschaftlichen Verhältnisses ihr hysterisches "Lebensgefährtin!" entgegen schleuderte. Der zweite Vorteil eines künstlichen Komas liegt darin, daß du eben solche Äusserungen nicht hören kannst. Die Geschichte findet gewissermaßen ohne dich statt. Massaker weltweit, spannende und langweilige Fußballspiele, wahrscheinlich sogar ein richtiger Atomkrieg: du kriegst nichts mit. Petra, um die Gewährsnonne abermals zu zitieren, verbrachte den Montagmorgen an meinem Bett, bevor sie zu einem Dreh im Umland musste. Eine frische gelbe Rose in der Blumenvase. Der dritte und offenkundigste Vorteil zeitweiliger Nichtteilnahme am Leben manifestiert sich in einer sowohl körperlichen auch auch geistigen Erfrischung. Man hat gesunden Hunger, und das Essen schmeckt einem. Die Pfanne wird herbei geschleppt, da hat man selber schon den Hintern gelüftet und dirigiert die Lernschwester mit dem Gefäß auf den rechten Platz. Bandelt gar mit ihr an und ästimiert die doppelte Abfuhr als neckische Kurzweil. -1 4 5 -
Gestern nacht habe ich Gesine mühsam davon abhalten können, die Polizei einzuschalten. Nach dem Ärger mit denen! Als Petra ins Zimmer, an mein Bett stürmt - die Andy Möllerin der Menschenfreundlichkeit irgendwie - und der Frage nach meinem Befinden ("phantastisch!") gleich die nach der Vereitelung weiterer Attentate anhängt, da ist guter Rat teuer. "Du spielst mit deinem Leben, weil du ein eitler Affe bist! Vier Mordversuche - " " - die alle vier unglückliche Zufälle sein können." "Auf einmal? Neulich warst du anderer Meinung." "Beim armen Boskonz läuft es auf Magendurchbruch hinaus." (laut Gesine. Gift wurde keines nachgewiesen. Die Experten grübeln noch, wie es bei einem Magendurchbruch zu solch katastrophalen Auswirkungen kommen kann). "Und überleg doch: Die Pumpe auf volle Kraft zu drehen wäre ein stümperhafter, weil nur dank unwahrscheinlicher Umstände gelingen könnender Mordversuch. Ich schlafe fest, der Killer besitzt alle Möglichkeiten, mich auf tradierte und bewährte Weise auszuschalten. Stattdessen pumpt er einen Beutel voll, tz!" (Oder warnt mich nur: das letzte Mal, mein Guter...) "Dir ist nicht zu helfen!" "Doch. Durch dich. Habt ihr gefilmt?" "Gestern nachmittag, als wir vom Dreh zurückgekommen sind. Egbert war daheim, hab ich vorher abgecheckt. Ist aber nicht rausgekommen. Muss uns gesehen haben. Nur seine kleine Tochter, acht oder neun, hat gefragt, was wir da machen." "Und?" "'Dein Papa kommt ins Fernsehen.'" "Ausgezeichnet!" Glauben Sie an psychische Inversion, Gesine? Lassen Sie es mich so erklären: Was schwarz war, wird weiss, und das Helle -1 4 6 -
verdüstert sich. Ein junger Hund schnüffelt spielerisch herum, verliert die Fährte und nimmt sie - zufällig oder aus einer Laune heraus - wieder auf, bis er eines Tages müde und hungrig vor der gleichen lausigen Hundehütte landet, die einst verlassen wurde, weil einem die Witterung in der Nase kitzelte. So einer war ich. Ein gewöhnliches Läuten an meiner Wohnungstür änderte alles. Ich wurde zum Bluthund, gewillt, nicht aufzugeben, bevor die Quelle der Witterung aufgestöbert sein würde. Sie können das einen radikalen Einstellungwandel nennen, eine Umkehrung der bisher so gehegten Charaktereigenschaften. Aus Zaghaftigkeit wird Entschlossenheit, pragmatische Diplomatie weicht dem direkten Ansteuern einer Utopie, Sensibilität schlägt um in Brutalität. Man vollzieht diesen Wandel nicht allmählich. Er ist kein Lernprozess. Er kommt von einer Sekunde auf die andere. Die Türklingel an diesem Samstag, 17 Uhr, im Radio die Konferenzschaltung der Bundesligaspiele. Vor zwei Tagen hatte ein seltsames Pärchen in einem Café gesessen, sich anschließend separat betrunken, im selben Bett die Nacht verbracht. Heute horchte der Mann den Schilderungen phonophiler Schwätzer. Vor der Tür stand ein ziemlich dicker Mensch im grauen Anorak. Mein "Ja, bitte?" ging in seinem "Jüschling, Kriminalpolizei" verschollen. Er hielt mir einen Ausweis hin und tappte in den Flur. "Darf ich reinkommen?" Im Wohnzimmer lärmte die Fußballübertragung, Jüschling, kein Freund des Passivsportes, bat um Ruhe. "Und? Worum geht’s?" Er setzte sich auf die Couch. "Darf ich mich setzen?" (Etwas in seiner Wort/Taten Koordination schien reparaturbedürftig.) "Kennen Sie Hanns-Lothar Weber?" -1 4 7 -
"Nein." antwortete ich einigermaßen ehrlich. "Aber Diana Weber kennen Sie?" Jetzt mal vorgehen wie ein Beamter. "Darf ich noch einmal Ihren Ausweis sehen? Welche Abteilung sagten Sie? Tötungsdelikte? Was führt Sie zu mir?" Er streckte seine Beine, daß die Kniegelenke knackten. "Aaah. Das Wetter. Wenns so nasskalt ist. Ja; also. Die Putzfrau der Familie Weber, von der Sie - darf ich das voraussetzen? - wenigstens die weibliche Hälfte kennen, die Putzfrau nun entdeckte, als sie in die Wohnung der Webers kam um zu arbeiten, die Leiche des Hausherrn im ehe lichen Schlafzimmer." Punkt. Ich setzte mich neben Jüschling auf die Couch. "Und Frau Weber?" "Die Sie kennen?" "Wir sind zusammen in eine Klasse gegangen und - waren auch enger befreundet. Wie geht es ihr?" "Ja; also. Frau Weber. Die ist verschwunden. Könnte es sein, daß Sie wissen, wo sie sich aufhält?" "Nein. Woher." "Ich habe ja nur gefragt. Herr Weber wurde am Freitagvormittag ermordet. Gestern also." "Ermordet? Sicher?" "Einer, dem mit einem schweren Gegenstand der Schädel eingeschlagen wird, ist sicher ermordet worden. Und wenn dieser Gegenstand am Tatort nicht aufzufinden ist, sogar sehr sicher. Das lehrt uns die Berufserfahrung." Ich mochte seinen Humor. Schade nur, daß der sich Jünschling als Wirtskörper ausgesucht hatte. "Verstehe. Und Frau Weber verschwunden. Und ich? Wie kommen Sie jetzt auf mich?" -1 4 8 -
"Och -." Der Polizist probierte ein wissendes Grinsen. "Sie haben Sie doch gekannt. Gut gekannt. Wann zum letztenmal gesehen?" "Vorgestern. Wir waren Kaffee trinken." Hat keinen Zweck zu lügen. "Bis halb neun abends?" "Danach ein Bierchen in der Kneipe." "Und dann?" "Tschüs gesagt." Scheisse. "Ich will nicht drumherum reden, Herr Horst. So einer bin ich nämlich nicht, der drumherum redet und die Leute aufs Glatteis führt." Er machte ein Gesicht, als wäre er haargenau so einer. "Gegen halb neun am Freitag ist ein Auto über eine rote Ampel gefahren." (Ich hatte Ihr noch gesagt, wir sollten lieber zu Fuß gehen. Ist doch nicht weit vom Gymnasium bis zu meiner Wohnung. Wenn zwei Besoffene sich gegenseitig stützen, sehen Sie aus wie zwei Nichtbesoffene. Nichts zu machen. Sie lenkte das Auto durch den Verkehr, als gäbe es keinen.) "Hübsches Foto wurde dabei geschossen. Können Sie bei Gelegenheit sehen. Machen da drauf, wenn ich das sagen darf, nicht den glücklichsten Eindruck. Alle beide nicht. Verbiestert son bisschen. Die Ampel steht übrigens beinahe vor Ihrer Haustür." "Sie hat mich heim gefahren." "Also. Kommen wir der Sache schon näher. Und sie ist mit rauf gegangen?" "Ja." "Und wie lange geblieben?" "Nicht lange. Einen Kaffee lang." "Hm." Er stand auf. "Und das ist die Wahrheit?" "Denke schon." "Denken Sie. Ich bin von der alten Schule, Herr Horst. -1 4 9 -
Manche Menschen begreifen ja nicht, in welcher Situation Sie sich befinden, weil sie sich nicht vorstellen können, was eigentlich passiert ist. Eine Ausnahmesituation, Herr Horst, und daher schildere ich den Leuten immer ein wenig das Milieu sozusagen. Haben Sie schon mal Blut gesehen, Herr Horst? Sehr viel Blut?" "Wieviel?" "Literweise. Um den Kopf des Opfers herum ist es seltsam weisslich, das Blut. Das ist Hirn. Der Tote liegt vor dem Bett, und wenn mir nach Komik zumute wäre, Herr Horst, würde ich sagen, er liegt auf einem roten, unregelmäßig geschnittenen Bettvorleger. Mir ist aber nicht nach Komik zumute." "Ich weiss jetzt, was passiert ist. Aber ich weiss noch immer nicht, in welcher Situation ich mich Ihrer Meinung nach befinde. Lassen Sie mich raten: Frau Weber und ich haben ein Verhältnis. Wir verbringen die Nacht von Donnerstag auf Freitag in meiner Wohnung, verabreden die Ermordung Ihres irgendwie deplazierten Gatten, führen die Tat aus, und Frau Weber verschwindet spurlos, damit die Polizei nicht lange nach Tatmotiv und Täter suchen muss. Sind ja schliesslich auch unsere Steuergelder. Wenn mir nach Komik zumute wäre, Herr wie war doch der Name? - Herr Jüschling, würde ich sagen: Da hätte ich doch besser Frau Weber erschlagen und den Mord Herrn Weber in die Schuhe geschoben. Wäre ich ihn auch losgewesen, und Frau Weber sowieso, die ja durch ihr Verschwinden Ihrer Meinung nach so etwas wie ein Schuldeingeständnis abgegeben hat und für weitere Unzucht meinerseits nicht mehr zur Verfügung steht." "Ist Ihnen nach Komik zumute?" "Seit 25 Jahren." "Sie Glückspilz. Aber der erste Teil Ihrer Geschichte - Sie haben die Nacht mit Frau Weber verbracht -, der kommt mir schon ziemlich wahrheitsgemäß vor. Warum auch nicht? Eine -1 5 0 -
attraktive Frau. Figur wie ein junges Mädchen, und als junges Mädchen hat sie - seis drum. Könnte doch auch so gewesen sein: Sie verbringt die Nacht mit Ihnen, kommt am nächsten Morgen heim. Der Ehemann stellt sie zur Rede, großer Streit. Gerade unter gebildeten Leuten, die ansonsten keiner Fliege etwas zu leide tun können, artet das oft aus. Sie greift sich irgendwas Schweres und schlägt zu. Kein Mord. Totschlag. Vielleicht Notwehr. Und Sie vollkommen aus dem Schneider. Sollten Sie sich überlegen. Rufen Sie mich an." Das Haus der Webers steht in einem Neubaugebiet am Stadtrand, wo die Straßen Blumen-, Dichter- und Musikernamen tragen. Propperes Eigenheim mit den Accessoires bürgerlichen Luxus hinter gestutzten Hecken, Kamine an den Aussenwänden für offenes Feuer im Wohnzimmer, demonstrativ hochgemauert und fein geplättelt, Miniaturhäuschen im Garten fürs Brennholz, Scheit auf Scheit geschichtet und gewiss so stabil wie die ägyptischen Pyramiden und die chinesische Mauer. Ich hatte den Bus genommen und lief das letzte Stück, von wütenden Heckenhunden zornig bekläfft. Vor dem Haus parkte eine Flotte dienstlich dreinblickender Wagen und spätestens jetzt wurde mir klar, daß ich nichts weiter sein würde als einer der Gaffer, die vor dem Tor zusammen standen und verbissen diskutierten. Ich gesellte mich zu ihnen. Die Gerüchte gingen von Mund zu Mund und wurden dabei immer abenteuerlicheren Metamorphosen unterzogen. Einbruchsvarianten wurden konstruiert und verworfen, das Wort "Familientragödie" subsummierte eine Reihe rasch erinnerter Details. Nett und unauffällig habe das wohlbestallte Paar gelebt. Zurückgezogen? Jedenfalls kinderlos und ohne die nervigen Grillparties im sommerlichen Garten. Er ein Liebhaber von Obstbäumen, Zwergobstbäumen, präzisierte eine Dame im lindgründen Freizeitanzug, ja, Äpfel zumeist, auch ein Birnbaum, der aber selten Früchte getragen habe. "Weil er ihn falsch geschnitten hat. Im März! Viel zu spät!" -1 5 1 -
Streit? Alles hoffte auf den direkten Nachbarn als Ohrenzeugen, der aber nichts bemerkt zu haben vorgab. "Das wäre aber wichtig! Das müsste man aussagen!" Nun ja, in letzter Zeit sporadisch. Sporadisch was? Wortwechsel. Wortwechsel? Der engagierten Art eben. Ein Intellektueller, kein Zweifel, dieser Nachbar. Gestritten? Könnte man das gestritten nennen? Dem Nachbarn wurde es zuviel, die Variante "Doppelmord" respektive "Mord plus Kidnapping" kam ins Gespräch. Oder sei Frau Weber ganz einfach verreist, und es habe nur noch keiner mitgekriegt? Verreist war ein prima Stichwort. Wohin denn? Verwandte, Freunde, zum Seitensprung. Also DAS doch keinesfalls. Oder, recht überlegt, gerade doch. Ein Kamerateam postierte sich unweit der Gruppe, man verfluchte die Lichtverhältnisse, und eine Hilfskraft spannte zwei runde Reflektoren, die den letzten Rest Sonne bündeln, auf die Szenerie werfen sollten. Den Typen mit dem Mikro kannte ich nicht. Das hier war MORD, Schätzchen. Kapitalverbrechen, kein Backrezept. Kein Umgang für zarte Mädchen. Petra hatte Redaktionsdienst, und ich fragte mich, wie sie sich jetzt fühlen mochte. Ihr Kollege, den Kameramann im Kreuz, kam näher, die Nachbarn verstummten und beteten, irgend jemand zu Hause wäre geistesgegenwärtig genug, den Videorecorder beim Ansichtigwerden der vertrauten Visagen einzuschalten. "Mensch, wird doch erst am Montag gesendet! Is doch nicht live!" Ich entfernte mich zügig, keine Lust auf Interviews. Wieder daheim. Petras Stimme auf dem Anrufbeantworter, erzählte, was ich schon wusste. Sie beschrieb ihre Verfassung als miserabel und bat um Rückruf. Ich wählte die Redaktionsnummer. "Das darf doch nicht wahr sein." stöhnte sie. "Sie war lieb. Kommst du am Montag zur Pressekonferenz ins Polizeipräsidium?" Die Wahrheit, liebe Gesine, die Wahrheit war unglaublich banal: Ich wusste alles. Es lief von Anfang an als ein Film in -1 5 2 -
meinem Kopf, aber ich hatte nicht hingeschaut. Und falls ich doch hingeschaut haben sollte, war ich nicht bei der Sache. Jetzt starrte ich gebannt auf die Leinwand, auch das ein Resultat der psychischen Inversion. Zurück zur Pressekonferenz. Ich wollte nicht hin. Ganz instinktiv: Da hältst du dich raus. Aber ich musste. Am Montagmorgen telefonierte ich mit Meinsell, teilte ihm mit, der Fall Weber sei mein Fall. Meinsell stotterte sich Onomatopoetisches zusammen, nahm einen beherzten Anlauf: "Das geht nicht, K.O." "Was geht nicht?" "Du bist involviert." Woher er das wisse. "Dorsten hat mich gestern abend angerufen. Zu Hause, während der Tagesschau. Er will nicht, daß du dich um den Fall Weber kümmerst, und er hat verdammt recht. Sollte es denn stimmen, daß du die Frau kennst, und zwar besser als wir beide uns zum Beispiel kennen --- Und löchere mich nicht damit, woher Dorsten das weiss, ich hab keine Ahnung. Wenn also oh, verflucht, K.O., dann geht es eben nicht." Ich überlegte und blies den Rauch meiner Zigarette in die Sprechmuschel. Leider musste Meinsell nicht husten. "Bist du noch dran, K.O.?" "Ja. Und ich denke nach." "Da gibt es nichts nachzudenken. Wir schicken eine Praktikantin. Die Eilerts hat Kommunikationswissenschaften studiert und schreibt recht -." "Wenn wir uns jetzt gegenüber säßen, würde ich dir in die Fresse hauen." "Wir beenden das Gespräch wohl besser. Leg dich ins Bett und reg dich ab. Unter uns: Du überschätzt dich." "Die Konferenz ist um halb elf, ja? Und jetzt haben wir neun? -1 5 3 -
Schick deine Kommunikationswissenschaftlerin noch nicht los. In einer halben Stunde ruft dich Dorsten an und wird wünschen, daß ich berichte." "Bist du sicher?" "Ja." "Na schön. Halb zehn." Ich ließ die Körperpflege ausfallen. Dass ich aus dem Mund roch, würde mir von Vorteil sein, daß mein Bart nicht gestutzt, meine Augen nicht erfrischt, nicht vom Rotz befreit waren desgleichen. Klamotten an und weg. Zwanzig Minuten später hatte ich Dorstens Büro erreicht. Ein wunderbar restauriertes Geschäftshaus in der Fußgängerzone, drei Stockwerke mit großzügigen Räumlichkeiten, die ein fähiger Innenarchitekt zu "Job And Living Landscapes" gemodelt hatte, wofür man ihn an den Eiern aus dem Fenster hängen sollte. Von hier aus dirigiert Dorsten das provinzielle Imperium seiner karikativen und kulturmäzenatischen Aktivitäten, vermehrt die Zins- und Spekulationsgewinne aus Festgeldern und Aktienpaketen, dem Grundstock seines Lebenszwecks, den sein Alter flott mit Hilfe der sozialen Marktwirtschaft aus der Arbeitskraft seiner abhängig Beschäftigten gepresst hatte. Im Vorzimmer saß eine hübsche Sekretärin, natürlich, trank aus einem "Mein Chef kann mich mal... zum Diktat rufen"Kaffeebecher, betrachtete den hübschen Bildschirmschoner im hübschen Monitor und grummelte, als ich an ihr vorbeigehen wollte: "Hübsch hiergeblieben." Ich ging weiter, öffnete die Tür zu Dorstens Büro. Er fläzte sich im Sessel, setzte sich erschrocken in die Arbeitgeberposition, wollte etwas sagen, aber kam nicht mehr dazu. Ich hatte ihn an der Unterlippe erwischt, er kippte samt Designerstuhl nach hinten und war vorerst auf dem Teppichboden mit der Rückgewinnung eines klaren Verstandes beschäft igt. -1 5 4 -
Die Sekretärin in der Tür schrie auf: so leise, als wolle sie sich selber nicht wecken. "Schon in Ordnung, Gabi." stöhnte Dorsten, sich am Schreibtisch hochziehend. "Ich Dödel hab auf meinem Stuhl geschaukelt und bin umgekippt. Mach die Tür hinter dir zu." Er blutete aus der angeschwollenen Lippe, richtete seinen Stuhl auf und setzte sich. Ich gab ihm ein Taschentuch. "Und? Warum?" "Wenn du das erst fragen musst, bist du noch dümmer als angenommen. Ich fang jetzt auch nicht das große Reden an. Ich muss zur Pressekonferenz, sag Meinsell bescheid." Er hatte sich inzwischen an seinem Schreibtisch wie an normalen Tagen etabliert, das Papiertaschentuch auf die Lippe tupfend, gut sah er aus. "Lass ihn in Ruhe." sagte er bedächtig. "Lauf nicht Amok. Er hat nichts Unrechtes getan." "Interessiert mich nicht. Von wem redest du überhaupt?" Das irritierte ihn. Seinem Gesicht war anzusehen, daß hinter der Stirn ein Häuflein Eventualitäten sortiert und auf seine Beschaffenheit abgeklopft wurde. Eine blieb schließlich übrig und wollte auf zivilisiertem Niveau ausgesprochen werden. "Begabte Leute wie du werden gesucht. Internet. Die Technik ist da, auch Leute, die sie beherrschen. Was fehlt, sich die Inhalte. Textgestaltung. Nie Lust gehabt, da mal einzusteigen? Ich kenne einen Haufen Leute, die Webseiten planen, aber nicht schreiben können." "Ich kenne einen Haufen Leute, die für ein bestimmtes Foto wunderbar Schecks ausschreiben könnten." Dorsten biss sich vor Enttäuschung über soviel Tanz ums Goldene Kalb beinahe auf die geschundene Unterlippe. "Ach so. Wieviel?" "Einszwanzig Zeilengeld. Hundert Zeilen, macht -1 5 5 -
hundertzwanzig. Sprich: Zwanzig Päckchen Zigaretten und ein hastiges Mittagessen im Karstadt." "Nichts darüber hinaus?" "Ruf an." Er griff zum Hörer. Sollte ich, nebenbei, jemals das künstliche Koma zum Jungbrunnen hochgejubelt haben, so sei heute, nach zwei Tagen wacher Wiederteilnahme am Leben, ergänzt: Jungbrunnen durchaus - aber verflucht vorübergehend. Die, so der Dichter, bleierne Müdigkeit der Montagnacht hält sich über den Dienstag, an dem erst am Abend dank argentinisch-englischer Kickerei Vitalität aus der Entfernung grüßt. Mit Spannung erwartet, entpuppt sich das Spiel als beinharter Langeweiler. Joe rettet sich politisch-philosophisch schwadronierend über 120 trostlose Minuten, der Mann steckt in der Klemme. Er kann sich einfach nicht entscheiden, wer nun im Falklandkrieg die Guten und die Bösen waren. Militärdiktatur versus Thatcherismus: Joe wägt ab und befindet, hier sei eine Wahrheit ebenso wenig greifbar wie taktisch durchdachtes Spiel auf dem französischen Rasen. Der junge Owen, ein freches Bürschlein, gefällt ihm ausnehmend gut. Und er auch ist es, der das entscheidende Tor im fälligen Elfmeterschießen erzielt. In Anbetracht des bisherigen Pechs der Insulaner bei Elfmeterschießen ein Ergebnis, mit dem man leben könne, zumal der Thatcherismus seit längerem passé sei. Am 4. Juli kommt es folglich zum Klassiker England gegen Deutschland. Gesine, die gegen halb zwölf erscheint, müde wirkt und auch durch einen erzählten Mord nicht munterer wird, mokiert sich über meine Gewalttätigkeit. Wie schwer denn Dorsten getroffen worden sei? Warum hat sie Mitleid mit dem Kerl? Gerade schwer genug, antworte ich, eine abgebremste Gerade auf die Lippe, sieht spektakulärer aus als es ist und macht keinen Zahnarzt froh. -1 5 6 -
