Atlan - König von Atlantis Nr. 478 Das Ende der Neffen
Die neuen Feinde von Peter Terrid
Panik auf Pthor
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Atlan - König von Atlantis Nr. 478 Das Ende der Neffen
Die neuen Feinde von Peter Terrid
Panik auf Pthor
In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen – und schwerwiegende Dinge vollziehen sich. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Aufregung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGIEN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren »Kollegen«, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOLʹDHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei immer mehr dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Was Atlan und Razamon betrifft, so ist es den beiden Männern quasi in letzter Minute gelungen, sich von Dorkh, das dem Untergang geweiht ist, abzusetzen. Das Raumfahrzeug, das der Arkonide und der Berserker bestiegen haben, erlaubt es ihnen allerdings nicht, einen anderen Planeten anzusteuern. Und so müssen die beiden Männer im Grunde froh sein, daß ihr Fahrzeug aufgebracht wird und sie selbst auf die Welt der Auserwählten gelangen. Was Pthor betrifft, so kommt es dort zur Panik, denn es erscheinen DIE NEUEN FEINDE …
Die Hauptpersonen des Romans: Heimdall, Sigurd und Balduur ‐ Die Odinssöhne im Kampf gegen die neuen Feinde. Lykaar und Braheva ‐ Ein Ehepaar aus Orxeya. Genlis ‐ Ein böser alter Mann. Caidon Rov ‐ Hüter der Feste Grool. Benkthan ‐ Ein Unterhändler.
1. »Bleib, wo du bist!« rief Sator Synk. »Zeige dich nicht.« Bördo blieb im Eingang der Magierhöhle stehen, während sich Synk auf den Boden geworfen hatte. »Was gibt es?« fragte Bördo gerade noch hörbar. »Ich habe etwas gesehen«, gab Synk zurück. »Eine schemenhafte Bewegung, irgendwo zwischen den Felsen.« »Magier?« Synk machte ein Zeichen der Verneinung. »So genau konnte ich es nicht sehen«, sagte er leise. »Es könnte ein Tier gewesen sein.« »Ein Ungeheuer aus den Horden der Nacht?« fragte Bördo, Sigurds kampflustiger Sohn. Wieder verneinte Synk, obwohl er sich seiner Sache überhaupt nicht sicher war. Bördo ließ sich auf den Boden gleiten und robbte zu Synk herüber. Er tat das sehr geschickt und mit großer Gewandtheit. Einmal mehr konnte Synk feststellen, daß aus Sigurds Sohn ein streitbarer Kämpfer werden würde. In dem Knaben steckten allerlei Talente verborgen – allerdings auch etliche Mängel und Fehler. »Wo?« Synk streckte die Hand aus. Graue Felsen türmten sich in Sichtweite der beiden Pthorer. Sie waren aufgebrochen, um die Magier in der Großen Barriere von Oth
zu besuchen und vor allem um jenseits der Barriere, im Süden von Pthor das fremde Schiff zu suchen, das dort gelandet war. Vielleicht, das war Synks stille Hoffnung, ließ sich die Mannschaft des Schiffes dazu bewegen, die Waffen gegen die herumstreunenden neuen Horden der Nacht zu richten. Hilfe dieser Art tat bitter not – in hellen Scharen entstiegen die neuen Horden der Tiefe der Erde, und der Tag zeichnete sich ab, da auch der letzte Pthorer den Ungeheuern zum Opfer gefallen sein würde. Jede Stunde zählte in diesen Tagen des Schreckens. »Ich sehe nichts«, sagte Bördo. »Komm, wir gehen hin.« Sator Synk überlegte kurz. Der Zugor, mit dem er und Bördo zur Barriere geflogen waren, stand in einem sicheren Versteck, und Synk wußte, daß er den Platz jederzeit wieder finden würde. Einem Erkundigungsvorstoß stand also nichts im Wege. Im Gegenteil, er schien dem Orxeyaner dringend notwendig. Denn eines hatte die kurze Zeit, die er und Bördo sich schon im Gebiet der Magier herumtrieben, offenkundig gemacht – etwas stimmte nicht im Land der Magier. Die Höhle beispielsweise, aus der Bördo gerade herübergekommen war – ausgeräuchert und leer. Kein Bewohner zu sehen. »Ich gehe voran«, sagte Synk. Er stand auf und lief geduckt einige Schritte. Es war schwierig unter diesen Umständen, das Schwert in der Hand zu halten – nicht darüber zu stolpern und auch nicht es so hoch zu halten, daß man gesehen werden konnte. Fast geräuschlos huschte Synk voran, dann ging er hinter einem Felsen erneut in Deckung. Ein paar Augenblicke später stand Bördo neben ihm. »Nun?« »Nichts zu sehen«, knurrte Synk. Er ärgerte sich, nicht zuletzt, weil er befürchtete, sich verguckt zu haben und nun als Narr vor dem Knaben zu stehen. »Dort vorn«, stieß Bördo hervor. »Du hast recht! Sieh nur hin!« Bördos scharfe Augen hatten offenbar etwas gefunden. Synk folgte
mit den Augen der Richtung, die Bördo anzeigte. Tatsächlich, in weiter Ferne bewegte sich jemand – eine vermummte Gestalt, aber so weit entfernt, daß man keine Einzelheiten erkennen konnte. »Ein Magier?« fragte Bördo. »Schwerlich«, gab Synk zur Antwort. »Wir folgen der Gestalt jedenfalls.« Das erwies sich als recht schwierig auszuführen. Der Fremde bewegte sich außerordentlich schnell und sicher durch das Steingewirr, während sich die beiden Pthorer erst einmal einen Weg suchen mußten. Dadurch blieb die Strecke zwischen Jägern und dem Gejagten geraume Zeit gleich groß, mehr noch, sie wurde nach einiger Zeit sogar ein wenig größer. »Er hängt uns ab«, knurrte Bördo ergrimmt. »Ich möchte wissen, wohin der Bursche will«, sagte Synk ratlos. Er verstand nicht ganz, welches Spiel hier gespielt werden sollte – schon gar nicht, welche Rollen ihm und Bördo darin zugedacht waren. Versuchte da jemand von den Magiern, ihn und Bördo immer tiefer in die Bergwelt der Barriere hineinzulocken? Und wenn ja – zu welchem Zweck? »Da, sieh nur!« stieß Bördo wenige Minuten später hervor. »Noch eine Höhle.« Diesmal handelte es sich um eine Blumengrotte, offenkundig Heimstatt eines schönheitsliebenden Magiers. Die Höhle bestand aus einem undurchdringlichen Geflecht aus Abertausenden von Blumen, deren Blüten die äußere Wand der Höhlung bildeten. Im Innern schimmerte grünliches Licht, und in dem Raum hing ein betäubender Duft. Auch diese Heimstatt war verlassen. »Dort ist das Bett«, meinte Bördo und deutete auf einen Haufen duftigen Heus, blumendurchsetzt. »Hier hat der Magier gearbeitet.« Auf einem Tisch, auch er aus Pflanzen gebildet und mit Blüten bedeckt, stand ein Topf mit einer rotblühenden Pflanze darin. Offenbar war der Magier mitten in seiner Arbeit gestört worden. Die
Pflanze war auf der einen Seite von Blüten in feurigem Rot überdeckt, während die andere Seite zur Gänze kahl war, nur ein paar dürre Zweige reckten sich aus dem Boden. »Wo mag der Magier stecken?« rätselte Bördo. Sator Synk kratzte sich hinter dem Ohr. Die Lage wurde immer undurchsichtiger. Wohin war der Magier verschwunden, und was hatte ihn verschwinden lassen? Wer hatte überhaupt Interesse an einem Magier, der – wie seine Behausung offenbarte – nur an Blumen interessiert war? Bördo hatte sich unterdessen noch genauer umgesehen. Er hielt einen halbvollen Krug in die Höhe, und hinter dem Blumentopf fand sich ein Teller, auf dem noch Nahrungsmittel waren. »Kalt«, stellte Bördo fest. Sator Synk überprüfte das Bett. Es sah nicht so aus, als habe gerade erst jemand auf dem Heuhaufen gelegen. Der Zustand der Nahrungsmittel verriet aber, daß erst ein paar Stunden vergangen sein konnten, seit der Magier … ja, was? Verschwunden war? Gestorben war, sich in Luft aufgelöst hatte? »Hier werden wir nichts finden«, knurrte Synk. »Gehen wir in der Richtung weiter, in der unser Freund verschwunden ist.« Jetzt war gar nicht mehr daran zu denken, den Fremden einzuholen. Synk sagte sich allerdings, daß es vermutlich nicht bei diesem einen seltsamen Gesellen bleiben würde – wo der herkam, da steckten vermutlich noch andere. »Irgendwo muß eine Art Nest sein«, meinte Synk unterwegs. »So etwas Ähnliches wie das gleißende Leuchten, aus dem du die Horden der Nacht hast heraufsteigen sehen?« Die Frage gefiel Sator Synk gar nicht, denn er sah zwischen diesen beiden Vorgängen keinerlei Zusammenhang. Dennoch beunruhigte ihn die Tatsache sehr, daß Pthor einmal mehr in Aufruhr war – es schien, als sollte dem Dimensionsfahrstuhl nichts, aber auch gar nichts erspart bleiben. Überschwemmungen hatte es gegeben, Notlandungen auf fremden Planeten, Invasionen, nicht zu vergessen
Ragnarök, die Götterdämmerung. »Ich glaube, die Magier haben sich irgendwo in den Bergen zusammengefunden«, überlegte Sator Synk halblaut. »Vielleicht eine Verschwörung, vielleicht etwas anderes – bei den Magiern weiß man nie, woran man ist. Wir werden sie jedenfalls suchen – und wir werden sie finden.« Bördo sah ihn von der Seite her an. »Hoffentlich hast du recht«, sagte er zweifelnd. * Sie marschierten fast vier Stunden lang, immer geradeaus, immer in die Richtung, in der sie den seltsamen Fremden vermuteten. Sie fanden nichts. Nicht das geringste Lebenszeichen der Magier war zu finden, kein Feuer, kein Rauch, nichts. Einmal noch fanden sie eine Unterkunft, ein wolkiges Gebilde, aber auch diese Behausung war verlassen – und das erst vor kurzer Zeit und, wie die Zeichen verrieten, ziemlich überstürzt. Das Rätsel der großen Barriere von Oth wurde immer geheimnisvoller. »Wir müssen uns entscheiden«, sagte Bördo bei einer kurzen Rast. »Entweder wir jagen hinter den verschwundenen Magiern her, oder wir gehen zum Zugor zurück und fliegen den Landeplatz des fremden Schiffes an.« »Ich habe das wenig angenehme Gefühl, daß sich die Magier bereits bei dem Schiff eingefunden haben – und wenn es ihnen gelungen ist, die Mannschaft des Schiffes zu beeinflussen, dann werden wir noch allerhand erleben.« »Ich habe keine Angst«, beteuerte Bördo und schlug auf die Schwertscheide. »Ich nicht.« »Es gibt eine Tapferkeit, die keine ist«, meinte Synk gelassen. »Wer sich blindlings in anderer Leute Schwerter stürzt, ist kein Held,
sondern ein Trottel.« »Gilt das mir?« fragte Bördo und sprang auf. »Wisse, daß ich keine Memme bin, die sich ungestraft beleidigen läßt, so wie meine saubere Sippschaft.« »Selbst, wenn ich dich beleidigt hätte, Knabe«, entgegnete Synk trocken. »Merke dir den Satz: Memme rächt nie, nur der Sklave sofort. Also steck dein Schwert zurück in die Scheide, iß und trink und verhalte dich vernünftig.« Bördo knurrte etwas und setzte sich wieder. »Nun, da du wieder du selbst bist, will ich dir antworten«, sagte Sator Synk; er genoß es nicht wenig, daß sich Bördo in seiner Nähe so brav verhielt – er war sich allerdings der Gefahr bewußt, daß sich dieses Verhalten jederzeit ins Gegenteil verkehren konnte. »Wir werden weiter nach den verschwundenen Magiern suchen«, stellte Sator Synk fest. »Möglich, daß wir ihre Hilfe brauchen, um an das fremde Schiff herankommen zu können.« »Einverstanden«, sagte Bördo. Sorgfältig verwischten die beiden die wenigen Spuren, die ihre Rast gemacht hatte, dann setzten sie den beschwerlichen Marsch ins Gebirge hinein fort. Die Barriere von Oth war nicht gerade der besterforschte Teil von Pthor, und es gab Bezirke darin, die vielleicht nicht einmal von den Magiern erkundet worden waren. Von gebahnten Wegen war in diesen Bereichen keine Rede mehr; aus dem Marsch wurde nach relativ kurzer Zeit eine kräftezehrende Kletterei, die obendrein dadurch erschwert wurde, daß sie vorläufig völlig sinnlos schien. Zwar setzten die beiden Pthorer geschickt über alle Hindernisse hinweg, sie umkletterten riesige Brocken, übersprangen in waghalsigen Sätzen Felsspalten, krochen steile Schlote hinauf – aber nirgendwo zeigte sich der geringste Grund für soviel Mühe. Von dem Schemen, den Sator Synk gesehen hatte, fehlte jede Spur – als hätte er sich in Luft aufgelöst. Es war zu erwarten, daß einem der beiden früher oder später die
Lust ausgehen würde, und es war Sator Synk, der als erster zähneknirschend einsah, daß man so nicht weiterkam. »Ich habe das furchtbare Gefühl, einer Täuschung aufgesessen zu sein, Kleiner«, sagte er, als er nach einem schwierigen Anstieg ein paar Augenblicke verschnaufte. Bördo zuckte mit den Schultern. »Mich stört es nicht, und dir kann das Klettern nicht schaden«, sagte er mit einem bezeichnenden Licht auf Synks Bauch. »Diese Jugend …«, murrte Synk. »Als ich damals …« Er unterbrach sich und sprang auf. Bördo fuhr im gleichen Augenblick herum. Sie hatten sich nicht geirrt, es gab tatsächlich Fremde in der Barriere von Oth – oder aber eine Gruppe von Magiern, die noch völlig unbekannt war. Die beiden Pthorer warfen sich schnell auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. In geraumer Entfernung, aber gut zu erkennen, bewegte sich eine kleine Prozession, eine Gruppe vermummter Gestalten in langen roten Roben, wie Priester eines gespenstischen Ordens. Drei der Gestalten trugen eine vierte auf den Schultern. Der Tote – oder war er nur besinnungslos? – war anders gekleidet, und die Farbenpracht der Gewänder ließ auf einen Magier schließen. »Was sind das für Wesen?« fragte Bördo. »Und was machen sie dort?« »Zwei sehr kluge Fragen«, sagte Sator Synk. »Ich hoffe, du hältst mich nicht für einen Tropf, wenn ich dir sage, daß ich darauf keine Antwort weiß. Ich habe diese Rotkapuzenmänner noch nie im Leben gesehen.« »Aber von ihnen gehört?« »Auch nicht«, sagte Sator Synk. »Und was sie machen, kannst du so gut sehen wie ich – sie schleppen die Magier fort.« Bördo spähte angestrengt hinüber. »Wir müssen näher heran«, sagte er. »So kann man nicht genug sehen. Ich kann nicht einmal erkennen, ob der Magier tot ist oder
nicht.« »Vermutlich nur betäubt«, sagte Sator Synk. Langsam glitt er vorwärts, hinter Bördo her, der einen Weg gefunden hatte zu den Rotkapuzenmännern. »Ein toter Magier nutzt ihnen wenig, und was sollten sie mit einem toten Magier an diesem Ort anfangen wollen. Ich vermute, die Magier sollen verschleppt werden.« Sie fanden einen Schleichweg, der sie langsam näher an die gespenstische Prozession heranbrachte. Sie mußten sehr vorsichtig sein, um nicht entdeckt zu werden, denn es gab weitere Züge dieser Art. »Sie schleppen offenbar die Magier aus der ganzen Barriere heran«, mutmaßte Bördo. »Kannst du mir verraten, was sie mit ihnen wollen?« »Keine Ahnung«, gab Synk zurück. Die Sache wurde unheimlicher von Minute zu Minute. Keiner der Rotmützen sprach ein Wort, und Sator Synk fragte sich seit dem ersten Anblick des Zuges, welche Kraft imstande war, einen Magier so wirkungsvoll außer Gefecht zu setzen. Es gab unter den Magiern, daß wußte der Orxeyaner, Spitzenkönner, die sich schwerlich einfach betäuben lassen würden. Trotzdem schienen die Rotkapuzen keinerlei Schwierigkeiten gehabt zu haben – das bewiesen die leeren MagierHöhlen, deren sich Sator Synk entsinnen konnte. »Vielleicht kommen sie aus dem Schiff, südlich der Barriere von Oth?« rätselte Bördo weiter. »Auch das ist möglich«, räumte Sator Synk ein. Sie hatten einen Haken geschlagen, um den Fremden einen Teil des Weges abschneiden zu können. Jetzt konnten sie sehen, welches Ziel die Kapuzenträger hatten. Sator Synk und Bördo blickten in eine der zahlreichen Schluchten hinab, die es in der Barriere von Oth gab, und die außer den Magiern, wenn überhaupt, niemandem bekannt waren. Diese Schlucht vertiefte sich zu einem düsteren Abgrund, dessen Ende
von oben nicht einsehbar war. Zu sehen aber war, daß die lautlosen Prozessionen der Robenträger in dieser Schlucht endeten. In kleinen Gruppen kamen sie heran, hochaufgeschossen und dürr, jeder eingehüllt in die finsterrote Robe. Sator Synk schätzte, daß die Fremden knapp zwei Meter groß sein mußten, wenn er aus dieser Entfernung richtig sah. Daß die Fremden von unglaublicher Dürre waren, ließ sich aus dem Schlottern der Roben unschwer ablesen. »Ich möchte eines der Gesichter sehen«, sagte Sator Synk. »Kannst du etwas erkennen, Bördo?« »Nichts«, gab der Junge zu. »Die Kapuzen fallen zu tief ins Gesicht, man kann beim besten Willen nichts erkennen.« Sator Synk sah seinen Gefährten an. Er überdachte einen Plan. »Wir werden uns einen von den Schreckensgestalten schnappen«, sagte der Orxeyaner, in dem wieder die Abenteuerlust erwachte. »Du wirst ihn ablenken, und ich werde ihm eins überbraten.« Bördo schüttelte sofort den Kopf. »Du wirst ablenken, und ich schlage zu«, beharrte er. Sator Synk sah den Sigurdsohn scharf an. Bördo machte ein finsteres Gesicht, dann warf er den Kopf zurück. »Also gut«, sagte er enttäuscht. »Schlag du ihn nieder – man sollte älteren Leuten ab und zu eine Freude machen.« »Zuerst einmal müssen wir einen von den Burschen finden«, sagte Synk. »Einen, der allein herumläuft, ohne eine Horde von Freunden.« Bördo hatte bald ein brauchbares Opfer gefunden – er deutete auf einen Einsamen, der sich langsam und bedächtig der Schlucht näherte. Der Kapuzenträger war weit genug entfernt, daß die beiden ihre Falle in hinreichender Entfernung von der Schlucht aufbauen und zuschnappen lassen konnten. »Ans Werk«, sagte Sator Synk grinsend. Sie brauchten nur ein paar Augenblicke, um in Stellung zu gehen. Bördo übernahm es, dem Fremden den Weg zu verlegen, Sator Synk
sollte ihn betäuben. Dazu wollte der Orxeyaner einen handfesten Knüppel benutzen, den er unterwegs aufgelesen hatte. Sator Synk blieb in seinem Versteck, als er den Sigurdsohn rufen hören konnte. »Er kommt!« Etwas knirschte leise, als der hagere Fremde an Synks Versteck vorbeimarschierte. »Heda, Rotrock!« hörte Synk die Stimme des Knaben. Sator Synk sprang auf. In der Rechten hielt er den Knüppel, mit der Linken balancierte er den Körper aus, als er mit einem gewaltigen Satz hinter den Rotrock zu stehen kam. Synk ließ den Knüppel auf die Kapuze herabsausen. Es gab ein dumpfes Geräusch, und entsetzt dachte Synk daran, daß er mit diesem Hieb dem Fremden womöglich den Schädel eingeschlagen haben könnte. Hart genug war der Hieb gewesen, selbst ein massiges Yassel zu fällen, aber der dürre Fremde dachte nicht daran zu fallen. An der Schulter des Rotrocks vorbei sah Sator Synk seinen Gefährten. Bördo hielt sein Schwert in der rechten Hand, aber er schien außerstande, auch nur ein Glied zu rühren. In diesem Augenblick drehte sich der Fremde herum. Der Knüppel fiel aus der Hand des Orxeyaners. Sator Synk brach zusammen, als der Blick des Fremden ihn traf. Kraftlos sackte er auf den Boden. Er konnte nicht mehr sehen, wie sich der Fremde noch einmal umwandte, Bördo fixierte und auch diesen besinnungslos werden ließ. Er konnte auch nicht sehen, wie sich der Hagere schweigend die beiden reglosen Körper auf die Schultern lud. Mit dieser Last schritt er dann schweigend der Schlucht des Schreckens entgegen. 2.
