Boris Strugatzki Die Ohnmächtigen
Inhalt Erstes Kapitel September. Wadim Danilowitsch Christoforow, genannt Resulting ...
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Boris Strugatzki Die Ohnmächtigen
Inhalt Erstes Kapitel September. Wadim Danilowitsch Christoforow, genannt Resulting Force 9 Lyrische Abschweifung Nr. 1 Timofej Jewsejewitschs Vater 32 Zweites Kapitel Dezember. Zweiter Montag. Juri Georgijewitsch Kostomarow, genannt Polygraf Polygrafowitsch Lyrische Abschweifung Nr. 2 Thälmann Iwanowitschs Vater 62
34
Drittes Kapitel Dezember. Immer noch zweiter Montag. Klein Motowilowo 68 Lyrische Abschweifung Nr. 3 Der Chefarzt, Sohnemanns Papachen 99 Viertes Kapitel Dezember. Mittwoch. Die Nacht des Patriarchen Fünftes Kapitel Dezember. Donnerstag. Robert Valentinowitsch Patschulin, genannt Festplatte 128 Lyrische Abschweifung Nr. 4 »Jemandes Tochter« und ein wenig Statistik 155
103
Sechstes Kapitel Dezember. Derselbe Donnerstag. Grigori Petelin, genannt Giftzahn 159 Lyrische Abschweifung Nr. 5 Giftzahns Vater oder Große Kinder, große Sorgen 183 Siebtes Kapitel Dezember. Freitag. Etliche vorbereitende Maßnahmen Achtes Kapitel Dezember. Immer noch Freitag. Die Mannschaft ist beisammen
187
210
Neuntes Kapitel Dezember. Samstag. Ein geschlossener Bruch
234
Zehntes Kapitel Sonntag. Finale 266 Lyrische Abschweifung Nr. 6 Das Leben geht weiter 296 Elftes Kapitel Dezember. Dritter Montag. Überhaupt keine Zeit mehr 302
Welch Wunder, ist die Sternenpracht der Nacht allein für uns gemacht von einem Schöpfer und Bewahrer. Wenn aber all das ringsumher von selbst entstanden ist, das wär noch wunderbarer! Alexander Kuschner Es wird die Geschichte eines Wundertäters, der in unserer Zeit lebt und keine Wunder tut. Er weiß, daß er ein Wundertäter ist und alle möglichen Wunder tun könnte, aber er tut es nicht. Daniil Charms
Erstes Kapitel September. Wadim Danildwitsch Christofdrdw, genannt Resulting Force »Heute nacht hab ich von meinem toten Vater geträumt«, teilte Timofej Jewsejewitsch mit äußerst besorgter Stimme mit. »Also? Irgendwas Schlimmes wird auf jeden Fall passieren ...« Wadim schaute ihn ohne jedes Interesse an und vertiefte sich wortlos wieder in die Berechnung der gewichteten Mittelwerte. Er mußte noch die beiden letzten Beobachtungsreihen bearbeiten, und Timofej Jewsejewitsch Syschtschenko benötigte keinerlei Antworten oder gar Kommentare. Er reinigte wieder einmal den Spirituskocher. Das Gerät wurde mit Benzin betrieben, es lief lautlos, war nagelneu (ein Wunder der Konversion von Raketentechnik) und verschmutzte daher besonders gern. Staatseigentum. Die Hitze zog schon herauf. Das Lüftchen, das gegen Morgen aufkommen wollte, war ganz erstorben, der Tag versprach drükkend heiß zu werden, schweißtreibend und ermüdend. Der Himmel war klar, völlig wolkenlos, aber fern am Horizont im Osten und im Westen waren der Bermamyt und der Dolch in grauen Dunst gehüllt, als habe dort jemand insgeheim unsichtbare Lagerfeuer entfacht. Wadim beendete die Arbeit an den nächtlichen Beobachtungen, packte die Unterlagen in die Mappe und blickte zum Elbrus, der geisterhaft, fast durchsichtig vor einem weißlich klaren Himmel stand, und aus irgendeinem Grund fiel ihm plötzlich ein, daß er schon lange nichts mehr ins Tagebuch geschrieben hatte. Er ging zum Kommandeurszelt hinunter, kramte das Tagebuch unter dem Nachtzeug hervor und setzte sich wieder ans Tischchen. Er blätterte. Blieb an einem Eintrag hängen. Begann zu lesen. 14.8. ... Der Bergrücken ist nicht übel, er ähnelt irgendwie den Bergketten auf dem Mond. Der Elbrus steht schrecklich und fremdartig unter den Wolken. Unser Charbas aber ist mit kurzem Gras und mickrigen blauen Blümchen bewachsen. Es fliegen Hummeln umher und klammern sich gierig und grob an diesen Blümchen fest, als wollten sie sie auf der Stelle vergewaltigen.