"Sie schlagen den Esel und meinen den Reiter. Dem Egbert weichen sie aus." So könne man das nicht sagen. Kipp zuerst den Bauern, die Türme, die Läufer vom Brett, dann attackiere den König." "Sie vergessen die Dame." Die Dame - ja. Auf der sehr unergiebigen Pressekonferenz Meinsell hatte die Praktikantin sicherheitshalber doch geschickt - gab es nichts außer den bereits durchgesickerten Fakten. Der Aufenthaltsort von Diana Weber sei weiterhin unbekannt. Ihre Spur verliere sich am Abend des Mordvortages, eine Beziehungstat könne nicht ausgeschlossen werden. In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Die Ärztin hat mir zwei Tabletten dagelassen, und wahrscheinlich schlafe ich deshalb nicht ein, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich die Pillen nehmen oder es mir verkneifen soll. Schließlich schlucke ich sie, schlafe aber trotzdem nicht ein. Zum erstenmal plagt mich die Schwüle, und am Morgen klebe ich in meinem Schweiss. Den Absauger hat man entfernt, doch merkwürdig: Mir fehlt etwas ohne das Ding. Ich glaube nicht, daß sie den Apparat weggenommen, den Schlauch aus dem Bein gezogen hätten, wäre der Zwischenfall nicht gewesen. Ergo: Die Gefahr, daß mein Blut vergiftet wird, besteht noch. Jedenfalls theoretisch. Solche depperten Gedanken im Morgengrauen. Depperte Angst. Die Visite dauert nur drei Minuten und bringt ausser der Mitteilung, mein Gehirn gelte medizinischerseits nicht mehr als erschüttert, die zwischen Chefarzt und Oberschwester ausgetauschte Nachricht, Frau Krund habe angeregt, das nach Boskonzens Ableben verwaiste Bett neu zu belegen. Muss ihr das ausreden. Der Tross ist keine fünf Minuten aus dem Zimmer, als die Lernschwester mit frischem Bettzeug hereinschneit und mich ohne Vorwarnung zu einem "Herrn Dörfler" beglückwünscht, dem netten Herrn aus Zimmer 23, der dort mit einem siechen Ex- Landwirt nicht zurecht komme und -1 5 7 -
um Verlegung gebeten habe. "Immer gesprächig, da geht die Zeit viel schneller vorbei." Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und schlafe ein. Mittwochnacht. Am Nachmittag hat mich die "Geschichte des Folkrock" recht angenehm unterhalten, ein sperriges Buch in Din A4, das mir Petra besorgt hat. Sie kann nur auf einen Sprung - "Trabbel im Landtag. Alles okay? Da, hast du was zu lesen." -, ihr Gesicht glänzt rot, die Haare sind nass, Rock und Bluse zerknittert. "Komm nicht zum Bügeln. Morgen is Redaktionskonferenz. Aber übermorgen bin ich da; versprochen. Gegen Abend. Wiedersehen." Ich drücke ihre Oberarme: "Ja, gut, übermorgen. Und dann sag ich dir was." Die Lernschwester hat das Bett ab- und ihre Glückwünsche zurückgezogen. Der Ex-Landwirt ist gestorben, und Dörfler, endlich stressfrei, bleibt in Zimmer 23. Hochsommer sei keine gute Zeit für Krankenhäuser, berichtet die Kleine, das habe sie festgestellt. "Wir sind so was von unterbelegt. Wenn wirn Hotel wären, wärn wir glaub ich pleite." Zu aggressiver Fernsehwerbung rät der Medienfachmann, Kranksein als Freizeitbedürfnis. Sie meint aber, für Innovationen sei das ganze System viel zu vertrottelt und hat wahrscheinlich recht. "Oh, Mensch, bin ich müde!" Gesine gähnt und streckt sich. "Mehr als ne halbe Stunde hab ich nicht. Schade, daß das nicht geklappt hat. Ein Zimmergenosse ist zwar keine Sicherheitsgarantie, aber -." "Tun Sie mir den Gefallen und setzen sich nicht mehr für so was ein?" -1 5 8 -
"Sie sind wohl lieber tot als gesprächig. Son netter Bettnachbar, vielleicht einer, der nicht viel redet." "Gibts nicht. Menschen in Krankenhäusern wähnen sich in Talkshows ohne Sendeschluss. Wenn einer fünf Minuten das Maul hält, ist er entweder entlassen oder tot." "Tot. Also ich hab Sie gestern richtig verstanden? Sie sind ein anderer geworden? Zielgerichtet. Geradlinig. Es reicht Ihnen. Sie klären den Fall zügig auf." "Dem Dorsten eins in die Fresse zu hauen - es mag Sie berechtigterweise schockiert haben - war der Auftakt. Der Rächer betritt die Bühne. Zorro oder so was." Wollheim handelte nun doch mit Disketten, Farbkatuschen und sonstigem PC-Zubehör. Er hatte extra ein Eckchen in seinem Laden freigemacht und schraubte an einem schmalen Regal. "Wie Sie sehen, will ich es doch mit den neuen Technik auf meine alten Tage probieren." sagte er entschuldigend und deutete zur Theke. "Könnten Sie mir den grünen Kreuzschrauber geben? Nein, nein, danke, bin gleich fertig." Ruhig wars, noch hell draußen, erste Wärme. Mit hübschen deutschrussischen Zeitschriftenkäuferinnen konnte nicht gerechnet werden, das Gymnasium beherbergte an diesem und künftigen Mittwochnachmittagen einen VHS-Kurs, aber keine Deutschklasse. "Erwarten Sie von mir keine Erklärungen der menschlichen Psyche, lieber Herr Horst." sprach schweratmend der Händler / Handwerker und schüttete ein Döschen Portionsmilch in seinen Kaffee. "Je genauer Sie sie kennen, desto gewisser kommt es Ihnen vor, daß sie mit keinem Regelwerk zu konfektionieren ist. Ich bin nun jenseits der Siebzig. Mein Leben lang habe ich früher mehr, später weniger - geglaubt, es ließe sich die Natur des Menschen mit Hilfe seines Verstandes zumindest erklären. Von 'bändigen' oder 'beherrschen' habe ich nicht lange geträumt. Mitte der Fünfziger war ich Lehrer. Heute würde man sagen: ein -1 5 9 -
engagierter, damals schimpfte man so einen wie mich einen Idealisten, was gleichbedeutend war mit Kommunist. Der Grundfehler des Kommunismus ist es, daß er die Natur ignoriert. Macht er dann die Erfahrung, daß sie tatsächlich existiert, will er sie beherrschen. Beherrscht er sie, ist er ihr schon unterlegen. Anders verhält es sich mit dem Kapitalismus. Der Kapitalismus verkauft uns die Natur des Menschen als seinen Verstand. Sie wird nicht mehr beherrscht, sondern herrscht. Je rationaler wir aber handeln, desto radikaler befreit sich die Natur von den Regeln und kehrt zu ihren Ursprüngen zurück: fressen und überleben wollen, sich fortpflanzen." "Und wie verhält es sich in Wahrheit?" "Weiss nicht. Die Natur nennen wir Psyche, aber das ist falsch. Die Psyche ist die Handlangerin der Natur und das Feigenblatt des rationalen Denkens. Das heisst: Auch das rationale Denken ist Natur... Aber entschuldigen Sie: Ich plappere das so raus. Ich habe wirklich keine Ahnung, über was ich rede, und merke es immer dann, wenn alles unlogisch wird. Ich bin Pessimist, wissen Sie. Der Frau Weber, gebe Gott, daß sie noch lebt, wünsche ich alles Gute. Gerechtigkeit gibt es nicht, also mag sie sich irgendwo zu Tode leben, wie wir alle das tun. Noch Kaffee?" Wollheim hatte sich ein Buch mit den Grundbegriffen der Computertechnologie gekauft, um auf die Wünsche seiner Kundschaft mit adäquatem Vokabular eingehen zu können. Der Vertreter, ein besonders gewiefter Zunftgenosse, wollte ihn auch zum Handel mit Software überreden, CD-Roms, die - ihm, Wollheim, sage man damit nichts Neues - in bälde das gedruckte Wort ablösen würden. Wollheim musste gestehen, weder Software noch CD-Rom selbst in den gröbsten Zügen definieren zu können, aber an das Ende des Buches glaube er keinesfalls. "Das Buch wird bleiben. Vielleicht, eines Tages, bloß noch, weil das in ihm gespeicherte Wissen begrenzt und überholt ist. Was sehr tröstlich sein wird. Nur sagen Sie das mal einem -1 6 0 -
Vertreter." Unsere Gespräche segelten über leicht bewegten Meeren. Es war kein Land in Sicht, man müsste ertrinken und tief sinken, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Wohnung oben? Endlich von einer entfernten Verwandten, der letzten Trägerin Siebenlistschen Blutes, aufgelöst. Ich fragte mich, was die Gute mit fünf Schlafzimmern anfangen würde. "Ach, ich bin ja auch hin und her gerissen, ob ich noch mal vermieten soll. Der Vertreter übrigens hat etwas von einem 'Internet Café' gefaselt und von Renditen in zweistelliger Höhe. Hab gar nicht mehr richtig zugehört. Alle halten sie mich für verrückt, daß ich mein Kapital quasi in Frührente geschickt hab und nicht mich in Spätrente." Er griente und wischte sich mit dem Taschentuch über den sabbernden Mund. "Aber muss man immer von etwas profitieren? Wenn Wohnungsnot wäre, ja dann." Seine Frau habe Geld mit in die Ehe gebracht; erleichtert vieles. Immer gut vorgesorgt. "Als die Frau vor elf Jahren gestorben ist, habe ich dieses Haus vo m Geld der Lebensversicherung gekauft. Verrückt, was? Über sechzig schon, keine Nachkommen. Aber ich schlafe, arbeite und lebe lieber in meinem Geld als es auf der Bank zu lassen." Wir führten noch ein Gespräch über Füllfederhalter. Wollheim lamentierte über die Unzuverlässigkeit heutiger Modelle, die Achillesferse, so ausgedrückt, sei natürlich die Verbindung zwischen Tintenpatrone und Federspitze. "Temperaturschwankungen etwa führen zu Verstopfungen. Tinte trocknet ein, klumpt. Ich werde narrisch, wenn Le ute die selben Füllfederhalter mit sich führen, die sie auch daheim benutzen. Stellen Sie sich das vor: drinnen warme 20 Grad plus, draussen kalte 10 minus. Kein Wunder. Aber auch generell die Herstellung heutzutage. Der Preisdruck. Massenfertigung, und -1 6 1 -
fragen Sie mich nicht, wieviel Kinderarbeit da drin steckt. Die teuren sind auch nicht besser. Vogelscheuchen in Ballkleidern." Fünfmal gibt es Donnerstagnacht Hektik auf dem Flur. Rennen, Türenschlagen, das Quietschen rollender Betten, Verbales zwischen Wispern und Schrei. So eine schöne, anheimelnde Nacht eigentlich. Eine Gewitterfront ist durchgezogen, ein polternder, in seiner Rage ehrlicher Berserker, dessen Furioso jetzt nur noch für gelegentliche Aufhellungen am Horizont taugt. Merklich abgekühlt, nicht mehr so schwül. Zwischen Hektik Nummer zwei und drei kommt Gesine, schiebt mich schnell ans Fenster, wirft ein Päckchen Zigaretten auf die Bettdecke und verschwindet wieder. Nach Hektik Nummer drei stürzt sie ins Zimmer, nimmt mir die Zigarette aus dem Mund, zieht zweimal kräftig an, steckt die Kippe zurück und ist weg. Ganz in weiss heute, sehr hübsch. Die Tage sind Alltag geworden. Schwester Benedikta scheucht mich frühmorgens aus dem ersten Schlaf, schiebt mir ein Thermometer ins Maul, das sie fünf Minuten später, wenn sie das Waschzeug bringt, mir zu öffnen befiehlt und den Stab herauszieht. Blick auf die Quecksilberlinie und Eintrag in den Temperaturspiegel. Habe ich das Waschen erledigt, bekomme ich Frühstück. Danach schlafen bis zum Mittagessen, zweimal die Woche vom fahrenden Volk der Ärzte, Studenten und Schwestern gestört, die mich visitieren und sich auf Latein unterhalten. Lesen, Musik hören nach dem Essen, auch Besuche im Internet. Norwegen hat Italien hinweg gefegt, Joe ist beeindruckt und unk t, das sei sein persönlicher Geheimtip fürs Finale, schon wegen des kriminellen Potentials in der Mannschaft. Nigeria? Knapp gegen die Dänen gewonnen. Naja, die Dänen. Nächstes Spiel gegen Brasilien, das dürfte das Ende sein für Afrikas Träume. Meistens gö nne ich mir nachmittags die zweite Hälfte Schlaf. Lasse den Kaffee ausfallen, verschiebe auch die Verrichtung der -1 6 2 -
Geschäfte auf die Zeit nach dem Abendessen, das man hier kurz vor sechs serviert. Lesen, Musik hören und warten. Die Nikotinsucht habe ich tagsüber im Griff, um ihr abends und nachts hemmungslos zu verfallen. So vergehen die Tage - ach ja, Petras Besuche noch. Und die Nächte? Ohne Gesines Anwesenheit bestehen sie aus Rauchen und Dösen, Sinnieren und Erinnern. Es ist schon nach drei, als sie endlich, entsetzlich blass, ihren Platz auf der Bettkante einnimmt und in Ruhe eine rauchen darf. Dunkel im Zimmer, wir begnügen uns mit der natürlichen Beleuchtung. Ich habe mir - auch solche Dinge müssen erwähnt werden, auch wenn sie einem nicht zur Ehre gereichen - ich habe mir vorhin überlegt, wie es rein technisch hinzukriegen wäre, mit Gesine zu schlafen. Sie müsste nach oben. Und die Beine mächtig spreizen, denn der Gips ist dick, meine Beine laufen wie die längeren Seiten eines spitzen Dreiecks auseinander. Es wäre aber machbar. Rein technisch. Wir wollen es aber vorläufig dabei bewenden lassen. "Ich werde aus Ihnen nicht schlau." sagt sie unerwartet und matt. "Sie spielen ein Spiel mit hohem Risiko - und es scheint Sie nicht zu kümmern. Immerhin hat eine Zeitlang Mordverdacht gegen Sie bestanden, obwohl in der Presse darüber nie etwas verlautet ist." "In der Presse? Woher wissen Sie das? Haben Sie etwa...?" "türlich! Wie soll denn ein armes einsames Luder wie ich sonst seine Freizeit rumbringen!" "Suchen Sie sich einen Mann." "Ich spreche jetzt von sinnvollen Beschäftigungen. Und ausserdem habe ich einen - na, wenigstens aufgesucht." "Ich ahne Schlimmes. Den stets auskunftsfreudigen Herrn Bibliothekar!" "Wirklich ein seltsamer Mensch. Dass ich mich für SechzigerJahre-Beatmusik begeistern kann, hat er mir nicht abgekauft; -1 6 3 -
sondern erstmal examiniert. Schande, oh Schande! Ich kannte nicht einmal die Small Faces!" "Wer kennt die schon." "Konnte aber einiges dadurch wettmachen, daß ich meine persönlichen Daten für sein biografisches Archiv komplettiert habe. Und dann hat er mich bereitwillig IHRE Bio einsehen lassen. Beeindruckend." "Daran ist nichts beeindruckend, abgesehen vom paradigmatischen Lebenslauf eines Versagers, den sie wahrscheinlich nirgendwo sonst so nett präsentiert kriegen." "Sie kokettieren. Viele wären froh, so leben zu können wie Sie." "Sie auch?" Antwortet nicht, gibt mir aber einen Stupps auf die Nasenspitze. "Erzählen Sie lieber weiter. Sie ergreifen fortan die Initiative, ja? Die Nebel lichten sich, die Geschichte steuert ihrem dramatischen Höhepunkt zu." * Obwohl die Ermittlungen nie über den Stand des ersten Tages hinauskamen, veränderte der Fall Weber doch so mancherlei. Es blieb der Phantasie des Betrachters überlassen, Diana für ein Opfer oder die Täterin zu halten, eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Sah man in ihr ein Opfer, dessen Leiche noch nicht aufgefunden war, lag "die Vermutung nahe, daß sie von der Gewalt vernichtet worden ist, die sie bekämpft hat" (um aus meinem großen Artikel zu zitieren). Brandmarkte man sie hingegen als Täterin, dann - ich zitiere mich ein zweitesmal "wäre sie ein Beispiel für die beunruhigende These, daß Gewaltlosigkeit nur das Privileg derjenigen ist, die keine Gewalt auszuüben brauchen, solange sie sich anders zu helfen in der Lage sind". -1 6 4 -
Im Namen ihres Vereins schrieb Frau Fänz-Ullert einen begeisterten Leserbrief. Der Autor habe eindringlich geschildert, wo man bei der Suche nach Tatmotiv und Tätern fündig werden könne. Nein, sie rede nicht der Kollektivschuld das Wort. "Doch ein paar von der sie ständig berieselnden Musik irregeleitete arme Geister könnten zum Zwecke des Rachenehmens in das Anwesen der unglücklichen Familie Weber eingebrochen sein, den Hausherrn erschlagen und Frau Weber - " Hier raubte ihr reges Phantasieren sämtliche Worte. Auch Conny Kuntze, Inhaber des für einschlägige Töne bekannten "CD-Shops" raffte sich zu einem Leserbrief auf, in dem er den vertrackt philosophischen Satz von der Gewaltlosigkeit als Konsequenz fehlender Notwendigkeit zur Gewaltausübung dahingehend auslegte, "dass diese 'Damen' mit ihrem Pazifismus doch nur ihre Aggressionen abreagieren wollen, indem sie andere der Aggression bezichtigen. Wir Death Metal Fans können keiner Fliege etwas zu leide tun, und warum nicht? Weil wir uns bei unserer Musik abreagieren! Ich frage mich jetzt aber, wobei reagieren sich die 'Damen' ab? Beim Männertotschlagen? Der Autor hat jedenfalls recht: Wenn sies mit Argumenten nicht mehr regeln können, greifen sie zu Steinen oder was weiss ich." Dies optisch zu unterstreichen, wurden die Aussenwände des Gebäudes, in dem das Büro der Jugendschützerinnen untergebracht war, mit Hakenkreuzen und griffigen Slogans verunziert. Tags darauf ging spät nachts die Fensterscheibe von "Kuntze's CD-Shop" zu Bruch. Sei es durch die Leserbriefe oder eine zweite, genauere Lektüre meines Artikels: Jedenfalls geschah es schließlich, daß diejenigen, die bisher nur den ersten Satz der Kernaussage zur Kenntnis genommen und als Hinweis auf die Schuld der Metaller ausgelegt hatten, auch den zweiten Satz rezipierten. Und wer aus der These des zweiten Satzes die Überzeugung abgeleitet hatte, wohltätige Damen neigten zur Gewalt, wenn -1 6 5 -
kein anderes Mittel gegeben war, der las nun staunend den ersten Satz. Und beide schrieben erneut Leserbriefe. "Der unverantwortliche Autor" - oh, Frau Fänz-Ullert wusste, wie man schon mit einer starken Einleitung vernichten konnte! der unverantwortliche Autor sei in dem Bestreben, etwas Gescheit-Abstraktes zu verfassen, weit über das Ziel hinaus geschossen. "Sind denn Menschen, die sich zum Pazifismus, zur Kultur des Miteinanders bekennen, automatisch verkappte Totschläger? Was wird hier diskreditiert und, vor allem, von wem zu welchem Zweck?" Weniger Frage- denn Ausrufezeichen verschwendete Conny Kuntze: "Wenn so ein Schreiberling behauptet, wir hätten mit dem Mord auch nur das Geringste zu tun, sollte er sich vorsorglich nach einer guten Krankenhaustagegeldversicherung umschauen. Bis dann, Bruder!" Egbert, der unermüdliche Moderator zw ischen den Fronten, schaltete sich ein und organisierte eine "Diskussionsrunde". Ich war nicht eingeladen, ja, man hatte mich gar zur "persona non grata" (Fänz-Ullert) respektive zum "Knieficker" (Kuntze) erklärt. Es gelang dem eloquenten Politiker schließlich, die Streitparteien zwar nicht zu versöhnen, jedoch einen Waffenstillstand auszuhandeln. Eine "Arbeitsgemeinschaft" wurde gegründet, mit Vertretern beider Gruppen paritätisch bestückt und von Egbert geschickt geleitet. Abbau von Vorurteilen durch gemeinsames Nachdenken - Toleranz als oberste Richtschnur gesellschaftsrelevanten Handelns Abrücken von der Absolutierung eigener Positionen - schlicht: Es war zum Kotzen und hatte Erfolg. Schievers freute sich: "Wir sind im Gespräch! Alles wartet auf deinen Kommentar, K.O.! Die überregionale Presse - der Spiegel! - hat den Fall aufgegriffen! Schreib! Gib ihnen Saures! Prügel Sie! Hau den Egbert in die Pfanne! Scheiss auf Dorsten! Oder besser noch: Nimm alles positiv! Wie ein Artikel im Maxmarkt die Streithähne an einen Tisch gebracht hat! Die -1 6 6 -
aggressionsabbauende Kraft des geschriebenen Worts! - Oder, am besten: Lass die Sache auf sich beruhen. Ich habe keinen Bock, mir die Bude überm Kopf anzünden zu lassen oder dass mir die Inserate abgezogen werden."