»Ruhig, Wolf!« Balduur hielt dem riesigen Fenriswolf die Schnauze zu. Auf keinen Fall durfte das Tier jetzt Laut geben, dann war Balduur verloren. Die Unterwelt der FESTUNG eine verlassene Trümmerlandschaft? Weit gefehlt. Es schien von Leben dort geradezu zu wimmeln. Balduur begriff es nicht, aber er mußte sich mit der Tatsache abfinden. Überall trieben sie sich herum, diese seltsamen Fremden. In den düsteren Räumen der FESTUNG‐Unterwelt wirkten ihre langen roten Roben besonders bedrohlich, und was Balduur fast noch mehr erschreckte, war die hartnäckige Schweigsamkeit der Rotröcke. Schon vor einer Stunde war er dem ersten dieser Wesen begegnet, einer unglaublich dürren Erscheinung, die sich fast lautlos durch die Trümmer der Unterwelt bewegt hatte. Niemand wußte, woher die Fremden kamen – Balduur hatte niemals davon gehört, daß es ein solches Volk auf, in oder unter Pthor geben könnte. Balduur hatte keine Lust mit den Fremden zusammenzutreffen. Er wollte die »Seele« von Pthor sprechen, nicht die rotkapuzten Schleicher, die irgendein unterpthorischer Satan erschaffen zu haben schien. Wahrscheinlich hatten sie wechselseitig Angst voreinander, denn sie trugen ihre düsterroten Kapuzen derart ins Gesicht gezogen, daß man hätte in die Knie gehen müssen, um einen Blick darunter werfen zu können. Elendes Gesindel, dachte Balduur, lästige Gesellen. Was hatte das dürre Volk hier zu schaffen, und woher kam es? Balduur hätte gerne eine Antwort auf diese Frage gewußt. »Ruhig, Wolf, kein Laut!« Balduur spürte die Erregung des Fenriswolfs unter seiner Hand. Dem riesigen Tier schienen die Fremden ebensowenig geheuer wie Balduur. Nicht zuletzt Fenrirs unerklärliche Scheu hatte Balduur davon abgehalten, sich den ersten besten dürren Bruder zu
schnappen, um ihn mit grober Faust das Singen zu lehren. Bevor er aber zur Ausführung dieses Vorhabens hatte schreiten können, war ein zweiter Schleicher auf der Bildfläche erschienen, und im Augenblick schlich es um Balduur in beängstigender Weise herum. Der Odinssohn kam sich vor wie in einem Gruselkabinett. Der Odinssohn hatte nicht mehr die leiseste Ahnung, wo er steckte, und auch daran waren die klapprigen Schleicher schuld. Irgendwo unter den häßlichen roten Roben steckte bei den Dürren eine so feine Nase, daß Fenrir sich hätte verkriechen müssen vor Schande. Schniff, schniff machten die Fremden, und jedesmal kamen sie Balduur auf die Spur. Schnüffler hatte Balduur die Fremden getauft, bis er einen besseren Namen finden konnte. Es war unglaublich, mit welcher Hartnäckigkeit die Rotkapuzen die Spur des Eindringlings verfolgten, ganz so, als wären sie die Herren der Unterwelt unterhalb der FESTUNG. Balduur hatte die Fackel gelöscht. Er vertraute sich einem fahrenden Dämmerschein an, der diesen Teil der Unterwelt erfüllte und noch dazu beitrug, den gespenstischen Eindruck zu verstärken, den die Schnüffelschleicher bei Balduur hervorriefen. In seinem Bestreben, den Klappergestalten auszuweichen, hatte sich Balduur in immer abgelegenere Teile der Anlage flüchten müssen, und jetzt lief er durch Räumlichkeiten, von deren Existenz er nichts gewußt hatte bis auf den heutigen Tag. Es war unglaublich, wie groß und ausgedehnt diese Anlage war – vielleicht hätte man sämtliche Einwohner Pthors hier unterbringen und vor den Horden der Nacht in Sicherheit bringen können. Aus diesem Plan, von Balduur kurz erwogen, wurde nichts, denn kein Pthorer hätte sich hierher getraut, schon gar nicht, wenn es allenthalben von Schleichschnüfflern wimmelte. »Ich möchte wissen, was das Volk hier zu suchen hat«, knurrte Balduur. Er bewegte sich weiter, zu seinem Ärger und Verdruß ohne festen
Plan und vor allem ohne Ziel. Hätte Balduur gewußt, wo er steckte, hätte er vielleicht einen Plan ersinnen können, sich an den Schleichschnüfflern vorbeizumogeln und so die »Seele« zu erreichen. So aber mußte er sein Vorhaben den Launen des Zufalls anvertrauen, und das paßte ihm überhaupt nicht in den Kram. Er marschierte weiter, wobei er sich größte Mühe gab, seine Spuren zu verwischen. Der Odinssohn war darin nicht ungeschickt, aber er ahnte, daß er damit gegen die Schleichschnüffler wenig ausrichten konnte. Zum Glück gab es in diesem Teil der unterpthorischen Anlage nicht ganz so viel Andrang. Balduur kam daher einigermaßen zügig vorwärts. »Such, Fenrir!« befahl Balduur dem Wolf. »Such die ›Seele‹.« Wenn er LaʹMghor noch finden wollte, würde er sich des Wolfes bedienen müssen, allein war er in dieser Lage fast hilflos. Fenrir schnüffelte kurz und schlug einen Weg ein, der Balduur zwar nicht erfolgversprechend schien, aber offenbar dem Wolf gefiel. Balduur schritt hinter Fenrir her. »Vielleicht kommen sie aus der Dimensionsschleppe«, murmelte Balduur in dem verzweifelten Versuch, die Anwesenheit der Schleichschnüffler zu erklären. Er entsann sich, daß auch die Bewohner der Dimensionsschleppe Gelegenheit hatten und Möglichkeiten wußten, nach Pthor zu gelangen. Waren die Schleichschnüffler so an Bord gekommen? Ein anderer Gedanke drängte sich auf – möglicherweise handelte es sich bei den Rotroben um Diener des Dunklen Oheims oder um Abgesandte eines noch unbekannten Neffen. Auch dann war es möglich, daß sie Pthor betreten konnten – allerdings fragte sich Balduur, wo das Raumschiff dieser Besucher zu finden war. Oder hatten es die Fremden vielleicht gar nicht nötig, ein Raumschiff zu benutzen? Konnten sie vielleicht gar … Balduur drängte den Gedanken zurück. Einstweilen ließ sich zu diesem Thema nichts Vernünftiges feststellen.
»Schon wieder einer«, murmelte Balduur. Er folgte Fenrir, der um die Dreiergruppe der Schleichschnüffler einen Haken schlug. Einer der drei schien dennoch die Witterung aufgenommen zu haben, und was nun folgte, kannte Balduur bereits bestens. Der Schleichschnüffler zog prüfend die Luft ein und setzte sich auf Balduurs Fährte. Der Odinssohn überlegte kurz, ob er den zudringlichen Kerl niedermachen sollte, aber das hätte Aufregung verursacht, und Balduur wollte lieber unentdeckt bleiben. Folglich blieb nur das Verfahren, das er bereits einige Male erprobt hatte. Balduur mußte dafür sorgen, daß sein Weg den Weg von einer anderen Gruppe Rotröcke streifte – dann setzten sich zwei von den Schleichschnüfflern auf seine Fährte, die dann früher oder später zusammenstoßen mußten. Bislang schienen die Schleichschnüffler bei solchen Manövern die Spur verloren zu haben, aber vielleicht lernten sie auch dazu. Balduur praktizierte das Verfahren, und der gewohnte Erfolg stellte sich ein. Spaß machten diese Tricks dem Odinssohn nicht – es war nicht seine Art, sich scheu zu drücken, wenn es gefährlich wurde. Auf der anderen Seite war Balduur fest entschlossen, sich bis zur »Seele« durchzuschlagen, und das würde mit Sicherheit mißlingen, wenn er sich auf einen Kampf mit den Rotroben einließ. Tiefer und tiefer drang Balduur in die Unterwelt ein. Hier wie überall waren Spuren der harten Auseinandersetzungen zu sehen, die Pthor zu überstehen gehabt hatte, aber nach und nach wurde der Anblick erfreulicher. Es gab nicht mehr ganz so viele Zerstörungen und Trümmer. »Nun, Wolf, witterst du die ›Seele‹?« Fenrir gab ein leises Grollen von sich. In diesem Bezirk schien es wenige Schleichschnüffler zu geben, Balduur konnte also freier ausschreiten und kam rascher vorwärts. Wenig später erreichte er sein Ziel.
Er wußte es auf den ersten Blick. Dies waren die Räume, in denen sich die »Seele« von Pthor manifestierte – wie das genau vonstatten ging, war ein weiteres Geheimnis des Dimensionsfahrstuhls. Balduur suchte nach dem Energieschirm, der die »Seele« vom Rest Pthors abtrennte. Die energetische Grenze war verschwunden, so schien es. »LaʹMghor!« rief Balduur, aber er bekam keine Antwort. Vorsichtig schritt der Odinssohn weiter, mißtrauisch, das Schwert zum Zuschlagen bereit. Trieben sich die klapprigen Schleicher auch in diesen Räumen herum? Balduur war auf alles gefaßt. Ihn verstörte, daß es den Energieschirm nicht mehr gab – auf der einen Seite war nur so ein Kontakt mit der »Seele« möglich, auf der anderen Seite verriet das Fehlen des Schirmes, daß auch dieser Teil Pthors nicht ohne Schaden davongekommen war. Noch einmal rief Balduur den Namen des Aggiaren, der sich mit der »Seele« Pthors verbunden hatte, aber er hörte nichts. Der Fenriswolf hielt sich dicht in Balduurs Nähe. Ahnte er Unheil? Langsam ging Balduur weiter. Er fühlte sich unwohl im Herzen von Pthor, die Stille in diesen Räumen gefiel ihm nicht. Wo es still war, da war Unheil meist nicht weit. Die »Seele« meldete sich nicht, obwohl Balduur immer wieder nach ihr rief. Angst beschlich den Odinssohn. Wenn die »Seele« von Pthor ausfiel, war das Schicksal des Dimensionsfahrstuhls besiegelt. Balduur sah sich um. Wo mochte er stecken, der leise Feind, der die »Seele« zum Schweigen gebracht hatte? Balduur suchte nach den Schleichschnüfflern, die aber offenbar mit der »Seele« nichts zu schaffen hatten. Kam Balduur vielleicht schon zu spät? Der Odinssohn begann zu laufen. Er rannte mit dem Schwert in der Hand, neben ihm trabte der Wolf. Das erste Gefühl war das der Erleichterung, das zweite der Enttäuschung.
Ein Hindernis stellte sich Balduur in den Weg, ein Energieschirm. Balduur wußte, daß er sich nicht geirrt hatte – dies war nicht der altbekannte Schirm um die »Seele«, dieses Schirmfeld war neu. Balduur machte eine kurze Probe und stellte ergrimmt fest, daß dieser Schirm so undurchdringlich war wie der frühere. Nur Licht wurde von den energetischen Feldern durchgelassen. Balduur spähte hinein. Was er sah, traf ihn mit lähmendem Entsetzen bis ins Mark. Überall waren die Ableger des Pflanzenwesens LaʹMghor zu sehen, das war normal. Balduur hatte es erwartet. Erst beim zweiten Hinsehen aber entdeckte er, daß die Ableger, in die sich LaʹMghor aufgespalten hatte, nicht mehr lebten. Sie waren abgestorben, bräunlich verfärbt, ein Teil bereits halb verfallen. »LaʹMghor!« rief Balduur. Sein Rufen blieb ohne Antwort. Offenbar, Balduur erkannte es mit Schrecken, war LaʹMghor in einem solchen Zustand, daß man mit ihm keine Verbindung mehr aufnehmen konnte. Balduur wußte, was das bedeutete – eine Katastrophe, die in ihrem Ausmaß durchaus vergleichbar war mit den neuen Horden der Nacht. Es schien, als sollte Pthor alles Unheil zur gleichen Zeit treffen. Balduur rief nach der »Seele« von Pthor, aber sie antwortete nicht. Nie mehr? Balduur blieb ein paar Minuten vor der Barriere stehen, hinter der sich der Verfall LaʹMghors abspielte. Balduur wußte, daß er nicht einzugreifen vermochte. »Eine Pleite«, murmelte Balduur niedergeschlagen. »Ein einziger riesiger Reinfall.« Er wandte sich zum Gehen. »Komm, Fenrir. Hier haben wir nichts mehr verloren.« Der Wolf klagte leise. Balduur machte sich auf den Rückmarsch. Tiefe Traurigkeit hatte den Odinssohn überfallen. Einmal mehr sah er sich in der Rolle des
Geschlagenen, dem nichts gelingen wollte. Was würden die Brüder sagen – und nicht zuletzt Bördo? Balduur dachte mit Verzweiflung daran, daß Bördo und Sator Synk womöglich erfolgreich gewesen waren. Vielleicht trieben sie die neuen Horden schon vor sich her, zur Freude der Pthorer und zur bitteren Demütigung der Odinssöhne, die einmal mehr versagt und auf der ganzen Linie enttäuscht hatten – allen voran Balduur, der die neueste Schreckensnachricht zu überbringen hatte. Vielleicht war es besser, dachte Balduur, kämpfend unterzugehen. Gelegenheit würde es sicherlich geben in dem unterpthorischen Labyrinth, in dem es von den Schleichschnüfflern wimmelte. Wenn man seinen erschlagenen Körper hier fand, mit dem Schwert in der Hand, vielleicht lebte dann wenigstens sein Ruhm weiter. »Das Vieh stirbt, die Freunde sterben«, murmelte Balduur einen uralten Spruch, »und endlich stirbt man selbst. Doch eines weiß ich, das immer lebt – das ist des Toten Tatenruhm.« Eine letzte Gelegenheit hatte Balduur sich Ruhm zu erwerben. Er mußte den Kampf aufnehmen mit den Schleichschnüfflern, die ihm bald auf den Fersen sein würden. Vielleicht gelang es ihm, im Kampf ein paar Dutzend der Dürren zu bezwingen, dann würde es leichter sein, den tödlichen Streich auszuhalten Fenrir konnte sich wahrscheinlich durchbeißen und die Kunde von Balduurs Ende den Brüdern überbringen – falls sie sich dafür überhaupt noch interessierten. Müde und bedrückt ging Balduur den Weg zurück, den er gekommen war. Es war ihm gleich, ob er den Rotroben in die Hände fiel. Hauptsache, es verlief ehrenvoll, aber auch da hatte Balduur Zweifel. »Lauf, Fenrir!« sagte Balduur. Der Wolf stieß ein tiefes Knurren aus und blieb an Balduurs Seite. Balduur strich dem Wolf über die graue Mähne. Plötzlich blieb Fenrir stehen, er witterte. »Was hast du?« fragte Balduur. »Zeige es mir!«
Fenrir setzte sich langsam in Bewegung, er schlich geradezu. Balduur folgte ihm vorsichtig. Von irgendwoher voraus war Lärm zu hören. Rufe, Schreien. Balduur runzelte die Stirn. Die Schnüffelschleicher waren für diesen Lärm vermutlich nicht verantwortlich, bisher hatten sie in Balduurs Reichweite nicht einen Laut ausgestoßen. Offenbar gab es noch ein anderes Volk in der Unterwelt – Pthor barg in jedem seiner Winkel immer neue Geheimnisse, Rätsel und Überraschungen. Dies schien eine davon zu sein. Balduur sah zu, daß er nicht gesehen wurde, während er dem Fenriswolf folgte. Fenrir trabte genau auf die Lärmquelle zu, sie wurde immer deutlicher hörbar. Ein paar Schritte noch, dann war das Ziel erreicht. Balduur kam auf einem Balkon heraus, einem Söller, der knapp unter dem Dach einer großen Halle entlang den Wänden verlief. Balduur schätzte den Raum auf mindestens zweihundert Meter Länge und fünfzig Meter Breite. Unter ihm, knapp vier Meter tiefer, erkannte er die Ursache des Lärms. Es waren kleine Leute, weißhäutig und zerbrechlich wirkend. Sie wohnten offenbar in der großen Halle, in Löchern in den Wänden. Auf dem Hallenboden erkannte Balduur kleine Pflanzkästen. Überall auf den Gängen der Halle wimmelte es von Leben – und vom Tod. Denn Dutzende der Rotroben stürzten sich auf die Weißhäutigen, die diesem Ansturm nur wenig entgegenzusetzen hatten. Balduur blieb nur für ein paar Augenblicke stehen. Was er in dieser kurzen Zeitspanne zu sehen bekam, erfüllte ihn mit Schrecken und Wut. Schrecken stieg in ihm auf, als er sah, daß die Rotroben schier unverwundbar waren. Die Weißhäutigen wehrten sich verzweifelt, aber sie erzielten keine Erfolge. Balduur konnte sehen, wie einer der Verteidiger einen Treffer landete, der dem Angreifer unbedingt das Lebenslicht ausblasen mußte. Nichts aber geschah, der
Schnüffelschleicher kämpfte weiter, als habe er nichts verspürt. Eine Armee dieser Rotroben auf Pthor, in der Unterwelt von Pthor – eine unüberwindliche Streitmacht, nicht einmal die Horden der Nacht würden sie bezwingen können. Und es würde nötig sein, sie zu besiegen, denn sie waren grauenvolle Gegner. Es bedurfte nur eines Blickes auf die Einrichtung der Halle, um zu wissen, daß man es mit friedlichen, sanftmütigen Wesen zu tun hatte, die dort bescheiden lebten. So betrachtet, war es unerklärlich, warum die Rotroben die Weißen überhaupt angriffen … Was Balduur aber nach ein paar Augenblicken in berserkerhafte Wut versetzte, war die Art dieses Angriffs. Es war ein Gemetzel, was sich unter ihm abspielte, keine Schlacht, eher ein Abschlachten. So etwas konnte Balduur nicht ertragen. Er richtete sich hoch auf, riß das Schwert aus der Scheide, reckte es in die Höhe. Dann sprang er mit einem Satz hinab in die Tiefe, in das blutige Gewimmel hinein. 3. »Hm«, machte Braheva und biß Lykaar zärtlich ins Ohr. »Zeit aufzustehen!« Lykaar reckte und dehnte sich. Er hatte nicht die geringste Lust aufzustehen, denn dies war einer von den Tagen, die durch Aufstehen bereits so gründlich verdorben wurden, daß man mit dem Rest nicht mehr viel anfangen konnte. Zudem wußte er, daß sich draußen die Horden der Nacht herumtrieben. »Vorwärts, alter Faulpelz«, sagte Braheva und knuffte ihren Mann in die Seite. »Wir wollen zur FESTUNG, denk daran.«
Siedendheiß fiel es Lykaar ein. Richtig, die Horden der Nacht waren wieder unterwegs, Orxeya brannte, Zbahn war vernichtet, und Rettung gab es nur in der FESTUNG. »Irgendwie traue ich der ganzen Sache nicht«, sagte Lykaar. Er wäre gerne noch liegengeblieben, aber dagegen hatte Braheva etwas einzuwenden – und Einwendungen seines Weibes pflegte Lykaar einsichtig zu befolgen. Es hatte sich im Lauf dieser Ehe herausgestellt, daß Brahevas Sinn für praktische Dinge des Lebens bei weitem besser entwickelt war als der Lykaars. Lykaar kroch aus dem kleinen Zelt, in dem die beiden zu nächtigen pflegten. Draußen war es früher Morgen, das Zelt war von außen taufeucht. Ein paar Schritte entfernt standen die Yassels und fraßen. Sie machten einen munteren, gesunden Eindruck. Lykaar wandte den Kopf. Dort stand auch der Wagen, sicher und unversehrt. Unter der Plane lag die Ladung, von der Lykaar nicht wußte, ob er sie nicht vorsichtshalber wegwarf oder besser behielt. »Wie sieht es aus?« fragte Braheva aus dem Innern des Zeltes. »Friedlich«, antwortete Lykaar. »Keine Spur zu sehen von irgendwelchen Horden der Nacht. Ich habe fast das Gefühl, dieser alte Orxeyaner hat mich verkohlen wollen.« »Und die anderen, die auf der Straße der Mächtigen unterwegs waren?« fragte Braheva. Sie sprach undeutlich, weil sie eine Haarnadel zwischen den Zähnen hielt, als sie aus dem Zelt hervorkroch. »Glaubst du, die laufen nur zum Vergnügen mit soviel Gepäck herum?« »Du hast recht«, sagte Lykaar. Er wusch sich hastig, dann brach er das Zelt ab und verstaute es auf dem Wagen. Danach warf er einen prüfenden Blick auf die Ladung, die einmal Seife gewesen war und nun als zauberisches Kraftfutter für Yassels gelten konnte. Vielleicht, so überlegte sich Lykaar einen Augenblick lang, gab es noch weitere Dinge, die man mit dem Zeug machen konnte. Eines allerdings versuchte er
vorsichtshalber gar nicht erst – sich nämlich mit der ehemaligen Seife zu waschen. Nach einem kurzen Frühstück ging der Marsch weiter, nordwärts, der FESTUNG zu. Lykaar hoffte, daß er und Braheva noch früh genug dort eintreffen würden, um den Horden der Nacht entgehen zu können, die die Ebene von Kalmlech unsicher machten. Offenbar konzentrierten die Monstren zur Zeit ihre Kraft darauf, die Städte in der Nähe der Ebene zu überfallen – dort mußten sie auch die reichste Beute für ihre Blutgier finden. Das konnte bedeuten, daß es auf der Ebene selbst nicht allzu viele der Ungeheuer gab – mithin hatten Lykaar und Braheva eine Chance, die FESTUNG zu erreichen. Lykaar war nicht so dumm, daß er seine Aussichten nicht abzuschätzen versucht hätte – das Ergebnis war kläglich gewesen. Lykaar wußte so gut wie jeder andere Pthorer, daß die Einwohner des Dimensionsfahrstuhls praktisch waffenlos waren, ausgeplündert von den Invasoren, die Pthor heimgesucht hatten. Neuen Horden hatten die Pthorer nichts mehr entgegenzusetzen. Deren Invasion würde ein Ende erst an jenem Tag finden, an dem es für ihren Hunger nicht mehr genügend Nahrung gab. Bis dahin aber würden sie Pthor verheeren und unter den Bewohnern gräßlich hausen. Lykaar wußte: der Weg zur FESTUNG führte in den offenen Rachen des Todes hinein, aber es gab für ihn keine andere Wahl. Möglich, daß er in Panyxan oder Wolterhaven für kurze Frist eine Zuflucht hätte finden können, aber früher oder später wären auch dort die Feinde aus dem Dunkel erschienen, um allem Lebenden den Garaus zu machen. Sichere, endgültige Rettung konnte es nur in der FESTUNG geben. Das Gelände war hügelig, und Lykaar hielt sich meist in den Senken, damit die Monstren ihn nicht frühzeitig erspähen konnten. Es galt, jede noch so kleine Vorsichtsmaßregel wahrzunehmen – zum ersten Mal in seinem Leben sah sich Lykaar genötigt, fast ohne
jede Pause aufzupassen, um das Leben nicht zu verlieren. Lieber wäre er mit anderen Orxeyanern gegen die Bewohner des Blutdschungels zu Felde gezogen – nach solchen Kämpfen gab es immer prachtvolle Gelage in Orxeya, nicht selten mit den Besiegten zusammen. »Woran denkst du?« fragte Braheva. »An Orxeya«, sagte Lykaar. »Ob unser Haus noch steht?« Braheva zuckte mit den Schultern. »Was kümmert es uns«, sagte sie gelassen. »Es ist nicht mehr unser Haus, erinnere dich.« Lykaar erinnerte sich, daß er das Haus samt Inventar gegen die Wunderseife eingetauscht hatte, die er mit dem Wagen und dem Yasselgespann durch Pthor spazierenfuhr – bislang hatte er noch keinen einzigen Pthorer gesehen, dem man auch nur versuchsweise von der Seife etwas hätte verkaufen können. »Trotzdem«, sagte Lykaar. »Wenn ich mir vorstelle, wie es jetzt angeblich in Orxeya aussieht …« »Der alte Mann hat gesagt, Orxeya stehe in Flammen«, sagte Braheva. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen.« »Wahrscheinlich stimmt es auch gar nicht«, versetzte Lykaar. »In so kurzer Zeit können die Horden der Nacht doch Orxeya nicht einfach erobert haben.« »Vielleicht hast du recht«, räumte Braheva ein. Sie sah Lykaar an, lächelte, aber nach ein paar Augenblicken schienen ihre Gesichtszüge gleichsam zu gefrieren. »Was gibt es?« fragte Lykaar. Er sah erst Braheva an, die in jeder Sekunde bleicher wurde, dann drehte er sich herum. Es stand auf dem Hügelkamm und glotzte aus vier riesigen Augen auf das Gespann herab. Lykaar erkannte mit schreckgeweiteten Augen sechs gewaltige Schuppenbeine, krallenbewehrt, ein riesiges Maul, das einstweilen noch geschlossen war, aber sicherlich eine Unmenge an scharfen Zähnen barg. Lykaar zog sein Schwert aus der Scheide. Es war eine lächerliche
Geste der Verzweiflung, denn dieser Koloß war zu gewaltig, als daß man ihn mit einem Schwert hätte besiegen können. Sekunden danach tauchte noch ein Monstrum auf, und dann noch eines. Und noch eines, ein fünftes. »Wir sind umzingelt«, stieß Lykaar hervor. »Als ob das erste nicht bereits genügen würde«, sagte Braheva bleich. Sie mühte sich sichtlich um Fassung. Dann erschienen neben den Monstren Gestalten, wie Lykaar sie nie zuvor gesehen hatte. Hagere, dürre Gesellen, verhüllt von lang herabfallenden roten Roben. Schweigend stapften sie den Hügel hinauf und blieben zwischen den Reihen der Ungeheuer stehen. »Heilige Götter«, stieß Lykaar hervor. »Wie machen die das?« »Ich weiß es nicht«, sagte Braheva leise. »Aber ich glaube nicht, daß uns dieses Bündnis des Schreckens etwas nutzen wird. Dies ist das Ende, Lykaar.« In Lykaar erwachte der aberwitzige Mut der Verzweiflung. Er wußte selbst nicht, woher er die Dreistigkeit dazu hernahm, aber er sagte einfach: »Das bleibt abzuwarten.« Einer der Männer in den roten Roben raunte dem ersten Monstrum etwas zu, fast schien es, als gebe er dem Ungeheuer Ratschläge. »Was sind das für Leute?« fragte Braheva. »Und warum tun sie sich mit den Horden der Nacht zusammen – und wozu?« »Was weiß ich«, versetzte Lykaar. Die Horde ließ sich Zeit. Es waren knapp fünfzig, schätzte Lykaar, eines grausiger anzusehen als das andere, und jedes einzelne Ungeheuer furchterregend genug für ein Dutzend Männer. Die Yassels schnaubten und stampften. Sie hatten die Gefahr erkannt, in der das Gespann schwebte. Das erste Monstrum setzte sich in Bewegung. Der Boden erbebte unter den Tritten der Beine. Die anderen blieben sitzen, äugten
