Durch einen Irrtum der Bürokratie werden Jugendliche aus Amerika 1944 als Soldaten in die Ardennenschlacht geschickt. Ei...
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Durch einen Irrtum der Bürokratie werden Jugendliche aus Amerika 1944 als Soldaten in die Ardennenschlacht geschickt. Ein Häuflein von sechs Überlebenden sucht inmitten des militärischen Wahnsinns Vernunft zu bewahren den Höhepunkt solcher Bemühungen bildet eine Nacht im Ardennenwald, als sie zwischen den Fronten mit deutschen Soldaten zusammen den Krieg für sich beenden wollen. Die Nacht in den Ardennen entwickelt hier die Kraft und Intensität eines Wintermärchens, das von der Realität eingeholt wird.
Scanner – Keulebernd K-Leser - tortillaZ
William Wharton
Die Nacht in den Ardennen Roman
Aus dem Amerikanischen von Barbara Henninges
Benziger
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel «A Midnight Clear» im Verlag Alfred A. Knopf, New York. © 1982 by Milton, Inc.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Für die deutsche Ausgabe: © 1986 Benziger Verlag Zürich, Köln ISBN 3 545 36.403 8
Den jungen Reservisten der US-Army gewidmet, die nie die Mündigkeit erreichten … Wir brauchen euch jetzt.
Angst
Nach Luft ringend atme ich den Geruch von versengten Vogelfedern; den Duft des Todes in einer Blume. Blind und sprachlos der grau verschwimmende Blick, von Entsetzen gelähmt, beobachte ich, wie ich beobachte, daß ich mich beobachte.
Die Namen in dieser winterlichen Weihnachtsgeschichte wurden geändert, um die Schuldigen zu schützen… W.W.
Inhalt
1 Briefing ............................................................................... 8 2 Die längste Nacht............................................................... 34 3 Fuh Kit Ler ...................................................................... 121 4 «Throw me a why not» .................................................... 193 5 Mother darf es nie erfahren .............................................. 212 6 Verlustmeldung ............................................................... 254
1 Briefing «Großer Gott, Mother! Was ist los?» Er stößt mich heftig gegen meine Zeltplane. Er strampelt, rudert, rappelt sich auf die Füße, die Stiefel knöcheltief in Morast und Schneematsch am Grund unserer Erdmulde versinkend. Er ragt über mir auf, taumelt, rutscht, sagt kein Wort; stiert in den Himmel. Dann reißt er sich den Karabiner von der Schulter, packt ihn mit der Rechten, biegt den hageren Körper mit geballter Kraft nach hinten und schleudert die Knarre in einem langen, gewundenen Bogen wie einen Wurfspeer mindestens dreißig Meter weit den Hang hinunter. Er wirft mit solcher Wucht, daß ihm die Nickelbrille vom Kopf fliegt, an meiner Brust abprallt und langsam in Morast und Schmelzwasser versinkt. Sie wird mit Sicherheit in die Brüche gehen. Er sieht mich nicht an. Ohne die Brille wirkt Mothers Gesicht leer; er könnte mich vermutlich gar nicht erkennen, auch wenn er herübersähe. Während der vergangenen zweieinhalb Stunden haben wir miteinander in dieser Kuhle auf Posten gehockt, die möglicherweise ein Einmannschützengraben aus dem Ersten Weltkrieg, vermutlich aber nur das Erdloch von einem vermoderten, vom Wind entwurzelten Baum ist. Kaum ein Wort ist zwischen uns gefallen. Wir sind in Vierstundenschichten eingeteilt. Manchmal meine ich, Mother flennen zu hören, aber ich sehe lieber nicht hin; ich bin selber den Tränen so nah, daß ich nichts aufrühren will. Jetzt kraxelt Mother gewehrlos auf den Rand unseres Lochs. Er zerrt an seinem Koppelzeug, versucht die Haken zu öffnen.
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Normalerweise wären die Mitglieder der Regimentsmusik für diese Feldwache zuständig, aber die sind mit den Offizieren in der Stadt, Rotkreuzhelferinnen ausführen. Gestern haben sich die Leute vom Roten Kreuz bis zu unserem Regiment durchgeschlagen und uns, die wir nach Mannschaften und Offizieren getrennt Schlange standen, Doughnuts verkauft, das Stück zu zehn Cents. Ich schaute nicht hin, ob die Offiziere bezahlten, kaufte mir bloß einen und schiss ihn eine halbe Stunde später wieder aus. Während ich so neben Mother kauerte, habe ich einen dieser kleinen dröhnenden L5-Artillerieflieger, der über uns seine Runden drehte, mit den Augen verfolgt. Der Motor brummte so gemütlich wie der eines Flugzeugs, das an einem Sommertag am Strand ein Werbetransparent mit der Aufschrift
PEPSI COLA über den Himmel zieht. Bloß daß wir jetzt Winter haben und die Lage alles andere als gemütlich ist. Ich bücke mich, klaube Mothers Brille behutsam auf und stemme mich dann aus unserem Loch, indem ich mich von meiner dreckigen Zeltplane abstoße. Das Brillengestell ist verbogen, aber es ist nichts zerbrochen; die Gläser sind dick wie Milchflaschenböden; kaum kaputtzukriegen. Aber sie sind glitschig, schlammverschmiert und sandig. Mother steht oben am Rand des Lochs. Jetzt flennt er richtig, aber fast lautlos. Ich krabble hinaus; ich möchte ihn wieder herunterziehen, bevor uns jemand sieht. Wir befinden uns an der Flanke eines Abhangs, am Waldrand. Um uns nichts als bewaldete Hügel. Es hat mehrmals geschneit, dennoch dringt heute überall schon wieder Grün durch, und alles ist harschüberkrustet oder von Schneematsch bedeckt. Ich weiß, -9-
daß wir etwa Mitte Dezember haben, aber das ist auch beinah alles. Obwohl wir uns hier in Reservestellung befinden, sind in letzter Zeit aus irgendeinem Grund weder die Feldpost noch die Stars & Stripes zu uns gelangt. Da nimmt Mother plötzlich Reißaus. Er hat sämtliche Haken an seinem Koppelzeug aufgepfriemelt und schleudert Munitionsgurt, Sack, Schanzzeug, Seitengewehr, Feldflasche den Hang hinunter, schlingernd und schlenkernd fliegt der ganze Plunder durch die Luft. Bevor er selber zwischen den Bäumen verschwindet, feuert er noch seinen Helm wie einen Diskus hinter dem Gewehr her. Sieht ganz so aus, als hätte er buchstäblich vor, den Krempel hinzuschmeißen! Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm nachzurennen, und der Pflicht, den Posten nicht zu verlassen. Schließlich bin ich Postenführer, ob man es glaubt oder nicht. Ich selber kann es kaum glauben. Als erstes renne ich bergab und sammle Mothers Gewehr, Helm und Koppel ein. Dann sprinte ich hinter ihm her und hebe im Laufen seine Klamotten auf. Während ich mich nach seiner Kampfjacke bücke, spähe ich rückwärts; niemand beobachtet uns. Jeder, der nur halbwegs bei Trost ist, schläft, nutzt die Abwesenheit so vieler Offiziere. Ich weiß, daß sowohl Ware, unser Zugführer, als auch Major Love, unser Sicherheitsoffizier, ausgeflogen sind und sich vor den Damen als die großen Helden aufspielen. Einen neuen Zugfeldwebel haben wir noch nicht bekommen. Ich lehne mein Gewehr und Mothers Sachen an den erstbesten Baum und laufe ihm nach. Er saust dahin wie ein Wirbelwind und denkt nicht daran, auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Ohne seine Brille muß er irgendwann gegen einen Baum knallen. Es ist zwecklos, hinter ihm herzubrüllen, also hefte ich mich an seine Fersen und versuche, mich nicht abhängen zu lassen. Wer weiß, womöglich führt er uns beide quer durch die ganze Armee, mitten durch Division, Korps und Nachhut, geradewegs aus dem Krieg hinaus. Vielleicht finden wir eine - 10 -
französische Familie mit einer süßen Tochter, die uns bei sich versteckt. Wenn wir geschnappt werden, kann ich jederzeit sagen, ich hätte lediglich versucht, Mother wieder einzufangen, Staatseigentum sicherzustellen, Mothers Uniformteile einzusammeln. Das dumme ist nur, daß wir in die falsche Richtung laufen. Er rennt nach Süden; demnach können wir eigentlich nur dem nächstbesten Feldposten irgendeines anderen abgekämpften, orientierungslosen Regiments in die Arme laufen. Und da wir alle die Hosen voll haben, sind wir allmählich soweit, daß wir auf alles schießen, was sich bewegt, erst recht auf irgendso ein nacktärschiges, glubschäugiges Gerippe in Stiefeln. Aus den Sachen zu schließen, die ich aufgelesen habe, hat sich Mother bis auf Stiefel und Socken ausgezogen. Um ein Haar hätte ich ihn erwischt, als er sich aus den Unterhosen pellte, aber während ich mich nach ihnen bückte, rutschte er mir wieder weg. Eine ziemlich eigenwillige Fassung von Hansel und Gretel, eher schon ein Pfänderspiel, was wir da aufführen; oder so etwas wie der Wettlauf der Freier um Atalantes Hand. Infolge der körperlichen Anstrengung ereilt mich mein übliches Missgeschick; der Magen dreht sich mir um, mein Darm rebelliert; er stößt geräuschlose, brennende Spritzer aus. Ich werde stinken wie eine transportable Latrine, wenn ich Mother glücklich einhole. In Gedanken sehe ich schon die fetten Schlagzeilen: GIFTGAS IN DEN ARDENNEN EINGESETZT! Langsam, aber sicher nimmt Mothers Vorsprung zu. Ich beschließe, die Zähne zusammenzubeißen und noch einen Zweihundertmeterspurt einzulegen, dann werde ich aufgeben müßen. Himmelherrgottnochmal, was soll ich bloß Ware erzählen? Als ich das nächste Mal aufblicke, ist Mother nicht mehr zu sehen. Um mich herum ist noch immer Wald, hinter mir liegt ein steiler Abhang. Plötzlich erspähe ich ihn wieder. Er hat sich - 11 -
in ein Bachbett plumpsen lassen und schlägt um sich, schleudert Steine nach links und rechts wie ein Hund, der nach einem Knochen scharrt. Verdutzt verlangsame ich mein Tempo und bleibe stehen, schaue ungläubig zu, während ich wieder Atem schöpfe. Zögernd gehe ich hinunter, auf Mother zu, und frage mich, was wohl als nächstes geschehen wird. Wie soll das weitergehen? Was für ein feldwebelgemäßes Verhalten wird von mir erwartet? Ich glitsche über ein Gemisch von verharschtem Schnee und Tannennadeln. Ich schlottere am ganzen Leib. In letzter Zeit bin ich meistens so zittrig, daß ich lange auf die seltenen Momente warten muß, in denen ich ruhig genug bin, um zeichnen oder auch nur einen Brief schreiben zu können. Ich bin dazu übergegangen, mit kurzen, raschen Strichen und in Druckbuchstaben zu schreiben; auf die Art können mir nicht mehr so leicht diese verräterischen, krakeligen Ausrutscher unterlaufen. Am Ufer gehe ich neben Mother in die Hocke. Das Wasser muß eisig sein, aber er kniet mit nackten, weißen Beinen mittendrin. Ich bin schon mager, dank Dünnpfiff und allem, aber Mother ist so klapperdürr, daß mir schleierhaft ist, wie er sich überhaupt noch am Leben erhält. Schweigend warte ich ab und sehe ihm zu, wie er, auf einen Punkt zwischen seinen Knien konzentriert, mit Steinchen um sich wirft. Ich muß irgend etwas unternehmen. «Hier, Mother, hier ist deine Brille. Du hast sie oben in unserem Schützenloch liegenlassen.» Er wendet sich mir zu und starrt mich verständnislos an, hört auf, Steine auszubuddeln, immer noch in den rasch dahinströmenden, kalten, klaren Wasserlauf kniend. Ich halte ihm die Brille hin. Zaudernd kommt er auf mich zugerobbt, greift zu, setzt sich die Brille auf die Nase und streift die Bügel sorgfältig über die Ohren. Er hatte schon zu weinen aufgehört, aber jetzt geht es erneut los. Ich helfe ihm aus dem Fluss, keiner von uns sagt etwas. Mir fällt kein einziges vernünftiges Wort ein, und ich - 12 -
bin nicht sicher, ob Mother etwas herausbrächte, selbst wenn er wollte. Stück für Stück reiche ich ihm seine Sachen, und er zieht sie an. Er lässt sich Zeit dabei und atmet tief durch, als hätten wir Sonntagmorgen in irgendeiner Kaserne. Seine Stiefel und Socken triefen vor Nässe, aber nachdem er die Kampfjacke zugeknöpft hat, sieht er fast wieder manierlich aus; abgesehen von seinem bläulichweißen Gesicht und den Tränen. «Mother, ich habe dein Gewehr, den Helm und das Koppelzeug drüben am Waldrand deponiert. Wie fühlst du dich?» Zum ersten Mal, seit er losgewetzt ist, schaut Mother mir in die Augen. Sein Gesicht ist rotz- und tränenverschmiert. Gott, es ist gespenstisch, unsere «Glucke Wilkins» in der Verfassung zu sehen. Wir nennen ihn Glucke, weil er immer wegen jeder kleinen Schlamperei hinter uns her ist und uns löchert, wenn wir unsere Klamotten herumliegen lassen oder Essgeschirr und Feldbecher nicht saubermachen. Fred Brandt hat sich einmal beschwert, Wilkins würde nach dem Frühstück heimlich einen nach dem anderen anschleichen und Riechprobe machen, ob wir auch Zähne geputzt haben. Mother ist einer der ältesten in unserem Haufen und schon verheiratet. Zwei Tage nachdem er seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag feierte, kam sein erstes Kind tot zur Welt. Das weiß ich von Mundy. Schönes Geburtstagsgeschenk! Noch immer starrt mich Mother durch seine beschlagenen Brillengläser an. Er steht leicht vornübergebeugt und lässt die Arme baumeln, eine Marionette, die darauf wartet, daß man sie in Bewegung setzt. In seiner langsamen, bedächtigen Art fängt er an zu sprechen, wägt jedes Wort, jede Wendung, jeden Satz genau ab, als gälte es, sie in Platin zu gravieren. «Hör mal, Wont, ich weiß nicht, ob ich kriegsmüde bin, oder was. Ein Teil von mir weiß genau, was ich grade eben getan - 13 -
habe, von dem Moment an, als ich meinen Karabiner weggeschmissen habe bis zu dem Gebuddel in dem vereisten Bach hier. Ein Teil von mir wusste Bescheid und wollte aufhören, aber ein anderer Teil hat immer weitergemacht, wollte immer weiterrennen und Klamotten wegwerfen und jeden erdenklichen Blödsinn machen. Der Teil hat auf Teufel komm raus auf plemplem gemacht. Und dieser Teil von mir, tief drinnen, ist zu allem bereit, um aus dem Schlamassel hier raus und nach Hause zu Linda zu kommen.» «Soll ich dich einweisen lassen, Vance? Ich könnte dir das schönste Wehruntauglichkeitszeugnis aller Zeiten ausstellen. Zusammen mit dem Senf, den ich dazudichten würde, könnte dir die Schau, die du grade abgezogen hast, immerhin die Heimreise zu irgendeinem Psychiater in irgendeine Anstalt einbringen.» Mother lässt sich im Schneidersitz nieder. Er stützt die Ellbogen auf den Knien auf und legt den Kopf in die steifgefrorenen Hände. Er denkt ernstlich darüber nach. «Nein, ich würde es nie schaffen. Dazu habe ich noch immer nicht genug Bammel. Ich habe viel zuviel Bammel vor denen, aber nicht genug vor mir selber. Ich könnte niemand was vormachen. Zum Teil habe ich den Scheiß grade eben ja bloß gemacht, weil außer dir keiner da war und es nicht wirklich drauf ankam.» «Du hast mich ganz schön drangekriegt, Mother; das kann ich dir flüstern. Außerdem hast du gegen eins unserer Gruppengebote verstoßen.» Er hebt den Kopf aus den Händen und richtet sich auf. «Was für ein Gebot? Gegen was für ein Gebot habe ich verstoßen?» «Du hast ‹Scheiß› gesagt. Was würde Father dazu sagen? Aber lass dich nicht unterkriegen, Mother. Was auch immer passiert, lass dich nicht unterkriegen.» Unser Haufen hat einige kuriose Angewohnheiten. Fürs erste will ich nur ein paar erwähnen. Vor allem nennen wir die - 14 -
Deutschen so gut wie nie KRAUT, oder JERRY oder HUNNEN oder NAZIS, wir verkneifen uns die armeeüblichen Schimpfwörter. Schlimmstenfalls sind sie für uns «der Feind». Nur Stan Shutzer, unser Jude vom Dienst, verunglimpft sie nach Strich und Faden. Father Paul Mundy hat ihm einen Sonderdispens erteilt. Ja, wir haben auch einen Gruppenvater; Mutter Wilkins, Vater Mundy. Aber das ist nicht die zweite Kuriosität der zweiten Gruppe, das ist reiner Zufall. Das «Fluchverbot» hat Father Mundy bei uns in der Gruppe eingeführt. Wir wollen deutlich machen, daß wir eigentlich mit dieser Armee nichts zu tun haben. Wir sind Findelkinder, versehentlich auf der falschen Türschwelle ausgesetzt, womöglich Bastarde aus königlichem Geblüt. Es hilft. Vielleicht eine von Fathers verdienstvollsten Taten. Für einen Burschen, der sich manchmal so dußlig anstellt, kann er sehr pfiffig sein. Mundy ist sechsundzwanzig, ein gescheiterter – aber nicht gefallener – Priester. Er und Mother sind jetzt die alten Herren in unserem Haufen, alle anderen sind unter zwanzig. Wir heben unsere Ausrüstung am Waldrand auf und sind wieder in unserem Schlammloch, bevor die Ablösung antanzt. Mother hat sich wieder einigermaßen gefangen. Die nächste Schicht haben Bud Miller, unser Obertechniker, Kreuzworträtselerfinder und jugendlicher Poet, und Stan Shutzer, jüdischer Rächer und angehender millionenschwerer Werbemanager. Sowohl Bud als auch Stan sind Juwelierssöhne, aber das scheint mir auch so etwa das einzige zu sein, was sie gemeinsam haben, abgesehen davon, daß sie beide sowohl die Intelligenz als auch die Dämlichkeit besessen haben, in einem Aufklärungs- und Sicherungszug bei der Infanterie zu landen. Sie sind für die nächsten vier Stunden, von zwei bis sechs, eingeteilt. Die Nachtwache übernimmt Edwards Gruppe, aber die ist zwölf Mann stark; deshalb ist - 15 -
jeder immer nur zwei Stunden lang dran, das dürfte nicht so schlimm sein. Nach dem Schwof werden die Regimentsmusiker wieder wie üblich den Wachdienst versehen. Mother und ich stolpern ins Lager zurück. Zur Zeit teilen wir beide das Zelt miteinander. Vor dem Saarfeldzug war Mother mit Jim Freize zusammen, der ihm in Sachen Reinlichkeit kaum nachstand. Jeder pusselte in seinem Bereich herum, bis alles peinlich sauber und ordentlich aufgeräumt war; dann wanderten sie einträchtig zum Fuhrpark, wo sie ihren Jeep wuschen und wienerten. Keiner von beiden hatte auch nur eine blasse Ahnung davon, wie man einen Jeep instand hält, aber ihrer war immer blitzblank, selbst in dem verfluchten Morast bei Metz. Miller mit seinem Technikfimmel, der keinen von den Fahrzeugklempnern an die Jeeps unserer Gruppe heranließ, amüsierte sich bloß über das ewige Gefummel von Jim und Mother. Ich krieche in meine verlotterte Zelthälfte und angle nach dem Buch, das wir gerade gleichzeitig lesen. Es ist Hemingways In einem andern Land. Ich bin eben bei den Seiten 215 bis 310 angelangt. Wilkins ist immer vor mir an der Reihe und Shutzer nach mir. Schon den ganzen Tag lang hat Shutzer mir zugesetzt, voranzumachen; Wilkins ist gestern abend fertig geworden. Mein Pech, zwischen zwei der fixesten Leser diesseits des Westwalls geraten zu sein. Wir reißen die Bücher immer auseinander, damit wir sie gleichzeitig lesen können. Davor hatten wir uns Im Westen nichts Neues von Remarque vorgenommen. Wir diskutierten das Buch miteinander durch und beschlossen einhellig, alle Mann hoch bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Krieg auszusteigen. Damals lagen wir vor Saarbrücken und waren noch vollzählig. Father Mundy hatte gar nicht mitgekriegt, daß die Romanfiguren Deutsche waren; wir mußten ihn erst darauf aufmerksam machen. Aber vielleicht war er auch mit einer Folge übergangen worden. - 16 -
Father kommt meistens als letzter dran; er schmökert, als ließe er sich die Worte einzeln auf der Zunge zergehen. Ich lese meine Seiten zu Ende und lege sie für Shutzer an den Zelteingang. Dieses Kapitel ist Briefing überschrieben. Ein typisch militärisches Briefing, auch Einweisung in die Lage genannt, steht unmittelbar bevor, aber ich denke, ich sollte hier, während ich plangemäß eigentlich einschlafen müßte, erst einmal unsere wirkliche Lage beschreiben. Im soldatischen Sprachgebrauch bedeutet Briefing kurze Einweisung. Für die Soldatenmentalität muß alles kurz und bündig sein, alles außer den Kriegen. Vielleicht heißt es deshalb auch Briefing, denn «brief» bedeutet im Englischen «kurz». Aber manchmal ist es schwierig, sich kurz zu fassen. Vermutlich ist dieses ganze Buch in gewisser Hinsicht ein Briefing, nicht nur das vorliegende Kapitel; nur über das Warum und Wofür bin ich mir selber noch nicht ganz klar. Unsere Gruppe ist die eine Hälfte eines Aufklärungs- und Sicherungszuges, genauer gesagt dessen zweite Hälfte. Dieser Zug wiederum ist Bestandteil der Stabskompanie des -zigsten Regiments der Infanteriedivision Ixypsilon. Eine Stabskompanie ist im Grund ein Haufen Firlefanz. Ich will das kurz veranschaulichen. Wir haben einen Oberstleutnant nebst erstem und zweitem Stellvertreter; jeder davon hat eine eigene Ordonnanz. Dann sind da die Abteilungschefs, der S1, S2, S3, S4, S5 undsoweiter und so fort, jeder im Majorsrang, und jedem ist ein Gehilfe zugeteilt, und jedem Gehilfen eine Ordonnanz. Eine Ordonnanz ist ein unterbezahlter militärischer Dienstbote. Des weiteren haben wir Köche, Hilfsköche, Kochgehilfen, ständige Küchenbullen, Versorgungsoffiziere, Postbearbeiter, Schreibstubenhengste, Schreibkräfte, Kuriere: ein Riesenaufgebot von Verwaltungsangestellten und schließlich - 17 -
noch die Leute von der Fahrbereitschaft. Der Fuhrpark besteht fast ausschließlich aus Jeeps, Stabswägen oder Zweieinhalbtonnern; nichts besonders Kriegsmäßiges. Eigentlich befördern diese Fahrzeuge nur irgendwelche Leute samt ihren Siebensachen von A nach B. Die Fahrer dieser Transportkolonne sind Unteroffiziere und Mannschaften der technischen Truppe vom Feldwebel bis hinunter zum Gefreiten, von denen nicht erwartet wird, daß sie irgend jemanden vorsätzlich erschießen. Dann ist da noch die Regimentsmusik: dreißig der verbotensten Figuren, die es je zu einer kämpfenden Truppe verschlagen hat. Wie schon gesagt, sie schieben meistens Wache für die Kompanie. Ich habe sie noch nie spielen gehört, aber schließlich hat es noch nicht viele Paraden gegeben. In Rouen haben wir eine Geige an Land gezogen, und Mel Gordon hätte gern darauf im Musikkorps vorgespielt, mußte sich aber sagen lassen, in einer Militärband hätten Geigen nichts zu suchen. Aber wäre es nicht großartig, wenn zum Zapfenstreich oder Wecken – besser noch zum Rückzug – gegeigt würde? Als Schlusslicht kommt der Aufklärungs- und Sicherungszug. Ein Zug besteht aus zwei Gruppen, und zu einer Gruppe gehören zwölf Mann; geführt wird sie von einem Unterfeldwebel mit einem Obergefreiten als Gehilfen, keine Ordonnanzen. Unsere Gruppe ist auf sechs Mann zusammengeschrumpft. Zur gleichen Zeit, als Mel Gordon Obergefreiter wurde, avancierte ich zum Unteroffizier. Wir hatten nicht viel mehr dazu beigetragen, als am Leben zu bleiben. Mel hat noch nicht einmal seine Rangabzeichen aufgenäht. Unser Zug spielt Detektiv für den S2. Der S2 ist der Regimentsabwehroffizier, zuständig für Feindnachrichten und Sicherheit. Unser S2 ist Major Love, bei dem Name und Job in krassem Widerspruch stehen. Im zivilen Leben war Love Bestattungsunternehmer. Er sperrt Augen und Ohren auf für - 18 -
Colonel Douglas Sugger, den Regimentskommandeur, gemeinhin «the Dug Sucker» genannt, was soviel heißt wie «Zitzenlutscher». Niemand kann Sugger das Wasser reichen, was martialische Aufmachung und markige Grimassen angeht. Ein Talent fürs Zackige kann man allerdings auch Major Love nicht absprechen. Loves Hauptleidenschaft gilt der Belebung des Geschäfts seiner Innungskollegen, der Grabverwalter. Sein dankbarstes Objekt war bisher der Aufklärungs- und Sicherungszug, der ihm sporadische, aber beachtliche Erfolge bescherte. Whistle Tompkins sagte immer, jeder in Bewegung befindliche menschliche Körper stelle für Loves Ordnungssinn eine Beleidigung dar. Meine sprunghafte Beförderung zum Unteroffizier mit drei Streifen verdanke ich Love und seinen militärisch-bestattungsunternehmerischen Fähigkeiten. Bei dem Versuch, an der Saar einen seiner am grünen Tisch ausgeheckten, unausgegorenen sogenannten «Spähtrupp»Aufträge in die Tat umzusetzen, verloren wir die Hälfte unserer Leute. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie unnütz und hirnlos das Unterfangen war. Es war so schlimm, daß ich darüber lieber Schweigen bewahren will; ich hoffe jedenfalls, daß mir das gelingt. Wenn ich verloren sage, meine ich damit, daß sie getötet wurden. In der Armee gibt niemals jemand zu, daß irgend jemand von der eigenen Seite getötet wird. Entweder ist er vermisst wie Christopher Robin; getroffen wie ein gefoulter Schlagmann beim Baseball, der dafür «eins vorrücken» darf; gefallen wie ein leichtes Mädchen, oder «Es» erwischt ihn wie ein Grippevirus, oder er kriegt gar etwas ab, als hätte er das große Los bei einer Tombola gezogen. Unser Gruppenführer war damals noch Max Lewis, zwanzig Jahre alt. Sein Stellvertreter war Louis Corrollo, neunzehn. Wir nannten sie «die Louie-Zwillinge» (wie in dem Lied Lome, Louie, you Gotta Go). Die übrigen vier von uns, die «es» an diesem Tag
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«erwischte», waren Morrie Margolis, Whistle Tompkins, Fred Brandt und Jim Freize. Morrie war mein Zeltnachbar. Wir benutzten unsere Zeltplanen gemeinsam, knöpften sie zu einem kleinen Zweimannzelt zusammen, teilten auch andere Dinge miteinander. Nicht einer von den sechs hatte einen AGCT-Wert, einen TruppenIntelligenzquotienten (noch so ein militärspezifisches Paradox), von unter hundertfünfzig; jeder von ihnen war intellektuell einer unter zehntausend. Aber das ist wieder eine Geschichte für sich, eine noch blödsinnigere Story als Loves Spähtruppunternehmen. Die werde ich mir höchstwahrscheinlich nicht verkneifen können. Ich neige dazu, wahre Geschichten zu erzählen, die keiner glaubt. Wie ich Gruppenführer wurde, ist auch ein Kapitel für sich – etwa so wie Peter Rabbit in Dostojewskis Schuld und Sühne ein Kapitel für sich ist. Vor Saarbrücken steckte unsere Division eine schwere Schlappe ein. Wir gewannen zwar ein paar Quadratkilometer europäischen Grund und Boden und verspielten dafür die Lebenschance ungeahnter Generationen hochintelligenter Menschen. Wie mir scheint, verbuchte die US Army dies als gutes Geschäft. Daraufhin wurden wir nordwärts in die Ardennen verlegt, um uns auszuruhen und auf Verstärkung zu warten. Dies ist angeblich ein Frontabschnitt, an dem noch nie etwas los war und auch nie etwas los sein wird, eine Art gehobene Rehabilitationseinrichtung; eine Frontnische zur Ausbesserung von Make-up und Nervenkostüm, zur Generalüberholung sozusagen. Ich bin nicht sicher, ob ich persönlich rehabilitationsfähig bin. Die Angst verfolgt mich so hartnäckig, daß ich nicht einschlafen kann, nicht einmal während einer langen Wache. Zwei Heulkrämpfe habe ich bereits hinter mir, aber niemand - 20 -
hat es mitgekriegt, dabei gab ich ihnen jede Menge Gelegenheit dazu. Ich hing Mel Gordon, unserem inoffiziellen Gruppenarzt und Psychiater, zähneklappernd am Rockzipfel, aber er hat es nicht einmal gemerkt. Sowas übersehen alle geflissentlich. Mein schwerstes, akutestes Symptom ist ein absolut exemplarischer Fall von Dünnpfiff. Gottlob trägt man bei der Truppe feldgrüne Unterwäsche. Die Sanitäter führen mich bereits als Morphinisten auf der schwarzen Liste und geben mir nichts mehr. Gestern bin ich zu meiner ehemaligen Kompanie, der Company L, gegangen und habe Brenner, dem Sanitäter des dritten Zugs, zwei Einzeldosen abgeluchst. Auf dem Hinweg mußte ich fünfmal, auf dem Rückweg dagegen nur zweimal, also scheint es geholfen zu haben. Ich ernähre mich fast ausschließlich von Keksen und Lunchkäse aus den Kriegsrationen, aber ich habe viel zuviel Angst, um Nahrung verdauen zu können. Mich zum Gruppenführer (eher schon Latrinenführer) zu machen, dürfte einer der größten Witze dieses Krieges sein. Mit diesem erheiternden Gedanken beende ich meine Lagebeschreibung und überlasse mich dem, was derzeit als Schlaf gilt; neben mir schnarcht Mother. In der Frühe reißt Lieutenant Ware unsere Zeltklappe auf; die Buchseiten sind weg; Shutzer hat sie sich geholt, hoffe ich. «Sergeant Knott, Major Love hat uns zum S2-Zelt bestellt. Gehen Sie fix Kaffee fassen, ich komme Punkt neun wieder vorbei.» Er wartet einen Moment lang, vergewissert sich, daß ich wach bin; dann verzieht er sich wieder. Ich lege mich auf den Rücken und suche in meinem Hirn nach einem passenden, nicht unflätigen Wort, um meine Gefühle auszudrücken. Ich bin noch nicht wach genug dazu. «Scheiße» ist alles, was mir einfällt. Nach Fathers Ansicht geben wir uns innerlich auf, sobald wir in ihren Begriffen denken. Ich pflichte ihm bei; - 21 -
innerlich habe ich mich aufgegeben. Vielleicht haben sie mich deswegen zum Gruppenführer ernannt. Vielleicht ist das auch die Ursache für meinen Dünnpfiff; ich bin innerlich durchseucht. Aber heute morgen geht es besser. Ich kann mich sogar bücken und die Stiefel schnüren ohne das Gefühl, einen mit Abwasser gefüllten Ballon im Bauch zusammenzupressen. Während ich mich anziehe, oder besser gesagt, mich in unserem kleinen Zelt wie ein Aal in meine Sachen hineinschlängle, um Wilkins nicht aufzuwecken, sollte ich vielleicht noch ein Wort zu meinem Namen sagen; als kleiner Nachtrag zum Briefing. Mein Familienname ist Knott. Meine Eltern wollten mich Bill oder Billy nennen, aber da es weder einen heiligen Bill noch einen heiligen Billy gibt, wurde ich William getauft. Sie beteuern, sie hätten sich dabei nichts Böses gedacht. Als Drittklässler in der Schule hieß ich dann Will Knott. Ich lernte, damit zu leben; mit meinem Privatmartyrium. Daher war ich darauf gefasst, es in der Armee wohl oder übel wieder über mich ergehen lassen zu müßen. Weniger gefasst war ich auf die Ansammlung ausgemachter Lästermäuler und Witzbolde, die sich Aufklärungs- und Sicherungszug nannten. Sie verpassten mir den Spitznamen «Wont» oder «Won’t»; lediglich die Rechtschreibung war umstritten. Während der ganzen Grundausbildung tobte der Disput. Max Lewis war der schärfste Verfechter der Pro-Apostrophgruppe und argumentierte, ich sei der geborene Radikalinski, Querulant und Klugscheißer, der partout nicht willens sei (Won’t), zu tun, was man ihm sagt. Mel Gordon führte die Anti-Apostrophclique an und unterstrich, ich sei einfach ein zu netter Kerl und wolle (Wont) es immer allen recht machen. Sie nannten sich «Renegaten» und «Antirenegaten». Father Mundy meint, es sei eben reine Glaubenssache. Also nennen sie mich alle Won’t oder Wont, und es bleibt mir überlassen,
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was mir lieber ist. Das heißt alle außer Max, der mich beharrlich W-O-N-Apostroph-T nannte, bis «es» ihn erwischte. Mittlerweile bin ich fertig angezogen und winde mich mitsamt Essgeschirr und Feldbecher aus dem Zelt. Ich stelle fest, daß Mother Wilkins wieder den Bodensatz in meinem Becher ausgewischt hat. Ich erwähne das Tamtam um meinen Namen nur, um eine Vorstellung zu vermitteln von dem Leerlauf, der eintreten kann, wenn sich allzuviel Grips auf engem Raum konzentriert. In unserem Haufen sind zwar irrsinnig helle Köpfe vertreten, aber mit der Aufklärung sieht es zappendüster aus. Wir sind ein Haufen haarspalterischer, talmudisch-jesuitischer Sophisten, die unaufhörlich an einem nicht endenwollenden Glasperlenspiel herumtüfteln. *** Ich beschließe, das Risiko einzugehen und ein paar normale Rühreier und eine Wurst zu verspeisen. Mit Kaffee versuche ich es gar nicht erst. Das Zeug wirkt bei mir wie Rizinusöl. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Kaffee als solcher ist oder all der Kaffee, den ich vor Angst schlotternd getrunken habe; aber allein schon Geschmack und Geruch, das bloße Gefühl von Kaffee machen mich nervös, fickerig, jagen mir Schiss ein, um es genau zu sagen. Das ist heute noch so. Ich nehme mein Essgeschirr und klettere in einen der Fernmelde-LKWs, verkrümele mich in eine Ecke und versuche, bedächtig zu essen, ohne Störung, kaue jeden Bissen zwanzig Mal und schlucke langsam. Ich bin fast fertig, als Lieutenant Ware mich aufspürt. Er steht mit zurückgeschobenem Helm da und äugt über die Heckklappe.
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Ein Wort noch zu Ware, während ich mich bemühe, die letzten zwei Happen hinunterzubekommen und meinen Magen einigermaßen in einen funktionierenden Zustand zu bringen. Ware hatte am Aleutenfeldzug teilgenommen. Danach wurde er zu dieser Infanteriedivision versetzt, und trat mehr oder weniger in den Ruhestand. «Erst verspricht er das Blaue vom Himmel herunter, und dann passiert gar nichts», wie Mel Gordon es auszudrücken pflegt. Stan will Ware angeblich bei sich anstellen, wenn er nach dem Krieg «Shutzers bombensichere Werbeagentur» aufzieht; ein derartiges Talent dürfe man nicht brachliegen lassen. Oberst Sugger holte sich Ware in die Stabskompanie, weil er einen Mann brauchte, der den Aufklärungs- und Sicherungszug aufbauen half. Ware fiel der Aufklärungspart zu. Er ließ die Truppenkartei des Regiments sichten, bis er die fünfundzwanzig Regimentsangehörigen mit dem höchsten AGCT-Wert ausfindig gemacht hatte. Das war an sich schon eine Schnapsidee, aber was die Sache noch grotesker machte, war die Art und Weise, in der diese komische Division überhaupt aus dem Boden gestampft wurde. Vor zwei Jahren wurde die einstige Division der Nationalgarde, bei der Love immer zwischen den Begräbnissen Wehrübungen abgehalten hatte, aufgemöbelt und einsatzbereit gemacht. Aber bevor die Verantwortlichen sie nach Übersee verfrachteten, veranstalteten sie, zusammen mit zwei ähnlich gearteten Divisionen, in den Bundesstaaten Mississippi, Tennessee und Louisiana ein großangelegtes Manöver. Es wurde zum Fiasko. Wie ist es möglich, daß alle drei an einem Kriegsspiel beteiligten Divisionen verlieren? Sie brachten das Kunststück fertig. Im Zuge der Manöverkritik fiel irgend jemandem auf, daß der durchschnittliche AGCT-Quotient dieser speziellen Divisionen zwischen achtzig und neunzig lag. Statistisch gesehen rangierten sie auf der absteigenden Flanke der Intelligenzkurve, irgendwo im Bereich der zweiten - 24 -
Standardabweichung nach links. Sämtliche fähigen Leute waren von Luftwaffe, Fernmeldekorps, Panzertruppe, Artillerie undsoweiter bereits aussortiert worden. Dies war der Bodensatz. Die militärische Lösung bestand darin, alle Mannschaften der fraglichen drei Divisionen als Verstärkung in den Südpazifik abzukommandieren. Übrig blieben Kader aus geistig ziemlich unterbelichteten Offizieren und Unteroffizieren. Inzwischen spitzten sich daheim in der zivilisierten Welt die Ereignisse auf einem anderen Kriegsschauplatz zu. Im Jahre 1943 wurden in den Vereinigten Staaten die meisten männlichen High-School-Abgänger auf ihre Tauglichkeit für besondere militärische Zwecke getestet. Die Auserwählten schickte man zum Medizin- oder Ingenieurstudium an die Universitäten. Sie wollten uns für den Kriegsdienst ertüchtigen und später, nach dem bösen Krieg, unsere Welt wieder in Ordnung bringen. Einige Tausend wurden auserkoren und nach ordnungsgemäßer Einstellung in den Militärdienst auf verschiedene Universitäten verteilt. Da etliche von uns während ihrer schulischen Laufbahn ein- oder mehrmals Klassen übersprungen hatten, waren wir eigentlich zu jung für den Wehrdienst. Das zulässige Mindestalter, um in einem Krieg töten oder sich töten lassen zu dürfen, war damals achtzehn. Also steckten sie uns in die sogenannte ASTPR oder Army Specialized Training Program Reserve, eine Reserveeinheit mit Spezialausbildungsprogramm für Truppennachwuchs. Als erstes wurden wir zum Studium abkommandiert, sollten dann bei Erreichen des wehrfähigen Alters unsere militärische Grundausbildung erhalten und danach wieder weiterstudieren. Ein militärisches Kindergartenprojekt sozusagen. Zur Infanteriegrundausbildung in Fort Benning, im Bundesstaat Georgia, wurden die ASTPR- und die meisten ASTP-Studenten-Gruppen von den damaligen Machthabern - 25 -
vom Reißbrett weggeholt und wieder aufgelöst. Man steckte uns in verschiedene Infanteriedivisionen, wo richtige Soldaten aus uns gemacht werden sollten. Es war, als würde man vom Kindergarten direktenwegs ins Doktorandenseminar versetzt. Über die wahren Hintergründe kursieren unter uns ASTPRRekruten die wildesten Theorien. Misstrauen ist bei uns großgeschrieben. Unsere Spekulationen reichen vom selektiven Völkermord (um den Mittelmäßigen Überlegenheitsgefühle zu verschaffen) bis zu dem Gedanken, daß das Ganze bloß ein listiger Kniff zur Erhöhung der Truppenstärke war. Viele von uns mußten als Ersatz für die Nationalgardisten einspringen, die seinerzeit als Kanonenfutter in den Südpazifik verfrachtet worden waren. Das hob den AGCT-Quotienten gewaltig an, wodurch das quantitative Manko wieder ausgeglichen war. So trat also ein starkes Kontingent blutjunger, arroganter Beinah-Soldaten widerwillig in der Division Ixypsilon in Camp Shelby, in Mississippi, den Dienst an, um beim Zustandekommen einer merkwürdigen organisatorischen Missgeburt mitzuwirken: ein mürrischer Trupp soldatisch unbedarfter Intelligenzbestien, «geführt» von geistig minderbemittelten Offizieren und Unteroffizieren. Rückblickend gar keine so ungewöhnliche Konstellation. Als Lieutenant Ware uns aus der Truppenkartei aussonderte, berief er, wissentlich oder unwissentlich (sofern er überhaupt einen Funken Wissen besaß), auf jeden Fall mit sicherem Riecher, die Allerberufensten zu den Fahnen. Mit Ausnahme von Father Mundy und Mother Wilkins sind alle in unserer Gruppe ehemalige ASTPR-Angehörige, verfügen alle über eindrucksvolle AGCT-Quotienten. ASTP ist ein unaussprechliches Kürzel. Whistle Tompkins wollte uns allerdings weismachen, es gehe einem ganz leicht von den Lippen; das TP sei nämlich ein prähistorischer Diphthong, der wie «S» gesprochen werde, so daß es eigentlich - 26 -
ASS heiße. Shutzer hielt dem entgegen, das TP käme zu Wischzwecken nach dem AS. Was für ein Wust an Gedanken zwischen zwei Gabeln voll Rührei und ein paar Magenentspannungsübungen, und das unter Wares Augen, der mit dem Helm im Nacken dasteht und mir zusieht. Entweder kaue ich außergewöhnlich langsam, oder ich denke sehr schnell. «Los, auf geht’s, Knott! Love wartet schon.» Er blickt auf seine Uhr. Beim Militär geht alles nach der Uhr, Null-Fünf-Uhr undsoweiter, aber Vater Staat teilt uns keine Uhren zu. In unserer Gruppe haben wir jetzt drei Uhren; früher waren es fünf; ich selbst besitze keine. In der Welt, aus der ich stamme, ist der Besitz einer Uhr oder eines Telefons ein Privileg der Oberschicht. Wir schieben ab zum S2-Zelt. Automatisch tipple ich wie eine Ehefrau im alten Japan oder ein gut abgerichteter Hund neben und etwa einen Schritt hinter Ware her; das gehört zum Drill. Er bleibt stehen und sieht sich nach mir um. «Mann Gottes, Knott! Haben Sie denn die beschissenen Streifen noch immer nicht angenäht?» «Der Versorgungsfeldwebel behauptet, er hätte momentan keine Unteroffiziersstreifen vorrätig, Sir. Sie warten auf eine neue Lieferung.» «Mensch Mann, dann besorgen Sie sich doch ein paar Stabsstreifen und schneiden Sie sich die Dinger einfach zurecht.» «Das wäre Beschädigung von Staatseigentum, Sir. Ich habe es Sergeant Lucas auch schon vorgeschlagen.» Ich hoffe, daß das vieldeutig genug ist. In Wirklichkeit versuchte Lucas, mir Stabsstreifen zum Zerschneiden anzudrehen, und ich wies ihn darauf hin, daß das Beschädigung von Staatseigentum sei und daß wir dann eine Schadensanzeige aufgeben müßten. Das jagte Lucas einen Schreck ein; er kommt aus der - 27 -
ursprünglichen Division und ist ein bisschen schwer von Begriff. «Na, ich hoffe bloß, daß dieser Drecksack von Love es nicht merkt.» Wenn man erst einmal ein Ohr dafür bekommen hat, stellt man mit Verblüffung fest, wie gotteslästerlich in der Armee geflucht wird. Von einem Tag auf den anderen damit aufzuhören, war anfänglich wie eine radikale Entziehungskur. Father Mundy hatte kaum seinen Dienst bei uns angetreten, als er unter der Hand schon ein anonymes Anti-FluchTherapiezentrum unterhielt. Ware betritt als erster das S2-Zelt. Gleich hinter dem Eingang nehmen wir Haltung an. Das übliche Szenario. In der Zeltmitte, neben dem Zeltmast, der mit einer Zelluloidplatte bedeckte Kartentisch. An der hinteren Zeltwand das Feldbett, extrabreit, Sonderanfertigung, darauf ein Daunenschlafsack, bereits säuberlich zusammengelegt von einer von Loves Ordonnanzen. Linkerhand rasiert sich Major Love gerade vor dem Spiegel seines transportablen Waschbeckens. Wie immer trägt er maßgeschneiderte Hosen (er trägt nie andere, nicht einmal seine Arbeitskluft ist von der Stange) und ein maßgeschneidertes olivgrünes Unterhemd. Wir stehen noch immer in Habtachtstellung da; ich weiß, daß er weiß, daß wir da sind. Tucker, seine erste Ordonnanz, spielt den Messdiener, steht neben ihm und hält Handtücher und eine Seifenschale bereit. Auch der Gefreite Tucker lässt seine Uniform maßschneidern; er tut es auf eigene Faust und kann es sich leisten, weil Love ein Auge zudrückt. Endlich, nachdem wir einigen hartnäckigen Bemühungen, letzte Schnurrbarthaare unter den Nasenlöchern zu entfernen, beigewohnt haben, würdigt Love uns eines Blicks, zunächst im Spiegel, dann durch Kopfdrehung. «Stehen Sie bequem!» Ware und ich sacken in uns zusammen, signalisieren vorschriftsgemäß Ergebenheit. Tucker reicht Love ein dampfendes Handtuch aus einer Schüssel. Der drückt sein - 28 -
Gesicht hinein und rubbelt angestrengt. Er rubbelt bis hinauf zur Schädeldecke, wo er noch kräftiger massiert, dann reicht er Tucker das Handtuch zurück und nimmt ein frisches, trockenes entgegen. Unsere Handtücher sind alle feldgrün, so daß man nie merkt, ob sie verdreckt oder sauber sind, es sei denn am Geruch; aber diese sehen aus wie frisch aus der Wäsche. Als nächstes wird uns die Ehre zuteil, Major Love beim Frisieren zusehen zu dürfen. Zuerst reibt er sich einige Tropfen Vaseline-Haarwasser in die Kopfhaut. Er hat die Art Haare, in denen jede Kammzinke eine Spur hinterlässt wie ein Pflug auf einem Acker. Ich muß an das letzte Wettblödeln in unserer Gruppe denken. Irgendein groteskes Wortspiel um einen feinzinkigen Kamm. Wie in Dreiteufelsnamen soll ich jemals einen glaubhaften Unterfeldwebel abgeben, wenn meine Gedanken dauernd in alle Himmelsrichtungen abschweifen. Ich muß mich zusammenreißen! Nun streift Love sich sein frischgewaschenes, ordonnanzgebügeltes, maßgeschneidertes Oberhemd über die abfallenden Schultern, dreht sich herum und präsentiert sich uns in Kampfpose, die Beine mit den hochglanzpolierten Kampfstiefeln etwa einen halber Meter breit gegrätscht, wippt leicht auf den Zehen und knöpft sich das Hemd zu. Das Einstecken der Hemdzipfel gerät zur zeitraubenden Zeremonie. Ach, du Schande, er setzt sein «Spähtrupp»-Gesicht auf! Bereit zum Gefecht, jawoll, Sir, den Hunnen zeigen, was eine Harke ist. Die schlaffe Haltung lässt sich schon etwas leichter durchstehen. Ich spüre die Wurst vom Frühstück da, wo eigentlich mein Herz sein sollte. Love tritt hinter den Feldtisch und stützt sich auf die Karte. Sie liegt schräg vor ihm. Er blickt lächelnd zu uns auf. Jetzt kommt es. Drei Mann von uns auf Nacht-und-Nebeleinsatz hinter den Westwall und einen Gefangenen machen – vorzugsweise einen Stabsoffizier, und zwar einen, der Englisch spricht. - 29 -
Love nimmt einen Markierstift und deutet auf die Karte. Jetzt blüht uns eines von Loves berühmten Briefings. Üblicherweise Wiedergekäutes von dem, was von der Division auf dem Dienstweg zu uns durchgesickert ist und was sich irgendein findiger Kopf von der Sicherheitsabteilung oder vom militärischen Geheimdienst anhand von fünfzehn Monate alten Luftaufnahmen zusammenphantasiert hat. Love hat jedoch, das muß man ihm lassen, schauspielerisches Talent; vermutlich vom Handel mit kostspieligen Särgen, die er gramgebeugten alten Mütterchen andreht. «Lieutenant Ware, Sergeant Knott, wie Sie wissen, haben wir hier, in diesem Ardennenabschnitt, einen fließenden und gleichzeitig statischen Frontverlauf.» Er vergewissert sich, ob wir die Tragweite seiner Worte erfassen. «Fließend ist er wegen dieser weitläufigen Waldabschnitte, in denen es praktisch keine Straßen gibt.» Er kreist mit dem Bleistift einige gestrichelte Partien auf der Landkarte ein. «Statisch ist er, weil sich seit einigen Monaten hier nichts getan hat.» «Hier sind wir. Und da sind die anderen.» Wieder Bleistiftkreiseln zur Andeutung der Fronten. «Keine von beiden Seiten will eine Frontlinie besetzen ohne klare Schussfelder, und niemand rührt sich vom Fleck.» Er lässt noch einen seiner Robert-Taylor-Augenaufschläge unter gesenkten Augenbrauen vom Stapel. Bei Gott, das ist es! Jetzt weiß ich, warum Love mir bekannt vorkam; eine tuntige Ausgabe von Robert Taylor. Ich muß mich mal umhorchen, was die andern davon halten; vielleicht ist es auch nur ein persönliches Vorurteil. «Hier sind zwei Quadratkilometer Wald.» Wieder fährt er auf dem Zelluloid den Waldgrenzen nach. Diesmal zeichnet er richtige Markierungen ein, es wird also ernst. Meine Rühreihappen haben sich wieder zu einem kompletten Ei zusammengeklumpt, mit Schale und allem Drum und Dran, direkt hinter dem Nabel. «Hier, fast in der Waldmitte, kreuzen sich zwei unbefestigte Nebenstraßen. An - 30 -
der Kreuzung steht ein Schloss. Hier, im Osten, befindet sich eine Jagdhütte.» Er wirft uns – unter gesenkten Augenbrauen hervor -einen seiner verschwörerischen, stählernen Blicke zu. «Wir vermuten stark, daß der Feind hier einen Beobachtungsposten oder Vorposten unterhält.» Junge, Junge, die Geschichte wird langsam brenzlig. Sich einfach von hinten an die Burschen heranmachen und ein paar gefangennehmen. Mir ist, als müßte ich gleich, mitten in diesem Zelt, in Ohnmacht fallen. Oder vielleicht stürze ich mich auf Tucker und zerre besinnungslos sabbernd an seinem Hosenladen. Tut mir leid, Father Mundy, ich weiß nicht mehr, was ich tue; ich probiere bloß aus, wie meine Chancen auf sofortige Entlassung wegen Wehruntauglichkeit stehen. «Sergeant Knott, ich wünsche, daß Sie mit Ihrer reduzierten Gruppe das Schloss besetzen. Nehmen Sie zwei Jeeps mit, einen davon mit 50-Kaliber-MG bestückt; und Verpflegung für eine Woche. Besorgen Sie sich ein Funkgerät und unterhalten Sie Funkverbindung mit uns hier beim Regiment. War es das? Will Love mir damit sagen, daß wir in einem Schloss hausen werden? Ich warte ab. «Lieutenant Ware, Sie bleiben in Funkverbindung mit Sergeant Knott. Den anderen Aufklärungstrupp behalten wir für eventuelle weitere Spähtruppeinsätze hier beim Regiment. Sergeant Knott, Ihre Gruppe wird entweder gegen Ende der Woche abgelöst, oder Sie bekommen zusätzliche Verpflegungsrationen, je nach Gefechtslage.» Ware rafft sich zu so etwas wie einer Habtachtstellung auf. «Wann sollen die Männer auf ihren Einsatz geschickt werden, Sir?» «Morgen früh, um Punkt acht Uhr. Sie sollen sich nach feindlichen Vorposten umsehen in dem Gebiet und Feldposten einrichten, welche die Brücke überwachen und die Straße, die an dem Schloss vorbeiführt.» Love wendet sich an mich.
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«Na, Sergeant Knott, über diesen Einsatz kann sich Ihre Gruppe ja nicht beklagen. Ein wahrhaft fürstliches Quartier für unsere Wunderknaben.» «Jawoll, Sir. Sir, gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, daß das Schloss besetzt sein könnte?» «Das gehört zu den Dingen, die Sie auskundschaften sollen, Sergeant. Hier bietet sich unserer ‹aufgeklärten› Jugend Gelegenheit, ihren Grips zur Abwechslung mal für ein bisschen Aufklärungsarbeit einzusetzen.» Er setzt sein Bestattungsunternehmerlächeln auf, ein giepernder Vampir. «Jawoll, Sir.» Dieser alte Kundenfänger. Sechs Mann hoch sollen wir auf zwei Jeeps verteilt mitten durch anderer Leute (niemand weiß so genau wessen) Wald zu einem Schloss fahren und uns dort selber einladen. Na, wenn die Sache mulmig wird, können wir immer noch kneifen. Die meisten von uns haben schon Wackelschwänze, Schlappohren und die Räude vom vielen Schwanzeinziehen in diesen Zeiten. Wir sind wohl doch nicht die berufensten Leute für Aufklärungsarbeit. Love ist am Ende seiner ersten militärischen Handlung zwischen Morgentoilette und Frühstück angelangt. Wir absolvieren das Salutierritual der Entlassungszeremonie, und ich seile mich rasch von Ware ab. Ich muß die Sache mit der Gruppe besprechen. Unter Umständen bietet sich uns hier die lang ersehnte Chance, aus dem Krieg auszusteigen. Eine ganze Woche ohne Aufsicht. Was für ein Schwachsinn! Natürlich werden wir es machen. Wir werden treu und brav Loves Schloss hüten, in Eis und Schnee, mitten in einem Wald, der von Leuten wimmelt, die uns nach dem Leben trachten. Ich weiß nicht, wie wir dazu kommen, uns für so besonders schlau zu halten. Bloß weil wir Prüfungen ablegen, Kreuzworträtsel lösen, Bridge, Schach und andere Spiele spielen können; bloß weil wir wie die Verrückten lesen, halten wir uns für etwas Besonderes. Bei Licht besehen sind Schlawiner wie Love und - 32 -
Ware die wahren Schlauköpfe. Sie bleiben am Leben. Das nenne ich Intelligenz!
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2 Die längste Nacht In der Nacht hat es geschneit, jedoch nur leicht; die Temperatur ist mindestens um fünf Grad gesunken. An der Saar fiel der erste Schnee an meinem neunzehnten Geburtstag. Damals lag ich mit dem Feldstecher den ganzen Tag auf Artilleriebeobachtungsposten. Stundenlang hatte ich durchs Glas ins Schneetreiben gespäht und mit angehaltenem Atem versucht, die Gläser nicht anzuhauchen. Es war schön, sogar die aufplatzenden schwarzen Garben der Granateinschläge; sie waren weit genug entfernt. Ich peilte einen Punkt an und wartete, bis es krachte; das kann man machen, wenn man die Schießtechnik des Gegners spitzgekriegt hat. Wenn ich mir heute die Breughel-Gemälde in Wien ansehe, muß ich immer an meinen neunzehnten Geburtstag denken. Als wir an diesem Morgen durch die K-Company hindurch auf den Wald zufahren, sind Blätter und Tannenzapfen auf dem Boden gefroren. Die Fahrbahn besteht aus nichts als zwei harten, holprigen Furchen, in die pulvriger, frisch gefallener Schnee geweht ist. Keine Spuren von sonstigen Fahrzeugbewegungen; ein mühsames Gerödel in der Kälte. Miller steuert unseren Jeep; Wilkins und ich wechseln uns auf dem Rücksitz am 50-Kaliber-MG ab. Ich bin gerade an der Reihe; es ist hundekalt in dem eisigen Wind da oben. Tiefer im Wald ragen rechts und links vom Weg gewaltige düstere Tannen empor. Der Himmel klart ein wenig auf. Es fällt kaum ein Wort; wir geben ideale Zielscheiben für Heckenschützen ab. Gordon fährt den anderen Jeep mit Father Mundy und Shutzer; mit einem Blick rückwärts vergewissere ich mich, ob sie noch da sind. - 34 -
Wilkins tippt mich an, und ich rutsche auf den Sitz hinunter. Er benutzt den Haltegriff zum Hinaufklettern und klemmt sich hinters Visier des Maschinengewehrs. Wilkins sieht aus, als hätte er Angst, aber wir wirken alle meistens, als säße uns die Angst im Nacken. Wir haben nie mehr über unseren kleinen Querfeldeinlauf von neulich gesprochen. Vielleicht, weil uns nicht klar ist, wer gewonnen hat. Wilkins verhält sich, als sei nichts geschehen. Das ist mir nur recht; der bloße Gedanke an die Geschichte macht mir angst. Mother hat aus einem Laken einen langen Streifen herausgeschnitten, den er sich wie eine Burnuskapuze unter den Helm geschoben und dann um den Hals gewickelt und in die Jacke gestopft hat. Ein trauriger Lawrence von Arabien. Nur gut, daß Sergeant Hunt das nicht mehr mitkriegt. Die Brille ist Mother auf die Nasenspitze heruntergerutscht. Mir ist unklar, ob er durchs Okular überhaupt etwas erkennen kann. In dem bleichen Gesicht wirkt seine Nase lang und feuerrot, aber sonst sieht er ganz passabel aus: Vielleicht war es nur ein Koller, den man am besten vergisst. «Ich will dir was sagen, Wont. Ich fühl mich haargenau wie eine Zielscheibe, die über einen Schießplatz bugsiert wird.» «Mach dir nicht in die Hosen, Mother; stell dir einfach vor, du wärst aus uraltem europäischem Adel und wir würden auf Weihnachtsurlaub auf den Familiensitz fahren.» Ich gucke über Millers Schulter nach vorn. Die Fahrbahn ist miserabel, kurvig, eng. Wir kämpfen uns im Zickzack voran, immer tiefer in den Wald hinein. Gerade prüfe ich noch einmal auf der Karte nach, ob wir auch die richtige Strecke in die richtige Richtung fahren, als die Welt zu explodieren scheint. Der Jeep bockt derartig, daß er bei jedem anderen Fahrer umgekippt wäre. Zuerst denke ich, daß wir auf eine Mine gefahren sind, aber dann geht mir auf, daß Mother nur eine lange Salve losballert. Vorbei an Millers linkem Ohr schießt er - 35 -
auf irgend etwas abseits vom Weg, so daß der Jeep sich auf den zwei rechten Rädern aufgebäumt hat. Noch bevor er wieder auf allen vieren ist, bin ich schon dabei hinauszuturnen. Miller stellt den Motor ab, schnappt sich seinen Karabiner und taucht unter dem Jeep weg. Die Hälfte von dem Krempel, den wir auf dem Rücksitz hinter dem Maschinengewehr aufgestapelt hatten, liegt über den Wegrain verstreut. Ich zusammengekauert mittendrin. Beim Hinausspringen habe ich ein Knie an dem verdammten Haltegriff angeschlagen, und mein dämlicher Grips ist mehr mit diesem Schmerz beschäftigt als mit irgendeiner Überlebenstaktik. Wilkins hält die Stellung hinter dem Geschütz. Er schießt nicht mehr, peilt aber noch immer den MG-Lauf entlang. Ich habe mich hinters rechte Hinterrad verkrochen, weg aus Mothers Schussrichtung. Fast versagt mir die Stimme. «Was ist denn los, Wilkins? Was hast du gesehen?» Es vergeht ein Augenblick, bis er Antwort gibt. Er erhebt sich aus der Hocke hinter dem Maschinengewehr, schiebt die Brille den Nasenrücken hinauf und beugt sich vornüber. «Da war ein deutscher Soldat hinter einem Baum – da drüben. Ich glaube, ich habe ihn erwischt; er liegt dort auf dem Boden. Sonst sehe ich keinen.» «Bist du sicher, Mother? Und du kannst ihn noch immer sehen?» Mother nimmt seine Brille ab, putzt die Gläser mit den Lederkuppen seiner Wollhandschuhe und äugt noch einmal hinüber. «Doch, ja, da liegt er. Wenn du aufstehst, kannst du ihn selber sehen.» Das gehört zu den Dingen, die man lieber nicht tut, wenn man am Leben bleiben will. Aber wenn es ein Überfall aus dem Hinterhalt ist, warum pusten sie dann Mother nicht einfach vom Jeep herunter?
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Ermutigt von dieser notdürftigen Logik, flitze ich zwischen die Bäume am Wegrand. Ich gucke rasch hinter mich und stelle fest, daß die vier vom anderen Jeep in der Versenkung verschwunden sind; der Motor läuft noch. Ich vergehe fast vor Angst. Jede Sekunde erwarte ich das Rülpsen eines Maschinengewehrs. Ich hänge mein Gewehr um und nehme eine Handgranate aus der Jackentasche. Wenn es irgend etwas in der Nähe ist, nützt mir eine Handgranate mehr als ein Gewehr. Ich stecke den Finger in den Ring und bewege mich zwei, drei Bäume weiter. Es ist tatsächlich ein Deutscher, und er ist mausetot. Etwa eine Minute danach, nachdem ich mich vorschriftsgemäß wie ein guter Infanterist an «unseren» toten Deutschen herangeschlichen habe, bietet sich mir ein Anblick, der mir in den vergangenen siebenunddreißig Jahren an die tausend Mal im Traum wiederbegegnet ist. Er ist schon seit einiger Zeit tot und gefroren, den einen Arm über dem Kopf angewinkelt und den anderen über den Bauch gekrümmt. Obwohl er auf dem Rücken liegt, muß er in Bauchlage, den Kopf zur Seite gedreht, gestorben sein. Die eine Gesichtshälfte ist vereist und abgeschilfert, das Fleisch hängt ihm in vereisten Fetzen von den Schädelknochen; dieses Fleisch ist bläulichgrün; keine Spur von Blut. Eines von Mothers fünfzigkalibrigen Geschossen ist direkt unter dem Kinn in seinen Hals gedrungen, ein perfekter, unblutiger Fünfzigkaliber-Einschuss. Ich habe viele Tote und Sterbende gesehen, aber noch nie einen Toten, der als Toter erschossen wurde. Wenn der Ausdruck vom todsicheren Treffer irgendwo passt, dann hier. Er mutet mich an wie die äußerste Vergewaltigung. Miller kommt hinzu. «Ach du grüne Neune! Was ist denn da passiert?» «Jemand muß ihn an den Baum da gelehnt haben, Bud. Sie haben ihn von irgendwoanders hierhergeschleift und ihn da aufgebaut.»
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Ich beuge mich hinunter und hebe seine Mauser auf, die neben ihm liegt. Ein typisch deutscher Einzellader. Außerdem entdecke ich ein durchlöchertes Stück Papier, ohne Aufschrift oder Aufdruck. «Womöglich haben sie ihm die Knarre da sogar so in die Hände gesteckt, daß sie hinter dem Baum vorstand, an den sie ihn gelehnt hatten. Und das hat Mother gesehen.» Bis auf Wilkins trudeln die anderen jetzt bei uns ein. Wieder einmal wachse ich als Anführer über mich selbst hinaus. «Los Leute, kommt alle auf einen Haufen, damit man uns besser niedermähen kann.» Himmel hilf! Father Mundy kniet neben dem Deutschen nieder. Wie ein echter Priester versucht er, das eine, weit aufgerissene Auge mit dem Daumen zu schließen, aber es ist gefroren. Das andere Auge ist nur noch Matsch, gefrorener Matsch. Father zieht seinen Handschuh aus, steckt den Daumen ins Schloss seines Karabiners und ölt ihn ein. Dann schlägt er kleine Kreuze über dem, was noch vom Gesicht des Deutschen übrig ist: Stirn, Auge, Ohr und Lippen, dann über den starren, verwesenden Händen. Er murmelt auf lateinisch Gebete vor sich hin. Ich kauere mich auf ein Knie neben ihn, mehr um nicht umzukippen als aus irgendeinem anderen Grund. «Soll das etwa die Letzte Ölung sein, was du da machst, Mundy? Ich dachte, die kriegt man nur, solange man noch am Leben ist und, wennschon, dann von einem richtigen Priester.» Immer noch betend steht Mundy langsam auf. Er funktioniert mechanisch, aber er ist ebenso erschüttert wie ich. «Stimmt, Wont. Aber es waren die besten Gebete, die mir eingefallen sind. Ich habe die Engel gebeten, ihm zu helfen, und die Teufel, von ihm abzulassen. Was bleibt einem sonst?» Er nimmt den Helm ab, sein Kopf ist schweißnass. Wir machen uns auf den Rückweg zu den Jeeps. Mother Wilkins hat, als der einzige vernünftige Soldat in dem ganzen Haufen, die Stellung - 38 -
hinter dem 50-Kaliber-MG gehalten und gibt uns Deckung. Mundy zieht aus dem Einsatz in seinem Helm einen Packen Toilettenpapier hervor. «Ist es in Ordnung, Wont, wenn ich mal eben verschwinde? Mein Bauch wird bei sowas rebellisch.» Ich winke allen unser spezielles «Pinkelpause»-Zeichen zu, und Father Mundy verzieht sich in den Busch. Ich gehe zum Jeep. Miller sitzt auf dem Fahrersitz und lässt die Beine über die Seite baumeln. Er hat den Helm abgenommen und bearbeitet seine Ohren. «Sag mal, Mother, könntest du wenigstens einen Piep von dir geben, bevor du nächstens wieder mit dem Ding losballerst? Da drin in meiner Birne liefern sich ein Schwarm Drosseln und eine quietschende Ölpumpe ein Duett.» Dann wendet Miller sich zu mir. «Wont, hast du was dagegen, wenn ich eine rauche, solange wir auf Mundy warten?» «Meinetwegen, aber gutheißen kann ich es nicht. Ich muß schließlich auch mit Gordon auskommen, weißt du.» Ich sehe den Weg hinunter nach den anderen; Shutzer und Gordon stehen an den Jeep gelehnt. Melvin Gordon ist der Gesundheitsapostel der Gruppe; er will, falls er den Krieg überleben sollte, später einmal Arzt werden. (Was er auch wahrmacht, beides.) Er hat, ungefragt, die persönliche Verantwortung für unser körperliches Wohl übernommen. Mundy ringt um unser Seelenheil. Gordon ist das, was man nach heutigen Begriffen vermutlich den Öko-Freak der Gruppe nennen würde, Miller ist für Technik und Dichtung zuständig, Shutzer fürs Kaufmännische, und ich vertrete die Kunst. Gordon hat alle Raucher unter uns herumgekriegt, damit aufzuhören, zumindest in seiner Anwesenheit. Es kann einem entsetzlich auf den Wecker gehen. Miller lehnt sich am heftigsten gegen Gordon auf, so wie Shutzer sich Mundy widersetzt.
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Mit den Hosen auf Halbmast kommt Father Mundy in diesem Augenblick aus dem Wald gestürzt. In der einen Hand hält er noch immer das Klopapier, das in einer langen Banderole hinter ihm herflattert, und mit der anderen rafft er den Hosenbund zusammen. Das Gewehr ist ihm in die Ellbogenbeuge gerutscht, so daß es jetzt vor ihm her baumelt und bei jedem Schritt gegen die Knie schlägt. «Mutter Gottes, steh mir bei!» Er pliert über die Schultern nach hinten. Mit der Hand, in der er das Klopapier hält, tastet er nach seinem Kopf und stellt fest, daß er den Stahlhelm nicht mehr aufhat. Er bleibt wie angewurzelt stehen. «Großer Gott, nein! Bloß nicht dahin zurück!» Father Mundy versucht, den Gürtel zuzuschnallen und seine Montur wieder zu ordnen. Er verheddert sich immer wieder in dem Klopapier. Abgesehen von Wilkins, der das MG so ausgerichtet hat, daß es knapp über Fathers Kopf zielt, liegen wir alle wieder bäuchlings im Schnee. «Um Himmels willen, Mundy, was ist los?» Mundy kommt auf mich zugewankt und lässt sich neben mich plumpsen wie ein nasser Sack. Er ist knapp einen Meter neunzig lang und bringt über zweihundert Pfund auf die Waage; fast schon wabblig. Seine von Natur weiße Haut ist noch weißer als sonst, seine irische Oberlippe von Schweißperlen bedeckt; sie bebt. «Du wirst es nicht glauben, Wont.» Der Rest der Gruppe ist zu uns herüberklabastert, gesprintet oder gekrochen. Vermutlich kann kein Mensch diesen Pulk ständig zusammenkluckender Wunderknaben jemals führen. Das Problem ist, daß sie immer alles wissen müßen. Wilkins beugt sich neben dem MG herunter. «Was war denn los, Mundy? Was ist da drüben? Ein deutscher Spähtrupp?» «Alles in Ordnung, Vance. Ich war bloß nicht drauf gefasst. Ich hab keine Ahnung, was da los ist, aber ihr müßt es euch unbedingt alle ansehen. Ich kann nicht mal genau sagen, was - 40 -
ich gesehen habe. Es hat mir einen solchen Schreck eingejagt, daß ich getürmt bin, ohne richtig hinzusehen.» Shutzer stemmt sich auf den Armen hoch und wischt Eisklumpen und Dreck von Knien und Ellenbogen. «Was hast du gesehen, Father, eine kleine Grotte vielleicht, aus der ein geheimnisvolles Licht kam, und dann hat eine holde Dame in einem schimmernden, blauweißen Gewand zu dir gesprochen? Rück schon raus mit der Sprache!» Mundy wirft Shutzer einen seiner ‹Vergib ihnen, Vater-Blicke zu. «Okay, du Witzbold, was würdest du zu einem deutschen und einem amerikanischen Soldaten sagen, die da drüben im Wald miteinander tanzen; ohne Musik allerdings?» Shutzer kraxelt sofort auf den Jeep und nimmt Wilkins’ Platz hinter dem MG ein. Eigentlich müßte er Gruppenführer sein. Das ist es, woran man als erstes denken sollte. Er setzt sich zurecht, während Mother Wilkins seitlich vom Jeep herunterrutscht. Er muß halb erfroren sein. Gordon klopft sich den Schnee aus den Handschuhen. «Was soll denn das? Macht Father Mundy jetzt etwa auf Plemplem? Da hört doch der Gurkenhandel auf! Vielleicht würde dir ein bisschen Therapie guttun, Father; meine Praxiszeiten sind von zwei bis fünf. Ich könnte vielleicht noch einen Termin für dich reinquetschen.» Höchste Zeit, wieder den Feldwebel herauszukehren. «Okay, Mundy, was es auch sein mag, sehen wir mal nach. Shutzer, du bleibst hier und gibst uns Deckung. Miller, du gehst hinter den anderen Jeep und gibst Flankenschutz.» Auf die Art, denke ich im stillen, kommt Miller dahinten wenigstens zu seiner Zigarettenpause, solange wir weg sind. Wir ziehen los in den Wald, die Gewehre schussbereit. Nach einer Weile bückt sich Mundy nach seinem Helm und deutet nach links. Ich wundere mich inzwischen über fast nichts mehr; aber hier bleibt mir die Spucke weg. Es sieht aus wie ein - 41 -
Kriegerdenkmal. Sie stehen schon so lange da, daß die jüngsten Schneefälle Stahlhelme und Schultern wie mit Puderzucker bestäubt haben. Wir bewegen uns langsam auf sie zu, Gordon geht voran. Irgendwer hat zwei Soldaten, einen Amerikaner und einen Deutschen, zu einer allerletzten Umarmung aneinandergelehnt. Arme und Beine sind so angewinkelt, daß die beiden wie Walzertänzer oder Schlittschuhläufer aussehen, die gerade zu einer komplizierten Figur ansetzen. Ich bleibe stehen; ich will nicht hinsehen. Mundy und Gordon gehen weiter, Mother trottet hinter ihnen her; dann dreht Mother sich um und kommt zurück. «Ich komm da nicht mehr mit, Wont. Was geht hier vor sich? Wer baut diese Leichen hier auf? So ein Wahnsinn! Dieser ganze Krieg ist irgendwie aus den Fugen geraten!» Ich schüttle den Kopf. Wenn ich den Mund aufmache, fange ich bestimmt zu flennen an. Nicht so sehr vor Angst; eher vor Entgeisterung, Ekel, Niedergeschlagenheit. Ich bleibe wie erstarrt stehen, das Gewehr im Anschlag, um soldatisch zu wirken, während Mundy und Gordon die beiden Körper voneinander trennen und zu Boden legen. Mundy zelebriert wieder seine behelfsmäßige Letzte Ölung, und Gordon weicht ihm nicht von der Seite. Das gibt mir Zeit, mich wieder zu fangen. Gordon und Mundy kommen zurück, und wir schlagen wortlos den Weg zu den Jeeps ein. Selbst so einer Handvoll ausgemachter Klugscheißer, die sonst nie um einen dummen Spruch verlegen sind, verschlägt es hier die Sprache. Shutzer und Miller hören sich ungläubig unseren Bericht an. Sie wollen unbedingt selber nachsehen. Wir sagen ihnen, daß sie gar nicht mehr «tanzen» und daß Mundy und Gordon sie hingelegt haben, aber sie wollen es mit eigenen Augen sehen. Der Glaube kommt aus der Mode, sogar in unserer Gruppe, trotz Mundys verzweifelter, heldenhafter Rettungsversuche.