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8 Die Pfauenfeder Heute muss ich durchhalten, darf nicht einschlafen. Gesine hat sich ein paar Tage frei genommen - "regenerieren; meine Haut ist ganz grau.". Tatsächlich sieht sie abgezehrt aus. Einen Happen Frühstücksfernsehen gönne ich mir; doch als das allfällige "WM Kompakt" droht, wird abgeschaltet. Psychologisch bedenklich mag es ja sein, daß ich jetzt nicht einmal mehr in der Lage bin, mir Fußballspiele anzuschauen, deren Verlauf mich nicht überraschen kann. Liebe ich das Resultat um des Resultates willen? Wenn ja: warum? Gegen die gewohnheitsmäßig einsetzende Müdigkeit hilft Musik der härteren Gangart. Erfreulicherweise bringt mir die mit den Aufräumarbeiten in meiner Wohnung voll beschäftigte Praktikantin kurz vor neun einen weiteren Stapel CDs. "Ich hab ma nach meinem Geschmack ausgesucht. Sie ham ja auch Punk! Hut ab!" Mädchen, Mädchen! Als der Punk abging, war ich Anfang zwanzig! Sie überbringt mir die redaktionelle Nachricht, man respektiere zwar meinen Krankenstand, sei aber nicht der Meinung, er berechtige zu totaler Faulheit. "Ebbes Fötonistisches halt." schlägt das brave Kind im Leinenhosenanzug vor. "Machen Sie doch was darüber, warum Punk auch für ältere Menschen gut sein kann." Ich bin versucht, sie mit einem gezielten Traubensaftflaschenwurf in den Praktikantinnenhimmel zu befördern und damit gleich zwei Ärgernisse aus der Welt zu schaffen. Ist aber was dran. "Punk und Alter". Clash hören und Gedanken in den Laptop tippen. Nach zwei Seiten weiss ich immer noch nicht, wos denn hingehen soll und lösche den Schmand. Bis zum Mittagessen habe ich es wenigstens schlaflos geschafft. Die Frau mit dem Hauch von feuchten Stoffen am Leib -1 6 8 -
kommt zum Nachtisch. Dass es gestern nacht kühl war, ist historisch geworden, irrational und nicht mehr nachzuvollziehen. Die Frau mit dem Hauch von feuchten Stoffen am Leib kniet auf der Bettkante, stützt sich mit der Linken zwischen den Gipspipelines ab und legt mir die Rechte vor die Augen. Blind rieche ich ihren Atem, rieche ihren Schweiss und schmecke ihn dann. Ihre Zunge zählt meine Zähne, ihre Linke stellt sich wie eine gereizte Klapperschlange auf, schießt vor und schnappt die Beute. Die Frau mit dem Hauch von feuchten Stoffen am Leib tut Dinge, die Schwester Benedikta einen Märtyrertod bescheren würden. Der Mann mit den zwei Zungen im Mund und der heissgeriebenen Vorhaut tut Dinge, die die Frau mit dem Hauch von klitschnassen Kleidern auf dem Fußboden zu einer Weltvergesserin machen. Und weil beide solche Dinge tun, stöhnen sie auch beide ein längliches O, als es vorbei ist. Wieder eine Viertelstunde ohne einzuschlafen überstanden. "Müde?" Petra schlüpft in Rock und T-shirt. "Oder einfach nur erschöpft? Darf man hier rauchen?" "Untersteh dich!" "Du rauchst doch auch! Wozu bring ich dir sonst Zigaretten mit?" "Nur nachts. Am Fenster." "Und wie kommst du dort hin?" Das Gespräch nimmt eine gefährliche Wendung und mein nach getaner Arbeit nur ungenügend zu kontrollierendes Gesicht verrät zu viel. "WIE heisst doch gleich noch mal diese Ärztin?" "Gesine?" "Gesine? Schiebt die dich - und dann?" "Rauchen wir." Nichts sei dir zuwiderer als ein eifersüchtig Weib. Sie fährt -1 6 9 -
sich mit den Krallen durchs Haar, entblößt ihre von Ärger zergrabene Stirn und schleudert mir die Hand verfluchend entgegen, so dass, führen Blitze aus den Fingern, solches nicht überraschend wäre. "Bleib vernünftig und sachlich." mahne ich. "Stell dich ans Fenster und rauch für mich mit. Dann erzähl ich dir etwas." Sie gehorcht, wenn auch ungern. - Und pafft das Ding in zwei Minuten bis zum Filter! "So. Schwätz." "Am 12. Juli - " setze ich an. " - ist das WM-Finale in Paris." ergänzt sie vorlaut. "Gemach. Am 12. Juli tagt im Konferenzzimmer des Maienhotels die Spitze unserer derzeit stimmenstärksten Partei!" "Ach!" "Wusstest du das nicht? Kein Wunder. Die Herrschaften legen ausnahmsweise mal keinen Wert auf Öffentlichkeit. Es geht summa - darum, den alten Vorsitzenden zugunsten eines neuen abzusägen." "Ich tipp mal: Egbert." "Egbert. Kannst du dir den Job besorgen?" Petra schiebt Unter- über Oberlippe. "Wie ich das sehe, gibt es überhaupt keinen Job. Am 12. Juli brauchen wir sämtliche Teams für die WM-Berichterstattung. Reaktionen aufs Finale, du kennst ja den Mist. Wenn Italiener oder Franzosen oder alle beide ins Endspiel kommen, sind wir den ganzen Tag vor Ort und filmen später, wie sie sich aus Freude oder Enttäuschung besaufen, hupend durch die Straßen fahren und Fahnen schwenken. Frag mich nicht, was los ist, wenns die Deutschen schaffen sollten. Also die Jungs sind schon clever, ihre Revolution am 12. zu machen, damits keiner mitkriegt." "Keine Chance, doch dort aufzukreuzen? Du allein. Ne kleine Kamera im Anschlag." -1 7 0 -
"Zieh den ganz kurzen Rock an. Und koch unaufgefordert Kaffee. Dann klappts. Aber was bringt es mir?" Ich beginne zu flüstern, sie drückt mir ihren Kopf auf die Nase. "Fünf Schlafzimmer, ja? Kein Puff. Aber in einem Bett kams doch zum Akt. Und davon existieren Fotos. Ein nackter Hintern mit einer Pfauenfeder drin. Und zu wem gehört der nackte Hintern?" Sie richtet sich auf und schnappt nach Luft. "Egbert? Und hat mit dieser alten Schachtel...? Und du hast die Fotos? Zeig her!" "Egbert. Und ich habe die Fotos. Aber natürlich nicht hier. Um die geht’s auch gar nicht. Es geht um das, was sie auslösen werden." "Und ich muss unbedingt zu diesem Dingsda, dem Treffen von denen? Was wird dort passieren?" "Richte deine Kamera immer nur auf Egbert. Egbert, Egbert, Egbert. Vor allem, wenn er seine Rede hält. Es wird etwas geschehen, und danach - adieu Kaffeemaschine." "Und wenn die mich nicht reinlassen? Wo doch im Stillen getagt werden soll." "Sie werden. Ich sorge dafür." Sie überlegt. "Ich muss die Fotos sehen. Vorher." "Traust du mir nicht?" "Nein." "Musst du aber. Das Ganze, mein Liebling, wird medial perfekt inszeniert. Du bekommst Bilder, wie gemacht für die Tagesschau. Und jetzt geh. Zieh dir den kürzesten Rock an, koch den stärksten Kaffee." Das Frühjahr steckte alles in sein kitschiges Gewand. Bäume schlugen aus, und Vögel priesen die bunte wuchernde Natur; Jugendliche frönten nach Feierabend ungestört der rhythmischen Menschenverachtung, und die Damen des Jugendschutzvereins plädierten für Zweisprachigkeit in Kindergärten. Keine -1 7 1 -
Rutschpartien mehr, keine Lawinen von überlasteten Dächern. Harmonie. Immer häufiger erschien in der Zeitung Egberts Foto - nein, nicht DAS. Es zeigte einen entspannt lächelnden Mann, dem man zutraute, hinter solch buddhistischer Ruhe rotiere ein Gedankendynamo zum Wohle der Allgemeinheit. Sein Blick drehte sich scheinbar wie selbstverständlich über den Horizont der unmittelbaren Gegenwart hinaus und musterte dort wohlgefällig Visionen. In der Kunst, das Viele und das Nichts als die Seiten einer Münze zu polieren, hatte Egbert seine natürliche Begabung zum rhetorischen Werkzeug gefeilt. Er verschwieg nichts und ließ vieles offen. Ich hatte Schievers Rat, den Streit zwischen Death-MetalFans und den Damen nicht mehr zu kommentieren, befolgt. Die Sache schlief ein. Diana tauchte nicht auf, die Polizei tappte in dem ihr wohlvertrauten Dunkeln. Anfang Mai, als so das Leben seine n normalen Gang ging, meldete ich mich mit einem Artikel über "Schuld und Sühne" zu Wort, dessen Inhalt von unglaublicher, aber gewollter Flachheit war, aber drei weit über diese Ebene hinausragende Gipfelsätze enthielt. Sie lauteten: "Wenn wir von Schuld reden, meinen wir ein kompliziertes Geflecht aus Ursachen und Wirkungen. Es ist, als habe uns das Schicksal mit einer Pfauenfeder am Hintern gekitzelt und plötzlich bäume sich der ganze Körper auf, liefe Amok und vernichte alles, was ihm entgegensteht. Wer ist schuld? - das Schicksal, die Feder, der Hintern, die Nerven, die Muskeln, die Unglücklichen, die den Weg des entfesselten Körpers kreuzen?" Eine Woche darauf fand ich in meinem Briefkasten eine Einladung zur jährlichen Maiparty der Robert-MeinhardtStiftung. Der mit beneidenswert löchrigem Gedächtnis gesegnete Dorsten erkundigte sich höchstselbst, ob ich an der Lustbarkeit als "persönlicher Gast der Geschäftsführung" teilnehmen wolle, und seine joviale Telefonstimme ließ keinen Zweifel daran, daß eine blutige Lippe zu den Vergänglichkeiten -1 7 2 -
des Lebens gehörte, denen kein Ehrenplatz im Panteon der Erinnerung gebührt. Zu erfahren, es sei mir ein besonderes Vergnügen, endlich einmal den sagenhaften Herrn Egbert in einem Gespräch ausloten zu dürfen, stürzte Dorsten in Verlegenheit. "Ja." antwortete er. "Franz freut sich auch.", doch eine Stimme flüsterte ihm ein: Was meint er damit? Wieso freut er sich? Welche Fragen wird er ihm stellen? "Nein, wirklich, kein Schmu. Ich freue mich wirklich." So tun, als zerreisse es mich vor Freude. "Ich weiss zwar noch sehr wenig über ihn, halte ihn aber nicht unbedingt für eines dieser Arschgesichter, die man sonst..." "Okay, okay" haspelte Dorsten. "Dann wärs ja klar. Bis dann." und legte auf. Manchmal schwitzt einer selbst wenn die Heizung ausgefallen ist. Die in den Räumen der Richard-Meinhardt-Stiftung bollerte tiefwinterlich. Ich setzte mich an die Peripherie des Gestühls, bezupfte die Hose meines Anzugs (Krawattenzwang!) und erging mich in flüchtigen Studien postmoderner Architektur und mittelständischer Physignomien. Von den anwesenden Zelebritäten kannte ich nur die wenigsten; ihnen allen eigen war das geneigte Desinteresse, mit dem sie die öde Abfolge von Grußworten und Referaten über sich ergehen ließen. Zu jedem Mann gab es die passende Frau, und keine, die nicht den Kopf leicht zur Schulter hin gelegt hätte, was - ich vermute mal - ein sicheres Zeichen für Konzentration sein muss, als lausche man verträumt und gebannt auf die letzten Frequenzen der verhallenden Worte. Egbert, der die Eröffnungsrede gehalten hatte - eine seltsam farblose Eloge auf die Erneuerungskräfte des deutschen Unternehmertums -, saß zwischen Dorsten und einer zur japanischen Maske geschminkten Frau. Ihr streichelte er mehrmals zärtlich über die Hand, eine Geste, die in diesen -1 7 3 -
Kreisen öffentlich nur der Ehefrau widerfahren darf. Frau Egberts Gesicht und Dekolleté machten den Eindruck, hier seien eine Unmenge Fünfmarkstücke zur Oberflächenkonservierung in Solarien verbraten worden. Aber - vergiss bitte nicht, wo du bist, Alter - wahrscheinlich hielt man sich im Egbertschen Domizil die Sonnenbank gleich neben der finnischen Sauna im Keller. Ich kam an diesem Abend auch ohne sie auf meine Kosten. Endlich neigte sich die Tortur ihrem Abschluss und Höhepunkt zu. Fünf gescheitelte Musterknaben wurden auf die Bühne gebeten und nahmen Urkunden in Empfang, die mit großzügigen Stipendien verbunden waren. Meine Kleidung kratzte auf der Haut - daran bin ich gewöhnt, und es hat sicherlich etwas mit dem Säuregeha lt der austretenden Körpersäfte zu tun, auch eine Menge mit engen, schlechtsitzenden Stoffen, aber mehr noch mit der Aussicht auf einige unendliche Stunden am kaltwarmen Büffet im Nebensaal (dort hantierten emsig die Mietsubalternen), dem unvermeidlichen Sektorange und den Leuten, die dich ansprechen, weil sie keinen anderen finden, mit dem sie reden könnten. Sie fragen dich alle nach "der Branche", und ich hatte mir eine Legende zurecht gelegt, der zu Folge ich in "High Tech Advertising" machen würde, meine Visitenkarte aber daheim vergessen hätte. Der gesellige Teil der Veranstaltung. "Thüringische Wurstspezialitäten", Lachsbrötchen mit Zwiebelringen, Kartoffelsalat mit Petersilie, Gürkchen und Ei. Ich spießte ein Würstchen von meinem Teller und biss ihm die Enden ab, sollte das Fett nur aufs Parkett tropfen. Senf. Sie hatten nirgendwo Senf. "Senf fehlt, gelt?" Er hätte auch "Der deutsche Unternehmer stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung." sagen können. Und fuhr fort: "Aber perfekt ist nichts und niemand." Wir suchten Deckung hinter Blumenkübeln und standen unter -1 7 4 -
dem massiv gerahmten Porträt Richard Meinhardts, der so blauäugig die Szenerie überschaute, daß ich mir das Lachen verkneifen musste. "Gefällt es Ihnen hier?" Egbert trank von seinem Sektorange und liess mich dabei nicht aus den Augen. Ich sah, wie seine Frau mit Dorsten sprach, ein-, zweimal in unsere Richtung schielte und bestrebt war, ihr Dauerlächeln davor zu bewahren, ein Muskelkrampf zu werden. "Doch, doch. Ich verstehe zwar nichts von der Materie, aber ich nehme an, diese Veranstaltung wird dem deutschen Unternehmer die notwendigen Impulse verleihen." Er lachte hell. "Sie sind tatsächlich so ein Ironiker, wie es Ihre Texte suggerieren. Ich mag Ironie, kann sie mir aber nicht leisten. Im übrigen sollte man die Verpackung nie mit dem Inhalt verwechseln. Und kein Buch nach seinem Schutzumschlag beurteilen." "Und keine Situation nach ihrer Abbildung." Er sah mich scharf an; ganz kurz nur. Lachte wieder. "Jetzt kommen wir ins Philosophische. Die Wirklichkeit und das Bild, das wir uns von ihr machen und dann Wirklichkeit nennen. Plato, Höhlengleichnis." "Mögen Sie Philosophie?" "Nein, ehrlich gesagt. Ich mache mir gerne Gedanken. Aber sie führen zu nichts. Das könnten ja, hoffe ich, die besten Gedanken sein." "Sie reden wie ein Bekannter von mir. Ein Zeitschriftenhändler, der früher Lehrer war." Er trank einen großen Schluck. "Ach ja? Nun, da wir uns kennengelernt haben, sollten wir den Kontakt nicht abreißen lassen. Auch habe ich gehört, Sie tragen sich mit dem Gedanken, eventuell einen Text über mich zu schreiben? Das schmeichelt meiner Eitelkeit." -1 7 5 -
Ich trank einen großen Schluck. "Muss es nicht. Mit dem Gedanken gehe ich wirklich schwanger, wie man so sagt. Leider gibt es Schwierigkeiten. Ich könnte mir sogar vorstellen - aber das bleibt unter uns -, daß ich ein ganzes Buch über Menschen schreibe, die von Berufswegen nicht sagen dürfen was sie denken." "Menschen, die mir lieber sind als solche, die nur denken was sie sagen." "Ich stimme Ihnen zu. Keine abgedroschenen Lebensläufe, sondern die Betonung der Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gedachten, dem Gelebten und dem nur Vorgelebten." Wir redeten schon viel zu lange, und Dorsten machte Zeichen, deutete auf einen korpulenten Herrn, dessen Blick suchend durch den Saal schweifte. "Wir sollten uns ausführlicher darüber unterhalten, Herr Horst. Es wäre mir - ein großes Bedürfnis. Dürfte ich mir erlauben, Sie zu einem kleinen privaten Abendessen einzuladen? Am Wochenende. Lauter interessante Leute, eine lose Gruppe unabhängiger Geister." (Der gemalte Meinhardt sollte bei dieser Formulierung eigentlich seine blauen Augen mit Tränenwasser füllen.) "Sehr gerne." "Das freut mich. Mein Sekretariat wird Ihnen den genauen Termin durchgeben. Es ist immer ein wahrer Akt, bis man solche Menschen zusammen bekommt." Wir traten aus unserem Halbversteck und gaben uns die Hand. Egbert hatte seine Rolle vollendet gespielt, mit der Routine eines Akteurs, der solche Posen nicht mehr vor dem Spiegel einstudieren muss. Ich fand ihn weder sympathisch noch unsympathisch. Er war ein Schauspieler und durfte nicht nach dem Part beurteilt werden, den er auf der Bühne deklamiert hatte. Über ihn selbst wusste ich wenig, und was für ihn sprach, sprach gleichzeitig gege n ihn: seine Frau. -1 7 6 -
