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Rocco hat sich nie viele Sorgen gemacht. Er ist Musiker, singt und spielt Gitarre in einer Heavy-Metal-Band, hat ...
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Buch
Rocco hat sich nie viele Sorgen gemacht. Er ist Musiker, singt und spielt Gitarre in einer Heavy-Metal-Band, hat nicht viel Geld, aber das macht nichts, denn er hat Erfolg bei den Frauen und muss nicht weiter denken als bis zum nächsten Tag. Doch eines Tages stellt ihm sein Arzt eine überraschende Diagnose: Nierenversagen. Und plötzlich wird Roccos Leben von den Zwängen seiner Krankheit bestimmt: Er muss eine strenge Diät einhalten, dreimal die Woche an die Dialysemaschine, und die Karriere als Musiker kann er sich abschminken. Zunächst zeigt sich Rocco unbeeindruckt von der neuen Situation. Was soll's, sagt er sich, ihm tut nichts weh. Klar ist es ärgerlich, wenn man plötzlich für die Packung Spezialnudeln 10.500 Lire hinlegen muss, aber trotzdem: Sie schmecken gar nicht so schlecht. So stellt er sich in die Küche, hört die Stones und wartet, bis das Nudelwasser kocht. »Mick Jaggers Nieren funktionierten jedenfalls, so weit man hörte, einwandfrei, und die Stones spielten wie die Götter. Und außerdem hatte er ja ständig Probleme mit Frauen - ach, die Probleme müsste man haben...« Dann beginnt die Dialyse. Zwölf Stunden in der Woche hat er nun Zeit, sich genauer mit sich und seinem Leben zu befassen. Aber er lässt sich die schönen, unbeschwerten Momente im Leben einfach nicht nehmen: die Witzeleien mit den anderen Patienten, von denen zwei gute Freunde werden; die Besuche seiner Freundin, die sich rührend um ihn kümmert und ihm die schönsten Liebesbriefe schreibt; und irgendwann kommt auch der große Moment, auf den er so lange gewartet hat: eine Spenderniere steht zur Verfügung.. .
Autor
Rocco Fortunato ist in Rom geboren. Er war Gittarist und Sänger der Band Miss Daisy. Mit dreiunddreißig Jahren wurde er nierenkrank, ein Schicksalsschlag, den er in Die Nieren von Mick Jagger literarisch verarbeitete. Sein Erstling wurde von der italienischen Kritik und von zahllosen Lesern begeistert gefeiert. Vor kurzem erschien sein zweiter Roman »Fabbricato in Italia«, der ebenfalls bei Goldmann in Vorbereitung ist. Rocco Fortunato lebt und arbeitet als Architekt in Rom.
Rocco Fortunato
Die Nieren von Mick Jagger
Roman
GOLDMANN MANHATTAN
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »I reni di Mick Jagger« bei Fazi Editore, Rom.
Dieser Roman ist als Goldmann Hardcover unter dem Titel »Nichts als Leben« erschienen. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Manhattan Bücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Taschenbuchausgabe Dezember 2003 Copyright © der Originalausgabe 1999 by Rocco Fortunato Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Photonica/Discalfani Satz: Uhl+Massopust, Aalen Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 54199 JE Herstellung: Max Widmaier Made in Germany ISBN 3-442-54199-9
1
Mit dreiunddreißig Jahren haben sie mich und Jesus Christus ans Kreuz geschlagen. Er ist nach drei Tagen wieder auferstanden. Ich muss sterben. Nach und nach. Meinem Gefühl nach stimmte da irgendwas nicht. »Oh!«, sagte der Doktor. »Das Kreatinin ist bei acht Komma drei.« Kreatinin, erklärte er mir, ist ein Stoff, den die Nieren abbauen müssen. Wenn man viel davon im Körper findet, heißt das, die Nieren verabschieden sich langsam. Normal ist höchstens eins Komma zwei. »Aber mir tut nichts weh«, sagte ich. »Das ist bei jedem anders«, erklärte er mir. »Der eine liegt schon bei vier im Koma, der andere bei sieben, acht oder erst zehn.« Ich hörte die Stones und hatte nicht das Gefühl, dass ich was Besseres zu tun hätte. Ich sagte zu Tania:
»Was soll's? Ich schaff es einfach nicht, deprimiert zu sein.« »Warum auch, es gibt eine Menge Leute, die zur Dialyse gehen«, sagte sie. »Genau: Dialyse, Töpfern, Transzendentale Meditation ... Die Leute wissen nicht mehr, was sie sich noch einfallen lassen sollen, um die Zeit totzuschlagen!« Ich hatte keine besondere Angst. Vielleicht hätte ich welche haben sollen. Eine schwere Krankheit ist schließlich schlimmer als ein geplatzter Wechsel, schlimmer als eine Kündigung, schlimmer als zu hoch zu pokern, schlimmer als ein verstopftes Klo. Du kannst nur abwarten. Also, was das anging, war ich Experte. Na ja, egal, so weit man hörte, funktionierten Mick Jaggers Nieren einwandfrei, und die Stones spielten wie die Götter. Ich hatte sogar ein bisschen Appetit bekommen und ging in die Küche. Eine ziemlich nervige Angelegenheit war auch die Diät, die der Arzt mir verschrieben hatte. Ich durfte nur ein Minimum an Proteinen zu mir nehmen und kein nutzloses Zeug wie Brot oder Pasta essen, die ich durch Surrogate ersetzen sollte. Die falsche Pasta war eine geniale Erfindung: sie sah nach Form und Farbe wie richtige aus, und man hatte zwar am Anfang das Gefühl, auf Glassplittern rumzukauen, doch wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte, war sie gar nicht so schlecht. Aber der Preis! Also, Leute, ein Pfund von dieser Scheißpasta kostete schlappe zehntausendfünfhundert Lire. Die Krankenkasse zahlte das Zeug natürlich nicht, obwohl es so ziemlich das Einzige war, was ich essen konnte, um die paar
wenigen Nephronen, die mir noch geblieben waren, nicht zu überfordern und so zu hoffen, dass sie noch eine Weile durchhielten. Also kaufte ich, ein Schwarzarbeiter, der kaum auf neuntausend Lire die Stunde kam und einen Job hatte, bei dem man das Geld erst ein halbes Jahr später kriegte, proteinarme Pasta zu einundzwanzigtausend Lire das Kilo. Gar nicht zu reden von dem Brot, das in der Apotheke nicht mal vorrätig war und das ich wenigstens eine Woche vorher bestellen musste. Aber ich hatte noch Schwein! Weil ich eine Wohnung hatte und keine Miete zahlen musste. Manchmal schaffte ich es sogar, Steuern zu zahlen. Ich stellte Wasser für die Pasta auf den Herd und kümmerte mich um die Soße. Ich machte mir nicht groß Gedanken über meine Zukunft, ich wartete einfach: auf die Dialyse, den Tod, die Schmerzen, die Rente, aber vor allem darauf, dass das Wasser kochte. Ja klar: Death Valley auf der Harley Davidson, Paris-Dakar und die Ein-Mann-PazifikÜberquerung, das konnte ich alles vergessen, aber all das hätte ich wahrscheinlich sowieso nie gemacht, nicht mal mit den Nieren von Mick Jagger. Was soll's schon, sagte ein Freund zu mir, als er mal nüchtern war, du kannst sowieso nicht alle Frauen auf dem Planeten vögeln. Genieß die Show, solange sie läuft, schließlich ist sie gratis. Ich verstand das nicht gleich. Jetzt schon. Später betrank er sich wieder und redete wie vorher. Und er hatte auch noch Miete zu zahlen und machte den gleichen Scheißjob wie ich. Da war ich also, ausgerüstet mit einem Löffel, um die
Soße umzurühren und meinen langsamen, einsamen Sinkflug fortzusetzen, wie in einem dieser alten Doppeldecker aus dem Ersten Weltkrieg. Hin und wieder fiel ein Stück runter. Irgendwelche Kleinteile, erst eine Schraube, dann ein Bolzen, eine Dichtung, und irgendwann leuchteten dann die Kontrolllampen auf: Öl, Druck... Was sollte ich tun? Die Kiste wieder hochzuziehen war nicht drin, also ging ich langsam runter, noch immer in voller Kriegsbemalung, verlor nach und nach an Höhe, und aus dem Bordradio dröhnten volle Pulle die Stones. Ich kriegte keine Panik, wie man vielleicht erwartet hätte, nein, es blieb sogar Zeit: Je näher ich meinem Aufprall auf der Erdoberfläche kam, desto besser konnte ich alles sehen. Es war, als schaute ich mir die alte Erde zum ersten Mal an: die Häuser, all die geschäftigen kleinen Männer und Frauen ... dann der Verkehr, echt witzig: die vielen bunten Blechbüchsen, aufgereiht unter der Sonne... Wer hatte schon je darauf geachtet?! Ich gab mich mit den Nachrichten zufrieden, die mich aus dem Kontrollturm erreichten, und das war nur so was wie: dahin, dorthin, rauf, runter ... Befehle, Rezepte, Verbote und Vorschriften. Dann fing das Wasser an zu kochen, und ich musste die Pasta reinwerfen, die Soße abschmecken, Gas und andere Nebenkosten mussten bezahlt werden, die Stones rockten wie die Irren, und das Telefon fing an zu klingeln. Sie hatten mich absolut nicht aufgegeben. Sie folgten mir auf Distanz, behielten mich auf dem Radar, um zu sehen, wo ich zerschmettern würde. Falls da vielleicht noch was zu bergen wäre. »Ein Invalide«, sagte ich zu Tania. »Das bin ich!« »Hör auf, du Blödmann.«
»Ich kann jetzt im absoluten Halteverbot mitten im Zentrum parken, und keiner wird es wagen, mir einen Strafzettel zu verpassen.« »Gar nicht schlecht.« »Kräftige junge Männer werden im Bus für mich aufstehen und mich mit Augen voller Mitleid anstarren.« »Jaaa.« »Ich kriege Rente.« »Ja hoffentlich!« Wir waren zu der Zeit beide arbeitslos. »Und wenn ich dann ein Wrack bin, bleibe ich zu Hause. Du gehst jeden Abend aus und bringst Liebhaber mit in die Wohnung.« »Klar.« »Ich höre dich schon sagen: Kümmer dich nicht um den. Der vegetiert nur noch so dahin, der versteht nichts mehr - während du eine Hand in seinen Hosenlatz schiebst und er zurückweicht und mich verlegen ansieht.« »Uuuuuu.« »Dann ist die Lust stärker als die Verlegenheit, und der geile Bock greift dir an die Titten ... So!« »Aber hallo!« »Und auf dem Fußboden beginnt eine wilde Vögelei.« »Und du?« »Ich wende mich ab ... Eine einsame Träne rollt über mein ausgemergeltes Gesicht.« »Ausge-was?« »Abgemagert halt, mager von der erbarmungslos fort schreitenden Krankheit!«
»Ooooh ...« Dann starrte ich zur Decke. »INVALIDITÄT!« Wir sahen uns in die Augen und wiederholten es zusammen ein- oder zweimal. Dann fingen wir an zu lachen. Das taten wir immer, jeden Morgen. Manchmal war es: ARBEITSLOSIGKEIT! Oder: BANKROTT! Je nachdem. Wenn man solche Sachen beschwor, schienen sie ihren Schrecken zu verlieren, ja fast eine Leichtigkeit zu gewinnen. Es funktionierte: Der Tag begann schwungvoller. »Wir bereiten uns besser schon mal vor«, sagt der Arzt eines Tages. Ich nahm Haltung an. Wenn ich von meinem bevorstehenden Zusammenbruch sprach, war es immer so, als ginge mich die Sache nicht wirklich etwas an. Die Ärzte hatten dann den Eindruck, als könnte ich es kaum abwarten. Ich fragte mich selbst, was in meinem Kopf los war: Der verurteilte mich zu lebenslänglich, und bei mir keine Reaktion! In meinem Inneren musste irgendein rätselhafter Stoff zirkulieren, der den Wächter spielte. Das war die einzige Erklärung. »Ich bin bereit!«, sagte ich voll gutem Willen. Er sah mich misstrauisch an. »Gut!«, sagte er. »Wir müssen zuerst eine Sache machen.« Ich sah ihn misstrauisch an. »Keine große Angelegenheit«, sagte er. »Sache von einer Viertelstunde, zwanzig Minuten.« »Was denn?«
»Eine Lappalie ... Lokalanästhesie ... ein kleiner Schnitt... Da«, sagte er und zeigte auf die Stelle, wo ich meine Uhr hatte. Die Sache war die, dass das Blut in den Venen zu langsam fließt. Wenn man es da nahm, würde die Dialyse länger als vier Stunden pro Sitzung dauern. Dagegen fließt es in den Arterien, dass es eine Lust ist. Doch die Arterien liegen tief, und außerdem kann man nicht reinstechen, sooft man will, und deshalb, erklärte er mir, würden sie eine Arterie mit einer Vene verbinden, so dass in der Vene das Blut so schnell fließt wie in einer Arterie. Na ja, also, jedenfalls hatte ich das ungefähr so verstanden. »Okay!«, sagte ich. »Eine Kleinigkeit, fünf oder sechs Stiche ...« »Okay!« »Je früher wir das machen, desto besser...« »Okay!« Es war immer alles okay für mich. Wenn er mir gesagt hätte, er müsste mir eine Boden-Luft-Rakete in den Hintern schieben und mich in den Weltraum schießen, damit ich dort Fliegendreck sammelte, hätte ich auch okay gesagt. »Wenn du dich nämlich sonst plötzlich schlecht fühlst und ganz schnell an die Dialyse musst, müssen wir dir einen Katheter legen ... in den Hals ... Das ist Mist. Aber so sind wir bereit: Dann kann es kommen, wann es will.« Die Nieren tun ihre Pflicht nämlich bis zuletzt, erklärte er mir.
»Es ist, als wäre da eine Truppe kleiner Männchen in dir, die alle in die Pedale treten«, sagte er. Das gefiel mir. Ich stellte mir kleine Japaner in Overalls vor, die sich eifrig für die Firma abstrampelten. Ab und zu fiel einer aus. Und die Übriggebliebenen mussten auch für die anderen radeln. Aber irgendwann war auch der letzte kleine Japaner drauf und dran zusammenzubrechen. Man wusste nicht, wie lange das dauern konnte. Und bis zuletzt merkte man nichts. Bis zum heftigen, abrupten Zusammenbruch. Daher kamen die meisten direkt in die Notaufnahme. Ja klar, nachher verstand man die Müdigkeit, die einen manchmal plagte - ein bisschen oft in letzter Zeit -, oder die geschwollene Zunge und den schlechten Atem, den man seit einer Weile hatte, dass man immerzu gurgeln wollte. Dann eines Tages geht's einem plötzlich sauschlecht. Also nichts wie ins Krankenhaus, du denkst, du hast dir den Magen verdorben, irgendwas Schlechtes gegessen, getrunken, geraucht ... Du hast keine Ahnung, was Dialyse ist, und genauso wenig, wozu die Nieren gut sind! Na ja, ein Arzt braucht fünf Minuten, um dir das Ganze zu erklären. Du brauchst ein bisschen länger, um zu kapieren, dass dein Leben von da an vollkommen anders ist. Titty begleitete mich. Sie fuhr immer. Ich stellte mich zu ungeschickt an. Nur einmal im Urlaub hatte ich einen erstaunlichen Anfall von Fahrtüchtigkeit gehabt. Ich war zwei Tage lang praktisch ununterbrochen auf Straßen gefahren, wo der Gegenverkehr so nah an einem vorbeikam, dass man sich gegenseitig die Pickel hatte zählen können,
wenn man in diesem Land nicht die Gewohnheit hätte, mit mindestens siebzig Sachen irgendwo durchzubrettern, wo man bei uns nicht mal zu Fuß gegangen wäre... Und dann noch auf der linken Seite, wie die Engländer! Titty hatte mich beobachtet, wie ich absolut souverän schaltete und waltete, und hatte ihren Augen nicht getraut. Wir hätten einfach den gleichen Fahrstil, die Einheimischen und ich, hatte sie gesagt, deshalb würden wir nicht zusammenstoßen. Aber im alltäglichen Leben ging niemand das Risiko ein, mich sein Auto fahren zu lassen. Also kamen wir heil und gesund im Krankenhaus an und gingen nach oben in die Chirurgische Abteilung. Tania gab mir ein Küsschen. Und ich gab ihr auch eins. »Weinst du etwa?« »Nein«, sagte sie. »Ich hinterlasse also alles den Armen der Gemeinde!« »Dann wollen wir mal«, sagte der Doktor, als er an der Glastür zur Abteilung erschien. Er war schon in voller Montur: Holzsandalen, grünes OP-Hemd und Mundschutz. »Schließlich sind das immer noch wir«, sagte ich zu Tania. »Wer?« »Die Armen der Gemeinde!« »Spinner.« »Fortunato, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« Mein Arm fühlte sich vom Ellbogen abwärts an, als wäre er aus Pappe. Ich konnte nichts sehen, weil der Doc mir so eine Art spanische Wand hingestellt hatte, die mich daran
hinderte, doch ich spürte, dass er schnitt und zog und nähte und schnitt, ohne große Umstände zu machen. Und nichts! Nicht der leiseste Schmerz! Lokalanästhesie! Man stelle sich mal vor, was man draußen für eine kleine Ampulle mit dem Zeug verlangen könnte ... Der Doktor hatte vergessen mir zu sagen, dass der Shunt einen Höllenlärm macht. Und vibriert. Wenn man das Ohr an den Verband legte, hörte man es darunter: der Sound einer Fabrik auf Hochtouren: wummernde Pumpen, Turbinen in voller Aktion. Und es vibrierte, als ob an der Stelle irgendein Hochspannungskabel durchgehen würde, ja das war wie Strom. »Das Geräusch bedeutet, dass es funktioniert«, sagte der Doktor. »Wenn man nichts mehr hört, dann musst du dir Sorgen machen.« »Lass mal fühlen«, bat mich Tania. »Nein«, wehrte ich ab. »Ach komm!« »Das ist nicht schön.« »Macht doch nichts.« »Jetzt lass es.« »Komm, los ...« Sie legte eine Hand darauf und zog sie augenblicklich wieder zurück. Als hätte sie wirklich einen gewischt bekommen. »Ich habe es dir ja gesagt.« »Mein armer Schatz«, sagte sie, legte ihre kleine Hand vorsichtig wieder auf den Verband und strengte sich an, sie wenigstens eine Weile liegen zu lassen. »Ich bin nicht arm«, brummte ich. Ich wechselte dauernd
meine Meinung darüber, ob wir nun arm waren oder nicht. Ich legte wieder das Ohr auf den Verband: Wummwummwumm-wumm ... Scheiße, die erste Genmutation. Ich wechselte die Uhr vom linken auf den rechten Arm und schlug mich noch zwei Jahre durch. Mit dem Kreatinin bei zehn und ein paar Zerquetschten. Noch spürte ich nichts, nur der Mund war ein bisschen klebrig, wie wenn man Pflaumen isst, ein paar Krämpfe, der Magen übersäuert und entsprechend übel der Atem. Ich begann zu hoffen, dass ich auf Dauer so durchkommen könnte - wenn man dich lange Zeit am Rand des Abgrunds entlanggehen lässt, schaust du schließlich nach unten und hältst dich für unsterblich -, während der Shunt unbenutzt mit voller Kraft pumpte, begierig, endlich in Aktion zu treten. Er nervte mich nachts ziemlich, weil ich die Angewohnheit hatte, den Arm unter das Kissen zu schieben, aber dann hörte ich das Wummern noch viel lauter, direkt am Ohr, und konnte nicht einschlafen. Ich musste lernen, den Arm so weit wie möglich weg zu halten, wenigstens wenn ich schlief. Und dann war es so weit. Eines Morgens will ich mir die Schuhe anziehen, und die Füße passen nicht rein. Hä?! Ich sehe sie mir ein bisschen an ... irgendwie wusste ich nicht so recht. Es ist komisch, wie wenig man seinen eigenen Körper kennt, besonders bestimmte Teile. Ich sah mir also meine alten Füße an. Wir waren zusammen groß geworden, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ob sie geschwollen waren oder nicht.
»Ti'«, rief ich. »Meinst du, sie sind geschwollen?« »Iiihhh!« Ich rief den Doktor an. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Das kann vom Norvasc kommen.« Norvasc waren meine Blutdruckpillen. »Wie viele nimmst du?« Ich sagte es ihm. »Okay ... in einer Minute in der Reanimation ...« »IN DER REANIMATION?« »Dich habe ich nicht gemeint. Du kannst mich jederzeit anrufen ... Nein, nicht der ... Entschuldigung. Jedenfalls bin ich bis sechs im Krankenhaus ... Lasix, zwanzig ccm ... Entschuldigung. Norvasc, haben wir gesagt. Also ... Ja. Wie viele nimmst du?« Ich sagte es ihm. »Kein Grund zur Sorge. Das passiert oft. Aber wenn du irgendetwas anderes bemerkst, das auffällig ist, ruf mich sofort an, jederzeit ... Nein, er muss zur Plasmapherese.. . Hallo? Ja, vielleicht ist es das Norvasc. Das ist wahrscheinlich. Wie viele nimmst du gleich?« Ab und zu zog ich die Schuhe aus - ich trug jetzt Turnschuhe, weil die bequemer waren - und besah mir meine Füße. Im Arm klopfte es. Inzwischen waren es zwei Jahre, dass ich wartete. Ich spürte, wie es dort unten brodelte. Wir gingen zu Bett, und Titina schlief fast augenblicklich ein. Sie war den ganzen Tag auf Jobsuche gewesen. Ich brachte uns im Moment durch, mit Umfragen für zehntausend Lire brutto die Stunde. Ich ging in diesen
abgefuckten Altbau im Zentrum, rief von dort aus meine Mitmenschen an und bat sie um eine Note auf einer Skala von eins bis zehn für den Service der Telefongesellschaft oder den Geschmack von Margarine. Die Menschen sind im Grunde gut, da hatte Rousseau Recht, denn sie antworteten mir! Ich schlief auch ein. Irgendwann fuhr ich aus dem Schlaf hoch, weil ich etwas im Hals spürte. Als hätte ich einen Tennisball verschluckt. Ich legte mir eine Hand auf die Brust. Mein Herz schlug wie wild. Ich war schweißgebadet. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Drei. Ich beschloss durchzuhalten. Ich wollte selbst ins Krankenhaus gehen, ohne Dramatik, ich wusste, was es war, ich wusste, was es bedeutete, darum keine Panik. Inzwischen war Tania wach geworden. »Was ist los?« flüsterte sie und schützte mit der Hand vor dem Licht ihre Augen. »Nichts.« Sie setzte sich blitzartig auf, war hellwach. »Du fühlst dich schlecht!« »Ein bisschen.« Sie sprang auf. »Ich bringe dich ins Krankenhaus!« »He-he, mir geht's schon besser. Leg dich wieder hin, und ich gehe ein bisschen da rüber und lese irgendwas.« Tania sah mich mit einem seltsamen Gesicht an. Sie war ernsthaft besorgt. »Beruhige dich, was glaubst du denn, ich will schließlich
nicht sterben. Es geht mir schon besser. Wirklich ... Außerdem ist es schon fünf«, log ich. »Bald stehe ich auf und gehe ins Krankenhause »Wir stehen auf und wir gehen hin, ins Krankenhaus!« Ich lächelte und küsste ihr Haar. Das Krankenhaus war schön gelegen, mitten im Grünen. Es war früher einmal eine Luxusklinik gewesen, bevor es eine öffentliche Einrichtung wurde: Warteschlangen am frühen Morgen, Nummer ziehen, Abfertigung wie am Fließband und solche Sachen. Ich sah auf die Straße, während Tania fuhr, und ich fragte mich, wie oft ich diese Straße hin und zurück fahren würde. Ich schaute in die Autos rein und dachte, dass jeder, der einen Blick in unser Auto werfen würde, nur einen Mann und eine Frau sehen könnte, die schweigend irgendwohin unterwegs waren, zur Arbeit zum Beispiel, oder was weiß ich, vielleicht um ein Haus zu kaufen oder heimlich zu heiraten oder sich scheiden zu lassen oder irgendjemanden vom Flughafen abzuholen ... Es geschah nichts. Es war nichts geschehen. Wir konnten alles Mögliche sein. Die Abteilung für Nephrologie und Dialyse lag ein bisschen versteckt, verglichen mit dem Rest, man musste eine Rampe runter, und Licht kam nur aus zwei schmalen, lang gezogenen Höfen. Doch sie schien sauber. »Ich habe das Gefühl, es ist so weit«, sagte ich. Meine Selbstkontrolle war beispielhaft. »Ich würde sagen ja«, antwortete der Doc. Seine auch.
Tanias zeigte ein paar Schwächen. Sie sah den Doktor mit großen, aufgerissenen Augen an. Sie war hübsch. Vor allen Dinge ihre kleine Nase: ein süßes Näschen. Das hatte ich ihr nie gesagt.
2
Von den Nadeln führten zwei Schläuche aus transparentem Gummi zu einem großen zylindrischen Filter, und hinter dem Filter war die Maschine. Ich schleppte mich zwei Tage weiter, dann kam ich zurück, sie steckten mir die Nadeln wieder in den Arm, und ich wartete. Wieder zwei Tage. Das ganze Leben. Der Zauber dauerte genau vier Stunden. Dreimal in der Woche. Also, drei mal vier sind zwölf... Zwölf Stunden in der Woche. Multipliziert mit den Wochen, die mir noch blieben. Schlimmer als in der Fabrik oder im Bergwerk, bei der Bank oder beim Militär! Und es war höchst wahrscheinlich, dass die Sache sich hinzog, weil man ja nicht gleich krepierte. Zwölf Stunden die Woche. Alle Wochen eines Lebens ... Bis irgendeiner sein Auto gegen einen Mast setzte. Dann würden sie ihm eine Niere entnehmen und mir einpflanzen. Das schien kein Problem, dauernd verunglücken Leute, und es dürfte nicht schwierig sein, Ersatzteile aufzutreiben, aber so lief die Sache nicht.
Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass Jesus Christus erschien und zum Leichnam sagte: Steh auf und wandle! Und der ließ sich das nicht zweimal sagen, erhob sich unter den Jubelschreien - na ja, also meistens sind es Jubelschreie - der Verwandten, und tschüs Nieren, Herz, Lunge und so weiter. Und weil es ein Heer von in Tränen aufgelöster Mütter dieser reglosen Enzephalogramme gab, die glaubten, dass genau das passieren könnte, verfaulten unter der Erde tonnenweise Innereien, die unser erbärmliches Leben gerettet hätten, zur Freude von Würmern, Asseln und anderem Getier. Außerdem fragte ich mich selbst, ob das Fehlen von Hirnaktivität als Kriterium wirklich taugte, weil man in diesem Fall der Hälfte der Bevölkerung auf dem Planeten den Stecker rausziehen könnte. Ich war nicht der Jüngste. Zwei Betten neben meinem lag Chicco, der zwanzig Jahre alt war und davon schon zwei Jahre lang so lebte. Er war schön wie eine Frau - aus den anderen Abteilungen kamen die kleinen Krankenschwestern, um ihn sich anzusehen - und sprach nie, kein einziges Wort. Er grüßte niemanden, kam mit starr auf den Boden gerichtetem Blick herein, legte sich hin, machte einen Arm für die Nadeln frei und hielt sich mit dem anderen das Gesicht zu. Nach seinen vier Stunden ging er wieder, den Blick auf den Boden gerichtet, woher er gekommen war. Dann war da Michele, dreiundzwanzig, gerade wieder zurück. Mic war mit sechzehn an die Dialyse gekommen. Als er achtzehn war, hatte sein Vater ihm eine Niere gespendet. Fünfjahre, dann die Abstoßung. Wir verständigten uns mit Zeichen von Bett zu Bett. Kommentare über
die Ärzte und das Pflegepersonal, meistens die Krankenschwestern. Michelino war zehn Jahre jünger als ich, aber noch schlechter auf die Welt zu sprechen. »Ich hab eine Kanone«, vertraute er mir eines Tages an. »Siebenfünfundsiebziger Kaliber. In einem Lacketui. Gut in einer Plastiktüte versteckt.« »Was für eine Farbe?« »Was?« »Der Lack«, flüsterte ich. Es war immer besser, dass man nicht gehört wurde, wenn man über bestimmte Dinge sprach. Sabbatini hatte auch einen Hass auf die Welt, er war einiges über achtzig, Gott hab ihn selig, denn inzwischen ist er tot. Vierundvierzig Jahre hatte er als Bühnenbildner beim Theater gearbeitet. Und jetzt kamen wir mit unseren Fragen. »Und die Osiris?« »Wer ist das denn?« fragte Michele - er war zu jung und kannte nicht mal ihren Namen. »Aber hör mal! Die eine, die immer die Treppe runtergekommen ist.« Er hob das Kinn und sagte: »Hä?!« »Sabbati', die Wanda Osiris, was war mit der?« »Ehhh«, stieß der arme alte Mann aus. »Hast du was mit der gehabt, mit der Osiris?« »Ahhh«, stöhnte er. »Wenigstens das Höschen! Ihr Höschen wirst du doch mal gesehen haben!« »Könnt ihr ihn vielleicht ein bisschen in Ruhe lassen?!«, fuhr die Krankenschwester dazwischen.
Sabbatini war überall herumgekommen: New York, Paris, London, und er hatte mit Sicherheit eine Masse Klassefrauen gevögelt, davon waren wir hier auf der Station alle überzeugt, Ärzte inbegriffen, und wir hatten Hochachtung vor ihm. Michele war nicht der Einzige, der schon eine Transplantation hinter sich hatte. Da gab es noch andere: Bei Fiammetta war es auch nur fünf Jahre gut gegangen; bei Maria, die ihre Nieren aufs Spiel gesetzt hatte, um ihre Tochter zur Welt zu bringen, nur drei Monate; und die Niere, die sie Martella eingesetzt hatten, hatte erst gar nicht funktioniert, und am Tag darauf war es wieder wie vorher. Das heißt, nicht einmal das, er hatte jetzt außerdem eine Narbe, mehr oder weniger von der Schwanzwurzel bis zu einer Ecke darüber, in Nabelhöhe. Martella war rot und dick, und es arbeitete derart in ihm, dass man nicht vernünftig mit ihm reden konnte. »Einer von der Post«, wetterte er, wenn er von dem Seligen sprach, der ihm eine Niere gespendet hatte. »Nicht mal tot war der zu irgendwas nütze!« Und er stieß eine Menge verschiedener Flüche aus, weil er aus der Toskana kam, worauf er Wert legte, und deshalb hatte er nämlich Phantasie. Mic und ich feixten still von einem Bett zum andern: Es gab schon komische Leute! Dann war da Grazia. Tantchen nannten wir sie. Eine alte Jungfer, aber kein bisschen säuerlich, vielmehr ein zartfühlendes Wesen. Ganz glücklich, wenn man sie nach ihren Katzen fragte. Sie hatte sechs. Tantchen konnte keine Transplantation bekommen. Sie hatte eine von diesen Krankheiten, die einem systematisch ein Organ nach dem
anderen kaputt machen, und eine Transplantation hätte ganz und gar nichts genützt. Signor Umberto dagegen war in der Rudernationalmannschaft gewesen. Man konnte es sehen, auch wenn heute nicht mehr viel an ihm dran war, dass er ein ziemlich zäher Typ gewesen war. Einmal hörte ich, wie einer der Ärzte zu einem Kollegen sagte: »Der Platz wird auch bald frei.« Er kam manchmal morgens ganz zerbeult an, wenn er in der Nacht aus dem Bett oder auf der Treppe gefallen war. Er konnte sich nicht nur nicht auf den Beinen halten, sondern tat sich auch noch im Liegen weh. »Ich hab's doch noch geschafft, Ro'«, sagte er eines Morgens zu mir, als er auf dem Parkplatz vom Krankenhaus voll in ein Beet gefallen war. Also, er sah nicht gut aus, Signor Umberto. Aber - zur Hölle mit den Ärzten - er war immer noch da, mehr oder weniger angeschlagen, und trank jeden Tag sein Bierchen. Der ehemalige Nationalruderer. Ein Champion. Kein Scheiß! Auch er konnte sich nicht mehr auf die Warteliste setzen lassen, weil er älter als fünfundsechzig war. Signor Umberto war mehr oder weniger wütend auf alles. Tantchen dagegen schien nur ein bisschen traurig. Vielleicht weil sie die Katzen hatte, die zu Hause auf sie warteten. Wer weiß, was aus ihnen geworden ist, als sie nicht mehr da war - wenn einer starb, bekam man es dadurch mit, dass am nächsten Morgen ein anderer in seinem Bett lag. Mit das Schlimmste, was einem begegnen konnte, waren die Typen, denen ihre Krankheit ins Hirn gestiegen war. Also solche, die über nichts anderes mehr reden konnten,
die die Ergebnisse ihrer Analysen mit deinen vergleichen, die einen Wettbewerb daraus machten, bei wem das Kreatinin am niedrigsten und die Blutarmut am schlimmsten war und wer am wenigsten wog; außerdem gibt es ja sowieso keine Hoffnung, und die Transplantation ist auch ein Glücksspiel, und sieh nur, bei dem ist es nicht lange gut gegangen, und der da ist gestorben, und was ist das für ein Leben und so weiter und so fort. Also, ich hatte genau so einen, den sie mir ins Nachbarbett gelegt hatten, und um ihn mir vom Hals zu schaffen, musste ich sogar die Schicht wechseln. Er war früher Sanitäter bei der Armee gewesen und jetzt in Pension - Unteroffizier, Unterfeldwebel oder so was -, er war also nicht nur so ein Soldatenarschgesicht, sondern bildete sich auch noch ein, was von Medizin zu verstehen: ein tödlicher Cocktail. »Und läuft bei dir was mit Frauen?«, fragte er mich dauernd. Beim ersten Mal dachte ich, dass er eins dieser Männergespräche anfangen wollte. »Aber hallo«, antwortete ich auf diese augenzwinkernde Art. »Na sicher läuft bei mir was mit Frauen.« »Aber hallo«, gab er mir auf die gleiche Art zurück. »Nach einer Weile funktioniert es nämlich nicht mehr. Ich habe nichts mehr mit meiner Frau.« Und dann zeigte er mir noch ein paar andere, die ihm angeblich anvertraut haben, dass auch sie... Ach du Scheiße! Ach du gottverdammte Scheiße! Auch das noch, dachte ich. Ich meine, einem, der schon diese Sache hat, auch das noch zu flüstern ... Ich lasse
mich nicht leicht umhauen, verdammte Kacke noch mal, aber ich hätte euch mal sehen wollen! Du kannst einem Mann alles wegnehmen, aber beim Sex geht's dann ums Wesentliche. Das ist die Natur. Scheißegal, was für einen Beruf man hat, ob du Gedichte schreibst oder alte Mütterchen überfällst, das Wichtige ist, dass die Spezies sich fortpflanzt. Das ist imperativ und kategorisch, und das gilt für die Iltisse genauso wie für die Menschen, der Rest dient dem Zeitvertreib: Fußball, Fernsehquiz, der erste Mai, die Wahlen ... denn an dem Punkt finden sich doch schließlich alle ein, um über das Schicksal des Universums zu entscheiden. Jedenfalls tat ich zuerst so, als würde ich es auf die leichte Schulter nehmen, doch nur ich weiß, wie ich in Wirklichkeit daran zu knabbern hatte. Dieser Unglücksmensch redete echt über nichts anderes und ging allen Männern der Abteilung damit auf die Eier. Ein abergläubisches Gefummel, dass es nicht zu glauben war. Diese ekelhafte Unke, dieser elende Schwarzseher! Ich begann meine sexuellen Leistungen zu kontrollieren. Die sicherste Methode, um, in dieser Reihenfolge: Ejaculatio praecox, Desiderium calandum, Impotentia virilis, Esaurimentum nervosum und in manchen Fällen auch Filzläuse (Phthirius pubis), zu bekommen. Ich war wahnsinnig bemüht und besah, befummelte, untersuchte und checkte das ganze Wunderwerk von unten, von oben, von der Seite, rauf und runter ... und es war so, als würde ich Pappardelle verschlingen und einen Barolo dazu reingießen, ohne was zu schmecken. Je mehr ich daran dachte, desto schlimmer war es, und je schlimmer es war, desto mehr dachte ich daran. Und sogar allein ging's nicht mehr
ab, ohne dass mir, im schönsten Augenblick, diese Unke auf dem Bildschirm erschien und hämisch grinste. »Miche', bei dir ... sag mal ... wie geht es ... mit 'ner Frau ... im Bett, meine ich ...??« »Weiß nicht so richtig. Irgendwie nicht so gut, hab ich das Gefühl.« »Steht er dir nicht mehr so gut wie früher?« »Weiß nicht so richtig. Nicht mehr ganz so, hab ich das Gefühl.« »Neulich abends, da ... Komm näher, Scheiße, ich will es nicht der ganzen Station erzählen. Neulich abends, ich mach's ihr grad von hinten, weil da steh ich drauf... plötzlich merke ich, dass er schlaff wird. Während ich drin war, verstehst du?« »Und ich? Hab mir einen blasen lassen. Miese Performance.« »Scheiße!« »Ja, Scheiße!« Nach ein paar Wochen kriegte keiner mehr einen hoch. »Ich muss einfach fragen. Sonst geb ich mir noch die Kugel.« »Jetzt warte einen Augenblick. Dann fragen wir zuerst.« Die jungen Männer der Station wollten so schnell wie möglich Klarheit, und die Ärzte erklärten uns alles ausführlich. Danach war es gar nicht so leicht, alles wieder so zu machen wie früher und sich richtig gehen zu lassen. Und es war noch viel schwerer, dem Miesmacher nicht die Schläuche rauszureißen, damit er krepierte, dieser verdammte Kerl, zu guter Letzt und zu Recht ausgeblutet. Wir gaben uns aber damit zufrieden, dass er ins letzte Bett
verbannt wurde, dieser Unglücksmensch, neben ein anderes altes Männchen, einen, der immer schlief, also doppelt gleichgültig war gegenüber der Prophezeiung ewiger Schlaffheit. Am Freitag hatte ich Farini als Zimmergenossen. Er kam, als ich schon ein gutes Stündchen an der Maschine hing. Jeden Morgen passierte ihm irgendwas. Einmal sprang das Auto nicht an, dann hatte seine Frau es genommen, ohne ihm was zu sagen. Häufiger noch hatte sein Wecker nicht geklingelt. Farini kam auf einhundertfünfzigeinhalb Kilo, aber montags, mit dem Sonntag dazwischen, schaffte er auch schon mal volle hundertsechzig Kilo. Ich pinkelte noch ein bisschen, und mit meinen kümmerlichen fünfundsechzig Kilo hatte ich manche Probleme nicht, doch Farini war schon ein Jahr an der Dialyse, und ich glaube, er pinkelte nicht mehr, deshalb verwandelte sich alles, was er aß und trank, in kiloweise Wasser, das die Maschine ihm entziehen musste. Farini aß und trank eine Menge. Er hatte immer Hunger und ewig Durst. Da er - der himmlische Vater hatte sich bei ihm nicht lumpen lassen - auch Diabetes hatte, spritzte er sich Insulin und bestimmte ständig seinen Blutzucker mit einem kleinen Gerät; er stach sich in einen Finger, verteilte ein bisschen Blut auf dem Ding, und das zeigte ihm den Zuckerwert an. Farini brach alle Rekorde. Eines Tages hatte er fünfhundert. Die Ärzte standen um ihn herum und warteten darauf, dass er jeden Moment ins Koma fiel, doch er schimpfte und wollte einen Apfel. Das war der Tag, an dem ich mein erstes Hämatom hatte. Das passiert, wenn
die Nadel schlecht im Shunt steckt und Blut aus der Vene tritt. Ratzfatz hat man einen Arm wie ein Luftballon. Man muss sofort Eis drauftun, aber er läuft trotzdem veilchenblau an. Es tut scheißweh. Doch es gibt eine Wundersalbe, mit der es im Lauf einer Woche wieder in Ordnung kommt. So läuft das: den Werkzeugkasten immer in Reichweite. Wie in einem alten Waschbottich, der ständig leckt, auf einer langen Überfahrt von einem Ufer zum anderen über das tiefe WeißderTeufelMeer. Dieser Freitag verlief ruhig. Ich hing an einer neuen Maschine, die klasse pumpte, der letzte Schrei der Hämodialyseapparate, alles digitalisiert. Sechzig große Scheine, hieß es, kostete dieses Gerät. Made in Sweden! Mein Blut floss fröhlich und vergiftet durch die transparenten Schläuche. Ich hatte mir etwas zu lesen mitgebracht, und Farini spielte mit seinem Blutzuckeranzeiger herum. Hin und wieder rief er mit dem Handy seine Frau an und teilte ihr die letzten Resultate mit: dreihundertzehn ... zweihundertachtzig ... Dann machte er's sich im Bett bequem und streckte seinen dicken Bauch in die Luft. Was für ein Paar! Mit Jesus Christus in der Mitte waren wir die beiden Schächer! Aber der hing an der Wand. Na ja, man muss zugeben, dass wir es bequemer hatten. Irgendwann fragte mich Farini, ob mir das Meer gefiele. »Ja, natürlich!« Er dachte eine Weile darüber nach. »Und wie schaffen wir es in unserem Zustand dahin?« »Das ist eine Frage der Organisation«, sagte ich. »Ein paar Tage vorher rufst du beim nächsten Krankenhaus an und reservierst die Dialyse.« Ich redete irgendwas daher.
Farini jedoch wollte nach Afrika. »An den Indischen Ozean», sagte er. »In den Kongo will ich. Hast du eine Vorstellung davon?«, fragte er und fixierte die Wand, als wäre da wirklich der Ozean ... Der Ozean! Ich war einmal mit Tania dagewesen. Auf einer Insel. Der Sonnenuntergang war rot wie Feuer, spiegelte sich auf dem nassen Strand und ließ ihr Haar wie Gold glänzen. Wir aßen Reis und gegrillte Froschschenkel - das heißt, ich aß die Frösche, und Titta fand sie ein bisschen eklig und bestellte immer Hähnchen-, dann spazierten wir ganz nah am Wasser lang, und vor uns in der Nacht leuchtete der Schaum auf den sich brechenden Wellen. Wir umarmten uns und wussten nicht, was sagen. Farini grunzte, wälzte sich auf eine Seite, dachte noch eine Weile nach und sagte dann: »Diesmal lande ich den großen Coup! Ich habe einen Plan!« Ich sah ihn an. Ganz ohne Scham legte er den Bauch auf den Rand des Betts, er war voller Begeisterung. »Hör mal zu. Ich eröffne zehn Konten bei zehn verschiedenen Banken und lasse mir für jedes Konto zwei Scheckhefte geben, das sind ... zweihundert Schecks, stimmt's?« Ich nickte. »Und damit ist es geritzt! Ich verkaufe sie dir!«, sagte er und breitete die Arme aus, mit den Nadeln und allem dran. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. »Mit Unterschrift. Verstehst du? Blanko!« »Ja und?«, fragte ich. »Aoh! Sie geben dir eine Million Lire pro Scheck ...