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Wir verstauen die Verpflegungsrationen, Handgranaten, Schneeüberzüge und den übrigen Krempel, einschließlich zwölf Minischachspielen, wieder im Jeep; Mother klettert mit mir hinters MG. Gordon lässt den anderen Jeep an und fährt dicht hinter uns auf. Shutzer gebärdet sich wie von Sinnen, als er mit Miller zurückkommt. «Diese dreckigen, kohlköpfigen Superarier, diese stinkenden Nazischweine. Bloß Schweine kommen auf so eine Idee. Dieses ganze gottverfluchte Land gehört aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Wir sollten sie samt und sonders in ihre eigenen Gasöfen stecken und ihnen den Garaus machen. Es wäre mir ein Vergnügen, das Unternehmen höchstpersönlich zu überwachen. Und komm mir nicht mit deinen Sprüchen, Mundy! Sag mir einen einzigen vernünftigen Grund, warum irgend jemand einem anderen Menschen sowas antun sollte! Was ist das für ein Gott, der solche Dinge zulässt?» Mundy sitzt im anderen Jeep. Er schweigt. Dann, als Shutzer neben ihm einsteigt, schaut er ihm ins Gesicht. «Ja, es ist etwas Furchtbares, Stan, eine grauenhafte Art, mit dem Tempel des Heiligen Geistes umzugehen, auch wenn die unsterbliche Seele ihn schon verlassen hat. Aber wir wissen ja gar nicht, ob es wirklich die Deutschen waren.» In diesem Moment lässt Miller unseren Jeep an, der Motor heult auf, und ich bekomme Shutzers Antwort nur mit knapper Not mit. «Himmel, Arsch und Zwirn; wer denn sonst, Mundy, Wichtelmänner vielleicht?» Im Schneckentempo kämpfen wir uns durch eine Kurve nach der anderen voran; hügelauf und hügelab, um Felswände herum, unter schneebedeckten Bäumen hindurch. Ich bleibe hinter dem MG, den Kopf tief zwischen den Schultern - 43 -
eingezogen, und versuche, die Strecke auf der Landkarte mitzuverfolgen. Es ist eine Generalstabskarte mit einem kleinen Ausschnitt von Loves Karte, eins zu Zwölftausend, sie dürfte einigermaßen genau sein. Aber wir fahren mehr Kehren und Kurven, als eingezeichnet sind. «Wieviele Kilometer haben wir schon, Bud?» Er guckt nach dem Kilometerstand. «Von der K-Company bis hierher sind es rund neunkommadrei Kilometer.» Wir passieren einen engen Hohlweg, und plötzlich liegt eine Brücke vor uns; sie führt über einen Bach; es ist genau die Brücke, nach der ich die ganze Zeit Ausschau gehalten habe und die wir beobachten sollen. Oben an der Straße, die von der Brücke steil ansteigt, liegt das Schloss. Es ist wirklich ein Schloss und nicht bloß eine feudale Villa. Es ist nicht übermäßig groß, aber es sieht aus wie aus einem französischen Märchen. Miller lässt den Wagen langsam ausrollen; ich gebe Gordon Handzeichen. Wir stellen beide Motoren ab und lauschen. Außer Wintervögeln und dem Rauschen des Baches und der windbewegten Tannen ist nichts zu hören. Dicht hinter dem Schloss erheben sich bewaldete Abhänge. An der Brücke sind keinerlei Fahrzeug- oder Fußspuren auszumachen. Es hat den Anschein, als sei die Gegend tatsächlich menschenleer. Wir klettern aus den Jeeps. Gordon nimmt das Fernglas und schleicht geduckt zu dem Baum, der dem Schloss am nächsten liegt und einigermaßen brauchbare Sicht und ein wenig Deckung bietet. An den Stamm gestützt, sucht er etwa fünf Minuten lang die Umgebung ab. Keiner sagt etwas. Wie gebannt starren wir alle auf das Schloss. Rötliche Mauern, blaugraues Schieferdach und weiße Klappläden, alle geschlossen; drei Stockwerke, darüber ein Mansardendach. Es mutet absolut unwirklich an. Gordon kommt zurück.
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«Rein gar nichts zu sehen, Wont: kein Rauch, keine Bewegungen, keine Spuren. Fenster und Türen sind alle mit Läden verrammelt; keine Fahrzeuge, nichts zu riechen.» «Was meinst du, Mel? Sollen wir einen Zweimannstoßtrupp hinschicken oder einfach im Karacho mit den Jeeps den Hügel rauf?» «Ich dachte, Shutzer und ich könnten vielleicht ein Stück weiter unten durch den Bach waten und uns von da aus ans Schloss ranmachen. Wir könnten uns erst mal auf der Rückseite umsehen und dann die Straße vorn bis zur Brücke runtergehen und nach Minen untersuchen. Wie hört sich das an?» «Wir gehen in Stellung und geben euch Deckung.» Hätte Mel nicht in dem Morast bei Metz wunde Füße bekommen, dann wäre er garantiert Gruppenführer geworden, und so sollte es auch sein. Aber vielleicht wäre er dann auch schon tot. Er und Shutzer pirschen zwischen den Bäumen talwärts. Ich gebe den anderen Weisung, in Stellung zu gehen und sich bereit zu halten, um den beiden notfalls Feuerschutz zu geben. Dann schlittere ich hinunter zu Gordons Baum, wo ich ein gutes Schussfeld habe. Ich sehe Shutzer und Gordon zu, wie sie von Steinbrocken zu Steinbrocken den Bach entlangwaten. Einmal rutscht Shutzer aus und tunkt den einen Fuß bis über den Stiefelschaft ins Wasser. Links vom Schloss kraxeln sie den Hang hinauf, immer den Hügelrücken zwischen sich und den Fenstern. Es ist wie in einem Kriegsfilm oder Western, eher wie in einem Western eigentlich, in dem man die Guten auf eine Holzhütte zuschleichen sieht, in der die schöne blonde Tochter eines Kavallerieobersten, freizügig dekolletiert, versteht sich, von einer Handvoll wild dreinblickender Banditen gefangengehalten wird, die reichlich schwitzen und schwarze Hüte und zwei Tage alte Bärte tragen.
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Dann verschwinden die beiden. Vermutlich sind sie hinter dem Schloss. Ich warte ab. Zu neunundneunzig Prozent besteht das Soldatenleben aus Warten. Manchmal ist es nur die Warterei in der Essensschlange, manchmal ist es Warten wie jetzt; auf jeden Fall entschieden zu viel Warterei. Nach einer Weile taucht Shutzer hinter der anderen Seite des Schlosses wieder auf. Er reckt den Kopf und späht durch einen der Klappläden ins Innere. Gordon folgt ihm in gebückter Haltung, immer mit dem Kopf hin- und herpendelnd wie ein Hühnerhund, der eine Witterung aufzunehmen versucht. Gordon und Fred Brandt behaupteten beide, die besten Riechorgane der Welt zu besitzen. Sie beteuerten, Gerüche wittern zu können, die andere nicht einmal im Traum wahrnähmen. In Shelby veranstalteten wir einmal auf dem Truppenübungsplatz einen Schnüffelwettbewerb mit einem Paar von Jim Freizes Socken als Köder. Freize konnte binnen zwei Tagen ein Paar Socken derart vermiefen und verdrecken, daß sie von allein standen. Seine Füße waren wie eine Hundezunge; der einzige Körperteil von ihm, der Schweiß absonderte. Und was für einen Schweiß. Es war die reinste Schatzsuche. Ich ging in den Wald und versteckte die Socken; dann mußten Gordon und Brandt sie allein mit Hilfe ihres Geruchssinns aufspüren. In verblüffend kurzer Zeit, weniger als ich zum Verstecken gebraucht hatte, waren die Socken wieder da. Fred gewann knapp in mehreren Durchgängen, vermutlich kam sein Vorsprung in erster Linie dank günstiger Windverhältnisse zustande. Jetzt ist Mel konkurrenzlos. Wegen seiner guten Nase nannten wir ihn anfänglich Mel the smell, aber er erhob Einspruch wegen der Doppeldeutigkeit. Eigentlich ist Mel eher der ordentliche Typ, nicht ganz mit Wilkins zu vergleichen, aber mich und alle anderen in der Gruppe stellt er spielend in den Schatten, sogar Morrie. - 46 -
Gordon und Shutzer machen sich an den Abstieg, der eine links, der andere rechts der steil abfallenden Straße, und inspizieren sie sorgfältig. Einmal bückt sich Shutzer und schabt an einer Stelle sorgfältig mit der Spitze seines Seitengewehrs. Sie überqueren die Brücke und dann die Straße diesseits der Brücke und kommen zu uns herauf. Ich trete hinter meinem Baum hervor. «Na, wie ist es gegangen?» Shutzer lässt sich neben mir auf dem Boden nieder. «Keiner zu Hause. Sieht auch ganz so aus, als wäre schon lange keiner mehr dagewesen.» Gordon gibt mir das Fernglas zurück. Ich hätte es an mich nehmen müßen, bevor sie loszogen. Noch zwei Minuspunkte, die man mir ankreiden könnte. «Man kann nirgends reingucken. Innen, vor den Fensterläden, hängen Gardinen oder sowas. Ich habe mir die Türen angesehen, aber nirgends Anzeichen für Sprengfallen entdeckt. Sieht ganz so aus, als wären wir Schlossbesitzer.» Natürlich haben in der Zwischenzeit alle die Posten, auf die ich sie verteilt hatte, verlassen; sie kommen angekleckert und umringen die zwei. Shutzer hat den einen Stiefel ausgezogen und wringt die Socke aus. «Also, es ist zwar nicht gerade unsere gute alte University of Florida mit sechs Quadratkilometern Orangenbäumen, bartflechtenbehangenen Eichen und einem Swimmingpool von olympischen Ausmaßen, aber es ist immerhin ein Schritt in der richtigen Richtung, das kann man wohl sagen.» Als Shutzer seinen Stiefel wieder anhat, steigen wir in die Jeeps und tuckern den Berg hinauf auf das Schloss zu; keine Minen, keine MG-Salven, keine Heckenschützen, nichts. Mit einem Seitengewehr stemmen wir einen Klappladen und eine Glastür auf. Keine Sprengfallen, wie Gordon prophezeit hat. In voller Montur zwängen wir uns seitwärts durch die Tür; drin bleiben wir stehen; nach all der grellen Weiße draußen - 47 -
müßen wir unsere Augen erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Himmel, was für ein Raum! Er sieht aus wie ein Ballsaal oder eine hochherrschaftliche kleine Turnhalle. Parkettfußboden und ein gigantischer, mannshoher offener Kamin an einem Ende. An den Fenstern fußbodenlange Damastvorhänge. Die Fenster müßen gut vier Meter hoch sein. Einer nach dem anderen kommt herein und bleibt staunend stehen. Keiner von uns hat jemals zuvor etwas Derartiges gesehen. Was alles so unwirklich macht, ist die Tatsache, daß nicht ein einziges Möbelstück in dem Raum steht. Es ist wieder einmal Zeit, Feldwebel zu spielen; irgendeiner muß es tun. Die Verpflegung und all der übrige Kram muß aus den Jeeps ausgeladen werden, und wir müßen uns häuslich und militärisch einrichten. Aber wir stehen bloß fassungslos staunend da. Wie Aschenbrödel komme ich mir vor, das als ungeladener Gast zum Ball des Prinzen kommt. Wie ein höchst ungeladener Gast. Shutzer rührt sich als erster; er schassiert bis in die Mitte des Parketts vor. Er ist knapp einsfünfundsechzig groß, rundlich, aber nicht dick. Er ist über und über behängt mit dem üblichen militärischen Klimbim, als da sind: ausgebeulte Kampfjacke, über der Brust gekreuzte Patronengurte, patronengefülltes Koppel um den Bauch, Seitengewehr, Verbandszeug und Essgeschirr. Als einziger in der Gruppe trägt er ein Tarnnetz über dem Stahlhelm. Gordon findet, Shutzer sehe damit aus, als habe er sich vom Südpazifik hierher verirrt. Shutzer gibt vor, nur ein Tarnnetz zu tragen, um Verwechslungen zu vermeiden; die Stahlhelme seien alle so verflixt ähnlich. Shutzers olivgrüne Hosen starren von Dreck; alle unsere Hosen sehen so aus, selbst die von Wilkins; die Dinger sind nicht sauberzukriegen, und Ersatzhosen zum Wechseln haben wir keine. Das Wolltuch saugt sich mit Fett voll und wird immer - 48 -
dunkler, bis die Vorderpartien regelrecht speckig und fast schwarz sind. Shutzer macht ein paar Schritte vorwärts und guckt sich staunend um; dann legt er plötzlich los, singt, krächzt, summt «The Jersey Bounce» und legt mutterseelenallein mitten in diesem Festsaal einen Jitterbug aufs Parkett. They call it the Jersey bounce, The rhythm that really counts, The temperature always mounts Whenever they play… «Los, Mel, jetzt zeigen wir denen mal, wie wir’s immer bei den Komissfeten in den Staaten gemacht haben.» Das Gewehr noch immer umgehängt, tritt Gordon vor und fängt an, mit Shutzer zu tanzen. Mit klirrenden Seitengewehren, auf und ab schlackerndem Essgeschirr und schlenkernden Patronengürteln vollführen die beiden schwungvoll einige der klassischen, weit ausgreifenden Jitterbugschritte, aber ihre Gewehre kommen ihnen dauernd ins Gehege. Während ich diesen Knallköpfen zuschaue, die mitten in den Ardennen das Tanzbein schwingen, muß ich an Shelby denken. Nachdem wir begriffen hatten, daß sie unsere Division Ixypsilon tatsächlich nach Übersee einschiffen wollten, packte uns in den letzten Tagen, die wir in Camp Shelby verbrachten, gelinde Panik. Shutzer sah darin den Beweis dafür, daß wir, entgegen aller Propaganda, auf dem besten Wege sein mußten, den Krieg zu verlieren. Wenn sie ausgerechnet diese Einheit gegen irgend jemanden ins Feld schickten, dann mußte wirklich Not am Mann sein. Was uns in unserer Gruppe damals jedoch am meisten belemmerte, war die Tatsache, daß wir bis auf Wilkins allesamt noch unschuldig waren, elf aufmüpfige, absolut nicht auf den Heldentod erpichte Unschuldsknaben. Ich - 49 -
weiß nicht, ob so viel Jungfräulichkeit eine übliche Zeiterscheinung war oder ob zwischen sexueller Spätentwicklung und dem, was man landläufig als Intelligenz bezeichnet, eine Art Wechselbeziehung besteht. Womöglich war es nur eine Laune des Schicksals. Wer weiß. Abendelang hatten wir versucht, Wilkins Einzelheiten zu entlocken. Seine Frau lebte in der Stadt, und er setzte immer alle Hebel in Bewegung, um an seinen Wochenendurlaubsschein zu kommen. Wenn sein Küchen- oder Wachdienst zufällig auf einen Samstag oder Sonntag fiel, waren wir alle bereit, für ihn einzuspringen, ein ziemlich klägliches Ersatzvergnügen. Keiner von uns hat Linda jemals zu Gesicht bekommen, aber wir kannten sie alle. Auf eine krankhafte, lüsterne Weise, sozusagen im biblischen Sinne, kannten wir sie alle. Logischerweise rückte Mother nur widerwillig mit der Sprache heraus. Er hatte nicht die Absicht, unsere geile jugendliche Neugier zu befriedigen. Auf all unser Drängeln und unsere Fragen über wie oft und wie lang war seine einzige Antwort ein verschmitztes Lächeln und ein verschämtes «Ach, das ist ja alles ganz anders» oder «Ihr Kerle seid ja krankhaft sexversessen.» Drei Wochen bevor wir in See stachen, wollten wir es dann wissen. Ich glaube, die Idee stammte von Morrie, oder vielleicht auch von Shutzer. Vier von uns organisierten sich Wochenendurlaubsscheine und zogen los in die Stadt, um eine nette, gefällige Nutte aufzutreiben, die uns aus unserer Not erlösen, in die Riten des Mannseins einführen und vom einsamen Mitgefühl unserer fünffingrigen Witwen befreien sollte. Alle zusammen verfügten wir über die stolze Barschaft von fünfzig Dollar. Zehn brauchten wir für ein Zimmer im Jefferson Hotel. Man durfte nur zu zweit in das Zimmer, aber wir wussten von einem Hintereingang, durch den wir die - 50 -
anderen einschleusen konnten. Unser Quartett bestand aus Gordon, Shutzer, Morrie und mir. Mehr, fanden wir, wäre schon Rudelbums, und wir hatten romantischere Vorstellungen. Das übrige Geld war für die eigentliche «Investition» und eine Flasche Bourbon gedacht. Vierzig Dollar waren in jenen Tagen eine Menge Geld. Über den Frauentyp wurden endlose Spekulationen angestellt. Ich vermute, jeder von uns befürchtete insgeheim, er könnte es mit einer richtigen Frau zu tun bekommen und ihr nicht gewachsen sein. Wir kamen überein, daß allein der Zufall und nicht irgendwelche Geschicklichkeitsspiele die «Hackordnung» bestimmen sollten, also warfen wir Münzen. Morrie gewann, Shutzer wurde Zweiter, ich landete im dritten Glied, und Gordon wurde Hintermann. Wir bezogen das Hotelzimmer. Gordon und Shutzer sollten, sozusagen als Stoßtrupp, den Strich auskundschaften. Bei den Veranstaltungen der United Service Organisation Mädchen aufzureißen, hatten wir aufgesteckt. Irgendwann hatte das jeder von uns schon einmal probiert, aber die moralischen Hemmungen waren stärker als all unsere taktischen Raffinessen. Den Animiermädchen in den Bars waren wir im allgemeinen nicht gewachsen. Keiner von uns konnte es mit einer echten Garnisonshure aufnehmen, und keiner von uns war bereit, sich dafür einen Tripper oder eine Syphilis einzuhandeln. Wir waren gut abgerichtet durch die Aufklärungsfilme der US Army über Geschlechtskrankheiten. Die Filmaufnahmen von eiternden Mündern und schwärenden Schwänzen wurden für gewöhnlich unmittelbar vor dem Essenfassen vorgeführt. Gottlob waren es Schwarzweißfilme. Morrie war überzeugt, daß sie sie immer dann zeigten, wenn den Versorgungsoffizieren die Lebensmittelzuteilungen ausgingen. Jim Freize meinte, es sei lediglich vorbeugende Geburtenkontrolle – der Krieg dagegen war, nach einhelliger Auffassung, Bevölkerungspolitik im Nachhinein. Was uns - 51 -
vermutlich allen vorschwebte, war ein Mädchen, das entfernt jenem Mädchen glich, das wir zum Abschlussball in der Schule eingeladen hatten oder gern eingeladen hätten. Morrie und mir war klar, daß wir unter keinen Umständen zum Anbändeln in der Lage sein würden. Ich für meinen Teil hatte beschlossen, meinen Beitrag abzuschreiben, wenn die Sache mir aussichtslos erschien. Ich weiß nicht, was mich damals glauben ließ, meine absurden romantischen Vorstellungen seien mit dem, was sich damals als dringendes körperliches Bedürfnis bemerkbar machte, unter einen Hut zu bringen. Gordon und Shutzer verließen das Hotel wie aus dem Ei gepellt. Sie hatten frische Wäsche angezogen, so dick Deodorant aufgetragen, daß ihre Achselhaare davon völlig verkleistert waren, und verschwenderisch mit Rasierwasser geplanscht. Es war Frühsommer und brütend heiß in Mississippi. Morrie und ich beabsichtigten, es uns in dem Zimmer erst einmal gemütlich zu machen, und hatten jeder ein Buch aus der Standortbibliothek mitgebracht. Wir zogen uns aus bis auf die Unterwäsche, hüpften in die Betten und kosteten die Ruhe in vollen Zügen aus; sie wurde rhythmisch akzentuiert durch das Geräusch eines riesigen, langflügeligen Holzventilators, der von der Decke herunterhing und sich langsam drehte. Nacheinander stiegen wir in die Wanne, die Badezeiten nach der Aufwärmdauer des Boilers regulierend. Es war ein herrlicher Abend und die Stille im Zimmer in krassem Kontrast zu dem Gewühl auf den Straßen draußen, wo sich andere Soldaten zwischen scheel blickenden Einheimischen und streifegehenden Militärpolizisten herumtrieben. Die Zivilisten in Shelby schienen sagen zu wollen: «Was, in Dreiteufelsnamen, habt ihr hier noch zu suchen, wo ihr doch eigentlich drüben gegen Nazis und Japse kämpfen solltet?»
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Es ist nach Mitternacht, als Shutzer und Gordon kommen. Ich war schon eingeschlafen; Morrie sicherlich auch. Nach dem Wannenbad und dem friedlichen Schmökern bin ich nicht einmal mehr aufgeregt. Meiner Meinung nach würden Shutzer und Gordon sowieso nichts auftreiben. Aber weit gefehlt; als sie ins Zimmer schlüpfen, taucht hinter ihnen ein junges Mädchen auf. Ich traue meinen Augen nicht. Ich setze mich im Bett auf und gucke zu Morrie hinüber. Er hat sich auch aufgerichtet, sein Armeeunterhemd hebt sich tiefgrün von der Bettwäsche ab. Das Mädchen entspricht meinen kühnsten Träumen. Sie kann kaum über zwanzig sein und ist bildhübsch. Shutzer und Gordon kichern nervös. Ein ziemlich riskanter Spaß, das Mädchen zu dieser späten Stunde durch die Stadt und über die Hotelhintertreppe hierherzuschmuggeln. Wenn der letzte Bus zur Kaserne abgefahren ist, wimmelt die Gegend von Militärpolizisten. Mit dem Rücken zur Tür bleibt das Mädchen stehen und lächelt uns an. In diesem Augenblick weiß ich, daß ich es nicht fertigbringen werde. Ich bin froh, daß ich erst als Dritter dran bin. Unfasslich, daß uns das passiert, und dennoch wahr. Erst jetzt fällt mir auf, daß Shutzer und Gordon getrunken haben, wohl um ihren erlahmenden Mumm aufzupäppeln. Gordon hat eine Flasche in einer Packpapiertüte dabei; es stellt sich heraus, daß von unserer gemeinsamen Bourbonflasche schon fast ein Drittel leergetrunken ist. Keiner von uns macht sich viel aus Alkohol, im Gegenteil, Trinken ist bei uns genauso wie Fluchen als typisch soldatisches Pseudoheldentum verpönt. Ohne daß ein Wort fällt, rutsche ich aus dem Bett. Ich geniere mich in meinen GI-Liebestötern mit dem langen, knopflosen Schlitz vorn, wie diese Krankenhaushemden, die am Rücken aufklaffen. Ich husche ins Badezimmer. Gordon und Shutzer
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folgen mir. Im Vorbeigehen hat Shutzer die Kissen von einem der Betten mitgenommen; er verriegelt die Tür hinter sich. «Wir können es uns ruhig bequem machen; man weiß ja nie, wie lange ein Bursche wie Morrie braucht.» Shutzer tut großspurig, aber seine Hände zittern, und sein khakifarbenes Ausgehhemd ist unter den Achseln und im Kreuz durchgeschwitzt. Gordon hat sich auf dem heruntergeklappten Klodeckel niedergelassen; er schiebt sich eines von den Kissen unter. Ich steige in die leere Badewanne und stopfe mir ein Kissen in den Nacken. Die Wanne ist ungemütlich kalt und hart; ich klettere wieder hinaus und lasse sie vollaufen. Wer weiß, wann ich wieder in den Genuß einer richtigen Badewanne komme; außerdem muß ich, wenn ich um ein Uhr nachts wach sein will, etwas unternehmen; mein Buch habe ich zu Ende gelesen. Shutzer guckt auf seine Uhr, fingert eine Zigarre hervor und versucht, sie anzuzünden. Gordon wirft ihm einen angewiderten Blick zu. Shutzer fängt an, sein Hemd aufzuknöpfen. «Weißt du, sie sagt, sie macht es umsonst; ‹alles für die Jungs in Übersee›, oder jedenfalls fast schon in Übersee.» Er zieht sein verschwitztes Hemd aus. «Won’t, du würdest es nicht für möglich halten. Wir sind in jede Bar, jede Kneipe rein, haben die hinterletzten, finstersten Straßen abgeklappert und uns unentwegt in die Wolle gekriegt. Wenn wir uns glücklich auf eine geeinigt hatten, waren die Preise astronomisch, so um die zwanzig pro Nummer, gar keine Rede von Gruppenrabatt.» Er lässt sein Hemd auf den Boden fallen und mustert sich im Spiegel über dem Waschbecken. Er drückt einen Pickel unter dem Ohr aus. Noch einmal versucht er, die Zigarre anzuzünden. Keinen blassen Dunst vom Zigarrenrauchen, der Kerl weiß nicht mal, daß man die Spitze abschneidet. «He, kannst du mal ‘n Moment vom Lokus runter, Gordon; ich muß mal.» - 54 -
Mel erhebt sich, das Kissen noch immer an die Brust gepresst. Shutzer klappt die Klobrille hoch, zielt, aber es kommt nichts. Er steht da, guckt an sich herunter und pafft an der ungeschnittenen Zigarre, damit sie nicht ausgeht. Wir schweigen; nebenan hören wir Morrie und das Mädchen miteinander reden, verstehen aber nicht, was sie sagen. Shutzer knöpft die Hose zu und guckt auf die Uhr. Er macht die Hose wieder auf und streift sie ab. «Bestimmt kein Schaden, wenn ich schon soweit bin; man kann nie wissen, wie lang der alte Morrie Margolis braucht; vielleicht kommt es ihm, eh er sich’s versieht. Lieber keine Zeit verplempern.» Er schnüffelt an seinen Achselhöhlen, dann entnimmt er seinem Necessaire After-shave-Lotion und reibt sich das Gesicht damit ein. Ich prüfe mein Badewasser; zu heiß. Ich lasse kaltes zu. «Als wir grade den Bourbon gekauft hatten und schon drauf und dran waren aufzustecken, haben wir dieses Mädchen aufgegabelt. Ganz weit ab vom Schuss, am Greyhound Busbahnhof. Sie saß auf so ‘ner Holzbank im Warteraum. Unser guter Gordon quatscht sie einfach an. Eh wir’s uns versehen, erzählen wir ihr, was wir den ganzen Abend getrieben haben; daß wir eine Nutte suchen, die vier Spätzünder entjungfert. Wir müßen alle furchtbar lachen, und da bietet sie uns aus heiterem Himmel an, mit uns zu gehen, einfach so. Menschenskind, du ahnst es nicht! Ich dachte, sie macht Witze, aber sie meint es ernst, und es kostet uns nicht einen Dime.» Gordon setzt sich wieder auf den Klodeckel. Da die Wanne fast randvoll ist, stelle ich das Wasser ab und lasse mich langsam hineingleiten. «Stan, du kannst von mir ‘n Pariser und solches Antisyphzeug abhaben, wenn du willst.» «Ich hab selber was dabei. Nerv mich nicht, Won’t, du bist fast schon so schlimm wie Wilkins.» Er kramt die Packung aus seiner am Fußboden liegenden Hose hervor. - 55 -
Ich bin froh, daß ich es gesagt habe. Shutzer fängt an, auf und ab zu gehen; das heißt, sofern man in einem Hotelbadezimmer, in dem man sich mit zwei weiteren Personen aufhält, auf und ab gehen kann. Er hat Schuhe, Socken, Unterhose und Unterhemd an; die Zigarre klemmt zwischen seinen Zähnen, und in einer Hand umklammert er eine Dreierpackung mit Kondomen. Die Schachtel mit dem Prophylaktikum hat er vorsichtig auf den schmalen Waschbeckenrand gelegt. Ein erneuter Blick auf seine Uhr. «Das hätte ich mir denken können, daß Margolis eine Ewigkeit brauchen würde.» «Hast du schon mal eins von den Dingern da probiert, Stan? Ich bloß einmal, spaßeshalber. Es tut nicht weh, aber es fühlt sich komisch an, als würden dir Gummischlangen die Schwanzspitze abklemmen. Aber keine Panik, wird schon schiefgehen.» «Keine Sorge, ich komm schon klar. Was treiben die denn bloß so lang da drin, Himmel, Arsch und Zwirn?» «Werd nicht ausfällig, Stan, du bist hier unter Gentlemen. Was würde Father Mundy denken?» «Scheiß auf Father Mundy!» Gordon schüttelt den Kopf und packt sich mein Kissen zu dem seinen auf den Schoß und legt den Kopf darauf. Wieder guckt Shutzer auf seine Uhr; er lehnt sich an die Schlafzimmertür. «Eh, Morrie, wie läuft’s bei euch da drin, hm?» Keine Antwort. Shutzer legt das Ohr an die Tür. «Womöglich hat sie ihn gelinkt und sich verdünnisiert, Schlafmittel oder Totschläger, wer weiß.» Shutzer klopft an die Tür, zuerst sacht, dann energisch. «He, Margolis, lass uns auch noch ran, ja? Sag wenigstens was.»
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Noch immer nichts. Langsam, leise schließt Shutzer auf, öffnet die Tür, linst hinein, verschwindet. Er zieht die Tür hinter sich zu. Ich richte mich in der Badewanne auf und trockne mich ab. Shutzer kommt nicht zurück, Gordon und ich schauen uns an. Ich schlüpfe in meine Unterklamotten, und wir gehen hinter Shutzer her ins Schlafzimmer. Sie sitzen zu dritt im Schneidersitz auf dem Bett. Shutzer und Morrie sind noch angezogen, das heißt, wenn man olivgrüne Soldatenunterwäsche als angezogen bezeichnen kann. Das Mädchen sitzt im Schlüpfer da und weint. Gordon und ich bleiben am Bettrand stehen und hören zu. Ich will die Geschichte nur in groben Zügen wiedergeben. Sie gehört nicht zum Thema – oder vielleicht doch. Sie heißt Janice. Sie war mit einem jungen Burschen namens Matt verlobt. Matt wurde bei der Landung der Alliierten auf Sizilien getötet. Janice hat erst vor einer Woche davon erfahren. Sie ist hergekommen, weil sie alle Orte aufsuchen wollte, an denen Matt sich zuletzt, am Ende seines kurzen Militärlebens, aufgehalten hat. Das Studium, das sie eben erst an der Pennsylvania State University angefangen hat, will sie abbrechen. Sie ist zwanzig Jahre alt. Eigentlich war sie mit dem Vorsatz hergekommen, sich das Leben zu nehmen, aber dann verließ sie der Mut; alles, was sie im Moment besitzt, ist die Rückfahrkarte für den Bus. Es kam, wie es kommen mußte. Aus lauter Verlegenheit fingen Janice und Morrie eine Unterhaltung an. Sie knutschten ein bisschen; dann brach sie in Tränen aus, und so erfuhren wir alles. Zu guter Letzt schieben wir die beiden Betten zu einer großen Liegewiese zusammen und leeren den Rest unserer Bourbonflasche miteinander. Zwei Drittel von null- 57 -
kommasieben Litern für fünf Leute. Vielleicht ein ganz sinnvolles Rechenexempel, aber das wäre auch der einzige logische Aspekt dieser Nacht. Janice hat in ihrem ganzen Leben nur mit einem einzigen Mann geschlafen, mit Matt, kurz bevor er in den Krieg zog. Jetzt bietet sie sich uns allen an. Sie beteuert immer wieder, daß es ihr freier Wille sei. Das ruft den nachdenklichen und streitsüchtigen ASTPRWeltverbesserer in jedem von uns wach. Außerdem haben wir Schuldgefühle und Angst. Natürlich müßen wir diesen Gedanken, diesen einleuchtenden, hinreißenden Gedanken erst einmal nach Strich und Faden zerreden. Erst kurz vor Tagesanbruch geht uns die Puste aus, und wir schlafen ein; ermattet, leicht betrunken, innig vereint in unserem doppelten Doppelbett. Als der neue Tag in dem Zimmer graut, kommt Janice leise, verstohlen, noch halb in unseren Träumen, zu jedem von uns: halb Christkind, halb Märchenfee. Weinend und kichernd überschreiten wir die geheimnisumwobene Barriere zwischen Kind und Mann, zwischen Mann und Tod. Janice hilft uns hinüber. Um zehn, nach einem opulenten Massenfrühstück im Bett, bringt Mel Janice zum Busbahnhof. Wir sprechen nicht über unser Erlebnis. Ich glaube, keiner von uns kann es mit irgend etwas aus seinem bisherigen Leben in Einklang bringen. Mir war meine erste sexuelle Erfahrung als Lückenbüßer für einen im Krieg getöteten Burschen namens Matt nie ganz geheuer. Bis heute lässt mich in den Armen einer Frau das Gefühl nicht los, daß ihr Herz und ihre Phantasie von einer anderen Person, irgendeiner Idealfigur, besetzt sind. Wieder einmal sollte mein Hang zum Wahren, aber Unglaublichen Nahrung bekommen. Bis Kriegsende stehen Mel und Janice miteinander in Briefwechsel. Nach Mels Heimkehr heiraten sie. Sie setzen drei Kinder in die Welt und - 58 -
werden nach fünfzehn Jahren Ehe geschieden. Vielleicht weil es eine christlich-jüdische Mischehe war; oder vielleicht auch nur eine kreuzgewöhnliche Ehe, den Zwängen der Zeit ausgesetzt. Mag auch sein, daß Matt immer mit dabei war. Shutzer und Gordon hören auf mit der Schwoferei. Wir buckeln das restliche Gepäck hinein. Ich lasse Miller den Jeep mit dem MG dicht an der einen Schmalseite des Schlosses parken, so daß das Gewehrrohr die ganze Straße und die Brücke bestreichen kann. Den anderen Jeep fahren wir hinters Haus. Ich schleppe die Schneeanzüge, die weißen Tarnplanen, eine Kiste mit Handgranaten und das Funkgerät hinein. Mother hilft mir. Dann packe ich die Feldtelefone aus, und Miller macht sich daran, sie zu entwirren. An den beiden Kabeltrommeln für unsere Telefone, die ich aus dem Jeep wuchte, backt noch immer der angetrocknete Dreck von der Saar, wo wir sie zuletzt aus dem Morast buddeln mußten. Als alles ausgeladen ist, lege ich eine Verschnaufpause ein und versuche, mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Vom Vorplatz blickt man über eine Reihe terrassenförmig angelegter Brunnenbecken, die fast bis zum Fluss hinunterreichen, bis in die Nähe der Brücke, über die wir zum Schloss gefahren sind. In den Brunnen stehen in Stein gemeißelte Figuren von Delphinen und verschiedenen Fischen, aus deren Mäulern grün angelaufene Kupferrohre als Wasserspeier ragen. Die Figuren sehen aus wie aus Modellgips; schwarz, grün und gelb gesprenkelt von verhärteten Moosklümpchen. Die Brunnenbecken sind voll gefrorener Blätter. Ich beschließe, zwei Beobachtungsposten einzurichten; den einen am Fuß des Hügels, unterhalb der Brunnen und hinter einer Stützmauer rechts von der Brücke; den anderen an der Bergflanke hinter dem Schloss, etwas oberhalb des Dachfirsts. Ich kraxle hinauf und sehe mich nach einer Stelle um, von wo - 59 -
aus wir in beide Richtungen einen guten Überblick über die Straße haben und dem unteren Posten noch Deckung geben können. Eine Möglichkeit, diesen oberen Posten vor feindlichen Annäherungsversuchen aus dem Hinterhalt zu schützen, sehe ich nicht. Aber wenn jemand über die gefrorenen Blätter und toten Zweige diesen Steilhang erklimmt, dürfte er kaum Aussichten haben, einen von uns unbemerkt anzuschleichen. Da müßte sich schon ein ausgewachsenes Überfallkommando an uns heranmachen, und wenn das geschieht, sind wir sowieso geliefert. Ich erspähe einen idealen Standort und scharre mit dem Fuß eine kleine Fläche frei. Dann breche ich einen Zweig von einem Baum und ramme ihn in das freie Feld. Meine Innereien scheinen sich manierlich zu benehmen, sogar nach dem Anstieg. Vielleicht hilft allein schon der Abstand von Ware, Love und dem ganzen Hickhack. Nach einer Rutschpartie den Hang hinunter greife ich mir eine der Kabelrollen, löse die Halteklammer und klopfe noch mehr Dreckbatzen ab. Das Wacheschieben wird eine Strapaze werden. Tagsüber werden wir einen Mann pro Posten brauchen; das bedeutet zwei Stunden Wache und vier Stunden Pause. Nachts wird es schlimmer sein, denn dann werden wir jedes Schützenloch mit zwei Mann besetzen müßen, das macht vier Stunden Wache und nur zwei Stunden Pause. Wir werden hauptsächlich tagsüber schlafen müßen. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich könnte es auch mit einem einzigen Posten oben am Hang versuchen, eigentlich könnte er die ganze Gegend überwachen. Vielleicht werden wir nach den ersten paar Tagen, wenn nichts passiert, auch dazu übergehen. Oder eventuell auch nur einen Posten unten an der Brücke unterhalten. Irgend etwas werden wir uns einfallen lassen; um gute Ideen ist die Gruppe nie verlegen. Mel kommt heraus und hilft mir, die Kabelrolle den Hügel hinunter zur Brücke zu transportieren. Ich erkläre ihm, wie ich - 60 -
mir die Postenverteilung vorstelle. Er ist einverstanden. Etwa zwanzig Meter rechts von der Brücke finden wir die günstigste Stelle. Die Stützmauer ist schulterhoch und bietet sich als Brustwehr geradezu an. Mit Feuerschutz vom anderen Posten sollte man hier einigermaßen in Sicherheit sein, das heißt, sofern in einem Wald, in einem Krieg, in dem andere einem nach dem Leben trachten, überhaupt irgend etwas sicher sein kann. Ich befestige das Kabel an einem in die Mauer eingelassenen Ring und bewege mich damit rückwärts auf das Schloss zu. Gordon bietet an, die erste Wache zu übernehmen, und bleibt gleich unten. Ich aste den Hang hinauf, verlege das Kabel entlang der Straße und lasse dabei die umliegenden Hügel nicht aus den Augen. Irgendwer könnte mich irgendwo da draußen im Visier haben. Irgendein Bursche in Feldgrau könnte mit Gewehr und Zielfernrohr dort hocken und mich beobachten. Ich gucke rückwärts, um abzuschätzen, wie weit es noch ist, und spule das Kabel immer hastiger, in immer größeren Schlingen ab. Ich fliege bereits am ganzen Leib; Kabelverlegen ist gar nicht so furchtbar anstrengend; ich bin bloß mit den Nerven am Ende. Oben beim Schloss angekommen, führe ich das Kabel durch ein Fenster bis zum Kamin. Mother ist damit beschäftigt, die Kriegsrationen und all unsere Utensilien zu verwahren. Wie gewohnt hat er bereits angefangen, sich häuslich einzurichten, und ein so nobler Haushalt lässt ihm ungeahnten Spielraum. Bestimmt werden wir einige Vorträge über uns ergehen lassen müßen über die Büsten, die Architektur, die Wandtäfelungen, den Kamin, das ganze Inventar unseres Schlosses: Wilkins kann nicht anders, er muß jedes Quartier zum Nest machen, und hier steht ihm ein ganzer Palast zur Verfügung. Er scheint der Situation durchaus
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gewachsen zu sein: nur ein wenig zu verbiestert, zu gewissenhaft wirkt er noch. Einmal, auf einem sechzigstündigen Nonstopkonvoi von Rouen nach Metz, konstruierte Mother sich hinten in seinem Jeep eine Schlafkoje, das heißt in dem Jeep, den er und Jim Freize gemeinsam fuhren. Natürlich hatte er ihn Linda getauft. Ich pinselte ihren Namen außen drauf und einen Hasen daneben. Mitunter nennt Mother seine Linda Häschen. In der Beziehung ist Mother völlig ungeniert; es ist, als sei er gefeit gegen alles, was ihn eigentlich in Verlegenheit bringen sollte. Das Armaturenbrett neben den Instrumenten hatte Mother in eine Art Altar verwandelt. Mittendrin prangte ein Foto von Linda, und drumherum hatte er Ausschnitte aus ihren Briefen geklebt. Manchmal kam es mir vor, als sei Jim ebenso verliebt in Linda wie Mother. Das war auch besser so, denn mit Mother kann man über nichts anderes reden. Als Hunt die Bescherung sah, platzte ihm der Kragen, und er ließ die beiden alles wieder herausreißen. Hunt erwischte «es» bei Ohmsdorf, unter einem Kruzifix, direkt neben der Landstraße. Es war knapp hinter der deutschen Grenze; wir hatten die Ehre, zu den ersten amerikanischen Truppenverbänden zu gehören, die in ein Gebiet vordrangen, das die Deutschen damals als deutsches Territorium bezeichneten. Unser Vorstoß währte ganze drei Tage, dann wurden wir zurückgedrängt. Ich versuchte, in verschlüsselter Form nach Hause zu berichten, wo wir uns befanden. Ich wusste, meine Schwester würde kapieren, und sie kapierte tatsächlich. Außerdem wusste ich, daß Glendon, der stellvertretende Sicherheitsoffizier, der unsere Post filzte, es nicht spitzkriegen würde, und so war es auch! Hunt hatte dieses Kruzifix zum Gefechtsstand des Zuges erkoren. Hunt war ein Unteroffizier aus dem ursprünglichen zigsten Regiment und nicht gerade einer der hellsten. Für Gordon steht es fest, daß Burschen wie Hunt, Ware und Love - 62 -
der eigentliche Feind sind; vorausgesetzt, es gibt überhaupt einen Feind. Ich gehe nachsehen, wie weit Miller mit den Telefonen im Haus ist. Er hat sie schon einsatzbereit gemacht, und wir klemmen das Kabel an, das ich durchs Fenster gezogen habe. «Überprüfst du auch das Funkgerät, Bud? Ich verlege solange das Kabel bis zum anderen Posten rauf. Gordon hat schon die erste Wache unten an der Brücke übernommen.» Shutzer und Mundy kommen angewandert. «Stan, würdest du Gordon einen dieser Apparate runterbringen und ihm sagen, daß er ihn anschließen soll? Und mir dann den anderen Apparat zu dem Posten hinter dem Haus raufbringen? Du bist die ersten zwei Stunden dran, also nimm deinen Karabiner und ein paar Handgranaten mit.» «Okay, Sergeant.» Ich vergewissere mich durch einen raschen Seitenblick, ob er mich mit dem ‹Sergeant› auf den Arm nimmt; aber es kam ganz unbefangen heraus. Ich werde mich nie daran gewöhnen. Ich schlinge das Kabel um den Griff der Glastür, lasse dabei ausreichend Spiel bis zum Hauptanschluss und entrolle es dann weiter den Hang hinauf. Fachmännischer wäre es, das Kabel von oben nach unten abzuwickeln, aber ich habe meine Gedanken nicht beieinander. An Baumstämmen und Ästen Halt suchend, um nicht wieder zur Rückfront des Schlosses abzurutschen, kämpfe ich mich mit der Kabeltrommel den glitschigen Hang hinauf. Schließlich komme ich an der markierten Stelle an und verschnaufe ein Weilchen. Unten schließen Stan und Mel das andere Telefon an. Ich sehe, daß Mel zu kurbeln anfängt und sich den Hörer ans Ohr hält; es scheint zu funktionieren, denn Stan stiefelt, ohne Abstecher zum Schloss, geradewegs zu mir herauf. Ich befestige mein Kabel an einem Baum, hocke mich auf den Boden und warte auf ihn. Derweil ziehe ich das Fernglas aus - 63 -
der Jackentasche und suche rasch die umliegenden Hügel ab. Nichts Verdächtiges: kein Rauch, kein Anzeichen irgendeiner Bewegung, nirgends metallisches Glitzern. Keuchend kommt Stan bei mir an. «Telefon funktioniert tiptop da unten. Miller sagt, er hat das Funkgerät auch eingestellt und lässt es schon mal Warmlaufen.» Wir sehen uns nach einer Stelle um, die sich zum Graben eignet. Sie sollte möglichst wenige Wurzeln haben. Aber in einer so tannenreichen Gegend müßen wir überall mit Wurzeln rechnen. Stan ist nicht scharf aufs Schippen, aber ich bestehe darauf. Ich denke weniger an Schutz vor Kugeln oder Granatsplittern, als vor Wind und Kälte. Nachts kann man sich zu zweit in einem Schützenloch besser warmhalten. Der eine kann immer unten hocken, während der andere aufpasst. Die Nächte sind hier um diese Jahreszeit unchristlich lang. Ich überlasse Shutzer das Fernglas und beauftrage ihn, etwa alle fünfzehn Minuten die Gegend abzusuchen; das verschafft ihm kleine Verschnaufpausen von der Schipperei. Dann mache ich den Weg nach unten. Miller schließt das Kabel am anderen Apparat an, während ich mit der stumpfsinnigen militärischen Funkerei anfange. «Abel eins an Abel vier, Ende.» Ich erwische Leary, einen der wenigen Funker im Regiment, die wenigstens halbwegs menschenähnlich sind. Als ich die unsinnigen Einrichtungen in einer Stabskompanie aufzählte, vergaß ich die Fernmeldegruppe. Es ist ein so nichtsnutziger Haufen, daß man ihn leicht vergisst. Leary sagt, er werde unsere Meldung an Ware weitergeben. Ich berichte, daß wir das Schloss besetzt haben und dabei sind, Schützenlöcher für die Beobachtungsposten auszuheben. Das klingt schön soldatisch. Ich kündige noch den nächsten Funkspruch für zweiundzwanzig-null-null an; im Armeekauderwelsch bedeutet das zehn Uhr abends.
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Mother bekundet seine Bereitschaft, das Mittagessen zuzubereiten, wenn wir Holz holen. Er will den Kamin zugleich als Kochstelle und als Wärmequelle benutzen. Wir haben zwei Primus-Benzinkocher dabei, aber Mother ist darauf versessen, auf dem offenen Feuer abzukochen. Im rückwärtigen Gebäudeteil, von wo aus eine Tür ins Freie führt, liegt eine Küche nebst Speisekammer, aber sie ist kalt, und es sind keine Töpfe und Pfannen da. Wilkins findet es besser, hier vorn zu kochen, wo wir auch schlafen werden. Ich bin unschlüssig. Wenn wir ein Feuer unterhalten, dessen Rauch aus dem hohen Schornstein über dem Schloss aufsteigt, wird unsere Anwesenheit nicht lange geheim bleiben. Dann sind wir entschieden kein Spähtrupp mehr; dann sind wir eine Art Besatzungstrupp. Andererseits werden wir nachts frieren wie die Schneider, wenn wir keine Heizmöglichkeit haben. Father Mundy und ich gehen hinters Haus. Zwischen den hinteren Schlossmauern und dem Abhang befinden sich ein Holzschuppen und ein Stall für zwei bis drei Pferde. Wir stemmen die Schuppentür auf, aber es ist kein Holz mehr da. Im Stall, auf dem Heuboden, finden wir noch ein paar Arme trockenes Heu und brechen ein paar lange morsche Bohlen aus den Seitenwänden der Pferdeboxen. Wenn wir tatsächlich ein Feuer unterhalten wollen, wird es mit der Brennholzversorgung problematisch werden. Bäume und Reisig sind nass und zum Verfeuern nicht zu gebrauchen. Selbst wenn Holz sich verbrennen ließe, würden wir verräterische Rauchwolken erzeugen. Die Deutschen müßten denken, wir hätten Indianer unter uns, die Rauchzeichen geben. Mother hat aus zerrissenen Pappkartons unserer eisernen Rationen bereits ein Feuerchen angezündet. Wir legen Heu und ein paar kleinere Holzstücke nach. Aber der Kamin zieht nicht; der Qualm quillt in den Raum und schwebt zur Decke empor. Miller inspiziert den Rauchfang und stellt fest, daß er zugemauert ist. Mit dem Gewehrkolben schlägt er etwas - 65 -
Mörtel heraus; ein paar Backsteine purzeln herunter, dann zieht der Rauch ab. Ich gucke draußen nach, wieviel davon oben herauskommt. Eine blassblaue Schlange windet sich aus dem Kamin. Bedenklich, aber nicht so schlimm wie befürchtet. Ein Risiko, das wir in Kauf nehmen. Da unsere D-Rationen allerlei Leckereien wie Marmelade oder Mischkompott in Kilodosen enthalten, zaubert Mother uns ein schmackhaftes Mittagessen. Wir beschließen den Schmaus mit Kaffee, und ich schicke ein paar Stoßgebete gen Himmel, daß mein Magen das mitmacht. Aus irgendeinem Grund habe ich weniger Angst, als eigentlich am Platze wäre; vielleicht hilft es schon, wenn man ein Feuerchen und ein Dach über dem Kopf hat. Mundy entdeckt neben dem Schloss einen Brunnen mit Handpumpe, den er mit Millers Hilfe in Betrieb setzt. In uralten Holzeimern schleppen sie Wasser herbei, das klar aussieht. Vielleicht können wir zur Abwechslung sogar einmal unser Kochgeschirr sauberhalten. Das könnte dazu beitragen, meine Innereien zur Räson zu bringen. Ich bemühe mich, einen ausgewogenen Wachstundenplan aufzustellen. Gordon, Shutzer, Miller und Mundy werden tagsüber ein paar gemeinsame Freiwachen haben wollen, damit sie zu viert ihr spleeniges kartenloses Turnierbridge spielen können. Andererseits will ich vermeiden, daß deshalb irgend jemand überlappende Tag-Nacht-Schichten abkriegt und sechs Stunden hintereinander Wache schieben muß. Fast so verzwickt wie das Entwerfen ihrer in mühsamer Handarbeit angefertigten Bridgehände; noch etwas, das bis morgen getan sein will. Vielleicht hilft Mother mir dabei; er ist darin sowieso gewiefter als ich, und es wird ihn auf andere Gedanken bringen. Shutzer und Gordon kommen von ihren Posten zurück. Mother hat ihnen ihr Essen warmgehalten, schöpft es ihnen und schiebt dann los zum Posten an der Brücke, während Father Mundy den oberen übernimmt. Diese Gruppe führt sich praktisch - 66 -
selbst; wenn hier einer das Kommando übernehmen wollte, würde er bloß stören. Vermutlich werde ich nicht einmal einen Wachplan aufstellen müßen. Miller hat noch ein paar leere Weinflaschen aufgetrieben und schneidet Futtersäcke aus dem Stall mit seinem Bajonett in Streifen. Mit Benzin aus dem großen Kanister von seinem Jeep stellt er Fackeln her. Auf diese Art werden wir heute abend sogar Licht haben. Es wird vor fünf Uhr dunkel werden, so daß schon nach der nächsten Runde die nächtlichen Doppelwachen anfangen. Fürs erste werden wir sie durchziehen; morgen, wenn nichts dazwischenkommt, werden wir uns wieder mit einem Mann pro Posten begnügen. Es war schließlich keine Rede davon, daß wir den Bau hier verteidigen sollen, wir sollen nur Straße und Brücke im Auge behalten. Ich breche eine neue Kiste mit Handgranaten an und teile jedem zusätzlich zwei Stück zu; zusätzlich zu den Magazinen am Koppel tragen wir alle noch Patronengurte über den Schultern. Unser 50-KaliberMG ist mit Panzerabwehrmunition geladen, jede sechste Patrone ist ein Leuchtspurgeschoss. Gegen einen Panzer können wir zwar nichts ausrichten, nicht einmal mit der Stahlkern-Munition, aber einen Waffenoder Mannschaftstransportwagen könnten wir damit vielleicht aufhalten. Zum Henker, keiner wird sich mit irgend etwas Derartigem hierher verirren; ich darf nicht dramatisieren. Miller kommt mit einem Bund rostiger Schlüssel. Er fand ihn an der Innenwand des Brunnens, als er den Deckel abnahm, um nachzusehen, ob das Wasser einen brauchbaren Eindruck macht. Es hängen etwa zwanzig riesengroße, verschnörkelte Schlüssel daran. Gordon steckt eine unserer Benzinfunzeln an. Er, Shutzer, Miller und ich gehen auf Erkundungstour. Endlich werden wir ein bisschen Aufklärungsarbeit machen; Major Love hätte seine Freude an uns. Draußen, an der Rückwand des Schlosses, finden wir einen Zugang zum Keller und tappen - 67 -
über eine ausgetretene Wendeltreppe hinunter in einen Souterrainraum mit einem Boden aus festgestampfter Erde. Hier unten ist es wärmer, aber feucht. Von der gewölbten Natursteindecke baumeln staubschwere Spinnweben. Wenn es wirklich kalt werden sollte, könnten wir uns hier verkriechen, allerdings haben wir schon oft genug in Kellern genächtigt. Ich suche nach einem von innen erreichbaren Zugang zum Keller, für den Fall, daß uns oben jemand durch die Haustür zu Leibe rückt, aber es gibt nur drei kleine Räume und keine Verbindung außer der Wendeltreppe von draußen, über die wir herunterkamen. Es sind drei Türen da, und Miller knobelt die Kombinationsmöglichkeiten von zwanzig Schlüsseln und drei Schlössern aus und kriegt diese zu guter Letzt auf. In dem einen Kellerraum liegen acht Weinflaschen. Nach den Strohresten und den leeren Regalfächern zu urteilen, hat irgendwer das meiste bereits mitgehen lassen. In einem anderen Raum finden wir zwei Holzkisten mit Sardinendosen. Der letzte Keller ist leer, bis auf verrostetes altes Werkzeug und ein paar kaputte Stühle. Wir nehmen Wein und Ölsardinen an uns; das wird unseren eisernen Rationen ein bisschen Pfiff geben. Miller schleppt drei von den alten Stühlen als Brennmaterial mit. Die Sardinendosen und die Weinflaschen bauen wir neben dem Kamin auf; Miller macht Kleinholz aus den Stühlen und wirft ein paar Leisten in unser Feuerchen. Als nächstes wollen wir die oberen Räume erkunden. Gegenüber vom Kamin führt eine Treppe im Bogen zu einem Absatz und von dort aus an der Rückwand des Schlosses entlang. Wir öffnen eine hohe Holztür zu einem Korridor, der sich über die gesamte Längsseite des Hauses hinzieht, fast wie ein Hotelflur. Miller hantiert wieder mit seinen Schlüsseln. Er hat die Kellerschlüssel bereits markiert, so daß er nur noch siebzehn durchprobieren muß. Es stellt sich heraus, daß ein und derselbe in alle Schlüssellöcher an diesem Flur passt. Im ersten Zimmer sind drei Wände voller Bücherregale, dazwischen eine - 68 -
Nische mit einem Globus, auf dem der überwiegende Teil Europas deutsch ist. Auf dem Fußboden liegen Läufer, und die Wände sind rundherum etwa einen Meter hoch mit Eichenholz getäfelt. Ich ziehe die Vorhänge an der vierten Wand auf, öffne ein Fenster und stoße den Klappladen auf. Das Fenster geht nach vorn, ich kann Mother unten neben der Brücke sehen. Vielleicht sollte ich den oberen Posten hier einrichten; es wäre entschieden gemütlicher. Aber irgendwie widerstrebt es mir, einen so schönen Raum zum Wachposten umzufunktionieren. Wilkins würde es mir vermutlich sowieso nicht gestatten. Und wenn es ernst würde, säße der Wachhabende hier oben in der Falle. Ich sehe mir die Bücher an. Sie sind alle entweder in französischer oder deutscher Sprache geschrieben, nichts Englisches dabei. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, in welchem Land wir uns eigentlich befinden; es könnte Belgien, Luxemburg, Frankreich oder sogar Deutschland sein; vermutlich ein Winkel, in dem sie alle mehr oder weniger aneinander angrenzen. Weder Stunde noch Tag oder Ort sind mir bekannt. Nicht einmal meines eigenen Namens bin ich mir ganz sicher. Wer weiß, vielleicht befördern sie mich als nächstes zum General. Alle anderen Räume sind Schlafzimmer, fünf an der Zahl. Die Fußböden weisen Schleifspuren von Möbeln auf, aber die Zimmer sind leer. Im größten Zimmer füllen deckenhoch Spiegel die Wand gegenüber von den Fenstern bis zur Decke aus. Mein Gott, sind wir hässlich; verdreckte, schlaksige Gestalten in ausgebeulten Klamotten; geduckt dahinschlurfend wie Tiere. Wandelnde, sprechende Bill-Mauldin-Karikaturen oder van Goghsche Kartoffelesser. Etwas Verücktes haben wir an uns; eine zur Gewohnheit gewordene Abwehrhaltung. Vor einem der Spiegel bleibe ich stehen, richte mich auf, versuche, mich wiederzuerkennen; wer ist das, wer bin ich? - 69 -
Gordon steht dicht vor einem anderen Spiegel und inspiziert seine Zähne. Miller und Shutzer machen Mätzchen und lachen; zeigen mit den Fingern aufeinander. Shutzer hält sich selbst den emporgereckten Mittelfinger hin. Bestimmt hat sich keiner von uns vorgestellt, daß er so aussieht wie jetzt in diesen Spiegeln; es ist nicht leicht, sich damit abzufinden. Wir sehen aus wie der Feind. Am Ende des Flurs sind zwei Türen. Die eine führt in ein gigantisches Badezimmer mit weiteren Spiegelwänden. In der Mitte des Raums steht eine bizarr anmutende Kupferbadewanne, wie ein Riesenschuh geformt. So etwa, wie ich mir das Haus der alten Dame aus dem Kinderreim vorstelle, die in einem Schuh lebte und so viele Kinder hatte, daß sie sich nicht zu helfen wusste. Sie erinnert auch an die Art Badewannen, in denen sich Claudette Colbert inmitten von Bergen von Badeschaum und umhüllt von Dampfwolken mit Clark Gable verlustieren würde. Die wusste sich zu helfen. Miller würde am liebsten gleich ein Bad nehmen; wir müßten nur eine Kette bilden und kübelweise Wasser aus dem Brunnen herbeischleppen. Aber es ist so kalt, daß an den Innenseiten der Fenster Eisblumen blühen und die Spiegel von unserem Atem und unserer Körperwärme beschlagen. Hinter den Spiegeln entdecken wir Wandschränke; gähnend leer; und in einer Ecke befindet sich ein Waschbecken ohne Wasser. Es steht auch etwas da, das wie eine Fußbadewanne aussieht und das ich erst später als Bidet identifizieren lerne. Wir gehen wieder hinaus und öffnen die nächste Tür. Sie führt zu einer schmalen Wendeltreppe. Wir poltern im Gänsemarsch hinauf. Auf dem oberen Absatz befindet sich eine niedrige Tür; Miller schafft sie beim dritten Anlauf. Der Dachboden ist in kleine Mansardenzimmer unterteilt, die bis oben hin mit Möbeln und märchenhaftem Trödel vollgestopft sind. Die Sachen sind nach Art des Königsgrabes von Tut-ench-Amun kunterbunt übereinandergetürmt: - 70 -
Musikinstrumente, Teppiche, satinbezogene Stühle, Betten, Gemälde in schweren vergoldeten Rahmen. Wir stöbern neugierig darin herum. Wilkins wird völlig aus dem Häuschen geraten, wenn er das alles begutachtet. Wahrscheinlich wird er das ganze Sammelsurium inventarisieren, ehe er sich’s versieht. Aber zuerst einmal sind andere Bedürfnisse wichtiger. Wir tragen vier Matratzen und Satinsteppdecken hinunter. Die zweite Gruppe des Aufklärungs- und Sicherungszuges der Infanteriedivision Ixypsilon wird ein paar Tage lang im Luxus schwelgen. Im Erdgeschoss verteilen wir unsere Matratzen rund um den Kamin und breiten die Steppdecken darüber. Die Schlafsäcke legen wir obendrauf. Mindestens zwei von uns werden ständig auf Posten sein, so daß die Bettenzahl ausreichen sollte. Ich fläze mich auf eine der Matratzen und genieße ihre Weichheit; es ist lange her, seit ich das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen habe. Shutzer, unser koscherer Feinschmecker, der nach dem Geruch von Fisch lechzt, öffnet mit seinem Bajonett eine Sardinendose. Miller, der Mann, der immer alles dabei hat, selbst einen Korkenzieher, entkorkt eine Weinflasche. Beides könnte meinem Magen und meinem gesamten Verdauungssystem durchaus den Rest geben. Wir reichen Wein und Sardinen herum; der Wein ist säuerlich, aber kühl, die Sardinen schwimmen in sämigem Öl; die Dosenaufschrift ist zum Teil in Deutsch abgefasst. Vielleicht die deutsche Geheimwaffe; vielleicht landen wir alle, dekoriert mit einem Schwung Verwundetenabzeichen, in irgendeinem netten amerikanischen Feldlazarett, zur Strecke gebracht von den schrecklichen Hunnen und ihrer Geheimwaffe, vergifteten Ölsardinen. Ich hocke da und versuche, mir Blattmuster für unsere fanatischen Bridger auszudenken. Sobald ich Wachdienst habe, werden Gordon, Shutzer, Wilkins und Mundy einander wieder - 71 -
eine mörderische Partie liefern. Bridgespiele auszutüfteln macht mir mehr Spaß als das Spiel selbst. Manchmal sehe ich zu und zähle die Stiche. Für mich besteht der Witz in erster Linie darin, zu verfolgen, was geboten wird, und zu erraten, welcher Kontrakt zustande kommt und ob er erfüllt wird. Von Tag zu Tag werde ich gerissener in dieser verschrobenen, hanebüchenen Art von Bridge. Die Kartenverteilung kann gar nicht abgefeimt genug sein. Vor dem ominösen Kommando-Unternehmen an der Saar spielte die Gruppe meistens gewöhnliches Turnierbridge. In Shelby wählten wir einmal pro Woche ein Team, das dann gegen die erste Gruppe, die von Edwards, antrat. Wir gewannen immer. Wenn man einmal von Wilkins absieht, der eine Klasse für sich ist, waren Morrie und Gordon unsere besten Spieler. In Shelby spielte Wilkins überhaupt nie mit; jetzt springt er nur im Notfall als vierter Mann ein. Morrie, Fred und Jim gehörten auch zu den Stammspielern. Max Lewis spielte nur hin und wieder. Wenn die Bridger jetzt ein wirklich gutes Spiel wollen, drängen sie Wilkins, mitzumachen; aber meistens muß der arme Mundy dran glauben. Er hatte, bevor er zu unserer Gruppe versetzt wurde, noch nie Bridge gespielt und wird auch nie ein guter Spieler werden. Er ist nicht die Spur raffiniert und nicht ehrgeizig genug. Das macht Shutzer rasend. Als wir die Hälfte unserer Gruppe verloren, büßten wir auch unsere einzigen Spielkarten ein. Morrie trug sie bei sich, und er fiel den Sanitätern in die Hände, bevor er sie einem von uns übergeben konnte. Und damals hatten wir alles andere im Kopf als Bridge. Morrie starb im Lazarett. Nachdem er die rechte Hand verloren hatte, und so wie sein Gesicht zugerichtet war, glaube ich kaum, daß er sich sehr anstrengte, am Leben zu bleiben. Ich an seiner Stelle hätte mich nicht mehr angestrengt. Gordon und ich verbanden ihn zum letzten Mal; es sah aus, als seien seine Augen leer; die eine Seite seines Kopfes war schwammig. - 72 -
In unseren Briefen nach Hause bitten wir unablässig um Spielkarten, Kerzen, Bleistifte und Wörterbücher, aber keiner von uns hat jemals etwas dergleichen erhalten. Wir kriegen warme handgestrickte Socken, die für unsere Stiefel zu dick sind, oder Pappschachteln voller zermanschter Kekse. Corrollo bekam immer scharf gewürzte italienische Peperoniwürste und harte, unzerkrümelte italienische Kekse. Corrollo brachte es auch fertig, von toten Deutschen Wurst zu klauen. Er fand sie ganz ordentlich, aber nicht so gut wie die von zu Hause. Father Mundys Mutter wickelt jeden Keks einzeln in Butterbrotpapier und stopft dann die Lücken fest mit zerrissenem Zeitungspapier aus. Sie hat jahrelang an Verwandte in Irland Pakete geschickt und hat den Bogen raus. In Fathers Augen sind diese Kekse Liebesbeweise. Das sind sie wahrlich. Er ist der einzige, den wir nie um eine zweite Kostprobe anhauen, aber er reicht sie unaufgefordert herum. Es ist fast, als teilte er das Abendmahl aus: immer einen Keks auf einmal, behutsam ausgewickelt und jedem einzelnen verabreicht. Meistens sind es Mürbekekse, mit viel Butter gebacken und mit echten Schokoladenstückchen darin. So ein Keks von Mundys Mutter ist etwas, das man langsam und mit Verstand essen muß, etwas, für das es sich fast zu konvertieren lohnte. Unter Umständen schicken uns unsere Angehörigen ja Wörterbücher, Bleistifte, Kerzen und Spielkarten. Vielleicht betrachten die Militärs sie aber als subversives Material und konfiszieren alles. Womöglich besitzt Love einen ganzen Seesack rappelvoll mit Kartenspielen, Lexika, Bleistiften, Kugelschreibern, Nachschlagewerken und Dutzenden von Kerzen, einschließlich der für Mundy bestimmten geweihten Kerzen. Ich entwerfe vier Bridgeblätter mit den Standardsymbolen auf vier getrennten Karten, das heißt auf den Kehrseiten zurechtgeschnittener Pappkartons, die ich mit dem Bajonett aus den Seitenwänden meiner - 73 -
Verpflegungsschachteln heraussäble. Zunächst hatten wir die Absicht, ein komplettes Spiel aus solchen Pappstücken herzustellen, aber Miller rechnete uns vor, daß zweiundfünfzig dieser Karten einen mindestens acht Zentimeter dicken Stapel ergäben und daß sie in Nullkommanichts zerknickt sein würden. Ich lege das ausgearbeitete Blatt umgekehrt auf das Gehäuse der Telefonbatterie; sie werden sie schon finden. Das Gespann Gordon-Mundy wird gegen Shutzer und einen widerstrebenden Wilkins antreten, so daß sich allzuviel Nachdenken erübrigt; bei einem Haufen derart kauziger Kerle muß jede Kartenverteilung ins Drama ausarten. Die vier können eine simple Drei-kein-Trumpf-Ansage über eine halbe Stunde hinziehen. Seit drei Wochen spielen wir nun schon dieses neue Bridge; manchmal kommt es mir vor, als seien es drei Jahre. Es ist Gordons Erfindung und nennt sich «kompaktes, kartenloses, wiederholbares Turnierbridge». Jeder wählt unter den Pappdeckeln einen aus, und das ist dann seine Hand. Ich habe gefragt, ob ich jedem eine Hand zuteilen soll, aber soviel Unparteilichkeit trauen sie mir nicht zu. Shutzers Kommentar: «Herr des Himmels, Won’t, du spielst doch sowieso schon den lieben Gott; was willst du denn noch!?» Während des Spiels wird jede ausgespielte Karte unterstrichen. Mel besteht darauf, daß jeder die Phantomkarte immer mit der leeren Hand auf den Tisch – das heißt die Erde, die Bettdecke, den Morast oder wo auch immer gerade gespielt wird – drischt und ansagt, welche Karte gespielt wird. Miller mosert, das sei auch bloß wieder so eine dämliche antiquierte Masche, aber er macht mit. Was bleibt ihm anderes übrig? Wenn Mel nicht spielt, spielt keiner, sind alle sauer. Im übrigen ist Miller eine der Ursachen dafür, daß wir ein Lexikon brauchen, denn gemessen an den Kreuzworträtseln, die er ausheckt, sind die in der Wochenendbeilage der New York Times das reinste Kinderspiel.
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Wenn eine Partie schließlich zu Ende gespielt ist, gehen die Karten an mich zurück. Bei den folgenden Spielen (wir fragen uns manchmal, wie viele noch?) fange ich dann, im Uhrzeigersinn weiterwandernd, mit dem Kartenverteilen immer bei einem anderen an. Die linke obere Brusttasche meiner Kampfjacke ist von diesen Bridgekarten so prall gewölbt wie Mae Wests Oberweite. Vielleicht retten mir die Dinger noch eines Tages das Leben, wenn ein Granatsplitter darin steckenbleibt, so wie Bibeln angeblich immer frommen Protestanten das Leben retten. Mich werden eher Bridgehände retten als die Hand Gottes. Bleistifte sind in unserer Gruppe Gold wert. Wenn auf jeden Bettelbrief auch nur ein Bleistift angekommen ist, müßte Love bereits eine so stattliche Sammlung davon haben, daß er nach dem Krieg ohne weiteres einen Schreibwarenladen damit eröffnen kann, ein Seesack dürfte nicht einmal dafür ausreichen. Ich hänge an meinem treuen 2B und einem 4B – einem von den Zimmermannsbleistiften mit der breiten Mine. Den 4B habe ich in einem Haushaltswarenladen in Shelby erstanden und seither immer bei mir gehabt. Es ist schon über die Hälfte davon verbraucht. Reines Lotteriespiel, zu tippen, mit wem es zuerst zu Ende sein wird, mit meinem 4B, mit dem Krieg oder mit mir. Bleistifte wie dieser werden unbrauchbar, wenn man sie fallen lässt, weil die Mine im Holzschaft bricht; ich verwahre ihn deshalb in Toilettenpapier eingewickelt unter der Bandage in meinem Verbandskasten. Ich benutze die beiden Stifte ausschließlich zum Zeichnen. Der 4B ist vielleicht der letzte Halt, der mir geblieben ist. Um nichts in der Welt würde ich einen der beiden irgend jemandem ausleihen; manche Dinge sind privat, auch wenn man soeben vom Private, vom Schützenarsch der US Army, zum Unterfeldwebel die Treppe hinaufgefallen ist. Ich verwende sie nicht einmal für die Bridgekarten; dazu nehme ich einen - 75 -
gewöhnlichen 2HB. Als einziger in der Gruppe besitze ich drei Bleistifte. Eher würde ich einen Patronengurt drangeben, als auf meine Bleistifte verzichten. Meistens zeichne ich auf die Innenflächen zerrissener Verpflegungsschachteln; die anderen heben ihre Schachteln immer für mich auf. Da ich die Zeichnungen an der Front nicht überallhin mitnehmen kann, rolle ich immer Zehnerbündel davon zusammen und vergrabe sie. Von den Verstecken habe ich eine Liste angelegt, die in meinem Seesack auf dem Küchen-Lkw steckt. Zehn oder zwanzig meiner besten Zeichnungen befinden sich auch in diesem Sack. Dabei male ich mir immer aus, wie es sein wird, wenn ich nach dem Krieg irgendwann wieder hierher komme und anhand meiner Lageskizzen die Zeichnungen ausbuddele. Ich glaube nicht, daß sie vermodern werden; jedenfalls hoffe ich, daß sie sich halten; das Verpackungsmaterial der Kommisrationen ist außen gewachst. Ich zeichne alles: angefangen von Personen – von Morrie und Max, Jim und Fred, Whistle und Louis sind mir einige ganz ordentliche Porträts gelungen, die ich bei mir habe – über Teile unserer Ausrüstung bis hin zu Eindrücken von unseren jeweiligen Aufenthaltsorten – Bäumen und Tannenzapfen, Bauernhäusern, Landschaften, Feldbechern und Flaschen; egal was. Es macht die Dinge wirklicher für mich; und gleichzeitig auch nicht allzu wirklich. Der Seesack mit all meinen Habseligkeiten samt Lageplänen und Zeichnungen ging verloren, als ich an der Mosel verwundet wurde. Trotzdem fuhr ich zwanzig Jahre danach zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern noch einmal hin. Ich fand mich nicht mehr zurecht; es hatte sich alles vollständig verändert, und ich konnte mich an keine der Stellen mehr genau erinnern.
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Es geht auf vier Uhr. Miller und ich haben von vier bis acht Wache. Ich zähle diese Schicht noch als Tagwache mit nur einem Mann pro Schützenloch, aber die meiste Zeit davon wird es schon dunkel sein. Ich habe mich selbst für den oberen Posten eingeteilt, um mir ein Bild von der Umgebung zu machen und mir alles genau einzuprägen. Besonders nach Rauch oder sonstigen Anzeichen von Feuer will ich Ausschau halten. Vielleicht erwische ich sie beim Abendessenkochen und kann ausmachen, wo sie stecken; wenn überhaupt jemand in der Gegend ist; nach menschlichem Ermessen muß jemand da sein. Ich rufe die beiden Posten an, um Mundy und Wilkins vorzuwarnen, daß wir kommen. Eine entsetzliche Vorstellung, von einem Wachhabenden erschossen zu werden, wenn ich zur Ablösung komme. Wahrscheinlich werde ich irgendwann einmal auf diese Art dran glauben müßen, ein rührendes, nutzloses Kriegsopfer. Miller und ich überprüfen unsere Gewehre und hängen uns jeder Handgranaten in die Taschen. Ich hoffe bloß, daß das elende Loch da oben fertig ausgehoben ist. Da Shutzer und Mundy während der vergangenen vier Stunden geschaufelt haben, dürfte es fertig sein. Bei hereinbrechender Dämmerung in durchwachsenem Erdreich zu graben ist eine Schinderei. Man kommt ins Schwitzen und muß dann in der klammen Kälte draußen hocken, während es dunkel wird. Im Hinausgehen bitte ich Bud, besonders auf Fahrzeuggeräusche zu achten, wenn er da unten hockt. Herrgott nochmal, wem sage ich das. Während des Anstiegs spüre ich, wie die Temperatur sinkt. Der Himmel ist von einem gleichmäßigen stumpfen Weiß; wenn es noch ein paar Grad kälter wird, könnten wir Schnee bekommen; das hätte uns gerade noch gefehlt. Ich kehre um und hole meine Zeltplane. Wenn es zu schneien anfängt, muß ich mir einen weniger sichtbaren Zugang zu dem Posten oben am Hang ausdenken.