Am Morgen ertönten plötzlich Flügelrauschen und ein verzweifelter Schrei. Ein Schatten schoß vorüber, und unter dem Wagen verkroch sich ein zu Tode erschrockenes Vöglein. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den mißglückten Angriff eines Falken ... ... Tengis hat gesagt, daß man nicht lange in Kontakt mit Gott bleiben kann, ohne den Verstand zu verlieren. Ich glaube, das steht bei Umberto Eco. Oder doch nicht? Egal. Es klingt jedenfalls stark ... Drauf, daß wir noch immer leben, Daß sie uns die Löhnung noch geben, Und daß hier die Berge beben Und Frühnebel kriechen naß. Nur steile Wege Und das Felsgeröll am Paß. Die Wolken ziehn träge Um Dolch, Bermamyt, Charbas ... 16.8. Der Kommandeur braucht nur wegzufahren, und schon passiert unweigerlich etwas. Das Lager ist von Kühen überfallen worden. Ein kräftiger grauer Bulle hat angefangen, sich mit donnergleichem heiseren Gebrüll an der Antenne zu reiben, und hat augenblicklich das Gegengewicht abgerissen. Die Kühe kamen heran, stellten sich in einer Reihe auf und glotzten stumpfsinnig das Lager an. Der Bulle war so großmächtig, daß ich mich zuerst feige im Zelt verkriechen wollte, in der Hoffnung, daß sich alles irgendwie von selber einrenkt. Aber der Bulle lud noch drei Kühe ein, sich an der Antenne zu scheuern (offensichtlich seine liebsten), und sie fingen an, direkt neben meinem Ohr geräuschvoll zu pissen, während die ganze Herde geradewegs aufs Lager zukam. Da habe ich fieberhaft das Gewehr geladen und bin losgegangen, den Hirten suchen. Da war natürlich weit und breit kein Hirte. Also bin ich zurückgegangen (die Kühe waren inzwischen nahe heran) und habe den Bullen angeschrien: »U-hu!« und mit den Armen vor ihm gefuchtelt. Der Bulle antwortete »U-u!« und tat einen Schritt vorwärts. Ich bin zitternd hinters Kommandeurszelt gelaufen und habe von dort aus die Kühe angeschrien: »Verschwindet - fort mit euch, fort!« Die Kühe zuckten nur abfällig. Da ging mir ein Licht auf. Ich nahm ein Tau, begann damit zu knallen und zu schlagen und rief »U-hu!«, aber nur an die Kühe gewandt. Die Kühe, halt bloß Frauen, zuckten zusammen und begannen
zurückzuweichen. Der Bulle wußte mein Feingefühl zu schätzen und begann lässig ebenfalls mit dem Rückzug, wobei er unterwegs mit den Kühen flirtete. Dann gingen sie alle weg. Moral: Schrei niemals den Chef an - schrei die Untergebenen an und warte geduldig, bis der Chef mitkriegt, was Sache ist und wie er sich verhalten soll... 18.8. ... Im Zelt war es dunkel. »He, Hausherr«, rief ich halblaut. Niemand antwortete. Ich hockte mich hin und tastete mit der Hand umher. Ich fand einen Fuß im Stiefel und zog daran, und zwar möglichst sacht. Der Fuß ruckte in meiner Hand und lag dann wieder reglos. »Heda!« rief ich und erfaßte schon, erriet schon, daß die Sache faul war. Der Mann im Zelt schwieg. Und plötzlich merkte ich, wie sich in mir Kälte ausbreitete. Der Mann atmete nicht. Ich langte in die Tasche der Wattejacke und schnippte mit dem Feuerzeug. Der Wind ließ das bläuliche Flämmchen zittern, aber ich konnte den Mann zur Gänze sehen. Er lag auf dem Rücken, ausgestreckt, die Hände kraftlos neben den Körper gelegt, und schaute mit halb offenen Augen zum niedrigen Zeltdach. Sein Gesicht war zerschlagen und das Blut zu schwarzen Flecken getrocknet, und schwarze Flecken waren auf den großen, breiten Handflächen geronnen ... Wadim las nicht weiter. Er änderte nur >zum niedrigen Zeltdach< in >zum durchhängenden Zeltdach< und überblätterte gleich mehrere Seiten. 