herab. »Wir werden vorgeführt«, sagte Lykaar. »Als ob sie mit uns spielen wollten. Was machst du da, Braheva?« »Feuer!« rief die Frau. Das Monstrum trabte herab, es ließ sich Zeit. Entkommen konnten die beiden Orxeyaner nicht, der Ring um sie hatte sich geschlossen, keine Fluchtmöglichkeit stand mehr offen. Fast glaubte Lykaar, denaasigen Atem des Ungeheuers riechen zu können, als es auf ihn zugetrabt kam, das Maul mit den fürchterlichen Zähnen aufgerissen. Nie zuvor hatte Lykaar eine so scheußliche Kreatur gesehen. Wenn sie auf den Markt der Schlächter geschleppt wurden, sahen die Hordenmitglieder immer entschieden weniger furchterregend aus als in Wirklichkeit. Lykaar warf sich zur Seite – mehr aus Ahnung, denn aus Einsicht. Er tat das genau im richtigen Augenblick. Das Ungeheuer hatte zum Sprung angesetzt. Tarnung war der Trab gewesen – mit einem einzigen Satz überwand der Koloß die restliche Distanz und landete auf vier Beinen unmittelbar neben dem Wagen. Die beiden restlichen Gliedmaßen wischten durch die Luft, aber sie fanden kein Ziel. Die Yassels bäumten sich auf und zerrten den Wagen einige Schritte weit, dann brachen sie in die Knie. Lykaar hatte – Macht der Gewohnheit – beim Anhalten die Bremse gezogen und nicht wieder gelockert. Die Yassels konnten also nicht durchgehen, sie mußten bleiben. Lykaar lief ein paar Schritte. Das Schwert in seiner Rechten blitzte auf und sauste dann auf den Körper des Angreifers herab. Der Rückprall der Waffe auf dem Schuppenpanzer ließ in Lykaars Handgelenken einen aberwitzigen Schmerz aufzucken. Fast wäre ihm das Schwert entfallen. Er wandte sich ab, fiel zur Seite und rollte dreimal um die Längsachse. Wieder hatte er instinktiv gehandelt, denn dort, wo er den Schwerthieb ausgeführt hatte, krachte ein Herzschlag später
eine fürchterliche Pranke in den Boden und fegte Grasboden heraus. Lykaar versuchte aufzustehen. Im gleichen Augenblick kam von der anderen Seite des Wagens ein Stück Stoff herangeflogen; das lichterloh brennende Material landete auf dem Körper des Angreifers. Das Ungeheuer brüllte auf. Schwerthiebe schien es nicht zu fühlen, wohl aber die Hitze des Feuers. »Weiter so!« schrie Lykaar. Er hatte völlig vergessen, daß nach einem – zweifelhaften – Sieg über dieses Monstrum noch eine Heerschar anderer Feinde wartete. Er setzte über die aufgerissene Erde hinweg auf das Monstrum zu und führte den nächsten Hieb. Diesmal zielte er auf eines der Augen, und er traf. Die neuerliche Verwundung ließ das Ungeheuer noch einmal aufbrüllen. Wieder benutzte Braheva ein brennendes Tuch als Wurfgeschoß – diesmal allerdings verfehlte sie ihr Ziel knapp. Sie hätte beinahe Lykaar getroffen, der sich nur durch einen akrobatischen Satz davor retten konnte, ein brennendes Tuch auf das Haar zu bekommen. Etwas fegte siedendheiß über seinen Bauch, ein fürchterlicher Schmerz zuckte von dort hoch. Um Daumenbreite war Lykaar dem Prankenhieb des Monstrums entgangen. Die Bestie schlug wild um sich, traf aber nicht. Ein Schlag krachte gegen den Wagen. Holz barst krachend, die Yassels stießen schrille Schreie aus. Lykaar ließ das Schwert wirbeln, aber es war grausige Spielerei. Er war vom Wagen abgedrängt worden, wurde von der Bestie langsam hügelan getrieben. Ein paar Augenblicke noch, dann würde alles vorbei sein. Lykaar traf mit seinen Schwerthieben nur die Luft, und jetzt machte es sich bitter bemerkbar, daß er den Humpen besser zu handhaben wußte als die Klinge. Der Arm wurde ihm lahm. Bevor er jedoch aus Schwäche die Waffe einbüßen konnte, hatte
die Bestie ihn entwaffnet. Aus dem offenen, aasstinkenden Maul schoß eine lange Zunge hervor, wickelte sich um das Schwert, und hätte Lykaar nicht entsetzt die Waffe fahren lassen, wäre ihm vielleicht die Hand vom Arm gerissen worden. Lykaar schrie schmerzerfüllt auf. Er wartete auf den letzten entscheidenden Prankenhieb der Bestie. In diesem Augenblick tauchte Braheva in seinem Blickfeld auf. Während Lykaar stolperte, rücklings fiel und fast schon den grüngeschuppten Leib des Untiers auf sich herabstürzen sah, erschien Braheva und warf dem Monstrum etwas ins Gesicht. Noch im gleichen Augenblick stieß die Bestie einen irrwitzigen Schrei aus. Sie sprang mit allen vier Beinen hoch in die Luft, kam hart neben Lykaar wieder herunter und schlug blindwütig nach allem in seiner Reichweite. »Lauf, Lykaar«, schrie Braheva. »Er ist geblendet.« Lykaar kam wieder auf die Beine, und er war sogar so besonnen, sich wieder in den Besitz seines Schwertes zu setzen, bevor er sich aus der Reichweite der Pranken entfernte. Das Monstrum war geblendet – Braheva hatte ihm eine Handvoll der Seife ins Gesicht geworfen und offenbar alle Augen getroffen. Lykaar zögerte nicht lange. Er rannte los, um die Bestie herum. Irgendwo mußte eine Stelle sein, an der man dem Monstrum das Schwert wirkungsvoll in den Leib stoßen konnte. Lykaar duckte sich, machte zwei Schritte und stieß zu. Er spürte es wie einen Schlag durch den gigantischen Leib des Monstrums gehen, als sein Schwert leicht in den Leib eindrang. Das gellende Schreien der Bestie verstummte, sie richtete sich hoch auf. »Weg da!« schrie Braheva. Lykaar zog das Schwert heraus und nahm die Beine in die Hand. Der Koloß schwankte, dann kippte er zur Seite. Um Haaresbreite entging Lykaar dem Schicksal, vom getöteten Feind zerquetscht zu
werden. Unmittelbar vor seinen Füßen krachte der Schädel des Monstrums auf den Boden, die fürchterlichen Kiefer öffneten sich ein letztes Mal, dann war der riesige Leib reglos. Lykaar rannte zu Braheva hinüber. Gleichzeitig sah er nach den anderen Monstren der Horde. Die Rotroben standen neben den Monstren und sprachen mit ihnen. Es war ein Anblick, der Lykaar bis ins Mark erschütterte. Was waren das für Lebewesen? Er konnte ein paar Fetzen verstehen – die Fremden sprachen Pthora, nicht sehr gut, aber durchaus verständlich, in einem rauhen, fast bellenden Tonfall. Waren es Pthorer? Lykaar konnte sich nicht vorstellen, daß Bewohner des Dimensionsfahrstuhls so heimtückisch und grausam sein würden, die Horden der Nacht auf ihre Mitbewohner zu hetzen. »Ich glaube, es geht weiter«, sagte Lykaar. »Sie benützen uns zum Üben.« Es war ein gräßlicher Gedanke, aber offenkundig richtig. Ein zweites Ungeheuer kam langsam näher. Diese Bestie war hager und dürr ausgefallen. Auf langen Beinen kam sie heranstolziert – aber ihre. Waffen waren ebenfalls sehr ernst zu nehmen. An den Enden der Tentakel konnte Lykaar etwas Dunkles feucht glänzen sehen, vermutlich ein Gift. Wehe dem Unglücklichen, der damit berührt wurde. »Nur Mut«, stieß Braheva hervor. Sie hatte unterdessen ein kleines Faß der Seife aus dem Innern des Wagens hervorgewuchtet und auf den Boden gestellt. Mit einem Löffel rührte sie in dem braungrauen Inhalt herum. »Vielleicht hilft das Wundermittel ein zweites Mal«, sagte Braheva grimmig. Die Bestie kam heran. Die langen Tentakel bewegten sich in einem gespenstischen Schlängeltanz durcheinander, als wollten sie die Opfer mit den fließenden Bewegungen verzaubern und
hypnotisieren. Lykaar hielt das Schwert in der Hand, bereit zum Hieb. Er war auf der Hut, und er schaffte es, den ersten Angriff mit zwei gedankenschnellen Hieben abzuwenden. Die Bestie stieß ein gellendes Pfeifen aus, als zwei der Tentakel von Lykaar abgehauen wurden und auf den Boden fielen. Entsetzt sah Lykaar, wie sich die abgetrennten Tentakel langsam heranbewegten, offenbar fähig, allein anzugreifen. »Her mit dem Feuer!« stieß er hervor. Und wehrte eine neuerliche Attacke ab. Braheva machte eine Probe. Sie nahm eine Kelle voll der Seife und hielt die Fackel an die breiige Masse. Im gleichen Augenblick begann der Sud zu brennen, und übler Qualm stieg auf. Der Gestank wehte zu Lykaar hinüber, der unter dem Ansturm fast zusammenbrach. Der Geruch der brennenden Seife war buchstäblich atemberaubend, Lykaar war nach zwei Atemzügen halb besinnungslos. Dann sah er, wie die Bestie in den Qualm hineinlief, sich krümmte und schrie und dann zusammenbrach. »Das Zeug hilft!« schrie Lykaar. Er sah zu, daß er aus der Windrichtung kam. »Wir haben eine Chance, rasch, Braheva, öffne noch ein Faß!« Sie machten sich mit fieberhafter Eile an die Arbeit. Lykaar hielt die Horden mit Bränden und dem stinkenden Qualm zurück, während Braheva ein kleines Faß öffnete und hinten auf der Ladefläche in Brand setzte. Aus dem rückwärtigen Teil des Wagens schlug den Feinden eine Qualmwolke entgegen. »Los, ihr Viecher!« schrie Lykaar. »Lauft, ihr Braven. Es geht um eure Knochen!« Er hatte die Bremse gelöst, die Yassels stürmten davon. Alles kam jetzt darauf an, ob es dem Gespann gelang, die Linie der Bestien zu durchbrechen.
Mit den Schöpflöffel schleuderte Lykaar von dem brennenden Zeug um sich, und er hatte Erfolg. Die Bestien zogen sich zurück, machten den Weg frei, und auf dem Hügel erkannte Lykaar, daß der Weg nach vorne frei war. Die Linie der Bestien war nur dünn gewesen, war sie einmal passiert, war das Gespann vor weiterer Verfolgung vorläufig sicher, denn die gräßliche Qualmwolke aus dem hinteren Teil des Wagens genügte, die Bestien in die Flucht zu schlagen. »Nimm du die Zügel!« rief Lykaar und machte für Braheva Platz. Er richtete sich hoch auf, versuchte zu erkennen, was hinter ihm vorging. Was er vom Rauch getrübt sehen konnte, war ein Anblick des Grauens. Die Rotroben hatten die Monstren zusammengezogen, und jetzt waren sie ganz offenkundig dabei, die Ungeheuer zu regelrechten Brigaden zusammenzufassen, ihnen beizubringen, wie man organisiert angriff. Nebeneinander, als kompakte Masse muskelbepackter Leiber jagten die Horden der Nacht über das Land, schwenkten, machten kehrt. Lykaar sah es mit Entsetzen. Wehe der Stadt, die von diesen Heerscharen des Grauens angegriffen wurde. In ihren wilden zügellosen Haufen waren die Horden der Nacht schon übel genug gewesen. Nun, von den Roten zum Heer geformt, stellten sie eine Streitmacht dar, die sich grauenvoller und wirksamer kaum ausdenken ließ. Und in Lykaar formte sich der schreckliche Gedanke, daß vielleicht nicht einmal die FESTUNG sicher davor war, von diesen Horden eingenommen zu werden. 4.
»Hehe«, machte Genlis. Der Anblick bereitete ihm Freude. Auf den Straßen von Orxeya wimmelte das Volk durcheinander. Mütter schrien nach ihren Männern und ihren Kindern. Die wiederum liefen schreiend und weinend durch die Straßen und suchten verzweifelt nach ihren Eltern. Es war zu Plünderungen gekommen, es hatte Mord und Totschlag gegeben. Die Panik hatte Orxeya in festem Griff. Genlis hatte sich einen Zugor verschafft – das hieß natürlich, daß er ihn gestohlen hatte. Der eigentliche Besitzer lag mit einer Schädelverletzung in seinem Haus. »Noch kann ich ein paar mitnehmen«, sagte Genlis. Er genoß jede Sekunde dieses Zustands. Um seinen Zugor drängten sich Frauen und Männer, und Genlis genoß es über die Maßen, in diesem Augenblick den Richter über Leben und Tod spielen zu dürfen. Er suchte sich, seinem Charakter entsprechend, ein paar jüngere Frauen aus, die er auf seiner Flucht mitnehmen wollte. Die Männer machten finstere Gesichter, ließen es aber zähneknirschend geschehen. Es gab nur wenige Zugors, die zur Verfügung standen, und Genlis hielt sogar eine hochmoderne Waffe in der Hand, ein Geschenk für den Tag, an dem Thamum Gha nach Pthor greifen wollte. »Los, steigt ein«, sagte Genlis. Viel Platz hatte er nicht mehr, denn in den letzten Stunden war Genlis beim Plündern recht eifrig gewesen. Wenn es ihm gelang, die nächsten Stunden zu überleben, war er ein gemachter Mann. Irgendwann, so hatte sich Genlis überlegt, würde Thamum Gha dafür sorgen, daß sein Dimensionsfahrstuhl nicht zur Gänze entvölkert wurde. Wenn Genlis bis dahin überleben konnte, hatte er alles, was sein Herz von je her begehrt hatte – Ansehen, Macht, Geld und schöne Frauen. Die Rivalen und Neider waren dann nicht mehr
am Leben. Genlis ließ den Zugor anfahren. Flüche wurden ihm nachgeschrien, zwei der Frauen im Zugor schluchzten hemmungslos, verstummten aber, als ihnen der boshafte Blick des Alten klarmachte, daß er allzuviel Trennungsschmerz nicht dulden würde. Genlis wußte, daß sie ihn haßten, und er freute sich, den Leuten dafür Grund gegeben zu haben – es war dies die einzige Form, Beachtung zu finden. Schnell verließ Genlis den Stadtbezirk von Orxeya. Was er vom Zugor aus erkennen konnte, erfreute sein schwarzes Herz. Zu Hunderten waren die Orxeyaner auf der Straße der Mächtigen zu sehen, schwer bepackt, angstgeschüttelt. Andere Kolonnen marschierten eilends auf den Rand des Blutdschungels zu. Die Feuer, die zwischen der Stadt und dem Blutdschungel gebrannt hatten, waren mangels Nahrung ausgegangen. Niemand kümmerte sich mehr darum. Ein Stadtviertel von Orxeya war schon bis auf die Grundmauern abgebrannt, andere würden vielleicht folgen, wenn der Wind entsprechend drehte. Er konnte sehen, daß den Flüchtlingen aus Orxeya andere Flüchtlinge entgegengingen, offenbar war halb Pthor auf der Wanderschaft. Genlis wußte, daß ein Flüchtlingshaufen den anderen an Schilderung von Grausamkeiten überbot – und damit die Massenpanik nur noch mehr anheizte. Nichts konnte Genlis gelegener kommen. »Wo fliegen wir eigentlich hin?« fragte eine der jungen Frauen. Ihr kalter, berechnender Blick traf Genlis, der grinste boshaft, und das Gesicht der Frau zeigte ein Lächeln. Genlis wußte, daß er eine verwandte Seele getroffen hatte – er würde von dem Weib alles bekommen können, was er haben wollte, vorausgesetzt, er konnte seine augenblickliche Position behaupten. Sobald er dem Mädchen den Rücken kehrte, würde sie ihn wahrscheinlich schnellstens umbringen, um an den Zugor und die darin geladenen Schätze
herankommen zu können. »In Sicherheit«, stieß Genlis hervor. »In den Blutdschungel?« fragte eine andere Frau entsetzt, als sie sah, welchen Kurs Genlis steuerte. »Unsinn«, sagte der Alte. »Ich fliege zur Feste Grool, dort werden wir sicher sein. Der Ort ist wesentlich abgelegener als die FESTUNG, und er wird vermutlich auch nicht so überlaufen sein.« Genlis hatte sich ausrechnen können, daß halb Pthor unterwegs war zur FESTUNG, wo sich die Leute auf die eine oder andere Weise Rettung aus höchster Not erhofften. In diesen Mengen konnte aber nicht einmal die FESTUNG Sicherheit bieten. Die Feste Grool war Genlis gerade richtig erschienen. Sie lag im Westen Pthors, nahe der Küste der Stille, und die Horden der Nacht würden schon allerhand anstellen müssen, um Grool zu erreichen. »Ob man uns überhaupt hereinlassen wird?« fragte die Frau. »Lebt in der Feste Grool nicht jemand?« Genlis nickte. »Ein gewisser Caidon Rov«, stieß er hervor und grinste mit seinem zahnlosen Mund. »Aber der wird uns nicht hindern können.« * Sie erreichten die Feste Grool nach mehrstündigem Flug, und als sie den in Aussicht genommenen Zufluchtsort erreichten, mußten sie feststellen, daß andere ebenfalls auf die Idee gekommen waren, in der Feste Grool Sicherheit vor den Horden der Nacht zu erhoffen. Genlis fluchte lautstark, als der Zugor sich der Feste näherte und er auf dem Weg und vor den Toren der Feste einige hundert Pthorer aller Völker sah, die auf Einlaß warteten. »Dein Vorschlag war wohl doch nicht so gut«, versetzte Gajana, die jüngste und dreisteste der Frauen, die Genlis sich ausgesucht hatte.
»Warte es ab«, versetzte Genlis grimmig. Er hatte die Energiewaffe neben sich liegen, damit gedachte er seiner Forderung nach Einlaß den nötigen Nachdruck zu verleihen. »Wenn Caidon Rov bisher niemanden hereingelassen hat, warum sollte er es jetzt tun?« Genlis ließ den Zugor weiterfliegen, bis er den Steg erreicht hatte, der das Land mit dem Zugang zur Feste verband. Auf der schmalen Straße drängten sich die Verzweifelten. Genlis erkannte Pthorer aller nur denkbaren Völker – sogar Guurpel waren darunter, dazu zahlreiche Mitglieder der Stämme, die den Blutdschungel bewohnten. Fast schien es, als sei jeder zweite Pthorer auf der Flucht. »Was soll das, Alter!« schrie ein hünenhafter Mann, ein Orxeyaner. »Glaubst du, du bist was Besseres, nur weil du einen Zugor hast?« Genlis hob böse lächelnd seine Waffe. »Hast du etwas gesagt?« Der Mann erbleichte und machte den Weg frei. Es war reiner Zufall, daß sich genau in diesem Augenblick das Tor öffnete. Eine Gestalt wurde sichtbar. »Caidon Rov!« Der traurig dreinblickende Mann blieb im Eingang stehen. Die Erschütterung über das Leid der Pthorer war ihm anzusehen. »Laß uns ein, Caidon Rov«, schrien etliche. »Nur du kannst uns schützen vor den Horden der Nacht.« »Vorwärts, Caidon Rov!« rief Genlis. »Hunderte stehen hier und warten darauf, daß du sie einläßt.« »Ich bin der Hüter der Feste Grool«, sagte Caidon Rov niedergeschlagen. »Ich weiß nicht …« Genlis hob die Waffe und schoß ihn nieder. Caidon Rov brach zusammen, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck fassungslosen Staunens. »Mir nach!« schrie Genlis. »Ich, Genlis von Orxeya, eröffne euch den Weg zur Rettung!«
»Genlis soll leben!« Es gab genug Verängstigte, die alles geschrien hätten, wenn sie sich nur dafür wenigstens die Illusion der Sicherheit verschaffen konnten. Über den Gefallenen hinweg flog der Zugor in das Innere der Feste Grool. * Caidon Rov kam langsam wieder zu sich. Sein Körper schien in Schmerz gebadet, und in dem Augenblick, in dem seine Gedanken zurückkehrten, wußte der Einsame der Feste Grool, daß er bald sterben mußte. Die Wunde, die er empfangen hatte, war tödlich – es war ein Wunder zu nennen, daß er für kurze Zeit die Besinnung wiedererlangt hatte. Caidon Rov raffte sich auf. Er nahm all seine Kräfte zusammen, stemmte sich an der Wand hoch, kam auf die Beine. Sein Atem ging schwer, und in seiner Brust wühlte ein furchtbarer Schmerz. Caidon Rov griff sich an die Brust, er spürte feuchtes Blut an seinen Fingern. »Warum?« murmelte der Todgeweihte. »Ich war unbewaffnet?« Er sah noch das haßverzerrte Gesicht des alten Mannes vor sich, der die Waffe auf ihn gerichtet und abgedrückt hatte. Wahrscheinlich steckte der Alte jetzt in der Feste. Caidon Rov schleppte sich vorwärts. Er mußte in das Innere der Feste, um jeden Preis. Es gab Geheimnisse in der Feste Grool, die niemals gelüftet werden durften, selbst in dieser extremen Lage nicht, und es war Caidon Rov, der diese Geheimnisse zu bewahren hatte. Jetzt trieb sich das flüchtige Volk in der Feste herum. Caidon Rov konnte sie lärmen hören. »Wahrscheinlich plündern sie die Vorräte«, murmelte er. Er verlor
Blut bei seinem Weg. Tropfen für Tropfen versickerte sein Leben. Nach einigen Minuten erreichte Caidon Rov die erste Pforte, die in das Innere der Feste führte. Neben der Tür stand ein junger Mann, eine Frau im Arm, in der freien Hand eine halbleere Flasche. Das Mädchen wurde leichenblaß, als sie Caidon Rov heranschwanken sah. Der junge Mann stieß sie weg, machte sich kampfbereit. »Geht mir aus dem Weg«, bat Caidon Rov. Der junge Mann starrte Caidon Rov an. Sein Gesicht spiegelte seine Gedanken deutlich wider – Beschämung und Furcht waren die erkennbaren Merkmale. »Laßt mich wenigstens in Frieden sterben«, sagte Caidon Rov. Er mußte sich stützen, um nicht umzufallen. »Laßt ihn durch«, stieß die junge Frau hervor. »Laß ihn, er kann uns nicht mehr stören. Du siehst doch, er ist sterbenswund.« Und ihr habt mich auf dem Gewissen, bedeutete der Blick des Sterbenden. »Laßt mich durch«, bat Rov noch einmal. Der junge Mann trat zur Seite. Leicht öffnete sich die Pforte unter Rovs Hand. Er betrat seine Behausung wie ein Dieb, verstohlen, voller Furcht vor Entdeckung. Wieder überfiel Caidon Rov der Schmerz. Er lehnte sich gegen die Wand, seufzte leise und wartete, bis das erste Lodern des Schmerzensbrands vorüber war. Sein Leben zählte nur mehr nach Minuten. Er mußte sich beeilen. Durch die Räume der Feste hallte das Lärmen der Eindringlinge. Vergessen schien die Furcht, gegenstandslos die Gefahr von draußen. Sie hatten die Getränke gefunden und die Nahrungsmittel, und sie feierten ein sinnenfrohes Fest, tanzten den tollen Rausch des nahen Todes. »Narren«, murmelte Rov. Er konnte das Lachen und Kreischen junger Frauen hören, das
polternde Gelächter betrunkener Männer. Dazwischen erklang Scheppern und Klirren. Einmal schuldig geworden, schienen die Eindringlinge jede Scham und Scheu vergessen zu haben – da sie schon den Besitzer gemeuchelt hatten, schadete es nichts mehr, wenn sie sein Eigentum zerschlugen. Caidon Rov hatte nicht mehr die Kraft, sich darüber zu ärgern. Er mußte hinabsteigen. Es gab Räume in der Feste, die kein Unbefugter betreten durfte, niemals, unter gar keinen Umständen. Caidon Rov hätte jedem den Zutritt zu diesen Räumen verwehrt, und er war nicht gewillt, jetzt eine Ausnahme zu machen. Eine lange Treppe erreichte er und mußte sich erneut festhalten, um nicht die stählernen Stufen hinabzukollern. Aus Kleinigkeiten, die nur ihm auffielen, erkannte Caidon Rov, daß vor ihm schon jemand die Treppe benutzt hatte. Irgendeiner der Gäste feierte offenbar das rauschende Fest nicht mit, sondern suchte nach dem Schlüssel zur Macht über die gesamte Feste. »Vermutlich der Alte«, flüsterte Caidon Rov. Das zahnlose Gesicht des Alten stieg in seiner Erinnerung auf, eine Fratze der Bosheit, der Niedertracht, der Heimtücke. Dieser Alte sah so hinfällig aus – aber hinter dieser Maske verbarg sich ein reißendes Raubtier. Schritt für Schritt tastete sich Rov die Treppe hinab, sehr leise, sehr langsam. Jeder Schritt ließ ihn Blut verlieren, jeder Schritt schuf schweren Schmerz. Dann war das Ende der Treppe erreicht. * »Wir werden es aufbrechen«, stieß Genlis hervor. Er wußte, daß der Haufen oben in den Räumen der Feste herumlag, trank und aß und es sich gemütlich machte. Seine Pläne waren anders – er wollte die Feste Grool zur Gänze unter seine Kontrolle bringen. War das vollbracht, hatte er ausgesorgt.