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Father ist halb erfroren. Er ragt aufrecht stehend aus dem Loch und stampft mit den Füßen. Die Kuhle ist fertig ausgegraben, aber die lose Erde liegt noch auf einem Haufen. Das dürfte Shutzer und Mundy eigentlich nicht passieren. «Menschenskind, Wont, das ist vielleicht eine Kälte hier oben.» «Na ja, dafür ist es drinnen im Haus mollig warm. Bud hat Wasser aufgesetzt, bevor wir losgezogen sind; wir haben sogar ein Feuerchen im Kamin und richtig bequeme Betten mit seidenen Steppdecken.» «Ach, komm, Wont. Du willst mich bloß verkohlen.» «Kein Kohl; du wirst schon sehen.» Er hängt sich das Gewehr über die Schulter und nimmt den Helm ab. Ich hocke mich auf den Erdhaufen. «Apropos, Father, ich hab vergessen, das Kennwort auszugeben. Sag ihnen, es heißt ‹kalte – Bauern›. Gordon soll es Miller telefonisch durchgeben.» Ich frage mich, ob Mundy kapiert. Er war schon mit dreizehn Zögling in einer katholischen Seminarschule, so daß derlei Anspielungen oft spurlos an ihm vorbeigehen. Normalerweise werden die Kennworte von der Division ausgegeben, aber da sie uns diese nicht gut per Funk mitteilen können, müßen wir uns selbst welche einfallen lassen. «Vergiss nicht, Father: ‹kalte – Bauern.» Er ist bereits auf dem Weg nach unten. «Ja, ja, kapiert, ‹kalte – Bauern›.» Mit gebeugten Schultern, die Strickmütze auf dem Kopf, auf der einen Seite den baumelnden Helm in der Ellenbogenbeuge, auf der anderen Seite das Gewehr, das ihm langsam, aber sicher von der Schulter rutscht, stapft er bergab. Ich kenne niemanden mit einem so ausgeprägten Widerwillen gegen das Helmtragen wie Mundy. Er könnte durchaus der aussichtsreichste Anwärter auf den Titel des liederlichsten Soldaten der Gruppe sein.
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Dann bin ich allein. Ich hocke mich auf den Erdhaufen; gleich werde ich ihn abtragen. Das Fernglas liegt neben dem Loch auf einem Polster aus Blättern. Ich stecke es mir unter der Kampfjacke in den Gürtel; so ein Glas hält man am besten warm; dann beschlägt die Linse nicht, wenn man es vors Auge hält. Father ist nicht vorsichtig genug; von uns allen fürchtet er sich am wenigsten vor dem Sterben. Wenn ich glauben könnte, was er nach seinen Aussagen glaubt, hätte ich auch keine Angst zu sterben; ich würde den Helden spielen und geradewegs das Paradies anstreben. Ich werde die Sorge nicht los, daß er aus Unüberlegtheit einmal irgendeinen blödsinnigen Fehler macht und dabei ums Leben kommt. Schaufelweise werfe ich die lose Erde zwischen die Tannen und häufe Tannennadeln darüber. Ich kurble am Telefon und teile Shutzer mit, daß ich jede volle Stunde anrufen werde; ich habe mir seine Uhr ausgeliehen. Offenkundig hat die Bridgepartie schon angefangen: Stan redet mit mir wie mit einem lästigen Störenfried; ich bin jetzt bloß der Krieg, der beim Bridgespielen stört. Die Dunkelheit bricht rasch herein; schon verfärben sich die rötlichen Partien der Laubbäume violett; die Schatten unter den Tannen sind fast blauschwarz. Ich ziehe das Fernglas hervor und suche den gegenüberliegenden Hang ab. Ziemlich weit unten kommt ein rasch zu Tal fließender Wasserlauf in mein Blickfeld, etwas oberhalb davon ein flacher grauer Felsvorsprung, über den Wasser herunterfächert. Unmittelbar darunter, zwischen Felsvorsprung und Bach, mache ich Bewegungen aus! Die Lichtstärke der Gläser lässt mit zunehmender Dunkelheit rapide nach, und ich zittere wie Espenlaub, so daß ich das Fernglas kaum stillhalten kann. Ich rutsche tiefer ins Loch hinunter und stütze die Ellenbogen auf dem Rand ab. Auf dem Moos am Fuß des Felsüberhangs äsen drei zierliche Rehe. Das eine guckt mir direkt ins Gesicht und verstellt - 79 -
lauschend die langen Ohren. Es kann unmöglich so weit sehen, und das Tageslicht ist schon zu schwach, um noch auf dem Objektiv aufzublitzen. Hastig stecke ich das Glas wieder in den Gürtel und angle meinen 2B-Stift und eine zerschnittene, zurechtgefaltete Pappschachtel aus der Jackentasche. Ich versuche, das Gesehene aus dem Gedächtnis zu skizzieren, den Zauber des Augenblicks einzufangen, aber vergebens. Meine Erinnerung ist nicht exakt genug, und der Wunsch, das alles auf eine kleine graue Fläche zu bannen, übersteigt meine Fähigkeiten. Teilweise liegt es an der Entfernung, zu viel Himmel, Hügel, Wald sind dazwischen; teilweise liegt es daran, daß ich etwas anderes erwartet hatte. Es ist schwierig, das Glücksgefühl von Frieden zu vermitteln, auch auf einer Zeichnung. Noch einmal greife ich nach dem Fernglas und suche den Nachbarhang weiter ab. Dabei stelle ich mir vor, ich wanderte tatsächlich hinüber. Ich überquere die Straße, aber es wird schon so dunkel, daß ich kaum noch etwas sehen kann. Mit knapper Not erkenne ich Miller neben der Brücke. Er raucht, und bei jedem Zug leuchtet ein glühender Punkt auf. Mir scheint, ich sehe ihn schreiben. Vielleicht können wir uns auf ein neues Kreuzworträtsel gefasst machen oder, besser noch, auf eines seiner Gedichte. Er schreibt Gedichte über alles mögliche, meistens jedoch über technische Dinge. Worte wie Nockenwelle, Universalgelenk, Differential, Antriebswelle, Ausgleichsscheiben, Doppelvergaser oder selbst Hubraum sind für Miller Musik. Ich krame eines der kleinen Viererpäckchen, die wir mit den Lebensmittelrationen bekommen, aus meiner Kampfjacke, ducke mich ins Loch und stecke eine Zigarette an. Ich rauche nur noch drei pro Tag, aber wenn ich friere und Angst habe, fällt es mir schwer, der Versuchung zu widerstehen. Eine gerissene Verkaufsstrategie der Zigarettenhersteller, jungen Rekruten Zigaretten in der Feldverpflegung mitzugeben. Sie werden uns alle als lebenslange Kunden an der Angel haben, - 80 -
wenn der Krieg vorbei ist. Das heißt, wenn dann noch jemand von uns lebt. Eines von Gordons wirksamsten Argumenten gegen das Rauchen. Ich nehme einen tiefen Zug; dabei durchströmt mich ein Gefühl von Wärme und beschwichtigt das innere Bibbern. Mein Bauch muckt jetzt nach der Schaufelei wieder auf. Eine kleine Morphinspritze würde Wunder wirken; vielleicht werde ich allmählich doch süchtig. Inzwischen ist es noch dunkler geworden. Auf den Baumwipfeln gegenüber glimmt nur noch bläulicher Widerschein, und die Bergkuppen hinter mir umhüllt schwacher Lichtdunst. Es ist sinnlos, Gedanken an die Zeit zu verschwenden, meine Schicht wird sowieso bald zu Ende sein. Ich habe nichts Wichtiges vor, gehe nirgendwohin, schlage mich nur an einem x-beliebigen kurz belichteten Tag durch einen kurzsichtigen Krieg. Ich klettere aus dem Loch und verschwinde zum Pinkeln zwischen die Bäume. Gott, ist das eine Kälte, und jetzt kommt auch noch Wind auf. Wir hätten doch besser Wintermäntel mitgenommen. Ich krieche zurück ins Loch und wickle mich in die Zeltplane. Soldatenwintermäntel haben den Nachteil, daß sie fürchterlich schwer und sperrig sind. Man fühlt sich tolpatschig und eingeengt darin, wie in einer Zwangsjacke, und doch geben sie nicht wirklich warm. Sie sind wie diese klobigen Galoschen, die wir im Morast von Metz über den Kampfstiefeln trugen und die bei jedem Schritt schepperten und die idealen Brutstätten für Fußkrankheit abgaben. Gordon brüllte nachts, bis er nicht mehr konnte. Morrie, Shutzer und ich tauschten unsere Stiefel gegen Socken ein und trugen nur Socken in den Galoschen, drei Paar übereinander; unsere Fußgewölbe sackten dabei fast durch, aber wir wurden nicht fußkrank. Daraufhin wollte uns der gute Sergeant Hunt tatsächlich vors Kriegsgericht bringen, weil wir Armeestiefel «veruntreut» hatten, er machte sogar schriftlich Meldung. - 81 -
Grauenhaft, sein Ende, wie ihm die Därme zwischen den Fingern durch in den Schlamm glitschten; lächerlich bis zum Schluss, auf Händen und Knien Schaukelbewegungen vollführend. Als er vornüberfiel, wurde alles mit Dreck vermanscht; wir konnten nichts mehr für ihn tun. Ich rufe die Besatzung im Haus. Diesmal nimmt Gordon ab. «Sag mal, Wont, warst du besoffen, als du das Spiel hier verbrochen hast? West saß auf einer Handvoll Pik und hat trotzdem einen fast perfekten Vier-Cceur-Kontrakt vermasselt. Der verflixte Wilkins hat uns natürlich wieder in die Tasche gesteckt. Du hast ihm doch nicht etwa einen Tip gegeben?» «Tut weh, zu verlieren, was Mel? Vielleicht solltest du dich doch lieber an die Medizin und die Musik halten und aufhören, dich als ASTPR-Allroundgenie aufzuspielen.» «Hör mal, ich verlange ja nichts weiter, als daß du nächstes Mal wenigstens versuchst, die Kartenverteilung wirklich dem Zufall zu überlassen; keine Tricks, keine Fallen. Ich bin überzeugt, daß Vance dich durchschaut, daß er deine Gedanken lesen kann.» «Meinetwegen, Mel, ich versprech’s. Ich werde mein Hirn leerfegen, leerer geht’s gar nicht.» «Das sollte dir nicht schwerfallen. Du darfst dich einfach nicht konzentrieren oder auch nur nachdenken, klar?» «Ich sag ja, Mel, ich versprech’s, aber es ist nicht so einfach, ein hochgezüchtetes Präzisionsmaschinchen wie mein Hirn so mir nichts, dir nichts abzustellen. Das mußt du schon einsehen.» «Da lachen ja die Hühner! Aber jetzt mal im Ernst. Mother schmurgelt grade Hackfleischeintopf und zur Auswahl noch Schweinefleisch und Bohnen. Welches unserer Entrees wählen der Herr?» Ich wähle Eintopf. Ich weiß nicht, ob ich es hinunterbekommen werde, aber alles ist besser als Bohnen. «Wir brechen auch die Dosen mit dem Fruchtcocktail an. Wenn du nächstes Mal ein - 82 -
anständiges Blatt machst, heben wir dir was davon auf; wir heben sogar für Miller was auf.» «Ich schwör’s; Miller zuliebe.» Ich hänge auf. Jetzt kommt es mir noch dunkler, noch einsamer, noch stiller vor hier draußen. Es ist immer ein irres Gefühl, allein am Boden eines Schützenlochs kauernd an einem Feldtelefon zu kurbeln und dann mit jemand am anderen Ende der Leitung zu reden. In Gedanken sehe ich sie mampfend da unten ums Feuer versammelt. Ich sollte doch besser meine Portion Dosenkompott gegen diesen lausigen Lunchkäse eintauschen. Ich halte unablässig Ausschau nach aufblitzendem Licht oder Feuerschein, aber es tut sich nichts. Das einzige, was ich sehe, ist Millers aufleuchtendes Feuerzeug und dann, jedesmal wenn er einen Zug nimmt, ein glühender Punkt. Ich hoffe inständig, daß ihm ein schön vertracktes Kreuzworträtsel einfällt; dann hätte ich die Bridgefanatiker ein Weilchen vom Hals. Die Versuchung ist groß, selber auch noch eine Zigarette zu rauchen, aber ich lasse es sein. Mel hat mich überzeugt. Ich muß aufhören damit; es ist idiotisch zu rauchen, den Qualm von irgendeinem brennenden, abgestorbenen Kraut in sich hineinzusaugen. Durch die Baumwipfel pfeift der Wind; Baumstämme schwanken, reiben sich aneinander und quietschen und knarren wie die Wanten auf einem Schiff. Dazwischen das Klirren vereister Blätter, die über den hartgefrorenen Boden fegen. Wenn sich jemand anschleicht, kann ich es womöglich gar nicht hören. Ich vergewissere mich durch einen Blick über die Schulter. Der Nadelwald hier ist bewirtschaftet; überall lange, schnurgerade Tannenreihen, wohin der Blick auch geht. Zeit für den nächsten Anruf im Haus. Ich schärfe Wilkins ein, für mich auf jeden Fall Eintopf zu machen. Bohnen würden mir die ganze Nacht lang höllische Blähungen bescheren. Ich bitte - 83 -
ihn, etwas Wein für mich aufzuheben und das mit dem Kaffee zu lassen. Wilkins fragt, ob ich ein oder zwei Portionen Schokoladeneis möchte. Typisch Wilkinsscher Humor; er muß einigermaßen auf Deck sein. «Für mich lieber kein Eis, Mother. Aber könntest du von dem Kompott zwei Kirschen für mich auf die Seite tun?» Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sei’s drum, vielleicht handle ich mir eine saftige Ruhr ein, dann schicken sie mich nach Hause. Auf die Tour bekam Whistle einmal eine volle Woche Feldlazarett; hinterher erzählte er, er hätte die ganze Zeit geschlafen, wenn er nicht gerade aß. Kurz danach, so scheint es mir jedenfalls, höre ich neben mir ein Geräusch. Ich muß wohl eingeduselt sein, so unvermittelt kam es. Shutzer und Mundy sind da. «Meine Fresse, habt ihr mir einen Schreck eingejagt.» Shutzer rutscht herunter ins Loch. «Ich dachte, der Posten wäre weiter oben am Hang. Jemine, das ist ja zappendüster hier draußen.» Ich stemme mich hinaus. Meine Beine sind steif und taub. Durchaus möglich, daß ich geschlafen habe. «Man gewöhnt sich daran; es gibt sowieso nichts zu sehen. Sind Gordon und Wilkins Miller ablösen gegangen?» «Ja, klar, sie sind gleichzeitig mit uns losgezogen. Gordon ist so sauer über das Spiel, daß er kaum noch mit jemand redet. Das Blatt, das du fabriziert hast, war genau die Art, die ihm nicht liegt. Er hat nicht die Nerven, einfach abzuwarten. Mother hat ihn reingelegt; dieser Wilkins ist ein Phänomen, weißt du.» «Wie geht’s Mother eigentlich?» «Prima, wie mir scheint. Wenn einer Bridge spielt wie ein Weltmeister, kann ihm nicht viel fehlen. Du brauchst dir keine grauen Haare wachsen lassen, Won’t. Es ist witzlos, eine Glucke zu beglücken.» - 84 -
Unten erkenne ich Miller, der entlang der Brunnenanlage heraufstiefelt; Wilkins und Gordon sind als schwarze Kleckse vor der Mauer auszumachen. Ich beschließe einmal mehr, lieber nichts von Mothers Querfeldeinlauf zu erzählen. «Hast du ihnen das Kennwort gegeben, Mundy?» «Klar, ‹kalte – Bauern›; du mit deinen Kommissschweinigeleien.» «Hier ist das Fernglas, Stan, lass es in der Tasche, oder steck es in den Hosenbund. Gib es weiter, wenn die Ablösung kommt.» «Wozu ein Fernglas? Man sieht ja nicht mal die Hand vor den Augen.» «Man kann ja nie wissen, Stan. Pass vor allem auf die beiden da unten auf und ob sich irgendwer von hinten an sie ranmacht. Mundy, dich wird Miller in zwei Stunden ablösen; wenn er gegessen und sich ein bisschen aufgewärmt hat. Stan, ich weiß, vier Stunden sind eine elend lange Zeit nachts, aber wenn wir zwei Posten unterhalten, bleibt uns nichts anderes übrig.» «Klar, ich weiß.» Shutzer hebt schnuppernd den Kopf. «Riecht nach Schnee, übrigens.» Ich greife nach meiner Zeltplane. Die beiden haben auch jeder eine dabei. Dann fällt mir ein, daß ich im Haus keine Verwendung dafür haben werde. «Hier habt ihr noch eine Zeltplane; wenn es schneien sollte, könnt ihr sie über euch legen. Ruft jede halbe Stunde unten an. Hast du deine Uhr dabei, Father?» Er nickt. Ich marschiere talwärts, dann bleibe ich noch einmal stehen. «Wenn Miller kommt, soll er genau von dieser Stelle aus das Kennwort sagen. Klar?» «Schon gut, Sergeant. Aber jetzt mach mal ‘n Punkt, ja? Unten steht das Essen warm, die Weinflasche neben dem Kamin ist halb voll. In Millers Tasse wird noch heißer Kaffee sein.» «Danke.»
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Ich gehe auf demselben Weg hinunter, auf dem sie heraufgekommen sind, aber unterwegs sehe ich mich nach einer Möglichkeit um, den Posten zu erreichen, ohne quer über diesen offenen Hang zu latschen. Etwa auf halbem Weg bemerke ich an der Rückfront des Hauses einen Lichtspalt zwischen Vorhang und Fensterrahmen. Drinnen angekommen, ziehe ich als erstes den Vorhang zu. Dann erst nehme ich die Handgranaten vorsichtig aus meinen Jackentaschen und lege sie zusammen mit dem Patronengurt in eine Ecke. Meinen Karabiner lehne ich aufrecht neben den Kamin. Ich achte darauf, daß er immer geladen und gesichert ist, eine Patrone bereits in der Kammer. Miller ist schon da und hockt mit halb aufgenestelten Stiefeln auf einer der Matratzen und ißt. Meine Müdigkeit ist größer als der Hunger, aber ich weiß, daß ich essen muß. Miller reicht mir die Weinflasche. «Donnerkeil, das ist vielleicht eine Kälte da unten. Durch das Bachbett pfeift ein ekelhafter, feuchter Wind. Ich war überzeugt, meine vermaledeiten Flossen würden mir abfrieren. Sie sind noch immer taub.» «Du, Bud, sieh dich künftig vor, wenn du dir einen Glimmstengel anzündest, ja? Ich konnte fast die Aufschrift auf deiner Hundemarke lesen von da oben. Irgend so ein deutscher Möchtegernheld könnte sich an dich ranmachen und dir eins ins Ohr pusten, während du unsterbliche Verse formulierst.» «Wo ich doch nur der Menschheit das komische Gefühl mitzuteilen versuche, das ich ganz hinten im Rachen kriege, wenn ich Schiss habe, so ein Gefühl, als würde Altöl aus der Ölwanne abgelassen, und ein Geruch wie von versengten Hühnerfedern und Teer.» «In diesem Krieg geht alles drunter und drüber, Bud. Du mußt aufpassen.» Der Doseneintopf schmeckt gut. Ich kaue gründlich und schlucke mit Bedacht. Zwischendurch knabbere ich Kommisskekse und spüle alles mit Wein hinunter. Ich halte - 86 -
mich an meinen Beschluss, auf Kaffee zu verzichten, obwohl er mir helfen könnte, wach zu bleiben. *** Das Telefon reißt mich aus dem Tiefschlaf. Miller, der im Schein des Kaminfeuers noch immer an seinem Gedicht herumtüftelt, hat Telefondienst, deshalb nimmt er ab. Gordon erstattet Bericht; alles in Butter. Als nächster meldet sich Shutzer, auch dort keine besonderen Vorkommnisse. Reihum werden Schachzüge durchgegeben. Miller holt seine Schachbretter hervor, verschiebt die Figuren, starrt sie gedankenversunken an. Mit Ausnahme von Wilkins und mir hat jeder in unserer Gruppe je drei zusammenklappbare Miniaturschachspiele im Marschgepäck. Manche Spiele ziehen sich über mehrere Tage hin. Wir haben ausgemacht, daß die Wachposten ihre Züge von draußen nur zu den üblichen Meldezeiten durchsagen. Wenn man ihnen freie Hand ließe, würden sie die Telefonbatterie innerhalb eines einzigen Tages ratzekahl leernudeln. Mother ist zwar unangefochtener Schachmeister in unserem Haufen, aber dennoch selten zum Mitspielen zu bewegen. Zu einer Partie Bridge lässt er sich mitunter, wenn es gar nicht zu umgehen ist, herab, aber Schach macht ihm angeblich überhaupt keinen Spaß. Ich stehe auf, spüle Gordons Feldbecher in dem einen Wassereimer und fülle ihn aus dem anderen. Das gleiche tue ich mit Shutzers Becher. Der Schlamper hat den seinen schmutzig stehen lassen, und brauner karamellisierter Zucker überzieht den Boden und die eine Innenwand des Bechers. Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, daß er sein Geschirr jemals abwäscht; dennoch kriegt er nie Dünnpfiff; er muß einen gußeisernen Magen haben. Die gefüllten Becher stelle ich dicht ans Feuer. Wenn sie zurückkommen, können sie das Wasser im Handumdrehen auf - 87 -
dem Primuskocher aufwärmen. Ich gehe auf die Toilette. Noch eine unserer glorreichen Entdeckungen. Die Spülung funktioniert nicht, weil wir den Haupthahn noch nicht gefunden haben; aber da keine Kloschüssel da ist wie in amerikanischen Toiletten, plumpst alles direkt in ein Loch hinunter. Das nenne ich Luxus, keine Latrine ausheben zu müßen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gehört das Graben der Kompanielatrine zu den Obliegenheiten des Sicherheits- und Aufklärungstrupps. Noch immer habe ich krampfartigen, dünnen Stuhlgang, aber es ist schon viel besser. Vielleicht wird mir ein bisschen hochherrschaftliches Schlossleben guttun. Wieder unten angekommen, fülle ich in zwei unserer selbstgemachten Fackeln Benzin nach, schiebe das Telefon zur Seite, krieche in meinen Schlafsack und warte. Auf Millers Uhr sehe ich, daß es nur noch fünf Minuten bis zur nächsten Telefonrunde sind, aber ich schlafe dennoch wieder ein. Erschrocken fahre ich hoch. Es muß bereits das zweite oder dritte Klingelzeichen sein. Gordon ist am Apparat. «Wilkins sagt, er hätte am Hang gegenüber was gesehen!» Ich richte mich im Schlafsack auf. «Gib mir Mother an die Strippe.» Mein Atem geht stockend und holpernd. Ich ringe um Beherrschung. So rasch hat mich der Tiefschlaf übermannt! Wilkins kommt ans Telefon. «Was hast du gesehen, Vance?» «Ich weiß auch nicht genau, Wont, aber irgendwas hat sich drüben am Berg mit der großen Felsnase geregt. Sie liegt im Mondlicht, und irgendwas habe ich gesehen.» «Vielleicht die Rehe, die ich vorhin ausgemacht habe, Mother.» «Mhm, klar, schon möglich; irgendwas hab ich jedenfalls gesehen.» «Gib mir Mel nochmal an den Apparat.» Knirschen und Knacken in der Leitung. Gordon ist zur Stelle. - 88 -
«Mel, einer von euch behält diese Gegend im Auge, der andere sucht die Straße ab. Die Burschen oben sollen das Terrain hinter euch beobachten. Lasst ja keinen ohne Kennwort durch. Habt ihr Handgranaten dabei?» «Ja, klar.» «Gut, ich sage Shutzer Bescheid.» Mundy meldet sich am oberen Apparat. «Father, Mother meint, er könnte an dem Berg gegenüber, oben neben dem großen Felsvorsprung, was gesehen haben. Kannst du von euch aus irgendwas ausmachen?» «Nee, rein gar nichts. Dieser Wilkins muß Eulenaugen haben. Ich kann kaum die Hand vor den Augen sehen.» «Womöglich nur Schreckhaftigkeit. Ich habe vorhin ein paar Rehe an der Stelle gesehen. Ihr passt rechts und links und hinter den beiden gut auf, ja?» «Kapiert.» «Absolutes Rauch- und Redeverbot bis zum nächsten Anruf, und guckt euch um, ob sich hinter euch was tut. Ruft sofort an, wenn ihr irgendwas Verdächtiges hört. Habt ihr beide Handgranaten?» «Ja. Alles klar.» Ich hänge auf und lege mich wieder hin. Wahrscheinlich nichts weiter. Wilkins wird überreizt sein. Vielleicht sollte ich der Gruppe doch von unserer gespenstischen Blitztour durchs Gelände erzählen. Die Nachricht von seinem totgeborenen Kind hat ihn bestimmt völlig aus dem Gleis geworfen. Ich grüble über die Geschichte nach und überlege, was zu tun ist. Das Leben in Shelby war für Wilkins nichts als vergeudete Zeit zwischen den Wochenenden. Wenn wir nicht auf dem Truppenübungsplatz sind, verbringt er die ganze Zeit damit, seine Ausrüstung in Schuss zu halten, Gewehr reinigen, putzen; der ganze Firlefanz. Seine Frau ist in die Stadt gezogen und hat
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einen Job als Kellnerin angenommen; Mothers einziger Lichtblick ist sein Wochenendurlaubsschein. Da er furchtbar kurzsichtig ist, reckt er den Kopf auf hängenden Schultern nach vorn, als spähte er durch eine Dunstschicht. Er ist nicht gerade die Idealfigur eines Infanteristen, und Geländeübungen sind ihm ein Greuel. Er schafft mit Hängen und Würgen die M l-Schützenschnur, und dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben. Hunt bekommt Wind davon, daß Wilkins’ Frau in der Stadt ist, und macht ihm das Leben zur Hölle. Er nennt Wilkins «Perfesser» und schleift ihn gnadenlos. Wilkins ist nur um so hartnäckiger hinter seiner Ausgeherlaubnis her; Hunt war ein Stinkstiefel, wie er im Buche steht; ein Riesenlulatsch, über einsachtzig, mit rotem Gesicht und Bierwampe. Seine Lieblingsdrohung war, daß er uns schon noch «das Kaffeewasser im Arsch kochen lassen» würde. Eines schönen Samstagmorgens, nach dem Stubendurchgang, als Ware seine Vorstellung schon bei uns gegeben hat, kommt Hunt noch einmal zurück, trommelt uns zusammen und lässt sich darüber aus, daß wir «ein einziger Sauhaufen» seien und daß er uns «schon noch zu richtigen Soldaten zurechtstauchen» würde, so verpimpelte Muttersöhnchen und Weiberhelden wie wir hätten das schwer nötig, und so weiter und so fort; ein typisch Huntscher Anpfiff. Wilkins hat seine Reisetasche schon gepackt und sie gerade, als Hunt hereinkommt, auf seine Pritsche gestellt. Hunt geht durch den Mannschaftsraum auf Wilkins zu. «Und da haben wir den gottverfluchtesten, lahmarschigsten Drückeberger von dem ganzen Saftladen.» Er beäugt die Reisetasche auf Wilkins’ Matratze. «Ja, leck mich am Arsch, was haben Sie denn schon wieder vor, Perfesser?»
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Stur geradeaus plierend steht Mother in der ihm eigenen buckligen Art, Haltung anzunehmen, am Fußende seiner Pritsche. Er sagt kein Wort. «Tja, das schlagen Sie sich mal schleunigst wieder aus dem Kopf. Dies Wochenende werden Sie Ihre Kackstelzen nicht von hier wegbewegen. Den Samstag werden Sie mal ohne Ihre Fotze auskommen.» Totenstille. «Sie ist meine Frau, Sergeant Hunt.» Mothers Gesicht ist weißer als seine Brillengläser, und seine Lippen sind zusammengekniffen, dünn, blau. «Das ist auch bloß ‘ne Fotze wie alle andern, Wilkins; die Weiber woll’n doch alle bloß eins: regelmäßig einen drin haben, sonst nichts. Die ist auch nicht besser als die andern.» Er hat schon beigedreht und entfernt sich durch den Gang im Mannschaftsraum, als Mother sich auf ihn hechtet. Unter dem Aufprall geht Hunt zu Boden. Er war nicht darauf gefasst, keiner von uns war es. Lewis angelt hinter sich und stößt die Tür nach draußen zu. Hunt liegt auf dem Bauch, rappelt sich aber wieder auf die Knie hoch. Er grunzt und brüllt wie ein Stier. Mother hat seine langen Beine von hinten um ihn geschlungen, hakt seine Fersen in Hunts Leisten und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Hunt greift hoch, um Wilkins’ Unterarm von seiner Gurgel wegzuzerren. Aber Mother drückt fest zu, und Hunt fällt wieder vornüber aufs Gesicht. Mothers Brille baumelt von einem Ohr herunter. Lewis geht zu ihm, nimmt sie ihm vorsichtig ab, klappt sie zusammen und legt sie auf Wilkins’ Matratze. Mucksmäuschenstill ist es inzwischen geworden, man hört nur noch Keuchen und das Stiefelscharren auf dem Holzfußboden. Wieder versucht Hunt aufzustehen. Er kommt in den Stand, aber Mother reißt ihn mit einem Rückwärtsruck hintenüber, so daß er selber gegen ein Bett kracht und Hunt auf den Bauch rollt. Hunt macht noch einen kläglichen Abwehrversuch, aber seine Arme und Beine schlottern; er rutscht bäuchlings auf den Boden. - 91 -
Wir stehen alle wie angewurzelt da und gucken zu; es können kaum mehr als drei Minuten vergangen sein, seit Mother sich auf ihn geworfen hat. Corrollo kniet sich neben die beiden. Sie sind zur Hälfte unter einer Pritsche eingekeilt. Es ist wie die Endphase eines blindwütigen Kampfes zwischen Hunden oder Katzen; nichts scheint mehr zu geschehen. Hunts Augen stehen weit offen, sein Gesicht ist bläulichviolett angelaufen. «Um Gottes willen, Mother, du bringst ihn noch um.» «Noch nicht; ich hab ein bisschen locker gelassen.» Mother bringt die Worte stoßweise, leise krächzend hervor; kaum zu verstehen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Mothers Stimme klingt matt, beinah hysterisch; er weint; sein Gesicht ist schweißglänzend. «Hör gut zu, Hunt. Ich könnte dich jetzt umbringen; das weißt du. Bei den vielen Zeugen hier würde ich mit zehn Jahren davonkommen. Ich würde den Krieg verpassen.» Mother hat sich vornübergekrümmt, so daß er Hunt ins Ohr sprechen kann. Fünf Sekunden verstreichen, fünf Schreckenssekunden. «Hunt, du bist es nicht wert, am Leben zu sein; du bist der Abschaum dieser Erde. Ich wüßte nicht, was mich abhalten sollte.» Eine Ewigkeit lang ist außer Keuchen nichts zu hören; Hunt bäumt sich noch einmal auf, aber Mother drückt wieder fester zu, und er gibt auf. «Willst du am Leben bleiben, Hunt? Wenn ja, dann knall mit dem linken Fuß auf den Boden.» Wir beobachten den Fuß. Er hebt sich, schlägt auf den Boden. «Um am Leben zu bleiben, mußt du dreierlei tun. Als erstes entschuldigst du dich wegen meiner Frau; zweitens lässt du mich in Zukunft in Ruhe.» Wir warten. Mother holt Luft. «Und außerdem gehst du stehenden Fußes in die Schreibstube. In einer halben Stunde komme ich meinen Urlaubsschein holen. Kapiert?»
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Während er das sagt, hat Mother noch etwas kräftiger zugedrückt. Hunts Gesicht verfärbt sich wieder violett, seine Augen tränen, seine Finger graben sich in Mothers Arm. Aus seiner Nase sickert ein dünnes Blutrinnsal. Sein Fuß hebt sich und schlägt drei, vier Mal fest gegen den Boden. Mother lässt los und steht auf. Hunt rührt sich nicht. Niemand macht Anstalten, ihm aufzuhelfen. Am ganzen Leib fliegend steht Mother über ihm, die Knöpfe seines Oberhemdes sind abgerissen, die Uniform ist durchgeschwitzt. Er stiert einige Sekunden lang auf Hunt hinunter, dann wendet er sich ab und legt sich, alle viere von sich gestreckt auf seiner Matratze aus. Endlich richtet Hunt sich auf. Er wischt sich mit dem Handrücken die Nase und beguckt sich das Blut. Dann beugt er sich, auf Hände und Knie gestützt, vornüber; er kotzt. Noch immer vornübergebeugt kämpft er sich auf die Füße, die Ärmel mit Erbrochenem bekleckert, und schaut in die Runde. Er presst ein rauhes Flüstern hervor. «Er hat mich von hinten angesprungen, ihr Kerle habt es alle gesehen.» Niemand sagt ein Wort. Der Gestank von Erbrochenem breitet sich aus. Es ist Anfang Mai und ziemlich warm. Wahrscheinlich kann man es wer weiß wie weit riechen. «Also, ihr Strolche, ich entschuldige mich für das, was ich über Wilkins’ Frau gesagt habe.» Noch immer antwortet niemand. Hunt torkelt auf die Tür zu. Corrollo macht sie auf, und Hunt geht zur Baracke hinaus, die Stufen hinunter. Wir sind alle wie betäubt. Mother setzt sich auf seiner Matratze auf und reißt sich die verschwitzten Klamotten vom Leib. Er geht in den Waschraum und duscht sich. Er kommt zurück, zieht sich bedächtig an und kramt sein Nähzeug hervor. Er näht die abgerissenen Knöpfe wieder an, dann hängt er das verschwitzte Ausgehhemd auf einen Bügel. Eigentlich erwarten wir, daß jeden Moment ein Trupp Militärpolizisten in - 93 -
unsere Baracke gestürmt kommt, aber Wilkins scheint überhaupt nicht nervös zu sein. Sein Gesicht ist noch immer gerötet, und das Gestell seiner Nickelbrille leicht verbogen, so daß sie ihm schief auf der Nase sitzt; die eine Seite ein paar Zentimeter höher als die andere. Ohne an irgend jemanden ein Wort zu richten, nimmt er seine Reisetasche von der Pritsche, auf der sie die ganze Zeit über gestanden hat, und geht die Treppe hinunter. Später wollte er nie damit herausrücken, wie es auf der Schreibstube weiterging, aber jedenfalls war die Sache ausgestanden. Bis wir in See stachen, kujonierte Hunt ihn nie mehr, und Wilkins bekam bis zum Schluss anstandslos seine Ausgangserlaubnis für die Wochenenden. Eine Woche nach der Geschichte an der Olsheimer Kreuzung bekam Mother von seiner Frau die Nachricht mit dem Baby. Wir hatten nichts davon geahnt, daß sie schwanger war. Father Mundy erzählte er von der Totgeburt, aber sonst hat er bis heute mit keinem von uns darüber gesprochen. Danach schien Mothers Traum von der eigenen Unsterblichkeit ausgeträumt. Zumindest vermute ich das. Ohne diesen Wahn könnte keiner von uns tun, was wir alle tun. Etwa eine Viertelstunde später klingelt das Telefon schon wieder. Shutzer ist am Apparat. «Won’t, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß es hier Wölfe gibt?» «Weiß ich nicht, Stan, möglich wäre es schon. Ziemlich wilder Tann hier, so ein richtiger Rotkäppchenwald.» «Mundy meint, es seien Eulen. Kannst du sie da unten hören?» «Nichts gehört; ich habe allerdings halb gepennt und nicht darauf geachtet.» «Heiliges Kanonenrohr! Da geht das schon wieder los! Hast du sie diesmal gehört?» «Hier ist nichts zu hören. Wo kommt es denn her?» - 94 -
«Hört sich an, als kam’s von dem Berg hinter uns, und dann kommt es wieder von den Hügeln gegenüber. Es ist schwer zu sagen, klingt wie ein Echo, oder als würden Leute miteinander quatschen.» «Ich ruf mal eben bei Gordon an.» Kaum habe ich aufgehängt, als es schon wieder klingelt. «Du kriegst die Motten, Wont! Da sind Indianer hier unten oder sowas. Mother meint, es seien Deutsche, die sich mit Lautsignalen verständigen. Ich werd nicht schlau daraus.» «Moment, Mel, ich bin gleich unten!» Ich hänge auf und rüttle Miller wach. «Bud, da draußen ist irgendwas im Busch; Stimmen oder Tiergeräusche. Ich gehe runter zur Brücke; hüte du das Telefon. Ruf Shutzer und sag ihm Bescheid. Dann rufst du Gordon und Wilkins und heizt ihnen ein, daß sie mich nicht abknallen sollen.» «Okay. Wahrscheinlich bloß irgendein Vieh; in so einem Wald dürften nachts allerhand Nachtjäger unterwegs sein.» «Hoffentlich hast du recht.» Ich greife nach Handgranaten und Patronengurten. Da es zum Schießen zu dunkel sein dürfte, nehme ich noch zwei zusätzliche Handgranaten aus der Kiste. Am Straßenrand entlang, wo ich unser Kabel verlegt habe, pirsche ich nach unten; in etwa zehn Metern Entfernung vom Posten halten sie mich an und fragen nach der Parole. Ich flitze hinüber und kauere mich zu ihnen an die Mauer. Sie sind angespannt; wir flüstern. «Habt ihr noch was gehört?» «Nicht mehr seit dem letzten Mal.» Wir hocken wartend im Dunkeln; an die fünf Minuten. Dann geht es los. Es hört sich tatsächlich wie Indianergeheul an, wie die schlecht nachgemachten Stimmen von Indianern, die Wolfsgeheul nachahmen. Aber es sind ohne Zweifel menschliche Laute; jetzt beschleicht mich doch Angst. Wilkins sieht mich an. «Diesmal wär’s näher!»
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Wir warten weiter in der Dunkelheit. Ich schwanke, ob Wilkins, Gordon und ich beieinander bleiben oder uns verteilen sollen. Dann entscheide ich mich fürs Dableiben. Es ist weniger eine Entscheidung als vielmehr die Lösung, die mir sowieso sympathischer ist. Ich nehme den Hörer und rufe Miller an. «Bud, rühr dich nicht weg vom Telefon.» «Klar, was ist eigentlich los?» «Ich glaube, da kraucht irgendein deutscher Spähtrupp in der Gegend rum!» «Gnade Gott! Okay, ich rufe Shutzer und Mundy nochmal an. Sonst noch was?» «Ja, sag ihnen, sie sollen uns Feuerschutz geben und gleichzeitig aufpassen, daß niemand sich hinterrücks anschleicht.» «In Ordnung.» «Und, Bud, wenn sie dir im Schloss auf die Pelle rücken, dann ergib dich, leiste keinen Widerstand. Ja?» «Sicher, jawoll, Sir, einfach mit dem heißgeliebten Krieg Schluss machen.» «Genau. Bloß keinen Quatsch, kein blauäugiges arisches Dichterheldentum.» Ich hänge den Hörer nicht ein. Wieder Totenstille. Ich nehme den Helm ab, um besser hören zu können. Weitere fünf Minuten Warten, angespanntes Schweigen; dann schallt Gejaule vom Berg herunter. Es klingt fast wie Gelächter, Hyänengelächter, oder das irre blecherne Lachen aus einer Geisterbahn. Dann, wenige Sekunden später, ertönt ganz in der Nähe, von der gegenüberliegenden Straßenseite, eine Stimme. «Heh, Ami!» Wir erstarren. Ich schiele aus den Augenwinkeln in die Richtung, kann aber nichts erkennen. Dann, etwa dreißig Meter zu unserer Rechten, ertönt eine weitere Stimme. «Heh, Ami! Schnaps? Zigaretten?» Schallendes Gelächter. Wir warten ab. - 96 -
Ich nehme eine Handgranate, ziehe den Sicherheitsstift heraus und halte den Hebel fest. Gleich werden wir irgend etwas abkriegen, höchstwahrscheinlich eine dieser Stielhandgranaten. Inzwischen wissen sie haargenau, wo wir stecken; wir hätten uns verteilen sollen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Mit dem linken Daumen löse ich die Sperre an meinem Karabiner; Gordon und Wilkins entsichern auch; ein fürchterlicher Radau in der Stille. Der Telefonhörer ist noch immer nicht eingehängt, teilt sich lautlos der Nacht mit. Aber wenn ich aufhänge, ruft Miller uns wahrscheinlich an, deshalb unterbreche ich die Leitung nicht. Meine Beine vollführen einen eigenmächtigen Tanz, mein ganzer Körper vibriert. «Ami! Schlaf gut, ja?» Das kam wieder von derselben Stelle; dann meine ich, eine Bewegung zu hören, aber sehen kann ich noch immer nichts. Weiteres Ausharren in der Finsternis; dann ein Knacken im Unterholz, das sich den Hügel hinauf von uns entfernt. Miller pfeift ins Telefon, um uns auf sich aufmerksam zu machen. Ich nehme den Hörer auf und beuge mich dicht über die Sprechmuschel. «Miller?!» «He, was geht da eigentlich vor sich? Ich versuche die ganze Zeit, euch zu kriegen!» «Ist oben irgendwas los?» «Nichts.» «Sie haben uns angequatscht hier unten.» «Heiliger Bimbam!» «Ich rufe in zehn Minuten zurück. Läute du lieber nicht an hier unten.» «Verstanden.» Ich hänge den Hörer behutsam an den Haken. Die ganze Zeit über hatte ich die Handgranate in der rechten Hand, den Sicherungsstift mit dem Ring an einem Finger der Linken. Sachte schiebe ich den Stift wieder durch seine Öffnung am Hebel und lasse dann vorsichtig los, bis der Hebel einrastet. Er sitzt fest. Tatterig wie ich bin, hätte ich das - 97 -
verflixte Ding leicht fallen lassen können. Zusammengekauert lauern wir weiter, sprungbereit, schussbereit, aber nicht bereit zu sterben. Nach weiteren fünf Minuten, die wie ein Jahr sind, winke ich Gordon näher. «Mel, geh du nach links, und ich gehe rechts lang. Wir treffen uns gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wieder. Ich bin einigermaßen sicher, daß sie sich verzogen haben, aber Kontrolle ist besser. Wilkins, du deckst uns. Daß wir uns bloß nicht gegenseitig erschießen, was auch passiert.» Gordon huscht geduckt an unserer Mauer entlang unter der Brücke hindurch; ich schleiche in der anderen Richtung bis zur Mauerbiegung. Dann warte ich, bis Gordon soweit ist, und wir sprinten beide gleichzeitig über die Straße. Nichts geschieht. Langsam, geräuschvoll bewegen wir uns zwischen den Bäumen bis in Sichtweite aufeinander zu; kein Granatüberfall, nichts. Auf ein Handzeichen wetzen wir dann beide über die Straße zurück und springen die Böschung hinunter zu Wilkins. Wir sind außer Atem, mehr vor Angst als vor Anstrengung. Mother guckt mich fragend an. «Keiner mehr da, Vance, und ich kann nicht behaupten, daß ich ihnen nachtrauere.» «Ja, ich habe euch die ganze Zeit beobachtet; es hat sich nichts gerührt, soviel ich sehen konnte.» Ich nehme den Hörer ab und kurble. «Bud, hier unten ist die Luft wieder rein. Ich glaube, sie sind verduftet. Wie sieht’s oben aus?» «Mundy sagt, hinter ihnen hätte wer gelacht und irgendwelches Kauderwelsch gequatscht. Shutzer behauptet, es sei Deutsch gewesen, aber das ist alles.» «Na, das reicht ja. Aber sonst sind sie auf dem Damm?» «Klar, ich habe gerade mit ihnen gesprochen.» «Es ist Viertel vor zehn; sag den beiden, daß du in etwa zehn Minuten oben bist. Ich glaube, für heute ist der Zirkus zu Ende.»
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«Willst du damit sagen, daß ich doch noch nicht dazu komme, mit dem Krieg Schluss zu machen?» «Diesmal noch nicht.» Ich hänge auf. Wir sehen uns an. Jetzt kommt es uns schon halbwegs komisch vor; jedenfalls müßen wir grinsen. «Mel, ich gehe rasch rein, mich aufwärmen, aber ich bin gleich wieder da. Wenn noch irgendwas ist, rufst du sofort an. Gib mir Feuerschutz, solange ich da raufaste.» Unterwegs spüre ich Schneeflocken auf dem Gesicht. Vollauf mit meiner Angst beschäftigt, habe ich gar nicht gemerkt, daß es wieder zu schneien anfing. Der Boden ist steinhart, und der Schnee bleibt liegen, ohne zu schmelzen. Als ich den Raum betrete, erhitzt Miller gerade Wasser in unseren beiden Feldbechern. Für Gordon und Mundy wärmt er schon zwei Portionen vor. Wir streuen den Inhalt von ein paar Nescafe-Beuteln und Zucker hinein, dann setzen wir uns auf die Betten und gucken in unser Feuer. Es verschlingt Holz wie ein Moloch. Das Telefon klingelt, und einen Moment lang setzt mein Herzschlag aus. Shutzer meldet sich vom oberen Posten. «Sag mal, Won’t, was war da unten eigentlich los zum Kuckuck?» «Stan, mir scheint, die deutsche Wehrmacht dreht langsam durch. Ist das nicht eine gute Nachricht?» «Miller behauptet, sie hätten euch angequatscht. Was haben sie denn gesagt?» «Zuerst ‹Heh, Ami›, und ‹Schnaps› und ‹Zigaretten›; alles, was deutsche Kriegsgefangene so sagen, bloß nicht ‹Kamerad›. Dann kam etwas, das sich wie eine Drohung anhörte; irgend was wie ‹slap good›. Das haben sie gesagt, kurz bevor sie Leine zogen.» «Wie war das nochmal?» «Vielleicht sowas wie ‹slafgood›, kompletter Blödsinn.» «Mensch, Won’t! Das ist Jiddisch! Das hat meine Großmutter immer gesagt, wenn wir ins Bett mußten. Es heißt ‹Schlaf gut›
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und bedeutet soviel wie ‹sleep well› bei uns im Amerikanischen.» «Momentchen mal, Shutzer. Du willst mir doch nicht einreden, daß wir diese ganze Rumkrebserei in der Kälte, in dem Schnee, die ganze Angstpartie bloß gemacht haben, weil ‘ne Handvoll bekloppte Sauerkrautfresser kontrollieren wollten, ob bei uns alle in der Falle sind? Ich kann dir sagen, wenn es das war, Stan, dann haben die schon einen Knacks weg von diesem hirnrissigen Krieg.» «Trotzdem, jede Wette, das wär’s, Won’t. Ich wette hundert zu eins, daß es genau das war. Dreckige Naziarschlöcher, die sich einen Ast über uns lachen und uns mürbe machen wollen, bevor sie uns abschlachten.» Um fünf vor zehn schlittere ich wieder zur Brücke hinunter, und Miller steigt zum oberen Posten. Die Schneedecke wird dicker. Genau an der vereinbarten Stelle verlangen sie das Kennwort von mir. Gordon eiert Halt suchend über die schneebedeckten Tannennadeln ins Haus zurück. Wir sind alle halbwegs besoffen vor Müdigkeit. Wilkins und ich kauern schweigend nebeneinander und blicken in das Schneegeriesel. Die Stetigkeit fallenden Schnees hat etwas Besänftigendes. Vielleicht weckt es all die schönen Kindheitserinnerungen an Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen. Gott, in irgendeinem Winkel meiner Seele bin ich noch immer ein kleiner Junge; was ist eigentlich passiert? Eben war ich noch siebzehn und in der High-School, und unversehens bin ich neunzehn und hocke hier, in diesem Schützenloch. «Was steckt wohl hinter dem ganzen Klamauk, Wont? Was meinst du? Es hat sich angehört, als wären die mehr Mann als wir. Und was, wenn sie einen Angriff starten? Wir hätten doch nicht die geringste Chance.»
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«Ich glaube nicht, daß hier irgendwer irgendwen angreifen wird, Mother. Vermutlich wollten die bloß rauskriegen, ob hier überhaupt jemand ist, und wenn ja, wieviel Mann hoch. Sie haben den Rauch gesehen und dann die Gegend ausbaldowert, das ist alles.» Um Mother auf andere Gedanken zu bringen, bitte ich ihn, mir dabei zu helfen, neue Bridgekarten anzulegen. Wir müßen dringend die Spielvorräte für die Bridgefanatiker aufstocken. Wenn sie kribblig sind oder sich langweilen, spielen sie mehr als sonst. Womöglich verlegen sie sich sogar wieder auf ihr komisches PANTRANT, ein Wortschatzspiel, das Shutzer erfunden hat. Das Punktezählen ist dabei so kompliziert, daß es schon eines mathematischen Genies oder einer Addiermaschine bedarf, um den Spielstand zu ermitteln. Ich ziehe die bereits gespielten Bridgeblätter aus meiner Brusttasche. Sieben an der Zahl. Das älteste, fast schon vorsintflutliche Blatt, ist ganze fünf Tage alt. Das könnte ich ihnen unter Umständen noch einmal unterjubeln, aber ich komme nicht umhin, neue Blätter zu zeichnen. Gebote, Kontrakt und Ergebnisse der ersten Partie halte ich fest; auch die Partnerkombinationen Nord-Süd und Ost-West. Sie unterschreiben und datieren jede gespielte Hand. Ein regelrechtes vierdimensionales Karussell. Ich bin Gruppenführer und Buchhalter in einer Person. Mitten im Krieg stehen wir beide im Schneetreiben, in stockfinsterer Nacht, an eine Brückenmauer gelehnt und kritzeln Kartensymbole auf Pappschnipsel aus meinen Verpflegungskartons. Einmal hat Shutzer ein deutsches Seitengewehr für ein paar Karteikarten an einen der Schreibstubenhengste in der Personalabteilung verhökert, aber sie waren schon abgegriffen, bevor wir die Spiele verloren, die Morrie bei sich hatte. Shutzer ergatterte bei dem Handel sogar noch ein paar Gummiringe als Dreingabe. Die kann ich jetzt gebrauchen, um jedes Blatt gesondert aufzubewahren; auch - 101 -
meine Zeichnungen bündle ich damit. Shutzer ist der pfiffigste Tauschhändler und Organisator der Gruppe und obendrein unermüdlich bemüht, unsere Kampfmoral anzufeuern. Vielleicht kann er die P38-Pistole, die ich bei Metz einem SSOffizier abnahm, gegen irgend etwas Brauchbares eintauschen; ein Paket Schreibmaschinenpapier beispielsweise. Bei dem Gedanken an blütenweißes Briefpapier könnte ich heulen. Mother heckt wahrhaft teuflische Blattmuster aus. Es sei wie Krimischreiben, sagt er. Wenn man anfängt, weiß man schon genau, wie es ausgeht, und da man Mörder und Opfer genau kennt, kann man die Geschichte vom Ende her aufrollen und nach Herzenslust falsche Fährten und verwirrende Hinweise einstreuen. Der Inbegriff ist für ihn ein Blatt, das beide Parteien in der Gewissheit wiegt, den Groß-Schlemm bombensicher in der Tasche zu haben, und dabei so viel Fallen birgt, daß beiden Parteien ein Reinfall blüht. Während er seine spitzfindigen Manöver ersinnt, spähe ich immer wieder in die Nacht hinaus. Ich schreibe fast nur auf, was Wilkins mir diktiert. Mel kann beruhigt sein, ich denke nicht nach, mein Hirn ist wie leergefegt. Meine Bridgekenntnisse sind nicht berühmt, aber ich kann ermessen, daß die Blätter, die Mother erfindet, jeden ernsthaften Bridgespieler zum Wahnsinn treiben könnten. Wer würde es für menschenmöglich halten, daß eine Partei alle vierzig Punkte hat und trotzdem vierzehnhundert Miese kassiert? Schon manches Mal war ich überzeugt, Miller, Shutzer oder Gordon würden Wilkins gleich an die Gurgel gehen. Nur Father ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ihm kommt es, wie mir scheint, nur darauf an, die Spiele irgendwie hinter sich zu bringen, ohne schwerwiegende Schnitzer zu machen. Nur einmal hörte ich, wie er sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, Wilkins und seine Bridgehände, das sei, als wolle der Teufel mal ein Weilchen den lieben Gott spielen. Shutzer verbringt Stunden damit, Mundy in die hohe Kunst des Bietens - 102 -
einzuweihen. Gordon und Miller sind der festen Überzeugung, daß Shutzer ihm das Mogeln beibringt und den einzigen Heiligen unter uns entweiht, indem er einen Falschspieler, einen Halunken aus ihm macht, dem die schlimmsten Höllenqualen drohen. Angeblich spielt Wilkins nicht gern mit, weil er eine einmal gespielte Partie nicht vergessen kann, egal wie viele Tage oder Spiele dazwischenliegen. Zuerst lachten alle nur, als sie das hörten, aber dann wurden sie eines Besseren belehrt. Sie sind froh, wenn Wilkins überhaupt mitmacht, weil er so ein As ist, aber wenn daßelbe Blatt zum zweitenmal gespielt wird, gewinnt seine Partei unweigerlich, selbst wenn er Mundy oder mich zum Partner hat. Mother beteuert, es sei keine böse Absicht, er könne ein Spiel beim besten Willen nicht vergessen. Für ihn ist eine Bridgehand wie ein Gesicht, etwas, dessen man sich entsinnt wie einer Gestalt, ohne sich einzelne Karten oder Spiele bewusst einzuprägen. Bud ist der festen Meinung, daß Mother eine Art geistig zurückgebliebenes Genie ist. Genial ist er allerdings, geistig zurückgeblieben auf keinen Fall. Während der ersten zwei Stunden rufe ich regelmäßig oben an. Wilkins bringt es derweil auf vier Blätter, die ihnen das Leben zur Hölle machen werden. Wir können uns darauf gefasst machen, daß wir dieses Schloss mit echten, unheilbaren Geisteskranken verlassen werden, die mit Schaum vor den Mündern ‹Impasse› oder ‹Yarborough› lallen. Denkbar wäre es; der Belastbarkeit des menschlichen Geistes sind Grenzen gesetzt. Gegen Ende unserer Wache ist Mother ein Eiszapfen. Er ist so dünn und so lang, daß er trotz all der um die Brust gewickelten oder mit Sicherheitsnadeln an die Innenflächen seiner Hosen gehefteten oder unter dem Helm um Kopf und Hals gebundenen Wollstreifen völlig durchgefroren ist. Ich darf gar nicht daran denken, wie es weitergehen soll, wenn es wirklich - 103 -
Winter wird; schließlich haben wir noch nicht einmal Weihnachten. Noch immer sprechen wir nicht über den Vorfall vor zwei Tagen. Ich werde nicht darauf anspielen, solange er nicht selber davon anfängt. Eine Viertelstunde bevor Wilkins’ Wache zu Ende ist, rückt Father Mundy schon an. Er stapft daher, den Kopf eingezogen, ohne aufzublicken, als wanderte er hinter einem Abschlag her über einen Golfplatz. Er vergisst, stehenzubleiben und das Kennwort zu sagen. Aber er ist da, und sogar vor der Zeit; man kann ihm keinen Vorwurf machen. Mother guckt auf Mundys Uhr. «Mensch, Paul, ich bin fast noch eine Viertelstunde lang dran.» «Ich war es leid, Gordon schnarchen zu hören. Er macht mehr Rabatz als eine Heulboje! Wir sollten ihn gegen die Deutschen einsetzen und sie mit Schallwellen bombardieren. Eine hervorragende Geheimwaffe. Wenn du raufgehst, wirst du schon hören, was ich meine, Vance. Aber stopf dir die Finger in die Ohren, wenn du zur Tür reingehst, sonst platzen dir glatt die Trommelfelle.» Wilkins stampft mit den Füßen und schüttelt Schnee von sich ab. Ich stecke die Bridgekarten ein, an denen wir gerade gearbeitet haben. «Ist es dir wirklich recht? Willst du jetzt schon übernehmen?» «Ja, wirklich, kein Problem. Aber halt dir die Ohren zu.» «Danke. Ich bin halb erfroren.» Vornübergebeugt, die Füße nachschleifend, zieht Mother los. Father streift sich das Gewehr von der Schulter und rammt das Kolbenende in den Schnee, der schon eine fingerdicke Decke bildet. Die Augendeckel klappen mir immer wieder zu, und der langsam und stetig rieselnde Schnee muntert mich nicht gerade auf. Außerdem kommen jetzt die Nachwirkungen der Angst. Der Schnee sieht aus, als fuchtelte mir jemand mit einem Stab vor den Augen herum. Wenn ich mich auf die Flocken dicht vor mir konzentriere, verdrehe ich langsam die Augen nach - 104 -
oben. Wenn ich durch sie hindurchschaue, verschwimmt die Weiße, und ich verfalle in eine Art Trance. «Was dagegen, wenn ich mir eine ins Gesicht stecke, Sergeant?» «Das mußt du mit dir selber, mit dem lieben Gott und mit Gordon ausmachen, Father. Aber duck dich wenigstens, wenn du sie anzündest, und halt immer was vor. Ich glaub zwar nicht, daß irgend jemand viel sehen kann durch das Gestöber, aber pass trotzdem auf.» Wie ein Bär beugt Mundy sich vornüber; um ein Haar erstickt er die Flamme. Als er wieder auftaucht, pafft er an der zwischen den Fingern seiner Handschuhe steckenden Zigarette. Ich pule auch noch eine aus meinem Viererpack und zünde sie bei ihm an. Sie wird mir helfen, wach zu bleiben. Meine Zeltplane habe ich oben, in dem anderen Schützenloch, liegengelassen, und Father hat seine auch nicht mit heruntergebracht. Das werden zwei kalte Stunden, und die längste Zeit liegt noch vor uns. Ich wende mein altes Geheimrezept an und rede mir selber ein, daß immerhin Zeit vergeht, und je mehr Zeit vergeht, desto näher rücken Kriegsende und Heimkehr, also mach das Beste draus, hör auf zu warten. Aber die Suggestionskraft reicht nicht aus, ich bin zu müde. Father und ich stehen qualmend in unserer Kuhle, bohren mit den Augen Löcher in den fallenden Schnee und hoffen, daß wir nichts sehen. Es ist sogar noch verzwickter. Wir wollen unbedingt sehen, was auch immer es zu sehen geben könnte, und beten gleichzeitig, daß es nichts zu sehen gibt. Es ist zum Verrücktwerden. Mundy stützt die Ellbogen auf die Mauer und späht darüber, und ich lehne mich mit dem Rücken daran und suche mit den Augen die Gegend um das Schloss ab. Mir schwant schon, was mir jetzt bevorsteht. Unser Seelenhirte Mundy hat ein verlorenes Schaf wie mich ein paar Stunden lang ungestört in seiner Obhut und wird garantiert wieder einen - 105 -
Bekehrungsversuch unternehmen, «Du, Wont; verrätst du mir noch einmal, warum du aus der Kirche ausgetreten bist?» «Du bist auf dem falschen Dampfer, Mundy, ich bin aus keiner Kirche ausgetreten. Ich hab nicht an den Papst geschrieben und um Exkommunizierung gebeten; das hast du dir aus den Fingern gesogen.» «Aber du gehst nie zur Messe.» Father stammt aus Boston, und seine schwerzüngige, schleppende Aussprache unterstreicht den Bostoner Tonfall noch. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten; es ist, als spielte man an einer Übungswand Tennis; man weiß immer schon im voraus, wo der Ball hinprallen wird. Dabei ist Mundy nicht etwa schwer von Begriff; wenn man von Wilkins einmal absieht, ist er vielleicht sogar der Gescheiteste von uns allen. Er hat nur ein schlichtes Gemüt. Morrie vertrat immer die Meinung, daß Mundy wahrscheinlich der beste Langsamdenker der Welt sei. «Mundy, ich empfinde es als Heuchelei, zur Messe zu gehen. Wenn ich den Mummenschanz mitansehen muß, wird mir immer ganz gotteslästerlich zumute. Wie Milch, die gerinnt, oder Saft, der geliert. Selbst ein einigermaßen vernünftiger Priester würde mich glatt aus dem Schoß der Kirche austreiben, bevor er eine einzige Messe zu Ende gelesen hat.» «Ach, komm, Wont, so ein schlimmer Fall bist du doch gar nicht. Du mußt nur um den rechten Glauben beten, dann wird er dir gegeben; das weißt du doch.» Er sieht mir voll in die Augen; der Kerl meint es so verdammt ehrlich. Ich sollte die Klappe halten. «Schon allein zum Beten braucht es Glauben, Father; und ich kann mich nicht erinnern, daß ich den je gehabt habe; ich glaube nicht mal, daß ich ihn überhaupt will. Es ist wie mit dem Singen, Fliegen, Tanzen oder Gedichte-Schreiben; der eine tut’s, der andere nicht, der eine kann es, der andere kann es nicht.»
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Wieder ein rascher, prüfender Blick in die Runde. Wir können effektiv nicht weiter als drei Meter sehen. Bei der Dunkelheit und dem anhaltenden Schneefall, der jeden Laut erstickt, könnte man uns spielend anschleichen, ohne daß wir das geringste merken würden. Wenn man erst einmal anfinge, sich alles auszumalen, was passieren könnte, würde man in Nullkommanichts durchdrehen. «Father, als ich zwölf war, haben mir die Jesuiten ein Bombenangebot gemacht: Gymnasium, Universität, Studium in Rom, alles kostenlos. Ich bin nicht drauf eingegangen.» «Davon hast du mir nie erzählt. Die Jesuiten, Junge, Junge, das ist das Beste vom Besten. Was war denn los?» «Ich hab eben abgewinkt. Also, wenn einer wirklich gläubig ist, Mundy, dann wäre es idiotisch, nicht die Priesterlaufbahn einzuschlagen. Was sind schon poplige fünfzig oder sechzig Jahre, gemessen an der Ewigkeit? Ich, für meinen Teil, hab’s nicht gemacht, und da ich nicht gerade ein Idiot bin, kann ich auch nicht wirklich geglaubt haben. Nichts zu machen. Ich bin nun mal ein Heide. Damals dachte ich, meine Eltern würden nie wieder ein Wort mit mir reden.» Inzwischen scheint der Schnee noch dichter zu fallen. Ich hatte mir geschworen, mich auf keine dieser Debatten mehr einzulassen. Mundy wird mich mit seinen stereotypen Argumenten nie überzeugen, und was will ich denn erreichen, seine Welt zerstören? Im Grunde meines Herzens würde ich mich vielleicht gern überzeugen lassen. Irgend etwas könnte ich brauchen, keine Frage. Father ist verstummt. Wir wechseln die Positionen. Jetzt starrt er zum Schloss hinauf; ich drehe mich um und pliere angestrengt durch die Bäume in den Wald. Meine Füße schlafen allmählich ein. Ich klopfe mir den Schnee von den Schultern. Noch ist mir die Kälte nicht bis in Brust oder Bauch gekrochen, mir ist nicht mal besonders mulmig zumute. Mein Magen rumort nicht, und ich falle noch nicht um vor Müdigkeit. Nur meine Lider wollen dauernd zuklappen. - 107 -
«Soll das heißen, daß du den Glauben verloren hast, weil sie einen Priester aus dir machen wollten?» «Was versteht ein zwölfjähriger Bengel schon vom Glauben? Ich hatte gerade erst den Glauben an den Weihnachtsmann und den Osterhasen an den Nagel gehängt. Und ich war mir nicht so sicher, ob es Jack Armstrong und Daddy Warbucks in Wirklichkeit nicht doch gibt. In dem Stadium damals hätte ich alles und nichts geglaubt.» «Wie soll denn ein Mensch erkennen, ob er den Glauben hat oder nicht? Was ist Glaube?» «Das ist dein Metier, Father. Du bist der Fachmann; die Frage mußt du mir erklären.» Er schweigt minutenlang. Als hätte er einen Ball an die Wand geschlagen. «Wieso machst du denn diesen Krieg mit? Die Hitlernazis sagen daßelbe atheistische Zeug wie du. Vielleicht stehst du auf der falschen Seite.» «Red kein Blech, Mundy. Du hast es doch selber gesehen, deutsche Landser mit Rosenkranz, Messbuch und Heiligenbildchen; die sind doch diejenigen, die ‹Gott mit uns› auf dem Koppel stehen haben. Die deutschen Priester reden ihnen ein, sie würden einen heiligen Krieg gegen uns führen. Beide Seiten stellen sich als Märtyrer dar, die gegen die Gottlosen kämpfen. Im Namen derselben Religion werden wir alle in ein und denselben Himmel geschickt. Wir werden uns gegenseitig auf den Füßen herumtrampeln da oben. Lauter junge Kerle, keine Mädchen, keine Frauen, keine alten Leute, keine Priester.» Jetzt bin ich wieder wach. Verblüffend, daß man vom Diskutieren sogar warme Füße kriegen kann. Mir bleibt nur noch eine Zigarette für den ganzen Tag. Sobald ich wieder friere, werde ich mir eine anstecken. Der Schnee verbreitet sanfte Stille; es weht kein Wind. Fast ein Uhr auf Mundys Uhr. Gleich ist es überstanden. «Und übrigens brauche ich mir keine Sorgen zu machen, Father. Ich habe die neun - 108 -
Fasten-Freitage drei Mal eingehalten. Mir ist ‹Die Gnade eines glücklichen Todes› gewiss. Ich werde, wenn mein letztes Stündlein geschlagen hat, ins Gras beißen und mich schnurstracks ins Paradies verkrümeln.» «Du mußt sie im rechten Glauben machen, sonst zählen sie nicht.» «Jesus, Maria und Josef, und wie ich geglaubt habe. Ich war immer schön brav in der Sechs-Uhr-Messe und hab mir den Arsch abgefroren und gebetet, was das Zeug hielt. Manchmal waren die Nonnen und ich ganz unter uns und haben um die Wette an unseren Heiligenscheinen und an den Silbersternen in unseren Kronen gewienert. Mensch Mann, genaugenommen hast du nämlich einen abgehalfterten Ex-Gläubigen vor dir.» Ich schiebe Fathers Ärmel hoch und gucke auf seine Uhr. Die Zeit schleicht im Schneckentempo dahin. Wenn wir immer nur nachts im Schnee Wache schieben müßten, würde uns eine einzige Lebensspanne wie fünfhundert Jahre vorkommen. Mundy besitzt eine Benrus-Uhr, die ihm seine Eltern schenkten, als er auf die Seminarschule kam. Sein Vater ist Busfahrer, und bei Mundys geht es noch ärmlicher zu als bei mir zu Hause; seine Eltern müßen sich ziemlich in Unkosten gestürzt haben, um diese Uhr zu erstehen. Mindestens einmal täglich spielt Mundy auf seine «echte Benrus» an. Manchmal hört er sich an wie ein Sprecher in einer Werbesendung. «Weißt du, Wont, ich habe es nie durchgehalten. Zweimal habe ich es auf sieben gebracht. Einmal habe ich die Fasten gebrochen, weil ich direkt vor der Kirche einen Schluck Wasser aus dem Brunnen getrunken habe. Ich schwör dir, manchmal ist mir, als hätte es der Teufel höchstpersönlich auf mich abgesehen.» «Hat er vermutlich auch.» «Sowas darfst du nicht sagen.» «Wenn ich der Teufel wäre, wäre ich auch scharf auf Prachtstücke wie dich; mit einem verdorbenen Subjekt wie mir - 109 -
würde ich mich keine zwei Sekunden abgeben. Bei mir ist sowieso Hopfen und Malz verloren.» Ich habe die Ein-UhrMeldung verschwitzt; schon fast zehn nach. Ich kurble und muß zweimal klingeln lassen. Shutzer nimmt ab. «Alles in Ordnung hier unten, Stan. Wie sieht’s beim oberen Posten aus?» «Prima, sie haben sich schon gemeldet. Um euch haben wir uns aber langsam Sorgen gemacht; dachten schon, ihr wärt womöglich auf die Idee gekommen, euch in die Büsche zu schlagen und mit unserem hochverehrten Feind klammheimlich über Kapitulation zu unterhandeln.» «Leider nein, dazu hat der Mumm nicht gereicht. Father will mich wieder mal bekehren. Wenn wir miteinander ins Geschäft kommen, schweben wir demnächst vielleicht auf Engelsflügeln an euch vorbei. Daß ihr uns bloß nicht aus Versehen abknallt.» Mundy drängelt seinen Kopf an meinen, um mithören zu können. Shutzer flüstert in die Muschel. «Wie wär’s, könntet ihr nicht noch ‘n drittes, bloß bisschen beschnittenes Englein mitnehmen? Merkt ja keiner; ich häng mir ein Feigenblatt um.» «Wir werden es in Erwägung ziehen. Momentchen mal; Hochwürden lassen soeben ex cathedra verlauten: Wenn Drückeberger wie wir in den Himmel kommen, will er sich lieber mit dem Teufel einlassen. Zitat Ende. Weißt du, Stan, ich glaub fast, der Teufel hat was für Mundy übrig.» «Da kannst du Gift drauf nehmen, Won’t; so ‘n großer, weicher, weißer irischer Arsch wie seiner dürfte so recht nach Luzifers Geschmack sein.» «Klingt ganz, als wärst du selber scharf drauf, Shutzer. Du wirst uns doch nicht etwa schwul werden?» «Mir ist alles recht, Hauptsache, es bewegt sich und quiekst. Ach übrigens, das Brennholz ist fast wieder alle.» «Ich breche auf dem Rückweg ein paar Latten aus den Pferdeboxen.» - 110 -
«Ich wollte eben ‘n Stück aus der Wandverkleidung hier oben rausreißen, aber Mother hat einen Schreikrampf gekriegt und mich vergattert von wegen echten ‹Boiseriem› aus dem siebzehnten Jahrhundert und wertvollem Kulturgut und so.» «Okay, Stan, lass die Pfoten von der Wandtäfelung und ‹schlafgut›.» Ich hänge auf. Jetzt schneit es nach Strich und Faden; wenn man den Kopf in den Nacken legt, kann man kaum mehr atmen. Ich bleibe unten neben dem Apparat in der Hocke, den Rücken an die Mauer gelehnt. Mundy rutscht zu mir herunter. Um diese Zeit und bei dem Schneetreiben kann da draußen einfach keiner unterwegs sein; außerdem kümmert es mich kaum noch. «Weißt du was, Father? Ich mach dir ein Angebot.» «Was denn für ein Angebot? Willst du mir vielleicht eins von den nächsten Bridgeblättern zeigen, damit ich Shutzer endlich mal das Fell über die Ohren ziehen kann?» «Nee, es geht um was anderes, um Zukunftschancen, um die Ewigkeit. Sieh mal, ich hab mehr Fastentage, als ich brauchen kann. Zweimal neun Freitage am Stück sollten es eigentlich auch tun, selbst bei einem Erzsünder wie mir. Ich kann dir eine Serie abtreten.» «Hätte ich mir ja gleich denken können, daß du mir irgend so einen Kuhhandel anbieten würdest.» «Kein Quatsch, Father; im Ernst; man weiß ja nie, oder? Woher willst du wissen, ob dir die Gnade Gottes wirklich zuteil wird?» Mundy wendet sich mir zu und guckt mich entgeistert an, dann schüttelt er langsam und missbilligend den Kopf. Aber mich reitet der Teufel. «Sieh die Sache doch mal so. Wenn ich nach deinem Tod für dein Seelenheil beten und Novenen oder Messen für dich bestellen kann, wieso kann ich dir dann nicht auch mal einen kleinen Gefallen tun, solange du noch am Leben bist?» - 111 -
«Das ist Gotteslästerung. Lass den Unsinn!» Es ist noch immer windstill, aber die Temperatur sinkt rasch. Keine klirrende Kälte, vielmehr die lastende, dicke Kälte, die man meint, schneiden zu können. «Und außerdem, Wont, wenn man für irgend jemand eine Novene sagt, dann tut man es nicht, weil man ein Geschäft damit machen will. Es ist eine freiwillige Gabe. Das ist was ganz anderes.» «Ach, Mundy, komm lieber wieder von deinem hohen Roß runter. Wegen solcher Händel sind schließlich Kriege geführt, Millionen Menschen umgebracht und gefoltert, gevierteilt, in siedendes Öl geworfen worden. Damit hat man Könige gemacht und gestürzt. Was dachtest du denn, wozu der olle Luther Anschläge an Kirchentore genagelt hat?» «Ach, das war doch anno dunnemals. Gut, die Kirche hat ein paar Fehler gemacht. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß sie im Unrecht ist; sie hat bloß ein paar Fehler gemacht.» «Na schön, wie du meinst. Aber wenn deine Mutter dir wieder solche Kekse mit Schokoladenstückchen schickt, gibst du mir neun Stück, und ich vermach dir eine komplette Serie FastenFreitage.» «Jaja, und ich kaufe die Straße.» Ich schaue mich um; nichts. Eine Weile sitzen wir wortlos nebeneinander. Meine letzte Zigarette spare ich mir noch auf; die Zeit vergeht rasch, und schon bald werde ich wieder zwei Stunden lang im Haus sein. Ein höchst ungemütlicher Gedanke, in dem düsteren Stall Holz zu holen. Ich werfe einen Blick auf Mundy. Sein Helm, den er offen auf dem Schoß liegen hat, füllt sich nach und nach mit Schnee: Schnee pappt auf seiner Strickmütze, die er bis über die Ohren heruntergezogen hat. Er stützt die Ellbogen auf die Oberschenkel und hält die Daumen über den Riemenbügel seines Karabiners gekrümmt. Auf seinen Knien türmen sich Schneehäufchen. Der Saum des - 112 -
einen Hosenbeins ist ihm aus dem Stiefel herausgerutscht. Er hat Schnee auf den Schultern und sogar auf den Handgranaten, die an seinen Jackentaschen hängen. Wie ein Denkmal sieht er aus, völlig in sich gekehrt, aber dennoch wach. Unwillkürlich präge ich mir das Bild von Mundy ein, an das ich mich zeit meines Lebens am lebhaftesten erinnern werde. Als Maler versuche ich heute manchmal, ein bestimmtes Bild in meinem Erinnerungsspeicher festzuhalten, aber es gelingt mir nicht; und manchmal wiederum beschleicht mich unversehens und völlig unbeschädigt irgendein längst vergessen geglaubter Eindruck. Ich wünschte, ich hätte mein Gedächtnis besser im Griff. «Weißt du, Wont; es ist ja vielleicht nichts dagegen einzuwenden, wenn wir kein Tauschgeschäft draus machen. Wenn du mir diese Fastentage einfach schenkst, als Liebesgabe für meine Seele, wäre es vermutlich in Ordnung.» «Na gut, Father, trag sie ins Goldene Buch ein; sie gehören dir. Et cum spiritu tuo.» Mundy fuhrwerkt in seinen Taschen herum und steckt sich noch eine Zigarette an; dann zündet er eine zweite daran an und reicht sie mir. «Aber sag Gordon nichts davon.» Wieder schweigt er. Zuerst denke ich, er meint, ich soll Gordon nichts von den Fasten-Freitagen erzählen; aber er meint die Zigarette. Er nimmt einen tiefen Zug und lässt den Rauch langsam ausströmen. «Du kannst übrigens die ganze Packung haben; aber nicht im Tausch.» Auch ich inhaliere gierig; der Rauch dringt in meine Lunge, und ich halte ihn da unten fest, ein kleines Wärmepolster gegen die Kälte. Gleich ein Uhr dreißig; wieder der Griff zur Kurbel. Belegt; ich hänge auf. Es geht mir schon besser, keine Krämpfe mehr seit meiner letzten Sitzung. Ich kurble noch einmal; diesmal erreiche ich Wilkins. «Bei uns ist alles okay, Mother. Wie geht’s oben?» - 113 -
«Gut. Gordon sagt, er und Miller spielen ‹Stein, Schere, Papier›; der Arm tut ihm schon so weh, daß er kaum noch das Gewehr halten kann. Er will Miller nach dem Krieg unbedingt nach Las Vegas mitschleppen, und dann wollen sie ein Vermögen scheffeln.» «Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Dieser Miller hat telepathische Kräfte. Vielleicht gehört das zu den besonderen Begabungen eines Dichters, daß er Dinge weiß, die er eigentlich nicht wissen darf.» «Schon möglich. Friert ihr zwei da unten? Ich kann Zeltplanen mitbringen, wenn ihr wollt. Die Brüder da oben haben es stinkgemütlich mit zwei Planen pro Kopf.» «Nö, danke, es geht auch so. Könntet ihr schon mal Kaffee aufsetzen, bevor wir raufkommen? Wie steht’s mit Holz?» «Fast alle. Stell dir vor, Shutzer war drauf und dran, das Schloss zu Kleinholz zu machen. Er ist ein totaler Kulturbanause, so eine Art Neandertaler. Ich mußte mit einer Handgranate drohen, um den Waldschrat davon abzuhalten, die handgeschnitzten, zweihundert Jahre alten Eichenpaneele von den Wänden zu zerren.» «Keine Sorge. Ich bringe Holz mit.» «Wont, versprich mir, nichts abzureißen, das auch nur entfernt wertvoll aussieht, ja? Vergiss nicht, wer der eigentliche Feind ist.» «Gut, Mother. Kapiert.» Ich hänge den Hörer ein. Stille. Wind kommt auf und treibt uns den Schnee ins Gesicht. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. Fast kann ich schon den Kaffee riechen und schmecken, und mein Magen gerät nicht einmal ins Schlingern dabei. Vielleicht bin ich bald über den Berg. «Mundy, eine letzte Frage. Wieso verschwendet ein geradliniger Mensch wie du, der praktisch schon zu Lebzeiten zur Rechten Gottes sitzt, auch nur einen
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einzigen Gedanken auf so ein paar banale Fastentage? Was für eine schwere Sünde hast du eigentlich auf dem Gewissen?» Kaum ist es herausgerutscht, als ich mir auch schon die Zunge abbeißen könnte. Wieder einmal pfusche ich in den ureigensten Angelegenheiten eines anderen herum. Es folgt ein langes Schweigen, und ich hoffe inständig, daß er eingedöst ist und nichts gehört hat. «Was dachtest du denn, warum ich von der Seminarschule abgegangen bin?» Ich halte den Rand. Selbst ich merke es, wenn man eine Frage besser unbeantwortet lässt. «Im vorletzten Jahr vor der Priesterweihe legten wir das erste Gelübde ab. Das Keuschheitsgelübde. Gehorsam und Armut gelobt man erst bei der Weihe selbst. Ich habe Keuschheit gelobt, aber mich nicht dran gehalten.» «Was soll das heißen, Mundy? Willst du damit sagen, daß wir damals in Shelby zwei Nicht-Jungfrauen unter uns hatten? Das darf doch nicht wahr sein.» «Das war es nicht, Wont. Es war… naja, du weißt schon, Selbstbefleckung. Ich hab das Gelübde abgelegt, und dann habe ich es getan. Und dann konnte ich mich nicht mal dazu durchringen, es meinem Beichtvater zu sagen. Ehrlich, ich glaube, in puncto Sex bin ich krankhaft veranlagt.» «Und das war alles? Du hast dir einen runtergeholt? Aber genau darauf läuft’s mit der Keuschheit doch raus, Mundy. Was meinst du denn, wie die Priester sonst über die Runden kommen?» «Das ist nicht wahr, Wont. Selbstbefleckung ist ein Vergehen gegen das Reinheitsgebot. Ich könnte danach nie die Messe lesen oder die heilige Hostie mit denselben Fingern berühren, die sowas gemacht haben.» Mundy streckt tatsächlich die Hände vor sich aus und mustert sie kritisch. Auf den braunledernen Innenflächen landen Schneeflocken. Er hat Riesenpranken, die aus den Seitennähten platzen.