Das sind zweihundert Millionen. ZWEI-HUNDERT! Was meinst du dazu?« »Aber das ist Betrug«, sagte ich. »Dafür kommt man ins Gefängnis.« »Ach was!« sagte er. »Mal abgesehen davon, dass du für Betrug nicht mal einfährst, wenn du gesund bist ... Uns Dialysepatienten stecken sie nicht in den Bau. Ha-ha!« »Aber hör mal ...« »Jaaa«, sagte er und rollte die kugelrunden großen Augen in dem kugelrunden großen Kopf und kratzte sich dazu den kugelrunden großen Bauch. »Dialyse verträgt sich nicht mit dem Gefängnisleben. Sie können dich nicht drinbehalten«, verkündete er feierlich. »Hmm ... « »Warte mal! Mariziooo...« Maurizio war einer der Pfleger auf der Abteilung. »Mari'. Stimmt es, dass sie einen Dialysepatienten, der kriminell wird, nicht einsperren können?« Maurizio nickte. »Ja. Einmal hatten wir eine, Hinkebeinchen haben wir sie genannt, weil sie wirklich gehinkt hat. Die hat gedealt. Sie schnappen sie und schicken sie nach Rebibbia. Einen Morgen um den anderen kam sie mit den Carabinieri. Samt Gefängniswärterin. Sie begleiteten sie, warteten, bis sie fertig war, und brachten sie zurück. Nach ein paar Monaten waren sie die Nerverei leid und haben ihr Hausarrest gegeben. Mit der Erlaubnis, drei Vormittage in der Woche von dann bis dann rauszugehen. Einfach so. Dann ist die Ärmste gestorben.« »Woran?«
»Blutarmut.« »Und warum?«, fragte ich. »Ein Stopfen hat sich bei ihr gelöst, und als Verband hat sie sich ein Frotteehandtuch um den Arm gebunden. Echt clever, was?« »Glaubst du jetzt, dass man nicht in den Knast kommt?«, jauchzte Farini. »Oh! Drei Tage die Woche, von hier nach Rebibbia, hin und zurück, ein Transporter mit Fahrer, zwei Polizisten, die Gefängniswärterin ... Das war ganz schön teuer, hä!«, überlegte Maurizio laut. Meine Maschine gab einen Ton von sich ... Das tat sie jedes Mal, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war, was weiß ich, so von der Art, dass man unbemerkt einen Schlauch einklemmte und kein Blut mehr im Filter ankam, oder wenn du dich irgendwie aufregtest und der Arteriendruck stieg zu sehr an. Der Alarm ging auch, wenn die Behandlung beendet war. Die Behandlung war beendet. Ich schaute auf die mit dem Bett verbundene Waage und sah, dass sie mich um ein gutes Kilo ausgetrocknet hatten. Farini hatten sie in etwas mehr als zwei Stunden schon über drei abgepumpt. »Also?«, fragte er. »Also was?« »Der Plan!« »Ach, Fari'!« Maurizio schaltete die Maschine ab und machte alles zur Landung bereit - so nannte ich es -, das ganze Blut musste wieder in meinen Körper zurück, den gebrauchten Filter und die gebrauchten Schläuche musste er wegwerfen,
mir die Nadeln aus dem Arm ziehen und die Löcher versorgen, damit ich nicht das Ende von Hinkebeinchen nahm, und zuletzt den Blutdruck messen. »Hundertachtzig zu achtzig«, verkündete Maurizio. Absolut im grünen Bereich. Ich verabschiedete mich von ihm und von Farini, der sich inzwischen auf die andere Seite gewälzt hatte. »Ciao, Fari'.« Er nuschelte irgendwas und hob den freien Arm als Antwort. Ich hatte knapp zehn Minuten, um zum Bahnhof zu kommen und in den Zug von dreizehn null fünf zu steigen. Ihn zu verpassen bedeutete, dass ich den Bus nehmen müsste, und um diese Zeit war er voll mit superschlauen Kids. Und die nervten. Außerdem war ich das letzte Mal im 998er ohnmächtig geworden. Eine komische Sache, das war mir noch nie passiert. Mit einem Mal war es mir immer kälter geworden, das Gesicht und im Kopf drin, ich hatte gerade noch denken können: Ach, das geht schon wieder vorbei, als ich alles nur noch durch einen Nebel sah und ich mich mit dem Hintern auf dem Boden wieder fand, und all die Leute über mir, die mich ansahen. »So sind sie. Zuerst tun sie, was ihnen passt, und dann bringen sie sich mitten auf der Straße um«, sagte jemand hinter mir. »Armes Italien«, bemerkte ein anderer. Ich hatte mich hochgezogen, und mir drehte sich noch der Kopf, als ich sagte: »Es ist nicht mehr wie früher. Sie strecken den Stoff mit Zement, diese Verbrecher.«
Die Leute starrten mich an. Dann zeigte ich allen ein freundliches Lächeln und stieg ein paar Haltestellen früher aus. Echt! Ich machte mich auf den Weg durch den Gang der Abteilung Nephrologie und Hämodialyse und hörte Farini, wie er inmitten seiner Kissen sang, während der Alarm wie wahnsinnig losging, weil er irgendwas zerdrückt hatte. Das alte Nilpferd. Draußen schien die Sonne. Dieselbe wie im Kongo. Strahlend. Vielleicht hatte Tania was zu essen dagelassen, ich wäre schon zufrieden, wenn ich nicht das Geschirr vom Abend vorher spülen müsste. Dann dachte ich noch mal darüber nach: Der Kongo liegt überhaupt nicht am Indischen Ozean. Er liegt am Atlantik, ich bin vielleicht blöd.
3
Es gibt zwei Möglichkeiten zu kapieren, dass man in einer Beziehung die Endstation erreicht hat: Entweder man vögelt nicht mehr oder man vögelt nur noch. Tania und ich gehörten zu der ersten Sorte, und wenn du dich nicht entscheidest, aus dem Bus auszusteigen, kannst du bis ans Ende deiner Tage sitzen. Wir hatten das Aussteigen schon diverse Male probiert. Nur dass ich nachher jedes Mal derart am Boden war, dass mir nichts anderes einfiel, als so schnell wie möglich einen anderen Bus zu nehmen. Doch irgendwas arbeitete in mir. Also fragte ich mich: Was zum Teufel willst du, du hast eine Frau, die gut aussieht, fit im Kopf ist, die über deinen ganzen Scheiß Bescheid weiß, die dich kennt, die dich Arschloch akzeptiert ... mal ganz abgesehen davon, wie du eine andere auftun willst, so fertig, wie du bist, aber mal angenommen, das klappt, also ich sehe dich echt schon vor mir: bei mir ist das so und bei dir ist das so, mir gefällt dies, mir gefällt jenes, ach ja, für mich morgens keinen Kaffee, ach ja, ich bin wetterfühlig,
ach ja, Telefonieren, das ist bei mir eine Hassliebe, und dieses ganze blöde Zeug, was man sagen und sich anhören muss, um ... Was ist?, fragte ich mich. Du bist ja keine zwanzig mehr. Bist du immer noch auf der Suche nach der ewigen Liebe? Ich will den Verstand verlieren, sagte ich, ich will eine, die mir den Kopf verdreht. Ja doch! Wenn ein Mann etwas in dieser Art sagt, weißt du alles über ihn. Bei mir waren es sieben, ungelogen sieben Jahre, dass ich darüber brütete. Und es ging weder vor noch zurück. Die Sache mit dem Wasser war eine echte Tortur. Besser gesagt: die Tortur. Wir waren alle so ausgetrocknet, dass wir uns wie halbtot fühlten und jeden, der zufällig in Reichweite kam, um einen Restschluck aus dem Glas oder zwei Eiswürfel anbettelten. Wenn Tania so rücksichtsvoll aus ihrem kleinen Glas trank, die Wohlerzogenheit selbst, kam mir die Wut ... »Himmel!«, sagte ich. »Du trinkst wie ein Vögelchen. Nimm doch einfach einen richtigen Schluck aus der Flasche, kein Mensch nimmt Anstoß daran.« »Aber ich habe keinen Durst!« Ich konnte es nicht glauben. Und wenn sie sich doch an die Flasche hängte, vielleicht nach einem schönen Spaziergang, wenn es heiß war, stand ich verzaubert da und sah zu, wie sie diesen himmlischen Nektar in sich hineingoss, wie eine Biene, die eine Blume aussaugt, ein Schneekristall unter dem Mikroskop oder der Dokumentarfilm über die Befruchtung der Eizelle - das hat mich immer sehr bewegt. »Schatz«, sagte sie. »Er trinkt durch mich!«
Ich fing an zu lachen. Eine erstklassige Methode, um nicht zu weinen. »Mann! Weißt du, was mir inzwischen passiert?«, fragte Michele. »Ich dreh mich nicht mehr nach Frauenhintern um. Ich dreh mich nach Brunnen um!« »Ich gebe dir ein Stück von meiner Pizza, wenn du mir ein Glas von deinem Wasser gibst«, versuchte Farini zu handeln. »Nein«, sagten wir. Er probierte es bei allen. Er war echt der Schlimmste. Unter Spezialüberwachung. Er durfte absolut nichts trinken, wenigstens während der Behandlung nicht. Er war schon ein paarmal um ein Haar abgekratzt, immer nach einer seiner unschuldigen abendlichen Vergnügungen. Bevor man an der Dialyse hängt, ist es ein absolutes Muss zu trinken, bis man ersäuft, um dem Rest Nieren, der noch übrig ist, zu helfen, die Giftstoffe im Blut zu verarbeiten. Und dann ist es genau das Gegenteil, damit die Nieren, die inzwischen praktisch vollkommen zusammengebrochen sind, dich immer weniger pinkeln lassen (bis du wirklich fast nichts mehr zu pinkeln hast). Und das Wasser, das im Körper bleibt, bläht dich auf wie einen Dudelsack. Jetzt entzieht dir die Maschine zwar das überflüssige Wasser, doch je mehr sie dir entziehen muss, desto mehr muss sie pumpen, und je mehr sie pumpt, desto mehr verbraucht sich, verkommt, verfällt der ganze, ohnehin schon angeschlagene Körper. Der Blutdruck steigt, und nach einer Weile kommt es zu Herzinfarkt oder Lungenödem - vor allem Lungenödeme waren damals sehr beliebt.
»Ich gebe dir kein Wasser, Toni'«, sagte ich zu ihm. »Ach komm! Du kannst doch um welches bitten. Mir geben sie keins.« »Eben!« »Ich habe eine Pizza mit Bresaola und Ruchetta.« »Behalt sie! Und wenn du einen Rat willst: Iss nicht mal die!« »Miiischäll-ma-bäll ... « Er versuchte es woanders. Und auch noch mit Gesang. »Bresaola und Ruchetta ... mit Parmesansplittern ... Mhm, ganz mit Öl bepinselt ... Aaah, was für ein Festessen. Ich geb sie dir ganz!« »Pfff!« Bravo. Mic blieb hart. »Und Stöffchen vom Feinsten?« Dieser Huren ... ! »Hier! Aber beeil dich, bevor der Doktor kommt.« »Miche', du bist ein Scheißkerl«, sagte ich. »Und du ein Fresssack!« Farini küsste den Plastikbecher und hob ihn gen Himmel. »Alla santä, mähs amih. Wiewe la Frohnz!«, rief er, bevor er alles auf einen Schluck runterstürzte, mit unvergleichlicher Klasse. Sie war mit einem ziemlich hässlichen Freund von mir zusammen. Sie trug ein rotes Mäntelchen. Ihr Gesicht war fantastisch. Und man sah sofort, dass der Rest genauso war. Sogar durch den Mantel. Man merkte das an den Schuhen, den Ringen an den Fingern, ihrer Ausstrahlung. Und an den Gesichtern der anderen, die sie ansahen. Gewisse Frauen sind so. Du erkennst sie auch daran, dass sie
immer, wenn du sie triffst, mit einem anderen zusammen sind. Ich bot meinem ziemlich hässlichen Freund meine Wohnungsschlüssel an. Ich wusste, er hatte keinen Platz, wo er hingehen konnte, um diese Wahnsinnsfrau zu vögeln. Mir sagte er, dass er nur einen Ort brauche, um mit ihr zu reden - er muss verknallt gewesen sein, der Arme. Ich erklärte ihm den Weg, und während ich ihnen nachsah, bis sie hinter der Ecke verschwanden, dachte ich, dass ich mich nie im Leben in eine wie sie verlieben würde. Barbara erinnerte sich nicht an unsere erste Begegnung. Sie sah mich nicht einmal. Ein paar Jahre später traf ich sie wieder. Ein anderer Freund von mir machte diesmal den Fehler (aus seiner Sicht), sie mir vorzustellen. Ich war fünfundzwanzig. Und meine Nieren funktionierten. Fünfundzwanzig und keine Fragen, nur Hunger, Durst und Lust. Es dauerte eine ganze Weile, um ehrlich zu sein, aber zum Schluss waren wir zusammen. Wir sahen uns nur am Wochenende. Ich ging zu ihr - sie lebte noch bei ihrer Familie - oder sie kam zu mir. Und wir machten Liebe. Oft. Und es war nie genug. »Ich liebe dich«, sagte ich zu ihr. »Ich dich auch«, antwortete sie. Dann verlor ich sie. Ich hatte damals eine Band. Gitarre, Bass und supergeiles Schlagzeug. Ein durchgeknalltes Leben, irre Trips, krasse Abstürze, heiße Nummern und Polizeirazzien. Und
ich hielt mich für einen tollen Typ. Wenn ich einen Pups ließ, war ich davon überzeugt, dass hohe Purpurflammen aus meinem genialen Arschloch loderten, und dass am Tag meines Todes Horden von Fans (vor allem weibliche) angerannt kommen würden, um rote Rosen und schwarze Lilien auf den in allen Farben schillernden Marmor meiner Grabstätte zu werfen. Wie bei den amerikanischen Stars. Wir gaben Gas, ganz im Ernst: Wir wurden interviewt, die Mädels holten sich Autogramme, und man lud uns zu einer Menge Feste und in Restaurants ein. Manchmal aßen wir drei Tage nichts und wussten nicht, wo wir schlafen sollten, es war so ein Streunerleben, uns war alles scheißegal. Wir wurden nicht vor Mittag in einem Hotelzimmer oder in irgendeiner Wohnung auf dem Teppichboden wach und bedauerten all die armen Deppen, die einen Job hatten, feste Arbeitszeiten, eine Wohnung und eine Frau. Die Welt hatte mir damals noch nichts getan, aber ich erzählte pausenlos allen, wie sehr sie mir auf den Zeiger ging. Haare bis zum Arsch, zerfetzte Jeans, Joints, abgefuckter Schleichgang und eine Strato von zweiundsiebzig - als sie die noch in Amerika gemacht haben, nicht in Taiwan, wie heute. Mich konnten sie nicht verarschen. Scheiß auf das Geld, den Friseur und die Universität! Mit Frauen lief es einfach super. Doch nach einer Weile fragt sie mich: »Sag mal, wie lange, denkst du, können wir so weitermachen?« »Womit?«, stelle ich mich dumm. »Ich meine, was hast du für Pläne? Denkst du nicht an die Zukunft, oder an MICH?«
Himmel, das machte mich nachdenklich. Ich wusste sehr gut, dass nicht beides ging. Also sagte ich ihr, sie soll mir nur noch ein bisschen Zeit geben, weil ich kurz vor dem Durchbruch stehe und solche Sachen. Und dabei hatte ich nicht mal einen Führerschein. Und so fuhr ich mit dem Zug zu ihr. Ich schloss mich im Klo ein, weil ich nicht mal das Geld für die Fahrkarte hatte. Aber ich war SUPER! Lange Haare, geile Musik, tolle Feten, gute Kumpel, klasse Frauen ... Schwer, das alles aufzugeben. Und genauso schwer, sie aufzugeben. Scheiße, das war mir noch nie passiert! Ihr hättet sie sehen müssen: Ich küsste sie und fragte mich, wie es möglich war, dass dieses Wunder ausgerechnet mir begegnete. Wir redeten, und jedes Wort schien mir in goldenen Lettern geschrieben. Sie sah mich aus grünen Augen an, die wie Smaragde waren, und mir schlotterten die Knie, und in meiner Brust wütete ein Sturm. Und dann ... Und dann ging alles so schnell. Das Glück, das Schicksal, kurz gesagt, die positiven Dinge, kommen leise: Wenn du in diesem Augenblick abgelenkt bist oder dastehst und mit doofem Gesicht Däumchen drehst, während um dich herum alles in hektischer Bewegung ist, dann ist es gelaufen, du hast deine Gelegenheit versäumt, bye bye Baby. Jedenfalls passten sie nicht zusammen: mein verrücktes Leben auf der einen Seite, und sie auf der anderen. Also fing ich an, sie zu betrügen. Beide. Mir war klar, dass ich früher oder später jämmerlich auffliegen und mir die Rechnung präsentiert würde, doch was Besseres fiel mir nicht ein. Ich hoffte, in der Zwischenzeit würde was geschehen, würde irgendwas kommen, mich zu retten, eine Lösung, irgendein anderes schicksalhaftes Klo,
in dem ich mich verstecken und weiter herumdrücken könnte, ein bisschen wie im Zug. Und wenn ich ihrer sanften Erpressung nachgegeben hätte? Hätte ich es geschafft, mich in eines dieser komischen Wesen zu verwandeln, die eine Wohnung haben und einen Job mit festen Arbeitszeiten? Das Land, das ich bebaute, brachte keine Früchte hervor, die man essen kann. Ich säte Gefühle, wässerte sie mit Träumen und erntete nur Empfindungen. Was anderes konnte ich nicht. Auch wenn ich richtig gut darin gewesen war, ihr gegenüber so zu tun, als könnte ich alles lernen. Deshalb betrog ich sie weiter. Dann, eines Tages, entschied sie für mich. Und ich verlor sie und die Musik, alle beide. Natürlich. Ein anderer Freitag. Wieder Farini. Er liegt schon da, mit den Nadeln in der Vene, und streckt den dicken Bauch in die Luft. Er hatte sich nachts schlecht gefühlt, und seine Frau hatte ihn eilig hergebracht, erklärt mir Maurizio. Er röchelt eher, als er schnarcht. Ich will ihn nicht wecken, weil er eine schlimme Nacht gehabt hat, außerdem kann ich ihm noch irgendwann in den nächsten vier Stunden guten Tag sagen. Ich wiege mich: fünfundsechzig Kilo und achthundert Gramm. Zwei Kilo und achthundert Gramm muss ich loswerden. Ja stimmt, gestern Abend habe ich mir was reingegossen. Der gute Farini, sagt Maurizio, ist bei einhundertsiebenundfünfzigeinhalb (Kilo) angelangt, bei einem Blutzuckerwert von vierhundert. Schöne Scheiße! Der Doktor kommt vorbei, und wir reden ein bisschen: Ja, abends habe ich noch immer geschwollene Beine, ich
uriniere weniger, ich habe oft Durst, der Blutdruck ist noch hoch und so weiter und so fort. Wir müssen mit der Untersuchung für die Transplantations-Warteliste anfangen. Deshalb soll ich, wenn ich nachher fertig bin, rüber in die Kardiologie, um ein EKG machen zu lassen und dann eine Osteodensitometrie - das kenne ich nicht. Das ist die Knochendichtemessung, erklärt mir der Doktor. Auch eine Sache, die passiert, wenn die Nieren in Urlaub gehen: Das Kalzium bleibt nicht mehr in den Knochen, und auf Dauer gibt es Osteoporose. (Ah!) Inzwischen prustet Farini, dass man meint, einen Dokumentarfilm über die Seelöwen auf Ross Island zu sehen. Die Oberschwester ist eine winzige dunkle Frau, unheimlich quirlig. So klein, dass man denkt, man muss sie wie Trockenpilze eine Nacht lang einweichen, damit sie am nächsten Morgen eine normale Größe hat und du dich über sie hermachen kannst, ohne zu riskieren, wegen Verführung Minderjähriger angeklagt zu werden. Sie kommt und gibt mir zwei transparente Behälter - Schätzchen -, der größere ist für Urin, in den kleineren musst du spucken. Ich habe das deutliche Gefühl, dass zwischen uns nie was sein wird. Wie kann eine Frau sich in dich verlieben, wenn das Erste, was du ihr in die Hand drückst, ein Becher Pipi ist? Sie geht, und der Arzt steckt mir die Nadeln in den Arm. Eine schiebt er mir weit oben rein, über dem Bizeps, nicht neben die andere, am Unterarm, wie er es normalerweise tut. Angenehme Überraschung: Es tut weniger weh! Das ist, weil man um so weniger schmerzempfindlich ist, je weiter man sich von der Hand entfernt, erklärt er mir. Die Nervenenden, sagt er, werden weiter oben immer
weniger. Dann fängt die Maschine an zu pumpen. Der transparente Filter füllt sich sofort mit Blut, und alle Schläuche werden purpurrot. Die Nadeln tun am Anfang weh. Sie sind nämlich riesig, nicht wie die, mit denen man Spritzen in den Hintern bekommt, sondern zwar genauso lang, aber doppelt so dick. Wenn sie ins Fleisch eindringen, ist es wie der Biss einer verrückten Maus, die nicht mehr loslässt. Doch dann geht es vorbei. Das heißt, du achtest nicht mehr darauf. Es ist, als verbände sich alles zu einem einzigen Organismus: Körper, Nadeln, Maschine ... Sogar das Bett mit der Waage. Es ist sperrig, klar, du kannst damit nicht in die Straßenbahn steigen, es ist sehr unpraktisch, wenn man Frauen anbaggern will, und manchmal klemmt es auch, doch es hilft, dich am Leben zu erhalten. Das ist, wie die Sache steht, nicht wenig. Was zu finden, das dich am Leben hält, meine ich. Farini schnarcht, dass man meint, der Orient Express keucht die Karpaten hoch. Ich lese ein bisschen Zeitung. Regierungskrise, vorgezogene Wahlen, Besteuerung von Schatzanweisungen, Nichtbesteuerung von Schatzanweisungen, neuer Verwaltungsrat bei der RAI... Was für Wichser! Ich habe keine Schatzanweisungen und nicht mal einen Fernseher ... Aber das hier ist eine Nachricht: Alberto Tomba hat sich mit seiner Freundin versöhnt, sie haben sie beim Rummachen an der Strandpromenade in der Versilia erwischt. Jetzt, wo diese Last von mir genommen ist, kann auch ich in Frieden krepieren. Aber vorher frage ich Ivana noch, ob sie ins Cafe geht und mir Vollkornhörnchen holt. Eine Köstlichkeit: ganz warm, mit Honig gefüllt, aber sie machen sie erst nach halb elf. Das gehört nicht zu Ivanas Auf
gaben, doch fünf Minuten für meine mit Honig gefüllten Vollkornhörnchen findet Ivana immer. Ivana ist hier Botin. Das heißt, ihre Arbeit besteht darin, im Krankenhaus auf und ab zu laufen. Neulich habe ich überschlagen - man weiß ja, wie das ist, wenn man vier Stunden rumbringen muss und es geschieht nichts Aufregendes, wie dass du einen Kollaps kriegst oder dein Nachbar anfängt rumzuschreien, dass sie sich mit dem Gewicht auf seiner Maschine vertan haben, und die hat ihn jetzt so ausgetrocknet, dass er sogar im kleinen Finger Krämpfe hat ... Also ich rechnete: ein Durchschnitt von anderthalb Kilometer die halbe Stunde, was meiner Ansicht nach wenig ist, multipliziert mit sieben Stunden, weil von acht muss man eine für das Mittagessen abziehen, macht ... einundzwanzig Kilometer am Tag! Nicht schlecht für eine fünfzigjährige Mutter, und in Wahrheit ist Ivana noch ein paar Jahre älter. Einundzwanzig Kilometer und davon ein Drittel auf der Treppe, weil es zwar einen Aufzug gibt, aber du musst wahnsinnig Schwein haben, damit der mal frei ist. Also den ganzen Tag auf und ab, hin und her, mit allem auf dem Arm, was anfällt: Reagenzgläser mit Blutproben, Säcke voller Abfall, sterilisierte Mullbinden, Bettlaken, Decken, Kissen, Kaffee, Coca Cola, meine außerprogrammmäßigen Hörnchen und die kleinen Pizzastücke, die die Verwaltung freundlicherweise zur Verfügung stellt. Die gibt es morgens zum Frühstück: Salami oder gekochter Schinken. Die mit Salami gehen weg wie nix, Ivana versteckt welche in einer Papierserviette und gibt sie heimlich Michele und mir. Wenigstens so lang es welche mit Salami gab, denn irgendwann haben sie gemerkt, dass die zu viel kosten, und
die Verwaltung hat beschlossen, gekochter Schinken für alle wäre besser. Doch Ivana gab uns immerhin zwei mehr. Farini nichts, da war sie unbestechlich, anders als Mimi, Koks interessierte sie nicht die Bohne! Ivana hatte auch einen Sohn in meinem Alter, Jahrgang 63, genau wie ich. An einem Montag hat sie mir mal Cannelloni gebracht, die sie am Sonntag zu viel gemacht hatte, mit wenig Käse, extra für mich. Mit Käse muss ich nämlich vorsichtig sein. Er ist voll mit Phosphor, wie es scheint, und das ist nicht gut für mich, eben wegen dieser Geschichte mit den Knochen, die sich mit der Zeit auflösen. Phosphor, haben sie mir erklärt, beschleunigt das, aber ich weiß nicht mehr, wieso. Die ganze Ernährung war sowieso eine Art vermintes Gelände: das nicht, weil da Kalium drin ist, und in dem da zu viel Magnesium... Kurz und schlicht, es ging darum, die Regeln dieses neuen Lebens zu lernen. Man lernt sie schnell. Wie alles, was unausweichlich ist. Als er wach wird, verbringt Farini die erste halbe Stunde damit, sich seine Kuhaugen zu reiben, hebt dann seinen kahlen Kopf gerade hoch genug, um sich ein bisschen umsehen zu können, und schnalzt mit der Zunge. »Hallo, Fari'.« »Ohhhhhhhhh.« »Was war denn los mit dir heute Nacht?« »Hab mich schlecht gefühlt...« »Und jetzt?« ... Pause voller Spannung ... »Und jetzt ziehn wir uns was in die Nase.« »???« »Ich hab ne Kleinigkeit dabei. Super Stoff!«
»Toni', was redest du denn da für'n Scheiß?« Er hatte also zwei fette Gramm frisch gekratzten Koks bei sich. »Heute Nacht hat mir alles wehgetan«, sagt er. »Ein Portiönchen Koks, und es war vorbei. Aber danach bin ich die ganze Zeit wach gewesen.« »Tari', du bist wirklich ein Idiot!« »Wollen wir nicht ein bisschen was reinziehn?« »Und dann glotzen wir uns in den nächsten drei Stunden mit aufgerissenen Augen an?« Er ist still. Doch dann fängt er wieder an: »Hör mal, ich hab ne klasse Idee!« »Na klar, wie die mit den Schecks.« »Besser! Hör zu! Man muss sich nur ne Lohntüte besorgen, und alles ist gelaufen.« »Was?« »Eine Lohntüte! Von einem Freund. So was kriegst du ganz leicht. Du schreibst deinen Namen drauf, gehst in die Läden und fängst an, Stereoanlagen, Elektrogeräte, Pelze, Uhren, alles Mögliche zu kaufen. Mit der Lohntüte akzeptieren alle ne Anzahlung und den Rest in Raten. Du kaufst zum Beispiel eine Stereoanlage für eine Million Lire und trägst sie für hunderttausend raus. Dann verkaufst du sie für fünf- oder sechshunderttausend Lire ... Da hast du einen halben Riesen wie nix verdient. Hä?« »Hör mal, Toni', was sagt eigentlich deine Frau dazu, wenn du ihr solche Sachen erzählst?« Farini war nicht verheiratet. Das heißt, er war es gewesen, aber jetzt lebte er mit Sisina zusammen, die früher mal
auf Drogen gewesen war und die er aus einer Kommune oder so gerettet hatte. Sie hatte ihn wirklich gern, diese Heilige. Wenigstens in der Hinsicht hatte er Schwein gehabt, der Dicke. Er hatte sie gerettet, doch ohne sie hätte er es, so wie es um ihn stand, nicht mal einen Monat länger durchgehalten. Sie wusch ihn, bekochte ihn, putzte ihn raus, brachte ihn hierhin und dorthin, kurz: Sie teilten den beschissenen Alltag, diesen Alltag, der einen nach und nach mit Nervereien, Einsamkeit und dem Gefühl der Sinnlosigkeit fast umbringt. Sie waren knapp bei Kasse. Und Farini hatte sogar eine Tochter, jawohl, mit seiner ersten Frau. Frisch gebackene Jurastudentin. Ich weiß nicht, warum, aber mich wunderte das. Ich stelle mir einfach vor, dass ein Vater sich anders verhält. Also ich meine, dass er wenigstens kein Dröhner ist und ständig krumme Geschäfte fährt. Aber warum eigentlich? Was soll's? Es gibt genügend normale Väter, die viel gefährlicher sind. Fakt ist, dass dieser unmögliche Mensch ein Kind in die Welt gesetzt hatte. Und das, wo man doch weiß, wie das ist, wenn man diese Krankheit hat: diese ganzen Arzneien, Einstichlöcher überall, Krämpfe, Übelkeit, Atemnot und eilig ins Krankenhaus und Urlaub ein Chaos ... Mir schien, dass ein Kind schlecht dazu passte. Das ist natürlich Unsinn. Das Leben ist wie ein schmutziger Bürgersteig: Es reicht ein Riss, und gleich wächst Gras. Und doch ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass es meine Schuld sei, was mir passiert war. Und redete auch mal mit jemandem darüber. Das macht die Leute verlegen, weißt du? Aber was soll's? sage ich. Man kämpft seinen Kampf wie jeder andere. Da ist nichts Heroisches dran.
Bemitleidenswertes vielleicht schon. Doch es ist ein schönes allgemeines Mitleid! Die Unterschiede sind nicht so groß, wenn man richtig hinschaut und sich echt mal den Scheiß der Leute ansieht, den sie einem nicht erzählen. Wenn man darüber nachdenkt, ist es eigentlich die Menschheit an sich, die verdammt noch mal Mitleid verdient. Man muss versuchen, den Horizont zu erweitern, sich nicht immer nur allein auf sich selbst und seine Probleme zu konzentrieren, man muss sich auch ein bisschen in seiner Umgebung umsehen, lieber Himmel! Nimm zum Beispiel die Ärzte: Ich kreuzte drei Morgen in der Woche gegen halb acht, acht im Krankenhaus auf und blieb ungefähr bis Mittag. Die Ärzte, die mich behandelten, verbrachten dagegen acht Stunden täglich dort, jeden Tag und sogar den Sonntag, wenn sie Dienst hatten. Und ihre Risiken waren die gleichen wie meine: von einem Lastwagen überfahren zu werden, der nicht bei Rot hält, eine verirrte Kugel bei einer Schießerei abzubekommen, in einer U-Bahn-Unterführung in eine schmutzige Spritze zu treten, Krebs zu kriegen, gelähmt zu werden, das ganze Leben zu leben, ohne es zu schaffen, sich in jemanden zu verlieben, das ganze Leben mit jemandem zu leben, der einen nicht liebt, das ganze Leben zu leben und dem einzigen Mal nachzutrauern, als es einem gelungen war ... Das ganze Leben zu leben und zu entdecken, dass man nichts hinterlassen hat. Und nicht mal was vor sich hat. Farini würde was hinterlassen: eine junge Staatsanwältin als Zeugnis seines Walzers mit dieser blöden Welt. Echt! Etwas von seinem unsäglichen dicken Bauch, von seinem kriminellen Genie des Betrügers, von seinem kranken
Blut, das einen Tag um den anderen gewaschen werden musste, würde weiterleben - mit mehr Grazie und Glück, hoffe ich. Doch ich fühlte mich ganz plötzlich einsam, wenn ich an die Zukunft dachte. Ich schämte mich, Pläne zu machen. Ich hatte meine Pläne schon angepasst, sie waren sowieso ziemlich daneben, bei der Geschichte mit der Krankheit... Dann jedoch sah ich die anderen an. Sprach mit ihnen. Alle machten Pläne: Ich werde gehen, werde sagen, werde tun, werde heiraten ... Ich nicht. Ich gebrauchte selten das Futur. Das Perfekt war mir sehr vertraut, mehr noch das Präteritum. Vielleicht war es das, was die Leute, die mit mir redeten, in Verlegenheit brachte. Ein Mensch muss Pläne haben! Auch wenn nichts dabei rauskommt. Ja, es geht mal in die eine und mal in die andere Richtung, wie wenn du aufs Meer hinaussegelst, dann kannst du auch sagen: »Ich will dahin«, so ungefähr, über den Daumen gepeilt, und dann bringen dich Wind, Strömung und was weiß ich sonst noch ganz woandershin, oder sie lassen dich an einem Felsen zerschellen und gute Nacht. Doch das genau ist mir passiert. Und du fühlst dich schuldig. Du bist ein Schwächling! Der eine, der mitten in der Reihe der Gefangenen in der Wüste zusammenbricht, derjenige, der es nicht schafft - nie diese Filme mit der Fremdenlegion und den Beduinen gesehen? und unter der brennenden Sonne stirbt, während der Trupp sich am Horizont entfernt. Oder du bist ein Riesenarschloch! Einer, der alles falsch gemacht hat. Oder, wenn nicht, bist du ein Unglücksrabe. Das Unglück! Das Unglück ist eine grässliche Schuld. Die schlimmste von allen. Du weißt nicht, was dagegen tun. Und du musst auch noch die Kommentare ertragen. Alle sind klasse, solange einer Glück hat. Aber
Achtung, es gibt keine Vorwarnung. Du erlebst, wie alles, was dir sicher schien, plötzlich zusammenbricht, und wenn du nicht wirklich bereit für Veränderungen bist, ist es das Ende. Die Fähigkeit zu improvisieren, das ist die einzige Form der Intelligenz, die einen Unterschied zwischen den Lebewesen macht. Bei allen. Nicht nur bei den Menschen. Jedenfalls war es vielleicht an der Zeit, dass auch ich irgendein Projekt hatte. Ich konnte ja auch nur so tun, am Anfang. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Wenn ich es schaffte, nicht gleich in Lachen auszubrechen, wenn ich es schaffte, wenigstens eine Weile ernst zu bleiben, konnte es mir sogar gelingen. Wie jedem anderen. Wenn du dich nicht entscheidest, die Toten ein für allemal zu begraben, werden sie irgendwann wieder auftauchen, und dann stinken sie schlimmer als vorher. Tania sagte zu mir: »Du redest von der Vergangenheit, als wärst du schon tot, so als könnte nichts von dem, was noch kommen kann, jemals dem, was gewesen ist, gleichkommen. Alles Gute, was du im Leben haben konntest, hast du schon gehabt, es ist vorbei, und du erwartest nichts mehr. Wir sind dabei etwas aufzubauen, kann es sein, dass du das nicht merkst?« »Was hat das damit zu tun?«, antwortete ich. »Liebst du mich?«, fragte sie. »Klar.« »Und warum?« »Weil es mir gut mit dir geht, Ti'.«
»Aber wenn du mich nicht anfasst, vergesse ich das noch!« »Was hat das damit zu tun?«, antwortete ich. Und so ging es noch eine Weile weiter: nicht vor und nicht zurück. Wie üblich war die einzige Richtung, die ich kannte, die, aus der ich gekommen war. Ich stieg flugs wieder ein. Ein weiterer historischer Halt meines Lebens, aus dem schließlich nur eine kurze Pinkelpause wurde. »Lass uns ein Kind machen«, sagte ich zu ihr. Sie fing an zu weinen. Bei der Liebe reicht schon die Einbildung, damit eine Frau schöner wird. Die Augen und der Mund und das Haar ... Ich sagte mir: Dir geht es gut, zusammen mit dieser Frau, sie liebt das Leben, das ist das Wesentliche, besonders in deiner Lage, einen Menschen in der Nähe zu haben, der gerne lebt ... Sie achtet darauf, wie sie sich kleidet, was sie isst, eine Frau, die wieder anfängt zu lieben. Ich sagte mir: Sie ist die Richtige, die Gegenwart, die Zukunft, hör auf, die Vergangenheit wieder aufzurühren, es ist jetzt alles anders. Nimm sie in den Arm. Sag nur einmal »ich liebe dich« zu einer Frau. Auch wenn es nicht stimmt, wenn du bei Gott möchtest, dass es so wäre ... Sag es ihr! Und ihr ... und ihr wachsen Flügel, perfekte Flügel, die sich ausbreiten, hoch oben am blauen Himmel. Und während Tania ihre Flügel ausbreitete, fing ich an, Barbara zu suchen.
...ich habe dich gesucht, meine Liebste, überall, während deine verlassene Schönheit mein Herz kränkte und du auf meine Rufe nicht geantwortet hast. Antworte mir. Antworte mir jetzt und schick mich für immerfort oder hilf mir, dich wieder zu finden. Doch jetzt, bevor der Tod mich aufweckt, bevor das Leben ohne dich mich wieder einschläfert... Zum Schluss fand ich sie. Der Bus meiner Jugend stand da, wo er vor sieben Jahren stehen geblieben war. Ich sah ihn mir an: platte Reifen, ein paar kaputte Scheiben und Vogelnester im Auspuff. Das ließ sich alles reparieren.