Ihr nämlich gehorchten nur wenige Masken, und eine jede wollte umständlich ab- und aufgesetzt werden. Während des Maskenwechsels war das Gesicht nackt, die Schminke Schminke, nichts verbarg, daß etwas verborgen werden sollte. Ich mochte die Frau und hielt Egbert zugute, daß sie ihn mochte. Ich nahm ihm übel, daß sie leiden musste, um ihn zu mögen. Früh aufgebrochen, keinem fiel es auf. Mein Freund, der Bibliothekar, blätterte in Verlagskatalogen und pfiff sich eins ob des feinen Zwirns, in dem ich sein Büro betrat. "Oh, Empfang gehabt, was?" Die Egbert? Lehn stellte den Computer beiseite und klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. "HIER drin, mein Bester, die Dame. Birgit Egbert, geborene Wanz, Der Elektromarkt in der Arndtgasse. 'Kaufen bei Wanz bringt Kundendienst ganz'. Mir unerklärlich, wie man mit solchem Hirnriss reüssieren kann. Man tuts aber. Die Geschäfte führt der Bruder, sie hat wohl eine Abfindung eingestrichen oder ist am Gewinn beteiligt. Keinen Schimmer, wie reiche Leute das so halten. In diesen Familien ist das Geld über Generationen fruchtbar gewesen, da hat kein Krieg jemals was geändert. Die Birgit - und jetzt kommts - ist diplomierte Bibliothekarin und hat, als ich noch jung war und unerfahren, bei mir Praktik um gemacht. Is 37 oder so, hat ne neunjährige Tochter und ein Lyrikbändchen herausgegeben. Vergriffen - das ist das Positivste, was man über Bücher von Bibliothekaren sagen kann, wenn sie nicht gerade von den Lords handeln. Weisst du: Manchmal ist Geld ein Fluch. Die Birgit hätte gerne als Bibliothekarin gearbeitet, denk ich mal. Aber scheint sich in der Familie nicht zu gehören, daß man lohnabhängig ist. Frag mich nicht." Zwei Tage später rief mich Egberts Sekretärin an und lud mich zum Abendessen ein. Nicht bei ihr, versteht sich. Der 4. Juli, ein sonniger Samstag. Gesine, das ist zu vermuten, -1 7 7 -
glänzt gecremt auf der Liegewiese irgendeines Freibads, von plärrenden Gören und Kofferradios genervt, Sand und Gras an den Fusssohlen, mit ihren Gedanken bei einem Eis oder einem Kaffee, einer Abkühlung und, mag sein, einer nächtlichen Zigarette in invalider Gesellschaft. Ich verbringe den Tag mit Lesen und Musik hören, gönne mir einen Ritt auf der Pfanne und warte ansonsten auf den Abend. England gegen Deutschland, beginnt Joe seine Vorbemerkungen zum Spiel, das sei das dritte Tor von Wembley. Ein Mythos, weit über die Grenzen des Sportes hinaus, ein kollektives Trauma, das man dem deutschen Lebensbaum injiziert habe, und es kann selbst in den feinsten biografischen Verästelungen nachgewiesen werden. "Ich bin ein Kind vom Land" bekennt Joe "und habe - als Dorfschüler! - den Studenten und ihren Protesten nichts abgewinnen können, brav meinen Fassonschnitt linksgescheitelt getragen, wiewohl mich die Uschi Obermeier, die Barbusige von der Kommune 1, nicht kaltgelassen hat. Uschi Obermeier, die auch kein Abitur hatte. Eines Tages veröffentlicht die Bildzeitung ein Foto, welches eindeutig belegt, das verfluchte dritte Tor von damals, 66, sei keins gewesen, der Ball von der Latte zurück ins Feld gesprungen, jedenfalls vor der Torlinie aufgekommen. Genau diesen Moment zeigt das Foto: Der Ball berührt den Rasen NICHT hinter der Linie. Somit alles Lug und Trug, Schall und Rauch, England ein Weltmeister von russischen Linienrichtergnaden. Und ich habs lange Zeit geglaubt - paar Wochen, aber das war eben eine lange Zeit für nen kleinen Bub. Bis mir ein älterer Freund etwas über Zweidimensionalität und optische Täuschung erzählte. - Ah ja, Freunde, das Spiel fängt gerade an, aber die werden jetzt erst so rumtaktieren, ich kann also diesen wichtigen Gedanken noch zu Ende spinnen. Der Freund also sagte: 'Stell dir vor, du stehst auf einem Hügel, und dein Vater steht vielleicht zwanzig Meter entfernt' - Fehlpass Jeremies - 'hinter einem Zaun. Er hattn -1 7 8 -
Fotoapparat dabei und will dich knipsen. Geht in die Knie und schaut, daß der obere Rand des Zaunes praktisch die untere Begrenzung des Bildes wird. Jetzt geht er noch etwas mehr in die Knie, so dass es ausschaut, als stündst du auf dem Zaun. Das ist optische Täuschung.' - Heinrich, der linke Flankengott: Es ist zum Atheistischwerden! Ball direkt auf den Kopf des Gegners. 'Jetzt', hat mein Freund weiter gesagt ', schau dir mal das Foto in der Bildzeitung an. Da ist der Rasen nicht eine Fläche, sondern wirkt wie eine Mauer. Senkrecht. Er hat nämlich keine Tiefe, ihm fehlt die dritte Dimension. Der Ball scheint den Rasen zu berühren und zwar weit vor der Torlinie, aber wenn das Bild fünf Hundertselsekunden oder so später aufgenommen worden wäre, würdest du sehen, daß der Ball noch in der Luft ist, was du aber nicht erkennen kannst, weils eben keine Tiefe bei Fotografien gibt. Das Foto beweist also gar nichts, die Bildzeitung lügt.' - Ich habs nicht ganz verstanden, geb ich zu. Aber die Brandanschläge auf das Springerhaus damals, die schienen mir jetzt doch irgendwie gerechtfertigt. Ich hab Marcuse gelesen, und Uschi Obermeier hiess nun Karin Müller, wohnte eine Straße weiter und haschte und hatte keinen BH an. Das ist meine persönliche Story zum dritten Tor. Kommen wir zum Spiel." Es zeigt sich schnell, daß die Engländer mit Scholes, Owen und Shearer über ein ballsicheres und zu überraschendem Kombinationsfussball fähiges Stürmertrio verfügen, das Wörns, Kohler und den verteidigenden Rest deutscher Nation alt aussehen läßt. Köpke rettet mehrmals in letzter Sekunde, ein Kopfball des aufgerückten Dingsbums (Joe hat den Namen nicht mitgekriegt) streicht knapp über die Latte. Unsere alte Krankheit: Die Pässe und Flanken kommen nicht. Heinrich und Ziege Totalausfälle, im Mittelfeld müht sich Thon redlich, steht aber Möller im Weg und umgekehrt. Klinsmann holt sich den Ball des öfteren weit vor dem Strafraum, Bierhoff mit dem Radius eines Bierdeckels. In der 32. Minute wagt Matthäus eine -1 7 9 -
Verzweiflungsaktion, dribbelt mit dem Ball aus der eigenen Abwehr bis zum englischen Strafraum und zieht ab: Seaman hält. Direkter Gegenzug. Verteidiger Adams auf Kollege Anderton, der zu Beckham. Beckham sieht, daß zwischen ihm und Köpke nur noch Kohler und Wörns stehen, er weicht auf die linke Seite aus, Kohler und Wörns stürzen sich auf ihn, Beckham spielt den Ball auf den mitgelaufenen Owen, Kohler und Wörns rennen gegen die Bande, Owen direkt auf Köpke zu, umkurvt ihn, schiebt die Kugel ins Netz. 0:1 aus Sicht der Deutschen. Zweite Halbzeit: Kirsten für Heinrich. Deutschland versucht Pressing im Mittelfeld, die Engländer jetzt verstärkt defensiv, auf die Sprintqualitäten ihrer Stürmer vertrauend. Abermals Matthäus mit Alleingang: wird kurz vor der Strafraumgrenze gelegt, die Chronisten schreiben die 56. Spielminute, als Möller den fälligen Freistoß fulminant über die Mauer hebt, am regungslosen Seaman vorbei. 1:1. Nachspielzeit. England hat sich noch zwei, drei gute Chancen erarbeitet, doch vor allem Shearer, zuverlässiger Kopfballer sonst, trifft das Tor nicht. Bei einem der seltenen Entlastungsangriffe der deutschen Mannschaft kommt es zu Konfusion in der englischen Abwehr, Adams drischt das Leder unmotiviert ins Seitenaus. Thon zur Ecke. Der Ball fliegt hoch in den Strafraum, Klinsmann, Kirsten und Bierhoff steigen, von je einem Engländer flankiert, hoch, verfehlen den Ball allesamt. Der kommt vor die Füße des überraschten Ziege, der einen Schritt nach vorne macht, als wolle er weglaufen, dabei mit der Spitze des Fusses den Ball berührt und ins Tor drudeln lässt. 2:1, Abpfiff. Halbfinale Mittwoch? Frankreich oder Norwegen? Norwegen, tippt Joe, und er hat einen guten Riecher. Egberts bewohnen ein altes, auf Authentizität getrimmtes Bauernhaus, dessen Einrichtung die ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts mit den letzten des zwanzigsten versöhnt. Aus -1 8 0 -
hellen Hölzern ist das Mobiliar geschreinert worden, Antiquitäten neben perfekten Nachahmungen, dazwischen Tische und Regalelemente aus Leichtmetall / Glas als Inseln der Ernüchterung. An den Wänden hängt die Kunstgeschichte exemplarisch ab: Dürers Hase in Pop Art, ein großformatiges Delacroix-Poster (die stolze Siegesgöttin mit der einen entblößten Brust), ein George-Grosz-Triptychon (eigene Zusammenstellung), Picassos Gitarre im Briefmarkenformat, auf Din A3-Größe hochgerahmt, Marcs blaues Pferdchen und eine reichhaltige Auswahl an Nichtgegenständlichem. Sehr gelungen, wirklich; sehr schön. Frau Egbert hatte mir die Tür geöffnet und mein Blumenpräsent mit einem Lächeln entgolten. Sie war heute nur dezent geschminkt, ihre Haut weniger verklebt und lebhafter. Die beim Stiftungsfest vorgeführte Bräunung entpuppte sich nun als kosmetischer Effekt und hatte einer natürlichen Rötung weichen müssen, die darauf hinwies, ihre Trägerin sei mit der Zubereitung des Mahles über dampfenden Töpfen eifrig beschäftigt. "Nein, nein, alles ist vorbereitet. Außerdem habe ich eine Küchenhilfe. Unsere Tochter ist bei der Oma, nur umziehen muss ich mich noch. Franz?" Der Gerufene eilte herbei. "Pünktlich!" stellte er fest, griff meine Hand und zog mich sachte ins Wohnzimmer. Hier saßen zwei frühe Gäste im Disput und bespuckten sich engagiert über die gläserne Tischplatte. Soweit ich es aufschnappen konnte, stritten sie über den Unterschied zwischen Kunst und Kunstanspruch. Ich kam mir jedenfalls vor wie Donnerstags nachts vor dem Fernseher. Sie hiessen - nein, das ist unwichtig. Nennen wir sie "den Rechtsanwalt" und "den Maler", beschreiben den einen als etwa fünfzigjährigen, fast kahlköpfigen Brillenträger, den anderen mit den Worten eines großen Dichters: "Er braucht nur einen widerspenstigen Gedanken im Löwenhaupt aufzustöbern, schon -1 8 1 -
schwillt ihm die Kollerader kindskopfdick." Hoher Blutdruck, runde 60, die Mähne ganz unanständig nahe beim Klischee. "Ah, der Journalist!" tönte der Bass des Anwalts, nachdem mich Egbert dem Duo vorgestellt hatte. "Wir streiten uns gerade, ob der Anspruch, Kunst zu machen, zur Kunst gehört oder diese auch ohne Anspruch entstehen kann." "Ich sage dass ja." brummte der Maler und fixierte mürrisch mein Kinn. "Ich" antwortete ich und suchte verzweifelt nach Prädikat und Objekt, "ich halte es mehr mit der Kunst, Ansprüche zu stellen." Der Anwalt nickte kichernd, nahm seine Brille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. Der Maler winkte ab. "Trinken wir etwas." schlug Egbert vor. Es stellte sich heraus, daß der Anwalt ein Freund des französischen literarischen Existentialismus war, speziell des Albert Camus. Er plante die Herausgabe eines "Codex Camus", in dem, juristisch sauber paragraphiert, ein Grundgesetz, wie es dem Camus'schen Oeuvre extrahiert werden konnte, formuliert werden sollte. "Das Gesetzmäßige als Abstraktion des Konkreten." brachte er es auf den Punkt und reizte den Maler zu einer unvermittelten Suada, die gegenständliche Kunst betreffend. Die Kunst - er trank rasch einen Schluck Whiskey - die Kunst sei nun einmal von Natur aus abstrakt. Worauf ich entgegnete, wenn dem so wäre, gehöre auch die gegenständliche zur abstrakten und alles liege beim Betrachter, der wissen müsse, daß alle Kunst inklusive der gegenständlichen abstrakt sei und dem gemäß behandelt werden wolle. "Wortklauberei." schmetterte der Maler meinen Einwand ab und verdrängte für den Rest des Beisammenseins meine Anwesenheit. Recht war mir das. Tut mir leid, daß ich nicht ernsthaft über -1 8 2 -
Kunst diskutieren kann. Tut mir leid, daß mich dieser ganze bildungsbürgerliche Krempel einen Scheissdreck interessiert. Ich begann mich zu schelten und sehnte mich nach dem Müßiggang gewöhnlicher Sonntage, mit schlechten Filmen im Fernsehen, mittelmäßiger Musik im Radio, dem gockelnden Feingeistgewäsch der Wochenzeitungen. Ein weiterer Gast erschien, der als "Pädagoge" vorgestellt wurde, die Güte eines Pensionisten ausstrahlte und sich sofort lautsprecherisch nach dem Essen erkundigte. Dieses, antwortete es aus der Küche, werde jetzt aufgetragen, man solle dem Personal noch fünf Minuten Zeit geben. "Prinz kommt später." bemerkte Egbert. "Wir fangen ohne ihn an." Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, was aufgetischt wurde. Die bedauerliche Wahrheit ist die, daß mich die einzige Frau, mit der ich es länger als drei Monate ausgehalten habe, verlassen hat, weil mir ihr gespickter Rehrücken vom Vorabend entfallen war. Jedenfalls lobten wir die Hausfrau unisono. Die hockte im geschlossenen Frühjahrskleid und nur von großen Ohrringen geschmückt, mit offenen Haaren und Sinnen inmitten der gesprochenen Wörter. Wörter, die um alles gespannt wurden, was ein Gehirn, das über Fressen hinaus denkt, ausbrüten kann. Ein neues Rechtssystem, eine neue Kunst. Ein bildungspolitisches Revirement unter besonderer Berücksichtigung der spielerischen Kreativität, ein generell anderer Zugang zu den Problemen der Welt. Rentenreform und Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger respektive Entschädigung für Zwangsarbeit im Dritten Reich. Ein Straßenfestival der Pantomime. Gott. Nichtgott. Fussball. Birgit Egbert hielt ihre Ohren in die von verglühenden Hirnschnuppen durchraste Atmosphäre. Sie dachte nach, warf ein, wurde spontan und nachdenklich. Machte es sich auf ihrem Stuhl gemütlich, kniff ihrem Gatten in die Wange, als dieser lästerte, seine Frau rede langsam wie eine Grüne. -1 8 3 -
"Es tut gut" sprach Egbert schließlich, "sich über die Dinge unterhalten zu können, ohne gleich in politischer Taktik und diplomatischem Pragmatismus versinken zu müssen. Mir ist das wichtig. Parteidisziplin und Karriereplanung sind eine Sache, der freie Geist und das offene Wort eine andere, aber sie dürfen einander nicht ausschließen oder gar bekämpfen." Er meinte es ernst, und seine Frau fügte seufzend hinzu, die Politik komme ihr manchmal vor wie Claudia Schiffer, nachdem sie in den Piranhateich gefallen ist. "Oh!" gierte der Anwalt, "Für DIESES Skelett hätte ich auch noch Verwendung!" Am meisten fesselte ein Wortwechsel die Aufmerksamkeit der Frau Egbert, den ich mit dem Pädagogen hatte. Der schwadronierte von einem revidierten Bildungskanon, neuen Ideen. "Pappalapapp!" warf ich ein. "Die Schule sollte sich endlich mal darauf besinnen, das Wie zu lehren, bevor sie ihre Wissenstöpfe ausschüttet." "Machen wir doch!" behauptete dreist der Pädagoge, erhielt aber von der Gastgeberin postwendend den Rüffel, das müsse aber eine seltene Schule sein, an der die Methode über den Trichter gestellt werde. "Es gibt" unterstützte ich sie "nichts Dümmeres, als vom Bestand einer Privatbibliothek auf die geistigen Kapazitäten ihres Besitzers zu schließen. WIE ein Mensch liest, ist das Entscheidende." "Das ginge aber gegen meinen Berufsstand!" protestierte Frau Egbert mit gespielter Entrüstung. "Es werden viel mehr Bücher ausgeliehen als gelesen. Und wenn wir uns Sorge um die Qualität machen, schauen bald all die in die Röhre, die von der Quantität leben." "Überhaupt" fügte der Pädagoge an "ist mir nicht klar, wie man das WIE ohne das WAS vermitteln sollte. Und vergessen Sie nicht: Auch Lehrer sind nur Menschen, denen man vor allem -1 8 4 -