Die beiden jungen Frauen an seiner Seite stimmten mit seinen Plänen überein, ihre Skrupellosigkeit kam der des Alten gleich. Genlis wußte, daß er sie nur solange würde halten können, wie er stärker war als sie – aber er war sicher, diese Stellung für lange Zeit halten zu können. Jetzt stellte sich den dreien eine Tür in den Weg, eine verschlossene Tür. Genlis hob die Waffe und gab einen Feuerstoß auf das Schloß ab. Blitze zuckten über das blaue Metall der Tür, das Schloß wurde umtobt von knisternden Entladungen. Einen Augenblick später flog die Tür auf. Genlis trat hastig ein. Die Beleuchtung flammte auf. Genlis erblickte einen Raum, der ein einziger großer Kristall zu sein schien. Kristallen die Wände, schimmernd die Decke. Glasklar und diamanthart der Boden, auf dem die drei schritten. Ein paar Schritte machte Genlis, dann war er umgeben von Bildern seiner selbst. Die beiden Frauen waren ebenso überraschend verschwunden. Der Schall seiner Schritte wurde schaurig verstärkt, schwang in seinem Körper mit, aber der Alte war in diesem Augenblick frei von Furcht. Zum ersten Mal in seinem Leben bewies Genlis Mut – denn er wußte, daß er mitten in einem großen Geheimnis stand. Ebenbürtig den großen Pthorern würde er sein, höher als Sator Synk, nur vergleichbar mit den Odinssöhnen und Atlan. Drei Dutzend Personen, die aussahen wie er, bewegten sich in dem Riesenkristall. Seltsam, daß jeder Genlis sich anders bewegte. Hätte der Alte nicht ein unerschütterliches Selbstvertrauen gehabt, er wäre schreiend zusammengebrochen. »Schluß jetzt!« sagte Genlis. Mit einem Schlag verschwand der Spuk. Die beiden Frauen wurden sichtbar, ohnmächtig, die Gesichter bleich vom Schrecken, lagen sie am Boden. Wieder waren Kristalle sichtbar, aber diesmal kleinere. Wo Genlis
metallverkleidete Schaltpulte erwartet hatte, Instrumente, Hebel und Schalter, waren nur Kristalle zu sehen. Es gab sie in allen Größen und Formen, die meisten schimmerten rötlich, und im Innern schienen sich seltsame Kreaturen zu bewegen. »Bleib stehen, rühr nichts an!« Genlis fuhr herum, sein Mund öffnete sich, seine Augen weiteten sich vor Schreck. Ein gräßlicher Schrei löste sich von den Lippen des Alten. Die Waffe fiel ihm aus der Hand. Caidon Rov war von den Toten erstanden, stand vor ihm, sah ihn an, das Gesicht gespensterbleich. »Rühr dich nicht, Verruchter!« sagte das Gespenst. Genlis griff sich an den Hals, taumelte zurück. Seine Hand berührte die Kristalle, wahllos, hier und da berührten die Finger die kristallenen Strukturen. »Narr!« sagte Caidon Rov. »Elender Narr. Dein Ende hast du besiegelt.« Genlis spürte, wie sich der Boden unter seinen Füßen bewegte, deutlich spürbar, und aus den Kristallen schwoll weißes Feuer an und bedeckte den Boden. »Vergehen wirst du mit mir«, sagte Caidon Rov. »Sieh dich um, böser alter Mann. Du bist der einzige außer mir, der dies gesehen hat, und du wirst nicht einmal begreifen, was du siehst und was dich töten wird.« Immer heller wurde der Schein, der Genlis einhüllte. Gräßliche Angst griff nach seiner Gurgel. »Verzehren wird das Feuer, was Geheimnis war in der Feste und was sterblich ist an mir«, sagte Caidon Rov. »Nur die Hülle wird bleiben und künftige Geschlechter mahnen.« »Zu Hilfe!« schrie Genlis. Er spürte wie das weiße Wabern nach seinen Füßen griff. Er verlor das Gefühl für die Füße, und er spürte, wie er auch in den Beinen das Gefühl verlor. Gräßlich schrie Genlis
auf. Durch sein Schreien hindurch erklang die ruhige Stimme des Wächters der Feste Grool. »Freunde«, sagte Caidon Rov, und seine Stimme klang frohlockend. »Seht, was geschieht, Caidon Rov hält euch die Treue. Kein lebendes Wesen wird euer Geheimnis erfahren, für immer gehört es der Ewigkeit.« Einen Augenblick später hatte das kalte Feuer ihn verzerrt. Für die Feste Grool hatte die letzte Stunde geschlagen. 5. Braheva lächelte glücklich, Lykaar grinste breit. Unter ihnen lag die FESTUNG. Sie waren am Ziel ihrer Irrfahrt angelangt, endlich in Sicherheit. Die beiden Orxeyaner hatten sich und ihren Yassels keine Stunde der Rast mehr gegönnt. Ohne Pause waren sie marschiert und gefahren, getrieben von der Angst vor den Horden der Nacht und von dem Wunsch, die anderen Pthorer vor der zusätzlichen Gefahr der Rotroben zu warnen. Sie waren beileibe nicht die einzigen, die in der FESTUNG Zuflucht gesucht hatten. Das Land zwischen dem kleinen Hügel und den Pyramiden der FESTUNG war bevölkerter als der Marktplatz von Orxeya zu Spitzenzeiten. Es mußten Tausende sein, die sich mit Sack und Pack hier eingefunden hatten, getrieben von Angst. »Es wird nicht einfach werden«, sagte Lykaar. Braheva zuckte mit den Schultern. »Wir werden es schaffen«, sagte sie zuversichtlich. »Wir haben bis jetzt alle Gefahren gemeistert, wir werden auch damit fertig werden.« Lykaar trieb die Yassels an. Müde setzten sich die Tiere in
Bewegung. Sie waren hochgradig erschöpft, aber sie gehorchten willig. Lykaar hatte sich vorgenommen, den Yassels wenigstens einen Tag Pause zu gönnen, wenn es die Umstände zuließen. Der Wagen rollte den Hügel hinab, auf die Gebäude der FESTUNG zu. Die beiden Orxeyaner kannten die FESTUNG nur aus Erzählungen und Berichten, gesehen hatten sie sie nicht. Um so beeindruckter waren sie, je näher das Gespann kam. Ungeheuer groß war die zentrale Pyramide, wahrscheinlich mehr als vierhundert Meter, schätzte Lykaar, ein Gebirge aus grauem Stahl. Daneben wirkten die kleineren Pyramiden, knapp unter zwanzig Metern hoch, wie Spielzeuge. »Hier haben wirklich die Herren von Pthor gelebt«, sagte Braheva. »Sieh nur, die Blumenpracht!« Lykaar nickte. Es war zu sehen, daß dieser Garten, der sich rings um das Gebiet der FESTUNG erstreckte, einmal noch schöner und paradiesischer gewesen sein mußte. Auch dieses Gebiet war durch die jüngsten Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen worden. Dennoch hatte Braheva Grund zur Bewunderung. Es war noch immer eine Landschaft, wie man sie sich kaum schöner vorstellen konnte. Nach der alles andere als einladenden Ebene von Kalmlech, dem gefährlichen Blutdschungel und den Einöden anderer Gebiete auf Pthor mußte der FESTUNGsgarten auf jeden Pthorer wie eine Märchenwelt erscheinen, selbst in diesem ramponierten Zustand. Es war allerdings zu sehen, daß die Tage des Gartens gezählt waren. Zahlreiche Yassels stillten ihren Hunger an den Pflanzen, und die Flüchtlinge in ihrer Sorge um das nackte Leben kannten keinerlei Rücksichtnahme. Sie fuhren und gingen, wo sie Platz fanden, verließen die Wege und trampelten nieder, was ihnen im Wege stand. In ein paar Tagen konnte das ganze Gebiet eine einzige Wüstenei sein. »Schade darum«, sagte Lykaar.
Er verhielt sich wie die anderen auch – einen Weg konnte er nicht entdecken, also steuerte er seinen Wagen einfach durch die Beete hindurch. An einem der zahlreichen Springbrunnen ließ Lykaar sein Gespann anhalten. Er hatte Durst, und auch die Yassels brauchten dringend Wasser. Glitzernde Kristalle umgaben den Brunnen und schossen farbige Reflexe über das Wasser. Es war seltsam, sich vorzustellen, wie die Horden der Nacht über diese Wunderwelt hereinbrachen. »Habt ihr gehört?« fragte ein Flüchtling, ein Kelotte aus Aghmonth. »Sie wollen uns nicht einlassen, diese Schurken!« »Wer?« fragte Lykaar. Mit seiner hohen, fast piepsenden Stimme antwortete der Kelotte. »Die Odinssöhne. Sie sitzen in Sicherheit, und wir müssen uns von den Horden der Nacht auffressen lassen.« Lykaar und Braheva wechselten einen raschen Blick. Sie hatten unterwegs über dieses Problem gesprochen und keine Lösung gefunden. Ihre schlimmsten Erwartungen wurden in diesem Augenblick bestätigt. »Und warum?« fragte Lykaar. Die Yassels soffen gierig, und auch Lykaar stillte seinen Durst. Ein Humpen Kromyat wäre ihm jetzt lieber gewesen, aber dergleichen gab es in der FESTUNG vermutlich nicht. »Was weiß ich?« ereiferte der Kelotte. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir.« »Von Aghmonth«, vermutete Lykaar. Er gab den hölzernen Krug mit dem herrlich klaren Wasser an Braheva weiter. »Von dem, was Aghmonth einmal gewesen ist«, sagte der Kelotte. »Kein Stein steht mehr auf dem anderen …« »Von Wolterhaven auch nicht«, warf ein Orxeyaner ein. »Überall nur Trümmer. Das ist das Ende, sage ich euch, das ist das Ende.« »Die Horden?« erkundigte sich Lykaar. »Wer sonst«, erklärte der Kelotte. »Alles haben sie zerstört oder niedergemacht. Tausende von Toten, ein Blutbad sondergleichen.
Ich bin einer der wenigen, die dem Gemetzel entkommen sind.« Wieder sahen sich Lykaar und Braheva an. Wenn es stimmte, daß Aghmonth von den Horden verwüstet worden war – wie hatte es der Kelotte dann geschafft, sich gegen den Zustrom der Ungeheuer zur FESTUNG durchzuschlagen? Die Berichte, die Lykaar zu hören bekam, wurden immer blutrünstiger und erschienen ihm immer weniger wahrscheinlich. Ihm dämmerte der Verdacht, daß die meisten Pthorer nicht vor den Horden flüchteten, sondern vor dem Gerücht, daß die Horden kämen – infolgedessen sahen sie sich genötigt, die gewähnte Bedrohung ins Aberwitzige aufzublasen. Lykaar jedenfalls konnte sich nicht vorstellen, daß es möglich war, daß er mit Braheva und dem Gespann die Ebene von Kalmlech am Rande durchqueren konnte, während gleichzeitig so viele Ungeheuer Pthor unsicher machten, daß sie fast alle größeren Ortschaften bereits in Schutt und Asche gelegt haben sollten. Es war insbesondere wenig wahrscheinlich, daß sie Aghmonth im äußersten Osten Pthors bereits eingeäschert hatten, in der Nähe der FESTUNG aber überhaupt nicht zu finden sein sollten. »Wahrscheinlich«, so fuhr der Kelotte angstschaudernd fort, »sind die, die ihr hier sehen könnt, die einzigen überlebenden Pthorer.« Lykaar hatte Mühe, dem Kelotten nicht ins Gesicht zu lachen. Alles was recht war, aber soweit durfte man die Furcht nicht treiben. Der Kelotte schien völlig durchgedreht zu sein. »Alles vernichtet«, murmelte der Orxeyaner, der neben dem Gespann stehengeblieben war. »Alle sind tot, das ist das Ende, sage ich euch.« »Kann man mit den Odinssöhnen wenigstens reden?« fragte Lykaar. »Kein Wort«, entgegnete der Kelotte. »Sie haben sich im Innern der FESTUNG versteckt, die Feiglinge. Natürlich wollen sie uns nicht hereinlassen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie so hart und grausam sein sollen«, versetzte Braheva ruhig. »Was sollten sie mit Pthor
beginnen, gäbe es darauf keine Pthorer mehr?« »Was weiß ich?« ereiferte sich der Kelotte. »Vielleicht stehen sie mit irgendwelchen Mächten im Bunde? Vielleicht soll ganz Pthor entvölkert werden, vielleicht müssen wir sterben, um Platz zu machen für andere, die gehorsamer sind. Der Tod soll sie treffen, die Odinssöhne.« Lykaar wandte sich an Braheva. »Wir treiben das Gespann so nahe wie möglich an die Hauptpyramide heran«, bestimmte er. Braheva nickte. Sie machten sich auf den Weg. Das Vorhaben war nicht einfach durchzuführen, denn die Gegend um die FESTUNG wimmelte von Pthorern und ihren Tieren. »Langsam bekomme ich das Gefühl, daß hier alle miteinander übergeschnappt sind«, sagte Lykaar zu seinem Weib. »Ich fürchte, daß in Orxeya alles zum Besten steht – abgesehen davon, daß sich die Bevölkerung in Sicherheit gebracht hat.« »Wir haben die Panik fast mehr zu fürchten als die Horden«, stimmte Braheva zu. »He, wo wollt ihr hin?« schrie jemand. »Seid ihr verrückt geworden? Der Platz ist knapp genug, und wenn ihr in die FESTUNG wollt, dann müßt ihr euch anstellen, wie das jeder hier tut.« Lykaar winkte nachlässig ab. Die Yassels bahnten sich langsam einen Weg durch die Menge. Zwar schimpften und fluchten die Betroffenen, aber sie machten Platz, bevor sie von den Yassels getreten werden konnten. Langsam kamen Lykaar und Braheva mit ihrem Gespann vorwärts, der eigentlichen FESTUNG immer näher. Lykaar deutete auf die große Pyramide. »Unter diesen Pyramiden«, sagte er, »soll es riesengroße Räume geben, Hallen, Magazine, ein Land unterhalb des Landes. Dort fänden wir alle Zuflucht.« »Wenn man uns hereinläßt«, versetzte Braheva. »Und das ist mehr
als zweifelhaft.« * Heimdall stieß eine Verwünschung aus. »Ich möchte wissen, was das soll«, rief er wütend. »Sind die Leute denn völlig übergeschnappt?« Sigurd gab keine Antwort. Die Lage wurde langsam tatsächlich bedrohlich. Das Wache Auge lieferte den Odinssöhnen Informationen in die Zentrale der FESTUNG, und die Nachrichten waren alles andere als gut. Sigurds Warnaktion war ins Gegenteil umgeschlagen. Statt die Pthorer zu vereinen, hatte sie sie zerstreut. Überall streiften angsterfüllte Pthorer über das Land und steckten andere an. »Wie sieht es aus?« fragte Heimdall. »Übel«, antwortete Sigurd bedrückt. »Orxeya verlassen, in Wolterhaven liegen Robotbürger und panikerfüllte Pthorer im Kampf, es hat sogar Tote gegeben. Die Städte sind fast verlassen, Panyxan wurde von einem verrückten Haufen kurz und klein geschlagen, diese Stadt können wir getrost vergessen.« »Horden?« Sigurd nickte. »Horden von Flüchtlingen«, sagte er. »Von Kalmlech‐Monstren ist bislang wenig zu sehen – nur von Leuten, die davor Angst haben.« »Und sonst?« Sigurd deutete auf das Bild. »Die Feste Grool existiert nur noch als Hülle. Das Innere ist vollständig vernichtet – Caidon Rov muß eine geheime Vernichtungsschaltung ausgelöst haben.« Wieder fluchte Heimdall wütend. In jeder Stunde häuften sich die Katastrophenmeldungen. Ganz Pthor geriet mehr und mehr in Panik.
»Wo ist Balduur?« Sigurd zuckte mit den Schultern. »Irgendwo«, sagte er. »In der FESTUNG, aber frage mich nicht, in welchen Räumen. Von Sator Synk und Bördo fehlt jedenfalls jede Spur. Das Wache Auge liefert nur verschwommen Bilder aus der Barriere, fast so schlecht wie gar keine.« Heimdall starrte auf den Bildschirm, der die Menschenansammlung in den Gärten der FESTUNG zeigte. Der Haufen hatte sich vor Stunden gebildet und wurde immer größer. Noch konnten die Technos die empörte Menge zurückhalten, aber bald würden sie zum Sturm auf die FESTUNG ansetzen. »Hast du einen Vorschlag, was wir tun könnten?« fragte Sigurd den Bruder. Heimdall schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er grollend. »Nur da sitzen, abwarten und zusehen, wie das Land sich ins Chaos stürzt.« Ein Techno näherte sich. »Die Leute draußen verlangen stürmisch, eingelassen zu werden«, sagte er. »Sie wollen verhandeln.« Sigurd wölbte die Brauen. »Verhandeln? Worüber?« Der Techno machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Das will die Abordnung erklären«, sagte er. Sigurd sah den Bruder an, Heimdall zuckte mit den Schultern. »Laßt die Abordnung herein«, befahl Sigurd. »Aber nehmt ihnen die Waffen ab, falls sie welche haben.« Der Techno verschwand aus der Zentrale. »Noch ist nicht viel geschehen«, sagte Sigurd. »Die Städte stehen noch, nur Panyxan müssen wir wohl abschreiben.« »Kein großer Verlust«, meinte Heimdall. »Ansonsten …« Der Techno kehrte wieder, begleitet von einer Gruppe von Pthorern. Der Anführer war ein hochgewachsener, grimmig
dreinblickender Orxeyaner, der Sigurd auf den ersten Blick unsympathisch war. »Ich bin Benkthan«, sagte der Orxeyaner mit lauter Stimme. »Man hat mich und diese meine Freunde losgeschickt, mit euch zu verhandeln. Wir wollen eingelassen werden in die FESTUNG, bevor uns die Horden der Nacht vernichten.« »Ihr Narren«, schimpfte Sigurd. »Ihr hättet euch zusammentun sollen, euch ordnen zum Widerstand. Statt dessen lauft ihr wie die Narren durch das Land und versetzt die Bevölkerung in Unruhe.« »Was tun wir?« rief Benkthan. »Unruhe? Pthor ist zur Hälfte verwüstet, von meiner Stadt stehen kaum noch die Grundmauern, Wolterhaven brennt an allen Ecken und Enden, und aus Zbohr ist, wie ich hörte, nicht eine lebende Seele entkommen.« »Unfug«, grollte Heimdall. »Lügenmärchen, eines wie das andere. Sigurd, zeige ihnen, wie es aussieht.« Die Abgesandten der FESTUNGsbelagerer hörten sich geduldig an, was Sigurd ihnen erzählte, sie betrachteten auch ruhig die Bilder, die das Wache Auge in die FESTUNG lieferte. »Mag sein«, erklärte Benkthan schließlich. »Vielleicht stimmt das alles.« »Kerl«, empörte sich Heimdall. »Du wagst es, am Wort eines Odinssohns zu zweifeln?« »Wenn es um meinen Hals geht, zweifle ich notfalls an allem und jedem«, gab Benkthan frech zurück. Es war unerhört, welche Frechheiten sich die Pthorer gegen die früher so gefürchteten Odinssöhne herausnahmen, dachte Heimdall grimmig. »Wie gesagt, es ist möglich, daß die Horden der Nacht Pthor noch nicht zur Gänze verwüstet haben. Um so besser für uns, dann haben wir mehr Zeit.« »Endlich«, sagte Sigurd zufrieden. »Es wird das beste sein, wenn ihr euch in eure Städte zurückbegebt und dort den Widerstand organisiert. Feuer muß bereitgehalten werden, Waffen …« »Ach was, das hilft doch nicht«, sagte Benkthan und machte eine
wegwerfende Handbewegung. »Außerdem können wir auf dem Rückweg von den Horden überfallen werden – soviel Zeit werden sie uns bestimmt nicht lassen. Oder wollt ihr behaupten, es gäbe gar keine neuen Horden?« »Wir haben euch selbst davor gewarnt«, versetzte Sigurd. »Na also«, sagte Benkthan. »Es gibt sie, und sie werden uns früher oder später überrennen. Habe ich recht?« »Die Gefahr ist groß, aber nicht unüberwindlich«, sagte Sigurd. »Das glaubt ihr, wir nicht«, sagte Benkthan. »Könnt ihr Odinssöhne die Horden zurücktreiben? Könnt ihr das?« »Nein, das können wir nicht, jedenfalls nicht alleine. Wenn ihr euch zum Widerstand organisiert …« »Ohne Waffen? Ohne Heerführer, erprobte Kämpfer? Inmitten des aufgescheuchten Volkes? Seid ihr so hirnverlassen, daß ihr daran noch glaubt?« Sigurd ballte die Fäuste, Heimdalls Gesicht bekam einen unheilverkündenden Ausdruck. Einer der Begleiter des Orxeyaners zupfte Benkthan am Ärmel. Der Orxeyaner hörte sich an, was ihm ins Ohr geflüstert wurde, und nickte dazu. »Also«, sagte er dann. »Ihr könnt die Horden nicht vertreiben, wir können es auch nicht. Also gibt es nur einen, der es fertigbringen kann.« Sigurd kniff die Augen zusammen. »Wer sollte das sein?« »Thamum Gha«, sagte der Orxeyaner. Sigurd sah ihn entgeistert an. »Wer?« fragte er ungläubig. »Thamum Gha«, wiederholte Benkthan. »Unser Vorschlag ist dieser: Wir rüsten eines der Beiboote der FESTUNG aus, fliegen nach Lamur und bitten Thamum Gha, dem Dunklen Oheim unsere völlige und bedingungslose Unterwerfung anzubieten. Er soll beim Dunklen Oheim um Gnade für uns flehen.«
Sigurd konnte sich einen bissigen Einwand nicht verkneifen. »Du siehst gerade so aus, wie man sich einen um Gnade flehenden Pthorer vorzustellen hat«, sagte er spöttisch. Der Orxeyaner war so nicht aus der Fassung zu bringen. »Euch flehe ich nicht an«, sagte er und sah sich herausfordernd um. »Was ich euch vortrage, ist die Forderung des Volkes von Pthor, das sich vor der FESTUNG versammelt hat.« »Du bist verrückt, Orxeyaner«, stieß Heimdall hervor. »Niemand hat uns Forderungen zu stellen.« Benkthan deutete nach draußen. »Sagt das den Verzweifelten. Ihr werdet binnen weniger Augenblicke an den Bäumen baumeln. Die große Zeit der Odinssöhne ist vorbei, Sigurd und Heimdall. Ihr habt nicht mehr zu gebieten, und wenn ihr euch den Forderungen des Volkes widersetzt, werdet ihr die Folgen zu tragen haben.« »Wage es, dreister Bursche«, knurrte Heimdall und stand auf. Am liebsten hätte er den unverschämten Orxeyaner mit der blanken Faust erschlagen, aber Benkthan galt als Gesandter, und Gesandte waren für einen Odinssohn unantastbar. »Ich warte auf eure Antwort«, sagte Benkthan, sichtlich unbeeindruckt von Heimdalls Gehabe. »Was sagt ihr?« Fast gleichzeitig gaben die Odinssöhne Antwort. »Nein!« Benkthan lächelte dünn. 6. »Da kommen sie zurück. Endlich, Benkthan. Was haben die Odinssöhne gesagt?« Zu Tausenden drängten sich die Pthorer vor der FESTUNG. Lykaar und Braheva standen eingekeilt in der Menge und sahen zu, wie sich die Delegation langsam von der FESTUNG entfernte und
näherkam. »Den kenne ich«, sagte Lykaar, als er den Gesandten sah. »Das ist Benkthan, ein guter Mann. Der hat den Odinssöhnen sicherlich die Wahrheit gesagt.« Benkthan suchte einen Platz in der Mitte der Menschenmenge. Er stieg auf den Rand eines großes Springbrunnens. Von Lykaars Standort aus sah es so aus, als stieg der schäumende Wasserstrahl unmittelbar aus Benkthans Kopf in die Höhe. Lykaar grinste leicht. »Freunde!« rief Benkthan. »Ich habe mit den Odinssöhnen verhandelt. Sie geben zu, daß wir von den Horden der Nacht bedroht werden.« »Bedroht?« schrie einer. »Wir sind fast vernichtet.« Benkthan hob beide Arme. »Es ist nicht ganz so schlimm, wie wir befürchtet haben«, sagte er begütigend. »Die Horden haben Pthor noch nicht verheert – aber sie werden es tun. Wir haben nur Zeit gewonnen, wertvolle Zeit.« »Die wir hier verplempern. Rede, Benkthan. Was haben sie gesagt, die hohen Herren.« »Sie wollen uns nicht in die FESTUNG lassen«, sagte Benkthan. »Schurken, elende Hunde. Hängt sie auf, macht sie nieder, schlagt sie tot.« »Langsam, Freunde!« rief Benkthan. »So schnell geht das nicht.« »Warum nicht, Stricke haben wir dabei, und einen Platz zum Aufhängen finden wir schnell.« »Man kann sie auch ersäufen, du brauchst dich nur umzudrehen.« »Hilft uns das weiter?« schrie Benkthan in dem verzweifelten Bemühen, die Meute wieder in den Griff zu bekommen. »Schützt uns der Tod der Odinssöhne vor den Horden der Nacht?« »Berichte weiter, Benkthan. Wir werden zuhören.« »Das war geschickt von ihm«, raunte Lykaar in Brahevas Ohr. »Mit den Odinssöhnen ist vielleicht noch etwas zu erreichen, ohne sie vermutlich nichts.« »Der Mann gefällt mir nicht«, sagte Braheva. »Er arbeitet mehr mit
dem Herzen als mit dem Hirn, er peitscht Gefühle an, anstatt die Vernunft einzuspannen.« »Ich habe Sigurd einen Vorschlag gemacht«, rief Benkthan. Es war ihm anzusehen, daß er die selbstgewählte Rolle genoß. »Ich habe vorgeschlagen, daß wir den Dunklen Oheim um Gnade anflehen und uns unterwerfen. Seiner Macht wird es möglich sein, die Horden der Nacht für immer und alle Zeiten zu vernichten.« »Angeblich waren sie schon einmal vollständig vernichtet«, murmelte Lykaar skeptisch. In der Menge breitete sich Schweigen aus. Benkthan erkannte die gefährliche Pause und redete weiter. »Natürlich ist das nicht das Los, das wir gerne gehabt hätten«, rief er. »Aber Unterwerfung unter den Willen des Dunklen Oheims – was ist so schlimm daran? Könnten wir ihm widerstehen? Wir sind nicht einmal in der Lage, uns der nächtlichen Horden zu erwehren, geschweige denn den Mächten des Dunklen Oheims zu trotzen. Wir haben keine andere Wahl, Freunde – wir sollten, so lautet mein Vorschlag, zum Neffen Thamum Gha fliegen, nach Lamur. Er soll den Dunklen Oheim um Hilfe für Pthor bitten.« »Wahnsinn!« rief Lykaar. »Das ist heller Wahnsinn.« »Hast du eine bessere Idee? Willst du lieber gegen die Horden der Nacht kämpfen.« Die Umstehenden sahen Lykaar an, betrachteten seinen Bauch und lachten laut auf. Lykaar preßte die Kiefer zusammen. Braheva faßte Benkthan ins Auge. Ihre helle Stimme übertönte mühelos das allgemeine Stimmengewirr. »Bist du bereit, den Flug mitzumachen und vor Thamum Gha hinzutreten?« Benkthan war diese Frage sehr unbequem. Ganz sicher konnte man bei den Reaktionen des Neffen und seines Dunklen Oheims nicht sein. Ein Unterhändler konnte dabei sehr leicht den Zorn Thamum Ghas erregen – und das kostete ihn mit Sicherheit den
Kopf, wenn ihm nicht gar ein noch ärgeres Schicksal beschieden war. Und Benkthan sah nicht so aus, als würde er seinen kostbaren Kopf leichtfertig in einen offenen Rachen stecken. »Warum nicht?« antwortete der Orxeyaner. »Wir sollten aber die Odinssöhne zwingen, sich uns anzuschließen – vielleicht hat ihr Wort Gewicht beim Dunklen Oheim.« Vereinzelt kam Gelächter auf. »Nicht schlecht ausgedacht«, sagte Braheva zu Lykaar. »Wenn beim Dunklen Oheim Köpfe rollen, werden es zunächst die der Odinssöhne sein – ob sich der Dunkle Oheim mit deren Gefolge noch viel Mühe geben wird, ist eine andere Sache.« »Und was sagen sie dazu, die wackeren Söhne des tapferen Odin?« Benkthan ballte deutlich sichtbar die Faust. »Sie haben abgelehnt«, rief er. »Unser Schicksal schert sie nicht, die stolzen Herren der FESTUNG. Sie wollen uns keines der Beiboote der FESTUNG geben, nicht ein einziges.« Wieder kamen Rufe auf, die nach dem Strick schrien. Lykaar spürte, daß die Menge immer feindseliger wurde. »Warum stürmen wir nicht die FESTUNG«, schrie einer aus den hinteren Reihen. »Wir nehmen uns, was wir brauchen.« »Ich habe den Odinssöhnen Bedenkzeit gegeben«, sagte Benkthan. »Sollten sie aber nicht gutwillig mitkommen – dann werden wir Gewalt anwenden müssen.« * »Es wird zum Kampf kommen«, sagte Heimdall, während er nach seinen Waffen sah. »Gut möglich«, antwortete Sigurd. Die Brüder sahen sich an, dann zuckten sie mit den Schultern. Zum Kampf mußte es in jedem Fall kommen.