4
Transplantationen funktionierten nicht immer. Und doch gab es irgendwo da draußen jemanden, der seit einer Weile mit der Niere aus der Leiche von irgendjemand anderem lebte. Ich selbst hatte eine Frau getroffen, bei der es fünfzehn Jahre her war und die auch noch drei Kinder bekommen hatte, und auch meine Mutter hatte eine Dame gekannt, die vor mittlerweile dreißig Jahren in Frankreich operiert worden war. Wie schön! Dreiunddreißig und dreißig, rechnete ich, macht dreiundsechzig. Wir rechneten häufig, bei uns im Dialysezentrum; immer zählten wir, wie viele Jahre wir bei GottdemHerrn rausgeschunden hatten: Ich habe mit fünfzig angefangen, ich mit zweiundzwanzig, ich mit dreißig. Ich mit dreiunddreißig, ganz genau, was hieß, dreiunddreißig Jahre normales Leben, also mit normalen Erwartungen, die normalerweise enttäuscht wurden - unsere Träume waren jetzt ziemlich bescheiden. Die
Transplantation funktionierte nicht immer. Doch es war die einzige Hoffnung, wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Farini war auch einer von denen, die nicht für eine Transplantation in Frage kamen. Abgesehen von seinem Bauch, der vom streng chirurgischen Gesichtspunkt aus ein reales Hindernis darstellte - man brauchte ein Minenräumboot, und kein Skalpell, um in seinen Wanst vorzustoßen -, hatte er diese Scheißdiabetes, bei der das Risiko bestand, dass sie eine eventuelle neue Niere genauso ruinieren würde wie seine eigenen. Wie bei Iolanda. Sie hatte ebenfalls Diabetes. Und sie gehörte auch zu denen, die früh angefangen hatten, mit zwanzig Jahren, und den Rest dann Stückchen für Stückchen: zuerst die Nieren, dann die Augen und jetzt das Gangrän. Sie war jetzt siebenundvierzig, blind und hatte keine Füße mehr, und ziemlich wenig Sinn für Humor. Antonio Farini war da anders. Das heißt, er gehörte zu denen, die noch vor dem Exekutionskommando Witze machen würden. Es gibt solche Menschen, ein paar davon kann man auch heutzutage noch treffen, und natürlich am ehesten vor irgendeinem Exekutionskommando. Das sind Helden oder Dummköpfe, und vielleicht sind sie auch nur so abgedreht, dass sie es nicht merken, das ist mir scheißegal, mir gefallen solche Typen einfach. »Doktor«, sagte er, »wie viel wiegt eine Niere?« »Hundertzwanzig Gramm, eine, die gut entwickelt ist, hundertfünfzig Gramm«, antwortete er - denn auch die Ärzte kamen, um sich unsere Sprüche anzuhören, wenn sie es nicht mehr aushielten und ein bisschen Zeit hatten. »Jesus!«, sagte Farini. »Und diese ganze Aufregung für
ein bohnenförmiges Ding, das, wenn es hoch kommt, nicht mal zweihundert Gramm wiegt!« «Fari'«, trösteten wir ihn. »Bei dir reichen bestimmt nicht mal drei Kilo!« Und er, nachdem er ein bisschen darüber nachgedacht hat: »Tausend Lire und ich hole dir ein Kilo, ein Kilo und dreihundert ... sogar anderthalb Kilo, diese Woche im Supermarkt, da gibt es ein Sonderangebot.« Und dann: »Zwiebel, Butter und Salbei!« Es folgte das Rezept im Detail, das Original, das nur er kannte. Farini war genau zehn Jahre älter als ich und litt unter chronischem Geldmangel. Ab und zu machte er sich auf und unternahm einen Abstecher nach Monte Carlo. Geld hatte er früher bündelweise gehabt, wirklich bündelweise. Alles aufgebraucht. Pferde, Roulette, Nutten, Restaurants, Hotels, alles vom Feinsten. Zwei Eigentumswohnungen hatte er unter den Hammer gebracht, und jetzt zog er von einer Mietwohnung in die andere, immer näher an den Arsch der Welt, wo es billiger war. Er schlug sich mit seiner Rente durch, Invalidität und Zulagen, und vor allem mit kleinen Gaunereien. Wenn er nachdachte - und Farini war ein großer Denker -, dann darüber, wie er irgendjemandem einen Scheißdreck andrehen könnte. Er hatte es sogar geschafft, mir ein halb kaputtes Handy zu verkaufen, verdammte Kacke, und sich dann angestrengt, mir einen anderen Depp zu besorgen, dem ich es weitervertickern
könnte, um das wieder rauszubekommen, um was er mich beschissen hatte. HimmelArschundZwirn, es war unmöglich, auf einen wie ihn wütend zu sein! Er lud uns, Titta und mich, zum Fischessen ein. Und ab ging's, alle mit ihm und Sisina an Bord der Teresa. Teresa war das Auto, das er gerade fuhr, ein schrottiger Thema, Baujahr 86, der immer zum Verkauf stand und den alle, die ihn Probe fuhren, nicht mal geschenkt haben wollten. Doch er hatte wenigstens eine Zulassung, im Unterschied zu all den anderen, die ich schon bei ihm gesehen hatte - sie wechselten jeden Monat -, alles dicke Schlitten von zwei Komma fünf Liter aufwärts, denn in Kleinwagen passte er nicht rein. Er lud uns also ein und brachte uns an diese Orte, zu denen es immer eine Geschichte gab: Da hatte er zusammen mit Caio gegessen, als er noch ein Niemand war, und jetzt macht er Filme mit Marco Risi, und in einem anderen hatte er mit Moana Pozzi getafelt, und sie hatte ihm sogar ihre Nummer gegeben, aber er hatte sie verloren und sie nicht mehr angerufen, und jetzt war sie tot, die Arme, ja, das war eine Dame, sagt er, was anderes als gewisse blöde Ziegen, die dafür gehalten werden wollen. In einem anderen Lokal, in das er uns eines Abends brachte, um Tintenfisch mit Nüssen (!) zu essen, erzählte er uns, er hätte dort sogar einen Überfall vereitelt! Er kannte den Räuber: Er wohnte bei ihm im Haus, und er hatte ihn überzeugt, woanders hinzugehen - der Typ aus dem Restaurant bestätigte die Geschichte. Und während Farini erzählte, wurden Seebarsch, Goldbrasse, Krebse und anderes köstliches Getier aufgetragen, nach seinen Angaben zubereitet,
und er machte auch einen kleinen Abstecher in die Küche, um zu kontrollieren, dass sie sich ans Rezept hielten, sagte er. Wir schlemmten, und wenn wir in diesem Augenblick krepiert wären, hätte es nicht mal die Seele geschafft, hoch in den Himmel zu steigen, und wir vier wären für immer und ewig durch irgendwelche Restaurants gegeistert. Und es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, dass wir unser Essen selbst bezahlten! Manche Vormittage dort im Dialysezentrum schienen kein Ende zu nehmen, man hörte nur das leise Brummen der Maschinen, Sabbatini, der jammerte, und den hohen Alarmton, und ich verlor mich in meinem eigenen Scheiß. Was soll's, das passiert ab und zu, doch er kapierte mit einem Blick, ob er mich im eigenen Saft schmoren lassen oder eingreifen sollte. Vielleicht war alles frei erfunden, und doch holte er dich da raus, wo du gerade drin stecktest, und nahm dich mit zu Huren, in verrufene Gassen und Bars oder in luxuriöse Hotelsuiten, wo Frauen, die selbst unserem Unkoffizier einen Ständer beschert hätten, und zwielichtige Geschäftemacher auf perverseste Weise Unzucht trieben. Und, Farini erzählte es mit einer Menge Details: Dessous, Stellungen und alles - wobei natürlich hundertgrammweise reinster Koks reingezogen wurde und goldene Rolex und Appartements an der Cóte d'Azur verspielt wurden, als wären es Trostpreise bei der Tombola. Und ich feuerte ihn an beim Erzählen, war sozusagen sein Partner, riss die Augen auf und provozierte ihn: »Was erzählst du da bloß für einen Scheiß, Anto'?« Nach einer Weile lachte auch lolanda. Sogar Sabbatini hatten wir einmal zum Lachen gebracht. Und versucht
mal einen Vierundachtzigjährigen, der nicht einmal vierzig Kilo wiegt und der gezwungen ist, aus dem Nabel zu scheißen, zum Lachen zu bringen! »Wir fahren nach Indien«, sagt er. »Da gibst du einem armen Schlucker ein paar lumpige Scheine, nicht zu viel, denn da unten können die damit bis zur siebten Generation ihren Scheiß regeln, und du kaufst dir eine: eine schöne tagesfrische Niere. Von einem Lebenden, das kommt noch besser. Stimmt's, Doktor???!« »Scheiße!«, sage ich. »Warum nicht!« »Und du würdest also«, sagt der Doktor, der das Spiel mitmacht, »so einen armen Kerl, der nichts hat, auf die Art ausnehmen?« »Mit Messer und Gabel hole ich sie dem armen Typ raus, die Niere«, schreit Farini. »Und dann lasse ich ihn liegen. Und nähe ihn nicht mal zu!«, sagt er und macht eine großspurig-wegwerfende Geste. Es war ein bisschen splattermäßig, doch es funktionierte. Besser als jede Medizin, das ausgelassene Lachen dieses mehr als einen Doppelzentner schweren Mannes. Wir hatten kein großartiges Gesellschaftsleben, Titty und ich. Ich hatte keine besondere Lust, Leute zu treffen. Wenn Tiere krank werden, verkriechen sie sich in eine Ecke und warten auf das Ende. Einsam. Das ist der Urinstinkt, erklärte ich Tania, die wütend wurde. Fakt ist, dass die Krankheit dieses latente Gefühl des Unbehagens verstärkt hatte, das mich jedes Mal packte, wenn ich jemand Neues kennen lernte. Und mit alten Freunden war es sogar noch schlimmer: sie kannten mich von früher -
vor den Beulen, der Dialyse und dem ganzen Rest - und jetzt ... Ich hatte keine Lust, was zu erzählen. Was ich dachte, was ich machte, was ich hoffte, wie ich es mir eingerichtet hatte. Ich hatte es mir nämlich überhaupt nicht eingerichtet. Ich machte weiter, das war alles. Sie dagegen hatten geheiratet, manche hatten sogar Kinder, ein anständiges Einkommen - und vor allem Nieren. Himmel noch mal! Alle hatten welche. Staatsoberhäupter, Tänzerinnen, Hunde, Katzen, Stadträte ... Nur einem verschwindend kleinen Prozentsatz der Menschheit ging es wie mir. Ich sah fern, lief durch die Straßen, fuhr mit der Straßenbahn ... Die Welt wimmelte von Wesen mit perfekt funktionierenden Harnorganen. Frauen und Männern, die pinkeln gingen, ohne eine Ahnung davon zu haben, welches Wunder aus ihren Eingeweiden sprudelte. Frauen und Männer, die in ihrem Schränkchen neben dem Spiegel im Bad nur Aspirin, eine Schachtel Pflaster und Zahnseide hatten. Konnte ich nicht einer von ihnen sein? Irgendeiner. Irgendeiner wäre okay für mich. Himmel, ich wäre in die Haut von jedem geschlüpft. Ich hätte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Paket gekauft, die Katze im Sack, Hauptsache, es wäre was anderes drin als bei mir. Ich beneidete die Älteren: achtzig, neunzig Jahre, ein paar Wehwehchen, ein bisschen Rheuma, die Sehkraft lässt ein wenig nach... Sie hatten es geschafft! Sie hatten alle drangekriegt, einschließlich GottdenHerrn. Achtzig Jahre Leben hatten sie ihm abgeschwatzt, ohne dass seine Aufmerksamkeit sich ihnen mit der Sanftheit eines Hammers zuwandte und ihnen die Grenze zeigte. Vor der Nase von GottdemHerrn hatten sie das hingekriegt.
Was mich anging, waren dagegen die Chancen, einen wenig heldenhaften Tod durch Krankheit zu sterben, übermäßig gestiegen, und ich hätte alles dafür gegeben, mich dem vorhersehbaren Ablauf nicht fügen zu müssen. Ich wollte ihm diese Befriedigung nicht geben. Vielleicht verrecke ich vorher an was anderem und gebe ihm einen Tritt in den Hintern, fantasierte ich mir zurecht. Ein schönes Flugzeugunglück. Ja, ein Flugzeugabsturz war ideal. Gruppenreise ins Jenseits, alle zusammen wie bei einem Ausflug, und Titten und Hintern grapschen, bis es zu Ende war. Ah, ein normaler Tod, ein schicksalhafter, plötzlicher Tod ohne Warterei. Scheiße. Davon träumte ich! Sicher, auch ich lächelte, lachte sogar, manchmal, ein richtig fettes Lachen... Aber der Kopf! Der Kopf war bei mir voll mit scheußlichem Zeug: Krankenhäuser, Untersuchungen, Adressen von Ärzten, Namen von Arzneimitteln. Ich lachte. Aber es war anders als bei den anderen. Sie erzählten mir von ihren Schwierigkeiten: Ein Rüffel vom Abteilungsleiter, ein verstauchter Fuß, Zellulitis, der Cholesterinwert um ein Fitzchen erhöht... Das quälte sie wirklich! Wie erklärst du dir sonst, dass man sich umbringt, weil man bei der Führerscheinprüfung durchgefallen ist oder von irgendeinem Flittchen sitzen gelassen wurde? Klar, das waren so meine Gedanken, doch ich hatte beschlossen zu sehen, wie es enden würde. Ich bin neugierig und mische mich gern ein, deshalb jage ich mir keine Kugel in den Kopf. Und deshalb ließ ich es mir ab und zu gefallen, dass Tania mich nach draußen schleppte...
Ein anderer dieser durchgedrehten Typen im Zentrum war ein Militär im Ruhestand. Noch einer. Vielleicht war es nur ein Zufall. Jedenfalls passierte es mir ein paarmal, dass ich eine dunkelrot-violette, also irgendwie tresterfarbene Gestalt hinter der Tür des Umkleideraums verschwinden sah, wenn ich von der Toilette kam. Ich gehe mich umziehen, und da ist er, der Cavalier Mariano Timoteo Scarpone, Kapitän zur See - so stellte er sich vor, wir nannten ihn Trester -, und außerdem habe ich nie verstanden, was ein Kapitän zu See eigentlich ist. Egal, da war er: Bauch rein, Brust raus, in seinem tadellosen, unverwechselbaren Ordonnanzpyjama, wie er sich zur Entkleidungszeremonie bereit macht. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ihn dieser tresterfarbene Pyjama, verziert mit goldenen Initialen, wie Kragenspiegel angenäht, an die Uniform aus besseren Zeiten erinnern musste. Er zog ihn mit argwöhnischem Widerstreben aus, faltete ihn mit mikrometischer Präzision und legte ihn mit ehrfurchtsvoller Behutsamkeit in seine Tasche, als handle es sich um ein Verdienstkreuz, eine Reliquie, die Fahne selbst. Er war ein schmucker alter Mann. Maurizietto erzählte uns, er sei seit mehr als zwanzig Jahren an der Dialyse, auch wenn er hier bei uns erst vor kurzem aufgetaucht war, weil er sich überall nach einer Weile mit den Ärzten herumstritt und dann mit der Drohung wegging, sich mit Klagen und Berichten ans Gesundheits-, Verteidigungs-, und Innenministerium sowie an den Präsidenten der Republik zu wenden. Alle Dialysezentren der Stadt kannten ihn inzwischen und schoben ihn sich gegenseitig zu. Doch er trug sie mit Würde, die zwanzig Jahre an der Nadel und
Berichte an die zuständigen Stellen. Er erschien immer wie aus dem Ei gepellt, manchmal grüßte er - höflich und galant die Damen -, manchmal würdigte er einen nicht mal eines Blicks, das hatte er schließlich nicht nötig. Bah! Kurz und gut: Es war nicht zum ersten Mal, dass diese Geschichte passierte: Ich komme vom Klo und erwische ihn, wie er in den Umkleideraum witscht. Ich gehe dorthin, schaue mich um ... und er ist nicht zu sehen, Michele war das gleiche aufgefallen. Auch ihm war es schon ein paarmal passiert, dass er vom Klo kam und ihn in großer Eile verschwinden sah, wieselflink, so dass man von ihm gerade noch, was weiß ich, einen Ärmel, ein Bein, einen Pantoffel sah - alles tresterfarben. Dann ging auch Michele sich umziehen und fand ihn, immer und ewig mit seinem Pyjama beschäftigt und einer martialischen Miene voll feierlichen Gleichmuts, wie beim Begräbnis des Präsidenten oder am Nationalfeiertag. Wir erzählten es auch Tonino, aber der sagt, bei ihm sei das nie passiert, doch er hatte das Manöver auch bemerkt, wenn wir auf dem Klo waren, und hatte ihn auch ein paarmal erwischt, wenn Spinelli da war, der andere Neuzugang hier im Zentrum. »Meinst du, der lauscht?« »Boh«, sagt er. »Also er spioniert nicht oder so. Der hört nur zu!« »Was bedeutet das?« »Nichts. Er steht an der Tür und hört zu.« »Ja... wobei denn?« Farini zuckt mit den Schultern - wenn man das so nennen kann. Dann sieht er uns an, Michele und mich. Mit einem Mal verdreht er die Augen.
»Das ist nicht möglich!«, sagt er. »Aber was denn, lieber Himmel?« Farini antwortet nicht. Rollt nur seine großen Augen, den Mund halb offen wie ein Schwachsinniger. »Aoh!??«, wir ziehen ihn am Jackenärmel. Er breitet die Arme aus, lächelt und sagt: »DAS GERÄUSCH!« »Das Geräusch???« »Aber was ... ?« »0 Gott! Willst du damit sagen...?« Farini nickt. »DAS PINKELGERÄUSCH???« »Wie eine Sinfonie von Schubert«, flüstert er. Das Schlimmste war, wenn ich »und-was-machst-du-so?« gefragt wurde. Das kam gleich nach den Höflichkeiten: sofort wieder vergessene Namen, angestrengtes Lächeln, bedeutungsloses Händeschütteln. Und je länger es ging, um so schlimmer. Ich konnte es kaum abwarten, endlich fünfundsechzig zu sein, damit ich ohne Schuldgefühle antworten könnte, dass ich Rentner sei. Ich versuche am Leben zu bleiben, das ist es - erkannte ich plötzlich -, und dafür braucht man ein besonderes Talent, probier doch mal aus, ob du das kannst! »Ich bin arbeitslos«, antwortete ich stattdessen. Das war heutzutage genauso angesehen wie ein Beruf. Doch der Typ war Journalist - Wirtschaft und Innenpolitik. Das war ja zu erwarten. Ich traf immer erfolgreiche Menschen, sogar an einem Ferientag irgendwo auf dem Land. Vielleicht stimmte es ja gar nicht. Man muss sich
nur irgendwas ausdenken: Frauen, Geld, Gesundheit - tja, die Gesundheit... - aber was Frauen und Geld angeht, das war ja kein Problem. Ein alter Mann im Krankenhaus hatte mir mal gesagt, dass er keinen mehr hochkriegte - nicht der Unkoffizier, ein anderer -, während seine Freunde ihm erzählten, dass sie die Frauen von hinten und von vorne vögelten und wer weiß wie abspritzten und so weiter und so fort. Also war er zum Arzt gegangen und hatte ihn gefragt, wie das sein könnte, wo seine Freunde doch im gleichen Alter waren, dass sie es noch so trieben wie die Karnickel, während bei ihm nichts mehr lief. Darauf der gute Doktor: Erzähl du es doch auch! Schlau, nicht? Tja, den Doktortitel kriegt man nicht geschenkt. Aber ja. Es hört dir doch sowieso keiner länger als fünf Minuten zu. Und das ist noch zu lang, wenn man sich ein erfolgreiches Leben erfindet. Es ist nicht wichtig, was man tut, du kannst Rechtsanwalt sein, Mörder, Sänger, Dieb, Betrüger, ein Blödkopf, ein klasse Bläser, ein Hundeschwanz mit Konfetti, gebratenen Fliegen und panierter Rhinozeroskacke, Hauptsache erfolgreich. Das wollen die Leute sehen: Einen Kometen, der über deinem Kopf leuchtet wie die Reklame eines Supermarkts. Oder einen dreißig Kilo Balken, der auf dich runterfällt. Hochkant. Aber ich war auch nicht besser. Auch ich hörte den anderen nicht mehr zu. Sie gefielen mir nicht. Weder sie noch ich, mir gefiel rein gar nichts. Und doch, jedes Mal wenn ich knapp davor war zu kotzen, kamen mir ein paar alte Bluesstücke in den Sinn, ganz simple: Gitarre, Stimme und die Spitze eines Schuhs auf dem Boden. Und da wurde alles, der Neid, die Scham, das Unglück, die
Nadeln, der Mond und das ganze Drum und Dran harmlos, kleine Stückchen, die da oben rumschwebten, am endlosen Himmel, und ich war nichts weiter als eines dieser unbedeutenden Pünktchen. So klein - wie groß konnte da der ganze Schmerz sein, den ich fühlte? »Hand- oder Kopfarbeiter?«, fragte er. Der Wirtschaftspolitologe! Scheiße! Und jetzt? Vielleicht wollte er nur nett sein und ein mir bisher unbekanntes Interesse an meinen Geschichten zeigen ... Da musste doch was dabei sein, bei all den Berufen, die ich gemacht hatte. Alles Zeug, das mich einen Scheiß interessierte: Kisten, Pakete, Umschläge, Teller, Tankstellen, Gerüste, Handzettel, Telefonumfragen, Geldeintreiben, Drogen ... Dafür war ich bezahlt worden, für diese Dinge hatte ich Geld angenommen, das war eine Arbeit. Ich krempelte die Ärmel hoch und ergab mich: Hier, das ist Schweinefleisch, meins, macht damit was ihr wollt. Aber die Seele nicht. Meine Seele ist unverkäuflich, die lasse ich euch nicht berühren, ihr Bastarde. Ich erinnerte mich, dass sie bei meiner letzten Arbeit einen Computer hatten, und in der Pause spielten wir das Marsmännchen-Spiel. »Informatik«, antwortete ich. »Datenverarbeitung.« Damit musste sich der Arsch zufrieden geben. Und was den Rest anging, wollte ich jetzt nur ein bisschen in Frieden gelassen werden. Dort, an jenem Punkt, präzise an dem Punkt, wo zwei Luftströmungen aufeinander trafen und die gefühllose Haut erfrischten. Luft, Sonne und das Zirpen der Zikaden: was für ein Genuss! Besser als eine
Frau, besser als ein Scheck. 0 ja, so schön, dass mir fast Zweifel kamen, ob ich es verdiente oder nicht. Heute kein Kreuz zu tragen. Heute bleibst du an die Wand gelehnt, mein liebes Kreuz! Das hatte ja auch ein Scheißleben vielleicht erwartete es einen, der es mit mehr Würde trug. Auf jeden Fall musste es sich auch bescheiden. Auch GottderHerr musste sich mit der Scheißwelt zufrieden geben, die er da fabriziert hatte, also ... Sie hatte geheiratet, Barbara. Einen reichen Mann. Das war der Bus, den sie genommen hatte. Auch sie war müde, auch für sie war die einzige Richtung, die sie kannte, die, aus der sie gekommen war. Wir zögerten es lange raus, wie es unser Stil war, doch zum Schluss trafen wir uns. Und machten Liebe. Das letzte Mal, dass wir es so gemacht hatten, war sieben Jahre und ein halbes Dutzend Frauen her. Eine Obsession wird nicht geheilt. Man braucht eine andere, die noch gewaltiger, noch verheerender ist. Vielleicht geht es nur so. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Ich sagte ihr, dass ich nie damit aufgehört hatte, und presste sie an mich, als dürfte es nun nie mehr enden, als hätten wir die Lektion zusammen gelernt, wenn auch weit voneinander entfernt. In ihr spürte ich mich wieder als einer, der Hunger hat und isst, der Durst hat und trinkt. »Erkennst du mich wieder?«, flüsterte ich ihr zu. Sie schloss die Augen und klammerte sich noch fester an mich. Ich verließ Tania. Jetzt, wo ich nicht mehr riskierte, zu Fuß gehen zu müs
sen, konnte ich das tun. Das ist vielleicht seltsam. Wie viele Worte sagt man bei einem Abschied, und wie wenige davon sind wichtig. »Warum?«, fragte sie mich unter Tränen, während sie ihre Sachen in eine Tasche steckte. »Ich weiß es nicht«, log ich unter Tränen, während ich mir um mich herum und in mir drin all das ansah, was niemals in eine Tasche passen würde. Auch Barbara verließ den reichen Mann. Er ging weg, um irgendwo anders Geld zu machen. Doch er ließ ihr die Wohnung. Mir gefiel es nicht, dass sie noch da wohnte, in seiner Wohnung. »Komm zu mir«, sagte ich. »Und meine Arbeit?«, fragte sie. »Es ist weniger als eine Stunde mit dem Zug. Das tun eine Menge Leute«, sagte ich. »Gib mir ein wenig Zeit«, antwortete sie. Ein wenig Zeit... Aber ja! Vielleicht war das besser. Das Wichtigste jetzt war, dass ich es geschafft hatte, den Anschluss an die Vergangenheit wieder zu finden, den unaufhaltsamen Lauf der Zeit zu korrigieren, die Scherben zusammenzufügen, und ich warf einen zufriedenen Blick darauf. Man sah fast nicht, dass es mal kaputt war. Man durfte nur nicht zu nah drangehen. Und Barbara lebte in einer anderen Stadt. Es war perfekt: Aus siebzig Kilometern Entfernung sieht man wirklich nichts!
Wir telefonierten jeden Tag, und ich verbrachte das Wochenende bei ihr. Wie früher. Ich erzählte ihr von meinem Leben. Auch das hatte sich nicht sehr verändert: Ich hatte immer noch keine anständige Arbeit, machte immer noch Musik, die nie ein Mensch hören würde, schrieb Zeug, das nie ein Mensch lesen würde, machte Zeichnungen, die nie ein Mensch sehen würde ... und träumte von einem Leben, das ich nie haben würde. Und von ihr. Ich hatte mich allerdings wieder an der Uni eingeschrieben, war umgezogen, hatte ein Auto gekauft, mir die Haare geschnitten, einen Bart wachsen lassen, kleidete mich ein wenig besser und ... hatte keine Nieren mehr. Ich erzählte ihr von meiner Krankheit. »Das tut sehr weh, stimmt's?« »Nein, Kleine, es ist nichts.« »Du bist mutig, Ro'.« Das war schön. Aus ihrem Mund glaubte ich es sogar. »Komm her, Liebes.« Sie kuschelte sich zärtlich an meine Brust, streichelte meine Wunden, mit ihrem kleinen Kopf auf meinem lauten Arm. Ich versuchte ihn wegzuziehen, aber er gehörte nun mal zu mir. Sie nahm ihn und schob ihn unter sich. »Er stört mich nicht. Er leistet mir Gesellschaft«, sagte sie. »Ich liebe dich«, sagte ich. »Ich dich auch«, sagte sie. Die ganze Welt explodierte über meinem Kopf und fiel wieder auf mich runter wie ein Konfettiregen, ohne mir wehzutun, und auch wenn diese Jahre ohne Liebe sie mitgenommen, erschöpft und unglücklich gemacht hatten,
ich würde ihr sagen, ich liebe dich, ich würde es ihr so oft sagen, bis sie wieder wie vorher war. Bis sie wieder ihre Flügel ausbreitete, ihre vollkommenen Flügel im blauen Himmel über mir.
5
Ich war mir sicher, dass ich früher oder später eine bekommen würde. Ganz bestimmt: Meine Niere war jetzt irgendwo, genau in diesem Moment, trank Whisky und Soda, im Körper von irgendeinem und erlebte als wichtiger Teil seiner Eingeweide, was in ihm los war. Du weißt es noch nicht, Süße, doch du hast eine Verabredung mit mir, mein kleiner Schatz. Hier drinnen, in diesem Bauch, wirst du die Ehre und das Privileg haben, ein neues Leben zu beginnen. Und was für ein Leben! Freu dich, Liebes, besser konntest du es nicht treffen. Wir lassen es uns gut gehen, du wirst schon sehen. Du sorgst nur dafür, dass ich wieder so pinkeln kann wie in den guten alten Zeiten, und ich kümmere mich um den Rest ... Ja. Irgendwo lief jemand mit meiner neuen Niere herum. Es würde klappen. Und zwar hervorragend. Hier war ich! Ich war von allen Kranken im Zentrum der, dem es am besten ging. Ich hatte mir keine Hepatitis gefangen wie Chicco, ich hatte mir kein Aids geholt wie Bianca, ich hatte keine zermatschte Leber
wie Checcarone, keine Diabetes wie lolanda, keinen Wanst wie Tonino, keine leeren Knochen wie Maria, keine Anämie wie Celestini, kein Herz, das im Akkord schlägt, wie Signor Umberto, keinen künstlichen Darmausgang wie Sabbatini, Gott hab ihn selig, kein breiiges Hirn wie Vinac-cia, keinen schlappen Pimmel wie der Unkoffizier und keine unmögliche Blutgruppe wie Spinelli. Ich war gesund. Nur meine Nieren funktionierten nicht. Ich strotzte vor Gesundheit. Aber klar! Ich verputzte zweihundert Gramm Pasta am Tag, verschlang Steaks und vögelte mit einer tollen Frau - ich hatte eine bekackte Arbeit, okay, aber immerhin doch eine Arbeit -, ich hatte wieder angefangen, an der Uni Prüfungen zu machen, ab und zu griff ich mir meine Gitarre und sang und spielte, dass die Fetzen flogen, ich war schon an Ostern von oben bis unten schokoladenbraun - etwas ins Grünliche tendierend allerdings -, aber jedenfalls lebte ich, verdammt noch mal, ich war gesund und munter! Okay, ich pinkelte nur ein paar Tröpfchen am Tag, aber ich kackte regelmäßig, da konnte man die Uhr nach stellen. Ich schaltete das Radio ein. Sie spielten das Stück aus Quadrophenia, als er alles verloren hat, Frau, Arbeit, Freunde, und mit schwarzumrandeten Augen vom Zugklo kommt, völlig fertig von den Amphetaminen, mit Bläsern und einem Piano, dass sich mir jedes Mal alle Armhärchen aufstellen und ich fühle, wie es mich in den Fingern juckt, Luftklavier zu spielen (ich war immer ein Pianist, gefangen im Körper eines Gitarristen)... Grandios! Ich stellte mich vor den Spiegel und begann zwischen Klo und Waschbecken zu tanzen. Ich tanzte, und mein
schöner Körper bewegte sich unter der gebräunten Haut wie Mäuse unter einer Decke. Ich empfand noch diese gewisse einfältige Freude, wenn ich meinen flachen Bauch, die langen, schlanken Beine, das dichte schwarze Haar, die vollen roten Lippen ansah ... Ich tanzte, jawohl, in Erinnerung an die alten Zeiten: bunt bekritzelte Hosen, unterwegs auf den Straßen, mit der Illusion von Gesundheit und Freiheit, von Liebe, und dass das ganze Leben nur dazu da wäre, sich hochmütig und unersättlich darüber herzumachen, und vielleicht stimmte es sogar, wer weiß. Mich durchzuckte so was wie Zärtlichkeit für die Naivität und Dreistigkeit, für den Schmerz, die Niederlagen, die Verwirrung, die Fröhlichkeit, die Begeisterung, für die ganze Zeit, die vergangen war, und mein altes Gesicht. Was ich im Spiegel sah, durfte sich einer glanzvollen Vergangenheit rühmen, Himmel, ich verdiente eine Zukunft. Ich sah das Funkeln in meinen Augen und sagte mir, mein Blick ist stolz, vital und strahlend. Herrgott! Ich war in der Poleposition, der Favorit, verdammt, das Siegerpferd! Auch meine Mutter musste weinen, wenn sie Musik hörte, irgendeine Musik, sogar ein Schlager machte sie stumm und traurig und ließ ihr die Tränen in die Augen steigen. Daher behauptete sie, dass Musik ihr nicht gefiel. Aber ich meine, dass sie ihr nur zu gut gefiel. Für mich war sie wie der Bug eines Wikingerschiffs, das den Nebel zerteilt und mächtig und unbezwungen aus den verderblichen Schwaden des Todes auftaucht. Meiner Mutter dagegen schien die Macht der Gefühle immer ein gewisses Unbehagen zu bereiten. Bei ihr ging es dabei
ziemlich durcheinander, vielleicht weil sie mehr erlebt hatte. »Such dir eine Frau«, sagte sie dauernd zu mir. »Es ist schlimm, allein alt zu werden.« »Ich hab eine, ich hab eine«, versuchte ich sie zu überzeugen. »Das habe ich gemerkt!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Es wäre an der Zeit, dass du eine Familie gründest. Du weißt nicht, wie sehr dein Vater sich Enkelkinder wünscht. Jedes Mal wenn er ein kleines Kind sieht, sagt er zu mir: Worauf wartet er denn? Du wirst schon sehen, sage ich zu ihm, dass du ein Enkelchen von ihm bekommst, du bekommst schon noch eins ... « O Jesus ... »Du musst es dir einmal vorstellen«, fing sie wieder an. »Dein Vater! Wer hätte das je gedacht? Du solltest ihn sehen. Er ist richtig gerührt, wenn sie diese Neugeborenen im Fernsehen zeigen. Feuchte Augen bekommt er dann. Und dir würde es auch gut tun, mein Sohn!« »Uuuuuuu.« »Da haben wir es. Jedes Mal, wenn jemand versucht, euch etwas zu sagen, macht ihr ein Gesicht. Hört auf die, die mehr Lebenserfahrung haben als ihr. Rat der Alten, Kraft der Jugend; so heißt es nicht umsonst.« »Genau: Kraft der Jugend«, sagte ich. »Warum, was fehlt dir denn? Die Mädchen waren immer hinter dir her!« Ich fing an zu lachen. »Wie viele Mädchen dich vergöttert haben...« Es folgte die Aufzählung meiner Verehrerinnen. Dass Tania und ich uns getrennt hatten, hatte ihrer
Angst vor einer Zukunft, in der sich niemand um mich kümmern würde, neue Nahrung gegeben. »Dieses Mädchen hat dich wirklich geliebt.« Sie hatten mich geliebt, angebetet ... Alle. Außer Barbara. »Bei ihr hast du immer gelitten.« »Mama ... « »Sie ist von Kopf bis Fuß voller Probleme.« »Maaa ... « »Tanias Mutter: Sie hat dich vergöttert...« (Sogar sie!) »Ich war aber nicht mit ihrer Mutter zusammen.« »Die Familie ist wichtig.« »Und die Leidenschaft?« An diesem Punkt brach es aus ihr heraus: »Die Leidenschaft! Die Leidenschaft vergeht, es bleibt die Zuneigung, der Respekt ... Wenn ich das schon höre: Leidenschaft! Ein Strohfeuer! Die Leidenschaft, die du meinst, empfindest du in der ersten Zeit, doch dann sind andere Dinge wichtig... die Dinge, die dir ein gemeinsames Leben ermöglichen ... Zuneigung ... « »Und Respekt.« »Und Respekt. Gewiss. Sieh dir deinen Vater und mich an. Warum sollte er mit einer Invalidin wie mir zusammen bleiben?« »Ach, Mama!« An dieser Stelle zog sie eine Schnute wie ein kleines Mädchen. Sie schwieg eine Weile, aber ich wusste schon, was sie in fünf Minuten sagen würde.
»Es tut mir Leid, aber ich muss es dir sagen: Ich bin sehr enttäuscht darüber. Du tust mir weh. Ich werde unglücklich sterben.« »Ich komme bald nach!«, sagte ich. Es war der Moment, meine Ablenkungstaktik einzusetzen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »In hundert Jahren«, sagte sie. »Nein, nein, Mama, ich werde früh sterben«, seufzte ich. »Was sagst du da, du Dummkopf! Danke lieber dem Herrn. Wendet euch Gott zu...« Da war sie, die Anrufung der unerforschlichen Kräfte des Guten. Wendet euch, der Appell galt nicht nur mir, er war universal, galt der ganzen Sünderschar. »Ich wäre schon zufrieden, wenn er mich in Ruhe ließe, Ma«, antwortete ich. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass es besser ist, bei den Autoritäten unbekannt zu sein, wenn es einem im Leben gut gehen soll. Na ja, klar, jetzt war es vorbei mit der Anonymität. Aber dass Mama ihn auch noch erinnern musste! »Nein, sprich nicht so. Heiliger Kaspar, beschütze ihn.« »HEILIGER KASPAR??? Wo hast du denn jetzt den heiligen Kaspar her?« Sie schloss die Augen halb. »Ich habe so innig zum heiligen Kaspar gebetet, dass er mir einen ruhigen Tod schenkt, dass ich dich in seine Hände gelegt habe.« Von der heiligen Tania zum heiligen Kaspar - doch eine Zeit lang hatte ich auch unter dem Schutz des heiligen
Antonius von Padua gestanden - mein Leben wurde von einem Amt zum Nächsten geschoben wie eine lästige Akte. »Sicher, Ma, aber warum ausgerechnet der heilige Kaspar... Ich meine, er ist keiner der berühmten Heiligen, wie bist du auf den gekommen?« Sie hob die Augen - ihre wundervollen blauen Augen - zum hellblauen Küchenhimmel. »Oh, da ist eine kleine Kirche nahe der Fontana di Trevi. Dort sind wir einmal hineingegangen, deine Schwester und ich. Ganz schlicht und doch so feierlich ... Und diese schöne Statue vom heiligen Kaspar ... Er sieht ganz echt aus! Der Bart! Die Augen! Ich habe ihn gebeten, mir gnädig zu sein. 0 Herr...«, sagte sie, nun ganz entrückt. Jetzt oder nie: »Ma, ich habe ein Problem.« »Was für ein Problem?« Sie kam sofort zurück auf die Erde. »Erzähl es deiner Mama, vertrau dich deiner Mutter an. Niemand liebt dich mehr als deine Mutter. Erinnere dich daran, mein Sohn, wenn sich diese Augen geschlossen haben, dann wirst du es verstehen...« »Ma...« »Barbarella, nicht? Hör mir zu, mein Sohn, dieses Mädchen ist nicht die Richtige für dich. Ihr habt euch gern, ich weiß, aber sie passt nicht zu dir ...« »Nein, Ma ... « »Sie ist sehr anständig, aber...« »Mein Auto ist beschlagnahmt worden, Ma.«
»!!!... DAS AUTO? BESCHLAGNAHMT???« »Das ist nicht schlimm, Ma. Das kann passieren...« »WIESO IST DAS NICHT SCHLIMM? EINE BE SCHLAGNAHME!!!« »Ich habe nur die Versicherung vergessen, Mama.« Jetzt würde mich das gleiche Schicksal ereilen wie meinen Onkel, der als Alkoholiker und hochverschuldet gestorben ist. »Du wirst noch enden wie dein Onkel. Bei ihm hat es auch mit unbezahlten Strafen angefangen. Morgen, sagte er, morgen zahle ich ... Hat er bezahlt? Seine Frau fragte ihn. Ach, antwortete er, das hat Zeit... Gib Acht, der Staat erlässt einem nichts, sagten wir zu ihm, gib Acht, die kommen dir mit Zinsen. Und er: Morgen, morgen ... Sieh dir an, was für ein Ende er genommen hat! Nicht einmal Geld für eine anständige Beerdigung...« Jetzt ist sie in Fahrt... Jaaa! »Wie viel?«, fragte sie und zog die Nase hoch. Ich legte ihr einen Arm um die schmalen Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Na ja... Sechs-, siebenhundert. Ungefähr.« »Ungefähr. Was heißt ungefähr?« »Einemillionhundertsechsundzwanzigtausendvierhundert Lire.« »MEIN GOTT! Und wie lange hast du, um zu bezahlen? Kannst du warten, bis ich die Rente bekomme?« »Oh, ja klar...« »Wie lange?« »Sechzig Tage.« »Und wann ist es gekommen?«
»Ja also ... Vor einem Monat, glaube ich. Vielleicht vor anderthalb oder zwei Monaten ... « »DANN IST ES DOCH ABGELAUFEN!!!« Ich nickte. »Bring es mir her«, sagte sie resigniert. »Ma...« »Mit Papa, das regele ich. Sag ihm nichts. Du weißt, wie er ist... Und er hat Recht. Nie ein Extra, nie ein Vergnügen, nur damit es euch an nichts fehlt.« »Es tut mir Leid, Ma ... « »Nein, mein Sohn, Jesus weint darüber, Geld auf diese Weise wegzuwerfen!« Sie hatte Recht: Ich war ein erbärmlicher Kerl, ein Versager, der Schlimmste von allen. Seht mich an, wie ich mich an die Rente meiner Mutter ranmache, einer Invalidin im Rollstuhl, wie eine Zecke, eine Wanze, eine gefräßige und unwürdige Schabe. Durch das Balkonfenster sah ich meinen Vater, ganz klein, wie er seine Geranien goss und dabei mit Ohrstöpseln die Meisterschaftsspiele hörte. Dreißig Jahre hatte dieser Mann gebuckelt, und was hatte er nicht alles geschafft: eine Wohnung für mich und eine für meine Schwester, ein anständiges und bequemes Leben für alle. Jetzt kamen mir wirklich die Tränen, für meine Mutter, meinen Vater und all die Helden, die sich anstrengten, im Leben was hinzukriegen, die Verantwortung übernahmen, die voller Mut jeden Morgen früh aufstanden, um zur Arbeit, zu gehen, während ich noch immer alles und alle ausnutzte und Entschuldigungen vorbrachte, eine nach der anderen, um ein oberflächliches, verwöhntes und ziel
loses Leben zu rechtfertigen. Der heilige Kaspar würde mich mit einem Blick vernichten. Ich ging aufs Klo. Hier, dachte ich, das ist dein Platz. Tausendmal verdiente ich das Ende meines Onkels, tausendmal. Eine Menge Dinge im Leben der Menschen beginnen damit, dass das Telefon klingelt. Nun, wenn es in der Nacht klingelt, kannst du sicher sein, dass es etwas Unangenehmes ist. Wer soll dich schon um halb drei Uhr nachts anrufen! Das Telefon, das in der Nacht läutet, hat mich immer erschreckt. Tagsüber auch, um die Wahrheit zu sagen, aber nachts ... Ich erinnere mich an manches nächtliche Telefonklingeln, bei dem es um Unglück, Krankheit, plötzliche Anfälle von Wahnsinn ging. Die Überraschung war für mich immer ein kräftiger Tritt in den Hintern, von daher: irrsinniges Herzrasen und lähmendes Entsetzen bei dem verdammten Geklingel nach Mitternacht. Da war es und klingelte, das Schwein. Welches neue Unheil kündigte sich an, was hatte mir noch gefehlt? Und dann ist mein Apparat auch noch halb kaputt und macht dieses krächzende Geräusch. Also, ich nahm mit zitterndem und verkrampftem Schlafhändchen ab - in Wahrheit Kreislaufprobleme -, doch das Gehirn sofort alarmiert, krankhaft ängstlich - ihr wisst ja, wie das ist, Unglück entwickelt seltsame Perversionen bei manchen sensibleren Individuen -, krankhaft ängstlich, sagte ich also, um zu hören, welcher neue Schlag auf meinen Kopf niedergehen sollte und ... »Spreche ich mit Herrn...?« »Ja.«
»Transplantationszentrum der Poliklinik. Wir haben vielleicht eine kompatible Niere für Sie. Sind Sie interessiert?« Ich dachte an nichts. Außer an die Nadeln, die ich mir dreimal in der Woche in den Arm steckte, und die Aussicht, das für den Rest meiner Tage tun zu müssen. »Es ist eine Möglichkeit. Sind Sie interessiert?« Eine Niere! Siebentausend Unglückliche warteten in dieser Nacht auf einen solchen Anruf. Und ich hatte ihn bekommen! Hatte es sich plötzlich mich ausgesucht? Das Glück, meine ich. Manchmal kann einer kalt und distanziert wirken. In Wirklichkeit ist das, was unerschütterliche Selbstkontrolle scheint, nur Müdigkeit. Man gewöhnt sich daran, früher oder später, sich keine Illusionen zu machen, und du umgibst dich mit einem Panzer, so hart wie der eines Gürteltiers, mit einer rauen Schale, um dich gegen die grellen Täuschungen zu schützen, mit denen sich die Außenwelt gewöhnlich über dich lustig macht; es ist ein Filter, der das Einsickern ins Bewusstsein verlangsamen soll, bei guten wie bei schlechten Nachrichten. Ich war so gut darin, dass sie am Ende fast gleich wirkten. Das Farbspektrum der Ereignisse in meinem Leben war langsam aber sicher auf eine lange Skala von Grautönen reduziert worden, mit einigen wenigen verblassten farbigen Bändern in der Mitte, und dem absoluten Schwarz an beiden Enden. Man verteidigt sich einfach, oder versucht es wenigstens. Wie jeder andere Organismus in der Natur, richtet man sich ein, so gut es geht, und nutzt die knappe zur Verfügung stehende
Nahrung maximal aus, wie gewisse Reptilien, die in der Wüste leben, oder Sukkulenten. Aus diesem Grund zeigte ich keinerlei Begeisterung. Nicht einmal mir selbst gegenüber. Es ist eine Frage der Methode, und die Methode heißt Überleben. «Ich glaube ja«, antwortete ich.