beigebracht hat, Lehrstoff zu verkaufen." "Lehrer" antwortete ich "sind wirklich keine Heiligen. Manchmal schlagen sie sich sogar gegenseitig tot." Es wurde still im Zimmer, man legte sich peinlich berührt ins Doppelkinn. "Ja, ja." sagte endlich Egbert, "die Webers. Wir waren befreundet, sehr gut befreundet. Hanns-Lothar hat oft an Zusammenkünften wie der heutigen teilgenommen. Sie sind, verehrter Herr Horst, gewissermaßen sein Nachfolger." Es läutete an der Tür, und Egbert, froh über die Ablenkung, schnellte von seinem Sitz. "Das muss Prinz sein. Schaust du bitte nach dem Kaffee, Birgit?" Axel Prinz, der - ein Protagonist der Vollbeschäftigung - nun zur Runde stieß, hatte einen hervorragenden Namen als Kulissenschieber. Er war der heimliche Herrscher in seiner Partei, besaß jedoch das Charisma einer Salzkartoffel und würde daher seine Macht niemals offiziell auskosten können. Man wusste nicht genau zu sagen, wie alt er war. Fünfundvierzig? Jünger? Älter? Er schnaufte so dynamisch wie einer, der die Ruhe fürchtet und den Schlaf für eine subtile Form des Totseins hält, begrüßte jeden Anwesenden mit Kopfnicken, mich Neuling handdrückend, fuhr sich durchs zerzauste Haar - vital schwarz und öffnete das Jackett. "Ich entschuldige mich in aller Form, liebe Freunde. Aber der Kärrner muss schuften, das ist sein Los." Prinzens Erscheinen änderte alles. Es war, als seien Mahlzeit und Diskussion nur die unbändigen Streiche einer kind lichen Clique gewesen, die der Organisator des politischen Lebens nunmehr zielstrebig und effizient in ihre Adoleszenz zwang. Am offensichtlichsten vollzog sich der Wandel bei Birgit Egbert. Sie saß nicht mehr leger am Tisch, sondern aufrecht wie in der Rückenschule gelernt. Ihr nacktes Gesicht wünschte sich eine Maske, sie blickte Prinz nicht an, schwieg, bewegte sich nur -1 8 5 -
noch, wenn es galt, Kaffee nachzuschenken. Ihrem Mann mag es ähnlich ergangen sein, doch ließ er es sich nicht anmerken. Seine Prinzenliebe aber trug er so innig zur Schau, daß sie gekünstelt sein musste. Möglicherweise gibt es Menschen, die ihr Sexualleben in Gestalt eines Tortendiagramms im Gedächtnis mit sich herumtragen und meinetwegen 82% vollstreckten GV und 18 % gescheiterten grafisch-konditorisch gespeichert haben. Prinz jedenfalls hatte die Begabung kultiviert, sich Ideen als potentielle Wählerstimmen vorzustellen, und fanterte etwa der Pädagoge von "neuen Wegen der Wissensvermittlung, denken Sie bloß mal ans Internet!", dann ragte wohl vor Prinzens innerem Auge ein Berg von Stimmzetteln empor, nach dessen Volumen der Stratege entschied, was von einer Idee zu halten sei. "Das bringt uns ein paar Junge und kostet uns viele Alte.": der Daumen senkte sich. Frau Egbert hatte uns, Küchenarbeit vorschiebend, verlassen, und das Männerquintett zog zu Rauchen / Trinken / Reden ins Wohnzimmer um. Aber was redeten wir noch? Prinz war es gelungen, die Gespräche auf das Maß von Stichworten zu reduzieren, die auf der Stelle bewertet wurden. Er suc hte "neue, unkonventionelle Ideen, mit denen wir bestimmte Zielgruppen erreichen. Wir sind eine Volkspartei, und wie Sie wissen, gibt es zwei davon, und wir haben uns das Volk sozusagen gerecht geteilt." (allgemeines Gelächter) "Wer die nächsten Wahlen gewinnen will, braucht die Randgruppen: Künstler, Freigeister, Visionäre - und natürlich diejenigen, die sich dafür halten. DAS macht den Kohl fett!" (Prinz lachte solistisch.) "Für die Jugend werden wir einen Popsänger anheuern, uns eine Wahlkampfhymne zu singen. Für die Alten brauchen wir SIE. Das Ganze muss aber so inszeniert sein, daß wir unsere Stammwähler nicht verlieren." Maler und Anwalt lamentierten, unter dem alten Vorsitzenden sei für Reformen noch nie ein Platz gewesen. "Ein -1 8 6 -
Traditionalist" schimpfte der Maler mit seinem gröbsten Wort, "ein Antiästhet" titulierte ihn der Anwalt. Prinz nickte, betrachtete Egbert auffällig von der Seite und bestätigte: "Unter DEM nicht. Aber -." Egbert fiel ihm ins Wort. Dass ihm unbehaglich war, übersah keiner seiner Gäste. "Reden wir nicht von Alltagspolitik an einem solchen gemütlichen Tag." "Stimmt." sprang ihm der Anwalt bei. "Wo wir doch einen Journalisten bei uns haben, der alles aufschreiben wird." "Ich achte sehr wohl eine gewisse Vertraulichkeit." "Ja?" Der Anwalt gab sich kampflustig. "Sie würden also nicht - na, sagen wir, intime Details, die in der Hitze des rhetorischen Gefechts ans Tageslicht kommen könnten, für eine Schlagzeile missbrauchen?" Ich ließ den Kopf wägend pendeln. "Führen Sie mich nicht in Versuchung!" Prinz, der neben mir saß, schlug mir mit der Linken auf den Oberschenkel. "Wohlan! Er mag schreiben was er will, solange es uns nützt. Dafür haben wir ihn schließlich eingeladen!" Ich spielte den Naiven. "Ach?" "Unser lieber Franz braucht ein Image." sagte Prinz. "Aber er ist nicht Parteivors... ah!": Im Malerkopf erglühte eine 10-Watt-Birne. "Nicht doch, nicht doch." wehrte Egbert ab, und Prinz, der zu weit gegangen war und es merkte, stimmte zu. "Es kann einer Partei nie schaden, sich der Welt jenseits ihrer Gremien und Ausschüsse, Seilschaften und Intrigenbündnissen zu öffnen. Wir spielen mit dem Gedanken, für die nächsten Wahlen ein Innovationsteam zu gründen, ein Ideenbüro, und die Herren sind herzlich eingeladen." "Ich wollte eigentlich nur meine Bekanntschaft mit Herrn Egbert vertiefen." wandte ich ein. "Und, zugegeben, ihn -1 8 7 -
überreden, sich von mir für den Maxmarkt porträtieren zu lassen." "Maxmarkt, Maxmarkt!" johlte Prinz. "Mein lieber Herr! Hier geht es um die Zukunft eines Bundeslandes! Sie sind der geeignete Mann, ein Demagoge für die gute Sache. Nur keine falsche Bescheidenheit jetzt, ich erkenne einen Geistesverwandten, nachdem ich nur drei Wörter von ihm gelesen habe. Wir reden noch drüber, ja?" Ich tat unschlüssig, stimmte dann aber zu. Die Aufgabe sei es wert, überschlafen zu werden. Es war später Nachmittag, als wir uns trennten. Egberts machten einen müden Eindruck, sie senkte den Blick, sagte leise "Ich hoffe, es hat Ihnen alles in allem bei uns gefallen" und gab mir die Hand. In Prinzens Limousine zurück in die Stadt. "Nettes Paar, nicht wahr? Gescheit und - " Er linste kurz zu mir rüber - "sauber; keine Skandale. Was dagegen, wenn ich Ihnen ein Recherchehonorar überweise?" "Wofür?" "Analysieren Sie die Partei. Finden Sie Ihre publizistischen Schwachstellen. Machen Sie Vorschläge, wie das zu beheben wäre." "Die Partei unter ihrem ALTEN Vorsitzenden?" Er knatschte ein imaginäres Kaugummi. "Der Alte? Vergessen Sie ihn." Heute am Mittwoch ist Gesines erster Arbeitstag nach dem Urlaub. Gestern hat sie mich angerufen, ganz besorgte Mama, "aber bilden Sie sich bloß nicht ein, das wäre ein BesorgteMama-Anruf. Wie fühlen Sie sich? Sonst alles in Ordnung?" Sie gesteht, auf ihrem winzigen Balkon sonnenzubaden, Ozon hin, malignes Melanom her. Selbstredend schmökert sie dabei in "einer Biografie" und hat "einen Toskana-Bildband" in -1 8 8 -
Reichweite. Gibts eigentlich noch andere Bücher für höhere Töchter? "Was haben Sie gerade an?" frage ich galant und ernte wütendes Schnauben in homöopathischer Dosis. Ob sie mir das Päckchen - "Sie wissen schon." - mitbringen könne morgen abend? Das Schauspiel geht in seinen letzten Akt, vergessen wir die Exposition, die Ent- und Verwicklungen, packen wir aus. Hinter der Bühne tigern die Komödianten lampenfiebrig ab und ab. Norwegen - Deutschland, Halbfinale. Wir sind uns einig, daß die Deutschen als Rächer Marokkos, der kompletten Dritten Fußballwelt auftreten müssen, lustig flattern die Wimpel der Gerechtigkeit und der Bestrafung am Torpfosten. Unsere traditionelle Sympathie für Skandinavien steht dagegen, aber Joe meint auch, so etwas dürfe nicht zählen. Wörns und Kohler sind von Berti auf körperloses Spiel geeicht worden, wegen Flo, dem ungekrönten Schwalbenkönig. Das erinnert mich sofort an meinen Vetter Rüdiger, der seiner Katze das Bellen beibringen wollte. Nicht am Trikot ziehen, keine Blutgrätsche, keine Rempler. Haut ihn vor dem Sechzehner aus den Socken. Es entspricht norwegischer Taktik, den Deutschen das Mittelfeld kampflos zu überlassen. Sie können eh nichts damit anfangen. Möller, Held gegen Holland, delegiert mal wieder die Verantwortung und erhält den Beinamen "Niete gegen Norwegen". Matthäus, Libero beckenbauerscher Prägung, furchtelt mit den Armen - "drauf, drauf - vor, vor!" -, und Thon, zum Kreativabteilungsleiter bestimmt, steht im Anstoßkreis wie Napoleon auf einem Maulwurfshügel bei Waterloo. Hilflos, entsetzt, gelähmt. Der Nordländer Sieg gegen Frankreich - dreimal dürfen Sie raten, wer das Siegtor geschossen hat - bringt das Publikum auf unsere Seite. Ein Heimspiel. Für unsere Hooligans können wir nichts, für unsere SS haben wir ja auch nichts gekonnt. Das kapiert der Franzose, und wir, die Rächer Marokkos, werden -1 8 9 -
überdies zu Rächern Frankreichs. "Sie müssen das Kurzpassspiel pflegen!": Joe verzweifelt, denn wenn die heute irgendwas pflegen, dann sich selbst. Die Norweger geben sich zum Ende der ersten Halbzeit aggressiver, Torchancen bleiben aus. Halbzeit zwei zerfällt in drei dramatische Teile: Zunächst zehn Minuten deutsches Ärmelaufkrempeln, das immerhin eine Chance für Klinsmann abwirft, die dieser aber leichtfertig vergibt. Daran anschließend zwanzig Minuten muntere Attacken beider Parteien, erhitzte Gemüter und die Abkehr vom körperlosen Spiel. Alles konzentriert sich im Mittelfeld, Möller ist unter den Pfiffen der deutschen Schlachtenbummler ausgewechselt worden, Vogts bringt mutig Kirsten als hängende Spitze. Die letzten zehn Minuten dienen der Vorbereitung auf die Verlängerung. Zwei Minuten Nachspielzeit werden annonciert, Matthäus hält den Ball, trägt ihn in die gegnerische Hälfte, die Norweger ziehen sich zurück. Was soll er machen, der Lothar? Quergeschiebe: Ziege - Thon - Matthäus - Kirsten - Klinsmann - Matthäus, so nähert man sich behäbig dem norwegischen Strafraum, aus dem jetzt zwei Verteidiger heranpreschen. Matthäus, in berechtigter Sorge um seine körperliche Unversehrtheit, schlägt den Ball in den Strafraum, wo ihn ein norwegischer Spieler abfängt und seinem Torwart übergeben möchte, dies aber nur mit dem Kopf darf. Für ewige zwei Sekunden steht also dieser Mensch - es ist Flo - mit dem Ball am Fuß, dann lupft er ihn hoch bis auf Kopfhöhe und nickt ihn zu seinem Torwart. Der ist überrascht, kann den Ball nicht festhalten. Er fällt ihm vor die Füße, der schockierte Flo schickt sich an, die Kugel ins Seitenaus zu dreschen, eine Absicht, die auch der Torhüter hegt, und beide hauen gegen den Ball, der kreiselnd hochsteigt, eine Ellipse beschreibt, ins leere Tor sinkt. Wir sind im Finale. "Nemesis" philosophiert Joe, "laut meinem Wörterbuch die für ausgleichende Gerechtigkeit zuständige griechische Göttin, Nemesis kullert sich vor -1 9 0 -
Hohnlachen am dunklen, wolkenlosen Pariser Firmament." Du sagst es, Joe. Schlag zwölf vom Kirchturm, die weisse Frau schwebt herbei. "Schlafen Sie noch nicht?" Was für eine Frage! Sechs Tage in der Wüste, und dann wird man gefragt, ob man Durst hat! Gesine legt das Päckchen auf den Nachttisch. Sie hat Farbe bekommen, ein gleichmäßiges dunkles Beige. Sie beugt sich zu mir. Zwanzig Minuten nach zwei, am Fenster. "Hast du das Geld genommen? Dich bestechen lassen?" "Ich hatte Auslagen. Und bis Ende Mai ein gediegenes Konzeptpapierchen parat. Unterwegs mit Egbert. Die legendären verrauchten Hinterzimmer in Dorfwirtschaften, der Vorsitzende des Ortsvereins pafft Stumpen, und Egbert parliert über die Integration von Ausländern und die Einrichtung von Kinderspielplätzen. Ist einfach kein Politiker, der Mann. Wie soll ich das erklären? Er besitzt alle Eigenschaften, politische Karriere zu machen, aber - gelernter Jurist. Als gü tigen Richter könnte ich ihn mir vorstellen. Oder auch nicht. Nein, eher nicht." "Die meisten Berufe sind trostlose Angelegenheiten." stellt Gesine fest. "Deiner auch? Für dich?" "Schon möglich. Frag mich nicht, was die Alternative sein könnte. - Du bist also mit Egbert überland gefahren. Wozu eigentlich? Habt ihr geredet? Ich meine - DARÜBER geredet? Was wolltest du eigentlich?" "Das Dumme war: Ich mochte ihn. Er ist ein armes Schwein. Ich musste mir etwas überlegen. Ich habe mir etwas überlegt. Und dann, am 5. Juni, einem Sonntag, wir waren wieder bei einer dörflichen Veranstaltung..." -1 9 1 -
Diadochenkämpfe. Der alte Vorsitzende war ein Fuchs, erfahren genug, die Schrotflinten zählen zu können, die auf ihn angelegt waren. Er wusste, daß wenigstens eine Breitseite ihn zur Strecke bringen würde, unausweichlich, und hatte aus diesem Grund einen Nachfolger lanciert, einen Paladin als Abklatsch seines Herrn und Meisters. Politische Seelenwanderung. Vor dem großen Showdown am 12. Juli - offiziell eine turnusmäßige Sitzung des Vorstandes - klapperten jetzt Egbert und die Inkarnation des Alten sämtliche Ortsvereine der Partei ab und warben um Sympathien. "Egbert kann gar nicht verlieren." war Prinz überzeugt. "Er ist besser, und er hat den fähigeren Mann für die Publicity." Sah mich an, kniff ein Auge zu. Franz Egbert war sich der Macht seines Repertoires gewiss. Es basierte auf einer Maxime, die als durchgängiges rhythmisches Erkennungszeichen sämtliche Ausführungen des Mannes strukturierte: "organische Vernetzung". Mit dem Bekenntnis zum großen Zusammenhang kaschierte Egbert sein Bestreben, es allen recht machen zu wollen und sich dabei naturgemäß in Widersprüche zu verwickeln. In den Ortsvereinen saßen die jungen Wilden neben den alten Konservativen, die Wirtschaftsliberalen neben den Sozialromantikern. "Sie müssen" redete ich dem Politiker ein "diese auseinanderstrebenden Adressaten zunächst mit einem Netz fangen und dann mit verschiedenen Keulen erschlagen." Das Netz war Egberts Charisma. Man glaubte ihm aufs Wort, wenn er für die Einbürgerung von Türken war und im gleichen Atemzuge die Gefahr der Überfremdung heraufbeschwor - er nannte sie natürlich "Verlust der Geborgenheit". "Bringen Sie Ihren Zuhörern bei, sich das gesellschaftliche Leben als ein Nest zu imaginieren. " riet ich. "Wenn ein Sperling ein Adlerjunges in sein Nest einlädt, mag das ja moralisch -1 9 2 -
lobenswert sein. Aber es bringt beiden Seiten nichts als Nachteile." Eine objektive kritische Instanz hätte wohl in Egberts Reden ein Bündel haarsträubender Assoziationen, Prämissen und Schlüsse ausmachen können. Nur: Sobald Egbert redete, gab es keine objekten kritischen Instanzen mehr. Man glaubte ihm einfach. Dennoch war nicht zu übersehen, daß er litt. Wir fuhren in seinem Wagen aufs platte Land, Egbert lenkte schweigend, nicht nervös, doch unerklärlich traurig. Seine Auftritte gerieten stets glänzend. Nachher fiel er in sich zusammen. Trank mehr Alkohol als er vertrug und sammelte durch diesen plumpen Versuch, seiner Wirklichkeit zu entkommen, neue Pluspunkte in dieser Wirklichkeit. Er war kein arroganter Schnösel. Er war ein geselliger Sinnenmensch. Er trank Bier mit den Biertrinkern, er lachte über die schlechten Witze der Schlechte-Witze-Erzähler. Ging es endlich zurück in die Stadt, steuerte ich den Wagen. Egbert saß auf dem Beifahrersitz, stierte durch die Scheibe und murmelte Unverständliches. "Was meinen Sie?" "Meinen? Was ich meine? Was soll ich denn meinen? Was darf ich denn meinen?" Hatten wir das Egbertsche Anwesen erreicht, war der Hausherr für gewöhnlich eingeschlafen. Seine Frau und ich stützten den von Müdigkeit, Alkohol und Frustration Geschwächten, führten ihn ins Wohnzimmer, legten ihn auf die Couch. Ich wartete auf ein Taxi, bekam Kaffee serviert. "Ich mache mir Sorgen." sagte Birgit Egbert. "Das ist nicht er." Ich sagte nichts. Auch am 5. Juni war bis weit in die Dunkelheit debattiert und getrunken worden. Ein äußerst unangenehmer Haufer rülpsender -1 9 3 -