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«Du wischst dir doch auch den Hintern damit; was ist daran so anders?» «Schon gut, Wont. Du würdest es doch nie verstehen. Aber das schlimmste war, daß ich es nicht beichten konnte. Mit der Sünde auf der Seele hätte ich nie als Subdiakon beim Hochamt assistieren können. Und versuch nicht, mir weiszumachen, daß es keine Sünde ist. Ich habe mich sieben Jahre lang gründlich mit dem Thema Sünde befasst; das ist nun mal mein Fachgebiet.» «Na gut, du bist also ein großer Sünder, Father. Das will ich gar nicht abstreiten. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist bis heute nicht klar, ob ich der größte Sünder aller Zeiten bin oder ob ich noch nie im Leben gesündigt habe. Kommt immer auf den Blickwinkel an. Ich kann dazu nur eins sagen, Mundy, wenn es das ist, warum du von der Seminarschule abgegangen und zum Kriegsdienst eingezogen worden bist, dann ist die ASTPRGeschichte gemessen daran der Inbegriff der Gerechtigkeit.» Es hat den Anschein, als würde es die ganze Nacht hindurch schneien. Ich muß an unseren unangemeldeten Besuch denken. Was hat die Burschen dazu bewogen, hier herumzuschnüffeln und so ein Risiko einzugehen? Sie müßen umkommen vor Langeweile; mit das Schlimmste am Krieg; man kommt um vor Langeweile, macht sich n die Hosen vor Angst, wird verwundet oder umgebracht. Um Punkt zwei Uhr kommt Shutzer zur Ablösung; ich bin wie gerädert und schiebe sofort ab. Ich wüßte gern, worüber Shutzer und Mundy sich unterhalten werden, vielleicht über vergleichende Religionswissenschaften. Nein, Shutzer wird versuchen, Mundy Nachhilfeunterricht in Bridge zu geben. Immerhin wird es Father ein Weilchen vergessen lassen, was für ein Wüstling er ist. Im Stall trete ich mit den Stiefeln ein paar Bretter aus den Pferdeboxen. Plötzlich kommt Miller herein und jagt mir einen solchen Schreck ein, daß ich mich in - 116 -
der Dunkelheit blindlings in den Dreck werfe. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, brechen wir mit vereinten Kräften für jeden einen Armvoll Bretter aus den Trennwänden. Wenigstens werden wir es warm haben. Viel Brennholz ist nicht mehr da; nicht zu fassen, wie gefräßig so ein Feuer ist. In unserem Salon steht schon heißes Kaffeewasser bereit. Ich öffne eine Büchse Ölsardinen. Wir verabreden, daß jeder eine Stunde lang das Telefon bewacht. Ich ziehe die zweite Stunde und haue mich sofort aufs Ohr; mir war gar nicht so nach Schlafen, aber ich bin sofort weg. Wenn ich wieder Telefondienst habe, werde ich Funkmeldung beim Regiment machen. Das ist mein letzter Gedanke. Das Klingelzeichen weckt mich. Miller steigt gerade in seinen Schlafsack; er deutet auf seine Uhr und dreht sich um. Sein neuestes Gedicht liegt neben der Matratze auf dem Fußboden. Lauter durchgestrichene, überschriebene Zeilen. Er hat nichts dagegen, wenn ich lese, was er schreibt, aber jetzt bin ich zu müde dazu. Von unten meldet Mundy, daß alles in Ordnung sei; Gordon berichtet daßelbe; alles friedlich. Ich mache das Funkgerät klar. Es ist auf die Regimentsfrequenz eingestellt. Leary meldet sich. Er hört sich verschlafen an; keine Instruktionen für uns. Ich beauftrage ihn, Ware mitzuteilen, daß wir Kontakt mit einem deutschen Spähtrupp hatten, keinen Schusswechsel. Wir exerzieren den ganzen Verstanden-Kommen-Ende-Stumpfsinn durch, dann schalte ich das Gerät wieder ab. Leary ist ja ganz vernünftig, aber sein Co-Funker, Flynn, ist eine Kanaille. Einmal, als ich draußen auf Beobachtungsposten lag, hat er mich bei Ware wegen unvorschriftsgemäßer Meldung verpfiffen. Ich kauerte damals in einem morastigen Erdloch am Rand eines aufgewühlten Ackers, bemüht, durch ein ständig beschlagenes Fernglas etwas zu erkennen, und er saß bei heißem Kaffee in einem geheizten Zelt und regte sich über meinen Stil auf. Obwohl ich wieder eindöse, kriege ich die Meldung von den - 117 -
beiden Posten mit. Wir sind alle schlaftrunken. Mir graut davor, wieder in die Kälte hinaus zu müßen. Ob es wohl aufgehört hat zu schneien? Diesmal werde ich mich oben zu Wilkins gesellen. Weit und breit nichts als schwarze Kälte, obwohl es weiß schneit. Da fällt mir ein, daß ich vergaß, für die Hereinkommenden Kaffeewasser aufzusetzen; Miller hat es auch verschwitzt. Ich ärgere mich über soviel Gedankenlosigkeit. Eine sechs bis acht Zentimeter dicke Pulverschneeschicht auf einem Teppich aus hartgefrorenen Blättern macht den Abhang zur reinen Rutschbahn. Zweimal schlage ich bei der Kraxelei lang hin. Wilkins winkt mir zu, ohne mir das Kennwort abzuverlangen, und Gordon, der Kindskopf, wirft einen Schneeball nach mir. «Prima Schnee für eine Schneeballschlacht, Wont.» Mel ist nicht unterzukriegen. Manche haben eine glückliche Veranlagung, eine Art inneres Stehaufmännchen aus Gummi, das sie elastisch hält. Er knetet noch einen Schneeball; das Gewehr seitlich eng an mich gepresst, ducke ich mich weg. Der Schneeball trifft leicht auf dem Gewehrkolben auf und zerplatzt. Gordon liefert uns eine perfekte Hunt-Parodie. «Sie sind mir der richtige Soldat, sind Sie mir, Knott. Und wenn das ‘ne Feind-Granate gewesen war, Sie Pfeife? ‘n Arschtritt, daß Sie nich mehr wissen, ob Sie Männlein oder Weiblein sind, das isses, was Ihnen fehlt, Sie lausiges, klugscheißerisches Muttersöhnchen, Sie.» «Lass den Quatsch, Mel. Ich bin jetzt schon total durchgefroren.» Er legt seine Zeltplane zusammen und lässt die meine liegen. «Na gut, wenn du nicht mitspielst, dann mach Platz; ich bin jetzt reif für ein Feuerchen.» Auf seiner Rutschpartie ins Tal greift er Halt suchend nach den Bäumen, den Karabiner noch immer umgehängt. Wilkins und - 118 -
ich verabreden, uns alle zehn Minuten abzuwechseln, mal ins Loch geduckt, mal aufrecht stehend. So haben er und Gordon es während der letzten Wache auch gehalten. Aber so kann es nicht weitergehen, zwei Doppelposten, die ganze Nacht durch; ich muß mir etwas anderes einfallen lassen. Ich nutze die Gelegenheit, Wilkins auf Schach anzusprechen. Das wird uns aufmuntern, und außerdem interessiert es mich schon seit langem. «Vance, wieso willst du eigentlich nicht Schach spielen mit den anderen? Sind sie keine Gegner für dich?» Langes Schweigen. Stecke ich meine Nase schon wieder in fremde Angelegenheiten? Geht mich das etwas an? Vance steht; ich kauere unten; er guckt zu mir herunter. «Versprichst du, daß du es nicht weitersagst?» «Ich versprech’s bei Father Mundys Ehre.» Er guckt abwesend in die Nacht hinaus. «Weil es keinen Spaß macht. Nicht weil ich meistens gewinne, sondern weil sie nicht Schach spielen, bei ihnen artet es immer in Arbeit aus.» Er schweigt; ich warte ab. «Weißt du, auf deutsch hört sich ‹Schach› so ähnlich an wie ‹Schlacht›. Und genauso sehen Miller und die anderen das Spiel an, als eine Schlacht. Aber es ist kein Kampf; es ist Verführung. Die Königin versucht, den König zu verführen, ihn aus der Reserve zu locken, seine verwundbare Stelle zu finden. Wenn man mit der Einstellung drangeht, ist es ein herrliches Spiel, dann gibt es auch keine wirklichen Sieger oder Verlierer. Das Geheimnis liegt in dem Wort ‹Schachmatt›. Es heißt mattsetzen, nicht umbringen oder gefangennehmen; das ist der springende Punkt. Wenn man Schach so spielt, ist es ein reines Vergnügen und kinderleicht.» Ich ducke mich tiefer hinunter. Kaum zu glauben. Vermutlich ist Mother schlicht das geborene Schachgenie; er mag das drehen und wenden, wie er will; Schachspielen ist für ihn eine - 119 -
Selbstverständlichkeit. Wie Zeichnen für mich. Es verblüfft mich immer wieder, wenn ein heller Kopf wie Shutzer oder selbst Wilkins Zeichnungen macht wie ein Vierjähriger. Ich frage mich, was sie eigentlich sehen. Es will mir nicht in den Kopf. Wilkins und ich haben nicht mehr genug Angst, es grenzt schon an Leichtsinn. Wir sind erschöpft und niedergeschlagen. Meldungmachen am Telefon wird zum Lichtblick, immerhin etwas, irgend etwas zu tun. Ich bin bis sechs Uhr dran, unvorstellbar. Bei meiner ersten Tagwache werde ich allein unten an der Brücke sein. Vonwegen Tagwache, um acht ist es noch dunkel. Ich frage mich, wie die Deutschen das durchhalten. Wenn sie auch rund um die Uhr Wache schieben und dazu noch Runden drehen, müßen sie genauso übermüdet sein wie wir. Von sechs bis acht habe ich Schlafpause, nur unterbrochen von den Anrufen. Das Feuer lassen wir auf Sparflamme brennen. Um acht bin ich unten an der Brücke und sehe zu, wie das Tageslicht durchs Schneegestöber zu dämmern beginnt. Zuerst hat es nur den Anschein, als schimmerten die Schneeflocken heller und als bleibe alles andere dunkel; dann lichten sich die Zwischenräume zwischen den Flocken, färben sich rosig; aber es ist noch immer kalt; vielleicht sogar noch kälter als in der Nacht. Als Gordon mich ablösen kommt, ist es taghell, aber noch immer grau. Der Wind hat sich gelegt, der Schnee sinkt senkrecht zur Erde; leise, langsam, in Flocken so rund und groß wie Vierteldollarstücke oder Oblaten, ein geisterhafter Hostiensegen; das Manna der Ardennen. Auf dem Rückweg zum Schloss kicke ich mit den Stiefelspitzen den Schnee vor mir her.
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3 Fuh Kit Ler Gordon rüttelt mich wach. «Wont, Ware ist dran. Er will dich sprechen.» Ich schwinge die Beine samt Schlafsack seitwärts über den Matratzenrand. «Wie spät?» «Elf Uhr dreißig. Ware will unbedingt mit dir reden, wegen Dienstweg und so.» Ich pelle mich aus der Mumie; sogar die Schuhe hatte ich ausgezogen, weil ich hoffte, drei Stunden durchschlafen zu können. Ich hätte es bitter nötig gehabt. Mein Hirn streikt noch, ich kann mich nicht besinnen, wer auf Posten ist und wer nicht. Ich sehe mich um: Miller, Shutzer und Mundy hocken um ein Bett und spielen Bridge. «Was ist eigentlich los? Ist Wilkins alleine draußen?» «Na ja, es war abzusehen, daß wir alle bald zusammenklappen würden, wenn wir unentwegt zwei Posten besetzen, und da haben wir es uns ein bisschen gemütlicher gemacht, während du geschlafen hast. Einverstanden?» «Klar; mir soll’s recht sein.» Was bleibt mir anderes übrig; soll ich wie ein Berserker herumrennen und ihnen androhen, daß ich ihnen «schon noch den Arsch aufreißen werde»? Außerdem hat er recht; so können wir nicht weitermachen; ich war einfach übernervös, überängstlich. Ich kauere mich neben das Funkgerät. Gordon hat es laufen lassen, es gibt einen Summton von sich, ein Lämpchen glüht rot. Ich schalte auf «Senden» und gucke mich im Raum um; neben dem Kamin liegen schon wieder zerwetterte Stühle. Hoffentlich sind sie heruntergebrannt, bevor Mother Wilkins zurückkommt. «Able eins an Able vier, kommen.» Ware meldet sich. Er muß wartend im Funkerzelt gesessen haben. - 121 -
«Wie war das mit Ihrem Feindkontakt? Kommen.» Er hört sich gereizt und erregt an. «Die Deutschen haben sich gestern abend unseren Posten genähert und komische Geräusche gemacht, Sir. Sie haben andauernd irgendwas geschrien, Sir. Kommen.» «Mann Gottes, Knott! Was zum Kuckuck haben sie denn gesagt? Kommen.» «Irgendwas auf deutsch, Sir. Shutzer meint, sie hätten gesagt, wir sollen gut schlafen. Kommen.» «Shutzer kann Deutsch? Kommen.» «Jiddisch, Sir. Er sagt, es sei etwa daßelbe. Kommen.» «Wie dem auch sei. Love will, daß Sie den Gefechtsstand der Deutschen auskundschaften, damit er ihn auf dem Lageplan eintragen kann. Hier geht momentan alles drunter und drüber; es wird von Angriffen gemunkelt, und angeblich sollen wir alle eingeschlossen sein.» Er hält inne. Da er nicht «kommen» sagte, warte ich ab. Die sollen mir nochmal was vonwegen Disziplin erzählen! «Sergeant Knott, stellen Sie einen kleinen Spähtrupp zusammen und sehen Sie zu, daß Sie den Gefechtsstand ausfindig machen. Kommen.» «Verstanden, Sir. Kommen.» «Sehen Sie sich zuerst diese Jagdhütte hinter dem Hügel an. Dort dürfte er am ehesten sein. Kommen.» «Verstanden. Kommen.» «Wenn die Deutschen dort nicht sind, überprüfen Sie den Schuppen bachabwärts vom Schloss. Kommen.» «Verstanden. Kommen.» «Reine Aufklärungssache; ein Dreimannspähtrupp sollte genügen. Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein. Die andern Männer lassen Sie im Schloss. Kommen.» Wo soll ich sie sonst lassen, zum Kuckuck? «Verstanden, Sir. Kommen.» «Machen Sie es sobald wie möglich; noch bei Tageslicht, wenn’s geht. Kommen.»
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«Verstanden. Bei dem Schneetreiben kommt es sowieso kaum drauf an, Sir. Wir können praktisch nichts sehen. Kommen.» «Gut, Sie melden sich wieder, sobald Sie zurück sind, oder spätestens Punkt zweiundzwanzig Uhr. Kommen.» «Verstanden, Sir. Kommen.» «Das war’s, Knott; viel Glück. Ende.» «Ende.» Die ganze Meute umlagert mich. Zu den seltenen Vorkommnissen, die unsere Gruppe dazu bringen können, ihr Bridgespiel zu unterbrechen, gehört die Ankündigung eines Spähtrupps. Miller schaltet das Funkgerät aus. «Heißt das, Ware wünscht, daß wir im Schneetreiben lostigern und so lange rumschnüffeln sollen, bis wir ein paar von unseren reizenden Feinden aufgestöbert haben? Das darf doch nicht wahr sein.» Shutzer verzieht sich unauffällig Richtung Kamin und vertieft sich wieder in sein Blatt. Miller und Mundy folgen ihm mechanisch und setzen sich dazu. Gordon zerwettert noch einen Stuhl und wirft die Beine ins Feuer. «Wer soll gehen?» «Du, Stan und ich, würde ich sagen. Die übrigen müßen öfter Wache gehen. Und, Bud, montierst du solange schon mal die Schneeketten auf die Jeeps? Man weiß ja nie, vielleicht müßen wir hinterher ziemlich hastig von hier türmen.» Shutzer stiert noch immer auf sein Blatt. Desgleichen Mundy, der sich durch die Strickmütze den Kopf kratzt. Er schläft sogar mit dem verflixten Ding auf dem Kopf. Jedesmal, wenn er sie abnimmt, polkt er sorgfältig jedes Haar, das an der Innenseite hängengeblieben ist, heraus und hebt es auf. Im Boden seiner Essgeschirrhülle verwahrt er ein kleines Päckchen solcher Haare; nach dem Krieg will er sie als Beweismittel benützen und Invalidenrente beantragen. Er bekommt bereits eine Glatze am Hinterkopf. Shutzer behauptet, es sei eine natürliche Tonsur oder vielleicht ein - 123 -
fleischfarbenes Gebetskäppi. Vielleicht wird Mundy eines Tages ein religiöser Zwitter. «Won’t, wie wär’s, lässt du uns die Partie eben noch zu Ende spielen? Mother hat sich hier selbst übertroffen. Wir sollten den Kerl auf den Mond schießen.» Jetzt fixiert Gordon sein Blatt. «Wir sollten uns selbst zum Erschießungskommando ernennen und Mother als Übungsobjekt benützen; ich vermute stark, daß er ein deutscher Geheimagent ist, der uns um den Verstand bringen und unsere Kampfmoral unterminieren soll.» «Meinetwegen, aber sobald ihr fertig seid, ziehen wir los, und Bud montiert die Schneeketten. Und wenn Mothers Wachrunde zu Ende ist, übernimmst du, Mundy. Okay?» Er wird es hoffentlich gehört haben. Sie sind alle schon wieder ins Spiel vertieft, meilenweit weg von Aufklärungseinsätzen, Schneeketten, Wachdienst; sie verschleißen ihre Gehirnsubstanz beim Ausklügeln möglicher Kartenkombinationen. Ich wüßte gern, welche diesmal dabei herauskommt. Wie sie es auch anstellen, Mother wird als einziger auf seine Kosten kommen. Bei mir macht sich schon wieder Nervosität bemerkbar, und ich gehe nach oben auf unser Plumpsklo; gar nicht so schlimm. Danach schöpfe ich mit meinem Feldbecher Wasser aus dem Eimer und setze es auf dem Primus-Kocher auf. Ich krame meine Rasierseife und meinen altgedienten Rasierapparat hervor; meine letzte Klinge, beide Seiten beidseits stumpf; aber wenn ich mich schon abmurksen lassen muß, will ich wenigstens eine adrette Leiche abgeben; meine Mutter dürfte das zu schätzen wissen. Vor der Geräuschkulisse stöhnender und zeternder Bridgespieler wärme ich mir eine Portion Trockenei auf, bestreiche einen Keks mit Orangenmarmelade und spüle mit Kaffee nach. Als ich meinen Imbiss verputzt habe, ist das Spiel auch gerade beendet. Ich frage lieber nicht nach, wie es ausgegangen ist. Gordon und Miller wirken benommen. - 124 -
Shutzer spricht nicht mehr mit Mundy. Mother sollte am besten noch zwei Überstunden dranhängen, wenn seine Wache vorbei ist. Wortlos geht Miller hinaus und macht sich an den Jeeps zu schaffen. Er zieht ein Gesicht, als wolle er sich an den Schneeketten erhängen. Ich ziehe die weißen Tarnüberzüge aus den Kleidersäcken. Um sie über unsere gewöhnlichen Uniformsachen ziehen zu können, nehmen Shutzer, Gordon und ich das Koppelzeug ab und schnallen uns dann Patronengurte, Seitengewehre, Feldflasche und Verbandszeug wieder um. Wir sehen aus wie arktische Feldschere. Eigentlich müßten wir Gewehre und Helme mit weißer Tarnfarbe überpinseln, aber das sparen wir uns; es ist eine Schinderei, das Zeug hinterher wieder zu entfernen. So viele dieser Vorschriften sind nutzlos; wir führen antrainierte Verrichtungen, Rituale aus, die uns ein Gefühl von Sicherheit vorgaukeln und verhindern sollen, daß wir uns bewusst machen, was wir eigentlich tun. Wir brechen zu einer Ardennen-Safari auf, mit Gewehren bewaffnet, um Jagd auf Menschen zu machen, Menschen, die uns jagen! Es ist nach ein Uhr, als wir endlich abmarschieren. Hinter der Brücke gehen wir automatisch im Gänsemarsch in Abständen von jeweils zehn Metern hintereinander her. Shutzer als Vortrupp vorneweg, gefolgt von Gordon; ich bin Schlussmann. Mit ein paar Sätzen springen wir ins Bachbett hinunter und bahnen uns am rechten Ufer einen Weg. Es ist bereits beschlossene Sache, daß wir uns als erstes den Schuppen vorknöpfen; er liegt näher. Dann wollen wir uns im Bogen von Süden an die Jagdhütte heranmachen. Unserer Meinung nach müßen sie dort sein, so daß der Abstecher zu diesem Schuppen hier in erster Linie eine Trockenübung im nassen Schnee ist. Unsere Generalstabskarte habe ich in meine Jackentasche unter die Tarnklamotten gesteckt. Wir haben sie alle vor dem Abmarsch eingehend studiert. Wenn wir uns an den Flusslauf - 125 -
halten, dürften wir nach vier- bis fünfhundert Metern in der Nähe des Schuppens sein. Schlimmstenfalls unterhalten die Deutschen dort einen Feldposten, aber das genügt schon. Auf unserer Karte sieht es so aus, als führe ein zwischen zwei Hügelketten liegender Sattel vom Schuppen zur Jagdhütte. Meine Angst hält sich in Grenzen, ich habe keinen Tatterich, aber meine Zunge ist trocken. Ich greife eine Handvoll Schnee von einem tiefhängenden Ast und stopfe ihn mir in den Mund. Der Zweig federt hoch und lässt feine Eiskristalle herunterrieseln. Ohne Gordons Rücken aus dem Auge zu lassen, versuche ich, so gut es geht, die Landschaft zu genießen. Wie schön es hier draußen ist. Schon einige Zeit beschäftigt mich die Frage, ob man den Effekt von Schneemassen zeichnerisch irgendwie wiedergeben kann. Man müßte vor allem viele weiße Zwischenräume lassen. Wenn ich nur irgendwo Schreibmaschinenpapier auftreiben könnte. Auf grauen Pappflächen von Verpflegungskartons werde ich nie die Illusion von Schnee wecken können. Vielleicht könnte ich zuerst eine Bleistiftskizze machen und dann Gewehrtarnfarbe als Schnee hineintupfen. Das muß ich probieren; es wäre fast schon Malerei. Aus einem Büschelchen von Mundys kriegsgeschädigten Haaren könnte ich mir einen Pinsel basteln; er braucht sie nicht alle. Wie weiland Benjamin West mit seinen Katzenhaaren würde ich diese mit einem meiner Gummiringe an einem Stöckchen befestigen. Der Schneefall hat nachgelassen, die Sicht ist besser geworden. Man ahnt, daß irgendwo da oben, über den Wolken, die Sonne scheinen könnte. Der Bach ist nicht gefroren und hebt sich tiefbraun, fast schwarz vom Schnee ab. Er fließt schnell und ist stellenweise kaum mehr als einen halben Meter breit. Die Felsbrocken, die daraus hervorragen, sind schneebemützt, und glasklare kleine Wellen kräuseln sich an den stromaufwärts gekehrten Steinflächen. Wieder einmal sträubt sich alles in mir dagegen, die Schönheit der Welt in einem Augenblick - 126 -
wahrzunehmen, in dem damit zu rechnen ist, daß ich sie jeden Augenblick verlassen muß. Die meiste Zeit bleiben wir am rechten Ufer, überqueren den Bach nur, von Stein zu Stein springend, wo die Böschung zu dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen ist. Außer unseren eigenen Geräuschen ist nichts zu hören. Unter einem Stahlhelm kann man sich selbst atmen oder sogar schlucken hören, Geräusche von draußen jedoch nur mit größter Anstrengung wahrnehmen; noch so eine brillante militärtechnische Errungenschaft. Die Deutschen waren immerhin so schlau, ihre Helme seitlich auszubuchten. Mir ist schleierhaft, wie wir diesen Krieg jemals gewinnen wollen, wenn wir uns in allem so ungeschickt anstellen. Das Militär scheint die Soldaten immer für den Krieg abzurichten, der zuletzt stattgefunden hat. Wir wurden für einen Schützengrabenkrieg ausgebildet. Im Ersten Weltkrieg waren sie auf Kavallerieattacken vorbereitet. Immer wieder daßelbe Lied. Fußabdrücke von Menschen sind nirgends zu sehen, nur Fluchtspuren von Hasen und die Fährte eines Rehs. Je weiter bergab wir kommen, desto dichter und höher wird der Wald. Stellenweise stehen die Tannen so eng, daß der Schnee nicht bis zum Boden vordringt und wir auf weichen, braunen Tannennadeln gehen, die nur leicht mit verwehten Schneekristallen bestäubt sind. Plötzlich macht Gordon halt und lässt sich auf die Knie fallen. Weiter vorn ist Shutzer in Deckung gegangen. Er winkt uns heran. Ich wiesele geduckt weiter und werfe mich neben ihn. «Das wird es sein, Won’t!» Er deutet geradeaus auf eine graue, verwitterte Bretterbude; aus den Ritzen in den Wänden und aus den Blechtraufen unter dem Schieferdach ragen Strohhalme. Ich rolle mich auf die Seite, greife durch meinen Tarnanzug nach der Karte und breite sie auf dem Schnee aus. Der Standort des Schuppens scheint genau zu stimmen. Ich mustere das reale Gegenstück. «Tja; sieht ziemlich verlassen aus.» - 127 -
«Mhm. Was jetzt, Chef?» «Ihr beiden bleibt hier. Ich sehe mich mal nach Spuren um. Wenn jemand da ist, müßen sie ja irgendwo Fußabdrücke hinterlassen haben. Und wenn sie nicht fürs Vaterland erfrieren wollen, müßte auch Rauch zu sehen sein.» Ich bewege mich vorsichtig zu einer kleinen Erhebung zu unserer Linken und schleiche geduckt weiter, die Anhöhe immer zwischen mir und dem Schuppen. Dann linse ich hinunter. Von hier aus habe ich einen guten Überblick. Weit und breit nichts zu sehen: keine Spuren, keine menschlichen Lebenszeichen. Ich ziehe den Feldstecher hervor und suche sicherheitshalber noch einmal alles gründlich ab, besonders das Gebiet zwischen Schuppen und Jagdhütte. Seitdem die Schneefälle eingesetzt haben, ist keine Menschenseele in der Nähe gewesen. Ich richte mich auf und winke Shutzer und Gordon zu. Wir treffen uns beim Schuppen und spähen durch die Ritzen hinein; außer Heu ist nichts drin. Es wäre praktisch, diese Bretterbude als Brennholzvorrat näher beim Schloss zu haben; dagegen könnte Mother nicht viel einwenden. Es weht ein eisiges Lüftchen, deshalb flüchten wir uns schutzsuchend in den Windschatten der Hütte. Wieder hole ich die Karte hervor; der vor uns liegende Teil wird schwieriger sein. Auf Shutzers Uhr ist es kurz vor zwei. In derselben Reihenfolge wie zuvor, aber in Abständen von je zwanzig Metern, machen wir uns wieder auf den Weg. Die Sichtverhältnisse werden immer besser; wir bewegen uns jetzt fast genau nach Norden. Nach der Karte sind es von hier bis zur Jagdhütte rund eineinhalb Kilometer. Wenn nichts dazwischenkommt, dürften wir es schaffen, die Hütte zu erreichen, uns ein bisschen umzusehen und vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Schloss zu sein. Wir pirschen durch die von Hügeln gesäumte Mulde und stoßen auf ein schmales Sträßchen, das nicht auf der Karte eingezeichnet ist. Wir - 128 -
erschrecken. Derlei unliebsame Überraschungen sind gefürchtet auf Spähtruppeinsätzen. Auch ohne sich zu verirren, hat man es ohnehin schon mit der Angst zu tun. Wir sehen noch einmal genau auf der Karte nach, aber diese Straße dürfte nicht da sein. Dennoch gehen wir, soweit wir es beurteilen können, in der richtigen Richtung. Wenn wir uns nicht in dem Schuppen geirrt haben, müßten wir nach ungefähr zweihundert Metern bei der Jagdhütte ankommen. Kaum fünf Minuten später legt Stan sich wieder flach. Er gestikuliert, ich renne los und lege mich neben ihn. Ich spähe angestrengt geradeaus, kann aber nichts erkennen. Er deutet mit dem Finger auf etwas. Ich hebe den Kopf ein bisschen höher, kann aber noch immer nichts sehen. Schließlich mache ich in der verschwimmenden Weiße einen dunklen Klecks aus. Wir sind ganz in der Nähe. Shutzer wölbt die Hand vor dem Mund. Ich beuge mich näher, und unsere Helme klirren aneinander. «Sieht mir ganz nach Nazirauch aus, bestimmt verfeuern sie jüdisches Holz.» Wir schlittern zu Gordon zurück und halten Kriegsrat. Unseren Auftrag haben wir eigentlich erledigt. Die Deutschen sind da; und wir wissen jetzt, wo sie stecken. Gordon und ich sind dafür, das Unternehmen abzublasen. Shutzer will sichergehen. Schließlich überredet er mich, mit ihm so nah heranzuschleichen, daß wir uns die Hütte genauer ansehen können. Mel wird zurückbleiben und uns Feuerschutz geben. Ich verwahre unsere Karte, hole das Fernglas hervor und gebe es Shutzer. Soll er die Führung übernehmen; schließlich ist die Extratour seine Idee. Wir schleichen noch einmal zu der Stelle zurück, an der wir eben waren, und dann den Hügel hinauf und über die Kuppe, bis wir auf der anderen Seite hinuntersehen können. Unter uns liegt ein langgestrecktes, niedriges blockhüttenartiges Gebäude mit Satteldach. Aus einem Kamin am Ostende ringelt sich dünner Rauch. Mit bloßem Auge können wir zwei deutsche Soldaten erkennen, die mit einer - 129 -
Handsäge auf einem groben Bock Holz sägen. Vermutlich haben sie dieselben Brennholzprobleme wie wir. Sie tragen keine Jacken und keine sichtbaren Waffen. Shutzer sucht die Gegend mit dem Fernglas ab. Plötzlich konzentriert er sich auf einen Punkt ganz in unserer Nähe. Ich halte Ausschau nach Wachposten. Irgendeine Art von Sicherung müßen sie haben. Ich entdecke einen Trampelpfad, hinunter zu der Straße, die zwischen uns und ihnen verläuft. An einem Hang hinter dem Gebäude führt noch ein Pfad hinauf, der vor einem grünen Rechteck endet. Allem Anschein nach befindet sich da oben eine Latrine. Shutzer reicht mir das Glas und flüstert mir hinter vorgehaltener Hand ins Ohr. «Da unten an der Straße, auf unserer Seite.» Ich stelle das Glas für meine Augen ein. Die Fußspuren, die über die Straße und zu uns heraufführen, sind frisch; es liegt kaum Schnee darin. Aber wir können nicht sehen, wo sie enden, weil die Hügelkuppe dazwischenliegt. Stan beugt sich wieder dicht zu mir. «Los, wir robben ein bisschen näher ran.» Noch bevor ich etwas sagen kann, ist er schon in Bewegung. Ich bin nicht gerade scharf darauf, mit Deutschen in Tuchfühlung zu kommen. Für meinen Geschmack sind sechsoder siebentausend Kilometer etwa der richtige Abstand. Aber ich krieche hinter Shutzer her; ich, der große Anführer, bemüht, den Anschluss nicht zu verlieren. Wir rutschen noch zwanzig Meter weiter, bis wir das ganze Hangstück überblicken können. Unterhalb von uns, keine siebzig oder achtzig Meter weit weg, sitzt ein deutscher Soldat am Rand eines Schützenlochs. Shutzer nimmt das Gewehr hoch, zielt, dreht sich zu mir um und grient. Ich schüttle den Kopf. Shutzer legt wieder an. «Keine Bange; ich genieße es bloß, so einen Scheißnazi im Visier zu haben; das macht mich ganz geil.» Bei mir geht das Angstbibbern wieder los, und ich stemme die Ellenbogen fest gegen den Boden und gucke durchs Fernglas. Mehr als diesen einen Beobachtungsposten scheinen die - 130 -
Deutschen nicht zu haben; immerhin dürften sie ein bisschen mehr Schlaf abbekommen als wir. Ich konzentriere mich auf die zwei, die Holz sägen. Durch den Feldstecher erkenne ich, daß sie viel älter sind als wir; gut dreißig oder vierzig Jahre alt. Ihre Uniformen sind zerknautscht und womöglich noch dreckiger als unsere. Der eine, der mir das Gesicht zuwendet, hat seine Feldmütze in den Nacken geschoben und sieht aus wie ein gealterter Max Lewis. Wir können das Schaben ihrer Säge und Wortfetzen hören. Der Geruch von Holzfeuer und von noch etwas anderem Verbranntem steigt mir in die Nase. Plötzlich weiß ich, was es ist; der eine, unmittelbar unter uns, raucht eine Zigarette. Gordon hätte es längst gewittert -und womöglich hat er den Braten sogar da hinten gerochen. Er würde es fertigbringen, an uns vorbei den Hang hinunterzupreschen, um diesen Burschen am Rauchen zu hindern, ihn davor zu bewahren, daß er sich selber umbringt, damit er uns umbringen kann. Eben kommt ein Soldat aus dem Haus, der etwas auf den Armen trägt. Ich stelle wieder scharf ein. Es sind nasse Kleidungsstücke, die er oberhalb von dem ebenen Vorplatz, auf dem gesägt wird, über einen quer zum Hang liegenden Baumstamm breitet. Wir sehen ihnen etwa fünf Minuten lang zu, aber mehr als diese vier bekommen wir nicht zu Gesicht. Die anderen müßen drinnen ums Feuer versammelt sein, vermutlich schlafen sie. Geräuschlos schlüpfen wir wieder zu Gordon hinunter und schnüren etwa hundert Meter in unserer eigenen Spur zurück. Mel kann es kaum fassen; es kommt nicht oft vor, daß man den «anderen» so nahe kommt, ohne daß irgend etwas passiert. Nach einem Blick auf die Karte beschließen wir, zum Schloss abzukürzen, quer über die Hügel, anstatt, wie auf dem Herweg, den Umweg am Bach entlang zu machen. Es ist kurz nach drei. Auf dem Rückmarsch hört mein Bauch wieder auf, Purzelbäume zu schlagen. Zweifellos hätten wir die Vier umbringen und ungeschoren davonkommen können; das ist - 131 -
schließlich das Kriegshandwerk. Und umgekehrt hätten sie gestern abend mit uns daßelbe tun können, das ist mir ebenso bewusst. Es würde mich schreckliche Überwindung kosten, auf den Mann an der Säge, der Max so ähnlich sah, anzulegen und abzudrücken. Lieber Gott, lass mich bitte diesen Irrsinn überstehen, ohne mich allzusehr zu entwürdigen! Wieder trotten wir in Abständen von je zehn Metern hintereinander her, die Gewehre umgehängt, Läufe nach unten, nicht gerade sehr soldatisch. Diesmal gehe ich voran, und Gordon ist Schlussmann. Nach etwa einer Viertelstunde halten wir an und konsultieren noch einmal die Karte. Wir sind am Rand eines dichten Waldes angekommen, vor uns liegt eine Lichtung, die nach rechts abfällt, während sich linkerhand ein bewaldeter Hügel erhebt; genau wie auf der Karte eingezeichnet. Nach meiner Schätzung sind wir noch einen knappen Kilometer vom Schloss entfernt. Wir treten aus dem Wald und stapfen querbeet übers freie Feld. Während ich Karte und Fernglas unter meinem Schneehemd verstaue, hebe ich den Blick zu der Anhöhe auf unserer Linken. Da oben, am Waldrand, steht ein deutscher Soldat, Gewehr im Anschlag, und zielt auf mich! Ich werfe mich so fix auf den Boden, daß ich das Gesicht in den Schnee ramme und den Karabiner unter mir begrabe! Ich rutsche ab und überkugele mich. Es passiert alles blitzschnell und scheint doch schwerfällig in zäher Zeitlupe abzulaufen. Gleich wird es kommen: der Einschlag, der Schmerz, das Blut. Ich würge das Gewehr unter mir hervor und wische mir den Schnee aus den Augen. Das Visier ist von Schnee verstopft. Der Helm fliegt mir vom Kopf und schlittert und kollert bergab. Ich entsichere das Gewehr und versuche zu zielen. Der Deutsche, zu dem sich noch zwei andere gesellt haben, fuchtelt wie wild mit beiden Armen, winkt; er macht uns Zeichen!
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Aus der Traum. Sie haben uns am Schlafittchen; der Krieg ist vorbei! Ich lasse den Karabiner fallen und lege die Hände auf den Kopf. Mit einem Seitenblick stelle ich fest, daß Gordon und Shutzer das gleiche tun. Shutzer strauchelt, heult, flucht. «Scheiße! Da haben wir den Salat! Diese Dreckschweine!» Ich beobachte den Deutschen. Er nimmt die Arme herunter, winkt noch einmal, dreht bei und verschwindet in den Wald! Die anderen verziehen sich mit ihm, die Gewehre schussbereit. Wir drei stehen noch immer mit erhobenen oder auf die Köpfe gelegten Händen auf freiem Feld. Ordentliches Kapitulieren steht bei der US Army nicht auf dem Stundenplan. Gordon hat sein Gewehr in der Ellenbogenbeuge hängen. Mein Gesicht ist nass von Schmelzwasser und Schweiß; vielleicht auch von Tränen. Wir bieten einen kläglichen Anblick, alles andere als ordensverdächtig. Ich hebe meinen Karabiner auf, stürze Hals über Kopf den Hang hinunter, schnappe mir meinen Helm, ohne ihn aufzusetzen, und lande auf halbem Weg nach einem glatten Zehnmeterköpfer bäuchlings im Schnee. Wieder hüpft mein Helm auf und davon. Gordon und Shutzer stürmen an mir vorbei, halten an, warten auf mich. Ich bücke mich nach Gewehr und Helm und renne hinter ihnen her. Ohne noch einmal stehenzubleiben, wetzen wir weiter, bis wir uns, etwa zweihundert Meter von der Brücke entfernt, hinter die steile Bachböschung ducken können. Ich lasse mich hinplumpsen und ringe nach Luft. Shutzer und Gordon drücken sich flach an den Boden. Mel dreht sich zu mir. «Alles in Ordnung, Won’t?» Ich nicke. Sie sind beide kreidebleich, so bleich, daß Shutzers Koteletten schwarz von seinem Gesicht abstechen. In diesem Augenblick bemerke ich, daß ich zwischen meinen Beinen klebrig bin. In der ganzen Hektik hat mein Verschlussmechanismus nicht dichtgehalten. Gordon zeigt mit dem Finger auf mich und hält sich die Nase zu. - 133 -
«Stinkt ja, als hätten die deutschen Gentlemänner da oben dir buchstäblich Schiss eingejagt.» Shutzer nimmt seinen Helm ab und klopft Schnee vom Tarnnetz. «Ich war sicher, mit dir wär’s aus, als du zu Boden gingst. Mit so einem Salto mortale würdest du jederzeit ‘nen Job in einem Cowboyfilm kriegen.» Auf einmal prusten wir los, kichern hemmungslos, gackern, glucksen und wiehern, am Rand der Hysterie, bis wir kaum noch Luft bekommen. Als wir uns wieder beruhigt haben, fange ich an zu frieren und stelle fest, daß ich Feldstecher und Karte da oben verloren habe. Shutzer ist ein volles Magazin aus dem Karabiner gefallen. Nur Gordon hat seine Siebensachen irgendwie beisammen behalten. Tief geduckt, Gewehre schussbereit, hasten wir dem Bach entlang, platschen ins Wasser, springen von Felsbrocken zu Felsbrocken hinüber und herüber, nur noch von einer tiefsitzenden namenlosen Angst getrieben und von der Freude, am Leben zu sein. Der Brückenposten ist nicht besetzt, aber oben am Hügel können wir Miller erkennen. Im Haus finden wir Mundy im Schlafsack vor dem Feuer liegend vor. Bei unserem Eintreten richtet er sich auf. «Wie war’s? Habt ihr Deutsche gefunden?» Shutzer lässt sich nieder und fängt an, Schnee aus dem Abzug seines Karabiners zu polken. Ich überlege krampfhaft, wie ich meine Buxen auswaschen und rasch genug wieder trockenkriegen kann, um meinen Wachdienst rechtzeitg anzutreten. Ich streife sie mir samt den Unterhosen vom Leib. Es ist fast nur Flüssigkeit, aber die stinkt zum Himmel. Womit zum Teufel soll ich die Dinger schrubben?
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Ich wische und schabe mit den Flächen und Kanten von Pappstücken aus einem zerrissenen Verpflegungskarton. Dann reiße ich noch eine Klappe von einer größeren Schachtel ab und schabe weiter. Shutzer und Gordon ziehen ihre nassen Knobelbecher aus. Gordon geht nach oben. Shutzer schiebt seine Stiefel nahe an den Kamin. «Und ob wir welche gefunden haben, Mundy; aber dann haben die uns gefunden. Hätten uns um ein Haar den Garaus gemacht, die Krauts.» «Davon hab ich hier nichts gehört, rein gar nichts; dabei hab ich aufgepasst wie ein Schießhund.» «Es gab auch gar nichts zu hören, Mundy; geht alles ziemlich leise zu in diesem Krieg.» Shutzer dreht sich zu mir um. Ich inspiziere gerade den Zwickel meiner Unterhosen. Von der Kampfjacke abwärts bin ich nur noch mit durchweichten Stiefeln bekleidet. «Verdammich, Won’t, dieser Scheißpreuße hat ja allerhand riskiert, um seine großkotzige arische Überlegenheit zu demonstrieren.» «Das kann man wohl sagen. Ich glaub, er war genauso überrascht wie wir, Stan. Dabei waren die mindestens zu dritt.» «Eben, eben. Außerdem waren die klar im Vorteil, wir mitten auf freiem Feld, und die am Hang über uns.» Mundy guckt während unserer Gespräche verständnislos von einem zum anderen. «Erzählt schon, was ist passiert?» Shutzer stukt den Kolben seines Gewehrs ein paar Mal auf den Fußboden, um den Schnee vom Riemen zu schütteln. «Die Krauts haben uns überrumpelt; sie hatten uns am Wickel, Mundy, und dann haben sie nicht geschossen. Das ist passiert.» «Wie kam denn das?» «Der eine Naziknilch hat Winkewinke gemacht, als ob wir zu seinem Privatvergnügen angetanzt wären, und dann hat er sich in den Busch verkrümelt. So kam das!»
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«Aber dann müßtet ihr Kerle eigentlich tot sein. Worüber beschwert ihr euch? Ich kapier das nicht.» «Eben. Wir sind ja auch so glücklich. Und wie glücklich wir sind. Hurraah! Juhuuh! Was sagst du nun, Mundy? Ist es dir so lieber?» Keiner von uns, das wird mir in diesem Moment klar, wird jemals zugeben, daß wir bereit gewesen wären, die Waffen zu strecken. Es ist zwar oft vom Kapitulieren die Rede bei uns, aber das sind meistens leere Worte. Gordon kommt vom Klo zurück. «Mann, das ist ja grade nochmal gut gegangen. Ich glaube kaum, daß mein Herz und mein Magen jemals wieder in die Reihe kommen werden. Na, Shutzer, zerreißt du dir wieder mal das Maul über die bösen Deutschen?» «Diese stinkenden arischen Naziarschlöcher.» Ich gehe hinaus, um meine Klamotten mit Schnee zu bearbeiten. Ich rubbele, bis der Schnee sich nicht mehr braun verfärbt. Mehr fällt mir nicht ein. Ich schlüpfe wieder in die Unterhosen und fahre dann ruckzuck in meine feldgrünen Uniformhosen. Ein nasskalter Hosenboden ist vermutlich nicht gerade das Richtige bei Durchfall. Um mich aufzuwärmen und die Sachen wenigstens ein bisschen trocken zu kriegen, stelle ich mich mit dem Rücken dicht vors Feuer. In fünf Minuten muß ich Miller oben ablösen. Erst jetzt fällt mir auf, daß Wilkins nirgends zu sehen ist. Ich war so mit meiner Wäsche beschäftigt, daß ich mich gar nicht um ihn gekümmert habe. «Du, Mundy, wo ist Mother eigentlich abgeblieben?» «Ach der, der stiefelt oben auf dem Dachboden hin und her und kaspert mit den Möbeln rum. Dem geht’s prima.» Das hätte ich mir denken können. Mein Hosenboden heizt sich langsam auf, aber je wärmer er wird, desto übler wird der Mief. Ich werfe einen Blick nach - 136 -
draußen; es schneit wieder heftiger. Ich schnappe mir Zeltplane, Helm und Gewehr und trotte den Berg hinauf. Miller sieht mich kommen und rodelt mir entgegen, wirbelt, auf den Stiefeln Slalom fahrend, Schneewolken auf. Reichlich eindrucksvolle Wachablösung, meine Herr’n Soldaten. «Affig kalter Wind da oben, Won’t, und bescheidene Sicht. Nicht mal die Brücke kann man sehen. Da unten, am unteren Posten, hättest du’s bestimmt besser. Jedenfalls wären wir schon mal vorgewarnt, falls sie dich abknallen sollten.» «Du hast immer so reizende Einfalle, Miller. Du meinst also, ich soll so eine Art Schneegelände-Frühwarnsystem abgeben.» «Naja, du weißt schon, was ich meine, und du hättest es tausend Mal wärmer. Vielleicht würden wir ja auch als erstes hören, wie du die anderen abknallst. Genaugenommen sind Wachposten doch dazu da, oder nicht? Man ist da draußen, damit die anderen eine Chance haben, sich in die Büsche zu schlagen. Jetzt bist du eben an der Reihe; mach’s gut. Wie ist der Spähtrupp gelaufen?» «Ganz gut. Fast wären wir hopsgegangen. Shutzer wird dir alles erzählen.» Ich drehe mich um und schaue hinunter. «Du hast recht, Bud, von der Brücke ist tatsächlich nichts zu sehen, nicht mal von hier aus. Es ist witzlos.» «Wie wär’s mit ‘ner kleinen Sonderration Zigaretten? Ich habe Gordons Anteil stibitzt, bevor er sie als ‹Gesundheitsopfer› an die Götter den Flammen übergeben konnte.» «Danke! Aber sag ihm nicht, daß du mir welche abgegeben hast, falls er dir auf die Schliche kommt; ich fühle mich seinem gerechten Zorn im Augenblick nicht gewachsen.» Gemeinsam machen wir uns an den Abstieg. Auf halber Höhe trennen sich unsere Wege. Miller geht hinters Schloss Holz holen. Von dem Stall kann nicht mehr viel übrig sein. Wilkins muß dringend Inventur machen und eine Rangliste fürs Kleinholz anlegen. Ich sehe schon eine Gruppenfehde - 137 -
ausbrechen: Wärmefanatiker contra Kulturfetischisten oder so ähnlich. Ich gehe weiter die Straße hinunter und mache mir’s an der Mauer bequem. Bud hat recht; hier ist es besser als da oben am Berg. Die Mauer schirmt den Wind ab, und wenn mir danach zumute ist, kann ich in die Hocke gehen, den Rücken daran anlehnen und die Beine ausruhen. Wenn ich da unten so in der Versenkung sitze, kann allerdings nur noch ein Volltreffer in meinen Schädel die andern darauf aufmerksam machen, daß die Deutschen da sind. Aber wenn man an einem kalten Tag zwei Stunden lang aufrecht im Schnee steht, kann man leicht zusammenklappen. Ich zünde mir eine von Buds beziehungsweise Mels Zigaretten an. Die sechs Streichhölzer, die ich noch mein eigen nenne, werden vor den Zigaretten alle sein. Bud besitzt ein Feuerzeug, Marke Zippo, das er sich für irgend etwas anderes eingehandelt hat. Außer ihm dürfte es kaum einen Soldaten in den Ardennen geben, der mit diesen Dingern umgehen kann. Wenn ich wie Miller die glückliche Gabe besäße, mit all dem technischen Klimbim im Leben so gut zurechtzukommen, wäre mir wesentlich wohler in meiner Haut. Zu lernen, wie man ein Ml, einen Karabiner, ein 30-Kaliber-MG und eine Browning auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, strapazierte meine technischen Fähigkeiten bereits bis an den Rand. Beim 50-Kaliber-MG mußte ich passen. Auf dem Schießstand habe ich mich noch ganz manierlich angestellt, aber ich konnte das Drecksding nicht wieder so zusammenbauen, daß es reibungslos funktionierte. Ich habe schon miterlebt, daß Miller Wetten gewann, weil er diese Waffen mit verbundenen Augen flinker zerlegen und wieder zusammenmontieren konnte, als die meisten es mit offenen Augen schaffen. Es ist eine besondere Begabung, ähnlich wie seine übersinnlichen und dichterischen Fähigkeiten. - 138 -
Nichts, aber auch gar nichts scheint Miller schwerzufallen; bei der deutschen Wehrmacht wäre er inzwischen vermutlich schon General. Nein, höchstwahrscheinlich würden sie ihn an die Wand stellen. Bei Bud weiß man nie. Ihm könnte es jederzeit einfallen, einen Befehl einfach zu verweigern. Er ist nicht aufsässig, bloß dickschädlig; etwas, das seiner Meinung nach falsch angepackt wird, tut er einfach nicht. Das hat bei ihm nicht so sehr mit Ethik, mit moralischer Redlichkeit zu tun, sondern vielmehr mit einer Art persönlicher Ästhetik, einem Bedürfnis nach folgerichtigem, zweckmäßigem Handeln. Bud wäre wahrscheinlich zu jeder falschen Sache bereit, solange sie nur richtig gemacht wird. Vielleicht weil er Uhrmachersohn ist, aber das ist Shutzer auch, und der verhält sich trotzdem ganz anders. Ich finde keine Erklärung. Nachdem ich eine Weile so herumspintisiert habe, fangen die Bauchkrämpfe wieder an. Bestimmt ist die ewige Angst daran schuld. Als wir vorhin den Berg hinunterrannten, hatte ich einen sauren, bitteren Geschmack im Mund. Ich mußte dauernd schlucken, um nicht zu kotzen. Jemand nähert sich vom Schloss her. Es ist Shutzer. Er hat wieder sein Schneehemd übergezogen. Ich lehne an der Mauer und sehe zu, wie er der Straße entlang auf mich zustakst und dabei die Füße hochhebt wie ein Storch im Salat und den Kopf verrenkt, um die eigene Spur zu begutachten. «Himmler, Arm und Zwirn, Shutzer, hast du für heute noch immer nicht die Nase voll von Winterspaziergängen?» «Wenn du nichts dagegen hast, Won’t, gehe ich nochmal zurück, das Fernglas und die Karte suchen, und mein Magazin. Den Feldstecher müßen wir auf jeden Fall melden, deshalb sollte sich unbedingt einer von uns drum kümmern. Gut möglich, daß die Sachen noch da sind.» «Mensch, das Glas ist doch meine Sache, Stan. Ich kann nachher noch immer rübergurken und mich danach umsehen.» - 139 -
«Im Dunkeln würdest du es nie finden, und außerdem wird sowieso der Schnee bald alles unter sich begraben.» «Dann ist es eben futsch.» «Aber du hast nichts dagegen, daß ich nachsehe?» «Ich versteh dich nicht, Stan. Wozu denn? Die Burschen könnten sich immer noch irgendwo im Wald rumtreiben. Unter Umständen haben sie sogar einen Wachposten da oben.» «Nee, die haben garantiert bloß eine Runde gedreht.» «Dann haben sie wahrscheinlich alles mitgehen lassen, was wir versiebt haben. Wenn es ein Spähtrupp war, dann haben sie bestimmt die ganze Gegend abgeklappert, nachdem wir uns aus dem Staub gemacht hatten.» «Kann sein; aber ich würde trotzdem gern nachsehen.» «Ach, so ein Krampf, Shutzer! So wichtig ist es doch nicht.» «Irgendeiner muß es früher oder später machen. Ich bin grade in der richtigen Stimmung, also reg dich ab.» Mir ist, ehrlich gesagt, gar nicht danach zumute. Stan hat noch mindestens vier Stunden Freiwache; also, warum nicht jetzt? Im übrigen ist mit Sicherheit, während ich hier draußen bin, oben ein Bridgespiel im Gang. Vielleicht ist Shutzer vom letzten Blatt kuriert; vielleicht sucht er nur einen Vorwand, sich vor dem Spiel zu drücken. «Na schön, Stan; aber sei vernünftig. Mach keinen Blödsinn. Keinen jüdischen Ein-Mann-Rachefeldzug gegen die Mächte der Finsternis und des Bösen, bitte. Den religiösen Fanatismus hat bei uns Mundy gepachtet, vergiss das nicht.» «Ich komme hier wieder vorbei, bevor deine Wache zu Ende ist; pass schön auf, daß du nicht aus Versehen mich über den Haufen schießt.» «Wenn du bis halb sieben nicht wieder da bist, schicke ich Mundy hinter dir her, damit er deine sterblichen Überreste mit was Weihwasserähnlichem besprenkeln kann, Urin vielleicht. Ein bisschen Letzte Ölung könnte auch nicht schaden. Alles schön koscher, natürlich.»
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«Rutsch mir den Buckel runter, Won’t.» Auf dem gleichen Weg, den wir schon am Nachmittag gegangen sind, stapft Shutzer am Bach entlang und unter der Brücke durch, arbeitet sich dann, am Ende unserer Mauer, die Böschung hinauf und geht über die Straße und in den Wald hinein, bis ich ihn aus den Augen verliere. Ich zünde die zweite Zigarette an und versuche, dabei ruhig und tief durchzuatmen. Wenn man Gordons Aufklärungsvorträgen Glauben schenken darf, pinsele ich meine Lungen inwendig pechschwarz. Aber manchmal kann ich die Bauchkrämpfe mit Rauchen in Schach halten. Ich habe keine Lust, in den Schnee zu kacken. Wenn ich bloß noch an mich halten kann, bis ich wieder im Haus bin. Als ich gerade anfange, mir Sorgen um Shutzer zu machen, sehe ich ihn weiter oben, an der Biegung, die Straße überqueren. Er kommt näher und rutscht von der Straße zu mir herunter, an den Fuß der Mauer. Ich habe soeben im Schloss angerufen, und abgesehen davon, daß sie wegen des letzten Bridgeblatts Lynchpläne für Mother Wilkins hegen, ist alles in Ordnung. Mother ist auf dem Dachboden, und Miller hat vorgeschlagen, ihn einzusperren und ihm hin und wieder etwas zu essen unter der Tür durchzuschieben. Aber Father Mundy meint, wir müßten alle verhungern, wenn Mother nicht mehr kocht. «Hast du den Krempel gefunden?» «Bloß mein Magazin.» Stan nimmt sich eine Zigarette, und ich biete ihm eines meiner letzten Streichhölzer an. Shutzer raucht nur sehr selten. Da fällt mir auf, daß ihm Schweißperlen auf der Stirn stehen, daß seine Hände zittern und seine Handschuhe durchnäßt sind. «Sie müßen nach uns an die Stelle runtergegangen sein, denn es ist alles wüst zertrampelt. Das Glas und die Karte haben sie mitgenommen; Kriegssouvenirs für die Fräuleins zu Hause.»
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«Dann komme ich also nicht um die Verlustmeldung herum. Dieser Papierkrieg ist mir verhasst. Normandin, der Kompanieschreiber, stellt sich immer an, als würden wir das Zeug klauen, um mit gebrauchten Kommissklamotten zu handeln, wenn wir wieder zu Hause sind.» Shutzer zieht die nassen Handschuhe aus. Als einziger in der Gruppe besitzt er schon die neuen Fäustlinge mit eingearbeitetem Zeigefinger zum Schießen; wir übrigen haben noch immer die altmodischen fünffingrigen Modelle, mit Wollrücken und Lederinnenflächen, wie geschaffen für Erfrierungen. Außer an Offizieren und an Shutzer habe ich diese neuen Fäustlinge noch nie gesehen. Shutzer wringt sie aus, bevor er sie in die Jackentasche stopft. «Sieht ja aus, als hättest du wie verrückt nach dem Glas gesucht, Stan. Kannst du mir bezeugen, daß ich das Ding nicht in meinem Seesack versteckt oder sonstwo vergraben habe? Aber, sag mal, was hast du eigentlich getrieben, bist du auf allen vieren herumgerutscht? Oder hast du bloß im Schnee gekniet und für Mundys Seelenheil gebetet?» «Ach wo. Ich hab gleich gesehen, daß die Sachen nicht mehr da waren.» Er blickt an sich hinunter. Er ist klatschnass von den Stiefelspitzen bis zum Schritt. «Ich bin nass geworden, weil ich für unsere teutonischen Freunde eine kleine Überraschung angefertigt habe.» «Schützenmine?» Ich hoffe nicht. Zuzutrauen wäre es ihm. Er ist der einzige von uns, der in diesem Krieg einen Sinn sieht. Er grinst und bläst zwei Rauchringe in die Luft. Seine Ringe sind die stabilsten, haltbarsten, die ich je gesehen habe. Die beiden, die er gerade ausstößt, heben sich bläulich und zart vom Schnee ab. Ein Luftstoß, der durchs Bachbett heranfegt, verbiegt sie und reißt sie schließlich entzwei. «Ich hab ‘nen Schneemann gebaut.» - 142 -
«Ach, komm, Stan! Fang du nicht auch noch an, auf plemplem zu machen. Dann bleibt ja für mich kein Platz mehr in der Klapsmühle übrig.» «Genau da, wo wir unseren Krempel liegengelassen haben, hab ich ihn hingebaut, mannshoch. Der Schnee ist goldrichtig dafür; ich hatte im Handumdrehen zwei Riesenkugeln gerollt; und die hab ich aufeinandergepackt, wie die Gören in den Bilderbüchern es immer machen. Dann habe ich ihm ein Gesicht gemacht, mit Tannenzapfen als Augen, Nase und Mund. Als letzten Pfiff hat er einen Schnurrbart aus Tannennadeln gekriegt und als Arm einen langen Tannenzweig mit einem flachgeklopften Schneeball am Ende, hochgereckt wie zum Hitlergruß. Ich hab ihm sogar noch ein paar Tannennadeln über ein Auge gepappt. Verdammt gut getroffen, kann ich dir sagen. Weißt du, Won’t, vielleicht mache ich nach dem Krieg doch keine Werbeagentur auf. Vielleicht kaufe ich mir ‘n paar Steinblöcke und versuche es mit der Bildhauerei. Ich habe da draußen ein echtes Meisterwerk hingesetzt, das kannst du mir glauben.» «Jetzt mach mal ‘n Punkt, Shutzer. Du willst mir doch nicht weismachen, daß du da draußen, mitten auf freiem Feld, dazu noch auf dem abschüssigen Gelände, einen Schneemann gebaut hast. Diese verrückten Deutschen hätten sich doch sofort hinterrücks an so einen bekloppten Künstler rangemacht und ihm mit der Knarre ‘n paar gezielte Kommentare verpasst. Die warten ja bloß auf die Gelegenheit, noch so einem ASTPWunderknaben das Lebenslicht auszupusten.» «Wenn die Nazis mich umlegen wollten, hätten sie schon vorher Gelegenheit dazu gehabt. Mir scheint, die wollen genauso den Schwanz einziehen wie wir. Sie wollen keinen Ärger; ihren Bedarf an Nervenkitzel decken sie ja schon, wenn sie Juden gelbe Sterne anstecken, sie in Viehwaggons verladen und in Konzentrationslager sperren, wo sie sie Sklavenarbeit
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machen lassen. Einem Kerl mit einer echten Knarre in der Hand krümmen die kein Haar.» «Glaubst du denn die ganzen Greuelgeschichten, Stan? Glaubst du wirklich, daß die Nazis Juden umbringen?» «Ich weiß es. Für einen Goi wie dich ist das vielleicht schwer zu glauben, aber ich weiß es. Ich habe Verwandte, die dort gewesen sind. Diese Nazis sind blutrünstige Monster. Ein ganzes Volk von Drecksäcken wie Hunt und Love.» «Na gut. Vielleicht hast du recht. Aber was für einen Sinn soll es haben, mitten in einem Wald einen Schneemann zu bauen? Erklär mir das bitte mal, und keine zionistischen Sermone, bitte. Ich kann es nicht mehr hören; ich will sowas einfach nicht glauben.» «Wie du willst, Kumpel; aber du wirst schon sehen. Übrigens, ich habe eine Botschaft in den Schnee getreten, direkt vor meinem Schneemann. Die Buchstaben so herum, daß sie sie nicht übersehen können, wenn sie wieder mal an der Stelle aus dem Wald kommen, wo sie uns heute überrascht haben.» «Ach nee. Und was ist das für eine Botschaft?» «FUCK HITLER!!! Die Ausrufezeichen habe ich mit Tannenzweigen gemacht.» Shutzer steht auf und hängt sich das Gewehr um. Wir hatten im Windschatten an der Mauer gehockt, unsere Schädel als ideale Zielscheiben für Warnschüsse anbietend. «Stan, du hast einen Knall. Erzähl Gordon und den anderen von dem Schneemann und vergiss die Liebesgrüße nicht. Sie haben angedroht, Wilkins in der Mansarde einzusperren; vielleicht sperren sie dich gleich dazu. Während er die Möbel katalogisiert, kannst du ja Papierflieger mit jiddischen Botschaften für die Deutschen basteln und aus den Dachfenstern werfen. Der ganze Haufen dreht langsam, aber sicher durch.» Shutzer geht, und ich überlege, ob ich mir noch eine Zigarette anzünden soll, aber ich lasse es bleiben. Ich fühle mich - 144 -
hundsmiserabel. Nichts scheint mehr zu helfen, weder Zigaretten noch Atemübungen, noch sonst etwas. Mein Bauch rebelliert und rumpelt wie wild, und das Kreuz tut mir weh. Ich kann nicht aufhören, Gedanken zu wälzen. Es heißt, der Krieg sei praktisch vorüber, die Deutschen würden demnächst kapitulieren, vielleicht schon Weihnachten. Aber es wird nie zu Ende sein. Wenn ich bedenke, wie lange es gedauert hat, bis es soweit war; daß die Deutschen ihrer Heimat um so näher sind, je weiter wir vordringen, daß sie immer kürzere Versorgungswege haben und nur um so verzweifelter um ihr Leben kämpfen werden, dann scheint es mir einfach aussichtslos. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie nach den Massenmorden und all den Greueln, die sie angeblich an Juden und Russen begangen haben, jemals aufgeben können. Sie werden bis zur letzten Straßenkreuzung, zum letzten Bahnhof, zur letzten Stadt kämpfen. Und dann noch die Japaner. Die einzige Überlebenschance sehe ich darin, verwundet oder gefangengenommen zu werden oder verrückt zu spielen. Ich muß zugeben, daß ich Angst davor habe, in deutsche Gefangenschaft zu geraten. Vielleicht ist alles nur Propaganda, aber mir graut davor, ihnen ausgeliefert zu sein. Der Anblick der Toten im Wald auf der Herfahrt, der eine an den Baum gelehnt und die anderen miteinander verklammert, war auch nicht gerade vertrauenerweckend. Das müßen die Deutschen gemacht haben. Was mögen die sich dabei gedacht haben? Vielleicht hat Shutzer recht; vielleicht sind sie anders als andere. Aber heute waren wir alle bereit aufzugeben, selbst Shutzer. Es war so eine günstige Gelegenheit, wir hätten gar nichts zu tun brauchen. Und, großer Gott, wie schnell es aus sein kann; ich sah es schon kommen, fühlte, innerlich angespannt und ohnmächtig wartend, meine letzten Minuten verrinnen. - 145 -
Ich muß aufhören mit der Grübelei. Wenn man über all das nachdenkt, was geschieht oder geschehen könnte, steht man es nie durch. Wenn man sich das alles bewusst macht, fängt man bald an zu warten, und wenn man anfängt zu warten, ist man erledigt. Als ich um acht die Wache beende, bin ich zum Umfallen müde. Ich fühle mich ausgedörrt, meine Lippen spannen, als werde die Haut gleich platzen und zu eitern anfangen. Während der letzten Wachstunde habe ich gegen Darmkokken angekämpft. Gordon rückt zur ersten Nachtschicht an. Wir palavern noch ein Weilchen und kommen überein, daß wir es mit einem einzigen, doppelt besetzten Posten probieren wollen, der alle dreißig Minuten Meldung macht. Auf die Art können alle ein bisschen Schlaf nachholen. Eigentlich müßten wir zwei Posten unterhalten, aber, sei’s drum, wenn die Gruppe es so will, mir soll’s recht sein. Ich sage Mel, daß das neue Kennwort «Schnee-Mann» lautet. Wir lachen über Shutzers spleenige Schneeplastik. Mel hofft, daß die Deutschen sie nicht finden; ein wutschnaubender Feind, der nach unserem Blut lechzt, hat uns gerade noch gefehlt. Oben im Schloss richten Mundy, Miller und Shutzer sich gerade auf eine Runde «Pantrant» ein. Ich kündige an, daß ich wahrscheinlich mitspielen werde, sobald ich meinen Funkspruch ans Regiment durchgegeben habe, und mache den Apparat bereit. Leary meldet sich und sagt, ich solle die Meldung unterbrechen und in fünf Minuten noch einmal zurückrufen. Ware wolle mich sprechen. Ich schalte den Apparat ab und strecke mich auf einer der Matratzen aus. Die Zeit reicht nicht für eine Klositzung, aber ich habe schon wieder Bauchgrimmen. Vor dem Kamin stapelt sich glänzend lackiertes, zerkleinertes Holz. Ob Mother davon weiß? Ich sollte auf den Dachboden hinaufgehen und - 146 -
nachsehen, was er eigentlich da oben treibt. Was, wenn er den einsamen Entschluss gefasst hätte, die Flinte ins Korn zu werfen und sich zu erhängen? Schöne Aussichten, Miller hier unten an Schneeketten aufgeknüpft und Wilkins oben unter dem Dach baumelnd. Vielleicht sollte ich besser auf das Spiel verzichten und mich um Mother kümmern; das würde man vermutlich von einem Unteroffizier erwarten. Das Feuer knistert munter; an einigen Holzstücken leuchten rotglühende Metallbeschläge auf. Was für ein Möbel mag es gewesen sein? Sie werden doch wohl kein Klavier oder Ähnliches verfeuern? Oder doch? Ich kann es mir nicht vorstellen; ich hoffe es nicht. Als die fünf Minuten um sind, rufe ich das Regiment noch einmal; diesmal erreiche ich Ware. «Alles gutgegangen, Sergeant? Kommen.» «Soweit ganz gut, Lieutenant. Shutzer, Gordon und ich haben die Sache übernommen. Wir haben den Schuppen überprüft, aber dort war keiner. Sie sind in der Jagdhütte. Wir haben drei Mann gesehen und einen Wachposten an der Straße oberhalb der Hütte. Kommen.» «Gute Arbeit. Sie haben nur vier von den Strolchen gesehen? Kommen.» «Nein, Sir. Danach, auf dem Rückweg, hatten wir Berührung mit einem feindlichen Spähtrupp. Drei Mann oder mehr; knapp einen Kilometer vom Schloss entfernt. Kommen.» «Sie hatten Feindkontakt? Was soll das heißen, Himmel, Arsch und Zwirn? Haben die Kerle Sie gesehen? Kommen.» «Jawoll, Sir. Sie haben uns aus dem Hinterhalt überfallen, hätten uns ohne weiteres über den Haufen schießen können, haben es aber nicht getan. Mir ist schleierhaft warum; keiner von uns kapiert es. Kommen.» «Ja, leck mich am Arsch!» Lange Pause. In einem heftigen Krampfanfall krümme ich mich übers Funkgerät. Ich höre, wie Miller das Spiel mit dem ersten Wort eröffnet, es lautet ‹brinkolar›. Er buchstabiert. - 147 -
Schlittschuhe, Süßigkeiten, Sterne fallen mir ein. Bloß nicht an das denken, was sich hinter meinem Darmausgang zusammenbraut. Wenn Ware den Funkspruch nicht bald beendet, muß ich wohl oder übel wieder in die Hosen machen. «Sergeant Knott, die Lage ist noch immer völlig verworren. Niemand blickt mehr durch. Ich werde Major Love gleich Bericht erstatten. Er geht im S2-Zelt die Wände hoch; Ihre Meldung ist ja immerhin schon etwas. Kommen.» «Jawoll, Sir. Kommen.» Bitte! erlösen Sie mich, bevor ich platze. «Okay, Knott, bleiben Sie am Ball. Ende.» Ich stelle das Funkgerät ab und lasse erst einmal eine neuerliche Krampfwelle abebben. Shutzer sammelt gerade die Papierstreifen mit den verschiedenen Definitionen ein. Ich hätte getippt «erdnächste Kante eines erkalteten Sterns». Ich lockere Kampfjacke und Gürtel, öffne die obersten Hosenknöpfe, grapsche aus dem Einsatz meines Stahlhelms, der auf einer Matratze neben mir liegt, eine Packung Toilettenpapier. Dann erhebe ich mich mühsam und humple zusammengekrümmt, den Hosenbund mit der Linken an mich raffend, auf die Treppe zu. Ich schaffe es bis zum Treppenabsatz, dann muß ich stehenbleiben und einen infernalischen Krampfanfall über mich ergehen lassen. Ich halte dicht, bis ich die Hose unten und den Hintern überm Toilettenloch habe. Vornübergebeugt, den Kopf zwischen den Knien, kauere ich da und lasse mich von den Krampfwogen überrollen. Ich denke immer, wenn ich nur alles von mir geben kann, was auch immer es ist, werde ich das Übel los, aber es klappt nie. Ich melde mich nicht gern krank, aber sobald wir wieder bei unserer Einheit sind, werde ich es tun. Gerade rechtzeitig zu Gordons erster Meldung schleppe ich mich wieder hinunter. Nichts Neues. Als nächster ist Mundy dran. Das Pantrant-Spiel ist zu Ende, und alle hauen sich aufs Ohr. Ich bitte Father, die
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nächste Meldung abzupassen, und gehe nachsehen, was Wilkins macht. Die Tür zum Dachraum steht offen. Im Schein einer unserer blakenden Funzeln sehe ich Mother, umgeben von mindestens fünfzehn Gemälden in schweren vergoldeten Rahmen, auf dem Fußboden hocken. Er dreht sich nicht nach mir um, als ich eintrete. Ich gehe neben ihm in die Hocke. «Guck bloß mal. Wont. Sieh dir diese Bilder an. Eigentlich sind sie nicht mal besonders gut, aber es tut so wohl, sie zu betrachten. Ich spüre die Ruhe und die Anteilnahme irgendeines Menschen, der sich die Muße genommen hat, etwas zu sehen und dann etwas zu tun, das mir hilft, mit ihm zu sehen. Das ist Liebe, Wont; manchmal verliere ich fast den Glauben daran, daß es noch so etwas wie Liebe gibt. Diese Gemälde machen mich wieder froh, ein Mensch zu sein.» Ich betrachte die Bilder. Es sind überwiegend Waldidyllen mit verschneiten Tannen und Wiesenlandschaften mit Frühlingsblumen. Auf zweien sind Rehe zu sehen, die äsen oder zum Betrachter aufblicken, wie das Reh, das ich kürzlich sah. Auch Stilleben sind dabei, Töpfe und Pfannen und Feldfrüchte, die aus einem Korb purzeln. Eigentlich hatte mich die Sorge um Mother, den ich allein hier oben im Dunkeln sitzend wähnte, heraufgetrieben, aber nun lasse ich mich vollkommen von seiner Stimmung gefangennehmen. Bis zu diesem Augenblick war meine Erfahrung mit bildender Kunst aufs Zeichnen beschränkt gewesen. In der High-School hatte ich nie Kunstunterricht gehabt; alle drängten mich immer in die Mathematik oder in naturwissenschaftliche Fächer; Trigonometrie und sphärische Trigonometrie, Raumgeometrie und analytische Geometrie; Begabtenkurse am Drexel Institute. Es war nicht besonders schwer, aber Spaß hat es auch nicht gemacht; es bedeutete nur überdurchschnittlich viel Paukerei,
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neue Spielereien und Mätzchen für Denkfaule. Vorbereitung aufs Geldverdienen. Zeichnen ist dagegen, seit ich denken kann, ein nie versiegender Quell der Freude für mich gewesen. Schon in der Schulzeit zeichnete ich auf alles, was mir in die Finger kam; überall versteckte ich Zeichnungen; meine Schultasche, sämtliche Hefte, sogar meine Schulbücher waren voll davon. Wie eine Furie räumte meine geplagte Mutter immer wieder Schubladen und Schränke in meinem Zimmer aus und warf haufenweise Kritzeleien weg. Es machte mir nicht viel aus; ich war versessen aufs Zeichnen, nicht auf die Zeichnungen. Zwar ging ich im Kunstmuseum am Parkway in Philadelphia ein und aus, aber die Gemälde an den Wänden würdigte ich kaum eines Blicks. Wir hatten nichts im Sinn, als Geheimtüren oder -gänge in den holzgetäfelten Räumen aufzuspüren und uns beim Versteckspielen von den ägyptischen Mumien im Kellergeschoss Schauder einjagen zu lassen. Kaum vorstellbar, daß ein Mensch neunzehn Jahre alt werden kann, ohne jemals ein Gemälde anzuschauen, geschweige denn zu sehen. Aber bei mir war es traurige Realität. Die plötzliche Erkenntnis erschütterte mich. Mag sein, daß sie mich nur deshalb so betroffen machte, weil mir hundeelend zumute war, weil die Angst so tief saß, die Wirklichkeit um mich herum so unannehmbar war. Ich werde es nie ganz ergründen können, aber diese vertraulichen Zeugnisse einer anderen Welt, einer anderen Zeit, wahrgenommen von einem anderen Bewusstsein als dem meinen, sprachen meine verborgensten Seelenwinkel an. Das Erlebnis veränderte mein Leben. In Gesellschaft von Wilkins, unter den Murmeln von Liebenden nach dem Liebesakt, machte ich meine erste ästhetische Erfahrung. Ich begriff vage, was mit mir geschah. Ich würde nie mehr derselbe sein.