6
Irgendjemandem musste ich es sagen. Nicht meinetwegen. Das heißt, wegen mir wäre es nicht nötig gewesen - ich musste einfach nur ins Auto steigen und zum Krankenhaus fahren -, doch wer dich gern hat, wird es dir nie verzeihen, wenn du eine Möglichkeit, ihm zu zeigen, wie wichtig er für dein Leben ist, ungenutzt vorübergehen lässt. Und so begann ich, nachdem ich eine Weile einfach so im Bett liegen geblieben war und mir diese klägliche Unterhaltung von kurz davor noch einmal durch den Kopf gehen ließ, mir zu überlegen, bei wem es wohl die Pflicht gebot, ihn von dem außerordentlichen Ereignis in Kenntnis zu setzen. Man hat Pflichten, auch kurz vorm Sterben. Selbst nachher, habe ich das Gefühl. Meine Mutter? Sollte ich das Telefon mitten in der Nacht läuten lassen, bei dieser unguten Tradition nächtlicher Anrufe, die wie ein Fluch über unserer Restfamilie liegt? Nein, die arme Frau. Morgen früh. In aller Ruhe. Tania? Wie seltsam. Ich hatte nicht mehr daran gedacht,
sie anzurufen, seit ich ihr gesagt hatte, dass es nicht mehr ging und dass wir uns trennen sollten. Dass sie ausziehen sollte. Jetzt aber sah ich sie alle vor mir, die Augenblicke, die wir gemeinsam damit verbracht hatten, über diese Geschichte zu sprechen, darüber Witze zu machen, Pläne zu schmieden, über die Reisen zu reden, die wir nachher unternehmen würden, ans Meer, Spaziergänge mit den Füßen im Wasser. Ich dachte daran und ... sah sie vor mir. Ich schaue auf das Bett neben mir. Ich sehe sie, wie sie voller Tatkraft aufspringt, denn wir müssen uns beeilen, und sie bringt mich ins Krankenhaus - schließlich weiß ja jeder, was für ein jämmerlich schlechter Autofahrer ich bin ... Nein. Zu spät. Ich würde es ihr sagen. Aber wenn es vorbei war. Barbara! Barbara. Sie ist meine Frau. Ich sah noch einmal auf das Bett. Das wäre schön. Und so erhielt sie einen nächtlichen Anruf. Das ist keine große Sache, so ein Anruf, bei guten Nachrichten. Bei schlechten, da braucht man Größe; doch bei guten - nein: bei den guten braucht man Arme, Beine, Lippen, Augen ... Ich fühlte mich okay. Keine trockene Kehle. Ich war bester Laune ... Ach übrigens: Was zieht man an, wenn man sich eine Niere einpflanzen lässt? Lässige Kleidung, dachte ich. Und ich rasierte mich auch und besprühte mich mit Parfüm. Nur ein bisschen. Jämmerlich schlechter Fahrer hin oder her. Mitten in der Nacht durch die verlassenen Straßen einer Stadt mit fünf Millionen Einwohnern zu fahren ist geil. Kein Verkehr. Ich brauchte vom Stadtrand, wo ich wohne, keine zwanzig
Minuten, um zur Poliklinik zu kommen - was zur Hauptverkehrszeit auch mal eine Stunde und länger dauern kann. Ich saß im Auto und achtete auf die Straße. Ab und zu sagte ich zu mir: Was für ein Scheiß! Nur mit sich selbst kann man das führen, was man zu Recht ein Gespräch über das Wesentliche nennen darf. Doch ich schaffte es nicht, mich zu konzentrieren. Ich meine nicht das Fahren. Alles, was zu tun war, wie an den Stoppschildern zu halten, nicht falsch abzubiegen, zu schalten, sich am Knie zu kratzen und so weiter, all das lief mechanisch ab. Kein Problem. Es waren die feineren Funktionen des Hirns, die für die Bildung von Gefühlen, bei der es aussetzte. Jetzt konnte sich alles ändern, ein neues Spiel begann. War es möglich, dass ich nichts empfand? Oder gelang es mir einfach nicht zu erfassen, was ich gerade empfand? Das war wahrscheinlicher, auch wenn die Wirkung die gleiche ist. Ich sah mich um. Die Ampeln waren wie immer, und auch die geparkten Autos sahen genauso wie sonst aus. Die zynische Welt um mich herum hatte nichts bemerkt. Gewisse Umwälzungen im Leben sollten auch in der Außenwelt irgendeine Veränderung auslösen, was weiß ich, wenigstens eine Mondfinsternis, einen Schneesturm zur falschen Jahreszeit, ein Kaninchen als Verkehrspolizist verkleidet, oder ein Verkehrspolizist als Kaninchen verkleidet ... Kurz und schlicht: dass man auch nach außen irgendwas sieht! Aber ... Jedenfalls war ich da, ja ich, und was da durch die Straßen flitzte, war mein Auto. Platz da! Hier kommt einer der Glücklichen mit der Chance auf den Gewinn einer Niere - einer gebrauchten, zugegeben, aber einer wie funkelnagelneu. Als Ersatz für meine, die jetzt schon seit über
einem Jahr Ferien macht. Damit das klar ist: Ich hatte noch nicht gewonnen. Doch es gab die Möglichkeit - so hatte der am Telefon gesagt -, es gab die Möglichkeit, ich konnte gewinnen und flitzte durch die Stadt. »Können Sie mich reinlassen, ich bin wegen einer Transplantation angerufen worden!?« »Diesmal lasse ich Sie rein«, sagt der Typ und zeigt mit einem dicken Zeigefinger auf mich. »Aber nicht außerhalb der Markierungen parken!« Okay, dachte ich, wenn ich das nächste Mal komme, wenn sie mir eine Niere einsetzen, lasse ich das Auto draußen. Das dachte ich, sagte es aber nicht. Vielleicht hätte es ihm gefallen, aber wer weiß. Im Unterschied zum Memorial Hospital of Philadelphia sicherlich ein modernes Gebäude mitten im Grünen - ist die Poliklinik der Universität ein alter, riesiger Komplex mit Pavillons aus dem neunzehnten Jahrhundert, mitten im Zentrum der Stadt. Grün sind ein paar kleine Bäumchen, weil ganz ohne ging es wirklich nicht, und die Mülltonnen, und in einem dieser Pavillons hatte ich mich verlaufen. Kilometerlange verlassene Gänge und flackernde Neonröhren, verschlossene Türen links und rechts, Eintritt verboten, Rauchen verboten - in drei Sprachen -, und kein Hinweis auf die Abteilung Organtransplantation. Im zweiten Stock, hatte mir der Typ am Telefon gesagt, aber wie zum Teufel sollte ich dahin kommen, wenn alle Türen zu waren! In einer war ein Bullauge, und durch das Bullauge sah man die Treppe ... Himmel, die Tür war auch zu! Und nirgendwo eine Menschenseele. Oh! die Poliklinik ist
groß, so groß, dass ich nicht weiß, wie viel scheißtausend Leute hier arbeiten ... Aber in der Nacht brauchte ich eine Stunde, um einen Menschen zu finden. Am Ende drückte ich eine Art Klingel. Ärzte, Krankenhäuser, alles, was mit Tod und Krankheit zu tun hat, schüchtert einen leicht ein. Aus diesem Grund trauen sich die meisten Leute nicht, so einen kleinen Kacker, der einem für die Auswertung eines Urintests ein Schweinegeld abknöpft, nach der Rechnung zu fragen. Mal ganz nebenbei: Die oberen und unteren Grenzwerte stehen da. Wenn du innerhalb des Bereichs bist, ist's okay, wenn nicht, dann nicht, das ist nicht so schwierig. Die Medikamente kann man sich allerdings nur mit Mühe merken - auch wenn ich alle Titel aller Lieder aller Platten von Frank Zappa kenne und sogar weiß, wer mitgespielt hat, und mir keiner einen Doktortitel dafür gegeben hat, geschweige denn so viel Geld, wie die scheffeln! Egal, es war jedenfalls die gleiche Art von Ängstlichkeit, die mich erst nach einer Stunde verschlossener Türen, flackernder Neonröhren usw. diese Klingel drücken ließ - man ist auch kurz vorm Sterben ängstlich, auch nachher, habe ich das Gefühl -, doch ich hatte mich rasiert, hatte mir Parfüm draufgetan, und ich hatte eine gute Figur bei Barbara gemacht, hatte ihr die Exklusivnachricht meiner Nierentransplantation mitgeteilt und ihr gesagt, sie solle beruhigt sein und nicht herkommen, weil das keine große Sache sei für einen harten Kerl wie mich, und so hatte ich weiterhin gute Laune. Dann öffnet sich die Tür - wer weiß, wen ich da aufgeschreckt und welchen Traum von Feierabend und Frührente ich brüsk unterbrochen hatte -, und ich bin
endlich da: ZENTRUM FÜR ORGANTRANSPLANTATION LEITENDER ABTEILUNGSARZT PROFESSOR uswusf. Hier ersetzen sie einem Leber, Niere und Lunge - ich weiß nicht, ob sie auch mit anderen Innereien arbeiten. Vielleicht Bauchspeicheldrüsen. Apropos: komisches Ding, die Bauchspeicheldrüse, eines der am wenigsten bekannten Organe, niemand weiß, dass er eine Bauchspeicheldrüse hat, bis er Krebs oder etwas anderes Schlimmes in der Art bekommt. Doch im Grunde ist das bei allen Sachen so: Waschmaschine, Mixer, Liebe ... Du denkst nie dran und bemerkst sie erst, wenn sie kaputt gehen. Doch da: endlich ein menschliches Wesen. Eine Frau! Hübsch! Mit wehendem Kittel. Ich versuchte mir den kleinen Hintern vorzustellen, der darunter war. Ich könnte sie an die Wand drücken und es ihr so besorgen, im Stehen, auf die Schnelle, kannst ruhig schreien, wenn du willst, wird nichts nützen, ist keiner oben drüber und bestimmt keiner unten drunter. Ja, doch, ich sah sie mir an, während ich hinter ihr durch das Kellergeschoss des Krankenhauses trottete, und fragte mich, wie alt sie wohl war. Kann es denn sein, dass dieses Täubchen schon Ärztin und Chirurgin ist? Diese schwarzen Locken, das blasse Gesichtchen, so niedlich, so zerbrechlich. Sieh nur, wie sie geht, fast springt, wie ein kleines Mädchen, das Gummitwist spielt. Komm hier rein, sagte sie zu mir... Zack ... Platte auf die Brust. Warte hier und ... Zack! EKG. Ich dahinter, kurzatmig, wie ich mir die Schlagzeilen vorstellte: FÜR NIERENTRANSPLANTATION VORGESEHENER CHIRURGIN
IM
PATIENT KELLER
ORGANSPENDEN GESTOPPT
FÄLLT DER
ÜBER
POLIKLINIK
JUNGE HER
-
Dann irgendwann dreht sie sich um und lächelt mich an. Aber ganz sanft. »Du musst ein bisschen Geduld haben«, sagt sie. »Du wirst sehen, dass alles gut wird. Wir sind tüchtig hier, wir verstehen unser Geschäft.« Ich beschloss, sie nicht zu vergewaltigen, sondern zu heiraten. Ich stellte mir die Schlagzeilen vor: NIERENTRANSPLANTATIONSPATIENT HEIRATET ÄRZTIN DIE IHM DAS LEBEN GERETTET HAT - BOOM BEI DEN ORGANSPENDEN.
Ich hing an der Maschine. Die Poliklinik hatte dem Dialysezentrum mitgeteilt, dass ich für eine Transplantation in Frage kam. Für das Gelingen der Operation war es förderlich, dass mein Blut wenigstens zum Teil gewaschen würde, deshalb musste ich, nachdem ich nachts in der Poliklinik gewesen war, wieder zurück in mein altes Bett. Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass man einen Typ, bei dem man eine Transplantation machen will, wie einen Mozzarellavertreter von einem Ende der Stadt zum anderen schickt, aber egal, ich fuhr in den dämmernden Morgen hinein und dachte: Wetten, das ist das letzte Mal, dass sie dir diese Scheißnadeln in den Arm stecken? Im Bett neben meinem lag eine Neue. Eine sehr sehr junge Frau, strahlend blaue Augen, hellbraunes, fast blondes Haar, glatt und lang. Ein so schönes Mädchen in einem Krankenhausbett zu sehen, hat auf mich immer eine seltsame Wirkung gehabt, ich spüre es im Magen. Man
denkt einfach, dass gewisse Dinge nicht zur Schönheit passen, gerade so, als wäre die Schönheit, wie die Jugend, immun gegen bestimmte Schrecken, und trotz allem, was ich zu sehen bekommen habe, hat es immer noch die gleiche Wirkung auf mich, wie ein arglistiger, hinterrücks versetzter Schlag, den man nicht erwartet. Sie war achtzehn Jahre alt, die Prinzessin. Es war die erste Dialyse in ihrem Leben. Ihre Mutter war dabei, sie versuchte so zu tun, als sei alles unter Kontrolle und das Ganze gar nicht so schlimm. Sie, die Schöne, sah immer noch auf die Nadeln in unseren Armen, dann auf die, welche sich wie gierige Zähne in ihren weißen, schlanken, glatten Arm schlugen, Bastarde, die den Luxus genossen, einen so zarten Körper wie diesen gefunden zu haben. Ich stellte mir einen lauen Sommerabend mit Mondschein vor; sie in einem langen Kleid, wie sie in den Armen ihres Kavaliers tanzt, andere Paare um sie herum, das Haar hochgesteckt, ihr Hals schlank, eine feine Perlenschnur, die Hände mit den schmalen Fingern anmutig auf seine Schultern gelegt. Ihre Arme schneeweiß. Irgendeine der Damen würde zwischen den Tänzen leise ihren Begleiter fragen, was das für lange Narben auf dem Arm dieser schönen Prinzessin mit dem blassen Gesicht und dem traurigen Blick seien ... Wer dich wirklich gern hat, liebt auch deine Narben, die Beulen und so weiter, aber für dich selbst... für dich selbst ist alles schwieriger. Ich versuchte ihr zu helfen. Erzählte ihr, dass es nicht gesagt sei, dass alle diese Beulen bekämen, dort, wo sie dir einen Tag um den anderen die Nadeln reinstecken, dass nicht alle auch den Rest des Tages im Bett ver
bringen müssten, zu müde, um sprechen zu können, dass alle irgendein Problem im Leben hätten, und sie habe nun einmal dieses, aber dass es noch sehr viel schlimmeres Unglück gebe und dass ja immerhin die Möglichkeit der Transplantation bestehe, die heutzutage ein Standardeingriff sei, dass die Zahl der Spender zunehme, dass sie nicht lange warten müsse, dass junge Leute bevorzugt würden, also kurz gesagt, ich versuchte zu dosieren: ein bisschen dummes Zeug und ein paar Wahrheiten, um dadurch die bittere Pille zu versüßen - du weißt, wie es ist. Es war noch eine andere Frau da, neben uns. Ich kannte sie gut. Sie war ein bisschen neben der Spur, man musste Acht geben, dass sie nicht ihr Bett und alles Übrige in Brand setzte. Sie hatte schon ein paarmal heimlich geraucht, und so war es eines Vormittags passiert, dass sie, ohne dass es jemand bemerkte, mit der brennenden Zigarette unter der Bettdecke eingeschlafen war ... und da hatte nicht viel gefehlt. Sie hatte eine Tochter, die den ausdrücklichen Auftrag hatte, die Mutter zu durchsuchen, damit sie keine Zigaretten, Feuerzeuge oder was Ähnliches bei sich trug oder einen anderen entflammbaren Stoff irgendwo versteckte. Die Tochter war ein Fettklößchen und auch ein bisschen neben der Spur, fand ich. Das Fettklößchen kommt also rein und sieht die Prinzessin. Und die Prinzessin sieht sie. Und ich weiß, was sie sieht. »Wie alt bist du?«, fragt das Fettklößchen. »Achtzehn«, antwortet die Prinzessin mit einem Stimmchen, das man kaum hört. »Ich auch!«, sagt die andere.
Und dann fügt sie hinzu: »Mammamia, wenn mir das passieren würde, würde ich mich erschießen!« Auch ich hatte mich geschämt. Auch ich war wütend geworden, weil es mich getroffen hatte und nicht all die anderen, denen ich begegnete. Die sollten es kriegen - dachte ich, ich will sehen, ob sie nicht auch an diesem bisschen Leben, das ihnen geblieben ist, kleben wie Fliegen an der Scheiße. Denn wenn sie dir nur ein Stück Metall in den Körper schieben, wenn es nur ein Fuß, ein Bein, die Augen, die Nieren sind, die dir fehlen, brauchst du zehn Sekunden, um dir klar zu machen, dass du trotzdem überleben kannst. Aber ich sagte nichts von alldem, ich half ihr nicht, der Prinzessin. Sie sah mich an ... Und hielt stolz eine kleine Träne zurück, die sie nur mir zeigte. Tapfer, Kleine! Hab keine Angst, es ist nur der erste Schultag und das erste Arschloch, das du getroffen hast. Schaff dir schnell ein dickes Fell an ... Versprich mir nur, Mädchen, dass du dich nicht fertig machen lässt. Wir sahen zu, wie Fettklößchen abzog, um sich um ihren eigenen Scheiß zu kümmern, sie lebendig, und wir auch noch - und wie! - wir, die wir uns nicht erschossen hatten. Ich hing an der Maschine und dachte, dass es das letzte Mal war. Mir war nicht danach, es herauszuposaunen, dass sie mich angerufen hatten. Ich sah sie mir an: diejenigen, die man vor mir gerufen hatte und die jetzt wieder zurück waren, diejenigen, die man noch nicht gerufen hatte und die schon länger als ich warteten, diejenigen, die man niemals rufen würde, und das Mädchen, das an diesem Tag
zum ersten Mal hier war, und ich fühlte mich wie ein Dieb. Ich habe immer gedacht, dass Unglück eine Schuld und Glück eine Schande ist - man hat schlechte Gedanken, auch kurz vorm Sterben, und vielleicht sogar danach, obwohl Glück zu haben wunderschön sein muss: endlose Ferien, während über den Bildschirm die aufregenden Bilder des Unglücks der anderen flimmern-, und er hatte gut reden, der Doktor, dass ich diese Niere, die man aus irgendwelchen toten Eingeweiden rausgenommen hatte und die jetzt im Eis darauf wartete, in meine hoffnungsvollen lebendigen Eingeweide zu gelangen, ja nicht geklaut hätte. Ich hatte Glück, und meine Leidensgenossen nicht, und dafür schämte ich mich. Dann kam Maurizietto, um meinen Arm zu versorgen. Er gab mir einen kameradschaftlichen Klaps. »Wird schon schief gehen«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich erwiderte den Klaps. Wir warteten auf das Urteil, dort in diesem Zimmer am Eingang der Abteilung. Vier hatten sie in jener Nacht angerufen. So machen sie das. Das ist, weil manchmal im letzten Moment einer abspringt - Muffe oder was, es heißt, das passiert - und in dem Fall muss das wertvolle Stück nicht weggeworfen werden. Richtig so. Wir sprachen nicht untereinander, doch wir musterten uns unauffällig gegenseitig: einer um die fünfundvierzig, ein anderer, der mit dem Handy am Ohr auf und ab ging, eine Frau, und dann ich. Ich sah ihnen ins Gesicht. Sah ihre Arme an. Erkannte sie sofort: Wir hatten unsere unverwechselbaren Tätowierungen - Krieger des gleichen
Stamms -, gleiche Narben, gleiche Schlachten, gleicher Ausdruck in den Augen. Aber ich war der Jüngste. Der mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Ich war sogar ziemlich sicher, dass sie mich aussuchen würden: Ich war jünger, kräftiger, weniger erschöpft durch die Dialyse, weil ich erst ein Jahr dran hing, das wusste ich, und das wussten sie. Doch wir warteten. Alle vier. Verdammt lange! Wenn ich überlegte, wie dringend sie es am Telefon gemacht hatten, kapierte ich nicht, wie es später als zwei Uhr nachmittags werden konnte und sie immer noch nicht entschieden hatten, wem sie die verdammten Nieren gaben. Ich begann herumzulaufen und den Blick ein wenig schweifen zu lassen. Eins musste man sagen: Von den Ärztinnen, die in dieser Abteilung unterwegs waren, war eine hübscher als die andere. Die Krankenschwestern nicht ganz so. Vielleicht waren die Auswahlkriterien andere. Dann kam ein Doktor. Er kam und sagte uns, dass Handy-am-Ohr und ich ausgesucht worden seien. Die anderen beiden kehrten nach Hause zurück, zu den Krämpfen, dem unstillbaren Durst, den Nadeln, den dreimal vier Stunden pro Woche. Der Doktor sagte uns, dass zwei Prozent unterm Messer blieben, ungefähr fünfundsiebzig Prozent ein Jahr lang überlebten und fünfzig Prozent der transplantierten Nieren noch nach zehn Jahren funktionierten. Wenn wir diese Statistiken akzeptierten, sollten wir das Blatt unterschreiben. Ich hätte auch unterschrieben, wenn die Statistiken schlechter gewesen wären. Handy unterschrieb ebenfalls. Ich hatte keine Angst vor der Operation - als ich an der Dialyse gewesen war, hatte ich mich informiert, hatte im
Zentrum sogar ein paar Bücher gelesen -, das Verfahren war nicht schwierig: Deine kaputten Nieren ließen sie ausgetrocknet da hängen, wo sie waren, rührten sie nicht mal an - ich hatte immer gedacht, sie würden ausgetauscht -, und die neuen setzten sie dir davor in den Unterbauch ein und verbanden sie mit einer Arterie, einer Vene und der Blase: Eine Arbeit von drei, dreieinhalb Stunden, nicht mehr... Na ja, aber dass die Ärzte und Ärztinnen so jung waren, machte mir doch ein bisschen Sorge. Schließlich waren es meine Eingeweide, in denen sie herumwühlen würden! Vielleicht hätte mich einer mit weißem Haar eher beruhigt. Ich sah Gummitwist wieder, doch GottseiDank sollte nicht sie mich operieren, sondern ein gut aussehender, athletischer und gewandter Arzt, um die Vierzig, kaum älter. Er kam nach oben, um einen Blick auf mich zu werfen, bevor es hinunter in den Operationssaal ging. Ich war immer noch vollkommen angezogen - ich hatte mir nichts von zu Hause mitgebracht: Schlafanzug, Pantoffeln, Handtuch, all diese Sachen. Er fragte mich, ob ich richtig verstanden hätte, was sie tun würden. Das ist mein Problem: Ich sehe nie besorgt genug aus. »Den Blinddarm rausnehmen«, sagte ich. Sie gaben mir eine Rasierklinge und Rasierschaum. Ich enthaarte mich vom Nabel abwärts bis zur Mitte der Oberschenkel, so gut es ging, wie sie mir gesagt hatten, duschte, trocknete mich mit Toilettenpapier ab, sie liehen mir eins von diesen grünen Hemden, die sie selber auch trugen, und ich wurde in Paolina-Bonaparte-Pose auf der Liege
nach unten gebracht, während draußen die Sonne hinter dem Gebäude der Nationalbibliothek Heia machte. Der Operationssaal war im Kellergeschoss, und er war hässlich. Altes Zeug, und an den Wänden hellgrüne Kacheln. Außerdem war es kalt. Für eine Transplantation hatte ich etwas Moderneres erwartet. Nicht gerade so eine Atombasis wie in amerikanischen Filmen, aber auch kein Zimmerchen mit den gleichen Kacheln wie in der Küche meiner Großmutter! All das trug nicht gerade dazu bei, dieses eigenartige Gefühl der Unsicherheit, das sich immer mehr in mir breit machte, zu besänftigen. Ich musste das Hemd ausziehen und mich splitternackt auf einen verdammt engen Tisch legen; über mir eine verdammt große Lampe mit einem Dutzend gelber Augen. »Nicht die Beine übereinander schlagen, wir sind hier nämlich abergläubisch«, sagt eine der hübschen blonden Ärztinnen zu mir - übrigens hatte ich genau dieses Laster. Ich spreizte die Beine und machte im Geiste eine beschwörerische Geste. Man schämt sich auch kurz vorm Sterben. Wer weiß, ob auch nachher noch. »Mir ist kalt«, sagte ich. Ziemlich unelegant platzierte die Ärztin ein dickes Rohr zwischen meinen Schenkeln, und augenblicklich hüllte mich ein angenehm warmer Luftstrom ein. Dann kam eine andere. Schau an, schau an... Blond, blaue Augen, die auch! Ich hatte keinen Zweifel mehr: Das hatte System. Der Chirurg war ein Perversling, die kleinen Ärztinnen in Wirklichkeit Callgirls, und es würde irre abgehen, wenn ich erst ausgestreckt und wehrlos auf dem Operationstisch lag.
»Ich bin die Anästhesistin«, sagte sie. »Ich lege dir jetzt eine Kanüle. Das tut einen Moment weh, und dann schläfst du ein.« Und wenn ich nie mehr aufwache? dachte ich. Ich sah mich um, doch da war nichts richtig Schönes, was ich mit mir ins Ungewisse nehmen konnte. Nur die Anästhesistin und diese andere, aber wer weiß, ob das erlaubt war, dort, wo ich nachher enden würde ... »Zähl bis zehn«, sagte die Anästhesistin, »jetzt schläfst du ein.« In deinen Armen, Schatz. Wenn ich gezählt hätte, wäre ich glaub ich nicht mal bis fünf gekommen. Aber ich zählte gar nicht. Trotzdem glitt ich in etwas Weiches, etwas Weiches und Schwarzes ... Die albernen Witze könnt ihr euch sparen! »Ach ja ...« murmelte ich, einen Augenblick, bevor ich sanft den Kontakt zur Welt verlor. Wie schön!
7
Das Erste, woran ich mich erinnere, ist die warme Hand meines Vaters, die sich um meine schließt. Er ist von der Statur her sehr viel kleiner, und so sind auch seine Hände kleiner, und doch empfand ich meine Hand in seiner als winzig. Vor allem aber war sie warm, sie glühte fast. Ich drückte seine Hand, und er drückte meine. Ich glaube, darin lag alles, wozu mein Vater nie den Mut gehabt hatte, mir zu sagen und wozu er den Mut auch nie wieder haben würde. Es war dunkel, erinnere ich mich, und man sah nichts - es war wohl schon Nacht, als sie mich wieder runtergebracht hatten. Der ganze Körper vom Nabel abwärts war zugeschnürt. Gulliver gefangen am Strand von Lilliput, gefesselt mit Schläuchen und irgendwelchem Ballast. Wenn ich es wagte, mich zu bewegen, begann die Wunde, oder was auch immer unter dem dicken Verband war, der meinen ganzen Bauch bedeckte, scharfe Pfeile heftigen Schmerzes abzuschießen. Sie hatten mir zwei Kanülen gelegt: In den rech ten Unterarm, fast in Höhe des Ellbogens, und eine Zweite im Jugulum, also vorne am Hals. Beide kamen aus einem dicken Packen Mull heraus und hatten am Ende jeweils
einen kleinen Hahn. Sie dienten dazu, mir alle Arzneien gegen die Abstoßung und die Veneninfusionen zu verabreichen. Literweise Zeug, das sich, wenn alles gut lief, in Urin verwandeln und die Beutel füllen sollte, die über Schläuche aus dem Bauch und dem Pimmel mit dem Körper verbunden waren und schlapp an den Seiten vom Bett hingen. Die ganze Nacht über war ein Kommen und Gehen von Schwestern, die diese Beutel leerten. Das Prinzip war, dass so und so viel Wasser in den Körper gepumpt wurde und so und so viel dann auch wieder herauskommen musste, deshalb notierten sie auf einem Blatt, wie viel Flüssigkeit ich bekam und wie viel Pipi dann in den Beuteln war. In der ersten Nacht machte ich elf Liter. Die Krankenschwestern wechselten sich pausenlos ab, notierten die Werte auf dem Blatt, maßen dann den Blutdruck, nahmen die Temperatur und verabreichten mir über die Hähne weiteres Wasser und weitere Arzneien. Die Wunde tat mir höllisch weh. Ich hörte Handy hinten im Zimmer jammern. Er war vor mir aus dem OP gekommen, und als sie mich runtertrugen, war er schon ein schreiendes Bündel die Narkose hatte uns ganz schön wegtreten lassen, aber offensichtlich nicht genug. Mein Vater war gegangen. Ihr müsst wissen, dass es einigermaßen peinlich war, dass diese jungen Damen, egal ob schön oder hässlich - klar, bei den hübschen war es schlimmer -, einen abtasteten, die Beutel mit Blut und Pisse leerten, einen, wo man von der Taille an nackt war, hin und her drehten wie ein
Neugeborenes und den Hintern abwischten, weil man auch das nicht allein machen konnte. Ein Mann hat seine Würde, auch wenn er kurz vorm Sterben ist. Und vielleicht sogar danach. Hoffe ich. Und ich sah mich in diesem kläglichen Zustand: unter dem enormen Verband ein Bauch, so angeschwollen, dass man hätte meinen können, ich sei im sechsten Monat schwanger, dann die Schläuche der Dränage, ein Schlauch, der aus der Blase kam, und schließlich noch ein dickerer, der im Pimmel steckte. Allmächtiger Gott, so was hatte ich noch nie gesehen! Ich schaute ihn mir an: eine Wachtel am Spieß. Vollkommen schwarz... Und die Eier! Himmel, sie waren so geschwollen, dass ich die Beine nicht zusammenkriegte! Aber beim Kollegen im anderen Bett sahen sie genauso aus ... Alles unter Kontrolle. Peppino - so hieß Handy in Wirklichkeit - und ich tauschten unsere Einschätzung der Lage aus. Es war alles neu für uns, und wir sammelten Informationen, sobald sich jemand näherte. »Was ist das?« »Der Katheter.« »Und wozu ist der da?« »Da machst du Pipi rein, Schatz.« »Ich kann, mich nicht bewegen.« »Warum, hast du irgendwas vor?« »Und das?« »Die Dränage.« »Und das da?« »Auch.« »Aber die ist voller Blut!«
»Sei froh.« »Verdammt, mir tut alles weh.« »Nicht dran denken, Schatz.« »Sag mal, wie heißt du denn?« »Fatima.« »Verdammt, wie die Madonna!« »Nein, wie meine Großmutter, Schatz.« »Ah, Fatima, kannst du mir das Kopfende ein bisschen tiefer machen?« »Okay, aber dann schläfst du, Schatz!« »Fatima ... « »Ja?« »Und das da?« »Was?« »Das da an der Wand.« »?... Ah! Eine tote Mücke.« »Kann man die nicht wegmachen?« »Sag das morgen den Pflegern.« »Fatima ... « »Jaaa?« »Nichts.« Peppino und ich bemerkten, dass das Bett in der Mitte leer war, sie es aber fix und fertig vorbereitet hatten. Und tatsächlich bringen sie irgendwann noch einen Typ rein. Die Leber. Ein Toter hat ja eine Menge zu bieten: Herz, Leber, Nieren, Lunge, Hornhaut... Wir waren die Nieren - eine reicht, damit man weiter lebt -, die Lunge war
wahrscheinlich schon in einem anderen Zimmer, und das Herz, wer weiß, wo es in diesem Moment war. Wenn man es bedachte, hatten wir einen ganz schönen Teil. Wir waren Brüder. In einem gewissen Sinn. Die Leber machen sie vor den Nieren und die Lunge vor der Leber - die Lunge ist das empfindlichste: die wird gleich schlecht -, wenn alles gut ging, mussten sie ein paar Tage auf der Intensivstation verbringen, denn es waren kompliziertere Eingriffe. Also kommt in der nächsten Nacht dieser Riesenkerl. Hundert Kilo brachte der auf die Waage, ein Meter neunzig lang, eine Geschwätzigkeit, dass sie ihn weggejagt hatten, bevor sie es nicht mehr aushielten, und Fidel Castro wie aus dem Gesicht geschnitten: Bart, große Nase und alles. In einer Nacht, zwischen einem Gejammer und dem Nächsten - es gab keine Möglichkeit, ihn ruhig zu bekommen -, erzählte er uns, wie man Brötchen backt, Stangenbrot und Ciabatta, er ist nämlich Bäcker in der siebten Generation, und er kennt sie alle, die Kniffe seines Handwerks. Er ließ uns auch schwören, dass wir am Jahrestag der Operation eine Messe zum Gedenken an die gute Seele lesen lassen würden, die unseren Arsch gerettet hatte, und er würde uns dann alle mit in den Pirata nehmen, wo man Pasta mit Muscheln isst, einem Berg Muscheln, und erstklassigen Fisch, so frisch, dass man ihn, wenn man nicht gut kaut, gleich wieder auskackt und er durch den Abfluss vom Klo lebendig ins Meer zurückkehrt. Vielleicht ein Abend mit ihm und Farini, dachte ich... Seht euch dieses Triptychon an: Nieren an der Seite und Leber in der Mitte, Flügel und Spitze in Kampfformation, aber echt!
Ich wusste, dass sie schöne Augen hat, doch als sie hereinkam und ich über dem Mundschutz, den ihr die Krankenschwestern am Eingang gegeben hatten, nur diese Augen sah, fiel mir auf, wie schön sie wirklich sind. Ich bewegte mich die ganze Zeit nicht, gab nur darauf Acht, dass die Laken an den Seiten ordentlich über das Bett fielen, damit die Beutel mit ihrem ekligen Inhalt nicht zu sehen wären. Ich versuchte mich mit den Fingern so gut es ging zu kämmen und so zu wirken, als fühlte ich mich mit meinen Infusionen in den Armen und im Hals vollkommen wohl. Ich strengte mich an, einen normalen Tonfall hinzubekommen, doch seit dem Morgen war ich so heiser wie einer, der bei einem Konzert von U2 gewesen ist, und jetzt kam nur ein schwaches Krächzen heraus, als wäre ich eine sterbende Krähe. »Wie geht es dir?« »Mir geht es gut«, krächzte ich. »Dein Vater ist auch draußen, willst du zuerst mit ihm sprechen?« »Nachher«, machte ich ihr mit einem Zeichen klar, und dass sie sich neben mich setzen sollte. »Ich musste mir das Ding hier aufsetzen«, sagte sie. »Ich weiß, tut mir Leid.« Ich betrachtete ihre Augen, ihre Haare, ihre Ohren, ihre schmale Taille, ihre Hüften, die Form ihrer Beine unter dem langen Rock, ihre Schuhe, ihre Ohrringe, ihre Uhr, ihre Ringe. Mit einem verstohlenen Blick kontrollierte ich, ob die Beutel gut versteckt waren. »Hör auf damit«, sagte sie tadelnd zu mir. Sie lächelte mit den Augen, und ihre Augen strahlten
wahnsinnig und waren wahnsinnig grün. Und ich lag da wie ein für ein wissenschaftliches Experiment gekreuzigter Frosch, ohne Stimme, ohne Frieden, ohne Sicherheit. Und sie so wunderschön, frei, jeden Augenblick wegzugehen und irgendwo ein neues Leben anzufangen, wo man von welchen wie mir nur mal irgendwo nebenbei in den Nachrichten oder in einer Gesundheitssendung nach Mitternacht hört. Was hatte ich denn einer solchen Frau zu bieten? Was für ein Recht hatte ich denn noch, das zu verlangen, was gesunden und kräftigen Männern zusteht... Ich streckte meine Hand nach ihrer aus. »Dürfen wir das?« »Gib sie mir«, sagte ich. »Du machst einen guten Eindruck, Ro'. Du siehst gut aus...« Ich fing an zu lachen. »Wirklich! Ich habe nicht erwartet, dass du so aussiehst.« »Wie geht es zu Hause, bei der Arbeit?«, fragte ich. »Wie immer.« Wer weiß, wann wir uns wieder lieben können, dachte ich, wann ich sie küssen, lecken, mich ihr nackt zeigen könnte, ohne mich für meinen aufgeblähten und zusammengeflickten Bauch zu schämen. »Gott, was bist du schön.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte erneut mit den Augen. Wie gern ich ihr sagte, dass sie schön war! Ein sanftes Streicheln über ihren ganzen Körper. Wenn du fühlen könntest, was ich fühle, sagte ich immer zu ihr ... Nein! Ich konnte sie nicht halten, es war nicht richtig, solche wie ich sollten sich in einem Loch verkriechen und es den starken
Männern überlassen, die Spezies fortzusetzen. Was hatte ich noch mit dem normalen Wechsel der Jahreszeiten zu tun, mit der Sexualität, der Erde, den Flüssen und den Seen ... Ich war Objekt medizinischer Fachzeitschriften, Objekt regelmäßiger Blutuntersuchungen, Objekt für Ärzte und Krankenhäuser - das gehörte zu meiner Zukunft, egal, welche Zukunft ich hätte. »Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht«, sagte sie und sprang fröhlich vom Bett auf. Sie hob eine dicke Tasche hoch und öffnete sie. »Ein großes Handtuch ... Eins fürs Bidet ... Zahnbürste und Zahnpasta ... Föhn ... Versprich mir, dass du vorsichtig bist, wenn du ihn benutzt, und dass kein Wasser reinkommt ... Feuchtigkeitscreme ... Shampoo ... Ich hab dir das mit Kräutern mitgebracht, das ist milder ... Taschentücher ... Ein neuer Schlafanzug ... Ich hoffe, er gefällt dir, es gab nur noch den in deiner Größe...« »Weißt du, dass wir uns eine ganze Weile nicht lieben können?«, fragte ich sie. Sie sah mich an. »Ich kann dich nicht mal küssen.« »Wie lang?«, fragte sie mich. »Nicht küssen zwei Monate, der Rest fünf.« Sie streichelte meine Hand. »Ich liebe dich, Ro'.« Ihr Blick war tief und grün. Barbara sagte fast nie »ich liebe dich« zu mir, jedenfalls nie als Erste. Ich genoss diesen Moment und sagte nichts.
»Dann noch einen Kuli. Einen Bleistift.. Sieh mal, wie hübsch der ist... Farben ... Und einen Zeichenblock ... Einen großen und... einen kleinen!« Wir fingen an zu lachen, und ich beschloss, dass ich diese Frau festhalten würde, mit oder ohne Nieren, mit den Ärzten, dem Bauch und dem ganzen Rest. Ob sie zu einem anderen gehörte oder nicht, war mir egal, ich hätte sie ihm geraubt. Aber das hatte ich ja eigentlich schon getan. Endlich konnte ich ein bisschen Luft schnappen. Giovanni war gekommen, ganz cool, am frühen Morgen, hatte mir eine Decke übergeworfen, mich mit Beuteln, Kathetern und dem ganzen hydraulischen Apparat in einen Rollstuhl verfrachtet, und dann ging's mit Karacho runter ins schon bekannte Kellergeschoss. »Giov', wo zum Teufel fahren wir denn hin?« »Shunt!« »Noch einer???« »Nein, das heißt nur gleich, hat aber nichts damit zu tun.« Ich stieß um ein Haar mit einer Trage zusammen, die auf der Gegenseite auftauchte. »Es geht um Kontrollaufnahmen.« »Von der Niere?« »Nein. Vom Ko-opf!« Er griff flugs ein paar Äpfel von einem Lebensmittelwägelchen, das unvorsichtigerweise an einer Kreuzung stand. »Was hat der Doktor gesagt, darfst du Apfel essen?« »Ja.« »Dann nimm!«
Ich erwischte ihn wenige Zentimeter hinter dem Rücken einer Ärztin, die rechts vor uns ging. »Die Ärzte verstehen ja sowieso einen ... Tach, Frau Doktor, wie geht's uns denn?« Die Ärztin lächelte höflich. Meine Decke flatterte lustig vor ihrem Gesicht. »Giova', müssen wir unbedingt so rasen?« »Ja-wie? Ich muss noch andere zum Röntgen schaffen und wieder holen, und dann auch noch das Mittagessen servieren.« »Klar, aber du hast doch auch Kollegen, die das machen können, oder?« »Krank, schwanger und ... Urlaub!«, schrie er. Wir wären fast nach links umgekippt. Wir rasten durch die gleichen Gänge, die ich bei meiner Ankunft mit Gummitwist hinter mich gebracht hatte, nur dass jetzt Tag war und ein Verkehr wie auf der Umgehungsstraße um acht Uhr morgens. Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern, Kranke, Wägelchen, Bahren, Bandagen, Krücken, Gestelle, Gehapparate, Rollstühle ... Das Ganze auf Kollisionskurs. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir unterwegs waren, aber wir waren jedenfalls schnell wie der Blitz. Es begann mir Spaß zu machen. »Giova', wo zum Teufel müssen wir denn hin?« »Vertrau mir, Mann, wir sind gleich da.« »Giov', aber ich glaube, das Ding knackt.« »Was?« »Der Rollstuhl, verdammt!« »Keine Angst, ich hab ihn vorher ausprobiert.«
»Ah...« »Ich hab schon eine Frau runtergebracht. Da hat ein Rad blockiert. Das rechts vorne, das blockiert immer.« »Ah...« »Immer bei der ersten Fahrt am Morgen, aber dann nicht mehr.« »Und die Frau?« »Im Flug genommen.«
0 Jesses... Wir stoppten vor einer Glastür, in der das Glas fehlte. »Da wären wir. Der Herr ist bedient. Wenn du fertig bist, sag ihnen, sie sollen oben auf der Station anrufen, dann hole ich dich wieder.« »Giova'... « »Ja?« »Bist du Pfleger?« »Ja! « »In meinem Zimmer, über meinem Bett, da ist eine zerquetschte Mücke an der Wand, könnte man die wegmachen?« »Sag das den Krankenschwestern, wenn du zurück bist...« Oberstes Ziel in den ersten achtundvierzig Stunden war es, neben dem pausenlosen Füllen der Pissebeutel, zu furzen. Der erste Pups wurde von den Anwesenden mit Jubelschreien begrüßt - die Därme begannen zu erwachen. An diesem Punkt setzten wir uns ein höheres Ziel: kacken. Damit hatte ich keine großen Probleme. Nach wenigen Tagen und ohne irgendwelche Mittel lief es bei mir wieder mehr
oder weniger regelmäßig. Aufstehen und sich aufs Klo schleppen war allerdings eine Aktion. Die Alternative war, in die Pfanne zu machen. Besser heldenhaft sterben bei dem Versuch, wie ein Christenmensch zu scheißen, als vor Schande, dachte ich. Die Angelegenheit erforderte eine gewisse Organisation. Wenn ich entschieden hatte, auf welcher Seite ich aus dem Bett wollte, packte ich Beutel und Dränagen und versuchte, die Schläuche nicht durcheinander zu bringen, hängte sie über den Stuhl neben dem Bett, setzte mich auf, zog dann, langsam, ein Bein raus, danach das andere, rückte an meinem Hodensack herum - mittlerweile so groß wie ein Büffelmozzarella-, damit ich ihn mir nicht unter dem Hintern einklemmte - wegen der Katheter musste man vorsichtig manövrieren -, hängte dann die Beutel mit Metallhaken, die dazu dienten, sie am Bett festzuhalten, an die Taschen des Bademantels, nahm danach die Dränagen in eine Hand, den Ständer mit dem großen Infusionsbeutel in die andere, und indem ich ihn als eine Art Stock benutzte, schleppte ich mich bis zum Klo. Neben das Klosett hatten wir einen Stuhl gestellt, der den gleichen Sinn hatte wie der neben dem Bett. Es war eine Aktion, die auch mal gute zwanzig Minuten dauern konnte, nur für hin und zurück, von der Darmentleerung abgesehen, deren Dauer ziemlich schlecht vorhersehbar war. Wenn ich wieder im Bett lag, müde, aber glücklich, zwinkerte mir die zerquetschte Mücke von der Wand zu. Ich hatte noch das schrottige Handy von Farini. Am Abend schloss ich mich ins Klo ein und rief Barbara an. Die Verständigung war einigermaßen abenteuerlich, gestört durch
Zischen, Knacken und Unterbrechungen - echt Scheiße, Toni' -, doch auch wenn die Sätze nur halb zu hören waren, waren sie nicht schwer zu verstehen. Wir sagten uns immer das gleiche, und auch, was wir uns nicht sagten, war immer das gleiche. Ich sagte ihr immer wieder: Ich liebe dich; und sie antwortete immer: Ich dich auch. Du fehlst mir. Du mir auch. Ich brauche dich. Ich komme Montag. Manchmal war sie süß, manchmal tat sie mir auch weh, doch sie war da. Das Draußen war diese Frau, die alles ein bisschen erträglicher machte. Sie war meine Belohnung, wenn ich mich gut benehmen und, ohne dass es Komplikationen gab, aus dem Krankenhaus kommen würde. Nach den Schläuchen, den Pissebeuteln, dem Katheter, nach den ganzen Schmerzen waren da ihr Körper, ihr Mund, ihre grünen Augen. Im Mai kann ich sie wieder küssen, rechnete ich, im Juli, spätestens August, können wir uns wieder lieben. Und eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft, werden wir zusammen leben. Denn wenn sie da war und auf mich wartete, hieß das, dass ich noch lebte, wenn sie bereit war, erneut mit mir zusammen zu sein, hieß das, dass ich noch ein Leben wie jeder andere haben konnte. Doch ich musste das alles hinter mir lassen. Das Krankenhaus und die Krankheit. Alles hinter mir lassen! Ein Witz! War ich nun der Kräftigste im Dialysezentrum gewesen, oder nicht? Schließlich hatten sie doch mich ausgesucht, oder?! Fidel und Peppino dösten. Ich hörte, wie sie hin und wieder stöhnten. Eine Klingel ging mitten in der Nacht, und ich hörte die Krankenschwestern in ihren Holzschuhen
hin- und herlaufen, um Bettpfannen zu leeren, Katheter zu entwirren, Zäpfchen zu verabreichen, Kopfenden hoch zu stellen, Kissen zu richten. Es war keine leichte Arbeit, manche machten sie gut, bei anderen sah man, dass sie nicht mehr konnten. Es war für alle hart. Wenn es einen Spender gab, blieb die OP-Mannschaft auch schon mal vierundzwanzig Stunden am Stück im Operationssaal. Manchmal fragte ich mich, wie sie noch Lust haben konnten, mit jemandem Liebe zu machen. Ich meine, sie wussten ganz genau, was drunter war, innen drin; all dieses weiche Zeug, das nur mühsam zusammenhält und jeden Moment verfaulen kann ... Ich glaube, man muss diese Arbeit wirklich lieben, um sie machen zu können. Auch um mit jemandem Liebe machen zu können. Aber vielleicht ist es nicht nötig, irgendwas zu lieben, weil das Leben sowieso mit dir macht, was es will, ohne dich ausdrücklich nach deiner Meinung zu fragen. Wie viele Dinge hatte ich in meinem Leben angefangen und dabei nur mein bisschen zufälliges und unverdientes Talent ausgebeutet. Und wo es auf etwas anderes ankam, da warf ich alles hin. Das hatte ich immer so gehalten, das war meine Geschichte. Ich hatte nichts aufgebaut. Ich hatte die Niere von einem anderen, die Frau von einem anderen, eine Wohnung, für die ein anderer sich ein ganzes Leben lang abgemüht hatte, damit er sie mir geben konnte, und ich machte Pläne, sie weiter zu benutzen, ohne dafür zu bezahlen. Ich müsste eigentlich einfach so sterben, in diesem Krankenhausbett. Nichts von dem, was ich hatte, stand mir zu. Nichts von dem hatte ich verdient. Und um diesen elenden Körper bemühte man sich weiter so großzügig!