Lokalpolitik, ich drängte Egbert, wir sollten aufbrechen. Ich fuhr schweigend, mein Begleiter hing auf seinem Sitz, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken, er murmelte, stöhnte, hustete. Wir befanden uns auf einer Straße durch den Wald. Nirgendwo die Lichter von Häusern, selten kam uns ein Fahrzeug entgegen. Ich steuerte den Wagen auf den Randstreifen. "Is'n kaputt jetzt?" Egbert hob sein Kinn. "Mist!" fluchte ich. "Irgendwas stimmt nicht mit der Kiste. Haben Sie nicht gehört? Klingt, als wäre irgendwo was locker. Ich schau mal nach." Öffnen der Motorhaube, Egbert blieb im Wagen. Nach einer Weile kam ich zurück. "Nichts gefunden." Drehte den Zündschlüssel, nichts tat sich. "Scheiße." Egbert lachte. "Stehn wir also mutterseelenallein auf weiter Flur! Ach wie treffend! Haben wir genügend Proviant dabei?" Ich wies auf ein Licht rechts von uns, etwas abseits der Straße. "Wir haben Glück. Da vorn ist ein Haus. Ich geh hin und frag, ob ich telefonieren darf. Bleiben Sie hier?" "Nein!" wehrte er ab. "Wenn mich wer klaut!" Wir stiegen aus und gingen auf das Licht zu. Ein schmaler Weg führte zu dem Haus, zwanzig Meter auf knirschendem Kies. Uns empfing eine aus mehreren Quellen gespeiste Beleuchtung: zwei Fenstervierecke, von rötlichem Glimmerlicht erhellt, eine Standlaterne auf dem kleinen, von drei Autos bestellten Parkplatz, ein rundes Schild an der Hausfront: "Amour Toujours". "Das issn Puff!" stellte Egbert fest. Ich nickte. "Wir wollen ja bloß telefonieren." Wir traten in das spärliche Rotlicht und also mitten in die Bordellphantasien tadelloser Bürger, von denen drei männliche -1 9 4 -
Exemplare an einem L- förmigen Tresen hockten und drei junge Damen zu etwas überredeten, zu dem diese nicht überredet zu werden brauchten. Niemand nahm von uns Notiz, niemand wollte, daß man von ihm Notiz nahm. Zwei alleinsitzende Mädchen und die obligatorische Alte hinter der Theke ausgenommen. Ich fragte die Wirtin nach dem Telefon und erläuterte ihr knapp unser Malheur. Sie wies zu einer Tür, auf der "Toilette" stand. "Toilette is rechts, Telefon links." Als ich zurückkam, saß Egbert vor einem Whiskey, die beiden vorhin noch alleinsitzenden Damen umgarnten ihn professionell. Von den drei anderen Paaren war nichts mehr zu sehen, sie hatten wohl schon die Treppe zu den oberen Stockwerken erklommen: gutsituierte Herren gehobenen Alters und aufgetakelte Mädchen mit mehr Kondomen im Handtäschche n als Jahren auf dem Buckel. "Eine Stunde wirds dauern." informierte ich meinen Begleiter und bestellte mir ebenfalls einen Whiskey. Die Damen hatten Sektgläser vor sich stehen. Sie sprachen ein rauhes Deutsch, wie es sich in den Weiten Kasachstans erhalten hat, beide blondiert und süßlich duftend, knabenhaft Egberts Wahl, die meine - hatte ich überhaupt eine Wahl? - schlank mit soliden Hüften. Es war gut geheizt, und es musste gut geheizt sein, trugen doch alle Damen nichts weiter als weisse Korsagen, weisse Strümpfe mit schwarzen Haltern, schwarze Stilettos. Egbert und seine Partnerin kicherten mehr als sie redeten, mein Mädchen - Anastasia - missbilligte das mitteleuropäische Frühjahr, rekapitulierte mehrere Erkältungen und Verdienstausfälle wegen Glatteis, was ich alles lächelnd abnickte und dabei Egbert nicht aus den Augen ließ. "Gehen wir hoch?" fragte Anastasia nach zehn Minuten und der Erschöpfung ihrer Wetterberichte. Die Lippen ihrer Kollegin formten dieselbe Frage. Egbert stieß mich an. "Wir sollten -1 9 5 -
zahlen und gehen." lallte er, lachte plötzlich, richtete den Kopf zur Decke und blies resolut Luft aus der Lunge. "Warum?" fragte ich naiv. "Wenn wir schon mal hier sind!" Er zögerte, kämpfte mit sich. Ich nickte Anastasia zu, beugte mich an ihr Ohr. Sie lächelte und nickte. "Kommen Sie, Egbert, wir gehen ins Whirlpoolzimmer und entspannen uns zu viert." Er sah mich mit seltener Dämlichkeit an. "Zu viert?" "Haben Sie sich nicht so. Falls es Sie überkommt, schnappen Sie sich Ihr Mädel und ziehen sich zurück." Er zögerte noch immer. Ich stand auf, umarmte Anastasia. Egberts Dame zog ihren Kavalier vom Hocker, hängte sich bei ihm ein. "Avanti!" rief Anastasia seltsamerweise, machte eine Wegweiserhand zur Treppe hin. Das Whirlpoolzimmer lag im ersten Stock und kostete 600 die Stunde. "Zahlen Sie?" fragte ich Egbert, der sofort in die Brusttasche seines Jacketts griff und die Hand leer zurückzog. "Ich muss meine Brieftasche im Wagen gelassen haben. Und soviel Bargeld habe ich auch nicht dabei. Wir gehen besser, ja?" Ich nahm ein Bündel Hunderter aus dem Hosensack, zählte sechs davon auf Anastasias Handteller, flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie nickte abermals und empfing Nummer sieben und acht. Einem in den gefliesten Boden eingelassenen ovalen Becken gebührte als Namensgeber des Raumes dessen Mittelpunkt. Linkerhand hingen Bidets an der Wand und Regale für Handtücher darüber, rechts waren zwei Kabinen mit Vorhängen abgetrennt worden, dahinter warteten erfahrungsgemäß spartanische Massageliegen auf den Vollzug der im sprudelnden Wasser eingeleiteten Akte. Schneller als erwartet hatten sich die beiden Damen ihrer -1 9 6 -
Korsagen, Strümpfe und Schuhe entledigt. Anastasia fingerte am Mechanismus des Pools, ein Motor brummte sonor und beunruhigte das Wasser. Ihre Freundin - Tatjana - prüfte die Temperatur des Bidetwassers und wartete auf die Nacktheit der Freier. Ich zog mich zügig aus und legte meine Kleider auf einen Stuhl, stellte die Aktentasche daneben. Egbert hatte den Oberkörper entblößt und nestelte am Gürtel, hielt mit einem Male inne, sah zu Tatjana, die sich am Bidet wusch, und ließ nun, als sei es unentrinnbares Schicksal, die Hose runter, welche zu fallen sich aus ersichtlichen Gründen weigerte. Ich beobachtete ihn. Er befand sich im Zustand jener merkwürdigen Trunkenheit, in der du auf erschreckende Weise nüchtern bist, frei von allen Ablenkungen die Dinge so siehst, wie sie sind. Der Slip fiel, und der bislang nur in Hochglanz gekannte Hintern wölbte sich bleich über den Schenkeln. Die Socken behielt Egbert an. Die gesäuberte Tatjana näherte sich ihrem Kunden. Winkte ihn zum Bidet, Egbert setzte sich zögerlich in Bewegung. Unterdessen hatte auch Anastasia ihre Arbeitsmittel gereinigt und machte sich an die meinigen. Ich legte einen Arm um ihre Hüfte, streichelte ihr mit dem anderen über den Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Der Pool war für zwei Personen gemacht. Tatjana setzte sich an den Rand, Egbert ging in die Knie. Ich schlenderte zum Stuhl, auf dem meine Kleider lagen, und nahm die Polaroid aus meiner Aktentasche. In dieser Sekunde geschah es. Nicht dass Egbert das Geräusch der Kamera gehört, sich umgedreht hätte. Das erreichte ihn nicht mehr. Er lag auf dem Bauch, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Durch seinen Körper flossen Wellen der Erschütterung. Die Mädchen jammerten. "Schon gut, schon gut." beruhigte ich sie. Das Foto zwängte -1 9 7 -
sich durch den Schlitz. Ich nahm, schüttelte es und verfolgte den chemischen Prozess. War dieses Bild ein enorm kunst- und geschmackloses, hätte ein neutraler Fotograf jetzt Gelegenheit zu einem höchst bizarren Schnappschuss gehabt. Zwei nackte Männer am Rand einer übergroßen Badewanne, in der das Wasser tumultarisch arbeitete, um das Fleisch eines erschrockenen Mädchens herum wirbelte, das aus Stein zu sein schien, den einen, liegenden, weinenden Mann bestaunte, unentschieden war, ob ihm Verachtung, Ärger oder Mitleid zustanden, während der zweite Mann, immer noch das Foto schwenkend, sich zum Heulenden beugte, ihm die Hand auf den Hinterkopf legte. "Gehts wieder?" fragte ich, und Egbert zog den Rotz in die Nasenlöcher zurück, das Gesicht eines greinenden Kindes. "Lassen Sie uns von hier verschwinden." bat er. Ich machte den Mädchen Zeichen. Sie rafften ihre Kleider zusammen und gingen hinaus. Die Maschine surrte weiter. Wir zogen uns schweigend an, Egbert wischte sich mit Tempotaschentüchern sorgfältig über das Gesicht, bis es trocken war und rot. Ernüchtert. Nicht die Nüchternheit vor lauter Trunkenheit, sondern die heillose, ausweglose, die alle Abgründe zeigt und alle Wege zu ihnen. Ich hielt ihm das Foto hin, vier, fünf Sekunden. Dann zerriss ich es. "Was wollen Sie?" fragte er tonlos. Wir verließen den Raum, stiegen die Treppe runter, durchquerten die Bar, standen draußen in der Nacht, liefen zur Straße. "Was ich will? Sie an ein anderes Foto erinnern." "Ach ja." Die Emotionslosigkeit der Antwort machte mich wütend. "Ach ja? Wissen Sie?" "Ihre Andeutungen in der Zeitung waren grob genug. Woher haben Sie es? Von Weber?" -1 9 8 -
"Hat er es gemacht?" Egbert blieb stehen, schüttelte den Kopf, ging weiter. "Ich war so ein Idiot. Er hat mich gelockt. Nach irgendeiner von diesen furchtbaren Parteiveranstaltungen. Der Alkohol - Sie haben mich ja erlebt. 'Komm doch mit.' - und ich dachte: Weber? Ein Oberstudiendirektor? Da kannst du mitgehen. Das kann nichts Schlimmes sein. Keine Ahnung, wohin wir gegangen sind. Klar geworden bin ich erst, als es klick machte und ich den Blitz sah. Weber hatte ja immer eine Kamera dabei. Sein Steckenpferd. Alltägliche Situationen fotografieren, entwickeln. Alle paar Jahre eine Ausstellung in der Zweigstelle der Sparkasse. Ich hab nix gemacht. Filmriss. Ich träumte, neben einem Kind zu liegen. Einem nackten Mädchen. Selber nackt zu sein, einen unbekannten Gegenstand im - Arsch. Son beknackter Albtraum. Weber nach dem Foto zu fragen traute ich mich nicht. Wenn es doch nur ein Traum gewesen wäre? Ich denke - er hat es einfach gemacht. Ohne sich groß was dabei zu überlegen. Vielleicht brauchte er auch das Gefühl, bei Bedarf Macht zu haben über mich. Weiss nicht. Im Sommer schließlich, Juni, Juli, rief er mich an. Nervös war er. Ob ich das Foto gestohlen hätte. Da war die Albtraumtheorie dahin. Ich hatte es natürlich nicht gestohlen. Ja - und dann schreiben Sie in der Zeitung, und mir ist klar, daß Sie das Foto haben müssen." Wir saßen im Wagen. Ich zündete zwei Zigaretten an, gab ihm eine. "Das war also etwa zum Zeitpunkt des Todes von Frau Siebenlist." "Ja." bestätigte Egbert. "Etwa. Womit ich auch nichts zu tun habe, ich schwörs. Weber und ich haben nicht mehr darüber geredet. Wir haben uns nur noch selten gesehen. Was werden Sie jetzt tun?" "Was ICH tun werde? SIE werden etwas tun. Sehen Sie: Zuerst wollte ich Sie vernichten. Sie in aller Öffentlichkeit -1 9 9 -
bloßstellen. Dann - Sie sind ein komischer Kerl, Egbert. Pack. Übles Pack sind Sie und Ihresgleichen. Andererseits tun Sie mir leid. Das ist nicht Ihr Leben. Eigentlich sind Sie sehr nett. Sehr ehrlich - und total unfähig, sich in der Welt zurechtzufinden, ohne sich selbst zu belügen. Sie sollten Ihre Frau und Ihr Kind nehmen und von hier abhauen. Geld müsste doch da sein. Suchen Sie sich was Abgelegenes. Schreiben Sie ein Buch oder schreiben Sie keins. Lassen Sie sich die Sonne auf den Pelz scheinen oder studieren Sie Theologie oder werden Sie Hausmann, während Ihre Frau als Bibliothekarin arbeitet. Mir egal." "Ich hab Weber nicht umgebracht." beteuerte er plötzlich. "Weiss ich. Aber das ist Nebensache. Ich verlange von Ihnen, daß Sie aussteigen. Und um sicher zu gehen, daß dieser Ausstieg endgültig sein wird, werden Sie am 12. Juli folgendes tun. Sie treten ans Rednerpult und halten eine Rede. Sagen Sie einmal nur, was Sie wirklich denken. Dann lassen Sie die Hosen runter." "Wie bitte? Hosen runter?" "Nicht im übertragenen Sinne. Das auch. Richtig die Hosen runter. Gürtel auf, Knopf auf, Hosen runter." Er lachte panisch und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. "Wie bitte? Was?" "Sich so aufstellen, daß es die Kamera mitkriegt - und Hosen runter." wiederholte ich langsam. "Tun Sie es nicht, wird man das Foto in Ihrer Brieftasche finden - die ich Ihnen leider habe entwenden müssen. Selbstverständlich erhalten Sie sie nach dem 12. schnellstens zurück." Er sah mich an, lauernd, überlegend. "Sie überlegen jetzt, welcher Abgang der elegantere wäre. Wahrscheinlich he gen Sie die Hoffnung, man könnte das Foto -2 0 0 -
unterdrücken. Aber es werden so viele Leute davon wissen, daß, selbst wenn Sie jeden ruhigstellen könnten, Ihr Leben eine einzige Gefangenschaft wäre. Noch schlimmer als jetzt. Abhängigkeiten, Verpflichtungen und die ständige Angst, es würde doch publik." "Ich habe nichts gemacht!" beharrte Egbert, kraftlos und sich die Stirn mit den Fingern reibend. "Eine Verfehlung: ja. Nicht zurechnungsfähig. Aber keinen Mord!" Ich ließ den Wagen an. "Aha, alles perfekt eingefädelt!" "Das ist das wenigste. Hören Sie zu: Das mit Ihrer Verfehlung und Ihrer Unzurechnungsfähigkeit interessiert mich nicht. Ich habe Sie in diesen Puff gelockt, um mich zu vergewissern, welcher Sorte von Schweinen Sie angehören: den Dreckschweinen oder den armen Schweinen. Sie sind beides. An Ihrer Schuld ändert das wenig. Normalerweise hätte ich Sie laufenlassen. Aber - Sie haben das Pech, für etwas geradestehen zu müssen, das Sie nicht zu verantworten haben. Sorry." Er fragte nicht, was ich damit meinte, und es war mir recht so. Ich drohte ihm mit dem Negativ des Bildes, auf dem Webers Fingerabdrücke seien. "Die Polizei lechzt nach so was." Er nahm es zur Kenntnis und fragte auch nicht, woher ich das Negativ hätte. "Warum machen Sie das nur?" "Suchen Sie sich was aus: Weil ich einmal im Leben Gott spielen möchte oder weil mich die Politik ankotzt. Weil mir Ihre Frau leid tut. Ja, das ist es wahrscheinlich. Bereiten Sie sie auf die Sache vor. Erzählen Sie Ihr, das ganze Sichverstellen, Lügen und Antichambrieren ginge Ihnen auf den Geist. Von mir wird Sie die Wahrheit nicht erfahren, ich verspreche es Ihnen. Sie wird vielleicht sogar stolz auf Sie sein, und das ist mehr als Sie verdient haben." "Da könnten Sie sogar recht haben." Er lächelte jetzt sogar. -2 0 1 -
"Mit beidem." "Was wissen eigentlich Dorsten und Prinz?" "Alles. Aber Sie werden schweigen." "Ebenfalls Gäste in den Schlafzimmern der Frau Siebenlist, nehme ich an." Egbert nickte. "Schön. Nur der Vollständigkeit halber: Sagen Sie den beiden nichts davon. Ich traue Ihnen zu, mir das Lebenslicht ausblasen zu wollen. Auch das fiele auf Sie zurück. Ich habe Vorkehrungen getroffen. Das Foto ist an sicherem Ort und wird am 13. Juli seinen Weg in die Redaktionen von Zeitungen, Funk und Fernsehen nehmen. Eine Journalistin - Sie weiss nichts Konkretes - heftet sich im Falle meines Ablebens an Ihre Fersen. Sie ist ehrgeizig, fähig, gnadenlos. Sie wird etwas über Sie herausfinden - IRGENDetwas." "Ich sage keinem auch nur ein Wort. Und mir trauen Sie einen Mordversuch hoffentlich nicht zu." "Komischerweise nicht; nein." Wir hatten die Stadtgrenze erreicht. Ich hielt an. "Sind Sie nüchtern genug, um allein weiterzufahren?" "Nüchtern? Oh ja." "Prima. Dann fahren Sie. Ich komme zurecht." Aussteigen. Er kletterte hinter den Le nker, der Wagen fuhr langsam an mir vorbei, verschwand. * Gesine sagt nichts. Eine Zigarette lang liest sie in meinem Gesicht. "Du bist verrückt." Sie drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. "Aber auch so was von verrückt! Er hat dreimal versucht, dich umzubringen! - Oder Dorsten? Prinz?" Ich schüttele den Kopf. "Keiner von den dreien. Die Sache -2 0 2 -
mit dem Auto–eine sehr komplizierte Geschichte, und ich bin weit davon entfernt, wirklich zu wissen, was da passiert ist. Warte ab, bis du alles weisst, dann dürftest du auch den Vorfall mit dem Auto verstehen. Weiter: Boskonz - ein natürlicher Tod. Die Absaugmaschine nun, ich muss gestehen, das war eine Schnapsidee von mir. Hätte ich gewusst, in welche Gefahr ich dadurch kommen würde, hätte ich nicht dran rumgefummelt. Aber ich musste den Eindruck erwecken, man trachte mir nach dem Leben. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Es gibt eine Fernsehjournalistin, die bezeugen wird, ich hätte Egbert im Verdacht gehabt, die Anschläge verübt zu haben." "Aber dein Treppensturz!" "Das ist eine andere Geschichte. Die gibt es nach dem Finale." "Nach welchem Finale?" "Dem am Sonntag." "Und die Fotos? Hast du sie? Hast du sie nicht? Das Negativ?" "Komm." sage ich. "Gib mir eine Zigarette. Und sei geduldig."