20.8. Nachts hat ein Orkan getobt. Plötzlich ging der Spirituskocher aus, etwas zerrte am Zelt und etwas stürzte auf mich. Es hatte zwei Heringe herausgerissen. Fortgeweht hatte es den Tisch 10 Meter weit, den Deckel der Kasserolle 20 Meter und die Suppenschüssel 50 Meter ... Eben ging mir durch den Kopf: Jede alternative Variante der Geschichte enthält mehr soziale Entropie als die real geschehene. Oder mit anderen Worten: Die Geschichte entwickelt sich derart, daß die soziale Entropie nicht anwächst. Der zweite Hauptsatz der Klio. (Und was ist mit den Finsteren Zeiten? Die Tschings-Chans, Tamer-lans, Attilas? Das sind Mikroräume der Geschichte, Mikrofluktua-tionen. Und überhaupt,
wer weiß: Wenn Temudschin als Kind an Diphtherie gestorben wäre, wäre an seine Stelle vielleicht jemand getreten, der gleich die halbe Welt in Brand gesetzt hätte ...) 21.8. Wieder allein. Ich kämpfe wie ein Löwe mit den Kühen. Bei jeder fortlaufenden Kuh ist der Schwanz ausgestreckt, das Schwanzende aber bleibt locker und schwingt hin und her. Es sieht aus, ab ob die Kuh einem spöttisch Winke-winke macht. Man muß festhalten: Das schrecklichste Tier auf der Welt ist die Kuh. (Hunter hat unrecht: Er hält den Leoparden dafür - was für ein Unsinnl) Ich wurde vernichtend geschlagen. Das Gegengewicht haben sie zweimal abgerissen, der Funk ist tot. Zweimal ist es mir gelungen, den Bullen zum Rückzug zu zwingen, aber beim dritten Mal kam er von Westen und tauchte plötzlich hinter meinem Rücken auf, und da stand er, drei Schritte von mir entfernt. Er scharrte mit dem Huf, senkte die Hörner und riß mit heiserem Brüllen das Maul auf - offensichtlich stieß er dreckige Flüche aus ... Der letzte Eintrag lag eine Woche zurück. 29.8. Ich sitze allein da. An der Kiste lehnt ein Knüppel, daneben habe ich eine Pyramide von handlichen Steinen aufgeschichtet. Auf dem Psychrometer liegt ein Katapult mit einem Vorrat an Geschossen. Ich erwarte den Feind, aber der Feind ist von der Hitze derart außer sich, daß er nicht einmal herandrängt - er scheuert sich nur wie wahnsinnig am topographischen Meßpunkt dritter Ordnung ... Er nahm den Füller, warf abermals einen Blick auf den Elbrus, um Inspiration zu schöpfen, und begann zu schreiben: »Nun ist wieder eine Woche vergangen«, schrieb er. »Es war keine üble Woche - heiß und ohne Regen mit Hagelschauern. Frühmorgens allerdings fällt schon Reif aus, und die Nase friert, wenn man sie aus dem Schlafsack steckt. Die Zeit vergeht, aber ich habe überhaupt keine Lust, Aufzeichnungen zu machen. Wir sitzen auf dem Charitas, jetzt zusammen mit Timofej. Jeden Tag ein und dasselbe. Aufstehen, Erbsensuppe essen und - zum x-ten Male alte Tagebücher durchlesen. Und natürlich Diskussionen über alles mögliche, die in persönliche Angriffe übergehen. Dann der Abend, wir machen den Spirituskocher an, entzünden eine Kerze
und - Schach, Kakao und wieder Diskussionen über alles mögliche, die in persönliche Angriffe übergehen. Timofej ist ein sonderbarer Mensch. Der Kommandeur hat mal (mit nachdenklicher Stimme) über ihn gesagt: >Mit wie vielen S beginnt wohl das Wort „Syschtschenko"? ...«syschtschikSpitzel< bedeutet. Der sonderbare Mensch Timofej ließ sich vernehmen: »Beehren Sie uns mit Ihrer Aufmerksamkeit. Empfangen Sie Gäste. Lange nicht gesehene.