Einer, der mehr wert war als ich, hätte an meiner Stelle gerettet werden können, und stattdessen ... war ich hier und überlegte mir neue Tricks, schlimmer als Farini, zum Schaden derer, die mich nur deshalb liebten, weil ich so geschickt war, sie mit meinen Versprechungen, meinen falschen Talenten, meinem Geschwätz zu täuschen. Ich beugte mich vor, um das Licht über meinem Bett anzuknipsen, riss ein Blatt vom Zeichenblock, nahm den Kuli und begann zu schreiben: Meine Liebste...
Um sieben Uhr morgens war Schichtwechsel. Die Nachtschwestern gingen, und die anderen kamen. Als Erstes wogen sie uns. Ich war mit gerade einmal dreiundsechzig Kilo hergekommen. Jetzt, zweiundsiebzig Stunden nach dem Eingriff, wog ich siebzig. Und das waren nicht nur die Eier, der ganze Körper war aufgeschwemmt, ausgenommen Hände und Hals, sogar die Nase. Ich war in Panik. Sie ließen mich weiter mit Infusionen volllaufen. Zweiundsiebzig Kilo. Langsam wurde mir ernsthaft Angst. Wenn du dieses ganze Gewicht ansammelst, heißt das, dass du nicht genug pinkelst, dachte ich, also: die neue Niere funktioniert nicht, wie sie sollte. Und da zogen Maria und Martella an meinem Bett vorbei, geisterhafte Erscheinungen in schlafloser Nacht. Maria und Martella. Und andere Unglückliche, denen die Illusion eines normalen Lebens geplatzt war wie eine Seifenblase. Bleiche Gesichter, oval, wie die Fotografien von Toten. Schuldige Gesichter. Von Leuten, die Pech gehabt hatten. Dieser ganze Aufwand, der
Schmerz, die Angst, die Schläuche und die Katheter und die Pissebeutel und die wunden Stellen am Hintern, weil man sich nicht bewegen konnte, und so weiter und so fort.... für nichts! Dann dachte ich an Fidel. Wenn das Teil bei ihm nicht funktionierte, würde er geradewegs im jenseits landen. Das ist der große Unterschied zu den anderen Transplantationen: Ohne Nieren krepierst du nicht. Du wirst nur in das beschissene Leben zurückgejagt, das du vorher geführt hast, an den Ausgangspunkt, für den Rest der Tage und der Jahre, die noch kommen, während deine Kräfte nachlassen und die Hoffnung versiegt. Du bist in jedem Fall angeschmiert, nur dass dir in diesem Fall dein ganzes Leben bleibt, um darüber nachzudenken. Wovon mir keiner was erzählt hatte, war das danach. Den Schmerz der Wunde, den hatte ich mir noch vorstellen können, aber niemand hatte mir etwas von der Angst gesagt, in den Büchern kommt sie nicht vor. Über die Angst wusste ich nichts.
8
»Ich habe etwas für dich«, sagte Barbara und gab mir einen Brief mit meinem Namen und in jede Ecke gezeichneten Herzchen. »Ich möchte, dass du ihn liest, wenn ich wieder weg bin.« »Nimm das Ding da ab«, sagte ich. »Das ist doch bescheuert.« »Wenn sie sagen, dass man es tragen soll, kann es so bescheuert nicht sein...« Die Sache mit dem Mundschutz war ein Witz. Es ist so: Einer, bei dem eine Transplantation gemacht worden ist, hat etwas in sich, das ihm nicht gehört, und das will der Körper nicht hinnehmen und versucht deshalb, es zu zerstören. Also verpassen sie ihm einen Haufen Medikamente, die dazu dienen, die Immunabwehr auszutricksen, was bedeutet, dass man anfälliger ist für Infektionen und Bakterien und ähnliches Zeug, und deshalb müssen Verwandte, die zu Besuch kommen, ein steriles Hemd über die Kleider ziehen und einen Mundschutz tragen, damit sie uns nicht mit irgendwas anstecken. Nur dass auf der gesamten Station fünf oder sechs sterile Hemden herumgereicht wurden und die Verwandten sie also
untereinander austauschten und das gleiche Hemd tagelang hintereinander benutzt wurde, ohne sterilisiert zu werden. Was den antibakteriellen Mundschutz anging, musste man sich wirklich fragen, wie sich eine solche Pingeligkeit in Sachen Hygiene zum Beispiel mit der zermatschten Mücke an der Wand über meinem Kopf vertrug, bei der sich nie jemand die Mühe machte, sie von dort zu entfernen. Offensichtlich stand in den Vorschriften des Krankenhauses nichts darüber, was mit zerquetschten Mückenleichen an der Wand zu geschehen hatte. Und außerdem hatte ich sie inzwischen auch lieb gewonnen. Ich las Barbaras Brief nach dem Abendessen. Ich bin im Bett, deshalb entschuldige bitte die Handschrift. Ich hatte gehofft, du würdest mir etwas schreiben, weißt du. In diesen Tagen haben wir so wenig Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen, dass ich wirklich das Bedürfnis hatte, etwas für mich zu haben, das ich mitnehmen konnte. Was für Tage! Mein armer Liebster. Ich habe immer an dich gedacht. Ich hätte gerne alles mit dir geteilt, die Qualen, den Schmerz, die düsteren Gedanken, die Angst, das Gefühl, etwas Fremdes in dir zu haben, deine schwankenden Empfindungen und Stimmungen. Doch dann fällt mir ein, es ist ja nicht gesagt, dass du die gleichen Ängste hattest oder noch hast, die gleichen Gefühle und Empfindungen wie ich. Und dass ich sie leider erst in ein paar Tagen mit dir teilen kann, wenn sie schon schwächer und abgeklungen sind. Das Schlimmste - oder eigentlich alles - hast du
allein erlebt und durchgemacht. Mein süßer Liebster. Du hast in deinem Brief geschrieben, dass du vielleicht zerbrechlicher aus dieser Geschichte herauskommst. Das ist möglich. Jede wichtige Sache hinterlässt eine Spur in unserem Leben. Doch es ist nicht gesagt, dass sie uns zum Schlechteren verändert. Du bist stark, du hast erkannt, dass du Lust zu leben hast, das hast du selbst geschrieben, diese Sache wird dir die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit zurückgeben. Du hast auch geschrieben, dass dir klar geworden ist, dass du echte Freunde hast. Denk nur: Du hast eine Sache getan und zwei dabei entdeckt. Und ich? Von was für einem anderen Helden hast du in deinem Brief gesprochen? Wem wolltest du mich geben? An einen Helden mit zwei einwandfrei funktionierenden Nieren, der vielleicht jeden Freitag Fußball spielt und alle Meisterschaftsspiele anschaut? An einen, der die Jagd liebt, einen leidenschaftlichen Pilzesammler? An einen Segelten oder
Tennisfan,
einen
begeisterten
Standardtänzer,
einen
Insektenforscher, einen politischen Sektierer, einen BerlusconiAnhänger, einen gefügigen Hausmann, einen Computer Junkie? Weißt du, wie viele beknackte Typen auf diesem Planeten unterwegs sind? Und ich will dich. Mit deinen drei Nieren (eine Entdeckung!), mit deiner blöden Verlegenheit, wenn ich dich besuche und du hast neun Kilo zu viel, und das scheint dir das Wichtigste, denn du hast es wenigstens zehnmal gesagt, und wenn du nicht aufhörst, mich wie eine dumme Kuh zu behandeln, bringe ich dich um. Kannst du es bitte sein lassen, dich bei mir so anzustellen? Was Äußerlichkeiten angeht, bist du echt völlig daneben. Siehst du mich denn wirklich so? Ich hoffte, ich hätte dir etwas anderes vermittelt! Du hast tausend Fehler (das sagt man so - du hast neunhundertneunundneunzig). Ha Ha!! Ich sage sie dir dann schon
noch - ich mache Spaß-, wenn ich an dich denke, dann immer nur an deine guten Seiten. Ich schaffe es nicht, mir vorzustellen, dass wir Probleme haben, nicht miteinander sprechen, streiten über... mir fallen keine Gründe ein. Mir fällt ein, dass du lieb bist, sanft, verständnisvoll, sympathisch, du bist ein guter Zuhörer, ein enger und aufrichtiger Freund, ein wunderbarer Liebhaber. Ich denke oft auch daran, wie du mit unseren imaginären Kindern sein würdest. Ich weiß, du wärst ein perfekter Vater. Für mich, versteht sich. Doch ich spreche ja über dich und mich. Und gemessen daran, wie ich bin, und daran, was ich möchte, wie ich mir uns beide zusammen vorstelle, passt alles haargenau zusammen. Ich liebe dich, Rocky. Sieh zu, dass du bald herauskommst. Ich werde dich für das Leben heil machen. Und du mich. Jetzt lösche ich das Licht und stelle mir vor, dass wir uns lieben. Du dringst sanft in mich ein, heute Nacht...
Auch ich löschte das Licht, und ohne Schläuche oder sonst irgendwas, leicht wie ein Schmetterling, während die Wellen des Meeres rauschten und sich der weiche Sand unter uns formte, drang ich sanft in Barbara ein. Am Morgen sah ich mich im Spiegel an. Ich war ekelhaft aufgeschwemmt. Ich versuchte mich zu kämmen, doch der Kamm tat mir am Kopf weh. Meine Haut brannte. Meine Hände zitterten, und der Kamm fiel zu Boden. Ich hob ihn auf, gab Acht, dass ich die Schläuche nicht rauszog. Er fiel mir noch mal hin. Ich ließ ihn liegen. Da waren eine Menge Leute, die kamen, gingen, mich abhörten, abtasteten, Spritzen setzten, etwas leerten, etwas nachfüllten, zu essen brachten, zu trinken brachten,
mich wuschen, mir Obst schälten, mich herrichteten, redeten, telefonierten, liebten, und doch war ich allein. Nur ich, wie ich mich sah, mit meinem nicht wiederzuerkennenden Körper, dem Zittern und dem ganzen Rest. Ich war unfähig, irgendwas zu erklären: wo ich den Schmerz spürte und was für ein Schmerz es war. Alles um mich herum bewegte sich nach Regeln, Prioritäten und Absichten, die ich nicht kannte und die ich nicht verstand. Und die Anstrengung, es zu begreifen, ließ mich erschöpft und betäubt zurück, wie eine Fliege, die in einem Glas gefangen ist. Ich hatte Angst, dessen war ich mir sicher. Angst, dass es nicht funktionierte, wie es sollte, Angst, dass es ganz und gar aufhörte und ich so endete wie Martella und viele andere. Ich sah mich über einem Abgrund, aus dem weiße Schwaden stiegen, über meiner Krankheit schwebend - der Krankheit, nicht dem Tod, der Tod verlockte mich eher, machte mich seltsam schwindeln-, es war die Krankheit, die mir zusah, wie ich schwankte, und höhnisch über meine mühsamen Anstrengungen lachte, ihr nicht wieder in die Fänge zu geraten. Diese Schlampe hatte ihren Spaß daran. Es gefällt mir, dich zittern zu sehen, sagte sie, zu wissen, dass du nicht weißt, was dich erwartet, doch dass du gut weißt, was passiert, wenn dieses lächerliche Seil, an das du dich sogar mit den Fußnägeln klammerst, reißt. Und sie kaute langsam, die ekelhafte Krankheit, sie kaute und grinste, denn sie war sich ihrer Sache sicher. Ich fragte weiter die Ärzte, die Krankenschwestern, die Pfleger, jeden, den ich zu fassen kriegte, nach Erklärungen, doch ich merkte, dass auch sie warteten, was am nächsten Tag, in einer Stunde, in fünf Minuten geschehen würde. Es gab
nichts Sicheres, nichts, das sich vorhersehen ließe, Tag für Tag wertete man die Ergebnisse aus und versuchte sich möglichst gut darauf einzustellen. Zwecklos, sie mit Fragen zu bedrängen. Meine einzige Vergleichsmöglichkeit lag ein Bett von mir entfernt. Ich studierte die Blätter, auf denen die Krankenschwestern notierten, wie viel Peppino pinkelte, wie ein Finanzmagnat die Kurve der Börsendaten, verglich seine Ergebnisse mit meinen und spürte ein kleinliches, heftiges Nagen in meinen Eingeweiden, als mir klar wurde, wie viel weiter vorne er lag. Sie hatten ihm die bessere eingepflanzt. Daran gab es keinen Zweifel! Das war sonnenklar. Wir hatten jeweils eine Niere von demselben Menschen, doch bekanntlich ist ja von den beiden immer eine besser entwickelt als die andere. Ihm hatten sie die bessere gegeben. Klar wie Wasser. Ich noch voll aufgeschwemmt, und er nimmt ab. Sicher, seine funktionierte besser. Beschissen hatten sie mich, diese verdammten Wichser. Ja doch, so lief das.. Klar, klar wie Luft. Klar wie der Tod, Scheiße noch mal ... Sieh dir nur das vermaledeite Blatt an ... Und den Beutel. SIEH DIR DIESEN BEKACKTEN BEUTEL AN ... Den Stand! Sieh dir den Stand in dem Beutel an ... Der ist zu niedrig, siehst du das nicht? Jesses, er ist zu niedrig... Und ich bin noch aufgeschwemmt... Sieh dir, mein Gesicht an, verfluchte Kacke ... Und meine Füße. Sie dir meine Füße an! Ooohhh, warum gehst du nicht raus aus meinem Körper, du gottverdammtes Dreckswasser ... Piss, kleine Niere, um Gottes Willen piss, egal, welchen Gott du vor mir gehabt hast, egal, was du angebetet hast, bevor du in den Körper eines Ungläubigen verpflanzt worden bist, piss, lass uns
das ganze Stockwerk mit Pisse überschwemmen, pump, pump, verflucht noch mal ... was stimmt denn nicht, was ist dir denn da unten begegnet, das dich eingeschüchtert hat ... Lymphozyten, Leukozyten, irgendein beschissenes weißes Blutkörperchen? He! Ihr Bastarde da unten, hört mir mal zu, wo wart ihr denn, als ihr meine Nieren schützen solltet, hä, ihr blöden Fatzkes? Euch gerade einen runterholen? Jetzt kommt's drauf an, dass ihr still haltet, kapiert? Lasst uns in Ruhe arbeiten; diese kleine Niere da ist empfindlich, und sie gehört jetzt zu uns, sie gehört zur Familie, geht das in eure Köpfchen rein, Zellen? Wenn sie draufgeht, sind alle wieder genauso scheiße dran wie vorher. Seid gut zu ihr! Sie ist neu, und sie kennt da unten keinen, aber sie regelt alles, wenn ihr sie machen lasst, sie zieht uns alle raus aus der Scheiße, wenn wir uns gemeinsam anstrengen. Also. Seht ihr? Wir sind noch unter anderthalb Liter ... IHR KLEINEN KOTZBROCKEN! Okay. Okay. Jetzt wird's klappen ... Es klappt, das schwöre ich. Keine Panik, kleine Niere, jetzt lassen sie dich in Frieden, und du gehst so richtig in die vollen, okay? 0 Jesus, der du von den Toten auferstanden bist, Herr des Himmels, ich weiß, dass ich ohne Ende fluche und deine Existenz leugne, aber ich bin getauft, ich bin immerhin ein verlorenes Schaf aus deiner Herde ... He, ich stecke echt in der Scheiße, Herr, weißt du, es ist, weil ... du weißt es, du weißt alles darüber, wie diese Sachen funktionieren, besser als die Ärzte, besser als sonst irgendjemand ... Ich bitte dich. Auch wenn ich keinen Funken Glaube habe ... ich habe nur Hoffnung und Verzweiflung, ich ... aber das ist alles, was ich habe, erlaube mir, dass ich dich trotzdem
bitte, mach, dass es funktioniert, Gott... ich beneide jeden, der mit deinem Namen auf den Lippen einschlafen kann ... ich bin nur ein räudiger Hund unter deinem hell erleuchteten Fenster, sieh mir mein feiges, heuchlerisches, verlogenes, eigennütziges Verhalten nach, wie ich in meinem lächerlichen falschen Stolz gegen alle und gegen dich ankläffe ... aber ich habe auch Gutes getan, ich bin gar nicht so schlecht ... jetzt weiß ich nur, dass ich Angst habe und dass ich an nichts und niemanden glaube, und ich habe auch keine Worte mehr, aber hilf mir trotzdem, Gott ... hilf mir trotzdem ... Ich wurde wach, weil ich keine Luft bekam. Alle Knochen im Gesicht schienen gegen die Haut zu drücken, als wollten sie sie zum Bersten bringen. Ich drehte mich zu Fidel hin. Er starrte mit offenen Augen zur Decke. Dann wandte auch er sich um, und wir sahen uns an. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns wie in einem Spiegel sahen. Ich streckte einen Arm nach hinten aus, bis ich die Klingel über dem Bett erreichte. Nach kurzer Zeit kam die Krankenschwester. »Wer hat geklingelt?« »Ich bekomme keine Luft.« Ich röchelte wirklich. »Ich hole den Doktor. Versuch dich ein bisschen hochzuziehen, damit ich dir das Kissen richten kann.« Sie beugte sich über mich. »Es ist ja gar nicht da ... « Ich zeigte auf das pralle Betttuch über meinem Pimmel. Ich hatte es zwischen meine Beine geschoben, um Abstand zu halten, weil ich derart geschwollene Eier hatte, dass ich
dauernd riskierte, sie mir zu quetschen. Ich bat sie, das Kissen zu lassen, wo es war, und nur das Kopfende vom Bett ein bisschen höher zu stellen. Das gelbe Flurlicht drang durch die offene Tür und brannte mir in den Augen, sie vergaßen immer, es auszumachen. Ich versuchte, mich mit meinen zitternden Händen zu schützen. Ich zitterte, verdammt noch mal! Ich zitterte wie ein elender Wackelpudding. Der Doktor kam, ich sagte ihm ebenfalls, dass ich keine Luft bekam. Er maß den Blutdruck. Ziemlich hoch. Er sagte der Krankenschwester, sie solle mir zwanzig Tropfen von irgendwas geben und Bentelan spritzen. Es sei nur eine Atemkrise, sagte er, eine Nebenwirkung von Cyclosporin, Cortison und all der Scheiße, mit der sie das Immunsystem meines Körpers bombardierten. »Versuchen Sie jetzt zu schlafen.« Ich sah ihn an. Er war jünger als ich. Nach seiner Schicht würde er nach Hause gehen. Er schien nicht verheiratet zu sein. Vielleicht lebte er noch bei seinen Eltern. Leute, die Opfer gebracht hatten und jetzt die Früchte ernteten. Nein, nicht verheiratet. Aber eine Freundin. Bestimmt. Seit zehn Jahren verlobt. Promoviert gerade als Juristin. Oder macht auch Medizin. Eine auf solide Grundlagen gebaute Beziehung, wie der Zeiger eines Weckers auf eine genau berechnete Zukunft ohne Unbekannte eingestellt: Heirat, Kinder, Karriere, Familienfeiern, Mütter, Tanten, Großeltern, Geschwister und Pokale und Trophäen in der Vitrine im Wohnzimmer. Plötzlich spürte ich mit schmerzhafter Deutlichkeit alle Dinge, die in Kontakt mit meiner Haut waren: Das Band, das den
Mull über der Wunde fest hielt, die Schläuche, die zwischen meinen Beinen durchgingen, die Plastikkanüle, die wie ein ganzer Finger samt Nagel in meinem Hals steckte, die unangenehm dünne Haut an den Händen gegen die unangenehm dicke Haut im Gesicht. Alles war lebendig. Und in Bewegung. Durch meinen Kopf flitzten die Gedanken in Lichtgeschwindigkeit. In überraschender Klarheit sah ich Seiten um Seiten ganz präziser, irrsinnig detailfreudiger Beschreibungen der Szene, die ich vor Augen hatte und bei der ich, wie hinter einer Fernsehkamera, jede kleinste Veränderung registrierte. Ich streckte erneut den Arm aus, nahm den Zeichenblock und den Stift und begann. Ich arbeitete schnell. Ich hörte deutlich die rauen und die sanften Geräusche der Spitze, die sich in das Papier eindrückte, ich konnte sehen, wie sich die molekulare Struktur unter dem Druck verformte und sich die winzig kleinen Graphitteilchen ablösten und in jener in die Oberfläche des Blatts gepressten Furche gefangen blieben, porös und fett wie menschliche Haut, und eine schmierige dunkle Spur hinterließen. Ich arbeitete, bis ich den Schmerz spürte. Es war ein neuer Schmerz, anders, heftig und heiß wie ein Biss, zwischen Daumen und Zeigefinger; und der Stift ein Stück Blei, hart, schwer, glatt. Ich warf ihn mit aller Kraft weg, doch er landete nicht weit von meinen Knien. Ich war müde, als wäre ich ganze Tage und Nächte durch hohen Schnee gerannt, von Riemen und Gurten gehalten wie ein Schlittenhund. Ich schloss die Augen. Und schlief ein.
Als die Schwestern kamen, um uns für das Wiegen, die Blutentnahme und den ganzen Rest zu wecken, warf ich einen Blick darauf, was ich in der Nacht gezeichnet hatte. Ich hatte den ganzen Block vollgeschmiert. Ein Haufen Zeichnungen. Sie klebten aneinander, hingen irgendwie zusammen, einige von geheimnisvollen Zahlenfolgen umgeben, eins, zwei, drei, sechs, neun. Oder drei, sechs, vier usw.... Unter anderen standen Sätze. Unter einem verstümmelten Bein, durch das ein dicker Nagel ging und aus dem Blut floss, las ich: ... nichts von dem, was ich gekrallt und verschlungen habe, wird entfliehen, ein aufgewühltes Meer bricht sich unter mei-nem furchtbaren Blick an den Felsen, und ich genieße den Sieg in Erwartung der nächsten Flut, gewaltiger, schrecklicher, würdig meines neuen Lebens...
Und weiter waren da Spinnen und bluttriefende Messer über abgerissenen Gliedern gezeichnet, deformierte Nasen, Augen mit Spinnennetzwimpern, Pferde mit dampfenden Nüstern und menschlichen Augen, aufgerissene Rachen, Busen und Hintern von Frauen, und ich las noch: ... der Mut ist eine Pistole mit nur einer Kugel darin, der Wille ist die Kugelfabrik, der Held ist der Dickwanst an der Spitze vom Fressbaum, der wie ein Irrer lacht und Schinken und Bonbons nach unten wirft, und während die Menge lärmt und schreit, lächelt der Mann, dem alles gehört: der Baum, die Schinken, der Held und die Menge und jede Hütte im Dorf..
9
Endlich begann ich Gewicht zu verlieren. Peppino jammerte mehr, doch mir schien, ihm ging es immer besser als mir. Jedenfalls war das mein Eindruck. Auch mein Pimmel wurde langsam deutlich heller, obwohl man ein Ei noch nicht vom anderen unterscheiden konnte, und die Kopfhaut brannte längst nicht mehr so schlimm. Ich fing an, wieder zu Kräften zu kommen, und konnte sogar schon ein paar Schritte auf dem Gang machen. Wir begegneten uns wie langsame Güterwagen auf toten Gleisen, wie wir da in Pantoffeln lang schlurften, den ganzen Ballast in der Hand. Gesichtsmasken, hervorquellende Augen, alle Gäste einer Karnevalsfeier, bei der irgendjemand sich den Spaß gemacht hat, LSD in die Sangria zu mischen. Wir grüßten uns mit Handzeichen, und wenn man einen erwischte, der gesprächiger war, tauschte man die letzten Resultate aus: »Kreatinin?«
»Zwei Komma drei.« »Eins Komma sechs. Übermorgen komm ich raus.« »Du Glücklicher.« Der andere fasste sich beschwörend an die Eier. Ich schlich mich nachts heimlich ins Schwesternzimmer und klaute Milch, Joghurt, Püree - ich war verrückt nach dem Püree, der Rest war schrecklich, aber das Püree ........ also plünderte ich irgendwie den ganzen Kühlschrank. Manchmal erwischten sie mich. »Fortuna', du darfst nicht hier rein.« »Wenn du fragst, geben wir es dir auch so«, sagten sie. »Aber dann macht es keinen Spaß!«, antwortete ich. Ich hielt Schwätzchen mit den kleinen Ärztinnen. Es war immer eine unterwegs, und meistens kam ich gut an. »He, Süße, ich habe einen kleinen Jungen in zweihun dertdreizehn gesehen.« »Leber. Zwölf Jahre.« »Ach du Kacke!... Und wie ist es gelaufen?« »Bis jetzt...« »Sag mal, Süße, und was pflanzt ihr einem Jungen ein? Ich meine ... da braucht man ein anderes Kind, das ... « »Es war ein Mädchen. Aneurysma im Gehirn. Sie ist beim Ballett zusammengebrochen.« »Sag mal, Süße, und bei uns?« »Den direkt Betroffenen darf man es nicht sagen.« »Ooooh ... « »Ich kann dir nur sagen, dass es ein junger Mensch war.« »Wie jung?« »Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, ich weiß nicht mehr.« »Und ... Süße ...?«
»Ich kann es dir nicht sagen.« »Ach komm, das ändert doch nichts, wenn du es mir sagst, oder?« »Das geht nicht.« »Sag mal... ist das deine natürliche Farbe?« »Ä-ah.« »Mamma mia, du bist vielleicht hübsch!« »Ich sage es dir trotzdem nicht.« »Hast du einen Freund?« »Ja, und jetzt ab ins Bett, los...« »Wann schickst du mich nach Hause, meine Süße?« »Bald. Wenn du brav bist.« »Ich werde der Stolz der Abteilung sein!« Stattdessen verlor ich einen Haufen Haare. Es waren ganze Büschel auf dem Kissen, flaumige Knäuel auf dem Fußboden, ich konnte sie von Peppinos unterscheiden, weil seine grau waren, und dass Fidel es zum Klo schaffte, daran war noch nicht zu denken. Eines Morgens, als sie ihn versorgten, hatte ich seine Wunde gesehen. Es war ein umgedrehtes T, mit dem Balken von einem Ende zum anderen des Magens und hoch bis zum Brustbein. Fidel sprach nicht mehr. Es war jeden Tag ein bisschen schlechter gegangen mit ihm. Zuerst hatte er gestottert, nur ein wenig, dann stammelte er häufiger, verlor den Faden. Jetzt redete er fast überhaupt nicht mehr. Er drehte sich mit verlorenem Blick auf meine Seite und machte den Mund auf und zu wie ein Fisch. Wir hatten Angst, Peppino und ich, und auch Fidel dachte daran, da war ich mir sicher. Es war ein paar Tage vorher gewesen. Fidel war kaum angekommen
und noch guter Dinge. Schon seit einer ganzen Weile hörten wir Schreie, dass man eine Gänsehaut bekam, irgendwo draußen. Am Anfang mussten wir noch alle drei darüber lachen, weil es sich wie das Brüllen des Drachens auf dem Rummelplatz anhörte. »Liebe Scheiße! Ich war grade eingedöst ... Was ist das denn?« »Boh? Hört sich für mich wie Lachen an ... « »Ach, du lieber Himmel!« Dann noch mal, dass man zusammenfuhr. »0 Jesus!« »Ich rufe die Schwester. Was ist das für ein Scheiß?!« Am folgenden Morgen in aller Frühe, als es noch dunkel war, gab es Tumult auf dem Flur. Eine der Schwestern kam, um unsere Zimmertür zu schließen. »Was ist denn da draußen los?« »Es geht einem schlecht, verhaltet euch ruhig.« Auch wenn die Tür geschlossen war, hörte man es noch. Eine Frau und ein Mann, die verzweifelt weinten, und schwere Schläge, wie mit der Faust gegen eine Tür ... gegen die Aufzugstür, schien mir. Ja, es waren wirklich Faustschläge gegen die Aufzugstür. Ganz klar, sie war direkt gegenüber unserer. Und wir hörten auch Stimmen, die sagten, sie sollten sich beruhigen und das habe doch keinen Sinn und dass alles getan worden sei, was man tun konnte, und ... Noch ein Schlag mit der Faust gegen den Aufzug. Peppino, Fidel und ich sahen uns an und trauten uns nicht, den Mund aufzumachen. Dann war alles zu Ende, und die Schwestern kamen und versorgten uns. »Wer war das denn?«
»Einer, dem es schlecht ging.« »Ist er gestorben?« »Es ging ihm schon lange schlecht«, sagte Fatima. »Los jetzt, auf die Beine, damit wir die Betten machen können.« Ich hörte mich später ein bisschen genauer um und erfuhr, dass der Mann, der in der Nacht geschrien hatte, einer mit transplantierter Leber war, der es nicht geschafft hatte. Er schrie und gab wirres Zeug von sich, weil das solchen Kranken passiert; die armen Teufel drehen durch und fangen sich dann wieder, oder sie krepieren auf diese Art. Mit den Fäusten gegen den Aufzug hatte sein Sohn gedonnert, und die Frau, die weinte, war die Frau des Verstorbenen gewesen. Ich erzählte alles Peppino. Und jetzt fing auch Fidel an, unverständliches Zeug zu reden - er zählte: tausendeins, tausendzwei, tausenddrei -, und Peppino und ich, wir wagten nicht zu sagen, was wir davon hielten. »Was ist los, Junge?« Er sah mich an. Dann sah er seine Arme an, die Schläuche, die Infusionen, dann wieder mich, grinste, das ganze noch mal von vorn. »Wo zum Teufel bin ich denn?«, fragte er. »Ach, du Scheiße«, brummte ich in mich rein und tauschte fragende Blicke mit Peppino auf der anderen Seite. Dann hatte er angefangen zu stammeln. Und jetzt sprach er nicht mehr. Sie hatten ihm sogar Gitter ans Bett machen müssen, weil er in der letzten Nacht fast rausgefallen wäre. »Was ist denn los, Junge?«
Himmel, er versuchte zu sprechen. Doch er brachte entweder gar nichts heraus oder nur klägliche Töne. »Willst du Wasser?« Er schüttelte traurig den großen Kopf, wie ein alter Bernhardiner, der im Sterben liegt. »Vielleicht Marmelade?« Wieder nein. Dann fing er an zu weinen. »Ach komm, Junge, du hast doch gehört, was die Ärzte sagen, das ist nichts Schlimmes, das geht vorbei, du musst nur ein bisschen Geduld haben, Junge...« »Hm ... aa ... « »Nur Mut«, versuchte Peppino ihn aufzumuntern. »Los, Junge, du schaffst es, los ... « Ich sah einen dunklen Fleck, der sich schnell auf der Matratze unter ihm ausbreitete, und wie es auf den Boden tropfte. »Ma ... ma«, sagte er mit einer Stimme so dünn wie ein Faden, der Faden eines Spinnennetzes im Bart von Fidel Castro. »Also«, sagte Peppino, »wollt ihr wissen, von wem all die wunderbaren Sachen sind, die sie uns dreien eingepflanzt haben?« Fidel und ich starrten ihn an, halb erschrocken, halb berstend vor Neugier. »Ich weiß nicht mal, ob ich Lust hab, es zu wissen«, sagte ich. »U... iii ... auu ...«, stammelte Fidel. »Der Chirurg hat es mir gesagt.«
»Das darf er doch gar nicht«, sagte ich. »Er hat mir ja auch keinen Namen gesagt ... Aber das Alter.« »Das weiß ich auch«, sagte ich. Fidel sah erst mich an, dann Peppino, einmal hin und einmal her, wie beim Tennis. Dann schüttelte er energisch die Daumen. »Dreiundzwanzig«, sagte ich. »Zweiundzwanzig«, sagte Peppino. »Und weißt du auch, woran er gestorben ist?« »Nein. Aber er... ist nicht gestorben.« Fidel kratzte sich den dicken Bart. »Was sagst du denn da für'n Scheiß?« »Sie ist gestorben.« »Das heißt ... Du meinst, es war eine Frau?« Peppino nickte. »Aus der Intensivstation vom Pertini-Krankenhaus.« »Und das hat dir der Chirurg auch gesagt?« »Nein. Ich habe gehört, wie neulich bei der Visite ein Arzt zu einem anderen gesagt hat: Das hier sind die aus dem Pertini.« »Scheiße. Dann würde es reichen, dahinzugehen und nachzusehen, wen es in der fraglichen Nacht erwischt hat ... Frau ... zweiundzwanzig Jahre ... « Peppino nickte. Fidel strich immer wieder nachdenklich durch seinen Guerillero-Schopf. »Weißt du, dass ich das gespürt habe?«, fragte ich. »Was?« »Dass es eine Frau war.«
Alle drei waren wir ein wenig nachdenklich. »Weil ich hab mich seit ein paar Tagen da unten so ein bisschen fri-fri gefühlt«, sagte ich. »Ja leck mich doch am ... «, lachte Peppino los. Fidel zeigte ein breites kubanisches Lächeln und schickte mir ein Küsschen. »Meinst du, sie war hübsch?«, fragte ich. Peppino und Fidel zuckten mit den Achseln. »Vielleicht war sie hübsch. Eine Studentin ... Mit Mini rock«, sagte ich und sah hinüber zu den Fenstern der Na tionalbibliothek. Wir waren still, um noch ein bisschen nachzudenken. »Ich will es nicht wissen«, sagte ich. »Ich habe keine Lust zu wissen, wie sie hieß und wie sie aussah.« »Ja gut. Aber sie hat uns dieses Geschenk gemacht, ganz umsonst!« sagte Peppino. »Und ich hab das Gefühl, wenn ich ihr Gesicht und ihren Namen kenne... muss ich sie zurückgeben.« »Wen?« »Die Niere!« Fidel wurde unruhig in seinem Bett. Er wollte etwas sagen. »Que pasa nino?« Er machte ein Zeichen, dass er schreiben wollte. Seit er stumm geworden war, hatten wir uns ein System mit Zettelchen ausgedacht, er hatte eine ordentliche Kollektion auf seinem Nachttisch, eins für jeden Fall: Pipi, Kacken, Essen, Wasser, kalt, warm, Messer, Gabel, Löffel, Fernsehen, Doktor, Schwester ... Je nach Bedarf schwenkte er eins. Ich gab ihm Papier, weil er keins mehr hatte - ein Vielredner, der verstummt, kann nur ein Schreibsüchtiger werden -, er schrieb uns kleine Gedichte ...
Er fing an zu schreiben. Dann hielt er es mir hin, und ich las mit lauter Stimme: »WEHE SIE VERSUCHT SIE ZURÜCKZUHOLEN.« Mit drei Ausrufezeichen!!! »JUUHUU«, schrien wir. »EVVIVA FIDEL... EVVIVA LA REVOLUTION... FID-DEL, FI-DEL, FI-DEL...« Peppino stimmte mit der geschlossenen Faust auf dem Herzen El Pueblo Unido an. »He! Was ist denn hier für ein Aufruhr?« Das war eine der Krankenschwestern. »MACH DICH SCHÖN, NINA. FIDEL IST ZURÜCKGEKEHRT!« Peppino wurde als Erster entlassen. Er jammerte ununterbrochen, aber jetzt glaubte ihm nicht mal mehr seine Frau, sein Kreatinin war bei null Komma acht, und er pisste wie ein Kamel - Gott segne ihn. Wir umarmten uns, und Fidel schaffte es, stammelnd zu versprechen, dass wir uns bald draußen treffen würden, dass er es absolut nicht vergessen habe, mit uns zum Fischessen in den Pirata zu gehen. Fidel ging es besser, er erholte sich, sehr langsam, doch er erholte sich. Er stammelte, aber er brauchte die Zettel nicht mehr, und ich musste immer weniger für ihn dolmetschen. Was mich anging, so waren meine Eier langsam wieder voneinander zu unterscheiden, der Pimmel war auch besser, sie hatten mich von Schläuchen und Kathetern,
Beuteln, Kanülen und den kleinen Hähnen befreit, und ich machte, eingehängt bei Barbara, einen kurzen Spaziergang zu dem kümmerlichen Beet am Eingang des Pavillons. Wie wir so gingen, stellte ich mir vor, dass wir zwei alte Leutchen wären, hundert und hundertzwei Jahre alt, wir hatten das ganze Leben miteinander verbracht, und jetzt warteten wir, dass ein Doppelzimmer mit Bad frei würde, um dort die Ewigkeit zuzubringen ... Tja! Ich war immer noch ganz schön aufgeschwemmt, der Bauch wie eine Trommel, doch ich muss zugeben, dass ich mich nicht schlecht fühlte. Klar, es gab da ein paar Probleme, über den ganzen Körper verteilt: Stenosen, Ödeme, Hämatome, Verdickungen ... Doch das waren die Folgen der Medikamente. Zeug, mit dem man einen Atomkrieg führen konnte - und alles in allem handelte es sich um einen Atomkrieg in meinen Eingeweiden -, sie regelten eine Sache und machten eine andere kaputt. Doch es lohne den Aufwand, hatte einmal ein alter Transplantierter gesagt, als er im Dialysezentrum vorbeikam. Das Zentrum! Himmel, es schien mir fast so, als wäre ich nie dagewesen. Und wirklich waren es schon mehr als zwei Wochen, genau gesagt achtzehn Tage, vierhundertzweiunddreißig Stunden und ein paar Minuten, dass ich nicht mehr an der Dialyse war. Und ich hatte sie mir alle verdient. Dann wurde auch ich entlassen. »Sieh zu, dass du abgeholt wirst, morgen kommst du raus«, sagte der Doktor. Wir verabschiedeten uns wie echte Männer, Fidel und ich. Ich hinterließ ihm die Buntstifte, ein fast neues Zeichenheft und ein paar Zweiliterflaschen Mineralwasser.
»Ciao, nino«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Cia ... o Rrr ... o'«, stammelte der größte kommunistische Bäcker der Geschichte in meins! Dann ließ ich Fatima ein paar leere Telefonkarten da, weil sie die sammelte, packte den Rest zusammen und warf einen letzten Blick auf die Wand über dem Bett. Tschüs, Mücke, jetzt hoffe ich, dass sie dich in Frieden da lassen, wo du bist, ich werde dich nicht vergessen.
10
Meine Mutter hatte alles organisiert. Ich hatte mich mit der Idee nicht durchsetzen können, einfach in meine Wohnung zurückzukehren und vielleicht irgendjemanden einzustellen, der mir bei den Hausarbeiten half und einkaufen ging. Ich musste mich mit einer Genesung in der Familie abfinden. Meine Eltern und ich hatten nicht mehr unter einem Dach geschlafen seit... Boh? Zwanzig Jahren ungefähr. Ich wusste, dass es nicht leicht würde. Mein Vater holte mich ab. Ich kam gut verpackt und mit Mundschutz nach Hause immer noch wegen der Bakterien und diversen Feinden der Hygiene -, und als meine Mutter mich sah, weinte sie wie nicht mal bei San Gennaro. Nur über Telefon und meinen Vater hatte sie die gesamte Geschichte miterlebt. Durchs Telefon hatte sie all die Angst und Paranoia aufgepackt, die ich abladen konnte - um dann ganz optimistisch und quicklebendig zu sein, so, als ob nichts wäre, wenn Barbara
anrief -, und Papa, das hatte ich schließlich aus ihm rausgekriegt, auch wenn ich ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste, war es nicht besser gegangen. Ich wollte ihr instinktiv einen Kuss geben, doch sie stieß mich entschlossen zurück. Sie wusste alles darüber, welche hygienischen Vorsichtsmaßnahmen in der ersten Zeit der Genesung nach der Transplantation zu ergreifen waren, und hatte schon ein steriles Zimmer für mich vorbereitet, während sie selbst ins Wohnzimmer umziehen würden. Ich sah auch meine Schwester wieder: Die Arme, sie durfte nicht näher als zwei Meter an mich herankommen, weil sie sich einer Erkältung schuldig gemacht hatte und daher Überträgerin schrecklicher Killermikroben war. »Wie lange muss ich hier bleiben?« »Fang nicht so an, mein Sohn. Du bleibst so lange, wie du bleiben musst.« Dann schloss sie mit feierlichem Gesicht halb die Augen. »Mindestens ein halbes Jahr!« Ich drohte, sie alle wegen Menschenraubs anzuzeigen, doch sie war unerbittlich. Sie hatte den heiligen Kaspar auf ihrer Seite! Aus dem Krankenhaus hatten sie mich mit einer Menge Blätter voller Instruktionen entlassen, was die Medikamente anging, die ich nehmen musste, um wie viel Uhr, wie viel von dem, wie viel von jenem, und welche Kontrollen ich machen sollte. Das Ganze würde mit der Zeit weniger, wenn die Sache gut voran ging. Meine Mutter kannte die Anweisungen auswendig, und man konnte einfach nichts vergessen. Es gab einen starren Ablauf.