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9 Endspiele Die Zeit bis zum Sonntag flieht vor der Ungeduld. Seltsam, wie kalt das WM-Finale die Gemüter lässt. Deutschland gegen Nigeria! Eine historische Partie zweifellos, die Zeitungen - ich lese ja keine - werden voll sein vom Raunen über einen Wendepunkt im Verhältnis der Welten zueinander. Kommt es bald zu einer Umwertung aller Werte? Srilankesen gewinnen Skiwettbewerbe, Mongolen errichten ein High Tech - Monopol, und Europas Dekadenz flüchtet als boat people übers Meers ins paradiesisch reiche Mauretanien, wo man mit diesen faulen Farblosen wenig zu tun haben möchte. Sollte Nigeria Fußballweltmeister werden. Schwester Benediktas indifferente Reaktion auf das Ereignis "Wer spielt? Och, ich hab anderes zu tun!" - mag einen hierzulande weit verbreiteten Sportchauvinismus widerspiegeln, der in der Überzeugung gipfelt, a) sei niemals ein afrikanisches Land zum Gewinn des Fußballweltmeistertitels befähigt, wegen erwiesener Disziplinlosigkeit, trotz erkennbarer Ballgenialität, und b) schon gar nicht gegen Deutschland und seine effizienten Tugenden. Man sollte der Nonne unterjubeln, die Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung huldige Herrn Allah und sei nicht wie sie es in ihrer grenzenlosen christlichen Naivität glauben dürfte - den kreuzschwingenden Missionaren aufgesessen. Daumen drücken für Deutschland heisst Bestrafung des Heidentums. Den für Gesine festzuhaltenden geringen Stellenwert des athletischen Kräftemessens verstehe ich hingegen gut. Meine Pläne mit Egbert bedenkend, schwankt sie beträchtlich zwischen empörter Ablehnung und zaghafter Zustimmung. In der Nacht zum Freitag versucht sie ein Resümmee des Falles, wägt Egberts Schuld gegen seine Strafe ab - und stockt. "Sag mal: Die Mordversuche, gut und schön. Das rollende Auto - darüber liegt deinerseits noch der Mantel des -2 0 4 -
Schweigens. Der Tod des armen Herrn Boskonz ein seltenes medizinisches Phänomen - die Untersuchungen sind übrigens abgeschlossen, die Leiche ist vergraben und die Witwe beruhigt - deine Blutabsaugerdummheit, naja: eben DEINE Blutabsaugerdummheit. Aber dein Sturz! Der Sturz der Frau Siebenlist! Herrn Webers Ermordung!" Sie klemmt meine Nase in die Zange aus Zeige- und Mittelfinger. "DUUU. Verschweig mir nicht immer die wichtigsten Geschichten!" Ich vertröste sie auf Sonntagnacht. "Sonntagnacht ist alles vorbei. Das Finale dort - das Finale hier. Finito." Sie hat ihren Oberkörper so dicht an meinem Mund, daß ich "Lass das! Menschenwürde!, mein Guter. Wie hältst dus mit der Menschenwürde? Du zwingst den Mann dazu, sich zu erniedrigen, seine sozialen Kontakte abrupt zu beenden. Man wird ihn ausstoßen! Ist das gerecht?" "Sei ganz ruhig." Ich wärme mich am Feuer ihrer Augen. Längst nicht mehr so schwül draussen, eine Schlechtwetterfront hat uns im Griff. Der Regen muss warm sein. "Egbert erhält seine Menschenwürde erst durch die Erniedrigung zurück. Ich habe mir das genau überlegt. Es gibt Situationen, in denen kann man von seinen eigenen Talenten erniedrigt werden. Der größte Dichter, liebe Gesine, hieß vielleicht Kurt Meier - oder, wenn dir das lieber ist, Sophia Meier und war ne DichterIN - und hat nie eine Seite geschrieben, weil seine Begabung so überragend war, daß sie den Kurt Meier, wie er selbst sich gesehen hat, vernichtet hätte. Son genügsamer Bauer oder Beamter, könnte ich mir vorstellen. Er weiss: Ich muss nur zwei, drei Gedichte fabrizieren und schon sitze ich bei Goethes am Tisch und darf über die Farbenlehre quatschen. Will ich das? Käme ich mir nicht vor wie ein blödes Stück Kulturscheisse? Aber ja doch. Also lass ichs bleiben. - Egbert ist in die Falle seiner Talente getappt. Für ihn wird die Erniedrigung zu einem karthartischen Akt. Er reinigt sich vom Dreck und schaufelt ihn dorthin zurück, von wo -2 0 5 -
er gekommen ist: auf die weissen Westen der Herren Prinz und Dorsten." "Ah! Daher weht der Wind! DIE willst du vernichten!" "Angenehmer Nebeneffekt, ich gestehs. Aber, im Vertrauen: Eigentlich reinige ich mich selbst." "Du dich? Von was? Vom schlechten Gewissen! Weil du, wenn Egbert im Bordell nicht zusammengebrochen wäre, mit deiner - wie hiess sie noch? - Anastasia geschlafen hättest?" "Nein, nein, werd nicht albern. Von einem bösen Schatten, Gesine, einem Gespenst. Egberts Aktion wird von stellvertretender Symbolik sein. Er vollzieht, was ein anderer nie hat vollziehen müssen, einer, der mir mögliche rweise 25 Jahre meines Lebens gestohlen hat. Vielleicht war auch er betrunken. Vielleicht hatte er selbst eine vierzehnjährige Tochter, die er wie einen Augapfel gehütet hat und die vom besten Papi der Welt schwärmt, wenn sie ihn heute im Altersheim besucht." "Sprich!" verlangt Gesine energisch und macht wieder die Nasenklemme (ein gewalttätiges Weib? Nun, Ärztin halt -). Ich greife das Päckchen vom Nachttisch, reisse das Papier auf. Drei Briefe kommen zum Vorschein. Ich lehnte eine Zigarette lang am Geländer vis-à-vis von Wollheims Haus, wo im zweiten Stock Licht brannte, ein unruhiges Flackern. Der Alte schaute fern, kurz nach zehn, die zweite Halbzeit Brasilien - Norwegen hatte begonnen. Guckte er überhaupt Fußball? Die Haustür war nicht abgeschlossen, man konnte nur schmunzeln über so viel Arglosigkeit. "Sie? So spät? Ist was passiert?" Drei Fragen, und schon bei der zweiten trat Wollheim einen Schritt zurück und einen zur Seite. Ich hatte seine Wohnung zuvor nie betreten. Sie war übermöbliert, was, wenn man Erinnerungen hortet und mit jedem unnütz gewordenen Gegenstand auch ein Stück Vergangenheit wegwerfen müsste, -2 0 6 -
unvermeidlich ist. Altertümliche, mächtige, dunkle Schränke machten aus dem Wohnzimmer eine winzige Zelle, die kaum Platz für Tisch und Sessel und Fernseher bot. Unter dem Fenster stand eine kunstvoll gedrechselte Truhe, darauf lagen Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, die Tagespost. Und es lief tatsächlich Fußball, tonlos. Ich schenkte den geschmeidigen Jungs in ihren grün/gelben Kombinationen einen Blick, den Hünen in Blau oder war es schwarz? - einen halben. Das Bild flimmerte, seine Ränder zuckten, das Gerät war alt wie alles hier. "Setzen Sie sich doch." Wollheim schlurfte zu einem der Schränke, hinter dessen Glasfront Flaschen aufgereiht waren. "Möchten Sie etwas trinken? Einen Cognac?" Ich verneinte. Er nickte und setzte sich in den zweiten Sessel, mir gegenüber. Einige Sekunden schwiegen wir. Wollheim starrte auf die Fernbedienung vor sich und spielte mit dem Gedanken, den Ton anzustellen, damit wir uns einen gemütlichen Fernsehabend für den Rest der Begegnung machen konnten. Dann aber lehnte er sich in seinen Sessel zurück, schloss die Augen, atmete kräftig aus und sagte: "Ich habs gewusst. Schon als sie jeden Mittwochnachmittag gekommen sind und still dasaßen. Wozu sitzt der da? Redet mit mir über Bleistifte?" Er beugte sich vor, öffnete die Augen und sah mich ruhig an. "Seit wann?" "Von Anfang an. Ich war mir natürlich nicht sicher. Und, ganz ehrlich, es hat mich auch nicht sonderlich gekümmert. Kein Gerechtigkeitswahn. Es gab eine Wohnung mit fünf Schlafzimmern und Teddybären, später sah es so aus, als wäre das alles die Neurose einer einsamen und traumatisierten Frau." "War es auch." sagte Wollheim leise. "Zunächst. Sie ist aus Hamburg gekommen, nach der Scheidung. Hier hat sie einen Mann kennengelernt, aber das wurde nichts. Dann kam sie zu mir. Meine Frau war gerade gestorben." -2 0 7 -
"Sie kannte Sie aus Hamburg?" "Nicht persönlich, nein. Ich unterrichtete an einem Gymnasium, sie hatte eine Freundin, die meine Schülerin war. Von ihr hat sie..." "...erfahren, warum sie damals den Schuldienst quittieren und die Stadt verlassen mussten." ergänzte ich. Er bestätigte es. "Eine schlimme Geschichte, ja. Wieviel wissen Sie darüber?" "Nichts." antwortete ich. "Keine Details. Aber wir beide sind uns sehr ähnlich in unserem Schicksal, Herr Wollheim, obwohl unsere Schicksale sich nicht ähnlich sind." "Ich weiss. Sehr ähnlich." "Sie hatten ein Verhältnis mit einer Schülerin, nehme ich an." "Ja. Nicht gegen ihren Willen, wie ich betonen muss. Aber sie war 16, ich 33. Es waren die fünfziger Jahre. Ich besaß als berüchtigter Linker zudem nicht gerade viel Kredit. Man wollte keinen Skandal, sonst hätten sie mich mit Vergnügen eingesperrt." Ich schlug ein Bein übers andere und machte es mir im Sessel gemütlich, wohl weil mir ungemütlich war. Wohin sollte ich schauen? Eine fatale Auswahl: wurmstichiges, düsteres Holz, zugestaubte Flaschen und Vasen, die blind gewordene Lackierung der Tischplatte, ein taktisches Fußballspiel, Wollheims Gesicht. Wollheims Gesicht. "Sie hat Sie erpresst, nicht wahr? Womit wissen wir. Aber wozu?" Wollheim räusperte sich und sprach die folgenden Worte an mir vorbei gegen das schmale Stückchen freie Wand zwischen zwei Schränken: "Sie sagte: Ich habe den Hass, Herr Wollheim. Ich gönne keinem seine Kinder. - Was hätten Sie darauf geantwortet? Tut mir leid? Ich verstehe Sie? Das ist nicht gut? Sie hat nur -2 0 8 -
abgewunken. Nichts tun Sie! Ich kenne Sie doch, Herr Wollheim: Sie sind pädophil. - " Er stockte, räusperte sich erneut. "Monate später - Sie müssen wissen, Herr Horst, Frau Siebenlist hatte Stil und Klasse. Damals jedenfalls. Eine Frau Ende vierzig, lebenslustig. Sie lernte Männer kennen, sie gehörte zu Cliquen, sie hatte ein gutes Auskommen und Geschmack, sie wusste sich zu benehmen, sie konnte reden, über Dinge reden, von denen sie nichts verstand, aber sie tat gebildet, und man nahm es ihr ab. - Was ich damit sagen will: Sie war eine Frau, die bekam, was sie wollte. Nicht die Männer, die waren ihr gleich. Sie suchte Männer, denen auch sie gleichgültig war. Ging mit Ihnen aus. Bevorzugt in Cafés, die von Schulmädchen besucht wurden. Sie beobachtete die Männer. Ihre Blicke. Wie sie die kleinen Mädchen, die vorübergingen, in Gedanken vergewaltigten. Und dann kam sie zu mir. Sie sagte: Ich habe die Kundschaft, Herr Wollheim, den Grundstock. - Die Kundschaft! Ich verstehe nicht, Frau Siebenlist. - Wieder diese wegwerfende Handbewegung. Sie verstehen! Ich habe die Männer, und Sie besorgen die Mädche n. Aber Frau Siebenlist! Wie soll ich Mädchen besorgen? Was heisst das überhaupt - 'besorgen'? - Sie können das, Herr Wollheim. Sie machen das schon." Er kramte nach seinem Taschentuch und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Brasilien führte 1:0. "Ich -" Er hustete. Kramte abermals nach seinem Taschentuch, hustete kräftig hinein, sagte: "Pardon." und fuhr fort: "Ich war ratlos. Fügte ich mich nicht, würde sie mich denunzieren, mein Geschäft wäre verloren. Tat ich, was sie wollte - Sie hatte begonnen, die fünf Zimmer einzurichten. Bestellte Massenware bei verschiedenen Möbelhändlern, damit es nicht auffiel. Eines Tages kam sie strahlend in meinen Laden, eine große Tüte dabei. Schauen Sie nur, Herr Wollheim! Sie griff hinein und zog einen Teddybären heraus. - Fünf Stück, -2 0 9 -
Herr Wollheim, fünf Stück! Sind sie nicht niedlich? Die Mädchen werden sich freuen. - Sie war krank, Herr Horst. Sie fühlte sich als Mutter und Verderberin zugleich." "Und wie -?" Er wurde lebhaft, gestikulierte mit den Händen, den Armen, seine Füße rieben unruhig auf dem Parkett. "Ich hatte EINMAL - " Ich schrie ihn an: "Sie lügen, Herr Wollheim!" Er schreckte zurück, warf den Kopf zur Seite, als wollte er einem Hieb ausweichen. "Sie lügen! Erzählen Sie mir von der kleinen Judith. Fünfundzwanzig Jahre ist das her, Ihre Frau hat noch gelebt, keine Frau Siebenlist weit und breit. Judith! Sie erinnern sich? Wie haben Sie sie in Erinnerung? Als unbeschwertes, hübsches Schulmädchen? Als schockiertes Stück Fleisch für Ihre Lust? Als lebloses Gewicht an einem Strick an einem Kellerfenster?" Er schlug die Hände vors Gesicht und weinte, es war wie im Whirlpoolzimmer, aber Wollheim war nicht Egbert. "Verzeih mir meine Schrift, aber ich schreibe im fahrenden Zug, das Papier auf den Knien und nur eine dünne Zeitschrift als Unterlage. Ist nicht der erste Versuch (und der letzte wohl auch nicht)! Zweimal schon habe ich angesetzt und bin jedesmal vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Die Vergangenheit zu beschwören, das gerät meistens larmoyant. Ich bin Literaturwissenschaftlerin und muss es wissen! Also keine Retrospektive, keine Analyse des Seelenheils- und unheils der Frau Weber! Was ich tun kann und muss, ist, dir genau zu berichten, wie sich unsere Tragödie entwickelt hat, während wir nicht auf der Bü hne standen. Alles weiss ich natürlich nicht. Im Frühsommer vorigen Jahres wars. Ich vermisste meinen Garagenschlüssel, hatte es eilig und suchte nach dem meines Mannes. Hanns-Lothar hatte Besuch, ich wollte nicht stören. -2 1 0 -
Seine Schlüssel steckten gewöhnlich in der Hausjacke, und die hing über einem Stuhl im Fotolabor. Das Fotolabor war SEIN Ort, sein Refugium, für mich tabu. Ich ging ganz schnell rein und wollte ganz schnell raus. Den Schlüssel fand ich in der Tasche, wunderbar. Auf dem Tisch lag ein Stapel frisch entwickelter Fotos, und er konnte fotografieren, glaub mir. Ich wollte nur mal drübergucken. Du kannst dir denken, was ich entdeckte. Sie lagen ganz unten: drei Aufnahmen von Egbert, eine, die sein Profil zeigte, zwei mit ordinärer Vergrößerung des bestimmten Körperteils. Ich war - schockiert. Wahrscheinlich hätte ich das sofort wieder vergessen und mich höchstens darüber gewundert, wie kindisch Männer sein können, wenn sie getrunken haben. Aber auf dem Originalfoto erkannte man nicht nur Egbert. Am rechten Rand, abgeschnitten, das Gesicht eines Mädchens, ihr nacktes Bein. Gerade mal 13 oder 14, würde ich schätzen. Ich habe die Bilder an mich genommen. So wie ich einem Schüler pornografischen Schmutz weggenommen hätte. War kein Schüler. War mein Mann. Ich sagte nichts. Ich konnte nichts sagen. Freitags traf sich Hanns-Lothar regelmäßig mit Freunden "Gedankenaustausch". Zehn Jahre lang hab ichs geglaubt. An diesem Freitag nach der Entdeckung bin ich ihm nachgefahren. Zuerst ist er tatsächlich in ein Lokal. Durch das Fenster konnte ich Prinz und Dorsten erkennen. Sie saßen eine halbe Stunde beieinander, tranken etwas, redeten, lachten. Ich dachte: Geschieht dir recht, du dumme Kuh. Fahr wieder heim. Und dann haben sie gezahlt und sind gegangen. Es war kurz vor sechs. Sie gingen zu Fuß, Richtung Gymnasium. Was wollten die dort? Vor Wollheims Geschäft blieben sie einen Moment stehen. Sahen ins Schaufenster, betraten den Laden. Ich wartete auf der anderen Straßenseite hinter einem geparkten Lieferwagen. Fünf Minuten später kamen drei junge Mädchen, und eins sah aus wie die Kleine auf dem Foto. Gut. Schlimm. Mein Mann betrügt mich, er hat Sex mit Kindern. Ich werde -2 1 1 -
mich scheiden lassen. Aber als ich heimfuhr - du kannst dir sicher vorstellen, wie - habe ich mich an etwas erinnert. Eine völlige Banalität, eigentlich. Zwei Wochen vor Judiths Selbstmord sind wir morgens zur Schule gegangen. Spät dran waren wir, auf mich wartete in der ersten Stunde eine Mathearbeit. Mir fiel ein, daß ich noch ein Heft brauchte für Gemeinschaftskunde. Der alte Vorell war da sehr pinkelig, wie du dich vielleicht noch entsinnen kannst. Heft voll - neues raus! Die Zeit war knapp. Judith, sagte ich, da hast du zwei Mark, kauf mir ein Din A4 Heft, rautiert und behalte den Rest. Gib mir das Heft in der großen Pause. Sie antwortete: Nein. Ziemlich ruhig. Ich: Jetzt sei nicht so eklig, mein Gott, du wirst immer unausstehlicher! Sie blieb stehen, schrie es mir ins Gesicht: Nein, nein, nein! Ich geh da nicht mehr rein! - Es war ein kleiner Tobsuchtsanfall. Sie rang nach Luft. Sie heulte und schrie: Neinneinnein! Und ich? - Ich törichtes Mädchen? Ich hielts für die lästigen Begleiterscheinungen der Pubertät! Mein Gott! Aber als ich nach Hause fuhr, fünfundzwanzig Jahre später, und ich hatte gerade meinen Mann in ein Schulmädchenbordell gehen sehen - durch den Laden des Wollheim! - da wusste ich, warum sie so außer sich geraten war. Dass Sie in Ihrem Tagebuch nicht dich gemeint hat, sondern IHN. Oder einen seiner Kunden. Und mir dämmerte: Wenn du damals gefragt hättest, was los ist - Sie geschüttelt hättest - SAG MIR, WAS MIT DIR LOS IST! dann, wer weiss, wäre alles anders gekommen. Was sind wir für unausgegorene Geschöpfe! Wurde ich zornig? Habe ich Wollheim zur Rede gestellt? Meinen Mann? Egbert? Die Polizei informiert? Nichts davon. Ich wurde apathisch. Kam heim, ging ins Haus, schaltete den Fernseher an, schaute einen Krimi. Hanns- Lothar kam gegen elf. Er küsste mich auf die Stirn. Wir zogen uns um und gingen zu Bett. Wir lagen nebeneinander, wir schliefen ein und wachten auf und schliefen ein und wachten auf." Nein, ich bin nicht aufgesprungen und habe ihm in die Fresse -2 1 2 -
geschlagen. Wollheim hörte sich an was ich sagte, eine Stimme im Radio in einem Hörspiel eventuell, man könnte irgendwann gelangweilt abschalten und der stummen Schlacht auf dem Bildschirm das letzte bisschen Aufmerksamkeit des Tages schenken. Aber ich ließ mich nicht abschalten. Wollheim dachte nach. Er könnte den Ausfluss seiner Tränen beschleunigen, Sturzbäche durch die Canyo ns seines Gesichtes schicken. Leugnen? Es gab nichts zu leugnen. Abschwächen. Er rieb sich die Augen. "Ich wollte das nicht." Die Standardantwort. Man hätte schreien mögen vor lauter Enttäuschung über soviel Phantasielosigkeit. Sie sind doch einer, der pausenlos nachdenkt, Herr Wollheim! Warum fällt Ihnen nichts besseres ein? Sie sind ein tolles Exempel für meine These, daß es auf das WIE ankommt. Dachte ich, sagte ich nicht. Ließ ihn reden. "Sie hat eine Bravo gestohlen, ich habe sie dabei ertappt. Unterm Pulli versteckt, wollte sie nicht hergeben, und ich dürfe sie nicht anfassen, das hätte sie in der Bravo gelesen, das sei sexuelle Belästigung. Sie reizte mich. Hielt die Hände vor der Brust verschränkt. Ich griff ihr unter den Pulli, um das Heft hervor zu ziehen. Spürte ihre Haut. Da wars vorbei. Sie können das nicht verstehen, natürlich nicht. Ich verstehs am allerwenigsten." "Ich kann Ihnen nichts beweisen, Wollheim. Aber ich vermute mal, auf die Masche mit den ertappten Sünderinnen haben Sie dann zurückgegriffen, um Frau Siebenlists Bordell zu bestücken." Er schlug wieder die Hände vors Gesicht. "Glauben Sie mir: Das mit der kleinen Judith war eine einmalige Verfehlung." Verfehlung? Warum sprachen diese Burschen immer von "Verfehlung"? -2 1 3 -