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Irgendwann nehme ich Mother wieder mit hinunter zu den anderen. Er hat eingewilligt, alles nach drei Gesichtspunkten zu ordnen. Als erstes wird er aussortieren, was wir verbrennen können, ohne allzu verwerflichen Kulturfrevel zu begehen. Dann die Dinge, die im äußersten Notfall verheizt werden können, aber, wenn irgend möglich, verschont werden sollten. Und als letztes all das, was unter keinen Umständen ins Feuer wandern darf, Gegenstände, die um jeden Preis verteidigt werden müßen, solange wir noch Wert auf irgendeine Art von Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies erheben. Schon fast zehn Uhr, über eine Stunde lang haben wir uns in dem kalten, düsteren Dachraum in einer anderen Sphäre aufgehalten. Mit Ausnahme von Gordon, der draußen auf Posten liegt, trommle ich alle zusammen und schlage ihnen vor, in dieser Nacht immer zu zweit Wache zu schieben, aber nur auf einem Posten, unten an der Brücke. Niemand widerspricht. Mit Sicherheit war keiner erpicht darauf, im Finsteren allein da draußen zu hocken. Ich bin froh, daß es keine Diskussion gibt; ich hätte sonst auf meinen Dienstgrad pochen müßen, und das widerstrebt mir zutiefst. Mundy und ich werden als nächste den Brückenposten beziehen. Nur für zwei Stunden; danach haben wir vier Stunden Freiwache, in denen wir uns nur in den Telefondienst teilen müßen. Nicht so schlimm. Schließlich herrscht Krieg, und wir befinden uns mittendrin, mehr oder weniger. Ich fühle mich noch immer sehr schlapp. Das Betrachten der Bilder hat mir gutgetan, aber ich bin ausgepumpt, kraftlos. Mundy und ich ziehen die Schneehemden über; sie werden uns nicht nur tarnen, sondern auch den tückischen, schneidenden nächtlichen Talwind abhalten. Die weißen Overalls haben angeschnittene Kapuzen, die wir über die Helme stülpen und am Hals zuziehen können. Dummerweise sind sie aus einem scharf raschelnden Material gefertigt, das sich beim Gehen - 151 -
anhört, als würden Dacron-Segel gehißt. Vermutlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der an Schnee, Kälte und Angst denkt, wenn er am sonnigen Strand von Venice, in Kalifornien, Segel setzt. Draußen hat es zu schneien aufgehört, und der Himmel klart auf. Über den Mond, der fast voll ist, rasen dicke Wolkenklumpen. Während wir zur Brücke hinuntertappen, wälzen sich ihre Schatten über die Bäume und den Schnee. Gordon verlangt die Parole von uns, und dann kauern wir uns alle drei eng aneinandergedrängt vor die Mauer. «Irgendwelche komischen Geräusche bisher, Mel, Eulen, Indianer, Waldelfen?» «Absolute Stille: bloß diese schauerliche Windsbraut, die in den Bäumen heult und sich anhört wie die Geräuschkulisse zu einem Frankensteinfilm. Und ihr werdet ja sehen, wenn der Mond in die Wolken taucht und wieder vorkommt; das ist wie Schattenboxen und Geisterbahn auf einmal.» Als ich sehe, wie Gordon seine Handgranaten von der Mauer nimmt, bin ich froh, daß wir uns zu dem Doppelposten durchgerungen haben. Während Gordon von der Nacht verschluckt wird, lehnt Mundy sich mit gekrümmtem Buckel und vorgereckten Schultern an die Mauer. Ich stelle mein Gewehr daran ab und ziehe die Kapuzenschnur fester. Mel hat das Telefon auf den Mauersims gestellt, ich hole es wieder an den Fuß der Mauer herunter. Der Posten hier soll schließlich nicht wie eine Arztpraxis aussehen. Mel hat sich sogar aus einer großen Schneekugel eine Sitzgelegenheit gebaut. Er hätte fast schon Patienten empfangen können. Mundy rutscht herüber und lässt sich auf dem Schneestuhl nieder; ich werde mir auch einen rollen. Shutzer hat nicht übertrieben; der ideale Schnee zum Schneemannbauen. Ich habe meinen Sitz im Handumdrehen gerollt. Wir thronen nebeneinander auf unseren Schneekugeln wie auf einem Donnerbalken. Ich weiß nicht, wie Mundy - 152 -
zumute ist, ich fühle mich jedenfalls nicht sehr redselig. Das werden zwei lange Stunden. Wenn Mundy wieder zum Kreuzzug um die Seelen der Sünder bläst, werde ich ihn einfach bitten, die Klappe zu halten. Ich möchte noch ein Weilchen meinen Gedanken über die Bilder nachhängen. Als wir gerade unsere Halbelfuhr-Meldung gemacht haben, ist mir, als hörte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas herumschleichen! Hastig schiebe ich die Kapuze zurück und reiße mir den Helm vom Kopf. Ich nehme die Handgranaten aus meinen Taschen und lege sie auf die Mauer; Mundy tut daßelbe. Ich weiß nicht, ob er auch etwas gehört hat, auf jeden Fall hat er mir angemerkt, daß mich etwas aufgeschreckt hat. Just in diesem Moment scheint der Mond strahlend hell, und wir starren angestrengt in die Richtung des Geräusches, können jedoch nichts erkennen. Aber zu hören ist es jetzt, ohne jeden Zweifel. Keine vierzig Meter von uns, auf der anderen Straßenseite, gleich am Waldrand, bewegt sich etwas durchs Unterholz! Ich überlege, ob ich oben anrufen soll, denn es ist zu befürchten, daß, wer auch immer da draußen herumkraucht, mich hören wird; so nah ist es! Die Geräusche scheinen von einem wahren Ungetüm zu kommen; ich bin fast sicher, daß es irgendein Tier ist, kein Mensch; nun herrscht wieder Stille. Aber dann ertönt etwas, das nur Spatenklirren sein kann. Auch Füßescharren und Keuchen ist zu hören. Es sind eindeutig menschliche Geräusche. Wir warten angespannt. Die verdammte Telefonkurbelei würde zu viel Krach machen; deshalb nehme ich den Hörer vom Haken, damit sie uns hier unten nicht anrufen können. Das könnte einer dieser «Miller»Fälle sein, in denen Schüsse und Schreie des Wachpostens das Signal zur Flucht geben. Wir harren schweigend aus. Dann hören wir Stimmen, lautes Flüstern, auf «s» auslautende Worte. Der Mond verkriecht sich hinter einer dichten, dunklen Wolke; über die schwankenden Baumschatten bricht Finsternis herein. Tiefschwarze Nacht, nur noch Schneeleuchten auf dem Boden, - 153 -
alles andere undurchsichtige Schwärze. Wir halten beide den Atem an und lauschen. Ich bilde mir fest ein, auf der Straße etwas zu sehen, etwas Aufrechtstehendes, das sich von der Dunkelheit abhebt. Wieder hören wir Stimmen und warten ab. Dann, als der Mond sich wieder hinter einer Wolke hervorschiebt, ertönt eine Stimme, eine laute Stimme, fast schon ein Schrei, und wieder Füßetrappeln, vom Schnee gedämpftes Knacken zertretener Tannenzapfen und Zweige. Im aufleuchtenden Mondschein sehen wir einen Mann auf der Straße stehen. Es ist ein deutscher Soldat, das Gewehr direkt auf uns angelegt! Mundy und ich gehen ruckartig in Deckung. Nichts geschieht! Ich angle mir eine der Handgranaten vom Mauersims, ziehe den Sicherungsstift, werfe sie in hohem Bogen über die Mauer und zähle. Ein Aufprall, ein greller Blitz, das Sirren von Granatsplittern, stechender Salpetergestank. Irgendwer lacht! Mundy und ich sehen uns an. Langsam, vorsichtig schieben wir die Köpfe über den Mauerrand. Der Soldat steht noch immer an derselben Stelle, das Gewehr auf uns gerichtet! Wieder tauchen wir weg. Was in Dreiteufelsnamen sollen wir bloß machen? Vielleicht sind sie doch Supermänner. Der Kerl müßte von Granatsplittern durchsiebt sein, aber er hat sich nicht von der Stelle gerührt! Ich riskiere noch einen Blick. Unterdrücktes Lachen, irgendwo zwischen den Bäumen, nicht von dem Soldaten, der auf uns zielt. Dann Gegröle. Zuerst aus einer, dann mindestens aus drei Kehlen. «FUH KIT LER!» «FUH KIT LER!» «FUH KIT LER!» Wieder Gelächter. Ich nehme den Hörer und rufe das Schloss auf. Bei all dem Krakeel und Radau wird das bisschen Telefongekurbel nicht auffallen. Shutzer meldet sich. «He. Won’t! Was ist denn da unten los?»
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«Ich weiß nicht recht, Stan; entweder es spukt, oder es gibt hier in der Nähe ‘ne Klapsmühle, aus der ein paar total bekloppte deutsche Ex-Soldaten entsprungen sind. Der Krach, den du grade eben gehört hast, war eine Handgranate von mir.» Von der anderen Straßenseite her erschallt noch immer Gejohle, aber diesmal plärren sie im Chor, wie professionelle Stimmungsmacher bei einer Sportveranstaltung. «FUH KIT LER!» «FUH KIT LER!» Ich halte den Hörer über den Rand unserer Mauer hoch und nehme ihn wieder herunter. «Kannst du das hören, Stan?» «Himmel, Arsch, ja, wir hören es auch ohne Telefon. Was schreien sie denn diesmal?» «Du wirst es nicht für möglich halten, Stan. Ich glaube sie brüllen ‹Fuck Hitler, FUCK HITLER›, so wie deine Großmutter es wahrscheinlich aussprechen würde; das heißt, wenn sie solche Worte überhaupt in den Mund genommen hätte.» «Ich glaub, mich tritt ein Pferd!» «Im Ernst, Stan. Keine Ahnung, was wir machen sollen.» «Sollen wir unsere Heerscharen auf sie loslassen und einen gepfefferten Angriff hinlegen?» «Ich glaub kaum, daß es viel nützen würde. Bisher ist, abgesehen von Geschrei, nichts passiert. Da steht bloß so ein Irrer auf der Straße, der so tut, als könnten ihm Granaten nichts anhaben. Vielleicht sollte lieber jemand ein paar Zwangsjacken runterbringen. Wenn wir die Deutschen nicht reinstecken können, sind wir womöglich selber bald reif dafür. Es ist der helle Wahnsinn!» Dann ist es soweit; eine Handgranate kommt über die Mauer gesegelt und schlägt neben Mundy auf. Ich lasse den Apparat fallen und werfe mich auf den Boden. Dann stelle ich fest, daß es gar keine Handgranate ist; es ist ein Schneeball, auf ein Stöckchen gespiesst. Ich rapple mich wieder in eine sitzende - 155 -
Position hoch, lehne mich an die Mauer und entwirre die Telefonkabel. «Stan, das ist zuviel. Jetzt schmeißen die doch wirklich und wahrhaftig Schneebälle.» Ich schaue zu Mundy; er hört gar nicht hin; er hat die Spielzeughandgranate aufgehoben, zieht das Stöckchen heraus, presst den Schnee wieder fest und wirft den Schneeball zurück über die Straße. «Momentchen, Stan. Ich rufe gleich zurück. Wenn ihr Kampfgetümmel hört, dann lasst Miller die Jeeps auf Touren bringen und haut ab, aber mit Rückenwind!» Natürlich, wie nicht anders zu erwarten, kommen Sekunden später weitere Schneebälle über die Mauer geflogen, diesmal ohne Stöckchen. Mundy hat den Deutschen gezeigt, wie man handfeste amerikanische Schneebälle ohne Stiele macht. Jeden Wurf begleiten sie mit ihrem FUH KIT LER-Schrei. Mundy ist vollauf damit beschäftigt, Schneebälle aufzuheben, festzuklopfen und zurückzuwerfen. Sogar ich werfe ein paar. Wir können die Deutschen nicht sehen, ich denke nicht daran, den Kopf über die Mauer zu recken. Ich bleibe in der Hocke und schlenze die meisten Schneebälle aus dem Handgelenk hoch. Mundy dagegen steht aufrecht da und feuert sie quer über die Straße zwischen die Bäume. Die der anderen sind so angelobbt, daß sie hinter der Mauer auf uns herunterplumpsen. Ich muß zugeben, diese Schneebälle können kaum jemand wehtun. Ich zwänge mich wieder neben das Telefon und kurble. «Shutzer?» «Jawoll, Won’t! Alles startklar. Du brauchst es nur zu sagen. Miller wird mit dem Jeep runterrollen, Gordon übernimmt das MG. Die anderen machen den Nachtrab.» «Tja, also, im Moment liefern wir uns bei Gott eine Schneeballschlacht.» «Wie bitte?»
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«Stan, hältst du es für möglich, daß der Krieg vorbei ist, ohne daß uns ein Schwein was davon sagt? Ich hab doch vorhin mit Ware gesprochen, und er hat sich so komisch angehört. Das würden die doch nicht fertigbringen, oder, mit dem Krieg aufhören und es für sich behalten?» «Kommt ihr ehrlich klar da unten? Mel ist vorhin bis auf halbe Höhe runter und ein Stück weit an der Kante entlanggeschlichen. Er sagt, es sähe aus, als hätte jemand eine Vogelscheuche in ‘ner Kraut-Uniform bei der Brücke aufgestellt. Er war sich nicht ganz sicher, aber so sieht es anscheinend aus.» «Eine Vogelscheuche! Verflixt und zugenäht, Shutzer, du hast mit dem ganzen FUH KIT LER-Quatsch angefangen; jetzt revanchieren die sich mit Vogelscheuchen und Schneebällen. Kannst du nicht diesen Mistkrieg allein weitermachen und uns anderen einfach nach Hause schicken?» Ich hänge ein und richte mich nun doch auf; ich muß mir das genauer ansehen. Ehrlich gesagt, habe ich im Augenblick allenfalls Angst davor, einen Schneeball ins Gesicht gepfeffert zu kriegen. Es ist unverkennbar eine Vogelscheuche. Was wir für ein Gewehr hielten, entpuppt sich als Zweig, an dessen Ende ein Papierfetzen flattert. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, jemand tritt aus dem Wald auf die Straße heraus. Er winkt mit beiden Armen. Er ist so weit entfernt, daß ich in der Dunkelheit sein Gesicht nicht deutlich ausmachen kann, aber es ist auf jeden Fall nicht der Mann, der Max ähnlich sieht; soviel kann ich erkennen. Er hat eine Schmeisser-Maschinenpistole mit dem Lauf nach unten über dem linken Arm hängen und grinst. «Schlaf gut, Ami!» Er winkt noch einmal und trollt sich gemächlich wieder in den Wald. «Slaffgood, Kraut.»
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Das war Mundy, der neben mir steht und mit beiden Armen in der Luft herumrührt wie eine irische Windmühle. Dann hören wir es gegenüber den Hang hinauf im Unterholz krachen. Meine Gedärme entkrampfen sich wieder. Ich bücke mich und hebe den Apparat auf. An die Mauer gelehnt, den Telefonkasten zwischen die Ellbogen geklemmt, kurble ich. Ich bin vom Kopf bis zu den Füßen durchgeschwitzt. Das könnte eine Folge der Schneeballschlacht sein, aber ich denke eher, es ist die schiere Angst. Alle meine Klamotten sind von Angstschweiß durchtränkt, und auch dieser wird wieder eintrocknen, und damit hat es sich. Wir riechen alle gleich; waschen ist zwecklos. Shutzer ist wieder dran. «Was gibt’s Neues, Won’t? Habt ihr zwei schon angefangen, Schneeschlösser zu bauen? Einen Abklatsch von ‘ner deutschen Rheinburg?» «Reiz mich nicht, Stan; dies ist dein Krieg. Ich erstatte lediglich Bericht, klar? Wir haben uns gegenseitig schön manierlich Gutenacht gesagt; du kannst beruhigt wieder in die Heia gehen; es ist alles im Butter. Weißt du, wir könnten den Krieg doch eigentlich hier draußen in unserem Wald auf eigene Faust beenden. Wir ziehen alle miteinander ins Schloss und verteidigen es einträchtig gegen die Knallköpfe, die den Krieg wollen. Wir könnten uns als neutral erklären.» «Kommt ihr auch wirklich alleine klar da unten? Gordon hat versucht, seinen gesunden Menschenverstand sprechen zu lassen. In Verbindung mit Millers analytischem Ansatz kann der ja normalerweise jedes Problem knacken; aber keiner konnte bisher mit einer einleuchtenden Erklärung aufwarten. Bedauerlicherweise halten sie es beide für unwahrscheinlich, daß der Krieg vorbei ist. Vielleicht mußt du uns in dieser Angelegenheit mit deinen schöpferischen, gefühlsduseligen Einfallen auf die Sprünge helfen.» «Ich werde mein Bestes tun, Stan.» «Also dann; und Fuh Kit Ler.» - 158 -
Nachdem Mundy und ich noch etwa zehn Minuten lang in die Dunkelheit hinausgestiert und gehofft haben, nichts zu sehen, beschließe ich, am Bachbett entlang zu pirschen und mich an die Vogelscheuche heranzumachen. Unterwegs sehe ich mich aufmerksam nach Minen um. Aus der Nähe besehen stellt sich heraus, daß sie ihre Version von Adolf Hitler angefertigt haben. Daher der Schlachtruf. Die Figur ist mit einer verschlissenen Uniform ausstaffiert, und der Kopf besteht aus einem mittelgroßen Schneeball mit Tannenzapfen und Tannennadeln, ähnlich angeordnet, wie Shutzer es von seiner Figur erzählt hat. Möglicherweise ist es sogar derselbe Kopf. Unsere Geländekarte haben sie auf ein Stöckchen gespiesst und dieses an einem der beiden Arme befestigt. Am Fuß der Vogelscheuche liegt unser Feldstecher. Ich erklimme die Böschung, trete auf die Straße und gebe Mundy ein Zeichen. Er sieht es und winkt zurück. Der Nachtwächter hält nicht einmal sein Gewehr schussbereit, um mir Deckung zu geben. Ich zupfe die Karte vom Stock und hebe das Glas auf. Dann wetze ich am Straßenrand entlang zurück und setze über die Mauer. Ich greife nach Mundys Handgelenk und gucke auf seine Uhr; Zeit für die Elf-Uhrdreißig-Meldung. Diesmal kommt Gordon an den Apparat. «Mel, sag Shutzer, daß wir das Glas und die Karte wiederhaben; wir können uns die Verlustmeldung sparen.» «Er ist grade auf dem Lokus. Wie war das eigentlich; sind sie einfach angelatscht gekommen und haben euch die Sachen schön verpackt als Weihnachtsgeschenke überreicht?» «Es war alles bei der Vogelscheuche. Das Ding haben wir im übrigen Shutzer zu verdanken, es ist eine deutsche Ausgabe des großen Führers. Was steckt bloß dahinter, Mel, was meinst du? Ich kann mir keinen Reim drauf machen.»
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«Ich muß zugeben, ich hab nicht mehr die geringste Hoffnung, daß der Krieg vorbei sein könnte, auch nicht in absehbarer Zeit, aber ich wünsche es mir trotzdem unentwegt.» «Wäre es nicht ein tolles Weihnachtsgeschenk? Also, Leute, das war’s. Frohe Weihnacht, Friede, Freude, Eierkuchen, ihr könnt nach Hause gehen! Ziemlich trostloser Ort für eine Weihnachtsfeier, das muß ich schon sagen.» «Wieso? Ist doch alles richtig schön gojisch, Wont: Christbäume zu Hauf, Schnee, Tannenzapfen, Kaminfeuer, alle Schikanen. Was willst du mehr?» «Na, zum Beispiel eine kleine vertrocknete Douglasie, an den Wohnzimmerfußboden genagelt, mit künstlichen Eiszapfen und Lametta dran und einem Bettlaken drunter anstelle von Schnee, und Spielzeugeisenbahnen, die um den Baum kurven, und ein paar bunte elektrische Kerzen und glitzernde Christbaumkugeln.» «Klingt mir viel zu kommerziell, da fehlt die wahre christliche Einstellung. Was meint denn unser Seelenhirte, Father Mundy, dazu? Das ist wahrscheinlich das erste Mal, daß er Heilig Abend die Mitternachtsmesse verpasst. Könnten wir ihn nicht ausfliegen lassen, Sir?» «Lass mal, ich werd mir für Mundy schon was einfallen lassen. Ich kann die lateinischen Formeln alle noch auswendig. Ich werde eine Mitternachtsmesse zelebrieren mit einem Feldbecher von unserem Wein und ein paar von unseren Hundekeksen. Auf die innere Einstellung kommt’s schließlich an; stimmt’s, Mundy?» Mundy lächelt und schüttelt nur den Kopf; die Ernüchterung hat eingesetzt. Ich hänge auf und warte, daß die Zeit vergeht. Father und ich führen ein stockendes Gespräch über die schönsten Weihnachtsfeste, an die wir uns erinnern. Er erzählt mir, daß er an den Weihnachtsmann geglaubt hat, bis er zwölf war; und daß er sich immer mit seinen Schulkameraden prügelte, um seinen Glauben zu verteidigen. Ich bereue, was ich bei unserem - 160 -
letzten Gespräch über Glauben gesagt habe; mir war gar nicht bewusst, wie leicht ich ihn hätte kränken können. Derlei achtlose, unbeabsichtigte Gemeinheiten möchte ich mir gern abgewöhnen. Gegen Mitternacht sehen wir Wilkins und Shutzer auf uns zukommen. Mundy steht auf, reckt sich und brüllt «Frrröööhliche Weihnachten!» Mother ist tief in seine Wollappen vermummt. Er guckt Mundy ungläubig an. «Ach komm, es kann unmöglich schon Weihnachten sein, Paul. Das kannst du mir nicht weismachen.» Mundy klopft seine aufgeplatzten Handschuhe gegeneinander und stampft mit den Füßen. «Lange kann es nicht mehr sein bis dahin, Vance.» Er schiebt den Ärmel seiner Kampfjacke zurück, guckt auf die Uhr. «Plus, minus eine Woche, oder so.» Shutzer lehnt seinen Karabiner an die Mauer. Er wirkt erschöpft; kein Wunder, nach all der überspönigen Hampelei im Schnee. «Mal lieber nichts überstürzen, was, Mundy?» Wilkins’ Nase trieft, seine Augen tränen, und er haucht auf seine behandschuhten Hände. Ich bin skeptisch, ob er die zwei Stunden durchsteht. Shutzer soll ein bisschen auf ihn aufpassen, und wenn Mother es nicht schafft, kann einer von uns einspringen. Mother wirkt so zerbrechlich, fast unsichtbar hier draußen in Dunkelheit und Kälte. Stan stampft mit den Füßen. «Donnerlittchen, ist das kalt. Macht ihr zwei euch mal auf die Socken nach oben, ins Warme. Wenn ihr uns Handgranaten werfen hört, ist es vermutlich bloß, um uns warm zu halten.» Es fällt kein Schnee mehr, und der Mond ist schon fast bis auf die Tannenwipfel gesunken. Der ekelhafte böige Wind fegt wieder das Tal herauf und wirbelt losen Schnee auf. Mundy und ich stapfen den Hang hinauf. Die Koliken haben sich - 161 -
gelegt, und ich hoffe, daß ich ein bisschen zum Schlafen komme. Miller und Gordon empfangen uns mit heißem Kaffee und mit Suppe, die Mother zubereitet hat. Ich schlürfe die Suppe, spüre, wie sich die Wärme in mir ausbreitet und meine Lebensgeister wieder weckt. Die Suppe wird wahrscheinlich schnurstracks durch mich hindurchfließen, aber es lohnt sich. Wilkins hat unsere Eintopf- und Bohnenreste verwertet; einen leichten Beigeschmack von Sardinen meine ich auch zu bemerken. Seltsame Mischung, könnte man meinen, aber das Zeug schmeckt gut nach zwei Stunden Wache im Schnee. Miller will genau Bescheid wissen über die Schneeballschlacht. Ich lasse Mundy erzählen; mir versagen langsam die Kräfte. «Soll das heißen, daß sie euch bloß aus Jux mit Schneebällen bombardiert haben?» «Genau.» «Ehrlich, Mundy? Nehmt ihr mich bestimmt nicht auf den Arm?» «Ehrlich, Bud, ich schwör’s.» Mundy legt allen Ernstes die Hand aufs Herz. Und, was noch schlimmer ist, Miller lacht nicht einmal. Ich ziehe die Stiefel aus und rutsche vorsichtig in meinen Schnarchsack, die Füße zum Kamin gestreckt. Meine tauben Flossen fangen an zu kribbeln. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als drei bis vier Stunden durchzuschlafen. Dieser Irrsinn zermürbt mich mehr als bewaffneter Kampf. Mein Hirn ist in Aufruhr, meine Nerven sind kaputt. Es ist mir seit jeher schwergefallen, mit etwas umzugehen, das ich nicht begreife. Ich lausche der Unterhaltung zwischen Miller, Gordon und Mundy. Als letztes nehme ich noch wahr, daß Father Holz nachlegt, Holz, das sichtlich nicht aus einem Pferdestall stammt. Aber es kümmert mich nicht einmal mehr, was wir verbrennen. Ich habe keinen Funken Widerstandskraft mehr.
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Als nächstes registriert mein Bewusstsein, daß Shutzer mich wachrüttelt. Es ist sechs Uhr morgens. Ich habe sechs Stunden lang ununterbrochen geschlafen. Irgend jemand hat die VierUhr-Wache für mich übernommen. Mein erster Gedanke ist, daß Mundy sich bestimmt um die Märtyrerrolle gerissen hat, aber es stellt sich heraus, daß es Mother war. Da mache ich mir Sorgen, ob er durchhält, dabei legt er eine zusätzliche Schicht ein, um für mich einzuspringen. Ich frage mich, ob meine angeschlagene Verfassung schon der ganzen Gruppe auffällt. Die nächsten zwei Stunden sind Shutzer und ich dran. Ich habe völlig den Überblick verloren und weiß nicht, wann Shutzer das letzte Mal draußen war, aber er wirkt einigermaßen frisch. Wir raffen Handgranaten, Patronengurte und Gewehre an uns und tigern los. Es ist noch immer stockfinster, die Temperatur scheint weiter gefallen zu sein. Mittlerweile ist es so kalt, daß kaum mehr mit Schneefall zu rechnen ist. Irgend etwas liegt in der Luft, das mich an Weihnachtsstimmung in der Kindheit erinnert. Wenn wir am fünfundzwanzigsten Dezember morgens auf dem Weg zur Frühmesse am Christbaum vorbei nach unten huschten, dann rochen wir den Tannenduft und spickten aus zusammengekniffenen Augen gerade lang genug, um den Lichterbaum zu sehen, hoben uns aber alles andere für die Rückkehr auf. Dieser Morgen hat etwas ähnlich Verheißungsvolles. Nichts Greifbares, nur eine erwartungsvolle Spannung, das Gefühl von etwas unmittelbar Bevorstehendem. Vermutlich hat Mel recht, weihnachtlicher dürfte es kaum noch werden, mitten in einem Krieg. Einmal bekam ich zu Weihnachten ein Fahrrad geschenkt, nagelneu, von Sears Roebuck, mit Ballonreifen und so leuchtend rot lackiert und so chromblitzend, wie man es sich nur erträumen konnte. In jenem Jahr schneite es auch, und nach der Christmesse schob ich das Rad über die dick verschneiten Stufen unserer Veranda hinunter. Ich fuhr damit im rieselnden - 163 -
Schnee auf die stille, dunkle Reihenhausstraße hinaus. Noch nie zuvor war ich Zweirad gefahren, aber vor lauter Glückseligkeit brachte ich es irgendwie in Gang. Doch dann konnte ich nicht wieder anhalten; ich hatte keine Ahnung, wie eine Felgenbremse funktioniert. Dad kam im Schnee herausgerannt und baute sich vor mir auf, so daß ich ihm zwischen die Beine radelte, während er nach dem Lenker griff und mich festhielt. «Won’t, lässt du mich mal einen Blick auf die Karte werfen? Hast du sie dabei?» Ich greife in meine Jacke und ziehe sie hervor. Sie war nass gewesen, aber jetzt, nachdem ich sie sechs Stunden lang vor dem offenen Feuer, im Schlafsack, an den Busen gepresst habe, ist sie fast wieder trocken. Ich bin zu müde, um mir Gedanken darüber zu machen, was Stan auf Feldwache mit einer Landkarte vorhat. Stan kauert sich an die Mauer und zündet ein paar Streichhölzer an. Jetzt frage ich mich doch, was er im Sinn hat. Schließlich wissen wir, wo wir sind, mehr oder weniger jedenfalls. Plötzlich richtet er sich mit weit aufgerissenen Augen auf. «Siehst du, Won’t! Ich hab’s doch gewusst! Die ganze Zeit mußte ich über die verrückten Geschichten nachdenken, die seit den lebenden Bildern mit den Toten passiert sind, und es gibt nur eine einzige sinnvolle Antwort darauf!» Er bückt sich und zündet noch ein Streichholz an. Ich beuge mich zu ihm hinunter. Shutzer zeigt auf kohlschwarze Bleistiftzeichen; sieht nach einem 4B oder sogar noch etwas Weicherem aus. Auf der Rückseite der Karte sind in fetten Druckbuchstaben, vermutlich deutsch, vier Zeilen geschrieben. Shutzer brennt noch ein Streichholz an. Er fährt mit den Fingerkuppen unter den Worten entlang. «Okay, der Anfang ist leicht. Sie fragen, ob irgendeiner von uns Deutsch spricht. Soweit kein Problem. Aber dann steht da noch was; sieht aus wie eine Zahl und ein Wort. Entweder - 164 -
heißt es ‹SANDKARTE› oder ‹LAND-KARTE›. Die Scheißkrauts machen so eckige Buchstaben.» Das Zündholz erlischt. Ich sehe mich um, ob nicht irgendwo ein Deutscher herumsteht, der uns entziffern helfen könnte. Shutzer hat schon wieder ein Streichholz angezündet. Vielleicht sollte ich ihn bitten, mir ein paar zu borgen; er scheint in jeder Hosentasche ganze Schachteln voll davon zu haben. Shutzer wendet die Karte um. Er streicht noch ein Holz an und lässt es über die Karte wandern. Plötzlich stockt er und geht mit dem Gesicht dicht heran, als das Streichholz ausgeht. Er richtet sich auf und sieht mich an. «Da bist du platt! Da ist ein Kreuz eingezeichnet, neben dem Schuppen, unten am Bach, und daneben steht die Zahl zwölfhundert. Das ist ja ein Ding.» «Meinst du etwa, sie haben dort ‘nen Schatz verbuddelt, und wir sollen auf Schatzsuche gehen? Was soll das nun schon wieder heißen, Stan? Wollen wir uns nicht lieber aus dem Staub machen und den Wald diesen armen Irren überlassen?» «Quatsch, Mensch. Ich meine, daß mindestens einer von diesen Krauts sich ergeben will, vielleicht sogar die ganze Bande.» «Ach komm, erzähl keinen Stuß, Stan! Es ist auch so schon schlimm genug.» «Hör mal! Fangen wir nochmal ganz von vorne an. Zuerst der gefrorene Soldat, den Wilkins umgelegt hat. Nehmen wir mal an, mit dem Soldaten hatte es die gleiche Bewandtnis wie mit der Vogelscheuche hier, und an seiner Gewehrmündung hing anstelle einer weißen Fahne ein Zettel. Denk dran, daß neben der Leiche auf dem Boden ein Stück Papier lag.» «Moment, Shutzer. Für die schöpferischen Höhenflüge bin ich hier zuständig. Du bist unser Geschäftsmann. Ich schreib Geschichten und male Bilder.» «Vergiss nicht, Won’t; ich bin inzwischen auch unter die Bildhauer gegangen. Ich hab sogar eine Art Mode hier in diesem Wald kreiert, schließlich kopieren die Krauts schon - 165 -
meine Meisterwerke. Aber wenn ich mich nicht irre, dann sollten diese beiden umschlungenen, tanzenden Knaben – Ami und Kraut – auch eine Botschaft sein, mit der sie uns irgendwie zusammenbringen wollte. Reichlich gefühlsroh, das gebe ich zu, aber man darf nicht vergessen, mit was für Gemütern wir’s zu tun haben. Leichen durch die Gegend zu schleifen, ist für diese Wichser so alltäglich wie Puppenspielen für kleine Kinder.» «Na gut, ich höre.» «Also, dann kommen sie am ersten Abend mit ihrer ‹Schlaf gut›-Masche, mit der sie uns zu verstehen geben, daß sie wissen, daß wir da sind und daß sie uns das gar nicht so furchtbar krumm nehmen, ist doch logisch, oder?» «Prima, Stan. Und wo bleibt der Jägersmann, der Schneewittchen davor bewahrt, daß ihr der große böse Wolf das Herz aus dem Leibe frisst?» «Nein, im Ernst. Hör zu! Sag mir einen anderen Grund, wieso sie uns neulich an dem Hang nicht niedergemäht oder mindestens gefangengenommen haben? Mensch Mann, die wollen uns doch noch immer verklickern, daß sie bereit sind, einen Handel mit uns zu machen. Begreifst du das nicht?» Langsam dämmert es mir. Shutzer hat recht; es ist die einzige plausible Erklärung. «Dann gehört der ganze FUH KIT LER-Zirkus auch dazu; sie haben das Machwerk da oben an der Straße aufgebaut, um uns zu zeigen, daß sie deiner reizenden Botschaft da drüben auf der Lichtung an dem Berg beipflichten.» «Genau. Es ist alles ganz logisch; also, wenn ich mich nicht täusche, wollen sie, daß wir uns mit ihnen bei diesem Schuppen oder dieser Baracke treffen, die wir heute ausgespäht haben. Sieh mal!» Er krümmt sich wieder tief über die Karte und ich mit ihm. Wieder flammt ein Streichholz auf. Allein in der einen Schachtel müßen noch über fünfzig Stück drin sein. Ich kann - 166 -
mich nicht erinnern, ob in den D-Rationen Streichhölzer sind. Vielleicht hat er sie sich daher beschafft. «Siehst du. Da steht es. Hier ist das Kreuz und da die Zahl zwölfhundert. Was soll es sonst bedeuten?» Das Streichholz erlischt, und wir richten uns auf. Am Himmel sind erste Vorboten von Tageslicht zu erkennen. «Ach, Mumpitz, Stan. Es könnte auch eine Falle sein. Mein Vertrauen in die Deutschen ist nicht grade übertrieben groß.» «Jetzt kommst du mir in meinem Revier ins Gehege, Won’t. Ich will dir ja gern den Künstlerkram überlassen, aber der Deutschenhasser bin nun mal ich hier. Vergiss das nicht. Wenn wir diese Mischpoke kassieren könnten, wäre das wirklich nicht so übel.» «Ich hab Schiss, Stan; wir können doch wegen so einer haarsträubenden Vermutung nicht unsere ganze Gruppe aufs Spiel setzen.» «Sieh mal! Wenn sie die Absicht hätten, uns umzulegen, hätten sie es gestern mittag spielend tun können. Sie hätten es auch gestern abend gekonnt, als du die Handgranate geworfen hast. Wenn sie Schneebälle auf euch runterlobben konnten, was hätte sie davon abhalten sollen, paar Handgranaten zu schmeißen?» «Vielleicht sind sie einfach nette Kerle, Stan. Es könnte schließlich auch anständige Deutsche geben.» «O Jemine, du hörst dich ja an wie Mundy!» «Na gut, ich werd es bei der nächsten Funkmeldung mal erwähnen. Ware wird uns schon erzählen, wie wir uns verhalten sollen.» «Lass uns vorher noch’n Weilchen in Ruhe drüber nachdenken, ja? War schade, wenn uns irgendwelche Offiziere da reinpfuschen würden. Wahrscheinlich können wir aus der ganzen Schose für alle Beteiligten mehr rausschlagen, wenn wir unseren Grips benutzen.»
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«Was sollen wir denn machen? Sollen beide Seiten etwa gleichzeitig voreinander kapitulieren und dann abwechselnd mit den Gefangenen bei ihren Einheiten antanzen? Klingt ja wie das Rätsel mit dem Fuchs, dem Huhn und dem Korn.» Shutzer steckt sich eine Zigarette an und für mich gleich eine mit, spart ein Streichholz. Nach Gordons Maßstäben zu urteilen, geht es mit der ganzen Gruppe rapide bergab. Bestimmt wirken sich bei uns allen die Strapazen langsam aus. Es ist vollkommen still, und ich könnte schwören, daß ich Geigenspiel höre. Es mutet an wie Sphärenklänge. Ich nehme den Helm ab und verrenke den Hals in alle Himmelsrichtungen, um die Geräuschquelle zu orten. Manchmal scheinen die Laute aus den Baumwipfeln zu kommen. Ich habe Hemmungen, Stan darauf anzusprechen; er wird das als Beweis dafür ansehen, daß ich vollends übergeschnappt bin. «Das ist bloß Gordon, Won’t. Mother hat da oben zwischen dem ganzen Trödel eine Geige gefunden. Sie steckte in einem handgeschnitzten Holzkasten. Als Gordon den aufgeklappt hat, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre auf die Knie gefallen und hätte gen Mekka gebetet. Er behauptet, es sei die schönste Geige, die er je gesehen hat, und er sei es vermutlich nicht wert, darauf zu spielen. Während du geschlafen hast, hatte ich eine Mordsdiskussion mit ihm, weil ich der Meinung bin, daß ein Gegenstand kein Gedächtnis hat und daß es überhaupt nichts schadet, wenn er darauf rumfiedelt; nicht mal wenn ich darauf rumkratze. Gordon ist überzeugt, daß es dem Holz oder den Saiten nicht bekommt und daß eine gute Geige nur von einem Virtuosen gespielt werden darf. Mir ist nicht klar, ob er sich inzwischen zu der Meinung durchgerungen hat, daß die Geige doch nicht so gut ist, wie er dachte, oder daß er nicht so schlecht ist, wie er getan hat.» Ich setze meinen Helm nicht wieder auf. Wir stehen still da und hören zu. Gemäldeausstellungen; Violinkonzerte; wir - 168 -
schwelgen in Kultur. Vielleicht sind unsere Deutschen doch eine Gruppe gebildeter Menschen mit der ernsten Absicht, Frieden zu schließen. Allmählich halte ich alles für möglich. «Sieh mal, Won’t, was hältst du davon: Wir zwei gehen einfach da hin und sehen mal nach, was los ist. Wir gehen auf Nummer sicher, nur du und ich. Ich übernehme das volle Risiko; du bleibst oben auf dem Hügel, da, wo wir gestern zuerst waren, und gibst mir Deckung. Was kann es schon schaden, wenn wir uns mal umsehen? Vielleicht sind da tatsächlich ‘ne Handvoll von diesen Barbaren und wollen sich ergeben. Wieso eigentlich nicht?» «Vorher sollte ich aber Ware verständigen. Ich könnte ihm ja einfach sagen, daß wir Gelegenheit hätten, ein paar Gefangene zu machen.» «Und was denkst du, was Ware dann tun wird?» «Vermutlich wird er es Love weitererzählen.» «Dann kannst du Gift drauf nehmen, daß Love hier angerauscht kommt und die Angelegenheit so deichselt, daß er hinterher dasteht, als war er ‘n Kriegsheld a la General Patton, der den Krieg mit links gewinnt. Höchstwahrscheinlich wird er irgendein windiges Himmelfahrtskommando anzetteln und dirigieren wollen. Hab ich recht?» Ich weiß, daß er recht hat. Max Lewis mußte einmal im Alleingang eine Brücke auf Minen untersuchen und wurde dabei von zwei Deutschen gefangengenommen. Bei der anschließenden Schießerei ergaben sich ihm die Deutschen. Er kam mit ihnen anmarschiert und machte Meldung beim Bataillon, bei Captain Enders, und der rief daraufhin die Stabskompanie an. Love schwang sich auf einen Jeep, fuhr hin und stolzierte dann mit geschwellter Brust, die Gefangenen mit vorgehaltener Pistole in Schach haltend, bei der Division an. Lewis durfte zur Belohnung drei Tage im Küchenwagen abbummeln, und Love erntete einen Bronzestern.
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«Klar, Stan. So läuft das eben beim Barras. Da können wir gar nichts dran ändern. Moment mal eben; wie spät ist es eigentlich? Ich muß oben anrufen.» Schon fünf Minuten über der Zeit. Ich kurble und bekomme Mother an den Apparat. «Alles in Ordnung da draußen, Wont?» «Jaja, alles in Butter, Vance. Shutzer arbeitet schon die Einzelheiten für den Waffenstillstand aus. Er will den Deutschen Texas, Mississippi, Louisiana, Georgia, Alabama, North und South Carolina abtreten, wenn wir dafür ganz Deutschland plus Frankreich kriegen.» «Komm schon, Wont, jetzt mal im Ernst; was wird deiner Meinung nach hier gespielt? Vielleicht sind die Deutschen sicher, daß sie uns in der Falle haben und spielen noch ‘n bisschen Katz und Maus mit uns. Vorhin, auf Wache, als es ganz still war, kam es mir so vor, als hörte ich im Süden und sogar hinter uns schwere Artillerie. Glaubst du, die Deutschen bereiten einen Angriff vor?» «Ach wo, Vance. Ich hab nichts gehört außer Gordons Geigenspiel. Mir ist eher, als würde sich der Krieg langsam, aber sicher seinem Ende nähern.» «Mein Gott, hoffentlich. Mir reicht’s allmählich.» «Sieh zu, daß du eine Mütze voll Schlaf kriegst. Und daß du mir keine zwei Wachschichten mehr aufs Mal übernimmst. Trotzdem schönen Dank. Schlaf dich erst mal selber ‘n bisschen aus.» «Ich könnte sowieso nicht schlafen; meine Gedanken drehen sich dauernd um dieses ganze verrückte Theater. Ich kann sie nicht abstellen.» «Gut, Mother, aber dann leg dich wenigstens aufs Ohr und versuch’s. Hör Gordon zu und stell dir vor, du wärst mit Linda im Konzert. Eh du dich’s versiehst, bist du zu Hause. Versuch einfach, abzuschalten.» «In Ordnung. Danke. Ich will’s versuchen.» Bei Mother bahnt sich wieder eine Krise an. Er versteht keinen Spaß, hat keinen - 170 -
Sinn mehr für Komik. Mir geht’s schon dreckig genug, aber bei ihm ist es etwas anderes. Wir müßen etwas unternehmen. Ich hänge auf. Shutzer lehnt noch immer an der Mauer; er ist so kurz geraten, daß er nur mit Mühe die Ellbogen auf dem oberen Rand aufstützen kann. «Hör mal, Won’t. Wie wär’s, wenn wir die Geschichte folgendermaßen darstellen. Wir geben vor, einer von uns hätte mutterseelenallein diesen Trupp Deutsche geschnappt. Dann bauen wir den zu einem zweiten Audie Murphy auf. Dafür müßte mindestens ‘n Silberstern drin sein; vielleicht dürfte er sogar als Kriegsheld und Frühheimkehrer die Kampfmoral an der Heimatfront aufpolieren helfen. Er könnte an den HighSchools Reden schwingen, und frisch geschniegelt und gebügelt und von oben bis unten mit Orden behängt, würde er sich in einer Musterungsstelle doch ausgezeichnet machen. Wie hört sich das an?» «Klingt wie ein Fall fürs Kriegsgericht.» «Wie sollten sie je dahinter kommen?» «Wir würden eine Belobigung von einem Offizier brauchen.» «Ware würde schon mitspielen. Wir könnten ihn sogar hierherlotsen, wenn die Hauptsache über die Bühne ist, und ihm noch einen kleinen Auftritt gönnen. Vielleicht könnten wir Ware eine Jeepladung voll Krauts wegkarren lassen. Das überlege ich mir noch; überlass das ruhig mir. Wilkins zuliebe sollten wir es zumindest auf einen Versuch ankommen lassen.» «Wilkins?» «Na klar, wer sonst?» «Mensch Mann, Shutzer, du bist ein Genie. Lass mich mal nachdenken. Junge, war das ein Ding. Wir würden alle bezeugen, daß wir in der Falle saßen, oder sowas, und daß Wilkins in letzter Sekunde kam und die Situation rettete. Ware kriegt immer von Love eins aufs Dach, weil wir angeblich nicht kämpferisch genug sind. Das würde mächtig Eindruck schinden. Und was bleibt Ware schon anderes übrig? Er könnte - 171 -
kaum die komplette Gruppe als Schwindler hinstellen. Und wir hätten die ganze Bande waschechter deutscher Feindsoldaten als Kronzeugen für unsere Geschichte. Was könnte er uns anhaben? Das ist die Lösung. Junge, Junge!» Shutzer zündet für uns beide Zigaretten an, wieder zwei mit einem Streichholz. Während der ganzen Zigarettenlänge lasse ich mir das Ganze wortlos durch den Kopf gehen. Auch Shutzer schweigt. Er hat wirklich das Zeug für einen Spitzenmanager. Er weiß genau, wann man Dampf machen und wann man wieder lockerlassen muß. «Also gut, Stan. Wie wär’s folgendermaßen? Ich erzähle Ware, wir würden nochmal einen Spähtrupp losschicken, um den Schuppen näher zu inspizieren, weil wir Geräusche von dort gehört hätten. Ich werde ihm sogar sagen, daß sie gestern abend wieder da waren.» «Aber erzähl ja nichts vonwegen Schneemann oder Vogelscheuche oder Schneeballschlacht.» «Klar. Und Wilkins sagen wir vorerst auch noch nichts von der ganzen Geschichte.» «Wir sagen überhaupt niemand was davon, bevor wir selber Genaueres wissen. Vielleicht bin ich auf dem falschen Dampfer, und sie wollen gar nicht aufgeben. Vielleicht hast du recht, und sie haben sich bloß so eine überkandidelte, groteske Art ausgedacht, uns ohne allzuviel Trara gefangenzunehmen.» «Menschenskind, Shutzer! Ich fange grade an, mich mit deiner Idee anzufreunden, und jetzt kommst du damit.» «Tut mir leid; ich wollte bloß die Kirche im Dorf lassen. Wir zwei machen das allein; wenn es nicht klappt, haben wir immerhin einen Versuch gemacht. Wie soll man Kriege denn sonst zu Ende bringen, gottverdammich? Irgendwer muß eben was riskieren.» «Also gut, erst mal nur wir zwei.» Wir ergehen uns noch ein Weilchen in Einzelheiten. Am meisten Spaß macht es, sich die Sache mit der Belobigung - 172 -
auszumalen. Mother wird als ein wahrer Tiger der Ardennen aus der Affäre hervorgehen, eine lebende Legende. Vielleicht lässt sich sogar eine Tapferkeitsmedaille dabei herausschinden. Wilkins’ Name wird noch auf der Dollarnote erscheinen. Der springende Punkt ist dabei in meinen Augen, Ware zum Mitmachen zu bewegen; aber das ist Shutzers Sache. Wenn Miller und Gordon mit von der Partie sind, wird es uns nicht an guten Einfallen mangeln. Vermutlich können wir sogar Father Mundy dazu bringen, sein Scherflein dazu beizutragen. Ein paar brauchbare Lügen für eine gute Sache sind ihm durchaus zuzutrauen. Um zehn melde ich mich wieder über Funk beim Regiment. Diesmal antwortet Flynn. In seinem widerwärtigen, großkotzigen Tonfall weist er mich an, in fünf Minuten nochmal durchzurufen; Ware wünsche mich zu sprechen. Ich stelle ab, strecke mich auf einer Matratze aus und strenge mich an, diese fünf Minuten ohne Zigarette durchzustehen, auch ohne Uhr. Vielleicht lasse ich sogar zehn Minuten verstreichen, lasse sie ein bisschen schmoren. Bei unserer Rückkehr habe ich Shutzer eines der überarbeiteten alten Bridgeblätter gegeben, und sie haben das Kunststück fertiggebracht, Gordon immerhin auf eine Partie von der Geige loszueisen. Das Instrument steht im offenen Geigenkasten an eine der Munitionskisten gelehnt. Formvollendet. Ich hätte große Lust, die Violine zu zeichnen. Wenn man diese kraftvollen, sanften Linien einfangen wollte, käme man mit Mogeln nicht weit. Ich würde sie am liebsten so zeichnen, wie sie ist, im Kasten mit dem aufgeklappten Deckel, mit dem quer über die Saiten gelegten Bogen. Am unteren Ende befindet sich ein orangefarbenes, rundes Etwas mit einer glattgeriebenen Kuhle. Ich gehe hinüber, beuge mich über das Instrument und schnuppere daran; es duftet nach Tannennadeln. Der Kasten ist mit dunkelgrünem Samt ausgeschlagen, und seitlich am - 173 -
Rücken der Geige hängt ein kleines grünes Samtpolster. Auf dem rötlichbraunen Holz unter den Saiten liegt feiner Staub. Zwei wie Notenfähnchen geschwungene Schlitze sind an der Vorderseite ins Holz geschnitten. Zum ersten Mal im Leben betrachte ich mit ungeteilter Aufmerksamkeit eine Violine. Kein Wunder, daß Gordon aus dem Häuschen geriet. Es muß herrlich sein, einen so schönen Gegenstand unters Kinn zu nehmen und Musik daraus hervorzustreicheln. Ich werde die Längsseite einer der leeren großen Verpflegungsschachteln für die Zeichnung verwenden, die Kartons der gewöhnlichen KRationen sind zu klein. Mindestens zehn Minuten müßen vergangen sein, als ich mich wieder ans Funkgerät setze. Ware meldet sich unverzüglich. «Was tut sich bei Ihnen? Kommen.» Wieviel mag er wohl wissen? «Es hat ein paar Zwischenfälle am Wachposten gegeben, gegen zweiundzwanzig Uhr, weiter nichts, Lieutenant. Kommen.» Keine Antwort. Nach zehn Sekunden melde ich mich nochmal und wiederhole meine Durchsage. «Da braut sich irgendeine größere Sache zusammen, Knott. Es sind haarsträubende Meldungen hier eingegangen. Die Strolche greifen an der ganzen Front an. Es könnte das größte Unternehmen des ganzen Krieges werden. Hier herrscht fürchterliche Aufregung; es geht das Gerücht, das ganze Regiment soll zurückverlegt werden. Kommen.» «Wilkins sagt, er hätte im Süden und hinter uns etwas gehört, das wie schwere Artillerie klang, aber von den anderen hat es keiner gehört, Sir. Gestern abend meinten wir außerdem, in der Gegend dieses Schuppens Geräusche auszumachen. Shutzer und ich werden der Sache nachgehen. Kommen.» «Major Love hat die erste Gruppe auf Sondereinsatz nach Norden geschickt, um einen Gefangenen zu machen. Kommen.»
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Himmel, Arsch und Zwirn! Edwards und die ganze Gruppe bei diesem Wetter irgendwo da draußen unterwegs, bloß um einen einzigen Gefangenen zu schnappen. Dieser Scheißkerl! «Sonst ist hier soweit alles ruhig, Sir. Kommen.» «Gut, halten Sie die Stellung, Knott. In zwei Stunden haben wir Stabsbesprechung. Ich werde Sie beim nächsten Funkspruch orientieren. Kommen.» «Verstanden, Sir. Kommen.» «Ende.» «Ende, Sir.» Keiner scheint dem Funkgespräch viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Sie sind alle ins Spiel versunken. Nur Shutzer blickt auf und zwinkert mir zu. Ich strecke mich auf einer Matratze aus und versuche nachzudenken. Diese Armleuchter beim Regiment machen sich wegen jeder Lappalie in die Hosen. Vermutlich tut sich gar nichts. Ich habe mehr als einmal erlebt, daß die Fernmelder einen totalen Mist gebaut haben. Trotzdem ist mir mulmig. Der Gedanke, loszuziehen und vielleicht tatsächlich mit Deutschen zu verhandeln, macht mir Angst. Irgendwann schlafe ich schließlich ein. Tagsüber haben wir jetzt nur noch ein Schützenloch mit einem Mann besetzt, so daß ich eigentlich ausschlafen könnte; aber wenn wir mit den Deutschen Verbindung aufnehmen wollen, bleibt mir nur eine Stunde. Ich dusele ein, während Mundy sich bemüht, Miller in ein Gespräch über Hemingways In einem andern Land zu verwickeln. Miller winkt ab. Mit Ausnahme von Mundy hält keiner von uns viel von dem Buch. Abgesehen von Amber ist sonst kein Lesestoff mehr da, und das macht gerade bei Edwards Gruppe die Runde. Sie werden es nie zu Ende lesen. Soviel ich weiß, ist das ein Roman, der Mundy nicht gefallen wird. Oder vielleicht doch, aber er wird es nicht zugeben. Über diesem Gedanken schlafe ich ein.