Wecken, Frühstück, Mittagessen, Nachmittagsmahlzeit Frühstück, na ja gut, aber wer hatte je eine Nachmittagsmahlzeit gehalten! -, Abendessen und Heia. Wer als Besuch hereinplatzte, erhielt ein paar Anweisungen und musste feierlich schwören, sich daran zu halten, Mundschutz inbegriffen, danach durfte man für eine gewisse Zeit in meinem Zimmer bleiben. Auch Barbarella kam mich ab und an besuchen, und wir hatten es sogar einmal geschafft, uns zu umarmen und der Überwachung zu entgehen. Ich erinnere mich, dass ich aus dem Fenster ein kleines Pferd beobachtete, das auf der Wiese graste, und sie umarmte mich ganz sanft von hinten, und ihre Hände streichelten durch den Pullover meine Brust. Ich drehte mich um, sah nach, ob Mama da war, und streifte mit meinen Lippen die ihren ... Ich führte eine Art Tagebuch, in dem ich den Tag danach unterteilt hatte, wann ich was nehmen oder machen musste, und noch eine Spalte frei blieb für Bemerkungen wie: heute geschwollene Füße, oder: Kopfschmerzen oder: Zittern - und so weiter; außerdem gab es noch eine Tabelle für den Blutdruck - ich hatte ein kleines Messgerät mit Batterie - und eine für die Temperatur. Und dann noch eine Aufstellung, wo auf der einen Seite die Menge Pipi und auf der anderen die Menge Wasser stand - das Gute und das Schlechte -, wie ich es im Krankenhaus gesehen hatte. Ich hielt das Ganze zwischen den Papierbergen auf dem kleinen Plastiktisch versteckt, den ich mir ins Zimmer hatte tragen lassen. Ich vermerkte alles peinlich genau und ergänzte die Notizen um heikle Details: achtzehn Uhr dreißig, spontane Erektion während der Moralpredigt des
Heiligen Vaters in der Nachmittagsausgabe der Fernsehnachrichten. Oder: Bradyrkadie auf Seite dreihundertsechzehn der Buddenbrooks. Oder: Anfall von Diarrhöe auf Seite drei der Verlobten. Ja doch, ich saß im Lehnstuhl wie ein Opa, eine Wöchnerin, ein alter General und verschlang, was sich gerade so bot - mein Vater hatte eine reichhaltige Sammlung von Klassikern -, doch meine Lieblingslektüre waren die Rubriken über Sexualprobleme in »Donna Moderna«, die meine Schwester mir weitergab - heimlich, wegen der Ansteckungsgefahr. Außer dass ich darüber Buch führte, wie viel ich trank und wie viel ich pinkelte, brachte mich mein Vater jeden zweiten Tag zur Blutuntersuchung ins Krankenhaus - ich wurde eingefahren, ich musste zur Inspektion! Es war ein Frühjahr, wie es sein sollte, mit einem lauen Lüftchen, das einen kitzelte und Lust machte, durch die Felder zu streifen, auf der Suche nach Erbauung, während die Kühe scheißen.... Ah, was für Zeiten! Wir brachen des Morgens in der Früh auf, mein Papa und ich, und tauchten ein in den Verkehr der Angestellten, die zu den Weideplätzen ins Zentrum pendelten. Wir sprachen fast nichts - so gesehen war er der ideale Gefährte -, doch ich sah, dass er mich mit einer gewissen Sorge musterte. In diesen Tagen des erzwungenen Zusammenlebens hatte ich von meiner Mutter erfahren, dass auch er ein bisschen geweint hatte, als er mich nach der Operation sah, wie ein Pinienzapfen und mit den ganzen Schläuchen und Beuteln behängt. Ah, Papa! Ich erinnere mich, dass ihm einmal rausrutschte: »Ich habe alles falsch gemacht. Ich hätte mir einen runterholen sollen wie die Priester!»
Er war ein ehrlicher Mann, der nicht viele Worte machte, doch wenn er sprach, dann wusste er, was er sagte. Normalerweise lud er mich vor dem Eingang des Krankenhauses ab und suchte dann einen Parkplatz. Denn man konnte ihn unter keinen Umständen dazu bringen, das Auto in der zweiten Reihe oder im Halteverbot stehen zu lassen, nicht mal in Lebensgefahr. Ich, die Hände in den Taschen und den Mundschutz umgebunden, spielte den Gleichgültigen, wenn ich die Rampe lang ging, die ins Zentrum führte. Mit dem Team in der Poliklinik hatten wir vereinbart, dass ich die Blutuntersuchungen dort machen ließ, weil es bequemer war. Ich trat ein und sah sie undeutlich durch die Scheiben, meine alten Gefährten. Auf den Liegen mit den Nadeln und den Waagen und dem verdammten Alarmsignal. Nicht einen Monat war es her, dass ich hier war. Farini und Michele sah ich nicht auf der anderen Seite dieser Glasscheibe, es war nicht ihr Tag, doch ich sah Maria und Fiammetta und Martella... Und irgendeinen neuen, glaube ich. Maria sah mich ebenfalls und winkte gleich mit der freien Hand, dann auch die anderen. Ich lächelte und machte ciao ciao. Es war wie die Filmaufnahme eines Abschieds am Check-in des Flughafens. Wie geht's dir? las ich von Marias Lippen ab. So la la, machte ich und schlackerte mit den Knien. Martella lächelte, ohne mich anzuschauen und las weiter in der Zeitung. Ciao ciao. Ich schämte mich. Scheiße! Immer an diesem Platz und in dieser Haltung fand ich meine Mutter vor, wenn sie auf mich wartete, mitten auf
dem Gang. Sie platzierte sich ein paar Meter von der Tür, Dreiviertelansicht, und wartete, dass ich mit meinem Mundschutz aus dem Aufzug auftauchte. Gehüllt in ihre bunten Wolljacken, eine über der anderen auch im Sommer, das Küchentuch über dem Arm und in Socken, wirkte sie wie das verehrungswürdige Bild einer Heiligen, das irgendwie oben auf der Treppe von Trinitá dei Monti gelandet ist ... Scheiße! Meine Abschlussarbeit! Nur die fehlte mir, und dann würde ich endlich von Rechts wegen zum Club der ernsthaften Menschen gehören. Alle feuerten mich an. Ich hatte mich in das Projekt eines neuen Ausgangs für die UBahn-Station gestürzt. Die jetzige Station war finster und trist wie eine Höhle und lag am Fuße einer riesigen hässlichen Mauer direkt unter der Trinitá. Ich wusste nicht, wie anfangen. Aber hin und wieder dachte ich daran. Auch im Krankenhaus. Ganze Hefte voller Skizzen hatte ich. Bah! »Warum zum Teufel setzt du dich hier unten hin?«, fragte ich sie. Sie lächelte und inspizierte dabei schnell, ob ich nicht irgendwas unterwegs verloren hatte... Arme, Beine, Mundschutz. Tito kam mich gleich nach dem Essen abholen. Wir bereiteten die Abschlussarbeit zusammen vor und hatten beschlossen, uns wieder dranzumachen und einen Teil fertig zu stellen, um ihn dem Professor vor den Sommerferien zu zeigen. Der Plan war, dass ich mich ohne Vorwarnung fix und fertig anzog, eine gleichgültige Miene aufsetzte und mit ihm zur Tür ging, in der Hoffnung, dass
wir mit einem Überraschungsangriff die Sperre durchbrechen würden. »WO GEHST DU HIN?« »In die Schule, Ma.« Sie verdrehte die Augen. »Aber ... TITO!« Alles vorhergesehen: Tito setzte zu einem ablenkenden Redeschwall über die Vorsichtsmaßnahmen an, die wir getroffen hatten, um jedes Risiko einer Ansteckung durch Parasiten auszuschließen, die sich im Umfeld der Uni ja bekanntlich gierig und in großer Zahl herumtreiben. Wir hatten alles bis in die kleinsten Einzelheiten geplant. Ansprechen des Professors außerhalb des Gebäudes, schnelle Darlegung des medizinisch-wissenschaftlichen Problems und der besonderen Erfordernisse der Prophylaxe in diesem Fall, so dass wir darum herumkommen würden, Schlange zu stehen, und als Erste unsere Arbeiten zeigen könnten. Danach rasche Rückkehr nach Hause. Es gab keinen Grund zur Sorge, die Kontakte mit Menschen waren auf ein Minimum reduziert! Natürlich schwor ich, dass ich NIEMALS den Mundschutz abnehmen würde. Und dann wiesen wir sie noch darauf hin, dass auch die Wetterbedingungen mehr als günstig seien: eine freundlich-milde Sonne wärmte großzügig alle irdische Kreatur in diesen beschaulichen Stunden des frühen Nachmittags - ein deutliches Zeichen, dass die Sterne uns wohlgesonnen waren. Schließlich, ganz beklommen vor Angst und die Augen dem Barmherzigen Himmel, dem Heiligen Offizium des heiligen Kaspar und der Gemeinschaft der Apostel zugewandt, war sie bereit,
beiseite zu treten und uns nach draußen zu lassen: Jung und wehrlos schickten wir uns an, die Welt zu erobern. »Und das Pipi?«, schrie sie hinter mir her. Ich zeigte ihr die neutrale Plastiktüte, in die ich den Messbecher gesteckt hatte, mit dem ich die tägliche Urinmenge maß, um sie mit der Wassermenge zu vergleichen, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden zu mir genommen hatte. Nicht nur sie hatte die Paranoia, verdammt! Manchmal sah ich fern. Eines Abends zeigten sie einen Typ im Rollstuhl, zusammen mit einer schönen Frau. Seiner Frau. Sie wurden interviewt. Er war bei der Olympiade Dritter beim Kanufahren geworden, bei der normalen Olympiade, nicht bei der für Behinderte. Und er lernte Skifahren. Jeden Tag, sagte er, trainiere er... Ich kontrollierte weiter die Harnabsonderung, maß den Blutdruck und die Temperatur. Die Blutanalysen wurden jetzt einmal pro Woche gemacht, und ich lief inzwischen ohne Mundschutz herum, forderte die Bakterien heraus und zeigte trotzig mein von Cortison aufgeschwemmtes Gesicht in der Öffentlichkeit. Später rief ich im Zentrum an, um mir die Ergebnisse der Untersuchungen sagen zu lassen. »Eins Komma acht«, sagte Maurizietto. »Und der Rest?« »Bombig«, sagte er. »Deine Werte sind besser als die von Marcelli.« Marcelli war der Playboy-Doktor des Zentrums. Nach dem seligen Sabbatini, der aber wenigstens vierzig Jahre Vorsprung hatte, war er dafür bekannt, der Typ mit den
meisten Mösen auf dem Konto zu sein. Er war immer braun gebrannt, fuhr im Porsche durch die Gegend, war sympathisch und nicht eingebildet, und dann war er auch noch tüchtig, einer der Besten, wenn es darum ging, einem die Nadeln zu setzen: ein toller Kerl! Dann eines Tages rief ich wie üblich bei Maurizio an, und er sagte ganz bedrückt: »Alles okay, Fortuna'.« »Besser als Marcelli?«, fragte ich. »Er ist tot«, sagte er. Ein Infarkt. Maurizio erzählte, sie hätten ihn zu Hause vor dem laufenden Fernseher gefunden, in Unterhose und Unterhemd, nachdem er zwei Tage verschwunden war. Ich legte auf. »Nun?«, fragte meine Mutter. »Kannst du dich an Marcelli erinnern, den Doktor, von dem ich dir erzählt habe...« »Ja sicher«, nickte sie. »So tüchtig, so nett am Telefon ... « »Er ist tot.« »Lieber Gott!« »Infarkt.« »Lieber Gott!... ................ »Und das Kreatinin?« »Eins Komma sechs.« »Lieber Gott! Herrgott! Gepriesen sei der heilige Kaspar! Danke! Danke, Jesus.« Ich las weiter Papas Klassiker. Ich war zu den Russen übergegangen, die entschieden besser waren. Die Wunde tat mir immer noch weh, und mein Gesicht sah wirklich
scheußlich aus. Der Schmerz erlaubte es mir, mich eingehend auf den Horror zu konzentrieren, dass die blödeste Kleinigkeit mich wieder auf die andere Seite der Glasscheibe im Dialysezentrum bringen könnte. Andere Male dagegen hatte ich Mühe, mir in Erinnerung zu rufen, dass es mein Körper war, der dort zusammengeflickt im Zimmer lag. Alles schien so weit weg, es war so viel Zeit vergangen. Nicht einmal das Jahr Dialyse schien bei mir etwas bewirkt zu haben: Ich hatte keine Vorstellung von der Zukunft und durchlebte eine dumpfe Gegenwart, die ich nur mit Mühe begriff. Ich hatte dieses Ding dabei, schleppte es mit mir herum, wer weiß, woher es kam, ein Stück von einem Menschen, gelebt, gestorben und wieder auferstanden. In mir drin. Ein Teil von mir in engem Kontakt mit dem jenseits. Wer weiß, welche Geheimnisse dieses Stück kannte. Zweiundzwanzig Jahre, lieber Himmel, ein junges Mädchen, Menstruation, Fellatio, Strumpfhosen und jetzt... PFF! Jetzt ist dieser Teil da unten bei mir drin und filtert mein Blut, bei mir, der ich keine Fellatio mache - Ehrenwort! -, keine Strumpfhosen trage und keine Menstruation habe. Vielleicht sind wir uns im Bus begegnet, haben in der gleichen Schlange am Kino angestanden - vielleicht habe ich mir sogar ihren Hintern angesehen und Bemerkungen gemacht , und jetzt gab es sie nicht mehr. Keine Zukunft. Es existierten ein paar verstreute Teile - der Rest, inzwischen im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, in irgendeiner Grabnische mit einem Foto oben drauf - und ein Stück hatte ich, ein unbedingt notwendiges Stück, Fleisch und Blut für meine Zukunft. Das ist mit mir unterwegs und macht, was ich mache. Was ist
das für ein komisches Wunder? Ich stellte mir vor, dass wir uns irgendwann im Jenseits trafen: Peppino und Fidel und ich und die anderen, die den Rest bekommen hatten, und gemeinsam besuchten wir diese ein wenig ältliche Frau - die wie wir in der Zwischenzeit nicht jünger geworden war -, und sie bot uns Tee mit feinem Gebäck an, in einem schönen Rokoko-Service, schwebend auf einer Wolke. Sie ist freundlich und klug - wenn auch ein klein wenig snobistisch, wie solche Leute, die wissen, dass sie dir ein Geschenk gemacht haben, das du niemals erwidern kannst -, und wir, voller Hochachtung und Dankbarkeit, erzählten ihr, was wir aus unserem Leben gemacht hatten. Fidel musste man mit dem Ellbogen anstoßen, weil er zu schwadronieren anfing und nicht mehr aufhörte. Echt! Und was für einen Scheiß würde ich ihr erzählen, über mein Leben? Was hatte ich mit ihrer Niere gemacht, ich, der ich es immer nur klasse schaffte, jede Sache gegen die Wand zu fahren, der ich mich nur darum kümmerte, jedes Mal schnell wegzurennen, wenn es so aussah, als würde es ernst, ich, mit meinem Bündel, das jedes Jahr schwerer und sichtbarer wurde, wie ein Buckel, ich, der ich nichts anderes tat, als mich irgendwo gut zu verstecken und zu fantasieren. Über alles und jedes. Ich glitt über die Wasseroberfläche und erzählte vom Glanz und Elend der versunkenen Welt, ohne je dort gewesen zu sein. Und Wunden, die ich vorzeigen konnte, hatte ich jetzt auch! Wer wagt es zu behaupten, das sei nicht wahr, wer wagt es, dieses eine Mal in Zweifel zu ziehen, da ich unter Lebensgefahr die Prinzessin aus den Klauen des Drachen gerettet hatte?
»Was tust du da?« »Ich packe mein Zeug.« »Ja wo willst du denn hin ... ?« Es gelang ihr kaum, nicht liebevoll zu sein, auch wenn sie alles dransetzte, ernsthaft wütend zu werden. Sieh sie dir an: Wie viele Kilometer war ich mit ihr gelaufen, als wir noch beide laufen konnten, hauptsächlich zu Spezialisten und Labors, weil sie sich davon etwas versprach, die Arme! Kontrollen, Geld und Zeit, die nicht geholfen hatten, mich von dem unabwendbaren Schicksal fernzuhalten. Sie, sie und mein Vater wussten schon sehr viel früher als ich, was mich erwartete. Das begriff ich erst jetzt. Und ich mit meinen ganzen Launen! Vielleicht hatten sie mich deshalb einigermaßen in Ruhe gelassen. Manchmal sagte sie zu mir: »Ganz gut so, dass du mir nie gehorcht hast, so hast du wenigstens deinen Spaß gehabt.« Dann korrigierte sie sich: »Nicht dass du das jetzt nicht mehr kannst. Du musst nur vorsichtiger sein ... « »Es stimmt schon, Ma«, sagte ich. »Viele Dinge kann ich nicht mehr tun.« »Ach, was soll's. Wolltest du denn weiter dieses ... dieses Gammlerleben führen? Du kannst alles tun. Aber vernünftig.« Ich fing an zu lachen. »Du hast nicht verstanden, was ich meine«, sagte sie und tat so, als kränke es sie, wie dumm ich sei. Ich war als Sohn nicht besonders toll gewesen. Ich wunderte mich über diesen Gedanken. Es war das erste Mal, dass ich mich nicht fragte, ob sie als Eltern besonders toll waren. Ich glaube, was Eltern für einen tun, ist immer zwei
Nummern zu klein oder zwei Nummern zu groß: Du erwartest, dass sie einverstanden sind, ohne zu billigen, dass sie billigen, ohne zu verstehen, dass sie verstehen, ohne zu fragen, dass sie fragen, ohne zu zweifeln, dass sie zweifeln, ohne es dir zu sagen. Und es sind doch nur zwei Leutchen, die sich abmühen, ein bisschen Schatten unter der Sonne zu finden, die senkrecht am Himmel steht, nur dass sie es schon länger tun als du. Das ist der einzige Unterschied: Sie sind einfach älter, müder, verängstigter. Und du solltest ihrem Alter, ihrer Müdigkeit und ihrer Angst einen Sinn geben, etwas, damit sie sagen können: Dafür habe ich das alles ertragen, das ist mein Sohn! Ich glaube nicht, dass es der Mühe wert war, Ma. Ich glaube nicht, Pa. Ihr habt eine falsche Investition gemacht, Leute, euer Geld falsch eingesetzt, eure Gesundheit und eure Zeit, ihr Lieben. Na ja, jetzt ist es zu spät. Das dachte ich. Das dachte ich, während ich mein Zeug in die Tasche packte. »Ich muss zurück nach Hause, Ma. Ich bin schon eine ganze Weile fort. Es wird Zeit, dass ich zurückgehe«, sagte ich. »DU BIST JA VERRÜCKT!«
»Nein, Ma«, lächelte ich sie an. »Ich glaube nicht.«
11
Ich kehrte nach Hause zurück und fühlte mich gleich besser. Wir hatten die Wohnung gemeinsam ausgesucht, Tania und ich. Ich hatte die alte abgestoßen und diese gekauft. Weg aus der Enge des Zentrums, weg von Smog und Chaos. Ich erinnere mich an den ersten Tag, als wir, mit offenen Mündern wie zwei Marsmenschen, auf diese riesige Terrasse hinausgingen, mit diesem ganzen Himmel darüber, wo ich doch an ein milchiges kleines Rechteck zwischen der grauen, gigantischen Masse zehnstöckiger Häuser gewöhnt war ... Endlich! Ich ging überall herum, fasste alles an und schnüffelte, es fehlte nur noch, dass ich in die Ecken gepinkelt hätte. Ich freute mich, wieder meine Sachen um mich herum zu haben. Ich ging nach draußen. Es war Frühsommer, und aus einigen Töpfen sprossen blaue und violette Blümchen mit glockenförmigen Blüten, kleine Büschel weißgelber Margeriten und anderes, rotes Gewächs, von dem ich nicht wusste, wie es hieß. Über all dem
schwirrten dicke Bienen mit behaarten gelbschwarzen Riesenpopos. Ich habe nie was von Pflanzen verstanden. Tania hatte sich darum gekümmert. Gartenschere, Hacke, Handschuhe: Sie hatte die ganze Ausrüstung. »Ciao, meine kleine Terrassenkönigin«, grüßte ich sie, wenn ich sie antraf, wie sie ganz mit Schneiden, Umtopfen und Sprengen beschäftigt war. Sie sprach sogar mit den Pflanzen! Ich hatte keine Geduld. Doch sie gefielen mir. Und es gefiel mir, ihr zuzusehen, wie sie sich darum kümmerte. Es gab mir das Gefühl, dass alles unter Kontrolle sei und auch ohne mein direktes Zutun gedieh. Ich konnte mich entspannen, brauchte nichts zu tun, und war trotzdem von üppigem Leben umgeben. Seit sie nicht mehr da war, waren eine Menge Pflanzen eingegangen. Die Töpfe standen herum, voll mit dürren gelben Pflanzenresten und Zigarettenkippen. Doch manche hielten noch durch. Ich holte tief Luft. Man hatte eine wunderbare Aussicht von hier oben. Nur gestört durch die Mietshäuser am Zubringer, gab es freie Sicht bis zu den Hügeln, und jenseits davon lag das Meer, und an der Küste wohnte Barbara. Ich packte meine Backen mit beiden Händen und zog, aber sie blieben, wie sie waren. Ich schrie mich selbst an, einfach so, im Spiegel, doch mein Bild veränderte sich nicht, war kein bisschen eingeschüchtert. Aufgeschwemmt. Ich sah mich von der Seite an. Ich hätte heulen können. Ich ging zu den Ärzten. »Tja«, sagte der Arzt. »Du hast jetzt eben eine neue Niere da unten drin.«
»Aber der Bauch ist riesig«, protestierte ich. Doch beim Doktor ist es nicht wie im Restaurant, dass der Kunde immer Recht hat. »Zieh dir ein weites Hemd an«, sagte er. »Dann sieht man ihn nicht.« »Dein Kreatinin war bei siebzehn, Fortuna', jetzt ist es bei anderthalb, was willst du denn?«, fragte der Nächste. »Das braucht Zeit. Ziemlich viel Zeit. Doch das sind Erscheinungen, die nach und nach verschwinden«, erklärte mir ein Dritter. Ich tastete mich ab und fühlte etwas Rundes und Hartes, wie eine Bowlingkugel. Doch die Ärzte fanden nichts. Das sei normal, bekam ich zu hören, ohne dass sie mich nur einmal anfassten! Verfickte Scheiße! Und ich musste mich mit diesem Bauch herumschleppen ... Zieh dir ein weites Hemd an. Der hatte gut reden! Ich zurück zum Doktor. »Himmel«, sagte ich. »Kann man nicht irgendwas machen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist?« Er sah mich an, als hätte ich sie nicht alle. »Na gut«, sagte er schließlich. »Dann machen wir eine Echographie.« In dem Befund stand so ungefähr: Erhebliche Ansammlung von Flüssigkeit im Bauchraum. Achtzehn mal zehn Zentimeter zirka. Starker Druck auf den oberen Teil der eingepflanzten Niere und daraus resultierende Verschiebung nach unten. Tja, mehr oder weniger, was ich gesagt hatte. Zieh dir ein weites Hemd an. Und was jetzt?
»Ich führe eine Kamera durch den Nabel ein. Zwei kleine Löcher von einem halben Zentimeter, hier an der Seite, um mit den Instrumenten hereinzukommen. Ich schneide, sauge die Flüssigkeit ab und mache dich wieder zu. Vier kleine Stiche. Zwanzig, höchstens dreißig Minuten.« Ich hatte Schwein gehabt, sagte er, dass die Niere sich einfach nur verschoben hatte, ohne sich zu drehen. Die Gefäße waren intakt, und sie arbeitete weiter, die arme Kleine, nur dass man sofort etwas unternehmen musste, weil diese Flüssigkeitsansammlung immer größer wurde und mir schließlich die Niere ernsthaft gequetscht hätte. ... Zieh dir ein weites Hemd an ... »Örtliche Betäubung oder Vollnarkose?«, fragte ich. »Vollnarkose.« Dann mal los! Ich freute mich richtig. »Doktor. Ist es sicher, dass Sie mir die Kamera in den Nabel stecken?« Bakterien, Viren und alle möglichen Erreger lagen überall auf der Lauer. Barbara und ich versuchten uns zu arrangieren. Die Ärzte hatten mir zu dem Thema nur sehr ungenaue Anweisungen gegeben. Ich wusste, dass es wahnsinnig gefährlich war, irgendwas mit der Zunge zu machen - im Krankenhaus ging das Gerücht, das sicherste System,' wenn man unbedingt lecken wollte, wäre, Klarsichtfolie drüber zu tun -, so machten wir es wenigstens in der ersten Zeit mit der Hand. Ich lernte eine Menge Sachen in dieser Phase. Und Barbara fand es klasse - sie schnurrte wie eine Katze -, und ich auch, muss ich sagen. Sicher, es war schon eine Qual, seine Finger in dieser ganzen Pracht
drin zu haben und nicht mal probieren zu dürfen. Aber die Angst war stärker. »Was ist los, Ro'?« »Nichts, Liebes. Es ist nur ... Also, es ist schwer, an einem bestimmten Punkt aufzuhören.« Sie hatte mir noch nie sowas abgekauft! »Okay«, sagte sie. »Und was noch?« »Nichts ... Wirklich ... « »Zum Schluss sagst du es mir ja doch.« Sie hatte Recht. Ich war ein harter Knochen und fähig zu leugnen, was doch offensichtlich war. Bei ihr gelang mir das nicht. Alles, was mir durch meinen wirren Kopf ging, gestand ich ihr schließlich. Es endete immer so, dass ich wie eine Nachtigall sang. »Also, ich mache mir ein bisschen Sorgen.« »Worüber, Ro'?« Ihre Art, die erste Silbe meines Namens am Ende einer Frage auszusprechen, hatte immer die gleiche Wirkung auf mich: Ich konnte es kaum abwarten, auf diese Frage zu antworten. »Also ... es ist weil ...« Ich zeigte ihr meine rechte Hand. Sie sah die Hand an. Dann mich. »Ich verstehe nicht.« »Der Zeigefinger. Da an der Seite.« Da war eine kleine Abschürfung, nicht größer als eine Linse. Ein kleiner dunkler Fleck, wo sich die Haut noch nicht wieder vollständig geschlossen hatte. »Ja und?« »Also ich möchte nicht, dass vielleicht durch den Kontakt mit... ich meine: da drin ... «
»Ist das dein Ernst?« »Scheiße, ja!« Es gefiel mir nicht, für verrückt gehalten zu werden, auch weil ich das Gefühl hatte, dass ich es langsam wurde. »Durch eine Wunde dringen Bakterien und so was ein, da braucht es nicht viel. Sie können zu Infektionen führen, Problemen ... Also insgesamt ist es unvorsichtig«, sagte ich. »Ro'...« Die Silbe war dieselbe, doch der Ton so, dass ich am liebsten weggelaufen wäre. »Das ist Paranoia. Mal abgesehen davon, dass es mich auch beleidigt ... « »Was hat das damit zu tun ... Ich muss auf gewisse Sachen Acht geben, das weißt du doch, oder?« »Da hättest du dann auch vorher dran denken können. Was soll ich denn jetzt tun?« »Aber du hast mich doch gefragt!« Jetzt sieh sie dir an: Arme verschränkt und Knie zusammengekniffen, verteidigt sie sich und ihre Möse, beide in ihrem Stolz verletzt. »Nur damit du es weißt. Ich bin sehr sauber. Das kannst du mir glauben!« Ich fing an zu lachen und versuchte sie zu umarmen. Doch sie stieß mich energisch zurück. »Fick dich ins Knie, Rocco Fortunato!« »Ach, Liebes ... Das ist doch jetzt blöde ... Es geht doch nicht um Sauberkeit ... Es ist einfach so, dass man in der ersten Zeit vorsichtig sein muss.« Sie schmollte weiter. Nackt, störrisch und unbeugsam. Mit ihren unglaublich langen Wimpern und ihren unglaublich weichen Lippen. Ohne Lippenstift.
»Fass mich nie wieder an!« Ich fing wieder an zu lachen. »Ach komm...« »Vergiss es, du paranoides Arschloch!« Ich lachte und versuchte sie an mich zu ziehen. Sie gab mir einen Tritt. »Aua!« Wir balgten ein bisschen herum, mit Stößen, Bissen und Kissen. Dann musste sie weg. »Zeig mal«, sagte sie. »Was?« Sie nahm meine Hand. »Machst du dir wirklich Sorgen, Ro'?« Ah! Die Silbe! »Aber nein, Schatz, das ist doch dummes Zeug.« »Hast du dich gut desinfiziert?« »Aber ja, Baby. Mach dir keine Sorgen.« »Aber du machst dir ja Sorgen. Ich will, dass du den Arzt fragst. Und dann rufst du mich an und erzählst mir, was er gesagt hat.« »Du verpasst noch den Zug, Schatz ....« Am Morgen danach schämte ich mich, den Doc zu fragen, ob es für mich ein Risiko sei, die Finger in ihre Möse zu stecken, doch ich hatte keine Ruhe, bis die Ergebnisse der nächsten Blutuntersuchungen kamen. Pickel waren jetzt Mode. Hatte ich nie gehabt, außer in der Pubertät. Aber jetzt hatte ich eine Stirn, dass ich aussah wie ein Pockenkranker. Ich sprach von Moden, weil sie aufeinander folgten wie Perioden bei den Malern - die rosa
Periode, die kubistische Periode -, die eine ging, und die Nächste kam. Ich hatte die Periode mit dem Zittern gehabt, die mit büschelweisem Haarausfall, die mit pünktlichem Husten - anderthalb Stunden genau, morgens von neun bis halb elf -, dann die mit dem irrsinnig geschwollenen Zahnfleisch, und dann hatte ich noch ein anderes ernsthaftes Problem gehabt, mit dem ich noch einmal in die Klinik musste. Ich konnte pinkeln - gottlob -, aber es kam nur ein ganzganzganz dünner Strahl raus, so dass ich jedes Mal eine Stunde brauchte. Ich stellte mich breitbeinig hin, den traurig tröpfelnden Piephahn in der Hand, den Kopf an die Wand gegenüber gelehnt, weil ich müde wurde. Es gelang mir, die Ärzteschaft zu sensibilisieren, nicht ohne mich ziemlich ins Zeug zu legen, weil sie mich inzwischen für verrückt hielten - kurz und schlicht: Sie machten eine Röntgenaufnahme. Katheter, Kontrastmittel, verdammt widerlich und schmerzhaft. Und beschlossen, mich zu operieren. Es hieß, da sei eine Verengung, weswegen das Pipi nicht glatt durchflutschte und lief, wie es sollte. Ich hatte aber Schwein gehabt, weil es keinen Reflux gab. Das hieß, der Urin floss nicht zurück in die Niere, mit dem Risiko, sie zu infizieren. Scheiße, ich schämte mich vielleicht: Ein unverschämtes Glück hatte ich gehabt! Ich musste die Schenkel spreizen und wurde mit den Knien an irgendwelchen Gabeln seitlich vom Bett festgeschnallt. Vollnarkose, das einzig Positive - ich war schon fast weg -, und das, was nachher geschah, als ich in dieser Nuttenpose weggesackt war, das will ich gar nicht wissen. Irgendwie brachte ich auch das hinter mich. Natürlich wurde die sexuelle Enthaltsamkeit dadurch verlängert. Ein
Glück, dass Barbarella und ich Fantasie hatten und dass wir uns sowieso fast nie sehen konnten. Sie hatte immer irgendwas Lästiges zu erledigen, wenn sie nicht arbeiten musste. Dafür glühte das Telefon vor Leidenschaft. Na egal, jetzt war jedenfalls die Pickelperiode. Ich tat Wasser und Salz drauf, Bikarbonat, Coca Cola, aber sie gingen nicht weg. Meine Beziehung zum Spiegel wurde von Tag zu Tag schlechter. Ich stellte mich davor und beschimpfte mich laut: Hallo, du Kröte. Klasse Froschgesicht heute Morgen. Siehst aus wie der Pekinese von Signora Pina. Nee, eher wie die Perserkatze von Mariella ... Kratzkratz. Ihre Schönheit war die einer Insel. Harter, schroffer Fels, Wind und Schatten machten sie kühl, Wasser und Regen tauchten sie in Grün und Blau, die Sonne ließ sie golden und warm und der Sand still und weiß erscheinen, einsam, aristokratisch und traurig lag sie da, umgeben von den Wellen eines auf keiner Karte verzeichneten Meeres. Aber was ich am meisten an ihr liebte, war, wie sie ihr Leben in meine Hände legte, wenn wir Liebe machten. Ich hatte es noch nie mit Pariser gemacht. Die Ärzte hatten es mir wenigstens für die ersten Male empfohlen, wie immer wegen der Hygiene, den Bakterien und so weiter. Ich schämte mich zu Tode. Wegen dem Bauch vor allem. Himmel! Früher hatte ich nicht mal eine Spur von Fett gehabt. Barbara sagte, ich sei konkav! Wir waren rangegangen, in diesen schrecklichen Monaten, das stimmt, aber ich hatte immer Acht gegeben, mich strategisch zu bedecken - hör auf damit, sagte sie immer zu mir -, und jetzt
versuchte ich das gleiche zu tun. Ziemlich ungeschickt schob ich mich auf sie, aber das Ding rollte sich ab. Ich versuchte, es sanft drüberzuziehen, doch es war ganz schmierig und rutschte in meinen Fingern hin und her. Es lag daran, dass er nicht so richtig steif war. Himmelnochmal, dachte ich, der Fluch des Unkoffiziers! Hatte er mich auch hier erreicht? Barbara hatte ihre spezielle Art zu warten: den Kopf auf der Seite, die Finger mit meinen verschränkt. Ich spürte, dass sie meine Finger sanft drückte, dann fester, dann wieder sanft. Ich küsste sie und blieb ein bisschen so, verloren in ihrem Haar. Ihre Haut unter meinen Fingern war zart, vollkommen, straff. Zwei winzige Muttermale beim Nabel. Meiner dagegen sah aus wie die Einschussstelle einer Kugel. Ich versuchte es trotzdem. Bewegte mich langsam. Noch schlechter. Du weißt, wie es ist, dachte ich, je mehr du daran denkst, um so schlimmer wird es. Ich packte ihre Hüfte und versuchte es noch einmal. Rutschte dauernd raus. Legte mich neben sie. Sie sah meine Wunde an. »Ich habe das Gefühl, das ist das ganze Zeug, das ich nehme«, sagte ich. Sie kuschelte sich an mich, nahm meinen Arm und legte ihn auf ihre Schulter. Ich hob ihr Kinn hoch. Sie war süßer und schöner denn je. Ich hatte keine Lust zu sterben. Mein ganzes Sein empörte sich. Ich küsste sie erneut. Lange. Der längste Kuss der Geschichte. Ich fühlte mich besser. Riskierte einen Blick. Er schien
voll da, nur der Pariser hatte sich oben an der Spitze zusammengerollt. Ich versuchte ihn runterzuziehen, doch mit einer Hand schaffte ich das nicht. «Warte, Schatz.« «Nein, lass mich.« Sie ging runter und blieb eine Weile da. Dann setzte sie sich drauf Ich betrachtete ihr Haar, ihre Lippen, ihre Wimpern, ihre Schultern, ihre Arme, ihre Schenkel, ihre honigfarbene Haut gegen meine blasse .... Wie sehr sie doch den Kindern ähneln, die sie mal waren, die Frauen. Wir Männer dagegen verändern uns, bis wir nichts mehr davon haben. Ich hatte wieder Angst. Sie fuhr zärtlich über meine Nase und lächelte, ohne mit dem sanften Auf und Ab aufzuhören. »Hallo, Kaputtnase!« So nannte sie mich manchmal. Ich schob ihr zwei Finger in den Mund, berührte ihre Zunge, sah dann nach unten. Wie ich so auf dem Rücken lag, war der dicke Bauch beinahe verschwunden und die lange Narbe zeigte sich stolz, wie die Wunde aus einer Schlacht.
12
Mein Bauch war nur noch halb so dick, nach der Kamera im Nabel und so weiter, doch er sah immer noch aus, als wäre ich im dritten Monat. Aber er war in Ordnung. Wenn ich jetzt zu Ärzten ging, eierte ich nicht mehr lange herum. Die Wunde tat mir weh? Hier! Ich ließ direkt die Hosen runter und knallte ihnen die Wunde ins Gesicht: Wirf mal'n Blick drauf, Doc, der liebe Gott wird's dir vergelten. Elegant war das nicht. Kein bisschen. Aber Dank eines solchen Benehmens entging ich weiteren Problemen, Typ vergessene Fäden knapp vor der Infektion, Varikozelen, Hydrozelen, Zysten, Zystitis ... Schließlich war ich ja verrückt! Wenn ich mir vorstelle, dass jemand mitgekriegt hätte, was für ein Theater ich morgens vor dem Spiegel aufführte ... Aber abgesehen von den Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus und der Planung meiner Abschlussarbeit hatte ich nicht viel zu tun. Denken. Ich betrachtete die Hügel, hinter denen die Sonne unterging, wo das Meer war, und ich fragte mich, warum ich hier allein
sein musste, ohne sie. Jedes Mal erklärte sie mir, dass es ein dichtes Netz von Dingen gebe, denen sie allen gerecht werden müsse: Termine, Pflichten, zufällige Ereignisse und feste Daten, das Ganze zusammengehalten von hochtönenden Gründen praktischer, moralischer und auch wirtschaftlicher Notwendigkeit. Wenn doch das verdammte Spinnennetz zerreißen, wenn doch ein von der Vorsehung gesandter Wind irgendeine Masche zerfetzen würde. In der Zwischenzeit verbrachten wir ganze Nächte am Telefon. Du fehlst mir. Du mir auch. Was tust du? Wann sehen wir uns? Du weißt, dass ich nicht kann. Wie soll ich das aushalten? Okay, dann komme ich zu dir. Aber nicht morgen. Ich habe versprochen, dass ich meinen ... Aber es ist ein Monat her, seit wir ... Ich bitte dich, erspar mir eine Diskussion mit meinem Vater... Klar. Er fand mich schon immer scheiße, und jetzt bin ich nicht nur arm, sondern auch noch krank. »Ich liebe dich«, sagte ich am Ende zu ihr. »Ich dich auch«, antwortete sie. Ein widerstandsfähiges Spinnennetz. Nach einem halben Jahr war ein Hoden immer noch so dick und hart wie ein Hühnerei. Es hieß, das könne passieren, besonders wenn man die Transplantation auf der linken Seite habe, irgendwas mit Venen, Verstopfung, Stau ... hatte was mit Hydraulik zu tun. Der heilige Kaspar war wohl in Urlaub. Da war nicht groß was zu machen, abgesehen von einer Untersuchung, ob dadurch die Zeugungsfähigkeit beeinträchtigt sei, was übrigens eher selten der Fall war, auch weil, selbst wenn der eine Hoden draufgegangen
wäre, ich noch immer den anderen gehabt hätte, der mir die Möglichkeit bot, meine unglückliche Spezies fortzusetzen. Es ging darum, das Sperma in einem kleinen Röhrchen aufzufangen. Das Röhrchen musste sterilisiert sein, und vorher musste man sich der fraglichen Tätigkeit wenigstens drei Tage enthalten, und danach war die Probe innerhalb einer Stunde nach Entnahme abzugeben. Die Entnahme war... Es ging schlicht darum, sich einen runterzuholen. Also los! Das Hauptproblem war diese Stunde, und nicht mehr als eine Stunde, die zwischen Entnahme und Abgabe liegen sollte, weil die Poliklinik war vom Bett in meiner Wohnung, dem meiner Ansicht nach geeignetsten Ort, um sich der Angelegenheit mit der nötigen Konzentration zu widmen, exakt eine Stunde entfernt, wenn man morgens hinfuhr. Eine Zeit, die sich allerdings - dies lehrte die Erfahrung gefährlich verlängern konnte, da außer dem Verkehr noch andere unvorhergesehene Zwischenfälle lauerten: Unfälle, Bauarbeiten, Gewerkschaftsdemonstrationen, Verkehrspolizisten an den Kreuzungen. Die Abgabe zu verpassen bedeutete: neue Terminvergabe in der Ambulanz, was wiederum bedeutete, dass ich mir besser gleich den Hoden abmachen lassen würde, oder besser noch alle beide, wenn ich schon mal da war, damit ich das Ganze vergessen könnte. Ich musste mir was anderes einfallen lassen. Eine Möglichkeit könnte ein Freund von mir sein, der in der Nähe der Klinik wohnte. Ich konnte ihn fragen, ob ich gegen acht Uhr das Klo in seiner Wohnung benutzen
dürfte, damit ich spätestens um halb neun mit der wertvollen Flüssigkeit in der Ambulanz wäre. Aber da waren zwei Dinge, die mir nicht so recht behagten. Erstens: Die Sache auszuposaunen. Zweitens: mit ihm ginge es ja noch, aber seine Frau war auch da, und dann wussten beide, dass ich mir auf ihrem Klo einen runterholte, und fragten mich nachher vielleicht noch, wie es gewesen sei ... Eine andere Lösung war, direkt an Ort und Stelle Hand anzulegen. Kein Wort, zu keinem. Und das Problem der Entfernung automatisch erledigt. Aber wo? Ich kannte die Poliklinik inzwischen gut. Ich wusste, wo. Ich rechnete mir den Tag aus, an dem ich es zum letzten Mal tun durfte, und erwartete geduldig den Vormittag mit dem Termin. Im Erdgeschoss des Urologie-Pavillons gab es eine selten benutzte Behindertentoilette. Klar, so wahnsinnig schön war sie nicht... Aber ich schloss mich darin ein. Wie lange werde ich wohl brauchen, überlegte ich, na ja, ich hatte nicht gerade viel Lust, um acht Uhr morgens, nach einer Stunde im Verkehr, aber ... wenn es sein musste... Woran ich nicht gedacht hatte: Damit das Zeug in das sterilisierte Röhrchen kam, musste ich es im Stehen tun. Allein ist mir das noch nie gelungen. Ich meine, wenn du es dir besorgst, bist du schön entspannt, mal abgesehen davon, dass du Lust hast, und ich ziehe mir gern ganz gemütlich die Hosen aus, Scheiße, ich habe doch keine Eile! Und wenn es spritzt? Ich sah es schon vor mir: das Röhrchen in der Hand, den Schwanz in der anderen, wie ich versuchte, das Zeug im Flug aufzufangen. Na ja, vielleicht wenn ich
schnell war, bei der richtigen Neigung ... Klar, die momentane Schlaffheit war wirklich entmutigend. Ich machte mich dran, an so Sachen zu denken, die ich eigens für gewisse Gelegenheiten gespeichert hatte, Klassiker, und fing an. Draußen schien alles ruhig. ... ruhig. Nichts zu hören ... Also...? Vielleicht war irgendwas Ungewöhnlicheres besser. Zum Beispiel, wenn ich mit Barbara ... Ich versuchte es noch einmal. Hm ... Ah! Das ist stark, wenn sie sich ... Neuer Versuch. ... Scheiße! Ich konnte mir keinen runterholen, wenn ich diese Scheißestreifen da im Klo sah! Ich hatte es ja gewusst: Im Stehen ging es nicht. Ich setzte mich hin. Natürlich gab es keine Klobrille und auch kein Papier, doch ich hatte mich mit Taschentüchern versorgt. Vielleicht hätten eine Zeitschrift oder ein Heftchen geholfen. Daran hätte ich früher denken müssen, verdammt. Doch normalerweise brauchte ich sowas nicht. Ein gutes Gedächtnis und eine lebhafte Fantasie habe ich immer gehabt, wenigstens für solche Sachen. Ich rüstete den Rand des Klosetts aus, zog überflüssigerweise noch einmal die Spülung und nahm die Sache mit den besten Absichten in die Hand. Wie ich das jetzt in das Röhrchen kriegen sollte, statt es über mich selbst zu machen, wusste ich nicht so recht. Ich vertraute auf ein gewisses Improvisationstalent. Ich brachte
das Röhrchen in strategische Position und begann erneut. Bei null, denn natürlich war mir während des Manövers das kleine bisschen Begeisterung vollkommen abhanden gekommen. Also, strengen wir uns an, dachte ich. Ist das nicht geil? Eine schöne Vögelei in einem Behindertenklo in der Klinik? Sie hängt sich an diese ganzen Griffe da? Mit viel gutem Willen legte ich richtig los. Es geht doch, junge ... Da war irgendwas zu hören, dort aus der Tiefe des Kosmos... Himmel. NEIN! Irgendjemand versuchte, die Tür aufzumachen. Nein. Nein. Nein. Ich tat mein Bestes, mich nicht ablenken zu lassen: gespreizte Beine, die Strümpfe und die Muschi in Großaufnahme - draußen drückten sie wieder auf die Klinke -, ein Finger, nein die ganze Hand rein, und... »BESETZT«, rief ich. Ich kam, während ich undefinierbares Gemurmel von draußen hörte. Ich hatte mich früh genug ein bisschen zur Seite geworfen, was reichte, damit die Ladung genau ins Ziel traf. Ich warf einen Blick darauf. Himmel! Was ist denn das für ein Elend?!!! Zwei wässrige, weißliche Tröpfchen liefen träge innen im Röhrchen runter. Soll ich das etwa zur Analyse bringen?! Ich verschloss das Röhrchen augenblicklich. In den Anweisungen hieß es, die Probe dürfe keinerlei Kontamination durch die Umgebung erfahren. Ich konnte nicht mit
diesem bisschen in der Ambulanz aufkreuzen. Ich musste es noch mal probieren, sagte ich mir. Ich spitzte die Ohren. Draußen war nichts zu hören. Der Typ von vorhin hatte es offensichtlich aufgegeben. Ich brachte mich wieder in Position. Schraubte den Deckel wieder auf - Scheiß drauf, wenn diese beiden Tröpfchen verseucht würden - und nahm meinen Pimmel noch mal in die Hand. Er sah mich an, der arme kleine Wurm, mit seinem gedrückten kleinen Äuglein, matt und sterbenselend, dass er einem Leid tun konnte... Los jetzt, an die Arbeit, schließlich können wir nicht ewig hier drinbleiben! Also dann ..... ? Hm ? Vielleicht so ..............?? Hm ......................??? Nichts! Scheiße! Er wollte nichts davon wissen. ...Aber... ....... Oh? O heilige Barbara! Ich wusste, dass es mit der Geschichte im Hausflur funktionieren würde. Ich schloss die Augen. Ja. Ja. Das war fantastisch gewesen ... Mit dem Risiko, dass uns irgendein Mieter erwischte ... Es war sogar einer ins Haus gekommen, und wir mussten rennen, um uns zu verstecken ... mit den Unterhosen in der Hand ... unter die Treppe ... ooh, Gott... ooooh ............... SCHEISSE!!! O nein, was für ein Mist! Sind denn heute morgen hier auf der Station alle Behinderten unterwegs?