»Ich frage mich, ob wir nicht …« Heimdall schüttelte den Kopf. »Möchtest du den Rücken beugen vor Thamum Gha, den Neffen um Gnade anwinseln, wie es die Meute draußen fordert, weil sie keine Lust hat, ein Schwert und einen Brand in die Hand zu nehmen und sich zum Kampf zu stellen?« »Natürlich nicht«, antwortete Sigurd. »Möchtest du jammern und wehklagen, heulen und wimmern? Die da draußen werden es wünschen – sie werden jedes Opfer von dir fordern, wenn sie nur ihr fettes Fell in Sicherheit bringen können.« »Sie wollen überleben«, sagte Sigurd. »Das ist doch verständlich.« »Nicht, wenn es um diesen Preis erkauft wird«, sagte Heimdall. »Sollen sie kämpfen, wenn sie wollen, sollen sie jammern, wenn ihnen danach ist. Heimdall bettelt nicht um sein bißchen Leben.« »Wir haben die Verantwortung auf uns genommen«, sagte Sigurd. »Wir können sie nicht einfach nehmen, wenn es uns paßt, und sie wegwerfen, wenn sie uns zu drücken beginnt.« »Ach was«, sagte Heimdall. »Dieser aufgescheuchte Haufen …« »Wir haben sie aufgescheucht«, erinnerte Sigurd. »Vielleicht hätten wir schweigen sollen, wer weiß.« »Dann stünden sie eine Stunde später hier«, konterte Heimdall. »Und sie würden uns schelten, weil wir sie ahnungslos gelassen haben. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Ich werde mich nicht vor dem Neffen ducken.« Sigurd zuckte mit den Schultern. »Ich denke noch einen Schritt weiter«, sagte er leise. »Ich frage mich, ob dieses Opfer überhaupt einen Sinn hätte – glaubst du, daß der Dunkle Oheim das Wort Gnade überhaupt kennt?« »Mutmaßlich nicht«, sagte Heimdall. Er schwang probehalber die Khylda, seine fürchterliche Streitaxt. Das Zischen der Waffe in der Luft schien ihm zu gefallen. »Wahrscheinlich wird er uns vollends den Garaus machen – zeigen wir Schwäche, sind wir für so einen zu
nichts mehr nutze. Die da draußen begreifen das natürlich nicht.« »Wer hätte es sie lehren können«, versetzte Sigurd. Die Minuten verstrichen langsam. In der Zentrale der FESTUNG herrschte eine Stimmung angespannten Schweigens, eine bedrückende Atmosphäre. Die Odinssöhne wußten nicht mehr, was aus der Lage zu machen sei; ihnen waren praktisch die Hände gebunden. »Zum Kampf gegen die Horden der Nacht kann man die kleinen Pyramiden ohnehin nicht verwenden«, sagte Sigurd nachdenklich. »Das ist natürlich richtig«, meinte Heimdall. Er sah seinen Bruder an. »Worauf willst du hinaus?« »Wäre es so übel, würden wir den Leuten eines von den Booten zur Verfügung stellen?« fragte Sigurd. Heimdall verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. »Es wäre eine Kapitulation«, sagte er hart. »Zum einen vor dem wüsten Haufen draußen vor der FESTUNG, zum anderen vor den Mächten der Schwarzen Galaxis.« Sigurd wies auf die Bilder, die das Wache Auge lieferte. »Sieh dir an, wie es auf Pthor aussieht – erschreckend«, sagte er. »Kann es noch schlimmer kommen? Sind wir nicht längst in einer Lage, in der wir alles nur Denkbare tun müssen, um Pthor überhaupt eine Möglichkeit zu geben?« »Müssen wir alles Erdenkliche tun? Oder muß es getan werden?« fragte Heimdall. »Das kommt auf das gleiche heraus«, sagte Sigurd. »Wenn wir die Führer der Pthorer sein wollen, dann müssen wir als ihre Herren auch als erste den Rücken beugen, wenn es darum geht, den Dunklen Oheim um Hilfe zu bitten.« »Der Gedanke allein ist erschreckend«, stieß Heimdall hervor. »Aber mach, was du willst.« *
»Die Zeit ist um«, rief Benkthan vom Rand des großen Brunnens aus. »Jetzt müssen wir das Heft in die Hand nehmen. Los, Leute, wir stürmen die FESTUNG!« Die erste Reaktion der Pthorer war Schweigen. Gewaltig groß lag die FESTUNG da, vor allem die riesige Hauptpyramide. Die Vorstellung, fast ohne Waffen ein solch gigantisches Gebilde erobern zu wollen, erschien Lykaar als völlig absurd. »Was meinst du?« fragte er Braheva. Sein Weib zuckte mit den Schultern. »Hast du Lust zu kämpfen, dann kämpfe«, sagte sie. »Ich werde mich um das Gespann kümmern müssen.« »Zum Angriff, Männer von Pthor!« schrie Benkthan. »Bedenkt, wofür ihr kämpft – die Horden der Nacht sind unterwegs, sie bedrohen euer Leben, das Leben eurer Weiber und Kinder. Und sie kennen keine Schonung. Zwischen uns und der Rettung aus so großer Gefahr steht nur eines – der Herrenstolz der Odinssöhne.« »Markige Worte«, sagte ein Mann neben Lykaar. »Er sollte vorangehen, dann würden wir ihm folgen.« Benkthan ruderte wild mit den Armen. Plötzlich hielt er ein Schwert in der Hand. »Mir nach!« rief er und schwang die Waffe gegen die FESTUNG. Lykaar zog seine Waffe und machte zwei Schritte, dann steckte er sie wieder in die Scheide. »Irgendwie«, sagte er zu Braheva und zuckte hilflos mit den Schultern, »erscheint mir dies alles lächerlich.« »Da hast du nicht unrecht«, meinte Braheva. »Benkthan hat gesagt, die Städte seien gar nicht verwüstet«, fuhr Lykaar fort. »Auch Orxeya nicht.« »Ich habe es gehört«, antwortete Braheva lächelnd. Lykaar wandte sich wieder um. Die Menge der Pthorer war unterdessen in Bewegung gekommen.
Irgendwo in dem Haufen steckte Benkthan, und Lykaar war sicher, daß der pfiffige Orxeyaner dafür sorgen würde, daß er nicht in der ersten Welle gegen die Verteidiger der FESTUNG anzustürmen hatte. »Wollen wir von hier verschwinden?« fragte Braheva. Lykaar überlegte nicht lange. »Wir warten ab, was aus der Sache wird«, sagte er. »Und danach werden wir dem Sieger berichten, was wir in der Ebene von Kalmlech erlebt haben. Mal sehen, ob für uns etwas dabei herausspringt.« Braheva sah ihren Mann von der Seite an. »So berechnend kenne ich dich gar nicht«, sagte sie. Lykaar lachte und umarmte und küßte sie. »Ich war von jeher berechnend und wollte stets und überall das Beste haben«, sagte er. »Und wie du an dir sehen kannst, habe ich auch das Beste bekommen.« »Schmeichler«, sagte Braheva lachend. Lykaar sah wieder hinüber zu der Menge, die gegen die FESTUNG anbrandete. Offenbar wurde dort tatsächlich gekämpft. Lykaar wußte, daß die FESTUNG von den Odinssöhnen gehalten wurde und daß außerdem dort noch ein paar Technos zu finden waren, über deren Loyalität nichts Genaues bekannt war. Offenbar hatten sie sich dafür entschieden, den Odinssöhnen zu gehorchen – jedenfalls leisteten sie den heranstürmenden Pthorern Widerstand. Schüsse fielen, Geschrei erklang, erst schmerzlich, dann wutentbrannt. »Offenbar sind die Angreifer nicht sehr erfolgreich«, sagte Braheva. Sie kümmerte sich um das Gespann, räumte auf und verstaute die Sachen ordentlich im Innern des Wagens. »Ich glaube, sie werden zurückgeschlagen«, berichtete Lykaar. Er hatte es sich auf dem Kutschbock bequem gemacht und berichtete fortlaufend über das, was sich vor seinen Augen abspielte. »Sie haben sich auf die große Pyramide konzentriert«, erzählte
Lykaar, »und sie greifen ungestüm an, aber es wird ihnen nichts helfen. An der Wand kommen sie nicht hoch, und die wenigen Pforten sind von innen her gut zu verteidigen.« »Und die kleinen Pyramiden?« wollte Braheva wissen. »Darum kümmert sich keiner. Gerade wird ein neuer Angriff vorgetragen. Ich kann Benkthan sehen. Donnerwetter, er scheint Gefallen an dem Kampf gefunden zu haben. Kannst du hören, wie er schreit und Befehle brüllt? Er rudert wild mit den Armen, und er steht tatsächlich in erster Reihe.« Braheva kam nach oben auf den Kutschbock und sah zu dem Getümmel hinüber. »Was für ein Unsinn«, sagte sie. »Sie kämpfen wie besessen, und das, obwohl ihnen der Tod schon im Nacken sitzt.« Unwillkürlich sah Lykaar über die Schulter hinweg in die Richtung, in der die Ebene von Kalmlech zu suchen war. Kamen sie schon herangestürmt, die Horden der Nacht, unter der Führung der geisterhaften Rotroben? »Sie werden sich nur eines holen – blutige Köpfe«, sagte Braheva stirnrunzelnd. »Sieh dir das an, sogar die Frauen greifen an. Haben die nichts Besseres zu tun?« In die Menge der Pthorer kam Bewegung. In den Pforten der FESTUNG erschienen Technos mit Lähmwaffen und feuerten in die Menge. Von dort kamen Steine herangeflogen, improvisierte Speere, Wurfmesser. Einer der Technos brach getroffen zusammen und mußte von seinen Gefährten davongetragen werden. Die vorderste Reihe der Pthorer hatte sich beachtlich gelichtet, aber die Tatsache, daß die Technos nur lähmende, aber keine tötenden Waffen verwandten, gab den Angreifern neuen Mut. Wieder rückten sie an. Ein halbes Dutzend Technos wurde außer Gefecht gesetzt. Auf den ersten Blick hätte Lykaar an dem Getümmel beinahe Gefallen gefunden, zumal der Ausgang völlig offen schien. Dann aber wurde ihm bewußt, daß hier vielleicht getötet und gestorben
wurde, und das nahm der Sache jeglichen Reiz. »Diese Narren«, stieß Lykaar hervor, als er sah, wie erneut ein paar Pthorer betäubt zu Boden sanken. Einer landete kopfüber in einem Wasserbecken und hatte es nur der Aufmerksamkeit seines Nebenmannes zu danken, daß er drin nicht ertrank – der Nachbar zog ihn hastig aus dem Wasser und ließ ihn auf dem Boden liegen. »Was hoffen die Toren damit zu erreichen?« fragte sich Lykaar laut. Er bekam keine Antwort. Eher erschrocken als erheitert stellte Lykaar fest, daß er und Braheva fast die einzigen waren, die sich an dem Sturmlauf auf die FESTUNG nicht beteiligten. Was sich außer ihnen noch in den arg ramponierten Gärten der FESTUNG bewegte, waren ältere Frauen, junge Mütter und sehr viele kleine Kinder, der größte Teil von ihnen völlig verstört. »Ich glaube, es geht dem Ende entgegen«, sagte Lykaar. »Die Technos haben sie zurückgeschlagen.« Tatsächlich fluteten die Angreifer zurück. Zwischen den Pyramiden der FESTUNG blieben einige Dutzend Betäubte liegen. »Sie sind stärker als wir«, schimpfte ein ergrimmter Kelotte, der als Waffe nur einen starken Knüppel zum Einsatz bringen konnte. Was er mit dieser unzureichenden Waffe gegen den Stahl der FESTUNG zu unternehmen gedachte, blieb sein Geheimnis. »Ich hätte es euch vorher sagen können«, sagte Lykaar. »Ich …« »Ach, halte den Mund, Feigling«, schimpfte eine Frau, die ihren halb bewußtlosen Mann zurückzerrte. »Und du, komme endlich zu dir, der nächste Angriff wird bald stattfinden, und dann wirst du dich etwas geschickter anstellen, hörst du.« Lykaar und Braheva sahen sich an. »Zu Hause prügelt er sie, vermutlich«, sagte Lykaar. Es war ein Zufall, daß auch Benkthan gerade vorbeikam. Er blutete aus einer unwichtigen Fleischwunde an der linken Wange. »Wir müssen uns sammeln«, stieß er hervor, schwer atmend. »Und dann …«
In diesem Augenblick erschien in einer Pforte der FESTUNG ein Techno und winkte. Es wurde still ringsum, sogar der Gesang der Vögel des Gartens verstummte – oder war er schon vor langer Zeit verstummt? »Die Herren der FESTUNG wollen mit euch sprechen«, sagte der Techno. »Sie sind zu Verhandlungen bereit.« Braheva und Lykaar blickten sich an, während ringsum Jubel losbrach. »Sieh an«, sagte Lykaar nachdenklich. 7. »Jetzt sieht unsere Position schon wesentlich besser aus«, sagte Heimdall. Der Hüne mit dem schwarzen Schnurrbart lächelte. »Wir haben sie zurückgeschlagen, bevor wir sie zu weiteren Verhandlungen eingeladen haben, das macht sich erheblich besser als eine erzwungene Verhandlung.« »Es wird sich zeigen, Bruder«, sagte Sigurd. »Hast du Nachrichten von Bördo gehört?« »Keine«, sagte Heimdall. »Ich lege auch keinen sonderlichen Wert darauf, meinetwegen können die Magier ihn …« »Er ist mein Sohn, vergiß das nicht.« »Trotzdem ist er ein arger Wicht«, sagte Heimdall. »Er kann froh sein, daß ich nicht sein Vater bin.« »Das ist er vermutlich auch«, gab Sigurd zurück. Für einen kurzen Augenblick flog ein Lächeln über sein Gesicht. »Da kommen sie.« Heimdall sah mit offenem Vergnügen, daß der Anführer des Trupps verletzt war. Benkthan blutete aus einer Wunde im Gesicht. Er trat aber auf wie ein Feldherr nach gewonnener Schlacht. »Da sind wir«, sagte er und blieb vor Heimdall stehen. »Was wollt ihr von uns?« Heimdall sah den Orxeyaner einen Augenblick lang an, dann
lehnte er sich zurück, stemmte die Hände in die Hüften und begann lauthals zu lachen. Das Lachen widerhallte von den Wänden der Zentrale, und unter diesen Klängen wurde Benkthan spürbar kleiner. »Der Witz war gut, Mann aus Orxeya«, prustete Heimdall, der für grimmigen Humor ab und an etwas übrig hatte. Dann wurde der Odinssohn schlagartig sehr ernst, und seine schwarzen Augen drückten eine unverhohlene Drohung aus. »Den nächsten Spaß dieser Art büßt du mit dem Leben.« Benkthan wurde bei aller Tapferkeit und Zuversicht bleich. Seine Begleiter wichen vorsichtshalber einige Schritte zurück. »Ihr wollt noch immer eines der Beiboote nehmen und damit nach Lamur fliegen?« fragte Sigurd. Benkthan mußte sich ein wenig drehen, um Sigurd sehen und ihm antworten zu können. Dadurch kam Heimdall hinter ihm zu stehen, und Benkthan konnte den Atem des Hünen in seinen Haaren fühlen. Er wußte auch, daß Heimdall nur einmal zuzufassen brauchte, um ihm das Genick zu brechen. »Das wollen wir«, sagte Benkthan. »Es erscheint uns der vernünftigste Weg aus der Katastrophe heraus …« »… die keine ist«, ließ sich Heimdalls Stimme vernehmen. »… die aber jederzeit eine werden kann«, gab Benkthan zurück, ohne sich nach Heimdall umzudrehen. Es erforderte ungeheure Selbstbeherrschung, nicht die paar Schritte zu machen, die ihn aus der unmittelbaren Reichweite des schrecklichen Hünen herausbrachten. »Wir sollten Thamum Gha um Hilfe ersuchen, er kann sich dann notfalls an den Dunklen Oheim wenden«, sagte Benkthan. »Der Dunkle Oheim wird, wenn er sich um Pthor richtig zu kümmern beginnt, kein milder Herr sein«, sagte Sigurd. »Er wird über uns herrschen, aber wir werden lieber lebende Untertanen sein als tote Freie unter der milden Herrschaft der Söhne des großen Odin.«
»Wacker gesprochen«, sagte Heimdall. »Memmenmentalität.« »Die Kunst des Überlebens«, sagte Benkthan. »Die Herren von Pthor kommen und gehen, das Volk aber wird bleiben. Es geht darum, das Volk zu retten, nicht die Herren.« Ein Windhauch streifte seinen Nacken, und Benkthan begriff, daß Heimdall ausgeholt hatte. Einer seiner Begleiter, der unsichtbar hinter ihm stand, holte hörbar die Luft ein. »Es war noch nie schwierig für ein Volk, einen Herren zu finden«, sagte Benkthan. Eine seltsame Stimmung hatte ihn ergriffen. Er wußte, daß ein falsches Wort dazu führen konnte, daß Heimdall ihn mit einem Hieb der gewaltigen Faust den Schädel zertrümmerte – aber wenn schon, wollte Benkthan durch Worte sterben, die ihm gefielen. »Pthor hat schon viele Herren erlebt und überlebt«, sagte Benkthan. »Es wird den Dunklen Oheim ebenso überleben, wie es die Göttersöhne überlebt hat, oder die Magier, oder Atlan oder die Krolocs.« »Du bist dreist, Benkthan«, sagte Heimdall. »Ich weiß den Tod mir auf den Fersen«, sagte der Orxeyaner. »Daher erlaube ich mir, ehrlich zu sein.« Er spürte eine Berührung an der Schulter. Heimdalls kraftvolle Hand hatte sich sacht auf seine linke Schulter gelegt. »Wir werden deinen Wunsch erfüllen«, sagte Heimdall ruhig. »Heda, einen Humpen für unseren Freund.« Er konnte es nicht zur Gänze lassen, dachte Benkthan. Der Humpen, der von einem Techno herangeschleppt wurde, biergefüllt und schaumgekrönt, war ein Riesengefäß, wie maßgeschneidert für einen Mann von Heimdalls Format. »Trink«, forderte Heimdall den Orxeyaner auf. Benkthan lächelte zurückhaltend. Man konnte einem Orxeyaner wie jedem anderen Furcht einjagen, nur nicht ganz so einfach. Man mußte schon allerhand auffahren, Ehefrauen beispielsweise oder hartnäckige Gläubiger, um sie das Fürchten zu lehren – mit
Humpen konnte man sie schwerlich beeindrucken. Benkthan setzte an und trank. Er trank und trank, und er vergoß keinen Tropfen. »Kein schlechter Saft«, sagte er und stellte den Humpen wie beiläufig mit der Öffnung nach unten auf einem Tisch ab. Er hatte ihn bis zur Neige geleert. »Und nun, ans Werk«, sagte Benkthan. »Jeder Augenblick ist kostbar.« Einer der Technos näherte sich. »Es stehen da zwei vor der Pforte und verlangen Einlaß«, sagte der Techno. »Sie behaupten, wichtige Nachrichten zu haben – nur für die Odinssöhne.« Sigurd richtete einen fragenden Blick auf Benkthan. Der zuckte mit den Schultern. »Keiner von uns«, sagte Benkthan. »Später, vielleicht«, sagte Sigurd zu dem Techno. »Einstweilen wollen wir nicht gestört werden.« Während der Techno sich zurückzog, wandte sich Sigurd an Benkthan. »Es soll also ein Beiboot sein, mit dem ihr zu Thamum Gha fliegen wollt«, sagte er. »Habt ihr euch die Sache noch einmal überlegt?« »Das haben wir«, bestätigte Benkthan. »Wir haben hin und her überlegt, und es erscheint uns tatsächlich keine Möglichkeit so aussichtsreich wie diese.« Sigurd machte ein skeptisches Gesicht. »Wir teilen diese Zuversicht nicht«, sagte er. »Im Gegenteil, wir befürchten für Pthor das Schlimmste.« »Übler kann es kaum werden«, versetzte Benkthan. »Wollen wir diese Unterhaltung noch einmal führen?« »Nein«, sagte Sigurd. »Komm, wir suchen den Steuermann auf.« Sie verließen die Zentrale der FESTUNG und suchten eine der kleineren Pyramiden auf. »Wir werden Zeit brauchen, bis wir eines der Boote startklar gemacht haben«, sagte Sigurd erklärend. »Also werdet nicht
ungeduldig.« »Wir haben Zeit genug zu warten, wenn wir wissen, daß tatsächlich etwas geschieht und für uns getan wird«, sagte Benkthan. Die Delegation der Pthorer trottete ebenso schweigend wie hartnäckig hinter ihm her. »Leicht wird die Aufgabe nicht sein, die ihr euch und uns gestellt habt«, sagte Heimdall. »Ich fürchte, es wird schwerfallen, Thamum Gha zu überreden, uns zu helfen.« »Das bestreitet niemand«, sagte Benkthan gelassen. »Hoffentlich hat sich der Steuermann inzwischen wieder erholt«, sagte Heimdall düster. »Erholt? Wovon?« fragte Benkthan. Heimdall schwieg. Er erinnerte sich, daß Honir, in Wirklichkeit seine Schwester Thalia, mit ihrer VarsKugel einmal auf einen Knoten eingeschlagen hatte, von dem sie befürchtet hatte, er könne gefährlich werden. Die Odinstochter hatte damals nicht erkennen können, daß es sich bei dem seltsamen Schaltknoten um ein Hauptorgan des Steuermanns handelte, eines Wesens aus der Schwarzen Galaxis – niemand wußte bis auf den heutigen Tag, aus welchem Revier es stammte. »Das ist der Steuermann«, sagte Sigurd und deutete auf einige Stränge. »Bitte?« Benkthan war sichtlich verblüfft. »Der Steuermann, das ist die Summe all der Verbindungen zwischen den sechs kleinen Pyramiden«, erklärte Heimdall. »Ein sehr seltsames Wesen. Durch diese Kabel oder Adern fließt gesteuerte Energie in ganz bestimmten Intervallen, und das gefällt dem Steuermann. Er fühlt sich wohl hier.« »Eine furchtbare Existenzform«, stieß Benkthan hervor. »Nicht besser und schlechter als andere Lebensformen auch«, sagte Sigurd. Einige von Benkthans Begleitern bekamen es sichtlich