"Als ich erfuhr, was passiert war - ihr Selbstmord - - - Sie können sich nicht vorstellen, wie es in mir aussah." Ich wünschte, er würde die Schnauze halten. Ich verfluchte die Rudimente der christlich-abendländischen Erziehung, die ich trotz wackersten Bemühens nicht aus mir heraus kriege. Selbstmitleid. "Verfehlung". Hatte sich Judith umgebracht, weil ihr ein alter Lüstling unter den Pulli gegriffen hatte? Was geschah weiter? Hat Wollheim den Laden abgeschlossen, sich an dem Mädchen vergangen? Ihr gedroht, sie erpresst, zu sich bestellt, als er alleine war? Auch andere Männer drübersteigen lassen? Seine Frau wusste, warum sie ihren Mann in ein Schreibwarengeschäft verbannt hatte. Umsonst. Ein schwerer Fehler. "Ich bin nicht Ihr Richter, Wollheim. Erzählen Sie weiter. Wie haben Sie die Mädchen gefügig gemacht?" "Wie sie schon sagten. Viele klauen mal was, weil das Taschengeld nicht reicht. Man sieht es ihnen an, wenn sie ins Geschäft kommen. Erfahrung, Menschenkenntnis. Mit dem Erziehungsheim wird gedroht, mit einem aufgestockten Taschengeld gelockt. Ja, so fing es an. Aber glauben Sie mir: Später kamen viele Mädchen freiwillig. Sie wollten Geld verdienen. Das rechtfertigt natürlich nichts." Zehn Jahre lang betreten kleine Mädchen das Geschäft, passieren die Verbindungstür zum Treppenhaus, steigen hinauf zur Wohnung der Frau Siebenlist, werden eingelassen und in ein Zimmer geführt. Dort wartet vielleicht schon der Freier, dem es auf gleiche Weise gelungen ist, das Bordell unauffällig zu betreten. Wer achtet schon auf Kunden? Wer stoppt die Zeit, die sie in einem Geschäft verbringen? Sie warten auf das Mädchen und spielen, bis es kommt, mit dem Teddybären. Oder die Mädchen warten auf die Männer und knuddeln vorher das weiche Spielzeug. Zum Kotzen, zum Kotzen, zum Kotzen. "In eine m kleinen schäbigen Hotel. Morgen geht es weiter, -2 1 4 -
ich weiss nicht wohin. Du dürftest dich nach meinem ersten Brief gefragt haben, wie ich es an der Seite dieses Mannes aushalten konnte. Ich habe tatsächlich nichts gesagt, ihn nicht zur Rede gestellt. Wenn er zu mir gekommen ist, nachts, war es eine lästige Störung meines Schlafes, die Teilnahme daran, wie er seinen Samen abschlug. Geschah nicht mehr oft. Mein Haar ist grau geworden, er hat es beiläufig festgestellt und mir geraten, es färben zu lassen. Aber ihn störe es nicht. Ich täte es für mich. Warum habe ich geschwiegen. Kein Fragezeichen. Ich habe geschwiegen. Irgendwann merkte ich, daß mein Mann nervös wurde. Er vermisste die Fotos. Hatte er mich in Verdacht? Unsicher, lauernd. Ich ließ mir nichts anmerken. In der Schule habe ich es vermieden, an all das zu denken. Nur nicht mehr die Mädchen in der großen Pause betrachten, wenn sie giggelnd zusammenstehen und sich hinter vorgehaltener Hand ihre Geheimnisse preisgeben. Ich dachte an dich. Habe ich dir schon gesagt, daß ich mir immer vorgestellt habe, wie du wohl geworden wärst, hätte sich Judith nicht umgebracht, hätten wir dir nicht Unrecht getan? Ein guter Schüler warst du ja nicht gerade. Und Lehrer? Doch, ich bin sicher, du wärst Lehrer geworden. Kein besonders fähiger. Zu stur. Zu moralisch. Du sollst die Schüler auf das Leben vorbereiten, und das heisst: Mach sie zu Duckmäusern, damit sie in Ruhe ihre Jahre ableben können. So gesehen habe ich wundervolle Lehrer gehabt. Wir hätten geheiratet. Und das war mein Anker, verstehst du? Dass du genau so geworden wärst wie diese Sau, deren Namen ich trage. Ein fähiger Pädagoge, ein fürsorglicher Ehemann. Das beruhigte mich. Ich dachte: Schön, es wäre mit ihm nicht anders geworden als mit dem=da. Kann sein, ER läge jetzt neben dir, erschöpft vom Begatten, und als er dich nahm, hat er kleine Mädchen auf der schmierigen Leinwand seiner Vorstellung agieren lassen. Ich habe mich mit der Hoffnung getröstet, daß du NICHT so geworden bist, weil man dir keine Chance ge geben hat, so zu werden. Ich habe dich beneidet. - Dummes, -2 1 5 -
larmoyantes Geschwätz. Ich erfuhr aus der Zeitung vom Tod der Frau Siebenlist, und ich erfuhr von den fünf Schlafzimmern. Las deinen Namen unter den Artikeln und sagte mir: Das ist brutale Ironie. Er schreibt über etwas und ahnt nicht, wie sehr es mit seinem Schicksal zusammenhängt. Darum die beiden Fotos. Du solltest wenigstens wissen, daß mehr hinter den Dingen steckte. Aber du durftest nicht wissen, was genau. So. Ich mache Schluss für heute. Kann von Glück sagen, wenn mir kein Ungeziefer in meinem Bett seine Aufwartung macht. Trete noch einmal ans Fenster und schaue hinaus. Die nächste Fahrkarte habe ich in der Tasche. Wohin? Zu einem anderen Bahnhof, eine nächste Fahrkarte kaufen. Ich melde mich noch einmal. Machs gut." * Ich bin ein manischer Sammler von Tatsachen, Gesine. Sperr mich in ein Archiv, und du siehst mich niemals wieder. In Wollheims Wohnung jedoch, am 23. Juni, trieb mich nichts zu letzten Erkenntnis, nichts spornte mich an, auch noch das geringste aller Mysterien zu entschlüsseln. Ich fragte nicht, wieviel den Freiern ihr Vergnügen wert gewesen war. Und ich fragte nicht nach den Mädchen. Ist das nicht merkwürdig? In dieser ganzen Geschichte spielen die wirklichen Opfer keine Rolle. "Warum haben Sie die Siebenlist die Treppe runtergestoßen?" Wollheim stöhnte. "Warum. Sie hatte den letzten Kunden in dieser Nacht heraus gelassen. Und - und das Mädchen. Eins von denen, die es freiwillig machten, eine Streunerin. Frau Siebenlist kam hoch und klingelte. Sie riss mich aus dem Schlaf. Ich muss fort, Herr Wollheim. Ich halts nicht mehr aus, ich geh fort und ich brauche Geld. - Wozu? Wozu brauchte sie Geld? Sie hatte Geld! Eine ältere Frau! Und fortgehen! Nicht mehr aushalten! Alles erlogen, um mich zu quälen. Ich habe gesagt: Kommen Sie rein, wir wollen darüber reden. - Und wieder diese -2 1 6 -
verfluchte Handbewegung, mit der sie einen wegwischen konnte, einem die Worte ausradieren. - Geld, Herr Wollheim. Eine halbe Million! Verkaufen Sie das hier! - Dreht sich um und geht. Lacht, schäbig, perfide. Wahrscheinlich wollte sie mir eine schlaflose Nacht bereiten, gehörte alles zu ihrem Wahn, Macht ausüben zu können, willkürlich Leben zu zerstören. Am nächsten Morgen wäre Sie gekommen - Na, Herr Wollheim, gut geschlafen? War nur ein Scherz! Hahaha! - Sie ging die Treppe zu Ihrer Wohnung runter. Ich bin ihr nach. Die Tür steht offen, sie will rein. Ich halte sie an der Schulter fest, sie weicht zur Seite, tritt auf eine Stufe, schreit mich an - Was wollen Sie, Herr Wollheim! - und da hab ich ihre Schulter fest in meine Hand genommen, habe gedrückt und sie von mir gestoßen. - " Er schaute auf den Bildschirm, durch den Bildschirm, irgendwo hin. Ich erhob mich, ging zum Schrank mit den Getränken, nahm die Flasche Cognac und zwei Gläser aus dem Seitenfach. Stellte die Gläser auf den Tisch, schenkte uns ein. "Trinken Sie. Zur Feier des Tages." Er verstand zunächst nicht. Es dauerte eine Weile, bis er das Glas nahm und austrank. Ich schenkte nach. "Zur Feier des Tages? Dass sie mich überführt haben, mich der Polizei ausliefern und einen schönen Artikel schreiben können?" "Zur Feier des Tages. Passen Sie auf: Sie sind ein alter Mann, und mir ist nicht daran gelegen, Sie ins Gefängnis zu bringen. Sie sind ein alter Mann - und sollten sich zurückziehen. Haben Sie Ersparnisse? Lebensversicherung?" "Ich arbeite nur noch - " "- zum Spaß. Ja, ja. Sie ziehen sich zurück. Weit weg. Vorher überschreiben Sie mir das Haus, gegen Zahlung einer mäßigen Leibrente. Ich werde Ihr Geschäft weiterführen, und ich denke, das macht wett, was Sie mir angetan haben." -2 1 7 -
"Ihnen angetan?" Ich erzählte es ihm. "Denken Sie nicht auch, es wäre angemessen, mir ein ruhiges Leben zu ermöglichen, wenn ich Ihnen im Gegenzug ein ebensolches anbiete? Ich will Ihnen nicht drohen. Dass Sie jederzeit entlarvt werden können, wird Ihnen selbst klar sein. Die Mädchen, die Freier: irgend jemand wird reden." Die Norweger hatten den Ausgleich erzielt. Wollheim lächelte gequält, resigniert. "Bis wann muss die Angelegenhe it abgewickelt sein?" Ich starrte auf den Bildschirm. Die Brasilianer, aufgeschreckt, schockiert, teilnahmslos. "12. Juli. Machen Sie die Papiere fertig. Wir treffen uns bei mir. Sollte etwas notariell beglaubigt werden müssen, holen wir das schnellstmöglich nach. Wir telefonieren." "Wird auch so gehen." versprach der Alte. Er brachte mich hinaus. Letzter Blick zum Spiel: Ein Norweger namens Flo dringt in den Strafraum der Brasilianer ein, um einen Elfmeter zu provozieren. Er wird es immer und immer wieder versuchen. Vor der Tür. Ich gehe grußlos. "Wollen wir uns nicht die Hand geben?" Umdrehen. Das nächste, von dem ich weiss, sind braune Halbschuhe und gelbe Socken. "Ich hoffe, es geht Ihnen gut." Bin eingenickt und habe ihn nicht kommen hören. In Paris dürften sie jetzt die ersten Bälle übers Feld schlagen. Gegen acht hat Petra angerufen, aufgekratzt: "Er hat die Hosen runtergelassen! Kapierst du? Die Hosen runter! Und davor seine Rede, Mensch! Unglaublich, ohoh! Wir werden morgen Rekordquote haben, die Tagesschau hat sich gemeldet, alle, alle, die Privaten, alle, international - oh, ich dreh durch! Woher wusstest du das nur!" -2 1 8 -
Auf meine Antwort ist sie nicht sonderlich erpicht. "Du, ich muss aufhören. Wir schneiden gerade! Hörst du im Hintergrund die Telefone? So geht das seit ner Stunde! Tschüs!" "Guten Abend, Herr Wollheim." grüße ich ihn, der sich einen Stuhl geholt hat und an meinem Bett sitzt, die speckige Aktentasche auf dem Schoß. "Es tut mir leid." sagt er. "Ich fühle mich ein wenig mitschuldig an ihrem Unfall. Sie sind richtig erschrocken, als ich die Hand ausgestreckt habe. Dachten Sie etwa..." "Vergessen, Herr Wollheim, vergessen. Lassen Sie mir dieses kleine Geheimnis als Stoff zur Interpretation, wenn ich hinter der Theke sitze und auf Kundschaft für meine Superbleistiftauswahl warte." (Und meine Wohnung? Hat er sie durchsucht? Oder hat den pingeligen Meinsell mein Gewohnheitschaos auf abwegige Gedanken gebracht? Nicht mehr nachzuvollziehen, alles aufgeräumt.) "Haben Sie alles dabei?" Er klopft auf die Aktentasche. "Hier drin. Wie telefonisch besprochen. Wegen der Leibrente müssen wir halt doch einen Notar bemühen. Ich denke, wir beide, der Notar und ich, können morgen vorbeikommen. Nur die Unterschrift. Über alles andere ist ja Einigkeit erzielt worden. Recht so?" "Recht so." "Ich gehe nach Kanada." "Ach?" "Ja. Meine Schwester lebt dort." "Schön für sie. Legen Sie alles aufs Nachtschränkchen und gehen Sie bitte. Ich bin müde." * "Hallo. Letzter Brief. Wieder im Zug, rattatata, rattatata. Ich schulde dir noch einen kurzen Bericht über die Ereignisse an -2 1 9 -
jenem Morgen, als ich dich verließ. Du hast geschlafen, ich wollte dich nicht - ach, Blödsinn. Ich war froh, daß du schliefst. Hanns-Lothar war schon wach. Er saß beim Frühstück, er sagte nichts. Ich sah ihn vor seinem Kaffee, seinem Marmeladebrötchen. Konnte sich nur mühsam beherrschen, dieses "Wo warst du?" zu fragen. Und als ich ihn so betrachtete, dieses Häufchen schlecht im Zaum gehaltener Emotionen, diesen wundervollen, gewissenlosen Pädagogen, da ist mir selbst alles abhanden gekommen, was ich mir in Jahrzehnten an Selbstbeherrschung habe aneignen müssen. Ich begann ein lustiges Lied zu pfeifen. Habe mich zu ihm an den Tisch gesetzt, mir Kaffee eingeschenkt. Ganz rotes Gesicht bekam er. Wollte etwas sagen, ich kam ihm zuvor: 'Ich habe dich heute nacht betrogen. Aber keine Angst: nicht mit einem Dreizehnjährigen.' Er ist aufgesprungen. Er geriet in jene Erregung, von der ich glaube, daß sie auch in den Schlafzimmern der Frau Siebenlist gewütet haben muss, diese Unbeherrschtheit, der es gelingt, flugs ein ganzes Gebirge aus Bildung und Kultur und Moral zu zerbröseln. 'Du hast die Fotos genommen!' - 'Und dir nachspioniert!' Er kam auf mich zu. Ich bin auch aufgesprungen und ins Wohnzimmer gelaufen, er hinterher. Ich griff eine Buchstütze, ein Stück schweren Marmor. Hob das Gewicht 'Bleib stehen' Er kam näher. Ich rannte ins Schlafzimmer, sprang aufs Bett, hatte die Buchstütze gehoben, warnte 'Bleib stehen! Verschwinde' Lass mich!' - keine Chance. Er kam näher. Und dann schlug ich zu. - Ersparst du mir weitere Einzelheiten? Danke. Glaub mir oder glaub mir nicht: Seit ich zugeschlagen habe, bin ich ruhig geworden, fast fröhlich. Jetzt treibt es mich fort, so leicht bin ich. Wieder werde ich gleich irgend wo ankommen und kurz bleiben und von irgendwo wegfahren. Geld habe ich reichlich. Es wird nicht ewig halten, aber werde ich ewig mich so treiben lassen können? Wohl nicht. Ich mache mir keine Gedanken darüber. Leb wohl. Der Zug bremst schon ab." * -2 2 0 -
Das Spie l ist aus. Keine hupenden Autos? Keine explodierenden Feuerwerkskörper? Niemand, der die Nationalhymne, erste Strophe grölt? Phantastisch. Eine laue Nacht, die uns gemahnt, der Sommer habe noch gar nicht richtig begonnen oder sei schon vorbei. "Von wegen 'Amnäsie'!" tadelt Gesine, aber nein: "Na gut, hättest du mir gleich von der Nacht des 23. erzählt, wäre die Geschichte nur halb so spannend geworden. Trotzdem möchte ich dich daran erinnern, daß du mir noch die Geschichte vom rollenden Auto schuldig bist!" "Richtig; das unglückliche Ende meines treuen Golf. Gleich vorweg: Ich kann nur mutmaßen. Am nächstliegenden wäre zweifellos die Prinz / Dorsten / Weber - Konnektion. Weber dürfte nach meinen ersten Maxmarkt-Andeutungen der Bezug zu seiner Frau klar geworden sein. Er kannte die Geschichte von Diana und mir, er verdächtigte seine Frau, die Fotos entwendet zu haben. Nehme ich an. Frage: Woher wussten Prinz und Konsorten von meinem ja kurzfristig anberaumten Besuch in Schievers Haus? Wurde ich beschattet? Unwahrscheinlich. Steckt Schiever mit den Herrschaften unter einer Decke? Nicht auszuschließen, aber ich glaube es nicht. Fazit: die faktisch befriedigendste Variante des Tathergangs, doch weder in allen wesentlichen Punkten schlüssig noch zu beweisen. Zweite Möglichkeit: ein Dumme-Jungen-Streich. Son Halbwüchsiger spielt an der Handbremse, der Wagen rollt abwärts. Den Jungen plagt das Gewissen, er beichtet alles seinen Eltern, die den Schaden anonym regulieren. Wieviel so was kostet, kann man rauskriegen. Dritte Möglichkeit: Wirklich ein Unfall; meine Schuld." "Und die Bremsschläuche?" wirft Gesine ein. Ich seufze. "Da sei der Einfachheit halber auf natürlichen Verschleiss getippt. So etwas ist Profisache, und einen echten Killer zu engagieren, traue ich selbst Prinz nicht zu, obwohl dem -2 2 1 -
noch am ehesten. Zumal ja dann, wenn er tatsächlich dafür verantwortlich wäre, ein anderer die gelöste Handbremse auf dem Konto haben müsste. Nein, eins steht fest: Wer immer die Handbremse gelöst hat, hat mir das Leben gerettet." Wir schauen uns unschlüssig an. "Ich kenne dich ja noch nicht so gut." sagt Gesine ganz langsam - und dieses "noch" hallt in mir wie tausend Kirchenglocken zur Christmette - "Aber so gut kenne ich dich schon, daß du noch eine vierte Möglichkeit in deinem Köpfchen aufbewahrst. Raus damit!" "Stimmt." Dramatische Pause. - "Diana wars!" "Oh!" Gesine ist überrascht. "Eine Panikreaktion. Vergiss nicht, was sie durchgemacht hat! Ich vergleiche das am besten mit einem erloschenen Vulkan. Vor fünfundzwanzig Jahren ist er ausgebrochen, dann hat er Ruhe gegeben. Sein Krater war zugeschüttet, mit einem Felsbrocken verstopft, meinetwegen, und auf der Lava gedieh ganz allmählich ein kleines grünes Idyll. Heirat, Beruf, Freunde - und dann: Es brodelt wieder. Nein, es brodelt und drängt hinaus. Diana erkennt, was damals wirklich geschah. Bloß - wie verhält sie sich? Zeigt sie die Bagage an? Stellt ihren Mann zur Rede? Reicht die Scheidung ein? Nichts. Der Krater bleibt verstopft. Nur ein kleines Loch hat sich Diana gestattet, um die unerträglichsten Gefühle herauszulassen. Sie schickt mir die Fotos. Doch je mehr ich nachforsche, desto größer wird die Gefahr, daß der Felsblock nicht mehr standhält. Sie fürchtet sich vor dem, was kommt. Sie fährt mir nach. - Das ist der schwächste Punkt in meiner Kette, ich weiss. - Sie gerät in Panik. Sie will nicht mit mir reden - also schickt sie mir eine Warnung - und löst die Bremse." "Hm, hm, hm." "Nicht überzeugt? Ganz ehrlich: Ich bin es auch nicht. Aber diesen Vulkan hat es gegeben, und wie nicht anders zu erwarten, -2 2 2 -
ist der Druck zu stark geworden, hat den Felsen einfach weggeschleudert." "Der Kegel ist explodiert. Sie erschlägt ihren Mann und verschwindet." "Genau. Außerdem: Die Vorstellung, daß Diana mir das Leben gerettet hat, gefällt mir von allen am besten." Sie lächelt. Ich lege den Brief zu den anderen auf die Bettdecke. "Damit wären wir durch, Gesine. Morgen kommt der Notar, in ein paar Wochen werde ich Betreiber eines Schreibwarengeschäfts. Die Computerecke schmeisse ich als erstes raus. Zu hektisches Publikum. Ich nehme Frau Siebenlists Wohnung, nach gründlicher Renovierung. Oben drüber das vermiete ich an Studenten. Oder soll ich ganz böse sein und Asylbewerber nehmen? Und ist die Siebenlist-Wohnung für mich nicht eigentlich viel zu groß? Wo ich nur EIN Schlafzimmer brauche?" Sie reibt meine Nasenspitze mit ihrem Zeigefinger. "Ich brauche dringend neue Bleistifte." flüstert sie. ENDE
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