Wieder drückte jemand auf die Türklinke. »Besetzt«, röchelte ich. Ich hörte erneut undefinierbares Gemurmel. Das war mir egal. Jetzt legte ich aber richtig los. Es war eine Frage von Leben und Tod. Ich nahm, was mir gerade einfiel: Werbung für Unterwäsche, Titelbilder vom Playboy, Fernsehballett... Schließlich, ich weiß nicht mehr wann, kam ich noch mal. Klopfen. »JAAAAA.« Murmeln. Ich sah auf die Uhr: Viertel nach neun. Eine Wichserei von einer Dreiviertelstunde, Leute! Ich presste ihn ein bisschen aus - das Letzte ist immer das Beste -, machte das Röhrchen zu, säuberte mit Taschentüchern meinen Schniedel, der augenblicklich geschrumpft war, nachdem er sich so heroisch bis zum letzten Schnaufer verströmt hatte. Draußen standen ein halbes Dutzend Leute Schlange. Schweigend. Sie sahen mich an. Nur einer sagte: »Ziehst du nicht die Spülung?« »Ich hab doch nicht gekackt«, sagte ich. An der Tür von dem anderen Klo, dem normalen, hing ein Blatt, auf dem »Defekt« stand. Das hatte ich auf dem Hinweg nicht bemerkt... Die Ärztin in der Ambulanz fragte: »Haben Sie die ganze Flüssigkeit aufgefangen?« »Ich habe mein Bestes getan«, antwortete ich mit stolzgeschwellter Brust.
Manche Abende waren unglaublich lau, sternenübersät, und im Lichtkreis um die Deckenlampe über der Terrassenmauer war ein richtiger Parkplatz für alle möglichen Tierchen: kleine Falter, große Falter, Fliegen, sonderbare Mücken mit langen Beinen, eckig wie Skulpturen aus Eisendraht. Tonino und ich lagen ganz entspannt in den Liegestühlen und beobachteten, was sich tat. Wenig, um ehrlich zu sein. »Kommt dir das denn normal vor«, fragte er, »wie du mit dieser Frau zusammen bist?« »Wieso, was ist denn damit?« »Wie lang hast du sie jetzt nicht gesehen?« »Einen Monat, mehr oder weniger ... Oh, schau mal!« Ein Gecko, aber echt so fett wie eine Eidechse, war hinter dem Schränkchen aufgetaucht, wo Tanias Gartenutensilien verstaubten, und näherte sich sprunghaft den weidenden Herden, schnell und umsichtig wie ein Irrer in einem Drive-in. »Verdammt«, sagte Farini. »Besser als Expeditionen ins Tierreich.« Der Gecko hatte sich einem mittelgroßen Falter genähert, genau richtig, nicht zu nah und nicht zu weit weg, und hielt, grau und feist, wie er war, sein trapezförmiges Köpfchen auf das Opfer gerichtet. »Sie dir mal seine Zehen an.« »Da hat er so eine Art Saugknöpfe dran.« »Wie Spiderman.« Der Falter ließ Anzeichen von Unruhe erkennen, der Gecko blieb regungslos.
»Wieso?« »Damit er sich mit dem Kopf nach unten festhalten kann, oder?« »Nein«, sagte er. »Wieso du sie seit einem Monat nicht gesehen hast.« »Ja also, sie ist so eingespannt bei ihrem Job, aber sie versucht das zu lockern ... die ganzen Akten, weißt du ... der Papierkram ... der Steuerberater, ihre Familie, die sie nervt ... « »Aber für dich ist das okay?« »Dass ihre Familie sie nervt?« »Die ganze Situation meine ich.« Der Gecko kam dem Falter blitzschnell einen Zentimeter näher. Nicht blitzschnell genug. Der Falter flog hoch und löste augenblicklich Panik bei der Restgesellschaft aus. Jetzt flogen alle wirr in konzentrischen Kreisen um die Lampe herum, während der Gecko auf dem strategischen Rückzug war. »Nein, für mich ist das nicht okay.« »Ja und?« »Was?« »Und warum quälst du dich weiter wegen dieser Frau?« »Aber ich liebe sie!« Auf dem Schlachtfeld war wieder relative Ruhe eingekehrt, und der Gecko überlegte, wie er neu an die Sache rangehen sollte. Kein Falter. Er konzentrierte sich auf eine kleine dumme Fliege. Vielleicht würde es bei einer kleineren Beute besser klappen. »Dann geh du zu ihr! Zieh um, verdammt! Verkauf die Wohnung hier, vermiete sie und nimm dir dort eine.«
Ich stieß ein Schnauben Richtung Sterne aus. Der Gecko blieb vorsichtig in einer gewissen Entfernung, die Angriffstaktik schien die gleiche wie vorher. »Scheiße!«, brach es aus mir raus. »Ich habe eine Wohnung, und sie bleibt lieber da bei der Schwiegermutter, die ihr Vorwürfe macht. Sie kann nicht die kleinste Kleinigkeit tun, ohne dass Vater, Mutter, Schwestern und sonstige Anverwandte sich einmischen ... Mit über dreißig Jahren! Und ich muss sie heimlich besuchen .... verdammte Kacke! Deshalb gehe ich nicht dahin. Deshalb sehe ich sie seit einem Monat nicht. Deshalb verkaufe ich die verfickte Wohnung nicht!« Das Telefon klingelte. »Scheiße!« Es war Barbara. Als ich zurückkam, schien die Lage unverändert: Farini, der Gecko und die Sterne. Dafür war ich voller Gewissensbisse. »Ich liebe diese Frau.« Farini sah mich an: Bermudas, T-Shirt und die Hände über dem dicken Bauch gefaltet. »Ich rufe sie noch mal an.« Als ich zurückkam, musterte Tonino mich mit fragender Miene. Ich war so wütend wie eine Hyäne. »Es ist aus, endgültig! HimmelArschund...! Die ist mir vielleicht auf die Eier gegangen! Verdammt! Scheiße! Verdammt!« Tonino schwieg. Ich warf einen Blick auf den Gecko und die kleine Fliege.
»Ist der Trottel immer noch da?« Das Telefon klingelte. »Himmel!« Als ich zurückkam, war Farini in der gleichen Position wie vorher, regloser als der Gecko und die blöde Fliege. »Man kann nicht alles sofort kriegen«, sagte ich. »Man braucht ein bisschen Geduld. Und ich hab ja auch noch ne Menge Nervereien am Hals ... Der Abschluss, die Untersuchungen ... « Tonino schob sich eine Hand in die Bermudas, machte die Beine ein ganz bisschen breiter und rückte sein Geschlechtsteil energisch zurecht. »Bei der Hitze klemmt man sich alles so ein«, schnaufte er. »Bei mir ist es seit der Operation immer eingeklemmt«, sagte ich. »Und wie weit sind die jetzt?« Der Gecko hatte sich keinen Millimeter von seinem Platz gerührt. Die kleine Fliege aber begann sich zu bewegen. Irgendwann, müde, auf den Tod zu warten, der sich nicht entscheiden konnte, fasste sie sich ein Herz und beging an der glühend heißen Lampe Selbstmord. Kein Abendessen. Dieser Gecko war echt saublöd. »Wie zum Teufel mag der so fett geworden sein?« »Vielleicht hat er Diabetes«, brummte Farini und wälzte sich auf eine Seite. Der arme Liegestuhl ließ ein unheilvolles Ächzen hören.
13
Wir sahen uns weiter an den Wochenenden und telefonierten jeden Tag. Höher als meine Telefonrechnungen waren nur ihre. Wir erzählten uns unseren banalen Tagesablauf und wechselten diese langweiligen Berichte mit heftigen Anfällen von Zärtlichkeit ab. Mir war es scheißegal, wie sie ihren Kacktag verbracht hatte - das passierte alles ohne mich, weit weg, betraf mich nicht -, und meine Tage hatten auch nichts Interessantes, und doch tauschten wir weiter diese Sorte von Informationen aus. Und inzwischen war die Angst immer da, größer als ich, größer als sie, und sie wurde noch größer in den Bars, an den Ampeln, auf der Straße. Ich sah sie mir an, die anderen Männer. Millionen gab es, die sie nie in den Armen gehalten hatten, nicht einmal je gesehen, und sie lebten trotzdem. Sie lächelten, küssten andere Frauen, heirateten sie, machten Kinder. Und die Frauen sah ich mir an. Ich bespitzelte ihre Art zu gehen,
die Beine übereinander zu schlagen und zu sitzen, die Worte, die Blicke und die Farben, mit denen sie ihre Lust zeigten, sich schön und begehrenswert zu fühlen, und mich überzeugen wollten, dass es keine anderen gab, die frei, ebenso klug, ebenso schön, noch klüger, noch schöner seien. Und wenn ich sie gefunden hätte, was dann? Wenn es dort draußen in der Welt wirklich eine andere gab? Es war sinnlos. Sie wäre trotzdem die Einzige geblieben, mit der ich weiterhin so tun könnte, als wäre mir nichts geschehen, die vergangenen Jahre, die Zeit, die Krankheit ... Vor wem sonst hätte ich mich ausziehen und dabei wissen können, dass sie mich trotzdem erkannte, mit wem sonst konnte ich noch Liebe machen, weil sie sich daran erinnerte, wie ich vorher war? Und auch wenn alles nur Illusion war, ich konnte mir nicht erlauben, auch die noch zu verlieren und ganz ohne Träume zurückzubleiben, von Angesicht zu Angesicht mit diesem plumpen Wesen im Spiegel, das noch immer mit Mühe überlebte, nur weil es sich jemand in den Kopf gesetzt hatte, Himmel und Erde gegen die Natur und den normalen Lauf der Dinge herauszufordern. Schwindel, Hexerei, Lästerung! Das war ich: wieder zum Leben erweckte tote Materie, gemacht aus Resten und Abfällen. Welche andere Frau hätte sich einem solchen Typ genähert?! Neu waren das linke Bein und das rechte Auge. Sie gingen ziemlich gleichzeitig kaputt. Ich wurde am Morgen mit einem Schmerz in der Hüfte wach, der ganz herum ging, ein bisschen stärker mitten in der Hinterbacke. Zwei drei Vormittage hintereinander setzte ich mich eifrig ans
Zeichnen. Ein Geistesblitz: ein Balken von zwanzig Meter Länge, der die halbe Trinitá trägt, und plötzlich war es, als hätte mir jemand auf eine Linse gehaucht. Oder wie wenn man manchmal wach wird und hat noch verklebte Augen und muss sie reiben, um klar zu sehen, damit man neu anfangen kann. Ich rieb die Augen - auch wenn ich schon seit einer Weile wach war und gerade weitermachen wollte -, aber nichts. Es ging nicht weg. Ein dünner Nebel, ein feiner Dunst, eine Art Schleier. Vielleicht wegen dem Balken. Mein Entwurf fand offensichtlich nicht Sein Wohlgefallen, aber ich hätte nicht gedacht, dass Er ihn mir so übel nahm. Ihre Mutter gefiel mir nicht. Ihr Vater gefiel mir nicht. Ihre Stadt, ihre Freundinnen, ihr Putzwahn, ihr Hang zu den Normen eines bürgerlichen Lebens, ihre perfekte Art, Gefühle zu verbergen und sich zu verstellen, ihr mangelnder Sinn für Humor, die Härte, mit der sie sich und andere beurteilte, die Intoleranz gegenüber dem, der die Schwäche zeigte, sie zu lieben, und die Unterwerfung vor dem, der den Willen zeigte, sie zu beherrschen, ihre schreckliche Selbstkontrolle, die krankhafte Beharrlichkeit, mit der sie sich immer wieder dafür entschied, sich selbst zu quälen, ihre Feigheit, die meiner zu ähnlich war - all das gefiel mir nicht. Und doch stellte ich mir weiter ein Leben mit ihr zusammen vor. Essen, den Tisch abräumen, einkaufen, Kino, Freunde zum Abendessen, das Geld bis zum Monatsende strecken. Ich hatte Angst, allein zu bleiben. Und dabei war ich schon allein! Nachts schlief ich allein, am Morgen wurde ich allein wach, ich kochte und aß allein, stieg allein ins Auto, um zu den Kontrollen ins Krankenhaus zu fahren. Allein wartete ich
in einem Dutzend Wartezimmern, bis ich an der Reihe war. Allein zitterte ich jedes Mal, wenn sie mir das Blatt mit den Ergebnissen gaben, schluckte meine Medikamente .... Sie rief mich an, wenn der Tag vorbei war. Zuerst fragte sie mich immer, wie es mir ging. »Gut, Liebes, alles in Ordnung.« »Was hat der Doktor gesagt? Wie geht es deinem Bein?« »Gut. Es tut fast gar nicht mehr weh.« »Das freut mich. Ich habe mir übrigens eine Wohnung angesehen.« »Im Ernst?« »Ja... Aber sie ist ein bisschen dunkel...« Wenn sie es wirklich nicht schaffte, zu mir zu ziehen, dann sollte sie sich wenigstens eine eigene Wohnung nehmen! Jede Woche sah sie sich eine an, aber jede hatte irgendeinen Haken: zu klein, zu groß, zu teuer, zu weit draußen, zu nah am Zentrum ... »Ach, mach dir keine Sorgen, Liebes, wir finden schon noch eine.« Ich konnte meine Stimme fast anfassen: Vanilleeis, das man am heißesten Tag des Jahres im Auto vergessen hatte. Ich ging zu Ärzten. Röntgenaufnahmen, irgendwelche Tropfen, die Tage verrannen. Nichts. Weder schlechter noch besser. Unklar. Knochen, sagte einer. Muskeln ein anderer. Ich humpelte weiter. Manchmal weniger, fast gar nicht, dann, wenn ich ein Stück ging, schmerzte es mehr, und ich fing wieder an. Aber die Massagen waren angenehm. Erst tat man mir irgendwelche nassen Lappen drauf und behandelte mich mit Strom, dann kam ein Fräulein
und nahm sich meinen Schenkelstrecker vor: Sie drückte daran herum, dehnte und knetete ihn. Das ging aber nicht lang. Dann kam sie nie mehr zu mir, sie schickten immer einen Mann, ein langes Elend, der wirklich keine Spur von Titten hatte, selbst wenn man Gold dafür geboten hätte. Das Auge war ein Geheimnis. Obwohl ich sofort auf die Idee mit dem Balken verzichtet hatte, sah ich trotzdem weiter wie durch einen Schleier. Sie setzten mich an irgendwelche Millionen Dollar teuren Geräte, konnten aber nichts Anomales finden. »Könnte es sein, dass Sie sich ein bisschen darauf fixieren?« Na klar, ich vergaß es immer wieder: Ich war ja verrückt. Sie lebte weiter in der Wohnung ihres Ex, und ich bat sie weiter, zu mir zu ziehen. »Wir haben doch schon darüber gesprochen, und da hast du gesagt, du hättest verstanden...« »Dass ich verstanden habe, heißt nicht, dass es mir nicht schlecht damit geht.« »Was willst du tun, Ro'?« »Ich hasse es, wenn du mir diese Scheißfrage stellst! Wenn ich zu dir sagen würde, lass uns aufhören, uns zu sehen, würdest du es akzeptieren, ohne irgendwas dagegen zu tun ... Wenn ich dich fragen würde, was du tun willst, würdest du sagen, das sei zu schwierig, und zulassen, dass alles ein andermal zu Ende geht...« Ich hörte sie am anderen Ende leise atmen. Ich meinte zu ertrinken. Auch meine Mutter rief mich jeden Tag an.
Ich antwortete ihr mit dem Grunzen eines tödlich verwundeten Wildschweins, kurz, traurig und voller Groll. Du hast es zugelassen, dass ich auf die Welt gekommen bin. Hier hast du das Resultat! Sogar ich selbst war darüber verblüfft, welche Scheiße ich auf sie abladen konnte, als hätte sie mich immer gerade knapp vor dem Selbstmord erwischt. »So darfst du nicht damit umgehen«, sagte sie mit einem Stimmchen, das jeden Moment brechen und von Tränen erstickt werden könnte. Doch sie war eine zähe Frau und hielt durch. »Es tut dir nicht gut, allein zu sein, hör auf deine Mutter...« Bedrohliches Grunzen. »Sag jetzt nicht, dass ich dir auf die Nerven gehe«, schickte sie mit liebenswerter Vorsicht voraus. »Aber denkst du daran, dass du am Montag die Untersuchung in der Poliklinik hast?« Einfaches Grunzen. »... und dass der Doktor, der dir den Behandlungsschein geben kann, nur heute Abend da ist?« Abwesendes Grunzen. »Reg dich jetzt nicht auf, mein Sohn. Ich hab einen Termin für dich vereinbart, bei Professor...« Meine Mutter führte meinen übervollen Kalender mit Beratungen, Entnahmen, Kontrollen und Tests besser als die Sekretärinnen der UNO. Sie informierte sich, wählte aus, dokumentierte, archivierte, ergänzte Daten und Termine, registrierte Fristen und Verschiebungen,
erinnerte mich, machte mich auf etwas aufmerksam, brachte mich auf den neusten Stand, tröstete mich ... Sie unterhielt ganz allein für mich ein Büro, das Tag und Nacht in Betrieb war. Ich grunzte. Es endete normalerweise so, dass ich die Sache den Bach runtergehen lassen wollte, und sie versuchte, sie irgendwie zu retten, oder andersherum, abwechselnd. Du fehlst mir, sagte ich zu ihr, und: Ich liebe dich. Das sagte ich immer wieder, wie einer, der sich bemüht, Wasser in einem Eimer zu halten, der keinen Boden hat. Ich forderte von ihr Vertrauen, obwohl ich ihr gegenüber bis jetzt immer darauf verzichtet hatte, Gefühle zu zeigen, aus denen mit ein klein wenig Anstrengung Liebe werden könnte. Und sie ebenso. Doch keiner von uns beiden schaffte es je, das Thema mit der nötigen Offenheit anzupacken. Es hatte sich wirklich nichts geändert. Zehn Jahre ging das schon. Und mir hatten sie jetzt auch noch diese schöne Unbekannte unter den Gürtel genäht. Echt ganz toll! Genau wie damals. Es war so bequem zu glauben, dass wir wirklich darauf warteten, dass die Welt aufhörte, sich gegen uns zu stellen, und wir bald für immer zusammen sein würden, eine Familie gründen, miteinander alt werden. Dann kam es wie eine Windhose, die sich über all das erhob und heulend und wirbelnd die Sonne verdunkelte. Sich das bewusst zu machen, riss alles mit sich. Sich bewusst zu machen, absolut nicht dazu fähig zu sein. Genau wie damals. »Er ist der Beste, den es gibt ... Lass mich ausreden ... Diesmal tust du, was ich sage ... oder ... «
Es war rührend, wie sie so tat, als sei sie ganz ruhig und davon überzeugt, dass alles, was mir geschah, nur ein vorübergehendes Tief in dem traumhaften Schicksal sei, das der heilige Kaspar mit Sicherheit für mich vorbereitete. Ich meinte sie vor mir zu sehen, wie sie sich auf ihrem kleinen Stuhl wand, wie sie die richtige Dosis suchte, um die Mauer zu durchbrechen, die ich jedes Mal wieder schnell aufbaute, wenn sie mich anrief: so viel Verständnis, so viel Autorität, so viel Schuldgefühl, so viel Optimismus ... Es war wie einen störrischen und dickköpfigen Esel überzeugen, der es nicht mehr schafft weiterzugehen, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, weil es am Ende des Aufstiegs Wasser gibt, Hafer, kühlen Schatten und kleine Eselinnen. Ich versuchte also, einen Hauch von Nachgiebigkeit in das nächste Grunzen zu legen. Sie erkannte es sofort, war ganz glücklich und wusste, dass sie mit frischer Energie und Entschlossenheit weitermachen konnte. »Sie kommen aus ganz Italien dahin. Ist mir egal, was das kostet ... Die Leute gehen ins Ausland, um gesund zu werden ... Verkaufen ihr Haus, die Leute ... « Sie wusste, wie es mich nervte, einen Haufen Geld für hochtönende Diagnosen und rätselhafte Verordnungen blühend aussehender, eingebildeter alter Professoren zu bezahlen. Aber ich war jetzt ernsthaft erschöpft, das Bein tat mir weh. »In Ordnung«, sagte ich. »Und das Auge?«, fragte sie. »Ist es ein klein bisschen besser?«
Arme Mama. Meine Akte lag schon lange auf dem Schreibtisch vom heiligen Kaspar, wo sich die Bitt- und Gnadengesuche stapelten. Ich habe Angst, hätte ich am liebsten mit aller Kraft geschrien, ich habe Angst, und ich fühle mich allein wie ein Hund, auch wenn meine Mutter mich jeden Tag anruft und meine Freunde mich nicht verlassen haben. Und ich hasse sie. Weil sie da sind und ich nicht weiß, was mit ihnen anfangen. Ich hasse die Bäume, die Erde und den Himmel, weil sie da sind und ich nicht weiß, was mit ihnen anfangen, und ich hasse mich selbst. Und dich. Weil du auch nicht weißt, was anfangen, mit dir, mit mir, mit den Bäumen, dem Himmel und dem ganzen Rest. Ich hasse alles, was nicht du ist. Und nicht einmal du bist du ... »Woran denkst du?« »An nichts Besonderes«, antwortete ich. »Das ist nicht wahr.« »Ich höre dich, Ro'.« »Du fehlst mir.« »Und was sonst noch?« »Nichts, Kleines ... Ich bin nur müde.« Die Stimme Micheles war die gleiche wie damals, als er mir von der Pistole in der Lackdose erzählte. Er sagte, dass sein Vater gestorben sei, als hätte er ihn umgebracht und fordere jetzt alle heraus, ihn zu fassen, festzunehmen, zu peitschen, zu schlagen ... und ihm noch mehr weh zu tun. Und so fing er wieder mit der systematischen Ausrottung der
menschlichen Rasse an. Und ich versuchte ihn von einer Sache abzubringen, zu der ich selbst verdammte Lust hatte. Es ist allen scheißegal, wie es dir geht, wer du bist und was du willst, sagte ich zu ihm, so scheißegal, dass sie es nicht mal merken würden, dass du gegen sie Krieg führst. Bei all dem, was dir passiert, kannst du nur versuchen, dass du was Gutes für dich selbst dabei gewinnst, einen Gedanken, Geld, eine Frau, eine Erklärung ... Er beklagte sich, dass er das Gefühl hätte, genug geschluckt zu haben, und der ganze Rest - was sollte der jetzt? Es gibt kein Maß. Das Leben, es kann überströmend sein, bläst durch die Ritzen, witscht unter der Tür durch oder hockt in der Wanne. Es ist überall. Es verschont niemanden, und es fällt einfach über dich her, Leben, Schmerz und Tod, alles zusammen, alles das gleiche, viele Male am Tag und den ganzen Tag lang. Alle Tage. »Dann bringe ich mich um«, sagte er. »Du würdest es nach fünf Minuten bereuen. Die Zeit, um zu erkennen, dass alles genauso weitergeht.« »Ich hab seine Niere in mir drin. Und die ist auch tot«, sagte er. »Streichle sie ab und zu. Das ist besser als ein Foto auf dem Grab.« Ich sagte zu ihr: Wir sollten immer so bleiben, ohne Hunger, ohne Durst und den ganzen Rest. Nur ineinander
verschlungen, Nase-Nase machen, uns sanft in die Ohren hauchen, den ganzen Körper lecken wie Katzen ... Aber das ging nicht. Auch wenn es die einzige Sache war, die wir gut konnten. Ich steckte meine Nase in ihr Haar, schnupperte den Duft ihrer Haut, betrachtete die weiche Linie ihrer Beine. Es war unfehlbar: Ich vergaß alle Fragen und alle Antworten. Dann war ich wieder da, nach der Liebe, um die Musik des Wassers auf ihrem Körper zu hören, von dort den Blick über die Wände des Wohnzimmers schweifen zu lassen ... Barbara mit ihrem Mann auf dem Kräutermarkt, Barbara und ihr Mann auf dem Motorrad, Barbara und ihr Mann im Boot in Hawaii, Barbara und ihr Mann bei Freunden zum Essen, Barbara und ihr Mann bei der Hochzeit der Schwester, Barbaras Mann heimlich aufgenommen in Portugal, wie er döst, Barbaras Mann mit einem Zackenbarsch, der ihm bis zum halben Schenkel reicht ... Ein Foto von ihm bei der Erstkommunion. Neun, zehn Jahre. Es gab genauso eins von mir in der Wohnung meiner Mutter. Wir schienen Zwillinge, die gleichen kleinen Hände, kleinen Gesichter, konzentriert auf den Ablauf der Zeremonie ... Und jetzt ich hier: in seiner Wohnung, ohne Hosen auf seiner Couch, in seinen Unterhosen - meine schmutzigen da drüben auf dem Bett -, nachdem ich seine Frau gevögelt hatte! Früher hätte ich eine solche Situation geil gefunden, jetzt spürte ich nur eine unendliche Müdigkeit. Wir waren alle aus dem gleichen Stoff gemacht, bestimmt zu altern, und in der Zwischenzeit trennte uns ein gemeinsames Schicksal in eine endlose Zahl von Bächlein, die sich kreuzten, sich in faszinierenden konzentrischen Kreisen langsam bewegten, sich
unnütz stauten, sich ein bisschen mischten und überlagerten, und so geschah es, dass man Liebe, Eltern, Nieren, Unterhosen teilte ... bevor man in den Lauf zum Meer zurückfand. Ich betrachtete die lange Narbe, die sich über meinen geblähten Bauch rankte, ein gutes Stück über der großzügig geschnittenen Unterhose von Barbaras Mann, und stellte mir vor, wir wären noch Kinder. Kleine Knirpse am Tag der Erstkommunion. Dann wäre es viel harmloser gewesen, was wir jetzt taten. Irgendwann hätten wir von dem blöden Spiel genug gehabt, uns ins Gras gesetzt und uns irgendwas Neues ausgedacht, ein neues Spiel, das man zusammen spielen konnte, oder jeder für sich allein, ganz klar. Aber nein. Da war ich nun: Ein Meter und achtzig in den Unterhosen eines anderen.
14
»Oh, du siehst aus wie ein Lord«, sagte Farini. »Soll ich den aus schwarzem Lack nehmen oder natürliches Holz?« »Na ja, schwarz sieht um Arschklassen besser aus«, sagte er und bewies damit eine gewisse Kompetenz. Er nahm ihn mir weg und warf sich in die Brust. »Schau mal, mir würde der auch gut stehen!« Mamas Orthopäde - der, zu dem sie aus ganz Italien kamen usw. - hatte mir gesagt, ich dürfe das Bein nicht belasten und müsse deshalb einen Gehstock benutzen. Und außerdem solle ich eingehendere Untersuchungen machen lassen, denn auf den Röntgenaufnahmen sei nichts zu sehen, was diesen seit einem halben Jahr anhaltenden Schmerz erklären könnte. Ich eroberte meinen Stock zurück und probierte zwei Schritte vor dem Spiegel, ganz lässig. Das Bein tat mir wirklich weniger weh. »Mimi?«, fragte ich.
»Auf dem Friedhof.« »Schlimm.« »Er sagt, es tut ihm gut.« »Mit dem Elfenbeinknauf, wie findest du den?« »Naaa.« »Ich nehme diesen!« Die Verkäuferin fragte, ob sie ihn einpacken solle. »Danke. Es ist ein Geschenk, wissen Sie... Mein Großvater.« »Oooh«, machte sie freundlich. »Eine Untiefe«, sagte ich. »Mit dem Aquascooter. Ich hinten. Er am Steuer. Wie durch ein Wunder noch am Leben.« »Oooh ... Ihr Großvater muss noch ganz schön vital sein.« »Ein Teufelskerl«, antwortete ich. »Frauen, Alkohol... Ich hoffe, dass er nach diesem Unfall ein bisschen kürzer tritt.« Tonino musterte mich und strich sich über sein Doppelkinn. »Da sind eine Menge junger Leute, sagt er...« »Wer?« »Michele. Er sagt, auf dem Friedhof sind eine Menge Gräber von Leuten, die jung gestorben sind, und das be ruhigt ihn irgendwie.« »Wollen Sie eine Schleife?« »Natürlich!... Wieso beruhigt ihn das?« »Für das rote Papier habe ich eine goldene ... oder die hier, die ist auch hübsch...« »Was sagst du, To'?« »Ich kenne doch den Geschmack von deinem Großvater nicht!«
»Gold passt sehr gut«, sagte ich. Die Verkäuferin schenkte uns ein nettes Höflichkeitslächeln. »Er sagt sich, dann haben sie es nicht nur auf ihn abgesehen.« »Wer?« »Michele!« »Wer hat es denn auf ihn abgesehen?« »Was weiß denn ich, Scheiße noch mal,« wurde Farini ungeduldig. »Der liebe Gott wahrscheinlich!« »Weißt du, dass Tania heiratet?« »Ach, sag nur!« »Auf Wiedersehen.« »Alles Gute für Ihren Großvater.« »Ich werde es ihm ausrichten...« »Und wie kommst du damit zurecht?« »Ach ... kein Problem ... VERFLUCHTER DRECK!!!« »Aber hallo! Nicht so wahnsinnig gut, hab ich das Gefühl...« »Sie meine ich doch gar nicht ... Das Bein! Verdammt noch mal. In dieser Drecksstadt sind die Straßen schlimmer als auf dem Land.« Wir bogen um die Ecke, ich sah mich um und fing an, das Paket auszupacken. »Was machst du denn da?« Ich warf das Papier weg und steckte die Schleife in die Tasche. »Die kann ich Weihnachten vielleicht gut brauchen.« »Und dein Großvater???« »Ist seit zwanzig Jahren tot, glaub ich.« Ich zog den Stock raus und klopfte damit zwei-dreimal auf den Gehweg. Die Spitze war aus Gummi und machte ein schönes TUMP TUMP.
»Du brauchst mal Urlaub«, sagte Tonino. »Ja klar, und wohin soll ich fahren?« Er breitete die Arme aus und lächelte. »In den Kongo!« »Ach hör auf, ich kann nicht in den Kongo. Der ist voller Krankheiten. Da kriege ich Abwehrreaktionen.« »Stimmt, da muss es ziemlich schmutzig sein, im Kongo«, sagte er nachdenklich. »Kannst du dir die ganzen kleinen Negerlein vorstellen, die versuchen, sie wieder zu erwischen, wie sie ihnen wie ein Stückchen Seife zwischen den Fingern durchwitscht und unter den Viktoriafällen endet?« »Was denn?« Die Niere. Wenn wir es nicht schaffen, zusammen zu leben, können wir vielleicht sterben. Zweinehmen sich an der Hand und springen. Ich habe daran gedacht, weißt du? Wenn ich es dir nicht gesagt habe, dann nur, weil ich weiß, dass du mich allein sterben lassen würdest, und es wäre das Gleiche, wenn du mir sagen würdest, es ist in Ordnung, denn dann wäre ich es, der dich sterben lässt... »Woran denkst du?« Ich lächelte traurig. »Und du?« Sie wartete lange, bevor sie antwortete. »An nichts«, sagte sie.
Ich lächelte wieder. »Leere im Hirn?« »Behandle mich nicht, als wäre ich dumm, denn das bin ich nicht!« »Weiß ich gut, dass du das nicht bist.« »Warum akzeptierst du mich dann nicht so, wie ich bin?« »Weil ich zu Tania das Gleiche gesagt habe. Ich bin so, habe ich zu ihr gesagt...« »Ich bin nicht du, ich bin nicht Tania, und auch sonst keine von deinen Frauen!« »Stimmt. Du lebst nicht gern«, sagte ich. »Und warum hast du mir dann nicht beigebracht, wie das geht?« Wir hatten es geschafft, alles perfekt hinzukriegen. Zehn Uhr dreißig: alle bei Fidel zu Hause, Begrüßung, Umarmungen, kleines Willkommensfest. Elf Uhr: Festliche Messe zu Ehren der Seligen. Zwölf Uhr dreißig: Aperitif. Dreizehn Uhr: Pirata. Spezielle Gäste: Antonio Farini und Gattin und der tapfere Michele. Der Pfarrer sprach sehr bewegende Worte, so von der Art, dass das Leben ein wertvolles Geschenk sei, und noch wertvoller, wenn man es durch die selbstlose Liebe eines unbekannten Menschen erhalten habe und so weiter und so fort - meine Schuldgefühle und die Angst, sogar die Luft, die ich atmete, zu vergeuden, erreichte unerwartete Höhepunkte des reinen Mystizismus - und irgendwann nannte er uns auch noch mit vollem Namen und zeigte völlig unerwartet auf uns: Erste Bank, mittlere Reihe, Fidel über das ganze Gesicht strahlend und festlich gekleidet
in der Mitte, Peppino und ich links und rechts von ihm, wie im Krankenhaus. Alle verdrehten sich die Köpfe, um uns zu sehen. Ich versuchte wegzutauchen, so gut es ging, und spürte, wie ich feuerrot anlief. Es dauerte zum Glück nur einen Moment, dann fing ein von der Vorsehung gesandter kleiner Chor alter Damen an, irgendein Liedlein zu kreischen. Ich wandte mich verstohlen Fidel zu - ich war mir sicher, dass er dem Pfarrer gesagt hatte, er solle vor allen Leuten unsere Namen ausplaudern, es konnte nur er gewesen sein, weil er alles organisiert hatte -: Er sang! Aus voller Kehle, so dass man nur ihn hörte, obwohl die Gevatterinnen so schrille Töne von sich gaben wie Affen am Amazonas. Er schrie es heraus, glücklich wie ein Kind, was für eine Bande von Sündern wir wären und welche fantastische Welt des Ewigen Friedens die Zukunft dank des schicksalhaften Eingreifens eines gewissen Lamm Gottes so weit ich verstand, extra vom Obersten Boss persönlich geschickt - für uns bereithielt. Auch Farini in der Bank hinter uns sang mit, laut und falsch. Es sang Peppino, es sang Michele, sie sangen alle. Da fing auch ich an, aus voller Brust, so weit das ging, herauszuschreien, dass ich ein unwürdiges Menschlein sei, und ich muss zugeben, dass es ziemlich befreiend war, in aller Öffentlichkeit diesen ganzen Abscheu vor sich selbst herauszulassen. Dann sah Fidel uns an, den einen links, den anderen rechts, sein Lächeln so strahlend wie das Morgenlicht in Havanna, breitete die Arme aus, drückte uns an sich wie zwei Baguettes und rief wie ein Besessener: »HOSANNA! HOSANNA!« Fidel ging sogar zur Kommunion. Wenn ich es geschafft
hätte, ihn zu überreden, sich als Revolutionär zu verkleiden, wäre ein solches Foto um die ganze Welt gegangen. Echt oder gefälscht, es hätte meinem Leben eine Wende gegeben - falls der Pfarrer nicht all zu viele Fragen gestellt hätte. Auch Peppino und Farini gingen zur Kommunion. Da standen sie alle drei in der Reihe, erfüllt von ehrlicher Reue, und näherten sich mit feierlichen Schritten dem Heil. Ich hatte ein bisschen ein doofes Gefühl dabei, wie einer, der zu einem Ball geht und den ganzen Abend mit seinem Hintern auf dem Stuhl klebt. Was sollte der Scheiß, ich hatte aus voller Kehle öffentlich gebeichtet, ich gehörte auch zu der Bande! »Miche'?« »Hä?« »Wollen wir nicht auch zur Kommunion gehen?« »Aber -ich hab nicht mal gebeichtet.« »Wieso nicht? Und was haben wir die ganze Zeit gesun gen?« »Weiß nicht ... kommt mir nicht korrekt vor ... « »Ach komm, wir sprechen das Reuegebet.« Michele zögerte. »Du weißt doch noch, wie das geht, das Reuegebet, oder?« »Also ich... nicht so richtig ... « »Verdammt, du kannst das Reuegebet nicht?« Was zum Teufel bringen sie den Kindern in der Schule heutzutage eigentlich bei? Kein Wunder, dass die Welt den Bach runtergeht! »Also ein bisschen«, sagte er. »Ich bereue und verabscheue meine Sünden...?«
»Bravo, klasse! ... Und verspreche...« »Und verspreche ... « »Nicht wieder zu sündigen...« »Nicht wieder zu sündigen ... « »Amen.« »Amen ... Aber bist du sicher, dass das Reuegebet so geht?« »Ach Scheiße! Los jetzt, sonst ist gleich die Reihe zu Ende.« »Also irgendwie war das länger ... «, murmelte Michele. Fidel war sehr zufrieden. Ihm war es wichtig, sagte er, dass es eine ordentliche Feier wurde, mit allem Drum und Dran. Er und Tonino hatten sich sofort verstanden. Sie waren ungefähr gleich alt und hatten entdeckt, dass sie beide die Madonnina di Pompei verehrten. Ich fragte sie, wo der heilige Kaspar in der Himmelshierarchie stand, doch sie konnten mir keine befriedigende Antwort geben. Ich hatte mir schon gedacht, dass er keiner von denen war, die was zählten. Der Pirata lag nicht weit von der Kirche entfernt, und auch Farini kannte ihn, nur dass er dort offenbar mit keinem Pornostar getafelt und keine Raubüberfälle verhindert hatte. Sie hatten einen schönen Tisch mit Blick aufs Meer für uns gedeckt. Man sah ein Boot, das gemächlich zum Ufer zurückkehrte, und in der Ferne einen Öltanker mit gelbschwarzem Rumpf, unbeweglich wie eine Sphinx auf der konvexen Linie des Horizonts. Peppino hatte seine ganze Familie mitgebracht: Frau und zwei Töchter; außerdem waren Sisina und Fidels Frau da, ein
Püppchen, das ihm mit Absätzen und allem kaum bis zur Schulter ging. Michele und ich waren die Unglücklichen ohne Frauen. »Und Barbara?«, fragte mich Fidels Frau. Ich hatte sie ihr im Krankenhaus vorgestellt, und nachher war sie eigens zu mir gekommen, um mir zu sagen, was für eine schöne Frau sie sei, und ich war ganz stolz gewesen. »Sie muss arbeiten«, antwortete ich. »Am Sonntag?« »Sie muss ganz dringend eine Sache fertig machen.« Ich hatte sie gebeten mitzukommen, doch ich wusste sehr gut, dass sie es nicht tun würde. Sie musste angeblich ihrer Schwester helfen; bei irgendeinem Scheiß, den ich vergessen habe. Das Menü war sorgfältig geplant worden: Spaghetti mit Muscheln natürlich, doch davor reichhaltige Antipasti mit Tintenfischsalat und Brot mit Aufstrich - eine rötliche Creme, die kilometerweit verdammt übel stank und die angeblich eine seltene Mischung aus Leberchen und Hirn vom Barsch war, gekonnt mit mediterranen Gewürzen angerichtet, von denen ich nur Peperoncino erkannte, was mir weniger mediterran als mexikanisch vorkam und so scharf war, dass alle Anwesenden in kürzester Zeit heftig schwitzten, einschließlich derer, die nur daran gerochen hatten. Als Zweites gab es dann eine Grillplatte mit Krustentieren, Steinbutt in grüner Soße und überreichlich frittierte Fische, das Ganze befeuchtet mit Hektolitern trockenen Weißweins, hergestellt - in begrenzter Menge und zum ausschließlichen Genuss des Wirts und seiner
Gäste - in den Kellern des Pirata selbst, und der Wirt wurde natürlich eingeladen, sich uns beim Ersten von unzähligen Trinksprüchen auf unsere unbekannte Wohltäterin anzuschließen. Fidel aß in Wirklichkeit fast nichts und ersetzte beim Anstoßen - abgesehen vom ersten Prost, bei dem er kaum einen Fingerbreit kostete - den Wein durch Wasser. »Deeer Doktooor hat gesagt, eeees ist noooch zu früh.« Er sprach immer noch ein bisschen komisch, meinte aber, das würde sich noch geben, nichts Besorgnis erregendes. Ehrlich gesagt hatte der Doktor Peppino und mir das Gleiche eingeschärft, und auch Farini war, von seiner Diabetes mal ganz abgesehen, gewarnt worden, allzu kalorienreich zu essen. Michele schlang fast alles in sich hinein. »Ist mir scheißegal«, sagte er. »Die Transplantation habe ich schon gehabt, und die ist schief gegangen, ich bin an der Dialyse - und morgen wieder sauber wie ein Baby...« Das stimmte: Er war der Einzige, der nichts zu verlieren hatte. Es gibt zwei Möglichkeiten zu kapieren, dass man in einer Beziehung die Endstation erreicht hat: Entweder man vögelt nicht oder man vögelt nur noch. Barbara und ich gehörten zu der zweiten Sorte, zu denen, die man nie zum Aussteigen kriegen würde, wenn ihnen nicht das ganze Leben die Rechnung präsentierte. Ich sagte ihr, dass wir für immer so bleiben sollten, ich sagte es ihr, während ich den Duft ihrer Haut, ihrer Lippen, ihrer Arme, ihrer Beine
einsog. Ich sagte es ihr, während ich alle Fragen und alle Antworten vergaß... nach der Liebe. Gib es zu: Wärst du nicht froh, wenn ich dir sagen könnte, warum ich dich liebe? Wenn du es mich nicht fragst, dann nur, weil du Angst hast, dass ich dich das Gleiche frage. Und es stimmt nicht, dass es für gewisse Dinge keine Antwort gibt. Für alles, ohne Ausnahme, gibt es eine Antwort, auch wenn mir der Mut fehlt, sie auszusprechen - nur in Träumen können sich Feiglinge einen grenzenlosen Mut erlauben. In der Wirklichkeit ist alles so schwierig. Sie ist grausam, die Wirklichkeit, wenn einer nichts weiß und alles falsch macht und von Leuten umgeben ist, die nichts wissen und alles falsch machen... Doch ich habe es satt. Satt, Angst zu haben und immer alles zu verlieren, satt, am Rand meines Lebens zu hocken, das langsam immer weniger wird, während ich mich nicht bewege, und bei allem nur so zu tun als ob... bei allem, außer beim Älter werden. Nur deinen Körper, deinen lebendigen Körper würde ich nie satt haben: Er ist eine junge und warme Zuflucht, eine wundervolle Verlockung, der rote Knopf der Selbstzerstörung. Nur der Körper. Du kannst mir sonst nichts zugestehen. Und ich dir auch nicht, ich meine, was noch davon da ist. Also sag: Amüsiert man sich noch bei den Tricks eines Taschenspielers, wenn man sie durchschaut hat? Aber beruhige dich, mein Schatz, ich werde dir nichts enthüllen, ich werde dir nicht erzählen, was ich entdeckt habe, ich werde abwarten, dass sich alles erschöpft, wie es schon geschehen ist, dass alles sich gleichförmig wiederholt. Mein Appetit ist heftig und unaufrichtig; würdest du zulassen, dass ich dich damit liebe, für die Zeit, die uns bleibt? Deine lebende Leiche an meine geklammert. Zwei Lügen. Schweißglänzend in frisch gewaschenen Betttüchern.