mit der Furcht zu tun. »Der Steuermann ist ein unerhört komplexes Gebilde, eines von den vielen Rätseln Pthors. Er lenkt und leitet Pthor auf seinem Weg durch die Dimensionen.« »Dieses Ding?« fragte Benkthan. »Dieses Lebewesen«, bestätigte Heimdall. »Es sieht sehr seltsam aus, das gebe ich zu, aber es lebt. He, Steuermann, melde dich.« Benkthan sah Heimdall sehr zweifelnd an. »Es lebt?« fragte er und deutete auf den dicken Schaltknoten. Sigurd wechselte mit Heimdall einen raschen Blick. Erst jetzt erkannte er, daß sich der Steuermann verändert hatte. Sigurd wußte nicht mehr recht, wie der Knoten ausgesehen hatte, bevor Thalia ihn mit ihrer VarsKugel fast totgeschlagen hatte – nur weil sie irrtümlich angenommen hatte, der Knoten bedrohe diesen Atlan. Aber Sigurd erinnerte sich, daß der Knoten dicker gewesen war, und er hatte auch nicht so seltsam vibriert. »Steuermann!« rief Heimdall. Seine Stimme klang laut, aber verriet noch Ruhe. Sigurd indessen begann, etwas Gräßliches zu ahnen. Er ging behutsam zu dem Schaltknoten hinüber, sah ihn sich genau an. Er warf einen Blick auf die Instrumente. Von rhythmisch pulsierender gesteuerter Energie war nichts mehr zu spüren. Und vom Steuermann kamen keine Lebensäußerungen. »Heimdall«, sagte Sigurd halblaut. »Ich fürchte …« Heimdall nickte langsam. »Steuermann!« rief er noch einmal mit lauter Stimme. Er wußte, daß es Sprechanlagen gab, und daß der Steuermann Pthora verstand – er hätte also antworten können. Benkthans Blick wechselte von einem der Brüder zum andern. Er begriff langsam. »Er ist tot, nicht wahr?« Sigurd zuckte mit den Schultern. Die Katastrophe, die über Pthor hereinbrach, die sich wie ein nachtschwarzes Unwetter
unheilverkündend zusammenbraute, sie schien eine neue Dunkelwolke bekommen zu haben. Wenn der Steuermann von Pthor nicht schon tot war, so lag er in den letzten Zügen. »Eines steht fest«, sagte Heimdall grimmig. »Kein Gedanke daran, eine der Pyramiden startklar zu bekommen. Unser Ausflug zu Thamum Gha fällt aus.« »Kann man nicht …?« »Wie denn«, fragte Sigurd. »Wir begreifen dieses Wesen nicht einmal, wie sollten wir ihm dann helfen können. Es ist ja nicht einmal in der Lage, sich uns mitzuteilen. Wir sind absolut hilflos.« »Und man kann gar nichts machen ohne den Steuermann?« fragte ein Mitglied der pthorischen Delegation. »Nichts«, bestätigte Sigurd. Seine Züge verdüsterten sich. »Ohne die Hilfe des Steuermannes bekommen wir die kleine Pyramide nicht vom Boden weg. Der Steuermann ist unersetzlich. Er lenkt und leitet nicht nur die Pyramidenschiffe, er steuerte auch …« Sigurd unterbrach sich. Er sah Heimdall an, dann Benkthan. Die beiden begriffen sofort, was Sigurd schreckerfüllt gedacht hatte und was ihn jetzt erbleichen ließ. Der Gedankengang war naheliegend, klar, logisch und in den Konsequenzen grauenvoll. Ohne einsatzbereiten Steuermann gab es kaum noch eine Möglichkeit, den Dimensionsfahrstuhl noch einmal unter Kontrolle zu bekommen und vielleicht die Schwarze Galaxis verlassen zu können. Die beiden Odinssöhne sprachen das Wort nahezu gleichzeitig aus. »LaʹMghor.« Wenn jetzt auch noch die »Seele« von Pthor starb, war alles verloren, dann war Pthor für ewig und alle Zeiten in der Schwarzen Galaxis gestrandet – nur der Herrscher der Schwarzen Galaxis war dann noch imstande, den Dimensionsfahrstuhl flottzumachen. Was das hieß, brauchte sich keiner der Pthorer auszumalen – es war der
personifizierte Alptraum. »Dürfen wir erfahren, was euch so besorgt stimmt?« fragte einer aus der Delegation der Pthorer. Sigurd schwieg, Heimdall schwieg. Was Benkthan tat, war unausweichlich. Er log, um eine noch größere Panik zu verhindern. »Der Start des Raumschiffs wird sich verzögern«, sagte er zu der Delegation. »Obendrein muß noch die ›Seele‹ von Pthor gefragt werden.« Die Gesichter der Pthorer verrieten Unglauben und offene Unkenntnis. Die meisten hatten nur das Pyramidenschiff im Sinn gehabt und waren recht stolz auf sich gewesen, daß sie den Start erzwungen hatten. Mit der neuen Lage vermochten sie nichts anzufangen. Vermutlich wußte der größte Teil noch nicht einmal, worum es eigentlich ging. »Wie bringen wir das unseren Freunden bei?« fragte ein anderer. Benkthan setzte das zuversichtliche Lächeln auf, für das er bekannt war. Der Orxeyaner war binnen einer knappen Stunde gleichsam über sich hinausgewachsen. Er zeigte sich der neuen, überaus kniffligen Lage gewachsen. »Wir werden vor unsere Freunde hintreten und ihnen die Wahrheit sagen«, verkündete er. Heimdall verkniff sich den Wunsch, nach oben zu sehen, um festzustellen, ob sich vielleicht die Deckenkonstruktion ob soviel Lüge wölbte. Die Dreistigkeit, mit der Benkthan schauspielerte, war bewundernswert. »Das Raumschiff muß erst startklar gemacht werden«, sagte Benkthan. »Es liegt auf der Hand, daß so ein Vorgang sich hinziehen kann – schließlich muß genau überprüft werden, ob die Einrichtungen der Pyramidenschiffe nicht irgendeinen Schaden erlitten haben.« »Hätte man das nicht schon früher machen können?« wollte jemand wissen. »Bislang hat niemand daran gedacht, die Schiffe wieder flottmachen zu wollen«, entgegnete Sigurd.
»Und was ist mit dem Steuermann? Er ist doch tot, wenn ich euch richtig verstanden habe.« »Wir werden einen neuen Steuermann finden und einweisen müssen«, ergänzte Heimdall das Lügengespinst. »Auch das wird Zeit kosten.« »Wir sollen also mit leeren Händen vor unsere Leute hintreten?« »Keineswegs«, entgegnete Heimdall. »Ihr könnt Wachtruppen organisieren, die den Rücken des FESTUNGsgeländes gegen angreifende Horden der Nacht sichern und uns rechtzeitig vor Attacken warnen können. Es wird einige Zeit dauern, selbst wenn wir Hilfe bekommen, bis diese Hilfe auch eintreffen wird. Bis dahin muß viel getan und organisiert werden. Wir brauchen im Gelände der FESTUNG ein organisiertes Lager, Wasser und Nahrung muß herangeschafft werden und gerecht verteilt werden. Heilkundige müssen sich um Verletzte kümmern, es wird auch Kranke und Schwache geben, die der Hilfe bedürfen. Und denkt daran – es wird in jedem Fall dauern, bis Hilfe eintreffen wird. Bis dahin müssen wir Pthor aus eigenen Kräften verteidigen und schützen.« »Wahr gesprochen«, sagte einer aus der Gruppe. »Trotzdem …« »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Benkthan hastig. »Jede Minute ist kostbar, wenn es darum geht, draußen bei den Leuten für Ruhe zu sorgen. Je länger sie warten müssen, um so erregter werden sie im Zweifelsfall werden.« »Du hast recht«, sagte der Pthorer nach kurzer Pause. Er wandte sich an seine Begleiter. »Kommt«, sagte er. »Wir werden die Menschen von Pthor beruhigen – wenigstens hoffe ich, daß es uns gelingen wird.« »Und wenn es nicht gelingt?« fragte einer. Das Schweigen war eine beredte Antwort auf diese Frage. 8.
Balduur stieß einen heiseren Schrei aus. Das Schwert in seiner Hand beschrieb einen Bogen, stieg in die Höhe und fiel dann mit Wucht herab. Die Schnüffler wichen zurück. Sobald Balduur auch nur eine Sekunde lang zögerte, drangen sie wieder auf ihn ein. Der Odinssohn wußte, daß er einen aussichtslosen Kampf kämpfte. Zu gewaltig war die Überzahl derer, die ihm ans Leben wollten. Balduur fand die Wut und Erbitterung der Schnüffelschleicher verständlich. Balduurs Auftreten hatte die Szene in der Halle gründlich verändert. In den ersten Augenblicken waren die Schnüffler über das Erscheinen des Odinssohns erschrocken gewesen. Auch deren Opfer waren verblüfft, als aus der Höhe ein lauthals brüllender Hüne mit schwingendem Schwert hereinbrach. Sehr schnell hatten sich jedoch die Opfer der Schnüffler von ihrer Verblüffung erholt. In Windeseile hatten sie sich in irgendwelche Löcher verkrochen, wo die Schnüffler sie hoffentlich so bald nicht finden konnten. Es war auch hohe Zeit für diese Flucht gewesen – die Schnüffler hatten in den Reihen der Weißen gnadenlos gewütet. Und dann waren die Schnüffler über Balduur hereingebrochen. Der Kampf dauerte noch an. Balduur wußte nicht, wo er war, er wußte nur eines, daß ihm bald der Arm erlahmen mußte. Und dann würde es aus sein mit ihm. Der Fenriswolf kehrte mit zwei gewaltigen Sätzen zu Balduur zurück. Wenn Balduur den Ausdruck des Wolfsgesichts richtig deutete, war Fenrir erfüllt von wütender Freude. Er hatte sich als prachtvoller Kämpe erwiesen, seine Angriffe waren so wirkungsvoll gewesen wie Balduurs Schwerthiebe. Balduur warf sich mit dem ganzen Gewicht gegen eine Säule. Es knirschte und knackte. Die heranrückenden Schnüffelschleicher blieben stehen, dann wandten sie sich zur Flucht. Zu spät. Die Säule brach ein, die Decke kam herunter und begrub
die Fremden unter sich. »Komm, Wolf!« stieß Balduur hervor. Er setzte über die Trümmer hinweg, in die Bresche hinein, die er so geschlagen hatte. Fenrir folgte auf dem Fuß. Einer von den Rotroben reckte den Arm nach Balduur aus, sank aber zurück, als das Schwert des Odinssohns ihn traf. Balduur ächzte. Der Kampf kostete Kraft und Luft, und irgendwann mußte Balduur eine längere Pause einlegen, wenn er vor Erschöpfung nicht sterben wollte. Er wußte jetzt auch, wie seine Gegner aussahen. Manchmal, in der Hitze des Kampfes, verrutschten die roten Kapuzen. Was sie freilegten, waren greisenhafte Gesichter mit hohen Jochbeinen und fliehenden Stirnen, der Schädel kahl, und im Gesicht schwarze Augen, tief in den Höhlen liegend. Wenn Balduur, was er nicht glaubte, nicht mehrmals den gleichen Angreifer ohne Kapuze gesehen hatte, dann mußten sich die Kapuzenträger untereinander ähneln wie ein Grashalm dem anderen. Es war eine gespenstische Sache, mit ihnen zu kämpfen. Selbst im Getümmel sprachen sie kaum, und wenn, nur sehr leise. Ihr Pthora war schwer verständlich. »Weiter!« sagte Balduur. Der Fenriswolf blieb an seiner Seite, als er einen langen Stollen entlangrannte. Am Ende tauchten vier Schnüffelschleicher auf. Sie sahen Balduur und wollten sofort angreifen, aber da war der Odinssohn schon heran, und mit der gewaltigen Kraft, die ihm seine Wut verlieh, waren die vier hinweggefegt, bevor sie sich noch hatten rühren können. Dann war der Weg wieder frei. Sie schienen jedes Lebewesen für ihren Feind zu halten, die Schnüffelschleicher; nur Fenrir hatten sie nicht angefallen. Das war der Grund, warum der Fenriswolf seine Fähigkeiten so hervorragend hatte ausspielen können. War er erst einmal hinter den Linien der Schnüffler, wurde er von ihnen in Ruhe gelassen. Und mehr als einmal war es Fenrirs gewaltiger Ansprung gewesen,
der Balduur gerettet hatte. Der Odinssohn hatte selten etwas Grausig‐Schöneres gesehen als den gewaltigen Körper des Fenriswolfs, wenn er von hinten heranstürmte und mitten hineinsprang in eine Gruppe von Angreifern, die Balduur bedrohten. Balduur blieb stehen. Sofort war Fenrir bei ihm. Das Tier begann ebenfalls zu ermüden, außerdem blutete es aus einer kleinen Wunde. Balduur war nahezu unverletzt – die paar Schrammen, die er abbekommen hatte, zählten für ihn nicht. »Such den Weg«, stieß Balduur hervor. Er mußte sich zur Gänze auf den Wolf verlassen – in diesen Bezirken der unterpthorischen Welt kannte sich Balduur überhaupt nicht aus. Er fragte sich sogar, ob es überhaupt ein Lebewesen gab, das sich in dieser zweiten Welt tatsächlich auskannte. Der Wolf setzte sich in Bewegung. Balduur hatte das Gefühl, daß der Weg in die Höhe führte. Mit Sicherheit sagen konnte er es nicht. Er war müde und erschöpft, für ihn glich jeder Weg einem Anstieg. Sie schienen ihn für ein paar Minuten in Ruhe lassen zu wollen, aber Balduur kannte seine Gegner inzwischen gut genug, um zu wissen, daß er die Meute bald wieder auf dem Hals haben würde. Das Ende war nur hinausgezögert, nicht aufgehoben. Fenrir bog um eine Ecke. Balduur konnte ihn nicht sehen, wohl aber ein Knurren hören, dann einen dumpfen Fall. Als er die Stelle erreichte, sah er am Boden einen der Schleichschnüffler liegen, Fenrir war schon weitergeeilt. Balduur hastete hinter dem Wolf her. Der Schleichschnüffler würde vermutlich bald wieder zu sich kommen – es war unglaublich, was diese Wesen aushalten und einstecken konnten. Fast schien es, sie hätten tausend Leben. Die Luft wurde frischer, kälter. Es fühlte sich an, als näherte man sich der Oberfläche.
Balduur schöpfte neue Hoffnung. »Fenrir!« konnte er eine Stimme hören, ein Klang wie ein Donnergrollen. So redete nur einer auf Pthor. »Heimdall!« rief Balduur. »Hierher, Bruder, der Wolf weist dir den Weg.« * Heimdall erschrak, als er den Bruder sah. Balduur wirkte ausgemergelt, völlig erschöpft. Er war nur mehr ein Schatten seiner selbst. Die Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht war von Müdigkeit und Härte gezeichnet. Die Hand, die das Schwert hielt, zitterte ein wenig. Balduurs Kleidung sah nach einem langen erbitterten Kampf aus. »Wo kommst du her?« fragte Heimdall. Er streichelte dem Fenriswolf den Kopf und fühlte Blut an den Fingern. Kaum zu glauben, daß jemand so nahe an den Wolf herangekommen sein sollte. Balduur deutete über seinen Rücken hinweg in die Unterwelt Pthors. »Von dorther«, sagte er und lehnte sich gegen die Wand. Sein Atem ging rasselnd. Er tat so, als habe er einen stundenlangen Kampf hinter sich. »Und wie siehst du aus?« sagte Sigurd. »Als hättest du stundenlang gerauft.« Balduur stieß ein hartes Lachen aus. »Gerauft ist das richtige Wort«, sagte er bitter. »Ich habe gekämpft.« »Mit wem?« »Mit diesen verdammten Schleichschnüfflern.« »Mit wem?« Balduur schien zu begreifen, daß seine Brüder mit dem Wort
nichts anzufangen wußten. »Das sind Gestalten in roten Roben«, sagte er langsam. Heimdall gab ihm aus einer Flasche zu trinken, die Balduur in wenigen Zügen vollständig leerte. »Ganz hager und dürr und sehr lang. Sie laufen überall dort unten herum und greifen alles an. Sie sind unverwundbar.« »Nicht übel für den Anfang«, sagte Heimdall bissig. »Hast du noch mehr zu bieten? Was wollen deine Schleichschnüffler hier?« Balduur sah Heimdall wütend an. »Begreife doch«, sagte er drängend. »Ich mache keine Witze. Mich wundert, daß sie nicht schon hier sind. Sie sind überall.« »Wir haben noch keinen Schleichschnüffler gesehen«, sagte Sigurd. »Trotzdem sind sie da, überall«, sagte Balduur. Heimdall begann, dem Bruder zu glauben, obwohl er die Sache nicht ganz begriff. »Wo wolltest du eigentlich hin?« fragte er. »Zu LaʹMghor«, erwiderte Balduur. »Ich habe mir gedacht, daß ich dort vielleicht etwas erfahren kann über die neuen Horden der Nacht. Wißt ihr Neues?« »Nicht viel«, gab Sigurd zu. »Was wir vom Wachen Auge und aus den Berichten der Pthorer wissen, ist sehr widersprüchlich. Die FESTUNG ist belagert von einigen Tausenden, die fest davon überzeugt sind, die Horden der Nacht hätten bereits halb Pthor niedergemacht. Das Wache Auge beweist, daß Panyxan nicht mehr bewohnbar ist, und daß die Feste Grool nur noch als Hülle existiert.« »Und Caidon Rov?« »Ist tot, er starb in der Feste zusammen mit einigen Eindringlingen, denen er Zuflucht gewährt hatte. Der größte Teil der Gäste konnte der Vernichtung allerdings entkommen.« »Und wie sieht es mit LaʹMghor aus?« fragte Sigurd. Balduur schwieg sehr lange.
»Schlecht?« fragte Heimdall. »Rede doch!« Balduur sagte leise: »Ich fürchte, LaʹMghor stirbt oder ist sogar schon tot. Die ›Seele‹ von Pthor antwortet nicht mehr.« Er sah seine Brüder an. »Warum werdet ihr so blaß?« Tonlos sagte Sigurd: »Der Steuermann ist ebenfalls entweder tot oder liegt im Sterben. Wir haben damit keinerlei Möglichkeit mehr, das Schicksal von Pthor zu beeinflussen. Wir kommen nicht einmal weg von hier.« Tiefe Niedergeschlagenheit hatte die Odinssöhne ergriffen. Die Lage schien aussichtslos. Sie wußten, daß der Tod LaʹMghors und das Ende des Steuermanns nicht ihnen zuzuschreiben war – es sei denn, man rechnete den Tod des Steuermanns Thalias Torheit zu – dennoch fühlten sie sich schuldig, als Versager. »Und jetzt noch deine seltsamen Schleichschnüffler«, sagte Heimdall. »Ich weiß nicht recht … wo sollen die denn herkommen?« »Was weiß ich«, sagte Balduur. Er wurde langsam wütend. »Sie sind jedenfalls da.« »Haben sie die ›Seele‹ getötet?« »Möglich«, sagte Balduur. »Ich weiß es nicht. Vielleicht auch nicht. Sie wimmeln jedenfalls hier unten herum, und es sind schreckliche Gegner, das dürft ihr mir glauben.« »Ich frage mich, was sie hier zu suchen haben?« rätselte Sigurd laut. »Wenn die ›Seele‹ nicht mehr lebt, was wollten sie dann noch. Und wenn sie an der FESTUNG interessiert sind, warum treiben sie sich dann hier unten herum?« »Frag mich nicht, frag sie«, knurrte Balduur. »Sie können Pthora sprechen, aber ich glaube nicht, daß sie mit dir reden werden. Komm mit, wir brauchen nur ein paar Schritte zu gehen, dann kann ich dir einen von den Rotroben zeigen.« »Dafür haben wir genug Zeit«, sagte Heimdall. »Geh voran, Balduur!«
Sie hatten nicht sehr weit zu gehen, bis sie den Ort erreichten, an dem Fenrir den letzten der Schnüffler ausgeschaltet hatte. Balduur deutete auf den Boden, aber da lag niemand. Heimdall sagte nichts, er grinste nur. Sigurd sah den Bruder betroffen an. »Ach was«, sagte Balduur. »Ich bin doch nicht verrückt, eh? Was glaubt ihr, woher Fenrir seine Wunde hat, und warum ich so erschöpft bin? Vom Spazierengehen?« Die Brüder schwiegen noch immer. »Wir brauchen nicht sehr viel weiter zu gehen«, stieß Balduur hervor. »Kommt, ich werde es euch zeigen.« Heimdall und Sigurd blieben so weit zurück, daß sie sich kurz unterhalten konnten, ohne daß Balduur das Gespräch verstehen konnte. »Glaubst du ihm?« fragte Sigurd. »Ja«, sagte Heimdall. »Und ich bin gespannt, was diese Burschen hier unten machen – vielleicht hat Balduur ein bißchen übertrieben, aber er wird wissen, wovon er redet.« »Hoffen wir es«, sagte Sigurd. Dieser neuerliche Gegner machte die Lage auf Pthor noch unhaltbarer, als sie ohnehin schon war. Gefahren drohten den Bewohnern jetzt wirklich von allen Seiten, aber nirgendwo schien Rettung erreichbar. Und mit jeder Stunde, so schien es, schwoll die Woge der Gefahr weiter an, stieg die Gefahrenbrandung höher und höher, bis sie alles hinwegfegen würde, was auf Pthor lebte. »Ich habe daran gedacht, die Pthorer hier unten einstweilen in Sicherheit zu bringen«, sagte Sigurd. »Sie werden geraume Zeit damit zu tun haben, sich hier zurechtzufinden und einzurichten. Ich habe gehofft, daß uns diese Zeit reichen würde, irgendwelche Maßnahmen einzuleiten …« »… irgendwelche ist genau das richtige Wort«, stieß Heimdall grimmig hervor. »Kannst du dich nicht genauer ausdrücken?« »Ich weiß nicht, was wir noch tun können«, sagte Sigurd.