« Wie sich zeigte, war Mahomet zu Besuch gekommen. In seiner ganzen schmuddeligen, unrasierten, wilden, krummnasigen Pracht, die Timofej Jewsejewitsch in heilsamen, urwüchsigen Schrecken versetzte. Diesmal saß er elegant zur Seite geneigt im Sattel und hielt in der rechten Hand einen Emaille-Eimer, und zwar, wie sich alsbald herausstellte, mit Fleisch. Genauer, mit Hammelfleisch. »Das schickt die Obrigkeit«, erklärte Mahomet, während er das Pferd zum Stehen brachte und den Eimer Wadim überreichte. Wadim nahm den Eimer und rief: »Timofej Jewsejewitsch. Seien Sie so gut.« Timofej kam hinter dem Küchenzelt hervorgestürzt, griff sich den Eimer und verschwand sofort wieder auf seinem Territorium warf nur unter verwilderten Augenbrauen hervor einen kurzen wachsamen Blick auf Mahomet. Mahomet, sehr zufrieden mit dem Eindruck, den er machte, ließ zwei Reihen stählerner Zähne blitzen und sagte ihm hinterher: »Gib den Eimer zurück, ja?« Wadim schlug vor: »Steig ab. Laß uns ein wenig beisammensitzen.« »Danke, ich sitze schon den ganzen Tag«, antwortete Mahomet auf die ihm eigentümliche Art. »Wir trinken ein Teechen«, beharrte Wadim. »Danke. Ich muß weiter. Die Obrigkeit. Du erwartest Gäste?«
»Gäste? Wo sollen die denn hier herkommen. Ich erwarte niemanden.« »Und wo ist der Kommandeur?« »Auf Erkundung. Er kommt gegen Abend wieder.« Timofej Jewsejewitsch tauchte wieder neben ihnen auf; nun schon mit dem geleerten Eimer. Mahomet nahm den Eimer entgegen, warf ihn in der Hand hoch, schaute rechts, schaute links und sagte beiläufig: »Du erwartest also keine Gäste?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ritt er fort. »He, Mahomet! Wann holt ihr den Stier hier weg?« rief ihm Wadim hinterher. Mahomet drehte sich halb um und ließ sich belehrend vernehmen: »Das ist ein übler Stier. Du nimmst einen Stein und schlägst ihm damit zwischen die Hörner. Mit ganzer Kraft. Etwas anderes versteht er nicht. Ein übler Stier. Nimm einen großen Stein - und zwischen die Hörner ...« »Eine originelle Lösung«, sagte Wadim in seinem Rücken. »Das wird unser Leben verbessern.« Mahomet wandte sich nicht mehr um. Sich leicht im Sattel wiegend, ritt er den Hang hinunter - ganz ohne Straße, übers Geröll, nach Norden, auf den von blaugrauem Dunst umgebenen kahlen Berg zu, der nicht nur für seinen bezaubernden Namen >Schwiegermutterzähne< berühmt war, sondern auch für eine Serpentinenstraße, deren einheimische Bezeichnung übersetzt >Seelenverderbnis< lautete. Timofej Jewsejewitsch meldete sich zu Wort: »Elendes Fleisch«, sagte er zänkisch. »Was soll ich damit machen? Wir werden uns daran die letzten Zähne ausbeißen.« »Machen Sie ein Chartscho«, schlug Wadim vor. »Naja ... Chartscho ... Chartscho ist ungesund.« »Na, dann machen Sie eine Hammelbrühe. Mit Knoblauch. Und Makkaroni. Schlafmittel und Abführmittel in einem. Nicht nur ungesund, sondern auch wohlschmeckend.« Timofej Jewsejewitsch erwiderte darauf nichts, begann nur, tatkräftig mit irgendwelchen von seinen Tellern und Pfannen zu klappern, und dann sang er plötzlich mit dünner Stimme:
Wie soll ich nicht singen, nicht vor Freude springen, Wenn's in meiner Hütte doch glänzt auf allen Dingen? Die drückende Hitze war endgültig da und stand jetzt ringsum, über dem Osthang stieg und zitterte die Luft, und plötzlich erschienen dort lautlos, als schwebten sie durch dieses Zittern, gefleckte Kuhleiber, Hörner, wedelnde Schwänze, speicheltriefende Mäuler. Wadim, der im Sessel döste, verfolgte sie mit Augen, die es immer stärker zuzog. Timofej Jewsejewitsch aber tönte immer noch traurig und ohne Unterlaß: Mäuschen auf dem Ofen schlägt die Zimbeln fein, Spinnchen an der Wand webt sich in Spitze ein. Wie soll ich nicht singen, nicht vor Freude springen, Wenn's in meiner Hütte doch glänzt auf allen Dingen? Dann unterbrach er sich abrupt und sagte, als wundere er sich: »Kommen da unsere?« Sogleich wurde Wadim munter und lauschte. Es war nichts zu hören außer dem Zischen des Kochers. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Woher? Es ist noch nicht einmal zwei.« »Aber ich sag Ihnen, daß ich was höre. Ein Auto kommt. Von dort.« Abermals lauschte Wadim. Da schien es tatsächlich irgendwelche fremden Geräusche zu geben, aber das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, und aus Aberglaube und purem Starrsinn sagte er: »Das ist doch ausgeschlossen. Er hat doch klipp und klar gesagt: Nicht vor neunzehn Uhr, eher später.« »Gut, gut«, stimmte Timofej Jewsejewitsch leichthin zu. »Meinetwegen ...« Er stand inmitten seiner Wirtschaft (Kocher, Teller, Schüsseln, Gabeln und Löffel, Eimer, Kanister), hatte beide Hände als Sonnenschirm an die Stirn gelegt und blickte nach Süden, zur Straße hin. Zugestimmt hatte er aus dem einzigen Grund, daß er sich völlig sicher war, recht zu haben. Und je sicherer er sich war, umso leichter stimmte er zu. Der Gegner sollte selbst, persönlich, ohne weitere Argumente und seine, Timofejs, Anstrengungen einsehen, daß er sich blamiert
hatte. Das war bei Timofej Jewsejewitsch die hohe Schule der Diskussionsführung. Zu jedem beliebigen Thema. Auf der Straße erschien hinter einem grünen Hügelchen hervor ein Autodach, und sogleich wurde klar, daß der große Dispu-tant und Sieger diesmal danebenlag - das Dach war schwarz, glänzend, luxuriös, in dieser Gegend völlig fehl am Platze: das Dach eines großen, teuren, sehr teuren, unanständig teuren Automobils. Dann erschien auch das Automobil selbst - kroch mit Mühe hinter dem Hügelchen hervor: schwarz, in der Sonne glitzernd, ein verbissen luxuriöser Jeep Grand Cherokee, ein Straßenkreuzer, bis in halbe Höhe in grauen getrockneten Schlamm gehüllt. Er kroch hervor und hielt sofort an, als traue er sich nicht weiter, blieb ein paar Sekunden lang reglos stehen, blickte mit allen seinen zwanzig Scheinwerfern, Nebelleuchten und Weitstrahlern starr geradeaus, und dann riß er auf einmal alle vier Türen auf und begann, ohne Eile und gleichsam widerwillig Passagiere auszustoßen. »Was sind das für welche?« erkundigte sich Timofej Jewsejewitsch. In seiner Stimme klang Furcht. »Ich weiß nicht.« »Und wieso hat Mahomet gesagt, daß Sie Gäste erwarten?« »Das hat er nicht gesagt.« »Aber ich hab's doch selber gehört!« entgegnete Timofej Jewsejewitsch mit Hysterie in der Stimme. Vom Jeep her kamen drei auf sie zu, und noch ein paar blieben beim Wagen, doch Wadim schaute nur auf jene drei. Genaugenommen schaute er nur auf den in der Mitte: ein feiner, nicht besonders großer, sehr ordentlicher Mann ganz in Grau, elegant, anscheinend sogar mit Spazierstock. Ein alter Bekannter. Er ging locker und zügig, im übrigen aber ohne Eile er ging, wie es ihm am bequemsten war, ging, um eine Sache zu Ende zu bringen, die schon in Petersburg begonnen, damals aber kein Ende gefunden hatte und die jetzt eines raschen und wirkungsvollen Abschlusses bedurfte. So gehen die energischen, sich jung gebenden Politiker vor den Objektiven der Fernsehkameras - entschlossen, nachdrücklich und zielstrebig.