Ich stand mit der Langsamkeit eines zum Tode Verurteilten von der Couch auf und ging zu ihr ins Bad. Viele kleine schimmernde Perlen liefen fröhlich über ihre Haut, und ich vergaß wieder, warum ich gekommen war. Sie nicht. »Wir müssen reden, Ro'«, sagte sie. »Stimmt«, antwortete ich und lächelte, ohne einen Funken Freude.
15
Michele kannte einen dieser Professoren vom alten Schlag - einer, der wirklich was drauf hatte, sagte er -, und wir könnten einen netten kleinen Ausflug organisieren, weil diese Kapazität dreihundert Kilometer Richtung Norden wohnte, immer der Nase nach die Küste hoch. Der Plan war, dass er, Mic, mich abholen würde und wir dann zusammen zu Farini fuhren. Es war keine richtige Adresse, wo er jetzt wohnte, sondern eine Kilometerangabe an einer Straße, und es ging dabei sicher wieder einmal darum, möglichst wenig zu zahlen, was wir inzwischen bei ihm gewöhnt waren. Wir würden mit seinem Auto, der Teresa, weiterfahren. Sie hätte zwar ein paar Probleme, sagte er, aber sie fuhr mit Diesel, und deshalb würden wir beim Sprit viel Geld sparen. »Danach verkaufe ich sie, denn sie nervt mich total ... Ich hänge immer nur in der Werkstatt herum.« »Sicher, Anto'?«, hatte ich nachgefragt. »Sicher ist nur der Tod!«, hatte er gesagt.
Und das Unglück, dachte ich. Wir hatten beschlossen, ihn abzuholen, weil ich ihm absolut nicht traute, wenn wir es umgekehrt machen würden. Es gab Präzedenzfälle. Einmal hatte er uns sitzen lassen, Tania und mich, verkleidet als Bonnie & Clyde, fertig, um zu einem megagalaktischen Fest bei irgendwelchen Freunden von ihm zu gehen, die keine Ahnung wo wohnten. Gegen zehn, halb elf, sagte er. Damals kannte ich ihn noch nicht gut, und wir waren uns nicht besonders nah. Um elf rief ich ihn am Handy an: keine Reaktion, er antwortete nicht. Um halb zwölf, nachdem ich beschimpft und verspottet worden war - schöne Freunde ... du hast nicht die Bohne Menschenkenntnis ... und ich bin so blöd mitzumachen ... und dann verteidigst du ihn auch noch .................... rief seine Frau an. Tonino habe dringend weggemusst, weil ein Typ ihn angerufen habe wegen irgendeinem Bissniss über eine Million Dollar, und wir würden besser zu ihr nach Hause kommen, weil sie habe kein Auto, weil er habe es mitgenommen, und wir würden schon mal hinfahren, und der Dicke komme dann direkt zum Fest. »Okay«, sagte ich. »Als was verkleidet ihr euch?« »Mickey und Minnie«, antwortete sie. Mickey erschien um halb drei Uhr nachts beim Fest, während Tania-Bonnie und ich, Clyde, uns am Eingang stritten. Auf dem Fest waren wir schon gewesen, und Minnie und wir waren die einzigen bunt Verkleideten und Unmaskierten des Abends, in der Wohnung von irgendwelchen Leuten, die alle Masken trugen. Na ja, egal, bei dem Geschäft des Jahrhunderts war es um zwei Dutzend Taschen, Handtaschen und Rucksäcke gegangen, alles
Gucci, Fendi und ähnliche Kacke. Tania durfte sich eine aussuchen - zuerst hatte sie absoluten Stil bewiesen und abgelehnt - und entschied sich erst nach vielen Entschuldigungen, Schmeicheleien und diversen schönen Worten für ein grässliches Täschchen, das angeblich aus Straußenleder war, aber mich bringt keiner davon ab, dass der Kadaver die Pocken oder eine besonders bösartige Form von Akne hatte. Jedenfalls hatte ich viele gute Gründe, Tonino bei einer Verabredung niemals die Initiative zu überlassen. Wir kamen absolut pünktlich bei der Adresse an, die er uns gegeben hatte. Nur dass er nicht zu Hause war. Oder zumindest, dass es kein Haus war. Es war eins von diesen Silos zur Lagerung von Korn, Mais oder ähnlichem Zeug. Wir hatten uns nicht geirrt: Die Teresa parkte unter einem Dach aus Wellblechstücken. Und außerdem kam uns Sisina entgegen. So fett er war, so spindeldürr war sie. »Tonino ist gerade unter der Dusche«, sagte sie. »Noch? Aber wir müssen los!« Sie zuckte mit den Schultern. »Was ist das hier denn eigentlich?«, fragte ich und musterte das Silo über seine ganze Länge - gut zwanzig Meter. »Ein Architekt hat es für einen Freund von Tonino ausgebaut, und der hat es uns überlassen, bis wir eine Wohnung im Zentrum haben... Bei dir in der Gegend, gibt es da nichts?« »Ich wohne doch gar nicht im Zentrum.« »Hauptsache, es kostet nicht viel, wir sind grad knapp bei Kasse.«
»Aber es ist schön«, sagte Michele. Dieser Junge war echt begeisterungsfähig. »Ein Architekt, hä?«, murmelte ich, als wir es aufgaben und Sisina ins... na ja: Haus folgten. Okay, ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Es war eigentlich gar nicht so schlecht. Unten gab es ein Wohnzimmer mit Küche und einem nierenförmigen Raum, der das Bad sein musste, über dem eine Eisentreppe nach oben führte, wo vermutlich das Schlafzimmer war. »Oh!« rief ich, kaum dass ich drin war. »Das Klo ist toll. Ist das antik?« Farini erschien, umhüllt von Dämpfen, die nach Eukalyptus dufteten, ein riesiges altrosa Tuch mit Goldstreifen verführerisch um sich drapiert. »Was hast du denn da an?«, fragte Michele. Sisina zeigte auf das Sofa. Er konnte noch staunen, der gute Mimi. Ein braver Junge. »Fertig!«, zwitscherte Ihre Kaiserliche Hoheit, der Göttliche, Ihre Magnifizenz, der Rex Maximus, Seine Heiligkeit mit königlicher Frivolität. Es war halb neun Uhr morgens. Wir wollten es in aller Ruhe angehen. Nach der Ankunft ein bisschen durch die schöne Küstenstadt bummeln, zum Schlafen in eine kleine Pension gehen, die Michele gut kannte, und uns am nächsten Morgen, frisch und ausgeruht, nett und adrett wie drei Schuljungs für die Labortests in die Ambulanz begeben, um dann, mit den Ergebnissen in der Hand, schließlich dem Obersten Schamanen der Nephrologen gegenüberzutreten.
Wir hatten uns dazu entschlossen, weil jeder von uns unter Beschwerden litt, deren Ursachen sich nicht finden ließen. Insbesondere - einmal abgesehen von meinem Bein und meinem Auge - war Michele davon überzeugt, Magenkrebs zu haben, und Farini wollte sich auf die Transplantationsliste setzen lassen. Er war ziemlich hoffnungsvoll, denn in den letzten Monaten hatte er die Kleinigkeit von dreiunddreißig Kilo abgenommen, sagte er, und jetzt wog er nur noch hundertzwanzig. »Einhundertneunzehn, heute Morgen«, verkündete er und klatschte sich fröhlich auf seine speckigen Hüften. Wir schafften es erst um halb sechs am Nachmittag, unseren Arsch hochzukriegen und diesen beschissenen Ort zu verlassen! In der Zwischenzeit wurden wir Zeugen einer telefonischen Transaktion, bei der es um eine Partie Schaffelljacken ging, eines An- und Verkaufs von RolexUhren Made in Taiwan, des Erwerbs und fünf Minuten später des Weiterverkaufs eines Wohnwagens, der richterlich beschlagnahmt irgendwo in einem Depot stand, der Übergabe einer Mikrowelle mit digitalisierter Einschaltautomatik und einiger Brillantringe, die unser Held auf eine Art und Weise und für Zwecke, die wir uns lebhaft vorstellen konnten, beim Teleshopping erstanden hatte. Zuletzt wohnten wir der Zubereitung einer Tiramisu für zwanzig Personen bei, sowie der Herstellung von Coda alla vaccinara, auf die ganz zum Schluss großzügig geriebene Blockschokolade kam, ganz nach dem Originalrezept der alten Vaccinarimeister von Monte Testaccio, dessen Wahrer und Hüter nur er und drei oder vier andere, in der ganzen Welt verstreute Personen waren.
Die beste Schokolade erklärte er uns, sei, wiederum nach den Heiligen Schriften, die aus den frommen Küchen der Trappisten, des alten und fleißigen Ordens kleiner Brüder, die heute in einem hochmodernen Klostergut vor den Toren der Stadt beteten und arbeiteten. Sicher, man könne es auch ohne machen. Und irgendein anderes Stück Schmelzschokolade, das nicht von den genannten Mönchen stammte, wäre vielleicht auch gegangen, wer würde es schon merken...? Er. So waren wir also, statt da, wo wir schon lange hätten sein müssen, ganz woanders, um Schokolade zu besorgen. Längs der Straße zeigte uns unser beredter Führer weitere Stationen, etwa jene berühmten Quellen, aus denen weltweit bekannte und geschätzte Wasser mit wohltuend harntreibenden Eigenschaften flossen - Gott allein weiß, ob wir die brauchten! Und wie konnte man, war es doch nur ein kleiner Umweg von wenigen Kilometern, am Santuario del Divino Amore vorbeifahren, wo ein Gnadenbild der gleichnamigen Madonna seine Heimstatt hatte, ein Ziel frommer Pilger aus aller Welt. Kurz und schlicht: Ungefähr neun Stunden später, als unser Plan es vorsah, gelang es uns endlich, voller Coda, Schokolade, Heiligkeit und Tiramisu Seine Gnaden zu überreden, die königlichen Arschbacken in die Heilige Teresa Diesel zu schwingen. Eines der Probleme der Teresa waren die Zündkerzen. Dies kostete uns weitere gute zwanzig Minuten. Michele wurde als Fahrer bestimmt, da Farini am Abend vorher an der Dialyse gewesen war und sagte, er sei zu fertig, während ich als Kandidat nicht mal in Frage kam. Ich hatte ein
bisschen Musik für die Reise mitgebracht: Creedence Clearwater, The Who, Steppenwolf, Pretenders, Stones, natürlich, und ein bisschen was Neueres, Typ Prodigy, Pearl Jam und Red Hot Chili Peppers. Außerdem hatten wir ein gutes halbes Kilo Tiramisu in zwei Alufolien, ein Tütchen kalabresisches Gras - halluzinogen, schwor Farini -, eine Erlaubnis, auf für Behinderte reservierten Plätzen zu parken, ein paar Flaschen Mineralwasser, einen Schirm, Nifedicor in Tropfenform für eventuelle Hochdruckattacken, Cyclosporin, Cortison und eine Krücke für mich, Pillen für Micheles Gastritis-Krebs und Maalox für alle. Und drei Handys, nein sogar vier, denn Farini hatte zwei. Jaaahaaa, wir waren auf hohem technologischen Niveau, na klar, vollgestopft mit Chemie, lebende Monumente der pharmazeutischen Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts! »Jesus, Maria und Josef«, sagte Farini, »beschützt uns auf unserem Weg.« »Jesus, Maria und Josef«, wiederholten wir im Chor. »Beschützt uns auf unserem Weg.« Dann machte Tonino das Kreuzzeichen und küsste das Bildchen des HeiligenHerzJesu und der Madonnina di Pompei, die gut sichtbar neben der kaputten Belüftung hingen. Michele tat das Gleiche. Ich auch: Ich wollte mir niemanden zum Feind machen. Außerdem konnte ich jede Art von Hilfe brauchen, und wer immer runterkäme, sie mir zu bringen, war hochwillkommen: Gott, Buddha, Shiva, Alberto Castagna, Madeleine Albright ... Ich küsste alle und alles, Hauptsache mein Bein würde mir nicht mehr wehtun und der Nebel vor meinem Auge verschwinden.
Sisina stand in der Tür des Silos und schaute uns mit einem besorgniserregend skeptischen Ausdruck an, dann heulte der Motor unglaublich freudig auf, und so sagte sie schließlich ciao, wobei sie, wie sie unten an diesem Ding da stand, eher wie diejenige aussah, die gerade abreiste, mit dem Raumschiff auf in neue Galaxien. Auch wir sagten ciao, berührten uns beschwörend und fassten Eisen an. Schließlich setzte sich das Auto in Bewegung. Der Kies auf dem schmalen Weg knirschte unter den Rädern. »Mein Vater ist an Krebs gestorben«, sagte Michele. »Mein Großvater ist an Krebs gestorben, mein Onkel ist an Krebs gestorben ... « »Dieses Gras ist saugut«, sagte Farini. »Aber ich schaffe das mit meinen Fingern nicht, ich kriege Krämpfe beim Drehen.« Ich nahm das Gras und drehte einen Joint. Grauenhaft. »Was soll das denn sein?!«, sagte er. »Hättest du mir doch sagen können, dann hätte ich das gemacht!« »Ich dachte, du kriegst Krämpfe dabei?« Proud Mary ist ein optimaler Start für eine Reise, John Fogerty gehört zu den ganz Großen! »Wo warst du denn neulich abends, ich hab dir zwei Nachrichten hinterlassen, und du hast mich nicht mal zurückgerufen?«, fragte mich Tonino. »Pppfff! Draußen rumgelaufen vielleicht.... Früher musstest du mich aus dem Haus prügeln, jetzt würde ich am liebsten Tag und Nacht draußen bleiben. Ich hab keine Lust, ständig drinnen zu sein.«
»Alle Männer meiner Familie sind an Krebs krepiert«, sagte Mimi. »Weil wenn ich zu Hause bin, denke ich nach!«, sagte ich. »Ich denke, dass ich immer allein bleibe, und sie gerade mit einem anderen vögelt. Während ich hier lahm und halb blind mit diesem anderen Restmüll der Menschheit rumhänge.« Farini und Michele protestierten. »Und wenn ich Krebs habe?« Farini und ich protestierten. Die Autobahn ist für Musik gemacht, außerdem dient sie auch noch dazu, unterwegs zu sein. Es war fantastisch. Alles kam uns schrill-fröhlich entgegen: die Farben, die Namen der Städte auf den Schildern, die Tankstellen ... Und wir auf gefährlicher Fahrt: auf Eisen und zu heißem Gummi, um Kilometer und Städte, Farben und Tankstellen zu erobern. Aufrührer waren wir, Kopfjäger, Krieger. »Ich hab mich verliebt«, sagte Michele. Wir seufzten erleichtert auf. Die Geschichte mit dem Krebs wurde wirklich langsam deprimierend. »Aber ich rufe sie an und sie mich nicht. Also hinterlasse ich ihr eine Nachricht, weil die mir sagen, dass sie nicht da ist, aber meiner Meinung nach ist sie da, und dann ruft sie mich nicht zurück.« »Wer ist es denn?«, fragte ich. Ich kannte alle Frauen Micheles inzwischen ein bisschen. Wenn er nicht überlegte, wie er sie zerstückeln und in einem Koffer an eine zufällige Adresse schicken sollte, verliebte er sich und erzählte mir von ihnen. Da gab es die mit den Eltern, die sich schlugen, die mit den Eltern, die
sie schlugen, die, die nach den Eltern schlug, die mit dem fixenden Bruder, selbstmordgefährdet - nicht der Bruder, sondern sie -,die mit dem Bruder, die selbst fixte, der Bruder aber nicht, die, die keine Brüder hatte und nicht fixte, sich aber trotzdem umbringen wollte ... »Sie ist mein ästhetisches Ideal«, antwortete er. »Man hat ja ein ästhetisches Ideal im Leben.« »Aber sicher!«, rief ich aus. »Besser als nichts«, murmelte Farini und tippte wieselflink auf den kleinen Leuchttasten seines Handys herum ... Von wegen Krämpfe! »Hast du ihr denn gesagt, dass du dich in sie verliebt hast?« »Wie denn? Sie geht ja nicht ans Telefon!« Farini war ständig mit seinen beiden Handys zugange. Geschäfte. Wir rasten mit hundertsiebzig Kilometern über die Stadt, wo Barbara wohnte, über Barbara und jede Spur meiner Gegenwart in ihrem Leben hinweg. »Hast du ihr was von der Pistole in dem Lacketui erzählt?«, fragte ich so dahin, ohne nachzudenken. »Ich hab sie ihr gezeigt.« Farini und ich sahen ihn an. »Nur einmal ...« »Ich drehe«, seufzte Farini. Er hatte gerade erfolgreich den Verkauf einer Standbohrmaschine getätigt, komplett mit Bohrern und Adapter, originalverpackt und mit Garantie.
Ein anderes kleines Problem der Teresa war, dass wir alle siebzig Kilometer halten mussten, um vollzutanken. »Himmel, was ist denn los mit diesem Auto?« »Der Tank«, antwortete der Dicke seelenruhig. »Er ist umgebaut. Es gab keinen Platz.« »Aber ... WARUM?« »Koks«, sagte er. »Anderthalb Kilo.« Er musste uns schwören, dass in diesem Scheißauto nichts weiter war als das bisschen Gras, das wir mitgenommen hatten, um uns das Warten auf den Spruch zu erleichtern, mit dem der Oberste Schamane der Nephrologen uns begnadigen oder verurteilen würde, und zwar zu Krebs bzw. Blindheit und lebenslangem Hinken bzw. ewiger Dialyse ohne Aussicht auf ein Ende, und wir stimmten einer Fortsetzung der Reise erst zu, nachdem wir vereinbart hatten, was wir der Polizei sagen würden, falls sie uns anhielte und Farini in dem Punkt, dass wir nichts Illegales dabei hätten, gelogen hatte. »Wir sind sauber«, schwor er. »Unbefleckt wie die Jungfrau von Puntalazzo.« Nie gehört. Doch wir bekreuzigten uns alle drei. Ich war wütend. »Aber sie reißen uns trotzdem den Arsch auf, weißt du ... Wie verdammt noch mal willst du ihnen erklären, dass der Tank ein Versteck hat ... Was für ein Wahnsinnsscheiß...« Dann merkte ich, dass die Teresa langsamer fuhr. »Dreck«, höre ich Michele zwischen den Zähnen murmeln. Ich schaue. Und ich sehe sie. Ein paar Hundert Meter vor uns.
»O Himmel ... « Der Polizist wünschte uns gute Fahrt und auch sonst alles Gute. Farini hatte ihm erzählt, wie schlimm wir dran waren, was für ein ruiniertes Leben wir hatten, wie viel Leid! Michele und mir gelang es wenigstens, diesen Irren, diesen Wahnsinnigen, diesen Angeber und Verbrecher davon abzuhalten, Arme und Bauch freizumachen, um Verletzungen und Narben zum Beweis unseres schlimmen Schicksals zu zeigen. Dann wollte er ihnen Tiramisu anbieten, doch sie lehnten höflich ab. Also lud er sie ein, in seine Boutique, die er am Corso habe. Sogar die Marini komme ab und zu vorbei, um sich ein Fähnchen zu kaufen ... Was für ein Weib - blubberte er-, ein bisschen dicke Beine, aber echte Klasse ... Gott, hilf mir, ich gehe zurück in die Kirche, gehe zur Kommunion... Heiliger Kaspar, ich bitte dich... Und er weiter: Ja, doch, kommt mit euren Frauen zu mir, eine kleine Aufmerksamkeit, ein Röckchen, ein Tuch, ein Blüschen .... Und dann, dass er einen Onkel habe und drei Cousins, Carabinieri in Torre del Greco, in der Dingseinheit unter Kommandant Weißnichmehr.. . Herr, rette uns, errette uns, o Herr... Und einer sogar ausgezeichnet für eine heroische Tat, sogar in der Zeitung hat er gestanden, und auch er selbst, dochdoch, wenn er nicht diese Krankheit hätte... Die Polizisten konnten nicht mehr. Irgendwann stieg der eine aus dem Einsatzwagen und rief, sie müssten sofort los, ein Unfall weiter vorne. Nicht mal ein Knöllchen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung
kriegten wir, sie rasten mit quietschenden Reifen und tatütata los, dass Farini sogar fast ein bisschen sauer war. »Ach ja«, seufzte er und beobachtete, wie sie mit zweihundert Stundenkilometern am Horizont verschwanden. »Die Faszination der Uniform.« »Was schreibst du da?«, fragte mich Farini. »Mir tut so viel weh, dass ich manchmal was vergesse. Ich muss es mir aufschreiben.« »Tolle«, sagte Michele. »Tust du das auch für mich?« »Ich soll deine Beschwerden auch aufschreiben?« »Sehr verehrter Herr Professor .... Dies hier zu Ihrer Information ... « »Kannst du bitte einmal ernst sein!« Ich teilte das Blatt in drei Spalten ein, jede mit einem unserer Namen darüber. »Also«, sagte ich. »Gehen wir der Reihe nach vor. Augen. Wer hat Probleme mit den Augen?« »Ich nicht.« Michele. »Scheinwerfer in Ordnung.« Farini. »Okay. Augen nur bei mir.« Ich schrieb Augen in meine Spalte. »Beine«, sagte ich. »Hat einer irgendeinen Scheiß mit seinen Beinen?« »Probleme an den Antriebswellen«, sagte Tonino. »Hast du jetzt Probleme mit den Beinen, ja oder nein?« »Ja, mit den Waden. Es juckt wie Sau. Und ich muss mich immer kratzen, und dann fängt es an zu bluten und ...« »Ey, warte! Ich schreibe nur Beine auf, die Einzelheiten kannst du ihm dann selbst erzählen.«
»Und hast du irgendwas mit den Beinen?«, fragte ich Michele. »Mit dem in der Mitte!«, sagt er. »Ich auch! Ich auch!« »Was, Toni?«, fragte ich resigniert. »Ein Problem. Mit dem in der Mitte«, sagte er. »Im Ernst?« »Echt!« »Hör mal. Ich hab keine Lust dazu, dass du mich irgend welchen Blödsinn aufschreiben lässt. Ich will das ordentlich machen...« »Aber ich hab da wirklich was ... «, protestierte er. »Der Unkoffzier?«, fragte ich panisch. Wir fassten uns beschwörend zwischen die Beine. Alle gleichzeitig. Ich schrieb Pimmel in Farinis Spalte und fuhr fort. »Atemprobleme?« »Nichts an der Klimaanlage.« »Magen?« »Tank in Ordnung!« »Krebs!« »Herz?« »Pumpe außer Garantie und in ganz schlechtem Zustand«, sagte Farini. »Meine müsste bis zur nächsten Inspektion halten«, sagte Michele. Ich fügte auf Farinis Liste Herz hinzu. »Darm?«
»Auspuff im Eimer!« «Absolut!« »Nicht zum Aushalten«, röchelte ich und machte irgendwelche hilflosen Bewegungen. »... und die Eier?« »Geschwollen«, sagte Farini. »Geschwollen«, sagte Michele. Eier, schrieb ich bei allen dreien auf.
16
Es gibt wenig Ärzte, die einem was erklären, eine Menge erfährt man in Wartezimmern, von Leuten, die das Gleiche durchgemacht haben. Während ich zusammen mit Michele darauf wartete, dass Farini mit seiner Show beim Professor fertig wurde, unterhielt ich mich mit einem Typ, so einem schmächtigen Kerl mit einem verschlagenen Gesicht. Er hinkte. Schlimmer als ich. »Träumst du davon zu rennen, nachts?«, fragte er mich. »Nein«, antwortete ich. »Heute Nacht träumst du davon, bestimmt«, sagte er. »Ich träume, dass ich renne, um den Bus zu erwischen. Er steht da mit offenen Türen an der Haltestelle, will gerade wieder abfahren, achtet nicht auf mich, doch ich fange an zu rennen .... Es wirkt echt. Nicht wie ein Traum«, sagte er. »Und schaffst du es?«
Hinky lächelte. »Ich renne wie der Wind.« »Und den Bus«, sagte ich, »schaffst du es, den Bus noch zu kriegen?« Hinky lächelte wieder. »Eine Sekunde, bevor dieses Arschloch die Türen zumacht.« Wir fingen beide an zu lachen. Das Cortison ist schuld, erklärte er mir. Bei manchen passiert das. Es geht an die Knochen. Und auch an die Augen, manchmal. Man kriegt grauen Star. »Aber der Augenarzt sagt, da ist nichts«, protestierte ich. »Man sieht nichts, wenn es anfängt«, sagte er. »Am Anfang bemerkst nur du es, dass du alles wie durch einen dünnen Nebel siehst, Licht ist unangenehm, Scheinwerfer blenden dich...« Genau so war es. Je heller es war, desto schlechter sah ich. Nachts zu fahren war fast unmöglich geworden: Aus den Scheinwerfern der Autos, die mir entgegenkamen, wurde ein dichter Kreis aus Leuchtnadeln, die mich blendeten, und ich sah rein gar nichts mehr. Das war die Erklärung! Jetzt war ich wirklich blind. Jetzt ja! Und lahm auch! Man ist etwas erst, wenn man weiß, dass man es ist. »Aber man kann eine Prothese machen«, sagte Hinky. Ich sah ihn an. Er merkte, dass ich nichts kapiert hatte. »Am Bein«, sagte er. »Sie sägen dir das Stück toten Knochen raus und pflanzen dir Spezialkunststoff oder Metall ein.« »Und du, warum lässt du das bei dir nicht machen?«, fragte ich. »Weil ich achtunddreißig Jahre alt bin, deshalb.«
»Ja und?« Hinky lächelte ein bisschen zynisch. »Es hält nicht ewig«, sagte er. »Du musst es dir genau ausrechnen.« »Verdammt, aber wenn es doch aus Metall ist...« Hinky lächelte wieder, noch ein bisschen zynischer. »Titan«, sagte er. »Du kannst sicher sein, dass man, wenn du nach dreihundert Jahren wieder ausgebuddelt wirst, nur das Stück Titan im Sarg findet und dass es absolut genauso aussieht wie an dem Tag, als sie es dir eingesetzt haben.« »Ja und?« »Na ja, nicht das Metall geht kaputt«, sagte er. »Der Knochen nutzt sich ab.« »Das Metallstück«, fuhr er eifrig fort, denn inzwischen schien es ihm Spaß zu machen, »das wird mit dem Knochen verschraubt. Und nach und nach, durchs Gehen ... da wird das Loch größer, nicht?!« »Und kann man dann nicht ein neues Stück einsetzen?« »Doch, aber wenn das Erste vielleicht zehn Jahre hält, dann schrauben sie dir das Zweite in den Knochen, wenn er schon ganz schön mitgenommen ist, das hält dann fünf, sechs Jahre ... Und was machst du dann, schraubst du es dir ins Knie?« Ich sagte nichts und versuchte mir eine Möglichkeit zu überlegen, wie man Schrauben irgendwie dauerhafter festmachen könnte, ein System mit Nägeln vielleicht, so eine Art Gerüst, was weiß ich; im Moment fielen mir keine brauchbaren Alternativen ein. »Hör mal. Wann haben sie dir die Niere eingepflanzt?«, fragte ich ihn.
»Vor fünfzehn Jahren. Und acht Monaten.« »Und wie lange hinkst du schon so?« »Dreizehn Jahre nächsten Monat. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen...« In diesem Moment kam Farini heraus. »Ich muss noch wenigstens dreißig Kilo abnehmen«, sagte er und lächelte. Hinky hatte alles in allem Recht gehabt. Michele hatte keinen Krebs, und Farini musste eine ganze Reihe von Anweisungen befolgen. Es war das Herz. Er wog zu viel, und sein Herz machte langsam schlapp. Wir hatten keine große Mühe, ihn zu überreden, nach Hause zurückzufahren, statt einen Abstecher nach Monte Carlo zu machen, obwohl es ja, wie er sagte, nur vier Stunden entfernt war, höchstens fünf. Dafür machten wir am Strand Halt. Ich war ziemlich am Ende. »Ist das Gras alle?«, fragte ich. Farini zeigte mir die Tüte. Sie war noch halb voll. »Was hat der Doktor zu dir gesagt?«, fragte er mich. »Dass es nur zwei Prozent passiert, dass sie durch das Cortison hinken.« »Zwei Prozent?« »Zwei Prozent.« Tonino lächelte traurig. »Wir gewinnen die Lotterie andersrum«, sagte er. »Die Lotterie andersrum?« »Ja. Die Lotterie andersrum.« »Die Lotterie andersrum«, wiederholte Michele. Wie sahen jetzt alle aufs Meer hinaus. Die Sonne versank schnell am Horizont, und es begann kalt zu werden.
Dann sagte Farini: »Kennst du All Along The Watchtower?« Natürlich kannte ich das. »Aber die Version von Jimi Hendrix.« Ich lächelte. Meine Hände waren orangerot gefärbt. »Die Einzige«, antwortete ich. »Okay. Miche'«, sagte er, »erspar es mir aufzustehen, ich komme nicht hoch. Nimm die Teresa und hol aus dem Handschuhfach eine Kassette, du findest schon die richtige, die ohne Hülle. Und außerdem ist da nur eine drin. Spul sie ganz zurück, mach den Kofferraum auf, mach die Türen auf, mach alles auf. Und stell volle Pulle laut.« Michele klopfte sich den Sand von den Hosen und ging los. Ich hörte, wie das Auto hinter mir herumrutschte, und den Lärm der Türen. Und dann die Musik. All Along The Watchtower. Dylan hatte gesagt, das sei jetzt nicht mehr sein Song, als er gehört hatte, wie Hendrix ihn spielte. An diesem Punkt stand Farini doch aus dem Sand auf. Er zog sich mit Mühe hoch - einhundertneunzehn Kilo heute Morgen, und er würde es nie runter auf neunzig schaffen -, packte meine Krücke, diese verdammte Scheißkrücke, und ging auf die Wellen zu. Mic und ich schauten hinter ihm her. Wir wussten nicht, was er tun wollte. Dann sahen wir, wie er an der Wasserlinie stehen blieb. Er betrachtete die untergehende Sonne, hob meinen Stock in die Luft, und mir schien, aber ich bin nicht sicher,
dass er so blieb, unbeweglich vor dem roten Himmel, rot wie der Sonnenuntergang über dem Indischen Ozean, über Afrika, über allen Ozeanen und allen Afrikas. Dann ließ er den Stock runter und steckte ihn kraftvoll in den Sand. Er drehte sich um und kam zu uns zurück. Er schnaubte und keuchte, schwitzte, obwohl es kalt war, und ließ sich schwer neben mich fallen. Ein bisschen kalter Sand landete in meinem Hemd, ich spürte ihn auf der warmen Haut. »Sieh ihn dir an«, sagte Farini und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, die ganz rot war. »Sieh ihn dir jetzt an«, sagte er. »Ist er nicht wundervoll?« Die grünen Autobahnschilder kamen uns wieder entgegen, und wir fuhren wieder über Barbara und ihre Stadt hinweg, und vielleicht sah ich ihr erleuchtetes Fenster zwischen all denen, die dort unten schimmerten, nahe dem kalten, dunklen Meer. Die Liebe, schrie Roger Daltrey heraus, herrscht über mich... Himmel, wie hätte ich es gewollt, jetzt, gerade jetzt, dass sie mich fest umarmen, meine Lippen berühren, mir in den Hintern kneifen, mich unter dem Tisch mit dem Knie anstoßen würde ... So machte ich mir immer vor, jedes Problem lösen zu können, das war das Mittel, mit dem ich überlebte. Doch diesmal kam niemand, um mir herauszuhelfen - wenn es dir schlecht geht, verlangst du, dass jeder von seinem eigenen Berg der Schmerzen runterkommt, um auf deinen zu steigen und ihn mit dir zu teilen.
Ich wollte doch nur ein bisschen Liebe. Ein bisschen, was für ein Scheiß! Ich wollte so viel, um darin zu ertrinken. Doch mir hätte auch irgendeine Zärtlichkeit genügt, ob sie nun angemessen war oder nicht. Ich drehte mich um, aber Barbaras Fenster war nicht mehr da. Und dann weiter. Die Straße, die enger wurde, wie ein Flaschenhals. Sie waren fast mit Händen zu greifen, die Gedanken, die Angst, die Hoffnung, der Schmerz, die Wünsche, alles, was sich darauf zubewegte, sich zusammendrängte, in Richtung auf irgendeine Falle, eine andere Einsamkeit, vielleicht eine noch erbarmungslosere ... Es wird doch zu irgendwas gut sein müssen, sagte ich mir immer wieder. Aber ich wusste, dass ich nicht sterben würde, nicht daran, auch wenn mir manchmal der Körper weh tat, manchmal die Seele, und meistens alle beide. Von den einfachen Dingen ist die Zerstörung eines Menschen das schwierigste. Ich berührte die Narbe und ich spürte, dass die Niere darunter arbeitete und einfach nur weitermachen wollte. Ich streichelte darüber, und mit einem Mal fühlte ich, dass der ganze Körper sich straffte, als hätte er einen sehr wichtigen Befehl erhalten, einen von denen, die entscheidend für den Ausgang einer Schlacht sind. Plötzlich hätte ich gerne alle um Entschuldigung gebeten, die ich verletzt und blutend auf dem Weg zurückgelassen hatte, allein, ohne irgendeine Bühne, ohne ein Publikum, das man mit dem herausgeputzten Martyrium des Körpers oder der falschen Erhebung der Seele verblüffen könnte. Keine Tricks, diesmal...
Tonino schob die Stones rein, live, Hyde Park neunzehnhundertneunundsechzig, in Memoriam Brian Jones. Aus meinem Verdauungsapparat erhob sich zustimmendes Gluckern. »Pasta!«, rief ich aus. »Penne!«, rief Michele. »Bucatini«, verkündete Tonino. »Auf traditionelle Art«, sagte er. »Bauchspeck, pikant und alles.« Wir gerieten in Verzückung. »Fett!«, sagte Mimi. »Dass wir sogar auf den Augäpfeln Pickel kriegen«, sagte ich - das war nicht unmöglich: Meine Stirn war ja schon voll. Ach was, im Grunde war ich ja nicht wirklich lahm, ich konnte sogar tanzen! Ich durfte nur nicht mein ganzes Gewicht auf das kranke Bein verlagern. Laufen ging nicht. Aber das hatte ich auch früher nicht gern getan. Und nur wenn du irgendwas nicht mehr tun kannst, kriegst du plötzlich Lust, es zu tun. Heute Nacht aber würde ich vielleicht davon träumen. Die Stones fetzten richtig los, und die Teresa zog besser, weil sie den Stall roch. Und da merkte ich, dass alle tanzten: ich, meine kleine weibliche Niere, und auch die Studentin im Minirock tanzte, wo immer sie jetzt sein mochte, auch die Würmer, die sie in der Zwischenzeit gefressen hatten, und die Kinder und Kindeskinder der Würmer, die ganze Erde tanzte und war glücklich, dass es einen solchen Zirkus gab, Krankheiten, Krieg und Tod eingeschlossen. Was für ein beschissener Platz! Doch das war unser verdammtes Haus: Das Dach war undicht, auf dem Klo herrschte ein ständiges
Hin und Her, und ein furchtbarer Gestank vermischte sich sanft mit dem Duft der Blumen, die einfach so in einem Garten wuchsen, um dessen Pflege sich niemand kümmerte, und wir, Lebende wie Tote, hatten was zu erzählen, und wir tanzten im Schein des Mondes, alle mit einer Hartnäckigkeit, einer Verzweiflung und einer Fröhlichkeit, die keine Erklärung fanden. Eigentlich hätte ich schon tot und begraben sein müssen, doch stattdessen war ich noch da und tanzte und weinte und machte Liebe - na ja, im Moment meistens Wichsereien -, ging ins Kino, öffnete Türen, stieg Treppen hoch, stand in der Post und beim Arbeitsamt in der Schlange, kriegte Knöllchen - Himmel, eine Masse Knöllchen -, ließ den Braten anbrennen ... und träumte noch von irgendwas, das ein bisschen besser als das war. Nein. Viel besser! Und ich hatte noch Zeit vor mir, um es zu tun. Und dies dank Müttern, Ärzten, Freundinnen, Leichen - vielen Leichen -, Polizisten, Tierärzten, Huren, Versuchskaninchen, Fluglotsen ... Ein irre geschäftiger Ameisenhaufen. Tonino rieb sich die Hände und brachte den Refrain von Honky Tonk Women zusammen mit Charlie Watts, trommelte auf seine Schenkel, immer ein bisschen zu früh, um ehrlich zu sein, aber es war trotzdem gut. Ich sah die Beulen an, da, auf unseren Armen, und stoppte einen Moment, um diesen alten Fabriklärm darunter anzuhören ... Bei dem ganzen Krach kam er trotzdem durch. Er nervte mich nicht mehr so. Er leistet einem Gesellschaft, sagte Barbarella. Mick Jaggers Nieren funktionierten jedenfalls, so weit man hörte, immer noch einwandfrei, und die Stones spielten wie die Götter. Und außerdem hatte er ja auch ständig Probleme mit Frauen - ach, die Probleme müsste
man haben ... Das Telefon läutete. Farini. Eines seiner beiden Handys. »Tz-tz«, sagte er. »Sie ist nicht zu verkaufen.« »Wer?«, fragte Michele. »DIE TERESA!, schrie er. Und die knatterte lustig vor sich hin.
Für Antonio Giuseppe Matteo Farini (1953-1999)
ENDE