»Gar nichts«, warf Balduur ein. Die Brüder waren unterdessen aufgerückt. »Auf der Oberfläche toben die Horden der Nacht, in der Unterwelt hausen die Schleichschnüffler. Wie sieht es in der Luft aus?« »Keine Erkenntnisse«, sagte Sigurd. »Vergiß aber nicht, daß viele Ungeheuer der nächtlichen Horden fliegen können.« »Im Blutdschungel?« »Heilloses Durcheinander«, sagte Heimdall. »Es wimmelt von Pthorern, die sich verirrt haben, dazwischen laufen verärgerte Bewohner des Dschungels herum, die gar nicht begreifen, was so viel Pthorer in ihrer Heimat zu suchen haben. Es ist zu Kämpfen gekommen, und das Getümmel wird sich noch vergrößern.« »Sehr schön«, stieß Balduur hervor. »Jede schlechte Nachricht hat in ihrem Gefolge eine noch schlechtere Botschaft.« »Genauso ist es«, sagte Heimdall. »Und wo, bitte, sind nun deine Schnüffelschleicher, oder wie du diese Leute nennst?« Balduur machte ein betrübtes Gesicht. »Sie zeigen sich nicht«, sagte er, sichtlich ratlos. »Ich verstehe das nicht.« »Fenrir!« Der Wolf trabte neben den Brüdern und zeigte durch keine Reaktion an, daß er etwas witterte. »Wir sollten umkehren«, sagte Heimdall. »Ich glaube dir, Balduur, aber ich nehme an, diese Leute haben sich inzwischen wieder zurückgezogen.« »Und wohin?« fragte Balduur. »Und woher sind sie gekommen?« »Vielleicht haben sie schon immer hier unten gelebt, wir haben nur nie etwas von ihnen gehört«, mutmaßte Sigurd. »Und wenn nicht?« fragte Balduur. »Was würde das ändern?« Balduur rang die Hände in gespielter Verzweiflung. »Begreift ihr denn nicht, ihr Tröpfe? Wo diese Leute herkommen, ist ein Weg – durch die Tür, durch die sie hereingeschlüpft sind,
können wir vielleicht hinausschlüpfen.« »Odins Sohn«, sagte Sigurd voll Bitterkeit. »Ich rede nicht aus Feigheit«, sagte Balduur. »Was das angeht, sollten wir sehr behutsam miteinander umgehen. Was ich sagen will, ist einfach – es gibt einen Weg, der von Pthor wegführt. Auf diesem Weg können wir vielleicht irgendeine Hilfe für die Pthorer heranschaffen. Und wer weiß, vielleicht kann man bei der Gelegenheit auch die Quelle absperren, aus der die Horden der Nacht zutage treten.« »Nicht dumm dünkt mich das«, murmelte Heimdall. »Bedenken sollte manʹs.« »Endlich begreift ihr«, sagte Balduur. »Man müßte nur erst einmal diese Leute finden«, sagte Heimdall. »Einstweilen sehe ich keinen Schleichschnüffler oder Schnüffelschleicher, oder wie du die Leute genannt hast.« »Der Name tut nichts zur Sache«, versetzte Balduur. »Nenn sie, wie du willst.« »Das werde ich tun, wenn ich einen zu sehen bekomme«, sagte Heimdall trocken. »Das heißt, falls ich einen zu sehen bekomme.« »Laß das Giften, Bruder«, bemerkte Sigurd. »Es bringt uns nicht weiter.« Die Brüder hatten eine der zahlreichen Hallen erreicht, die es in der Unterwelt von Pthor gab. Es war ein großer Raum, mehr als fünfzig Meter lang, dreißig Meter breit und mindestens zwei Dutzend Meter hoch. Auf dem Boden langen Trümmer herum, Teile der Decke, die irgendwann herabgestürzt waren. Ansonsten gab es nichts zu sehen. »Leer«, stellte Sigurd fest. »Auf der anderen Seite geht der Weg weiter.« Sie gingen los. Balduur konnte sich nicht erinnern, diese Halle auf dem ersten Weg gesehen zu haben. Die Unterwelt von Pthor war ein entsetzlicher Irrgarten. »Wenn deine …«
»Es sind nicht meine …«, stieß Balduur hervor. Es sah aus, als würde es einmal mehr zum Streit zwischen den Brüdern kommen. »Recht habt ihr«, sagte Sigurd leise. »Es sind unsere – dort sind sie.« Balduur sah hoch. Sigurd hatte recht. Da waren sie, die Schleichschnüffler. Offenkundig hatten sie auf die Odinssöhne gewartet. In Dreierreihe umstanden sie die Halle, leise miteinander murmelnd, langsam näherrückend, die Gesichter verhüllt. Eine kompakte rote gefährliche Wand aus Haß und Vernichtungswillen schob sich murmelnd auf die Brüder zu. »Wir stecken in einer Falle«, stellte Heimdall fest. Die Brüder sahen sich an. Drei Odinssöhne, ein Wolf – nicht viel gegen diese Streitmacht. »Auf denn«, sagte Heimdall. Er zog die Waffe. Der Kampf konnte beginnen. 9. Der Händler betrachtete die Yassels mit größtem Zweifel. Es stand ihm deutlich sichtbar ins Gesicht geschrieben. Es waren heruntergekommene Tiere, mager und müde, abgerieben und verbraucht. »Und du behauptest, du brächtest diese Mähren wieder auf die Beine?« fragte der Händler. »Das kann ich«, versetzte Lykaar gelassen. Braheva saß auf dem Kutschbock und zeigte ihre schönen Beine. Der Händler schielte ab und zu hinüber, und das war genau der Sinn des Manövers. »Willst du einen Versuch wagen?« fragte Lykaar. »Ich garantiere für den Erfolg.« Der Händler zeigte sich noch immer mißtrauisch. »Mach es mit einem der Yassels«, schlug er vor. »Und wenn das
Tier verendet, dann wirst du mir dafür zahlen.« Lykaar, der ganz genau wußte, daß er keinerlei Barmittel mehr besaß, nickte lächelnd. »Selbstverständlich«, sagte er zuversichtlich. Er hatte sich ein Gefäß hergestellt, einen höchst geheimnisvoll aussehenden Topf mit bunter Bemalung. Der Topf hatte einen Deckel, und der Deckel war an dem Topf so befestigt, daß man ihn so leicht nicht herunterbekam. »Den Schlüssel, Weib«, sagte Lykaar. Braheva nestelte in ihrem Kleid und brachte dann einen Schlüssel zum Vorschein, den sie an einem ledernen Band um den Hals trug. Der Händler verfolgte die Prozedur aufmerksam. Umständlich – denn das war der Zweck der Angelegenheit – öffnete Lykaar den Topf. Er enthielt eine kleine Portion jener rätselhaften Mixtur, die Lykaar unterwegs mehr unfreiwillig als freiwillig hergestellt hatte. »Hole ein Bündel Heu und dein Yassel heran«, bestimmte Lykaar. Der Händler tat folgsam, was Lykaar ihm aufgetragen hatte. Lykaar nahm von dem Heu und bestrich es mit einer kleinen Portion der Paste. Der Händler verzog angewidert das Gesicht. »Bist du sicher, daß dieses gräßliche Zeug meine Tiere nicht umbringen wird? Es riecht entsetzlich.« »Es muß stinken, sonst hilft es nichts«, versetzte Lykaar frech. Er hielt dem müden Yassel das präparierte Heu hin. Das Tier knabberte an dem Heu, dann fraß es gierig aus Lykaars Hand. »Nun?« fragte der Händler. »Abwarten«, empfahl Lykaar. Gespannt warteten die drei auf die Reaktion des Yassels. Die ließ nicht lange auf sich warten. Wie vom Blitzschlag gefällt, brach das Tier zusammen. Der Händler schrie wütend auf. Braheva und Lykaar sahen sich hilfesuchend an. »Was soll das bedeuten, elender Tiermeuchler!« schrie der
Händler. »Bist du wahnsinnig geworden, meine Tiere zu vergiften? Du wirst mir den Schaden bezahlen, Quork für Quork!« Lykaar produzierte ein mühsames Lächeln. »Abwarten«, riet er. »Man muß Ruhe haben bei diesen Dingen.« Im Hintergrund ragte der Stahl der FESTUNG in den Himmel. Vielleicht konnte man sich dort vor dem wütenden Händler verbergen, überdachte Lykaar. Die drei hatten sich ein beachtliches Stück von der FESTUNG entfernt, Lykaar hatte darauf bestanden. Er wollte bei dem Handel keine Zeugen haben. Jetzt erwies sich diese Vorsichtsmaßnahme als Nachteil – es würde schwerfallen, sich zu verkrümeln. »Was haben wir gesagt?« bemerkte Braheva. »Sieh dir dein Yassel an!« Der Händler wandte den Blick von Brahevas Beinen und sah nach seinem Tier. Sein Gesicht wurde noch bleicher. »Es ist blau!« rief er entsetzt. »Am ganzen Körper blau!« »Aber es lebt«, sagte Lykaar zuversichtlich. »Warte nur ab!« Er wechselte einen raschen Blick mit Braheva. Etwas stimmte nicht, das Yassel hätte grün werden sollen, nicht blau. Dennoch war er zufrieden – das Tier stand wieder auf und begann zu fressen. »Du hast Glück gehabt«, stieß der Händler hervor. »Ich hätte dir das Genick umgedreht, wäre das kostbare Tier gestorben. Es war mein liebstes Yassel.« »Was nicht gar«, bemerkte Lykaar trocken. Das Yassel fiel unterdessen mit großem Appetit über die Pflanzen her, die in der Nähe wuchsen. Lykaar stellte mit sichtlicher Befriedigung fest, daß die erwartete Veränderung eintrat – die Bewegungen des Tieres bekamen Kraft und Geschmeidigkeit. Das, was er dem Händler versprochen hatte, war eingetreten – die seltsame Paste bewirkte bei den Yassels eine regelrechte Verjüngung. »Auf der anderen Seite«, bemerkte der Händler hämisch, »ist ein blaues Yassel natürlich kein richtiges Yassel mehr. Niemand wird
mir ein blaues Yassel abkaufen – so betrachtet bin ich ebenso geschädigt, als wäre es tot. Ich fordere also Schadenersatz.« »Kannst du haben«, sagte Lykaar. »Ich kaufe dir das Tier zu dem Preis ab, den du gefordert hättest, bevor ich dem Tier meine Wundermedizin zu kosten gab. Danach gehört das Yassel natürlich mir, ob blau oder nicht.« »Kommt nicht in Frage«, versetzte der Händler. »Sieh dir das Tier an – es ist gesund und stark. Daß ich dafür mehr verlangen kann, liegt doch auf der Hand. Darf ich dich daran erinnern, daß du mir die erste Probe deines Mittels gratis versprochen hast – also auch mit kostenloser Wirkung, und die ist eben …« »… preistreibend«, erwiderte Lykaar grinsend. »Also, wie ist es? Was zahlst du für den Topf mit dem Wundermittel?« Es bereitete Lykaar größtes Vergnügen, sein Gegenüber schwitzen zu sehen. Der Händler war einer der bekanntesten Yassel‐Züchter und Händler auf Pthor, schwerreich und infolgedessen ebenso interessiert wie zahlungskräftig. »Was verlangst du?« »Zunächst einmal einen flugfertigen Zugor«, zählte Lykaar auf. »Du bist verrückt«, schrie der Händler. »Wo soll ich einen Zugor hernehmen?« »Du hast Geld und Einfluß«, beharrte Lykaar. »Sieh zu, was du fertigbringst. Danach brauche ich noch allerlei Zeug, eine genaue Liste werde ich dir noch geben. Und natürlich eine große Menge schöner Quorks.« »Ausgeschlossen«, sagte der Händler. Er holte ein großes Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß ab. »Ich wäre ruiniert, würde ich das alles bezahlen. Ausgeschlossen.« »Dein Pech, lieber Freund«, sagte Lykaar. »Aber denk dran – wer kauft noch bei dir ein neues Yassel, wenn er sein altes bei mir verjüngen und auffrischen kann.« Der Händler warf einen grimmigen Blick auf sein Yassel, das einen geradezu prachtvollen Eindruck machte. Die blaue Farbe würde
nach ein paar Tagen auch wieder verschwinden … »Ich fürchte, es wird dir gar nichts anderes übrigbleiben«, sagte Lykaar. »Und noch eines – sehr viel Zeit hast du nicht mehr.« Der Händler rollte mit den Augen. Er galt als einer der wohlhabendsten Männer Pthors – wenn er auf Lykaars Angebot einging, würde Lykaar einer der wohlhabendsten Männer Pthors sein, jedenfalls bis der Händler seine Zahlung durch fleißigen Gebrauch von Lykaars Yassel‐Balsam wieder ausgeglichen hatte. »Ich bin bereit, viel zu bezahlen«, sagte der Händler. »Und über ein paar Schmuckstücke für die werte Gemahlin läßt sich auch reden – aber es ist völlig ausgeschlossen …« Lykaar schnitt ihm das Wort ab. »Ohne Zugor geht gar nichts«, sagte er, und sein Gesicht zeigte unnachsichtige Härte. »Über andere Dinge könnte man vielleicht verhandeln, ich bin da nicht kleinlich, aber über den Zugor nicht.« Der Händler stieß eine Serie jammernder Laute aus. Er schwankte hin und her, griff sich ans Herz und schielte immer wieder zu dem prachtvollen Yassel hinüber. Der Leidensgefährte der ehemaligen Mähre stand müde daneben – so war die Wirkung der Wundermixtur genau zu erkennen. »Nein«, sagte der Händler schließlich. »Es geht nicht. Tut mir leid, mein Freund, aber so weit reicht meine Macht nicht.« Lykaar zuckte mit den Schultern. »Wenn du nicht willst«, sagte er. »Nimm dein Yassel, ich schenke dir die Verjüngung für das erste Tier. In ein paar Jahren werden wir uns vielleicht wiedersehen auf den Straßen von Orxeya, und ich werde dann nicht verfehlen, dir eine Kleinigkeit in deinen Bettelnapf zu werfen.« Der Händler zuckte zusammen, als habe er einen heftigen Faustschlag erhalten. Lykaar lächelte ihm noch einmal zu und trieb dann die eigenen Yassels an. »Halt!« schrie der Händler. »So warte doch. Renn doch nicht fort, man kann ja wenigstens einen Versuch unternehmen.«
Lykaar ließ sein Gespann anhalten. Braheva knuffte ihn anerkennend in die Seite. »Und nun zu den Einzelheiten«, sagte er und lehnte sich gemütlich zurück. * »Einen Augenblick lang hat er mir richtig leid getan, der Arme«, sagte Lykaar geraume Zeit später. Der Fahrtwind wirbelte seine Haare durcheinander. »Er wird darüber hinwegkommen«, sagte Braheva. Der Zugor flog ruhig und sehr schnell. Die beiden hatten es eilig. Auf der Ladefläche lag, was Lykaar vorher in dem Gespann transportiert hatte – der Rest der Wunderdroge, sorgsam verpackt in den hölzernen Fässern. Wenn nichts dazwischen kam, würde Lykaar allein damit bis ans Ende seiner Tage den Händler jährlich mit einem großen Topf beliefern können. »Ich habe es ja immer gesagt«, erklärte Lykaar selbstzufrieden. »Man muß hinausgehen ins Leben, um dort Geschäfte zu machen, dann bringt man es zu etwas.« »Du bist sehr klug«, sagte Braheva, und zum ersten Mal in dieser Ehe hatte Lykaar nicht das Gefühl, als wollte sie ihn ein wenig verspotten, wie es ihre Art war. Vermutlich war auch sie mit dem Ergebnis des Handels zufrieden. Was nämlich außer der wertvollen Fracht noch auf dem Zugor zu finden war, war ein Haufen jener hübschen Kleinigkeiten, die das Leben für eine Orxeyanerin leichter und schöner machen konnten. Gebrauchsgegenstände und Schmuck, und in einem großen ledernen Sack ruhte als Krönung des Handels eine beträchtliche Summe baren Geldes. »Ich nehme an«, sagte Lykaar, »daß ich jetzt der reichste Bürger Orxeyas bin – ein sehr seltsamer Gedanke, ehrlich gesagt. Ich
fürchte, ich werde mich nicht daran gewöhnen können.« »Abwarten«, empfahl Braheva. »Ich jedenfalls kann mich daran gewöhnen.« »Wir wollen es nicht übertreiben«, sagte Lykaar. »Es genügt, wenn es sich im Lauf der Zeit herausstellt – man muß so etwas den Leuten nicht um die Ohren hauen. Irgendwann werden sie es bemerken, und dann werde ich zufrieden sein.« Orxeya kam langsam in Sicht. Es bereitete Lykaar ungeheures Vergnügen, die Stadt zu sehen. Unterwegs waren sie an einigen kleineren Ortschaften vorbeigekommen – für Lykaar namenlose Nester – die entweder von den Horden der Nacht verwüstet worden waren oder aber in Flammen aufgegangen waren, als ihre Bewohner die Ortschaft in panischer Flucht verlassen hatten. Und einmal waren sie unterwegs auf eine Horde der Nacht gestoßen, einen Verband von fast fünfhundert Ungeheuern, die von einem Dutzend der Roten begleitet und wahrscheinlich auch kommandiert wurden. Lykaar hatte den Zugor rasch zur Seite gelenkt und war aus der Sichtweite dieser Gefahr verschwunden – er hatte keine Lust, am Tage seines größten Triumphs zu guter Letzt doch noch ein Opfer der Horden der Nacht zu werden. »Orxeya steht also noch«, sagte Braheva. »Wie schön.« Es war dennoch zu erkennen, daß Orxeya die Ereignisse der letzten Tage nicht zur Gänze ohne Schaden überstanden hatte. Von der Palisadenmauer war der größte Teil abgebrannt, nur noch schwarze Stümpfe waren zu sehen. Die großen Feuer, die früher Tag und Nacht zwischen Orxeya und dem Blutdschungel gebrannt hatten, waren erloschen. Schwarze Flecken erinnerten daran. Die Wachtürme aber standen noch, und sogar das Stadttor gab es noch – es war geschlossen. »Unbewacht«, stellte Lykaar ergrimmt fest. »Ich fürchte, wir werden nicht sehr viele Freunde hier treffen – der größte Teil der Orxeyaner scheint unterwegs zu sein.«
»Sie werden zurückkehren«, sagte Braheva zuversichtlich. Lykaar nickte. Unterwegs hatte sie etliche Gruppen gesehen, die offenkundig auf dem Rückmarsch waren. Aber Lykaar wußte auch, daß die Panik auf Pthor noch lange kein Ende gefunden hatte – viele, die jetzt halbirre vor Angst auf Pthor herumliefen, würden diese Flucht fortsetzen. Sie taten das nicht aus Einsicht heraus, sondern weil sie sich soviel eigene Dummheit, Leichtgläubigkeit und Furchtsamkeit nicht zugestehen wollten. Viel Zeit würde vergehen müssen, bevor Pthor wieder einen einigermaßen normalen Anblick bieten würde, wenn es überhaupt jemals wieder dazu kam. Lykaar steuerte den Zugor über die Stadtmauer hinweg, an einer Stelle, wo die Palisaden heruntergebrannt waren. Dann flog er durch die winkligen Gassen der Stadt. Es machte ihm Spaß, den Zugor dort hindurchzumanövrieren, ein kleines Kunststück für sich. Auf einem der Plätze Orxeyas stellte er das Gefährt ab. »Da sind wir«, sagte er zufrieden. Braheva nickte glücklich. »Wir sollten uns ein Haus kaufen«, sagte sie. »Unser altes Heim wird hoffentlich noch stehen, aber jetzt können wir uns ja wohl ein größeres Haus leisten.« »Wird gemacht«, versprach Lykaar. »Wo willst du einstweilen hinziehen – es ist nämlich offenbar keiner da, dem man ein Haus abkaufen könnte.« »Ziehen wir zu meinen Eltern«, sagte Braheva. Lykaar schluckte, sagte aber nichts. »Einverstanden«, murmelte er, nachdem er den ersten Schrecken hinuntergewürgt hatte. »Aber vorher möchte ich noch nachsehen, was aus meinen Freunden geworden ist. Du gestattest doch?« Braheva lächelte. »Natürlich«, sagte sie. »Geh nur, ich komme hier schon zurecht. Und wenn ich nichts zu tun finde, kann ich mich ja in den Läden umsehen. Vielleicht finde ich etwas Schönes für unser neues Heim.« »Tu das«, sagte Lykaar und sprang aus dem Zugor. »Bis später!«
Er brauchte nicht sehr weit zu gehen, um seine Freunde zu finden. Sie saßen, wie er nicht anders erwartet hatte, genau dort, wo er sie letztmalig gesehen hatte – in einer Gaststätte beim Kromyat. »Hallo!« rief Achar, als er Lykaar sah. »Da bist du ja wieder. Gute Geschäfte gemacht?« »Leidlich«, erwiderte Lykaar und setzte sich dazu. »Und wie geht es euch? Was habt ihr zustande gebracht?« Achar, schon leicht angetrunken, sah Lykaar bedeutungsvoll an. »Hattest du unterwegs Schwierigkeiten mit dem Gespann?« fragte er. »Vielleicht mit der Achse? Oder den Rädern?« »Es gab kleinere Pannen«, berichtete Lykaar. Er ließ sich einen kleinen Krug Bier geben. »Warum fragst du?« »Ich habe wieder etwas erfunden«, sagte Achar. »Zusammen mit Peran.« »Und was?« »Einen Abzieher«, erklärte Achar. »Eine ganz wichtige Sache, unerhört gut. Ich werde ein vermögender Mann damit werden.« »Und was ziehst du ab?« »Räder von Wagen«, sagte Achar. Er winkte Gallizzo zu, der eilfertig drei neue Krüge herbeischaffte. »Es ist ein Radabzieher. Du nimmst ihn mit auf deinen Wagen, und wenn du eine Schwierigkeit hast, dann montierst du den Abzieher, und er holt dir ganz geschwind das Rad von der Achse.« »Hört sich faszinierend an«, sagte Lykaar. »Darüber mußt du mir unbedingt mehr berichten. Kann man das Ding kaufen?« »Eigentlich nicht«, zierte sich Achar. Seine Zähne waren in Lykaars Abwesenheit kein bißchen besser geworden. Und bei Peran war sich Lykaar nicht sicher, ob er in dieser Zeit die Kleidung gewechselt hatte. »Aber dir würde ich es vielleicht abtreten«, sagte Achar. »Nur dir. Du bist ein Mann, mit dem man Geschäfte machen kann.« »Das freut mich zu hören«, sagte Lykaar. »Ich habe nämlich recht gute Geschäfte gemacht.«
»Ach ja?« Lykaar nickte. Er winkte dem Wirt zu. »Gallizzo, vom Besten, was du hast – und viel!« bestellte Lykaar. »Ich bin sehr erfolgreich gewesen.« Achar sah ihn verwirrt an. Er witterte etwas. »Nun«, sagte er gedehnt. »Es war vielleicht nicht gerade ein Freundschaftspreis, den ich dir abgenommen habe. Man könnte darüber reden.« »Nicht nötig«, wehrte Lykaar ab. Es klang gönnerhaft, und das stimmte Achar noch mißtrauischer. Lykaar sah das, fühlte sich aber nicht bemüßigt, Achars Mißtrauen zu beseitigen. »Vor allem die Seife«, sagte Lykaar. »Ein wundervolles Gebräu.« »Wirklich?« fragte Achar skeptisch. »Also …« »Nur keine falsche Bescheidenheit«, sagte Lykaar und schlug Achar auf die Schulter. »Laßt uns auf die guten Geschäfte trinken, die wir zusammen schon gemacht haben.« »Auf gute Geschäfte.« »Und auf Braheva«, sagte Lykaar. »Mein wackeres Weib. Was hätte ich gemacht ohne sie.« »Ich erkenne dich kaum wieder«, sagte Peran. »Was ist mit dir geschehen?« »Ich habe Geschäfte gemacht«, sagte Lykaar. »Und jetzt erzählt mir von dem Abzieher. Was soll er kosten?« * »… was sollte dieses Ding kosten?« fragte Braheva entgeistert. Lykaar nannte grinsend die Zahl. »Der Tropf hat allen Ernstes geglaubt, ich würde ihm ein zweites Mal auf den Leim gehen«, sagte er lachend. Er sprach ein wenig undeutlich, der beste Kromyat aus Gallizzos Keller hatte es in sich. Braheva war noch nicht gänzlich beruhigt. Sie sah ihren Mann an.