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Nur wenige Minuten später, wie mir scheint, rüttelt Shutzer mich wach. Mundy und Miller schlafen. Wilkins ist wieder unter dem Dach. Gordon schiebt Wache. «Was meinst du, Won’t? Wenn wir jetzt losgehen, können wir gegen Mittag dort sein.» Ich bin schlaftrunken; zuerst begreife ich überhaupt nicht, wovon er spricht; dann fällt es mir wieder ein. Ich klappe kraftlos zur Seite und rutsche im Schlafsack von der Matratze. Der pappige Belag in meinem Mund schmeckt nach Erbrochenem. Ich kämpfe mich auf die Füße; es fällt mir kein brauchbares Argument ein, das ich gegen diesen hirnverbrannten freiwilligen Spähtrupp vorbringen könnte. Wir werden bei Gordon vorbeigehen und ihm sagen, was wir vorhaben. Wir müßen Gordon Bescheid sagen, verdammt, er ist immerhin stellvertretender Gruppenführer; er hat sogar in einer seiner Taschen zwei Rangstreifen zum Beweis. Von der Sorte hatte der Versorgungsoffizier doch welche vorrätig. Diesmal ziehen wir keine Schneehemden an; anscheinend sind wir beide schon ziemlich überzeugt von der Geschichte, die Shutzer sich zurechtgelegt hat, und rechnen gar nicht mehr so fest damit, daß die Deutschen uns umbringen wollen. Aber Gewehre, Patronengurte, Handgranaten und den ganzen Klimbim nehmen wir mit; so weit her ist es mit unserem Pazifismus denn doch noch nicht. Bei Gordon machen wir halt. «Himmeldonnerwetter, wo wollt ihr denn hin? Wollt Ihr etwa den fetten Göring in Schnee modellieren, damit sie uns heute abend mit FUH GERR INK kommen? Er wäre ein ideales Objekt für Shutzers Schneebildhauerei.» Ich stehe schweigend daneben, während Stan Gordon erläutert, was sich seiner Meinung nach hinter den Kulissen abspielt, und ihm unsere Geländekarte mit den Markierungen zeigt. «Wollt ihr zwei etwa da hinlatschen und ‘ne Waffenstillstandskonferenz mit ‘ner Horde von Deutschen vom - 176 -
Zaun brechen? Wofür haltet ihr euch eigentlich? Für Churchill und Roosevelt? Ihr müßt übergeschnappt sein. Und du, Shutzer, du Erzjude und Deutschenhasser; was fällt dir ein, deinen Kragen zu riskieren, um einen Haufen Knackwurstknickerbockers zu einem Platz in einem gemütlichen, warmen amerikanischen Kriegsgefangenenlager zu verhelfen, während wir uns hier den Arsch abfrieren? Ich komm da nicht mit.» Ich sehe Shutzer an. Meiner Meinung nach ist es sein Bier. Mir ist noch immer unklar, auf was wir uns hier eigentlich einlassen. «Pass mal auf, Mel. Stell dir einfach vor, sie wollen wirklich kapitulieren. Dann könnten wir die Sache doch so schaukeln, daß Ware und Love glauben, Wilkins allein hätte die Deutschen im Handstreich mit seiner Kugelspritze geschafft. Und dann schlagen wir alle Mann noch Wilkins für sämtliche Tapferkeitsorden vor, mit denen Vater Staat den Kriegshelden winkt. Mother hat jedenfalls von uns allen hier noch am ehesten das Zeug zum Helden. Was sagst du dazu?» Mel guckt Shutzer ausdruckslos an. Er hat eine verblüffende Art, Dinge aufzunehmen, ohne die Miene zu verziehen. Ihn kann anscheinend nichts erschüttern. Ich wette, Mel ist heute ein ungeheuer tüchtiger Arzt. Wenn ich ein bisschen älter bin und meine Gesundheit ernstlich angeknackst ist, werde ich ihn aufsuchen oder vielleicht sogar nach New Jersey ziehen; mich von Dr. Melvin Gordon behutsam in ein bequemes Grab betten lassen, mit einem Minimum an Heulen und Zähneklappern, mehr oder weniger würdevoll. Das würde er bestimmt für mich tun. Jetzt schüttelt er nur den Kopf. Aber ich merke, daß es ihm einleuchtet. «Wie kommst du auf die Idee, daß Ware oder Love bei der Farce mitspielen werden? Und die Deutschen, wieso sollten - 177 -
die, so mir nichts, dir nichts, aufgeben? Und außerdem, egal, was ihr zwei Feierabenddiplomaten auch ausheckt, Wilkins wird da nie mitmachen.» Auf die Frage, wie wir Wilkins für das Vorhaben erwärmen sollen, haben wir noch nicht viele Gedanken verschwendet. Wir schweigen, an die Mauer gelehnt, ohne zu rauchen, und überlegen. Mel kommt selber auf den rettenden Gedanken. «Wir könnten ja ein Spiel entscheiden lassen, genau wie beim Bingo, Samstag abends, wenn sie den Glückspilz der Woche ermitteln. Auf die Tour müßte es klappen. Egal, was wir spielen, Bridge, Poker, Schach oder Flohhüpfen, Wilkins wird immer gewinnen. Um auf Nummer sicher zu gehen, könnten die übrigen von uns sich ja ‘n bisschen anstrengen, noch schlechter zu spielen als sonst.» Shutzer guckt mich an, zwinkert verstohlen. «Ach Quatsch, Wilkins gewinnt sowieso, ob sich die anderen anstrengen oder nicht. Besonders beim Schach. Ich glaub kaum, daß er jemals eine Partie verloren hat, nicht mal gegen Evans von der ersten Gruppe, und dabei ist dieser Knabe eine menschliche Rechenmaschine. Ich glaub, der Kerl sieht Farben als Zahlen.» Ich blicke von einem zum anderen. Mel und Stan sind so unterschiedlich in ihren Weltanschauungen, und dennoch sind sie einander sehr nah. Nicht durch ihr Judentum; es hat etwas mit Liebe zu tun, nicht mit der sentimentalen Liebe zwischen Männern, oder auch nur mit brüderlicher Liebe, sondern sie lieben sich selbst und können dieses Gefühl auf andere Menschen übertragen. Ich glaube nicht einmal, daß Shutzer die Deutschen wirklich hasst. Er verabscheut nur, was manche Deutsche getan haben und tun, ähnlich wie Bud es verabscheut, Dinge verkehrt anzupacken. Sie erwarten, daß ich Stellung nehme. «Tja, sollen wir es Wilkins sagen oder nicht? Er ist völlig mit den Nerven runter, er würde nicht mal zulassen, daß wir überhaupt zu den
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Deutschen gehen, um mit ihnen zu reden. Er ist überzeugt, daß wir eingekreist sind und irgendwie in der Falle sitzen.» Dies ist der Augenblick, Stan und Mel zu erzählen, was neulich auf Feldwache in dem Erdloch passiert ist: die Verfolgungsjagd durch den Wald undsoweiter. Ich versuche, wahrheitsgetreu zu berichten, nichts zu unterschlagen, aber auch nichts zu beschönigen. Sie hören aufmerksam zu, gucken einander an, ungläubig, obwohl sie wissen, daß ich keinen Grund habe, ihnen etwas vorzumachen. Als ich zu Ende erzählt habe, ergreift Stan als erster das Wort. «Ich denke, wir sollten es ihm lieber nicht sagen. Wenn wir die Krauts erst mal hierhaben, als Gefangene, können wir meinetwegen das Schachturnier abhalten. Solange wir unterwegs sind, die Deutschen zu holen, lassen wir Wilkins hier; er soll das Schloss bewachen und sich um den Funkverkehr kümmern. Auf die Art wäre es völlig unverdächtig.» Gordon nimmt den Vorschlag in seiner typischen Art auf, als hätte er nicht gehört; mit teilnahmslosem Gesicht. «Ich bin nach wie vor der Meinung, daß wir es Mother sagen sollten; wir wären sonst ihm gegenüber so enorm im Vorteil, es wäre einfach nicht fair. Ich verstehe schon, was ihr meint; wir sollten das nochmal überdenken. Aber wenn ihr zwei euer Glück versuchen und nachsehen wollt, ob da wirklich Deutsche ‹unter der Laterne, vor dem großen Ton› sind, dann müßt ihr jetzt erst mal abzischen. Ich werde die Lauscher spitzen, und wenn ich irgendwas höre, eilen wir euch spornstreichs zu Hilfe. Gebt kurz hintereinander zwei Schüsse ab, dann zählt ihr langsam bis drei und feuert nochmal, wenn ihr uns braucht. Alles klar?» Shutzer guckt auf die Uhr, und wir nicken beide. Jetzt wird es ernst. «Wenn ihr Kerle bis ein Uhr dreißig nicht wieder da seid, rufe ich das Regiment und sage, daß ihr auf Spähtrupp seid.» - 179 -
«Ware ist zur Stabsbesprechung gegangen. Wenn er sich meldet, bevor wir wieder da sind, sag ihm einfach, wir würden ‘n bisschen Feindaufklärung betreiben.» «Ist gut.» Shutzer und ich marschieren auf demselben Weg los wie beim ersten Mal mit Gordon. Als wir uns dem Heuschuppen auf etwa zweihundert Meter genähert haben, falle ich auf ein Handzeichen von Shutzer fünfzig Meter hinter ihn zurück, so daß ich ihn gerade noch zwischen den Bäumen sehen kann. Mir ist noch unheimlicher zumute, als ich befürchtet hatte. Uns ist eingebleut worden, den Deutschen nicht zu trauen. Ich kann mir vorstellen, daß sie uns ebensowenig trauen; vermutlich haben sie nicht einmal Respekt vor uns; weder in soldatischer noch in sonst einer Hinsicht. Ich muß sagen, daß ich sie respektiere, zumindest als Soldaten. Ich möchte lieber nicht wissen, wie dieser blödsinnige Krieg ausgehen würde, wenn sie zahlenmäßig so stark wären wie wir. Shutzer kauert sich auf ein Knie und verharrt kurz auf der Anhöhe, von wo aus er zu der Bretterbude hinuntersehen kann. Ich gehe auch zu Boden und warte ab. Dann macht er mit Daumen und Zeigefinger das Alles-in-Ordnung-Zeichen und beschreibt mit der Hand eine sachte Vorwärtsbewegung. Langsam, das Gewehr schussfertig, bewegt er sich über die Hügelkuppe. Ich folge ihm vorsichtig, auch mein Gewehr schussbereit, entsichert. Immerhin haben wir aus dem törichten Geplänkel im Schnee eine Lehre gezogen. Auf der Höhe angekommen, sehe ich wahrhaftig zwei deutsche Soldaten im Windschatten der Holzhütte stehen. Dem Anschein nach sind sie unbewaffnet. Der eine von ihnen, wahrscheinlich ein Unteroffizier, und möglicherweise der mit der Schmeißer vom Vorabend, redet mit Shutzer. Shutzer hat den Karabiner über der Schulter hängen. Ich lege mich direkt hinter der Hügelkuppe auf den Boden, um - 180 -
ungesehen zu bleiben. Nach ein paar Minuten kommt Shutzer wieder zu mir zurückgestapft. Er schwitzt, so wie er damals in dem Hotelbadezimmer in Shelby schwitzte, als er darauf wartete, mit dem Mädchen zum Zuge zu kommen. «Na also, sie sind da. Der Wortführer, dieser Unteroffizier, will mit dem verantwortlichen Offizier bei uns sprechen. Mit meinem Jiddisch und seinem Deutsch könnten wir uns über das meiste recht und schlecht verständigen.» «Ich verstehe das Kauderwelsch nicht, Stan. Außerdem habe ich keine Rangabzeichen bei mir und nichts. Er wird mir nie glauben, daß ich Offizier bin.» «Vielleicht ist er nicht so begeistert über einen Juden als Gesprächspartner, speziell wenn es um Kapitulation geht. Lass mich nochmal zurückgehen. Ich werde ihm sagen, daß wir unseren verantwortlichen Offizier nicht dabei haben. Da unten ist noch ein Bursche, ein jüngerer, und ich weiß auch nicht wieso, aber mir kommt es vor, als könnte er ein bisschen Englisch. Sie scheinen unbewaffnet zu sein, es sei denn, sie haben ihre Pistolen oder Gewehre hinter dem Schuppen versteckt.» «Großer Gott, Shutzer! Was machen wir dann? Haben sie schon irgendwas vonwegen Kapitulieren gesagt?» «Nee. Bloß eben, daß sie mit unserem vorgesetzten Offizier reden wollen.» Wir überlegen ein Weilchen. «Du, Won’t, komm doch einfach mit runter. Wir erzählen ihnen, daß unser Offizier drüben im Schloss ist. Ich übersetze, was er sagt, und du beobachtest unauffällig den anderen Kraut und passt auf, ob er mitkriegt, was wir untereinander sagen. Du siehst wie ein richtiger Goi aus; vielleicht lockt ihn deine Anwesenheit eher aus der Reserve.» Also machen wir uns an den Abstieg, um betont lässige Gangart bemüht, als sei es für uns die alltäglichste Sache der Welt, sich mit Deutschen zu unterhalten. Aus der Nähe stelle ich fest, daß es nicht dieselben Männer sind, die wir bei der - 181 -
Jagdhütte beobachtet haben. Diese beiden müßen bei dem Spähtrupp gewesen sein, der uns an dem Abhang überrumpelte. Der Soldat, der an der Hüttenwand lehnt, raucht eine gelbliche selbstgedrehte Zigarette. Wir gehen geradenwegs auf den Mann zu, mit dem Shutzer gesprochen hat. Meine Güte, er sieht aus wie ein deutscher Soldat in einem Antinazifilm aus Hollywood; bloß ausgemergelt und abgerissen. Er ist knapp einen Kopf größer als Shutzer und hat tiefliegende, blassgraue Augen. Seine blonden Augenbrauen sind so buschig, daß sie ihm beinah die Sicht versperren, er muß die Welt wie durch einen Vorhang von Haaren sehen. Vielleicht bürstet er sie sich absichtlich über die Augen herunter, damit wir ihm nicht ansehen, was für Höllenqualen er sich für uns ausgedacht hat. Sein Gesicht besteht nur aus Haut und Knochen, und von den äußeren Augenwinkeln ziehen sich scharfe Falten, fast schon wie Narben, über seine Wangen; zwei tiefe Furchen haben sich zwischen Nasenflügel und Kinn gegraben. Sein Alter ist unbestimmbar, irgendwo zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Als er den Mund aufmacht, stelle ich fest, daß einer seiner oberen Schneidezähne keilförmig abgebrochen ist und daß ihm ein Eckzahn fehlt. Er hat etwas von einem Vereinsboxer an sich, der viel Prügel bezogen hat. Trotz der Kälte trägt er über seiner feldgrauen Uniform weder Mantel noch Helm, nur eine Feldmütze, ähnlich wie unsere Soldaten in Übersee, abgewetzt, speckig und eng anliegend. Ich habe den Verdacht, daß er darunter nahezu kahl ist. Er und Shutzer fangen an, miteinander zu radebrechen. Es kostet sie sichtlich Mühe, einander etwas verständlich zu machen, aber mit viel Gestikulieren und immer neuen Anläufen gelingt es ihnen doch. Der Deutsche neigt dazu, seine Worte einfach lautstärker zu wiederholen, wenn Shutzer nicht kapiert, Shutzer hingegen macht fast eine Art Scharadespiel daraus, sucht nach immer neuen Ausdrucksweisen für das, was er mitteilen will. Der - 182 -
Deutsche deutet auf seine Streifen und die Embleme auf seinen Schulterklappen. Ich schließe daraus, daß er noch immer darauf aus ist, mit einem Offizier von uns Verbindung aufzunehmen. Shutzer nimmt zwei von unseren kleinen Zigarettenpäckchen, nebst einigen Streichhölzern aus seinem unerschöpflichen Vorrat, und lässt sie reihum gehen. Der andere Soldat löst sich von der Wand des Schuppens, der ihnen bestimmt als geheimes Waffenlager dient, tritt näher und nimmt sich eine Zigarette. Trotz der kräftigen Brise zündet Shutzer alle vier an einem Streichholz an. Schutz suchend rücken wir allesamt näher an den Schuppen heran. Der andere Deutsche lächelt mir zu, und ich erwidere sein Lächeln. Dieser Deutsche ist jünger als der andere und hat ein bleiches, schmales Gesicht. Seine Augen sind länglich, dunkel und feucht an den unteren Lidrändern, fast als hätte er geweint oder würde gleich zu weinen anfangen. Wilkins’ Augen sehen manchmal auch so aus. Die beiden Deutschen tragen die üblichen dickbesohlten schwarzen Nagelstiefel, nur daß die ihren durchnäßt, rissig und abgetragen sind. Während wir alle verlegen herumstehen, setzt der erste Deutsche zu einem langen Vortrag an. Er hebt kaum die Stimme, leiert, ohne uns richtig anzusehen, seine Suada herunter, als hätte er sie auswendig gelernt. Erst als wir unsere Zigaretten fast zu Ende geraucht haben, hört er wieder auf. Shutzer hat ihn, wenn er etwas nicht verstand, einige Male unterbrochen, wodurch die Sache noch langwieriger wurde. Jetzt wendet sich Shutzer zu mir. «Also, ich glaub, ich hab’s kapiert. Zunächst mal will er mit unserem Offizier sprechen. Er hat mir den ganzen Sermon eben nur erzählt, damit unser Offizier weiß, daß es ihm ernst ist. Die Kerle haben die Schnauze voll vom Krieg. Erst hat man ihnen in Rußland das Leben zur Hölle gemacht, und dann sind sie direkt von der russischen Front quer durch ganz Deutschland hierhergekarrt worden, weil die Krauts hier an der - 183 -
Westfront, bisschen weiter südlich von diesem Abschnitt, anscheinend eine Großoffensive starten. Sie gehören zum Aufklärungstrupp in irgendeinem Bataillon, und sie sind alle überzeugt, daß der Krieg so gut wie zu Ende ist. Sie haben keine Lust, in den letzten paar Tagen noch ins Gras zu beißen, nachdem sie fünf Jahre Krieg überstanden haben. Ihrer Meinung nach wird ihr Haufen in ein oder zwei Tagen losschlagen, und diese ganze Gruppe hier will da nicht mehr mitmischen. Sie sind überzeugt, daß sie wieder an die Ostfront zurückversetzt werden, selbst wenn sie diesen Angriff überleben. Sie wollen um keinen Preis den Russen in die Hände fallen.» «Hat er ausdrücklich gesagt, daß sie sich ergeben wollen?» «Nicht so direkt, aber darauf scheint es rauszulaufen. Er will partout mit unserem Vorgesetzten reden. Ich hab ihm klarzumachen versucht, daß wir auch bloß einen Unteroffizier etwa in seinem Rang haben. Er meint, der tut’s auch. Insgesamt sind sie sieben Mann.» «Was hältst du davon, Stan?» «Naja, wir können die Sache ja erst mal mit der Gruppe besprechen. Ich werde ihm sagen, daß wir mit unserem vorgesetzten Offizier Rücksprache halten müßen.» «Gut, tu das.» Die Deutschen stehen abwartend herum und rauchen jeder seine zweite von Shutzer spendierte Zigarette. Der Unteroffizier nimmt einen letzten tiefen Zug und drückt dann seine Kippe mit dem Stiefelabsatz im Schnee aus. Ich beobachte den anderen, aus dem ich noch immer nicht schlau werde, während Shutzer in seinem jiddischen Kauderwelsch drauflosquasselt, das sich gar nicht wie Shutzer anhört, eher wie ein melodischer Singsang. Wenn er englisch spricht, sprudelt Shutzer die Worte rasch, schwallweise hervor, als könne seine Zunge nicht mit seinem Verstand Schritt halten. Shutzer kommt wieder zu mir herüber. - 184 -
«Okay, die Sache ist geritzt. Ich hab ihm gesagt, daß wir übermorgen vormittag um zehn unseren Offizier mit hierherbringen. Lass mich sicherheitshalber wegen der Zeit eben nochmal nachfragen.» Stan geht und palavert noch ein paar Minuten mit ihnen. «Stimmt, zehn Uhr, mit unserem Offizier, genau an dieser Stelle, übermorgen. Ihm wäre morgen lieber, aber wir müßen das gründlich überdenken.» Die Deutschen sind bereits wieder auf dem Rückweg, den Hang hinauf. Irgendwoher, ich habe nicht mitgekriegt woher, haben sie doch plötzlich eine Mauser und die Schmeißer. Im Weggehen dreht sich der Jüngere um, winkt, lächelt. Stan und ich machen kehrt und gehen denselben Weg zurück, den wir gekommen sind. «Wie sollen wir das mit dem Offizier hinkriegen, Stan? Sollen wir etwa Ware hierherschleppen?» «Du spinnst wohl. Wir haben doch den idealen Offizierstyp in unserer Gruppe, mit einem besseren kann die gesamte deutsche Wehrmacht nicht aufwarten. Die werden vor Respekt auf den Hintern fallen, wenn sie erst unseren Offizier sehen.» «Meinst du Miller?» «Na klar. Wen sonst?» Es trifft sich gut, daß Wilkins bei unserer Rückkehr gerade auf Posten ist. Vermutlich mußten sie ihn mit Brachialgewalt aus seiner Dachkemenate herunterholen. Ich rufe die anderen alle zusammen, und Shutzer erstattet Bericht. Miller fällt ihm ins Wort. «Soll das etwa heißen, daß ihr zwei euch irgendwo da draußen im Busch mit Deutschen unterhalten habt?» «So ist es, mein Lieber, bei Bier, Brezeln und sauren Gurken und unter echten Tannenbäumen, wie es sich gehört. Was sagst du dazu, Buddy, alter Junge?» Mundy schüttelt unaufhörlich den Kopf und lächelt vor sich hin, während Shutzer seine Sprüche klopft. - 185 -
«Ihr Kerle seid ja völlig verrückt, aber die Idee ist großartig. Stellt euch bloß mal Wilkins mit ordensgeschmückter Brust vor. Er kann sich einen Silberstern verdienen und zu Hause an die Christbaumspitze stecken. Meiner Meinung nach ist er längst reif für einen Orden, seit er Hunt damals in Shelby an die Gurgel gegangen ist. Gott sei seiner Seele gnädig.» «Meinst du etwa Hunts Seele, Mundy? Hunt hatte keine Seele. Der war durch und durch ein Scheusal.» «Schon gut, Shutzer, tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Aber man soll nicht schlecht über die Toten reden.» Mundy bekreuzigt sich. Ein Weilchen phantasieren wir drauflos, malen uns die abenteuerlichsten Szenen aus, wie Wilkins die Deutschen hoppnimmt. Wenn wir so weitermachen, wird bald ein ganzer Roman daraus. Wir könnten ihn Im Westen alles plemplem betiteln. «Und du, Miller, du mimst den Offizier. Du bist der Offizierstyp aller Zeiten.» «Du kannst mich mal. Du bist genau der Richtige, Wont. Außerdem kriegst du den höheren Sold, also machst du den Offizier.» «Hab dich nicht so, Miller», fällt Shutzer rettend ein. «Kein Kraut wird jemals glauben, daß ein Würstchen von hundertzwanzig Pfund Lebendgewicht wie Won’t ein Offizier ist. Im übrigen hat er braune Augen. Ein Offizier hat keine braunen Augen. Du bist der einzig brauchbare Kandidat.» «Wie wär’s mit Mundy; er ist groß und stark und ‘n bisschen beleibt wie ein richtiger Offizier. Außerdem ist er älter. Ich bin zu jung dazu.» «Verdammich, Miller. Du bist alles andere als jung; du bist schon alt geboren und hast von Geburt an allen auf die Finger geklopft und ihnen gezeigt, was eine Harke ist.» «Und warum nicht du, Gordon? Du bist groß genug und hast immer so ‘n wurstiges Buddhagrinsen im Gesicht. Du siehst - 186 -
wie der geborene Führer aus; außerdem hast du Unteroffiziersabzeichen in der Tasche. Ich hab sie neulich rausfallen sehen, als du Granaten rausgefummelt hast. Hör auf, dein Licht unter den Scheffel zu stellen, Mann; Kopf hoch, Brust raus, besorg dir vielleicht noch ‘n Offiziersstöckchen dazu, und fertig ist die Laube.» «Jetzt hör mal zu, Miller. Die Deutschen führen bis aufs ITüpfelchen Buch über Juden wie mich. Sie haben ganz Deutschland bepflastert mit Abbildungen, Karten und Diagrammen von jüdischen Nasen, jüdischen Lippen, jüdischen Augen, jedermann in Deutschland weiß, wie Juden reden, gehen, spucken, sich die Haare kämmen oder die Schnürsenkel binden. Jeder Deutsche, der auch nur einen Pfifferling wert ist, hätte mich im Handumdrehen durchschaut. Nee, du bist der einzige reinrassige arische Typ bei uns. Du bist einstimmig zum ‹Oberbefehlshaber› ernannt.» Zu guter letzt lässt Miller sich breitschlagen. Dafür putzen wir ihn aber auch mit einer Supergalauniform heraus. Aus allen Uniformteilen, die ihm passen könnten, vorwiegend aus Gordons Bestand, stellen wir die besten, saubersten für ihn zusammen. Dann nehmen wir Gordons Doppelstreifen, reißen sämtliche Gefreitenstreifen von unseren Jacken ab und sticheln mit Hilfe von Wilkins’ Nähzeug einen Satz Phantasieembleme zusammen, für jeden Ärmel eines, nur Streifen, drei rauf und drei runter, keine Rundbögen. Wir verleihen Miller einen noch nie dagewesenen Dienstgrad: Er ist unser «Promenaden-UnterSergeant». Shutzer schraubt eine Linse aus dem Feldstecher, die Miller sich als Monokel ins Auge klemmen soll, aber sie fällt ihm immer wieder heraus. Wir leeren sämtlichen Krimskrams aus den Taschen seiner Jacke und stecken ihm im Rücken ein paar Falten, damit das gute Stück annähernd maßgeschneidert aussieht. Wenn wir nur ein paar von Loves hautengen Hemden und Hosen hätten. - 187 -
Dennoch sieht Miller mehr wie ein Offizier aus, als Love je aussehen könnte; als wir mit unseren Künsten fertig sind, gibt er eine verdammt schneidige Figur ab. Er muß vor uns auf und ab marschieren und markige Grimassen und arrogantes Gebaren üben. Stan beruhigt Miller, daß er praktisch nichts zu sagen brauche, nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln und sich schlicht wie ein Armleuchter aufzuführen habe. Bevor Mother von seiner Wache zurückkommt, räumen wir alle unsere Klamotten wieder weg und verstecken die Kampfjacke mit den Phantasieabzeichen. Wir können es nicht erwarten, Wilkins zum Helden zu machen. Mel beharrt darauf, daß wir ihn einweihen sollten, aber inzwischen sind wir alle so besessen von unseren Geheimplänen und dem Wunsch, Mother zu überraschen, daß Mels Einwände nicht ankommen. Diese Nacht vergeht wie im Flug. Uns ist weihnachtlich zumute, wie beim Geschenkeverstecken am Heiligabend. Wenn ich nicht als Wachposten eingeteilt bin, schlafe ich wie ein Toter und habe nach dem Aufwachen sogar einigermaßen normalen Verdauung. *** Allmählich wächst meine Zuversicht. Gegen zehn mache ich Meldung beim Regiment. Diesmal hat Ware meinen Anruf schon erwartet. «Wie sieht die Lage aus da draußen, Knott? Kommen.» «Ziemlich ruhig, Sir. Wir haben einen Zweimannspähtrupp zu diesem Schuppen gemacht und die Gegend ein bisschen erkundet, aber nichts gesehen. Soweit alles friedlich hier, Sir. Kommen.» Gordon, Shutzer und Miller hängen alle über meiner Schulter. Nur Father liegt draußen auf Posten, und Mother hat sich unters Dach verzogen. Gordon hat sogar während der Dauer - 188 -
der Funkmeldung von seiner Geige abgelassen. Vermutlich wäre Ware nicht gerade erbaut, Geigenmusik im Hintergrund zu vernehmen. «Tja, hier sieht’s dafür um so übler aus. Wir brechen unsere Zelte ab. Könnte sein, daß wir vollständig abgeschnitten sind. Es kommen praktisch keine brauchbaren Feindnachrichten mehr herein. Wir wollen westwärts abrücken, Marschrichtung: drittes Bataillon. Keiner weiß irgendwas Genaues. Wir können den Standort des ersten Bataillons nicht ausfindig machen, und unsere erste Gruppe ist überfällig; müßen in irgend etwas reingerasselt sein. Kommen.» «Die ganze erste Gruppe überfällig, Sir? Kommen.» «So ist es. Ich kann Ihnen sagen, Knott, hier ist der Teufel los. Die Scheißkrauts haben Verstärkung gekriegt. Es wird von Panzer- und Infanteriedivisionen gemunkelt, die angeblich durch eine Fünfzehnkilometerlücke hereinströmen, anscheinend verlegen sie Truppenverbände von Süden hier herauf, um dichtzumachen. Aber wir wissen nichts Genaues; das ganze Fernmeldewesen ist im Eimer. Überall treiben sich Deutsche in amerikanischen Uniformen und mit amerikanischen Jeeps herum, die Telefonleitungen unterbrechen, Verkehrsschilder vertauschen und Truppenbewegungen durcheinanderbringen. Die einzigen vernünftigen Nachrichten kommen von isolierten Einheiten, die irgendwo auf eigene Faust arbeiten. Kommen.» «Hat die erste Gruppe nicht das andere Funkgerät dabei? Kommen.» «Das ist außer Betrieb. Die Fernmeldeleute gehen der Sache bereits nach, aber bisher ohne Erfolg. Kommen.» «Vielleicht sind sie bei einer anderen Einheit gelandet und können bloß nicht zurück, Sir. Kommen.» «Spielt keine Rolle. Love wünscht, daß Ihre Gruppe da draußen bleibt, damit wir wenigstens Bescheid wissen, wenn irgend etwas losgeht. Halten Sie die Jeeps immer fahrbereit. Vor allem will Love aber einen Gefangenen. Gehen Sie - 189 -
nochmal zu dieser Jagdhütte und schnappen Sie sich einen. Wenn ein Offizier oder Unteroffizier dabei ist, greifen Sie sich den. Da die erste Gruppe nicht zurückgekommen ist, brauchen wir irgendwelche Feindnachrichten, und zwar schnell. Kommen.» An diesem Punkt bin ich mir nicht sicher, ob ich die geplante große Weihnachtsoffensive erwähnen soll, von der die Deutschen geredet haben. Wie sollte ich ihm plausibel machen, woher ich sowas habe? Außerdem könnten die Deutschen gelogen haben. «In Ordnung, Sir. Da wir so wenige sind, werden wir die Patrouille nachts starten; dann müßen wir eben einen Wachposten überfallen oder sowas. Kommen.» «Auf jeden Fall melden Sie sich sofort, sobald Sie einen haben. Entweder kommen wir dann raus und holen den Hundesohn, oder Sie bringen ihn mit einem der Jeeps hierher. Kommen.» «Verstanden, Sir. Kommen.» «Verstanden, Ende.» «Ende.» Einige Sekunden lang sagt niemand ein Wort. Dann legt Miller sich die Hände über die Augen. «Verdammter Mist! Die ganze erste Gruppe!» Shutzer fängt an, auf und ab zumarschieren, schlägt sich mit der Faust in die flache Hand oder an die Schläfen. «Dieser lausige Krieg wird nie aufhören!» Gordon setzt sich auf eine der Matratzen und streckt sich dann längelang aus. Er starrt an die Decke. «Überlegt bloß mal. Bergmann und Kelly, Moser, Evans, Edwards; die ganze Gruppe. Aber vielleicht haben sie sich bloß verdünnisiert. Wenn Love Amok läuft und Ware rotiert, haben sie sich vielleicht gedacht, es wäre das beste, sich in irgendeinen stillen Winkel zu verkriechen. Jede Wette, daß sie sich irgendwo im Wald in ein paar Schützenlöchern verschanzt haben.»
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Shutzer tigert noch immer auf und ab. Einmal durchmisst er den ganzen Raum bis zum anderen Ende. «Was ist bloß los, Himmel, Arsch und Zwirn? Ich dachte, dieser Dreckskrieg wäre fast zu Ende; und jetzt geht’s erst recht wieder rund!» Mit ruhiger Stimme meldet sich Gordon zu Wort. «Was wird jetzt aus der Sache mit Wilkins und den Kriegsgefangenen? Vielleicht sollten wir die Aktion abblasen. Ihr seht ja, dieser Trottel von Love hat schon fast den ganzen Aufklärungszug über die Klinge springen lassen.» Ich lasse mich schlaff auf eine Matratze fallen. Ich habe Angst. Der Unterton in Wares Stimme hat mir gar nicht gefallen; er hörte sich verzweifelt an, am Rande der Panik. Ich versuche, mir selber gut zuzureden, das Kribbeln im Magen zu unterdrücken; ich denke an Metz, wo Love überzeugt war, daß wir eingeschlossen seien, und sich absetzen wollte, dabei brauchten wir nur zuzugreifen und sammelten am Ende Tausende von Gefangenen ein. Wenn einer bei S2 oder G2 landet, muß er praktisch eine Niete sein; in diese Abteilungen schieben die hartgesottenen Krieger immer die Schlappschwänze ab. Vielleicht ist alles nur blinder Alarm. Aber wir könnten genausogut in irgendeine raffinierte Falle tappen. Vielleicht sollten wir die ganze Sache so einfach wie möglich aufziehen: die Geschichte mit Wilkins fallenlassen und bloß unsere Gefangenen einsammeln. Love würde sich halbtot freuen, wenn er sieben Gefangene als Spielzeug hätte, und wir würden als die großen Eroberer dastehen. Vielleicht würde er sogar eine Weile aufhören, uns zu kujonieren. Wilkins und Gordon könnten die Gefangenen zum Regiment schaffen, wir anderen könnten hierbleiben und der Dinge harren, die da kommen. Um zwei werde ich wieder auf Posten sein. Ich habe das Gefühl, von Dreck zu starren. Der Qualm von den Benzinfunzeln und vom Kaminfeuer brennt in den Augen, - 191 -
dörrt einem die Kehle aus. Im Augenblick ist kein Durchfall im Anzug, aber ich habe stechende Schmerzen in der linken Seite, und meine Innereien krampfen sich zusammen. Ich hätte noch mehr von dem ungestörten Tiefschlaf nötig. Ob es draußen noch immer schneit?
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4 «Throw me a why not» Ich rodle den Berg hinunter. Der Wind ist umgesprungen und bläst jetzt aus Osten. Winzige Schneepartikel treiben durch die Luft, die auch von den Bäumen heruntergeweht oder vom Boden aufgewirbelt worden sein können. Mel erwartet mich schon. Es wird langsam dunkel. Bei der nächsten Schicht werden sie zu zweit sein. Ich überlege mir ein neues Kennwort. Lieber Himmel, das ganze Theater kommt mir so albern vor, wie Prüfungen für Pfadfinderabzeichen. Manchmal kann ich den Dingen beim besten Willen keinen Sinn abnötigen; das Problem wird mich zeitlebens verfolgen. Gordon hat sein Gewehr bereits umhängen. Selbst er sieht hundemüde aus. «Mensch, Wont, die Außenseite an dem einen Fuß macht mich wahnsinnig. Es ist, als würde jemand mit ‘nem Bohrer drin rumwühlen; und sobald ich ins Warme komme, tut es höllisch weh.» Er geht im Kreis herum und stampft mit den Füßen. Ich hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht, wie diese Kälte sich auf seine kranken Füße auswirken würde. Er schiebt los. «Moment noch, Mel.» Er kommt zurück. «Sag den anderen, daß die Parole für heute nacht ‹Kling – Glöckchen› lautet.» «Gut, ‹Kling – Glöckchen›. Hast du mich bloß deswegen zurückgerufen?» «Nee. Sag mal, was geht deiner Meinung nach hier vor? Ich bin so durcheinander, daß ich keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen kann; mein Verstand streikt.» «Wont, dieser ganze Krieg ist so ein Wahnwitz, daß es sich nicht lohnt, allzuviel nachzudenken. Versuch einfach abzuschalten. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich - 193 -
umlegen oder verwunden zu lassen, oder dich irgendwie rauszumogeln. Eine andere Möglichkeit gibt’s nicht, es hat keinen Zweck, sich aufzuregen.» «Aber was soll aus Shutzers ‹Kriegslösung› werden, wenn beim Stab alle verrückt spielen? Und wie kriegen wir unser Vorhaben unter einen Hut mit Wares Wunsch nach einem Kriegsgefangenen?» «Damit hat es Zeit. Aber, wie dem auch sei, Wont, ich finde nach wie vor, wir sollten Mother informieren. Er muß Bescheid wissen.» «Aber jetzt geh ich erst mal nach oben. Ich bin völlig durchgefroren, und mein Fuß macht mich rasend. Mach dir keine Gedanken; schalt einfach ab.» Ich lehne mich an die Mauer. Es tut gut, ein Weilchen allein zu sein. Die Ereignisse überstürzen sich, und ich möchte so gern das Richtige tun. Ich versuche, alle denkbaren Möglichkeiten im Geist durchzuspielen, aber irgendwie lässt mich mein Hirn im Stich. Die Kälte hat mich mitgenommen; die Kälte, die Angst und die ständige Anspannung. Wenn ich mich innerlich gegen die Kälte sperre, setzt mein Verstand aus. Dann lässt er nur noch die Erinnerung an früher zu, an das Lampenfieber vor Geometrieklassenarbeiten oder Leichtathletikwettkämpfen. Das alles scheint eine Ewigkeit zurückzuliegen; mein Zeitgefühl ist völlig aus den Fugen. Pünktlich alle dreißig Minuten rufe ich oben an; meistens antwortet Miller. Wir überlegen, was mit der ersten Gruppe passiert sein könnte. Wir müßen zwanghaft daran denken, und dennoch lässt keiner von uns den Gedanken zu, daß irgend etwas Schlimmes passiert sein könnte. Wir schalten alle den Verstand ab. Ich sehe und höre die Nacht kommen. Was tagsüber aufgetaut ist, gefriert jetzt wieder; ich höre es knacken und klirren. Ich versuche, das Datum zu errechnen; vielleicht geht es schon wieder aufwärts, wird jeder Tag wieder ein - 194 -
bisschen länger. Und wie viele Tage noch, bis wir wieder aufhören zu zählen? Wir sind noch nicht einmal ein halbes Jahr lang an der Front; man muß sich einmal in die Deutschen versetzen, diese armen Schweine. Miller und Shutzer sind als nächste dran; das meine ich jedenfalls; die Gruppe führt sich wie üblich selbst. Sie sind besser im Bilde als ich, und mir ist alles ziemlich egal. Die Zeit vergeht; es ist stockdunkel. Mich friert. Als Miller und Shutzer eintrudeln, rufe ich ihnen «Kling» entgegen, um wenigstens den Anschein soldatischer Form zu wahren. Shutzer kontert mit «heiliger Bimbam». Sie hocken sich zu mir an die Mauer. Shutzer kommt gleich zur Sache. «Was meinst du, Won’t? Miller und ich haben uns die Sache überlegt. Unserer Ansicht nach sollten wir es zu dritt durchziehen. Wir gehen morgen früh um zehn hin und handeln die Einzelheiten aus. Als Allermindestes sollten ein paar Gefangene für Love dabei herausspringen. Wir könnten sie auch fürs erste um einen freiwilligen Gefangenen bitten und den Rest später einsammeln; wie beim Mikadospielen.» «Und was wird mit Wilkins?» «Es hat keinen Zweck, ihn unnötig aufzuregen. Er ist selig da oben in seiner Dachstube, er schiebt Möbel hin und her und macht Miller oder mir Szenen, wenn wir Holz holen kommen. Er bringt es doch bei Gott fertig, daß ich, Stanford Shutzer, mir vorkomme wie der hinterletzte Vandale, bloß weil ich ein altes Bettgestell oder ‘n paar zerbrochene Stühle verheizen will, um mich aufzuwärmen. Wir sollten ihn ganz aus der Geschichte raushalten. Außerdem können wir jetzt sowieso keinen brauchen, der aus den Latschen kippt.» Ich schaue Miller an. Er hat sich eine Zigarette angezündet und hält den Blick auf die Stiefel gesenkt. Dann guckt er mich an; ich habe das Gefühl, daß er Shutzers Meinung teilt. Mir soll es recht sein; soviel ich weiß, verstoßen wir gegen kein Gesetz. - 195 -
«Na gut, Stan, abgemacht. Wenn ihr beide dafür seid, bin ich es auch.» *** Oben sieht es wie in einer Räuberhöhle aus, und unser Miefgemisch erfüllt den Raum. Nur mühsam kann ich mich an den ersten Eindruck bei unserer Ankunft erinnern. Jetzt, wo Wilkins die meiste Zeit unter dem Dach verbringt, räumt niemand mehr auf. Überall stehen offene amerikanische Konservendosen und deutsche Ölsardinenbüchsen herum. Teile unserer Kriegsausrüstung und Kleidungsstücke liegen zuhauf auf den Matratzen oder auf dem Fußboden herum. Ich versuche, gar nicht hinzugucken, hebe ein paar von meinen eigenen Sachen auf und staple Gewehr und Zubehör neben der Tür auf. Mit zwei leeren Benzinfunzeln gehe ich zum Jeep hinaus und fülle Treibstoff nach. Im Freien ist es zwar kalt, aber wenigstens sauber und wohlriechend. Ich werde Miller bitten, zu überprüfen, ob die Jeeps anspringen; vielleicht könnten wir Kissen um die Batterien herumstopfen, um sie warmzuhalten. Nein, das ist Unsinn. Ich inspiziere die Kanister; wir haben bisher kaum einen halben Kanister verbraucht, also ist noch genügend Benzin vorrätig. Ich mache mir viel zu viele Gedanken. Ich sauge die kalte Luft tief ein, rieche aber vorwiegend Benzin. Drinnen, in unserem Salon, lege ich mich auf eine der Matratzen, schließe die Augen und versuche, mich in Gedanken von hier weg zu versetzen. Ich tauge nicht zum Unteroffizier; das steht fest. Die Dinge sind mir nicht wichtig genug, als daß ich andere dazu motivieren könnte, sie zu tun. Ich bringe kaum die Willenskraft auf, Dinge um meinetwillen anzupacken. Sowohl Max als auch Louis waren beide dauernd - 196 -
hinter allem her, kontrollierten und machten uns Dampf, wenn etwas nicht gemacht war; Edwards genauso. Diese Burschen waren die geborenen Unteroffiziere. Gott, ich hoffe, daß mit der ersten Gruppe alles in Ordnung ist. Jetzt überwältigen mich die Erinnerungen wieder; manchmal kann ich sie nicht verdrängen, abstellen. Gordon und ich waren als erste bei Max Lewis. Wir hatten Morrie soeben weggeschafft und zum Verbandsplatz gebracht. Zuerst begriffen wir gar nicht, daß mit Max etwas nicht stimmte; jedenfalls nicht, daß es ernst war. Er kniete vornübergekrümmt auf dem Boden. Wir konnten nichts sehen, außer daß er beide Hände in den Unterleib presste und das Gewehr neben sich liegen hatte. Der Helm lag vor seinem Gesicht auf der Erde. Er schrie nicht, stöhnte nicht einmal. Seine Augen waren fest zugepresst. Wir standen noch immer unter Mörser- und Acht-komma-acht-Beschuss. Gordon und ich kleben dicht am Boden, wagen nicht, uns zu rühren. Max sieht eher wie ein Footballspieler aus, dem ein Rempler oder ein Kniestoß den Atem verschlagen hat. Gordon robbt näher an ihn heran. Lewis schüttelt nur den Kopf und rührt sich nicht vom Fleck. Plötzlich fährt er hoch, fast in den Stand, bricht zusammen und bleibt auf der Seite liegen. Zwei- oder dreimal schießt sein Blut in scharfem Strahl hervor, spritzt Mel von oben bis unten voll; bei jedem Pulsen wird der Druck schwächer, bis es nur noch in zähem Strom hervorquillt. Wir reißen ihm die Hosen vom Leib und sehen einen Granatsplitter, etwa halb so groß wie die Kelle eines Tischtennisschlägers, aber gekrümmt, tief in seiner Leiste stecken. Er hatte die Ader mit den Fingern abgeklemmt, bis er nicht mehr konnte. Wir versuchen alles, um die Blutung zu stillen. Wir legen sogar eine Art Notaderpresse an mit seinem Kochgeschirr und seinem Koppel, aber es hilft alles nichts. Max sagt kein Wort mehr, stöhnt oder brüllt nur noch. Die durchschnittene Arterie liegt vor uns wie ein Stück Plastikschlauch, aber wir können - 197 -
sie weder zuhalten noch abdrücken. Gordon versucht, Max blutstillende Tabletten zu geben, aber Max kann nicht schlucken; er ist dem Tod schon verdammt nah. Ich bin sicher, daß er sterben wird, bevor wir mit ihm beim Verbandsplatz ankommen. Als wir ihn wegschleppen, erblicken wir den anderen Louie, Louie Corrollo. Er ist höchstens dreißig Meter von uns entfernt, liegt aber in einer kleinen Mulde, in der man nicht zu sehen ist, wenn man sich dicht an den Boden drückt. Gordon sprintet geduckt hinüber und kommt mit grün verfärbtem Gesicht zurück. Nachdem wir Max Lewis zu den Sanitätern gebracht haben, gehen wir den anderen Louie holen. Ein schartiges Stück Gußeisen ist ihm zwischen die offenen Augen gefahren. Ein Wahnsinnsspähtrupp, der sich zur regelrechten Feldschlacht auswuchs. Love muß die Karte verkehrt herum gelesen haben. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, was wir dort eigentlich sollten, an jenem Morgen, oberhalb einer Straßenkreuzung, an einem glitschigen, nassen Wiesenhang, auf dem eine alte weiße Kuh schlammiges Gras kaute. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nicht von diesem entsetzlichen Tag zu erzählen, aber nun ist es doch passiert. Auf meine guten Vorsätze ist kein Verlass. Das Telefon läutet, und ich schlafe noch immer nicht. Mundy nimmt ab. «Nein, ich bin’s, Mundy. Na gut, okay, Moment mal.» Father zieht den Batteriekasten näher heran und schiebt mir den Hörer herüber. «Shutzer ist dran; er will dich sprechen.» Ich kämpfe mich halbwegs aus dem Schlafsack und nehme den Hörer. Schon verkrampft sich mein Bauch wieder; was zum Kuckuck mag jetzt wieder los sein? «Was gibt’s, Stan?»
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«Unsere deutschen Freunde sind wieder da. Sie sind da unten an der Straße bei der Vogelscheuche. Vielleicht wollen sie uns einen Schneemann bauen, einen mit einem Glimmstengel in einer langen Zigarettenspitze, einen sitzenden Schneemann. Leute, dies ist der Krieg der Schneemänner! FUH KRUH SEF FELT!» «Das geht zu weit; ich geb’s auf, Stan.» «Menschenskind, nee, du schmeißt ja alles durcheinander, Won’t. Die sind es doch, die aufgeben sollen. Verdammich, es scheint denen völlig wurscht zu sein, ob wir sie sehen oder nicht; soweit ich das beurteilen kann, haben sie keine Waffen.» «Denk dran, Stan, daß sie neulich auch irgendwo ein Gewehr und eine Schmeißer versteckt hatten. Schließlich sind sie der Feind, deine berüchtigten Nazi-Schlächter.» «Jaja, ich weiß. Moment mal.» Ich nehme die Sprechmuschel vom Mund, Gordon und Mundy sehen mich fragend an, der eine auf einem Ellbogen aufgerichtet, der andere die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ich erkläre ihnen, was unten los ist. Wilkins zieht sich bereits Stiefel und Koppelzeug über. Er macht wieder ein erschrockenes Gesicht. «Nur ruhig Blut, Mother, unsere bekloppten deutschen Nachbarn haben sich nur einen neuen Scherz ausgedacht.» Ich hoffe, daß ich recht behalte. Ich warte ab. «Won’t?» «Ja, was ist los?» «Es ist zu dunkel, um genau zu erkennen, was sie treiben, aber sie sind mindestens zu fünft oder zu sechst und werkeln fanatisch an irgendwas rum. Sie haben irgend etwas Großes dabei, auf jeden Fall ist es kein Schneemann. Könnte ein Mörser sein! Vielleicht solltest du doch jemand auf den oberen Posten schicken, um uns hier unten Deckung zu geben.» Wie der Blitz fährt Gordon aus dem Schlafsack und in seine Sachen. Mundy zieht sich die Stiefel an. - 199 -
«Mel, geh du mit Mother nach oben. Stan behauptet, sie wären zu fünft oder zu sechst, und er kann sehen, daß sie an irgendwas herumhantieren, womöglich bauen sie einen Mörser auf!» Mother und Gordon packen ihre Gewehre und sind bereits zur Tür hinaus, bevor Stan sich wieder meldet. «Won’t, Miller meint, sie hätten eindeutig irgendwas Hohes dabei, das sie an der Straße aufstellen.» «Stan, Gordon und Wilkins sind unterwegs zum oberen Posten. Soll ich runterkommen?» «Nein, ich glaub noch immer nicht, daß es ernst ist; es ist bloß so gespenstisch. Wir halten die Stellung und sagen euch Bescheid, sobald wir Genaueres wissen. Miller schleicht sich grade an der Mauer entlang ein bisschen näher ran.» Er hängt auf. Ich rufe den oberen Posten an. Ein Glück, daß wir den Apparat an Ort und Stelle gelassen haben. Gordon meldet sich. «Kannst du was sehen, Mel?» «Noch nicht viel, unsere Augen müßen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, aber es sieht so aus, als war da unten an der Brücke ‘n ganzer Trupp Straßenarbeiter am Werk. Mother macht sich gleich in die Hosen.» «Kannst du erkennen, was sie machen?» «Verflixt, nee! Das einzige, was wir sehen können, ist, daß es ‘n ganzer Haufen Leute sind; sieht fast aus wie eine komplette Gruppe. Wilkins will wissen, ob wir das Feuer eröffnen sollen, falls sie sich Shutzer und Miller nähern?» «Gib mir mal Mother, ja?» Der Hörer schlägt scheppernd an Wilkins’ Helm. Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern. «Sergeant! Unsere Leute sitzen ganz schön in der Tinte! Wenn die Deutschen wollen, brauchen sie bloß ‘n paar Meter rüberzurennen und sie einfach abzumurksen!»
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«Keine Aufregung, Vance. Sie haben beide Handgranaten, und ich hab noch Telefonkontakt mit ihnen. Shutzer ist unbesorgt, er sagt, die Deutschen seien nicht mal bewaffnet; er meint sogar, sie würden einen Konkurrenzschneemann bauen, seiner Meinung nach führen wir einen Schneemannkrieg.» «Ich komm da nicht mehr mit, Wont. Was, in Dreiteufelsnamen soll das alles?» Für gewöhnlich hält sich Mother sogar in Bedrängnis an das Fluchverbot. Mit Ausnahme von Father selbst ist er meines Wissens der einzige, der es ernstnimmt. «Keine Panik, Mother. Lass mich nochmal mit Gordon reden.» «Wont, eben hab ich ein Licht gesehen. Da hat jemand im Freien ein Streichholz angezündet und nicht mal die Hand vorgehalten. He, Moment mal! Da flackert noch eins auf, und noch eins. Was soll denn das? Jetzt brennen mindestens sechs Lichter da unten. Mann Gottes, schon wieder eins. Moment, bleib mal dran, ich geb dir Wilkins nochmal.» Ich muß jetzt unbedingt den unteren Posten sprechen. Allmählich scheint es ernst zu werden. Trotzdem höre ich Wilkins zu. «Es ist ein Christbaum! Die Deutschen stehen da unten im Schnee, mitten auf der Straße, und zünden an einem Christbaum Kerzen an. Ich denke, ich spinne; was hat das alles zu bedeuten?» «Es ist Weihnachten, nehme ich an, Mother. Leg mal auf; lass mich erst mal Miller und Shutzer anrufen.» Ich rufe den anderen Posten. Shutzer ist am Apparat. «Kannst du das bei dir oben sehen, Won’t? Das ist ja ein starkes Stück! Die beknackten Krauts haben doch tatsächlich einen Christbaum in den Schnee gerammt, einfach so, zack, mitten auf der Straße, und ‘ne Handvoll Kerzen dranmontiert. Die Kerzen brennen alle, und an den Zweigen hängen Äpfel und Kartoffeln. Und sogar ‘n paar Pappsterne.
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Du mußt unbedingt runterkommen! Halt, Moment mal! Jetzt legt einer von ihnen irgendwelches Zeug in den Schnee unter den Christbaum. Es ist der Unteroffizier, mit dem wir uns gestern unterhalten haben. Die anderen Krauts stehen gegenüber, auf der anderen Straßenseite, und grinsen wie die Honigkuchenpferde. Du liebe Güte, ist das ein trauriger Haufen; daneben sehen wir noch anständig aus. Das mußt du sehen, Won’t, du würdest es nie für möglich halten.» «Wir sind gleich da. Lasst euch auf nichts ein. Und schießt uns nicht über den Haufen.» Ich hänge auf. Mundy, der endlich fertig gestiefelt dasteht, hängt sich gerade das Gewehr um. «Was tut sich da unten? Was ist denn los?» Erst jetzt wird mir bewusst, daß Mundy als einziger noch nicht Bescheid weiß. Im Gegensatz zum Funkgerät kann man beim Telefon nicht mithören, wenn man den Hörer nicht am Ohr hat. «Unsere deutschen Kumpel haben uns einen Christbaum mitgebracht, Father, und wir wollen alle hingehen und Weihnachtslieder singen und vielleicht sogar ‘ne Christmette für dich abhalten. Also dann, gehen wir.» Ich werfe mir einen Patronengurt über den Kopf und nehme meinen Karabiner an mich. Ich überlege, ob ich mich im Jeep hinters MG setzen soll, um einigermaßen Herr der Lage zu sein, aber es scheint mir irgendwie nicht angebracht. Vermutlich wird aus mir doch nie ein blutrünstiger Krieger. Erst als ich unten bei Stan und Bud ankomme, merke ich, daß Mundy nicht dabei ist. Vielleicht ist es besser so; jemand sollte am Telefon bleiben, sonst sind die beiden oben am Berg abgeschnitten. Das hätte ich bedenken müßen. Sie verlangen mir nicht das Kennwort ab, als ich mich nähere, drehen bloß die Köpfe nach mir um und winken mich heran. Das Kerzenlicht ist so hell, daß ich die beiden gut erkennen kann. Auch die Deutschen, die sich neben dem Christbaum aufgereiht haben, kann ich sehen. Vermutlich könnte man uns - 202 -
für sowas vors Kriegsgericht bringen. Wegen unerlaubtem Feindkontakt. Später, nach Kriegsende, bezeichnete man jegliche unerwünschte Vertraulichkeit mit den Deutschen als «fraternisieren». Meistens ging es dabei um Frauengeschichten, deretwegen etliche Soldaten vor den Kadi gebracht wurden. Fraternisieren schien mir immer das falsche Wort dafür zu sein; mit «Verbrüderung» hatte es nicht viel zu tun. Zwischenmenschlicher Kontakt, das war es viel eher, was stattfand. An jenem Abend pflegten wir Kontakt mit dem Feind. Miller, Shutzer und ich gehen zusammen an den Rand der Brücke. Da wir unten im Bachbett stehen, haben wir den Stamm des Christbaums in Augenhöhe. Die Gewehre tragen wir umgehängt, und ich habe sogar vergessen, eine Handgranate mitzunehmen. Dann geht es los. Zuerst zaghaft, ein- oder zweistimmig, dann alle im Chor, stimmen sie ein Weihnachtslied an. Sie singen deutsch, aber das Lied kenne ich. Es ist «O Tannenbaum»; dieselbe Melodie wie «O Christmas Tree» auf Amerikanisch. Als die Deutschen aufhören zu singen, herrscht vollkommene Stille; die Kerzen brennen noch. Dann heben sie wieder an. Diesmal singen sie «Adeste Fideles». Miller beugt sich an mein Ohr. «Da liegen Weihnachtsgeschenke unter dem Baum. Siehst du sie? Ein Laib Brot, eine Flasche Wein und irgendwas, das aussieht wie eine von Corrollos Würsten.» Diesmal tritt, als das Lied zu Ende ist, der Unteroffizier in die Mitte der Straße heraus und stellt sich neben den Baum. Er hebt Weinflasche und Brotlaib auf und hält sie uns hin. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich kann mich nicht dazu durchringen, einen forschen Klimmzug zu ihm hinauf zu machen und da oben vor den Augen der anderen Geschenke von einem Deutschen entgegenzunehmen. Er steht ganz alleine da, die - 203 -
Arme ausgestreckt, und blickt suchend in die Dunkelheit. Just in diesem Augenblick kommt Father Mundy die Straße heruntergaloppiert, aus vollem Halse «Adeste Fideles» singend. Er hat Sachen in den Händen und sich auch noch irgendwelchen Krempel unter die Arme geklemmt. Sein Gewehr hat er vergessen. Er geht schnurstracks auf den Deutschen zu und überreicht ihm unsere letzte Flasche Wein; gleichzeitig nimmt er das Brot entgegen. Dann gibt er ihm noch allerlei kleine Päckchen und greift nach ihrer Flasche. Der Deutsche bückt sich, hebt die Wurst unter dem Weihnachtsbaum auf und reicht sie Mundy. Dabei quasseln beide pausenlos aufeinander ein und grinsen sich an. Da greift der Deutsche plötzlich in seine Uniformjacke und zieht eine Luger hervor! Ich will mir das Gewehr von der Schulter reißen, aber zu spät. Der Deutsche übergibt Father die Luger, den Kolben voran, oder vielmehr will er sie ihm übergeben. Mundy schiebt sie weg! Ich höre ein lautes «No, Sir!» Ob der Deutsche Englisch kann? Oder ob Mundy uns die ganze Zeit verheimlicht hat, daß er fließend Deutsch spricht? Vielleicht spricht er auch Jiddisch, ein irischer Jude, der die katholische Kirche unterwandert. Nein, das geht zu weit. Jetzt klaubt Mundy eine der Handgranaten aus seiner Jackentasche. Manchmal verschwitzt er sogar, sie herauszunehmen, wenn er schlafen geht; das alles kümmert Mundy, wie gesagt, herzlich wenig. Bei Gott, er reicht dem Deutschen diese Granate. Der Deutsche dreht sich um und hängt sie an den Christbaum. Der Zweig biegt sich bis auf den Boden. Sie lachen beide. Die übrigen Deutschen rühren sich nicht während dieser Zeremonie. Dann schmettern sie «Stille Nacht» auf deutsch. Miller, Mundy und ich fallen mit «Silent Night» auf englisch ein. Danach schütteln Mundy und der Deutsche einander die Hände, und Mundy setzt mit einem Schrägsprung über die - 204 -
Mauer zu uns. Der Deutsche gesellt sich zu seinen Leuten auf der anderen Straßenseite; noch immer singen wir mit vereinten Kräften. Fehlte nur noch, daß Judy Garland uns im rosa Rüschenkleid ein Ständchen brächte oder Sonja Henie auf dem Bach Pirouetten drehte. Auf einmal höre ich hinter uns noch jemand singen; Gordon ist heruntergekommen. Mother Wilkins ist vermutlich noch immer oben auf Posten und gibt uns Deckung. Schließlich war niemand am Telefon, deshalb kann er auch nicht ahnen, was sich hier unten abspielt, aber er müßte den Gesang hören. Die Kerzen an dem Baum haben angefangen zu spucken. Es bläst ein kräftiger Wind, und sie brennen rasch herunter; einige sind sogar schon ausgegangen. Ich blicke in die Kerzen und versinke in Gedanken. Ohne sichtbares Handzeichen verziehen sich die Deutschen langsam wieder in den Wald und rücken ab, den Hang hinauf. Nur wenige Kerzen brennen noch. Wir machen kehrt, und Mundy, Mel und ich gehen zurück zum Schloss. Miller und Shutzer haben noch etwa eine halbe Stunde lang Wache. Wir reden kaum; es hat uns die Sprache verschlagen. In unserem Salon angekommen, breitet Mundy die Geschenke der Deutschen auf einer Matratze aus. Gordon stellt sein Gewehr ab und lässt sich auf einer anderen Matratze nieder. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie aufgeregt ich war, aber jetzt stelle ich fest, daß ich zittere. Anscheinend kann ich solche Erlebnisse nicht so gut verkraften wie die anderen. Vielleicht sind Künstlertypen nicht fürs Kriegspielen geschaffen, oder vielleicht bin ich auch nur ein Feld-Wald-und-WiesenAngsthase. Ich bin froh, drin zu sein und noch immer über zwei Stunden Freiwache vor mir zu haben. Ich hole tief Luft. Im Augenblick wäre es mir lieb, wenn Gordon draußen auf Posten wäre; ich könnte dringend eine Zigarette vertragen. Aber der zieht sich gerade die Stiefel aus und frotzelt Mundy. - 205 -
«Jetzt mal raus mit der Sprache, Mundy. Wie ist das eigentlich, haben sie dir in der Seminarsschule Deutsch beigebracht, weil du als so ‘ne Art Missionar den päpstlichen Nuntius nach Berlin begleiten und die Barbaren im rechten Glauben unterweisen solltest? Oder womöglich bist du ein deutscher Spion, der mitten unter uns sein Unwesen treibt, um mit dem ganzen christlichen Geschwafel unsere Kampfmoral zu untergraben? Was zum Teufel habt ihr beiden Kerle euch eigentlich die ganze Zeit erzählt da unten? Er hat doch nicht etwa englisch gesprochen, oder?» Mundy nestelt an seinen Stiefeln. Er reckt sich, gähnt, lüftet seine Strickmütze ein paar Zentimeter und kratzt sich den Schädel. «Tja, ich hab bloß immer wieder ‹Merry Christmas› und ‹Happy New Year› gesagt. Bestimmt an die fünfzig Mal. ‹Merry Christmas, Happy New Year›.» «Und was hat er zu dir gesagt? Was hat der Kerl denn gesagt?» «Es klang so ähnlich wie ‹Throw me a why not›. Das hat er immer wieder gesagt. Und dann, als er mir das Brot gab, sagte er, ‹Why notgo shrink›. So hat es sich jedenfalls angehört. Ich hab keinen blassen Dunst von diesem Kauderwelsch. Ich kann ein paar Worte Irisch und hab ‘ne ganze Menge Latein auswendig gelernt, aber kein Deutsch.» Erst Jahre später, als ich Weihnachten mit meiner Familie am Starnberger See, in der Nähe von München, verbringe, geht mir auf, was Mundy damals gehört haben muß. ‹Throw me a why not› hieß ‹Fröhliche Weihnacht› und bedeutet Merry Christmas; ‹Why not go shrink› hieß ‹Weihnachtsgeschenk› und ist das deutsche Wort für Christmas present. Es wäre nicht schwer zu erraten gewesen. Ich wüßte gern, was sich der Deutsche damals bei Mundys Worten dachte.
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Wir hören ein Geräusch an der Tür. Ich fahre hoch, denn für Shutzer und Miller ist es noch zu früh. Es ist Mother Wilkins. Er ist die ganze Zeit über oben auf Posten geblieben, und wir haben ihn einfach vergessen. Er sieht bleich und erschöpft aus. Wie immer hängt an der Spitze seiner geröteten Nase ein Tropfen. «Alles in Ordnung? Was war eigentlich los? Mel und ich konnten niemand an den Apparat kriegen. Es hat sich angehört, als würde jemand singen.» Gordon springt auf, geht zu Mother und hilft ihm seine zwei Patronengurte über den Kopf zu heben und nimmt ihm Gewehr und Handgranaten ab. «Mensch, tut mir leid, Mother. Ich hab dich ganz vergessen da oben. Es war richtig schön. Die Deutschen wollten uns bloß ein frohes Fest wünschen, das war alles. Father Mundy ist sogar hingegangen und hat ein paar Geschenke mit ihnen ausgetauscht.» Es ist rührend, mit anzusehen, wie entgeistert Mother ihn bei diesen Worten anstarrt. Dann schaut er zu mir herüber. «Erzählt er Märchen? Stimmt das wirklich?» «Es stimmt, Vance. Dieser spezielle Teil der deutschen Wehrmacht scheint hin und wieder Waffenruhe einzulegen, etwa nach dem Motto ‹Sonntags nie›, wie es bei den alten Rittern Usus war.» Mother setzt sich neben Mundy auf die Matratzenkante. Dieser müht sich gerade damit ab, die Flasche zu entkorken, die er von dem Deutschen bekommen hat. Mother kann sich noch immer nicht beruhigen; ich bin drauf und dran, ihm die ganze Geschichte zu beichten. Vielleicht würde ihm der Gedanke einleuchten; Mel könnte doch recht haben. «Menschenskind, Wont. Ich weiß nicht, ob ich dieses Versteckspielen mit dem Krieg noch länger aushalte. Mir wär’s fast lieber, wir würden uns aus dem Weg gehen, außer wenn wir tatsächlich gegeneinander kämpfen müßen. Ich kann das nicht verkraften.» - 207 -
Gordon müht sich mit der zähen Wurstpelle ab. Er greift zum Bajonett. «Du, Mundy, jetzt beichte uns mal, was du den Deutschen außer unserer letzten Flasche Wein noch alles gegeben hast.» Ich werfe einen Blick auf Mels Uhr. Zeit für den Wachwechsel. Von jetzt an werde ich nur noch einen Posten mit einem Mann zu besetzen, wenn alle einverstanden sind. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welches Gespann als nächstes dran wäre. Wahrscheinlich Mundy und Wilkins. «Ach, das war nicht die Welt. Wir haben ja kaum was Gescheites; jedenfalls nichts, was wir unser eigen nennen und verschenken könnten. Ich hab ihm ‘n paar von unseren Rühreiportionen gegeben, die bei uns sowieso keiner ißt, dann sechs von den Fischdosen, die wir hier gefunden haben, und alle Limonadenbeutel. Ach ja, ich habe ihm auch zehn Päckchen Zigaretten gegeben. Wenn schon, denn schon, schließlich ist Weihnachten, oder? Beinah, jedenfalls. ‘Ne Handgranate hab ich ihm auch noch geschenkt. Damit wollte ich ihm klarmachen, daß wir keine Handgranaten mehr werfen würden, weiter nichts. So eine Art Friedensangebot.» Mel geht zu ihm und schüttelt ihm lachend die Hand. «Ich muß schon sagen, Mundy, du bist ein Schlitzohr; Mann, so viele Zigaretten abzustoßen. Aber, weißt du, eigentlich ist es ja nicht im Sinne des heiligen Vaters, die Leute mit Weihnachtsgeschenken um die Ecke zu bringen.» Mel reicht Mundy die Wurst. «Ach komm, Gordon; so ein paar Zigaretten können doch nicht viel schaden.» Gordon nimmt Mundy die deutsche Flasche aus der Hand. Er zieht den Korken heraus. Mundy greift nach seinem Taschenmesser und macht sich daran, die Wurst in Scheiben zu schneiden. Gordon schnuppert prüfend an der Flasche. «Mann, das ist ja ein Teufelsgesöff. Wie Gin oder Wodka, irgendein hochprozentiger Klarer, ein richtiger Rachenputzer.» - 208 -
Er schnuppert noch einmal daran, dann nimmt er einen kleinen Schluck. Wir sehen ihm zu, wie er den Kopf schüttelt und seine Augen zu tränen anfangen. Ein paar Sekunden vergehen, bevor er wieder sprechen kann. «Meine Fresse! Das Zeug heizt vielleicht ein. Wo kriegen die sowas bloß her, verdammt und zugenäht?» Er reicht die Flasche weiter an Mundy. Mundy teilt die Salami aus, eine Scheibe für jeden, noch eine Art Abendmahl, Salamioblaten. Und Schnaps als Blut. «Pass bloß auf, Father! Das ist nicht grade Messwein. Ich wette, das Zeug hat an die hundert Prozent. Aber wenigstens wird es dein Blut da draußen in der Dunkelheit auf Touren bringen.» Mundy guckt auf seine Uhr. «Ach du grüne Neune! Warum habt ihr uns nichts gesagt? Wir sind schon fünf Minuten zu spät dran. Ich hab wahrscheinlich auf den Anruf gewartet.» Er ist aufgesprungen und rafft seine Sachen zusammen. Auch Wilkins will sich fertigmachen. «Du bleibst hier, Vance. Du bist lange genug in der Kälte draußen gewesen. Heute nacht hält immer nur einer auf einem Posten Wache. Jetzt wird uns bestimmt kein unangemeldeter Besuch mehr überfallen. Ist es dir recht, Father? Ich komme mit runter, wenn du lieber nicht allein sein willst.» «Nee, mir ist es recht. Ich muß sowieso ‘n bisschen nachdenken. Wir Theologen nennen das meditieren, aber eigentlich ist es nichts weiter als nachdenken, die ganz persönliche Art, wie jeder einzelne seinen Gedanken nachhängt. Bleib du ruhig hier. Übrigens, wie war das Kennwort nochmal?» «‹Kling – Glöckchem. ‘N paar Takte von ‹Silent Night› tun’s auch, aber auf englisch.» Als Shutzer und Miller hereinkommen, lassen wir die Flasche wieder kreisen und schneiden noch ein Stück von der Wurst auf. Sie ist köstlich, sogar noch besser als die Wurst, die Corrollos Mutter immer schickte, und besser als die, die er den - 209 -
Toten abnahm. Diese Wurst muß irgendein Deutscher direkt von zu Hause geschickt bekommen haben, kein gewöhnlicher Kommissfraß. Shutzer kann sich gar nicht wieder beruhigen. «Du ahnst es nicht. Echte koschere Salami. So gut wie von Katz’s. Ich glaub, ich werde mich doch noch mit Weihnachten anfreunden.» Gordon nimmt noch einen langen gluckernden Schluck aus der Flasche. Wir werden alle bald voll sein wie die Haubitzen, wenn wir so weitermachen. Vielleicht ist das der große deutsche Geheimplan: uns alle besoffen machen und uns dann wie die Fliegen einsammeln. Gordon gibt die Flasche weiter an Wilkins. «Genau, Shutzer. Das würde alles erklären. Wieso bin ich nicht schon früher draufgekommen? Das sind gar keine echten Deutschen; es sind jüdische Spione in deutschen Uniformen, die sich mit wichtigen Informationen aus dem Staub machen wollen. Das hier sind die letzten Rationen, die sie von daheim aus dem Ghetto mitgebracht haben.» «Du mußt mit der Salami umgehen wie mit einem rohen Ei, Wont; es könnte auch eine Rolle Mikrofilm eingearbeitet sein; vielleicht mit dem Standort der deutschen Geheimwaffe drauf. Du solltest auch mal den Flaschenboden inspizieren.» Shutzer nimmt einen Schluck, pliert in den Flaschenhals hinein. «Ja, genau, wie diese Glückskekse in den chinesischen Restaurants. Aber, Gordon, deine Theorie hinkt. Wie könnte eine Bande Juden so eine Weihnachtsfeier abziehen, die bis zur letzten Kerze stimmt? Das haut nicht hin. Nee, das sind simple, hausbackene Krauts, aber in puncto Salami haben sie einen guten Geschmack, das muß man ihnen lassen.» Wir heben die Hälfte des Flascheninhalts und den größten Teil der Salami auf. Zutaten wie diese können gewöhnliche eiserne Rationen fast wieder genießbar erscheinen lassen. Shutzer stellt Kaffeewasser auf. Fast gleichzeitig mit mir kriecht Miller in seinen Schnarchsack. Ich habe ein Gefühl wie an Heiligabend, - 210 -
was auch immer für ein Tag heute ist. Dies werden meine ersten Weihnachten weit weg von zu Hause sein, wenn ich sie noch erlebe. Vielleicht habe ich sie schon erlebt.