Seine spitzen Stiefeletten glänzten aristokratisch im Sonnenlicht, hier in der Welt der groben Lederstiefel und der schmutzigen Sportschuhe völlig fehl am Platze. Links von ihm und einen halben Schritt zurück marschierte ein Schrank von einem Kerl, anderthalb Kopf größer, mit einer straff sitzenden Lederjacke und anscheinend glatzköpfig, vielleicht auch kahlrasiert. Wadim betrachtete ihn ebensowenig wie den dritten - einen kleinen, anscheinend ganz harmlosen, unbedeutenden, schmalschultrigen Mann mit einer Ledermütze auf dem großen Kopf und in einem braun-grünen Tarnanzug. »Ich kann partout nicht verstehen, was das für Leute sind ...«, murmelte Timofej Jewsejewitsch. »Wozu haben sie dort angehalten? Konnten sie nicht bis hier fahren? ...«, murmelte er, dazu noch etwas Halbverständliches, nun schon völlig verzweifelt. Die drei kamen zügig näher und waren schon fast heran. Der graue Bekannte winkte zur Begrüßung mit seinem Spazierstock, der überhaupt kein Spazierstock war, sondern eine Art schwarzer polierter Zeigestock, den er anscheinend immer bei sich führte. Von dem er sich nie trennte. Wie ein britischer Offizier von seiner Reitgerte. Das kräftige Nashorn ging rechts um das Wirtschaftszelt herum und blieb wer weiß warum neben Timofej stehen, überragte ihn wie der Golem, und jetzt sah man, daß er durchaus nicht kahlrasiert war, sondert wirklich glatzköpfig - mit einem Rest rotblonden Flaums über den Ohren und mit einem sommersprossigen Scheitel, auf dem sich längst kein Flaum mehr befand. Seine Visage war rund und unangenehm asymmetrisch, als leide er unter einem Zahngeschwür. Der Graue mit seinem zweiten Begleiter indes kam links um das Zelt und näherte sich Wadim mit den Worten: »Guten Tag, guten Tag, Wadim Danilowitsch. So treffen wir uns also wieder. Was habe ich Ihnen gesagt?« Wadim schaute zu, wie er sich lässig und elegant an den Tisch setzte (ganz ohne Einladung), die Beine übereinanderschlug, mit
der wippenden Stiefelette funkelte, mit seinem lackierten Stöckchen - einem schwarzen spitzen Zeigestock mit einer kleinen Kugel am Ende. »Sie sehen aus, Wadim Danilowitsch, als hätten Sie vergessen, wie ich heiße ... Oder haben Sie's nicht vergessen?« »Ich hab's nicht vergessen«, preßte Wadim zwischen den Zähnen hervor. »Wunderbar. Reden wir?« »Worüber?« »Na, immer noch darüber. Ist es Ihnen entfallen?« Wadim schwieg. »Soll ich Sie dran erinnern?« Wadim schwieg und musterte ihn unter den Augenbrauen hervor. Der Mann in Grau lächelte - das höfliche, unverbindliche Lächeln eines Salonlöwen, der ein unverbindliches Gespräch über das Wetter führt. Oder über Politik. Oder über Fußball. Das großköpfige Männchen im Tarnanzug setzte sich nicht, obwohl freie Stühle gleich daneben standen, gut zu sehen. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Beobachtungspfosten und verschränkte seine dünnen Beine auf komplizierte Weise. Er lächelte ebenfalls, aber irgendwie zerstreut, als sei er in Gedanken weit weg und denke an etwas ganz anderes. Im Verein mit den reglosen kleinen Schlangenaugen wirkte dieses Lächeln seltsam und unangenehm. Die Hände hielt er in den Jackentaschen und wackelte dort, in den Taschen, immerzu mit den Fingern, als ob er dort in den Taschen etwas suche oder betaste. Das kräftige Nashorn aber ragte über Timofej empor wie ein Götzenbild - reglos, riesig, ungelenk, wie von innen aufgeblasen. Der arme Timofej Jewsejewitsch saß hingekauert unter ihm und wagte sich nicht zu rühren - seine Pupillen hatten die ganze Iris verdrängt und zuckten hin und her, erstickenden Kaulquappen ähnlich. »Was denn - haben Sie sich durch ganz Rußland hierherbemüht, um wieder über diese Dummheiten zu reden?« preßte Wadim zwischen den Zähnen hervor.
»Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß unser Gespräch ernst ist. Sie haben es nicht ernst genommen, aber das ist Ihr Problem. Es gibt Leute, die das alles durchaus nicht für Dummheiten halten ...« »Da irren die sich eben. Ich habe Ihnen immerzu und unmißverständlich gesagt ...« »Stop. So kommen wir nicht weiter«, sagte der graue Mann mit sichtlichem Bedauern. Er hatte einen seltsamen Vor- und Vatersnamen: Erast Bonifatjewitsch. Es gab freilich keinen triftigen Grund zu der Annahme, daß er wirklich so hieß. »Lassen Sie uns ganz von vorn beginnen«, schlug Erast Bonifatjewitsch vor. »Sie wissen doch, wer zum Gouverneur gewählt wird?« »Mein Gott«, sagte Wadim und schloß demonstrativ die Augen. »Nicht >Mein Gott