»Und du hast nicht gekauft?« fragte sie zweifelnd. »Ich?« lachte Lykaar. »Diesen absurden Abzieher? Ich bin doch nicht verrückt. Einen Radabzieher zu kaufen, so eine Narretei. Ich habe etwas viel Besseres gekauft.« »Dachte ich es doch«, seufzte Braheva auf. »Was ist es, und wieviel hat es gekostet? Rede, mach schnell!« Lykaar kicherte leise in sich hinein. »Ein Haus«, sagte er fröhlich. »Unser Haus.« »Wieviel hast du dafür versprochen?« Lykaar lachte immer breiter. »Ein paar Yassels«, sagte er. »Genau dreißig Stück, gute, starke Yassels.« Braheva seufzte erleichtert auf. »Und dann habe ich noch etwas gekauft«, sagte Lykaar. »Eigentlich wollte ich ja gar nicht, aber ich war ein bißchen betrunken, mußt du wissen, da habʹ ich es getan.« Braheva wurde schon wieder bleich. »Was?« »Yassels«, sagte Lykaar. »Gallizzo hatte welche anzubieten. Dreißig schäbige, klapprige Yassels, eigentlich reif für den Abdecker. Ich habe sie sehr wohlfeil bekommen.« Er deutete auf die Ladung des Zugors. »Wir brauchen nur eine Handvoll von unserem Zeug, und wir haben unser Haus zurück. Ist das nicht herrlich?« »Nicht ganz«, sagte Braheva, seltsam weich. »Für eine Handvoll von unserer Mixtur habe ich unser Haus zurückerstanden, ein hübsches, gemütliches Haus für uns zwei. Für nur eine Handvoll … was, bitte, ist das?« Braheva lächelte. »Das ist der Grund, weshalb ich nicht ganz zufrieden bin über deinen Hauskauf.« Lykaar starrte fassungslos auf Brahevas Kauf – eine seltsame hölzerne Konstruktion, eine Art kleiner Trog, aber nicht auf vier
Beinen, sondern auf halbmondförmigen Füßen. Dann begann Lykaar hemmungslos zu lachen. Braheva hatte eine Wiege gekauft. Mochte Pthor in größter Gefahr schweben, er war sich sicher, daß ihn das nicht interessieren würde. Für ihn begann hier und heute eine neue Zukunft. 10. »Wir decken uns gegenseitig den Rücken«, rief Balduur hastig. »Sie greifen nämlich auch von hinten an, diese Feiglinge.« Die rotkapuzten Schleier kamen näher und näher. Es mußten weit mehr als hundert sein, die sich auf die Odinssöhne zubewegten, in den Händen seltsam geformte Hieb‐ und Stichwaffen. »Mich regt auf, daß sie schweigen«, sagte Sigurd. »Zum Kampf gehört anständiges Geschrei.« »Da wirst du hier kein Glück haben«, versetzte Balduur. »Wenn hier einer schreit, dann wirst du es selbst besorgen müssen. Also, Brüder?« »Drauf und dran«, schrie Heimdall. Sein Kampfgeschrei hallte von den Wänden wider, als er sich in Bewegung setzte. Eine über zweihundertfünfzig Pfund wiegende lebende Kampfmaschine trabte an und rannte auf die Reihe der Rotroben zu. Sie flogen unter diesem Aufprall auseinander wie Strohhalme beim Dreschen. Sigurd und Balduur folgten Heimdall auf den Fersen. Mit Schwertern schlugen sie schnell eine Schneise in die Reihen der Rotroben, die sich hinter ihnen schnell wieder schloß. »In die andere Richtung!« schrie Balduur. Aber Heimdall hörte den Ruf nicht. Er stürmte einen Gang hinunter, fegte ein halbes Dutzend Gegner von den Beinen und kam dann zum Stehen. Er bekam eine Metallstange zu fassen und wirbelte sie herum.
Mit furchtbaren Hieben schuf er freie Bahn für sich und die Brüder, und was er noch stehenließ, das räumten entweder Sigurd und Balduur oder aber der grimmige Fenriswolf aus dem Weg. »Wo willst du eigentlich hin?« rief Balduur dem davonstürmenden Heimdall nach. Er bekam keine Antwort. Heimdalls Rufe schallten durch die Gänge, Kampfgier hatte den Hünen erfaßt. »Heda, her zu mir, ihr Schleicher!« rollte seine Stimme durch die Räume. »Zeigt euch mir, kommt her!« Sigurd schüttelte den Kopf, aber er folgte dem Bruder. Balduur deckte die andere Flanke, während der Fenriswolf jeden angriff, der sich den dreien von hinten zu nähern versuchte. »Wahrscheinlich will er noch einmal versuchen, Kontakt zu LaʹMghor aufzunehmen«, rief Sigurd in dem Versuch, Balduurs Frage zu beantworten. In der Tat sah es so aus, als wollte sich Heimdall den Weg tief ins Innere der Unterwelt erkämpfen, sich dorthin durchschlagen, wo die »Seele« von Pthor ihren Sitz hatte. Es sah so aus, als wären die Brüder gegen die Schleichschnüffler erfolgreich. Den titanischen Kräften eines Heimdall waren die Kapuzenträger offenbar nicht gewachsen – wo Heimdall hinlangte, wirbelte er die Rotroben durcheinander wie ein Sturmwind den Spreu auf der Tenne. Rücksichtslos brach er sich Bahn, schuf er Raum. Dennoch mußte er sich anstrengen, denn die Rotroben kämpften mit Erbitterung und absoluter Schonungslosigkeit, was das eigene Leben betraf. Sie erduldeten die furchtbaren Hiebe der Odinssöhne, aber sie griffen selbst in aussichtslosen Lagen immer wieder an. Und sie schwiegen. Vielleicht lag das an den Gegebenheiten der Unterwelt unter der FESTUNG, vielleicht waren sie anderswo gesprächiger. Hier jedenfalls fielen sie lautlos unter den Streichen der Brüder, formierten sich wieder schweigend und griffen ebenso geräuschlos wieder an. Balduur hatte recht behalten –
Kampfgeschrei gab es nur von Seiten der Brüder. »Mir nach!« schrie Heimdall. Immer tiefer wühlte er sich hinein in den unterpthorischen Bereich der FESTUNG, und immer dichter wurden die Scharen der Schleichschnüffler, die sich den dreien in den Weg stellten. Hageldicht fielen die Hiebe Heimdalls, und wen er traf, der fiel und schied vorerst aus dem Kampf aus. Mit ungeheurer Kraft drosch er drein, daß die Angreifer auseinanderflogen, aber sie erreichte auf lange Sicht wenig damit. Sie standen wieder auf, griffen nach ihren Waffen und drangen erneut auf die Brüder ein. Ewig durfte dieser Kampf nicht dauern. Hier ein Stich, dort ein Riß, hier eine Prellung, dort eine Verstauchung – tagelang hielt keiner diesen Kampf aus, auch ein Heimdall nicht, der über unerschöpfliche Kraft zu verfügen schien, wenn er wütend war. Und er war wütend in diesen Stunden. Sie zogen sich endlos lang hin, die Minuten des Kampfes, jede einzelne erfüllt mit Anstrengung und Gefahr, gespickt mit höchster Aufmerksamkeit. Die kleinste Nachlässigkeit, und der Kampf wäre vorbei gewesen. Es war Heimdall, der fiel. Balduur stieß einen Schrei wütenden Entsetzens aus, als er sah, wie die hünenhafte Gestalt seines Bruder taumelte, vornüber kippte, fiel, und dann vergingen keine zwei Sekunden, bis der Hüne begraben war unter einer Schar dürrer rotumhüllter Leiber. Und einen Herzschlag danach gellte Heimdalls Hohngelächter durch die Halle, und er stand wieder auf, und seine Hände faßten zu und warfen die Angreifer von sich, daß sie weithin flogen und ihre dürren Gesellen von den Beinen rissen. Der Sturz hatte keine halbe Minute gedauert, und Heimdall brauchte nur knapp zwei Minuten, um sich von den Rotroben zu befreien, die an ihm hingen wie Fliegen am Aas. »Her zu mir!« rief er. »Und immer weiter voran.« »Er ist übergeschnappt«, schrie Sigurd Balduur zu. »Es werden
immer mehr.« »Ich merke es«, gab Balduur in gleicher Lautstärke zurück. Sie verständigten sich durch rasche Blicke, dann spannten sie noch einmal die Kräfte an. Rechts gehauen, links dreingedroschen. Vorwärts, heran an Heimdall, der wie ein Schnitter seine eherne Stange schwang und die Körper umsinken ließ. Sigurd hackte und stach, schlug um sich und trat, und neben ihm war Balduur mit gleicher Arbeit beschäftigt. So todesgrimm schwangen die Brüder ihre Waffen, daß die Dürren für kurze Zeit den Weg freigaben. Balduur und Sigurd kamen an Heimdall heran, daß sie ihn berühren konnten: »Halt ein!« schrie Sigurd. »Es hat keinen Sinn – sie sind zu viele.« »Nicht für mich!« brüllte Heimdall. Er schien wie im Rausch, aufgeheizt von der Atmosphäre des Kampfes, und daß die Gegner nicht zu töten waren – wenigstens schien es so – versetzte ihn in immer größere Hochstimmung. Noch war er nicht ein einziges Mal verletzt worden. Wieder tat sich eine Halle auf, und dort standen sie dicht bei dicht. Tausend? Vielleicht sogar mehr. Balduur erschrak bis ins Mark, Sigurd holte tief Luft. Sie drehten sich um. Ein langer Stollen hatte sie bis zu diesem Ort geführt, und jetzt war er versperrt. Balduur sah, wie sie Steine heranrollten, um den Gang auszufüllen, ihnen den Rückweg abzuschneiden. Schon waren die Arbeiten so fortgeschritten, daß sie nicht mehr zu stoppen waren. »In der Falle«, sagte Sigurd und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Heimdall blieb am Eingang der Halle stehen, drehte sich ebenfalls herum. Seine schwarzen Augen loderten in düsterem Feuer. »So ist das«, sagte er, als er die Falle erkannte, in der er stak, zusammen mit seinen Brüdern. Irgendwo entfernt heulte Fenrir. Er war abgeschnitten worden.
Heimdall verzog das Gesicht zu breitem Grinsen. »Nun?« sagte er und wies mit der Stange auf das Heer der Rotroben, das die Halle füllte bis auf den letzten freien Raum. »Was meint ihr?« »Daß dein Ungestüm uns in den offenen Rachen des Todes geführt hat«, sagte Sigurd. Balduur stützte sich auf sein Schwert. »Die Nornen haben sich viel Mühe gegeben«, sagte er und holte tief Luft. »Wird es Walhall sein oder die finstere Hel, was uns erwartet?« »Was auch immer«, sagte Heimdall und zeigte die Zähne. »Es gibt nur einen Weg, Brüder – voran.« Die Rotroben rührten sich nicht. Warteten sie auf den Angriff der Odinssöhne? Der Rückweg war versperrt. Es war auszurechnen, daß sie weiteres Gestein herbeischafften, um den dreien den Weg zu verlegen, aber es war nur wenig davon zu hören – deutliches Zeichen, wie dick die Sperre bereits war. »Wenn LaʹMghor stirbt, wenn der Steuermann gestorben ist«, sagte Heimdall und richtete sich hoch auf, »dann sind die Tage der Odinssöhne ebenfalls gezählt. Dann ist auch Pthor verloren.« Balduur sah zu den Kapuzenträgern hinüber. Wie ein Block standen sie in der Halle und warteten darauf, daß die Odinssöhne näherkamen. »Sie wollen uns am Spieß unserer Todesfurcht braten«, sagte Heimdall. »Wollen wir ihnen den Gefallen tun?« Die drei sahen sich an. Dann hoben sie die Schwerter, bereit zum letzten, tödlichen Kampf. * Zu dritt stürmten sie nach vorn, die Schwerter hoch erhoben, bereit
zum Schlag. Die vorderste Reihe ihrer Gegner warfen sie einfach über den Haufen, dann blieben sie in der Masse der Dürren wie in zähem Leim kleben. Sie schwangen die Schwerter, Rücken an Rücken. Heimdall drosch mit seiner furchtbaren Waffe in die Reihen der Angreifer, die sich in endlosen Wellen heranschoben, als könnten sie es nicht erwarten, ebenfalls niedergemäht zu werden. Jetzt schwiegen auch die Odinssöhne. Es gab nichts mehr zu sagen, der Kampf war entschieden, bevor er begonnen hatte. Sigurd spürte einen scharfen Schmerz am Bein, dann ein Brennen an der linken Schulter. Es waren kleine Verletzungen, und die sie Sigurd beigebracht hatten, sanken wenig später unter seinen Schlägen zusammen, aber sie schwächten den Odinssohn. Ein paar Augenblicke noch gab sich Sigurd, dann … Sie wichen zurück. Plötzlich wirkten sie verstört. Es waren die Rotroben, die zu raunen begannen, die sich ungeschickt und hastig bewegten, sich davonmachten. »Sie fliehen!« schrie Heimdall. Sigurd begriff gar nichts mehr. War das die Rettung? Oder nur spöttischer Trug, grausiges Gaukelspiel zum Ergötzen der Rotroben? Es sah nicht danach aus. Die wenigen, die noch geblieben waren, konnten der Wut der Odinssöhne nicht lange widerstehen, der Rest wandte sich zu eiliger Flucht, ließ die Waffen fallen und huschte so leise, gespenstisch davon, wie sie auch aufgetaucht waren. »Jetzt begreife ich gar nichts mehr«, sagte Heimdall. Er ließ die Waffe sinken. Sie waren allein, nur ein Dutzend oder mehr regloser Körper am Boden bewies, daß sie keinem Trugspiel der Sinne aufgesessen waren. »Was nun?« fragte Heimdall.
»Zurück«, sagte Balduur. »Ich will so schnell es geht in die FESTUNG. Niemand weiß, was sich dort inzwischen abgespielt hat – vielleicht ist Hilfe gekommen.« »Wenig wahrscheinlich«, sagte Balduur gelassen. Er steckte das Schwert in die Scheide zurück. »Aber ich stimme zu – für LaʹMghor können wir nichts tun, er ist unter dem Energieschirm sicher versteckt, niemand kann zu ihm.« Er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Und ich nehme an, daß ihr mir inzwischen die Geschichte mit den roten Schleichschnüfflern glaubt.« »Wahrlich«, sagte Heimdall und fletschte die Zähne. »Das tun wir. Kehren wir um, Brüder.« »Der da wird uns den Weg weisen«, sagte Balduur und wies auf Fenrir, der in diesem Augenblick die Halle betrat. Fenrir schafft es, die Brüder in vergleichsweise kurzer Zeit hinaufzulotsen an die Oberfläche. Sie hatten kaum den Boden Pthors unter den Füßen, als ein Techno auf sie zueilte, dahinter der Unterhändler Benkthan. »Was habt ihr erreicht?« rief Benkthan von weitem. Er sah die Brüder an. »Heiliges Pthor, wie seht ihr aus.« »Balduur hat einen neuen Gegner gefunden«, berichtete Heimdall grimmig. »In der Unterwelt treibt sich ein dürres Volk herum, das schnüffelt und schleicht, rote Roben trägt und alles angreift, was sich nur zeigt. Die ›Seele‹ von Pthor ist in einer ähnlichen Verfassung wie der Steuermann – und wenn noch nicht tot, dann auf keinen Fall weit vom Tode entfernt. Wie sieht es vor der FESTUNG aus?« »Leidlich«, sagte Benkthan. »Die Leute sind einstweilen noch beschäftigt, aber man kann sie nicht ewig mit unnützer Arbeit vom Denken abhalten.« »Eine schöne Bescherung«, murmelte Heimdall. Die Odinssöhne strebten der Zentrale der FESTUNG zu. Plötzlich erschütterte ein gewaltiger Stoß den Boden.
Die Odinssöhne begriffen sofort. Das Rütteln und Schütteln wurde stärker. Die Sonne, die bis zu diesem Augenblick auf Pthor herabgeschienen hatte, verschwand. Graue Nebel traten an ihre Stelle. Die Odinssöhne wußten, was in diesen Augenblicken geschah. Pthor war gestartet, der Dimensionsfahrstuhl setzte seine Reise ins Ungewisse fort. »Wer mag das verursacht haben?« fragte Heimdall. »Und wohin wird die Reise gehen?« »Fragen kann ich auch«, erwiderte Balduur düster. »Nur mit den Antworten hapert es.« Eilig suchten die Brüder die Zentrale von Pthor auf. Benkthan war zu seinen Leuten zurückgekehrt. Als erstes nahmen die Brüder Kontakt zum Wachen Auge auf – und stellten fest, daß sich die Lage verschlimmert hatte. Es schien zwar nicht möglich, aber es war so – jetzt waren die Rotroben offenbar auch in der Großen Barriere von Oth zugange. Die wenigen Informationen des Wachen Auges besagten das. »Ich begreife gar nichts mehr«, sagte Heimdall wütend. »Wieso lassen die Magier das zu? Oder stecken sie gar im Bund mit diesen Schnüfflern?« »Was weiß ich?« gab Sigurd zurück. »Ich weiß nur, was du auch weißt, mehr nicht. Und das reicht nicht, die Lage zu klären.« »Ich möchte daran erinnern, daß da noch jemand ist, der eine wichtige Botschaft hat«, meldete sich ein Techno. »Ein Händler kommt mit einer wichtigen Kunde.« »Ist es wichtig?« fragte Sigurd. Der Techno machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber der Händler tritt so auf, als wüßte er, was er sagt.« »Laß ihn ein«, bestimmte Balduur. »Vielleicht kann er uns einen Schritt weiterhelfen.« »Ein Händler von Pthor?«
»Es ist mir vollkommen egal, wer uns hilft«, sagte Balduur. »Hauptsache, wir bekommen die Lage in den Griff.« Der Händler erschien, klein und rundlich, das Gesicht verschmitzt, beinahe verschlagen. Balduur war sofort auf der Hut. »Du wolltest uns sprechen«, begann Sigurd. »Was hast du zu melden?« »Zweierlei«, sagte der Händler. »Ich habe da einen gewissen Sud, der geradezu Wunderdinge an müden Yassels vollbringen kann.« »Und deswegen wagst du uns zu stören?« ereiferte sich Heimdall. »Yassels werden in diesen Zeiten sehr gebraucht«, sagte der Händler. »Ich dachte mir …« »Und was ist das zweite?« fragte Balduur kalt. »Also, der Bursche, von dem ich dieses Zeug gekauft habe – es wirkt übrigens tatsächlich unerhört gut – der hat mir aufgetragen, eine ganz bestimmte Nachricht an die Odinssöhne weiterzugeben. Ihr seid doch die Odinssöhne, nicht wahr?« »Rede, Mann«, herrschte Heimdall den geschwätzigen Händler an. »Dieser Bursche sagt, daß er in der Ebene von Kalmlech auf sehr seltsame Leute gestoßen ist.« »Laß mich raten«, sagte Sigurd. »Hagere Gestalten in langen roten Roben.« »Genau so hat er sie beschrieben«, sagte der Händler, dann machte er ein enttäuschtes Gesicht. »Hat er euch etwa schon erreicht?« »Wir haben ähnliche Informationen«, sagte Balduur gelassen. »Du berichtest uns nichts Neues. Es gibt keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen, oder gar die Leute vor der FESTUNG mit diesen Informationen zu beunruhigen.« Der Händler lächelte breit. »Dann wißt ihr noch nicht alles«, sagte er. »Ich könnte die Leute draußen sehr wohl beunruhigen, wenn ich wollte, aber mit nervösen Leuten kann man keine Geschäfte machen. Mein Gewährsmann hat nämlich noch etwas ganz anderes, noch viel Wichtigeres beobachtet – in der Ebene von Kalmlech formieren sich die neuen Horden der
Nacht.« »Auch das ist hinlänglich bekannt«, sagte Sigurd ungeduldig. »Auch, daß die Rotroben die Horden der Nacht schulen?« »Was heißt schulen?« Die Odinssöhne sahen sich an. »Sie veranstalten Übungskämpfe mit ihnen, sie bringen ihnen bei, wie man in geschlossenen Formationen angreift – sie machen Soldaten aus den Horden. Sie werden die Planung übernehmen, und die Ungeheuer werden diese Pläne ausführen. Nichts mehr mit wilden Überfällen – es geht jetzt um organisierte Vernichtungsfeldzüge.« Heimdall sah den Händler an. Seine Augen schienen den Mann förmlich durchbohren zu wollen. »Du wirst eine Belohnung für diese Information bekommen, und ich werde dir mit dieser Hand den Schädel zerquetschen, wenn du ein Wort davon an andere verlauten läßt.« Der Händler nickte eifrig. »Ihr könnt mir vertrauen«, sagte er. Er zog sich zurück und ließ die Odinssöhne allein. Sie sahen sich an. Jetzt war die Katastrophe vollständig. Von allen Seiten stürmte das Unheil auf Pthor ein. Schleichschnüffler in der Barriere von Oth, unter dem Boden der FESTUNG, in der Ebene von Kalmlech, als Ausbilder für die nächste Gefahr, die Horden der Nacht. Pthor in voller Fahrt, mit totem Steuermann und toter »Seele«… »Wir können jetzt nur eines tun«, sagte Balduur. »Wir müssen alle erreichbaren Waffenfähigen zu den Eingängen der Unterwelt abkommandieren. Jeder Zugang zu den unterirdischen Anlagen muß bewacht, gesprengt oder verrammelt werden. Mehr können wir nicht tun.« Die Brüder nickten. Sigurd preßte die Lippen aufeinander. Er erinnerte sich, daß irgendwo in der Barriere von Oth sein Sohn
unterwegs war … und seit geraumer Zeit gab es von dort kein Lebenszeichen mehr. »Bördo!« flüsterte Sigurd. Die Angst um den Sohn hatte von Sigurd Besitz ergriffen – und sie würde ihn so bald nicht wieder aus ihrem Griff entlassen. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 479 von König von Atlantis mit: Geburt der Bestie von H. G. Francis