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5 Mother darf es nie erfahren Miller rüttelt mich wach. Ich schwinge die Beine über den Matratzenrand und gucke mich verschlafen um. Im Kamin lodert ein Feuer. Wir sind inzwischen bei den Bilderrahmen angekommen. Ich sehe zu, wie Shutzer sich mit seinem ganzen Gewicht auf einen Rahmen stemmt, ihn an den Ecken entzweibricht, in vier Teile hebelt und ein Stück in die Flammen wirft. Unsere Holzvorräte müßen knapp geworden sein, wenn Wilkins diese Rahmen den Flammen opfert; sie sind aus Eichenholz und handgeschnitzt. Das hat er besonders hervorgehoben, als wir uns neulich die Bilder ansahen. Mit einem Blick vergewissere ich mich, daß die Geige noch da ist, also sind wir noch nicht restlos der Barbarei verfallen. «Wie stehen die Aktien, Won’t? Bleibt’s dabei? Soll ich mich im grünen Ankleidezimmer zurechtmachen? Mother ist oben. Er ist völlig fertig; wir mußten ihm diese Rahmen praktisch mit Gewalt entreißen. Er hat Stan vorgeworfen, an allem Verrat zu üben, was ‹sein Volk› verkörpert. Wir müßen irgendwas tun, bevor er endgültig einen Knacks kriegt.» «Wie sieht’s bei dir aus, Stan?» «Ich bin zu allen Schandtaten bereit.» «Okay, ich bin auch gleich soweit.» Ich gehe hinaus zum Pinkeln. Natürlich könnte ich dazu nach oben gehen, aber ich will wissen, was wir für Wetter haben. Nach meiner Schätzung dürfte es gegen neun Uhr sein. Für den Weg bis zum Schuppen brauchen wir nur etwa eine halbe Stunde; wir haben also reichlich Zeit. Der Himmel ist bewölkt. Es schneit nicht, aber die Wolken sind schwer und könnten sich jeden Moment entladen. Ich bin erstaunlich ruhig; vielleicht bin ich wie ein Karnickel, von der Meute in die Enge getrieben, und habe aufgehört, mich zu - 212 -
wehren. Bei Jenkins habe ich miterlebt, wie ein Mensch an diesen Punkt kommt. Ihm war schließlich alles egal. Er brachte es fertig, weithin sichtbar auf einer kahlen Anhöhe herumzurennen und seelenruhig Schokolade zu futtern. Glücklicherweise merkte Edwards es rechtzeitig und schickte ihn nach Hause. Ich glaube nicht, daß Jenkins es darauf angelegt hatte; er hatte schlicht aufgegeben; er bekam überhaupt nicht mehr mit, was er tat. Drinnen greife ich nach Millers Arm und gucke auf seine Uhr. Es ist später, als ich angenommen hatte, schon fünfundzwanzig Minuten vor zehn. Shutzer und Miller warten auf mich. Miller wird von Gordon in Wichs gesteckt. Wenn wir Make-up hätten, würde Gordon ihm bestimmt einen Schmiss quer über die Backen malen. Miller kommt der Kinoversion des brutalen deutschen Soldaten so nahe, daß ich erschrecke. Es fällt mir schwer zu glauben, daß er auf unserer Seite sein soll. Er ist vollkommen in seine Rolle geschlüpft; vielleicht ist er der Nazispion in unserer Mitte. Binnen weniger Minuten habe ich meinen ganzen Klimbim an. Sich für einen Spähtrupp abmarschfertig machen, ist ein Kapitel für sich. Als Straßenmaler in Paris habe ich heute, wenn ich meine Malutensilien zusammenpacke, noch oft dieses Dejd-vuGefühl. Die Situation eines Mannes, der, mit Staffelei und Leinwand auf dem Rücken, die Taschen mit Terpentin -und Firnisfläschchen vollgestopft, loszieht, hat eine verteufelte Ähnlichkeit mit der Situation eines Soldaten, der als wandelnder militärischer Klempnerladen dahinmarschiert. Ich benutze sogar dieselben Worte; selbst wenn ich mich bloß zum Malen in irgendein kleines Nebensträßchen oder einen Hinterhof verkrümele, sage ich, ich ginge «ins Feld». Es gibt nur einen gewaltigen Unterschied. Malen ist zwar körperlich und psychisch auch anstrengend, aber es ist weiß Gott angenehmer. Selbst wenn mir noch so viele Leute auf die - 213 -
Pelle rücken oder mich mit dußligen Fragen behelligen, habe ich doch nie das Gefühl, als sei mir jemand auf den Fersen, der mir nach dem Leben trachtet. Das Klicken, das ich höre, kommt von Kameras und nicht von Gewehren, die entsichert werden. Ohne Sicherheitsabstand, die Gewehre über die Achseln gehängt, wandern wir dahin, als gingen wir zur Schule oder nach dem Unterricht zum Schlittschuhlaufen. Für so helle Bürschchen sind wir ziemlich schwer von Begriff. Ich erwäge, von meinen drei Streifen Gebrauch zu machen, tue es aber doch nicht. Letzten Endes bin ich bei diesem Kuhhandel das dritte Rad am Wagen. Als wir kurz vor zehn bei der Bretterbude ankommen, sind die anderen schon da. Es ist daßelbe Duo, der Unteroffizier und der Blasse mit dem traurigen Blick. Miller und ich bleiben oben auf der Höhe, während Shutzer weiter hinunterschlendert. Miller sieht aus wie Napoleon, der mit Feldherrnblick die Schlacht bei Borodino verfolgt. Es fehlte nur, daß er eine Hand zwischen die Knöpfe seiner Uniformjacke schöbe. Er hat sogar den einen Fuß leicht vorgestellt. Wir hatten uns geeinigt, daß er kein Gewehr mitnehmen sollte, deshalb ist er unbewaffnet, bis auf eine Handgranate, die wir ihm so unter die Jacke an den Gürtel gehängt haben, daß es aussieht wie eine Pistolenwölbung. Shutzer dreht sich zu uns um und winkt uns herunter. Ich bleibe ein wenig zurück, mehr oder weniger zur Deckung, das Gewehr noch über der Schulter, aber jederzeit bereit, es hochzureißen und abzudrücken. Dem Augenschein nach haben sie, genau wie beim letzten Mal, keine Waffen dabei. Shutzer stellt den Deutschen unseren «Offizier» nach allen Regeln der Kunst vor; es würde mich nicht wundern, wenn er einen Kratzfuß machte. Der deutsche Unteroffizier antwortet mit einem knappen Kopfnicken, und Miller liefert eine perfekte
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Imitation. Wenn wir nicht aufpassen, mustern sie ihn noch für die Wehrmacht an. Shutzer nimmt uns etwas beiseite. «Ich hab so’n Gefühl, als kämen wir langsam zum Kern der Sache. Miller, du machst einfach ein strenges Gesicht und nickst oder schüttelst den Kopf, wenn ich dich anspreche. Won’t, ich denke, Miller wird nachher die Entscheidungen am besten aus der Situation heraus treffen. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Über den zweiten Mann bin ich mir noch immer nicht im klaren. Mir scheint, daß er der Drahtzieher bei der ganzen Geschichte ist, aber ich bezweifle, daß er tatsächlich Englisch spricht.» Das alles in gedämpftem, lockerem Plauderton, nur wenige Schritte von den Deutschen entfernt. Miller hat die Hände in die Hüften gestemmt. «Okay, Shutzer, kommen wir zur Sache.» Mein liii-ieber Schwan, hat der einen Ton am Leib, ein General ist nichts dagegen. Verzieht keine Miene. Shutzer geht wieder zu den beiden Deutschen, und Miller folgt mit forschem Tritt. Ich trotte als Schlussmann hinterher, noch immer etwas misstrauisch. Shutzer und der Unteroffizier fangen an zu verhandeln. Der Unteroffizier lässt Miller dabei nicht aus den Augen. Miller hält seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken, als wüßte er genau, worum es geht. Dann guckt er Shutzer fragend an. Dieser erstattet mit todernster Miene Bericht. «Also. Sie wollen sich tatsächlich ergeben. Sogar noch heute abend. Aber jetzt kommt der springende Punkt. Sie sind überzeugt, daß ihre Angehörigen zu Hause sich auf Repressalien gefasst machen können, wenn sie kampflos aufgeben, oder daß man ihnen nach dem Krieg Schwierigkeiten macht. Sie wollen, daß wir sie in einem Scheingefecht gefangennehmen. So habe ich ihn jedenfalls verstanden. Am besten nickst du ein paarmal skeptisch und streichst dir vielleicht übers Kinn wie weiland Plato beim Dialog mit Aristoteles.» - 215 -
Miller führt die Regieanweisungen aus. Möglicherweise liegt es an den ungezählten Bridgepartien und all ihren anderen Spielen: Für die beiden scheint es zwischen Spiel und Ernst keinen Unterschied zu geben. Sie spielen dies alles. Shutzer wendet sich wieder dem Unteroffizier zu und parliert weiter. Ich kann diesen Shutzer, der mit Händen und Füßen redet, den Kopf hin- und herwiegt, mit sonorer Stimme spricht, nicht mit unserem Shutzer in Einklang bringen. Welcher ist der wirkliche Shutzer? Welcher ist der wirkliche Miller? Wer bin ich? Ich weiß, daß ich nicht wirklich Sergeant einer Aufklärungsgruppe in einem waschechten Infanterieregiment bin. Ich sehe und höre zu, wie Shutzer und Miller ihren Auftritt durchspielen. Ich spitze die Ohren, wenn Shutzer für Miller übersetzt und wenn Miller antwortet. Im wesentlichen geht es darum, daß die Deutschen nicht erpicht darauf sind, uns zunächst nur einen einzelnen Gefangenen zu überlassen. So weit trauen sie uns vermutlich auch wieder nicht über den Weg. Shutzer erklärt ihnen, daß unsere Vorgesetzten unbedingt einen Gefangenen haben wollen, den sie über die Truppenbewegungen im Süden ausquetschen können. Bei diesem Stichwort rückt der andere Deutsche näher, und die beiden halten Kriegsrat. Shutzer bricht ein Päckchen Zigaretten an und reicht sie herum. Sie bestehen schließlich darauf, daß wir noch an diesem Abend kommen, laut mit Handfeuerwaffen herumballern, eventuell ein paar Handgranaten werfen und sie dann gefangennehmen. Ihre Ausrüstung müßen sie größtenteils in der Jagdhütte lassen, weil es sonst nicht wie ein Überfall aussehen würde. Sie sind überzeugt, daß die große deutsche Offensive demnächst die Gegend hier überrollen wird. Nach viel weiterer Feilscherei um die praktischen Details kommen Shutzer und Miller wieder zu mir. Der Termin für die Gefangennahme ist für heute nacht, vierundzwanzig Uhr, festgelegt. Sie werden sich auf dem ebenen Platz vor ihrer - 216 -
Hütte aufstellen, und wir werden auf der Anhöhe sein, von der aus wir beim ersten Mal mit dem Feldstecher zu ihnen hinunterspähten. Wir werden einen gewaltigen taktischen Vorteil haben. Es hört sich überhaupt nicht nach einer Falle an, allenfalls nach einer komplizierten Kapitulation. Ich habe noch immer Angst, grundlos, wie es scheint, wo doch alles wie am Schnürchen läuft. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund bin ich von tiefer Furcht erfüllt. Ich möchte gern Millers Gedicht über Angst lesen. Mir scheint, ich hätte einiges dazu beizutragen. Auf dem Rückweg lachen Shutzer und Miller sich schief. Sie gehen das Gespräch, den Verlauf der Verhandlung, immer wieder durch, als verhackstückten sie ein Bridgeblatt. Es ist ein Blatt, von dem ich wünschte, ich hätte es selbst ausgedacht, damit ich besser Bescheid wüßte, was alles passieren kann, wie die Karten verteilt sind. Glücklicherweise hat sich Wilkins, als wir im Schloss ankommen, wieder unters Dach verkrochen, so daß wir den Rest der Gruppe problemlos um uns scharen können. Ich ziehe sogar Mundy vom Posten ab. Miller hat wieder seine übliche Kluft an, und Shutzer berichtet von unserer Tour. Mundy ist fassungslos. «Ihr habt es also tatsächlich gemacht. Ihr seid einfach da hingegangen und habt nochmal mit ihnen geredet, und sie sind fest entschlossen, ohne jede Gegenwehr mitzukommen?» «So ist es. Bloß müßen wir vorher den Zirkus mit dem Feuergefecht inszenieren. Das ist sogar günstiger für unseren Mother-Wilkins-gewinnt-den-Krieg-Plan. Das macht die ganze Geschichte realistischer. Wir schaffen sie hierher, und dann halten wir das Schachturnier ab, um unseren Lokalmatador zu ermitteln.» Mundy erhebt sich und geht ein paarmal mit seinen Siebenmeilenschritten neben den Matratzen auf und ab. «Weißt - 217 -
du, Vance wird sich nie wegen eines Schachsieges auf sowas einlassen. Er würde das bestimmt unfair finden. Wir müßen es so deichseln, daß es aussieht, als hätte er schlicht Dusel gehabt, und ich weiß auch schon, wie wir das machen.» Wir warten alle gespannt. Er hat recht. Wilkins kann uns beim Schach mühelos schlagen; einen nach dem anderen in mehreren Partien oder alle auf einen Streich. «Wir machen das folgendermaßen. Wir ziehen Strohhalme. Bloß daß wir alle schon vorher wissen, welcher Strohhalm gewinnt – sagen wir mal, der vorletzte –, und den ziehen wir eben nicht. Ich werde die Strohhalme halten; mir wird er trauen. Ich werde es so einrichten, daß er als letzter dran ist und automatisch gewinnen muß. Auf die Art müßen wir nicht hier rumsitzen und ein Schachturnier abhalten, während das Haus von Deutschen wimmelt und Ware oder Love jeden Moment reinplatzen können. Was haltet ihr davon?» Wir schauen einander an. Shutzer nähert sich Mundy auf Zehenspitzen. «Lass mich deine Füße küssen, Mundy. Die dünne Luft in den höheren Sphären hat dein Gehirn doch nicht angekränkelt, wie ich die ganzen Monate gefürchtet habe. Genauso werden wir’s machen. Auf die Tour wird Mother bestimmt mitspielen. Er muß ja selber spüren, wie schlimm es um ihn steht. Ich glaube, daß er die Gelegenheit ergreifen wird.» Mel schüttelt noch immer den Kopf, aber er zieht mit. Ich mache das Funkgerät bereit, ich möchte wissen, was aus der ersten Gruppe geworden ist, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt. Die anderen umlagern mich alle. Gott, was für ein Miefgemisch. Am übelsten finde ich die Schweißfüße; fast alle haben ihre Stiefel ausgezogen. Im Geiste haben wir den Kriegsdienst praktisch schon quittiert. Als wir von unserem Erkundungsgang zurückkamen, war gerade ein Blitzschachspiel in Gang gewesen, unsere Variante, ein Zug
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pro Minute, aber während des Funkspruchs ruht es. Ware meldet sich sofort. «Was ist mit der ersten Gruppe, Sir? Kommen.» «Noch keine neuen Nachrichten. Kommen.» Ich hoffe, er kriegt das allgemeine Aufstöhnen hinter mir nicht mit. «Sie sind noch nicht wieder zurück, Sir? Keiner von den sechs? Kommen.» «Keiner. Die Lage ist so ernst, daß Fahrzeugpark und Feldküche schon abmarschbereit sind; keiner weiß, in welche Richtung. Sogar das dritte Bataillon ist im Süden in Kampfhandlungen verwickelt. Wir können sie nicht raushauen, sonst würde die ganze Flanke zusammenbrechen. Wir tappen völlig im dustern. Haben Sie schon einen Gefangenen gemacht? Kommen.» «Wir haben gestern abend einen Erkundungsgang gemacht, und ich meine, daß wir uns heute abend einen angeln können. Wir werden gegen zehn bei dem deutschen Posten ankommen, kurz bevor sie die Wache wechseln. Kommen.» Ich drehe den Kopf nach den anderen um und zwinkere ihnen zu. «Na, sehen Sie zu, daß es hinhaut. Ich komme heute abend zu Ihnen raus, Love vielleicht auch, und dann holen wir den Gefangenen ab. Kommen.» «Love will hierher kommen, Sir? Kommen.» «So ist es. Ich denke schon. Kommen.» «Die Lage muß ziemlich ernst sein, Sir. Kommen.» «Sie ahnen gar nicht, wie ernst. Love meint, daß eine Gruppe Deutsche auf einem vorgeschobenen Posten wie diesem mit ziemlicher Sicherheit was mit Aufklärung zu tun hat und einigermaßen im Bilde sein müßte. Love verliert langsam die Nerven; der Oberst macht ihm die Hölle heiß. Es ist das reinste Irrenhaus hier. Wir haben alle naselang Stabsbesprechungen, und keiner weiß, wie es weitergehen soll. Hennessee, der Sl, ist verschwunden; seit vierundzwanzig Stunden hat ihn keiner - 219 -
mehr gesehen. Wir haben die Feldwache rund um den Gefechtsstand verdoppelt und die Vorpostenlinie verdichtet. Kommen.» «Verstanden, Sir. Meiner Meinung nach brauchen Sie eigentlich nicht unbedingt hier rauszukommen. Richten Sie Major Love aus, daß wir den Gefangenen irgendwann nach vierundzwanzig Uhr haben werden, und dann kutschieren wir ihn mit dem Jeep direkt zum Gefechtsstand. Die weite Fahrt hierher wäre ein unnötiges Risiko; die Wälder hier wimmeln nur so von Spähtrupps. Kommen.» «Ich werde es Major Love ausrichten. Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, nachts ohne Licht im Schneetreiben auf diesen Waldwegen herumzugondeln. Kommen.» «Unsere Jeeps sind fahrbereit, Sir, die Ketten sind montiert. Miller lässt die Motoren alle paar Stunden laufen, damit Batterien und Wasser nicht einfrieren. Bei uns ist soweit alles in Ordnung. Wir werden Ihnen den Gefangenen besorgen, Sir. Kommen.» Ach, du dickes Ei, das hätte uns gerade noch gefehlt, daß uns Ware und Love hier draußen in die Quere kommen. Dann wird das mit Wilkins nie klappen. «Okay. Tun Sie, was Sie können. Wenn Ihre Gruppe das Ding hier schaukelt, werden Sie Love wieder gnädig stimmen, darauf können Sie Gift nehmen. Ende.» «Ende, Sir.» Ich schalte das Gerät ab und sehe zu, wie das Lämpchen erlischt. Dann blicke ich auf. Mel steht hinter mir, die Fäuste in die Hüften gestemmt. «Die ganze erste Gruppe verschwunden? Großer Gott, dann sind ja von dem ganzen Zug bloß noch wir sechs übrig. Es ist genau wie im Ersten Weltkrieg; es hört und hört nicht auf. Es will mir nicht in den Kopf, daß ich das mit mir machen lasse.» «Mel, wir gehen ganz einfach auf unseren Spähtrupp, veranstalten das Feuerwerk, sammeln diese komischen Käuze ein und kommen im Geschwindschritt zum Schloss zurück, - 220 -
bevor unsere Zerberusse hier antanzen. Wilkins lassen wir am Funkgerät. Das scheint mir das einzig Sinnvolle zu sein.« Gordon wendet sich ab. «Gar nichts ist sinnvoll. Wie willst du irgend etwas Sinnvolles tun inmitten von etwas so grundsätzlich Unsinnigem wie einem Krieg?» Miller, Mundy und Shutzer haben alles mitgehört; es gibt nichts mehr zu sagen. Spontan würde ich am liebsten auf der Stelle mit Shutzer zusammen losstürzen und alles hinter mich bringen. Es wäre das einfachste. Aber die Deutschen wollen Gefechtslärm; es wird sich echter anhören, wenn die anderen mitkommen. Wir werden Wilkins also Funkdienst machen lassen. Derweil bringen wir die Sache ruckzuck über die Bühne, kommen hierher zurück, veranstalten Father Mundys Strohhalmspielchen, und dann ist die Sache geritzt. Wenn wir um elf von hier abrücken, sollten wir genug Zeit haben, die ganze Geschichte abzuwickeln, bevor Ware hier aufkreuzt. Ich kann es noch immer nicht glauben, daß Love bei Nacht und Nebel mit dem Jeep hier in der Gegend herumgurken will, solange auch nur die geringste Gefahr besteht, auf einen leibhaftigen deutschen Spähtrupp zu stoßen. Kurz vor halb elf machen wir uns abmarschbereit. Ich sage Mother, daß wir versuchen wollen, einen Gefangenen zu machen, und daß er, wenn wir nicht binnen zwei Stunden wieder da sind, beim Regiment Bescheid sagen soll. Er ist sichtlich froh, nicht auf den Spähtrupp mitgehen zu müßen. Stümperhafte Himmelfahrtskommandos wie diese sind die schlimmsten. Niemand verliert ein Wort über die erste Gruppe. Es gibt nichts zu sagen. Ich habe den Wachposten abgezogen, so daß Wilkins im Schloss allein sein wird. Zuerst erwäge ich, ihn am - 221 -
Brückenposten zu postieren, nur weil es einen guten Eindruck machen würde, falls Ware tatsächlich kommen sollte. Aber ich lasse den Gedanken wieder fallen. Wenn alles klappt, dürften wir nicht lange unterwegs sein. Diesmal ziehen alle ihre Tarnüberzüge an. Unser Logis ist eine einzige Rumpelkammer. Vielleicht räumt Mother während unserer Abwesenheit ein bisschen auf. Er hat sonst nicht viel zu tun, und da er Funkdienst hat, kann er sich nicht unters Dach verkriechen. Ich mache mir ehrlich Sorgen um ihn; er ist uns gegenüber fürchterlich im Hintertreffen; Mel hat recht. Es ist wie bei einem dieser Gesellschaftsspiele, bei denen alle irgendein Geheimnis oder ein Codewort kennen und nur einer der Dumme ist, weil er nicht Bescheid weiß. Es ist nicht fair; ich kann nur hoffen, daß alles gutgeht. Wir überprüfen Gewehre und Handgranaten und hängen uns Patronengurte um, als gingen wir wirklich auf Spähtrupp. In erster Linie tun wir es der Form halber, damit es für Mother möglichst echt wirkt. Aber man weiß ja nie. Und schließlich haben Gordon und Mundy, abgesehen von der Weihnachtsbescherung und dem Chorkonzert, noch kaum mit diesen Brüdern zu tun gehabt. Möglicherweise ist ihnen die Sache doch nicht ganz geheuer. Im Grunde dürfte sie keinem von uns geheuer sein, aber es ist alles so unwirklich, daß wir nicht mehr normal reagieren. Ich wünschte noch immer, sie ließen uns zunächst einmal nur einen Gefangenen machen und die eigentliche Überfallszene auf später verschieben. Aber vielleicht wissen sie Dinge, von denen wir nichts ahnen. Vielleicht steht uns hier tatsächlich ein Großangriff bevor. Ware schien wirklich Angst zu schwitzen. Ich bin aufgeregter als erwartet. Aber als wir endlich unterwegs sind, ist es nicht mehr so schlimm. Es schneit nicht mehr, und der Mond scheint hell. Es ist daßelbe Bild wie in der Nacht, als die Deutschen die Vogelscheuche anschleppten; rasch dahintreibende, tiefhängende Wolken, die den Mond freigeben - 222 -
und wieder verdecken, schwankende Schatten, weiß, blau und schwarz. Manchmal, wenn der Mond zum Vorschein kommt und Funken aus blendendweißen Schneekristallen schlägt, ist es fast taghell. Ich lasse alle in Abständen von zehn Metern hintereinander hergehen. Shutzer geht als Späher voran, und ich folge ihm nach; hinter mir kommt Mundy, dann Miller, und Gordon ist Schlussmann, also vorschriftsgemäße Spähtruppmarschordnung, bloß leicht verkürzt. Hinter der Flussbiegung halten wir an, um Miller zu kostümieren. Der Schnee ist tief und pulvrig; bei jedem Schritt stiebt er mir bis an die Stiefelschäfte hoch. Zwischen den Wolken glitzern Sterne, und es weht ein kalter Wind. Was war das früher für ein harmloses Vergnügen, in Nächten wie dieser Schlittschuhlaufen zu gehen, den Schnee von einem zugefrorenen Bach zu fegen und ein Feuerchen anzuzünden. Wie still scheint dagegen dieser Abend; wie gnadenlos und spannungsgeladen. Wir marschieren den Bach entlang auf den Schuppen zu. Ich habe beschlossen, auf demselben Umweg zu der Jagdhütte zu gehen wie beim ersten Mal. Diesen Weg kennen wir, und außerdem nähern wir uns der Hütte dann von oben und haben den deutschen Wachposten unter uns. Obwohl sie uns eigentlich erwarten müßen, bereitet mir die Kontaktaufnahme mit dem deutschen Wachposten Kopfzerbrechen. Wir werden uns langsam auf ihn zubewegen, um niemanden zu erschrecken. Meine Gedanken drehen sich noch immer im Kreis, ich bin aufs Schlimmste gefasst. *** Als wir unmittelbar unterhalb der Hügelkuppe anlangen, gebe ich den anderen, das heißt Gordon und Mundy, das Zeichen zum Anhalten. Miller in seiner Paradeuniform kommt zu mir herauf. Shutzer erklärt sich bereit, zunächst einmal allein mit - 223 -
dem deutschen Posten Kontakt aufzunehmen, während wir oben hinter dem Gipfel warten. Er und Miller werden dann alles weitere mit den Deutschen regeln. Da der Mond sich gerade hinter einer gewaltigen Wolkenbank versteckt, sehen wir nicht viel. Nur die Straße, die zwischen uns und der Hütte unten im Tal verläuft, können wir als glänzendes weißes Band ausmachen. Der Wachposten, den wir bei unserer ersten Tour entdeckten, ist nirgends zu erblicken. Vielleicht haben sie ihn nicht mehr besetzt. Vielleicht geht es ihnen wie uns, ist ihre Angst über den Vorbereitungen für das große Kapitulationsspektakel in den Hintergrund getreten. Shutzer beugt sich dicht an mein Ohr. «Also, es kann losgehen. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll, damit sie nicht auf mich schießen. Ich werd am besten ‹comrade› rufen, während ich auf den Posten zugehe.» Miller steht hinter mir. «Klingt ja, als wärst du derjenige, der sich ergibt. Du hast doch nicht etwa vergessen, wozu du hier bist, Stan?» «Rutsch mir den Buckel runter, Miller.» Miller bleibt hinter mir stehen, während Shutzer den Berg hinuntergeht und dabei gut hörbar, aber nicht übertrieben laut, «comrade» sagt. Aus dem Dunkeln hören wir eine Stimme «Kamerad» erwidern. Ich dirigiere die anderen näher zu mir herauf und verteile sie so auf dem Kamm, daß jeder ein übersichtliches Schussfeld hat. Dann weise ich alle an, Shutzer zu decken und sich schussbereit zu halten, falls irgend etwas schiefgehen sollte. Im Falle eines Schusswechsels sind wir klar im Vorteil. Ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, daß die Deutschen es ehrlich meinen. Ich lasse Shutzer nicht aus den Augen. Er geht auf die Stelle zu, an der beim letzten Mal der Wachposten war. Dann erkenne ich die Umrisse eines deutschen Soldaten, der aus seinem Deckungsloch klettert und sich gemeinsam mit Shutzer auf den Weg zur Hütte macht. Obwohl ich genau aufpasse, sehe ich - 224 -
keinerlei Handzeichen von Shutzer. Ich sehe sie die Straße überqueren und den gegenüberliegenden Hang ein Stück weit hinaufsteigen. Der Mond ist wieder hinter den Wolken hervorgekommen, und als Shutzer über den ebenen Platz vor der Hütte geht und dann durch die Tür tritt, ist es vollkommen hell. Wir warten ab. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Shutzer hatte die ganze Zeit das Gewehr über der Schulter hängen, also muß er zuversichtlich sein. Nach etwa fünf Minuten kommt Stan wieder an die Tür und winkt uns herunter. Ich vergewissere mich, ob Gordon und Mundy in Stellung sind. Kein überragender Feuerschutz für den Ernstfall; aber wir haben keine Wahl. Ich könnte Miller allein hinunterschicken, aber ich möchte wissen, was gespielt wird, wie der Hase läuft. Miller, der Shutzer mit den Augen verfolgt hat, überlässt mir die Initiative. Auf ein Handzeichen von mir marschieren wir beide los. Der deutsche Posten, der Shutzer zur Hütte hinunterbegleitet hat, kommt uns entgegen. Am Straßenrand passieren wir einander. Ein gespenstisches Gefühl, im irrlichternden Mondschein, beide bewaffnet, so dicht aneinander vorbeizugehen und uns verstohlen zuzugrinsen; fast, als sei der Krieg schon vorbei. Wir stapfen den gegenüberliegenden Hang bis zu dem Vorplatz hinauf. Shutzer hat draußen auf uns gewartet; die Deutschen sind alle in der Hütte. «Wie stehen die Aktien, Stan? Alles noch beim alten?» «Sie wollen unseren Offizier, unseren Herrn Müller, sprechen. Bestimmt weil ich Jude bin.» Miller reckt das Kinn in nahezu vorbildlicher Manier. «Leck mich am Arsch, Shutzer.» Wir müßen an uns halten, um nicht laut loszuwiehern. Das erste «Leck mich» seit Monaten. «Okay, du minderwertiger, beschnippelter Jude, bring mich zu unseren wahren Führern. Wieviel Mann hoch sind die eigentlich da drin?» - 225 -
«Sie sind zu sechst, dazu kommt der eine, der wieder auf Posten gegangen ist; also insgesamt zu siebt. Wozu schieben die eigentlich noch Wache, wenn sie tatsächlich aufgeben wollen? Vor wem schützen die sich noch, frage ich mich?» «Vielleicht vor anderen Deutschen. Wer weiß. Vielleicht haben sie auch ‘ne Type wie Love; ‹Übergruppenführer Liebe› oder sowas.» Ich blicke um mich und hole tief Luft. Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, mich besinnungslos in die Sache zu stürzen, und dem Wunsch, das ganze Vorhaben fallenzulassen, ringe ich mühsam um Beherrschung. «Sieben, das passt ja großartig. Na, dann ran ans Vergnügen. Mal sehen, wie wir es am dümmsten machen. Und was ist mit Schneewittchen?» «Das ist noch Verhandlungssache. Miller, du kommst als zweiter dran. Der gute Won’t weiß sowieso nicht, wozu Frauen gut sind.» Wir treten ein. Die Bude ist verqualmt und muffig, aber nicht so schlimm wie unser Quartier. Den Wänden entlang stehen Pritschen. Wenn man von den fehlenden Fenstern absieht, ist es ein Mannschaftsraum in einer Baracke. Am Fußende jeder Schlafstelle liegt ein ordentlicher Stapel Klamotten und Ausrüstung. Hunt wäre hoch erfreut gewesen über diesen Anblick; es sieht fast so aus, als erwarteten sie eine Art Stubenappell. Ich wüßte gern, ob es bei ihnen immer so ordentlich aussieht oder ob sie unseretwegen aufgeräumt haben. Diese Deutschen sind sogar im Kapitulieren gut. Das nenne ich wahres Soldatentum. Am anderen Ende des Raums brennt ein Feuer. Die meisten Deutschen stehen darum herum und unterhalten sich murmelnd. Bei unserem Eintritt drehen sie uns die Köpfe zu. Durch die Tür hinter uns fällt eisiges, blaues Mondlicht herein; ein greller Kontrast zu der gelb-orange glühenden Schwärze - 226 -
hier drinnen. Der Unteroffizier löst sich aus der Gruppe und kommt auf uns zu. Nachdem er und Miller ihr eigentümlich ruckartiges Kopfnicken ausgetauscht haben, eröffnet er das Gespräch mit Shutzer. Miller und ich machen Gesichter, als sei alles sonnenklar. Die anderen Deutschen sind nähergerückt. Sie nicken und tauschen halblaute Kommentare aus, während der Unteroffizier seinen Vers aufsagt. Ich frage mich, worum es eigentlich noch geht, ich hatte gedacht, es sei alles geregelt und ganz unkompliziert. Shutzer dreht sich zu Miller um und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. «Irgendwie müßen wir aneinander vorbeigeredet haben. Sie zerbrechen sich noch immer den Kopf darüber, daß sie uns nur einen Gefangenen übergeben sollen. Ich glaube, das hat ihnen einen Schreck eingejagt. Sie bestehen darauf, die ganze Angelegenheit jetzt gleich, noch heute abend, durchzuziehen. Ich lasse sie ein bisschen zappeln; es läuft alles wie geschmiert; keine Bange. Miller, tu du, als wärst du gar nicht begeistert, reib dir wieder ein bisschen das Kinn oder mach ein grimmiges Gesicht. Ich glaube, das erwarten sie.» Miller nimmt seine «militärische» Haltung an. Was würde wohl passieren, wenn ich in Gelächter ausbräche? Den Deutschen wäre zuzutrauen, daß sie mich vors Kriegsgericht zerren und an den Daumen aufknüpfen lassen würden. Aber Shutzer spielt seinen Part unbeirrt weiter. Er tut, als ränge er mit einem Entschluss, wie beim Bridgespielen, wenn man eine Karte ausspielt und eine fürchterliche Zwickmühle vortäuscht. «Sie sagen, wenn wir jetzt nur einen Gefangenen machen, müßen sie es melden, und dann könnte ihnen irgendwer hier auf die Bude rücken. Aber, soweit ich sehen kann, haben sie keinerlei Funkverbindung hier, insofern leuchtet mir das nicht ein.» Der Unteroffizier schaut fragend zu uns herüber, und Shutzer nimmt die Verhandlung mit ihm wieder auf. Miller macht ein paar Schritte vorwärts. Ich breche ein zermanschtes Päckchen - 227 -
Chesterfields an und reiche sie herum. Einer der Deutschen angelt von einem Regalbrett eine Flasche und ein paar Blechbecher herunter. Er schenkt für alle ein. Es ist daßelbe Höllengebräu, das sie uns gestern abend verehrt haben. Der Bursche giesst mir den Becher randvoll. Ich werde so blau sein, daß ich aus Versehen jemand treffe, wenn wir unser kleines Scharmützel veranstalten. Shutzer kommt mit Miller im Schlepp wieder zu mir zurück. «Diese Großoffensive macht ihnen allen zu schaffen; deshalb wollen sie den Spaß gleich jetzt hinter sich bringen. Was wollen wir mehr? Miller hat grünes Licht gegeben. Sie wollen eben noch ihre Sachen einsammeln, und dann kann’s losgehen. Einer von ihnen hat heute Verpflegung und Munition geholt und ganze Kolonnen von Waffenträgern und Panzern gesehen. Mir ist nicht klar, ob sie uns verarschen oder nicht; ich kann mir nicht vorstellen, daß hier eine große Angriffswelle durchrollen soll, oder ihr vielleicht?» «Ich weiß nicht, Stan. Ich halte allmählich alles für möglich. Die Deutschen haben doch auch Generäle und Obersten, daßelbe Gesocks von Führertypen wie wir. Meiner Meinung nach ist alles drin.» Ich gebe Stan einen Schluck von meinem Schnaps ab. Die Deutschen gehen hin und her und packen ihre Sachen; viel nehmen sie nicht mit. Ich sehe zufällig, wie der Unteroffizier seine Armbanduhr abstreift und hochspringt, um sie auf einem Balken zu verstecken. Ich glaube nicht, daß es außer mir noch jemand bemerkt hat. Wenn ich eines Tages einmal wieder hierherkommen sollte, um meine Zeichnungen auszubuddeln, wird er vielleicht gerade nach seiner Uhr suchen. Jeder möchte gern irgend etwas Persönliches retten. Die Deutschen stehen aufgereiht an der Tür. Sie treten ihre Kippen aus und kontrollieren ihre Gewehre. Jeder öffnet eine der kleinen ledernen Patronentaschen, die sie um den Bauch tragen wie wir unsere Patronengurte. Sämtliches Koppelzeug - 228 -
der Deutschen ist abgewetzt, unter der schwarzen Lederfarbe schimmert Braun durch, die Kanten sind rund und glattgescheuert. Die Fixigkeit, mit der sie sich abmarschbereit machen, lässt ahnen, mit was für abgebrühten Burschen man es in einem echten bewaffneten Kampf zu tun hätte. Mir wird himmelangst, wenn ich ihnen zusehe, wie sie sich bereit machen, wie sie ruhig und ohne Fisimatenten Patronen in die Gewehrkammern schieben. Der Unteroffizier schlingt sich die Schmeißer unter den Arm und nimmt seine Luger. Er zieht den Spannhahn zurück und überprüft das Magazin. Dann wirft er Shutzer und Miller einen Blick zu und nickt. Shutzer erläutert mir den Handlungsablauf im einzelnen. «Es soll sich folgendermaßen abspielen, Won’t. Sie wollen sich auf dem Vorplatz vor der Hütte aufstellen. Miller und ich bleiben bei ihnen hier unten. Du gehst wieder zu unseren Leuten rauf. Sobald der Deutsche Zeichen gibt, fangen wir alle an zu schießen. Pro Mann etwa zwei Magazine, das sollte genügen. Dann kommt ihr runter, wir treffen uns an der Straße und nehmen sie fest. Erst dann entwaffnen wir sie. Der Unteroffizier wollte seine Schmeißer hier verstecken, aber darauf haben wir uns nicht eingelassen. Was will er denn mit so ‘ner Kanone nach dem Krieg anfangen, verflixt? Mit sowas geht man ja wohl kaum auf Hasenjagd. Wie dem auch sei; er und ich werden die Arme hochheben, wenn die Schießerei aufhören soll, und das ist auch schon alles. Kommt mir ganz vernünftig vor.» «Klingt gut, Stan. Dann aste ich jetzt den Berg hoch und informiere Mundy und Gordon. Macht’s gut und immer schön auf Nummer sicher.» «Keine Bange; wird schon schiefgehen. Kann gut sein, daß dies der große Moment in meinem Krieg ist.» Ich gehe an all den Deutschen vorbei nach draußen. Sie stehen mit schussfertigen Waffen da, und ich komme mir fast vor wie - 229 -
der Bräutigam auf einer Soldatenhochzeit. Draußen ist es heller als in der Hütte, es muß die Phase unmittelbar vor Vollmond sein; die Landschaft ist in glänzendes, silbriges Licht getaucht; Wolken jagen über einen wild bewegten Himmel. Ich stolpere den Hang hinauf und an dem Wachposten vorbei, der gerade zur Hütte zurückgeht. Ich frage mich, wie sie sich mit ihm verständigt haben. Vielleicht ist ein Telefonapparat in seinem Schützenloch. Im Vorbeigehen linse ich hinein, aber ich sehe nichts. Es ist ein gutes Schützenloch, mit Gewehrauflage. Die dicken Wurzeln an den Seitenwänden scheinen mit dem Bajonett durchtrennt worden zu sein. Keuchend arbeite ich mich zu Gordon und Mundy hoch. Ich greife nach Mundys Handgelenk und sehe nach der Uhrzeit. Just in diesem Augenblick ist der Mond wolkenlos, und die Zeiger auf Fathers Uhr weisen beide senkrecht nach oben. Mitternacht. Der Schnee am gegenüberliegenden Hang funkelt von gebrochenem Mondlicht, winzige blaue, violette und rote Blitzstrahlen auf grell leuchtender Weiße vor dunklem Grund. Auf mein Geheiß postiert Mundy sich rechts von mir, oberhalb der Straße zum Schloss. Gordon geht links von mir zwanzig oder dreißig Meter weit hinunter. Ich bleibe in der Mitte, wo ich alles gut überblicken kann, auch die beiden. Wir warten ab; es ist totenstill. Als sie aus der Jagdhütte heraustreten, Shutzer und der Unteroffizier voran, fühle ich mich eigentümlich ruhig. Der Unteroffizier lässt seine Leute in regelmäßigen Abständen in einer Reihe antreten. Miller hält sich hinter dem Unteroffizier und Shutzer. Die drei stehen mit dem Rücken zu uns am Rand des Vorplatzes. Shutzer blickt zu uns herauf und vergewissert sich, ob wir alle auf unseren Posten sind. Ich winke mit dem Arm. Shutzer und der Deutsche heben die Arme über ihre Köpfe. Die deutschen Soldaten bringen die Gewehre in Anschlag und richten sie gegen den Himmel. Ich lege auch an und ziele hoch über die Hütte hinaus. Gordon und Mundy tun das gleiche. Sie schauen nicht auf mich; sie haben - 230 -
die Augen auf Shutzer gerichtet. Nun senken Shutzer und der Deutsche die Arme. Die Deutschen feuern alle gleichzeitig, fast wie Salutschüsse bei einem Soldatenbegräbnis. Zuerst die Militärhochzeit, und jetzt das Begräbnis. Ich schieße ein Magazin leer, eine Patrone nach der anderen, in möglichst ungleichen Intervallen. Mundy und Gordon auch. Die Deutschen laden nach. Eines habe ich immerhin entdeckt, das wir besser können als sie: ein Feuergefecht fingieren. Bei der nächsten Runde schießen die Deutschen unregelmäßiger und legen diesmal die Patronen einzeln in die Gewehrkammern, bevor sie wieder feuern. Allmählich hört es sich an wie eine echte Schießerei. Als ich gerade das zweite Magazin einlege, geht einer der Deutschen zu Boden! So reibungslos, wie bisher alles geklappt hat, schießt mir allen Ernstes der Gedanke durch den Kopf: Er tut nur so, er simuliert, wie Kinder beim Cowboy- oder Indianer- oder Räuber-und-Gendarmspielen. Aber dann sehe ich, daß es ernst ist; er macht kein Theater; er zuckt mit den Füßen, wälzt sich am Boden, und aus seinem Hals schießt Blut! Verzweifelt schreie ich Mundy und Gordon zu, das Feuer einzustellen. Shutzer hat beide Hände erhoben. Ein paar Sekunden lang schweigen alle Waffen. Dann fällt ein einzelner Schuss; ein zweiter Deutscher bricht zusammen, krümmt sich und kippt vornüber. Wie ein Wilder stürzt Mundy, der am weitesten vorn postiert war, von unserer Anhöhe hinunter auf die Straße. Er hält das Gewehr über den Kopf, läuft im Sturmschritt die Straße in Richtung Schloss entlang, fuchtelt mit den Armen, brüllt. «Wilkins! Mother! Hör auf, um Himmels willen, stell das Feuer ein!» Wieder fällt ein Schuss. Mundy sinkt auf die Straße. Diesmal war es eine Luger. Der Unteroffizier dreht sich um und schießt auf Shutzer, der das Gewehr noch über der Schulter hängen hat. Miller geht in die Knie und feuert; der Unteroffizier bäumt sich auf, dreht sich um die eigene Achse und fällt zu Boden. - 231 -
Danach herrscht einen Augenblick lang Stille. Dann richten die anderen Deutschen ihre Gewehre gegen den Hang und eröffnen das Feuer auf uns. Es bleibt uns keine Wahl. Ich gebe alle sieben Schüsse aus meinem Magazin ab, während auch Gordon neben mir drauflosschießt. Miller liegt flach auf der Erde. Shutzer richtet einmal den Oberkörper auf, dann streckt er sich und rollt auf die Seite. Bei unserer Position am Hang und unserer Ausrüstung mit halbautomatischen Gewehren haben die Deutschen keine Chance. Innerhalb von zehn Sekunden liegen sie alle am Boden; nur einer bewegt sich noch. Er hatte versucht, hügelaufwärts in Richtung Latrine zu rennen. Er hat sein Gewehr fallen gelassen, aber jetzt ist er getroffen worden und liegt brüllend am Hang. «Mel, sieh du nach Shutzer und Miller! Ich kümmere mich um Mundy! Passt auf, ob sich von den Deutschen welche totstellen!» Schreiend und heulend renne ich den Berg hinunter. Es ging alles so schnell. Ich stürze zweimal und schlittere haltlos hangabwärts, bevor ich bei Mundy ankomme. Dann lasse ich mich neben ihn auf die Straße fallen. Zuerst kann ich keinen Einschuss sehen. Er hat sich auf den Rücken gewälzt, umschlingt die angezogenen Knie fest mit den Armen und schaukelt hin und her. Er atmet, aber jeden Atemzug begleitet ein Rasseln. Aus seinen Mundwinkeln rinnt Blut. Er weint nicht und brüllt nicht, sagt nur immer wieder mit erstickter Stimme: «Jesus, Maria und Josef. Jesus, Maria und Josef.» Es gelingt mir, ihn auszustrecken und auf den Bauch zu rollen. Er hat einen Schuss in den Rücken bekommen, und ich muß irgendwie an die Wunde. Im hell erleuchteten Schnee erblicke ich eine tiefe matschige Kuhle, die schwarz ist von seinem Blut. Mundy stemmt sich hoch auf die Knie. Er hat ein großes blutendes Loch mitten auf dem Rücken. Mit meinem Bajonett schlitze ich seine Kampfjacke auf. Mundy stützt sich auf Knie und Ellenbogen und legt den Kopf - 232 -
auf die Unterarme. Er macht noch immer die Schaukelbewegung. «Halt mal still, Father. Ich verarzte dich.» Ich packe sein Verbandszeug aus, schneide die Stoffränder um den Einschuss weg. Im Nachtlicht ist sein Rücken schwarz und weiß. Dicht neben seiner Wirbelsäule ist ein Loch, etwa eineinhalb Zentimeter im Durchmesser. Wenn er atmet, wird Luft in das Loch gesaugt und wieder herausgeblasen und bildet Blutbläschen. Ich kann seine vom Schnee erstickte Stimme kaum hören. «Ist sonst noch jemand verwundet?» «Es ist alles gut, Paul. Mach dir keine Sorgen.» Ich werfe rasch einen Blick zu Shutzer und Miller hinunter. Miller ist aufgestanden und scheint unverletzt. Gordon und er sind um Shutzer bemüht. Shutzer sitzt. Mundy versucht wieder zu sprechen, seine Stimme kaum lauter als die Atemgeräusche und entsetzlich schleppend, noch langsamer als sonst. «Sind die Deutschen alle tot?» «Ich glaube ja. Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Wir verbinden dich und bringen dich hier weg. Sei unbesorgt; denk nicht zu viel nach. Ist dir warm genug?» «Ja, mir ist warm. Der Herr sei diesen armen Deutschen und uns allen gnädig. Was haben wir bloß gemacht, Menschenskind! Jetzt ist alles im Arsch.» Alles im Arsch? Aus Mundys Mund? Heiliger Strohsack! Ich habe mein Verbandspäckchen auf das Loch gepresst und wickle jetzt Mundys Binde als Druckverband darüber und binde die Enden überkreuz auf seiner Brust zusammen. Ich taste seinen Brustkorb ab, um festzustellen, ob die Kugel vorn wieder herausgekommen ist, finde aber nichts. Inzwischen sind meine Hände so klebrig und feucht, daß ich kaum noch etwas fühle. Ich habe den Inhalt beider Wundpuderpäckchen auf die Wunde gestreut. Ich bin sicher, daß er Rippenbrüche hat und die Lunge lädiert ist. Und vermutlich ist das noch nicht alles.
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Father dreht den Kopf herum und sieht mich an. «Mother darf es nie erfahren.» «Ist gut, Paul. Kein Mensch wird es je erfahren.» Und doch erzähle ich es jetzt aller Welt. Aber lange Zeit habe ich es tatsächlich für mich behalten. Ich blicke kurz auf und suche mit den Augen nach Wilkins. Vielleicht hat es ihn auch erwischt. Vielleicht hat einer von den Deutschen spitzgekriegt, wo die Schüsse herkamen, und hat Mother eins verpasst. Aber dann sehe ich ihn auf der Straße näher kommen, vorsichtig hinter den Bäumen Deckung suchend. Ich habe den Eindruck, er würde auf alles schießen, was sich bewegt, egal was oder wer es ist. Wilkins ist noch immer völlig ahnungslos. «Keine Bange, Paul, wir werden es Mother nicht sagen. Er wird es nie erfahren.» Ich nehme Mundys und meinen Gürtel ab, schnalle beide zusammen und binde sie ihm zur Fixierung der Verbände um den Oberkörper. Die Blutung scheint zum Stillstand zu kommen. Mundy muß husten. Bei jedem Hustenstoß quillt Blut in breiigen Klumpen aus dem Mund. Noch immer kniend, den Rumpf in die Höhe gereckt, rutscht er mit Kopf und Armen vorwärts, bis die eine Gesichtshälfte im Schnee liegt. Er müht sich ab, mir durch das Blut etwas zu sagen. Ich nehme den Helm ab und beuge mich so dicht zu ihm hinunter, daß ich mit dem Ohr an seinen Mund komme. «Die Fasten-Freitage haben anscheinend nicht viel genützt.» «Die hast du gar nicht nötig, Father.» Ich bin nicht sicher, ob er mich hört. Seine Augen sind noch offen und fast durchsichtig, als schiene das Mondlicht durch sie hindurch. Ich tauche den rechten Daumen in das Gemisch aus Schnee, Schleim und Blut neben seinem Mund. Dann mache ich das Kreuzzeichen über Fathers Stirn, schließe seine Lider und schlage Kreuze über
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Augen, Lippen und Handflächen. Ich bin unfähig, irgend etwas zu sagen, dessen ich mich nicht schämen müßte. Ohne die Augen zu öffnen, nur die Lippen im Schnee bewegend, versucht Mundy angestrengt, noch etwas zu sagen. Ich beuge mich noch tiefer; ich kann ihn kaum verstehen. «Vergiss nicht, Mother darf es nie erfahren.» Er hört auf zu atmen; ein blubbernder Laut und ein letzter seufzender Atemzug. Er taumelt vornüber, rudert und zuckt mit Armen und Beinen; dann bleibt er reglos liegen. Ich blicke auf, Wilkins steht über uns. Er weint. «Ist er tot? Ist Paul tot?» «Ich glaube ja, Vance.» «Er ist losgerannt, um mich zu warnen. Unmittelbar bevor er getroffen wurde, habe ich ihn meinen Namen rufen hören. Ich versteh das nicht. Ich habe eure Schießerei gehört und war doch in so einer idealen Position. Ich hätte die Deutschen mühelos alle umlegen können; sie hatten ja keine Ahnung, wo ich war. Ich kapier nicht, warum er mich warnen wollte.» Mother weint hemmungslos, wird vom Schluchzen geschüttelt; er lässt sich neben Mundy auf der Straße auf die Knie fallen. «Du weißt doch, wie Paul ist, Vance. Er macht so verrückte, kopflose Sachen. Er hat andauernd irgendwelchen Unsinn gemacht.» «Mir ist fürchterlich zumute. Irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre ich schuld.» «Du hättest absolut nichts machen können, Mother.» Ich lege die Schnittstellen von Mundys Jacke notdürftig übereinander. Er blutet nicht mehr. Als er vornüber aufs Gesicht fiel, kamen seine Arme unter ihn zu liegen und sind vor seiner Brust gekreuzt. Ich drehe ihn auf den Rücken und halte das Gesicht dicht an seinen Mund, um ganz sicher zu gehen, aber er hat aufgehört zu atmen. Er lebt nicht mehr. Wilkins und ich schleppen ihn an Schultern und Füßen von der Straßenmitte weg. Mir wird bewusst, daß ich mich um Shutzer kümmern muß. Gordon und Miller bemühen sich noch immer - 235 -
um ihn. Von den Deutschen vor der Hütte rührt sich keiner, nur der eine, oben am gegenüberliegenden Hang, stöhnt laut. «Vance, sieh mal zu, ob du dem Deutschen da drüben helfen kannst. Ich gehe solange nachsehen, wie es Shutzer geht. Pass aber auf, ob der Bursche nicht vielleicht ein Messer oder ‘ne Pistole oder sonst was bei sich hat. Sei vorsichtig.» Ich haste drüben den Hang bis zu dem freien Platz vor der Hütte hinauf. O Gott, es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld; es ist auch eines. Mindestens sieben Menschen in weniger als zehn Sekunden getötet. Wir haben es nicht gewollt, keiner von uns, aber da liegen sie. Die Tränen laufen mir übers Gesicht, und das Atmen fällt mir schwer, aber ich zittere nicht. Ich verrichte mechanisch alles Notwendige. Bloß nicht nachdenken. Mir ist lediglich klar, daß wir so schnell wie möglich hier verschwinden müßen. Wenn die Deutschen meinten, daß ihre eigenen Leute unseren Schusswechsel hören würden, können sie nicht weit weg sein. Sie könnten jeden Augenblick wie Furien hier angetobt kommen. Shutzers Gesicht ist grünlich verfärbt; Gordon hat sein Kochgeschirr ausgepackt und flößt ihm Tabletten ein. Er hat den Ärmel von Shutzers Jacke aufgeschnitten; alles ist blutverschmiert; Blut sickert in den Schnee. Es ist fast schwarz wie bei Mundy, seltsamerweise sieht es nicht wie wirkliches Blut aus; eher wie Motorenöl. Zum Teil sicher weil es so viel und so dickflüssig ist. Sie haben Shutzers Schulter mit zwei Bandagen umwickelt und seinen Arm, der verdreht in seinem Schoß liegt, ruhiggestellt. Die Vorderseite seiner Jacke ist mit gelbem Wundpuder bestreut. «Wie geht’s dir, Stan?» «Mein Gott, Won’t, was für ein elender Murks. Schiet, es schien doch alles so gut zu klappen. Ich hätte nie gedacht, daß Wilkins so plötzlich hier aufkreuzen würde.» «Wie sieht’s aus, Mel?» - 236 -
Ich gucke mir Shutzers Schulter genau an. Sie ist zerschmettert, und der Arm ist irgendwie verrenkt, ausgekugelt. Gordon hat die Blutung mit einer Notaderpresse zum Stehen gebracht. «Ich würde sagen, unser guter Shutzer hat den Heimatschuss abgekriegt. Deine Tage als jüdischer Rächer sind vorüber, Stan.» «Ausgerechnet ich, der einzige, der bereit ist, gegen diese Nazistrolche zu kämpfen, krieg den Heimatschuss! Ist das nicht mal wieder typisch?» Shutzer schluckt mühsam, windet sich vor Schmerzen. Mir scheint es, als sei er kurz vor dem Wundschock. «Was ist mit Mundy?» «Tot, Stan. Er ist schnell gestorben. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.» Ich kann mich nicht beherrschen, ich muß wieder flennen. «Dieser Scheißkraut!» «Menschenskind, Stan. Was hätte er denn sonst machen sollen, zum Kuckuck? Er dachte, wir hätten ihn gelinkt.» «Scheißspiel, jetzt ist alles im Arsch.» «Genau daßelbe hat Mundy auch gesagt. Er wollte, daß Wilkins nie was davon erfährt.» «Das arme Schwein.» «Wir geben offiziell an, wir hätten in der Falle gesessen und Mother hätte uns alle rausgehauen. Einverstanden?» Shutzer und Gordon gucken einander an, nicken. Ich helfe Mel, Stan behutsam auf dem Boden zu lagern. Wir müßen schleunigst weg von hier, ich verliere langsam den Boden unter den Füßen. Während ich zu der Stelle hinaufgehe, wo Wilkins mit dem Deutschen ist, überlege ich, daß wir direkt auf der Straße zum Schloss zurückgehen sollten. Irgendwie müßen wir das Kunststück vollbringen, zu viert einen Toten und zwei Verwundete zu transportieren. Wir können den Deutschen nicht dalassen, und Mundy lassen wir auf keinen Fall hier. Ich - 237 -
gehe an dem deutschen Unteroffizier vorbei. Er liegt auf dem Rücken. Arme und Beine von sich gestreckt, wie ein Schauspieler im Film. Der Helm ist ihm vom Kopf geflogen; er hat wahrhaftig eine Glatze. Über seinem rechten Auge ist ein kleines Loch, umrandet von einer bläulichen Delle; ich sehe kaum Blut; Miller hat meisterlich getroffen. Der Schnee um den Deutschen herum ist nicht aufgewühlt, vermutlich merkte er nicht einmal mehr, was mit ihm geschah. Ich möchte nicht wissen, was seine letzten Gedanken waren. Wenn er nicht erschossen worden wäre, würde sein Zorn allein ausreichen, um den Dritten Weltkrieg auszulösen. Der Deutsche liegt senkrecht zum Hang, auf einen Ellenbogen gestützt, neben Wilkins. Er hat die Augen offen und beobachtet mich, den Blick auf den Abzugshahn meines Karabiners geheftet. Erst jetzt wird mir bewusst, daß ich die ganze Zeit mit dem Finger im Abzugsbügel herumgelaufen bin. Ich sehe nach, der Abzug ist gesichert, aber ich kann mich nicht erinnern, die Sperre betätigt zu haben. Ich werde bestimmt noch irgendwelchen Mist bauen, aber was kann einem nach so einer Pleite noch groß passieren? Der Deutsche ist fast von Sinnen vor Angst. Es ist der Mann, den ich beim ersten Spähtrupp Holz sägen sah, der wie Max aussieht. «Ist er schwer verwundet, Mother?» «Der Oberschenkel ist direkt über dem Knie zerschossen, und die Kugel hat beim Austritt hinten einen Fetzen Fleisch herausgerissen. Ich habe die Ader abgebunden; er blutet nicht mehr stark. Aber er weigert sich, die Tabletten zu nehmen. Er hat mir sogar den Wundpuder aus der Hand geschlagen.» «Ich kann’s ihm nicht verdenken.» «Wont, könnte Shutzer nicht versuchen, ihm gut zuzureden, damit sich seine Angst ein bisschen legt?» «Wir können nicht viel machen, Vance. Stan ist selber in ziemlich übler Verfassung.» «Wir müßen ihn schnell hier wegschaffen, sonst erfriert er.» - 238 -
«Bleib du noch einen Augenblick hier, Mother; ich sehe mal in der Hütte nach, ob ich Mäntel oder was ähnliches finde, damit wir ihn und Shutzer warm einpacken können.» Meine Kraft lässt spürbar nach. Wir sitzen in der Klemme, und mir geht der Dampf aus. Ich sprinte auf die Hütte zu, um meinen Kreislauf ein bisschen anzukurbeln. Das Feuer im Innenraum ist heruntergebrannt. Ich stelle die offene Tür fest; in dem hereinfallenden Mondlicht sehe ich über den Fußenden der Pritschen Mäntel hängen. Es sind die schweren, langen Wehrmachtsmäntel mit Stehkragen. Sie sehen noch unförmiger aus als die unsrigen. Vermutlich erscheint einem das Wetter hier frühlingshaft, wenn man von der russischen Front kommt. In diesem Augenblick habe ich zum ersten Mal in dieser Nacht einen guten Einfall. Ich raffe sechs Mäntel an mich und stolpere damit in den Schnee hinaus. Dann rufe ich Gordon und Miller herbei und erkläre ihnen meinen Plan. In meinen Augen gibt es nur eine einzige Möglichkeit, wie wir alle auf einmal hier wegkommen können. Dann gehe ich zu Wilkins zurück und gebe ihm zwei von den Mänteln. Wir werden ein gespenstisches Schauspiel abgeben, aber es könnte klappen. Der Rückweg ist eine Qual. Wir haben Mundy, Shutzer und den Deutschen auf Wehrmachtsmäntel gelegt und dann jeden mit einem zweiten Mantel zugedeckt. Mit den Ärmeln als Zugseilen schleifen wir die Mäntel wie Schlitten hinter uns her. Solange wir in Bewegung bleiben, geht es einigermaßen, aber sobald wir anhalten müßen, backt der Stoff am Schnee fest. Außerdem staut sich der Schnee vorn, und untendran bilden sich dicke Stollen. Da wir zu viert sind, wechseln wir uns immer zu dritt mit dem Ziehen ab, und derjenige, der gerade nicht zieht, passt auf, daß keiner herunterfällt, und räumt den Schnee vor den Mänteln weg. Wir sind noch nie den direkten Weg über diese Straße gegangen; nach meiner Schätzung sind wir noch einen knappen Kilometer vom Schloss entfernt. - 239 -
Unterwegs berichtet Wilkins, warum er hinter uns herkam. Ich hätte es mir denken können. Ware und Love sind bereits im Schloss aufgetaucht und warten ungeduldig auf ihren Gefangenen. Na ja, den hätten wir immerhin, vorausgesetzt, er bleibt am Leben. Mit dem ‹Gott-mit-uns› auf seinem Koppel, das Mother zum Abbinden seiner Oberschenkelarterie verwendet hat, wär’s heute nacht nichts. Es war einer von Mundys Lieblingsspäßen, den Spruch zu kontern ‹We got mittens, too›. Reichlich gotteslästerlich für einen BeinahePriester. Shutzer ist noch bei Bewusstsein und scheint bestialische Schmerzen zu haben. Der Deutsche stöhnt noch eine Zeitlang, dann wird er still. Jedesmal, wenn wir stehenbleiben, um uns bei der Schlepperei abzuwechseln, lockert Gordon die Aderpressen bei beiden. Ich betrachte Mundy. Mit den über der Brust gekreuzten Armen sieht er zwar wie eine Leiche aus, aber er lächelt. Ein Gesichtsmuskelkrampf muß seine Mundwinkel nach oben gezogen haben. Wir sind fast am Ende unserer Kräfte und müßen immer häufiger anhalten und uns abwechseln, als uns unvermittelt eine Stimme aus der Dunkelheit anruft. «Halt! wer da?» Ich liege bereits flach auf der Erde, als mir aufgeht, wer es ist. Es war englisch; es ist Love. «Wir sind es, Sir. Die zweite Gruppe. Hier ist Sergeant Knott.» «Rhythmus?» «Wir kennen das Losungswort nicht, Sir.» Nach kurzem Schweigen höre ich zuerst Wares Stimme, dann wieder Love. Ich klappe gleich zusammen. Vielleicht sollte ich einfach losheulen, brüllen, kreischen, mir das ganze Elend von der Seele schreien. Vielleicht würden sie dann merken, daß ich nicht mehr kann. «Treten Sie langsam vor, damit man Sie erkennen kann. Lassen Sie die Hände über dem Kopf.» Mit erhobenen Händen rapple ich mich aus dem Schnee hoch. Meine Hände sind wundgescheuert von der Zieherei an den - 240 -
Mantelärmeln und starr von Kälte. Ich gehe ein Stück weit die Straße entlang. Dann sehe ich die beiden, vom Mondlicht beschienen, in einen Graben geduckt. «Ist gut, Knott, Sie können die Hände wieder runternehmen. Wie kommt es, daß Sie das Kennwort nicht wissen?» Ware nimmt mir die Antwort ab. Ich glaube kaum, daß ich ein Wort hervorbrächte, ohne loszuheulen wie ein Schlosshund. Ich bin in übler Verfassung. «Die Männer sind seit fünf Tagen auf Außenposten, Sir. Wir hielten es nicht für sinnvoll, das Kennwort über Funk durchzugeben.» «Jetzt, wo dieser ganze Frontabschnitt von fließend englisch sprechenden deutschen Kampfgruppen in amerikanischen Uniformen unterwandert ist, können wir nicht vorsichtig genug sein, Lieutenant.» «Jawoll, Sir.» «Wo ist der Rest Ihrer Gruppe, Sergeant?» «Da hinten auf der Straße, Sir.» «Ist es Ihnen gelungen, einen Gefangenen zu machen?» «Jawoll, Sir; aber er ist schwer verwundet.» Ware kommt aus dem Versteck hervor. Er hält seinen Karabiner in der Linken. «Wir haben etwa fünfzehn Minuten, nachdem wir Ihnen Wilkins hinterhergeschickt hatten, Gefechtslärrn gehört. Hatten Sie Feindberührung?» «Ja, Sir. Mundy ist tot und Shutzer schwer verwundet. Könnten wir die Männer jetzt bitte ins Schloss schaffen, Sir? Shutzer und der Gefangene befinden sich beide im Schockzustand.» «Himmelherrgott, Sergeant. Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt, verdammich?» Love klappt sein Halfter auf und nimmt die Pistole heraus. «Der Feind könnte Ihnen auf den Fersen sein. Wir müßen unbedingt hier weg, Lieutenant. Lassen Sie uns abrücken, und zwar im Eilmarsch.» «Sir, bis auf unseren Gefangenen sind die Deutschen hier in der Gegend alle tot. Wir waren in aussichtsloser Lage in ein - 241 -
Feuergefecht verwickelt, und der Gefreite Wilkins hat uns befreit. Ich würde ihn gern für eine Auszeichnung vorschlagen, Sir. Er hat die Gruppe gerettet.» «Wilkins? Ware, ist das nicht der Mann, den wir im Schloss angetroffen haben?» «Jawoll, Sir.» «Er hat auf mich keinen besonders soldatischen Eindruck gemacht.» «Sir, er stand mutterseelenallein in gut einsehbarer Position und hat mit acht Schüssen sechs von unseren Feinden erschossen.» Warum das alles jetzt durchkauen? Wir müßen Shutzer und den Gefangenen ins Haus bringen und uns Love und Ware irgendwie vom Halse schaffen. «Mein Gott!» «Jawoll, Sir.» «Auf die Auszeichnung kommen wir später noch zurück; wenn die ganze Sache aufgeklärt ist und wir genau wissen, was vorgefallen ist.» «Jawoll, Sir. Wäre es möglich, daß wir die Verwundeten jetzt ins Schloss bringen, Sir? Sie hatten beide starken Blutverlust.» «Haben Sie den Männern ihre Wundtabletten gegeben, Sergeant?» «Dem Gefangenen nicht, Sir. Er wollte sie nicht nehmen.» «Na gut. Schaffen wir die Männer ins Haus, und zwar dalli.» Love legt los und trabt mit schleppenden Füßen auf der mondbeschienenen, verschneiten Straße in Richtung Schloss. Von seinem ledernen Pistolenfutteral baumelt ein Riemen herunter, der ihm gegen das Bein schlägt. Er hält die Pistole beim Rennen mit ausgestreckter Hand vor sich her. Den Karabiner hat er über der Schulter hängen. Ware bleibt zurück. «Wie hat es Mundy erwischt?» «Es ging schnell, Sir. Mitten durch den Brustkorb.» «Und was ist mit Shutzer?»
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«Schulterwunde, Lieutenant; wahrscheinlich ein komplizierter Knochenbruch. Gordon hat ihn verarztet. Wir haben eine Notaderpresse gemacht und den Arm ruhiggestellt, Sir.» Ich fürchte, daß ich gleich wieder zu flennen anfange. Es ist alles so irrsinnig. Ich gehe zu den anderen zurück, die sich um die Verwundeten bemühen. Miller deckt den Deutschen zu; er ist bewusstlos, womöglich schon tot. Gordon und Wilkins kümmern sich um Shutzer. Seine Augen sind halb geöffnet, aber als ich ihn anspreche, gibt er keine Antwort. Sein Atem geht schwer, fast schnarchend. Ich blicke Mel fragend an; er schüttelt den Kopf. Ob mein Gesicht so weiß wie seines ist? Im Mondlicht, vor dem Schnee, sehen wir wie bleiche grünliche Gespenster aus, fast durchsichtig. Wir setzen uns wieder in Bewegung, Ware macht den Nachtrab. Er geht wortlos neben Mundy her. Mundy lächelt sein einfältiges Lächeln. Den Anstieg zum Schloss schaffen wir nur mit größter Anstrengung. Das Feuer im Haus ist fast heruntergebrannt, aber zwei von unseren Benzinfunzeln brennen noch. Wie lange mögen wir fortgewesen sein? Kaum mehr als zwei oder drei Stunden. Nicht zu glauben, wie rasch sich im Leben alles ändern kann. Als erstes tragen wir Shutzer und den Deutschen vorsichtig hinein. Selbst Ware fasst mit an. Love steht mit dem Rücken zum Feuer, wippt auf den Zehenspitzen, hält die Hände hinter sich und sieht sich missbilligend um. Unser Quartier sieht aus wie ein Saustall. Offensichtlich blieb Wilkins nicht mehr viel Zeit, bevor Ware und Love aufkreuzten. Während Gordon, Miller und ich Mundy hereinbugsieren, bereitet Ware das Funkgerät vor. Mundy wird bereits steif. Vielleicht kommt es nur von der Kälte. Miller macht noch ein paar Bilderrahmen zu Kleinholz, drückt sich an Love vorbei und wirft sie ins Feuer. Love dreht sich um und schaut ihm zu. Dann wendet er sich an mich. Mit dem Karabiner in einer Hand - 243 -
marschiert er auf und ab. Die Pistole hat er zwar eingesteckt, das Halfter jedoch nicht wieder zugeschnallt. «Sergeant Knott, schicken Sie ein paar Männer auf Posten. Man kann nie wissen, ob der Gegner die Schüsse gehört hat und womöglich einen Stoßtrupp losschickt.» «Jawoll, Sir.» Jetzt muß ich mit der Sprache herausrücken. Ich überlege krampfhaft, wie ich es ihm beibringen soll; nicht so, wie es wirklich war, aber so, daß es sich glaubhaft anhört. «Sir, bevor der Gefangene ohnmächtig wurde, hat er Shutzer erzählt, daß an diesem Frontabschnitt ein Großangriff bevorsteht, vielleicht schon morgen.» «Herrgottsakrament, Mann. Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt, Donnerwetter? Ich dachte, das hier wäre ein Aufklärungszug.» Na, immerhin hat er da mal was Richtiges gesagt. Wir sind in der Tat jetzt der Aufklärungszwang, Wilkins, Miller, Gordon und ich. «Jawoll, Sir.» «Lieutenant Ware, verbinden Sie mich mit dem Regiment.» Mit einer zackigen Bewegung dreht Love das Handgelenk herum und guckt auf seine Uhr. «Wir könnten gerade noch durchkommen. Um Punkt zwo Uhr wird jeglicher Funkverkehr eingestellt.» Ware hat das Funkgerät eingeschaltet. Während die beiden über dem Apparat hängen, gehe ich zu Mundy, knie mich neben ihn und streife die Benrus-Armbanduhr mit dem elastischen Armband vorsichtig über seine große Hand und schiebe sie mir übers Handgelenk. Mundy würde nichts dagegen haben. Ich glaube kaum, daß seine Eltern sie wiederhaben wollen, und wer weiß, ob sie je bei ihnen ankäme. Ware erreicht Leary; Love übernimmt. «Hier spricht Major Love, Corporal. Nehmen Sie folgende Nachricht auf und übermitteln Sie sie umgehend dem Regimentskommandeur. Kommen.» «Verstanden, Sir. Kommen.»
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«Hatten Feindberührung. Haben Gefangenen gemacht. Gefangener schwer verwundet. Hatten Verluste, ein Mann tot, einer verwundet. Haben gegnerischen Vorposten vernichtet. Gefangener gibt an, daß Feindangriff an diesem Frontabschnitt bevorsteht, möglicherweise morgen. Wiederhole: MORGEN! Werden unverzüglich mit dem Gefangenen und dem Verwundeten von hier losfahren. Setzen uns beim Regiment umgehend mit Ihnen in Verbindung. Gezeichnet Major Love. Wiederholen Sie die Nachricht, Corporal. Kommen.» Leary liest den Text ab. «Richtig. Bringen Sie das schleunigst dem Colonel, und zwar sofort. Wecken Sie ihn notfalls auf. Es ist dringend. Kommen, Ende.» «Verstanden. Ende.» Ware knipst den Schalter aus. Es ist alles so jämmerlich. Shutzer stöhnt, und Mel vermummt ihn fest in eine Satinbettdecke. Wir ziehen die Schlafsäcke von den anderen Betten, um Stan und den Deutschen damit zuzudecken. Sie zittern beide am ganzen Leib. Es ist zwar sinnlos, trotzdem decke ich Mundy auch zu. Love tigert jetzt rastlos auf und ab. Er unterlässt es geflissentlich, Shutzer oder den Deutschen, vor allem aber Mundy anzusehen. «Wir müßen hier weg, und zwar schleunigst, Lieutenant. Wir nehmen den Gefangenen und den verwundeten Mann mit.» Dann wendet er sich an mich. «Sergeant, lassen Sie die Schneeketten von einem Ihrer Jeeps auf meinen Wagen ummontieren. Wir haben eine lange Fahrt vor uns, und die Straßen hier draußen sind in katastrophalem Zustand. Wir hatten Schwierigkeiten, überhaupt bis zu Ihnen durchzukommen.» «Jawoll, Sir.»
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Ich sehe mich nach Miller um, aber der ist schon unterwegs nach draußen. Mir ist es sehr lieb, daß er den Raum verlässt, denn ich spüre, daß ihm Dinge auf der Zunge liegen, die uns alle um Kopf und Kragen bringen könnten. Ich weiß genau, daß ich auch loslegen würde, wenn er anfinge. Am Ende würden wir Love und Ware noch umbringen, paff, paff! Wir könnten es leicht vertuschen; wer sollte je dahinterkommen? Aber mir ist auch klar, daß ich es nicht tun würde. Im Grunde seines Herzens hegt ein Bauer wie ich zwar Groll, aber es fehlt ihm an Mut oder Entschlossenheit, sich zur Wehr zu setzen. Ich habe gelernt, damit zu leben. «Sergeant Knott.» «Ja, Sir.» «Ich bin schockiert über den Zustand Ihres Quartiers. Das hier ist Privatbesitz, für den die Regierung der Vereinigten Staaten verantwortlich ist.» Zu meiner Verblüffung meldet sich Ware zu Wort, sogar mit einer glatten Lüge. «Es war bereits in schlechtem Zustand, als die Männer herkamen, Major.» «Nichtsdestoweniger, Lieutenant, es gibt genügend Anhaltspunkte dafür, daß hier Pflichtversäumnissse vorliegen, eine Haltung, die der amerikanischen kämpfenden Truppe nicht gut ansteht. Ich frage mich, ob diesen Leuten eigentlich klar ist, daß wir im Krieg sind. Zumal gerade jetzt Amerikas ganze Militärpräsenz in Europa in Frage gestellt ist. Wenn hier nicht außerordentliche mildernde Umstände vorlägen, würde ich dafür sorgen, daß dieser Mann als der verantwortliche Unteroffizier disziplinarisch zur Verantwortung gezogen würde. Und wo sind eigentlich Ihre Rangabzeichen, Sergeant? Sie hatten genügend Zeit, sie anzunähen. Sie sollten stolz darauf sein, Sergeant der US Army zu sein.» «Jawoll, Sir. Ich werde es sofort nachholen.» Lieber Gott, ich hoffe, daß Miller rechtzeitig den ganzen Firlefanz von Gordons - 246 -
Jacke herunterreißt. Wenn Love den je zu Gesicht bekommt, können wir uns darauf gefasst machen, vor Kriegsgericht gestellt zu werden. «Gehen Sie jetzt erst mal raus, Sergeant, und machen Sie dem Mann mit den Schneeketten Beine.» Wieder die zackige Drehung mit dem Handgelenk und ein erneuter Blick auf die Uhr. «Wir haben nicht viel Zeit. Lieutenant Ware, lassen Sie den Verwundeten und den Gefangenen auf die Rücksitze in meinen Jeep schaffen.» Gordon und ich kreuzen unsere Hände zum Tragegriff. Mother richtet Stan so weit auf, daß wir ihn hochheben und zu Loves Jeep hinaustragen können. Glücklicherweise ist er bewusstlos, denn wir tun ihm bestimmt weh. Jedesmal, wenn wir umgreifen oder uns zu schnell bewegen, stöhnt er. Als wir ihn im Jeep sitzen haben, lockert Gordon noch einmal die Aderpresse. Die Wunde blutet noch. «Was meinst du, Mel? Wird er durchkommen?» «Wollen es hoffen. Shutzer hat eine Bärennatur. Wenn sie vorsichtig fahren und wenn er rasch ins Warme kommt und ärztliche Hilfe kriegt, dann schafft er es.» «Vielleicht sollten wir ihn lieber hier bei uns behalten. Was können die denn im Moment für ihn tun, was wir nicht machen können?» «Er braucht vor allem Morphium. Er muß zurück. Es hängt allerdings auch viel davon ab, daß er unterwegs nicht zu viele Stöße abkriegt.» Wir gehen wieder hinein und holen den Deutschen. Er leistet keinen Widerstand mehr. Als wir ihn aufnehmen, kommt er kurz zu Bewusstsein, aber die Schmerzen müßen so stark sein, daß er wieder ohnmächtig wird. Wir verfrachten ihn neben Shutzer in den Jeep, und Mel lockert auch seine Aderpresse. Er blutet kaum. Ich gehe noch einmal zurück, um eine Bettdecke - 247 -
zu holen und witsche schnell wieder hinaus, bevor Love mit einem seiner glorreichen Einfalle kommen kann. Miller liegt derweil rücklings im Schnee und müht sich mit den Schneeketten ab. Er hat die Streifen schon von der Jacke entfernt. Ich frage mich, wann er das gemacht hat. Miller tut immer das Richtige, lange bevor ich überhaupt auf die Idee komme. Wir reißen den Satinstoff in Streifen und binden Shutzer und den Deutschen so aneinander, daß sie sich gegenseitig stützen. Dann binden wir beide an den Handgriffen neben den Sitzen und an den Halterungen des Benzinkanisters fest. Wir ziehen die Stoffstreifen ziemlich straff an, damit die beiden nicht hinausfallen können, aber wiederum nicht so straff, daß wir ihnen die Adern abklemmen. In derlei Dingen ist Gordon geradezu genial. Bestimmt ist er heute ein erstklassiger Knochenklempner. Die übriggebliebenen Stoffetzen wickle ich Shutzer und dem Deutschen um die halb erfrorenen Hände. Gordon schleppt Stans Schlafsack herbei, und wir mummen die beiden darin ein, so gut es geht. Love und Ware stehen redend neben dem Jeep. Love raucht eine Zigarette in einer kurzen Meerschaumspitze. Gordon rückt ab zum Brückenposten. Wilkins hat bereits oben am Berg Posten bezogen. Vermutlich denkt Love, ich hätte sie losgeschickt; er wird nie erfahren, wie diese Gruppe funktioniert; eigenständig, vollautomatisch. Love stampft mit den Füßen und schabt sich mit einem Stöckchen, das er irgendwo aufgelesen hat, den Schnee von den Stiefeln. Diese Stiefel, Kampfstiefel, sind zentimeterdick eingecremt. Miller kriecht unter dem Jeep hervor. Love steigt auf den Beifahrersitz. Ware geht ums Heck herum und bleibt kurz neben mir stehen. Er wirft einen Blick auf Shutzer. «Sir, ich denke, daß sie nicht rausfallen werden, wenn Sie vorsichtig fahren, aber die Fahrt wird eine Tortur für die beiden. Es wäre viel gewonnen, wenn Sie ab und zu anhalten und bei beiden die Aderpressen lockern könnten.» - 248 -
«Wir werden tun, was wir können, Knott.» «Sir, denken Sie an die Sache mit Wilkins?» «Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht.» «Danke, Sir.» «Seien Sie unbesorgt. Sie machen Ihre Sache gut, Knott.» «Das glaube ich nicht, Sir.» Ware sieht mich an. Ich überlege, ob das bereits als Befehlsverweigerung gilt. Es ist mir ziemlich egal. «Major Love wünscht, daß Sie mit der Gruppe hierbleiben, bis die Krauts ihren Angriff starten. Versuchen Sie, uns per Funk auf dem laufenden zu halten, selbe Frequenz wie immer, und dann packen Sie Ihre Klamotten und machen sich aus dem Staub.» «Was soll mit Mundy werden, Sir?» «Den nehmen Sie mit, wenn es geht.» «Jawoll, Sir.» «Der Stab wird um Punkt acht Uhr abrücken. Ich lasse einen Jeep mit einem Funker da, der Ihre Meldung entgegennimmt und sie dann weiterdirigiert.» «Jawoll, Sir.» Major Love dreht sich auf dem Beifahrersitz nach uns um. «Was ist da hinten los, Lieutenant? Wir können nicht die ganze Nacht hier vertrödeln. Los jetzt.» «Jawoll, Sir; bin sofort da, Sir.» Ware geht um den Jeep herum nach vorn, steigt ein und lässt den Motor an. Sie rollen von der Terrasse vor dem Schloss herunter, dann den Hang hinunter und über die Brücke. Selbst auf dieser Strecke, die nicht besonders holprig ist, werden Shutzer und der Deutsche unaufhörlich vor und zurück geworfen. Auf gespenstische Weise gleichen sie einem Liebespaar auf einer Spazierfahrt durch den Schnee, aneinandergeklammert und im selben Takt schunkelnd wie gleichgeschaltete Marionetten. Die Vogelscheuche steht noch an der Brücke und wirft im Mondlicht einen langen Schatten. Ich wüßte zu gern, was Love sich bei dem Anblick gedacht hat. - 249 -
Wahrscheinlich hat er ein paar Schüsse darauf abgegeben. Aber ich darf ja gar nichts sagen! Der Mond ist inzwischen bis ans Ende seiner Bahn über den Himmel gewandert, und er bewölkt sich langsam. Meine Hände und Füße sind zu Eis erstarrt, aber mir graut davor, hineinzugehen. Ich fühle mich leer, ausgehöhlt, verdreckt, schäbig und klein. Miller steht hinter mir. «Bud, gehst du bitte runter und holst Mel wieder hoch? Ich rufe Mother rein. Ich denke nicht daran, einen Posten besetzt zu halten, es sei denn, einer von euch will es unbedingt. Das ist doch alles kompletter Unsinn. Wenn die Deutschen hier durchkommen, werden wir sie schon hören. Morgen früh, wenn man wieder etwas sieht, können wir uns meinetwegen am oberen Posten ablösen; das genügt.» Wilkins und Miller schleppen wieder Brennholz vom Dachboden herunter. Ich kann mich nicht entschließen, ob ich Mundys Gesicht zudecken soll oder nicht. Schließlich entscheide ich mich dagegen. Ich bin am Rande des Zusammenbruchs, meine Willenskraft ist gleich Null. Ich will bloß noch in meinen Schlafsack kriechen, den Reißverschluss bis oben zuziehen, mir irgend etwas über den Kopf legen und nur noch den eigenen Mief einatmen. Gleichzeitig würde ich am liebsten auf und davon rennen. Es zuckt mir in den Beinen. Ich nehme eine von unseren Benzinfunzeln und gehe die Treppe hinauf auf die Toilette. Es kommt nichts, aber es tut weh; die ersten Anzeichen von Hämorrhoiden. Ich könnte laut losheulen, aber nicht vor Schmerzen. In dieser Verfassung kann ich unmöglich wieder hinuntergehen. Ich steige nach oben, unters Dach, in Wilkins’ Refugium. Unsere Holzholer haben gründlich aufgeräumt hier oben. Wilkins hat alles, was in seinen Augen zu schade für uns ist, den Wänden entlang aufgereiht. An der einen Wand lehnen die Gemälde, die er aus den Rahmen gelöst hat. Der übrige - 250 -
Krempel liegt in der Mitte des Raumes auf einem Haufen. Ich breite die Bilder um mich herum aus, setze mich, genauso wie damals mit Wilkins, mitten hinein und versuche, wieder diese Ruhe in mich strömen zu lassen. Lange Zeit hocke ich allein in dem dunklen, verstaubten Dachraum in der Kälte und lasse meinen Tränen freien Lauf. Es hätte mir, uns allen, so gutgetan, wenn wir imstande gewesen wären, einander den Trost und die Hilfe zu geben, die wir so bitter nötig hatten, aber jungen Männern fällt es schwer, einander echte Gefühle anzuvertrauen. Vermutlich trägt das mit dazu bei, daß es überhaupt Kriege gibt. Als ich endlich wieder hinuntergehe und auf Mundys Uhr sehe, ist es drei Uhr dreißig. Wilkins und Miller schlafen; Gordon stochert im Feuer herum. «Wie geht’s, Won’t?» «Besser. Aber alles in allem lausig.» «Ich werd den Gedanken nicht los, daß Mundy möglicherweise den meisten Dusel von uns allen gehabt hat. Er hat das große Los gezogen.» «Könnte gut sein.» «Haben eigentlich überall auf der Welt Arschlöcher wie Love das Heft in der Hand? Vielleicht kommen wir, wenn wir das hier überleben, bloß vom Regen in die Traufe?» «Ich darf gar nicht dran denken!» Mel stukt ein paar nicht ganz abgebrannte Holzstücke in die Glut; sie flammen auf und werfen Licht auf sein Gesicht. Er sieht so kaputt aus, wie ich mich fühle. «Mel, meinst du, Wilkins hat eine Chance?» «Du meinst mit der Auszeichnung? Das hängt höchstwahrscheinlich von Ware ab, und der wird mit ansehen müßen, daß Love sich selber dafür vorschlägt. Du hast ihn ja bei der Funkmeldung gehört. Buffalo Bill und General Robert E. Lee sind nichts dagegen. Der schreibt sich seine eigenen Belobigungen. Aber vielleicht springt für Mother am Ende doch noch irgendwas dabei raus.» - 251 -
Ich gehe wieder zu Mundy und knie neben ihn. Ich bemühe mich, mir seine Gestalt einzuprägen, aber es klappt nicht. Es ist, als wollte man in einer mondlosen Nacht einen schwach leuchtenden Stern sehen; man darf nicht direkt hingucken, weil in der Mitte des Auges der blinde Fleck ist. «Hast du schon jemals drüber nachgedacht, wieviele Tote es schon auf der Welt geben muß, Mel? Mundy hat sich jetzt zur großen Mehrheit gesellt. Ich wette, auf jeden Lebenden kommen Tausende von Toten. Ich würde ganz gern noch ein Weilchen zur Minderheit gehören.» «Viel tust du nicht grade dafür; ich auch nicht.» «Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gehen wir mit wichtigen Dingen ziemlich fahrlässig um; wie unser guter Mundy.» «Was ist schon wichtig?» «Wirklich zu leben, denke ich. Wenn ich das alles hier jemals überstehe, will ich die Dinge machen, auf die es mir ankommt. Gemälde ansehen und Musik hören, wirklich zuhören, nicht bloß mich berieseln lassen. Ich zeichne leidenschaftlich gern, schon seit eh und je; vielleicht werde ich sogar Maler. Dafür würde es sich bestimmt zu leben lohnen. Eins weiß ich ganz genau: daß ich nicht Ingenieur werden will; mein Vater hatte sich immer eingebildet, das sei der Beruf für ihn, aber ich glaub nicht, daß er überhaupt wusste, was er wirklich wollte.» «Meine Eltern wollten immer, daß ich Zahnarzt werde und eines Tages die Praxis von meinem Alten übernehme, damit wenigstens sein Leben sinnvoll erscheint. Mir würde es wahrscheinlich schon hochkommen, wenn ich mir selber die Zähne putzen müßte; das bloße Geräusch, wenn andere sich die Zähne putzen, ist mir zuwider. Ich möchte es lieber mit der Medizin probieren; das wäre mir wichtig. Aber was soll’s; was haben wir schon für Aussichten?»
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«Mundy hat mir gesagt, er wäre nach wie vor gern Priester geworden. Er ist bloß ausgestiegen, weil er meinte, dafür nicht gut genug zu sein. Kannst du dir das vorstellen?» Wir sprechen beide mit Mundy. Noch immer neben ihm auf dem Fußboden kniend, decke ich nun sein Gesicht zu. In dieser Nacht scheint die Finsternis kein Ende zu nehmen. Wir sorgen uns um Shutzer. Mel sagt, wenn Stan die Fahrt zum Regiment übersteht, wird er vielleicht mit einer steifen Schulter davonkommen. Es ist der linke Arm. Wir meinen beide, uns zu erinnern, daß er Rechtshänder ist, sind uns aber nicht sicher. Wilkins und Miller schlafen wie die Murmeltiere. Ich strecke mich auf einer Matratze aus, aber mir schwirrt der Kopf. Die Deutschen könnten jederzeit kommen und uns über den Haufen schießen, aber der Gedanke lässt mich kalt. Um acht Uhr, als es gerade zu tagen beginnt, versuche ich, per Funk zum Regiment durchzukommen, aber es ist nichts zu machen. Love hat zwar gesagt, sie würden den Funkverkehr einstellen, aber ich hoffe, wenigstens den Jeep zu erreichen, den Ware dazulassen versprach. Fast eine halbe Stunde lang versuche ich es immer wieder, dann stecke ich es auf. Wir sind alle der Meinung, daß irgend jemand den oberen Posten besetzen sollte; Miller meldet sich freiwillig. Ich verspüre noch keinen Hunger, aber jetzt überfällt mich endlich bleierne Müdigkeit. Die Augenlider fallen mir zu, während ich Stiefel, Jacke und Helm ausziehe und in den Schlafsack krieche. So ausgezogen war ich noch nie, seit wir vom Regiment aufgebrochen sind. Ich bin sofort weg.
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6 Verlustmeldung Ich wache auf, es ist dunkel, und ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich sehe ein Feuer brennen, aber das sagt mir nichts. Ich gucke auf meinen Arm und stelle fest, daß ich Mundys Uhr trage. Es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich begreife noch immer nicht. Die Zeiger bilden eine senkrechte Linie. Ich weiß nicht, ob es sechs Uhr oder achtzehn Uhr ist. Ich halte die Uhr ans Ohr, aber sie tickt nicht. Also weiß ich nicht einmal, wie spät es ist. Ich weiß überhaupt so gut wie nichts; irgend etwas in mir will auch gar nichts wissen. Zum ersten Mal erlebe ich eine Spaltung von Körper und Bewusstsein. Zum zweiten Mal machte ich diese Erfahrung, als unser erstes Kind zur Welt kam. Meine Frau hatte achtundvierzig Stunden lang schwere Wehen; ich fuhr auf dem Pacific Coast Highway in Kalifornien nach Hause und kam erst wieder zu mir, als ich über knirschenden Sand in den Pazifik fuhr. Ich war nicht eingeschlafen; mein Bewusstsein hatte sich von mir abgespalten. Ein Polizist bekam die Szene mit, sah mich die Gegenfahrbahn überqueren, über Bordsteine, über einen Parkplatz und über die Parkplatzbegrenzung aus alten Autoreifen fahren und dann einen kleinen Abhang hinunter und auf dem Sand weiterholpern. Wahrscheinlich wäre ich in Hawaii gelandet, wenn der Motor nicht gebockt hätte. War das ein netter Polizist. Nachdem ich mich wieder so weit gefangen hatte, daß ich ihm eine vernünftige Erklärung geben konnte, brachte er mich in seinem Streifenwagen nach Hause. Danach schleppte er meinen Wagen irgendwie vom Strand ab und fuhr ihn nach Topanga Canyon vor unser Haus. Er stand - 254 -
schon wieder da, als ich aufwachte, und ich bekam nicht einmal eine Rechnung. Erlebnisse wie dieses brachten mich nach und nach wieder mit dem Leben und den Menschen in Einklang. Ich blicke um mich. Irgendwer hat saubergemacht und aufgeräumt. Unsere Verpflegungsrationen stehen ordentlich aufgereiht auf dem hohen Kaminsims. Irgendwie haben sie auch die Kupferbadewanne aus dem Badezimmer im ersten Stock heruntergebuckelt und neben den Kamin gestellt. Über dem Feuer sind an Haken Eimer mit dampfendem Wasser aufgehängt. Außer Mundy und mir ist niemand da. «Du, Father, wo sind denn die anderen alle?» In dem Moment, in dem ich es ausspreche, fällt mir alles wieder ein. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich den Satz zu Ende sage. Ich bin wieder da. Schlagartig überkommt mich wieder das ganze Elend mit diesem Gefühl von salzigem Schleim, der einem vom Hirn in den Schlund hinunterrinnt. Irgendwann reiße ich mich schließlich zusammen, schwinge die Beine aus dem Schlafsack, fahre in die Stiefel, ohne sie zu schnüren, und gehe hinaus zum Pinkeln. Dinge wie das Bedürfnis zu pinkeln bringen einen wieder in die Realität zurück. Draußen ist es dunkel. Am Mond erkenne ich, daß es Abend ist und nicht früher Morgen. Ich habe rund zehn Stunden geschlafen. Rutschend und strauchelnd, den deutschen Christbaum auf den Schultern, kämpfen sich Wilkins und Miller von der Brücke den Hang herauf. Ich knöpfe meine Hose zu und warte auf sie. Miller blickt mich durch die Zweige an. «Na, sieh mal einer an. Unser Dornröschen ist ja wieder wach.» Noch nicht ganz. Ich halte eine Gardine beiseite, so daß sie den Baum durch die Glastür hereinschieben können. «Was liegt
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eigentlich an? Wer ist auf Posten? Oder steht das gar nicht mehr zur Debatte?» Miller und Wilkins stellen den Christbaum in der einen Ecke neben dem Kamin auf. Miller klopft Schnee von den Zweigen. «Es war mehr oder weniger immer jemand draußen. Kein Anlass zur Sorge, Won’t. Du bist am Leben, oder?» «Danke. Wann bin ich dran?» «Wenn du wirklich erpicht drauf bist, ein paar Stunden lang in einem kalten Erdloch zu hocken, dann bist du um acht dran. Wir sind ziemlich sicher, daß hier sowieso keine Spähtrupps durchkommen. Und wenn tatsächlich ganze Heerscharen hier anrücken, wird es höchstwahrscheinlich erst in den frühen Morgenstunden passieren.» «Wozu ist der Baum eigentlich gedacht? Wollt ihr den etwa verheizen?» Miller guckt rasch zu Mother, dann wieder zu mir. «Der gute Vance und ich fingen langsam an, Trübsal zu blasen. Und da dachten wir uns, daß hier ein bisschen Weihnachtsstimmung fehlt, und haben eben angefangen sauberzumachen. Wenn wir unseren Baum geschmückt haben, werden wir Kastanien rösten, ein oder zwei Julblöcke anzünden und uns mit Truthahn, Preiselbeersoße und allem, was dazugehört, den Bauch vollschlagen. Außerdem haben wir beschlossen, alle Mann hoch ein Weihnachtsbad zu nehmen und große Wäsche zu machen.» Mit behandschuhten Händen heben Miller und Vance die Eimer von den Haken und schütten dampfendes Wasser in die Wanne. Dann tippeln sie mit den leeren Eimern wieder los zum Brunnen; ich werfe einen Blick in die Wanne. Sie ist etwa zu einem Drittel gefüllt; ich fasse hinein; nicht gerade heiß, aber mollig warm. Sie haben die Wanne so dicht ans offene Feuer geschoben, daß die Kaminseite sich beinah heiß anfühlt. Ich höre sie wieder mit vollen Eimern näherstolpern. Ich mustere
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den Raum; sie haben wirklich ganze Arbeit geleistet; es sieht so gut aus wie bei unserer Ankunft. Die beiden hängen die Eimer wieder an die Haken und tauchen jeder eine Hand in die Wanne. Wilkins grient mich an. «Gleich soweit. Wir sind der Ansicht, daß du als erster drankommen sollst. Du bist zwar nicht der größte Schweinigel hier, aber immerhin unser Leithammel. Außerdem soll es ein Weihnachtsgeschenk sein.» «Kommt nicht in Frage, Vance. Wir knobeln, wie immer. Keine Privilegienwirtschaft bei uns.» Herrgott nochmal, was für ein Krampf, wir strengen uns unentwegt an, so zu tun, als sei nichts geschehen, als läge Mundy nicht tot neben uns, als sei Shutzer nicht verwundet, die erste Gruppe nicht vermisst, der ganze entsetzliche Krieg um uns herum nicht wahr. «Habt ihr mitgekriegt, was Love vorhin wegen Kriegsgericht zu mir gesagt hat? Dieser Schleimscheißer.» «Die Pfeife kann sich ja nicht mal den Hintern ohne Ordonnanz abwischen. Lass dir wegen dem keine grauen Haare wachsen, Sergeant.» Mother tritt ein paar Schritte zurück und bewundert den Baum, den er in die Ecke zwischen Kamin und Wand gezwängt hat. Erstaunlich, wie rasch sich der Tannenduft überall im Raum ausbreitet; es liegt tatsächlich so etwas wie Weihnachtsstimmung in der Luft, trotz allem. Mir ist bewusst, daß ich vermeide, dahin zu gucken, wo Mundy liegt; ich bin froh, daß ich sein Gesicht bedeckt habe. Mother dreht den Baum ein Stückchen herum. «Wir brauchen irgendwas zum Schmücken, Bud. Die paar Äpfel und Kartoffeln und die Papiersterne genügen nicht.» «Mensch, ich darf gar nicht an die Deutschen denken. Diese armen Schweine.» Miller dreht sich zu mir um. «Lass das, Won’t. Himmelsakrament nochmal, es ist vorbei; wir können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.»
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Seit Mundy tot ist, haben wir eine Sprache am Leibe wie die letzten Etappenschweine. Miller geht hinaus. Unterdessen breitet Wilkins eine von unseren feinen Bettdecken unter dem Baum aus. Als Miller wieder hereinkommt, hat er den Helm mit 50-Kaliber-Munition gefüllt. Die MG-Patronen sind aus Messing und haben verschiedenfarbige Spitzen, Leuchtspur rot, panzerbrechende Munition schwarz. Wir ziehen Patronen aus dem Gurt und befestigen sie mit Drahtresten, die Miller aus seinem unerschöpflichen Jeep zutage gefördert hat, an unserem Baum. Der flackernde Feuerschein spiegelt sich im Messing. Ich bin noch immer wie in Trance. Wir rufen Mel vom Posten herein. Ich überrede die anderen, mit Pappstreifen aus unseren Verpflegungskartons zu knobeln. Der Mundy-Plan kommt doch noch zur Ausführung, bloß daß es nicht mehr um ein Bad im Medaillenregen, sondern um einen Platz in einer Metallbadewanne geht. Ich gewinne, Gordon wird Zweiter, Wilkins Dritter, und der arme Miller, die treibende Kraft des Unternehmens, wird Letzter. Das scheint der Lauf der Welt zu sein. Mir ist schleierhaft, wie sie das Trum von Wanne die Treppe heruntergewuchtet haben, bestimmt wieder einer von Millers Geniestreichen. Irgendwo hat er sogar Seife aufgetrieben. In der Wanne komme ich mir in der Tat wie Claudette Colbert vor. Ich reibe mich von oben bis unten mit warmem Seifenwasser ab. Miller, Wilkins und Gordon schichten Holz ins Feuer, bis es auflodert; Mother muß seine Maßstäbe heruntergeschraubt haben. Zum ersten Mal ist der Raum bis in den letzten Winkel hell erleuchtet. Meine verdreckten Klamotten habe ich auf einer Matratze liegenlassen. Die Kleider kommen zuletzt dran. Wir haben den Krieg völlig ausgeschaltet. Einer nach dem anderen steigt in die Wanne. Immer wieder füllen wir heißes Wasser nach, bis es über den Rand schwappt. Selbst Miller kommt nicht zu kurz. Er kriegt den meisten Dreck, aber auch den meisten Seifensud und das - 258 -
meiste Wasser ab. Keiner von uns will wieder in seine stinkenden Kleider steigen, daher hüllen wir uns in die Satindecken ein. Wir alle in goldenen Togas, ein Anblick wie ein römisches Gelage. Junge, Junge, wenn Love das sehen könnte. Wir haben uns alle zum ersten Mal seit Monaten die Haare gewaschen und uns anschließend mit den Bettdecken frottiert. Wilkins streift sich die Bügel seiner Brille wieder hinter die Ohren und starrt Mundy nachdenklich an. «So frischgebadet habe ich ein miserables Gewissen gegenüber dem armen Mundy.» Wir schweigen alle betreten. Ich hatte mir denselben Gedanken schon aus dem Kopf geschlagen. Miller geht auf Mundy zu. Er hat sich einen Zipfel seiner Decke über eine Schulter geschlungen und dann irgendwie unter der Achselhöhle verknotet. «Wenn wir bloß seine Klamotten runterkriegen.» Er hebt einen von Mundys Armen hoch. Der Arm ist steif wie ein Brett, der ganze Körper bewegt sich mit. «Komm, Won’t, fass mal mit an.» Zu viert drehen und wenden wir Mundy im leuchtenden Widerschein des Feuers hin und her, ziehen ihm die Kampfjacke aus, knöpfen sein Hemd auf und streifen es ihm über die Schultern. Gordon öffnet Gürtel und Hose, während ich die Schnürsenkel löse und ihm Stiefel und Socken ausziehe. Beide Socken sind an Fersen und Zehen zerlöchert. Völlig entkleidet wirkt er marmorweiß wie eine Statue, und er ist so steif, daß wir ihn aufrechtstellen können. Auf seinen steifen Beinen schaukeln wir ihn zur Wanne hinüber und heben ihn mühsam über den Rand hinein. Ich will heißes Wasser zugiessen, aber Miller meint, es sei Unsinn. Wir werden es zum Wäschewaschen aufheben. Gordon reißt vom unteren Rand seiner Toga ein paar Lappen ab. Wilkins und ich gehen daran, Father abzuseifen. Miller und Gordon halten ihn derweil aufrecht. Es ist weniger Blut an seinem Körper, als ich erwartet - 259 -
habe; das meiste klebt an seinem Hemd und an der Jacke. Wir waschen ihn gründlich von Kopf bis Fuß, auch die Haare. Vance langt ins Wasser hinunter und wäscht ihm Füße und Zehen. Mel geht nach oben und bringt noch eine Satindecke herunter, die er auf Mundys Matratze ausbreitet. Wir heben Mundy aus der Wanne und legen ihn auf die Bettdecke, trocknen ihn damit ab und wickeln ihn fest darin ein. Dann schieben wir ihn in seinen Schlafsack. Mumien nennt man die Dinger auch, eine sehr treffende Bezeichnung in diesem Fall. Jetzt ist mir irgendwie wohler. Uns allen, vermute ich. Es war wie Puppenspielen, wie wenn ein Kind seiner Puppe behutsam einen Schlafanzug anzieht und sie dann im Puppenwagen liebevoll in eine winzige weiße Decke bettet. Wir schütten noch vier Eimer voll Wasser in die Wanne und werfen dann Unterwäsche, Kampfjacken, die ganzen Klamotten hinein. Eine Weile ziehen wir die Stücke mit den Händen durchs Wasser, bis Miller uns beiseite schiebt. Er lässt seine Toga fallen, springt in die Wanne und fängt an, splitternackt darin auf und nieder zuhopsen. «Seht ihr, so funktioniert eine Waschmaschine. Das Wasser wird unter Druck durch die Stoffasern gepresst.» Er springt und stampft in der Wanne herum, während das Feuer zuckendes Licht in den Raum wirft und glitzernde Funken aus der Wannenpolitur und aus den Messingpatronen am Christbaum hinter Miller schlägt; es sieht aus wie eine kultische Handlung bei einem wilden Volksstamm. Wir wechseln einander beim Wassertreten ab. Immer wieder schöpfen wir schmutziges Wasser aus der Wanne und schütten frisches, heißes Wasser nach. Rund eine Stunde lang toben wir so im Wasser herum; noch nie waren unsere Füße so sauber. Wenn jetzt Deutsche hier hereinplatzten, würden sie auf dem Absatz kehrtmachen und fluchtartig das Weite suchen, um nicht den Verstand zu verlieren. - 260 -
Als alle Kleidungsstücke gewaschen, ausgewrungen und überall im Raum aufgehängt sind, legen wir uns hin. Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß ich jemals so tief schlafen könnte. Wahrscheinlich geht es uns allen ähnlich. So entsetzlich alles ist, jetzt können wir den Dingen wenigstens frisch gewaschen und gefasst ins Auge sehen. Um sieben Uhr dreißig wache ich auf und versuche wieder, das Regiment über Funk zu erreichen. Vergeblich. Wenn Ware uns keinen Jeep mit Funker dagelassen hat, der uns einweist, dann sind wir wirklich aufgeschmissen. Die anderen schlafen alle noch tief und fest. Leise mache ich mich über den Karton mit den D-Rationen her und wärme mir eine Dose Hackfleisch mit Kartoffeln auf, in die ich Käsestücke hineinschnipple. Dann verdrücke ich noch eine Fruchtschnitte, die erste seit Monaten. Mein Magen scheint von mir abgelassen zu haben; er ist friedlich, kneift nicht. Ich schließe mein Mahl mit einem vollen Feldbecher Kaffee ab; ich gehe wirklich aufs Ganze. Vielleicht hat sich das lange, unfreiwillige Fasten heilsam ausgewirkt. Unsere Kleider sind alle einigermaßen trocken; ich ziehe die meinen an. Sie fühlen sich an wie neu; nur die Ärmelsäume und die Manschetten sind noch feucht. Um acht gehe ich zum oberen Posten. Ich muß eine Weile allein sein und ein bisschen frische Luft in die Lungen bekommen. Unser Quartier mit den ewig verrammelten Fenstern und Türen, dem Qualm, dem Feuer, den Feuchtigkeit ausdünstenden Kleidern und Father mittendrin zermürbt mich. Gegen neun fängt es wieder an zu schneien. Ich rufe unten an; Mother nimmt ab. Alles in Ordnung. Die anderen sind wach. Mother macht gerade Frühstück. «Wont, wie wollen wir Paul eigentlich hier rausschaffen, wenn wir wegmüßen?» «Weiß ich nicht, Vance. Wir werden ihn in einen der Jeeps packen, denke ich.» «Er ist steif wie ein Brett.» - 261 -
«Ich weiß.» «Wie wär’s, wenn wir einen von den Bettrosten vom Dachboden holen und den quer übers Heck auf einen Jeep schnallen? Vielleicht können wir Mundy da draufbinden.» «Gute Idee.» Bloß nicht daran denken. «Wir sollten das wirklich bald machen, Wont. Wenn wir schnell türmen müßen, wird uns nicht viel Zeit übrigbleiben.» «Na gut, Vance, wir richten das Gestell her, sobald ich wieder unten bin.» Ich hänge auf. Es hat den Anschein, als würde es nicht so bald wieder aufhören zu schneien. Durch den tiefhängenden Nebel und den Schnee kann ich nicht einmal das Schloss, keine zwanzig Meter unterhalb von mir, erkennen. Aus irgendeinem Grund bekomme ich es wieder mit der Angst zu tun. Vermutlich will irgend etwas in mir am Leben bleiben. Es ist neun Uhr dreißig, als ich durch das dichte Schneetreiben jemand näher kommen sehe. Es ist Mother. Er lässt sich neben mich ins Loch heruntergleiten. «Mensch, Wont. Es ist ja der helle Wahnsinn, hier draußen zu hocken. Du kannst überhaupt nichts machen; du siehst ja rein gar nichts.» «Ich weiß, Mother. Ich mußte einfach ein bisschen allein sein.» «Soll ich lieber wieder gehen?» «Nein. Danke fürs Kommen.» Wir sitzen schweigend nebeneinander. Ich zünde eine Zigarette an. Vance raucht nicht. «Mother, ich habe Ware gebeten, dich für eine Auszeichnung vorzuschlagen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen; ich hatte keine Zeit, dich zu fragen.» «Mensch Wont, Mundy oder Shutzer hätten eine verdient.» «Nein, Mother. Du bist derjenige, der uns aus der Scheiße geholt hat; die Deutschen hatten uns völlig in der Hand.» Nur gut, daß es so heftig schneit. Ich sehe Wilkins nicht an und spreche ins Schneegestöber hinaus. Mir war nicht bewusst, wie
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unangenehm es sein würde, Mother anzulügen. Woher weiß Gordon diese Dinge immer schon im voraus? «Wont, ich begreife noch immer nicht, wieso Mundy mir entgegengelaufen ist. Es war so sinnlos.» «Womöglich hat er Panik gekriegt. Das kann es eigentlich nur gewesen sein.» «Ja, schon möglich, aber es passt überhaupt nicht zu Paul. Daß er irgendwas vergessen oder sein Gewehr verlieren oder mit Handgranaten in den Taschen schlafen gehen würde, das kann ich mir bei ihm vorstellen, aber das hier war was anderes.» «Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, Vance. Love wird bestimmt versuchen, sich die Auszeichnung unter den Nagel zu reißen, aber ich bin sicher, daß Ware dir die Stange halten wird. Wir werden die Geschichte alle bezeugen.» «Aber ich habe bloß zweimal geschossen. Nachdem es Mundy erwischt hatte, habe ich keinen Schuss mehr abgegeben. Meine Brille war von der Rennerei beschlagen, und ich weiß bis heute nicht, ob ich überhaupt jemanden getroffen habe. Außerdem hatte ich beim Schießen die Handschuhe an.» «Das spielt keine Rolle, Mother. Halt dich einfach an unsere Geschichte. Du hast sie alle erschossen; so werden wir es darstellen. Das habe ich auch Ware erzählt. Vielleicht kommst du hier raus, wenn du eine Auszeichnung kriegst. Nach dem ganzen Schlamassel, von dem Ware erzählt hat, werden sie ein paar Helden brauchen, um die Kampfmoral wieder aufzupolieren. Mach das Beste draus.» «Ich bin ehrlich langsam reif für die Klapsmühle, Wont. Ich kann kaum noch schlafen, und wenn ich schlafe, dann hab ich Alpträume von Linda und dem Baby und von Max und Jim. Ich glaube, Jim war der erste wahre Freund, den ich je hatte. Er hat mich nie ausgelacht und immer verstanden, wie mir zumute war. Lieber Himmel, Wont, bei Licht besehen haben wir doch überhaupt keine Chance. Zwei Drittel von unserer Gruppe fehlen schon; ich kann mir nicht vorstellen, daß es auch nur ein - 263 -
einziger von uns schafft.» Wieder muß ich lügen. Er spricht nur laut aus, was ich denke, aber auf die Art kommt man nicht über die Runden. Ich denke, ein Sergeant muß ab und zu lügen, dafür wird er bezahlt. «So schlimm ist es auch wieder nicht, Vance. Wir hatten bloß Mordspech. Vielleicht kriege ich Ware dazu herum, daß er sich irgendeinen schlauen Job für dich ausdenkt, irgendwas wie Wachdienst bei der Fahrbereitschaft oder Küchendienst. Wenn die Ersatzcrew kommt, werden wir uns irgendwas einfallen lassen. In puncto Auszeichnung kann ich garantiert irgendwas mit Ware deichseln.» «Lieber Gott, hoffentlich.» «Ich mach mit dir jede Wette, Mother. In sechs Monaten bist du wieder bei Linda. Sie wird wieder schwanger werden, und du wirst dich bald kaum noch an das hier erinnern.» «Das bezweifle ich. Ich werde es nie vergessen.» «Wir vergessen alles, Vance. Aber wie dem auch sei, ich wette hundert Dollar.» «Hundert Dollar? Wer hat denn hundert Dollar?» «Du kannst sie abstottern. Am Neujahrstag 1946 kriege ich die erste Rate.» «Na gut, die Wette gilt.» Wir schütteln einander die behandschuhten Hände. Ich hoffe inständig, daß Ware mitspielt. Die Schneedecke wird immer dicker. Es hat keinen Sinn, noch länger hier draußen zu bleiben; das Gespräch mit Mother hat gutgetan. Wir stapfen zum Schloss hinunter. Der frische Schnee ist nasser und bildet eine schlüpfrige Auflage auf der Altschneedecke darunter. Zehn Jahre lang, vom 1.Januar 1946 bis zum 1.Januar 1955, bekam ich regelmäßig von Vance Weihnachtskarten, denen jeweils ein nagelneuer Zehndollarschein beigefügt war. Ohne Absender, ohne ein Wort. Kein Lebenszeichen, keine Anteilnahme. Danach habe ich nie wieder von ihm gehört. - 264 -
Im Schloss gehen Vance und ich unters Dach hinauf und buckeln einen schmalen Bettrost die zwei Stockwerke hinunter und dann hinaus. Wir entscheiden uns für den Jeep ohne das MG und zurren das Gestell wiederum mit Satinstoffstreifen darauf fest. Es ist der Jeep, an dem jetzt die Schneeketten fehlen. Wenn es losgeht, werden wir diesen vornweg fahren lassen, damit der Jeep mit den Schneeketten ihn herausschieben kann, falls er steckenbleibt. Bei den Schneeverhältnissen wird die Fahrt eine einzige Tortur werden. «Was meinst du, Wont: sollen wir Mundy jetzt gleich da draufbinden?» «Also, Mother, da hört’s bei mir auf.» «Aber womöglich fängt er an zu riechen, und später bleibt uns vielleicht nicht mehr genug Zeit, ihn auf das Gestell zu binden.» «Ich bring das einfach nicht über mich, Vance. Wenn er zu riechen anfängt, schaffen wir ihn raus, ja? Wir lassen die Stoffstreifen hier, damit alles parat ist. Wir können sie jetzt schon an den Sprungfedern anbinden, dann brauchen wir sie nachher nur noch über ihn zu streifen und zu verknoten, wenn es soweit ist.» «Na gut. Ich weiß schon, was du meinst; es geht einem an die Nieren, sich Father ganz allein hier draußen in der Kälte vorzustellen.» Kurz vor fünf Uhr morgens reißt mich Trommelfeuer aus dem Schlaf. Alle rennen wie wild durcheinander, fahren in die Stiefel, greifen nach Gewehren und Handgranaten. Ich versuche noch einmal, zum Regiment durchzukommen. Absolut nichts zu machen. Ich probiere verschiedene Frequenzen durch, kein Piep. Da wird mit schwerem Kaliber geschossen: mit Nebelwerferraketen, Acht-komma-acht und noch etwas Größerem. Aber nichts davon landet hier im Wald; nicht in - 265 -
unserer Nähe jedenfalls. Ich schnüre meine Stiefel und haste zu unserem Posten oben am Berg hinauf. Miller ist schon zur Stelle. Gordon und Wilkins habe ich zur Brücke hinuntergeschickt. Ich bitte Miller, ans Funkgerät zu gehen; wenn irgendeiner durchkommt, dann ist er es. Zumindest kann er vielleicht Verbindung zu irgendeinem anderen Truppenteil kriegen und ihnen sagen, was hier los ist, und erfahren, wie die Gesamtlage ist. Es schneit noch immer; die Artillerie hört sich an, als donnerten am stumpfweißen, dunklen Himmel Frachtzüge über uns hin; eine gewaltige Luftbewegung und ein schriller, abschwellender Heulton. Pechschwarze Nacht, nichts zu sehen, nur dieser Lärm; links von uns das bedrohlich grollende, ferne Wummern von Geschützen und jetzt das dumpfe Krachen von Granaten, die rechts von uns einschlagen. Dazwischen das unheimliche, sirenenartige Kreischen der Raketen von Werferbatterien. Ich habe keine Ahnung, was diese Dinger für Reichweiten haben, aber, selbst wenn sie auf Eisenhower gerichtet sind, «Fehlschüsse» gibt es immer. Nach fünf Minuten ist mir klar, daß dies kein Streufeuer ist; hier kündigen sich Truppenbewegungen an. Ich rufe unten an, um Wilkins und Gordon schleunigst ins Schloss zurückzuscheuchen. Anscheinend höchste Zeit, daß wir verduften. Als ich unten im Schloss ankomme, hängt Miller noch immer über dem Funkgerät und klappert Frequenzen ab. Ich schaue ihn fragend an, aber er schüttelt nur den Kopf. Ich schicke Gordon los, Kabel und Telefone von den beiden Posten zu holen. Wilkins und ich tragen Father auf den Schultern hinaus. Er ist stocksteif, aber er riecht nicht. Wir binden ihn auf das Bettgestell hinten auf dem Jeep. Dann gehen wir noch einmal hinein und packen unsere restlichen Siebensachen, einschließlich Tarnfarbe, Schneeüberzügen und Kabelresten; wir werfen alles unter Mundy auf die Rücksitze. Auch die Schlafsäcke stopfen wir dort hinein. Wir haben zwar alle Angst - 266 -
und rennen wie angestochen hin und her, aber Panik ist noch nicht ausgebrochen. Es ist beinahe alles verladen, als die erste Mörsergranate einschlägt. Das üble an den Dingern ist, daß sie einschlagen, bevor man sie kommen hört. Noch eine Mörsergranate, dann folgt Acht-komma-acht. Drei Detonationen. Die Acht-acht kommt mir fast vor wie Direktbeschuss. Das sind keine Zufallstreffer: irgend jemand sieht uns und ruft das Feuer ab. Wir stehen unter Beobachtung. Gordon und ich werfen uns in den Jeep mit Mundy, den ohne Schneeketten und ohne MG. Ich sitze am Steuer. Der Motor springt sofort an, und ich höre Miller hinter mir anfahren. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich rolle über den Rand der Terrasse und abwärts auf die Brücke zu. Ziemlich riskantes Unternehmen, ohne Schneeketten; schon auf diesem kleinen Gefälle rodle ich kreuz und quer über die Straße. Es ist stockduster, aber der Schneefall hat etwas nachgelassen. Mel guckt sich nach hinten um. «Ist gut, sie sind hinter uns, Won’t. Die meisten Dinger landen oben am Berg, hinter dem Schloss, noch über dem oberen Posten.» Ich nicke, ganz aufs Fahren konzentriert und bemüht, meine fünf Sinne beieinander zu behalten. Ich bleibe im Geländegang und starte jenseits der Brücke bergauf und vom Schloss weg. Ich fahre so, daß der Wagen gerade noch greift; aber dabei verliert er wegen der Steigung ständig an Tempo. Ich höre das Schlapp-schlapp der Ketten an Millers Jeep. Mel steht fast auf seinem Sitz, um über Mundy nach hinten gucken zu können. «Großer Gott! Jetzt haben sie einen neben der Brücke gelandet und die Vogelscheuche in tausend Stücke geschossen.» Ich ziehe den Kopf noch ein bisschen mehr ein und spähe über die Motorhaube. Miller hat bereits die Windschutzscheiben von beiden Jeeps umgeklappt, weil sich der Schnee darauf anhäuft und die handbedienten Wischer es nicht mehr schaffen. Ich - 267 -
muß die Augen zusammenkneifen, weil mir sonst der Schnee hineinweht. In der Dunkelheit und dem Schneetreiben kann ich kaum etwas sehen. Außerdem ist das verflixte Vehikel mit Mundy auf dem hoch aufragenden Bettrost kopflastig; die Hinterräder gehen bei jeder Bodenunebenheit nach links und nach rechts weg. Ich bezweifle, daß Miller uns wieder flottkriegen kann, wenn wir an diesem Buckel hängenbleiben. Dann lässt das Feuer plötzlich nach. Ich krieche mit knapp fünfzehn Stundenkilometern dahin. Mel steht auf dem Beifahrersitz und beugt sich nach hinten über Mundy. «Herrje! Da sind sie! Eine Zugmaschine mit einer Acht-komma-acht und ein vollbeladener Truppentransporter. Jetzt rollen sie an der Brücke vorbei! Bei Gott, da ist noch einer! Die ganze Straße wimmelt von Krauts; ein paar von ihnen rennen die Straße rauf zum Schloss. Nichts wie weg hier!» Mel macht sich ganz klein vor seinem Sitz und linst in der Hocke unter Mundy durch nach hinten. Ich drehe mich nicht um. Ich muß aufpassen, sonst fahren wir fest oder kommen ins Rutschen. Ich will über die Kuppe hinüber und außer Sichtweite. Durch das Schneetreiben dürften sie nicht viel von uns sehen, aber sie können uns hören, und wir haben Spuren hinterlassen. Wenn sie uns verfolgen, sind wir geliefert. Ich bemühe mich krampfhaft, nicht von der Straße abzukommen, und orientiere mich an dem Winkeleisen, das wir als Drahtschneider an die Stoßstangen geschweißt haben. Es hieß immer, die Deutschen spannten Klaviersaitendraht über die Straßen, um die Amerikaner zu köpfen, deshalb hat unsere Fahrbereitschaft an jeden Jeep diese Drahtschneider montiert, die wie Segelmasten aussehen. Miller hatte deswegen fast eine Schlägerei mit dem diensttuenden Offizier. Ich weiß weder, ob die Deutschen tatsächlich solche Scherze gemacht haben, noch ob diese Winkeleisenstücke im Ernstfall überhaupt etwas nützen würden, aber im Moment hilft mir das Ding bei der Orientierung auf der Straße. Der einzige optische - 268 -
Anhaltspunkt, nach dem ich mich sonst richten kann, ist eine kaum merkliche weiße Kerbe am Horizont, da, wo die Straße den Wald durchquert. Die Steigung lässt etwas nach, und wir fahren jetzt auf einem simsartigen Einschnitt an der Bergflanke entlang. Rechter Hand geht es jäh ins Tal; ich versuche, mich so dicht wie möglich an die linke Straßenseite zu halten, ohne dabei in den Graben zu fahren. Ich rede mir selber immer wieder ein, daß sie, wenn es wirklich eine Großoffensive ist, nicht von der Hauptstraße abzweigen werden, um hinter uns herzuhetzen. Wir müßen so schnell wie irgend möglich weg, außer Sichtweite. In diesem Augenblick explodiert vor uns eine Granate; der Einschlag ist so nah, daß Erdklumpen mit hohlem Getöse auf den Jeep poltern. Dann schlägt rechts unterhalb noch eine ein, deren Splitter sich in die Erde wühlen. Ich fahre sturheil draufzu. Als die nächste hinter uns, zwischen unserem und Millers Jeep einschlägt, will ich instinktiv anhalten; dann wird mir bewusst, daß wir eingegabelt sind und daß unsere einzige Chance darin besteht, in Bewegung zu bleiben. Mel steht auf und schaut nach hinten. «Sieht so aus, als war bei den beiden alles in Ordnung! Miller ist übers Lenkrad geduckt, und Mother kann ich nicht sehen, aber Miller gibt keinerlei Zeichen. Fahr einfach drauflos.» Er rutscht wieder vor seinen Sitz hinunter und kniet sich auf den Boden des Jeeps. Ich schalte einen Gang hinauf und versuche, ein bisschen Tempo zuzulegen. Jetzt haben wir eine Geschwindigkeit von rund zweiundzwanzig Stundenkilometern; bei dem Schnee und der Dunkelheit ist das das höchste, wenn ich nicht von der Straße abkommen will. Die nächste Mörsergranate explodiert links oberhalb von uns; ziemlich nah. Granatsplitter prallen singend vom Jeep ab. Ein Stück zerschmettert die flach auf der Motorhaube liegende Windschutzscheibe. Ich höre metallisches Scheppern und dann ein dumpfes Plumpsen. «Bist du getroffen, Mel?» - 269 -
«Nein, Mundy.» «Herrgott nochmal!» Mel reckt den Kopf wieder hoch. «Ich glaub, da hinten bei den anderen ist noch immer alles klar. Bloß noch hundert Meter, dann sind wir außer Reichweite.» Es landen noch zwei Granaten in unserer Nähe, aber wir sind aus dem Bereich heraus, in dem sie uns gezielt eins verpassen können. Die Hügelkuppe liegt zwischen ihnen und uns. Entweder sie jagen uns jetzt, oder wir sind nochmal davongekommen. Vor uns liegt ein langes Gefälle. Ich versuche, den Wagen im zweiten Gang in der Gewalt zu behalten. Wir fahren noch immer auf der Straße, die quer in die Bergflanke geschnitten ist, und mir ist bewusst, daß der Hang nach rechts steil abfällt. Ich sollte wieder in den Geländegang herunterschalten, aber mir sitzt panische Angst im Nacken. Wir werden immer schneller, und als ich bremsen will, kommen wir ins Schleudern. In den Reifenstollen backt Schnee, und der vermaledeite Jeep verhält sich wie ein Rodelschlitten. Die erste Kurve kriege ich gerade noch, aber bei der zweiten sind wir zu schnell. «Ich schaff’s nicht, Mel! Spring ab!» Aber wir haben zu viel Fahrt, um abzuspringen. Ich tippe immer wieder auf die Bremse. Inzwischen habe ich auch heruntergeschaltet, aber wir trudeln trotzdem weiter. Ich habe die Herrschaft über das Fahrzeug völlig verloren. Wir werden talwärts von der Fahrbahn getragen, prallen seitlich gegen einen Baum, drehen uns um die eigene Achse, knallen auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite an die Böschung, werden herumgeschleudert und bleiben schließlich kippelnd, mit der Schnauze voran, über einem Steilhang mit mindestens fünfundvierzig Grad Gefälle hängen. Aus unserer vorwärtsgeneigten Position auf den Vordersitzen nimmt es sich aus, als säßen wir auf der Kante einer Felswand auf. Alle vier Räder hängen in der Luft und drehen sich. Ich stelle den Motor ab. Gordon macht eine Bewegung, um sich auf seinen Sitz zu
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setzen, und dabei kippt der Jeep noch weiter vorwärts, zum Abgrund hm. «Halt still, Mel! Wir stürzen ab, wenn wir uns bewegen.» Ich drehe den Kopf nach hinten; Mundy hat sich nicht von der Stelle gerührt. Während ich mich umsehe, kommt der andere Jeep hinter uns an. Miller bremst behutsam und bringt den Wagen zum Stehen. Wilkins springt heraus und kommt auf uns zugelaufen. «Seid ihr zwei okay?» «Uns geht’s gut, Mother; aber unser Jeep rutscht gleich ab! Haltet unser Heck runter!» Miller zieht die Handbremse an seinem Jeep an, lässt den Motor laufen, steigt aus und kommt herüber. Er sieht sich die Bescherung von allen Seiten an und guckt unter unseren Jeep. «Großer Gott, ihr beiden hockt ja auf einer regelrechten Schaukel! Rührt euch nicht! Ich hole das Abschleppseil und sehe zu, ob ich euch da runterziehen kann.» Wir sitzen mucksmäuschenstill, während Miller und Wilkins das Seil an unserer rückwärtigen und an ihrer vorderen Stoßstange einhaken. Wir blicken alle immer wieder besorgt hinter uns den Berg hinauf, weil wir befürchten, daß sich jeden Moment ganze Horden von Hunnen auf uns stürzen könnten. Mundys Gewicht auf dem Heck bewahrt uns davor, über die Felskante in den Abgrund zu kippen. Als das Seil festsitzt, rennt Miller zu seinem Jeep und fährt rückwärts an, aber trotz Allradantrieb und Ketten drehen die Räder durch. Er springt wieder heraus und kommt zurückgerannt. «Ich könnte bergab fahren und das Seil an meiner hinteren Stoßstange festmachen. Auf die Art könnten wir das Gefälle nutzen. Bloß, dummerweise stimmen die Winkel nicht; ihr könntet über die Kante rutschen. Ich werd euch was sagen; ich fahre jetzt so weit zurück wie möglich und ziehe das Seil stramm, dann könnt ihr zwei über Mundy rauskraxeln. So lange sollten wir die Karre halten können.»
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Bevor wir etwas sagen können, ist er wieder bei seinem Jeep, setzt ein Stück zurück und spannt das schlaffe Seil. Mel und ich klettern vorsichtig über Mundy vom Heck des Jeeps hinunter. Als wir beide glücklich draußen sind, löst Miller das Abschleppseil von seinem Fahrzeug und rollt an unserem vorbei ein Stück weit bergab. Ohne unser Gewicht auf den Vordersitzen ist unser Jeep weniger absturzgefährdet. Mother befestigt das Seil an Millers Heckstoßstange, und Miller fährt sachte wieder an. Unser Jeep schwenkt zwar hinten herum, aber dabei rutscht er noch weiter über die Felskante. Jetzt gibt es keine Hoffnung mehr, ihn noch zu bergen. «Won’t und Mother, holt ihr beiden Mundy vom Jeep runter, solange halte ich ihn oben.» Mother und ich zerschneiden die Stoffstreifen, mit denen der Bettrost und Mundy am Jeep vertäut sind. Mel hilft uns, die Behelfstrage abzunehmen und auf die Straße herunterzulassen. Wir laden Tarnfarbe, Schneeüberzüge und Funkgerät aus und verstauen die Sachen in Millers Jeep. Für die Schlafsäcke ist kein Platz mehr. Miller zieht noch einmal, aber es wird nur schlimmer; unser Jeep hängt nur noch am Abschleppseil über dem Abgrund. «Won’t, hau das Seil mit dem Bajonett durch und geh in Deckung, damit dich das Ende nicht erwischt, wenn das Ding reißt.» Ich hacke mit dem Bajonett auf das Stahlseil ein. Die letzten Stränge fasern auf und gehen von allein entzwei. Der Jeep neigt sich langsam, dreht ab und gerät ins Rollen. Er fährt zu Tal, knallt an ein paar Bäume, prallt jedoch ab und verschwindet mit lautem Getöse und immer mehr Wucht entwickelnd in der Dunkelheit. Er explodiert nicht. Nach einer Weile herrscht wieder Stille. Ein US Jeep auf dem Grund einer Schlucht, irgendwo in den Ardennen. Miller zieht wieder die Handbremse an, kommt zu uns zurück und blickt starr in die Tiefe. «Ausgerechnet unser bester.»
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Mit vereinten Kräften heben wir Mundy hoch und schieben ihn, mit den Füßen voran, unter die Lafette unseres MGs. Sein Kopf überragt das Gewehr um mindestens einen halben Meter; er steht praktisch senkrecht im Wagen. Wir steigen alle ein. Neben dem Funkgerät, den Telefonen, den Lebensmitteln und all dem anderen Krempel bleibt für uns nicht viel Platz übrig. Ich setze mich vorn neben Miller und verwahre das Funkgerät zwischen meinen Füßen. Mel und Mother sitzen hinten, halbwegs unter Mundys Bettrost begraben. Miller fährt an. Ein himmelweiter Unterschied, mit Schneeketten. An der Stelle, an der unser Regimentsstab lag, ist weit und breit keine Menschenseele. Der Schnee hat alles zugedeckt, selbst die kahlen Stellen, an denen die Zelte unserer Gruppe standen. Nur das Küchenviereck ist noch so warm, daß Erde und Gras durch den Schnee gucken. Sie sind schon seit über zwanzig Stunden weg. Wir fahren um das Areal herum und fahnden nach dem Jeep, nach irgendeinem Hinweis, aber wir finden nichts. Miller hält an und wendet mir den Kopf zu. «Tja, Sergeant Knott, was nun?» «Herrgott, das weiß ich doch auch nicht, Bud. Was meinst du, Mel?» «Nach Spuren suchen, am besten. Sie können unmöglich einen ganzen Regimentsstab verlegen, ohne das Gelände aufzuwühlen.» Mother guckt mit weit aufgerissenen Augen hinter Mundy hervor. «Hier könnten an jeder Ecke Deutsche sein.» Miller legt den Gang ein. «Das gescheiteste ist, immer in Bewegung zu bleiben. Die meisten Spuren sind auf der Straße dort drüben; das ist die Ausfallstraße, also fahren wir in die Richtung. Auf, nach
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Westen, Männer! Dahin jedenfalls, wo meiner Meinung Westen sein muß.» Im stillen denke ich, daß wir uns ergeben werden, wenn wir irgendwelchen Deutschen, ob Gruppe oder größerem Verband, in die Arme laufen. Wir halten unermüdlich nach Spuren Ausschau, aber es ist fast aussichtslos. Die Straße führt unter Bäumen hindurch, und hier unten herrscht ohne Scheinwerfer pechschwarze Nacht. Und es schneit wieder dichter. Eng zusammengepfercht, jeder mit sich selbst beschäftigt, rollen wir, ohne viel zu sagen, durch die Dunkelheit. Wir haben uns Miller auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Nach einiger Zeit kommen wir aus dem Wald auf mehr oder weniger freies Feld hinaus. Daß wir uns auf einer Straße befinden, erkennen wir an den Zaunpfählen auf beiden Seiten. Der Schnee weht in Böen aus allen Himmelsrichtungen heran, und wir frieren elend. Miller drosselt die Geschwindigkeit, bleibt stehen und dreht sich wieder zu mir. «Ich sehe überhaupt nicht mehr, wo ich hinfahre. Könnte gut sein, daß ich uns direktenwegs nach Berlin karre.» Keiner von uns besitzt einen Kompass. In Shelby machten wir vielleicht ein paar hundert Übungen, Standortbestimmung mit optischer Peilung und ähnliches mehr, aber seither hat keiner von uns jemals wieder einen Kompass in der Hand gehabt. Ich nehme an, daß der meine in meinem Seesack irgendwo im Küchenwagen steckt. Mein gesamtes Marschgepäck ist auf diesem Wagen; praktisch all meine Habseligkeiten. Es ist bitter kalt. Meine Füße sind taub, die Schienbeine an den Hosen festgefroren. Wir sind alle tief verschneit, abgesehen von den Partien von Mother und Mel, die unter Mundy eingezwängt sind. Father Mundy sieht aus wie ein Denkmal; der Schnee pappt an seinem Gesicht und verkleistert seine Augenhöhlen. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Wenn wir anhalten, erstarren wir zu Eisklumpen. Feuer können wir nicht machen; - 274 -
wenn irgendwo in der Umgebung Deutsche sind, würde es sie sofort auf uns aufmerksam machen. Außerdem ist alles Holz nass, und ich möchte unseren restlichen Treibstoff nicht verheizen, bloß um uns aufzuwärmen. Andererseits bringt es uns auch nicht weiter, wenn wir ziellos durch die Gegend irren. Aber was sollen wir sonst machen? Ich klettere auf die Motorhaube, lege mich bäuchlings darauf und klammere mich an das senkrechte Stück des Winkeleisens. Auf die Art sehe ich mehr. Miller fährt wieder an. Die Haube ist warm vom Motor. Unterwegs gebe ich Handzeichen, damit wir nicht von der Straße abkommen, aber zweimal rutschen wir doch in den Graben. Mit dem Schanzwerkzeug, das hinten auf dem Jeep befestigt ist, buddeln wir ihn wieder aus. Wir sind etwa sieben oder acht Kilometer weit gefahren, als es passiert. Ich liege vorn, sehe aber nichts. Alles ist weiß in weiß vor dunklem Grund. Ich bin vollkommen unfähig, nah und fern, oben und unten zu unterscheiden. Plötzlich sackt die rechte Seite weg. Der ganze Jeep legt sich auf die Seite und überschlägt sich langsam bei laufendem Motor! Ohne es zu merken, sind wir über eine kleine, geländerlose Brücke hinausgefahren. Die Schneeverwehungen sind so hoch, daß sie nicht zu sehen war. Es geht alles so langsam vor sich, daß niemand verletzt wird; selbst Mel und Mother können sich noch rechtzeitig unter Mundy hervorwinden. Miller hechtet zum Jeep zurück und stellt den Motor ab. Der Jeep ist umgekehrt liegengeblieben, Father und das MG sind im Eis auf dem kleinen, noch nicht ganz zugefrorenen Fluss eingebrochen. Zu viert rackern wir im Schnee, bis wir den Jeep wieder auf den Rädern haben. Mundy scheint nicht viel abgekriegt zu haben. Ich wische Schnee und Morast von seinem Gesicht, auf dem das Wasser sofort wieder gefriert. Wir keuchen alle. Selbst zu viert ist es eine Schinderei, einen Jeep im Schnee aufzurichten. Als wir es geschafft haben, schwitze ich, aber - 275 -
Füße und Hände sind nass und kalt. Miller inspiziert den Wagen rundherum. Er langt darunter und hält uns seine nach Benzin riechenden Hände hin. Er guckt mich an und deutet unters Heck. Ich gehe in die Knie. Im Tank ist ein Riss, aus dem Benzin ausfließt, in so kräftigem Strahl und so hohem Bogen wie Pferdepisse. Miller schüttelt den Kopf. «Muß irgendwas gerammt haben, als er da runtergekippt ist. Der Riss ist bestimmt eine Spanne lang.» Er schlüpft noch einmal drunter und verspundet das Leck recht und schlecht mit einem seiner Handschuhe. Wir schieben mit den Stiefeln Schnee über das ausgelaufene Benzin, und dann macht Bud einen Versuch, den Motor anzulassen, aber er kommt nicht. Er guckt unter der Haube nach und macht noch einen Startversuch. Nichts. Wir schieben und stemmen alle Mann hoch, um die Karre wieder auf die Straße hochzuwuchten; aber die Böschung ist zu steil. Als wir schließlich aufstecken, sind wir alle durchgeschwitzt und wie gerädert. Der Schnee scheint jetzt in immer dickeren, schwereren Flocken zu fallen. Wir ziehen Father Mundy unter dem MG heraus, und Mother und ich tragen ihn einen kleinen Abhang hinauf bis zum Waldrand, von wo aus man die Brücke überblicken kann. Miller und Gordon bauen das MG ab und schleppen es zu uns herauf. Das einzige, was wir meiner Meinung nach tun können, ist einbuddeln, Tageslicht abwarten und dann weitersehen. Wir haben genug Verpflegung für ein paar Tage. Nachdem das MG abmontiert ist, klappen wir die Lafette um und legen den Drahtschneider nach vorn über die Stoßstange. Dann bugsieren wir den Jeep so gut wir können unter den niedrigen Brückenbogen. Er geht um Haaresbreite darunter, und wir schieben und rucken so lange, bis er ganz darunter verschwindet. Nach der Prozedur sind wir von Eiswasser durchnässt. Die Treibstoffkanister haben wir beide abgenommen. Der eine ist noch voll, vom anderen haben wir drei Viertel des Inhalts für die Benzinfunzeln verbraucht. - 276 -
Oben unter den Bäumen bekommen wir nicht so viel Schnee ab. Wir graben abwechselnd. Zunächst räumen wir Schnee und Blätter weg und arbeiten uns dann mit unseren zu Hacken umgeklappten Feldspaten durch die oberen Zentimenter hartgefrorener Erde vor. In dem Boden darunter, dunklem Lehm, mit kleinen Wurzelfasern durchwachsen, die sich mühelos durchtrennen lassen, kommen wir gut voran. Wir heben zwei längliche Gruben aus, ähnlich wie Schützengräben, nur tiefer, mit Ausfallstufen an jedem Ende zum Sitzen. Unsere Zeltplanen spannen wir wie flache Pultdächer über die Löcher. Die Schlafsäcke waren in dem anderen Jeep, der jetzt unten in der Schlucht liegt; wir werden frieren müßen. Wir tränken Äste und Reisig mit Benzin aus den Kanistern. Damit können wir in unseren Helmen kleine Feuerchen unterhalten. Mother und ich teilen uns den einen Unterschlupf; Gordon und Miller den anderen; Father Mundy liegt hinter uns, zwischen beiden Gräben. Wilkins und ich ziehen Stiefel und Socken aus, wringen die Socken aus und trocknen sie notdürftig über den Feuern. Mit den Stiefeln ist nichts zu machen. Eine der beiden Zeltplanen haben wir uns untergelegt. Die andere ist so über uns aufgespannt, daß wir einen etwa fünfzehn Zentimeter hohen Sehschlitz haben, durch den wir auf die Brücke hinuntersehen können. Der Rauch quillt zwar durch das Guckloch nach draußen, aber immerhin wird uns ein bisschen wärmer. Ich knabbere an einem Stück Lunchkäse und versuche zu vergessen, wo wir sind. Wilkins scheint es gutzugehen, besser als mir. Der Schnee bleibt auf der Zeltplane liegen, so daß von uns, bis auf das bisschen Rauch, grau auf weiß, von der Straße aus praktisch nichts zu sehen ist. Gegen sieben Uhr dreißig, als es noch immer Nacht und die Morgendämmerung nur zu ahnen ist, fahre ich in meine feuchten Socken und in die hartgefrorenen Stiefel. Dann schlängele ich mich durch die Sehluke. Miller hört es und - 277 -
kommt aus dem anderen Loch gekrochen. Wir haben beide denselben Gedanken und besprechen miteinander, wie wir ihn am besten ausführen. Ein höchst kriegsmäßiger Plan. Wir gehen zum Jeep an den Bach hinunter. Miller löst die MGLafette aus der Verankerung, und dann tragen wir sie gemeinsam den Berg hinauf. Nachdem wir abwechselnd vor Millers Zeltluke eine Mulde ausgehoben haben, stellen wir die Lafette darin auf und rammen große Steinbrocken aus dem Bach um das Gestell herum in die Erde. Anschließend schleifen wir eine Munitionskiste hoch, rasten das MG in der Drehstütze ein und stecken das eine Ende eines Munitionsgurts in die Kammer. Höchstwahrscheinlich werden wir binnen einer Stunde die Waffen strecken, wenn die Lage so aussichtslos ist, wie sie uns erscheint, aber immerhin haben wir unser Bestes getan. Wenn einer von uns die verflixte Knarre beim Schießen festhalten und gleichzeitig noch treffen kann, dann Miller. Wir gehen noch Reisig sammeln, tauchen es in Benzin und flitzen zurück zu unseren Löchern. Unser Kriegsspiel ist beendet. Wir haben während der ganzen Aktion kaum mehr als dreißig Worte gewechselt, und die meisten davon würde Father Mundy nicht gebilligt haben. Als wir unten beim Jeep waren, habe ich auch unser Funkgerät unter dem Vordersitz hervorgeholt. Das reiche ich jetzt in unser Schützenloch hinunter zu Mother. Der Himmel lichtet sich langsam, und es sieht so aus, als sei Osten in genau der entgegengesetzten Richtung, als von mir angenommen. Demnach waren wir tatsächlich geradenwegs nach Berlin unterwegs, bevor eine unbefestigte Brücke unserer Reise ein jähes Ende machte. Ich wünschte, wir könnten diese Szene noch einmal durchspielen wie beim Turnierbridge, nicht wiederholen, sondern noch einmal ganz von vorn anfangen. Ich schalte das Funkgerät ein und probiere verschiedene Frequenzen durch. Alles, was ich hereinkriege, hört sich wie Deutsch an; im Hintergrund Panzergeräusche. Ich empfange - 278 -
zwei solche Sender, beide stark gestört; nicht sehr ermutigend. Ich wünschte, Shutzer wäre da; ihm würde sicher etwas einfallen. Diese Art «Stegreif»-Krieg ist seine Stärke. Wilkins und ich beobachten umschichtig die Straße, jeder immer fünfzehn Minuten lang. Während ich am Ausguck sitze, rechne ich nach, was für einen Tag wir haben, Wochentag und Datum. Ich habe vollständig die Orientierung verloren. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Lieber will ich versuchen, mich blindlings auf das Nächstliegende zu konzentrieren. Mir ist klar, daß wir nicht hier bleiben können und daß keine Aussicht besteht, den Jeep wieder fahrtüchtig zu machen. Was soll nur mit Mundy geschehen? Wir könnten ihn in einem dieser länglichen Schützenlöcher begraben, wie meine Zeichenrollen, aber der Gedanke widerstrebt mir. Auf Mundys Uhr ist es kurz vor acht, als wir zunächst vage und dann immer deutlicher werdende Geräusche vernehmen. Panzergeräusche sind unverwechselbar; Rasseln und metallisches Klirren und das dröhnende Hämmern der Dieselmotoren, wie von schweren Baumaschinen. Sie scheinen auf unserer Straße entlangzukommen; allerdings fahren sie, nach dem Sonnenstand zu urteilen, in östlicher Richtung. Womöglich befinden sie sich auf dem Rückzug. Vielleicht ist ein Haufen GIs hinter ihnen her, eine Rotte Kavalleristen, die die Rothäute ins Reservat zurückjagt. Aber was wir dann sehen, lässt uns das Blut in den Adern gefrieren! Es sind Panzer-V-Panther, hinten- und obendrauf sitzen oder knien schwarzgekleidete deutsche Infanteristen! Ich zähle automatisch; achtzehn Panzer, neun Waffentransporter. Unser 50-Kaliber-MG nimmt sich dagegen wie ein Pusterohr aus. Ich hoffe inständig, daß sie den Jeep nicht sehen und auch nicht unsere Spuren oder das MG. Gottseidank fahren sie schnell. Bitte, Miller, tu’s nicht! Als sie vorbei sind und das Rattern und der ohrenbetäubende Radau abebben, schiele ich zu Miller
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hinüber. Bud steht geduckt hinter dem MG; Mel, der auf meiner Seite neben ihm kauert, guckt herüber. «Habt ihr die Uniformen gesehen und diese Embleme? Das war leibhaftige SS!» Wilkins’ Gesicht ist so kreideweiß, so entgeistert, wie meines sein muß. Großer Gott, die Kerle sahen so stahlhart, so profihaft, so unschlagbar aus. «Was sollen wir deiner Meinung nach machen, Wont? Was sollen wir bloß machen?» «Ich weiß bloß eins, Mother. Um den Verein werden wir einen möglichst großen Bogen machen; das sind garantiert nicht die Leute, nach denen wir suchen.» «Die hatten wirklich und wahrhaftig weiße Totenköpfe und gekreuzte Knochen auf ihre Panzer gemalt. Hast du das gesehen?» «Ich habe es gesehen, Mother. Ich hab es gesehen. Vielleicht wollen sie uns bloß Schiss einjagen, aber es funktioniert. Ich habe Schiss! Hat irgend jemand irgendwelche Vorschläge?» Das Schweigen ist so unleugbar und tief wie der vor uns liegende Schnee. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns noch besser einzuigeln. Ich kauere mich ins Loch und werfe benzingetränkte Reisigstücke in meinen Helm, damit das Feuer nicht ausgeht. Wir müßen uns etwas einfallen lassen. Wenn im Krieg überhaupt je schöpferischkünstlerische Phantasie gefragt ist, dann ist dies der Augenblick. Nach einer halben Stunde gehe ich noch einmal zum Jeep zurück. Inzwischen ist es taghell geworden. Osten liegt nach wie vor in der falschen Richtung. Ich krame Tarnfarbe und Schneeüberzüge hervor und schleppe alles hinauf. Ich bin gespannt, was die Gruppe von meiner Idee halten wird; vielleicht werden sie es als endgültig erwiesen ansehen, daß ich übergeschnappt bin. Es wird eine Meuterei geben. Sie haben mein volles Verständnis. Aber mir fällt nichts Gescheiteres ein. Ich winke Mother zu, mit mir zu kommen, und wir klettern beide zu Miller und Gordon in deren Grube. So gut ich kann, - 280 -
erkläre ich ihnen meinen Plan. Er hat etwas von einer Schachfinte von diesem «Totstellen» beim Eröffnungszug. Ich erzähle zu Ende und warte ab. «Was machen wir mit dem Funkgerät?» «Vergraben.» «Und mit dem MG?» «Vergraben.» «Die Gewehre auch?» «Was sonst?» Gordon spricht wie üblich den wunden Punkt an. «Wenn wir das tatsächlich durchziehen, was sollen wir dann erzählen, wenn wir zu unserem Haufen zurückkommen?» «Wir sagen, wir wären gefangengenommen worden. Sie hätten uns die Waffen abgenommen und wir hätten fliehen können. Dann werden sie uns erst mal zur Division hinterschicken und uns durch die Mangel drehen; immerhin ‘n paar Tage Fettlebe für uns. Und wir brauchen bloß stur an unserer Geschichte festzuhalten. Außerdem geht garantiert alles so drunter und drüber, daß sowieso niemand dußlig fragen wird.» Wilkins guckt mich an, als sei ich so eine Art Wundertier. «Hast du Töne!» «Wie gesagt, entweder wir machen es alle zusammen oder gar nicht. Was anderes kommt nicht in Frage. Wenn irgendwer irgendwelche Einwände hat, auch nur die geringsten, braucht er sich nicht zu rechtfertigen; dann soll er es frei von der Leber weg sagen.» Es folgt ein langes Schweigen. So etwas will durchdacht sein. Der Plan stinkt drei Meilen gegen den Wind nach ASTPR-Ausgeburt, noch schlimmer als die Geschichte mit den deutschen Gefangenen. Miller meldet sich als erster zu Wort. «Ich bin dafür.» Gordon guckt erst ihn an, dann mich. «Ich auch. Die Idee ist so hanebüchen, daß ich es bis ans Ende meines Lebens bereuen würde, wenn wir es nicht versuchten. Außerdem könnte das Ende meines Lebens schon gekommen sein.» - 281 -
Ich drehe mich zu Wilkins. Er muß in einer fürchterlichen Zwickmühle sein. «Lass dich nicht unter Druck setzen von uns, Mother. Triff deine Entscheidung ganz frei.» «Ach, die hab ich längst getroffen. Ich wollte bloß abwarten, was die anderen sagen, damit ich sie nicht unter Druck setze. Das könnte gut der raffinierteste Schachzug in der Geschichte unserer Gruppe werden.» Wilkins lächelt, käseweiß um die Nasenspitze, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals ein rührenderes Lächeln gesehen zu haben. Es ist genau das Lächeln, das ich brauchte, um unser Vorhaben in die Tat umzusetzen. *** Als erstes pinseln wir mit Tarnfarbe kreisrunde weiße Flächen auf unsere Helme und ziehen die weißen Schneeüberzüge an. Dann zeichne ich auf eine meiner Verpflegungsschachteln eine kreuzförmige Schablone und schneide sie mit dem Bajonett aus. Jetzt kommt der schwerste Teil. Wir drehen Mundy auf den Bauch. Wenn man ihm auf den Oberkörper drückt, quillt ihm Blut aus dem Mund, das aus seiner Lunge kommt. Mit einem Verbandpäckchen aus Wilkins’ Erste-Hilfe-Kasten, dem letzten, das wir besitzen, sauge ich etwas davon auf und tüpfele damit rote Kreuze auf die Helme und auf die Ärmel der Schneehemden. Das Blut ist zähflüssig und dunkel, aber mit Tarnfarbe vermischt wird es rot. Zweimal muß ich mich dabei fast übergeben, aber ich sage mir immer wieder, daß Father nichts dagegen haben würde. Mag sein, daß wir den Tempel des Heiligen Geistes schänden, aber wir tun es für einen guten Zweck: für uns. Mit den weißen Flächen und dem Blut hat das Ganze sowieso etwas von einer Messfeier. Auch auf die Zeltplanen malen wir riesige weiße Kreise. Mitten in diese weißen Felder hinein tupfe ich rote Kreuze, - 282 -
fünf Zentimeter breit und dreißig Zentimeter hoch. Wir falten die Zeltplanen übereck zusammen und stecken die doppelten Ecken zwischen unsere Helme und die Helmeinsätze, so daß eine Art Cape entsteht. Am Ende sehen wir aus wie eine eigentümliche Mischung aus Brautjungfern und Statisten für Die drei Musketiere. Es ist später Vormittag, als wir unsere Kriegsgeräte vergraben. Wir packen das Funkgerät, das MG, die Gewehre, die Kisten mit der 50-Kaliber-Munition, die Handgranaten und sämtliche übrige Munition in das Schützenloch, das Wilkins und ich ausgehoben haben, und decken eine Zeltplane darüber, die wir an den Rändern feststopfen. Dann schieben wir so lange mit den Füßen Erde über den Haufen, bis eine Art Grabhügel entstanden ist, treten diesen fest und werfen Schnee darüber. Zum Schluss stehen wir alle schwer atmend da. Mundy liegt neben uns auf dem Boden. Ich blicke um mich. «Na, wenn einer von uns eines Tages einen Privatkrieg anzetteln will, wenn dieser hier vorbei ist, wissen wir ja, wohin wir uns wenden müßen. Das ist die erste Grabstelle, die ich nicht mal kennzeichnen werde.» Mit unserer letzten Zeltplane, Shutzers Zeltplane, auf die ich auch gut sichtbar für die Flugzeuge ein rundes weißes Feld und ein rotes Kreuz gemalt habe, decken wir Father zu und hieven ihn auf unsere Schultern. Mundy wiegt nicht übermäßig viel, und wir gehen zu zweit auf jeder Seite, aber dennoch ist es schwer. Wir wandern mitten auf der Straße entlang. Unserer Ansicht nach sind die Panzer ebenso desorientiert wie wir, also marschieren wir in der Richtung, aus der sie kamen und die in unseren Augen, nach dem Morgenlicht in unserem Rücken zu urteilen, Westen sein muß. Es kommt sowieso kaum noch darauf an. Wir verfallen automatisch in einen bestimmten Marschrhythmus. Alle zehn Minuten wechseln wir uns ab, senken Mundy zwischen uns auf den Boden und tauschen die - 283 -
Plätze. Es wird nicht viel gesprochen. Bei jeder Pause nehmen wir uns gerade genug Zeit, unsere verkrampften Muskeln zu strecken oder zu pinkeln. Keiner von uns bewegt sich mehr als einen Schritt weit von Mundy weg, er ist unser Passierschein aus dieser Hölle. Stunde um Stunde marschieren wir, vorbei an umgekippten Jeeps, Panzerwracks und Leichen. Wir schauen kaum hin. Schließlich laufen wir geradewegs dem Vorposten einer amerikanischen Pionierkompanie in die Arme. Sie sind drauf und dran, eine Brücke in die Luft zu jagen. Wir erzählen ihnen von den Panzern, die wir in die falsche Richtung fahren sahen. Der wachhabende Sergeant bringt uns zu einem Leutnant. Wir nehmen Mundy mit. «Zu welchem Truppenteil gehört ihr?» Ich gebe ihm unsere Regimentsnummer an und sage, daß wir von einem Aufklärungsund Beobachtungsposten kommen, der überrannt wurde. Er kann die Augen nicht von unserer gespenstischen Aufmachung wenden. «Was soll der Mummenschanz, Gottverdammich; gehört ihr zu einem Sani-Trupp?» Ich erzähle ihm in groben Zügen, wie wir hergekommen sind. «Ihr Kerle geht ja ein verdammtes Risiko ein. Irgendsoein superschlauer ehrgeiziger Arschkriecher könnte sich bemüßigt fühlen, euch einen Strick aus der Genfer Konvention zu drehen.» Dann lacht er. «Hol’ s der Teufel! Dieser ganze vermaledeite Krieg ist anscheinend im Arsch.» «Jawoll, Sir.» «Na gut, versucht euer Glück. Lasst euch von meinen Leuten am anderen Posten an unseren Minen vorbeiführen. Wir haben Panzerabwehrminen da drüben in der Straße. Wahrscheinlich würden sie durch bloßes Darauftreten nicht ausgelöst, aber es wäre Blödsinn, ein unnötiges Risiko einzugehen.» «Jawoll, Sir.» Die GIs am anderen Posten vermachen uns Zigaretten und Frühstücksrationen. Wir verputzen die Rationen, bevor wir - 284 -
wieder losziehen. Außer dem Wunsch, uns nicht abmurksen zu lassen, ist uns jetzt alles ziemlich egal. Die Burschen hier sind überzeugt, daß sie eingekreist sind, also sind wir noch längst nicht über den Berg. Gegen fünf Uhr, als es schon fast dunkel ist, werden wir wieder angehalten. Jemand ruft uns den ersten Teil eines Kennworts entgegen. «Wir kennen die Gegenparole nicht. Wir kommen von einem anderen Frontabschnitt.» «Bleibt, wo ihr seid.» «Wir sind Amerikaner.» «Das kann jeder sagen!» Ein Sergeant kommt geduckt, den Karabiner schussbereit, auf uns zu. Als er uns sieht, nimmt er die Waffe herunter. «Na gut. Ich glaube euch. Mein Gott, wo habt ihr denn die verrückten Klamotten her? Ist das etwa Blut?» Während wir zusammen zur Feldwache gehen, geben wir unsere «Flucht»-Story zum besten. Wir sind bei einer Division gelandet, von der ich noch nie gehört habe; ein Teil von Pattons Armee, der von der Saar hierher verlegt wurde. Unser Begleiter empfiehlt uns, die Kreuze abzuwischen, bevor wir weitermarschieren. Die Zeltplanen lassen wir da. Er trägt einem Gefreiten auf, uns zum Bataillonsgefechtsstand zu führen, wo wir in einen Lastwagen steigen, der uns zu unserem Regiment bringen soll. Sie sind einigermaßen unwirsch, als wir darauf bestehen, Father mitzuschleifen. Wir werden zum Divisionsgefechtsstand chauffiert, und auch dort erzählen wir, wir seien in deutsche Gefangenschaft geraten und wieder geflohen. Danach schaffen Wilkins und ich Mundy zur Erfassungsstelle für Gefallene. Wir kommen in ein Zelt, in dem lauter Tote liegen. Der zuständige Obergefreite erklärt uns, daß keiner von den Gefallenen zu unserer Division gehört; sie kommen von überall her. - 285 -
«Manche von denen haben schon irgendwo auf der Erde gelegen, bevor die Schneefälle einsetzten.» Ich wüßte gern, ob schon jemand die Leichen in der Umgebung unseres Schlosses gefunden hat, diejenigen, die schon vor unserer Ankunft dort waren, und die, die wir hinterlassen haben. Wir sehen zu, wie der Obergefreite Mundys Erkennungsmarken abknipst. Die eine klemmt er Father zwischen die Zähne, die andere steckt er in einen dunkelgrünen Schnürbeutel. Auf seine Frage nenne ich Mundys Truppenteil. Er fördert einen Anhänger mit einem Stück Draht zutage, auf den er in Druckbuchstaben Mundys Namen, Kennummer und ein großes «C» für seine Religionszugehörigkeit schreibt, Angaben, die er alle der Erkennungsmarke zwischen Mundys Zähnen entnimmt. Dann öffnet er den Schlafsack und befestigt den Draht an Mundys Handgelenk. Beim Anblick der goldfarbenen Satindecke, in die wir Mundy eingewickelt haben, stutzt er, dann breitet er eine Armeedecke über seinen ganzen Körper, auch über sein Gesicht. Aber Mundy ist so lang, daß seine nackten Füße unten hervorgucken. Wir gehen weg, bevor der Obergefreite irgendwelche Fragen stellen kann. Zwei Tage später werden wir in Jeeps etwa fünfzehn Kilometer weiter zu unserem Regimentsgefechtsstand gefahren. Ware lässt mich unverzüglich zu sich zitieren. Noch einmal erzähle ich unsere «Flucht»-Geschichte. Er nimmt sie mir ab. Ich will bloß noch weg. Mir ist, als würde ich innerlich zerfließen; ich werde wieder von Krämpfen geschüttelt. Aber Ware kann mich in ein Gespräch verwickeln, solange es ihm behebt. Ich gebe mir Mühe, nicht in seiner Gegenwart loszuflennen. «Ist der Rest der Gruppe herausgekommen?» «Jawoll, Sir.» «Was ist mit den Jeeps und dem Funkgerät?» «Die mußten wir aufgeben, Sir.» «Etwa auch das MG und Ihre Gewehre?» - 286 -
«Die Deutschen haben uns die Gewehre abgenommen, Sir.» «Herrgottsakrament!» «Wir haben Mundy rausgeschafft, Sir.» Ich weiß nicht, warum ich ihm das erzähle. Es geht ihn nichts an; und es dürfte ihn auch kaum interessieren. Aber irgendwie kommt es mir wichtig vor. «Sie haben Mundy auf der Flucht mitgenommen?» «Ja, Sir. Wir sind nochmal hingegangen und haben ihn geholt. Wir haben ihn weggeschafft und so getan, als seien wir Sanitäter.» «Ach du Schande! Erzählen Sie das bloß nicht Love!» «Jawoll, Sir.» «Lassen Sie mich die Sache weitergeben. Und sagen Sie niemand, daß Sie Mundy rausgeschafft haben. Wie weit haben Sie ihn denn geschleppt, um Gottes willen?» «Ich weiß nicht, Sir.» «Gottverdammich!» «Gibt es irgendwas Neues von der ersten Gruppe, Sir?» «Nichts. Apropos, ich habe getan, was in meinen Kräften stand, Ihnen einen Funker und einen Jeep dazulassen, als wir abrückten, aber wir haben jedes Fahrzeug für den Nachschub gebraucht. Es war nichts zu machen.» Ich möchte nach Shutzer fragen, aber mir steckt ein Kloß in der Kehle. Wenn ich den Mund aufmache, fange ich garantiert an zu heulen und zu toben, oder ich gehe einem Vorgesetzten an die Gurgel. Ich salutiere bloß, mache kehrt und gehe hinaus, als hätte er mich entlassen. Ich trolle mich zum Küchenzelt und verkrieche mich in einen Winkel zwischen der Zeltwand und einer Reihe von Riesenkesseln, randvoll mit heißem Spülwasser für die Kochgeschirre. Ich habe keine Ahnung, wo Wilkins, Miller und Gordon stecken. Ich hoffe nur, daß sie Zeltplanen und Schlafsäcke aufgetrieben haben; ich bin zu müde, zu ausgelaugt, um mich darum zu kümmern. Mit angezogenen - 287 -
Beinen lege ich mich an einen warmen Fleck auf eine Zeltplane. Mir kann nur noch Schlaf helfen. Ich wache auf. Ware steht über mir und schubst mit der Stiefelspitze meine Füße an. Benommen wie ein Betrunkener rapple ich mich hoch. «Sie brauchen nicht aufzustehen, Knott. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, daß ich alles veranlasst habe.» Ich komme mühsam auf die Beine, klopfe mir die Knie ab. «Ich war bei Major Love. Es ist alles geregelt. Er sagt, da Sie nicht in einem Kriegsgefangenenlager waren, brauchen Sie nicht das ganze Überprüfungstrara mitzumachen.» Kleine Pause. «Wir werden den Aufklärungszug mit den Leuten aus der ehemaligen Panzerabwehrgruppe auffüllen, die aufgelöst werden mußte. Wen würden Sie zur Beförderung zum Unteroffizier vorschlagen?» Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, begreife nichts. «Ich weiß nicht, Sir.» «Ich dachte, wir könnten Gordon als Sergeant für die andere Gruppe und Miller als Ihren Gehilfen vorschlagen. Irgendein Armleuchter von Obergefreitem soll demnächst noch von irgendwoher zu uns versetzt werden; der kann dann mit Gordon zusammenarbeiten.» «Jawoll, Sir.» «Ich habe Wilkins für einen Bronzestern vorgeschlagen. Love war nicht gerade erbaut, aber er hat den Antrag unterschrieben. Ich habe Wilkins der Wachtruppe zugeteilt.» «Danke, Sir.» Jetzt bin ich soweit. Ich versuche es. «Sir, wie geht es Shutzer?» «Scheißspiel, Won’t. Er war schon tot, als wir hier ankamen. Wir konnten unterwegs kaum etwas für ihn tun. Der Deutsche war auch tot; wir konnten ihn nicht mal mehr ausfragen.» - 288 -
Ich sage nichts. Wenn Ware doch endlich ginge. Ich möchte wieder allein in meiner Ecke auf dem Boden liegen. «Ach ja, fast hätte ich es vergessen, Sergeant. Sie müßen eine Verlustmeldung machen für die Jeeps, das Funkgerät und die Telefone. Wie es mit den Gewehren und mit dem MG aussieht, weiß ich nicht. Da Sie gefangengenommen wurden, dürfte es eigentlich keine Schwierigkeiten geben.» Er langt in seine Brusttasche und reicht mir die Formulare. Mich überkommt ein Gefühl von Kühle, keine Kälte, nur ein Gefühl kühler Teilnahmslosigkeit. «Wir haben auch ein Fernglas verloren, Sir, zwanzigfache Vergrößerung.» «Machen Sie sich darüber keine Gedanken; lassen Sie sich Zeit und ruhen Sie sich aus. Wir werden bald hier abrücken und die verfluchten Krauts bis nach Berlin zurückscheuchen.» Er grinst, und wir salutieren. Ich sehe alles ganz deutlich. Alles ist gestochen scharf, aber meine Sicht ist getrübt. Ich sehe den Rand um das Emblem auf Wares Helmeinsatz, noch goldfarben von früher, als er noch nicht Oberleutnant war. Ich sehe auch gelbe Plieren in seinen Augenwinkeln. Ich blicke hinunter auf den Küchenzeltboden und sehe das dunkle, in den Morast getrampelte Grün von Wintergras. Ich sehe Dampfschwaden aufsteigen und höre das Wasser zischen, das in den schmuddeligen, verzinkten Zweihundertliterbehältern erhitzt wird. Ich rieche Fett im Abwaschwasser. Ich höre schmelzenden Schnee vom warmen Zeltdach heruntertropfen. ENDE
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